Jürgen Habermas Zeitdiagnosen Zwölf Essays 1980-2001
Das philosophisch politische Profil von Jürgen Habermas laßt sich ...
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Jürgen Habermas Zeitdiagnosen Zwölf Essays 1980-2001
Das philosophisch politische Profil von Jürgen Habermas laßt sich in Um rissen durch vier miteinander veiwobene, gleichwohl eigenständige Rollen skizzieren die des akademischen I ehrers, des theoretisch empirischen So ziologen, des Philosophen und des in der Öffentlichkeit wnkenden Intel lektuellen Auf allen vier Ebenen genießt Jürgen Habermas bekanntlich international eine große Reputation Die weitreichendsten Wirkungen ent faltete er als zeitdiagnostischer Intellektueller Einige seiner Titel haben Eingang in die Umgangssprache gefunden, etwa jener über die Moderne als unvollendetes Projekt, über die neue Unübersichtlichkeit, über die nach holende Revolution und die postnationale Konstellation Dieser Band versammelt zwölf der die politische Situation der letzten zwanzig Jahre beurteilenden Eingriffe
Suhrkamp
Inhalt Die Moderne - ein unvollendetes Projekt
7
Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien
27
Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland
50
Die Idee der Universität - Lernprozesse
78
Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität Die Westorientierung der Bundesrepublik
105
Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf Was heißt Sozialismus heute?
124
Was Theorien leisten können - und was nicht
150
Aus der Geschichte lernen?
167
Konzeptionen der Moderne Ein Ruckblick auf zwei Traditionen 175 Aus Katastophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Ruckblick edmon suhikamp 2439 Erste Auflage zum 40jährigen Bestehen der edmon suhrkamp 2003 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 200^ Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondeie das dei Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile Kein Tel! des Werkes darl in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduzieit oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden Satz Jung Crossmedia, Lahnau Druck Nomos Verlagsgesellschatt, Baden-Baden Umschlag gestaltet von Werner Zegarzewski nach einem Konzept von Willy Fleckhaus Pnnted in Germany ISBN 3-518-12439-0 1 2 3 4 5 6 - 08 07 06 05 04 03
auf das kurze 20. Jahrhundert
204
Braucht Europa eine Verfassung?
224
Glauben und Wissen Friedenspreisrede 2001
249
Drucknachweise
263
Die Moderne - ein unvollendetes Projekt Nach den Malern und Filmemachern sind nun auch die Architekten zur Biennale in Venedig zugelassen worden Das Echo auf diese erste Architekturbiennale war Enttäuschung Die Aussteller in Venedig bilden eine Avantgarde mit verkehrten Fronten Unter dem Motto »Die Gegenwart der Vergangenheit« opferten sie die Tradition der Moderne, die einem neuen Historismus Platz macht »Daß die gesamte Moderne sich aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gespeist hat, daß Frank Lloyd Wnght nicht ohne Japan, Le Corbusier nicht ohne Antike und mediterranes Bauen, Mies van der Rohe nicht ohne Schinkel und Behrens denkbar gewesen waren, wird mit Stillschweigen ubergangen « Mit diesem Kommentar begründet der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung1 seine These, die über den Anlaß hinaus zeitdiagnostische Bedeutung hat »Die Postmoderne gibt sich entschieden als eine Antimoderne « Dieser Satz gilt für eine affektive Strömung, die in die Poren aller intellektuellen Bereiche eingedrungen ist und Theorien der Nachaufklarung, der Postmoderne, der Nachgeschichte usw, kurz einen neuen Konservativismus auf den Plan gerufen hat Damit kontrastieren Adorno und sein Werk Adorno hat sich dem Geist der Moderne so vorbehaltlos verschrieben, daß er schon in dem Versuch, die authentische Moderne von bloßem Modernismus zu unterscheiden, jene Affekte wittert, die auf den Affront der Moderne antworten So mag es nicht ganz unangemessen sein, den Dank für einen Adorno-Preis in der Form abzustatten, daß ich der Frage nachgehe, wie es sich mit der Bewußtseinsstellung der Moderne heute verhalt Ist die Moderne so passe, wie die Postmodernen behaupten' Oder ist die vielstimmig ausgerufene Postmoderne ihrerseits nur phony' Ist »postmodern« ein Schlagwort, unter dem sich unauffällig jene Stimmungen beerben lassen, die die kulturelle Moderne seit der Mitte des 19 Jahrhunderts gegen sich aufgebracht hat'
1 W Pehnt, Die Postmoderne ah Lunapark, in Frankfurter Allgemeine Zei £w«gvomi8 8 1980, S 17
Die Alten und die Neuen Wer, wie Adorno, »die Moderne« um 1850 beginnen laßt, sieht sie mit den Augen Baudelaires und der avantgardistischen Kunst Lassen Sie mich diesen Begriff der kulturellen Moderne mit einem kurzen Blick auf die lange, von Hans Robert Jauss beleuchtete Vorgeschichte2 erläutern Das Wort »modern« ist zuerst im spaten 5 Jahrhundert verwendet worden, um die soeben offiziell ge wordene christliche Gegenwart von der heidnisch-romischen Vergangenheit abzugrenzen Mit wechselnden Inhalten druckt »Modernität« immer wieder das Bewußtsein einer Epoche aus, die sich zur Vergangenheit der Antike in Beziehung setzt, um sich selbst als Resultat eines Übergangs vom Alten zum Neuen zu begreifen Das gilt nicht r.ur für die Renaissance, mit der für uns die Neuzeit beginnt Als »modern« verstand man sich auch in der Zeit Karls des Großen, im 12 Jahrhundert und zur Zeit der Aufklarung - also immer dann, wenn sich in Europa das Bewußtsein einer neuen Epoche durch ein erneuertes Verhältnis zur Antike gebildet hat Dabei hat die antiquitas bis zum berühmten Streit der Modernen mit den Alten, und das hieß mit den Anhangern des klassizistischen Zeitgeschmacks im Frankreich des spaten 17 Jahrhunderts, als normatives und zur Nachahmung empfohlenes Vorbild gegolten Erst mit den Perfektionsidealen der franzosischen Aufklarung, mit der durch die moderne Wissenschaft inspirierten Vorstellung vom unendlichen Fortschritt der Erkenntnis und eines Fortschreitens zum gesellschaftlich und moralisch Besseren, lost sich allmählich der Blick aus dem Bann, den die klassischen Werke der antiken Welt auf den Geist der jeweils Modernen ausgeübt hatten Schließlich sucht sich die Moderne, indem sie dem Klassischen das Romantische entgegensetzt, ihre eigene Vergangenheit in einem idealisierten Mittelalter Im Laufe des 19 Jahrhunderts entlaßt diese Romantik aus sich jenes radikahsierte Bewußtsein von Modernität, das sich aus allen historischen Bezügen lost und nur noch die abstrakte Entgegensetzung zur Tradition, zur Geschichte insgesamt zurückbehält Als modern gilt nun, was einer spontan sich erneuernden Aktualität des Zeitgeistes zu objektivem Ausdruck verhilft Die Si2 Literarische Tradition und gegenwartiges Bewußtsein der Moderne, in H R Jauss, / iteraturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M I97O.S 11 ff
gnatur solcher Werke ist das Neue, das von der Neuerung des nächsten Stils überholt und entwertet wird Aber wahrend das bloß Modische, in die Vergangenheit versetzt, altmodisch wird, behalt das Moderne einen geheimen Bezug zum Klassischen Seit ie galt als klassisch, was die Zeiten überdauert, diese Kraft entlehnt das im emphatischen Sinne moderne Zeugnis freilich nicht mehr der Autorität einer vergangenen Epoche, sondern einzig der Authentizität einer vergangenen Aktualität Dieses Umschlagen der heutigen Aktualität in die von gestern ist verzehrend und produktiv zugleich, es ist, wie Jauss beobachtet, die Moderne selbst, die sich ihre Klassizität schafft - wie selbstverständlich sprechen wir inzwischen von klassischer Moderne Adorno wehrt sich gegen jene Unterscheidung zwischen Moderne und Modernismus, »weil ohne die subjektive Gesinnung, die vom Neuen angereizt wird, auch keine objektive Moderne sich kristallisiert« (Ästhetische Theone,?> 45)
Die Gesinnung der ästhetischen Moderne Diese Gesinnung der ästhetischen Moderne nimmt mit Baudelaire, auch mit seiner von E A Poe beeinflußten Kunsttheorie, deutlichere Konturen an Sie entfaltet sich in den avantgardistischen Strömungen und exaltiert schließlich im Cafe Voltaire der Dadaisten und im Surrealismus Kennzeichnen laßt sie sich durch Einstellungen, die sich um den Fokus eines veränderten Zeitbewußtseins bilden Dieses spricht sich aus in der räumlichen Metapher der Vorhut, einer Avantgarde also, die als Kundschafter in unbekanntes Gebiet vorstoßt, die sich den Risiken plötzlicher, schockierender Begegnungen aussetzt, die eine noch nicht besetzte Zukunft erobert, die sich orientieren, also eine Richtung finden muß in einem noch nicht vermessenen Gelände Aber die Orientierung nach vorne, die Antizipation einer unbestimmten, kontingenten Zukunft, der Kult des Neuen bedeuten in Wahrheit die Verherrlichung einer Aktualität, die immer von neuem subjektiv gesetzte Vergangenheiten gebiert Das neue Zeitbewußtsein, das mit Bergson auch in die Philosophie eindringt, bringt nicht nur die Erfahrung einer mobilisierten Gesellschaft, einer akzelenerten Geschichte, eines diskontinuierten Alltages zum Ausdruck In der Aufwertung des Transitonschen, des Fluchtigen,
des Ephemeren, in der Feier des Dynamismus spricht sich eben die Sehnsucht nach einer unbefleckten, innehaltenden Gegenwart aus Als eine sich selbst negierende Bewegung ist der Moderms mus »Sehnsucht nach der wahren Präsenz« Dies, meint Octavio Paz, »ist das geheime Thema der besten modernistischen Dich ter« ' Das erklart auch die abstrakte Opposition zur Geschichte, wel ehe damit die Struktur eines gegliederten, Kontinuität verbürgen den Uberheferungsgeschehens einbüßt Die einzelnen Epochen verlieren ihr Gesicht zugunsten der heroischen Affinität der Ge genwart mit dem Fernsten und dem Nächsten das Dekadente er kennt sich unvermittelt im Barbarischen, Wilden, Primitiven Die anarchistische Absicht, das Kontinuum der Geschichte aufzu sprengen, erklart die subversive Kraft eines ästhetischen Bewußt seins, das sich gegen die Normahsierungsleistungen von Tradi tion auflehnt, das aus der Erfahrung der Rebellion gegen alles Normative lebt und sowohl das moralisch Gute wie das praktisch Nützliche neutralisiert, die Dialektik von Geheimnis und Skandal fortgesetzt inszeniert, suchtig nach der Faszination jenes Er Schreckens, das vom Akt der Profanierung ausgeht - und zugleich auf der Flucht vor deren trivialen Ergebnissen So sind nach Adorno »die Male der Zerrüttung das Echtheitssiegel von Moderne, das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert, Explosion ist eine ihrer Invarianten Antitraditionahstische Energie wird zum verschlingenden Wirbel Inso fern ist Moderne Mythos, gegen sich selbst gewendet, dessen Zeitlosigkeit wird zur Katastrophe des die zeitliche Kontinuität zerbrechenden Augenblicks « (Astbetische Theorie, S 41 ) Freilich ist das Zeitbewußtsein, das sich in der avantgardistischen Kunst artikuliert, nicht schlechthin antihistorisch, es rieh tet sich nur gegen die falsche Normativitat eines aus der Nachahmung von Vorbildern geschöpften Geschichtsverstandmsses, dessen Spuren selbst in der philosophischen Hermeneutik Gadamers nicht getilgt sind Es bedient sich der histonstisch verfug bar gemachten, objektivierten Vergangenheiten, aber rebelliert gleichzeitig gegen die Neutrahsierung der Maßstabe, die der Hl stonsmus betreibt, wenn er die Geschichte ins Museum sperrt Aus diesem Geist konstruiert Walter Benjamin das Verhältnis der 3 fssays, Bd 2, Frankfurt/M , S 159
jvtoderne zur Geschichte posthistonstisch Er erinnert an das Selbstverstandms der Franzosischen Revolution »Sie zitierte das vergangene Rom genauso, wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt « Und wie für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit war, so soll der Historiker die Konstellation erfassen, »in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist« Er begründet so einen Begriff »der Gegenwart als der >Jetztzeit<, in welcher Splitter der messiamschen eingesprengt sind« (Gesammelte Schriften, Bd I 2, S 701 f )
Diese Gesinnung der ästhetischen Moderne ist inzwischen gealtert Zwar ist sie in den sechziger Jahren noch einmal rezitiert worden Die siebziger Jahre im Rucken, müssen wir uns aber eingestehen, daß der Modernismus heute kaum noch Resonanz findet Damals notiert sich Octavio Paz, ein Parteiganger der Moderne, nicht ohne Melancholie »Die Avantgarde von 1967 wiederholt die Taten und Gesten derjenigen von 1917 Wir erleben das Ende der Idee der modernen Kunst «4 Im Anschluß an die Untersuchungen von Peter Burger sprechen wir inzwischen von der postavantgardistischen Kunst, die das Scheitern der surrealistischen Revolte nicht langer verhehlt Aber was bedeutet dieses Scheitern' Signalisiert es den Abschied von der Moderne5 Bedeutet die Postavantgarde bereits den Übergang zur Postmoderne' So, in der Tat, versteht es Daniel Bell, der bekannte Gesellschaftstheoretiker und der brillanteste unter den amerikanischen Neokonservativen In einem interessanten Buch3 entwickelt Bell die These, daß die Krisenerscheinungen in den entwickelten Gesellschaften des Westens auf einen Bruch zwischen Kultur und Gesellschaft, zwischen der kulturellen Moderne und den Anforderungen des ökonomischen wie des administrativen Systems zurückgeführt werden können Die avantgardistische Kunst dringt in die Wertorientierungen des Alltagslebens ein und infiziert die Lebenswelt mit der Gesinnung des Modernismus Dieser ist der große Verfuhrer, der das Prinzip der schrankenlosen Selbstverwirkhchung, die Forderung nach authentischer Selbsterfahrung, den Subjektivismus einer überreizten Sensibilität zur Herrschaft 4 Essays, B d 2, a a O , S 3 2 9 5 The Cultural Contmdictions of Capitahsm, New York 1976
bringt und damit hedonistische Motive freisetzt, die mit der Dis ziphn des Berufslebens, überhaupt mit den moralischen Grund lagen einer zweckrationalen Lebensführung unvereinbar sind So schiebt Bell, ahnlich wie hierzulande Arnold Gehlen, die Auflo sung der protestantischen Ethik, die Max Weber beunruhigt hatte, der »adversary culture«, also einer Kultur in die Schuhe, de ren Modernismus die Feindseligkeit gegen die Konventionen und Tugenden eines von Wirtschaft und Verwaltung rationalisierten Alltags schürt Andererseits soll, nach dieser Lesart, der Impuls der Moderne endgültig erschöpft, die Avantgarde am Ende sein immer noch in Ausbreitung begriffen, sei sie doch nicht mehr kreativ Für den Neokonservativismus stellt sich damit die Frage, wie denn Nor men zur Geltung gebracht werden können, die der Libertinagc Grenzen ziehen, Disziplin und Arbeitsethik wiederherstellen, die der sozialstaatlichen Nivelherung die Tugenden individueller Leistungskonkurrenz entgegensetzen Als einzige Losung sieht Bell eine religiöse Erneuerung, jedenfalls den Anschluß an naturwüchsige Traditionen, die gegen Kritik immun sind, die klar ge schnittene Identitäten ermöglichen und dem einzelnen existenti eile Sicherheiten verschaffen
Kulturelle Moderne und gesellschaftliche Modernisierung Autorität gebietende Glaubensmachte kann man freilich nicht aus dem Boden stampfen Deshalb ergibt sich aus solchen Analy sen als einzige Handlungsanweisung ein Postulat, das auch bei uns Schule gemacht hat die geistige und politische Auseinandersetzung mit den intellektuellen Tragern der kulturellen Moderne Ich zitiere einen besonnenen Beobachter des neuen Stils, den die Neokonservativen in den siebziger Jahren der intellektuellen Szene aufgeprägt haben »Die Auseinandersetzung nimmt die Form an, alles, was als Ausdruck einer oppositionellen Mentalität verstanden werden kann, so hinzustellen, daß es in seinen Konsequenzen mit dieser oder jener Art von Extremismus verknüpft werden kann so etwa stellt man eine Verbindung her zwischen Modernität und Nihilismus, zwischen Wohlfahrtsprogrammen und Plünderungen, zwischen staatlichen Eingriffen und Totahta
rismus, zwischen der Kritik an Rüstungsausgaben und Komphzenschaft mit dem Kommumsmus, zwischen Feminismus, dem Kampf für die Rechte der Homosexuellen einerseits, der Zerstörung der Familie andererseits, zwischen der Linken überhaupt und Terrorismus, Antisemitismus oder gar Faschismus « Mit dieser Bemerkung bezieht sich Peter Steinfels' allein auf Amerika, aber die Parallelen liegen auf der Hand Dabei sind die Personahsierung und die Bitterkeit der auch hierzulande von den gegenaufklarenschen Intellektuellen entfachten Intellektuellenschelte weniger psychologisch zu erklaren, als vielmehr in der analytischen Schwache der neukonservativen Lehren selbst begründet Der Neokonservativismus verschiebt nämlich die unbequemen Folgelasten einer mehr oder weniger erfolgreichen kapitalistischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die kulturelle Moderne Weil er die Zusammenhange zwischen den willkommenen Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung einerseits, der catomsch beklagten Motivationskrise andererseits ausblendet, weil er die sozialstrukturellen Ursachen für veränderte Arbeitseinstellungen, Konsumgewohnheiten, Anspruchsniveaus und Freizeitonentierungen nicht aufdeckt, kann er, was nun als Hedomsmus, mangelnde Identifikations- und Folgebereitschaft, als Narzißmus, Ruckzug von Status- und Leistungskonkurrenz erscheint, unmittelbar einer Kultur zuschieben, die in diese Prozesse doch nur auf eine höchst vermittelte Weise eingreift Die Stelle der mchtanalysierten Ursachen müssen dann jene Intellektuellen einnehmen, die sich dem Projekt der Moderne immer noch verpflichtet fühlen Gewiß, Daniel Bell sieht noch einen Zusammenhang zwischen der Erosion bürgerlicher Werte und dem Konsumismus einer auf Massenproduktion umgestellten Gesellschaft Auch er ist jedoch von dem eigenen Argument wenig beeindruckt und fuhrt die neue Permissivitat in erster Linie auf die Ausbreitung eines Lebensstils zurück, der sich zunächst in den elitären Gegenkulturen der künstlerischen Boheme ausgebildet hatte Damit variiert er freilich nur ein Mißverständnis, dem schon die Avantgarde selbst zum Opfer gefallen war - als sei es die Mission der Kunst, ihr indirekt gegebenes Glucksversprechen durch eine Soziahsierung der zum Gegenbild stilisierten Kunstlerexistenzen einzulösen 6 The Ncocomcrvattves 1979, S 65
Ruckblickend auf die Entstehungszeit der ästhetischen Mo derne bemerkt Bell »Radikal in Fragen der Wirtschaft, wurde der Bourgeois konservativ in Fragen der Moral und des Geschmacks «7 Wenn das stimmte, konnte man den Neokonservatismus als Ruckkehr zu einem bewahrten pattern bürgerlicher Gesinnung verstehen Aber das ist zu einfach Denn die Stimmungslage, auf die der Neokonservativismus sich heute stutzen kann, entspringt keineswegs einem Unbehagen an den antinomistischen Folgen einer überbordenden, aus den Museen ins Leben ausbrechenden Kultur Dieses Unbehagen ist nicht von modernistischen Intellektuellen hervorgerufen worden, sondern wurzelt in den tiefer liegenden Reaktionen auf eine gesellschaftliche Modernisierung, die unter dem Druck der Imperative von Wirtschaftswachstum und staatlichen Organisationsleistungen immer weiter in die Ökologie gewachsener Lebensformen, in die kommunikative Binnenstruktur geschichtlicher Lebenswelten eingreift So bringen die neopopulistischen Proteste weitverbreitete Ängste vor einer Zerstörung von urbanen und natürlichen Milieus, der Zerstörung von Formen des humanen Zusammenlebens nur pointiert zum Ausdruck Die vielfaltigen Anlasse des Unbehagens und des Protestes entstehen überall dort, wo eine einseitige, an Maßstaben der ökonomischen und der administrativen Rationalität ausgerichtete Modernisierung in Lebensbereiche eindringt, die um Aufgaben der kulturellen Überlieferung, der sozialen Integration und der Erziehung zentriert und daher auf andere Maßstabe, namhch auf die einer kommunikativen Rationalität angelegt sind Gerade von diesen gesellschaftlichen Prozessen ziehen die neukonservativen Lehren aber die Aufmerksamkeit ab, sie projizieren die Ursachen, die sie nicht ans Licht bringen, auf die Ebene einer eigensinnig subversiven Kultur und ihrer Anwalte Allerdings bringt die kulturelle Moderne auch ihre eigenen Aponen aus sich hervor Und auf diese berufen sich die intellektuellen Positionen, die entweder eine Nachmoderne ausrufen oder die Ruckkehr zur Vormoderne empfehlen oder die Moderne radikal verwerfen Auch unabhängig von den Folgeproblemen der gesellschaftlichen Modernisierung, auch aus der Innenansicht der kulturellen Entwicklung ergeben sich Motive für den Zweifel und die Verzweiflung am Projekt der Moderne 7 D 14
Bell, The Cultural
Contradictions
ofCapitahsm,
a a O,S
17
Das Projekt der Aufklarung Die Idee der Moderne ist mit der Entwicklung der europaischen Kunst eng verschwistert, aber das, was ich das Projekt der Moderne genannt habe, kommt erst in den Blick, wenn wir die bisher geübte Beschrankung auf Kunst aufgeben Max Weber hat die kulturelle Moderne dadurch charakterisiert, daß die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedruckte substantielle Vernunft in drei Momente auseinandertritt, die nur noch formal (durch die Form argumentativer Begründung) zusammengehalten werden Indem die Weltbilder zerfallen und die überlieferten Probleme unter den spezifischen Gesichtspunkten der Wahrheit, der normativen Richtigkeit, der Authentizität oder Schönheit aufgespalten, jeweils als Erkenntnis-, als Gerechtigkeits-, als Geschmacksfragen behandelt werden können, kommt es in der Neuzeit zu einer Ausdifferenzierung der Wertspharen Wissenschaft, Moral und Kunst In den entsprechenden kulturellen Handlungssystemen werden wissenschaftliche Diskurse, moral- und rechtstheoretische Untersuchungen, werden Kunstproduktion und Kunstkritik als Angelegenheit von Fachleuten institutionalisiert Die professionahsierte Bearbeitung der kulturellen Überlieferung unter jeweils einem abstrakten Geltungsaspekt laßt die Eigengesetzhchkeiten des kognitiv-instrumentellen, des moralischpraktischen und des ästhetisch-expressiven Wissenskomplexes hervortreten Von nun an gibt es auch eine interne Geschichte der Wissenschaften, der Moral- und Rechtstheone, der Kunst - gewiß keine linearen Entwicklungen, aber doch Lernprozesse Das ist die eine Seite Auf der anderen Seite wachst der Abstand zwischen den Expertenkulturen und dem breiten Publikum Was der Kultur durch speziahstische Bearbeitung und Reflexion zuwachst, gelangt nicht ohne weiteres in den Besitz der Alltagspraxis Mit der kulturellen Rationalisierung droht vielmehr die in ihrer Traditionssubstanz entwertete Lebenswelt zu verarmen Das Projekt der Moderne, das im 18 Jahrhundert von den Philosophen der Aufklarung formuliert worden ist, besteht nun dann, die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale, die sich so ansammeln, aus ihren esoterischen Hoch15
formen zu entbinden und für die Praxis, d h für eine vernunftige Gestaltung der Lebensverhaltnisse zu nutzen Aufklaier vom Schlage eines Condorcet hatten noch die überschwengliche Ei Wartung, daß Künste und Wissenschaften nicht nur die Kontrolle der Naturkrafte, sondern auch die Welt- und Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Gluck der Menschen befordern wurden Von diesem Optimismus hat das 20 Jahrhundert nicht viel übriggelassen Aber das Problem ist geblieben, und nach wie vor scheiden sich die Geister daran, ob sie an den Intentionen dei Aufklarung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verloren geben, ob sie zum Beispiel die kognitiven Potentiale, soweit sie nicht in technischen Fortschritt, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung einfließen, so eingedämmt sehen wollen, daß eine auf erblindete Traditionen verwiesene Lebenspraxis davon nur ja unberührt bleibt Selbst unter den Philosophen, die heute so etwas wie eine Nachhut der Aufklärung bilden, ist das Projekt der Moderne ei gentumlich zersplittert Sie setzen ihr Vertrauen nur noch in jeweils eines der Momente, in die sich die Vernunft ausdifferenziert hat Popper, und ich meine den Theoretiker der offenen Gesellschaft, der sich von den Neukonservativen noch nicht hat vereinnahmen lassen, halt an der aufklarenden, in den politischen Bereich hineinwirkenden Kraft der wissenschaftlichen Kritik fest, dafür entrichtet er den Preis eines moralischen Skeptizismus und einer weitgehenden Indifferenz gegenüber dem Ästhetischen Paul Lorenzen rechnet mit der lebensreformenschen Wirksamkeit des methodischen Aufbaus einer Kunstsprache, in der sich die praktische Vernunft zur Geltung bringt, dabei kanalisiert er aber die Wissenschaften in den engen Bahnen moralanaloger, praktischer Rechtfertigungen und vernachlässigt ebenfalls das Ästhetische Umgekehrt hat sich bei Adorno der emphatische Vernunftanspruch in die anklagende Geste des esoterischen Kunstwerkes zurückgezogen, wahrend die Moral einer Begründung nicht mehr fähig ist, und der Philosophie nur noch die Aufgabe verbleibt, in indirekter Rede auf die in der Kunst vermummten kritischen Gehalte zu verweisen Die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, durch die Max Weber den Rationalismus der westlichen Kultur kennzeichnet, bedeutet gleichzeitig das Autonomwerden von 16
speziahstisch bearbeiteten Sektoren und deren Abspaltung von einem Traditionsstrom, der sich in der Hermeneutik der Alltagspraxis naturwüchsig fortbildet Diese Abspaltung ist das Problem) das sich aus der Eigengesetzhchkeit der ausdifferenzierten Wertspharen ergibt, sie hat auch die fehlschlagenden Versuche, die Expertenkulturen »aufzuheben«, hervorgerufen Das laßt sich am besten an der Kunst ablesen Kant und der Eigensinn des Ästhetischen Aus der Entwicklung der modernen Kunst kann man, grob vereinfacht, eine Linie fortschreitender Autonomisierung herausprapaneren Zunächst konstituierte sich, in der Renaissance, jener Gegenstandsbereich, der ausschließlich unter Kategonen des Schonen fallt Im Laufe des 18 Jahrhunderts wurden Literatur, bildende Kunst und Musik dann als ein Handlungsbereich, der sich vom sakralen und hofischen Leben trennt, institutionalisiert Schließlich entstand um die Mitte des 19 Jahrhunderts auch eine asthetizistische Auffassung der Kunst, die den Kunstler anhält, seine Werke schon im Bewußtsein des l'art pour l'art zu produzieren Damit kann der Eigensinn des Ästhetischen zum Vorsatz werden In der ersten Phase dieses Vorgangs treten also die kognitiven Strukturen eines neuen, vom Komplex der Wissenschaft und der Moral sich abhebenden Bereichs hervor Spater wird es zur Sache der philosophischen Ästhetik, diese Strukturen zu klaren Energisch arbeitet Kant die Eigenart des ästhetischen Gegenstandsbereichs heraus Er geht von der Analyse des Geschmacksurteils aus, das zwar auf Subjektives, auf das freie Spiel der Einbildungskraft gerichtet ist und doch nicht bloß Vorlieben manifestiert, sondern auf intersubjektive Zustimmung rechnet Obwohl die ästhetischen Gegenstande weder zur Sphäre jener Erscheinungen gehören, die mit Hilfe der Verstandeskategorien erkannt werden können, noch zur Sphäre freier Handlungen, die der Gesetzgebung der praktischen Vernunft unterliegen, sind die Werke der Kunst (und der Naturschonheit) einer objektiven Beurteilung zugänglich Neben der Sphäre der Wahrheitsgeltung und des Sollens konstituiert das Schone einen weiteren Geltungsbereich, der den Zusammenhang von Kunst und Kunstkritik be17
gründet Man »spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge« (Kritik der Urteilskraft, KdU § 7) Freilich haftet Schönheit nur an der Vorstellung von einem Ding, so wie sich das Geschmacksurteil auch nur auf das Verhalt ms der Vorstellung eines Gegenstandes zum Gefühl der Lust oder der Unlust bezieht Nur im Medium des Scheins kann ein Gegen stand als ästhetischer wahrgenommen werden, einzig als fiktiver kann er die Sinnlichkeit so affizieren, daß zur Darstellung gelangt, was sich der Begrifflichkeit objektivierenden Denkens und mora lischer Beurteilung entzieht Den Gemütszustand, der durch das ästhetisch in Bewegung gesetzte Spiel der Vorstellungskräfte her vorgerufen wird, charakterisiert Kant zudem als interesseloses Wohlgefallen Die Qualität eines Werkes bestimmt sich also unab hangig von seinen praktischen Lebensbezugen Wahrend die erwähnten Grundbegriffe der klassischen Asthe tik, also Geschmack und Kritik, schöner Schein, Interesselosig keit und Transzendenz des Werkes, vornehmlich zur Abgrenzung des Ästhetischen gegenüber den anderen Wertspharen und der Lebenspraxis dienen, enthalt der Begriff des Genies, das zur Hervorbringung eines Kunstwerks erforderlich ist, positive Bestim mungen Genie nennt Kant »die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauch seiner Erkenntnis vermögen« (KdU § 49) Wenn wir den Geniebegriff von seinen romantischen Ursprüngen losen, können wir in freier Umschreibung sagen der begabte Kunstler vermag jenen Erfahrungen au thentischen Ausdruck zu verleihen, die er im konzentrierten Umgang mit einer dezentnerten, von den Zwangen des Erkennens und Handelns losgesprochenen Subjektivität macht Dieser Eigensinn des Ästhetischen, also das Objektivwerden der dezentrierten, sich selbst erfahrenden Subjektivität, das Aus scheren aus den Zeit- und Raumstrukturen des Alltags, der Bruch mit den Konventionen der Wahrnehmung und der Zwecktatigkeit, die Dialektik von Enthüllung und Schock, konnte erst mit der Geste des Modernismus als Bewußtsein der Moderne hervortreten, nachdem zwei weitere Bedingungen erfüllt waren Das ist einmal die Institutionahsierung einer vom Markt abhangigen Kunstproduktion und eines durch Kritik vermittelten, zweckfreien Kunstgenusses, und zum anderen ein asthetizistisches Selbstverstandms der Kunstler, auch der Kritiker, die sich weniger als Anwalt des Publikums verstehen, sondern als Interpreten, die 18
zum Prozeß der Kunstproduktion selbst gehören Jetzt kann in Malerei und Literatur eine Bewegung einsetzen, die einige bereits in den Kunstkritiken Baudelaires vorweggenommen sehen Farben, Linien, Laute, Bewegungen hören auf, primär der Darstellung zu dienen, die Medien der Darstellung und die Techniken der Herstellung avancieren selber zum ästhetischen Gegenstand Und Adorno kann seine Ästhetische Theorie mit dem Satz beginnen- »Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr, noch im Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht «
Die falsche Aufhebung der Kultur Freilich, das Existenzrecht der Kunst wäre vom Surrealismus nicht in Frage gestellt worden, wenn nicht auch und gerade die moderne Kunst ein Glucksversprechen mit sich führte, das ihr »Verhältnis zum Ganzen« betrifft Bei Schiller hat das Versprechen, welches die ästhetische Anschauung zwar gibt, aber nicht einlost, noch die explizite Gestalt einer über Kunst hinausweisenden Utopie Diese Linie der ästhetischen Utopie reicht bis zu Marcuses ideologiekntisch gewendeter Klage über den affirmativen Charakter der Kultur Aber schon bei Baudelaire, der die promesse de bonheur wiederholt, hatte sich die Utopie der Versöhnung zur kritischen Widerspiegelung der Unversohntheit der sozialen Welt verkehrt Diese wird um so schmerzlicher bewußt, je weiter sich die Kunst vom Leben entfernt, in die Unberuhrbarkeit einer vollendeten Autonomie zurückzieht Dieser Schmerz spiegelt sich im grenzenlosen ennui eines Ausgestoßenen, der sich mit den Lumpensammlern von Paris identifiziert Auf solchen Gefuhlsbahnen sammeln sich die explosiven Energien, die sich schließlich in der Revolte, in dem gewaltsamen Versuch entladen, eine nur zum Scheine autarke Sphäre der Kunst aufzusprengen und mit diesem Opfer die Versöhnung zu erzwingen Adorno sieht sehr genau, warum das surrealistische Programm »der Kunst absagt, ohne sie doch abschütteln zu können« (Ästhetische Theorie, S 52) Alle Versuche, die Fallhohe zwischen Kunst und Leben, Fiktion und Praxis, Schein und Wirklichkeit einzuebnen, den Unterschied zwischen Artefakt und Gebrauchsgegenstand, zwischen Produziertem und Vorgefundenem, zwi-
sehen Gestaltung und spontaner Regung zu beseitigen, die Vcrsu ehe, alles als Kunst und ]eden zum Kunstler zu deklarieren, alle Maßstabe einzuziehen, ästhetische Urteile an die Äußerung sub jektiver Erlebnisse anzugleichen - diese inzwischen gut analysier ten Unternehmungen lassen sich heute als Nonsense-Expen mente verstehen, die wider Willen genau die Strukturen der Kunst, die verletzt werden sollten, nur um so greller beleuchten das Medium des Scheins, die Transzendenz des Werkes, den kon zentrierten und planmäßigen Charakter der künstlerischen Pro duktion sowie den kognitiven Status des Geschmacksurteils s Det radikale Versuch der Aufhebung der Kunst setzt ironisch jene Kategorien ins Recht, mit denen die klassische Ästhetik ihren Gegenstandsbereich eingekreist hatte, freilich haben sich diese Kategorien dabei auch selber verändert Das Scheitern der surrealistischen Revolte besiegelt den dop pelten Irrtum einer falschen Aufhebung Zum einen wenn man die Gefäße einer eigensinnig entfalteten kulturellen Sphäre zer bricht, zerfließen die Gehalte, vom entsublimierten Sinn und dei entstrukturierten Form bleibt nichts übrig, geht eine befreiende Wirkung nicht aus Folgenreicher ist aber der andere Irrtum In der kommunikativen Alltagspraxis müssen kognitive Deutungen, moralische Erwartungen, Expressionen und Bewertungen einan der durchdringen Die Verstandigungsprozesse der Lebenswelt bedürfen einer kulturellen Überlieferung auf ganzer Breite Deshalb konnte ein rationalisierter Alltag aus der Starre kultureller Verarmung gar nicht dadurch erlost werden, daß ein kultureller Bereich, hier also die Kunst, gewaltsam geöffnet und ein An Schluß zu einem der spezialisierten Wissenskomplexe hergestellt wird Auf diesem Wege konnte eine Einseitigkeit und eine Abstraktion allenfalls durch eine andere ersetzt werden Zum Programm und der mißlingenden Praxis falscher Aufhebung gibt es Parallelen auch in den Bereichen der theoretischen Erkenntnis und der Moral Sie sind freilich weniger klar aus geprägt Wohl sind die Wissenschaften einerseits, Moral- und Rechtstheorie andererseits in ähnlicher Weise autonom geworden wie die Kunst Aber beide Sphären bleiben in Verbindung mit spezialisierten Formen der Praxis mit der verwissenschaftlichten Technik die eine, mit einer rechtsformig organisierten, in ihren 8 D Wellershoff Die Auflosung des Kunstbegriffs,} rinkfurt/M 1976
Grundlagen auf moralische Rechtfertigung angewiesenen Verwaltungspraxis die andere Und doch haben sich die institutionalisierte Wissenschaft und die im Rechtssystem abgespaltene morahsch-praktische Erörterung so weit von der Lebenspraxis entfernt, daß auch hier das Programm der Aufklärung in das der Aufhebung umschlagen konnte Seit den Tagen der Junghegehaner kursiert die Parole von der Aufhebung der Philosophie, seit Marx ist die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis gestellt Hier haben sich die Intellektuellen freilich mit der Arbeiterbewegung verbunden Nur an den Randern dieser sozialen Bewegung haben sektiererische Gruppen den Spielraum für ihre Versuche gefunden, das Programm der Aufhebung der Philosophie ähnlich durchzuspielen wie die Surrealisten die Melodie der Aufhebung der Kunst An den Folgen des Dogmatismus und des moralischen Rigorismus offenbart sich hier derselbe Fehler wie dort eine verdinglichte Alltagspraxis, die auf ein zwangloses Zusammenspiel des Kognitiven mit dem Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven angelegt ist, laßt sich nicht durch den Anschluß an jeweils einen der gewaltsam geöffneten kulturellen Bereiche kurieren Außerdem darf die praktische Entbindung und institutionelle Verkörperung des in Wissenschaft, Moral und Kunst angesammelten Wissens nicht verwechselt werden mit einer Kopie der Lebensführung von außeralltaglichen Repräsentanten dieser Wertspharen - mit der Verallgemeinerung der subversiven Kräfte, die Nietzsche, Bakunin, Baudelaire in ihrer Existenz ausgedruckt haben Gewiß, in bestimmten Situationen können terroristische Aktivitäten mit der Uberdehnung jeweils eines der kulturellen Momente zusammenhangen, also mit der Neigung, die Politik zu asthetisieren, sie durch moralischen Rigorismus zu ersetzen oder unter den Dogmatismus einer Lehre zu beugen Diese schwer greifbaren Zusammenhange sollten aber nicht dazu verleiten, bereits die Intentionen der unnachgiebigen Aufklarung als Ausgeburt einer »terroristischen Vernunft« zu diffamieren Wer das Projekt der Moderne mit der Bewußtseinslage und den offenthch-spektakularen Handlungen individueller Terroristen zusammenbringt, verhalt sich nicht weniger kurzschlussig als einer, der den unvergleichlich stetigeren und umfangreicheren bürokratischen Terror, der im Dunkeln, in den Kellern der Militär- und Geheimpolizei, in Lagern und psychiatrischen An-
stalten ausgeübt wird, zur raison d'etre des modernen Staates (und seiner positivistisch ausgehöhlten legalen Herrschaft) erkla ren wurde, nur weil dieser Terror sich der Mittel des staatlichen Zwangsapparates bedient Alternativen zur falschen Aufhebung der Kultur Ich meine, daß wir eher aus den Verirrungen, die das Projekt der Moderne begleitet haben, aus den Fehlern der verstiegenen Auf hebungsprogramme lernen, statt die Moderne und ihr Projekt selbst verloren geben sollten Vielleicht laßt sich am Beispiel der Kunstrezeption ein Ausweg aus den Aponen der kulturellen Moderne wenigstens andeuten Seit der in der Romantik entwickelten Kunstkritik hat es gegenläufige Tendenzen gegeben, die sich mit dem Auftreten avantgardistischer Strömungen starker polansie ren die Kunstkritik beansprucht einmal die Rolle der produkti ven Ergänzung zum Kunstwerk, ein anderes Mal die des Anwalts für den Interpretationsbedarf des breiten Publikums Die bürgerliche Kunst hat an ihre Adressaten beide Erwartungen gerichtet mal sollte sich der kunstgemeßende Laie zum Experten heranbilden, mal durfte er sich als Kenner verhalten, der ästhetische Erfahrungen auf eigene Lebensprobleme bezieht Vielleicht verlor diese zweite, scheinbar harmlosere Rezeptionsweise gerade dadurch, daß sie unklar mit der ersten verkettet blieb, ihre Radikalität Gewiß, die künstlerische Produktion muß semantisch verkümmern, wenn sie nicht als spezialisierte Bearbeitung von eigensinnigen Problemen, als Angelegenheit der Experten ohne Rucksicht auf exotensche Bedurfnisse betrieben wird Dabei lassen sich alle (auch der Kritiker als der fachlich geschulte Rezipient) darauf ein, daß die bearbeiteten Probleme unter genau einem abstrakten Geltungsaspekt aussortiert werden Diese scharfe Abgrenzung, diese Konzentration ausschließlich auf eine Dimension bricht aber zusammen, sobald die ästhetische Erfahrung in eine individuelle Lebensgeschichte eingeholt oder einer kollektiven Lebensform inkorporiert wird Die Rezeption durch den Laien, oder vielmehr durch den Experten des Alltags, gewinnt eine andere Richtung als die des professionellen, auf die kunstinterne Entwicklung blickenden Kritikers Albrecht Wellmer hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie eine ästhetische Erfahrung, die
nicht pnmar in Geschmacksurteile umgesetzt wird, ihren Stellenwert ändert Sobald sie explorativ für die Aufhellung einer lebensgeschichthchen Situation genutzt, auf Lebensprobleme bezogen wird, tritt sie in ein Sprachspiel ein, das nicht mehr das der ästhetischen Kritik ist Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretationen der Bedurfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen, sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle diese Momente auf einander verweisen Ein Beispiel für diese explorative, lebensorientierende Kraft, die von der Begegnung mit einem großen Gemälde zu einem Zeitpunkt, da sich eine Biographie zum Knoten schürzt, ausgehen kann, schildert Peter Weiss, als er seinen Helden, nach der verzweifelten Ruckkehr aus dem spanischen Burgerkrieg, durch Paris irren und in der Imagination jene Begegnung vorwegnehmen laßt, die wenig spater, im Louvre, vor Gencaults Gemälde der Schiffbruchigen, stattfinden wird Die Rezeptionsweise, die ich meine, wird in einer bestimmten Variante noch genauer getroffen durch den heroischen Aneignungsprozeß, den derselbe Autor im ersten Band seiner Ästhetik des Widerstands an einer Gruppe politisch motivierter, lernbegieriger Arbeiter, im Berlin des Jahres 1937, darstellt, an jungen Leuten, die auf einem Abendgymnasium die Mittel erwerben, um in die Geschichte, auch die Sozialgeschichte der europaischen Malerei einzudringen Sie hauen aus dem zähen Gestein dieses objektiven Geistes die Splitter heraus, die sie assimilieren, in den Erfahrungshorizont ihres von der Bildungstradition wie vom bestehenden Regime gleichweit entfernten Milieu einholen und so lange hin und her wenden, bis sie zu leuchten beginnen »Unsere Auffassung einer Kultur stimmte nur selten uberein mit dem, was sich als ein riesiges Reservoir von Gutern, von aufgestauten Erfindungen und Erleuchtungen darstellte Als Eigentumslose näherten wir uns dem Angesammelten zuerst beängstigt, voller Ehrfurcht, bis es uns klar wurde, daß wir dies alles mit unsern eigenen Bewertungen zu füllen hatten, daß der Gesamtbegriff erst nutzbar werden konnte, wenn er etwas über unsre Lebensbedingungen sowie die Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten unsrer Denkprozesse aussagte «9 In solchen Beispielen einer Aneignung der Expertenkultur aus 9 Dte Ästhetik des Widerstands, Bd I, Frankturt/M 1975, S 54
dem Blickwinkel der Lebenswelt wird etwas von der Intention der aussichtslosen surrealistischen Revolte, mehr noch von Brechts, selbst von Benjamins experimentellen Überlegungen zur Rezep tion mcht-auratischer Kunstwerke gerettet Ähnliche Uberlegun gen lassen sich für die Sphären von Wissenschaft und Moral anstel len, wenn man bedenkt, daß die Geistes-, Sozial- und Verhaltens Wissenschaften von der Struktur des handlungsonentierenden Wissens noch keineswegs ganz abgekoppelt sind, und daß die Zu spitzung universalistischer Ethiken auf Fragen der Gerechtigkeit durch eine Abstraktion erkauft ist, die nach einer Anknüpfung an die zunächst ausgeschiedenen Probleme des guten Lebens ver langt Eine differenzierte Ruckkoppelung der modernen Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen, durch bloßen Tra ditionahsmus aber verarmten Alltagspraxis wird freilich nur gelingen, wenn auch die gesellschaftliche Modernisierung in ändert nichtkapitalistische Bahnen gelenkt werden kann, wenn die Lc bensweit aus sich Institutionen entwickeln kann, die die systemi sehe Eigendynamik des wirtschaftlichen und des administrativen Handlungssystems begrenzt Drei Konservativismen Dafür sind, wenn ich mich nicht tausche, die Aussichten nicht gut So ist ein Klima entstanden, mehr oder weniger in der gesamten westlichen Welt, das modernismus-kntische Strömungen for dert Dabei dient die Ernüchterung, die die gescheiterten Programme der falschen Aufhebung von Kunst und Philosophie hinterlassen haben, dienen die sichtbar gewordenen Aponen der kulturellen Moderne als Vorwand für die konservativen Positio nen Lassen Sie mich den Antimodermsmus der Jungkonservati ven vom Pramodermsmus der Altkonservativen und dem Postmodernismus der Neukonservativen kurz unterscheiden Die Jungkonservativen machen sich die Grunderfahrung der ästhetischen Moderne, die Enthüllung der dezentrierten, von allen Beschrankungen der Kogmtion und der Zwecktatigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Nützlichkeit befreiten Subjek tivitat zu eigen - und brechen mit ihr aus der modernen Welt aus Mit modernistischer Attitüde begründen sie einen unversöhn-
lichen Antimodermsmus Sie verlegen die spontanen Kräfte der Imagination, der Selbsterfahrung, der Affektivitat ins Ferne und Archaische, und setzen der instrumenteilen Vernunft mamchaisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip entgegen, ob nun den Willen zur Macht oder die Souveränität, das Sein oder eine dionysische Kraft des Poetischen In Frankreich fuhrt diese Linie von George Bataille über Foucault zu Dernda Über allen schwebt naturlich der Geist des in den siebziger Jahren wiedererweckten Nietzsche Die Altkonservativen lassen sich von der kulturellen Moderne gar nicht erst anstecken Sie verfolgen den Zerfall der substantiellen Vernunft, die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverstandms und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Mißtrauen und empfehlen (worin Max Weber den Ruckfall in matenale Rationalitat gesehen hatte) eine Ruckkehr zu Positionen vor der Moderne Einen gewissen Erfolg hat vor allem der Neuanstotehsmus, der sich heute durch die ökologische Problematik zur Erneuerung einer kosmologischen Ethik anregen laßt Auf dieser Linie, die von Leo Strauss ausgeht, liegen beispielsweise interessante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spaemann Die Neukonservativen verhalten sich zu den Errungenschaften der Moderne noch am ehesten affirmativ Sie begrüßen die Entwicklung der modernen Wissenschaft, soweit diese ihre eigene Sphäre nur überschreitet, um den technischen Fortschritt, das kapitalistische Wachstum und eine rationale Verwaltung voranzutreiben Im übrigen empfehlen sie eine Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne Eine These lautet, daß die Wissenschaft, wenn man sie recht versteht, für die Onentierung in der Lebenswelt ohnehin bedeutungslos geworden ist Eine weitere These ist, daß die Politik tunlichst von Forderungen moralisch-praktischer Rechtfertigung freizuhalten ist Und eine dritte These behauptet die reine Immanenz der Kunst, bestreitet ihr den utopischen Gehalt, beruft sich auf ihren Scheincharakter, um die ästhetische Erfahrung im Privaten einzukapseln Man konnte den frühen Wittgenstein, den mittleren Carl Schmitt und den spaten Gottfried Benn als Zeugen anfuhren Mit der definitiven Eingrenzung von Wissenschaft, Moral und Kunst in den autonomen, von der Lebenswelt abgespaltenen, speziahstisch verwalteten Sphären bleibt von der kulturellen Moderne
nur noch zurück, was von ihr unter Verzicht auf das Projekt der Moderne zu haben ist Für den freigewordenen Platz sind Traditionen vorgesehen, die nun von Begrundungsforderungen verschont bleiben; freilich ist nicht recht zu sehen, wie diese in der modernen Welt anders denn durch die Ruckendeckung von Kultusministerien überdauern sollten. Diese Typologie ist wie jede eine Vereinfachung; aber für die Analyse der geistig-politischen Auseinandersetzungen heute mag sie nicht ganz unbrauchbar sein Wie ich furchte, gewinnen die Ideen des Antimodernismus, mit dem Zusatz einer Prise von Pramodermsmus, im Umkreis der grünen und der alternativen Gruppen an Boden. Im Bewußtseinswandel der politischen Parteien zeichnet sich hingegen ein Erfolg der Tendenzwende, und das heißt des Bündnisses der Postmodernen mit den Pramodernen ab. Auf Intellektuellenschelte und Neukonservativismus, so scheint mir, hat keine der Parteien ein Monopol. Ich habe deshalb, und erst recht nach den klarenden Feststellungen, die Sie, Herr Oberburgermeister Wallmann, in Ihrer Einleitung getroffen haben, guten Grund, für den liberalen Geist dankbar zu sein, in dem mir die Stadt Frankfurt einen Preis verleiht, der mit dem Namen Adornos verbunden ist, mit dem Namen eines Sohnes dieser Stadt, der als Philosoph und Schriftsteller, wie kaum ein zweiter in der Bundesrepublik, das Bild des Intellektuellen geprägt hat, für Intellektuelle zum Vorbild geworden ist.
Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien I Seit dem spaten 18. Jahrhundert bildet sich in der westlichen Kultur ein neues Zeitbewußtsein aus ' Wahrend im christlichen Abendland die »neue Zeit« das künftige, erst mit dem Jüngsten Tag anbrechende Weltalter bezeichnet hatte, heißt »Neuzeit« von nun an die eigene, die gegenwartige Periode. Die Gegenwart versteht sich jeweils als ein Übergang zum Neuen; sie lebt im Bewußtsein der Beschleunigung geschichtlicher Ereignisse und in der Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft. Der epochale Neubeginn, der den Bruch der modernen Welt mit der Welt des christlichen Mittelalters und des Altertums markiert, wiederholt sich gleichsam mit jedem gegenwartigen Moment, der Neues aus sich gebiert. Die Gegenwart verstetigt den Bruch mit der Vergangenheit als kontinuierliche Erneuerung Der zur Zukunft geöffnete Horizont gegenwartsbezogener Erwartungen dirigiert auch den Zugriff auf Vergangenes. Die Geschichte wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als ein weitumgreifender, problemerzeugender Prozeß begriffen. In ihm gilt Zeit als knappe Ressource für die zukunftsonentierte Bewältigung von Problemen, die uns die Vergangenheit hinterlaßt. Exemplarische Vergangenheiten, an denen sich die Gegenwart unbedenklich orientieren konnte, sind verblaßt. Die Moderne kann ihre orientierenden Maßstabe nicht mehr den Vorbildern anderer Epochen entlehnen Die Moderne sieht sich ausschließlich auf sich gestellt - sie muß ihre Normativitat aus sich selber schöpfen Die authentische Gegenwart ist von nun an der Ort, wo sich Traditionsfortsetzung und Innovation verschränken. Die Entwertung exemplarischer Vergangenheit und der Zwang, den eigenen, den modernen Erfahrungen und Lebensformen normativ gehaltvolle Prinzipien abzugewinnen, erklart die veränderte Struktur des »Zeitgeistes«. Der Zeitgeist wird zum Medium, I Ich folge den ausgezeichneten Untersuchungen von R Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M 1979
in dem sich fortan das politische Denken und die politische Aus einandersetzung bewegen Der Zeitgeist erhalt Anstoße von zwei kontraren, aber aufeinander verwiesenen und sich durchdringen den Denkbewegungen der Zeitgeist entzündet sich an dem Zu sammenstoß von geschichtlichem und utopischem Denken2 Auf den ersten Blick schließen sich diese beiden Denkweisen aus Dis erfahrungsgesattigte historische Denken scheint dazu berufen zu sein, die utopischen Entwürfe zu kritisieren, das uberschwengh ehe utopische Denken scheint die Funktion zu haben, Handlungs alternativen und Moghchkeitsspielraume zu erschließen, die über die geschichtlichen Kontinuitäten hinausschießen Tatsachlich hat aber das moderne Zeitbewußtsein einen Horizont eröffnet, in dem das utopische mit dem geschichtlichen Denken verschmilzt Dieses Einwandern utopischer Energien ins Geschichtsbewußt sein kennzeichnet jedenfalls den Zeitgeist, der die politische Öffentlichkeit der modernen Volker seit den Tagen der Franzosi sehen Revolution prägt Das von der Aktualität des Zeitgeistes angesteckte politische Denken, das dem Problemdruck der Gegenwart standhalten will, wird von utopischen Energien auf geladen - aber gleichzeitig soll dieser Erwartungsuberschuß am konservativen Gegengewicht geschichtlicher Erfahrungen kon trolhert werden »Utopie« wird, seit dem frühen 19 Jahrhundert, zu einem poli tischen Kampfbegriff, den jeder gegen jeden verwendet Zunächst wird der Vorwurf gegen das abstrakte Aufklarungsdenken und dessen liberale Erben ins Feld gefuhrt, dann natürlich gegen Sozia listen und Kommunisten, aber auch gegen die konservativen Ul tras - gegen die einen, weil sie eine abstrakte Zukunft, gegen die an deren, weil sie eine abstrakte Vergangenheit beschworen Weil alle vom utopischen Denken infiziert sind, mochte niemand ein Uto pist sein 3 Thomas Morus' »Utopia«, Campanellas »Sonnenstaat<, Bacons »Nova Atlantis« - diese in der Renaissance entworfenen Raumutopien konnten noch »Staatsromane« genannt werden, weil ihre Autoren niemals einen Zweifel amfiktivenCharakter der Er Zahlung gelassen hatten Sie hatten paradiesische Vorstellungen in geschichtliche Räume und irdische Gegenweken ruckubersetzt, 2 Zum folgenden vgl J Rusen, Utopie und Geschichteym W Voßkamp (Hg ) Utopieforschung, Stuttgart 1982, Bd i, S 356ff 3 L Holscher, Der Begriff der Utopie als historische Kategorie, in Voßkamp aaO.Bd
1, S 4O2ff
eschatologische Erwartungen in profane Lebensmoghchkeiten zu ruckverwandelt Die klassischen Utopien vom besseren und ungefährdeteren Leben präsentierten sich, wie Founer bemerkt, als ein »Traum vom Guten - ohne Mittel zur Ausfuhrung desselben, ohne jylethode« Trotz ihres zeitkritischen Bezuges kommunizierten sie noch nicht mit der Geschichte Das ändert sich erst, als Mercier, ein Anhanger Rousseaus, mit seinem Zukunftsroman über das Paris un Jahre 2440, jene Inseln des Glucks aus räumlich entfernten Regionen in eine entfernte Zukunft projiziert - und damit eschatologische Erwartungen über die künftige Wiederherstellung des Paradieses auf die innerweltliche Achse eines historischen Fortschritts abbildet4 Sobald sich aber Utopie und Geschichte in dieser Weise berühren, verwandelt sich die klassische Gestalt der Utopie, streift der Staatsroman seine romanhaften Zuge ab Wer für die utopischen Energien des Zeitgeistes am empfindlichsten ist, wird von nun an die Verschmelzung des utopischen mit dem geschichtlichen Denken am energischsten betreiben Robert Owen und Saint-Simon, Founer und Proudhon lehnen den Utopismus heftig ab, und sie wiederum werden von Marx und Engels als »utopische Sozialisten« angeklagt Erst Ernst Bloch und Karl Mannheim haben in unserem Jahrhundert den Ausdruck »Utopie« vom Beigeschmack des Utopismus gereinigt und als unverdächtiges Medium für den Entwurf alternativer Lebensmoghchkeiten rehabilitiert, die im Geschichtsprozeß selber angelegt sein sollen Dem politisch wirksamen Geschichtsbewußtsein selbst ist eine utopische Perspektive eingeschrieben So jedenfalls schien es sich zu verhalten - bis gestern Heute sieht es so aus, als seien die utopischen Energien aufgezehrt, als hatten sie sich vom geschichtlichen Denken zurückgezogen Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert Die Zukunft ist negativ besetzt, an der Schwelle zum 21 Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefahrdung allgemeiner Lebensinteressen ab die Spirale des Wettrüstens, die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, die strukturelle Verarmung der Entwicklungslander, Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichgewichte in den entwickelten Landern, Probleme der 4 R Koselleck, Die Verzeithchung der Utopie, in Voßkamp, a a O , Bd }, S 1 ff, R Trousson, Utopie Geschichte Fortschritt, in Voßkamp, a a O , Bd 3 ,S ijff
Umweltbelastung, katastrophennah operierende Großtechnolo gien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewußtsein eingedrungen sind. Die Antworten der Intellektuel len spiegeln nicht weniger als die der Politiker Ratlosigkeit Es ist keineswegs nur Realismus, wenn eine forsch akzeptierte Ratlosigkeit mehr und mehr an die Stelle von zukunftsgenchteten Orientierungsversuchen tritt Die Lage mag objektiv unübersichtlich sein Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst II Für die Erschöpfung der utopischen Energien gibt es freilich gute Grunde Die klassischen Utopien haben die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben, für das gesellschaftlich organisierte Gluck ausgemalt, die mit geschichtlichem Denken verschmolzenen Sozialutopien, die seit dem 19 Jahrhundert in die politischen Auseinandersetzungen eingreifen, wecken realistischere Erwartungen Sie stellen Wissenschaft, Technik und Planung als verhei ßungsvolle und unbeirrbare Instrumente einer vernunftigen Kontrolle von Natur und Gesellschaft vor Genau diese Erwartung ist inzwischen durch massive Evidenzen erschüttert worden Die Kernenergie, die Waffentechnologie und das Vordringen in den Weltraum, die Genforschung und der biotechnische Eingriff ins menschliche Verhalten, Informationsverarbeitung, Datenerfassung und neue Kommunikationsmedien sind von Haus aus Techniken mit zwiespaltigen Folgen Und je komplexer die steue rungsbedurftigen Systeme werden, um so großer wird die Wahrscheinlichkeit dysfunktionaler Nebenfolgen Wir erfahren tag lieh, daß sich Produktivkräfte in Destruktivkrafte, Planungs kapazitaten in Storpotentiale verwandeln Deshalb nimmt es nicht wunder, daß heute vor allem jene Theorien an Einfluß ge winnen, die zeigen mochten, daß dieselben Kräfte der Machtsteigerung, aus denen die Moderne einst ihr Selbstbewußtsein und ihre utopischen Erwartungen geschöpft hat, tatsächlich Autono mie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung, Rationa htat in Unvernunft umschlagen lassen Dernda zieht aus Heideg
gers Kritik der neuzeitlichen Subjektivität den Schluß, daß wir der Tretmühle des abendländischen Logozentrismus nur durch ziellose Provokation entkommen können Statt die vordergründigen Kontingenzen m der Welt beherrschen zu wollen, sollten wir uns besser den geheimnisvoll verschlüsselten Kontingenzen der Welterschließung ergeben Foucault radikahsiert Horkheimers und Adornos Kritik der instrumenteilen Vernunft zu einer Theorie der Ewigen Wiederkehr der Macht Seine Botschaft vom immer gleichen Machtzyklus der immer neuen Diskurs-Formationen muß den letzten Funken von Utopie und von Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst ersticken Auf der intellektuellen Szene breitet sich der Verdacht aus, daß die Erschöpfung utopischer Energien nicht nur eine der vorübergehenden kulturpessimistischen Stimmungslagen anzeigt, sondern tiefer greift Sie konnte eine Veränderung des modernen Zeitbewußtseins überhaupt anzeigen Vielleicht lost sich jenes Amalgam von geschichtlichem und utopischem Denken wieder auf; vielleicht verwandeln sich die Struktur des Zeitgeistes und der Aggregatzustand der Politik Vielleicht wird das Geschichtsbewußtsein von seinen utopischen Energien eradaden wie am Ende des 18 Jahrhunderts die Paradieseshoffnungen mit der Verzeithchung der Utopien ins Diesseits eingewandert sind, so wurden heute, zweihundert Jahre danach, die utopischen Erwartungen ihren säkularen Charakter verlieren und wiederum religiöse Gestalt annehmen Ich halte diese These vom Anbruch der Postmoderne für unbegründet Nicht die Struktur des Zeitgeistes, nicht der Modus des Streites über künftige Lebensmoghchkeiten ändert sich, nicht die utopischen Energien überhaupt ziehen sich vom Geschichtsbewußtsein zurück An ein Ende gelangt ist vielmehr eine bestimmte Utopie, die sich in der Vergangenheit um das Potential der Arbeitsgesellschaft kristallisiert hat Die Klassiker der Gesellschaftstheone von Marx bis Max Weber waren sich dann einig, daß die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft durch abstiakte Arbeit, durch den Typus einer über den Markt gesteuerten, kapitalistisch verwerteten und betnebsformig organisierten Erwerbsarbeit geprägt ist Weil die Form dieser abstrakten Arbeit eine derart pragende, alle Bereiche penetnerende Kraft entfaltet hat, konnten sich auch die utopischen Erwartungen auf die Produktionssphare richten, kurz auf eine Emanzipa-
tion der Arbeit von Fremdbestimmung Die Utopien der frühen Sozialisten haben sich zum Bild der Phalanstere verdichtet - einer arbeitsgesellschafthchen Organisation freier und gleicher Produ zenten Aus der richtig eingerichteten Produktion selbst sollte die kommunale Lebensform frei assoziierter Arbeiter hervorgehen Die Idee der Arbeiterselbstverwaltung hat noch die Protestbewt gung der spaten sechziger Jahre inspirierts Bei aller Kritik am Fruhsoziahsmus hat auch Marx im ersten Teil der Deutschen Ideologie dieselbe arbeitsgesellschafthche Utopie verfolgt »Es ist also jetzt soweit gekommen, daß die Individuen sich die vornan dene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen Die Aneignung dieser Kräfte ist weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähig keiten Erst auf dieser Stufe fallt die Selbstbetätigung mit dem ma tenellen Leben zusammen, was der Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsig keit entspricht « Die arbeitsgesellschafthche Utopie hat heute ihre Uberzeu gungskraft eingebüßt - und dies nicht nur, weil die Produktiv krafte ihre Unschuld verloren haben oder weil die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln offensichtlich mcht per se in Arbeiterselbstverwaltung einmundet Vor allem hat die Utopie ihren Bezugspunkt in der Realität verloren die struk turbildende und gesellschaftsformierende Kraft der abstrakten Arbeit Claus Offe hat überzeugende »Anhaltspunkte für die objektiv abnehmende Determinationskraft der Tatbestande von Ar beit, Produktion und Erwerb für die Gesellschaftsverfassung und die Gesellschaftsentwicklung im ganzen« zusammengetragen' Wer eine der seltenen Schriften aufschlagt, die heute noch einen utopischen Bezug schon im Titel anzukündigen wagen - ich meine Andre Gorz' Wege ins Paradies -, wird diese Diagnose be statigt finden Gorz begründet seinen Vorschlag, auf dem Wege eines garantierten Mindesteinkommens Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, mit dem Abschied von jener Marxschen Erwar
jyg, daß Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben noch zusammenfallen könne Aber warum sollte die schwindende Überzeugungskraft der arbeitsgesellschafthchen Utopie für die breitere Öffentlichkeit von Bedeutung sein und eine allgemeine Erschöpfung utopischer Antriebe erklaren helfen5 Nun, diese Utopie hat nicht nur Intellektuelle angezogen Sie hat die europaische Arbeiterbewegung inspiriert und in unserem Jahrhundert in drei sehr verschiedenen, aber weltgeschichtlich wirksam gewordenen Programmatiken ihre Spuren hinterlassen In Reaktion auf die Folgen des Ersten Weltkrieges und die Weltwirtschaftskrise haben sich die entsprechenden politischen Strömungen durchgesetzt der Sowjetkommunismus in Rußland, der autoritäre Korporatismus im faschistischen Italien, im NS-Deutschland und im falangistischen Spanien, und der sozialdemokratische Reformismus in den Massendemokratien des Westens Allein dieses Sozialstaatsprojekt hat sich das Erbe der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen, den demokratischen Verfassungsstaat, zu eigen gemacht Obschon aus der sozialdemokratischen Tradition hervorgegangen, ist es keineswegs nur von sozialdemokratisch geführten Regierungen verfolgt worden Nach dem Zweiten Weltkrieg haben in westlichen Landern alle regierenden Parteien ihre Mehrheiten mehr oder weniger prononciert im Zeichen sozialstaathcher Zielsetzungen gewonnen Seit Mitte der siebziger Jahre kommen aber die Grenzen des sozialstaatlichen Projektes zu Bewußtsein ohne daß bis jetzt eine klare Alternative erkennbar wäre Ich mochte deshalb meine These dahingehend präzisieren, daß die Neue Unübersichtlichkeit zu einer Situation gehört, in der eine immer noch von der arbeitsgesellschafthchen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen
5 Aus dieser Perspektive hat Oskar Negt eine bemerkenswerte Studie vorgt legt Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, Frankfurt/ M 1984 6 C Otfe, Arbelt als soziologische Schlusselkategone in ders , Arbeitsgesell schaft - Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt/M 1984
Der utopische Kern, die Befreiung von heteronomer Arbeit, hatte freilich im sozialstaatlichen Projekt eine andere Form angenommen Die menschenwürdigen, emanzipierten Lebensverhaltnisse sollen nicht mehr unmittelbar aus einer Revolutionierung der Ar-
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beitsverhaltnisse, also aus der Umwandlung von heteronomtr Arbeit in Selbsttätigkeit hervorgehen Reformierte Beschafti gungsverhaltnisse behalten jedoch einen zentralen Stellenwert auch in diesem Projekt7 Sie bleiben der Bezugspunkt nicht nur für Maßnahmen der Humanisierung einer weiterhin fremdbe stimmten Arbeit, sondern vor allem für die kompensatonschen Leistungen, die die Grundrisiken der Lohnarbeit (Unfall, Krank heit, Verlust des Arbeitsplatzes, unversorgtes Alter) auffangen sollen Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß alle Arbeitsfahl gen in das derart abgeschliffene und abgefederte Beschaftigungs System eingegliedert werden müssen - also das Ziel der Vollbe schaftigung Der Ausgleich funktioniert nur, wenn die Rolle des vollzeitbeschaftigten Lohnempfängers zur Norm wird Für Bela stungen, die mit einem gepolsterten Status abhangiger Erwerbs arbeit immer noch verknüpft sind, wird der Burger in seiner Rolle als Klient wohlfahrtsstaathcher Bürokratien mit Rechtsanspru chen, und m seiner Rolle als Konsument von Massengutern mit Kaufkraft entschädigt Der Hebel für die Befriedung des Klas senantagomsmus bleibt also die Neutralisierung des im Lohnar beiterstatus angelegten Konfliktstoffes Dieses Ziel soll auf dem Wege über die sozialstaatliche Gesetz gebung und die Kollektivverhandlungen unabhängiger Tanfpar teien erreicht werden Die sozialstaathchen Politiken beziehen ihre Legitimation aus allgemeinen Wahlen und finden in autono men Gewerkschaften wie in Arbeiterparteien ihre gesellschaft liehe Basis Über den Erfolg des Projektes entscheidet freilich erst die Macht und Handlungsfähigkeit eines interventionistischen Staatsapparates Der soll ins Wirtschaftssystem mit dem Ziel ein greifen, das kapitalistische Wachstum zu hegen, die Krisen zu glatten, gleichzeitig die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern, damit Zuwachse ent stehen, aus denen umverteilt werden kann, ohne die privaten In vestoren zu entmutigen Das beleuchtet die methodische Seite der sozialstaatliche Kompromiß und die Befriedung des Klassenant agomsmus sollen dadurch erreicht werden, daß demokratisch le gitimierte staatliche Macht zur Hegung und zur Zähmung des naturwüchsigen kapitalistischen Wachstumsprozesses eingesetzt
wird Die substantielle Seite des Projektes zehrt von Resten der arbeitsgesellschaftlichen Utopie indem der Status der Arbeitneh m er durch staatsbürgerliche Teilnahme- und soziale Teilhaberechte normalisiert wird, erhalt die Masse der Bevölkerung die Chance, in Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und wachsendem Wohlstand zu leben Dabei wird vorausgesetzt, daß zwischen De rnokratie und Kapitalismus durch staatliche Interventionen eine friedliche Koexistenz gesichert werden kann In den entwickelten Industriegesellschaften des Westens konnte diese prekäre Bedingung im großen und ganzen erfüllt werden, jedenfalls unter den gunstigen Konstellationen der Nachkriegsund Wiederaufbauperiode Aber nicht mit der seit den siebziger Jahren veränderten Konstellation will ich mich beschäftigen, nicht mit den Umstanden, sondern mit den inneren Schwiengkei ten, die dem Sozialstaat aus seinen eigenen Erfolgen entstehen8 In dieser Hinsicht sind immer wieder zwei Fragen aufgetaucht Ver fugt der interventionistische Staat über genügend Macht, und kann er effizient genug arbeiten, um das kapitalistische Wirt Schaftssystem im Sinne seiner Programmatik zu bandigen5 Und ist der Einsatz politischer Macht die richtige Methode, um das substantielle Ziel der Forderung und Sicherung menschenwürdiger, emanzipierter Lebensformen zu erreichen' Es handelt sich also erstens um die Frage nach den Grenzen der Versohnbarkeit von Kapitalismus und Demokratie und zweitens um die Frage nach den Möglichkeiten, neue Lebensformen mit rechtheh-burokratischen Mitteln hervorzubringen Ad 1) Von Anfang an hat sich der Nationalstaat als ein zu en ger Rahmen erwiesen, um die keynesiamschen Wirtschaftspolitiken nach außen, gegen die Imperative des Weltmarktes und die Investitionspohtik weltweit operierender Unternehmen hinreichend abzusichern Sichtbarer sind aber die Grenzen der In terventionsmacht und der Interventionsfahigkeit des Staates im Inneren Hier stoßt der Sozialstaat, je erfolgreicher er seine Programme durchsetzt, um so deutlicher, auf den Widerstand der pn vaten Investoren Es gibt natürlich viele Ursachen für eine ver schlechterte Rentabilität der Unternehmen, für schwindende Investitionsbereitschaften und fallende Wachstumsraten Aber
7 Aus dieser Perspektive H Kern und M Schumann Das hnde der Arbeits teilung* München 1984
8 Zum folgenden vgl C Offe 7u einigen "Widersprüchen des modernen So zialstaates in ders Arbeltsgesellschaft a a O S 323fr J Keane Public Life and Late Capitahsm Cambridge 1984 Ch 1 S ioff
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die Verwertungsbedingungen des Kapitals bleiben eben auch vom Ergebnis der sozialstaatlichen Politiken nicht unberührt, weder tatsächlich noch - und erst recht nicht - in der sub]ektivcn Wahrnehmung der Unternehmen Zudem verstarken wachsende Lohn- und Lohnnebenkosten die Neigung zu Rationahsierungsmvestitionen, die - im Zeichen einer zweiten industriellen Revolution - die Arbeitsproduktivität so erheblich steigern und die gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeitszeit so erheblich senken, daß trotz des säkularen Trends zur Arbeitszeitverkürzung immer mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden Wie dem auch sei - in einer Situation, in der mangelnde Investitionsbereitschaft und wirt schafthehe Stagnation, steigende Arbeitslosigkeit und die Krise öffentlicher Haushalte auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit den Kosten des Wohlfahrtsstaates in eine suggestive Verbindung gebracht werden können, machen sich die strukturellen Beschrankungen fühlbar, unter denen der sozialstaatliche Kompromiß gefunden und aufrechterhalten worden ist Weil der Sozialstaat die Funktionsweise des Wirtschaftssystems unangetastet lassen muß, hat er nicht die Möglichkeit, auf die private Investitionstätigkeit anders als durch systemkonforme Eingriffe Einfluß zu nehmen. Er hatte dazu auch gar nicht die Macht, weil sich die Umverteilung von Einkommen im wesentlichen auf eine horizontale Umschichtung innerhalb der Gruppe der abhangig Beschäftigten beschrankt und die klassenspezifische Vermögens Struktur, insbesondere die Verteilung des Eigentums an Produktionsmitteln, nicht berührt So schlittert gerade der erfolgreiche Sozialstaat in eine Situation, in der die Tatsache zu Bewußtsein kommen muß, daß er selbst keine autonome »Quelle von Wohlstand« ist und Arbeitsplatzsicherheit nicht als Burgerrecht garan tieren kann (C. Offe) In einer solchen Situation gerat der Sozialstaat zugleich in die Gefahr, daß ihm seine gesellschaftliche Basis wegrutscht Die aufwartsmobilen Wahlerschichten, die von der Sozialstaatsentwicklung unmittelbar den größten Nutzen hatten, können in Krisenzeiten eine Mentalität der Besitzstandswahrung ausbilden und sich mit dem alten Mittelstand, überhaupt mit den »produktivistisch« gesonnenen Schichten zu einem defensiven Block gegen die unterpnvilegierten oder ausgegrenzten Gruppen zusammenschließen Durch eine solche Umschichtung der Wahlerbasis sind in erster Linie die Parteien bedroht, die sich, wie die Demokraten
in den USA, die englische Labour Party oder die deutsche Sozialdemokratie, über Jahrzehnte auf ein festes sozialstaathches Klientel verlassen konnten Gleichzeitig geraten die Gewerkschaftsorganisationen durch die veränderte Situation des Arbeitsmarktes unter Druck, ihr Drohpotential wird geschwächt, sie verlieren Mitglieder und Beitrage und sehen sich zu einer Verbandspolitik gedrangt, die auf die kurzfristigen Interessen der noch Beschäftigten zugeschnitten ist Ad 2). Selbst wenn der Sozialstaat unter glücklicheren Rahnienbedingungen die Nebenwirkungen seines Erfolgs, die seine eigenen Funktionsbedingungen gefährden, verzogern oder ganz vermeiden konnte, bliebe ein weiteres Problem ungelöst. Die Anwalte des sozialstaatlichen Projektes hatten immer nur in eine Richtung geblickt. Im Vordergrund stand die Aufgabe, die naturwüchsige ökonomische Macht zu disziplinieren und die zerstörerischen Auswirkungen eines krisenhaften ökonomischen Wachstums von der Lebenswelt der abhangig Arbeitenden abzuwenden. Die parlamentarisch errungene Regierungsmacht erschien als eine ebenso unschuldige wie unerläßliche Ressource; aus ihr mußte der interventionistische Staat gegenüber dem systemischen Eigensinn der Ökonomie Starke und Handlungsfähigkeit schöpfen Daß der aktive Staat nicht nur in den Wirtschaftskreislauf, sondern auch in den Lebenskreislaut seiner Burger eingriff, hatten die Reformer als ganz unproblematisch angesehen - die Reform der Lebensbedingungen der Beschäftigten war ja das Ziel der sozialstaatlichen Programme Tatsachlich ist auf diesem Wege ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit errungen worden Aber gerade diejenigen, die diese historische Errungenschaft des Sozialstaates anerkennen und sich die Kritik an seinen Schwachen nicht zu billig machen, erkennen inzwischen auch den Fehlschlag, der nicht diesem oder jenem Hindernis, nicht einer halbherzigen Verwirklichung des Projektes zuzuschreiben ist, sondern einer spezifischen Einaugigkeit dieses Projektes selber. Ausgeblendet ist jede Skepsis gegenüber dem vielleicht unerläßlichen, aber nur vermeintlich unschuldigen Medium der Macht. Die sozialstaatlichen Programme verbrauchen davon eine ganze Menge, damit sie Gesetzeskraft erlangen, aus öffentlichen Haushalten finanziert - und in der Lebenswelt ihrer Nutznießer implementiert werden können. So überzieht ein immer dichteres Netz von Rechtsnormen, von staatlichen und parastaathehen 37
Bürokratien den Alltag der potentiellen und tatsächlichen Klienten Ausgedehnte Diskussionen über Verrechtlichung und Burokratisierung im allgemeinen, über die kontraproduktiven Wirkungen der staatlichen Sozialpolitik im besonderen, über Professionahsierung und Verwissenschaftlichung der sozialen Dienste haben die Aufmerksamkeit auf Tatbestande gelenkt, die eines deutlich machen die rechtlich-administrativen Mittel der Umsetzung sozialstaathcher Programme stellen kein passives, gleichsam eigenschaftsloses Medium dar Vielmehr ist mit ihnen eine Praxis der Tatbestandsvereinzelung, der Normalisierung und der Über wachung verknüpft, deren verdinglichende und subjektivierende Gewalt Foucault bis in die feinsten kapillanschen Verästelungen der Alltagskommumkation hinein verfolgt hat Die Verformungen einer reglementierten, zergliederten, kontrollierten und betreuten Lebenswelt sind gewiß sublimer als die handgreiflichen Formen von materieller Ausbeutung und Verelendung, aber die aufs Psychische und Körperliche abgewalzten und vennnerhchten sozialen Konflikte sind darum nicht weniger destruktiv Kurzum, dem sozialstaathchen Projekt als solchem wohnt der Widerspruch zwischen Ziel und Methode inne Sem Ziel ist die Stiftung von egalitär strukturierten Lebensformen, die zugleich Spielräume für individuelle Selbstverwirkhchung und Spontaneität freisetzen sollten Aber offensichtlich kann dieses Ziel nicht auf dem direkten Wege einer rechtlich-administrativen Umsetzung politischer Programme erreicht werden Mit der Hervorbnngung von Lebensformen ist das Medium Macht überfordert
IV Anhand von zwei Problemen habe ich Hindernisse behandelt, die sich der erfolgreiche Sozialstaat selbst in den Weg legt. Damit will ich nicht sagen, daß die Sozialstaatsentwicklung eine Fehlspeziahsierung gewesen ist Im Gegenteil die sozialstaathchen Institutionen kennzeichnen in nicht geringerem Maße als die Einrichtungen des demokratischen Verfassungsstaates einen Entwicklungsschub des politischen Systems, zu dem es in Gesellschaften unseres Typs keine erkennbare Alternative gibt - weder im Hinblick auf die Funktionen, die der Sozialstaat erfüllt, noch im Hinblick auf die
normativ gerechtfertigten Forderungen, denen er genügt Vor allern die in der Sozialstaatsentwicklung noch zurückgebliebenen Lander haben keinen plausiblen Grund, von diesem Pfad abzuweichen. Es ist gerade die Alternativenlosigkeit, vielleicht sogar Irreversibilität dieser immer noch umkämpften Kompromißstrukturen, die uns heute vor das Dilemma stellen, daß der entwikkelte Kapitalismus ebensowenig ohne den Sozialstaat leben kann -wie mit dessen weiterem Ausbau Die mehr oder weniger ratlosen Reaktionen auf dieses Dilemma zeigen, daß das politische Anregungspotential der arbeitsgesellschaftlichen Utopie erschöpft ist.
Mit C Offe lassen sich in Landern wie der Bundesrepublik und den USA drei Reaktionsmuster unterscheiden '' Der mdustnegesellschafthch-sozialstaatliche Legitimismus der rechten Sozialdemokratie befindet sich in der Defensive Diese Kennzeichnung verstehe ich in einem weitgefaßten Sinne, so daß sie beispielsweise auch auf den Mondale-Flugel der Demokraten in den USA oder auf die zweite Regierung unter Mitterand Anwendung finden kann. Die Legitimisten streichen aus dem sozialstaathchen Projekt genau die Komponente, die es der arbeitsgesellschaftlichen Utopie entlehnt hatte Sie verzichten auf das Ziel, die heteronome Arbeit so weit zu bezwingen, daß der in die Produktionssphare hineinreichende Status des freien und gleichberechtigten Burgers zum Knstallisationskern autonomer Lebensformen werden kann Die Legitimisten sind heute die eigentlich Konservativen, die das Erreichte stabilisieren mochten Sie hoffen, den Gleichgewichtspunkt zwischen Sozialstaatsentwicklung und marktwirtschaftlicher Modernisierung wieder ausfindig zu machen Die gestörte Balance zwischen demokratischen Gebrauchswertorientierungen und abgemilderter kapitalistischer Eigendynamik soll sich wieder einpendeln Diese Programmatik ist auf die Bewahrung sozialstaatlicher Besitzstande fixiert Sie verkennt aber die Widerstandspotentiale, die sich im Sog einer fortschreitenden bürokratischen Erosion der aus naturwüchsigen Zusammenhangen freigesetzten, kommunikativ strukturierten Lebenswelten ansammeln; ebensowenig nimmt sie Verschiebungen in der sozialen und der gewerkschaftlichen Basis ernst, auf die sich die sozialstaathchen Politiken 9 C Offe, Perspektiven aufdie Zukunft gesellschaft, a a O , S 340ff
des Arbeltsmarktes,
in ders , Arbelts-
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bisher stutzen konnten. Im Hinblick auf die Umschichtungen der Wahlerstruktur und die Schwächung der gewerkschaftlichen Position droht einer solchen Politik ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit Im Aufwind befindet sich der Neokonservatwismus, der ebenfalls industriegesellschaftlich orientiert ist, aber entschieden sozialstaatskntisch auftritt. Die Reagan-Administration und die Regierung von Margaret Thatcher sind in seinem Namen angetreten, die konservative Regierung in der Bundesrepublik ist auf eine ähnliche Linie eingeschwenkt. Der Neokonservativismus ist im wesentlichen durch drei Komponenten gekennzeichnet. Erstens: Eine angebotsonenüerte Wirtschaftspolitik soll die Verwertungsbedingungen des Kapitals verbessern und den Akkumulationsprozeß wieder in Gang setzen Sie nimmt, der Intention nach nur vorübergehend, eine relativ hohe Arbeitslosenquote in Kauf. Die Einkommensumschichtung geht, wie die Statistiken in den USA belegen, zu Lasten der ärmeren Bevolkerungsgruppen, wahrend nur die großen Kapitalbesitzer deutliche Einkommensverbesserungen erzielen. Damit gehen deutliche Einschränkungen sozialstaatlicher Leistungen Hand in Hand Zweitens' Die Legitimationskosten des politischen Systems sollen gesenkt werden »Anspruchsinflation« und »Unregierbarkeit« sind Stichworte für eine Politik, die auf eine stärkere Entkoppelung von Administration und öffentlicher Willensbildung abzielt In diesem Zusammenhang werden neokorporatistische Entwicklungen gefordert, also eine Aktivierung des nicht-staatlichen Steuerungspotentials von Großverbanden, in erster Linie von Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften Die Verlagerung von normativ geregelten parlamentarischen Zuständigkeiten auf nur noch funktionierende Verhandlungssysteme macht den Staat zu einem Verhandlungspartner unter anderen Die Kompetenzverschiebung in die neokorporativen Grauzonen entzieht immer mehr gesellschaftliche Materien einem Entscheidungsmodus, der durch Verfassungsnormen darauf verpflichtet ist, alle jeweils berührten Interessen gleichmaßig zu berücksichtigen lc Drittens: Schließlich erhalt die Kulturpolitik den Auftrag, 10 C Offe, Korporatismus als System mehtstaatheher Machtsteuerung, in Geschichte und Gesellschaft, 10 Jg , 1984, S 234ff , mr systemtheoreti sehen Rechtfertigung des Neokorporatismus vgl H Willke, Entlaube rungdes Staates, Konigstein 1983
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^ zwei Fronten zu operieren. Sie soll einerseits die Intellektuellen als die zugleich machtbesessene und unproduktive Tragerschicht des Modernismus in Mißkredit bringen, denn postmatenelle Werte, vor allem die expressiven Bedurfnisse nach Selbstver•arirklichung und die kritischen Urteile einer universalistischen Aufklarungsmoral, gelten als Bedrohung für die motivationalen Grundlagen einer funktionierenden Arbeltsgesellschaft und der entpolitisierten Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite soll die traditionelle Kultur, sollen die haltenden Machte der konventionellen Sittlichkeit, des Patriotismus, der bürgerlichen Religion und der Volkskultur gepflegt werden. Diese sind dazu da, um die private Lebenswelt für die persönlichen Belastungen zu entschädigen und gegen den Druck von Konkurrenzgesellschaft und beschleunigter Modernisierung abzufedern. Die neokonservative Politik hat eine gewisse Chance der Durchsetzung, wenn sie in jener zweigeteilten segmentierten Gesellschaft, die sie zugleich fordert, eine Basis findet Die ausgegrenzten oder an den Rand gedruckten Gruppen verfugen über keine Vetomacht, da sie eine ausgehaltene, aus dem Produktionsprozeß ausgegliederte Minderheit darstellen Das Muster, das sich im internationalen Rahmen zwischen den Metropolen und der unterentwickelten Peripherie mehr und mehr eingespielt hat, scheint sich im Inneren der entwickeltsten kapitalistischen Gesellschaften zu wiederholen, die etablierten Machte sind für ihre eigene Reproduktion auf die Arbeit und die Kooperationsbereitschaft der Verarmten und Entrechteten immer weniger angewiesen. Allerdings muß sich eine Politik nicht nur durchsetzen können, sie muß auch funktionieren. Eine entschlossene Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses mußte aber Funktionslucken hinterlassen, die nur durch Repression oder Verwahrlosung geschlossen werden konnten Ein drittes Reaktionsmuster zeichnet sich ab in der Dissidenz von Wacbstumskritikem, die gegenüber dem Sozialstaat eine ambivalente Einstellung haben So sammeln sich beispielsweise in den Neuen Sozialen Bewegungen der Bundesrepublik Minderheiten der verschiedensten Herkunft zu einer »antiproduktivistischen Allianz« - Alte und Junge, Frauen und Arbeitslose, Schwule und Behinderte, Glaubige und Ungläubige. Was sie einigt, ist die Ablehnung jener produktivistischen Fortschrittsvision, die die Legitimisten mit den Neokonservativen teilen Für
diese beiden Parteien liegt der Schlüssel zur möglichst knsenfreien gesellschaftlichen Modernisierung dann, die Aufteilung der Problemlasten zwischen den Subsystemen Staat und Wirtschaft richtig zu dosieren. Die einen sehen die Krisenursachen in der entfesselten Eigendynamik der Wirtschaft, die anderen in den bürokratischen Fesseln, die dieser auferlegt werden Soziale Bändigung des Kapitalismus oder Ruckverlagerung der Probleme von der planenden Verwaltung auf den Markt sind die entsprechenden Therapien. Die eine Seite sieht in der monetansierten Arbeitskraft, die andere in der bürokratischen Lahmung von Eigeninitiative die Quelle von Störungen. Aber beide Seiten stimmen darin uberein, daß die schutzbedurftigen Interaktionsbereiche der Lebenswelt gegenüber den eigentlichen Motoren der gesellschaftlichen Modernisierung, Staat und Ökonomie, nur eine passive Rolle einnehmen können. Beide Seiten sind davon überzeugt, daß die Lebenswelt von diesen Subsystemen hinreichend entkoppelt und gegen systemische Übergriffe geschützt werden kann, wenn sich Staat und Ökonomie nur im richtigen Verhältnis erganzen und gegenseitig stabilisieren. Allein die industriegesellschaftlichen Dissidenten gehen davon aus, daß die Lebenswelt durch Kommodifizierung und Burokratisierung in gleichem Maße bedroht ist - keines der beiden Medien, weder Macht noch Geld, ist von Haus aus »unschuldiger« als das jeweils andere Allein die Dissidenten halten es auch für notwendig, daß die Autonomie einer in ihren vitalen Grundlagen und in der kommunikativen Innenausstattung bedrohten Lebenswelt gestärkt wird Nur sie fordern, daß die Eigendynamik der über Macht und Geld gesteuerten Subsysteme durch Formen basisnaher und selbstverwalteter Organisationen gebrochen, wenigstens eingedämmt werden sollte. In diesem Zusammenhang kommen dualwirtschafthche Konzepte und Vorschlage zur Entkoppelung von sozialer Sicherung und Beschäftigung ins Spiel'' Die Entdifferenzierung soll freilich nicht nur an der Rolle des Erwerbstätigen, sondern auch an der des Konsumenten, des Staatsburgers und des Klienten wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien ansetzen. Die industriegesellschaftlichen Dissidenten beerben mithin die Sozialstaatsprogrammatik in der von den Legitimisten ii Th Schmid, Befreiung von falscher Arbeit Thesen zum garantierten Mm desteinkommen, Berlin 1984
eisgegebenen, radikaldemokratischen Komponente Allein, soweit sie über bloße Dissidenz nicht hinausgehen, soweit sie im pundamentahsmus der Großen Weigerung befangen bleiben und nicht mehr anbieten als Negativprogramme des Wachstumsstops und der Entdifferenzierung, fallen sie hinter eine Einsicht des Sozialstaatsprojektes zurück In der Formel von der sozialen Bändigung des Kapitalismus steckte ja nicht nur die Resignation vor der Tatsache, daß sich das Gehäuse einer komplexen Marktwirtschaft nicht mehr mit den einfachen Rezepten der Arbeiterselbstverwaltung von innen aufsprengen und demokratisch umformen laßt. Jene Formel enthielt auch die Einsicht, daß eine von außen ansetzende, indirekte Einflußnahme auf Mechanismen der Selbststeuerung etwas Neues erfordert, nämlich eine höchst innovative Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschrankung. Dem lag freilich zunächst die Vorstellung zugrunde, daß die Gesellschaft mit dem neutralen Mittel politisch-administrativer Macht gefahrlos auf sich selber einwirken könne. Wenn jetzt nicht mehr nur der Kapitalismus, sondern der interventionistische Staat selber »sozial gebändigt« werden soll, kompliziert sich die Aufgabe erheblich. Denn dann kann jene Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschrankung nicht langer der staatlichen Planungskapazitat anvertraut werden Wenn sich Eindämmung und indirekte Steuerung nun auch gegen die Eigendynamik der öffentlichen Verwaltung richten sollen, muß das erforderliche Reflexions- und Steuerungspotential woanders gesucht werden, und zwar in einem vollständig veränderten Verhältnis zwischen autonomen, selbstorganisierten Öffentlichkeiten einerseits, den über Geld und administrative Macht gesteuerten Handlungsbereichen andererseits Daraus ergibt sich die schwierige Aufgabe, die demokratische Verallgemeinerung von Interessenlagen und eine universalistische Rechtfertigung von Normen bereits unterhalb der Schwelle der zu Großorganisationen verselbständigten und ins politische System gleichsam abgewanderten Parteiapparate zu ermöglichen. Ein naturwüchsiger Pluralismus von abwehrenden Subkulturen, der nur aus spontaner Verweigerung hervorginge, mußte sich an den Normen staatsbürgerlicher Gleichheit vorbeientwickeln Es entstünde dann lediglich eine Sphäre, die sich zu den neokorporatistischen Grauzonen spiegelbildlich verhielte.
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V Die Sozialstaatsentwicklung ist in eine Sackgasse geraten. Mit ihr erschöpfen sich die Energien der arbeitsgesellschaftlichen Utopie. Die Antworten der Legitimisten und der Neokonservativen bewegen sich im Medium eines Zeitgeistes, der nur noch defensiv ist; sie drücken ein Geschichtsbewußtsein aus, das seiner utopischen Dimension beraubt ist. Auch die Dissidenten der Wächstumsgesellschaft verharren in der Defensive. Ihre Antwort könnte nur ins Offensive gewendet werden, wenn das Sozialstaatsprojekt nicht einfach festgeschrieben oder abgebrochen, sondern auf höherer Reflexionsstufe fortgesetzt würde. Das reflexiv gewordene, nicht nur auf die Zähmung der kapitalistischen Ökonomie, sondern auf die Bändigung des Staates selbst gerichtete Sozialstaatsprojekt verliert freilich als seinen zentralen Bezugspunkt die Arbeit. Es kann nämlich nicht mehr um die Einfriedung einer zur Norm erhobenen Vollzeitbeschäftigung gehen. Ein solches Projekt dürfte sich nicht einmal darin erschöpfen, durch Einführung des garantierten Mindesteinkommens den Bann zu brechen, den der Arbeitsmarkt über die Lebensgeschichte aller Arbeitsfähigen verhängt - auch über das wachsende und immer weiter ausgegrenzte Potential derer, die nur noch in Reserve stehen. Dieser Schritt wäre revolutionär, aber nicht revolutionär genug - sogar dann nicht, wenn die Lebenswelt nicht allein gegen menschenunwürdige Imperative des Beschäftigungssystems abgeschirmt werden könnte, sondern gegen die kontraproduktiven Nebenfolgen einer administrativen Daseinsvorsorge im ganzen. Solche Hemmschwellen im Austausch zwischen System und Lebenswelt könnten erst funktionieren, wenn zugleich eine neue Gewaltenteilung entstünde. Moderne Gesellschaften verfügen über drei Ressourcen, aus denen sie ihren Bedarf an Steuerungsleistungen befriedigen können: Geld, Macht und Solidarität. Deren Einflußsphären müßten in eine neue Balance gebracht werden. Damit will ich sagen: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität müßte sich gegen die »Gewalten« der beiden anderen Steuerungsressourcen, Geld und administrative Macht, behaupten können. Nun waren Lebensbereiche, die darauf spezialisiert sind, tradierte Werte und kulturelles Wissen weiterzugeben, Gruppen zu integrieren und Heranwachsende zu sozialisieren, 44
jtnrner schon auf Solidarität angewiesen. Aus derselben Quelle fliüßte aber auch eine politische Willensbildung schöpfen, die auf die Grenzziehung und den Austausch zwischen diesen kommunikativ strukturierten Lebensbereichen auf der einen, Staat und Ökonomie auf der anderen Seite Einfluß nehmen soll. Das liegt übrigens nicht weit ab von den normativen Vorstellungen unserer Sozialkun
Stande Darunter liegt eine zweite Arena, in der eine Vielzahl an onymer Gruppen und kollektiver Akteure aufeinander einwir ken, Koalitionen eingehen, den Zugang zu Produktions und Kommunikationsmitteln kontrollieren und, schon weniger deut lieh erkennbar, durch ihre soziale Macht den Spielraum für die Thematisierung und Entscheidung politischer Fragen vorgangig festlegen Darunter schließlich befindet sich eine dritte Arena, in der schwer greifbare Kommunikationsstrome die Gestalt der politischen Kultur bestimmen und mit Hilfe von Reahtatsdefini tionen um das, was Gramsci kulturelle Hegemonie genannt hat wetteifern - hier vollziehen sich die Trendwenden des Zeitgeistes Die Wechselwirkung zwischen den Arenen ist nicht leicht ding fest zu machen Bisher scheinen die Vorgange in der mittleren Arena Vorrang zu haben Wie immer die empirische Antwort aus fallt, jedenfalls laßt sich unser praktisches Problem jetzt anschau hcher fassen jedes Projekt, das die Gewichte zugunsten sohdan scher Steuerungsleistungen verschieben mochte, muß die untere Arena gegenüber den beiden oberen mobilisieren In dieser Arena wird nicht unmittelbar um Geld oder Macht, sondern um Definitionen gestritten Es geht um die Unversehrt heit und Autonomie von Lebensstilen, etwa um die Verteidigung traditionell eingewohnter Subkulturen oder um die Veränderung der Grammatik überlieferter Lebensformen Für das eine bieten regionahstische Bewegungen, für das andere feministische oder ökologische Bewegungen Beispiele Diese Kampfe bleiben meist latent, sie bewegen sich im Mikrobereich alltäglicher Kommu mkationen, verdichten sich nur dann und wann zu öffentlichen Diskursen und hoherstufigen Intersubjektivitaten Auf solchen Schauplatzen können sich autonome Öffentlichkeiten bilden, die auch miteinander in Kommunikation treten, sobald das Potential zur Selbstorganisation und zum selbstorganisierten Gebrauch von Kommunikationsmedien genutzt wird Formen der Selbstor gamsation verstarken die kollektive Handlungsfähigkeit unter halb einer Schwelle, an der sich die Organisationsziele von den Orientierungen und Einstellungen der Organisationsmitgliedcr ablosen und wo die Ziele vom Bestandserhaltungsinteresse ver selbstandigter Organisationen abhangig werden Die Handlungs fahigkeit basisnaher Organisationen wird immer hinter ihrer Re flexionsfahigkeit zurückbleiben Das muß für die Bewältigung jener Aufgabe, die sich bei der Fortfuhrung des Sozialstaatspro 46
tektes in den Vordergrund schiebt, kein Hindernis sein Die auto nomen Öffentlichkeiten mußten eine Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschrankung erreichen, die die Selbst Steuerungsmechanismen von Staat und Wirtschaft gegenüber den zweckorientierten Ergebnissen radikaldemokratischer Willens bildung hinreichend empfindlich machen konnte Vermutlich kann das nur gelingen, wenn die politischen Parteien eine ihrer Funktionen ersatzlos, d h ohne einem funktionalen Äquivalent bloß Platz zu machen, aufgeben die der Erzeugung von Massen loyahtat Diese Überlegungen werden um so provisorischer, ja unklarer, je mehr sie sich ins normative Niemandsland vorantasten Da sind negative Abgrenzungen schon einfacher Das reflexiv ge wordene Sozialstaatsprojekt nimmt Abschied von der arbeitsgesellschafthchen Utopie Diese hatte sich am Kontrast der leben digen und der toten Arbeit, an der Idee der Selbsttätigkeit orientiert Dabei mußte sie freilich die subkulturellen Lebensfor men der Industriearbeiter als eine Quelle von Solidarität voraussetzen Sie mußte voraussetzen, daß Kooperationsbeziehungen in der Fabrik die naturwüchsig eingespielte Solidarität der Arbeitersubkultur sogar verstarken wurden Diese sind aber inzwi sehen weitgehend zerfallen Und ob deren sohdantatsstiftende Kraft am Arbeitsplatz regeneriert werden kann, ist einigermaßen zweifelhaft Wie dem auch sei - was für die arbeitsgesellschaft liehe Utopie Voraussetzung oder Randbedingung war, wird heute zum Thema Und mit diesem Thema verschieben sich die utopischen Akzente vom Begriff der Arbeit auf den der Kommunikation Ich spreche nur noch von »Akzenten«, weil sich mit dem Paradigmenwechsel von der Arbeits zur Kommunikationsgesellschaft auch die Art der Anknüpfung an die Utopietradition ändert Gewiß, mit der Verabschiedung von utopischen Gehalten der Arbeitsgesellschaft schließt sich keineswegs überhaupt die utopi sehe Dimension von Geschichtsbewußtsein und politischer Auseinandersetzung Wenn die utopischen Oasen austrocknen, brei tet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus Ich bleibe bei meiner These, daß die Selbstvergewisserung der Moderne nach wie vor von einem Aktuahtatsbewußtsein angestachelt wird, in dem geschichtliches und utopisches Denken miteinander ver schmolzen sind Aber mit den utopischen Gehalten der Arbeits 47
gesellschaft verschwinden zwei Illusionen, die das Selbstverstandnis der Moderne verhext haben. Die erste Illusion entsteht aus einer mangelnden Differenzierung. In den Ordnungsutopien waren die Dimensionen von Gluck und Emanzipation mit denen der Machtsteigerung und der Produktion gesellschaftlichen Reichtums zusammengeflossen. Die Entwürfe rationaler Lebensformen gingen mit der rationalen Beherrschung der Natur und der Mobilisierung gesellschaftlicher Energien eine trügerische Symbiose ein. Die in Produktivkräften entfesselte instrumenteile Vernunft, die in Organisations- und Planungskapazitäten sich entfaltende funktionalistische Vernunft sollten den Weg zum menschenwürdigen, egalitären und zugleich libertären Leben bahnen. Das Potential der Verständigungsverhältnisse sollte am Ende umstandslos aus der Produktivität der Arbeitsverhältnisse hervorgehen. Die Hartnäckigkeit dieser Konfusion spiegelt sich noch in der kritischen Umkehrung, wenn z. B. die Normalisierungsleistungen zentralistischer Großorganisationen mit den Verallgemeinerungsleistungen des moralischen Universalismus in einen Topf geworfen werden.12 Noch einschneidender ist die Abkehr von der methodischen Illusion, die mit den Entwürfen einer konkreten Totalitat künftiger Lebensmöglichkeiten verbunden war. Der utopische Gehalt der Kommunikationsgesellschaft schrumpft auf die formalen Aspekte einer unversehrten InterSubjektivität zusammen. Noch der Ausdruck »ideale Sprechsituation« führt, soweit er eine konkrete Gestalt des Lebens suggeriert, in die Irre. Was sich normativ auszeichnen läßt, sind notwendige, aber allgemeine Bedingungen für eine kommunikative Alltagspraxis und für ein Verfahren der diskursiven Willensbildung, welche die Beteiligten selbst in die Lage versetzen könnten, konkrete Möglichkeiten eines besseren und weniger gefährdeten Lebens nach eigenen Bedürfnissen und Einsichten aus eigener Initiative zu verwirklichen.13 Die Utopiekritik, die von Hegel über Carl Schmitt bis auf unsere Tage das Menetekel des Jakobinismus an die Wand malt, denunziert zu Unrecht die angeblich unvermeidliche Verschwisterung der Uto12 Vgl. dazu J. F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1983; kritisch A. Honneth, Der Affekt gegen das Allgemeine, in: Merkur ^yo, Dez. 1984, S. 893ff. 13 K. O. Apel, Ist die Ethik der idealen Kommunikdtwnsgememschaft eine Utopie?,
i n : V o ß k a m p , a. a. O . , B d . 1, S. 325 ff.
•c m it dem Terror. Immerhin - utopistisch ist die Verwechslung einer hochentwickelten kommunikativen Infrastruktur möglicher Lebensformen mit einer bestimmten, im Singular auftretenden Totalität des gelungenen Lebens.
Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland I Im Jahre 1916 hatte Kurt Hiller unter dem expressionistischen Titel Das Ziel. Aufruf zum tätigen Geist eine Programmschrift herausgegeben, in der sich achtzehn Intellektuelle zum Fürsprecher progressiver Forderungen machten. Der damals zweiunddreißigjährige Theodor Heuss nahm diese Publikation zum Anlaß für eine Kritik an der (in seinen Augen) fragwürdigen Politisierung von Schriftstellern. Er erinnert an Vorläufer wie Hütten und die Pamphlete schreibenden Humanisten, an Voltaire und die Enzyklopädisten, an Arndt und Görres, die Wortführer gegen Napoleon, schließlich an Börne, Heine und das Junge Deutschland. Heuss stellt fest, daß deren Auftreten in Perioden vor der Ausbildung eines parlamentarischen Betriebs und eines Parteiensystems fällt. Damals habe die politische Willensbildung noch nicht unter dem heilsam disziplinierenden Zwang von Taktik und Organisation gestanden. Noch die Intellektuellen des Vormärz hätten sich, ohne die Opportunitätserwägungen des politischen Tagesgeschäfts, einen gewissen Idealismus leisten können. Der aber könne für die Zeitgenossen kein Modell mehr sein; sonst liefen sie eben Gefahr, »auf den verschobenen Realitäten auszurutschen. Als Kerr etwa begann, seine Publizistik politisch zu färben, spürte man: er denkt an Heinrich Heine. Aber damit wird es nicht viel. Denn unsere breiter, umständlicher, handwerklich gewordene Tagespolitik würde auf Heines Publizistik und Pointen nur matt reagieren; zum anderen aber sieht sich die politische Wirkung dieser Art von vormärzlicher Literatenpolitik nur solange bedeutsam an, als man sie - in der Literaturgeschichte nachliest. In der Staats- und Sozialgeschichte ist sie nur als Nuance, nicht aber als gestaltende Kraft vorhanden.«1 Unverkennbar ist der Einfluß von Friedrich Naumann, auch von Max Weber, der ja drei Jahre später, in einem berühmten Vortrag über Politik als 1 Zu. nach: M. Stark (Hg.), Deutsche Intellektuelle 1910-19}}, Heidelberg 1984,8.94
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Beruf, auf ähnliche Weise die »sterile Aufgeregtheit« der Intellektuellen der Sachlichkeit und Rationalität der Berufspolitiker gegenüberstellen wird. Dem Berufspolitiker schreibt Weber realitätsgerechte Distanz, Augenmaß, Kompetenz und Verantwortungsbereitschaft zu - dem politisch dilettierenden Schriftsteller und Philosophen hingegen »eine ins Leere laufende Romantik des intellektuell Interessanten ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl«.2 Max Weber verwendet hier eine Kampfformel, die aus der Waffenkammer der zahlreichen Heine-Gegner stammen könnte. Ich werde auf diese von Schumpeter und Gehlen wiederaufgenommene Kritik an der Rolle des Intellektuellen zurückkommen. Zunächst aber geht es um die Frage, ob sich denn jene Intellektuellen, die der junge Heuss und Max Weber in der Periode des Ersten Weltkriegs vor Augen hatten, tatsächlich an Heine orientiert haben. Haben sie sich gar durch sein Vorbild, wie Heuss vermutet, irreführen lassen können? Richtig ist gewiß die Beobachtung, daß der Intellektuelle mit der Ausbildung eines parlamentarischen Betriebes eine andere Rolle übernimmt. Ja, er gewinnt seine spezifische Rolle sogar erst mit dem Adressaten einer durch die Presse und den Kampf politischer Parteien geformten öffentlichen Meinung. Die politische Öffentlichkeit wird erst im Verfassungsstaat zum Medium und Verstärker einer demokratischen Willensbildung. Hier findet der Intellektuelle seinen Platz. Auch das Wort »Intellektueller« wird erst im Frankreich der Dreyfus-Affäre geprägt. Im Januar 1898 publiziert Emile Zola einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik mit schweren Beschuldigungen gegen Militär und Justiz; einen Tag darauf erscheint in derselben Zeitung ein Manifest, das ebenso gegen Rechtsverletzungen im Prozeß gegen den wegen Spionage verurteilten Hauptmann Dreyfus protestiert. Es trägt über hundert Unterschriften, darunter die von prominenten Schriftstellern und Wissenschaftlern. Bald darauf wird es in der Öffentlichkeit als »Manifeste des Intellectuelles« bezeichnet. Anatole France spricht damals vom »Intellektuellen« als einem Gebildeten, der »ohne politischen Auftrag« handelt, wenn er sich im Interesse öffentlicher Angelegenheiten seiner professionellen Mittel außerhalb der Sphäre seines Berufes - eben in der politischen Öffentlichkeit - bedient. Was bei Max Weber als Unverant1 M. Weber, Politische Schriften, Tubingen 1958, S. 534
wortlichkeit des politischen Dilettanten wiederkehren wird, gilt hier noch als kompetenzfreie Verantwortlichkeit für das Ganze. Mit Revision und Freispruch des zu Unrecht verdächtigten judischen Hauptmanns erzielten die Dreyfusards einen handgreiflichen Erfolg. Mehr noch hat der indirekte Erfolg, die Bewahrung der Dritten Republik vor einem Abgleiten in erneuten Bonapartismus, jene Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Foucault) festgelegt, wie sie auf der Pariser Szene immer wieder - von Zola bis Sartre - eindrucksvoll wahrgenommen worden ist. Die Definition ist klar: die Intellektuellen wenden sich, wenn sie sich mit rhetorisch zugespitzten Argumenten für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte einsetzen, an eine resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit. Sie rechnen mit der Anerkennung universalistischer Werte, sie verlassen sich auf einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat und auf eine Demokratie, die ihrerseits nur durch das Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt. Nach seinem normativen Selbstverständnis gehört dieser Typus in eine Welt, in der Politik nicht auf Staatstätigkeit zusammenschrumpft; in der Welt des Intellektuellen ergänzt eine politische Kultur des Widerspruchs die Institutionen des Staates. Dieser Welt steht Heinrich Heine nah und fern zugleich. Die Distanz bemißt sich am Verhältnis des Pariser Emigranten zum Deutschland der vormärzlichen Restauration. Heine kann noch kein Intellektueller im Sinne der Dreyfus-Partei sein, weil er von der politischen Meinungsbildung in den deutschen Bundesstaaten auf doppelte Weise ferngehalten wird: physisch durch sein Exil und geistig durch die Zensur. Im Wintermäreben vergleicht Heine die Zensur mit dem Zollverein, der das zersplitterte Vaterland wirtschaftlich eint: »Er gibt die äußere Einheit uns, Die sogenannte materielle; Die geistige Einheit gibt uns die Zensur, Die wahrhaft ideelle Sie gibt die innere Einheit uns, Die Einheit im Denken und Sinnen.«' 3 H. Heine,Sämtliche Schriften, hg. vonK. Bnegleb, München 1968 ff., Bd. IV, S. 580
Wer Heines lebenslangen Kampf mit der Zensur kennt und weiß, daß die v o n ' n n l antizipierten Eingriffsmöglichkeiten des Zensors einen geradezu stilbildenden Einfluß auf seine Texte ausgeübt haben, wird das Gewicht dieser sarkastischen Verse, wird die in ihnen ironisch versteckte Wahrheit nicht unterschätzen. Die vereinheitlichenden Definitionen der Zensur, mit denen der Frankfurter Bundestag 1832 französischen Zuständen vorbeugen wollte, verwandelten »das zersplitterte Vaterland« tatsächlich in ein Negativ jener, dem künftigen Intellektuellen zugleich vorenthaltenen und vorbehaltenen Arena der öffentlichen Meinung. Den Intellektuellen gibt es schon - aber erst in der vorgreifenden Wahrnehmung der Zensurbehörden. Als potentieller Geburtshelfer einer politischen Öffentlichkeit, die aus der literarischen hervorgehen wird, wirft er seinen Schatten voraus. Dort wird er seine Funktionen freilich erst ausüben können, nachdem der Geist der öffentlichen Meinung der Macht des Staates inkorporiert sein wird - eben über den parlamentarischen Betrieb. Bis dahin muß sich dem potentiellen Intellektuellen, Heine und seinen Zeitgenossen, die Macht als ein bloßes Gegenüber darstellen -als eine Instanz, die sich jeden Sitte und Religion zersetzenden Geist durch Zensur vom Leibe hält. Erst nach 1848 setzt sich auch in Deutschland das Prinzip der freien Meinungsäußerung wenigstens schrittweise durch. Parallel zu Veränderungen im Bildungssystem vollzieht sich ein Strukturwandel von der bürgerlichen, noch im Literaturbetrieb zentrierten Öffentlichkeit zu einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, in der mit Massenpresse und Massenpublikum neue, von Bismarck sofort genutzte Möglichkeiten der Manipulation entstehen. Peter Uwe Hohendahl hat diesen Wandel der »Institution Literatur« beschrieben.4 Aber auch unter den veränderten Bedingungen wird Heine, der Protointellektuelle, nicht heimgeholt ins preußisch geeinte Reich weder als überragender Schriftsteller noch gar als intellektueller Typus. Die Spuren einer negativen Wirkungsgeschichte vertiefen sich; eine Tradition bildet Heine nicht.3 Anders in Frankreich. Hier war Heines Texten eine andere Wirkungsgeschichte beschieden. Aus jener Vorläufergestalt, die Heine in einer sehr deutschen Variante verkörperte, hat sich hier 4 P. U. Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 18301870, München 1985 5 W. Hadecke, Heinrich Heine, München 198;, bes. S. 7-28 53
der Intellektuelle zu einem anerkannten Bestandteil der politischen Kultur entwickelt - »Voltaire verhaftet man nicht«.6 Die Dreyfus-Affäre bringt es ans Licht: Heine hätte sich in der Intellektuellenrolle, die erst ein halbes Jahrhundert später ihren Namen und ihre spezifische Funktion erhält, wiedererkennen können. Hatte er doch an ähnlichen Fronten gestanden und sich den gleichen Denunziationen ausgesetzt. Der leichtfüßig-schwermütige Spott über die autoritären Zustände einer durch den besiegten Napoleon gleichwohl schon dementierten Obrigkeit; die schonungslose Verhöhnung von Opportunismus und biedermeierlicher Moral; die Witterung für die gar nicht so feinen Unterschiede zwischen dem republikanischen und dem altdeutschen Nationalismus; die Angst vor den dunklen Energien eines gegen die Vernunft selbst losbrechenden Populismus - dieser lebenslange, mit den Waffen des Dichters geführte Kampf lebt von denselben Inspirationen, denselben Parteinahmen für den Universahsmus und Individualismus der Aufklärung wie das J'accuse des Emile Zola und die Manifeste seiner Freunde. Diese Affinitäten spiegeln sich in den Reaktionen der jeweiligen Gegner. 1898 besetzen die autoritären, nationalistischen und antisemitischen Gegner innerhalb weniger Wochen die Figur und den Namen des Intellektuellen mit einem Kranz pejorativer Bedeutungen. Dabei tut sich Maurice Barres, der Wortführer der Action Francaise, hervor. Dietz Bering hat das damals entstehende Feindbild des Intellektuellen untersucht: das Instinktlose und Entwurzelte des abstrakt allgemein denkenden Intellektuellen verbindet sich mit einem Mangel an patriotischer Gesinnung und Loyalität, mit bodenloser Dekadenz und fehlender Charakterfestigkeit, mit der zersetzenden Kritiksucht des »Fremdstämmigen«, des Juden, dem nichts heilig ist.7 Wer dieses Bedeutungssyndrom mit den bekannten Topoi der zeitgenössischen HeineKritik vergleicht, ist von den Konvergenzen überrascht: in den polemischen Kennzeichnungen der Dreyfus-Partei scheinen sich jene Prädikate, die seinerzeit entrüstete Kritiker auf Heines Person bezogen hatten, nur zum anonymen Rollenstereotyp zu verdichten. 6 Dieser Ausspruch wird de Gaulle - im Hinblick auf Sartre - zugeschrieben, vgl. R. Debray, Voltaire verhaftet man nicht: Die Intellektuellen und die Macht in Frankreich, Köln 1981 7 D. Bering, Die Intellektuellen, Stuttgart 1978, S. 43 ff. 54
Aber in Deutschland, wo man die Dreyfus-Affäre sorgfältig registrierte, entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg keine mit fjeine wahlverwandte Intellektuellenschicht. Hier ist nicht die Intellektuellenrolle, sondern allein das negativ besetzte Rollenstereotyp der Gegner rezipiert worden. Bering hat nachgewiesen, Jaß nicht einmal jene Handvoll einflußreicher Literaten und Wissenschaftler, die bis 1933 den ohnmächtigen Versuch gemacht haben, radikaldemokratischen Humanismus Heinescher Prägung 2U öffentlicher Wirkung zu bringen, daß nicht einmal Intellektuelle wie Heinrich Mann, Ernst Troeltsch oder Alfred Döblin es gewagt haben, das Wort »Intellektueller« in einem unverfänglichpositiven Sinne zu verwenden. Karl Mannheim hat allerdings eine Soziologie des freischwebenden Intellektuellen begründet. Wer mit den Intellektuellen etwas Positives im Sinne hatte, bediente sich jedoch im deutschen Milieu lieber einer Ableitung des im Grimmschen Wörterbuch so großartig kodifizierten »Geist«; er sprach lieber von »geistigen Menschen« oder kurz von den »Geistigen« - denn dann ließen sich leicht die »Geistesmenschen« assoziieren, die »geistig Schaffenden«, ja der »Geistesadel«.8 Dem entsprachen auf der Linken die »geistigen Arbeiter«. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Siegfried Kracauers heute noch lesenswerte Auseinandersetzung mit Döblin, der er den Titel gab: Minimalforderungen an die Intellektuellen.9 Adorno, der uns doch aufforderte, »der Hetze gegen die Intellektuellen, wie immer sie auch sich tarnt, zu widerstehen«, und der aus dem Ausdruck »geistiger Mensch« sehr genau den Anklang an »die elitären Herrschaftswünsche« deutscher Akademiker heraushörte, selbst er sprach lieber von geistigen Menschen als von Intellektuellen - und erklärte dann mit schlechtem Gewissen: »Das Wort >geistiger Mensch< mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man erst an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist.«10 Noch in Adornos zögerndem Widerspruch gegen den objektiven Geist setzt dieser sich durch. Vor dem Ersten Weltkrieg ist in Deutschland eine Intellektuellenkritik ohne Intellektuelle entstanden. Zwischen den Kriegen hat sie geradezu normative Kraft entfalten können. Thomas Mann hat 1918 in seinen später zurückgenommenen Betrachtungen ei8 Ebda., S. 263 ff. 9 In: M. Stark (Hg.), a. a. O., S. 363 10 Th. W. Adorno, Eingriffe, Frankfurt/M. 1963, S. 32 55
nes Unpolitischen das Ergebnis von Ausgrenzungsprozessen festgehalten, die den Intellektuellen mit dem äußeren Feind, mit dem »Barrikadenheroismus einer anderen Rasse«,11 also mit der Zivilisation des Westens, assoziiert und ihm im Spannungsfeld zwischen Kultur und Zivilisation, Blut und Verstand, zwischen systematisch-schöpferischer und methodisch beschränkter Geistesrichtung, Metaphysik und Dichtung einerseits, Asphaltliteratur andererseits den Platz angewiesen haben. In erklärter Analogie zum Dreyfus-Prozeß heißt es hier: »Ein Intellektueller ist, wer geistig auf Seiten der Zivilisations-Entente gegen den >Sabel<, gegen Deutschland ficht.«12 Diese Deutung, die jeweils den anderen zum Intellektuellen macht, konnte von allen Lagern mehr oder weniger akzeptiert werden, keineswegs nur von Exponenten der Jugendbewegung wie Hans Blüher oder von den Völkisch-Nationalen wie Ernst von Salomon, die sich ja nur den in Frankreich schon ausgebildeten Fronten einzugliedern brauchten. Von den vier wichtigsten Fraktionen im Geistesleben der Weimarer Republik hatte jede ihren Grund, um die anderen als fragwürdige Intellektuelle abzuwerten. Lassen Sie mich die wichtigsten Gruppierungen, die uns noch beschäftigen werden, hier schon erwähnen. Da sind zunächst die Unpolitischen unter den Schriftstellern und die Mandarine unter den Gelehrten. Für Hermann Hesse oder den frühen Thomas Mann, für Ernst Robert Curtius oder Karl Jaspers13 sind die Sphären des Geistes und der Macht derart voneinander geschieden, daß ihnen eine »Politisierung des Geistes« als Verrat an der Berufung der schöpferischen und der gebildeten Persönlichkeit erscheinen mußte. Auf der anderen Seite stehen realpolitisch gesonnene Theoretiker wie Max Weber und der junge Heuss. Sie hegen den Argwohn, daß im Zuge einer Politisierung von Schriftstellern und Philosophen ein unernstes, inkompetentes, schwankendes Element in einen Bereich eindringen würde, der der fachlichen Rationalität des Berufspolitikers vorbehalten bleiben müsse. Beide Seiten fürchten vom Intellektuellen 11 Diese und die folgenden Formulierungen entnehme ich: Otto Flake, Von derjüngsten Literatur (191;), in: Stark (Hg.), a. a. O., S. 79ff. 12 Th. Mann, Politische Schriften, Frankfurt/M. 1968, Bd. 1, S. 44 13 Vgl. F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, Cambndge/Mass. 1969; dazu meine Rezension in' J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1981, S. 458 tl 56
«ine Vermischung der Kategorien, die besser getrennt bleiben «ollten - sei es, weil sonst der arbeitsteilige politische Betrieb den esoterischen Geist ins Alltäglich-Opportunistische herabzieht ynd verunreinigt, oder weil umgekehrt das normale Funktionieren des Betriebs durch gesinnungsethische Schwarmgeisterei ruiniert würde. Die Aktivisten um Kurt Hiller, überhaupt expressiouistische Geister wie Rene Schickele, Carl Einstein, Ernst Bloch bilden die zu Beginn schon erwähnte dritte Gruppe. Indem sie, wenigstens ihrem rhetorischen Anspruch nach, in die politische Arena drängen, scheinen diese Intellektuellen die Befürchtungen und Definitionen der beiden anderen Fraktionen zu erfüllen. Typischerweise verwechseln sie intellektuellen Einfluß innerhalb einer demokratischen Öffentlichkeit mit der Verfügung über politische Macht und träumen von einer Internationale, einem Konvent, einem Areopag der verbündeten Intellektuellen. Auch diese Emphase von »Geist und Tat« führt deshalb nicht zu einer balancierten Einschätzung der Intellektuellenrolle. Diese Aktivisten teilen mit den unpolitischen Dichterfürsten und mit den Mandarinen der Wissenschaft den bildungselitaren Anspruch aufs Höhere, während sie mit den Realpolitikern die falsche Annahme teilen, daß politisches Engagement für den Intellektuellen heißen müsse, im Kampf der politischen Parteien eine eigene Machtposition zu erringen und im politischen Betrieb selbst eine Funktion zu übernehmen. Diese Haltung provoziert natürlich viertens jene Intellektuellen, die wie Georg Lukäcs oder Johannes R. Becher tatsächlich die Linie zum Berufspolitiker oder Berufsrevolutionär überschritten und sich einem Parteiapparat untergeordnet hatten, also tatsächlich über Macht verfügten. Diese linken Parteiintellektuellen haben Bebeis Mißtrauen der Arbeiter gegen die »Klassenverräter« und Überläufer vennnerlicht und wollten den Bourgeois in sich abtöten: »Der Intellektuelle... muß den größeren Teil dessen, was er seiner bürgerlichen Abstammung verdankt, verbrennen, bevor er in Reih' und Glied mit der proletarischen Kampfarmeee mitmarschieren kann.«14 Diese »Kopfarbeiter« üben die allerschärfste Kritik am Wankelmut und Opportunismus, an der Unzuverlässigkeit und dem ideologischen Machtanspruch der »kleinbürgerlichen Intelligenz«. Kein noch so masochistisches Ritual der Selbstreinigung erschüttert freilich 14 R. Becher, Partei und Intellektuelle, in: Stark (Hg.), a. a. O., S. 299 57
die parteigebundenen Intellektuellen in der geschichtsphilosophisch begründeten Überzeugung, daß der proletarisch gesinnte Intellektuelle, der seinen Individualismus überwunden hat, eine Avantgardefunktion von weltgeschichtlicher Bedeutung zu erfüllen habe. Im Spektrum der Schriftsteller und Professoren, die zu den Konflikten des Ersten Weltkrieges und zur Weimarer Situation überhaupt Stellung genommen haben, zeichnen sich also vier Gruppen von Intellektuellen ab, die keine sein wollen. Sie alle geraten in jenes Dilemma der Selbstverleugnung, das sich in anderen Ländern allein dem Rechtsintellektuellen stellt. Rechtsintellektuelle gibt es natürlich, als eine fünfte Gruppierung, auch in Weimar; beispielsweise einen Wilhelm Stapel, der gegen die »Phrasen« von der Freiheit der Kunst und des Geistes zu Felde zieht, indem er den »Trümmergehirnen in den Literatencafes«, die »in Heinrich Heines Freiheitsposaune stoßen«, »das naive Gefühl eines redlichen Volkes« gegenüberstellt. Der nationale, sich selbst dementierende Intellektuelle soll »nicht eine Geistigkeit jenseits des Volkes kultivieren, sondern er wird die Geistigkeit seines Volkes repräsentieren«.15 In Deutschland bleibt das kein Privileg der Rechten; beinahe alle dementieren sich als Intellektuelle, indem sie das Pseudonym des Geistigen annehmen. Als Intellektuelle beschuldigen sie sich nur gegenseitig. Manche dieser Beschuldigungen sind nicht einmal unberechtigt. Aber gegen Theodor Heuss, der das Elend der deutschen Intellektuellen auf das falsche Vorbild Heine, auf die falsche Identifikation mit den Vormärz-Intellektuellen zurückführt, möchte ich die These verteidigen: daß im Gegenteil die Orientierung am Vorbild Heine einer in Weimar leider fehlgeschlagenen Institutionalisierung der Rolle des Intellektuellen nur hätte förderlich sein können. Kontrafaktische Behauptungen über nicht eingetretene historische Entwicklungen sind schwer zu begründen. Ich möchte deshalb plausibel machen, daß das, was Heine zum engagierten Schriftsteller gemacht hat, dem soeben skizzierten Selbstverständnis der meisten Weimarer Intellektuellen zuwiderläuft. Verwandte Geister wie Tucholsky blieben die Ausnahme. Heine hat seine literarisch-publizistische Tätigkeit so eingeschätzt, daß für ihn zwei in Deutschland aufkommende Mißverständnisse über i s W. Stapel, Der Geistige und sein Volk (1930), in: Stark (Hg.), a.i a. O . , S . 3 i 5 . 58
jj e Rolle des Intellektuellen ausgeschlossen gewesen wären. Das «•ste Mißverständnis betrifft die Autonomie von Kunst und Wissenschaft gegenüber der Politik: man glaubte, daß das öffentliche gngagement von Schriftstellern und Gelehrten eine Entdifferenzierung eigensinnig ausgebildeter kultureller Sphären bedeuten und deren Verschmelzung mit Politik zur Folge haben müsse. Das andere Mißverständnis betrifft die Art des Engagements, das der Intellektuelle eingeht: man verwechselte Einflußnahme auf die politische Öffentlichkeit mit der Eingliederung in den Betrieb des politischen Machtkampfes. Beide Mißverständnisse traten zudem in Kombination mit einem schwärmerisch-elitären Selbstverständnis des akademisch Gebildeten auf. Für Heine entbehrte hingegen der durch die Zensur handgreiflich konstituierte Gegensatz von Geist und Macht jener Konnotationen, die das typisch deutsche Gegenspiel von Schwärmerei und Zynismus begleiten. Heine hat die Vorurteile der Weimarer Intellektuellen über ihre eigene Rolle nicht geteilt. Bevor ich aber auf diese strukturellen Unvereinbarkeiten eingehen werde, muß ich an Trivialeres erinnern. Schon des Inhalts seiner Schriften wegen blieb Heine, zwischen 1848 und 1945, ein Außenseiter.
II (1) Daß Heine, trotz aller Konzilianz, Unbehagen, ein scharfes Klima der Ablehnung verbreitet hat, führt Adorno auf das NichtAffirmative und Unverwässerte des von ihm bewahrten Aufklärungsbegriffs zurück.16 Heine war und blieb in der Tat radikaler Aufklärer - es fragt sich aber, welcher Art von Radikalität schuldete er die Unverdaulichkeit seines doch eher listig-einschmeichelnd formulierten Gedankens. »Mit höflicher Ironie weigert er sich, das soeben Demolierte durch die Hintertür - oder die Kellertür der Tiefe - sogleich wieder einzuschmuggeln.«17 Genügt das zur Erklärung? Unverfälschte Aufklärung produziert gewiß Sperrgut - jedenfalls für die Schiffahrt auf deutschen Traditionsströmen. Aber Heines Gedanken waren doch durchaus die Gedanken seiner Zeit: »die Elsasser und Lothringer werden sich wie16 Th. W. Adorno, Die Wunde Heine, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt/ M. 1958, S. 145 17 Ebda., S. 145f. 59
der an Deutschland anschließen, wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan in Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmtl zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die Erloser Got tes werden, wenn wir das arme gluckenterbte Volk und den ver höhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Wurde einsetzen « 18 Die Franzosische Revolution als Aus gangspunkt, der Saint-Simomsmus, die junghegelianische Philo sophie der Tat und die Feuerbachsche Rehgionskntik als Hinter grund, die Radikalisierung der bürgerlichen, also die soziale Zuspitzung der politischen Revolution als Antrieb der Heine sehen Prosa und eines guten Teils seiner lyrischen Produktion Heine hat an diesem Gewebe aus radikal-aufklärerischen, materialistischen, vernunftutopischen Gedankenfaden tatkraftig, aber doch nur als einer von vielen mitgearbeitet Seine Vaterlandsliebe war die Wunde, die Heine dem Publico zu verbergen suchte - wo jedoch sitzt der Stachel, an dem sich das Publikum, das deutsche jedenfalls, wundgerieben hat' Sitzt er nui in der aufklärerischen Intransigenz' Daß die Menschen Gott erlosen werden, klingt blasphemisch und ist doch nur ein altes Motiv, das Baader, Schelling und Hegtl langst der protestantischen (und der judischen) Mystik entlehnt und in die Produktivität der bestimmten Negation umgearbeitet hatten Schon der Student Heine war, wenn wir den spateren Be richten trauen dürfen2", Junghegehaner im Verhältnis zu seinem berühmten Professor er wollte Hegel als verschwiegenen Athei sten und heimlichen Revolutionär verstehen Dieser linke Hegel ist es denn auch, mit dessen Brille Heine die Geschichte der Reb gion und Philosophie in Deutschland entziffert Es treten da 18 Heine, Samthebe Schriften, Bd IV, S 5 74 f 19 Hans Mayer weist (in Aufklärung heute Frankfurt/M 1985,8 139ff , hici S 148) auf das radikalste der 1844 publizierten Neuen Gedichte (Sämtliche Schriften, Bd IV, S 325) hin »Auf diesem Felsen bauen wir / Die Kirche von dem dritten, / Dem dritten neuen Testament, / Das Leiden ist ausgeht ten / Vernichtet ist das Zweierlei, / Das einst so lang betöret, / Die dumnu Leiberqualerei / Hat endlich aufgehoret 20 Heine, Sämtliche Schriften, Bd V, S i96ff
^cheinander auf ein Luther, der die Vernunft als oberste Richterjn in religiösen Streitfragen einsetzt, der der Geistesfreiheit Bahn bricht und für die künftigen Revolutionen die Sprache schafft, in der die ärmsten Leute ihren Bedurfnissen einen bibhsch-hterarischeri Ausdruck verschaffen können, ein Lessmg, der den Luther fortsetzt, der das von der Tradition befreite Christentum nun auch noch von der Hülle des Buchstabens, vom »starren Wortdienst« befreit, ein Kant, der den Lessing fortsetzt und als der große Zerstörer im Reiche der Gedanken den Terrorismus des Spießers Robespierre weit übertrifft, der alle Beweisführungen von der Existenz Gottes zerstört, um Gott »nur der Polizei wegen« aus dem Geist der praktischen Vernunft zweideutig auferStehen zu lassen Und so geht das fort Fichte als Napoleon, der naturphilosophische Schelling als verkappter Materialist, Hegel selbst schließlich als der Blitz, der dem Donner einer fürchterlichen deutschen Revolution vorauseilt Die Philosophie ist nur die trockene Hülle einer »naßroten« Revolution Unter den Gottergestalten, die sich auf dem Olymp bei Nektar und Ambrosia verlustieren, ist nur eine, die »immer einen Panzer tragt und den Helm auf dem Kopf und den Speer in der Hand behalt Es ist die Gottin der Weisheit« 21 Was Heine fasziniert und zugleich verstört, sind die Energien, die sich noch im transparentesten Faltenwurf des konsequenten philosophischen Gedankens verbergen Der Haß, der dem Juden und dem Intellektuellen Heine zeitlebens entgegenschlug, hat ihn hellsichtig gemacht für die Zwieschlachtigkeit eines Nationalismus, der als eine republikanisch-kosmopolitische Idee auf die Welt gekommen, dann aber von »allerlei Geschwuren« befallen worden war Heine war argwohnisch gegen das Fanatische und Bornierte, gegen das zutiefst Antimoderne und Partikularistische der deutschtumelnden Jakobiner, die Fremdenhaß mit Vaterlandsliebe verwechselten, Bucher verbrannten und bereit sein wurden, die nationale Einheit über den em
III, S 641 61
aufgeklärten Volksmassen mit dem Ruf »Vaterland, Deutschland Glauben der Väter« hinter sich brachte. Es war das Mißtrauen des Aufklärers, das Heine gegenüber den teutomanischen Zügen des Populismus heftig reagieren ließ. Wie radikal Heine sich von der entschärfenden, Kanten und Ecken abschleifenden Rezeption der deutschen Aufklärung unterschied, davon zeugt untrüglich die Ehrenrettung des Buchhändlers Nicolai, der noch uns Schülern, nach 1945, als abschreckende Symbolfigur für den »Aufkläricht« vorgeführt wurde: es sind die Obskuranten, sagt Heine, die ihn zugrunde persifliert haben. Was immer sich Nicolai an merkwürdigen Fehleinschätzungen zuschulden kommen ließ, etwa in der Satire gegen den Werther, in der Hauptsache irrte er sich nie: »Es ist nicht zu leugnen, daß mancher Hieb, der dem Aberglauben galt, unglücklicherweise die Poesie selbst traf. So stritt Nicolai z. B. gegen die aufkommende Vorliebe für altdeutsche Volkslieder. Aber im Grunde hatte er wieder Recht; bei aller möglichen Vorzüglichkeit enthielten doch jene Lieder mancherlei Erinnerungen, die eben nicht zeitgemäß waren, die alten Klänge der Kuhreigen des Mittelalters konnten die Gemüter des Volks wieder in den Glaubensstall der Vergangenheit zurücklocken.«22 Um die Sprengkraft dieses Satzes zu würdigen, muß man wissen, wie schwärmerisch Heine selbst von Brentanos Volkslieder-Sammlung Des Knaben Wunderborn gesprochen, mit welcher Begeisterung er das Nibelungenlied gepriesen, wie eichendorffisch er seinen französischen Lesern die schöpferische Kraft des »Volksgeistes« anhand der fahrenden Handwerksburschen aus Halberstadt ausgemalt hat.23 Und hier, denke ich, steckt der Stachel, an dem sich die deutschen Leser wundgeneben, den sie Heine nicht verziehen haben. Die Ehrenrettung des komischen Kauzes Nicolai hätten sie ihm, dem radikalen Aufklärer, vielleicht noch verziehen; aber nicht das Argument, dessen er sich dabei bediente - dem Romantiker Heine haben sie nicht verziehen, daß er das romantische Erbe dem fatal Volkstümelnden, der falschen Historisierung, der verklärenden Sentimentalität entführt und den eigenen, radikalen Ursprüngen zurückgegeben hat. Sie haben ihm nicht verziehen, daß er »die Partei der Blumen und der Nachtigallen« mit der der 22 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. III, S. 581 f. 23 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. III, S. 4541t62
Revolution verbunden, daß er jenen Gegensatz, den die Restauration der alt und fromm gewordenen Romantiker selbst noch aufgetürmt hat, daß er den Gegensatz zwischen Romantik und Aufklärung liquidierte. pieser Stachel sitzt links wie rechts im deutschen Fleische. Die atheistische Grundierung jener mystischen Erwartung, daß Gott Jer Erlösung durch die Selbstemanzipation der Menschen harrt, mag j a au ^ dieser Seite der Barrikade noch hingehen; daß aber die Spannweite dieser Emanzipation nicht nur das glückenterbte Volk, sondern das Glück selber, den »verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit« umfassen soll, irritiert auch die tugendhaften Revolutionäre.24 Die hedonistische Demokratie, die Heine gegen die Puritaner einer auf Kosten der Schönheit betriebenen Revolution verteidigt, ist gezeichnet durch einen überschwenglichen Materialismus des Glücks: »Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien - Seid deshalb nicht ungehalten, Ihr tugendhaften Republikaner.«23 An diese Textstelle erinnert Heine zehn Jahre später, im Jahre 1844, als er gerade den Dr. Marx kennengelernt hatte. Dieser Marx der Pariser Manuskripte berührt sich mit Heine in der progressiven Umwendung der Motive der Frühromantik; aber nur unter Heines Händen verwandeln diese sich zu Antriebskräften eines libertären Sozialismus, der die Lorbeerwälder nicht zu Kartoffeläckern umpflügen, das Buch der Lieder nicht zu Kaffeetüten verarbeiten und »alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien, die dem Poeten so lieb waren«, wohl behüten wird.26 Heine macht von seiner entwendeten Romantik einen radikalen Gebrauch - das war unverzeihlicher noch als die radikale Aufklärung selber.27 24 In der sonst zutreffenden Analyse von M. Windfuhr, Zum Verhältnu von Dichtung und Politik bei Heinrich Heine, in: Heine-Jahrbuch 24, 198;, S. 103 ff., bleiben die radikalen Motive eines libertären u n d hedonistischen Sozialismus, die Heines Distanz zu Börne wie zu Marx u n d Rüge erklären, unterbelichtet. 25 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. I I I , S. 670 26 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. V, S. 232 27 Die absichtliche Brechung des romantischen Erbes entwickelt Heine in seinen Gedichten zur Virtuosität. Der Widerruf des zarten Tenors, mit dein er sich in den romantisch vorgeprägten Erwartungshorizont des Le-
(2) Mit diesem Heine konnten die Weimarer Intellektuelle^ nichts anfangen - links, wo sie sich dem Parteiapparat unterwarfen, sowenig wie rechts, wo sie die nationale Revolution anführen wollten. In seiner berühmten Rundfunkrede im April 1933 geht Gottfried Benn mit allen Intellektuellen ins Gericht, die je fur Geistesfreiheit und für die Unumschränktheit des Genusses eingetreten sind. Ihnen stellt er wieder einmal gegenüber die »Denkenden«, die seit Nietzsche »den neuen biologischen Typ« verkörpern. Mit einem einzigen, seinem letzten Satz, streicht Benn alles durch, wofür Heine gedichtet und geschrieben hat: »Halte Dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat.«28 Natürlich dachten nicht alle wie Benn, wie Jünger, Heidegger, Carl Schmitt - weder Hermann Hesse noch Thomas Mann, weder Ernst Robert Curtius noch Karl Jaspers, Max Weber nicht und nicht Georg Lukäcs. Warum für sie Heine als intellektuelle Figur gleichwohl nicht zum Vorbild, nicht einmal zum Wegweiser werden konnte, läßt sich aus dem radikalen Inhalt seiner Schriften nicht erklären. Hier stoßen vielmehr Mentalitäten aufeinander, Prämissen, die unter die Haut gehen. Ich will jene beiden Prämissen, die das Verständnis der Intellektuellenrolle bestimmen, diskutieren, um zu erklären, warum Heine den Intellektuellen, die es nicht sein wollten, kein Vorbild werden konnte. (a) Heinrich Heine hat die Pariser Julirevolution, fernab auf Helgoland, als Medienereignis erfahren und als solches spater auch gefeiert: er spricht von den »wilden, in Druckpapier gewikkelten Sonnenstrahlen« und berichtet unter dem 10. August erregt, daß »diesen Morgen wieder ein Paket Zeitungen« angekomsers zunächst einschmeichelt, das Dementi der letzten Zeile, wird fast zur Routine. Vgl. z.B. aus den Neuen Gedichten: Seraphme X oder Yolante und Marie IV. Dadurch gewinnen freilich die bewegendsten Passagen auch schon etwas Fungibles, ihnen haftet der Schmelz des instrumentalisierten Schönen an. Daraus erklären sich Adornos Vorbehalte gegen Heines Lyrik, der er dessen Prosa vorzieht. Das Verdikt von Karl Kraus klingt nach, wenn Adorno erklärt: »Heines Gedichte waren prompte Mittler zwischen der Kunst und der sinnverlassenen Alltäglichkeit. Die Erlebnisse, die sie verarbeiteten, wurden ihnen unter der Hand, wie dem Feuilletomsten, zu Rohstoffen, über die sich schreiben läßt; die Nuancen und Valeurs, die sie entdeckten, machten sie zugleich fungibel, gaben sie in die Gewalt einer fertigen präparierten Sprache.« Adorno, Die Wunde Heine, a. a. O., S. 147. 28 G. Benn, Der neue Staat und die Intellektuellen, in: Stark (Hg.), a. a. O., S. 336 64
^jgn sei mit rührenden Details, die ihn wie ein Kind noch weit mehr als das bedeutungsvolle Ganze beschäftigt hätten. An diesem Tage gewinnen die »Waffen des Dichters«, die später im Wintfrtnärcben eine Rolle spielen werden, eine eigenartige Aktualität: , ,. reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe... Worte gleichflammendenSternen die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten... Worte gleich blanken Wurfspeeren .. .«29 Der Dichter kämpft an der Seite des revolutionären Haufens, aber mit seinen Waffen. Was bedeutet diese Konzeption des wehrhaften, ins Tagesgeschehen eingreifenden Dichters für das Verhältnis von Poesie und Politik, Geist und Macht? Heine entwickelt schon eine große Sensibilität für die durchs Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit reflektierte, durch Tages- und Wochenpresse zugleich gebrochene und akzelerierte Wirkungsweise literarischer Produkte: mit der publizistisch verdichteten Form der Kommunikation hatten Kunst und Wissenschaft Art und Tempo ihrer Wirkung verändert. Dieses moderne Bewußtsein drückt sich auch in Heines rezeptionsästhetischer Einstellung aus. Es geht ihm um die soziale und politische Bedeutung der romantischen Schule, um die Wirkungsgeschichte von Religion und Philosophie in Deutschland. Er differenziert die Zusammensetzung des lesenden Publikums bereits unter soziologischen, die Verbreitung der kulturellen Erzeugnisse schon unter medienanalytischen Gesichtspunkten. Und er begreift die Julirevolution als den Siedepunkt, auf dem sich der Aggregatzustand der Öffentlichkeit veränderte - aus der literarischen Öffentlichkeit die politische sich formte (wenn auch in Deutschland zunächst nur vorübergehend). Heine beobachtet, wie dieser Strukturwandel die Einstellung des Dichters zu seinem Werk und zum Publikum berührt, wie er ins ästhetische Selbstverständnis des Autors und sogar in die ästhetische Form selber eingreift. In der unmittelbar vorangehenden, klassischen Periode hatten Literatur und Kunst, deren Produktion und Konsum im Verlaufe des 18. Jahrhunderts vom Mäzen auf den Markt umgestellt worden waren, erst ihre Autonomie erlangt. Heine nennt sie die Kunstperiode. Der Literatur- und Kunstbetrieb hatte sich - wie auch der Wissenschaftsbetrieb - so weit ausdifferenziert, daß 29 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. IV, S. 53 65
auch die professionell bearbeitete Kultur in ihrer inneren Struktur und Gesetzmäßigkeit transparent werden und sich vom Alltag, von Politik und Gesellschaft abheben konnte. Diese Autonomie hatte in der klassischen Werkästhetik - wie in Humboldts Universitätsidee - ihren Niederschlag gefunden. Wenn nun aber Schriftsteller und Gelehrte in den Sog der Emanzipationsbewegungen hineingezogen wurden, wenn sie zum vibrierenden Zentrum der Öffentlichkeit einen Bezug herstellten, sich an diese adressierten, einige ihrer Werke mit politischen Wirkungsabsichten schon erzeugten, Worte als potentielle Taten verstanden mußte dadurch nicht die soeben als »eine zweite unabhängige Welt« etablierte Kunst (und Wissenschaft) ihren autonomen Eigensinn wieder einbüßen und zum Instrument für äußere, sei es politische oder soziale Zwecke werden? So scheint es, wenn Heine »die Schriftsteller des heutigen Jungen Deutschlands« preist, die »keinen Unterschied machen wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion, und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribüne und Apostel sind«.10 Dies jedenfalls ist die Prämisse, von der die unpolitischen Dichter und die Mandarine der deutschen Universität in den zwanziger Jahren ausgehen; unter dieser Prämisse begreifen sie die »Politisierung des Geistes« als einen Verrat an der Autonomie geistiger Strukturen. Hermann Hesse empört sich 1918 über die Dichter, die sich Intellektuelle nennen: »Sie waren ja längst keine Dichter mehr, sie waren Journalisten und Geschäftemacher oder Klugredner... Als ob ihre Schuld darin bestünde, daß sie bisher zu wenig politisch gewesen, daß sie zu wenig... an die sogenannte Wirklichkeit gedacht hätten! Mein Gott,... sie hatten sich längst darum gedrückt, das zu tun, wozu ein Dichter allein auf der Welt ist, nämlich um den heiligen Dienst an der Welt, die mehr als wirklich, die ewig ist.«31 Unter entgegengesetzten Vorzeichen kehrt dieselbe Prämisse bei realpolitisch Gesonnenen wie Max Weber wieder. Auch sie stellen sich den Dichter und den Philosophen, der sich in der Öffentlichkeit engagiert, nur vor als den Promoter einer Entdifferenzierung zwischen Geist und Macht - als den politischen Dilettanten, der schwärmerisch die beiden Spha30 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. III, S. 468 31 H. Hesse, Phantasien, in: Stark (Hg.), a. a. O., S. 18
e n vermischt und deren Eigensinn verletzt. Der engagierte Cgjjj-Jftsteller setzt beides zugleich aufs Spiel: die Autonomie von Kunst und Wissenschaft wie andererseits die dem politischen Betrieb eigentümliche Rationalität. Ich meine, daß diesen beiden Vorwürfen derselbe Fehler zugrunde liegt: die Fetischisierung des Geistes und eine Funktionalisierung der Macht. Beide Ideen greifen ineinander, um den Begriff einer politischen Öffentlichkeit auszuschließen, in der der Intellektuelle allein eine genuine Rolle spielen könnte. Den Weimarer Meistern und Mandarinen stellte sich die Kultur dar als ein nur den Eliten zugänglicher Kontinent, der sich selbst genügt und mit Politik oder Gesellschaft eben keine feste Verbindung unterhält. Ihren Kontrahenten stellte sich umgekehrt die Politik dar als ein funktional spezifizierter Handlungsbereich, der eigene, für den betriebsförmig organisierten Machtkampf zuständige Experten braucht. Zwischen der Kultur der einen und der Politik der anderen bleibt für die politische Öffentlichkeit, und den Intellektuellen in ihr, kein Raum: dieser engagiert sich nämlich (was ihn gleichermaßen vom Journalisten wie vom Dilettanten unterscheidet) für öffentliche Interessen gleichsam im Nebenberuf, ohne dafür seinen professionellen Umgang mit den eigensinnig strukturierten Sinnzusammenhängen aufzugeben, aber auch ohne sich andererseits vom politischen Betrieb organisatorisch vereinnahmen zu lassen. Aus der Sicht des Intellektuellen bleiben Kunst und Wissenschaft gewiß autonom, aber nicht partout esoterisch; für ihn ist die politische Willensbildung gewiß auf das von Berufspolitikern beherrschte System bezogen, aber von diesem nicht ausschließlich kontrolliert. Dies war auch Heines Sicht. Er hat die Autonomie von Kunst und Literatur stets verteidigt, ohne sie zu fetischisieren. Dem scheinen bekannte Äußerungen entgegenzustehen: »Die Tat ist das Kind des Wortes, und die Goetheschen schönen Worte sind kinderlos« - aber dieser berühmte Satz wendet sich nicht gegen jene, in Goethes Werk repräsentierte Unabhängigkeit der »zweiten Welt«, der Welt des ästhetischen Scheins; er widerspricht nur der quietistischen Konsequenz, die Goethes Parteigänger daraus gegen jede Art von engagierter Schriftstellerei gezogen haben: »die Goetheaner ließen sich dadurch verleiten die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren, und von den Ansprüchen jener ersten Wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich ab-
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zuwenden«.32 Einen anderen Sinn hat auch nicht das beruhinte Wort, das in diesem Zusammenhang steht: das Wort über die Kinderlosigkeit jener Verbindung, die Pygmalion mit seiner unter Küssen zum Leben erweckten Statue eingegangen ist. Wie sonst ließen sich das Grauen und der Schrecken Heines vor einer künftigen Herrschaft der Ikonoklasten erklären, die »mit ihren rohen Fäusten« alsdann »alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt« zertrümmern.33 Wie die Schrift gegen Börne unmißverständlich zeigt, lehnt Heine jene »Männer der Bewegung« ab, die das »Kunstinteresse« bloß in Dienst stellen für das politische Interesse des Tages. Trotzig erklärt er, warum er am Tage seiner Ankunft in Paris nicht zu den Grabern Voltaires und Rousseaus, sondern zur Bibliotheque Royale geeilt sei, um sich die Manessische Handschrift zeigen zu lassen. Zugleich opponiert er der falschen Alternative zwischen der Fetischisierung des Geistes und einer politischen Instrumentalisierung der Kunst. Mit Hohn zitiert Heine eine Äußerung Börnes: »Wem wie ihm (Heine), die Form das Höchste ist, dem muß sie auch das Einzige bleiben; denn sobald er den Rand übersteigt fließt er ins Schrankenlose hinaus, und es trinkt ihn der Sand.«'4 Heine verlacht den Kontrahenten, der ihm den politischen Abschied geben und nach dem Parnassus in Ruhestand versetzen wollte - nur weil er, Heine, sich geweigert habe, den Eigensinn des ästhetischen Scheins der politischen Praxis aufzuopfern. Für Heine bleibt die Autonomie von Kunst und Wissenschaft notwendige Bedingung dafür, daß die verschlossenen Kornkammern, die der Intellektuelle allerdings für das Volk öffnen will, nicht leer sind.11 (b) Im Streit mit Börne kommt auch das andere Thema zur Sprache, der Begriff von Politik, von dem sich der engagierte Schriftsteller Heine leiten läßt. Gegen Börne beharrt er darauf, daß die Waffen des Dichters nicht die des Berufsrevolutionärs oder des Berufspolitikers - sein können. Freilich erweckt Heines Tenor manchmal einen anderen Eindruck; das junghegelianische Pathos der Tatphilosophie ist ja Heine nicht fremd: »Ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der 32 33 34 35
Heine, Heine, Heine, Heine,
Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche
Schriften, Schriften, Schriften, Schriften,
Bd. I I I , S. 393 Bd. V, S. 232 Bd. IV, S. 133 Bd. III, S. 514
fiedankenmanner, die oft in demutigster Stille Euch all Euer Tun ufs Bestimmteste vorgezeichnet haben.«'6 Und Heine selbst ieht sich nachts am Schreibtisch sitzen - eine vermummte Gestalt njjt dem Richtbeil hinter sich. Während seiner Winterreise, auf dem nächtlichen Domplatz zu Köln, begegnet er diesem Schatten «rieder, stellt ihn zur Rede und erhält die Antwort: »Ich bin von praktischer Natur. Und immer schweigsam und ruhig. Doch wisse: was du ersonnen im Geist, Das führ ich aus, das tu ich.«17 Meint Heine damit den Intellektuellen in der Doppelrolle eines »Gedankenmannes«, der als sein eigener »Handlanger« zugleich praktische Wirksamkeit erlangt? Das entspricht jedenfalls dem Bild, das in den zwanziger Jahren die Aktivisten unter den Schriftstellern von sich entworfen haben. Wilhelm Herzog veröffentlicht 1919 den Aufruf Organisieren wir endlich die Armee des Geistes. Im Ton der Zeit verlangt er: »Solidarität aller Fackelträger des Geistes: gegen die Verachter des Geistes, gegen die Verleumder der Revolution, für eine neue Weltordnung, die keine Todesstrafe und keine Versklavung kennt, für eine klassenlose Gemeinschaft aller Menschen.«18 Wiederum stehen diesen Idealisten die tatsächlich realistischer denkenden Parteileute gegenüber, die sich den Organisationsimperativen unterwerfen, aber deswegen von ihrer Mission keineswegs geringer denken: »An den... Kopfarbeitern vor allem liegt's, ob die proletarische Revolution kommen wird mit allen Schrecken des Bürgerkriegs, unter den Donnern des Gerichts, oder ob sie sich durchsetzen kann wie ein leichter Herbstwind, der die reife Frucht vom Baume schüttelt... Die Frage ist, ob sie sich der historischen Rolle gewachsen zeigen, die ihnen beschieden ist.«39 Ob nun das hegelmarxistische Verständnis von Theorie und Praxis ins Verblasen-Idealistische abgelenkt oder ob es leninistisch verflacht wird, Macht und Geist werden zugleich elitär und in36 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. III, S. 593 37 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. IV, S. 591 38 W. Herzog, Unabhangigkeits-Erklarung des Gentes, in: Stark (Hg.), a.a. O., S. 200 39 E. Hoernle, Die Kommunistische Partei und die Intellektuellen, in: Stark (Hg.),a.a.O.,S.255 69
strumentalistisch in Beziehung gesetzt - wie die Handlanger zu ihren Gedankenmännern. Ganz anders aber stellt Heine sich das Zusammenspiel des poetischen Gedankens und der politischen Bewegung vor. Denn jenes Bild von Robespierre als der blutigen Hand der Rousseauschen Gedanken ruft in ihm nichts als Abwehr hervor: »Wenn ich alle Gedanken dieser Welt in meiner Hand hatte - ich wurde Euch vielleicht bitten, mir die Hand gleich abzuhauen... «4C Jener Traum zu Köln findet denn auch eine überraschende Lösung: es sind ja nur die Totengerippe der Heiligen Drei Könige in ihren Sarkophagen, es ist die spirituelle Macht einer schimärischen Vergangenheit über eine schon verurteilte Gegenwart, die der Dichter mit seinem Wort zerstören will. Auch sein Liktor verfugt am Ende über keine anderen Waffen als die des Dichters: »Er nahte sich, und mit dem Beil Zerschmetterte er die armen Skelette des Aberglaubens, er schlug Sie nieder ohn Erbarmen.«41 Der Intellektuelle soll also die Gegenwart allein mit der reflexiven Kraft des Gedankens vom falschen »Zwitterwesen« erlösen »Von gotischem Wahn und modernem Lug Das weder Fleisch noch Fisch ist.«42 Heines Distanz zu Börne und zu den frühsozialistischen Handwerkern in Paris, Heines Furcht vor dem rechten wie vor dem linken Populismus, sein zwiespältiges Verhältnis zu Marx, zu den »gottlosen Selbstgöttern« und ihrer gleichmacherischen Revolution beruht auf Einschätzungen, die gewiß nicht in jeder Hinsicht der Kritik standhalten; das geheime Zentrum dieser Abneigung sehe ich aber darin, daß Heine zwischen Wort und Tat keinen schlicht instrumenteilen Zusammenhang zu sehen vermochte, daß er der Tribunalisierung der Kunst und der Doktrinalisierung des Wissens mißtraute und die Vermittlungen nicht überspringen wollte, die bestehen zwischen der Aufklärung eines urteilsfähigen Publikums und der Anleitung zum organisierten Kampf um die 40 Heine, Samthebe Schriften, Bd. III, S. 593 41 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. IV, S. 59; 42 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. IV, S. 617 7°
litische Macht. Diese Reserve des auf Meinungen, nicht auf Hirne und Hände einwirkenden Intellektuellen hätte Heine wohl egenüber dem institutionalisierten Betrieb des Berufspolitikers i«cht weniger energisch zur Geltung gebracht wie gegenüber der Bewegung der (in seinen Augen allerdings notwendigen) Revolution.
III Mit alledem ist Heine für die Intellektuellen von Weimar nicht zum Vorbild geworden. In Deutschland hat das intellektuelle Selbstverständnis Heines erst nach 1945 traditionsbildend gewirkt. Erst in der Bundesrepublik hat sich eine Intellektuellenschicht gebildet, die sich selbst als solche akzeptiert. Nun wird der Schritt zur Normalisierung des öffentlichen Engagements von Schriftstellern und zunehmend auch von Wissenschaftlern nachgeholt, den Frankreich schon mit der Dreyfus-Affäre getan hat. Mit dem sozialstaatlichen Kompromiß und der Stillstellung des Klassenkampfes, mit der Expansion von Schul- und Hochschulbildung, mit den elektronischen Medien und einer vom Wort aufs Bild umgestellten Kulturindustrie, mit der Verselbständigung hochbürokratisierter Parteien gegenüber Mitgliedern und Wählern, mit der demoskopischen Kontrolle der öffentlichen Meinung, mit Ideologieplanung und kommerzieller Beschaffung von Massenloyalität hat sich erneut ein Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzogen. Vor diesem Hintergrund kommt es mir nur auf eines an: die das deutsche Bildungsbürgertum prägenden Mentalitäten, die noch während der Weimarer Zeit dominierenden Denkmuster mußten erst durch das Nazi-Regime weithin sichtbar korrumpiert werden, bevor auch in Deutschland Heines abgründige, schmerzhafte Distanz zur eigenen Identität und Überlieferung Platz greifen konnte. Ohne diese ist das kritische, zugleich auf Selbstkritik angewiesene Geschäft des Intellektuellen nicht möglich. Erst die Enthüllungen über die Nazi-Verbrechen haben uns die Augen geöffnet für das Monströse und das Unheimliche, das Heine auch in unseren besten, den unverlierbaren Traditionen brüten sah. Den jüdischen Emigranten in Paris hat ein politisch-geographischer, auch ein kultureller Abstand von seiner so ambivalent wie leidenschaftlich geliebten Heimat und damit von ihm selbst - getrennt. Erst nach 1945 konnten wir 71
diese raumliche Distanz, die zwischen Heine und der Arena seiner eigentlichen Wirkungsabsichten gelegen hat, umformen j n eine geschichtliche Distanz - in unser reflexiv gebrochenes Verhältnis zu den identitatsbildenden Überlieferungen und geistiger, Formationen. Nun braucht auch das Eigenste, wenn es denn problematisch wird, den intellektuell verfremdenden Blicken nicht länger entzogen zu bleiben.
Impressionistisches Nachwort zur Bundesrepublik Die Institutionalisierung der Rolle des Intellektuellen nimmt allerdings auch in der Bundesrepublik keinen geradlinigen Verlauf. Der jüngste Abschnitt der deutschen Intellektuellengeschichte ist schlecht dokumentiert;43 ich muß mich auf einige Stichworte aus der selektiven Erinnerung eines parteinehmenden Zeitgenossen beschranken. Nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges war die politische Kultur hinter dem Stand der ohnehin halbherzig praktizierten Verfassungsnormen zurückgeblieben. Bei Ungewißheiten der politischen Kultur ist es auch nach 1945 geblieben. Weil aber die militärische Niederlage diesmal mit der Enthüllung einer moralischen Katastrophe verbunden war, haben nicht nur die Institutionen der Verfassung stärker in der Praxis der Verfassungswirklichkeit Wurzeln gefaßt; auch die politische Kultur war von Anbeginn gekennzeichnet durch das Mißtrauen der Intellektuellen gegen falsche Kontinuitäten. Mit einem Kontrastprogramm zur Wiederaufbau- und Sicherheitsmentalitat der breiten Bevölkerung und einer restaurativen Regierung hat sich bis Ende der fünfziger Jahre eine Intellektuellenschicht etabliert. In der Öffentlichkeit treten vor allem engagierte Schriftsteller auf, wie die Gruppe 47, aber auch Professoren, die wie Jaspers, Kogon oder Adorno während der Nazi-Zeit hatten schweigen müssen, eingesperrt oder in die Emigration getrieben worden waren. Anders als die Dreyfus-Affäre, mit der sich die Rolle des Intellektuellen in Frankreich erst durchsetzte, bestätigte die Spiegel-Affäre nur noch den gelungenen Durchsetzungsprozeß. 43 Vgl. H. Glaser, Bundesrepubltkamschei Lesebuch. Drei Jahrzehnte geistiger Auseinandersetzung, München/Wien 1978 7
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J Im Vergleich zu Weimar hatte sich das Selbstverständnis der Intellektuellen in doppelter Hinsicht verändert. Zwar behielt das •Thema »Geist und Macht« eine sentimentale Note; das wechselseitige Unverständnis, das Intellektuelle und Regierungsparteien füreinander hegten, wich erst mit der sozialhberalen Koalition, uiit Gustav Heinemann und Willy Brandt. Aber die Weimarer Prämissen waren schon vorher außer Kurs gesetzt worden: die Fetischisierung des Geistes wie auch das bloß instrumenteile Verständnis der Macht. Wenn man an Figuren wie Heinrich Böll oder Alexander Mitscherlich denkt, die seit den sechziger Jahren den neuen Einfluß der Intellektuellen in einer inzwischen auf Television umgestellten Öffentlichkeit symbolisieren, wird jedem Beteiligten intuitiv deutlich sein, was ich meine. Der zugleich egalitär und fallibilistisch gewordene »Geist«, der sich in solchen Personen verkörperte, hatte beides abgelegt - den elitären Bildungshumanismus und den emphatischen Wahrheitsbegriff der platonisch gebliebenen philosophischen Tradition. Die Intellektuellen hatten sich auch das normative Selbstverständnis der demokratischen Willensbildung zu eigen gemacht: selbst gegen die Tatsachen vertrauten sie auf die soziahntegrative Kraft einer Öffentlichkeit, in der Einstellungen durch Argumente verändert werden sollten.44 Die Namen Böll und Mitscherlich tauchen freilich auch in anderem Zusammenhang auf: 1975 widmete ihnen Helmut Schelsky je einen besonders drastischen Exkurs zum Thema »Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen«.41 Bei der Lektüre dieses Pamphlets fühlt man sich ins Milieu der Weimarer Zeit zurückversetzt - Intellektuellenbeschimpfung mit theoretischem Anspruch. Was war geschehen? Inzwischen hatten die Geister von Weimar, eigentümlich verwandelt, ihre gespenstische Auferstehung erlebt. Im Verlaufe der Protestbewegung der Studenten war nämlich auch die von Lukäcs ausgeloste Debatte über die Stellung des Intellektuellen im Klassenkampf wiederaufgenommen und ins Sozialpsychologische abgewandelt worden. Die Identifikation mit den Führern 44 Vgl. zu diesen Beobachtungen H . Brunkhorst, Im Schatten der Wahrheit. Notizen über Philosophie und Denken mit ofjentlichem Anspruch, in: Neue Rundschau 95, 1984, S. i2off. 45 So der Untertitel von H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, Opladen •975 73
der nationalrevolutionären Kämpfe in Vietnam, China, Kuba und Südamerika diente den revoltierenden Studenten als Vermittlung um den »autonomen Klassenverrat des bürgerlichen Intellektuellen« und damit das Wunschbild des Berufsrevolutionärs aus den zwanziger in die sechziger Jahre transponieren zu können. Die Politik der symbolischen Aktionen wurde zu einer kollektiv betriebenen »Praxis der Selbstverwandlung«.46 Dieses scheinrevolutionare Selbstverständnis huschte wie ein Schatten der Vergangenheit über eine Bühne, die aber bald von anderen, durch die antiautoritären Aktionen hervorgelockten Kräften besetzt wurde. Jetzt hatte eine Kritik an den Linksintellektuellen ihren Auftritt, die sich ihrerseits aus der Weimarer Waffenkammer alimentierte. Denn die Intellektuellenkritik der siebziger Jahre wird maßgeblich inspiriert durch Arbeiten von Arnold Gehlen, eines enttäuschten Parteigängers der nationalen Revolution, der sich schon Anfang der sechziger Jahre die auf Max Weber zurückgehende Intellektuellensoziologie von Joseph Schumpeter47 für den tagespolitischen Gebrauch zurechtgelegt hatte.48 Was Gehlen als die sozialkritische Aggressivität und Überreiztheit der hypermoralischen Intellektuellen beschreibt, erklart er aus dem Mißverhältnis zwischen den Informationen, die aus einem weltweit ausgespannten Kommunikationsnetz heranfluten, einerseits, und den fehlenden praktischen Eingriffsmöglichkeiten einer realitätsfernen, nur mit Meinungen hantierenden, von Sachzwängen freigesetzten Profession andererseits. Die Meinungsmacher und »Mundwerksburschen« sind der Komplexität einer hochdifferenzierten, arbeitsteilig operierenden Gesellschaft, auf deren systemisch gesteuerte Prozesse sie keinen Einfluß haben, nicht gewachsen. Deshalb reagieren sie den Groll eines zur Passivität verdammten intellektuellen Zuschauers gesinnungshaft ab, und zwar in den Formen einer »traditionsfeindlichen, weil allumfassenden Solidarethik«, die an der Realität abpralle und sich nur noch zur ungezielten Agitation eigne. Heine hatte die von Rousseau und Kant entwickelte autonome Ethik der Aufklärung 46 A. Steil, Selbstverwandlung und Ich-Opfer. Zur Ethik des Klassenverrah, in: Düsseldorfer Debatte 10, 1985, S. 27ff. 47 J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., Bern 1950, S. 23 5 ff. 48 A. Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegen den Staat, in: ders., Einblicke,
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F r a n k f u r t / M . 1 9 7 8 , S. 253ff.
-«feiert- Diese nennt Gehlen jetzt »humamtaristische Gesin^ngsethik« und begreift sie als bloßen Reflex der freischwebenAea, v o n ^ e n Realitäten abgeschnittenen, objektiv verantwortungslosen, kompetenzfreien Position des »im Weltverkehr des Bewußtseins« eingeschlossenen Intellektuellen. Max Webers Gegenüberstellung von gesinnungsethisch unverantwortlichem Dilettantismus und der Tugend des kompetenten, verantwortungsbereiten, realitätsnahen Berufspolitikers kehrt hier wieder, nun freilich verallgemeinernd bezogen auf alle Praktiker der Wirtschaft, der Verwaltungen jeder Art, der Verbände und Gewerkschaften, selbst der gelehrten Berufe.49 Denn als Intellektuelle hatte Gehlen zunächst nicht die engagierten Wissenschaftler, sondern nur Publizisten und Schriftsteller im Visier. Das ändert sich im Laufe der siebziger Jahre, als der R AF-Terror zugleich den Anlaß und den Vorwand bietet, Gehlens Intellektuellenkritik mit einem anderen Versatzstuck aus der Diskussion der zwanziger Jahre, nämlich mit Carl Schmitts Theorie vom innerstaatlichen Feind, anzureichern und auf die universitären Linksintellektuellen auszudehnen. Die Epigonen der einstigen Mandarine waren durch die Protestbewegung provoziert worden. Aus ihren Reihen rekrutierten sich nun jene Gegenintellektuellen, die wie Schelsky und Sontheimer50 Gehlens Intellektuellenkritik aufnahmen und zu einer Theorie der Neuen Klasse -der »Klasse« der Sinnvermittler - verarbeiteten. Die »Tendenzwende« hat einen neuen Typus, den des Gegenintellektuellen, hervorgebracht. Dieser Gegenintellektuelle tritt nicht nur, wie die Rechtsintellektuellen seit den Tagen der Action Francaise, als der politische Gegner auf; er kritisiert nicht nur, wie die einander bekämpfenden Weimarer Intellektuellen, negative Zuge am Gegenüber; er versucht vielmehr zu erklären, warum die bereits institutionalisierte Rolle des Intellektuellen eine gesellschaftliche Pathologie darstellt. Der Gegenintellektuelle arbeitet mit den Mitteln des Intellektuellen, um zu zeigen, daß es ihn gar nicht geben dürfte. Nach dieser Lesart ist nämlich der Intellektuelle selbst die Krankheit, die er einer ohne ihn gut funktionierenden Gesellschaft anzudemonstrieren versucht. Einen Stellenwert hat er nur in Theorien, die vor einer »Überpolitisierung« warnen, die die 49 E b d a . , S. 255
S° K. Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976, S. 263 ff.
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Legitimationslasten der Regierung vermindern mochten, die die gesellschaftliche Rationalitat nur noch in den subsystemspczifj. sehen Sachgesetzlichkeiten, nicht mehr in einer demokratischen Öffentlichkeit verkörpert sehen.'1 Offenbar hatten sich aber die Intellektuellen in der Bundesrepublik nach drei Jahrzehnten schon so fest etabliert, daß die Gegenintellektuellen den Vorgang der Normalisierung nicht mehr aufhalten konnten. Das zeigte sich im Herbst '77, als die konservativen Parteien für kurze Zeit eine durch den Terrorismus, insbesondere die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberprasidenten Schleyer ausgelöste kritische Stimmung für ein Pogrom gegen Linksintellektuelle ausbeuten wollten. Die Ausgrenzungskampagne brach schnell in sich zusammen. Wie die (von F. Duve, H. Böll und K. Staeck herausgegebenen) Briefe zur Verteidigung der Republik oder der (von A. Kluge angeregte) Episodenfilm Deutschland im Herbst zeigen, haben sich die Intellektuellen rasch und entschieden zur Wehr gesetzt. Auch für die andere Seite hatten die Tendenzwendenaktivitäten einen verblüffenden Effekt. Der Aufstand gegen die Normalisierung einer Rolle, welche doch die neokonservativen Intellektuellen unterdessen selber übernehmen mußten, schlug ironisch auf die Urheber zurück. Unsere rechten Intellektuellen haben aufgehört, sich selbst zu dementieren, und bedienen sich inzwischen der zunächst denunzierten Rolle keineswegs ohne Erfolg. Heute planen sie schon die »Ausstrahlung in die Öffentlichkeit« ein, wenn sie auf Anregung eines CDU-Senators an die Gründung einer Akademie der Wissenschaften herangehen." Dabei gerät der Neokonservative gewiß immer wieder in Versuchung, den Intellektuellen, der er ist, an den Ideologieplaner, der er gerne sein möchte, zu verraten. Auch Heine ist inzwischen rehabilitiert. Das bezeugt aufs schönste die Antwort, die Golo Mann bei ähnlicher Gelegenheit auf die Frage »Heine, wem gehört er?« gegeben hat: »Heine gehört nie51 H. Dubiel, Was ist Neokonservatismus?, Frankfurt/M. 1985. Das 1A7Feuilleton besorgt sich neuerdings Gastkolumnen aus dem Ausland, um die Polemik der eingeborenen Gegenintellektuellen zu verstarken. Am Beispiel von Gunter Grass beklagt Hilton Kramer (in der H Z vom 11. 4. 86), daß die oppositionellen Intellektuellen zum »Hindernis der Demokratie« geworden seien. 52 Denkschrift für die Gründung einet Akademie der Wissenschaften zu Bei lin, S. 15. Vgl. auch die von der Alternativen Liste Berlin herausgegebene Streitschrift gegen die Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1986
^andern. Besser: Er gehört allen, die ihn lieben.«" Wenn die Figur Hei nes e m Schattenriß des deutschen Intellektuellen gewesen ist, dann sollte mit einem Heine, der uns allen gehört, die Rolle des Intellektuellen auch in Heines Vaterland unproblematisch geworden sein - ja so trivial, daß darauf die Linken nicht langer einen Monopolanspruch erheben müssen.
S3 G.Mann, Heine, "aem gehört er?,in: Neue Rundschau 83, 1972, wieder abgedruckt in: G. Busch,]. H. Freund (Hg.), Gedanke und Gewissen, Frankfurt/M. 1986, S. 465 ff.
Die Idee der Universität - Lernprozesse
Im ersten Heft des ersten Jahrgangs der damals von Karl Jaspers und Alfred Weber, Dolf Sternberger und Alexander Mitscherlich gegründeten Zeitschrift Die Wandlung kann man die Rede nachlesen, die der aus der inneren Emigration auf seinen Lehrstuhl zurückkehrende Philosoph im Jahre 1945 zur Wiedereröffnung der Universität Heidelberg gehalten hat: Karl Jaspers, Die Erneuerung der Universität. Mit der Emphase des neuen Anfangs, den die zeitgeschichtliche Situation in Aussicht stellte, griff Jaspers damals den zentralen Gedanken aus seiner Schrift über die Idee der Universität auf, die zuerst 1923 erschienen war und 1946 neu aufgelegt wurde. Fünfzehn Jahre später, 1961, erscheint das Buch in neuer Bearbeitung. Jaspers sah sich inzwischen in seinen Erwartungen enttäuscht. Ungeduldig, geradezu beschwörend heißt es jetzt im Vorwort zur Neufassung: »Entweder gelingt die Erhaltung der deutschen Universität durch Wiedergeburt der Idee im Entschluß zur Verwirklichung einer neuen Organisationsgestalt, oder sie findet ihr Ende im Funktionalismus riesiger Schul- und Ausbildungsanstalten für wissenschaftlich-technische Fachkräfte. Deshalb gilt es, aus dem Anspruch der Idee die Möglichkeit einer Erneuerung der Universität... zu entwerfen.«1 Immer noch geht Jaspers unbefangen von Prämissen aus, die sich der impliziten Soziologie des Deutschen Idealismus verdanken. Ihr zufolge sind institutionelle Ordnungen Gestalten des objektiven Geistes. Eine Institution bleibt nur so lange funktionsfähig, wie sie die ihr innewohnende Idee lebendig verkörpert. Sobald der Geist aus ihr entweicht, erstarrt eine Institution in ähnlicher Weise zu etwas bloß Mechanischem, wie sich der seelenlose Organismus in tote Materie auflöst. Auch die Universität bildet kein Ganzes mehr, sobald das einigende Band ihres korporativen Bewußtseins zerfällt. Die Funktionen, die die Universität für die Gesellschaft erfüllt, müssen gleichsam von innen mit den Zielsetzungen, Motiven und Handlungen ihrer arbeitsteilig kooperierenden Mitglieder (über ein K.Jaspers, K. Rossmann, Die Idee der Universität, Heidelberg 1961 78
Geflecht von Intentionen) vereinigt bleiben. In diesem Sinne soll die Universität eine von ihren Angehörigen intersubjektiv geteilte, sogar eine exemplarische Lebensform institutionell verkörpern und zugleich motivational verankern. Was seit Humboldt »die Idee der Universität« heißt, ist das Projekt der Verkörperung einer idealen Lebensform. Diese Idee soll sich vor anderen Gründungsideen noch dadurch auszeichnen, daß sie nicht nur auf eine der vielen partikularen Lebensformen der frühbürgerlichen, berufsständisch stratifizierten Gesellschaft verweist, sondern dank ihrer Verschwisterung mit Wissenschaft und Wahrheit - auf ein Allgemeines, dem Pluralismus gesellschaftlicher Lebensformen Vorgängiges. Die Idee der Universität verweist auf die Bildungsgesetze, nach denen sich alle Gestalten des objektiven Geistes formieren. Selbst wenn wir von diesem überschwenglichen Anspruch aufs Exemplarische absehen, ist nicht schon die Prämisse, daß ein unübersichtliches Gebilde wie das moderne Hochschulsystem von der gemeinsamen Denkungsart ihrer Mitglieder durchdrungen und getragen werden müsse, unrealistisch? »Nur wer die Idee der Universität in sich tragt, kann für die Universität sachentsprechend denken und wirken.«2 Hätte Jaspers nicht schon von Max Weber gelernt haben können, daß die organisationsförmige Realität, in der sich die funktional spezifizierten Teilsysteme einer hochdifferenzierten Gesellschaft sedimentieren, auf ganz anderen Prämissen beruht? Die Funktionsfähigkeit solcher Betriebe und Anstalten hängt gerade davon ab, daß die Motive der Mitglieder von den Organisationszielen und -funktionen entkoppelt sind. Organisationen verkörpern keine Ideen mehr. Wer sie auf Ideen verpflichten wollte, müßte ihren operativen Spielraum auf den vergleichsweise engen Horizont der von den Mitgliedern intersubjektiv geteilten Lebenswelt beschränken. Einer der vielen huldigenden Artikel, mit denen die FAZ die Universität Heidelberg zu ihrem 600. Geburtstag verwöhnt, kommt denn auch zu dem ernüchternden Schluß: »Das Bekenntnis zu Humboldt ist die Lebenslüge unserer Universitäten. Sie haben keine Idee.«3 Aus dieser Sicht gehören alle jene Universitätsreformer, die sich wie Jaspers auf die Idee der Universität berufen haben und mit schwä2 Ebda., S. 36 3 K. Reumann, Verdunkelte Wahrheit, in: M Z vom 24. März 1986 79
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eher werdender Stimme noch berufen, zu den bloß defensiven Geistern einer modernisierungsfeindlichen Kulturkritik. Nun war Jaspers von den idealistischen Zügen eines soziologiefremden, bildungselitären, bürgerlichen Kulturpessimismus d. h. von der Hintergrundideologie der deutschen Mandarine gewiß nicht frei; aber er war nicht der einzige, nicht einmal der einflußreichste unter denen, die in den sechziger Jahren eine überfällige Universitätsreform mit Rückgriff auf die Ideen der preußischen Universitätsreformer eingeklagt haben. Im Jahre 1963, zwei Jahre nach der Neufassung der Jasperschen Schrift, hat sich Helmut Schelsky mit seinem schon im Titel unverkennbaren Buch Einsamkeit und Freiheit zu Wort gemeldet. Und wiederum zwei Jahre später erschien die Ausarbeitung einer (zunächst 1961 vorgestellten) Denkschrift des SDS unter dem Titel Hochschule in der Demokratie. Drei Reformschriften aus drei Generationen und drei verschiedenen Perspektiven. Sie markieren einen jeweils größer gewordenen Abstand von Humboldt - und eine wachsende sozialwissenschaftliche Ernüchterung über die Idee der Universität. Trotz des Generationenabstandes und des eingetretenen Mentalitätswandels ließ sich freilich keine dieser drei Parteien ganz davon abbringen, daß es um eine kritische Erneuerung eben jener Idee gehe: »Reform der Universität«, meinte Schelskv, »ist heute eine Neuschöpfung und Umgestaltung ihrer normativen Leitbilder, also die zeitgemäße Wiederholung der Aufgabe, die Humboldt und seine Zeitgenossen für die Universität vollbracht haben.«4 Und das Vorwort, mit dem ich seinerzeit die SDS-Denkschrift empfohlen habe, schließt mit dem Satz: »Die Lektüre mag für die, die eine große Tradition ungebrochen fortzusetzen meinen, provozierend sein. Aber nur darum ist diese Kritik so unerbittlich, weil sie ihre Maßstäbe dem besseren Geist der Universität selber entlehnt. Die Verfasser« - damals Berliner Studenten, heute wohlbestallte und bekannte Professoren wie Claus Offe und Ullrich Preuß - »identifizieren sich mit dem, was die deutsche Universität einmal zu sein beanspruchte. «s Zwanzig Jahre und eine halbherzig durchgeführte, teils wieder zurückgenommene Organisationsreform der Hochschule tren4 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Hamburg 1963, S. 274 5 W. Nitsch,'u. Gerhardt, C. Otfe, U. K. Preuss, Hochschule in der Demokratie, Neuwied 1965, S. VI 80
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-«.jiuns heute von diesen Versuchen, der Universität im Lichte lh(gr erneuerten Idee eine neue Gestalt zu geben. Nachdem die Ounstschwaden der Polemik über die inzwischen eingerichtete gjyppenuniversität abgezogen sind, streifen resignierte Blicke aber eine polarisierte Hochschullandschaft. Was können wir aus Jjesen zwanzig Jahren lernen? Es sieht so aus, als behielten jene Realisten recht, die, wie Jaspers anmerkt, schon nach dem Ersten Weltkrieg erklart hatten: »Die Idee der Universität ist tot! Lassen 6 w ir die Illusionen fallen! Jagen wir nicht Fiktionen nach!« Oder liatten wir nur die Rolle, die eine solche Idee für das Selbstvergtändnis universitär organisierter Lernprozesse nach wie vor spielen könnte, nicht richtig verstanden? Mußte die Universität auf ihrem Wege zur funktionalen Spezifizierung innerhalb eines beschleunigt ausdifferenzierten Wissenschaftssystems das, was man einmal ihre Idee genannt hat, als leere Hülse abstreifen? Oder ist die universitäre Form organisierter wissenschaftlicher Lernprozesse auch heute noch auf eine Bündelung von Funktionen angewiesen, die nicht gerade ein normatives Leitbild erfordert, aber doch eine gewisse Gemeinsamkeit in den Selbstdeutungen der Universitätsangehörigen - Reste eines korporativen Bewußtseins?
II Vielleicht genügt schon ein Blick auf die äußere Entwicklung der Hochschulen, um diese Fragen zu beantworten. Die Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weltweites Phänomen, das T. Parsons veranlaßt hat, von einer »Erziehungsrevolution« zu sprechen. Im Deutschen Reich war die Zahl der Studierenden zwischeni933undi939voni2ioooauf56ooo Studenten halbiert worden. 1945 bestanden auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik nur noch 15 Hochschulen. Mitte der fünfziger Jahre versorgten 50 wissenschaftliche Hochschulen schon wieder etwa 150 000 Studenten. Anfang der sechziger Jahre wurden dann die Weichen für einen gezielten Ausbau des tertiären Sektors gestellt. Seitdem hat sich die Studentenzahl noch einmal vervierfacht. Heute werden über eine Million Studenten an 94 6 Jaspers, Rossmann, a. a. O., S. 7 81
wissenschaftlichen Hochschulen ausgebildet Diese absolute Zahlen gewinnen freilich einen informativen Gehalt erst im niter nationalen Vergleich In fast allen westlichen Industnegesellschaften beginnt nach 1945 der Trend zur Frweiterung der formalen Bildung und setzt sich verstärkt bis Ende der siebziger Jahre fort, in den entwiekel ten sozialistischen Gesellschaften konzentriert sich der gleiche Erweitcrungsschub in den fünfziger Jahren In allen Industi ielau dem nahm die von der UNFSCO für den Zeitraum von 1950 bis 1980 brutto berechnete Sekundarschulrate von 30 auf 80, die ent sprechende Hochschulrate von knapp 4 auf 30 zu Die Parallelen in der Bildungsexpansion verschiedener Industriegesellschatten zeigen sich noch deutlicher, wenn man, wie im angekündigten zweiten Bildungsbencht des Max-Planck-Instituts für Bildungs forschung, die Selektivität des Bildungssystems in der Bundesre pubhk mit dem in den USA, Großbritannien, Frankreich und der DDR vergleicht Obwohl die nationalen Bildungssysteme ginz verschieden aufgebaut sind, und trotz der Unterschiede im poh tischen und gesellschaftlichen System, ergeben sich für die hoch sten Qualifikationsstufen dieselben Größenordnungen Wenn man die Bildungsehte an höheren akademischen Graden (in der Regel an der Promotion) mißt, hegt ihr Anteil zwischen 1,5% und 2,6% eines Jahrgangs, mißt man sie am Abschluß dei wich tigsten Formen des akademischen Langzeitstudiums (an Diplom, Magister und Staatsexamen), hegt der Anteil zwischen 8 % und 10% eines Jahrgangs Die Autoren des zweiten Bildungsbenehts vertiefen diesen Vergleich bis in Bereiche der qualitativen Ditfe renzierung und stellen beispielsweise fest, daß sich das Pubhkiti onsverhalten und die nach äußeren Indikatoren eingeschu/te wissenschaftliche Produktivität in den einzelnen Fachern inter national auf verbluffende Weise ahnein - ganz unabhängig da\ on, ob die nationalen Hochschulsysteme eher offen strukturiert oder starker auf Auswahl und Ehtenbildung zugeschnitten sind s Die deutschen Universitäten haben sich zudem, bei aller steif 7 Nicht berücksichtigt sind weitere 94 Hchhochschulen und 16 Kunsthoch schulen Vgl H Kohler J Naumann Trends der Hochschulen! ^iiklioif, 19/0 bis 2000, in Recht dey Jugend und da Bildungscuesevs 32 Jg 1 yS4 H 6 S 41911 rin Überblick in Mix Planck Institut für Bildun^tc 1 schung,Z)«s Bildungsi±.esin in der Bundesrepublik,Himbmg 1984 S S H 8 Max Planck Institut fui Bildungsforschung, Bildungsbencht II 82
ckigen Resistenz gegen die staatlich veroidnete Reform, nicht ui den quantitativen Dimensionen verändert Die markanteren Zuge einer spezifisch deutschen Erbschaft sind abgeschliffen worden Mit der Ordinanenumversitat sind überholte Hicrarhien abgebaut worden, mit einer gewissen Statusmvelherung verlor auch die Mandarinenideologie ihre Grundlage Auslagerungen und interne Differenzierungen haben Lehre und Forschung starker auseinandertreten lassen Mit einem Wort auch in ihren inneren Strukturen haben sich in der Bundesrepublik die Massenumversitaten den Hochschulen anderer Industrielander angeglichen Aus der Entfernung des international vergleichenden bildungssoziologischen Blicks bietet sich also ein Bild, das eine funktionahstische Deutung aufdrangt Danach bestimmen die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Modernisierung auch die Hochschulentwicklung, die freilich in der Bundesrepublik, im Vergleich zur DDR und zum westlichen Ausland, mit einem Jahrzehnt Verspätung eingesetzt hat In der Phase größter Beschleunigung hat dann die Bildungsexpansion entsprechende Ideologien erzeugt Der Streit zwischen den Reformern und den Verteidigern eines unhaltbar gewordenen Status quo ist damals von allen Seiten, so scheint es, unter der falschen Prämisse ausgetragen worden, daß es darum gehe, die Idee der Universität sei es zu erneuern oder zu bewahren In diesen ideologischen Formen hat sich ein Prozeß vollzogen, den keine der beiden Parteien gewollt hat - und den die revoltierenden Studenten seinerzeit als »technokratische Hochschulreform« bekämpft haben Im Zeichen der Reform scheint sich bei uns nur ein neuer Schub in der Ausdifferenzierung eines Wissenschaftssystems vollzogen zu haben, das sich wie überall funktional verselbständigt hat- und das normativer Integration in den Köpfen von Professoren und Studenten um so weniger bedarf, je mehr es sich über systemische Mechanismen steuert und mit der disziphnaren Erzeugung von technisch verwertbaren Informationen und Berufsquahfikationen auf die Umwelten der Ökonomie und der planenden Verwaltung einstellt Zu diesem Bild passen die pragmatischen Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die eine Verlagerung der Gewichte zugunsten svstemischer Steuerung, zugunsten dis?iplmarer Eigenständigkeit, zugunsten einer Differenzierung von Forschung und Lehre fordern ' 9 Wissenschaftsrat I mpfehlungen und Stellungnahmen 1984 ders tmp fehlungen zum Wettbewerb im deutschen Hothschulsysttm 1985 ders «3
Freilich laßt die ideenpolitische Enthaltsamkeit des 'Wissenschaftsrats weitergreifende Interpretationen offen. Die vorsichtigen Empfehlungen implizieren nicht notwendig jene funktionalistische Lesart, die sich mit einem heute verbreiteten neokonservativen Deutungsmuster trifft. Einerseits sem man aufs funktional ausdifferenzierte Wissenschaftssystem, fur das die normativ integrierende Kraft eines im korporativen Selbstverstandnis verankerten ideellen Zentrums nur hinderlich wäre; andererseits nimmt man die Jubilaumsdaten gerne zum rhetorischen Anlaß, um über einer systemisch geronnenen Autonomie der Hochschule den Traditionsmantel einer einst ganz anders, nämlich normativ gemeinten Autonomie auszubreiten. Unter diesem Schleier können sich dann die Informationsflusse zwischen den funktional autonom gewordenen Teilsystemen, zwischen den Hochschulen und dem okonomisch-militarisch-administrativen Komplex, um so unauffälliger einspielen. Aus dieser Sicht wird das Traditionsbewußtsein nur noch an seinem Kompensationswert gemessen; es ist soviel wert, wie die Löcher groß sind, die es in einer ihrer Idee beraubten Universität zu stopfen vermag. Auch diese neokonservative Deutung konnte freilich, soziologisch betrachtet, der bloße Reflex einer Bildungskonjunktur sein, die ihren Zyklen folgt - ganz unbeirrt von den Politiken, den Themen und den Theorien, denen sie jeweils zum Aufschwung verhilft. Die aktive Bildungspolitik, die bei uns im Zuge eines überfälligen Modernisierungsschubes Anfang der sechziger Jahre eingesetzt hatte, beruhte bis zum Ende der Großen Koalition auf einem tragfahigen Konsens aller Parteien; wahrend der ersten Regierung Brandt hat die Bundesrepublik dann eine bildungspohtische Hochkonjunktur erlebt - und den Beginn der Polarisierung. Seit 1974 setzte schließlich der Abschwung ein, weil seitdem die Bildungspolitik durch die einsetzende Wirtschaftskrise von beiden Seiten betroffen wurde: auf der Absolventenseite durch erschwerte Arbeitsmarktbedingungen, auf der Kosten- und Finanzierungsseite durch die Krise der öffentlichen Haushalte.10 Man Empfehlungen zur Struktur des Studiums, 1985; Empfehlungen zur klinischen Forschung, 1985 10 K Hufner, J. Naumann, H. Kohler, G. Vittier, Hochkonjunktur und Hau te Bildungspolitik in der BRD, Stuttgart 1986, S. 2ooff. Vgl. auch: K. Hutner, J Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der BRD, Stuttgart 1977
jjjnn also das, was den Neokonservativen heute als realistische jyjeuorientierung der Bildungspolitik erscheint, auch als ein weitgehend ökonomisch und politisch zu erklärendes Rezessionsahänomen der Bildungsplanung verstehen." Wenn aber die Bildungskonjunkturen gleichsam durch die Themen und Theorien Jjindurchgreifen, ist auch die funktionalistische Deutung, die Jieute dominiert, nicht schlicht atface value zu nehmen. Prozesse der Ausdifferenzierung, die sich in den beiden letzten Jahrzehnten beschleunigt haben, müssen nicht unter eine systemtheoretische Beschreibung gebracht werden und zu dem Schluß fuhren, daß die Universitäten den lebensweltlichen Horizonten nun ganz entwachsen sind. Die traditionelle Bündelung verschiedener Funktionen unter dem Dach einer Institution, auch das Bewußtsein, daß hier der Prozeß der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht nur mit technischer Entwicklung und mit der Vorbereitung auf akademische Berufe, sondern auch mit allgemeiner Bildung, kultureller Überlieferung und Aufklarung in der politischen Öffentlichkeit verflochten ist, konnte ja fur die Forschung selbst lebenswichtig sein. Empirisch gesehen scheint es eine offene Frage zu sein, ob nicht die Antriebe wissenschaftlicher Lernprozesse am Ende erlahmen mußten, wenn diese ausschließlich auf die Funktion der Forschung spezialisiert waren. Wissenschaftliche Produktivität konnte von universitären Formen der Organisation abhängig sein, nämlich angewiesen auf jenen in sich differenzierten Komplex der Forderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der Vorbereitung auf akademische Berufe sowie der Beteiligung an Prozessen der Allgemeinbildung, der kulturellen Selbstverständigung und der öffentlichen Meinungsbildung. Noch sind die Hochschulen über diese merkwürdige Bündelung von Funktionen in der Lebenswelt verwurzelt. Allerdings werden die allgemeinen Vorgange der Sozialisation, der Überlieferung und der sozialintegrativen Willensbildung, über die sich 11 Dafür sprechen auch die nationalen Ungleichzeitigkeiten der Karrieren von bildungsreformenschen Vorschlagen. So haben beispielsweise 1985 die 50 Professoren am Collège de France dem franzosischen Präsidenten Bildungsreformempfehlungen vorgelegt, die in Tenor und Zielsetzung an das Reformklima der spaten sechziger Jahre in der Bundesrepublik erinnern; die von Pierre Bourdieu inspirierten Empfehlungen sind erschienen in: Neue Sammlung, Jg 25, 1985,1-!. 3 85
die Lebenswelt reproduziert, innerhalb der Universität nur unter den hochartifiziellen Bedingungen der auf Erkenntnisgewinn programmierten wissenschaftlichen Lernprozesse fortgesetzt Solange dieser Zusammenhang nicht vollends reißt, kann die Idee der Universität immerhin nicht ganz tot sein. Die Komplexität und innere Differenzierung dieses Zusammenhangs dürfen freilich nicht unterschätzt werden. In der Geburtsstunde der klassischen deutschen Universität haben die preußischen Reformer ein Bild von ihr entworfen, das einen übervereinfachten Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Lernprozessen und den Lebensformen moderner Gesellschaften suggeriert. Sie haben der Universität, aus der Sicht einer idealistischen Versöhnungsphilosophie, eine Kraft der Totalisierung zugemutet, die diese Institution von Anbeginn überfordern mußte. Nicht zuletzt diesem Impuls verdankte die Idee der Universität in Deutschland ihre Faszination - bis hinein in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Wie sehr sie inzwischen ihre Kraft eingebüßt hat, läßt sich schon am Ort unserer Vortragsreihe ablesen. Daß das Städtische Theater diese dankenswerte Initiative ergreift, läßt ja den Gedanken aufkommen, der Idee der Universität könne nur noch extra muros neues Leben eingehaucht werden. Um die Komplexität des Zusammenhangs von Universität und Lebenswelt deutlich zu machen, möchte ich den Kern der Universitätsidee von den Schalen ihrer Übervereinfachungen lösen. Ich erinnere zunächst an die klassische Idee von Schelhng, Humboldt und Schleiermacher, um dann die drei Varianten ihrer Erneuerung durch Jaspers, Schelsky und die SDS-Reformer zu behandeln.
^jssenschaftlichen Arbeit interessiert ist. Humboldt und Schlei„tnacher sehen die Lösung des Problems in einer staatlich organisierten Wissenschaftsautonomie, die die höheren wissenschaftlichen Anstalten gegen politische Eingriffe ebenso wie gegen gesellschaftliche Imperative abschirmt. Zum anderen wollen aber Humboldt und Schleiermacher auch erklären, warum es im Interesse des Staates selber liegt, der Universität die äußere Gestalt einer nach innen unbeschränkten Freiheit zu garantieren. Ein solcher Kulturstaat empfiehlt sich durch die segensreichen Folgen, die die einheitsstiftende, totalisierende Kraft der als Forschung institutionalisierten Wissenschaft haben müsse. Wenn nur die wissenschaftliche Arbeit der inneren Dynamik der Forschungsprozesse überlassen würde, und wenn so das Prinzip erhalten bliebe, »die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten«,12 dann müßte sich, davon waren beide überzeugt, die moralische Kultur, überhaupt das geistige Leben der Nation in den höheren wissenschaftlichen Anstalten wie in einem Fokus zusammenfassen.13 Diese beiden Gedanken verschmelzen zur Idee der Universität und erklären einige der auffälligeren Eigenschaften der deutschen Universitätstradition. Sie machen erstens das affirmative Verhältnis einer sich unpolitisch verstehenden Universitätswissenschaft zum Staat verständlich, zweitens das defensive Verhältnis der Universität zur beruflichen Praxis, insbesondere zu Ausbildungsanforderungen, die das Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung gefährden könnten, und drittens die zentrale Stellung der philosophischen Fakultät innerhalb der Hochschule sowie die emphatische Bedeutung, die der Wissenschaft für Kultur und Gesellschaft im ganzen zugeschrieben wird. Das Wort »Wissenschaft« hat ja im Deutschen so reiche Konnotationen angesetzt,
III Humboldt und Schleiermacher verknüpfen mit der Idee der Universität zwei Gedanken. Erstens geht es ihnen um das Problem, wie die moderne, aus der Vormundschaft von Religion und Kirche entlassene Wissenschaft institutionalisiert werden kann, ohne daß ihre Autonomie von anderer Seite gefährdet wird - sei es durch die Befehle der staatlichen Obrigkeit, die die äußere Existenz der Wissenschaft ermöglicht, oder durch Einflüsse der bürgerlichen Gesellschaft, die an den nützlichen Resultaten der
12 W. von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der Höheren wissenschaftlichen Anstalten (1810), in: E. Anrieh (Hg.), Die Idee der Deutschen Universität, Darmstadt 1959, S. 379 13 »Wenigstens ein anständiges und edeles Leben gibt es für den Staat ebensowenig als für den einzelnen, ohne mit der immer beschränkten Fertigkeit auf dem Gebiete des Wissens doch einen allgemeinen Sinn zu verbinden. Für alle diese Kenntnisse macht der Staat natürlich und notwendig eben die Voraussetzung wie der einzelne, daß sie in der Wissenschaft müssen begründet sein, und nur durch sie recht können fortgepflanzt und vervollkommnet werden.« F. Schieiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn (1808), in: E. Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 226 87
daß sich dafür im Englischen oder Französischen keine einfachen Äquivalente finden. Aus der Universitätsidee ergibt sich also ei nerseits die entwicklungsträchtige, weil auf die funktionale Eigenständigkeit des Wissenschaftssystems verweisende Betonung der Wissenschaftsautonomie, welche freilich nur in »Einsamkeit und Freiheit«, aus der Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft und zur politischen Öffentlichkeit, wahrgenommen werden sollte und andererseits die allgemeine kulturprägende Kraft einer Wissenschaft, in der sich die Totalität der Lebenswelt reflexiv zusammenfassen sollte. Für das defensive Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft und für die interne Beziehung zur Lebenswelt im ganzen muß freilich die Wissenschaft, die als eine philosophische Grundwissenschaft vor Augen stand, sehr spezielle Bedingungen erfüllen. Die Reformer konnten sich damals den Wissenschaftsprozeß als einen narzißtisch in sich geschlossenen Kreisprozeß forschenden Lehrens vorstellen, weil die Philosophie des Deutschen Idealismus von sich aus die Einheit von Lehre und Forschung erforderte. Während heute eine Diskussion auf dem jeweils neuesten Stand der Forschung und die Darstellung dieses Wissensstandes für Zwecke des Studiums zwei verschiedene Dinge sind, hatte Schelling in seinen Vorlesungen zur Methode des akademischen Studiums gezeigt, daß aus der Konstruktion des philosophischen Gedankens selber die Form seiner pädagogischen Vermittlung hervorgeht. Dem »bloß historischen« Vortrag fertiger Resultate setzte er die konstruierende Entfaltung »des Ganzen einer Wissenschaft aus innerer, lebendiger Anschauung entgegen«.14 Mit einem Wort: dieser Typus von Theorie erforderte einen konstruktiven Aufbau, der mit dem Curriculum ihrer Darstellung zusammenfiel. Auf die gleiche Weise sollte die Universität ihren inneren Bezug zur Lebenswelt der totalisierenden Kraft der Wissenschaft verdanken können. Der Philosophie trauten die Reformer eine einheitsstiftende Kraft unter drei Aspekten zu - nämlich im Hinblick, wie wir heute sagen würden, auf kulturelle Überlieferung, auf Sozialisation und auf gesellschaftliche Integration. Die philosophische Grundwissenschaft war erstens enzyklopädisch ange14 F. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 20 88
«igt und konnte als solche sowohl die Einheit in der Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Disziplinen sichern wie auch die Einheit der Wissenschaft mit Kunst und Kritik auf der einen, Recht «tid Moral auf der anderen Seite. Die Philosophie empfahl sich als Reflexionsform der Kultur im ganzen. Ihrplatomstischer Grund~na sollte zweitens die Einheit von Forschungsprozessen und Bildungsprozessen sichern. Indem nämlich Ideen erfaßt werden, bilden sie sich zugleich in den sittlichen Charakter des Erkennenden ein und befreien diesen von aller Einseitigkeit. Die Erhebung zum Absoluten öffnet den Weg zur allseitigen Entfaltung der Individualität. Weil der Umgang mit dieser Art von Wissenschaft vernünftig macht, können »die Pflanzschulen der Wissenschaft zugleich allgemeine Bildungsanstalten« sein.15 Schließlich versprach die reflexionsphdosophische Grundlage aller Theoriebildung die Einheit von Wissenschaft und Aufklärung. Während heute die Philosophie ein Fach geworden ist, das das esoterische Interesse von Fachleuten auf sich zieht, konnte eine Philosophie, die von der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts ausging und alle Erkenntnisinhalte auf dem Wege einer reflexiven Denkbewegung entfaltete, das esoterische Interesse des Fachmanns an der Wissenschaft gleichzeitig mit dem exoterischen Interesse des Laien an Selbstverständigung und Aufklärung befriedigen.16 Indem die Philosophie, wie Hegel sagen wird, ihre Zeit in Gedanken erfaßt, sollte sie die sozialintegrative Kraft der Religion durch die versöhnende der Vernunft ersetzen. Deshalb konnte Fichte die Universität, die eine solche Wissenschaft bloß institutionalisiert, als Geburtsstätte einer künftigen, emanzipierten Gesellschaft verstehen, sogar als Stätte der nationalen Erziehung. Die in Reflexion einübende Wissenschaft schafft ja Klarheit nicht über uns fremd bleibende Dinge, sondern über die innerste Wurzel unseres Lebens: »Diese Klarheit muß nun jeder wissenschaftliche Körper rund um sich herum, schon um seines eigenen Interesses willen, wollen und aus aller Kraft befördern; er muß daher, so wie er nur in sich selbst einige Konsistenz bekommen hat, unaufhaltsam fortfließen zur Organisation der Erziehung der Nation, als seines eigenen Bodens, zu Klarheit und Geistesfreiheit, und so die Er15 Schelling, in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 21 16 E. Martens, H. Schnadelbach, Philosophie-Grundkurs, Hamburg 1985, S.22ff.
neuerung aller menschlichen Verhaltnisse vorbereiten und möglich machen.«17 Das Riskante und Unwahrscheinliche jener Universitätsidee die uns in den berühmten Grundungsdokumenten entgegentritt' wird erst in ganzem Umfange deutlich, wenn man sich die Bedingungen klarmacht, die fur die Institutionalisierung einer solchen Wissenschaft hatten erfüllt sein müssen - einer Wissenschaft also die allein durch ihre innere Struktur die Einheit von Forschung und Lehre, die Einheit der Wissenschaften, die Einheit von Wissenschaft und allgemeiner Bildung sowie die Einheit von Wissenschaft und Aufklärung zugleich ermöglichen und garantieren sollte. Die strikt verstandene Einheit von Forschung und Lehre bedeutet, daß nur so gelehrt und gelernt wird, wie es für den innovativen Prozeß des wissenschaftlichen Fortschrittes nötig ist. Die Wissenschaft soll sich auch in dem Sinne selbst reproduzieren können, daß die Professoren ihren eigenen Nachwuchs heranbilden. Der künftige Forscher ist das einzige Ziel, für das die Universität der forschenden Gelehrten Ausbildungsaufgaben übernimmt. Immerhin behielt diese Beschränkung der akademischen Berufsvorbereitung auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses wenigstens für die philosophische Fakultät eine gewisse Plausibilität, solange sich die Professorenschaft aus dem Kreis der von ihnen ausgebildeten Gymnasiallehrer ergänzte. Weiterhin konnte die Idee der Einheit der Wissenschaften nur geltend gemacht werden, wenn sich die oberen Fakultäten der wissenschaftlichen Führung einer völlig umgewandelten Artistenfakultät unterordneten und wenn die Philosophie, die hier ihren Sitz hatte, tatsächlich zur Grundwissenschaft der vereinigten Natur- und Geisteswissenschaften avancierte. Das ist der Sinn der Polemik gegen die Brotwissenschaften, gegen die Zerstreuung in Spezialschulen, gegen das bloß Abgeleitete jener Fakultäten, »die ihre Einheit nicht in der Erkenntnis unmittelbar, sondern in einem äußeren Geschäfte« finden. Als zwingende, aber von Anbeginn kontrafaktisch erhobene Konsequenz ergab sich die Forderung nach der Herrschaft der philosophischen Fakultät, »weil alle
»Mitglieder der Universität, zu welcher Fakultät sie auch gehören, jjj jhr müssen eingewurzelt sein«.18 Die Einheit von Wissenschaft und allgemeiner Bildung hatte institutionell die Einheit der Lehrenden und Lernenden zur Voraussetzung: »Das Verhältnis von Lehrer und Schüler wird durchaus «in anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da. «19 Dieses auf Kooperation angelegte, grundsätzlich egalitäre Ergänzungsverhältnis sollte in den diskursiven Formen des Seminarbetriebs verwirklicht werden. Es war unvereinbar mit der Personalstruktur, die sich schon bald in den hierarchisch gegliederten Instituten einer am Vorbild der experimentellen Naturwissenschaften orientierten Forschung herausbildete. Überschwenglich war schließlich die Idee der Einheit von Wissenschaft und Aufklärung, soweit sie die Autonomie der Wissenschaften mit der Erwartung befrachtete, daß die Universität innerhalb ihrer Mauern wie in einem Mikrokosmos eine Gesellschaft von Freien und Gleichen antizipieren könne. Die philosophische Wissenschaft schien derart die allgemeinen Kompetenzen der Gattung in sich zusammenzufassen, daß die höheren wissenschaftlichen Anstalten für Humboldt nicht nur als Spitze des gesamten Bildungssystems galten, sondern als »Gipfel der moralischen Kultur der Nation«. Freilich blieb von Anfang an unklar, wie der aufklärerisch-emanzipatorische Auftrag mit der politischen Enthaltsamkeit zusammengehen sollte, die doch die Universität als Preis fur die staatliche Organisation ihrer Freiheit entrichten mußte. Diese institutionellen Voraussetzungen für eine Implementierung der Gründunesidee der deutschen Universität waren entweder von Anfang an nicht gegeben oder konnten im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger erfüllt werden. Ein differenziertes Beschäftigungssystem erforderte erstens die wissenschaftliche Vorbereitung auf immer mehr akademische Berufe. Die Technischen Hochschulen, Handelshochschulen, Pädagogische Hochschulen, Kunsthochschulen konnten nicht auf Dauer neben den Universitäten bestehen bleiben. Sodann folgten die aus dem Schoß der philosophischen Fakultät entspringenden Erfahrungs-
17 J. G. Fichte, Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 217
18 Schleiermacher, in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 2591. 19 Humboldt, in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 378
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Wissenschaften einem methodischen Ideal der Verfahrensrationalität, das jeden Versuch der enzyklopädischen Einbettung ihrer Inhalte in eine philosophische Gesamtdeutung zum Scheitern verurteilte.20 Diese Emanzipation der Erfahrungswissenschaften besiegelte den Zerfall einheitlich-metaphysischer Weltdeutungen. Inmitten eines Pluralismus von Glaubensmachten verlor die Philosophie auch ihr Monopol für die Deutung der Kultur im ganzen. Drittens avancierte die Wissenschaft zu einer wichtigen Produktivkraft der industriellen Gesellschaft. Mit dem Blick auf Liebigs Institut in Gießen betonte beispielsweise die badische Staatsregierung schon 1850 die »außerordentliche Bedeutung der Chemie für die Landwirtschaft«.21 Die Naturwissenschaften büßten ihre Weltbildfunktion zugunsten der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens ein. Die Arbeitsbedingungen der institutsförmig organisierten Forschung waren weniger auf Funktionen allgemeiner Bildung als auf die funktionalen Imperative von Wirtschaft und Verwaltung zugeschnitten. Schließlich diente die akademische Bildung in Deutschland der sozialen Abgrenzung einer am Modell des höheren Beamten orientierten bildungsburgerlichen Schicht.22 Mit dieser Befestigung der berufsstandischen Differenzierung zwischen Volksbildung und akademischer Bildung wurden aber Klassenstrukturen bestätigt, die den universalistischen Gehalt der Universitatsidee und das Versprechen, das diese für die Emanzipation der Gesellschaft im ganzen verheißen hatte, nachhaltig dementierten.23 Je starker diese gegenläufigen Entwicklungen zu Bewußtsein kamen, um so mehr mußte die Idee der Universität gegen die Tatsachen behauptet werden - sie verkam zur Ideologie eines Berufsstandes mit hohem sozialen Prestige. Für die Geistes- und Sozialwissenschaften datiert Fritz K. Ringer den Verfall der Kultur der deutschen Mandarine auf die Periode von 1890 bis 1933.24 In der machtgeschutzten Innerlichkeit dieser Mandarine hat sich das 20 Zu den Reaktionen der deutschen Philosophie auf diese neue Situation \ gl H. Schnadelbach, Philosophie in Deutschland 1831-193J, Frankturt/M 1983, S n8ff. 21 J. Kluwer, Universität und Wissenschaftssystem, Frankfurt/M 1983,8 19s 22 L. von Friedeburg, Elite - elitär?, in: G. Becker u a. (Hg.), Ordnung und Unordnung, Weinheim 1986, S. 23 ff 23 Th Ellwein, Die deutsche Universität, Konigstein 1985, S. i24ff. 24 F. K. Ringer, The Dechne of the German Mandarins, Cambridge/Mass 1969
A^ohumanistische Bildungsideal zu dem geistesaristokratischen, unpolitischen, obrigkeitskonformen Selbstverstandms einer pra•äsfernen, nach innen autonomen, forschungsintensiven Bil(Jungsanstalt verformt." Man muß freilich auch die positive Seite sehen. Die Idee der Universität hat in beiderlei Gestalt - sowohl jls Idee wie als Ideologie - zu dem Glanz und dem international unvergleichlichen Erfolg der deutschen Universitatswissenschaft jjn !<j. Jahrhundert, sogar bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein, beigetragen. Sie hat nämlich mit der staatlich organisierten Wissenschaftsautonomie die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen der freigesetzten inneren Dynamik der Forschungsprozesse selbst überantwortet. Unter dem Schirm eines nur äußerlich rezipierten Bildungshumanismus haben die Naturwissenschaften alsbald ihre Autonomie gewonnen und sind mit ihrer institutsformig organisierten Forschungsarbeit auch für die zunächst seminaristisch betriebenen Geistes- und Sozialwissenschaften zu einem bei allem Positivismus fruchtbaren Vorbild geworden.26 Gleichzeitig hat die Ideologie der deutschen Mandarine der Hochschule ein starkes korporatives Selbstbewußtsein, Forderung von Seiten des Kulturstaates und eine gesamtgesellschaftlich anerkannte Position verschafft. Und nicht zuletzt hat der utopische Überschuß, der der Universitatsidee lnnewohnt, auch ein kritisches Potential bewahrt, das mit den zugleich universalistischen und individualistischen Grunduberzeugungen des okzidentalen Rationalismus in Einklang stand und von Zeit zu Zeit für eine Erneuerung der Institution wiederbelebt werden konnte.
IV Das jedenfalls glaubten die Reformer Anfang der sechziger Jahre. Nach 1945 hatte der erste Impuls zur Erneuerung nicht ausgereicht. Neben der materiellen Erschöpfung bestand eine Erschöpfung des korporativen Bewußtseins. Die Universitatsidee hatte in 25 Vgl. meine Rezension des Buches von Ringer: Die deutschen Mandarine, in: J . H a b e r m a s , Philosophisch-Politische Profile, Frankfurt/M. 1981, S. 4 5 8ff 26 Vgl. zu dieser These J. Kluwer, Universität und Wissenschaftssystem, a. a. O 93
der Traditionsgestalt des Mandarinenbewußtseins auch die Nazj überlebt; aber durch erwiesene Ohnmacht gegen oder gar Korn plizenschaft mit dem Nazi-Regime war sie vor aller Augen ihrer Substanzlosigkeit überführt worden. Immerhin blieben nach 1945 die Traditionalisten der Humboldtschen Idee auch in der Defensive stark genug, um wohlgemeinte Reformversuche hinzuhalten und sich mit den Pragmatikern des Ende der fünfziger Jahre gegründeten Wissenschaftsrats zu arrangieren. Das unvermeidlich gewordene quantitative Wachstum der Universitäten vollzog sich dann als ein Ausbau in unveränderten Strukturen. Thomas Ellwein faßt rückblickend die Nicht-Entscheidung in der Formel zusammen: Ausbau statt Neubau, Beibehaltung des hierarchischen Aufbaus der Universität im Inneren und des tertiären Bildungsbereichs im ganzen - mit den Universitäten an der Spitze.27 In dieser Situation greift Jaspers wiederum auf Humboldt zurück; Schelsky und die Studenten des SDS versuchen eine kritische Aneignung desselben Erbes aus einer gewissen sozialwissenschaftlichen Distanz, indem sie ihren Reformvorschlägen eine nüchterne Diagnose des inzwischen eingetretenen Strukturwandels der Universität voranschicken. Unter dem Stichwort der Vergesellschaftung der Universität bei gleichzeitiger Verwissenschaftlichung der Berufspraxis untersuchen sie die Ausdifferenzierung der Fächer, die Institutionalisierung der Forschung, die Verschulung der akademischen Ausbildung, den Verlust der bildenden und aufklärenden Funktionen der Wissenschaft, die veränderte Personalstruktur usw. Im Hintergrund stehen schon die internationalen Vergleiche der Bildungssoziologen, die Bedarfsanalysen der Bildungsökonomen, die bürgerrechtlichen Postulate der Bildungspolitiken Alles das faßt Schelsky unter dem Titel »Sachgesetzlichkeiten« zusammen. Denn diese Prozesse haben einen systemischen Charakter und erzeugen Strukturen, die sich von der Lebenswelt ablösen; sie höhlen das korporative Bewußtsein der Universität aus, sie zersprengen jene Einheitsfiktionen, die Humboldt, Schleiermacher und Schelling einst mit der totalisierenden Kraft der wissenschaftlichen Reflexion begründen wollten. Interessanterweise entscheidet sich Schelsky aber ebensowenig wie die linken Reformer für eine bloße Anpassung der
TJjiiversitäten an die Sachgesetzlichkeiten; er setzt nicht auf die lyt von technokratischer Dauerreform, die sich inzwischen tatsächlich eingespielt hatte. Diese Option hätte seine damals entwickelte Technokratietheorie sogar erwarten lassen. Statt dessen schöpft Schelsky aus dem Fundus der Humboldtschen Ideen, um dazu aufzurufen, die Sachgesetzlichkeiten »zu gestalten«: »Das Entscheidende ist nun, daß diese sachgesetzlichen Entwicklungstendenzen einseitig sind..., daß dazu eine Rückbindung und gestaltende Gegenkräfte ins Spiel treten müssen, die nicht selbstverständlich sind und nur in schöpferischer Anstrengung vollzogen werden können.«28 Das ausdifferenzierte Wissenschaftssystem soll eben nicht nur mit Wirtschaft, Technik und Verwaltung zusammenwachsen, sondern über die traditionelle Bündelung ihrer Funktionen in der Lebenswelt verwurzelt bleiben. Und wiederum soll diese Funktionsbündelung aus der Struktur der Wissenschaft selbst erklärt werden. Die theoretisch anspruchsvollen Reforminitiativen der frühen sechziger Jahre gehen also noch einmal von der Konzeption einer Wissenschaft aus, der man doch noch eine irgendwie einheitsstiftende Kraft zutrauen darf; und wiederum wird die Universität nur als deren äußere, organisatorische Gestalt begriffen. Natürlich hatte sich die Stellung der Philosophie zu den Wissenschaften inzwischen so verändert, daß nicht länger sie selbst das Zentrum der ausdifferenzierten Fachwissenschaften bildete. Aber wer sollte den vakanten Platz einnehmen? War es überhaupt nötig, an der Idee der Einheit der Wissenschaften festzuhalten? Die totalisierende Kraft des Wissenschaftsprozesses konnte gewiß nicht mehr als Synthese gedacht und durch einen metaphysischen Gegenstandsbezug zum Absoluten oder zur Welt im ganzen gesichert werden. Eine Theorie, die den Zugriff aufs Ganze - sei es direkt oder im Durchgang durch die Fachwissenschaften - riskiert hätte, stand nicht mehr zur Diskussion. Eine vergleichsweise konventionelle Antwort gibt Jaspers. Er gesteht zu, daß die Rationalität der zieloffenen, allein methodisch bestimmten Erfahrungswissenschaften rein prozedural ist und eine inhaltliche Einheit im unvorhersehbar sich ausdifferenzierenden Fächerkanon nicht mehr begründen kann; aber der in die Peripherie zunächst abgedrängten, auf die Aufgaben der Exi-
27 Ellwein, Die deutsche Universität, a. a. O., S. 23
28 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, a. a. O., S. 275
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stenzerhellung und der Analyse eines nicht objektivierbaren Um greifenden zurückgenommenen Philosophie will Jaspers dann doch eine Sonderrolle gegenüber den freigelassenen Disziplinen vorbehalten. Die Wissenschaften sollen sogar der Führung durch die Philosophie bedürfen, weil nur diese das Motiv des unbedin». ten Wissenwollens und den Habitus der wissenschaftlichen Denkungsart durch Reflexion auf die Voraussetzung und durch Vergewisserung der leitenden Ideen der Forschung sichern könne. So behält die Philosophie mindestens die Rolle einer Hüterin der Idee der Universität - und damit eine Berufung zum Schrittmacher von Reformen. Weniger idealistisch sind Schelskys Überlegungen, der die Philosophie durch eine Theorie der Wissenschaften ersetzt. Er geht von einer Dreiteilung des Fächerkanons in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften aus. Die Fächer entfalten sich autonom; die drei Fachgruppen sind aber mit ihren spezifischen Wissensformen auf je andere Weise mit der modernen Gesellschaft funktional verzahnt. Sie können nicht mehr insgesamt durch philosophische Reflexion umgriffen werden; die Philosophie wandert vielmehr in die Wissenschaften ab und nistet sich in ihnen ein als eine Selbstreflexion der jeweiligen Disziplin. Für die fiktiv gewordenen Einheiten der Humboldtschen Universität entsteht so ein Äquivalent: »Indem die Philosophie aus den Fachwissenschaften hervorgeht und, diese zu ihrem Gegenstand machend, kritisch transzendiert, gewinnt sie indirekt wieder das Ganze der wissenschaftlichen Zivilisation als ihren Gegenstand. Indem sie die Grenzen und Bedingungen der Einzelwissenschaften erforscht, hält sie diese offen... gegenüber der Verengung ihrer Weltbezüge.
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Ich selbst habe mich in der gleichen Zeit zum Anwalt einer materialen Wissenschaftskritik gemacht, welche die Verschränkung von methodischen Grundlagen, globalen Hintergrundannahmen und objektiven Verwertungszusammenhängen aufklären sollte.i: Ich hatte die gleiche Hoffnung wie Schelsky, daß in dieser Dimension der wissenschaftskritischen Selbstreflexion die lebenswelt29 Ebda., a. a. O., S. 290 30 J. Habermas, Vom sozialen Wandel akademischer Bildung; ders., Universität in der Demokratie - Demokratisierung der Universität, beide in: ders., Kleine Politische Schriften I-IV, Frankfurt/M. 1981, S. ioiff. und S.i34ff. 96
ifchen Bezüge der Forschungsprozesse aus diesen selbst heraus transparent gemacht werden könnten, und zwar nicht nur die Be-gge zu den Verwertungsprozessen wissenschaftlicher Informationen, sondern vor allem die Bezüge zur Kultur im ganzen, zu allgemeinen Sozialisationsvorgängen, zur Fortbildung von Traditionen, zur Aufklärung der politischen Öffentlichkeit. Noch ein anderes Element des Humboldtschen Erbes lebte mit diesen Reforminitiativen wieder auf. Ich meine die exemplarische Bedeutung, die der Wissenschaftsautonomie über die grundrechtliche Garantie der Freiheit von Lehre und Forschung hinaus zugewiesen wurde. Jaspers verstand unter Wissenschaftsautonoinie die Verwirklichung eines international verzweigten Kommunikationsnetzes, das den freien gegen den totalen Staat schützen würde.31 Schelsky verlieh dem eine personalistisch-existentielle Wendung: Wissenschaftsautonomie bedeutete die in pflichtgemäßer Einsamkeit eingeübte Distanzierung von und die sittliche Souveränität gegenüber Handlungszwängen wie systemischen Verdinglichungen, die aus den gestaltungsbedürftigen Sachgesetzlichkeiten der modernen Gesellschaft resultierten.32 Und für die Autoren der SDS-Hochschuldenkschrift, für die linken Reformer überhaupt, verband sich mit dem, was wir damals als Demokratisierung der Hochschule verteidigt haben,33 zwar nicht die Übertragung von Modellen der staatlichen Willensbildung auf die Universität, nicht die Bildung eines Staates im Staat, aber doch die Erwartung einer durchaus exemplarisch gemeinten politischen Handlungsfähigkeit in Form einer partizipatorischen Selbstverwaltung. Es ist hier nicht der Ort, um die Organisationsreformen, die dann tatsächlich durchgeführt worden sind, im ganzen zu würdi31 Jaspers, Rossmann, Die Idee der Universität, a. a. O., S. 3 3 ff. 32 Schelsky Einsamkeit und Freiheit, a. a. O., S. 299: »Die Gefahr, daß der Mensch sich nur in äußere, umweltverändernde Handlung auslegt und alles, den anderen Menschen und sich selbst, in dieser Gegenstandsebene der konstruktiven Handlung festhält und behandelt. Diese neue Selbstentfremdung des Menschen, die ihm die innere Identität seiner selbst und des anderen rauben kann, diese neue metaphysische Versuchung des Menschen, ist die Gefahr, daß der Schöpfer sich in sein Werk, der Konstrukteur in seine Konstruktion verliert. Der Mensch schaudert zwar davor zurück, sich restlos in die selbstproduzierte Objektivität, in ein konstruiertes Sein, zu transferieren und arbeitet doch unaufhörlich am Fortgang dieses Prozesses der wissenschaftlich-technischen Selbstobjektivierung.« 33 Vgl. Anm. 30 97
gen; ich stelle nur fest, daß jene Zielvorstellungen, die sich einer kritischen Aneignung der Universitätsidee verdankten, nicht realisiert worden sind. Ebensowenig kann ich auf einzelne Gründe eingehen, die sich retrospektiv anbieten, wenn man das Scheitern dieses Teils der Reforminitiativen erklären möchte. In einem Nachtrag zu seinem Buch erklärt Schelsky 1970 das Scheitern der Reformen damit, daß sich das Wissenschaftssystem unter dem Zwang zur Komplexitätssteigerung hochgradig ausdifferenziert hat und daher in seinen verschiedenen Funktionen »nicht mehr von einem gemeinsamen Leitbild her zusammengehalten werden könne«.14 Der verräterische Ausdruck »Leitbild« verweist auf Prämissen, die vielleicht wirklich zu naiv waren, um mit der Differenzierungsdynamik der Forschung selbst Schritt zu halten. Unrealistisch war offenbar die Annahme, daß sich dem disziplinär organisierten Forschungsbetrieb eine Reflexionsform einpflanzen ließe, die nicht aus der Logik der Forschung selbst hervorgetrieben wird. Die Geschichte der modernen Erfahrungs,wissenschaften lehrt, daß normal science durch Routinen gekennzeichnet ist und durch einen Objektivismus, der den Forschungsalltag gegen Problematisierungen abschirmt. Reflexionsschube werden durch Krisen ausgelöst, aber auch dann vollzieht sich die Verdrängung degenerierender durch neue Paradigmen eher naturwüchsig. Wo hingegen Grundlagenreflexion und Wissenschaftskritik auf Dauer gestellt werden, etablieren sie sich - wie die Philosophie selbst - als Fach neben Fachern. Nicht weniger unrealistisch war die Erwartung, daß die kollegiale Selbstverwaltung der Hochschulen allein durch eine funktional gegliederte Partizipation der beteiligten Gruppen mit politischem Leben erfüllt und politische Handlungsfähigkeit erlangen würde - erst recht, wenn die Reform gegen den Willen der Professoren auf dem Verwaltungswege erzwungen werden mußte. Wenn aber der innere Zusammenhang der Universität nicht einmal mehr unter diesen Prämissen zu retten ist, müssen wir uns dann nicht doch eingestehen, daß diese Institution auch ganz gut ohne jene liebgewordene Idee auskommt, die sie einmal von sich selbst gehabt hat?
34 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, a. a. O., S. 243
V nie sozialwissenschaftliche Systemtheorie trifft mit der Wahl ihrer Grundbegriffe eine Vorentscheidung: sie unterstellt, daß alle sozialen Handlungsbereiche unterhalb der Ebene normativer Orientierungen durch wertneutrale Steuerungsmechanismen wie Geld oder administrative Macht zusammengehalten werden. Für die Systemtheorie gehört die integrative Kraft von Ideen und Institutionen a priori zum mehr oder weniger funktionalen Überbau eines Substrats von Handlungs- und Kommunikationsflüssen, die systemisch aufeinander abgestimmt sind und dazu keiner Normen bedürfen. Diese rein methodische Vorentscheidung halte ich für voreilig. Normen und Wertorientierungen sind stets eingebettet in den Kontext einer Lebenswelt; diese mag noch so differenziert sein, sie bleibt die Totalität im Hintergrund und holt deshalb alle Differenzierungsprozesse auch wieder ein in den Sog ihrer Totalisierung. Die Funktionen der Lebenswelt - kulturelle Reproduktion, Sozialisation und soziale Integration - mögen sich in speziellen Handlungsbereichen ausdifferenzieren, letztlich bleiben sie gebannt in den Horizont der Lebenswelt, auch miteinander verschränkt. Eben diesen Umstand wenden die Systemtheoretiker zu ihren Gunsten: ein theoretischer Ansatz, der die integrative Kraft von Ideen und Institutionen noch ernst nimmt beispielsweise die Idee der Universität -, bleibe hinter der gesellschaftlichen Komplexität zurück. Denn in modernen Gesellschaften bildeten sich autonome, keineswegs miteinander verschränkte Subsysteme heraus, die auf genau eine Funktion, auf nur eine Art von Leistungen spezialisiert seien. Diese Behauptung zieht ihre Evidenz aus dem Anblick einer über Geld gesteuerten Wirtschaft oder einer über Machtbeziehungen regulierten staatlichen Verwaltung. Problematisch ist dabei die Verallgemeinerung dieser Beobachtung auf alle Handlungssysteme - erst daraus bezieht die Systemtheorie ihre Pointe. Sie suggeriert, daß jeder Handlungsbereich, wenn er nur au courant bleiben will mit der gesellschaftlichen Modernisierung, diese Gestalt funktional spezifizierter, über Steuerungsmedien ausdifferenzierter, voneinander entkoppelter Teilsysteme annehmen müsse. Sie fragt gar nicht erst, ob das für alle Handlungsbereiche gelten kann, beispielsweise für kulturelle Handlungssysteme wie den Wissenschaftsbetrieb, dessen Kernsektor bisher immer noch 99
in einem funktionsbundelnden Institutionensystem unterge bracht ist - in wissenschaftlichen Hochschulen, die keineswegs in gleicher Weise wie kapitalistische Unternehmungen oder internationale Behörden dem Horizont der Lebenswelt entwachsen sind. Es muß sich erst noch zeigen, ob sich die aus der Universität ausgelagerte Groß- und Grundlagenforschung vom generativen Prozeß der in den Hochschulen organisierten Wissenschaft ganz wird losen können - ob sie ganz auf eigenen Beinen wird stehen können oder doch parasitär bleibt. Daß eine von universitären Formen, also auch von der Forschung abgeschnittene wissenschaftliche Fachausbildung Schaden nehmen müßte, ist mindestens eine plausible Vermutung. Gegen die systemtheoretische Überverallgemeinerung spricht vorerst die Erfahrung, die Schelsky so formuliert: »Das Einmalige in der institutionengeschichtlichen Entwicklung der modernen Universität besteht darin, daß sich in diesem Falle die Funktionsdifferenzierung innerhalb der gleichen Institution vollzieht und kaum ein Funktionsverlust durch Abgabe von Aufgaben an andere Organisationen eintritt. Man kann im Gegenteil eher von einer Funktionsbereicherung, mindestens von einem Bedeutungsgewinn und einer Verbreiterung der Funktionsbereiche der Universität in ihrer Entwicklung wahrend des letzten Jahrhunderts sprechen.«''' So geht denn auch Talcott Parsons in seinem für die Hochschulsoziologie bis heute maßgebenden Buch über die Amerikanische Universität"1 unbefangen davon aus, daß das Hochschulsystem vier Funktionen gleichzeitig erfüllt: Die Kernfunktion (a) der Forschung und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses geht Hand in Hand mit (b) der akademischen Berufsvorbereitung (und der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens) auf der einen Seite, mit (c) Aufgaben der allgemeinen Bildung und (d) Beitragen zu kultureller Selbstverständigung und intellektueller Aufklarung andererseits. Parsons kann sich auf das institutionell stärker differenzierte Hochschulsystem in den USA beziehen und die ersten drei der genannten Funktionen verschiedenen Institutionen - den graduate sebools, den Professional schools und den Colleges - zuordnen. Aber jede dieser Institutionen ist in sich noch einmal so differenziert, daß sie sich jeweils mit verschiede35 Ebda., S. 267 36 T. Parsons, G. M. Platt, The American vgl. Appendix zu Kap. 2, S. 9off.
Unwernty,
Cambndge/Mass. 1973.
4 f Gewichtung nach allen Funktionsbereichen hin verzweigt. »Jyr die vierte Funktion hat keine eigene Trägerinstitution; sie Ifjrd über die Intellektuellenrolle der Professoren erfüllt. Wenn j n a n bedenkt, daß Parsons in dieser vierten Funktion beides unterbringt: nicht nur die nach außen gerichteten, an die Öffentlichkeit adressierten Aufklarungsleistungen, sondern auch die Reflexion auf die eigene Rolle der Wissenschaften und auf das Verhältnis der kulturellen Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst zueinander, erkennt man, daß dieser Funktionenkatalog in verwandelter Gestalt genau das wiedergibt, was die preußischen Reformer einst als »Einheiten« fingiert hatten: als Einheit von Forschung und Lehre, als Einheit von Wissenschaft und allgemeiner Bildung, als Einheit von Wissenschaft und Aufklärung und als Einheit der Wissenschaften. Diese letzte Idee hat freilich ihre Bedeutung gravierend verändert; denn die offen ausdifferenzierte Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Disziplinen stellt nicht mehr als solche das Medium dar, das alle jene Funktionen bundein kann. Nach wie vor stehen jedoch die universitären Lernprozesse nicht nur im Austausch mit Wirtschaft und Verwaltung, sondern in einem inneren Zusammenhang mit den Reproduktionsfunktionen der Lebenswelt. Hinausgehend über akademische Berufsvorbereitung leisten sie mit der Einübung in die wissenschaftliche Denkungsart, d.h. in eine hypothetische Einstellung gegenüber Tatsachen und Normen, ihren Beitrag zu allgemeinen Sozialisationsvorgängen; hinausgehend über Expertenwissen leisten sie mit fachlich informierten zeitdiagnostischen Deutungen und sachbezogenen politischen Stellungnahmen einen Beitrag zur intellektuellen Aufklärung; hinausgehend über Methoden- und Grundlagenreflexion leisten sie mit den Geisteswissenschaften auch eine hermeneutische Fortbildung von Traditionen, mit Theorien der Wissenschaft, der Moral, der Kunst und Literatur einen Beitrag zur Selbstverstandigung der Wissenschaften im Ganzen der Kultur. Es ist die universitäre Form der Organisation wissenschaftlicher Lernprozesse, die auch noch die ausdifferenzierten Fachdisziplinen über die gleichzeitige Erfüllung dieser verschiedenen Funktionen in der Lebenswelt verwurzelt. Die Ausdifferenzierung der Fächer verlangt freilich eine entsprechend starke Differenzierung im Inneren der Universität. Das ist ein Vorgang, der sich immer noch fortsetzt - beispiels-
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weise auf dem vom Wissenschaftsrat empfohlenen Weg der Einrichtung von Graduiertenkollegs. Verschiedene Funktionen werden von verschiedenen Personengruppen an verschiedenen institutionellen Orten mit verschiedener Gewichtung wahrgenommen. Das korporative Bewußtsein verdünnt sich mithin zu dem intersubjektiv geteilten Wissen, daß zwar andere anderes tun als andere, daß aber alle zusammengenommen, indem sie auf diese oder jene Art Wissenschaft treiben, nicht nur eine, sondern ein Bündel von Funktionen erfüllen. Diese bleiben über den arbeitsteilig betriebenen Wissenschaftsprozeß miteinander verschrankt Daß die Funktionen gebündelt bleiben, läßt sich aber heute kaum noch, wie Schelsky meinte, auf die Bindungskraft des normativen Leitbildes der deutschen Universität zurückführen. Wäre das überhaupt wünschenswert? Es ist gewiß nutzlich, ein 6oojähriges Gründungsjubilaum auch dazu zu nutzen, um an die Idee der Universität und an das, was von ihr übriggeblieben ist, zu erinnern. Das wie immer auch verdünnte korporative Bewußtsein der Universitätsangehörigen wird durch eine solche Erinnerung vielleicht sogar gefestigt - dies aber nur dann, wenn die Erinnerungsarbeit selber die Form einer wissenschaftlichen Analyse annimmt und nicht bloß eine Zeremonie bleibt, die für den technokratischen Hochschulalltag mit Sonntagsgefühlen entschädigen soll. Um das korporative Selbstverständnis der Universität wäre es schlecht bestellt, wenn es in so etwas wie einem normativen Leitbild verankert wäre; denn Ideen kommen und gehen. Der Witz der alten Universitätsidee bestand gerade darin, daß sie in etwas Stabilerem gegründet werden sollte - eben in dem auf Dauer ausdifferenzierten Wissenschaftsprozeß selber. Wenn nun aber die Wissenschaft als ein solcher Ideenanker nicht mehr taugt, weil die Mannigfaltigkeit der Disziplinen keinen Raum mehr läßt für die totalisierende Kraft sei es einer alles umfassenden philosophischen Grundwissenschaft oder auch nur einer aus den Fächern selbst hervorgehenden Reflexionsform materialer Wissenschaftskritik, worin könnte dann ein integrierendes Selbstverständnis der Korporation gegründet sein? Die Antwort findet sich bereits bei Schleiermacher: »Das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens (ist): Mitteilung; und in der Unmöglichkeit, irgendetwas auch nur für sich allein ohne Sprache hervorzubringen, hat die Natur selbst dieses Gesetz ganz deutlich ausgesprochen. Daher müssen sich rein aus
jgpi Triebe nach Erkenntnis... auch alle zu seiner zweckmäßigen Befriedigung nötigen Verbindungen, die verschiedenen Arten der Mitteilung und der Gemeinschaft aller Beschäftigungen von selbst gestalten.« Ich stütze mich auf diesen einen von SchleiermaLers Gelegentlichen Gedanken über Universitäten im deutschen Sinnei7 ohne Sentimentalität, weil ich im Ernst meine, daß es die kommunikativen Formen der wissenschaftlichen Argumentation sind, wodurch die universitären Lernprozesse in ihren verschiedenen Funktionen letztlich zusammengehalten werden. Schleiermacher hält es für »einen leeren Schein, als ob irgendein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen lebe«; sosehr er in der Bibliothek, am Schreibtisch, im Laboratorium alleine zu arbeiten scheint, so unvermeidlich sind seine Lernprozesse eingelassen in eine öffentliche Kommunikationsgemeinschaft der Forscher. Weil das Unternehmen kooperativer Wahrheitssuche auf diese Strukturen einer öffentlichen Argumentation verweist, kann Wahrheit - oder sei's auch nur die in der Community ofinvestigators erworbene Reputation - niemals zum bloßen Steuerungsmedium eines selbstgeregelten Subsystems werden. Die wissenschaftlichen Disziplinen haben sich in fachinternen Öffentlichkeiten konstituiert, und nur in diesen Strukturen können sie sich ihre Vitalität erhalten. Die fachinternen Öffentlichkeiten schießen zusammen und verzweigen sich wiederum in den universitätsöffentlichen Veranstaltungen. Der altväterliche Titel des Ordentlichen öffentlichen Professors erinnert an den Öffentlichkeitscharakter der Vorlesungen, der Seminare und der wissenschaftlichen Kooperation in den Arbeitsgruppen der angegliederten Institute. Es gilt eben nicht nur für die Idealform des Seminars, sondern für die Normalform der wissenschaftlichen Arbeit, was Humboldt vom kommunikativen Umgang der Professoren mit ihren Studenten gesagt hat: der Lehrer würde, »wenn sie (Studenten und jüngere Kollegen) sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen mutig hinstrebenden«.38 37 In: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 224 38 Humboldt, in: Anrieh (Hg.), a. a. O., S. 378 103
Ich kann Ihnen versichern, daß sich dieser Satz in dem feste organisierten Betrieb eines Max-Planck-Institutes nicht weniger bewahrheitet als in einem philosophischen Seminar. Noch jenseits der Universität behalten wissenschaftliche Lernprozesse etwas von ihrer universitären Ursprungsform. Sie alle leben von der Anregungs- und Produktivkraft eines diskursiven Streites, der die promissory note des überraschenden Argumentes mit sich fuhrt Die Türen stehen offen, in jedem Augenblick kann ein neues Gesicht auftauchen, ein neuer Gedanke unerwartet eintreten. Ich möchte nun nicht den Fehler wiederholen, die Kommunikationsgemeinschaft der Forscher ins Exemplarische zu stilisieren. Im egalitären und universalistischen Gehalt ihrer Argumentationsformen drücken sich zunächst nur die Normen des Wissenschaftsbetriebs aus, nicht die der Gesellschaft im ganzen. Aber sie haben auf prononcierte Weise Teil an jener kommunikativen Rationalität, in deren Formen moderne, also nicht festgestellte, leitbildlose Gesellschaften sich über sich selbst verständigen mus-
Geschichtsbewußtsein und p posttraditionale Identität , Die Westorientierung der Bundesrepublik I Die Widmung des Sonning-Preises erinnert mit dem Hinweis auf die europäische Kultur an das Milieu, das uns heute verbindet. Damit meine ich zunächst uns Westeuropäer, die wir nicht nur yom Erbe der europäischen Geistesgeschichte zehren, sondern auch demokratische Staatsformen und okzidentale Lebensformen teilen. Dieser »Westen« ist von der ersten Staatengeneration des neuzeitlichen Europa bestimmt worden; Engländer und Franzosen gehörten dazu ebenso selbstverständlich wie Dänen und Schweden. Daß sich die Deutschen diesseits von Elbe und Werra zum westlichen Europa rechnen, ist erst in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs selbstverständlich geworden. Mitten im Ersten Weltkrieg hat noch der Liberale Friedrich Naumann ein Buch mit dem Titel Mitteleuropa veröffentlicht. Ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtübernahme schreibt der Tatkreisler Giselher Wirsing über Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft. Darin spiegeln sich der Traum von einer Hegemonie der Mittelmächte und jene Ideologie der Mitte, die von der Romantik bis zu Heidegger im »antizivilisatorischen, antiwestlichen Unterstrom der deutschen Überlieferung«1 tief verwurzelt war. Das an die geographische Mittellage fixierte Selbstbewußtsein ist während der Nazi-Zeit noch einmal sozialdarwinistisch zugespitzt worden. Und diese Mentalität gehört zu den Faktoren, die erklären, wie es dazu kommen konnte, daß eine ganze zivilisierte Bevölkerung vor Massenverbrechen die Augen geschlossen hat. Das Bewußtsein, einen Sonderweg eingeschlagen zu haben, der Deutschland vom Westen trenne und ihm gegenüber privilegiere, ist erst durch Auschwitz diskreditiert worden; es hat jedenfalls nach Auschwitz seine mythenbildende Kraft verloren. Womit wir Deutschen uns damals von der westlichen Zivilisation, ja von jeder I Th. W. Adorno, Wai bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe, Frankturt/M. 1963, S. 137 105
Zivilisation losgesagt haben, hat einen Schock ausgelost; obgleich viele Bürger der Bundesrepublik den Schock zunächst abgewehrt haben, standen sie auch unter diesem Einfluß, als sie nach und nach ihre Vorbehalte gegenüber der politischen Kultur und den gesellschaftlichen Verkehrsformen des Westens aufgegeben haben. Eine Mentalität hat sich geändert. So jedenfalls schien es, und so erscheint es mir noch. Zweifel an dieser Diagnose werden freilich geweckt, wenn man die seit einem Jahr geführte Historikerdebatte, die in Wahrheit eine Debatte über das Selbstverständnis der Bundesrepublik ist, mit dem gebotenen Mißtrauen betrachtet. Gewiß, auf beiden Seiten wird die Orientierung der Bundesrepublik nach Westen emphatisch verteidigt; aber die eine Seite läßt sich eher von einem machtpolitischen Konzept der Westbindung leiten und denkt in erster Linie an das militärische Bündnis und an die Außenpolitik, während die andere Seite die Bindung an die Aufklärungskultur des Westens betont. Nicht die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zu Westeuropa steht zur Debatte, sondern die von neokonservativer Seite aufgeworfene Frage, ob die Option für den Westen nicht breitenwirksam in einem erneuerten nationalen Selbstbewußtsein verankert werden müsse. Die angeblich gefährdete Identität der Deutschen, so meint man, müsse durch historische Vergegenwärtigung »zustimmungsfähiger Vergangenheiten« gefestigt werden. Dieser Seite geht es um die neohistoristische Beleuchtung nationalgeschichtlicher Kontinuitäten, die auch durch die dreißiger und vierziger Jahre hindurch reichen. Die heutigen Generationen würden sich, so erwartet man, zu einer NS-Periode, die ein Stuck ihrer Normalität zurückerhielte, distanzierter und freier verhalten können. Auf der anderen Seite machen die Kritiker geltend, daß die historische Wahrheit bei dieser Art von Geschichtspolitik auf der Strecke bleiben könnte. Sie fürchten die historische Einebnung des Exzeptionellen eben der Vorgänge und Verhältnisse, die Auschwitz möglich gemacht haben, auch aus einem anderen Grunde. Die Verschiebung der moralischen Gewichte und eine Banalisierung des Außerordentlichen könnten das Bewußtsein der Diskontinuitäten unserer jüngsten Geschichte entschärfen. Denn allein in dem ungetrübten Bewußtsein des Bruchs mit verhängnisvollen Traditionen bedeutet die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Wc106
mehr als eine ökonomisch attraktive und machtpolitisch unOpportunität. Auf dieses Mehr an intellektueller Neuorientierung kommt es mir an. , Nun würde ich ein dänisches Publikum kaum mit einer fast intimen deutschen Problematik behelligen, wenn ich nicht glaubte, dieser auch allgemeinere Aspekte abzugewinnen. Natürlich möchte ich nicht vorschnell verallgemeinern. In Dänemark ist »nur« ein Prozent der jüdischen Bevölkerung der SS in die Hände gefallen.2 Kein Grund zum Triumph - denn jeder einzelne, der abtransportiert wurde, hinterläßt die Spur einer nicht wiedergutzumachenden Leidensgeschichte. Gleichwohl können Sie stolz auf das sein, was viele Ihrer Landsleute getan haben in einer Zeit, als bei uns die Masse der Bevölkerung das Ungeheuerliche, das man mindestens ahnte, mindestens geschehen ließ. Einige sind Erben der Opfer und derer, die den Gezeichneten geholfen oder Widerstand geleistet haben. Andere sind Erben der Täter oder derer, die stillgehalten haben. Diese geteilte Erbschaft begründet für die Nachgeborenen weder persönliches Verdienst noch Schuld. Jenseits von individuell zurechenbarer Schuld können aber verschiedene Kontexte verschiedene historische Bürden bedeuten. Mit den Lebensformen, in die wir hineingeboren wurden und die unsere Identität geprägt haben, übernehmen wir ganz verschiedene Sorten einer geschichtlichen Haftung (im Jaspersschen Sinne).3 Denn von uns hängt es ab, wie wir die Traditionen, in denen wir uns vorfinden, fortsetzen. Keine vorschnellen Verallgemeinerungen also. Auf einer anderen Ebene ist jedoch Auschwitz zur Signatur eines ganzen Zeitalters geworden - und geht uns alle an. Hier ist etwas geschehen, was bis dahin niemand auch nur für möglich halten konnte. Hier ist an eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, gerührt worden; die Integrität dieser Tiefenschicht hatte man bis dahin - trotz aller naturwüchsigen Bestialitäten der Weltgeschichte - unbesehen unterstellt. Ein Band von Naivität ist damals zerrissen worden - eine Naivität, aus der fraglose Überlieferungen ihre Autorität geschöpft, von der überhaupt geschichtliche Kontinuitäten gezehrt hatten. Auschwitz hat die Bedingungen für die Kontinuierung geschichtlicher LenS
uSweichliche
2 H.U. Thamer, Verfuhrung und Gewalt, Berlin 1986, S. 707 3 K.Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946 107
benszusammenhänge verändert - und das nicht nur in Deutsch land. Sie kennen vielleicht jenes merkwürdig archaische Gefühl der Scham im Angesicht einer Katastrophe, die wir zufällig, ohne eigenes Verdienst überlebt haben. Ich habe diese Reaktion zuerst an anderen beobachtet: an denen, die dem KZ entronnen sind, die untergetaucht oder emigriert waren - und die nicht anders als auf eine unerklärlich selbstpeinigende Weise mit denen Solidarität üben konnten, die die Vernichtungsaktionen eben nicht überlebt hatten. Nach Maßstäben persönlicher Schuld ist das Gefühl grundlos. Aber die, die in den Sog dieser Art von Melancholie geraten, verhalten sich so, als ob sie dem Präteritum eines nicht wiedergutzumachenden Unheils durch mitleidendes Eingedenken doch noch das Definitive nehmen könnten. Ich mochte diesem Phänomen nicht sein Spezifisches absprechen. Aber liegt nicht seit jener moralischen Katastrophe, in abgeschwächter Weise, auf unserer aller Überleben der Fluch des bloßen Davongekommenseins? Und begründet nicht die Zufälligkeit des unverdienten Entrinnens eine intersubjektive Haftung - eine Haftung für entstellte Lebenszusammenhänge, die das Glück oder auch bloß die Existenz der einen einzig um den Preis des vernichteten Glucks, des vorenthaltenen Lebens und des Leidens der anderen einräumen?
II Walter Benjamin hat diese Intuition in seinen Gescbicbtspbdosophischen Thesen vorweggenommen und auf den Begriff gebracht: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen zum anderen gefallen ist.«4 Dieser Satz steht im Zusammenhang von Benjamins Kritik an jener Geschichtsbetrachtung, die der Neohistorismus heute auch und gerade angesichts der NS-Periode - erneuern will: Damals stand die Geschichtsschreibung im Zeichen eines Histons4 W. Benjamin, Geschicbtsphüosophische Thesen, in: Schriften, Bd. I, Frankfurt/M. 1955, S. 498 108
«US, der sich in den Sieger einfühlte, ohne der Opfer zu gedenken i*es sei denn des triumphal verklarten Opfers der jeweils eigenen jjelden. Was Benjamin vor Augen hatte, war der öffentliche Gebrauch, den im 19. Jahrhundert nationale Bewegungen und Nationalstaaten von der Historie gemacht haben - jene Art von breitenwirksamer Geschichtsschreibung, die als Medium dienen konnte für die Sclbstvergewisserung einer Nation, eines seiner eigenen Identität bewußt werdenden Volkes. Ich will zunächst an einige Verbindungen zwischen Historismus und Nationalismus erinnern, um dann zu erklären, warum uns heute, jedenfalls in den •«restlichen Gesellschaften, der Rückgriff auf diese Art nationalgeschichtlicher Identitätsbildung verwehrt ist. Der Nationalismus, wie er sich in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet hat, ist eine spezifisch moderne Erscheinungsform der kollektiven Identität. Nach dem Bruch mit dem Ancien Regime und mit der Auflösung der traditionellen Ordnungen der frühbürgerlichen Gesellschaft emanzipierten sich die einzelnen im Rahmen abstrakter staatsbürgerlicher Freiheiten. Die Masse der freigesetzten einzelnen wird mobil - nicht nur politisch als Bürger, sondern ökonomisch als Arbeitskräfte, militärisch als Wehrpflichtige, auch kulturell als Schulpflichtige, die lesen und schreiben lernen und in den Sog von Massenkommunikation und Massenkultur hineingeraten. In dieser Situation ist es der Nationalismus, der das Bedürfnis nach neuen Identifikationen befriedigt. Von älteren Identitätsformationen unterscheidet er sich in mehreren Hinsichten.s Erstens entstammen die identitätsstiftenden Ideen einem von Kirche und Religion unabhängigen, profanen Erbe, das durch die damals entstehenden Geisteswissenschaften aufbereitet und vermittelt wird. Das erklärt etwas von dem zugleich durchdringenden und bewußten Charakter der neuen Ideen. Sie erfassen alle Bevölkerungsschichten auf ähnliche Weise und sind auf eine selbsttätige, reflexive Form der Traditionsaneignung angewiesen. Zweitens bringt der Nationalismus das gemeinsame kulturelle Erbe von Sprache, Literatur und Geschichte mit der staatlichen Organisationsform zur Dekkung. Der aus der Französischen Revolution hervorgegangene demokratische Nationalstaat bleibt das Modell, an dem sich alle nationalistischen Bewegungen orientieren. Drittens besteht im S Zum Folgenden: P. Alter, Natwnalnmui, Frankfurt/M. 1985 109
nationalen Bewußtsein eine Spannung zwischen zwei Elementen die in den klassischen Staatsnationen - also den Nationen, die sich im Rahmen vorgefundener staatlicher Organisationsformen ihrer selbst erst bewußt werden - mehr oder weniger in Balance bleiben. Gemeint ist die Spannung zwischen den universalistischen Wertorientierungen des Rechtsstaates und der Demokratie einerseits, dem Partikularismus der sich nach außen abgrenzenden Nation andererseits. Im Zeichen des Nationalismus bedeuten Freiheit und politische Selbstbestimmung beides: die Volkssouveränität gleichberechtigter Staatsbürger und die machtpolitische Selbstbehauptung der souverän gewordenen Nation. In der internationalen Solidarität mit den Unterdrückten, angefangen von der Gnechenund Polenbegeisterung des frühen 19. Jahrhunderts bis zum Heroenkult und Revolutionstourismus unserer Tage (China, Vietnam, Kuba, Portugal, Nicaragua), spiegelt sich das eine Element; das andere kommt zum Vorschein in den stereotypen Feindbildern, die den Weg aller nationalen Bewegungen gesäumt haben. Für die Deutschen zwischen 1806 und 1914 waren es die Feindbilder der Franzosen, der Dänen und der Engländer. Symptome dieser nicht aufgelösten Spannung zeigen sich aber nicht nur in solchen gegenläufigen Reaktionen, sondern an jenem Staat und jenem Geschichtsbewußtsein selber, in denen der Nationalismus Gestalt gewinnt. Die Form nationaler Identität macht es nötig, daß sich jede Nation in einem Staat organisiert, um unabhängig zu sein. In der historischen Wirklichkeit ist jedoch der Staat mit national homogener Bevölkerung immer Fiktion geblieben. Der Nationalstaat selber erzeugt erst jene autonomistischen Bewegungen, in denen unterdrückte nationale Minderheiten um ihre Rechte kämpfen. Und indem der Nationalstaat Minderheiten seiner zentralen Verwaltung unterwirft, setzt er sich in Widerspruch zu Prämissen der Selbstbestimmung, auf die er sich selbst beruft. Ein ähnlicher Widerspruch durchzieht das historische Bewußtsein, in dessen Medium sich das Selbstbewußtsein einer Nation bildet. Um eine kollektive Identität formen und tragen zu können, muß der sprachlich-kulturelle Lebenszusammenhang auf eine sinnstiftende Weise vergegenwärtigt werden. Nur die narrative Konstruktion eines auf das eigene Kollektiv zugeschnittenen sinnhaften Geschehens bietet handlungsorientierende Zukunftsperspektiven
«jid deckt den Bedarf an Affirmation und Selbstbestätigung. Dem widerstreitet aber das geisteswissenschaftliche Medium der Vergegenwärtigung affirmativer Vergangenheiten. Der Wahrheitsbezug verpflichtet die Geisteswissenschaften auf Kritik; er steht im Gegensatz zur sozialintegrativen Funktion, für die der Nationalstaat die historischen Wissenschaften öffentlich in Gebrauch nahm. Normalerweise bestand der Kompromiß in einer Geschichtsschreibung, die die Einfühlung ins Bestehende zum methodischen Ideal erhebt und darauf verzichtet, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten« (Benjamin). Der Blick, der sich von der Rückseite des Siegers abkehrt, kann seine Selektivität vor sich selbst um so eher verbergen, als diese in der Selektivität der Erzählform verschwindet. Mit solchen Widersprüchen haben die klassischen und die aus den Risorgimentobewegungen hervorgegangenen Nationalstaaten mehr oder weniger unauffällig gelebt. Erst der integrale Nationalismus, der sich in Figuren wie Hitler und Mussolini verkörperte, hat die prekäre Balance zerstört und den nationalen Egoismus aus der Bindung an die universalistischen Ursprünge des demokratischen Verfassungsstaates vollends gelöst. Das bis dahin immer wieder beschwichtigte partikularistische Element hat sich schließlich im Nazi-Deutschland zur Vorstellung von der rassischen Suprematie des eigenen Volkes aufgespreizt. Das hat, wie gesagt, einer Mentalität den Rücken gestärkt, ohne die die großräumig organisierte Ausrottung pseudowissenschaftlich definierter Kategorien von inneren und äußeren Feinden nicht möglich gewesen wäre. An dem auf die Exaltation folgenden Schock sind in Deutschland, wenn auch zunächst nur auf dem Wege der Abwehr und der Ausklammerung der negativ besetzten Periode, die narrativ hergestellten nationalgeschichtlichen Kontinuitäten zerbrochen. Langerfristig hat dieser Schock auch einen Einbruch der Reflexion ins öffentliche Geschichtsbewußtsein ausgelöst und die Selbstverständlichkeiten einer vom Nationalismus geprägten kollektiven Identität erschüttert. Es fragt sich nun, ob man darin nur die Fortsetzung einer nationalen Pathologie mit umgekehrten Vorzeichen, so etwas wie negativen Nationalismus (Nolte) sehen sollte; oder ob sich unter den besonderen Bedingungen der Bundesrepublik, nur zwanghafter und unausgeglichener, ein Formwandel abzeichnet, der sich auch in den klassischen Staatsnationen vollzieht. Ich denke
an einen Formwandel der nationalen Identitäten, bei dem sich zwischen ihren beiden Elementen die Gewichte verschieben Wenn meine Vermutung zutrifft, verändert sich die Konstellation in der Weise, daß die Imperative der machtpolitischen Selbstbehauptung nationaler Lebensformen die Handlungsweise des demokratischen Verfassungsstaates nicht mehr nur beherrschen sondern an Postulaten der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten auch ihre Grenze finden.
Im Jahre 1949 sind sechs neue Staaten gegründet worden. Vietnam, Laos, Kambodscha und Indonesien gehören zu jener dritten Generation von Nationalstaaten, die aus der Auflösung der Kolonialreiche in Asien und Afrika hervorgegangen sind und mutatis mutandis dem Muster ihrer Vorgänger folgen. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, die zur gleichen Zeit entstehen, fallen aus dieser Serie heraus. Nach der einen Lesart sind die beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches transitorische Gebilde, denen die nationalstaatliche Einheit einstweilen vorenthalten wird. Die Hypothese eines allgemeinen Formwandels nationaler Identitäten erfordert eine andere Lesart. Ihr zufolge ist 1945 die nicht einmal fünfundsiebzigjährige, ohnehin unglückliche Episode einer ohnehin unvollständigen nationalstaatlichen Einigung zu Ende gegangen. Danach hat sich die kulturelle Identität der Deutschen von der einheitsstaatlichen Organisationsform gelöst - wie früher schon im Falle Österreichs. Der Historiker Rudolf von Thadden stellt ohne Ressentiment fest, daß Kant ein Teil der deutschen Geistesgeschichte bleibt, auch wenn Königsberg heute Kaliningrad heißt - also weder auf west- noch auf ostdeutschem Territorium liegt/' Mit dieser Entkoppelung einer gemeinsamen kulturellen Identität von Gesellschaftsformation und Staatsform löst sich eine gewiß diffuser gewordene Nationalität von der Staatsangehörigkeit und macht den Platz frei für die politische Identifikation mit dem, was die Bevöl-
-torungjeweils an der Nachkriegsentwicklung des eigenen Staates Hir bewahrenswert hält. In der Bundesrepublik hat Dolf Sternfeerßer e m e n gewissen Verfassungspatriotismus beobachtet, also die Bereitschaft, sich mit der politischen Ordnung und den Prinzipien des Grundgesetzes zu identifizieren. ; Diese ernüchterte politische Identität löst sich vom Hintergrund einer nationalgeschichtlich zentrierten Vergangenheit. Der universalistische Gehalt einer um den demokratischen Verfassungsstaat kristallisierten Form des Patriotismus ist nicht länger »uf siegreiche Kontinuitäten eingeschworen; er ist unvereinbar mit der sekundären Naturwüchsigkeit eines historischen Bewußtseins, das uneinsichtig bleibt für die tiefe Ambivalenz jeder Überlieferung, für die Kette des Nicht-Wiedergutzumachenden, die barbarische Nachtseite aller kulturellen Errungenschaften bisher. Allerdings zeigt die gegenwärtige Debatte, daß dies eine umstrittene Lesart ist. Andere können in denselben Phänomenen nur ebensoviele Anzeichen für die Pathologie einer beschädigten nationalen Identität entdecken. So oder so könnten sich freilich Ansätze zu einer postnationalen, auf den Verfassungsstaat bezogenen Identität nur im Rahmen allgemeiner, über die Bundesrepublik hinausgreifender Tendenzen entfalten und stabilisieren. Gibt es solche allgemeineren Tendenzen? Ich will nicht auf die bekannten funktionalen Aspekte eingehen, unter denen die nationalstaatliche Integrationsebene heute überall an Bedeutung eingebüßt hat; auch nicht darauf, was die Souveränitätseinbußen des Nationalstaates (der immer stärker von der kapitalistischen WeltÖkonomie und den nuklear gerüsteten Supermächten abhängt) in der Wahrnehmung seiner Bürger bedeuten mögen. Ich beschränke mich auf einige triviale Beobachtungen, die in unseren Breiten für eine Schwächung des partikularistischen Elements in der Bewußtseinsgestalt des Nationalismus sprechen.7 (a) Hegel, der bekanntlich den nationalen Bewegungen seiner Zeit ziemlich fern gestanden hat, begründet in der Rechtsphilosophie (§324) noch ganz unbefangen »das sittliche Moment des Krieges« und die Pflicht des einzelnen, sich im Kriege dem Risiko »der Aufopferung des Eigentums und des Lebens« auszusetzen.
6 R. v. Thadden, Das verschobene Vaterland, in: Suddeutsche Zeltung vom 11./12. April 1987
7 J. Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernunftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 1441.
III
Der Nationalstaat beerbt die antike Pflicht, für das Vaterland zu sterben, im Namen einer modern gedachten Souveränität, und besiegelt damit den Vorrang der Nation vor allen übrigen irdischen Gütern. Dieser mentalitätsprägende Kern des Nationalismus hat der rüstungstechnologischen Entwicklung nicht standgehalten. Wer heute die Waffen, mit denen er einem anderen Lande droht, tatsächlich anwendet, weiß, daß er im selben Augenblick das eigene Land zerstört. So ist inzwischen die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe, moralisch gesehen, schon leichter zu rechtfertigen als der paradox gewordene Kriegsdienst selber. (b) Hannah Arendt hat in den Lagern die Symbolisierung des tiefsten Wesenszuges unseres Jahrhunderts gesehen. Sie meinte nicht nur die Vernichtungslager, sondern überhaupt die Internierungs- und Flüchtlingslager, die Auffang- und Durchgangslager für politische Emigranten, für Vertriebene, Wirtschaftsasylanten, Fremdarbeiter usw. Diese riesigen, durch Krieg, politische Unterdrückung, ökonomisches Elend und den internationalen Arbeitsmarkt erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen haben kaum eine der entwickelten Gesellschaften in ihrer ethnischen Zusammensetzung unverändert gelassen. Die Berührung mit dem Schicksal der Entrechteten, die hautnahe Konfrontation der Einheimischen mit fremden Lebensformen, Religionen und Rassen löst gewiß Abwehrreaktionen aus; diese Erfahrungen geben aber auch einen Anstoß zu Lernprozessen, zur Wahrnehmung der eigenen privilegierten Situation; sie bedeuten einen Zwang zur Relativierung der eigenen Lebensformen und die Herausforderung, mit den universalistischen Grundlagen der eigenen Überlieferung Ernst zu machen. (c) Weniger dramatisch, eher auf subkutane Weise wirken sich Massenkommunikation und Massentourismus aus. Beide verandern die auf Anschauung eingestelle Nahoptik und die auf den Nahbereich zugeschnittene Gruppenmoral. Sie gewöhnen den Blick an die Heterogenität der Lebensformen und an die Realität des Gefälles zwischen den Lebensbedingungen bei uns und anderswo. Diese Gewöhnung ist gewiß ambivalent: sie öffnet den Blick und stumpft ihn auch ab. Mit den Bildern aus der SahelZone, wenn wir sie täglich sehen müßten, könnten wir nicht leben. Aber noch dieser Umstand, daß wir ohne Verdrängungen nicht auskommen, verrät die beunruhigende Gegenwart einer zur 114
•tyfelt insgesamt erweiterten Gesellschaft. In ihr funktionieren die Feindbilder und Stereotype, die das Eigene gegen das fremde Andere abschirmen, immer unzuverlässiger. Je aufdringlicher die ^gleichzeitige Vielfalt verschiedener, konkurrierender, einander ausbeutender Lebensformen ihr Recht auf Koexistenz und Gleichbehandlung einklagt, um so deutlicher schwinden alle Alternativen zur Erweiterung des moralischen Bewußtseins in universalistischer Richtung. (d) Schließlich haben sich auch jene Wissenschaften verändert, die als Medium für die Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes einer Nation dienen. Während des 19. Jahrhunderts waren die Geisteswissenschaften innerhalb ihrer nationalen Grenzen noch stufenlos an die Kommunikationsströme des gebildeten Publikums und seiner öffentlichen Traditionsaneignung angeschlossen. Dieses Band hat sich mit dem Zerfall bildungsbürgerlicher Schichten gelockert. Sodann hat die internationale Integration des Wissenschaftssystems auch die Geisteswissenschaften erfaßt und die nationalen Wissenschaftstraditionen füreinander durchlässiger gemacht. Schließlich hat die Annäherung von Sozial- und Geisteswissenschaften auch bei diesen einen Theoretisierungsschub ausgelöst und eine stärkere Differenzierung zwischen Forschung und Darstellung, zwischen Fachwissenschaft und exoterischer Geschichtsschreibung gefördert. Allgemein ist die Distanz zwischen den historischen Wissenschaften und dem öffentlichen Prozeß der Überlieferung größer geworden. Die Fallibilität des Wissens und die Konkurrenz der Lesarten fördern eher eine Problematisierung des Geschichtsbewußtseins als die Identitatsbildung und die Sinnstiftung. Nehmen wir einmal an, daß diese und ähnliche Tendenzen tatsächlich für eine Formveränderung der nationalen Identitäten - mindestens im Bereich der westlichen Industriegesellschaften sprechen, wie soll man sich dann das Verhältnis von problematisiertem Geschichtsbewußtsein und postnationaler staatlicher Identität überhaupt vorstellen? Jede Identität, die die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv begründet und die Menge der Situationen umschreibt, in denen die Angehörigen in einem emphatischen Sinne »Wir« sagen können, scheint doch als etwas Unbefragtes aller Reflexion entzogen bleiben zu müssen.
IV Sören Kierkegaard, der religiöse Schriftsteller und Philosoph, der weit über die Existenzphilosophie hinaus unser Denken bis heute inspiriert hat, war ein Zeitgenosse der nationalen Bewegungen Aber er spricht keineswegs von kollektiven Identitäten, sondern allein von der Identität der einzelnen Person. In Entweder-Oder konzentriert er sich auf jenen einsamen Entschluß, durch den der moralische einzelne die Verantwortung für seine Lebensgeschichte übernimmt und sich »zu dem macht, der er ist«.8 Dieser praktische Akt der Verwandlung hat auch eine kognitive Seite; mit ihm bekehrt sich der einzelne zu einer »ethischen Lebensauffassung«: »Er entdeckt nun, daß das Selbst, das er wählt, eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich birgt, sofern es eine Geschichte hat, in welcher er sich zur Identität mit sich selbst bekennt.« (774) Wer sich an die Konfessionen des Augustinus erinnert, erkennt in diesem authentischen Lebensentwurf ein altes christliches Motiv wieder, die Erfahrung der Konversion; die »absolute Wahl« verändert den einzelnen auf die nämliche Weise wie den Christen die Bekehrung: »Er wird er selbst, ganz derselbe, der er zuvor war, bis auf die unbedeutendste Eigentümlichkeit, und doch wird er ein anderer, denn die Wahl durchdringt alles und verwandelt es.« (78 2 f.) Jedes Individuum trifft sich zunächst an als das geschichtliche Produkt zufälliger Lebensumstände, aber indem es sich selbst als dieses Produkt »wählt«, konstituiert sich erst ein Selbst, das sich die reiche Konkretion seiner bloß vorgefundenen Lebensgeschichte als etwas zurechnet, wofür es retrospektiv Rechenschaft geben will. Aus dieser Perspektive enthüllt sich das verantwortlich übernommene Leben zugleich als eine irreversible Kette von Verfehlungen. Der dänische Protestant beharrt auf der Verschränkung von existentieller Authentizität und Sundenbewußtsein: »Ethisch aber kann man sich selbst nur wählen, indem man sich selbst bereut, und nur indem man sich selbst bereut, wird man konkret.« (812) Wir können diesem Konzept einer Ich-Identität, die sich durch die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte im Lichte absoluter Selbstverantwortung herstellt, auch eine etwas profanere Lesart abgewinnen. Dann sieht man, daß Kierkegaard in der Mitte 8 S. Kierkegaard, Entweder-Oder, Köln und Ölten i960, S. 773 116
Ä& 19. Jahrhunderts unter der Voraussetzung der kantischen Ethik denken muß und eine Alternative bieten will zu Hegels ^ersuch, Kants universalistische Moral auf eine fragwürdige ifgfeise zu »konkretisieren«. Hegel hatte ja der subjektiven Freiheit «nd dem moralischen Gewissen in den Institutionen des vernünftigen Staates Halt geben wollen. Kierkegaard, gegenüber diesem objektiven Geist so mißtrauisch wie Marx, verankert beide statt dessen in einer radikalisierten Innerlichkeit. Auf diesem Weg geJjngt er zu einem Begriff von persönlicher Identität, der unserer oosttraditionalen, aber nicht schon aus sich heraus vernünftigen ^elt offenbar angemessener ist. . Dabei hat Kierkegaard durchaus gesehen, daß das persönliche Selbst zugleich ein soziales und ein bürgerliches Selbst ist - Rofeinson bleibt für ihn ein Abenteurer. Er stellt sich vor, daß sich das persönliche Leben ins bürgerliche »übersetze« und aus diesem in die Sphäre der Innerlichkeit zurückkehre (830). Dann aber wird man fragen dürfen, wie denn die intersubjektiv geteilten Lebenszusammenhänge strukturiert sein müßten, damit sie nicht nur Platz lassen für die Ausbildung anspruchsvoller personlicher Identitäten, sondern solchen Prozessen der Selbstfindung entgegenkommen. Wie müßten Gruppenidentitäten beschaffen sein, die den unwahrscheinlichen und gefährdeten Typus der von Kierkegaard entworfenen Ich-Identität ergänzen und stabilisieren .könnten? , Falsch wäre es, sich Gruppenidentitaten als Ich-Identitäten im Großformat vorzustellen - zwischen beiden besteht keine Analogie, sondern ein komplementäres Verhältnis. Daß der Nationalismus eine solche Ergänzung zu Kierkegaards ethischer LebensanSchauung nicht sein konnte, ist leicht zu erkennen. Wohl markiert er einen ersten Schritt zur reflexiven Aneignung der Traditionen, denen man sich zurechnet; posttraditional ist auch schon die nationale Identität. Aber diese Gestalt des Bewußtseins entfaltet eine starke präjudizierende Kraft; das zeigt sich an jenem Grenzfall, in dem sie sich am reinsten aktualisiert: im Augenblick der Mobilisierung für den vaterländischen Krieg. Diese Situation freiwilliger Gleichschaltung ist das bare Gegenteil von jenem existentiellen »Entweder-Oder«, mit dem Kierkegaard den einzelnen konfrontiert. Offensichtlich wäre mit den Identifikationen, die der Nationalstaat von seinen Burgern erwartet hat, mehr vorentschieden, als Kierkegaard im Interesse des einzelnen zulassen kann. 117
Anders verhält es sich mit einem Verfassungspatriotismus, der erst entsteht, nachdem sich Kultur und staatliche Politik starker voneinander differenziert haben als im Nationalstaat alter Prägung. Dabei werden die Identifikationen mit eigenen Lebensformen und Überlieferungen überlagert von einem abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze einer Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien bezieht. Diese zielen auf die Bedingungen des Zusammenlebens und der Kommunikation zwischen verschiedenen, gleichberechtigt koexistierenden Lebensformen - im Innern wie nach außen. Die verfassungspatriotische Bindung an diese Prinzipien muß sich freilich aus dem konsonanten Erbe kultureller Überlieferungen speisen. Immer noch prägen die nationalen Überlieferungen eine Lebensform mit privilegiertem Stellenwert, wenn auch nur eine in einer Hierarchie von Lebensformen verschiedener Reichweite. Diesen wiederum entsprechen kollektive Identitäten, die einander überlappen, aber eines Mittelpunktes, wo sie zur nationalen Identität gebündelt und integriert würden, nicht mehr bedürfen. Die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten bildet statt dessen das harte Material, an dem sich nun die Strahlen der nationalen Überlieferungen brechen - der Sprache, der Literatur und der Geschichte der eigenen Nation. Für diesen Prozeß der Aneignung dürfen die Analogien mit Kierkegaards Modell der verantwortlichen Übernahme der individuellen Lebensgeschichte nicht überzogen werden. Schon im Hinblick auf das einzelne Leben bedeutet der Dezisionismus von Entweder-Oder eine starke Stilisierung. Die Wucht der »Entscheidung« soll hier vor allem den autonomen und bewußten Charakter des Sich-selbst-Ergreifens betonen. Dem kann auf der Ebene der Aneignung intersubjektiv geteilter Traditionen, die keinem einzelnen zur Disposition stehen, nur der autonome und bewußte Charakter eines öffentlich ausgetragenen Streites entsprechen. Beispielsweise streiten wir uns darüber, wie wir uns als Bürger der Bundesrepublik verstehen wollen - im Modus dieses Streites um Interpretationen vollzieht sich der öffentliche Prozeß der Überlieferung. Und darin sind die Geschichtswissenschaften - wie andere Expertenkulturen auch - nur unter dem Aspekt ihres öffentlichen Gebrauchs verstrickt, nicht als Wissenschaften. Ebenso wichtig ist eine weitere Differenz. Kierkegaard stellt
Jen Akt der Selbstwahl ganz unter den Gesichtspunkt der moralischen Rechtfertigung. Aber moralischer Bewertung unterliegt nur das, was wir einer individuellen Person zurechnen dürfen; für historische Prozesse können wir uns nicht in demselben Sinne verantwortlich fühlen. Aus dem historischen Zusammenhang von Lebensformen, die sich von Generation zu Generation fortpflanzen, ergibt sich für die Nachgeborenen nur eine Art intersubjektiver Haftung. An dieser Stelle findet allerdings jenes Moment der Reue, die der Selbstvergewisserung auf dem Fuße folgt, ein Pendant - die verpflichtende Melancholie angesichts der nicht wiedergutzumachenden Opfer. Ob wir nun die historische Haftung so weit ausgedehnt sehen wie Benjamin oder nicht, für das Maß an Kontinuität und Diskontinuität der von uns weitergegebenen Lebensformen tragen wir heute eine größere Verantwortung denn je. An einer aufschlußreichen Stelle gebraucht Kierkegaard das Bild des Redakteurs: das ethisch lebende Individuum sei Redakteur seiner eigenen Lebensgeschichte, aber es müsse sich bewußt sein, »daß es ein verantwortlicher Redakteur ist« (827). Nachdem sich der einzelne existentiell entschieden hat, wer er sein möchte, übernimmt er die Verantwortung dafür, was er sich fortan aus seiner moralisch übernommenen Lebensgeschichte als wesentlich zurechnet - und was nicht: »Wer ethisch lebt, hebt bis zu einem gewissen Grade die Distinktion zwischen dem Zufälligen und dem Wesentlichen auf, denn er übernimmt sich ganz und gar als gleich wesentlich; aber sie kehrt wieder, denn nachdem er dies getan hat, unterscheidet er, doch so, daß er für das, was er als das Zufällige ausschließt, eine wesentliche Verantwortung übernimmt im Hinblick darauf, daß er es ausgeschlossen hat.« (827) Heute sehen wir, daß es dafür ein Pendant im Leben der Völker gibt. Im öffentlichen Prozeß der Überlieferung entscheidet sich, welche unserer Traditionen wir fortsetzen wollen und welche nicht. Der Streit darum wird um so intensiver entbrennen, je weniger wir uns auf eine Siegergeschichte der Nation, auf eine fugendichte Normalität dessen, was sich nun einmal durchgesetzt hat, verlassen können und je deutlicher uns die Ambivalenz jeder Überlieferung zu Bewußtsein gekommen ist.
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LA.
V Im Persönlichen spricht Kierkegaard also von einer »Distink tion«, die wir treffen, wenn wir uns aus der Zerstreuung zurückholen und im Fokus des verantwortlichen Selbstseins sammeln Man weiß dann, wer man sein möchte und wer nicht, was wesentlich zu einem selber gehören soll, was nicht. Auf die Mentalität einer Bevölkerung läßt sich die existenzphilosophische Begrifflichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nicht ohne weiteres übertragen. Aber auch hier hinterlassen geschichtliche Entscheidungen von politisch-kultureller Tragweite ihre distingierenden Merkmale - wie im Falle der Westorientierung der Bundesrepublik. Man kann sehr wohl die Frage stellen, wie sich eine solche Entscheidung im politisch-kulturellen Selbstverständnis der Bevölkerung spiegelt, ob sie eine Distinktion begründet - ein Anders-sein-Wollen. Bedeutet die Westintegration für uns heute auch den Bruch mit dem Kontext jenes deutschen Sonderbewußtseins, oder verstehen wir sie nur als eine Opportunitätsentscheidung, die uns nach Lage der Dinge am ehesten erlaubt hat, dem Lebenshaushalt der Nation soviel wie eben möglich an Kontinuität zu erhalten? Die Westintegration der Bundesrepublik hat sich schrittweise vollzogen: ökonomisch mit Währungsreform und europaischer Gemeinschaft, politisch mit der Teilung der Nation und der eigenstaatlichen Konsolidierung, militärisch mit Wiederaufrüstung und Nato-Beitritt und kulturell mit einer langsamen, erst Ende der fünfziger Jahre abgeschlossenen Internationalisierung von Wissenschaft, Literatur und Kunst. Diese Prozesse haben sich machtpolitisch in einer durch Jalta und Potsdam, spater durch das Verhältnis der Supermächte zueinander bestimmten Konstellation vollzogen. Aber sie trafen in der westdeutschen Bevölkerung von Anbeginn auf »eine weitverbreitete prowestliche Grundstimmung, die sich aus dem radikalen Scheitern der NS-Politik und dem abstoßenden Erscheinungsbild des sowjetischen Kommunismus nährte«.9 Ein doppelter antitotalitarer Konsens hat bis in die sechziger Jahre hinein den Mentalitätshintergrund unserer politischen Kultur bestimmt. Das Aufbrechen 9 D. Thranhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/ Main 1986, S. 34
iieses Kompromisses stellt uns heute erst explizit vor die Frage, «yas jene Orientierung nach Westen tatsachlich für uns bedeutet: tiloße Anpassung an eine Konstellation oder eine in Überzeugungen wurzelnde, prinzipiengeleitete intellektuelle Neuorientierung>,i .Natürlich war die stumme Überzeugungskraft des ökonomischen Erfolgs und zunehmend auch der sozialstaatlichen Errungenschaften der beste Garant für die Zustimmung zu Prozessen, ^e sich ohnehin anbahnten. Ein übriges tat die Ablehnung der Sowjetunion - der Antikommunismus der Vertriebenen, die ihre Erfahrungen gemacht hatten, der Antikommunismus der SPD, die im anderen Teil Deutschlands die Bildung der SED nicht hatte verhindern können, und der Antikommunismus derer, die immer schon so gedacht hatten, vor allem jener Antikommunismus, in Jessen Zeichen die Regierungsparteien die Wiederaufrüstung durchsetzten. Unter Adenauer waren diese in ihrer Propaganda nicht zimperlich und brachten den inneren Gegner stereotyp mit dem äußeren Feind in Verbindung. Während die frühen ökonomischen Weichenstellungen im •wesentlichen eine Restauration vorübergehend beeinträchtigter Verhältnisse bedeutet hatten, während die politisch-institutionelle Neuordnung immerhin als eine Reform des Weimarer Staates verstanden werden konnte, gab es nach außen, in der Politik der Bündnisse, und nach innen, in der politischen Kultur, neue Anfänge. An den Themen aus diesen beiden Bereichen haben sich denn auch die großen mentalitätsprägenden Kontroversen entzündet. Die Politik der Wiederaufrüstung und später die Ostpolitik waren strittig zwischen Regierung und Opposition, zeitweise vor dem Hintergrund außerparlamentarischer Bewegungen. Streitfragen der politischen Kultur entzündeten sich an dem, was eine erstmals etablierte Schicht von Intellektuellen, später auch die revoltierenden Studenten und die neuen sozialen Bewegungen als autoritäre Tendenzen wahrnahmen - und als Unempfindlichkeiten gegenüber den beim Wort genommenen moralischen Grundlagen eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates, überhaupt eines im Geiste des Antifaschismus errichteten Gemeinwesens. Natürlich kann man die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik nicht in wenigen Sätzen kennzeichnen. Ich will nur eines hervorheben: jene beiden anhaltenden Kontroversen wurden, wenn man von marginalen Gruppen absieht, auf der
Basis einer nicht ernstlich in Frage gestellten Option für den We sten ausgetragen.10 Allerdings berührte der zweite Themenbereich den antitotalitären Konsens, dessen Zusammensetzung sich bald nach dem Kriege charakteristisch verändert hatte: Antikommunismus - j ^ Sinne einer Ablehnung des Sowjetkommunismus - verstand sich von selbst bis hin zu den antiautoritären Studenten von '68; aber der Antifaschismus - schon das Wort schien verdächtig - wurde alsbald spezifiziert: man verstand darunter nicht viel mehr als die pauschale Ablehnung einer im Ganzen distanzierten, dem »Zeitalter der Tyrannen« zugeschlagenen Periode. Der antitotalitäre Konsens, soweit er die ganze Bevölkerung einigte, beruhte auf einer stillschweigenden Asymmetrie; ein Konsens blieb er nur unter der Bedingung, daß der Antifaschismus nicht grundsätzlich werden dürfe. Genau diese Bedingungen aber haben liberale und linke Minderheiten immer dann problematisiert, - wenn sie die negativ besetzte, aber global ausgeklammerte NSPenode in Einzelheiten öffentlich thematisierten (Wiedergutmachung, »Aufarbeitung der Vergangenheit«, Auschwitzprozesse, Verjährungsdebatten usw.); - wenn sie die Prinzipien des Verfassungsstaates und die Grundsätze einer sozial gerechten Gesellschaft gegen eine in der Bundesrepublik geübte Praxis ausspielten (Spiegel-Aii'iie, SpringerKampagne, Berufsverbote, Asylantendiskussion usw.); - oder wenn sie Politiken der Schutzmacht Amerika, also das Kontrastbild zum Totalitären, an den gemeinsamen Maßstäben kritisierten (Vietnam, Libyen, Widerstand gegen die Entspannungspolitik usw.). Die Historikerdebatte steht auch in diesem Zusammenhang. Die politischen Absichten, die sich unverhohlen mit einer für die Öffentlichkeit angestrebten normalisierenden und distanzierenden Vergeschichtlichung der NS-Periode verbinden, bedürfen keiner Motivforschung. Wenn jene Bedingung für den antitotalitären Konsens der fünfziger Jahre, nämlich Diskretion gegenüber der eigenen Geschichte, immer weniger erfüllt werden kann, bietet sich eben diese Alternative an: die forsche Entproblematisieio Das richtet sich gegen das landesübliche Vorurteil, die Option für den Westen sei identisch mit der Option für Adenauers Politik oder für die jeweils herrschende Nato-Doktrin. 122
HjHg einer nicht länger ausgeklammerten Vergangenheit und das och ein wenig trotzige Bekenntnis zu den durch die NS-Periode Ljn£jurchreichenden Kontinuitäten. Erst heute also steht zur Debatte, wie wir die Orientierung «ach Westen verstehen wollen - nur pragmatisch als eine Frage der Allianzen, oder auch intellektuell als einen neuen Anfang der politischen Kultur." Wer sich mit einem rhetorischen »Sowohl^ls-auch« begnügt, wiegelt ab und macht aus einer Existenzfrage einen Streit um Worte: Kierkegaards Entweder-Oder bezieht sich aUf den Modus der bewußten Übernahme eines Stücks Geschichte. Auch unsere Nachkriegsgeschichte sollte im entscheidenden Punkt, der Abkehr von eigenen verhängnisvollen Traditionen, nicht dem dumpfen Lippendienst überlassen bleiben.
II Diesen Aspekt der Historikerdebatte hebt R. Dahrendorf hervor: »Im wohlwollenden Schutz des breiten Schattens, den der Bundeskanzler wirft, hat eine Identitätssuche begonnen, zu der vor allem der Wunsch nach ungebrochener Kontinuität gehört. Sie wird, für manche verwirrend, insbesondere von solchen betrieben, die in der aktuellen Politik auf die Vereinigten Staaten, vielmehr auf Präsident Reagan setzen, während umgekehrt linke Kritiker der amerikanischen Politik die westliche Aufklärung beschwören. So entstehen scheinbar widersprüchliche Kombinationen: wer für SDI und die Nachrüstung ist, ist auch bereit, Auschwitz mit asiatischen Vorbildern zu vergleichen und Grausamkeiten der Geschichte gegeneinander aufzurechnen. Und umgekehrt.« (Zur politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Merkur, Januar 1987, S. 71.)
Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf Was heißt Sozialismus heute? Warum sind bloß die besseren Pgs 1945 nicht auf die Idee gekommen, nach dem Faschismus mit menschlichem Antlitz zu suchen? Johannes Gross, Notizbuch, Neueste Folge Viertes Stuck
In den Feuilletons ist von der Entzauberung des Sozialismus die Rede, vom Scheitern einer Idee, sogar von der verzögerten Vergangenheitsbewaltigung der westeuropaischen, der deutschen Intellektuellen. Auf die rhetorischen Fragen folgt stets der gleiche Refrain: daß Utopien und Geschichtsphilosophien in Unterjochung enden müssen. Nun ist die Kritik der Geschichtsphilosophie ein Geschäft von gestern. Lowiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen ist 1953 ins Deutsche übersetzt worden.1 Was sind die Karten von heute? Wie soll man die historische Bedeutung der revolutionären Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa einschätzen? Was bedeutet der Bankrott des Staatssozialismus fur die im 19. Jahrhundert verwurzelten politischen Bewegungen und Ideen, was bedeutet er fur das theoretische Erbe der westeuropäischen Linken? I Die revolutionären Veränderungen im Herrschaftsbereich der Sowjetunion zeigen viele Gesichter. Im Land der bolschewistischen Revolution vollzieht sich ein von oben, von der Spitze der KPdSU eingeleiteter Reformprozeß. Seine Ergebnisse, mehr noch die nichtintendierten Folgen dieser Reform, verstetigen sich in dem Maße zu einer revolutionären Entwicklung, wie sich nicht nur gesellschaftspolitische Grundorientierungen, sondern we1 Zum Verhältnis von Ethik, Utopie und Utopiekntik vgl den klarenden Beitrag von K -O. Apel zu: W. Voßkamp (Hg.), Utopieforschung, Frankfurt/M i98 5) Bd. i,S 325-355 124
ÏLjtliche Elemente des Herrschaftssystems selbst andern (insbejpiidere der Legitimationsmodus mit der Entstehung einer politi«fehen Öffentlichkeit, Ansätzen zu einem politischen Pluralismus «jjd dem schrittweisen Verzicht auf das Machtmonopol der jjtaatspartei). Der inzwischen kaum noch zu steuernde Prozeß geffihrdet sich durch die von ihm ausgelosten nationalen und wirtjgjjaftüchen Konflikte. Alle Seiten haben erkannt, was vom VerJjtif dieses schicksalhaften Prozesses abhangt. Er hat erst die plärnissen fur die Veränderungen im ostlichen Mitteleuropa (einjchließlich der auf die Unabhängigkeit zustrebenden baltischen Staaten) und in der DDR geschaffen. « In Polen waren die revolutionären Veränderungen das Ergebnis des anhaltenden Widerstandes der von der katholischen Kirche gestutzten Solidarnosc-Bewegung, in Ungarn die Folge eines Jrfachtkampfes innerhalb der politischen Eliten; in der DDR und in der CSSR haben sie sich als ein von friedlich demonstrierenden Massen erzwungener Umsturz, in Rumänien als blutige RevoluBon, zähflüssig in Bulgarien vollzogen. Trotz der Vielfalt der Erscheinungsformen laßt sich die Revolution in diesen Landern an Ereignissen ablesen: die Revolution erzeugt ihre Daten. Sie gibt «Weh als eine gewissermaßen ruckspulende Revolution zu erkennen, die den Weg frei macht, um versäumte Entwicklungen nachtuholen. Dagegen behalten die Veränderungen im Ursprungsland der bolschewistischen Revolution einen undurchsichtigen Chaiakter, fur den die Begriffe noch fehlen. In der Sowjetunion fehlt der Revolution (bisher) der unzweideutige Charakter eines Widerrufs. Selbst eine symbolische Ruckkehr zum Februar 1917 oder gar ins zaristische Petersburg hatte keinen Sinn. •- In Polen und Ungarn, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, in Landern also, die das staatssozialistische GesellSchafts- und Herrschaftssystem nicht aufgrund autochthoner Revolutionen, sondern als Kriegsfolge mit dem Einmarsch der Roten Armee eher erhalten als errungen haben, vollzieht sich die Abschaffung der Volksdemokratie im Zeichen einer Ruckkehr zu den alten nationalen Symbolen und, wo immer es sich anbietet, als eine Wiederanknupfung an politische Traditionen und an Parteienstrukturen der Zwischenkriegszeit. Hier, wo sich die revolutionären Veränderungen zu revolutionären Ereignissen verdichtet haben, artikuliert sich auch am deutlichsten der Wunsch, verfasSungspolitisch an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und 125
gesellschaftspolitisch an die Verkehrs- und Lebensformen d entwickelten Kapitalismus, insbesondere an die Europaische Ge meinschaft, Anschluß zu finden. Im Falle der DDR gewinnt »Anschluß« einen buchstäblichen Sinn; denn für sie bietet di Bundesrepublik beides zugleich: eine demokratisch verfaßt Wohlstandsgesellschaft westlichen Typs. Hier wird das Wahlvolk am 18. März ganz sicher nicht das ratifizieren, was jene Oppositionellen im Sinne hatten, die mit der Parole »Wir sind das Volk« die Stasi-Herrschaft umgestürzt haben; aber das Votum der Wähler wird diesen Umsturz geschichtswirksam interpretieren - eben als nachholende Revolution. Nachholen will man, was den westlichen Teil Deutschlands vom östlichen vier Jahrzehnte getrennt hat - die politisch glücklichere und ökonomisch erfolgreichere Entwicklung. Indem die nachholende Revolution die Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat und den Anschluß an den kapitalistisch entwickelten Westen ermöglichen soll, orientiert sie sich an Modellen, die nach orthodoxer Lesart durch die Revolution von 1917 schon überholt worden waren. Das mag einen eigentümlichen Zug dieser Revolution erklären: den fast vollständigen Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen. Diese Beobachtung macht auch Joachim Fest: »Den wahrhaft verwirrenden, ins Zentrum zielenden Charakter erhielten die Ereignisse... angesichts der Tatsache, daß sie gerade nicht jenes Element sozialrevolutionärer Emphase enthalten, von dem so gut wie alle historischen Revolutionen der Neuzeit beherrscht waren.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Dez. 1989) Verwirrend ist dieser Charakter einer nachholenden Revolution, weil er an den älteren, von der Französischen Revolution gerade außer Kraft gesetzten Sprachgebrauch erinnert - an den reformistischen Sinn einer Wiederkehr politischer Herrschaftsformen, die aufeinander folgen und wie im Umlauf der Gestirne einander ablösen.2 So nimmt es nicht wunder, daß die revolutionären Veränderungen sehr verschiedene, einander ausschließende Interpretationen gefunden haben. Ich will sechs Deutungsmuster aufgreifen, die sich in der Diskussion abzeichnen. Zur Idee des Sozialismus verhalten sich die ersten drei affirmativ, die anderen kritisch. Die beiden Gruppen lassen sich symmetrisch anordnen in der Reihen2 K. Gnewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt/M. 1973 126
folge einer stalinistischen, einer leninistischen und einer reformS^nrnunistischen Deutung auf der einen, einer postmodernisti«ehen> e m e r antikommunistischen und einer liberalen auf der andren Seite. pie stalinistischen Verteidiger des Status quo ante haben ihre Wortführer inzwischen verloren. Sie verleugnen den revolutionätea Charakter der Veränderungen, begreifen sie als konterrevolutionär. Sie pressen die eher ungewöhnlichen Aspekte des Rückspulens und des Nachholens in ein marxistisches Schema, das nicht mehr greift. In den ostmitteleuropäischen Ländern und in der DDR war es ja evident, daß - nach einer bekannten Formuliejmig - die unten nicht mehr wollten, während die oben nicht mehr konnten. Es war die Wut der Massen (und keineswegs eine Handvoll eingeschleuster Provokateure), die sich gegen die Apparate der Staatssicherheit richtete wie seinerzeit gegen die BaStille. Und die Zerschlagung des Machtmonopols der Staatspartei mochte an die Guillotinierung Ludwigs XVI. erinnern. Die Tatsachen sprechen zu deutlich, als daß selbst eingefleischte Leninisten die Augen vor ihnen verschließen konnten. So verwendet der Historiker Jürgen Kuszynski wenigstens den Ausdruck »konservative Revolution«, um den Veränderungen den Stellenwert einer selbstreinigenden Reform innerhalb eines langfristig revolutionären Prozesses einzuräumen (Die Zeit vom 29. Dez. 1989). Diese Interpretation stützt sich freilich immer noch auf eine orthodoxe Geschichte von Klassenkämpfen, deren Telos festzustehen scheint. Eine solche Geschichtsphilosophie hat schon unter methodologischen Gesichtspunkten einen zweifelhaften Status; abgesehen davon taugt sie nicht zur Erklärung jener Art von sozialen Bewegungen und Konflikten, die unter den strukturellen Bedingungen staatssozialistischer Herrschafts- und Gesellschaftssysteme entstehen oder die (wie die nationalen und fundamentalistischen Reaktionen) von ihnen hervorgerufen werden. Zudem sind die politischen Entwicklungen in den ostmitteleuropäischen Ländern und in der DDR mittlerweile über die Diagnose der bloßen Selbstkorrektur des Staatssozialismus hinweggegangen. Dieser Umstand bildet auch den entscheidenden Einwand gegen die dritte Position, die auf dem Wenzelsplatz in Prag eindrucksvoll von dem aus dem inneren Exil zurückgekehrten Dubcek verkörpert worden ist. Auch ein großer Teil der Opposi127
tionellen, die die revolutionäre Bewegung in der DDR in Gan gesetzt und zunächst angeführt haben, ließ sich vom Ziel eines de mokratischen Sozialismus leiten - eines sogenannten Dritten Weges zwischen sozialstaatlich gebändigtem Kapitalismus und Staatssoziahsmus. Wahrend die Leninisten glauben, die stalinistische Fehlentwicklung korrigieren zu sollen, greifen die Reformkommunisten weiter zurück. Im Einklang mit vielen theoretischen Strömungen des westlichen Marxismus gehen sie davon aus, daß das leninistische Selbstverständnis der bolschewistischen Revolution von Anbeginn den Sozialismus verfälscht, die Verstaatlichung anstelle einer demokratischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefördert und damit die Weichen gestellt habe für eine bürokratische Verselbständigung des totalitären Herrschaftsapparates. Je nach Interpretation der Oktoberrevolution tritt die Theorie des Dritten Weges in mehreren Varianten auf. Nach der optimistischen Lesart (die wohl von den Exponenten des Prager Frühlings geteilt wurde) sollte sich auf dem Wege radikaler Demokratisierung aus dem Staatssozialismus eine neue, auch den sozialstaatlichen Massendemokratien des Westens überlegene Gesellschaftsordnung entwickeln können. Nach einer anderen Variante bedeutet ein dritter Weg zwischen den beiden »real existierenden« Gesellschaftstypen im besten Fall eine radikal-demokratische Reform des Staatssozialismus, die mit der Ausdifferenzierung eines auf dezentralisierte Steuerung umgestellten Wirtschaftssystems wenigstens ein Äquivalent darstellt für den in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gefundenen sozialstaatlichen Kompromiß. Dieser äquivalente Lernschritt sollte zu einer nicht-totalitaren, also in Formen des demokratischen Rechtsstaates verfaßten Gesellschaft führen, die sich zu den Gesellschaften westlichen Typs im Hinblick auf systemspezifische Vorzüge (soziale Sicherheit und qualitatives Wachstum) sowie Nachteile (Produktivkraftentfaltung und Innovation) nicht nachahmend, sondern komplementär verhält. Auch diese schwächere Interpretation rechnet mit der Funktionsfähigkeit einer »sozialistischen Marktwirtschaft«, wie es neuerdings hieß. Gegen diese Möglichkeit führen die einen Apriori-Argumente ins Feld, während die anderen meinen, einen solchen Entwicklungspfad dem Prozeß von Versuch und Irrtum überlassen zu dürfen. Selbst eine streitbare Liberale wie Marion Gräfin Dönhoff glaubt, »daß der bestehende Wunsch, Soziahs128
»jus mit Marktwirtschaft zu vereinen, mit ein wenig Phantasie fejd Pragmatismus durchaus zu erfüllen ist - sie korrigieren ein«Hder« (Die Zeit vom 29. Dez. 1989). Diese Perspektive trägt einem fallibilistisch gestimmten Reformkommunismus Rechnung, ^Jer im Unterschied zur leninistischen Interpretation auf alle ge«chichtsphilosophischen Gewißheiten verzichtet hat. ,, Heute können wir die Frage der Reformfahigkeit und des demokratischen Entwicklungspotentials eines von innen revolutionierten Staatssozialismus auf sich beruhen lassen. Ich vermute, daß sie sich auch in der Sowjetunion angesichts des in jeder Hinjicht verheerenden stalinistischen Erbes (und der drohenden Desintegration des Vielvölkerstaates) gar nicht mehr auf eine realistijche Weise wird stellen können. Die Frage, ob die Revolution in der DDR einen Dritten Weg hätte beschreiten können, wird auch dann, wenn diese Interpretation auf richtigen Prämissen beruht, unbeantwortet bleiben müssen; denn die einzige Möglichkeit einer Überprüfung hätte in der Praxis eines durch Volkswillen legitimierten und »mit ein wenig Phantasie und Pragmatismus« unternommenen Versuchs bestanden. Die Masse der Bevölkerung hat sich inzwischen unmißverständlich dagegen entschieden. Nach dem vierzigjährigen Desaster kann man die Gründe verstehen. Diese Entscheidung verdient Respekt, erst recht von Seiten derer, die von den Folgen eines möglicherweise negativen Ausgangs personlich nicht betroffen wären. Wenden wir uns deshalb den drei sozialismuskritischen Deutungsmustern zu. Auch auf dieser Seite wird die extreme Position nicht sehr Überzeugend artikuliert. Aus der Sicht einer postmodernistischen Vernunftkritik stellen sich die weitgehend unblutigen Umwälzungen als eine Revolution dar, die das Zeitalter der Revolutionen beendet - ein Gegenstuck zur Franzosischen Revolution, die den aus Vernunft geborenen Terror ohne Schrecken an der Wurzel Überwindet. Die unruhigen Träume der Vernunft, aus denen seit zweihundert Jahren die Dämonen aufsteigen, sind ausgeträumt. Die Vernunft erwacht nicht - sie selbst ist der Alptraum, der mit dem Erwachen zerfällt. Auch hier passen freilich die Tatsachen nicht recht in das, diesmal idealistisch von Nietzsche und Heidegger inspirierte, Geschichtsschema, wonach die Neuzeit ausschließlich im Schatten einer sich selbst ermächtigenden Subjektivität steht. Die nachholende Revolution entlehnte ja ihre Mittel und ihre Maßstäbe sehr wohl dem bekannten Repertoire der neu129
zeitlichen Revolutionen. Erstaunlicherweise war es die Prasen? der auf Plätzen versammelten, in Straßen mobilisierten Massen die ein bis an die Zähne bewaffnetes Regime entmachtet hat. £s war jener schon totgeglaubte Typus der spontanen Massenaktion der so vielen Revolutionstheoretikern als Vorbild gedient hatte Zum ersten Mal vollzog diese sich freilich in dem nicht klassischen Raum einer weltweiten, durch die stets gegenwartigen elektronischen Medien hergestellten Arena von teilnehmenden parteinehmenden Zuschauern. Und wiederum waren es die vernunftrechtlichen Legitimationen der Volkssouveränität und der Menschenrechte, aus denen die revolutionären Forderungen ihre Kraft bezogen. So dementierte die beschleunigte Geschichte das Bild von der stillgestellten Posthistoire; sie zerstörte auch das postmodern ausgemalte Panorama einer von allen Legitimationen losgerissenen, universal ausgebreiteten, kristallin erstarrten Bürokratie. Eher kundigt sich im revolutionären Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus ein Ausgreifen der Moderne an - der Geist des Okzidents holt den Osten ein, nicht nur mit der technischen Zivilisation, sondern auch mit seiner demokratischen Tradition. Aus antikommunistischer Sicht bedeuten die revolutionären Veränderungen im Osten die siegreiche Beendigung des 1917 von den Bolschewisten erklärten Weltbürgerkrieges: wiederum eine gegen ihren eigenen Ursprung gewendete Revolution. Der Ausdruck »Weltbürgerkrieg« übersetzt den »internationalen Klassenkampf« aus der Sprache der Gesellschaftstheorie in die Sprache einer hobbistischen Machttheorie. Carl Schmitt hat diese Denkfigur mit einem geschichtsphilosophischen Hintergrund versehen: danach soll das mit der Französischen Revolution selbst zur Herrschaft gelangte geschichtsphilosophische Denken, mit seinem utopistischen Sprengsatz der universalistischen Moral, die Antriebskraft bilden für einen von intellektuellen Eliten angezettelten und schließlich von innen nach außen gestülpten, auf die internationale Bühne projizierten Bürgerkrieg. Zur Zeit des ausbrechenden Ost-West-Konfliktes ist dieser Ansatz zu einer Theorie des Weltbürgerkrieges ausgebaut worden.' In der Absicht entworfen, den Leninismus zu entlarven, bleibt sie dem Original als das seitenverkehrte Spiegelbild verhaftet. Aber selbst unter den 3 H. Kesting, Geicbichtspbüosopbie und Weltburgerkneg, Heidelberg 1959 130
*Jänden eines gelernten Historikers wie Ernst Noke, der nun die jjiese vom Ende des Weltbürgerkriegs verkündet (Frankfurter allgemeine Zeitung vom 17. Februar 1990), sperrt sich das geschichtliche Material gegen den ideologischen Zugriff. Denn die Stilisierung von Weltbürgerkriegsparteien macht es nötig, daß so Heterogenes wie die von Mussolini und Hitler, von Churchill und Roosevelt, von Kennedy und Reagan verkörperten Politiken über denselben antikommunistischen Leisten geschlagen werden. pie Denkfigur des Weltbürgerkrieges verfestigt nur eine der heißen Phase des Kalten Krieges entliehene Situationsdeutung zu einer Strukturbeschreibung, die dann polemisch imprägniert und einer ganzen Epoche übergestülpt wird. Bleibt die liberale Deutung, die zunächst nur registriert, daß sich mit dem Staatssozialismus die letzten Formen totalitärer Herrschaft in Europa aufzulösen beginnen. Eine Epoche, die mit dem Faschismus begann, geht zu Ende. Mit dem demokratischen Rechtsstaat, der Marktokonomie und dem gesellschaftlichen Pluralismus setzen sich liberale Ordnungsvorstellungen durch. Damit scheint sich die verfrühte Voraussage eines Endes der Ideologien endlich zu erfüllen (Daniel Bell und Ralf Dahrendorf \nDie Zeit vom 29. Dez. 1989). Man muß nicht der Totalitarismustheorie anhängen und kann durchaus die strukturgeschichthehen Differenzierungen zwischen autoritärer, faschistischer, nationalsozialistischer, stalinistischer und nachstalinistischer Herrschaft mit scharfen Akzenten versehen, um gleichwohl im Spiegel westlicher Massendemokratien auch die Gemeinsamkeiten totalitärer Herrschaftsformen zu erkennen. Wenn sich dieses Syndrom, nach Portugal und Spanien, nun auch in den europäischen Landern des bürokratischen Sozialismus auflöst, und wenn gleichzeitig die Ausdifferenzierung einer Marktökonomie aus dem politischen System einsetzt, liegt die These eines weiteren, nun nach Mittel- und Osteuropa ausgreifenden Modernisierungsschubes nahe. Die liberale Deutung ist nicht falsch. Aber sie sieht den Balken im eigenen Auge nicht. Es gibt nämlich triumphierende Varianten dieser Deutung, die dem ersten Abschnitt des Kommunistischen Manifests entlehnt sein könnten, wo Marx und Engels die revolutionäre Rolle des Bürgertums hymnisch feiern: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barba'3 1
nschsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihre Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit dem sie den hartnackigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt alle, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde.« - »Und wie in der materiellen, so in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nation werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«4 Die Stimmung, die aus den Antworten der investitionseifrigen Kapitalisten auf die letzte Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages und aus den entsprechenden Wirtschaftskommentaren spricht, könnte kaum besser charakterisiert werden. Nur in dem einschränkenden Adjektiv der »sogenannten« Zivilisation verrat sich ein Vorbehalt. Bei Marx handelt es sich freilich nicht um den deutschen Vorbehalt für eine der Zivilisation angeblich überlegene Kultur, sondern um den tiefergehenden Zweifel, ob sich eine Zivilisation als ganze in den Strudel der Antriebskräfte eines ihrer Subsysteme überhaupt hineinziehen lassen darf - nämlich in den Sog eines dynamischen, wie wir heute sagen, rekursiv geschlossenen Wirtschaftssystems, dessen Funktionsfähigkeit und Selbststabilisierung davon abhängt, daß es alle relevanten Informationen allein in der Sprache des ökonomischen Wertes aufnimmt und verarbeitet. Marx meinte, daß jede Zivilisation, die sich den Imperativen der Selbstverwertung des Kapitals unterwirft, den Keim der Zerstörung in sich trägt, weil sie sich damit gegen alle Relevanzen blind macht, die sich nicht in Preisen ausdrücken lassen. Gewiß, heute ist der Trager einer Expansion, die Marx damals so emphatisch auf den Schild gehoben hat, nicht mehr die Bourgeoisie von 1848, nicht mehr eine im nationalen Rahmen herrschende soziale Klasse, sondern ein von anschaulich identifizierbaren Klassenstrukturen abgelöstes, anonym gewordenes, weltweit operierendes Wirtschaftssystem. Und unsere Gesellschaften, die in diesem System den »Wirtschaftsgipfel« erklommen haben, 4 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 466 112
"jhneln nicht mehr dem Manchester-England, dessen Elend Engels einst so drastisch beschrieben hat. Diese Gesellschaften haben nämlich inzwischen mit dem sozialstaatlichen Kompromiß auf die starken Worte des Kommunistischen Manifests und die zähen Kämpfe der europaischen Arbeiterbewegung eine Antwort gefunden. Allein, der ironische Umstand, daß Marx für eine Situation, wo das anlagesuchende Kapital auf die staatssozialistisch ausgelaugten Märkte drängt, immer noch die besten Zitate liefert, stimmt ebenso nachdenklich wie die Tatsache, daß Marxens Zweifel gleichsam in die Strukturen der fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften selbst inkorporiert worden ist. Bedeutet diese Tatsache, daß sich der »Marxismus als Kritik«5 ebenso erledigt hat wie der »real existierende Sozialismus«? Aus antikommunistischer Sicht hat die sozialistische Tradition, gleichviel ob in der Theorie oder in der Praxis, von Anbeginn nur Unheil ausgebrütet. Aus der Sicht der Liberalen ist alles, was vom Sozialismus brauchbar war, im sozialdemokratischen Zeitalter verwirklicht worden. Sind also mit der Liquidierung des osteuropäischen Staatssozialismus auch die Quellen versiegt, aus denen die westeuropäische Linke ihre theoretischen Anregungen und normativen Orientierungen geschöpft hat? Der enttäuschte Biertnann, dessen Talent zur Utopie heute in Melancholie umschlägt, gibt eine dialektische Antwort: »Gib her den Spaten. Laßt uns das Riesenkadaverlein endlich begraben. Selbst Christus mußte erst mal drei Tage unter die Erde, bevor ihm das Kunststuck gelang: nebbich die Auferstehung!« (Die Zeit vom 2. März 1990). Versuchen wir es mit etwas weniger Dialektik.
II Die nicht-kommunistische Linke hierzulande hat keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen, aber sie kann auch nicht so tun, als sei gar nichts passiert. Sie braucht sich keine Kontaktschuld für den Bankrott eines Staatssozialismus aufschwätzen zu lassen, den sie stets kritisiert hat. Aber sie muß sich fragen, wie lange eine Idee der Wirklichkeit standhält. 5 Dies ist der Titel eines Aufsatzes, in dem ich mich mit dem Marxismus zum ersten Mal systematisch befasse (i960) in: J. Habermas, Theorie und Praxis, erw. Auflage Frankfurt/M. 1971, S. 228ff. 133
In der Rede vom »real existierenden« Sozialismus steckte ja bei denen, die diesen spröden Pleonasmus erfunden haben, auch der Trotz des Realpolitikers: lieber den Spatzen in der Hand. Genügt es dann, darauf zu beharren, daß die Taube auf dem Dach einer anderen Species angehört - und sich eines Tages schon zu uns niederlassen wird? Auch Ideale brauchen, erwidert die andere Seite einen empirischen Bezug, sonst verlieren sie ihre handlungsorientierende Kraft. Das Falsche an diesem Dialog, den der Idealist nur verlieren kann, ist die Prämisse: als sei der Sozialismus eine der Wirklichkeit abstrakt gegenüberstehende Idee, der die Ohnmacht des Sollens (wenn nicht gar die menschenverachtenden Folgen jedes denkbaren Versuchs ihrer Realisierung) vor Augen geführt werden kann. Gewiß verbindet sich mit diesem Begriff die normative Intuition eines gewaltlosen Zusammenlebens, das individuelle Selbstverwirklichung und Autonomie nicht auf Kosten von, sondern zusammen mit Solidarität und Gerechtigkeit ermöglicht. In der sozialistischen Tradition sollte aber diese Intuition nicht im direkten Zugriff einer normativen Theorie erklart und als Ideal gegenüber einer uneinsichtigen Realität aufgerichtet werden; vielmehr sollte sie eine Perspektive festlegen, aus der die Wirklichkeit kritisch betrachtet und analysiert wird. Die normative Intuition sollte sich im Laufe der Analyse sowohl entfalten wie korrigieren und auf diesem Wege mindestens indirekt an der Wirklichkeitserschließenden Kraft und dem empirischen Gehalt der theoretischen Beschreibung auch bewähren können. Anhand dieses Maßstabes hat sich im Diskurs des westlichen Marxismus6 seit den zwanziger Jahren eine schonungslose Selbstkritik vollzogen, die von der ursprünglichen Gestalt der Theorie nicht viel übriggelassen hat. Während die Praxis ihre Urteile sprach, hat sich auch in der Theorie die Wirklichkeit (und das Monströse des 20. Jahrhunderts) mit Argumenten zur Geltung gebracht. Erinnern will ich nur an einige Aspekte, unter denen sich gezeigt hat, wie sehr Marx und seine unmittelbaren Nachfolger, bei aller Kritik am Frühsozialismus, dem Entstehungskontext und dem kleinräumigen Format des frühen Industrialismus verhaftet geblieben sind. (a) Die Analyse blieb auf Erscheinungenfixiert,die sich innerhalb des Horizonts der Arbeitsgesellschaft erschließen. Mit der 6 Einen Überblick gibt M. Jay, Marxism and Totality, Berkeley 1984 134
fS^ahl dieses Paradigmas geht ein enger Begriff von Praxis in Führung, so daß der industriellen Arbeit und der Entfaltung technischer Produktivkräfte a priori eine unzweideutig emanzipatorische Rolle zuwächst. Die Organisationsformen, die sich mit der Konzentration der Arbeitskräfte in den Fabriken herausbilden, sollen zugleich die Infrastruktur für den solidarischen Zusammenschluß, die Bewußtseinsbildung und die revolutionäre Tätigkeit der Produzenten bilden. Mit diesem produktivistischen Ansatz wird aber der Blick gleichermaßen von den Ambivalenzen fortschreitender Naturbeherrschung wie von den sozialintegrativen Kräften diesseits und jenseits der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit abgelenkt. (b) Die Analyse war ferner einem holistischen Verständnis der Gesellschaft verpflichtet: eine im Ursprung sittliche Totalität wird durch die Klassenspaltung, in der Moderne durch die versachlichende Gewalt des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses, zerrissen und verstümmelt. Die in Hegels Grundbegriffen durchbuchstabierte Utopie der Arbeitsgesellschaft inspiriert das Hintergrundverständnis einer in wissenschaftlichem Geiste durchgeführten Kritik der Politischen Ökonomie. Deshalb kann sich der Selbstverwertungsprozeß des Kapitals im ganzen als ein Zauber darstellen, der sich, wenn er erst einmal gebrochen sein wird, in sein sachliches, dann rationaler Verwaltung zugängliches Substrat auflösen kann. Auf diese Weise macht sich die Theorie blind für den systemischen Eigensinn einer ausdifferenzierten Marktökonomie, deren Steuerungsfunktionen nicht durch administrative Planung ersetzt werden können, ohne das in modernen Gesellschaften erreichte Differenzierungsniveau aufs Spiel zu setzen. (c) Die Analyse blieb auch einem konkretistischen Verständnis von Konflikten und gesellschaftlichen Akteuren insoweit verhaftet, wie sie mit sozialen Klassen oder historischen Großsubjekten als den Trägern des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft rechnete. Diesem Zugriff entziehen sich komplexe Gesellschaften, in denen keine linearen Zusammenhänge bestehen zwischen sozialen, subkulturellen und regionalen Oberflächenstrukturen einerseits und den abstrakten Tiefenstrukturen einer systemisch ausdifferenzierten (mit der intervenierenden Staatsverwaltung komplementär verschränkten) Ökonomie andererseits. Demselben Fehler entspringt eine Staatstheorie, die mit noch so vielen Hilfshypothesen nicht gerettet werden kann. 135
(d) Praktisch folgenreicher als die genannten Defizite war das beschrankte funktionalistische Verständnis des demokratischen Rechtsstaates, den Marx in der Dritten Republik verwirklicht sah und verächtlich als »Vulgärdemokratie« abgetan hat. Weil Marx die demokratische Republik als die letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft begriff, auf deren Boden »der Klassenkampf definitiv auszufechten ist«, behielt er zu ihren Institutionen ein rein instrumentelles Verhältnis. Aus der Kritik des Gothaer Programms geht gewiß hervor, daß Marx die kommunistische Gesellschaft als die einzig mögliche Verwirklichung von Demokratie versteht. Wie schon in der Kritik des Hegeischen Staatsrechtes heißt es hier, daß Freiheit allein darin bestehe, »den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln«. Aber kein Wort hat er für die Institutionalisierung der Freiheit übrig; seine institutionelle Phantasie reicht über die für die »Übergangsperiode« vorgesehene Diktatur des Proletariats nicht hinaus. Die Saint-Simonistische Illusion einer »Verwaltung von Sachen« läßt den erwarteten Bedarf an demokratisch geregelter Konfliktaustragung so weit schrumpfen, daß dieser anscheinend der spontanen Selbstorganisation eines rousseauistischen Volkes überlassen werden kann. (e) Schließlich verharrte die Analyse in den Bahnen jener Hegelschen Theoriestrategie, die den nicht-fallibilistischen Erkenntnisanspruch der philosophischen Tradition mit dem neuen historischen Denken zusammenführen sollte. Die Historisierung der Wesenserkenntnis verlagert aber die Teleologie nur vom Sein in die Geschichte. Der heimliche Normativismus geschichtsphilosophischer Annahmen bleibt auch in der naturalistischen Gestalt evolutionistischer Fortschrittskonzeptionen erhalten. Er hat nicht nur für die ungeklärten normativen Grundlagen der Theorie selber mißliche Konsequenzen. Zum einen verdeckt eine solche Theorie (unabhängig von ihren spezifischen Inhalten) den Kontingenzspielraum, innerhalb dessen sich eine theoriegeleitete Praxis unvermeidlich bewegt. Indem sie das Risikobewußtsein derer, die die Folgen des Handelns zu tragen haben, absorbiert, ermutigt sie überdies zu einem fragwürdigen Avantgardismus. Zum anderen traut sich eine Totalitätserkenntnis dieser Art klinische Aussagen über die entfremdete oder nichtverfehlte Qualität von Lebensformen im ganzen zu. Daraus erklart sich die Neigung, den Sozialismus als eine geschichtlich privilegierte Gestalt 136
'konkreter Sittlichkeit zu begreifen, obwohl eine Theorie bestenfalls notwendige Bedingungen für emanzipierte Lebensformen •jugeben kann, über deren konkrete Ausgestaltung sich die Beteiligten selbst erst zu verstandigen hätten. (f ) Wenn man sich diese Defizite und Fehler, die in der Theorietradition von Marx und Engels bis Kautsky mehr oder weniger Stark ausgeprägt waren, vor Augen fuhrt, versteht man besser, wie der Marxismus in der von Stalin kodifizierten Gestalt zur Legitimationsideologie einer schlechthin unmenschlichen Praxis - eines »großangelegten Tierexperiments an lebendigen Menschen« (Biermann) verkommen konnte. Freilich läßt sich der Schritt zum Sowjetmarxismus, den Lenin in der Theorie getan und in der Praxis eingeleitet hat, aus der Marxschen Lehre nicht rechtfertigen;7 aber die Schwächen, die wir unter (a) bis (e) diskutiert haben, zählen immerhin zu den (freilich weder notwendigen noch hinreichenden) Bedingungen für einen Mißbrauch, ja für die vollständige Verkehrung ihrer ursprünglichen Intention. Demgegenüber hat sich der sozialdemokratische Reformismus, der wichtige Anstöße auch von Austromarxisten wie Karl Renner und Otto Bauer erhalten hat, schon relativ früh von einem holistischen Gesellschaftsverständnis und der Befangenheit gegenüber dem systemischen Eigensinn des Marktes, von einer dogmatischen Auffassung der Klassenstruktur und des Klassenkampfes, von einer falschen Einstellung gegenüber dem normativen Gehalt des demokratischen Rechtsstaates und von evolutionistischen Hintergrundannahmen gelöst. Das tagespolitische Selbstverständnis blieb freilich bis in die jüngste Zeit vom produktivistischen Paradigma der Arbeitsgesellschaft geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die pragmatisch gewordenen, von Theorien abgekoppelten reformistischen Parteien ihre unbestreitbaren Erfolge bei der Durchsetzung eines sozialstaatlichen Kompromisses erzielt, der bis in die Gesellschaftsstrukturen eingedrungen ist. Die Tiefe dieses Eingriffes ist von der radikalen Linken stets unterschätzt worden. Allerdings ist die Sozialdemokratie überrascht worden vom systemischen Eigensinn der staatlichen Macht, der sie sich wie eines neutralen Instrumentes glaubte bedienen zu können, um eine 7 H. Marcuse, Die GesellschaftJehre des sowjetischen Marxismus, Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1989 •37
sozialstaatliche Umversalisierung der Burgerrechte durchzusetzen. Nicht der Sozialstaat hat sich als eine Illusion erwiesen, sondern die Erwartung, mit administrativen Mitteln emanzipierte Lebensformen zuwege bringen zu können. Im übrigen werden die Parteien über dem Geschäft, die soziale Befriedung durch staatliche Interventionen herbeizuführen, selber von einem expandierenden Staatsapparat mehr und mehr aufgesogen. Mit dieser Verstaatlichung der Parteien verlagert sich aber die demokratische Willensbildung in ein politisches System, das sich weitgehend selbst programmiert - was die von Stasi und Einparteienherrschaft befreiten Bürger der DDR während des jüngsten, von den Wahlmanagern des Westens in Regie genommenen Wahlkampfes soeben mit Erstaunen registrieren. Die Massendemokratie westlichen Zuschnitts ist von Zügen eines gesteuerten Legitimationsprozesses geprägt. So zahlt die Sozialdemokratie für ihre Erfolge einen doppelten Preis. Sie verzichtet auf radikale Demokratie und lernt, mit den normativ unerwünschten Folgen des kapitalistischen Wachstums zu leben - auch mit jenen systemspezifischen Risiken des Arbeitsmarktes, die sozialpolitisch »abgefedert«, aber nicht beseitigt werden. Dieser Preis hat in Westeuropa eine nichtkommunistische Linke links von der Sozialdemokratie am Leben erhalten. Sie tritt in vielen Varianten auf und hält die Erinnerung daran wach, daß mit Sozialismus einmal mehr gemeint war als staatliche Sozialpolitik. Wie jedoch die festgehaltene Programmatik des Selbstverwaltungssozialismus zeigt, fallt es dieser Linken schwer, sich vom holistischen Gesellschaftskonzept zu trennen und von der Vorstellung eines von Markt auf Demokratie umgestellten Produktionsprozesses abzulassen. Auf dieser Seite blieb der klassische Zusammenhang von Theorie und Praxis am ehesten intakt. Um so eher gerieten die Theorie ins orthodoxe und die Praxis ins sektiererische Fahrwasser. Wie die politische Praxis, so ist auch die Theorietradition langst von der institutionellen Differenzierung eingeholt worden. An der Seite anderer Forschungstraditionen ist auch die marxistische, mehr oder weniger marginal, zum Bestandteil des akademischen Betriebs geworden. Diese Akademisierung hat zu den fälligen Revisionen und zur Kreuzung mit anderen theoretischen Ansätzen gefuhrt. Die fruchtbare Konstellation von Marx und Max Weber hat schon während der Weimarer Zeit die soziologische Diskus138
•jon bestimmt. Seitdem hat sich die Selbstkritik des westlichen Marxismus weitgehend innerhalb der Universitäten vollzogen and einen durch die wissenschaftliche Argumentation gefilterten Pluralismus hervorgebracht. Interessante und konträre Forschungsansatze wie die von P. Bourdieu, C. Castoriadis oder A. Tourraine, von J. Elster oder A. Giddens, C. Offe oder U. Preuß verraten etwas von der Virulenz des Anregungspotentials, das die von Marx ausgehende Tradition immer noch darstellt. Ihr ist ein jtereoskopischer Blick eingepflanzt, der weder bloß an der Oberfläche der Modernisierungsprozesse haftenbleibt, noch nur auf die Rückseite des Spiegels der instrumenteilen Vernunft gerichtet ist, sondern für die Ambivalenzen der die Gesellschaft zerfurchenden Rationalisierungsprozesse empfindlich macht. Furchen zerreißen die naturwüchsige Decke und lockern zugleich den Boden. Viele haben von Marx, und jeder auf seine Weise, gelernt, wie Hegels Dialektik der Aufklärung in ein Forschungsprogramm übersetzt werden kann. Dabei bilden jene kritischen Vorbehalte, die ich unter (a) bis (e) aufgezählt habe, die Plattform, von der aus heute Anregungen aus der marxistischen Tradition nur noch aufgenommen werden können. Wenn dies in wenigen Strichen die Situation kennzeichnet, in der sich die nichtkommunistische Linke selbst wahrnehmen konnte, als Gorbatschow den Anfang vom Ende des real existierenden Sozialismus einläutete - wie haben die dramatischen Ereignisse des vergangenen Herbstes diese Szene verändert? Müssen sich die Linken auf den moralischen Standpunkt zurückziehen und den Sozialismus nur noch als Idee pflegen? Diesen »Idealsozialismus« gesteht ihnen Ernst Nolte als »korrigierenden und richtungweisenden Grenzbegriff« sogar als »unverzichtbar« zu, freilich nicht ohne sogleich hinzuzufügen: »Wer diesen Grenzbegriff realisieren mochte, der führt die Gefahr des Ruckfalls oder des Sturzes in den >realen Sozialismus< schlimmen Angedenkens herauf, auch wenn er mit noch so edlen Worten gegen den Stahmsmus zu Felde zieht.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1990) Wenn man diesem freundlichen Rat Folge leisten wollte, würde der Sozialismus zu einer privatistisch verstandenen regulativen Idee entschärft, die der Moral einen Platz jenseits der politischen Praxis anweist. Konsequenter als diese Manipulation am Begriff des Sozialismus ist dessen Preisgabe. Muß man mit Biermann sagen: »Der Sozialismus ist kein Ziel mehr« ? !
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Sicher dann, wenn man ihn romantisch-spekulativ im Sinne der »Pariser Manuskripte« versteht, wonach die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln »das aufgelöste Ratsei der Geschichte« bedeutet, nämlich die Herstellung solidarischer Lebensverhältnisse, unter denen der Mensch nicht langer vom Produkt seiner Arbeit, von den Mitmenschen und von sich selbst entfremdet wird. Die Aufhebung des Privateigentums bedeutet dem romantischen Sozialismus die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften - die wahre Resurrektion der Natur und den durchgeführten Naturalismus des Menschen die Auflösung des Widerstreits zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Aber nicht erst die jüngste Kritik am falschen Totalitätsdenken der Versöhnungsphilosophie, nicht erst Solschenizyn, mußten uns eines Besseren belehren. Langst lagen die Wurzeln bloß, die der romantische Sozialismus im Entstehungskontext des frühen Industrialismus geschlagen hatte. Die Idee einer freien Assoziation von Produzenten war von Anbeginn mit sehnsüchtigen Bildern aus den familialen, nachbarschafthchen und korporativen Vergemeinschaftungen einer bäuerlich-handwerklichen Welt besetzt worden, die damals unter der hereinbrechenden Gewalt der Konkurrenzgesellschaft zerbrach und im Prozeß der Auflösung eben auch als Verlust erfahren wurde. Mit »Sozialismus« verband sich seit diesen Anfangen die Idee der Aufhebung jener aufgeriebenen Solidargemeinschaften; unter den Arbeitsbedingungen und in den neuen Verkehrsformen des Frühindustrialismus sollten die sozialintcgrativen Kräfte der versinkenden Welt transformiert und gerettet werden. Das Janusgesicht des Sozialismus, über dessen normative Gehalte Marx sich spater ausgeschwiegen hat, weist ebenso in eine idealisierte Vergangenheit zurück wie nach vorn in eine von industrieller Arbeit beherrschte Zukunft. In dieser konkretistischen Lesart ist Sozialismus gewiß kein Ziel mehr, und nie ist er ein realistisches Ziel gewesen. Angesichts komplexer Gesellschaften müssen wir die normativen Konnotationen, die diese begriffliche Prägung des 19. Jahrhunderts mit sich führt, einer radikalen Abstraktion unterziehen. Gerade wenn man an der Kritik naturwüchsiger, nicht-legitimierter Herrschaft und verschleierter sozialer Gewalt festhalt, rücken jene Kommunikationsbedingungen ins Zentrum, unter denen sich ein berech140
«êtes Vertrauen in die Institutionen der vernünftigen Selbstorganisation einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger herstellen kann. Gewiß, Solidarität kann konkret nur im Kontext angestammter oder kritisch angeeigneter, insofern selbstgewählter, aber stets partikularer Lebensformen erfahren werden. Aber im Rahmen einer politisch großräumig integrierten Gesellschaft, erst recht im Horizont eines weltweiten Kommunikationsnetzes, ist solidarisches Zusammenleben selbst seiner Idee nach nur in abstrakter Form zu haben, nämlich in Gestalt einer berechtigten intersubjektiv geteilten Erwartung. Alle müßten von den institutionalisierten Verfahren einer inklusiven Meinungs- und demokratischen Willensbildung erwarten dürfen, daß diese Prozesse öffentlicher Kommunikation die begründete Vermutung von Vernünftigkeit und Wirksamkeit für sich haben. Die Vermutung der Vernünftigkeit stützt sich auf den normativen Sinn demokratischer Verfahren, die sicherstellen sollen, daß alle gesellschaftlich relevanten Fragen zum Thema gemacht, mit Gründen und Einfallsreichtum behandelt und zu Problemlösungen verarbeitet werden können, die - bei gleicher Achtung für die Integrität jedes Einzelnen und jeder Lebensform - im gleichmäßigen Interesse aller liegen. Die Vermutung der Wirksamkeit berührt die materialistische Grundfrage, in welchem Sinne sich eine systemisch ausdifferenzierte Gesellschaft ohne Spitze und Zentrum überhaupt noch selbst organisieren kann, nachdem das »Selbst« dieser Selbstorganisation nicht mehr in Makrosubjekten, also in den sozialen Klassen der Klassentheorie oder im Volk der Volkssouveränität, verkörpert vorgestellt werden kann. Der Witz einer abstrakten Fassung solidarischer Beziehungen besteht darin, jene im kommunikativen Handeln vorausgesetzten Symmetrien gegenseitiger Anerkennung, die Autonomie und Individuierung der vergesellschafteten Subjekte erst möglich machen, von der konkreten Sittlichkeit naturwüchsiger Interaktionsverhältnisse abzulösen und in den reflexiven Formen der Verständigung und des Kompromisses zu verallgemeinern sowie durch rechtliche Institutionalisierung zu sichern. Das »Selbst« dieser sich selbst organisierenden Gesellschaft verschwindet dann in jenen subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiv geprägten Meinungs- und Willensbildung so regulieren sollen, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Vernunft für sich haben. Eine solche intersubjektivistisch aufgelöste, an141
onym gewordene Volkssouveränität zieht sich in die demokratischen Verfahren und in die anspruchsvollen kommunikativen Voraussetzungen ihrer Implementierung zurück.8 Siefindetihren ortlosen Ort in den Interaktionen zwischen rechtsstaatlich institutionalisierter Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten. Ob allerdings komplexe Gesellschaften jemals von der Haut einer derart prozeduralisierten Volkssouveränität umspannt werden können; oder ob das Netzwerk der intersubjektiv geteilten und kommunikativ strukturierten Lebenswelten definitiv gerissen ist, so daß die systemisch verselbständigte Ökonomie und mit ihr eine sich selbst programmierende Staatsverwaltung in lebensweltliche Horizonte nicht mehr eingeholt werden können, auch nicht mehr auf Wegen einer noch so indirekten Steuerung das ist eine Frage, die theoretisch nicht zureichend beantwortet werden kann und daher in eine praktisch-politische Frage gewendet werden muß. Das war übrigens auch die Grundfrage eines Historischen Materialismus, der ja seine Annahme über das Verhältnis von Basis und Überbau nicht als ontologische Aussage über das gesellschaftliche Sein verstanden hat, sondern als Spur zu einem Siegel, das erbrochen werden muß, wenn die Formen eines humanen Umgangs nicht länger durch eine entfremdete, zur Gewalt geronnene Sozialität verhext werden sollen.
III Was nun das Verständnis dieser Intention anbetrifft, so enthalten die revolutionären Veränderungen, die sich unter unseren Augen vollziehen, eine unzweideutige Lehre: Komplexe Gesellschaften können sich nicht reproduzieren, wenn sie nicht die Logik der Selbststeuerung einer über Märkte regulierten Wirtschaft intakt lassen. Moderne Gesellschaften differenzieren ein über das Geldmedium gesteuertes ökonomisches System auf der gleichen Ebene aus wie das administrative System - wie immer auch deren verschiedene Funktionen ergänzend aufeinander bezogen sind; keines darf dem anderen subordiniert werden.9 Wenn in der So8 J. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, in: Forum für Philosophie (Hg.), Die Ideen von 1789, Frankfurt/M. 1989, S. 7-36 9 Das ist keine »realpolitische Konzession«, wie manche meiner linken Kriti142
«rjetunion nicht etwas ganz Unerwartetes passiert, werden wir nicht mehr erfahren, ob sich die Produktionsverhältnisse des Staatssozialismus über den Dritten Weg der Demokratisierung alif diese Bedingung hätten einspielen können. Aber auch die Umrüstung auf die Bedingungen des kapitalistischen Weltmarktes bedeutet natürlich nicht eine Rückkehr zu jenen Produktionsverhältnissen, zu deren Überwindung die sozialistischen Bewegungen einst angetreten sind. Das wäre eine Unterschätzung des Formwandels der kapitalistischen Gesellschaften, insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Heute bildet ein sozialstaatlicher Kompromiß, der sich in den Gesellschaftsstrukturen festgesetzt hat, die Grundlage, von der in unseren Breiten jede Politik ausgehen muß. Das drückt sich in einem Konsens über die gesellschaftspolitischen Ziele aus, den C. Offe mit ironischen Worten kommentiert: »Je trauriger und auswegloser sich das Bild des real existierenden Sozialismus ausnimmt, desto mehr sind wir alle zu >Kommunisten< geworden, sofern wir uns die Besorgnis um öffentliche Angelegenheiten und den Horror vor möglichen katastrophalen Fehlentwicklungen der globalen Gesellschaft nicht vollends abkaufen lassen.« (Die Zeit vom 8. Dez. 1989) Es ist ja nicht so, als sei auch nur eines unserer systemspezifisch erzeugten Probleme durch den Sturz der Mauer gelöst worden. Die Insensibilität des marktwirtschaftlichen Systems gegenüber ihren externen, auf die sozialen und natürlichen Umwelten abgewälzten Kosten säumt bei uns nach wie vor die Pfade eines krisenhaften ökonomischen Wachstums mit den bekannten Disparitäten und Marginalisierungen im Innern, mit den ökonomischen Rückständen, sogar Rückentwicklungen, also mit den barbarischen Lebensverhältnissen, kulturellen Enteignungen und Hungerkatastrophen in der Dritten Welt, nicht zuletzt mit den weltweiten Risiken eines überlasteten Naturhaushaltes. Die soziale und ökologische Bändigung der Marktwirtschaft ist die Allerweltsformel, zu der sich das sozialdemokratische Ziel der sozialen Bändigung des Kapitalismus zustimmungspflichtig verallgemeinert hat. Sogar die dynamische Lesart vom ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft findet über den Kreis von Grünen und Sozialdemokraten hinaus Zuker meinen, sondern die Konsequenz eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes, der hohstische Konzeptionen überwindet. r
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Stimmung. Auf dieser Basis entbrennt heute der Streit. Es geht um die Operationahsierung, um den Zeithorizont und die Mittel zur Realisierung der gemeinsamen, jedenfalls rhetorisch bekräftigten Ziele. Konsens besteht auch über den Politikmodus einer von außen ansetzenden indirekten Einflußnahme auf die Mechanismen der Selbststeuerung eines Systems, dessen Eigensinn nicht durch direkten Zugriff gebrochen werden darf. Darüber hat der Streit über die Eigentumsformen seine dogmatische Bedeutung verloren. Aber die Verlagerung des Kampfes von der Ebene der gesellschaftspolitischen Ziele auf die Ebene ihrer Operationalisierung, auf die Ebene der Wahl entsprechender Politiken und ihrer Durchführung nimmt diesem nicht den Charakter einer grundsätzlichen Auseinandersetzung. Nach wie vor besteht ein scharfer Konflikt zwischen denen, die aus den Systemimperativen der Wirtschaft Sanktionen gegen alle über den Status quo hinauszielenden Forderungen schmieden, und jenen, die sogar an dem Namen des Sozialismus festhalten möchten, bis der Geburtsfehler des Kapitalismus, nämlich die Abwälzung der gesellschaftlichen Kosten von Systemungleichgewichten auf das private Schicksal der Arbeitslosigkeit, beseitigt,10 die konkrete Gleichstellung der Frauen erreicht und die Dynamik der Zerstörung von Lebenswelt und Natur gestoppt ist. Aus der Sicht dieses radikalen Reformismus erscheint das ökonomische System weniger als Tempelbezirk denn als Testgelände. Auch der Sozialstaat, der dem besonderen Charakter der Ware Arbeitskraft Rechnung trägt, ist aus dem Versuch hervorgegangen, die Belastbarkeit des ökonomischen Systems zu prüfen, und zwar zugunsten gesellschaftlicher Bedurfnisse, gegenüber denen die Rationalität betriebswirtschaftlicher Investitionsentscheidungen unempfindlich ist. Das Sozialstaatsprojekt ist allerdings inzwischen reflexiv geworden; die Nebenfolgen von Verrechtlichung und Bürokratisierung haben dem scheinbar neutralen Mittel administrativer Macht, mit der die Gesellschaft auf sich selbst einwirken wollte, die Unschuld geraubt." Auch der interventionistische Staat muß 10 Zu Konzepten einer nicht langer lohnzentrierten Grundsicherung vgl jetzt G. Vobruba (Hg.), Strukturwandel der Sozialpolitik, Frankfuri/M 1990 11 J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, in: ders., Die Neue Unubeisichthchkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 141-166 (in diesem Band S. 27-49) 144
a«! »sozial gebändigt« werden. Jene Kombination von Macht £wj intelligenter Selbstbeschränkung, die den Pohtikmodus der Ljeenden Eindämmung und der indirekten Steuerung des kapitaijlßschen Wachstums kennzeichnet, muß noch hinter die Linien igt planenden Administration zurückgenommen werden. Für Jjeses Problem findet sich eine Lösung nur in einem veränderten Verhältnis zwischen autonomen Öffentlichkeiten einerseits, den jjker Geld und administrative Macht gesteuerten Handlungsbejeichen andererseits. Das erforderliche Reflexionspotential findet jich in jener kommunikativ verflüssigten Souveränität, die sich in jkn Themen, Gründen und Problemlösungsvorschlägen einer frei flottierenden öffentlichen Kommunikation zu Gehör bringt, jber in den Beschlüssen demokratisch verfaßter Institutionen eine feste Gestalt annehmen muß, weil die Verantwortung für praktisch folgenreiche Entscheidungen eine klare institutionelle Zurechnung verlangt. Die kommunikativ erzeugte Macht kann juf die Prämissen der Bewertungs- und Entscheidungsprozesse der öffentlichen Verwaltung ohne Eroberungsabsicht einwirken, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihren normativen Forderungen Geltung zu verschaffen: sie bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht zwar instrumenteil umgehen, die diese aber, soweit sie rechtsstaatlich verfaßt ist, nicht ignorieren darf. 1 Moderne Gesellschaften befriedigen ihren Bedarf an Steuerungsleistungen aus drei Ressourcen: Geld, Macht und Solidarität. Ein radikaler Reformismus ist nicht mehr an konkreten Schlüsselforderungen zu erkennen, sondern an der auf Verfahren gerichteten Intention, eine neue Gewaltenteilung zu fördern: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität soll sich über weit ausgefächerte demokratische Öffentlichkeiten und Institutionen gegen die beiden anderen Gewalten, Geld und administrative Macht, behaupten können. Das »Sozialistische« daran ist die Erwartung, daß sich die anspruchsvollen Strukturen gegenseitiger Anerkennung, die wir aus konkreten Lebensverhältnissen kennen, über die Kommunikationsvoraussetzungen inklusiver Meinungs- und demokratischer Willensbildungsprozesse auf die rechtlich und administrativ vermittelten sozialen Beziehungen übertragen. Lebensweltliche Bereiche, die darauf spezialisiert sind, tradierte Werte und kulturelles Wissen weiterzugeben, Gruppen zu integrieren und Heranwachsende zu sozialisieren, sind immer schon 145
auf Solidarität angewiesen. Aus denselben Quellen kommunika tiven Handelns muß auch eine radikal-demokratische Meinung und Willensbildung schöpfen, die auf die Grenzziehung und den Austausch zwischen jenen kommunikativ strukturierten Lebensbereichen auf der einen, Staat und Ökonomie auf der anderen Seite Einfluß nehmen soll. Ob freilich Konzepte für eine radikale Demokratie12 noch eine Zukunft haben, wird auch davon abhängen, wie wir Probleme wahrnehmen und definieren, welcher Typus von gesellschaftlicher Problemsicht sich politisch durchsetzt. Wenn sich in den öffentlichen Arenen der entwickelten Gesellschaften nur die Störungen als dringende Probleme darstellen, die die Systemimperative der Selbststabilisierung von Wirtschaft und Verwaltung beeinträchtigen, wenn diese Problembereiche unter systemtheoretischen Beschreibungen in Fuhrung gehen, erscheinen die in normativer Sprache formulierten Ansprüche der Lebenswclt nur noch als abhängige Variable. Politische und rechtliche Fragen wurden damit ihrer normativen Substanz beraubt. Dieser Kampf um eine Entmorahsierung öffentlicher Konflikte ist in vollem Gang. Heute steht er nicht mehr im Zeichen eines technokratischen Selbstverständnisses von Politik und Gesellschaft; wo gesellschaftliche Komplexität als schwarzer Kasten erscheint, scheint nurmehr systemopportunistisches Verhaken eine Orientierungschance zu bieten. Tatsächlich sind aber die großen Probleme, denen sich die entwickelten Gesellschaften konfrontiert sehen, kaum von der Art, daß sie ohne eine normativ sensibilisierte Wahrnehmung, ohne Moralisierung der öffentlichen Themen gelost werden können. Der klassische Verteilungskonflikt der Arbeitsgesellschaft war vor dem Hintergrund der Interessenlagen von Kapital und Arbeit so strukturiert, daß beide Seiten über Drohpotentiale verfügten. Auch der strukturell benachteiligten Seite blieb als Ultima ratio der Streik, also der organisierte Entzug von Arbeitskraft und damit die Unterbrechung des Produktionsprozesses. Heute ist das anders. In den institutionalisierten Verteilungskonflikten der Wohlstandsgesellschaften steht eine breite Majorität von Arbeitsplatzbesitzern einer Minderheit von heterogen zusammengewur11 U. Rodel, G. Frankenberg, H. Dubiel, Die demokratliche Frage, Frankfurt/M. 1989 146
feiten Randgruppen gegenüber, die über kein entsprechendes «jnktionspotential verfugen. Die Margmalisierten und Unterpri.jjegierten haben allenfalls die Stimme von Protestwählern, um jjjre Interessen zur Geltung zu bringen - wenn sie nicht resignieren und ihre Belastungen selbstdestruktiv mit Krankheiten, Kriminalität oder blinden Revolten verarbeiten. Ohne die Stimme der Majorität von Bürgern, die sich fragen und fragen lassen, ob sie denn in einer segmentierten Gesellschaft leben wollen, wo sie die Augen vor Obdachlosen und Bettlern, vor gettoisierten Stadtvierteln und verwahrlosten Regionen verschließen müssen, fehlt einem solchen Problem die Schubkraft, sei's auch nur für eine breitenwirksame öffentliche Thematisierung. Eine Dynamik der Selbstkorrektur kommt ohne Moralisierung, ohne eine unter normativen Gesichtspunkten vollzogene Interessenverallgemeinerung nicht in Gang. - Das asymmetrische Muster kehrt nicht nur in den Konflikten wieder, die sich an Asylanten und Minderheiten einer multikulturellen Gesellschaft entzünden. Dieselbe Asymmetrie bestimmt auch das Verhältnis der entwickelten Industriegesellschaften zu den Entwicklungslandern und zur natürlichen Umwelt. Die unterentwickelten Kontinente könnten allenfalls mit riesigen Immigrationswellen, mit dem Hazardspiel atomarer Erpressung oder mit der Zerstörung weltweiter ökologischer Gleichgewichte drohen, während die Sanktionen der Natur nur im leisen Ticken von Zeitbomben zu vernehmen sind. Dieses Ohmachtsmuster begünstigt das Latentbleiben eines langerfristig sich aufstauenden Problemdrucks und das Aufschieben der Problemlosung, bis es zu spät sein kann. Zuzuspitzen sind solche Probleme nur auf dem Wege über eine Moralisierung der Themen, über eine mehr oder weniger diskursiv vollzogene Interessenverallgemeinerung in nichtvermachteten Öffentlichkeiten liberaler politischer Kulturen. Wir sind eben bereit, für die Stillegung des ausgeleierten Atomkraftwerks Greifswald zu zahlen, sobald wir die Gefahr fur alle erkennen. Die wahrgenommene Verflechtung eigener Interessen mit den Interessen der anderen ist hilfreich. Die moralische oder die ethische Betrachtungsweise schärft darüber hinaus den Blick für jene umfassenderen, zugleich unaufdringlicheren und fragileren Bindungen, die das Schicksal eines jeden mit dem eines jeden anderen verknüpfen - und noch den Fremdesten zum Angehörigen machen. 147
In anderer Hinsicht erinnern die Großprobleme von heute an den klassischen Verteilungskonflikt; wie dieser erfordern sie den merkwürdigen Modus einer eindämmenden, aber zugleich hegenden Politik. Diesen Politikmodus scheint die gegenwärtig Revolution, wie H. M. Enzensberger bemerkt hat, zu dramatisieren. Erst hat sich in der Masse der Bevölkerung ein latenter Fin_ Stellungswandel vollzogen, bevor dem Staatssozialismus der Boden der Legitimation weggerutscht ist; nach dem Erdrutsch steht das System als Ruine da, die ab- und umgebaut werden muß. Als Folgelast der gelungenen Revolution entsteht eine in sich gekehrte, hilfesuchende Politik des Ab- und Umrüstens. Auf dem Gebiet, dem diese Metapher entlehnt ist, hatte sich in der Bundesrepublik während der achtziger Jahre ähnliches zugetragen. Die als Oktroy empfundene Stationierung von Mittelstreckenraketen hatte das Faß zum Überlaufen gebracht und eine Bevölkerungsmehrheit von der riskanten Sinnlosigkeit einer selbstdestruktiven Rüstungsspirale überzeugt. Mit dem Gipfel von Reykjavik setzte dann (ohne daß ich einen linearen Zusammenhang suggerieren möchte) die Wende zu einer Politik der Abrüstung ein. Allerdings hatte sich bei uns der delegitimierende Wandel der kulturellen Wertorientierungen nicht nur subkutan, wie in den privaten Nischen des Staatssozialismus, sondern in aller Öffentlichkeit vollziehen können, schließlich sogar vor den Kulissen der größten Massendemonstrationen, die die Bundesrepublik je gesehen hat. Dieses Beispiel illustriert einen Kreisprozeß, in dem sich ein latenter Wertewandel aus aktuellen Anlässen verkettet mit Prozessen der öffentlichen Kommunikation, Veränderungen in den Parametern der verfaßten demokratischen Willensbildung und Anstößen zu neuen Politiken der Ab- und Umrüstung, die ihrerseits auf die veränderten Wertorientierungen zurückwirken. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden nach Typus und Größenordnung von den westlichen Gesellschaften Antworten verlangen, die ohne eine interessenverallgemeinerndc radikaldemokratische Meinungs- und Willensbildung wohl kaum gefunden und implementiert werden können. In dieser Arena findet die sozialistische Linke ihren Platz und ihre politische Rolle. Sie kann das Ferment bilden für politische Kommunikationen, die den institutionellen Rahmen des demokratischen Rechtsstaates davor bewahren, auszutrocknen. Die nicht-kommunistische 148
Linke hat keinen Grund zur Depression. Es mag sein, daß sich manche Intellektuelle in der DDR erst umstellen müssen auf eine Situation, in der sich die westeuropäische Linke seit Jahrzehnten befindet - die sozialistischen Ideen umsetzen zu müssen in die radikalreformistische Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft, die in den Formen einer rechts- und sozialstaatlichen Massendemokratie gleichzeitig mit ihren Schwächen auch ihre Stärken entfaltet hat. Nach dem Bankrott des Staatssozialismus ist diese Kritik das einzige Nadelöhr, durch das alles hindurch muß. Dieser Sozialismus wird erst mit dem Gegenstand seiner Kritik verschwinden - vielleicht eines Tages, wenn die kritisierte Gesellschaft ihre Identität so weit verändert hat, daß sie alles, was sich nicht in Preisen ausdrücken läßt, in seiner Relevanz wahrnehmen und ernst nehmen kann. Die Hoffnung auf Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen hat ihre Kraft nicht verloren, aber sie ist geläutert durch das fallibilistische Bewußtsein und die historische Erfahrung, daß schon viel erreicht wäre, wenn eine Balance des Erträglichen fur die wenigen Begünstigten erhalten bleiben und vor allem auf den verwüsteten Kontinenten hergestellt werden könnte.
Was Theorien leisten können und was nicht
Frage: Herr Habermas, das an Gesellschaftstheorie interessierte Denken ist darauf aus, die von Ihnen erörterten aktuellen Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang zu bringen: Es fragt nach den Bedingungen und der Geltung dieser Erfahrungen, im weiteren nach der Entwicklungsgeschichte unserer Gesellschaft. Hängt vielleicht die resignativ intonierte Theoriemùdigkeit die ich doch bei vielen, zumal sensiblen Menschen beobachte, mit einem Verlust an Geschichtlichkeit zusammen? Und wenn dem so ist: Liegt solcher Abwehr vielleicht Zukunftsangst zugrunde? Und wenn ich diesen Bogen noch weiter spannen darf: Geht vielleicht eine gewisse Theoriemüdigkeit darauf zurück, daß die Menschen einer panischen Angst auszuweichen suchen, die daher rührt, daß die Industriegesellschaft auf dem besten Wege ist, wider besseres Theonewissen die natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz zu vernichten? J. H.: Das sind eine Menge Fragen auf einmal. Das erste Stichwort war »Theonemüdigkeit« junger Menschen. Ich weiß nicht, worauf Sie diese Diagnose stützen. Meine Bücher verkaufen sich seit Jahrzehnten gleichmäßig gut oder schlecht. Meine Studenten machen mir Spaß; sie sind interessiert, einigermaßen belesen und diskussionsfreudig. Gewiß, gegenüber der Soziologie zieht heute die Philosophie mehr Erwartungen auf sich. Die jungen Leute erwarten heute etwas mehr von Philosophie und sind natürlich enttäuscht, daß sie im Studium nicht lernen, wie sie ihre eigenen Lebcnsprobleme lösen - in Frankfurt jedenfalls beansprucht niemand, ihnen das sagen zu können. Die Philosophie ist wie die Soziologie nur eine Wissenschaft und folgt der Dynamik ihrer eigenen Probleme, jedenfalls bilden wir uns das ein. Um etwas von der theoretischen Arbeit zu haben, muß man sie zunächst einmal um ihrer selbst willen betreiben; das bringt heilsame Frustrationen mit sich. Das Abfragen von Erkenntnisinteressen, bevor man sich auf die Sache selbst einläßt, habe ich, entgegen anders lautenden Legenden, immer für Unsinn gehalten. Das heißt ja nicht, daß 150
nicht auch nach den Wurzeln einer Theorie im Leben fragen Zum Beispiel danach, ob das Auf und Ab der Moden in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht auch etwas mit vortheoretischen Erfahrungen und zeitgeschichtlichen Kontexten zu tun hat. Vielleicht leuchten ja strukturalistische oder systhemtheoretische Ansätze, die die Subjekte und deren Subjektivität aus ihren Grundbegriffen verbannen, den verängstigten Mitgliedern der Risikogesellschaft sc hon deshalb ein, weil ihnen die gesellschaftliche Komplexität vor aller Wissenschaft über den Kopf wächst und als zweite Natur begegnet. Sie sehen, ich habe Ihre Frage etwas herumgedreht. Nicht die Abkehr von Theorie überhaupt, sondern der appeal, der bestimmten Theorien zu bestimmten Zeiten eine bestimmte Rezeption beschert, hat mit Zeitstimmungen zu tun - wie zum Beispiel das Interesse für die sogenannte Chaos-Theorie mit jener »panischen Angst«, von der Sie sprechen. Im übrigen ist es gut, wenn man von Theorien nicht mehr und nichts anderes erwartet, als sie leisten können - und das ist ja wenig genug. an
oll.
Frage: Ihre Gesellschaftstheorie ist nicht anspruchslos. Sie reflektiert die herrschenden Verhältnisse im Lichte einer idealen Gesellschaftsformation, in der die Menschen als handlungsfähige Subjekte agieren und miteinander das Vernünftige verwirklichen wollen. Dieser Bezugspunkt ermöglicht es Ihnen, die vorgefundenen Verhältnisse kritisch zu durchleuchten - Verhältnisse, in die Sie als Theoretiker selbst miteingebunden sind. Der von Ihnen einst gezogene Vergleich mit dem Psychoanalytiker kommt mir in den Sinn, der, indem er mit seinem Patienten im therapeutischen Gespräch verbunden ist, sich am Ideal einer gelingenden Kommunikationsbeziehung orientiert. J. H.: In Erkenntnis und Interesse habe ich die Psychoanalyse mit der Gesellschaftstheorie verglichen. Dabei hatte ich allerdings die methodische Struktur und die Grundbegriffe vor Augen. Auf keinen Fall darf man die Adressaten oder gar die Gesellschaft selbst als ein Subjekt im großen vorstellen, dem der Theoretiker die Augen öffnen will; in einem Aufklärungsprozeß gibt es nur Beteiligte. Jedenfalls habe ich mich seinerzeit gegen diese Art von Mißverständnissen, die ich vielleicht nicht sorgfältig genug vermieden 151
habe, sehr schnell gewehrt (z B in einer Einleitung zur Nunus gäbe von Theorie und Praxis im Jahre 1971) Das liegt lange /U ruck Was nun die »ideale Gesellschaft« anbetrifft, in deren Licht ich das Bestehende angeblich kritisiere - auch damit verhalt es sich ein bißchen anders Im Unterschied zu berühmten amerikanischen Kollegen - wie Rawls oder Nozick - hatte ich niemals den Ehrgeiz, eine normative politische Theorie zu entwerten Ob wohl auch das einen guten Sinn hat, konstruiere ich nicht die Grundnormen einer »wohlgeordneten Gesellschaft« am Reiß brett Es geht mir vielmehr um eine Rekonstruktion der tatsächlichen Verhaltnisse, allerdings unter der Prämisse, daß die vergesellschafteten Individuen gar nicht umhin können, in der kommunikativen Alltagspraxis von ihrer Umgangssprache auch einen verstandigungsonentierten Gebrauch zu machen Dabei müssen sie dann von bestimmten pragmatischen Unterstellungen ausgehen, in denen sich so etwas wie kommunikative Vernunft zur Geltung bringt Es ist ganz simpel immer wenn wir meinen, was wir sagen, erheben wir fur das Gesagte den Anspruch, daß es wahr oder richtig oder wahrhaftig ist, damit bricht ein Stuck Idea htat in unseren Alltag ein Denn solche Geltungsanspruche lassen sich am Ende nur mit Argumenten einlosen, gleichzeitig wissen wir, daß sich Argumente, die uns heute stichhaltig erscheinen, im Lichte neuer Erfahrungen und Informationen morgen als falsch herausstellen können Die verstandigungsonentierte Alltagspraxis ist mit unvermcid liehen Idealisierungen durchwoben Diese gehören einfach zum Medium der Umgangssprache, durch das hindurch sich die Re Produktion unseres Lebens vollzieht Wu als einzelne können uns zwar jederzeit entschließen, andere zu manipulieren oder ot fen strategisch zu handeln Aber nicht alle konnten sich tatsith lieh jederzeit so verhalten Sonst wurde beispielsweise die Kite gone der Luge sinnlos werden, letztlich mußte die Grammatik unserer Sprache zusammenbrechen So etwas wie Traditionsan eignung oder Soziahsation wurden unmöglich Wir mußten uns dann vom sozialen Leben und der sozialen Welt andere Begriffe machen als die, mit denen wir bisher operieren, wenn wir an ei nein solchen Leben partizipieren, uns in einer solchen Welt vor finden Damit will ich nur sagen soweit ich auf Idealisierungen Bezug nehme, handelt es sich nicht um Ideale, die der einsame 'S2
"Theoretiker gegenüber der Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist, aufrichtet, ich beziehe mich nur auf die in unseren Praktiken angetroffenen normativen Gehalte, ohne die wir nicht auskommen, •flreil die Sprache samt den Idealisierungen, die sie den Sprechern zumutet, fur soziokulturelle Lebensformen nun einmal konsumtiv ist Frage Das maßgebende Leitbild, dem die Industriegesellschaft wahrend der vergangenen zwei Jahrhunderte folgte, nannten Sie in Ihren Schriften »Emanzipation« Die Menschen wollen zunehmend selbstbestimmt, also frei von fremden Interessen über ihr Wohl entscheiden können Dieser Emanzipationsprozeß, so verstehe ich Sie, gehe darauf zurück, daß die Menschen sich verstandigen, also ihren Egoismus /uruckbinden und dem besseren Argument zur Geltung verhelfen wollen Mehr als ein schöner Gedanke' J. H Als der Berliner Rundfunksender Rias 1967 Adorno aufforderte, über »ästhetische Leitbilder der Gegenwart« zu sprechen, antwortete er, der populär gewordene Begriff des Leitbildes selbst sei das Problem »Leitbilder« suggerieren noch die Art von substantiellen und allgemein verbindlichen Orientierungen, die uns in der Moderne abhanden gekommen sind Sie sind durch Formales ersetzt worden, durch die prozedurale Rationalität der Vorgehensweisen, die einem nur noch sagen, wie man etwas machen muß, wenn man selber ein gutes Resultat erzielen mochte Begriffe wie »Aufklarung« und »Emanzipation« beziehen sich - seit dem Ende des 18 Jahrhunderts, als Kant vom »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« sprach - auf Prozesse, in denen man an sich selbst erfahrt, wie man sich ändert, wenn man lernt, sich unter formalen Gesichtspunkten vernunftig zu verhalten Aufklärung ist ein Reflex der Selbsterfahrung im Verlauf von Lernprozessen Emanzipation bedeutet so etwas wie Befreiung aus Befangenheiten, fur die wir, weil sie nicht aus Naturkausahtat oder aus der Begrenztheit des eigenen Verstandes resultieren, gleichsam selbst Verantwortung tragen, obwohl wn ihnen illusionär »verfallen« sind Emanzipation ist eine sehr spezielle Art von Selbsterfahrung, weil sich dann Selbstverstandigungsprozesse mit einem Zugewinn an Autonomie verschränken Dann verbinden sich »ethische« und 153
»moralische« Einsichten Wenn wir uns bei »ethischen< Fng cn darüber klar werden wollen, wer wir sind und sein mochten, und wenn wir bei »moralischen« Fragen wissen mochten, was g]ei_ chermaßen gut ist fur alle, dann verbinden sich in der emanzipatonschen Bewußtwerdung moralische Einsichten mit einem neuen ethischen Selbstverstandnis Wir erkennen, wer wir sind weil wir gleichzeitig uns im Verhältnis zu anderen anders sehen lernen Erneuerungen dieser Art reichen oft in die Adoleszenz zurück Das ist |a eine Lebensphase, in der wir häufig schnür? hafte Krisen auf diese Weise produktiv verarbeiten Der Aus druck »Emanzipation« hat also seinen Sitz im Bereich des Um gangs von Subjekten mit sich selbst, er bezieht sich auf diskontinuierliche Veränderungen im praktischen Selbstverhaltms von Personen Wenn man aber diesen Ausdruck auf den sozialen Bereich ruckubertragen will, aus dem er ursprunglich stammt - als junsti scher Ausdruck bezeichnete »Emanzipation« die Freilassung von Sklaven oder das Erwachsenwerden von Kindern-, muß man sich hüten, gesellschaftlichen Verhaltnissen eine subjektphilosophische Begnfflichkeit überzustülpen, auf die diese nicht paßt We der soziale Kollektive noch Gesellschaften im ganzen dürfen als Subjekte im großen vorgestellt werden Deshalb bin ich heute mit dem Gebrauch des Ausdrucks »Emanzipation« jenseits des Bereichs biographischer Erfahrungen ziemlich vorsichtig Stattdessen sind Konzepte wie »Verständigung« und »kommunikatives Handeln« ins Zentrum meiner Überlegungen geruckt Sie haben einen trivialeren Sinn, sie beziehen sich namheh auf dis, was in der Alltagspraxis dauernd geschieht - ohne den poetischen oder falsch-romantisierenden Glanz der außerordentlichen Er fahrung Auch mit Moral hat das zunächst nichts zu tun Ganz abgesehen davon, daß sich moralisches Handeln nicht, wie Sic si gen, aus dem Gegensatz von Egoismus und Altruismus erklaren laßt oft deckt sich ja das, wozu wir uns verpflichtet fühlen, gin7 legitim mit unseren eigenen - sogar kurzfristigen - Interessen Frage Und doch wittere ich in Ihrer »Theorie des Kommuni kativen Handelns« einen verhohlenen Idealismus, der die in der politischen Praxis dominierenden Kräfte, beispielsweise strategi sehe Absichten, übersieht So ist die im Jahr 1990 durchge peitschte DDR-Einverleibung ein Musterbeispiel fur die manipu 154
ktive Kraft auch demokratisch legitimierter Politik Man konnte überspitzt gesagt, eine plausibel zu lesende Geschichte des io. Jahrhunderts über das fortgesetzte Scheitern des vernunftigen Arguments schreiben T H-: Zunächst müssen wir doch erklaren können, warum wir die Umwal/ung in der DDR - und in ganz Osteuropa - fur einen begrüßenswerten Prozeß halten Diesen konnte man fast noch mit dem Kantischen Begriff der Emanzipation beschreiben Jedenfalls haben sich hier, gegen die Repressionen eines gespenstischen Uberwachungsstaates, Institutionen der rechtsstaathehen Demokratie durchgesetzt Mit dieser neuen politischen Verfassung kommen Rechts- und Gerechtigkeitspnnzipicn zu Geltung, die vernunftig begründet werden können Das heißt eben sie konnten in einem praktischen Diskurs die wohlüberlegte Zustimmung aller Betroffenen finden Was nun den faktischen Verlaut des Einigungsprozesses angeht, so muß man nüchtern teststellen, daß er grosso modo im Einklang mit den Nonnen unserer politischen Ordnung verlaufen ist Eine solche rechtsformige Ordnung ist ja dazu da, legitime Spielräume strategischen Handelns zu eroffnen Die Politik des Kanzleramts, über die wir uns politisch streiten, war natürlich legal, lag innerhalb des der Regierung verfassungsmäßig eingeräumten Spielraums Als die Parteipohtik uberhand nahm, fast alle Parteien das Wahlrecht nur noch als Manovriermasse fur eigene Spekulationen behandelten, hat das Bundesverfassungsgericht diesem Treiben Einhalt geboten Das ist die verfassungsrechtlich legitime Seite des Vorgangs Die Staatsvertrage sind, wenn auch nur als Paket, von den Parlamenten gebilligt worden Es haben demokratische Wahlen stattgefunden usw Gewiß, unter politischen und unter verfassungspohtischen Gesichtspunkten habe ich mich über das normative Defizit beklagt Aber auch diese Kritik ist nicht aus der Luft gegriffen Sie appelliert vielmehr an Prinzipien, die ich mir nicht einfach ausdenke, die ja erst in einem Jahrhunderte wahrenden Prozeß der Kampfe und der kollektiven Erfahrungen soziale Anerkennung erlangt haben und am Ende auch unserer politischen Kultur einvei leibt worden sind Hier kann man sogar von einer Geschichte der politischen Emanzipation sprechen '55
Frage An welche Prozesse und Trends denken Sie, wenn Sic dit. sen Emanzipationsprozeß auch in unserer Zeit aufzeigen wollen'
-Js innerhalb dieser Lebensformen nach praktischen Verbesserungen wenigstens zu suchen'
J H Ich denke an das Maß von individueller Freiheit, sozialer Sicherheit und politischer Mitbestimmung, das in den verwohn teren Regionen unseies Erdballs dem Leben des Einzelnen einen höheren Wert, eine größere Rucksicht verschafft haben Vor der Franzosischen Revolution, vor der europaischen Arbeiterbtwe gung, vor der Ausbreitung der formalen Schulbildung, vor der fe mmistischen Bewegung, vor der Domestizierung der innci en Gt waltverhaltmsse in Familien, Gefangnissen, Hospitalern usw wir das Leben einer einzelnen Frau oder eines einzelnen Mannes wt niger wert - natürlich nicht von uns aus betrachtet, sondern ius der Perspektive der Zeitgenossen Das ist gewiß nur die eine Seite der Medaille Horkheimer und Adorno sprechen von einei Dn lektik der Aufklarung« Diese wirft immerhin ein gewisses Lieht auf die andere Seite der Medaille, auf das Grauen an der Rückseite des Spiegels der Aufklarung Diese Kritik und Selbstkritik zehren aber selber noch v om Licht der Aufklarung - wir haben keine in deren Maßstabe als deren eigene Moralische Grundbegriffe wie Autonomie und Menschenwürde, Solidarität und Gleichheit müssen sich in Prozessen der Selbstanwendung, d h in der knti sehen Anwendung auf ihren eigenen Gebrauch, auch andern können, wenn sie überzeugend bleiben sollen Emanzipation wenn wir diesem Wort eine unmißverständliche Lesart geben macht die Menschen unabhängiger, aber nicht automatisch gluck hcher Freilich haben wir zwischen einer mehr und einer weniger be wußten Lebensführung keine Wahl, weil Wahlmöglichkeiten eist mit dem Akt der Bewußtwerdung entstehen Hingegen sind Maßstabe fur Gluck, fur die klinische Bewertung eines mehr odei weniger meht-entfremdeten, nicht-verfehlten Lebens eine ziem lieh prekäre Sache Wer sich diese Maßstabe überhaupt noch /u traut, und das ist wohl kaum eine Angelegenheit der Gesell schaftstheone, wird vermutlich nicht zu dem Ergebnis kommen, daß moderne Lebensformen in diesem klinischen Sinne etwa bes ser sind als andere Mit dem Begriff der Moderne verbindet sieh kein Glucksversprechen mehr Trotz allem Gerede über eine Postmoderne sind aber zu diesen Lebensformen keine vernunhi gen Alternativen abzusehen Was bleibt uns denn anderes ubn»;.
frage Vor dem zuvor besprochenen Hmteigrund der jüngsten geschichtlichen Erfahrungen ist es plausibel, den von der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Parlamentarismus als Institutionalisierung des Diskurses zu verstehen, der dem Zweck der Selbststeuerung der Gesellschaft dient Verfugt die demokratisch organisierte Gesellschaft - im Sinne Ihrer Theorie des kommunikativen Handelns - über deutlich mehr Rationalität als die feudal, totalitär oder sonstwie organisierte' J.H Über eine höhere Rationalität im Sinne der Niveaus, auf denen wir lernen können Aber wir lernen nur in der kognitiven Dimension - denken Sie an die Entfaltung der Produktivkräfte oder in der moiahsch-praktischen Dimension, wobei wir an unsere nachmetaphysisch begründeten Moral und Rechtsvorstellungen denken können Dabei konnten wir Sensibilitäten in anderen Dimensionen sogar eingebüßt haben Frage Nun zeigt aber die Entstehungsgeschichte des Parlamentarismus ebenso wie dessen Funktionsanalvse, daß dieses Instrument nicht der Steuerung des Diskurses dient, sondern dem Ausgleich von Interessen Die politische Buhne in Bonn oder in Washington folgt (bestenfalls) den Spielregeln der Konfhktaustragung und der Kompromißfindung, das bessere Argument ist selten genug gefragt J.H Kompromißbildung bestimmt in Systemen unseres Typs auf weite Strecken die politischen Entscheidungsprozesse - wer wollte das bestreiten' Aber erst wenn diese Kompromisse nach Regeln eines fairen Ausgleiches von Interessen zustande kommen, sind sie auch rational im Sinne einer moralisch-praktischen Verfahrensrationahtat Denn ob die Regeln fair sind, ob Verhandlungen im Hinblick auf gegebene Macht- und Interesscnlagen richtig institutionalisiert sind, ließe sich wiederum nur in ei nem Diskurs über Gerechtigkeitsfragen entscheiden Mit diesem Hinweis mochte ich aber nicht den wichtigen Unterschied verwischen zwischen Diskursen, in denen der Idee nach die Kraft des besseren Argumentes zahlt, und Kompromissen, denen die Par'57
teien aus jeweils verschiedenen Gründen zustimmen können Ob sich nun die politische Willensbildung in informellen öffentlichen Kommunikationen vollzieht oder ob sie in beschließenden Kor perschaften institutionalisiert ist, in keinem Fall erschöpft sie sich in der Aggregierung und Abstimmung von konkurrierenden Teil Interessen Kompromisse bilden nur einen Teil dieses Prozesses Heute sind schon die Informationen, Voraussagen, Progi a m m vorschlage, überhaupt alle empirischen und pragmatischen Über legungen, die fur die Wahl von Politiken die Grundlage bilden Gegenstande heftiger Kontroversen Denn solche Interpretitio nen sind selbst keineswegs wertneutral Wodurch sollten aber die meist von Experten vorbereiteten Interpretationen von Saeh\<_r halten erschüttert werden, wenn nicht durch eine Kritik, die mit besseren Gründen operiert' Außerdem gibt es genügend pohti sehe Themen von großer Tragweite, die tatsachlich Gcrechtig keitsfragen berühren Sie werden meistens im Gewände junsti scher Erörterungen, aber vielfach auch direkt als das diskutiert, was sie sind als moralisch-praktische Fragen Im Eimgungs\cr trag mußten eine Fülle solcher Materien geregelt werden, weil es auch um komplizierte Fragen distributiver Gerechtigkeit ging beispielsweise um den kontroversen Grundsatz »Ruckgabe vor Entschädigung« -, wurde es ja als problematisch empfunden, diß das die Herren mit den Kofferehen unter sich alleine ausgemacht haben Andere Themen berühren wiederum Fragen des ethisch politischen Selbstverstandmsses, Fragen der Lebensform, die wir fur wünschenswert oder 'wenigstens erträglich halten Viele oko logische Themen gehören in diese Kategone Minderheitenkon flikte, Fragen des Asylrechts, der Forderung neuer Technologien usw sind von der Art, daß wir uns über gravierende Wertem Scheidungen klar weiden müssen, z B darüber, wie wir uns als Burger dieser Bundesrepublik verstehen, in welcher Art von Gt Seilschaft wir leben wollen Wenn man die Fvpen dieser verschiedenen pragmatischen, mo rahschen und ethischen Fragen analysiert und überlegt, welche Kommunikationsformen jeweils eine rationale Meinungs- und Willensbildung fordern wurden, dann sieht man, daß politische Erörterungen nicht aus einem Guß sind, nicht nur in den Bahnen der Kompromißbildung verlaufen, sondern ein Netzwerk vielfal tiger Formen von Argumentationen und Verhandlungen notig machen Die diskurstheoretische Betrachtung ist nicht zufällig 158
Ajr juristische Diskurse am weitesten vorangetrieben worden, sie laßt sich aber auf politische Lntscheidungsprozesse übertragen Wie in der rechtlichen Institutionahsierung von Gerichtsverfahren findet man auch hier, in den etablierten Regelungen und Praktiken der Meinungs- und Willensbildung, von den parlamentarischen Geschäftsordnungen bis hin zum Organisationstell des Grundgesetzes, ein Stuck »existierender Vernunft« Daran kann man dann kritisch anknüpfen Der diskurstheoretische Ansatz erlaubt gerade die Anknüpfung der Kritik an das Selbstverstandms der eingewohnten politischen Kulturen, der bestehenden Institutionen und geltenden Rechtssysteme mit dem Ziel, das dann angelegte Potential zur Selbsttransformation auszuschöpfen Frage Das vernunftige, auf Übereinkunft gerichtete Reden der Menschen nennen Sie »kommunikatives Handeln« In Ihrer Theorie gilt dieses Handeln als grundlegende Form sozialen Verhaltens, denn mit diesem Handeln, so verstehe ich Sie, ist immer schon ein Interesse an Verständigung mitgegeben Die Menschen sprechen miteinander, weil sie sich eigentlich verstandigen mochten In Ihrem Konzept handeln die Menschen per se als vernunftige, namheh konsensfahige und -bereite Subjekte In der Realität freilich treten sie nur ausnahmsweise als vernunftig in Erscheinung, in der Regel zeigt ihr Reden eine bunte Facette unterschiedlicher Motive und Absichten, die viel mit Domimerungs- und Unterwerfungswunschen - politisch gedacht mit Machterwerb zur Durchsetzung partikularer Ziele - zu tun haben Ist der Gedanke abwegig, daß in der nach Ihrem Konzept emanzipierten Gesellschaft sich die Subjekte nicht mehr wie Menschen, sondern wie durchrationahsierte Denkmaschinen zueinander verhalten5 J H Zunächst einmal sage ich nicht, daß die Menschen kommunikativ handeln mochten, sondern daß sie es müssen Wenn Eltern ihre Kinder erziehen, wenn die lebenden Generationen sich das überlieferte Wissen der vorangegangenen aneignen, wenn Individuen und Gruppen kooperieren, d h ohne kostspielige Gewaltanwendung miteinander auskommen wollen, müssen sie kommunikativ handeln Es gibt elementare gesellschaftliche Funktionen, die nur über kommunikatives Handeln erfüllt werden können In unseren intersubjektiv geteilten Lebenswelten, die einander uber159
läppen, ist ein breiter Hintergrundkonsens angelegt, ohne den die Alltagspraxis gar nicht funktionieren könnte. Der Hobbessche Naturzustand, in dem jedes isolierte bürgerliche Subjekt dem anderen entfremdet und einer des anderen Wolf ist (obwohl die realen Wölfe immerhin in Rudeln leben) - das ist doch in Wahrheit die artifizielle Konstruktion. Sodann dürfen wir kommunikatives Handeln nicht mit Argumentation gleichsetzen. Kommunikatives Handeln vollzieht sich normalerweise in einer gemeinsamen Sprache und einer sprachlich erschlossenen, vorinterpretierten Welt, in geteilten kulturellen Lebensformen, normativen Kontexten, Überlieferungen, Routinen und so weiter, kurz: in Lebenswelten, die füreinander porös sind, sich durchdringen und vernetzen. Ein solches kommunikatives Handeln ist nicht gleichbedeutend mit Argumentation. Argumentationen sind unwahrscheinliche, nämlich sehr voraussetzungsvolle Kommunikationsformen, Inseln im Meer der Praxis. Schon deshalb kann das mit den »durchrationalisierten Denkmaschinen« nicht stimmen. Es gehört ja zu den sehr spàten evolutionären Errungenschaften, daß Argumentationen eines bestimmen Typs, 7,. B. rechtliche oder wissenschaftliche Argumentationen oder kunstkritische Erörterungen, institutionalisiert werden, d. h. von bestimmten Personen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sozial erwartet werden dürfen. Im übrigen besteht die große domestizierende Leistung des modernen Rechts gerade darin, daß es Bereiche strategischen Handelns (etwa fur den Zweck des Erwerbs privaten Eigentums oder politischer Macht) konsensuell, nämlich mit der prasumptiven Zustimmung aller Staatsbürger festlegt. Das gilt für die privatrechtliche Einrichtung des Marktverkehrs nicht weniger als für die öffentlich-rechtliche Regelung der Parteienkonkurrcnz oder der Verwendung politischer Macht. Rechtsnormen können auf Dauer nur zwingen, wenn die Verfahren, nach denen sie zustande kommen, als legitim anerkannt sind. In diesem Moment der Anerkennung kommt ein kommunikatives Handeln zur Geltung, das sozusagen am anderen Ende des Rechtssystems, auf der Seite der demokratischen Willensbildung und der politischen Gesetzgebung als solches in Erscheinung tritt. Während die Privatrechtssubjekte ihre je eigenen Interessen verfolgen dürfen, sollen sich die Staatsbürger am Gemeinwohl orientieren, sich über ihre gemeinsamen Interessen verständigen. Ihre Bedenken ergeben 160
sich daraus, daß Sie den Grundgedanken der Theorie des kommunikativen Handelns etwas zu konkretistisch verstehen. Die »emanzipierte Gesellschaft« ist in der Tat ein Ideal, das Mißverständnisse nahelegt. Ich spreche lieber von der Idee der unversehrten Intersubjektivität. Diese Idee läßt sich aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt gewinnen - sie bezeichnet so etwas wie den Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung kommunikativ handelnder Subjekte untereinander. Diese Idee darf allerdings nicht zur Totalitat einer versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen werden. Sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht-verfehlten Lebens. Auch den Sozialismus hätte man nicht - was wohl der größte philosophische Fehler dieser Tradition gewesen ist - als das konkrete Ganze einer bestimmten künftigen Lebensform begreifen dürfen. Ich habe das immer wieder gesagt: »Sozialismus« taugt nur als Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen, über die sich die Beteiligten selbst zu verständigen hätten. Frage: Ich möchte an der Frage festhalten, ob eine Theorie, die im weitesten Sinne auf Emanzipation zielt und mit einem derart weitreichenden Geltungsanspruch wie die Ihre ausgestattet ist, ob sie den drängenden Überlebensproblemen der Industriegesellschaft noch angemessen ist: Wie kann eine in dieser Abstraktionshöhe argumentierende Theorie auf die mit dem Schlagwort »Risikogesellschaft« angesprochenen Gefahren hinreichend konkret eingehen? J. H.: Lassen wir mal die Kirche im Dorf. Alle Ihre Fragen zielen ja im wesentlichen auf den zeitdiagnostischen Gehalt meiner theoretischen Arbeiten. Dadurch entsteht der Eindruck, als werde da eine Theorie aus einem Guß angeboten, die alle Lebensprobleme lösen solle. Sie wissen, daß ich davon weit entfernt bin. Ich entspreche überhaupt nicht dem traditionellen Bild des »Philosophen«, der die Welt aus einem Punkt erklärt. Wir beide haben uns bisher über politische Dinge unterhalten - und ein bißchen über das, was ich unter »kommunikativer Vernunft« verstehe. Meine tägliche Arbeit sieht anders aus; darin geht es um einzelne, 161
schon »zerlegte« Probleme, die ihren Platz in ganz verschiedenen Kontexten haben Ich suche einzelne Probleme jeweils an ihrem Ort auf, d h in den wissenschaftlichen Diskursen, die ich vorfinde Dann mache ich zu dem einen oder anderen Thema einen Beitrag, sagen wir in der Theorie der Sprechhandlungen oder in der Moraltheone, der Rechtsphilosophie, in der soziologischen Diskussion über gesellschaftliche Rationalisierung, in der philosophischen Diskussion über den Begriff der Moderne, über nachmetaphysischcs Denken usw Ich presse nicht alles in denselben theoretischen Rahmen, assi miliere nicht alles an dieselben Grundbegriffe einer hohstischen Großtheorie Natürlich mache ich die Beitrage aus meinei Perspektive, aber über philosophische Fragen muß man philoso phisch, über soziologische soziologisch, über politische politisch reden Man muß wissen, in welchem Diskurs man sich jeweils be wegt, auf welcher Allgemeinheitsstufe, mit welchen Instrumen ten man gerade hantiert Das Philosophische daran ist nur der Versuch, beim Übergang vom einen Diskurs zum anderen den Zusammenhang nicht zu verlieren, die Kategorien nicht einfrieren zu lassen, die Theoriesprachen liquide zu halten, zu wissen, wo beispielsweise Begriffe wie »Autopoiesis« oder »Selbstbe wußtscin« oder »Rationalität« hingehören - und, vor allem, wohin nicht Auch von intelligenten Interviewern darf man sich nicht dazu verfuhren lassen, zu allem eine Meinung zu haben An der Risikoforschung habe ich mich nicht beteiligt Daß der Risikobegnff heute in verschiedenen Forschungskontexten eine gewisse Aktualität gewonnen hat, hangt vordergrundig mit einem Themen Wechsel in der politischen Öffentlichkeit zusammen - die Gefahren der Ökologie, der Atomtechnik, der Gentechnologie usw sind in aller Munde Zum anderen reagiert man damit auf objektiv eingetretene Veränderungen Die wachsenden Interdependenzcn von Weltereignissen und die gleichzeitig erweiterten Erwartungs honzonte losen entsprechende Enttauschungs- und Kontingtn/ erfahrungen aus, vei schieben die Zeitperspcktiven, verandern Strukturen des Zeitbcwußtseins überhaupt usw Frage Hat es da die tradierte Bewußtseinsphilosophie nicht \ îel einfacher, weil sie den Menschen etwa mit dem Postulat der Vu antwortungsethik ins Gewissen reden kann' 162
x H Die Bewußtseinsphilosophie, die von Deseartes über Kant bis Husserl von der erkenntnistheoretischen Grundfrage ausgegangen ist und bei der Subjektivität, also der Beziehung des vorstellenden Subjekts zu seinen eigenen Vorstellungen von den Obiekten eingesetzt hat, bildet eine fruchtbare Tradition, auf die wir 5 uns alle noch beziehen Wer käme schon ohne seinen Kant aus Die großen Kritiker der Bewußtseinsphilosophie, Heidegger auf der einen, Wittgenstein auf der anderen Seite, haben nun eine sprachpragmatische Wende eingeleitet, die sich heute gewissermaßen überschlagt und in der Gestalt von kontextuahstischen Auffassungen in einen /weiten Historismus einmündet Die Sprachphilosophie geht allgemein nicht mehr von einem welterzeugenden Subjekt - oder von einem seine Umwelt intern abbildenden System - aus Sie muß sich deshalb fragen lassen, ob sie denn mit ihrem neuen Paradigma der Verständigung zwischen kommunikativ vergesellschafteten Subjekten, die sich immer schon in sprachlich erschlossenen und intersubjektiv geteilten Lebenswelten vorfinden, das alte Problemniveau überhaupt wieder erreicht hat Wie kann man über das Thema des Selbstbewußtseins - oder der Selbstreferenz von in sich rekuisiv geschlossenen Systemen - in Grundbegriffen der Intersubjektivitatstheoiie reden5 Das ist die spannende Diskussion, auf die Sie anspielen Die wurde ich abei nicht unmittelbar mit Problemen der Verantwortungsethik zusammenbringen Sie interessieren sich vor allem fur die Frage, wie sich Theorien, die sich derart in ihre eigenen Probleme einspinnen und sich im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung so weit ins Wissenschaftssystem zurückgezogen haben wie sich solche autistischen Unternehmungen überhaupt noch zur Praxis in Beziehung setzen und handlungsoi îentierende Kraft entfalten können Kollegen wie Luhmann meinen ja, daß moderne Gesellschaften ganz und gar in ihre verschiedenen Teilsysteme zerfallen sind, die nur noch Umwelten füreinander bilden, über keine gemeinsame Sprache mehr verfugen und einander nur noch beobachten, ohne miteinander kommunizieren zu können. Dann wäre Ihre Frage gegenstandslos geworden, und das glaube ich nicht Die systemtheoretischc Skepsis verkennt die eminente Leistungsfähigkeit der gesellschaftsweit zirkulierenden Umgangssprache, die - wie sonst nur noch das andere anthropologische Monopol, die menschliche Hand - besonders komplexen Aufgaben gerade deshalb gewachsen ist, weil sie unspeziahsiert 163
geblieben, nicht zu Spezialkodes vereinseitigt worden ist Andererseits können wir die immer komplexer werdenden Vermittlungen zwischen Theorie und Praxis auch nicht mit ethischen Appe[_ len schlicht überspringen. Heute sind alle Gesellschaftstheonen hochabstrakt Sie können uns bestenfalls fur die Ambivalenz von Entwicklungen empfindlich machen, sie können dazu beitragen, daß wir die Ambivalenzen, die auf uns zukommen, als ebenso viele Appelle an wachsende Verantwortlichkeiten in schrumpfenden Handlungsspielraumen verstehen lernen. Sie können uns die Augen offnen über Dilemmata, denen wir nicht entgehen können und mit denen wir doch fertig werden müssen. Wir haben über die politischen Folgen eines solchen Dilemma!, schon gesprochen. Der bürokratische Sozialismus ist seinerzeit als dialektische Antwort auf strukturelle Blindheiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems entstanden. Marx hatte gemeint, daß jede Zivilisation, die sich als ganze den Imperativen der Selbstverwertung des Kapitals unterwirft, den Keim der Zerstörung in sich tragt, weil sie sich damit gegen alle Relevanzen blind macht, die sich nicht in Preisen ausdrucken lassen Diese These wird auch nicht dadurch falsch, daß Marx seinerseits fur das Potential der Selbsttransformation, insbesondere jene Kräfte einer demokratischen Gegensteuerung blind gewesen ist, die in den Institutionen des Rechtsstaates angelegt waren Heute stehen wir vor dem - erwartbaren - Scherbenhaufen eines Experiments, das einen grausamen, von stahmstischen Barbareien gesäumten Pfad durchlaufen hat. Aber auch der Sieger steht, obwohl er seine Ausgangslage inzwischen durch sozialstaatliche Lernptozesse erheblich verandeit hat, nicht einfach gerechtfertigt da. Angesichts der Probleme des 21. Jahrhunderts kehrt der alte Zweifel, der einst jene falschen Reaktionen ausgelost hat, in neuer Gestalt wieder - eben der Zweifel, ob sich eine Zivilisation ah ganze in den Strudel der Antriebskräfte eines einzigen ihrer Subsysteme, auch wenn dieses zum Schrittmacher der Evolution gewoiden ist, hereinziehen lassen darf - in den Sog eines rekursiv geschlossenen Wirtschaftssystems, dessen Selbststabihsierung davon abhängt, daß es alle relevanten Informationen allem in der Sprache betriebswirtschaftlicher Rentabilität aufnimmt und verarbeitet Dennoch verfuhren uns die evidenten Opfer der monströs fehlgeschlagenen Alternative dazu - und das meine ich mit dem Di 164
iernrna -, diesen Zweifel, der ein produktiver Stachel bleiben m üßte, zu ersticken Frage: I n einer von Untergangsszenarien - oder Schimaren - umstellten Gesellschaft neigen viele Menschen dazu, den praktischen Nutzwert einer Theorie zum einzigen Maßstab zu erheben - und die Frage nach dem Verhältnis von Gescllschaftstheone und Lebenspraxis zu umgehen Mir kam in diesem Zusammenhang ein Satz von Adorno in den Sinn. »Ich glaube, man kann philosophisch sehr wohl an dem Begriff der absoluten Vernunft Kritik iiben« schrieb er m seinem Aufsatz Erziehung zuy Mündigkeit, »man wird aber deshalb nicht verleugnen dürfen, daß anders als durch Denken, und zwar durch unbeirrbares und insistentes Denken, so etwas wie die Bestimmung dessen, was zu tun richtig sei, richtige Praxis überhaupt, nicht vollziehbar ist« Ist dies - um unsere letzte Frage zu stellen - ein Satz, der auch über Ihrem Denken und Ihrem Werk stehen konnte? J.H.: Beharrliches Denken reicht gewiß nicht hin, aber ohne es geht's noch viel weniger. Die philosophischen Gedanken- und damit meine ich nicht nur die von beamteten Philosophen, sondern die der produktiven Wissenschaftler - gehen nicht ganz im anonymen Forschungsbetneb auf Auch am Ende des 20. Jahrhunderts treten philosophische Gedanken distanziert auf, esoterisch verpuppt. Aber so groß ihre Distanz zum Handgreiflichen auch immer sein mag, mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen kommunizieren sie doch auf intimere Weise als die kontinuierlicher fortschreitende Forschungsarbeit Philosophische Gedanken sind Ausdruck einer Sensibilität fur die noch nicht zerlegten Phänomene. In Luhmanns versponnener Systemtheone, beispielsweise, spiegelt sich auch die ganz naive, vorwissenschaftliche Erfahrung eines Komplexitatsschubes, mit dem die Weltgeschichte einen Ruck in Richtung auf eine Weltgesellschaft getan und ganz neue Interdependenzcn geschaffen hat, eben Vernetzungen, die den Subjekten, ihren Eingriffen und Intentionen ubei den Kopf wachsen und die bisherigen Vorstellungen von gesellschaftlicher Selbstorgamsation und Steuerung obsolet machen. In Derndas subtilem Gedanken der Differenz, der nicht zufällig in den USA das stärkste Echo findet, druckt sich ein anderer Aspekt derselben Erfahrung aus - die unerhörte Einschränkung von Kulturen, Le.65
bensformen, Stilen und Weltdeutungen, die heute einander nicht mehr nur begegnen, sondern sich füreinander öffnen, sich im Medium gegenseitiger Interpretationen durchdringen, vermischen hybride und kreative Verbindungen eingehen und einen überwältigenden Pluralismus, eine unübersichtliche, weil dezentrierte Mannigfaltigkeit, ]a ein Chaos von verketteten, aber kontingenten, und schwer zu dechiffrierenden Lauten und Texten hervorbringen. Demgegenüber macht uns Foucaults Mikroanalyse der Macht aufmerksam auf eine unscheinbare Dialektik zwischen den egalitären Tendenzen des Zeitalters und jenen neuen Unfreiheiten die sich in den Poren gleichzeitig freigesetzter und systematisch verzerrter Kommunikationen festsetzen. Nicht umsonst hat ihn Foucault, die späte Begegnung mit der Dialektik der Aufklärung, wie er mir selbst noch gesagt hat, fasziniert. Wiederum etwas anderes sagt uns Adornos ästhetisches Denken, das die Konstellationen des Nicht-Identischen ruhelos umkreist. Diesem Denken ist unauslöschlich die Erfahrung des Emigranten eingeschrieben, der sich nur durch Zufall den Vernichtungslagern entronnen sah. Ich bin, wie die anderen, eine Generation jünger. Als mich der Schock dieser Bilder und Nachrichten erreichte, war ich sechzehn Jahre. Ich wußte, daß wir, trotz allem, in der Angst vor Regressionen weiterleben würden und weitermachen müßten. Seitdem stochere ich, mal hier, mal da, nach Spuren einer Vernunft, die zusammenführt, ohne Abstände zu tilgen, die verbindet, ohne Verschiedenes gleichnamig zu machen, die unter Fremden das Gemeinsame kenntlich macht, aber dem Anderen seine Andersheit läßt. Ihr Zitat zeigt, daß ich mit dieser Intention auch an Adorno anknüpfen kann. Das Nicht-Identische wäre durch die Versehrbarkeit seiner Integrität geradezu definiert, wenn es sich denn definieren ließe. Es ist ein Deckname für jenen emphatischen Begriff des Individuellen, der uns bisher nur in religiöser Sprache überliefert ist. Aber Adorno wußte, daß »nichts an theologischem Gehalt unverwandelt fortbestehen wird; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern«.
Aus der Geschichte lernen? Michael Stürmer hat (in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember 1993) eine Frage wiederholt, welche die alte Bundesrepublik seit den siebziger Jahren beschäftigt hat und die seit 1989 den Elitennationalismus des neuen Deutschland - von Schäuble bis Heitmann - erst recht in Schwung bringt: »In zunehmenden Begründungsnöten aber erhebt sich die Frage, wie lange es dem steinernen Gast aus der Vergangenheit noch gestattet sein soll, für alle Zukunft und alle Vergangenheit über Bürgertugend und Vaterlandsliebe sein Veto zu werfen.« Das Menetekel des steinernen Gastes muß man wohl so verstehen: um wieder eine normale Nation zu werden, sollten wir uns der selbstkritischen Erinnerung an Auschwitz erwehren. Der Historiker, der doch selbst in der Rolle eines Geschichtspädagogen auftritt, empfindet offenbar den Impuls, aus der Geschichte lernen zu wollen, als einen Fluch. Mit dieser Absicht ist es auch nicht ganz so einfach bestellt, wie es scheint. Läßt sich überhaupt aus der Geschichte lernen? Gestatten Sie mir, bevor ich darauf zu antworten versuche, einen Rückblick. Denn wir sind nicht die ersten, die sich diese Frage stellen. I Reinhart Koselleck hat vor 2 5 Jahren den alten Topos von der Geschichte als »Lehrmeistcrin« seinerseits einer lehrreichen historischen Kritik unterzogen.1 Die »Geschichte«, die in der alten Formel der »Historia Magistra Vitae« auftritt, hatte für die Alten nicht die Bedeutung, die wir ihr heute beilegen; gemeint war noch nicht das Ganze des historischen Lebenszusammenhangs, also Geschichte im Singular, sondern das Auf und Ab der vielen einzelnen Geschichten, von denen die eine oder andere Begebenheit den Nachgeborenen als Exempel für ihr eigenes Handeln dienen I Historia Magistra Vitae, in: R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/ M. 1979,S.38-66 167
mochte. Die lateinische Formel geht auf Cicero zurück, und noch für Machiavelli oder Montaigne bildete die Geschichte eine Quelle exemplarischer Begebenheiten. Nur einem anthropologischen Blick, für den sich die Handlungen vergangener und gegenwärtiger Generationen wesentlich gleichen, kann sich die Geschichte als ein solcher Schatz überlieferungswürdiger und nachahmenswerter Beispiele präsentieren. Lernen kann man nur aus einer Geschichte, die sich wiederholt; und nur die können aus ihr lernen, die sich in ihrer Natur ähnlich bleiben. »Historia Magistra Vitae« - dieser Topos behielt seine Überzeugungskraft nur so lange, bis der historische Sinn für das Einmalige und das Neue den anthropologischen Sinn für das Wiederkehrende im stets Veränderlichen ablöste. Koselleck zeigt, daß es seit der Herausbildung des historischen Bewußtseins am Ende des 18. Jahrhunderts mit der klassischen Rolle der Historie als Lehrmeisterin vorbei ist. Diese Lehre zieht er freilich selber aus einer historischen Betrachtung. Dabei kann er einem performativen Selbstwiderspruch nur deshalb entgehen, weil auch fortan der »Nutzen der Historie für das Leben« nicht geradewegs bestritten, nur anders verstanden wird. Man sucht ihn jetzt nicht mehr in der überlieferten Rezeptweisheit für typische Schwierigkeiten, sondern in der gelehrten Aufklärung über die jeweils eigene, historisch eingebettete, aus Vergangenheit und Zukunft gleichsam angestrahlte Situation. Geschichte als Aufklärung und historische Selbstverständigung kann allerdings ganz Verschiedenes bedeuten. Die Geschichtsphilosopbie nimmt das Schillersche Wort von der Weltgeschichte als dem Weltgericht ernst und entschlüsselt retrospektiv die grausam-ironische List der Vernunft, die sich hinter dem Rücken der bewußtlos handelnden Menschen durchsetzt. Während Hegel aus dieser Geschichtsbetrachtung die fatalistische Lehre zog, daß für die Handelnden alle Lehren zu spät kommen, wollte Marx, daß die Geschichtsphilosophie selbst den künftigen Generationen zur Lehre dient. Ihnen sollte die Erkenntnis des naturwüchsigen Verlaufs der bisherigen Geschichte zu der Einsicht verhelfen, daß sie sich in Zukunft zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte emanzipieren können - also zu Autoren machen können, die ihre Geschichte, wenn auch nicht unter selbstgewählten Umständen, mit Willen und Bewußtsein produzieren. Hier verschmilzt das historische mit einem utopischen Be168
«rußtsein, das die Grenzen der Machbarkeit der Geschichte überdehnt. pie Geschichtsphilosophie, die die Vergangenheit nur aus dem fjorizont des eigenen Zukunftsentwurfs vergegenwärtigt, ist von Anbeginn auf die Kritik der Deutschen Historischen Schule gestoßen. Diese hat gegen den Aktualismus ein ganz anderes, eben historisches Bewußtsein zur Geltung gebracht. Ranke bestritt der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten und die Mitwelt zum Nutzen künftiger Generationen zu belehren. Die damals im Entstehen begriffenen Geisteswissenschaften sollten durch eine objektivierende Vergewisserung früherer Epochen und Lebensformen zeigen, wie es eigentlich gewesen ist. Der geschichtlich gewachsene Lebenszusammenhang der Völker kennt Blüte und Verfall, aber keinen Fortschritt. Deshalb kann und soll das historische Verstehen nicht zu Interventionen anleiten. Gleichwohl behält auch die kontemplative Vergegenwärtigung des Ungleichzeitigen einen mittelbaren Bezug zur Praxis insofern, als der historisch gebildete Geist lernt, die eigene Welt im Spiegel fremder Welten, also sich im anderen, zu erkennen. Der Historismus ist freilich stets in Gefahr, der ins Museum gesperrten und ästhetisch aufbereiteten Vergangenheit über die zur Passivität verurteilte Gegenwart ein lähmendes Übergewicht zu verleihen; gegen diese genießende Historie hat Nietzsche mit seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung aufbegehrt. Der Historismus raubt einer wissenschaftlich sterilisierten Überlieferung die Vitalität einer bildenden Kraft. Aus dem Mißtrauen gegen ein derart anästhesierendes »Erleben« ist die Hermeneutik hervorgegangen, die sich zu Dilthey verhält wie Marx zu Hegel: wie dieser der Geschichtsphilosophie, so bestreitet Gadamer den historischen Wissenschaften den Charakter einer bloß nachträglichen Kontemplation. Das Verstehen des Historikers ist gewiß immer schon überholt durch einen Überheferungszusammenhang, der die hermeneutische Ausgangssituation und damit das Vorverständnis des Historikers bestimmt. Aber deshalb vollzieht sich durch das historische Verstehen hindurch zugleich die Fortbildung der angeeigneten Tradition. Aus dieser Sicht gewinnt das historische Geschehen einen aller Reflexion vorausliegenden Kern von Geltung. Eine Tradition zieht ihre verpflichtende Kraft insbesondere aus der geistigen Autorität von Werken, die gegen den Sog von Kritik und Vergessen einen klassischen Rang be169
haupten; klassisch ist, wovon die Nachgcborcncn immer noch lernen können. Diese Bestimmung des Klassischen kommt freilich einer Tautologie verdächtig nahe. Wer garantiert uns, daß es bei der Kanonbildung mit rechten Dingen zugeht, daß nicht nur das als klassisch gilt, was bestimmte Leute jeweils »klassisch« nennen? Das Werk von Marx etwa hat erst spät klassische Geltung erworben - und schnell wieder verloren, nachdem dieser Name parteilich vereinnahmt und mit unglaubwürdigen Klassikern wie Engels und Lenin oder gar Stalin in einem Atemzug genannt worden war. Eine andere Tautologie schleicht sich dadurch ein, daß sich der Sinn unserer Ausgangsfrage unter der Hand verschiebt: die Hermeneutik ist weniger daran interessiert, daß wir aus den Begebenheiten der Geschichte selbst als vielmehr aus Texten, also aus überlieferten und dogmatisch autorisierten Lehren, lernen. Darauf komme ich gleich zurück.
II Die drei modernen Lesarten, die ich genannt habe, sollten uns nicht darüber täuschen, daß das traditionelle Verständnis von der Geschichte als Lehrmeisterin keineswegs ganz außer Kurs geraten ist. Denken Sie an Ihre letzten Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990, als die aus dem Westen eingeflogenen Politiker der Bevölkerung einredeten, daß sie nur das Modell der Wahrungsreform von 1948 nachzuahmen brauchten, um die verwüstete DDR in »blühende Landschaften« zu verwandeln. Diesem Propagandazweck sollten auch jene Werbespots mit Ludwig Ehrhard und seinem Dackel dienen, die der damalige Regierungssprecher Klein für die Aufklärung der DDR-Bevolkcrung hatte vorbereiten lassen. Historia Magistra Vitae - die Neubürger sollten aus der Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik lernen. Aber auch in seinen modernen Lesarten kann uns der Topos nicht mehr ohne weiteres davon überzeugen, daß wir aus der Geschichte überhaupt lernen können. Offensichtlich erkennt die Geschichtsphilosophie ein bißchen zuviel Vernunft in der Geschichte - und der Historismus zuwenig. Die eine rechnet mit einem zu großen, der andere mit einem zu geringen Handlungsspielraum. Beide vertrauen, ob nun forsch zukunftsonentiert 170
oder der Vergangenheit verhaftet, auf die situationserhellende Kraft der historischen Bildung. Im einen Fall soll uns die Stimme der Vernunft belehren, im anderen Fall der Vergleich des Eigenen jjiit dem Anderen. Dabei ist die alte Vorstellung von der Geschichte als Lehrmeisterin gewiß von den vielen einzelnen Geschichten auf einen alles vernetzenden historischen Lebenszusammenhang übergegangen; aber »die« Geschichte bleibt Quelle von etwas Wissenswertem, weil wir ihr nach wie vor Maßstäbe und Werte, so scheint es, entnehmen können. Die Hermeneutik schließlich projiziert diese Kraft des Vorbildlichen auf eine klassische Überlieferung; dieses anonyme Geschehen übernimmt die Regie und stellt die Interpretationsleistungen der Nachgeborenen in Dienst, um sich selbst wirkungsgeschichtheh zu verstetigen. Alle drei Versionen teilen also die merkwürdige Prämisse, daß wir aus der Geschichte nur lernen können, wenn sie uns etwas Positives, etwas der Nachahmung Wertes zu sagen hat. Das ist merkwürdig, weil wir normalerweise aus negativen Erfahrungen, eben aus Enttäuschungen, lernen. Enttäuschungen sind es, die wir in Zukunft zu vermeiden suchen. Das gilt für die kollektiven Schicksale der Völker nicht weniger als fur die individuellen Lebensgeschichten - und deren Kindheitsmuster. Allerdings hat die hermeneutische Rechtfertigung der Geschichte als einer klugen Lehrmeisterin für Philosophen und Schriftsteller, überhaupt für Intellektuelle und Geisteswissenschaftler prima facie etwas Überzeugendes. Tatsächlich lernen wir ja aus unseren Traditionen, bewegen wir uns zeitlebens in Gesprächen mit Texten und Geistern, die über weite historische Abstände hinweg zeitgenössisch gebheben sind. Solange die Substanz dessen, was Kant und Hegel gesagt und geschrieben haben, nicht aufgezehrt ist, bleiben wir eben deren Studenten. Das gleiche gilt für alle Traditionen, die uns geprägt haben und die sich immer wieder von neuem so bewähren, daß sie von den nachwachsenden Generationen fortgeführt werden. Andererseits steht das suggestive Bild von der Mentorenrolle einer wissenswerten Überlieferung gar nicht zur Diskussion, wenn wir uns fragen, ob wir und wie wir aus der Geschichte lernen können. Nicht vom lautlosen Wirken einer mentahtätsprägenden Überlieferung, nicht von kultureller Eingewöhnung und Sozialisation ist dann die Rede, sondern von Lernprozessen. Und diese werden von Erfahrungen ausgelöst, die uns zustoßen, von
Problemen, die auf uns zukommen und an denen wir oft auf schmerzlich-folgenreiche Weise scheitern Aus tragenden Tradi tionen lernen wir stets auf unauffällige Weise, die Frage ist aber ob wu aus jenen Begebenheiten lernen können, in denen sich das Versagen von Traditionen spiegelt Ich spreche insbesondere von den Situationen, wo die Beteiligten den sie bedrängenden Proble men mit ihren erworbenen Einstellungen, Interpretationen und Fähigkeiten nicht gewachsen sind, ich meine enttauschende Situa tionen, wo Erwartungshonzonte - und damit die erwartungs stabilisierenden Überlieferungen selbst - in eine Krise geraten Wenn die Geschichte überhaupt zur Lehrmcistenn taugt, dann als eine kritische Instanz, an der, was wir im Lichte unseres kulturcl len Erbes bislang fur richtig gehalten haben, scheitert Dann fun giert die Geschichte als eine Instanz, die uns nicht zu Nacrnh mungen, sondern zu Revisionen herausfordert Fur meine Generation war das Jahr 1945 ein solches augenoff nendes Datum, es hat im Rückblick Aufstieg, Fall und Verbrc chen des Naziregimes enthüllt, namheh als eine Kette von knti sehen Begebenheiten sehen lassen, die das entsetzliche Scheitern einer kulturell hoch entwickelten Bevölkerung offenbar machte Dieses Jahr hat mindestens die deutschen Intellektuellen zu einer skrupulösen Überprüfung einer gescheiterten Tradition heraus gefordert Wir mußten uns über die Selektivität einer eigentum lieh verstummelten Wirkungsgeschichte klarwerden Diese hatte einen Kant ohne Mendelssohn, einen Novalis ohne Heine, einen Hegel ohne Marx, C G Jung ohne Freud, Heidegger ohne Gassi rer, Carl Schmitt ohne Hermann Heller präsentiert, sie hatte eine Philosophie ohne Wiener und ohne Fiankfurter Schule, junsti sehe Fachbereiche ohne Rechtspositivismus, eine Seelenkunde ohne Psychoanalyse übriggelassen, sie hatte aus Jakob Böhme, Hamann, Baader, Schelhng und Nietzsche den antiwestlichen Po panz einer »deutschen« Philosophie errichtet Was damals endgültig problematisch geworden war, ging frei lieh nicht nur die Intellektuellen an Der zuoberst gekehrte ini tionahstische Unterstrom der deutschen Überlieferung hüte schon 1914 große Teile der Bevölkerung ergriffen und gegen die »Ideen von 1789« mobilisiert, er hatte die vernunftrechththen Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaat als Ausgeburten ei nes mechanistischen Denkens hinweggespult, hatte alte, jetzt ins Rassistische gewendete antisemitische Stereotype auch im gebil
Aeten Bürgertum und seiner Mandannenkultur hoffähig gemacht \y/er heute, wie der Vorsitzende der stärksten Bundestagsfraktion, die rechtsstaathehe Trennung von Armee und Polizei in Frage stellt, wer, wie seinerzeit der Generalsekretär der CDU oder heute der bayerische Ministerpräsident, fremdenfeindhche Ressentiments schürt, rührt an solche Traditionen, und er muß Wissen, daß er an Traditionen rührt, die schon einmal an der kritischen Instanz der Geschichte gescheitert sind Wer gar diese In stanz selbst als »steinernen Gast der Vergangenheit« herauskomplimentieren mochte, zeigt nur, daß er aus der Geschichte nichts lernen will Gewiß ist es die Perspektive einer bestimmten Generation, aus der sich 1945 in dieser Weise als herausfordernde Zäsur abzeichnet. Aus anderen Perspektiven erscheinen andere Daten als ebenso einschneidend 1989 ist eine Zäsur, die auch dem letzten die Augen über Aufstieg, Fall und Verbrechen des Sowjetregimes geöffnet hat, diese Kette von Begebenheiten belehrt uns über das Scheitern eines beispiellosen, auch beispiellos unverantwort liehen Menschheitsexperiments Noch steht das Datum in den Sternen, das eines Tages das Scheitern eines anderen, anon) m über den Weltmarkt ausgeübten Regimes an7eigen konnte Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgebaute internationale Wirtschaftsordnung scheint nicht einmal in der Lage zu sein, innerhalb der O F C D-Gesellschaften der wachsenden Arbeitslosigkeit oder wenigstens der Obdachlosigkeit zu steuei n, geschweige denn die wachsenden Disparitäten zwischen den insgesamt wohl habenden Landern und dem verelendeten, weiter verelendenden Rest der Welt wenigstens in Grenzen zu halten Aus der Geschichte lernen' Das ist eine jener Fragen, auf die es theoretisch befriedigende Antworten nicht gibt Die Geschichte mag allenfalls eine kritische Lehrmeistenn sein, die uns sagt, wie wir es nicht machen sollen Als solche meldet sie sich freilich nur zu Wort, wenn wir uns eingestehen, daß wir versagt haben Um aus der Geschichte zu lernen, dürfen wir ungelöste Probleme nicht wegschieben und verdrangen, wir müssen uns fur kritische Erfahrungen offenhalten, sonst werden wir historische Begeben heiten gar nicht erst als Dementis - als Belege fur gescheiterte Erwartungen - wahrnehmen Beispiele fur solche Dementis liefert der Prozeß der deutschen Einigung, Beispiele anderer Art sind die rechtsradikalen Gewaltakte oder die ethnischen Konflikte im 173
ehemaligen Jugoslawien und anderswo, auch der Golf-Kneg und die Intervention in Somalia Wenn wir aus solchen Enttäuschungen lernen wollen, stoßen wir stets auf einen fragwürdig gewordenen Hintergrund von enttauschten Erwartungen Ein solcher Hintergrund bildet sich stets aus Traditionen, Lebensfoimen und Praktiken, die wir als Angehörige einer Nation, eines Staates oder einer Kultur teilen - aus Überlieferungen, die durch ungelöste Probleme aufgescheucht und in Frage gestellt sind Michael Stur mers Appell an den fraglosen Besitz von »Burgertugend oder Va terlandshebe« ist hingegen der sicherste Weg, um sich gegen Lehren aus der Geschichte zu immunisieren
Konzeptionen der Moderne Ein Rückblick auf zwei Traditionen
Wenn mich eine philosophische Gesellschaft einladt, über »Konzeptionen der Moderne« zu sprechen, geht sie von der keineswegs trivialen Voraussetzung aus, daß es sich dabei um ein philosophisches Thema handelt Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den klassischen Begriff der Moderne, wie er zunächst von Hegel bestimmt und mit gesellschaftstheoretischen Mitteln von Marx, Max Weber, dem frühen Lukacs und der alteren Frankfurter Schule entfaltet worden ist Diese Tradition hat sich am Ende aporetisch in die Sclbstbezughchkeit einer totahsierenden Vernunftkritik verstrickt Daher ist das Projekt einer selbstkritischen Vergewisserung der Moderne mit Hilfe eines anderen Vernunftbegriffs - dem einer sprachlich verkörperten und »situierten« Vernunft - fortgeführt worden Aus dieser linguistischen Wende sind freilich zwei konkurrierende Auffassungen hervoi gegangen die postmodernc »Überwindung« des normativen Selbstverstandnisses der Moderne einerseits, die intersub)ektivistische Umformung des klassischen Begriffs der zweideutigen Moderne andererseits I Ich mochte zunächst erklären, warum »die Moderne« überhaupt zu einem Thema der Philosophie geworden ist Dabei geht es genaugenommen um drei Fragen (i) Wann und warum haben sich Philosophen fur eine Deutung der spezifisch modernen Lebenslage - the modern condition - interessiert' (2) Warum nimmt diese philosophische Deutung der Moderne eine vernunftkritische Gestalt an' (3) Warum tritt die Philosophie die Durchfuhrung ihrer Interpretation an die Gesellschattstheone ab' (1) Das Wort »modernus« ist im spaten 5 Jahrhundert zunächst verwendet worden, um eine »christlich« gewordene Gegenwart von dci »heidnischen« romischen Vergangenheit /u unterscheiden ' Seitdem hat der Ausdruck die Konnotation einer 1
H R Jauss /ttcralurgtscbicbte ah Pyovokutwn Tiankfurt/M 1970,8 11 175
absichtlichen Diskontinuierung des Neuen vom Alten Der Aus druck »modern< wurde in Europa immer wieder benutzt, uni mit |eweils verschiedenen Inhalten - das Bewußtsein einer neuen Epoche auszudrucken Die Distanzierung von der unmittelbiren Vergangenheit gelingt zunächst durch den Ruckbezug auf die An tike oder auf irgendeine andere als »klassisch <, d h nachahmens wert ausgezeichnete Periode In dieser Weise hat sich die Renais sance, mit der nach unserem Verständnis das »moderne« Zeitalter beginnt, auf die griechische Klassik bezogen Um 1800 setzte hin gegen eine Gruppe junger Schriftsteller das Klassische in Gegen satz zum Romantischen, indem sie ein idealisiertes Mittelalter ils ihre normative Vergangenheit entwarf Auch dieses romantische Bewußtsein verrat den charakteristischen Zug eines neuen An fangs, der sich von dem, was nun transzendiert werden sollte, ib setzt Weil mit einer in die Gegenwart hineinreichenden Tradition gebrochen werden soll, muß der »moderne« Geist diese unmittcl bare Vorgeschichte entwerten und auf Abstand bringen, um sieh normativ aus sich selbst zu begründen Wie die berühmten Querelles des Anciens et des Modernes die Auseinandersetzungen mit den Wortführern einer klassizisti sehen Ästhetik im Frankreich des spaten 17 Jahrhunderts - /ei gen, bereiten die Kunst und die ästhetische Erfahrung den Boden fur das Verständnis von »Modernität« Jede Periode hatte ihren eigenen Stil hervorgebracht, lange bevor im 20 Jahrhundert dis avantgardistische Selbstverstandms der bildenden Kunst den Stil wandel beschleunigte und auf Dauer stellte Im Bereich der Kunst kann die Intensiv îerung des Bewußtseins selbsterzeugter Diskon tinuitaten nicht überraschen Jedoch breitet sich mit dem ausge henden 18 Jahrhundert allgemein ein neues historisches Bewußt sein aus - und ergreift am Ende sogar die Philosophie Hegel stellt explizit den »Bruch« mit der historischen Vergangenheit fest, den Franzosische Revolution und Aufklarung fur die Nachdenk hcheren unter seinen Zeitgenossen herbeigeführt hatten ' Jetzt steht die »moderne« zur »alten« Welt dadurch in Gegen satz, daß sie sich radikal zur Zukunft hin öffnet Der voruberge hende Moment der Gegenwart gewinnt dadurch Prominen/, d iß er jeder Generation von neuem als Ausgangspunkt fur die Erfis
(jjjje der Geschichte im ganzen dient Der Kollektivsingular »die« Geschichte ist, im Gegensatz zu den vielen Geschichten der verschiedenen Aktoren, eine Prägung des spaten 18 Jahrhunderts ' f)ie Geschichte wird nun als ein umfassender problemerzeugen der Prozeß erfahren - und die Zeit als knappe Ressource fur die Bewältigung dieser aus der Zukunft herandrängenden Probleme pie sich überstürzenden Herausforderungen machen sich als »Zeitdruck« fühlbar Dieses moderne Zeitbewußtsein betrifft die Philosophie in be sonderer Weise Bis dahin sollte sie )a, sollte Theorie überhaupt eine wahre Darstellung geben vom Wesen der Welt - von den allgemeinen, notwendigen und ewigen Zügen der Realität an sich Sobald jedoch die Philosophie auf ihren eigenen Standort in der Geschichte reflektieren muß, erhalt die Theorie - das Erfassen der Wahrheit - einen Zeitindex Im innerweltlichen Horizont einer Gegenwart, die die Quelle fluchtiger, kontingenter und je besonderer Ereignisse ist, verschrankt sich der Kontext der Rechtfer tigung mit dem der Entdeckung Wenn wahre philosophische Einsichten gleichwohl kontextunabhängige Gültigkeit sollen be ansprachen dürfen, muß die Philosophie diese beunruhigende Gegenwart durchdringen und auf den Begriff bringen Sie kann die Grenzen der historischen Lage, der der philosophische Gedanke selbst entspringt, nur dadurch zu überwinden suchen, daß sie »die Moderne« als solche begreift Hegel war der erste Philo soph, der dieses neue Bedürfnis, seine Zeit »in Gedanken zu erfas sen«, artikuliert Die Philosophie muß der Herausforderung der Zeit mit der Analyse der »neuen Zeit« begegnen Aber warum soll sie, warum kann sie die Moderne in der Form einer Kritik der Vernunft begreifen' (2) Weil die Moderne sich selbst im Gegensatz zur Tradition versteht, sucht sie sozusagen Halt in der Vernunft Auch wenn diejenigen, die sich als die Modernen verstehen, stets eine idealisierte Vergangenheit zu Nachahmung erfanden, muß jetzt eine reflexiv gewordene Moderne die Wahl dieses Modells nach eigenen Standards rechtfertigen und alles Normative aus sich selber schöpfen Die Moderne muß sich aus der einzigen Autorität, die sie übriggelassen hat, stabilisieren, eben aus Vernunft Denn allein im Namen der Aufklarung hatte sie die Tradition entwertet und
2 J Hibermas Derphdoiophucbe Dukun dir Moderne Frankfurt/M 1 S 1, 176
M
3 R Koselleck Vergangene Zukunft Frankfurt/M 1979 177
überwunden Aufgrund dieser Wahlverwandtschaft identifu lert Hegel das Bedürfnis der Moderne nach Selbstvergewisserung als »Bedürfnis der Philosophie« Philosophie, zur Hüterin der Ver nunft bestellt, begreift die Moderne als ein Kind der Aufklarung Nun hatte sich die neuere Philosophie seit Descartes auf Sub jektivitat und Selbstbewußtsein konzentriert Die Vernunft war in Begriffen der Selbstreferenz eines erkennenden Subjekts erklart worden, das sich gleichsam auf sich selbst zurückbeugt, um seiner als eines erkennenden Subjektes wie in einem Spiegelbild ansichtig zu werden Der Geist nimmt sich durch eine Selbstrcfle xion in Besitz, die das Bewußtsein als eine Sphäre nicht sowohl der Gegenstande als vielmehr der Vorstellungen von Gegenstan den erschließt Von dieser »Spekulation« macht Hegel Gebrauch wenn er das moderne Zeitalter durch ein Prinzip der Subjektivität kennzeichnet, das Freiheit durch Reflexion sichert »Es ist das Große unserer Zeit, daß die Freiheit, das Eigentum des Geistes, daß er in sich bei sich ist, anerkannt ist «4 Subjektivität ist ein fun dierender, in gewisser Weise ein fundamentalistischer Beguff Sie sichert die Art von Evidenz und Gewißheit, auf deren Grundlage alles übrige bezweifelt und kritisiert werden kann So ist die Mo derne stolz auf ihren kritischen Geist, der nichts als selbst verständlich akzeptiert, es sei denn im Lichte guter Grunde »Subjektivität« hat einen zugleich universalistischen und indivi dualistischen Sinn Jede Person verdient den gleichen Respekt aller Zugleich soll sie als Quelle und als letzte Instanz der Beur teilung ihres je spezifischen Anspruchs auf Gluck aneikannt wei den Insofern ist das Selbstverstandms der Moderne nicht nur durch theoretisches »Selbstbewußtsein« charakterisiert, durch eine selbstkritische Einstellung gegenüber allem Überlieferten, son dem auch durch die moralischen und ethischen Ideen der »Selbst bestimmung« und der »Selbstverwirkhchung« Hegel zufolgt hat dieser normative Gehalt der Moderne seinen Sitz in der Struktur der Vernunft selber und findet seine Erklärung im »Prinzip der Subjektivität« Da Kant von der Vernunft einen selbstkritischen Gebrauch gemacht und von den Vermögen der Vernunft einen transzendentalen Begriff entwickelt hatte, kann nun aber Hegel Kants drei Kritiken als maßgebende Interpretation des Selbstvu 4
G H
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Hegel, Werke, I-rankfurt/M , Bd 20, S 329
tandnisses der Moderne lesen Die Kritik der reinen Vernunft erklärt die Bedingungen der Möglichkeit einer objektivierenden f«Jaturwissenschaft, die den menschlichen Geist von metaphyischen Illusionen befreit Die Kritik der praktischen Vernunft erklart, wie Personen, indem sie sich aus Einsicht selbstgegebenen Gesetzen fugen, Autonomie erwerben Und die Kritik der Urteilskraft erklart die notwendigen subjektiven Bedingungen einer ästhetischen Erfahrung, die sich vom religiösen Kontext unabhängig gemacht hat Kant hatte praktische Vernunft und Urteilskraft von der theoretischen Vernunft unterschieden, ohne die formale Einheit der drei Vermögen preiszugeben Am Ende des 18 Jahrhunderts hatten sich diese Sphären des Wissens auch schon institutionell voneinander differenziert In den Sphären von Wissenschaft, Moral und Kunst wurden Wahrheitsfragen sowie Fragen der Gerechtigkeit und des guten Geschmacks unter j e verschiedenen Geltungsaspekten, aber unter denselben diskursiven Bedingungen einer »Kritik« erörtert Weil Kant die korrespondierenden Vernunft vermogen als Bestandteile der tianszendentalen Subjektivität untersucht hatte, brauchte Hegel nicht zu zogern, auch diese kulturellen Sphären von Wissenschaft und Forschung, Moral und Recht, Kunst und Kunstkritik als »Verkörperungen« des Prinzips der Subjektivität zu begreifen Diese Objektivationen boten sich einer Kritik der Vernunft ebenso an wie die Vermögen selbst (3) Wir verstehen nun, warum das Thema »Moderne« fur die Philosophie überhaupt Relevanz erhalten hat und warum es unter vernunftkntischen Gesichtspunkten analysiert worden ist Darüber hinaus erklart das neue Zeitbewußtsein die Art von »Krise«, auf die sich die kritische Selbstvergewisserung der Moderne bezieht »Kritik und Krise«3 wird zum Modell fur diese Analyse, weil sich das moderne Bewußtsein mit der Herausforderung konfrontiert sieht, mit Problemen fertig zu werden, die aus einem sich stetig erweiternden Horizont möglicher, immer kuhner antizipierter Zukunfte auf eine um so starker beunruhigte Gegenwart einstürmen Vor allem eins wird als »kritisch« erfahren - die wachsende gesellschaftliche Komplexität Diese geht namhch ! Vgl die gleichnamige Dissertation von R Koselleck, Kritik und Kme Eine Studie zur Pathogenese der buigerlichen Welt, Freiburg 1959 W9
Hand in Hand mit einer Differenzierung und zugleich t nttr-uJi tionahsierung einer Lebenswelt, die auf verwirrende Weise ih re kontingenz-absorbierenden Zuge von Vertrautheit, Transparenz und Zuverlässigkeit einbüßt Aus dieser defensiven Perspektive wird die »hereinbrechende« Moderne zunächst als Angriff auf die Sittlichkeit einer sozial integrierten Lebensform wahrgenommen - als eine Stoßkraft sozialer Desintegration Auf der Folie von »Kritik und Krise« kann Hegel Kants Vcr nunftkritik als eine lehrreiche, aber unvollständige, insofern nur symptomatische Deutung des rationalen Wesens der modernen Welt begreifen Hegel muß die Zuge des kantischen Spiegelbildes der Moderne, die auf der Rückseite des Spiegels verborgen blu ben, erst noch dechiffrieren Kant hatte innerhalb der Vernunft diejenigen Differenzierungen herausgearbeitet, denen in der kul tur die Sphären von Wissenschaft, Moral und Kunst entsprachen Aber aus Hegels Sicht hatte er die Kehrseite dieser produktiven Unterscheidungen nicht bemerkt Was auf der diskursiven Fbcne Differenzierungsgewinne waren, wurde innerhalb des I lon/onts sittlich integrierter Lebcnswelten als ebenso viele »Entzweiun gen« eines intuitiven Ganzen erfahren Kant hatte die schmerz liehe Abstraktion ebenso verkannt wie das Bedürfnis nach Wie derherstellung dei vorgangigen Totalitat auf einer höheren Stute Aus dieser Perspektive erweist sich das zunächst gefeierte Prin/ip der Subjektivität, und die mit ihm gesetzte Struktur des Selbstbe wußtseins, als eine bloß selektive Ansicht der Vernunft, die nicht mit dem Ganzen der Vernunft identifiziert werden darf Gew iß, die Verstandestatigkeit bringt subjektive Freiheit und Reflexion hei vor, ist kraftig genug, um die Traditionsmaeht der Religion zu untergraben fn der Vergangenheit war die Rehgion im wesent liehen der Garant der sittlichen Integration des gesellschaftlichen Lebens gewesen, und in der Gegenwart ist das religiöse Leben durch die Aufklarung erschüttert worden Dabei zeigt sich aber, daß das Prinzip der Subjektivität unfähig ist, im Medium der Ver nunft die einigende Kraft der Religion zu erneuern Gleichzeitig ist die religiöse Orthodoxie über der geistlosen Abwehr einer ib strakten Aufklarung zu einer Positivitat geronnen, die die Reh gion ihrer Bindungsenergien beraubt ' So erscheint die Kultur der Aufklarung aus Hegels Sicht nur ils 6 Vgl
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I h M S c h m i d t Anerkennung
und absolute
Religion
Stuttgart i y ; ^
/~egenstuck zur positiv erstarrten Religion Indem sie Reflexion und Zweckrationahtat an die Stelle der Vernunft setzt, betreibt sie Vernunftidolatrie Auf diese Weise entdeckt der junge Hegel denselben »Positivismus« auch in den anderen kulturellen und gesell„ghafthehen Bereichen, in denen sich das Prinzip der Subjektivität verkörpert hat - in der empinstischen Wissenschaft und der abstrakten Morahtat ebenso wie in der romantischen Kunst, im possessiven Individualismus des bürgerlichen Formalrechts und der Marktokonomie ebenso wie in der instrumenteilen Machtpohtik der großen Machte Die »Positivitat« entfremdender Institutionen und verdinglichter sozialer Beziehungen entlarvt das Prinzip der Subjektivität als eines der Repression, die nun als die verschleierte Gewalt der Vernunft selber auftritt Der repressive Charakter der Vernunft gründet in der Struktur der Selbstreflexion, d h in der Selbstreferenz eines erkennenden Subjekts, das sich selbst zum Objekt macht Dieselbe Subjektivität, die zunächst als Quelle von Freiheit und Emanzipation erschienen war - »erscheinen« im doppelten Sinne von Manifestation und Tauschung -, enthüllt sich als Ursprung einer wildgewordenen Objektivation Hegel erkennt in der - allerdings unverzichtbaren - analvtischen Kraft der Reflexion auch eine Gewalt, die, wenn sie sich von den Zügeln der Vernunft losmacht, ringsum alles vergegenständlicht, d h in Gegenstande möglicher Manipulation verwandelt Die sich selbst uberlassene »Reflexion« laßt entzweite organische Ganzheiten in ihre isolierten Teile zerfallen Sie zerlegt intersub jektive Beziehungen in die reziprok beobachteten Handlungsfolgen zweckrational entscheidender Aktoren in der Weise, daß die vereinzelten Individuen von den Wurzeln ihrer gemeinsamen Herkunft abgeschnitten werden Allerdings muß sieh Hegel selbst auf Reflexion einlassen Er muß sich in deren Medium bewegen, um die Negativitat einer Verstandestatigkeit zu denunzieren, die den Platz der Vernunft bloß usurpiert hat Er kann die Grenzen der Instrumentellen Vernunft selbst nur reflexiv aufzeigen Nur indem Hegel einen Akt der hoherstufigen Reflexion vollzieht, kann er deren Grenzen transzendieren So wird der eigene Gedanke performativ in die Bewegung der Dialektik der Aufklarung hineingezogen Wiederum ist es die Vernunft selbst, aus der eine vorbildlose, zukunftsoffene, neucrungssuchtige Moderne einzig ihre Orientierung gewinnen kann 181
Weil sich die Moderne derart in offenen Zukunftshonzonten bewegt, kann das der Dialektik der Aufklarung eingeschriebene Telos zunächst nicht mehr sein als ein Versprechen Hegel war sich über das Desiderat im klaren, daß die Einbildung der Vernunft in die Realität erst noch historisch nachzuweisen war Nicht der kri tische Blick auf die Moderne trennt den reifen Hegel vom jungen Die Problemstellung, die ich in gebotener Vereinfachung skizziert habe, ist dieselbe, aber erst der reife Hegel macht sich an die Durchfuhrung des Programms Er muß beides erfassen, sowohl die antagonistischen Erscheinungsformen der sozialen Desin tegration als auch die geschichtlichen Entwicklungen und die Mechanismen, aus denen sich eine Überwindung gegenläufiger Tendenzen, die Auflosung hartnackiger Konflikte verständlich machen laßt Die Philosophie des Rechts ist dann der Versuch, die ambivalenten Verkörperungen der Vernunft in der Gesellschaft, d h in den sozialen Ordnungen der Familie, der Marktwirtschaft und des Nationalstaats, auf den Begriff zu bringen Die Sphäre des Sozialen - was wir heute »Gesellschaft« nennen - hat sich allererst unter dem Gesichtspunkt einer Dialektik der Aufklarung als jener zutiefst zweideutige Phanomenbereich erschlossen, der nach einer kritischen Deutung verlangt7 Aus diesem Grunde ist die Philosophie auf eine Gesellschaftstheone angewiesen, die ihr zeitdiagnostisches Forschungsprogramm, im Rahmen der philosophischen Vorgabe einer Dialektik der Aufklarung, mit eigenen Methoden durchfuhrts
II Die Probleme jener folgenreichen Arbeitsteilung, die sich wah rend des beginnenden 20 Jahrhunderts zwischen Philosophie und Soziologie im Rahmen der von Hegel konzipierten Gegen 7 S Landshut, Kritik dtr Soziologie Freiheit und Gleichheit als Ursprung* prohlem der Soziologie in ders , Kritik der Soziologie Neuwied 1969 8 H Marcuse, Vernunft und Revolution Neuwied 1967 Die klassischen Ge sellschaftstheonen verstehen sich als Antworten aut die Krisentendenzen ihrer Gegenwart, vgl dazu J Habermas, Kritische und konservative Auj^d ben der Soziologie,
in d e r s , Theorie
und Praxis,
Frankfurt/M
i97i,S
1)0
306 siehe auch meine Abhandlung zur Soziologie in der Weimarer Repu bhk in J Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt/M i 9 9 i , S 184 204 182
«rartsanalyse eingespielt hat, mochte ich wiederum in drei Schritten behandeln Ich will (1) kurz daran erinnern, daß Max Webers Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung der Fragestellung einer »Dialektik der Aufklarung« verpflichtet ist In welchem Sinne diese Zeitdiagnose in eine Sackgasse fuhrt, zeigt sich an den aporetischen Konsequenzen der alteren Kritischen Theorie, die unter den Prämissen des westlichen Marxismus Max Webers Forschungsprogramm fortgeführt hat In meiner stark vereinfachenden Rekonstruktion bezeichnet (2) das Ende dieser Theoneent•vyicklung zugleich das Ende der zeitdiagnostischen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Soziologie Wahrend sich die Theorie rationaler Wahl und die Systemtheone sozusagen den empinschen Erklarungsanspruch des Programms zu eigen machen, setzt der Postmodernismus, indem er sich der von Heidegger und Wittgenstein entwickelten Konzeptionen der Vernunftkritik bedient, die Kritik der Moderne mit anderen Mitteln fort Aber diese Ansätze begegnen (3) ihren eigenen Schwierigkeiten Postmoderne Theorien begeben sich der Kriterien, anhand deren wir die universalistischen Errungenschaften von den kolomahsierenden Zügen der Moderne unterscheiden können Das weitere Problem der sogenannten Inkommensurabihtat von Sprachspielen und Diskursen wird uns veranlassen, im letzten Teil der Vorlesung einen alternativen Weg einzuschlagen (1) Max Weber stellt die europaische Modernisierung in den Zusammenhang eines weltgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung ' Wie Hegel beginnt er mit der Transformation und Auflosung umfassender religiöser Weltbilder, die ihre sinnstiftende Onentierungskraft verlieren Aus der Rationalisierung der abendländischen Kultur ergibt sich die bekannte Differenzierung zwischen »Wertspharen« Im Gefolge von Rickerts Neukantianismus geht Weber davon aus, daß jede dieser Sphären - Wissenschaft, Recht und Moral, Kunst und Kritik - einer jeweils eigenen Logik von Tatsachen-, Gerechtigkeits- und Geschmacksfragen gehorcht Konflikte zwischen diesen Wertspharen können nicht mehr rational, vom höheren Standpunkt eines religiösen oder kosmologischen Weltbildes aus, beigelegt werden Aber ebensowenig kann die Einheit eines von der Gesellschaft mter9 Zu der im folgenden stark stilisierenden Darstellung der Weberschen Zeit diagnose vgl ausfuhrlicher J Habermas Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M i98i,Bd 1, S 225 366 183
subjektiv geteilten Weltbildes, im Namen von objektivierender Wissenschaft oder Vernunftmoral, durch die einigende Kraft der theoretischen oder praktischen Vernunft ersetzt werden. Weber konzentriert sich auf den Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung, der durch das Tandem von Verwaltungsstaat und kapitalistischer Wirtschaft vorangetrieben wird. Auf der Grundlage der funktionalen Differenzierung von Staat und Wirtschaft ergänzen sich beide Seiten - ein von Steuerressourcen abhängiger Verwaltungsapparat und eine pnvatrechthch institutionalisierte Marktwirtschaft, die ihrerseits von staatlich garantierten Rahmenbedingungen und Infrastrukturen abhängt. Die institutionellen Kerne der beiden Bereiche - staatliche Bürokratie und Unternehmensorganisation - betrachtet Weber als die erklärungsbedürftigen evolutionären Errungenschaften der gesellschaftlichen Moderne. Zusammen mit dem positiven Recht sind sie sozusagen die Schrittmacher der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Erklärung, die Weber anbietet, erinnert an Hegel. Während dieser die signifikanten Bereiche moderner Gesellschaften als Verkörperungen einer subjektzentrierten Vernunft begriffen hatte, versteht Weber die Modernisierung der Gesellschaft als eine Institutionalisierung zweckrationalen Handelns vor allem in den beiden dynamischen Kernsektoren von Staat und Wirtschaft. Für Weber gilt eine Organisation in dem Maße als »rational«, wie sie ihre Mitglieder instandsetzt und dazu anhält, zweckrational zu handeln. Die beiden zentralen Organisationen scheinen unter diese Beschreibung zu fallen - auf der einen Seite die moderne Staatsanstalt, die eine rechtlich kalkulierbare, weil zuverlässige und effiziente Arbeitsteilung zwischen kompetent geschulten und hoch spezialisierten Fachbeamten implementiert, auf der anderen Seite das kapitalistische Unternehmen, das für eine wirtschaftliche Allokation der Produktionsfaktoren sorgt und dem Druck von Wettbewerb und Arbeitsmarkt mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität begegnet. Kurzum, der bürokratische Staat ist auf das fachkompetente und zweckrationale Verwaltungshandeln der Beamten, die marktwirtschaftliche Produktionsweise auf die rationale Wahl und die qualifizierte Arbeitskraft von Managern und Arbeitern zugeschnitten. Für die Motivationsgrundlage der Eliten, die die neuen Institutionen tragen, entwickelt Weber das bekannte Argument einer Wahlverwandtschaft zwischen protestantischen Sekten und dem Geist des 184
Kapitalismus. Dieser historische Anfangszustand stellt freilich nur die Weichen für einen selbstdestruktiven Entwicklungs»yklus, den Weber nach dem Muster einer- allerdings stillgestellten - Dialektik der Aufklärung analysiert. Im Gefolge des Zerfalls traditionaler Weltbilder und einer daraufhin einsetzenden Rationalisierung der Kultur verbreiten sich privatisierte Glaubenseinstellungen und eine internalisierte Ge^issensmoral. Zumal die »protestantische Ethik« fördert eine rationale Lebensführung und sichert dadurch eine wertrationale Verankerung zweckrationaler Verhaltensweisen. Aber im Verlaufe der fortschreitenden Modernisierung hat sich dann die Organisationsrationalität der immer weiter verselbständigten administrativen und ökonomischen Handlungsbereiche von dieser motivationalen Grundlage religiöser Wertorientierungen gelöst. Die evolutionär neuen, rechtlich konstituierten Handlungsbereiche, die zunächst die Emanzipation der Einzelnen aus den korporativen Vergemeinschaftungen der vormodernen wie der frühbürgerlichen Gesellschaft möglich gemacht hatten, verwandelten sich schließlich in das, was Weber als »stählernes Gehäuse« beklagt. Marx hatte schon höhnisch den ambivalenten Sinn registriert, den der Begriff »Freiheit« im Ausdruck »freie Lohnarbeit« annimmt - frei von feudalen Abhängigkeiten, aber auch frei für das kapitalistische Schicksal von Ausbeutung, Armut und Arbeitslosigkeit. Angesichts der wachsenden Komplexität verselbständigter Handlungssysteme beobachtet Weber nun überall eine Konversion von Freiheiten in Disziplinen. Ausgehend von den disziplinierenden Zwängen der Bürokratisierung und Verrechtlichung entwirft er das schwarze Bild einer verwalteten Gesellschaft. Im Unterschied zu Hegels Diagnose wird die Dialektik der Aufklärung gleichsam angehalten und bleibt unvollendet. Denn gegenüber dem »Charisma der Vernunft« bleibt Weber skeptisch. Ohne Rekurs auf die Bewegung einer totalisierenden Vernunft sieht er keinen Ausweg für eine Bewältigung der sozialen Desintegration und für den Übergang zu einer weniger fragmentierten und friedlicheren Gesellschaft. Aus seiner Sicht können die »Entzweiungen« einer instrumenteilen Vernunft, die die ganze Gesellschaft durchdringen, nicht innerhalb der Sphäre der Gesellschaft selbst überwunden werden. Weber versteht »Freiheitsverlust« und »Sinnverlust« als existentielle Herausforderungen für ein185
zelne Personen Jenseits der vergeblichen kollektiven Hoffnung auf Versöhnung innerhalb der sozialen Ordnungen selbst bleibt nur die absurde Hoffnung eines trotzigen Individualismus Allein dem starken, auf sich gestellten Subjekt kann es in glücklichen Fallen gelingen, der rationalisierten und damit zerrissenen Gesell schaft einen einheitsstiftenden Lebensentwurf entgegenzusetzen Mit dem heroischen Mut des Verzweifelten kann das entschlossene Individuum im Anblick der unlösbaren sozialen Konflikte Freiheit bestenfalls privat, in der eigenen Lebensgeschichte ver wirklichen Diese Vision der verwalteten Gesellschaft ist in der Tradition des westlichen Marxismus von Lukacs bis Adorno noch einmal radikahsiert worden Aus dieser Perspektive erscheint die Hoff nung auf die Widerstandskraft des starken Einzelnen nur noch als Residuum einer vergangenen liberalen Epoche Wie dem auch sei, die frühe kritische Theorie hat sich der Mittel der analytischen Sozialpsychologie bedient, um die Annahme zu verteidigen, daß die jeweils herrschenden Soziahsationsmuster die funktionalen Im perative des Staates und der Ökonomie von der Ebene der Insti tutionen auf die Ebene der Personhchkeitsstrukturen ubertra gen 1= Die zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit Faschismus und Stahmsmus bestätigten das so entstehende Bild einer totalitär in tegnerten Gesellschaft Diese hat den Widerstand der heroischen, im stählernen Gehäuse bloß gefangengehaltenen Individuen langst gebrochen und kann mit der Willfährigkeit der ubersozia hsierten, an ihre disziphnare Matrix angepaßten Subjekte rech nen Kultunndustne und Massenmedien gelten als die äugen fälligsten Instrumente der gesellschaftlichen Kontrolle, wahrend Wissenschaft und Technik als hauptsächliche Quelle einer die Gesellschaft im ganzen durchdringenden instrumentellen Rationali tat erscheinen Die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno kann man als eine Rückübersetzung der Weberschen Thesen in die Sprache der Hegelmarxistischen Geschichtsphilosophie ver stehen Sie fuhrt den Ursprung der instrumentellen Vernunft auf den Augenblick der ersten Trennung des subjektiven Geistes von der Natur zurück Andererseits besteht eine offensichtliche Dif ferenz zu Hegel Bei diesem bleibt die Herrschaft von Reflexion i o E b d a , S 455 186
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oder Verstand nur ein Moment in der Bewegung einer Koalisierenden, sich selbst einholenden Vernunft Bei Horkheimer und Adorno hat die subjektive Rationalität, die die äußere wie die innere Natur im ganzen instrumentalisiert, den Platz der Vernunft endgültig besetzt, so daß Vernunft erinnerungslos in »înstrumcnteller Vernunft« aufgeht Diese Identifikation laßt die mstrumentelle Vernunft ohne eine intrinsische, in ihr selbst verwurzelte Gegenkraft Eine gegenstrebige Tendenz äußert sich nur noch im gingedenken der »mimetischen« Kräfte Mimetisch nennen Benjamin und Adorno die sehnsuchtigen Klagen einer unterdruckten und verstummelten Natur, die ihrer eigenen Stimme beraubt ist, sich aber in der Sprache der avantgardistischen Kunst zu Wort meldet Die ambivalenten Zuge sind aus dem einebnenden Bild einer totalitären Moderne weitgehend getilgt Der Hegeischen Dialektik der Aufklarung ist die Spitze abgebrochen Schlimmer noch, indem sich die instrumenteile Rationalität zu einem unvernunftigen Ganzen aufbläht, verstrickt sich die Kritik des unwahren Ganzen in eine Apone Sobald die Kritik der instrumentellen Vernunft nicht mehr im Namen der Vernunft selbst durchgeführt werden kann, verliert sie, und damit die Kritik der Moderne, eine eigene normative Grundlage Adorno hat aus der Not der Apone, deren sich eine selbstbezugliche Kritik gleichsam im Vollzug inne wird, die Tugend der Negativen Dialektik gemacht Er ist dem Unternehmen einer eingestandenermaßen paradoxen, einer »bodenlosen« Kritik treu geblieben, indem er genau die Bedingungen dementiert, die erfüllt sein mußten, damit das Geschäft der in actu ausgeübten Kritik möglich wird (2) Angesichts dieser Schwierigkeit lag es nahe, den einen oder den anderen Teil des ursprünglichen Projektes aufzugeben Die eine Seite, die eine Theorie der gesellschaftlichen Moderne weiter verfolgt, gibt die philosophische Idee einer selbstkritischen Vergewisserung der Moderne auf, wahrend die andere Seite, die die philosophische Kritik fortfuhrt, die Dialektik der Aufklarung und die Verbindung zur Gesellschaftstheone preisgibt Das Ende der kooperativen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Gesellschaftstheone bedeutet die Entkoppelung eines kritischen Selbstverstandmsses der Moderne von der empirischen Beobachtung und deskriptiven Erfassung ihrer gesellschaftlichen Krisentendenzen 187
Die deskriptiven Ansätze behalten von der klassischen Konzeption der Moderne eine Grundannahme bei Sie gehen namlitn davon aus, daß moderne Gesellschaften den einen oder anderen Rationahtatstypus verkörpern Das gilt jedenfalls fur die beiden erfolgreichsten soziologischen Ansätze der Gegenwait, fur die Theorie rationaler Wahl und die Sy stemtheone Sie konzentrieren sich jeweils auf einen der beiden Rationahtatsaspekte, die Max Weber ingeniös miteinander verknüpft hatte - einerseits auf die Zweckrationahtat einzelner Aktoren, andererseits auf die funktionale Rationalität großer Organisationen Innerhalb der Grenzen eines methodologischen Individualismus versucht die Theorie rationaler Wahl, Interaktionsmuster aus den Entscheidungen von »rational« handelnden Subjekten zu erklaren Die S\ stemtheone laßt sich andererseits auf einen kollektivistisch zugeschnittenen Theonerahmen ein und reformuliert das, was Weber als Orgamsationsrationahtat betrachtete, in den funktionalisti sehen Begriffen der Selbstregulation oder der Autopoiesis So gelangt man zu zwei konkurrierenden Bildern Fur die eine Seite bestehen moderne Gesellschaften aus locker gewebten Netzwerken, die aus der Interferenz der zahllosen, von je eigenen Präferenzen geleiteten Entscheidungen mehr oder weniger rationaler Aktoren hervorgehen Fur die andere Seite zerfallen moderne Gesellschaften in eine Vielzahl unabhängig operierender, selbstreterentiell geschlossener Systeme, die Umwelten fur einander bilden und nur indirekt, über wechselseitige Beobachtungen, miteinander kommunizieren Wegen des völligen Fehlens von intersub]ek tiv geteilten Werten, Normen und Verstandigungsprozessen ähneln beide Visionen in der einen oder anderen Hinsicht Max Webers Konzeption der verwalteten Welt Allerdings gelten soi ehe Zuge nun nicht mehr als Indikatoren von Sinn- und Freiheits Verlust oder fehlender sozialer Integration Deskriptive Theorien lassen ja fur Bewertungen keinen Raum, sie suggerieren nur insofern eine affirmative Einstellung, als die zugrundeliegenden Ri tionalitatsbcgnffe, die fur die Wahl des jeweiligen theoretischen Rahmens konsumtiv sind, der Reflexion und jedem Zweifel ent zogen sind Ein kritisches Selbstverstandnis der Moderne erfordert ein an deres Herangehen Dafür bieten Heidegger und Wittgenstein ci nen alternativen Begriff von Vernunft und ein neues Verfahren der Vernunftkritik an Beide gelangen jeweils auf ihre Weise zu 188
einer Kritik der subjektzentrierten Vernunft, die sich nicht langer auf die Koalisierende Kraft der Hegeischen Vernunft und Jeren Dialektik verlaßt In destruktiver Hinsicht weisen sie wiederum eine wildgewordene instrumenteile Vernunft in ihre Schranken Die Vernunft wird wiederum mit den Operationen eines vergegenständlichenden und manipulierenden Verstandes gleichgesetzt, mit »vorstellendem Denken« und philosophischer Abstraktion, mit der Verfügungsgewalt und der Disziplin einer sich selbst behauptenden und narzißtisch ihrer selbst bemächtigenden Subjektivität Aber in konstruktiver Hinsicht wird an Seins- oder Naturgeschichte, an »das Andere der Vernunft« appelliert Obwohl sich der Akzent von den soziookonomischen und politischen Erscheinungen auf die kulturellen Phänomene verlagert, ist Heideggers Kritik von Wissenschaft und Technik, von Naturausbeutung, Massenkultur und anderen Ausdrucksformen des totalitären Zeitalters ein Gegenstuck zu der Verdinglichungskntik des westlichen Marxismus In Deutschland waren im Gefolge der einflußreichen Geisteswissenschaften Historismus und Lebensphilosophie entstanden und hatten die Annahme einer invarianten transzendentalen Ausstattung des erkennenden Subjekts erschüttert Schon zu Diltheys Zeiten fielen die mentahstischen Grundbegriffe von Subjektivität und Selbstbewußtsein, Rationahtat und Vernunft einer Art Detranszendentahsierung zum Opfer. Mit der Wende von der transzendentalen Untersuchung zur Hermeneutik wurden die Weichen fur eine symbolisch verkörperte, in kulturelle Kontexte eingelassene, historisch situierte Vernunft gestellt Jene weltbildende Spontaneität, die bis dahin das transzendentale Bewußtsein ausgezeichnet hatte, ging über auf symbolische Formen (Cassirer), Stile (Rothacker) Weltbilder (Jaspers) oder sprachliche Regelsysteme (Saussure) Kant hatte die Vernunft als das Vermögen der Ideen begriffen, die die Mannigfaltigkeit des unendlich Vielen zu einer Totalitat erganzen Die Ideen entwerfen einerseits das Ganze von möglichen, nach kausalen Gesetzen in Raum und Zeit verknüpften Erscheinungen Andererseits sind sic fur ein Reich von Zwecken als Gesamtheit von intelligiblen, nur ihren selbstgegebenen Gesetzen unterworfenen Wesen konstitutiv Mit der Hegeischen Kantkritik haben die Ideen darüber hinaus die Kraft zu einer reflexiven Selbsteinholung ihrer eigenen Objektivationen und damit zur be189
wußten Reintegration der auf immer höheren Stufen fortschrei tenden Differenzierung erworben Die großgeschriebene Vernunft gab nun dem Weltprozeß im ganzen die Struktur eines Ganzen von Ganzheiten Demgegenüber rekonstruiert Heidegger die Geschichte der Metaphysik als eine schicksalhafte Folge epochaler Weltersehließungen, die einen Spielraum fur die jeweils möglichen Interpretationen und Handlungsweisen in der Welt festlegen ' ' In die Syntax und in das Vokabular der Sprachen, die jeweils in einem metaphysischen Zeitalter vorherrschen, sind Ontologien eingebaut Und diese bestimmen wiederum den Umkreis wie auch die Infrastruktur der Welten, innerhalb deren sich die Sprachgemeinschaften jeweils vorfinden Sie kategonsieren, mit anderen Wor ten, das holistische Vorverstandnis der Angehörigen, das allem, was ihnen irgend in der Welt begegnen kann, eine Bedeutung a priori verleiht Die sprach- und handlungsfähigen Subjekte können die innerweltlichen Vorkommnisse nur durch die tiefengrammatisch eingestellten Linsen dieser vorontologischen Auslegung der Welt betrachten und feststellen, was welche Relevanz hat und wie es sich den vorgezeichneten Kategorien möglicher Beschreibung fugt Wie sie etwas in der Welt wahrnehmen und mit ihm zurechtkommen, hangt von der Perspektive der sprachlichen Welterschließung ab, gleichsam von dem Licht, mit dem der sprachliche Scheinwerfer alles illuminiert, was sich m der Welt überhaupt ereignen kann Das ist eine optische Metapher fur den Rahmeneffekt der Grundbegriffe und semantischen Verknüpfungen, der Relevanzen und Rationalitatsstandards Fur jede Sprach gemeinschaft legen die im weiteren Sinne grammatischen Strukturen im vorhinein fest, welche Äußerungen als wohlgeformte, sinnvolle oder gültige Äußerungen zahlen dürfen Im Hinblick auf ihre welterschließende Funktion begreift Heidegger Sprache als ein Ensemble von ermöglichenden Bedingungen, die, ohne selber rational oder irrational zu sein, a priori bestimmen, was de nen, die sich innerhalb ihres grundbegrifflichen Horizonts bewegen, als rational oder irrational erscheint Darin stimmt Wittgenstein mit Heidegger mehr oder weniger uberein So stellt es sich jedenfalls aus der Sicht eines Kontextua hsmus dar, der ruckblickend die Konvergenzen zwischen den bei il C Latont, Sprache nnd Welterscbließung, Frankfurt/M 1994 190
den Denkern betont u Mit seinem Konzept der Sprachspiele konzentriert sich Wittgenstein ebenfalls auf die Funktion der ^elterschheßung Aufgrund der internen Beziehung zwischen Sprechen und Handeln ist die »Grammatik« einer Sprache auch fur eine entsprechende Praxis oder Lebensform konsumtiv Wittgenstein und Heidegger machen es der philosophischen Tradition (jzw. der Metaphysik zum Vorwurf, diese Dimension der sprachlichen Welterzeugung zu ignorieren Die Ablehnung der »platonistischen« Irrtumer bildet den gemeinsamen Ausgangspunkt fur das, was sie nun-in einem ganz neuen Sinne- unter Kritik der Vernunft verstehen Nach Heidegger machen sich Plato und der Platomsmus der »Seinsvergessenheit« schuldig Sie »vergessen« den sinnstiftenden Hintergrund des ontologischen Vorverstandtusses, das jeweils fur eine geschichtlich spezifische Rolle von Rationalität und Vernunft den Kontext bildet Nach Wittgenstein gewinnt die idealistische Tradition ihre Grundbegriffe durch die Abspaltung vom Kontext jener sprachlichen Praktiken, in denen sie ihren angemessenen Platz finden und »funktionieren« Die metaphysischen Begriffe einer selbstgenugsamen Vernunft, die sich insofern fur absolut halt, als sie noch ihre eigenen Bedingungen unter Kontrolle zu haben glaubt, verdanken sich abstraktiven Fehlschlüssen Fur Heidegger wie fur Wittgenstein erreicht der transzendentale Schein einer unbedingten und reinen, kontextunabhängigen und allgemeinen Vernunft im mentahstischen Paradigma den Höhepunkt der Verblendung Aber im Gegensatz zu Hegel kann sich die Kritik dieser subjektzentrierten oder mstrumentellen Vernunft nicht mehr arglos der spekulativen Bewegung der Selbstreflexion anvertrauen Die Vernunftkntik verwandelt sich vielmehr m eine Hermeneutik des Verdachts, die im Rucken der Vernunft das Andere der Vernunft entlarven will Nur auf diesem genealogischen Wege wird eine zum Idol erhobene Subjektivität m jenen geschichtlichen Kontext der eigenen Herkunft zurückversetzt, den die abstrakte Vernunft als ihr Unbewußtes vor sich selbst verbirgt Verschiedene postmoderne Theorien machen sich diese rekontextuahsierende Vernunftkritik in der einen oder anderen Version zu eigen Weil sie Vernunft mit den Operationen des Verstandes 12 Sehr früh, mmhth 1962, erkennt das bereits K O Apel in seiner Kieler Antrittsvorlesung über Wittgenstein und Heidegger, vgl ders , Transfor mation der Philosophie, Bd 1, Frankturt/M 1973, S 225 275 191
identifizieren, behalten sie von der Autorität der vergangeneu metaphysischen Begriffe einer umfassenden Vernunft nichts zurück - auch nicht jenen Stachel der Erinnerung, der Adorno quält, wenn er im letzten Satz seiner Negativen Dialektik einer entthronten Metaphysik »im Augenblick ihres Sturzes« seine Solidantat bezeugt So undifferenziert sehen es vielleicht nicht die Meister, aber die Schuler, die die postmoderne Kritik der Vernunft direkt und vorbehaltlos gegen die Aufklarung und ihre Dialektik in Stellung bringen Diese Vernunftkntik soll nicht nur das Götzenbild einer unbedingten und reinen Vernunft zerstören, sondern die Ideen von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirkhchung ihrer normativen Verbindlichkeit berauben Sie soll nicht nur die falschen Pratentionen der Vernunft entlarven, sondern Vernunft als solche entmachtigen Die Attacke auf den »Geist der Moderne« soll die Menschheit von der Praokkupation heilen, sie stehe vor der Herausforderung, den Problemdruck von zu vielen zu ausgreifend antizipierten Zukunttsmoglichkeiten zu bewältigen Der »locus of control« verlagert sich von den überforderten Subjekten entweder auf die schicksalhaften Ereignisse einer Geschichte des Seins oder auf die zufälligen Vernetzungen einer Naturgeschichte der Sprachspiele (3) An dem heilsamen Einfluß des Postmodernismus aut die gegenwartigen Debatten habe ich keinen Zweifel Die Kritik an einer Vernunft, die dem Ganzen der Geschichte eine Teleologie unterschiebt, ist ebenso überzeugend wie die Kritik an der lâcher lichen Pratention, aller gesellschaftlichen Entfremdung em Ende zu bereiten Die Betonung von Fragmentierung, Riß und Marginahsierung, von Andersheit, Differenz und Nicht-Identischem sowie der Blick fur die Besonderheiten des Lokalen und des Linzelnen erneuern Motive der alteren Kritischen Theorie, vor allem Benjamins Sofern sie den Widerstand gegen die Kräfte des ab strakt Allgemeinen und der Uniformierung starken, nehmen sie auch Hegels Motive wieder auf Aber diese willkommenen Konsequenzen verdanken sich fragwürdigen Prämissen, die, wenn sie zutrafen, einen hohen Preis fordern wurden Ich mochte zunächst zwei Schwachen kommentieren (a) eine bestimmte Art des sprachlichen Idealismus und (b) das fehlende Verständnis fur dit universalistischen Errungenschaften der Moderne (a) Die rekontextuahsierende Vernunftkritik stutzt sich auf eine Analyse der welterschließenden Funktion der Sprache Dis 192
«•klart eine gewisse Neigung, die Bedeutung von Grammatiken und Vokabularen fur die Konstitution gesellschaftlicher Infrastrukturen zu überschätzen Heidegger hatte schon Texte und Traditionen der abendlandischen Metaphysik mit der einzigartigen Macht ausgestattet, aufgrund eines vorgeschossenen Kategoriennetzes oder Begriffsschemas nicht nur die Alltagserfahrungen und -theonen, sondern allgemein die kulturellen und gesellschaftlichen Praktiken ganzer Epochen zu durchdringen und zu strukturieren Auf diese Weise sollte sich die hintergrundige Geschichte der abendländischen Metaphysik in der vordergründigen Weltgeschichte widerspiegeln Eine ahnliche, wenn auch weniger dramatische Angleichung hegt nahe, wenn Wittgenstein die Struktur von Lebensformen mit der Grammatik von Sprachspielen gleichsetzt Anders als in der klassischen Gesellschaftstheone werden Interaktionsmuster, institutionelle Ordnungen und Normen in Begriffen von Ontotogien oder Grammatiken untersucht. Von Marx bis Durkheim und Max Weber waren soziale Tatsachen durch Aspekte von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung, von erzwungenem Opfer und versagter Befriedigung analysiert worden. Die Analvsestrategie, die Heidegger und Wittgenstein nahelegen, fuhrt die Faktizitat solcher Beschrankungen auf die sublimere Gewalt der Selektivität von Regeln zurück, die Art und Aufbau philosophischer Texte und metaphysischer Traditionen, literarischer Stile, theoretischer Paradigmen und professioneller Diskurse bestimmen Diese Verschiebung erklart, warum postmoderne Forschungsprogramme eher mit Werkzeugen der philologischen und ästhetischen Kritik als mit solchen der soziologischen Kritik hantieren Wahrend die klassischen Konzeptionen der Moderne auf Erfahrungen von sozialer Desintegration und auf die Verletzung universalistischer Normen zugeschnitten waren, richten postmoderne Ansätze ihr Interesse vor allem auf Exklusion - auf den ausschließenden Charakter jener unbewußt operierenden Regelsysteme, die den Sprechern und Aktoren unauffällig auferlegt werden So kann beispielsweise Foucault soziale und politische Geschichte in Begriffen einer Geschichte humanwissenschaftlicher Diskurse schreiben In ähnlicher Weise schreiben jüngere Soziologen die Geschichte der modernen Gesellschaften in Begriffen einer Geschichte moderner Gesellschaftsthcoricn - als Waren die materiellen Strukturen der Gesellschaft von den '93
Grundbegriffen und Diskursen der Wissenschaftler konstituiert worden 13 (b) Fur die rekontextualisierende Vernunftkntik bildet die Tugend, die Vernunft von ihren falschen Abstraktionen zu befreien zugleich den blinden Fleck Postmoderne Ansätze nehmen jeden universalistischen Anspruch per se als ein weiteres Anzeichen fur den Imperialismus einer verschleierten Partikulantat, die vorgibt, fur das Ganze einzustehen Diese Analysestrategie bewahrt sich (übrigens schon seit Marx) bei der Entlarvung eurozentnseher Überlieferungen und Praktiken, sie fordert allgemein die De/entnerung beschrankter Perspektiven Der Argwohn gegenüber Mechanismen der Ausschließung, die ja in die verborgenen Vor aussetzungen von universalistischen Diskursen tatsachlich oft eingebaut sind, ist gut begründet - as far as it goes Manchen postmodernen Theorien fehlt aber eine hinreichende Empfindlichkeit fur die spezifische Verfassung jener in der Moderne entstandenen und fur die Moderne kennzeichnenden Diskurse Aus der richtigen Prämisse, daß es keine Vernunft im Nullkontext gibt, ziehen sie den falschen Schluß, daß sich die Maßstabe der Vernunft selbst mit jedem neuen Kontext andern Es ist nicht der Anspruch auf vollständige Inklusion, der moderne von anderen Diskursen unterscheidet Schon die Botschaft der in den Alten Reichen entstandenen Weltrehgionen war »an alle« adressiert und sollte jeden, der sich bekehrte, in den Diskurs der Glaubigen einbeziehen Was die modernen Diskurse, sei es in Wissenschaft, Moral oder Recht, auszeichnet, ist etwas anderes Diese Diskurse richten sich nach Prinzipien und unterwerfen sich selbstbezughchen Standards, in deren Licht faktische Verstoße gegen die Forderung nach vollständiger Inklusion zugleich entdeckt und kritisiert werden können-z B eine verborgene Selektivität im Hinblick auf die Zulassung von Teilnehmern, Themen oder Beitragen Diese rekursive Selbstkontrolle und Selbstkorrektur erklart die spezifische Leistung dieser prinzipienbasierten, selbstbezughchen Diskurse Gewiß entsteht mit der selbstreferentiellen Verfassung und Operationsweise auch eine besondere Form diskursiver Gewalt, die im Modus einer verdeckten, weil impliziten Verletzung des expliziten Versprechens der Inklusion ausgeübt wird Allein, die bloße Tatsache, daß universalistische 13 P Wagner, Soziologie der Moderne, Frankfurt/M 1995 194
piskurse oft als Medium der Verschleierung sozialer und politischer, epistemischer und kultureller Gewalt mißbraucht werden, ist kein Grund dafür, das mit dieser Diskurspraxis verknüpfte Versprecnen selbst zu revozieren - und zwar um so weniger, als diese Praxis gleichzeitig die Maßstabe und die Mittel liefert, um die ernsthafte Einlösung des Versprechens zu kontrollieren Die postmodernen Ansätze denunzieren mit Recht die kolonialisierenden Effekte der weltweit zur Herrschaft gelangten Kommunikationsmuster und Diskurse westlicher Herkunft Das gilt fur einen großen Teil der materiellen und symbolischen Kultur der westlichen Zivilisation, die sich über die globalen Netzwerke von Markten und Medien ausbreitet Aber solche Theorien sind schlecht gerüstet fur die Aufgabe, zwischen kolomahsierenden und überzeugenden Diskursen zu unterscheiden, zwischen Diskursen, die ihre weltweite Verbreitung Systemzwangen verdanken, und anderen, die sich aufgrund ihrer Evidenzen durchsetzen Westliche Wissenschaft und Technologie sind ja nicht nur nach westlichen Standards überzeugend und erfolgreich Und offenbar sprechen die Menschenrechte, trotz der anhaltenden interkulturellen Auseinandersetzungen über ihre richtige Interpretation, eine Sprache, in der Dissidenten ausdrucken können, was sie erleiden und was sie von ihren repressiven Regimen fordern - in Asien, Sudamerika und Afrika nicht weniger als in Europa und den Vereinigten Staaten
III Die Diagnose der Moderne beruht, solange sie mit Mitteln der Vernunftkritik vorgenommen wird, auf philosophischen Überlegungen Die klassische Konzeption der Moderne ist, wie wir gesehen haben, unter Prämissen der Bewußtseinsphilosophie entwickelt worden Nach der linguistischen Wende ist der mentalistische Begriff einer im Subjekt zentrierten Vernunft durch den detranszendentahsierten Begriff der situierten Vernunft ersetzt worden Damit war der Weg zu einer postklassischen Kritik der Moderne gebahnt Gerade aus dieser philosophischen Grundlegung erwachst jedoch postmodernen Theorien eine eigentümliche Schwierigkeit Denn die Behauptung der Inkommensurabilitat der verschiedenen Paradigmen und der dann eingelassenen 19s
»Rationalitäten« ist schwer mit der hyperkritischen Einstellung der postmodernen Theoretiker selbst zu vereinbaren Ich werde zunächst (i) dieses Problem der Inkommensurabihtat untersuchen und auf metakritischem Wege die Wendung zu einer präg matischen Sprachbetrachtung begründen Diese pragmatische Wende fuhrt (2) zu einem Begriff der kommunikativen Vernunft, der den Weg zu einer neoklassischen Konzeption der Moderne bahnt Diese Diagnose kehrt, wie ich (3) am Beispiel des Theorems der reflexiven Modernisierung belegen will, zur Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Gesellschaftstheone zurück (1) Jede rekontextuahsierende Vernunftkritik ist in die Grenzen einer immanenten Kritik gebannt, da sie die falschen Pratentionen der reinen Vernunft mit Bezugnahme auf ]enen lokalen Hintergrund kritisiert, dem die vermeintlich unbedingten Rationahtatsstandards in Wahrheit verhaftet sind Wir können die abstraktiven Fehlschlüsse eines prätentiösen Universahsmus nur aufdecken, wenn wir dessen verborgene partikulare Wurzeln ausgraben In dieser Art entdecken postmoderne Ansätze eine Vielfalt von Traditionen (Maclntyre) oder Diskursen (Lyotard), die jeweils konsumtiv sind fur ein Weltbild mit eigenen Rationahtats standards Jeder Rationahtatstypus markiert Schwellen, die wir nicht passieren können, ohne einen mentalen Gestaltwandel zu vollziehen Aus der festgehaltenen Perspektive eines bestimmten Weltbildes, eines Paradigmas, einer Lebensform oder Kultur gibt es keinen hermeneutischen Übergang zur nächsten Perspektive Da es nicht möglich ist, einen »dritten« komparativen Standpunkt einzunehmen, kann es auch keine transzendierende Kritik geben, die uns erlauben wurde, verschiedene Rationahtaten auf einer Skala von Graden der Gültigkeit oder »Wahrheitsahnhchkeit« transitiv anzuordnen Eine Rationalitatskonzeption ist, sobald sie nur ihrer eigenen Wurzeln bewußt geworden ist, so akzeptabel wie die andere 14 Aber diese Sicht der Dinge setzt immer noch stillschweigend das Bild einer fragmentierten Vernunft voraus, deren Splitter über viele inkommensurable - oder zum Teil überlappende - Diskurse verstreut sind Wenn es ]edoch keine Vernunft gibt, die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dic-
tes Bild vorschlagt, keine Perspektive fur sich in Anspruch nehmen dürfen, die ihm einen solchen Überblick erlaubt Wenn die kontextuahstische These stimmt, ist es allen gleichermaßen verwehrt, die Mannigfaltigkeit der Diskurse zu überschauen, in denen sich verschiedene, miteinander unverträgliche Rationahtatstypen verkörpern sollen Unter dieser Prämisse kann auch niemand die Gültigkeit verschiedener Weltbilder beurteilen, es sei Jenn aus der selektiven und insofern voreingenommenen Perspektive eines bestimmten, eben des eigenen Weltbildes Foucaults »glücklicher Positivismus« hatte eines solchen fiktiven Gesichtspunkts jenseits aller selektiven Gesichtspunkte bedurft Die Behauptung einer relativistischen Position muß, um den Selbstbezug zu unterbrechen, den mit dieser Aussage vollzogenen Akt der Behauptung selbst von der behaupteten Aussage ausnehmen Deshalb schlagt Rorty die raffiniertere Alternative eines »eingestandenen Ethnozentnsmus« vor Die plausible Autfassung, daß wir normalerweise Äußerungen nur im Lichte unserer eigenen Standards verstehen und als wahr oder falsch beurteilen können, wendet er auf den Grenzfall der radikalen Interpretation an, wenn eine gemeinsame Sprache fehlt Wir sollen »ihre« Ansichten nur in dem Maße verstehen können, wie wir die diesen zugrundeliegenden Perspektiven an die »unseren« Ansichten zugrundehegenden Perspektiven angleichen H Diese Position vernachlässigt aber die hermeneutische Einsicht in die symmetrische Struktur jeder Verstandigungssituation," sie kann auch nicht Rorty s paradoxe Anstrengung erklaren, eine »platomstische Kultur« zu überwinden, in der doch (fast) alle immer noch befangen sind Offensichtlich ist mit einer Naturalisierung der Vernunft, die sich auf die sprachliche Konstitution selbstreferentiell geschlossener »Welten« beruft, etwas schiefgelaufen Eine Analyse, die von der welterschließenden Funktion der Sprache ausgeht, richtet ihr Augenmerk auf kontextbildende Horizonte, die erweitert und immer weiter zurückgeschoben, aber niemals als solche transzendiert werden können Wenn sich die Sprachanalyse aus diesem Blickwinkel ganz von der Frage okkupieren laßt, wie Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in ihrem Tun und Lassen gleichsam hinterrücks von einem unausweichlichen sprachlichen Vorver-
14 Vgl R P1 Bernstein, Beyond Objectizism and Relatiznm, Philidtlphn
•5 R Rorty, Solidantat oder Objektivität?, Stuttgart 1987, S 17 ff 16 J Habermas, Nachmetaphysischts Denken, f-rankfurt/M 1988, S 175-179
1983, Part Two, S 51 108 196
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standms der Welt im ganzen dirigiert werden, bleibt das eigene Recht des kommunikativen Sprachgebrauchs auf der Strecke Die Sprachpragmatik geht von der Frage aus, wie Kommunikatioristeilnehmer - im Kontext einer geteilten Lebenswelt (oder von sich hinreichend überlappenden Lebenswelten) - eine Verständigung über etwas in der Welt erzielen können Unter diesem Gesichtspunkt drangen sich ganz andere Phänomene in den Vordergrund beispielsweise die kontexttranszendierende Kraft von Wahrheits-, allgemein von Geltungsanspruchen, die Sprecher mit ihren Äußerungen erheben; oder die Zurechenbarkeit ihrer Sprechakte, die sich die Sprecher gegenseitig unterstellen, oder die komplementären, zwischen Sprecher und Hörer austauschbaren Perspektiven der ersten und der zweiten Person; oder die gemeinsame pragmatische Voraussetzung, daß jedes Einverständnis von »Ja-« und »Nem«-Stellungnahmen der zweiten Person abhangt, so daß einer vom anderen lernen muß usw Die symmetrischen Beziehungen der gegenseitig anerkannten kommunikativen Freiheiten und Verpflichtungen erklaren darüber hinaus Davidsons »Prinzip der Nachsicht« oder Gadamers Aussicht auf eine »Verschmelzung der Horizonte« - also die hermeneutische Erwartung, daß die Kluft zwischen dem, was zunächst inkommensurabel erscheint, im Prinzip stets überbrückt werden kann (2) Den kommunikativen Sprachgebrauch oder das kommunikative Handeln kann ich hier nicht im einzelnen analysieren Dabei wurde jene kommunikative Vernunft zum Vorschein kommen, die in der Argumentation wie in der Alltagspraxis immer schon am Werke ist Auch diese kommunikative Vernunft ist natürlich in die Kontexte der verschiedenen Lebensformen eingebettet Jede Lebenswelt stattet ihre Angehörigen mit einem gemeinsamen Stock an kulturellem Wissen, Soziahsationsmustern, Werten und Normen aus Die Lebenswelt laßt sich als Quelle von Ermoghchungsbedingungen fur dasjenige kommunikative Handeln begreifen, durch das sie sich umgekehrt auch selber reproduzieren (lassen) muß Aber die symbolischen Strukturen der Lebenswelt unterhalten eine interne Beziehung zu der kommunikativen Vernunft, die die Aktoren in ihrer Alltagspraxis in Anspruch nehmen müssen, wenn sie kntisierbare Geltungsanspru ehe erheben und darauf mit »Ja« oder »Nein« reagieren Das erklart den Pfad der »Rationalisierung«, der Lebensfor men unterliegen, wenn sie in den Strudel der gesellschaftlichen 198
Modernisierung hineingeraten Die Rationalisierung einer Lebenswelt, die von einer »Rationalisierung« des Wirtschafts- und yerwaltungshandelns oder der entsprechenden Handlungssysteme wohl zu unterscheiden ist, erfaßt alle drei Komponenten „ die kulturelle Überlieferung, die Soziahsation des Einzelnen und die Integration der Gesellschaft l7 Kulturelle Überlieferungen werden in dem Maße reflexiv, wie sie ihre selbstverständliche Geltung einbüßen und sich der Kritik offnen Eine Fortsetzung der Tradition verlangt dann die bewußte Aneignung durch nachwachsende Generationen. Gleichzeitig bringen Soziahsationsprozesse zunehmend formale Kompetenzen hervor, also kognitive Strukturen, die sich von konkreten Inhalten immer weiter losen. Die Personen erwerben immer häufiger eine abstrakte IchIdentitat. Fähigkeiten zu einer postkonventionellen Selbstkontrolle sind die Antwort auf die soziale Erwartung autonomer Entscheidungen und individueller Lebensentwurfe. Zugleich werden die Prozesse sozialer Integration immer weiter von naturwüchsigen Traditionen entkoppelt Auf der Ebene der Institutionen ersetzen allgemeine moralische Grundsatze und Prozeduren der Rechtsetzung tradierte Werte und Normen Und die politischen Regelungen des Zusammenlebens werden zunehmend von den delibenerenden Körperschaften des Verfassungsstaates sowie von den Kommunikationsprozessen in Burgergescllschaft und politischer Öffentlichkeit abhangig Wenn man diese rohe Skizze zugrunde legt, lassen sich die Grundzuge der Weberschen Zeitdiagnose auf eine andere Weise reformulieren Zunächst hat eine gewisse Rationalisierung der vormodernen Lebenswelten die kognitiven und motivationalen Startbedingungen fur eine kapitalistische Wirtschaftsform und den administrativen Staat erfüllt Im Laufe ihrer Entwicklung verwandeln sich diese beiden funktional ineinandergreifenden Handlungssysteme in selbstreguherte, über Geld und Macht gesteuerte Systeme. Dadurch gewinnt ihre Dynamik eine gewisse Unabhängigkeit von den Handlungsonentierungen und Einstellungen individueller und kollektiver Handlungssubjekte Fur die Aktoren bringen höhere Grade der Systemdifferenzierung einerseits den Vorzug höherer Freiheitsgrade mit sich. Aber die Vor>7 J Habermas, Theorie des kommunikativen
Handelns, a a O , Bd 2,
S 2I2tf
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zuge erweiterter Optionsspielraume gehen andererseits mit so zialer Entwurzelung und ]ener neuen Sorte von Zwangen H-ind in Hand, die ihnen durch das kontingente Auf und Ab des wirtschaftlichen Konjunkturzyklus, durch Arbeitsdisziplin und Arbeitslosigkeit, durch uniformierende Verwaltungsvorschnften ideologische Beeinflussung, politische Mobilisierung usw auferlegt werden Die Bilanz dieses sehr gemischten Ergebnisses wird in dem Maße negativ, wie das ökonomische und administrative System in die lebenswelthchen Kernbereiche der kulturellen Reproduktion, Soziahsation und sozialen Integration ubergrei fen Wirtschaftssystem und Staatsapparat müssen zwar ihreiseits in Kontexten der Lebenswelt rechtlich institutionalisiert weiden Aber Entfremdungseftekte entstehen vornehmlich dann, wenn Lebensbereiche, die funktional auf Wertorientierungen, bindende Normen und Verstandigungsprozesse angelegt sind, monetansiert und burokratisiert werden Weber hatte soziale Pathologien dieser Art als Sinn- und Freiheitsverlust diagnostiziert Der klassische Begriff der Moderne, wie er von Max Weber, Lukacs und der Frankfurter Schule entwickelt worden ist, beruht auf dem abstrakten Gegensatz zwischen einer disziplinierenden Gesellschaft und der verletzbaren Subjektivität des Einzelnen Mit der Übersetzung in eine intersubjektivistische Begrifflichkeit wird diese Konfrontation durch Kreisprozesse zwischen Lebenswelten und Svstemen ersetzt Das erlaubt eine größere Sensibilität fur die Zweideutigkeit gesellschaftlicher Modernisierung Line wachsende gesellschaftliche Komplexität bewirkt nicht per se Entfremdungseffekte Sie kann ebenso die Optionsspielraume und Lernkapazitaten erweitern - jedenfalls so lange, wie die Arbeitsteilung zwischen System und Lebenswelt intakt bleibt So ziale Pathologienls ergeben sich erst in der Folge einer Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären der Lebenswelt Diese Pathologien sind nicht auf Ptr sonhchkeitsstrukturen beschrankt, sie erstrecken sich ebenso auf die Kontinuierung von Sinn und auf die Dynamik der gesell schafthehen Integration Diese Interaktion zwischen System und Lebenswelt reflektiert sich in der ungleichgewichtigen Arbeitsteilung zwischen den drei Gewalten, die moderne Gesellschaften
überhaupt zusammenhalten - zwischen Solidarität auf der einen, Geld und administrativer Macht auf der anderen Seite (3) Dieser Vorschlag zu einer Reformuherung erlaubt auch eine Antwort auf Probleme, die sich heute im Zuge »reflexiver Modernisierung« stellen ' ' Normalerweise beziehen die Angehörigen einer Lebenswelt so etwas wie Solidarität aus überlieferten Vierten und Normen, aus eingespielten und standardisierten Mustern der Kommunikation Im Laufe der Rationalisierung der Lebenswelt schrumpft oder zersplittert jedoch dieser asknptive fjjntergrundkonsens Er muß im selben Maße durch erzielte Interpretationsleistungen der Kommumkationsteilnehmer selbst ersetzt werden Auf diesen Umstand kommt es mir im gegenwartigen Zusammenhang an Rationalisierte Lebenswelten verfugen mit der Institutionahsierung von Diskursen über einen eigenen Mechanismus der Erzeugung neuer Bindungen und normativer Arrangements In der Sphäre der Lebenswelt verstopft »Rationalisierung« nicht die Quellen der Solidarität, sondern erschließt neue, wenn die alten versiegen Diese Produktivkraft Kommunikation ist auch fur die Herausforderungen »reflexiver Modernisierung« von Bedeutung Dieses Theorem ruckt die bekannten »postindustriellen Entwicklungen« in ein bestimmtes Licht - also die Auflosung der sozialen Differenzierungen entlang der traditionellen Klassen- und Geschlechtsunterschiede, die Auflockerung der standardisierten Massenproduktion und des Massenkonsums, die Erschütterung der stabilen Verhandlungs- und Versicherungssysteme, die größere Flexibilität der Großorganisationen, der Arbeitsmarkte, der Parteibindungen usw Postindustrielle Gesellschaften haben die Reserven, von denen die »einfache« Industrialisierung gezehrt hat, aufgebraucht - sowohl die vorgefundenen Ressourcen der Natur als auch das kulturelle und soziale Kapital der vormodernen Gesellschaftsformation Gleich7eitig begegnen sie Nebenfolgen der gesellschaftlichen Reproduktion, die in Gestalt von systemisch erzeugten Risiken anfallen und nicht langer externahsiert, also auf fremde Gesellschaften oder Kulturen, auf andere Sektoren oder künftige Generationen abgewalzt werden können Moderne Gesellschaften stoßen also in doppelter Hinsicht an ihre Grenzen und werden »reflexiv«, wenn sie diesen Umstand als sol-
18 A Honneth (Hg ), Pathologien des Sozialen, I ranklurt/M 1994
19 U Beck, Risikogesellschaft, f>rankfurt/M 1986 201
chen wahrnehmen und darauf reagieren Weil sie immer w<_niger auf externe Ressourcen wie Natur oder Tradition zuruckgrcifen können, müssen sie ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen zu nehmend selber reproduzieren Die Modernisierung »hilbrno derner« Gesellschaften, von der Beck spricht, gelingt nur auf »reflexivem« Wege, weil fur die Bearbeitung der Folgeprobleme der gesellschaftlichen Modernisierung deren eigene Kapazitäten genutzt werden müssen »Reflexivitat« kann freilich sowohl im Sinn einer »Sclbstart Wendung« systemischer Mechanismen als auch im Sinn der »Selbstreflexion«, d h der Selbstwahrnehmung und Selbstem Wirkung kollektiver Aktoren, verstanden werden Ein Beispiel fur Reflexivitat im ersten Sinne ist die marktwirtschaftliche Ab Sorption marktwirtschaftlich erzeugter ökologischer Btlastun gen Ein Beispiel fur Selbstreflexion wäre das Einholen globa hsierter Markte durch eine »weltinnenpohtische« Einflußnahme auf deren Rahmenbedingungen Weil die funktionale Differen zierung hochspezialisierter Teilsysteme immer »weiterlauft , setzt die Systemtheorie auf Selbstheilung durch reflexive Meeha nismen Diese Erwartung darf jedoch nicht überzogen werden, weil gesellschaftliche Subsysteme, die nur ihre eigene Spnche sprechen, fur die externen Geräusche, die sie verursachen, taub sind So können Markte nur auf »Kosten« reagieren, die in Preisen ausgedruckt sind Die Kosten widerstreitender Systemrationa htaten lassen sich offensichtlich nur durch eine Reflexivitat der anderen Art, durch Selbstreflexion im Sinne der politischen Selbsteinwirkung, in sozial vertraglichen Grenzen halten Die weiterlaufende Moderne muß mit politischem Willen und Be wußtsein weitergeführt werden Und fur diese Form der demo kratischen Selbsteinwirkung ist die Einrichtung von Verfahren der diskursiven Meinungs- und Willensbildung ausschlagge bend '' Aber nicht nur die politische Willensbildung der Staatsbürger, auch das private Leben der Gesellschaftsburger ist auf die Quelle diskursiv erzeugter Solidarität angewiesen In dem Maße, wie sich standardisierte Lebenslagen und Karrieremuster auflosen, spuren die Einzelnen im Hinblick auf vervielfältigte Optionen die zu 20 U Beck in U Beck A Giddens S Lash Reflexive Modernisiunn% Frankturt/M 1996 S 5 6 ff 21 J Habermas Faktizitat und Geltung Frankturt/M 1992
nehmende Bürde der Entscheidungen oder Arrangements, die sie nun selber treffen oder aushandeln müssen Der Zwang zur >In jjyjduahsierung < notigt dazu, neue soziale Regelungen zugleich zu entdecken und zu konstruieren Die freigesetzten Subjekte, die nicht langer durch traditionale Rollen gebunden und dirigiert werden, müssen kraft eigener kommunikativer Anstrengungen Verbindlichkeiten schaffen 2 Diese fluchtigen Hinweise sollen nur zeigen, wie der kommu nikationstheoretische Ansatz zu einem neoklassischen Begriff der Moderne zurückfuhrt, der wiederum auf die Unterstützung einer kritischen Gesellschaftstheone angewiesen ist Aber die philosophischen Linsen notigen diesmal zu einem stereoskopischen Blick auf die Ambivalenzen der Moderne Die Analyse muß sowohl die befreienden und entlastenden Auswirkungen ei ner kommunikativen Rationalisierung der Lcbcnswelt im Auge behalten als auch die Effekte einer verwilderten funktionahsti sehen Vernunft
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* J Habermis Indivtduierung durch Vergesellschaftung in ders Nach metaphysischem Denken a a O S ly^ii
Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Ruckblick auf das kurze 20. Jahrhundert I Durchgreifende Kontinuitäten Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert fesselt die Phantasie, weil sie in ein neues Jahrtausend fuhrt Dieser kalendarische Einschnitt verdankt sich einer heilsgeschichthch konstruierten Zeitiech nung, deren Nullpunkt, Christi Geburt, tatsächlich, wie wir rttro spektiv feststellen, eine weltgeschichtliche Zäsur bedeutet hat Am F nde des 2 Jahrtausends richten sich die Fahrplane der mtcrnitio nalen Fluglinien, die globalen Transaktionen an den Börsen, die Weltkongresse der Wissenschaftler, sogar die Rencontres im Welt all nach der christlichen Zeitrechnung Aber die runden Zahlen, die durch die Interpunktionen eines Kalenders erzeugt weiden, decken sich nicht mit jenen Zeitknoten, die die historischen Ereiç nisse selber schürzen Jahreszahlen wie 1900 oder 2000 sind im Vergleich zu den historischen Daten von 1914, 1945 oder 1989 ohne Bedeutung Vor allem verschleiern die kalendarischen l in schnitte die Kontinuität der weit zurückreichenden Trends einer gesellschaftlichen Moderne, die auch die Schwelle zum 21 J ihr hundert ungerührt überschreiten werden Bevor ich auf die eigene Physiognomie des 20 Jahrhunderts eingehe, mochte ich solche langen, durch das Jahrhundert gleichsam hindurchlaufcndui Rhv thmen am Beispiel der demographischen Entwicklung (a), cks Strukturwandels der Arbeit (b) und des Curnculums wissen schafthch-technischcr Fortschritte (c) in Erinnerung rufen (a) In Europa hat, vor allem infolge der medizinischen Foit schritte, em lasches Bevolkerungswachstum schon seit dem hu hen 19 Jahrhundert eingesetzt Diese demographische Entvvick lung, die in den wohlhabenden Gesellschaften inzwischen zum Stillstand gekommen ist, hat sich seit der Mitte unseres Jahrhun derts in der Dritten Welt explosiv fortgesetzt Experten rechnen nicht vor dem Jahre 2030 mit einer Stabilisierung bei etwa zehn Milliarden Menschen Damit wurde sieh die Wcltbevolkerunj, von 1950 verfünffacht haben Hinter diesem statistischen Trend verbirgt sich freilich eine abwechslungsreiche Phanomenologit 204
Zu Beginn unseres Jahrhunderts ist die Bevölkerungsexplosion den Zeitgenossen zunächst in der sozialen Gestalt der »Masse« wahrgenommen worden Auch damals war dieses PhanOmen nicht ganz neu Bevor sich LeBon fur die Psychologie der ^fassen interessiert, kennt der Roman des 19 Jahrhunderts schon die massenhafte Konzentration von Menschen in Städten und Wohnquartieren, in Fabrikhallen, Büros und Kasernen, auch die massenhafte Mobilisierung von Arbeitern und Auswanderern, von Demonstranten, Streikenden und Revolutionaren Aber erst zu Beginn des 20 Jahrhunderts verdichten sich Massenstrome, Massenorganisationen und Massenaktionen zu aufdringlichen Erscheinungen, die die Vision vom Aufstand der Massen (Ortega y Gasset) auslosen In der Massenmobihsierung des Zweiten Weltkrieges und im Massenelend der Konzentrationslager entfaltet sich ebenso wie nach 194 5 im Massentreck der Flüchtlinge und im Massenchaos der displaced persons ein Kollektivismus, der sich auf dem Titelbild von Hobbes' Leviathan angekündigt hatte schon dort sind die zahllosen Einzelnen anonym zur übermächtigen Gestalt eines kollektiv handelnden Makrosubjekts verschmolzen Abei seit der Mitte des Jahrhunderts verändert sich die Physiognomie der großen Zahlen Die Präsenz versammelter, in Marsch gesetzter oder zusammengepferchter Korper wird abgelost von der symbolischen Inklusion des Bewufkseins der Vielen in immer weiter ausgreifende Kommunikationsnetze die konzentrierte Masse verwandelt sich ins zerstreute Publikum der Massenmedien Die physischen Verkehrsstrome und Verkehrsstaus schwellen weiter an, wahrend die elektronische Vernetzung der individuellen Anschlüsse die auf Straßen und Platzen zusammengeballten Massen zum Anachronismus macht Freilich berührt der Wandel der sozialen Wahrnehmung nicht die zugrundeliegende Kontinuität des Bevolkerungswachstums (b) Ähnlich vollzieht sich der Strukturwandel des Beschaftigungssystems in langen, über die Schwellen des Sakulums hinweggleitenden Rh) thmen Die Einfuhrung arbeitssparender Produktionsmethodcn, also die Steigerung der Arbeitsproduktivität, ist der Motor dieser Entwicklung Seit der industriellen Revolution im England des 18 Jahrhunderts folgt die Modernisierung der Wirtschaft in allen Landern derselben Sequenz Die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die seit Jahrtausenden in der Landwirtschaft tatig war, verschiebt sich zunächst in den sekundären Sekon
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tor der guterherstellenden Industrie, dann in den tertiären Sektor von Handel, Transport und Dienstleistungen Inzwischen sind die postindustriellen Gesellschaften durch einen quartaren Sektor wissensbasierter Tätigkeitsbereiche gekennzeichnet, die - wie die High-tech-Industnen oder das Gesundheitswesen, die Banken oder die öffentliche Verwaltung - vom Zufluß neuer Informatio nen, letztlich von Forschung und Innovation abhangen Diese wiederum verdankt sich einer »Erziehungsrevolution« (T Par sons), die nicht nur den Analphabetismus beseitigt, sondern zu ei ner drastischen Ausweitung des sekundären und tertiären Bil dungssystems gefuhrt hat Wahrend die Hochschulbildung ihren elitären Status verlor, wurden die Universitäten häufig zum Herd politischer Unruhen Im Laufe des 20 Jahrhunderts blieb zwar das Muster dieses Strukturwandels der Arbeit unverändert, aber das Tempo hat sich beschleunigt Einem Land wie Korea ist seit i960, unter den Be dingungen einer Entwicklungsdiktatur, der Sprung von der praeîn die postindustrielle Gesellschaft innerhalb einer einzigen Generation gelungen Diese Beschleunigung erklart die neue Qualität, die ein seit langem vertrauter Prozeß der Wanderung vom Land in die Stadt wahrend der zweiten Jahrhunderthälfte angenommen hat Wenn man von Afrika unterhalb der Sahara und von China absieht, hat der gewaltige Produktivitatsschub der mechanisierten Landwirtschaft den Agrarsektor nahezu entvölkert In den OECD-Landern ist der Beschaftigtenanteil einer hoch subventionierten Landwirtschaft unter die Marke von 1 o Prozent ge sunken In der phanomenologischen Wahrung lebenswelthcher Erfahrung bedeutet das einen radikalen Bruch mit der Vergangen heit Die dörfliche Lebensform, die seit dem Neolithikum bis weit ins 19 Jahrhundert hinein allen Kulturen denselben Stempel auf gedruckt hat, ist in den entwickelten Landern zur Atrappe gewor den Der Untergang des Bauernstandes hat auch die traditionelle Beziehung von Stadt und Land revolutioniert Heute leben mehr als 40 Prozent der Weltbevolkerung in Städten Der Prozeß der Verstädterung zerstört mit der im alten Europa entstandenen ur banen Lebensform die Stadt selbst Mochte schon New York, selbst im metropolitanen Kern von Manhattan, nur noch entfernt an das London und Paris des 19 Jahrhunderts erinnern, so haben doch erst die ausufernden Stadtregionen von Mexico City, Tok\ o, Kalkutta, Sao Paulo, Kairo, Seoul oder Shanghai die gewohnten 206
Dimensionen von »Stadt« gesprengt Die verschwimmenden profile jener erst seit zwei, drei Jahrzehnten wuchernden Mega|opolen liefern eine Anschauung, fur die uns noch die Begriffe fehlen
(c) Schließlich bildet die Kette der gesellschaftlich relevanten Folgen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts eine dritte Kontinuität, die durch die Jahrhunderte hindurchgreift Die neuen Kunststoffe und Energieformen, die neuen industriellen, militärischen und medizinischen Technologien, die neuen Transport- und Kommunikationsmittel, die wahrend des 20 Jahrhunderts die Wirtschaft ebenso wie die gesellschaftlichen Verkehrsund Lebensformen revolutioniert haben, bauen auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Entwicklungen der Vergangenheit auf Technische Erfolge wie die Beherrschung der Atomenergie und die bemannte Raumfahrt, Innovationen wie die Entschlüsselung genetischer Codes und die Einführung von Gentechnologien in Landwirtschaft und Medizin verandern gewiß unser Risikobewußtsein, sie berühren sogar unser ethisches Selbstverstandms Aber in gewisser Weise bleiben selbst diese spektakulären Errungenschaften in gewohnten Bahnen Seit dem 17. Jahrhundert hat sich die Instrumentelle Einstellung gegenüber einer wissenschaftlich objektivierten Natur nicht verändert, unverändert ist die Art der technischen Beherrschung von dekodierten Naturvorgangen, auch wenn heute unsere Eingriffe in die Materie tiefer und unsere Vorstoße in den Kosmos weiter reichen denn je Die technologiegesattigten Strukturen der Lebenswelt verlangen von uns Laien nach wie vor den banausischen Umgang mit unverstandenen Apparaten und Anlagen, ein habituahsiertes Vertrauen in das Funktionieren undurchschauter Techniken und Schaltkreise In komplexen Gesellschaften wird jeder Experte gegenüber allen anderen Experten zum Laien Bereits Max Weber hat jene »sekundäre Naivität« beschrieben, die uns auch im Hantieren mit Transistorradio und Handy, Taschenrechner, Videoausrustung oder Laptop nicht verlaßt - bei der Handhabung vertrauter elektronischer Gerate, in deren Herstellung das akkumulierte Wissen vieler Wissenschaftlergenerationen eingegangen ist. Trotz panischer Reaktionen auf Gefahrenmeldungen und Storfalle wird diese lebenswelthche Assimilation des Unbegriffenen ans Vertraute durch den publizistisch genährten Zweifel an 207
der Zuverlässigkeit von Expertenwissen und Großtechnologle nur vorübergehend erschüttert Das gewachsene Risikobewußt, sein verunsichert nicht die taglichen Routinen Eine ganz andere Relevanz fur die langfristige Veränderung des alltaglichen Erfahrungshorizonts hat der Beschleunigungseffekt verbesserter Kommunikations- und Verkehrstechniken Schon die Reisenden, die um 1830 die ersten Eisenbahnen benutzten, hatten über neue Raum- und Zeitwahrnehmungen benchet Im 20 Jahrhundert haben Autoverkehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport weiter beschleunigt und die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen lassen Auf eine andere Weise wird das Raum- und Zeitbewußtsein durch die neuen Techniken der Übertragung, Speicherung und Bearbeitung von Informationen berührt Bereits im Europa des ausgehenden 18 Jahrhunderts hatten Buch- und Zeitungsdruck zur Entste hung eines globalen, zukunftsgenchteten historischen Bewußtseins beigetragen, am Ende des 19 Jahrhunderts klagte Niet/sche über den alles vergegenwärtigenden Historismus einer gebildeten Elite Inzwischen hat die zerstreute Abkoppelung der Gegenwart von museal vergegenständlichten Vergangenheiten die Masse der Bildungstounsten erfaßt Auch die Massenpresse ist ein Kind des 19 Jahrhunderts, aber die Zeitmaschineneffekte der Druckmedien werden im Laufe des 20 Jahrhunderts durch Foto, Film, Radio und Fernsehen intensiviert Raum- und Zeitdistanzen werden nicht mehr »überwunden«, sie verschwinden spurlos in der ubiquitaren Präsenz verdoppelter Realitäten Die digitale Korn mumkation übertrifft schließlich alle anderen Medien an Reich weite und Kapazität Mehr Menschen können schneller größere Mengen von vielfaltigeren Informationen beschaffen, verarbeiten und über beliebige Entfernungen zeitgleich austauschen Noch sind die mentalen Folgen des Internets, das sich der lebenswelthchen Eingewohnung starker widersetzt als ein neues elektrisches Haushaltsgerät, schwer abzuschätzen II. Zwei Physiognomien des Jahrhunderts Die durchs kalendarische Jahrhundert hindurchgreifenden Kon tinuitaten der gesellschaftlichen Moderne belehren uns nur unzu reichend über das, was das 20 Jahrhundert als solches charakten 208
iert- Geschichtsschreiber richten deshalb die Interpunktionen des Zeitflusses ihrer narrativen Darstellungen eher nach Ereignissen als n a c n Trendwenden und Strukturwandlungen Die Physiognomie eines Jahrhunderts wird durch die Zäsuren großer Ereignisse gepragr Heute besteht unter den Historikern, die uberjjaUpt noch bereit sind, in größeren Einheiten zu denken, ein Konsens darüber, daß dem »langen« 19 Jahrhundert (1789-1914) ejn »kurzes« 20 Jahrhundert (1914-1989) gefolgt ist Der Beginn des Ersten Weltkrieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion umrahmen einen Antagonismus, der sich durch die beiden Weltkriege und den kalten Krieg hindurchzieht Diese Interpunktion laßt freilich Raum fur drei verschiedene Interpretationen, je nachdem auf welcher Ebene jener Antagonismus angesiedelt wird - auf der ökonomischen Ebene der Gesellschaftssysteme, auf der politischen Ebene der Supermachte oder auf der kulturellen Ebene der Ideologien Die Wahl dieser hermeneutischen Gesichtspunkte ist natürlich selbst vom Kampf der Ideen bestimmt, die das Jahrhundert beherrscht haben Auch heute wird der kalte Krieg noch mit histonographischen Mitteln fortgeführt, gleichviel ob die Herausforderung des kapitalistischen Westens durch die Sowjetunion (Eric Hobsbawm), oder ob der Kampf des liberalen Westens gegen die totalitären Regime den Leitfaden abgibt (François Furet) Beide Interpretationen erklaren auf die eine oder andere Weise das Faktum, daß allein die USA aus den beiden Weltkriegen ökonomisch, politisch und kulturell gestärkt hervorgegangen ist und als einzige Supermacht das Ende des kalten Krieges überlebt hat Dieses Ergebnis hat dem 20 Jahrhundert den Namen des »amerikanischen« verliehen Die dritte Lesart ist weniger eindeutig Solange der Begriff »Ideologie« in einem neutralen Sinne gebraucht wird, verbirgt sich hinter dem Titel des Zeitalters der Ideologien (Hildebrand) nur eine Variante der Totahtansmustheone, wonach sich der Kampf der Regime in einem Kampf der Weltanschauungen reflektiert In anderen Fallen signalisiert aber derselbe Titel die (von Carl Schmitt entwickelte) Perspektive eines Weltburgerkrieges, wonach sich seit 1917 die utopischen Projekte der Weitdemokratie und der Weltrevolution - mit Wilson und Lenin als ihren Exponenten gegenübergestanden haben (E Nolte) Nach dieser ideologiekritischen Lesart von rechts ist die Geschichte damals vom Bazillus der Geschichtsphilosophie infiziert worden und derart entgleist, 209
daß sie erst 1989 in die normalen Bahnen naturwüchsiger Nati0 nalgeschichten zurückspringen konnte Aus jeder dieser drei Perspektiven gewinnt das kurze 20 Jahrhundert eine eigene Physiognomie Nach der ersten Lesart wird es von der Herausforderung des kapitalistischen Weltsystems durch das größte je an Menschen vorgenommene Experiment in Atem gehalten, die unter grausamen Opfern brutal durchgepeitschte Zwangsindustnahsierung bahnt der Sowjetunion zv/ar den politischen Aufstieg zur Supermacht, sichert ihr aber keine ökonomisch und gesellschaftspolitisch tragfahige Basis fur eine überlegene oder auch nur uberlebensfahige Alternative /um westlichen Modell Nach der zweiten Lesart tragt das Jahrhundert die düsteren Zuge eines Totahtansmus, der einen mit der Aufklarung einsetzenden Prozeß der Zivihsierung abbricht und die Hoffnung auf eine Domestizierung staatlicher Macht und eine Humanisierung des gesellschaftlichen Verkehrs zerstört Die totalitär entgrenzte Gewalt kriegführender Nationen durchbricht die völkerrechtlichen Schranken auf dieselbe rücksichtslose Weise, wie im Innern die terroristische Gewalt diktatorischer Einparteienherrschaften die verfassungsrechtlichen Sicherungen neutralisiert Wahrend aus diesen beiden Perspektiven Licht und Schatten zwischen den totalitären Kräften und ihren liberalen Gegnern eindeutig verteilt sind, steht das Jahrhundert nach der dritten, der postfaschistischen Lesart im Schatten eines ideologischen Kreuzzuges zwischen Parteien, wenn nicht gleichen Ranges so doch ähnlicher Mentalität. Beide Seiten scheinen einen weltanschaulichen Gegensatz zwischen geschichtsphilosophisch begründeten Programmen auszufechten, die ihre fanatisierende Kraft ursprünglich religiösen, auf säkulare Ziele umgelenkten Energien verdanken Bei allen Unterschieden ist diesen drei Versionen eins gemeinsam sie lenken den Blick auf die grausamen Zuge eines Zeitalters, das die Gaskammer und den totalen Krieg, den staatlich durchgeführten Genozid und das Vernichtungslager, die Gehirnwasche, das System der Staatssicherheit und die panoptische Überwachung ganzer Bevölkerungen »erfunden« hat Dieses Jahrhundert hat mehr Opfer »produziert«, mehr gefallene Soldaten, mehr ermordete Burger, getötete Zivilisten und vertriebene Minderheiten, mehr Gefolterte, Geschundene, Verhungerte und Erfrorene, mehr politische Gefangene und Flüchtlinge hervorgebracht, als
a n sich bis dahin auch nur hatte vorstellen können Die Phänomene von Gewalt und Barbarei bestimmen die Signatur des Zeitalters. Von Horkheimer und Adorno bis Baudrillard, von Heidegger bis Foucault und Dernda haben sich die totalitären Zuge des Zeitalters in die Struktur der Zeitdiagnosen selber eingegraben. D a s veranlaßt mich zu der Frage, ob diesen negativistischen peutungen, die sich vom Grauen der Bilder gefangennehmen lassen, vielleicht eine Kehrseite dieser Katastrophen entgeht. Gewiß haben die unmittelbar beteiligten und betroffenen Volker Jahrzehnte gebraucht, um sich der Dimension jenes erst dumpf empfundenen Schreckens bewußt zu werden, der im Holocaust, in der planmäßigen Vernichtung der europaischen Juden kulminiert Aber dieser, wenn auch zunächst verdrängte Schock hat dann doch Energien und schließlich sogar Einsichten freigesetzt, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Peripetie des Schreckens herbeifuhren Fur die Nationen, die 1914 die Welt in einen technologisch entgrenzten Krieg hineingezogen haben, und fur die Volker, die nach 1939 mit den Massenverbrechen eines ideologisch entgrenzten Vernichtungskampfes konfrontiert waren, markiert das Jahr 194 5 auch einen Wendepunkt - eine Wende zum Besseren, zur Zähmung jener barbarischen Kräfte, die in Deutschland aus dem Boden der Zivilisation selbst hervorgebrochen sind. Sollten wir aus den Katastrophen der ersten Hälfte des Jahrhunderts doch etwas gelernt haben' Mein Zweifel an den drei Lesarten laßt sich auch so erklaren die Segmentierung eines kurzen 20 Jahrhunderts zieht die Penode der Weltkriege mit der Periode des kalten Krieges zu einer Einheit zusammen und suggeriert den, wie es scheint, homogenen Zusammenhang eines ununterbrochenen 75jährigen Krieges der Systeme, der Regime und der Ideologien Damit wird aber dasjenige Ereignis nivelliert, das das Jahrhundert nicht nur chronologisch teilt, sondern das auch ökonomisch, politisch und vor allem in normativer Hinsicht eine Wasserscheide bedeutet ich meine die Niederlage des Faschismus Durch die Konstellation des kalten Krieges ist die ideologische Bedeutung der bald als »unnaturlich« erscheinenden Allianz der Westmachte mit der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich in Vergessenheit geraten Aber Sieg und Niederlage von 1945 haben jene Mythen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf breiter Front gegen das Erbe von 1789 mobilisiert worden sind, auf Dauer entwertet Der Sieg der Alli-
îcrten hat nicht nur die Weichen fur eine demokratische Fntwi
f Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, mit der das £nde des Wettrüstens eingeleitet wurde - laßt den kalten Krieg rückblickend als einen risikoreichen Prozeß der Selbstzahmung atomar bewaffneter Allianzen erscheinen Auf ähnliche Weise kann man die friedliche Implosion eines Weltreiches beschreiben, Jessen Fuhrung die Ineffizien/ einer vermeintlich überlegenen Produktionsweise erkennt und die Niederlage im ökonomischen Wettlauf eingesteht, statt nach bewahrtem Muster die inneren Konflikte nach außen in militärische Abenteuer abzuleiten (b) Auch die Dekoloniahsicrung war kein geradliniger Prozeß Aber im Ruckblick haben die Kolonialmächte nur noch Jsjachhutgefechte gefuhrt In Indochina wehren sich die Franzosen vergeblich gegen nationale Befreiungsbewegungen, 1956 scheitert das Suez-Abenteuer der Briten und Franzosen, 1975 müssen die USA nach zehn verlustreichen Knegsjahren ihre Vietnam-Intervention abbrechen Bereits 1945 war nicht nur das Imperium des besiegten Japan zerfallen, im selben Jahr waren Syrien und Lybien unabhängig geworden 1947 zogen sich die Briten aus Indien zurück, im darauffolgenden Jahr entstanden Birma, Sri Lanka, Israel und Indonesien Dann erlangten die Regionen des westlichen Islam von Persien bis Marokko, nach und nach auch die zentralafrikanischen Staaten, schließlich die restlichen Kolonien in Sudostasien und der Karibik ihre Unabhängigkeit Das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika und die Ruckkehr Hongkongs und Macaos nach China bilden den Abschluß eines Prozesses, der wenigstens die formelle Abhängigkeit der Kolonialvolker beseitigt und die neu geschaffenen, allerdings nur zu oft von Burgerkriegen, kultuieilen Konflikten und Stammesfehden zerrissenen Staaten zu gleichberechtigten Mitgliedern der UNVollversammlung gemacht hat (c) Von unzweideutigem Vorteil ist allein die dritte Entwicklung In den wohlhabenden und friedlichen Demokratien Westeuropas - und in geringerem Umfang auch in den USA und einigen anderen L andern - entwickelten sich gemischte Ökonomien, die den weiteren Ausbau von Burgerrechten und erstmals eine effektive Verwirklichung sozialer Grundrechte erlaubt haben Gewiß, das explosive weltwirtschaftliche Wachstum, die Vervierfachung der Industrieproduktion und die Verzehnfachung des Welthandels mit Industrieprodukten allein zwischen den frühen fünfziger und den frühen siebziger Jahren hat auch Disparitäten
zwischen den armen und den reichen Regionen der Welt betordert Aber die Regierungen der OECD-Lander, die in diesen bei den Jahrzehnten drei Viertel zur Weitproduktion und vier Fünfte] zum Welthandel mit Industrieprodukten beitrugen, hatten aus den katastrophalen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit immer hin soviel gelernt, daß sie eine intelligente, auf innere Stabilität bedachte Wirtschaftspolitik verfolgten und bei relativ hohen Wachstumsraten umfassende soziale Sicherungssysteme auf und ausbauten In der Gestalt sozialstaatlicher Massendemokratien ist hier die hoch produktive Wirtschaftsform des Kapitalismus zum ersten Mal sozial gebändigt und mit dem normativen Selbsuer standnis demokratischer Verfassungsstaaten mehr oder weniger in Einklang gebracht worden Diese drei Entwicklungen sind fur einen marxistischen Histo nker wie Eric Hobsbawm Grund genug, um die Nachknegsjahr zehnte als »Golden Age« zu feiern Aber spätestens seit 1989 hat die Öffentlichkeit das Ende dieser Ara wahrgenommen In den Landern, wo der Sozialstaat mindestens im Rückblick als gesell schaftspohtische Errungenschaft wahrgenommen wird, breitet sich Resignation aus Das Ende des Jahrhunderts steht im Zeichen der strukturellen Gefahrdung eines sozialstaatlich gezähmten Kapitalismus und der Wiederbelebung eines sozial rucksiehts losen Neoliberalismus Hobsbawm kommentiert die schwer mutig-ratlose, von schriller Techno-Musik übertönte Stimmung in der Tonlage eines spatromischen Schriftstellers »Das kurze 20 Jahrhundert endete mit Problemen, fur die niemand eine I o sung hatte oder auch nur zu haben vorgab Wahrend sich die Bur ger des Fin de siècle einen Weg durch den globalen Nebel um sie herum in das dritte Jahrtausend bahnten, wußten sie mit Gewiß heit nur, daß ein historisches Zeitalter zu Ende gegangen war Sehr viel mehr wußten sie nicht « ' Schon die alten Probleme der Friedenssicherung und der inter nationalen Sicherheit, der weltwirtschaftlichen Disparitäten zwi sehen Nord und Sud sowie der Gefahrdung ökologischer Gleich gewichte waren globaler Natur Sie intensivieren sich aber heute durch ein neu hinzugetretenes Problem, das die bisherigen Her ausforderungen überlagert Ein weiterer, wie es scheint endgul tiger Globahsierungsschub des Kapitalismus schrankt nämlich 2 E b d a , S 688 214
auch noch die Handlungsfähigkeit ]ener Spitzengruppe von Staaten (G7) ein, die sich, anders als die ökonomisch abhangigen Staaten der Dritten Welt, eine relative Unabhängigkeit hatten bewahren können Die wirtschaftliche Globalisierung bildet fur die im Nachkriegseuropa entstandene politische und soziale Ordnung die zentrale Herausforderung (III) Ein Ausweg konnte darin bestehen, daß die regulatorische Kraft der Politik den \larkten, die sich dem Zugriff der Nationalstaaten entzieht, nachwachst (IV) Oder sollte das Fehlen einei zeitdiagnostisch erhellenden Orientierung anzeigen, daß wir nur aus Katastrophen lernen können 5
III. Vor dem Ende des sozialstaatlichen Kompromisses Ironischerweise begegnen die entwickelten Gesellschaften am Ende des Jahrhunderts der Wiederkehr eines Problems, das sie doch soeben, unter dem Druck der Systemkonkurrenz, gelost ?u haben schienen Das Problem ist so alt wie der Kapitalismus selber Wie laßt sich die Allokations- und Entdeckungsfunktion selbstregulierender Markte effektiv nutzen, ohne dabei Ungleichverteilungen und soziale Kosten in Kauf nehmen zu müssen, die mit den Integrationsbedingungen demokratisch verfaßter liberaler Gesellschaften unvereinbar sind' In den gemischten Ökonomien des Westens hatte der Staat mit der Verfugung über einen erheblichen Anteil des Sozialprodukts einen Spielraum fur Transferleistungen und Subventionen, überhaupt fur eine wirksame Infrastruktur-, Bcschaftigungs- und Sozialpolitik gewonnen Er konnte auf die Rahmenbedingungen von Produktion und Distribution mit dem Ziel Einfluß nehmen, Wachstum, Preisstabihtat und Vollbeschäftigung zu erreichen Der regulatonsche Staat konnte, mit anderen Worten, über wachstumsstimulierende Maßnahmen auf der einen, Sozialpolitik auf der anderen Seite gleichzeitig die wirtschaftliche Dynamik fordern und die soziale Integration sichern Ungeachtet großer Unterschiede hatte sich der sozialpolitische Sektor m Landern wie den USA, Japan und der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre hinein ausgedehnt Aber seitdem hat in allen OECD-Landern eine Trendwende eingesetzt Die Hohe der Leistungen verringert sich, gleichzeitig wird der Zugang zu den 215
Sicherungssystemen erschwert und der Druck auf die Arbeitslo sen verstärkt Der Um- und Abbau des Sozialstaates ist unmirtel bar die Folge einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die auf eine Deregulierung von Markten, auf den Abbau von Sub\ en tionen und die Verbesserung von Investitionsbedingungen abzielt und die eine antiinflationare Geld- und Zinspohtik sowie die Sen kung direkter Steuern, die Privatisierung von Staatsunternehmen und ahnliche Maßnahmen einschließt Die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses hat freilich zur Folge, daß die Krisentendenzen, die er aufgefangen hatte, wieder aufbrechen Es entstehen soziale Kosten, die die In tegrationsfahigkeit einer liberalen Gesellschaft zu uberfoidern drohen Unmißverständlich sind die Indikatoren fur die Zunahme von Armut und sozialer Unsicherheit bei wachsenden Einkorn mensdispantaten, unverkennbar sind auch die Tendenzen zur ge sellschafthchen Desintegration 3 Die Kluft zwischen den Lebens bedingungen der Beschäftigten, der Unterbeschaftigten und der Arbeitslosen vergrößert sich Wo sich die Exklusionen - von Be schaftigungssystem und Weiterbildung, von staatlichen Transfer leistungen, Wohnungsmarkt, familiären Ressourcen usw - h un dein, entstehen »Unterklassen« Diese paupensierten und von der übrigen Gesellschaft weitgehend segmentierten Gruppen können ihre soziale Lage nicht mehr aus eigener Kraft wenden 4 Eine soi ehe Desolidansierung muß jedoch auf längere Sicht eine liberale politische Kultur zerstören, auf deren universalistisches Selbst Verständnis demokratisch verfaßte Gesellschaften angewiesen sind Formal korrekt zustande gekommene Mehrheitsbeschlüsse, die nur noch die Statusangste und Selbstbehauptungsreflexe der vom Abstieg bedrohten Schichten, also rechtspopulistische Stirn mungslagen, widerspiegeln, wurden die Legitimität der Verfahren und Institutionen selber aushohlen Von Neoliberalen, die ein höheres Maß an sozialer Ungleich heit akzeptieren und zudem an die inhärente Gerechtigkeit der »Standortbewertung« durch weltweite Finanzmarkte glauben, wird diese Situation natürlich anders eingeschätzt als von denen, die dem »sozialdemokratischen Zeitalter« nachhangen, weil sie 3 W Heitme^er (Hg), Was treibt die Gesellschaft auseinander'', Franktuit/ M 1997 4 N Luhmann Jenseits von Barbarei in M Miller, H G Soetfner(Hg) M ' dermtat und Barbarei, Frankfurt/M 1996,8 219 230 216
^rissen, daß gleiche soziale Rechte die Korsettstingen demokrati scher Staatsbürgerschaft sind Aber beide Seiten beschreiben das pilemma ganz ähnlich Ihre Diagnosen laufen darauf hinaus, daß die nationalen Regierungen in ein Nullsummenspiel hmeinge zwungen werden, wo die unausweichlichen ökonomischen Zielgroßen nur mehr auf Kosten sozialer und politischer Ziele er reicht werden können Im Rahmen einer globalisierten W11 tschaft können Nationalstaaten die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer »Standorte« nur auf dem Wege einer Sclbstbeschrankung staatlicher Gestaltungsmacht verbessern, das rechtfertigt »Abbau«-Pohtiken, die den sozialen Zusammenhalt beschädigen und die demokratische Stabilität der Gesellschaft auf eine harte Probe stellen ' Diesem Dilemma hegt eine plausible Beschreibung zugrunde, die ich hier nicht im einzelnen begründen oder auch nur belegen kann ' Sie laßt sich auf zwei Thesen zuspitzen (1) Die ökonomischen Probleme der Wohlstandsgesellschaften erklären sich aus einer - mit dem Stichwort »Globalisierung« bezeichne ten - strukturellen Veränderung des weltwirtschaftlichen Systems (2) Diese Veränderung schrankt die nationalstaathchen Aktoren in ihrem Handlungsspielraum so weit ein, daß die ihnen verbleibenden Optionen nicht ausreichen, um sozial und poh tisch unerwünschte Nebenfolgen eines transnationahsierten Marktverkehrs hinreichend »abzufedern« 7 Dem Nationalstaat bleiben immei weniger Optionen Zwei scheiden aus Protektionismus und die Ruckkehr zur nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik Soweit sich Kapitalbewegungen überhaupt noch kontrollieren lassen, wurden die Kosten fur eine protektiomstische Abschottung der einheimischen Wirtschaft unter den gegebenen weltwirtschaftlichen Bedingungen schnell 5 R Dahrendort nennt dis die Quadrauii des Kreises in h mut 12 1996 S 5 28 6 Ich dankt tur die Erlaubnis die folgenden Manuskripte einzusehen C Offe, Preeano ÜHCÜ md tbe I abor Mayket 1 Mtdium lerm Redeu 0/ Avaüablt Policy Responses Ms 1997 J Ne\ei M Seeleih Kiisei Bungmg Economy Back in Lconomic Globahzation and tbe Re C ommodificalion of the Workforce Zentium t Sozialpolitik, Um\ Biemen Arbeitspapiei 16/ 95, H Wiestnthai, Globalisierung So/iologisehc und pohtik^issensehaft liehe Koordinaten eines unbekannten lerrilotiums Ms 1995 7 Die folgenden Überlegungen ausf lhrheh in J Hibermas Jenstils des \ 1 ttonalstaates? /u einigen Iolgeproblemcn der t^irtseh ijtliehen Globalisa rang, in U Beek (Hg ) Politik der Globalmeiun^ I ranktuu/M S 67 84 217
eine inakzeptable Größenordnung annehmen. Und staatliche Beschäftigungsprogrammc scheitern heute nicht nur an den Verschuldungsgrenzen öffentlicher Haushalte, sie sind innerhalb des nationalen Rahmens auch nicht mehr effektiv. Unter Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft funktioniert der »Keynesianismus in einem Lande« nicht mehr. Aussichtsreicher ist eine Politik der vorauseilenden, intelligenten und schonenden Anpassung der nationalen Verhältnisse an den globalen Wettbewerb. Dazu gehören die bekannten Maßnahmen einer vorausschauenden Industriepolitik, die Förderung von Research and Development, also von künftigen Innovationen, die Qualifizierung der Arbeitskräfte durch verbesserte Aus- und Weiterbildung sowie eine sinnvolle »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes. Diese Maßnahmen bringen auf mittlere Sicht Standortvorteile, jedoch ändern sie nichts am Muster der internationalen Standortkonkurrenz. Wie man es dreht und wendet, die Globalisierung der Wirtschaft zerstört eine historische Konstellation, die den sozialstaatlichen Kompromiß vorübergehend ermöglicht hat. Auch wenn dieser keineswegs die ideale Lösung eines dem Kapitalismus innewohnenden Problems darstellt, so hat er doch die entstandenen sozialen Kosten in akzeptierten Grenzen gehalten. In Europa hatten sich bis zum 17. Jahrhundert Staaten herausgebildet, die sich durch die souveräne Herrschaft über ein Territorium auszeichneten und älteren politischen Formationen wie den Alten Reichen oder den Stadtstaaten an Steuerungskapazität überlegen waren. Als funktional spezifizierter Verwaltungsstaat hatte sich der moderne Staat vom rechtlich institutionalisierten marktwirtschaftlichen Verkehr differenziert; zugleich war er als Steuerstaat von der kapitalistischen Wirtschaft auch abhängig geworden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat er sich als Nationalstaat für demokratische Formen der Legitimation geöffnet. In einigen privilegierten Regionen und unter den günstigen Umständen der Nachkriegszeit konnte sich der inzwischen weltweit zum Vorbild gewordene Nationalstaat - über die Regulation einer in ihrem Selbststeuerungsmechanismus allerdings unangetasteten Volkswirtschaft - zum Sozialstaat entwickeln. Diese erfolgreiche Kombination ist in dem Maße gefährdet, wie sich eine globalisierte Wirtschaft den Zugriffen dieses regulatorischen Staates entzieht. Die sozialstaatlichen Funktionen sind im bisherigen Ausmaß offensichtlich nur noch dann zu erfüllen, wenn sie 218
vom Nationalstaat auf politische Einheiten übergehen, die eine transnationahsierte Wirtschaft gewissermaßen einholen. IV. Jenseits des Nationalstaats? Daher richtet sich der Blick vor allem auf den Aufbau supranationaler Institutionen. Das erklärt die kontinentalen Wirtschaftsallianzen wie NAFTA oder APEC, die verbindliche, jedenfalls mit •weichen Sanktionen bewehrte Absprachen zwischen den Regierungen erlauben. Größer sind die Kooperationsgewinne bei ehrgeizigeren Projekten wie der Europäischen Union. Denn mit solchen kontinentalen Regimen entstehen nicht nur einheitliche Währungsgebiete, die die Risiken von Wechselkursschwankungen verringern, sondern größere politische Einheiten mit hierarchisch gestuften Kompetenzen. In Zukunft wird es darum gehen, ob wir es beim status quo eines über den Markt integrierten Europas belassen oder ob wir auf eine europäische Demokratie zusteuern wollen.8 Auch ein solches Regime wird aufgrund seiner geographisch und wirtschaftlich erweiterten Basis freilich bestenfalls Vorteile im globalen Wettbewerb erringen und seine Position gegenüber anderen stärken können. Die Schaffung größerer politischer Einheiten führt zu defensiven Allianzen gegenüber dem Rest der Welt, sie ändert jedoch nichts am Modus der Standortkonkurrenz als solcher. Sie führt nicht per se zu einem Kurswechsel von der Anpassung an das transnationale weltwirtschaftliche System zu einem Versuch der politischen Einflußnahme auf dessen Rahmenbedingungen. Andererseits erfüllen politische Zusammenschlüsse dieser Art eine notwendige Bedingung für ein Aufholen der Politik gegenüber den Kräften der globalisierten Ökonomie. Mit jedem neuen supranationalen Regime verringert sich die Zahl der politischen Aktoren und füllt sich der Club der wenigen global handlungsfähigen, d. h. auch kooperationsfähigen Aktoren, die - vorausgesetzt, es gibt einen entsprechenden politischen Willen - zu verbindlichen Vereinbarungen von Rahmenbedingungen überhaupt in der Lage wären. 8 Vgl. J. Habermas, Die postnattonale Konstellation und die Ankunft der Demokratie, in: ders., Die poitnaüonale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, S.135-155 219
Um wieviel schwiengei als der Zusammenschluß europäischer Staaten /u einer Politischen Union ist erst die Einigung auf das Projekt einei weltwirtschaftlichen Ordnung, die sich nicht in der Herstellung und rechtlichen lnstitutionahsierung von Markten erschöpfte, sondern Elemente einer weltweiten politischen Wil lensbildung einfuhren und eine Domesüzieiung der unerwünschten sozialen Nebcnfolgen des globalisierten Markner kehrs gewährleisten wurde Angesichts der Überforderung des Nationalstaats durch eine globalisierte Wirtschaft drangt sich /war in abstracto, am grünen Tisch sozusagen, eine Alteinatne auf - eben die Übertragung von Funktionen, die bisher So/ial Staaten im nationalen Rahmen -wahrgenommen haben, auf supranationale Instanzen Aber auf dieser Ebene fehlt ein pohtiseher Koordinationsmodus, der den marktgesteuerten transnatiomlen Verkehr mit Rucksicht auf soziale Standards in erträgliche Bahnen lenken konnte Gewiß sind die 191 souveränen Staaten auch diesseits der Organisationen dei Vereinten Nationen durch ein dichtes Netz von Institutionen miteinander verflochten ' Etwa 350 Regierungsorganisationen, von denen mehr als die Hälfte nach i960 gegiundet worden sind, dienen wirtschaftlichen, sozialen und fnedenssichernden Funktionen Aber natürlich sind sie nicht in dei Lage, eine positive Koordination zustande zu bringen und regulatonsche Funktionen in umverteilungsrelevanten Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Beschaftigungspohtik 7u erfüllen Niemand jagt gerne einer Utopie nach, eist recht nicht heute, nachdem alle utopischen Energien verbiaucht zu sein scheinen ' Ohne nennenswerte so/ialwissenschafthche Anstrengungen ist denn auch die Idee einer die Markte einholenden Politik bisher nicht einmal zu einem »Projekt« ausgereift Dieses mußte wenigstens an Beispielen einen allen Beteiligten zumutbaren Intercs senausglcich simuhei en und Umrisse fui geeignete Verfahren und Praktiken erkennen lassen Die sozialwissenschafthche Resistenz 9 D Senghus, Interdcpendcnzen im internationalen S\stem,m G Kicil H Müller (Hg ) hieden und Konflikt in den internationalen Beziehungen I rankiurt/M 1994, S 190-222 10 kh £,liubc hcihch nicht, dafs munt Diagnose \on 1985 durch die um 01 hcigcschcnc Implosion dei Sowjetunion entwertet v.oiden ist J Hilui mis. Die Krue da V^ohlfahrtataata und die Lnchopj'ung utopischer Ltut gien in ders , Die \cuc Unübersichtlichkeit, Fiankfurt/M 1985, S 141 i(M 111 diesem Bind S 27 49 220
gegenüber einem Entwurf tiansnationalei Regime mit weltinnen politischem Zuschnitt ist verständlich, wenn wir davon ausgehen, daß ein solches Projekt aus den gegebenen Intei essenlagen der Staaten und ihrer Bevölkerungen gerechtfertigt und von unabhängigen politischen Machten verwirklicht werden muß In einer stratifizierten Weltgesellschaft scheinen sich aus der as\ mmetnschen Interdependenz zwischen entwickelten, neu industrialisierten und unterentwickelten Landern unversöhnliche Interes sengegensatze zu ergeben Aber diese Perspektive trifft nur so lange zu, wie es keine institutionalisierten Verfahren tiansnatio naler Willensbildung gibt, die global handlungsfähige Aktoren dazu bringen, ihre je eigenen Präferenzen um Gesichtspunkte ei ner »global governance« zu erweitern ' ' Die Globahsierungsprozesse, die ja nicht nur wirtschaftlicher Art sind, gewohnen uns nach und nach an eine andere Pei spektive, aus der uns die Begrenztheit der sozialen Schauplatze, die Gemeinsamkeit der Risiken und die Vernetzung der kollektiven Schicksale immer deutlicher vor Augen treten Wahrend die Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation und Ver kehr die räumlichen und zeitlichen Distanzen schrumpfen laßt, stoßen die Expansion der Markte auf die Grenzen des Planeten und die Ausbeutung der Ressourcen auf die Schi anken dei Natur Der enger gewordene Horizont erlaubt schon mittelfristig keine Externahsierung von Handlungsfolgen mehr ohne Sinktionen furchten zu müssen, können wir Kosten und Risiken immer sei tener auf andere abwälzen - auf andere Sektoren der Gesellschaft, auf ferne Regionen, fremde Kulanen oder künftige Generationen. Das ist bei den lokal nicht mehr eingrenzbaren Risiken der Großtechnik ebenso offensichtlich wie bei der industriellen Schadstotfproduktion der wohlhabenden Gesellschaften, die alle Erdteile gefährdet 12 Aber wie lange können wir dann noch sozial verursachte Kosten auf »überflüssig« gewordene Segmente dei Arbeitsbevolkerung abwälzen' Gewiß, internationale Absprachen und Regelungen, die solchen Externahsierungen entgegenwirken, sind von Regletungen so lange nicht zu erwarten, wie diese in ihren nationalen Arenen, wo sie sich um Zustimmung und Wiederwahl bemuhen müssen, " D Held, Democracy and the Global Order, Cambridge 199s >* U Beck, Gegengi/te Die organisierte Unier ant^orthehkcit
Innktuii'
M 1988 221
als unabhängig handelnde Aktoren wahrgenommen werden Die Einzelstaaten mußten innenpolitisch wahrnehmbar in bindende Kooperationsvcrfahren einer kosmopolitisch verpflichtenden Staatengemeinschaft eingebunden werden Die entscheidende Frage ist deshalb, ob in den Zivilgesellschaften und den polm sehen Öffentlichkeiten großraumig zusammenwachsender Re gime ein Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssohdansierung entstehen kann Nur unter diesem Druck einer innenpolitisch wirksamen Veränderung der Bcwußtsemslage der Burger wird sich auch das Selbstverstandms global handlungsfähiger Aktoren dahingehend andern können, daß sie sich zunehmend im Rahmen einer internationalen Gemeinschaft als Mitglieder verstehen, d<e alternativenlos zur Kooperation und damit zur gegenseitigen In teressenberucksichtigung genötigt sind Ein solcher Pcrspekti venwechsel von »internationalen Beziehungen« zu einer Weltin nenpohtik ist von den regierenden Eliten nicht zu erwarten, bevor nicht die Bevölkerungen selbst aus wohlverstandenem Eigen intéresse einen solchen Bewußtseinswandel prämiieren " Ein ermutigendes Beispiel ist das pazifistische Bewußtsein, das sich nach den Erfahrungen von zwei barbarischen Weltkriegen öffentlich artikuliert und - ausgehend von den unmittelbar betu ligten Nationen - in vielen Landein ausgebreitet hat Wir wissen, daß dieser Bewußtseinswandel lokale Kriege und zahllose Bur gerkriege in anderen Regionen der Welt keineswegs verhindeit hat Aber infolge des Mentalitatswandels haben sich immerhin die politisch-kulturellen Parameter dei zwischenstaatlichen Bczie hungen so geändert, daß die UNO Menschenrechtserklarung mit der Achtung von Angriffskriegen und der Inknminierung \on Verbrechen gegen die Menschlichkeit die schwache normative Bindungswirkung von öffentlich anerkannten Konventionen gc wmnen konnte Fur die Institutionahsierung von Weltwirtschaft lieh relevanten Verfahren, Praktiken und Regelungen, die die Lo sung globaler Probleme erlauben wurden, reicht das nicht aus Eine Regulierung der entfesselten Weltgesellsehaft erfordert Po linken, die Lasten umverteilen Das wird nur auf der Grundlage einer bisher fehlenden weltburgerlichen Solidarität möglich sein, 13 / u m Modell einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung vgl Jürgen Hi bermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie a i O
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die allerdings eine schwächere Bindungsqualitat haben wurde als die innerhalb von Nationalstaaten gewachsene staatsbürgerliche Solldantat Die Weltbevolkerung ist objektiv langst zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft zusammengeschlossen worden Nicht ganz unplausibel ist deshalb die Erwartung, daß sich unter diesem Druck jener große, historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewußtsein fortsetzt Die Institutionahsierung von Verfahren zur weltweiten Interessenabstimmung, Interessenverallgemeinerung und zur einfallsreichen Konstruktion gemeinsamer Interessen wird sich nicht in der organisatorischen Gestalt eines (auch gar nicht wünschenswerten) Weltstaates vollziehen können, sie wird der Eigenständigkeit, Eigenwilligkeit und Eigenart ehemals souveräner Staaten Rechnung tragen müssen Aber wie sieht der Weg aus, der dorthin fuhrt5 Mit dem Hobbesschen Problem, wie soziale Verhaltenserwartungen stabilisiert werden können, ist die Kooperationsfahigkeit rationaler Egoisten auch auf globaler Ebene überfordert Institutionelle Innovationen kommen in Gesellschaften, deren politische Eliten überhaupt zu einer solchen Initiative fähig sind, nicht zustande, wenn sie nicht Resonanz und Abstutzung in den vorgangig reformierten Wertonentierungcn ihrer Bevölkerungen finden Deshalb sind die ersten Adressaten eines solchen »Projekts« nicht Regierungen, sondern soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorgamsationen, also die aktiven Mitglieder einer nationale Grenzen überschreitenden Zivilgesellschaft Jedenfalls verweist die Idee, daß den globalisierten Markten politische Regelungskompetenzen nachwachsen müssen, auf komplexe Zusammenhange zwischen der Kooperationsfahigkeit von politischen Regimen und einer neuen Integrationsform weltburgerlicher Solidarität
Braucht Europa eine Verfassung?
Es besteht ein eigentümlicher Kontrast zwischen den Erwartungen und Forderungen |ener »Europaer der ersten Stunde«, die sich unmittelbar nach dem ? ndc des Zweiten Weltkrieges fur die politische Einigung Europas eingesetzt und das Projekt entworfen haben,1 und denen, die heute voi der Autgabe stehen, das auf den Weg gebrachte Projekt tortzusetzen. Was auffallt, ist nicht nui das Gefalle der rhetorischen Stimmlagen, sondern der Kontrast in den Zielsetzungen. Wahrend die Generation der Vorreitei die »Vei einigten Staaten von Europa« im Munde führten und den Vergleich mit den US A nicht scheuten, hat sich die gegenwartige Diskussion von solchen Vorbildern gelost Selbst das Wort »Föderalismus« ist anstoßig.' Das kurzlich erschienene Buch von Larry Siedentop, das in England große Aufmerksamkeit gefunden hat, ist ein Beispiel fur eine Mentalität, die Chiracs Vorsicht sehr viel naher ist als der Vision Joschka Fischers- » A great constitutional debate need not involve a pnor communient to tederahsm as the most désira ble outcome in Europe It mav reveal that Europe îs in the process of inventing a new pohtical form, something more than a conkderation but less than a fédération - an association of sovereign states which pool their sovereigntv onlv m verv restneted areas to vai ving degrees, an association which does not seek to have the co ercive power to act directl v on mdividuals in the fashion of nation states «' Es fragt sich, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nur einen gesunden Realismus - als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses - ausdruckt oder eher einen kontraprodukti ven Kleinmut, w enn nicht gar schlichten Defätismus Siedentop trifft nicht ganz die Sache, wenn er über den Mangel an einer inspinei ten Verfassungsdebatte klagt, die das Gemüt und dieFinbildungskraftdei europaischen Volker ergieift Unsere Si tuation laßt sich nicht mit der der Federahsts4 oder der Mitgliedei 1 I Nicss, Die europäische Ida, I r.mkluit/M 2001 2 I Nicss, Das F Wort , in Blatte! fur deutsche und internationale Politik Sept 2000, S 1 io$ 1 i 1 s \ L Siedentop, Demoerat-j m 1 urope, London 2000, S 1 4 Tbc Dekali on the ( orntuution Part Ont and 7^o, The I îbnry ot Ann
m i , Washington 199}
Jer Assemblée Nationale vergleichen. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die Verfassungsvatei in Philadephia und die revolutionären Burger von Paris Initiatoren und Teilnehmer einer unerhörten Praxis, die die Welt bis dahin niemals gesehen hatte. Nach zweihundert Jahren verfassungsgebender Praxis gehen wir nicht nur auf ausgetretenen Pfaden, die Verfassungsfrage ist auch nicht der Schlüssel zu den Problemen, die wir losen müssen Ja, die Herausforderung besteht nicht sosehr darin, irgend etwas Neues zu erfinden, sondern dann, die großen Errungenschaften des europaischen Nationalstaates über dessen nationale Grenzen hinaus in einem anderen Format zu bewahren; neu ist nur die Entitat, die auf diesem Wege entstehen wird. Bewahrt werden müssen die materiellen Lebensbedingungen, die Chancen zu Bildung und Muße, die sozialen Gestaltungsspielraume, die der privaten Autonomie erst ihren Gebrauchswert verleihen und dadurch demokratische Partizipation möglich machen. Wegen dieser »Matenahsierung« der rechtsstaatlichcn Garantien, von der schon Max Weber gesprochen hat, hangt heute die Debatte über die »Zukunft Europas« weniger von juristischen oder rechtsphilosophischen Überlegungen als vielmehr von den hochspezialisierten und in/wischen weitverzweigten Diskursen der Wirtschafts- und Sozialwisscnschaftler, vor allem der Politologen ab. Andererseits dürfen wir das symbolische Gewicht des UmStandes, daß inzwischen eine Verfassungsdebatte überhaupt in Gang gekommen ist, nicht unterschätzen. Als politisches Gemeinwesen kann sich Europa im Bewußtsein seiner Burger nicht allein in Gestalt des Euro festsetzen. Der intergouvernementalen Vereinbarung von Maastricht fehlt jene Kraft zur symbolischen Verdichtung, die nur ein politischer Grundungsakt haben kann. Auf verfassungsrechtliche Überlegungen werde ich am Schluß kurz eingehen. Ich beginne mit den rechtfertigenden Gründen, die nach wie vor fur eine energische Fortsetzung des Projektes der Einigung Europas sprechen (I.), um dann auf die beiden zentralen Fragen der Euroskeptiker einzugchen, ob denn die europaischen Gesellschaften heute überhaupt die Voraussetzungen fur einen föderalistischen Ausbau der Europaischen Union erfüllen (II.) und, selbst wenn das der Fall sein sollte, wer denn mit welchen verfassungsrechtlichen Zielvorstellungen ein solches Projekt angesichts der Widerstände in der Bevölkerung politisch durchsetzen konnte (III )
(a) Die stärkste, bis in die Generation von Helmut Kohl mächtig ste Antriebskraft war der Wunsch, der Geschichte der blutigen Kriege in Europa ein Ende zu setzen Ein weiteres, übrigens auch von Adenauer geteiltes Motiv war eine Einbindung Deutschlands, die das historisch begründete Mißtrauen gegenüber der po htisch ungefestigten, aber wirtschaftlich bald wieder erstarkten Nation in der Mitte Europas besänftigen sollte Obwohl heute alle Seiten davon überzeugt sind, daß das erste dieser beiden Ziele definitiv erreicht ist, überlebt das Ziel der Fnedenssicherung in einem ganz anderen Kontext Im Laufe des Kosovokneges ist ein subtiler Unterschied in der Rechtfertigung der humanitären In tervention deutlich geworden Die USA und Großbritannien betrachteten den Einsatz der Nato aus der Sicht ihrer um Ziele der Menschenrechtspohtik erweiterten nationalen Präferenzen Hingegen schienen sich die kontmentalen Staaten eher am Vorschein der Prinzipien eines künftigen Weltburgerrechts zu orientieren als an der Gegenwart der ordnungspohtischen Notwendigkeiten, wie sie sich einer global denkenden Supermacht darstellen " Im Hinblick auf die strukturellen Veränderungen der internationalen Beziehungen, das Entstehen transnationaler Netzwerke und ganz neuer Herausforderungen gibt es gute Grunde dafür, daß die Eu ropaische Union, gestutzt auf eigene Streitkräfte, in Fragen der Außen- und Sicherheitspohtik mit einer Stimme spricht, um in
der Nato und im UN-Sicherheitsrat eigene Vorstellungen besser zU r Geltung zu bringen Das andere Ziel, die Integration eines argwohnisch betrachteten Deutschland in ein friedliches Europa, mag angesichts gefestigter demokratischer Institutionen und verbreiteter liberaler Mentalitäten in unserem Lande an Plausibihtat verloren haben Aber die Wiedervereinigung des 82-Milhonen-Volkes hat alte Befürchtungen vor dem Ruckfall in die linpenalen Traume und Traditionen des Deutschen Reiches wiederbelebt Auf dieses Thema brauche ich nicht naher einzugehen Denn keines der beiden erwähnten Motive wurde heute noch als hinreichender Grund fur eine stärkere Integration Europas zahlen Ohnehin zerfallen ist der karohngische Hintergrund der konservativen Grundergeneration - die Berufung auf das christliche Abendland Allerdings gab es von Anbeginn ein drittes, geradewegs ökonomisches Interesse an der wirtschaftlichen Einigung Europas Seit der Kohle- und Stahlgemeinschaft aus dem Jahre 19 51 und seit der Gründung von Europaischer Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom im Jahre 19 5 8 sind immer mehr Lander über den f 1 eien Austausch von Personen und Gutern, von Kapital und Dienstleistungen integriert worden - ein Prozeß, der mit der I lerstellung des Gemeinsamen Marktes und der Einfuhrung der gemeinsamen Wahrung vollendet worden ist Heute bildet die Europaische Union den Rahmen fur ein immer dichteres Netzwerk von Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen, fur alle Arten von Transaktionen Neben den USA und Japan hat Europa eine starke und immer noch einflußreicher werdende Position gewonnen Andererseits liefert die rationale Erwartung von Gewinnen und differenziellen Wettbewerbsvorteilen nur eine begrenzte Legitimation. Wünschenswerte Ergebnisse stabilisieren bestenfalls den Status quo, selbst wenn wir den symbolischen Wert in Rechnung stellen, den der einheitsstiftende Euro demnächst im Alltag der Konsumenten haben wird Wirtschaftliche Erwartungen reichen als Motiv nicht aus, um in der Bevölkerung politische Unterstützung fur das risikoreiche Projekt einer Union, die diesen Namen verdiente, zu mobilisieren. Dazu bedarf es gemeinsamer Wertonentierungen ' Gewiß
5 Vgl Jürgen Habermas, Von der Macbtpolnik zurWeltburgergesellichaft in ders , Zeit dey Übergänge, Frankiurt/M 2001, S 36
6 J E Foisum Comtitutum-making in the European Union in E O t n k son/J E Fossum (Fds ), Democracy in thi Furopean Union - Integration througb Délibération?, London 2.000, S 11 163
I Warum soll Europa das Ziel einer »immer engeren Union« verfolgen? Die Frage der Rechtfertigung einer offensiven Einstellung ?Ur Zukunft der EU behandele ich unter den beiden Aspekten (i ) der Zielsetzungen und (2 ) der Probleme, mit denen wir heute infolge bereits getroffener Entscheidungen so oder so konfrontiert sind (1 ) Die Zielsetzungen der Grundergeneration (Schumann, de Gaspen und Adenauer) haben viel von ihrer ursprünglichen Relevanz eingebüßt (a) Die EU-Eliten haben allerdings die ursprünglichen Ziele inzwischen durch eine andere Agenda ersetzt (b)
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hangt die Legitimität eines Regimes auch von seiner Effizienz ab Aber politische Innovationen wie der Aufbau eines Staates \ O n Nationalstaaten bedürfen der politischen Mobilisierung fui Ziele, die nicht nur an die Interessen, sondern auch an die Gemüter ip pelheren Neue Verfassungen waren bisher historische Antwor ten auf Krisensituationen Aber wo sind die Krisen, denen die im ganzen eher wohlhabenden und friedlichen westeuropäischen Gesellschaften heute begegnen mußten 5 Die Transformaüonsge Seilschaften in Mittelosteuropa, die der Europaischen Union bei treten wollen, müssen in der Tat mit den extremen Herausfoidc rungen eines Systembruchs fertig werden - aber deren Antwort war die Ruckkehr zum Nationalstaat In diesen Landern besteht erst recht kein Enthusiasmus fur die Übertragung von jungst wie dergewonnenen Souveramtatsrechten auf europaische Instanzen Angesichts der fehlenden Motivation auf beiden Seiten wird freilich das Ungenugen ausschließlich ökonomischer Grunde nur um so deutlicher Diese müssen sich mit Ideen ganz anderer Art verbinden, um in den Mitghedstaaten nationale Mehrheiten tur eine Veränderung des politischen status quo zu gewinnen - sagen wir, mit der Idee der Bewahrung einer spezifischen, heute in Ge fahr geratenen Kultur und Lebensform Die große Masse der eu ropaischen Burger fühlt sich eins in dem Interesse an der Veitei digung einer Lebensform, die sie, in den begünstigten Regionen diesseits des Eisernen Vorhangs, wahrend des dritten Viertels des vergangenen Jahrhunderts - also in Hobsbawms Goldenem 7eit alter - entwickeln konnten Gewiß war ein schnelles Wirtschafts Wachstum die Grundlage fur einen Sozialstaat, in dessen Rahmen sich die europaischen Nachkriegsgesellschaften regeneriert h\ ben Aber als Ergebnis dieser Regeneration zahlt nur eins - I e bensweisen, in denen sich auf der Grundlage von Wohlstand und Sicherheit der Reichtum und die nationale Vielfalt einer über Jahrhundeite zurückreichenden, attraktiv erneuerten Kultur lus differenziert hat Die ökonomischen Vorteile der europaischen Einigung zahlen als Argument fur einen weiteren Ausbau der FU nur im Kontext einer über die wirtschaftliche Dimension weit hinausgreifenden kulturellen Anziehungskraft Die Bedrohung dieser Lebensfoi in, und der Wunsch nach ihrer Fihaltung, stachelt zur Vision eines künftigen Europas an, das es mit den aktuellen Herausforderun gen noch einmal innovativ aufnehmen will Dei französische 228
Premierminister hat in seiner großartigen Rede vom 28 Mai 2001 alif diese »europaische Lebensweise« als Inhalt des politischen Projekts hingewiesen »Bis vor kurzem konzentrierten sich die Anstrengungen dei Union auf die Schaffung der Wahrungs- und Wirtschaftsunion Heute bedarf es aber einer weiterreichenden Perspektive, andernfalls wird Europa zu einem bloßen Markt verkommen und in der Globalisierung aufgeweicht Denn Europa ist viel mehr als ein Markt Es steht fur ein Gesellschaftsmodell, das geschichtlich gewachsen ist «7 (b) Ob wir nun die wirtschaftliche Globalisierung als eine beschleunigte Fortsetzung lang anhaltender Trends oder als den Übergang zu einer neuen, transnationalen Form des Kapitalismus verstehen, in jedem Fall teilt sie mit allen Prozessen beschleunigter Modernisierung einige beunruhigende Zuge In Perioden schnellen Strukturwandels entsteht eine zunehmend ungleiche Verteilung der sozialen Kosten Die Statusungleichheit zwischen Gewinnern und Verlierern der Modernisierung nimmt / u Sie geht Hand in Hand mit der generellen Erwartung kurzfristig höherer Belastungen und langfi istig größerer Zuwachse Nun ist dieser letzte Schub wirtschafthchei Globalisierung keineswegs die Folge einer naturwüchsigen Evolution Weil die Globalisierung der Markte das Ergebnis intentional herbeigeführter politischer Entscheidungen (der GATT-Runden und der Etabherung der Welthandeisorganisation) ist, muß es auch möglich sein, die unerwünschten Konsequenzen dieser Entscheidungen zwar nicht durch eine Umkehrung des Prozesses, aber durch komple mentar-gegenlaufige Sozial- und Wirtschaftspolitiken autzufan gen Allgemein betrachtet, müssen solche Politiken auf die Bedurf nisse verschiedener Gruppen zugeschnitten sein s Fur kurzfristige Verlierer kann die Beschaftigungslucke durch Investitionen in Ausbildung und Umschulung so% le durch befristete Transfers überbrückt werden, wahrend die auf Dauer Betroffenen beispielsweise durch eine negative Einkommensteuer oder andere Formen eines von der Beschaftigungssituation entkoppelten 7 L Jospin, / uropa ichajfen ohne Itankreich abzuschaffen ist mein hiedo in Frankfurter Rundschau 10111 5 Juni 2001 8 Zum folgend en \gl G Vobruba, Alternativen zur Vollbeschäftigung trank furt/M 2001 229
Grundeinkommens entschädigt werden können Freilich sind umverteilungswirksame Programme nicht leicht durchzusetzen zumal die Modernisierungsverlierer heute nicht mehr zu einer Industnearbeitersehaft mit starken Vetopositionen gehören Die politische Entscheidung, ob sich die Gesellschaft ein angemesse nes Niveau allgemeinen Wohlstandes leisten will, das die Segmen ticrung von Randgruppen, soziale Exklusion überhaupt iusschheßt, hangt immer starker von Gerechtigkeitsuberlegungen, vor allem von der Sensibilität breiter Schichten fur die wahrnohm baren Phänomene verletzter staatsbürgerlicher Solidarität ib Solche normativen Überlegungen können aber nur so lange Mehrheiten in Bewegung setzen, wie sie in den Traditionen der herrschenden politischen Kultur verankert sind Das ist keine ganz unrealistische Annahme fur die europäischen Lander, wo die politischen Traditionen der Arbeiterbewc gung, der kirchlichen Soziallehren und des Sozialhberahsmus den Vorstellungen gesellschaftlicher Solidarität noch eine gewisse Resonanz sichern In der Literatur der vergleichenden Kulturwissenschaften wird Europa ein Wertmuster zugeschrieben, das privaten Individualismus mit öffentlichem Kollektivismus auf einzigartige Weise kombiniert So stellt etwa Goran Therborn fest, »that the European road to and through modernity has ilso left a certain legacy of social norms, reflecting European expériences of elass and gender Collective bargaining, trade unions, public social services, the nghts of women and children are ail held more legitimate in Europe than in the rest of the contem porary world They are expressed in social documents of the V U and of the Council of Europe «' In ihrer öffentlichen Selbstdar Stellung zehren jedenfalls die großen politischen Parteien nach wie vor von diesem Hintergrund Sie halten an einem materiellen Begriff demokratischer Staatsbürgerschaft fest und müssen sich auch in Zeiten nationaler Standortpohtik an eher inklusiven ge sellschaftspohtischen Zielen messen lassen Selbst unter dieser Prämisse stellt sich fi eilich die Frage, warum nationale Regierungen nicht besser als die schwerfälligen Brusst 1er Behörden dafür gerüstet sein sollten, gegensteuernde Politiken und ausgleichende Programme wirksam zu implementieren Dis
berührt den kontroversen Punkt, in welcher Weise die wirtschaftliche Globalisierung den Handlungsspielraum nationaler Regierungen berührt Ich selbst habe die Wende zu einer postnationalen Konstellation betont1= In der Zwischenzeit sind einige Gegenargumente vorgebracht worden " Jedenfalls besteht keine lineare Beziehung zwischen der Globalisierung der Markte und einer abnehmenden Autonomie der Staaten, noch besteht heute notwendigerweise eine inverse Beziehung zwischen den Niveaus der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit - Die Regierungen haben, auch unabhängig von dem zunehmenden globalen Druck, der von außen auf ihnen lastet, lernen müssen, innerhalb nationaler Arenen im Umgang mit einflußreichen gesellschaftlichen Aktoren eine weniger dominante und starker moderierende Rolle zu spielen Die sozialwissenschaftliche Literatur betont die kooperativen Zuge eines in Verhandlungssysteme hineingezogenen Staates, der sich mit mehr oder weniger selbstbewußten Parteien ins Benehmen setzen muß Anscheinend muß sich der Staat, obwohl er nach wie vor den exklusiven Zugang zu Mitteln des legitimen Zwangs behalt, immer häufiger vom Stil der Anweisung auf den Modus von Überzeugen und Überreden umstellen l2 - Obwohl nationale Regierungen unter dem Druck der globalen Standortkonkurrenz nicht anders können, als die Unternehmenssteuern zu senken, scheinen ihnen, wie jüngste Vergleichsstudien zeigen, auf Pohtikfeldern, die auf den kovananten Zusammenhang zwischen den Niveaus der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit unmittelbar Einfluß haben, immer noch aussichtsreiche Optionen offenzustehen n Diese Argumente erschüttern freilich nicht zwei generelle Aussagen - die Annahme, daß nationale Regierungen immer weitergehend in transnationale Netzwerke verstrickt und deshalb immer
9 G Therborn, Furope's Brtak uithitselj, in F- Cerutti, E Rudolph (Eds ) 1 Soul foy turopc,Vo\ 2, zooi S 44 56, hier S 52
*3 F Scharpf, The Viability of Advanced Weifare States in the International Economy, in Journal of [• uropean Public Pohcy, 7 2000, S 190 228
10 Vgl J Habermas, t uroskepsis, Markteuropa oder l uropa der Weltburger, in ders , Zeit der Übergänge, a a O , S 85 103 ïi E Grande, Th Risse, Bndgmg the Gap, in Zeitschrift fur internationale Beziehungen,
O k t o b e r 2000, S 235 26e
12 J Esser, Der kooperative Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung , in D Döring (Hg) Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt/M 1999 S 117 144
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mehr von politischen Ergebnissen abhangig werden, die unter Bc dingungen asymmetrische? Mathtverteilung ausgehandelt wer den, sowie - die Annahme, daß sich nationale Regierungen, gleichviel welche Politiken sie wählen, an die imperativen Beschrankungen der dereguherten Markte anpassen und, in Reaktion auf die er zwungene Senkung der Unternchmenssteuern und auf das Schrumpfen öffentlicher Haushalte, wachsende Ungleichheiten in der Verteilung des Sozialprodukts hinnehmen müssen Daher bleibt das Problem bestehen, ob unsere kleinen oelei mittelgroßen Nationalstaaten je auf sich gestellt die Handlungs kapazitat bewahren können, um dem Schicksal einer schleichen den Assimilation an das Gesellschaftsmodell zu widerstehen, dis ihnen von dem heute herrschenden Weltwirtsehaftsregime an gedient wird Dieses Modell ist, wenn Sie mir eine polemische Zuspitzung gestatten, durch vier Momente geprägt durch das anthropologische Bild vom Menschen als einem rational ent scheidenden Unternehmer, der seine eigene Arbeitskraft lus beutet, durch das sozialmorahsche Bild einer postegahtaren Ge Seilschaft, die sich mit Marginahsicrungen, Verwerfungen und Exklusionen abfindet, durch das ökonomische Bild einer Demo kratie, die Staatsburger auf den Status von Mitgliedern einer Marktgesellschaft reduziert und den Staat zum Dienstleistungs unternehmen fur Klienten und Kunden umdefiniert, schliefshch durch das strategische Ansinnen, daß es keine bessere Politik gibt als die, die sich selber abwickelt Das sind Bausteine zu einem neohberalen Weltbild, das, w enn ich recht sehe, nicht gut zum bislang vorwaltenden normativ en Selbstverstandnis der Europaer paßt Welche Lesart des euiopii sehen Einigungsprojektes legt diese Diagnose nahe' In dem Milk, wie die Europaer die unerwünschten sozialen Folgen wachsender distributiver Ungleichheiten balancieren und auf eine gewisse Rereguherung der Weltwirtschaft hinwirken wollen, müssen sie auch ein Interesse an der Gestaltungsmacht haben, die eine poh tisch handlungsfähige Europaische Union im Kreise der globil player gewinnen wurde Helmut Schmidt hat vor kurzem bekli^t, daß der gemeinsame Finanzmimster fehlt, der Europa beispiels weise im Konzert der G 7 Runde vertritt Die zwölf Euro Teil nehmerstaaten mußten ihre Anteile am Weltwahrungsfonds, in der Weltbank, an der Bank fur Internationalen Zahlungsausgleich
bundein »Ein gemeinsames Auftreten aller am Euro beteiligten Staaten wäre eine wirkungsvolle Plattform, von der aus die EU dann fur eine zuverlässige Ordnung auf den globalen Finanz markten und fur eine funktionierende Aufsicht über verantwor tungslos spekulierende Finanzhauser eintreten konnte «14 In dieselbe Richtung zielt auch die Vision von zwei Europaspe ziahsten an der Freien Universität Brüssel, Mario Telo und Paul JVtignette »The European Union IS now bcing challenged to de velop a better balance between deregulation and reregulation than national rules have been able to achieve The Union may be seen as a laboratory in which Europeans are stnving to implement the values of justice and solidanty in the context of an increasing global economy« 11 Wir Europaer haben im Hinblick auf die Zukunft einer hoch stratifizierten Weltgesellschaft ein legitimes Interesse daran, daß wir unsere Stimme in einem internationalen Konzert zur Geltung bringen, das bisher nach einer ganz anderen Partitur spielt Naturlich zieht diese Perspektive den Argwohn auf sich, eine parteiliche, sagen wir eine sozialdemokratische Lesart des euro paischen Projektes zu sein Man mag einwenden, daß jede substantielle Deutung parteilich ist und die Anhangerschaft polan siert Aber angesichts schwacher Motivation und wachsender Skepsis ist ohne eine Polansierung der Meinungen eine Mobihsie rang an der Basis erst recht nicht zu erwarten Und normativ betrachtet, ist diese Strategie unbedenklich, denn ein Erfolg wäre prozeduraler Natur Ein politisch verfaßtes und institutionell gefestigtes Europa wurde die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln starken, ohne Richtungsentscheidungen zu prajudizieren Eine erweiterte politische Handlungsfähigkeit ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung fur Korrekturen am Weltwirt Schaftsregime, die einige unter uns Eurofoderalisten fur wünschenswert halten mögen (2) Auch wenn wir solche ausgreifenden normativen Ziele außer acht lassen, sprechen Grunde einer anderen Art immer noch fur eine energische Fortfuhrung des europaischen Projektes So oder so müssen wir mit Problemen fertig werden, die sich aus der Ku*4 Die Zeit vom 7 Juni 2001 15 M Telo, P Migneue,Juitice and Solidanty in Gerutti and Rudoph A Soul for Europe a % O Vol 1 S 51 2
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mulation der unbeabsichtigten Folgen vergangener politischer Entscheidungen ergeben haben Die gegenwartige Reformdebittp ist vom Dilemma der »Erweiterungsknse«" ausgelost worden Mit dem Termin fur den Beitritt der osteuropaischen Staaten hat sich die EU selbst unter Reformdruck gesetzt Denn die Erweite rung der Union um zwölf weitere, ökonomisch und gesellschift lieh vergleichsweise heterogene Lander steigert die Komplexität eines Regelungs und Abstimmungsbedarfs, der ohne eine weitere Integration oder »Vertiefung« nicht bewältigt werden kann Die sen Reformstau hat die Konferenz von Nizza nicht aufgelost fs ist nicht gelungen, das aktuelle Problem der Erweiterung zum He bel fur die Bearbeitung tieferhegender struktureller Probleme zu machen Dabei handelt es sich (a) um das Mißverhältnis zwischen der dichten ökonomischen und der eher lockeren politischen Ver flechtung einerseits und (b) um das demokratische Defizit der Brüsseler Entscheidungsprozessc andererseits (a) Die Mitgliedstaaten der EU haben nicht nur in der Kultur und Bildungspolitik, sondern auch in der Finanz , Wirtschifts und Sozialpolitik ihre Zuständigkeiten im wesentlichen behaup tet Hingegen haben sie ihre Geldsouveramtat auf die prasumtiv unpolitische Einrichtung der Zentralbank übertragen und damit ein wichtiges Instrument der Intervention aus der Hand gegeben Nachdem die Wahrungsumon den wirtschaftlichen Intégrations prozeß vollendet hat, wachst das Bedürfnis nach einer >Hv momsierung« der einzelstaatlichen Politiken auf vielen Feldern Die Nationalstaaten stehen in verschiedenen Rechtstraditionen, haben verschiedene sozialpolitische Regime, verschiedene nco korporatistische Arrangements und Steuersysteme Deshalb îea gieren sie auf gleiche Stimuli und Herausforderungen auf \er schiedene Weise, so daß sich die Interferenz der Nebenfolgen oit kontraproduktiv auswirkt (Ein harmloses Beispiel sind die un koordinierten Reaktionen benachbarter Regierungen auf uns senhafte Proteste gegen den plötzlichen Anstieg der Ol und Benzinpreise im September 2000 ) Noch stehen die nationalen Regierungen im Wettbewerb um den gunstigsten Weg der Anpis sung ihrer sozialen Sicherungssvsteme an veränderte demogri ié G Vobruba Die Erueiterungskrue der buropauchen Union in /< üiathan 28 Jg 2000 S 477 496 2
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phische Bewegungen und an die Imperative der veränderten weit wirtschaftlichen Situation Gleichzeitig müssen sie sich über soziale Mindeststandards einigen - also den ersten Schritt in Richtung auf eine Sozialunion tun, die nach den Vorstellungen von Jacques Delors mittelfristig eine Konvergenz der Beitrage und Leistungen befordern wurde Die Diskrepanz zwischen der fortgeschrittenen ökonomischen und der hinterherhinkenden politischen Integration konnte durch eine Politik überwunden werden, die auf die Konstruktion hoherstufigei politischer Handlungsfähigkeiten abzielt, weil sie nut den dereguherten Markten Schritt halten will Aus dieser Per spektive erscheint das europaische Projekt als der gemeinsame Versuch der nationalen Regierungen, in Brüssel etwas von der Interventionskapazitat zurückzugewinnen, die jede einzelne von ihnen zu Hause verloren hat So sieht es jedenfalls Lionel Jospin, der fur den Euroraum eine Wirtschaftsregierung sowie langfristig eine Harmonisierung der gesamten Unternehmensbesteuerung fordert 7 (b) Die Koordinierung weiterer Pohtikbcreiche bedeutet freilich eine Konzentration von Kompetenzen, die ein weiteres Dilemma nur verscharfen wurde Schon heute lost das demokratische Defi zit der Brüsseler Behörden ein wachsendes politisches Unbeha gen in der breiten Bevölkerung aus Das gilt keineswegs nur fur kleinere Staaten wie Danemark und Irland oder fur die einstwei hge Ablehnung der EU von selten der Schweizer und der Nor weger Bisher werden die Entscheidungen von Kommission und Ministerrat im wesentlichen über die Kanäle der bestehenden Na tionalstaaten legitimiert Dieser Ltgitimationspegel entspricht einer auf internationalen Vertragen beruhenden intergouverne mentalen Herrschaft, er war so lange ausreichend, wie markt erzeugende Politiken angesagt waren In dem Maße, wie sich Ministerrat und Kommission nicht mehr auf die negative Koordi nation von Untcrlassungshandlungen beschranken können, son dem die Grenze zur positiven Koordination von Eingriffen mit 17 L Jospin (a a O ) V01 dringlichste Autgabe ist die Bekämpfung des So zialdumping denn es geht nicht an daß manche Mitgliedsraitcn mit ei nem unlauteren Steuerwettbewerb die weltweiten Investitionen anlocken und die europaischen Konzerne dazu verlocken ihre Zentralen dorthin ?u verlagern 2
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Umverteilungsfolgcn überschreiten, macht sich der Mangel an einer europaweiten staatsbürgerlichen Solidarität bemerkbar. Djc Implementierung Brüsseler Entscheidungen berührt nach manchen Schätzungen schon 70 % der nationalen Gesetzgebungsprozesse, ohne daß diese Materien dem öffentlichen politischen Streu in den nationalen Arenen ausgesetzt würden, zu denen die Inhaber europäischer Pässe ja allein Zugang haben. Die Dichte europäischer Entscheidungen, die Undurchsichtigkeit ihres Zustandekommens und die fehlende Gelegenheit fur die europäischen Bürger, sich an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen, rufen an der Basis Mißtrauen hervor. Claus Offe hat die Themen und regelungsbedürftigen Komplexe untersucht, die in den einzelnen Nationen Befürchtungen wecken und zwischen ihnen Rivalitäten auslösen. Die Sorgen richten sich in erster Linie auf fiskalische Umverteilungseffekte, die die eigenen Landsleute benachteiligen und anderen Nationen zugute kommen könnten. Befürchtungen wecken auch die Immigrationsstrome aus fremden Ländern und die Investitionsströme, die in fremde Länder abfließen. In diesem Kontext spielt auch die Vorstellung eine Rolle, daß die ungebremste Konkurrenz mit Gesellschaften eines anderen Produktivitätsniveaus schädliche Folgen für die eigene Gesellschaft haben. Offc beschreibt die gegenwärtige Situation der Beziehungen zwischen den der EU angehörenden Nationen als einen »friedlichen Naturzustand«. Der könne nur durch eine europäische »Staatenbildung« überwunden werden, die sich allerdings nicht nach dem Muster des Nationalstaates richten dürfe. Aber selbst ein so skeptischer Beobachter wie Offe kommt zu dem Schluß, daß es einer »Organisationsmacht« bedarf, die »durch positive Integration« die Grundlagen zu einer europaischen Gesellschaft legt.18
II. Aber kann die Europäische Union staatliche Qualitäten annehmen? Soviel zu den Gründen, die das politische Ziel einer föderalistischen, über eine bloße Konföderation hinausweisenden europ.u18 C. Olle, Kann es eine europäische Gesellschaft geben?, in: iche und internationale Politik, April 2001, S. 423-435 236
sehen Verfassung rechtfertigen. Eine ganz andere Frage ist es, ob Europa die notwendigen empirischen Voraussetzungen für das neue, noch ungeklärte Design eines Staates von Nationalstaaten erfüllen kann. Ich will mich zunächst (1.) mit einem bekannten Einwand der Euroskeptiker auseinandersetzen und dann (2.) auf die Voraussetzungen eingehen, die für eine Politische Union, die selber staatliche Qualitäten annimmt, erfüllt sein müssen. (1.) Die Euroskeptiker lehnen einen Wechsel der Legitimationsgrundlage von internationalen Verträgen zu einer Europäischen Verfassung mit dem Argument ab, »daß es kein europäisches Volk gibt«.19 Was zu fehlen scheint, ist das erforderliche Subjekt eines verfassunggebenden Prozesses, also jener Kollektivsingular des »Volkes«, das sich selbst als eine Nation von Staatsbürgern konstituieren könnte. Diese »no-demos-thesis« ist aus begrifflichen und empirischen Gründen kritisiert worden. Die Nation der Staatsbürger darf nicht mit einer vorpolitischen Schicksalsgemeinschaft verwechselt werden, die durch gemeinsame Herkunft, Sprache und Geschichte geprägt ist. Denn damit wird der voluntaristische Charakter einer Staatsbürgcrnation verfehlt, deren kollektive Identität weder vor noch überhaupt unabhängig von dem demokratischen Prozeß, aus dem sie hervorgeht, existiert. In diesem Kontrast von Staatsbürger- und Volksnation spiegelt sich auch die große Errungenschaft des demokratischen Nationalstaats, der ja mit dem Status der Staatsbürgerschaft eine völlig neue, nämlich abstrakte, durchs Recht vermittelte Solidarität erst hervorgebracht hat. Historisch betrachtet, ist diese erste moderne, über persönliche Bekanntschaft hinausgreifende Form der sozialen Integration in neuen, medienvermittelten Kommunikationsverhältnissen entstanden. Auch wenn gemeinsame Sprache und Lebensform diesen Prozeß der Bewußtseinsbildung erleichtert haben, laßt sich aus dem Umstand, daß sich Demokratie und Nationalstaat im Gleichschritt entwickelt haben, nicht auf die Priorität des Volkes vor der Republik schließen. Das Tandem beleuchtet vielmehr den Kreisprozeß, in dessen Verlauf sich nationales Bewußtsein und demokratische Staatsbürgerschaft gegenseitig stabilisiert haben. Beide zusammen haben erst das neue Phänomen einer staatsbürgerlichen Solidarität hervorgebracht,
Blatterfurdi.il'19 E. W. Bockenforde, Welchen Weg geht Europa?, München 11)97 •237
die seitdem den Kitt nationaler Gesellschaften bildet Das Nitio nalbewußtsein ist ebenso aus der Massenkommunikation von Zeitungslesern wie aus der massenhaften Mobilisierung von Wehrpflichtigen und Wahlern hervorgegangen Es ist durch die Konstruktion von stolzen Nationalgeschichten nicht weniger ge prägt worden als vom öffentlichen Diskurs der um Einfluß und Regierungsmacht kampfenden politischen Parteien Aus dieser Entstehungsgeschichte der europaischen Natioml Staaten laßt sich lernen, daß die neuen Formen der nationalen Identität einen künstlichen Charakter haben, der sich nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen wahrend eines lange ren, über das ganze 19 Jahrhundert sich erstreckenden Prozesses herausgebildet hat Diese Identitatsformation verdankt sich ei nem schmerzlichen Prozeß der Abstraktion, der lokale und d\ m stische Loyalitäten schließlich in dem Bewußtsein demoknti scher Staatsburger, zur selben Nation zu gehören, aufgehoben hat Wenn das zutrifft, gibt aber es keinen Grund zu der An nähme, daß die Formierung eines solchen Typs Staatsbürger hchcr Solldantat an den Grenzen des Nationalstaates haltmachen mußte (2 ) Die Bedingungen, unter denen das Nationalbewußtsein ent standen ist, erinnern uns allerdings an die empirischen Vorausset Zungen, die erfüllt sein müssen, damit sich eine so unwahrschein liehe Identitatsformation auch über die nationalen Grenzen hinaus erweitern kann (a) die Notwendigkeit einer europaischen Burgergesellschaft, (b) die Konstruktion einer europaweiten po huschen Öffentlichkeit, und (c) die Schaffung einer politischen Kultur, die von allen EU-Burgern geteilt werden kann Diese drei funktionalen Erfordernisse einer demokratisch verfaßten Euro paischen Union lassen sich als Bezugspunkte komplexer, iber konvergierender Entwicklungen verstehen Diese Prozesse kon nen durch eine Verfassung, die einen gewissermaßen katalvsato nschen Effekt hat, beschleunigt und auf den Konvergenzpunkt hin gelenkt werden Europa muß sozusagen die Logik jenes Kreisprozesses, worin sich der demokratische Staat und die N i tion gegenseitig hervorgebracht haben, noch einmal reflexiv auf sich selbst anwenden Am Anfang stunde ein Verfassungsrefertn dum, das eine große europaweite Debatte in Gang setzte Der \ ei fassunggebende Prozeß ist namheh selbst ein einzigartiges Mittel 238
grenzüberschreitender Kommunikation Er hat das Potential zu einer self-fulfilhng prophecy Eine europaische Verfassung wurde nicht nur die Machtverschiebung, die langst stillschweigend statt gefunden hat, manifest machen, sie wurde neue Machtkonstellationen fordern (a) Betrachten wir zunächst die Aktoren der Burgergesellschaft Sobald die Europaische Union eigene Steuern erheben konnte und finanziell autonom wurde, sobald sich die Kommission und ein verstetigter Europäischer Rat Regierungsfunktionen teilen wurden, mußte ein Straßburger Parlament, das an einer konkur nerenden Gesetzgebung teilnähme, auch in der Lage sein, die jetzt schon bemerkenswerten Kompetenzen besser in Szene zu setzen und größere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen Dazu ist die volle Budgethoheit klassischer Volksvertretungen nicht ein mal notig Die Achse der Politik wurde sich starker von den nationalen Hauptstädten nach Brüssel und Straßburg neigen Das gälte auch fur die Arbeit der politischen Parteien, die Tätigkeit der Interessengruppen, die Aktivitäten der Wirtschaftsverbande, fur den Lobbyismus der Berufsverbande und der kulturellen und wissenschaftlichen Organisationen, auch fur den »Druck der Straße« - fur die Proteste, die dann nicht mehr nur von Bauern und Lastkraftfahrern, sondern von Bürgerinitiativen und Burger bewegungen ausgehen konnten Zudem wurden die Interessen, die nach Wirtschaftssektor und Berufsgruppe, nach Konfessionszugehongkeit und politischer Ideologie, nach Klasse, Region und Geschlecht organisiert sind, über nationale Grenzen hinweg fusionieren Die wahrgenommene transnationale Überlappung von parallel gelagerten Inte ressen und Wertorientierungen wurde das Entstehen eines euro paischen Parteiensystems und grenzüberschreitender Netzwerke befordern Auf diese Weise wurden die territorialen Formen der Organisation so auf funktionale Prinzipien umgestellt, daß Asso ziationsverhaltmsse entstehen, die den Kern einer europaweiten Zivilgesellschaft bilden (b) Das Demokratiedefizit kann freilich nur behoben werden, wenn zugleich eine europaische Öffentlichkeit entsteht, in die der demokratische Prozeß eingebettet ist In komplexen Gesellschaf ten entsteht demokratische Legitimation aus dem Zusammen 239
spiel der institutionalisierten Beratungs- und Entscheidung prozesse mit der informellen, über Massenmedien laufenden Meinungsbildung in den Arenen der öffentlichen Kommunikation Im demokratischen Verfassungsstaat erfüllt die Infrastruk tur der Öffentlichkeit idealerweise die Funktion, gesamtgescll schaftlich relevante Probleme so in Kristalhsationskerne von Diskursen zu verwandeln, daß die Burger die Chance erhalten, sich gleichzeitig auf dieselben, ähnlich gewichteten Themen zu beziehen und zu kontroversen Beitragen zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen Die meist impliziten und zerstreuten Ja-/Nein-Stellungnahmen zu mehr oder weniger informierten und begründeten Alternativen sind die winzigen Partikel, die sich einerseits zu aktuell einflußreichen Meinungen kumulieren und andererseits in langerfnstigen Einstellungen und demokratischen Wahlentscheidungen niederschlagen Nun bestehen solche Arenen der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung einstweilen nur innerhalb der Nationalstaaten Aber man darf sich die fehlende europaische Öffentlichkeit nicht als die projektive Vergrößerung einer solchen innerstaatlichen Öffentlichkeit vorstellen Sie kann nur so entstehen, daß sich die intakt bleibenden Kommumkationskreislaufc der nationalen Arenen füreinander offnen Die Stratifikation von verschiedenen - regionalen, nationalen und föderalen - Ebenen politischer Meinungsbildung, die den einzelnen Stockwerken des politischen Mehrebenensystems zugeordnet sind, suggeriert das falsche Bild der Überlagerung nationaler Öffentlichkeiten durch eine Superoff enthchkeit Statt dessen mußten sich die nationalen, aber ineinander übersetzten Kommunikationen so miteinander verschran ken, daß die relevanten Beitrage osmotisch aus den jeweils anderen Arenen aufgesogen werden Auf diese Weise konnten die europäischen Themen, die bisher unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt und entschieden werden, in die miteinander vernetzten nationalen Arenen Eingang finden Die drangende Frage »Can the European Union become a sphère of publics3«20 kann nur aus einer transnationalen Perspek tive beantwortet werden Wenn wir nach enghschsprachigen 7ei tungen mit einer multinationalen Leserschaft Ausschau halten, 20 So lautet der Titel einer empirischen Analyse von Philip Sehlesinger und Deidre Kevin, in Enkson/Fossum, A Soul for Europe, a a O , S 206 229 240
stoßen wir auf die Wirtschaftselite, die die Financial Times oder den Economiste oder auf eine politische Klasse, die die International Herald Tribune (mit einem Digest der Frankfurter Allgemeine Zeitung) liest - nicht gerade spezifisch europaische Blatter Diese Medien bieten kein vielversprechendes Modell fur eine grenzüberschreitende Kommunikation Auf dem Feld der audiovisuellen Kommunikation ist der zweisprachige Fernsehkanal Arte schon überzeugender Auch dieser Versuch orientiert sich freilich immer noch am Bild einer supranationalen Öffentlichkeit, in der sich verschiedene Nationalitäten treffen Stellen wir uns statt dessen vor, daß sich die Veroffentlichungspraxis, die sich wahrend der Gipfeltreffen des Europaischen Rates eingespielt hat, verstetigt Auf diese Weise konnten den Burgern in ganz Europa die gemeinsam interessierenden Fragen nahegebracht werden Die nationalen Medien des einen Landes müssen nur die Substanz der in anderen Mitgliedsländern geführten Kontroversen aufnehmen und kommentieren Dann können sich m allen Landern parallele Meinungen und Gegenmeinungen an derselben Sorte von Gegenstanden, Informationen und Gründen herausbilden, gleichviel woher diese stammen Daß dabei die horizontal hin- und herfließenden Kommunikationen den Filter von wechselseitigen Übersetzungen passieren müssen, beeinträchtigt die wesentliche Funktion der grenzüberschreitenden, aber gemeinsamen politischen Meinungs- und Willensbildung nicht Innerhalb der Union gibt es zur Zeit dreizehn verschiedene, offiziell anerkannte Sprachen Dieser Sprachenplurahsmus scheint auf den ersten Blick ein unüberwindliches Hindernis fur die Schaffung einer europaweiten politischen Gemeinschaft darzustellen Der amtliche Multilinguahsmus der EU-Politik ist der unverzichtbare Ausdruck einer reziproken Anerkennung der Integrität und des gleichen Wertes der verschiedenen nationalen Kulturen Aber unter dem Deckmantel dieser Garantie ist es um so leichter, face to face Englisch als Arbeitssprache immer dann 7u praktizieren, wenn die jeweiligen Parteien ubei keine andere ge meinsame Sprache verfugen 2I Nebenbei gesagt bieten kleinere Lander wie Holland, Danemark, Schweden oder Norwegen gute 21 P A Kiaus Von Westfalen nach Ko^mopolis Die Problematik kulturellem Identität in dci l uiopaistbcn Politik in Berliner Journal fur Soziologie 2, 2000, S 203 218, ders , Political Unüy and hnguntic Dueruty in Luropc in Archive for european sociology, XI I, 2000, S 138 163 241
Beispiele für ein Schulsystem, das Englisch als zweite Erstsprache in der ganzen Bevölkerung etabliert hat.22 (c) Die europaweite politische Öffentlichkeit ist einerseits auf die vitalen Eingaben zivilgesellschaftlicher Aktoren angewiesen; aber sie bedarf ihrerseits der Einbettung in eine gemeinsame politische Kultur. Auch wenn die Intellektuellen offenbar bis zum 19. Jahrhundert keinen Grund dafür gesehen haben, über Idee und Wesen Europas nachzudenken,21 wird darüber inzwischen eine bekümmerte Debatte geführt.24 Der Kummer besteht darin, daß die Errungenschaften der europäischen Kultur weltweite Verbreitung gefunden haben. Das gilt für das missionierende Christentum ebenso wie für die säkularen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, von Römischem Recht und Code Napoleon, von Nationalstaat, Demokratie und Menschenrechten. Lassen Sie mich gleichwohl an zwei spezifische Erfahrungen erinnern, die in Europa ein bemerkenswertes Echo gefunden haben. Europa ist in seiner Geschichte mehr als andere Kulturen mit tiefreichenden, strukturell verankerten Konflikten und Spannungen konfrontiert worden, und zwar sowohl in der sozialen wie in der zeitlichen Dimension. Daraus erklären sich gewiß auch die aggressive Bereitschaft zur Expansion und ein hohes Potential an Gewaltsamkeit. Aber in unserem Zusammenhang interessiert mich, daß die Europäer auf solche Herausforderungen auch produktiv reagiert und dabei vor allem zwei Dinge gelernt haben: mit stabilisierten Dauerkonflikten zu leben und eine reflexive Einstellung gegenüber eigenen Überlieferungen einzunehmen. In der sozialen Dimension hat das moderne Europa Verfahren und Institutionen für den Umgang mit intellektuellen, sozialen und politischen Konflikten entwickelt. Im Verlaufe von schmerzhaften und oft schicksalhaften Verstrickungen hat Europa gelernt, mit der Konkurrenz zwischen geistlichen und säkularen Mächten, mit der Spaltung zwischen Glauben und Wissen, mit 22 Kraus erwähnt eine Umfrage, wonach bereits die Mehrheit der Deutschschweizer den beiden anderen Landessprachen Englisch als gemeinsame Verkehrssprache vorsieht. 23 P. den Boer, Europe as an Idea, in: Kur ope an Review, Vol. 6, Oct. 199S. S.395-402 24 R. Viehoif, R.T. Segers (Hg.), Kultur, Identität, Europa, Frankfurt/M. 1999
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dem endemischen Streit der Konfessionen, mit den Gegensätzen zwischen Stadt und Land, Hof und Stadt, town and gown, am £nde auch mit der Feindschaft und Rivalität zwischen kriegslüsternen Nationalstaaten fertig zu werden. Das ist uns dadurch gelungen, daß wir diese Konflikte nicht etwa aufgelöst, sondern durch Ritualisierung auf Dauer gestellt und zur Quelle von innovativen Energien gemacht haben. Mit dem Konzept der Anerkennung von reasonable disagreements, also vernünftigerweise zu erwartenden Nicht-Übereinstimmungen, wird diese dialektische Lösungsstrategie auf den Begriff gebracht. Auf die in der zeitlichen Dimension erfahrenen Brüche, Diskontinuitäten und Spannungen, die allen Modernisierungsprozessen innewohnen, hat das Europa der Französischen Revolution mit der Einrichtung eines ideologischen Wettbewerbs zwischen politischen Parteien geantwortet. Das klassische Parteiensystem sorgt für die Reproduktion eines breiten Spektrums von konservativen, liberalen und sozialistischen Deutungen der kapitalistischen Modernisierung. Im Gefolge der heroischen intellektuellen Aneignung eines unvergleichlich reichen jüdischen und griechischen, römischen und christlichen Erbes hat Europa gelernt, wie man immer wieder eine sensible Einstellung zum Janusgesicht der Moderne finden kann. Es geht darum, gleichzeitig auf zwei konträre Aspekte Rücksicht zu nehmen: einerseits auf die beklagenswerten Verluste der Desintegration schützender traditionaler Lebensformen, andererseits auf die künftigen Gewinne, die heute die Prozesse schöpferischer Zerstörung für morgen in Aussicht stellen. Das hat auch die Reflexion auf die blinden Flecke im eigenen, vermeintlich universalistischen Blickfeld angestachelt und zu einer fortschreitenden Dezentrierung der immer wieder als selektiv erkannten Perspektiven geführt. Diese Art von Reflexivität steht nicht im Widerspruch zu einem verheerenden Eurozentrismus, er ist nur dessen andere, bessere Seite. Jedenfalls ist der egalitäre und individualistische Universalismus, der bis heute unser normatives Selbstverständnis prägt, nicht die geringste unter den Errungenschaften der europäischen Moderne. Die Tatsache, daß die Todesstrafe andernorts noch praktiziert wird, erinnert uns an spezifische Züge unseres eigenen normativen Bewußtseins: »The Councilof Europe with the European Convention of Human Rights, and its European Social Charter, hâve transformed Europe into an area of human rights, more spe-
Nehmen wir einmal an, daß wir fur eine Fortsetzung der europ 11 sehen Einigung überzeugende Grunde haben und daß die empin sehen Voraussetzungen fur ein politisch verfaßtes Europa grund
satzlich geschaffen werden konnten Auch dann bleibt eine voluntanstische Leerstelle, die durch den politischen Willen handlungsfähiger Aktoren ausgefüllt werden mußte Die überwiegend ablehnende oder wenigstens zögernde Bevölkerung kann fur Europa nur gewonnen werden, wenn das Projekt aus der blassen Abstraktion von Verwaltungsmaßnahmen und Expertengesprachen herausgelost, also politisiert wird Die Intellektuellen haben den Ball nicht aufgenommen, erst recht wollten sich die Politiker die Finger nicht an einem ungeliebten Thema verbren nen Um so bemerkenswerter ist es, daß Joschka Fischers Rede an der Humboldt-Universität (vom 12 Mai 2000) den Anstoß zu einer Verfassungsdebattc gegeben hat '' Auf seine Frage, wie wir zwischen dem Europa der Staaten und dem Europa der Burger die richtige Verbindung herstellen können, haben Chirac und Prodi, Rau und Schröder mit eigenen Anregungen reagiert Aber erst Jospin hat klargemacht, daß eine Reform von Verfahren und In stitutionen nicht gelingen kann, bevor nicht der Inhalt des politischen Projekts klarere Konturen annimmt Die betont nationale Orientierung der Bush-Regierung kann man auch als eine Chance fur die EU betrachten, ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Hinblick auf die Konflikte im Nahen Osten und auf dem Balkan wie auch im Verhältnis zu Rußland und China starker zu profilieren Die offener zutage tre tenden Differenzen in der Umwelt-, der Rustungs- und der Rechtspohtik tragen zur lautlosen Festigung einer europäischen Identität bei Wichtiger noch ist die Frage, welche Rolle Europa im Sicherheitsrat und vor allem in den Institutionen des Weltwirtschaftsregimes spielen will In der Begründung humanitärer Interventionen, vor allem aber in den wirtschaftspolitisehen Grundonentierungen sind allerdings die Bruchhmen zwischen den EU-Grundungsstaaten auf der einen, Großbritannien und Skandinavien auf der anderen Seite voi gezeichnet Aber es ist bes ser, diese schwelenden Konflikte offen auszutragen, statt die EU an ihren unbewaltigten Dilemmata zerbrechen zu lassen Besser als ein Zerbrechen oder Zerbroseln ist allemal ein Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten Jospins Wink mit dem in Nizza vereinbarten »Mechanismus der verstärkten Zusammenarbeit« war unmißverständlich »Zur
25 Thcrborn / urope s Break •u.tth itidf 1 1 O Vol 2 S 49t
26 J Hsehtr Vom Staatenverbund zur Föderation hrinkturt/M 2000
eific and more binding than in any other arca of the world The clear and gênerai Furopean support for an International Crimes Tribunal, again in contrast to US fears, îs also in the same hne Was den Kern der europäischen Identität ausmacht, ist fieilidi mehr der Charakter der Lernprozesse als deren Ergebnis Die F r innerung an den moralischen Abgrund, in den uns der nationall stische Exzeß gefuhrt hat, verleiht unserem heutigen Engagement den Stellenwert einer Errungenschaft Dieser historische Hinter grund konnte den Übergang zu einer postnationalen Demokratie ebnen, die auf der gegenseitigen Anerkennung der Differenzen zwischen stolzen Nationalkulturen beruht Weder »Assimih tion« noch bloße »Koexistenz« (im Sinne eines wackeligen modus vivendi) sind die Modelle, die zu dieser Geschichte passen - zu u ner Geschichte, die uns gelehrt hat, wie wir immer abstraktue Formen einer »Solidarität unter Fremden< herstellen können Das neue Bewußtsein von Gemeinsamkeit hat in der EU-Men schenrechtscharta seinen Ausdruck gefunden Die Mitglieder des »Konvents« haben sich in bemerkenswert kurzer Zeit auf dieses Dokument geeinigt Obwohl die 6 Konferenz von Nizza diesen Katalog von Grundrechten nur proklamiert und nicht bindend verabschiedet hat, wird die Charta die Rechtsprechung des Euro paischen Gerichtshofes beeinflussen Diese war bisher vor allem mit den Implikationen der vier Markttreiheiten befaßt Die Charta weist mit ihren sozialen Bestimmungen über diese okono misch begrenzte Perspektive hinaus Das Dokument zeigt exem plansch, was die europaischen Burger normativ zusammenhält Im Hinblick auf die gentechnischen Entwicklungen bestimmt beispielsweise Artikel 3 das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit auch dahingehend, daß |ede Form der positi\en Eugenik und das Verfahren des Klonens menschlicher Orgams men verboten sind III Was heißt Euro-Foderalismus;>
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Anwendung kommen konnte er selbstverständlich bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Euro-Gruppe, aber auch in Bereichen wie dem Gesundheitswesen und der Rüstung. Mit diesen Kooperationen kann eine Gruppe von Staaten dem Aufbau Europas erneut die Stoßkraft verleihen, die seit jeher unerläßlich ist.« Eine nüchterne Interessenabwagung kann die franzosische und die deutsche Regierung veranlassen, nach der anstehenden Präsidenten- und Bundestagswahl erneut die Initiative zu ergreifen. Die International Herald Tribune gibt dazu den trockenen Kommentar: »In the last resort, the French will be prepared to pay a certain price for Berlin not becoming the capital of Europe.« (June, 12, 2001) Auf der Linie der Genscher-Fischerschen Außenpolitik sind wir klug beraten, dem zuzustimmen Die Diplomatie ist in eine Sackgasse geraten. Deshalb kann die überfällige institutionelle Reform aus einer offenen politischen Kontroverse über die Richtung, in der sich die EU weiterentwikkeln soll, nur Nutzen ziehen. Der verfassungsrechtliche Streit zwischen »Föderalisten« und »Souveramsten« verschleiert den substantiellen Streit zwischen denen, die eine Harmonisierung wichtiger emzelstaathcher Politiken fur vordringlich halten, und denen, die eine Fassade aus maßgeschneiderten zentralen Institutionen von allen steuerungspohtisch wichtigen Funktionen entlasten mochten. Alle Seiten behandeln mit Recht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der föderalen, der nationalen und der regionalen Ebene als die politische Kernfrage, die im Orgamsationsteil der Verfassung zu regeln ist. Es besteht Konsens darüber, daß die historisch gewachsenen Nationalstaaten eine wesentlich stärkere Stellung behalten müssen, als die konsumtiven Bestand teile eines Bundesstaates normalerweise haben. Das heute noch vorherrschende Element der zwischenstaatlichen KompromiKbildung wird auch in seiner verfassungsrechtlich disziplinierten Form stark bleiben ^ Daher wurde eine Nationahtatenkammer, die den Europaischen Rat zu einem Senat verstetigte, nicht nur in Konkurren/ und Zusammenarbeit mit dem Parlament eine gesetzgebende Institution sein, sondern auch einen direkten Zugriff auf die -
ihrerseits zur politisch legitimierten Exekutive ausgestaltete Kommission behalten. Beide Instanzen wurden sich gewissermaßen die Regierungsfunktionen eines starken Präsidenten, dem ein nach einheitlichem Recht direkt gewähltes Parlament gegenübersteht, teilen Das Parlament wurde im Hinblick auf diese Teilung der Gewalten und angesichts eines (auf europaischer Ebene) schwach ausgeprägten Parteiensystems eher dem amerikanischen Kongreß ahnein. Auch der Europaische Gerichtshof wurde als rechtsfortbildende Institution seinen Einfluß noch vergrößern und vielleicht eine ähnliche Stellung einnehmen wie der Suprême Court. Die enorm gesteigerte Komplexität der regelungsbedurftigen Materien erfordert namlich detaillierende Interpretationen einer Verfassung, die ja den Wildwuchs der internationalen Vertrage auf abstrakte Grundsatze reduzieren muß.' s Zu der ausgedehnten verfahrensrechthehen Debatte mochte ich drei Überlegungen beisteuern
17 In dieser Hinsieht ist Artikel 3 der neuen Schweizer Bundesverfassung b<melkenswert »Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveiamtat naht durch die Bundesverfassung eingeschränkt ist, sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind «
28 Vgl den vorsichtigen Versuch des Europäischen Hochschulinstituts in Floren/ t in Basisvertrag fur die I uropaische Union, Druck der Europaischen Gemeinschaften, Mai 2000 2 9 J Habermas, Faktizitat und Gellung, Frankiurt/M 1992, Kap 9
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(a) Die politische Substanz einer künftigen Verfassung besteht in der definitiven Antwort auf die Frage der territorialen Ausdehnung der EU und in einer nicht allzu definitiven Antwort auf die Frage der Kompetenzabgrenzung innerhalb des politischen Mehrebenensystems. Die Festlegung definitiver Grenzen ist mit der »variablen Geometrie« einer mehr oder weniger beschleunigten Integration der Mitgliedstaaten vereinbar. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das sich vorübergehend nach Kern und Peripherie gliedert, konnte auch die mit der Osterweiterung verbundenen Probleme mildern. Die umstrittene Kompetenzabgrenzung sollte alsbald vorgenommen, aber fur Revisionen offengehalten werden. Auf diese Weise wird man experimentieren und auch innerhalb eines festen Rahmens aus unvorhergesehenen Konsequenzen lernen können. Diese Temporahsierung von einzelnen, wenn auch zentralen Bestimmungen entspricht übrigens einem dynamischen Verständnis der demokratischen Verfassung als eines auf Dauer gestellten Prozesses der immer weiteren Ausschopfung des Systems von Grundrechten. 2 ''
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(b) »Subsidiantat« ist das vielbeschworene funktionale p^ das der Eigenständigkeit der Nationalstaaten Rechnung tragen kann Je großer freilich die Unterschiede in Territorium und Bi_ volkerungszahl, politischer Macht und ökonomischem Entwick lungsstand, Kultur und Lebensform sind, um so großer ist die Gefahr, daß Mehrheitsentscheidungen das Prinzip der gleich berechtigten Koexistenz verletzen Deshalb müssen alle fur die Wahrung der nationalen Integrität empfindlichen Bereiche dem Mchrheitspnnzip entzogen werden In versaulten Konsensdemo krauen leiden allerdings politische Entscheidungen notorisch an Transparenz Daher mußte man europaweite Referenden in Bc tracht ziehen, um den Burgern eine bessere Möglichkeit zur Ein flußnahme auf die Gestaltung von Politiken einzuräumen 3u (c) Sowohl Fischer wie Jospin greifen die Idee einer Querverbin düng zwischen den nationalen Parlamenten auf Dem demokrati sehen Defizit wollen sie dadurch begegnen, daß die einzelstaath chen Parlamente spiegelbildlich zur Vereinigung der Regierungen im Rat miteinander verzahnt werden Der über das Europaische Parlament laufende Legitimationszug wurde verstärkt, wenn ent weder ein Teil der Europa-Parlamentarier zugleich ihren ]ewei hgen nationalen Volksvertretungen angehorte oder wenn die bisher weithin vernachlässigte Konferenz des Komitees fur Euro paische Angelegenheiten den horizontalen Austausch zwischen den nationalen Parlamenten wiederbeleben konnte 11 Andere Überlegungen bringen alternative Wege der Legitimation ins Spiel Der als »Komitologie« gekennzeichnete Ansatz schreibt beispielsweise den Beratungen jener Vielzahl \on Komitees, die der Kommission zuarbeiten, das Verdienst einer legitimitatscrzeugenden dehberativen Politik zu ' ' 30 E Grande, Post National Demoaacy in turope, in 1h Greven, L \\ P i u l \ (fcds ) , Demoaacy beyond the \tatef, Oxford 2000, S 115 138, ders Demokratische l Lgitimalum und europaische Integration, in I iLiathui 24, 1996, S 339 360 31 Dis scheint îealistischer ?u sein ils Jospins Vorschlag mit einem aus den nationalen Parlamenten beschickten >Kongreß< eine weitere Institution /u scharfen Vgl L Chr Blichner, Interparliamentary discouisc and the quüt tor legitimacy, in t n k s o n and Fossum, Democracy in the t uropean Union, a a O , S 140 16} 32 Chr Jocrges, M Lverson, Challenging the bureaucratie challenge, m I" nkson and ï ossum, ebda , S 164 188
Glauben und Wissen Friedenspreisrede 2001
Wenn uns die bedruckende Aktualität des Tages die Wahl des Themas aus der Hand reißt, ist die Versuchung groß, mit den John Waynes unter uns Intellektuellen um den schnellsten Schuß aus der Hüfte zu wetteifern Noch vor kurzem schieden sich die Geister an einem anderen Thema - an der Frage, ob und wieweit wir uns einer gentechnischen Selbstinstrumentahsierung unterziehen oder gar das Ziel einer Selbstoptimierung verfolgen sollen Über die ersten Schritte auf diesem Wege war zwischen den Wortführern der organisierten Wissenschaft und der Kirchen ein Kampf der Glaubensmachte entbrannt Die eine Seite befürchtete Obskurantismus und eine wissenschaftsskeptische Einhegung archaischer Gcfuhlsreste, die andere Seite wandte sich gegen den szientistischen Fortschrittsglauben eines kruden Naturalismus, der die Moral untergrabt Aber am n September ist die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion auf eine ganz andere Weise explodiert Die zum Selbstmord entschlossenen Morder, die zivile Verkehrsmaschinen zu lebenden Geschossen umfunktioniert und gegen die kapitalistischen Zitadellen der westlichen Zivilisation gelenkt haben, waren, wie wir aus Attas Testament und Osama bin Ladens Mund inzwischen wissen, durch religiöse Überzeugungen motiviert Fur sie verkörpern die Wahrzeichen der globalisierten Moderne den Großen Satan Aber auch uns, dem um versalen Augenzeugen des »apokalyptischen« Geschehens am Fernsehschirm, drängten sich beim masochistisch wiederholten Anblick des Finstui zes der Zwillings türme von Manhattan biblische Bilder auf Und die Sprache der Vergeltung, in der nicht nur der amerikanische Präsident auf das Unfaßbare reagierte, erhielt einen alttestamentarischen Klang Als hatte das verblendete Attentat im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt, füllten sich überall die Synagogen, die Kirchen und die Moscheen Diese untergrundige Korrespondenz hat übrigens die zivilrehgiose Trauergemeinde im New Yorker Stadion vor drei Wochen nicht zu einer symmetrischen Einstel249
lung des Hasses verleitet Bei allem Patnotismus erklang kein Ruf nach kriegerischer Entgrenzung des nationalen Strafrechts Trotz seiner religiösen Sprache ist der Fundamentahsmus ein ausschließlich modernes Phänomen An den islamischen Tatern fiel sofort die Ungleichzeitigkeit der Motive und der Mittel lut Dann spiegelt sich eine Ungleichzeitigkeit von Kultur und Gc Seilschaft in den Heimatländern der Tater, die sich erst infolge ci ner beschleunigten und radikal entwurzelnden Modernisierung herausgebildet hat Was unter glücklicheren Umstanden bei uns immerhin als ein Prozeß schöpferischer Zerstörung erfahren wer den konnte, stellt dort keine erfahrbare Kompensation fur den Schmerz des Zerfalls traditionaler Lebensformen in Aussicht Dabei ist die Aussicht auf Besserung der materiellen Lebensvcr haltmsse nur eines Entscheidend ist der durch Gefühle der Yr medngung blockierte Geisteswandel, der sich politisch in der Trennung von Religion und Staat ausdruckt Auch in Europa, dem die Geschichte Jahrhunderte eingeräumt hat, um eine sensi ble Einstellung zum Januskopf der Moderne zufinden,ist »Saku lansierung« immer noch, wie sich am Streit um die Gentechnik zeigt, mit ambivalenten Gefühlen besetzt Verhärtete Orthodoxien gibt es im Westen ebenso wie im Ni hen und im Ferneren Osten, unter Christen und Juden ebenso wie unter Moslems Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muß sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abend landischen Sakulansierungsprozesses in Ennneiung rufen Dci »Krieg gegen den Terrorismus« ist kein Krieg, und im Terrons mus äußert sich auch der verhängnisvoll-sprachlose Zusammen stoß von Welten, die jenseits der stummen Gewalt der Terroristen wie der Raketen eine gemeinsame Sprache entwickeln müssen Angesichts einer Globalisierung, die sich über entgrenzte Markte durchsetzt, erhofften sich viele von uns eine Ruckkehr des Polin sehen in anderer Gestalt — nicht in der hobbistischen Ursprungs gestalt des globalisierten Sicherheitsstaates, also in den Dimensio nen von Polizei, Geheimdienst und Militär, sondern als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht Im Augenblick bleibt uns nicht viel mehr als die fahle Hoffnung auf eine List der Vernunft - und ein wenig Selbstbesinnung Denn jener Riß der Sprachlosigkeit entzweit auch das eigene Haus Den Risiken einei andernorts ent gleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begeg nen, wenn wir uns darüber klarwerden, was Säkularisierung in 250
unseren postsakularen Gesellschaften bedeutet In dieser Absicht nehme ich das alte Thema »Glauben und Wissen« wieder auf Sie dürfen also keine »Sonntagsrede« erwarten, die polarisiert, die die einen aufspringen und die anderen sit?en bleiben laßt Säkularisierung in der postsakularen Gesellschaft Das Wort »Säkularisierung« hatte zunächst die juristische Bedeutung der erzwungenen Übereignung von Kirchengutern an die säkulare Staatsgewalt Diese Bedeutung ist auf die Entstehung der kulturellen und gesellschaftlichen Moderne insgesamt übertragen worden Seitdem verbinden sich mit »Säkularisierung« entgegengesetzte Bewertungen, je nachdem ob wir die erfolgreiche Zähmung der kirchlichen Autorität durch die weltliche Gewalt oder den Akt der widerrechtlichen Aneignung in den Vordergrund rucken Nach der einen Lesart werden religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernunftige, jedenfalls überlegene Aqui valente ersetzt, nach der anderen Lesart werden die modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Guter diskreditiert Das Verdrangungsmodell legt eine fortschnttsoptimistische Deutung der entzauberten, das Enteignungsmodell eine verfallstheoretischc Deutung der obdachlosen Moderne nahe Beide Lesarten machen denselben Fehler Sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Machten von Religion und Kirche auf der anderen Seite Einer kann nur auf Kosten des anderen gewinnen, und zwar nach liberalen Spielregeln, welche die Antriebskräfte der Moderne begünstigen Dieses Bild paßt nicht zu einer postsakularen Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwahrend säkularisierenden Umgebung einstellt Ausgeblendet wird die zivilisierende Rolle eines demokratisch aufgeklarten Common sense, der sich im kulturkampfenschen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion einen eigenen Weg bahnt Gewiß, aus der Sicht des liberalen Staates verdienen nur die Religionsgemeinschaften das Prädikat »vernunftig«, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewis-
senszwang gegen die eigenen Mitgliedci, eist recht auf eint Manipulation zu Selbstmordattentaten Verzicht leisten ' Jene Einsicht verdankt sich einer dreifachen Reflexion der Glaubigen auf ihre Stellung in einer pluialistischen Gesellschaft Das rch giose Bewußtsein muß erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten Es muß sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften ein stellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen inncht ben Schließlich muß es sich auf die Prämissen des Verfassungs Staates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Po tential Das Wort »Reflexionsschub« legt freilich die falsche Vor Stellung eines einseitig vollzogenen und abgeschlossenen Prozes ses nahe Tatsachlich findet diese reflexive Aibeit bei )edcm neu aufbrechenden Konflikt auf den Umschlagplatzen der demokra tischen Öffentlichkeit eine Fortsetzung Sobald eine existentiell relevante Frage auf die politische Agenda gelangt, prallen die Burger, glaubige wie ungläubige, mit ihren weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen aufcinan dei und erfahren, wahrend sie sich an den schrillen Dissonanzen des öffentlichen Meinungsstreites abarbeiten, das anstoßige Fak tum des weltanschaulichen Pluralismus Wenn sie mit diesem Faktum im Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos, also ohne das soziale Band eines politischen Gemeinwesens zu zerrei ßen, umgehen lernen, erkennen sie, was die in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entseheidungsgrundlagen in einer post säkularen Gesellschaft bedeuten Im Stielt zwischen Wissens und Glaubensanspruchen piajudiziert nämlich der weltanschaulich neutrale Staat politische Entscheidungen keineswegs zugun sten einer Seite Die plurahsierte Vernunft des Staatsburgerpubh kums folgt einer Dynamik der Sakulansicrung nur insofern, als sie im Ergebnis zur gleichmaßigen Distanz von starken Traditio nen und weltanschaulichen Inhalten notigt Lernbercit bleibt sie aber, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben, osmotisch nach beiden Seiten hin geöffnet i J R a w l s , Politischer
1 ibeiahsmus,
I rankfurt/M
Toleranz Gerechtigkeit \ernunft,\n 2 0 0 0 , S 144
iéi
1998 S 132 141 R
ders (Hg ), lolcianz
Forst
Hankfuit/M
Die wissenschaftliche Aufklarung des Common sense Natürlich muß sich der Common sense, der sieh über die Welt viele Illusionen macht, von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklaren lassen Aber die in die Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien lassen den Rahmen unseres Alltagswissens, der mit dem Selbstverstandnis sprach- und handlungsfähiger Personen verzahnt ist, im Kern unberührt Wenn wir über die Welt, und über uns als Wesen in der Welt, etwas Neues lernen, verändert sich der Inhalt unseres Sclbstverstandmsses Kopernikus und Darwin haben das geozentrische und das anthropozentrische Weltbild revolutioniert Dabei hat die Zerstörung der astronomischen Illusion über den Umlauf der Gestirne geringere Spuren in der Lebenswelt hinterlassen als die biologische Dcsillusiomerung über die Stellung des Menschen in der Naturgeschichte Wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen unser Selbstverstandnis um so mehr zu beunruhigen, je naher sie uns auf den Leib rucken Die Hirnforschung belehrt uns über die Physiologie unseres Bewußtseins Aber verändert sich damit jenes intuitive Bewußtsein von Autorschaft und Zurechnungsfahigkeit, das alle unsere Handlungen begleitet' Wenn wir mit Max Weber den Blick auf die Anfange der »Entzauberung der Welt« lenken, sehen wir, was auf dem Spiel steht Die Natur wird in dem Maße, wie sie der objektivierenden Beobachtung und kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, entpersonahsiert Die wissenschaftlich erfoi sehte Natur fallt aus dem sozialen Be?ugss\ stein von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus Was wird nun aus solchen Personen, wenn sie sich nach und nach selbe) unter naturwissenschaftliche Beschreibungen subsumicren' Wird sich der Common sense am Ende vom kontraintuitiven Wissen der Wissenschaften nicht nur belehren, sondern mit Haut und Haaren konsumieren lassen' Der Philosoph Winfnd Seilars hat diese Frage 1960 (in einem berühmten Vortrag über Phüosophy and tht Saentific Image of Man) gestellt und mit dem Szenario einer Gesellschaft beantwortet, in der die altmodischen Sprachspiele unseres Alltages zugunsten der objektivierenden Beschreibung von Bewußtseinsvorgangen außer Kraft gesetzt woiden sind Der Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des Geistes ist ein wis-
senschaftliches Bild vom Menschen in der extensionalen Begriff lichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie, das auch unser Selbstverstandnis vollständig entsoziahsiert Das kann freilich nur gelingen, wenn die Intentionalltat des menschh chen Bewußtseins und die Normativitat unseres Handelns in einer solchen Selbstbeschreibung ohne Rest aufgehen Die erfor derhehen Theorien müssen beispielsweise erklaren, wie Personen Regeln - grammatische, begriffliche oder moralische Regeln - befolgen oder verletzen können 2 Sellars' Schuler haben das aporetische Gedankenexperiment ihres Lehrers als Forschungspro gramm mißverstanden 3 Das Vorhaben einer naturwissenschaftlichen Modernisierung unserer Alltagspsychologic4 hat sogar 7u Versuchen einer Semantik gefuhrt, die gedankliche Inhalte biologisch erklaren will s Aber auch diese avanciertesten Ansätze scheinen daran zu scheitern, daß der Begriff von Zweckmäßigkeit, den wir in das darwinsche Sprachspiel von Mutation und Anpassung, Selektion und Überleben hineinstecken, zu arm ist, um an jene Differenz von Sein und Sollen heranzureichen, die wir meinen, wenn wir Regeln verletzen — wenn wir ein Prädikat falsch anwenden oder gegen ein moralisches Gebot verstoßen ' Wenn man beschreibt, wie eine Person etwas getan hat, was si<_ nicht gewollt hat und was sie auch nicht hatte tun sollen, dann beschreibt man sie - aber eben nicht so wie ein naturwissenschaft2 W Sellars, Science, Perception and Reahty, Altascadero, Cal 1963, 1991 S 3S 3 P M Churchland, Sacntific Rcahsm and the Plasticity of Mind Cimbndgc 1 979 4 J D Greenwood (Hg ), The future oj folk psycbology, Cambridge 1991, In traduction, S 1 21 5 W Detel, leleosemantik t in neuer Blick auf den Gent'', in Diutit.be Zeil sebrift fur Philosophie 49, 2001, S 46; 491 Die Ttleosemanuk mochte mit Hille neodarwmistischer Annahmen und begrifflicher Analysen zeigen, u IL sich das normative Bewußtsein \on Lebewesen, die Symbole verwenden und Sachverhalte repräsentieren, entwickelt haben konnte Demnach ent steht die intentiomle Verfassung des menschlichen Geistes aus dem selekti ven Vorteil bestimmter Verhaltenst eisen (wie z B des Bienentanzes) die von Artgenossen als Abbildungen interpretiert werden Auf der Folie von eingewohnten Kopien dieser Art sollen abweichende Verhaltensweisen als Eehlreprasentationen gedeutet werden können womit der Ursprung von Normativitat eine natürliche Erklärung gefunden hatte 6 W Detel, Haben Frosche und Sumpfmenschen Gedanken? Einige Probleme der Telcosemantik, in Deutsche Zeitschrift fur Philosophie 49, 2001, S 601 626 2S4
hches Objekt Denn in die Beschreibung von Personen gehen stillschweigend Momente des vorwissenschaftlichen Selbstverstandnisses von sprach- und handlungsfähigen Subjekten ein Wenn wir einen Vorgang als die Handlung einer Person beschreiben, wissen wir beispielsweise, daß wir etwas beschreiben, das nicht nur wie ein Naturvorgang erklart, sondern erforderlichenfalls auch gerechtfertigt werden kann Im Hintergrund steht das Bild von Personen, die voneinander Rechenschaft fordern können, die von Haus aus in normativ geregelte Interaktionen verwickelt sind und sich in einem Universum öffentlicher Grunde begegnen Diese im Alltag mitgefuhrte Perspektive erklart die Differenz zwischen dem Sprachspicl der Rechtfertigung und dem der bloßen Beschreibung An diesem Dualismus finden auch die mchtreduktiomstischen Erklarungsstrategien7 eine Grenze Auch sie nehmen ja Beschreibungen aus einer Beobachterperspektive vor, der sich die Teilnehmerperspektive unseres Alltagsbewußtseins (von der auch die Rechtfertigungspraxis der Forschung zehrt) nicht zwanglos ein- und unterordnen laßt Im alltaglichen Umgang richten wir den Blick auf Adressaten, die wir mit »Du« ansprechen Nur in dieser Einstellung gegenüber zweiten Personen verstehen wir das »Ja« und »Nein« der anderen, die kntisierbaren Stellungnahmen, die wir einander schulden und voneinander erwarten Dieses Bewußtsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der Kern eines Selbstverstandnisses, das sich nur der Perspektive eines Beteiligten erschließt, aber einer revisionaren wissenschaftlichen Beobachtung entzieht Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverstandnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablost, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie Auch dem wissenschaftlich aufgeklarten Common sense wird es keine Wissenschaft abnehmen, beispielsweise zu beurteilen, wie wir unter molekularbiologischen Beschreibungen, die gentechmsche Eingriffe möglich machen, mit vorpersonalem menschlichen Leben umgehen sollen 7 Diese H>ischungsstratcgien tragen der Komplexität dei auf hoheien Ent Wicklungsstufen jeweils neu auftretenden Eigenschaften (des organischen Lebens odei des Mentalen) Rechnung, indem sie darauf verzichten, Pro zesse der höheren Entwicklungsstufe in Begriffen zu beschreiben, die auf Prozesse einer niederen Entwicklungsstufe zutreffen 255
Kooperative Übersetzung religiöser Gehalte Der Common sense ist also mit dem Bewußtsein von Personen verschrankt, die Initiativen ergreifen, Fehler machen und Pehlei kon lgieren können. Er behauptet gegenüber den Wissenschaften eine eigensinnige Perspektivenstruktur. Dieses selbe, natura listisch nicht greifbare Autonomiebewußtsein begründet auf du anderen Seite auch den Abstand /u einer religiösen Überlieferung, von deren normativen Gehalten wir gleichwohl wehren Mil dei Forderung nach rationaler Begründung scheint die wissen schafthehe Aufklarung einen Common sense, der im vernunftrechtlich konstruierten Gebäude des demokratischen Verfas sungsstaates Platz genommen hat, doch noch auf ihre Seite zu ziehen. Gewiß, auch das egalitäre Vernunftrecht hat lehgiosc Wurzeln - Wurzeln in jener Revolutionierung der Denkungsait, die mit dem Aufstieg der großen Weltreligionen zusammenfallt Aber diese vernunftrechtliche Legitimation von Recht und Politik speist sich aus langst profamsierten Quellen der îehgiosen Überlieferung. Der Religion gegenüber beharrt der demokratisch aufgeklarte Common sense auf Gründen, die nicht nui fur Ange hörige einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind Deshalb weckt wiederum der liberale Staat auf selten der Glaubigen auch den Argwohn, daß die abendländische Säkularisierung eine Linbahnstraße sein konnte, die die Religion am Rande liegenlaßt Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist tatsächlich eine Pazifi zierung des weltanschaulichen Pluralismus, der ungleiche Folgelasten hatte Bisher mutet ja der libeiale Staat nur den Glaubigen unter seinen Burgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, be vor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden So machen heute Katholiken und Protestanten, wenn sie fur die befruchtete Eizelle außerhalb des Mutterleibes den Status eines Tragers von Grundrechten reklamieren, den (vielleicht vorschnellen) Versuch, die Gottesebenbildhchkeit des Menschengeschopfs in die säkulare Sprache des Grundgesetzes zu übersetzen. Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine Ak zeptabilitat abzielen, wurde aber nur dann nicht /u einem unfai ren Ausschluß dci Religion aus der Öffentlichkeit fuhren und die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen Ressourcen 256
der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite einen Sinn fur die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt. Die Grenze /wischen säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend. Deshalb sollte die Festlegung der umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen Die liberale Politik darf den fortwahrenden Streit über das säkulare Selbstverstandms der Gesellschaft nicht externahsieren, also in die Kopfe von Glaubigen abschieben. Der demokratisch aufgeklarte Common sense ist kein Singular, sondern beschreibt die mentale Verfassung einer vielstimmigen Öffentlichkeit. Säkulare Mehrheiten dürfen in solchen Fragen keine Beschlüsse fassen, bevor sie nicht dem Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensuberzeugungen verlet/t fühlen, Gehör geschenkt haben, sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können. In Anbetracht der religiösen Herkunft seiner moralischen Grundlagen sollte der liberale Staat mit der Möglichkeit rechnen, daß die »Kultur des gemeinen Menschenverstandes« (Hegel) angesichts ganz neuer Herausforderungen das Artikulationsniveau der eigenen Entstehungsgeschichte nicht einholt Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und preßt alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen. Das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzenmaximierung nicht auf s Deshalb wollte Kant das kategorische Sollen nicht im Sog des aufgeklarten Selbstinteresses verschwinden lassen. Er hat die Willkurfreiheit zur Autonomie erweitert und damit - nach der Metaphysik - das erste große Beispiel fur eine sakulaiisiercnde und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten gegeben. Bei Kant findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unuberhorbares Echo Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft '' Aber den banalen 8 A Honneth, Kampf um Anerkennung, I iankturt/M 1992 9 D R Vonede zur eisten Auflage von Du Religion innerhalb der Grenzen dtr bloßen Vernunjt beginnt mit dem Satz »Die Moral, so fern sie auf dem Be 257
Folgen einer entleerenden Dcflatiomerung kommt er durch Line kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor Sein weiterer Versuch, das radikal Böse aus der biblischen Sprache in die der Vernunftrehgion zu übersetzen, mag uns weniger über zeugen Wie der enthemmte Umgang mit diesem biblischen Erbe heute wieder einmal zeigt, verfugen wir noch nicht über einen an gemessenen Begriff fur die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen - im verkehrten Guten der monströsen Tat, aber auch im ungezügelten Vergeltungsdrang, der ihr auf dem Fuße folgt Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß ehmi meren, hinterlassen Irritationen Als sich Sunde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens - jenes Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht Die verlorene Hott nung auf Resurrektion hinterlaßt eine spurbare Leere Horkheimers berechtigte Skepsis gegen Benjamins überschwengliche Hoffnung auf die wiedergutmachende Kraft humanen Eingeden kens - »Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen« - dementieit ja nicht den ohnmachtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu andern Der Briefwechsel zwischen Benjamin und Horkheuner stammt aus dem Frühjahr 1937 Beides, der wahic Impuls und dessen Ohnmacht, hat sich nach dem Holocaust in der ebenso notwendigen wie heillosen Praxis einer »Aufarbeitung der Vergangenheit« (Adorno) fortgesetzt Nichts anderes manite stiert sich übrigens in der anschwellenden Klage über das Unan gemessene dieser Praxis Die ungläubigen Sohne und Tochter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zu glauben, einandet mehr schuldig zu sein und selbst mehr notig zu haben, als ihnen gnfte des Menschen, als eines freien, eben darum auch sieh selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetzt bindenden Wesens, gtgr undet ist bt dirf weder der fdee eines andern Wesens ubei ihm, um seine Pflicht zu et kennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst (I Kant Wir£e[weischedell, Bd IV), S 649 258
von der religiösen Tradition in Übersetzung zuganglich ist - so, als seien deren semantische Potentiale noch nicht ausgeschöpft Der Erbstreit zwischen Philosophie und Religion Die Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant laßt sich als ein Gerichtsprozeß verstehen, in dem diese ungeklärten Erbschaftsverhaltnisse verhandelt werden Die Hellemsierung des Christentums hatte zu einer Symbiose zwischen Religion und Metaphysik gefuhrt Diese lost Kant wieder auf Er zieht eine scharfe Grenze zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und dem positiven Offenbarungsglauben, der zwar zur Seelenbesserung beigetragen habe, aber »mit seinen Anhangsein, den Statuten und Observanzen endlich zur Fessel« geworden sei IC Fur Hegel ist das der pure »Dogmatismus der Aufklarung« Er höhnt über den Pyrrhussieg einer Vernunft, die den siegenden, aber dem Geist der unterworfenen Nation erliegenden Barbaren dann gleicht, daß sie nur »der äußeren Herrschaft nach die Oberhand« behalt " An die Stelle der grenzenziehenden tritt eine vereinnahmende Vernunft Hegel macht den Kreuzestod des Gottessohnes zum Zentrum eines Denkens, das sich die positive Gestalt des Christentums einverleiben will Die Menschwerdung Gottes symbolisiert das Leben des philosophischen Geistes Auch das Absolute muß sich zum anderen seiner selbst entäußern, weil es sich als die absolute Macht nur erfahrt, wenn es sich aus der schmerzlichen Negativitat der Selbstbegrenzung wieder hervorarbeitet So werden zwar die religiösen Inhalte in der Form des philosophischen Begriffs aufgehoben Aber Hegel bringt die heilsgeschichthche Dimension der Zukunft einem in sich kreisenden Weltprozeß zum Opfer Hegels Schuler brechen mit dem Fatalismus dieses trostlosen Vorblicks auf eine Ewige Wiederkehr des Gleichen Sie wollen die Religion nicht langer im Gedanken aufheben, sondern ihre profamsierten Gehalte durch solidarische Anstrengung realisieren Dieses Pathos einer entsubhmierenden Verwirklichung von Got10 Kant, Die Religion innerhalb dci Grenzen der bloßen Vernunft, a a O , S 785 11 G W F Hegel, Glauben und Wusen, in ders , Jenaer Schriften 1801 180J (Frankfurt/M 1970, Werke Bd 2), S 287
tes Reich auf Erden tragt die Rehgionskntik von Feuerbach und Marx bis zu Bloch, Ben|amin und Adorno: »Nichts an theologi schein Gehalt wird unverwandelt fortbestehen, ein |eghcher WIR! der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern «'' Inzwischen hatte fieihch der historische Verlaut gezeigt, daß sich die Vernunft mit einem solchen Projekt überfordert Weil die derart überanstrengte Vernunft an sich selbst ver7zjeifelt, hat sich Adorno, wenn auch nur in methodischer Absicht, der Hilfe des messianischen Standpunktes versichert: »Erkenntnis hat kein Licht als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.«" Auf diesen Adorno trifft der Satz zu, den Horkheimer auf die Knti sehe Theorie insgesamt gemünzt hat »Sie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.«14 Unter anderen Prämissen bezieht heute Jacques Dernda eine ähnliche Stellung — auch in dieser Hinsicht ein würdiger Adorno-Preistrager Zurückbehalten will er vom Messiamsmus nur noch »das kärgliche Messiam stische, das von allem entkleidet sein muß«. 11 Der Grenzbereich zwischen Philosophie und Religion ist freilich vermintes Gelände Eine sich selbst dementierende Vernunft gerat leicht in Versuchung, sich die Autorität und den Gestus ei nes entkernten, anonym gewordenen Sakralen bloß auszuleihen Bei Heidegger mutiert die Andacht zum Andenken. Aber dadurch, daß sich der Jüngste Tag der Hellsgeschichte zum unbestimmten Ereignis der Seinsgeschichte verfluchtigt, gewinnen wn keine neue Einsicht Wenn sich der Posthumanismus in der Ruckkehr zu den archaischen Anfangen vor Christus und vor Sokrates erfüllen soll, schlagt die Stunde des religiösen Kitsches. Dann offnen die Warenhauser der Kunst ihre Pforten fur die Altare aus aller Welt, fur die aus allen Himmelsrichtungen zur Vernissage ein geflogenen Priester und Schamanen Demgegenüber hat die profane, aber mchtdefartistische Vernunft zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Thcodizce immer wieder ent12 Fh W Adorno, Vernunft und Offenbarung, m ders , Stichi^ojtc, Frank furt/M 1969, S 20 1 Î Th W Adorno, Minima Moralia, rrankturt/M 2001 (Nachdiuck dei Ausgabe \ on 1951), S 480 14 M Horkheimer, Gesammelte Sehnften, rranktun/M , Bd 14, S 508 15 J Dernda, Glaube und Wissen, in J Dernda, G Vattnno (Hg ), Die Reh gion, Fnnklurt/M 2001, S 33, \ ^1 auehj Dtrnda, Den Tod geben, in A Haverkamp (Hg ), Gewalt und Gctechtiçkeit, Prankfurt/M 1994, S ] i i 44 5 260
zündet, als daß sie der Religion zu nahe treten wurde Sie weiß, daß die Entweihung des Sakralen mit jenen Weltrchgionen beginnt, die die Magie entzaubert, den Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet haben. So kann sie von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen
Beispiel Gentechnik Diese ambivalente Einstellung kann auch die Selbstauf klarung einer vom Kulturkampf zerrissenen Burgcrgcsellschaft in die richtige Richtung lenken. Die postsakulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort Nun freilich nicht mehr in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken. Der demokratisch aufgeklarte Common sense muß auch die mediale Vergleichgultigung und die plappernde Triviahsierung aller Gewichtsunterschiede furchten. Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz finden, sobald sich fur ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes eine rettende Formulierung einstellt Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung. Beispielsweise berufen sich in der Kontroverse über den Umgang mit menschlichen Embrvonen manche Stimmen auf Moses 1,27 »Gott schuf den Menschen ihm /um Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn « Daß der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muß man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildhchkcit gemeint ist Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben Dieses Gegenüber in Menschgestalt muß seinerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seinei Ebenbildhchkeit wird freilich auch diesei Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebcnbuitig sein Diese Gesthopflichkeit des Ebenbildes druckt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem lehgios Unmusikalischen etwas sagen kann 261
Hegel hatte ein Gespür fur den Unterschied ?wischen göttlicher »Schöpfung« und dem bloßen »Hervorgehen« aus Gott " Gott bleibt nur so lange ein »Gott freier Menschen«, wie wir die absolute Differenz zwischen Schopfer und Geschöpf nicht einebnen Nur so lange bedeutet namheh die gottliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fallt Dieser Schopfer braucht, weil er Schopfer- und Erlo sergott in einem ist, nicht wie ein Techniker nach Naturgesetzen zu operieren oder wie ein Informatiker nach Regeln eines Codes Die ins Leben rufende Stimme Gottes kommuniziert von vorn herein innerhalb eines moralisch empfindlichen Universums Deshalb kann Gott den Menschen in dem Sinne »bestimmen«, daß er ihn zur Freiheit gleichzeitig befähigt und verpflichtet Nun - man muß nicht an die theologischen Prämissen glauben, um die Konsequenz zu verstehen, daß eine ganz andere als kausal vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel käme, wenn die im Schopfungsbe griff angenommene Differenz verschwände und ein Peer an die Stelle Gottes träte -, wenn also ein Mensch nach eigenen Prafc renzen in die Zufallskombination von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen wurde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen zu dürfen Diese Lesart legt die Frage nahe, die mich an anderer Stelle beschäftigt hat Mußte nicht der erste Mensch, der einen anderen Menschen nach eigenem Belieben in seinem natürlichen Sosein festlegt, auch |ene gleichen Freiheiten zerstören, die unter Ebenbürtigen bestehen, um deren Verschiedenheit zu sichern5
Drucknachweise
Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in Kleine politische Schriften (I-IV), S 444-464, Fiankhnt am Main 1981 Der Text hat der Rede zugrunde gelegen, diejurgen Habermas am T I Septembu 1980 aus Anlaß dei Verleihung des Adorno Preises der Stadt Frankfurt am Main in der Paulskirche gehalten hat Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die I rschopfung utopischer Energien, in Die \euc Unübersichtlichkeit Kleine Politische Schriften V, S 141-163, Frankfurt am Main 1 cjS 5 Dei Text lag einei Rede zugrunde, diejurgen Habermas am 26 November 1984 auf Einladung des Piasidenten des spanischen Parlamentes vor den Cortes gehalten hat Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland, in h ine Art Schadcnsahi^icklung Kleine Politische Schriften V /, S 27 69, Frankfurt am Main 1987 ImFebruai 1986 veianstaltete das Heinrich Hcine-Institut m Dusseidort eine Tagung zum Thema F)as Junge Deutsehland 1835 I iteratur und Zensui im Vormärz < Dei Text lag dem Fiottnungsvortrag \on Jui gen Habermas zugrunde Die Idee der Umocisitat-I ernprozesse,m h ine Art Schadensabi^icklung Kleine Politische Schriften \ I, S 73-98, Fiankfuit am Main 1987 7ui 600 Jahr Feiei der Universität Heidelberg hat das Städtische Theater im Som mei 1986 eine Voilesungsicihe veranstaltet In diesem Rahmen - und an dem Ort, wo Jürgen Habermas seine I ehitatigkeit unter den Augen von Gadamer und Lo» ith einmal begann - fand diese Vorlesung statt Geschichtsbe^ußtsein und posttiadüionale Identität Die Weslouentierung der Bundesrepubliken l ine Art SchadensabWicklung Kleine Politische Schriften \ I, S 161-179, Fianktuit am Main 1987 Die ersten \ 1er Ab schnitte des Textes lagen dei Dankiede zugiunde, diejurgen Habeimas am 14 Mai 1987 in Kopenhagen bei dei Entgegennahme des Sonmng-Pieises gehalten hat Nachholende Revolution und linker Reomonsbedarf Was heißt Sozialismus heute?, in Die nachholende Revolution Kleine Politische Schriften VII, S 179-204, Fiankturt am Main 1990 Was I hconen leisten können- und -Û, as nicht, in Michael Haller (Hg ), Vergangenheit als Zukunft,S 130-158, 7unch, Pendo Verlag 1990
16 Obgleich die Vorstellung der »Emergenz« seinem eigenen Begriff du absoluten Idee, die die Natur »aus sich entlaßt«, entgegenkommt Vgl He gel, Vorlesungen über die Philosophie du Religion II (Prankfurt/M 1969, Werke, Bd 17), S 551t und 92H
Aus der Geschichte lernen?, m Die Voimalnat einer Berliner Republik Kleine Politische Schriften \ III, S 9 18,1 ranktuit am Main 1995 Text eines Vortiags fur eine von Friedrich Sehorlemmer initiierte Tagung der Evangelischen Akademie 111 Wittenberg, Januai 1994 263
Konzeptionen dey Modeine Im Ruckblick auf 7i^ei Iraditionen, in: Du postnationale Konstellation, S. 195-231, Prankfuit am Main 1 y<^8 Vortrag vor der Koreanischen Gesellschaft fui Philosophie in Seoul, Mai 1996 Ans Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf das kur/c 20 Jahrhundert, in: Die postnationale Konstellation, S. 65-90, Trankfuit am Main 199H Braucht Europa eine Verfassung?, in: Zeit der Übergänge Kleine Politische Schriften IX, S 104-129, Frankfurt am Main 2001 Glauben und Wissen. Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 in der Frankfurter Pauiskirche
Jürgen Habermas im Suhrkamp Verlag Eine Auswahl Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theone stw 1444 404 Seiten Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI es 1453 179 Seiten Erkenntnis und Interesse, stw 1 420 Seiten 1
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