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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 3
'Zauberträume' ist eine kost...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 3
'Zauberträume' ist eine kostenlose Fantasy Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Zauberträume 3 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Freawyn Die Waldhexe
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von Waldläufer Sie steht am Anfang des Lebens. Ein lächelndes Mysterium...
Licht, Eis und Feuer
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von Christel Scheja Sie ist diejenige, die das Wissen hütet, den Drachen Ssagira zu bannen und die Macht der Siegel aufrechtzuerhalten. Mit Altair holt sie sich nicht nur eine Heilerin ins Haus...
Der Schwur
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von Christel Scheja In den alten Tagen zählte Ehre gleichauf mit Tapferkeit und Stärke, und Eide waren wichtig und den Göttern heilig. Auf ihre Einhaltung wurde streng geachtet, und sie zu brechen war ein Frevel, auch wenn sie von Malvhar verlangten, gegen seine Überzeugungen zu handeln.
Drachenfeuer
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von Andrea Tillmanns Ein Schausteller bringt einen kleinen Drachen auf den Marktplatz des Dorfes. Durch ihre Neugier entdeckt Kira ein Geheimnis.
Die Sclacht
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von Hannes Mayer In Deiner Seele ringen Kräfte miteinander. Wie Heere in einem blutigen Krieg prallen sie aufeinander und manchmal tötest Du auch Freundschaft.
Das Portal
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von Daniel Gronau Es verlangt viel Mut, einen neuen Weg zu gehen. Aber dieser führt vielleicht zu den Sternen selbst!
Besuch eines Elfen
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von Dorte Schünecke Manchmal bekommt man unversehens Besuch von jemanden, den man absolut nicht erwartet hat...
Von Adhmvean und Velya
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von Dorte Schünecke Eine kleine Legende aus einer anderen Welt: zauberhaft und poetisch!
Über Drachen
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von Dorte Schünecke Alles, was Du schon immer über Drachen wissen wolltest! Die Rede eines Kenners.
Paarweise 3
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von Timothy McNeil Die Totempfähle der K´san.
Heres, der Ringmeister von Benjamin F. Ludwig Das Leben in dem idyllischen Dorf wird überschattet: Eine große Aufgabe wartet auf den jungen Heres...
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Die Waldhexe von Waldläufer
Sie steht am Anfang des Lebens. Ein lächelndes Mysterium...
Die Nacht lag still. Auf einem schmalen Pfad, wandelte ein zierliches wirkendes Wesen. Es schwebte langsam über den braunen Boden hinweg. Das Licht der funkelnden Sterne und des Mondes, in dieser klaren Nacht, zeigten ihr den Weg – den sie scheinbar schon längst kannte. Sie wirkte so schwach und hilflos, dass ihr niemand zugetraut hätte, in der Dunkelheit durch den Wald zu ziehen. Aber sie tat es. Ein silbern glänzendes Kleid umhüllte ihren Körper; die goldenen Haare wehten im Wind, der sich ebenso seinen Weg durch das Gehölz bahnte. Die blauen Augen verrieten Freude und Neugierde. In ihrer rechten Hand hielt sie einen violett schimmernden Stab. Der Duft von Kräutern und nächtlicher Frische lag um sie herum. Leuchtende Augen beobachteten sie. Da war ein kleiner Hügel, direkt vor ihr, zu erkennen - langsam gleitete sie ihn hinauf. Er war mit saftigem, aromatisch duftendem Gras bewachsen, welches für einige Zeit funkelte, als sie darüber hinweg schwebte. Kleine Sterne senkten sich von ihrem Kleid hinab. Vom Hügel aus betrachtend, konnte man eine glitzernde Spur durch den Wald erkennen – es war der Weg, dem sie gefolgt war. Sie befand sich nun am höchsten Punkt, wo eine grüne Ebene vor ihr lag. Dort stand ein Kessel, der auf Hochglanz poliert wirkte. Vom Schein des Mondes erhellt, der ihre Körpergröße um ein Vielfaches übertraf. Er hing, an zwei langen Ketten befestigt, die zu den Ästen eines umstehenden Baumes führten, über einem Stoss Holz. Lächelnd schwebte sie heran und berührte mit ihrem Stab den Holzstapel; worauf er in grüner Farbe entflammte. Es knisterte. Weißer Rauch stieg auf und hielt sich als Nebel in der Luft. Er sammelte sich sogleich zu kleinen Wolken, die sich in der Umgebung verteilten. Der Kessel war bis an den Rand mit einer schimmernden Flüssigkeit gefüllt, auf deren Oberfläche es allmählich zu brodelte. Das Wesen zog einen gelben Stein aus der Tasche ihres glänzenden Gewandes. Dieser glühte sofort auf, als ihre zart aussehenden Finger ihn berührten. Vorsichtig legte sie ihn auf die Oberfläche des bereits kochenden Inhalts; er ging nicht unter. Das Zwitschern eines kleinen Vogels war zu vernehmen. Das Wesen lauschte neugierig. Er landete auf ihrer Schulter, als er sie im Schein des Feuers erkannte. Es war ein kleiner Sittich, mit bunten Federn und einem frechen Blick. Schnell drehte sich sein Kopf in alle Richtungen, als er das Geschehen – das lodernde Feuer - beobachte. Sie gewährte ihm, auf seinem Platz zu bleiben. Nun griff sie erneut in ihre Tasche. Sie zog ein kleines Fläschchen heraus, in dem sich eine rote Flüssigkeit befand. Sie öffnete es und gab drei Tropfen in den Kessel – auf den gelben Stein – hinein. Es zischte wild auf. Ein schwefliger Geruch lag in der Luft, der sogleich von Pfefferminze abgelöst wurde. Dem Vogel auf ihrer Schulter schien das zu viel zu sein; sogleich war er protestierend in der Nacht verschwunden. Das Wesen lächelte. Von einem der umstehenden Bäume zupfte es ein grünes, saftiges Blatt ab und ließ es in den Kessel gleiten. Das Feuer loderte mit sehr starker Intensität; der Inhalt schäumte. Sie hielt ihren Stab dem Sternenhimmel entgegen. Er war aus einem magischen Element geschaffen; man konnte seine Energie, die er scheinbar unentwegt entsandte, förmlich spüren. Vorsichtig schob sie ihn etwas in die Flüssigkeit hinein und rührte sie vier mal - behutsam - um. Dabei sprach sie, in leisem, flüsterndem Ton: „Erwachet, meine Kinder!“ Die Erde bebte - für einen kurzen Moment. Es war das Gähnen des Bodens, konnte man annehmen. Sie zog ihren Stab wieder heraus und schwebte ein paar Meter von der Feuerstelle weg. Sie blickte zum Himmel - erneut lächelte sie. Dann führte sie ihren Stab in kreisenden Bewegungen, ganz langsam, vor sich hin. Als sie ihre Bewegung beendet hatte, blickte sie in die Dunkelheit, auf den glänzenden Pfad, den sie gekommen war, hinaus - und wartete. Die Minuten vergingen. Allein der frische Wind, schien sie unterhalten zu wollen. Plötzlich 5
knarrte der Kessel. Zuerst ein bisschen, dann immer lauter werdend. Noch immer stand sie am Rand des Hügels. Die Flammen waren erloschen, aber der Inhalt brodelte in unvorstellbarer Intensität. „Erwachet, meine Kinder!“ flüsterte sie erneut, als es passierte. Ein leuchtender, von unglaublicher Energie erfüllt wirkender, violetter Strahl, schoss aus dem Kessel zum Himmel hinauf. Er rauschte zum Firmament empor, bis er es scheinbar erreicht hatte; und zog sich krachend, unter einem kleinen Blitzgewitter, zusammen. Eine leuchtende, gewaltige Kugel hatte sich gebildet. Sie schwebte hinunter, bis sich die ersten Baumkronen des Waldes unter ihr befanden. Leuchtend, gar knisternd, hielt sie dort für einen Moment inne. „Erwachet!“ war ihre sanfte Stimme im ganzen Wald zu vernehmen. Plötzlich entlud sich die Energie der Kugel in einer Explosion, die das Sein, scheinbar zu zerschmettern drohte. Aber nur für einen kurzen Moment. Es waren leuchtende Wellen, die sich in alle Richtungen hin ausbreiteten. Jeden Stein und jedes Leben, durchfluteten. Es herrschte Stille. Kleine, weiße Sterne funkelten, wie Schnee, vom Himmel herab, als sich die Sonne über den Horizont – ganz langsam – erhob. Ihre Strahlen bedeckten das Land. Gewaltige Bäume, mit ihren grünen als auch goldbraunen Blättern, wurden erkennbar - uralte Zeugen der Vergangenheit. Manche Blätter funkelten; der Morgentau hatte sich auf ihnen gebildet. Er reflektierte das ganze Spektrum des Lichts. Man konnte das Rauschen von Wasser an vielen Stellen vernehmen. Folgte man ihm, so traf man auf silberne Bäche, in denen sich bunte Fische tummelten. Der Wind war angenehm warm. Vergnügt ließen sich allerlei zwitschernde Vögel, verschiedenster Arten, von ihm treiben. Die Lichtungen zeigten sich in ihrer ganzen Pracht. Kleine Tiere, wie z.B. ein weißes Reh, blickten neugierig umher, als sei eine neue Welt um sie herum geboren. Am Rande des Waldes lag ein Hügel, zu dem ein schmaler Pfad führte. Hoch oben, an seinem höchsten Punkt, fand sich eine grüne Ebene. Ein Vogel – ein munterer, bunter Sittich - flog laut zwitschernd umher. Er suchte ein zierliches, stets lächelndes Wesen. Sie war verschwunden. Der Wald war erwacht.
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Licht, Eis und Feuer von Christel Scheja
Sie ist diejenige, die das Wissen hütet, den Drachen Ssagira zu bannen und die Macht der Siegel aufrechtzuerhalten. Mit Altair holt sie sich nicht nur eine Heilerin ins Haus...
"Mein Name ist Altair, Altair Kimaradeen!" sagte die junge Frau und sah mich mit ihren klaren graublauen Augen an. "Wie kann ich euch helfen? Man sagte mir, ihr bräuchtet sie." Ich antwortete ihr nicht sofort, war ich doch ganz in den Anblick der Fremden versunken. Schön würde sie manch ein junger Mann aus dem nahen Surre-Tal nennen. Tiefschwarze, lockige Haare, die bis zu den schmalen Schultern fielen umrahmten ihre scharf geschnittenten Züge. Die helle Haut ihres Gesichtes hob sich auch von der einfachen dunklen Kleidung ab. Anders als viele Frauen dieser Gegend bevorzugte sie die an den Knöcheln und Hüften geschnürten Hosen der Bergbewohner, trug dazu eine braune Tunika mit aufgenähten Borten und einen wollenen Mantel. Weiche Lederschuhe schützten ihre Füße. Auffallend war der lange Dolch an ihrer Seite, eine Waffe, deren Griff so abgenutzt war, daß sie ihn sicherlich nicht nur als Zierde trug. Mit einem metallgeschmückten Stirnband aus Leinen hielt sie ihre Haare aus dem Gesicht. Ich zuckte zusammen, als sie meine herunterhängende Hand sanft mit der ihren berührte und schreckte aus meiner Betrachtung. Ich lächelte verlegen. "Verzeiht mir, ich habe nur nachgedacht. Ja, es ist wahr...doch wollt ihr nicht lieber eintreten? Die Tür ist offen!" bot ich ihr hastig an. Während sie um das Haus ging, drehte ich mich vorsichtig mit meinem Gefährt um. Es bot mir die Möglichkeit mich in den Räumen des Hauses zu bewegen, auch vermochte ich nach draußen zu fahren. Aber ich tat es nicht gerne. Das leichte Holzgerippe fiel schnell um, wenn ich über eine Unebenheit fuhr, und den Lauf der Räder vermochte ich nicht zu stoppen, wenn es bergab ging. Die schmerzhaften Erfahrungen meines ersten und letzten Ausfluges wollte ich nicht noch einmal machen. Dann bewegte ich die Hebel und ein komplizierter Mechanismus setzte die Räder in Gang, bis ich vor dem schweren Eichentisch in der Mitte des Raumes hielt. Inzwischen stand sie im Türrahmen. Sie wartete, bis ich sie mit einer freundlichen Geste herbeiwinkte. "Setzt euch doch auf den Stuhl." Anmutig ließ sie sich auf dem Schemel nieder und musterte mich mit ihren grauen Augen. Nichts verriet, was sie jetzt dachte, und so beschloß ich, die Spannung zu lösen und zu dem Grund ihres Hierseins zu kommen: "Wie ihr sicher von meinem Mittelsmann wißt, brauche ich eure Hilfe dringend! Deshalb seht genau hin!" Mit einem kurzen Ruck stieß ich mich vom Tisch ab und enthüllte nun, was ich unter dem dunklen Stoff meines Rockes verbarg. Sie konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken, als sie auf meine verkohlten Beine blichte, die nur noch aus geschwärzten Knochen bestanden. An den Knien waren schwärende Wunden. Rasch ließ ich das Wolltuch wieder fallen. "Ich habe keine Schmerzen, denn dafür ist der Feueratem eines Drachen verantwortlich magisches Feuer. Als Ssagira wieder einmal gegen ihre magischen Fesseln kämpfte, war ich nicht achtsam genug. Ich bin die oberste Wächterin der Drachenkönigin, die vor vielen Menschenaltern von Elandor, dem Sohn der Sonne besiegt worden war. Ssagira ist unsterblich und grausam. Sie liebte es bis zu ihrer Niederlage Not und Elend über die Sterblichen zu bringen, und sie durch Furcht zu beherrschen. Und das würde sie wieder tun, käme sie frei. Vermutlich ist ihr Zorn auf die Menschen so gewachsen, daß niemand weiß, was sie nun tun würde. Aber warum erzähle ich das? 7
Ich bin diejenige, die das Wissen hütet, Ssagira zu bannen und die Macht der Siegel aufrechtzuerhalten. Meine Schülerinnen sind noch nicht so weit, daß sie mein Amt übernehmen könnten. Ich selber werde durch das Gift der Drachin, das in meinen Adern kreist immer schwächer. Ich muß gesunden, denn zu dieser Sonnenwende werden die Siegel besonders schwach sein. Deshalb rief ich euch. Bringt mich zu den heilenden Quellen der Aru'yen!" Nun war es heraus. Ich betrachtete ihr Gesicht, versuchte in ihren Augen zu erkennen, was sie dachte, doch wieder blieb sie unbewegt. "Verzeiht, aber wie soll ich wissen, wo die Quellen liegen, die die Menschen seit Jahrhunderten suchen? Ich bin nur eine wandernde Heilerin." Sie weigerte sich preiszugeben, was sie war? So seufzte ich, blieb mir doch nichts anderes mehr übrig, als meinen Trumpf auszuspielen. Ihr Stirnband trug ein Symbol, das nur wenige zu deuten wußten. "Verstellt euch nicht, Altair Kimaradeen. Ihr habt euch verraten. Meint ihr, ich weiß nicht, was ihr unter eurem Stirnband verbergt? Das Mal der Schwesternschaft der Quellen." Ihre Augen glühten kalt wie Eis und ließen mich frösteln. "Ihr gehört dem geheimen Orden an. In eurer Stirn unter dem Band tragt ihr gut versteckt eine Perle." Sie wurde bleich und ihr Gesicht verzerrte sich einen Augenblick. Ich kniff die Augen zusammen - einen Moment hatte ich das Gefühl... Sie lachte leise auf und riß mich aus meiner Betrachtung. ich vergaß, was ich eben gemutmaßt hatte. "Ihr glaubt mich mit eurem Wissen in der Gewalt zu haben?" fragte sie leise. "Wollt ihr mich verraten, wenn ich mich weigere euch zu helfen? Damit mam mich ergreift, und mich foltert und tötet, wenn ich trotz großer Schmerzen nichts verrate?" "Das käme darauf an. Wir könnten uns allerdings auch gegenseitig helfen. Mein Mittelsmann hat das Wissen verkauft... und ich befürchte daß die Häscher des Königs von Osk schon unterwegs sind, um euch zu holen. Aber ich bin bereit euren Preis zu zahlen. Was auch immer ihr wollt?" antwortete ich. Ihre Lippen zitterte, aber sie lächelte. Der Herrscher des Inselreiches suchte schon seit seiner Jugend nach dem Geheimnis der Quellen, das wußte jeder. "Ihr habt gewonnen. Ich erbitte sonst nichts, denn die Schwesternschaft darf nichts fordern. Ich bringe euch zu den Quellen, wenn der Vollmond am Himmel steht. Dann öffnen sich die Nebeltore. Solange gewährt mir Gastfreundschaft!" "Natürlich", erklärte ich, "Es wäre mir eine Ehre. Und bis Vollmond sind es noch zehn Tage." Ich streckte die Hand aus und sie schug ein. So besiegelten wir unseren Handel. In den nächsten Tagen lebte Altair in meinem Haus. Sie war freundlich und liebenswürdig zu jedermann, aber auch recht schweigsam, erzählte nur von sich, wenn ich sie direkt danach fragte. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich dazu veranlaßt, Dinge zu erzählen, die ich anderen Fremden verschwiegen hätte, aber ich wollte auch ihr Vertrauen gewinnen. Denn auf dem Weg zu den Quellen war ich ihrem Wohlwollen ausgeliefert. Auch hörte sie besser und ausdauernder zu als Alikke, meine Nachfolgerin, die sehr schnell müde wurde. Ich mochte Altair. Nur ihre Augen und der nicht zuu deutende Blick, der manchmal in ihnen lag, ließ mich schaudern. Doch ich schalt mich eine närrische alte Frau, die nach Ssagiras Aufbäumen überall Gefahr sah. Sie konnte nichts dafür. Wir trafen Vorbereitungen. Meine Alikke sollte meine Aufgaben übernehmen, während mich mein Sohn begleiten würde. Er war kräftig genug, mich alleine zu tragen. Und er war einer der Krieger, die die Höhle der Drachin bewachten. Meine Tochter besuchte mich in diesen Tagen oft, weil sie von der Fremden in unserem Haus gehört hatte und in Sorge um mich war. Sie warnte mich, nicht allzu vertrauensseelig zu sein, 8
aber ich beruhigte sie und vertraute ihr alles an, damit wenigstens einer Bescheid wußte, wenn etwas geschehen sollte. Altair war auch zu ihr freundlich - wenn auch weitaus zurückhaltender. Sie freundete sich sogar mit Alikke an, die viel Zeit mit ihr verbrachte und kümmerte sich um deren kranken Hund. Wer aber hatte das junge Tier, das meine Nachfolgerin abgöttisch liebte dann getötet? Mein Sohn hatte ihn am Morgen erwürgt an einem Baum hängend gefunden. Altair kümmerte sich Alikke, die weinend zusammenbrach, was mich beruhigte. Doch ein kleiner Zweifel hielt sich und began an mir zu nagen. Waren die Speisen nicht bitterer geworden? Und welches war der Sinn der seltsamen Tänze, die Altair in den letzten Nächten auf der Wiese aufgeführt hatte? Und so saß ich nun vor meinem Eichentisch, in der Nacht vor meiner Abreise und grübelte, versuchte Gründe für meine Zweifel zu finden? Altairs Blick war kein Beweis - nicht für meinen Verstand. Den Hund konnte auch einer der grausamen Jungen aus dem Dorf ermordet haben, oder ein Fremder. Ich seufzte und schrieb ihren Namen nieder, formte Anagramme, als würde dieses helfen...und dann schreckte ich mit einem leisen, entsetzten Ruf zurück. Ich begriff plötzlich, wen ich in unserem Hause aufgenommen hatte. Die Feder entglitt meinen Händen. "Alikke! Doron!" rief ich nach meiner Nachfolgerin und meinem Sohn. Vor allem das Mädchen hatte einen leichten Schlaf. Ich atmete erleichtert auf, als sich die Tür öffnete, doch dann blieben mir die Worte, die ich sagen wollte, im Hals stecken, und ich stöhnte nur noch. Nicht Alikke, sondern Altair trat ein. Sie war nackt. Ihre Haut glänzte perlmuttfarben im Licht des zunehmenden Mondes, als bestehe sie aus Schuppen. Die Perle in ihrer Stirn war blau. Blau war die Farbe von Ssagiras Brut- den Kindern der Drachin, die mit dem Juwel in ihrer Stirn auch Menschengestalt annehmen konnten. Warum hatte ich mich nicht früher erinnert! riatla needaramik. "Geboren aus Licht, Eis und Feuer" bedeutete Altairs Name. Sie war eine von ihnen. Nicht einmal ein Zehntel so mächtig wie ihre Mutter - aber ein Drache! Und Menschen damit weit überlegen. Ihr Lächeln war das einer Statue. Mamorn und kalt. Ich hob verzweifelt die Hände, um die wenige Macht zu beschwören, die mir noch geblieben war, doch schon öffnte sie ihren Mund und ein Zischen störte meine magischen Worte. Ich vermochte mich nicht mehr zu bewegen. Hilflos starrte ich sie an - meinen Tod. Ich wartete auf das blendende Licht, das ihn bringen würde. Altair neigte den Kopf. Das Silber ihrer Augen blitzte wie bizarr erstarrtes Metall und ihre Stimme war voller Boshaftigkeit. "Du hast den Tod für dich und die Verdammnis für dein Volk in dein Haus gebeten, nicht das Leben. All das, was geschah war unser Plan gewesen. Ssagiras Feuer, meine Spur haben dich irregeleitet. Meine Mutter wird schon bald frei sein..." Ich schluchzte nur noch hilflos und erschüttert. Meine Schuld konnte ich nicht mehr sühnen, meine Fehler bereinigen. Denn schon sah ich den Schimmer einer Drachengestalt um den Körper Altairs wabern. Das Licht, daß sich um sie bildete, schoß auch aus einem geisterhaften Rachen hervor. Und es war heller als die Flammen einer Kerze, gleißender als der Schein des Mondes über den Wiesen, blendender als die Strahlen der Sonne. Der Schmerz war schneidend wie der Glasdolch eines Heilers, doch auch kalt wie Eis. Ich schrie nicht einmal mehr. Wo blieben Arikke... Doran? Meine Haut wurde dunkel und begann zusammenzuschrumpfen wie verglühendes Papier. Ich sah meine Muskeln, meine Knochen...und dann...ich vergehe...vergebt mir vergebt... 9
In der Nacht des Vollmondes brannte das Haus meiner Mutter aus unerklärlichen Gründen nieder. Später fand man ihren bis auf die Knochen verbrannten Körper und den noch erhaltenen ihrer Gehilfin in den schwelenden Trümmern, von denen auch mein Bruder erschlagen worden waren. Von dem Gast meiner Mutter, der Frau, die sie Altair Kimaradeen nannte, fehlte jedoch jede Spur. Ich ahne, daß sie für alles verantwortlich ist. Die Stimme des jungen Mannes klang traurig, als er die Ballade auf dem Marktplatz der kleinen Stadt am Fuß der Berge vortug, doch die Worte über den Sieg des heldenhaften Elandor über Ssagira wollten nicht recht überzeugend über seine Lippen kommen. Die Menschen verspotteten ihn und wandten sich schon ab, als plötzlich ein Schatten die Sonne verdunkelte. Ein eisiger Wind kam auf und wirbelte den Stab in den Straßen hoch, als eine mächtige Drachengestalt über ihnen kreiste und sich gen Süden entfernte. Die Menschen schrien entsetzt auf. Nur eine Wanderin lächelte. Sie trat aus dem Schatten eines Vordaches und blickte zum Himmel. Ihr schwarzes Haar wurde von einem Stirnband aus dem Gesicht gehalten. Ihre Augen leuchteten zufrieden. Sie waren wie glühendes Silber.
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Der Schwur von Christel Scheja
In den alten Tagen zählte Ehre gleichauf mit Tapferkeit und Stärke, und Eide waren wichtig und den Göttern heilig. Auf ihre Einhaltung wurde streng geachtet, und sie zu brechen war ein Frevel, auch wenn sie von Malvhar verlangten, gegen seine Überzeugungen zu handeln.
In den alten Tagen zählte Ehre gleichauf mit Tapferkeit und Stärke, und Eide waren wichtig und den Göttern heilig. Vor allem die zwischen Menschen, geschlossen aus Freundschaft oder Liebe. Auf ihre Einhaltung wurde streng geachtet, und sie zu brechen war ein Frevel, auch wenn sie manchmal von den Menschen verlangten, gegen ihre Überzeugungen zu handeln.
Malvhar hob den Kopf und versuchte in der Dunkelheit den sturmumtosten Hügel mit den heiligen Steinen und dem Altar des Sturmvaters und der Erdmutter zu erkennen. Und tatsächlich, er konnte die schwachen Umrisse vor sich auf der Anhöhe erkennen. Sein Herz schlug schneller und er holte tief Luft. Bald schon - bald... Nicht ohne Grund zog es den hochgewachsenen und stämmigen jungen Mann in dieser Nacht an diesen Ort. Er erinnerte sich gut an die Worte seines Vaters: "Vor vierhundert Jahren besiegten unser Vorvater Ramnard und sein Waffengefährte Durvhin die dunklen Horden. Noch auf dem Schlachtfeld und im Hochgefühl des Sieges schworen sie ewige Freundschaft und bestimmten, daß auch ihre Nachfahren diesen Eid halten sollten. Alle drei mal sieben Jahre sollten die Erstgeborenen an diesem Ort zusammentreffen und den Schwur erneuern." Dabei hatte sich der alte Mann an die Schulter gefaßt und das Gesicht verzogen. Ihn schmerzte offensichtlich wieder die weiße, mondförmig geschwungene Narbe an der Halsbeuge. Der Zeitpunkt des Treffens war gekommen. Heute, in der Nacht der Wintersonnenwende, in der sich die anderen in den warmen Langhäusern verkrochen hatten und bei gebratenem Elch und Met den Göttern gedachten, würde der Eid eine besondere Kraft erlangen. Malvhar dachte an die Worte, die er sprechen würde und murmelte sie leise vor sich hin: "So soll es denn sein, daß sich unser Blut vereine und ewige Treue und Freundschaft hervorbringe. Einander wollen wir beistehen und die, die folgen werden, sollen das Gleiche tun. Mit Speer und Schild, mit Kraft und Weisheit. So soll es bis zum Ende aller Tage sein, bis der Himmel herabstürzt." Malvhar fragte sich, ob der Nachfahre Durvhins schon auf ihn warten würde. Ob der ein genauso verwegener Krieger wie er sein würde? Voller Stolz berührte Malvhar den Knochenschmuck und die Felle. Er selber hatte die Raubkatzen, von denen die Klauen und Zähne stammten, getötet. Und erst im letzten Sommer war er gegen die räuberischen Mathowh gezogen und hatte fünf von ihnen im Kampf erschlagen, ohne eine Wunde davonzutragen. Und diese Heldentaten hatte ihm, trotz seiner Jugend schon viel Ehre und die Bewunderung der Mädchen eingebracht. Er dachte an Urset, die sicherlich schon mit bangem Herzen auf ihn wartete, an ihre langen dunklen Haare und den weichen anschmiegsamen Körper. Noch hatte er sich nicht dazu entschlossen, sie zu seinem Weib zu machen, aber im Frühjahr würde er sich entscheiden, ob er sie nehmen würde. Immerhin beherrschte Urset das Spinnen und Weben wie keine andere und erhob das Wort niemals gegen ihren Vater oder Bruder. Malvhar mochte keine zänkischen Weiber und noch weniger jene, die sich anmaßten, Waffen zu führen oder im Rat zu sprechen, auch wenn die Stammesgesetze das erlaubten. Dann vertrieb der junge Mann unwillig diesen Gedanken - sie paßten nicht in dieser Nacht an diesen heiligen Ort.
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Endlich hatte er den Steinkreis erreicht und schwang sich von seinem Pferd. Sein Waffengehänge klirrte, als er über den gefrorenen Schnee auf den Steinaltar zutrat, in denen die neun heiligen Runen eingegraben waren. Er berührte, die drei an der Nordseite des Steines und sprach ein stummes Gebet. Dann blickte er sich um. Offensichtlich war der andere noch nicht angekommen. Wie lange er wohl noch warten mußte? Doch schon vernahm er Hufgetrappel und sah im Schein der Sterne, wie sich ein weiterer Reiter näherte. Malvhar lehnte sich gegen den Stein und betrachtete den Anderen aufmerksam. Dann runzelte er die Stirn. Der Nachfahre Durvins war - gelinde gesagt, eine Enttäuschung. Er wirkte so klein und zart auf dem mächtigen Schlachtroß, und seine Waffe schien ein Bogen zu sein. Als der Bursche dann auch noch die Hand hob und seinen Mund öffnete, verdrehte Malvhar die Augen: "Bist du Malvhar conn Tasgeg? Ich bin Aislan conn Suaninn!" Welch eine helle Stimme! Und auf den blassen Wangen des Jungen zeigte sich nicht einmal Flaum. Hatte man ihn getäuscht? Es hieß doch, daß der Erstgeborene des Kriegsführers der Suannin in seinem Alter sein sollte! Nun, wenn der andere auch eine Enttäuschung war, der Eid mußte geleistet werden! Malvhar streckte die Hand aus, als der andere vom Pferd gestiegen und auf ihn zugetreten war. "Laß uns den Eid schwören, wie es schon unsere Vorväter taten!" sagte Malvhar fest und umschloß die Hand des anderen. Wenigstens erwiderte der dessen Druck mit Kraft - so verweichlicht und schwach schien Aislan doch nicht zu sein. "Beim Sturmvater und der Erdmutter, deswegen bin ich gekommen", entgegnete der Bursche fest und zog seinen Dolch. "Mein Vater hat mich von meinem frühsten Jahren an auf diesen Tag vorbereitet! Mir ist dieser Bund heilig." Funkelte da nicht ein seltsames Licht in den Augen Aislans? "Denn die Ahnen schauen in dieser Nacht auf uns herab." Malvhar runzelte die Stirn und streckte die Hand aus. Was hatten diese seltsamen Worte zu bedeuten? Genug nachgedacht! Er war ein Krieger, kein alter Mann. Er wollte nicht länger warten. "Beim Sturmvater die Zeit rückt vor! Laß uns nicht wie Weiber schwatzen!" Er drehte die Hand und entblößte das Gelenk. Dann sah er den anderen fest an. Aislan senkte den Dolch auf das Fleisch. Der Schmerz war kurz. Malvhar zuckte nicht zusammen, ebensowenig der junge Mann. Dann pressten sie die Schnittwunden aufeinander und spürten, wie sich ihr Lebenssaft vermischte und gemeinsam auf den Altar und die dritte Rune der Ostseite tropfte. "So soll es denn sein, daß sich unser Blut vereine..." Malvhar genoß es, diese Worte auszusprechen. "Das schwöre ich - Malvhar conn Tasgeg, Erstgeborener des Kulan, im Angesicht des Sturmvaters und der Erdmutter." "Wie in den alten Tagen vereint sich nun unser Blut!" sprach Aislan langsam und blickte auf die Rune, die sich mit dem Blut füllte, während Malvhar unruhig war. Das wich von der Eidesformel ab! Aber er blieb starr stehen. Das Ritual sollte nicht entweiht werden. "Und ich will die Worte meiner Vorfahren und den Eid Durvhins sprechen: So soll es ..." Der junge Mann sprach langsam und bedacht." Das schwöre ich - Aislynn connet Suannin, Erstgeborene des Sulet!" "Was!" Malvhar riß seinen Arm zurück, als habe er sich an glühendem Eisen verbrannt. Die letzten Worte gellten noch immer in seinen Ohren. "Man hat mich getäuscht! Verfluchte..." Er wollte das Schwert aus der Scheide reißen, doch da kam ein heftiger Wind auf. "Warte!" Aislynn blieb neben dem Altar stehen und hob den Arm. "Ich stehe hier im Angesicht der Götter! Und wenn ich dich getäuscht haben sollte, so möge mich der Sturmvater mit seinen Blitzen erschlagen und die Erdmutter verschlingen. Der Eid ist rechtens und geschlossen!" "Mit welchem Recht? Die Legende spricht nur von den Erstgeborenen, Männern keinen Frauen!" Das letzte Wort spie Malvhar aus. Er kochte vor Zorn und schüttelte die Faust gegen Aislynn. Warum bestraften die Götter sie nicht für ihre freche Lüge? 12
"Die Legende schließt alle Erstgeborenen mit ein, und ich bin nun mal die Erstgeborene von fünf Töchtern. Mein Vater täuschte die Götter nicht wie seine Vorfahren, indem er seine erstgeborene Tochter aussetzen ließ!" erwiderte die Frau fest und blickte Malvhar an. "Es wäre eine weitere Beleidigung gegen Durvhin gewesen, die Waffengefährtin deines Ahnen!" "Nein! Hör auf mit deinen Lügen!" schrie Malvhar gegen den heftigen Wind an. Er trat an Aislynn heran und packte sie an den Schultern, doch dann ließ er sie mit einem Stöhnen wieder los. Eine eisige Hand berührte ihn an der Schulter und ließ seine Muskeln erstarren. "Sie lügt nicht, mein Sohn!" Langsam drehte Malvhar den Kopf und blickte in das geisterhafte Antlitz seines Ahnen Ramnard. So wie dessen Geist hinter ihm stand, manifestierte sich nun auch der Durvhins hinter Aislynn. Malvhar klappte der Kiefer herunter. So wie Ramnard ihm ähnelte, glich Durvhin diesem Weib - auch sie war hochgewachsen und knabenhaft, langes blondes Haar wehte im Sturm. Die Erscheinungen lächelten sich an, dann verblaßten sie wieder. Malvhar blieb steif stehen und faßte sich an die erfrorene Schulter, dann senkte er den Blick. "Also gut", knurrte er, und holte tief Luft. "Der Eid ist rechtens", gab er geknickt zu und preßte die Lippen zusammen. "Und ich werde ihn halten, das schwöre ich dir, Weib. Aber das ändert nichts an meiner Meinung." "Das braucht es auch nicht", entgegnete Aislynn leise und trat an seine Seite. "Laß mich deine Erfrierung behandeln - als ersten Dienst unseres Freundschaftsbundes." Malvhar sah sie nachdenklich an und nickte dann. Aislynn trat an seine Seite. "Eine Narbe wirst du wohl behalten, die dich an diesen Tag erinnern wird, aber du bist nicht der einzige." Als Malvhar sie fragend ansah, fügte die Frau hinzu: "Hast du dich niemals gefragt, woher die mondförmige Narbe stammen könnte, die dein Vater - so wie auch der meinige - an der Halsbeuge tragen?" Sie nickte, als sich seine Augen weiteten. "Ja, deswegen - weil sie die Wahrheit des Bundes auch nicht akzeptieren wollten. Deshalb hat mich mein Vater nicht sterben lassen, sondern im Sinne der großen Ahnin erzogen, damit der Bund einmal wieder mit rechten Dingen geschlossen würde. Und so ist es nun ja geschehen. Ich hoffe, du verzeihst mir..." Malvhar brummte ein "Ja!", dann holte er tief Luft und seufzte. Manchmal erlegten die Götter und die Ahnen einem Menschen schwere Prüfungen auf. Er würde gehorchen, auch wenn das all seinen Vorstellungen vom Platz einer Frau widersprach. Das war er seiner Ehre als Krieger schuldig. Aislynn aber lächelte triumphierend, als Malvhar ihr Gesicht nicht sehen konnte und blickte hinauf zum sturmumtosten Altar. Sie dankte der Erdmutter stumm, die ihr geholfen hatte, die Wahrheit ein wenig zu verdrehen. Natürlich war Durvhin ein Mann gewesen, und der Eid bezog sich auf die männlichen Erdgeborenen, aber die Zeiten hatten sich verändert! Inzwischen ritten auch die Töchter der Erde in die Schlacht und taten Männerarbeit, und warum sollten sie hier ausgeschlossen sein. Verstohlen berührte sie die weiße Narbe, die sie schon seit der Sommersonnenwende trug, als sie den Eid in einer warmen Nacht alleine gesprochen und die Erdmutter um Hilfe gebeten hatte. Malvhar war nur von der Göttin gezeichnet worden wie alle anderen Männer vor ihm. Selbst wenn er von der Täuschung erfuhr, so band ihn doch der Eid - und in den Jahren bis ihrer beider Kinder erwachsen waren, konnte er viel über das Wesen der Frauen und auch der Göttin lernen ...
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Drachenfeuer von Andrea Tillmanns
Ein Schausteller bringt einen kleinen Drachen auf den Marktplatz des Dorfes. Durch ihre Neugier entdeckt Kira ein Geheimnis.
„Der Drache kommt!„ Der Satz ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, bis sich fast alle Bewohner des kleinen Dorfes auf dem Marktplatz eingefunden hatten. „Der Drache kommt!„ Auch Kira hörte es, von ihrem jüngeren Bruder, der vom Brunnen Wasser geschöpft hatte. „Geh du nur„, entgegnete sie müde, „vielleicht komme ich ja nach.„ Der Junge grinste erfreut, mit einer solch schnellen Erlaubnis hatte er wohl nicht gerechnet, und stürmte hinaus, hin zu den Menschen auf dem Markt. Kira seufzte leise. Seit ihrem zwölften Geburtstag, an dem zufällig auch die Große Drachenparade stattgefunden hatte, war sie mehr Drachen begegnet, als sie zählen konnte. Wozu sollte sie sich auch noch diesen ansehen? Zumal sie immer wieder aufs Neue enttäuscht war, wenn sie diese angeblich so gefährlichen Tiere sah. Sie schmunzelte bei dem Gedanken an die ersten Drachen. Nicht einmal bis zur Schulter hatten sie ihr gereicht. Seitdem schien jedes dieser Tiere noch kleiner zu sein als seine Vorgänger. Natürlich mochte das daran liegen, daß sie in den vergangenen vier Jahren um einiges gewachsen war, aber dennoch – nein, als furchteinflößend hatte sie die Drachen nie empfungen. Man munkelte sogar, sie könnten nicht einmal wirklich fliegen, auch nicht ohne die Ketten, in denen sie vorgezeigt wurden. Ihre Flügel seien viel zu klein, um den plumpen Körper heben zu können. Obwohl Kira in solchen Dingen nie unterrichtet worden war, hielt sie die Gerüchte für durchaus glaubwürdig. Dennoch hielt sie es nach einigen Minuten nicht mehr im Haus aus. Zwar schalt sie sich selbst eine Närrin, ließ dann aber doch schnell die Arbeit liegen, um zu den anderen zu laufen. Mit leichtem Erstaunen registrierte sie, daß sich bei ihrer Ankunft die ersten schon wieder von dem Drachenführer abwandten, und zögerte einen Moment – wenn selbst die Erwachsenen des Dorfes dieses Exemplar nicht so ausgiebig bestaunten wie sonst, konnte sie eigentlich auch wieder umkehren, verpassen würde sie sicher nichts. Und dennoch bahnte sie sich, ohne länger über ihre Gründe dafür nachzudenken, einen Weg durch die noch immer gaffenden Menschen, bis sie endlich den Drachen sehen konnte. Er war winzig, reichte ihr gerade bis zur Hüfte. Und er war häßlich. Verschrumpelt, fett, die grauen Schuppen stumpf und glanzlos. Wie unser Dorf, dachte Kira. Er paßt zu uns. Wahrscheinlich will ihn deshalb niemand sehen. Für einen Moment dachte sie an das Goldene Zeitalter, von dem die Alten sprachen; als es noch wirkliche Drachen gegeben haben sollte, die fliegen konnten und deren Feuer heiß war wie flüssige Lava; als auch die Menschen noch anders waren. So wie der Drache, so sind auch wir alt geworden und verfallen. Einem Reflex folgend, kniete sie sich auf den staubigen Boden, so daß sie das Tier nicht mehr überragte. Der Drachenführer schien von der Ungefährlichkeit seines Gefangenen überzeugt, jedenfalls zog er den sich nur wenig wehrenden Drachen dicht an den Umstehenden entlang, auch an Kira. Plötzlich tat ihr der alte Drache leid. Ohne nachzudenken, streckte sie ihre Hand aus und berührte ihn leicht am Rücken. Das Tier wandte sich blitzartig um und sah dem Mädchen direkt in die Augen. Grüne Augen, fiel Kira auf, bevor sie Zeit zum Erschrecken fand. Der Drachenführer warf ihr einen bösen Blick zu und zerrte den Drachen weiter. Ich dachte immer, Drachen müßten rote Augen haben, in denen sich das Feuer ihrer Lungen widerspiegelt. Nach einer weiteren kurzen Runde an den Menschen vorbei sperrte der Drachenführer das Tier wieder in den Käfig, der auf seinem Wagen befestigt war. Kira bemerkte, daß die Pferde 14
nur auf den Mann, nicht aber auf den Drachen hinter ihnen reagierten, vergaß es jedoch schnell wieder, als der Mann seinen Hut abnahm und Münzen von den Umstehenden zu sammeln begann. Ihren Bruder würde er sicher nicht behelligen, sie selbst aber war alt genug, um Geld mit sich zu führen. Während sie sich in der Menge zu verstecken und so dem Drachenführer zu entkommen versuchte, stieß sie gegen den Wagen des Mannes. Sie drehte sich erschreckt um und sah wieder direkt in große, grüne Drachenaugen, die sie aufmerksam zu beobachten schienen. Plötzlich fühlte sie sich unwohl, als könne von diesem Tier, das eigentlich nichts war als ein schlaffer Sack Haut mit einem Paar mickriger Flügel, vielleicht doch eine Gefahr ausgehen. Dennoch brachte sie es nicht fertig, sich einfach abzuwenden. Ganz langsam schob sie eine Hand durch die schmale Öffnung zwischen zwei Gitterstäben. Als der Drache sich nicht bewegte, sondern sie nur weiterhin sehr aufmerksam ansah, ließ sie die Hand weiterwandern, bis ihre Fingerspitzen den Rücken des Tieres berührten. Noch immer blieb er ruhig hocken. Sie begann, ihn vorsichtig zu streicheln, und da er es ohne Unmutsäußerung geschehen ließ, wurde sie mutiger und betastete die verschmutzten Schuppen, die sich seltsam hart und kalt anfühlten, fast wie Marmor. Die Flügel schienen verklebt und steif; sollten sie jemals zum Fliegen geeignet gewesen sein, so waren sie jetzt ganz sicher unbrauchbar. Sie sah wieder in seine Augen. Grün wie die Wälder, dachte sie. Und gar nicht böse. Und auch nicht furchterregend. Wozu die Ketten? Langsam ließ sie ihre Finger an den kurzen Flügeln entlang zu den Krallen des Drachen wandern, bis sie einen der Reifen erreichte, an denen die Ketten befestigt waren. Er schien aus reinem Gold, doch als sie ihn berühren wollte, griff sie durch ihn hindurch. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und sah den Drachen an. Wenn die Ketten nur Zauberwerk waren, um die Zuschauer zu blenden und von seiner Gefährlichkeit zu überzeugen, warum ließ er das alles dann mit sich geschehen? Warum floh er nicht einfach? Seine Augen schienen durchsichtig, Kira glaubte fast, durch sie hindurch sehen zu können, in ein anderes Land. Dann, als sie ihn erneut berührte, sah sie es wirklich, mit den Augen des Drachen sah sie das Goldene Zeitalter, und plötzlich wußte sie alles, die Wahrheit über die Drachen und die Menschen, die sie fingen, und sie sah auch die Müdigkeit des alten Drachen, der für einen kurzen Moment die Chance gehabt hatte zu fliehen und sie dennoch nicht genutzt hatte, weil er genauso resigniert hatte wie die Menschen, die ihn Tag für Tag anstarrten. Die scharfen Worte des Drachenführers rissen sie aus den Gedanken, die nicht nur die ihren gewesen waren. Sie spürte kaum den harten Schlag, der sie vom Käfig wegschleuderte und ihre Wange schnell anschwellen ließ. Als sie zwischen seinen Beinen unter dem Wagen durchschlüpfte, um auf der anderen Seite in den Käfig zu greifen und mit ihrer Hand die Fesseln zum zweiten Mal zu unterbrechen, brannte in den Augen des Drachen grünes Feuer der Wut. Er brauchte keine größeren Flügel, um zu fliegen. Die Winde, die er rief, trugen ihn bereitwillig durch die Luft, während der Regen ihn vom Schmutz befreite, und die Erde, die ihm gehorchte, öffnete sich nur kurz, um seinen früheren Wächter zu verschlucken. Kira hatte sich, von der Wucht des Schlages noch benommen, zu Boden gleiten lassen und beobachtete die in Panik davonstürzenden Menschen und die mit dem Wagen weggaloppierenden Pferde. Sie hatte keine Angst, als der Drache vor ihr niedersank. Er war nicht häßlich. Wie hatte sie je auf diesen Gedanken kommen können? Er war grün, grün wie die Wälder, und als er die Winde wieder rief, um seinen Brüdern und Schwestern ein zweites Goldenes Zeitalter zu bringen, brannte in den Augen des Drachen ein wärmendes grünes Feuer.
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Die Sclacht von Hannes Mayer
In Deiner Seele ringen Kräfte miteinander. Wie Heere in einem blutigen Krieg prallen sie aufeinander und manchmal tötest Du auch Freundschaft.
Ein Ausschnitt aus dem Buch „Himmelszelt“ Und so ging sie mit gesenktem Kopf geradewegs hinunter von dem "Galgenhügel der Freundschaft", links hinaus durch den Torbogen. Fred saß nun alleine da. In seinem Kopf gingen gar grausige Gedanken umher. Man könnte es eine Mischung aus Angst, Eifersucht und Mißtrauen nennen, das nur ein Element der Gefühle hervorrufen konnte: Wut! Der Tunnelblick hielt geradewegs auf seine ehemals geliebte Monika zu. Den immer näher an sie anschleichenden Isak hatte er im Blickwinkel, welcher immer spitzer wurde und ihn zu erdolchen drohte. Das hätte er von allem am liebsten gesehen, gefolgt von Miriams tödlichen Sturz von der Schaukel. Als wäre zusammen mit Marissa auch jegliche Liebe aus seinem Leben verschwunden, stierte er nun von seinem Thron des Hasses auf das erbärmlich, keuchende und fleuchende Volk, dessen Niedergang er sich nun ausmalte - es machte ihm Spaß! Es setzte sich eine Idee in seinem Kopf fest die auszuführen er bereit war. Handlung mußte her und um diese herbeizuführen mußte er zu seinem Wagen. Diese Idee sollte ihm helfen seine unruhige und vor allem geladene Stimmung zu beruhigen, welche momentan ihren Höhepunkt erreicht hatte. Vom Hügel stampfend in seiner Rüstung aus Ignoranz gegenüber jedem freundlichen Individuums, übersah er sogar die sich ihm lächelnd entgegenstellende Lotte. Fast überrannt hätte er sie, doch in seinen Gedanken hatte er ihr seine stählerne Klinge zwischen die Rippen gestoßen. Er konnte förmlich ihren letzten Ächtzer hören, bevor er sein Schlachtschiff erreichte um die entscheidende Waffe seines Feldzuges gegen den Verrat zu holen. Wie in Zeitlupe drehte er sich um, als er die Blicke seines Hauptfeindes spürte. Noch immer das Blut des letzten Widersachers an seiner Klinge klebend, wollte er diese nach dem "Feindbild Monika" werfen, doch hielt er inne. Isak sprach mit ihr und was er danach sah ließ seine Ritterrüstung aus Haß dahinschmelzen um den von Leichen seines Hasses gesäumten Boden entlang zu rinnen und sich auf den Körpern seiner nun wirklich und endgültigen ehemaligen Freunde zu materialisieren. Er war nun der Verletzliche, seine Waffe ließ er stecken, denn gegen diese Übermacht konnte er sich nicht wehren - das Volk der ehemaligen zog an ihm vorbei, wie vorhin als die Bilder des Hasses an ihm vorbeigegangen waren. Nur schossen diese nicht - ihre Blicke sagten ihm alles: "Leck uns am Arsch, nun bist du zu weit gegangen" Wie Pfeile des Todes, abgeschossen von Unbekannten aus einer anderen Welt trafen sie ihm mitten ins Herz aus Bitterkeit und Kälte. Dadurch wurde es noch kälter. Kälte hatte er einmal geliebt. Nun erkannte er, daß diese auch schmerzen konnte. Durch Monika schien er verletzlich geworden zu sein. Doch nun, wo er alleine vor seinem ehemaligen Reich stand, beneidete er das Wesen, das da mit so vielen Menschen die er schätzte, am anderen Ende der Straße um die Ecke bog. Was seinen Plan von vorhin betraf, so war es nicht mehr nötig ihn auszuführen - die Schlacht war verloren. Niemanden gab es nun mehr zu bekriegen - oder doch? Fred starrte noch lange auf seine alles entscheidende Waffe, ungefähr so lange wie er den sieben Leuten die da entschwunden waren aus seinem Leben hinterher starrte. Nie wieder würde er sie brauchen, nicht seine Schlacht und nicht die zu Schlachtenden. Nichts. Gebrochen wurde diese Starre durch ein lieblich anmutendes Mädchen, das seinen zarten Arm um seine Hüfte legte: "Warum hast du mit Marissa gestritten? Wieso sind alle weg? Wenn ich gewußt hätte, daß die alle so nett sind, hätte ich sie früher kennenlernen wollen " 16
"Monika, wenigstens bist du noch da!" nun hatte er sie erst bemerkt. "Keine Angst, ich verlaß dich nicht, ich werde immer zu dir halten," "Das find ich nett von dir. Komm," Gemeinsam spazierten sie eng umschlungen hinauf auf den "Galgenhügel" der Freundschaft, um zu sitzen und der alles überlebenden "Liebe" zu frönen.
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Das Portal von Daniel Gronau
Es verlangt viel Mut, einen neuen Weg zu gehen. Aber dieser führt vielleicht zu den Sternen selbst!
Drei große schemenhafte Gestalten saßen an einem Tisch, dessen nachtschwarze, polierte Oberfläche das schwache Licht des Raums spiegelte. »Gibt es Alternativen?«, fragte eine Stimme in das Halbdunkel hinein. »Die Stabilität der Art ist zu sichern, um jeden Preis. Dies ist keine Phrase, sondern ein Fakt. Du kennst die Schwäche, die uns begrenzt.«, antwortete eine andere. Das dritte Wesen ergänzte leise, aber entschlossen: »Wir entscheiden für alle. Wir haben schon einmal entschieden und es hat sich nichts geändert. Wir müssen Vertrauen haben, wie auch uns einst vertraut wurde.« Alles war gesagt. Die Schatten erhoben sich. Die Zeit des Eh’Shran war angebrochen. Der Ruf des Horns dröhnte über die Stadt. Mit Fackeln in der Hand stolperten die Leute durch die finsteren Gassen hin zum Ewigen Tor. Erinnerungen tobten in Chalems Geist. Sieben Zyklen lagen zwischen dem Heute und den vorangegangenen Plagen des Eh’Shran. Das letzte Mal war er noch zu jung, um richtig zu begreifen, was geschah. Der Himmel war pechschwarz, genau wie jetzt, und der Wind heulte das Lied des Wahnsinns. Und nun war wieder die Zeit der ultimativen Prüfung herangekommen. Die Menge sammelte sich auf dem Platz. Der Verweser stand auf dem kleinen Podest. Er wirkte winzig und albern in seiner Uniform vor dem riesigen Portal, das hinter ihm aufragte. Das Ewige Tor war ein massiver steinerner Bogen, dessen Durchgang von einer schillernden, undurchdringlichen Kristallplatte verschlossen war. Man sagte, es hätte einen seltsamen Einfluß auf die Menschen von Nyrgon. Es mache sie ernst und nachdenklich. Weit im Westen solle es ein weiteres Portal geben, hatte Chalems Onkel Ag’Khar erzählt, aber das war nur ein Gerücht. Nochmal blies der Verweser das Horn und das Gemurmel verstummte. »Bürger von Nyrgon, das Eh’Shran hat begonnen. Ist da einer bereit, es zu beenden? Gibt es unter euch den Mutigen, der die Probe besteht? Bedenkt die Folgen, handelt weise und tapfer!« Der Verweser sah in die Runde, und die Blicke senkten sich. »Gibt es keinen, der es wagt? Bedenkt, ihr Greise, ihr könnt eure letzten Tage gegen etwas Großes eintauschen und die Euren beschenken! « Die Weißbärte schienen im Boden versinken zu wollen. »Kein Mann, keine Frau, die ihre Kinder mehr lieben als ihr Leben?«, versuchte es der Verweser noch einmal. »Geh doch selber!«, rief jemand, der weit hinten stand. »Ihr Feiglinge! Ich habe die Pflicht, diese Stadt zu verwalten und der Schwur an meinen König bindet mich. Doch ihr, treuloses Gesindel, wartet auf den Dummen, der euch rettet! Aber ich sage euch, derjenige ist nicht dumm. Wer die Prüfung besteht, ist mehr wert als ihr alle zusammengenommen. Denkt an meine Worte, wenn ihr euch wie Hasen in euren Höhlen verkriecht. Erforscht eure Herzen. Nun, dann schlaft darüber, wenn ihr ruhig schlafen könnt.« Der Verweser kletterte herunter und schritt wortlos und mürrisch durch die Gasse, die sich vor ihm öffnete. Beim letzten Eh’Shran fand sich ein Freiwilliger: Chalems Vater. Er war zum Ewigen Tor getreten und der spiegelnde Kristall hatte sich in ein wallendes, unirdisches Schwarz verwandelt, in pure Leere. Chalem weinte damals und sein Vater hatte sich umgedreht und gesagt: »Sieh die Verheißung, mein Sohn. Dort steht: ‚Ewig ist der, der eintritt. Denn wer die Furcht besiegt, kann zwischen den Sternen wandeln.‘ Ich werde auf dich herabschauen, und ich weiß, du wirst mich stolz machen.« Als Vater durch das Tor schritt, spürte Chalem, wie die Hand seiner Mutter auf seiner Schulter zitterte. Inzwischen war sie schon zwei Zyklen tot, doch in Wahrheit war sie an jenem Tag gestorben, der sieben Zyklen zurücklag. Sie hatte den 18
Verlust nicht ertragen. Chalem stand als einziger noch auf dem Platz und erst jetzt bemerkte er, daß ihn der Regen ganz durchnäßt hatte. Er wußte nicht, wie spät es war, denn der Himmel war in der ganzen Zeit des Eh’Shran rabenschwarz. Bald würde es kalt und stürmisch werden. In einer Legende hieß es, vor langer Zeit fand sich keiner, der gehen wollte. Als sich nach einem viertel Zyklus endlich ein Mutiger durch das Tor schleppte, waren schon ein halbes hundert Leute verhungert und erfroren. Jeder von denen hätte die anderen retten können. Ag’Khar hatte einmal erzählt, daß einst ein König befahl, einen zum Tode Verurteilten durchs Ewige Tor zu schicken. Es öffnete sich nicht. Erst, als jemand freiwillig ging, endete das Eh‘Shran. Chalem ging näher an das Portal heran. Die funkelnde Kristallplatte wurde erst fahl und löste sich dann in die schwarze Leere auf. Chalem erschrak. Nein, er wollte nicht gehen. Er drehte sich um und lief zurück zum Haus seines Onkels, so schnell er konnte. Sein Onkel Ag’Khar wartete schon auf ihn und humpelte ihm entgegen. »Ich dachte schon, du hast eine Dummheit gemacht.«, knurrte er gutmütig. »Setz dich ans Feuer! Also hat sich niemand gefunden. Hat der Verweser wieder eine von seinen Volksreden gehalten?« Chalem nickte: »Ja, und noch vor einer Woche noch haben einige von den Männern geprahlt, sie würden die Prüfung ablegen.« Plötzlich platzte es aus ihm heraus: »Onkel, soll ich gehen?« Der alte Mann atmete geräuschvoll ein. »Wie dein Vater, der große Held? Überlege es dir gut! Du wirst niemals eine Familie haben, kannst nicht in Ruhe alt werden. Dein Leben ist zu Ende, ehe es richtig anfängt. Ich hätte nicht viel zu verlieren, aber ich gebe zu, daß ich zu feige bin. Aber du? Nein, nein, warte ab. Ein anderer wird sich finden.« »Aber es heißt, man lebt weiter und kann nur nicht zurückkehren. Alle tun so, als wüßten sie genau, daß man stirbt, wenn man geht.«, erwiderte Chalem. Ag’Khar schwieg lange, bevor er antwortete:»Ich habe nicht gesagt, du sollst nicht gehen. Ich wäre zwar sehr traurig, aber jeder ist frei, sich der Prüfung zu stellen. Schlaf am besten darüber, wer weiß, was der Morgen bringt.« Natürlich konnte Chalem nicht schlafen. Warum hatte er diese verrückte Idee, durch das Ewige Tor zu gehen? Was zog ihn dort hin? Wollte er ein Held werden? Nein, bestimmt nicht. Sein Vater wollte allen anderen das Grauen des Eh’Shran ersparen. Er war aus Mitleid gegangen. In Chalems Kopf kreisten die Gedanken. War es vielleicht die Hoffnung, Vater wiederzusehen? Vielleicht. Doch das war nicht die Hauptsache. Es gab da etwas anderes: Sein Motiv war Neugier, unbändige Neugier. Wollte er deshalb wirklich sein Leben aufs Spiel setzen? Die Worte der Inschrift nahmen seinem Geist gefangen: Ewig ist der, der eintritt. Und wer die Furcht besiegt, kann zwischen den Sternen wandeln. Eine seltsame Verheißung. Ewig ist der, der eintritt... Am nächsten Morgen, der kein Morgen war, heulte der Sturm schlimmer als am Vortag. Noch hielten Dach und Fenster. Chalem war müde und zerschlagen. Sein Onkel schlief noch, also machte er Feuer und bereitete das Frühstück. Wie lange würden die Vorräte reichen? Und das Feuerholz? Ein Gerücht besagte, der Verweser würde erst dann die königlichen Speicher öffnen, wenn einer das Tor durchquert hätte. Sein Onkel schaute ihm beim Frühstück forschend an. Er hatte die Gabe, ins Herz eines Menschen zu sehen. Ag’Khar schüttelte traurig den Kopf. »Du hast dich entschieden. Ich weiß nicht, warum, aber dein Entschluß steht fest.«, stellte er fest. Chalem ließ den Kopf hängen. »Du machst mir Kummer, aber ich bin auch stolz. Und wenn dein Vater hier wäre, dann wäre er ebenso stolz. Iß auf! Der halbe Mut beruht auf einem gefüllten Magen.« Ag’Khar war vielleicht kein mutiger, dafür aber ein besonnener und verständiger Mann. Dazu hatte sicher ein Erlebnis beigetragen, von dem Chalem nichts wußte: Ag’Khar stand als 19
junger Mann ebenfalls vor dem Portal. Er hatte es nicht gewagt. Aber er hatte das Grauen gesehen und seine Lehren gezogen. Es war Zeit. Chalem wußte nicht, was er sagen sollte und Ag’Khar erging es ebenso. Sie umarmten sich lange und wortlos. Ag’Khar legte seinem Neffen noch eine Decke um. Chalem preßte ein »danke« heraus. Draußen jaulte der Schneesturm. Die Tür fiel hinter Chalem ins Schloß und er stemmte sich gegen den Sturm. Ohne sich umzudrehen, ging er seinen schweren Weg. Hinter der Tür stand der alte Mann und starrte entsetzt auf seine Hände. Nur einmal in seinem langen Leben hatten sie so gezittert. Auf dem Platz vor dem Ewigen Tor harrte der Verweser und ein Priester zusammen mit einer Handvoll Leute aus. Sie beteten. Alle waren in dicke Pelze gehüllt. Chalem ging vorbei, ohne sie zu beachten. Er hörte, wie jemand seinen Namen raunte. Die Hände des Priesters vollführten wie automatisch die Geste der Großen Segnung, sein Gesicht dagegen war starr vor Staunen. Die Kristallplatte verlor ihren Glanz und wurde zu gestaltloser Leere. Die Schneeflocken knisterten, ehe sie im Nichts verschwanden. Chalem ging einen Schritt nach vorn. Sein Herz schlug bis zum Hals. 'Ich muß es wissen, ich muß es wissen', dröhnte es in seinem Kopf. Ungelenk wie eine Puppe machte er den nächsten Schritt und noch einen. Er schloß die Augen und zwang sich zum Weitergehen. Er spürte keinen Widerstand. Plötzlich war es still und warm. Jemand faßte seinen Arm. Verwundert schaute Chalem auf. Ein großes Wesen, dessen Gesichtszüge ihn sofort an seinen Vater erinnerten, schaute ihn aufmerksam an. Die Gestalt war zwar menschenähnlich, aber irgendwie unproportioniert. Der Kopf war kahl und nach hinten hin unnatürlich verlängert. Die Kleidung bestand aus einem weißen, reflektierenden Stoff. Chalem befand sich in einem kleinem Raum mit spärlichem Licht und seltsamen schwarzen Geräten. Auf einer Tafel stand in einer eckigen, kaum zu entziffernden Schrift »Selektionsportal gamma«. Eine wohlbekannte, doch irgendwie veränderte Stimme sagte freundlich: »Willkommen im wirklichen Leben, mein Sohn. Denn wir leben ewig und wandeln zwischen den Sternen...« Chalem erwachte. Er hatte keine Ahnung, wie er auf diese Liege gekommen war. Hatte er geträumt? Er fühlte sich irgendwie - verändert. Und er hatte Erinnerungen, die sicher nicht seine eigenen waren. Außerdem spürte er ein fremdes Wissen in sich: sein Kopf war wie eine Bibliothek, und jedes Buch nur einen Gedanken weit entfernt. Gentechnik, Raumfahrt, Quantenphysik und tausende andere seltsame Begriffe, die er nie zuvor gehört hatte, ergaben jetzt einen Sinn für ihn. Erst jetzt bemerkte er, daß sein Augen schärfer geworden waren und Schattierungen wahrnehmen konnte, für die er keinen Namen hatte. Aus seinem Gedächtnis drängten sich Begriffe hervor: Infrarot, Ultraviolett... Das Wesen, das einmal sein Vater gewesen war, stand neben ihm. »Warum das alles?«, fragte Chalem. »Du weißt es!« Und wirklich, eine Gedankenkette hob sich vom Rest ab. Wie in Zeitraffer (auch so ein neues Wort) lief vor seinem inneren Auge die Entwicklung der Menschen ab. Fusionsreaktoren, Raumfahrt und Quantencomputer, genetische Manipulation und biologische Unsterblichkeit. Zehntausende Jahre menschlicher Geschichte. Schließlich die letzte Grenze: die Anti-Klon-Schranke. Und irgendwo im All ein Planet mit einer alten, vergessenen Kolonie... »Nyrgon ist eine Zuchtfarm!«, platzte Chalem heraus. »So könnte man es nennen. Der ganze Planet ist unser Genpool.« Chalems Vater lächelte. »Du bist nun einer von uns. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn!« Mit wackligen Beinen - sie schienen länger geworden zu sein - ging Chalem zu einem der 20
Fenster. Er wußte, was er sehen würde, aber etwas in ihm weigerte sich, es einfach zu glauben. Die Sterne verblaßten vor der riesigen blaugrünen Kugel, die sich zu seinen Füßen drehte. Kleine Watteflocken bedeckten die Oberfläche. Er sah gerade noch, wie sich ein kleiner, schwarzer Fleck auflöste, der eben noch den Himmel über seiner Heimat bedeckt hatte. Einen Ozean weiter trennte der Terminator die Nacht vom Tage. Chalem, ein Unsterblicher, einer von jenen, die zwischen den Sternen wandeln, lächelte.
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Besuch eines Elfen von Dorte Schünecke
Manchmal bekommt man unversehens Besuch von jemanden, den man absolut nicht erwartet hat...
Wenn ich mit anderen über meine Geschichten rede, stelle ich immer wieder fest, daß die meisten Menschen eine sehr eigenartige Vorstellung von Elfen haben. Viele stellen sie sich als handlange, leuchtende Wesen mit Schmetterlingsflügeln vor - Leute, das sind FEEN und keine Elfen! - oder man nennt sie Puck und läßt sie durch einen Sommernachtstraum spuken und Oberon nerven. Andere setzen ihnen Pilzhütchen auf oder verwechseln sie gar mit J.R.R. Tolkiens Elben. Elfen sind also entweder niedlich und etwas doof oder äußerst erhaben und weise, oder sie sind einfach nur Märchenwesen. Um endlich mehr Verständnis für dieses scheue, sowohl an Zahl als auch an Körperhöhe kleine Volk zu wecken, habe ich mich entschlossen, eine Begebenheit zu erzählen, die sich dieses Jahr im Frühsommer zugetragen hat. Ich war leicht verwirrt, als es an meiner Hintertür klopfte. Da ist schließlich auch etwas unüblich, nicht wahr? Normale Menschen klingeln doch an der Vordertür. Jedenfalls hat bei mir noch niemand im Garten geparkt. Daher zögerte ich einen Moment, bevor ich mich auf den Weg machte. Es war immerhin schon fast Mitternacht, da ist man vorsichtig, wen man in sein Haus läßt. Als sich das Klopfen jedoch immer heftiger wiederholte, erhob ich mich aus meinem Fernsehsessel und ging zur Tür. Durch das krisselige Glas konnte ich nicht viel erkennen, trotzdem raffte ich meinen Mut zusammen und schloß auf. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt und lugte nach draußen. „Bitte, dürfte ich hereinkommen?" fragte mich der Elf, der da vor meiner Tür im strömenden Juniregen stand. Etwas verdattert starrte ich in das von triefnassen Haaren umrahmte Gesicht. „Äh - wie bitte?" war das einzige, was ich als Antwort herausbekam. „Ob ich bitte hereinkommen könnte? Es ist ziemlich kalt hier nachts im Regen, weißt du?" Nachdem ich den Elfen noch zwei Sekunden lang angestarrt hatte, öffnete ich die Tür ganz. „Oh, ja, sicher, kein Pro-" „Danke sehr!" machte der Elf und schob sich an mir vorbei ins Trockene. Verdattert schloß ich meine Hintertür wieder ab, allerdings nicht, ohne vorher meinen Garten auf eventuell vorhandene Freunde meines nächtlichen Besuchers abzusuchen. Der Elf hatte sich währenddessen in meine Küche begeben und bediente sich an meinem Gouda. „Mmmh!" machte er, als er den Kühlschrank schloß. „Leckeres Zeug, ehrlich! Ihr Menschen seit doch gastfreundlicher, als man allgemein so sagt." Ich wollte gerade erwidern, daß ich ihn keineswegs zur Vernichtung meiner Käsevorräte eingeladen hatte, als der Elf abermals den Kühlschrank öffnete, eine Milchtüte hervorzog und sie sich an die Lippen setzte. „Oh, moment, entschuldige", murmelte ich und holte ein Glas aus dem Küchenschrank. „Danke sehr", sagte der Elf artig und steckte das Glas in eine kleine Felltasche, die er um die Schulter gehängt trug, wonach er einen kräftigen Schluck aus der Milchtüte nahm und sie mit einem lauten „Aaaah!" in den Kühlschrank zurückstellte. Mir wurde bewußt, das zwischen uns ein massiver Kulturkonflikt bestand. Der Elf setze sich auf einen der Küchenstühle und musterte mich eindringlich. Ich nutzte die Pause, um meine Gedanken zu sortieren und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. Dabei fiel mir auf, daß sich auf dem Linoleum zu seinen Füßen eine kleine Pfütze zu bilden begann. Erschrocken sprang ich wieder auf. „Ach je, ich bin aber auch ein Dussel!" rief ich aus, rannte ins Badezimmer und kam atemlos mit zwei Handtüchern zurück. Die dunklen Augen des 22
Elfen leuchteten auf. „Genau das, was ich brauche", bemerkte er zufrieden. Damit griff er nach einem Handtuch und begann, seine Haare durchzufrottieren. Etwas verlegen hängte ich ihm das andere Handtuch um die Schultern. Nachdem der Elf seine Haare zu seiner Zufriedenheit getrocknet hatte, ließ er das Tuch fallen und widmete sich wieder seiner Erkundigung meiner Erscheinung, was mich sehr nervös machte. „Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber was machst du - Sie - ich meine - es ist ja immerhin schon spät und -" „Kann man das essen?" fragte der Elf und deutete auf meine Butterschale. „Das ist Butter", war meine intelligente Antwort. Der Elf schaute mich mit großen, geduldigen Augen an. „Kann man das essen?" wiederholte er. Mechanisch nickte ich. „Aber", sagte ich schnell, als er danach griff, „eigentlich schmiert man das auf Brot." „Oh", machte der Elf und zog seine Hand zurück, „warum?" „Nun, es schmeckt gut, und außerdem klebt der Käse dann besser dran und fällt nicht runter." Ich kam mir auf Grund dieser Antwort ziemlich doof vor und hätte mich am liebsten geschlagen. Dem Elfen erschien diese Erklärung jedoch ziemlich einleuchtend. „Hast du mal Brot, damit ich das ausprobieren kann?" fragte er. „Sicher, da oben im Schrank", wies ich ihn an. Ich hatte mich mittlerweile einigermaßen gefangen und holte ihm einen Teller und ein Messer sowie die vorletzte Goudascheibe. Während der Elf konzentriert eine Scheibe Brot mit der Brotschneidemaschine abschnitt, brachte ich die nassen Handtücher zurück ins Badezimmer und holte einen Trainingsanzug, damit mein Gast seinen nassen Klamotten loswerden konnte. Als ich zurückkam, untersuchte der Elf gerade ausgiebig das Messer. Ich schaute ihn fragend an. „Muß man das nehmen, oder geht das auch mit dem hier?" fragte er, wobei er einen kleinen Dolch aus behauenem Feuerstein hervorzauberte. „Sicher geht das auch, aber wieso?" erkundigte ich mich. Der Elf zuckte nur mit den Schultern und begann, sein Brot mit dem Steindolch zu buttern. (Elfen mögen kein Eisen, noch weniger Stahl, aber das fiel mir an diesem Abend um 0:23 Uhr nicht ein. Schlagt mich, aber ich halte die Uhrzeit für eine gute Entschuldigung!) Ein Blick in das genießerische Gesicht des Elfen, der den ersten Bissen des Käsebrotes durchkaute, vertrieb den Rest meiner Scheu. „Entschuldige die Frage, aber was machst du eigentlich hier in meiner Küche?" fragte ich. Die dunklen Augen schauten mich kritisch an. „Jetzt sag nicht, daß du ißt", beeilte ich mich hinzuzufügen. „Was ich meinte, war, wieso bist du hier?" „Es ist doch so naß draußen", sagte der Elf mit einem mitleiderregenden Augenaufschlag. „Ich will zum Mittsommerfest, und da bin ich irgendwie hergekommen, und jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich bin." „Nun, du bist bei mir", meinte ich trocken. Mein Gast schaute sich um, wobei seine Augen aufstrahlten. „Stimmt!" sagte er begeistert. Zufrieden stellte ich fest, daß ich langsam durch seine Logiken hindurchfand. Daher bohrte ich weiter: „Und wo willst du hin?" Die Augen verengten sich etwas, als der Elf mit vernichtender Langsamkeit erklärte: „Zum Mittsommerfest." Mir schoß das Blut ins Gesicht, und aus irgendeinem Grund fiel mir ein altes Sprichwort ein: 'Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben'... So schnell wollte ich mich jedoch nicht entmutigen lassen und fragte tapfer: „Wo ist das denn, das Fest?" Am Gesichtsausdruck des Elfen erkannte ich, daß er mich nun vollends für beschränkt hielt. Er atmete ruhig ein und aus und sagte dann sehr langsam, wie ein geduldiger Erwachsener zu einem Kind: „Im Wald." „Das habe ich mir schon gedacht, daß es nicht im meinem Garten ist", sagte ich wütend darüber, daß er mich für dämlich hielt, „aber wo, ich meine in welchem Wald ist es?" 23
Der Elf schaute mich verständnislos an. „Im Wald halt", meinte er. „Wenn ich erst mal wieder im Wald bin, finde ich das Fest auch." „Na, dann ist es ja gut", sagte ich beruhigt. „Willst du noch Käse?" „Nein, danke", sagte der Elf artig, „aber Erdbeeren wären gut, danke sehr." Leicht gereizt gab ich ihm die Schale mit meinen ersten Gartenerdbeeren und sah zu, wie sie verschwanden. Draußen prasselte noch immer der Regen auf den Boden. Das Geräusch mischte sich mit dem Ticken der Küchenuhr zu einem sehr einschläfernden Rhythmus. Anscheinend empfand nicht nur ich so, denn der Elf gähnte, als gälte es ein Pferd zu verschlingen. Dies und seine traurige, nasse und verwirrte Erscheinung weckte wohl so was wie meine Mutterinstinkte und veranlaßten mich, ihm für die Nacht meine Couch im Wohnzimmer anzubieten. Die dunklen Augen leuchteten abermals auf. Er sah richtig drollig aus, wenn das passierte! „Das würdest du mir erlauben?" fragte er ungläubig, sprang auf und gab mir einen dicken Schmatzer auf die rechte Wange. „Oh, das ist nett, sooooo nett von dir, danke, danke, danke!" Und Zack! hatte ich auch links einen sitzen. Ich sprang hastig auf und schob den Elfen etwas verlegen auf sichere Distanz. „Ist ja gut, ist doch alles kein Problem", murmelte ich. „Ich hole nur schnell eine Dralondecke und dann geht das, ist doch kein Aufwand..." So versorgte ich meinen Gast, gab ihm auch den Trainingsanzug und legte mich dann selber schlafen. Ich erwachte gegen etwa 10:30 Uhr, da ich in meiner nächtlichen Verwirrung vergessen hatte, meinen Wecker zu stellen, und war äußerst dankbar für die Tatsache, daß Samstag war. Müde stand ich auf, schlüpfte in meinen Morgenmantel und ging ins Wohnzimmer, um nach meinem Gast zu schauen. Der Trainingsanzug hing über der Lehne meines Fernsehsessels, die Decke lag sauber zusammengefaltet und mit einem Gänseblümchen verziert auf der Couch. Der Elf war offensichtlich gegangen. Ich begab mich also in die Küche, um meinen morgendlichen Tee aufzubrühen. Auf dem Küchentisch fand ich meine Zeitung, die mit Filzstift verziert war. „Danke", las ich, „ich hab noch Käse mitgenommen. Bis nächstes Jahr! Bussard."
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Von Adhmvean und Velya von Dorte Schünecke
Eine kleine Legende aus einer anderen Welt: zauberhaft und poetisch!
Einst, vor langer Zeit, lebte bei den roten Shedali des Alten Rings ein Junge namens Khimv'thenyi. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in den niedrigen Bergwäldern, wo es auch Buchen, Eichen und die seltenen Yisva, die Starken Bäume, gab. Oft saß er stundenlang unter diesen Bäumen und lauschte dem Rascheln der Blätter im Wind. Er sprach mit ihnen und gab jedem Baum einen Namen: da waren Starkast, Windfänger, Vogelfreund, Altstammm, Großblatt und sein Lieblingsbaum, Blattversteck. Diesen erklomm er oft, wenn seine Geschwister nach ihm suchten. Von unten konnten sie ihn nicht sehen, so suchten und suchten sie und fanden ihn nicht; und oftmals waren sie ärgerlich, wenn Khimv'thenyi am Abend nach Hause kam. Sie riefen ihn nur noch Adhmvean, den Baumfreund. Doch er empfand diesen Namen nicht als Beleidigung. Schließlich gab es seine Familie auf, ihn von seinen Bäumen fernzuhalten. Er war nun schon erwachsen und so hofften alle, daß er bald ein Mädchen finden würde, welches ihm die Flausen austreiben könnte. Doch Adhmvean blieb seinen Baumfreunden treu, und nach und nach begann er, ihre Sprache zu verstehen - das Knarren der Äste, das Wispern der Blätter und die rauhe Runenschrift der Borke. Und er sprach mit ihnen und manchmal antworteten sie ihm, doch mit seinem Freund Blattversteck redete er oft und lange, und dieser Baum erzählte ihm alles über die Geheimnisse des Waldes. Als Adhmvean eines Tages wieder gemütlich auf den ausladenden Ästen der großen Eiche saß, fragte er den Baum: „Was sind das für Zeichen an den Stämmen? Fast jeder von euch hat sie, und sie sind nicht aus euch herausgewachsen. Wer hat sie in euch hineingeritzt?" Der Baum schüttelte unbehaglich seine Blätter. „Grünschnabel", antwortete er, „dies ist etwas, das niemand von euch Zweibeinern wissen darf. Doch wenn du durch den Wald gehst und ein Zeichen siehst wie ein Stern über einem Dreieck, so geh nicht weiter, denn die, die dieses Zeichen gemacht haben, würden es nicht dulden." Verwundert fragte der Junge: „Aber warum? Ich tue doch niemandem etwas zuleide. Ich lauf doch nur so durch den Wald. Was mögen sie nicht an Shedali?" Blattversteck seufzte. „Ach, sie sind nicht wie ihr. Ich weiß nur, daß du sie nie sehen darfst. Denn der Wind hat mir gesagt, daß Unglück geschehen wird, wenn du jemals das Kleine Volk treffen solltest. Darum geh niemals weiter, wenn du einen Stern über einem Dreieck siehst. Versprich mir das, Kleiner." „Ich verspreche es, Blattversteck", sagte Adhmvean widerstrebend, denn die Neugier hatte ihn gepackt. Dann strich er sanft über einen Zweig, glitt vom Ast und lief heim. Er schwor sich sein Versprechen niemals zu brechen, nie im Leben. Lange blieb er seinen Baumfreunden fern, um nicht dem Kleinen Volk zu begegnen. Doch eines Tages wurde seine Sehnsucht zu groß, und er lief in den Wald. Nachdem er Blattversteck besucht hatte, lief er hinunter zum Bach, wo die Trauerweiden wuchsen. Er hoffte, von ihnen mehr über sein Schicksal und das Kleine Volk zu erfahren. Doch Wassertief, der Große, wußte nicht viel über sie. „Siehst du, Zweibein", knarrte der Alte, „sie scheuen das Wasser. Frag die Buchen, sie werden es wohl wissen." Doch die Buchen schickten Adhmvean zu den Farnen, und die wiederum sagten, daß die Föhren wohl mehr wüßten. So lief er von den Föhren zu den Himbeerranken, von dort zu den Brennesseln und schließlich zur Eibe. „Aaaaach…", murmelte die Eibe, „das Kleine Volk, die Jaleadh… sieh an, sieh an…" „Was weißt du über sie, Grünblatt?" bestürmte Adhmvean den Baum. Die Eibe raschelte mit 25
ihren Blätter, daß die Zweige ächzten. Sie schien nervös zu sein. „Wenn die Große Eiche dir nichts sagen wollte, wird sie Gründe dafür haben. Der Alte weiß mehr als wir anderen, ist eben eine Eiche, nicht wahr? Der Rat wird wohl beschlossen haben, dir nichts zu sagen; und wer bin ich, daß ich als unscheinbare Eibe die Regeln des Waldes brechen könnte?" Doch Adhmvean lief zur geschwätzigen Schwester der Eibe, der Bergesche. Auch sie weigert sich zunächst, ihm etwas über die Jaleadh, das Kleine Volk zu erzählen, dann jedoch siegte ihr Drang zum Tratschen. „Das Kleine Volk, nun gut. Wir nennen es so. Ihr seid eben die Shedali, das Große Volk, so nennt ihr euch ja auch selber. Deswegen nennen wir sie das Kleine Volk. Sie sind eben kleiner. Näch? Als ihr, meine ich. Tja. Würden dir nur bis zur Schulter reichen, so klein sind sie. Oder so groß bist du." Ungeduldig drängte sie Adhmvean: „Und wenn schon, das interessiert mich nicht. Wer sind sie? Ich meine, wie sind sie und vor allem wo?" Die Blätter rauschten, als die Esche sich streckte. „Hmmm… die Kleinen sind… dunkel… aber hell, verstehst du? Ich meine, hell. Nicht? Sonst hießen sie wohl auch kaum Jaleadh in eurer Sprache, oder? Die Hellen Freunde. Würde wenig Sinn machen. Aber irgendwie sind sie dunkler als ihr. Aber auch heller. Nicht?" Adhmvean sah die Esche skeptisch an. „Aha. Und wie sehen sie jetzt aus? Sind sie wie wir?" Die Esche dachte einen Augenblick lang nach und reckte ihre Wurzeln, so daß Adhmvean beinahe herunter gefallen wäre. „Hmmmmmmnnnjaaaa…", brummte sie schließlich, „ja, sie sind euch recht ähnlich. Sie sind nicht… baumisch, verstehst du?" Die Esche seufzte. „Hab ich wieder geplappert, hm? Los, du Hüpfer, verschwinde! Wenn du so alt bist wie dein Freund, die Eiche, reden wir weiter!" Doch Adhmvean war fasziniert von dem Gedanken, daß es noch ein anderes Volk geben sollte. „Wo kann ich sie finden?" fragte er aufgeregt. Der Stamm der Esche knarrte heftig. Entsetzt raschelten die Blätter. „Denk an das Verbot! Glaubst du, die Eiche macht Scherze? Gerade Eichen wissen viel über die Kleinen." Grinsend meinte Adhmvean: „Aber wenn sie auf unserer Sprache die Hellen Freunde heißen, können sie doch kaum gefährlich sein - sonst wären es doch keine Freunde, oder?" „Tu dir selbst einen Gefallen und vergiß sie. Sie leben im Wald und ihr in den Bergen, und so sollte es auch immer bleiben." Mit diesen Worten schüttelte sie ihn vom Ast. Adhmvean ging nach Hause. Doch er war wir gefangen von den Worten der Bergesche, daher fragte er seine Mutter, ob sie je von einem anderen Volk gehört hatte. Sie sah ihn scharf an. „Warum fragst du?" Da erzählte ihr Adhmvean alles, was er von den Bäumen erfahren hatte. Der Blick seiner Mutter war sehr ernst, als sie ihm antwortete: „Khimv'thenyi, die Jaleadh sind nichts für Shedali. Du bist viel zu oft im Wald, das ist nicht gut für uns. Wir gehören in die Berge. Bitte, geh nicht mehr in den Wald. Ich will dich nicht an das Elfenvolk verlieren." „Elfenvolk? Wieviele Namen haben sie eigentlich?" hakte Adhmvean neugierig nach. Seine Mutter seufzte. „Ach, mein Junge, bitte. Vergiß sie, vergiß den Wald. Vergiß deine Bäume und such dir mal echte Freunde, mit denen du auch reden kannst." „Aber ich rede mit meinen Freunden. Blattversteck hat mir doch von dem Kleinen Volk erzählt!" Seine Mutter fuhr ihn ärgerlich an: „Junge, werde doch endlich erwachsen! Schau dir deine kleine Schwester an, die schon drei Kinder hat. Weißt du überhaupt, wie alt du bist? Hör zu: ich verbiete dir, jemals wieder in den Wald zu gehen, hörst du mich? Und vergiß deine Spinnereien über sprechende Bäume!" Doch Adhmvean hielt es nicht lange ohne seine Bäume aus. Auch hatten die Worte seiner Mutter seine Neugierde nur noch mehr angestachelt. Was hatte die Bergesche noch gesagt? „Gerade Eichen wissen viel über die Kleinen." 26
Plötzlich verstand Adhmvean. Er lief gen Norden zum Große Ring, zu der Verbotenen Lichtung. Sie wurde eingegrenzt von elf großen, uralten Eichen. Adhmvean war einige Male dort gewesen, obwohl es das Gesetz seines Dorfes verbot. Aber die Bäume hier sprachen nie mit ihm, so hatte er das Interesse verloren und war lange nicht mehr dagewesen. Auf der Lichtung blühten unzählige Blumen. Da waren Schlüsselblumen, Maiglöckchen, Gänseblümchen, Buschwindröschen, Glockenblumen, Osterglocken, Narzissen und viele mehr, und sie blühten alle, obwohl es eigentlich noch gar nicht Frühling war. Adhmvean betrat zögernd die Lichtung, doch nichts war zu sehen - keine Shedali, keine Jaleadh, nicht einmal Tiere. Betrübt wandte er sich zum Gehen, er hatte sich wohl doch getäuscht. Plötzlich jedoch fiel sein Blick auf den größten der elf Bäume, und er erkannte ein Zeichen an seinem Stamm: ein Stern über einem Dreieck. Adhmvean starrte das Zeichen an. Dann, urplötzlich, hörte er feines Wispern, unterbrochen von hellem Kichern. Schnell versteckte sich Adhmvean hinter einem großen Farnbüschel und blickte auf die Lichtung. Leichtfüßig waren ein paar Gestalten in den Großen Ring getreten, und es wurden immer mehr. Musik erklang, und sie begannen zu tanzen. Adhmvean schlich näher. Ein paar der Elfen hatten kleine Flöten, deren klarer Klang sich mit dem Gezwitscher der Vögel mischte, andere spielten Harfe oder sangen. Nie zuvor hatte Adhmvean Musik gehört, denn die gab es bei den Shedali nicht. So blieb er wie verzaubert stehen und sah dem Tanz der Elfen zu. Nach einer Weile trat eine neue Gestalt auf die Lichtung. Es war ein Mädchen von unvergleichlicher Schönheit. Sie trug ein dunkelblaues Gewand, langes schwarzes Haar fiel ihr über den Rücken und wurde von einem ledernen Stirnband davon abgehalten, ihr übers Gesicht zu fallen. Die anderen Elfen verstummten. Das Mädchen sprach leise mit ihnen, dann erklang eine Flöte, und sie begann zu singen und mit den anderen zu tanzen. Adhmvean schaute ihnen zu und versank ganz in dem Anblick. Von ihm aus hätte es immer so weiter gehen könne. Doch dann ertönte plötzlich ein Geräusch - Fußtritte, Stimmen und Rascheln. Es waren Shedali, die Brennholz für die kühlen Winterabende sammelten. Innerhalb eines Lidschlags waren die Jaleadh verschwunden, doch Adhmvean war ihnen gefolgt. Er schlüpfte durch einen riesigen Stein, dessen glatte Flanke nachgab, um ihn hereinzulassen, und ging den Elfen nach durch dunkle unterirdische Gänge, bis er zu einer festlich geschmückten Halle kam. Das schöne Mädchen saß auf einem Thron aus Eichenholz. Als Adhmvean eintrat, erschraken alle und starrten ihn an. Aufgeregtes Gewisper erhob sich, doch auf einen Wink des schönen Mädchens hin zogen sich die anderen Elfen zurück. Adhmvean blieb allein mit ihr. Sie bedeutete ihm, näherzukommen. „Wer bist du, daß du es wagst, in unseren Raedh einzudringen?" funkelte sie ihn an. „Ich - mein Name ist Khimv'thenyi, das Kind des Adlers. Aber die meisten nennen mich Adhmvean. Ich bitte um Verzeihung, Hoheit -" „Du bist das also!" entfuhr es dem Mädchen überrascht. „Du bist der, vor dem mich die Große Eiche gewarnt hat!" Sie mustere ihn kritisch. „Sehr gefährlich siehst du allerdings nicht aus, Baumfreund." „Das bin ich auch nicht!" beeilte er sich zu versichern. „Und du wohl ebenso wenig, nehme ich an." Sie lächelte nur. Adhmvean war verunsichert und wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Also stand er stumm vor ihr und kam sich fehl am Platz vor. Die Augen des Mädchens funkelten belustigt. „Ich bin Velya, die Prinzessin der Yisti, die ihr Jaleadh nennt oder Steinelfen. Und du bist ein sehr höflicher Besucher. Aber wir dulden keine Besucher in unserem Reich, meine Eltern nicht und ich auch nicht." Doch Adhmvean sah ihr in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick. Beide brachen in diesem Augenblick das Große Tabu, das Verbot für Shedali und Yisti, sich kennenzulernen. Und beide verliebten sich ineinander. Doch Adhmvean mußte gehen, um Velya den Zorn 27
ihres Volkes zu ersparen. Daheim erzählte er seinem Vater von seiner Begegnung, und der fuhr ihn zornig an: „Du kleiner kopfloser Narr! Gibt es nicht so viele Shedali in den Bergen? Hat es deine Mutter dir nicht verboten, in den Wald zu gehen? Sind dir unsere Mädchen nicht schön genug? Aber nein, für Khimv'thenyi muß es natürlich wieder etwas besonderes sein. Aber ich werde es nie im Leben erlauben, daß mein Sohn sich mit einem Hexenmädchen einläßt!" Und er verlangte von Adhmvean den Schwur, sie nie wieder zu treffen. Doch Adhmvean weigerte sich. Er ging abermals zu den Elfen in ihren verborgenen Raedh und bat Velya, mit ihm zu kommen, doch sie zögerte, und so blieb er bei ihr, bis sie sich entschieden hätte. Doch eines Tages war die Königin der Elfen zu Besuch gekommen, die Weiße Herrin, und mit ihr der König, Orva der Jäger, und sie sahen Adhmvean mit Velya und ließen sie zu sich kommen. „Ihr glaubt nicht, wie gut ich euch verstehen kann", seufzte die Königin, als sie die beiden vor sich sah. Velya trug einen Kranz aus Buschwindröschen, den ihr Adhmvean geflochten hatte, und Adhmveans Augen hatten schon den ersten Glanz des Elfenlandes angenommen. „Dennoch haben wir Gesetze", sprach Orva, und sein Gesicht war ernst. „Es ist seit Anbeginn der Welt festgeschrieben, daß sich mein Volk nicht mit den Völkern der Äußeren Welt einlassen sollen. Wer bist du, Velya, daß du es wagst, dieses Gesetz zu brechen?" Velya wagte es nicht, ihren König anzuschauen oder zu antworten, doch Adhmvean, der nichts über den Elfenherren wußte und deswegen keine Angst vor ihm kannte, sagte: „Sie ist die, die ich heiraten werde, und kein Gesetz der Welt kann mich davon abhalten, einzig ihr Wille könnte es." „Du sprichst töricht, Sterblicher", sagte darauf die Weiße Herrin. „Du darfst nicht mit ihr in unserer Welt bleiben, und sie kann in deiner Welt nicht leben." „Doch, das kann sie. Wir werden sie beschützen." „Von wem sprichst du? Deine Familie wird dich verstoßen. Willst du Velya zwingen, mit dir verbannt im Wald zu leben? Euer Wald ist nicht wie der Elfenwald, denn er ist voller Gefahren." Darauf wußte Adhmvean keine Antwort mehr und ließ den Kopf hängen. Doch Velya antwortete der Weißen Herrin: „Das macht mir nichts aus, Königin. Ich will bei ihm bleiben, auch wenn das bedeutet, daß ich auf alle Ewigkeit das Elfenland verlassen muß." „So sei es denn", antwortete die Weiße Herrin erbost und erhob sich, doch der Jäger bat sie, sich zu beruhigen, und schaute auf das Paar vor ihm und auf seine Königin. „Es soll nicht sein, daß ein Sterblicher dich mit deiner Tochter entzweit, meine Herrin", sagte er dann leise, „denn du hast nur diese eine, und obwohl sie nicht wirklich dein Kind ist, sondern nur in deiner Obhut aufwuchs, so will ich dich doch nicht mit ihr entzweien." „Es ist gegen das Gesetz", widersprach die Königin. „Gesetze sollen helfen, nicht zerstören", antwortete Orva. „Sie leichtfertig zu brechen, würde jedoch größeres Unglück heraufbeschwören", meinte die Königin. Darauf dachte Orva einige Zeit nach, bis er antwortete: „Mein Herrin hat recht. Dennoch will ich nicht sehen, wie eine aus meinem Volk in der Winterkälte des Waldes erfriert. Also hört meinen Spruch: Solltet ihr zusammenbleiben, so wird Velya nie wieder Prinzessin ihres Volkes sein! Ihr müßt das Elfenland verlassen und dürft auch nicht in der Nähe von Menschen wohnen, denn ich will nicht zulassen, daß Abkömmlinge meiner Steinelfen von Shedali großgezogen werden. Doch will ich euch helfen und euch Vorräte und Werkzeuge bringen, und solltet ihr einmal in Not sein, so dürft ihr mein Land erneut betreten und um Hilfe bitten. Euren Kindern sei freigestellt, ob sie in der Welt bleiben oder ins Elfenland zurückkehren, doch wie auch immer sie sich entscheiden, damit entscheiden sie auch für ihre Kinder." 28
„Du bist gnädig, Orva", meinte die Königin streng, aber sie lächelte. „Ich danke dir, großer König", sagte Velya leise, „und diesen Spruch nehme ich an." Und noch in derselben Stunde verließen Adhmvean und Velya das Elfenland, und ein Trupp Waldelfen begleitete sie und trug ihnen alles, was sie brauchen würden, um im Wald zu überleben. Und sie bauten sich eine Hütte unterhalb des letzten großen Gipfels des Alten Rings, den man seit jeder Zeit Velyas Berg nennt, und dort erblickten auch ihre Kinder das Licht der Welt. Als erstes, so sagt man, kamen Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. Sie wurden nach Adhmveans Wunsch Oth, Eiche, und nach Velyas Wunsch Arya genannt, das heißt auf Elfisch Drossel. Arya ähnelte am meisten ihrem Vater, doch Oth war vom Wesen und vom Aussehen her einer der Jaleadh; und viele Jahre später, als Orva und die Weiße Herrin sich in ihrem furchtbaren Streit entzweit hatten, wurde er König des Verborgenen Reiches der Elfen und Gefährte der Weißen Herrin. Arya aber blieb in der Welt, und man sagt, daß sie diejenige ist, die man die Herrin der Mondinsel nennt. Nach den Zwillingen kam ein Mädchen, sie wurde in der Sprache der Elfen Eyil, Maiglöckchen, gerufen, die Shedali jedoch nannten sie Kvari, die Einsiedlerin. Sie war sehr abenteuerlustig und lebte meist allein; doch später entschloß sie sich, mit anderen Shedali zusammen über das Meer zu gehen, obwohl sie die wilden Wellen fürchtete, denn sie lebte nicht gerne im Elfenland, wo die Zeit anders vergeht; die normale feste Welt jedoch fand sie zu gefährlich und leer. Ob sie je das Inselreich erreichte, weiß man nicht. Das jüngste Kind von Adhmvean und Velya schließlich war weithin nur unter dem Namen Jiwin, kleiner Bruder, bekannt. Er heiratete schon sehr früh ein Mädchen aus Kar-Siona in Yador, und noch heute trifft man Shedali in dieser Gegend, denen man das elfische Erbe ansehen kann. Alle außer Oth entschieden sich also für ein Leben in unserer Welt, doch ob sie heute noch leben und wo, ist dennoch niemanden bekannt. Die Großen Wälder sind verschwunden, nur der Westwald am Alten Ring und Meynjala, der Helle Wald in Yador, sind von ihnen übrig. Dort soll man noch heute das Kleine Volk sehen können, wenn man lange genug wartet. Doch im Meynjala regiert Oth, und er läßt es nicht zu, daß Menschen oder Shedali in sein Reich eindringen. Was aus Adhmvean und Velya wurde, ist nicht gewiß. Es heißt, daß Velya von einer Giftschlange gebissen wurde, und da die Magie des Elfenlandes sie nicht mehr schützte, soll sie gestorben sein, noch bevor Adhmvean mit Hilfe aus dem Elfenland angekommen war. Darauf, so sagt man, war die Weiße Herrin tief in Trauer, und Orva, der zu der Zeit noch ihr König war, bemitleidete sie so sehr, daß er Adhmvean in sein Reich aufnahm und ihn zu einem Prinzen unter den Elfen machte. Andere jedoch sagen, daß Adhmvean vergebens um Hilfe bat, und als Velya gestorben war, nahm er sich Verzweiflung das Leben. Wieder andere sagen, daß die beiden mit den ihrer Tochter Kvari über das Meer gingen, und wieder andere sind überzeugt, daß Velya von ihrem Volk verziehen wurde und beide jetzt im Elfenreich leben. Doch wissen kann dies niemand außer den Elfen.
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Über Drachen von Dorte Schünecke
Alles, was Du schon immer über Drachen wissen wolltest! Die Rede eines Kenners.
Drachen schlüpfen zweifellos aus Eiern. Ich weiß, daß einige sehr gescheite Menschen heute der Ansicht sind, daß Drachen wie Menschen und Hunde lebendig geboren werden oder verbannte Dämonen sind. Viele sind auch der Meinung, daß Drachen überhaupt nicht geboren werden, da sie nur Sagengestalten sind. Naja, man sieht sie heute ja auch nicht mehr so oft wie früher. Aber sie schlüpfen definitiv ohne jeden Zweifel ausnahmslos aus Eiern. Sie sind weder Tränen eines Riesen noch verhexte Adler. Sie sind einfach nur Drachen, und sie schlüpfen aus Eiern. Das heißt, so ganz stimmt das nun wieder auch nicht. Die Drachinger schlüpfen aus den Eiern. Und zwischen Drachingern und Drachen ist, wie jedes Kind weißt, ein himmelweiter Unterschied. Das weiß, wie gesagt, jedes Kind. Also nehm ich an, daß keiner von euch Ahnung hat, was Drachinger sind. Also noch einmal für die Erwachsenen, oder besser für die, die sich dafür halten: Drachinger haben noch keine richtigen Flügel, sondern Stummel, mit denen sie sich in der Wüste von Khinea eingraben können. Da werden nämlich fast alle Drachinger geboren, und das aus gutem Grund: sie sind feurige Wesen und mögen eben kein Wasser. Es ist übrigens ein Hirngespinst, daß Drachen mit Wasser getötet werden können. Viele Drachen sind ausgezeichnete Schwimmer. Wigolant etwa, so sagt man, lebte jahrelang auf einer kleinen Schäre im Osten von Lalha, die bei jeder Sturmflut überspült wurde. Die Sangrati, die als Drachenreiter bekannt sind, reiten natürlich keine Drachen, sondern Drachinger. Einen ausgewachsenen Drachen zu reiten, wäre nicht nur Selbstmord, sondern unmöglich. Welcher Drache würde schon so etwas erlauben? Obwohl man natürlich auch da Sachen gehört hat, Edhrik der Drachenherr und so weiter... Aber zurück zu den Drachingern. Nachdem sich die Drachinger einige Zeit in Khinea unter der heißen Wüstensonne mit Wärme aufgetankt und einige Sandtiere gefressen haben (ab und zu erwischen sie auch mal ein unaufmerksames Sangrati-Kind), buddeln sie sich an einer ruhigen Stelle ein. Dort legen sie sich für ein paar Jahrhunderte schlafen. Warum? Ja, sagt mal, habt ihr keine Bildung mehr heutzutage? Also mal ganz langsam: es gibt ja schlaue Menschen, die zu Libellen auch Drachenfliegen sagen. Was meint ihr wohl, warum, hm? Weil sie meterlang sind, scharfe Zähne haben und Feuer speien? Kaum, oder? Nein, sondern weil sie sich wie Drachen nach dem Schlüpfen erst als Larve - oder Drachinger - wiederfinden, dann wie verrückt fressen und... na? Aus der Larvenhaut ausschlüpfen! Was sonst, hä? Lernen, wie man Birkenpulver für die Damenwelt herstellt oder welche Fische am besten schmecken? Bitte! Also, irgendwann schlüpfen aus den Larven Schlupfdrachen. Die müssen erst mal kräftig fressen, ein Schlupfdrache ist nämlich auch nicht größer als ein Drachinger. Sogar kleiner, weil sonst in der Larvenhaut kein Platz für die Flügel gewesen wäre, klar? Wenn also von räuberischen Drachen die Rede ist, sind das meistens Schlupfdrachen. Die müssen nämlich viel fressen, um zu wachsen. Und ob sie nun Hirsche oder Pferde oder Menschen erwischen, ist ihnen allgemein recht gleichgültig. Sie haben Hunger, also nehmen sie sich eben, was gerade so im Weg rumsteht. Die Schlupfdrachen wachsen also, und dann sind sie richtige Drachen. Wie Kalém oder Wigolant oder eben auch Khirlik, all die, die man so aus den Sagen und so kennt. Drachen hören übrigens nie auf zu wachsen. Das heißt, wenn ihr mal einem Drachen begegnet - was ich für recht unwahrscheinlich halte, aber nun gut - , so könnt ihr an seiner Größe sein Alter erkennen. Ein Drache von der Größe eines Elefanten ist natürlich nicht viel mehr als ein Schlupfdrache. Es heißt aber zum Beispiel, daß Kalém so groß ist, daß man an ihm 30
vorbeireiten kann, ohne es zu merken. Bei Nacht, natürlich. Wenn einem nicht so auffällt, daß der seltsame gezackte langgestreckte Hügel schwarz glänzend und schuppig ist. Außerdem findet man Drachen eh sehr selten auf offenem Gelände, wo Menschen leben. Sie bleiben unter sich. Wenn Drachen schlafen, und das tun sie recht häufig, so suchen sie sich eine geschützte Stelle - ein abgelegenes Tal, eine Höhle oder so was in der Richtung. Schätze sammeln tun nur wenige. Naja, es gibt ja auch räuberische Menschen, also laßt uns nicht verallgemeinernd sagen, daß Drachen Schätze stehlen. Die sagen ja auch nicht, daß alle Zweibeiner blutrünstig sind. Oder vielleicht sagen sie es doch. Wie auch immer Tja. Drachen. Man kann so viel über sie sagen... Zum Beispiel, daß sie nicht alle rot sind. Wie gesagt, Kalém ist eindeutig schwarz. Nicht purpurn, nicht magenta, nicht scharlach, auch auf keinen Fall giftgrün oder grasfarben. Er ist schwarz. Dunkel. Wie die Nacht, nur etwas dunkler. Schwarz eben. Kann doch nicht so schwer sein. Natürlich gibt es auch rote Drachen. Und grüne. Wigolant ist blau. Da fällt mir gerade ein Gedicht ein: Drachen, schwimmend auf der Morgenluft, Flügel gespreizt, Köpfe im Himmel. Reflektierte Sonnenstrahlen, Tausendfarbige Diamanten. Ein Regenbogen mit feuergefülltem Maul und Gedanken voller Weisheit. Wigolant der Blaue. Saphire auf kristallenem Eis. Und Dharveddin Großflügel, König des Nordens, dessen Kopf ist wie eine Insel, der den Sturm regiert mit seinem Lachen. Kalém der König, Fürst der Drachen. Der Älteste, Größte, Mächtigste. Vergessen bald sein Bruder, Khirlik, der Zerstörer, Todesfluch der Shedali. Vergessen ist Wiyteli. Ach ja. Das sind so die vier größte Drachen, die man heute so kennt. Vier Drachen, drei Farben, Wigolant blau, die Brüder schwarz... Dharveddin soll sehr lustig aussehen, nämlich purpur-violett gestreift. Soll's geben... Es gibt einige extrem gescheite Menschen, die einen Zusammenhang zwischen Farbe und Wesen eines Drachen ziehen, so ungefähr: die Roten sind die gefräßigen Räuber, die Schwarzen die ruhigen Denker, die Grünen die draufgängerischen Abenteurer, die Blauen die weisen Magier, und so weiter mit dem Unfug. Klar könnte man auch bei Shedali sagen: die Rothaars sind alle Kämpfer - dann wären sie, nebenbei gesagt, schon lange ausgestorben, wenn sie nur zum Kämpfen Zeit hätten... - , oder die Dunkels wohnen alle in Städten - frag mich nur, wovon die dann leben, wenn die keine Landwirtschaft betreiben. Oder sollten das die Blondies machen, die eh nur fischen und Schafe hüten? Ihr seht schon, mit Vorurteilen muß man vorsichtig sein. 31
Zum nächsten Punkt. Das Drachenfeuer. Oh, werden jetzt viele sagen. Endlich! Das ist ja auch die Hauptsache. Fein, wenn ihr meint. Eigentlich würde euch ein Drache wohl eher erklären, daß seine Flügel das wichtigste sind. Klar, werdet ihr jetzt sagen, aber die haben Falken ja auch. Stimmt schon. Falken haben die auch. Und Adler, Geier, Raben, Krähe, Dohlen, Spatzen... Ich kannte mal einen kleinen Spatzen, der war wirklich drollig. Hatte einen verletzten Flügel, da hab ich ihn gepflegt, hinterher war das Vieh so zahm wie ein Hühnchen. Flatterte mir immer hinterher und so, sein ganzes Leben lang. Hab ihn Flatterfeder genannt. Der hatte so einen drolligen Fleck im Gesicht... unheimlich süßes Vieh gewesen. Ach ja, ich vermisse ihn immer noch. Aber ich war beim Drachenfeuer. Es gibt verschiedene Feuer. Einmal das ordinäre Kaminofenfeuer, das die Roten zum großen Teil haben. Eigentlich ist das Feuer nicht so wichtig. Die Drachen benutzen es nur in absoluten Notfällen zur Selbstverteidigung oder wenn sie nicht alle beisammen haben, wie Khirlik, der Wiyteli zerstörte. Der hatte kein normales rotes Feuer, sonder grünes, weil er doch wie sein Bruder Kalém schwarz war. Und Schwarze haben grünes Feuer. Punkt. Immer, niemals anders. Fertig. Grün. Das Lustige bei grünem Feuer ist, daß es nicht einfach brennt. Neeee, das tötet viel schneller. Und wenn es dich nicht gleich grillt, dann - jetzt kommt der Clou - verwandelt es dich in Stein. Ernsthaft! Ihr solltet mal nach Wiyteli gehen, ich schätze, ihr findet dort einige hundert Statuen rumstehen. Der Nachteil dieser Skulpturen ist nur, die waren alle mal am Leben. Ungemütlich, näch? Stellt euch mal vor, du wolltest gerade Milch holen gehen, zack kommt ein schwarzer Drache, pustet dich an und du bist eine lebende Statue für immer. Naja, das sagt man jedenfalls. Du lebst für immer und ewig, gefangen im Stein, der langsam von Wind und Wetter zerrieben wird. Hui, Kinder, ihr deprimiert mich richtig. Jetzt zurück zum wissenschaftlichen Teil. Also: Es gibt bestimmt ein Dutzend Feuerarten bei Drachen. Wigolant hat weißes Feuer. Das verbrennt dich nicht, das läßt dich erfrieren. Ist also sozusagen eine Art Anti-Feuer. Aber Wigolant ist eh ein komischer Kauz. Oder Drache. Glaube, ihn mit einem Kauz zu vergleichen, ist auch von der Größe her nicht ganz korrekt. Der hat ja schon ein paar Jahrtausende auf dem Buckel. Natürlich hat er keinen. Keinen Buckel, meine ich. Drachen sind sehr elegante Wesen die können keinen Buckel gebrauchen. Ach ja, Drachen. Sind so selten geworden, seit es sogenannte Helden gibt, die die Schlafstelle eines Drachen ausspionieren und ihn im Schlaf umbringen. Die Kleinen, meine ich. Bei den Großen haben sie eh keine Chance. Wenn ihr mich fragt, hatte Randhvari einfach nur Glück. als er Khirlik erschlug. So ein Riesenkerl! Ich meine natürlich Khirlik. Der läßt sich doch nicht von einem dahergelaufenen Dunkelskrieger erschlagen. Neee, da muß noch mehr dahinter gewesen sein... Muß so groß gewesen sein wie Kalém oder Wigolant. Dem bin ich übrigens mal begegnet, als ich noch sehr jung war. Wigolant, meine ich. Das heißt, ich habe ihn gesehen. Nicht mit ihm gesprochen, ich bin doch nicht wahnsinnig. Ach ja, Drachen.... Wie bin ich eigentlich auf Drachen gekommen? Weiß es einer? Hm? Kinder, man sollte euch in den Märchenunterricht und nicht in den Geschichtsunterricht stecken! Also, Wiyteli wurde im Jahre 2856 nach der Befreiung aus Shuk von Khirlik zerstört... Aus einem Vortrag von Geschichtsmeister Dayridil, der eine Zeitlang Leiter der Schule auf Anorivrin war, bis er eines Tages bei einer Reise ins Leere Land spurlos verschwand. Man sagt, daß Wigolant unter dem Berg Irdhena lebt, der an der Landzunge dieser Region liegt. Gerüchten zufolge hat sich Dayridil entschieden, seine Kenntnisse über Drachen zu vertiefen...
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Paarweise von Timothy McNeil
Die Totempfähle der K´san.
Walter blickte mürrisch die Reihe der K´sanTotempfähle entlang; er versuchte, einen Sinn in den verschiedenen geschnitzten Figuren zu erkennen, die, wenn er sie nach den sich augenscheinlich ähnelnden Gesichtern beurteilte, etwas über Geburt und Tod, den GroßenGeist, das Menschengeschick auszusagen schienen. Er fragte sich, ob die Künstler des ErstenVolkes schon etwas von parallelen Existenzen geahnt hatten. Erst kürzlich hatte er von dieser Theorie gehört, die ihn irgendwie faszinierte. Zwei Jahre zuvor hatte er aufgehört zu rauchen; soweit sein Verständnis von parallelen Welten reichte, könnte er demnach gleichzeitig in einer anderen Dimension als Raucher existieren. In dem Fall hätte er, während er auf dieser Bank saß und darauf wartete, dass seine Frau aus dem SouvenirShop kam, wohl vier Zigaretten geraucht. Zwei Leben. Unverbunden. Aber was wäre, wenn ErDerNochRauchte ebenfalls über ein ParallelUniversum nachdachte? Und was, wenn er mehr oder weniger dasselbe täte wie ErDerNichtMehrRauchte? Wiederum schaute Walter die Gesichter der Totems an. Er war jetzt überzeugt, dass die meisten Münder ein boshaftes Lächeln zeigten. Sie wussten. So wie ihre Schöpfer wussten. Er sah zu Boden. Walter zählte vier Zigarettenkippen.
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Heres, der Ringmeister von Benjamin F. Ludwig
Das Leben in dem idyllischen Dorf wird überschattet: Eine große Aufgabe wartet auf den jungen Heres...
EINLEITUNG MANTAALAN Es war einmal auf einem Kontinent namens Mantaalan. Ein Ort der nicht nur durch seine unterschiede geprägt wurde. Eine verblüffende Vielfalt, in jedweder Hinsicht. So vieles gab es dort zu entdecken, so viele Gebiete zu Erkunden. Das Land der Trockenheit, eine beinahe leblose Wüste am Rande Mantaalans. Dort lebten die Hokras, ein Volk das man nur selten zu Gesicht bekam. Es hieß das sie unter der Oberfläche leben würden und dort sogar große Wasservorkommen zu Verfügung hätten um zu überleben. Dann gab es auch noch die Stadt der Wolken, ein wunderbarer Ort hoch über Mantaalan. Dort lebten die Feen, blickten auf alles herab. Mantaalan wurde von vielen verschiedenen Wesen bevölkert, was zu dieser enormen Vielfalt beitrug. Wesen, so manches merkwürdiger als das andere. Hexen, Kobolde, Trolle und Feen waren dort keine Seltenheit. Wobei man die einen öfters, die anderen weniger oft erblickte. Friedsam waren die meisten davon, kamen miteinander aus und fügten einander kein Leid zu, so wie es sein sollte, auch unter lauter verschiedenen Wesen. Jedoch gab es auch ausnahmen. Im Reich der Dunkelheit, dort lebten die grausigen Hadar, eine brutale kriegerische Rasse, deren Ziel es war Leid zuzufügen und das gute zu vernichten. Man fürchtete sie, denn sie galten als die Verkörperung alles Bösen. Sie überfielen Dörfer, plünderten und brannten sie nieder. Sie töteten, Kinder und Frauen, Alte und Lahme. Sie raubten und folterten auf schrecklichste Weise. Sie versuchte man zu meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Doch wurden angriffe auf grenznahe Dörfer immer häufiger gemeldet. Aber wer konnte dagegen etwas tun? Die Bauern hatten keine Waffen, waren keine Krieger wie die Hadar. Vielleicht der König von Mantaalan? Wohl kaum, schon lange hatte er nicht mehr die dazu nötige Macht. Jedoch gab es auf Mantaalan auch freundlich gesinntere Gestalten, im Herzen des Kontinents. Dazu gehörten unter anderem die Ha´bats, eine freundliches friedvolle Rasse. Sie lebten bescheiden. Der König, er zählte ebenfalls zu dem Volk der Ha´bats und so wie es bei den meisten angehörigen dieser Rasse war, hatte auch er nicht sonderlich viel Mut.
KAPITEL 1 DAS DORF Die beiden Sonnen standen hoch über dem kleinen Ha´bats Dorf. Sie belebten das Land, erfreuten die Bewohner und ließen die Vögel freudig zwitschern. Wohlklingende Glocken ertönten. Es waren die Glocken der kleinen Kirche in der Mitte des Dorfplatzes. Zu jeder vollen Stunde schwangen die sanften Töne durch das Dorf. Wie es sich für einen Ha´bat gehörte, waren mal wieder alle bester Laune, erfreuten sich an diesem wunderbaren Tag und gingen zufrieden ihrer Arbeit nach.
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Gähnend richtete sich Heres, der Sohn von Hamis, in seinem Bett auf. Seine Füße ragten über den Rand heraus. Das Bett war ihm zu klein, doch wollte er kein anderes, den dieses Bett hatte sein Vater Hamis eigenhändig für ihn gebaut, als er noch kleiner gewesen war. Das leise Hämmern aus der Werkstatt des bärenstarken Hatat, der Schmied, drang an seine spitzen Ohren. Er rieb sich den Schlaf aus seinen strahlend blauen Augen. Sie leuchteten wie der See von Hark, hatte man ihm immer gesagt. Langsam stieg er aus seinem kleinen Bett und schritt durch das Zimmer. Sonnenstrahlen fielen durch das offenen Fenster herein und erwärmten den hölzernen Fußboden. Langsamen Schrittes näherte er sich dem Fenster, blinzelte mehrmals und streckte dann den Kopf heraus. Ein herrlicher Tag, dachte der junge Ha´bat. Vor ihm erhob sich der Kirchturm, dessen Glocken wieder verstummt waren. Rechts sah er den Stand des Fischers Her´ing, der seinen frischen Fisch anbot. Als er seinen Blick nach links wandte, erblickte er Hellantra, die liebreizende mit ihrem kleinen Blumenstand. Sie war wunderschön, das schönste Mädchen des Dorfes. Schon des öfteren hatte er sie ansprechen wollen, um ihr mitzuteilen was er für sie empfand, doch hatte er dazu noch nicht den Mut gefunden. Was er merkwürdig fand, den war er im Grunde niemand der sich vor solch einer wunderbaren Tat fürchtete. Jedoch fürchtete er, dass sie ihn nicht mögen würde. Lächelnd zog er seinen Kopf wieder ein und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel zu seiner linken. Heres war noch jung, doch hatte er schon mehr erlebt als die meisten anderen Ha´bats. Das hatte er alles Heragof, einem alten Zauberer, zu verdanken, dessen Gehilfe und Lehrling er sich nennen durfte. Mit ihm hatte er schon so viel erlebt, wunderbare Dinge, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Nun vorab muss noch gesagt werden, dass seine Mutter Hanna, Tochter des Hess, vor drei Jahren gestorben war. Nach ihrem tragischen tot - der für alle im Dorf überraschend gekommen war - hatte er die Bekanntschaft mit Heragof gemacht. Dieser hatte sofort angefangen sich um den kleinen freundlichen Jungen zu kümmern. Heres verließ das kleine Haus und Schritt gemächlich durch die gemütlichen Gassen, hinweg über gepflasterte Wege. In dem kleinen Dorf ging es ruhig zu, so wie jeden Tag. Hektik war den Ha´bats fremd, so fremd wie den schrecklichen Hadar die Güte. Mal wieder war Heres bester Laune, dem war fast immer so. Der Tag war wunderbar. Er erfreute sich bester Gesundheit, hatte Freunde, einen wunderbaren Vater und in Heragof hatte er einen Lehrmeister keines gleichen gefunden. Somit war es für ihn nur logisch fröhlich zu sein, etwas anderes wäre für ihn undenkbar gewesen. An solch einem Tag konnte einfach kein Ha´bat traurig oder deprimiert sein. Da dachte Heres an die Dörfer, die an der Grenze zum Reich der Dunkelheit lagen. Die Dort lebenden Wesen konnten sich nicht so an diesem Tag erfreuen wie er dies tat. Für sie gab es nur noch Trauer und Leid. Etwas, von dem die Ha´bats bisher größtenteils verschont geblieben waren. Schweißperlen glänzten auf den Spitzen seiner Ohren. Sein langes Haar wand sich leicht in den gelegentlichen Windböen. Grüßend ging er an den Dorfbewohnern vorbei, die er alle sehr gut kannte. Er mochte sie alle sehr und machte sich um sie sorgen, wenn er nachts an die Hadar und deren Gräueltaten dachte... Zwitschernde Vögel flogen über ihn hinweg, Blumen versprühten ihren wunderbaren Duft, welcher die ganze Luft erfüllte. Seine breiten Nasenflügel vibrierten als er tief einatmete und seine Lungen mit der wunderbaren reinen Luft flutete. Oh, welch ein wunderbarer Tag, dachte Heres erneut. Niemals soll er vergehen, gerne würde ich hier noch länger in der Gasse stehen. Jedoch geht es nicht anders, denn ich muss nun gehen. 35
KAPITEL 2 EIN FREUND Gemächlich ging Heres weiter, da vernahm er hinter sich ein leises poltern. Er blieb also stehen und drehte sich um. Da sah er die Ursache für dieses Geräusch. Hashtan, sein bester Freund, war gegen eine Kiste gelaufen und hatte sie umgestoßen. Rasch richtete er sie wieder auf und eilte weiter zu Heres. Hashtan blickte seinen Freund lächelnd an, dann biss er ein großes Stück von einer HonigFrucht ab, die er in seiner rechten hand hielt. Heres musste breit grinsen, denn immer wenn er seinen Freund sah, hatte dieser etwas zu Essen bei sich. Er war einfach unersättlich. Deshalb hatte er auch schon etwas an gewicht zu gelegt, doch das störte ihn nicht weiter. „Kann ich dich begleiten, Heres?“ fragte Hashtan hastig, dann biss er erneut von der süßen Frucht ab. Der orangefarbene klebende Saft rann ihm an seinem breiten Kinn herab, löste sich und sprang auf seine Klamotten über. Er konnte seine Klamotten nie sehr lange sauber halten, zum missfallen seiner Mutter. Heres lachte innerlich, er mochte die hohe piepsige Stimme seines Freundes, wodurch man ihn sogar aus einer riesigen Menge herausgehört hätte. „Natürlich kannst du mich begleiten. Die Frage ist nur ob du es auch durchhältst, als du mich das letzte mal bei einem meiner Rundgänge begleitet hast, durfte ich dich später nach Hause tragen. Erinnerst du dich daran, danach konnte ich Tage lang nicht mehr schwer heben.“ Heres lächelte breit, woraufhin Hashtans Gesicht leicht rot anlief. „Das wird nicht wieder vorkommen, Heres, dass verspreche ich dir. Außerdem, sieh mal, ich hab noch ein paar Honig-Früchte dabei.“ Er hatte einen kleinen Rucksack abgelegt und ihn für Heres geöffnet, damit dieser einen Blick rein werfen konnte. „Dann lass uns gehen, Gesellschaft kann nie schaden...“ „Ganz besonders nicht meine,“ lachte Hashtan.
KAPITEL 3 IM WALD Nachdenklich, wie Heres nun mal war, erreichte er den Rand des Dorfes und machte sich, zusammen mit seinem besten Freund, auf den Weg in den dahinterliegenden Wald. An jedem Tag erkundete er die Gegend, konzentriert bis ins Mark, ließ er sich dabei nichts entgehen. Für ihn grenzte es an ein Wunder, diese wunderbare Natur, so prächtig, vielfältig und unberührt. Langsam setzte er Fuß vor Fuß, achtete auf jeden Schritt um alles zu erhalten. Hashtan versuchte seinem Beispiel zu Folgen, wobei ihm dies schwerer fiel als man denken sollte. Der Weg führte tief in den Wald hinein, ein Wald voller Überraschungen und Abenteuer. Sonnenstrahlen drangen vereinzelt durch die dichten Baumkronen, hoch über ihnen, hindurch und kitzelten das weiche Gras auf dem Boden. Die beiden schritten langsam durch den Wald. Heres lauschte dem bezaubernden zwitschern der Vögel, die verborgen in den Bäumen saßen. Hashtan machte sich derweil über die nächste Honig-Frucht her. Doch auch er war beeindruckt von diesem Wald. Er hatte die Augen weit aufgerissen, während er sich an dem Geschmack der süßen Frucht ergötzte. 36
„Es ist doch herrlich, diese Schönheit und Idylle.“ Hashtan nickte schweigend und blickte sich nach allen Richtungen um. Es bereitete Heres immer wieder großes Vergnügen durch diesen Wald zu schreiten und dies alles auf sich einwirken zu lassen. Da landete ein braungestreifter Baum-Segler vor den beiden auf dem Weg. Es war eine Mischung aus großgewachsenem Eichhörnchen und Fledermaus. „Solch ein Tier habe ich noch nie gesehen,“ staunte Hashtan. Es war ein sehr zahmes, friedvolles Tier, dass man allerdings nur selten zu Gesicht bekam. Man sah es im Grunde nie in der Nähe der Wege und die meiste Zeit verbrachte dieses Tier ohnehin hoch oben in den dichten Baumkronen. Sie beobachteten das Tier dabei, wie es versuchte eine Pantraa-Nuss zu knacken. Schon nach kurzer Zeit hatte das putzige Tier die harte Nuss mit ihrem kräftigen Kiefer geknackt und verspeiste sie. Nachdem sich das Tier blitzschnell wieder aus dem Staub gemacht, gingen die beiden langsam weiter. Doch Heres merkte bereits, dass sein Freund daran dachte umzukehren. „Können wir umkehren, Heres?“ fragte Hashtan keuchend. „Ich bin erschöpft und außerdem habe ich keine Honig-Früchte mehr. So können wir doch unmöglich weitergehen.“ Heres blieb grinsend stehen und drehte sich zu seinem Freund um, der sich erschöpft auf seinen Knien abstützte. Da konnte man nun mal nichts machen, damit hatte er schon gerechnet. Jedoch war Heres in gewisser Weise auch stolz auf ihn, denn soweit hatte er es noch nie geschafft. Jedenfalls nicht zu Fuß. Er hatte Verständnis dafür und wollte seinem Freund nicht mehr zumuten als dieser ertragen konnte.
KAPITEL 4 DIE FLÜSTERNDE STIMME Heres trat näher an seinen Freund heran. Dieser blickte lächelnd zu ihm auf. „Na gut, lass und umkehren und sobald wir wieder im Dorf sind, können wir uns ein paar Honig-Früchte holen.“ Hashtan blickte ihn überglücklich an. Die beiden setzten sich langsam in Bewegung und Hashtan lief in freudiger Erwartung schon das Wasser im Munde zusammen. Heres ging gemächlich neben ihm her, da vernahm er plötzlich eine leise flüsternde Stimme. Sie flüsterte seinen Namen. Die Stimme schien aus der Ferne zu kommen. „Hörst du das auch?“ fragte er seinen Freund, doch dieser blickte ihn lediglich verblüfft an und schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein, dachte Heres verwirrt. Er musste diese Stimmen auch gehört haben, sie war zwar leise, jedoch deutlich zu hören gewesen. „Heres, Heres,“ flüsterte die Stimme erneut. Er blickte rasch zu Hashtan, doch zeigte dieser nicht die geringste Reaktion. Er hatte auch dieses mal nichts gehört. Was war nur los, was hatte dies bloß zu bedeuten? „Mein Junge, komm zu mir. Heres, komm zu mir.“ Heres blieb abrupt stehen, doch sein freund blieb erst nach einigen Metern stehen und blickte ihn fragend an. Nun vernahm Heres permanent diese sanfte Stimme. Eine Stimme die ihm sehr vertraut vorkam, eine Stimme aus der Vergangenheit. Hashtan blickte ihn verwirrt und zugleich besorgt an, er fragte sich was mit seinem Freund war und er sich plötzlich so merkwürdig verhielt.
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Langsam trat er an ihn heran. Doch Heres zeigte nicht die geringste Regung, er starrte einfach in die Leere. Auf seiner Stirn hatten sich Falten gebildet, so wie es war wenn er intensiv nachdachte. Hashtan war besorgt und hoffte das Heres ihm lediglich einen streich spielte. Doch solche Streiche passten nicht zu ihm, so etwas hatte er noch nie getan. Die sorge um seinen Freund wuchs und er stand kurz vor einer Panikattacke. Er wusste nicht was er tun sollte. Da packte ihn Heres plötzlich an seinem Arm und Hashtan stieß einen entsetzlich hohen schrei aus. „Beruhige dich wieder,“ bat Heres. Die Augen seines Freundes rasten aufgeregt hin und her. „Ich muss nochmals zurück. Du musst alleine zurück ins Dorf gehen.“ Hashtan verstand nicht was er damit meinte. Wieso musste er nochmals zurück. Er verstand es nicht, doch gab ihm Heres auch nicht die Gelegenheit dazu ihn zu fragen. Denn Heres rannte schon fort, sagte nichts mehr und ließ Hashtan alleine zurück. Heres wurde getrieben, von etwas, dass er nicht erklären konnte. Diese Stimme leitete ihn, bat ihn um Hilfe. Und er hatte das Gefühl sich dem nicht entziehen zu können. Er folgte einem inneren drang, gezogen von der sanften Stimme. Sein Herz raste, sein Atem ging schneller. Schon kurz darauf hatte er die Stelle erreicht, an Hashtan ihn gebeten hatte umzukehren. Doch die Stimme rief ihn auch weiterhin, sagte das er weitergehen solle. Jetzt dachte er nicht mehr an seinen Freund, nicht mehr an die wunderbare Natur. Für ihn gab es nur noch diese Stimme. Nicht einmal sich selbst konnte er sich dies erklären. Wie sollte er es da nur Hashtan erklären was vorgefallen war und seinem Vater, bei dem sich die Eltern seines Freundes sicherlich melden würden, sobald dieser zu Hause war.
KAPITEL 5 BEGEGNUNG Plötzlich erblickte er vor sich auf einmal jemanden am Wege stehen, eine Frau in schneeweißem Gewand. Sie trug eine weite Kapuze, die beinahe ihr gesamtes Gesicht verdeckte, so dass er sie nicht erkennen konnte. Langsam, neugierig wie immer, näherte er sich der vermummten Gestalt. Die Stimme rief ihn nun nicht länger, denn er hatte sein Ziel erreicht. Den Ausgangspunkt dieser flüsternden Stimme. Zögernd machte er vor ihr halt. Daraufhin rührte sich die Gestalt langsam, hob ihren Kopf und schlug die Kapuze zurück. Erschrocken sprang Heres zurück, sein Herz begann schneller zu schlagen, als dies zuvor beim rennen gewesen war. Seine strahlend blauen Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Seine Augen hatten schon so viel merkwürdiges erblickt. Doch noch niemals etwas dieser Art. Er hatte schon viel erlebt, obwohl er noch jung war. Doch noch niemals etwas dieser Art. Es konnte einfach nicht sein, denn diese Frau, die dort vor ihm stand und auf ihn herab blickte, war seine Mutter, die verstorbene. Seine Augen tasteten sie regelrecht ab. „Ich weiß das dies für dich sehr verwirrend sein muss,“ sagte sie leise, ihre Stimme engelsgleich wie er sie in Erinnerung hatte. Er konnte dazu nichts sagen, war wie gelähmt und fühlte sich überrumpelt. Das konnte einfach nicht sein. Es war unmöglich. Wenn gleich Heragof gesagt hatte, dass nichts unmöglich sei. Jedoch die Unwissenheit einen abhält zu Glauben und zu verstehen. „Doch was ich dir nun sage von unsäglicher Wichtigkeit ist, mein Sohn. Es geht um die Zukunft von ganz Mantaalan. Du, mein Sohn, erhältst die bisher wichtigste und schwierigste Aufgabe in deinem bisherigen Leben.“ 38
Langsam sammelte sich Heres, doch blickte er sie noch immer ungläubig an. „Was hat das zu bedeuten?“ „Heres, du musst den Ring finden. Der Ring, der die Hadar davon abhalten kann schreckliches Chaos und Leid anzurichten. Du musst diesen Ring finden, dazu bist du bestimmt. Die Zukunft liegt in deinen Händen.“ Der junge Ha´bat war geplättet, überrascht und wusste nicht was er dazu sagen sollte. Weshalb gerade ich? Fragte er sich. Seine Mutter trat etwas näher an ihn heran. Jedoch schien sie eher zu schweben als zu gehen. „Der Ring befindet sich im Wald der Schatten, dorthin hatten ihn die Mächte des Bösen vor Jahrhunderten verbannt. Mache dich noch heute auf den Weg dorthin und kehre so schnell als nur möglich mit dem Ring zurück. Heragof wird dich dabei begleiten, er weiß bereits Bescheid. Du musst den Ring bringen, mein Sohn.“ Er hatte noch so viele fragen an sie. Fragen die er ihr immer hatte stellen wollen, und fragen zu dem was sie eben gesagt hatte. Zu dem was er nicht verstand. Jedoch verschwand sie im selben Moment vor seinen Augen in einem gleißenden Lichtblitz. So verwirrend war dies für ihn, doch er wusste nun was zu tun war. Wieder kam in ihm dieses merkwürdige Gefühl aus. Er hatte nun ein neuerliches Ziel und setzte sich sofort in Bewegung. In ihm gab es wieder diesen Drang, der gleiche Drang, der ihn dazu gebracht hatte der Stimme seiner Mutter zu folgen. Also machte er sich, so schnell er nur konnte, auf den Weg zu Heragof´s Haus.
KAPITEL 6 HERAGOF´S HAUS Das Haus des alten Zauberers lag auf einem bewaldetem Berg, oberhalb des Dorfes, direkt an einem riesigen Wasserfall. Der Weg war anstrengend gewesen, doch hatte Heres ihn rasch hinter sich gebracht. Er war zu sehr aufgeregt gewesen und nichts hätte ihn abhalten können, dafür war er viel zu aufgeregt. Langsam näherte sich Heres dem kleinen Haus. Er warf einen kurzen Blick zurück. Man konnte das gesamte Dorf überblicken, den Wald und man sah sogar den See von Hark, der wunderbar glitzerte. Heres Schritt langsam weiter, er blieb stehen und berührte den hölzernen Türknauf. „Ich habe dich schon erwartet,“ flüsterte der alte Mann als Heres die knarrende Tür langsam öffnete. Daraufhin drehte Heragof sich zu ihm um. „Wir machen uns sofort auf den Weg, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Heres blickte ihn fragend an. „Also wissen Sie wirklich davon, Meister?“ Heragof nickte lediglich und ging in einen Nebenraum. Das Arbeitszimmer des Zauberers, dass Heres nur selten betrat. Kurz darauf kam der Zauberer zurück und blickte Heres an, so wie er ihn noch niemals zuvor angesehen hatte. Der alte Mann legte nur noch seinen langen braunen Umhang um und schon kurz darauf waren sie auf dem Weg zum Wald der Schatten. Ein düsterer dunkler Ort, voller gefahren und Leid. Sie traten aus dem Haus und Heres warf einen letzten Blick an dem Wasserfall herab, als er auf der Brücke stand, die über den Fluss führte. Früher hatte Heres sich davor gefürchtet diese Brücke, so nah an dem riesigen Wasserfall, zu überqueren. Jedoch war es der einzige Weg der zu Heragof´s Haus führte. Jetzt verspürte er nicht den geringsten Anflug von Angst.
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KAPITEL 7 DER WALD DER SCHATTEN Schon als sie den Rand des dunklen Waldes erreichten war Heres klar, dass es nicht leicht werden würde und er all seinen Mut aufbringen müsste. Der Wald hob sich deutlich von dem Rest ab. Er war dunkel und kalt, der Rand des Waldes war von Nebel gesäumt. Es war ein entschreckender Gegensatz. Bei ihnen war es angenehm, wunderbar warm, Vögel zwitscherten. Alles schien so wunderbar und perfekt. Doch was nun vor ihnen lag, war das genaue Gegenteil, wie es unterschiedlicher nicht sein konnte. Heres schluckte hart und folgte Heragof, als dieser sich wieder in Bewegung setzte. Schließlich passierten sie die neblige Grenze. Augenblicklich wurde es kühler, hier waren keine Vögel mehr zu hören. Doch da war etwas anderes. Schon nach den ersten Metern drangen grausige geplagte Stimmen an ihr spitzen Ohren. Sie schienen aus allen Richtungen des Waldes auf sie herab zu prasseln. Jetzt gibt es kein zurück mehr, dachte Heres. Gemeinsam schritten sie durch den dunklen fürchterlichen Wald. Die Schreie wurden mit jedem Meter lauter und angsteinflössender. Woher mochten sie wohl kommen? fragte er sich. „Es sind die Stimmen derjenigen, die für den Rest ihres Lebens in diesem Wald bleiben müssen. Stimmen, derjenigen, die hier unsägliches Leid ertragen müssen. Sie sind die, die niemals zurückgekehrt sind und auch niemals zurückkehren werden.“ Plötzlich stieg Angst in dem Jungen auf. Eine Angst, die stärker zu sein schien, als der Drang, der ihn hier hergeführt hatte. Heragof spürte dies und blickte ihn verständnisvoll an, schließlich war aus dem Wald der Schatten noch nie jemand zurück gekehrt. Jedoch war die Angst eine ihrer größten Feinde, die es wohl als erstes zu besiegen galt. Heragof legte dem Jungen seine knochige Hand auf die Schulter. Wärme stieg im Herz des jungen Ha´bat auf. Alleine die Anwesenheit des weisen Zauberers half Heres seine Ängste zu kontrollieren. Dennoch wollte er fort, an einen freundlichen, weniger schaurigen Ort. Aber sie hatten, besser jedoch, er hatte eine Mission, die es zu erfüllen galt.
KAPITEL 8 ZUM ERSTEN Plötzlich versperrte den beiden ein bösartig dreinblickender Troll den Weg. Das grausige Wesen war gerade dabei gewesen etwas zu zerfleischen. War es ein Tier oder gar der letzte, der sich in diesen Wald verirrt hatte? Man konnte es nicht mehr erkennen, zu sehr hatte sich der Troll schon darüber hergemacht. Blut rann ihm am Körper herab. Der Troll stand in einer Lache aus Blut, als er die beiden schnaufend anblickte. Heres blieb ruckartig stehen und sein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen. Heragof blieb hingegen wie immer Ruhig. Sie blickten das schreckliche Wesen schweigend an. „Was wollt ihr hier?“ Fragte der Troll gefährlich lächelnd. Seine Stimme hörte sich so grausam an, verreit das er zu allem bereit war und sich den beiden Besuchern gegenüber überlegen fühlte. Die großen Augen des wilden Wesens funkelten die beiden bedrohlich, schienen in Flammen zu stehen. Da trat Heres vor. „Wir wollen den Ring aus der Verdammnis holen,“ sagte Heres rasch. Konnte jedoch kaum glauben das es so aus ihm herausgeschossen war. Seine Stimme hallte noch lange durch den dunklen Wald. 40
Der Troll zeigte sich recht unbeeindruckt und schüttelte heftig den Kopf. Er lachte laut auf. Es war ein unangenehmes Lachen, das Heres wohl noch in Albträumen verfolgen würde. „Nehmt es mir nicht übel, aber ihr müsst verstehen, dass ich dies nicht zulassen kann.“ Da erhob Heragof seine knochige Hand, es flatterte plötzlich sein Gewand und der Troll blitzartig verschwand. Heres blickte ihn an. „Dafür haben wir keine Zeit,“ sagte er schlicht und leise. Woraufhin sich die beiden wieder auf den Weg machten. Dies war nur ein kleines Beispiel für die Kraft des Zauberers Heres gewesen. Schweigend schritten sie weiter durch den Wald. Heres blickte sich ständig um, blieb wachsam, hielt Ausschau nach weiteren Bedrohungen. Heragof dagegen blieb wie immer vollkommen ruhig, setzte gelassen einen Fuß vor den anderen. Riesige pechschwarze Fledermäuse flatterten über die beiden hinweg, schienen wie gierige Geiser über ihnen zu kreisen. Warteten sie darauf ihnen das Blut aus ihren Körpern zu saugen. Es waren Geschöpfe die an solch einen grausigen Ort passten. Für die Ha´bats galten sie als Boten des Todes. Durch die dichten, schwarzwirkenden, Baumkronen drang kein einziger Sonnenstrahl zu ihnen herab. Da wurden die Schreie um sie herum lauter. Ort unsäglichen Leidens, dachte Heres. Jeder der Schreie ließ ihn kurz zusammenzucken. Jedoch gewöhnte er sich langsam an die gequälten Stimmen und vernahm sie sogleich nicht mehr. Welch ein merkwürdiger Ort dies doch war.
KAPITEL 9 DAS HAUS Der alte Zauberer Heragof und der junge Ha´bat Heres erreichten urplötzlich ein Haus. „In diesem Haus wirst du den Ring finden, Heres,“ verkündete Heragof ruhig. „Nun musst du jedoch alleine weitergehen. Denn dies ist jetzt ganz alleine dein Weg, den nur du bestreiten kannst.“ Verwirrt blickte Heres den alten Zauberer an, doch dessen Blick verriet, dass darüber nicht diskutiert werden konnte. Er zögerte noch, dann Schritt er langsam voran, die dunklen Stufen des Hauses hinauf. Er warf einen letzten Blick zurück, bevor er eintrat und auf sich alleine gestellt war. Gerne hätte er jetzt den Zauberer an seiner Seite, hätte aus dessen Ruhe weitere Kraft geschöpft. Die schwere massive Tür fiel hinter ihm zu. Es war kühl in dem Korridor, in dem er sich nun befand. Ein beklemmend enger gang, zudem noch unübersichtlich lang. Langsam Schritt er voran, vollends konzentriert, wollte er auf alles vorbereitet sein. Schon kurz darauf war er am Ende, fand sich in einer großen Kammer wieder, da fuhr ihm ein Schauer durch die Glieder. Hier musste es sein, dachte er instinktiv. Und tatsächlich, in der Mitte des Raums eine Statue stand, an deren Hand sich ein goldener Ring befand. Nur wenige Schritte trennten ihn davon, aber so einfach konnte es nicht sein. Er spürte das etwas passieren würde, spürte die Bedrohung. Schritt für Schritt kam er seinem Ziel näher, doch plötzlich wieder der Troll vor ihm stand. „So leicht werd ich’s dir nicht machen.“ Da begann der Troll laut zu lachen. „Dich werde ich genauso verspeisen, danach wird dann dieser alte Mann an der Reihe sein.“ Wut kam in ihm auf und er trat mutig etwas näher an den grausigen Troll heran, überrascht von dem eigenen Mut, doch er spürte das ihn etwas leitete und anzog.
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Er musste dies zu Ende bringen, war er dem Ziel doch so nah. Dem Troll tropfte Speichel aus den Mundwinkeln, in freudiger Erwartung er sich befand. Es war nun nötig zu handeln, denn er hatte nicht viel Zeit. Er fuhr sich mit der Hand durch sein lockiges Haar. Dann streckte er sie dem Troll entgegen und ... fror in fest, in der Zeit. Damit hatte dies grausige Wesen wahrhaft nicht gerechnet. Es war ein Trick, den ihm Heragof beigebracht hatte, mal wieder er sich als nützlich erwies. Dies sah man hier. Der Weg war nun frei und so eilte der Junge zu der Statue, vorbei an dem starren Troll. Rasch ergriff er den goldenen Ring. Da änderte sich plötzlich alles um ihn herum. Von einer Sekunde zur anderen fand er sich am Rande des Dorfes wieder. Neben ihm der alte Zauberer stand. An Heres Ringfinger sich der goldene Ring befand. „Du hast es wirklich geschafft. Keine Sekunde habe ich an dir gezweifelt. Doch war es auch nicht sonderlich schwer, musste man dazu nur die richtige, ausgewählte Person sein. Nur du konntest es schaffen. Nun hast du den Ring, der Rettung verspricht. Jedoch liegt nun viel vor dir, mein Junge. Es wird schwieriger, denn dies war sehr einfach für dich, es wird gefährlicher und verwirrender denn jemals zuvor. All deine Kraft wirst du brauchen. Aber ich bin überzeugt, dass du es schaffen wirst.“ Stolz blickte Heres dem Zauberer in seine grauen Augen, betrachtete sein faltiges Gesicht. „Das größte Abenteuer liegt nun vor dir, Heres Sohn des Hamis.“ Ohne den Ring gerät Mantaalan aus den Fugen!
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