Len Deighton
XPD
Das Hitler Protokoll
Inhaltsangabe Im Chaos der letzten Kriegstage, kurz vor dem endgültigen Zusa...
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Len Deighton
XPD
Das Hitler Protokoll
Inhaltsangabe Im Chaos der letzten Kriegstage, kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch, lagert die SS in aller Eile einen Großteil der Goldreserven des Dritten Reiches und bedeutende Wertgegenstände bei Merkers in die Kaiseroda-Mine. Brisantester Teil des Schatzes sind streng geheime persönliche Aufzeichnungen Hitlers. Ein Sonderkommando der vorrückenden US-Army birgt den Schatz und transportiert ihn am 15. April 1945 ihrem Befehl entsprechend nach Frankfurt. Trotz strengster Sicherheitsmaßnahmen verschwindet auf dem Weg zum Bestimmungsort ein Teil des Schatzes, darunter auch das Hitler-Protokoll. Im Mai 1979 trifft sich der Chef des britischen Geheimdien stes, Sir Sydney Ryden, mit der Premierministerin. Anlass der höchst vertraulichen Unterredung ist ein unscheinbares Inserat in einer kalifornischen Filmzeitschrift, in der ein Filmproduzent ankündigt, das Geheimnis des verschwundenen Schatzes und der verschollenen Papiere zu lüften. Dies würde England in eine sehr peinliche Lage bringen. Denn in dem Hitler-Protokoll soll Hitler private Aufzeichnungen eines geheimen Treffens mit Winston Churchill im Juni 1940 gesammelt haben, die dem Ruf des Engländers und dem Ansehen der Nation schweren Schaden zufügen könnten. Die Veröffentlichung dieser unheilvollen Papiere muß auf jeden Fall verhindert werden. Boyd Stuart, Top-Agent der Abteilung MI 6 des britischen Geheimdienstes, soll die Papiere be schaffen. Eine atemberaubende, gewalttätige, todbringende Hetzjagd beginnt. Denn nicht nur der englische, auch der russische Geheimdienst will das Protokoll um jeden Preis denen abjagen, die es 1945 gestohlen haben. Quer durch Europa und die USA laufen die Spuren der geheimnisvollen Papiere. Viele von denen, die mit ihnen in Berührung kommen, geraten in den brutalen, ver nichtenden Dschungel der gegnerischen Dienste, werden ›XPDiert‹, planvoll und erbarmungslos beseitigt. Sehr zweifelhaft schätzt Boyd Stuart seine Chancen ein, das Unternehmen auftragsge mäß zu einem Erfolg zu bringen, zumal er nicht sicher ist, ob nicht seine eigene Abteilung für die Bombe verantwortlich ist, der er nur knapp entrinnen kann. Denn auch er weiß zu viel, und das ist immer ein gewisses Risiko …
Sonderausgabe 1989 des Lingen Verlags, Köln
© 1981 by Len Deighton
© der deutschsprachigen Ausgabe 1982
by Hestia Verlag GmbH, Bayreuth
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln
und Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
»Der Zweite Weltkrieg hat letzten Endes nur einen Sieger, die Verei nigten Staaten; einen Helden, Großbritannien; und einen Bösewicht, Deutschland, hervorgebracht …« Hitler, von N. Stone
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I
m Mai 1979, wenige Tage nachdem die neue konservative Regierung in Großbritannien an die Macht gelangt war, wurde der gelbe Ka sten mit dem täglichen Bericht der Dienststelle MI 6 der Premiermini sterin von einem bevollmächtigten Sekretär im Büro des Kabinetts ausgehändigt. Er fungierte als Verbindungsglied zwischen der PM und dem Intelligence Service. Obgleich der Inhalt des gelben Kastens nie in ›Geheim‹, ›Streng ge heim‹ usw. eingeteilt wurde – alle MI-6-Dokumente stehen unter aller höchster Geheimhaltung –, war ein ziemlich hastig mit der Hand ge schriebener Bericht besonders gekennzeichnet. Die PM stellte mit ei niger Überraschung fest, dass es sich um die Handschrift Sir Sydney Rydens, des Generaldirektors der MI 6, handelte. Sie nahm sich dieses Dokument als erstes vor. Auf der linken oberen Ecke war ein Inserat aus einer kalifornischen Filmzeitschrift von vergangener Woche mit einer Heftklammer befestigt. Ein Filmproduzent, dessen Name in keinem Nachschlagewerk der Abteilung zu finden war, verkündete, dass er Vorbereitungen für ei nen – wie es im Inserat hieß – ›großen Film mit einem Budget von über 15 Millionen Dollar‹ treffe. Thema war eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg: die Plünderung deutscher Goldvorräte in den letz ten Kampftagen. Der Zeitungsausschnitt trug den Stempel ›Sachbear beiter 32: Recherchen‹ mit der Unterschrift des Beamten, der ihn ge funden hatte. »Worin liegt das wirkliche Geheimnis der KaiserodaMine?« fragte das Inserat. Kaiseroda war mit Rotstift unterstrichen, um jenes Wort zu bezeichnen, das den aufmerksamen Sachbearbeiter auf die mögliche Wichtigkeit des Inserates aufmerksam gemacht hat te. 1
Normalerweise hätte auf der für Referenzen vorgesehenen Stel le des Stempels eine Aktennummer stehen müssen; aber erstaunli cherweise hatte man den recherchierenden Beamten keine Akte un ter dem Kennwort ›Kaiseroda‹ angegeben. Es gab lediglich eine Karte mit der Aufschrift: »Nur für den Generaldirektor bestimmt. DRING LICH!« Die Premierministerin las sich die Notiz Sir Sydney Rydens aufmerk sam durch, mehr als einmal über dessen unleserliche Handschrift ver wirrt. Dann griff sie zum Telefon und verschob einige ihrer Termine für den heutigen Tag, um Ryden sofort empfangen zu können. Der an diesem Nachmittag im Vestibül von Downing Street 10 diensthabende ältere Polizeiwachtmeister erkannte den Mann, der Sir Sydney begleitete, als den Archivdirektor der Dokumentenzentrale des Foreign Office. Er war überrascht, ihn hier zu sehen – zu einer Zeit, da die PM vollauf mit ihrer Einrichtung beschäftigt war; machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Während des Amtsantritts einer neu gewählten Regierung gab es schließlich immer Überraschungen. Der Archivar des Foreign Office wohnte dem Gespräch zwischen der PM und Sir Sydney nicht bei, sondern blieb unten im Wartezimmer, falls man ihn brauchen sollte. Dieser Fall trat jedoch nicht ein. Es war die erste offizielle Begegnung zwischen der Premierministe rin und dem Chef des Spionagedienstes. Sie fand ihn ungewöhnlich schwierig im Umgang. Er war in seinem Betragen äußerst distanziert und von wahrhaft überwältigender Erscheinung: riesig groß, mit über trieben langem Haar und buschigen Augenbrauen. Nach Gesprächs schluss erhob sie sich, um anzudeuten, dass die Unterredung für sie beendet sei; aber Sir Sydney schien keinesfalls in Eile zu sein. »Ich bin ziemlich sicher, dass an diesen furchtbaren Behauptungen nichts Wah res ist, Frau Premierministerin«, sagte er. Er fragte sich, ob ›Madame‹ nicht eine passendere Anrede gewesen wäre, oder vielleicht ›Ma'am‹, wie man die Königin anspricht. Sie blick te ihn hart an, und er fühlte sich unbehaglich. Sir Sydney war kein Ge wohnheitsraucher, wie sein Vorgänger, fand aber jetzt, dass das strikte Rauchverbot der Premierministerin ihn störte. Er sehnte sich nach ei 2
ner Zigarette. In den alten Tagen mit Callaghan und vor ihm Wilson wurde in diesen Räumen immer sehr viel geraucht. »Das werden wir noch feststellen«, sagte die Premierministerin kurz angebunden. »Ich werde einen meiner Leute in den nächsten 24 Stunden nach Ka lifornien schicken.« »Und Sie werden die Amerikaner nicht informieren?« »Das wäre nicht klug, Frau Premierminister.« Er fuhr sich mit der Hand ans Ohr, schob sich einige wirre Haarsträhnen zurück. »Das ist auch ganz meine Meinung«, sagte sie. Sie nahm wieder den Zeitungsausschnitt vom Tisch. »Vorläufig brauchen wir nur eine klare und eindeutige Antwort von diesem Filmproduzenten.« »Das könnte recht schwierig sein, falls meine bisherigen Erfahrun gen mit Filmproduzenten aus Hollywood sich als zutreffend erweisen sollten.« Die PM blickte auf, um zu sehen, ob Sir Sydney einen Witz machte, auf den sie reagieren sollte. Sie beschloss, nicht zu lächeln. Sir Sydney schien nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein.
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D
ie genauen Einzelheiten darüber, wie die Geheimdienste der So wjetunion von den Tätigkeiten, die bei der britischen Premiermi nisterin so große Besorgnis erregten, unterrichtet wurden, sind schwer zu ermitteln und zusammenzustellen. Die Russen beschäftigten sich bereits seit vielen Wochen mit dieser Angelegenheit. Das war bestimmt auch die Ursache der langen zweiteiligen Funkmeldung, die in den frühen Abendstunden des Ostersonntags, 15. April 1979, an das Haupt gebäude der UdSSR-Botschaft auf der Eastside – 16. Straße in Was hington D.C. – ausgestrahlt wurde. Diese unerwartete Funksendung 3
beanspruchte die Hilfe des russischen Chiffrierbeamten, der mit russi schen Freunden beim Osterdiner in einem Privatzimmer des Pier-7 Restaurants am Kai der Maine Avenue in der Nähe des Capital Yacht Clubs saß. Er wurde dort von einem Wagen der Gesandtschaft abge holt. Das Funkgespräch wurde von der National Security Agency abge fangen und von ihrem Atlas-Computer in Fort George Meade, Ma ryland, entziffert. Dabei wurde zum ersten Mal der Codename, den Moskau dieser Operation gegeben hatte, bekannt: Unternehmen Po goni. Die 1962 von der GPU ausgegebenen schriftlichen Instruktionen, die später auch an das KGB und die Streitkräfte gingen, befehlen aus drücklich, dass nur solche Codenamen ausgewählt werden dürfen, die weder den Auftrag noch die Absichten, noch die Haltung der Regie rung erkennen lassen; außerdem enthalten sie die Mahnung, keine zu trivialen oder grandiosen Codenamen zu benutzen, die das Unterneh men, falls es fehlschlagen sollte, der Lächerlichkeit preisgeben könn ten. Und doch stellten die Übersetzer der NSA in ihrem ›rosa‹ Zusatz bericht fest, dass das von Moskau gewählte Codewort immerhin eini ges durchblicken ließ. Wörtlich heißt Pogoni Epaulette, aber für einen Bürger der Sowjetu nion hat es eine tiefere Bedeutung. Es wird nicht nur auf eine hohe Per sönlichkeit, auf einen ›Oberbonzen‹, angewandt, sondern es ist auch ein Symbol für die verhasste Reaktion. »Smert zolotopogonnikam!« hatten die Revolutionäre geschrien, »Tod den Männern mit den gol denen Epauletten«. Allerdings lassen sich die möglichen Andeutun gen in dieser Wahl des KGB-Codenamens nicht weiter als dahin ver folgen; denn heutzutage tragen hohe russische Offiziere, denen der ri valisierende Geheimdienst der UdSSR untersteht (die GPU), auch wie der Epauletten. Es ist nicht bekannt, wie Jurij Gretschko den dieses neue Unterneh men bezeichnenden Codenamen interpretierte. Gretschko – ein ho her KGB-Offizier – war zur Zeit der ›legale Resident‹ der UdSSR. Unter dem Deckmantel eines Diplomaten bestand seine Aufgabe darin, sich und Moskau über alle Tätigkeiten der sowjetischen Spionage in den 4
USA auf dem laufenden zu halten. An Rang nur dem Gesandten un terstellt, war Gretschko einzig und allein da, um für eine strikte Tren nung zwischen geheimen Unternehmungen, ›schmutzigen Tricks‹ und offiziellen diplomatischen Geschäften zu sorgen. Das machte es dem Gesandten leichter, jede Kenntnis derartiger Aktivitäten, falls sie von den US-Behörden entdeckt wurden, abzuleugnen. Gretschko figurierte auf der diplomatischen Liste als Marinekapitän dritten Ranges und Assistent des Marineattachés. Er war ein kleiner Mann mit schuppigem Lockenhaar, blauen, leuchtenden Augen und einem großen Mund. Das einzig Auffallende an ihm war ein golde ner Schneidezahn, der beim Lächeln aufblitzte. Aber er lächelte nicht oft genug, um sich bei seinen geheimen Tätigkeiten damit bloßzustel len. Gretschko stand als Beispiel für die russische Neigung zur Melan cholie. Gretschkos diplomatischer Rang ließ sich mit seiner Erscheinung und seinem Lebensstil allerdings schwer in Einklang bringen. Teu re Maßanzüge, eine goldene Uhr, die Perlenkrawattennadel, das dik ke Bündel Geldscheine in der Gesäßtasche, seine Liebe zu Sportwagen und unregelmäßigen Arbeitsstunden deuteten allen jenen in Washing ton, die sich mit derartigen Einzelheiten befassen, an, dass Gretsch ko zum KGB gehörte – aber bisher wusste noch niemand, dass er der ›legale Resident‹, der leitende Spionagebeamte auf der Gesandtschaft war. Da Gretschkos Bewegungsfreiheit beschränkt war, ließ er seinen obersten Geheimagenten nach Washington kommen. Das wider sprach zwar den Gepflogenheiten, aber seine Funkinstruktionen hat ten auf die Dringlichkeit des Unternehmens hingewiesen. Deshalb un ternahm Gretschko an diesem Morgen einen Ausflug zum Botani schen Garten am anderen Ufer des Anacostia River. Er nahm sich Zeit, überzeugte sich, dass man ihm nicht folgte, als er wieder in die unte re Stadt zurückkehrte, um sich zu seiner Verabredung im prunkvollen Hay-Adams-Hotel zu begeben. Von hier bot sich ein Ausblick auf den Lafayette Square und das Weiße Haus. Mr. und Mrs. Edward Parker trafen sich mit Gretschko am Hote 5
leingang auf der 16. Straße. Gretschko hatte einen Tisch auf den Na men Green reserviert. Edward Parker war ein untersetzter, bärenhaf ter Mann mit slawischen Zügen, eckigem Kinn, gewelltem weißgrau em Haar und buschigen Brauen. Er überragte seine japanische Frau und Gretschko, dessen Hand er mit lächelnder Entschlossenheit schüt telte. Parker hatte sich auf Chicagoer Wetter vorbereitet und trug ei nen schweren Tweed-Mantel, obgleich die Temperatur in Washington an diesem Tage über 25 Grad betrug und die Sonne schien. Gretschko gab Fusako Parker einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lächelte kurz. Sie war Mitte Dreißig; eine schöne Frau, die das Be ste aus ihrem makellosen Teint und ihrem orientalischen Puppenge sicht zu machen verstand. Sie trug ein vorn von oben bis unten zuge knöpftes beigefarbenes Wollkleid und, in Kragenhöhe, eine große gol dene Brosche in Form einer Chrysantheme. Ein zufälliger Beobachter hätte die drei Leute beim Mittagessen in ihrer konservativen Kleidung für typische Gesandtschaftsbeamte gehalten, von denen es in den gu ten Restaurants Washingtons nur so wimmelt. Parker fungierte als Importeur billiger Transistorradios in Einzel teilen, die zum größten Teil in Taiwan, Korea und Singapur herge stellt wurden, wo die Arbeitskräfte geschult und geschickt waren, je doch nicht das Glück hatten, die in Amerika und Europa üblichen ho hen Löhne beanspruchen zu dürfen. In dieser Rolle reiste Parker in den Staaten und in Europa frei herum. Es war die ideale Tarnung für den sowjetischen ›illegalen Residenten‹. Parker galt als Meisterspion für russische Operationen in Amerika – mit Ausnahme gewisser be sonderer Unternehmungen, die unter der Kontrolle der Gesandtschaft in Washington und des weit verzweigten ›Interbloc‹-Netzes standen. Dessen Zentrale lag bei den Vereinten Nationen in New York City. Es war 14.20 Uhr, als Gretschko seinen Käsekuchen aufgegessen hat te. Sie bestellten Kaffee und Cognac. Mrs. Parker bat die Herren, sie zu entschuldigen, da sie vor ihrer Rückkehr nach Chicago noch eini ge Einkäufe zu erledigen hatte. Gretschko und Parker ließen sie gehen: ihr geschäftliches Gespräch begann. Parker wurde vor fast zwölf Jahren in Nordamerika eingesetzt. Sein 6
Englisch war mehr oder weniger fehlerlos, und er hatte sich die rau en und herzlichen Manieren des erfolgreichen amerikanischen Ge schäftsmannes mühelos angeeignet. Und doch war er als Staatsbürger der UdSSR geboren und hatte drei Jahre lang in der Abteilung Wissen schaft und Technik des Direktoriums des KGB gearbeitet, bevor man ihn in die USA schickte. Jetzt hörte er Gretschko aufmerksam zu, der leise auf russisch zu ihm sprach und ihm erklärte, dass man das Unter nehmen Pogoni als erstrangig betrachte. Parker wurde ermächtigt, je den beliebigen seiner schlafenden Agenten in den Aktivdienst zu stel len. Eine solche Entschlussfreiheit wurde Parker seit seinem Einsatz in Amerika bisher nur fünfmal erteilt. Die Residenten in Bonn, Paris und London hatten ähnliche Vollmachten erhalten. Gretschko vertraute ihm außerdem an, das Direktorium habe der ›Sektion 13‹ die Kontrolle übergeben. Beide Männer wussten, was das bedeutete. Diese seit 1969 in ›Aktionsvollzugsabteilung‹ umbenann te Dienststelle, die die Alterfahrenen immer noch ›Sektion 13 des Di rektoriums des KGB‹ nennen, befasst sich mit den so genannten ›nas sen Geschäften‹ (mokrie delà), was von Erpressung durch Folterung bis hin zum Mord so ungefähr alles einschließt. Die Sektion wurde zu dieser Zeit von dem legendären Stanislaw Schumuk geleitet, einem in der Verwaltungsbehörde der Kommunistischen Partei, der das KGB in Wirklichkeit untersteht, sehr hoch angesehenen Mann. Schumuk stand in dem Ruf, bis zum Äußersten zu gehen, um Resultate zu er zielen. Parker antwortete nicht. Gretschko nippte an seinem schwarzen Kaffee. Es war überflüssig, darauf hinzuweisen, dass ein Fehlschlag für beide sehr unangenehme Folgen nach sich ziehen könnte. Jetzt setzten sie ihr Gespräch auf englisch fort und unterhielten sich lang und breit über technische Probleme, die Parker mit dem Wagen sei ner Frau, der noch unter Garantie lief, plagten. Parker bemerkte – und dies nicht zum ersten Mal –, dass Gretschko eine ziemlich erbärmliche Art Mann war. Das widersprach den Geschichten, die er über ihn ge hört hatte, und Parker fragte sich, warum Gretschko sich nur ihm ge genüber so mutlos und verzagt zeigte. 7
Mr. und Mrs. Parker flogen noch am gleichen Abend nach Chica go zurück. Jurij Gretschko begab sich zu einer Verabredung mit seiner Freundin, einer Russin, die bei der Handelsdelegation arbeitete. In den frühen Stunden des folgenden Morgens hörte man ihn im Motel jen seits der Staatsgrenze von Virginia, wo sie die Nacht verbracht hatte, laut mit ihr streiten. Gretschko hatte schwer getrunken.
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T
rotz seiner aalglatten Versicherungen gegenüber der Premiermi nisterin entsandte der Generaldirektor der MI 6 nicht sofort einen Agenten nach Kalifornien. Die Ursache dieses Aufschubs ergab sich aus einem Gespräch, das der GD mit seiner Tochter Jennifer geführt hatte. Sie hatte einen Kandidaten für ein Unternehmen jenseits des At lantiks: ihren Ehemann. »Boyd geht mir auf die Nerven«, sagte sie zu ihrem Vater. »Nicht alle unsere Freunde wissen, dass wir in Trennung leben, und ich fin de es entsetzlich, ihm auf Dinnerpartys bei Tisch gegenübersitzen zu müssen. Könntest du ihm nicht irgendeinen Job am anderen Ende der Welt geben?« Sie umarmte ihren Vater. »Nur bis die Scheidung vor über ist.« Der GD nickte. Er hätte nie einwilligen sollen, dass sie einen Mann aus seiner Abteilung heiratete, besonders einen so bodenlos ungezoge nen jungen Mann. Es wäre besser gewesen, die Liebesaffäre einfach ih ren Lauf nehmen zu lassen; aber Sir Sydney hatte auf einer Heirat be standen. Nun mußten sie die bedauerlichen Folgen tragen. »Er ist doch auf der Wiedereinsatzliste, Daddy«, redete sie ihm zu. Boyd Stuart, ein 38jähriger Agent im Außendienst, hatte gerade sein obligatorisches Dienstjahr in der Verwaltung, das ihm eine kleine Ge haltserhöhung einbrachte, abgeschlossen, bevor er in den Außendienst 8
zurückkehrte. Derartige Agenten, die man zwölf Monate lang in Lon don mit Schreibtischarbeiten beschäftigt, machen sich bei den dort festangestellten Beamten selten beliebt. Sie sind meist hastig, vereinfa chen alles und lassen es in den Einzelheiten und mit der Aktenarbeit an Sorgfalt mangeln. Dieser Liste schlechter Eigenschaften hatte Boyd Stuart noch die Sünde der Arroganz hinzugefügt. Seine zwölf Jahre Außendienst hatten ihn daran gewöhnt, sich mit Ungeduld über die Prioritäten der Londoner Beamten hinwegzusetzen. »Ich hätte da eine Sache, die er in Kalifornien für uns erledigen könn te«, sagte der GD. »Oh, Daddy. Du weißt ja gar nicht, wie herrlich das wäre. Nicht nur für mich«, fügte sie eilig hinzu. »Auch für Boyd. Du weißt, wie sehr ihm das Büro zuwider ist.« Das wusste der GD allerdings genau. Sein Schwiegersohn hatte oft genug auf Dinnerpartys die Gelegenheit wahrgenommen, um ihm zu erklären, dass er den Außendienst vorzöge. Der GD hatte jedoch nichts getan, weil er fand, dass es sehr schlecht aussehen würde, wenn er sich für einen nahen Verwandten einsetzte. »Es ist auch sehr dringlich«, sagte der GD. »Wir müssen ihn späte stens am Wochenende drüben haben.« Jennifer küßte ihren Vater. »Du bist ein Schatz«, sagte sie. »Boyd kennt Kalifornien. Er hat ein Austauschjahr auf der UCLA (University of California at Los Angeles) verbracht.«
Boyd Stuart war ein gutaussehender, braungebrannter Mann, dessen Erscheinung – wie auch sein ausgezeichnetes Deutsch, Polnisch und fließendes Ungarisch – es ihm gestattete, sich als Einwohner praktisch jedes mitteleuropäischen Landes auszugeben. Stuart kam als Sohn ei nes Schotten und einer Polin während des Krieges in einem Internie rungslager für Zivilisten im Rheinland zur Welt. Nach dem Krieg be suchte er Schulen in Deutschland, Schottland und der Schweiz, bevor er nach Cambridge ging. Dort war er dank seiner guten Zeugnisse, sei 9
ner sportlichen und sprachlichen Begabung den Anwerbern für den britischen Geheimdienst aufgefallen. »Sie sagen, es gäbe keine Akte, Sir Sydney?« Stuart war seit jener un vergesslichen Nacht, als er den schrecklichen Streit mit Jennifer hatte, seinem Schwiegervater nie mehr persönlich begegnet. Sir Sydney Ry den war um vier Uhr morgens gekommen und hatte sie ins elterliche Haus zurückgebracht. Stuart trug eine ziemlich verbeulte graue Flanellhose und einen blau en Blazer, an dem ein Knopf fehlte. Es war nicht gerade die Kleidung, die er sich für diese Begegnung ausgewählt hätte; aber jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Es war ihm nicht entgangen, dass der GD über die Nachlässigkeit seines Aussehens auch nicht gerade begeistert war, und er zupfte verlegen an den Fäden seines abgerissenen Knop fes. »Das entspricht einer vorsätzlichen Politik«, sagte der GD. »Ich kann nicht genug betonen, wie heikel diese Angelegenheit ist.« Der GD schenkte ihm eines seiner freudlosen Lächeln. Diese Manie, das bloße Zähnezeigen, war eine atavistische Warnung, nicht weiter in geheilig tes Gebiet einzudringen. Der GD starrte in sein Whiskyglas, trank es dann plötzlich leer. Brüske Bewegungen und lange Perioden absoluter Reglosigkeit gehörten zu seiner Art. Ryden war weit über einen Meter achtzig groß und trug mit Vorliebe schwarze Anzüge, die ihm mit sei nem zerfurchten, bleichen Gesicht und dem üppigen, langen Haar das Aussehen eines Poeten viktorianischer Romanzen verliehen. Es fehlt ihm eigentlich nur noch das lange schwarze Cape, und er könnte auf der Bühne als Graf Dracula auftreten, fand Stuart und fragte sich, ob der GD mit Absicht ein so bedrohliches Aussehen pflegte. Ohne weitere Einführung erzählte der GD Stuart die Geschich te noch einmal, verkürzte sie jedoch auf die wesentlichen Elemen te. »Am 8. April 1945 waren Einheiten der 90. Division der 3. Armee der Vereinigten Staaten unter General Patton tief in deutsches Gebiet eingedrungen. Als sie die kleine Stadt Merkers im westlichen Thü ringen erreichten, schickten sie eine Infanterieeinheit in die Salzmi ne von Kaiseroda. Die Soldaten durchsuchten etwa 50 Kilometer Mi 10
nenschächte. Sie fanden eine kürzlich installierte Stahltür. Als sie sie durchbrachen, entdeckten sie Gold. Vier Fünftel der Goldreserven der Nazis waren dort untergebracht, ebenfalls zwei Millionen oder noch mehr der allerseltensten Bücher aus Berliner Bibliotheken. Die vollständige Goethe-Sammlung aus Weimar sowie Gemälde und Sti che aus allen europäischen Ländern. Es würde länger als eine hal be Stunde dauern, die Liste durchzulesen. Ich werde Ihnen eine Ab schrift besorgen.« Stuart nickte, sagte jedoch nichts. Es war am späten Nachmittag. Das Sonnenlicht warf Muster auf den Teppich, die sich langsam der Rück wand zubewegten und schließlich verschwanden, als es dunkler wur de. Der GD trat an die Bibliothek und schaltete die großen Tischlam pen ein. An den getäfelten Wänden hingen Bilder berühmter Renn pferde aus längst vergangenen Zeiten; aber unter dem Staub waren die Stiche derart verblasst, dass die stolzen Tiere sich in einem Nebel schleier mühsam heimzuschleppen schienen. »Wieviel Gold war damals vier Fünftel der deutschen Reserven?« fragte Stuart. Der GD schniefte, fuhr sich mit einem Finger hinter das Ohr, schob eine Haarsträhne zurück. »Einer Schätzung nach etwa 300 Millionen Dollar in Goldwert. Über 8.000 Goldbarren.« Der GD hielt inne. »Aber das war nur das ungemünzte Metall. Zusätzlich gab es noch 3.436 Säk ke mit Goldmünzen, von denen viele Seltenheitswert hatten – Mün zen, die ein Vielfaches ihres Gewichtes wert waren.« Stuart blickte auf, sah, dass eine Reaktion von ihm erwartet wurde, und sagte: »Phantastisch, Sir.« Er nahm einen Schluck Whisky. Hier oben, im Büro des GD und im obersten Stockwerk des ›Zikkurats‹, je nes seltsamen, stufenförmigen, pyramidenhaften Gebäudes, das dem Westminster-Palast gegenüber an der Themse liegt, gab es immer den allerbesten Malt Whisky. Die Holztäfelung, die Bilder und die antiken Möbel zeugten von der Bemühung, die Atmosphäre von Eleganz zu er halten, die der Geheimdienst einst in den schönen alten Häusern in St. James genossen hatte. Aber dieses Gebäude war aus Stahl und Beton, billig und praktisch, mit Rostflecken auf der Fassade und Mauerrissen 11
im Keller. Eine ähnliche Beschreibung würde wohl auch auf den Ge heimdienst zutreffen. »Die amerikanischen Offiziere meldeten ihren Fund durch die üb lichen Kanäle«, fuhr der GD fort. »Patton und Eisenhower sahen ihn sich am 12. April an. Die Armee transportierte alles nach Frankfurt. Sie fuhren mit Jeeps und Anhängern in die Mine hinunter und schaff ten es heraus. Tüchtige Leute, diese Amerikaner, Stuart.« Er lächelte und blickte Stuart direkt in die Augen. »Es bedurfte etwa 48 Stunden fortwährender Arbeit, um die Wert gegenstände aufzuladen. Es gab noch 30 Kisten mit deutschen Patent amtsakten – die ein königliches Lösegeld wert sind – und 2.000 Kisten mit Drucken, Zeichnungen und Kupferstichen sowie 140 Rollen Ori entteppiche. Sehen Sie die Schwierigkeiten, Stuart?« »Gewiß, Sir.« Er rührte den letzten Schluck im Glase um, bevor er ihn trank. Der GD schien nicht bemerkt zu haben, dass sein Glas leer war. »Zwei Tage nach Eisenhowers Besuch bekamen sie Befehl, mit dem Beladen der Lastwagen zu beginnen. Die einfachste Methode war es, alles, was auf den deutschen Inventarzetteln stand, in die Listen ein zutragen. Das System sollte sich allerdings als sehr unzulänglich er weisen.« »Falls etwas gestohlen wurde, gab es keine Möglichkeit, sich zu versi chern, ob das deutsche Inventar wirklich vollständig war.« Der GD nickte. »Können Sie sich das Chaos vorstellen, das gegen Kriegsende in Deutschland herrschte?« »Nein, Sir.« »Richtig, Stuart. Sie können es sich nicht vorstellen. Gott weiß, wel che Schwierigkeiten die Deutschen hatten, alle ihre Wertsachen in die sen Tagen des Zusammenbruchs wegzuschaffen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass die Versuchung einzelner Deutscher, alles zu riskie ren, um sich einige dieser Sachen anzueignen, nie hätte größer sein können. Vielleicht sind nur die Deutschen imstande, einen so wertvol len Transport unter derartigen Umständen durchzuführen, ohne dass etwas abhanden kommt. Als Volk besitzen sie eine Selbstdisziplin, die man nur bewundern kann.« 12
»Jawohl, Sir.« »Sowie die Amerikaner die Mine besetzten, wurde ihr Inhalt auf dem Landwege nach Frankfurt geschafft und dort im Gebäude der Reichsbank eingelagert. Eine Sondergruppe des State Department wurde über Nacht anbeordert, in Uniformen gesteckt und von Was hington nach Frankfurt geflogen. Sie kämmten das gesamte Material nach kompromittierenden Akten oder geheimen diplomatischen Kor respondenzen durch, die von Interesse für die Regierung der Verei nigten Staaten sein oder sie in Verlegenheit bringen könnten, falls sie an die Öffentlichkeit gelangten. Danach wurde alles der Interalliierten Reparationsbehörde übergeben.« »Und gab es derartiges Geheimmaterial?« »Lassen Sie mich Ihnen noch einen Drink einschenken, Stuart. Sie mögen diesen Malt Whisky, nicht wahr? Mit Wasser dieses Mal?« »Pur, wenn ich bitten darf, Sir.« Der GD wandte ihm abermals sein zähnebleckendes Grinsen zu. »Natürlich gab es Geheimmaterial. Allein die Korrespondenz zwi schen dem deutschen Gesandten in London und seinen Herren in Ber lin in den 30er Jahren hätte hier in Whitehall einige Köpfe zum Errö ten gebracht – ganz zu schweigen von den roten Gesichtern im West minster-Palast. Es gab genug Indiskretionen, die einige unserer Politi ker 1940 hinter Gitter gebracht hätten – all die Parlamentsmitglieder, die den Leuten der deutschen Gesandtschaft erzählten, was für ein fei ner Kerl doch dieser Adolf Hitler sei.« Der GD goss beiden ein. Er benutzte frische Kristallgläser. »Gefällt Ihnen diese Tür nicht, Stuart?« »Doch, sie ist herrlich«, sagte Stuart und bewunderte die alte Holztä felung. »Und der achteckige Eichentisch dort muß frühes 17. Jahrhun dert sein.« Der GD seufzte innerlich. Das war nicht die Art Bemerkung, die man macht, wenn man etwas auf sich hält. Ryden war in dem Glauben erzo gen worden, dass ein Gentleman spezifische Hinweise auf das, was ei nem anderen gehört, zu unterlassen hat. Er hatte Boyd schon immer ver dächtigt, künstlerisch veranlagt zu sein – ein Wort, das der GD auf einen 13
weiten Kreis von Menschen anwandte, gegen deren Aufnahme in seinem Klub er zu stimmen pflegte und die er gesellschaftlich mied. »Kein Eis? Kein Soda? Einfach pur?« fragte der GD, ließ sich dabei jedoch wieder in den Sessel sinken, um zu zeigen, dass die Frage reine Höflichkeit war. Stuart schüttelte den Kopf und hob das Glas an die Lippen. »Nein, natürlich nicht«, stimmte ihm der GD zu. »Ein Mann mit dem guten schottischen Namen Boyd Stuart kann es sich nicht erlau ben, einen Highland Malt zu verwässern.« »Nicht in Gegenwart eines Sassenachs«, sagte der Schotte Stuart und nannte den Engländer damit beim Spitznamen. »Was ist das? Ach ja, ich sehe«, sagte der GD und fuhr sich über das Haar. Stuart bemerkte, dass sein Schwiegervater das Haar so lang trug, um ein Hörgerät zu verbergen. Ein überraschendes Zeichen von Eitel keit bei einem so gesetzten Menschen, stellte Stuart mit Interesse fest. »Oxford, Stuart?« Stuart blickte ihn einen Augenblick an, bevor er antwortete. Ein Mann, der sich in allen Einzelheiten an die Funde in der KaiserodaMine zu erinnern vermag, hat bestimmt nicht vergessen, welche Uni versität sein Schwiegersohn besucht hat. »Cambridge, Sir. Trinity. Ma thematik.« Der GD schloss die Augen. Sehr bedenklich, was für eine Art von Leuten der Intelligence Service heutzutage rekrutiert. Bald werden sie auch Soziologen aufnehmen. Das erinnerte ihn an einen Witz, den er beim Lunch in seinem Klub gehört hatte. Ein Kandidat für eine Beam tenstelle reicht offizielle Beschwerde ein: Er wurde nicht befördert, weil er vor der Auswahljury des öffentlichen Dienstes zugegeben hatte, So zialist zu sein. Der Vorsitzende des Ausschusses hatte sein Bedauern ausgesprochen und sich damit entschuldigt, er habe angenommen, der Kandidat habe Soziologe gesagt. Boyd Stuart nippte an seinem Whisky. Er hegte keine starke Abnei gung gegen seinen Schwiegervater, der im Grunde genommen auf sei ne Art ein anständiger alter Kerl war. Und wenn Ryden seine Toch ter derart vergötterte, dass er ihre Fehler nicht sah, so war das ein sehr menschliches Versagen. 14
»War es Jennifers Idee?« fragte ihn Stuart. »War es ihre Idee, mich nach Kalifornien zu schicken?« »Wir brauchten jemanden, der sich im Filmgeschäft auskennt«, sagte Sir Sydney. »Und da haben wir sofort an Sie gedacht.« »Sie meinen, wenn es sich um Bankgeschäfte gehandelt hätte, um Backgammon oder um die Gardebrigade«, sagte Stuart, »wäre ich im Gedränge niedergetrampelt worden.« Der GD nahm den Witz lächelnd zur Kenntnis. »Ich erinnerte mich, dass Sie an der UCLA studierten.« »Aber es war Jennifers Idee?« Der GD zögerte lieber, als eine offene Lüge auszusprechen. »Jennifer meint, es wäre besser – unter diesen Umständen.« Stuart lächelte. Er erkannte die Machenschaften seiner Frau. »Auf dem Trinity College hätten Sie wohl nicht gedacht, dass Sie ein mal in diesem Geschäft sein würden, was, Stuart?« sagte der GD, um das Thema zu wechseln. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Sir, ich hoffte, ein Tennisprofi zu werden.« Der GD übergab sich fast. Er hatte das schreckliche Gefühl, dass die ses Unternehmen sein größter Reinfall werden würde. Wie entsetz lich, wenn er mit einem denkwürdigen Fiasko in den Ruhestand tre ten müßte. Seine Frau hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er sich ei nen Adelstitel verschaffte. Sie hatte sich sogar bereits einen Titel ausge dacht. Lord und Lady Rockhampton. Das war eine Stadt in Australien, in der ihr Vater geboren wurde. Sir Sydney hatte ihr versprochen, sich zu erkundigen, ob dieser Titel nicht schon von jemand anderem bean sprucht wurde. Er hoffte sehr, es sei der Fall. »Ach ja. Tennis ist ein faszinierendes Spiel«, sagte der GD. Mein Gott. Und diesem Mann müßte er von den ›Hitler-Protokollen‹ erzäh len, von dem gefährlichsten Geheimnis des Krieges. Dieser Kerl sollte den Ruf Winston Churchills beschützen. »Die Lastwagenkolonne verließ Merkers am 15. April 1945 auf dem Wege nach Frankfurt«, fuhr der GD mit seiner Geschichte fort. »Wir glauben, dass drei oder sogar vier Lastwagen auf der Straße nach 15
Frankfurt verschwunden sind. Die Wertgegenstände und die Geheim dokumente, die sie transportierten, wurden nie wieder gefunden. Die US Army hat den Verlust der Lastwagen offiziell nie zugegeben, doch inoffiziell verlautbaren lassen, dass es drei gewesen seien.« »Und Sie glauben, dass diese Filmgesellschaft in Kalifornien jetzt im Besitz der Dokumente ist?« Der GD trat ans Fenster, blickte auf die Kakteen, die auf dem Fen sterbrett standen, um ein Maximum an Licht zu genießen. Er nahm einen Topf auf und betrachtete ihn versonnen. »Stuart, ich kann Ih nen ganz kategorisch versichern, dass es sich um Fälschungen handelt. Märchen, Mythologie.« Er setzte sich, hielt immer noch den Kakteen topf, betastete die Erde. »Ist es etwas, das der Regierung peinlich werden könnte?« Der GD schniefte. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er es ihm endlich beigebracht hatte. »Ja, Stuart, das ist es.« Er stellte den Kaktus auf den Kaffeetisch und griff nach seinem Glas. »Sollen wir versuchen, die Gesellschaft an der Herstellung eines Films über die Kaiseroda-Mine und ihre Schätze zu hindern?« frag te Stuart. »Der Film ist mir völlig gleichgültig«, sagte der GD. Er fuhr sich ner vös über das Haar. »Aber ich will wissen, zu welchen Dokumenten er Zugang hat.« Er nahm einen Schluck Whisky und blickte auf die Ka minuhr. Er hatte noch eine weitere Verabredung, und die Zeit dräng te. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was genau ich suchen soll«, sagte Stuart. Der GD stand auf. Es war das Zeichen, dass Stuart gehen sollte. Im Halbdunkel, als die Tischlampe sein zerfurchtes Gesicht von unten an strahlte, seine schwarze Silhouette sich gegen die untergehende Sonne abhob, sah Ryden satanisch aus. »Sie werden es wissen, wenn Sie es se hen. Wir bleiben durch unsere Kontrollstelle in Kalifornien mit Ihnen in Kontakt. Viel Glück, mein Junge.« »Danke, Sir.« Stuart erhob sich auch. »Waren Sie schon auf der Dienststelle? Haben Sie alle Verhaltens 16
maßnahmen besprochen? Was das Geld anbetrifft, so wird es telegra phisch an die First Los Angeles Bank in Century City überwiesen.« Der GD lächelte. »Jennifer erzählte mir, Sie erwarten sie morgen zum Lunch.« »Sie will sich ein paar Sachen aus der Wohnung holen«, erklärte Stu art. »Fliegen Sie so bald wie möglich nach Kalifornien ab, Stuart.« »Ich habe nur noch ein paar persönliche Dinge zu erledigen«, sag te Stuart, »meine Ferienreservierung rückgängig zu machen und die Milch abzubestellen.« Der GD schaute wieder auf die Uhr. »Wir haben Leute in der Abtei lung, die sich um solche Kleinigkeiten kümmern, Stuart. Wegen ein paar Flaschen Milch können wir das Programm nicht verschieben.«
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ir haben Leute in der Abteilung, die sich um solche Kleinigkei ten kümmern, Stuart«, ahmte Boyd Stuart höchst komisch die Stimme des GD nach. Kitty King, Boyd Stuarts gegenwärtige Freundin, kicherte und drück te ihn fester an sich. »Und was hast du darauf gesagt, mein Schatz?« »Aber nicht um diese süße hübsche Kleinigkeit, habe ich gesagt. Es gibt immerhin Dinge, die mir heilig sind.« Er klopfte ihr auf den Popo. »Dummes Zeug. Was hast du wirklich gesagt?« »Ich habe den Mund aufgemacht und seinen Whisky hineingegos sen. Als ich fertig war, verschwand er in der Versenkung wie der Dä monenkönig in der Pantomime.« Er küsste sie wieder. »Ich fliege nach Los Angeles.« Sie wand sich aus seiner Umarmung. »Darüber weiß ich bereits al 17
les«, sagte sie. »Wer, glaubst du, hat heute Nachmittag deine Anwei sungen getippt?« Sie war die Sekretärin des amtierenden Direktors im Operations Department (Region 3). »Wirst du mir auch treu bleiben, während ich fort bin?« fragte Stuart, aber nur halb im Scherz. »Ich werde mir jeden Abend das Haar waschen und früh mit Keats und heißer Schokolade ins Bett gehen.« Ein sehr unwahrscheinliches Versprechen. Kitty war eine junge, voll busige Blondine, die auf Männer jeden Alters ebenso anziehend wirk te wie ein Picknick auf Wespen. Sie blickte auf, sah Stuarts skeptischen Blick und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich bin ein Kind der sexuellen Revolution, liebster Boyd. Hast du im Playboy nicht dar über gelesen?« »Ich lese nie den Playboy. Ich schau mir nur die Bilder an. Komm, ge hen wir zu Bett.« »Ich habe dir gebratene Auberginen in Soße gemacht, wie du sie gern hast.« Kitty King war überzeugte Vegetarierin; schlimmer noch, sie wollte auch jeden dazu bekehren. Ein Bürokollege hatte einmal be merkt, als er sie im Bikini sah: »Unglaublich, wenn man bedenkt, dass das alles aus Obst und Nüssen besteht.« Kitty wiederholte: »Das magst du doch, nicht wahr?« »Gehen wir ins Bett«, sagte Stuart. »Ich muß zuerst den Backofen abstellen, sonst brennt mir mein Ki chererbsenauflauf an.« Sie trat langsam von ihm zurück. Trotz des Altersunterschieds fand sie ihn beunruhigend attraktiv. Bis jetzt hatte sie ihre Beziehungen mit Männern stets fest im Griff gehabt, aber Boyd Stuart machte sie unsi cher, trotz seiner eher ängstlichen Bemerkungen. Sie war überrascht und verwirrt, dass dieses Verhältnis ihr soviel bedeutete. Sie blickte ihn an, und er lächelte. Er war ein gutaussehender Mann; das breite und etwas faltige Gesicht mit dem einen leicht heruntergezo genen Mundwinkel konnte sich plötzlich verwandeln, wenn er sein un widerstehliches Lächeln aufsetzte. Und sein Lachen war ansteckend. »Dein Kichererbsenauflauf?« sagte Boyd Stuart. »Den wollen wir 18
nicht anbrennen lassen, mein Schatz.« Er brach in dröhnendes Ge lächter aus, und sie mußte mit ihm lachen. Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie bemerkte, dass der Handrücken voller Narben und das Daumengelenk verbogen war. Sie hatte ihn einmal danach gefragt, er aber hatte mit irgendeinem Witz darauf geantwortet. Es gab immer irgendwo eine Grenze, und die Männer, die draußen gearbeitet hat ten, waren sich in dieser Beziehung alle gleich. Es gab keine Möglich keit, sie wirklich zu kennen. Stets stieß man auf ein Schild ›Eintritt verboten!‹. Immer war ein Teil ihres Wesens auf der Hut und hell wach. Und Kitty King war Frau genug, um einen Mann ganz für sich haben zu wollen. Boyd Stuart stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Es war in vieler Hinsicht der beste Teil der Wohnung: geräumig und hell wie so vie le jener bunt zusammengewürfelten viktorianischen Häuser in der Nähe des Flusses, auf der weniger eleganten Seite der Victoria Stati on. Deshalb stand sein Schreibtisch am Schlafzimmerfenster, in einer Ecke, die Kitty King mit übertriebener Ehrfurcht ›das Arbeitszimmer‹ nannte. »Kitty!« rief er. Sie kam ins Schlafzimmer, lehnte sich an die Tür und lächelte, als die Klinke einschnappte. »Kitty, das Schloss an meinem Schreibtisch ist aufgebrochen.« Er öff nete die mit Walnussholz eingelegte Vordertür des antiken Pults. Das Schloss war herausgerissen, und man sah tiefe Kratzer im polierten Holz. »Du bist doch hier nicht eingebrochen, Kitty?« »Natürlich nicht, Boyd. Deine alten Liebesbriefe interessieren mich nicht.« »Es ist gar nicht komisch, Kitty. Ich habe hier streng vertrauliche Pa piere verwahrt.« Er kramte bereits in den Schubladen und Abstellflä chen herum, fand sein Flugbillett, seinen Pass, den Brief an die Bank, ein paar Kontaktadressen und das alte Foto eines Mannes namens Bernard Lustig, das aus einer Filmfachzeitschrift ausgeschnitten war. Er fand auch den Zeitungsausschnitt, den die Abteilung ihm gegeben hatte: 19
»Eine vollbezahlte Reise in die Filmhauptstadt der Welt mit Unter kunft im Beverly-Hills-Luxushotel. Veteranen der 3. Armee der Vereinigten Staaten und der ihr ange schlossenen Einheiten, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrie ges am Transport des Materials aus dem Kaiseroda-Salzbergwerk in Merkers, Thüringen, Deutschland, beteiligt waren, werden von der B. Lustig Productions Inc. dringend gesucht. Die Gesellschaft bereitet ei nen großen Film über diese historische Episode vor. Die Veteranen werden gebeten, alle Einzelheiten an die Zeitungsredaktion, Postfach 2188, zu senden. Fotografien und Dokumente werden streng vertrau lich behandelt und dem Absender per Einschreiben zurückgesandt.« Kitty King sah ihm bei der Suche zu. »Es fehlt nichts«, sagte Stuart. »Hast du die Tür offengelassen, als du zu den Abfallkübeln hinuntergingst?« »Es war niemand auf der Treppe«, sagte sie. »Er hat oben gewartet«, sagte Stuart. »Ich wette, es ist derselbe Junge, der die Einbrüche in den anderen Wohnungen verübt hat.« »Wirst du bei der Abteilung anrufen?« »Es fehlt ja nichts. Und an der Wohnungstür sind keine Spuren eines gewaltsamen Öffnens.« »Deine Reisepapiere waren da, nicht wahr?« Er nickte. »Dann mußt du es schon am letzten Sonntag gewußt haben, als du den Flugschein und die anderen Sachen hier verschlossen hast.« Es lag ein Anflug von Vorwurf in ihrer Stimme. »Ich war nicht sicher, bis ich heute den GD sah.« »Ich wollte, du hättest es vorher mit mir besprochen, Boyd.« Er blick te erstaunt auf. Das war eine neue Seite Kitty Kings. Bisher hatte sie ihre Beziehung stets nur als ein vorübergehendes ›Verhältnis‹ bezeich net. Sie war eine Karrierefrau und hatte sich dank ihres guten Studie nabschlusses auf der London School of Economies und ihres Ehrgei zes, leitende Sekretärin zu werden, immer an der Spitze der Rangliste ihrer Behörde gehalten. Stuart sagte: »Wenn ich den Beamten vom Nachtdienst anrufe, rük 20
ken sie uns alle auf die Bude. Du weißt, was für einen Wirbel sie ma chen werden. Dann können wir die ganze Nacht Berichte schreiben.« »Wie du willst, Liebster.« »Wahrscheinlich ein Junge, der nach Bargeld suchte. Als er nur die ses Zeug hier fand, ist er schnell abgehauen, bevor du wieder oben warst.« »Hat deine Frau immer noch einen Wohnungsschlüssel?« fragte Kit ty. »Sie würde meinen Schreibtisch nicht aufbrechen.« »Das habe ich auch nicht behauptet.« »Nur ein Junge, der Bargeld wollte. Nichts fehlt. Nun hör' schon auf, dir den Kopf zu zerbrechen.« »Sie möchte dich zurückhaben, Boyd. Das weißt du doch, nicht wahr?« Boyd schloss sie fest in seine Arme und gab ihr einen langen Kuss.
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ie Steins – Vater und Sohn – lebten in einem großen Haus in Hol lywood. Cresta Ridge Drive bietet eine überraschende und will kommene Erholung von Lärm und Auspuffgasen der Franklin Ave nue. Sie ist eine jener steilen und kurvenreichen Straßen, die auf die Hügel Hollywoods führen und am Griffith Park und Lake Hollywood enden. In der Höhenlage genießt man vom Haus aus einen schönen Blick über die Straße, und an nebligen Tage, wenn die bleiche Flut des Smogs die Stadt verpestet, bleibt der Himmel hier oben blau. Die für Kalifornien alten Häuser liegen verborgen hinter ausgewach senen Kastanienbäumen, die bis an die Höhe der Dächer gewachsen sind. In den 30er Jahren gehörten einige alte Villen den Filmstars. Ihre prächtigen Gärten mit Hibiskus- und Bougainvilleasträuchern haben 21
sich bis heute nicht verändert. An den Ausfahrtskontrollen des Safe ways und in den Selbstbedienungstankstellen bei Wilbur begegnet man noch jetzt hier und da längst verschwundenen, aber immer noch selt sam bekannten Gesichtern. Die meisten Nachbarn der Steins waren je doch Geschäftsanwälte, nach Erfolg strebende Zahnärzte und Flücht linge aus den Siedlungen der unmittelbaren Nähe des Flughafens. An diesem Nachmittag überschwemmte ein Regensturm die Stadt. Es war, als wollte die Natur sich vor Sommeranfang noch einmal rich tig austoben. Vor dem Steinschen Haus parkte ein weißer Imperial, Le Baron, ein zweitüriger Sedan und eines der größten Modelle der Chrysler-Aus wahl. Der Lack glänzte im harten, unnatürlichen Licht dieses stürmi schen Tages, und schwere Regentropfen schimmerten auf der Karos serie und den dunkel getönten Scheiben. Auf dem Rücksitz saß ein Mann. Er hielt den Kopf gesenkt und schien zu schlafen; aber er dö ste nicht einmal. Der Besitzer des Wagens, Miles MacIver, befand sich im Hause der Steins. Stein senior war nicht daheim; sein Sohn Billy bedauerte seine Höflichkeit, MacIver ins Haus eingeladen zu haben. MacIver war ein rüstiger Endfünfziger. Sein weißes Haar hob das Blau der Augen, die starr auf Billy gerichtet waren, während er sprach, hervor. Er lächelte träge, unterstrich seine Worte mit Armgesten, ging ruhelos im Salon auf und ab. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich über den weißen Schnurrbart oder eine Braue. Er bewegte sich wie ein Mann, dem äußere Erscheinung wichtig ist: ein Schauspieler, ein Frauenheld oder ein Verkäufer, MacIver schien das alles in sich zu vereinigen. Es war ein großer Raum, mit einem Mobiliar von guter Qualität und teuren Teppichen behaglich eingerichtet. MacIvers ruheloses Umher gehen wirkte besitzerisch. Er trat an den Bechsteinflügel, auf dessen Deckel gerahmte Fotos standen. Unter den Bildern von Freunden und Verwandten wählte MacIver das von Charles Stein, dem Mann, den er besuchen gekommen war. Das Foto zeigte ihn beim Training des Ba taillons im Camp Edwards, Massachusetts, irgendwann in den frühen 40er Jahren. Stein trug einen schlechtsitzenden Overall, der, wie das 22
improvisierte Fahrzeug hinter ihm, von den hastigen Kriegsvorberei tungen Amerikas zeugte. Stein lehnte sich an die Seite des Türholms, hatte den Arm gehoben, als wollte er den Wagen umarmen. »Dein Papa hat deinen Onkel Aram aus diesem Foto ausgeschnit ten, was?« »Ich nehme es an«, sagte Billy Stein. MacIver stellte das Foto auf den Flügel zurück, ging ans Fenster, blick te hinaus. Billy saß auf dem Sofa und vertiefte sich in die Lektüre des Air Progress. MacIver genoss die Aussicht mit dem gleichen teilnahmslosen Interesse, das er dem Foto gezeigt hatte. Eigentlich sah er nur sich selbst im Widerschein der Scheibe; denn er richtete sich die seidene Krawatte mit Blumenmuster und knöpfte sich die karierte Jacke zu. »Zu schade für dich und Natalie«, sagte er, ohne sich vom Fenster ab zuwenden. Seine Stimme klang leise und einstudiert – die Stimme ei nes Mannes, der sich seines Eindrucks auf andere voll bewußt ist. Die warme Luft vom Pazifik war schwül und feucht. In ihr bilde ten sich häufelnde Sturmwolken, die an den Berghängen hinaufstie gen, wo sie sich kondensierten und schwere tropische Regenschauer über Los Angeles niedergehen ließen. Eine hohe Palme vor dem Haus beugte sich unter einem heftigen Windstoß, der sie entzweizubrechen versuchte. Dann richtete sie sich plötzlich wieder mit solcher Kraft auf, dass die tanzenden Blätter durch die Luft peitschten, so laut sogar, dass MacIver zusammenzuckte und den Fensterplatz verließ. »Drei Monate hat es gedauert«, sagte Billy. Er nahm an, dass sein Va ter über das Versagen seiner Ehe geplaudert hatte, und er ärgerte sich darüber. »Drei Monate sind heutzutage immerhin schon etwas, Billy«, sag te MacIver. Er drehte sich um, blickte ihn aus weitgeöffneten Augen an und lächelte. Unwillkürlich lächelte Billy auch. Er war 24 Jahre alt, schlank, mit üppigem, welligem schwarzen Haar und einer Sonnen bräune, die noch tiefer als seine Medaille unter dem aufgeknöpften Hemd zu sehen war. Billy trug eine dünne gelbe Blendschutzbrille mit Metallfassung, die er während seiner Skiferien in Aspen gekauft und seitdem nie abgelegt hatte. Jetzt nahm er sie von den Augen. 23
»Papa hat es Ihnen erzählt, nicht wahr?« Er warf die Brille auf den Kaffeetisch. »Nun komm schon, Billy. Ich war doch schon vor zwei Jahren hier, als du die neue Treppe bauen ließest, um eine getrennte Wohnung für euch beide einzurichten.« »Ich erinnere mich«, sagte Billy, durch diese Erklärung beschwich tigt. »Natalie wollte damals nicht heiraten. Sie war stark in der Frauen bewegung engagiert.« »Du warst halt Papas Mann, Billy. Das wissen wir beide.« MacIver nahm eine Zigarette und zündete sie an. »Es hatte mit Papa gar nichts zu tun«, sagte Billy. »Sie lernte diesen verdammten Dichter von der Fernsehsendung kennen, und weg war sie. Sie sind nach British Columbia abgehauen – aber Papa hatte sie gerne.« MacIver lächelte träge und nickte. Er glaubte es nicht. »Wir kennen doch deinen Papa, Billy. Er ist ein Prachtkerl. Einen Mann wie Char lie Stein gibt es nicht zweimal. Als wir in der Armee waren, hörte das ganze Bataillon nur auf ihn. Lass dir das von niemandem bestreiten. Korporal Stein führte das Bataillon. Und eins kann ich dir sagen …« Er fuchtelte mit seinen großen Händen, und der Burschenschaftsring funkelte im matten Licht. »Ich habe gehört, wie der Oberst auf einem Bataillonstreffen das gleiche sagte. Charlie Stein führte das Bataillon. Das weiß jeder. Aber es ist nicht immer leicht, mit ihm auszukommen. Stimmt's, Billy?« »Sie waren doch Offizier, nicht wahr?« »Hauptmann. Nur in den letzten Wochen meines Dienstes. Aber ich habe es zum Hauptmann gebracht. Hauptmann MacIver. Ich hatte es auf die Tür meines Büros malen lassen. Der verdammte Sergeant vom Farbladen kam rüber und wollte Einwendungen erheben. Aber ich habe ihm gesagt, ich hätte so verdammt lange auf meine Beförderung gewartet, dass ich keine besondere Erlaubnis brauchte. Der Plakatma ler mußte mir die Aufschrift hinsetzen, wenn es auch nur für den letz ten Monat meiner Dienstzeit war.« Er gestikulierte wieder mit der Zi garette in der Hand, ließ Rauchfetzen in der Luft hängen. 24
Billy Stein nickte, legte seine Zeitschrift beiseite, um dem Besucher seine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden. »Ist es wahr, dass Sie für Babe Ruth gepitcht haben?« »Hat dein Papa es dir erzählt?« MacIver lächelte. »Damals waren sie doch in Harvard, nicht wahr, Mr. MacIver?« Der Ton in Billy Steins Stimme ließ den Besucher aufhorchen, warnte ihn. Er zögerte. Das einzige Geräusch verursachte der Regen, der gegen die Fenster peitschte, gurgelnd durch die Rinne rauschte. Billy blickte ihn unverwandt an, aber MacIver vertiefte sich in den Anblick seiner Zi garette. Billy wartete lange, dann sagte er: »Sie sind nie in Harvard gewe sen, Mr. MacIver. Ich habe es nachgeprüft. Und ich habe auch Erkun digungen über Ihr Vermögen eingezogen. Sie besitzen weder ein Haus in Palm Springs noch die Wohnung, von der Sie reden. Sie sind ein Schwindler, Mr. MacIver.« Billy Stein sprach ruhig und gelassen wie über einen Abwesenden. »Sogar der Wagen da draußen gehört Ihnen nicht – die Zahlungen wurden im Namen Ihrer Exfrau geleistet.« »Aber es war mein Geld«, entgegnete MacIver, erleichtert darüber, wenigstens eine Anklage zurückweisen zu können. Dann fasste er sich wieder, lächelte entspannt. »Du scheinst da einiges erraten zu haben, Billy.« Er verschanzte sich mühelos hinter einer neuen Rolle und ver suchte, einigen Vorteil aus der Lage zu ziehen. Das einzige Zeichen sei ner Verlegenheit war die Art, in der er seine Schnurrbartspitze zwir belte, anstatt sich streichelnd darüberzufahren. »Ich habe erraten, dass Sie ein Schwindler sind«, sagte Billy Stein. Es klang nicht genugtuerisch. »Ich habe keine Erkundigungen über Ihr Vermögen eingezogen. Ich vermutete nur, dass Sie ein Schwind ler sind.« Er ärgerte sich, nicht das Geld erwähnt zu haben, das MacI ver seinem Vater abgenommen hatte. In der Schreibtischschublade war er auf das Scheckbuch seines Vaters gestoßen und hatte die sechs Ein tragungen auf der hinteren Notizseite gesehen. Zwischen dem 10. De zember 1978 und dem 4. April 1979 waren über 6.000 Dollar an MacI ver ausgezahlt, jeder Scheck war auf Bargeld ausgestellt worden. »Ich hatte im letzten Herbst einige Schwierigkeiten. Die Lieferanten 25
mußten rasch bezahlt werden, und ich konnte die Termine nicht ein halten.« »Waren es die Diamanten, die Sie in der Stadt kauften und an Ihren Kontaktmann in Seoul schickten?« fragte Billy zornig. »5.000 Prozent auf jeden Dollar?« »Du hast ein gutes Gedächtnis, Billy.« Er richtete sich die Krawatte. »Du wärst ein harter Geschäftsmann. Ich wünschte mir einen Partner wie dich. Aber ich höre auf die Jammergeschichten von Leuten, die mir Geld schulden, und lasse mich weichmachen.« »Sie Armer«, sagte Billy. Wilde Windstöße pochten an die Fenster, ließen den Regen in den Rinnen überlaufen und über die Scheiben strömen. Ein Knistern wie raschelndes Papier ertönte, und ein schwa cher Blitzstrahl erhellte das Zimmer. Das Geräusch ließ die beiden Männer verstummen. Billy Stein starrte MacIver an. Sein Blick zeigte weder Unwillen noch den Wunsch zu Gewalttätigkeit oder Streit, aber auch keinerlei Mitge fühl. Dank seines privaten Einkommens und großzügigen Lebensstils konnte Billy Stein es sich leisten, den Kompromissen gegenüber, zu de nen weniger glückliche Leute gezwungen sind, unduldsam zu sein. Die Übertreibungen der Alten, die Halbwahrheiten der Armen und die kleinen Betrügereien der Verzweifelten fanden in Billy Steins Urteil keine Milde. Und so fand sich MacIver jetzt einigermaßen hilflos dem verurteilenden Blick des jungen Mannes ausgesetzt. »Billy, ich weiß schon, was du denkst. Das Geld, das ich deinem Va ter schulde. Ich werde es ihm bis auf den letzten Cent zurückzahlen. Ganz bestimmt in etwa sechs Wochen. Deshalb wollte ich mit ihm sprechen.« »Was geschieht in sechs Wochen?« Miles MacIver war immer vorsichtig gewesen, zog einen scharfen Trennungsstrich zwischen den mehr oder weniger vagen und zuver sichtlichen Hinweisen auf gegenwärtigen oder zukünftigen Reichtum – was nun einmal zu seinem Betragen gehörte – und den härteren finan ziellen und geschäftlichen Tatsachen. Aber angesichts Billy Steins ru higer, fast gönnerhafter Fragestellung hielt es MacIver für angebracht, 26
ihm die Wahrheit zu sagen. Es war ein Entschluss, der das Leben vieler Menschen verändern und das Leben einiger kosten sollte. »Ich werde dir sagen, was in sechs Wochen geschieht, Billy«, sagte MacIver, zog Falten in seine Hose und setzte sich in einen Sessel, dem jungen Mann gegenüber. »Ich bekomme das Geld für die Filmrechte meiner Kriegsmemoiren. Das wird in sechs Wochen geschehen.« Er lä chelte und griff nach dem großen Porzellanaschenbecher mit der Auf schrift Café de la Paix, den Billys Vater 1945 aus Paris mitbrachte. Er zog den Aschenbecher zu sich heran und stippte die Asche seiner Zi garette hinein. »Filmrechte?« sagte Billy Stein, und MacIver freute sich, endlich eine Reaktion hervorgerufen zu haben. »Ihre Kriegsmemoiren?« »25.000 Dollar«, sagte MacIver. Er tippte noch einmal auf seine Zi garette, obgleich keine Asche dran war. »Man hat sogar einen Berufs schriftsteller engagiert, der zur Zeit an meiner Geschichte arbeitet.« »Was haben Sie denn während des Krieges getan?« fragte Billy. »Es muß doch schon was sein, wenn man einen Film daraus macht.« »Ich war bei der Militärpolizei«, sagte MacIver stolz. »Ich war bei Georgie Pattons 3. Armee, als sie bei den Krauts in diese Salzmine ein brachen und die Goldreserven der Nazis fanden. Milliarden Dollars in Gold, dazu noch Archive, Tagebücher, Stadtregister und Gemälde. Du kannst dir nicht vorstellen, was da alles herumlag.« »Und was haben Sie getan?« »Ich war der Abteilung DSK & A, GR 5 zugeteilt – der Zweigstelle für Denkmäler, schöne Künste und Archive der Gruppe Regierungsan gelegenheiten –, und wir bewachten alles, während die Sachen einge teilt und klassifiziert wurden. Kategorie A für ungemünztes Gold und seltene Münzen; Kategorie B für Gold- und Silbergeschirr, Schmuck, Kunstgegenstände und dergleichen. Das hättest du mal sehen sollen, Billy.« »Und nur Sie haben das alles bewacht?« MacIver lachte. »Fünf Infanteriezüge bewachten die Lastwagen, die das Zeug nach Frankfurt fuhren. Zwei Züge Maschinengewehrschüt zen hinterher und Piper-Cub-Flugzeuge in ständigem Funkkontakt 27
mit der Eskorte. Nein, nicht nur ich, Billy.« MacIver kratzte sich am Kinn. »Hat dir dein Vater nie davon erzählt? Und von den Lastwagen, die nie am anderen Ende ankamen?« »Worauf wollen Sie hinaus, Mr. MacIver?« MacIver hob beschwichtigend die Hand. »Dass du mich nur nicht missverstehst, Billy. Niemand behauptet, dass dein Vater irgend etwas damit zu tun hatte.« »Einer unserer Verwandten in Europa starb während des Krieges. Er hat Papa einigen Grundbesitz und dergleichen hinterlassen. So ist Papa zu Geld gekommen.« »Klar, Billy. Niemand behauptet das Gegenteil.« »Ich mache mir nicht viel aus Kriegsgeschichten«, sagte Billy. »Aber ein gewisser Bernie Lustig, der ein Büro auf der Melrose un terhält – der macht sich eine Menge draus.« »Einen Film?« MacIver griff in die Brusttasche und zog einen Umschlag hervor. Er entnahm ihm einen Zettel mit einfachen Druckbuchstaben. Das war der Kundenbeleg für eine viertelseitige Anzeige in einer Filmfachzeit schrift. »Worin liegt das wirkliche Geheimnis der Kaiseroda-Mine?« lau tete die Überschrift. Er reichte sie Billy Stein. »Das wird nächsten Mo nat in den Zeitschriften für den Filmhandel stehen. Inzwischen macht Bernie einen großen Wirbel. Er kennt jeden – die großen Filmstars, die Regisseure, die Agenturen, die Drehbuchautoren. Jeden.« »Das Filmgeschäft könnte mich interessieren«, gestand Billy. MacIver war erfreut. »Möchtest du Bernie kennenlernen?« »Könnten Sie das für mich arrangieren?« »Kein Problem«, sagte MacIver, nahm das Inserat zurück und steck te es in die Tasche. »Und ich kriege auch meine Scheibe vom Kuchen ab. Zwei Prozent vom Gewinn des Produzenten. Es könnte ein schö nes Bündel werden, Billy.« »Die technische Seite liegt mir nicht«, sagte Billy. »Von Kameras ver stehe ich nichts, schreiben kann ich auch nicht, aber in der Produktion könnte ich mich nützlich machen.« Er griff nach der Blendschutzbrille und spielte mit ihr. »Falls er mich haben will, natürlich.« 28
MacIver strahlte. »Ob er dich haben will? Den Sohn meines besten Freundes? Herrgott noch mal! Billy, er nimmt dich ins Produktionsbü ro, oder ich biete meine Geschichte anderswo an.« »Das ist aber nett von Ihnen, Mr. MacIver.« »Lass doch diese Anrede! Von jetzt an duzt du mich und nennst mich Miles. Einverstanden?« Er vergrub die Hände in die Hosentaschen und zeigte wieder sein ansteckendes Lächeln. »Einverstanden, Miles.« Bil ly setzte sich die Brille auf. »Der Regen läßt nach«, sagte MacIver. »Ich muß noch ein paar An rufe erledigen.« MacIver verlor nie das Zeitgefühl. »Entschuldige mich. Es war nett, mit dir zu reden, Billy. Grüße deinen Papa von mir. Sage ihm, er wird sehr bald von mir hören. Inzwischen spreche ich mit Bernie. Er wird dich anrufen und sich mit dir zu einem Lunch tref fen. Okay?« »Danke, Mr. MacIver.« »Miles.« Er drückte seine Zigarette aus. »Danke, Miles.« »Macht nichts, mein Junge.« Als Miles MacIver sich ans Steuer des vor dem Steinschen Hause ge parkten Chrysler Imperial setzte, seufzte er erleichtert auf. Der Mann auf dem Rücksitz rührte sich nicht. »Haben Sie es erledigt?« »Stein war nicht da. Ich habe mit seinem Sohn gesprochen. Er weiß nichts.« »Sie haben doch nicht etwa seinem Sohn von der Sache mit der Kaiseroda-Mine erzählt?« MacIver lachte und ließ den Motor an. »Ich bin doch kein Idiot, Mr. Kleiber. Sie haben gesagt, ich soll es außer dem Alten niemandem ge genüber erwähnen. Ich kann den Mund halten.«
Billy Stein war freudig erregt. Nachdem MacIver gegangen war, setz te er sich ans Telefon und rief ein Mädchen an, das er vor kurzem in der Pirate's Cove, der Abteilung für Nacktkultur am Strand von Point 29
Dume, kennen gelernt hatte, um seine Verabredung zu einer Party in Malibu abzusagen. Sie hatte eine intensive goldene Sonnenbräune, ein neues Honda-Motorrad und einen Vater, der mit Spekulationen im Kakaogeschäft ein Vermögen machte. Die Aussicht auf einen Job im Filmgeschäft mußte Billy Stein wirklich in große Aufregung versetzt haben, wenn er es schon vorzog, alleine zu Hause zu sitzen und dar über nachzudenken, statt mit diesem Mädchen auszugehen. Zuerst verbrachte Billy Stein einige Zeit mit dem Durchblättern alter Filmzeitschriften, in denen er irgendeinen Hinweis auf Bernie Lustig und vielleicht sogar ein Foto von ihm zu finden hoffte. Aber er fand nichts. Um 19.30 Uhr brachte ihm die Haushälterin, die sich seit dem Tod der Mutter vor fünf Jahren um die beiden Männer kümmerte, auf einem Tablett das Abendessen. Die große, magere gelernte Kranken schwester hatte irgendwo im Osten in einem staatlichen Krankenhaus ihr Diplom eingebüßt, weil sie den Patienten Whisky verkaufte. Viel leicht hatte das Ende ihrer Krankenschwesterkarriere zu einer Verän derung ihrer Persönlichkeit geführt; denn sie war schweigsam, ohne jede Neugier und ließ nichts von jener warmen Mütterlichkeit erken nen, die man oft bei Frauen ihres Berufes voraussetzt. Sie arbeitete hart für die Steins, bemühte sich jedoch nie, jene Frau zu ersetzen, die hier einst die Vorhänge zugezogen, die Kissen aufgeklopft und die Tisch lampen angeknipst hatte. Sie las eilig einige zu Boden gefallene Ro senblütenblätter auf, zerdrückte sie in der Hand und warf sie in den großen Aschenbecher auf MacIvers Zigarettenstummel. Sie rümpfte die Nase, denn sie hasste Zigaretten, nahm den Aschenbecher auf und hielt ihn weit von sich, wie eine Krankenschwester das Stechbecken hält. »Sonst noch was, Mr. Billy?« Ihr fast farbloses Haar war straff zu rückgekämmt und mit messingfarbenen Haarspangen befestigt. Billy warf einen Blick auf das Tablett, das sie vor ihm auf den Kaffee tisch gestellt hatte. »Gehen Sie nur, Mrs. Svenson. Sonst verpassen Sie noch den Anfang der Celebrity-Sweepstakes-Fernsehshow.« Sie schaute auf die Uhr, dann auf Billy Stein und war sich nicht ganz sicher, ob seine Besorgnis natürlich oder ironisch war. Sie gab nie offen 30
zu, auf Fernsehspiele ganz versessen zu sein, hatte aber bereits geplant, sich spätestens um zehn oben in ihrer kleinen Wohnung aufzuhalten. »Falls Mr. Stein etwas essen möchte, wenn er kommt; ich hab' ihm ein kaltes Huhn in Alufolie gewickelt und ins oberste Kühlschrank fach gelegt.« »Vielen Dank, Mrs. Svenson, und gute Nacht.« Sie rümpfte wieder die Nase und stellte das gerahmte Foto Charles Steins, das MacIver unachtsam auf den Flügel gelegt hatte, an seinen richtigen Platz zurück. »Gute Nacht, Billy.« Billy löffelte seinen Teller mit geschnetzeltem Rindfleisch und Boh nen in Chillysoße aus und trank ein Bier; ging dann ans Bücherregal, fuhr mit der Fingerspitze über die Videokassetten und suchte sich ei nen alten Film aus, den er auf Band aufgezeichnet hatte. Er wählte Psy cho, setzte sich in einen Sessel und studierte, wie Hitchcock die ein zelnen Szenen aufgenommen und sie zu einem Gesamtwerk zusam mengefügt hatte. Im College, beim Kurs für Filmanalyse, wählte Billy schon einmal diesen Film. Die Zeit ging schnell vorbei. Als der Film zu Ende war, fühlte sich Billy noch erregter darüber, bald ins Showgeschäft einsteigen zu kön nen. Eine solche Betätigung fand er stilvoll und scharf profiliert. Stilfülle und scharfe Profilierung waren Komplimente, die bei Billy Steins Freunden und Zeitgenossen sehr im Schwange waren. Er spulte das Band zurück und schaute sich Psycho noch einmal an.
Charles Stein, Billys Vater, verbrachte die Mittwochabende gewöhn lich in einem Club im East Valley. Man nannte ihn immer noch den Roscoe Sports and Bridge Club, obgleich einige oberschlaue Grund stücksmakler ihn in Sun Valley umbenannt hatten und man dort ei gentlich nur noch Poker spielte. Stein saß bei seinen drei alten Freunden, zu denen auch Jim Sampson gehörte – ein älterer Rechtsanwalt, der mit Stein in der Armee gedient hatte. Sie aßen das Mittwochsmenü – gehacktes Cornedbeef mit Zwie 31
belringen –, tranken einige Flaschen kalifornischen Gewürztraminer, tauschten ihre Meinungen über die Regierung aus und zogen sich dann in die Bar zurück, um sich die 23-Uhr-Nachrichten und die spätabend liche Sportschau anzusehen. Es war immer das gleiche. Charles Stein war ein Gewohnheitsmensch. Kurz nach Mitternacht setzte Jim Samp son ihn vor seiner Tür ab – Stein fuhr nicht gern selbst – und wurde aufgefordert, ihn ins Haus zu einem Gutenachttrunk zu begleiten: ein Ritus, den beide kannten; eine Geste des Dankes für die Fahrt. Aber Jim Sampson kam nie hinein. »Ich dachte, du hattest heute Abend ein tolles Rendezvous, Billy?« Charles Stein wog fast 140 Kilo. Der in seinen Bauch einschneiden de Gürtel aus Krokodilleder, der teure englische Wollanzug und das Hemd aus reinem Batist waren Sonderanfertigungen des Herrenaus stattungsgeschäftes Sunny-Jims-Maßschneiderei für korpulente Her ren. Stein trug das spärliche weiße Haar aufgekämmt; das Licht hinter ihm bildete eine Art von unordentlichem Heiligenschein um seinen Kopf, als er sich behutsam in seinen Lieblingssessel sinken ließ. Billy, der mit seinem Vater nie über seine Freundinnen sprach, sag te: »Ich bin zu Hause geblieben. Dein Freund MacIver kam vorbei. Er meint, er könne mir einen Job im Filmgeschäft verschaffen.« »Einen Job im Filmgeschäft?« fragte sein Vater. »Einen Job im Film geschäft? Miles MacIver?« Er kramte in seiner Tasche, holte eine Zigar re hervor, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an. »Man will seine Kriegsmemoiren verfilmen. Eine tolle Geschichte! Wie sie das Gold der Nazis gefunden haben. Das könnte ein ganz gro ßer Film werden, Paps.« »Jetzt bleibe mal auf dem Teppich«, sagte sein Vater. Er saß jetzt auf dem Sesselrand, beugte sich nach vorn, senkte den Kopf, während er seine Zigarre anzündete. »MacIver war hier?« Er sprach zum Fußbo den. »Was ist denn los?« fragte Billy Stein. »Wann genau war MacIver hier?« »Du sagst doch immer, man solle dich beim Pokerspiel nicht unter brechen.« 32
»Wann?« Er rieb das Streichholz, hielt es an die Zigarre. »Siebzehn Uhr, vielleicht auch achtzehn.« »Hast du dir heute Abend das Fernsehprogramm angeschaut?« »Ach, das sind doch nur Quizsendungen und ähnlicher Mist. Ich habe mir eine Videokassette angesehen.« »MacIver ist tot.« Charles Stein zog an seiner Zigarre, blies den Rauch auf den Teppich. »Tot?« »Es wurde in den Nachrichten im zweiten Programm gebracht. Ir gendein Junge hat ihm mit einer abgesägten Flinte den Schädel zer knallt. Die Waffe hat er dagelassen. Es passierte in einer kleinen Bar auf der Western Avenue in der Nähe des Beverly Boulevards. Ein Fern sehteam war gleich an Ort und Stelle: Wagen, Blinklichter. Ein Polizei beamter fuchtelte mit der Mordwaffe vor den Kameras herum.« »War es eine Straßen-Gang?« »Würden die eine 200-Dollar-Flinte mit fachmännisch abgesägtem Lauf, die gut unter die Jacke passt, einfach wegwerfen?« »Wer war es denn?« Charles Stein paffte eine Rauchwolke. »Woher soll ich das wissen?« sagte er verärgert, wenn seine Wut sich auch auf niemand besonde ren zu richten schien. »MacIver das Großmaul nannten sie ihn. Hatte Schulden in der ganzen Stadt. Vielleicht hat ihn einer seiner Gläubiger abgeknallt.« Er zog wieder an der Zigarre. »Jedenfalls hat er seine Kriegsmemoiren verkauft. Er hat mir das In serat gezeigt. Irgendeinem Filmproduzenten, den er aufgabelte, hat er eine Geschichte über Nazigold während des Krieges in Deutschland verkauft.« Charles Stein brummte. »Das ist es also? Ich fragte mich schon, wa rum der Bursche alle Leute unserer Einheit aufgesucht hat. Natürlich bin ich ihm in der Armee oft begegnet, aber er gehörte nicht einmal zum Bataillon. Er war bei irgendeiner lausigen Militärpolizeieinheit.« »Hat er die Geschichte von dir?« »Von mir hat er überhaupt nichts. Wir standen bei diesem Job un ter dem direkten Befehl General Pattons vom Hauptquartier der 3. Ar 33
mee und sind immer noch zur Geheimhaltung verpflichtet.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs schüttere Haar, hielt die Hand einen Au genblick auf seinen Schädel, war in Gedanken verloren. »MacIver hat also die ganze Geschichte niedergeschrieben und sie an einen Filmfrit zen weitergegeben?« »Bernie Lustig. MacIver wollte mich ihm vorstellen«, sagte Billy. »Der arme Kerl. War es ein Überfall?« »Jetzt liegt er im Leichenschauhaus, mit einem Etikett an der Zehe. Dieser Lustig – wo hat der sein Büro?« »Melrose. Nach Beverly Hills oder bis zum Sunset Boulevard hat er es noch nicht geschafft. Deshalb habe ich ihm auch geglaubt. Wenn MacIver diesen Kerl erfunden hätte, würde er sich nicht ausgerechnet Melrose ausgedacht haben.« »Wende dich immer gleich an die Größten, Billy.« Er streifte seine weißen Lederschuhe ab und stieß sie unter den Tisch. »Was war dieser MacIver eigentlich für ein Kerl?« MacIver erregte in ihm jetzt nur noch schwaches Interesse. »Wie war er wirklich, Paps?« »Er war ein Lügner und Schwindler. Saugte sich bei seinen Freun den voll, um seinen Feinden Drinks zu spendieren. MacIver versuch te verzweifelt, sich bei allen beliebt zu machen; dafür hätte er alles ge tan.« Stein wollte hinzufügen, MacIvers Versprechen, Billy einen Job im Filmgeschäft zu verschaffen, sei ein gutes Beispiel dafür; aber er be schloss, seinen Sohn nicht zu enttäuschen, bis er über mehr Tatsachen verfügte. Er betrachtete die glimmende Asche seiner Zigarre. »Hast du ihn in New York gekannt, bevor du zur Armee gingst?« »Er stammte aus Chicago. War bei der Polizei auf der South Side – ein hartes Pflaster. Tat sich schwer mit seinem ›Bulle-mit-dem-goldenen Herzen‹-Quatsch. Nach Pearl Harbor meldete er sich zur Armee. Dort hat er allen erzählt, er habe in Harvard studiert. Es ließ sich damals wohl nicht nachprüfen.« »Es war reiner Schwindel. Er hat es so gut wie zugegeben.« »Sie hätten MacIver in Harvard nicht mal als Müllkutscher genom men. Natürlich war es Schwindel, aber auf diese Weise ergatterte er sich bei der Militärpolizei ein Offizierspatent. Und er bediente sich al 34
ler nur möglichen Tricks. Ständig lieh er sich von uns einen Lastwagen aus. Schickte mal eine Kiste dorthin, holte sich hier ein kleines Paket ab. Er tat sich mit der Transportabteilung zusammen, und man mun kelte sogar, sie hätten einen unserer Zweieinhalbtonner an einen bel gischen Zivilisten verkauft und seien dann nach Paris gefahren, um den Gewinn zu verjubeln.« Stein fühlte sich plötzlich traurig und sehr müde. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht wie ein Schwimmer, die gerade aus dem Wasser kommt. »Und das wirst du jetzt tun, Paps?« »Ich habe heute Abend 530 Eier verspielt, Billy, und mehr Weißwein getrunken, als es meiner Verdauung bekömmlich ist.« Er hustete, hielt nach dem Aschenbecher Ausschau, fand ihn nicht. Trotz aller Einwän de gegen MacIver hatte ihm die Nachricht von seiner Ermordung einen schweren Schlag versetzt. MacIver war ein Schwindler, stets bereit zu raschen Versprechungen und fadenscheinigen Entschuldigungen, die ihnen unvermeidlicherweise folgten. Und doch gab es auch gute Er innerungen; denn MacIver konnte sehr großzügig und hilfsbereit sein. Und überhaupt – so sagte sich Charles Stein – hatten sie ein ganzes Le ben miteinander verbracht. Das genügte, ihn traurig zu stimmen, ganz gleich, wie windig MacIver im Grunde auch gewesen sein mochte. »Wirst du diesen Bernie Lustig aufsuchen?« fragte Billy. »Ist das der Name des Filmproduzenten?« »Das habe ich dir doch gesagt, Paps. In Melrose.« »Wahrscheinlich.« »Du glaubst doch nicht etwa, dass dieser Lustig etwas mit dem Mord zu tun hat?« »Ich gehe jetzt zu Bett, Billy.« Er spähte wieder nach dem Aschen becher aus, der sonst immer auf dem Tisch neben der Blumenvase stand. »Er schuldete MacIver immerhin 25.000 Dollar.« »Wir werden uns morgen darüber unterhalten, Billy. Wo ist mein Aschenbecher?« »Ich werde die Nachrichten im Fernsehen einschalten«, sagte Billy. »Glaubst du, sie geben den Ausschnitt noch einmal durch?« 35
»Wir leben in einer harten Stadt, Billy. Da macht ein Mord nicht lan ge Schlagzeilen.« Er lehnte sich über den Tisch und drückte seine Zi garre in Billys Bohnenresten aus.
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er Mann hinter dem Schreibtisch hätte ein Orientale sein können, besonders dann, wenn er höflich lächelte. Sein Gesicht war bleich; nicht einmal die Sonne Südkaliforniens vermochte seinem Teint eine dunklere Schattierung als die alten Elfenbeins zu verleihen. Sein pech schwarzes Haar war auf dem Turmschädel glatt zurückgekämmt. »Max Breslow«, sagte er und bot Charles Stein die Hand, die dieser en ergisch schüttelte. »Ich hatte erwartet, Mr. Bernie Lustig anzutreffen«, sagte Stein. Er trug einen seiner teuersten cremefarbenen, aber bereits zerknitterten Leinenanzüge; der Knoten seiner weißen Seidenkrawatte hing schief unter seinem Kragen. Er senkte seine kompakte Leibesfülle in den schwarzledernen Charles-Eames-Sessel. Er krachte unter seinem Ge wicht. »Mr. Lustig ist in Europa«, sagte Max Breslow. »Dort sind noch eini ge Arbeiten für unsere nächste Produktion zu tun.« »Die Wahrheit über das Geheimnis der Kaiseroda-Mine?« Stein hob seine große Hand, zeigte seine schwere goldene Rolexarmbanduhr, ei nen großen Brillantring und feinmanikürte Fingernägel vor. Als Bres low die Frage nicht beantwortete, sagte Stein: »Mr. Miles MacIver ist ein Freund von mir. Er versprach meinem Sohn einen Job in Ihrem Film.« Breslow nickte. Stein berichtigte sich. »MacIver war ein beson ders guter Freund von mir.« »Sie waren mit ihm in der Armee?« Er hatte einen schwachen deut schen Akzent. 36
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Stein. Er fuhr sich über die buschigen Koteletten, die sich um seine Ohren kringelten. Breslow griff nach einem Brieföffner aus Chromstahl, spielte einen Augenblick damit herum, blickte Stein an. »Eine traurige Sache, die MacIver zugestoßen ist«, sagte er schließlich. Er sprach mit der glei chen kühlen Teilnahmslosigkeit wie ein Flughafenbeamter, der einen Passagier über den Verlust seines Gepäcks tröstet. Der Gedanke an MacIver versetzte Stein plötzlich einen schmerz haften Stich. Er erinnerte sich an jene Nacht im Jahre 1945, als MacIver in die Trümmer der deutschen Weinstube gekrochen kam. Sie befan den sich damals in einer kleinen Stadt jenseits von Mainz. Die Artille rie hatte sie seit langem dem Erdboden gleichgemacht; die Panzer wa ren den schwierigeren Hindernissen ausgewichen; die Infanterie hatte sie links liegengelassen, Pioniere überall ihre Drähte durch die Straßen gelegt und Schilder, ›Achtung Minenfallen!‹, auf den Trümmerhaufen aufgestellt. Stein erinnerte sich, wie MacIver aus dem Zweieinhalbton ner geklettert kam und gesagt hatte, dass die verdammten Pioniere diese Schilder absichtlich vor allen Kneipen aufstellten, um zu gege bener Zeit zurückzukommen und sie gründlich auszuplündern. Stein hatte den Atem angehalten, als MacIver über den Schutthaufen durch die zerschmetterte Tür der Weinbar gekrochen war. Er verschwand eine Weile, erschien dann wieder, rotgesichtig und mit triumphieren dem Grinsen, die Finger von Scherben zerschnitten, den Uniformär mel durchnässt von Rotwein, der wie frisches Blut aussah. Er strau chelte unter dem Gewicht einer ganzen Kiste deutschen Sekts. MacIver hatte einen Korken herausspringen lassen, der wie ein Pi stolenschuss an die Kabinendecke knallte. Dann hatten sie sich ihre Blechnäpfe voll gegossen und den wild schäumenden Sekt wortlos ge trunken. Danach hatte MacIver die leere Flasche in die dunkle Nacht hinausgeworfen und gesagt: »Höchste Zeit, sich einen hinter die Bin de zu gießen, Kamerad.« »Für einen Offizier und Plattfuß bist du ein Volltreffer«, hatte Stein erwidert. Es war wirklich ein starkes Stück für einen Offizier. »Höchste Zeit, 37
sich einen hinter die Binde zu gießen.« Jedes Mal, wenn er das hörte, mußte er an MacIver denken. »Wie bitte?« fragte Max Breslow höflich. Er hielt den Kopf geneigt, als lausche er einem fernen Geräusch. Stein wurde gewahr, dass er laut gesprochen hatte. »Ach, das ist ein amerikanischer Ausdruck«, sagte Stein. »Jedenfalls sagte man das, als ich jung war.« »Ich verstehe.« Breslow nahm die interessante Bemerkung zur Kennt nis. »Möchten Sie etwas trinken?« »Gern«, sagte Stein. »Rum und Coca-Cola, falls vorhanden.« Breslow rollte seinen Drehstuhl zurück, öffnete den kleinen Kühl schrank in seinem Schreibtisch aus Walnussholz. »Verdammt heiß hier«, sagte Stein. »Funktioniert die Klimaanlage?« In der Feuchtigkeit litt er besonders unter seiner Leibesfülle. Auf sei nem maßgeschneiderten Anzug wurden kleine Schweißflecken sicht bar. Breslow legte Papierservietten auf die Schreibtischplatte, stellte Glä ser darauf, warf ein paar Eisstücke in das eine und goss dann Rum und Coca-Cola ein. Er tat es sehr behutsam, klemmte jeden Eiswürfel in eine Metallzange. Sich selbst schenkte er einen kleinen Cognac ein. Stein fächelte sich mit seinem leicht ramponierten Strohhut Kühlung zu. Jetzt erhob er sich langsam aus seinem Sessel, um den Drink in Empfang zu nehmen; warf seinen Hut auf einen kleinen Tisch, wo ei nige Filmfachzeitschriften fein säuberlich gestapelt lagen. Er bekam seinen Drink nicht sofort, trat ans Fenster und blickte hin aus. Dieser Teil von Melrose lag in der Nähe der Autobahn und in ei nem der älteren Stadtviertel. Eine Wohnung in einem zweistöckigen Häuserblock, der hellrosa angestrichen war, bildete das Büro. Auf der anderen Straßenseite sah man Ziegelhäuser mit billigen Wohnungen und verwahrlosten kleinen Büros, die Wände zum großen Teil mit ob szönen Inschriften auf spanisch beschmiert. Auf den Dächern: betrun ken wirkende Fernsehantennen und über allem ein breites Drahtnetz. Der Verkehr auf der Autobahn bewegte sich sehr langsam. Die dahin terliegenden Hügel Hollywoods wurden durch die dichten Wolken der 38
Dieselabgase fast verdeckt. Stein nahm sich die Sonnenbrille vom Ge sicht und steckte sie in seine äußere Brusttasche. Er blinzelte im blen denden Licht und tupfte sich das Gesicht mit einem seidenen Taschen tuch ab. »Verdammt heiß.« Die Sonne war blutrot, ihr durch die Jalou sien dringendes Licht bildete Muster auf Steins faltenreichem Gesicht. So war es immer am Tage nach einem bösen Sturm. »Ich habe mit dem Hauswart gesprochen«, erklärte Breslow. »Die Klimaanlage wird gerade repariert. Der schwere Regen von gestern ist in den Mechanismus gedrungen.« »MacIver schuldete mir Geld«, sagte Stein, »eine Menge Geld. Er hat mir einen Teil seines Honorars für Ihren Film als Garantie gegeben.« »Hoffentlich haben Sie daran gedacht, sich das schriftlich bestätigen zu lassen«, sagte Breslow. »Sie haben recht«, erwiderte Stein. Er ließ sich nicht weiter darüber aus. Derartige Unwahrheiten sollte man lieber nur ganz kurz erwäh nen. »Wir sind jetzt noch nicht einmal im Vorproduktionsstadium«, sag te Breslow. Er hielt sich das Cognacglas vor den Mund, befeuchtete aber nur die Lippen. »Möglicherweise entschließen wir uns, den Film nicht zu machen. Und wenn wir ihn nicht machen, gibt es auch kein Geld.« »Das Ganze dreht sich doch um MacIvers Kriegserinnerungen, nicht wahr?« »Zusammen mit einigen Anekdoten, die er bei seinen Kameraden gesammelt hat, mit einigen Vermutungen über das, was an höchster Stelle vorging und einigen schöpferischen Einfällen bezüglich MacI vers tapferem Beitrag zum Sieg der Alliierten.« Stein nahm seinen Drink vom Schreibtisch, kostete ihn, goss noch ein bisschen Coca-Cola hinzu. Dann wandte er sich Breslow zu, der seine Beschreibung des MacIverschen Manuskriptes immer noch zu genießen schien. »Das Kinopublikum ist nach wie vor an derartigen Geschichten in teressiert«, erklärte Breslow. »Eine kleine Bande rangniedriger Solda ten, die alles klauen, was sie in die Finger kriegen.« Seine Augen blie 39
ben auf Stein geheftet, und er lächelte wieder. »Gauner in Uniform. Eine amüsante Formulierung.« Steins Hände schnellten mit einer für seine Körperfülle überra schenden Geschwindigkeit hoch. Seine riesigen Finger packten Bres lows Hemdkragen so fest, dass der Knopf abriss. Er schüttelte Bres low, um seine Worte zu unterstreichen. »Lassen Sie es mir oder MacI ver oder irgendeinem unserer Freunde gegenüber nie an gebührendem Respekt mangeln, Breslow. Wir dulden keine schmutzigen Bemerkun gen von Fremden über das, was wir 1945 getan haben. Wir haben da draußen eine Menge guter Kameraden verloren, die im Dreck und in der Scheiße verreckt sind. Und dann haben wir zufällig ein bisschen Schwein gehabt – das ist nun mal der Lauf der Dinge. Es war Kriegs beute, und wir hatten ein Recht darauf. Lassen Sie sich das ein für alle mal gesagt sein.« Er ließ Breslow los, der sich aufrichtete, Kragen und Krawatte zurechtrückte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie beleidigte«, sagte Breslow ohne eine Spur des Bedauerns. »Aber wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie mir doch, Sie gehörten nicht zu Mr. MacIvers Kameraden.« Stein erkannte, dass er absichtlich provoziert worden war, mehr zu sagen, als er es sich vorgenommen hatte. »Kriegsbeute«, sagte Stein. »Das war es.« »Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sagte Breslow mit humorlosem Lä cheln. »Nennen Sie es nur, wie Sie wollen. Mir macht es nichts aus.« Stein zog sich verlegen die Hose hoch, schob das Hemd unter den Gürtel. »Waren Sie im Krieg, Mr. Breslow?« »Ich war zu jung«, erklärte Breslow bedauernd. »Ich verbrachte die Kriegsjahre in Kanada, wo ich für meinen Vater arbeitete.« »Breslow«, sagte Stein. »Der Name kommt doch von Breslau, der Stadt in Deutschland, nicht wahr? Stammt Ihre Familie aus Deutschland?« »Was weiß ich von deutschen Städten!« rief Breslow in plötzlicher Verärgerung aus. »Ich bin amerikanischer Staatsbürger. Ich lebe hier in Kalifornien. Ich bezahle meine Steuern und stehe stramm, wenn die Nationalhymne gespielt wird. Was soll ich denn sonst noch tun? Mei nen Namen in Washington D.C. umändern?« 40
»Das ist ein guter Witz«, sagte Stein, wie wenn er eine teure Uhr be wunderte. Er nahm die Coca-Cola-Dose, schüttete die letzten Tropfen in sein Glas, trank es aus. »Sie kriegen Ihr Geld, Mr. Stein«, sagte Breslow. »Vorausgesetzt na türlich, dass Sie uns die von MacIver unterschriebene Bestätigung vor weisen können. Wir werden keine weiteren Nachforschungen anstel len, falls Ihnen das Sorge bereitet.« Breslow nippte an seinem Cognac. »Für den Kauf der Dokumente, von denen Mr. MacIver sprach, steht eine Menge Geld zur Verfügung.« »Was für Dokumente?« »Geheimdokumente – über Hitler. Sie haben doch sicher davon ge hört.« »Gerüchteweise«, gab Stein zu. »Eine Menge Geld«, sagte Breslow. »Und der Job für meinen Sohn?« Breslow warf einen Blick auf das Curriculum vitae, das Stein ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Er hat zwar keine Erfahrung in der Film branche und ist natürlich kein Gewerkschaftsmitglied.« Er preßte die Lip pen zusammen. »Aber vielleicht wäre es trotzdem möglich, ihn irgendwo unterzubringen – besonders wenn er die Dynamik seines Vaters besitzt.« Breslow schob den Lebenslauf unter den Lederdeckel seiner großen Schreibunterlage. Dann nahm er die Coca-Cola-Büchse und die Glä ser, wischte ein paar nasse Flecke fort, warf die Papierservietten in den Abfallkorb. Er tat es mit peinlicher Genauigkeit. Stein sah ihm ver ächtlich zu. »Meine Sekretärin wird einen Termin für den Besuch Ih res Sohnes bei mir festlegen«, sagte Breslow. Er lächelte und beweg te sich zur Tür. Stein rührte sich nicht. »Das wär's dann wohl«, sagte Breslow, um ihn zu verabschieden. »Nur noch eine Frage, Mr. Breslow«, sagte Stein. »Warum sind Sie bewaffnet?« »Ich?« »Machen Sie mir nichts vor, Breslow. Sie haben ein Halfter am Gür tel. Ich habe es eben gesehen.« »Ach, die kleine Pistole.« 41
»Jawohl, die kleine Pistole. Wie kommt ein netter, angesehener Film produzent wie Sie zu einem Ballermann im Gürtelhalfter?« »Ich habe manchmal viel Bargeld bei mir«, sagte Breslow. »Einen Grund dafür müssen Sie ja wohl haben«, sagte Stein, griff nach seinem breitkrempigen Strohhut und stülpte ihn auf den Kopf. Max Breslow blickte durch die Jalousiespalten auf die Straße. Er sah Charles Stein zum Buick Riviera mit dem Vinyldach gehen – er hat te ihn auf dem schmutzigen Parkplatz hinter dem Schnapsladen ge parkt – und wartete, bis der Wagen holpernd über das brüchige Pfla ster im östlichen Verkehrsstrom verschwunden war. Erst dann schloss Breslow die Tür auf und trat ins Nebenzimmer. Es war ebenso kahl und unpersönlich. Ein Bodenbelag aus Plastik, der wie ein Teppich aussehen sollte, Möbel mit Metallanstrich aus Pla stik, Plastikwände, Imitation von Holztäfelungen. Ein breitschultriger Mann saß geduldig an einem Tisch vor einem kleinen, aber sehr raffinierten Kassettenaufnahmegerät, neben sich ein paar Kopfhörer. Willi Kleiber trug Bürste und einen jener struppi gen Schnurrbärte, wie gewisse britische Offiziere. Aber niemand hät te Willi Kleiber dafür gehalten. Typisch der dicke Schädel und die ho hen Backenknochen der Deutschen jenseits der Weichsel. Die Nase war breit und flach, der Körper schwer und muskulös. Er hatte sich die khakifarbene Golfjacke ausgezogen, den Knoten seiner Krawatte ge löst und hielt die Beine ausgestreckt. Man sah die polierten schwarzen hohen Stiefel unter seiner Hose hervorlugen. »Was meinst du, Willi?« fragte Max Breslow ihn. Willi Kleiber schnitt ein Gesicht. »Du hast es richtig gemacht, Max«, gab er widerwillig zu. »Und was geschieht nun?« Kleiber drückte die Kopfhörer zusammen und wickelte sie behutsam mit dem Kabel ein, während er sich seine Antwort überlegte. »Wir ha ben Lustig aus dem Wege geschafft. Du hast Stein angedeutet, dass wir eine Menge Geld für die Dokumente bezahlen können, und er wird bald feststellen, dass er eine große Summe Geldes verlor. Dann wird er wieder zu uns kommen.« 42
»Wie hast du dir Steins Geld verschafft?« »Nicht ich, das Konsortium. Mit Beihilfe einiger der erfolgreichsten Bankiers in Deutschland sind derartige Schwindeleien leicht zu arran gieren.« »Was meinst du eigentlich damit: ›Wir haben Lustig aus dem Wege geschafft‹? Du sagtest doch, du hast ihm Geld für einen Ferienaufent halt in Europa gegeben.« Kleiber grinste. »Überlasse diese Dinge ruhig mir, Max. Verschwen de keinen weiteren Gedanken an Bernard Lustig; je weniger du über ihn weißt, desto besser für dich.« Er zog den Reißverschluss seiner Jak ke hoch. »Ich wünschte, ich hätte mich nie in diese Sache eingelassen«, sagte Breslow. Er konnte einfach nicht die gleiche Begeisterung und Energie für diese verrückten Abenteuer aufbringen wie Kleiber, und es tat ihm leid, nicht in der Lage gewesen zu sein, sich aus diesem Wahnsinnsun ternehmen herauszuhalten. Es hatte ihn zwar amüsiert, Kleibers tollen Erzählungen bei Kaffee und Cognac zuzuhören, aber jetzt war er drin, und es erschreckte ihn. »Das Konsortium brauchte dich«, sagte Kleiber. Breslow sah ihn an und nickte. Für Kleiber war alles ganz einfach, viel zu einfach sogar. Befehl ist Befehl, und Gehorsam ist Ehrensache. Breslow hatte als junger Mann auch einmal so gedacht. All seinen Idea lismus und jene zielstrebige Entschlossenheit, die nur der Jugend vor behalten ist, hatte er den Launen Hitlers und seiner verbrecherischen Gefolgsleute geopfert. Welch eine traurige Verschwendung. »Du warst Nazi, Max. Vergiss das nie. Und bilde dir nicht ein, dass die anderen es vergessen werden.« »Aber das ist doch nun schon eine Ewigkeit her, Willi«, sagte Bres low müde. Kleiber schloss den Deckel des Tonbandgeräts mit absichtlichem Krachen. »Erinnerst du dich an letztes Jahr, als die alte Frau dich in der Kaffeestube in Boston erkannte? Hatte sie dir nicht ›SS-Mörder‹ zuge schrien? Sie wird nicht vergessen, Max. Du brauchst das Konsortium. Sie sind ja auch keine Nazis, aber sie können dir helfen, Max.« 43
»Die alte Frau in der Kaffeestube war verrückt«, sagte Breslow. »Aber du hast dein Frühstück stehengelassen und bist hinaus auf die Straße gerannt, Max. Das hast du mir selbst erzählt.«
Billy Stein wartete im neuen Buick Riviera, der vor dem Schnapsladen parkte. Er lehnte sich über den Beifahrersitz, um seinem Vater die Tür zu öffnen, und startete den Motor, noch bevor sein alter Herr eingestie gen war. Der Warnsummer ertönte. »Kannst du das Ding nicht abstel len? Ich hasse diese verdammten Sicherheitsgute.« Schließlich schnall te Stein senior sich dann doch mit einiger Mühe an. »Fahren wir los«, sagte er. Er warf einen kleinen Leinenkoffer auf den Rücksitz. Der Wagen holperte vom Parkplatz und schleuste sich in den Ver kehr ein. »Nicht gerade wie die Metro, was? Wahrscheinlich arbeitet er von dieser Wohnung aus, um der städtischen Gewerbesteuer zu entge hen.« Sie fuhren am Schnapsladen mit den rostigen Fenstergittern und dem neuen Drahtnetz an der Tür vorbei. »Melrose klingt wie eine gute Adresse für eine Filmgesellschaft«, sagte Billy, »bis man sieht, an wel chem Ende von Melrose sie wirklich liegt.« »Genau«, sagte sein Vater. Charles Stein öffnete das Handschuh fach und fand einige Zigarren. Er nahm eine, entfernte die Metallhül le, zündete sie sich mit dem Glimmstöpsel am Armaturenbrett an und paffte eine große Wolke, bevor er sprach. »Unser Mr. Bernie Lustig scheint nicht mehr in der Gegend zu sein.« Er fuhr sich mit der Zun ge über die Lippen, um einen Tabakrest aus dem Mund zu entfernen. »Hält sich scheint's in Europa auf – für unabsehbare Zeit.« »Und mit wem hast du gesprochen?« »Mit einem Kerl, der sich Max Breslow nennt.« »Ein Deutscher?« »Kanadier«, sagte Stein ironisch. »Muß irgendein Indianername sein.« »Du magst ihn nicht?« fragte Billy. »Er ist Nazi, Billy. Ich hab' einen Riecher dafür.« 44
Billy nickte. Er war an derartige Behauptungen gewöhnt, wenn es sich um jemanden mit deutschem Namen handelte, der nicht sofort als Jude erkennbar war. »Er sagt, er sei zu jung, um am Krieg teilgenom men zu haben.« »Aber du glaubst ihm nicht?« »Er hat sehr schwarzes Haar«, sagte Stein. »Und wenn ein Kerl über Nacht plötzlich schwarze Haare kriegt, ist er alt.« Billy Stein lachte; sein Vater mußte kichern. »Und er hat einen Ballermann«, fügte Charles Stein hinzu und be merkte, dass sein Urteil über Max Breslow seinen Sohn nicht sehr be eindruckte. »Ich kenne eine Menge Leute in dieser Stadt, die einen haben«, sagte Billy und zuckte die Achseln. »Wir haben ja auch zu Hause eine große Kanone, die du als Andenken aus dem Krieg zurückgebracht hast.« »Aber ich trage sie nicht in meinem Gürtelhalfter herum«, sagte Stein. Billy lächelte. Es fällt schwer, sich diese riesige Ordonnanzpisto le anderswo als an der Wand von Charles Steins Arbeitszimmer vor zustellen. »Du willst also direkt zum Flughafen?« »Ich muß nur noch mal kurz bei Jim Sampsons Anwaltskanzlei vor bei. La Cienega, im großen Gebäude der Spar- und Kreditbank. Er erwartet mich. Dann fährst du mich zum Flughafen. Wir nehmen die südliche Route nach La Tijera. Das ist doch der schnellste Weg, nicht?« Falls Billy sich erhofft hatte, dass die Laune seines Vaters sich nach der Begegnung mit seinem alten Armeekumpel Jim Sampson aufhei tern würde, so wurde er eines Besseren belehrt, als er Charles Stein aus dem Gebäude der Spar- und Kreditbank auf der Cienega kommen sah. Sein Vater ließ sich schwer in den Beifahrersitz sinken. »Zum Flugha fen.« Er kramte im Handschuhfach, holte einen Flugplan heraus. »Ich hatte mir schon gedacht, dass ich in die Schweiz muß, Billy. Und zwar sofort.« »Ich sehe dich nicht gerne in Sorge, Paps. Kann ich irgend etwas tun?« 45
»Es gibt einen direkten Flug. Es gefällt mir nicht, was da drüben vor geht, Billy. Oberst Pitman muß benachrichtigt werden, und diese Art Dinge erledige ich nie schriftlich.« Er zog sich an der Nase. »Und Tele fongespräche sind dieser Tage zu riskant.« »Ein Tapetenwechsel wird dir gut tun«, sagte Billy. Während Billy sich seinen Weg durch den dichten Verkehr zum Flughafen bahnte, versicherte sich sein Vater, dass er genug Bargeld und Kreditkarten für die Reise hatte. Endlich bog sein Sohn mit je ner unnachahmlichen Geschicklichkeit, die er sich in seinen College jahren als Parkplatzwart angeeignet hatte, in einen gerade frei gewor denen Platz ein. »Freust du dich, den Oberst wieder zu sehen? Du magst ihn doch. Bleibe übers Wochenende, Paps. Amüsier dich gut.« »Es ist mir jedes Mal ein wirkliches Erlebnis, ihn zu sehen«, sagte Stein. »Er ist ein alter Mann. Er macht es nicht mehr lange, verstehst du? Ein großer Mann, Billy. Lass dir das gesagt sein.« Er paffte an sei ner Zigarre. Billy stellte den Motor ab und blickte auf die Uhr, um zu sehen, wie viel Zeit ihnen noch bis zum Abflug seines Vaters blieb. »Sage mal, Paps, wenn dein Oberst wirklich so ein toller Held war, wie kommt es dann, dass man ihn nach seiner Schulung in West Point nicht zu ei ner Kommandotruppe, den Fallschirmjägern oder dergleichen einge teilt hat?« Er zuckte zusammen, als er die plötzliche Wut auf dem Gesicht sei nes Vaters sah. Aber mit seinen Bemühungen, die kritische Andeutung näher zu erklären, machte er es nur noch schlimmer. »Paps, ich meine ja nur, dass es mich wundert, warum der Oberst ausgerechnet bei ei nem kleinen Lastwagentransportbataillon gelandet ist.« Charles Stein packte den Arm seines Sohnes mit einer Kraft, die den jungen Mann schmerzte. »Dass ich solche Reden von dir nicht noch einmal höre! Nie und nimmer. Verstanden?« Stein sprach mit leiser und gemessener Stimme. »Glaubst du vielleicht, du hättest dir dein teures Studium in Princeton und deinen Thunderbird und dei ne Cessna und deine Jacht leisten können, wenn der Oberst nicht ge 46
wesen wäre? Wenn wir damals, 1945, nicht unsere Köpfe riskiert hät ten?« »Mein Gott, Paps, es tut mir leid. Ich hab' es wirklich nicht so ge meint.« Im Augenblick war die Wut verflogen. »Es ist an der Zeit, dass ich dir die ganze Geschichte erzähle, Billy. Ich werde auch nicht jünger. Ich habe letzthin viel an den Oberst denken müssen. Gestern träumte ich wieder einmal von der Nacht, als wir die Lastwagen klauten.« Und Stein erzählte seinem Sohn von der schicksalsschweren Nacht, da er zu seinem Oberst gegangen war und ihm vorgeschlagen hatte, wie es sich mit den Papieren einrichten ließe, die Lastwagen mit dem ungemünz ten Gold und den Schätzen als Lebensmitteltransporte für eine Artil leriekompanie in der Nähe der Schweizer Grenze zu deklarieren. Billy hörte ihm gespannt und überrascht zu. »War das deine Idee, Paps? Das hat du mir nie erzählt.« »Nein, Billy, das meiste habe ich dir verschwiegen. Vielleicht hätte ich es dir schon längst erzählen sollen. Also Oberst Pitman war in der Stadt, als unsere Geheimbefehle vom Hauptquartier der 3. Armee ka men. Pitman war damals Major, ich Korporal im Ordonnanzzimmer. Ein Kradmelder brachte einen Umschlag mit dem Stempel des Haupt quartiers und der Aufschrift ›GEHEIM‹. Der Mann verlangte eine von Pitman unterschriebene Empfangsbestätigung. Ich konnte ihm natür lich nicht sagen, dass Pitman mit einer Flasche Scotch, die ich ihm be sorgt hatte, in der Stadt war, wo er ein junges Fräulein zu verführen be absichtigte, das er am gleichen Morgen in seinem Büro kennen gelernt hatte. Es war Kriegszeit. Das Bataillon stand in Bereitschaft und hätte jeden Augenblick eingesetzt werden können. Für das Verlassen seines Postens und die Anbändelei mit einer deutschen Zivilistin hätte er vor das Kriegsgericht kommen können.« »Du hast seine Unterschrift gefälscht?« »Dazu sind Korporale der Ordonnanzen schließlich da.« »Du hast seine Karriere gerettet, Paps.« »Und er hat mir auch einige Male den Kopf gerettet, Billy. Wir wa ren ein gutes Team.« 47
»Und was waren nun diese Geheimbefehle?« Stein lachte. »Geheimbefehle vom Hauptquartier der 3. Armee. Der Krieg in Europa ging seinem Ende zu. Eine Frage von Stunden. Ich war überzeugt, dass es sich um Heimschiffungsbefehle für uns han delte und wollte es als erster wissen.« Er beugte sich seinem Sohn nä her zu. »Ich dachte mir, ich könnte noch schnell ein paar Wetten ab schließen, bevor die offizielle Bekanntgabe verlesen wurde.« Er lach te wieder. »Ich war also sehr enttäuscht, als ich las, dass wir einen Transport unter Eskorte machen sollten. Nur wieder so eine Milch kannenfuhre von Merkers nach Frankfurt, das habe ich mir damals gesagt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich da ein Stück Papier in der Hand hielt, das mir mehrere Millionen Dollar netto einbringen wür de.« Die beiden Männer saßen einige Minuten lang schweigend im Wa gen, und dann sagte Stein: »Schau mal auf deine Uhr. Wir sollten lie ber gehen, oder ich verpasse den Flug nach Genf, und dann muß ich in Paris oder London oder sonst wo umsteigen.« »Pass gut auf dich auf, Paps.« »Darauf kannst du dein letztes Hemd verwetten, Billy«, sagte Char les Stein. Es war Freitag, der 25. Mai 1979.
7
A
m gleichen Freitag saßen Boyd Stuart und Jennifer in London beim Lunch im Les Arcades, einem kleinen Bierlokal in Belgravia. Bei Sotheby's gegenüber hatte eine Auktion stattgefunden, und alle Ti sche waren besetzt. Jennifer Ryden – wie sie sich jetzt nannte – trug ei nen hellen Pelzmantel. Ihre Augen leuchteten, die Lippen waren per fekt geschminkt, ihr Teint strahlte Gesundheit aus. Sie war noch das 48
gleiche blendend schöne Mädchen, in das Boyd Stuart sich so wahn sinnig verliebt hatte; aber jetzt sah er sie mit anderen Augen. »Daddy war wieder einmal ganz wunderbar!« »Weil er mich nach Kalifornien schickt? Das meinst du doch?« »Soll das nicht geheim sein?« sagte sie. Die Zurechtweisung war un missverständlich. Sie piekte die Gabel in ein trockenes Salatblatt und führte es in ihren kleinen Mund. »Vor dir habe ich keine Geheimnisse, Jennifer«, sagte Boyd Stuart. Sie blickte von ihrem Teller auf und gab mit einem Lächeln zu, dass ihr Exgatte diese Runde gewonnen hatte. »Du hast nicht doch zufällig meine Schnupftabaksdose mit der schönen Einlegearbeit gefunden?« »Sie ist bestimmt nicht in der Wohnung, Jenny.« »Und auch nicht die goldene Uhr?« »Nein«, sagte Stuart. »Sie ist mit der Inschrift ›für Elliot‹ versehen – eine alte Uhr mit gol denem Klappdeckel.« »Du hast mich schon ein Dutzend Mal danach gefragt, Jenny. Ich habe wirklich überall nachgesehen.« Auf ein Zeichen Stuarts brachte der Kellner den Kaffee. »Ich habe eine Liste hier«, sagte sie. Sie öffnete ihre Hermes-Hand tasche, holte ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch mit golde nem Bleistift heraus. Er hatte schon immer diese kleinen Listen, die sie ihm vorzulegen pflegte, gehasst. Einkaufslisten, Bücherlisten, Verabre dungslisten und leider nur zu oft Listen von Dingen, die andere für sie erledigen sollten. »Mamis Foto im Silberrahmen habe ich gefunden«, sagte sie und strich diesen Gegenstand behutsam von der Liste, die sie ihm dann reichte. »Jennifer Ryden«, so stand es eingraviert oben auf dem mit Wasserzeichen versehenen Papier, in säuberlicher, ordent licher, fehlerloser Handschrift. »Am wichtigsten ist mir die goldene Uhr«, fügte sie hinzu. »Der Kriminalroman stammt aus der Stadtbi bliothek. Wenn wir ihn nicht finden, werde ich ihn einfach bezahlen müssen. Hast du in die Toilettentischschublade geschaut? In die, die immer klemmt?« »Jennifer, ich habe es dir bereits gesagt, und wenn du mich nicht für 49
fähig hältst, all die kleinen Sachen zu finden, dann kannst du dich sel ber umsehen. Du hast ja noch den Schlüssel.« Sie erschauderte theatralisch. »Die Möbel und die Sachen in der Wohnung würden mich nur an die Schrecken erinnern, die ich mit dir durchgemacht habe.« »Die meisten Möbel hast du dir ja genommen«, sagte Boyd Stuart, »und Schlafzimmer und Vestibül sind neu eingerichtet.« »Es war Daddys Uhr. Er hängt so sehr daran. Du solltest dich noch einmal richtig umschauen.« Sie neigte den Kopf zur Seite und schenk te ihm ein höchst einnehmendes Lächeln. »Hast du eine Verabredung?« Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Ein spindeldürrer junger Mann wartete draußen. Er sah genau wie all jene jungen Män ner aus, die für Jennifer Pakete tragen, Taxis rufen und beim Regen den Schirm halten mußten. Er hatte sich seine karierte Mütze über die Stirn gezogen, trug eine Regimentskrawatte und einen gutgeschnitte nen Anzug. Er sah Jennifer aufstehen und winkte ihr zu. Sie winkte nicht zurück. »Also sage mir bitte nicht nur, dass du nachsehen wirst.« Sie gab ihm die Liste. »Sorge bitte dafür, dass mir jemand die Post nachschickt.« »Liebste Jennifer«, sagte Boyd Stuart, »nach der Scheidung von dir werde ich der glücklichste Mensch der Welt sein.« »Das ist flegelhaft«, sagte Jennifer Ryden. Es war ihr Lieblingsaus druck für Missbilligung. »Ich bin ein Flegel«, sagte Boyd Stuart. »Ich bin schon immer ein Fle gel gewesen.« »Sei wenigstens kein Flegel, was Daddys goldene Uhr anbetrifft«, sagte sie. »Ich werde sie suchen«, sagte Boyd Stuart. Sie zog sich den Pelz über die Schultern, blickte ihn an, glaubte, es ihm noch einmal erklären zu müssen. »Sie hat sentimentalen Wert. Mami und Daddy sind wütend auf mich, weil ich sie verloren habe.« »Jennifer, du warst doch nicht in der Wohnung und hast meinen an tiken Schreibtisch aufgebrochen?« 50
»Boyd! Wie kannst du so etwas von mir auch nur vermuten?« Sie warf einen Blick in den Spiegel und richtete sich das Haar mit ei ner Geste, die Stuart an ihren Vater erinnerte. Sie gab ihm einen Ab schiedskuss, achtete jedoch mit Rücksicht auf ihren Lippenstift darauf, dass ihre Lippen sich nicht berührten. Boyd Stuart blickte ihr nach, als sie hinausging, sah die Wirkung, die sie auf den draußen wartenden jungen Mann ausübte, und erkannte darin etwas von sich selbst wie der. Er dachte immer noch an sie, als der Kellner ihm die Rechnung brachte.
8
I
n Genf war es bewölkt und kühl, als der Jumbo-Jet mit Stein an Bord am Samstagnachmittag des 26. Mai 1979 landete. Erich Lo den, Oberst Pitmans Chauffeur, hatte Erlaubnis eingeholt, durch den Zoll und den unterirdischen Tunnel zu gehen, um Stein beim Passa giertransit zu erwarten. »Ihr Sohn rief an und sagte uns, wann Sie ankommen würden, Mr. Stein. Der Herr Oberst schlief gerade, aber er hätte es sicher gewünscht, dass ich Sie wie gewöhnlich abholen komme. Zwei Gepäckstücke, Mr. Stein?« »Ein Aluminiumkoffer.« Stein gab ihm den Gepäckschein. »Ich gehe noch eben zum Bankschalter, um ein bisschen Geld zu wechseln, Erich. Ich sehe Sie dann beim Zoll – grüne Tür. Wo ist der Wagen?« »Direkt am Ausgang vor der Ankunftshalle.« Stein nickte. Er legte zehn Hundertdollarscheine auf den Schalter tisch und bekam dafür eine enttäuschend kleine Summe in Schweizer Franken. Stein liebte große Scheine – sie vereinfachten seine Berech nungen und ließen die Brieftasche nicht zu sehr anschwellen. Er folgte dem Fahrer durch die Zollabfertigung und die Menschen 51
menge. Ein weißer Rolls-Royce mit Schweizer Kennzeichen parkte di rekt vor der Glasschiebetür. Der Fahrer öffnete ihm den Schlag. »Ein neuer Wagen, Erich?« »Wurde gerade geliefert, Sir. Der Herr Oberst kauft alle fünf Jahre ei nen neuen Rolls. Immer weiß, immer die gleiche braune Lederpolste rung, getönte Scheiben, Stereo Hi-Fi, UKW-Radio und Telefon. Er hat natürlich noch den Jaguar. Den zieht er vor, wenn er selbst fährt.« Stein klopfte auf das Dach, bevor er einstieg. »Wann wird er endlich auf ei nen Mercedes überwechseln, Erich?« »Der Herr Oberst würde sich nie einen deutschen Wagen kaufen. Das wissen Sie doch, Mr. Stein. Er hat sogar den Farbfernseher ins Ge schäft zurückgeschickt, als er herausfand, dass er zum Teil in Deutsch land hergestellt worden war.« Stein lachte. Er mochte Erich Loden, der seit über 20 Jahren dem Oberst als Chauffeur, Diener und Faktotum diente und ihm sehr er geben war. Stein setzte sich in den Wagenfond und drehte an den Knöpfen des Radios, aber der Empfang war durch die Stahlpfosten der Flughafen gebäude blockiert. Er zog eine Kassette aus dem Kasten und schob sie in den Schlitz. Die Musik Django Reinhardts erfüllte den Wagen. Er drosselte die Lautstärke. Der Fahrer setzte sich ans Steuer und startete den Motor. »Noch ir gendwelche Besorgungen in der Stadt, Mr. Stein? Soll ich bei der Kon ditorei vorbeifahren?« »Ach ja«, sagte Stein, als dachte er zum ersten Mal über diesen Vor schlag nach. »Auf eine Tasse Kaffee bei Madame Mauring? Warum nicht?« »Wie der Herr wünschen«, sagte der Fahrer. Es war ein Witz, den sie beide verstanden. Stein machte selten den Weg vom Flughafen zu Oberst Pitmans Haus, ohne das wohlbekannte Café Tea Room & Con fiserie Mauring in der Nähe der Kathedrale zu besuchen. Nach diesem Entschluss lehnte sich Stein zurück, ließ die Welt an sich vorüberziehen. Den modernen Fabrikgebäuden folgten teure Wohnblocks, gepflegte Rasenflächen; die Geschäftsstraßen mit ihren 52
Schaufenstern voller säuberlich ausgelegter Käse- und Wurstsorten und das matte Glitzern von Armbanduhren, die in endlosen Reihen ausgestellt waren. Madame Mauring, eine ältere Dame mit enganliegendem, dauerge welltem Grauhaar und rötlichem Gesicht, war berühmt für ihre Sah netorten und ihr Marzipangebäck, das Stein besonders liebte. »Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht«, sagte Stein und ent nahm seiner Flugtasche ein Fläschchen Parfum, das er im Flugzeug gekauft hatte. »Für meine liebste Freundin. ›Infini‹.« »Sie sind ein netter Mann, Mr. Stein«, sagte sie und gab ihm ein ra sches Küsschen auf die Wange. Stein lächelte vergnügt. »Und jetzt bringe ich Ihnen den neuen Mandelkuchen. Er ist noch warm, aber das macht nichts, ich werde ihn selber schneiden.« Das war allerdings eine große Gefälligkeit, denn Madame Mauring ließ es sonst nie zu, dass ihre Schöpfungen in Scheiben geschnitten wurden, bevor sie kalt waren. Stein setzte sich in die kleine Teestube und blickte sich zufrieden um. Die hellen Tapeten, die altmodischen Tische aus Schmiedeeisen erfüllten ihn mit fast persönlichem Stolz. Charles Stein hatte Madame Maurings kleines Geschäftsunternehmen finanziert, nachdem er in ei nem großen Restaurant in der Rue du Rhône einige Kostproben ihres Gebäcks verzehrt hatte. Das war vor 18 Jahren gewesen, und im letzten Jahr hatte er ihr gestattet, seine Anteile zurückzukaufen. »Im nächsten oder übernächsten Jahr wird meine Tochter die Tee stube übernehmen. Ihr Mann arbeitet in einem guten Restaurant in Zürich. Sie werden dann beide nach Genf ziehen.« »Das ist ja sehr schön für Sie, Madame Mauring. Aber ich kann mir diesen Ort ohne Sie nicht vorstellen. Was machen Sie mit Ihren Stammkunden?« »Ich behalte meine Wohnung im ersten Stock«, sagte sie. »Und auch Ihr Zimmer. Das alles bleibt unberührt.« »Ich danke Ihnen, Madame Mauring. Hier hat ja alles angefangen, wissen Sie noch?« »Ja«, sagte sie. Sie hatte oft genug die Geschichte von den Ameri 53
kanern gehört, die in der Wohnung über einem Juweliergeschäft in der engen, steilen Straße, die zur Kathedrale führt, eine Handelsbank gründeten. Die Hochkonjunktur der Nachkriegsjahre hatte es ihnen ermöglicht, den Sitz der Bank bald an den Quai des Bergues am Rhô neufer zu verlegen. Aber jeder Winkel und jede Ecke dieses Hauses er weckten in Stein Erinnerungen. Er war damals oft über den Atlantik hin- und her geflogen; hatte rasch gelernt, wie man in der Schweiz Ge schäfte macht, den Oberst ermutigt, in den Kampf mit der Konkurrenz einzusteigen, und oft genug schwierige Kunden beruhigt, wenn einmal etwas schiefgelaufen war. Madame Mauring bestand stets darauf, dass er ein Zimmer in ihrer Wohnung behielt; aber Stein konnte sich kaum noch daran erinnern, wann er es zum letztenmal benutzt hatte. »Nehmen Sie den Rest des Mandelkuchens mit«, sagte sie. »Ich habe eine Schachtel bereitgestellt.« Stein ließ sich nicht lange zureden. Er fand es sehr beruhigend, etwas zum Naschen bei sich zu haben, selbst in einem so wohlorganisierten Haus wie dem des Obersten Pitman. »Sie ist eine gute Frau«, sagte er zum Fahrer, als er sich wieder in das Lederpolster des Rolls setzte und einige Kuchenkrümel vom Mund wischte. »Der Herr Oberst geht jetzt nie mehr hin«, sagte der Fahrer. »Er meint, Kuchen und Kaffee seien nicht gut für seine Verdauung. Saftla den nennt er es. Wussten Sie das?« Stein grunzte. Oberst Pitman war tatsächlich kein Feinschmecker. Ein Blick genügte, um das festzustellen: dürr, peinlich genau und maß voll. Die meisten West-Point-Offiziere schienen ähnlich zu sein. Der Oberst rühmte sich stets, dass ihm seine Kriegsuniform noch passe. Und das war wirklich eine Leistung, die Stein nicht bewunderte. »In der Stadt wird wieder ein schönes Gedränge herrschen. Es ist Stoßzeit. Bei den Straßenverengungen an den Brücken gibt es immer Verkehrsstaus.« Als der Wagen wieder halten mußte, sagte der Fahrer zögernd: »Ich möchte mir nichts herausnehmen, Mr. Stein.« »Was ist?« »Ich dachte mir nur, Sie sollten wissen, dass der Herr Oberst sich je 54
den Nachmittag ausruht. Deshalb ist er nicht zum Flughafen gekom men. Sie werden ihn wahrscheinlich nicht sehen, bevor er auf einen Drink herunterkommt.« »Ist er schon lange so?« »Etwa seit drei Wochen«, sagte der Fahrer. »Der Arzt hat einen Herz spezialisten aus Lausanne kommen lassen. Letzten Monat wurde er gründlich untersucht. Man hat ihm gesagt, er müsse sich schonen.« »Ich verstehe.« »Dem Herrn Oberst hat das natürlich gar nicht gefallen. Sie können sich wohl denken, was er darauf erwiderte, aber den Rat hat er sich trotzdem zu Herzen genommen.« »Der Oberst ist ein bewunderungswürdiger Mann«, sagte Stein. »Sie kennen ihn ja seit langem, Mr. Stein. Ich finde es großartig, wie Sie alle vom Bataillon gute Freunde geblieben sind und genügend Geld zusammengelegt haben, um ein Geschäft zu finanzieren. Es war eine tolle Idee, Mr. Stein! Eine kleine Privatbank hier in Genf. Wie sind Sie bloß darauf gekommen?« »Ich weiß nicht«, sagte Stein. »Einer von uns hat es mal aus Spaß vor geschlagen, und dann haben wir es uns ernstlich überlegt.« Stein erinnerte sich an jene Nacht, als sie feststellten, wieviel Gold sie gestohlen hatten. Zuerst hatten sie alle möglichen verrückten Ide en, was sie damit anfangen sollten. Die meisten schlugen vor, es ir gendwo in der Erde zu vergraben. Nur Stein war auf einen originel leren Gedanken gekommen: die Gründung einer Privatbank, ein Ge schäftszweig, wo ein riesiger, plötzlicher Kapitalzufluss nicht allzu sehr auffiel. Stein brauchte den Oberst nicht lange zu überreden. Seit dem Tage, da Oberleutnant Pitman im Hauptquartier des Bataillons ange kommen war, hatte er sich stets an Stein um Rat gewendet. Aber als Oberst John Elroy Pitman der Dritte hatte er genug Charme aufgebo ten, um einen Armeegeneral a.D. der Vereinigten Staaten und einen verarmten englischen Lord in den Aufsichtsrat der Bank zu kriegen. Mit diesen Namen auf dem Briefkopf war alles übrige verhältnismä ßig leicht gewesen. Die schweizerischen Behörden waren in jener Zeit britischen und amerikanischen Staatsbürgern gegenüber sehr hilfsbe 55
reit und gewährten angloamerikanischen Kommissionen sogar Ein blick in gewisse Konten Schweizer Banken, auf denen Nazigelder hin terlegt waren. »Wie lange kennen Sie den Oberst, Mr. Stein? Verzeihen Sie, dass ich mir diese Frage erlaube.« »Ich bin ihm zuerst 1943 begegnet«, sagte Stein. »Er war damals nur Oberleutnant, aber der härteste Kerl im ganzen Regiment, das kann ich Ihnen sagen. Dreimal hintereinander gewann er im Regiment die Boxmeisterschaft. Er war nämlich schwer für einen Mittelgewicht ler: 150 amerikanische Pfund, nur mit knapper Mühe unter den vor schriftsmäßigen 160. Wegen des vielen Trinkens im Offiziersklub. Ja wohl, ein wahrer Prachtkerl.« »Wir sehen hier nie jemanden von seiner Familie«, sagte der Fahrer. Er rückte ein wenig auf seinem Sitz, um Charles Stein im Rückspiegel zu sehen, und fuhr zögernd fort: »Zu schade, dass der Herr Oberst nie geheiratet hat. Er ist nämlich sehr kinderlieb. Er hätte eine eigene Fa milie haben sollen.« »Seine Familie war das Bataillon«, sagte Stein. »Er liebte seine Leu te, Erich. Für manche dieser Hundegesichter war er der einzige Vater, den sie je gekannt hatten. Aber dass sie mich nicht falsch verstehen – es war nichts unnatürliches dabei. Der Oberst hat halt ein größeres Herz als jeder andere.« Die Gitarrenmusik ging zu Ende; Stein ließ die Kassette noch ein mal durchlaufen. »Wie lange war der Oberst nicht mehr in den Staa ten?« fragte Stein. »Seit seiner Entlassung aus der Armee nicht mehr.« »Das wäre also um 1948«, sagte Stein. »Eine lange Zeit.« Er blickte auf die Landschaft hinaus. Die Alpen ragten jetzt über ihnen. Auf der an deren Seeseite hoben sich die Umrisse des Juras hinter einer Dunst- und Wolkenschicht ab. Wenn die Sonne nicht schien, war es am Wasser kalt. Hier hätte sich Charles Stein nie wohl gefühlt. Er fand die umliegenden Berge bedrückend und die Einwohner kalt und reserviert. Sie befanden sich hier in der Nähe der französischen Grenze, aber man merkte so fort, dass dies noch die Schweiz war. Man fuhr durch saubere, ordent 56
liche Dörfer, wo die Hunde vor ihren Hütten angekettet und die Holz scheite nach Größe sortiert vor den Häusern aufgeschichtet waren. Der Rolls bog ein, als die Tore sich öffneten. Der Kies knirschte un ter den Reifen. Langsam bewegte sich der Wagen an gepflegten Ra senflächen und dem Sommerpavillon vorbei, dort, wo Oberst Pitman bisweilen seinen Nachmittagstee einnahm. Der Kiesweg endete in ei nem Kreis um einen großen Springbrunnen. Ein angemessener Rah men für das große Herrenhaus, dessen gegenüberliegende Wiesen und Hecken sich bis zum Seeufer erstreckten. Stein erschien es als ein fin sterer alter Kasten. Eine jener großen Liegenschaften, von denen skru pellose Genfer Grundstücksmakler behaupten, sie haben Charlie Cha plin, Noël Coward oder dem Ex-Schah vom Iran gehört. Auf den Stu fen stand ein Diener mit grüner Schürze bereit, um dem Chauffeur beim Tragen des Gepäcks zu helfen. Das Haus selbst stellte ein freudloses Durcheinander von Türmen und Zinnen dar und ähnelte der reduzierten Version eines Rathau ses im neugotischen Stil. Steins Schritte hallten auf den gemusterten Steinfliesen wider. Selbst jetzt, im Mai, war es kalt. Ein massives Mo biliar – riesige Buffets und Anrichten aus poliertem Mahagoni, hohe Glasschränke voll nie benutztem Keramikgeschirr. Im Vestibül stan den vier Ritterrüstungen, die in der Dunkelheit nur an ihrem schwa chen Metallglanz zu erkennen waren. Auf dem runden Tisch – um eine große Vase mit frischen Blumen herum – lagen Tageszeitungen aus, einige Zeitschriften und Briefe; aber ungeöffnet und scheinbar nicht berührt. Ein Diener führte Stein in ein Schlafzimmer der ersten Etage. Ne ben dem großen Mahagonibett mit cremefarbenen seidenem Stepp überzug stand ein antiker Tisch mit einer Schale frischer Früchte und einem illustrierten Werk über Automobilmodelle früherer Baujah re. Über dem Bett hing das Gemälde irgendeines holländischen Ma lers aus dem 18. Jahrhundert: sepiafarbene Segelschiffe, sepiafarbenes Wasser, sepiafarbener Himmel. Der Diener öffnete die Fenster, hinter denen sich ein winziger gusseiserner Balkon verbarg. Garten und See wirkten farblos im grauen Nachmittagslicht. 57
»Wünscht der Herr, dass ich beim Auspacken helfe?« »Nein. Ich werde mich in die heiße Wanne setzen und mir den Staub der Reise aus den Runzeln waschen.« »Wie der Herr wünschen. Der Herr werden alles fertig und bereit vorfinden.« Der Diener öffnete die Anrichte vor dem Fenster. Gläser in jeder Größe, einige Flaschen Bordeaux in einem Ständer, eine ungeöff nete Flasche Jack Daniel's Bourbon Whiskey. »Und im Kühlschrank ist sicher auch Selterswasser«, sagte Stein ent zückt. »Der Oberst denkt immer an alles.« »Jawohl, der Herr«, sagte der Diener, hielt einen Augenblick inne und sagte: »Das Abendessen wird um neunzehn Uhr dreißig serviert. Der Herr Oberst wird gegen neunzehn Uhr auf einen Drink in sein Ar beitszimmer kommen. Er bittet Sie, sich dort mit ihm zu treffen.« »Das werde ich gewiss tun«, sagte Stein. »Die Klingel ist an der Tür, falls der Herr Tee oder Kaffee oder ir gend etwas zu essen wünschen.« Das sagte er immer, aber Stein unter brach ihn nicht; denn er wusste, dass er es für seine Pflicht hielt: ein Schweizer. »Nein, danke, ich brauche nichts. Ich sehe den Oberst dann später.« Der Diener verbeugte sich kurz und verschwand. Stein öffnete die Flasche Jack Daniel's und goss eine gute Portion in den Ausguss. Er trank seit langem keinen Bourbon mehr, wollte aber niemandes Ge fühle verletzen. Nachdem er eine Flasche Selters nachgeschüttet hat te, hielt er sich den Whiskey vor die Nase. Der süßliche Geruch brach te alte Erinnerungen zurück. Die Stille beeindruckte ihn. Er stand eine Weile im sonnenlosen Licht, die Whiskeyflasche in der Hand, blickte hinaus auf die lila gekräuselte Oberfläche des Sees. Von unten her, aus der Halle, ertönte das leise Läuten der Lieblingswanduhr des Obersten. Er erinnerte sich an das alte polnische Sprichwort seiner Mutter: »In einem Haus aus Gold sind die Stunden aus Blei.« Da Stein seinen Besuch so kurzfristig angekündigt hatte, ließ es sich nicht vermeiden, dass andere Gäste zum Abendessen kamen. Es wa ren beiläufige Bekannte, die Pitman geschäftlich kennen gelernt hat te. Ein Börsenmakler aus Paris, der mit Frau und junger Tochter die 58
Ferien am Genfer See verbrachte, und ein französisches Ehepaar, das in Zürich eine Autovermietung betrieb. Die Konversation beschränk te sich auf höfliche Banalitäten. Stein hatte zwar noch rasch vor An kunft der Gäste seinem Freund vom Tod MacIvers erzählen können; doch erst nach dem Abendessen hatten Stein und Pitman wieder Ge legenheit, allein zu sein. »Sie sehen gut aus, Stein.« »Sie auch, Herr Oberst.« »Wie wäre es mit einem Schlaftrunk? Wollen mal sehen, was wir im Keller haben.« Es war stets die gleiche Zeremonie. Sie stiegen ins sauber eingerichte te Untergeschoß, am Kohlen- und Holzkeller vorbei, traten in den lan gen Gang, dort, wo der Wein gelagert wurde. »Bordeaux oder Burgun der?« fragte der Oberst. »Der Wein bei Tisch war köstlich.« »Vielleicht haben wir noch etwas Besseres«, sagte der Oberst und schritt prüfenden Blicks die Reihen verstaubter Flaschen ab. »Für ei nen alten Armeekameraden ist nur das Beste gut genug.« Hinter dem Wein lag ein Lagerraum, in dem sich alte Koffer sta pelten. Auch einige Hirschgeweihe und andere Jagdtrophäen, staubi ge, verschmutzte Wildschwein- und Damhirschköpfe waren zu sehen. Wie Stein sich erinnerte, waren sie einst des Obersten Stolz gewesen, aber auf einer Party gegen Ende der 60er Jahre hatten einige Batail lonskameraden darüber Witze gemacht. Seitdem hatte sie der Oberst nie mehr erwähnt. Pitman legte großen Wert auf die Meinung seiner Leute. Vielleicht übertrieb er es sogar manchmal. »Hermitage!« rief der Oberst. »Der wird Ihnen bestimmt schmecken. Er birgt die typische Würze des oberen Rhônetals und bietet einen interessanten Vergleich zum Châteauneuf-du-Papp, den wir bei Tisch tranken.« Der Beschluss war gefasst. Pitman ging Stein voran, nahm die Kellertreppenstufen mit einer Vorsicht, die seinem Freund Sorge machte. »Mir wird manchmal ein bisschen schwindlig«, erklärte er. »Geben Sie mir die Flasche, Herr Oberst.« Oberst Pitman hielt sich am Geländer fest und stieg die steilen Stu 59
fen hinan. »Ich bin noch nie gefallen«, erklärte er, »aber das Licht hier unten täuscht manchmal.« »Das ist bei allen Weinkellern der Fall«, sagte Stein. »Immer wackeln die Stufen, sobald man sie verläßt. Sie sollten sich lieber wieder an das Evianwasser halten, Herr Oberst.« Pitman kicherte leise. Er schätzte es, dass Stein sich bemühte, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Sie gingen in Pitmans Arbeitszimmer, einen kleinen Raum, der wie das Büro eines Geschäftsmanns aussah. Ein Schreibtisch aus Eichen holz zwischen den Fenstern, zwei bequeme Ledersessel mit Fußbän ken und Messingaschenbechern daneben. An den Wänden: Fotos, Ur kunden und Andenken an die Dienstjahre und Jagdausflüge des Ober sten. Auf dem Regal neben der Tür thronten einige Silberpokale ver schiedener Autorennen. Das Licht war hier besser, und Stein erkannte mit Bestürzung, wie sehr sich Oberst Pitman nach seinem letzten Besuch vor kaum eini gen Wochen verändert hatte. Das Alter schien ihn eingeschrumpft zu haben. Pitman setzte sich und entkorkte die Weinflasche. »Wir werden alle älter, Korporal, das läßt sich nun mal nicht ändern. Ich habe vor kur zem schlimme Nachrichten erhalten. Bereiten Sie sich auf einen Schock vor. Einer aus unseren Reihen ist gestorben.« »Das ist aber eine schreckliche Nachricht, Herr Oberst.« »Hauptfeldwebel Vanelli. Können Sie es glauben? Ein so kräftiger, gesunder Mann?« »Ja, Oberst, Sie erzählten mir bereits von Vanelli«, sagte Stein. Tat sächlich hatte ihm Pitman diese Geschichte schon zweimal anlässlich seiner letzten Besuche erzählt. »Reichen Sie mir zwei dieser Stielglä ser aus dem Schrank hinter Ihnen. Ja, Vanelli hinterließ Frau und zwei Töchter. Der beste Unteroffizier im ganzen Bataillon, würde ich sagen. Meinen Sie nicht auch?« Er nahm ein Papiertaschentuch, wischte be hutsam den Flaschenhals aus, goss Wein in die beiden Gläser, die Stein auf den Schreibtisch gestellt hatte. »Sie bekamen natürlich die übliche Abfindung. Wir haben das Geld, wie immer, innerhalb 14 Tagen über 60
wiesen. Es ergab eine hübsche Summe; aber das nur, weil der amerika nische Dollar nicht mehr das ist, was er einmal war. Es ist noch nicht lange her, da bekamen wir für einen Dollar über vier Schweizer Fran ken. Jetzt muß ich froh sein, wenn ich eins siebzig kriege. Sie wären ent setzt, wenn Sie wüssten, was mich der Unterhalt dieses Hauses kostet. Und mit den Riesensummen, die wir in den Staaten festverzinslich an gelegt haben, sind uns in den letzten Jahren ganz schöne Verluste ent standen. Ich habe Ihnen doch die Abrechnungen gezeigt, nicht wahr?« »Ja, Herr Oberst, das haben Sie. Das war halt etwas, was niemand hat te voraussehen können.« Stein ging hinüber zum Fenster. Der Himmel hatte sich aufgeklärt. Es war eine schöne Frühlingsnacht, hell genug, dass noch einige Vögel im rötlich dunklen Himmel herumschwirrten. Pitman kam nun auch ans Fenster, als wollte er sehen, was Stein sich da anschaute. »Niemand konnte voraussehen, was auf den Devisen märkten passiert ist«, sagte Stein. Die Schatten junger Birken und Weiden warfen Muster auf die ölig aussehende Seeoberfläche. Man sah die sich bewegenden Scheinwer ferlichter der Wagen auf der Straße längs der Küste. Es war Samstag abend, der Verkehr war stark. Oberst Pitman hielt die beiden Weinglä ser. »Kosten Sie das mal, Korporal«, sagte er und reichte ihm eins. »Vielen Dank, Herr Oberst«, sagte Stein mit jener gebührenden Höf lichkeit, die ein Mann seinem Herrn schuldet. Mit Rücksicht auf den Oberst und das Klima hatte Stein sich umgezogen und trug einen nüchternen dunklen Anzug aus Wollstoff. Sie tranken. Pitman sagte: »MacIver war der Name?« »Militärpolizeieinheit. Er war Leutnant.« Der Oberst hatte also wäh rend des ganzen Abendessens über Steins Bericht nachgedacht. »Irgendwie kann ich ihn nicht recht unterbringen«, sagte Pitman. »Und Sie sind dann zu dieser Filmgesellschaft gegangen und haben mit denen geredet?« »Wie ich Ihnen sagte, Herr Oberst. Man erzählte mir, dieser Lustig – der Mann, den MacIver erwähnt hatte – sei in Europa. Ich habe mit ei nem Mann gesprochen, der sich Max Breslow nennt. Er meint, er wür de wahrscheinlich den Film machen.« 61
»Was ist das für ein Mann?« »Nicht die Art Kerl, mit der ich mich in eine Schiffschaukel setzen möchte. Ich habe das Gefühl, dass sie etwas wissen, dass sie uns große Schwierigkeiten bereiten werden.« »Wir haben schon jetzt große Schwierigkeiten«, sagte Pitman be sorgt. »Ich sagte Ihnen am Telefon, dass ich die Dinge auf der Bank noch einmal persönlich nachprüfen werde. Das habe ich getan, und wir stehen einer Katastrophe gegenüber.« »Einer Katastrophe?« »Die Bank ist in Schwierigkeiten. Es gibt Konflikte mit der Kreditan stalt. Falls es uns nicht gelingt, sie umzustimmen, sieht es ganz so aus, als ob wir 100 Millionen Dollar verlieren werden.« »100 Millionen Dollar?« Stein lächelte. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Oberst. Kommen Sie schon.« »Ich wünschte, es wäre der Fall«, sagte Pitman. »Aber leider sind wir auf einen monumentalen Schwindel hereingefallen.« »100 Millionen Dollar«, sagte Stein fassungslos. Der Oberst hatte also schließlich doch mit der überraschendsten Nachricht aufzuwar ten. Stein hatte das Glas auf den Tisch gestellt und fuchtelte mit den Armen, als ertrinke er in einem Ozean des Entsetzens. »Wir verfügen in der Stadt über ein gründlich geschultes und hochbezahltes Bankpersonal aus Deutschland und der Schweiz. Wie, zum Teufel, konnten wir um 100 Millionen beschwindelt werden?« »Die Kreditanstalt ist die größte Bank Österreichs, und sie gehört dem Staat. Sie schrieben auf einen Mann namens Peter Friedman – wahr scheinlich auch ein falscher Name – Kreditbriefe im Werte von 100 Mil lionen Dollar für zehn große Pharmazeutika-Lieferungen aus, die sich im Freizonenlager des Züricher Flughafens befanden. Den Dokumenten gemäß, exportierte Friedman diese Ware von Holland nach Jugoslawi en, wo das Geschäft über die Interimpex, die jugoslawische Behörde für internationalen Handel, abgewickelt werden sollte. Friedman kann die Kreditbriefe der österreichischen Bank nicht transferieren, weil sie nicht transferierbar sind; aber man kann ihn nicht daran hindern, das Geld zu kassieren, indem er den Gewinn auf andere überschreibt.« 62
»Wie sind wir da hineingeraten?« »Unsere Bank gab Friedman das Geld gegen die Überschreibung der Gewinne am Verkauf der Pharmazeutika. Ein völlig normales Han delsverfahren, das übrigens sehr lohnend sein kann – wie es unsere Er fahrungen aus der Vergangenheit beweisen.« »Gewiss, Herr Oberst, aber lassen wir mal die kommerziellen As pekte beiseite. Was ist denn passiert?« »Friedman ist verschwunden. Wir haben im Freizonenlager auf dem Züricher Flughafen nachgefragt.« »Und es war Aspirin?« »Beinahe, jedenfalls bei weitem nicht das, was auf den Frachtbriefen steht. Die Ware ist etwa zwei Millionen Dollar wert.« »Können wir die Kreditbriefe nicht bei der Kreditanstalt einlösen?« »Ich wollte, wir könnten es, aber Kreditbriefe sind nicht übertrag bar – also für uns nicht einlösbar –, und sie werden ungültig, falls ir gendein Teil eines Import-Exportgeschäftes illegal ist oder den Anga ben nicht entspricht. Und das war hier der Fall. Die Kisten enthalten nicht die angegebene Ware. Und heute hörten wir von den Jugosla wen, dass diese Pharmazeutika nicht einmal für Jugoslawien bestimmt sind. Die Interimpex handelt nur als Vermittler für jemand anderen.« »Scheiße!« »Wir sind die Opfer eines raffiniert geplanten Schwindels«, sagte Pitman. »Ich bin kein Bankier, bin es nie gewesen und werde nie einer sein; aber in den mehr als 30 Jahren, in denen ich Gelegenheit hatte, die Arbeit unserer Bankexperten zu beobachten, habe ich einiges ge lernt. Eins steht für mich fest. Der alte Mr. Krug ist noch bestürzter als Sie. Und die jungen Kassierer sind in Sorge, dass es sich herumspre chen könnte – was ihren Karrieren im Bankwesen schaden würde. Die Sache ist also nicht auf unserem Mist gewachsen.« »Hat man Ihre Bewilligung eingeholt, Herr Oberst? Hat man sich nicht vorher mit Ihnen verständigt, bevor man das Geld auszahlte? Sie sind doch fast jeden Tag in der Bank. Erich hat es mir gesagt.« »Sie besprechen alles mit mir«, sagte Pitman. »Ständig rennen sie bei mir im Büro herum wie aufgescheuchte Hühner. Ich habe sogar gese 63
hen, wie Krug Banknoten ans Licht hielt, um die Wasserzeichen nach zuprüfen, bevor er einem Touristen 50 Dollar wechselte. Aber das hier sah wie eine Kapitalanlage mit Goldrahmen aus – ohne jedes Risiko.« »Wie stand es mit Referenzen?« »Friedman hat uns wunderbare Referenzen vorgelegt. Mein Direk tor hegte zwar den Verdacht, dass die Drogen nicht für Jugoslawien bestimmt waren – denn 100 Millionen Dollar schien eine viel zu hohe Summe für ein so armes Land und seine Bedürfnisse an Pharmazeuti ka. Derartige Dinge sind schon öfters vorgekommen, und die Bank hat eine große Menge Geld dabei verdient.« »Warum haben die Idioten die Referenzen nicht nachgeprüft?« »Immer mit der Ruhe, Korporal. Regen Sie sich nicht auf, damit kommen wir auch nicht weiter. Mein Direktor hat genau das getan. Eine der besten Banken Westdeutschlands erteilte uns glänzende Aus kunft. Sie schrieben, Friedman habe mit ihnen im Laufe der letzten acht Jahre in regelmäßiger Geschäftsverbindung gestanden, und seine Solvenz sei erstrangig.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Stein. »Ich habe dann am Telefon persönlich mit dem Präsidenten dieser Bank gesprochen, einem gewissen Dr. Böttger. Er sagte mir, nach ih ren Unterlagen sei ein solcher Brief von ihnen aus nie abgeschickt wor den. Ferner: Es gehöre nicht zu ihren Gepflogenheiten, derartige Emp fehlungen abzugeben.« »Und der Brief – nein, sagen Sie es mir nicht.« »Fehlt in unseren Unterlagen.« »Himmelherrgott!« Stein schlug sich wütend gegen die Stirn. »100 Millionen Dollar. Können wir den Verlust verkraften? Was geschieht jetzt?« »Eigentlich wollte ich nicht, dass sich die Nachricht von unseren Schwierigkeiten herumspricht, aber ich werde mich an andere Banken um Hilfe wenden müssen. Gestern haben wir es bei einer Großbank versucht. Sie haben uns glatt abgewiesen. Das will ja noch nichts besa gen. Wir werden den Sturm überleben, Korporal, davon bin ich über zeugt.« 64
»Warum ausgerechnet unsere Bank? Sind wir die Dümmsten?« »Keineswegs. Aber wir sind für diese Art Schwindel geeignet. Zwei fellos haben die betreffenden Leute unsere Methoden genau studiert, und vielleicht hatten sie jemanden bei uns sitzen, der den Brief aus unseren Unterlagen stahl. Aber andererseits: Referenzen werden nor malerweise nicht sehr sorgfältig aufbewahrt. Eine Putzfrau hätte den Brief stehlen können. Wir hatten ja keinen Grund zur Annahme, dass sich ein Dieb dafür interessieren könnte. Im übrigen kannten die Leu te unsere Geschäftsmethoden gut genug, um zu wissen, dass wir uns auf Peter Friedmans Angebot einlassen würden. Wie gesagt: Wir ha ben schon so manche derartigen Geschäfte gemacht und viel Geld da bei verdient. Und vielleicht haben sie auch vermutet, dass wir die Sa che allein finanzieren würden, anstatt uns mit anderen Banken zu sammenzutun.« »Wer ist Dr. Böttger? Was wissen wir über ihn?« »Er ist Direktor einer sehr erfolgreichen deutschen Bank«, sagte Pitman. »Scheiße«, rief Stein noch einmal aus und schlug in nutzloser Wut mit der Faust auf die Stuhllehne. »Im Augenblick können wir nichts weiter tun«, sagte Pitman. »Reden wir jetzt lieber über die Dokumente. Haben Sie mit Leutnant Sampson gesprochen?« »Ja.« »Ein guter junger Offizier«, sagte der Oberst. »Kennt sich ausgezeich net im Transportwesen aus, hat sich sehr ordentlich um die Papierar beit gekümmert, soweit ich mich erinnere.« »Jetzt ist er weder Offizier noch jung«, sagte Stein. »Ich spiele jede Woche Poker mit ihm. Er hat eine große Anwaltspraxis mit Büros in Los Angeles, San Francisco und Santa Barbara. Seine beiden Partner erledigen fast die ganze Arbeit. Jim Sampson ist halb im Ruhestand.« »Wie die Zeit vergeht«, sagte der Oberst. »So ist es«, sagte Stein. »Ich suchte ihn also auf und erzählte ihm, dass einige Leute aus der Sache mit der Kaiseroda-Mine einen Film zu machen planen.« 65
»Und er hat Sie über die Rechtslage aufgeklärt?« »Er war völlig verdattert«, sagte Stein. »Hat sich in seinen Sessel fal len lassen und wurde weiß wie ein Bettlaken. Aber nach einer Weile hat er sich erholt. Ich wies ihn darauf hin, dass ein Film über die Kaiseroda-Mine noch lange nicht bedeutete, dass man uns beim Klauen irgendwelcher Lastwagen zeigen würde. Vielleicht wollen sie nur eine Geschichte über den Schatz bringen.« »Und wenn sie nun nicht nur eine Geschichte über den Schatz brin gen wollen?« »Sampson sagt, die Abteilung DSK & A und die Alliierte Repara tionsbehörde hätten 1945 verlautbaren lassen, dass nichts fehle. Jim Sampson meint, die Regierung der Vereinigten Staaten müßte, falls sie uns gerichtlich verfolgen wollte, zuerst einmal zugeben, dass sie die ganze Zeit gelogen hat. Und das hält er für unwahrscheinlich.« »Jetzt sehe ich, warum Jims Partner ihn in den Ruhestand versetz ten«, sagte Oberst Pitman gereizt. »Sie haben mir nicht gesagt, dass er senil ist. Liest er denn nicht die Zeitungen? Weiß er denn nicht, dass alle Regierungen der Welt jederzeit Lügen verbreiten und keiner lei Reue zeigen, selbst wenn man sie bei ihren Unwahrheiten ertappt?« Oberst Pitman griff nach der Weinflasche, füllte die Gläser nach. »Ein verdammter Idiot, dieser Sampson. Hatte mir gleich gedacht, dass er es nie bis zum Hauptmann bringen würde.« Stein versuchte ihn zu besänftigen. »Jim hält es für unwahrschein lich, dass die Regierung der Vereinigten Staaten etwas unternehmen wird. Sie wird einfach behaupten, nichts davon zu wissen.« »Sehr kühl und ruhig und gefasst war er, was?« fragte Oberst Pitman ironisch. »Erinnern Sie sich an Jim Sampson, als ich ihm anbot, in un ser Geschäft einzusteigen?« »Leutnant Sampson zeichnete für die Abteilung Instandhaltung und Reparaturen verantwortlich«, sagte Stein. »Wir brauchten ihn, damit er der Militärpolizei bestätigte, wir hätten Motorschaden und müß ten am Straßenrand halten, während die übrige Wagenkolonne wei terfuhr.« »Lassen Sie Einzelheiten«, sagte Pitman. »Können Sie sich an den 66
blöden Kram erinnern, den Jimmy Sampson uns vorschwatzte? Dass er eine kranke Mutter hätte, die schwer leiden würde, falls man ihn nach Leavenworth schickte?« Der Oberst gab, als er an diese Szene dachte, ein grausames Kichern von sich; stellte sein Glas nieder, ging durchs Zimmer und öffnete die Humidorschatulle neben der Hausbar. »Wollen Sie eine?« Stein brauchte nicht zu antworten. Jeder wusste, dass er eine gute Zi garre nie ausschlug und ganz gewiß nicht jene, die Oberst Pitman von Davidoff, dem international berühmten und besten Zigarrenhändler Genfs, geliefert bekam. Der Oberst suchte behutsam eine große Zigarre aus. »Ich darf keine Zigarren mehr rauchen«, erklärte er. »Aber ich werde es genießen, Ih nen zuzusehen.« Er kappte das Mundstück, gab sie Stein und zündete sie ihm an. »Was sollen wir tun?« fragte er schließlich. »Der Verlust von 100 Millionen Dollar macht uns fertig«, sagte Stein. »Es wird sich herumsprechen«, sagte Oberst Pitman. »Vielleicht könnte die Bank den Verlust verkraften, aber das schwindende Ver trauen wird uns die Weiterführung der Geschäfte sehr erschweren, es sei denn, wir finden jemanden, der es aufkauft. Wir haben ja immer hin noch die staatlichen Garantien und so weiter. Bisher habe ich noch keine Erkundigungen über die juristischen Folgen eingezogen, weil ich die Geschichte nicht in der ganzen Stadt verbreiten will.« »Da wären zwei Millionen Dollar für die Kisten im zollfreien Lager des Züricher Flughafens«, sagte Stein. »Was haben wir sonst noch an festverzinslichen Papieren, Gold und anderen Dingen, die wir verkau fen könnten?« »Vielleicht eine Dreiviertelmillion Dollar«, sagte der Oberst trau rig. »Ich habe unsere Aktivposten wiederholt nachgeprüft. Durch den Kursverfall des amerikanischen Dollars entstand uns furchtbarer Schaden. Wir hätten vielseitiger sein sollen. Wenn ich dieses Haus ver kaufe, könnte ich vielleicht noch eine Million dazu legen.« »Kommt nicht in Frage, Herr Oberst«, sagte Stein. »Keiner von uns will Sie auf die Straße gesetzt sehen oder in irgendein lausiges kleines 67
Mietshaus in der Stadt. Es macht ohnehin den Braten nicht fett. Wir haben uns alle die Gewinne geteilt, wir werden auch gemeinsam die Verluste übernehmen.« Er rieb sich die Nase. »Ich nehme an, mit der Bank ist es jetzt aus.« »Es ist meine Schuld«, sagte Oberst Pitman. »Da beziehe ich ein hüb sches dickes Gehalt, um mich um euer Geld zu kümmern. Ich kann nicht im Luxus weiterleben, nachdem ich euch im Stich gelassen habe.« »Dann sollten wir vielleicht doch lieber die Dokumente an Breslow verkaufen oder an den, der am meisten dafür bietet«, sagte Stein. »Rennen wir nicht vom Regen in die Traufe«, sagte Pitman. »Im Au genblick fehlt es uns nur an Geld, und – seien wir mal ehrlich – es wird keinen von uns an den Bettelstab bringen. Wenn wir aber diese alten Dokumente auf den Markt bringen, riskieren wir 15 Jahre Leavenwor th. Bevor wir irgend jemanden wissen lassen, was wir haben, möchte ich mich erst einmal sehr genau über die Rechtslage erkundigen.« »Da haben Sie recht«, sagte Stein. »Sie lasen jedoch vor Jahren das ganze Zeug gründlich durch«, sagte Pitman. »Ich sehe Sie noch, wie Sie da oben saßen und büffelten. Was steht denn drin?« »Aller möglicher Mist«, sagte Stein ausweichend. »Mein Vater sprach fließend Deutsch. Er wollte immer, dass ich es lerne, aber Sie wissen ja wie Kinder sind. Ich hatte Schwierigkeiten beim Lesen, und dann ist das ganze Zeug in der gleichen verschrobenen Kanzleisprache ge schrieben, die auch unsere offiziellen Dokumente oft bis zur Unkennt lichkeit entstellt.« »Ich kann mich erinnern, dass Sie mir einmal einen Aktenstoß zeig ten«, sagte der Oberst. »Es war das Protokoll einer Sitzung. Es hat Sie damals sehr aufgeregt, Sie hätten fast das Essen darüber verpasst.« Der Oberst grinste. »Die Seiten waren am Rand beschrieben und in Blei stift mit ›Paul Schmidt‹ unterzeichnet. Sie sagten mir, er sei Hitlers Dolmetscher gewesen.« »Schmidt war Leiter des Sekretariats in Berlin sowie Chefdolmet scher Hitlers und des Auswärtigen Amts.« Er zog genüsslich an seiner 68
Zigarre, blies den Rauch durch die Nase. Im schwachen Lampenschim mer wirkte die blaue Wolke wie eine übernatürliche Erscheinung. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Pitman. Er sprach, als sei die An strengung der Unterhaltung fast zu viel für ihn. »Jedes Blatt trug den Stempel ›Führerkopie‹. Sie sagten, es sei das Protokoll einer streng ge heimen Sitzung.« »Das stimmt«, sagte Stein leise. Draußen in der Halle schlug die alte Standuhr zwölfmal. Das Geläute hallte endlos und klang viel lauter als zur Tageszeit. »Was haben sie mit diesen Dokumenten gemacht?« frag te Oberst Pitman. »Es ist besser für Sie, wenn Sie es nicht wissen.« Stein sagte es mit der gereizten Stimme des Korporals und Schreibers im Ordonnanzzim mer, dem nie ein Fehler unterläuft. »Mag sein«, sagte Pitman. Er ging zur Tür, schaltete die Decken beleuchtung ein, als wenn er hoffte, dass sie auch mehr Licht in das Gespräch bringen würde. Er blickte auf den Perserteppich, der an der Wand hing. Ein Shiras – das letzte Überbleibsel der Schätze aus der Kaiseroda-Mine. Man hatte den Teppich vom Lastwagen geworfen, als sie mit dem Ausladen begannen. Der Sack, in den er genäht war, wies einen großen Schmutzfleck auf. Der Oberst erinnerte sich noch an das Etikett: ›Islamische Abteilung‹. Er gehörte also zu den Schätzen der Preußischen Staatlichen Museen, die man in die Salzmine verlagert hatte, um sie vor den Bomben der Alliierten und der Artillerie der Ro ten Armee zu schützen. In der hysterischen Aufregung jener Nacht hatte Jerry Delaney, der den Lastwagen hinter dem Jeep des Obersten fuhr, gebrüllt: »Ein Geschenk für den Herrn Oberst«, und die Soldaten jubelten. Die guten Jungen. Oberst Pitman fühlte, als er an sie dach te, eine Träne ins Auge steigen, berührte die Oberfläche des Teppichs, fühlte die eng geknotete Wolle und die Fransen. Prachtkerle. Er war stolz, ihr Boss gewesen zu sein. »Was müssen wir tun?« fragte Oberst Pitman. »Wir müssen mehr über diese Filmleute in Erfahrung bringen, Herr Oberst. Sie könnten sehr gefährlich sein, aber …«, er wedelte mit der Hand, »aber schauen wir erst einmal, worauf sie hinauswollen.« 69
Pitman drehte sich zu ihm um und nickte. »Ich werde ein paar andere Dokumente nach Kalifornien mitneh men«, sagte Stein. »Ich werde ihnen ein paar unwichtige Kleinigkeiten auftischen, um zu sehen, wie sie reagieren. Inzwischen gehen Sie weiter den Schwierigkeiten nach, die wir mit der Bank haben. Reden Sie mit anderen Banken, sehen Sie, ob sie uns helfen wollen. Vielleicht steckt jemand dahinter, der mit diesem Kerl Breslow zu tun hat.« »Sie wissen es am besten, Korporal. Es ist schon immer so gewesen«, sagte Pitman.
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lle Streifenwagenpolizisten haben irgendwo ein bestimmtes Imbisslokal. Pfannkuchenläden sind am beliebtesten; da gibt es im mer guten Kaffee, und falls während der Pause ein Funkruf eintrifft, kann man immer noch rasch einen Pfannkuchen mitnehmen. Außer dem liegen die Pfannkuchenläden gewöhnlich in der Nähe verkehrs reicher Straßenkreuzungen und verfügen über ausreichende Kunden parkplätze. Deshalb ist ein Pfannkuchenladen, wenn man einen Bul len sucht, der geeignetste Ort. Die Wagen vor dem Big O Donut Shop, wo die Santa-Monica-Au tobahn über La Brea kreuzt, parkten mit dem Kühler zur Mauer, au ßer dem schwarzweißen Streifenwagen. Dieser stand mit der Nase nach draußen wie alle Polizeifahrzeuge, deren Fahrer eine Pause einlegen. Die beiden uniformierten Polizisten waren deutlich hin ter den hell beleuchteten Fenstern sichtbar. Es war am 2. Juni, Sams tagabend, dreiundzwanzig Uhr vierunddreißig, als der ortsansässi ge, 18 Jahre alte Automechaniker William Dawson an den Tisch der Polizisten trat und den Wunsch äußerte, ein Verbrechen zu melden. Dawson fühlte sich zu dieser lobenswerten Tat um so mehr veran 70
lasst, als er zur Zeit einige Schwierigkeiten mit seinem Bewährungs helfer hatte. Dawson, dessen Interesse an Automobilen sich von Reparaturar beiten bis zum Diebstahl und Fahren unter Drogeneinfluß erstreck te, war auf La Brea auf einen grünen Cadillac mit eingebeulter Karos serie aufmerksam geworden, einen Fleetwood Eldorado, Baujahr 1970, mit 8,2-Liter-Motor – der größten bisher auf dem Weltmarkt erhältli chen Maschine. Dawson behauptete in seiner schriftlichen Aussage, er habe sich den Wagen genau angesehen, mit der Absicht, seinen Besit zer aufzusuchen und ihm ein Kaufangebot zu unterbreiten. Er behaup tete ferner, er wollte den Motor in einen selbst gebastelten Sportwa gen einbauen, um an irgendeinem Rennen teilzunehmen – wenn auch die meisten Revierbeamten davon überzeugt waren, dass Dawson den Wagen habe stehlen wollen. Der junge Mann hatte die beiden Polizisten zu dem geparkten Ca dillac geführt und ihnen Blutflecke auf dem Straßenbelag unter dem Wagen gezeigt. Daraufhin hatten sie den geräumigen Kofferraum auf gebrochen und die gefesselte Leiche eines Mannes gefunden. Sein Al ter war schwer zu ermitteln; denn der Kopf war vom Rumpf getrennt und in der Umgebung nirgends zu finden. Der Gestank – der Daw son sofort bewogen hatte, zur Polizei zu gehen, war Beweis genug, dass das Opfer seit mindestens einer Woche tot war. Einer der Polizisten er brach sich. Dawson erhielt für seine der Polizei geleistete Beihilfe ein Schreiben an den Obersten Gerichtshof von Los Angeles, dem sein Be währungshelfer angehörte. Dem Untersuchungsbeamten wurde in wenigen Stunden klar, dass der oder die Mörder bei der Ausübung des Verbrechens unterbrochen oder gestört worden waren. Es schien nämlich wahrscheinlich, dass der oder die Verbrecher ursprünglich beabsichtigt hatten, Cadillac samt Leiche loszuwerden und den Wagen in den Pazifischen Ozean stürzen zu lassen. Der Polizeicomputer ermittelte, dass der Wagen auf den Namen Bernard Lustig eingetragen war, wohnhaft in einem gro ßen Haus in der Portuguese Bend auf der Halbinsel Palos Verdes, in je nem Luxusviertel, das bei Ortsansässigen unter ›The Hill‹ bekannt ist. 71
Als die Polizeibeamten am folgenden Morgen vor Lustigs Vil la im Ranchostil erschienen, öffnete ihnen ein Spanisch sprechendes Dienstmädchen die Tür. Es war Sonntag, der 3. Juni. Mr. Bernard Lu stig war nicht zu Hause. Er hatte seine Villa am Mittwoch, dem 23. Mai, gegen neun Uhr abends in Begleitung zweier Gäste, mit denen er etwa eine Stunde lang getrunken und geplaudert hatte, verlassen. Das Dienstmädchen, dessen englische Sprachkenntnisse sehr beschränkt waren, vermutete, die drei Herren hätten sich über Filme unterhalten. Denn das sei, so erklärte es, das Hauptinteresse seines Arbeitgebers. Es fügte hinzu, Mr. Lustig habe sich seit seiner Trennung von seiner Frau vor 14 Monaten überhaupt nur noch für die Filmproduktion in teressiert. Polizeiwachtmeister Harry Ramirez sah sich das Mädchen von oben bis unten an. Es war sehr hübsch. »Kann ich mal Ihre Papiere sehen?« fragte Ramirez. »Haben Sie die Aufenthaltsbewilligungskarte für Ausländer?« »Alles ist bei meiner Tante in San Diego«, sagte das Mädchen. »Einen kalifornischen Führerschein?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ramirez wechselte auf Spanisch über. »Die halbe Einwohner schaft von Los Angeles hat ihre Papiere bei ihrer Tante in San Diego«, sagte er grimmig. »Ich kann die Papiere holen«, sagte das Mädchen gelassen. Bei de wussten, dass sie spielten. Das Mädchen war ohne Arbeitsbewilli gung über die Grenze gekommen. Aber Ramirez wusste, dass illega le Einwanderer selbst in den alten Tagen innerhalb einer Woche, nach dem man sie ausgewiesen hatte, zu ihrer Arbeit zurückgekehrt waren. Und jetzt, seit Mexiko Ölquellen entdeckt hatte, machte sich die ame rikanische Einwanderungsbehörde selten die Mühe, derartigen Fällen nachzugehen. Ramirez wurde wütend und beschimpfte das Mädchen. Wenn er bedachte, dass sein Vater sich gewissenhaft alle Papiere be sorgt hatte, damit Harry und seine Brüder und Schwestern als Staats bürger aufwuchsen, ärgerte es ihn besonders, dass die Behörden die ser neuen Generation von Schwarzarbeitern gegenüber beide Augen zudrückten. 72
»Du gehst mit ihm ins Bett«, sagte Ramírez. »Leugne es nicht! Ich sage dir, dass du mit ihm ins Bett gehst, Puta!« Das Mädchen begann zu weinen. Ob sie sich schämte, weil er sie eine Hure nannte, oder Angst hatte, ausgewiesen zu werden, wusste sie nicht einmal selbst. »Er ist tot«, schrie Ramírez sie an. »Sie haben ihm den Kopf abge schnitten, und den haben wir bis jetzt noch nicht gefunden. Vielleicht ist er hier.« Das Mädchen starrte ihn entsetzt an. »Jetzt sage mir, wer diese Männer waren«, sagte Ramírez. Das Mädchen nickte resigniert und setzte sich. »Es ist wahr«, sag te es betrübt. »Einmal bin ich mit ihm ins Bett gegangen. Nur einmal. Als sein Vater gerade gestorben war. Er weinte und war so traurig.« Dann beschrieb sie die beiden Männer, aber die Polizei konnte mit ih rer Schilderung nicht viel anfangen. Den ersten Hinweis verdankte die Mordkommission, die sich mit dem Tode Lustigs befasste, der Hast des Mörders. Um eine Identifizie rung unmöglich zu machen, hatte man den Kopf entfernt und sich an geschickt, die Hände abzuschneiden. Die Techniker des gerichtsmedi zinischen Laboratoriums nahmen die innere Verkleidung des Koffer raums heraus und entdeckten unter dem Benzintank eine sehr schmale, goldene Armbanduhr mit Datumanzeige. Ein Einschnitt in das Leder band bestätigte, dass das Opfer diese Uhr getragen hatte (das Dienst mädchen identifizierte sie später als Lustigs Besitz). Wenn man voraus setzte, dass die Leiche kurz nach dem Mord zerschnitten werden soll te, gab die Uhr den Hinweis auf das wahrscheinliche Datum und die Stunde des Verbrechens. Die Uhr war am 24. Mai um zwei Uhr drei undzwanzig nach Mitternacht stehen geblieben, also kurz nach dem Besuch der beiden Männer im Haus. Der zweite Glücksfall stellte sich einige Tage später ein. Marilyn Meyer war eine jener Polizeihostessen, die im Stadtgebiet von Los An geles mit ihrem kleinen einsitzigen Fahrzeug – einer Sonderanferti gung – durch die Straßen fuhr und Strafzettel an die Windschutz scheiben falsch oder zu lange geparkter Wagen heftete. Wie viele hüb 73
sche junge Mädchen in Los Angeles, war sie in die Stadt gekommen, um beim Film etwas zu werden, und war dann geblieben, um das Kli ma zu genießen. Diese Polizeihostess erinnerte sich an einen schwarzen Porsche, der am Mittwoch dem 23. Mai, im Laufe des Nachmittags vor Bernard Lu stigs Büro gestanden hatte; am folgenden Vormittag nochmals. Sie er innerte sich, dass der Strafzettel vom vorigen Tag immer noch an der Windschutzscheibe steckte und dass sie einen neuen hinzufügte. Da es keine Abschleppzone war, hatte sie keine weiteren Maßnahmen ergrif fen, aber der fahrlässig geparkte Porsche war ihr aufgefallen. Sie hatte sich die im Staate Illinois ausgestellte Registriernummer aufgeschrie ben und bedauert, dass auswärtige Parksünder sich so einfach über die hier herrschenden Verkehrsbestimmungen hinwegsetzen konnten. Sie hatte sogar einer Freundin gesagt, sie fände, dass die Stadt endlich et was unternehmen sollte, um die Strafmandate auch aus anderen Staa ten einzukassieren. Wachtmeister Ramírez reichte bei der Verkehrsbehörde in Spring field, der Hauptstadt von Illinois, ein Gesuch um Identifizierung ein. Der dortige Computer gab den Namen des Besitzers eines schwarzen Porsche 928 mit der angegebenen Registriernummer bekannt. Es han delte sich um einen gewissen Edward Parker. Weitere Anfragen erga ben, dass Edward Parker und seine in Japan gebürtige Frau neun Jahre lang in Chicago gelebt hatten. Davor war er über drei Jahre in Toron to, Kanada, ansässig gewesen, wohin er aus Übersee gekommen war. Bei diesen Anfragen enthielt die Computerinformation jene dreistelli ge Kennziffer, die besagte, dass alle polizeilichen Anfragen bezüglich Edward Parker zuerst mit dem FBI (Abteilung Personalermittlungen) in Washington D.C. zu klären sein. So hatte der stümperhaft ausgeführte Mord an Bernard Lustig, der ein bloßes Verschwinden des Filmproduzenten vortäuschen sollte, eine Untersuchung der Mordkommission in Gang gesetzt. Anfang Juni wurden Einzelheiten darüber in der Moskauer KGB-Zentrale be kannt. Allerdings weiß niemand, ob die Zentrale auch darüber infor miert war, dass Parker infolge fahrlässigen Vorgehens bereits ins Netz 74
polizeilicher Nachforschungen geraten war. Es ist jedoch anzuneh men, dass zu dieser Zeit mehr als eine Zusammenkunft zwischen den Beamten der Ersten Abteilung für Illegale Maßnahmen des Direktori ums – denen Edward Parker direkt unterstand – und den Spezialisten der Kommunikationsabteilung, die schlimmstenfalls für seine Flucht aus dem Lande und die zeitweilige Stilllegung seiner wichtigen Ver bindungsnetze sorgen würde, stattfand. Auf diese Besprechungen in Moskau hin flog einer der höchsten und erfahrensten Beamten des KGB nach Mexico City, wo am Montag, dem 11. Juni, in der sowjetischen Gesandtschaft eine Sitzung abgehal ten wurde. Das seltsam getürmte Gebäude, das wie eines jener Lust schlösser in gotischem Stil aussieht, in denen sich Fabrikbesitzer der Gründerzeit ihre Mätressen hielten, liegt hinter einigen großen aus wuchernden Bäumen und einem hohen Zaun. Der Tag war heiß, man hörte – trotz des Summens der Klimaanlage – den nicht endenwollen den Verkehrslärm der Calzada de Tacubaya durch die gläserne Dop peltür des privaten Arbeitszimmers des Gesandten. Seine Exzellenz war nicht anwesend. Man hatte ihn gebeten, den Raum zur Verfügung zu stellen, weil er noch vor kurzem auf Abhörsicherheit geprüft wor den war. Die Kurzfristigkeit, mit der Moskau diese Sitzung in Mexico City einberufen hatte, ist aus den Dokumenten ersichtlich, die das Techni sche Operationsdirektorium – das das KGB mit echten und gefälsch ten Dokumenten beliefert – dem Vertreter der Moskauer Zentrale übergab. Dieser war seinem Pass nach Konsulatsbeamter dritten Gra des, in Wirklichkeit aber KGB-General. Er war ein großer, graugesichtiger Mann und so mager, dass Kno chen und Muskeln von Gesicht und Händen so sichtbar wie die eines anatomischen Modells hervortraten. General Stanislaw Schumuk, ein in Kiew geborener Ukrainer, wurde von den amerikanischen Geheim agenten erkannt und an jenem Junitag beim Betreten der Gesandt schaft fotografiert. Schumuk hatte sich in den späten 60er Jahren seinen Ruhm erwor ben, als er mit Hilfe eines Computers Einzelheiten über Tausende in 75
Kanada wohnhafter Personen ermittelte, die Verwandte in Polen, in der DDR oder der UdSSR hatten. Viele dieser Leute waren Ukrainer, und Schumuk warb sie, unter Androhung von Repressalien an ihren Verwandten, systematisch für den KGB an. Diese Maßnahmen, in dem im Jahr 1969 abgefassten Geheimbericht des Sekretariats des KGB an das Zentralkomitee als meisterhaft durchgeführtes Unternehmen be schrieben, dienten dazu, die Kosten des riesigen Computers, der im April 1972 dem KGB zur Verfügung gestellt wurde, zu rechtfertigen. Es war – soweit es die Informationsspeicherung betraf – der größte Com puter der UdSSR. Stanislaw Schumuk schaute auf seine Taschenuhr aus Chromstahl, die er in der Westentasche trug. Sein grauer, in Moskau geschneiderter Flanellanzug wirkte schäbig im Vergleich zu Edward Parkers gutsit zendem Maßanzug. Parker war eine halbe Stunde früher erschienen, da er direkt vom Flugplatz kam. Er hatte noch am vorigen Abend an einer Tagung in Kingston, Jamaika, teilgenommen. Schumuk steckte seine Uhr wieder ein. »Um welche Zeit wird Gretschko erwartet?« »Man sagte mir unten, er sei auf den direkten Flug der Braniff ge bucht, der um zwei Uhr ankommt.« »Die Sitzung soll um zwei Uhr dreißig stattfinden«, sagte Schumuk. »Ich halte das für rücksichtslos.« Parker nickte. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihm vorzu schlagen, die Sitzung ohne Gretschko zu beginnen. Schumuk stand im Ruf, sich strikt an die Vorschriften zu halten. Es war Edward Parkers erste Begegnung mit dem berühmten Gene ral, der ständig schmollend den Mund verzog und mit verächtlichen Blicken den schönen alten Stich mit dem Karl-Marx-Porträt und die üppig wuchernden Topfpflanzen an den sonnigen Fenstern musterte. Das einzige, was Schumuks Zustimmung fand, waren die kleinen Tas sen mit dem starken schwarzen Kaffee, die das mexikanische Küchen mädchen etwa jede Viertelstunde hereinbrachte. Nach drei Uhr erschien Jurij Gretschko endlich. Da er voraussah, in welcher Laune sich sein Vorgesetzter befand, war er sehr nervös und 76
aufgeregt. Beim Heraufgehen nahm er zwei Stufen auf einmal; aber die Höhenlage Mexico Citys ist für derartige Kraftakte nicht geeig net: Gretschko trat keuchend und mit puterrotem Gesicht ins Zim mer. Beim Händeschütteln bemerkte Parker, dass Gretschkos Hand flächen feucht und klebrig waren, und zweifellos hatte auch Schumuk es bemerkt. Schumuk öffnete seine Aktentasche und sortierte Papiere durch. Die anderen beiden beobachteten ihn. Der Altersunterschied zwischen Ed ward Parker und Schumuk war nicht sehr groß, und doch gehörten sie zwei verschiedenen Generationen an. Stasch Schumuk hatte wäh rend des Krieges in der Roten Armee gekämpft und als junger Offizier beim ersten deutschen Großangriff im Sommer 1941 eine Abteilung des NKWD angeführt. Ihre Aufgabe bestand darin, den Widerstands geist der Roten Armee zu stärken, und das hatten sie mit ihren Exeku tionskommandos getan. Oberste, Generäle und sogar Politische Kom missare waren in jenen schlimmen Tagen, als die Deutschen bis in die Vorstädte Moskaus vordrangen, unter ihren Kugeln gefallen. Der Ruf, den ihm seine Exekutionskommandos einbrachten, hatte seiner Karriere nicht geschadet. Nach dem Kriege zeigte er in seinem Studium auf der Moskauer Universität die gleiche einseitige Entschlos senheit, bevor er die stellvertretende Leitung der Schulungsabteilung und später, für ein Jahr, den Vorsitz des Einkaufskomitees im Ersten Hauptdirektorium übernahm. Schumuk war immer noch der gleiche hochgewachsene junge Leutnant des NKWD, wie ihn viele aus jener Zeit in Erinnerung hatten: ein Mann in schmuckloser Uniform ohne Rangabzeichen; blaue Schultermuskeln vom Rückstoß des Gewehrs; ein ausdruckloses Gesicht, die gleiche tonlose Stimme, mit der er die Todesurteile zu verlesen pflegte, unverändert kalte graue Augen, glat trasierter Schädel und schlanke Taille, die er sich dank täglicher Lei besübungen bewahrte. Schumuk warf einen prüfenden Blick auf seine beiden Kollegen, ohne Bewunderung. Er stellte fest, dass sie ihm geistig, moralisch und körperlich unterlegen waren, Jurij Gretschko mit seiner teuren west lichen Kleidung, dem Lockenhaar und schwachen Mund schien ihm 77
dekadent, wenn nicht sogar pervers. Die westliche Lebensart und sei ne geschützte Stellung im diplomatischen Dienst hatten ihn verweich licht; nie hätte er zum ›legalen Residenten‹ in den Vereinigten Staa ten ernannt werden sollen. Er war zu jung, zu unerfahren und es fehl te ihm an Ausdauer. Schumuk beschloss, das in seinem Bericht zu er wähnen. Edward Parker war kaum besser. Er hatte in den Jahren zwi schen 1941 und 1945 nicht gegen die faschistischen Horden gekämpft, sondern irgendwo ein Versorgungsdepot der Roten Armee verwal tet und auf eine japanische Invasion gewartet, die nie kam. Und jetzt, während seine Frau und seine erwachsene Tochter als Buchungsange stellte bei der Aeroflot arbeiteten und hart schuften mußten, um sich ihren Lebensunterhalt in einem schäbigen Vorort von Swerdlowsk zu verdienen, teilte Parker sein Bett mit irgendeiner Japanerin und leb te in einem großen Haus in Chicago. Natürlich war die Frau ein altes Parteimitglied, und die Moskauer Zentrale hatte dieses Verhältnis ge nehmigt, wenn nicht sogar befohlen; aber Schumuk war in dieser Be ziehung altmodisch und fand es widerwärtig. Er zündete sich eine Zigarette an. Auch in Bezug auf Zigaretten war er altmodisch und bevorzugte grobkörnigen Machorka. Während er mit seinen dünnen knochigen Fingern ungeduldig den Rauch wegfä chelte, bemerkte er, dass Edward Parker die Nase rümpfte. Er mußte das Aroma des Tabaks erkannt haben. So war es kein Wunder, dass die Sitzung in erbitterten Anschuldi gungen und Gegenbeschuldigungen verlief. Schumuk begann mit der Ankündigung, er habe bereits beschlossen, Parker aus dem Verkehr zu ziehen, und gab ihm eine Frist bis Ende Juni, um sein Verbindungsund Betätigungsnetz für eine Umgruppierung vorzubereiten. Parker habe sich persönlich am Montag, dem 2. Juli, in der Moskauer Zentra le zu melden. Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, dann ging Ju rij Gretschko zum Angriff über. Es war allen Anwesenden klar, dass Gretschko kaum ein Chance hatte, den drastischen Wechsel, der ei ner solchen Maßnahme folgen mußte, zu überleben. Die heftigen Dis kussionen dauerten über zwei Stunden an. Gretschko und Schumuk 78
waren schon einmal im Gebäude auf dem Dzershinskij-Platz anein ander geraten; dieses Mal schrien sie sich derart an, dass man kaum noch ein Wort verstand. Edward Parker machte dem Streit schließlich ein Ende. Er erklärte, er sei nur nach Los Angeles gefahren, weil sein Agent ihn dort benötigte. Als Resident hätte er durchaus das Recht dazu. Er erklärte ihnen weiterhin, dass er mit einem Agenten arbei te, der sich weigern könnte, einen neuen, von Moskau ernannten Re sidenten anzuerkennen. Er habe Jahre gebraucht, um mit einigen sei ner wichtigsten Leute vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Es sei sinnlos, sich über die Zweckmäßigkeit seiner Rückkehr nach Moskau auseinanderzusetzen, solange das KGB nicht die nötigen Vorbereitun gen getroffen habe, um den durch seine Absetzung angerichteten Scha den wiedergutzumachen. Natürlich war es ein Spiel um die Macht. Schumuk wusste es, Gretschko auch. Gretschko schwitzte. Schumuks Gesicht zuckte wie damals in den letzten Monaten des Krieges, als er seine Agenten durch die deutschen Linien schmuggelte, um Kontakt mit den Überresten der Kommunistischen Parteien Ungarns und der Tschechoslowakei aufzunehmen. Nicht viele dieser Agenten hatten überlebt, aber er hat te seine Aufgabe erfüllt. Ungarn und die Tschechoslowakei waren jetzt Arbeiterdemokratien, die ihre Stabilität der politischen Geheimpolizei verdankten, bei deren Organisation Schumuk mitgeholfen hatte. Das erfüllte ihn mit Stolz, wie auch der Alexander-Newski-Orden, den er sich für seinen Beitrag zum Kriege verdient hatte. Die harten Worte und das Geschrei verstummten plötzlich wie auf gemeinsamen Beschluss hin. Der Wettstreit war zu Ende. Gretschko rang die Hände, Parker ließ sich in einen schweren Ledersessel fallen. Die beiden anderen hatten ja nichts zu befürchten, sagte sich Parker. Schumuk war nur um seine Schreibtischarbeit in Moskau besorgt, und was Gretschko anbetraf, so riskierte er schlimmstenfalls, zur Persona non grata erklärt zu werden. Nur Parker war wirklich in Gefahr. Ihm drohte eine Verurteilung zu 20 Jahren Zuchthaus, was für ihn soviel wie lebenslänglich bedeutete. »Bei uns in der Ukraine gibt's ein Sprichwort«, sagte General Schu 79
muk mit affektierter Stimme. »Es gibt Alpträume, aus denen das Erwa chen die einzige Flucht ist.« Die beiden Männer blickten ihn an, antworteten aber nicht. Ihre Feindseligkeit war unverkennbar. Schumuk sagte: »Ich gebe Ihnen noch einen Monat.« Er kramte wieder in seinen Papieren. Parker stell te fest, dass er sich während des ganzen Gesprächs nie auf diese Pa piere bezogen, sie weder zitiert noch vorgelesen hatte. Er benutzte sie nur, um damit herumzuspielen. In der Sowjetunion wimmelt es von Leuten, die gerne mit offiziellen Papieren herumfuchteln. »Es ist gegen mein besseres Urteil«, fügte Schumuk hinzu. »Wir lassen es noch ei nen Monat laufen, aber es ist gegen mein besseres Urteil.« Er schob die Papiere in seine Aktenmappe zurück, schnappte das Kombinations schloss zu. Dann warf er den beiden Männern einen letzten strafenden Blick zu und rauschte aus dem Zimmer. »Apparatschik!« sagte Gretschko verächtlich, obgleich er sonst gar nicht dazu neigte, die bürokratischen Gewohnheiten seiner Vorgesetz ten zu kritisieren. Nur diesmal verlor er die Nerven. Parker, der sich im Laufe seines zwölfjährigen Aufenthalts die Rede weise der Amerikaner angeeignet hatte, sagte: »Er ist ein Pferdearsch, Gretschko, und das wissen Sie.« Gretschko lächelte nervös. »Erzählen Sie mir von diesem Kleiber in Los Angeles«, sagte er hastig. »Ist er zuverlässig? Wissen Sie etwas über ihn? Wird er weiterhin mit uns zusammenarbeiten?« Parker zuckte die Schultern und trank den Rest seines kalt geworde nen Kaffees. Gretschko wartete vergebens auf eine Antwort. Das Schulterzucken konnte heißen, dass Kleiber zuverlässig war – oder auch das Gegenteil. Es konnte heißen, dass Parker es nicht wusste oder nicht beabsichtig te, sich darüber weiter auszulassen.
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er Job in Kalifornien war alles andere als jener Ferienaufenthalt mit Sonnenbad am Swimming-pool, den Boyd Stuarts Freundin Kitty ihm vorausgesagt hatte. Einige Wochen später und immer noch ohne Sonnenbräune, saß er in einem schäbigen Büro auf dem Venice Boulevard in Los Angeles im Gespräch mit einem ernsthaften jungen Engländer. Hier in Autobahnnähe verläuft der Boulevard sechsspurig, von Drähten überspannt, von Palmen, zahlreichen Tankstellen und Schup pen umgeben, in denen religiöse Versammlungen stattfinden. Die Ge bäude sind niedrig und billig gebaut. Im Juni ist es dort heiß, der Ver kehrslärm nahezu unerträglich. Der Secret Intelligence Service in London hatte Kontakt mit Max Breslow, dem neuen Leiter der Lustig Productions, aufgenommen. Sie hatten einen jungen Handelsattaché bei der britischen Gesandt schaft in Washington, der schon einmal mit Breslow wegen einer Filmproduktion zu tun hatte, ausfindig gemacht. Jetzt hatten sie ihn eiligst nach Los Angeles geschickt, wo er ›rein zufällig‹ seinem al ten Bekannten in der Polo Lounge des Beverly Hills Hotels begeg nen sollte. Stuarts Besucher trug einen marineblauen Blazer mit Regimentsknöpfen und einem Motorsportabzeichen auf der Außentasche. Sein Haar war lang und gerade, die Nase ebenfalls. Selbst ohne Akzent und seine Kleidung hätte man ihn sofort als das erkannt, was Jennifer ei nen ›Eton-and-Harrods-Mann‹ zu nennen pflegte. »Es wäre tatsächlich sehr vorteilhaft, wenn dieser Knabe den Film in England drehte«, sagte der Besucher. Er blickte sich in dem ärmlichen kleinen Büro um, das die Abteilung für dieses Zusammentreffen zur 81
Verfügung gestellt hatte. Es war seine erste Begegnung mit dem Secret Intelligence Service Ihrer Majestät. »Ersparen Sie mir Ihr Verkaufsgespräch«, sagte Boyd Stuart gelang weilt. »Erzählen sie mir etwas über Max Breslow.« Irgendwo im hinte ren Teil des Gebäudes schien jemand Tonleitern auf einem verstimm ten Klavier zu üben. »Es sind ja nicht nur die staatlichen Zuschüsse, die für fast alle Fil me bewilligt werden. Er kann auch besondere Steuererleichterungen bekommen, wenn er ein britisches Aufnahmeteam und britische Stu dios benutzt.« Da haben sie mir gerade den richtigen Mann geschickt, stellte Stuart zufrieden fest. Niemand kann an der Ehrlichkeit dieses Jungen auch nur den geringsten Zweifel hegen. Er fragte sich, wieviel man ihm an vertraut hatte, bevor man ihn hierher schickte. »Wie alt ist Breslow? Inwieweit kennt er sich in der Filmindustrie aus?« »Er ist alt genug, um einen Film zu produzieren«, erwiderte der jun ge Mann lächelnd. Er goss sich etwas Tee ein. »Er ist ein Geschäfts mann. Er hat in New York ein paar kleine Produktionen mit angeblich deutschem Geld zusammengestellt und sie an verschiedene Fernsehge sellschaften verkauft. Er hat gute Verbindungen in Deutschland.« »Fernsehen?« »Ja, fürs Fernsehen hier in Amerika, aber auch als Hauptfilme zuge schnitten, um in Europa und Asien in Kinos zu laufen. Das wird heut zutage oft getan.« »Nur zwei Filme?« »Hier nur zwei, aber er hat in Europa über ein Dutzend billiger Filme hergestellt, meist in deutschen Ateliers. Er arbeitet mit einem geschäfts führenden Produzenten, der sich um die Filmarbeiten kümmert, wäh rend Breslow sich hinter die Geldleute hermacht.« Er trank etwa Tee und fuhr fort: »Breslow ist kein Filmmagnat der alten Schule. Er ist we der ein Goldwyn noch ein Cohn. An seinem Swimming-pool werden Sie keine Stars beim Champagner antreffen. Er lebt auch nicht in Be verly Hills oder Bel Air. Er hat ein bescheidenes Haus irgendwo in der Nähe von Thousand Oaks auf der Straße nach Ventura, und er teilt sein 82
Schwimmbecken mit ein paar Nachbarn. Nein, Breslow ist kein Film mann. Das merkt man schon, wenn man fünf Minuten mit ihm geredet hat. Er kann ein Varioobjektiv nicht von einer Coca-Cola-Flasche unter scheiden und gibt es bereitwillig zu.« Der junge Mann streckte die Füße aus, stellte sich die Teeschale mit Untertasse auf die Brust. Das hatte er wahrscheinlich irgendeinem älteren Mentor abgeguckt, einem reichen Onkel oder einem Gesandten, sagte sich Stuart. »Sie werden sich selber davon überzeugen können. Ich habe Ihnen für morgen Abend eine Ein ladung bei Breslow zum Essen verschafft. Er glaubt, Sie vertreten eine Firma, die Geld in Filme investiert.« Die Klavierübungen hatten Gott sei Dank aufgehört, begannen dann aber wieder aufs neue. »Breslow ist Mittfünfziger, vielleicht gut erhaltener Sechziger. Ich bin für dieses Räuber-und-Gendarmen-Spiel nicht geschult.« Der Besu cher lächelte, da der andere jedoch nicht reagierte, fuhr er fort: »Ziem lich groß, dichtes Haar, das nicht grau zu werden scheint. Ein guter fe ster Händedruck – falls Ihnen das etwas sagt – und sehr freundlich.« »Hat jemand ihn durch den Computer laufen lassen?« Der Besucher blickte Stuart lange und forschend an. In Washing ton hatte man ihm angedeutet, er würde einen der besten Agenten des britischen Geheimdienstes kennenlernen, aber der junge Mann fand Boyd Stuart älter, müder und viel weniger geschliffen, als er ihn sich vorgestellt hatte. »Ach ja«, sagte er, »das ist zwar etwas, worüber ich nicht Bescheid wissen sollte, aber ich würde sagen, ich halte es eher für unwahrscheinlich.« »Warum unwahrscheinlich?« »Meine Anweisungen wurden mir mit einiger Vorsicht erteilt, alter Knabe, aber ich glaube immerhin zu wissen, dass man unseren ameri kanischen Freunden bisher nichts mitgeteilt hat. Und wir wissen bei de, dass alles, was über den Computer in Bonn läuft, in den nächsten 24 Stunden in Washington bekannt ist.« Stuart nickte und schloss, dass sein Besucher weniger verblödet war, als sein Benehmen es vermuten ließ. »Nehmen Sie noch etwas Tee«, sagte er, »und sagen Sie mir, was Sie sonst noch von ihm erfahren ha ben.« 83
»Ich nehme an, Sie haben diesen Tee aus England mitgebracht«, sagte der Besucher, während ihm der Tee eingeschenkt wurde. »Komischer weise kaufe ich nämlich dieselbe englische Marke in meinem Super markt in Washington, aber er schmeckt nie so gut.« »Glauben Sie, er wird den Film machen?« »Er schien nicht in großer Eile zu sein.« »Er soll aber schon das Drehbuch haben.« »Aber er sagt, es sei noch nicht das richtige.« »Wo kommt das vorgeschossene Geld her?« »Angeblich von ihm selbst.« Der Besucher kratzte sich am Kinn. »Ich glaube, der dient jemandem als Strohmann. Ich würde zur Vorsicht ra ten.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ist das Ihr Porsche da draußen?« Es war eine beiläufige Frage. Zu beiläufig. Stuart lachte. »Darauf ist leider nicht zu hoffen. In London verbrach te ich den größten Teil meiner Freizeit in meinem Aston Martin, Bau jahr 1963.« Der junge Mann lebte auf. »Ein DB 4! Sie Glücklicher! In Washing ton habe ich mir einen Sunbeam Tiger mit amerikanischem V8-Mo tor aufgegabelt, aber ein Kolbenventil macht mir Schwierigkeiten. Im Augenblick ist alles auseinander genommen. Das ist einer der Grün de, warum ich mich so ärgerte, als man mich hierher an die Westküste schickte. Sie sollten mal meine Garage sehen, überall liegen Motortei le herum. Ich lebe in ständiger Angst, dass meine Frau eines Tages eine dieser Schalen umstößt, in denen ich die Ventile einweiche.« Er schnitt eine Grimasse. »Also dieser Porsche gehört Ihnen nicht?« »Was für ein verdammter Porsche?« »Ich sah ihn auf dem Flughafen, als ich ankam. Er stand auf dem Ho telparkplatz. Und gestern sah ich ihn langsam über den Sunset Boule vard kreuzen, als ich mit unserem Freund Breslow sprach.« Boyd Stuart stand auf und ging ans Fenster. »Wo steht er jetzt?« »Auf dem Parkplatz gegenüber, vor dem Pioneer Backhuhnrestau rant.« 84
Stuart blickte durch die getönte Scheibe, die, wie die Reklame be hauptete, zu geringerem Stromverbrauch der Klimaanlage beiträgt. Je denfalls konnte man von draußen nicht hereinsehen. Er entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite das Heck eines schwarzen Por sche hinter einem Chevrolet-Kleinlastwagen. Im Porsche saßen Wil li Kleiber und am Steuer Rocky Paz, ein hiesiger Schläger und Ge brauchtwagenhändler. Aber selbst wenn Stuart ihre Gesichter gesehen hätte, wäre ihm nichts aufgefallen, denn er kannte keinen von beiden. »Ein Porsche«, sagte er zweifelnd. »Nicht gerade unauffällig, was?« »In dieser Stadt schon. Sie brauchen sich nur umzusehen. Man sieht sie überall auf den Straßen, besonders schwarze Porsche.« »In dem Fall ist es vielleicht nur Einbildung von Ihnen«, sagte Stuart. »Wie können Sie sicher sein, dass es der gleiche Wagen ist, den Sie vor her gesehen haben? Haben sie das Kennzeichen notiert?« »Illinois. Und er hat einen Handscheinwerfer hinter der Windschutz scheibe. Es ist ein Porsche 928, Baujahr 1978. Es ist bestimmt der glei che Wagen.« »Auf dem Flughafen, sagten Sie?« »Als ich von Washington ankam. Die Chancen, dass er mir auffal len würde, waren minimal, aber ich interessiere mich nun mal für Au tos.« »Immer der gleiche Mann am Steuer?« »Das habe ich nicht sehen können. Ich dachte, es sei einer Ihrer Leu te, um die Wahrheit zu sagen.« »Gehört Ihnen der grüne Datsun dort am Rinnstein?« »Bei Hertz am Flughafen gemietet.« »Geben Sie mir drei oder vier Minuten, bis ich meinen Wagen bereit habe. Dann steigen Sie in Ihren Datsun und fahren auf den Palos Ver des Drive. Wissen Sie, wo der ist? Dann schauen wir uns ihn einmal an. Wollen Sie das für mich tun?« »Darauf können Sie wetten! Ist es wirklich Ihr Ernst?« »Und fahren Sie immer weiter, bis wir eine hübsche einsame Strecke finden, ohne Tankstellen oder McDonald's. Dann werden wir ihm eine Erklärung rausquetschen.« 85
»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte der junge Mann in neu erwachter Begeisterung. »Und lassen Sie beim Herausgehen die Tür ins Schloss fallen.« Boyd Stuart öffnete die Tür des wackligen Schranks, in dem zwei Be sen und einige Telefonbücher lagen, und nahm seine Jacke von einem Drahtkleiderbügel. Er zog sie sich an und sagte: »Warten Sie einen Au genblick. Wir machen es anders. Warum nehmen Sie nicht meinen Wagen? Es ist ein weißer BMW mit dunkelgetönten Scheiben.« »Keine aufgemalten Regenbogen oder ein Blinklicht auf dem Dach?« fragte der junge Mann ironisch. »Und ich nehme Ihren Datsun. Einverstanden?« Der Besucher zog die Wagenschlüssel aus der Tasche und gab sie ihm. »Vergessen Sie nicht, dass es ein Mietwagen ist. Keine Beulen, bitte.« »Gut«, sagte Stuart und gab ihm die Schlüssel seines BMW. Stuart kamen plötzlich Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser Verfolgungs jagd, aber er konnte auch zu keinem Entschluss kommen, derartige Gedanken zu äußern. »Wenn Sie mich verlieren, rufen Sie mich heute Abend in meiner Wohnung an.« Er blickte auf seine Uhr. »Sagen wir gegen zehn Uhr dreißig.« »Ich werde Sie nicht verlieren«, sagte der Besucher. »Ich habe an ge nügend Rallyes teilgenommen, um mit einem BMW einem Datsun folgen zu können. Allerdings kann ich nicht garantieren, den Porsche nicht aus den Augen zu verlieren, falls er merkt, was wir mit ihm vor haben.« Die Temperatur in Los Angeles stieg an jenem Tag bis auf 38 Grad Celsius an. Der heiße Wind von Santa Ana wehte den säuerlichen Ge ruch der Wüste herein und machte die Stadt unerträglich. Der Him mel war weiß und unheilvoll. Stuart schloss eilig den Datsun auf und startete den Motor. Er sah den BMW ins Blickfeld kommen, schaute in den Rückspiegel, sah den Fahrer des schwarzen Porsche die Überreste seines Brathuhns, einen Haufen Pommes frites und eine Portion Kohl salat in den Mülleimer werfen. Die getönte Scheibe schloss sich sum 86
mend, und der Wagen erzitterte leicht im blauen Dunst, als der Motor aufheulte. Kaum hatte Stuart den Datsun in Bewegung gesetzt, da kam der Porsche holpernd aus dem Parkplatz des Brathuhnrestaurants. Er folgte beiden Wagen auf den Venice Boulevard. An der Südausfahrt der Autobahnüberführung war der Verkehr auf dem San Diego Freeway dünn gesät und zügig. Stuart passte seine Ge schwindigkeit den anderen Wagen und Lastwagen an und fand den schwarzen Porsche und seinen BMW auf der rechten Fahrspur. Er überholte sie und fuhr so, dass er sie in seinem Rückspiegel beobach ten konnte. Dann beschleunigte der Porsche plötzlich das Tempo, und der Junge von der Gesandtschaft jagte ihm nach. Das war sehr dumm von ihm. Irgendwo an der komplizierten Kreuzung mit dem Marina Freeway verlor Stuart die beiden Wagen aus den Augen. Einen Augenblick lang waren sie klar sichtbar hinter einem riesigen Vons-Lieferwagen. Dann wechselte das breite Fahrzeug die Fahrbahn, um auf die nach Westen führende Schleife zu gelangen, die nach Marina del Rey geht. Damit verhängte es die Rücksicht wie ein Vorhang, der sich über dem letz ten Akt eines Theaterstücks senkt. Als der Lastwagen im Spiegel nicht mehr sichtbar war, tauchten wieder die Fahrbahnen auf, aber sie wa ren leer. Verdammt! Sie hatten den Freeway verlassen. Bis zum näch sten Ausfahrtszeichen war es etwa noch eine halbe Meile. Es schien ihm wie 100 Meilen. Stuart schleuste sich in die Kriechspur ein und raste die Auffahrt am Centinela Boulevard herunter. Die Straße, in die sie führte, war eine Sackgasse. Stuart trat auf die Bremse, schoß mit quietschenden Reifen an einer wütenden Dame in einem Buick vor bei, machte eine verbotene Kehrtwendung, hätte beinahe das große Wendeverbotsschild gerammt, gelangte unter den Freeway, ließ den Motor auf Höchsttouren heulen. Dann erst bemerkte er, dass es hier keine Einfahrt auf den Freeway gab. Er wechselte die Fahrbahn, um eine Linkswendung zu machen. Er raste durch das Gelblicht, und ein Lastwagen blinkte ihm mit dem Scheinwerfer nach, als er mit knap per Not einen Zusammenstoß mit einem Motorrad vermied. Stuart fluchte wieder. Um auf den Nordverkehr des Freeways zu gelangen, 87
mußte er einen ganzen Block weiterfahren, bis er die nächste Auf fahrt fand. Auf dieser Seite des Freeways herrschte reger Verkehr. Meist Pend ler auf dem Wege zu ihren Familien im Tal. Stuart schlängelte sich mit Mühe durch die vielen Wagen, die sich vor ihm anzustauen begannen. Keine Spur von den anderen beiden Wagen. Schließlich scherte er aus dem Freeway aus und kehrte auf die Marina del Rey zurück. Seine Ab teilung hatte ihm eine Wohnung auf der Hare Krishna II besorgt, ei nem in der Nähe des Gebäudes des California Yacht Club verankerten Kabinenkreuzers, der mit elektrischem Strom, Telefon und Fernsehan tenne versehen war. Er stellte die Klimaanlage auf größte Kälte ein, zog sich alle Klei der aus, goss sich einen großen Malt Whiskey ein und trank einen Schluck, bevor er sich unter die Dusche stellte. Es war ein enttäuschen der Tag für ihn, und es behinderte ihn sehr, in einer Stadt arbeiten zu müssen, die er nur oberflächlich kannte und wo ihm die nötigen Kon takte fehlten. Er warf sich einen Bademantel über und schaute auf die Uhr. In England war es jetzt tiefe Nacht. Er gab den Gedanken auf, Kitty anzurufen, schaltete den Fernseher ein, schaute sich einige Quiz sendungen, ›Bugs Bunny‹ und einen Schwarzweißfilm über die Fran zösische Revolution an. Er machte sich ein Schinkensandwich, öffnete eine Dose gemischter Nüsse, schaltete auf ein Lustspiel um. Das Boot schaukelte träge, als ein großer Zweimaster den Ankerplatz verließ. Es war 21.30 Uhr, als das Telefon klingelte. Eine höfliche Stimme fragte, ob er Mr. Boyd Stuart sei. »Rampart Division, Polizeibehörde von Los Angeles, Polizeisergeant Hernández. Es handelt sich um eine Ermittlung wegen eines Verkehrs unfalls.« »Was ist denn passiert?« »Haben Sie bei der Citisenta-Autovermietung einen weißen BMW gemietet?« »Ja. Wo ist er?« »Im Augenblick werden seine Trümmer auf einen Abschlepplastwa gen verladen, Mr. Stuart. Seit wann haben Sie ihn vermisst?« 88
Er dachte rasch nach, überlegte, ob er die Diebstahlversion bestäti gen sollte. »Sind Sie noch da, Mr. Stuart?« fragte der Polizeisergeant. »Wurde der Dieb verletzt?« »Das kann man wohl sagen. Der Benzintank explodierte zu einer Feuerkugel, die drei Fahrbahnen des Harbor Freeway versengte. Leider ist von ihm nichts mehr übrig, was man identifizieren könnte.« »Kein anderer Wagen am Unfall beteiligt?« »Nein, Sir. Wir vermuteten, dass der Wagen gestohlen war. Die Ver mietungsagentur ist bereits über den Unfall unterrichtet – durch sie be kamen wir Ihre Telefonnummer. Sie müssen morgen aufs Polizeirevier kommen, um noch einige schriftliche Formalitäten mit mir zu erledi gen. Büro A I, Ermittlungen. Würde Ihnen zwölf Uhr mittags passen?« »Ich sehe Sie um zwölf Uhr, Sergeant Hernández.«
Stuart holte das Notizbuch aus seiner Jackentasche. Am Rand der Adressenseite stand eine mit Bleistift gekritzelte Telefonnummer. Man hatte ihn angewiesen, sie nur im Notfall zu benutzen. Und dieses war ein Notfall. Er wählte die Nummer und hörte die automatische Ant wort: Dr. Curtiss sei momentan abwesend, würde aber sobald wie möglich zurückrufen, falls der Anrufer Name, Adresse und Telefon nummer hinterließ. Falls der Anrufer starke Schmerzen hätte, so fügte die Stimme hinzu, würde man ihm einen Notarzt schicken. »Ich habe starke Schmerzen«, sagte Stuart und nannte die Adresse in South Pasadena, die London ihm aufgetragen hatte, in solchen Situa tionen anzugeben. Er schaltete das Licht aus, zog die Vorhänge zurück, setzte sich. Er sah den Widerschein der Hafenlichter auf dem Wasser und die dunk len Umrisse zahlloser Boote und Schiffe. Ein Osteopath ist eine gute Deckung für einen Geheimdienstoffizier, sagte er sich. Eine Lizenz be kommt man ohne große Schwierigkeiten, und man kann zu jeder Ta ges- und Nachtzeit überall hinfahren, ohne dass es auffällt. 89
Der Osteopath kam um Mitternacht. Stuart hörte seine Schritte auf der Laufplanke. Das war der Mann, den London zu seiner Überwa chung ausgewählt hatte. Manche Außenagenten konnten jahrelang tä tig sein, ohne je ihrem Überwacher zu begegnen, und schon deshalb sah Stuart ihn sich interessiert an. Der Mann war ein braungebrann ter Vierziger mit kurzem Haar und müden Augen, die er sich manch mal mit dem Faustrücken rieb. Er trug hellblaue Baumwollhosen, ein offenes Hemd und einen dunkelblauen Pullover aus Kaschmirwolle. Er hatte ein schwarzes Köfferchen mitgebracht, das er drinnen vor die Türe stellte. »Wir werden die Vorhänge zuziehen, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Mann, ging ans Fenster und schloss sie, ohne auf eine Ant wort zu warten. »Die Schmerzen«, sagte Stuart. »Lassen Sie ruhig den Quatsch, den man Ihnen in London zu sa gen beigebracht hat«, unterbrach ihn der Mann. »Geben Sie mir einen Scotch mit Wasser und erzählen Sie mir, was los ist. Ihretwegen muß te ich mein Schachspiel unterbrechen.« Stuart gab ihm den Whisky und bemerkte, dass er sich eine Men ge Wasser dazugoss. Dann schaltete der Mann den Fernseher ein, ließ das japanische Programm laufen. »Setzen Sie sich in meine Nähe und sprechen Sie leise«, sagte der Mann. »Haben Sie das Boot denn nicht auf Wanzen geprüft?« fragte Stuart. »Natürlich haben wir das getan, aber sicher ist sicher.« Er nippte an seinem Drink. »Sind Sie Schachspieler?« »Nicht ernstlich«, sagte Stuart. »Wir spielen um Geld, und gerade heute Abend hatte ich meine Glücks strähne.« Er verzog das Gesicht. »Na schön, dann erzählen Sie mal.« Stuart berichtete sorgfältig und in allen Einzelheiten. Als er zu Ende war, reagierte der Mann eine lange Weile überhaupt nicht. Er starrte auf den kleinen Fernsehschirm und schien den japanischen Gesangs wettbewerb zu genießen. »Die Freeway-Ausfahrt am Centinela Boule vard«, sagte er schließlich. »Ausgerechnet die einzige, soweit ich weiß, wo es keine Auffahrtsstraße auf der anderen Seite gibt.« 90
»Deshalb habe ich sie verloren«, sagte Stuart. »Könnte sein, dass sie es sich gerade aus diesem Grund so ausgesucht haben. Es wäre eine gute Methode. Den ganzen Weg bis zur Kreuzung bleibt man auf der schnellen Fahrbahn, wechselt dann plötzlich auf die Ausfahrt über und läßt Ihnen da vorne keine andere Wahl, als die Centinela-Auffahrt zu nehmen und unten in eine Verkehrsstauung zu geraten. Zu schade, dass Sie den Mann im Porsche nicht richtig gese hen haben.« »Sie meinen also, es war Mord?« Der Überwachungsoffizier zögerte lange, bevor er ihm antwortete. »Die Polizisten haben da eine besondere Ermittlungsstelle. Büro A I. Ich will nicht, dass Sie da in eine Untersuchung hineingezogen wer den. Wenn dieser Sergeant Hernández mit Ihnen redet, wissen Sie von nichts, verstanden?« »Ja.« »Geben Sie mir die Schlüssel des Datsun von dem jungen Mann. Ich werde das besorgen. Ich verschaffe Ihnen einen anderen Wagen und werfe die Schlüssel morgen früh in Ihren Briefkasten. Vergessen Sie nur, dass Sie je den kleinen Engländer von der Gesandtschaft in Was hington gesehen haben. Erzählen Sie dem Polizisten, Sie hätten den Wagen mit dem Schlüssel in der Zündung auf dem Marina-Parkplatz gelassen. Viele Leute tun das. Die Polizisten werden keine Einwendun gen machen. – Keine anderen Schlüssel am Bund?« fragte er plötzlich besorgt. Die japanischen Sänger wurden ziemlich laut. »Ich werde auf ein anderes Programm umschalten.« »Lassen Sie das«, sagte der Überwachungsoffizier. »Waren noch an dere Schlüssel dran?« »Nur die Schlüssel von der Wagenvermietung.« »Sind Sie sicher?« »Ja, ich bin ganz sicher«, sagte Stuart leicht gereizt. »Gut. Wenigstens etwas, das Sie nicht verpatzt haben«, sagte der Überwachungsoffizier mit einem Seufzer. Stuart ging nicht darauf ein. Ein Mann, den man bei einem Schachspiel unterbrochen hat, das er mit Sicherheit zu gewinnen glaubte, verdient einige Rücksichtnahme. 91
»Gehen Sie morgen wie geplant zu Ihrem Abendessen bei Breslow. Er wähnen Sie den Verlust Ihres Wagens nicht, falls er Sie nicht danach fragt. Spielen Sie den Ahnungslosen. Erzählen Sie, der junge Mann von der Gesandtschaft habe Sie angerufen, um Ihnen die Einladung zu übermitteln.« »Vielleicht hat Breslow etwas mit dem Mord zu tun«, sagte Stuart, den die lässige Art des Mannes irritierte. »Sie sind also nicht nur ein hübscher Junge«, sagte der Überwa chungsoffizier mit spöttischer Bewunderung. Er nahm sein schwarzes Arztköfferchen, öffnete es, entnahm ihm einen Stapel Papiere und eine Pappschachtel. Er öffnete die Schachtel, bevor er sie Stuart gab. »Das habe ich Ihnen mitgebracht«, sagte er. Es war ein nagelneuer, bläu lich glänzender 38er Revolver, der noch in die Schutzhülle aus Wachs papier eingewickelt war. »Sie wissen doch hoffentlich, wie man damit umgeht?« »Zielen und auf den Abzug drücken?« Er schüttelte den Kopf, griff in die Tasche, nahm Munition heraus. »Nein, erst müssen Sie ihn laden.« Er nahm die Waffe, klappte sie auf, drehte die Trommel einmal durch. »Sie werden es schon in den Griff kriegen. Ich gehe zu meinem Schachspiel zurück.« Er stand auf und trank sein Glas leer. »Viel Glück«, sagte Stuart. Der Überwachungsoffizier lächelte zum ersten Mal. »Das wünsche ich Ihnen auch, junger Mann«, sagte er. »Es ist Ihnen doch klar, dass die Burschen, die den weißen BMW in die Luft knallten, es wahr scheinlich auf Sie abgesehen hatten?« »Ich bin nicht nur ein hübscher Junge«, sagte Stuart. »Kaufen Sie bloß keinen Halfter für das Ding. Stecken Sie es sich in die Hose. Wenn es mal brenzlig wird, ist es nicht so einfach, ein Halfter schnell loszuwerden, und ich könnte dann nicht in der Gegend sein, um Ihnen aus der Patsche zu helfen.« »Kann ich den japanischen Gesang jetzt abstellen?« fragte Stuart. »Können Sie das wirklich ganz alleine machen?« antwortete der Überwachungsoffizier und ging zum Fallreep. 92
Stuart mußte an den flotten jungen Mann mit dem auseinander ge nommenen Sportwagen in seiner Garage daheim denken und wider stand nur schwer der Versuchung, sich zu betrinken. Einen Außen seiter in eine Operation einzubeziehen, galt als unverzeihliche Sünde. Und dieser Junge war einer. Stuart wusste, dass das mit flammenden Buchstaben in seiner Personalakte vermerkt werden würde.
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W
estlake liegt auf der Venturaseite der County-Grenze zwischen den Bergen und dem Freeway. Es ist eine Plansiedlung in einer hübschen künstlichen Landschaft an einem künstlichen See. Es wim melt dort von Swimming-pools, Jacuzzis, Tennisplätzen und Ställen. Es gibt ein Clubhaus mit Restaurant, aus dessen hohen Fenstern die frisch aus den Wellenbädern kommenden Gäste auf den Golfplatz hin ausschauen können. Max Breslow scherte bei der Westlake-Kreuzung aus dem Ventura Freeway aus, bog in den großen Parkplatz des Einkaufszentrums ein, fuhr an der Liegenschaftsvermittlung, Swensens Eisstube, Joes Fotobedarf und den Friseursalons vorbei. Er erblickte den gelben Chevet te seiner Frau mit dem Aufkleber ›Klein ist fein‹ vor dem großen Su permarkt und parkte seinen Mercedes 450 SEL vor Wallys Delikatessenladen. »Guten Abend, Mr. Breslow«, sagte der Geschäftsführer. »Guten Abend, Wally«, antwortete er, der allgemeinen Annahme fol gend, dass der Geschäftsführer der Besitzer sei. »Ihre Bestellung wird gerade eingepackt. Darf ich Ihnen inzwischen etwas zu trinken anbieten?« »Danke, das Übliche, Wally.« »Eine Bloody Mary mit allen Zutaten, kommt sofort, Mr. Breslow.« 93
Der Mann mußte eine Büchse mit eisgekühltem Tomatensaft für ihn bereitgestellt haben, denn das Getränk war auf der Stelle serviert. Max Breslow nippte daran, während der Geschäftsführer auf seine Reakti on wartete. »Ausgezeichnet«, sagte Breslow. Der Geschäftsführer zog sich lä chelnd zurück, um die eingelegten Heringe und den westfälischen Schinken zu holen, die Breslow telefonisch bestellt hatte. Breslow stell te fest, dass man ihm diesen Drink absichtlich aufgeschwatzt hatte. Wahrscheinlich hatte man sich noch gar nicht um seine Bestellung ge kümmert, aber das machte ihm nichts aus. Er freute sich immer wie der, dass Männer – und auch Frauen – ihn als jemanden betrachteten, dem man leicht etwas aufschwatzen konnte. Das machte es ihm wie derum leicht, ihre Motive zu durchschauen und schließlich jeder Lage gewachsen zu sein. Genau das war bei Charles Stein der Fall. Der Kerl sollte nur glauben, er könne Max Breslow ausnehmen. Max gönnte ihm diese Befriedigung. Selbst Jahre später, nach dem Abschluss die ses heiklen Geschäfts, würde Max Breslow nichts dagegen haben, dass sich Stein, falls ihm danach wäre, mit den Hitler-Protokollen brüstete. Max wäre zufrieden gewesen, mit seinem Anteil an den Geheimnissen ins Grab zu gehen. Kleiber war darin ganz anders. Breslow hatte das unbehagliche Gefühl, dass Kleiber allmählich die Oberhand gewann. »Hallo, Liebster.« Max blickte auf und lächelte. Seine Frau hatte wieder einmal die Fri sur gewechselt, und er wusste, dass er sich dazu äußern mußte. »Du siehst wunderbar aus, mein Schatz«, sagte er. Die italienische Seiden jacke und der dazu passende Rock waren ein ausschließlich für den Export nach USA zugeschnittenes Modell. Der Nachmittag im Schön heitsinstitut, die schwache Färbung ihres Haars, das fachmännisch an gelegte Make-up um die Augen und die Schminke auf den Lippen, das leuchtend seidene Halstuch – alles das verlieh ihr jenes gesunde und sportliche Aussehen, das er bei kalifornischen Frauen so attraktiv fand, und ließ sie viel jünger erscheinen, als sie wirklich war. Marie-Louise hatte sich diesem Teil der Welt mit einem Eifer ange passt, der ihren Mann immer wieder überraschte. Sie besuchte Kurse 94
über japanische Blumenarrangements, mexikanische Diätküche und spielte auf der quadrophonischen Hi-Fi-Anlage sogar indische Sitar musik. Und doch hatte Marie-Louise im Laufe der langen, in Ame rika verbrachten Jahre ihren heimatlichen Berliner Akzent nie able gen können. Max Breslow verfolgte den Gedanken nicht weiter und gab seiner Frau einen vorsichtigen Kuss, um ihr Make-up nicht zu ver schmieren. Sie wird, so sagte er sich resigniert, bis an ihr Lebensende ›Darlink‹ sagen, und wahrscheinlich auch bis zu dem seinen. »Du hast doch nicht vergessen, dass wir heute Abend Gäste zum Es sen haben?« ermahnte sie ihn. »Ich habe es nicht vergessen«, sagte er. Er hatte auf der ganzen Heim fahrt durch den Canyon an diesen Boyd Stuart denken müssen. Wil li Kleiber, der über derartige Dinge stets besser Bescheid wusste, ver mutete, Stuart müsse ein Agent des britischen Geheimdienstes sein. Es könnte ein interessanter Abend werden, sagte sich Breslow. Er hatte diese Organisation schon immer sehr bewundert. Marie-Louise setzte sich zu ihrem Mann, wollte aber nichts trinken. Sie bemühte sich wieder einmal, fünf Pfund abzunehmen. Eigent lich hatte es keinen Sinn, auf ihn zu warten, da sie in getrennten Wa gen heimfahren mußten, aber sie blieb trotzdem. Der Geschäftsfüh rer brachte Schinken und Heringe in einem Paket aus schwerem, un durchlässigem Papier mit dem Firmenzeichen ›Wallys Deli‹ und einem Kärtchen, auf dem ›Schade, dass Sie nicht mit uns essen können, aber rufen Sie uns bald wieder an – Wally‹ zu lesen stand. Max betastete die Pakete. Er war froh, dass seine Frau diese Sachen bestellt hatte. Er hatte sich schon Sorge gemacht, die Mahlzeit wür de wieder einmal aus Vichyssauce, gefolgt von Fischklößchen, Gemü sepürree und einem bayerischen Rahmdessert bestehen. Heutzutage bekam man fast auf jeder Dinnerparty nur noch maschinell gehackte Babynahrung. Max hasste das. »Wirst du die Tischkarten schreiben, Mäxchen? Ich weiß nie, wie man die Namen buchstabiert.«
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»Und in welchem Geschäft sind Sie, Mr. Stuart?« Boyd Stuart saß neben der Gastgeberin, aber Max Breslow unter brach ein Gespräch über die Benzinknappheit und antwortete über den Tisch hinweg: »Mr. Stuart wird vielleicht einige Gelder seiner Fir ma in einen Film investieren, den ich gerade drehe.« Ein Schweigen folgte; dann ließ Marie-Louise Breslow zum zwei ten Mal ihren Zitronenauflauf servieren. Max Breslow reagierte darauf mit starrem, missvergnügtem Lächeln. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn absichtlich provoziere. »Mr. Stein ist tatsächlich dabei gewesen«, verkündete Max Breslow plötzlich vor den schweigenden Tischgästen. Er nickte Charles Stein zu, der gerade seine zweite volle Schale Zitronenauflauf auslöffelte. »Wo dabei gewesen?« fragte der bärtige Mann, der Stuart gegenüber saß; ein Psychiater, der mit seiner Frau – die in einem Gefängnis im Osten von Los Angeles Jogakurse gab – in einem Zweifamilienhaus in unmittelbarer Nähe der Breslows wohnte. »In Merkers, Thüringen. Ein Ort in Deutschland. Ich mache einen Film darüber.« »Ach so«, sagte der bärtige Mann. »Würden Sie mich für unhöflich halten, wenn ich mir noch etwas von diesem deutschen Wein eingie ße? Ihr müßt die letzten Leute in Westlake sein, die noch nicht zum kalifornischen Weißwein übergegangen sind.« Max Breslow lächelte, sagte aber nichts. Stuart sagte: »Es interessiert mich zu hören, dass Sie in Merkers wa ren, Mr. Stein. Waren Sie auch in der Mine?« »Das ist der Ort, wo der Schatz gefunden wurde«, erklärte MarieLouise der Frau des Psychiaters. »Das kann ich leider nicht behaupten«, sagte Stein. »Es ist wirklich ein Jammer. Ich hätte mir gern ein paar von den Sachen beiseite ge schafft, die sie da drinnen gefunden haben.« Charles Stein war zu breit für die zarten kleinen Esszimmerstüh le, zu breit sogar für das ganze Esszimmer mit der zierlichen antiken Anrichte und dem winzigen Seitentischchen. Er saß mit dem Bauch an die Tischkante gedrückt, hatte gerade eine dritte Portion Zitronen 96
auflauf verschlungen und die letzten Tropfen aus dem Rahmtopf dar übergegossen. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Korb mit Schwarzbrot und Salzbiskuits, der neben der Käseplatte stand. Er nahm sich eine Schnitte Pumpernickel und bestrich sie mit Butter. »Mr. Stein war ein Freund des Mannes, der den ersten Entwurf ge schrieben hat«, erklärte Max Breslow. »Er wird dem Drehbuchautor eine große Hilfe sein.« »Chuck«, sagte Stein. »Jeder nennt mich Chuck.« Er wippte auf den Hinterbeinen des antiken Esszimmerstuhls. Mrs. Breslow sperrte den Mund auf und blickte ihn entsetzt an. »Waren Sie da?« fragte Stuart wieder. »Ich war bei der Quartiermeisterei eines Transportbataillons«, sag te Stein. Er lehnte sich mit dem Messer in der Hand über den Tisch, schnitt ein Stück Camembert ab, stopfte es sich in den Mund. »Unse re Leute schafften einen Teil der Sachen aus der Mine.« Er sprach mit vollem Mund. »Haben Sie mit vielen Leuten, die damals dort waren, Kontakt auf nehmen können?« fragte Stuart Max Breslow. »Es sind nicht mehr sehr viel übrig«, sagte Breslow. »Es ist schließlich schon lange her. Einige sind gestorben, andere krank, haben vergessen oder wollen nicht daran erinnert werden.« »Ist es so lange her?« fragte Stuart. »Die meisten Soldaten, die damit zu tun hatten, waren ältere Jahr gänge«, sagte Stein, während er sich bemühte, die Rinde des Stilton zu durchsäbeln. »Die Kampftruppen waren jung und körperlich in Hoch form; aber das Durchschnittsalter der Männer in den Nachschubein heiten lag viel höher. Und zu uns schickte man auch die körperlich Schwachen.« »Nach dem, was ich gehört habe«, sagte Stuart, »gab es nicht nur Gold in der Mine. Man soll auch Gemälde, seltene Bücher und Ge heimdokumente gefunden haben.« Stein schob sich den Rest Pumpernickel und Käse in den Mund. Als er beide Hände frei hatte, griff er über den Tisch und schob die gro ße Vase mit dem sorgfältig zusammengestellten Blumenarrangement 97
beiseite. Jetzt konnte Stuart den dicken Mann deutlich sehen. Er hatte eine Figur, die jeden Schneider zur Verzweiflung bringen mußte. Sein weißer Leinenanzug war bereits voller Falten und Beulen, und an sei nem Rockaufschlag waren Fettflecke zu sehen. »Seltene Bücher«, sagte Stein. Er nickte. »Seltenes deutsches Hee resmaterial, geheime Regierungsarchive, Nazisachen und persönliche Dokumente, die Hitler selbst betrafen.« »Woher wissen Sie das?« »Einiges ging durch meine Hände, und ich habe das ganze Inventar gesichtet. Ich war nämlich Schreiber im Ordonnanzzimmer. Man hat unsere Vervielfältigungsmaschine benutzt, um von den Kisten Kopien zu ziehen. Einer unserer Feldwebel, ein gewisser Vanelli, hat sich noch eine Extrakopie gemacht und als Andenken behalten.« »Das ist aber sehr interessant«, sagte Stuart. »Sind Sie mit Vanelli in Verbindung geblieben?« »Ich weiß, wo er ist«, sagte Stein und blickte Stuart direkt in die Au gen. »Ich möchte ihn gerne mal kennenlernen«, sagte Stuart. »Das wird sich wohl leider nicht einrichten lassen.« »Jetzt haben wir genug über Filme geredet«, sagte Mrs. Breslow und brachte eine große Kanne Kaffee herein. »Gehen wir in den Sa lon, da sitzt man bequemer, ja?« Sie sah mit wachsender Unruhe, dass Stein schon wieder auf ihrem zerbrechlichen Esszimmerstuhl wippte. »Eins kann ich Ihnen sagen.« Stein hatte den Blick von Stuart nicht abgewandt. »In dieser Mine lagen Sachen, die Winston Churchills Ruf völlig vernichten könnten.« Seine Stimme war schrill und schien in dem kleinen Raum unnatürlich laut. Der bärtige Psychiater drehte sich um, wandte Stein das linke Ohr zu – er war auf dem rechten taub – und fragte: »Was war das über Win ston Churchill?« »Gerüchte, Charles, Gerüchte«, sagte Max Breslow mit beherrschter Ruhe zu Stein. Er reichte Stein ein großes Glas und entstöpselte eine Cognac-Karaffe. Stein sah ihm zu, während er einschenkte. 98
»Gerüchte? Vielleicht«, sagte Stein langsam und zögernd wie ein störrisches Kind. »Kommt doch in den Salon«, bat Max Breslow seine Gäste, und man sah ihm an, dass er über Steins Nachgeben erleichtert war. Alles erhob sich vom Tisch. Die Frau des Psychiaters betrat als erste den großen Salon, der Aussicht auf den künstlichen See bot. Am Lan dungssteg eines jeden Hauses ankerte ein kleines Boot, das leise sum mend seine Batterien auflud. Verbrennungsmotoren waren hier nicht geduldet, um das Wasser rein zu halten. Auf dem gegenüberliegenden Seeufer sah man die Bewohner und Gäste anderer Häuser hinter den gelblich erleuchteten Plexiglasscheiben. Manches Puppenhausdrama spiegelte sich auf der dunklen Seeoberfläche wider. Die Frau des Psychiaters breitete die Arme aus, machte eine rasche Körperwendung, um ihr langes, weites weißseidenes Kleid von Pucci zu voller Geltung zu bringen. »Das Essen war einfach göttlich, MarieLouise.« Sie war eine der wenigen Auserlesenen, die sie Marie-Louise nannten. »Haben Sie je ein so köstliches Poulet au Champagne geges sen, Mr. Stein?« »Nein«, sagte Stein, »noch nie.« »Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte Mrs. Breslow. Sie war sich zwar nicht ganz sicher, ob ihre Nachbarin sich nicht nur bemühte, ihr psy chologisches Können unter Beweis zu stellen, war ihr aber dankbar, zur Ablenkung eines Gesprächs, das sich zu einer sehr peinlichen Sze ne zwischen Mr. Stein und dem jungen Engländer hätte entwickeln können, beigetragen zu haben. Mrs. Breslow schickte sich an, den Kaf fee in die kleinen Tassen aus Limoges-Porzellan einzugießen. »Kosten Sie bitte auch von diesen Schokoladenplätzchen«, flüsterte sie Stein in jenem verschwörerischen Ton zu, mit dem Diätköstler sich gegenseitig in Versuchung führen. »Cognac-Kirschen mit Schokoladenglasur. Die Spezialitäten eines kleinen Ladens in München. Max kaufte sie mir oft, bevor wir verheiratet waren.« Stein schob sich eine in den Mund, zerbiss sie, ließ die süße Alkohol füllung unter dem Gaumen zergehen und griff nach einer weiteren, be vor er die erste verschluckt hatte. 99
»Wo kaufen Sie sie?« »Max läßt sie sich von seinem Geschäftspartner aus München brin gen«, sagte Mrs. Breslow. »Von einem Geschäftspartner in München hat er mir noch nie er zählt«, sagte Stein. Er lächelte ihr zu. »Aber die Cognac-Kirschen mit Schokoladenglasur sind ausgezeichnet, Mrs. Breslow. Wirklich ausge zeichnet.« Er hielt sich den Deckel der Schachtel über den Kopf, beug te sich zurück, um das Etikett zu lesen. »Ganz einmalig.« Er nahm sich rasch noch eine, bevor er die Schachtel wieder auf den Tisch stellte. »Kennen Sie die Geschichte von Hitler in Sao Paulo?« fragte Stein plötzlich, den Mund voller Schokolade und Kirschen. Alle wandten sich ihm zu. »Mann hat ihn in São Paulo aufgefunden und bittet ihn, nach Deutschland zurückzukehren, um wieder die Macht zu überneh men. Aber er weigert sich und will nicht gehen. Man versucht immer wieder, ihn zu überreden, schickt ihm Public-Relations-Leute und Re klamespezialisten. Man bietet ihm Geld an und alles, was er will.« Stein blickte sich um, ob ihm auch alle zuhörten. Alles lauschte gespannt. »Hitler sagt, es gefiele ihm in São Paulo. Die Hypothek auf sein Haus sei fast abgezahlt, und er habe einen erwachsenen Sohn und eine ver heiratete Tochter aus zweiter Ehe. Er denke nicht daran, nach Deutsch land zurückzukehren. Aber schließlich gibt er dann doch nach. Doch bevor er wieder die Diktatur in Deutschland übernimmt, stellt er eine Bedingung – und wissen Sie, welche?« Stein mimte Hitler mit erhobe nem Zeigefinger und brüllte mit heiserer Stimme: »Schluss mit dem lie ben guten Onkel Adolf!« Stein lachte, um zu zeigen, dass der Witz zu Ende war. Stuart kannte ihn bereits, lachte aber trotzdem. Irgendwie war es Stein gelungen, diese schale Geschichte mit seiner jüdischen Seele zu beleben. Aus seinem Munde klang der Witz unerhört komisch. Aber außer ihm und Stuart lachte niemand. »Ich kenne Millionen solcher Geschichten«, sagte Stein. Die Party löste sich gegen elf Uhr auf. Der Psychiater erwartete einen frühen Patienten, seine Frau hatte um halb acht eine Verabredung mit dem Tennislehrer. »Alle reißen sich um ihn«, erklärte sie. 100
Boyd Stuart erhob sich und wollte gehen, aber da fühlte er die schwe re Hand Charles Steins auf seiner Schulter. »Bleiben Sie noch auf eine Tasse Kaffee und ein Gläschen Schnaps«, sagte Breslow. »Wir haben noch etwas Geschäftliches zu besprechen, mein Schatz«, erklärte er seiner Frau. »Da würde ich doch nur gähnen oder Dummheiten reden«, sagte sie zu Stuart. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, ziehe ich mich jetzt zurück und gehe schlafen.« »Aber natürlich, Mrs. Breslow. Ich danke Ihnen für die herrliche Mahlzeit und den wirklich entzückenden Abend.« »Stell' den Geschirrspüler ein, bevor du zu Bett gehst, Schätzchen«, ermahnte sie ihren Mann. Max Breslow gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ging zur antiken Anrichte und holte eine Flasche seines besten Cognacs heraus. »Charles möchte uns etwas zeigen«, sagte er über die Schulter. Stein ging zum Kleiderschrank im Vestibül und kam mit einem schweren Karton zurück. Er löste die Schnur mit bedächtiger Genauigkeit, entnahm dem Pappkarton einen sehr alten Metallkasten. Derartige feuersichere Ak tenbehälter wurden in der deutschen Armee bei den Regimentsstäben und den Kampfeinheiten benutzt. Dieser hier war an den Ecken abge stoßen, trug aber noch eine sechsstellige Zahlen- und Buchstabenkom bination in der alten grünen Farbe, und man konnte gerade noch die Anweisungen bezüglich des Öffnens und Schließens des feuersicheren Deckels lesen. An einer der Außenwände sah man die Spuren großer Buchstaben – vermutlich BBO – und ein großer Kratzfleck schien anzu deuten, dass eine Aufschrift absichtlich entfernt worden war. »Können Sie Deutsch lesen, Mr. Stuart?« »Ganz gut«, sagte Stuart. Breslow nickte und tauschte mit Stein ei nen bezeichnenden Blick aus. Die Engländer waren bestimmt nicht so dumm, einen Mann hierher zu schicken, der nicht fließend die deut sche Sprache beherrschte. »Haben Sie je von einem Professor Dr. Morell gehört?« fragte Stein. »Dr. Theodor Morell?« »Hitlers Leibarzt?« 101
»Gut«, sagte Stein wie ein Schullehrer, der die ungewöhnlich klu ge Antwort eines zurückgebliebenen Schülers zur Kenntnis nimmt. Er nahm einige Akten und Dokumentenordner aus dem Metallkasten. »Er war nicht nur Hitlers Leibarzt, sondern ein Mann, von dem Hitler völlig abhängig war, der ihn überallhin begleitete und größeren Ein fluß auf ihn ausübte als Martin Bormann. Hitler erzählte jedem, dass Dr. Morell ihm abermals das Leben gerettet habe.« Stein klopfte auf den Papierstapel. »Das hier sind Dr. Morells medizinische Akten über seinen Patienten Adolf Hitler!« Boyd Stuart nahm den obersten Ordner. Das Papier roch faulig und feucht. Die Berichte waren nicht chronologisch geordnet. Der erste da tierte vom Januar 1943. In die obere Ecke hatte jemand – vielleicht Mo rell selbst – mit Bleistift ›die große Katastrophe von Stalingrad‹ ge kritzelt. Dann folgte eine Aufzeichnung ärztlicher Verordnungen und Spritzen, beginnend mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln. Eine Notiz behandelte die erste Anwendung von Prostacrinum – hergestellt aus Samenbläschen und Prostatadrüsen –, eine später angefügte Seite erläuterte, dass der Patient diese Einspritzung von jetzt an und bis zu seinem Lebensende jeden zweiten Tag bekommen müsse. Darunter lag der Durchschlag eines langen Briefes Dr. Morells an Hitlers Schneider, in dem er erklärte, dass der Führer kein helles Licht mehr vertrug. In Notizen und einer Skizze, die mit rostiger Klammer an das Papier ge heftet waren, wurde gezeigt, dass die Mützenschirme des Führers von nun an breiter gehalten werden müßten. Stein beobachtete Boyd Stuarts Gesicht, während dieser rasch die medizinischen Berichte durchblätterte. »Sehr interessant, nicht wahr?« Stein griff nervös nach einer weiteren Cognac-Kirsche und schob sie sich in den Mund. »Wo fängt die ganze Geschichte an?« fragte Stuart und legte die schweren Ordner auf den niedrigen Kaffeetisch um den die drei Män ner saßen. »Hier«, sagte Max Breslow. Er rückte Kaffeetassen und Aschenbe cher beiseite, um mehr Platz zu schaffen. »Aber Hitler kommt erst zum Schluss darin vor.« 102
Die Akte, die er herausnahm, war dünner, und ihr Deckel unter schied sich von denen der Reichskanzleiakten. Er mußte einst rot ge wesen sein und war zu hellem Rosa verblasst. Er trug den Namen und die Berliner Adresse Dr. Morells in eleganter Schreibschrift. Auch der Inhalt sah anders aus: schweres Briefpapier mit eingeprägtem Brief kopf. Die Karten der Patientenkartothek waren ebenfalls mit dem auf gedruckten Namen Morells und seiner Kurfürstendamm-Adresse ver sehen, aber die Namen einiger Patienten waren nur mit Initialen ange geben. Das entsprach in einer ärztlichen Praxis, die auf die Behandlung von Geschlechtskrankheiten spezialisiert war und einige der reichsten und berühmtesten Persönlichkeiten Deutschlands zu ihren Patienten zählte – wie die Mitglieder des Berliner Hochadels, Industrielle, Stars der Berliner Bühnen und des Films –, einer besonderen Vorsichtsmaß nahme und sicherte Geheimhaltung. »Hoffmann«, sagte Stein und zeigte auf ein Blatt. »Hitlers persön licher Fotograf und intimer Freund.« Er griff nach einem alten gel ben Umschlag und entnahm ihm einen Schreibtischkalender von 1936, der als ärztlicher Terminkalender gedient hatte. »Hier steht, wie Dr. Morell Hitler zum ersten Mal begegnete«, sagte Stein. »Hoffmann war krank – H.H. sind die Initialen Hoffmanns, und M.F. ist Mein Füh rer –, schauen Sie sich das an!« Morell hatte geschrieben: »Begegnete M.F. bei Hoffmann in Mün chen.« Dann, einige Seiten weiter: »M.F. stellte sein Privatflugzeug für einen beruflichen Besuch bei H.H. in dessen Münchner Wohnung zur Verfügung.« Stein blätterte im Terminkalender. »Jetzt kommen wir zu Morells er stem ärztlichen Befund Hitlers«, sagte er und schob Stuart den Kalen der zu, damit er ihn leichter lesen konnte. »Sah M. F. Erster Eindruck von ihm bestürzend. Klagt über Kopf- und Leibschmerzen. Auch über Dröhnen in den Ohren, Neurotiker.« Max Breslow ging in die Küche, um frischen Kaffee aufzubrühen. Boyd Stuart blätterte weiter in den Akten, fand den Bericht über Dr. Morells erste Untersuchung Hitlers. Der Bericht datierte vom 3. Janu ar 1937; die ärztliche Untersuchung hatte auf dem Berghof bei Berch 103
tesgaden stattgefunden. Einführend bemerkte der Arzt, dass der Pa tient ihm gestanden habe, sich seit seiner Entlassung aus dem Heer im Jahre 1918 keiner ärztlichen Untersuchung mehr unterzogen zu ha ben. Dem Bericht nach wog Hitler – nunmehr als ›Patient A‹ bezeich net – 67,04 Kilo, Körpergröße: 175,26 Zentimeter; Blutgruppe A. Ano malien wurden nicht festgestellt: Pupillenreflex normal, gute Koordi nation, normale Reaktion auf Hitze, Kälte und Kontakte mit stumpfen oder spitzen Gegenständen. Dunkles, leicht schütteres Haar, Mandeln wurden schon in der Kindheit entfernt, Narbe an einem Bein infolge Schrapnellverletzung während des Ersten Weltkriegs. Ein schlechtver heilter Bruch des linken Schulterblatts – er stürzte, als die Polizei wäh rend des 1923-Putsches auf die Nazis schoß – hat bei Patient A eine stei fe Schulter hinterlassen, so dass er den Oberarm weder drehen noch heben kann. Stuart lächelte. Wenn es die rechte Schulter gewesen wäre, hätte es keinen Nazigruß gegeben. Er blätterte die Seite um. Der Patient klagte über schwere Magenkrämpfe, Morell fand eine Schwellung an der Stelle, wo der Magen in den Zwölffingerdarm mün det, und an der linken Leberseite. Auf leichten Druck in die Nieren gegend reagierte der Patient schmerzhaft. Außerdem litt Patient A an einem Ekzem am linken Bein, das ihn besonders beim Tragen hoher Stiefel quälte. ›Notwendig für Paraden und Versammlungen‹ hatte Mo rell mit inzwischen sehr verblasster Füllfedertinte dazugeschrieben. Von hier an enthielt die Akte eine Anzahl Briefe über Hitlers Diät. Seine anderen Ärzte – Professor Bergmann von der Berliner Charité und Himmlers Reichsarzt-SS Ernst Grawitz – hatten die Nahrungs einnahme von Patient A auf Vollkornbrot und Kräutertee herabgesetzt und behandelten ihn mit Tinkturen und Salben. Morell verschrieb ihm eine abwechslungsreichere Pflanzenkostdiät. Das nächste Schreiben trug den Briefkopf des bakteriologischen For schungsinstituts Freiburg und war von dem leitenden Direktor Profes sor A. Nissle unterschrieben. Morell hatte dort Stuhlproben seines Pa tienten zur Analyse hingeschickt – natürlich ohne Namen zu nennen. Nissle entdeckte Spuren einer bakterienhaltigen Darmflora und riet, 104
den Patienten zur Bekämpfung der Kolibazilleninfektion mit ›Multa flor‹ zu behandeln. Morell hatte eine Notiz über ein Präparat, beste hend aus Vitaminen, Herz und Leber, für den Patienten hinzugefügt. ›Patient ist Vegetarier‹, hieß es auf den Anweisungen Morells für den Apotheker. ›Jede Erwähnung der tierischen Bestandteile dieses Präpa rats ist zu unterlassen.‹ Alle Morell-Notizen aus dieser Zeit waren dem Briefpapier nach auf dem Berghof verfasst worden. Offenbar wohnte Morell damals dort. »Eine fesselnde Lektüre, nicht wahr?« sagte Stein. Er kicherte vor Vergnügen. »Ich möchte wissen, wie die Geschichte aufhört«, sagte Stuart. »Hat der fesche junge Arzt seinen berühmten Patienten geheilt? Ich bin ein begeisterter Leser von Ärzteromanen.« »Professor Morell war dick und hässlich«, sagte Max Breslow. »Hit ler sagte, falls Morell ihm innerhalb eines Jahres das Ekzem heilen, sei nen allgemeinen Gesundheitszustand wiederherstellen könne, würde er ihm ein schönes Haus schenken.« »Und was geschah?« Breslow sagte: »Morell pumpte Hitler mit selbst erfundenen Medika menten voll. ›Vitamultin‹ nannte er sie. Alle Arten von Vitaminen mit Kalzium, Askorbinsäure, Koffein und so weiter. Sie finden die Formel dort in den Papieren. Später soll er einige seiner Präparate vermarktet und ein Vermögen damit gemacht haben.« »Und Hitler ging es besser?« »Mit Dextrose und Hormonen und einer Menge Sulfonamindrogen fühlte sich Hitler dann sehr wohl. Jahrelang hatte er nicht einmal eine Virusinfektion. Jedes Mal, wenn er eine Rede halten sollte, verabreich te ihm Morell eine Extradosis Glukose und Aufputschmittel. Hitler war sehr zufrieden. Sie finden übrigens die Kopie eines Briefes, in dem Morell sich für das Haus auf der Insel Schwanenwerder bedankte. Hit ler hat sein Versprechen gehalten.« »Und diese Dokumentation setzt sich durch den ganzen Krieg hin durch fort?« fragte Stuart. »Das ist ja unbezahlbar.« »Hitler ließ Morell nur selten aus den Augen. Hitler vertraute die 105
sem Mann. Von Zeit zu Zeit machten sich die Magenkrämpfe wieder bemerkbar. Morell notierte, Hitler habe ihm anvertraut, diese Krämp fe zum ersten Mal im Sommer 1934 verspürt zu haben. In einer mit Bleistift geschriebenen Randbemerkung gibt Morell den Hinweis, dass Hitler zu dieser Zeit seinen besten Freund Röhm hatte ermorden las sen. Morell verabreichte Hitler immer stärkere Medikamente, wie zum Beispiel intramuskuläre Injektionen gegen gastritische Beschwerden, und kombinierte sie mit anderen Pharmaka, die ihm das Verdauen sei ner vegetarischen Diätkost erleichterten.« »Aber warum ist all das andere Material in der medizinischen Akte?« fragte Stuart. »Warum bewahrte er die Kopie eines Briefes auf, in dem er sich bei Hitler für das geschenkte Haus bedankt?« Die Kaffeemaschine in der Küche ließ pfeifend Dampf entweichen und stellte sich automatisch ab. Breslow holte eine Kanne mit frischem Kaf fee, bevor er antwortete. »Vielleicht hatte Morell literarischen Ehrgeiz.« »Eine Hitler-Biographie von seinem Leibarzt?« fragte Stuart. »Churchills Arzt hat ja ein solches Buch veröffentlicht«, sagte Bres low, »und soweit ich mich erinnere, wurde es ein Bestseller.« »Und kein Historiker hat dieses Material bisher eingesehen?« frag te Stuart. Die Dokumente lieferten eine interessante Ergänzung zum verfüg baren Material. Die National Archives in Washington D.C. haben eine Akte Morell unter der Registriernummer NA Microcopy T 253, sie ent hält aber nichts über Adolf Hitler. Die Bundesarchive in Koblenz und Freiburg verfügen über keine nennenswerten Unterlagen. »Niemand weiß, dass es existiert«, sagte Stein. »Und es wurde in der Kaiseroda-Mine aufbewahrt?« fragte Stuart. »Das macht es ja gerade so interessant«, sagte Max Breslow. »Für un seren Film natürlich«, fügte er eilig hinzu. »Ach ja, natürlich, der Film«, sagte Stuart. »Und Sie verfügen über noch mehr Material dieser Art?« Stein nickte und wühlte in der fast leeren Schachtel mit den CognacKirschen herum, bis er eine fand. Er zerkaute sie genüßlich und lächel te, als er Boyd Stuarts bestürztes Gesicht sah. 106
»Er hat leider recht, Mr. Stuart«, sagte Max Breslow. »Da ist noch ei niges drin, was manchen bisher gefestigten Ruf in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen wird.« »Sie meinen Hitler und Churchill?« fragte Stuart. »Trinken Sie Ihren Kaffee, und probieren Sie eins dieser köstlichen Schokoladenplätzchen«, sagte Max Breslow zu Stuart. »Für einen Abend haben wir genug getan.« Stuart hatte das Gefühl, dass es keine Schokoladenplätzchen mehr gab und dass Max Breslow es genau wusste.
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D
ie Marina del Rey bietet Jachtbesitzern, die in Los Angeles ge schäftlich tätig sind, luxuriöse und bequeme Unterkunftsmög lichkeiten, heißt es in einem Reklameprospekt. Hier liegen eng anein ander die herrlichsten Boote, umgeben von modernen Apartmenthäu sern, Restaurants und Diskotheken, und im Mittelpunkt befindet sich der exklusive Jachtklub. Wer eine Marina-Adresse hat, ist bald Ziel scheibe mehr oder weniger witziger Bemerkungen über das süße und bewegte Leben eines Junggesellen und Playboys. Gewiß, auf der Mari na del Rey laufen mehr Leute in Jacht- und Segelsportkleidung herum, als auf den umliegenden Booten Platz hätten; aber Boyd Stuart genoß es wirklich, auf einem Schiff zu leben. Hier war er in der Nähe von Culver City, Century City und Beverly Hills und nicht zu weit vom Highway I entfernt, der nach Malibu, Santa Barbara und noch weiter führte. Er scherte bei der Marina-del-Rey-Ausfahrt von San Diego Freeway aus und gab sich alle Mühe, nicht ständig an die Dokumente zu den ken, die er heute Abend gesehen hatte. Aber er konnte einfach nicht den modrigen Geruch und das Knistern des Papiers in seinen Händen 107
vergessen. »Außerhalb dieses Zimmers«, so hatte Stein zu ihm gesagt, »gibt es vielleicht keinen noch lebenden Menschen, der diese Doku mente je gesehen hat.« Jetzt war Stuart auf der Marina del Rey und be gann, die Häuserblocks zu zählen. Er fand es immer noch schwer, sich nicht in dieser riesigen Stadt zu verirren. Er ließ seinen neugemieteten Wagen auf dem offenen Parkplatz ste hen. In der unterirdischen Garage hatte es einige Überfälle gegeben, und zwei Uhr morgens ist nicht die beste Zeit, da unten herumzulau fen und zu erkunden, ob der Fahrstuhl noch in Betrieb ist. Er schalte te die Zündung aus und saß einen Augenblick still. Es war Vollmond, und er hätte, mit genügend Zeit und Neigung, tausend Sterne zählen können. Plötzlich sah er in einem in der Nähe des Ufers geparkten Wagen die Flamme eines Feuerzeugs aufblitzen. Er schreckte zusammen und ver wünschte seine Dummheit, die Pistole nicht mitgenommen zu haben. Zwei Männer stiegen aus dem Wagen, aber auf ein Zeichen des Fahrers hin setzte der zweite sich wieder hinein. Der andere hatte bereits die Hälfte des Parkplatzes überquert, als Boyd Stuart ihn endlich als sei nen Überwachungsoffizier erkannte. »Einen netten Abend verbracht, Stuart?« fragte er, als Boyd das Fen ster herunterließ, um ihn zu begrüßen. »Haben Sie hier die ganze Nacht auf mich gewartet?« »Nein«, sagte der ÜO. Er ging um den Wagen herum und setzte sich neben Stuart. »Wir haben uns die Freiheit genommen, eine kleine Vor richtung an Ihrem Kassettengerät anzubringen. So wissen wir im Um kreis von etwa einem Kilometer stets, wo Sie sind.« »Und ich soll Ihnen wohl dafür ein Dankeschön sagen?« fragte Stu art gereizt. »Es könnte sich Ihnen eines Tages als recht nützlich erweisen«, sagte der ÜO. »Erzählen Sie mir, worüber Sie sich unterhalten haben. Dieser Exkorporal Stein war doch da, nicht wahr?« »Sie sind gut informiert.« »Aber nicht rasch genug.« Boyd Stuart erklärte ihm alles bis in die kleinsten Einzelheiten. Der 108
ÜO hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Schließlich sagte er. »Es gefällt mir nicht.« »Sie hätten das Zeug mal sehen sollen. Es läuft mir kalt über den Rücken, wenn ich bedenke, was die beiden sonst noch auf Lager ha ben könnten.« »Sind sie auf Geld aus?« »Ein Film würde die beiden ins Rampenlicht stellen. Stein und Bres low könnten die Sache noch jahrelang weiterspinnen. Die Möglichkei ten sind unbegrenzt. Nach dem Film ein Buch, das mit Sicherheit ein Bestseller wird; Radio- und Fernsehauftritte, Videokassetten – Gott weiß, was sie sonst noch im Sinn haben. Es sind ja nicht nur die ge schäftlichen Möglichkeiten. Bedenken Sie nur, wie berühmt Stein und Breslow werden würden. Stellen Sie sie sich einmal in London bei ei ner Fernsehsendung der BBC vor, wie sie mit einem Sprecher des Aus wärtigen Amtes über die möglichen Auswirkungen ihrer Funde dis kutieren.« »Ich nehme es in Kauf, bis sich etwas Besseres bietet. Eine Partner schaft also, meinen Sie?« »Stein scheint es darauf ankommen lassen zu wollen.« »Verdammt noch mal, ich wünschte, London würde es uns einfach riskieren lassen, die beiden über den Washington-Computer laufen zu lassen. Wir wissen ja so gut wie gar nichts über sie. Ein Blick in ihre Steuererklärung könnte uns die ganze Geschichte erzählen.« Er kram te in seiner Jackentasche und sagte dann: »Geben Sie mir eine Zigaret te, ja? Oh, wie ich diese lausige Stadt hasse!« »Ich versuche, das Rauchen aufzugeben«, sagte Stuart. Der Mann fluchte. »Na schön«, sagte er. Da die Klimaanlage nicht mehr eingestellt war, wurde es im Wagen allmählich muffig. Er finger te am automatischen Scheibenöffner, besann sich jedoch eines Besse ren. »Gott sei Dank wird London mich bald ersetzen. Es wird mir gut tun, endlich wieder im guten alten Europa zu sein.« »Ich hielt Sie für einen Mexikaner«, gestand Stuart. »Sie sind wirklich ein großartiger Geheimagent, Stuart«, sagte der ÜO spöttisch. »Ich bin Ungar. Schon mal von Györ gehört? Natürlich 109
nicht. Woher sollten Sie ein solches Kaff kennen? Als ich dort lebte, wusste ich auch nichts von Los Angeles.« »Sie sind 1956 herausgekommen? Während des Aufstands?« »Nennt man es so? In meinem Terminkalender stand Fiasko.« »Ich habe Zigaretten auf dem Boot.« »Ich scheiße auf Ihre Zigaretten. Ich bin bereits bei 40 pro Tag an gelangt. Wissen Sie was, Stuart? Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie von zu Hause weggelaufen.« Es war halb im Scherz gesagt, aber die andere Hälfte blieb zwischen ihnen in der Luft hängen. Viele Beamte der Abteilung hätten es für nö tig befunden, eine solche Bemerkung sofort zu melden, und sie beide wussten es. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann fragte Stuart: »Ist der Mann im Wagen dort einer von Ihren Leuten?« Der ÜO schien ihn nicht gehört zu haben. »Mein Vater bat mich, Mutter und Schwester über die Grenze zu bringen und mich um ihn zu kümmern. Er blieb da. Meine Mutter starb sechs Monate später in einem Durchgangslager bei Wien, und meiner Schwester war so elend, dass sie zurückkehrte, um für meinen Vater zu sorgen.« Er spielte mit dem Sicherheitsgurtschloss, ließ es zuschnappen, klappte es wieder auf. »1956«, sagte er, »ein unvergessliches Jahr. My Fair Lady bekam den New Yorker Kritikerpreis, und Elvis sang Hound Dog. Ganz Ame rika las Pleyton Place, und Yul Brunner rasierte sich den Schädel, spiel te den König von Siam in einem Musikfilm und bekam dafür einen Oscar.« »Wird London Sie ersetzen?« »London ist in heller Aufregung über diese Schnitzeljagd.« Sein Ton deutete unmissverständlich an, dass er diese Aufregung nicht teilte. »Der Mann in meinem Wagen ist der Abteilungsleiter für das gesamte westliche Gebiet. Da er ein verdammt guter Schreibtisch hengst ist, hat er natürlich alle Handbücher gelesen und bleibt da drüben sitzen, um nicht Ihr Gesicht zu sehen. Er kam, um mich per sönlich über eine sehr unwahrscheinliche Informationsquelle zu un terrichten, die das Büro in London ausfindig gemacht hat. Er möch te, dass Sie morgen nach London fliegen und von dort nach East An 110
glia fahren, um mit irgendeinem vertrottelten deutschen Greis zu re den, der behauptet, dabei gewesen zu sein, als der ganze Scheißdreck in einen Eisenbahnzug verladen wurde, um in die Kaiseroda-Mine geschafft zu werden.« »Ist das der Grund, weshalb Sie mitten in der Nacht hier auf mich warteten?« Der ÜO griff in seine Tasche, nahm ein Flugbillett heraus und gab es ihm. »So ist es leider«, sagte er. »Dieser kleine Scheißkerl kam nicht zu mir, um sich mit mir zu beraten. Er machte einen Befehl daraus. Aber warum er es mir nicht einfach über den Fernschreiber getickert hat, ist mir unbegreiflich.« »Südkalifornien kann um diese Jahreszeit recht angenehm sein«, sagte Stuart. »Das wird es wohl. Eine Spritztour für den Oberbonzen – und uns Fußvolk hält es schön in Trab.« Er schlug sich auf das Bein und fasste den Türgriff. Dann hielt er inne. »Die Polizei fand Mr. Lustig«, sagte er. Er schwieg. »Und?« »Jemand hat ihm den Kopf abgehackt. Ein paar Minuten länger, und sie hätten ihm auch die Hände abgeschnitten, und dann wäre es nicht mehr möglich gewesen, ihn an seinen Fingerabdrücken zu identifizie ren.« »Wann war das?« »Wir wissen es nicht genau. Die Polizei hat sich darüber ausgeschwie gen. Todeszeit, nach meiner Quelle, 24. Mai. Die Leiche wurde etwa eine Woche später gefunden.« »Was meinen Sie damit: hat sich darüber ausgeschwiegen?« »Das möchten wir gern herausfinden, aber es ist nicht leicht. Es hat ein langes Hin und Her mit dem FBI, den Anwälten, der Staatsanwalt schaft und dem Polizeihauptquartier gegeben. Auch Leute von der CIA, wie wir vermuten. Alles das scheint mit dem Mord an Lustig zu sammenzuhängen.« »Eine offizielle Nachrichtensperre, wollen Sie sagen?« »Für Sie ist der Augenblick günstig, nach London abzuhauen«, sag 111
te der ÜO. »Hier könnte es heiß werden. In ein paar Tagen werden wir wissen, was los ist.« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte Stuart. »Ich auch«, gestand er, »aber der Kerl aus London sieht es nun ein mal so. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. Der Name Ih rer Kontaktperson steckt in Ihrem Flugbillet. Ich hab' auch etwas engli sches Geld beigelegt. Es ist leider nicht sehr viel, aber es reicht, um sich im Flugzeug Kopfhörer mieten zu können. Sie sind ja ein Musikfreund. Keine Geheimmaßnahmen diesesmal; Sie können Ihren eigenen Pass, Ihre Kreditkarten und so weiter benutzen. Ich werde hier weiterhin die Augen offen halten. Sie erstatten dann wie üblich in London Bericht.« Er gab Stuart den braunen Umschlag. »Und hören Sie auf, sich wegen des Jungen aus Washington Vorwürfe zu machen. Es war nicht Ihre Schuld.« Stuart antwortete nicht. Er wusste nur zu gut, dass es seine Schuld war und dass es in den Berichten stehen würde. Der Mann stieg aus. Stuart blickte ihm nach, als er über den Park platz zu seinem Wagen ging. Die Nacht war heiß, und der ÜO nahm sich Zeit. Es dauerte eine Weile, bis die Scheinwerfer aufflammten; eine weitere, bis die Männer abfuhren. Stuart nahm an, dass der Ab teilungsleiter aus London sich jetzt seinen falschen Bart abnahm.
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E
ast Angelia ist Großbritanniens verlorener Kontinent. Diese win dige, regnerische Gegend gehört weder zum industrialisierten Norden noch zum reicheren Süden. Es ist Marschland, liegt zum Teil unter dem Meeresspiegel, durchzogen von komplizierten Dämmen und Kanälen, die von Holländern, deren Namen man noch heute in je dem Ortstelefonbuch findet, erbaut wurden. In diesem Teil Englands gibt es kein großes Straßennetz, und zwischen den Eisenbahnschienen 112
wächst Gras. Endlose Kartoffel- und Erbsenfelder, zahllose Enten und Puten; vom Regen gepeitschte, eng aneinander gedrängte Campingwagen einiger Feriengäste, die vor den Elementen Schutz zu suchen scheinen. Am Horizont, der immer noch an mittelalterliche Zeiten ge mahnt, heben sich die groben Steintürme der Kirchen vor grauschwar zen Wolkenmassen ab. Und doch braucht man sich nicht weit von der Straße zu entfernen, um in jeder beliebigen Richtung verlassene Kon trolltürme, baufällige Schuppen, Baracken und rissige Betonpisten an zutreffen. Denn vor langer, langer Zeit war hier ›Kleinamerika‹. Von hier aus starteten die großen Bombergeschwader, um Hitlers Deutsch land anzugreifen, und junge Männer aus Tacoma oder Tallahassee nannten die Dörfer von East Anglia ihr Heim. Boyd Stuart sah die Kirchturmspitze, lange bevor er das Schild nach Little Ashfield erblickte, bog von der Straße nach Thetford ab und fuhr durch die Dörfer Elmstone und Great Wickmondgate. Er fühlte sich in seinem eigenen Wagen wohler. Lieber ein verbeulter alter Aston Mar tin, so sagte er sich, als ein fabrikneuer Datsun. Das Dorf, das er such te, bestand aus kaum einem Dutzend kleiner Fachwerkhäuser mit ei ner Kirche aus Bruchsteingemäuer. Der Himmel darüber war schiefer grau, die Luft regenfeucht. »Ich suche Franz Wevers Haus«, rief Boyd einer alten Frau in ge blümtem Schürzenkleid zu. Sie stand über ihren Gartenzaun gelehnt und betrachtete liebevoll ihren jungen kleinen Dorfköter, der an einem Knochen nagte. »Der ist sicher in der Kirche«, sagte sie. »Was wollen Sie denn von ihm?« »In der Kirche?« Sie lachte. Es war ein schrilles Lachen. »In der Kirche. Beim Polieren, nicht beim Beten«, sagte sie. »Jede Woche pünktlich wie die Uhr ist der alte Mr. Wever in der Kirche, poliert die Bänke und schrubbt den Fuß boden. Der ist mir ein komischer Kauz!« »Danke«, sagte Stuart, fuhr bis ans Ende des Dorfes und parkte vor dem efeuüberwachsenen Tor. Es war eine schöne alte Kirche mit brei tem Dach voller Giebel, Spitzbalken und Sparrenwerk. Wever war da: 113
ein kleiner Mann mit Brille, spitzer Nase und schütterem, noch nicht ganz weißem Blondhaar. Er hatte hellblaue Augen und eine wetterharte Haut – das Gesicht eines Mannes, der sein Leben im Freien verbrachte. »Mr. Wever?« »Kommen Sie wegen der Eier für das Rendezvous des Gourmets?« »Wegen was?« Wever wandte sich wieder seinem Scheuerbesen zu. »Ich dachte. Sie kämen von dem neuen Restaurant auf der Haupt-Straße. Ich hatte heu te früh Schwierigkeiten, meinen Lieferwagen zu starten.« »Ich komme aus London, Mr. Wever. Man sagte mir, Sie könnten mir vielleicht helfen. Wir haben da eine Umfrage wegen eines Transports deutscher Archive während des Krieges.« Wever blickte rasch auf, erstarrte. »Also die haben Sie geschickt?« sagte er verdrossen. »Will denn die Fragerei kein Ende nehmen?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Stuart. »Schon wieder 1945, nicht wahr? Das ist es doch?« »Ja.« »Ich habe ihnen alles erzählt, was ich weiß. Unzählige Male.« Wever nahm die Kehrichtschaufel und seine Jacke. »Wird es lange dauern?« »Das kann ich jetzt noch nicht sagen.« Wever seufzte. Stuart folgte ihm durch die Sakristeitür und einen Korridor bis zum Besenschrank. Er sah ihm zu, wie er Putzlappen und Besen zusammenpackte und in den Schrank tat. »Ich kam 1945 als Kriegsgefangener hierher«, sagte Wever. »Seitdem bin ich hier. In ge wisser Hinsicht immer noch ein Gefangener.« »Sie bereuen es wohl jetzt?« fragte Stuart. »Plagt Sie das Heimweh?« Wever blickte ihn verächtlich an. »Ich bin nie dorthin zurückge kehrt, Mr. …?« Der deutsche Akzent war jetzt unverkennbar. Viel leicht weil er sich ärgerte. »Stuart. Boyd Stuart.« »Mr. Stuart.« Wever wusch sich die Hände in einem kleinen Becken, trocknete sie gewissenhaft, zog sich eine grüne Tweedjacke an und setzte sich eine Mütze auf. »Ich nehme an, Sie haben einen Wagen, Mr. Stuart? Meine Frau be 114
nutzt unser Fahrzeug. Freitags hat sie viel zu tun. Die Restaurants, Ho tels und Familienpensionen wollen alle unsere Hühner und Eier vor dem Wochenendbetrieb.« Wever folgte Stuart hinaus zu dem alten Sportwagen. Er enthielt sich jeder Bemerkung, bis der Motor ansprang. »Der donnert ja wie ein Panzer. Gefällt Ihnen das?« »Ja«, sagte Stuart. »In welche Richtung fahren wir?« »Wir haben 58 Hektar Land an der Straße nach Elmstone. Fahren Sie geradeaus und biegen Sie hinter dem Red Fox nach rechts ab.« »Hühner?« »Rhode-Island-Hühner. Die bringen uns schöne braune Eier. Die Leute ziehen sie den weißen vor, aber im Grunde ist es das gleiche.« Wever schien gesprächig, war offensichtlich bemüht, über die Gegen wart zu plaudern, um nicht von 1945 reden zu müssen. »Wir hätten fast alles verloren, als wir anfingen.« Wever schwieg eine Weile. »Die Biester pickten einander zu Tode, wissen Sie? Wir mußten ihnen die Schnäbel beschneiden.« »Rechts beim Red Fox sagten Sie?« Wever antwortete ihm nicht. »Jetzt haben wir sie in richtigen Le gebatterien. Industrielle Landwirtschaft nennt man das. Über 2.000 Stück, das bringt wöchentlich an die 5.000 Eier ein. Dann haben wir auch ein bisschen Gerste. Lohnt sich zwar kaum für das, was es ein bringt, aber es ist eine Versicherung. Mit diesen Krankheiten, die die Hennen kriegen, kann man über Nacht arm werden.« Stuart bog hinter dem Red Fox ab. Ein verwahrlostes altes Pub mit zerbrochenem Wirtshausschild, auf dem Martini trinkende Mädchen in Badeanzügen zu sehen waren. Die Landschaft wurde lieblicher. Sie entsprach schon eher dem, was Constable und Cotman hier gefunden hatten. »Ein hartes Leben«, sagte Stuart nach langem Schweigen. Er wollte ihn gesprächig halten. »Wir haben eine Milchkuh und einen Gemüsegarten und ein Schwein, das uns unser einziges Fleisch liefert.« Wevers Englisch war zwar fehlerhaft, jedoch sehr genau und zuweilen pedantisch. 115
»Sie bringen es zum Schlächter?« Wever schnaubte verächtlich. »Warum soll ich das Fleisch mit einem Schlächter teilen? Das mache ich selber. Ich schlachte all die Schweine in der Gegend. Wenn man vier Kinder hat und nur ein bisschen Land, von dem man gerade so schlecht und recht leben kann, ist man wegen Schweineschlachtens nicht zimperlich, Mister.« Die Wevers lebten in einem abgelegenen Fachwerkhaus, etwa eine Viertelmeile von der Straße entfernt. Ein schlammiger Wirtschaftsweg führte dorthin. Die untere Gebäudehälfte war aus Bruchstein gebaut, der obere Teil von brüchigen Schutzplanken überdacht. Hinten befand sich ein relativ neuer Ziegelanbau, wo man zwei Extrazimmer hinzu gefügt hatte. Die Toilette bestand aus einem Bretterverschlag im Hof; einen Abwasserkanal gab es nicht. Boyd Stuart parkte seinen Wagen auf einem Kiesplatz jenseits des Weges. Sie stapften über den schlammigen Weg zwischen einigen ver krüppelten Apfelbäumen und einer Reihe frisch aufgestellter Bohnen stangen. An der Vorderwand war Netzdraht gespannt, um die Erbsen ranken zu lassen; ihre rosa und roten Tupfen waren das einzig Farbige in dieser eintönigen Landschaft. Vor der Eingangstür stand eine gan ze Sammlung von Gummistiefeln aller Größen und ein großer Spiel zeugtraktor, dem die Vorderräder fehlten. Ein Hund bellte, als sie sich näherten. Wever brüllte ihm etwas zu, aber er bellte weiter. Mrs. Wever war bereits daheim: eine kräftige Frau mit roten Backen und ländlichem Aussehen. Sie schien mindestens zehn Jahre jünger als ihr Mann zu sein. Ihr dunkles Haar war fest in einen Knoten zurück gekämmt, ihre Augen waren wachsam und klar. Sie stand am Küchen tisch, bereitete Kuchen, maß das Mehl und schnitt die Butter mit jener Flinkheit, die Langeweile und Ungeduld mit sich bringen. »Das ist Mr. Stuart«, sagte Wever. »Er ist aus London gekommen, um mit mir zu reden.« In der Küche mit ihren kleinen Fenstern und dem grauen Wolkenhimmel draußen war es dunkel. Wever schob Stuart einen Stuhl zu. Die Frau griff zum Wasserkessel; als sie ihn aus dem Messinghahn vollaufen ließ, rauschte es laut. Sie stellte ihn auf den Herd und hob die Ofenklappe, so dass die rote Kohlenglut bis an die 116
Decke flimmerte. Sie stellte drei Krüge auf frisches Zeitungspapier, das als Tischdecke diente, und legte eine fast leere Tüte Zucker dazu. »Ziehen Sie sich die Jacke aus und setzen Sie sich, Mr. Stuart«, sagte Wever. Seine Stimme war leise, fast furchtsam in der stummen Feind seligkeit, die den Raum erfüllte. Man hörte sonst nur noch das Tick tack der großen Standuhr an der Wand. »Wo sind denn Ihre Kinder?« fragte Stuart. Es war ein Versuch, freundlich zu sein. Er zog seinen blauen Anorak aus und hängte ihn über die Stuhllehne. »Der Älteste ist zweiter Maschinist auf einem Supertanker«, sagte Wever. »Zwei Töchter sind verheiratet und leben im Ort. Nur der Jüng ste ist noch bei uns.« »Er hat bestimmt Klein Johnnys Traktor gesehen«, sagte die Frau, als sei der Besucher gar nicht anwesend. Ihre Stimme war hart und hatte den Akzent der Gegend. »Mein Enkel«, sagte Wever. »Er kommt manchmal auf einen Tag zu uns.« Dann mit anderer Stimme: »Du hast doch die Eier im Rendez vous des Gourmets abgeliefert?« »Sie wollen monatlich bezahlen. Ich habe gesagt, dass müßten sie mit dir besprechen.« Sie lächelte. »Die schaffen es nie. Sie sind bereits die dritten Besitzer in drei Jahren. Besonders fein wollen sie es machen«, sagte sie spöttisch. »Mit einem französischen Namen und einer Wein karte. Sie werden bei uns Schulden machen, und nachher, wenn wir nicht aufpassen, sitzen wir ohne einen Penny da, Franz.« »Haben sie dir bezahlt?« Wever bückte sich, löste die Schnürbänder seiner Stiefel, wackelte mit den Zehen. »Ich habe gesagt, ich würde sonst die Eier zurücknehmen.« Sie lä chelte. »Die wussten schon, dass ich ernst machte. Auch mit den Hüh nern.« Sie öffnete die Börse, die vor ihr auf dem Tisch lag, und nahm einige Pfundnoten heraus, faltete sie zusammen und legte sie auf die Kommode. »Das ist die letzte Anzahlung für den Rotovator«, sagte sie. Der Kessel begann zu pfeifen. Sie füllte die braune Teekanne auf, wärmte sich die Hände daran, goss das Wasser ins Spülbecken. Dann 117
löffelte sie den Tee in die Kanne: drei Personen, drei flache Teelöffel. Das kochende Wasser zischte, als es über das heiße Metall des Kessel schnabels rann. Sie stülpte einen gestrickten Teewärmer über die Kan ne und holte einen Krug mit Milch aus der Speisekammer. »Möchten Sie eine Scheibe Toast, Mr. Stuart?« fragte sie. Die Aussicht auf den Tee schien sie in bessere Laune versetzt zu haben. »Gebäck oder feinen Ku chen haben wir nicht im Haus.« »Bitte nur Tee«, sagte Stuart. Die Frau goss etwas Wasser in die Schale mit dem Mehl und dem Fett und knetete wild drauflos. Dann streute sie etwas Mehl auf das saubere Zeitungspapier und ließ den weichen Teig mit einem Plumps darauf fallen. Sie nahm eine Nudelrolle und rollte den Teig. Ihre Bewe gungen waren energisch und entschlossen, wie bei jemandem, der sich mit Widerwillen körperlich verausgabt. Sie presste die Lippen zusam men und hielt die Augen auf den sich ausbreitenden Teig geheftet. »Ich habe nie einen gefährlichen Schuss gehört«, sagte Franz Wever. »Ich trug zwar Uniform, grüßte meine Vorgesetzten und fasste mei ne Rationen, aber den größten Teil meiner Arbeit in der Armee hätte ebensogut ein Zivilist erledigen können.« »Und was war das?« »Ich bin Berliner«, sagte Wever. »Mit 15 kam ich aus der Schule, lern te Stenografie und Schreibmaschine und arbeitete im Berliner Büro der Hamburg-Amerika-Linie, bis ich eingezogen wurde. Nach einem Grundkurs kam ich nach Halle in die Schule für den Fernmeldedienst und wurde Fernschreibordonnanz im Hauptquartier der Heeresgrup pe 6 in Hannover. Dort habe ich etwa ein Jahr lang gearbeitet. Ich war der einzig beruflich Geschulte am Ort; denn die meisten Jungen hat ten noch nie einen Fernschreiber gesehen, bis sie dann auch auf die Schule geschickt wurden. Man brauchte mich für alles, was einigerma ßen wichtig war. Natürlich wollte ich in der Nähe meiner Eltern sein und bekam schließlich einen Posten beim Fernmeldetrupp des Wehr kreiskommandos III (Berlin-Brandenburg). Dann ging ich nach Zos sen …« Er blickte neugierig auf, um zu sehen, ob Stuart von Zossen ge hört hatte. 118
»Das Generalhauptquartier. Durch dessen Fernmeldezentrale liefen alle Befehle der Deutschen Wehrmacht.« Wever nickte. »Es war eine langweilige Arbeit. Alles war verschlüs selt. Nur Buchstaben und Zahlen, die mir nichts bedeuteten. Sogar bei der Hamburg-Amerika-Linie war es interessanter.« Wever häufte sich drei volle Löffel Zucker in seine leere Tasse. »Gieß den Tee ein, Lucy. Er muß fertig sein.« Die Frau rollte den Teig aus, rieb sich das Mehl von ihren roten Hän den, schüttete den Teig auf eine Pfanne mit gekochtem Rhabarber, schnitt die überhängenden Ecken mit einem Messer ab. »Könnt ihr Männer euch den Tee nicht selbst eingießen?« brummte sie, aber sie tat es dann doch. Stuart stellte fest, dass das, was er zuerst für Feindselig keit ihm gegenüber gehalten hatte, eigentlich nur ihre Reaktion auf das Gespräch über den Krieg war. Von dem Teil ihres Mannes war sie aus geschlossen – wie vielleicht die glücklichen Tage einer früheren Ehe. »Ich werde jetzt melken gehen«, sagte sie mit einem Anflug von Vor wurf in der Stimme. Sie stellte die Teekanne auf den warmen Herd zu rück. »Jemand muß es ja tun, bevor es dunkel ist, und du willst dich über den Krieg unterhalten.« Wever antwortete nicht. Die Frau warf sich einen alten Schaffellmantel über, bewegte sich rasch und heftig, um ihren Ärger zu zeigen, schlug den Kragen hoch, bevor sie in das schlechte Wetter hinaustrat und knallte die Tür hinter sich zu. »Zucker?« fragte Wever. »Ich will abnehmen«, sagte Stuart. Die Tüte war fast leer. Wever riß sie auf, schüttete den letzten Rest in seine Tasse. »Meine Frau liebt diese Standuhr«, sagte er. »Sie ist auch sehr schön«, sagte Stuart. Sie war wahrscheinlich der einzige Wertgegenstand in dieser Küche. Alles andere schien zusam mengebastelt, billige Plastikware oder war zerbrochen. »Sie ist ganz versessen darauf«, erklärte Wever. »Wollte sie nicht um alles in der Welt verkaufen, als wir vor ein paar Jahren dringend Geld brauchten, um Saat einzukaufen. Sie gehörte ihrem Vater. Sie hat ihn gepflegt, als er im Sterben lag.« In der folgenden Stille schien das Tik ken der Uhr noch lauter zu sein. »Nichts ist ihr gut genug für diese 119
Uhr«, sagte Wever mit kurzem bitterem Lachen. »Das Werk darf nicht mit Traktorenöl geschmiert werden, o nein, es muß besonderes Öl aus einem Geschäft in Norwich sein. Erst gestern hat sie jemand kommen lassen, um eine der Glocken auswechseln zu lassen. Die Bestellung hatte sie vor zwei Monaten aufgegeben.« Er nahm einen Schluck Tee, starrte aber immer noch auf die Uhr. »Ich kann dieses Ticken nicht ausstehen«, gestand er, »und das verdammte Ding geht immer nach.« Er holte ein riesiges Taschentuch hervor und schnäuzte sich mit gro ßer Sorgfalt, nahm noch einen Schluck Tee und fuhr mit seiner Ge schichte fort. »Von Zossen aus wurde ich ausgewählt und in die Fern meldeeinheit nach der Wolfsschanze versetzt. Dort schickte man nur die besten Techniker hin.« Selbst nach so langer Zeit wurde sein Stolz offenbar. »Das lag im Rastenburger Wald, das Führerhauptquartier. Eine große Ehre.« Wever wischte sich erneut die Nase. »Aber damals war ich darüber nicht gerade erfreut – keine wöchentlichen Besuche bei meinen Eltern mehr, kein Kino, keine Tanz- oder sonstigen Ver gnügungen in Berlin. Die Wolfsschanze war von allem abgelegen. Der Rastenburger Wald ist eine sumpfige Gegend; im Sommer drückend heiß und voller Mücken, im Winter in tiefem Schnee vergraben, und die übrige Zeit hatten wir nur Regen und Nebel. Meine Eltern freu ten sich, denn bald darauf wurde ich zum Offizier ernannt und hat te die Fernschreiberkompanien unter mir. Und sie freuten sich beson ders, weil wir vom ständigen Personal sicher waren, nie an die russi sche Front geschickt zu werden.« »Warum?« »Sonderbefehl des Führers. Er hatte Angst, die Russen könnten einen von uns gefangen nehmen und sich Informationen über ihn und den Tagesablauf im Hauptquartier verschaffen.« »Sind Sie Hitler in die Nähe gekommen?« »Manchmal sah ich ihn jeden Tag. Es war im Februar, der Fernmel deoffizier des Führersonderzugs mußte ins Krankenhaus und ich ihn ersetzen. Natürlich hatte der Posten auch seine Nachteile: stets saube re, frisch gebügelte Uniformen, kein Fluchen, kein Rauchen, und mei ne Fernmeldeleute waren überarbeitet.« 120
»Und wer war für die Aktenablage zuständig?« »Ein Mann hätte die Papierarbeit gar nicht bewältigen können«, sag te Wever mürrisch. »Es ist schwer, Ihnen das zu erklären.« Er falte te sein Taschentuch zusammen, steckte es wieder ein. »Der Führer sonderzug war der reinste Wanderzirkus. Ständig fuhren ein Dutzend Adjutanten, zwei oder drei Sekretäre, zwei Ärzte und ein Chirurg mit. Außerdem Leute von der Presse, Hitlers Fotograf Hoffmann, ein paar Leute vom Außenamt, Hitlers persönlicher Stab – drei Diener und zwei Fahrer –, über ein Dutzend Eisenbahnbeamte, ebensoviel Ver sorgungspersonal, fünf Mann Bahnpolizei und drei Postbeamte. Zwei Männer waren da, die nichts weiter zu tun hatten, als die Lagekarten immer auf den neuesten Stand zu bringen. Dazu kamen noch seine Leibwächter von der Armee oder SS, ganz zu schweigen von den Flug zeugen und den Dutzenden von Motorfahrzeugen, die dem Zug folg ten und sich bereithalten mußten, falls der Chef sie mal brauchen soll te. Dann gab es die tägliche Papierarbeit mit dem Heerespersonal, den Flak-Einheiten, der Zahlmeisterei, der Feldgendarmerie. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Ablage ergibt?« »Ich möchte etwas über Hitlers persönliche Dokumente wissen«, sagte Stuart. »Ich versuche, herauszufinden, wohin sie in den letzten Tagen des Krieges gebracht wurden. Meine Leute behaupten, Sie wüs sten darüber Bescheid.« Wever tat, als habe er ihn nicht gehört. Regentropfen peitschten an das Fenster. In der Küche wurde es dunkler, an elektrischem Strom wie an Kuchen und Zucker wurde in diesem Haushalt sehr gespart. Franz Wevers Kopf sank tiefer in die gekrümmten Schultern, verschwand fast im Dämmerlicht. »Ich war fast bis zum Ende bei Hitler.« Wever nahm einen Schluck Tee. »Am 10. Dezember 1944 um 15 Uhr fuhren wir mit dem Führer sonderzug aus Berlin nach Gießen, wo ihn ein Wagenkonvoi zum Ad lerhorst brachte. Ich bekam Befehl, den Fernmeldeoffizier des FBB – des Führerbegleitbataillons – zu ersetzen. Er hatte die Nacht auf den 9. Dezember in Berlin verbracht und wurde bei einem Bombenangriff getötet.« 121
Wever saß still und schloss die Augen. Er schien im schwindenden Licht der schäbigen kleinen Küche eingedöst zu sein. Doch als er wie der sprach, fuhr Stuart überrascht zusammen. »Der Zug kehrte am 16. Januar 1945 nach Berlin zurück. Der Führer sah gebeugt und krank aus. Wir kamen um zehn Uhr morgens an. Eine Flotte schwarzer drei achsiger Mercedes wartete im Bahnhofsvorhof. Eine kleine Menschen menge hatte sich angesammelt, aber die Polizei hielt sie zum Weiter gehen an. Man befürchtete ein neues Attentat auf ihn. Jetzt, da es mit dem Dritten Reich fast aus war, redete man in den Bars gegen die Na zis, und die Berliner rissen boshafte Witze über die Naziführer, die Gold nach Südamerika schmuggelten. Witze über die Nazis hatte es in Berlin schon immer gegeben – die Stadt war dafür bekannt –, aber jetzt waren die Witze anders … Als wir wieder in Berlin waren, verbrachte der Chef immer mehr Zeit in seinem unterirdischen Bunker, wo er schließlich dann starb. Die amerikanischen Bomber kamen meist vor dem Mittagessen, die britischen um Mitternacht. Während einiger Tage wohnte der Führer im kleinen Gebäude der alten Reichskanzlei und hielt in der großen neuen, von Speer entwor fenen Reichskanzlei Lagebesprechungen ab. Sie hatte einige Volltreffer abbekommen, aber das Arbeits- und das Esszimmer des Führers wa ren intakt geblieben. Mittwoch, den 21. März, als die Nachricht vom Einmarsch der Infanterie Pattons in Ludwigshafen eintraf, ließ mich der Chef rufen. Um diese Zeit waren die Wandteppiche und die wert vollen Gemälde bereits in Sicherheit gebracht worden, und wir muß ten, wegen des Bombenschadens, Umwege durch Seitengänge machen. Die meisten Fenster waren zerbrochen und mit Pappe zugenagelt, die im Wind furchtbar klapperte. Für jeden, der früher einmal dagewesen ist, war das ein niederschmetternder Anblick. Ich kam mit Generaloberst Guderian und seinem Adjutanten an. Sie mußten sich vom Sicherheitsdienst genauso untersuchen lassen wie ich. Alle zehn Schritt kam man an bewaffneten Wachen vorbei. Die gesam te Zitadelle, das sogenannte Regierungsviertel von Berlin, stand voller Truppen. Eine Kompanie des Führerbegleitbataillons wurde kurzfri 122
stig aus der Lichterfelder Kaserne abgezogen und mit dem SS-Begleit kommando der Reichskanzlei zugestellt. Ein wahres Chaos; denn die Leibstandarte Adolf Hitler, Wache Reichskanzlei, war immer noch da. Es gab nirgends Platz. Am Ende jedes Korridors wurden meine Papiere kontrolliert und im Anmeldebuch nachgeprüft. Als wir ins Vorzimmer kamen, nahm ich meine Pistole aus dem Halfter und übergab sie den Wachen der Waf fen-SS. Ein ganzer Tisch lag voll davon. An jede Waffe wurde ein Eti kett mit dem Namen des Besitzers geheftet. Selbst Guderian und sein Adjutant mußten ihre Aktentaschen vorweisen, die von den Wachen von innen nach außen gekehrt wurden. Leibesvisitationen gab es nicht, aber ich nehme kaum an, dass jemand sich mit einer zerbeulten Uni form ins Vorzimmer gewagt hätte.« Wever lächelte. »Jetzt, da ich im Vorzimmer war, sah ich all die hohen Tiere, die zur täglichen Lagebesprechung kamen: Keitel, Dönitz, Jodl, einige SS-Leu te Himmlers und sogar Göring, der ziemlich elend aussah und sich müde in einem Sessel ausstreckte. Ich setzte mich auf einen der gold bestickten Stühle und kam mir fehl am Platze vor, als die Tür des Ar beitszimmers aufging und Günsche hereinkam.« »Günsche war Hitlers Adjutant«, sagte Stuart, um seine neuerworbe nen Kenntnisse zu zeigen. »Sein persönlicher Adjutant.« »Hitler hatte Dutzende von SS-Adjutanten«, sagte Wever, den die Be merkung nicht zu beeindrucken schien. »Vier persönliche SS-Adjutan ten, und was weiß ich noch.« Er schob die Unterbrechung mit einer Handbewegung beiseite und nahm noch einen Schluck Tee. »Jeden falls war SS-Sturmbannführer und Kommandant einer Kampfgruppe Günsche einer von ihnen. Am Ende war Günsche es, der Hitlers Lei che mit Benzin übergoss und in Brand setzte. Er gab mir ein Zeichen und sagte zu den anderen – einschließlich Göring –, der Führer wür de sie in fünf Minuten empfangen. Man blickte mir neugierig nach, als ich ins Arbeitszimmer geführt wurde, und fragte sich wohl, was an mir so wichtig sei. Ich versuchte es zu erraten. Wie immer in solchen Situationen hat man erst Angst und fühlt sich schuldig. Vielleicht soll te ich erschossen werden, weil ich einen Hitler-Witz erzählt oder mich 123
über den getrockneten Kohl beklagt hatte. Über den Kohl hatte ich nämlich ganz offen geflucht. Günsche führte mich durch das riesige Zimmer mit dem BismarckPorträt und Hitlers großem Schreibtisch in ein kleines Seitenzimmer, wo man Dokumente verwahrte, die der Führer im Laufe seiner tägli chen Audienzen kurzfristig anfordern konnte. Hitler stand mitten im Zimmer. Als ich ihm näher trat, nahm ich den Geruch von Husten bonbons wahr, an denen er lutschte, wenn er Halsschmerzen spürte. Er hatte pathologische Angst vor Halskrankheiten. Er bot einen niederschmetternden Anblick. Sie dürfen nicht verges sen, dass ich ihn oft sah. Im Zug brachte ich ihm stets die Fernschreib meldungen. Wenn alles gut ging, wechselte der Führer ein paar Wor te mit mir. Er erinnerte sich an die Namen meiner Eltern und den Ge burtsort meiner Mutter – Linz in Österreich. Aber jetzt war er kaum wieder zu erkennen. Sein Gesicht wirkte um 40 Jahre gealtert, die Au gen waren tief in die Höhlen gesunken, die Wangen dunkel getönt, wie nach einer Quetschung. Er stand gebeugt und schien den linken Arm, der ständig zitterte, nicht mehr bewegen zu können. Seine Stim me war sehr leise und heiser und hatte nicht annähernd den gleichen Klang wie früher, als er seine großen Reden hielt. Beim Sprechen lehn te er sich nach vorn und hielt sich mit der Rechten die Kehle, als wolle er seinen Stimmbändern nachhelfen. Der Chef trug wie gewöhnlich eine einfache graue Jacke im Militärschnitt. Ich bemerkte Flecken auf den Rockaufschlägen: Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er, was Kleidung betraf, immer auf Rein lichkeit geachtet hatte. Auch die schwarze Hose und Zivilschuhe ent sprachen nicht seinem früheren Standard. Der Führer stand an einem kleinen Tisch. Ich bemerkte, dass er sich mit seinem Gewicht darauf lehnte, um sich zu stützen. Das bestätigten mir die Gerüchte über seine Gleichgewichtsstörungen und Schwindel anfälle. Günsche sortierte unter seiner Anweisung Papiere und Doku mente aus und stapelte sie zu getrennten Haufen. An der Wand stand ein halbes Dutzend metallene Aktenordner mit dunkelgrüner Bema lung. Jeder dieser Behälter trug die Aufschrift FHQu – Führerhaupt 124
quartier –, daneben das Wort Persönlich und eine sechsstellige Zahlenund Buchstabenkombination.« Stuart hätte vor Aufregung fast aufgeschrien. Was auf dem Kasten mit den Papieren Dr. Morells wie BBO aussah, war in Wirklichkeit FHQu, und die freie Stelle daneben zeigte an, wo das Wort ›Persön lich‹ entfernt worden war. »Der Führer lächelte. Ich glaube leider, dass man mir den Schrecken, den mir sein Aussehen einflößte, ansehen mußte. Ich stand wie ge bannt, hob den Arm zum Hitlergruß. Aber er erwiderte ihn nicht. ›Hauptmann Wever‹, sagte er. Selbst in seinen letzten Tagen benutz te er immer noch seinen alten Trick, sich an Namen zu erinnern. Aber er senkte den Blick, was mich überraschte; denn gewöhnlich starrte er seine Besucher unverwandt an, versetzte sie in eine Art Hypnose. Ich senkte den Arm. Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung, gab mir zu verstehen, dass ich nicht in Habachtstellung verbleiben sollte. ›Ich habe eine wichtige Aufgabe für Sie, Hauptmann Wever.‹ Er blick te mich wieder an. ›Eine sehr wichtige Aufgabe.‹ Ich kannte ihn gut ge nug, um zu wissen, dass ich nur auf direkte Fragen zu antworten hatte. Ich blieb stumm. ›Der Feind benutzt seine schwersten Waffen, um ge gen mich in Berlin zu kämpfen.‹ Es fiel mir besonders auf, dass er ›gegen mich‹ sagte, als sei es eine persönliche Vendetta. ›Ich habe beschlossen, gewisse persönliche Dokumente in Sicherheit bringen zu lassen, um kein Risiko einzugehen. Im Interesse der Geschichte dürfen sie nicht vernichtet werden. Ich habe daher beschlossen, dass diese Dokumen te, die ich persönlich für diesen Zweck ausgewählt habe …‹ – Hitler zeigte auf einige Stapel Papiere, die von den anderen getrennt lagen –, ›dass diese Dokumente für künftige Generationen verwahrt werden sollen. Ich lege also große Verantwortung in Ihre Hände, Hauptmann Wever.‹ ›Jawohl, mein Führer.‹ ›Günsche wird Ihnen alle notwendigen Papiere besorgen, um Ihnen die Mitarbeit der Reichspost, der Reichsbahn, der Wehrmacht und meiner SS zu sichern. Sie werden Berlin heute Abend in meinem Zug verlassen.‹ 125
›Im Führersonderzug, mein Führer?‹ Hitler nickte. ›Nach Frankfurt am Main. Von dort aus fahren Sie mit einem Wagenkonvoi und bewaffneter Eskorte weiter. Genaue Befeh le und die Angabe des Bestimmungsortes erhalten Sie später. Sie wer den den versiegelten Umschlag erst im Zug öffnen. Sie werden mich über den Fernmeldedienst des Zugs laufend informieren – der dazu notwendige Code und die Schlüsselzahlen sind Ihren Befehlen beige fügt. Falls der Zug durch Feindeinwirkung aufgehalten werden sollte, können Sie bei den maßgebenden Stellen alle der Lage entsprechenden Hilfsmaßnahmen anfordern. Ist das klar, Hauptmann Wever?‹ ›Jawohl, mein Führer.‹ Das war sie also«, sagte Wever mit einem selbstverächtlichen Lä cheln. »Meine große Begegnung mit dem Napoleon des 20. Jahrhun derts. Und mein Beitrag? ›Jawohl, mein Führer.‹ Immer wieder ›jawohl, mein Führer‹. Es war das gleiche wie bei allen, die mit ihm zu tun hat ten: Generäle, Admiräle, Erfinder, U-Boot-Kapitäne, Könige und Prä sidenten. Er hatte einen völlig in der Hand, und wenn man aus die sem Arbeitszimmer herauskam, bildete man sich trotzdem ein, einen hochintelligenten Menschen von etwas überzeugt zu haben, das man sein ganzes Leben lang geplant hat. So war es auch mit diesen ver dammten Papieren.« »Sie sind also als einziger Passagier zum Zug zurückgekehrt?« frag te Stuart. »Da kennen Sie den abwegigen Charakter der oberen Befehlsgewalt nicht«, sagte Wever. »Hitler hatte Günsche angewiesen, meinen Reise befehl und die Dokumentation vorzubereiten. Das tat der SS-Sturm bannführer nach Beratung mit Kaltenbrunner, dem Chef des RSHA, der Sicherheitspolizei und des SD – einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches. Der überließ es natürlich nicht einem Wehrmachts hauptmann, all die streng geheimen Papiere in persönliche Verwah rung zu nehmen, nur weil der Führer beschlossen hatte, diese Aufgabe einem hochqualifizierten Meldedienstexperten anzuvertrauen.« »Er hat sich einfach über Hitlers Befehle hinweggesetzt?« »Durchaus nicht. Er beorderte einen SS-Offizier zu meiner Beglei 126
tung. Die Befehle wiesen die Behörden der Reichsbahn und der Reichs post ›im Namen des Führers‹ und nicht, wie gewöhnlich, ›im Namen des Reichs‹ an, dem SS-Offizier alle gewünschte Hilfe zu leisten, da mit Hauptmann Wever und sein ›Sondergepäck‹ transportiert werden könnten. Der Wortlaut dieser Befehle ließ keinen Zweifel offen, dass meine Rolle kaum wichtiger als die eines Gepäckträgers war. Die SS war allein maßgebend.« »Wer war der SS-Offizier, der mit Ihnen fuhr?« »Missverstehen Sie mich bitte nicht«, sagte Wever. »Dieser Offizier von der Leibstandarte war ein alter Freund von mir. Die Oberbonzen verschwendeten ihre Zeit nicht mehr mit so lächerlichen Machtspielen und Intrigen. Wir wussten ja alle, dass das Ende nahe war. Er war nur Obersturmführer, was einem Oberleutnant des Heeres entsprach, aber einer von der alten Garde. In Friedenszeiten war er durch die SS-Jun kerschule in Bad Tölz gegangen, und das war weiß Gott kein Kuche nessen. Ich kannte Breslow von Kindheit her, und er war ein anstän diger Mensch.« Wever lächelte und dachte an etwas anderes zurück. »Sie können sich vorstellen, dass ich noch einmal meine Eltern besu chen wollte, bevor wir nach Süden reisten. Wie die Dinge damals stan den – mit dem Einmarsch der Alliierten und den Russen fast vor der Tür –, hatte ich das Gefühl, die lieben alten Leute vielleicht nie mehr wieder zu sehen. Sie hatten ihre Wohnung in der Nähe des Waren hauses Tietz, und ich konnte in fünf Minuten da sein. Ich kam mit ei nem Tagesausweis heraus, aber als ich zurückkam, lief ich ausgerech net dem Wachhabenden in die Arme. Er war ein Schwein, hat mich in der Wachstube eingeschlossen und die Feldgendarmerie angerufen. Zum Glück kam mir Max Breslow zu Hilfe. Er ließ einen der SS-Ad jutanten die Sache ausbügeln. Ich war mit knapper Not davongekom men, und dafür habe ich Breslow zu danken. Ich hätte erschossen wer den können.« Wever trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ha ben Sie je versucht, das Rauchen aufzugeben, Mr. Stuart?« »Häufig.« Wever steckte sich die Hände tief in die Taschen, als wollte er sie be strafen, auf den Tisch getrommelt zu haben. »Breslow hatte praktischen 127
Verstand. Vor der Abfahrt brachte er zwei Pistolen mit – er wusste, dass ich keine hatte –, und hängte sich eine MP 40 über die Schulter. Er hatte natürlich recht – wie sollten wir eine solche Verantwortung unbewaff net übernehmen? Auch die Armbinde des Führerhauptquartiers hatte er sich übergestreift. Ich war überrascht, denn die trug seit langem kei ner mehr; aber Breslow sagte, es würde die Provinzler beeindrucken. Sie müssen verstehen«, fügte Wever hinzu, »dass Breslow auch Berli ner war.« Der Ton seiner Stimme schien anzudeuten, dass nunmehr al les gesagt worden war. Stuart hatte viele Berliner gekannt und mochte den frechen Humor, der für diese Stadt typisch ist. Aber Berliner stan den nicht gerade im Ruf, bescheiden und einfach zu sein. Wieviel an Wevers Geschichte war Aufmachung, hinter der sich etwas anderes ver barg? »Die Familie lebte in einem großen Haus in Pankow. Sein Vater war der berühmte Schauspieler Georg Breslow. Er hatte den Familien namen verenglischt. Breslows Mutter war Sopranistin an der Berliner Staatsoper.« Wever griff in seine Tasche, nahm eine kleine Dose heraus, klopfte damit auf den Tisch, steckte sie wieder ein. »Ja«, sagte Wever. »Breslow trug die Armbinde des Führerhaupt quartiers, ich eine Wendejacke für den Winter mit Tarnmuster. Sie gehört zur Kampfausrüstung. Ich bin nie an der Front gewesen, und das wurmte mich. Deshalb wollte ich diese Jacke tragen und wenig stens wie einer von der Kampftruppe aussehen. Aber Breslow in sei nem abgetragenen Ledermantel und seiner alten Feldmütze sah trotz dem mehr nach einem wirklichen Frontsoldaten aus, als es mir je ge lungen wäre.« »War Breslow an der Front?« »Er wurde im Winter 1943 bei Charkow verwundet. Die Leibstandar te gehörte zu SS-Panzerdivisionen. Breslow hatte es ziemlich schlimm erwischt, und auch einige Zehen waren ihm abgefroren. Als er aus dem Lazarett kam, wurde er in die Wache der Reichskanzlei versetzt. Breslow hatte eine Menge Orden: nichts Großartiges, aber er war ein Mann, der sich den Mantel ausziehen konnte – wie es damals von Leu ten hieß, die Orden auf der Jacke trugen.« Wever lächelte. »Sie sind also an Breslow interessiert?« 128
»Waren an diesem Abend keine anderen Passagiere im Zug?« »Nur Breslow und ich. Er stieg ein, bevor die Verladung stattfand. Er ließ den Zugführer und alle Offiziere kommen und empfing sie im Führerwagen – genau gesagt im Salon des Führers – thronte im besten Sessel und hatte die Mütze lässig auf den Schreibtisch geworfen, als ob ihm der ganze Wagen gehörte. Den Mantel trug er aufgeknöpft, damit man seine Orden sehen konnte. Bis dahin war der Salon des Führers ein Heiligtum gewesen, das nur sehr wenige von uns je betreten hat ten. Jetzt war er voll von neugierigen Gesichtern. Auf dem feinen Tep pich hatten dreckige Stiefel Schmutzflecken hinterlassen, und zum er sten Mal hing Tabakrauch in der Luft. Tabakrauch! Wir alle wussten, dass der Führer nie wieder in diesen Zug steigen würde. In Berlin war es in jener Nacht sehr dunkel. Die Bombenangriffe wa ren so schlimm, dass die Verdunklungsvorschriften strikt eingehal ten wurden. Sogar die Eisenbahner mußten in blassem Blaulicht arbei ten. Ich blieb bei Breslow, und wir überzeugten uns an Hand der Liste, dass alle Kisten sicher verladen worden waren. Die persönlichen Papie re des Führers waren nämlich nicht unsere einzige Ladung. Ein paar Nächte zuvor hatte das Gebäude des Auswärtigen Amts ein paar böse Treffer abbekommen, und ein Waggon mit Dokumenten aus dem Amt wurde an den Zug gekoppelt. Breslow sagte, wir sollten eine Meldung durchgeben, wenn der Zug durch Halle fuhr, und die versiegelten Befehle öffnen. Da unsere Mel dung aber verschlüsselt sein sollte, müßten wir halten. Streng geheime Meldungen durften nicht über Funk gehen, um nicht von feindlichen Abhörstellen aufgefangen zu werden. Ich ermahnte also den Nachrich tenoffizier, dass sich ein Techniker bereithalten sollte, den Fernschrei ber mit den Überlandlinien der Reichspost zu verbinden, sobald der Zug in Halle hielt. Dann informierte ich den Einsatzleiter der Eisen bahnpolizei, dass wir zu halten beabsichtigten, und befahl dem Feld gendarmerieleiter im Zug, seine Begleitmannschaft in Bereitschaft zu setzen und während des Haltes die notwendigen Sicherheitsmaßnah men zu treffen.« »Haben Sie die Meldung von Halle aus abgeschickt?« 129
»Nein. Es gab nur noch eine einzige Verbindungsmöglichkeit, etwa 20 Kilometer nördlich von Halle, einen wichtigen Eisenbahnknoten punkt, den die Alliierten ständig bombardierten. Der Zug wurde nach Leipzig umgeleitet. Dort entsiegelten wir die Befehle.« »Und?« »Wir hatten Befehl, die persönlichen Papiere des Führers in eine Salzmine in Merkers im Thüringer Wald zu schaffen. Ein in Hersfeld, nicht weit von dem Bergwerk, stationiertes Infanterieregiment sollte uns dabei behilflich sein. Die versiegelten Befehle bestimmten, dass die Papiere als ›Lieder‹, die Militäreskorte als ›Klavier‹ zu bezeichnen sei. Der Transport des Materials in die Mine hieß also ›Lieder mit Kla vierbegleitung‹.« »Ein seltsamer Codename«, sagte Stuart. »Sie können solche Worte nicht Code nennen«, belehrte ihn Wever pedantisch. »Denn damit ist für die Meldung keine Sicherheit gewähr leistet. Derartige Worte werden nur benutzt, weil sie zweckdienlich und kurz sind. Das Wort Begleitung läßt sich leicht als Eskorte erken nen. Das FBB war ja das Führerbegleitbattaillon. Es hätte keines Teams von Spezialisten bedurft, um zu erraten, was wir da machten, voraus gesetzt natürlich, dass sie einen Enigma-Entschlüssler hatten.« Wever griff in seine Jackentasche und beförderte einen kleinen Zi garettendreher zutage. Er stellte eine Büchse schwarzen Tabak auf den Tisch, legte Zigarettenpapier daneben. »Trotzdem war Breslow sehr über die Sicherheit der Meldungen nach Berlin und Hersfeld besorgt.« Wever nahm eine Prise Tabak, schüttete sie in den Zigarettendreher, legte Papier nach, leckte den gummierten Rand, rollte es einige Male. »Für diese alten Enigmas braucht man zwei Telegrafisten, und sogar drei, wenn es wirklich schnell gehen soll. Er ähnelt einer Schreibma schine, nur leuchten die Buchstaben auf, statt sich aufs Papier zu über tragen. Breslow half mit dabei. Er rief mir die Buchstaben zu, wenn sie aufleuchteten.« Wever rollte immer noch an seiner Zigarette, schien vergessen zu haben, was er tat. Dann plötzlich ließ er den Dreher auf klappen und die frisch gerollte Zigarette herausfallen. Er nahm sie auf, stopfte einige lose Tabakskrumen behutsam in die offenen Enden zu 130
rück. Dann betrachtete er sie, schien mit dem Resultat zufrieden zu sein. Er zündete sich die Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, und jetzt sah man ihm den Gewohnheitsraucher an. Er blies den Rauch langsam aus und lächelte genüßlich. »Wie weit sind Sie mit dem Zug gekommen?« fragte Stuart. »Nicht weiter als bis Erfurt«, sagte Wever. Er rauchte die Zigarette mit einer Hast, die vermuten ließ, dass seine Frau diese Schwäche missbil ligt hätte. »Eine Eisenbahnbrücke war beschädigt. Die Ingenieure sag ten, sie würde das Gewicht des Führersonderzugs nicht aushalten, weil er mit Tonnen von Bleianlagen in den Drehgestellen besonders schwer gebaut war, um Erschütterungen zu vermeiden. Dazu kamen noch die Last der ganzen Sonderausstattung und der Flakwagen vorne und hin ten. Das wäre für die Brückenträger zuviel gewesen. Ihn stückweise herüberzuschaffen, hätte uns Stunden Verspätung eingebracht. Und ständig fuhren Lazarettzüge vorbei und Truppentransporte nach We sten zu. Erfurt liegt in der Nähe der Autobahn, also riefen wir in Hers feld an, das ebenfalls an der Autobahn liegt, und baten, uns abzuho len. Das war vielleicht ein Fiasko!« Wever stand auf, um seine Asche in den Herd zu stippen. »Über den Fernschreiber konnten wir sie nicht erreichen, weil niemand mehr im Fernmeldedienst war. Die Amerika ner marschierten direkt auf Hersfeld zu, und das Regiment war abge zogen. Dann versuchen wir es per Telefon. Endlich, nach einem langen und erhitzten Gespräch mit einem schwachsinnigen Major, der uns nicht glauben wollte, dass wir einen Sonderauftrag des Führers auszu führen hatten, schickte man uns zwei Lastwagen und einen Zug Infan terie.« Er inhalierte, betrachtete seine Zigarette. »Als sie ankamen, ähnelten sie eher Verwundeten zu Fuß als Infante risten. Greise, Kinder, Krüppel, völlig kampfunfähige Leute. Sogar die Lastwagen, die der Major uns geschickt hatte, waren in einem so kläg lichen Zustand, dass die Fahrer ständig daran herumbasteln mußten, um sie in Fahrt zu bekommen. Schließlich kamen wir zum Bergwerk in Merkers, aber niemand war da, um die Papiere entgegenzunehmen. Ein trostloser, verdreckter Ort; der Hof voller Schlamm, zerbrochenen Kisten und Müll. Einiges davon 131
gehörte zur äußeren Verpackung anderer Schätze, die man in die Mine verbracht hatte. Zufällig stand noch ein weiterer Lastwagen da. In ihm saßen Reichsbankdirektor Dr. Frank und ein Reichsbankprokurist – der für das neugedruckte Papiergeld zuständige Beamte. Dr. Frank un terschrieb unsere Lieferscheine und ließ mich nach einer Weile gehen. Ich wollte zu meinen Eltern nach Berlin zurück. Die Eisenbahn fuhr noch – nur schwere Züge mit Artillerie und Panzern konnten Erfurt nicht mehr passieren. Breslow sagte mir, er wollte sich der nächsten Einheit der Waffen-SS anschließen und weiterkämpfen. Es mochte wahr sein, aber damals verdächtigte ich ihn, dass er nur irgendeinen Weg finden wollte, um seine SS-Papiere und – Uniform gegen die ei nes gewöhnlichen Wehrmachtsoffiziers einzutauschen, bevor er sich den Amerikanern, die mit jeder Stunde näher rückten, ergab. Ich fand in Merkers einen Eisenbahntransportoffizier, der sich bereit erklärte, mir einen vorrangigen Marschbefehl zu meiner Einheit in Berlin aus zustellen. Nur mit einem vorrangigen Befehl war es mir möglich, mich nicht von der ersten Streife Militärpolizei, die mich nach meinen Pa pieren fragen würde, aufgreifen und mit einer Flinte in die Kampfzone schicken zu lassen. Ich verlor noch Zeit, weil ich mir für den Marsch befehl ein Foto besorgen mußte.« »Aber Sie hatten doch den Sonderbefehl Hitlers«, sagte Stuart. »War das nicht vorrangig genug?« »Es waren gefährliche Zeiten, Mr. Stuart«, sagte Wever. »Die Ame rikaner lagen in unmittelbarer Nähe, die Rote Armee rückte täglich schneller vor. Es wäre heller Wahnsinn gewesen, ein Dokument bei sich zu haben, das mich als jemanden aus dem engsten Kreis des Füh rers auswies. Ich wollte ganz gewöhnliche Militärpapiere, in denen nur stand, dass ich zum Fernmeldeamt nach Berlin geschickt wurde – ohne Erwähnung des Auftrags der Reichskanzlei –, also als ganz ge wöhnlicher Fernmeldespezialist, der bei seiner Einheit dringend benö tigt wird. Ich erwischte gerade noch einen gefälligen Fotografen, aber als ich meine Papiere endlich hatte, waren die Amerikaner da. Das ge schah am 4. April. Ich wurde von einem Offizier der amerikanischen Militärpolizei verhört. Er glaubte, dass ich mit der Militäreskorte ge 132
kommen sei, die das Gold von der Reichsbank hierher gebracht hatte. Es war ein oberflächliches Verhör. Ich wurde dann in einen Kriegsge fangenentransport gesteckt und kam schließlich nach England.« »Wurden Sie weiterhin verhört?« »Alle interessierten sich natürlich für das Gold. Man fragte mich, woher es gekommen sei – ob es der Reichsbank gehöre, ob es sonst noch Gold in Berlin gäbe, ob wir nicht auch ausländisches Gold weg geschafft hätten. Frankreich, Holland und Norwegen forderten bereits die Rückgabe des Goldes, das man ihnen weggenommen hatte. Ich wusste von alledem wirklich nichts, und schließlich verloren die Be hörden das Interesse an mir.« »Und was geschah mit Hitlers Papieren?« »Sie wurden in die Mine geschafft. Es waren nur sechs Kisten. Ich ging mit Reichsbankdirektor Frank in den Schacht hinunter. Er hatte die Schlüssel zu einem Gewölbe, das man gebaut hatte, um Gold und ausländische Devisen in Sicherheit zu bringen. Es war sehr hell – an der niedrigen Decke der Salzmine hingen Hunderte elektrischer Glüh birnen. Frank warnte uns, dass die Luft in der Mine für eine langfri stige Verwahrung von Archiven zu trocken sei. Er habe auch die Mu seumsbehörden, die wertvolle Dokumente geschickt hatten, in die sem Sinne gewarnt. Seiner Meinung nach könnte schon innerhalb von sechs Monaten unersetzbarer Schaden entstehen, falls die Archive in der Mine blieben. Breslow sagte, er erwarte nicht, dass sie hier so lan ge bleiben würden.« »Ich bin alle Aussagen, Verhöre und Berichte über die Mine durchge gangen, Mr. Wever«, sagte Stuart. »Aber ich kann mich an niemanden mit dem Namen Frank erinnern. Es gibt bestimmt keinen Beleg über einen Bankdirektor dieses Namens.« Wever blickte ins Leere und nickte. »Ich habe schon immer vermu tet, dass der Mann nicht wirklich Frank hieß.« »Warum?« »Breslow war nicht die Art Offizier, der geheime Papiere so bereitwil lig gegen eine rasch hingekritzelte Quittung einem Zivilisten ausge händigt hätte. Ich nehme an, Breslow hatte geheimen Befehl, mit die 133
sem Mann, der sich Reichsbankdirektor Frank nannte, Kontakt auf zunehmen. Ich glaube, Frank war ein Beamter des Sicherheitsdienstes, der für Kaltenbrunner arbeitete, um ganz sicher zu sein, wo die Do kumente lagern.« Wever nickte, bestätigte sich seine Idee selbst. »Und Breslow verbrachte mit Frank eine Menge Zeit – Gespräche, von denen ich ausgeschlossen war.« »Und der Mann, der sich Frank nannte, hatte auch Zugang zum Gold?« »Und zu den ausländischen Devisen, die dort waren – schweizeri sche und schwedische Banknoten, amerikanische Dollars, britische Pfund. Alles ausländische Geld, einschließlich dessen, das sich die SS, die Wehrmacht oder sonst wer erworben hatte, mußte an die Abtei lung für ausländische Devisen der Reichsbank im neuen Gebäude in Berlin geschickt werden. Ausländisches Geld zu besitzen, war Deut schen verboten. Der Prokurist war für alles ausländische Papiergeld zuständig, und ein anderer Reichsbankdirektor – Thoms – für das ge samte Gold. Jetzt also – 1945 – befanden sich das ganze Gold und die ausländischen Devisen in der Salzmine – und Herr Frank hatte den Schlüssel.« »Wollen Sie mir erzählen, dass das Gold und die ausländischen De visen dorthin geschafft wurden, um die Flucht der Naziführer zu fi nanzieren?« »Ich weiß nur eins: Als die Amerikaner in Merkers ankamen, war Bankdirektor Frank nirgends zu finden, mein alter Freund Breslow auch nicht.« »Glauben Sie, dass sie das Gold aus der Mine mitgenommen ha ben?« »Ich kann Ihnen dazu keine Theorien anbieten«, sagte Wever. »Ich erzähle Ihnen nur, was geschah.« »Haben Sie sich die Dokumente angeschaut?« »Breslow hat eins herausgenommen«, sagte Wever. »Es war eine lan ge Reise im Zug. Eine der Kisten war nicht verschlossen, wir konn ten der Versuchung nicht widerstehen. Jeder metallene Aktenordner war in verschiedene Fächer eingeteilt, und in jedem steckte ein dick 134
wattierter brauner Umschlag. Wir nahmen uns einen heraus. Er ent hielt zwei Notizbücher in Steno. Die Seiten waren diagonal durchstri chen, wie man es tut, nachdem der Text abgetippt worden ist. Die Ste noschrift wirkte hastig hingekritzelt, war aber noch ziemlich leicht zu lesen. Hinten in der Akte steckten mit Maschine geschriebene Blätter, die jemand vervollständigt hatte. Es waren die Protokolle der Lagebe sprechungen, die der Führer normalerweise zweimal am Tag abhielt.« »Und Breslow hat sich eins genommen?« »Wahrscheinlich als Andenken. Es war Wahnsinn, so etwas zu tun; aber es war ja auch eine wahnsinnige Zeit. In den letzten Kriegstagen haben die Leute die verrücktesten Dinge getan.« »Aber Sie nicht, Wever«, sagte Stuart. »Sie haben in Ihrem Leben nie etwas Verrücktes getan.« Wever starrte ihn an. »Ich riskiere mein Leben nicht für ein paar lä cherliche Papiere, mit denen man nichts anfangen kann, falls Sie das meinen. Die Tatsache, dass oben auf der Seite ›Führerkopie‹ stand, be deutete mir wenig. Ich habe diese Idioten nie verstanden, die in Rus sland kämpften und das Ganze für einen wunderbaren Kreuzzug hiel ten. Was haben sie davon gehabt?« »Wir wissen, was sie davon gehabt haben«, sagte Stuart. »Zwölf Jahre in einem russischen Arbeitslager, wenn man Glück hatte.« Das Telefon klingelte. Es klang ganz unangebracht in diesem schäbi gen kleinen Raum, wo es nach Fäulnis und Jauche roch. Wever erhob sich aus seinem Stuhl, streckte sich die steifen Glieder. »Hallo?« rief er, als er im Dunkel den Hörer fasste. Am anderen Ende wurde rasch und undeutlich gesprochen. Wever sagte: »Ja«, wechselte dann aber auf »Yes« über, als sich die Notwen digkeit einer zweiten Zustimmung ergab. »Yes« und »Yes« und wieder »Yes«. Plötzlich war es mit Wevers Geduld vorbei. Er brach in ein schnelles und schnoddriges Deutsch aus, wie es nur Berlinern zu eigen ist. »Du und all die anderen, ihr könnt mich mal. Jahrelang hat sich niemand drum gekümmert, und jetzt uff eenmal. Saje ihnen, ich hab's vor fast 'ner Woche abjeschickt. Dat Negativ och.« Er nickte. »Dat einzije Nega 135
tiv. Saje ihnen, se sollen endlich mit ihren blöden Spielchen uffhören.« Er hielt inne, neigte den Kopf, wie um besser hören zu können. Hinter ihm im Fenster sah man die schweren Regenwolken, die sich wie Blei über die Landschaft legten. Er ließ den Hörer sinken. Es summte noch eine Weile, bevor er ihn auflegte. »Sonst noch was?« fragte Wever. »Im Augenblick nicht«, sagte Stuart. »Danke für Ihre Hilfe.« »Es bleibt mir ja nichts anderes übrig«, sagte Wever. »Als Ihre Leu te mir vor 30 Jahren all meine Bewilligungen und Erlaubnisse gaben, wurde mir klargemacht, dass man sie mir jederzeit wieder entziehen könnte.« »Darüber würde ich mir keine Sorgen machen, Mr. Wever«, sagte Stuart. »Jetzt gehören Sie ja zu uns.« Wever brummte, bückte sich, knotete sich die Schnürbänder zu. »Kann ich Sie irgendwo absetzen?« »Nein danke«, sagte Wever. »Fahren Sie nur los. Und passen Sie auf die Matschpfützen am Schuppen auf. Gestern Abend ist der Lieferwa gen des Bäckers dort stecken geblieben. Brauchte eine halbe Stunde, um wieder herauszukommen.« »Danke, ich werde achtgeben«, sagte Stuart, beugte den Kopf und rannte durch den Regen zu seinem Wagen. Der Motor sprang bei der ersten Schlüsselumdrehung an. Er schaltete das volle Scheinwerferlicht ein, um aus dem schlammigen Weg zu kommen, ohne das Schicksal des Bäckers erleiden zu müssen. Stuart war fast beim Red Fox angelangt, als die Explosion erfolgte. Die Stichflamme erhellte die graue Landschaft wie ein Blitz, und der Knall betäubte ihm die Ohren, noch bevor er ihn hörte. Er drehte sich um und sah die Rauchwolke. Es war nicht der ölige schwarze Rauch, wie ihn Kriegsfilmpyromanen herstellen. Hier war es Wirklichkeit: eine gespenstische Wolke, die sich fast sofort in nichts auflöste. Als ein Hagel von Holz- und Metallsplittern auf die Pfützen rings um niederging und seine Karosserie streifte, trat Stuart auf die Brem se, öffnete die Tür, stieg im strömenden Regen aus. In diesem Teil des Landes gab es schon lange keine hohen Hecken mehr, so dass Stuart 136
freien Blick über das offene Feld auf Wevers Haus hatte. Viel war da von nicht mehr übrig; nur noch winzige Rauchfetzen wehten über den verstreuten Trümmern und einem großen Stück des Daches, das auf den nächsten Hühnerstall gestürzt war. Stuart kehrte zu seinem Aston Martin zurück. Es hatte keinen Sinn, zum Haus zurückzufahren. Bestimmt waren bereits Polizei- und Un fallwagen unterwegs. Außerdem galt für Außenagenten der strikte Be fehl, sich aus Polizeiverhören jeder Art herauszuhalten. Der Intelligen ce Service hatte keine Lust, hochgestellte Abteilungsbeamte auf Bitt gänge ins Innenministerium zu schicken. Trotz alledem parkte er sei nen Wagen vor dem Red Fox und ging zurück. Stuarts erster Gedanke galt der Standuhr. Vielleicht hatte der Mann, der wegen der Glockenreparatur gekommen war, gar keine neuen ein gesetzt, vielleicht Sprengstoff in das lange Gehäuse gelegt. Jedenfalls hatte der Teil des Hauses am meisten gelitten. Wer aber hatte Wever angerufen? War es eine Warnung? Die Küche war völlig zerstört. Nur eine genaue Untersuchung durch Sprengstoffexperten könnte ermitteln, ob die Bombe in die Uhr gelegt worden war. Es würde lange dauern, die einzelnen Stücke zusammen zulesen. Der Gestank war überwältigend. Stuart spuckte, um den Ruß geschmack loszuwerden. Wever muß am Herd gestanden haben, Gesicht und Kleidung schie nen fast unversehrt, er aber lag zusammengebündelt wie eine Stoffpuppe in einem Spielzeugkasten und war ohne jeden Zweifel tot. Stu art durchsuchte seine Taschen, fand aber nichts, was nicht den nor malen Erwartungen bei einem schwerschuftenden Hühnerzüchter, dem die Arbeit allmählich über den Kopf gewachsen ist, der finan zielle Probleme hat und nur mit großer Mühe die Stotterzahlungen für einen gebrauchten Rotovator auf die Seite legen kann, entspro chen hätte. Das war also der Mann, der bei Hitler ein und aus ging. Nun ja, es hätte ihn schlimmer treffen können, als auf einer Hühnerfarm in East Anglia zu enden. Von Wevers Frau war keine Spur zu sehen. Er stelz te vorsichtig über Holztrümmer und Glassplitter und betrat die Über 137
bleibsel des Schlafzimmers. In der Ecke stand ein Kinderbett. Er hob die Wolldecken hoch: kein Baby. Es goss immer noch in Strömen. Der Regen drang in das zerbroche ne Mobiliar, zischte auf dem heißen Herd, löste den zerbröckelten Gips auf. Er wollte wieder zu seinem Wagen zurück. Das Glas knirschte un ter seinen Füßen. Als er über die zerbrochene Wand des Schlafzim mers stieg, sah er ihn. Der Regen ließ den Metallkasten erglänzen. Stu art bückte sich, um den Gegenstand genauer zu betrachten. Es war ein teurer Wandsafe, direkt ins Ziegelmauerwerk eingebaut, in einer der Wände, die der unternehmungslustige Bastler Franz We ver an das Haus angebaut hatte. Die Vorderseite des Safes war unver sehrt, die Tür fest verschlossen. Nur die Rückfront war unter dem Ge wicht der einstürzenden Wand aufgesprungen. Er bog das Metall zu rück, wie man es mit einer halbgeöffneten Sardinenbüchse tut, griff hinein und fand einige Papierbündel. Eine Versicherungspolice, ein paar Briefe der örtlichen Baubehörde, die ihm für den Bau neuer Hühnerställe Genehmigung erteilte; We vers Aufenthaltsbewilligung und ein westdeutscher Pass, der zwei mal am Flughafen Berlin-Tempelhof abgestempelt worden war. Er hat te also gelogen und war doch nach Deutschland zurückgekehrt – aber worüber hatte er sonst noch gelogen? Ein weiteres Bündel befand sich in schwarze Plastikfolie eingewik kelt – offenbar aus einem Kunstdüngersack geschnitten und mit zwei Gummibändern umspannt: Wevers altes deutsches Wehrmachtssold buch, einige ausländische Geldscheine aus der Kriegszeit – wahrschein lich Andenken – und ein militärärztliches Attest vom 18. September 1944, das ihn für den Infanteriedienst als tauglich erklärte. Nichts von Bedeutung, fand Stuart, und blickte auf seine Uhr. Die Polizei konnte jetzt jeden Augenblick kommen. Einige Häuser und Bauernhöfe lagen noch näher dran, als der Red Fox, und selbst dort war der Knall ohren betäubend gewesen. Er wollte das Soldbuch gerade wieder einwickeln, als er unter altem Papiergeld den Umschlag fand. Er riß ihn auf. Das war es – Führerko pie, eine Seite aus dem Protokoll der Lagebesprechungen, Hitlers täg 138
lichen militärischen Konferenzen. Links unten standen die Namen Jodl, Göring und Hitler. Eine Seite aus dem Szenario jenes Wahnsinns films, der sechs alptraumhafte lange Jahre vor vollen Häusern lief. Es war also nicht Breslow, der so sehr vom Inhalt der Metallkästen beses sen war, dass er sich ein Andenken stehlen mußte, sondern Wever, der Erzzyniker, dem Hitler angeblich nichts bedeutete. Er fand noch ein paar andere Sachen: den Empfangsschein eines ein geschriebenen Briefes mit der Adresse ›Postlagernd, Flughafenpostamt, Los Angeles, California 90.054‹, der vor kaum einer Woche abgesandt worden war, und einen abgegriffenen Reichskanzleipass, unterzeich net und mit monatlichem Stempel bis Ende 1944 versehen. Ein gutes Andenken. Ein sepiafarbenes Foto in Postkartengröße, dem Aussehen nach in irgendeinem Provinzatelier aufgenommen, mit dem Namen des Fotografen auf der Rückseite und einer österreichischen Adresse in Frakturschrift. Es stellte ein Kind in steifer Positur vor einem gemalten Hintergrund – schneebedeckte Berge – dar. Das andere Foto war offensichtlich eine Amateuraufnahme. Ein stümperhafter Schnappschuss mit billigem Apparat, auf rissig gewor denem, an den Ecken eingeknicktem Glanzpapier. Drei Männer in ge zwungener Pose, vermutlich auf einem Fabrikhof. Hinter ihnen Pfo sten oder vielleicht Fabrikschornsteine, weiter hinten einige Hügel. Die Kopie war zu körnig, um Einzelheiten erkennen zu lassen, aber ein junger Mann in Schaftstiefeln, Ledermantel und Bergsteigermütze sah wie Max Breslow aus. Neben ihm stand Wever in scheinbar witziger Pose, den Ellbogen auf Breslows Schulter gestützt, die andere Hand auf dem Pistolenhalfter über einer gesprenkelten Tarnjacke. Der dritte Mann war in Zivil, mit langem, schwarzem Mantel und einem breit krempigen Filzhut in der Hand. Auf der Rückseite war mit Bleistift ge schrieben: »Max, Franz und Rb. Dir. Dr. Frank.« Stuart steckte sich die Pässe, die Führerkopie des Protokollblatts und die Fotos in die Tasche und legte den Rest wieder in den aufgebro chenen Safe zurück, kletterte über die Trümmer und rannte zu sei nem Wagen. Er hatte noch nicht den Motor gestartet, als er bereits das Sirenengeheul der Polizei- und Unfallwagen hörte. Er fuhr rasch auf 139
die Hauptstraße hinaus und sah noch die blauen Blinklichter im Re gendunst, als die Polizeiwagen holpernd in Wevers Grundstück ein bogen.
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U
nd all das geschah gestern Abend?« fragte Sir Sydney Ryden. Sie saßen im Zikkuratgebäude des SIS (Secret Intelligence Service). Die Premierministerin war auf offiziellem Besuch in Tokio, so dass er vor ihren ständigen Fragen etwas Ruhe hatte. Der GD stand fast re gungslos neben seinem Schreibtisch, während Boyd Stuart ihm von seinem Besuch bei Franz Wever berichtete. Es war verwirrend, zu je mandem zu sprechen, der über einem stand, in sein Whiskyglas starr te, breitbeinig, sich nicht vom Fleck rührend, nur hie und da sich über das Haar fahrend oder an seinem Ohrläppchen ziehend. »So ist es, Sir Sydney.« Er warf einen Blick auf den Sessel, wo die Zei tungen lagen. Die Morgenausgaben konnten die Geschichte noch nicht gebracht haben, aber in den Spätausgaben machte sie Schlagzeilen auf der ersten Seite. »Bombenanschlag der IRA. Ein Todesopfer.« – »Bom benkommando der Polizei nimmt in London nach Explosion auf Hüh nerfarm Verhaftungen vor.« »Es hat keine Verhaftungen gegeben«, sagte Sir Sydney. »Die Journalisten haben wahrscheinlich die Explosion mit dem Ter rorismus in Verbindung gebracht, um mehr Zeitungen zu verkaufen.« »Seien Sie nicht zu streng mit den Leuten in Fleet Street, Stuart. Wir haben ein paar gute Freunde dort.« Stuart blickte überrascht auf. Das war es also. Der GD steckte dahin ter. Der listige alte Teufel hatte sich die Terroristengeschichte ausge dacht, um die Meute von der Fährte abzulenken. »Es ist besser so«, sagte der GD. »Und da Wever ein ziemlich schweig 140
samer Deutscher war, sind seine Nachbarn draußen in Suffolk nur all zu gern bereit, ihm alle möglichen bösen Taten in die Schuhe zu schie ben.« »Es war Norfolk, Sir«, sagte Stuart. »Er sagte, er habe für uns gear beitet.« Der GD kniff verächtlich die Lippen zusammen. »Für irgendeine Abteilung in Whitehall«, sagte er eisig. Diese Berichtigung ließ in Stu art keinen Zweifel offen, dass Wever eine Art Angestellter der MI 5 ge wesen war, einer Organisation, der Sir Sydney nicht gerade Bewunde rung bezeigte. »Und Sie haben in den Trümmern des Hauses ein Foto von diesem Max Breslow gefunden?« »Es ist unten durch die Archive gegangen, Sir Sydney«, sagte Stuart, griff in seine Brieftasche und zeigte ihm das Foto. »Dieser dritte Deut sche konnte noch nicht identifiziert werden.« Der GD winkte ab. »Es hat keinen Zweck, dass ich es mir anschaue, Stuart. Es wird sich schon nicht herausstellen, dass er im Komitee meines Golfclubs ist.« Das war etwa die Grenze des Humors, dessen der GD fähig war. Sir Sydney nahm eine Kaktuspflanze in die Hand, schien ihr Gewicht zu prüfen. »Was halten Sie nun davon, Stuart?« »Zuerst glaubte ich, dass Wever log und dass Breslow das Dokument gar nicht gestohlen hatte. Später, als ich Zeit zum Nachdenken hatte, war ich mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, Breslow hat Wever diesen Protokollbogen von Hitlers Lagebesprechungen zusammen mit dem Foto von ihm und Wever per Post geschickt. Wahrscheinlich wollte er Wever an alte Zeiten erinnern.« »Um eine alte Bekanntschaft aufzufrischen?« unterbrach ihn der GD mit herablassender Belustigung. »Oder um ihn unter Druck zu setzen.« »Unter Druck in welche Richtung?« Der GD blickte auf den Kaktus, aber er war ganz bei der Sache. »Vielleicht, um uns die Geschichte nicht zu erzählen, die er dann doch erzählt hat«, meinte Stuart. »Oder vielmehr, um uns gerade diese Geschichte zu erzählen, anstatt die Wahrheit zu sagen«, entgegnete der GD. 141
»Jawohl, Sir.« »Aber Sie glauben ihm?« »Wever behauptete, unsere Leute hätten ihn ständig belästigt. Sir. Er habe immer wieder die gleiche Geschichte erzählt.« »Quatsch«, sagte der GD. »Niemand sonst hat mit ihm darüber ge sprochen.« »Soll ich Ihnen meinen schriftlichen Bericht persönlich übergeben?« fragte Stuart. Der GD zog die Nase zusammen, nahm einen kleinen Schluck Whis ky, als ob es eine bittere Medizin wäre. »Keine schriftlichen Berich te für den Augenblick, Stuart. Vorläufig bleibt das ausschließlich un ter uns.« »Jawohl, Sir.« »Ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber diese Angelegenheit ist sehr hei kel. Die PM ist persönlich interessiert, und ich möchte den Papierkram auf ein Minimum beschränken.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Stuart. Es war also wieder einmal ein Un ternehmen, dessen Berichte den Vorteil haben würden, die weise Vor aussicht der Abteilung unter Beweis zu stellen – im nachhinein. Und Stuart wusste genau, was mit Außenagenten passierte, die sich in ei ner solchen Lage den geringsten Fehler erlaubten: Sie wurden von den Schreibtischleuten einfach abserviert. »Es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme«, fügte der GD hinzu und blickte auf die Uhr. »Natürlich, Sir.« »Nehmen Sie noch einen Whisky.« Er nahm Stuart das kristalle ne Schwenkglas aus der Hand und goss ihm behutsam ein Maß Malt Whisky ein, wie ein Chemielehrer, der seinen Schülern zeigen will, wie man mit gefährlichen Flüssigkeiten umzugehen hat. Es war fast fünf Uhr vierzig nachmittags, Zeit für die ersten Abendnachrichten der BBC. Der GD ging zum kleinen Fernsehempfänger, der in das an tike Bücherregal eingebaut war. Als er ihn einschaltete, wurde gerade ein Programmwechsel bekannt gegeben. Dann kamen die Nachrich ten. Sie sahen einen kurzen Filmausschnitt, der die Überreste des We 142
verschen Hauses zeigte. Mrs. Wever war, als die Explosion geschah, im Melkschuppen gewesen und unverletzt davongekommen. Sie erzähl te dem Reporter, dass sich ihr Mann nicht für Politik interessiert habe und fügte hinzu, sie habe gehört, dass sich auf dem Grundstück der Hühnerfarm früher ein Bombenablageplatz der amerikanischen Luft waffe befunden habe. Ein Sprecher der Ortsbehörde leugnete es nicht und kündigte eine gründliche Untersuchung an. Die nächste Meldung betraf die Reise der Königin nach Afrika. Der GD stellte die Nachrich ten ab. »Ich glaube, wir haben es noch mal geschafft«, sagte er. »Zum Glück hatten wir einen Mann in Thetford, der sich mit Mrs. Wever in Verbindung setzte.« »War dort wirklich während des Krieges ein Militärflugplatz in der Nähe?« fragte Stuart. »Bombenablageplätze müssen nicht unbedingt an den Flugplätzen liegen«, sagte der GD. »Jedenfalls war es die glaubwürdigste Geschich te, die wir so kurzfristig zusammenbrauen konnten. Falls wir diese Version in den nächsten 24 Stunden aufrechterhalten können, wird das Interesse rasch nachlassen.« Er lächelte, hielt den Finger an das rosa Hörgerät, das er unter seinem langen Haar verbarg. »Ich verstehe nur nicht, warum Sie dort so früh ankamen, Stuart.« Das war es also. »Man hatte mir keine besondere Zeit angegeben, Sir. Die schriftliche Notiz, die mir mein Überwachungsoffizier in Los Angeles aushändigte, besagte nur, dass Wever an diesem Tage ab zwei Uhr nachmittags zu Hause sein würde. Das stimmte allerdings nicht. Wever war ein treuer Kirchenbesucher. Einmal in der Woche putzte er freiwillig die Kirche.« »Tatsächlich?« Der GD nahm den Fehler seiner Abteilung zur Kennt nis. Er lächelte. »Jedenfalls kann ich sagen, dass Sie großartige Arbeit geleistet haben, Stuart. Bleiben Sie am Ball und versuchen Sie, mir et was für die PM zu verschaffen, wenn sie von ihrem Gipfeltreffen zu rückkehrt. Diese Politiker sind ein ruheloses und ungeduldiges Pack.« Der GD trank den Rest seines verwässerten Whiskys und setzte ein grimmiges Lächeln auf. Ein unmissverständliches Zeichen zum Auf bruch. Boyd Stuart schluckte den Rest Malt und erhob sich. 143
»Sie gehen schon?« fragte der GD mit vorgetäuschter Überraschung. »Nun ja, ich kann mir denken, dass Sie noch viel zu tun haben. Beab sichtigen Sie, sofort nach Los Angeles zurückzukehren?« Stuart öffnete die Tür. »Wahrscheinlich nächste Woche, Sir.« »Sie wissen es ja am besten«, sagte der GD und ließ Stuart im Zwei fel, ob er seinen Aufenthalt in London für zu lang oder zu kurz be fand.
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D
er GD ist mir unheimlich.« »Komm wieder ins Bett, Boyd«, sagte Kitty. »Es ist zwei Uhr morgens.« »Ich weiß, er ist ein netter Familienvater, der alten Damen über die Straße hilft und verlaufene Hunde heimbringt. Meine Exgemahlin be tet ihn an, aber er ist mir wirklich unheimlich. Wever erzählte mir, dass unsere Leute dauernd zu ihm gekommen sind. Der GD will es einfach nicht zugeben.« »Willst du die ganze Nacht aus dem Fenster starren? Was schaust du dir eigentlich an?« »Da sitzen zwei Männer in einem grünen Wagen vor dem Fleischer laden an der Ecke. Sie sitzen in diesem Wagen, seit wir aus dem Re staurant zurückgekommen sind.« Kitty lachte. »Fängst du an, an Verfolgungswahn zu leiden? Sind die kleinen Marsmenschen hinter dir her?« Er antwortete nicht. »Boyd, jetzt in allem Ernst«, sagte sie. »Es passt einfach nicht zu dir. Komm zu Bett und denke nicht mehr daran. Morgen früh sind die Männer fort, der Wagen ist fort, und du hast deinen Rausch ausge schlafen. Es muß der Burgunder gewesen sein.« 144
»Der GD fragte mich, warum ich so früh bei diesem Wever war«, sagte Stuart. »Ich habe ihm nie gesagt, um welche Zeit ich dort war. Ich habe es der Abteilung nicht gesagt. Ich habe es meinem Überwa chungsoffizier nicht gesagt. Ich habe es dir nicht gesagt. Ich habe es nie mandem gesagt. Woher, zum Teufel, weiß der GD es so genau, wenn er nicht vom Flugplatz aus jemanden auf mich angesetzt hat?« »Wenn nur dein Stolz verletzt ist, solltest du nicht mehr dran den ken«, sagte Kitty. »Der interne Sicherheitsdienst überprüft von Zeit zu Zeit jeden von uns. Es hat nichts zu bedeuten, wenn man dir vom Flug hafen aus gefolgt ist. Deshalb brauchst du nicht gleich hysterisch zu werden, mein Schatz.« »Dann werde ich dir mal etwas sagen, was das Hysterischwerden lohnt«, erwiderte Stuart mit leiser Stimme. »Nimm einmal an, ich hät te nicht zufällig eine alte Frau angetroffen, die zufällig wusste, dass Wever in der Kirche war. Nimm einmal an, ich hätte mich buchstäb lich an die Anweisungen gehalten, wäre ein wenig später angekom men, direkt zu Wevers Haus gefahren, hätte mit seiner Frau eine Tasse Tee getrunken und auf ihn gewartet. Was dann?« »Worauf willst du hinaus, Boyd?« »Dann wäre nämlich ich mit der verdammten Bombe in die Luft ge flogen! Darauf will ich hinaus, Kitty.« »Du brauchst deine Wut nicht an mir auszulassen, Boyd.« »An jemandem muß ich sie ja auslassen. In Los Angeles wäre ich bei nahe in einem Wagen umgekommen. Und das war Mord, ganz ohne Zweifel.« Er schaute Kitty an. »Der Zweite Handelsattaché wurde ge tötet. Er war ein Außenseiter, Kitty. Du weißt, wie sehr die Abteilung das hasst.« »Ja, du hast es mir erzählt.« »Jemand hat Wever angerufen. Jemand hat ihn angerufen und sich davon überzeugt, dass ich noch da war, bevor die Bombe losging.« »Du weißt nicht, was der Anrufer ihm gesagt hat. Du hast mir er zählt, du konntest es nicht hören.« »Er bekam einen Anruf.« Stuart sprach langsam, bedächtig, mit auf steigender Wut. »Er hat ständig ›ja‹ gesagt, und ein paar Minuten spä 145
ter wurde das Haus von jemandem in die Luft gesprengt, der irgendwo in der Nähe war und einen Fernauslöser betätigte.« »Wie kannst du wissen, dass es ein Fernauslöser in Sichtweite des Hauses war?« »Weil ich die Abteilung kenne, Kitty. Ich weiß, wie so etwas gemacht wird. Und als ich dem GD sagte, dass Wever für uns arbeitete, hat er nicht mit der Wimper gezuckt.« »MI 5, sagtest du doch.« »Schön. Der GD gibt also zu, dass Wever der ›FÜNF‹ untersteht. Je der weiß, dass die für den GD durch flammende Reifen springen wür den, wenn er es ihnen befiehlt. Und hinter diesem Unternehmen steht die PM mit dem ganzen Druck, den sie ausüben kann.« Kitty King fuhr sich mit der Hand über das Haar. Sie war hellwach. »Aber wozu, Boyd? Sage mir, wozu?« »Wenn den Sprengstofftechnikern nicht ein kleiner Fehler unterlau fen wäre, hätte es Wever und mich erwischt, und das ganze Beweisma terial, das du heute Abend in Empfang genommen und in den roten Safe verschlossen hast, wäre für immer verschwunden.« »Boyd!« »Und ist es nicht seltsam, dass die Abteilung ausgerechnet und wie aus reinem Zufall heute nachmittag jemanden in Thetford hatte? Je manden, der sofort erreichbar war? Jemanden, dem der GD die ver trauensvolle Aufgabe erteilen konnte, Mrs. Wever mit einem Bündel Pfundnoten den Mund zu stopfen?« »Vermutungen«, sagte Kitty. »Das sind zum größten Teil Vermutun gen.« Sie setzte sich im Bett auf. »Mach' nicht das Licht an«, sagte Stuart. Er sprach ruhig, hielt den Vorhang etwas geöffnet, um auf die Straße sehen zu können. Kitty lachte nervös und gezwungen auf. »Willst du mir erzählen, dass dein Schwiegervater dich umbringen, XPDieren lassen wollte? Zweck dienlich beseitigen? Willst du das damit sagen?« »Um die Tatsachen kommen wir nun einmal nicht herum, Kitty.« Sie lehnte sich in seine Richtung vor, aber er drehte sich nicht um. »Der GD gibt keine XPD-Befehle aus, Boyd. Du kennst die Methode. 146
XPD-Befehle unterstehen der persönlichen Verantwortung des betref fenden regionalen Aktionsleiters und werden vom Bevollmächtigten des GD gegengezeichnet. So ist es immer gewesen. Der GD hat kein Mitspracherecht.« Stuart ließ den Vorhang langsam los und wandte sich ihr zu. »Ja, Kit ty, so wird es immer gemacht, damit jeder GD sich vor den geheimen Parlamentsausschüssen rechtfertigen und mit gutem Gewissen schwö ren kann, dass er keine Kenntnis von XPD-Befehlen oder anderen au torisierten Tötungen hat. Ich weiß, wie das gemacht wird, Kitty. Das kannst du mir glauben.« »Niemand weiß davon«, sagte Kitty. »Nicht einmal mein Chef weiß, wie XPD angeordnet, von welchem unserer Agenten sie ausgeführt werden. Aber eins kann ich dir sagen, Boyd. Sir Sydney hat ohne still schweigendes Einverständnis anderer keine Möglichkeit zu einer der artigen Maßnahme. Ich habe lange genug dort gearbeitet, um zu wis sen, dass er es nicht bekommen würde.« »Willst du mir allen Ernstes erzählen, dass du im Laufe deiner Dienst zeit in der Abteilung noch nie einen XPD-Befehl gesehen hast?« »Für Abtrünnige, Boyd. Für Verräter. Für Leute, die den Kopf voller Ge heimnisse haben und wissen, wo unsere Agenten im Einsatz sind. Und auch dann nur, nachdem die Abteilung sich versicherte, dass sie im Be griff stehen, alles an Moskau zu verraten. Sie XPDieren nie Außenagen ten wie dich, die nach bestem Ermessen eine Aufgabe durchführen.« »Gestattest du, dass ich mir Notizen mache?« fragte Stuart sarka stisch. »Du sprichst wie ein Handbuch für den Außendienst.« »Vielen Dank! Jetzt hab' ich genug von deiner schlechten Laune. Ich gehe nach Haus!« »Ach, hör' doch auf, Kitty. Du weißt, dass ich es nicht böse gemeint habe.« »Weißt du denn überhaupt, wie mir zumute ist, wenn ich mit dir in dieser verdammten Wohnung bin?« »Was willst du damit sagen?« »Überall, wohin ich schaue, liegen Sachen deiner anderen Frauen herum.« 147
»Frau, nicht Frauen«, sagte Boyd Stuart. »Meinst du Jennifers Sachen?« Kitty preßte die Lippen zusammen. Die bloße Erwähnung des Na mens der Frau, mit der Boyd Stuart sein Leben geteilt hatte, machte sie wütend und eifersüchtig. »Jawohl, deine verdammte Jennifer. Ganz richtig. Wie hat sie denn geredet? Bestimmt nicht wie ein Handbuch für den Außendienst. Wie also? Wie ein Handbuch für Sex?« Sie griff nach einem Taschentuch. »Mein Gott, Kitty, fang' bloß nicht an zu weinen. Das halte ich nicht aus.« »Natürlich!« schrie sie. »Du willst mich nicht weinen sehen, weil du es hasst, wenn ich unglücklich bin. Aber ›Kitty, weine nicht, was kann ich für dich tun?‹, das würde dir nicht einfallen. Immer ›fang bloß nicht zu weinen an, ich kann es nicht ausstehen‹.« Jetzt war sie rich tig in Wut. Sie schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sie schniefte immer noch, als sie sich die Strumpfhosen anzog und ihre Schuhe unter dem Bett suchte. »Dein Wagen steht meilenweit von hier«, ermahnte Stuart sie. »Sorge dich nicht um mich«, sagte sie sauer. »Ich habe keine Angst vor den kleinen grünen Männern in fliegenden Untertassen.« »Ach, scher dich zum Teufel«, sagte Stuart und meinte es auch. Nachdem er die Haustür zuschlagen gehört hatte, ging er hinun ter, sah nach, ob sie auf ihn wartete, aber sie war nach Hause gegan gen. Er zog sich aus, ging zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Er lag im Dunkeln wach und lauschte den Verkehrsgeräuschen auf der Mill bank. Auf der Uferstraße herrschte ständiger Lärm; das gehörte zu den Nachteilen dieser Wohnung. Würde Kitty King das eben geführte Ge spräch melden? Er war sich nicht sicher. Wie würde sich das auf sei ne Karriere auswirken? Er lachte in sich hinein. Welche Karriere hat te ein Mann zu erwarten, der seinen Arbeitgeber verdächtigt, ihn um bringen lassen zu wollen? Aber war dieser Arbeitgeber nicht schließ lich auch sein Schwiegervater? Das blieb ein noch ungelöstes Problem, als er in tiefen Schlaf verfiel. Als er am nächsten Morgen sehr spät er wachte, schien die Sonne. Der grüne Wagen vor dem Fleischerladen war verschwunden, schien nie existiert zu haben. 148
So ging er an diesem Montagmorgen zur Arbeit. Der Gedanke, dass jemand aus seiner Abteilung plante, ihn umbringen zu lassen, beschäf tigte ihn so gut wir gar nicht mehr.
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ur gleichen Zeit – Montag, den 2. Juli 1979, morgens um zehn Uhr dreißig – nahm Sir Sydney Ryden an der regulären wöchentlichen Sitzung des Intelligence Service teil. Sie wird in einem kleinen Konfe renzzimmer im ersten Stockwerk von Downing Street 12 abgehalten: Ein langer, polierter Tisch mit acht Stühlen, vier farbige Telefonappa rate, einige rote Ledersessel, ein Kamin mit auf Hochglanz polierten Feuereisen und ein kleines Ölgemälde Winston Churchills an der Wand. Der einzig moderne Gegenstand war eine Maschine, auf der zwei Kästen mit Schlitzen standen: ein Reißwolf zum sofortigen Zer kleinern aller Notizen. Die Anwesenden der letzten Sitzungsphase waren ein bevollmäch tigter Sekretär des Kabinettsbüros, der die Premierministerin vertrat, der Koordinator der Geheimdienste, Sir Sydney Ryden, und sein Ge genpart, der GD der MI 5. Der einzige Abwesende unter den wichtigen Persönlichkeiten war der Chef des GCHQ (General Communications Headquarters), der Leiter jener Abteilung, die für die Vermittlung von Nachrichten durch Raumsatelliten und Funküberwachung zuständig ist. Ursache seiner Abwesenheit war die Tatsache, dass fast alle seine besten Apparate von der amerikanischen Regierung finanziert worden waren – eine Investition, die sich durch die Anwesenheit von Beamten der American National Security Agency in den wichtigsten Stellen der Abteilung bezahlt machte. Der Chef des GCHQ hatte sich frühzeitig verabschiedet. Das tat er immer, wenn der letzte Tagesordnungspunkt eine über ›nicht-elektronische Systeme‹ zu ermittelnde Angelegenheit 149
betraf. Das war eine höfliche Art, ihn zu verabschieden. Für ihn war es besser, den Diskussionsgegenstand nicht zu kennen, als seinem ameri kanischen Kollegen Nichtwissen vortäuschen zu müssen. »In Ermangelung harter, fester Beweise sind wir auf gewisse Vermu tungen angewiesen«, sagte Sir Sydney Ryden, sobald der GCHQ-Chef gegangen war. »Wir müssen annehmen, dass eine große Anzahl doku mentarischer Beweise in private Hände gefallen ist, und von der Ver mutung ausgehen, dass dieses Material vom State Department der Ver einigten Staaten weder bezeichnet, indexiert, in das Inventar aufge nommen, fotokopiert noch eingesehen worden ist.« »Wie können wir dessen so sicher sein?« fragte der Mann von der MI 5. Sir Sydney drehte sich um, hielt sich stirnrunzelnd die Hand an das Hörgerät. Der MI-5-Mann schien bereit, sich vor der bedrohlichen Ge ste, Rydens erhobener Hand, zu ducken. »Ich habe dort Leute«, sagte Sir Sydney Ryden. »Die Archive des State Department wurden gründ lich durchsucht.« »Auch die Geheimarchive?« »Was denn sonst?« Seine Stimme war leise und eindringlich. »Ich verstehe«, sagte der MI-5-Chef, aber sein Gesicht drückte starke Zweifel aus, dass Sir Sydney Ryden wirklich bis in die Geheimarchive des amerikanischen State Department vorgedrungen war. »Wir nehmen an, dass die Regierung der Vereinigten Staaten keine Kenntnis davon hat«, fuhr Sydney fort, seinen Gegenüber anfunkelnd. »Besagtes Material enthält Mitteilungen, Telegramme und Protokol le von Gesprächen zwischen verschiedenen Vertretern der Regierung Seiner Majestät und den deutschen Bevollmächtigten im Jahre 1940.« Der bevollmächtigte Sekretär des Kabinettsbüros schaute auf die Uhr. Er hatte noch viel vor dem Mittagessen zu tun und sollte unter an derem auch der Premierministerin über diese Sitzung berichten. »Ich glaube, wir können ruhig auf die Umschreibungen verzichten, Sir Syd ney«, sagte er. »Wir reden hier über die Hitler-Protokolle, nicht wahr? Wir reden über ein undatiertes Dokument mit der Überschrift Richt linien für ein zu verhandelndes Abkommen das dem deutschen Aus 150
wärtigen Amt«, er hielt inne und runzelte die Stirn, »wenn ich mich recht erinnere, Ende Mai 1940 via Stockholm zugestellt wurde.« Sir Sydney fand es an der Zeit, dass seine Kollegen endlich auch ein mal an all den Alpträumen teilnahmen, die er in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Es war Zeit, dass sie von seinen Sorgen hörten. »Meine Herren, ich wünschte mir, dass wir nichts weiter als das zu be sprechen hätten«, sagte er nach langem Schweigen. »Aber ich kann Ih nen versichern, dass diese Abhandlung eines wohlgemeinten Papper lapapps mir auch nicht eine Sekunde meines kostbaren Schlafs geraubt hätte. Es sollte uns nicht schwerfallen, es als ein kluges Manöver hin zustellen, um die Evakuierung unserer Truppen aus Dünkirchen in Ruhe durchführen zu können.« »Was ist es denn?« »Wir reden über einen Meinungsaustausch auf höchster Ebene, wo über gewisse Konzessionen verhandelt wurde. Die Karte Afrikas soll te wieder die Farben des 19. Jahrhunderts annehmen: Also DeutschOstafrika, Deutsch-Südwestafrika, Togoland und die beiden Kame run unter deutscher Herrschaft. Und die britische Regierung sollte die deutschen Forderungen nach Rückkehr der Karolinen, der Marianen und der Marshallinseln unterstützen.« Er bleckte die Zähne. »Samoa und Deutsch-Neuguinea sollten ihnen natürlich ebenfalls übergeben werden.« »Mein Gott«, stöhnte der bevollmächtigte Sekretär. Sir Sydney blick te in die Runde und war nicht enttäuscht, das allgemeine Entsetzen zu sehen. Es erübrigte sich, die katastrophalen Auswirkungen einer sol chen Enthüllung näher zu beschreiben. Sir Sydney fuhr unerbittlich mit seiner bösen Geschichte fort. »Ganz Irland sollte unter englisch-deutsche Verwaltung gestellt – Sie ken nen natürlich Winstons Meinung über Irland –, Cork und Belfast soll ten ständige deutsche Stützpunkte für eine neu zu schaffende deut sche Atlantikflotte werden. Die Schiffe hätten natürlich wir zur Ver fügung stellen müssen.« Er fuhr fort, kümmerte sich nicht um die be stürzten Ausrufe. »Alle Hafenanlagen der Royal Navy von Hongkong bis Gibraltar hätten ab sofort jedes beliebige deutsche Kriegsschiff so 151
wie jedes Handelsschiff unter deutscher Flagge mit Treibstoff und Le bensmitteln zu versorgen.« Der Koordinator war puterrot angelaufen. Er ballte die Faust auf der Tischplatte. »Soll das ein Witz sein, Sir Sydney?« »Kein Witz«, sagte der GD. »Ich wünschte, es wäre einer.« »Und die PM ist informiert?« »Sie ist besonders über den irischen Aspekt besorgt«, sagte Sir Syd ney. »Sie können sich ja denken, was die IRA daraus machen würde – und die Regierung in Dublin.« »Daraus braucht man gar nicht erst etwas zu machen«, sagte der be vollmächtigte Sekretär mit ungewohnter Bitterkeit. Er war der Jüngste in der Runde und empfand es als beschämend, die Fehler der alten Ge neration ausbaden zu müssen. »Und Kreditgarantien«, fuhr Sir Sydney fort. »Mehrere Millionen Pfund Sterling sollten den Deutschen für Einkäufe in Kanada und den USA vorgeschossen werden, mit der Bürgschaft der bereits dort lagern den britischen Goldreserven. Und Churchill diskutierte sogar höchst unklugerweise mit den Deutschen über die Verwendungsmöglichkei ten der französischen Flotte.« »Oh, mein Gott«, sagte der MI-5-Mann. »Wenn das publik wird, ha ben wir unsere letzten Freunde verloren.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit übertriebenem Eifer. Trotz seiner Bestürzung war er dem Schicksal dankbar, dass diese Geschichte auf Sir Sydney Rydens Schreibtisch und nicht auf dem seinen gelandet war. »Jedes Gerücht, dass wir bereit gewesen wären, Teile Afrikas auszu liefern, um England zu retten, wäre Wasser auf die Mühle der antiwei ßen Politik in Rhodesien«, sagte der bevollmächtigte Sekretär. Sir Sydney nickte. »Es ist ein politisches Problem von unabsehba ren Ausmaßen. Es wäre einzudämmen, wenn es nur zu Gerüchten kommt – solche Gerüchte sind schon mehrere Male im Laufe der letz ten 15 oder 20 Jahre aufgetaucht –, wenn aber schriftliche Beweise vor liegen …« Sir Sydney ließ den Satz in der Luft hängen. »Schlimmer als Suez«, sagte der bevollmächtigte Sekretär, der gerade alt genug war, um sich an dieses politische Fiasko zu erinnern. Er hat 152
te mit dem Bleistift ein kompliziertes Labyrinth auf seinen Notizblock gezeichnet. Jetzt strich er den Ein- und Ausgang zu, so dass es keinen Ausweg mehr gab. »Sind Sie sich bewußt, wie sich das auf unsere ohnehin heikle Wirt schaftslage auswirken würde?« fragte der Koordinator. »Die ausländi schen Investoren würden den Sterling-Markt meiden, die Börse wür de zusammenbrechen. Die sozialen Folgen wage ich mir kaum auszu denken. Der Kreml verfügt über gute Freunde in den Gewerkschaf ten, und die würden gern die Gelegenheit wahrnehmen, um ein Cha os zu stiften.« »Unsere schönste Stunde!« sagte der Koordinator. »Der alte Winston würde sich im Grabe umdrehen.« »Sie scheinen mich nicht richtig verstanden zu haben«, sagte Sir Syd ney Ryden. »Ich rede hier von Entschlüssen, zu denen Sir Winston Churchill maßgebend beigetragen hat. Es geht um Verhandlungen zwischen Sir Winston und dem deutschen Führer persönlich.« »Hitler?« Der Koordinator machte ein ungläubiges Gesicht. »Adolf Hitler und Churchill?« Sir Sydney Ryden erhob sich und klappte das Schloss seines Akten koffers zu. »Meine Herren, begegnen wir diesen Schwierigkeiten nicht mit halben Maßnahmen. Wir können nur noch beten, dass meine Leu te diese unseligen Akten in die Hände bekommen, bevor die Presse sie sieht.« Der Direktor der MI 5 erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, wir wer den darauf hinweisen müssen, dass diese Dokumente nicht authen tisch sind.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Sir Sydney. »Es wäre vielleicht zweckmäßig, wenn wir uns über die Vorbereitungen gewisser Maß nahmen unterhielten.« »Sie einfach fälschen und dann der Presse gegenüber beweisen, dass es Fälschungen sind, um das übrige Material unglaubwürdig zu machen?« Der MI-5-Mann nickte. Seine Abteilung beschäftigte einige der sorgfäl tigsten Drucker, Papiertechniker und Handschriftenexperten der Welt. »Wie wäre es morgen beim Lunch? Passt es Ihnen im Travellers?« 153
Sir Sydney Ryden zögerte. Es brachte seinen Vormittag durcheinan der, aber die Sache war dringlich. Er war kein eingefleischter Club mensch und hätte ein privates Speisezimmer in seinem Gebäude vor gezogen, nickte aber zustimmend. Wenigstens gab es im Travellers' Club einen anständigen Bordeaux. »Um ein Uhr also. Hoffentlich fin den wir eine stille Ecke, in die wir uns nach dem Essen verkriechen können.« Der MI-5-Mann schrieb die Verabredung in seinen kleinen Notizka lender und steckte ihn in die Westentasche zurück. »Es kommt zu einer verdammt ungelegenen Zeit«, sagte der Koordi nator. »Stellen Sie sich vor, die Sache wird bekannt, während die Köni gin und Mrs. Thatcher in Afrika weilen. Könnte nicht gerade das be absichtigt sein?« »Das glaube ich nicht«, sagte Sir Sydney. Der bevollmächtigte Sekretär riß das Blatt seines Notizblocks ab und steckte es mit leicht zitternder Hand in den Reißwolf. Wie bei allen Apparaten dieser Art, die man in streng geheimen Konferenzen be nutzte, wurde das Papier der Länge und Breite nach in winzige Stücke zerschnitten, die anschließend in eine durchsichtige Plastiktüte fielen. »Churchill diskreditiert! Das wäre das Ende der Konservativen Par tei«, sagte er erschüttert. »Der Gedanke ist mit unerträglich.«
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harles Stein war ein glücklicher Mann. Als Sohn eines in Polen ge borenen Gewerkschaftsfunktionärs der Bekleidungsindustrie in New York Citys West Side, wuchs er in einem Hause auf, wo Streik Hunger bedeutete. Zu solchen Zeiten wurden die kleinen Steins von den ebenso ärmlich lebenden Nachbarn mit Speiseresten versorgt. Charles hatte nie das Interesse an Büchern geteilt, das sein Vater in 154
seinem Bruder Aram erweckt hatte, aber das hieß noch lange nicht, dass er ungebildet aufgewachsen war. Charles – oder Chuck, wie er gewöhnlich in der Konfektionsfabrik genannt wurde, wo er später als Verkaufsassistent arbeitete – fand sich in jedem Bestellblock oder Buchhaltungsblatt mit jener natürlichen Leichtigkeit zurecht, die man chem ungeschulten Menschen bei der Berechnung komplizierter Pfer derennprognosen zu eigen ist. Und er war ein großzügiger Junge, der stets ohne Murren sein Geld zum Familienunterhalt beisteuerte, was wiederum seiner Mutter gestattete, Aram Zimtgebäck und etwas Ta schengeld zu schicken, um sein mageres Stipendium an der Johns Hopkins-Universität aufzubessern. Aber Chuck konnte auch hart sein. Wie sein Vater hatte er einen unversöhnlichen Hass auf Hitler. Am Tage von Pearl Harbor schloss er sich der langen Schlange von Män nern auf dem Times Square an, die geduldig warteten, um sich freiwil lig zum Dienst in der US-Armee zu melden. Sein jüngerer Bruder tat es auch. Charles Steins politische Überzeugungen waren inzwischen ver blasst, aber er besaß noch immer die natürliche Fähigkeit, mit Konten büchern umzugehen. Dank dieser Begabung und der unverkennbaren Macht seiner Persönlichkeit und seiner Energie, die nicht einmal sei ne ungeheure Leibesfülle zu verbergen vermochten, wurde Stein der Führer jener Männer, die sich ›Kaiserodaer Räuber‹ nannten. Trotz der militärischen Etikette und der respektvollen Verehrung, die sie alle ih rem Obersten John Elroy Pitman dem Dritten entgegenbrachten, wus ste jeder, dass die wichtigen Entscheidungen von Charles Stein getrof fen wurden. Und das war ihnen auch lieber so. »Die bau werden dir schmecken«, sagte Charles Stein zu seinem Sohn. »Sie haben Garnelenfüllung. Die mit Huhn sind nicht so wür zig.« Er fuhr sich mit der Serviette über den Mund. Das ist der Nach teil beim Essen von small chow: man hat immer das Gesicht und die Finger voller Sojasoße und Speisereste. Bei Charles Stein war es jeden falls so. »Danke, ich habe genug, Paps. Warum isst du sie nicht auf?« »Sie wickeln es dir ein, wenn du es nach Hause mitnehmen willst.« 155
»Nimm du es, Paps.« »Ich hasse es, Essen zu verschwenden«, sagte Stein. Er kämpfte mit der Versuchung. »Eigentlich habe ich genug gegessen, aber es wäre ein Jammer, es liegenzulassen.« Er nahm einen Schluck Jasmintee, füllte die kleine Tasse wieder auf. »Krabben in Papier gebacken?« »Nein danke, Paps. Ich könnte nichts mehr essen.« »Diese kleinen Eßlokale in Chinatown sind noch das einzig Richtige. Die Breslows haben mich letzten Montag in ein piekfeines chinesisches Lokal auf der Cienega eingeladen. Die Kellner wie aus dem Ei gepellt. Fingerschalen mit Zitronenscheiben, Leinenlätzchen, damit man sich nicht die Krawatte bekleckert, und so weiter. Aber was hat man dann schließlich am Ende?« Steins Sohn schüttelte den Kopf, er wusste es nicht. »Chop Suey. Das hat man«, erklärte Stein weise. »Nicht diese zarten kleinen Spezialitäten, die die Köche hier am North Broadway so gut zubereiten.« »Wird Breslow den Film machen?« fragte Billy. »Er gibt eine Menge Geld für die Vorproduktion aus«, sagte sein Va ter. »Schön wär's, wenn einer der Großen mitmachte. Wenn die Para mount oder die Universal ihre Maschine in Bewegung setzten …« Charles Stein griff nach zwei in Papier gebackenen Krabben und schob sie sich rasch nacheinander in den Mund. Er zerkaute sie schmat zend und wischte sich die Hände an der Serviette ab. »Was tust du ei gentlich, wenn du mal nicht deine Kolumne für das Variety schreibst?« fragte Stein mit vollem Mund. »Aber ich schreibe doch gar keine.« »War nur ein Witz, mein Sohn«, sagte sein Vater entmutigt. O mein Gott, er hatte schon oft vom Generationskonflikt gehört, aber das hier war kein Konflikt, sondern völliges Unverständnis. »Wenn Breslow ei nen halbwegs anständigen kleinen Film zusammenbringt, schickt er den Rohschnitt in alle Welt hinaus, kriegt dafür das Vier- oder Fünf fache seines Geldes zurück und hat immer noch die Rechte. Mit den Großen könnte er nie ein solches Geschäft machen.« 156
»Ich wusste gar nicht, dass du etwas von Filmfinanzierung verstehst, Paps«, sagte Billy. »Filmfinanzierung ist das gleiche wie jede andere Art von Finanzie rung«, sagte Stein. »Jeder, der rote Tinte von schwarzer unterscheiden kann, kennt sich auch in der Filmindustrie aus.« »Du hast in letzter Zeit oft die Breslows gesehen.« Ein Mädchen trat in das Restaurant. Fast alle Tische in dem großen Saal waren von orts ansässigen chinesischen Gästen besetzt. Die Kellnerin wies ihr eine Nische am gegenüberliegenden Ende zu. Billy Stein bewunderte ihr maßgeschneidertes Kostüm aus beigefarbener Seide. Sie trug eine gol dene Brosche am Jackenaufschlag, und das buntfarbene Halstuch ver vollständigte die Wirkung. Sie schob sich ihre große Sonnenbrille auf die Stirn und vertiefte sich in die Speisekarte. Dann blickte sie auf die schmale goldene Armbanduhr auf ihrem sonnengebräunten Handge lenk. Einen Augenblick lang war alles still. Das Personal und die Gäste be obachteten die schöne junge Frau, als sie ein Paket Zigaretten aus ih rer Handtasche nahm. Ein älterer chinesischer Kellner eilte mit ge zücktem Streichholz herbei. Sie war ein recht ungewohnter Anblick in diesem schäbigen Restaurant auf der ärmlicheren Seite des Free ways. Sie gehörte eher ins Golden Triangel oder in den Bel Air Coun try Club. Aber sie waren in Los Angeles, und selbst das Erscheinen einer strahlend schönen Frau hält die Geschäftigkeit nicht länger als ein paar Sekunden auf. Die drei Chinesen in dunklen Anzügen am Nebentisch nahmen ihr Gespräch über Versicherungsgeschäfte wie der auf; die beiden Polizisten in blauen Hemden am Ecktisch redeten wieder über Freikarten für das nächste Spiel im Dodgers Stadion; der Barmann mixte vier Wodka-Martinis; die Steins kehrten zum Thema Max Breslow zurück. »Ich habe die Breslows oft gesehen«, sagte Charles Stein, »weil ich den kleinen Hurensohn im Auge behalten und sehen will, was er treibt.« Billy Stein zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. Die Gläser waren geschliffen, und trotz ihrer starken Tönung konnte er die junge Frau gegenüber jetzt deutlicher sehen. Er fand sie umwer 157
fend. Er strich sich ein paar Kuchenkrümel vom Aufschlag seiner ver blichenen Jeansjacke und versicherte sich, dass die große Goldmedail le unter seinem aufgeknöpften Hemd sichtbar war. Er trug seine Lieb lingsstiefel – hellbraunes Wildleder aus Italien mit kreuzweiser Ver schnürung bis an die Knie. Die junge Frau mußte die Bewegung be merkt haben, denn sie blickte von der Speisekarte auf. Er sah ihr in die Augen, aber sie wandte sich rasch ab. »Ich dachte, du hättest dich mit ihm angefreundet.« »Ich habe gesagt, dass er ein guter Geschäftsmann ist«, erwider te Stein schmatzend, fuchtelte mit einem Schweineklößchen hin und her, um seinem Sohn zu zeigen, dass er ihn falsch verstanden hatte. »Das heißt noch lange nicht, dass ich mich mit ihm anfreunde.« Er stippte das Klößchen in die Sojasoße und stopfte es sich in den Mund. »Das heißt nur, dass ich aufpassen muß, dass er mich nicht übers Ohr haut.« »Inwiefern?« »Ist dir noch nie eingefallen, dass Breslow mich nicht mehr brauchen würde, wenn er all die Dokumente, die wir aus der Mine geholt haben, in die Finger bekommen könnte?« »Er würde keinen von uns mehr brauchen«, sagte Billy, dessen Auf merksamkeit immer noch auf die Frau gelenkt war, die jetzt gerade ihre Bestellung aufgab. Vielleicht hat sie gar keine Verabredung, sagte er sich. Es ist zwar ungewöhnlich für eine so elegante Frau, hier in Chi natown zu essen, und dazu noch ganz allein, aber immerhin … »Richtig«, sagte Stein. »Er würde Oberst Pitman nicht brauchen, und mich auch nicht. Keinen von der ganzen Gruppe. Und das würde ihm so passen; denn es gefällt ihm gar nicht, dass ich ihm über die Schulter gucke und mich in seine Pläne einmische.« »Falls er dir deine Papiere klauen sollte«, sagte Billy, »falls er das tun sollte und dir das Geld, das du so dringend brauchst, nicht be zahlt …« Er zog an seiner goldenen Halskette und ballte wütend die Faust. »Dann nehme ich die alte Mauserpistole, die du aus Deutsch land mitgebracht hast, und knalle ihn ab.« »Nun komm schon, Billy.« 158
»Glaubst du, das könnte ich nicht, Paps? Da irrst du dich. Letztes Jahr habe ich das alte Ding in die Wüste mitgenommen und mich ge übt. Die Mauser ist eine erstklassige Pistole. Du solltest mal sehen, was ich mit einer Reihe von Konservenbüchsen machen kann.« »Breslow wird nicht herumstehen wie eine Reihe Konservenbüchsen, Billy. Schlag' dir solche Gedanken aus dem Kopf. Von Gewalt will ich dich nicht noch einmal reden hören. Was hätte Mama gesagt, wenn sie noch lebte und sich anhören müßte, dass ihr Sohn wie ein dahergelau fener Strolch redet?« »Na schön, Paps, aber was willst du tun, um sicher zu sein, dass er uns nicht ausnimmt?« »Ich habe darüber nachgedacht, Billy. Zunächst einmal mußt du ver stehen, welche Mühe wir uns gemacht haben, dass Breslow nicht her ausfindet, wo die Akten und Papiere und all das andere versteckt sind. Wir müssen also unbedingt den Ort vor ihm und jedem, der mit ihm Verbindung hat, geheim halten. Und das gilt in doppelter Hinsicht für diesen Engländer!« »Ich hatte ganz vergessen, dass du den Engländer kennen gelernt hast. Wie war er?« »Da hast du was verpasst, Billy«, sagte Stein. Er schüttete den letz ten Tropfen Tee in seine Tasse und winkte der Kellnerin mit dem Kan nendeckel zu, damit sie mehr brachte. »Boyd Stuart nennt er sich. Ist das nicht ein wahrer Schwuchtelname? Aber er ist keine Schwuchtel, das sieht man sofort. Mindestens 200 Pfund schwer und scheint gut auf sich aufpassen zu können. Trotz seines lächerlichen Akzents. Etwa vierzig Jahre alt. Ein Gesicht, an dem sich das Alter nur schwer able sen läßt. Und mit allen Wassern gewaschen! Das erkennt man schon an seinen Augen.« »Du scheinst ihn noch weniger zu mögen als Breslow«, sagte Billy Stein, der seit langem an die unvoraussehbaren und heftigen Reaktio nen seines Vaters gegenüber neuen Bekanntschaften gewöhnt war. »Für meinen Geschmack zu arisch«, sagte Charles Stein. »Ich habe zu viele von der Sorte auf den Kriegsgefangenentransporten gesehen, und sie alle trugen das SS-Zeichen auf dem Kragen.« 159
»Aber Paps, bist du dir eigentlich bewußt, dass …« »Dass ich Rassist bin?« Charles Stein nahm eine der heißen Serviet ten, die die Kellnerin mit der Kanne frisch aufgebrühten Jasmintees gebracht hatte, beugte den Kopf, vergrub das Gesicht darin und ver harrte so eine lange Zeit. Billy Stein warf einen Blick auf das schöne Mädchen, fürchtete, sie habe die Waschung seines Vaters beobachtet, stellte jedoch mit Erleichterung fest, dass sie ihre ganze Aufmerksam keit der Bratente zuwandte. »Jawohl, ich bin Rassist«, sagte Stein und tauchte glücklich wieder aus seinem feuchten Tuch auf, wie ein Wal ross nach einem guten Heringsfang. »Und daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern, Billy. Damit müssen wir uns nun einmal abfinden.« Billy nickte und band sich die Schleife eines seiner Kniestiefel fester. »Im Idealfall«, sagte Charles Stein, »werden wir Fotokopien machen lassen oder Mikrofilme – wie immer das Zeug heißt. Dann könnten wir diesen Leuten zeigen, was wir haben, ohne die Originale hergeben zu müssen.« »Und warum tust du das nicht?« fragte Billy. »Manchmal mache ich mir ernstlich Sorgen um dich, Billy. Manch mal frage ich mich, was mit all den Aktien und Geschäftsanteilen und der hübschen kleinen Summe, die wir uns bei dem Versicherungsmak ler in St. Louis sichergestellt haben, geschehen wird. Manchmal frage ich mich, was damit sein wird, wenn der Tag kommt, da ich meinen Anspruch auf das kleine Fleckchen Erde, das wir in Forest Lawn ge kauft haben, geltend machen muß.« »Um Himmels willen, Paps, rede nicht davon.« Stein war gerührt über das Entsetzen seines Sohnes bei dem Gedan ken, ihn zu verlieren. »Wir können das Zeug nicht auf Mikrofilme auf nehmen lassen«, sagte er, »weil es zuviel Aufsehen erregen würde. Fra ge dich einmal selbst, wie wir das anstellen sollen. Wir können uns nicht einfach irgendeinen Fotografen aus dem Adressbuch suchen, ohne zu riskieren, dass Alarm geschlagen wird, sobald herauskommt, was in dem Zeug drinsteht.« »Kauf doch einen Mikrofilmapparat«, sagte Billy. »Was kann der schon kosten? Einen Riesen? Fünf Riesen? Bestimmt nicht zehn Rie 160
sen, aber selbst das wäre es wert, wenn wir das herausholen wollen, was dir vorschwebt. Was hat Breslow gesagt? 100 Millionen Dollar?« »Nein, ich habe 100 Millionen Dollar gesagt. Breslow hat seine Kar ten nicht auf den Tisch gelegt.« Er goss sich Tee ein. Billy hielt die Hand über seine Tasse, denn er wollte keinen mehr. »Und wer sollte den Ap parat bedienen? Könntest du es? Könnte ich es? Nein, dazu muß man geschult sein.« Charles Stein gab der Versuchung nach und aß den Rest des ge schnetzelten Huhns mit Nudeln. Unter einem Stück Fleisch leuchte te noch eine Spur Rührei, und ein einsamer Krebsschwanz in Soße lag halb in den Nudeln versteckt. Chuck Stein häufte sich das ganze auf seinen Porzellanlöffel und goss noch etwas Soja darüber, bevor er es verschlang. Er schloss genüßlich die Augen. Dann sprach er wieder. »Du weißt, dass ich der einzige bin, der all diese Dokumente gelesen hat. Oberst Pitman kann kein Deutsch – sein Französisch geht noch an, aber kein Deutsch –, und die anderen Kameraden vom Bataillon haben kein In teresse.« »Mich würde es auch nicht interessieren«, sagte Billy bedauernd. »Ich habe all die Kriegsbücher gelesen, die du mir immer mitgebracht hast und die ich deiner Meinung nach lesen sollte; aber ich konnte nichts damit anfangen.« Billy warf einen verstohlenen Blick auf das Mädchen. »Um dir ganz offen die Wahrheit zu sagen, Paps – ich habe nicht ein mal begriffen, wer den Krieg gewonnen oder wer darin gekämpft hat.« Er blickte seinen Vater an, hoffte auf eine Erklärung. »Es ist ganz einfach«, sagte Stein. »Hitler hat angefangen, die Juden umzubringen. Da kamen die Juden nach Amerika und bauten eine Atombombe, damit Präsident Roosevelt ihnen helfen konnte, aber er hat sie dann auf die Japaner abgeworfen.« »Ich weiß nie, wann du mich auf den Arm nimmst.« »Ich nehme niemanden auf den Arm«, sagte Stein. Er beugte sich über den Tisch. Sein Ärmel geriet in die Sojasoße, aber er bemerkte es nicht. »Diese Dokumente sind Dynamit, lass dir das gesagt sein. Falls dieser Engländer erfährt, dass ich dir erzählt habe, was in den Doku 161
menten steht – all das Zeug über Churchill, wie er mit Hitler gespro chen und ihm ein tolles Geschäft für einen raschen Frieden angeboten hat –, tja, dann könnte er seine Befehle kriegen.« »Was für Befehle?« Stein blickte sich im Saal um und flüsterte, obgleich niemand in Hör weite war. »Was ich dir zu erklären versuche, Billy, ist, dass die Englän der vielleicht jetzt schon beschlossen haben, diese Dokumente zu ver nichten, und jeden zu beseitigen, der etwas davon weiß.« »Nein, Paps.« »Und sie wären geradezu wahnsinnig, bis zu solchen Extremen zu ge hen und irgendeinen Jungen am Leben zu lassen, dessen Vater ihm er zählt hat, was darin stand. Verstehst du, Billy? Die Engländer können ja nicht wissen, dass es bei dir zu einem Ohr rein- und zum anderen rausgeht. Sie werden vielmehr annehmen, dass du ein heller Bursche bist, der sich genau merkt, was sein Vater ihm erzählt. Stimmt's?« »Nun komm schon, Paps.« Billy lächelte, erwartete, dass sein Vater auch lächelte, aber Charles Stein lächelte nicht. Er war ernst. »Frage dich einmal, was du in ihrer Lage tun würdest«, sagte Charles Stein mit ruhiger Stimme. »Wenn du britischer Premierminister wärst und das Andenken an Sir Winston Churchill in Glanz und Gloria be wahren wolltest. Was würdest du dann tun?« »Ich weiß es nicht«, sagte Billy. Jetzt war seine Aufmerksamkeit nicht mehr abgelenkt. »Nimm einmal an, es wäre Abe Lincoln«, fuhr Charles Stein fort. »Und nimm weiter an, ein paar lausige Engländer säßen in Liverpool mit einer Wagenladung von Dokumenten, die beweisen würden, dass Abe Lincoln ein Hosenscheißer war, der Stonewall Jackson nach der Schlacht von Bull Run eine Gratulationsbotschaft schickte. Glaubst du, der CIA würde auch nur eine Minute zögern, diese Engländer kaltzu machen? Glaubst du, sie würden das Leben von Erpressern schonen – denn für sie wären sie nur Erpresser, verstehst du, Billy –, wenn es dar um geht, das Andenken Lincolns nicht zu beschmutzen; dass die Ver einigten Staaten sich nicht vor der ganzen Welt lächerlich machen?« »Politik.« 162
»Aber mit einem großen P, Billy, mein Junge«, sagte Stein. »Du mußt dir jetzt ein für allemal bewußt werden, dass du eines Tages auf der Abschussliste stehen könntest. Passe von jetzt an verdammt gut auf dich auf, betrinke dich nicht und meide das andere Zeug! Halte dich von dunklen Gassen fern und berichte mir sofort, wenn du irgend et was Ungewöhnliches siehst.« »Das tue ich bestimmt, Paps. Glaubst du, ich sollte eine Waffe tra gen?« »Das wäre keine schlechte Idee, Billy. Nur bis die Geschichte vor über ist.« »Ein großer Kerl, hast du gesagt? Um die Vierzig?« »Sie werden diesen Burschen nicht schicken, um irgend jemanden abzuknallen. Das machen Spezialisten, die ganz kurz in die Stadt kom men, ihre Sache erledigen und dann türmen.« »Herrgott, Paps, ich weiß nie, wann du mich auf den Arm nimmst. Glaubst du wirklich, diese Engländer würden …« »Lass es nicht drauf ankommen, Billy. Das will ich ja nur sagen. Si cher ist sicher.« Billy zog einen weißen Kamm aus der Tasche und fuhr sich rasch durch das lange, dunkle Haar. Das tat er immer, wenn er unter Druck stand. Und sein Vater wusste es. »Vielleicht fahre ich nach Mexiko«, sagte Billy. »Warum kommst du nicht auch mit? Der Mann in Ensena da hat den Gepäckraum in eine zusätzliche Kabine umgebaut – alles in handgeschnitztem Eichenholz. Er ist wirklich ein Fachmann.« »Die Rechnung war auch danach. Hast du gesehen, was es uns ko stet, das verdammte Boot zu unterhalten?« »Pedro ist ein toller alter Mann«, sagte Billy. »Mit seinem langen Bart und seinem mexikanischen Akzent. Hast du den Film gesehen, den ich von ihm aufnahm, als er das Boot umbaute? Er könnte direkt ein Film star sein.« »Er könnte ein Filmstar sein«, sagte Stein verärgert, »besonders, was seine Gehaltsansprüche anbetrifft.« »Ach, komm schon, Paps. Es ist eine gute Geldanlage. Mit der zu sätzlichen Kabine und der Dusche können wir jetzt bequem übernach 163
ten. Irgendwo den Anker auswerfen, wo es Fische gibt, und so lan ge bleiben, wie wir wollen. Keine Hotelrechnungen, siehst du? Komm über das Wochenende mit mir runter.« »Im Augenblick ist es wohl besser, dass ich mich nach ein paar Din gen in der Stadt umsehe, Billy.« »Warum schaust du ständig auf die Uhr?« »Breslow hätte sich mit uns zum Lunch treffen sollen. Er sagte, wir sollten ruhig schon anfangen, falls wir vor ihm ankämen.« »Hier in dieser Kneipe? Das entspricht doch gar nicht seinem Stil.« »Er sagt, er sei verrückt auf chinesische Dampfnudeln. Ich habe ihm gesagt, hier gäbe es die besten. Er will sich übers Copyright unterhal ten, sagt er.« »Ich fragte mich schon, warum du dich so in die Nähe der Tür ge setzt hast«, sagte Billy. Er hatte kaum den Satz beendet, als sein Vater aufstand, wobei der Tisch gefährlich ins Wanken kam, die Teller klirrten und etwas Soße verschüttet wurde. Billy wischte die Flecken mit ein paar Papierservi etten fort, während sein Vater Breslow die Hand schüttelte und des sen Entschuldigungen fürs Zuspätkommen entgegennahm. »Und das hier ist meine Tochter Mary«, sagte Breslow und zeigte auf die junge Dame, die Billy so beeindruckt hatte. In Wirklichkeit hieß sie MarieLouise wie ihre Mutter; aber hier in Südkalifornien zog sie den engli schen Namen vor. »Mary Breslow«, sagte sie. Billy Stein glaubte, noch nie einen so schö nen Namen gehört zu haben. Er nahm ihre Hand und beugte sich über sie mit einer jener handküssenden Gesten, die er in einem alten Film gesehen hatte. In dem nun folgenden Begrüßungswortwechsel von Entschuldigun gen und Erklärungen fand Mary Breslow Gelegenheit, Billy Stein aus giebiger zu betrachten. Was sie sah, gefiel ihr. Dieser große, hübsche Amerikaner entsprach allem, was Kalifornien an Männerschönheit zu bieten hatte: sein langes, dunkles Haar war sauber und gepflegt; die Zähne blendend weiß; die Sonnenbräune von einem Goldglanz, der sich durch keine Quarzlampe erzielen läßt. Der leicht verblichene 164
Jeansanzug, der an den richtigen Stellen kunstvoll abgetragen wirk te, war maßgeschneidert und ließ die schmalen Hüften und breiten Schultern voll zur Geltung kommen. Und falls es jemandem einfal len sollte, ihn für einen gewöhnlichen Arbeiter zu halten, so belehr ten ihn das Seidenhemd mit Monogramm, die hauchdünne goldene Armbanduhr und die hohen Wildlederstiefel eines Besseren. Sie hat te bereits bei ihren Eltern vom Privatflugzeug und der großen Segel jacht der Steins gehört, mit der sie oft an die mexikanische Küste fuh ren. »Du bist aber ein dummes Mädchen«, sagte ihr Vater. »Du hättest dir doch denken können, dass diese Herren hier Mr. Stein und des sen Sohn Billy sind. Warum bist du nicht an ihren Tisch gegangen und hast dich vorgestellt?« Sie lächelte, Billy lächelte auch. Dann verließen sie das Chaos auf Steins Tisch und setzten sich in eine andere Nische. »Für mich bit te nichts zu essen«, sagte Breslow eilig, »aber ich möchte gern etwas trinken.« Er wandte sich an die Kellnerin. »Eine Bloody Mary mit viel Worcestersoße.« Breslow richtete sich die Krawatte und knöpfte sich die Jacke zu. »Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Char les?« fragte er höflich. »Aber selbstverständlich.« Breslows fahrige Bewegungen und sein dringliches Bedürfnis, einen Drink zu nehmen, schienen auf außerge wöhnliche Umstände hinzuweisen. Stein fand diese Vermutung bestä tigt, als Breslow seine Bloody Mary fast in einem Zug austrank. »Ich möchte Ihnen etwas in meinem Wagen zeigen«, sagte Breslow. »Die Kinder werden bestimmt noch gerne ein bisschen warten.« Er lächelte Breslow zu; denn Billy Stein und Mary Breslow waren bereits in ein ernsthaftes Gespräch über Acapulcos Diskotheken vertieft. Charles Stein folgte Breslow auf die Straße hinaus. Das Pflaster un ter ihren Füßen war heiß, und als sie aus dem klimatisch gekühlten Restaurant traten, schlug ihnen ein solcher Smog entgegen, dass Stein sich mit seinem seidenen Taschentuch die Augen wischen mußte. Bres low führte ihn die Zufahrt zur unterirdischen Garage auf der anderen Straßenseite hinunter und sprach kein Wort, bis sie vor seinem dort ge parkten hellblauen Mercedes 450 SEL standen. Die ganze rechte Seite 165
war schwer eingebeult, beide Türen klemmten in der verbogenen Ka rosserie, die Scheiben waren eingeschlagen. Vorne war der rechte Kot flügel weggerissen, das Rad sichtbar. Die Sitze waren mit Glasscherben gespickt, eine verbogene Chromleiste hatte sich in die Kopfstütze ein gebohrt und die Polsterung eingerissen. »Man hat mich zu ermorden versucht, Charles«, sagte Breslow. Stein starrte ihn wortlos an. Breslow fuhr sich mit der Hand über den Kopf, schien das Ganze noch einmal nachzuerleben. Seine Hand zitterte. »Kommen Sie lieber ins Restaurant zurück und setzen Sie sich«, sag te Stein. »Dann sollten wir zu einem Arzt gehen und Sie untersuchen lassen.« Stein blickte wieder auf den Wagen. »Wann ist es passiert?« Breslow schaute auf die Uhr. »Vor kaum einer halben Stunde. Ich nahm den Ventura Freeway bis zum Golden State. Der Hollywood Freeway war heute verstopft. Ich hörte es im Radio.« »Es ist Freitag, der 13.«, sagte Stein. Er stieß mit dem Fuß an den Rei fen, aber der Druck schien normal. »Sie sind doch nicht etwa abergläubisch?« fragte Breslow. »Es kann nichts schaden«, sagte Stein. Breslow schaute wieder auf seine Armbanduhr, sah, dass es wirklich der 13. war. »Sie hätten mich beinah umgelegt«, sagte er. »Ach, das kann jedem passieren, Max. Kommen Sie zurück, trinken Sie noch eine Bloody Mary und schätzen Sie sich glücklich, noch am Leben zu sein. War es ein Lastwagen?« Breslow nahm Stein beim Arm. »Sie verstehen mich nicht, Charles. Wenn ich sage, man wollte mich ermorden, dann meine ich es auch. Es war kein gewöhnlicher Verkehrsunfall. Dieser Bursche arbeitete mit zwei anderen Fahrern. Der eine rammte mich, der andere drängte mich in die Notspur und versuchte, mich an die Trennwand zu drük ken. Und hinten fuhr mir ein großer Lastwagen in die Stoßstange, als ich bremsen wollte.« »Max. Sind Sie sicher, dass Sie sich das alles nicht nur einbilden? Manche Leute fahren auf dem Freeway wie die Verrückten. Irgendein besoffener Vertreter oder ein mit 'ner Dosis aufgeputschter Junge muß 166
nicht gleich ein vorsätzlicher Mörder sein.« Stein nahm Breslows Arm, ließ ihn aber wieder los, als Breslow vor Schmerzen aufstöhnte. »Ich habe mir den Arm verletzt, als ich mit dem Steuer kämpfte«, sagte Breslow. Stein fuhr mit der Hand über den verbeulten Wagen. »Schau dir das an!« »Es waren keine Jungen oder Vertreter, Charles.« Breslow zitterte wieder. »Am Schaden des Daches sieht man, wie groß der Lastwagen sein mußte.« Er betastete das zerrissene Blech auf dem Dach des Mer cedes. »Sehen Sie, da ist noch eine Spur der roten Farbe.« »Sie sind ein harter Bursche, Max«, sagte Stein, bemüht, ihn aufzu heitern. »Sie sind einfach am Steuer geblieben und haben durchgehal ten, was? Ich weiß nicht, wie Sie es mit diesem Trümmerhaufen von der Ventura-Kreuzung bis hierher geschafft haben. Ein anderer hät te sich abschleppen lassen.« Stein lachte und gab einen geheimen Ge danken preis. »Nur ein Deutscher bringt es fertig, sich nach einer sol chen Bruchlandung für sein Zuspätkommen zum Mittagessen zu ent schuldigen.« Max Breslow griff Steins Arm fest. »Mary darf es nicht wissen, Char les. Sie würde es bestimmt ihrer Mutter erzählen. Versprechen Sie mir, sie aus dem Restaurant mitzunehmen. Falls sie hier herunter kommt und den Wagen ihrer Mutter nehmen will«, er zeigte auf den gelben Chevette, »sieht sie bestimmt meinen Mercedes.« »Kommen Sie, und trinken wir etwas, Max.« Stein nieste, als der Smog ihm in die Nase drang. »Es war dieser Engländer, Charles. Ganz bestimmt.« »Warum?« »Sie sind ganz verzweifelt auf die Dokumente aus. Und wenn sie über Leichen gehen müssen. Wir müssen verdammt aufpassen, Char les, oder sie werden uns beide umlegen, und dann kommt keiner ohne Skrupel von uns zu Geld.« »Ich werde den Kindern sagen, dass wir etwas Wichtiges vorhaben«, sagte Stein. »Erzählen wir Mary, dass ich mir den Chevette ausleihe. Dann hat sie keinen Grund, in die Garage zu kommen.« 167
»Und wer bringt sie nach Hause?« »Billy. Es wird ihm eine Freude sein, mit seinem verdammten Thun derbird protzen zu können.« »Ist der nicht hier unten geparkt?« »Heutzutage bezahlen nur noch alte Knacker wie wir für irgend was«, sagte Stein verbittert. »Billy hat seinen Wagen wie immer auf dem Gehsteig geparkt.«
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ax Breslow blickte sich interessiert im Hause der Steins um. Ge mäß Steins Theorie über Geldanlagen war sein Haus mit wert vollen alten Möbeln ausgestattet. Das meiste hatte ein Antiquitäten händler für ihn ausgewählt, der dafür von Stein kurzfristige Darlehen aufs Warenlager bekam. Charles Stein hatte kaum oder überhaupt kei ne Ahnung vom historischen Hintergrund seiner Möbel und Teppi che, wie Max Breslow enttäuscht feststellte, als er ihn darüber ins Ge spräch zu ziehen versuchte. Die beiden Männer ließen sich in den bequemen Armsesseln im gro ßen Salon nieder, von dem man einen Ausblick über die Stadt genoß. Breslow bemerkte den Konzertflügel in einer Ecke des Zimmers. »Spielen Sie Klavier?« fragte er höflich. »Meine Frau wollte ihn unbedingt Billys wegen haben; aber der Kna be hat Blechohren.« Breslow nickte teilnahmsvoll und blickte zum Flügel, auf dem über ein Dutzend gerahmter Fotos um Lebensraum zu kämpfen schienen. Steins verstorbene Frau hatte ihren Ehrenplatz in einem fein ziselier ten Silberrahmen, von wo aus sie mit ruhigem Lächeln das unverän derte Zimmer betrachtete. Bei den seltenen Gelegenheiten, da Char les Stein und seine Frau harte Worte gewechselt hatten, pflegte sie ihm 168
zu sagen, dass er sich lieber eine Haushälterin hätte nehmen sollen, statt einer Frau, die sich für ihre Kinder abplagt, ihr Leben am Herd verbringt und die er nie zu schätzen gewußt habe. Solange seine Frau lebte, hatte Charles Stein ihr darin immer heftig widersprochen; aber zum Schluss hatte sie doch recht gehabt. Er war mit der Haushälte rin, die sich mit ihrer eigenen kleinen Wohnung begnügte und sich nicht beklagte, wenn er des Nachts lange aufblieb, die Börsenberich te las oder sich mit seiner großen Briefmarkensammlung beschäftigte, glücklicher. Und die Haushälterin verlangte keine Zärtlichkeitsbeteue rungen, kaufte keine teuren Kleider, um auf Wohltätigkeitsveranstal tungen zu gehen, fragte auch nicht, warum Billy nie seine Bar-Mizwa gehabt habe, und versuchte nie, Charles Stein zu überzeugen, dass er glücklicher wäre, wenn er fünfzig Pfund abnähme. Die Haushälterin brachte ein Tablett mit Tee und seinem Lieblings gebäck herein. »Haben Sie all die Blumen bemerkt, Mr. Stein? Es war ein Sonderangebot. Für zwei Dollar habe ich fast das Doppelte von dem gekauft, was wir gewöhnlich dafür bekommen.« Stein brummte. Er mochte Blumen nicht besonders gern, war jedoch bereit, dafür zu bezahlen, solange sie sich vom normalen Haushalts geld bestreiten ließen. »Möchten Sie lieber einen richtigen Drink?« fragte er Max Breslow. Die Haushälterin stand mit der Teekanne in der Hand und wartete auf eine Antwort, aber Breslow schüttelte den Kopf, und sie goss beiden Tee ein. »Eins muß ich Ihnen sagen, Charles«, begann Max Breslow, nach dem die Frau gegangen war. »Wir müssen uns beeilen, denn sonst bringt uns die Sache nur einen frühzeitigen Tod ein.« »Sie sehen schon viel besser aus, Max«, sagte Stein. »Sie haben wie der Farbe angenommen.« Es war eine wohlgemeinte Bemerkung, denn Breslow war immer noch sehr bleich. Breslow lächelte. »Darf ich rauchen, Charles?« Stein gestattete es ihm achselzuckend, und Breslow holte ein Lederetui aus der Tasche seines blauen Blazers. Stein winkte ab, als Breslow ihm eine seiner kleinen, dunklen, übel riechenden Zigarren anbot, bevor er sich die seine mit geübter Behutsamkeit anzündete. 169
»Wir müssen das gesamte Material veröffentlichen«, sagte Breslow. »Ich habe lange darüber nachgedacht und mir auch den Rat eines Copy rightspezialisten eingeholt.« Er hob die Hand mit der Zigarre, streckte Stein die Handfläche entgegen. »Sie können ganz beruhigt sein, Char les. Das Gespräch war rein theoretisch. Kein Name, kein Thema, keine Verbindung zum Film wurde erwähnt. Aber …« Er hielt inne, nahm einen tiefen Lungenzug, stieß den Rauch wieder aus. Stein blieb aus druckslos. »Aber«, fuhr Breslow fort, »Tatsache ist, dass wir klipp und klar unser Recht auf dieses Material geltend machen müssen.« »Es ist nicht unser Copyright«, sagte Stein. »Die Texte stammen von längst verstorbenen Leuten, wie Dr. Morell, Hitlers Adjutanten, den Sekretären und Übersetzern.« »Längst verstorben, sagen Sie?« Breslow lächelte. »Das sind doch nur die üblichen Redensarten. Nach dem Gesetz, wie ich es verstehe, kann das Urheberrecht eines Dokuments vorrangig auf den jeweiligen Besit zer übertragen werden.« »Lassen Sie die juristischen Haarspaltereien«, sagte Stein. »Ich habe 1950 den ganzen Mist schon einmal gründlich durchgepaukt. Worauf wollen Sie hinaus?« »Sie müssen uns Ihr gesamtes Material zur Verfügung stellen«, sag te Breslow. »So einfach ist das. Bis jetzt haben wir in gutem Glauben verhandelt, aber Sie müssen nun auch mit den empfindlicheren Sa chen herausrücken. Oder sie zumindest den Übersetzern zur Verfü gung stellen, damit ich sie den Verlegern, Filmleuten und so weiter zei gen kann.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Stein entschlossen. Breslow lehnte sich nach vorn, bis er fast auf dem Sofa lag, langte mit den Fingerspitzen nach einem Messingaschenbecher, richtete sich mit einiger Schwierigkeit wieder auf und verschüttete dabei ein we nig Asche, bevor er ihn neben sich auf einen kleinen Seitentisch stell te. »Wir haben ein gutes Drehbuch. Ich habe einen viel versprechenden jungen Regisseur gefunden, der sofort mit den Dreharbeiten anfangen kann. Der Produktionsassistent meiner letzten beiden Filme besorgt uns Aufnahmeateliers in der Stadt, und wir beabsichtigen, ein paar 170
Außenaufnahmen auf einer Filmranch draußen in der Wüste zu ma chen. Der Film wird also bald gedreht, Charles. Jetzt müssen wir unse ren nächsten Zug machen.« »Warten wir erst einmal ab, wie es in den nächsten ein oder zwei Wochen läuft. Ich habe nichts versprochen – nur gesagt, dass ich es mir überlegen werde.« »Zuerst hieß es: Warten wir ab, bis wir die Geldmittel für den Film haben. Dann hieß es: Warten wir ab, bis wir ein anständiges Drehbuch kriegen. Ständig hieß es abwarten und noch mal abwarten, Charles. Aber jetzt müssen wir endlich mal ran.« »Ich muß noch ein paar Kleinigkeiten in Ordnung bringen«, sagte Stein. »Ich möchte diesen Regisseur kennenlernen, mir das Drehbuch noch einmal ansehen und die Finanzierungsverträge nachprüfen.« »Charles, soll ich Ihnen mal was sagen? Ich glaube, in Wirklichkeit wollen Sie gar nicht, dass diese Papiere veröffentlicht werden. Sie hat ten diese Dokumente so lange in Ihrem Besitz, dass sie zu einem Teil Ihres Lebens geworden sind. Sie reden darüber genauso wie über ihre Briefmarkensammlung. Ihre Briefmarken werden Sie nie verkaufen – das haben Sie mir letzten Montag gesagt –, und ich beginne zu glau ben, dass Sie genauso wenig gewillt sind, diese Papiere aus der Hand zu geben.« »Da mag was Wahres dran sein«, gab Stein zu. »Unter gewöhnlichen Umständen würde es vielleicht nicht viel aus machen«, sagte Breslow. »Aber hier geht es um ein Spiel mit verdammt hohen Einsätzen, mein Freund. Wer weiß, wieviel Geld uns dieser schöne Aktivposten einbringen kann, wenn wir umsichtig und schlau vorgehen? Aber täuschen Sie sich über die Kosten eines Fehlschlags nicht hinweg.« Er rieb sich den Arm. »Genügt es Ihnen nicht, dass die Engländer mich heute zu ermorden versucht haben? Wie lange, glau ben Sie, wird es noch dauern, bis Sie an der Reihe sind? Oder bis sie be schließen, Ihren Billy umzubringen? Oder meine kleine Mary? Den ken Sie daran, wenn Sie sich immer mehr Bedenkzeit ausbitten, um sich zu überlegen, ob Ihnen das Drehbuch, der Regisseur und die Fi nanzierung des Films passen.« 171
»Ich werde mir für Billy Schutz besorgen müssen«, sagte Stein. Er wischte sich den Mund mit der flachen Hand. »Ich werde mich an ir gendeinen Sicherheitsdienst wenden und den Jungen rund um die Uhr überwachen lassen.« »Machen Sie sich nichts vor«, sagte Max Breslow. »Falls Ihrem Billy etwas zustoßen sollte, würde ich es mir nie verzeihen, Sie nicht vorge warnt zu haben, dass diese Leute Profikiller sind. Das sind keine Stra ßenstrolche, die auf Geld für ein paar Joints aus sind. Das sind ausge wachsene Mörder. Ein paar Leute von irgendeinem Sicherheitsdienst, sagten Sie? Die hochtrainierten Männer der Geheimdienste würden die ohne Zögern abknallen. Nein, Sie müssen sich schon etwas Besse res einfallen lassen, wenn Sie mit dem Gedanken an Billy ruhig schla fen wollen.« Charles Stein rührte sich nicht, blinzelte nicht einmal. Er erinner te Max, wie schon oft zuvor, an die großen Reptilien, denen er in den Wüsten Kaliforniens begegnet war. Fragte sich nur, ob er zu der harm losen oder gefährlichen Art gehörte. Jedes Mal, wenn er darüber nach dachte, entdeckte er in Stein etwas, das ihn zögern ließ. Stein rührte in seinem Tee, steckte sich kurz den Löffel in den Mund, nahm einen Schluck. »Was werden Sie bezüglich Mary unternehmen?« fragte Stein. »Ich?« fragte Breslow. Als wenn er sich plötzlich wieder an den Ver kehrsunfall erinnerte, fuhr er sich mit den Fingern über den Arm, bis er eine schmerzende Stelle fand. »Es lohnt nicht, sich dafür umbringen zu lassen, Charles. Und ich werde nicht zulassen, dass meine Familie darunter leidet, und mich mit unserem Freund Boyd Stuart in Verbin dung setzen und ihm zu verstehen geben, dass ich zu den anderen Pa pieren keinen Zugang habe und dass sie mir noch nie unter die Augen gekommen sind. Das sollte genügen, um mich aus der Schusslinie zu bringen.« Breslow lehnte sich vor und klopfte Stein auf den Arm. »Nur über Sie mache ich mir Sorgen, mein Freund.« »Sehr liebenswürdig«, sagte Stein. Er nahm sich ein Stück Kokos nussgebäck, dass er besonders liebte, kaute daran, betrachtete die Fül lung. »Ich bin zu alt, um eines gewaltsamen Todes zu sterben«, sagte 172
Stein. »Ich habe mir mein Ende schon ausgedacht. Es wird oben im be sten Schlafzimmer sein, während Billy und seine Enkel mir zuhören, wenn ich ihnen von Geldanlagen erzähle.« »Es ist schließlich kein Witz«, beklagte sich Breslow, der den Ein druck hatte, dass sein knappes Entrinnen nicht ernst genug genom men wurde. »Ich mache keine Witze«, sagte Stein und aß den Rest seines Ku chenstücks. »Die sollten Sie mal probieren«, riet er. »Ich bekomme sie von einem kleinen Bäcker in Glendale. Es ist zwar ein langer Weg, aber es gibt sonst niemanden hier, der frische Kokosnuss verwendet und al les in Butter bäckt.« »Gestatten Sie mir eine hypothetische Frage«, sagte Breslow. »Wir sind doch beide Geschäftsleute, nicht wahr? Und keiner von uns wird mit der Zeit jünger, mein Freund.« Steins Gesicht blieb ausdruckslos. Breslow machte eine ausladende Geste mit seiner Zigarre, wies auf den teuer eingerichteten Raum, die Kristallleuchter und den beleuchteten Glasschrank mit der Sammlung wertvoller Porzellanfiguren, die Stein nur selten eines Blickes würdig te. »Sie haben sich ein Leben geschaffen, wie Sie es wünschen. Hat die Geschäftswelt Ihnen wirklich noch etwas zu bieten?« »Sagen Sie schon, was Sie wollen, Max.« »Gut. Nehmen wir an, ich könnte den Verkauf Ihrer Papiere arrangie ren. Und nehmen wir an, wir würden Ihnen eine Provision bezahlen, die Ihnen nicht nur einen Anteil an den Gewinnen aus dem Film, sondern dazu noch eine hübsche Summe in bar und in die eigene Tasche ein brächte? Dann wären Sie doch schnell und leicht aller Sorgen enthoben und könnten sich anderen Dingen zuwenden. Was sagen Sie dazu?« Als Stein antwortete, war seine Stimme rau, und er sprach langsam. »Ich habe es Ihnen schon mal gesagt, Max. Ich bin nur der Sprecher eines Syndikats. Diese Papiere gehören mir nicht. Ich besitze nur ei nen sehr kleinen Teil davon. Die Leute, mit denen ich arbeite, vertrau en mir und verlassen sich auf mein Urteil. Ich muß dieses Geschäft sehr genau abwickeln und aufpassen, dass mein Syndikat nicht über vorteilt wird.« 173
»Das wollen wir ja gerade«, sagte Breslow. »Wer redet denn von über vorteilen? Ich will Ihnen doch nur sagen, dass ein großer Finanzma gnat diese Sache übernehmen und damit mehr Geld herausschlagen könnte, als es uns je möglich wäre. Ich kenne eine Firma, die ganz groß ins Film-, Fernseh- und Taschenbuchgeschäft eingestiegen ist. Das wäre Bargeld für uns, Charles. Und eine solche Firma wäre nie und nimmer einer physischen Bedrohung ausgesetzt, wie wir es durch die Engländer sind.« Er rieb sich wieder den Arm. »Haben Sie die Do kumente hier im Haus?« »Max, drängen Sie mich nicht.« »Wie Sie wollen«, sagte Breslow. Er legte seine Zigarre in den Aschen becher und erhob sich. »Sind Sie mir böse?« »Mein Freund, wie könnte ich Ihnen böse sein? Wir sind doch prak tisch Partner, nicht wahr? Ich mache mir nur Sorgen um Sie. Sagen Sie mir doch wenigstens, was ich tun kann, um uns beiden aus dieser ge genwärtigen Schwierigkeit zu helfen.« »Ich rufe Sie heute Abend an, Max.« Stein klopfte mit dem Löffel an seine Tasse, dachte nach. »Auf jeden Fall aber morgen früh.« »Wie Sie wollen, Charles, aber halten Sie über Nacht Ihre Türen gut verschlossen. Diese Leute meinen es ernst.« »Ich habe immer noch ein par Tricks auf Lager«, sagte Stein. Max Breslow lächelte herablassend. »Natürlich, Charles. Hoffen wir nur, dass Sie sie nicht unter Beweis stellen müssen.« Billy war angekommen und hatte seinen Thunderbird geparkt, als Breslow sich verabschiedete. Die beiden Steins sahen Breslow zu, als er sich ans Steuer des Chevettes seiner Frau setzte und nervös an den Griffen hantierte. Max Breslow fuhr nicht gern in diesem Wagen und fühlte sich nur in seinem großen Mercedes wirklich daheim. »Um diese Tageszeit ist der Benedict Canyon günstiger«, sagte Bil ly, der gerade eben Mary Breslow heimgebracht hatte. »Der führt Sie direkt zur Ausfahrt von Van Nuys. Auf dem Ventura Freeway war be reits starker Verkehr, als ich zurückkam. Oder nehmen Sie den Mul holland Drive.« 174
Breslow schüttelte den Kopf. Die Hügelstraße bot zwar einen herr lichen Blick über das Tal und Los Angeles, aber sie war steil und kur venreich, und man mußte sehr aufpassen. »Nein, ich nehme den Freeway«, sagte Breslow. »Ein entschlossener Fahrer könnte diesen kleinen Wagen leicht von der Straße drängen, und dort oben gibt es steile Abhänge mit dichtem Buschwerk, wo man einen wochenlang nicht findet.« »Tun Sie nur, was Sie für richtig halten«, sagte Stein. »Aber ich glau be, Sie übertreiben.« »Wir telefonieren dann. Überlegen Sie sich noch einmal, was ich Ih nen gesagt habe.« »Wird gemacht«, sagte Stein. Der Chevette fuhr mit aufheulendem Motor und einer Rauchwolke über die Rampe und dann, als Breslow ihn besser im Griff hatte, bog er in den Cresta Ridge Drive ein und nahm jede Kurve mit übertrie bener Vorsicht. »Was hat er denn?« fragte Billy. Sie gingen wieder ins Haus zurück. Charles Stein erzählte seinem Sohn alles, was Max Breslow gesagt hatte. Billy ging im großen Salon auf und ab, schlug hie und da nervös auf eine Taste des Flügels, nahm sich ein Stück Kokosnussgebäck. Als die lange Geschichte beendet war, wartete Charles Stein auf die Reaktion seines Sohnes. »Wenn bloß Mary nichts passiert«, sagte Billy Stein. Sein Vater stöhnte laut auf. »Ist es jetzt Mary? Du hast sie doch erst beim Lunch kennen gelernt. Was ist in dich gefahren. Liebe auf den ersten Blick? Oder schreibst du ein neues Musical für die Streisand? Willst du nicht endlich aufhören, wie eine liebeskranke Kuh auf dem Teppich herumzulaufen?« Billy bemerkte, dass sein Vater sehr rasch blinzelte. Das war – wus ste Billy – ein deutliches Gefahrenzeichen. »Ihr habt über mich gere det, nicht wahr? In deinem hübschen kleinen Thunderbird mit Mu sikbegleitung von Mantovani aus der Stereoanlage hast du ihr von Papas Malheurs erzählt. Sage es mir, Billy. Hat sie mit dir Vertrau lichkeiten ausgetauscht? Hat sie dir gar nichts von den kleinen Sor 175
gen und geheimen Leidenschaften ihres guten alten Papas Max er zählt?« Billy lächelte mit gespielter Empörung, winkte seinen Vater be schwichtigend ab. »Alles, was ich gesagt habe … Wenn du mir nur richtig zugehört hättest, Paps. Und du weißt genau, dass ich nur gesagt habe: Wenn ihr bloß nichts passiert. Stimmt's? Deshalb brauchst du nicht gleich einen Einmannrassenkrawall zu entfesseln.« »Jetzt wirft mir mein eigenes Kind auch noch Intoleranz vor. Billy, weißt du denn nicht, dass ich Jahre meines Lebens geopfert habe, um gegen die Nazis zu kämpfen? Habe ich dir das nie erzählt?« »Hast du mir je etwas anderes erzählt?« Der Streit nahm seinen gewöhnlichen Lauf, und keiner von beiden meinte es wirklich ernst. Charles Stein murmelte schließlich ein paar unverständliche Worte und aß den letzten Kokosnusskuchen. »Du hast mir ja gar nicht gesagt, wie glücklich ich mich schätzen müsse, dass ich auf eine teure Schule gegangen bin und die Cessna und den Thunderbird und das Boot und alles andere besitze.« »Fordere dein Glück nicht heraus, Billy«, sagte Stein, und sein Sohn war klug genug, sich die Warnung zu Herzen zu nehmen. Charles Stein ging zum roten Haustelefon und drückte auf den Knopf, der ihn mit der Wohnung der Haushälterin verband. »Ich gehe jetzt aus«, sagte er zu ihr. »Vielleicht komme ich erst sehr spät zurück. Lassen Sie niemanden ins Haus. Verschließen Sie alle Türen doppelt und überzeugen Sie sich, dass die Fenster geschlossen sind. Letzte Wo che soll es noch mehr Einbrüche in der Gegend gegeben haben. Und heute ist Freitag, der dreizehnte, Mrs. Svenson.« Er hängte auf, bevor die Haushälterin antworten konnte. »Wo gehst du hin?« fragte Billy. »Einen Kameraden besuchen«, sagte Stein, und Billy wusste, dass er von seinem Vater nicht mehr erfahren würde.
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harles Stein war nicht die Art Mann, die man für gewöhnlich im Eingangsraum des Gnu-Club antraf. Seine ungepflegte Erschei nung und sein lässiges Benehmen täuschten das Personal, das ihn für einen Touristen oder Betrunkenen hielt, der auf ein kleines Bier und vielleicht ein Go-go-Girl aus war. Der Mann beim Empfang war ein schlanker Jüngling mit randloser Brille, der die Gesichter und die Na men großzügiger Kunden genau kannte. Als er Stein sah, tauschte er mit einem kräftigen Mann, der ganz unauffällig hinter der Garderobe saß, einen raschen Blick aus. Dieser Mann setzte sich schweigend eine spitze Mütze auf, trat auf den weichen Teppich hinaus, stellte sich un ter das Scheinwerferlicht, das einige langstielige Rosen bestrahlte, in Positur und ließ seine Armbinde mit der Aufschrift ›Wachdienst‹ und kräftige Muskeln sehen. »Guten Abend, mein Herr.« Diese übertriebe ne Höflichkeitsformel war dazu bestimmt, den unverwünschten Kun den einzuschüchtern. Stein blinzelte ihn an, antwortete nicht. »Ich habe guten Abend gesagt, Freundchen.« »Ich bin nicht Ihr Freundchen«, sagte Stein, »treten Sie gefälligst bei seite und lassen Sie mich hinaufgehen.« »Ach, darum geht es also«, sagte der Rausschmeißer gelangweilt. »Sie wollen unser Klo benutzen?« Er blickte Stein über die Schulter und schnitt dem Mann am Empfang eine Grimasse. »Nein«, sagte Stein. »Versuchen Sie es mal im Alcove-Club, ein kleines Stück die Stra ße runter«, riet ihm der Mann. »Hier werden nur reiche Kinder rein gelassen.« »Ich bin der Vater eines reichen Kindes«, sagte Stein. 177
»Hast du den Witzbold gehört?« rief der Rausschmeißer dem Mann am Empfang zu. »Schön, Dicker, du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt ver schwinde und lass dich nicht wieder blicken. Hier brauchst du einen Smoking und ein sauberes Hemd.« Er grinste zum Mann am Empfang und trat ins volle Licht. Man sah den blankpolierten Ledergürtel, den Schulterriemen und die Chrommedaille auf seinem blauen Hemd. »Wollen Sie mich jetzt durchlassen?« fragte Stein mit ruhiger Stim me. Der Wachmann rieb sich die Hände, zog an seinen Fingergelenken, langsam und nacheinander, als ob er abzählen wollte. »Und du willst wohl das Fliegen lernen, Dicker, was?« fragte er. Er stieß Stein vor den Bauch, um ihn aufzuhalten. Der Mann am Empfang reckte den Hals, versicherte sich, dass kei ne wichtigen Kunden durch die Außentüren kamen, während der un erwünschte Gast abgefertigt wurde. Aus diesem Grunde sah er nicht, was als nächstes geschah. Im Laufe der folgenden Wochen sollte er noch oft sein Bedauern darüber aussprechen. Er hörte ein schmerz haftes Aufstöhnen, einen erstickten Schrei und das dumpfe Aufschla gen eines schweren Körpers auf den Fußboden. Die Vase mit den Ro sen geriet ins Wanken, stürzte um und zerbrach auf dem Teppich. »Fliegen ist was für Maikäfer«, sagte Stein leise zu dem am Boden lie genden Rausschmeißer, während er sich einen Schlagring aus Messing von der Faust streifte. Dann rollte er den stöhnenden Mann sanft mit der Schuhspitze auf den Rücken, so dass er sein Gesicht sehen konnte. Die langstieligen Rosen hatten sich um den Leib des Wachmanns ge wickelt, seine Uniform war nass vom Wasser aus der Vase. Der völlig entsetzte Mann am Empfang drückte auf einen Knopf am Telefon und sagte: »Hier ist der Empfang. Wir haben da einen Kerl, der uns alles zusammenschlägt.« Kurze Pause. »Nein, Mr. Delaney, ich kann den Wachmann nicht holen, den hat er bereits zum Krüppel ge schlagen.« Er hängte den Hörer auf. »Mr. Delaney kommt«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Stein oder dem Rausschmeißer. Stein steckte den Schlagring in die Tasche zurück und wartete. Hin ter der Tür mit dem Schild ›Privat‹ hallten Schritte auf der Treppe. 178
Zwei Männer kamen heraus. Der eine trug einen kurzen Knüppel, und der ihm folgende, viel ältere Mann hielt eine auf den Boden gerichte te Pistole in der Hand. Es war ein altes Ding, dessen blaue Lackfarbe nicht mehr glänzte. »Okay!« sagte der Mann mit dem Knüppel. Er war jung, trug einen teuren Seidenanzug und ein blaues Rüschenhemd. Sein Gesicht war schmal, und das Haar lichtete sich auf der Stirn. Er hatte die breiten Schultern und Armmuskeln eines gut trainierten Gewichthebers. »Wo ist er?« Der Wachmann lag immer noch auf dem Boden, hielt sich den Bauch mit den Händen und stöhnte. Eine Rose steckte zwischen seinen Bei nen. »Wer war es, Murray?« fragte der junge Mann. Der Rausschmeißer ächzte. »Ich war es«, sagte Stein ganz einfach. »Sie haben ihn niedergeschlagen?« Der junge Mann war empört. »Murray trainiert mit mir in der Sporthalle.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Stein bedauernd. »Hören Sie mal, Mister, Sie müssen jetzt aber verschwinden«, sagte der junge Delaney und bemühte sich, den Knüppel so zu halten, dass er nicht als Drohung ausgelegt werden konnte. »Willst du dich umlegen lassen, Junge? Das ist Chuck Stein. Der läßt sich von niemand was sagen, außer von mir.« Der ältere Delaney war ein Hüne, größer als Stein, und er hatte die katzenhaften Bewegungen eines wahren Sportlers, sonnengebräuntes Gesicht und naturgewelltes Haar, dem die wöchentliche Dauerwelle ein besonders gepflegtes Aus sehen verlieh. Sie blickten alle auf den Wachmann, der sich aufzusetzen bemühte, da er sich im Mittelpunkt des Interesses sah. »Jetzt werde ich mir einen neuen Rausschmeißer besorgen müssen, du alter Schweinehund«, sagte Delaney zu Stein. Er gab dem Wach mann einen leichten Fußtritt, stieß ihn wieder zu Boden. »Du bist ent lassen, Kleiner«, rief er ihm zu. Er nahm die Mütze auf und legte sie behutsam auf den Seitentisch. 179
»Der Kerl taugt sowieso nichts«, sagte Stein achselzuckend. »Ich habe dir einen Gefallen getan.« »Es ist in Ordnung«, sagte Delaney senior zum Mann am Empfang. »Schaff mir den Waschlappen aus dem Haus und rufe die Agentur an, dass sie mir Ersatz schickt. Ich brauche jemanden vor neun Uhr, für den Fall, dass die Kerle von der Microchip Convention noch in der Stadt sind. Ich bin mit Chuck in meinem Büro. Rufe mich an, falls du mich brauchst.« Sein Sohn nickte. Er wusste, was das bedeutete. Rufe mich nur an, wenn die Lage verzweifelt ist. »Ich sehe, du hast immer noch deinen Armeecolt«, sagte Stein. »Gib das Ding doch Parke Bernet zur Auktion und du kriegst einen Rekordpreis dafür.« Delaney lachte, legte Stein den Arm um die Schulter und führte ihn hinauf. »Du hättest anrufen sollen, Chuck. Oder bist du hier, um mir Schutz zu verkaufen?« Die beiden Männer lachten. Jerry Delaneys Lokal war ein Oben-ohne- und Unten-ohne-Club, der gegen die Verordnungen der meisten Städte im Los Angeles Coun ty verstieß und gegen die besonderen Bestimmungen jener Behörde über Alkoholkontrolle, die den Bars Lizenzen erteilt. Aber hier war man in Lennox, im zollfreien Gebiet des internationalen Flughafens von Los Angeles, wo alles erlaubt ist. In Jerry Delaneys Gnu-Club konnte man alle möglichen Wetten abschließen, Mädchen vernaschen und mit dem Zeug, das Jerry aus Mexiko und Südamerika einkaufte, schnupfen, sich einen Joint drehen oder auch Spritzen schießen. Jerry Delaneys Anteil am Geld aus Kaiseroda war voll und ganz in diesem zweistöckigen Gebäude angelegt, das man an der gelben Mar kise und der verkrüppelten Palme schon von weitem erkannte. Ein rie siger Schreibtisch aus Eichenholz beherrschte das oben liegende Büro, flankiert von tiefen Ledersesseln jener Art, wie man sie in exklusiven Männerclubs findet. Auf dem Schreibtisch standen drei Telefone ver schiedener Farben, ein großes vergoldetes Schreibset und ein Paar Ba byschuhe in einem transparenten Plastikblock. Leise Musik ertön te aus verborgenen Lautsprechern. Jerry Delaney drückte auf einen Knopf, und die Musik verstummte. »Möchtest du dir die Knöchel mit 180
ein bisschen Alkohol abreiben?« Er ging zu einem großen Getränke schrank mit Spiegel und entnahm ihm zwei Gläser. »Für mich bitte Wein, Jerry.« Jerry Delaney schenkte zwei Gläser mit kalifornischem Weiswein ein. Der Abend war erst angebrochen, und in diesem Teil der Stadt braucht ein Nachtlokalbesitzer einen klaren Kopf. »Ich freue mich, dass du ge kommen bist, Chuck. Ich habe das, worum du mich gebeten hast.« Er legte die Hand an die Flasche, prüfte die Temperatur, fand den Wein nicht kalt genug, warf ein paar Eiswürfel in jedes Glas. Als er sich umdrehte, starrte Stein auf die gerahmten Fotos. Sie be deckten die ganze Wand hinter seinem Schreibtisch, hingen so dicht beieinander, dass die teure rote Tapete kaum noch zu sehen war. Dut zende von Fotos, wie sie die Besitzer von Restaurants und Nachtloka len gern bei sich aufhängen. Delaney und einige seiner mehr oder we niger berühmten Kunden waren im Blitzlicht in gezwungenen Posen zu sehen. Steif bei Tisch sitzend, das unvermeidliche Champagnerglas in der Hand, verlegen dreinblickend, verzweifelt lächelnd. Aber Stein sah sich nicht die im Gnu-Club aufgenommenen Bil der an. Ihn interessierte nur ein Glanzfoto, Größe 8 x 10, von einem schmutzbefleckten M 3, einem Geländefahrzeug mit 75-mm-Artille riegeschütz. Vor ihm stand eine Gruppe von Männern in Wollhemden und Gamaschenhosen, wie man sie im tunesischen Winter trug. Hin ter dem ›Panzerknacker‹ erkannte man einige Häuser und ein paar Pal men, die sich im Wind beugten. Stein, ein bereits dicker junger Mann, saß auf dem Dach des Wagens, Delaney am Steuer. Neben Stein saß sein hübscher jüngerer Bruder Aram, die Arme weit ausgestreckt, als wolle er die ganze Welt umarmen. Er sah sehr jung aus, wie ein Kind in Erwachsenenkleidung. »Auf Aram«, sagte Jerry Delaney mit erhobenem Glas. Stein hob ebenfalls das Glas, sagte jedoch nichts. Er konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden. In seinem Haus war nirgends ein Foto seines Bruders, der Schmerz war noch zu stark. Aber jetzt, da er dem Gesicht seines Bruders gegenüberstand, konnte er sich nicht abwen den. 181
»Du vermisst ihn immer noch sehr, Charlie?« Stein nickte, schluckte seinen Wein so rasch, dass er fast husten mußte. »Ich hätte ihn nie diesen verdammten Jeep fahren lassen sol len«, sagte er. »Herrgott, Charlie. Machst du dir immer noch Vorwürfe darüber? Das ist jetzt dreißig Jahre her, und es war nicht deine Schuld, Kame rad.« »Ich hätte ihn nicht mit dem Jeep fahren lassen sollen. Er war doch noch ein Kind. Du oder ich, wir hätten die Mine gesehen.« »Wir haben sie aber nicht gesehen, als wir die Straße heraufkamen«, sagte Delaney. »Wir müssen verdammt nahe daran vorbeigekommen sein.« Delaney klopfte Stein auf die Schulter. »Lass doch endlich das Gejammer, Charlie. Aram war glücklich, bei dir zu sein. Glaubst du, er freute sich nicht, mit dir in den Krieg zu ziehen? Er hätte um nichts in der Welt zu Hause bleiben wollen.« Stein nickte und wandte sich ab. Das Thema war abgeschlossen. Sie tranken ihren Wein und betrachteten einander mit jener wohlwollen den Unparteilichkeit, die man einem Freund entgegenbringt, der mit dem Alter zu kämpfen hat. »Also, die Bank ist um 100 Millionen Eier beschwindelt worden«, sagte Jerry Delaney. »Wir sind beschwindelt worden«, verbesserte ihn Stein. »Es ist unse re Bank.« »Ich bin drüber weggekommen«, sagte Jerry. »Den Oberst hat es ganz schön mitgenommen.« »Er wird sich schon wieder auf die Beine rappeln«, sagte Delaney. »Er führt doch die Bank weiter?« »Er wird es versuchen. Aber …« Stein hob die Hand. »Mir gefällt es, ein Stück von einer Schweizer Bank zu haben«, sagte Delaney. »Das gibt mir einen Hauch von Klasse.« »Wir sind noch nicht über den Berg«, sagte Stein. »Wir haben noch harte Zeiten vor uns.« »Ich lebe hier auch nicht gerade im Disneyland«, sagte Delaney. »Erst gestern Nacht haben sechs oberschlaue Burschen eine meiner Oben ohne-Kellnerinnen in die Eistruhe gepackt. Ich mußte die Bullen 182
kommen lassen, und in meinem Geschäft ist es nicht sehr weise, die Bullen um Hilfe zu rufen. Sechs ganz respektabel aussehende Knilche von der Microchip Convention! Wo soll das alles noch mal hinführen, Chuck!« Stein schüttelte den Kopf. Delaney schien nicht zu verstehen, was er ihm sagte. »Wirklich harte Zeiten«, sagte Stein. »Ich versuche, ein Geschäft zu machen, mit dem wir unsere Verluste ausbügeln können. Aber wir müssen so ziemlich alles verkaufen, was uns noch geblieben ist.« »Die Dokumente und die Teppiche und das Zeug?« »Aber ich habe es mit ein paar harten Burschen zu tun, Jerry. Ich habe die alte Mauserpistole zum Schießclub in Roscoe mitgenommen. Die haben da einen Schießstand, wo ich üben kann.« Jerry Delaney schüttelte den Kopf. Alte Burschen wie Stein sollten nicht mit Schießeisen umgehen, besonders nicht mit alten Kriegsandenken. Aber das sagte er nicht. Er versuchte, seinen Freund zu ermu tigen. »Ich würde sagen, du kannst noch ganz gut auf dich aufpassen, Chuck. Meinen Mann da unten hast du jedenfalls schön zugerichtet.« »Um mich habe ich keine Angst«, sagte Stein. »Aber mein Sohn Billy weiß nicht einmal, wie man aus dem Regen kommt.« »Ach ja, diese Jungen«, sagte Delaney, »die können ja blaue Bohnen nicht von grünen unterscheiden.« Er seufzte und setzte sich auf den Rand seines Schreibtisches. »Du hast doch eben meinen Sohn Joey ge sehen? Was wird der machen, wenn ich mal von der Stange kippe? Wie soll der eines Tages diesen Laden schmeißen? Der wird ja nicht mal mit einem Pfadfindermädchen fertig, das seine Ohrringe verloren hat. Was soll er machen, wenn das Syndikat uns wieder auf die Bude rückt, wie damals in den sechziger Jahren?« »Wie bist du denn mit ihnen fertig geworden, Jerry?« »Das weißt du genau, Chuck. Ich habe ein paar meiner besten Leute genommen und zurückgeschlagen.« »Wie?« Delaney blickte sich vorsichtig um, beugte sich vor und antwortete mit leiser Stimme: »Ich holte mir einen Mann aus New York – einen tol 183
len Sprengstoffbastler. Der fuhr nach Las Vegas und legte ein paar Bom ben für mich. Einer der Bosse dort ist durch das Dach seines Schuppens geflogen. Aber die haben mich immer noch unter Druck gesetzt. Dann habe ich mir einen Killer aus New Jersey kommen lassen. Er wurde mir von einem Geschäftsfreund empfohlen. Er hat hier in der Stadt einen von den ganz Großen umgelegt, und danach haben sie endlich begrif fen, dass ich mit ihnen nicht ins Geschäft kommen wollte.« Stein nickte betrübt. Er sah hier keine für ihn nützliche Parallele. »Nun ja, Jerry, aber diese Sache hier wird sich nicht so einfach beilegen lassen. Ich habe das Gefühl, den Finger in ein Hornissennest gesteckt zu haben. Ich sehe wirklich keinen Ausweg.« »Was willst du damit sagen?« »Ich will damit sagen, dass ich vielleicht türmen muß, Jerry, und zwar sehr rasch. Deshalb hatte ich dich um diese Papiere gebeten.« Stein schwieg und nahm einen Schluck Wein. Sein Freund ging zum Safe in der Ecke, öffnete die Tür und holte einen dicken gelben Um schlag heraus. Er gab ihn Stein und sah zu, als dieser den Inhalt auf der Schreibtischplatte ausbreitete. Ein brasilianischer Pass mit dem Foto von Stein auf den Namen Stefan Wrzoseki. »Ein polnischer Name«, erklärte Delaney, »damit niemand von dir erwartet, dass du Portugiesisch sprichst.« Ferner waren da eine auf den 19. Oktober 1926 datierte Geburtsurkunde – eine 1938 vom pol nischen Innenministerium in Warschau beglaubigte Kopie – und ein französischer Führerschein. »Französische Führerscheine sind unbe grenzt gültig«, erklärte Delaney. Und eine Kreditkarte von American Express. »Die ist gefälscht. Kaufe um Himmels willen bloß nichts dar auf. Die Nummer hat er einem Block unbenutzter Karten entnommen, damit der Computer keine Auskunft geben kann. Benutze sie nur, um dich damit auszuweisen. Verstanden?« »Dieser Kerl kennt sich wirklich aus«, sagte Stein bewundernd. »Er ist der Beste«, sagte Delaney. »Jetzt hast du alles, was du brauchst.« »Nein, Jerry. Das reicht zwar für einen Mann auf der Flucht, aber um irgendwo länger zu bleiben, braucht man noch eine Menge mehr.« 184
»Was zum Beispiel?« »Einen Lebenslauf, Jerry. Referenzen, Bankkonten, die von hilfsbe reiten Bankdirektoren garantiert sind, Sozialleistungsbelege und der gleichen. Ich brauche jemanden, der mich über die Computer laufen lassen kann, Jerry.« Delaney schnitt ein Gesicht. »Ich kann es bezahlen«, sagte Stein. Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Stein: »Ich habe dich eben angelogen. Ich habe dir gesagt, ich hät te keine Angst. Ich habe Angst, Jerry.« Jerry Delaney blickte seinen Freund überrascht an. »Ich gebe dir die Hilfe, die du brauchst, Chuck. Aber Himmelherrgott …« Delaney ging zum Fenster, starrte auf die verkehrsreiche Straße hinunter. »Sie haben diesen MacIver umgelegt.« »Das erspart dir wenigstens einiges Geld«, sagte Delaney. »Mir tat der arme Kerl leid«, sagte Stein. »Und die Schießerei in der Bar auf der Western Avenue war auch kein Feuerwerk zum Kinderfest. MacIver machte Geschäfte mit einem gewissen Lustig, und plötzlich ist Lustig ebenfalls tot. Lustigs kleine Filmgesellschaft wurde von einem Kraut namens Breslow übernommen, und dessen Wagen wird auf dem Freeway von einem Lkw zu Mus zerdrückt. Und die Verbindung zwi schen alledem? Die Verbindung ist das Zeug, das wir aus dem Schacht Nummer zwei der Salzmine in Kaiseroda geholt haben, Jerry.« Die Neonlichter funkelten überall. Auf der Straße schauten sich ei nige Männer die Fotos vor den Sexkinos an oder warfen einen scheu en Blick in die dunklen Oben-ohne-Bars. Ständig kreuzten Wagen auf und ab, deren einsame Fahrer nach Mädchen Ausschau hielten. Dela ney sah nichts von dem, sah auch nicht den großen Caprice Classic, der neben der Markise des Pornokinos gegenüber parkte, oder Boyd Stuarts Überwachungsoffizier oder seinen Abteilungsleiter der West küste, der vom Hintersitz aus den Clubeingang beobachtete. Die bri tischen Agenten hatten, seit Stein den Gnu-Club betrat, dort gewartet. Die beiden Männer in Delaneys Büro schwiegen und rührten sich nicht. Delaney hatte seinen Freund noch nie in Angst gesehen, und dass er es sogar zugab, war verwirrend. Endlich sprach Stein wieder. 185
»Und mein Sohn Billy. Für den brauche ich auch Papiere.« Er trank sei nen Wein. »Ich weiß zwar nicht, ob er mitkommen wird. Ich bin ihm nicht gebildet und nicht fein genug, und er sagt, ich hätte schlechte Manieren. Er mag nicht, wie ich esse und wie ich rede.« »Diese hochnäsigen Jungen sind doch alle gleich«, sagte Delaney in jenem gleichgültigen Ton, mit dem man spricht, wenn man mit den Gedanken woanders ist. »Ich habe meinen Joey auf ein teures College geschickt. Zurück kam er mit einem Haufen großkotziger Ideen, dass wir den Club verkaufen und ins Grundstücksmaklergeschäft einstei gen sollten – der kleine Hosenscheißer der.« Er ging zum Fenster, zog den Store herunter, schloss die schweren Vorhänge. »Da redest du vom Syndikat, Chuck. Aber es gibt sonst keine Organisation, die dir eine neue Identität verschaffen könnte.« Delaney spielte mit der Vorhang schnur. »Ich mußte ein Schweigegelübde ablegen und versprechen, dass ich es keiner lebenden Seele sagen würde.« Er blickte Stein an. »Petrucci«, sagte er plötzlich wie jemand, der ins kalte Wasser springt. Er wandte sich ab und rückte am Foto seiner Frau und Familie vor dem Swimming-pool ihres Ferienhauses am Lake Tahoe. »Bud Petruc ci. Erinnerst du dich? Er hat dir diese Sachen verschafft. Er erinnert sich noch gut an dich und läßt dich grüßen. Er mag dich gern.« »Petrucci?« »Feldwebel Petrucci. Ein nervöser kleiner Kerl, einer der Überleben den aus den Lastwagen, die vor uns das Tal hinaufgefahren sind. Weißt du noch, wie wir den Rauch sahen und uns fragten, was das wohl sei? Und dann sahen wir drei Leichen – eine schwarze –, völlig nackte Lei che, und du sagtest, es müßten GIs sein, der sauberen Körper wegen.«
Stein fröstelte plötzlich, wie er vor all den Jahren damals im tunesi schen Winter gefröstelt hatte. »Kalt wie das Herz eines Buchmachers«, hatte sein Bruder Aram gesagt, und sie hatten gelacht. Es war eine lan ge und beschwerliche Fahrt mit der Wagenkolonne über sandige Hän ge und Hügel voller Geröll. Auf dem Grat der niedrigen Bergkette wa 186
ren sie starkem Wind ausgesetzt. Unter ihnen verstaubte Vegetation, und ganz hinten im Tal, wo die Erde rot war, sah man den Schimmer eines Wasserspiegels. Hier waren sie in Deckung, geschützt vor Luft angriffen, den Blicken feindlicher Spähtrupps und vor den Elementen. Aber dafür gab es viel Sand und Dreck. Stein wischte sich den Staub aus dem Gesicht, wie er es jede Minu te tat, und beschloss, sich um jeden Preis eine Schutzbrille zu verschaf fen. Alle hatten sie eine, sogar die Araber, außer den Soldaten der Ar mee, die dafür bezahlt hatten. Hinter sich hörte er, wie das Maschi nengewehr aufgesteckt wurde, während sein Bruder Aram den Him mel nach Flugzeugen ausspähte. Stein hatte wenigstens seinem jünge ren Bruder eine Schutzbrille besorgen können. Er war stolz darauf. Weiter vor ihm, wo die Versorgungskolonne in den Hügeln aufge halten worden war und per Funk um Hilfe gerufen hatte, erhob sich eine Staub- und Rauchwolke. Delaney saß am Steuer. Stein neben ihm. Sie bildeten die ›Spitze‹, was bedeutete, dass sie den anderen weit vor ausfahren mußten, um im Notfall warnen zu können. Stein hatte zu erst den bis zur Achse im Sand steckenden Lastwagen gesehen; Dela ney aber sah die Leichen. Es waren drei Leichen. Sie lagen etwas seitlich der schmalen Piste. Eine war schwarz, die anderen beiden bleicher als die Eingeborenen. »GIs«, sagte Stein. »Die Araber haben ihnen alles abgenommen, bevor wir hier heraufkamen. Sogar ihre Hundemarken sind weg.« »GIs?« fragte Delaney. »Wie willst du das wissen?« Der Motor stopp te; er war überhitzt. Delaney drückte auf den Anlasser, aber der Motor sprang nicht an. Plötzlich war es sehr still. »Weil sie so sauber aussehen«, sagte Stein. Die drei Toten waren sehr jung, fast Kinder noch. Es waren die ersten Leichen, die sie bisher ge sehen hatten. »Vielleicht sollten wir sie begraben«, sagte Delaney. Kaum hatte er das gesagt, als Oberleutnant Pitman kam, um zu sehen, warum sie nicht weiterfuhren. Jetzt sah er die Leichen und wartete, dass Stein sich äußerte. »Fahren wir los«, sagte Stein. »Ihr werdet noch eine Menge Leichen 187
sehen, bevor der Tag vorbei ist – überlasst sie dem Bestattungskom mando.« »Die verdammten Araber«, sagte Delaney. »Sie haben den armen Kerl sogar die Unterhosen vom Arsch gezogen.« Plötzlich hörten sie aus der Ferne eine Reihe von Explosionen, ge dämpft wie Totentrommeln und eher ein fortgesetzter Donner als ein zelne Knalle. Vor ihnen auf dem Berggrat erhoben sich graue Rauch wolken, wehten dem Horizont zu wie eine Elefantenherde im Gänse marsch. Dann schoß eine große Feuerkugel mit schwarzem Rauch auf, begleitet vom Knattern kleiner automatischer Geschütze. »Die Krauts haben die Nachschubkolonne überfallen«, sagte Dela ney erschrocken. Er drückte wieder auf den Anlasser, und dieses Mal sprang der Motor sofort an. »Macht euch zum Abmarsch bereit«, brüllte Pitman, und Stein hör te hinter ihnen Geschrei und Schimpfen und das Aufheulen von Mo toren, als die Männer ihre Geländefahrzeuge über den engen Steil pfad zu manövrieren suchten. Pitman, die Krawatte ins frisch gebü gelte Hemd gesteckt, schaute durch sein neues Fernglas. »Da kommt ein Soldat den Steilpfad herauf. Wahrscheinlich einer von der Wagen kolonne – ein Feldwebel. Er ist verletzt. Los, einer von euch bringt ihn her.« Delaney ging.
Charles Stein rieb sich das Gesicht. Die Erinnerung endete, wie er es beabsichtigt hatte. Vielleicht stimmten einige Einzelheiten nicht ganz, aber das machte nichts. Delaney sagte: »Petrucci war der Feldwebel – der MG-Schütze, der über den Hügel auf uns zukam, als Major Carson fiel, Petrucci – ein kleiner Kerl, großer schwarzer Schnurrbart, goldene Ringe an den Fin gern – er blieb während des ganzen Rückzugs bei uns.« »Rückzug?« sagte Stein. »Nennen wir es heute so?« »Sein Bruder ist Rechtsanwalt und arbeitet für das Syndikat in New Jersey. Petrucci ist im Ruhestand und lebt in Phoenix. Er kennt be 188
stimmt die Leute, mit denen du reden mußt.« Delaney zog eine Schreibtischschublade auf, holte ein Adressbuch heraus, schlug die Seite mit dem Namen Petrucci auf und hielt das Buch offen hin, wäh rend Stein sich die Einzelheiten notierte. Stein bemerkte, dass Dela ney die anderen Seiten verdeckte und das Buch nicht aus der Hand lassen wollte. »Du bist ein wahrer Kamerad«, sagte Stein. »Dann tu mir einen Gefallen«, sagte Delaney. »Sage ihm bitte nicht, dass du die Adresse von mir hast, verstanden?«
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nd Sie haben wirklich gute Leute auf Steins Sohn angesetzt?« frag te der Abteilungsleiter der Westküste. Er wollte zeigen, dass er wusste, was er tat. Der Untersuchungsbeamte gähnte. »Einen sehr guten Mann. War früher bei der Polizei in Los Angeles. Dem wird Billy Stein kaum was Neues zu bieten haben.« Er kreuzte die Finger und streckte die Arme vor sich aus, bis die Gelenke knackten. Der Abteilungsleiter sah in dieser gelangweilten und leicht verächtli chen Geste, dass er nicht gerade beliebt war. »Nur einen Mann?« »Ich bin nicht seit gestern in diesem Geschäft«, sagte der ÜB. »Ich habe fünf gute Leute auf Stein angesetzt und weitere fünf auf Max Breslow. Sie arbeiten schichtweise, je zu zweit, und der fünfte als Er satz oder für Notfälle. Es kostet uns mehr, als wir uns leisten können. Lange können wir nicht mehr so weitermachen.« »Ortsansässige?« »Nicht alle, aber sie kennen sich gut in der Stadt aus.« »Ich habe das sichere Gefühl, dass Stein und Breslow die verdamm ten Papiere hier in der Stadt aufbewahren. Stein war in der Lage, Stu 189
art die Dr.-Morell-Akte fast auf Anhieb vorzulegen. Meiner Meinung nach bedeutet das, dass sie alles ganz in der Nähe haben.« »Es könnte überall sein«, sagte der ÜB. »Stein flog letzten Monat nach Genf. Wir wissen nicht, wo er sonst noch in der Schweiz war. Die Papiere könnten dort sein. Sein Sohn Billy hat ein Flugzeug, und er verbringt eine Menge Zeit in Mexiko mit seinem Zwölfmetersegel boot. Die Dokumente könnten also auch irgendwo südlich der Grenze sein, wenn nicht gar auf der Jacht.« Der ÜB rückte auf seinem Sitz. Sie hatten lange Zeit im Wagen ge sessen, es wurde ihm ein wenig unbequem. Er sah einen Streifenwagen langsam die Straße herunterkommen. Die Polizisten beobachteten die Straßenpassanten mit argwöhnischer Aufmerksamkeit. »Nicht auf dem Boot«, sagte der Abteilungsleiter, nachdem der Strei fenwagen vorbeigefahren war. »Dann müßten sie die Dokumente in mehrere Pakete verteilt haben. Auf dem Boot wäre nicht genug Platz. Nach dem Bericht, den ich sah, sollten es zwei große, volle Kisten sein.« »Aber da waren vielleicht nicht nur Dokumente drin«, sagte der ÜB. »Stein ist nach dem Krieg plötzlich sehr reich geworden. Ich nehme an, dass sich auch Gold und andere Sachen auf den Lastwagen befanden, die Stein zu stehlen half. Die Dokumente waren für die Diebe damals höchstwahrscheinlich eher eine Enttäuschung.« »Ja, das ist wohl anzunehmen.« »Eine Art von Enttäuschung, wie ich sie auch manchmal brauchte«, sagte der ÜB neidisch. »Wen, sagten Sie, trifft er in diesem Club?« »Den Besitzer. Einen gewissen Jerry Delaney. Ein aalglatter Gang ster, der mit so ziemlich allem Geschäfte macht – von Pornofilmen bis zu gestohlenen Spielautomaten. Steht unter Verdacht, Verbindungen mit dem Syndikat zu haben.« »Und der war mit Stein in der Armee?« »Dessen sind wir uns nicht ganz sicher. London läßt uns nie an den Washington-Computer heran, wie Sie wissen; nicht einmal inoffiziell. Aber sie sind im gleichen Alter, und es ist wahrscheinlich.« »Ich glaube nicht, dass wir hier irgendwas erreichen werden«, sag 190
te der Abteilungsleiter. »Sagen wir den Leuten im anderen Wagen, sie sollen uns ablösen. Stein wird bestimmt den ganzen Abend in diesem Club bleiben und dann nach Hause fahren und zu Bett gehen. Ich hat te versprochen, heute abend London anzurufen und einen Lagebericht durchzugeben.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte der ÜB: »Machen wir Schluss für heute.« Sie wollten gerade abfahren, als ein grauer Pontiac neben ihnen hielt. Ein junger Mann sprang heraus und setzte sich zu ihnen auf den Rücksitz. »Guten Abend, Santos«, sagte der ÜB. Der Mann grinste. Er hatte einen dunklen Teint, eine Afrofrisur und einen langen Schnurrbart, der ihm über die Mundwinkel hing. Er trug ein Rock-and-Roll-T-Shirt und eine Fußballjacke. »Santos hat Steins und Breslows Telefone angezapft und nimmt die Gespräche auf«, erklärte der ÜB dem Abteilungsleiter. »Ein Anruf für Stein«, sagte der junge Mann. »Um acht Uhr dreißig. Ein gewisser Bock rief ihn aus London an.« »Wer antwortete? Billy Stein?« »Billy Stein ist nach Ensenada gefahren. Er rief die kleine Breslow an, erreichte aber nichts bei ihr. Dann nahm er seinen Thunderbird und ist nach Süden abgehauen. Wir behalten ihn im Auge.« »Wer hat also geantwortet?« »Niemand. Die Nachricht ging über den Anrufbeantworter. Ich habe es mir aufgeschrieben.« Er hielt ein Stück Papier in der Hand. »Aber ich kann es Ihnen ja in großen Zügen sagen.« »Ja, bitte.« »Dieser Bock arbeitet für eine deutsche Bank in London. Er sagt, er habe eine lebenswichtige Mitteilung über die Dokumente zu machen. Er sprach zwar von Papieren, aber es muß sich doch um die Dokumen te handeln, nicht wahr?« Der ÜB nickte. »Bock will mit Stein sprechen, scheint aber seine eigene Nummer nicht angeben zu wollen. Wir haben nur die Nummer eines Sekretari atsdienstes. Bock bat, dort eine Nachricht zu hinterlassen.« 191
»Das könnte für uns eine Chance sein«, sagte der ÜB. Er warf dem Abteilungsleiter einen fragenden Blick zu. Der Abteilungsleiter nickte. »Ein Anrufbeantworter?« sagte der ÜB. »Könnten Sie die Meldung im Apparat löschen, Santos?« »Da müßte ich erst in Steins Haus kommen, und das ist ziemlich gut verschlossen und verriegelt. Stein hat eine Menge wertvoller Teppiche und Antiquitäten dort. Da können Sie wetten, dass die Versicherungs gesellschaft auf Einbruchschutz bestanden hat.« »Ich wittere da eine gute Möglichkeit für uns«, sagte der ÜB. »Wir müssen versuchen, in Steins Haus zu kommen und die Mel dung zu löschen«, sagte der Abteilungsleiter. »Ich habe mit Stuart für Sonntagabend ein Gespräch über die Sicherheitsdienstlinie verabre det.« »Sollen wir wirklich versuchen, in Steins Haus zu kommen?« fragte der junge Mann. »Denken wir mal einen Augenblick darüber nach. Stein könnte sehr gut direkt schlafen gehen, wenn er nach Hause kommt, ohne sich die Meldungen in dem Apparat anzuhören.« Der junge Mann lehnte sich zwischen die beiden Vordersitze. »Ja, aber er könnte sich schon jetzt das Band abspielen. Er hat nämlich einen jener musikalischen Co des, der es ihm gestattet, von jedem Telefon aus seinen Apparat ein zuschalten. Warum greifen wir uns Stein nicht von der Straße auf und ziehen ihn aus dem Verkehr, während wir das Band zu löschen ver suchen?« »Aber wie?« »Wir brauchen gar keine Gewalt anzuwenden«, sagte der junge Mann. »Ich könnte es arrangieren, dass eine Streife der Autobahnpo lizei ihn wegen Trunkenheit am Steuer aufgreift und über Nacht ein buchtet.« »Autobahnpolizei? Wie kommen Sie darauf, dass er die Stadt ver läßt?« »Die kalifornische Autobahnpolizei ist für alle Freeways zuständig, die kreuz und quer durch Los Angeles laufen«, erklärte der ÜB seinem Besucher geduldig. »Es ist unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmög 192
lich, dass Charles Stein nach Hause fährt, ohne einen Freeway zu be nutzen.« Der Abteilungsleiter nickte zustimmend. »Also los dann«, sagte der ÜB. Der junge Mann stieg wieder in seinen Pontiac und verschwand in Richtung Inglewood. »Auf Santos können wir uns verlassen«, sagte der ÜB. »Damit wäre Charlie Stein für den Rest der Nacht aus dem Verkehr gezogen. Ich werde versuchen, morgen ganz früh einen Mann vom Telefonrepara turdienst ins Steinsche Haus zu schicken.«
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ie Telefonverbindung, die Boyd Stuart in London benutzte, um mit Los Angeles zu sprechen, war die für Geheimgespräche von höchstem Vorrang bestimmte ›Crypto-ciph B‹. Das Crypto-ciph-Netz werk (A für Amerika, B für Britannien) ist ein Scrambler. Die Ver schlüsselungsapparate nehmen die verschiedenartigen Frequenzen der menschlichen Stimme auf, verwandeln sie zuerst in elektrische Strom schwingungen, ordnen dann mit Hilfe von Computertechnologie die Tonbruchteile von je einer Mikrosekunde in neue Muster ein. Am an deren Ende nimmt ein ähnlicher Apparat die Impulse auf und zeich net wieder ein Faksimile der Originallaute ein. Obgleich die ANSA (der amerikanische Geheimdienst) dieses Netzwerk besitzt und be dient, waren sie bisher noch nicht in der Lage, Gespräche zu entziffern, ohne den Code des Tages zu kennen. Deshalb hatte London Boyd Stu art angewiesen, den ›Crypto-ciph B‹ zu benutzen, um mit seinem Kon taktmann zu sprechen. »Ich rufe leider etwas spät an. Der Apparat war bis jetzt besetzt«, sag te die Stimme aus Los Angeles. »Spielt keine Rolle. Ich habe nur geschlafen.« 193
»Jedenfalls tut es mir leid. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt ganz wach sind. Es sieht nämlich so aus, als kämen wir endlich an Steins Doku mente.« »Reden Sie nur weiter.« »Stein wurde aus London angerufen. Ein gewisser Paul Bock wollte mit Stein über die Papiere reden. Angeblich arbeitet er für eine deut sche Bank in London. Er sagt, es sei lebenswichtig.« »Tatsächlich?« »Er wollte seine Adresse nicht angeben, hinterließ aber die Nummer eines Sekretariatsdienstes, der die Nachricht für ihn in Empfang neh men wird.« »Wo ging der Anruf hin?« »Er hat Stein zu Hause angerufen.« »Direkt von London aus?« »Richtig. Es lief über Steins Telefonanrufbeantworter. Unsere Leute hier haben versucht, das Band zu löschen, damit Stein die Nachricht nicht bekommt.« »Welche Nummer hat er hinterlassen?« Boyd Stuart schrieb sie sich in einen Notizblock. Es war schlimm genug, dass man an diese Ent schlüsselungsapparate nur zu den unmöglichsten Stunden herankam, wenn die hohen Beamten und Politiker in ihren Betten schliefen; es ge fiel ihm aber gar nicht, fast zwei Stunden im Fernmeldedienstraum des Foreign Office unterhalb des Verkehrslärms von Whitehall gewartet zu haben. Er dankte dem Techniker, der die Verbindung für ihn herge stellt hatte, und ging hinaus. Er sehnte sich nach einer Tasse Kaffee. Er kam aus dem Untergeschoß des Hauses Downing Street 10. Zu die ser frühen Morgenstunde herrschte hier nicht gerade große Geschäf tigkeit. Die obere Dienstwohnung des Premierministers war nicht be setzt. Er hörte das Geplauder der Polizisten im Vestibül. Ihre Stim men hatten den besonderen leisen Klang, den man sich aneignet, wenn man zur Nacht arbeitet. Eine ältere Frau kochte Kaffee in einer kleinen Küche im hinteren Teil des Gebäudes. Sie goss ihm eine Tasse ein, be vor er darum gebeten hatte, hielt ihn wahrscheinlich für einen Polizi sten in Zivil oder einen Beamten vom Meldedienst. 194
Boyd Stuart schaute auf die Uhr: sechs Uhr vierzig, Montag, 16. Juli. Das einzig vernehmbare Geräusch kam vom Fernschreiber des Presse dienstes, der hie und da Nachrichten ausspuckte. Boyd Stuart ging zu einem der Telefone und wählte die Nummer des Sekretariatsdienstes. Man antwortete. Wenigstens arbeiteten sie rund um die Uhr. »Ich möchte mich mit Paul Bock in Verbindung setzen«, sagte er, als das Mädchen antwortete. »Ihr Name?« »Stein. Charles Stein«, sagte Boyd Stuart. »Ja, ich habe eine Nachricht für Sie. Gehen Sie zu Jimmy´s Militaria. Es ist auf dem York Way in der Nähe des Bahnhofs King's Cross. Sie können es nicht verfehlen, heißt es hier.« »Vielen Dank.« Er hängte auf. Dann ging er vom Haus Nummer 10 durch die Ver bindungstüren, die durch die ganze Straßenseite verliefen, und trat aus der Eingangstür Nummer 12. Selbst zu dieser Tageszeit standen schon ein paar Neugierige auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und hoff ten, irgendeine wichtige Persönlichkeit zu sehen. Boyd hatte seinen Wagen in der Nähe jener Stufen gelassen, die zum St. James Park führ ten. Er fragte sich, um welche Zeit Jimmy's Militaria aufmachte. Es war zu spät, nach Hause zu gehen, um noch ein bisschen zu schlafen. Er fuhr über den Trafalgar Square, dann nördlich, die Charing Cross Road hinauf. Jimmy's Militaria kann man nicht verfehlen. Der Laden liegt in einer Reihe viktorianischer Häuser, zwischen einer Tierhandlung und einer Automatenwäscherei. Er ist weniger besucht als die Wäscherei, und es riecht dort nicht wie in der Tierhandlung. Man erkennt ihn aber leicht an den schwarzweiß-roten Streifen und dem Namensschild mit den Eisernen Kreuzen. In einem Fenster sieht man Puppen in Uniformen und in voller Ausrüstung. Das kleinere Fenster an der anderen Seite der Tür ist voller Stahlhelme, Schwerter, Dolche, Knöpfe und Abzei chen, Hakenkreuzarmbinden und zerbrochener Zinnsoldaten. An der Klingel stand mit rotem Filzschreiber auf einem abgerissenen Stück Papier ›Wohnung oben‹. Stuart drückte auf die Klingel. Nichts 195
geschah. Er drückte weiter, klingelte so lange, bis eine erbärmliche Ge stalt in einem schäbigen Morgenrock sich langsam ihren Weg durch die lebensgroßen Soldatenpuppen und Flaggen bahnte und schließlich den Riegel der Tür aufschob. »Wir haben nicht geöffnet«, sagte er. Er war in den zwanziger Jah ren, mit Brille, langem Haar und einem spärlichen Bart auf dem wei ßen Pickelgesicht. »Ich suche Mr. Paul Bock«, sagte Stuart. Der Mann nahm die Zigarette aus dem Mund. »Sind Sie von der Po lente?« Er hustete und spuckte auf die Straße. Er hatte einen starken Südlondoner Akzent. »Ich bin hier, weil er mit mir sprechen will.« »Um diese Tageszeit?« fragte der Mann angewidert, trat aber zurück und öffnete die Tür. »Sie sind doch nicht Stein, oder?« »Charles Stein«, sagte Boyd. »Jawohl, das bin ich.« »Sie haben aber keinen amerikanischen Akzent.« »Ich war in England auf der Schule«, sagte Stuart. Der Mann blickte Stuart von oben bis unten an, sagte dann: »Na schön, kommen Sie rein. Paul wird überrascht sein, Sie hier zu sehen. Er brät sich oben gerade ein Ei.« »Die Nachricht lief über meinen Anrufbeantworter«, sagte Stuart. »Ich habe sie mir dann hier durchgeben lassen, denn ich habe da eine Vorrichtung, die mir das Band über das Telefon abspielt.« »Toll, was die Wissenschaft alles kann«, sagte der Mann. »Ich bin üb rigens Jimmy.« Er führte ihn eine knarrende Treppe hinauf bis nach oben, wo der Fußboden mit schadhaftem Linoleum ausgelegt war. Klei ne Plastikteller mit alten Speiseresten standen in der Ecke. Eine schwar ze Katze streckte sich und kam auf den Besucher zu. Sie stiegen noch eine Etage höher, bevor sie in die Küche gelangten. Ein Jahrhundert Bo densenkung hatte den Türen und Fenstern seltsam rautenförmige For men verliehen, und hinter der schmutzigen Tapete hatte sich viel gelok kerter Gips angesammelt. Ein kleiner Plastiktisch mit Steingutgeschirr verschiedenster Muster und einer großen Sparpackung von Kellogg’s Cornflakes stand im Mittelpunkt. An der Wand hinter dem eckigen 196
Spülbecken hing ein altes Plakat der Rolling Stones. Ein Mann stand am alten Gasherd und briet sechs Eier in einer zerbeulten Pfanne. Er schien mit dieser Arbeit voll beschäftigt zu sein, bog die Pfanne in alle Richtungen und goss mit einem Löffel heißes Fett über das Eigelb. »Hier ist dein Mr. Stein«, sagte der Bärtige. Der Mann am Herd legte den Löffel nieder, hielt immer noch die Bratpfanne geneigt, reichte Stuart die Hand. »Ich bin Charles Stein«, sagte Stuart. »Ich war gerade in London.« »Hat bei sich zu Hause angerufen und deine Nachricht von einem Tonband abspielen lassen«, erklärte Jimmy. »So ist es«, sagte Stuart. »Jimmy ist Ingenieur im Kommunikationswesen«, erklärte Paul Bock, der Mann am Herd. »Ich bin nur ein Laie, aber ich benutze seit Jahren einen Mikrocomputer, um mich in Telefongespräche einzu schalten.« Er hatte einen weichen deutschen Akzent. »Seid ihr politische Aktivisten?« fragte Stuart. »COMPIR«, sagte Jimmy. »Computerpiraten. Wir haben keine po litischen Ideale. Es macht uns nur Spaß, hinter die Dateischutzkenn worte zu kommen. Wir sind eine Art Club.« »Die Bank, bei der ich arbeite, hat einen sehr großen Computer«, sagte Bock. »Wir haben Monate gebraucht, um die Schutzwanzen zu knacken und an die Informationen zu kommen.« »Was sind Schutzwanzen?« »Vorrichtungen, die die Hersteller einbauen, um sich vor Leuten wie uns zu schützen«, sagte Bock. »Möchten Sie ein Ei? Weich oder noch mal umgedreht?« »Weich.« »Jimmy mag sie lieber umgedreht. Sie schmecken wie Plastik.« Auf dem Tisch lag ein offenes Paket Zigaretten. Jimmy versuchte, sich eine herauszuzupfen, und als es ihm nicht gelang, schüttelte er das Paket wie ein Terrier, der eine Ratte gepackt hat. Endlich kam sie. »Be dienen Sie sich«, sagte er und schob Stuart das Paket zu. »Nein danke«, sagte Stuart. »Zu früh für mich.« Jimmy zündete sich die neue Zigarette mit dem Stummel seiner alten an. 197
»Erzählen Sie mir alles, was Sie über das Unternehmen Siegfried wissen«, sagte Bock. Er drehte sich mit der Bratpfanne um, ließ die Eier auf die Teller gleiten. Er war ein kräftiger Junge mit Bürstenhaar schnitt und sauber rasiertem Gesicht. Unter seinem schäbigen seide nen Morgenrock trug er ein sauberes blaues Hemd und die Hosen ei nes grauen Anzugs. Er sah Stuarts verdutztes Gesicht. »Ich muß leider arbeiten«, erklärte er. »Jimmy hat Glück. Er braucht sich keine blöde Uniform anzuziehen.« Stuart wurde sich schmerzlich seiner eigenen ›Uniform‹ gewahr. »Ich verstehe«, sagte er. »Jetzt erzählen Sie uns vom Unternehmen Siegfried.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Wir können sehr roh werden, Mr. Stein«, sagte Paul Bock. »Sie mö gen es nicht glauben, aber wir können sehr, sehr roh werden.« »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Stuart. »Sie können mir aber auch glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich noch nie vom Unternehmen Siegfried gehört habe.« Jimmy nahm das Messer und schnitt ein paar dicke Scheiben Brot ab. Er schob jedem eine zu. Stuart tunkte ein Stück in das weiche Ei gelb und aß schweigend. »Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, schießen Sie nur los«, sagte Stuart. Paul Bock schnitt das Ei in kleine Vierecke und aß sie mit den Fin gern. »Ich arbeite in einer Bank – einer großen deutschen Bank –, der Name spielt im Augenblick keine Rolle. Wir haben die Information vom Bankcomputer.« »War das schwierig?« fragte Stuart. »Dieser Computer war großartig«, sagte Jimmy und fuhr sich mit der Hand über seinen spärlichen Bart. »Ein wahres Prachtstück und vielleicht der komplizierteste seiner Art in Europa.« »Aber wir haben ihn geknackt«, sagte Paul Bock. »Oder vielmehr Jimmy hat ihn geknackt.« »Paul hat sich die Hardwareschlüssel beschafft«, sagte Jimmy. »Wir mußten erst mal den Mechanismus aufschließen, bevor ich auch nur 198
beginnen konnte. Und er stellte die ersten Kennworte für die Date nendstelle zusammen. Dann wurde es kniffliger. Die Bank hat Lei stungsmessexperten, die vom Computer ablesen können, wie oft ein Programm durchgelaufen ist, und deren Verdacht wollten wir nicht er regen. Wir mußten uns also alles tropfenweise rausholen, und das hat Wochen gedauert.« Er hustete, schlug sich mit der Faust an die Brust, rauchte dann weiter. »Dieses Material ist auf höchster Geheimstufe«, sagte Bock. »Es gab noch viele Softwareschlüssel, und jeder führte zu noch geheimeren Sa chen.« »Es ist wie eine Reihe von Türen«, erklärte Jimmy. »Man muß jede einzelne nacheinander aufschließen, um ins innere Heiligtum zu ge langen. Und jede Tür hat eine Art von Alarmvorrichtung, die die Date nendstelle schließt und eine Meldung speichert, dass jemand versucht hat, sich unbefugt Zugang zu verschaffen.« »Und das alles habt ihr geschafft?« sagte Stuart mit echter Bewun derung. »Jimmy ist ein Hexenmeister«, sagte Paul Bock. »Und was ist nun dieses Unternehmen Siegfried?« fragte Stuart. »Wir wissen es nicht genau«, gab Jimmy zu. Er stippte seine Zigaret te in den Aschenbecher und begann zu essen. »Es geht da um einen Geheimfonds – sie nennen es einen Trust –, an dem einige der mächtigsten Organisationen der Bundesrepublik be teiligt sind«, sagte Paul. »Stahlwerke, Rüstungsindustrie, Automobil zubehörindustrie, Versicherungsgesellschaften, Verlage und Großban ken. Wir wissen, dass der Verwaltungsratsvorsitzende ein Mann na mens Böttger ist, der Direktor einer Bank in Hamburg. Und wie alle anderen Betroffenen kann er mit keiner politischen Partei der Nach kriegszeit in Verbindung gebracht werden. Das ist bezeichnend.« »Inwiefern ist das bezeichnend?« fragte Stuart. »Wenn man das Dritte Reich wiederauferstehen lassen will«, sagte Paul Bock, »wäre es da nicht eine gute Idee, alle Agenten anzuweisen, sich von jeder Art politischer Betätigung fernzuhalten?« »Seit dem Krieg sind immerhin über dreißig Jahre vergangen«, pro 199
testierte Stuart. »Glauben Sie wirklich, die Leute hätten so lange auf das Unternehmen Siegfried gewartet? Das scheint mir doch höchst un wahrscheinlich.« »Diese Leute sind geduldig und mit allen Wassern gewaschen«, sagte Paul Bock. »Das Dritte Reich wurde für tausend Jahre geplant. Hitler hat es selbst gesagt. Was bedeuten solchen Leuten dreißig oder vierzig Jahre?« Er stand auf und stellte seinen Teller ins Spülbecken. Eine Bo denfliese knarrte unter seinem Gewicht. »Und Ihrer Meinung nach wird jetzt ein Viertes Reich geplant?« frag te Stuart. »Und was hat mein Name mit der ganzen Sache zu tun?« »Ihr Name kam aus dem Computer«, sagte Paul Bock. »Wir haben das Datenblatt auswendig gelernt und dann vernichtet. Es waren vie le Namen, jeder mit einem Kennwort versehen, das wir bisher noch nicht entschlüsselt haben. Ihr Name war der einzige, der ganz unver kennbar jüdisch klang. Es schien uns ausgeschlossen, dass Sie derarti ge Ziele unterstützen. Demnach können sie nur ein ausgesuchtes Op fer sein.« Jimmy und Bock warfen sich verstohlene Blicke zu. Es wurde ihnen klar, dass sie ihren Besucher nicht überzeugt hatten. Sie hatten es auch nicht so geplant. Anstatt Charles Stein hier oben in diesem schäbigen kleinen Haus zu empfangen, wo es nach Kohl und Abfall roch, wollten sie sich mit ihm in der Halle eines Luxushotels im Londoner Westend treffen oder ihn sogar in ein Restaurant einladen. Paul Bock blickte sich in der schmutzigen Küche um. Wie konnte man sie ernst nehmen, nachdem man diese stinkige Bude gesehen hatte? »Es ist wirklich wahr«, sagte Jimmy. »Sie mögen es nicht glauben, aber es ist wirklich wahr.« »Wir haben wenigstens unser Möglichstes getan«, sagte Paul Bock zu seinem Freund, wie wenn der Besucher bereits gegangen wäre. »Wir haben ihn gewarnt.« Boyd Stuart aß sein Ei auf. »Wie wäre es mit ein paar harten Fakten?« sagte er. »Die anderen Namen zum Beispiel?« »Wir fragten uns nur, ob Sie nicht auf einer Art Todesliste stehen könnten, Mr. Stein«, sagte Paul Bock höflich. 200
»Und ich frage mich, ob ihr euch nicht zu viele Fernsehkrimis ange schaut habt«, sagte Stuart. »Leck mich am Arsch«, sagte Jimmy. »Wir haben es Ihnen gesagt, und damit hat es sich.« Stuart schob seinen Teller beiseite, stand auf, holte sich ein Papier handtuch, um sich die Finger abzuwischen. Durch die regenbeschlage nen Fensterscheiben sah er die trostlose Industrielandschaft und den Grand-Union-Kanal, auf dessen fettiger Oberfläche Eiskremhüllen und Bierdosen schwammen. Ein schmales Boot aus fauligem Holz lag so tief, dass das schmutzige Wasser ins Innere schwappte. Hinter dem Kanal erinnerten rostige Schienen und ein eingefallener Schuppen an ein Eisenbahnsystem, um das einst die ganze Welt England beneidet hatte. Eine Diesellokomotive kam in Sicht, pfiff und hielt an. Stuart warf das Papierhandtuch in den Mülleimer unter dem Spültisch und sagte: »Wie wär's mit ein paar mehr Beweisen?« »Darüber reden wir noch«, sagte Bock und ging mit Jimmy aus dem Zimmer. Als sie zurückkamen, trug Bock die Jacke seines eleganten grauen Anzugs. »Können Sie mich bis zur Untergrund mitnehmen?« fragte Bock. Er schaute aus dem Fenster. »Ich werde wohl meinen Regenmantel brau chen.« »Mit Vergnügen.« Stuart drehte sich noch einmal zu Jimmy um, als er schon auf dem Treppenabsatz war. »Aber warum die Hakenkreuz abzeichen und die Nazidekoration?« Jimmy lächelte. »Damit ich meine Kunden leichter beschwindeln kann, ohne mir Vorwürfe zu machen.« »Ich verstehe«, sagte Stuart. Er folgte Paul Bock die schmale Treppe hinunter, durch den dunklen Laden auf die Straße hinaus. Der Som mer schien noch in weiter Ferne. Die Wolken waren immer noch grau. Sie stiegen in den Aston, und Stuart kämpfte sich durch ein Labyrinth von Eisenbahnstraßen bis zum Untergrundbahnhof vor. »Ich wüsste wirklich gerne noch einiges mehr«, sagte Stuart, als Paul Bock aus dem Wagen stieg. »Geben Sie mir Einzelheiten über den Trust. Wie ist die Adresse? Wissen Sie etwas über die Gründung?« 201
Der Deutsche lehnte sich ans Fenster. »Vielleicht das nächste Mal«, sagte er. »Warum nicht jetzt? Falls mein Leben, wie Sie sagen, wirklich in Ge fahr ist, warum nicht jetzt?« »Weil wir nicht glauben, dass Sie Mr. Charles Stein sind«, sagte der Deutsche. »Jimmy meint, Sie sind von der Polizei. Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber laut Angaben des Computers besitzt Stein fast 100 Millionen Dollar. Ich habe in Banken gearbeitet. Sie sind kein Mann, der je über ein Vermögen verfügte. Leute mit dieser Summe Geld klop fen nicht so früh am Morgen an Türen in King's Cross. Die schicken andere an ihrer Stelle. Sagen Sie Mr. Stein, er soll sich persönlich mel den.« Er lächelte und verschwand in der Menge, die zum Untergrund bahnhof eilte.
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B
oyd Stuart sah sich nicht jeden Meter der Nazifilmreportage an. Das hätte fünf Arbeitstage in Anspruch genommen, was man schon allein aus den Filmkassetten schließen konnte, die sich in den beiden feuersicheren Kellerräumen am hinteren Ende des Korridors des Vorführraums bis zur Decke aufstapelten. Zwei Sachbearbeiter hatten begonnen, das ganze Material zu prüfen und zu sortieren, nachdem die ersten Spulen eingetroffen waren. Man hatte sie über eine Deckadresse an der Wardour Street ins Zikkurat gebäude am südlichen Themseufer gebracht. Das meiste stammte von Agenturen und Cinematheken, aber einiges kam auch aus Privatbesitz. Wieder anderes war in sehr schlechtem Zustand, da es wahrscheinlich von den Originalpositiven kopiert worden war. Die Filme waren auf ein Inserat hin geschickt worden, in dem es hieß, eine Produktionsge sellschaft plane, einen großen Dokumentarfilm für das Fernsehen zu 202
sammenzustellen und würde das verwendete Material je nach Länge bezahlen. Man hatte auch angegeben, es sei dringlich, aber das war im Film- und Fernsehgeschäft eigentlich nur normal. Boyd Stuart hatte den ganzen Tag im Vorführraum verbracht. Am Montagnachmittag, dem 16. Juli, wurde ihm von all den Bildern Adolf Hitlers und seiner Gefolgsleute bereits schwindlig. Er hatte den Führer mit grimmigem Gesicht auf Generalstabskarten starren gesehen, beim Abschreiten endloser Soldatenfronten, beim Besteigen des Führerwa gens, des Führersonderzugs, beim Aussteigen, beim Hinauslehnen aus dem heruntergekurbelten Fenster und Händeschütteln mit Kna ben der Hitlerjugend oder Entgegennehmen von Blumensträußen, die flachsblonde Mädchen ihm reichten. Um vier Uhr nachmittags erblickte er zum ersten Mal das Gesicht, das er suchte. Er griff zum Telefon und bat den Filmvorführer, den Streifen zu stoppen, den Rahmen zu beschriften und ihn zum Cutterpult zu bringen. Fünfzehn Minuten später fand er den gleichen Mann in zwei längeren Sequenzen einer Reportage über die Begegnung Hit lers mit Benito Mussolini auf dem Bahnsteig der Anlage Süd im Au gust 1941. Eine große Anzahl unmittelbarer Gefolgsleute Hitlers hatte sich eingefunden, um die beiden Diktatoren beisammen zu sehen, und man sah viele Fotoapparate in den Händen von deutschen Soldaten, SS-Leuten und Italienern, die sich auf einer eigens für diese Gelegen heit erbauten Estrade im Scheinwerferlicht aneinanderdrängten. Stuart legte die Filmrolle auf das flache Cutterpult. Er spulte sie mit der Hand ab, bis er den gewünschten Ausschnitt fand, den er dann hell beleuchtete und stark vergrößert auf die kleine Leinwand projizierte. Er vergrößerte noch einmal den Teil des Bildes, der ihn besonders in teressierte, aber es wurde dadurch nur noch verschwommener. Kitty King kam in den Vorführraum und stellte ihm eine Tasse Tee hin. »Hast du etwas gefunden?« »Drei verschiedene Sequenzen, und es gibt bestimmt noch mehr.« »Und das hier ist das Foto, das du nach der Explosion auf Wevers Farm gefunden hast?« Sie beugte sich vor und sah sich die auf dem Pult liegende Vergrößerung an. 203
»Wever sagte, er habe vor dieser Reise nach Merkers nie eine sol che Tarnjacke getragen. Ich habe die Daten des amerikanischen Vor marschs nachgeprüft. Dieses Foto muß am 2. April 1945 oder kurz da vor bei der Salzmine aufgenommen worden sein. Der Mann neben ihm ist Breslow. Ich versuche jetzt herauszufinden, wer dieser Zivilist ist. 1945 nannte er sich Reichsbankdirektor Frank.« »Hast du ihn gefunden?« »Ich glaube es, aber ich möchte ihn noch einige Male sehen, um ihn ganz sicher identifizieren zu können.« »Hier ist er aber in Uniform.« Sie zeigte auf die beleuchtete Lein wand. »Die Deutschen ließen ihre Leute vom Sicherheitsdienst jede belie bige Uniform und jedes beliebige Rangabzeichen tragen, wenn sie im Einsatz waren. Ich habe noch andere Fotos, die ihm ähnlich sind. Ich muß sie nur noch vergrößern.« »Die Leute in der Dunkelkammer werden dich verwünschen, Boyd. Sie stecken bis über den Hals in Arbeit.« »Ich habe allererstrangige Priorität, Kitty. Gegenüber dem, was ich brauche, ist alles andere unwichtig.« Sie blickte ihn an. Von der Priorität wusste sie, aber sie verstand es nicht. Sie versuchte, die Antwort auf seinem Gesicht zu lesen, fand aber nichts und lächelte. »Soweit ich es sehe, ist es nur Geschichte, Schatz«, sagte sie. »Dafür interessieren sich doch nur Leute, die dabei gewesen sind. Alte Knacker wie der GD und Mr. Brittain von der Planung, der sich ein Militärverdienstkreuz verdient hat und es am Kriegsgedenk tag trägt.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Im Halbdunkel des Vorführraums wirkte sie besonders schön. Stuart begehrte sie plötz lich, und sie schien sich dessen bewußt zu sein. »Willst du nicht wieder bei mir einziehen?« fragte er. »Wenn du willst, bleibe ich heute Nacht bei dir«, sagte sie leise. »Aber ich ziehe nicht bei dir ein; weder bei dir noch bei sonst jemandem.« »Warum nicht?« Er erwartete, dass sie die Stimme erhob. Sie hatten schon oft darüber gestritten, und stets endete es mit jener Art von mehr oder weniger 204
witzigem Wortwechsel, der bittere Vorwürfe verbirgt. »Alles, was ich auch anfasse …«, fuhr sie mit der gleichen leisen Stimme fort, »ich set ze mich in einen Sessel und frage mich, ob es ihr Lieblingssessel war. Ich greife mir einen Morgenrock und frage mich, ob ich darin wie sie aussehe. Ich schaue in den Spiegel und sehe andere Frauen an meiner Stelle. Das will ich nicht, Boyd.« Stuart fand, dass diese Haltung ge genüber toten Gegenständen einmal wieder etwas typisch Weibliches war. Seltsamerweise schien sie in Bezug auf Frauen, die er in Kaliforni en hätte kennenlernen können, keineswegs eifersüchtig und nicht ein mal neugierig zu sein. »Aber wo sollten wir eine andere Wohnung finden, die so gut wie meine jetzige ist?« fragte Stuart. »Die Leute über mir bezahlen mehr als das Doppelte an Miete. Und deine Schwester möchte uns beide be stimmt nicht in ihrer Wohnung haben.« »Dir ist es natürlich recht«, sagte sie. »Männer erwarten ja immer, dass die Frauen sich anpassen.« Boyd Stuart legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Vor noch gar nicht so langer Zeit hatte dieses Mädchen von sexueller Frei heit geredet! Aber wie bei allen solchen Freiheitsbestrebungen lag es Kitty King nur daran, Konzessionen zu erlangen, ohne selbst welche zu machen. So wird es wohl immer sein, sagte er sich. Sie würde immer erzählen, was sie unglücklich macht, sich jedoch weigern, irgend etwas zur Veränderung der Lage beizutragen. Jetzt reagierte sie lächelnd auf seine Umarmung. »Trinke deinen Tee«, sagte sie. »Ich bringe die Tas sen wieder zurück. Ich muß nur noch mal in die Stahlkammer.« »Was willst du denn da?« Die Stahlkammer war der Ort, wo die streng geheimen Archive verwahrt wurden. »Du wirst es nie erraten«, sagte sie. »Ich muß die Personalakte des GD zurückbringen.« »In die Stahlkammer?« Sie lachten. Es entsprach wieder einmal der absurden Welt, in der sie sich bewegten, dass ein harmloser Lebenslauf mit so großer Vorsicht weggeschlossen werden mußte. »War er nicht fast während des ganzen Krieges über in der Schweiz?« 205
»Mit Ausnahme der kurzen Zeit, als er bei der Armee in Italien die nen durfte. Das Geschützfeuer am Monte Cassino hat ihn dann taub gemacht. Deshalb trägt er den Hörapparat. Er kehrte in die Schweiz zurück und arbeitete mit Allen Dulles. Sie verhandelten über die Ka pitulation einiger deutscher Armee-Einheiten in Italien. 1947 nahm er hier wieder seine Arbeit auf.« Sie sprach wie ein kleines Schulmäd chen, das ein Gedicht vor der Klasse aufsagt. »Kitty, ich liebe dich.« »Rede kein dummes Zeug, Boyd. Trinke deinen Tee. Ich muß wieder an die Arbeit.« Sie blätterte nervös in der Akte des GD, wartete, dass Boyd seinen Tee austrank. »Was hat das rote Etikett zu bedeuten?« fragte Stuart. »Das ist ein ›Verbotsschild‹. Der Deckname darf in Zukunft nie mehr benutzt werden. Während des Krieges lebte der GD unter dem Namen Elliot Castelbridge. Es war damals üblich, einen Decknamen zu füh ren. Ein Sonderbefehl für den Fall, dass hohe Beamte der Abteilung in deutsche Gefangenschaft gerieten. Jeder, der in die Schweiz oder nach Schweden geschickt wurde, bekam Papiere auf einen Decknamen aus gestellt.« »Die kurze und aufregende Karriere Elliot Castelbridges. Bei war mem Käsefondue und kaltem Weißwein hatte er auf die Übergabe der Deutschen zu warten. Und dann hat ein ›Verbotsschild‹ seinem Leben ein Ende gemacht.« »Boyd, du beurteilst ihn zu hart.« »Er ist ein byzantinischer Bastard«, sagte Stuart ohne Feindselig keit. »Nicht im geringsten. Er ist unverkennbar gotisch.« Stuart grinste. Sie hatte wirklich recht. Es fehlte ihm ganz und gar an jener hinterhältigen orientalischen Schlauheit, die für so viele hohe Beamte der Abteilung typisch war. Der GD war von brutaler Offenheit und ähnelte sogar in seinem Äußeren eher einem verwitterten Felsen im Norden Europas als der seidenweichen Glätte orientalischer Pracht. »Bleibe noch.« »Ich muß gehen. Ist dein Wagen hier?« fragte sie. 206
»Ja.« »Bist du zur Abendessenszeit hier fertig?« »Ich kenne ein sehr gutes neues Restaurant in der Sloane Street.« »Wenn es nur kein Curry ist.« Sie beugte sich vor und gab ihm ei nen Kuss auf die Stirn. Er saß noch etwa fünf Minuten lang in Gedan ken an sie versunken, dann machte er sich wieder an die Arbeit. Er brauchte immer noch einen stichhaltigen Beweis über jenen Mann, der auf dem Film zu sehen war, und daran würde noch jemand die ganze Nacht arbeiten müssen.
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A
m folgenden Morgen, Dienstag, dem 17. Juli, während Boyd Stuart und Kitty King in seiner behaglichen Londoner Wohnung beim Frühstück saßen, nahm der Mann, dessen Gesicht Stuart in den alten Filmreportagen des Dritten Reichs gesucht hatte, sein Frühstück in ei nem Hochhaus in Hamburg ein. Sein Name: Willi Kleiber. Das Früh stück galt als geschäftliche Besprechung mit acht führenden Geschäfts leuten, die sich unter dem Vorsitz Dr. Böttgers zusammengefunden hatten. Sie waren die Treuhänder des für das Unternehmen Siegfried gesammelten Fonds, und die Sitzung fand im Privatspeisezimmer ei ner der Banken statt, die unter Böttgers Leitung standen. Willi Kleiber saß zur Rechten Dr. Böttgers. Dieser Ehrenplatz ge bührte dem Mann, der der Planung des Unternehmens Siegfried so viel Zeit gewidmet hatte und der eigentliche Initiator der Idee war. Hätte Boyd Stuart das kantige Gesicht Willi Kleibers gesehen, so hätte er ihn Reichsbankdirektor Frank genannt. Und hätte Oberst Pitmans Kassierer ihn gesehen, als Kleiber den dicken Schnurrbart trug, den er sich über Weihnachten 1978 hatte wachsen lassen, so hätte er ihn Pe ter Friedman genannt. Peter Friedman, der beau parleur, der mit sei 207
nen Kreditbriefen die Bank um Millionen betrogen und an den Rand des Ruins gebracht hatte. Es war früh, und ein klarer blauer Himmel strahlte über Hamburg. Von der Glaswand des Konferenzzimmers aus hatte man einen Blick auf Michaeliskirche und Bismarckdenkmal, und im Sonnenlicht und Morgendunst schimmerte das dunkle Elbwasser wie gehämmertes Kupfer. Kleiber mochte Hamburg; das ständig wechselnde Wetter, die Bars und Restaurants, den Geruch des Hafens und das feine, klare Deutsch, das man hier spricht. Ein kurzer und seitdem nie mehr unternomme ner Versuch einer Ehe war in dieser Stadt gescheitert. Das hätte man chem Mann den Ort auf immer verleidet, aber Kleiber war in der Lage, die Freuden vergangener Erfahrungen in Erinnerung zu behalten und sein Elend zu vergessen. Das galt auch für seine Zeit im Kriege. Er kam selten hierher, ohne seine Exfrau zu besuchen. Sie war immer noch an ziehend und amüsant und erkundigte sich stets nach Willi Kleibers letzten sexuellen Eroberungen. Sie schien eine fast perverse Freude an seinen ausführlichen schweinischen Beschreibungen zu haben. Mehr als einmal spielte er mit dem Gedanken, sie in sein Hotelzimmer mit zunehmen, auszuziehen und – aber Willi Kleiber wusste, dass das nie geschehen durfte. Nicht etwa, weil es seine Exfrau nicht genießen wür de, sondern nur, weil ihr neuer Mann hoher Beamter des BND war. Ein Mann, der sich häufig in London auf Konferenzen mit hohen Be amten des britischen Geheimdienstes traf, war ein zu wertvoller Kon takt, den man wegen eines nachmittäglichen Beischlafs nicht aufs Spiel setzen durfte. Morgen würde er mit ihr und ihrem Mann zu Mittag es sen. So war es ihm lieber. »Die Dinge sind nicht so glatt verlaufen, wie wir es uns erhofft hat ten«, gestand Dr. Böttger. Er war ein gebildet aussehender Mann, sech zig Jahre alt, etwas plump von Gestalt, mit Silberhaar und goldgerän derter Brille. Kleiber bemerkte die Röte in seinem Gesicht. Das war, wie auch die Art, in der Böttger sich die Faust in die Tasche seines teu ren maßgeschneiderten Anzugs steckte und dabei fast die Nähte auf riss, ein Zeichen von Angst. »Aber der Plan geht voran. Als wir ihrer 208
Bank in Genf das ganze Geld abnahmen, erwarteten wir, dass sie uns diese Dokumente über Herrn Kleibers Kontaktmann in Los Angeles anbieten würden. Das hat sich nun leider als eine Fehlrechnung erwie sen.« Böttger drehte ein wenig den Kopf, um zu sehen, ob Willi Klei ber ihm da zustimmte. Schließlich war es ja Kleibers Fehlrechnung ge wesen. Kleiber nickte fast unmerkbar, aber Böttger war an derartige stumme Zeichen im Sitzungszimmer gewohnt. »Es war an sich nur lo gisch und vernünftig von uns«, fuhr er fort. »Vielleicht hätten die Leu te entsprechend reagiert, wenn sie Deutsche wären – aber sie sind nun mal Amerikaner.« Böttger lächelte, hoffte auf zustimmendes Geläch ter, aber nur Kleiber schien die Bemerkung witzig zu finden. Dr. Böttger hielt sich die Fingerspitzen an den Mund. »Wir alle ha ben einen guten Teil unseres Lebens hergegeben, um aus Deutschland ein blühendes und starkes Land zu machen, in dem es sich gut leben läßt«, fuhr er fort. »Hat auch nur einer von uns vergessen, was wir un ter Hitler und seiner Verbrecherbande zu leiden hatten? Muß ich Sie daran erinnern, dass die Nazis verheerend auf unser Land und unser Volk gewirkt haben? Es geht hier nicht nur um die materiellen Zerstö rungen, die der Krieg mit sich brachte, sondern vor allem um den mo ralischen Schaden, den die Nazipropaganda unseren Kindern zugefügt hat. Und sind Sie sich der Leiden unserer Landsleute im Osten bewußt, die unter einem von Moskau aufgezwungenen Regime leben müssen? Wir sind hier im Westen und können uns glücklich schätzen. Aber die deutsche Demokratie ist eine zarte Blume, die aus einem anderen Kli ma hierher verpflanzt worden ist. Was wir aus der Asche von 1945 auf gebaut haben, könnte rasch wieder von wahnsinnigen Neonazis oder kommunistischen Fanatikern zerstört werden, denen es gefallen wür de, russische Soldaten auf unseren Straßen zu sehen.« »Sie haben recht, Dr. Böttger«, rief eine Stimme vom hinteren Ende des Tisches. »Hitler ist tot«, sagte Böttger. »Lassen wir ihn tot und begraben sein. Wir brauchen keine Enthüllungen, keine so genannten Hitler-Proto kolle, keine geheimen Pläne, um Hitler wiederauferstehen zu lassen und ihn mit dem Ruhmeskranz historischer Triumphe zu krönen. Ge 209
ben Sie sich keinen Illusionen hin. Es gibt Männer, die aus einer sol chen Apotheose politische Macht schöpfen können.« Er fuhr sich über das Gesicht. »Was scheren sich die Engländer um Churchills Ruf? Ihre Geschichtsbücher sind voll solcher Männer. Die Demokratie ist und bleibt das feste Gewebe ihrer Gesellschaftsstruktur. Nur unsere zar te, neuerschaffene Demokratie braucht das Beispiel von Männern wie Churchill und Roosevelt, die bewiesen haben, dass ein Mensch warm herzig, wohlgenährt und glücklich sein kann und dabei frei ist, ganz offen seine Meinung zu äußern und seine Regierung aus dem Amt zu wählen. Ihr Ruf muß erhalten bleiben. Deshalb müssen wir alles tun, um ganz sicher zu sein, dass Moskau diese Dokumente nicht in die Hände bekommt. Weder Moskau noch irgendwelche schmierigen Zei tungsschreiber, die auf jede Sensation aus sind und nur an ihre Kar riere denken. Oder jene Leute, die uns erzählen wollen, Hitler sei der Bismarck des 20. Jahrhunderts gewesen.« Er warf einen Blick in die Runde. »Wir dürfen jetzt nicht schwach werden, meine lieben Freun de. Wir dürfen nicht schwach werden.« Dr. Böttger setzte sich. Es erfolgte keine Reaktion auf seine Rede. Die Herren wandten sich dem Gabelfrühstück zu, das jeder auf einem ge stickten Deckchen vor sich stehen hatte. Böttger nahm behutsam sein Messer zur Hand und köpfte ein ge kochtes Ei. Die anderen folgten seinem Beispiel. Die Formalitäten wa ren beendet. Jetzt kamen die Fragen. Dr. Böttger hasste Fragen. »Mich beunruhigt die Gewaltanwendung«, äußerte ein schmächti ger, sommersprossiger Mann am anderen Ende des Tisches. Sein Name war Fritz Rau. »Mehrere Menschen sind bereits umgebracht worden, wie Sie sagen. Können wir sicher sein, dass Schluss damit ist?« Dr. Böttger erwiderte brutal: »Keinesfalls. Zweifellos wird es noch weitere Todesfälle geben, ganz einfach, weil wir es mit Leuten zu tun haben, die entschlossen Kollisionskurs steuern.« »So verstand ich es aber nicht, als wir mit der Sache anfingen«, sagte der schmächtige Mann. »Ich frage mich, wie viele von uns der Bildung des Trusts zugestimmt haben würden, wenn wir gewußt hätten, dass das Geld dazu dienen sollte, gedungene Mörder zu bezahlen.« 210
Alle schwiegen betroffen, aber es dauerte nicht lange. Willi Kleiber erhob sich. Er war ein kräftig gebauter Mann, der sich auf Kamerad schaftsabenden seines ehemaligen Infanterieregimentes gefiel, wo man gemütlich beim Bier zusammensaß und die alten Lieder aus der Kriegszeit sang. Kleiber sagte: »Ich hatte es verstanden, und jeder, mit dem ich sprach, hat es verstanden.« Er lächelte. »Jeder, der nicht schwerhö rig ist, hat es verstanden.« Er hatte eine mächtige Stimme. Er war es ge wohnt, dass man ihm nicht widersprach. »Meinem Gehör fehlt nichts«, sagte Rau. »Wir müssen Willi das Handeln überlassen«, sagte Dr. Böttger. Er fühlte plötzlich einen panischen Schrecken bei dem Gedanken, Rau könnte etwas über den englischen Diplomaten erfahren haben, den man irrtümlicherweise in Los Angeles umgebracht hatte. Kleibers Ver such, den englischen Geheimagenten zu töten, war ein weiterer Feh ler gewesen. Willi Kleiber neigte bedauerlicherweise dazu, auftretende Probleme durch die Beseitigung seiner Gegner lösen zu wollen. Aber Böttger hatte sich nun einmal einverstanden erklärt, dass Kleiber die aktive Durchführung des Unternehmens anvertraut wurde, und jetzt waren sie auf ihn angewiesen und mußten ihm alle gewünschte Unter stützung leisten. »Das Handeln? Schließt das den Mord an Leuten ein, die uns nicht gefallen?« fragte Fritz Rau. »Ja«, sagte Böttger. Er blickte sich besorgt um, nippte an seinem schwarzen Kaffee. Fritz Rau war einst einer der erfindungsreichsten Wissenschaftler in der deutschen Industrie. Selbst heute noch sah man ihn manchmal mit weißem Kittel im Laboratorium des großen che mischen Instituts, das ihm praktisch gehörte, bei irgendeinem neu en Experiment, dessen Resultate er auf die Rückseite eines Briefum schlags notierte. Das Schweigen der anderen Anwesenden war zum größten Teil der Hochachtung zuzuschreiben, die Rau unter ihnen ge noß. Böttger begann ernstlich zu fürchten, dass Raus Zweifel das gan ze Unternehmen Siegfried gefährden würden. »Meine Herren, über einen Punkt sollten Sie sich im klaren sein«, sagte Böttger. Er gab sich den Anschein, als sei ihm dieser lebenswich 211
tige Gedanke erst jetzt ganz plötzlich gekommen. Langsam ließ er den Blick von Gesicht zu Gesicht wandern. Melodramatische Gesten waren schon immer Böttgers Schwäche gewesen. Aber sie hatten ihm auch zu seiner jetzigen Position verholfen. »Sie sollten sich darüber im klaren sein, dass bereits jeder von uns an einem Verbrechen beteiligt ist. Wir haben die Verantwortung des Mordes auf uns genommen. So einfach ist es. Ich glaube jedoch, dass jeder Deutsche, der sein Vaterland liebt, uns zustimmen wird. Wir könnten morgen das Unternehmen Siegfried abblasen und unsere Pläne unerfüllt lassen – aber was dann? Können wir damit die Toten wieder zum Leben erwecken? Nein. Und falls einer von uns sich entschlösse, zur Polizei oder zum Außenministerium zu gehen, um unseren Plan preiszugeben? Soll ich Ihnen sagen, was dann geschehen würde? Jeder, der mit dem Unternehmen Siegfried verbun den ist, hätte mit Verhaftung und schwerer Strafe zu rechnen. Wir wür den wahrscheinlich alle den Rest unseres Lebens im Gefängnis verbrin gen. Abgesehen von der kriminellen Verantwortung, die wir auf uns genommen haben, müssen wir auch an unsere Herrn Kollegen den ken. Ich bin sicher, dass Sie, wie ich, sich die großzügige Hilfe Ihrer Ge schäftspartner und Kollegen durch Buchfälschungen erworben haben, um dem Trust die großen Bargeldbeträge verfügbar zu machen. Dazu kommt die Riesensumme, die wir der Bank in Genf gestohlen und in sicheren Gewahrsam gebracht haben. Daran waren viele Leute betei ligt. Und sie haben keine Fragen gestellt und es nur getan, weil sie un sere Freunde sind. Sollen wir sie dafür mit Verrat belohnen? Ich sage nein. Ich sage, wir müssen durchhalten, wie die Engländer 1940 durch gehalten haben und wie unser Volk 1944 durchgehalten hat, als die Rus sen immer näher rückten und die angloamerikanischen Bomber unse re Städte vernichteten. Haltet durch, meine Freunde, und gebietet euren Zweifeln Schweigen. Tut, was getan werden muß.« Böttger lächelte, als er seine Ansprache beendet hatte. Einen kur zen Augenblick befürchtete er das Schlimmste. Aber als er sah, dass sich sein Lächeln auf den angstvollen Gesichtern um den Tisch wider spiegelte, wusste er, dass er sie wieder einmal für sich gewonnen hatte. Selbst der kritische Fritz Rau schien vorläufig beruhigt. 212
Willi Kleiber ergriff als nächster das Wort. »Es wird keine Gewalt anwendung um der Gewalt willen geben, Dr. Rau«, versprach er. »Wir haben in unserem Leben genügend Menschen sterben sehen, und kei ner von uns wünscht sich noch Tote.« Er hielt inne und blickte sich um. Er kannte alle Anwesenden seit zehn oder fünfzehn Jahren. Willi Kleiber war Besitzer und persönli cher Leiter einer der besten Detektei- und Wachdienstorganisationen Europas. Alle diese Männer hatten mit seiner Firma Geschäfte abge schlossen. Einige teilten ihre dunkelsten Geheimnisse mit ihm. Mehr als einmal hatte er einem ihrer Kinder aus den Klauen der Drogen händler geholfen oder die Geheimnisse untreuer Ehefrauen erschnüf felt. Nicht einmal der Steuerberater wusste von ihnen so viel wie Klei ber. Er sagte: »Dr. Rau hat gefragt, ob er unter ›Handeln‹ die Beseiti gung von Leuten verstehen solle, die uns nicht gefallen. Dr. Böttger hat die Frage bejaht. Bei allem Respekt, den ich Dr. Böttger schulde, muß ich ihn hier berichtigen. In diesem heiklen Unternehmen gibt es kei nen Platz für persönliche Animositäten. Die einzigen Leute, die getö tet werden müssen, sind die, deren Wissen und Kenntnisse unserer Sa che gefährlich sind. Die Abschussliste wird so kurz sein, wie es mir ir gend möglich ist. Das kann ich allen Anwesenden versichern. Ich habe Menschen im Kriege getötet. Ich habe sie in Nahkampfgefechten ge tötet. Es war ekelhaft. Ich möchte es meinen Kindern nie erzählen. Dr. Böttger hat mich mit der aktiven Durchführung des Plans betraut, weil er genau weiß, dass ich nicht gerne Gewalt anwende. Ich bin Ihr mit dem Schwert bewaffneter Arm, meine Herren. Seien Sie gewiß, dass ich keine Unschuldigen treffen werde.« »Ich danke Ihnen, Willi«, sagte Fritz Rau. Er war einer der Ältesten in diesem Zimmer und genoß das Privileg, jüngere Kollegen beim Vor namen nennen zu dürfen. Böttger seufzte erleichtert auf und ging eiligst zum letzten Punkt der Tagesordnung über. »In London wird plötzlich Geld benötigt, und wir werden dort irgendeine Firma gründen müssen, an die die Beträge überwiesen werden können. Wir müssen es tunlichst vermeiden, die Aufmerksamkeit der englischen Behörden zu erwecken. Meine Fra 213
ge ist nun, ob einer von Ihnen Mittel und Wege kennt, eine halbe Mil lion DM in Verwahrung zu nehmen, während wir die dortige Firma aufbauen.« »Kein Problem«, sagte der Experte für Seeversicherung. »Sie müssen mir nur die Einzelheiten über die bevollmächtigten Personen angeben, Unterschriftsproben und so weiter.« »Willi wird Ihnen das besorgen. Ich kann Ihnen das Geld auf jedem gewünschten Wege zustellen.« Er blickte auf die Uhr über der Tür. »Das wäre alles für diese Woche, meine Herren«, sagte Böttger. »Sie werden per Fernschreiben und über den üblichen Code benachrich tigt, wo die nächste Sitzung stattfindet. Stellen Sie mir bitte rechtzeitig die nötigen Vollmachten zu, falls Sie nicht persönlich erscheinen kön nen.« Nachdem sich alle verabschiedet hatten, blieb Willi Kleiber noch einen Augenblick mit Dr. Böttger allein. »Was hatte nur der alte Fritz schon wieder zu meckern«, sagte Kleiber. »Mich beunruhigt die Ge waltanwendung!« Kleiber imitierte Fritz Raus sächsischen Akzent und die manchmal recht quakende Stimme. Es war eine grausame Parodie. »Er wird zu alt«, sagte Böttger. »Wir werden schließlich alle mal alt.« »Jedenfalls ist es dann doch noch gut gelaufen.« »Vorläufig wenigstens«, sagte Böttger. »Aber Sie wissen so gut wie ich, dass es nicht bei ein oder zwei Todesfällen bleiben wird.« »Es kann noch heiter werden«, sagte Willi Kleiber. »Schwer zu sagen, wie viele noch beseitigt werden müssen. Da bin ich ganz Ihrer Mei nung. Die Explosion in England, als wir Franz Wever umlegen muß ten, ist ja noch ein ganz schöner Zeitungsknüller geworden.« »Es war heller Wahnsinn, es so anzustellen«, sagte Böttger. »Haben unsere Leute dort denn den Verstand verloren?« »Der britische Intelligence Service kannte Wever bereits«, erklärte Willi Kleiber. »Sie hatten ihn unter Druck. Da mußten wir halt sehr rasch handeln.« »Der britische Geheimdienst. Wenn die die Hitler-Protokolle in die Finger bekämen, wäre das für uns das größte Fiasko«, sagte Böttger. »Wenn die Zeitungen sie kriegten, könnten wir sie ihnen wenigstens abkaufen oder ihnen Angst einjagen. Wenn sie aber dem britischen 214
Geheimdienst in die Hände fallen, müssen wir uns auf das Schlimm ste gefasst machen.« Willi Kleiber kratzte sich das Kinn. »Sie meinen also, die Englän der sind eine Gefahr für uns? Ja, in diesem Licht hatte ich es eigentlich noch gar nicht gesehen, Dr. Böttger, aber ich bin völlig mit Ihnen ein verstanden.« Böttger sah ihn an und nickte. Er wusste, dass Willi Klei ber es schon immer so gesehen hatte.
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S
ir Sydney Ryden hatte eine Verabredung zum Lunch, konnte aber Boyd Stuart gerade noch in seinen Terminplan zwischen das Ge spräch mit dem Unterausschuss-Sekretär für Spesenprüfung und dem Whisky vorm Mittagessen mit dem Koordinator einschieben. Boyd Stuart wartete eine halbe Stunde lang in einem leeren Salon, bis der GD hereinkam, sich in einen Sessel sinken ließ und nervös an seinem Haar zupfte. »Heute scheint alles auf einmal auf mich zuzukommen, Stuart. Finden Sie nicht auch?« »Jawohl, Sir. Es tut mir furchtbar leid, Ihren schwierigen Tag noch schlimmer zu machen.« »Macht nichts«, sagte der GD. »Es war schließlich mein Entschluss, mich über Ihre Untersuchung auf dem laufenden zu halten. Hat sich etwas Neues ereignet?« Boyd Stuart erzählte ihm vom Telefonanruf Paul Bocks in Steins Haus in Los Angeles und von seinem vorgestrigen Besuch im Norden Londons. »Sind die beiden Homos?« Er nickte, schien sich seine Frage beant wortet zu haben. »Ich habe keinen Grund zu einer solchen Annahme, Sir.« »Scheinen aber Verbrecher zu sein«, sagte der GD. 215
»Das sind sie«, stimmte Boyd ihm zu. »Ganz richtig, Stuart.« Der GD blickte auf den Getränkeschrank, dachte dann jedoch an das Mittagessen, bei dem er einen klaren Kopf behalten mußte. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass sie diesen Quatsch ernst nehmen?« »Vorläufig ja, Sir.« »Ist es nicht einfach lächerlich? Glauben Sie wirklich daran, dass ein paar bedeutende deutsche Industrielle drauf und dran sind, eine neue Nazibewegung in Gang zu setzen?« »Ich kann mir leider nicht den Luxus gestatten, irgend etwas außer acht zu lassen«, sagte Boyd. »Schön. Es ist schließlich Ihre Untersuchung.« Der GD kratzte sich am Kopf. »Aber die PM verlangt einen Lagebericht. Es macht mir kein Vergnügen, ihr zu erzählen, dass mein für die Ermittlungen verant wortlicher Agent glaubt, das Ganze sei eine Verschwörung der Neo nazis.« »Paul Bock hat sich Zugang zum Bankcomputer verschafft«, ermahn te ihn Boyd Stuart. »Der andere hat in der Elektronik gearbeitet, und nach dem Wenigen, das ich heute früh über ihn erfahren habe, ist er durchaus qualifiziert, Informationen abzuzapfen.« »Das bestreite ich ja nicht«, sagte der GD gereizt. »Sie müssen doch ein Motiv gehabt haben«, sagte Boys Stuart. »Wa rum haben sie sich mit Stein in Verbindung gesetzt, um ihn zu war nen, dass sein Leben in Gefahr sei? Offensichtlich ist Stein ihnen unbe kannt, denn sonst hätten sie sofort gewußt, dass ich sie anlog. Der jun ge Deutsche hat einem völlig fremden Menschen ein Geheimnis an vertraut. Falls dieser Fremde ihn verrät, hat er zumindest mit sofor tiger Entlassung aus seiner Bank zu rechnen, vielleicht auch mit einer Gefängnisstrafe. Also: Welchen Grund konnte er sonst haben, mir das zu erzählen?« »Vielleicht macht es ihm einfach Spaß«, sagte der GD. »Vielleicht ist ihm seine Stellung gar nicht wichtig. Er könnte ja ein Privateinkom men haben. Reiche junge Unruhestifter. Von denen wimmelt es in der westlichen Welt.« 216
Stuart verbarg nur schwer seinen Ärger über diese Verallgemeine rung. »Ich glaube, wir können mit Sicherheit annehmen, dass sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten, Sir. Und ich sehe keinen Grund, ihre Aufrichtigkeit anzuzweifeln.« »Sie brauchen mir nicht das Terroristengesetz vorzulesen, Stuart.« Boyd Stuart antwortete nicht. Der GD schaute auf seine Uhr. »Wie ich sehe, wollen Sie diese Sache also weiterverfolgen, und da will ich Ihnen nicht im Wege stehen.« Er erhob sich. Sein Kniegelenk knackte, und er massierte es kurz. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich selbst ein paar Erkundigungen einziehe?« »Nein, Sir«, sagte Boyd Stuart in einem Ton, der, wie er hoffte, deut lich durchblicken ließ, dass ihm der Gedanke zuwider war. »Großartig. Wir reden morgen noch einmal, bevor ich zur PM gehe.« Sir Sydney Ryden sah nicht gerade mit Begeisterung seinen Begeg nungen mit dem Vertreter des Deutschen Bundesnachrichtendien stes entgegen. Irgendwie fanden die beiden Männer nie zu der gleichen Wellenlänge, und was als nützlicher Meinungsaustausch mit gegen seitiger Hilfe bestimmt war, artete nur zu oft in Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen aus, zuweilen sogar in offenen Streit. Das gemeinsame Mittagessen bei Boodle's am Dienstag, dem 17. Juli, bildete keine Ausnahme. Es kam zu Differenzen über Ausbildungsein richtungen, die noch nicht gebrauchsfähig waren; zu einer Forderung um Rückerstattung wichtiger Akten, von denen Sir Sydney insgeheim wusste, dass sie irgendwo in Whitehall verloren gegangen waren, und zu einem Streit über eine Zeitungsnachricht bezüglich einer Geheim rakete, die auf irgendeinem Wege in die deutsche Presse gelangt war. Vom Standpunkt der europäischen Zusammenarbeit aus war das Mit tagessen ein glatter Misserfolg, aber als die beiden Männer sich zum Kaffee nach unten begaben, wo die anderen Clubmitglieder in tiefen Ledersesseln vor sich hindösten, wechselten sie das Thema und spra chen über Gärtnerei.
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Als Sir Sydney Ryden entdeckte, dass dieser schwierige Deutsche seine Begeisterung für Kakteenzucht teilte, lebte er plötzlich wieder auf. Er war ja selbst ein wohlbekanntes Mitglied der Britischen Gesellschaft für Kakteen und Stammsukkulenten. »Im allgemeinen«, sagte Sir Sydney, dessen Kaffee kalt wurde, »ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Blüte größer als die Pflanze ist, mit Ausnahme vielleicht bei Mammillaria und Rhipsalis. Da hätten Sie mal meinen Echinocactus tabularis mit seinen drei Blüten sehen sollen – jede größer als die Pflanze. Der hätte Sie bestimmt in Erstaunen ver setzt.« Sir Sydney schlug dabei so laut auf die Armlehne seines Sessels, dass ein Clubmitglied am anderen Ende des Zimmers von seiner Zei tung aufblickte. »Am schlimmsten ist es mit den Schmierläusen«, sagte der Deut sche. »Paraffin ist das einzige Gegenmittel, aber die Pflanze stirbt da bei oft mit.« »Ich wende nie Paraffin an«, sagte Sir Sydney. »Sowie Sie die klei nen grauen Flecken sehen, kratzen Sie sie mit einer Nadel ab. Ich wür de sogar lieber ein großes Stück Pflanze abschneiden als Paraffin be nutzen.« »Das interessiert mich aber sehr«, sagte der Deutsche. »Ich werde mir auch Ihren Rat bezüglich der Samenkörner merken.« »Ja, das ist eigentlich ganz einfach. Sie müssen natürlich warten, bis der Blütenstamm völlig abgestorben ist, bevor Sie die Samenkörner entfernen. Der Samen der Mammillaria steckt in Hülsen, und die be wahren Sie bis zum folgenden Frühling auf. Säen Sie nicht vor Ende April, falls sie nicht ganz sicher sind, dass die Temperatur nicht mehr unter 16 Grad sinkt.« »Ich werde es versuchen«, sagte der Deutsche. »Verdammt schade, dass Sie keine Zeit haben, mich in meinem Land haus zu besuchen.« »Vielleicht das nächste Mal.« »Großartig.« »Ich bin Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet. Kann ich irgend etwas für Sie tun, Sir Sydney?« 218
Dem GD kam plötzlich ein Gedanke. »Da wäre vielleicht etwas, mein lieber Freund. Es ist eine höchst geheime Angelegenheit, aber ich möchte gern die Glaubwürdigkeit eines jungen Mannes nachprüfen, der für die Londoner Zweigstelle einer Hamburger Bank arbeitet und behauptet, sich aus dem Zentralcomputer Informationen verschaffen zu können. Wie gesagt, es ist streng geheim. Es müßte sehr diskret er mittelt werden.« »Das ist doch ganz einfach, Sir Sydney«, sagte der BND-Mann. »Es braucht gar nicht über meine Behörde zu laufen. Ich werde mich per sönlich darum kümmern. Morgen essen meine Frau und ich in Bonn mit einem alten Freund, der eine unserer besten Detekteien leitet, zu Mittag. Er weiß alles über deutsche Banken.« »Ausgezeichnet«, sagte Sir Sydney Ryden. »Es wäre mir lieber, wenn es nicht über den Amtsweg geht. Ich gebe Ihnen die Einzelheiten.« Der Deutsche nahm seinen Taschenkalender und machte sich eine Notiz auf das Blatt vom Mittwoch, dem 18. Juli. Unter den Namen sei nes Mittagsgastes schrieb er: »Auskunft für Sir SR erwähnen.« Der Name seines Gastes: Willi Kleiber.
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A
lle Bemühungen der britischen Geheimdienstbeamten in Los An geles, Paul Bocks Nachricht vom Band des Steinschen Anrufbe antworters zu löschen, blieben erfolglos. Der von einer kleinen Fabrik in San Diego hergestellte Apparat wurde von der Firma als die zuver lässigste Hauseinrichtung gepriesen, die auf dem Markt erhältlich ist. Ein Beweis dieser Zuverlässigkeit: Es war unmöglich, irgendeine auf genommene Meldung fahrlässig zu löschen. Der Apparat vom Typ ›Executive II‹ hatte eine abnehmbare Löschvorrichtung, die man an derswo unter Verschluss halten konnte. Charles Stein hatte dieses Mo 219
dell besonders zugesagt, weil er seinen Sohn Billy für fähig hielt, wich tige Nachrichten aus Versehen zu löschen. Auch der Versuch, einen Agenten als Techniker vom Telefondienst in Steins Haus zu schicken, war fehlgeschlagen. Steins Haushälterin hatte seit langem entdeckt, dass sie mit ihrem Arbeitgeber am besten auskam, wenn sie seine Anweisungen aufs Wort befolgte. Als nun ein junger Mann mit Werkzeug und voller Ausrüstung an der Tür klingel te und sich durch die Sprechanlage meldete, sagte sie ihm, dass sie ihn nicht hereinlassen könne. Er versuchte ihr zu erklären, das Telefon im Hause habe eine Störung. Als das bei ihr nichts half, wurde er dring licher und behauptete, die Störung würde sich auf das ganze Telefon netz des Cresta Ridge Drive auswirken. »Kommen Sie in ein paar Ta gen wieder«, sagte sie. Charles Stein hatte sie angewiesen, niemanden ins Haus zu lassen, und genau das beabsichtigte sie zu tun. Als sich der angebliche Telefonmonteur nicht abweisen lassen wollte, drohte sie, beim Fernamt anzurufen und sich über sein Benehmen zu beklagen. Daraufhin mußten alle Versuche, an den Anrufbeantworter zu gelan gen, aufgegeben werden. Charles Stein kam um elf Uhr vormittags zu Hause an. Er war sehr schlechter Laune. Seine Haushälterin stellte ihm außer nach seinen Es senswünschen keine Fragen. Erst nachdem sie ihm die Suppe auf den Tisch gestellt hatte, gestand er ihr, dass er von der California Highway Patrol wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden war, obgleich er auf dem Harbor Freeway im vorschriftsmäßigen Tempo gefahren sei. Die Haushälterin nickte und schwieg, gab jedoch durch einige dis krete Kehllaute ihre Teilnahme kund. »Ich und betrunken!« sagte Stein empört. »Hat man einen Alkoholtest vorgenommen?« »Ja, und der hat nichts ergeben. Ich habe nur zwei Glas Weißwein mit einem alten Freund getrunken. Sie kennen mich doch, Mrs. Svenson; haben Sie mich je betrunken gesehen? Harte Sachen rühre ich nie an. Es schmeckt mir nicht einmal mehr.« »Und man hat Ihnen gesagt, Sie seien zu schnell gefahren?« »Die haben behauptet, es sei ein sicheres Zeichen von Trunkenheit, 220
wenn man so vorsichtig unter der Geschwindigkeitsgrenze bleibt. Es ist doch nicht zu fassen!« Die Haushälterin stieß noch ein paar Kehllaute aus. »Unsicheres Fahren, sicherheitsgefährdender Fahrbahnwechsel. Und dann haben sie mich ins Polizeigefängnis an der Union Station ge bracht. Was sagen Sie dazu?« »Es ist schrecklich, Mr. Stein.« »Ich habe eine Blutprobe verlangt. Ich kenne das Gesetz. Ich habe eine Blutprobe verlangt. Sie sagten, sie könnten den verdammten Po lizeiarzt nicht erreichen. Vielleicht ist der auch besoffen, habe ich ge sagt. Dann kam schließlich die Wachablösung, und ich wurde freige lassen.« Stein blickte seine Haushälterin an und schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich wütend, Mrs. Svenson. Eine Unverschämtheit, mich so zu behandeln.« »Essen Sie Ihre Suppe, Mr. Stein«, sagte sie. »Versuchen Sie, die gan ze Geschichte zu vergessen.« Stein riß sein Brötchen in Stücke und verschlang es mit der Suppe. »Diese Kerle von der Highway Patrol werden nie einen Irrtum ein gestehen. Das können sie sich nicht leisten«, sagte Stein. »Sie haben mich über Nacht dabehalten und mich mit allen möglichen Strafen bedroht. Und heute früh haben sie mich einfach entlassen. Stellen Sie sich das vor. Ich komme für nichts und wieder nichts ins Gefängnis, und dann ist man so freundlich, mich zu entlassen.« Schweigend aß er seine Suppe. »Wo ist Billy?« fragte er und schob seinen Teller beiseite. Stein schob seine Teller immer beiseite. Er brauchte Platz vor sich auf dem Tisch. Teller und Gläser – besonders leere – empfand er als stö rend. »Er ist auf sein Boot gegangen«, sagte die Haushälterin. »Schon wieder?« »Er trainiert für die Regatta im nächsten Monat. Die Meisterschaft. Das wissen Sie doch, Mr. Stein. Da ist Billy immer dabei.« Stein blickte auf, wurde sich gewahr, dass Billy ein weiteres weibli ches Wesen für seine Sache gewonnen hatte, was immer sie auch sein mochte. »Es ist Zeit, dass der Junge sich Arbeit sucht«, sagte Stein. 221
»Ich bringe Ihnen jetzt das Mittagessen«, sagte die Haushälterin. Stein war mit den gegrillten Lammkoteletts und dem Kartoffelbrei rasch fertig. Die Haushälterin hatte gehofft, ihren Arbeitgeber mit die ser schmackhaften und schnell zubereiteten Mahlzeit wieder zur Ruhe zu bringen. Stein machte sich jetzt an die gebackenen, mit Basilikum aus dem Garten gewürzten Tomaten heran, aber seine Entschlossen heit schwankte, als er an die demütigende Nacht zurückdachte. Man hatte ihm Handschellen angelegt, ihn ausgezogen, durchsucht, foto grafiert und Fingerabdrücke genommen. Er schob sich hastig den Rest Kartoffeln in den Mund. »In die Besoffenenzelle haben die mich ge steckt, wie einen gewöhnlichen Verbrecher.« »Sie hätten mich anrufen sollen, Mr. Stein.« »Das hätte mir nichts genützt«, brummte Stein schmatzend. »Man darf nur eine Person anrufen, und ich habe meinen verdammten An walt in sämtlichen Bars und Restaurants und Nachtlokalen zu errei chen versucht.« Er hatte die Kartoffeln aufgegessen, nahm die gebutterte Toastschnitte und stand auf. Der Geruch des Gefängnisses haftete ihm im mer noch an. »Ich muß ein Bad nehmen«, sagte Stein, »und diese stin kenden Kleider wechseln.« »Es muß schrecklich für Sie gewesen sein, Mr. Stein.« »Verdammte Faschistenbande«, sagte Stein. »Das habe ich denen auch gesagt. Ich habe mich im Krieg geschlagen, um die Welt von Fa schisten wie euch zu befreien, habe ich gesagt.« »Und was haben sie gesagt?« »Gelacht haben sie«, sagte Stein. Er zuckte die Schultern. Er war es allmählich gewohnt, dass die Leute über den Krieg lachten. Billy Stein hatte jahrelang darüber gelacht. Warum sich aufregen, wenn anderer Leute Kinder auch darüber lachten? Stein lockerte die Krawatte und knöpfte seinen Hemdkragen auf, ging an den Kamin und schob ruhelos einige Porzellanfiguren beisei te, als ob er etwas suchte. »Ist Ihnen nicht gut, Mr. Stein?« fragte die Haushälterin. So hatte sie ihn noch nie gesehen. 222
»Gelacht haben sie«, wiederholte Stein. Sein Gespräch mit Jerry De laney hatte alte Erinnerungen geweckt. Die Nacht im Gefängnis hatte ihm zu viel Zeit zum Grübeln gelassen. Da war nämlich noch die an dere Hälfte der Geschichte. Er erinnerte sich, wie er es immer wieder dem schmierigen kleinen Hauptmann vor dem Kriegsgericht erzählt, und wie der ihn wutschnaubend einen Lügner genannt hatte.
Delaney hatte natürlich die gleiche Geschichte erzählt. Delaney war sein Kamerad; ein großer, schlaksiger Junge mit langem Hals und den unsicheren Bewegungen eines noch nicht ganz reifen Mannes. Major Carson war an diesem Tag der einzige Ältere in der Kolonne. Carson hatte im Ersten Weltkrieg in Frankreich gekämpft. Er war ein plum per, grauhaariger Mann, Nase und Backen waren rot vor Kälte, von den Morgenstunden auf dem Übungsplatz und vom abendlichen bil ligen Schnaps seiner langen Dienstjahre in Friedenszeiten. »Wir brau chen keinen Feldstecher«, hatte er zu Oberleutnant Pitman gesagt, als sie den Rauch sahen. »Die Deutschen sind über dem nächsten Hügel und schießen die Versorgungskolonne zu Brei.« Er klebte seinen Kau gummi an die Außenwand der M 3 und blickte auf die Geländekarte, als die nächsten Salven ertönten. Stein beobachtete ihn aufmerksam. Er zuckte nicht mit der Wimper. Bei der Untersuchung hatte man ver sucht, Carson als einen Feigling hinzustellen, aber ein Feigling wäre bei der Kolonne geblieben, hätte nicht daran gedacht, mit einem Jeep über das offene Gelände zu fahren, um dem Bataillon Meldung zu ma chen, was da drüben vorging. »Ich brauche einen Fahrer«, sagte Ma jor Carson. »Nehmen Sie den jungen Stein«, sagte Oberleutnant Pitman. »Der ist noch zu jung für den Kampfeinsatz.« »Das sind sie alle«, sagte Carson und blickte von der Karte auf. »Und wenn die Deutschen bis hierher vorgerückt sind …« – er klopfte mit dem Finger auf die transparente Kartenhülle –, »ist die ganze Schie ßerei keinen Dreck mehr wert. Feldgeschütze, Kampftruppenregi 223
ment und der ganze Zauber – Scheiße! Die hohen Offiziere sind blöde Arschlöcher, Pitman.« »Jawohl, Herr Major«, sagte Pitman, der sich stets bemüht hatte, der artig respektlose Äußerungen unter seinen Leuten nicht aufkommen zu lassen. Carson sah ihn an und lächelte. Pitman war zehn Jahre älter als die meisten dieser Jungen und kam aus West Point, aber es mangelte ihm ganz erbärmlich an wirklich soldatischer Erfahrung. Seine Uniform war nagelneu, die Krawatte sauber ins Hemd gesteckt, die wasserdich te Jacke ohne einen Flecken. Pitman war kleiner als die anderen, und die schwere automatische Pistole und die volle Feldflasche drückten ihm den Gürtel herunter; der Feldstecher hing ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Während er einen raschen Blick zum Horizont hin warf und nur die schwarzen, felsigen Hügel sah, die ihnen den Funkkon takt mit dem Hauptquartier abgeschnitten hatten, stieß er mit seinem Stahlhelm an den Schutzpanzer der M 3. Major Carson legte ihm in väterlicher, vertrauensvoller Geste den Arm um die Schulter. »Bringen Sie diese Kinder in die Schlucht hinunter, Oberleutnant, und ziehen Sie sich parallel zur Straße von Sbeitla zurück.« Eine neue Rauchwolke stieg auf, gefolgt vom Donner der Geschütze. »Die Deutschen könnten versuchen, bis nach Kasserine durchzustoßen.« »Kasserine?« sagte Pitman. Es schien undenkbar. Carson fingerte wieder an der Karte herum. Seine Nägel waren kurz, die Hände voller Öl- und Nikotinflecken, seine Finger wiesen viele kleine Narben auf. Es waren die Hände eines Mannes, der gerne Mo toren auseinander nimmt. »Kommen Sie bloß nicht auf den Gedan ken, sich eine Ehrenmedaille zu verdienen. Die Deutschen werden die se kleine Karawane pausenlos vor sich hertreiben. Gehen Sie in die Schlucht zurück, und hauen Sie schnellstens von hier ab.« »Wir sind Panzerknacker«, sagte Pitman. »Wollen Sie, dass wir ein fach abhauen?« »Hol' mir meinen Jeep, Junge«, rief Carson Aram Stein zu. Zu Pitman sagte er: »Schaffen Sie mir diese Museumsstücke fort, Oberleut nant. Das ist ein verdammter Befehl, verstanden?« 224
»Jawohl, Herr Major.« Pitman salutierte beispielhaft. Carson kletter te in den Jeep, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Oberleutnant Pitman nahm seinen Helm ab und fuhr mit dem Fin ger über das verschwitzte Lederband, bevor er ihn sich wieder aufsetz te und den Sturmriemen festzog. Jetzt war er auf sich selbst angewie sen, kommandierte, wie er es sich oft erträumt hatte, die ganze Kolon ne im Angesicht des Feindes. »Da kommt ein Soldat den Steilpfad her auf«, sagte er, aber seine Worte wurden von einer neuerlichen Explo sion, die dieses Mal vom Fuße des Hügels kam, übertönt. Nur Stein wusste, was geschehen war, vielleicht, weil er es seit so langer Zeit be fürchtete. »Aram«, brüllte er und sprang mit erstaunlicher Behendig keit aus der M 3. Dann rannte er wie ein Wahnsinniger den Hügel hin unter. »Bewege dich nicht, Aram. Ich komme. Bleibe, wo du bist. Ich komme, Aram. Aram!« Aber Aram Stein würde sich nie mehr bewegen; Major Carson auch nicht. Der Jeep war etwa eine halbe Meile entfernt auf eine Tellermine gefahren, lag in Trümmern. Die Reifen brannten. Die Körper der bei den Männer waren in Stücke gerissen. »Aram!«
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?« fragte die Haushälterin. »Ich muß mit Billy reden«, sagte Stein zu ihr. Er hatte den Jungen zu sehr verwöhnt. Es wurde höchste Zeit, ihn in die wahren Probleme einzuweihen. Stein war müde. Von jetzt an würde Billy helfen müssen, wirklich helfen. »Ja, Mr. Stein«, sagte die Haushälterin überrascht, dass Stein sie so ins Vertrauen zog. »Vergessen Sie nicht, dass Ihr Telefon noch immer auf den Anrufbeantworter eingeschaltet ist.«
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illy Stein war seit fast acht Jahren nicht mehr in London gewesen. Damals hatte er es mit seinen Eltern besucht – eine besondere Fe rienreise zur Feier ihres Hochzeitstages. Sie hatten alle Sehenswürdig keiten mitgenommen – die Wachablösung am Buckingham-Palast, Musikschau in einem Theater, eine Themse-Rundfahrt, und sie hatten bei Simpson's am Strand zu Mittag gegessen. Es waren ein paar recht angenehme Tage gewesen, dennoch hatte London die Familie Stein nicht so beeindruckt, dass sie dorthin zurückzukehren wünschten. Das kalte Klima, die häufigen Regenschauer, die immer ganz unerwar tet kamen, hatten ihnen gar nicht behagt, und das Hotel war weder ge heizt noch mit einer Klimaanlage versehen. Seitdem hatte sich wenig verändert. Das Parkproblem war entsetz lich, der Taxidienst unzureichend, das Telefonieren beschwerlich, das Essen nicht nach seinem Geschmack. Billy Stein hatte den größten Teil seines Lebens in Südkalifornien verbracht und fühlte sich nirgendwo sonst wirklich glücklich. All das machte es dem jungen Stein nicht leicht, den Auftrag seines Vaters auszuführen und herauszufinden, was Mr. Paul Bock ihm zu sagen hatte. Selbst in seinem Luxushotel an der Park Lane hatte Bil ly Stein Schwierigkeiten. Der Zimmerkellner war Portugiese und ver stand Billys Frühstücksbestellung nicht; die englische Morgenzeitung enthielt fast ausschließlich Lokalnachrichten, Berichte über die Aktivi täten britischer Gewerkschaftsführer, hochtrabende Meldungen über britische Exporte und einige völlig unverständliche Reportagen über Cricketspiele. Als Schlagzeile stand zu lesen: »Hängen: 119 Nein. MPs Entscheidung in der großen Debatte.« Er legte die Zeitung beiseite und wandte sich dem Frühstück zu. Orangensaft aus der Dose, ein bisschen 226
Rührei und einige verschrumpfte Stücke Bratenspeck. Er goss sich den Kaffee ein und seufzte. Warum hatte er sich von seinem Vater zwingen lassen, nach London zu fliegen? Er könnte jetzt im Schatten der Pal men sitzen, bei frisch geschnittener Ananas mit wirklicher Sahne und gutem Kaffee, einen Blick auf die Karte werfen und sich entscheiden, wohin er am Nachmittag fliegen sollte, um ein bisschen zu schwim men, zu surfen oder Wasserski zu laufen. Er schaltete den Fernseher ein, sah aber nur Schneegestöber und hörte lautes Pfeifen. Er schloss die Augen und trank den Hotelkaffee. Er hatte sich noch nicht ganz an den Zeitunterschied gewöhnt, und der Transatlantikflug hatte ihn sehr ermüdet. Die Temperatur der ›ja panischen Handtücher‹ war etwa die gleiche wie die der zahlreichen Martinis, mit denen er die Erinnerung an das aufgewärmte Fleisch und Gemüse seines Erste-Klasse-Diners wegzuspülen versuchte. Der Bordkinofilm war entsetzlich langweilig, einzige Abwechslung wa ren das banale Geplauder des Flugpersonals und das Schnarchen ei nes Passagiers in der Reihe vor ihm gewesen. Billy Stein war erschöpft in London angekommen. Der hilfreiche Chauffeur, der ihn ins Hotel brachte, hatte ihm, wie er später herausfand, das Vierfache des regulä ren Taxipreises abgenommen. Dann hatte er neunzehn Stunden lang in seinem bequemen Hotelzimmer geschlafen. Deshalb hatte Billy bis zum Freitag nichts unternommen, um sich mit Paul Bock in Verbin dung zu setzen – eine Woche, nachdem der Anruf von Steins Apparat aufgenommen worden war, und vier Tage nach Boyd Stuarts Besuch im York Way. Selbst am Freitag mußte Billy Stein sich dreimal bemühen, bis er von der Sekretariatsagentur die Adresse bekam. Nach einem späten Früh stück nahm er Regenmantel und Hut und trat in den kalten Londoner Sommer hinaus. Ein Taxi brachte ihn zu Jimmy's Militaria. Je näher er kam, desto niedergeschlagener fühlte er sich. Die schäbigen Häu ser und schmutzigen Straßen entsprachen so gar nicht der höflichen, wohlklingenden Stimme, die er auf dem Tonband des Anrufbeant worters gehört hatte. »Hier sind wir angelangt«, sagte der Taxichauffeur. Billy hielt ihm 227
eine Handvoll Wechselgeld entgegen und bat ihn, sich zu bedienen. Der Chauffeur murrte über diese Zumutung, bediente sich jedoch aus giebig. Billy Stein hielt sich die Hand über die Augen, um hinter dem Schild ›Geschlossen‹ in den dunklen Laden zu schauen. Es lag ein seltsamer Widerspruch in diesen schmalhüftigen und auf möglichst modernes Aussehen getrimmten Schaufensterpuppen, die hier mit der militäri schen Ausrüstung längst vergangener Zeiten beladen waren. Sie sahen recht komisch aus, diese Nazis mit ihren feschen Uniformen, Armbin den, Ledergürteln und Dolchen, wie sie da neben altertümlichen Hu saren und Kavallerieoffizieren, verbogenen und rostigen Ritterrüstun gen und einem kopflosen Marinekorporal standen. Diese offensicht lich bei einem Trödelhändler gekauften Puppen trugen ihre gebroche nen Glieder, fehlenden Füße und angeschlagenen Gesichter mit uner gründlicher Standhaftigkeit. Wie im Leichenschauhaus, sagte sich Bil ly erschaudernd. Er klingelte, aber niemand kam. Er warf einen Blick auf das Schloss der Ladentür. Es war älter als die meisten Antiquitäten im Schaufen ster. Er sah sich rasch auf der Straße um. Ob das Ganze ein Schwindel war oder nicht, jedenfalls war er nicht 6.000 Meilen hierher geflogen, um unverrichteter Dinge abzuziehen. Er nahm sein Taschenmesser, führte es in das Schnappschloss ein, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie krachte zuerst, dann sprang sie auf. Billy Stein trat ein, lehnte die Tür hinter sich zu, schob eine große Bombe davor, damit sie nicht wieder aufflog. Dann bahnte er sich be hutsam seinen Weg zwischen den Hakenkreuzfahnen und den Reihen von Brustpanzern, Schwertern und Gewehren. Von oben hörte er Mu sik. Bach, auf einer Laute gespielt. Er blickte in den hinteren Raum, wo sich bis zur Decke Pappschachteln stapelten. Dahinter lag ein gepfla sterter Hof, kaum größer als eine Telefonzelle, über den man zu einem Plumpsklosett in einem Bretterverschlag gelangte. Er sah auch einen schmutzigen Waschtisch mit schmierigen roten Flecken. Billy Stein ging durch den Laden zurück und stieg rasch die Trep pe hinauf. Die Musik schien aus dem darüber gelegenen Stockwerk 228
zu kommen. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. Die Musik ver stummte, und er lauschte an der Tür. Eine Männerstimme sagte: »Das war die Suite für Laute Nr. 2 in a-Moll von Bach, gespielt von Carlos Bonell.« Es war der Ansager der BBC. Billy stieß langsam die Klinke herunter und öffnete die Tür. Er trat in ein großes Zimmer mit Ausblick auf das Schieferdach des Plumpsklosetts, einen verkrüppelten kleinen Baum, der vergeblich um ein bisschen Sonnenschein kämpfte, und einen Hof, der sich gut als Hinrichtungsstätte eignen würde. Eine Menge Möbel standen im Zim mer – mehrere alte Sessel und ein großes Sofa, durch dessen zerrisse nes Polster eine Sprungfeder ragte. An dem Kamin lehnte ein halbes Dutzend großer vergoldeter Bilderrahmen und ein verblichener Son nenschirm, der für Coca-Cola warb. Es roch nach Katzen und Kohl. Er ging auf die Tür des nächsten Zimmers zu, eine schwere Tür, un ter vielen Schichten billiger Farbe vergraben. Irgendein Kunstsinni ger war mit einem Kamm über die nasse Farbe gefahren, um Holzma serung vorzutäuschen. Er lehnte sich gegen die schwere Täfelung. Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel lag auf dem Boden. Er hob ihn auf und steckte ihn ins Schloss. Dahinter hörte er wieder die Lau tenmusik. Er hätte alles mögliche erwartet, nur nicht zwei der Länge nach auf dem Bett ausgestreckte Männer. Im Zimmer war fast alles blutver schmiert, einschließlich zweier Overalls, die man, zusammengebün delt, mit dem Messinghaken in den Kamin gestopft hatte. Die beiden Männer auf dem Bett waren tot. Bei dem einen handelte es sich um Paul Bock, bei dem anderen um Jimmy. Billy Stein hätte je doch keinen von ihnen erkennen können, denn die Mörder hatten ih nen Hände und Köpfe abgeschnitten, damit man sie nicht identifizie ren konnte. Billy stand sprachlos an der Tür. Er wusste nicht, wie lange er die ge köpften Männer auf der blutdurchtränkten Daunendecke angestarrt hatte, bis er plötzlich wieder die Stimme des Radioansagers vernahm, der als nächstes ein Gitarrensolo von Albeniz ankündigte. Er trat rück lings aus dem Zimmer und schloss die Tür mit mehr Kraft als beab 229
sichtigt, setzte sich in einen alten Sessel und fühlte sein Herz pochen. Es war ihm, als würde sein Körper zerspringen. Schließlich bezwang er seine Panik, zog sich zurück, wie er gekommen war, schloss alle Tü ren hinter sich. Noch immer hörte er die Gitarrenmusik. Zwar wusste Billy, dass das Fehlen des Gebisses oder der Fingerab drücke der Opfer eine polizeiliche Untersuchung behindert, fand es aber trotzdem teuflisch, dass Mörder dazu imstande waren, ihren Op fern Hände und Köpfe abzuhacken. Erst eine Stunde später, als er im mer noch ziellos durch die schmutzigen Gassen von King's Cross wan derte, fiel ihm ein, dass man seine Fingerabdrücke überall deutlich am Tatort finden würde. Aber er hatte nicht die Absicht, dieses Haus noch einmal zu betreten. Er fragte einen Passanten nach dem Weg zur Park Lane und mußte im Regen bis zum Untergrundbahnhof Warren Street, wo er endlich ein Taxi fand, laufen. Als er im Wagen saß, ver grub er das Gesicht in den Händen. Kaum zu glauben, dass er noch gestern keine dringlicheren Probleme hatte als die, ob der Ölfilter im Motor seines Flugzeuges ausgewechselt werden sollte oder nicht.
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er Londoner Überwachungsbeamte vom Dienst rief Boyd Stuart um vierzehn Uhr dreißig am Freitag, dem 20. Juli, an. Das Ge spräch lief über eine interne Scrambler-Leitung; er konnte also frei re den. »Stein war da«, sagte der Beamte. »Und wo ist er jetzt?« »Er ist ins Hotel zurückgekehrt, weiß wie ein Bettlaken. Er irrte durch die Straßen und schien nicht mehr zu wissen, wo er war. Dann sah er ein Taxi vorbeifahren, hielt es an und ist vor etwa vierzig Minu ten in seinem Hotel angekommen. Er ist völlig verstört.« 230
»Das wäre ich an seiner Stelle auch«, sagte Boyd Stuart. »Die Polizei hat sich immer noch nicht blicken lassen?« »Der Deutsche hatte bei seiner Bank um ein paar Tage Urlaub gebe ten. Sie werden ihn wahrscheinlich vor Montag nicht als vermisst mel den. Der andere Junge hat, soweit ich es ermitteln konnte, keine engen Freunde oder Verwandte.« »Wie lange war Stein dort?« »Zwanzig Minuten, vielleicht auch weniger.« Es folgte ein langes Schweigen. Boyd Stuart zeichnete eine Rei he Quadrate auf seinen Notizblick, füllte ein jedes behutsam, bis die Zeichnung vollständig war, mit einem Kreuz aus. »Sind Sie noch da?« fragte der Überwachungsmann. »Ja, ich bin noch da.« »Jetzt wäre gerade der richtige Zeitpunkt, Sir. Der Mann, der Stein beschattet, sagt, er scheine in einem schrecklichen Zustand zu sein.« »Danke«, sagte Stuart. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Er hängte auf und griff nach seinem Hut. »Ich möchte zu Mr. Stein«, sagte Boyd Stuart zum Empfangsportier. »Ich will ihn überraschen.« »Ich bedaure, Sir, aber …« Boyd Stuart packte die Hand des Mannes, bevor dieser das Hauste lefon ergreifen konnte. »Ich will ihn überraschen«, wiederholte Stuart und legte den Kriminalpolizeiausweis, den er für solche Gelegenheiten bei sich trug, vor ihn hin. Der Portier starrte auf den Ausweis. »Ich muß den Geschäftsführer rufen.« »Sie werden niemanden rufen«, sagte Boyd Stuart, »oder ich las se Sie wegen Behinderung eines Polizeibeamten bei Ausübung sei ner Pflicht verhaften.« Er sprach sehr ruhig, hielt jedoch das Hand gelenk des Mannes mit einer solchen Kraft, dass es schmerzte. »Ich will ihn nur ganz kurz auf seinem Zimmer sprechen. Haben Sie ver standen?« »Ich habe verstanden«, sagte der Mann. Boyd Stuart ließ ihn los und ging rasch auf den Fahrstuhl zu, dessen Türen sich gerade geöffnet 231
hatten. Als der Empfangsportier wieder aufblickte, war Stuart ver schwunden. Zimmer 301 lag direkt neben dem Fahrstuhl. Alle Zimmer mit 01 lie gen neben dem Fahrstuhl; erfahrene Reisende vermeiden sie stets. Stu art wunderte sich, dass Stein keine Suite bewohnte. Bei seinem Kre dit und den gewöhnlichen Ausgaben, die man nachgeprüft hatte, hätte er sich durchaus eine leisten können. Stuart schaltete das Flurlicht aus und klopfte an die Tür. »Ja?« Es war Billy Steins Stimme. »Zimmerservice.« »Was wollen Sie?« »Ich habe ein Paket für Sie, aus dem Ausland. Das sieht man an den Briefmarken.« »Schieben Sie es unter der Tür durch.« Stuart lächelte. Diesen Trick hatte man schon einmal bei ihm ver sucht. »Es ist ein Paket, wie gesagt. Es passt nicht unter die Tür.« Ein langes Schweigen folgte, dann hörte Stuart den Schlüssel im Schloss. Jetzt mußte er schnell handeln, und er hoffte, dass Stein nicht die Rie gelkette eingelegt hatte. Billy Stein öffnete die Tür einen Spalt, Stuart senkte die Schulter, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Stein war vorbe reitet, aber nicht genügend. Er taumelte in das Zimmer zurück, Stuart folgte, stolperte über Steins Koffer, wäre beinah gestürzt, hielt sich am Bettpfosten fest. Jetzt saß Stein auf dem Teppich, und Stuart hielt ihm eine Smith & Wesson Magnum vor die Nase. »Keine Bewegung«, sagte Stuart, und der junge Mann gehorchte. Stuart hatte sich absichtlich aus seinem Arsenal gerade diese großka librige Waffe ausgewählt, die kaum in sein Schulterhalfter passte und ihm schwer auf der Seite lag. Keine Autokarosserie hielt den Kugeln dieser Magnum stand, aber vor allem wusste er, dass er damit jeden einschüchtern konnte, wie es auch jetzt bei Billy der Fall war. »Hier ist kein Bargeld zu holen«, sagte Billy Stein, auf die bedrohli che Waffe blickend. »Keine Kameras, keine Reiseschecks.« Es gelang ihm, leicht verächtlich zu grinsen. »Sie haben die falsche Nummer ge 232
wählt, Freundchen. Ich bin bei meinen letzten Kröten angelangt und suche mir einen Job.« Stuart lächelte. »Sie enttäuschen mich, Billy.« Stein blickte auf und fragte wütend: »Woher wissen Sie meinen Na men?« Stuart antwortete nicht. Er sah sich das Zimmer an. Stein trug einen Morgenrock, hatte wahrscheinlich zu schlafen versucht. Seine goldene Armbanduhr lag auf dem Nachttisch neben einem Stadtführer durch London und einer gelbgetönten Brille. »Das nächste mal, wenn jemand an Ihre Hoteltür klopft, setzen Sie sich Ihre Brille auf. Sie könnten etwas zu unterschreiben haben.« »Das nächste Mal, Sie Strolch?« entgegnete Billy Stein, der sich in zwischen genügend erholt hatte, um seine Wut zu zeigen. »Das näch ste Mal schlage ich Sie mit meinen bloßen Händen zusammen.« Stein versuchte aufzustehen. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Stuart. »Ich weiß, wie man mit die sem Schießeisen umgeht, und falls Sie mir nur den geringsten Anlass dazu geben, mache ich mit Ihnen, was Sie heute früh in King's Cross mit den beiden armen Burschen angestellt haben.« »Augenblick mal«, sagte Billy. »Welchen Burschen? Wovon reden Sie überhaupt?« »Erzählen Sie mir keine Geschichten, Stein. Ich weiß, was Sie heute früh getan haben, bevor Sie auf ein Schlummerstündchen in Ihr hüb sches Hotel zurückkehrten. Sie haben diese beiden Jungen umgebracht und ihnen die Köpfe abgehackt. Was haben sie Ihnen getan? Wollten sie Ihnen ein paar Hitler-Protokolle Ihres Papas verkaufen, oder waren sie mit der Miete im Rückstand?« »Ach so, jetzt habe ich's«, sagte Billy Stein. »Sie sind einer von den Engländern, die mit meinem Vater über die Papiere gesprochen haben. Deshalb wissen Sie darüber Bescheid.« »Über die Papiere weiß ich Bescheid«, sagte Stuart. »Ich wusste nur nicht, wie weit Sie und Ihr Papa gehen würden, um sie nicht aus der Hand zu geben. Wie haben Sie es angestellt, Billy? Mit Säge oder Axt?« 233
»So lass ich nicht mit mir reden, Sie Scheißkerl«, sagte Billy. »Ich habe diese Leute nicht umgebracht, diese Jungen, wie Sie sagen. Ich weiß nicht einmal, ob es Jungen waren. Ich wurde in eine Falle gelockt.« »In eine Falle? Wie und von wem? Sie fliegen nach London – Erster Klasse mit allem Zubehör –, steigen in diesem protzigen Hotel ab. Heu te früh ziehen Sie von hier los und fahren direkt nach King's Cross – nicht gerade ein Ort für Touristen, wie Sie wohl zugeben werden – und bleiben etwa zwanzig Minuten lang da. So lange brauchten Sie für die Tat, Stein? Und Sie reden von einer Falle? Was wollen Sie mir eigent lich weismachen?« »Sie befinden sich hier in Ihrem Land. Ich bin für Sie nur ein Auslän der und kann mich nicht wehren. Gut und schön. Aber ich habe diese Leute in der stinkigen kleinen Wohnung nicht umgebracht. Ich schwö re bei Gott, ich habe es nicht getan.« »Wer soll sie denn sonst umgebracht haben, Sie kleiner Scheißer?« Stein machte eine Bewegung. »Bleiben Sie stehen, oder ich knalle Ih nen den Kopf ab.« Stein erzählte mühsam und in allen Einzelheiten von der Verhaf tung seines Vaters durch die Highway Patrol, von Paul Bocks Anruf, der Nachricht, die er bei seiner Rückkehr in die Villa am Cresta Ridge Drive vorgefunden hatte. Stuart wusste, dass Stein sich absichtlich so lange darüber ausließ, um wieder Fassung zu gewinnen und sich aus seiner Patsche herauszureden, hörte ihm aber geduldig zu und unter brach ihn nicht. Er wartete nur, bis Stein seinen Dampf verpufft hatte, und als er endlich fertig war, stand Stuart mit der Pistole in der Hand vor ihm und lächelte höflich. »Was ist denn jetzt wieder so komisch?« fragte Stein. »Habe ich das richtig mitgekriegt?« sagte Stuart. »Sie erzählen mir, ein Mann habe Ihren Vater in Los Angeles angerufen; ein Mann, von dem Sie bisher noch nie gehört hatten? Und auf dieses eine Telefonge spräch hin sind Sie ins nächste Flugzeug gestiegen und nach London gekommen? Und das soll ich Ihnen abnehmen, Stein? Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen.« »Er sagte, es sei wegen der Dokumente.« 234
»Ach, er sagte, es sei wegen der Dokumente«, erwiderte Stuart spöt tisch. »Das erklärt natürlich alles. Jemand braucht also nur anzurufen und zu sagen …« »Scheren Sie sich zum Teufel«, sagte Stein. Jetzt, da er gehört hatte, wie sich Stuart über seine Erklärung lustig machte, wurde ihm klar, wie unwahrscheinlich das alles vor Gericht klingen würde. »Soll ich Ihnen erzählen, was man mit Leuten macht, die unbeschol tene Bürger Nordlondons in der Wohnung heimsuchen und ihnen Köpfe und Hände abhacken? Die steckt man für den Rest ihres Le bens hinter Gitter. Haben Sie schon mal ein englisches Gefängnis ge sehen, Stein? Oder, besser gesagt, schon mal eins gerochen? Wissen Sie, wie es da am frühen Morgen stinkt, wenn die Kübel geleert wer den? Da gibt es nämlich keine Wasserklosetts, Freundchen. Da sitzen Sie nicht im Aufenthaltsraum beim Fernsehen, wie man es in den hüb schen Staatsgefängnissen Kaliforniens tut. Hier geht es primitiver zu. Der Galgen wird Ihnen wohl erspart bleiben, wie ich es heute früh in der Zeitung gelesen habe. Aber Sie werden den Rest Ihres Lebens in ei nem schmutzigen, stinkigen Bau verbringen, der wie eine Illustration zu einem Dickens-Roman aussieht.« Billy Stein schlug mit der Faust auf den Teppich. »Ich habe nieman den umgebracht.« »Was haben die beiden denn nur getan? Ein paar Ihrer Nazi-Doku mente geklaut? Ich habe bemerkt, dass der Laden voller Naziunifor men und -waffen und dergleichen steckte. War's das?« »Verhaften Sie mich doch, wenn Sie deshalb gekommen sind.« Stuart trat an den Toilettentisch, sah sich rasch Steins amerikani schen Pass, die Flugbilletts, Schlüssel, Münzen, eine Brieftasche mit Papiergeld, den kalifornischen Führerschein, den Sozialversicherungs nachweis und die Kreditkarten an. »Sind Sie sich eigentlich über Ihre Lage im klaren?« fragte Stuart. Billy antwortete nicht. »Sie haben überall in der Wohnung in King's Cross Ihre Fingerab drücke gelassen. Die Polizei wird das nachprüfen, Stein. Ich weiß zwar, dass die oberschlauen Detektive in den Krimifilmen es für eine veral 235
tete Methode halten, aber jedes Jahr werden immer noch eine Men ge Leute auf Fingerabdruckbeweise hin verurteilt.« Stuart legte einen Samsonit-Koffer auf das Bett. »Heutzutage laufen Fingerabdrücke über den Computer, Stein. Man vergeudet keine Zeit mehr mit langwieri gen Untersuchungen – heute geht das alles sehr schnell.« Er ließ den Deckel aufspringen, wühlte in den Kleidern. »Und selbst wenn Sie un schuldig sein sollten – wer würde es Ihnen glauben?« »Da drinnen werden Sie die Hitler-Dokumente nicht finden, Freund chen.« »Nein? Zu schade, aber ich bin nun mal fleißig, und dafür kriege ich immer eine Eins.« Stuart winkte ihm mit der Pistole zu. »Bleiben Sie still sitzen, und bewegen Sie sich nicht, bis ich es Ihnen sage.« »Wissen Sie, was ich wirklich glaube? Ich glaube, Sie haben die bei den Leute umgebracht. Vielleicht nicht Sie persönlich, aber bestimmt jemand von Ihrem verdammten britischen Spionagedienst. Und dann haben Sie diese telefonische Nachricht über mein Tonband laufen las sen, haben sich aus dem Haus geschlichen und mir aufgelauert. Es war eine Falle, das weiß ich genau. Aber eines Tages werde ich es Ihnen heimzahlen, darauf können Sie sich verlassen.« »Lassen Sie das Theater«, sagte Stuart. »Beugen Sie sich nach vorn und legen Sie die Hände auf den Rücken, damit ich Ihnen Handschel len anlegen kann. Falls Sie versuchen sollten, nach meinem Schießei sen zu greifen, schlage ich Ihnen den Knauf auf den Schädel, verstan den?« »Okay«, sagte Billy. »Sie stellen mich unter Anklage?« »Sie meinen, wie in den Hitchcock-Filmen?« Er hatte Stein eine Hand schelle angelegt und hantierte mit der anderen, bis sie schließlich ein schnappte. Sie drückte Billy am Handgelenk, er stöhnte schmerzhaft auf. »Nein, das besorgt ein hübscher Polizeiinspektor in voller Uni form. Bei Mordanklage haben Sie das Recht auf einen Inspektor, Stein. Unter dem geht's nicht. Da haben Sie etwas, was Sie Ihrem Papa schrei ben können. Ich bin nur gekommen, um Sie abzuholen. Wir verlassen das Hotel durch den Hintereingang. Keine Mätzchen, sonst kommen Sie mit den Füßen zuerst raus, verstanden?« 236
»Ja.« Stuart hatte alles mit großer Vorsicht arrangiert, spannte zwei junge Schulungskursteilnehmer, die vorübergehend im Foreign Office arbei teten, ein, um ihm mit dem Wagen behilflich zu sein und das Hotelpersonal zu beschwichtigen. Sie brachten Stein durch den Lieferanten ausgang und setzten ihn in einen schwarzen Rover, der ihnen schon ei nige Male als angebliches Polizeifahrzeug gedient hatte. Sie brachten Billy Stein in ein Behelfsquartier auf der Pentonville Road. Ein als Polizeiinspektor verkleideter Mann namens Benson ging mit Stein alle Formalitäten durch; die Zellen im Keller wirkten über zeugend genug. Sie wurden im Mai 1945 eingerichtet, als man dort hohe Nazifunktionäre verhörte. Seitdem dienten sie zur Aufbewahrung von Akten, die man jetzt rasch nach oben geschafft hatte. »Es ist gut gelaufen«, sagte einer der Schulungskursteilnehmer. Es entsprach genau der Art Betätigung, die sie, als sie sich bei der MI 6 um eine Anstellung beworben hatten, auch erwarteten. »Warten wir lieber zuerst einmal ab, ob sich niemand die Nummer des Rovers notiert und dann festgestellt hat, dass er dem alten Tom Morris bei der Buchhaltungsabteilung gehört. Haben Sie dem Hotelpersonal auch genügend Angst eingejagt? Wir wollen nicht, dass je mand beim Evening Standard anruft.« »Ich habe getan, was Sie mir gesagt haben, Sir«, erwiderte der junge Mann beflissen. »Gut gemacht, Parsons«, sagte Stuart. »Sie haben seine Rechnung bezahlt und sich das Zimmer noch einmal genau angesehen?« »Genau, wie es mir im Schulungskurs gezeigt wurde.« Stuart schnitt ein Gesicht. »Niemand ist vollkommen«, sagte er. »Ich gehe jetzt nach Hause. Sie können ihn während der nächsten zwei Stunden sanft ins Verhör nehmen. Ich löse Sie ab, wenn ich zurück komme.« »Was soll erstrangig erzielt werden?« fragte der erste Schulungskur steilnehmer. Stuart erkannte die Terminologie. Vor Jahrzehnten hatte man bereits von erst- und zweitrangigen Verhörungszielen geredet, als er durch die 237
Schule gegangen war. »Stellen Sie ihm einfach Fragen«, sagte Stuart. »Irgendwelche Fragen. Versuchen Sie nicht, den Mordfall zu lösen – halten Sie ihn nur für mich wach. Er soll, wenn ich das Verhör über nehme, müde und ängstlich sein.« »Sind wir sicher, dass er die Leute in King's Cross nicht ermordete?« Stuart blickte ihn an. Nur ein Grünschnabel stellte so direkte Fra gen, aber er ließ es geschehen. »Die beiden Männer wurden von einem unserer Agenten tot aufgefunden, als Billy Stein noch in den Vereinig ten Staaten weilte.« »Damit wäre die Sache ja wohl klar«, sagte der junge Mann. »Es sei denn, wir fänden einen sehr überzeugenden Anklagevertre ter«, sagte Stuart und ging nach Haus.
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ie beiden oberen Stockwerke des Hauses auf der Pentonville Road in einem schäbigen Viertel Nordlondons waren in eine Privat wohnung umgebaut worden. Bisweilen wurden hier Sitzungen abge halten, aber nie auf hoher Ebene. Politische Lagebesprechungen oder Finanzsitzungen fanden in luxuriöser Umgebung statt, wie im Haus in Marlow an der Themse oder in dem vornehmen Herrenhaus in Abing don; Orte, in denen der große umliegende Park – so behauptete man jedenfalls – bessere Sicherheit bot. In der Pentonville Road traf man sich, um trivialere Angelegenhei ten zu besprechen, wie Reise- und Benzinspesen, Sonderurlaube und Adressenänderungen, kurz, Entscheidungen, für die Herren an der Spitze von geringer Bedeutung. Aber die Wohnung auf der Pentonville Road war in ihrer kleinbürgerlichen Art recht behaglich. Auf dem Re gal fanden die diensthabenden Beamten stets eine Flasche jugoslawi schen Riesling oder billigen Bordeaux, warmes Schweppes und abge 238
standenes Mineralwasser. Der Schlüssel zum Schrank unter der Trep pe, in dem Whisky und Gin aufbewahrt wurde, hing an einem Draht an der elektrischen Zähluhr. Es gab ferner einen launischen Gasherd und endlose Vorräte an Eiern und geschnittenem Toastbrot. Die aben teuerlicher gesinnten Beamten der Abteilung brachten hier manchmal junge Damen mit, wenn eheliche Verpflichtungen ihrem Vergnügen im Wege standen. Ob Sir Sydney Ryden von alledem wusste, ist schwer zu sagen, jeden falls warf er einen prüfenden Blick in die Runde. Als es dem dienstha benden Beamten endlich gelungen war, ihm eine Flasche Portwein zu bringen, waren dabei ein paar andere Dinge ans Licht gekommen: eine Flasche Worcestersoße, eine halbe Flasche Malt Whisky und ein rosa Plastikkamm. Der GD nahm nicht sofort Platz. Er ging im großen Wohnzimmer auf und ab, hob hier einen Aschenbecher, dort einen zerbrochenen Ku gelschreiber auf; zeigte jene Ruhelosigkeit, die er bei schlechten Nach richten an den Tag legte. Er war immer noch im Mantel, als Stuart zu ihm ins Zimmer geführt wurde. Unter dem langen Mantel trug der GD einen Abendanzug mit altmodischem steifem Kragen und Perlen hemdknöpfen. Es war in den frühen Morgenstunden des Samstags. Angesichts der Kälte hatte der diensthabende Beamte ein kleines Koh lenfeuer im Ofen entzündet. »Ich habe gefeiert«, erzählte er. »Etwas, wozu ich Sie beglückwünschen sollte, Sir?« Der GD lächelte. »Ein guter Freund erhielt die Medaille der Royal Central Asian Society. Eine große Ehre.« »Jawohl, Sir.« Der GD wandte sich dem Regal zu. »Etwas zu trinken, Stuart?« »Nein danke, Sir.« Stuart schaute auf die Uhr: es war drei Uhr früh. »Ich habe ein bisschen Portwein aufgetrieben. Ich werde ihn mal probieren. Wollen Sie wirklich nichts? Wir haben hier noch …«, er nahm die Flasche, las das Etikett aufmerksam, »… einen Malt Whis ky.« »Gut. Einen Whisky pur, wenn ich bitten darf.« 239
»Er hat also seinen Sohn geschickt?« »Wie es scheint, Sir. Billy Stein. Wir haben ihn unter Beobachtung gehalten. Heute früh ging er in das Haus in King's Cross – oder viel mehr gestern früh.« »Und wie ist er reingekommen?« »Das war nicht schwer, Sir. Das schafft man mit einem Kinderta schenmesser.« »Und genau das hat der junge Stein getan, was? Großartig.« Der GD goss die Getränke ein, reichte Stuart den Malt Whisky. »Und was dann?« Er warf das Einwickelpapier ins Feuer, aber es brannte nicht. »Vielen Dank, Sir. Der Mann, der Stein folgte, rief an. Es wurde mei ner Dienststelle gemeldet, und ich besuchte Stein in seinem Hotel.« »Und was hat er gesagt?« »Er war erschüttert. Ich beschuldigte ihn, die Männer ermordet zu haben. Sagte ihm, er käme vor Gericht, falls er nicht voll und ganz mit uns zusammenarbeitet.« »Und wird er das tun?« »Er sagt es wenigstens. Aber er ist immer noch in einem Schockzu stand. Unter solchen Umständen ist man bereit, alles mögliche zu ver sprechen. Stein ist in einem fremden Land, ohne Freunde und Ver bindungen. Ja, er sagt, er würde mit uns zusammenarbeiten.« Stu art nahm einen Schluck Whisky. Er verspürte den harten, rauchigen Geschmack, behielt ihn eine Weile auf der Zunge. Unter der direkten Kontrolle des GD zu stehen, war eine völlig unvorhergesehene Ent wicklung, die ihm durchaus nicht behagte. Dem GD konnte er nicht widersprechen, wie es bei solchen Unternehmen manchmal notwendig war. Um es noch schlimmer zu machen, schien man in höheren Etagen zu glauben, er mache sich die Gelegenheit und seinen Schwiegervater zunutze, um seine Karriere zu fördern. »Was schlagen Sie vor?« fragte der GD. »Den jungen Stein mit seinem Vater sprechen zu lassen.« »Also den Sohn freizulassen, falls der Papa uns die Hitler-Protokolle gibt«, sagte der GD, Stuart zuvorkommend. »Jawohl, Sir.« 240
Der GD schnitt ein Gesicht, als habe er in eine saure Zitrone gebis sen. »Ziemlich brutal, nicht wahr, Stuart?« »Jawohl, Sir. Sehr brutal. Haben Sie einen besseren Vorschlag?« Der GD blickte auf, versuchte auf Stuarts Gesicht ein Zeichen ab sichtlicher Unhöflichkeit zu entdecken. Er fand keins, sagte schließ lich: »Nein, Stuart. Im Augenblick nicht.« »Vater und Sohn stehen sich sehr nahe, Sir.« »Noch nie auf einer Treibjagd gewesen, Stuart?« Der GD stützte sich mit der Hand auf den Kaminsims und starrte ins Feuer wie ein Wahr sager in die Kristallkugel. »Nein, Sir.« »Man schickt am frühen Morgen die Treiber mit ihren Kesseln und Trommeln aus. Die Jäger mit den Gewehren bewegen sich auf sie zu, schussbereit – natürlich auf Elefanten.« »Natürlich.« Der GD wandte sich ihm zu. »Gute Treiber jagen die Tiere genau an der richtigen Stelle heraus. Die Tiger sollen ja nicht den Jägern davon laufen.« Der GD trank einen Schluck Portwein, die Hausmarke des Warenhauses Marks & Spencers und nicht gerade das, was er vorzog, aber er nippte daran, ohne zu klagen. »Gewöhnlich gibt es dann im mer irgendeinen Idioten, der zu früh feuert. Er schießt den Treibern entgegen, verstehen Sie? So darf es auf keinen Fall gemacht werden. Man läßt den Tiger vorbeikommen, schießt erst dann auf ihn, oder so gar, wenn er schon vorüber ist. Aber nie, während er Ihnen entgegen läuft.« »Jawohl, Sir.« »Denn sonst dreht Timmy der Tiger sich um und zerfleischt einen der Treiber. Sehen Sie, was ich meine?« »Sie meinen Stein.« »Genau das meine ich, Stuart. Mr. Stein ist unser Timmy Tiger.« Der GD setzte sich auf das große Sofa, streckte die Füße aus, fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar. »Sagen Sie mir nur gleich, was Sie auf dem Herzen haben, mein Junge. Ich sehe, dass Sie etwas bedrückt.« Stuart ließ sich behutsam in den Sessel nieder, stellte sein Glas auf 241
die Armlehne. »Ich möchte versetzt werden, Sir – zu irgendeinem an deren Unternehmen.« »Versetzt?« Der GD war sichtlich überrascht. »Dieses Unternehmen ist das wichtigste, das wir zur Zeit laufen haben. Wissen sie, warum ich ständig auf die verdammte Kaminuhr schaue? Weil die PM mich mor gen früh um acht Uhr dreißig im Vorzimmer ihres Kabinettsbüros er wartet, damit ich ihr die letzten Nachrichten bringe. Am 30. reist sie nach Afrika, und sie will unbedingt, dass wir diese Angelegenheit vor ihrer Abreise erledigen. Ich stehe unter Druck, Stuart.« »Das verstehe ich, Sir. Aber ich finde, Sie könnten einen geeigneteren Mann einsetzen. Ich bin bereits im Hintertreffen, denn sowohl Stein als auch Breslow wissen, dass ich für diese Abteilung arbeite.« »Sie sind nicht ganz offen zu mir, Stuart. Hat es etwas mit Ihnen und Jennifer zu tun? Sie wissen, dass ich mich da nie einmische. Ich habe nie Partei ergriffen. Das kann ich mit ruhigem Gewissen behaupten.« Stuart antwortete nicht. Sein Schwiegervater hatte sich gleich von Anfang an in seine Ehe eingemischt, und was seine Behauptung, nie Partei ergriffen zu haben, betraf, so fand Stuart dafür einfach keine Worte. »Es hat nichts mit mir und Jennifer zu tun, Sir.« »Sie haben meine Tochter schlecht behandelt, Stuart. Das sage ich Ihnen natürlich von Mann zu Mann. Ihr Benehmen war unverzeih lich. Ich werde nie vergessen, was Jennifer uns in jener Nacht erzählte, als wir sie nach Hause zurücknahmen. Sie sind in der Welt herumge kommen, Stuart, und das macht Sie in meinen Augen nicht schlechter und nicht besser. Aber Sie haben ein Kind geheiratet und ihm wehge tan. Je eher die Scheidung ausgesprochen wird, desto besser.« »Es hat nichts mit Jennifer oder unserer Ehe zu tun«, sagte Stuart. »Es ist dieses Unternehmen. Heute Nachmittag war der junge Stein ei nem Nervenzusammenbruch nahe. Er war in dem Haus und hat zwei geköpfte Männer gesehen. Wie ich hörte, hat man ihnen auch die Hän de abgehackt.« »Stimmt genau, Stuart.« »Aus dem letzten Bericht zu schließen, weiß die Polizei noch nichts von dem Verbrechen. Unsere Leute sind ein- und ausgegangen und ha 242
ben sogar Fotos gemacht. Stein bezichtigt mich, die Morde organisiert zu haben. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir es nicht wirklich getan haben, und das gefällt mir nicht.« Der GD nickte und nippte an seinem Glas. »Sie sind kein Unschulds lamm, Stuart. Ich habe mir Ihre Akte angeschaut, als Jennifer sich für Sie zu interessieren begann. Einmal mußten wir Sie in aller Eile aus Turin herausholen. Dann fand ich eine Notiz, dass sie in zwei Ländern noch unter Anklage stehen. Stimmt es?« »Ich habe keine Köpfe abgehackt, falls Sie das damit andeuten wol len, Sir.« »Ich deute nichts an, Stuart«, sagte der GD gelassen. »Ich erwähne nur Tatsachen. Falls Sie bestreiten wollen, was in Ihrer Akte steht, so hätten Sie jetzt eine gute Gelegenheit dazu.« »Ich bestreite nichts.« »Wir haben Sie nicht als Mannschaftskapitän eines Schülertennis clubs ausgewählt, Stuart. Sie wussten, dass es manchmal hart zugeht. Ich habe es Ihnen selbst gesagt, wenn ich mich recht erinnere.« »Sie haben es mir gesagt, Sir.« Ein langes Schweigen trat ein. Dann sagte der GD: »Wann haben Sie zuerst von dem Mord an den beiden Leuten gehört?« »Am Mittwoch abend, am 18. Juli, um elf Uhr nachts. Ich war zu Hause. Ein Kurier kam und teilte es mir mündlich mit.« »Etwa um die gleiche Zeit wie mir«, sagte der GD und kratzte sich am Ohr. »Ich war auf einer Dinnerparty in Hampstead und bin gleich ins Büro zurückgefahren. Ich wollte Sie rufen lassen, war mir aber nicht sicher, ob ich Sie brauchte.« Stuart wartete, während der GD sich überlegte, wieviel Geheimin formationen er ihn wissen lassen sollte. »Sie glauben also, die Abtei lung hat diese Männer ermorden lassen?« »Es wäre nicht das erstemal.« »Nein, es wäre nicht das erstemal«, gab der GD zu. Er schlug sich den Mantel um die Beine, schien plötzlich Kälte zu verspüren. »Ich habe sie lebend gesehen«, sagte Stuart. »Am letzten Montag. Sie waren fast noch Kinder. Ich mochte sie.« 243
»Sie haben mir selbst gesagt, sie wären Verbrecher.« »Schwatzköpfe waren sie«, sagte Stuart. »Sie haben nur geschwatzt. Sie waren nicht gefährlich.« »Einer von ihnen verschaffte sich streng geheime Informationen aus einem wichtigen deutschen Computer. Nicht gerade harmlos, würde ich meinen.« Der GD gab sich ungezwungen und fast jovial. Stuart hatte den Eindruck, von ihm in eine Falle gelockt zu werden, sah aber nicht wie. »Informationsdiebstahl aus einem Computer ist noch lange kein Ka pitalverbrechen«, entgegnete Stuart. »Kommt ganz darauf an, wo«, sagte der GD. Er schniefte laut, nippte an seinem Portwein. »Das soll einer mal in Russland versuchen. Dort ist es bestimmt ein Kapitalverbrechen.« »Jedenfalls bitte ich, versetzt zu werden, Sir.« »Antrag abgelehnt«, sagte der GD ohne Zögern. Es war, als sei er dar auf vorbereitet gewesen. »Abgelehnt, Sir?« »Wir können einen Agenten im Einsatz nicht einfach versetzen, weil er sich plötzlich einbildet, die Abteilung gehe nicht mit der Rücksicht und Sorgfalt vor, die er für notwendig hält. Trinken Sie aus, Stuart, und nehmen Sie sich noch einen. Dann muß ich fort. Nein, wir kön nen nicht anfangen, auf solche Wünsche einzugehen. Wo soll das hin führen? Als nächstes beklagt sich einer, dass er das Klima in Darwin nicht mag oder dass ein eifersüchtiger Ehemann ihn in Rio bedroht.« Der GD lächelte, fingerte an seiner Krawatte. »Sind diese Männer auf Ihren Befehl hin ermordet worden, Sir?« »Selbstverständlich nicht, Stuart. Das ist nicht mein Stil. Ich hätte geglaubt, Sie wüssten das jetzt. Wie lange arbeiten Sie nun schon mit mir? Zehn Jahre?« »Elf Jahre, Sir.« »Eines Tages muß ich auch einmal dieses Zeug probieren, das Sie so gerne trinken. Reiner Malt, nicht wahr? Es riecht mir nur zu sehr nach Medizin.« Der GD nahm die Flasche und goss Stuart ein Maß ein. »Elf Jahre also? Wie die Zeit vergeht. Ich kann mich erinnern, wie Sie hier 244
angekommen sind. Sie hatten damals Schwierigkeiten bei der MI 5, wenn ich mich recht erinnere. War es nicht ein Streit mit einem Poli zeibeamten?« »Ich hatte einen Polizei-Superintendenten bewusstlos geschlagen«, sagte Stuart. Der GD schenkte ihm ein kaltes Lächeln. »Ja«, sagte er. »Das war es. Ich wusste, dass es sich um irgendeine Dummheit handelte. Damals beschäftigte man im Innenministerium eine Menge ehemaliger Poli zeibeamter. Ich habe nie verstanden, warum der dortige GD die Sache zwischen euch nicht eingerenkt hat.« »Ich weigerte mich, um Verzeihung zu bitten«, sagte Stuart. Sie wus sten beide, dass Sir Sydney seine Akte in- und auswendig kannte. Nicht nur in großen Zügen, sondern in allen Einzelheiten: Bankkonten, me dizinische und zahnärztliche Befunde, vertrauliche Gutachten, Be richte vom Psychiater und den Ausbildungsleitern. Sir Sydney wusste wahrscheinlich mehr über den Schlag, den Stuart dem Polizeibeamten versetzt hatte, als der Polizeibeamte selbst. »Entschuldigung verweigert.« Er nickte. »Ja, natürlich. Aus Prinzip, nicht wahr? Ich habe immer gesagt, dass Prinzipienfragen einen Men schen nie dazu verführen sollten, sich vor einem Gericht Genugtuung zu verschaffen. Das gleiche gilt für Gewaltanwendung.« Ein Milchwa gen fuhr vorüber, man hörte das Klappern der Flaschen, als er bei der Ampel den Gang wechselte. »Das ist nun schon lange her.« »Und die Menschen ändern sich«, sagte der GD. »Wir haben alle Dummheiten gemacht, als wir jung waren. Habe ich Ihnen mal er zählt, wie ich in Winchester alle Fahrräder auseinander nahm?« Er blickte auf seine Uhr. »Aber ich will Sie nicht langweilen.« Stuart hatte es aufgegeben, um Versetzung zu bitten. Er hatte plötz lich von allem so genug, dass er am liebsten um Entlassung gebeten hätte. Der GD schien seine Gedanken zu erraten. »Denken Sie bloß nicht an Kündigung, Stuart. Da hätten Sie eine Menge Geld zurückzuzah len.« 245
Stuart hatte vor zwei Jahren, als er sich entschloss, seinen Vertrag um zehn Jahre zu verlängern, einen größeren Geldbetrag erhalten. Damals war es ihm wie sehr viel Geld erschienen, aber das meiste war inzwi schen ausgegeben. Eine Zurückzahlung würde also äußerst schwierig sein. »Jawohl, Sir.« »Dann müßten Sie nämlich Ihr kleines Wochenendhaus und anderes mehr verkaufen. Tun Sie es nicht, mein Junge. Meine Frau hat ein paar Felder in der Nähe unseres Landhauses verkauft und es später sehr be reut. Bei der heutigen Marktlage ist Grundbesitz noch das sicherste.« Der GD lächelte wieder. Er wollte Stuart wissen lassen, dass er bestens über seine finanzielle Lage informiert war, und ihm zu verstehen ge ben, dass er gar keine andere Wahl hatte, als seinen Job zu behalten. Er hatte weiß Gott keine Lust, der Premierministerin mitteilen zu müs sen, seinen besten – oder zumindest seinen für diese Aufgabe geeig netsten – Mann verloren zu haben. »Und aus der Scheidung könnten sich auch noch Verpflichtungen ergeben.« Das Schweigen schien eine Ewigkeit zu dauern. »Ich werde bleiben«, sagte Stuart. »Sie sind in Ordnung«, sagte der GD. Jetzt, da er gewonnen hatte, konnte er es sich leisten, großzügig zu sein. »Ohne Sie wären wir in großen Schwierigkeiten. Die PM trifft sich in Lusaka mit den Regie rungschefs des Commonwealth, und da bietet sich ihr eine Chance, et was zu erreichen, was bisher noch keinem PM gelungen ist.« »Sie meinen ein Abkommen. Änderungen in der Verfassung vom Zimbabwe-Rhodesien?« »Genau, Stuart.« Der GD schien überrascht, dass Stuart die endlo sen Zeitungsberichte gelesen hatte. »Und ich glaube, sie wird es schaf fen, Stuart.« »Sie hat bereits ein paar verblüffende Erfolge erzielt, Sir.« »Das hat sie. Und unter uns gesagt, alter Freund, gerade deshalb ist es sehr schwer, mit ihr auszukommen. Sie wissen ja, neue Besen und so weiter. Ich habe das Gefühl, dass wir den Besen zu spüren bekom men, falls wir den alten Winnie nicht im Sinne von Mrs. Thatcher und der Konservativen Partei reinwaschen. Verstehen Sie, was ich meine?« 246
Das Kaminfeuer flammte auf, als das Einwickelpapier endlich zu bren nen begann. »Auch ich bin ein Bewunderer Sir Winstons.« Stuart trank sein Glas aus. »Natürlich. Das sind wir ja alle. Er war ein großer Mann. Das ist das Wesentliche. Wir müssen hier besonders gute Arbeit leisten, da es um etwas geht, woran wir alle glauben. Zum Glück kann ich Ihnen versi chern, dass die Hitler-Protokolle Fälschungen sind. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder es weiß.« Stuart sagte nichts. Er wusste, dass die Papiere echt waren. Fälschun gen wegen hätte man sich nicht all die Mühe gemacht. Vielleicht hatte der GD Stuarts Gedanken gelesen; denn er nahm ihn beim Arm und führte ihn zur Tür, wie man etwa ein Torpedo in Richtung eines feind lichen Kreuzers lenkt. Stuart drehte sich noch einmal um, bevor er die Tür öffnete. Der GD blickte ihn mit erhobenen Brauen an. »Ja, Stuart?« »Falls Sie in der Ausübung Ihrer Pflicht die Beseitigung zweier Män ner als zweckdienlich befehlen müßten, würden Sie es doch nicht als notwendig erachten, es mir zu sagen?« Das Haus war still. Der GD überdachte die Frage, als ginge es um ein philosophisches Prinzip von tiefer Bedeutung, drehte sich auf den Hacken um wie ein Tanzlehrer, der seinen Schülern einen besonders schwierigen Schritt vorführen will. »Ich würde das meinem Urteil überlassen, Stuart.«
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A
m Montag, dem 23. Juli, hatte Sir Sydney Ryden immer mehr das Gefühl, dass das Schicksal gegen ihn arbeitete. An diesem Abend aß er im Beefsteak, einem altehrwürdigen Herrenclub, der aus einem 247
kleinen Vorzimmer, einem Büro, einigen Sesseln – von denen man ei nen Ausblick auf ein paar öffentliche Bedürfnisanstalten und ein Krie gerdenkmal genießen konnte – und einem schmalen Speisezimmer, wo die Mitglieder und ihre Gäste gemeinsam an einem langen Tisch speisten, bestand. Das Schicksal hatte Sir Sydney den Platz neben einem bärtigen Fern sehautor mit festen Ansichten über die von der Regierung versproche nen Personalbeschränkungen angewiesen. »Nehmen Sie zum Beispiel das Innenministerium«, sagte der Drehbuchschreiber und goss sich den letzten Tropfen Milch aus einer versilberten Kuh in den Tee. »Je des Mal, wenn ich dorthin kam, saßen die meisten Leute beim Tee. Sie sind doch nicht im Innenministerium?« »Nein«, erwiderte Sir Sydney. Der Fernsehmann neigte die versilberte Kuh so, dass er mit ihrer Nase kleine Muster auf die Tischdecke zeichnen konnte. »Ich habe dort letztes Jahr einen Dokumentarfilm gemacht. Eine heillose Verschwen dung – das haben wir übrigens auch im Programm gesagt.« »Sehr interessant«, sagte Sir Sydney. Er blickte sich um, wollte sehen, ob sein Gast dem Langweiler entkommen war, der ihn durchaus in das Club-Komitee aufnehmen wollte. »Bei welcher Regierungsbehörde sind Sie?« fragte der Drehbuch schreiber, der mit seinen indirekten Fragen nichts erreicht hatte. »Beim Außenministerium«, antwortete Sir Sydney Ryden. »Die sind uns bei einer Sendung behilflich, die im nächsten April ausgestrahlt wird«, sagte der Drehbuchschreiber. Er bildete sich ein, dass ein Blick hinter die Kulissen des Fernsehens noch jeden faszinie ren müsse. Sir Sydney nippte an seinem Portwein und wünschte sich, endlich von dem jungen Mann in Ruhe gelassen zu werden. Wenn er nicht noch seinen Anteil an den Zigarren bezahlen müßte, wäre er schon längst verschwunden. »… und die Deutschen hatten ihr ganzes Gold in dieser Salzmi ne verwahrt«, hörte er den Drehbuchschreiber plötzlich sagen. »Den größten Teil der gesamten deutschen Goldreserven und Gott weiß was sonst noch an Dokumenten und dergleichen.« Sir Sydneys Magen 248
drehte sich um, der Portwein wurde ihm zu Essig im Mund. Er wand te sich dem bärtigen Mann zu und nickte. »Tatsächlich? Und das war Ihre Idee?« fragte Sir Sydney ermuti gend. »Nein. Irgendein verrückter Historiker von einer kleinen Universi tät in den Midlands. Ein Professor …« Der Bärtige lachte. »Den hät ten Sie mal sehen sollen. Den hätte ich nicht die Straße kehren las sen. Aber er hatte das Zeug. Unverwendbar allerdings. Das Drehbuch schreiben fürs Fernsehen erfordert eine besondere Technik. Die BBC gab ihm ein paar Kröten und hat ihn abserviert. Der alte Schwachkopf war wütend, konnte aber nichts dagegen tun. ›Reichen Sie Klage ein‹, habe ich ihm gesagt, ›und sehen Sie, ob Sie das weiterbringt.‹ Einer meiner Leute hat dann das Projekt übernommen und so umgeschrie ben, dass wir es am Jahrestag des Waffenstillstands ausstrahlen kön nen. An dem Tag sind nämlich die Amis in die Mine gekommen und haben den Schatz gefunden.« Sir Sydney zündete sich seine Zigarre wieder an, stellte befriedigt fest, dass das Streichholz in seiner Hand nicht zitterte. »Erzählen Sie mir, wie Ihr Drehbuch anfängt«, sagte er, denn das war die einfachste Art, sich die ganze Geschichte noch einmal anhören zu können. Der Drehbuchschreiber schob die silberne Kuh um den Salz- und Pfefferstreuer. »Es ist nicht mein Drehbuch«, sagte er. »Ich bin ein so genannter Drehbuchproduzent. Ich rufe Schriftsteller an, die mir für eine Arbeit geeignet erscheinen. Wir bereiteten einen vierseitigen Ent wurf vor. Das eigentliche Drehbuch soll erst im nächsten Monat fertig sein, soweit ich mich erinnere.« »Es muß eine kolossal interessante Arbeit sein«, sagte Sir Sydney und hörte sich tapfer während einer weiteren halben Stunde die ausführ lichen Einzelheiten über die Tätigkeiten eines Drehbuchproduzenten an, bis das Thema Salzmine kalt und abgestanden war.
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Am nächsten Morgen traf Sir Sydney eine dringliche Verabredung mit dem geschäftsführenden Leiter des Büros der öffentlichen Anklage behörde. Dieses Amt ist zuständig für alle Maßnahmen, die bei straf rechtlichen Untersuchungen jeder Art eine zusätzliche juristische Be gründung erfordern. Der geschäftsführende Leiter versprach Sir Syd ney alle Unterstützung im Falle eines Vorgehens gegen die BBC, ihre Angestellten oder andere betroffene Personen, wenn diese nicht voll mit der Abteilung MI 6 zusammenarbeiteten, um die Veröffentlichung von Material, das wie hier ganz klar durch das offizielle Geheimhal tungsgesetz geschützt war, zu verhindern. Am gleichen Tag traf Sir Sydney Ryden sich mit dem Vorsitzenden des BBC-Aufsichtsrats. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erklärte er, dass das Bekannt werden gewisser Aspekte bei der Schatzbergung in der Salzmine mit öffentlichem Interesse nicht vereinbar sei. In Abwesenheit des Generaldirektors der BBC, der im Augenblick unpässlich war, erbat sich der Vorsitzende die Erlaubnis Sir Sydney Ry dens, den Leiter des Außendienstes (der seinem Rang nach Verwal tungsmitglied war) an der Besprechung teilnehmen zu lassen. Sir Sydney legte eine Karte vor, die ein Zeichner der MI 6 während der Nacht angefertigt hatte. Sie zeigte die Stadt Frankfurt, die nördli che, über Alsfeld und Bad Hersfeld führende Autobahn und die kleine Straße längs der Autobahn, auf der der Konvoi gefahren war. Sie zeigte auch die jetzige Grenze mit den Stacheldrahtverhauen, Menschenfal len, Minenfelder, Scheinwerferanlagen und Maschinengewehrnestern. »Direktor Janecke und Direktor Thoms von der Reichsbank waren die Männer, denen das ganze Gold Nazideutschlands unterstand«, sagte Sir Sydney Ryden. »Ich habe hier einige Dokumente, aus denen hervorgeht, was in jenen letzten Wochen des Krieges in den Minen schacht von Kaiseroda in Merkers verbracht wurde. Sie können die Unterschriften sehen.« Die beiden Herren der BBC sahen sich die Karte mit der DDR-Gren ze an, innerhalb derer die kleine Stadt Merkers liegt. »Und dies hier ist das Dokument des Reichswirtschaftsministeriums, in dem Minen und Bergwerke bezeichnet sind, in denen die wertvoll 250
sten Schätze verwahrt werden sollten«, sagte Sir Sydney, indem er es auf den Schreibtisch legte. GEHEIM Liste der Werte an Geld, Gold, Münzbarren, die am 8. April 1945 im Schacht der Salzmine von Merkers (H-6850), Deutschland, gefunden wurden. Reichsmark in Gold 446 Säcke Österreichische Kronen 271 Säcke Türkisches Pfund 73 Säcke Holländisches Gold 514 Säcke Italienisches Gold 62 Säcke Österreichische Münzen (verschiedene) 3 Säcke (Nr. 2, 15, 96) Britische Münzen (verschiedene) 3 Säcke (Nr. 12, 17, 15) 8.198 Goldbarren, ungemünzt Amerikanische 20-$-Stücke 711 Säcke (25.000 $ per Sack) Verschiedene Münzen 37 Säcke Gold franc 80 Säcke (10.000 F per Sack) Verschiedenes Geld und Münzen Sack Nr. 1C Italienische Goldmünzen 5 Säcke (20.000 pro Sack) Britisches Pfund in Gold 280 Säcke Ausländisches Papiergeld (verschiedenes) 80 Säcke Reichsmark Tausendmarkscheine Hundertmarkscheine Fünfzigmarkscheine Zwanzigmarkscheine Fünfmarkscheine
130 Säcke 650.000 000 RM 1.650 Säcke 1.650.000 000 RM 600 Säcke 300.000 RM 500 Säcke 100.000 RM 800 Kartons 60.000 RM 2.300.460 000 RM
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Goldbarren 1 Silberbarren 20 Silbergeschirr 63 Kartons, 55 Säcke Gold 138 Stück in 49 Säcken Gold, verschiedene Stücke 1 Sack Gold, französische Franc 635 Säcke Schweizer Gold 55 Säcke Gold, Münzbarren 53 Kisten Gold, Münzbarren 2 lange Kisten Wertvolle Münzen 9 Säcke Münzen (unmarkierte) 5 Säcke Türkische Goldmünzen 1 Sack Gemischte Goldmünzen 1 Sack Amerikanische Dollar 1 Sack (12.470 $) Österreichisches Gold (markiert GA ›V‹) 13 Säcke Gold verschiedener Herkunft 6 Säcke Dänische Goldmünzen 32 Säcke Platinbarren 1 Sack mit sechs Barren Rubel 4 Säcke Silberbarren 40 Säcke Goldbarren 11 Säcke Britisches Pfund 1 Sack Dokumente (Metallbehälter markiert FHQu) 82 Die beiden BBC-Offiziellen sahen sich Dokumente und Geländekarte aufmerksam an. Bald tauschten sie bedeutsame Blicke aus. Einer von ihnen fragte: »Würden Sie die volle Liste lieber nicht an die Öffentlich keit gelangen lassen, Sir Sydney?« Der GD setzte sein freudloses Lächeln auf. »Ich möchte unsere Prio ritäten hier nicht näher definieren.« Diese ausweichende Antwort war genug, um sie zu überzeugen, dass die Russen ihren rechtmäßigen Anteil an den Schätzen der Mine, die sich in ihrer Besatzungszone befand, nicht erhalten hatten. Jetzt glaub ten sie, die ganze Bedeutung der Aufgabe Sir Sydneys zu verstehen 252
und zeigten sich hilfsbereit. Man würde dem Dokumentarfilm-Produ zenten einfach mitteilen, dass ein nicht näher zu bezeichnender Klä ger Rechtseinspruch erhoben habe. Fotokopien des gesamten Mate rials müßten der Rechtsabteilung sofort zur Verfügung gestellt wer den, würden jedoch in Wirklichkeit Sir Sydney Ryden innerhalb von 24 Stunden ins Haus geschickt. Der GD drückte seine Dankbarkeit aus und war froh, seinen Besuch beim Leiter der öffentlichen Anklagebehörde nicht erwähnen zu müs sen. Es war immer besser, derartige Dinge auf höchster Ebene zu re geln, wo die Betroffenen sich ihrer Pflichten bewußt waren. Am 25. Juli, elf Uhr vormittags, hatte sich Sir Sydney persönlich das gesamte BBC-Material angesehen. »Nur ein Haufen Quatsch«, sagte Sir Sydney. Die Müdigkeit dämpf te seine freudige Erleichterung ein wenig. »Ein langweiliges kleines Drehbuch über die letzten Kriegstage, als die amerikanische Armee Gold und Geld in der Mine fand. Die Dokumente und Archive werden kaum erwähnt. Interviews mit einigen hohen Offizieren, die sich nie auch nur in Minennähe aufhielten, und ein paar Fotos der Goldsäk ke, die man sich bei der amerikanischen Armee besorgt hat.« Er blick te zu Boyd Stuart auf. »Ich habe vergebens eine schlaflose Nacht zuge bracht, Stuart.« »Jawohl, Sir«, sagte Stuart. »Das Quellenermittlungsteam sammelt schon seit einiger Zeit Hinweise auf die Merkers-Mine – überall in der Welt, in allen Sprachen.« »Wollen Sie mir erzählen, dass wir dieses ganze verdammte Fernseh programmaterial bereits durchgesehen haben?« »Nicht alles, Sir. Wir haben es uns im Laufe der üblichen Untersu chung, die der polizeilichen Erlaubnis für die Dreharbeiten voraus geht, verschafft. Die BBC wollte nämlich einige Aufnahmen in und vor dem Außenministerium machen, sozusagen als Einleitung zum Dokumentarfilm. Wir baten das Außenamt, sich, bevor die Erlaubnis erteilt werden könne, eine Kopie des Drehbuchs auszubitten. Das war die Bedingung, die der BBC gestellt wurde.« »Na schön«, sagte Sir Sydney philosophisch. »Es ist wohl immer noch 253
besser, es zweimal zu sehen und für harmlos zu befinden, als es ganz zu verpassen und eine Katastrophe auf dem Hals zu haben.« »Sie haben ganz recht, Sir. Vielleicht unterschätzen Sie manchmal die Organisation, die Sie selbst geschaffen haben.« »Schmieren Sie mir bloß keinen Honig um den Bart, Stuart. Das er trage ich nicht.« »Wie Sie wünschen, Sir.« »Wie läuft das Verhör mit dem jungen Stein?« »Er scheint nicht sehr viel zu wissen, Sir. Sein Vater hat ihm wahr scheinlich nicht viel anvertraut.« Der GD nickte. Ein solches väterliches Misstrauen überraschte ihn nicht. Er hatte die Namen der väterlichen Klubs erst entdeckt, als der alte Herr fast im Sterben lag. Wer wird sich schon seinem Sohn anver trauen?, fragte er sich. »Also nichts?« »Nur Schlussfolgerungen, Sir. So glaube ich, dass wir das Haus Oberst Pitmans von unserer Liste streichen können. Stein sagt, er habe von seinem Vater gehört, dass dieser schon vor einiger Zeit die Dokumen te von dort fortgenommen habe, und das glaube ich ihm auch. Steins Vater nimmt Oberst Pitman gegenüber eine sehr beschützerische Hal tung ein. Er hat bestimmt die Dokumente aus dem Haus geschafft, um den Oberst in Sicherheit zu wissen.« »Das finde ich sehr außergewöhnlich«, bemerkte der GD, der sich nicht vorstellen konnte, dass einer der jüngeren Leute aus seiner Ab teilung sich je in dieser Weise um ihn sorgen würde. »Ich glaube es, Sir«, sagte Stuart. »Wo immer auch die Dokumente sein mögen – Pitmans Haus können wir getrost ausschließen.« Er blickte Stuart von oben bis unten an. »Ist irgend etwas gesche hen?« »Wir haben das Foto eindeutig identifiziert.« »Fangen Sie von vorn an«, sagte der GD. Er setzte sich auf das Sofa, seufzte, womit er Stuart zu verstehen gab, welche Bürde auf ihm laste te. »Es handelt sich um das Foto von drei Männern, das im Safe Franz Wevers gefunden wurde«, begann Stuart. »Es wurde während des Krie 254
ges aufgenommen. Bei einem der Männer handelt es sich um Franz Wever selbst, beim zweiten um Max Breslow – und jetzt haben wir auch den dritten identifiziert.« »Und?« »Sein Name ist Wilhelm Hans Kleiber. Er erwarb sich während des Krieges eine gewisse Berühmtheit. Hinweise auf ihn haben wir aus der Berliner Dokumentenzentrale. Man findet ihn auch auf den RFSS Mi krofilmserien T-175 im Washingtoner Nationalarchiv und in der Do kumentensammlung des Hoover-Instituts der Universität Stanford. Er wurde in einem Dorf in der Nähe von Königsberg, Ostpreußen, gebo ren. Kleiber meldete sich 1938 zum Heeresdienst, wurde Offizier der Abwehr. Dann übernahm ihn die SS ins Reichssicherheitshauptamt, wie es damals bei allen Geheimdiensten der Fall war. Nach dem Krieg wurde er von der Organisation Gehlen übernommen.« »Ein ergebener Diener seines Vaterlandes«, bemerkte der GD mit Bitterkeit, aber es klang nicht ganz ironisch. »Ein Zyniker vielleicht«, sagte Stuart. »Ein gedungener Söldner.« »Aber ein beharrlicher Antikommunist, nicht wahr?« Bevor Stuart antworten konnte, fragte der GD: »Er ist also noch am Leben?« »Sehr sogar«, sagte Stuart. »Wohnhaft in München, wenigstens be zahlt er dort seine Steuern. Seniorpartner einer Detektei und Wach dienstfirma. Sie verfügen über eine kleine Flotte gepanzerter Fahrzeu ge, in denen Goldbarren und Bargeld für Banken und Fabriken an Ge haltstagen transportiert werden.« »Und was noch?« Es war unmöglich zu erraten, wieviel der GD wus ste. »Das ist alles, was wir offiziell über ihn wissen, Sir.« Der GD lächelte. »Und inoffiziell, Stuart? Wollen Sie mir nicht an vertrauen, was Sie inoffiziell in Erfahrung gebracht haben?« Im Mun de des GD hatten die freundlichsten Worte oft einen beißend spötti schen Ton. »Er könnte im Dienst Moskaus stehen«, sagte Stuart. »Und wer hat Ihnen diesen Bären aufgebunden?« »Die Lochkarte, Sir.« 255
Der GD war verblüfft. Er hätte erwartet, dass Stuart sich diese Infor mation von einem jungen Beamten der Identitätsermittlung oder von irgendeinem alten Agenten im Ruhestand verschafft hatte. »Also auf der Lochkarte steht, dass er für Moskau arbeiten könnte«, sagte der GD nachdenklich. Er zog sich an der Nase. »Vielleicht doch kein so be harrlicher Antikommunist wie ich dachte, was Stuart?« »Falls Kleiber irgendwelche Kriegsverbrechen auf dem Kerbholz hat, könnten sich die Russen damit seine Mitarbeit erpresst haben.« »Sie haben meine Gedanken gelesen, Stuart. Das haben wir doch schon einmal erlebt, nicht wahr?« »Sehr oft sogar.« »Das ist natürlich heikel«, gab der GD zu. »Aber wir haben immer noch rotes Licht«, sagte Stuart, »dürfen an keine Computer, an keine Polizeiakten, an keine ausländischen Stel len heran.« »Wollen Sie sich beklagen, Stuart?« »Ich stelle die Notwendigkeit Ihres Entschlusses nicht in Frage, Sir, aber wir werden von den Ereignissen überholt. Solange wir keine Mög lichkeit haben, die normalen Kanäle und Verbindungen zu benutzen, laufen wir Gefahr, dass diese Leute ihre Pläne durchführen, noch be vor wir sie vereiteln können.« »Sie verteidigen Ihre Sache mit großer Umsicht«, sagte der GD, schien sich jedoch nicht beeindrucken zu lassen. »Sollten wir nicht Washington über Kleiber informieren? Die könn ten uns viel auf der deutschen Seite helfen.« »Und wie würden Sie das anstellen?« »Mit einer Bitte um Informationsaustausch. Wir geben ihnen die Einzelheiten über die Morde in King's Cross, die Explosion auf We vers Farm und das Foto von Kleiber. Dann fragen wir sie, ob sie davon irgend etwas mit Max Breslow in Verbindung bringen können und so weiter.« »Gut, Stuart. Machen Sie mir einen Entwurf für den Fernschreiber text und legen Sie ihn mir nach dem Mittagessen vor. Der Gedanke, dass Moskau etwas damit zu tun hat, gefällt mir gar nicht.« 256
»Nein, Sir.« »Ganz und gar nicht, Stuart. Bedenken Sie nur, was der Kreml mit den Hitler-Protokollen machen könnte, wenn sie die für ihre Propa ganda ausnutzen wollten.« »Nicht auszudenken, Sir.«
Boyd Stuarts Treffen mit seinem Gegenpart vom CIA in London war inoffiziell. »Und der Alte war einverstanden?« fragte der CIA-Mann. Stuart nahm etwas Gin und Tonic, bevor er antwortete. »Er wird es heute Nachmittag offiziell machen.« »Haben Sie ihm erzählt, was wir von Kleiber halten?« »Ich habe ihm gesagt, unser Computer habe Kleiber als einen mögli chen Agenten Moskaus bezeichnet.« »Und wenn er es nachprüfen will?« »Soll er nur. Ich habe mit unserem Datenverarbeiter gesprochen. Er wird den Computer summen und ›vielleicht‹ sagen lassen. Sie kennen Leslie. Er ist zu lange dabei gewesen, um noch den Fehler zu machen, jemandem eine eindeutige Antwort zu geben.« Der CIA-Mann lachte. »Besonders, wenn diese Antwort ins Auge geht und ihm seine Eton-Krawatte bekleckern könnte.« »Harrow«, sagte Stuart. »Leslie war in Harrow und trägt die Regi mentskrawatte der Panzerdivision.« Der CIA-Mann klopfte Stuart auf die Schulter. »Sie können einen ganz schön auf den Arm nehmen, Boyd.« »Es ist die Wahrheit«, sagte Stuart. »Ich erwähne nur Tatsachen.« »Und das verdammt gut«, sagte der CIA-Mann und winkte dem Bar keeper, um eine weitere Runde zu bestellen. Sie saßen im Salisbury, ei nem alten Pub auf der St. Martin's Lane, inmitten glitzernder Spiegel, blankpolierten Messings und ebenso aufgeputzten Bühnenleuten, die ihre Auftritte für die kommende Saison in den mittwöchlichen Mati neen probten. Eine Dame mit rosa Haar und Bühnenschminke stieß 257
Stuart aus Versehen an, und er verschüttete seinen Drink. »Ist nicht weiter schlimm, mein Schatz«, sagte sie. »Wird schon wieder werden.« Stuart tupfte sich die Flecken vom Ärmel. »Es ist doch nicht zu fassen«, sagte der CIA-Mann bewundernd. »Die Frau rempelt Sie an und ist so gnädig, es Ihnen nicht übel zu neh men.« Stuart führte seinen Gast in eine ruhige Ecke. »Ich müßte unbedingt wissen«, sagte er, »ob Max Breslow zum Netzwerk der Moskauer Zen trale gehört. Und ich müßte es sehr schnell wissen.« »Ich habe Ihnen den ausgedruckten Text versprochen«, sagte der CIA-Mann, »und Sie bekommen ihn, sobald er raus ist. Aber ich muß ihn noch einmal abtippen. Ich kann es nicht riskieren, das Original aus dem Haus zu geben.« Man hörte Jubelschreie am anderen Ende der Bar, als eine bei den Gästen scheinbar sehr beliebte, hübsche, jun ge Blondine in weißem Hosenanzug eintrat. »Aber das ist nur für Sie bestimmt, Boyd. So war es doch abgemacht? Keiner Ihrer Mitarbeiter darf wissen, woher diese Information kommt.« »War das die Abmachung?« fragte Stuart, als ob er sich nicht genau daran erinnerte. »Okay, Boyd, ich bitte um Entschuldigung. Jeder hat mit seinen Leu ten auszukommen. Ich weiß, dass Sie in Ordnung sind, aber Sie müs sen die Sache ja schließlich weitergeben. Ich werde am Freitag in Was hington sein, rufe Sie aber erst Sonntag spät abends zu Hause an. Ver suchen Sie nicht, mich im Büro zu erreichen.« »Über Kleibers Wachdienstfirma«, sagte Stuart, »möchte ich mehr wissen.« »Sie wollen wissen, ob er für die Morde in Frage kommt? Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Er ist ein ganz brutales Arschloch. Sei ne Organisation macht sehr harte Sachen: Schuldeneintreibungen in Spielclubs, Bars und Puffs, die ich nur mit einem Tigerpanzer betreten würde. Antiterrorismus, Bandenbekämpfung und dergleichen. Dieser Köpfungen ist er durchaus fähig, Boyd. Uns wäre er der Verdächtige Nummer eins. Habe ich Ihnen erzählt, dass wir in Los Angeles einen ähnlichen Fall hatten?« 258
»Ja.« »Glauben Sie, dass da eine Verbindung besteht?« Stuart blickte den CIA-Agenten an und fragte sich, wieviel er bereits wusste oder erraten hatte. »Es könnte sein«, sagte er schließlich. Der CIA-Mann hatte Stuart allerdings nicht gesagt, dass die Ermittlungen inzwischen einiges ergeben hatten und dass Kleiber auch einmal für den CIA arbeitete.
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alls jemand von euch eine Cola oder ein Seven-up haben will, soll er sie sich jetzt holen«, sagte der Planungsvorsitzende. »Wir wollen kein Aufstehen und Herumlaufen wie letzte Woche.« Er blickte über seine Brille, die er tief auf der Nase trug – ein rotgesichtiger Mann, die Hemdtasche voller Kugelschreiber. Früher hatte er einmal im Weißen Haus Dienst getan und erwähnte es, wenn sich die Gelegenheit bot, gern. Jetzt arbeitete er für die Domestic Operations Division (Abteilung für inländische Aufgaben) des CIA, einer der heikelsten Jobs der gan zen Organisation; denn es ging um innerstaatliche Geheimaufträge, die sie oft genug mit dem FBI in Konflikt brachten. Unter Zischen wurden die eisgekühlten Dosen geöffnet und über die glatt polierte Tischplatte geschoben. Es war ein heißer Tag; selbst durch die dunkelgetönten Fensterscheiben blendete das flimmernde Sonnen licht über der Landschaft Virginias. Die Klimaanlage wehte kalte Luft durchs Zimmer, dennoch trugen alle CIA-Leute kurzärmelige, offene Hemden. »Der geschäftsführende Leiter der DOD hat uns angewiesen, eine neue Akte zu diesem Fall anzulegen. Die Tagesordnungspunkte ha ben Sie vor sich auf dem Tisch. Die Engländer haben sich endlich wie der einmal als nützlich erwiesen. Es ist eine heiße Sache, die uns, wie 259
ich glaube, direkt ins Innere der sowjetischen Gesandtschaft führen wird.« Der Vorsitzende nahm die rosa Lochkarte, lehnte den Kopf zu rück, betrachtete sie aufmerksam durch seine Brille. Niemand sprach. »Okay, Sam. Berichten Sie mal, wie weit wir bis jetzt gekommen sind.« Er blickte auf die elektrische Kalenderuhr: Freitag, 27. Juli 1979, zehn Uhr achtundvierzig vormittags. Sam Seymour war ein kleiner, grauhaariger Mann mit randloser Brille und Stoppelbart. Seine leise, sanfte Stimme eignete sich bes ser für das Erzählen von Witzen – wofür er berühmt war – als für eine Ansprache an diese Gruppe von Männern, die alle mit äußerst dringlichen Angelegenheiten beschäftigt waren. Seymour fungierte als Schriftleiter des Aktenarchivs. Seine Arbeit bestand darin, Fakten und Daten zusammenzustellen und sie den Leuten, die schließlich die Entscheidungen trafen, vorzulegen. »Okay, Leute.« Er legte den Papier stapel auf den Konferenztisch und wartete, bis alle ihn ansahen. »Sie müssen sich erinnern, dass wir im Laufe der ersten Monate dieses Jah res keine – ich wiederhole: keine – Beweise hatten, aus denen hervor ging, dass Jurij Gretschko etwas anderes als ein zweiter Militärattaché bei der Gesandtschaft in Washington ist.« »Wir vermuteten, dass er zum KGB gehört«, unterbrach ihn der Vor sitzende. Er lehnte sich zurück, wobei sein Kopf fast die Lithographie von Currier and Ives, ein Trabrennen darstellend, berührte. Ein paar Pferde mit spindeldürren Beinen rannten an einer jubelnden, Zylin derhüte schwenkenden Menge vorüber. In den unteren Stockwerken hingen ähnliche Bilder, hier oben aber, wo die hohen Beamten des CIA tagten, handelte es sich um Originallithographien. »Wir vermuteten, dass er zum KGB gehört, als er aus dem Flugzeug stieg«, sagte der Pla nungsvorsitzende. Er wandte sich dem Beamten zu, der das Sitzungs protokoll mit Hilfe eines Tonbandgerätes zusammenstellen sollte. Der Beamte nickte. Er würde im Protokoll festhalten, dass Gretschko als ein Mitglied des KGB identifiziert worden war. Der Vorsitzende wink te Sam Seymour zu, fortzufahren. »Der große Durchbruch gelang uns im April, als Gretschko mit ei nem Mann, den wir noch nie gesehen hatten, zu Mittag aß. Dieser 260
Mann heißt Parker. Wir ließen ihn über den Polizeicomputer laufen und seinen Namen von der Identifizierungsabteilung des FBI nach prüfen. Dann stattete Gretschko im Juni der sowjetischen Gesandt schaft in Mexico City einen kurzen Besuch ab. Dort traf er sich mit keinem anderen als dem berühmten, legendenumwitterten und ge radezu mythischen General Schumuk, General Stanislaw Schumuk – dem Sonderbevollmächtigten des ausführenden Organs des Direkto riums. Das ist gewiß schon ein ausgiebiges Fressen, aber wer kommt dann noch dazu? Niemand anderer als unser geheimnisvoller Freund Edward Parker aus Chicago.« »Und der Mord in Los Angeles?« ermahnte ihn der Vorsitzende, der die Ereignisse in strikter chronologischer Folge vorgetragen zu hören wünschte. »Inzwischen hatten wir da einen Mann«, sagte Sam Seymour, »der in Los Angeles abgeschlachtet wurde. Die Polizei von Los Angeles stellt in Chicago Ermittlungen über Parkers Wagen an und möchte wissen, warum er zur Mordzeit vor dem Büro des Opfers geparkt stand.« »Augenblick bitte, Sam«, sagte Melvin Kalkhoven, ein großer, ha gerer Mann von 35 Jahren; kahle Stirn, strohblondes Haar, ein blei ches, knochiges Gesicht und dunkle, lebhafte, unnatürlich groß wir kende Augen. »Wir hatten da einen Mann, der abgeschlachtet wurde, sagten Sie. Soll das heißen, dass er einer von uns war?« Melvin Kalk hoven war Einsatzagent; der Tod eines seiner Kollegen ging ihm stets sehr zu Herzen. Und wenn das der Fall war, konnte man seinen texa nischen Akzent hören. »Sein Name war«, Sam Seymour blickte auf seine Papiere, »Bernard Lustig, ein Filmproduzent. Hatte nichts mit unserem Bau zu tun. Wir haben ihn kreuz und quer über den Computer laufen lassen. Keine Verbindung zum CIA.« Er blickte auf. »Nein, ganz ehrlich, keine Ver bindung zu irgendeiner Regierungsstelle.« Er nickte dem Vertreter des FBI zu. »Stimmt's, Ben?« »Richtig.« »Und warum wurde er umgebracht?« fragte Kalkhoven. »Lassen wir das für den Augenblick beiseite«, sagte der Vorsitzen 261
de. »Sam ist der Aktenschriftleiter. Er kann Ihnen nur sagen, was wir wissen. Fragen Sie ihn nicht, was er vermutet. Ich persönlich habe nur eine sehr weithergeholte Hypothese anzubieten. Lustig könnte für das KGB gearbeitet haben und undicht geworden sein. Aber bleiben wir bei den Ereignissen. Sam!« Sam Seymour fuhr fort: »Bei den Engländern geschah vor genau neun Tagen ein Doppelmord in London – mit dem gleichen modus operandi wie im Falle Lustig. Sie baten uns, einen Mann namens Wil helm Kleiber über den Computer laufen zu lassen. Und sehen Sie, mei ne Herren, diesen Kleiber haben wir seit fast drei Jahren im Computer. 1945 erschien er zuerst in den Akten des damaligen Office of Strategie Services. Er meldete sich eines Tages beim OSS im Hauptquartier der 3. Armee und bot sich an, uns zu zeigen, wo die Nazis ausländische Devi sen und dergleichen versteckt hatten – falls wir ihm einen Job beschaf fen würden. Das Geld hatten wir bereits, stellten Kleiber aber trotzdem ein. Er war soweit in Ordnung, arbeitete dann, in der guten alten Zeit, für die Organisation Gehlen, den Auslandsnachrichtendienst. Als Gehlen Deckorganisationen aufbaute, organisierte Kleiber in diesem Rahmen seine Detektei und Wachdienstfirma. 1958 ging Klei ber in Pension und übernahm alle Anteile seiner Firma zu einem aus gemachten Preis.« »Auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers«, sagte Kalkhoven. »Richtig«, sagte Sam Seymour, »das war das Geschäft. Die Firma war seine ›Rente‹ von Gehlen, aber die Rechnung mußten letzten Endes wir begleichen. Er arbeitete ja auch für uns.« Er nahm seine Brille ab. »Kleiber war das jedoch immer noch nicht gut genug. Im Laufe der sechziger Jahre geriet er zwei- oder dreimal in finanzielle Schwierig keiten, aus denen er seltsamerweise immer wieder herauskam.« »Ist er zu Moskau übergelaufen?« fragte Kalkhoven, dem Seymours doppeldeutige Sprechweise gar nicht gefiel. »Wollen Sie das damit sa gen?« »Das zu sagen, will ich gerade vermeiden«, erwiderte Seymour mit erhobener Hand, um Kalkhoven zu beschwichtigen. »Es hat lange ge dauert, bis uns die Erleuchtung kam. Aber ziehen wir keine voreiligen 262
Schlüsse, bevor wir nicht die Beweise haben. Und lassen Sie mich eins klarstellen: Kleiber wurde 1969 von unserer Gehaltsliste gestrichen.« »Drängen Sie nicht, Melvin«, ermahnte der Vorsitzende Kalkho ven. »Unser Sam ist äußerst behutsam, das wissen Sie. Aber ich kann Ihnen sagen, was Seymour nicht auszusprechen wagt. Natürlich ließ sich Kleiber bestechen, das ist so klar wie das Sonnenlicht. Wir ha ben zwar keine Beweise, aber ich kann Ihnen versichern, dass es so ist. Kleiber ist Agent der Moskauer Zentrale und ein verdammt gefährli cher dazu. Wir haben guten Grund, anzunehmen, dass er es war, der Parker im Mai bei dem Mord an Lustig half. Und die Engländer ha ben wahrscheinlich ganz recht, wenn sie glauben, dass Kleiber auch für den grausamen Londoner Doppelmord in der letzten Woche ver antwortlich zeichnete.« Er nickte Sam Seymour zu, der mit seiner Geschichte fortfuhr. »Be züglich des Mordes in Los Angeles wissen wir etwas über ihn, näm lich, dass er zwei Tage vor der Tat am internationalen Flughafen in Los Angeles ankam und drei Tage danach mit einem Interkontinentalflug wieder abreiste. Eine Bodenhostess und ein Flughafenbeamter erkann ten ihn als einen Passagier des Fluges nach Frankfurt. Er hatte seine Lesebrille im Salon der ersten Klasse vergessen. Ziemlich blöde für ei nen KGB-Killer, aber wir wissen sehr gut, dass solche Dinge manch mal vorkommen.« »Gott sei Dank«, sagte der Vorsitzende. »Das kann man wohl sagen«, fügte Sam Seymour hinzu. Er blick te wieder auf seine Papiere. »Wir haben dieses Material erst seit Mitt woch, und es bleibt noch viel zu tun. Die TWA prüft die Flugtickets nach. Wir könnten Glück haben. Aber wir haben bereits genug, um eine Verbindung zwischen Gretschko, dem geheimnisvollen Mr. Par ker, Kleiber und den drei Morden herzustellen.« Er blätterte raschelnd in seinen Papieren. »Wir haben Kleiber bei Zoll- und Passkontrolle vermerken lassen. Falls er weiterhin mit dem gleichen Pass reist, könn ten wir ihn festnageln.« Er blickte sich im Zimmer um. »Er scheint stets allein zu reisen.« »Wehe dem, der allein ist, wenn er stürzet; denn er hat keinen, der 263
ihm aufhilft«, sagte Kalkhoven, dessen Vater Laienprediger gewesen war. »Wir vermuten, dass Parker der illegale Resident ist«, sagte der Vor sitzende. Ein überraschtes und bewunderndes Murmeln ließ sich um den Tisch herum vernehmen. Der Vorsitzende lächelte. »Wir haben jedoch etwas Besseres im Sinn, als Parker gegen irgendeinen amerikanischen Jüngling, den man auf dem Roten Platz erwischt hat, als er Kaugummi auf dem schwarzen Markt einkaufte, auszutauschen. Und ich will auch mehr erreichen, als dass Gretschko zur Persona non grata erklärt wird und mit einer Ehrenmedaille heimkehrt. Persona non grata ist kein Begriff mehr. Ich will, dass man Gretschko auf frischer Tat ertappt, ich will einschlägige Beweise, dass diese Köpfungsmorde hier in der gott verdammten russischen Gesandtschaft geplant wurden, ich will das in den Schlagzeilen der Zeitungen sehen. Die Engländer haben uns Klei ber gegeben, aber unsere wichtigsten Ziele sind Gretschko und Parker. Merkt euch das.« »Was verlangen die Engländer als Gegenleistung?« fragte Ben Krup nic, der Vertreter des FBI, vom anderen Ende des Tisches. »Der britische SIS interessiert sich für einen Mann der Westküste namens Stein und einen in Deutschland geborenen amerikanischen Staatsbürger namens Max Breslow. Wir haben ihnen Nichteinmi schung bezüglich der beiden versprochen, und sie gewähren uns das gleiche, was Kleiber betrifft.« »Das scheint mir durchaus fair zu sein«, sagte Krupnic. »Ja«, sagte der Planungsvorsitzende. »Ein faires Geschäft. Bleibt nur abzuwarten, ob sich jemand daran hält.« Der FBI-Mann lächelte. Er fragte sich, ob diese kaustische Randbe merkung gegen seine Behörde gerichtet war.
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estlake Village – eine Wohngegend, wie sie sich Max Breslow nur wünschen konnte. Genügend weit ab vom Smog und Ver kehrslärm von Los Angeles, nahe genug, um in weniger als einer Stun de in Beverly Hills zu sein. Dann gab es den See und die kleinen Segel boote und den geheizten Swimming-pool, den er sich mit einigen sei ner unmittelbaren Nachbarn teilte. Die Leute waren ein wenig dünkel haft und engstirnig, aber es ging nicht schlimmer als in allen Klein städten zu, in denen er bisher gelebt hatte. Vor allem gab es hier klaren Sonnenschein, der alles andere aufwog. Max Breslow saß am Pool und schaute seiner Tochter beim Schwim men ihrer zwanzig Längen zu. Sie zeigte die gleiche Entschlossenheit wie er in ihrem Alter. Manchmal erschreckte ihn der starre Gesichts ausdruck, wie gerade jetzt, als sie den Rand des Schwimmbeckens be rührte und wieder zurückschnellte, ohne einen Tropfen Wasser dabei zu verspritzen. Sie schwamm lange unter Wasser. Max hatte das auch gekonnt, als er noch jung war. Er erinnerte sich seines Trainings in Bad Tölz. Das große Schulungslager der SS war vor wenigen Monaten eröffnet worden. Er hatte noch den sauren Geruch des feuchten Betons und der frischen Ölfarbe in Erinnerung. Tag für Tag wurde geboxt, ge rudert, gelaufen, gesprungen und geschwommen. Es waren lange Tage gewesen, die um vier Uhr morgens beim Wecken begannen und mit erschöpftem Zubettgehen endeten. Den anderen hatte es nichts ausge macht – sie waren meist Bauernjungen, die kaum zu glauben wagten, dass sie am Ende dieses Kurses in der Uniform eines Offiziers zu Fami lien und Freunden zurückkehren würden. Max fragte sich manchmal, was wohl aus ihnen geworden war. Wahrscheinlich längst tot, nahm er an. Er erinnerte sich, in der Zeitschrift Alte Kameraden gelesen zu ha 265
ben, dass keiner der 1934 auf der Junkerschule in Bad Tölz ausgebilde ten Männer das Jahr 1942 überlebte. Max fragte sich, ob irgend jemand wirklich noch dem Dritten Reich nachtrauerte. So sehr er die Verzär telung der Jugend von heute verurteilte, so hätte er doch niemanden dem aussetzen wollen, was er durchmachen mußte, nicht einmal Billy Stein. Max Breslow zögerte – Billy Stein vielleicht doch. Ein paar Wo chen Bad Tölz hätten bei diesem Burschen Wunder gewirkt. »Wach auf, Papa!« Breslow zuckte zusammen, als ihn kaltes Wasser betropfte und er das nasse Gesicht und Haar seiner Tochter fühlte, die sich über ihn beug te und ihm einen Kuss gab. »Das Wasser ist herrlich. Warum kommst du nicht schwimmen?« Breslow lächelte und schüttelte den Kopf. Einige Zehen hatte er in der Schneewüste von Charkow gelassen. Es war lächerlich, aber er schämte sich seiner verstümmelten Füße, selbst der eigenen Tochter gegenüber. »Im Atelier werden gerade die Kulissen aufgebaut. Ich fahre um fünf zehn Uhr in die Stadt, um sie mir anzusehen.« »Ich fahre um fünfzehn Uhr in die Stadt«, wiederholte sie mit ko misch näselnder Stimme. »Das klingt wieder mal typisch deutsch, Papa.« »Ich muß mich an den Zeitplan halten«, sagte er bemüht, nicht ver ärgert zu klingen. »Die Ateliermiete ist nichts im Vergleich zu dem, was wir für die Studiozeit bezahlen müssen, wenn alles aufgebaut ist. Ich muß mich überzeugen, dass alles an seinem richtigen Platz steht.« »Ich habe das Drehbuch gelesen.« Sie rieb sich das Haar mit einem Frottiertuch. »Hast du schon einen Schauspieler für die Hitler-Rolle?« Sie war wirklich sehr schön. Selbst wenn er von seinem natürlichen Vaterstolz absah, war es nicht zu leugnen. »Wir haben etwa dreihundert Leute zur Auswahl«, sagte Breslow. »Jeder Agent in der Stadt scheint jemanden zu haben, den er für diese Rolle geeignet hält.« »Es ist doch keine bedeutende Rolle?« »Es ist das, was man in der Filmindustrie eine ›Kamee‹ nennt. Wer auch immer den Hitler spielt, lenkt die Aufmerksamkeit der Presse in 266
einem Maße auf sich, das in keinem Verhältnis zur Bedeutung seiner Rolle steht. Alle Schauspieler sind auf Reklame aus, weil sie sich da nach Größeres erhoffen.« »Aber die Hitler-Sequenz ist doch reine Mache, nicht wahr, Papa?« »Wir müssen dem Publikum irgendwie erklären, warum die Schät ze in die Kaiseroda-Mine gebracht und versteckt worden sind. Mit den Hitler-Sequenzen ist das am schnellsten erledigt.« »Und die Presse stellt es groß heraus«, sagte Mary Breslow. »Und die Presse stellt es groß heraus.« Sie lächelten sich verschwöre risch zu. »Ich gehe jetzt in die Sauna. Kannst du mich ins Atelier mitneh men?« »Ich dachte, du interessierst dich nicht für Filme.« Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Wange. »Ich interes siere mich nur für deine Filme, Papa.« Er lächelte. Er wollte sie bitten, Billy Stein nicht mitzubringen, aber das hätte nur die Diskussion über ein Thema heraufbeschworen, auf das er zur Zeit nicht näher eingehen wollte. »Ich möchte gleich nach dem Mittagessen aufbrechen.« »Ja, Papa«, sagte sie. In Breslows Haus wurde das Mittagessen stets pünktlich um dreizehn Uhr aufgetragen und Max Breslow erhob sich um Punkt vierzehn Uhr vom Tisch, egal, ob er seinen Kaffee ausge trunken hatte oder nicht. Die Breslow-Frauen waren daran gewöhnt. »Also um Punkt vierzehn Uhr.«
Die Szenenbauten waren größer, als Max Breslow erwartet hatte. Er wusste wohl, dass die Bühnenbildner menschlichen Figuren, wenn sie ihre Ideen in Pastellfarben skizzieren, immer zu große Proportionen geben. Aber dieses Mal war die Wirklichkeit noch überwältigender, als aus den Skizzen zu ersehen war. Max Breslow stand lange schweigend da. Das Werkatelier war sehr hoch, und trotz der großen Lampen verlor sich die Decke im Dunkel. 267
Es herrschte ein Geruch nach frischgesägtem Holz, der Breslow in das Ferienhaus seiner Familie in der Eifel zurückversetzte. Als kleiner Jun ge hatte er oft den Holzfällern im Walde zugeschaut, wenn sie die rie sigen Stämme in Stücke zersägten. Nun der gleiche Geruch wie da mals, aber auch der nach Farbe und synthetischem Klebstoff. »Können Sie die Ventilation einstellen?« rief Breslow. Man hörte ein fernes Sum men und dann das Klappern der Klimaanlage. Max Breslow warf den Kopf zurück, blickte nach oben, wo die neuerbauten Kulissen im Dun kel verschwanden. »Sie sind groß«, sagte Breslow. »Sehr groß.« »Dieses Atelier ist sehr hoch«, erklärte der Bühnenbildner. »Ich habe mit dem Regisseur gesprochen, er möchte einen Kran benutzen, zuerst auf die großen Naziadler da oben einblenden und dann langsam her untergehen, bis auf Hitlers Schreibtisch.« »Die Konferenzszene«, sagte Max Breslow. »Ja, die Konferenzszene«, sagte der Bühnenbildner. »Hitler und sei ne Generale versammeln sich um den Schreibtisch und sehen sich die Generalstabskarten an. Die Filmkulisse wurde mit vier Wänden ver sehen, damit die Kamera jede Richtung einfangen kann. Die beiden Endwände gleiten natürlich.« »Natürlich«, sagte Max Breslow, obgleich er sich nicht ganz im kla ren war, was eine gleitende Wand bedeutete. »Phantastisch«, sagte Breslows Tochter vom anderen Ende der Sze nerie. Ihre Stimme hallte wider. »Hier haben Sie mehr Platz als im Studio«, sagte der Bühnenbildner. »Im Werkatelier ist es ein bisschen eng.« »Hat Hitlers Reichskanzlei wirklich so ausgesehen?« rief Mary Bres low herüber. Max Breslow antwortete nicht. Schließlich sagte der Bühnenbild ner: »Wir arbeiten nach Aufnahmen der örtlichen Gegebenheiten, Miß Breslow.« Wieder ihrem Vater zugewandt: »Es muß natürlich al les noch eingerichtet werden. Das hier sind nur die großen Umrisse, aber ich glaube, es wird sich gut machen.« Er konnte seinen Stolz nicht verhehlen. Max Breslow trat an die Wand und beklopfte den Marmor. Es klang 268
nach Plastik. Der Bühnenbildner lächelte. »Gut, wie? Warten Sie nur, bis Sie die Hitler-Büste aus Polystyrol und den Plastikfußboden gese hen haben. Wenn wir den Ton nachsynchronisieren und man das Hal len der Stiefel auf dem Marmor hören wird, nimmt jeder an, dass es an Ort und Stelle aufgenommen worden ist.« »Die Reichskanzlei wurde 1945 von der Artillerie der Roten Armee zerstört«, belehrte ihn Max Breslow. »Was Sie nicht sagen«, rief der Bühnenbildner aus. Max Breslow ging zu seiner Tochter. »Das muß ein Vermögen gekostet haben, Papa.« »Nur ein Narr versucht, sein Budget gleichmäßig über die ganze Pro duktion zu verteilen«, erklärte Max Breslow. »Ich habe mir das Dreh buch angeschaut und sofort gesagt, dass mich die Szenen in der Kaiseroda-Mine praktisch nichts kosten werden. Es ist ja nur ein dunkler Gang. Ich stehe gerade in Verhandlungen, um ein paar Außenaufnah men in dem Dorf Solvang nahe Santa Barbara zu machen.« »Aber Papa, das ist doch dänisch.« »Ich habe es mir angeschaut, Mary. Der Regisseur und ich finden, dass wir mit einiger Umsicht aus Solvang sehr wohl Merkers in Thü ringen machen können. Natürlich erhalten wir Erlaubnis, Fernsehan tennen, Reklameschilder und dergleichen abzunehmen. Authentisch aussehende Straßenschilder werden angebracht, Plakate angeschlagen, Naziparolen an die Wände gepinselt. Wir können sogar die Trümmer zerbombter Häuser zwischen den Häuserfronten einbauen. Die ame rikanischen Dörfer liegen viel weniger eng beisammen als die deut schen. Und um die großen Zwischenräume zu füllen, haben wir halt an die Bombentrümmer gedacht.« »Du hast gute Ideen, Papa.« »Meine Hitler-Szenen werden hier gedreht. Draußen sehen wir ihn noch einmal, in einem kleinen Wagenkonvoi. Einen dreiachsigen Mer cedes werde ich mir extra dazu mieten.« »Dann ist diese Szenerie hier die einzig wirklich große?« »Nein. Falls alles gut geht, habe ich noch eine größere. Ich möchte eine Replik von Hitlers privatem Eisenbahnzug herstellen lassen, für 269
eine Szene, in der Hitler sich mit Göring darüber streitet, ob der Kampf fortgesetzt werden soll oder nicht. Vielleicht kann ich das Chicagoer Museum überreden, mir die beiden alten Pullmanwagen zu vermie ten. Die ließen sich in den Führersonderzug umbauen. Und dann wer de ich mich bemühen, dass mich die Eisenbahngesellschaft während fünf Tagen in der Union Station hier in der Stadt filmen läßt.« »In der Union Station?« »Ein prächtiges Gebäude, Mary. Hast du es dir je genauer angesehen? Kannst du dir vorstellen, wie es aussehen würde, wenn ich es mit 15 Meter langen Hakenkreuzfahnen ausschmücken lasse; mit den Solda ten des Führerbegleitbataillons und Hunderten von Statisten, die Hit ler zujubeln und die alten Naziparolen schreien, während er an ihnen vorüberschreitet und in seinen Zug steigt? Kannst du dir vorstellen, was das für eine großartige Szene ergäbe?« »Ich kann mir vor allem vorstellen, was du dafür an Berichten in der Lokalpresse und in den Fernsehnachrichten ernten wirst.« Max Breslow gestattete sich ein dünnes Lächeln. »Natürlich ist das auch mit drin, Mary.« Er ging in die kleineren Räume des Werkate liers. Dort wurde hastig das Mobiliar für die Szene in Hitlers Reichs kanzlei zusammengestellt. Man sprühte gerade eine Plastikschicht auf den riesigen Schreibtisch, die ihm im Lichte der Kameras das Ausse hen eines Meisterwerks französischer Politur verlieh. Außerdem wa ren bisher nur zwei Stühle fertig, das übrige lag in Teilen verstreut am Boden herum. »Alles ist so übernatürlich groß, Papa. War es wirklich so?« »Die Leute hier arbeiten nach Fotos«, sagte Max Breslow. »Schon im Original war alles absichtlich übergroß gehalten. Angeblich sollte es den Besucher beeindrucken und ihm das Gefühl geben, in der Gegen wart des Führers als klein und unbedeutend zu erscheinen.« Mary Breslow sah sich an den Wänden der Werkstatt die großen Fo tos der Reichskanzlei in ihrer Glanzzeit an. »Unglaublich«, sagte sie. »Es stinkt geradezu nach Größenwahn.« Sie wandte sich ihrem Vater zu. »Bist du auch dort gewesen, Papa? Sage es mir ganz ehrlich, ich will es wissen.« 270
»Ich habe es gesehen«, gestand Max Breslow. »Mehr als einmal. Das Ungeheuer auch.« »War es ein Ungeheuer, Papa?« »Darüber soll die Geschichte urteilen«, sagte Breslow. »Es ist zu früh, am Rufe jener zu rühren, die vor kurzem gestorben sind.« »Es ist immerhin 35 Jahre her, Papa«, sagte Mary. Sie sah ihn auf merksam an, und er wusste sich beobachtet, obgleich er ihr den Rük ken zuwandte. »Für manche von uns ist es, als sei es gestern gewesen«, sagte Bres low. Wie hatte er sich nur in diese absurde Lage gebracht? Natürlich war ihm das Geld willkommen, aber dieser verdammte Hitler-Film, mit dem er nie etwas zu tun haben wollte, könnte ihm noch Schwierig keiten mit den Amerikanern einbringen. Falls die Zeitungen heraus fanden, dass er bei der Waffen-SS diente, würde man ihn vielleicht so gar ausweisen. Dieser verdammte Kleiber! Der Teufel soll ihn holen. »Nimm es nicht so tragisch, Papa«, sagte Mary.
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eit Anfang Juli unterhielt Max Breslow ein provisorisches Büro im gleichen Häuserblock, in dem sich auch die Werkstätten befanden. Es war noch schäbiger als sein früheres Büro am Melrose und gewiß kein Ort, um Kunden zu empfangen. Aber es war sauber und ausrei chend; ihm genügte es, bis die eigentlichen Dreharbeiten beginnen sollten. Danach würde er anständige Büroräume beziehen und den ganzen Produktionsstab in seinem Hause vereinen. Er griff in seine Tasche und zog den abgegriffenen Schlüssel heraus. Gott weiß, wie vie le Produzenten ihn schon benutzt hatten – Erfolgsmenschen und gro ße Versager, meist Männer wie er selbst; kleine Produzenten, die sich lieber mit bescheidenen Gewinnen zufrieden gaben, als alles auf eine 271
Karte zu setzen. Aber bestimmt war noch kein anderer Produzent er presst worden, um einen Film zu machen. Max Breslow überquerte den Parkplatz, stieg eine kleine Holztrep pe empor. Über einen offenen Balkon gelangte er zu einer Tür, auf der in verschnörkelter Schrift ›14‹ stand. Er trat ein, als eines der Telefone klingelte. Die Empfangsdame war gleichzeitig Telefonistin des gesam ten Häuserblocks, sie mußte ihn schon vorher bemerkt haben. »Breslow.« »Eine Nachricht für Sie, Mr. Breslow. Ein Besucher erwartet Sie in der Stadt.« Breslow seufzte. »Wo in der Stadt?« »In einer Pizzeria auf La Cienega zwischen dem Pico und dem Ve nice Boulevard. Das Lokal heißt Buster's, ein Restaurant, in dem den ganzen Tag über alte Filme vorgeführt werden.« Sie hatte einen schril len New Yorker Akzent, der Breslow faszinierte. »Wer?« fragte Breslow. »Doch nicht etwa die Presse, Lucy?« »Haben Sie schon mal einen Pressereporter gesehen, der bei Buster's zu Mittag isst? Die gehen doch nur in die Polo Lounge. Nein, die Nach richt ist von einem gewissen Kleiber. Soll ich buchstabieren?« »Nein danke, Lucy. Wann hat er angerufen?« »Vor etwa einer halben Stunde. Er sagte, er sei gerade mit dem Flug zeug angekommen. Vermutlich will er sich deshalb mit Ihnen in der Nähe des Flughafens treffen.« »Sonst noch etwas?« »Ihre Frau bittet, Sie möchten ihre Schuhe abholen, falls Sie vor sechs wieder in Westlake sind. Sie sagte, Sie wüssten, wo es ist, und man würde sie Ihnen ohne Beleg geben.« »Danke, Lucy. Besorgen Sie meiner Tochter einen Wagen, und sagen Sie ihr, ich werde mit ihr bei Tony Roma's in Beverly Hills zu Abend essen und sie dann nach Hause bringen. Erklären Sie ihr, dass ich eine unvorhergesehene Verabredung habe. Wollen Sie das tun, Lucy?« »Aber natürlich, Mr. Breslow.«
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Max Breslow erkannte seinen Freund ohne Mühe. Willi Kleiber blieb stets unverändert. Er hatte vielleicht etwas zugenommen, das Haar war etwas grauer geworden, aber sonst war er immer noch der alte, wie Max ihn während des Krieges gekannt hatte: die gleiche kurz ge schnittene Frisur, die blendend weißen Zähne, wenn er lächelte. Selbst das Feldgrau seiner teuren Maßanzüge erinnerte an den Krieg, und noch stets trug er altmodische, ziemlich hohe Stiefel, als stammten sie aus Wehrmachtsbeständen. Er saß ganz hinten in der Pizzeria. Auch das war typisch für Willi, wenn er – wie er es immer noch nannte – einen ›Treff‹ verabredete. Für ihn schien der Krieg nie aufgehört zu haben. Max Breslow blickte sich mit leichtem Schauder um. Überall auf den ungedeckten Holztischen und den unbequemen Bänken standen und lagen schmutzige Papier teller mit Pizza- und Salatresten, Pappbecher und Coca-Cola-Dosen. Ein Ort, den Breslow sich für eine Verabredung nicht ausgewählt hätte. An den Wänden standen ein Dutzend Spielautomaten, deren Videoschirme meist Kriegsthemen darstellten, wie etwa ›U-Boot-Komman dant‹, ›Blitzkrieg‹, ›Sturzkampfbomber‹ oder ›Panzergefecht‹. Ständig hörte man das elektronische Piep-Piep, das Rollen der Metallkugeln, das unaufhörliche Knattern nachgeahmten Maschinengewehrfeuers. Das ist der Krieg, den wir gewonnen haben, sagte sich Max Breslow. Das ist der Krieg, der dem Krieg folgte. »Max, wie nett, dich wieder zu sehen.« Willi Kleiber saß hinter ei nem Stapel von Papiertellern und hatte offensichtlich sein Mahl ge nossen. Das kommt dem Essen im Unterstand noch am nächsten, sag te sich Max Breslow. »Grüß dich, Willi. Du siehst gut aus.« Auf einer großen Leinwand in der Ecke wurde ein zerkratzter Stummfilm gezeigt. Ein dicker Mann mit schwarzem Anzug und Zylinderhut saß an einem Tisch, während ein beflissener Diener ihm eine große Mahlzeit servierte. Max Breslow blickte weg. Er hasste Stummfilmlustspiele. »Ich komme direkt vom Flughafen. Ich schlafe nicht gut auf diesen Langstreckenflügen.« Brüllendes Kindergelächter ertönte. Max Breslows Augen hatten sich 273
inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt. Er sah, dass die andere Seite des Restaurants von kleinen Kindern besetzt war. »Hol' dir einen Kaffee«, sagte Willi. Max nahm einen Pappbecher von der Theke, und der junge Kell ner goss ihm schwarzen Kaffee ein. Breslow kehrte zum Tisch zurück, setzte sich, wich den herumliegenden Salatblättern und Ketchupp fützen aus. Mit geheimnistuerischer Geste, die ihm sehr zu behagen schien, spritzte Willi Kleiber ihm einen Schuß Cognac in den Kaffee. Es war immer das gleiche. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, spielte sich dieses Ritual ab. Max Breslow hatte das Gefühl, eher einem Fremden gegenüberzusitzen, als jemandem, den er erst vor ein paar Wochen ge sehen hatte. Sie waren weder Freunde noch Kameraden; lediglich zwei Fremde, die sich oft trafen. »Wie geht es deiner Familie?« fragte Kleiber. »Marie-Louise liebt Kalifornien«, sagte Breslow mit automatischer Höflichkeit. »Und meine Tochter Mary auch.« »Und du, Max?« »Es gibt Dinge, die ich vermisse, Willi, aber der Sonnenschein wirkt wie ein Wunder auf meine alten Knochen. Und deine Familie? Geht's allen gut?« »Mein Vater ist sehr alt, Max. Er ist müde und hat Beschwerden.« »Das tut mir leid«, sagte Breslow. »Ich erinnere mich gut an deinen Vater. Ein feiner alter Herr.« »Das Leben meines Vaters endete 1945, Max. Der Krieg ist das einzi ge, worüber er redet. Jetzt hat er sogar den vergessen.« Max Breslow hatte die Filmleinwand im äußersten Blickwinkel. Trotz seiner Aversion gegen alte Filme rückte er leicht zur Seite, um ihn bes ser sehen zu können. Die Szene hatte gewechselt, man sah nun den dicken Mann mit dem Zylinder auf einem Schienenstrang, der sich bis zum Horizont erstreckte. Breslow sagte: »Aber deiner Mutter geht es gut?« Jetzt erschien eine Lokomotive in Zeitrafferaufnahme, sauste in rasendem Tempo über die Leinwand. »Gott sei Dank«, sagte Willi. Er saß mit dem Rücken zur Leinwand. Er muß ja immer die Tür im Auge behalten, erinnerte sich Max. Wäh 274
rend des Krieges wurde er in einem Athener Restaurant verwundet, weil jemand eine Handgranate durch die Tür geworfen hatte. »Wir können für vieles dankbar sein«, sagte Breslow. Kleiber goss mehr Cognac in die beiden Pappbecher. »Es ist eine Menge geschehen«, erklärte er. »Ich hielt es für das beste, selbst zu kommen.« »Ich war überrascht, dass du mich im Werkatelier fandest«, sagte Breslow. »Du hast nichts von deinen alten Fähigkeiten eingebüßt, Wil li.« Kleiber war Abwehr-Offizier und machte sich einen Namen, als er 1942 in den französischen Widerstand eindrang. Später wurde die Abwehr vom Sicherheitsdienst übernommen; seitdem gab es in Wil lis Karriere einige Dinge, über die er nie sprach. »Wir hatten einen schlimmen Versager in der Sicherheit«, sagte Kleiber. »Irgendein jun ger Kerl hat sich Zugang zum großen neuen FRÜHLING-Computer verschafft, den Dr. Böttgers Bank in Hannover einrichtete. Er ist durch alle Sicherheitssperren bis an die Daten des zweiten Falls gelangt, was die Experten für unmöglich hielten.« »Experten!« sagte Breslow. »Ich bin jetzt ein paar Jahre im Filmge schäft und höre mir keinen Experten mehr an.« »Sie behaupteten, von Deutschland aus wäre es unmöglich gewesen«, sagte Kleiber, »aber irgendein Idiot hat die Programmierer gebeten, eine Reihe vereinfachter ›Schlüssel‹, die nur für das Ausland bestimmt sind, einzubauen, um der Bank Geld einzusparen! Hast du Worte, Max? 40 Millionen D-Mark hat dieser verdammte Computer die Bank gekostet, und irgendein Schwachkopf vereinfacht die Sicherheitsmaß nahmen, um ein paar Pfennige für Telefonspesen einzusparen.« »Was haben sie entdeckt?« »Es war ein Deutscher, ein Angestellter der Londoner Zweigstelle. Er versuchte, so weit wie möglich in die Geheimnisse vorzudringen.« »Was hat er herausgefunden?« Kleiber nickte, nahm die wiederholte Frage zur Kenntnis. »Er ist di rekt zum Unternehmen Siegfried vorgestoßen.« »Ach du lieber Gott!« 275
»Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten diesen Codenamen nicht benut zen.« »Unternehmen Siegfried«, sagte Breslow. »Das war wirklich dumm ausgewählt. Man riecht sofort das Dritte Reich.« »Alte Männer«, sagte Kleiber, »alte Männer werden romantisch. Sie leben in einer Traumwelt und sehen die harte Wirklichkeit nicht wie wir.« Breslow ahnte instinktiv, was Kleiber als nächstes sagen würde. »Du hast den Jungen umlegen lassen?« »Blieb uns denn eine andere Wahl, Max? Er hatte alle Namen und Adressen. Er wusste, in welcher Weise die Banken und unsere Firmen zusammenarbeiten. Er hatte alle Einzelheiten über den Treuhänder fonds, der das Ganze finanziert.« »Immerhin könnte der Mann durch das komplette Material gegan gen sein, ohne die wirkliche Bedeutung zu verstehen.« Willi Kleiber starrte in seinen Pappbecher, stand auf, ohne Breslow zu antworten, ging zur Theke, nahm die Kaffeekanne von der Heiz platte. Während er sich einschenkte, überlegte er die Antwort. »Es ist leicht, im nachhinein zu kritisieren, Max. Aber dieser Junge hatte sich bereits telefonisch von London aus mit Steins Haus hier in Los Angeles in Verbindung gesetzt. Er konnte Stein selbst nicht erreichen und hin terließ eine kurze Nachricht auf Steins Anrufbeantworter.« »Das weiß ich doch«, sagte Breslow. »Ich habe oft genug das Musik zeichen benutzt, um die gespeicherten Anrufe abzufangen. Darüber weiß ich Bescheid.« »Tatsächlich?« sagte Kleiber mit spöttisch gespielter Überraschung. »Aber du benimmst dich, als hättest du es vergessen.« Kleiber dreh te sich um und blickte auf die Filmleinwand. Es war zuviel Licht im Raum, und die Bilder waren blass und verschwommen. Eine Lokomo tive raste über den Bildschirm, direkt auf den Mann mit dem Zylinder zu; aber in der folgenden Nahaufnahme sah man ihn immer noch es sen. Das Bild erweiterte sich und zeigte, dass er rittlings auf dem Rin derschieber saß, vor dem der gedeckte Tisch, samt Mahlzeit, unver sehrt stand. 276
»Du hattest versprochen, dass der Mord an dem Engländer aus Was hington der letzte sein würde«, sagte Breslow. »Du hattest es auf den Engländer Stuart abgesehen und den falschen Mann erwischt. Das war schlimm genug, Willi. Und mit einem Mord an Stuart hättest du nichts erreicht. Hoffentlich bist du dir darüber klar.« »Es ist leicht, hinterher den Schlauen zu spielen«, sagte Kleiber. »Er zähle mir bloß nicht, dass du die Nerven verlierst, Max. Von den an deren wusste ich, dass sie im Augenblick, wo es ernst wurde, wie die angestochenen Schweine quietschen würden, aber bei dir hatte ich auf Unterstützung gerechnet.« »Und dann unser alter Kumpel Franz Wever. Warum mußte der um gebracht werden?« »Unser alter Kumpel Franz«, sagte Kleiber erbittert, »wollte uns nur nachschnüffeln. Hätte er etwas herausgefunden, so wäre er sofort zum britischen Geheimdienst gelaufen und hätte ihnen alles brühwarm er zählt. Er war ihr Mann. Franz Wever hätte uns verraten.« Breslow schwieg. Franz Wever war immer neidisch auf ihn gewe sen und hatte keinen Hehl daraus gemacht. Franz hockte an seinem Tisch im Fernmeldedienst, während Breslow den richtigen Krieg an der Front erlebte. Vielleicht war Franz Wever deshalb an jenem kal ten Abend in Linz, wo sie gemeinsam ihren Urlaub verbrachten, in die Donau gesprungen, um ein ertrinkendes Kind zu retten. Einen Augen blick hatte er geglaubt, dass Wever und das Kind in der starken Strö mung untergehen würden. Dann hatten sie einen kläglichen Abend auf dem Polizeirevier verbracht und gewartet, bis Wevers Uniform trocken war. Monate später hatte Franz einen Brief vom Vater des Kin des erhalten: »Behalten Sie dieses Foto in Erinnerung an das Leben, das Sie gerettet haben. Möge mein Sohn sich einmal, wenn er erwach sen ist, dieser tapferen Tat würdig erweisen.« Auf dem Foto sah man das Kind vor einer scheußlich gemalten Berglandschaftkulisse. Franz hatte es immer bei sich getragen. Kleiber kniff die Lippen zusammen, gab Breslow zu verstehen, dass er sein Schweigen missbilligte. Was ist mit dem Mann nur los, fragte er sich. War es der Einfluß kalifornischer Lebensweise? »Einige werden 277
noch dran glauben müssen, Max.« Er tippte mit dem Finger auf die Tischplatte. »Stein muß erledigt werden. Er weiß zu viel, um am Leben zu bleiben. Jeder, der dieses Material liest, muß auf die gleiche Wei se aus dem Wege geschafft werden. Es ist bedauerlich, ich tue es nicht gern – aber es läßt sich nun einmal nicht ändern.« »Wo ist Stein jetzt?« »Halten meine Leute hier in Los Angeles dich nicht auf dem laufen den?« »Ich hörte nur, dass er seinen Sohn Billy nach London geschickt hat.« »Ja. Billy Stein flog nach London. Der englische Geheimdienst hat ei nen Mann zu ihm geschickt. Wir hatten keine Zeit mehr, ein Mikro fon ins Zimmer einzubauen und wissen nicht, worüber geredet wurde. Ich glaube, sie fanden die Leichen noch vor der Polizei, ja sogar, bevor der junge Stein sie entdeckte. Die sind sehr gerissen, Max. Wir müssen äußerst vorsichtig sein.« »Die Leichen? Waren es denn mehrere?« »Ein Engländer. Ein Freund. Wir nehmen an, dass der ihn aufklärte, wie man an das Computergedächtnis kommt. Es war schon besser, bei de umzubringen. Er hat bestimmt seinem englischen Freund erzählt, wie erfolgreich er war.« »Wie seid ihr dahinter gekommen?« »Durch den einzigen Glücksfall, den wir bisher in dieser Angele genheit hatten. Ein sehr guter Freund von mir, ein BND-Mann, hat es durch den Generaldirektor des britischen Geheimdienstes bei ei nem Mittagessen in London erfahren. Die Anfrage gelangte an mich, kurz nachdem du die Nachricht auf Steins Anrufbeantworter abhör test. Das war sehr klug von dir, Max.« »Es war nicht besonders klug«, sagte Breslow. »Ich habe genau den glei chen Anrufbeantworter. Stein hat ihn mir zum Engrospreis beschafft. Und meiner hat das gleiche musikalische Zeichen wie der seine.« »Gut gemacht«, sagte Kleiber. Breslow antwortete nicht. Er verfügte nicht über Kleibers lange Er fahrung in der Geheimdienstarbeit und fand das Abhören fremder Gespräche beschämend und erniedrigend. 278
Vielleicht war sich Kleiber dessen bewußt. Er sagte: »Jedenfalls war es uns eine große Hilfe. Sowie ich den Wortlaut der Nachricht kannte, bin ich sofort nach London geflogen. Ich brauchte nicht abzuwarten, was dieser Paul Bock dem jungen Stein zu sagen hatte – wir wussten es bereits.« Er lächelte, drückte Breslows Arm in beglückwünschender Geste. Breslow zuckte zusammen: derartige physische Kontakte waren ihm zuwider. Männliche Umarmungen mochten unter Restaurantbe sitzern, Fußballern und Filmstars am Platze sein, aber nicht unter al ten Kameraden. »Unterschätze Stein nicht«, warnte ihn Breslow. »Er mag wie ein Fett wanst aussehen, aber unter all dem Speck und abstoßenden Äußeren verbirgt sich ein Mann von großer körperlicher Kraft und bemerkens werten intellektuellen Fähigkeiten.« Kleiber winkte ab. »Um diese Zeit sollte er auf den Knien um Geld betteln.« »Er tut es aber nicht«, sagte Breslow, nahm seinen Pappbecher und trank die letzten Tropfen aus. Der Kaffee war dünn und schal, aber der Geschmack des guten deutschen Weinbrands besserte ihn auf. »Er rea giert sehr ausweichend.« »Es war ein guter Plan«, sagte Kleiber. »Wir rechneten damit, dass er nach dem schweren Bankverlust in wenigen Tagen mit seinen Do kumenten herausrücken würde. Es war anzunehmen, dass sie mög lichst rasch Geld brauchten, dass es ihnen in erster Linie darum ging, die Bank zu retten.« Kleiber fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Glaubst du, Stein hat deine Geschichte geschluckt – dass die Englän der dich auf dem Freeway umbringen wollten?« »Ich hatte es ganz kurzfristig improvisiert, Willi, und der Unfall hat mich ziemlich mitgenommen. Ja, ich glaube, er hat es geschluckt. Mein Mercedes war schwer beschädigt. Ich konnte Stein leicht davon über zeugen, dass es absichtlich geschah.« »Ein Glück. Damit haben wir Stein von der Fährte gelockt, und jetzt glaubt er wahrscheinlich, dass die Engländer es auf dich abgesehen hatten.« »Ja, das habe ich ihm gesagt.« 279
»Gut gemacht, Max. Wann hast du ihn zuletzt gesehen?« »Charles Stein? Vorgestern. Warum?« »Weil nämlich …«, Kleiber unterbrach sich und gähnte, was eher ein Zeichen von Angst als von Müdigkeit war, »… weil nämlich in Lon don etwas schiefgelaufen ist. Wir haben den jungen Stein aus den Au gen verloren.« »Er ist aber bestimmt nicht nach Los Angeles zurückgekehrt.« »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?« »Weil er sich sonst bei meiner Tochter Mary gemeldet hätte.« »Deine Tochter Mary und der junge Stein?« »Er ist mir immerhin noch lieber als der mexikanische Tankwart, der sie letztes Jahr auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich mußte sie für ei nen Monat nach Europa schicken.« »Der junge Stein ist spurlos verschwunden«, sagte Kleiber. »Ich hat te einen meiner besten Leute in London auf ihn angesetzt. Ich verste he es einfach nicht. Stein hat das Hotel verlassen, seine Rechnung be zahlt und sein Gepäck abgeholt. Und meine Leute haben nichts davon bemerkt.« »Glaubst du, der britische Geheimdienst hält ihn irgendwo fest?« »Ja. Ich glaube, sie warteten auf Stein, als er in das Haus ging, verhaf teten ihn und verhören ihn jetzt.« »Eine schöne Schweinerei«, sagte Max Breslow. Wenn Billy Stein et was passierte, könnte sein Vater ihn dafür verantwortlich machen. Max Breslow verlor nicht leicht die Nerven, das hatte man im Krie ge gesehen, aber er wusste, dass Charles Steins Zorn schrecklich sein konnte. Und wenn Stein sich an Breslows Tochter rächte? Er verwarf den entsetzlichen Gedanken. »Was nun?« Kleiber streckte sich und machte ein schlaues Gesicht. »Wir hatten ein erstaunliches Glück, Max.« Das war, so nahm Breslow an, der Au genblick, auf den Kleiber gewartet hatte. Die Vermutung war richtig. Kleiber sagte: »Wie ich bereits erwähnte, haben wir Kontakt zu höch sten Spitze des britischen Geheimdiensts – MI 6 nennen sie es –, und ein guter Freund von mir ist Verbindungsmann zwischen London und unserem BND. Sie essen zusammen zu Mittag und unterhalten sich 280
über Kakteenzucht.« Kleiber lächelte über Max Breslows verblüfftes Gesicht. »Das ist ihre gemeinsame Leidenschaft. Und die hat sich für uns als großer Vorteil erwiesen, Max.« »Aber du weißt immer noch nicht, ob die Briten den jungen Stein festhalten?« Kleiber war der sarkastische Unterton in der Frage seines Freundes nicht entgangen. Er lächelte. »Wir können mit Sicherheit annehmen, dass sie Billy Stein in Verwahrung und mit großem Erfolg verhört ha ben.« Der Ausdruck auf Kleibers Gesicht ließ Breslow erkennen, dass sie beim wichtigsten Punkt des Gesprächs angelangt waren. »Welches ist unser größtes Problem, Max? Herauszufinden, wo sich die HitlerProtokolle befinden. Und jetzt wissen wir, wo sie sind. Die Engländer haben entdeckt, dass sie und alle anderen Dokumente sich im Haus Oberst Pitmans in der Schweiz befinden. Wir wissen sogar, in welcher Art Stahlkammer sie liegen.« »Das passt sehr gut zusammen«, sagte Breslow. »Diese Information müssen sie von Billy haben.« »Der Engländer hatte Kataloge von der bekannten Schweizer Geld schrankfirma Schiff und bat meinen alten Freund, ihm bei der Über setzung aus dem Deutschen behilflich zu sein. Wir kennen die Marke, das Modell und das Herstellungsjahr.« »Du denkst doch nicht etwa daran, in dem Haus einzubrechen?« fragte Breslow. »Ein Einbrecher hätte weder genügend Zeit noch die notwendi ge Ausrüstung, um eine solche Stahlkammer zu knacken«, erwider te Kleiber. »Das hieße also – nein, Willi, überlege doch bitte. Ein Einbruch ist schon schlimm genug, aber ein bewaffneter Überfall, das geht ent schieden zu weit. Du kannst heutzutage alles mit einer Sauerstofface tylenflamme oder mit einer der neuen thermischen Lanzen knacken. Besorge dir einen guten Schränker, der fachmännische Arbeit leistet.« »Hast du das aus deinen Filmdrehbüchern gelernt?« Willy Klei ber schmatzte verächtlich. »Das sind völlig veraltete Methoden, mein Freund. Stichflammen und thermische Lanzen erzeugen zuviel Hit 281
ze. Wer damit einen Safe öffnet, findet nur noch Glut und Asche. Ich habe solche Safes für meine Kunden eingerichtet, Max, und weiß, was man tun kann, um eine Tür feuersicher zu machen. Man baut dahinter eine dicke Glasschicht ein, und wenn die erhitzt wird, springt ein gan zer Komplex von Riegeln zu, und die Tür ist so fest verschlossen, dass selbst die Hersteller zwei bis drei Tage brauchen, um sie aufzuschnei den.« Willi Kleiber rieb sich kichernd die Hände. »Ich wüsste nicht einmal, wo ich heutzutage einen Experten für thermische Lanzen auf treiben sollte – außer vielleicht in Italien, wo einer seine alten Tage ver bringt. Schränker sind ausgestorben, Max. Sie wurden durch Männer mit automatischen Waffen ersetzt, die eine Bank einfach überfallen.« »Entsetzlich«, sagte Max Breslow. »Entsetzlich? Wunderbar, solltest du sagen. Wie hätte ich mit mei ner Wachdienstfirma die gegenwärtigen Umsätze erzielt, wenn es kei ne bewaffneten Bankräuber gäbe? Die Verbesserungen der Safes ga ben den bewaffneten Banditen ihre Chance und meine auch, mein lie ber Max.« Er lachte. »Mußt du nicht befürchten, dass Oberst Pitmans Safe an eine Poli zeialarmanlage angeschlossen ist?« »Ja, das muß ich, Max. Deshalb darf ich dieses Unternehmen nicht wie ein Dieb planen. Wir müssen ins Haus gelangen und mit Oberst Pitman reden. Wir müssen ihn überzeugen, dass es in seinem Interes se ist, uns den Safe zu öffnen.« Max Breslow griff automatisch nach seinem leeren Kaffeebecher, drückte ihn zusammen, war erschrocken und bestürzt. Er wusste ge nau, mit welchen Methoden Willi Kleiber Oberst Pitman zu ›überzeu gen‹ beabsichtigte. Er erschauderte. »Was ist denn los mit dir, Max?« »Der Kaffee war widerlich«, sagte Breslow. »Nun komm schon, Max. Es wird herrlich sein, wie in der guten al ten Zeit.« »Du bist wahnsinnig, Willi«, sagte Breslow, aber es fehlte seiner Stim me an Überzeugungskraft. »Du riskierst dein Leben.« Nichts hätte Kleiber noch mehr ermutigen können. Er richtete sich 282
stolz auf. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte er. »Wir haben im Kriege gute Kameraden verloren. Es wäre nicht so schrecklich, ihr Schicksal zu teilen.« Max Breslow betrübte die Antwort, aber er lächelte. Es war nur eine Reaktion seiner Nerven. »Warum lächelst du, Max? Habe ich etwas Komisches gesagt?« »Nein, mein Freund. Ich lächle nur, weil Stein mir letzte Woche das gleiche gesagt hat, in praktisch den gleichen Worten.« »Du wirst auch in die Schweiz kommen müssen, Max.« »Es gibt hier soviel zu tun.« »Die Sache ist wichtiger als dein Film«, sagte Kleiber. »Ich will dich bei mir haben.« Er entnahm seiner Tasche den Zeitungsausschnitt ei nes Washingtoner Blatts, dessen Schlagzeile lautete: »US-Regierung bewilligt 2,3 Millionen Dollar für Nazijäger.« Im Artikel hieß es: »Nach sechsjährigem Drängen erreichte die Kongressabgeordnete Elizabeth Holtzman aus New York beim US-Justizdepartment die Bildung ei nes Sonderausschusses zur Untersuchung von Nazikriegsverbrechen.« Breslow las es durch und reichte es Kleiber zusammengefaltet zurück. »Du hättest deinen Namen ändern sollen, Max«, sagte Kleiber. Max Breslow schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht alten Freunden in Deutschland begegnen und ihnen erklären müssen, warum auf mei nem amerikanischen Pass ein anderer Name steht.« Er seufzte. »Könn test du nicht jemand anderen nehmen?« »Halte dich Anfang nächster Woche bereit, Max. Das ist ein Befehl vom Trust.« »Gut, Willi. Ich werde mich bereit halten.« »Der Trust hat Geld und Anwälte, Max. Verfahren über Ausbürge rung und Landesausweisung laufen über Zivilgerichte. Gute Anwälte und guter Rat – und ein gutes Wort am rechten Ort – können in die sem Lande Wunder wirken.« »Ich habe gesagt, dass ich gehen werde«, sagte Max Breslow. Er war wütend und hatte ein wenig Angst.
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illi Kleibers verblüffender Glücksfall ergab sich am Freitagnach mittag, dem 27. Juli, nach einer schwierigen Unterredung zwi schen Sir Sydney Ryden und der Premierministerin. Der GD kehrte in sein Büro zurück, goss sich ein großes Glas Gin und Tonic ein und blickte zum wiederholten Male in das kleine schwarze Notizbuch vol ler kryptischer Initialen und Hieroglyphen, deren Sinn nur er ver stand. Manchmal brauchte er diese Notizen, um der Premierministe rin eine Frage zu beantworten. Noch nie hatte er sie dringender benö tigt als an diesem Nachmittag, da die PM ihn und seine Abteilung ei ner besonders scharfen Kritik unterzog. Er trat ans Fenster, besah sich seine Kakteensammlung, befühlte die trockne Erde, säuberte die Pflanzen mit einer Pinzette. Einen Augenblick ruhten seine Hände. Er schaute aus dem Fenster zur Westminster-Brücke, über die sich ein Menschenstrom in Richtung Waterloo Station und der Vorortbahnhö fe ergoss. Bald würde der Strom zu einer Sturzflut anschwellen: wenn die Stoßzeit ihren Höhepunkt erreichte, Riesenschwärme dunkelge kleideter Gestalten sich auf den Gehsteigen und Fahrbahnen drängten und den Verkehr lähmten. Und dann bewegten sich die Hände des GD wieder, berührten die Pflanzen mit jener flinken Behendigkeit, die nach Beendigung eines schwierigen Arbeitstages typisch für ihn war. Die PM hatte recht, stell te Sir Sydney bedauernd fest. Seine Abteilung hatte seit dem letzten Bericht keine greifbaren Resultate mehr erzielt. Es hatte keinen Sinn, sie daran zu erinnern, dass sich nichts Schlimmes ereignet hatte, dass Stein und Genossen die Hitler-Protokolle bisher nicht veröffentlicht und keinen internationalen Skandal heraufbeschworen hatten. Wäh rend der Geheimdienst die Verzögerung des Unheils bereits als einen 284
Erfolg betrachtete, verlangten die Politiker immer greifbare Resulta te. Politiker sind am Status quo nicht interessiert, sie wollen Ergeb nisse: abgeschlossene Akten, endgültig beseitigte Befürchtungen, ge naue Abrechnungen. Das hatte sie ihm klar zu verstehen gegeben, und Sir Sydney wusste, dass sie dazu berechtigt war. Er berührte die zarte ste seiner neuen Pflanzen, war versucht, ihr einen Tropfen Wasser zu geben, widerstand jedoch der Versuchung; denn es war besser, sie an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. Zuviel Pflege und Aufmerksam keit könnten ihr nur schaden – und das hatten die Kakteen mit den Agenten im Einsatz gemein. »Es hat offensichtlich eine undichte Stelle gegeben, Sir Sydney«, hat te die PM zu ihm gesagt. Seine erste Reaktion war Ärger, aber er hat te gelernt, seine Gefühle zu verbergen – das hatte er schon in den er sten Wochen auf der Vorbereitungsschule gelernt. Die Rohlinge unter den Älteren lehrten ihn, in sich hineinzuweinen und sich nichts an merken zu lassen. Immer durchhalten, hatte ihm sein Vater aus Simia in den Bergen Indiens geschrieben, und Sydney hatte durchgehalten. Jahrelang war seine alte Nanny die einzige, die ihn auf der Schule be suchte. Es war nicht ihre Schuld, dass sie ihm einmal die Schande an tat, beim Abschied zu weinen. Kinder können sehr grausam zueinan der sein, und die anderen Jungen hatten ihn nie die alte Frau mit dem Jargon der Arbeiterklasse vergessen lassen, die ihn mit ihren Tränen beschämt hatte. Sein einziger Trost bestand, wie noch heute, in har ter Arbeit. »Offensichtlich eine undichte Stelle.« Die kluge Schlussfolgerung der PM konnte nicht auf den wenigen Tatsachen beruhen, die er ihr mit geteilt hatte. Steckte wieder einmal ihre berühmte Intuition dahinter? Oder war es nur die natürliche Feindseligkeit, die alle Politiker der Be amtenschaft entgegenbrachten, um sie in die Defensive zu zwingen? Der GD wandte sich einer anderen Pflanze zu. Sie war nicht in guter Verfassung. Wochenlang hatte er sich zu überzeugen versucht, dass sie sich wieder erholen würde, aber die Chancen dazu waren gering. Scha de, denn einst war sie ein Prachtexemplar, einer seiner Lieblinge. Ei gentlich wusste er genau, wie die PM darauf gekommen war, in seiner 285
Abteilung eine undichte Stelle zu vermuten, die dann zu den Morden in King's Cross geführt hatte. Die PM hatte nämlich nur ausgespro chen, was sie klar und deutlich auf Sir Sydney Rydens besorgtem Ge sicht erkannte. Wenn er nur etwas weiter in die Tiefen seiner geheim sten Gedanken drang, mußte er sich ein peinliches Gefühl eingeste hen, das er während des Mittagessens mit dem BND-Mann empfun den hatte. Und jetzt, da er an seinen Topfpflanzen herumhantierte, er innerte er sich an das Gespräch. Wäre es einer seiner Untergebenen ge wesen, so hätte Sir Sydney es als indiskret, wenn nicht gar sicherheits gefährdend beschrieben. Er blickte auf die Uhr. Es war fast an der Zeit, hinunterzugehen. Sein Wagen war bestellt, der Fahrer stets vorzeitig zur Stelle. Heute Abend sollte er wieder mit dem BND-Beamten essen. Er hatte sich sorgfältig und genau überlegt, was er ihm zu sagen beabsichtigte, aber jetzt, im letzten Augenblick, überkamen ihn Zweifel. Sydney Ryden hatte noch nie als Außenagent gearbeitet. Das war an sich nicht ungewöhnlich; denn kaum einer der höheren Beamten seiner Behörde hatte je Gehei merem nachspioniert als den Spesenkonten der Kollegen. Wie sie war Sydney Ryden ein Schreibtischmensch, geschult in Verwaltungsange legenheiten, jedoch unwissend, was das Drum und Dran der Spiona ge betraf. Dessen war er sich wohl bewußt, aber auch der Tatsache, dass, falls er an diesem Abend etwas verpatzte, wertvolle Menschenle ben auf dem Spiel standen. Falls er jedoch diesen Deutschen glauben machte, dass sich die Hitler-Protokolle in Pitmans Haus in Genf be fanden, könnte er vielleicht einen Teil des angerichteten Schadens wie dergutmachen. Und mit ein bisschen Glück mochte es ihm sogar gelin gen, diesen Kleiber in der Versenkung verschwinden zu lassen – trotz der Nichteinmischungsversicherung, die er den Amerikanern gegeben hatte. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Ermittlungszen trale. »Hallo. Der Direktor hier. Irgend etwas Neues in Sachen Stein?« Er wartete, während der diensthabende Beamte an den Akten schrank ging und noch die kürzlich eingetroffenen Meldungen durch sah. »Nichts, seit die Akte um 17 Uhr in Ihr Büro gelangte, Sir.« »Danke.« Er legte auf. Das war es also. Der Versuch sollte sich loh 286
nen. Er nahm den dicken registrierten Katalog der Firma Schiff, Si cherheitsschlösser und Stahlschränke. Auf dem Titelblatt sah man ei nen Einbrecher mit schwarzer Maske und einem Sack über der Schul ter. Er rollte ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche.
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ie 10. Straße läuft quer durch die breiteste Stelle Manhattans zwi schen East River und Hudson. Grundstücksspekulanten versuch ten, der East Side den verlockenderen Namen East Village zu geben, wovon jedoch die russischen Emigranten, die italienischen Kellner und die puertoricanischen Ganoven, die dort lebten, keine Notiz nah men. Noch weniger Interesse zeigten die Betrunkenen und Straßen penner in der Nähe der russischen Bäder, nicht weit von der Ecke der First Avenue. An diesem Morgen, Montag, dem 30. Juli, hatte die Som merhitze die Stadt in einen steinernen Brutofen verwandelt, der selbst des Nachts nicht abkühlte. Zwei alte Männer hatten einen Tisch auf den Gehsteig gestellt, um ihr im alten Ziegelhaus begonnenes Schach spiel fortzusetzen. Eine Kinderschar bemühte sich, die Feuerhydran ten zu öffnen und wurde dabei von Zurufen einiger halbwüchsiger Mädchen, die oben auf der rostigen Feuertreppe ihr Sonnenbad nah men, ermutigt. Drei Männer erschienen auf dem Flachdach des Hauses neben dem die ganze Nacht durch geöffneten Esswarenladen. Sie kletterten mühe los über die niedrige Mauer, die dieses Dach vom nächsten trennte, und bahnten sich ihren Weg durch die zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Ihre Unterhemden waren voller Schmutzflecken, die Jeans an den Kni en ausgebeult und an den Taschen zerfranst. Der erste war dunkelhäu tig, trug Afrofrisur und Hängeschnurrbart. Die anderen beiden waren Weiße: ein schmächtiger Jüngling mit tätowierten Armen, der einen 287
schweren metallenen Werkzeugkasten schleppte, gefolgt von Melvin Kalkhoven, dessen sauberes Gesicht und kurzer Haarschnitt schlecht zu der schäbigen Kleidung passte. Er machte einen Umweg, um auf die Straße hinunterzuschauen. Die drei Männer gingen auf einen baufälligen kleinen Holzverschlag zu, durch den man ins innere Treppenhaus gelangte. Dort angekom men, schlug ihnen die muffige Hitze des alten Gebäudes wie ein nas ses Handtuch entgegen. Der Schwarze-Pete schlüpfte in einen Con Edison-Overall, den er unter dem Arm getragen hatte. Die beiden an deren warteten, lauschten auf die Geräusche der Straße und spähten nach Bewegungen im Hause aus. Irgendwo aus dem Westen hörte man die Sirene eines Feuerwehrwagens; unten zankte sich der Hauswart mit einem betrunkenen Mieter. Ihre rauen Stimmen hallten im Trep penschacht. »Diese alten Häuser stinken entsetzlich«, sagte Pete. Sie bewegten sich rasch dem obersten Treppenabsatz zu. Pete ging zum Fenster, stieß es mit Mühe auf und blickte auf die Straße hinunter. Die anderen beiden zogen sich weiße Baumwollhandschuhe an. Melvin Kalkhoven schaute auf die Uhr. »Kann's losgehen, Pete?« Pete nickte. Der tätowierte Jüngling stellte den Werkzeugkasten ab und machte sich ans Türschloss der Wohnung Nr. 8. Das Schloss war am Tag zuvor von einem CIA-Team untersucht worden. Die Dietriche, die man ihnen gegeben hatte, passten. Dreißig Sekunden später war die Tür geöffnet. »Alles klar«, sagte Pete. Auch er schaute auf seine Uhr. Kalkhoven und sein Gehilfe traten rasch in die Wohnung und schlossen die Tür hinter sich. »So ein lausiges kleines Schloss«, sagte der Jüngling, »sind wir hier wirklich richtig?« »In dieser Gegend würde ein teures Schloss nur Aufsehen erregen, und das wollen die Leute gerade vermeiden«, sagte Kalkhoven. »Es ist nur ein Absteigequartier, nichts Geheimes, nichts Wertvolles – nur ein Treffpunkt.« Er blickte sich in den kleinen Zimmern um. Es gab zwei Telefone, eines im Schlafzimmer und einen Wandapparat im Wohn zimmer. Nein, nicht die Telefone, beschloss er; elektrische Steckdosen 288
sind besser geeignet. Es war sehr heiß und stickig in der Wohnung – die Fenster waren seit Wochen nicht mehr geöffnet worden und fest zugeschraubt. Die beiden Einzelbetten im kleineren Zimmer waren sauber gemacht, die Decken und grünen Nylonüberzüge diagonal ge faltet, wie es in Krankenhäusern üblich ist. »Hier hat seit Monaten niemand mehr geschlafen«, sagte Melvin Kalkhoven. »Es ist nur ein Treffpunkt.« Er machte sich an die Arbeit, entfernte die weiße Plastikverkleidung der Steckdose am Bett; sein Ge hilfe, Todd Wynn mit Namen, ein schmaler, drahtiger Bursche von 25 Jahren, der aber nicht älter als achtzehn aussah, tat das gleiche hinter dem Kühlschrank. »Sei vorsichtig mit dem Schraubenzieher«, sagte Kalkhoven, »keine Kratzer auf der Plastikverschalung.« »Warum benutzen wir eine so altmodische Ausrüstung, Melvin?« »›Begehre nicht zu wissen, was dir nicht ansteht‹, heißt es in der Schrift; ›denn mehr Dinge werden dem Menschen offenbart, als er zu verstehen vermag.‹« »Lass den Quatsch, Melvin. Warum bauen wir keine Tonaktivato ren-Wanzen oder etwas noch Raffinierteres ein?« Kalkhoven sagte: »Weil diese Wohnung von Profis benutzt wird; deshalb sollst du auf dem Plastik keine Kratzer hinterlassen. Die Leute werden nämlich alles genau überprüfen.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Na schön«, sagte Kalkhoven. Er entfernte die Schrauben aus der Wand und zog die Verkleidung ab, nahm ein kleines Funkgerät aus der Tasche – nicht größer als ein Paket Rasierklingen –, legte es ein, drück te es zwischen die Drähte, schraubte die Plastikverkleidung wieder an. »Wenn wir in dieses Zimmer Tonaktivatoren einbauen, kann sie jeder mit einem Taschendetektor orten. Ein lautes Geräusch genügt, und der Aktivator ist entdeckt.« Der junge Mann brauchte mehr Zeit als vorgesehen, um das Sendegerät einzulegen. »Dann muß also einer draußen sitzen und abhö ren?« »Richtig«, sagte Kalkhoven. »Aber wenigstens senden diese Dinger 289
nur, wenn wir sie einschalten. Die Geräte sind gut. Sie sind klein, weil sie den Strom von der Leitung beziehen und weil ihnen die Drähte bis zum Anschlusskasten als Antenne dienen. Sie sind alt, aber gut. Ich habe keine Zeit für all den Raumkriegskram, den die technische Ab teilung entwickelt hat; ist mir nicht zuverlässig genug. Bist du fertig? Dann gehe ins nächste Zimmer. Und werde bloß nicht nervös. Wir ha ben viel Zeit. Falls irgend jemand hier oben auftaucht, wird Pete ihn zurückhalten. Pete ist in Ordnung.« Pete stand auf dem Treppenabsatz und beobachtete die Straße. Ein uniformierter Polizist trat zum Krämerladen, nahm sich einen Apfel und biss hinein, während er den Straßenverkehr beobachtete. Er war kein gewöhnlicher Streifenpolizist: das Hauptquartier hatte ihn hier her beordert, falls die Männer da oben ihn brauchen sollten. Die Kinder hatten ihre Bemühungen um den Feuerhydranten aufge geben. Der Polizist sah sich das Schachspiel an. »Er wird Ihren Läufer schlagen«, mischte er sich ein. Der alte Mann, dem der gute Rat galt, zeigte sich nicht gerade dank bar. »Verhaften Sie lieber Dillinger«, sagte er. »Was du nicht sagst, Opa«, erwiderte der Polizist gutmütig. »Das FBI hat Dillinger in den 30er Jahren geschnappt. Du bist doch ein kluger Mann und solltest das wissen.« »Dann werde ich wohl auch wissen, wie ich meinen Läufer setze«, sagte der alte Mann.
Im Jahre 1979 brachte der Kursverlust des amerikanischen Dollars auf dem Devisenmarkt Edward Parkers Budget und Pläne völlig durchein ander. Seine Lieferanten in Taiwan und Südkorea mußten, wie vertrag lich abgemacht, in japanischen Yen bezahlt werden; aber seine Kunden saßen praktisch alle in Amerika und Kanada. Parker befand sich also mitten in der Klemme der Weltwirtschaftskrise. Seine Gewinnmar ge schmälerte sich von Tag zu Tag, und er wusste, dass er bald Arbei ter seiner Montagefabrik entlassen mußte, falls im nächsten Jahr kein 290
Wunder geschah. Vielleicht mußte er sogar seinen Betrieb schließen und hielt es für besser, den Tatsachen schon jetzt ins Auge zu blicken. Er hatte gesehen, wie es anderen Geschäftsleuten ergangen war, die es nicht taten und damit nur für sich und alle anderen katastrophale Fol gen heraufbeschworen. Einer seiner Bekannten, vor kurzem noch Se niorpartner einer kleinen, aber recht einträglichen Firma für Funkge räte, arbeitete jetzt als Tankstellenleiter in Ohio, und Tankstellen sind heutzutage nun einmal kein blühendes Geschäft. Armer Mann. »Er beklagt sich ständig. So war er schon immer, das gleiche wie in der Armee«, sagte Kleiber. Parker wandte mit Mühe seine Gedanken von den kapitalistischen Problemen seiner geschäftlichen Tätigkeit ab. Um die Wahrheit zu sa gen: er war geradezu besessen von den technischen Aspekten des Ka pitalismus. Immer wieder mußte er sich in Erinnerung rufen, dass er der illegale Resident der UdSSR war und dass die Moskauer Zentrale – wie auch immer seine Geschäfte liefen – exemplarische Spionagetätig keit von ihm verlangte. So konzentrierte er sich nun auf den Mann, der ihm in dieser schäbigen New Yorker Wohnung gegenübersaß. Ein plumper, von sich selbst sehr eingenommener Kerl mit Bürstenhaar schnitt und einer stets lächelnden Visage. Willi Kleiber war nicht der Mann, den Edward Parker bei sich zum Essen einladen würde, aber ei ner seiner besten Agenten, und sie standen auf der Schwelle eines Er folges, der es Parker vielleicht ermöglichen würde, in einer Wolke von Wodkadämpfen und beim Klimpern funkelnder Medaillen nach Mos kau zurückzukehren. »Wer beklagt sich ständig?« fragte Parker. Das Licht war orangerot. Die untergehende Sonne bildete eine riesi ge Feuerkugel, die langsam hinter den hohen Gebäuden verschwand. Auf der Straße spielten ein paar Jungen auf einem mit Kreide markier ten Feld Softball. Man hörte ihr Geschrei. »Max Breslow beklagt sich ständig«, sagte Kleiber, blickte Parker mit leicht zusammengekniffenen Augen an und fragte sich, warum sein Chef heute so schwer von Begriff war. »Das Witzige dabei ist, dass Böttgers Leute ihn ermutigt haben, diesen Film wirklich zu machen. 291
Sie haben sich das Drehbuch angesehen, fanden es harmlos und beauf tragten ihn, diesen verdammten Film tatsächlich zu drehen.« Kleiber lachte und rümpfte dabei die Nase. Es klang eher kichernd und ent sprach nicht dem dröhnenden Bauchgelächter, das man von diesem gestiefelten deutschen Rohling erwartet hätte, stellte Parker fest, er laubte sich aber ein Lächeln. »Können wir sicher sein, dass Breslow keine Ahnung von Ihrer Tä tigkeit für die Sowjetunion hat?« Parker blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach sechs Uhr abends. Er mußte noch das Flugzeug nach Chica go erreichen, denn dort galt es, noch vor dem Schlafengehen einige Ar beit zu erledigen. Früher lebte der illegale Resident immer in Kanada, aber Parker hatte die Moskauer Zentrale gedrängt, ihn in den Staa ten wohnen zu lassen, und da er ohnehin sehr viel reiste, hatten sie schließlich nachgegeben. Kleiber lachte. »Mein alter Kamerad Max würde Sie zu einem Duell herausfordern, wenn Sie so etwas auch nur andeuteten.« Sie sprachen englisch. Kleibers Akzent war viel stärker als der Parkers, aber Kleiber war sehr stolz auf seine Sprachkenntnisse und Parker klug genug, sei nem Agenten die kleine Freude zu lassen. »Und wie steht es mit Böttger und diesen anderen Wahnsinnigen? Sind Sie sicher, dass Sie dort niemand verdächtigt, für die Sowjetuni on zu arbeiten?« Seine Lungen gurgelten in der feuchten Luft. Parker zog sich die Jacke aus, knöpfte das Hemd auf. Er hasste den Sommer in New York City. Die Gebäude saugten die muffige, stickige Luft auf, und der hässliche Straßenlärm wurde unerträglich. Kleiber grinste. »Ach, Eddie, Eddie«, rief er in spöttischem Ton. »Böttger, Rau und die anderen sind alte Trottel, mein lieber Freund. Verrückt! Meschugge! Dösköppe! Das habe ich Ihnen schon so oft ge sagt, und Sie wollen es immer noch nicht glauben. Hören Sie mal, Ed die, diese alten Knacker sind total kindisch. Liberal nennen sie sich, und sie glauben, ich sei auch liberal. Die haben volles Vertrauen zu mir, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Aber Parker machte sich doch Sorgen. Das gehörte zu seiner Natur, und er hatte Kleiber gegenüber gemischte Gefühle. Zwar stand dessen 292
Treue zur Zentrale nicht in Frage, aber er hätte jeder Organisation mit gleicher Hingabe gedient, solange man ihm nur Gelegenheit gab, sei ne kriegerischen Instinkte auszutoben. Er war härter und gesünder als mancher viel jüngere Mann, dazu leidenschaftslos wie eine Maschine, intelligent und – soweit Parker es aus seiner Wachdienstorganisation ersehen konnte – ein gerissener Geschäftsmann. Wenn er seine Schwä chen nicht hätte – wie sein Hang zu Spiel und Weibern –, könnte er jetzt sehr reich sein. Aber Kleiber machte sich nichts aus Reichtum, er liebte nur Risiko und Gefahr. »Und Breslow wird mit dem Film noch Geld verdienen«, sagte Klei ber und lachte wieder. Das schien er sehr komisch zu finden. Offen sichtlich beneidete er Breslow nicht ums Geld. Parker merkte es sich; es war immerhin ungewöhnlich. Parker sagte: »General Zhadow befahl, den Steinschen Dokumen ten höchsten Vorrang einzuräumen. Wir müssen sie uns unbedingt verschaffen.« Parker benutzte stets den Namen Zhadow – seines al ten Kommandanten der 5. Armee –, um damit das ganze bürokrati sche Imperium der Moskauer Zentrale zu bezeichnen. Aber dieses Mal dachte Parker vor allem an General Schumuk. »Und General Zhadow ist ein sehr harter Bursche, der genau weiß, was er will.« Kleiber lächelte. »Sagen Sie Ihrem General Zhadow, er soll mich am Arsch lecken«, sagte er. »Ich hole mir die Steinschen Dokumente, und ich hole sie mir auf meine Art. Ich schere mich einen Dreck darum, ob irgendein alter Trottel in der Moskauer Zentrale sie als vorrangig be trachtet oder nicht.« Die Luft war schwül. Irgendwo aus der Ferne er tönte eine Polizeisirene. Parker sagte nichts, malte sich genüßlich eine Konfrontation zwi schen Kleiber und General Schumuk aus. Schumuk war zu seiner Zeit mit Zehntausenden von Leuten wie Kleiber fertig geworden. Diesen hier würde er am Boden zertreten. »Eines Tages werden vielleicht auch Sie bei uns General, Willi«, sag te Parker, »und dann reden Sie nicht mehr so.« Das entsprach durch aus der Moskauer Politik gegenüber hervorragenden Agenten. Man gab ihnen Orden und militärischen Rang. Einmal hatte sich Parker 293
die Mühe gemacht, die Uniform eines russischen Obersten mit Or den, Medaillen und allem Zubehör zu verwenden, um einen schmie rigen kleinen Computerprogrammierer in Kansas City, der mit der Herausgabe von Material für die Moskauer Zentrale zögerte, zu be eindrucken. Die Wirkung blieb nicht aus. Der Programmierer zog sie sich an und betrachtete sich stolz im Spiegel. Im folgenden Jahr be förderte Parker ihn zum General, und das Würstchen nahm sich tat sächlich vor, einen Besuch in Moskau zu machen. Das wäre ein schö nes Fiasko gewesen. Zum Glück wurde dem Arbeitgeber des kleinen Mannes der Vertrag mit dem Kriegsdepartement gekündigt, so dass er Moskau kein Material mehr liefern konnte. Natürlich wurde ihm der militärische Rang entzogen. Parker schmunzelte, als er daran zu rückdachte. »Ich, ein General?« sagte Kleiber. »Nein, danke. Mich kriegen Sie nie nach Moskau, Eddie. Schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf.« »Das sagen sie zuerst alle, Willi.« Es machte Parker Spaß, die Selbst sucht dieses Mannes anzustacheln, um zu sehen, wie weit er damit kommen würde. »Sie wissen, dass sich die Dokumente in Genf befinden«, sagte Willi Kleiber. »Steins Papiere lagern in dieser großen Villa am See.« Er hat te es Parker schon einmal erzählt, genoss es jedoch, seine wichtige In formation zu wiederholen. »Ja«, sagte Parker. »Es ist ein kleines Paket, bringen Sie es. Es sollte keine Schwierigkeiten geben.« »Ich soll damit von Genf aus in die Staaten fliegen?« Kleiber zog die Nase zusammen, schien etwas Faules zu riechen. »In Genf leben mehr Leute der Moskauer Zentrale als in Moskau selbst. Es ist die Spionage hauptstadt Europas, das wissen Sie, Eddie. Warum soll ich die Doku mente hierher bringen, wenn ich sie in Genf beim diplomatischen Ku rier abliefern kann und sie noch am gleichen Abend in Moskau sind?« Parker wurde sich bewusst, dass er Kleiber nicht hätte ködern sollen, er war wirklich zu schlau. Kleiber wusste genau, dass Parker für die sen Coup nicht viel Anerkennung ernten würde, falls die Dokumente einem russischen Agenten in Genf ausgeliefert wurden, und vielleicht 294
wusste Kleiber auch, wie sehr Parker auf Anerkennung in Moskau an gewiesen war. »Es ist mir lieber, wenn Sie die Dokumente hierher zurückbringen«, sagte Parker. Seine Stimme war kalt und ein wenig schriller als ge wöhnlich. Offensichtlich war er nervös geworden. Kleiber hatte ein gu tes Auge für die Schwächen anderer. Er grinste. Parker fügte hinzu: »Wie wollen wir wissen, mit wem wir es in Genf zu tun haben, Willi? Vielleicht händigen Sie die Frucht all unserer Mühe und Arbeit irgen deinem dummen Beamten aus, der sie zu den Akten legt oder irgend wo herumliegen läßt, oder was weiß ich. So etwas kann nämlich vor kommen, müssen Sie wissen.« »Ist das ein Befehl, Eddie?« Edward Parker war gar nicht befugt, einen solchen Befehl zu ertei len. Es stand nicht nur im Widerspruch zu den geltenden Anweisun gen über die Verwendung von Agenten im Übersee-Einsatz, sondern es überstieg auch seine territorialen Kompetenzen. Den Bestimmun gen nach hatte er Kleiber nur einen ›Kontakt‹ und einen ›Briefkasten‹ anzugeben, gegebenenfalls eine Möglichkeit zum ›Untertauchen‹. Das galt besonders für das Unternehmen Pogoni, das höchsten Vorrang einnahm, für das die Zentrale General Schumuk nach Mexico City ge schickt hatte. Aber es war Edward Parkers große Chance, sich das Wohlwollen seiner russischen Vorgesetzten wieder zu verdienen. Vielleicht wür de man ihm sogar erlauben, seine Frau und seinen erwachsenen Sohn wieder zu sehen, die er mit fast physischem Schmerz vermißte, was für ihn um so schlimmer war, als er mit niemandem darüber reden konn te. »Bringen Sie sie hierher zurück, Willi. Es ist ein Befehl.« Er schaute wieder auf seine Uhr und überlegte, wieviel Zeit er brauchte, um zum Flughafen zu kommen. Vor dem Schlafengehen mußte er unbedingt noch einmal die Konten seiner Firma nachprüfen. Der Funktechniker des FBI und sein Assistent waren froh, als das Gespräch ein Ende nahm. Sie saßen im Inneren eines schlecht ven tilierten Lastwagens, zusammen mit einem Fotografen, dem Fahrer, dem Stenografen, und schwitzten ausgiebig. Seit langem hatten sie 295
den kleinen Kühlschrank ausgeleert, und die leeren Dosen und Fla schen lagen am Boden herum. Der Funktechniker nahm seinen Kopf hörer ab. »Das wär's«, sagte er. Draußen auf der Straße schrie jemand den Softball spielenden Kindern etwas zu. Ein Transistorradio spielte ›Hello Dolly‹ und wer immer ihn trug, schlug im Vorbeigehen an die Wand des Lastwagens. Das war in dieser Gegend nichts Ungewöhnli ches, aber die Männer wussten, dass es ihr Abfahrtssignal war. »Dieser Scheißkerl«, sagte der Funktechniker. »Er will, dass er die Papiere in die Staaten zurückbringt. Das ist gut. Die Jungen werden ihn schnappen, wenn er hier wieder aus dem Flugzeug steigt. Der arme Kerl kriegt mindestens 100 Jahre Zuchthaus.« Todd Wynn, Kalkhovens junger Assistent, ging noch einmal seine Notizen durch, nahm die Bandspule aus dem Apparat, steckte sie ein, unterschrieb rasch die Quittung für den Fahrer. »Was ist bloß in diese Kerle gefahren?« sagte der Chauffeur angewi dert. »Die scheißen auf ihre Freunde und ihre Mitarbeiter. Die freuen sich nur, wenn sie jemanden verraten können.« »Sie verdienen den elektrischen Stuhl«, sagte Melvin Kalkhoven. »Diese beiden Schweine haben den Filmproduzenten in Los Angeles umgelegt und ihm den Kopf abgehackt. Und Scotland Yard sucht sie wegen eines ähnlichen Mordes, den sie vor kurzer Zeit in London ver übt haben.« »Fahren wir los«, sagte der Chauffeur und kletterte behutsam über die Aufnahmegeräte. »Ich habe eine schöne Ehefrau, die im Bett auf mich wartet.« Die anderen lachten. Sie wussten, dass er seine Ehefrau nicht mein te. Todd Wynn schaute Kalkhoven an, der für solche Gelegenheiten im mer einen Bibelspruch parat hält, ihn dieses Mal aber für sich behielt.
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ährend Kleiber und Parker unter der feuchten Hitze des Abends in New York litten, folgte Boyd Stuart in London den Zeigern der Wanduhr, die sich auf Mitternacht und das Ende des Monats Juli zu bewegten. Der fensterlose Kellerraum im Zikkuratgebäude lag zu tief unter der Erde, als dass man das Läuten Big Bens oder den Verkehr auf der Westminster-Brücke hören konnte. Die Glasur der Ziegelwän de war vom gleichen Giftgrün, das seit Königin Viktoria oder vielleicht noch früher in allen amtlichen Räumen, von den Postämtern bis zu den Gefängnissen, vorherrschte. Zwei aufgebockte Tische standen an der Wand, beladen mit Stapeln von Büchern und Dokumenten, die sich fast bis zur niedrigen Decke erstreckten, wo die Neonröhren des bläulich fluoreszierenden Lichtes leise summten. Stuart rückte unbehaglich auf dem harten Holzstuhl, der von der Einrichtungsabteilung repariert und jetzt in diesen ›Sicherheitsraum Nr. 4‹ verbannt worden war, weil er auf unebenen Beinen wackelte, hin und her. Sonst gab es hier kaum noch etwas, ausgenommen einen ro ten Feuerlöscher und eine eingerahmte, mit Fliegendreck beklecker te Bekanntmachung, die ausführliche Einzelheiten über die Sonderbe stimmungen des Offiziellen Geheimhaltungsgesetzes bezüglich offizi eller Dokumente enthielt. Sie stammte aus dem Jahre 1962, aber inzwi schen hatte sich nur wenig geändert. Die Stunden waren schnell vergangen, als Stuart die Berichte über die Ereignisse des Sommers 1940 durchlas. Hier waren alle Veröffentlichun gen beisammen: die Memoiren der Sieger und die der Besiegten. Es gab auch unveröffentlichte Berichte, verstaubte Aktenbündel in Schreibma schinenschrift, Tagebücher und Aufzeichnungen, Einzelheiten über den Tagesablauf längst verstorbener und halbvergessener Menschen. 297
Stuart war zuerst skeptisch gewesen. Hatte das mühelose Vordringen der deutschen Panzerdivisionen nach Frankreich Winston Churchill wirklich so entmutigt, dass er Adolf Hitler persönlich aufsuchte, den Mann, den er so hasste? War er wirklich mit dem Hut in der Hand zum deutschen Führer gegangen, um ihm einen Handel anzubieten, seine Verbündeten jenen auszuliefern, die er stets als Gangster bezeichne te? Boyd Stuart hatte einen großen Bogen vor sich liegen und notierte sich genau alle Bewegungen der beiden Männer an den Mai- und Ju nitagen. Erst als die Uhr Mitternacht schlug, wurde sich Stuart bewußt, wie lange er über seinen Geschichtsbüchern gesessen hatte. Für ihn gab's keinen Zweifel mehr: aus den Tagebüchern ging klar hervor, dass Churchill die geheime Reise zu Hitler unternommen hatte. Es mußte jedem einleuchten, wenn man sich die Tatsachen vor Augen hielt. Churchills Besuch am 16. Mai in Paris war verfrüht; denn der deut sche Vormarsch hatte erst vor sechs Tagen begonnen, und die Alliier ten hofften, sich wieder zu erholen. Ein Besuch am 22. Mai im Châ teau de Vincennes, dem Hauptquartier der französischen Armee, kam ebenfalls nicht in Frage: er schloss alle Komplikationen eines weiteren Paris-Besuches ein; zudem gab es zu viele Zeugen, die den Premiermi nister ständig begleiteten. Am 31. Mai flog Churchill zum dritten Mal nach Paris, begleitet von Feldmarschall Dill, General Ismay und Clement Attlee. Diesmal begab sich Churchill nicht zum Quai d'Orsay, sondern suchte den französi schen Ministerpräsidenten Paul Reynaud direkt auf. Sie trafen sich im Kriegsministerium in der Rue St. Dominique. Wie bei all seinen vor herigen Besuchen übernachtete Churchill im britischen Botschaftsge bäude und kehrte am folgenden Morgen nach England zurück. Während seiner Besuche im Mai hätte Churchill keine Gelegen heit gehabt, mit deutschen Bevollmächtigten, geschweige denn mit Hitler selbst, Verhandlungen anzuknüpfen. Aber Churchills nächster Frankreich-Besuch, am 11. und 12. Juni, war freilich in jeder Hinsicht merkwürdig. Obgleich die deutschen Truppen vor den Toren von Pa ris standen und die Stadt zwei Tage später besetzen sollten, überflog 298
Churchills Privatflugzeug die deutschen Kolonnen und landete auf ei nem schmalen Flugfeld in der Nähe der Kleinstadt Briare. Im zweiten Band seiner Memoiren gibt Churchill zu, dass dieser Besuch erst am Tage der Reise beschlossen wurde, weil er eine Nachricht von Adolf Hitler erwartete, die über die spanische Botschaft nach London ge schickt worden war. Ein Hinweis auf Winston Churchills geheimen Weiterflug ergibt sich aus der Tatsache, dass der britische Premierminister nicht bei den übrigen Mitgliedern der britischen Abordnung verweilte. Feldmar schall Dill, General Ismay, Außenminister Anthony Eden und selbst Churchills Dolmetscher wurden in einem in der Nähe befindlichen Militäreisenbahnzug untergebracht. Kurz nach der Landung seines Flugzeugs reiste Churchill ohne Begleitung weiter. Boyd Stuart wandte sich noch einmal den Memoiren Sir Edward Spears* zu – niemand hatte Churchill im Laufe dieser schrecklichen Tage näher gestanden. Am Morgen des 12. Juni 1940 – der jener in Frankreich verbrachten Nacht folgte, als die deutschen Truppen immer näher rückten – schrieb Spears: »Ich blickte eine Weile nicht auf; als ich es schließlich tat, war ich überrascht, Thompson, den Geheimpo lizisten des Premierministers zu sehen.« Thompson gehörte seit vielen Jahren zu Churchills ständigem Gefolge. Erstaunlich demnach, dass er nicht bei Churchill war, den er doch eigentlich beschützen sollte. Spears fährt fort: »Überrascht bis zur Taktlosigkeit, sagte ich: ›Thomp son, was tun Sie denn hier? Warum sind Sie nicht beim Premiermini ster? Er braucht Sie doch bestimmt!‹ – ›Ich mußte hier schlafen, und die Franzosen haben vergessen, dass ich einen Wagen brauchte.‹« Das war es also. Winston Churchill hatte nicht einmal seinen Leib wächter mitgenommen. Hatte Adolf Hitler diese Bedingung gestellt, oder war es Churchills Entschluss, diesen geheimen Flug allein zu un ternehmen? Denn um diese Zeit, am 12. Juni 1940, war Winston Churchill allein, irgendwo und weit entfernt von Stab, Dolmetscher, Leibwächter und * Assignment to Catastrophe, Band 2, The Fall of France, Seite 159 (Heinemann, London 1954) 299
Beratern. Zwei lange Gespräche mit Adolf Hitler hatte er bereits ge führt. War schon Churchills Verschwinden bezeichnend, um so auf schlussreicher das Verbleiben Hitlers selbst in diesen Tagen. Am 6. Juni 1940 wurde nach kurzfristig erteilten Befehlen ein improvisierter geheimer Tagungsort im belgischen Grenzdorf Brûly de Pesche errich tet. Der Luftschutzbunker war noch feucht vom frisch gegossenen Be ton, und Hitler weigerte sich, ihn zu betreten. In der Nähe befand sich ein kleiner Flugplatz, kaum größer als eine Wiese, auf dem nur klei ne Kurierflugzeuge landen konnten, Churchills zweimotorige De-Ha villand-Flamingo-Maschine mußte in der Nähe von Hitlers Junkers in Rocroi an der französischen Grenze gelandet sein. Ein Fieseler Storch wartete abflugbereit, als Churchill ankam. Während die kleine Ma schine aufstieg, wurde Churchills Flamingo an den Rand des Flugfelds gerollt und getarnt. Bezeichnend ferner, dass der Bunker in Brûly de Pesche von Win ston Churchill nur ein einziges Mal zum Zwecke dieser Begegnung be treten wurde. Nach den wenigen Tagen seiner Bedeutsamkeit wurde er dem Verfall überlassen. Als am 17. Juni Adolf Hitlers Hoffnungen auf eine britische Bitte um Waffenstillstand schwanden, reiste er zu einem Treffen mit Benito Mussolini nach München. Mussolini hoffte von ihm zu hören, dass die Engländer seinen Armeen in Afrika keinen weiteren Widerstand mehr entgegensetzen würden. Am 21. Juni waren die Kämpfe in Frankreich so gut wie beendet. Hitler fuhr im offenen Mercedes durch den Wald von Compiègne, wohin man den historischen Eisenbahnwagen, in dem die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg den Waffenstillstand unterzeichneten, aus dem Museum hinverfrachtet hatte. Am 22. Juni wurde in dem gleichen Waggon der französische Waffenstillstand un terzeichnet. Die Chance eines vorzeitigen Friedens zwischen Großbri tannien und Deutschland war für immer vertan. Stuart ging die Papiere stets aufs neue durch, schaute sich die Tage bücher der Waffen-SS und der Wehrmachtseinheiten an, die ihm das Kriegsministerium aus den Archiven zur Verfügung gestellt hatte. Er 300
ging den Stapel jener biographischen Notizen aus dem Bundesarchiv in Koblenz durch, die Hitlers Tagesablauf bis in die kleinsten Einzel heiten dokumentieren und blätterte wiederholt alle bisher veröffent lichten Memoiren durch. Kannte man einmal die Wahrheit, so wa ren auch viele andere Rätsel gelöst, zum Beispiel die Frage, warum die zwölf Hawker Hurricanes, die Churchills Flugzeug am 11. Juni nach Briare begleiteten, zu seinem Rückflug am nächsten Tage nicht zurück geschickt wurden*. Diese Tatsache ist besonders merkwürdig, wenn man bedenkt, dass sechs Hurricane-Geschwader noch bis zum 17. Juni in Frankreich stationiert waren, wie es klar aus der RAF-Schlachtord nung hervorgeht. Die Kampfflugzeuge hätten, um nach Briare zu ge langen, nicht einmal den Kanal überqueren müssen. Die Wahrheit war jetzt offenbar, wenn die offizielle Version auch lau tete, dass das Wetter zu schlecht gewesen sei. (Immerhin hatte die RAF am gleichen Tage Wetter und Sicht für gut genug befunden, um im Tiefflug Bombenangriffe auf Brücken über den Albertkanal in Belgien durchzuführen; von den Langstreckenflügen der Bomber von England nach Turin ganz zu schweigen.) Hätten die Hawker-Hurricane-Pilo ten irrtümlicherweise oder infolge eines unterlassenen Gegenbefehls an diesem Tage Kurs auf Briare genommen, so wären sie Zeugen eines undenkbaren Schauspiels gewesen. Sie hätten nämlich eine Staffel Messerschmitt Bf 109 als Eskorte der unbewaffneten Flamingo Churchills ausgemacht. Diese Flugzeuge vom Kampfgeschwader 51 waren zu diesem Einsatz extra vom Hauptstütz punkt der Luftflotte 2 auf Befehl des Führerhauptquartiers herbeor dert worden. Die deutschen Abfangjäger kurvten über dem Flugplatz, bis Churchills Maschine aufgestiegen war, und geleiteten sie über die deutschen Linien bis in den französischen Luftraum hinein. Bezeichnenderweise war es das Oberkommando der Luftwaffe, das die besonderen Anweisungen dieses kleinen taktischen Einsatzes aus gegeben hatte. Stuart las sich die Fernschreibmeldung noch einmal ge nau durch. Die verschlüsselte Sprache der Fernmeldeeinheit der Luft flotte 2, die die Geheimmeldung an den Stützpunkt des Fliegerkorps * Spears, a.a.O. Band 2, Seite 172. 301
IX weitergab, wies klar genug auf die Natur dieses Einsatzes hin. Die Meldung erwähnte keine besondere Flugroute, enthielt nur den strik ten Befehl, alle Piloten anzuweisen, den Sonderflug als streng geheim zu behandeln. Der Kommandeur – so lautete die Meldung weiter – habe den Einsatz persönlich zu leiten. Das geringste Versagen in der Ausführung des Befehls vom Oberkommando würde für alle Beteilig ten kriegsgerichtliche Folgen nach sich ziehen. Adolf Hitler hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um sicher zugehen, dass ihm keine Zwischenfälle die einmalige Chance verder ben könnten, das britische Commonwealth zur Aufgabe des Kampfes zu bewegen – und sich somit zum unumstrittenen Herrn Europas zu machen. Boyd Stuart klappte die Akte zu und drückte auf den Summer, um den Beamten vom Archiv zu rufen. Plötzlich fühlte er sich müde und ziemlich alt.
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n jenem Sommer gab es eine Menge größerer Boote auf dem Gen fer See, aber Die Zitrone war eine Motorjacht von 15 Metern Länge, mit fabrikneuen Dieselmotoren, moderner Radarausrüstung und ei nem ziemlich kraftvollen Beiboot, das am Stern-Davit schaukelte. Die Zitrone kreuzte langsam am südlichen Seeufer entlang, hielt sich nah an der Küste, jedoch nicht in gefährlicher Nähe. Auf dem Achterdeck saßen zwei Männer an einem Tisch, einen Campari in der linken und Zeiss-Feldstecher in der rechten Hand. Von Zeit zu Zeit spähten sie mit ihren Ferngläsern auf das Ufer. Es war ein warmer Tag, der erste Samstag im August. Einer der Männer trug dunkle Hosen und ein weißes Hemd mit einem Mono gramm auf der Tasche, wie es bei teuren Maßhemden üblich ist. Eine 302
blaue Jachtmütze vervollständigte das Aussehen jener Bootsbesitzer, die ihre Jachten nur an solche Kunden vermieten, denen sie an fach lichem Können überlegen und in gesellschaftlicher Hinsicht gleichge stellt sind. Der zweite Mann trug ein gestreiftes Hemd und graue Shorts. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich mit der Hand über das kurz geschnittene Haar. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Tonbandgerät, an das ein kleines Mi krophon angeschlossen war, das ihm am Hemdkragen steckte. »Die Mannschaft der ersten Bootsladung muß am Ufer bleiben, bis alle Boote angekommen sind«, sprach Willi Kleiber ins Mikrophon. »Pit mans Haus liegt 150 Meter von der Landestelle entfernt. Alle Boote Pit mans an der Landestelle müssen von der Mannschaft des Bootes 1 un brauchbar gemacht werden. Niemand darf sich von seinem Posten ent fernen, bis alle Boote eingelaufen sind und der Kontakt mit der von der Straßenseite anrückenden Einheit hergestellt wurde. Die beiden ersten Leute der Straßeneinheit werden sich mit dem Aufblinken roter Ta schenlampen ausweisen.« Er stellte das Tonbandgerät ab und warf ei nen letzten Blick auf das große Haus John Elroy Pitmans des Dritten, bevor Die Zitrone Kurs gen Norden nahm, dem anderen Seeufer zu. Die Berge zeichneten sich scharf gegen den blauen Himmel ab und schienen sehr nahe zu sein. Die beiden Männer legten ihre Feldste cher beiseite und setzten sich Sonnenbrillen auf. So saßen sie einen Augenblick, immer noch geblendet von der Spiegelung der Sonne auf der glatten Seeoberfläche. »Es wird leicht sein«, sagte Willi Kleiber. »Mir gefällt es nicht«, sagte Max Breslow. »Wir wissen immer noch nicht, was an Dokumenten da ist. Falls sie sich alle in den großen Me tallkästen befinden, werden wir die ganze Nacht brauchen, um sie aus dem Haus zu schaffen und auf die Lastwagen zu laden.« »Natürlich wird es so lange dauern«, sagte Kleiber. »Oder besser ge sagt, es würde so lange dauern, falls ich das zu tun beabsichtige.« »Was denn sonst?« »Wir nehmen von dem Haus Besitz, das habe ich dir schon gesagt. Glaubst du vielleicht, ich hätte es mir inzwischen anders überlegt? Wir 303
halten es zwei oder drei Tage.« Kleiber sah, dass Max ihm widerspre chen wollte. »Eine Woche, wenn es nötig ist. Wir bleiben so lange, wie wir bleiben müssen.« »Mein Gott, Willi, du weißt nicht, was du sagst.« »Ich bin Spieler, Max, schon immer gewesen.« »Hier bleiben? Die Amerikaner gefangen halten?« »Du hast gesehen, wie es ist, Max. Wir bringen unsere Leute ohne Schwierigkeiten vom See aus an Land, ganz ruhig und still. Sie brau chen nur von Coppet über den See zu kommen. Einige unserer Leu te rollen per Wagen vor Pitmans Haus. Niemand im Dorf wird einen Schuss hören, und außerdem wird es dunkel sein.« »Ich kenne diese Art Pläne«, sagte Max Breslow skeptisch. »Hast du den Amerikanern gesagt, dass es weder Schüsse noch Schreie geben darf? Und was hast du sonst noch verboten?« »Du solltest mich besser kennen, mein Freund«, sagte Kleiber. »Wir haben Kostüme an Bord. Falls die Amerikaner Stunk machen und die Nachbarn neugierig werden, erzählen wir denen einfach, dass wir ein Kostümfest veranstalten und entschuldigen uns für die Störung.« »Wie viele Leute?« »15 Mann sollten ausreichen«, sagte Kleiber, »allesamt gut geschulte Leute aus meiner Wachdienstfirma. Leute, die ich nur für gefährliche Aufträge, wie Morddrohungen, Entführungen und so weiter einsetze. Sie wissen, was sie zu tun haben.« »Können sie auch den Mund halten?« Willi rieb sich die Nase. »Diesen Leuten liegt zu viel daran, dass ich den Mund halte«, sagte er mit bedeutsamem Lächeln. »Auf die Leute ist Verlass, sie sind wie wir.« Als Die Zitrone vor Coppet am Schweizer Ufer ankam, kreuzte sie entlang der Küste, bis sie an eine seltsam aussehende Villa gelang te, deren gepflegter Rasen sich bis zu einem hölzernen Bootshaus er streckte. Die Villa lag 50 Meter weiter entfernt. Ein scheußlich gelber Bau mit bröckelndem Mauerwerk, hölzernen, verwitterten, baufälligen Bal konen. Das Innere des Hauses war jedoch sauber und in einfacheren 304
Farben gehalten. Glühbirnen ohne Schirm hingen von der Decke. Die Klappstühle, obgleich dem Anschein nach ganz neu, entsprachen eher der Ausrüstung einer Schule oder eines Lesesaals. Max Breslow er schauderte. Ganz zweifellos war alles nach Willi Kleibers Geschmack eingerichtet. Kleiber war sehr stolz darauf, nur Dinge auszuwählen, die er als praktisch und ohne jeden überflüssigen Tand bezeichnete. »Hier ist alles, was wir brauchen«, sagte Kleiber, dessen Stimme von den kahlen Wänden hallte. »Waffen, sogar Maschinengewehre, Hand schellen, andere Arten von Fesseln, Schneidewerkzeuge und eine ther mische Lanze, die durch den dicksten Stahl dringt.« Er blickte Bres low an und lächelte. »Du hast es ja vorgeschlagen. Unten haben wir noch ein paar zusätzliche Schlauchboote und genügend Nahrungsmit tel, um eine ganze Kompanie einen Monat lang zu ernähren.« Max Breslow antwortete nicht. Er folgte Kleiber durch das erste Zimmer und dann in den Keller. In der Halle saß ein Mann auf einem Holzstuhl. Kleiber winkte ihm zu und schloss die Tür zum Weinkeller auf. Kleiber wedelte mit dem Arm. »Da, schau her!« Vor ihnen breitete sich ein komplettes Waffenarsenal aus: ein halbes Dutzend HK-54-Maschinenpistolen, wie sie der deutsche Grenzschutz benutzt, in Wandgestellen einige schwedische Carl Gustaf 9-mm-Ma schinengewehre und zwei Scharfschützengewehre mit infrarotem Ziel gerät. Diverse Glasschränke enthielten Handfeuerwaffen, und es gab eine Kiste mit Handgranaten. »MACE«, sagte Kleiber und klopfte an eine weitere Kiste. »Meines Wissens noch immer die beste Waffe, um den Gegner kampfunfähig zu machen. Zudem enthält sie außer Tränengas keine Giftstoffe.« Sei ne Stimme dröhnte in dem kleinen Raum. »Willi, bist du wahnsinnig?« »Wo hast du eigentlich in den letzten Jahren gelebt? Auf der Venus?« fragte Kleiber. »Ich bin praktisch der Besitzer der besten Detektei und Wachdienstfirma der Bundesrepublik, wenn wir auch noch nicht die größte sind. Dieses ganze Material ist legitimes Eigentum unserer Schweizer Schwestergesellschaft, deren Vizepräsident ich bin. Die Fir ma ist befugt, diese Waffen zu besitzen. Unsere einzige Verpflichtung 305
der Regierung gegenüber ist, sie so zu verwahren, dass sie nicht von Terroristen gestohlen werden können.« »Du kannst über diese Sachen also ganz legal verfügen?« »Die Polizei drückt mir gegenüber ein Auge zu, weil meine Firma manchmal gefährliche Arbeit leistet, Max. Ich bin vertraglich für den Schutz vieler Regierungsmitglieder und den einiger wohlhabender Ge schäftsleute verantwortlich. Ich war bei der Planung der Sicherheits maßnahmen für internationale Konferenzen behilflich und hoffe, mit dem Schutz der nächsten OPEC-Konferenz in Europa beauftragt zu werden.« Willi Kleiber trat wieder in den Korridor zurück, und Max Breslow folgte ihm gern. Kleiber vergewisserte sich noch, dass der Wachmann das Arsenal doppelt verschloss, nahm ein Heftbrett von der Wand und unterschrieb den Tageszettel. »Wir müssen hart und ganz plötzlich zuschlagen«, sagte Kleiber. »Das habe ich im Kriege gelernt, Max. Wir müssen in Pitmans Haus eindringen und ihnen zeigen, dass wir über eine Menge Leute und eine Menge Waffen verfügen. Auf diese Weise können Menschenleben ge rettet werden, und wir ersparen uns 'ne Menge Ärger.« »Hoffentlich«, sagte Max. »Du solltest dir endlich diese schwarzseherische Haltung abgewöh nen, Max. Siehst du denn nicht ein, dass wir im gleichen Boot sitzen?« »Ich hab' in Los Angeles in der Zeitung gelesen, dass immer mehr Deutsche deportiert werden«, sagte Breslow. »Ich weiß«, sagte Kleiber. Das war etwas, worüber er nicht gern re dete. »Weißt du auch, dass die Amerikaner die Leute in jenen Ort schik ken, wo das angebliche Kriegsverbrechen stattgefunden hat?« »Denkst du noch immer an die alte Frau in Boston?« fragte Kleiber. »Willi, ich war in Ljubomi nicht dabei, als all die Leute umgebracht wurden, aber am Ort. Ich frage mich, ob sie mich wirklich dort gese hen hat und liege manchmal die ganze Nacht über wach, wenn ich dar an denke.« »Polen?« 306
»Die Stadt liegt jetzt innerhalb der russischen Grenzen, Willi. Man würde mich nach Russland deportieren, und du weißt ja, was die mit einem ehemaligen SS-Mann machen.« Kleiber zeichnete mit dem Finger eine Karte auf die Plastiktischplat te. »Willst du dich der von der Stadt her anrückenden Einheit anschlie ßen, Max?« »Ja«, antwortete Max, der diese Frage erwartet zu haben schien. Kleiber geriet einen Augenblick aus der Fassung. Er hatte sich alle möglichen Argumente ausgedacht, um Breslow zu überreden. »Das ist ja großartig. Ich brauche jemanden, der sich von dieser Seite her genau auskennt. Ich werde natürlich bei den Booten sein. Falls irgend etwas schief gehen sollte, möchte ich jemanden da haben, der sich heraus reden kann und dafür sorgt, dass der Lastwagen mit den Leuten ver schwindet. Für uns in den Booten ist es leichter, abzuhauen.« »Willst du die von der Straße her kommenden Leute bewaffnen?« »Das weiß ich noch nicht. Wir haben allen Grund zu hoffen, dass wir ohne Schwierigkeiten ins Haus gelangen und nichts Tödlicheres brau chen als einen ausgestreckten Finger in der Jackentasche. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Amis ehemalige Soldaten sind, genau wie wir. Es könnten Männer darunter sein, die ihre Aufgaben in an gemessenem militärischem Stil besorgen. Sie könnten Wachposten ha ben und dabei bis an die Zähne bewaffnet sein, Max.« »Bezweifle ich«, sagte Breslow. Er konnte sich nichts Unmilitärische res vorstellen als einen Charles Stein. »Auch ich bezweifle es sehr. Gehen wir hinauf. Ich möchte noch du schen und die Klamotten wechseln.« »Und wenn wir die Dokumente haben, was passiert dann? Gehen sie an Dr. Böttger?« »Ich besorge das schon«, sagte Kleiber, »alles ist arrangiert.« »Nimm mal an, du wirst verletzt oder getötet?« Kleiber blieb abrupt stehen und fixierte seinen Freund. Wie alle tap feren Soldaten hatte er nie wirklich an diese Möglichkeit gedacht. Welch eine Katastrophe, wenn Max die Hitler-Protokolle an Böttger 307
auslieferte! Kleiber zweifelte keinen Augenblick daran, dass Moskau in diesem Fall seine Drohung wahr machen und die Beweise für Kleibers Kriegsverbrechen an den Westen schicken würde. Seine Mutter würde diese Schande nicht überleben, von seinem Vater ganz zu schweigen. »Nein, Max«, sagte Kleiber. »Falls mir irgend etwas passieren soll te, mußt du in Chicago einen Mann namens Edward Parker anrufen.« Kleiber kritzelte die Telefonnummer auf eine Seite seines Notizbuchs und gab sie Max Breslow. »Weiß er über Charles Stein Bescheid?« »Er weiß alles, Max. Er ist über alles informiert.« »Um Stein tut es mir leid«, gestand Max, »er ist nicht so schlecht, wie ich zuerst gedacht hatte.«
»Du hast deine Meinung aber schnell gewechselt«, kicherte Kleiber. »Ich weiß noch, wie du mir sagtest, du könntest ihn nicht ausstehen.« Sie gingen hinauf, Kleiber eilte voran, nahm mehrere Stufen auf ein mal, um zu beweisen, wie fit er war. »Was ist dieser Stein eigentlich für ein Mann?« Kleiber brauchte nicht einmal zu verschnaufen. »Seine Bank haben wir mehr oder weniger erledigt, sie verliert 100 Millionen Dollar. Böttgers Plan war fehlerlos.« »Sie könnten einfach abhauen«, sagte Breslow. »Warum hat er dir die Papiere nicht ausgehändigt und genommen, was er dafür kriegen konnte? Bist du sicher, dass er das Angebot ka piert hat?« »Er hat es sehr wohl verstanden«, sagte Breslow. »Ich habe ihm er zählt, ich könnte die Dokumente an eine große Filmgesellschaft ver kaufen, die ihm eine große Summe in bar und eine Beteiligung geben würde.« »Also, warum hat er die Chance, sein Geschäft zu retten, abgelehnt? Weiß er denn nicht, dass sein Leben in Gefahr ist?« »Ganz im Gegenteil«, sagte Breslow. »Ich sagte dir ja, du solltest ihn nicht unterschätzen. Er weiß, dass ihm nichts passieren wird, solan 308
ge die Hitler-Protokolle sich nicht in unseren Händen befinden. Erst dann ist sein Leben nicht mehr viel wert. Er ist kein Narr, Willi; er hat Angst, aber nicht so viel, dass er die verdammten Papiere einfach aus liefert.« »Wenigstens wissen wir jetzt, wo sie sind«, sagte Kleiber, »er hat sei ne Chance vertan.« »Armer Stein«, sagte Max Breslow, aber falls Kleiber ihn gehört ha ben sollte, ließ er es sich nicht anmerken.
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m gleichen Augustsamstag erschien der Generaldirektor um neun Uhr fünfundzwanzig morgens in seinem Büro und ließ Stuart ru fen, wie an den letzten drei Vormittagen. Stuart hielt sich bereit. Der GD saß an seinem Schreibtisch und las im Daily Telegraph den Bericht über die PM-Rede vor der Commonwealth-Versammlung in Lusaka. Als Stuart eintrat, legte er die Zeitung beiseite und erhob sich. »Was gibt es Neues, Stuart?« Der GD trug nicht wie gewöhnlich eine schwarze Jacke und gestreifte Hosen, sondern einen karierten Anzug. Eine erstaunliche Verwandlung, die ihm das Aussehen eines wohlha benden Buchmachers verleiht, fand Stuart. »Genf hat eben Verbindung mit uns aufgenommen«, sagte Stuart. »Ein tüchtiger Mann?« »Ja, Sir. Ausgezeichnet.« »Koch, nicht wahr?« »Ja, Sir.« Der Alte hatte immer eine Überraschung parat. »Ich habe eine lange Zeit in der Schweiz verbracht«, sagte der GD. »Jennifer hat Ihnen sicher erzählt, dass ich jedes Jahr mit meiner Frau dort hinfahre, obgleich ich jetzt zum Bergsteigen ein bisschen zu alt bin. Ich bin einmal gestürzt, als wir zu sechst unser Glück auf dem 309
Zmuttgrat des Matterhorns versuchten, das ist zehn Jahre her. Und da sagte ich mir: Ryden, alter Knabe, für solche Sachen bist du zu alt. Es gibt jetzt zwar all diese modernen Dinger – Mauerhaken, Kletterham mer, Eispickel und dergleichen –, aber eine Nacht auf dieser Höhe ge nügt, um einen alten Mann wie mich umzubringen.« »Sie sind gestürzt, Sir?« »Fast 15 verdammte Meter tief, Stuart, aber Gott sei Dank in weichen Schnee. Aber es war mir eine Lehre. Der Mensch missachtet nur zu leicht die Zeichen der Gefahr.« Der GD ging unruhig im Zimmer auf und ab, was Stuart auf die Nerven fiel. »Ja, Sir«, sagte Stuart und fragte sich, ob der GD weiter darauf ein zugehen beabsichtigte, denn er liebte es, Vorschläge mit derlei Gleich nissen einzuleiten. »Ich fahre immer noch hin, um die Luft zu schnuppern, Stuart. Wis sen Sie, was ich meine?« Er wartete nicht ab, ob Stuart es wusste. »Sind gute Menschen, diese Schweizer: gottesfürchtig, fleißig und logisch. Ich mag sie, und sie haben der Abteilung schon oft geholfen. Und doch – was wissen wir über den Schweizer Geheimdienst? Nichts! Das gefällt mir an ihnen, Stuart.« Stuart merkte es sich. Gottesfurcht, Fleiß und Logik waren offenbar die Tugenden, die der GD gern für sich in Anspruch genommen hät te, wäre er nicht so eifrig bemüht gewesen, als moderner Mensch zu gelten. »Man scheint Ihren Köder geschluckt zu haben, Sir«, sagte Stu art. »Genf berichtete von emsiger Tätigkeit in einem Haus am See, ge genüber der Villa des amerikanischen Obersten. Ein Nachbar meldete sogar, dass Wagen der Wachdienstfirma mit Waffenkisten angekom men seien.« »Waffenkisten?« Der GD fand das amüsant. »Sie meinen Kisten, auf deren Deckel das Wort ›Waffen‹ geschrieben stand?« Stuart ließ sich nicht provozieren. »Es ist eine unbestätigte Meldung, Sir, von einem Nachbarn, und wir wissen, wie unzuverlässig Nachbarn sein können.« »Waffen, sagen Sie?« Der GD schnippte eine unsichtbare Staubfaser von seiner Hose. 310
»Wagen der Wachdienstfirma, dem Geräusch nach Panzerwagen, vergitterte Scheiben und so weiter. Jedenfalls nicht die Lieferwagen ei nes Feinkostgeschäftes, Sir. Sie wurden hinter das Haus gefahren und ausgeladen – schwere Kisten.« »Schon gut, Stuart. Ich habe Sie verstanden. Sie brauchen nicht aus führlicher zu werden. Ja, es klingt mir ganz nach Waffen. Und weiß Stein von seinem Sohn? Wir müssen ihn bald entlassen. Das Innenmi nisterium setzt mich bereits unter Druck.« »Unser Mann in Los Angeles hat Stein gestern früh darüber infor miert – aber natürlich sind sie dort acht Stunden hinter uns zurück.« »Ja, acht Stunden, Stuart. Ich bin noch nicht ganz vertrottelt.« »Nein, Sir. Stein ist zum Sunset Boulevard gefahren und hat sich eine Flugkarte gekauft. Wohin, wissen wir noch nicht.« »Warum wissen wir das nicht?« Stuart unterdrückte einen Seufzer. »Wir müssen es vom Computer der Fluggesellschaft ablesen, und es kommen mehrere Fluglinien in Frage. Wir können uns nicht direkt an das Reisebüro wenden, weil Stein das sehr wahrscheinlich erfahren würde.« »Ist es so wichtig, dass er es nicht erfährt?« »Unsere Agenten müssen in dieser Stadt leben«, sagte Stuart. »Es ist leicht, hier in London zu sitzen und alles zu kritisieren, was die Agen ten tun; aber falls unser Mann im Reisebüro vorspricht, könnte er sich gefährliche Schwierigkeiten einhandeln.« »Diese Angelegenheit ist aber lebenswichtig, Stuart.« »Alles ist wichtig«, erwiderte Stuart verärgert. »Hat man je einem Agenten gesagt, er solle sich Zeit lassen? Alle Aufträge im Meldezim mer sind rot unterstrichen. Wo sind die Etiketten mit der Aufschrift ›Lassen Sie sich Zeit‹, oder ›Passen Sie gut auf sich auf – Ihr Auftrag dient nur dem Beamten in London zu baldiger Beförderung‹?« Stuarts Ausbruch schien den GD zu amüsieren, aber vielleicht war sein Grinsen nur eine nervöse Reaktion. »Solche Etiketten gibt es nicht, Stuart, aber vielleicht sollten wir uns ein paar davon bestellen.« »Vielleicht, Sir.« Der GD blieb stehen. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte er 311
Stuart in seine Schranken weisen, schluckte aber seinen Ärger, steck te die Hände in die Hosentaschen und ließ seine Geldmünzen klim pern. »Nehmen wir mal an, wir haben uns geirrt, Stuart. Nehmen wir mal an, Stein hat die Hitler-Protokolle wirklich in der Villa am Gen fer See verwahrt.« Stuart sagte nichts. Die beiden Männer blickten sich an. Der GD führte seine finstere Hypothese weiter aus. »In diesem Fall hätten wir Kleiber und seine Revolvermänner genau an den Ort ge schickt, wo wir sie nicht hinhaben wollen. Dann holen sie sich diese verdammten Dokumente, Stuart, und wir haben ihnen alle Hilfe gebo ten. Wie soll ich das der PM erklären?« Dabei schlug er mit der Hand auf den Zeitungsbericht über Mrs. Thatchers Rede. »Ich bin dort unten sehr beschäftigt, Sir, auch ohne die zusätzliche Aufgabe, Erklärungen für Fehler zu sammeln, die uns noch nicht un terlaufen sind.« Der GD fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und starrte aus dem Fenster. Er wusste, dass sein Schwiegersohn mit der blonden Se kretärin des geschäftsführenden Leiters der Abteilung Unternehmen (Gebiet 3) eine Art Liebesverhältnis oder besser gesagt eine Liaison unterhielt. Er hatte es seiner Tochter Jennifer gegenüber erwähnt; sie behauptete, es mache ihr nichts aus. Mit der Ehe sei ein für allemal Schluss, hatte sie gesagt, und Sir Sydney war über diese Entschlossen heit sehr erfreut. Die jungen Leute von heute sind leider nicht mehr so wie früher, aber das sollte ihn nicht daran hindern, die blonde Sekre tärin abzuschieben. Dieses Verhältnis gefiel ihm ganz und gar nicht. Boyd Stuart war als Einsatzagent einer der heikelsten Angelegenhei ten, die die Abteilung zu bewältigen hatte, zugeteilt, und das Mädchen die Sekretärin eines seiner wichtigsten Beamten. Für die Sicherheit war das schlecht, und er hätte schon längst etwas dagegen tun müssen. Er erinnerte sich, dass sie seine persönliche Akte aus der Stahlkammer heraufgebracht hatte, etwas, das er einem anderen als sich selbst nicht gerne anvertraute. Nicht einmal die höchsten Beamten des SIS brauch ten zu wissen, dass er einst Elliot Castelbridge gewesen war. »Sie mei nen, man sollte vor Schwierigkeiten nicht zurückschrecken?« fragte 312
der GD, nickte und schaute immer noch aus dem Fenster. »Sehr rich tig, ganz richtig.« Dann wandte er sich wieder Boyd Stuart zu. Stuart wartete, wusste, dass der GD noch etwas sagen wollte. Der Alte hatte die unangenehme Angewohnheit, lange Pausen einzulegen, bevor er sprach. Vielleicht überlegte er sich seine Worte, um ganz si cher zu sein, dass er nur das Allernotwendigste preisgab. »Machen Sie sich keine Sorgen über diesen Kleiber und sein Haus voller Waffen, Stuart. Unsere Schweizer Freunde werden sich drum kümmern.« Stuart wartete auf weitere Informationen, aber es geschah nichts. Das war es also: der GD hatte den Amerikanern ›Nichteinmischung‹ bezüglich Kleiber versprochen und schickte sich jetzt an, Kleiber vom Schweizer Geheimdienst festnehmen zu lassen. Eine sehr bequeme Lösung, denn die Amerikaner hatten keinen Zugang zum Schwei zer Computer, was der GD nur zu gut wusste. Es wäre interessant, die überraschten Unschuldsbeteuerungen des GD zu hören, wenn der CIA-Kontaktmann ihm die Nachricht von Kleibers Verhaftung in der Schweiz mitteilen würde. Der GD beobachtete Stuart sehr aufmerksam. Ihn interessierte es zu sehen, wie lange ein Beamter seiner Abteilung brauchte, um sich über die Vorgänge klar zu werden, wenn man ihm genügend Tatsachen an gab. Er glättete sich das Haar, wobei er seinen Hörapparat berührte. »Glauben Sie, dass es regnen wird, Stuart?« »Wenn der Wind nachlässt.« »Na, hoffen wir, dass Sie recht haben. Natürlich nicht des Regens we gen.« Er setzte sein kaltes Grinsen auf. »Wegen Ihrer Annahme, dass Stein und Pitman die Dokumente nicht in der Genfer Villa lagern.«
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uch Charles Stein kam an diesem ersten Augustsamstag in Genf an. Er war besorgt. In seinem Telegramm an Oberst Pitman hatte er angegeben, dass sie sich im ›Saftladen‹ treffen sollten, fragte sich aber, ob Pitman sich dieses Namens, den er einst Madame Maurings Konditorei gab, als die Bank kurz nach ihrer Gründung in der Alt stadt, nahe der Kathedrale untergebracht war, noch erinnerte. »Ich brauche etwas aus dem Safe.« Das Glockenspiel der Kathedrale ertönte, und Stein blickte auf die Uhr. »Hier ist der Schlüssel, Mr. Stein. Sie finden alles in bester Ordnung. Leider ist im Augenblick nicht viel Bargeld drin.« »Ich möchte nichts von Ihnen, Madame Mauring«, erklärte Stein. »Ich will mir nur ein Paket holen, das ich dort deponiert habe.« »Es ist alles unberührt, Mr. Stein. Bedienen Sie sich.« Der Safe war einfach lächerlich – ein einziger Schlüssel, der vier Rie gelbolzen betätigte. Das konnte niemanden beeindrucken, höchstens vielleicht die stolze Besitzerin; andererseits aber würde niemand im Safe eines kleinen Teesalons nach etwas Wertvollem suchen, und das wog alles andere auf. Stein richtete die grüne Schreibtischlampe auf die Safetür. Zuerst führte er beide Zeigefinger in die kleinen Vertiefun gen ein – eine mühevolle Prozedur, und Stein schnaufte –, bis er end lich das metallische Klicken vernahm. Die Safetür flog auf, und er sah im Inneren die Drehknöpfe eines viel moderneren Safes. Stein kannte die Kombination auswendig, drehte an den Knöpfen, öffnete die innere Tür und nahm einen Umschlag heraus, kaum grö ßer als ein gewöhnliches Buch und vielleicht einen Zentimeter dick. Stein schlitzte ihn auf, prüfte den Inhalt: Hoffmann-La-Roche-Inha beraktien mit einem Kurswert von etwa 25.000 £. Der Inhalt dieses 314
Pakets konnte von jedem auf jeder beliebigen Bank der Welt für etwa zweieinviertel Millionen Dollar eingelöst werden. Dann entnahm er dem Safe mit ehrfürchtiger Vorsicht ein zweites Paket von noch grö ßerem Wert: die Hitler-Protokolle. Sie sahen nicht sehr eindrucksvoll aus: ein billiger Büroordner, nicht dicker als ein Zigarettenpäckchen. Stein hatte den kleinen braunen Leinenkoffer mitgebracht, den er ge wöhnlich auf Reisen benutzte, leerte ihn auf den Tisch, um Platz für das Aktienpaket zu machen. Die Außentasche enthielt eine Zahnbür ste, Rasierzeug, Bufferintabletten, eine Nagelschere und ein ungeöffne tes Plastikkästchen mit einem Stück Seife von Roger & Gallet. Charles Stein war, was Seife betraf, sehr wählerisch und benutzte diese beson dere Marke mit Sandelholzduft seit über 20 Jahren. Im Koffer selbst la gen Hemden, Unterwäsche, Socken und Taschentücher. Er griff unter die Plastikhülle der Hemden, vergewisserte sich, dass die Ausweispa piere, die Delaney ihm gegeben hatte, noch da waren und schaute sich noch einmal den brasilianischen Pass an. Das Foto war zwar sicherlich etwas alt, aber es würde schon hinreichen. »Der Herr Oberst ist angekommen«, sagte Madame Mauring und blickte durch den Türspalt. »Möchten Sie noch mehr Kaffee und Ku chen?« Sie schien zu spüren, dass sich etwas Schreckliches anbahnte. »Ja, bitte, Madame Mauring.« »Aber der Herr Oberst sagt, er verträgt den Kaffee nicht.« »Heute wird es ihm vielleicht nichts ausmachen«, sagte Stein. Sie lächelte und ließ Oberst Pitman ins Zimmer eintreten. »Ich sag te gerade, Sie würden heute vielleicht doch Kaffee trinken.« Stein hatte die Stimme etwas erhoben, damit Pitman ihn hören konnte. »Ja, bitte, Madame Mauring.« Er wartete, bis sie gegangen war. »Also hier hatten Sie die Hitler-Protokolle versteckt.« »Hier sind sie. Wollen Sie sie sehen?« Oberst Pitman nickte. Stein zeigte ihm das Päckchen auf dem Tisch. Madame Mauring brachte das Tablett mit dem Kaffee herein und schob die Hitler-Protokolle beiseite, um für die Tassen Platz zu machen. Pitman nahm den Aktenordner, der einst blau gewesen, nunmehr zu ei nem schwachen Grau verblasst war. Lang war es her, als der Beam 315
te der Armeegruppe für Regierungsangelegenheiten, Sektion G-5, das Etikett getippt hatte: »Merkers H-6750. Dokumente in Schreibmaschi nenschrift, deutschsprachig, etwa 300 Seiten.« Amerikanische Metallund frühere deutsche Wachssiegel waren immer noch sichtbar, aber Bänder und Schnüre waren zerschnitten. Die Initialen des Archivspe zialisten waren verschwommen auf dem Stempel sichtbar. Pitman blät terte die Dokumente durch. Madame Mauring rückte die Tassen zurecht, blickte auf die beiden Männer und entfernte sich dann wortlos. »Sie ist in Ordnung«, beant wortete Stein die unausgesprochene Frage Pitmans, »sie ist uns für un sere Hilfe bei ihrem Geschäft ewig dankbar.« »Was sollen wir tun, Charles?« Meist hieß es Korporal, diesmal aber Charles. »Verschwinden Sie aus diesem Laden, verschwinden Sie aus dieser Stadt und verschwinden Sie aus diesem Land.« »Es fällt mir schwer, mein Haus aufzugeben«, sagte der Oberst. Stein fiel es leicht: er war verhältnismäßig jung und gesund und hatte al les, was er brauchte, um sich in einer neuen Umgebung niederzulas sen und ein neues Leben zu beginnen. Aber Oberst Pitman wollte sein Haus nicht verlassen, wollte in der Nähe des Arztes bleiben, dem er vertraute, und hatte sich an das Leben in Genf gewöhnt. »Muß ich wirklich weg von hier, Charles?« »Ich finde, Sie sollten es, Herr Oberst.« »Und was ist mit Ihrem Sohn Billy?« fragte Pitman. Er fingerte ner vös an den Papieren. Es war verdammt schwer, wenn man eine gute Zi garre und ein Glas Cognac brauchte, darauf verzichten zu müssen. »Ich habe dem Knaben, den die Engländer zu mir nach Los Angeles schickten, gehörig die Meinung geblasen«, antwortete Stein. »Von de nen lasse ich mich nicht Billys wegen erpressen. Wenn ich ihnen die se Papiere gebe, haben wir nichts mehr in Händen. Ich habe ihnen ge sagt, ich werde mir Anwälte nehmen und mir durch das State Depart ment Billys Freilassung erzwingen. Das ist die einzige Sprache, die die se Bastarde von der Regierung verstehen. Ich habe ihnen gesagt, falls sie Billy nicht sofort freilassen, würde ich einige Fotokopien von dem 316
ganzen Mist hier an den Stern und die Washington Post schicken, un ter der Bedingung, dass sie eine Pressekampagne für Billys Freilassung in Gang setzen.« »Mein Gott, sind Sie aber hart«, sagte Pitman. »Es ist nur logisch«, sagte Stein. Pitman nickte. Es war logisch, aber wie viele Männer sind eines sol chen Entschlusses fähig, wenn es um ihre Söhne geht? Vielleicht ist es das, was man Führerschaft nennt. Vielleicht bedeutet Führerschaft, Leuten zu befehlen, hart vorzugehen, weil man selbst stets bereit ist, so zu handeln. Pitman mußte sich eingestehen, dass er selbst nie bereit gewesen war, mit Härte zu handeln. »Ich wurde von einem Kerl beschattet«, sagte Stein. »Vermutlich die Engländer. Was sagen Sie dazu? Diese Schweinehunde lassen mich be schatten. Er war auch im Flugzeug.« »Ist er Ihnen bis hierher gefolgt?« fragte Pitman nervös. »Nein. Ich habe in Paris das Flugzeug gewechselt und ihn auf dem Flughafen abgehängt. Man braucht nur lange genug auf der Toilette zu bleiben, dann kommt der Kerl, der einen beschattet, um nachzuse hen. Das weiß ich von einem harten Burschen, den ich von New York her kannte! Ich habe einfach auf ihn gewartet und ihn dann bewusst los geschlagen.« »Was haben Sie getan?« »Ihm die Fresse poliert. Dann hab' ich ihn in die Toilette gesteckt und den Riegel auf ›Besetzt‹ gedreht. Die Klofrau wird ihn finden.« Pitman erschauderte. »Ich bringe Sie zum Flughafen, Chuck.« Dann fragte er: »Woher wussten Sie, dass die Engländer ihn geschickt ha ben?« »Wer denn sonst?« Pitman nickte. »Ich fahre Sie zum Flughafen. Dann nehme ich den Wagen über die französische Grenze. Ich kenne ein Hotel am See von Annecy, das ich manchmal besuche. Dort könnte ich ein paar Tage bleiben, bis der Sturm sich gelegt hat.« »Der Sturm wird sich nicht legen, Herr Oberst. Wir kämpfen gegen eine Übermacht, sehen Sie das nicht ein? Die Engländer und die Krauts 317
wollen die Hitler-Protokolle. Wenn wir sie ihnen nicht geben, legen sie uns um; wenn wir sie ihnen geben, legen sie uns ebenfalls um.« »Ich bin zu alt, um wegzurennen, Charles«, sagte der Oberst, »zu alt und zu erschöpft. Wenn man in meinem Alter ist, spielt nichts mehr eine Rolle. Die ganze verdammte Welt wird langweilig, wie ein Film, den man zu oft gesehen hat.« »Wo ist Ihr Wagen?« sagte Stein. »Wir müssen los.«
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achdem Breslow sich unter Kleibers Führung das Haus, die Waf fen und die Ausrüstung angesehen hatte, verspürte er Hunger. Sie hatten beide noch nicht zu Mittag gegessen. Breslow schnupperte in der Luft, hoffte, dass es etwas zu essen geben würde, roch aber nichts. Kleiber schien überhaupt nicht ans Essen zu denken und auch nicht zu wissen, dass Max Breslow an gute, regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt war, pünktlich, wie bei sich zu Hause. Er beschloss, irgendwo essen zu gehen, am liebsten ohne seinen Freund Kleiber. Breslow wusste Kleiber durchaus zu schätzen. Er war ein harter, ehrli cher Soldat gewesen, der viel Schnaps vertrug, oft tagelang ohne Schlaf auskam und nie klagte. Und doch war Breslows Achtung vor Kleiber von Bewunderung weit entfernt. Kleiber hatte das Leben im Krieg ge liebt und es in Friedenszeiten durch andere Vergnügungen, wie Jagd partien und Campingausflüge, meist in öde, unwirtliche Gegenden, ersetzt. Kleiber liebte es, sich um vier Uhr morgens beim Schein ei ner Gaslaterne mit kaltem Wasser zu rasieren, in irgendeinem eisigen Zelt – und dann in einer gottverlassenen Gegend stundenlang durch kalten Sumpf zu waten, um ein paar Wildenten zu schießen. Ein so zähes Bemühen um Unbehaglichkeit schien Breslow kindisch, und er hütete sich, an dieser Art Vergnügungen teilzunehmen. 318
Aus all diesen Gründen war Breslow entschlossen, die spartanische Unterkunft, die Kleiber ihm im Haus am See angewiesen hatte, nicht hinzunehmen. Breslow hatte das kahle kleine Zimmer ohne Teppich im obersten Stockwerk gesehen. Das Klappbett mit den beiden dünnen Decken und dem fadenscheinigen Kopfkissen war nicht nach Breslows Geschmack; das kalte Badezimmer, das einen Stock tiefer lag und nur durch einen zugigen langen Flur zu erreichen war, ebenfalls nicht. Kleiber war enttäuscht als Breslow ihm sagte, dass er sich bereits eine Suite in einem Luxushotel in der Stadt bestellt hatte. Er hatte sich auf einen Abend bei Zigarren und Schnaps gefreut, wo man alte Geschich ten über das Leben im Führerhauptquartier austauschte oder sich über die intimsten Einzelheiten von Kleibers neuester Mätresse ausließ. Er hatte sogar eine Flasche auf Eis gestellt und eine Kiste handgerollter Havannazigarren im zollfreien Laden am Flughafen gekauft. Max Breslow gab schließlich doch ein wenig nach. »Ich muß ein Bad nehmen und etwas essen, dann komme ich auf einen Drink zurück«, tröstete er seinen Freund. »Fein«, sagte Kleiber, dessen Enttäuschung großer Freude wich. »Ich werde dich unter den Tisch trinken, Max. Du bist gewarnt.« Breslow lächelte tapfer, obgleich ihm die Aussicht auf einen solchen Abend höchst zuwider war. »Ich sollte nicht zu spät schlafen gehen«, murmelte er. »Quatsch«, sagte Kleiber und schlug seinem Freund auf den Rücken. »Ein Samstagabend im August, an dem die ganze Stadt uns erwar tet – wie kannst du da von frühem Schlafengehen sprechen? Wir wer den wahrscheinlich in dem neuen Striptease-Lokal, von dem ich dir erzählt habe, landen, oder wir könnten über den See nach Evian fah ren und unser Glück im Kasino versuchen. Aber falls dir nach Mäd chen zumute ist …« Es war nicht leicht, Kleibers schäumenden Überredungskünsten zu begegnen. »Ich weiß wirklich nicht, wie du das machst, Willi. Ich weiß es wirklich nicht.« Kleiber richtete sich zu voller Höhe auf und lächelte zufrieden. Es ist leicht, ihm zu schmeicheln, sagte sich Max Breslow – man braucht ihm 319
nur zu sagen, er sei ein Lüstling und Mordskerl, und schon hat man ihn für sich gewonnen. »Wir treffen uns hier um halb neun«, schlug Kleiber vor. »Das läßt dir Zeit, dich aufzuputzen, mir die Möglichkeit, einen neuen Kunden zu angeln. Falls der neue Job meinen Erwartungen entspricht, bist du heute Abend mein Gast, mein lieber Max.« »Etwas Gutes?« »Wenn ein Mann jede halbe Stunde aus dem Ausland anruft und mit mir unbedingt über eine sehr wichtige Angelegenheit sprechen will, stellt sich für gewöhnlich heraus, dass seine Frau mit dem Chauffeur ins Bett geht.« »Tatsächlich?« »Oder dass seine Freundin mit dem Chauffeur ins Bett geht«, sagte Kleiber. »Je mehr sie sich bemühen, der Sache den Anschein interna tionaler diplomatischer Verwicklungen zu geben, desto sicherer weiß ich, dass es sich nur um ein häusliches Drama handelt.« »Ich wusste gar nicht, dass deine Firma sich heute noch mit solchen häuslichen Problemen befasst.« Willi lächelte wieder. »Mein Personal wird sehr gut bezahlt. Es macht ihm nichts aus, ob sie den Präsidenten bewachen oder das Bettgeflü ster einer unersättlichen Ehefrau auf Tonband aufnehmen, und wa rum auch? Ich sage diesen Kunden, dass meine Firma das Zehnfache von dem verlangt, was die Arbeit bei einer kleinen, auf Scheidungen spezialisierten Detektei kosten würde. Aber das ist denen gleich, Max. Sie wollen einfach mehr bezahlen. Diese Leute folgen einem elementa ren Racheinstinkt. Sie wollen wehtun, sie wollen demütigen, sie wollen sich für den ihnen angetanen Schmerz rächen. Und da sie weder die körperliche Kraft noch die Umsicht, noch das nötige Temperament be sitzen, es selbst zu tun, bedienen sie sich ihrer einzigen Waffe – der des Geldes!« Er schlug sich mit der Faust auf die Hand, um die Ähnlich keit zwischen Gewaltanwendung und Geldmacht zu illustrieren. »Ja, ich nehme auch solche Aufträge entgegen.« Max Breslow lächelte, aber sein Lächeln war starr. Er erinnerte sich an die schrecklichen Streitereien seiner Eltern, die ihn als Kind so oft 320
geweckt hatten. Ohne die Worte zu verstehen, hatte er den Hass in ih ren Stimmen erkannt. Gewöhnlich endeten diese Duette mit hysteri schen Schreien und dem Zuschlagen der Haustür, wenn einer der bei den wütend davongelaufen war. »Ich gebe diesem Burschen dreißig Minuten«, sagte Willi Kleiber. »Er ist ein reicher Mann und extra aus Dortmund gekommen, um mich zu sprechen. Damit erspare ich mir seinen Besuch morgen früh.« »Falls es sich aber doch als etwas Wichtiges erweisen sollte«, sagte Max Breslow, »rufe mich im Hotel an.« Er war bemüht, sich nicht an merken zu lassen, dass er es bei weitem vorziehen würde, den Abend allein zu verbringen. »Ich gebe ihm dreißig Minuten, mehr nicht«, sagte Kleiber. »Ich er warte dich um halb neun, das verspreche ich dir.« Max Breslow verabschiedete sich. Er seufzte. Bei einem Mann wie Willi Kleiber mußte man schon dankbar sein, wenn man ein paar Stunden für sich hatte. Im Hotel meldete er ein Gespräch nach Kali fornien an. In Los Angeles war es Samstagmorgen, sein Produktions leiter begann gerade die Tagesarbeit. Die Kulisse der Reichskanzlei war fertig gestellt; man war gerade da bei, sie aus den Werkstätten zu holen und im Atelier aufzubauen. Der Eingang zur Kaiseroda-Mine war in Arbeit, die Stuckateure sollten Dienstag früh beginnen, bis Freitag würde alles bereit sein. Der Team leiter für die Außenaufnahmen war von einem Bürogebäude in der Nähe des Music Centers sehr angetan. Er fand es gut für jene Szene ge eignet, in der General Patton Eisenhower von der Entdeckung der Mi nenschätze erzählt. Breslow hörte sich alle Einzelheiten an und fand kaum etwas daran auszusetzen. Beruhigt über die Nachrichten, nahm er ein Bad und bestellte da nach beim Zimmerdienst eine halbe Flasche Burgunder und ein ge grilltes Steak. Er rief seine Frau an und sagte ihr, dass alles in Ordnung sei. Seine Frau war nervös, wenn er fliegen mußte, und Breslow hatte es sich angewöhnt, sie nach jedem Flug und während seiner Abwesenheit täglich anzurufen. Das kostete zwar viel Geld, aber alles lief ohnehin auf Produktionsspesen. Sie sprachen über das Wetter, die Benzinprei 321
se, den riesigen Kostenvoranschlag für die Reparatur des Mercedes. Max hörte ihr beflissen zu. Er hatte ihr nicht viel von dem Unfall auf dem Freeway erzählt und natürlich tunlichst verschwiegen, dass er der Ansicht sei, man trachte ihm nach dem Leben. Mrs. Breslow erwähnte nebenher Billy Stein. Er sei immer noch nicht zurück, sagte sie. Mary sei schwierig und ständig schlechter Laune, da sie nichts von ihm ge hört habe. Billys Vater habe nur gesagt, sein Sohn sei geschäftlich in Europa, und Mary habe geweint. Breslow hatte gehofft, dass die Verliebtheit seiner Tochter inzwischen abgenommen habe, aber seine Frau konnte diese Hoffnung nicht be stätigen; im Gegenteil, Mrs. Breslow sprach mit Wärme von dem jun gen Stein. Sie war also auch dem Charme und dem guten Aussehen Billy Steins erlegen. Vielleicht ließ Breslow deshalb den Kartoffelsa lat, das Brot, die Butter und die frische Sahne unberührt auf seinem Tablett stehen. Er dachte noch daran, als er sich später seinen dunkel blauen Kammgarnanzug anzog. Verdammt noch mal, sagte sich Bres low, vielleicht fahre ich doch mit Kleiber nach Evian ins Kasino. Er konnte es sich leisten, ein bisschen Geld zu verspielen, und wer weiß? Er könnte sogar gewinnen. Breslow kannte sich in Genf nicht sehr gut aus, hielt sich an die Hauptstraßen, fuhr zur Stadtmitte und spähte nach den Schildern zur Autoroute aus. Der See war zur Abendzeit herrlich. Auf den Kais gin gen viele Touristen spazieren. Er hielt vor einem Zebrastreifen, weil drei junge Mädchen die Straße überqueren wollten. Eine von ihnen, in durchsichtiger Bluse, lächelte ihm zu. Sie trug lan ges Haar und hatte ein rundes Babygesicht mit großen Augen. Sie er innerte ihn ganz plötzlich an ein Mädchen, das er vor dem Kriege in Dresden gekannt hatte. Seltsam, wie solche Erinnerungen ganz unver mutet wieder auftauchten, nachdem man sie längst vergessen glaub te. Warteten diese hübschen Mädchen darauf, nach Lausanne mitge nommen zu werden? Zum Abendessen? Ins Bett? Als er wieder wei terfuhr, bockte der Wagen. Diese verdammten Mietwagen sind alle gleich – innen sauber und wie neu, aber technisch immer in schlech tem Zustand. 322
Auf der Autoroute schien der Vergaser wieder richtig zu funktionie ren. Er fuhr vorsichtig, genoß den sich verdunkelnden Himmel und die Berge, die wie eine große Opernkulisse wirkten. Er fuhr langsam in die enge Straße von Coppet ein und suchte das hohe Tor des Hauses, als er zwei graue Mercedes-Kombis erblickte. Zwei Polizisten in Uniform kamen aus dem Tor, als er hielt. Der eine taumelte unter der Last einiger H & K-Maschinenpistolen, der zwei te schleppte eine Kiste Handgranaten. Zwei Angestellte Kleibers war teten in Handschellen darauf, in den zweiten Kombi verladen zu wer den. Breslow beschloss, einfach am Haus vorbeizufahren. Die Polizisten blickten interessiert auf, hielten einen Augenblick inne, um zu sehen, in welche Richtung er fahren würde. Breslow fand es ratsam, ebenfalls den Überraschten zu spielen, verlangsamte das Tempo fast bis zum Halt, drehte sich auf seinem Sitz um und starrte die Polizisten an, be vor er weiterfuhr. Ohne sich zu beeilen, bog er wieder in die Hauptstraße ein. Es war nicht das erstemal, dass er mit knapper Not einer Katastrophe entkam. Er hatte es oft genug im Krieg erlebt und gelernt, der Versuchung des Davonrennens zu widerstehen. Es erwies sich als weise Vorsicht; denn an der Kreuzung zur Hauptstraße wartete noch ein Polizeiwagen. Breslow beschloss, nach rechts einzubiegen und die Seestraße ent lang in Richtung Lausanne zu fahren. Erst in Nyon wandte er sich wie der der Autoroute zu und fuhr geradewegs nach Genf zurück. Wieder im Stadtzentrum, gelang es ihm schließlich, klare Gedanken zu fas sen. Es hatte keinen Sinn, Dr. Böttger oder seinen Kontaktmann in Genf anzurufen. Wer weiß, in welchem Maße das Unternehmen Sieg fried bereits bloßgestellt war, wenn die Schweizer Willi Kleibers Leu te verhafteten? Er mußte Edward Parker anrufen, wie Kleiber es ver langt hatte. Als Max Breslow die Schilder des Genfer Flughafens sah, nahm er den Weg zur Abflughalle. Er hatte beschlossen, nach Kalifornien zu rückzukehren. 323
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berst Pitman trat mit Stein aus dem Kaffeesalon Madame Maurings und setzte sich ans Steuer seines Wagens. Oberst Pitman fuhr nicht mehr so gern wie früher und hatte sich deshalb einen Chauf feur zugelegt. Das Fahren machte ihn nervös, und lange Reisen verur sachten ihm Rückenschmerzen. Ein junger Mann in einem roten Audi schlängelte sich fahrlässig durch den raschen Verkehr, und Pitman mußte scharf bremsen. Er fühlte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg, der Magen schmerzte. Die Ängste der letzten Tage hatten seinen gere gelten Tagesablauf völlig durcheinandergebracht und ihm Verdau ungsbeschwerden eingetragen. Nichts wäre ihm jetzt lieber gewesen als Alkaseltzer und ein langes Nickerchen im Lieblingssessel. Er rieb sich die Brust, hoffte, sein Unbehagen zu erleichtern. Er sah Steins be sorgten Blick und lächelte, fragte sich jedoch, warum ausgerechnet er seinem ehemaligen Korporal als Chauffeur dienen mußte. Er hätte Stein bitten sollen, sich ans Steuer zu setzen, aber Stein hatte sich ein fach in den Nebensitz plumpsen lassen und ihm gesagt, er solle losfah ren. So war es immer: Stein teilte Befehle aus, und Pitman mußte sich seiner Energie und Entschlossenheit beugen. Schon am ersten Tag, als er Stein begegnete, nach einer langen und staubigen Reise, die ihn von Casablanca zum Hauptquartier des Bataillons geführt hatte, war es so gewesen. Oberleutnant Pitman kam direkt aus den Staaten und war je nen ›Panzerknackern‹ zugeteilt worden, von denen man sich versprach, dass sie den Panzerverbänden des deutschen Afrikakorps den Garaus machen würden. Pitman wurde von der Wache am Tor salopp gegrüßt. Er kam sich sehr wichtig vor, als er mit seiner Ausrüstung den Hügel hinanklomm, um sich bei seiner neuen Einheit zu melden. Das Zelt roch nach fri 324
scher Leinwand und wachsigem Harz, mit dem es instand gehalten wurde. Die Sonne verlieh dem Inneren des Zeltes ein hellgelbes Licht, und man hörte das laute Summen von Fliegen. Ein Hauptfeldwebel mittleren Alters saß an einem Tisch vor einem Feldtelefon und einer Zeitung. Er las sehr langsam und mit lauter Stimme die Sportresul tate. Der Schütze Arsch Stein – dick, rotgesichtig und schwitzend – hockte auf einer umgekehrten Kiste und kommentierte die Sportre sultate mit Jubel, Lachen oder verächtlichem Schnaufen. Oberleut nant Pitman zögerte einen Augenblick, wartete, seinem Rang entspre chend begrüßt zu werden. Als nichts dergleichen geschah, sagte er: »Hauptfeldwebel, ich bin Oberleutnant Pitman. Suche den Bataillons kommandeur.« Hauptfeldwebel Vanelli blickte auf und nickte, faltete die Zeitung zu sammen, legte sie behutsam auf den Tisch, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Auch Stein blieb sitzen, blickte den Offizier von oben bis unten an, sah den fabrikneuen Stahlhelm, das noch nicht an die afri kanische Sonne gewöhnte Bleichgesicht, die neuen braunen Stiefel. »Ich gebe Ihnen den Rat, Herr Oberleutnant«, sagte Stein, »ziehen Sie sich Ihre Gamaschen an, stecken Sie Ihre Pistole ins Halfter, und ma len Sie sich Ihren Streifen auf den Helm, bevor Sie zum Boss gehen.« »Ist das Ihr Rat?« fragte Pitman. »Es ist General Pattons Befehl. 25 Dollar Strafe für Offiziere ohne Pi stole. Offiziere ohne Gamaschen zahlen 15.« Stein lächelte, schlug auf seinem Arm gezielt nach einer Fliege. »Welches ist das Zelt des Obersten?« fragte Pitman, absichtlich an den Hauptfeldwebel, nicht an Stein gewandt. »Das mit den aufgerollten Seitenwänden«, sagte Stein. »Der Herr Oberst liebt die Zugluft, und der Sand macht ihm nichts aus.« »Ist dieser Mann Ihr Sprachrohr, Hauptfeldwebel?« fragte Pitman den Mann am Tisch. »Ich denke schon«, sagte er, als wäre es ihm bisher noch nie einge fallen, »Charlie Stein schmeißt sozusagen den ganzen Laden hier oben für uns.« Oberleutnant Pitman fragte sich, ob er sich nicht über das unsoldati 325
sche Betragen der beiden Männer beschweren sollte, entschied sich je doch dagegen, da es für einen neu eingesetzten Offizier unklug wäre, sich bei den Leuten unbeliebt zu machen. Er bückte sich, wollte aus dem Zelt treten, als Stein ihm nachrief: »Und zehn Dollar, wenn man Sie ohne Krawatte erwischt.« Pitman ignorierte ihn. »Nicht so rasch«, sagte Stein, »sonst holen Sie sich noch einen Straf zettel für Übertreten der Geschwindigkeit.« Pitman blickte den dicken, fast kahlköpfigen Mann neben sich an. Wer hätte damals geahnt, dass ihr Leben und ihr Schicksal einmal so eng miteinander verbunden sein würden? Stein drehte sich schwerfäl lig um und warf seinen braunen Koffer auf den Rücksitz. Die Doku mente legte er auf den Fußboden hinter sich, griff von Zeit zu Zeit zu rück, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. »Sieht so aus, als ob die Bank erledigt ist«, sagte Stein und hoffte auf Widerspruch, aber Oberst Pitman sagte nichts. »Sieht so aus, als woll te man uns die Haut bei lebendigem Leibe abziehen«, fügte Stein hin zu. »Sie wollen doch nicht die nächsten zehn Jahre vor Gericht verbrin gen, um sich aus der Sache rauszureden?« Er drückte auf den Knopf des Zigarrenanzünders auf dem Armaturenbrett, nur um zu sehen, ob er funktionierte. »Ich habe mich bei verschiedenen Banken um Darlehen bemüht«, sagte Pitman. »Aber keine der Großbanken will uns stützen. Vielleicht haben sie Angst vor der Kreditanstalt oder sind sauer, weil wir sie an dem Geschäft nicht beteiligt haben.« »Vielleicht wurden sie von diesem Scheißkerl, der uns reingelegt hat, vorgewarnt. Friedman oder Dr. Böttger oder sonst einer von den Schwindlern.« »Es hilft mir nichts, davonzulaufen«, sagte Pitman traurig. Er hielt vor der Kreuzung, wo die eine Straße zur französischen Grenze und zum südlichen Seeufer führt. Er bog in die andere Richtung ein. »Erinnern Sie sich an Petrucci? Ein kleiner Sizilianer. Maschinenge wehrschütze auf einem der Fahrzeuge der B-Kolonne, die vor uns zu sammengeknallt wurde?« 326
Oberst Pitman kratzte sich nachdenklich das Kinn. Er konnte sich nicht erinnern. »Delaney sieht ihn noch. Er hat mich mit falschen Papieren versorgt: brasilianischer Pass, Führerschein, alles. Er würde das gleiche für Sie tun, und wir haben hier genügend Geld für uns beide, Herr Oberst. Wir teilen es uns, halbehalbe.« »Es sind Ihre Ersparnisse, Charles. Nein, das könnte ich nicht.« »Was soll ich mit meinen Ersparnissen anfangen?« sagte Stein. »Wie lange habe ich noch zu leben? Zehn Jahre, oder vielleicht 20, wenn ich um 50 Pfund abnehme und mich nur noch von Nüssen und Joghurt ernähre. Wieviel brauchen wir also? Ich habe hier über zwei Millionen Dollar, Herr Oberst. Denken Sie bloß nicht an die anderen vom Batail lon, denen geht es allen gut, und sie würden Ihnen nur zuraten, ja zu sagen.« Aber Pitman war in Erinnerungen versunken. »Ich bereue nichts«, antwortete der Oberst endlich. »Wenn die Zeit zurückliefe und wir noch einmal am Ofen säßen, wie damals, als wir zum ersten Mal darüber sprachen – ich wäre ohne zu zögern wieder dabei.« »In Deutschland? Sie meinen 1945, als Sie spät in der Nacht von der hübschen Blonden zurückkamen, die im Büro des Bürgermeisters ar beitete?« Pitman nickte. »Erinnern Sie sich noch an den Regen? Ich glaubte, er würde nie aufhören. Ich hatte in jener Nacht den schlechtesten Jeep des ganzen Bataillons und mußte die verdammte Karre fast durch ganz Deutschland schieben.« »Aber Sie waren doch in Ihrer Wohnung«, sagte Stein, »und die lag kaum drei Blocks vom Rathaus entfernt. Was erzählen Sie mir da, durch fast ganz Deutschland?« Pitman fuhr schweigend weiter, dachte an jene Nacht in den letzten Kriegstagen in Europa. Es hatte gar keine Blonde gegeben, nur einen General. Nie würde er Stein die Wahrheit erzählen, niemandem durf te er es erzählen. »Ich weiß, dass es eine große Enttäuschung für Sie ist, mein lieber Pitman«, hatte der General gesagt, »aber der verdammte Krieg ist nun 327
einmal so.« Der General war bemüht, wie sein Befehlsgeber General Patton aufzutreten. Er trug zwar nicht zwei Pistolen mit Perlmuttgriff im Gürtel – die Nachahmung wäre zu offensichtlich gewesen –, aber er trennte sich nie von seinem Colt 45. Und selbst hier, Meilen von der Kampfzone entfernt, trug er stets einen Helm und eine Handgranate im Schulterhalfter. Draußen regnete es. Der Himmel wies rosa und lila Flecken auf, und es wurde dunkel. Endlose Lastwagenkolonnen mit Nachschub arbei teten sich durch den Schlamm, über holprige Straßen, mühsam über Trümmerhaufen und Schutt, dem Ergebnis eins ganztägigen Bomben angriffs, der die Hälfte der deutschen Einwohner in ihren Kellern be graben hatte. »Der Krieg ist fast vorbei«, sagte Pitman. »Und seit der Überquerung des Rheins hatten Sie mir fest versprochen, mich an der Front einzusetzen.« »Sehen Sie diese Lastwagen da drüben?« Der General streckte sei ne Zigarre vor. »Ich versuche, eine halbe Million Tonnen Material in die Stellungen zu schaffen, und unsere Transporteinheiten sind völ lig erschöpft. Einige Lkw-Fahrer haben seit 56 Stunden kein Auge zugekriegt, Pitman.« Der General schob ungeduldig einige Papiere über seinen Schreibtisch. »Ständig beklagen sich die Sanitätsoffizie re bei mir, und der Verschleiß an Fahrzeugen nimmt Maße an, dass ich ganze Kompanien verliere. Meine Schreiber mühen sich verzwei felt ab, die Frachten in Kategorien einzuteilen: ›Gefährliche Ladung‹, ›Wertvolle Ladung‹, ›Unmittelbar lebenswichtige Ladung‹, ›Vorran gige Ladung‹ – da, schauen Sie sich nur diese Scheiße an! Und jetzt kommen Sie mir an und verlangen, ich soll Sie an der Front Soldat spielen lassen. Die Antwort ist nein, Pitman. Haben Sie das verstan den?« »Ich bin Berufsoffizier, Herr General. Ich brauche Kampferfahrung, falls ich in der Nachkriegsarmee befördert werden will. Wir hatten darüber gesprochen, und Sie hatten mir Ihre Hilfe zugesagt.« »Was wollen Sie denn noch, Pitman?« Der General paffte an seiner Zigarre. »Ich habe Sie zum Oberst befördert, und Sie haben Ihr Batail lon. Das ist doch nicht wenig.« 328
»Ich will kämpfen, Herr General. Sie hatten mir die Chance fest ver sprochen.« Der General blickte ihn an, blies eine Rauchwolke an die Decke. Er sagte mit ruhiger Stimme: »Sie haben Ihre Chance gehabt, Oberst Pitman. Sie hatten Ihre Chance in Kasserine, lange bevor ich das Glück hatte, dorthin zu kommen. Es war eine große Scheiße, wie ich später hörte. Ihre Leute sind ausgerissen, und die Krauts haben unseren gan zen Nachschub überrannt. Nach einem so jämmerlichen Fiasko habe ich weiß Gott keine Lust, Sie noch einmal an die Front zu schicken.« Die Glühbirnen an der Decke flackerten, das Licht wurde gelblich und schwach, während die Techniker der Armee die unterbrochene Stromversorgung zu reparieren versuchten. Der General zog an seiner Zigarre; die Glut erhellte sein Gesicht, als er hinzufügte: »Wissen Sie, dass ich deswegen von den Engländern noch immer aufgezogen wer de? ›Erinnern Sie sich an Kasserine?‹ fragte mich noch vor kurzem ein britischer Major. ›Wir wurden an die Front geschickt, als ihr Yankees euch verzogen hattet.‹ Er sagte es natürlich so, als sei es ein Witz. Die Briten verspritzen ihr Gift ja immer auf diese Weise. Ein Witz – und ich war noch gezwungen, darüber zu lachen. Aber es gefällt mir gar nicht, Pitman; und wenn ich das Wort Kasserine höre, gefallen auch Sie mir gar nicht.« Pitman sagte nichts. Es gab auch nichts zu sagen. »Jetzt gehen Sie in Ihr Bataillonshauptquartier zurück und küm mern sich um die Lastwagen. Ich muß in zwei Stunden zu einer Gene ralstabsbesprechung. Bis dahin haben alle vorhandenen Fahrzeuge, bis zum letzten, aufgeladen und fahrbereit zu sein.« Oberst Pitman kehrte um Mitternacht in sein Bataillonshauptquartier zurück. Der starke Regen drang durch das Leinendach und die schad hafte Seitenklappen seines Jeeps. Der Motor setzte mehrere Male aus. Als sich Pitman, um sich zu wärmen, über den kleinen Eisenofen beug te, war sein kurzer Mantel völlig durchnäßt. »Bin ich der Kommandeur dieses lausigen Bataillons oder nicht?« rief er seiner Ordonnanz zu. »Wa rum gibt man mir den schlechtesten Jeep der ganzen Einheit?« »Hatten Sie Schwierigkeiten, Herr Oberst?« fragte Stein. 329
»Dieser Jeep gehört zu der abkommandierten Kompanie, die wir übernommen haben«, sagte Pitman. »Deren Fahrzeuge sind alle unzu verlässig. Sorgen Sie dafür, dass man mir nicht noch einmal eine sol che Kiste gibt.« »Waren Sie beim General, Sir?« »Ich war mit der kleinen Blonden, die wir heute früh im Büro des Bürgermeisters gesehen haben, im Bett. Wozu hätte ich Sie denn sonst um eine Flasche Scotch gebeten?« »Für den General vielleicht«, sagte Stein. Er goss kochendes Wasser in den Kaffeesatz, und ein wohltuender Duft stieg auf. »Letzte Woche hatten Sie auch eine Flasche mitgenommen, als Sie zum General gin gen. Ich dachte, Sie wollten wieder mal versuchen, sich für eine Weile zu den Leuten von der Panzerdivision versetzen zu lassen, denen wir zusätzliche Benzinrationen geschickt haben.« »Lesen Sie eigentlich meine ganze Privatkorrespondenz, Korporal Stein?« »Natürlich, Herr Oberst. Dazu brauchen Sie mich doch. Möchten Sie etwas Kaffee?« »Ja, bitte, mit Zucker und Sahne.« Stein stellte die dampfende Tasse vor den Oberst hin. Sie war aus al tem Porzellan und stammte aus einem zerbombten Haus. Oberst Pitman roch am Kaffee, nahm einen Schluck. Stein beobachtete ihn aufmerksam. »Sie waren also nicht beim Ge neral?« »Ich habe die kleine Blonde verführt – in einem Hinterzimmer eines dieser Wohnhäuser nahe der Entlausungsanstalt.« »Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich, Herr Oberst«, sagte Stein mit höflichem Interesse. »Nun, von jetzt an wird es mir halt ähnlich sehen«, sagte Oberst Pitman. »Von jetzt an tue ich nur noch das Allernotwendigste und zähle die Tage wie Sie, Korporal.« »Sie wollen nicht in der Armee bleiben, Herr Oberst?« »Zeigen Sie mir einen Weg, wie ich noch heute Abend rauskomme, Korporal, und ich nehme ihn.« 330
»Das könnte ich vielleicht sogar«, sagte Stein. »Und ich könnte Ih nen auch zeigen, wie Sie zu genügend Geld kommen, um in den Ruhe stand zu treten.« »Was erzählen Sie mir da, Stein?« »Nicht Onkel Sams Geld, Herr Oberst. Nazigold, das hier ganz in der Nähe liegt. Es sieht so aus, als bekämen wir den Auftrag, es nach Frankfurt zu schaffen.« »Gold?« »Millionen und aber Millionen Dollar, Herr Oberst. Dieser ver dammte Krieg ist so gut wie vorbei. Ich saß hier heute Abend und habe über Aram und die alten Zeiten in Nordafrika nachgedacht – und da ist mir ein Gedanke gekommen. Darf ich die Idee mal rasch mit Ihnen besprechen, Herr Oberst? Es muß natürlich unter uns bleiben.« Oberst Pitman setzte sich auf eine Packkiste in die Nähe des Ofens. Sein Mantel dampfte, als die Hitze in seine nasse Uniform drang. »Schießen Sie los, Korporal. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung, mir einen guten Vorschlag anzuhören.« »Die Jungs haben Ihnen immer vertraut, Herr Oberst«, sagte Stein. Pitmans Gedächtnis schwand, er mußte sich in Erinnerung rufen, dass man das Jahr 1979 schrieb und dass eine halbe Lebenszeit ver gangen war, seit sie den schicksalsschweren Entschluss gefasst hatten. »Keiner hätte Sie je aus dem Amt gewählt.« »Darauf bin ich stolz«, gab Pitman zu. »1952 war das schwerste Jahr – drei unserer Leute starben innerhalb von ein paar Monaten.« »Tricky Richards, Korporal Arbenz, der den Wagenunfall hatte, und Moose Menzies. Ja, ich erinnere mich«, sagte Stein, »es war ein schlim mes Jahr.« »Ich zahlte die Familien aus, ohne wirklich dazu befugt zu sein«, sagte Oberst Pitman. »Es war eine komplizierte Angelegenheit. Wir waren damals verpflichtet, nur festverzinsliche Investitionen aufzu nehmen.« »Sie hatten Wunder vollbracht, Herr Oberst.« »Ich habe immer versucht, fair zu sein«, sagte Pitman. Er hielt vor einer Verkehrsampel. »Ich war nie ein Finanzgenie und auch kein be 331
sonders guter Verwalter. Und Sie wissen auch, dass ich nie ein guter Soldat gewesen bin.« »Aber, aber, Herr Oberst! Sie …« »Nein. Wir sind zu alt, um noch Selbsttäuschungen zu erliegen. Als Offizier war ich nicht viel wert. Sie und Hauptfeldwebel Vanelli erle digten alles. Hab' ich Ihnen erzählt, dass Vanelli gestorben ist?« »Ja, Herr Oberst, Sie haben es mir erzählt.« »Ihr habt uns über Wasser gehalten. Sie verstanden die Leute viel besser als ich.« »Wir waren alle zu übereifrig«, sagte Stein. »Ich war ein Hitzkopf und wollte mir in meiner ersten Gefechtsstun de die Ehrenmedaille verdienen. Major Carson wusste es. Er hat mich vor mir selbst gewarnt.« »Sie hätten es beinahe geschafft, Herr Oberst.« Pitman erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Ja, beinahe, Chuck. Nur habe ich bei dem Versuch leider die halbe Kompanie draufgehen lassen.« »Sie sollten das endlich vergessen, Herr Oberst. Sie haben getan, was damals als richtig erschien.« »Einige tapfere Männer sind an diesem Tag gefallen, Korporal.« Oberst Pitman schloss halb die Augen, dachte an die schlimmsten und besten Augenblicke seines Lebens zurück. »Ihr Bruder und Major Car son. Arias, der zu seinem MG zurückzukehren versuchte. Kaplan und Klein – Nachbarn, die sich gemeinsam zum Dienst gemeldet hatten und bis zum Ende zusammengeblieben sind. Feldwebel Scott, der den Fahrersitz seines Lastwagens nie verlassen wollte, obgleich er das ver dammte Ding nicht in Gang bringen konnte. Feldwebel Packer, der sei nen Leuten androhte, den, der als letzter vorrückt, zu erschießen …« »Und der dann auf die S-Mine getreten ist«, sagte Stein. »Helden«, sagte Pitman. »Keine Helden«, erwiderte Stein ruhig. »Keine Feiglinge, Herr Oberst, nicht die Feiglinge, wie die Zeitungen, die Engländer und Oberbonzen es später behaupteten. Aber auch keine Helden. Es ist an der Zeit, dass Sie sich darüber klar werden, Herr Oberst.« 332
»Wir waren eine Truppe ohne Erfahrung. Selbst während der Kampf schulung hatten wir kaum einen Ausbilder, der je Pulver gerochen hat te. Welche Chance blieb uns da gegenüber den deutschen Veteranen?« »Wir sind gerannt«, sagte Stein leise, »wir sind davongerannt, Herr Oberst.« »Es war Taktik. Washington wollte Amerikaner in der Kampflinie, und Eisenhower sollte sie befehligen. Es gehörte zum politischen Plan, Eisenhower als Oberbefehlshaber in Europa einzusetzen – bis zum Tag der Invasion. Amerikanisches Blut mußte vergossen werden, damit uns nicht Montgomery von den Engländern aufgezwungen wurde.« »Ike hat gute Arbeit geleistet«, sagte Stein. Er konnte die Verbitterung des Obersten nicht teilen. »Mit diesem Arschloch Monty als Oberbe fehlshaber säßen wir immer noch dort und warteten auf die Invasion.« »Warum hat man so lange gewartet, bevor man Georgie Patton das Kommando übergab?« fuhr der Oberst fort. »Die Schande dieser ver fluchten Woche werde ich nicht los. Jeden Tag denke ich noch daran. Können Sie das verstehen, Korporal?« Jetzt hieß es wieder ›Korporal‹, und Pitmans Stimme hatte jenen schrillen Klang, den Stein seit fast 40 Jahren nicht mehr gehört hatte. »Das Oberkommando hatte recht«, sagte Oberst Pitman. »Ich habe jahrelang darüber geflucht, aber es hatte recht. Wir hätten nie den Mumm gehabt, wieder in die Kampflinie zurückzukehren; wir waren ein für allemal abgeschrieben.« »Abgeschoben«, verbesserte Stein ihn. »Na schön, wir wurden be schämt – und man hat uns zuerst verlegt und dann in eine Trans porteinheit gesteckt –, aber wir haben getan, was getan werden mußte. Wir gaben ein paar Jahre unseres Lebens und trugen das Unsere dazu bei, die Nazis außer Gefecht zu setzen.« »Ich hatte mir nie etwas anderes gewünscht«, sagte Pitman leise. »Ich hatte eine erstklassige Einheit mit Leuten, die ich mochte und schätzte. Es brach mir das Herz, sie zu Lastwagenfahrern degradiert zu sehen.« »Aber denken Sie doch an die Nachkriegszeit«, tröstete ihn Stein. »Als ›Panzerknacker‹ hätten wir nie und nimmer einen solchen Millio nenschatz erbeutet.« 333
»Ich hatte nichts mehr zu verlieren, und nur darum habe ich es ge tan«, sagte Pitman, als ob man eine Erklärung von ihm verlangt hät te. »Nie hätte ich mich mehr im Universitätsclub sehen lassen können, nachdem alle meine Freunde die Geschichten über Kasserine gelesen hatten.« »Ich habe keine Schuldgefühle«, entgegnete Stein. »Wir haben gegen eine Übermacht gekämpft und sind schließlich davongelaufen. Immer hin haben wir sie aufgehalten, Herr Oberst, vergessen Sie das nicht.« »Geben Sie sich doch keinen Illusionen hin, Charles. Sie haben uns beiseite gefegt wie Wanzen in einer Absteige.« Pitman griff nach dem Rückspiegel, stellte ihn besser ein. Eine Weile verharrten die beiden Männer im Schweigen. Pitman fuhr mit übertriebener Vorsicht, Stein blickte geistesabwesend auf die Gen fer Vorstädte. An diesem warmen Samstagabend im August verbrach te jeder, der es sich leisten konnte, das Wochenende auf dem Land oder am See. »Sie haben doch gehört, wie Major Carson mir den Rückzug befahl«, sagte Pitman plötzlich. »Hatten Sie es gehört?« »Sie wurden freigesprochen, Herr Oberst. Ich habe meine Zeugen aussage vor dem kleinen, kraushaarigen Hauptmann vom Kriegsge richt gemacht, der von Algier herübergeflogen war. Delaney hat ihm das gleiche gesagt. Sie erinnern sich doch.« »Verdammt noch mal, Korporal«, rief Pitman in plötzlicher Wut aus, »ich frage Sie nicht, ob Sie mir aus der Patsche geholfen haben. Beant worten Sie meine Frage: Haben Sie Major Carson gehört oder nicht? Ich muß es wissen.« Er schrie jetzt. Stein blickte aus dem Fenster. Es war so lange her. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? In Steins Welt wurde jede Art Ärger schnell vergessen. Warum in der Vergangenheit rumwühlen und alten Ärger wieder heraufbeschwören, wenn man gerade jetzt vor Schwierigkeiten stand, die volle Aufmerksamkeit erforderten? Stein sah seinen Oberst an – der kahle Schädel mit dem krausen Haar um die Ohren wirk te lächerlich –, dann blickte er wieder auf die öden, langweiligen Stra ßen zurück. Niemand hatte das Gespräch zwischen Carson und Pit 334
man gehört. Beide Offiziere hatten sich absichtlich entfernt, um nicht gehört zu werden. Das wusste Pitman genau. Stein sagte: »Natürlich habe ich ihn gehört, Herr Oberst. Sie wollten nicht zurück, aber er be stand darauf.« »Richtig«, rief Pitman triumphierend aus, »genauso war es. Ich ge horchte dem Befehl.« Stein nickte. Er hatte über Wichtigeres nachzudenken als über den Gewissenskonflikt des Obersten. »Wir sollten vielleicht beide abhau en«, sagte Stein. »Wir fahren zuerst nach Mexiko oder Kanada. Sie warten dort, während ich mit meinem brasilianischen Pass nach New Jersey reise. Ich werde Passfotos von Ihnen mitnehmen, Petrucci besu chen und Ihnen Pass und Papiere besorgen.« »Soll ich die Straße zum Flughafen nehmen?« fragte Pitman. Er biss sich auf die Lippe. Warum mußte er immer Stein fragen, was er tun sollte? Stein nahm sich mit der Antwort Zeit. Jede Straße, die aus Genf führt – außer der nördlichen Seestraße und der Autoroute –, geht nach Frankreich. Stein fragte sich, ob die französischen CRS-Leute, die die Grenzübergänge bewachten, Befehl erhalten hatten, sie zu ver haften. Arbeiteten die Franzosen so eng mit den Engländern zusam men? Und unter welchem Vorwand könnten sie es tun? Vielleicht wür den die Franzosen die Hitler-Protokolle einfach als Schmuggelware beschlagnahmen und ihn und Pitman später ausweisen. Er hatte von derlei Dingen schon oft gehört. Die Compagnies Républicaines de Sécu rité folgten ihren eigenen Gesetzen. »Die Autoroute«, sagte Stein. »Ich glaube, man folgt uns«, sagte Oberst Pitman und blickte in den Rückspiegel. »Der gleiche Wagen fährt schon eine ganze Weile hinter uns her. Ein weißer Mini.« »Treten Sie das Gaspedal durch. Dieser Jaguar ist doch schnell?« »Ich bezweifle, dass wir ihn abhängen können«, sagte Pitman. »Ich bin schließlich kein Rennfahrer. Er muß uns gesehen haben.« Er stell te das rechte Blinklicht ein und blickte in den Rückspiegel. Der Wa gen hinter ihm gab das gleiche Zeichen. »Er folgt uns«, sagte Pitman, »jetzt gibt es keinen Zweifel mehr.« Er fühlte wieder einen stechen 335
den Schmerz und rieb sich die Brust. Wenn er nur rülpsen könnte, wie Stein es so ohne Hemmung tat! »Halten Sie auf der Autoroute«, sagte Stein, »ich werde ihn mir vor nehmen. Danach fahren wir zum Flughafen zurück.« »Mal sehen, ob ich ihn nicht doch abhängen kann«, sagte Pitman. Er bog in den Zubringer zur Autoroute ein, bremste zuerst ein wenig, riß das Steuer herum. Man hörte ein schwaches Reifenquietschen. Der Wagen hinter ihnen folgte in kurzer Distanz. Auf der breiten Auto bahn gab Pitman Gas. Er dachte nicht mehr an seine Schmerzen. Sein Jaguar, ein neues Modell mit nur 3.000 Meilen auf dem Kilometer zähler, war in ausgezeichnetem Zustand, reagierte rasch, schoss wie eine Rakete voran. Der Wagen hinter ihnen war ebenfalls neu, aber die etwa 100 Fahrer, die ihn bei der Leihfirma gemietet hatten, waren nicht gerade behutsam mit ihm umgegangen, und das zeigte sich jetzt. Der Mini bockte und hustete, als sein Fahrer 90 Stundenkilometer über stieg. Nur mit großer Mühe konnte er sich hinter dem Jaguar halten. Die Wagen hatten ein Tempo von 120 Stundenkilometern erreicht, als Oberst John Elroy Pitman der Dritte seinen dritten und letzten Herz anfall bekam.
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illi Kleiber hasste es, allein zu sein. Nachdem sein Freund Max Breslow ins Hotel zurückgegangen war, ging Kleiber in das klei ne Zimmer hinauf, das ihm als Büro diente, und wählte die von seinem neuen Kunden hinterlassene Nummer. Trotz seiner abschätzigen Bemerkungen Breslow gegenüber war Klei ber über die Aussicht, für Helmut Krebs, einen der reichsten Männer der Bundesrepublik, arbeiten zu können, ungemein erfreut. Krebs war Besitzer einer Supermarktkette, die sich über ganz Europa erstreckte. 336
Im Laufe der letzten Jahre hatte er begonnen, viele der dort zum Ver kauf angebotenen Waren selbst herstellen zu lassen. Pulverkaffee, Jo ghurt und Limonaden eigener Produktion konnten es an Qualität mit jeder bekannten Marke aufnehmen und waren immer ein paar Pfen nige billiger. Was für diesen Mann zu arbeiten, ihm, Kleiber, so ausnehmend ge fiel, war Krebs' Familienhintergrund: sein Bruder war Gesandter; Frau und Schwester galten als Theatermäzene. Auf allen internationalen ge sellschaftlichen Anlässen war die Familie Krebs gewöhnlich vertreten. Ein solcher Kunde, der sich in einer Welt bewegte, wo Entführung, Mord und Erpressung von jedem befürchtet werden mußte, eröffnete einer Firma, die möglichen Opfern derartiger Verbrechen Schutz ver kaufte, ungeahnte Möglichkeiten. Daher war Kleiber nicht sonderlich überrascht, als Krebs' Sekretär ihm auf sein Ersuchen hin, Herrn Krebs sofort zu sehen, eine zuerst ausweichende Antwort gab. »Herr Krebs hat eine Verabredung zum Abendessen«, sagte der Se kretär. »Ich auch«, erwiderte Kleiber. »Ich muß um zwanzig Uhr wieder fort.« »Herr Krebs wird in Venedig erwartet«, sagte der Sekretär kühl. »Ve nedig in Italien«, fügte er hinzu, falls irgendein Zweifel darüber beste hen sollte. »Er fliegt mit seinem Privat-Jet.« Nichts war besser geeignet, Kleibers Interesse anzustacheln. Er bat Kleiber, am Apparat zu bleiben, und kam nach einigen Mi nuten zurück. »Sehr gut«, sagte er. »Herr Krebs wird Sie heute Abend sehen. Seien Sie Punkt 18 Uhr am Genfer Flughafen. Sie können mit Herrn Krebs im Flugzeug sprechen und um 19.30 Uhr wieder in Genf zurück sein. Falls Sie es wünschen, schicke ich Ihnen einen Wagen, der Sie zu Ihrer Verabredung bringt.« »Nicht nötig«, sagte Kleiber. »Ich benutze meinen eigenen Wagen.« »Ich werde den Piloten bitten, Sie von jemandem abholen zu lassen. Warten Sie an der Bar oben in der Abflughalle. Unser Personal wird Sie durch den Zoll bringen. Vergessen Sie Ihren Pass nicht.« 337
»Ich verstehe«, sagte Kleiber, obgleich ihm die wichtigtuerische Art des Mannes empfindlich auf die Nerven ging. Es sind immer die Se kretäre, Diener und Angestellten, die einem so unverschämt kamen, stellte Kleider wieder einmal fest. Wahrscheinlich ist Herr Krebs selbst sehr höflich und charmant. »Noch eins, Herr Kleiber«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Ich bin für die persönliche Sicherheit von Herrn Krebs verantwortlich. Ich muß Sie daher bitten, nichts mitzunehmen, was möglicherweise als Waffe benutzt werden könnte; das schließt auch kleine Taschenmes ser und Schnupfdosen ein. Sie könnten einer Leibesvisitation unterzo gen werden. Aber da Sie ja selbst vom Fach sind, bin ich sicher, dass Sie diesen Vorsichtsmaßnahmen gegenüber Verständnis aufbringen wer den.« Seine Stimme ließ klar erkennen, dass es ihm völlig gleich war, ob Kleiber Verständnis zeigte oder nicht. »Gewiß«, sagte Kleiber. Er mußte sich sehr beherrschen. Wahr scheinlich wurde Krebs von einer verrückten linksextremen Grup pe bedroht. Vielleicht war es doch kein Scheidungsfall, sondern etwas Wichtigeres. »Punkt 18 Uhr an der Bar in der Abflughalle auf dem Genfer Flug hafen. Der Mann von der Bordcrew trägt eine einfache Uniform mit Schirmmütze.« »Ich werde dort sein«, sagte Kleiber und versuchte, vor dem Sekretär aufzuhängen, verlor aber das Rennen. Er lächelte. Max wird große Au gen machen, wenn ich ihm erzähle, dass ich in Venedig war. Er schau te auf die Uhr: genügend Zeit für ein Tennisspiel und eine anschlie ßende Dusche vor dem Umziehen. Er überlegte, welchen seiner Leute er leicht schlagen konnte. Willi Kleiber spielte nämlich nur gern Ten nis, wenn er siegte. Punkt 18 Uhr erschien Kleiber an der Bar. Er trug einen leichten grauen Sommeranzug, ein weißes Hemd, eine englische Clubkrawat te und auf Hochglanz polierte Stiefeletten. Der Uniformierte kam, be grüßte ihn höflich und führte ihn durch den besonderen, für Passagie re von Privatflugzeugen reservierten Zollraum. Ein blauer Ford Escort erwartete sie und brachte sie zum anderen Ende des Flugplatzes. 338
Kleiber blickte auf die Uhr und nickte bewundernd ob der flotten Organisation. 18.15 Uhr stieg er an Bord des Jet Commander. Dieser Achtsitzer war vom älteren Typ der Twin-Jet-Executive-Aircraft, aber Kleiber befand es als eines der schönsten Flugzeuge, die er je gesehen hatte. Die Inneneinrichtung bestand aus blauen Ledersitzen mit grau em Teppichbelag, die den äußeren Farben entsprachen. Hier verspür te man jene diskreten Gerüche nach echtem Leder, Metallpolitur und warmem Öl, in denen sich ein teurer Sportwagen von billigen Nachah mungen unterscheidet, und man vernahm das Geräusch von Eiswür feln in Kristallgläsern. »Wollen Sie bitte ganz vorne Platz nehmen, Herr Kleiber«, sagte der Mann, der ihn durch den Zoll gebracht hatte. »Herr Krebs ist bereits an Bord. Er wird in ein paar Minuten zu Ihnen kommen.« Kleiber berührte bewundernd das Lederpolster. Das Flugzeug bot den Passagieren eine gute Sicht, da das Tragflächengestell ganz hin ten lag. Von hier aus hatte er einen herrlichen Blick auf die Land schaft. »Wünschen der Herr einen Champagnercocktail?« Ein Steward er schien mit einigen Gläsern auf einem Silbertablett. Kleiber nickte. Ein großer Kristallbecher wurde mit Leinendeckchen und einer Platte Salzbiskuits auf seine Armlehne gestellt. Kleiber drehte sich in seinem Sitz um, hielt nach Herrn Krebs Ausschau, aber der hintere Teil des Passagierraums war durch einen Vorhang abgetrennt. »Bitte schnallen Sie sich an, wir starten gleich.« Kleiber nickte, ließ sich wieder in seinen Sitz sinken. Das war ein Le ben nach seinem Geschmack. Er schloss die Augen, stellte sich vor, im eigenen Jet neben einem vollbusigen Mädchen zu sitzen, unterwegs auf einem Wochenendausflug in die heiße Sonne, den kühlen Ozean und ein frischbezogenes Bett. Er nippte genüßlich an seinem Champagner cocktail. Die Triebwerke heulten mit ohrenbetäubendem Schrei auf, dann roll te der Jet auf die Startbahn. Kleiber lehnte sich zurück, trank Cham pagner, hörte den Piloten dem Kontrollturm mitteilen, dass alles klar zum Abflug sei. Am Ende der Piste wurde eine Kehrtwendung ge 339
macht, dann lief das Triebwerk auf Höchsttouren, die Geschwindig keit nahm zu, der Jet hob ab. Kleiber blickte sich um: Der Kabinensteward und jener Mann, der ihn mit Namen begrüßt hatte, saßen angeschnallt zwei Reihen hinter ihm. Sonst war niemand zu sehen. Er stützte den Kopf auf die Rücken lehne und blickte aus dem Fenster. Die Landschaft unter ihm schau kelte, als der Jet steil anstieg, um Höhe für den Flug über die Alpen zu gewinnen. Die Sonne malte hellgelbe Flecken auf die Berggipfel, die Täler ver sanken in blauen Schatten. Diese Schönheit bot Kleiber nichts Trösten des, er fand sie eher beklemmend. Während unzähliger Jahre hatten die sich bewegenden Gletscher die Berge gemeißelt, und jetzt blieb nur noch die härteste Unterstruktur. Wieder einmal ein Beispiel, wie die Natur nur die Stärksten oder die Anpassungsfähigsten überleben läßt. Im Cocktail war für seinen Geschmack zuviel Cognac und nicht genü gend Angostura, aber das machte nichts. Die direkte Flugroute nach Venedig mußte sie über die höchsten Gipfel der Alpen führen. Er sah das Matterhorn, das inmitten der breiten Schneekuppen der umliegen den Berge wie ein hagerer, ausgehungerter Bettler wirkte. Kleiber fuhr sich mit der Hand über die Stirn, fühlte fiebrigen Schweiß. Selbst als er sich das kühle Kristallglas an den Kopf drückte, empfand er keine Erleichterung. Er fühlte sich schwindlig, wollte sein Glas fester in der Hand halten, aber seine Finger zuckten, und es fiel klirrend zu Boden. Er sah den schäumenden Champagner auf seine Stiefelspitzen spritzen, verspürte jene Übelkeit und jenes seltsame Ge fühl, durch den Raum zu stürzen, das er bisher bei übermäßigem Trin ken gekannt hatte. Er hielt sich die Hand vor den Mund, glaubte, er brechen zu müssen, war unfähig, die Schnalle seines Gurts zu öffnen. Seine Krawatte schien ihn zu würgen, der Schweiß rann ihm vom Ge sicht. Er lehnte sich vor – und dann wurde alles schwarz um ihn. »Er ist hinüber, Melvin. Wo hast du bloß diese Scherzartikel her?« »Aus New York, von einem Barmann aus der 3. Straße. Es war ein mal ein anständiges Lokal, aber in letzter Zeit geht es dort sehr hart zu.« 340
»Erinnere mich daran, nicht hinzugehen.« »Die würden dich gar nicht reinlassen, Todd. Warte, bis du 18 bist.« Kalkhovens Assistent grinste. Der Pilot blickte sich um. Melvin Kalk hoven streckte den Daumen hoch, und der Pilot schaltete Bodenver bindung ein, bat um Kurswechsel nach Frankfurt am Main. Todd Wynn las die Glasscherben vom Boden auf. Kalkhoven ging nach hinten, holte Tragbahre und US-Army-Decken. Wenn sie in Frankfurt ankamen, sollte der bewusstlose Wilhelm Kleiber in ein Flugzeug des Sanitätsdienstes der US-Luftwaffe verladen werden. Die Dokumente waren fix und fertig: Kleiber war jetzt Hauptmann Mar tin Moore, ein in Berlin stationierter Infanterieoffizier, erkrankt an ei ner bisher noch nicht ermittelten Virusinfektion und auf dem Wege in eine Spezialklinik in den USA – für weitere Tests. Der Entschluss, Wilhelm Kleiber zu entführen, war auf höchster Ebene des amerikanischen Geheimdienstes gefasst worden. Am Mitt woch, dem 1. August, hatte der stellvertretende Leiter des CIA die jetzt als ›Parker-Akte‹ bezeichnete Dokumentation dem Ausschuss des CIA in Langley, Virginia, vorgelegt. Die Bandaufnahme des Gesprächs zwi schen Kleiber und Parker am Vorabend trug wesentlich zu dem Ent schluss bei. Der stellvertretende Leiter bat um Handlungsfreiheit im Sinne des sen, was der Planungsvorsitzende vorgeschlagen hatte; aber die Tat sache, dass Jurij Gretschko – ein Beamter der sowjetischen Gesandt schaft – in Edward Parkers Spionagetätigkeiten verwickelt war, machte es notwendig, die Zustimmung der engsten Ratgeber des Präsidenten einzuholen. Die Besprechung zwischen dem Direktor und dem stell vertretenden Leiter hatte neunzig Minuten gedauert. Danach hatte der Direktor das Büro verlassen, sich in seinem Privatlift nach unten bege ben, war in seine schwarze Lincoln-Limousine gestiegen und hatte sich zu einem vormittäglichen Treffen mit dem Sekretär des Verteidigungs ausschusses und dem Sicherheitsberater des Präsidenten fahren lassen. Es wurde schließlich beschlossen, dass Präsident Carters ausgiebig be kannt gemachten Erfolge bei den SALT-Verhandlungen mit den sowje tischen Führern kein Grund seien, irgend etwas an den Maßnahmen 341
des CIA zur Bekämpfung russischer Spionage in den Vereinigten Staa ten zu ändern. Der CIA wurde ermächtigt, gegen die Spione ›mit größ ter Härte‹ vorzugehen. Somit hatte das Projekt neue Bedeutung gewonnen und mußte auf weltweiter Ebene durchgeführt werden. Daraus ergab sich die Not wendigkeit, es aus der Abteilung für Innere Angelegenheiten (Dome stic Operations Division) zu schaffen und ihm eine neue Aktennum mer zu geben. Der Planungsvorsitzende und der Aktenbearbeiter Sam Seymour jedoch waren immer noch dafür zuständig, desgleichen Ein satzagent Melvin Kalkhoven. Kalkhoven hatte die Entführung Wilhelm Hans Kleibers persönlich geplant. Er flog in der Nacht zum Mittwoch, dem 1. August, von Was hington nach Frankfurt, um sich der vollen Mitarbeit deutscher Be hörden zu versichern. Der BND-Beamte in Hamburg (der für den di rekten Kontakt mit London und die Verbindung zum britischen Ge heimdienst verantwortlich zeichnete) hatte von dieser neuen Entwick lung keine Kenntnis. Auch der britische SIS wurde nicht informiert. Wie bei allen vorrangigen Angelegenheiten wurde strikte Geheimhal tung anbefohlen. Melvin Kalkhoven setzte sich dringlich mit dem wohlbekannten deutschen Geschäftsmann Helmut Krebs in Verbindung und fragte ihn, ob man seinen Namen in Verbindung mit einer Sicherheitsmaß nahme benutzen dürfe. Krebs, ein Mann von untadeligem Ruf, der in Washington hohes Ansehen genoß, gab sofort seine Zustimmung. Krebs und Kalkhoven führten jene Telefongespräche, die zur Ermitt lung des Wilhelm Kleiberschen Aufenthaltsortes geführt hatten. Die wiederholten dringlichen Meldungen in Kleibers Büro und Heim hat ten schließlich die gewünschten Resultate gezeitigt. Es gibt 36 Telefonleitungen zwischen Deutschland und der Schweiz. Jede Leitung hat 500 Anschlüsse. Es war also notwendig, etwa 18.000 Telefonanschlüsse anzuzapfen, um herauszufinden, wann Kleibers Bü ropersonal oder Familie ihm die angebliche Nachricht von Krebs über mitteln würde. Der Anruf, den Kleiber aus seinem Münchner Büro erhielt, ermög 342
lichte es dem Telefonabhördienst (Amt 3) des Bundesnachrichtendien stes, dem CIA-Agenten Kalkhoven eine Bandaufnahme von Kleibers Gespräch und die Adresse jenes Hauses am Genfer See, wo er den An ruf entgegengenommen hatte, zu übermitteln. Das CIA-Büro in Frank furt hatte sich bereits einen luxuriös eingerichteten Jet Commander beschafft und ließ ihn nun samt einer CIA-Crew nach Genf fliegen. Kalkhovens Instruktionen enthielten den strikten Befehl, die End phase des Unternehmens dem Entscheid auf höchster Ebene zu über lassen. So erhielt der diensthabende Beamte der Einsatzabteilung in Langley am Freitag, dem 3. August, Kalkhovens verschlüsselte Fern schreibermitteilung mit dem Codezeichen NIACT (noch vor dem nächsten Morgen zu erledigen). Entschlüsselt lautete die Nachricht: »Der da gesegnet ist von Dir, sei gesegnet, und der da verdammt ist von Dir, sei verdammt.« Da die Entführung eines deutschen Staatsbürgers aus der Schweiz immerhin schwere Folgen nach sich ziehen konnte, fand ein weite res langes Gespräch zwischen dem stellvertretenden Leiter und dem Planungsvorsitzenden statt. Die Antwort kam erst am folgenden Tag in Genf an. Es war Samstag, vierzehn Uhr fünfundzwanzig, kaum zwei Stunden bevor Kleiber anrief und Herrn Krebs sofort zu sehen wünschte, als die Nachricht aus Washington an Kalkhoven gelangte. Der Text des Telegramms aus Langley war vom Planungsvorsitzenden diktiert, enthielt eine klare Zustimmung zum Entführungsplan, war jedoch in folgenden Worten abgefasst: »Und so dich jemand nötiget eine Meile, so gehe mit ihm zwo.« Kalkhoven hob hervor, dass das im Neuen Testament stehe. Als der bewusstlose Wilhelm Kleiber in die Boeing C-135 des Milita ry Air Transport Service geladen wurde, hatte Melvin Kalkhoven ei nen Stapel Meldungen und Instruktionen erhalten. Der CIA war in zwischen von der Razzia der Schweizer Polizei in Kleibers Haus am See unterrichtet worden, und ihr Kontaktmann beim Schweizer Ge heimdienst hatte guten Grund zur Annahme, dass der Tip aus Lon don gekommen war. Kalkhoven saß in dem geräumigen Boeing-Transportflugzeug ganz 343
hinten am Proviantmeistertisch. Die Kabine vor ihm war mit Ausnah me der schwachen roten Kontrolllampen und dem gelben Lichtspalt an der Tür zum vorderen Mannschaftsraum dunkel. Unter einer klei nen Leselampe ging er die Dokumentation durch. Sein Assistent hatte sich gerade noch einmal überzeugt, dass Kleiber nicht erwacht war. Sie hatten ihm ein Narkosemittel gegeben, das vor der Landung auf dem Militärflugplatz von Andrews, Maryland, noch einmal erneuert wer den mußte. »Was wird man mit diesem Kerl machen, Melvin?« »Ich glaube, es liegen genügend Beweise vor, ihm den Mord in Los Angeles anzuhängen.« »Erzähle mir keine Geschichten, Melvin. Wir haben den Burschen nicht geschnappt, um ihn den Justizbehörden auszuliefern. Und falls er wegen Mordes vor Gericht kommen sollte, wird er sich über die Rei sebedingungen, die wir für ihn arrangiert haben, schwer beklagen. Das würde mit einer schönen Blamage für den CIA enden. Warum sagst du mir also nicht die Wahrheit, Melvin?« »Ich leite diese Firma nicht«, sagte Kalkhoven, »ich bin nur Ange stellter. Dieses Unternehmen ist verdammt heikel geworden. Jedes Mal, wenn ich scheißen muß, brauche ich eine schriftliche Bewilligung aus Langley.« »Glaubst du, sie werden ihn umdrehen?« »Ihm einen Job bei uns geben, meinst du? Das will ich nicht hoffen, Todd. Dieses Mordschwein möchte ich nicht zum Kollegen haben.« »Eine neue Politik erfordert neue Verbündete, und neue Verbünde te sind neue Freunde. So wird das Spiel gespielt, Melvin. Du brauchst nur die Zeitung zu lesen.« Todd blickte sich um und wollte Kalkhovens Gesicht sehen. Kalkhoven saß beim schwachen Licht seiner Pultlampe über den Tisch gebeugt und sah mehr als je wie ein Bibelforscher um die Jahrhundertwende aus, fand Wynn. »Verlasse keinen alten Freund, denn der neue ist ihm nicht vergleich bar; ein neuer Freund ist wie neuer Wein; erst wenn er alt ist, wirst du ihn mit Freuden genießen.« Todd Wynn lächelte nervös und fragte sich, ob Melvin Kalkhoven 344
wusste, dass man ihn Bibelforscher nannte. Wahrscheinlich ja; denn er schien immer mehr zu wissen, als er sich anmerken ließ.
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in vertrocknet aussehender ehemaliger Polizist namens Hugo Koch war Londons Mann in Genf. Er hatte sich bei der Züricher Polizei einen Namen gemacht, bis er 1965 in einen Skandal verwickelt wurde, weil er mit der 17jährigen Tochter eines hohen Polizeibeamten geschlafen hatte. Koch mußte daraufhin in den Ruhestand treten. Jetzt war er 49, lebte in einer kleinen Wohnung, die ihm auch als Büro dien te, in der Umgebung Genfs, trieb Schulden ein, ermittelte widerspen stige Alimentenzahler und schnüffelte untreuen Ehefrauen nach; eine Arbeit, die Hugo Koch nicht besonders behagte; aber eigentlich behag te ihm Arbeit an sich nicht. Koch war von Natur aus trübsinnig, trank nicht, rauchte nicht, und seit der schandbaren Affäre in Zürich war sein Verhältnis zu Frauen leidenschaftslos geworden. Koch war erfreut, als ihm 1969 ein Mann, der sich als CIA-Agent aus gab, Beschäftigung anbot, war sofort einverstanden und diente seinen Herren gut. Man hatte nie mehr von ihm verlangt, als Pakete abzuho len oder auszuliefern, gewisse Leute zu beobachten und über sie zu be richten oder Adressen zu ermitteln. Keiner dieser Aufträge verursachte ihm moralische Bedenken oder hinderte ihn daran, seinem Lande, das er mit einer Beharrlichkeit liebte, die Frauen an ihm vermissten, treu zu bleiben. Manchmal fragte er sich, ob er nicht doch zu sehr in die Ab hängigkeit seiner ausländischen Herren geraten war; aber die Zahlun gen wurden regelmäßig auf sein Bankkonto überwiesen, und Klagen gab es nie. Im Laufe der Jahre hatte Koch festgestellt, dass er nicht für den amerikanischen, sondern den britischen Geheimdienst arbeitete, doch auch das konnte er mit seinem Gewissen leicht vereinbaren. 345
Als er den Auftrag erhielt, Oberst Pitman zu beschatten und über sein Kommen und Gehen zu berichten, erwies sich Hugo Koch als in jeder Beziehung seines Geldes wert. Was ihm an wissenschaftlichen kriminalistischen Kenntnissen fehlte, wurde durch einen außerge wöhnlichen Spürsinn mehr als aufgewogen. Er hatte jenen polizeili chen Instinkt, der ihn in einem vollbesetzten Fußballstadion eine ge stohlene Brieftasche oder aus einer Reihe von Verdächtigen auf An hieb den Täter finden ließ. Nur das Autofahren behagte ihm nicht, und der Mini, den er zum Zweck der Überwachung gemietet hatte, war nicht nach seinem Geschmack. Koch sah Oberst Pitmans Wagen nach rechts blinken, ordnete sich in die rechte Fahrspur ein. Die beiden Wa gen bogen kurz hintereinander in die Rue de Monthoux ab, dann noch einmal am Kai in Richtung Seestraße. Pitman gab ihm ein gutes Rennen, es gefiel ihm fast. Der gemietete Mini war überraschend schnell und schien bei wachsender Geschwin digkeit noch besser zu fahren; wahrscheinlich war er zu oft im Stadt verkehr benutzt worden. Koch trat das Gaspedal durch und folgte dem Jaguar in einiger Distanz. Als Oberst John Elroy Pitman auf der Autoroute seinen Herzanfall erlitt, ließ er das Steuer los. Der Wagen raste gegen die mittlere Leit planke, schleuderte die beiden Insassen ans Dach, durchschnitt das Schutzgitter wie eine Bandsäge, ließ deren Splitter in einem wahren Hagel auf die gegenüberliegende Fahrbahn prasseln. Der Jaguar drang weiter über die Rasenfläche des Mittelstreifens und schoß mit über 100 Stundenkilometern gegen die Leitplanken der äußersten linken Fahr bahn: es folgte ein ohrenbetäubender Lärm; Funkenregen sprühte auf, als der Jaguar die Planke rammte und auf die Fahrbahn zurückge worfen wurde. Die Scheiben zersplitterten, das Chassis krümmte sich. Dann platzte der rechte Vorderreifen, das Fahrzeug senkte sich nach vorn und kam erneut ins Rollen. Immer noch mit hoher Geschwin digkeit schleuderte es auf die Straßenmitte, kippte auf die Seite, dreh te sich einmal um sich selbst, rutschte unter erneutem Sprühregen von Funken und mit entsetzlichem Kreischen auf dem Dach; verstreute hinter sich Türgriffe, Scheibenwischer und Radkappen. Wie ein rie 346
siges Geschoss schlug der zertrümmerte Jaguar gegen die Leitplanke der rechten Fahrbahn, rutschte, wühlte Erd- und Grasklumpen auf, kam schließlich, während eine zischende Dampfwolke dem kochen den Kühler entwich und die eingeklemmte Hupe wie ein gefolterter Brüllaffe schrie, zum Stehen. Hinter dem Jaguar kämpfte Hugo Koch mit dem Steuer seines Mi nis, dem die Trümmerstücke entgegenflogen. Eine Radkappe knallte ihm auf die Kühlerhaube und von dort direkt in die Windschutzschei be. Koch hielt sich den Arm vors Gesicht, aber wie durch ein Wunder brach das Glas nicht, schoß die Kappe mit lautem Klimpern über das Dach. Vor ihm schnellte der Jaguar nur Zentimeter vor seinen Vorderrä dern wieder über die Fahrbahn. Als die Windschutzscheibe zerbrach, sausten ihm die Glassplitter wie eine Schneewehe entgegen. Die Wa gen stießen zusammen. Koch trat mit voller Kraft auf die Bremsen. Er schaute in seinen Rückspiegel und sah das Chaos verstreuter Trümmer hinter sich. Währenddessen raste ein Lastwagen in einen Ford Cortina, der, außer Kontrolle, über die Straße schleuderte, wobei die Reifen platzten. Auch der Lastwagen tat, was er wollte. Koch stand fast, trat mit seinem ganzen Gewicht auf das Bremspe dal. Mit quietschenden Reifen und in einer Gestankwolke nach ver branntem Gummi brachte er den Mini auf der Kriechspur zum Ste hen. Hinter ihm schlug der Lastwagen mit ohrenbetäubendem Lärm gegen die Leitplanke und schoss danach wie ein Jet im Tiefflug an ihm vorbei. Koch rannte zum Jaguar. Pitman war angeschnallt, seine Arme und Beine waren seltsam verbogen und leblos, das Gesicht blutüberströmt. Der schwergewichtige Stein war auf den Boden gesunken, hatte nur ei nen starken Schlag auf den Kopf bekommen und war bewusstlos. Koch öffnete die Türen und schleppte die beiden unbeweglichen Körper auf die Straße. Er sah Pitman an; der alte Mann war tot, aber Steins Puls schlug, obgleich er in schnellen Stößen atmete, noch ziemlich kräftig und regelmäßig. Stein stöhnte, schien wieder zu Bewusstsein zu kom men. Koch drehte ihn auf die Seite, damit er nicht Gefahr lief, sich 347
an der Zunge zu verschlucken und zu ersticken. Dann ging er zu den Trümmern des Jaguars zurück, um zu sehen, was noch zu holen war. Er mußte sich beeilen, bevor der Wagen Feuer fing. An diesem Samstagabend des 4. August wurde die Autobahn zwi schen Genf und Lausanne für vier Stunden gesperrt, bis die Räu mungsarbeiten beendet waren. Hugo Koch half nach bestem Vermö gen. Er kannte zwei der Polizisten und gab ihnen ausführlichen Be richt über den Unfall, erwähnte allerdings nicht, dass er mit den In sassen des zertrümmerten Wagens irgend etwas zu tun hatte, erwähn te auch nicht den braunen Leinenkoffer und das Paket, das er aus Pit mans Wagen geholt hatte, bevor er brannte. Hugo Koch öffnete die Pakete aus Pitmans Jaguar und rief von einer Telefonzelle aus London an. Man hatte ihm für dringliche Fälle eine Nummer gegeben. Die Zentrale des SIS verband ihn mit Stuarts Woh nung. Koch erklärte kurz, was er gesehen hatte. »Meine Befehle betrafen nur Oberst Pitman«, sagte Koch, »und der ist tot. Sein weißer Jaguar ist völlig zertrümmert und in Flammen auf gegangen, aber ich konnte Pitman vorher herausholen. Es war noch ein Mann bei ihm, ein sehr dicker Kerl. Ihrer Beschreibung nach könnte das Charles Stein sein.« »Was ist mit Stein passiert?« Koch verlor ein wenig von seiner schweizerischen Selbstbeherr schung. »Hören Sie mal, ich komme gerade von einem entsetzlichen Verkehrsunfall. Es hat viele Verletzte gegeben. Ich sah eine ganze Fa milie am Straßenrand liegen. Ich habe nicht überall zugleich sein kön nen und hatte keine Zeit für sorgfältige Detektivarbeiten. Ich weiß nicht, was mit Stein passiert ist. Als ich zurückging und ihn suchte, war er nicht mehr da.« »Schon gut, schon gut. Aber Sie haben Pitman durchsucht?« »Kreditkarten, etwas Geld, Ausweispapiere. Nichts Ungewöhnliches. Ich habe alles wieder zurückgesteckt.« »Sie haben großartige Arbeit geleistet, Hugo. Gehen Sie nach Haus und schlafen Sie ein bisschen. Sie haben Ruhe verdient.« »Das werde ich tun«, sagte Koch ohne Begeisterung. »Ich habe da 348
noch ein Paket. Der Wagen brannte, und der Kofferraum war ver schlossen, also konnte ich da nicht ran.« »Ein Paket?« »Es lag unter Oberst Pitmans Sitz. Ich dachte mir, es könnte Sie in teressieren. Eine versiegelte Plastiktasche mit einer alten Akte aus dem Krieg, mit ein paar Inventaretiketten der amerikanischen Armee. Auf der einen steht: ›Dokumente in Schreibmaschinenschrift, deutschspra chig, etwa 300 Seiten.‹ Es ist sehr alt. Da der Wagen kurz darauf aus brannte, wird niemand es vermissen. Ich hoffe, richtig gehandelt zu haben.« »Sie haben es aus Pitmans weißem Jaguar geholt?« »Ich habe einen Instinkt für Dinge, die etwas wert sind. Es lag in Reichweite, aber trotzdem versteckt – das ist für gewöhnlich ein Zei chen dafür, dass es sich um etwas Wertvolles handelt. Wäre es auf dem Hintersitz gewesen, so hätte ich mir darum nicht den Arm verbrannt.« Koch gähnte. »Soll ich es Ihnen schicken? Ich habe es nicht geöffnet.« »Lassen Sie es versiegelt und hüten Sie es wie Ihren Augapfel, Koch. Ich nehme morgen das erste Flugzeug und komme direkt zu Ihnen in die Wohnung. Gehen Sie inzwischen nicht aus dem Haus, nicht ein mal, um Zigaretten zu holen, verstanden?« »Ich rauche nicht«, sagte Koch.
Boyd Stuart notierte die Zeit des Anrufs, erstattete dem diensthaben den Beamten einen etwas kryptischen Bericht und bat ihn, die SISStelle in Los Angeles zu benachrichtigen, dass der Kontakt mit Stein unterbrochen sei. Es gab immer noch eine Chance, dass er früher oder später auf dem internationalen Flughafen von Los Angeles auftauchen würde. Er bat auch den diensthabenden Beamten, ihm einen Platz im ersten Flugzeug nach Genf zu buchen. Danach stellte er den Wecker ein und kehrte zu Kitty King ins Bett zurück. »Wer war das?« fragte sie und griff schläfrig nach ihm. »Falsche Verbindung.« 349
»Lügner!« »Es war das Mädchen von oben. Sie bat mich, ihr beim Reißver schlussöffnen zu helfen.« »Du Schweinehund.« Sie gackerte, als sie sich umschlangen. »Hör auf! Du hast kalte Hände!«
Obgleich Stuart den ersten Flug aus London genommen hatte, traf er erst gegen Mittag, Sonntag, den 5. August, vor Hugos Wohnungstür in Genf ein und klingelte. Koch wohnte im zweiten Stock eines Häu serblocks, in dem sonst nur Zahnärzte und Rechtsanwälte lebten. Die Wohnungen waren geräumig und dienten zugleich als Wohnstatt und Praxis. Die Straße war fast menschenleer. Die äußere Tür mit dem Na men Hugo Koch auf einem schwarzen Plastikschild war unverschlos sen. Als Stuart sie aufstieß, ertönte im Flur ein Summer. Hugo Koch erschien mit einem Geschirrtuch, an dem er sich die Hände trockne te. »Mein Name ist Stuart. Aus London.« »Koch, Hugo Koch. Ich habe die Meldung erhalten. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« In dem Zimmer, das Koch als Büro benutzte, stand ein Tablett mit geblümten Tassen und Tellern, Leinenservietten, einem Krug Sahne und einigen Schokoladenbiskuits in geometrischer Ordnung auf einem Teller mit Spitzendeckchen bereit. Koch schien sich große Mühe gege ben zu haben, diesem kleinen Imbiss ein festliches Aussehen zu verlei hen, denn alles andere im Zimmer wirkte schmucklos, wenn nicht gar schäbig. Die Bürostühle waren reparaturbedürftig, die Tapete sah ver blichen und alt aus. An der Wand hingen das gerahmte Aquarell einer Alpenlandschaft und der Reklamekalender einer Uhrenfirma. Auf den Metallregalen, die eine ganze Wand des großen Zimmers einnahmen, lagen Stapel von Dokumenten und alten Zeitungen. Die alte Wanduhr schwieg und zeigte beharrlich zwölf Uhr an. Koch kam mit einer blau en Kaffeekanne aus Porzellan aus der Küche. 350
»Sind Sie bei dem Unfall mit heiler Haut davongekommen?« erkun digte sich Stuart höflich, während er sich etwas Sahne in den Kaffee goss. »Ein ganzes Jahr lang hab' ich Streifenwagen gefahren«, sagte Koch. »Ich fahre nie zu nahe an den Vordermann heran.« »Darf ich die Dokumente sehen? – Hmm, der Kaffee ist aber gut.« »Die sind bereits nach London unterwegs.« »Was?« »Er war vor sieben hier. Zum Glück bin ich ein Frühaufsteher. Ich saß gerade beim Frühstück.« »Aber ich habe doch den ersten Flug genommen.« Koch zuckte die Schultern. »Es gibt auch andere Wege – Privatflug zeuge, Militärflugzeuge.« »Wer war das?« »Ein alter Herr, sehr groß, mit langem Haar bis über die Ohren. Er sagte, sein Name sei Ryden, aber das hat in diesem Geschäft nicht viel zu bedeuten.« Koch lächelte, um anzudeuten, dass er auch ›Boyd Stu art‹ für einen falschen Namen hielt. »Ich habe in London nachgefragt, und man bestätigte mir, dass alles in Ordnung sei. Er hat die Quittung unterschrieben. Ich versichere Ihnen, es war völlig in Ordnung.« »Ryden?« »Hörgerät im rechten Ohr. Es sitzt nicht richtig, er muß es immer wieder einpassen. Zu alt für diese Art von Arbeit, wenn Sie mich fra gen; aber vielleicht taugt er noch für Botengänge.« »Ja«, sagte Stuart und hielt fest, dass Koch auch ihn für einen ge wöhnlichen Botengänger hielt. Fernes Glockengeläut drang durch die stillen Straßen. »Sonst ist also nichts?« »Sonst ist nichts«, sagte Koch. »Tut mir leid, ich konnte Sie nicht mehr erreichen, als der Alte hier ankam. Nehmen Sie einen Schokola denkeks.« »Danke«, sagte Stuart. Sein Schwiegervater hatte also die Bandauf nahme seines Telefongesprächs gehört und war ihm zuvorgekommen. Dieser alte Fuchs scheute vor keiner Lüge noch Täuschung zurück. 351
Koch hatte keine Ahnung, dass sein ›Botengänger‹ in Wirklichkeit ›Su peragent Nummer eins‹, der GD in Person, war. Stuart blickte sich im Zimmer um. Er kannte das Leben ortsansässi ger Agenten und beneidete Koch nicht. Hinter dem Schreibtisch stand die Küchentür offen, Stuart konnte hineinsehen. Ein Spültisch voller schmutziger Pfannen und Teller. Er sah die geblümte Tasse, aus der der GD zweifellos seinen Morgenkaffee getrunken hatte. Auf dem Kü chentisch: ein Paket Birchermüsli, eine große Familienpackung Nes café, daneben ein kleiner, brauner Leinenkoffer, dessen Inhalt dar über aufgeschichtet war. Zwei Hemden in Plastikhüllen, Herrenun terwäsche, eine Sonnenbrille und eine Packung Roger-&-Gallet-Seife mit Sandelholzduft. Stuart fragte sich, ob Koch kleine Reisevorberei tungen traf, fand es aber seltsam, dass er nur neue Hemden mitnahm und eine so teure Seife benutzte. Allerdings wusste Stuart seit langem, dass selbst die gewöhnlichsten Menschen manchmal überraschende Schwächen zeigten. Natürlich konnte Stuart nicht wissen, dass dieser unerforschliche Mann soeben in den Besitz von Hoffmann-La-Roche-Inhaberaktien im Werte von über zwei Millionen Dollar gelangt war, ganz zu schwei gen von einem sehr nützlichen brasilianischen Pass, mit dessen Hilfe ein Mann, den er kannte, ihm eine neue Identität verschaffen konnte. »Noch etwas Kaffee?« fragte Hugo Koch beflissen. »Ich finde manch mal, dass ich für diesen Job allmählich zu alt werde. Geht Ihnen das auch so?« »Fast jeden Tag«, sagte Boyd Stuart.
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bgleich Steins Unfallverletzungen nur äußerlich zu sein schienen, erholte er sich von der Gehirnerschütterung, die er beim Auf schlagen des Kopfes gegen das Dach des Jaguars erlitten hatte, nie mehr ganz. Seine Augen nahmen zwar immer noch die Welt von 1979 wahr, sein Geist aber registrierte nur Erinnerungen, Ängste und Träu me aus längst vergangenen Zeiten. Er begann, das Bewusstsein wiederzuerlangen, als Koch sich ent fernte, blickte auf die brennenden Trümmer von Oberst Pitmans Jagu ar und die Leiche neben sich, sah aber nur den brennenden Jeep unter afrikanischem Himmel. »Aram«, rief Stein, »Major Carson ist tot. Bleib, wo du bist, ich kom me, Aram.« Langsam rappelte er sich auf die Beine. Die Polizei war in zwischen eingetroffen, war aber zu sehr mit dem Absperren der Un fallstätte und der Umleitung des Verkehrs beschäftigt, um sich Steins annehmen zu können. Benommen und verwirrt lief Stein die Autobahn entlang, starrte verständnislos auf den vorüberfahrenden Verkehr, rief von Zeit zu Zeit nach seinem Bruder. Ein Autofahrer, der am Unfallort vorbeigekom men war, bremste und hielt vor Stein. »Flughafen«, sagte Stein und wiederholte es wohl ein Dutzend Mal. Da die Autoroute am Flugha fen vorbeiführt, brachte dieser barmherzige Samariter Stein bis dort hin und setzte ihn vor der Flughalle ab. Stein stieg taumelnd aus dem Wagen, murmelte: »Vielen Dank, Herr Oberst.« Der Steinschen Widerstandskraft und der Gleichgültigkeit, mit der die Fluglinien ihre Passagiere abfertigen, war es zuzuschreiben, dass es ihm gelang, ein Flugbillett erster Klasse nach Los Angeles zu lö sen. Vielleicht hätte das Schalterpersonal ihm mehr Aufmerksamkeit 353
schenken sollen; aber heutzutage fallen zerzauste Passagiere in den Lu xusklassen der Flugzeuge nicht mehr auf. An diesem Samstagabend drängten sich zahlreiche Reisegruppen an den Schaltern, so dass dem Abfertigungspersonal Steins Ausse hen nicht besonders auffiel. Max Breslow aber, der gerade bei der Bank Geld gewechselt hatte, sah ihn. Er rief sofort in Chicago an. »Sind Sie Edward Parker?« fragte Breslow den Mann am Telefon und ignorierte dessen Frage, wer er denn sei. Dieser Mann war ein Freund oder Kollege Kleibers; je weniger er über Breslow wusste, desto bes ser. »Mein Name spielt keine Rolle. Ich rufe von Genf in der Schweiz aus im Auftrag unseres gemeinsamen Freundes Wilhelm an. Verste hen Sie mich?« »Ich verstehe Sie«, sagte Parker. »Hier ist alles schiefgelaufen. Es ist eine Katastrophe! Ich bezweif le, dass Sie unseren Freund Wilhelm in nächster Zeit wieder sehen werden, er hat Schwierigkeiten mit der Polizei. Eben sah ich Mr. Stein durch die Passkontrolle gehen, er wird mit ziemlicher Sicherheit die direkte Route nach Los Angeles nehmen. Vielleicht hat er die Doku mente bei sich, aber er trug keinen Koffer. Haben Sie das alles verstan den, Mr. Parker?« In Chicago war es Samstagnachmittag. Parker saß an seinem Schreib tisch, kaute an einem längst kalt gewordenen Schinken- und Käsetoast. Er hatte sofort erraten, dass der Anrufer Breslow war, fingerte an sei ner Schreibtischuhr, berechnete rasch die Flugzeit von Chicago nach Los Angeles und von der Schweiz nach Kalifornien. »Ja, ich habe Sie verstanden«, sagte er. »Gehen Sie durch den Zoll und versichern Sie sich, dass Stein an Bord geht, ja? Ich werde dafür sorgen, dass ihn je mand in Los Angeles erwartet. Rufen Sie mich nur wieder an, falls er diesen Flug nicht nimmt. Würden Sie das für mich tun?« Parker hatte sich die amerikanische Gewohnheit zugelegt, Befehle wie höfliche Fra gen klingen zu lassen. »Ja«, sagte Breslow widerwillig. Edward Parker fühlte sich ebenfalls sehr unbehaglich. Er trank sei nen Kaffee, ohne ihn zu schmecken, blickte nach wie vor auf die ver 354
goldete Schreibtischuhr. Er würde in Los Angeles Hilfe brauchen. Der einzige Mann, den er dort einsetzen konnte, hieß Rocky Ramón Paz, war ein hünenhafter ehemaliger Ringkämpfer, der sich mit Parkers fi nanzieller Hilfe ein bisschen Geld im Gebrauchtwagenhandel verdient hatte. Parker standen überall und stets auf Anhieb Muskelmänner zur Verfügung. Nur war Rocky Paz nicht sehr helle, und da Parker wusste, dass Direktflüge nach Los Angeles bei Zoll und Passkontrolle beson ders überwacht wurden, bedeutete dies unvermeidlicherweise die An wesenheit des FBI, oft auch des CIA. Parker wählte Paz' Nummer, doch bevor die Verbindung hergestellt war, hängte er plötzlich wieder auf. Er erinnerte sich, in den letzten Berichten gelesen zu haben, dass die Engländer ihre Leute ständig auf dem internationalen Flughafen von Los Angeles abgestellt hatten. Ver dammt! Es war riskant; aber falls Stein mit den Hitler-Protokollen un ter dem Arm herumlief, war es jedes Risiko wert, ihn abzufangen. Und da war das neugemietete Haus in Beverly Hills ein idealer Ort, um Stein unterzubringen und von Paz und seinen Leuten bearbeiten zu lassen. Parker blickte zum hundertsten Mal auf die Uhr und wählte er neut Paz' Nummer.
Im Sommer ist es in Los Angeles so trocken und staubig wie in den klei nen Wüstenstädten des Hinterlands, doch Beverly Hills liegt wie eine Oase inmitten der grauen Stadtsteinwüste in einem wahren Dschungel üppig wachsender Bäume und heller, grüner Rasenflächen. Man fühlt sich in eine unwirkliche Welt versetzt. Bronwyn heißt eine große Villa, umgeben von einer fast zwei Meter hohen Mauer und einem Garten. Der geheizte Swimming-pool ist von hellem Blau, mit Sprungbrettern, Leitern und so sauberen Fliesen, dass er aussieht, als gehöre er zu einer Privatklinik. Das Haus selbst wur de allerdings in den frühen dreißiger Jahren erbaut und ist damit weit und breit das älteste Bauwerk. Gemäß dem damaligen anglophilen Ge schmack dienten ihm Fotos eines elisabethanischen Herrenhauses in 355
Essey als Vorlage. Aber leider schien der Architekt nie in England ge wesen zu sein, hatte es scheinbar keine Fotos von den seitlichen und der hinteren Fassade gegeben; denn der Teil Bronwyns, der dem Swim ming-pool gegenüberlag, war reinster spanischer Hollywoodstil. Die Kreuzgänge aus Stuck waren mit hellroten, gemusterten Kachelfliesen geschmückt. Es gab riesige Porzellantöpfe mit blühenden rosa Kameli en, blutroten Bougainvilleasträuchern und goldenen Chrysanthemen. All das spiegelte sich im Wasser des Schwimmbeckens. Es herrsch te eine unheimliche Stille, bis plötzlich ein Hund auf der anderen Sei te des Hauses anschlug und eine fluchende spanische Stimme ihn zum Schweigen zu bringen versuchte. Boyd Stuart fühlte sein Selbstvertrau en schwinden, als er die hintere Hausfront durch einen schmalen Spalt zwischen der Mauer und dem fauligen Holz des Hintereingangs be obachtet. An die Tür war ein Schild geheftet: Lieferungen werden nur von Montag bis Freitag zwischen acht und elf Uhr entgegengenomme ne Stuart trug einen blauen Overall, bemühte sich, wie ein Gärtnerge hilfe auszusehen, knipste hie und da mit einer Schere an den bereits säuberlich zugeschnittenen Hecken herum. Bei näherem Hinschauen hätte man allerdings bemerkt, dass es keine Gärtnerschere, sondern eine viel schwerere, schärfere Zange war, deren sich Pioniertrupps be dienen, um Drahtverhaue zu durchschneiden. Boyd Stuart bückte sich, als wolle er die Wurzeln der Hecke untersuchen, und setzte die Zan ge an die Riegelkette der Tür an. Sie brach mit einem leichten Knak ken auf. Im Haus wurde etwas gerufen. Ein Mädchen im knappen zweitei ligen Badeanzug trat durch die Küchentür, klein, flink, mit glänzen dem, schwarzem Haar und kupferner Sonnenbräune, die gut zu ihrem gelben Badeanzug passte. Sie drehte den Heißwasserhahn auf, und das kochende Wasser sprudelte wie in einem Hexenkessel. Aufs neue rief eine Männerstimme aus dem Hausinneren, erkundigte sich nach dem heißen Wasser. Das Mädchen antwortete nicht. Der Mann trat aus dem Haus und stand, fast verborgen, hinter den voluminösen Blumen töpfen. Er war kräftig, breitschultrig, mußte über einen Meter achtzig messen, Brust und Arme behaart, mit öligem, schwarzem Haar, das et 356
was zu lang war und sich an den Enden kringelte. »Es muß immer je mand oben sein«, sagte Rocky Paz ärgerlich. »Geh du doch«, sagte das Mädchen. »Du steckst immer im Pool. Wir sind nicht deine Diener.« »Du Hure«, schrie der Mann. »Du Schlappschwanz«, rief das Mädchen zurück, griff jedoch nach einem Bademantel und zog ihn sich über. »Aber nur für eine Stunde«, sagte sie. »Dann muß ich zum Rodeo Drive. Bin beim Friseur ange meldet.« »Beim Friseur angemeldet«, sagte der Mann, rieb sich die Brust und warf den Kopf verächtlich zurück. »Glaubst du, das ist hier 'ne Garten party?« Das Mädchen schob sich an ihm vorbei und ging ins Haus, der Mann folgte ihr seufzend. »Du brauchst nicht gleich schlecht gelaunt zu wer den«, hörte Stuart ihn sagen, als er drinnen verschwand. Stuart stieß die Tür auf, trat in den Garten, blickte sich noch einmal rasch um, ver gewisserte sich, dass niemand auf der Straße war, spähte zum oberen Fenster der Villa hinauf, rannte dann mit gesenktem Kopf auf das Ge büsch zu. Boyd Stuart versteckte sich hinter einem hölzernen Alkoven, der zum Essen im Freien diente. Ein großer Tisch mit Glasplatte stand dort, desgleichen ein Dutzend Metallstühle, deren bunte Plastiksitz kissen in der Ecke gestapelt waren. Er zog sich den blauen Overall aus und legte ihn ins Gebüsch. Nur sein Atem war noch zu vernehmen, im Haus herrschte völlige Stille. Diese Essnische lag in bequemer Nähe zur Küche, durch die man direkt ins Hausinnere gelangte. Stuart trat ein. Die Klimaanlage war eingeschaltet, die Luft kühl. Im Haus war es dunkel. Eine breite Eichentreppe mit geschnitzten Rosen am Geländer führte nach oben. Stuart eilte hinauf, sah ein Licht. Oben angekommen, rief ihm eine Männerstimme gelassen zu: »Stehenbleiben, Freundchen, oder ich knalle dich in Stücke.« Stuart drehte sich um und hatte einen Mann vor sich, dem er noch nie begegnet war; von gleicher Größe wie jener, den er am Pool sah, 357
aber zehn Jahre älter – ein muskulöser Kerl mit hohen Backenkno chen und gewelltem Grauaar. Er trug einen einreihigen grauen Flanel lanzug, in der Hand eine 38er Pistole: Boyd Stuarts erste Begegnung mit Edward Parker. »Wer sind Sie?« fragte Parker. »Das werde ich Ihnen sagen«, erwiderte Stuart mit gespielter Wut, »der Hausbesitzer, verdammt noch mal, wenn Sie es genau wissen wol len.« Eine gewagte Improvisation, die aber zu wirken schien, las er von Parkers Gesicht ab. »Stecken Sie also gefälligst Ihr verdammtes Schieß eisen ein, oder ich lasse Sie rausschmeißen.« Stuarts englischer Akzent half, die Täuschung glaubwürdig zu machen, dies und sein offenbares Selbstvertrauen, dem keinerlei Angst anzumerken war. »Hausbesitzer?« Stuart verstand selbst nicht, wie er so ruhig und berechnend bleiben konnte, während man ihn mit Waffen bedrohte. Aber das war schon bei der Schießerei im Autobusdepot in Turin so gewesen; und als ihn die Ungarn beim Durchkriechen des Stacheldrahtverhaus an der Grenze im Scheinwerferlicht hatten – ganz zu schweigen von seiner abenteu erlichen Flucht vor der Polizei in Rostock. »Jawohl, der Hausbesitzer«, sagte Stuart. »Wie Sie wissen, habe ich den Mietvertrag noch nicht un terschrieben, oder hat Ihr Anwalt vergessen, es Ihnen zu sagen?« Parker runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, wen er mit dem Mieten dieses Hauses beauftragte, was es mit dem Mietvertrag für eine Bewandtnis hatte. Stuart gestikulierte wütend, fuchtelte mit den Händen, schüttelte den Kopf. Jetzt mußte er nur noch den richtigen Augenblick abpassen. Die Pistole war, als er näher kam, noch immer auf ihn gerichtet. Je nä her man einer solchen Waffe ist, desto besser sind die Chancen, vor ausgesetzt, dass man gut trainiert ist; denn wenn die Pistole den Kör per berührt, kann man sie leichter wegschlagen, noch bevor der ande re den Abzug betätigt. »Hören Sie mich?« sagte Stuart und kam immer näher. »Ich bin der Hausbesitzer und kein Einbrecher. Stecken Sie das verdammte Ding weg.« Das ist wahrscheinlich das äußerste, was ich bei dem hier er 358
reiche, befand Stuart. Parker konnte sich jeden Augenblick versteifen, Argwohn schöpfen, dann war der gewonnene Vorteil wieder verloren. Stuart wählte seinen Augenblick gut: mit einer Geste der Rechten, die noch etwas aufgeregter als die vorigen schien, schlug er Parker plötz lich aufs Handgelenk, während die Linke den Pistolenlauf packte und hart umdrehte. Parkers Finger klemmten im Abzugsbügel; Stuart ver drehte ihm den Arm mit solcher Wucht, dass Parker der Handgelenk muskel riß und er vor Schmerzen aufschrie. Jetzt hatte Stuart die Pi stole in der Linken. Während Parker noch nach Luft schnappte, schlug Stuart ihm den Kolben über den Schädel, wobei er ihm einen klei nen Fleischfetzen vom Ohr riß. Dieser Schlag hätte die meisten umge legt, aber Parker verfügte über außergewöhnliche Kraft. Trotz seiner Schmerzen kämpfte er weiter, senkte den Kopf und rammte ihn Stuart in die Brust. Es war, wie wenn ein Bulldozer gegen eine Schaufel prall te. Stuart stöhnte vor Schmerzen auf, hielt aber die Pistole noch in der Faust, als Parker ihn bärengleich umklammerte und ihm die Luft aus der Lunge presste. Die beiden Männer stolperten auf dem Treppenabsatz blindlings wie ein zerbrochenes mechanisches Spielzeug herum. Stuart fühlte seine Kräfte weichen und rang um Atem, schlug wild mit den Füßen um sich. Ruhe und Beherrschung hatte er verloren, geriet allmählich in Panik, warf sich mit voller Kraft hin und her, versuchte verzweifelt, sich aus dem Bärengriff, der ihm das Gehirn zu lähmen schien, zu be freien. Er war am Ende seiner Kräfte, als Parker die Stufe am Treppen absatz verfehlte. Beide, immer noch in der Umarmung verklammert, stürzten die Treppe hinunter, rollten über die Stufen – mit Armen und Beinen fuchtelnd, mit den Ellenbogen, Knien und Köpfen an das Ge länder schlagend, vergeblich nach Halt suchend. Stuarts Glück, dass Parker mit dem Kopf hart genug auf eine der ge schnitzten Rosen aufschlug, um die hölzernen Blütenblätter zu zerbre chen und das Bewußtsein zu verlieren. Stuart brauchte einen Augen blick, um wieder richtig stehen zu können, dann schleppte er sich mit bleischweren Schritten zum oberen Treppenabsatz hinauf. »Wer ist da?« Es war Steins Stimme. Er hatte den Lärm gehört. 359
»Stuart, der Engländer«, rief ihm Stuart zu. »Treten Sie von der Tür weg.« Er setzte den Fuß auf, stützte sich mit der flachen Hand an der Wand hinter sich ab, trat mit aller Wucht den Türrahmen ein. Das Holz zersplitterte, und die Reste des Schlosses hingen aus dem Rah men. Charles Stein war in Unterhosen. Man hatte ihn mit einer Nylonwä scheleine auf einen Stuhl gefesselt, aber es war ihm gelungen, den brei ten Klebestreifen über seinem Gesicht zu lockern und den Knebel aus zuspucken. Eine schwache Glühbirne beleuchtete das Zimmer. Stuart griff in die Tasche, holte das Schweizer Armeetaschenmesser heraus und schnitt das Nylonseil durch. Stein blieb sitzen, rieb sich die Fußgelenke, die von den Fesseln eingeschnürt waren. »Wer sind diese Schweine?« fragte Stein. »Sie arbeiten für die Russen«, sagte Stuart. »Können Sie gehen? Wir müssen hier raus, es sind noch mehr von ihnen da.« Stein rieb sich die Hand- und Fußgelenke, bis das Blut wieder eini germaßen zirkulierte. Er blickte auf die Pistole in Stuarts Hand. »Ha ben Sie einen von ihnen erschossen?« »Noch nicht«, sagte Stuart und half ihm auf. »Ich schaffe es schon«, sagte Stein. »Gehen Sie voraus. Vor dem Haus wartet ein Wagen.« Stuart schau te auf die Uhr. »Vielleicht ist er noch nicht da, aber er muß in zwei Mi nuten hier sein. Ein hellgrüner Cadillac. Steigen Sie ein und warten Sie auf mich.« Stein humpelte die Treppe hinunter, hielt sich am Geländer fest, krümmte sich vor Schmerzen. Als er den bewußtlosen Parker am Fuße der Treppe sah, stieg er behutsam über ihn hinweg. »Gehen Sie nur«, rief ihm Stuart nach. Er blickte in alle Zimmer. Sie waren leer. Dann ging er hinunter, gelangte in die Eingangshalle, öff nete die Tür zum Wohnzimmer und zu der darunterliegenden Küche. Im Wohnzimmer fand er seinen Überwachungsoffizier und das Mäd chen im Bademantel. Sie stand ziemlich trostlos in der Mitte des Zim mers, während der ÜO sie mit einer Pistole in Schach hielt. »Alles klar da oben?« fragte der ÜO. 360
»Scheint soweit in Ordnung zu sein«, sagte Stuart. »Stein ist benom men, aber er kann gehen. Der große Grauhaarige ist außer Gefecht.« »Ich hörte Sie mit ihm die Treppe herunterkommen.« »Danke für Ihre Hilfe«, sagte Stuart verbittert. »Sie kamen ganz gut ohne mich aus.« Stuart fuhr sich über sein zerschundenes Gesicht. »Hauen wir ab.« Das Mädchen wickelte sich enger in seinen Bademantel und zog am Gürtel. »Wo ist der andere?« fragte Stuart. »Einer meiner Leute kümmert sich in der Küche um ihn«, sagte der ÜO. »Saubere Arbeit«, sagte Stuart. Das Unternehmen war gut gelaufen. Von der 24stündigen Wache am Flughafen bis zum Augenblick, da sie Rocky Paz beim Entführen Steins gesehen hatten, als dieser aus der Gepäckausgabe kam, lief es geradezu beispielhaft. Aber vielleicht führ te Stuart das Schicksal in Versuchung; denn kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als er zwei Schüsse und einen Schmerzensschrei hörte. Wie auf ein Zeichen hin rannte das Mädchen zur Tür. Der ÜO feuer te, aber die Kugel schlug von der Eichenholztäfelung der Decke in der Eingangshalle zurück. Stuart rannte zur Eingangstür, um sich zu vergewissern, dass Stein im Wagen war; aber er war nirgends zu sehen. Parker lag auch nicht mehr auf dem Fußboden. Zwei Kugeln pfiffen an Stuarts Kopf vorbei. Er drehte sich um, nahm Parkers Pistole, schoß auf den oberen Trep penabsatz, von wo die Schüsse gekommen waren. Jemand hatte das Neonlicht in der Küche ausgeschaltet. Das Inne re des Hauses lag, da alle Fensterläden geschlossen waren, in völliges Dunkel gehüllt. Zwei weitere Schüsse krachten, ihnen folgten sehr ra sche Schritte auf der Treppe. Der Riese mit dem Ringelhaar rannte vorbei, lud seine Pistole nach, trat die innere Tür auf, die mit einem Knall gegen die Wand schlug. Das einströmende Tageslicht erhellte die Halle wie ein Blitzlicht. Stuart sah nun die volle Szene durch den Türrahmen: das unnatürliche Blau des Swimmingpool-Wassers hob sich wie ein riesiger, durchsichtiger Glaswürfel vom dunklen Grün des Gartens und den bunten Blumen vor dem Haus ab. Der ÜO war durch 361
die Küche gekommen und rannte am Pool entlang, während der Mann auf ihn zielte. Da gab's kein Überlegen: Stuart hob die Pistole und feuerte fast auto matisch. Der Mann mit dem Ringelhaar im Türrahmen war zu nahe, um verfehlt zu werden. Die Kugel schlug ihm das Schulterblatt ent zwei, wie Stuart es beabsichtigt hatte. Seine Waffe ging los und ließ auf der Wasseroberfläche tausend Spritzer aufsprühen. Der Mann schrie und schrie immer noch, nachdem er taumelnd in das siedendheiße Wasser der Dusche stürzte. Stuart lief auf den Patio zu. Der ÜO hatte sich nach den Schüssen umgedreht. »Nehmen Sie den Wagen«, rief er Stuart zu, während er die Tür des schmucken Teehäuschens am anderen Ende des Gartens ein trat, um ganz sicher zu sein, dass Stein nicht dort war. Vor dem Haus hörte Stuart den Cadillac ankommen, rannte auf ihn zu und sprang hinein. Der Fahrer trat nervös aufs Gaspedal. Stu art stieß ihn beiseite, setzte sich ans Steuer. »Herrgott, so eine Besche rung«, sagte der Fahrer. »Ausgerechnet in Beverly Hills, wo es von Bul len nur so wimmelt. Sie werden in Schwärmen über uns herfallen.« Im Moment, da sich der Wagen in Bewegung setzte, schloss sich vor ihnen das Doppeltor. Stuart hatte es sich, als er während einer halben Stunde den Gärtner spielte, genau von draußen angesehen; es wurde fernbedient, war mit Stahlplanken verstärkt und oben mit Stacheldraht versehen. »Halten Sie sich fest«, brüllte Stuart und ließ den Motor auf heulen, »wir müssen es einrennen.« Er schaltete den Rückwärtsgang ein, trat das Gas durch. Der Cadillac schoß zurück. Bevor er bremsen konnte, hatte das Wagenheck die Treibhauswand durchbrochen. In ei nem ohrenbetäubenden Lärm von zersplitterndem Glas und umstür zenden Regalen, Blumentöpfen und aufwirbelnder Erde landete ein großer Pflanzentopf auf dem Dach des Cadillacs und ließ Erde und Setzlinge über die Windschutzscheibe rieseln. Stuart schaltete in den Vorwärtsgang zurück, aber die Stoßstange hatte sich im Gitterwerk verfangen. Endlich löste sie sich mit einem Knall, und der Wagen ra ste immer schneller voran, bis er mit klirrendem Glockenklang an das Tor prallte. Unter der Wucht zersplitterten die Planken, der Rahmen 362
krümmte sich nach oben, verfing sich im Stacheldraht und die Angeln quietschten. Jetzt waren sie durch. Stuart warf das Steuer herum, wäh rend der Wagen auf dem Gras schleuderte und schließlich auf die Stra ße gelangte. Irgend etwas mußte sich unter dem Wagen eingeklemmt haben, ratterte laut, brach dann los. Sie hatten es geschafft.
»Wir haben deinen Paps verloren«, sagte Stuart zu Billy Stein. »Was zum Teufel soll das heißen – Sie haben ihn verloren?« Die drei Männer saßen im Wohnzimmer des Steinschen Hauses. Der ÜO hatte es sich in einem Sessel am Fenster bequem gemacht und war scheinbar nur damit beschäftigt, die schöne Aussicht auf die Stadt zu genießen. Ohne sich umzudrehen sagte er: »Ihr Paps war im Unter zeug – hellblaue Shorts und ein Unterhemd –, und als er aus dem Haus kam, trug er ein Handtuch um den Hals. Wir dachten, er joggte.« »Sie dachten, er joggte!« sagte Billy Stein, »und dabei redet ihr von Schüssen und schreienden Mädchen. Ihr habt den Wagen kaputtgefah ren und das Tor eingedroschen. Und jetzt erzählen Sie mir, Sie dach ten, mein Vater joggte! Sie hatten mir doch versprochen, dass Sie ihn retten würden.« »Wir haben ihn auch gerettet«, sagte der ÜO, »aber er ist über den Zaun geklettert und kam über den Rasen des Nachbarhauses heraus.« »Donnerwetter«, sagte Billy Stein. »Das müssen Sie dem Alten schon lassen: Gehirnerschütterung bei einem schweren Unfall, von den Rus sen entführt, gefesselt und gefangen, bis Sie ihn retteten – und dann läuft er einfach in Unterhosen davon.« »Wir haben dir alles so ausführlich erzählt«, sagte Stuart, »weil wir wissen müssen, wohin er möglicherweise gegangen ist.« Billy Stein lächelte. »Hierher wird er nicht kommen. Er ist nicht so blöde, ausgerechnet hierher zu kommen, wo ihr ihn erwartet.« »Hat er irgendwo eine Wohnung?« »Sie meinen das, was die Boulevardpresse ein Liebesnest nennt? Nein, das ist nicht seine Art. Mein Paps wäre nie so diskret oder aus 363
schweifend. Wenn er irgendeine Affäre hätte, würde er das Mädchen hier ins Haus bringen. Diese Möglichkeit können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen.« »Clubs?« Billy Stein schüttelte den Kopf. »Nur sein wöchentliches Poker spiel.« »Wir werden einen unserer Leute hier im Haus lassen«, sagte Stu art. »Bitte sehr«, sagte Billy Stein, »zu essen und zu trinken gibt's reich lich.« Er blickte Stuart an und fuhr dann fort: »Stimmt das tatsächlich mit den Russen? Haben sie ihn wirklich gekidnappt?« »Dein Paps wird dir alles erzählen, wenn wir ihn gefunden haben«, erwiderte Stuart. Billy Stein fühlte sich durch Stuarts freundlichen Ton ermutigt und fragte: »Die Sache in London war doch ein abgekartetes Spiel, nicht wahr, Mr. Stuart? Ihre Leute wussten doch, dass ich niemanden um gebracht habe?« Der ÜO drehte sich um, wollte sehen, wie Stuart diese Frage beant wortete. »So war es«, sagte Stuart. »Aber wir könnten dir den Mord anhän gen, falls du nicht mit uns zusammenarbeitest.« »Das werde ich tun«, sagte Billy. »Ich wollte ja nur zwischen uns bei den Klarheit schaffen.« Er schaute auf die Uhr. »Darf ich jetzt Mary Breslow anrufen?« »Sie haben doch schon heute früh mit ihr telefoniert«, sagte der ÜO. Stuart nickte einwilligend. »Aber Billy – nichts über deinen Paps oder die Mordanklage in London! Nur nette Unverbindlichkeiten, ver standen?« »Klar«, sagte Billy. »Wussten Sie, dass Breslow Nazi war?« fragte der ÜO. »Sie reden wie mein Paps«, antwortete Billy. »Gehören Sie auch zu den Leuten, die immer noch Krieg spielen?« »Geh und mach deinen Anruf«, sagte Stuart, »vergiß aber nicht, dass der Mann im Vestibül mithört.« 364
»Sie sind viel zu weich mit dem Jungen«, sagte der ÜO, nachdem Bil ly gegangen war. »Ich finde ihn recht vernünftig«, sagte Stuart. »Kein Gejammer, kei ne Wutanfälle, keine vorwitzigen Bemerkungen. Sogar als ich zugab, dass wir ihn in London beschützt haben, war er mir fast noch dank bar dafür.« »Reiche Gören«, sagte der ÜO, »sind alle so.« »Tatsächlich?« erwiderte Stuart. »Dann will ich hoffen, noch mehr von der Sorte kennen zu lernen.« Der ÜO erhob sich aus Charles Steins Lieblingssessel, nahm seine Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine neue am Stummel der al ten an. »Kettenraucher«, bemerkte er. »Widert Sie das nicht an?« Stu art antwortete nicht. »Mich nämlich ja.« Er drückte den Stummel mit unnötiger Heftigkeit im Aschenbecher aus. »Na schön, bin ich also zu hart mit dem Jungen. Sie haben recht – er geht in Ordnung.« Er setzte sich wieder, sah der untergehenden Sonne zu. Als es im Zimmer dunkler geworden war, sagte er: »Sie waren doch einer von denen, die vor etwa zwei Jahren unsere beiden Agenten aus Rostock rausgeholt haben?« Es verstieß gegen die Regeln, derartige Dinge zur Sprache zu brin gen, aber die beiden kannten sich jetzt gut genug. »Das war eine schöne Scheiße«, sagte Stuart. Er konnte sich nur noch erinnern, bei seiner Rückkehr nach London Jennifers Bettgenossen vorgefunden zu haben. »Wie ich hörte, haben Sie einen Orden dafür bekommen«, sagte der ÜO. »Nicht einmal bezahlten Urlaub.« »Den einen kannte ich. Einen kleinen Berliner mit schrillem Lachen. Trug immer 'ne Messerklinge im Hut. In den fünfziger Jahren, als sie eine unserer Organisationen auffliegen ließen, floh er aus einem Ge fängnis in Leipzig.« »Ich kann mich noch gut an ihn erinnern«, sagte Stuart. Die beiden Männer, die er gerettet hatte, waren alte Profis und arbeiteten schon viele Jahre für London. Wären sie jünger und kräftiger gewesen, hät 365
te er sie vielleicht sich selbst überlassen; aber ihretwegen durchbrach er alle Sperren, um sie in Sicherheit zu bringen. Wenn er jetzt daran zu rückdachte, fragte er sich, ob es nicht heller Wahnsinn gewesen war. »Sie waren damals der große Held der Abteilung«, sagte der ÜO. »Ei nige unserer Leute in der DDR hätten Sie am liebsten heiliggespro chen.« Stuart lachte: »Um heiliggesprochen zu werden, muß man tot sein.« »Ich hatte es vorher leider nicht gewußt«, entschuldigte sich der ÜO. »Ich hätte Sie bestimmt nicht so auf die Schippe genommen, wenn ich gewußt hätte, dass Sie das sind, der die beiden Leute aus Rostock ge holt hat – das war wirklich eine Leistung!« Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte der ÜO: »Ich habe vor kurzem munkeln gehört, dass diese Hitler-Protokolle – oder was sie sonst noch sein mögen – allesamt vernichtet worden sind.« »Ich habe das gleiche gehört«, sagte Stuart. »Aber die Abteilung läßt die Akte offen?« »Die Abteilung läßt die Akte noch offen, da können Sie Gift drauf nehmen. Meine Befehle bleiben unverändert bestehen. Ich muß Stein und Kleiber ausfindig machen und dann in London Instruktionen ein holen. Kleiber steht jetzt im Mittelpunkt aller Anfragen Londons.« »Wir werden Stein finden«, sagte der ÜO, der Stuarts Gedanken ge lesen zu haben schien. »Ich habe jeden meiner verfügbaren Leute auf ihn angesetzt. Ich finde ihn, das verspreche ich. Was heute Abend pas siert ist, war gar nicht so schlimm. Die Russen werden jedenfalls einst weilen in Deckung gehen und es sich zweimal überlegen, bevor sie sich wieder jemanden am Flughafen schnappen. Wenn Stein auftaucht, ha ben wir freie Hand und können ihn bearbeiten.« »Ich mag Stein«, sagte Stuart. »Er ist ein Betrüger«, sagte der ÜO. »Und nach dem, was ich gehört habe, hat er seit seiner Gehirnerschütterung nicht mehr alle Tassen im Schrank.« »Aber ich mag ihn«, sagte Stuart. »Und in diesem Geschäft sollte man in Bezug auf Verrückte nicht zu wählerisch sein.« 366
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in zufälliger Beobachter hätte Charles Stein vielleicht für ein wenig betrunken gehalten, aber der uniformierte Polizist im Filmstudio würdigte ihn kaum eines Blicks. Stein trug einen alten Anzug, der in seinem Schließfach im Club in Roscoe gehangen hatte, wo er vor vielen Jahren Squash zu spielen pflegte. Und an diesem Morgen waren alle möglichen und unmöglichen Gestalten ins Atelier gekommen. Gott weiß, wie viele Schauspieler sich zu Probeaufnahmen eingefunden hat ten, viele von ihnen fix und fertig geschminkt und in Kostümen. Charles Steins Gehirnerschütterung ließ ihn zwar betrunken er scheinen, aber wie manche Trinker, die sich den Ruf erworben ha ben, viel zu vertragen, hatte Stein es gelernt, die Symptome zu verber gen und sich nichts anmerken zu lassen. Nur wurde er die Vorstellung nicht los, dass Aram noch am Leben sei, und die Ereignisse nach dem Unfall auf der Autoroute stellten sich seinem Bewusstsein wirr und verschwommen dar. Er mußte Max Breslow finden. Alles, was Charles Stein tat, war von dieser fixen Idee beherrscht. Er war von diesem Gedanken besessen, als er aus der Ohnmacht erwachte, sich zum Flughafen begab; im Jum bo-Jet hatte er davon geträumt und mehrere Male aufgeschrien. Jetzt bewegte er die Lippen, wiederholte sich den inneren Befehl, klammerte sich mit gleicher wilder Entschlossenheit daran, mit der er seine Waf fe in der Hand hielt. »Breslow?« Der Flur schien endlos, die Türen lagen dicht beieinan der: kümmerliche Türen in schwachen Angeln, die Charles Stein ohne viel Mühe hätte aufbrechen können. »Nein.« Adolf Hitler in gutgeschnittener, grauer Jacke und schwar zen Hosen schüttelte den Kopf. »Nein«, wiederholte er. 367
Im nächsten Zimmer fast das gleiche. Adolf Hitler bewunderte sich im Wandspiegel. Er winkte Stein mit gebieterischer Geste ab. »Bres low!« brüllte Stein, und seine Stimme hallte durch den schmalen Flur. Im nächsten Zimmer schnürte sich ein dritter Adolf Hitler die Schuh bänder. Charles Stein knallte die Tür zu. Irgendwo am anderen Ende des Flurs beklagte sich eine Stimme. Der vierte Adolf Hitler saß vornübergebeugt im Sessel. Er rea gierte nicht auf Breslows Namen. Der fünfte lehnte sich über einen Tisch, starrte in einen Spiegel, kämmte sich das Haar über die Stirn und sprühte Fixativ darauf. Der sechste Adolf Hitler schminkte sich, rieb sich Fett auf die Wangen. Dutzende gelber Glühbirnen beleuch teten sein Spiegelbild, und zwei Führer schienen fast mit den Köpfen anzustoßen. Und die Bilder, die von Spiegel zu Spiegel zurückgewor fen wurden, setzten sich bis ins Unendliche in einem goldenen Tunnel fort; lauter Adolf Hitlers, deren ballettähnliche Bewegungen sich zur Vollkommenheit synchronisierten. »Breslow!« Tausend Hitlers standen auf, starrten Stein an, hoben spöttisch den Arm zu stummem Gruß. »Breslow!« Steins Stimme war so laut, dass die dünnen Bretterwän de des Ankleideraums von ihrem Echo erzitterten. »Breslow!« Es klang mehr wie ein Schrei um Hilfe als eine Drohung. »Breslow!« brüllte Stein wieder. Er begann zu ahnen, dass Max Breslow tausend Führer befehlig te. Diesen Breslow mußte er ein für allemal fertigmachen. Breslow war zum Brennpunkt aller Wut, Trauer und Enttäuschung Steins geworden. Im verschwommenen Nebel seiner Gehirnerschütterung sah er Breslow als den Schuldigen an allem, an Arams Tod, an Oberst Pitmans Tod. »Breslow, du entkommst mir nicht!« brüllte Stein. »Machen Sie die verdammte Tür zu«, schrie ihn der Makeup-As sistent an. »In dieser Stadt meldet sich jeder Bekloppte für die Hit ler-Rolle«, brummte er. »Und dieser Fettwanst mit seiner alten Pistole macht den allergrößten Lärm.« »Der Schnurrbart löst sich schon wieder«, sagte Hitler zu ihm. »Wür den Sie noch etwas Klebstoff drauf tun?« 368
Max Breslow hatte die Tage gezählt, bis er endlich ins Studio kom men und die vollständige Kulisse der Reichskanzlei sehen würde. Sei ne Hauptsorge galt natürlich dem Film selbst. Die Bauten hatten sehr viel Geld gekostet; jetzt kam es darauf an, dass – wie man im Filmjar gon sagt – der ›Produktionswert‹ sich auf der Leinwand bezahlt mach te. Er fuhr mit der Hand über den sechs Meter hohen Türrahmen aus imitiertem grünem Marmor. Über dem Eingang waren Adolf Hitlers Initialen in ein riesiges Wappen graviert. Max Breslow stieß die Maha gonitüren zu Hitlers Arbeitszimmer auf, erinnerte sich an die beiden schwarzuniformierten SS-Wachen mit ihren weißen Handschuhen und blitzblankpolierten Schaftstiefeln, die hier zu stehen pflegten. Ja, genauso war es: fast 30 Meter lang und 15 Meter breit, mit dun kelroten Marmorwänden von fast zwölf Meter Höhe. Max Breslow war oft im Arbeitszimmer des Führers gewesen. Er erinnerte sich an die getäfelte Decke aus geschnitztem Rosenholz und an Lenbachs gro ßes Bismarck-Gemälde über dem Marmorkamin. Ihm gegenüber la gen die Fenster mit Ausblick auf die Kolonnaden und den Garten der Reichskanzlei. Wenn erst das Scheinwerferlicht Bäume und Büsche und den gemalten Hintergrund anstrahlten, würde alles wieder auf erstehen. Im Augenblick war es ziemlich dunkel, nur die schwache Studiobeleuchtung mußte ausreichen, um den Technikern die Arbeit zu ermöglichen. Aber gerade das half, für Breslow den Ort zum Le ben zu erwecken; denn das Halbdunkel verlieh dem Raum eine Na turtreue, die im vollen Scheinwerferlicht verschwand. Breslow knipste die Lampe mit dem seidenen Schirm auf dem Schreibtisch des Füh rers an. Sie beleuchtete die Gobelinteppiche an den Wänden. Bres low war voller Bewunderung für die Techniker, die so überzeugende Imitationen herzustellen vermochten. Er blickte auf die Schreibtisch platte mit dem eingelegten Leder. Der Requisitenassistent hatte alles für morgen, wenn die Dreharbeiten beginnen sollten, vorbereitet. Die grüne Löschblattunterlage, das Telefon, einige Nachschlagewerke und das Schreibset waren getreue Nachbildungen jener Fotos, die der Propagandadienst kurz nach Einweihung der neuen Reichskanzlei aufge nommen hatte. Breslow ging um den Schreibtisch herum, besah sich 369
alles, angefangen bei Hitlers braunem Lederstuhl mit der hohen Rük kenlehne. Oft, wenn er in jenen erregenden Kriegstagen beim Füh rer Meldung machte, hatte er sich gefragt, wie wohl die Welt aus dem Blickwinkel des Mannes aussehen mochte, der sie bis zur Unkennt lichkeit veränderte. Jetzt wusste er es. Aus Hitlers Sicht bestand die Welt zum größten Teil aus dem großformatigen Bismarck-Gemälde am anderen Ende des Raums. War es der tägliche Anblick Otto von Bismarcks, der Hitler immer wieder zu neuen Exzessen getrieben hat te? War jener es, der diesem Wahnsinnigen den Gedanken an den to talen Untergang eingab? Max Breslow dachte an die Ereignisse zurück, die ihn damals aus der Reichskanzlei und jetzt wieder dorthin zurückgeführt hatten. »Hier bin ich«, rief Charles Stein. »Hier bin ich, Breslow. Ich wusste, dass wir uns hier treffen würden.« Breslow sprang auf. Sein Herz pochte wild. »Was zum Teufel wollen Sie? Ich dachte, Sie sind tot.« »Ich werde Sie umlegen, Max. Ich habe lange hier gewartet. Auf die sen Augenblick habe ich lange gewartet, deshalb lebe ich noch, Max.« Breslow hielt sich an der geschnitzten Stuhllehne fest. Der Ton in Steins Stimme erschreckte ihn. Stein meinte es ernst, darüber gab es keinen Zweifel mehr. Breslow klammerte sich fester an den Stuhl, fühl te seine Handflächen feucht werden. Im schwachen Licht erkannte er nur Steins massige Gestalt in dem großen Sessel, sah den zerknitter ten weißen Anzug, der sich von der dunkelroten Marmorwand hinter ihm abhob. Breslow hatte ihn für einen Staubschutz auf einem Möbel stück gehalten. »Es ist zu spät«, sagte Breslow. »Die Papiere sind vernichtet. Der Ja guar ist verbrannt.« »Ich weiß«, sagte Stein. »Ich habe mein ganzes Geld verloren, Aktien im Werte von über zwei Millionen Dollar.« Breslow bewegte sich unmerklich am Schreibtisch des Führers ent lang. Er hatte Hitlers Einrichtung schon immer unsinnig überdimen sional gefunden; jetzt, da er sich an der Schreibtischplatte entlangbe wegte, schien sie ihm so groß wie ein Fußballfeld. 370
»Rühren Sie sich nicht vom Fleck«, rief Stein ihm zu. Breslow hatte sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und erkannte, dass Stein nicht im Sessel saß, sondern ihm entgegenkroch. Breslow fuhr fort, sich ganz langsam zur Seite zu tasten. Er wusste, dass die Doppeltür hinter dem linken Ende des Schreibtischs lag. So war es in Wirklich keit gewesen und auch auf den Fotos. Er betete zu Gott, dass die Tech niker sich genau an die Vorlagen gehalten hatten. Endlich hatte er die linke Hand auf der äußeren Kante des Schreibtischs. »Sie bewegen sich«, rief Stein mit lauter Stimme; sie klang mehr wie die eines Kindes, das seinen Spielgefährten beim Schummeln ertappte. Breslow strengte sein Gehör an, bildete sich ein, in der Ferne eine Poli zeisirene zu hören. Nur sehr kurz zwar, aber manchmal schalteten sie die Sirene nur bei Straßenkreuzungen ein. »Ich habe eine Waffe«, sagte Stein, »und weiß damit umzugehen.« Breslow blieb ganz still. Es hatte keinen Sinn, sich hier abknallen zu lassen, wenn die Polizei bereits unterwegs war. Er hörte zwar keine Si rene mehr, tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass die Polizei immer nur einem Wagen erlaubt, sie ertönen zu lassen. »Bleiben Sie stehen, verdammt noch mal!« Breslow erinnerte sich plötzlich, dass dieser Atelierraum schalldicht war. Die dickgepolsterten Türen ließen nicht einmal das Dröhnen der auf dem internationalen Flugplatz landenden Jets durchdringen, um die Tonaufnahmen nicht zu stören. Eine Sirene konnte er also gar nicht gehört haben. Hier drang kein Laut herein und hinaus; deshalb hatte Stein diesen Ort gewählt. Breslow fühlte den Schweiß ausbrechen, fragte sich, ob Stein ihn aus dieser Entfernung sehen konnte. Vielleicht hatte er alles so sorgfältig geplant, dass er sogar eine Nachtbrille trug. Wenn Stein ihm näher kam, hatte er keine Chance mehr, es blieb nichts anderes als Flucht. Er wirbelte herum und rannte zur Tür. Peng! Ein Blitz zuckte auf, als Stein feuerte; aber die Kugel pfiff über Breslows Kopf hinweg und riß ein Stück ›Marmor‹ ab, ließ Späne rieseln. Breslow hatte just die große Mahagonitür erreicht und kämpfte mit aller Anstrengung, um durch zukommen. Die Panik schien ihm doppelte Kraft verliehen zu haben, 371
aber er konnte noch soviel reißen und zerren, die Tür bewegte sich nicht, ja, wackelte nicht einmal. »O mein Gott!« Diese Türen bestanden aus Attrappen, solide und undurchdringlich wie die Wand. Breslow drehte sich um und rannte, als ein zweiter Schuß aufblitzte und durchs Dunkel pfiff. Plötzlich ver spürte er einen Schlag gegen Magen und Knie. Fast hätte er laut auf geschrien, aber die alte Disziplin gab ihm genügend Beherrschung, er stöhnte nur, war direkt mit dem Mahagonischrank kollidiert, der un ter den Gobelinteppichen stand. Seine ausgestreckten Arme stießen gegen die Schnitzereien oberhalb der Schranktür. Als einige kleine Statuen und eine Konsolenuhr klirrend zu Boden stürzten, krachte es. Breslow hörte Stein kichern. Breslow hatte die nächste Tür erreicht, warf sich gegen sie, rüttel te mit vollen Kräften, erwartete den Knall des nächsten Schusses und den unvermeidlichen Schlag, der ihm das Rückgrat brechen und die Gedärme herauspressen würde. Zuerst glaubte er, dass auch diese Tü ren Attrappen waren, fühlte sie aber unter seinem Gewicht nachge ben und stemmte sich mit der Schulter derart wuchtig gegen das ge schnitzte Mahagoniholz, dass er fürchtete, sich die Knochen dabei zu brechen. Aber die Türen waren drei Meter fünfzig hoch und schienen aus Blei zu sein. Sobald sie sich ein wenig geöffnet hatten, zwängte er sich hindurch. Er hörte einen Schuß hinter sich: Knall und Blitz schie nen näher zu kommen. Stein war ihm auf den Fersen. Breslow spähte nach rechts und links aus: Auf der einen Seite befan den sich die riesigen Ateliertüren, durch die man die Kulissen herein gebracht hatte – sie kamen nicht in Frage. Zur Rechten – ganz hinten im nur von schwachem Blaulicht erleuchteten Flur – befand sich jene Tür, die die Tontechniker benutzten, um in ihren Glasverschlag zu ge langen. Breslow duckte sich zur Seite, schlüpfte unter einem Mikro fongalgen hindurch, versteckte sich hinter einem großen Scheinwer fer und wartete einen Augenblick, hoffte, dass Stein durch den Flur an ihm vorbeilaufen würde, so dass ihm die Chance blieb, in das Studio zurückzueilen und durch den künstlichen Garten vor den Fenstern der Reichskanzlei zu verschwinden. 372
Aber Stein blieb vor der roten Lampe und dem aufleuchtenden Schild ›Kein Zugang – Aufnahme‹ stehen. Er schien gemerkt zu ha ben, dass Breslow diese Richtung nicht eingeschlagen hatte, drehte sich um und beobachtete aufmerksam den Raum hinter den hohen Mauern der Kanzleistaffage. Der gewaltige Naziadler warf einen rie sigen Schatten auf den imitierten Marmorfußboden. Ein klirrendes Geräusch ertönte, als Stein mit seiner Pistole gegen ein Scheinwerfer stativ stieß und sich mit dem Fuß in einem Kabel verfing. Stein fluch te, bewegte sich langsam auf Breslow zu, spähte mit Luchsaugen in das Dunkel. »Ich sehe Sie, Max. Kommen Sie raus, ich seh' Sie.« Breslow rührte sich nicht, hielt den Atem an, erkannte Steins massi ge Gestalt, die sich langsam heranpirschte, wild und zerzaust wie ein wütender Gorilla. »Ich sehe dich, du Schwein«, rief Stein laut, rückte näher; Breslow blieb regungslos und fühlte sein Herz so laut pochen, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Breslow wollte etwas sagen – da wandte Stein sich von ihm ab, tastete sich auf den Kamerakran zu. »Ich sehe dich«, wiederholte er. Breslow verfluchte seine Dummheit, die kleine Taschenpistole nicht mitgebracht zu haben, schlich leise zur gepolsterten Studiowand. Der Fuß verfing sich in elektrischen Drähten, aber er konnte sich behut sam aus der Schlinge befreien. Stein war wieder im Arbeitszimmer des Führers angelangt; Breslow an jener Tür, die mit Hilfe eines Kamera tricks wie ein Teil des großen Saals der Reichskanzlei aussehen konnte. Er überkletterte einen am Boden liegenden Bronzekandelaber. »Breslow!« Stein mußte sich am anderen Ende der Szenerie befinden. Breslow packte die stabile Metalleitersprosse und kletterte – für einen Mann seines Alters behende und schnell – zur Galerie, der Scheinwerferbrük ke, hinauf, die rund um das gesamte Atelier verlief. Er hörte abermals Stein rufen. Von hier oben aus konnte er Stein, der vorsichtig in Topf pflanzen und künstliche Gebüsche vor den Fenstern trat, gut erken nen. Sie blicken nie hinauf, sagte sich Breslow und erinnerte sich an die 373
Worte des Schulungsleiters beim Überfallunterricht in Bad Tölz; nur Kinder gucken hoch, Erwachsene nie. »Breslow!« Steins Stimme verriet Unruhe. Wahrscheinlich fürchtete er, dass Breslow ihm durch einen Ausgang, den er nicht kannte, entwichen war. Breslow hockte sich hinter das Geländer. Hier – inmitten all der Scheinwerfer jeder Form und Größe – konnte er ihn schwerlich finden. Er fühlte sich in Sicherheit und verspürte ein fast hysterisches Verlan gen, laut aufzulachen, zu schreien, Stein zu beschimpfen. Der stand jetzt unter einer der kleinen Deckenlampen; Breslow sah ihn genau, ihn und seine Mauser aus dem Ersten Weltkrieg – ein wahres Muse umsstück, wie man es in Kalifornien nur noch in Antiquitätenläden fand. Und doch war es eine herrliche alte Waffe, und tödlich in den Händen eines Mannes, der sich ihrer bedienen kann. Vielleicht war diese Wahl beabsichtigt gewesen; denn in jedem Filmstudio hätte man sie für ein Requisit, nicht für eine Mordwaffe gehalten. Er beobachtete Stein, wie er die schwere Waffe an die Schulter drückte und sich um drehte. »Breslow! Ich sehe Sie, Breslow!« Er zielte in jene dunkle Gegend, wo der ›Garten‹ in eine Ecke des Studioraums auslief. Dort hatte man ei nige Möbel aufgestapelt; denn bei einer späteren Aufnahme des glei chen Raumes dienten die besonders ›antiquierten‹ Stühle der Authen tizität. »Breslow!« Steins Stimme klang entstellt, da er das Gesicht gegen den Kolben seiner Pistole presste. Er feuerte. Peng! Oben von der Gale rie hallte der Schuß wieder. »Ich hab' dich!« schrie er, da aber kein Schmerzensschrei ertönte, erkannte Stein, dass niemand da war. »Ich hab' die ganze Nacht, Breslow. Sie kommen hier nie lebendig heraus. Hab' gesagt, dass ich Sie umlegen werde, Breslow. Das werd' ich tun. Können Sie mir glauben.« Breslow lehnte sich über das Geländer, beobachtete Stein und be merkte zu seinem Schrecken, dass ihm der goldene Kugelschreiber da bei aus der Tasche fiel. Er flimmerte und schlug mit klapperndem Ge räusch vor Steins Füßen auf. 374
»Aha!« brüllte Stein, »das raffinierte Aas. Hat sich da oben auf der Galerie versteckt!« Er feuerte dreimal in die entsprechende Richtung, Breslow schnellte an die Wand zurück, als die Kugeln bedenklich nahe gegen die Eisenstangen schlugen und in das Studio zurückprallten. Breslow rannte die Scheinwerferbrücke entlang, während Stein sei ne Waffe nachlud. Der Boden schwankte und krachte unter Breslows Füßen; er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, über das Geländer zu klettern und sich auf den Kamerakran herunterzulassen. Distanz: etwa zwei Meter. In alten Tagen wäre das für ihn einfach gewesen; jetzt aber wurde es ein gefährliches Unternehmen. Er blickte über das Ge länder. Nur die Metalleiter führte hinauf. Zu Breslows Schrecken be gann Stein, sie zu erklimmen. Breslow befand sich auf der anderen Sei te der Szenerie, oberhalb des Schreibtisches, auf dessen lederbezogener Tischplatte er die Umrisse des berühmten Schwertes, das der Führer so angemessen als Schreibtischschmuck hielt, erkannte. »Breslow, ich komme.« Stein hatte die Leiter zur Hälfte erklommen und schnaufte unter der Anstrengung. Von hier oben würde er die Galerie überblicken können, dann gab's für Breslow kein Verstecken mehr. Falls Stein ihn wirklich umbringen wollte, wäre es hier kein Problem. »Stein«, rief Breslow. »Reden wir doch. Es ist heller Wahnsinn, zu kämpfen.« »Du hast den Oberst ermordet, meinen besten Freund! Meine Ka meraden beschissen!« Mehr brachte er nicht hervor, denn er war außer Atem und wollte hinauf. Es ging nur langsam vorwärts. »Ich habe niemanden getötet.« »Du gottverdammter Nazi! Du hast meinen Bruder umgebracht.« Stein hatte die Spitze der Leiter erklommen und alle Mühe – die rie sige Mauser in der einen Hand, sich mit der anderen abstützend –, auf die Scheinwerferbrücke zu klettern. »Stein, geben Sie acht!« Vielleicht war es irrsinnig, einen Mann, der ihn umbringen wollte, vor Gefahr zu warnen, aber Breslows Schrei kam spontan. Stein klammerte sich mit vollem Gewicht ans Gelän der, das einer derartigen Last nicht gewachsen war. Normalerweise ka 375
men nur die Elektriker hier herauf, und sie kannten die Konstrukti onsschwächen. Stein nicht. Vielleicht hätte sich Stein, wenn er seine Pi stole losgelassen hätte, im Gleichgewicht halten können. »Au!« Stein fühlte, wie das Geländer nachgab und sich nach unten bog. Er wurde nach hinten gebeugt und verlor seinen breitkrempigen weißen Hut. Stein sperrte den Mund auf, fuchtelte wild mit seiner Pi stole, bemühte sich verzweifelt, hochzugelangen. »Hilfe!« Aber da stürzte er schon. Das riesige, unordentliche Bündel weißer Kleidung überschlug sich. Stein streckte die Arme aus – die Pistole im mer noch in der Hand –, löste sich von der Leiter, stürzte kopfüber an Adler und Wappen vorbei und landete mit entsetzlichem Aufprall auf dem Fußboden des Studios. »Stein!« Breslow eilte über die Galerie, kletterte, so schnell er konnte, die me tallenen Sprossen hinunter. »Stein«, sagte er abermals, als er sich über die zusammengekrümmte Gestalt beugte. Steins Kopf war auf den Bo den geschlagen, der Schädel gebrochen, das Gesicht blutüberströmt. Ein Zweifel schied aus: Breslow hatte genügend Tote gesehen, um das zu wissen. »Warum?« fragte Breslow vor ihm kniend, »warum wolltest du mich umbringen? Dazu war es zu spät.«
Boyd Stuart fuhr in den Vorhof des Big O Donut Pfannkuchenrestau rants ein, wo der Santa Monica Freeway die La Brea kreuzt. Die Reifen quietschten laut genug, um die Aufmerksamkeit der Kaffee trinkenden Polizisten zu erregen. Billy Stein und Mary Breslow saßen bei ihm im Wagen. Er hatte sich sofort, als Stein gesehen wurde, mit ihnen in Verbindung gesetzt. Boyd wartete am Steuer, während Billy Stein in die Imbissstube rannte, um mit den Polizisten zu sprechen. Es war besser, wenn ein Verwandter es tat; ihm gegenüber würden die Polizisten verständnisvoller sein. Was 376
immer auch Billy den Polizisten gesagt haben mochte, es genügte je denfalls, dass sie ihren Kaffee stehen ließen und zu ihrem Wagen eil ten. Sie rasten über die Auffahrt auf den Freeway. Boyd Stuart folgte ihnen. »Sie werden nicht mehr rechtzeitig ankommen«, sagte Mary – eher weil sie auf Stuarts Widerspruch hoffte denn die Gefahr abschätzte, in der ihr Vater schwebte. Dazu fehlte ihr einfach der Mut. Falls Billys Vater seine Drohung wirklich wahr machen wollte, hatte er genügend Zeit dazu gehabt. »Machen Sie sich keine Sorge, Miss Breslow«, sagte Stuart und drück te das Gaspedal durch. Es war nicht leicht, mit dem Polizeiwagen, der nun mit Blaulicht auf die Überholspur wechselte, Schritt zu halten. Ein alter Buick überholte rechts und schleuste sich zwischen Stuart und den Streifenwagen ein. Stuart fluchte. Manchen Leuten macht es Spaß, einem Polizeiwagen zu folgen, nur weil sie es aufregend finden. Als der Polizeiwagen vor dem Studioeingang hielt, hatten sie bereits eine Funkmeldung vorausgeschickt. Ein Wächter in schwarzer Leder jacke stand vor dem offenen Tor. »Studio Vier«, rief er ihnen zu. »Der Chef erwartet Sie an der Ein gangstür«, erklärte er dem Fahrer. Der Wagen fuhr weiter, holperte über die Schlaglöcher der schlecht instand gehaltenen Studiostraße. Stuarts Wagen folgte durch das Tor. Der Wächter glaubte offensichtlich, dass er dazugehörte, und ließ ihn passieren. Sie parkten neben dem Streifenwagen und stiegen aus. Der Polizeiof fizier mit dem Namensschild Cooper griff nach seiner Pistole. »Es ist mein Vater«, sagte Billy ängstlich zu ihm. Der Polizist drehte sich um. »Keine Aufregung, ihr«, sagte er, »und bleibt hier draußen.« Der zweite Polizist hatte sein Gewehr unter dem Sitz hervorgezogen und lud es durch. Der Chef der Studiowachmannschaft führte sie durch die schweren, schalldichten Türen. Es war bedrückend still. Cooper legte schweigend die Hand auf die Brust des Wächters, um ihn anzuweisen, hier bei der Tür zu bleiben. Der Polizist mit dem Gewehr schlich sich leise zum 377
›Garten‹ hinüber, vermied es, den Fenstern zu nahe zu kommen. Von hier aus konnte er sehen, welch ein Schwindel die ganze Szenerie war: Schwere Fensterrahmen und Marmorwände waren nichts als Sperr holz, Plastik, Gips und Pappe. »Aufmachen, Polizei!« Die Stimme klang unnatürlich laut. Keine Antwort. Der Polizist trat in die Szenerie, hielt sich hinter der halbof fenen Tür in Deckung. »Himmelherrgott!« rief er leise aus, als er den prunkvollen Raum und den ungeheuren Naziadler über der Tür er blickte. Breslow ließ Steins Handgelenk los. Er hatte ihm aus reiner Forma lität den Puls gefühlt. Stein war tot. Irgendwo in der Ferne hörte Bres low Stimmen, aber er war zu sehr in Gedanken versunken, um weiter darauf zu achten, las die lächerliche Mauserpistole auf, die Stein getra gen hatte, und erhob sich. Der arme alte Stein. Wachtmeister Cooper sah die plötzliche Bewegung, rief »Stehenblei ben!«, hielt den Revolver schussbereit. »Papa!« Es war mehr ein Aufschrei als ein Ruf. Mary Breslow lief di rekt in die Feuerlinie und umarmte ihren Vater. »Papa, Papa, Papa!« Sie küsste ihn, drückte ihn an sich, sah nichts, bekümmerte sich um nichts, selbst als sie zufällig mit dem Fuß an Steins Leiche stieß. Breslow schien den Polizisten und Billy Stein erst jetzt auszumachen und blinzelte. »Billy, er ist von der Galerie da oben gestürzt.« Billy Stein blickte auf den Toten und rang die Hände. Diese blutige Gestalt, die seinem Vater entfernt ähnelte, konnte er nicht berühren. Er blickte sich zu den anderen um; sie erwarteten etwas von ihm. So kniete er sich nieder, unterdrückte einen Schauder, legte seinem toten Vater die Hand auf die Schulter. Vielleicht erwartete man ein Weinen oder Jammern von ihm, aber all das würde später kommen; das ging nur ihn und seinen Vater etwas an. Billy Stein hasste es, Gefühle öf fentlich zur Schau zu stellen. »Mein Vater hätte da nicht hinaufklettern können, Mr. Breslow.« »Er konnte es, und er tat es, Billy. Er hatte diese Waffe hier. Er wollte mich umbringen. Er behauptete, ich hätte seinen Bruder getötet.« 378
Cooper wandte sich dem Chef der Studiowache zu. »Wo ist hier das Telefon?« Dann zu seinem Kollegen: »Wir werden melden, dass er schwer verletzt ist, Okay?« Der andere nickte. Es war immer noch die beste Lösung, auf die se Weise brauchten sie nicht auf jemand vom Leichenschauhaus zu warten. Im Krankenhaus würde man seinen Tod feststellen – und sie brauchten hier nicht aufgehalten zu werden. »Ich bringe Sie zuerst zur ärztlichen Untersuchung und dann aufs Hauptrevier, Mr. Breslow. Alles übrige können wir dann in der Stadt rasch erledigen.« Cooper war neun Jahre lang Streife gefahren. Er hat te seit langem gelernt, dass es einfacher war, jemanden in Haft zu neh men, wenn man ihn im Glauben ließ, dass alles rasch erledigt werden würde. »Sie brauchen ihm keine Handschellen anzulegen«, sagte Mary Bres low. »Leider Vorschrift, Miss.« Er legte Breslow Handschellen an. Mary sah ihren Vater an diesem schrecklichen Tage zum letzten Mal, als er im Fond des Streifenwagens saß, vorgebeugt, die gefesselten Hände auf dem Rücken, während ihm der andere Polizist Rechtsmittelbelehrung erteilte. »Ich nehme an, Sie sind jetzt zufrieden?« sagte Billy Stein zu Stuart. »Was soll das heißen?« »Sie haben ihn gejagt und verfolgt, mich bedroht und eingesperrt. Jetzt ist er tot, und Sie haben sich Ihre Medaille verdient.« »Lass das, Billy!« ermahnte ihn Mary Breslow, »rede nicht so.« »Sie haben ihn umgebracht«, fuhr Billy fort. »Dein Vater hat meinen Vater nicht getötet. Diese Schweine haben es getan.« »Steig' in den Wagen, Billy«, sagte Boyd Stuart. »Ich bringe dich nach Haus.« »Was werde ich jetzt tun?« fragte Billy. »Mein Paps und ich – wir wa ren immer zusammen. Er hat alles für mich getan.« Stuart nahm Mary Breslows Arm und führte sie zu Billy, der sich über das Wagendach lehnte, das Gesicht in den Armen vergraben. 379
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illi Kleiber war in einer Holzhütte in South Carolina wieder zu Bewußtsein gekommen. Das von tausend Bächen und Flüssen durchzogene, sattgrüne Marschland zwischen den Appalachen und dem Atlantik bot ein ideales Versteck. Eine schmale Schotterstraße voller Schlaglöcher schlängelte sich zwischen den Bäumen bis zu ei nem baufälligen Landungssteg hindurch. Von hier aus hatte man ihn auf eine der kleinen Inseln gebracht, die sich wie winzige Splitter ent lang der Küste erstreckten. Es gab keine elektrische Leitung; die einzige Verbindung zum Fest land bestand aus einem Kurzwellenradio. Die Männer, die Kleiber be wachten, trugen Baumwollhosen, Unterhemden und hohe Stiefel, um sich vor Schlangen zu schützen. Es war heiß und fast unerträglich feucht. Man hörte nur das Summen der Insekten und das Rauschen des Ozeans. Nichts bewegte sich, sieht man von ein paar Krabbenfi scherbooten in der Ferne ab. Der anwesende Arzt – ein junger Mann, dessen Haut so schwarz und glänzend wie eine frischpolierte Limousine aussah – war mit einem Motorrad aus Charleston gekommen. Nun, da es dunkel wurde, hat te er alle Eile, wieder zu verschwinden. Er erklärte Kleiber für gesund und unterschrieb seinen Bericht. Kurz darauf hörte man das Rattern seiner Maschine am Landungssteg, dort, wo das Motorboot ihn abge setzt hatte. Melvin Kalkhoven führte das erste Verhör, doch der später am Abend eingetroffene Planungsvorsitzende stellte die wesentlichen Fra gen. Kleiber hörte ihm zu, wie er Kalkhoven zugehört hatte; ohne viel zu sagen. Er starrte auf das Fliegennetz vor dem Fenster, das unter dem Gewicht der anschwirrenden Motten und Falter erzitterte, die sich nur 380
danach zu sehnen schienen, von der Flamme der auf dem Tisch ste henden Karbidlampe verzehrt zu werden. »Aber weshalb sollte ich in direkten Kontakt mit der sowjetischen Botschaft in Washington treten?« fragte Kleiber schließlich. »Kein er fahrener Agent würde das tun. Es ist verdammt gefährlich und ver stößt gegen alle Regeln der Moskauer Zentrale.« Der Planungsvorsitzende lehnte sich zurück. Sein Schaukelstuhl ächzte. Er stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen, hielt die Finger spitzen gegeneinander. Bemüht, sich den Anschein eines Gelehrten oder Philosophen zu geben, sah es aber mehr wie die nach Aufmerk samkeit heischende Geste eines Mannes aus, der sich gern reden hört. »Sie werden ihm gehörig Angst einjagen«, sagte er. »Sie werden Jurij Gretschko zu Tode erschrecken. Wenn er von Ihnen hört, was mit sei ner Organisation geschehen ist – dass Parker in der Patsche sitzt und die anderen folgen werden –, macht er sich die Hosen voll. Die Mos kauer Zentrale hasst derartige Schlampereien. Man wird ihn zurück rufen, und er wird entsetzliche Angst kriegen.« Der Planungsvorsitzende unterbrach sich, als ihm ein neuer Aspekt des Falles in den Sinn kam. »Ist Parker Russe?« »Er hat es nie zugegeben«, sagte Kleiber. »Aber er ist Russe.« »Wie können Sie das wissen?« »Ich wurde in einem Haus an der baltischen Küste geboren und er kenne jeden Russen.« Der Planungsvorsitzende nickte zufrieden, rieb die Fingerspitzen an einander. »Also wird Gretschko sehr in Sorge sein, wenn wir auch das ans Licht bringen. Sagen Sie ihm, dass er bis zum Hals in der Scheiße sitzt, Willi. Gretschko wird sich nicht an die Anweisungen halten und Ihnen sagen, Sie hätten ihn nicht anrufen dürfen. Er wird viel zu gro ßen Schiß haben.« Kleiber sagte: »Gretschko wird mich fragen, wo die Hitler-Protokol le sind.« Der Planungsvorsitzende griff nach seiner Kaffeetasse. Die HitlerProtokolle waren zwar verschiedentlich erwähnt worden, interessier ten ihn und die CIA jedoch nicht. Er war entschlossen, sich seine Un 381
tersuchung nicht von derlei Dingen vermasseln zu lassen; denn bis jetzt war alles sehr gut gelaufen. »Sagen Sie ihm, die Papiere wurden Ihnen von den Zollbeamten am Kennedy-Flughafen abgenommen. Wir besorgen Ihnen eine gefälschte Quittung, wie der Zoll sie ausstellt. Übergeben Sie die Gretschko. Soll er sich Sorgen darüber machen.« »Er wird wütend sein«, sagte Kleiber. »Besonders auf Parker, der mir befahl, die Dinger in die Staaten zu bringen.« »Genau«, sagte der Planungsvorsitzende und wischte sich mit einem Papiertaschentuch Kaffeespuren von den Lippen. »Jetzt sehen Sie, wor auf ich hinaus will, Willi. Wir werden Gretschko Schwierigkeiten ma chen, und ihm wird nur noch ein Ausweg bleiben: Sie zum illegalen Residenten zu machen.« »Zum illegalen Residenten?« sagte Kleiber. »Nun hören Sie mal.« Der Planungsvorsitzende starrte ihn ausdruckslos an. Kleiber fuhr sich mit dem Finger in den Kragen, und seine Stirn war schweiß nass. »Sie glauben doch nicht etwa, wir hätten uns all die Scherereien ge macht, wenn es nicht um eine wirklich große Sache ginge, Willi?« Er wies mit dem Kopf zum Nebenzimmer, in dem alle Beweise für Klei bers Mordtaten lagen. Farbfotos der Leichen Bernard Lustigs und Ma cIvers; einige Schwarzweißaufnahmen der beiden in London ermorde ten jungen Männer. Es gab auch noch andere Beweise: die beschädig te Armbanduhr, die die Todeszeit anzeigte, den Parkzettel, die Fern schreibmeldungen und andere Polizeiberichte, ja sogar Fingerabdrük ke: Kleiber hatte seine Baumwollhandschuhe zusammen mit Lustigs Leiche in den Kofferraum geworfen und den Deckel mit bloßer Hand zugeschlagen. Es gab die schriftliche Aussage eines Zeugen, der der Er schießung MacIvers beiwohnte. Die Beschreibung des Mörders passte genau auf Kleiber. Kleiber hatte sich das ganze Material während fünf zehn Minuten angesehen und erklärt, dass es zu einer Verurteilung nicht ausreiche. Der Planungsvorsitzende hatte daraufhin achselzuk kend geäußert: »Sagen Sie mir, was wir noch brauchen, und wir lassen es herstellen.« Kleiber glaubte ihm. 382
»Illegaler Resident für die Russen? Unter ständiger Kontrolle des CIA?« »Halten Sie die Iwans bei guter Laune, und sie werden uns die Akte Ihrer Kriegsverbrechen nicht ausliefern, Willi.« Er grinste und schlug nach einer Fliege auf seinem Arm: eine unverhoffte Geste, die Kleiber aufschrecken ließ. »Wir haben ein gemeinsames Interesse, Willi, alter Freund. Wir wollen den Iwans die gute Laune nicht verderben.« »Man wird mich verdächtigen.« Willi begann zu schwanken. »Wir geben Ihnen ein paar wirklich gute Chancen, Willi. Seien Sie ohne Sorge, wir werden Moskau zufrieden stellen. Wir wissen genau, was sie ganz verzweifelt brauchen: Technologie für die Unterseekrieg führung, jüngste Erkenntnisse der Computerforschung, Daten über die Cruise Missiles. Wir werden Sie mit genügend Material versorgen und einen großen Mann aus Ihnen machen, Willi.« Kleiber schüttelte den Kopf. »Wir besprachen, wie ich Parker mit In formationen versorgen, nicht, wie ich ihn ersetzen soll.« »Das haben Sie sich vielleicht gesagt«, entgegnete der Planungsvor sitzende, »ich rede aber von einer ganz großen Sache.« »Das muß ich mir noch überlegen«, sagte Kleiber. »Ja, überlegen Sie nur, Willi.« Die salbungsvolle Stimme des Pla nungsvorsitzenden wirkte um so beunruhigender, als sie sicheres Selbstvertrauen ausdrückte. »Wo, zum Teufel, sind wir hier eigentlich?« fragte Kleiber vielleicht zum hundertsten Mal. Flugzeuggeräusche hatten ihn wieder an diese Frage erinnert. Es machte ihn unsicher, nicht zu wissen, wo er sich be fand – was ganz den Absichten entsprach. Der Planungsvorsitzende ignorierte die Frage, ging auf einen wei ßen Plastikwandschirm zu, hinter dem sich ein Herd verbarg, schüt tete Pulverkaffee und Trockenmilch in einen voluminösen weißen Be cher. »Machen Sie sich keine Sorgen, Kleiber. Ich sage Ihnen, es wird klappen.« »Sie haben gut reden«, brummte Kleiber. »Waren Sie je Außen agent?« »Es ist nun mal die beste Lösung – im Vergleich zu der einzig ver 383
bleibenden Möglichkeit«, erklärte der Planungsvorsitzende bedroh lich, öffnete die Thermosflasche, befand das Wasser für heiß genug und goss es in seinen Becher. »Kaffee?« »Warum kriege ich nicht was Anständiges zu trinken?« »Der Arzt sagt nein.« Der Planungsvorsitzende hatte von diesem ar roganten Verbrecher allmählich genug. »Merken Sie sich eins, Kleiber, alter Freund. Wir haben eine ganze Menge Leute hier, die Sie gerne un ter Mordanklage sehen wollen.« »Wie dieser Bibelforscher. Hat er mir gesagt.« Der Planungsvorsitzende nickte. Melvin Kalkhoven hatte sich mit aller Heftigkeit gegen jedes Geschäft ausgesprochen, das es Kleiber er lauben würde, straffrei auszugehen. Kalkhoven hatte dem Vorsitzen den gesagt: »Ich rief Dich an, meine Feinde zu verfluchen, und siehe, Du hast sie bereits zu drei Malen gesegnet.« Seine Empörung war um so größer, als er wusste, dass Kleiber ein noch höheres Gehalt bezie hen würde als er. »Ich aber nicht«, fügte der Vorsitzende hinzu. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie einfach beseitigen lassen. XPD.«
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n den letzten zwei Jahrzehnten verfuhr das KGB in Bezug auf sein Moskauer Bürogebäude – zu dem das berüchtigte Lubjanka-Ge fängnis und der Schießübungsplatz auf dem Dach gehören – nicht mehr so paranoid. Weniger Russen wurden bisher wegen Herumste hens auf dem Dzershinskij-Platz verhaftet, und lang ist's her, seit einem Touristen in dieser Gegend die Kamera beschlagnahmt wurde. Das hat mit einem politischen Kurswechsel auf höchster Ebene in dieser größten und mächtigsten Polizeiorganisation der Welt nichts zu tun; es sind in dem großen, grauen Steingebäude, das vor der Revo 384
lution der Allrussischen Versicherungsgesellschaft gehörte, lediglich weniger wichtige Stellen der Geheimpolizei untergebracht. Ein großer Computer und ein spezielles Netz von Fernschreibern ermöglichen es dem KGB, seine Büros über die ganze Stadt zu verteilen. Die Sektion 13 des Ersten Hauptdirektoriums und das Personalbüro halten nunmehr sechs Etagen des einunddreißig Stockwerke hohen SEV-Gebäudes be setzt. Dieser moderne, mit den jüngsten Errungenschaften versehene Block liegt Ecke Tschaikowskystraße und dem breiten Kalininapro spekt, nicht weit von den Ministerien des Äußeren und des Außen handels. Das SEV-Gebäude bietet, besonders von den höheren Etagen aus, ei nen herrlichen Blick über die Stadt, die Moskwa und, weiter nach Sü den, auf die gigantischen, scheußlichen Universitätsbauten auf den Le ninhügeln. Aber nicht viele der fast vierhundert Angestellten und Be amten General Schumuks haben Zeit, die Aussicht zu genießen: die von ihm ausgewählten KGB-Leute zeichnen sich durch Fleiß, die Stockwerke durch Reinlichkeit und Stille aus. Selbst die Telefone ha ben einen besonders gedämpften Klang. General Schumuks Büro war von eindrucksvoller Größe, die durch das spärliche Mobiliar noch unterstrichen wurde. Nur ein metallener Schreibtisch, ein Dreh- und ein Besucherstuhl mit hoher hölzerner Rückenlehne und ungleich langen Beinen – den Schumuk angeblich selbst entwarf, um die Besucher das Gefühl der Unbehaglichkeit ver spüren zu lassen – bildeten die Einrichtung. Der neue Linoleumfuß boden wies bereits an jenen Stellen Risse auf, wo die Heizkörper in den Boden eingelassen wurden. Auf dem Schreibtisch: zwei Briefbehälter, drei Telefone; vor dem Drehstuhl befand sich ein versteckter Klingel knopf. Der einzige Wandschmuck bestand aus einer billigen Lithogra phie, Peter den Großen darstellend. Schumuk war immer sorgfältig darauf bedacht gewesen, sich nicht mit dem jeweiligen Kremlchef zu identifizieren; es war ihm zu gefährlich. Hinter dem Bild lag das Stahl schließfach in Standardgröße, wie es allen hohen KGB-Beamten zur Verfügung steht. Jeden Abend wurde es mit rotem Wachs versiegelt. Es klopfte, und der diensthabende Beamte vom Geheimmeldedienst 385
trat ein, legte wortlos einen roten Aktenordner auf General Schumuks Schreibtisch und reichte ihm die Quittung mit exakter Zeitangabe. Schumuk unterschrieb sie, ohne aufzublicken, und begann, die ent schlüsselte Fernschreibmeldung zu lesen. Sie kam aus der sowjetischen Botschaft in Washington, und schon das allein verdarb ihm die Lau ne. Es war ein langer Bericht: vier Seiten Text bezogen sich zum gro ßen Teil auf untergeordnete Dinge, die Jurij Gretschko, der höchste KGB-Beamte der Botschaft, eigentlich nicht hätte unterschreiben sol len; dazu hätte der wöchentliche Rechenschaftsbericht durchaus ge nügt. Schumuk las es sich eilig durch. Auch er war einst legaler Resi dent an einer Botschaft und hatte gelernt, wie man schlechte Nachrich ten verpackt. Als er an den Absatz gelangte, in dem Gretschko von Kleibers Anruf und seiner Bitte um eine dringliche Zusammenkunft berichtete, leg te Schumuk die Bogen nieder, nahm seine Stahlbrille ab, legte sie vor sich auf den Schreibtisch und hielt sich die Handflächen vor das Ge sicht. Vor langer, langer Zeit hatte man derartige Gesten für ein Zei chen von Beunruhigung oder Angst gehalten; inzwischen wusste je der, dass Schumuk sich auf diese Weise besser konzentrieren konnte. Falls es irgendeine Geste gab, mit der er Kummer, Beunruhigung oder Angst – oder irgendein anderes Gefühl außer Ärger – ausdrückte, so hatte sie noch keiner seiner Mitarbeiter je an ihm entdeckt. Eins war offenbar: Kleiber hatte es versäumt, der Hitler-Protokol le habhaft zu werden. Ein Agent nimmt nicht auf eine so leichtsinni ge und unprofessionelle Art Kontakt auf, um Erfolg zu melden. Hätte Kleiber sich die Hitler-Protokolle wirklich verschafft – wie dieser gek kenhafte Gretschko und sein schlafmütziger Freund Parker es verspro chen hatten –, dann lägen sie jetzt hier auf Schumuks Schreibtisch, an stelle dieser langen Fernschreibmeldung, deren Inhalt nicht besser als der zusammengeklaubte Klatsch aus der Aviation Week war. Er las sich den Abschnitt noch einmal durch: PARA ACHT UNTERNEHMEN PAGONI 982 (Gretschkos Referenz ziffer) SCHLÄGT VOR BEGEGNUNG KLEINER ROUSILLON BE 386
ACH MOTEL VERNON FAIFRAX COUNTY + + 22 00 UHR DIENS TAG EINUNDZWANZIGSTER AUGUST STOP EINWILLIGUNG ERBETEN ZWEI ENDE PARA General Stanislaw Schumuk konnte nicht an das Unternehmen Pogo ni denken, ohne die beiden Männer, die es zum Erfolg führen soll ten, vor sich zu sehen. Schumuk traute weder Parker noch Gretschko. Er hatte jenem Ausschuss angehört, der Gretschko zu seiner gegen wärtigen Stellung als Vertreter des KGB an der Botschaft in Washing ton auserwählte. Natürlich hatte Schumuk sich scharf dagegen ausge sprochen, Gretschko mit derartiger Verantwortung zu betrauen, wur de aber überstimmt. Der über einen Meter achtzig lange Schumuk hat te sich nie mit der Tatsache abfinden können, dass Gretschko Schu he mit überhöhten Absätzen trug, um höheren Wuchs vorzutäuschen und seinem Selbstbewusstsein mehr Auftrieb zu verleihen. Darin sah er bereits die fundamentale Schwäche in Gretschkos Persönlichkeit. Der Wunsch, im wörtlichen und im übertragenen Sinn größer zu wir ken, war charakteristisch für seine Haltung der Arbeit, seiner Familie und all den Frauen gegenüber, mit denen er soviel Zeit verschwendete. Schumuk hatte sich schon mehrere Male in aller Form über Gretsch kos Schürzenjägerei beklagt, doch stets war es Gretschko gelungen, zu ›beweisen‹, dass die entsprechenden Damen – oft die Gattinnen aus ländischer Diplomaten – als Quellen zu wertvollem Informationsma terial herhielten. Schumuk setzte die Brille auf, erhob sich und trat ans Fenster. Auf der Straße gegenüber waren die Arbeiten am Anbau des COMECONGebäudes voll im Gang; man arbeitete rund um die Uhr, und wenn es dunkel wurde bei Scheinwerferlicht. Unter den Arbeitern befan den sich viele Frauen. An den Autobushaltestellen bildeten sich lange Schlangen. Ein Soldat und einige Jungpioniere in ihren grünen Uni formen warteten auf den Sonderbus, der sie über die Straße von Minsk zum Schlachtfeld von Borodino bringen würde. Das gehörte zu den Pilgerfahrten aller Parteigetreuen. Hier wurde Napoleons Macht zer schlagen, stoppten die sowjetischen Soldaten die Nazis und kämpften 387
fünf Tage und Nächte lang gegen eine Übermacht. Borodino bilde te die unerschöpfliche Quelle neuer Glaubenskraft. Vielleicht brauch te Schumuk jetzt auch eine solche Eingebung, um die Machenschaf ten seiner Kollegen im Politbüro ertragen zu können. Zweifellos hat ten sie ihren begeisterten Bericht über den propagandistischen Wert der Hitler-Protokolle extra so abgefasst, um Schumuk auf eine beson ders harte Probe zu stellen. Täglich trafen Memoranden, Berichte und Anfragen ein, einige davon aus dem Zentralkomitee. Alles konnte in der Frage zusammengefasst werden: Wie lange noch? Schumuk seufz te. Höchste Zeit, drastische Maßnahmen zu ergreifen, beschloss er wi derwillig. Zunächst einmal mußte Parker aus der Gefahrenzone heraus – ein Grundsatz der Moskauer Zentrale. Kein in Russland geborener Agent wurde je seinem Schicksal überlassen. Parker war Idiot genug, sich mit jenem Mann eingelassen zu haben, der die Morde von Los Angeles und London verübte, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Im Gegenteil, es wurde sogar lebenswichtig, Parker heimzuschaffen; denn falls er von den Amerikanern verhaftet werden würde, stand ihm Mor danklage bevor. Zöge man aber Parker heraus, so bedeutete das gleichzeitig Gretsch kos Rückkehr nach Moskau – und dazu noch mit unbeschadetem Ruf. Gretschko brächte es fertig, den Zusammenbruch des Unternehmens Pogoni auf den Entschluss Moskaus abzuwälzen, Parker aus dem Ver kehr zu ziehen. Und Gretschkos Einfluß bei gewissen hochgestellten Schumuk-Feinden war genügend bekannt, um vorauszusehen, dass Schumuk schließlich zum Sündenbock für das Misslingen des Unter nehmens Pogoni gemacht werden würde. Das zu vermeiden, war wie derum Schumuk entschlossen. Schumuk hatte stets ein sehr scharfes Fernglas auf dem Fenstersims stehen; er fand es interessant und belehrend, die Leute unten auf der Straße zu beobachten. Der Bus zum Roten Platz kam an, die Passagiere stiegen zu. Es gab nicht genug Platz für jeden. Eine Frau stieg aus, rief ein vorüberfahrendes Taxi; ein Mann mit hellblauem Hemd brüllte wütend den Busfahrer an, aber der Bus fuhr weiter. Das war ungehörig 388
und unrussisch. Die anderen, die gewiß ebenso wütend waren, wand ten sich ab, als sei nichts geschehen. Nachdem der Bus verschwunden war, zeigte man sich wieder resigniert, krümmte die Schultern, dreh te den Rücken dem Wind zu. Schumuk senkte das Fernglas. Der Bus nach Borodino war noch nicht angekommen. Schumuk fuhr mit den Fingerspitzen über die Telex-Meldung aus Washington. Er fühlte es fast: die langen Jahre im Geheimdienst, die Kenntnis aller Tricks und Lügen, aller Halbwahrheiten und Verräte reien hatten ihm einen Instinkt verliehen, der ihn nur selten im Stich ließ. Die ganze Geschichte mit Kleiber war nur ein CIA-Trick, und da mit wollte er nichts zu tun haben. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und kritzelte eine Meldung an das KGB-Büro in Washington, schrieb jeden Großbuchstaben behutsam in das graue, vorgedruckte Quadrat, damit sie der Schreiber vom Meldedienst in den verschlüsselten Text einfügen konnte: PARA EINS BESTÄTIGT GENEHMIGUNG MOSKAUER ZENTRA LE FÜR TREFF 982 STOP KONTAKTIEREN PARA ACHT MEL DUNG NUMMER 907.372-KLT ZEIT 22 00 UHR EINUNDZWAN ZIGSTER AUGUST STOP VORSICHT GEBOTEN STOP ERBITTE SOFORTIGE MITTEILUNG ERGEBNIS STOP JEDER KONTAKT MIT 907 (Parkers Referenzziffer) EINZUSTELLEN WIEDERHOLE JEDER KONTAKT MIT 907 AB SOFORT EINZUSTELLEN STOP ENDE PARA ENDE MELDUNG MOSKAU ZENTRALE Schumuk glättete das Papier, las den Text noch einmal durch. Viel leicht war diese Entwicklung ein versteckter Segen. Das grüne Licht für Gretschko könnte die Chance sein, der Karriere dieses Gecken ein Ende setzen. Schumuk nickte. ›Vorsicht geboten‹ – damit war er ge deckt, zwang jedoch Gretschko, sich zu diesem geheimen Treff zu be geben. Falls die CIA dahintersteckte und Gretschko in die Falle lockte, wäre er bei allen westlichen Geheimdiensten enttarnt und hätte keine Chance mehr, je einen Sitz im Direktorium einzunehmen. Noch ein weiterer Aspekt der gegenwärtigen Lage gab Schumuk 389
Grund zur Zufriedenheit: Falls das Treffen zwischen Kleiber und Gretschko am 21. August eine Falle war, würden die Amerikaner sich hüten, das KGB auf die bevorstehende Gefahr hinzuweisen. Schon des halb würden sie gegen Parker nichts unternehmen, bevor sie Gretsch ko in der Falle hatten, und das würde Schumuk Zeit lassen, Parker nach Moskau zurückzuholen. Er presste die Lippen aufeinander und nickte sich selbst zu. Dieses Szenario mit Parker würde ihm einen Tri umph verschaffen, und zwar im gleichen Augenblick, da Gretschko in die CIA-Falle tappte. Er lächelte. Parker war schließlich der wichtige re; Gretschko – was immer er auch anstellte – konnte sich hinter sei nem diplomatischen Status verschanzen. Schumuk stellte sich vor, wie er das alles – bescheiden – einem Untersuchungskomitee erklärte, wie man ihn seiner Brillanz wegen beglückwünschte. Er war schon dabei, auf den Knopf zu drücken, um den Schreiber vom Meldedienst zu rufen, als ihm ein zusätzlicher Gedanke kam. Warum nicht ganz sichergehen darin, das Gretschko-Kleiber-Treffen zu einem Fiasko werden zu lassen? Es war ihm nichts Neues, dass der britische Geheimdienst nach Kleiber fahndete, folglich könnte er ihm doch getrost erzählen, wo er am 21. August zu finden sei. Er könn te London alle Einzelheiten über das Treffen mitteilen – unter der Be dingung, dass sie Kleiber XPDierten. So war es am sichersten. Kleibers Indiskretionen würden sowohl London als auch Moskau nur in Verle genheit bringen. Zuerst spielte er nur mit dem Gedanken, eine halbe Stunde später war er von der Richtig- und Zweckmäßigkeit seiner Überlegung über zeugt: mit Hilfe der logischen Schlussfolgerung nämlich, dass er den CIA in eine peinliche Lage versetzen konnte, wenn er Kleiber den Eng ländern ans Messer lieferte. Er ging ans Fenster, hob das Fernglas wieder ans Auge. Der Bus nach Borodino war angekommen: leicht verbeult und voller Schmutz. Die Türen öffneten sich, und die uniformierten jungen Leute stiegen ein. Ein Junge nahm seine Mütze und putzte die Scheibe.
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ennifer Rydens Prioritäten waren nicht leicht zu begreifen, stellte Boyd Stuart fest. Sie hatte ihn ganz dringend sehen wollen, aber nun, im Modesalon in der Sloane Street, schien sie sich nur noch für das Kleid zu interessieren, das sie auf einer Party tragen wollte. »Gott sei Dank warst du nicht in Kalifornien.« Ihre Stimme kam durch den Vorhang der Umkleidekabine. »Warum?« fragte Boyd Stuart. Er saß auf einem kleinen vergoldeten Stuhl und sah sich in den hohen Wandspiegeln vervielfältigt. »Liebster«, sagte Jennifer Ryden, die diesem Wort jeden gewünsch ten Klang zu geben vermochte, »Liebster!«, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kind spricht, oder ein Filmstar, von seinen Fans belagert. Sie steckte den Kopf durch den Vorhang, während sie das Kleid an den Körper hielt. »Weil du endlich all meine Schätze gefunden hast.« »Sie waren in dem großen Kabinenkoffer.« »Dem Himmel sei Dank.« Ihr Kopf verschwand wieder. »Lassen Sie mich noch einmal das rosa Kleid anprobieren«, rief sie der Verkäufe rin zu. »Du hast sie dort hineingetan, Jennifer. Du hast gesagt: lass sie im Koffer und rühr' sie nicht an«, sagte Boyd Stuart Richtung Vorhang. »Aber du hast ihn doch geöffnet …« Die Verkäuferin reichte das rosa Kleid durch den Vorhang. »… und all die Dinge gefunden, die du verlangt hast«, sagte Stuart. »Das hättest du wenigstens mir überlassen können. Hast du das Schloss aufgebrochen?« »Es stand offen«, sagte Stuart. »Zuerst beklagst du dich, die Sachen verloren zu haben, und jetzt beklagst du dich, dass ich sie gefunden habe. Bist du denn nie zufrieden?« 391
Sie verließ die Umkleidekabine, rauschte an ihm vorbei, ließ ihr Kleid vor den Spiegeln wallen und begutachtete sich von allen Seiten. »Mit dir bin ich jedenfalls nicht zufrieden, Liebster, du bist mir viel zu schlau.« Sie blickte sich nach der Verkäuferin um, wollte feststellen, ob sie sie gehört hatte, entdeckte jedoch nicht das leiseste Zeichen von Indiskretion. Jennifer drehte sich auf den Hacken, stützte die Hände in die Hüften, brachte die Anmut ihrer schlanken Arme und Beine zu voller Wirkung. »Ich werde das Grüne noch einmal anprobieren«, rief sie der Verkäu ferin laut zu. Jennifer schien sich über irgendeinen geheimen Gedanken zu amü sieren. »Du hast doch Daddy nichts erzählt?« fragte sie, als sie allein waren. »Ihm was erzählt?« Das war es also. Sie wollte nur sicher sein, dass Boyd ihrem Vater nichts von der Nacht erzählt hatte, als er unerwar tet aus Rostock in Ostdeutschland zurückgekehrt war. Damals hatte er sie mit dem Mann einer ihrer ehemaligen Schulfreundinnen in seinem Bett vorgefunden. »Ihm was erzählt?« »Von dieser dummen Geschichte mit Johnny.« Sie ging in die Kabine zurück, schlüpfte aus dem Kleid, ließ es am Boden liegen. »Welche dumme Geschichte?« »Möchte Madame das Gestreifte anprobieren?« Die Verkäuferin hielt ein halbes Dutzend langer Kleider über den Arm gefaltet. »Nur das Grünseidene«, sagte Jennifer. Aber die Verkäuferin trat zur Kabine und hängte alle mitgebrachten Kleider am Haken auf und ver schwand. »Mit mir und Johnny, damals, in jener Nacht«, sagte Jennifer unter lautem Flüstern. »Hast du Daddy davon erzählt? Er ist seit ein paar Ta gen in entsetzlicher Laune.« Sie fuhr sich mit den Fingern übers Haar. »Ich habe deinem Vater nicht erzählt, dass ich damals vorzeitig aus Deutschland zurückkam und dich mit unserem lieben alten Freund Johnny beim Ausprobieren der Matratze vorfand«, sagte Boyd Stuart. »Das bewahre ich mir für den Tag auf, wenn ich den Dienst quittie re.« 392
Sie lächelte. Es war das gleiche freudlose Lächeln, dessen sich ihr Va ter bediente, wenn ihm ein Gespräch peinlich wurde. »Das ist gut«, sagte sie, blickte in den Spiegel, hielt sich den Gürtel um die Hüften. »Aber Daddy ist in letzter Zeit in furchtbar gereizter Stimmung; das kann doch nicht nur mit der blöden Taschenuhr zusammenhängen. Nur, weil ich sie verloren habe.« Sie sah ihn im Spiegel, erhaschte sei nen Blick, lächelte schelmisch, bewegte ihre Hüften, als wollte sie ihn daran erinnern, was er an ihr verloren hat, kehrte in die Kabine zurück und zog sich das eigene Wollkleid an. »Die Uhr mit der Widmung für Elliot?« »Ich dachte mir, es muß einfach etwas dran sein, an dem, was du ge sagt hast.« Der Verkäuferin im hinteren Raum rief sie zu: »Ich gehe noch rasch zum Friseur und komme dann wieder. Ich kann mich für kein Kleid entscheiden, solange das Haar nicht richtig sitzt.« »Ja, Madame.« Die Verkäuferin las die Kleider auf. Jennifer Ryden trat mit zwei Einkaufstaschen von Harrods und meh reren bunt eingewickelten Paketen aus verschiedenen Geschäften in Knightsbridge aus der Kabine. Sie übergab alles Boyd Stuart, der ihr, wie ein Packesel beladen, folgte. Draußen blieben sie einen Augenblick auf der Straße stehen, während sich Jennifer den Seidenschal von Li berty um den Kopf band. »Es gab eine Nachricht für dich, Boyd«, sagte sie. Sie blickte ihn teil nahmslos an, als er vorüberfahrenden Taxis zuwinkte. »Was für 'ne Nachricht? 'ne Rechnung?« Ein freies Taxi fuhr vorbei, aber der Fahrer übersah sie, weil er gerade einen Autobuschauffeur an pöbelte. »Haben die Leute von Barclaycard schon wieder einmal fest gestellt, dass ihr Computer einen Fehler gemacht hat?« »Eine telefonische Nachricht, die deine Arbeit betrifft.« Sie wuchs in einem Haushalt auf, wo das Kommen und Gehen finsterer Gestal ten zum Alltäglichen gehörte, und war es gewohnt, Pistolen im Klei derschrank und Säckchen mit Goldstücken auf dem Kamin zu finden; nachts leise, fremde Stimmen und das Zuschlagen von Wagentüren zu hören. Deshalb gab es Dinge in Boyds Leben, an denen sie nichts aus zusetzen hatte. »Ein Mann namens Schumuk möchte sich mit dir am 393
Sonntag in Widewater, Sollerod, in der Nähe von Kopenhagen, treffen. Ich habe Daddy davon erzählt.« »Und was hat er gesagt?« Sie blickte ihn ruhig an, ignorierte den sarkastischen Klang seiner Stimme. »Daddy bat mich, es dir auszurichten.« Boyd Stuart nickte. Die Schumuks und Rydens dieser Welt sind vor sichtig und stets darauf bedacht, sich in keiner Weise bloßzustellen. Nichts geben sie einem schriftlich. »Mr. Schumuk schien ganz sicher zu sein, dass Daddy dich gehen las sen würde. Eins möchte ich wissen: Woher wusste dieser Mann, dass ich dich heute treffen würde?« »Schumuk ist KGB-General. Ich kann mir denken, dass er eine Men ge über uns weiß; seine Stelle in Moskau entspricht der deines Vaters hier.« »Du scheinst ihn ja direkt zu bewundern.« »Ich hasse diesen bösartigen alten Bastard«, sagte Boyd Stuart. Jennifer erschauderte und trat einen Schritt zurück. Sie hatte verges sen, welch kalter Grausamkeit er fähig war; es erschreckte sie immer wieder. »Du solltest nicht hingehen, Boyd. Es klingt gefährlich.« Sie sagte es zu rasch und zu automatisch, als dass es wahre Liebe hätte sein kön nen. »Daddy will, dass ich gehe, Jennifer, und was Daddy will, das kriegt er auch.« »Das ist flegelhaft von dir, Boyd.« Sie winkte einem Taxi zu, das ge rade um die Ecke kam, seine Scheinwerfer aufblitzen ließ und vor ihr hielt.
Sollerod ist ein Dorf auf der dänischen Insel Sjælland. Die alte Küsten straße führte an dem großen Haus mit Namen Widewater vorüber. An dieser Stelle verengt sich die Ostsee dem Kattegatt zu. Vom Garten des Hauses aus sieht man die schwedische Küste. 394
General Schumuks Bemühungen, unauffällig auszusehen, hatten zu seltsamen Resultaten geführt: er trug ein hellgrünes Hemd mit kurzen Ärmeln – aus denen seine dürren Arme wie Stöcke herausragten –, das ihm locker um die Brust hing, dazu Manchesterhosen und Schuhe mit vergoldeten Schnallen. Er sah wie ein Schiffbrüchiger aus, den die überbeanspruchte Seemannswohlfahrt rasch eingekleidet hatte. Das Haus war groß und modern, mit vom Fußboden bis zur Dek ke reichenden Fenstern und weißgestrichenen Wänden. Ein Mobiliar aus hellem Teakholz in jener unbequemen skandinavischen Machart, die sich als Kunst ausgibt. An den Wänden: große abstrakte Gemälde in Primärfarben, von Spotlights aus poliertem Metall angestrahlt. Um die kalte Inneneinrichtung etwas aufzuheitern, lagen bunte Orienttep piche auf den gebohnerten Holzfliesen verstreut umher. Vom Fenster aus hatte man klare Sicht auf Wasser, Wolken und blauen Himmel. »Die Amerikaner haben Kleiber entführt«, sagte General Schumuk, ohne sich eine Bewertung dieses Ergebnisses anmerken zu lassen. Er fuchtelte ungeduldig mit der Hand vor dem Gesicht, um die Wolken stark riechenden russischen Tabaks zu vertreiben. »Aber London hat Kleiber bereits für XPD vorgemerkt. Wussten Sie das?« »Und wo ist Kleiber jetzt?« fragte Stuart. Es verblüffte ihn, dass ein solches Geheimnis bereits zu Schumuk vorgedrungen war. Der XPDBefehl für Kleiber war erst vor einem Tag unterschrieben worden. Er fragte sich, ob nicht Schumuks Anruf in Wirklichkeit Sir Sydney Ry den gegolten hatte. Schumuk streckte die Beine aus, wobei seine Knochen knackten, drückte den Kopf in ein handgewebtes Kissen, ließ den Rauch der Zi garette durch knochige Finger kringeln. Boyd Stuart schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Lag Breschnew im Sterben? War eine Krise in der Armee eingetreten? Gab es Schwierigkeiten mit der Ernte oder Neuigkeiten über des Kremls Nomenklatura? Oder sollte es ein Handel um Kleibers Leben sein? Ein Dienstmädchen brachte Kaffee herein. Während sie Tassen, Teller und ein Tablett mit Kuchen hinstellte, herrschte Schweigen. Man sah Segelboote hinter dem großen Fenster, Sonntagskapitäne; 395
vier Boote, eins mit einem orangefarbenen Dreiecksegel. Dahinter, im Dunst verschwommen, erkannte man die grauen Umrisse eines Kriegs schiffes. Boyd Stuart erinnerte sich des Tags, da er von Rostock über die Ostsee kam. Die Warnung wurde am frühen Morgen durchgege ben – ein durchs Taschentuch gefilterter Satz mit polnischem Akzent; es war eine Mädchenstimme. Jemandes Tochter, Freundin oder Frau hatte für den Engländer ein schreckliches Risiko auf sich genommen. Auf dem Weg zum Hafen hatten ihn ein paar Streifenwagen überholt. Mein Gott, es war wirklich sehr nahe dran gewesen, und die Fahrt bis zur dänischen Küste schien eine Ewigkeit zu dauern. Seitdem hatte er stets, wenn er ein dänisches Wort hörte, ein Dankgebet gesprochen. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass meine Teilnahme ganz inof fiziell ist«, sagte Schumuk. Mit Erpressung oder Bestechung ist bei diesem Kerl nichts auszu richten, sagte sich Boyd Stuart. Ein solches Reptil setzt sich nicht in Bewegung, solange sein Nest nicht voll geschützt ist. »Natürlich«, sagte Stuart. Er erwiderte den Blick des bösen alten Mannes. Hager und runzlig und ständig hämisch grinsend, wie der Onkel Sam in den politischen Karikaturen des Krokodil. »Kleiber wird sich mit einem unserer Botschaftsleute in einem Ho tel in Mount Vernon treffen, knapp jenseits der Staatsgrenze Washing tons, und zwar am Dienstagabend, dem 22. August.« »So bald schon?« »Sie werden sich beeilen müssen, Mr. Stuart. Aber es bleibt Ihnen nur mehr eine Woche.« »Bitten Sie für Ihren Mann von der Botschaft um Schutz?« »Im Rahmen des Möglichen«, sagte Schumuk. »Und für Kleiber keinen?« Boyd Stuart blickte den alten Mann an. Seinem ausdruckslosen Ge sicht war nichts abzulesen. Er wollte also, dass Kleiber XPDiert und der Botschaftsbeamte verhaftet wurde. Schumuks hoher Rang im KGB bot ihm genug Sicherheit, um spätere Beschuldigungen nicht befürch ten zu müssen. Für einen solchen Verrat hatte er sich den besten Weg gewählt: keine Kuriere, keine Meldegänger, keine Vertraulichkeiten; 396
nur ein Gespräch zwischen Schumuk und einem feindlichen Agenten, ohne Protokoll, ohne Beweise. »Sie werfen Ihren Mann den Wölfen vor, nicht wahr, Herr Gene ral?« »Den Amerikanern wird keine andere Wahl bleiben, als Sie zuzulas sen«, sagte der General. »Jetzt, da Sie darüber informiert sind, werden sie mit Ihnen zusammenarbeiten müssen.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Was hat dieser Mann in Washington getan?« fragte Stuart, der es genau wissen wollte, »und warum muß Kleiber sterben?« »Weinen Sie ihm nicht nach, Mr. Stuart«, sagte Schumuk und streif te die Zigarettenasche in einem Blumentopf ab. »Auch uns wird nie mand nachweinen.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht wie ein kleines Kind, das aus einem Eisenbahnwagen winkt; aber es war nur seine Art, den Zigarettenqualm zu verteilen.
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s war immerhin überraschend – so schrieb Boyd Stuart später in seinem Bericht –, dass der CIA der Versuchung widerstand, das Rousillon Beach Motel mit den üblichen elektronischen Geräten aus zustatten. Der Planungsvorsitzende lehnte es, als der Berater der tech nischen Abteilung mit einer ganzen Sammlung raffiniertester Appara te zu ihm ins Büro gekommen war, strikt ab. Nachtsichtkameras, Mi krofone mit Parabolreflektor, ein Videoaufnahmegerät, das in eine Glühbirne passte – alle Bemühungen des vorführenden Technikers fruchteten nicht. Die CIA schickte Kleiber ›nackt‹ zu der Zusammenkunft, und nur Kalkhoven und Boyd Stuart saßen im hinteren Büro des Hoteldirek tors. Es war nicht mehr möglich gewesen, den Engländer an der Teil 397
nahme zu hindern. Eigentlich freute man sich, ihn zum Zeugen eines Ereignisses zu machen, von dem alle annahmen, dass es eine Sensati on sein würde. Jurij Gretschko kam direkt von der sowjetischen Botschaft in Was hington und fuhr an dem bewussten Abend um neunzehn Uhr drei ßig in einem gemieteten grünen Ford-Fairlaine vor. Unter dem Namen Lewis hatte er eine Doppelsuite mit Salon und Ausblick auf den Swim ming-pool, mit Wasserbett und Farbfernseher bestellt. Er bezahlte die Miete im voraus und erkundigte sich, ob man eine Nachricht für ihn hinterlassen habe. Man bedauerte. Fünf Minuten vor zwanzig Uhr rief Gretschko im Büro an, beklagte sich, es sei nicht genug Eis im Kühl schrank, außerdem brauche er einige Dosen Seven-Up. Die Kellnerin, die ihm die Getränke aufs Zimmer brachte, berichtete, er habe schwer getrunken, sich eine Flasche eigens dazu mitgebracht. Pünktlich um zehn Uhr nachts traf Willi Kleiber zu seiner Verab redung ein. Kalkhoven saß am Empfangstisch, gab ihm den Schlüssel zur Wohnung Nummer zwölf und sagte ihm, Mr. Lewis sei bereits da. Kleiber rief Kalkhoven drei Minuten später an und lachte dermaßen, dass er kaum noch sprechen konnte. »Sie sollten am besten mal gleich hier rüberkommen, Mr. Müller«, sagte er. (Müller war der Deckname, unter dem ihm Kalkhoven be kannt war.) »Kommen Sie lieber gleich rüber.« Er lachte hysterisch. »Sie werden sich ein neues Szenario ausdenken müssen, Mr. Müller. Aber es hat schließlich keine Eile, wir alle haben Zeit. Wussten Sie, dass Jurij Gretschko sich ›Juju‹ nennt?« Beim bloßen Gedanken daran brüllte er vor Lachen. General Stanislaw Schumuk hatte sich seinen Plan sehr geschickt zurechtgelegt, nur mangelte es ihm an Menschenkenntnis. In seiner Abneigung gegen Jurij Gretschko und dessen Schwäche für hübsche Frauen war Schumuk überzeugt, dass Gretschko allen Weiberröcken nachrannte. Tatsächlich jedoch war Gretschko wahnsinnig unglück lich verliebt; er liebte mit jener Verzweiflung, die nur wenige Sterbliche kennen. Gretschkos Schicksal war es, ausgerechnet in Fusako Parker, in die ›Ehefrau‹ seines wichtigsten Agenten, verliebt zu sein. Für sie – 398
so hatte er schon oft verkündet – würde er sein Leben hingeben, und genau das hatte er soeben getan. Schumuks ausdrücklicher Befehl an Parker, mit seiner ›Frau‹ das Haus in Chicago sofort zu verlassen, hatte Gretschko zu dieser Ver zweiflungstat getrieben. Parker und Fusako wurden von den russi schen Agenten gleich darauf in ein konspiratives Haus in Toronto gebracht und am Donnerstag, dem 16. August, nach Moskau geflo gen. In den sechs Tagen, die seinem Selbstmord vorausgingen, hat te Gretschko alles nur mögliche getan, um sich mit Fusako Parker in Verbindung zu setzen, aber vergebens. In der Nacht zum Sonntag, dem 19. August, als er schließlich erfuhr, dass die Parkers nach Toron to gebracht worden waren, hatte er sogar eine Gruppe von Männern ausgeschickt, um in das Haus einzubrechen. Eine Verzweiflungstat, folglich schlecht geplant; die nicht genügend geschulten Männer stell ten es so ungeschickt an, dass sie von der örtlichen Polizei kurz dar auf verhaftet wurden. Gretschko war bereits ziemlich angeschlagen, lallte und roch stark nach Whisky, als er im Motel ankam; hatte dort noch eine ganze Fla sche Cutty Sark getrunken und eine nicht festgestellte Menge an Bar bituraten geschluckt. (Der Mann von der sowjetischen Botschaft, der die Leiche abholte, verbot eine Autopsie.) Der tote Gretschko hielt ei nen Bogen Briefpapier des Rousillon Beach Motels in der Hand, auf den er gekritzelt hatte: »Geliebte Fusako, ich kann ohne Dich nicht weiterleben. Ich liebe Dich, mein angebeteter Engel. Ich bin auf immer Dein geliebter Juju.« »Melvin, darf ich mit Mr. Kleiber sprechen?« fragte Boyd Stuart. »Reden Sie mit ihm!« Kalkhoven hielt unverändert seinen Blick auf Kleiber gerichtet. »Was mich anbetrifft, so können Sie ihn den Alliga toren zum Fraß vorwerfen. XPDieren Sie das Schwein!« »Jetzt hören Sie mal«, sagte Willi Kleiber und erhob sich mit glän zenden Augen. »Es gibt doch eine Abmachung.« »Setzen Sie sich, Kleiber«, sagte Kalkhoven. Er zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. »Sie haben keine Ware mehr anzubieten, die Regale stehen leer, Sie. Gretschko wäre eine Eintrittskarte gewe 399
sen, aber damit ist es aus. Unterhalten Sie sich mit diesem netten Her ren dort.« Kalkhoven nahm Gretschkos Abschiedsbrief und zündete ihn an. London und Washington hatten sich darauf geeinigt, alle Art von Be weisstücken auf der Stelle zu vernichten. Das war ein Befehl. »Scheren Sie sich zum Teufel«, sagte Kleiber, aber seine Stimme klang nicht überzeugend. »Siehe, hier ist das Leben und dort der Tod«, sagte Kalkhoven, »hier der Segen und dort der Fluch; darum wähle das Leben, auf dass du und deine Saat nicht verderbet.« Kleiber blickte Boyd Stuart an. »Könnten Sie 'ne Flasche Scotch auf treiben?« »Das müßte möglich sein«, sagte Boyd Stuart ruhig. »Gehen wir ir gendwo hin, wo wir in Ruhe sitzen können. Hier wird es gleich wie im Irrenhaus zugehen, wenn all die Leute aus Langley auftauchen und uns beweisen wollen, was sie bei ihrer Schulung alles gelernt haben.«
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emand hatte einen großen Lastwagen so geparkt, dass er die Aus sicht der zum Hof führenden Fenster versperrte. Kleiber wusste, dass das kein Zufall war. Alles, was er vom Küchenfenster aus erkennen konnte, war der untere Teil eines riesigen K. War es Kleenex oder Kel loggs – er konnte es nicht sehen, der Wagen stand dicht an der Mauer. Vom vorderen Fenster aus sah man den Swimming-pool in seinem künstlichen Blau und mit Unterwasserbeleuchtung; ringsum lagen die drei Flügel des Motels. Hinter den niedrigen, heruntergezogenen Dä chern erblickte man ein paar verstaubte Palmen und einen Fabrik schornstein, auf dem nachts ein rotes Warnlicht blinkte. Kleiber fragte sich, ob sie sich in der Nähe eines Flugplatzes befanden, nur Motoren 400
geräusche waren nicht auszumachen. Er wusste nur, dass Washington nicht weit sein konnte. So war es, seit er Genf verlassen hatte, immer gewesen: die Amerika ner schleppten ihn wie ein Frachtpaket im ganzen Lande umher; lie ßen ihn nie wissen, wo sie waren, woher sie kamen, wohin es morgen gehen würde. Sie trauten ihm nicht, und er konnte es ihnen kaum übel nehmen. Er fragte sich, ob sie ihn schließlich töten würden. Vielleicht wollten sie nur sicher sein, dass es keine Papierarbeit, keine Spuren und keine Zeugen seines Ankommens in den Staaten gab. »Sie behaupten, die Hitler-Protokolle hätten nie existiert?« fragte er den Engländer. Er wartete nicht auf Antwort. »Ich weiß aber, dass es sie gegeben hat.« »Tatsächlich?« sagte Stuart, ohne viel Interesse zu zeigen. »Wie kön nen Sie das wissen?« »Ich war in der Mine in Merkers, als Wever und Breslow sie dort ab lieferten.« »Dann waren also Sie der geheimnisvolle Reichsbankdirektor Frank?« Kleiber nickte und lächelte. »Haben Dr. Böttger und die ande ren Sie deshalb ausgewählt, um sie zurückzuholen?« »Kann ich etwas zu trinken haben?« bat Kleiber. Stuart schraubte die Whiskyflasche auf, goss etwas in einen Motel-Plastikbecher. Er hatte Kleiber nervös gesehen, aber jetzt, da er seinen Drink hatte, war er ru hig und beeilte sich mit dem Trinken nicht. »Nein, es war umgekehrt, ich habe sie ausgewählt.« Er nahm einen Schluck Whisky. »Es war mei ne Idee. Ich ging zu ihnen und erzählte, dass ein gewisser Lustig Ma terial zu einem Film sammelt. Ich erzählte ihnen, dass er die Nase tief in die Geschichte der Kaiseroda-Mine gesteckt hat. Ich erzählte ihnen, er habe bereits einen Offizier namens MacIver ausfindig gemacht, der ganz groß auspacken und die Geschichte der Hitler-Protokolle mit Be stimmtheit ans Licht bringen wird. Ich hatte schon vorher für derarti ge Aufträge von Böttger Geld bekommen und wusste, dass er in dieses Projekt einsteigen würde.« »Von ihm werden Sie kein Geld mehr bekommen, Kleiber. Er weiß, dass Sie für Moskau gearbeitet haben.« 401
Kleiber verzog den Mund und brachte ein gezwungenes Lächeln zu stande. »Was hat er gesagt?« »Ich war nicht dabei«, sagte Stuart. »Aber sie erstatten der Bank in Genf die hundert Millionen Dollar zurück. Offiziell wird erklärt, dem Computer sei ein Irrtum unterlaufen. Der Name Friedman wird nicht erwähnt.« »Der junge Stein wird es erben«, sagte Kleiber. »Er wird das Geld nehmen und Mary Breslow heiraten – das ist doch wohl der Schlus seffekt, was?« »Eine Menge Leute werden davon profitieren«, sagte Stuart, der den wirklichen Schlusseffekt kannte und gar nicht lustig fand. »Da wären nach Delaney, der Nachtlokalbesitzer, ein Exgangster namens Petruc ci, Pitmans Neffe in Arkansas – sie alle werden etwas davon haben, vor allem aber wird es eine Freude für die Kunden der Bank sein, für jene Leute, die Sie beschubst haben, Kleiber.« »Ach, hören Sie schon auf«, sagte Kleiber. »Wie haben Sie erfahren, dass Lustig einen Film machte?« »Ich saß eines Abends mit Max Breslow in Frankfurt beim Essen, und er erwähnte es ganz beiläufig. Er fragte mich, ob es meiner Mei nung nach gefährlich für uns werden könnte. Ich sagte ihm, es würde nicht gefährlich sein, wenn die Produktion in unseren Händen läge. Ich erzählte ihm, ich könnte vielleicht genug Geld auftreiben, um Lu stig rauszukaufen.« »Wusste Breslow, dass das Geld von Böttger kam?« Kleiber lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schwieg eine Weile, be vor er antwortete. »Max Breslow hat den Krieg nicht überwunden. Als junger Soldat hatte er mal Mumm. Vor langer, langer Zeit war er ein harter Bursche, Mr. Stuart, wie Sie und ich es noch sind.« »Haben wir etwas gemein?« »Sie können mir nichts vormachen mit Ihrer weichen Stimme und Ihrem vornehmen Akzent, mit Ihrem vagen Lächeln und den feinen Manieren. Ich habe den Killer in Ihnen erkannt, Mr. Stuart. Ich habe viele Leute Ihrer Art bei mir beschäftigt. Ein Irrtum ist ausgeschlos sen.« 402
»Und Max Breslow?« »Er glaubte an die Propagandascheiße, mit der die Nazis uns alle füt terten. Er erkannte nicht, dass die Schmierfinken, die den ganzen Mist über die Arier, die Vorsehung der Geschichte, ein Volk, ein Reich, ein Führer verzapften, es nur taten, weil es mehr Geld einbrachte als Karl Marx zu übersetzen.« »Aber dann kam wieder eine Zeit, wo es sich besser bezahlt machte, Karl Marx zu übersetzen, nicht wahr?« »Sie spielen die Melodie, und ich singe den Text, Mr. Stuart. Aber der gute alte Max war nicht so anpassungsfähig. Als er merkte, dass die Nazis nur eine Bande von korrupten Politikern waren, hat es ihm das Herz gebrochen. Seitdem ist er nie mehr der gleiche gewesen. Und was ist er jetzt? Eine Null!« »Aber er hat den Film von Lustig übernommen, als Sie ihn darum baten.« Kleiber lachte. »Glauben Sie etwa, der hätte es mir abschlagen kön nen? Max ist am Ende, er steht vor der Pleite. Wer würde in Bres lows schäbige kleine Filme Geld investieren? Sein Haus ist so gut wie gepfändet, er hat kein Geld auf der hohen Kante. Um seine Tochter durchs College zu bringen, hat er den Schmuck seiner Frau verkauft. Natürlich hat er sofort die Chance ergriffen, den Lustig-Film zu über nehmen; mit finanzieller Sicherheit und einem Produzentengehalt – das abzuschlagen konnte er sich gar nicht leisten.« »Und Sie haben die ganze Zeit Ihre Berichte nach Moskau ge schickt?« »Die Russen drohten, angebliche Beweise zu veröffentlichen, dass ich in Kriegsverbrechen verwickelt wäre.« Stuart ging auf das Wort ›angeblich‹ nicht weiter ein. »Und das KGB stimmte Ihrer Idee zu, Böttger und seinen Trust hineinzuziehen?« »Der Trust bot die ideale Deckung, durch ihn bekam ich Hilfe von Leuten, die den Russen nie geholfen hätten. Und dann das fachmänni sche Können! Ohne den Trust hätte ich Pitmans Bank nie und nimmer um die hundert Millionen Dollar bringen können.« »Was genau haben Sie Dr. Böttger erzählt?« 403
»Da brauchte es kein langes Überreden. Diese fetten Geschäftsleute sahen sofort die wirtschaftlichen Folgen einer neuen Geschichtsschrei bung, die Hitler zu einem Helden machen würde. Sie wollten nicht, dass irgend jemand sagen könnte, er sei schlau genug gewesen, um Winston Churchill aufs Kreuz zu legen.« »Aber Churchill hat sich ja dann doch anders besonnen und das Frie densangebot abgelehnt.« »Dann wird Churchill eben zum Kriegstreiber, der den Krieg weiter führte und zwanzig Millionen Menschen auf dem Gewissen hat. Dre hen Sie es, wie Sie wollen, Hitler kommt immer noch am besten da bei weg.« »Und das hätte der deutschen Wirtschaft geschadet?« »Publizität und Dementis hätten zu Unruhen und Demonstrationen, Straßenschlachten zwischen Neonazis und Linksextremisten geführt. Wenn das einmal anfängt, kann das Ende niemand absehen.« »Besonders, wenn General Schumuk die Fäden in der Hand hat«, sagte Stuart, aber Kleiber hatte noch nie von Schumuk gehört und rea gierte auf die Bemerkung nicht. »Wir Deutsche sind nun mal so«, sagte Kleiber. »Immer zu sehr be müht, es den Eroberern recht zu machen. Wir schmeicheln ihnen und ahmen sie nach. Und jetzt, da wir gespalten sind, haben wir zwei Hälf ten, von denen sich jede sklavisch bemüht, das System, den Mythos und die Methoden unserer Herren zu übernehmen. Aber Böttger weiß, dass die Bundesrepublik sich das makellose Andenken an Churchill und Roosevelt mehr als jedes andere westliche Land bewahren muß. Die Moskauer Zentrale meinte, Böttger könne damit recht haben, und angesichts der Bemühungen Ihrer Leute ist es auch in London so.« Er lächelte, nahm noch einen Schluck Whisky. Stuart sagte: »Man fürchtete einen Sturz der Sterling-Werte auf dem internationalen Devisenmarkt. Es braucht nicht viel, um die Lawine ins Rollen zu bringen. Und dann war man besorgt, wie es sich psycho logisch auf die öffentliche Meinung in Amerika auswirken würde, falls man plötzlich herausfände, dass Churchill um Frieden gebeten hat. Hier in den Staaten stützt sich der Ruf Englands auf Churchills legen 404
däre Entschlossenheit, auf den Ruf eines Mannes, der zum Symbol des Widerstands geworden ist. Und schließlich ist man bei uns auch sehr um die öffentliche Meinung in jenen Ländern besorgt, die Churchill an die Nazis auszuliefern bereit war. Einige dieser Länder beliefern Großbritannien mit Öl und lebenswichtigen Rohstoffen. Wir hatten also allen Grund, besorgt zu sein.« Als draußen Stimmen ertönten, stand Kleiber auf und ging ans Fen ster. Er blickte über den Pool zur gegenüberliegenden Hotelwohnung, wo zwei Männer in weißen Kitteln sich anschickten, Gretschkos Lei che zu untersuchen. Er sah sie durch die Tür gehen, wandte sich wie der Stuart zu. »Ich war dabei«, sagte er plötzlich. »Das wissen Sie doch, nicht wahr?« »Ich hatte es mir gedacht«, sagte Stuart. »Ich bin allen Unterlagen über Ihre Dienstzeit nachgegangen. Sie waren dem Führerhauptquar tier zugeteilt worden, als der Churchill-Besuch stattfand. Sie waren Of fizier des Sicherheitsdienstes, und da Sie nur um diese Zeit dort waren, schloss ich, dass es mit dem Gipfeltreffen und den dazugehörigen Si cherheitsmaßnahmen etwas zu tun hatte.« Kleiber blickte ihn an. So sind nun mal die Engländer: bei denen weiß man nie, woran man ist, obgleich sie einem weniger Angst als die Leute vom CIA machen. »Ich war mit Dr. Todt und dem Überwachungsteam dort, noch be vor der erste Stein gelegt war.« »Es wurde extra für die Begegnung mit Churchill erbaut?« »Natürlich. An sich nichts Besonderes. Es steht immer noch da. Vor ein paar Jahren kam ich mal wieder vorbei und trank im Hotel dort ei nen Kaffee. Es hat sich nicht viel verändert: eine Kirche, ein Hotel, eini ge Häuser, ein Betonbunker und ein paar Holzhütten. Wolfsschlucht, so hatte Hitler es genannt.« »Sie waren also da, bevor Churchill ankam?« »Ich war bei der Errichtung der neuen Sperren, der Verteilung neuer Ausweise und der Abgrenzung des Gebiets behilflich. Es war nur eine kleine Gruppe, die dann ankam. Keine Militärattachés oder Kriegs 405
korrespondenten, kein einziger Zivilist. Es war ganz offensichtlich, dass es sich um etwas Außergewöhnliches handelte. Uns wurde nur mitgeteilt, dass eine Konferenz stattfinden würde. Wir glaubten, dass Mussolini in den Norden käme, und ich nehme an, dass man uns ab sichtlich in diesem Glauben beließ.« »Aber es war Churchill.« »Er war der einzige in Zivilkleidung. Er trug einen zerbeulten grauen Hut mit Rollkrempe, eine gepunktete Fliege und einen schlechtsitzen den Mantel. Soweit ich mich erinnere, war sein Flugzeug unmarkiert. Wir sahen die zehn Messerschmitt-Abfangjäger in lockerer Formati on über Churchills De Haviland. Während der Landung in Le Gros Caillou in der Nähe von Rocroi in Frankreich, etwa zehn Kilometer von uns entfernt, kreisten sie weiterhin über dem Gebiet. Er wurde von dort in einem Fieseler Storch nach Brûly gebracht; zum Landen war auf einem Feld hinter dem Hotel gerade Platz genug.« »War Churchill allein?« »In Begleitung eines britischen Obersten in Zivil. Der Führer hatte zur Begrüßung eine kleine Ehrengarde aus Mitgliedern der SS und der Wehrmacht des Führerbegleitbataillons zusammengestellt. Churchill wurde eingeladen, sie zu inspizieren, winkte aber ab. Man begab sich direkt in die Holzbaracke, wo Sekretäre und Dolmetscher sie erwarte ten. Der Führer begrüßte Churchill an der Tür, aber die beiden Män ner schüttelten sich nicht die Hände. Ich hatte den Eindruck, Churchill wollte ganz sicher sein, dass keine Fotografen anwesend waren, er hat te es sich vorher ausbedungen. Wir hatten besondere Anweisung, alle Fotoapparate zu beschlagnahmen. In den Baracken hingen Bekannt machungen, in denen jeder aufgefordert wurde, seinen Fotoapparat dem Sicherheitsdienst auszuhändigen.« »Wer war bei dem Treffen anwesend?« »Hitler, Churchill, Churchills Oberst, unser Dolmetscher vom Aus wärtigen Amt.« Kleiber kratzte sich den Kopf. »Ich glaube, das war alles. Die Sekretäre und zwei weitere Dolmetscher hielten sich in der Nähe bereit, falls man sie benötigen würde.« »Und wer hat die Hitler-Protokolle aufgeschrieben?« 406
Kleiber lächelte. »Reichsführer-SS-Himmler hatte die Mentalität ei nes wahren Bürokraten. Er redete dem Führer ein, dass ein ordnungs gemäßes Protokoll erstellt werden müsse. Der Führer reagierte nervös und wollte das Gespräch durch eine solche Formalität nicht gefähr den. So nahm es Himmler schließlich auf sich, ein verstecktes Mikro fon mit einem Verbindungskabel einbauen zu lassen, damit ein Wehr machts-Stenograf den Verlauf des Gesprächs aufzeichnen konnte.« »Wer war das?« »Das haben Sie doch sicher schon erraten«, sagte Kleiber. »Franz We ver. Der Führer berief ihn oft, wichtige Verhandlungen mitzustenogra fieren. Er war einer der Besten seines Fachs.« »Franz Wever.« Hatte er also doch gewußt, wer Reichsbankdirektor Frank in Wirklichkeit war. »Er hat es sogar mir gegenüber abgeleugnet, komisch, nicht wahr? Er hat es mir gegenüber abgeleugnet, wo ich doch derjenige war, der das Kabel an die Hütte, in der er saß, anschloss. Franz hatte eine Heiden angst davor, dass jemand es herausfinden würde. Er fürchtete, seines Geheimnisses wegen ermordet zu werden.« »Was schließlich auch eintraf.« Kleiber verzog das Gesicht, schien dem widersprechen zu wollen, entschied sich jedoch dagegen. Franz Wevers Tod war kein Thema, über das er mit einem Mitglied des britischen Geheimdienstes zu re den wünschte. »Hitler war schlau«, sagte er. »Er konnte sich bescheiden und groß zügig stellen. Anstatt die Haltung eines Eroberers einzunehmen, blieb er Churchill gegenüber sehr ruhig und höflich. Er war nämlich ein ausgezeichneter Menschenkenner und wusste, dass er bei Churchill viel mehr erreichen würde, wenn er sich in Gegenwart eines ›Lords‹ wie ein englischer Gentleman benahm.« »Aber Hitlers Bedingungen waren hart. Sie haben die Protokolle doch sicher gelesen.« »Nicht in Anbetracht der Lage. Hitler bewunderte das britische Weltreich, beneidete es aber auch. Seine erste Sorge war, die deutsche Kriegsmaschine in Bezug auf Rohmaterialien völlig unabhängig zu 407
machen – er brauchte Gummi, Erdöl, Wolfram, Chrom und so wei ter. Er plante offenbar, sobald das Problem im Westen gelöst war, die UdSSR anzugreifen.« »Sie meinen, er hätte die britischen Kolonien übernommen?« »Die britische Flagge, sagte er, sollte weiterhin überall wehen, von Vancouver bis Kalkutta und Hongkong, er aber wollte seine Handels wege sichern. Ein großer Teil der britischen Handelsflotte sollte unter deutsche Kontrolle gestellt werden. Hitler hatte sich schon einige Ge danken darüber gemacht. Und dann gab es natürlich noch die Royal Navy. Deutschland konnte schließlich nicht zulassen, dass die Englän der weiterhin die Atlantik-Seewege beherrschten; sonst wäre es ja einer Einladung an Churchill gleichgekommen, uns die Hand an die Keh le zu legen.« »Eine Besetzung Großbritanniens?« »Nein. Nur ein paar Deutsche sollten gewisse Schlüsselstellungen einnehmen, Himmler Vetorechte bei allen Ernennungen hoher Poli zeibeamter eingeräumt werden. Damit hätten wir genügend Kontrolle gehabt und wären vorgewarnt, um Unruhen vorzubeugen.« »Wurde nicht geschrien?« »Überhaupt nicht. Das Gipfeltreffen verlief bemerkenswert ruhig. Die zweite Begegnung fand sehr spät statt – nach Mitternacht –, und zum letztenmal trafen sie sich am Mittwochmorgen, dem 12. Juni. Das war noch ermutigender. Churchill und der Führer schüttelten sich sogar die Hände. Es gab einige gedämpfte Jubelrufe. Churchill rauchte eine Zigarre und lächelte. In Gegenwart des Führers eine Zi garre rauchen zu dürfen, das war schon etwas. Wir alle waren über zeugt, das Frieden geschlossen war – wenigstens bis zum folgenden Sonntag.« »Was geschah am Sonntag?« »Es fing alles sehr gut an. Ich ging an der Kirche vorbei und sah vier Wehrmachtsangehörige im Gebet knien. Sie beteten für den Frieden, sagten sie. Hitlers Chauffeur fuhr den großen, schwarzen, dreiachsi gen Mercedes durch die Straßen. Das Dach war, wie bei großen Pa raden, zurückgeschlagen. Der Führer begab sich zum Schloss Acoz in 408
der Nähe von Charleroi in Belgien. Ich gehörte zur Sicherheitstruppe, die ihn begleitete.« »Schloss Acoz?« »Um sich mit dem jungen Oberst zu treffen, der Churchill beglei tet hatte. Jetzt war er hier, um Churchills Angebot zurückzuziehen. Es war ein hünenhafter Kerl, viel größer als der spanische Stabsoffizier, der ihn begleitete. Spanien verhielt sich natürlich neutral. Der spani sche Offizier war da, um die Sicherheit des Engländers zu garantieren. Beide trugen Zivil. Das Gespräch fand im Freien statt. Die drei Män ner standen unter den Bäumen, die Sonne schien. Hitler war steif, wir sahen, wie sich sein Gesicht verkrampfte: ein sicheres Anzeichen von Gefahr. Der englische Oberst sprach zuerst, redete zwei oder drei Mi nuten lang. Er hatte keine Notizen bei sich, schien seinen Text auswen dig gelernt zu haben. Dann stellte Hitler einige Fragen, und sie rede ten noch eine Weile weiter. Der spanische General sprach nur sehr we nig; denn er war ja nur dazu da, den Engländer, für dessen Sicherheit er verantwortlich war, zu begleiten.« »Und niemand hat dieses Gespräch aufgezeichnet?« »Wir standen alle außer Hörweite.« »Was ist schiefgegangen?« »48 Stunden nach dem Churchill-Hitler-Treffen war unsere Armee in Paris einmarschiert. An jenem Freitag stellte Hitler härtere Bedin gungen. Churchill hatte derweil über das transatlantische Telefon mit Roosevelt gesprochen. Roosevelt hatte ihm gesagt, falls er im Novem ber wiedergewählt werden würde, träten die Vereinigten Staaten in den Krieg ein.« »Woher wissen Sie das?« »Die Untersuchungsstelle der Reichspost hörte das transatlantische Gespräch mit: eine Funkverbindung mit leicht zu entschlüsselndem Raffersystem. Roosevelt versprach Hilfe, und das genügte Churchill, um seine Meinung zu ändern. Drei Stunden später hielt Hitler die Auf zeichnungen des Gesprächs in Händen. Er wusste, wie die Antwort ausfallen würde.« Kleiber kratzte sich die Nase. »Churchill rief noch am gleichen Abend, bevor er seinen Kurier abschickte, den französi 409
schen Ministerpräsidenten an. Die Franzosen reagierten sofort. An je nem Sonntag, als der Führer sich auf Schloss Acoz begab, trat die fran zösische Regierung zurück. Marschall Petain übernahm die Macht und bat um Frieden. Churchill hielt am Montagabend über BBC eine Rundfunkrede und sagte: ›Wir werden unbesiegbar weiterkämpfen, bis der Fluch Hitlers von der Stirn der Menschheit gelöscht ist.‹ Am Freitag saß Hitler auf Fochs Platz im Eisenbahnwaggon und hörte sich die Verlesung der Friedensbedingungen an, die die Franzosen anneh men mußten.« »Was geschah mit dem Engländer, der Hitler die Nachricht über brachte?« »Er kehrte mit dem spanischen General zurück«, sagte Kleiber. »Ich meine aber in Bezug auf das Unternehmen Siegfried. Er gehört doch schließlich auch zu denen, die in das Geheimnis eingeweiht waren.« »Er ist tot«, sagte Kleiber. »Er war einer der ersten, die wir von der Li ste streichen mußten. Er hat bestimmt Churchills volles Vertrauen ge nossen und wusste über die Geheimgespräche wahrscheinlich mehr als jeder andere – mit Ausnahme Hitlers und Churchills. Wir haben vor einigen Jahren Nachforschungen über ihn angestellt. Sein Name war Elliot Castelbridge. Er diente bei den Coldstream Guards, kämpf te in Italien, verlor bei einer Granatexplosion in Cassino einen Teil sei ner Hörfähigkeit und erhielt den DSO (Distinguished Service Order). Er bekam 1944 im Norden Europas einen weiteren Orden, an das üb rige kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir haben uns seine Akte durch das britische Kriegsministerium verschafft. Über Elliot Castel bridge wissen wir alles.« »Und Sie sagen, er sei tot?« »Er ist längst tot«, sagte Kleiber. »Er starb 1959 nach einem schweren Autounfall auf dem Operationstisch. Ihre Leute sind gründlich, das muß man ihnen lassen. Jede Einzelheit aus dem Leben dieses Man nes ist genauestens aufgezeichnet. Totenschein, Bericht des operieren den Chirurgen, Belege aus dem Krankenhausarchiv, Bluttransfusio nen, Röntgenbilder – kurz: alles, was man sich für eine gründliche Un tersuchung nur wünschen kann.« 410
»Ja, sie sind gründlich«, sagte Stuart. War es ein XPD-Kommando? Er hörte den ersten Wagen aus Langley ankommen. Plötzlich packte Stuart Kleiber am Jackenaufschlag. »Wo ist es, Klei ber?« Er stieß ihn mit einer solchen Wucht an die Wand, dass das gan ze Zimmer erzitterte. »Sie sind hierher gekommen, um es Gretschko zu geben. Gretschko ist tot. Geben Sie es mir.« Die Stimme hallte als Echo zurück. »Geben Sie es mir!« Stuart schlug ihn. Kleiber prallte mit dem Hinterkopf an die Wand, eine Tischlampe stürzte klirrend zu Bo den. Kleiber schüttelte langsam den Kopf und blinzelte. Seine Augen waren feucht vor Schmerz und Überraschung. Stuart sagte leise: »Ge ben Sie mir das Foto, das Franz Wever Ihnen postlagernd nach Los Angeles geschickt hat.« Kleiber schnallte sich langsam den Gürtel auf und zog ihn aus dem Hosenbund, öffnete den Reißverschluss der inneren Geldtasche des Gürtels und entnahm ihr eine sehr abgegriffene Momentaufnahme und das dazugehörige 35-mm-Negativ. »Woher wussten Sie das?« »Sie sammelten die Fotoapparate ein; das haben Sie mir selbst ge sagt. Sie waren als einziger in der Lage, eine Aufnahme von Hitler und Churchill beim Händeschütteln zu machen.« Stuart glättete das Foto, schaute es sich an. »Und Sie konnten sich in einer guten Ecke verstek ken, um das Bild aufzunehmen; denn als Sicherheitsoffizier erwartete man von Ihnen, dass Sie sich im Verborgenen halten.« Kleiber nickte. Es war ein verschwommenes Foto. Hitler blinzelte ins Licht, Churchill, mit der Zigarre im Mund, runzelte die Stirn, schaute leicht verwundert drein. Aber die beiden Männer drückten sich in einer un missverständlichen Geste des Einverständnisses fest die Hände. »Und was jetzt?« fragte Kleiber. Er fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht, blickte Stuart wachsam an, stellte überrascht fest, dass seine Vermutung bezüglich des gewaltsamen Charakters dieses Schot ten sich so rasch bestätigte. Stuart hatte alles erfahren, was er wissen wollte. Er begann bereits zu überlegen, wieviel davon in seinem Bericht an Sir Sydney Ryden ste 411
hen sollte, schaute auf die Uhr, fragte sich, ob die Buchhaltung mek kern würde, wenn er mit einer Concorde heimflöge. »Was jetzt – nichts, Kleiber.« Der Mann war ihm widerlich, aber das machte seine Aufgabe kaum angenehmer. Stuart klopfte sich auf die Taschen, als suchte er nach Zigaretten, fühlte die Schachtel mit der in Watte gewickelten Spritze. Eine ExtraAmpulle verwahrte er in einem silbernen Zigarettenetui, in dem sie nicht zerbrechen konnte. Er hasste diese XPD-Jobs, die die Laborato riumsexperten vorbereiteten. Es war schrecklich genug, Menschen mit einer Schußwaffe, einer Klinge oder Sprengstoff zu beseitigen – aber diese Gifte waren etwas Entsetzliches. »Es tut mir leid, Kleiber«, sagte er, »aber das ist das Ende der Ge schichte.« »Ich bin Soldat«, sagte Kleiber. Es klang fast so, als begrüßte er die Chance, wie ein Held zu sterben.
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