Gerhard Lessner
Wurmloch
Zukunftsroman
ISBN 3-937005-00-5 © 2003, AcademeEdition ein Produkt der CampusCons Pulikat...
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Gerhard Lessner
Wurmloch
Zukunftsroman
ISBN 3-937005-00-5 © 2003, AcademeEdition ein Produkt der CampusCons Pulikations und Consulting KG 1. Auflage 2003
Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Verfilmung, der Reproduktion, der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder anderen Wegen und der Speicherung in elektronischen Medien. Covergestaltung & Graphiken: Sabine Butzhammer, Becker Werbeproduktion, Laufen Layout Text & Lektorat: Jürgen Reuter Produktion: Becker Werbeproduktion, Laufen
Autorenportrait: Gerhard Lessner stammt aus der Familie eines evangelischreformierten Pastors und wurde 1940 in Uedem/Krs. Kleve geboren. Er wuchs in Bremen-Farge an der Unterweser auf. Nach dem Abitur am Alten Gymnasium in Bremen studierte er Physik in Göttingen und promovierte dort 1972 in theoretischer Physik. Nach einer etwa vierjährigen Mitarbeit an einem Forschungsprojekt über Gravitationsstrahlung an der Universität Konstanz kam er 1978 an die Universität Paderborn. Dort lehrt und forscht er seit 1995 als Professor für theoretische Physik. Eines seiner Hauptarbeitsgebiete ist die Allgemeine Relativitätstheorie und eng damit verbunden die Kosmologie. G. Lessner widmet sich neben seiner Arbeit mit viel Freude dem Schach- und Klavierspiel. Er lebt mit seiner Frau und einem Sohn in Schlangen, an der Grenze zum Lippischen zwischen Paderborn und Detmold. Buch: Im 23. Jahrhundert hat die Menschheit endlich den Weg zum dauerhaften äußeren Frieden gefunden. Die gravierendste Existenzkrise der Erde, hervorgerufen durch schwerste Umweltkatastrophen, konnte glücklicherweise durch gemeinsame Anstrengungen gerade noch abgewendet werden. Dem Wandel zur Sonnengesellschaft folgte daraufhin die Schaffung eines Weltstaates, der ein Leben frei von materiellen Existenzsorgen ermöglicht und Kultur und Wissenschaft neu erblühen lässt. Doch dieses Idyll steht urplötzlich vor der Zerstörung durch ein Phänomen aus dem Weltall. Der Autor beschreibt in spannender Form die Auswirkungen einer gleicherweise faszinierenden wie bedrohlichen
Erscheinung aus dem Weltall. Die Frage nach der realen Existenz dieser Erscheinung ist bis heute wissenschaftlich nicht endgültig geklärt – sie zu verneinen, wäre allerdings mehr als nur voreilig.
Danksagung
Mein Dank gilt Ingrid Reinecke und ihrer Schwester Heidrun Bartl für ihre liebenswerte Bereitschaft, das handgeschriebene Manuskript der ersten Fassung in eine gedruckte Form zu übertragen. Die vorliegende überarbeitete Fassung hat mit Geduld und großer Sorgfalt Astrid Canisius geschrieben. Mit ihrer konstruktiven Kritik brachte Sie mich zudem auf die Idee, den Prolog in der jetzigen deutlich verbesserten Form zu schreiben. Ihr sei dafür auf das herzlichste gedankt. Schließlich sei Barbara Nissen-Andersen und Ulrich Stalljohann für eine kritische Durchsicht des Textes sowie eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen herzlich gedankt.
Vorwort des Autors
Die Handlung des folgenden Romans wird diktiert durch eine gleicherweise faszinierende wie bedrohliche Erscheinung aus dem Weltall. Die Frage nach der realen Existenz dieser Erscheinung ist bis heute wissenschaftlich nicht endgültig geklärt – sie zu verneinen, wäre allerdings mehr als nur voreilig. Der an Kosmologie interessierte Leser findet im Anschluss an den Roman einen Anhang, in dem auf anschauliche Weise ein kurzer Einblick in den Aufbau des Universums gegeben wird. In ihm werden zudem einige Fachbegriffe, die in der Romanhandlung an einigen Stellen auftauchen, näher erläutert.
Prolog
Der diesjährige Weltkongress für neuere Geschichte an der Sorbonne in Paris ging seinem Ende entgegen. Die Veranstalter hatten der Versuchung nicht widerstehen können, ihn so zu legen, dass sein letzter Tag auf den 22.2.2222 fiel. Und an diesem letzten Tag sollte er mit einem öffentlichen Abendvortrag des aus Genf angereisten Präsidenten Michail Fedorowitsch Dostojewski über die Entwicklung der Menschheit in den zurückliegenden 250 Jahren seinen offiziellen Abschluss finden. Der riesige Hörsaal war trotz seines enormen Fassungsvermögens von etwa tausend Hörern lange vor Beginn des Vortrags bereits hoffnungslos überfüllt. Das Raunen erwartungsvoller Spannung füllte ihn bis unter seine hohe Decke, und im diffusen Licht liefen Menschen nach einem Platz Ausschau haltend die Seitengänge und den Mittelgang auf und ab, bis sie sich schließlich, ratlos und unschlüssig, auf den Stufen niederließen. Das raumfüllende Raunen schwoll an, als die Beleuchtung über dem Rednerpult eingeschaltet und dann sofort wieder ausgeschaltet wurde. Schließlich aber zeigten die langsam schwächer werdende Saalbeleuchtung und die erneut eingeschalteten Lichter über dem Rednerpult den Beginn der Veranstaltung an. Das Raunen erstarb, und der Leiter des Kongresses trat an das Pult, um einige einleitende Worte zu sagen. Er hieß Präsident Dostojewski herzlich willkommen und zeigte sich zudem hocherfreut darüber, dass auch die Vizepräsidentin, die farbige Südafrikanerin Isabel King, der
Einladung hatte folgen können. Die Erwähnung der Vizepräsidentin löste erneut gespannte Unruhe aus. Viele Zuhörer erhoben sich von ihren Sitzen, um mit gereckten Hälsen einen Blick auf die erste Reihe werfen zu können, in der Isabel King neben dem Rektor der Sorbonne saß. Ein wenig respektlos, aber doch ihrem Aussehen durchaus gerecht werdend, wurde sie weltweit, obwohl sie in der politischen Öffentlichkeit eher selten auftrat, „die schöne Isabel“ genannt. Nachdem sich die Unruhe wieder gelegt hatte, übergab der Leiter des Kongresses nach wenigen Sätzen das Wort an Dostojewski. Aus dem Saal wogte dem Präsidenten, der trotz seiner erst vierjährigen Amtszeit fast schon eine Legende war, tosender Beifall entgegen, obwohl er oder vielleicht auch gerade weil er das große Publikum im allgemeinen mied. Nachdem der Beifall abgeebbt war, begann Dostojewski in freier Rede. „Magnifizenz, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, liebe Freunde! Der diesjährige Weltkongress für neuere Geschichte und insbesondere auch das heutige Jahrtausenddatum sind mir willkommener Anlass, Ihnen allen in Erinnerung zu rufen, welch’ schweren und trotzdem erfolgreichen Weg die Menschen der vergangenen zehn Generationen gegangen sind, um unsere Erde zu dem zu machen, was sie heute ist. Die Menschheit hat sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, entgegen allen pessimistischen Erwartungen, unter Anspannung aller Kräfte zu einer aufgeklärten globalen Gesellschaft entwickelt. Die ersten Versuche zum Abbau der
abwegigen militärischen Überrüstung auf nuklearem, chemischem, biologischem und konventionellem Gebiet im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mündeten zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach einem etwa fünfzehnjährigen Rückfall der Vereinigten Staaten von Amerika in einen paranoiden Rüstungsfetischismus in eine ungeahnt rasche globale Abrüstung. Es waren die dramatisch angestiegenen Kosten bei der Energiegewinnung, beim Umweltschutz sowie im Gesundheits- und Sozialbereich, die Rüstung in dem damaligen Umfang unbezahlbar machten. Die durch die Abrüstung frei werdenden Ressourcen wurden erfolgreich gegen Armut, Hungersnot und Unterentwicklung eingesetzt, sodass zur Mitte des 21. Jahrhunderts die neun Milliarden Menschen zählende Weltbevölkerung in Frieden und nahezu frei von Existenznot leben konnte. Diese Entwicklung forderte jedoch ihren Preis. Neun Milliarden Menschen ein Leben ohne Existenznot und größtenteils in gehobenem Lebensstandard zu ermöglichen, war nur durch die Bereitstellung gigantischer Energiemengen möglich. Trotz beträchtlicher Fortschritte bei der Nutzbarmachung der Sonnenenergie sowie bei der Erschließung anderer regenerativer Energiequellen wie Windenergie, Wasserkraft und Biowärme wurde zur Mitte des 21. Jahrhunderts der weitaus überwiegende Anteil an Primärenergie nach wie vor aus der Verbrennung fossiler Stoffe wie Erdöl, Erdgas und Kohle gewonnen. Die Kernfusion als mögliche Lösung aller Energieprobleme war technisch in den Kinderschuhen steckengeblieben, und die Gewinnung nuklearer Energie in Atomkraftwerken wurde weltweit eingestellt, nachdem sich diese Technologie nach zwei weiteren Nuklearkatastrophen, die in ihrem Ausmaß die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 erheblich
überschritten, als von Menschen endgültig nicht beherrschbar und sich zudem die Entsorgungsprobleme als unlösbar erwiesen hatten. Zwar waren alle Produktionsanlagen und Kraftwerke sowie der weitaus größte Teil der Öl- und Gasheizungen in privaten Haushalten mit äußerst wirksamen Filtern ausgerüstet, die Schadstoffe aller Art nahezu vollständig zurückhielten. Auch war in ausnahmslos allen Fahrzeugen weltweit ein 3-WegeKatalysator eingebaut, der gegenüber den ersten Modellen aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erheblich verbessert worden war. Zudem konnte der Treibstoffverbrauch bei den Klein- und Mittelklassewagen auf drei bis fünf Liter pro einhundert Kilometer gesenkt werden, und weltweit war die Geschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt. Dennoch hatte der jährliche Schadstoffausstoß in die Atmosphäre gegenüber dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen. Die Allianz aus durchaus mutiger Gesetzgebung einerseits und technologischem Fortschritt andererseits war im Kampf gegen den Schadstoffausstoß dem dramatischen Anstieg des Energiebedarfs hoffnungslos unterlegen. So war die Menschheit zur Mitte des 21. Jahrhunderts zwar ihren klassischen Lebensbedrohungen wie Krieg, Armut, Hunger und Vertreibung entronnen, doch taumelte sie als Preis dafür jetzt in eine globale Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Diese Katastrophe hatte längst ihren mehr oder weniger theoretischen Charakter wie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts verloren. Ihre Vorhut bestimmte immer stärker auf äußerst bedrohliche Weise das Leben der neun Milliarden Menschen auf der Erde.“
Dostojewski verhielt kurz, um einen Schluck aus dem für ihn bereitgestellten Wasserglas zu nehmen. Dann wandte er sich wieder seinem Publikum zu, das er mit diesem ersten Abschnitt seines Vortrags bereits unverkennbar in seinen Bann gezogen hatte. Dabei faszinierte die Zuhörer mehr noch als das, was er sagte, die eloquente Form seines Redestils, die keinerlei Manuskript benötigte. „In der Tat“, fuhr er fort, „es waren schreckliche existenzbedrohende Entwicklungen. Das Ozonloch über der Antarktis hatte sich dramatisch vergrößert. Der Südzipfel Südamerikas war für Menschen unbewohnbar geworden, sodass im Süden Argentiniens und Chiles etwa eine Million Menschen nach Norden umgesiedelt werden mussten. Neuseeland und die Südküste von Australien waren zu Risikoregionen mit extrem erhöhter Hautkrebsgefahr geworden. Auch über dem Nordpolargebiet hatte sich ein großes Loch in der Ozonschicht gebildet, das sich ständig vergrößerte. Zwar hatte es die von Menschen bewohnten Regionen im Norden der Erde noch nicht erreicht. Dennoch war weltweit die dumpfe Angst in das Bewusstsein der Menschen gekrochen, in naher Zukunft von einer erbarmungslosen Sonne verbrannt zu werden. Zu dieser Angst gesellte sich die lähmende Gewissheit, dass diese Entwicklung auch nicht durch das totale und weltweite Verbot von Fluorkohlenwasserstoffen im Jahr 1996 hat verhindert werden können. Die Prognose von Fachleuten aus dem vorletzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, dass selbst nach einem sofortigen totalen Verbot der Ozonkiller die Ozonschicht etwa einhundert Jahre zu ihrer Regeneration benötige, schien sich in vollem Umfang zu bewahrheiten. Und noch eine weitere Bedrohung war schreckliche Wirklichkeit geworden. Das bei der Verbrennung fossiler
Stoffe freiwerdende und unaufhaltbar in die Atmosphäre entweichende Kohlendioxyd hatte den Treibhauseffekt dramatisch verschärft. Das auf die Erde treffende Sonnenlicht konnte nach seiner Umwandlung in Wärmestrahlung auf der Erdoberfläche die Erdatmosphäre wegen des stark gestiegenen Kohlendioxydgehalts nicht wieder verlassen. Die mittlere Temperatur der Atmosphäre hatte sich dadurch zur Mitte des 21. Jahrhunderts seit dem Ende des 20. Jahrhunderts um etwa zwei Grad Celsius erhöht. Dadurch war ein merklicher Teil des Festlandeises in Grönland und in der Antarktis geschmolzen, sodass der Spiegel der Weltmeere um etwa zwanzig Zentimeter angestiegen war. Die davon ausgehende Bedrohung war hingegen harmlos verglichen mit der durch die erhöhte Atmosphärentemperatur ausgelösten globalen Klimaverschiebung. Stürme und Regenfälle ungeahnten Ausmaßes und damit verbunden riesige Überschwemmungskatastrophen verwüsteten weite Landstriche der Erde, forderten Hunderttausende von Todesopfern und machten etwa eine halbe Milliarde Menschen obdachlos. In anderen, früher blühenden Regionen der Erde ließ jahrelange Dürre das Land veröden. So war die Menschheit um das Jahr 2070 erneut in eine schwere Existenzkrise geraten, und nur die nahezu totale Abrüstung zu Beginn des 21. Jahrhunderts und der damit verbundene Verzicht auf die Anwendung von Waffengewalt sowie ein weltweites internationales Krisenmanagement verhinderte zu dieser Zeit eine Selbstvernichtung der Menschheit in panischem Überlebenskampf.“ Der Präsident hielt ein weiteres Mal inne, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als er dann seinen Vortrag fortsetzte, hatte er sich vom Rednerpult gelöst und stand mit der linken Hand
in der Hosentasche neben, ja fast vor dem Pult, seine Worte mit sparsamen Gesten seiner rechten Hand unterstreichend. Und es waren eindringliche Worte. „Die drohende Apokalypse zwang die Nationen der Erde zu unverzüglichem und drastischem Handeln. Im Frühjahr des Jahres 2072 verabschiedete die UNO in seltener Einmütigkeit das für alle Nationen verbindliche Programm SOLARIS. Die wesentlichen Bestandteile dieses Programms waren die folgenden: 1. Im Rahmen eines von allen Nationen finanzierten umfangreichen Forschungsprojekts wird die Nutzbarmachung der Sonnenenergie mit allergrößter Intensität weiterentwickelt. Ziel ist es, weltweit die Energiegewinnung aus der Verbrennung fossiler Stoffe weitestgehend durch Sonnenenergie zu ersetzen. Dabei kommt der Entwicklung von leicht transportablen und hochbeständigen Energiespeichern mit extrem hoher Speicherkapazität zentrale Bedeutung zu. Zur Finanzierung dieses Projektes zahlt jede Nation jährlich für jeden ihrer Bürger eine bestimmte Summe in den Fond SOLARIS. Als Berechnungsschlüssel für die Summe pro Bürger wird das Bruttosozialprodukt pro Bürger in den einzelnen Ländern zugrundegelegt. Für die wirtschaftlich schwächsten Länder, gemessen am Bruttosozialprodukt pro Bürger, wird dabei eine zumutbare jährliche Belastung festgesetzt. Die Beiträge der übrigen Nationen werden dann aus den Verhältnissen der Bruttosozialprodukte pro Bürger berechnet. 2. Die Vereinigten Staaten von Amerika verringern bis zum Jahr 2078 ihren Verbrauch an Primärenergie um dreißig Prozent. Kanada, Japan sowie die Staaten der Europäischen
Gemeinschaft um zwanzig Prozent und die übrigen Staaten um zehn Prozent. 3. Jedes Land beginnt unverzüglich mit dem Bau eines umfassenden Netzes von Massenverkehrsmitteln für den Personenverkehr sowie eines ausgedehnten Schienen- und Wasserstraßennetzes für den Güterverkehr. Ab 1. Januar 2075 gilt weltweit ein strenges Verbot für benzin- und dieselgetriebene Fahrzeuge im Individualverkehr. Güterverkehr auf Lastkraftwagen ist von diesem Zeitpunkt an nur noch in ganz lokalen Bereichen erlaubt, und der Flugbetrieb für Individualreisen einschließlich Geschäftsreisen wird auf der ganzen Erde eingestellt. Wirtschaftlich schwache Länder erhalten für den Ausbau ihres Verkehrsnetzes umfangreiche finanzielle Hilfen aus dem Fond SOLARIS. 4. Ab sofort ist jede Waldrodung streng verboten. 5. Gegen Länder, die in irgendeiner Weise gegen das Programm SOLARIS verstoßen, wird ein Totalembargo verhängt. 6. Das Programm SOLARIS gilt zunächst auf unbestimmte Zeit.“ Dostojewski hatte, als er begann, das Programm SOLARIS vorzustellen, einen kleinen Zettel aus seiner Jackett-Tasche gezogen, auf den er gelegentlich einen Blick warf, um die Zahlen und Daten richtig wiederzugeben. Jetzt legte er den Zettel auf das Rednerpult und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Dieses Programm verlangte von allen Menschen über die Bedrohung durch die Naturkatastrophen hinaus große zusätzliche Opfer, denn die nationalen Beiträge für den Fond SOLARIS und die Mittel für den Ausbau der Verkehrsnetze konnten natürlich nur durch beträchtliche Gehaltseinbußen finanziert werden, die in fast allen Staaten nach Gehältern
gestaffelt festgesetzt wurden. In den Ländern Europas etwa hatte SOLARIS bei den hohen Einkommen Einbußen bis zu 30 % zur Folge. Natürlich gab es auch hier, wie stets, wenige Privilegierte in Politik und Wirtschaft, die ihre Macht dazu benutzten, sich mit schmutzigen Winkelzügen um ihren Beitrag zu drücken, obwohl derlei Verbrechen mit hohen Gefängnisstrafen ohne Bewährung und natürlich mit Verlust aller Ämter und Positionen geahndet wurden. Trotz der großen Opfer wurde SOLARIS von keinem Land der Erde boykottiert – zu bedrohlich war die Zwangslage aus apokalyptischem Untergang einerseits und Isolation durch ein Totalembargo andererseits. Es begann eine lange Zeit drastisch sinkenden Lebensstandards. Die extrem eingeschränkte Mobilität zwang die Menschen zu einer neuen Besinnlichkeit. Aus ihr erwuchsen die physischen und mentalen Fähigkeiten für den Überlebenskampf. Natürlich wurde diese Entwicklung immer wieder von schweren sozialen Unruhen begleitet, die nur durch drakonische Maßnahmen der einzelnen Regierungen unter Kontrolle gehalten werden konnten. Inzwischen wurde in den SOLARIS-Forschungszentren rund um die Uhr fieberhaft analysiert, gerechnet und experimentiert. Dabei machte die Entwicklung von hochergiebigen, langlebigen und mit geringem Energieaufwand herstellbaren Sonnenzellen zur Umwandlung der Sonnenenergie in elektrische Energie rasche Fortschritte, desgleichen die Entwicklung von leistungsstarken Kollektoren zur Umwandlung von Sonnenenergie in Niedertemperaturwärme. Der zentrale Bestandteil des SOLARIS-Konzepts war jedoch die Speicherung der über die Sonnenzellen und Windräder erzeugten elektrischen Energie in kompakten Einheiten mit extrem hoher und über lange Zeit
beständiger Speicherkapazität, um den einzelnen Verbrauchern ihren Energiehaushalt in handlicher Form anliefern zu können. Die Bemühungen, solche kompakten Speichereinheiten zu entwickeln, blieben trotz aller Intensität in den ersten Jahren nahezu ergebnislos. Erst nach zehn Jahren stellten sich die ersten Erfolge ein. Man hatte einen Festkörper exotischer Zusammensetzung gefunden, der es erlaubte, in einem viertel Kubikmeter dieses Materials so viel elektrische Energie zu speichern, wie sie dem Energiebedarf eines privaten Haushalts für etwa drei Monate entsprach. Es dauerte dann weitere zehn Jahre, um auf der Basis dieses Speichermaterials ein technologisch handhabbares und wirtschaftlich rentables Energieversorgungskonzept zu entwickeln. Die Energiespeicher mussten zunächst schnell, billig und mit geringem Energieaufwand herstellbar und dabei nicht zu schwer sein, sie mussten dann mit der über die Sonnenzellen gewonnenen elektrischen Energie gefüllt und schließlich über umfangreiche Verteilernetze zum Verbraucher transportiert werden. Im Jahr 2100 stand dann eine technisch ausgereifte Energiespeichereinheit zur Verfügung, die mit einem Gewicht deutlich unter einer halben Tonne auch allen anderen Anforderungen gerecht wurde, sodass im Jahr 2101 mit der globalen Verwirklichung des Energieversorgungskonzepts begonnen werden konnte. Etwa dreißig Jahre später hatte die Menschheit ihre wohl schwerste Existenzkrise überstanden. Sie hatte sich zu einer Sonnengesellschaft entwickelt, die ihre äußere Lebensenergie nahezu vollständig aus dem unerschöpflichen Vorrat ihres Zentralgestirns bezog.
In sonnigen Regionen der Erde breiteten sich riesige Sonnenzellenfelder aus, die ungeheure Mengen an elektrischer Energie zur Verfügung stellten. Diese Energie floss einerseits direkt zu näher gelegenen Verbrauchern und wurde andererseits zum Auffüllen der Energiespeicher benutzt. In windigen Regionen der Erde erzeugten riesige Windräder zusätzliche elektrische Energie zum Aufladen dieser Speicher. Schließlich waren die Dächer aller Häuser mit Sonnenkollektoren bedeckt, die das Sonnenlicht auffingen und direkt zum Aufheizen von Brauchwasser weiterleiteten. Von diesen unerschöpflichen Energiequellen lebten private Haushalte ebenso wie Wirtschaft und Verkehr. Der Lebensstandard und das Lebensgefühl der Menschen stiegen, elektrogetriebene Fahrzeuge und Transportmittel aller Art verschafften ihnen wieder ein hohes Maß an Mobilität, ohne die Luft zu vergiften. Der zivilisationsbedingte Ausstoß an Kohlendioxyd und Schadstoffen in die Atmosphäre war auf einen kleinen Bruchteil zurückgegangen. Dadurch beruhigte und stabilisierte sich die Klimaverschiebung der vergangenen achtzig Jahre. Mensch und Natur gewöhnten sich an ein Leben in einer wärmeren Atmosphäre, und die Natur bedankte sich mit einer neuen ungeahnten Üppigkeit. Auch von der Sorge, den Schutzschild der Ozonschicht zu verlieren, wurden die Menschen befreit: Im Jahr 2100 stellte man erstmalig eine leichte Regeneration der Schicht über der Antarktis fest.“ Der Präsident machte eine kurze Pause und begab sich wieder hinter das Rednerpult. Nach einem weiteren Schluck aus dem Wasserglas fuhr er dann fort: „Das Programm SOLARIS hatte, wie Sie wissen, – die jüngeren unter Ihnen hoffentlich aus dem Geschichtsunterricht
– auch politisch weitreichende Folgen. Die Stärke der UNO bei der Durchsetzung dieses Programms rief die Idee eines Weltstaates wach. Diese Idee wurde immer stärker artikuliert und schließlich von der UNO selbst aufgegriffen. Im Jahr 2110 wurde eine UNO-Kommission eingesetzt und mit der Aufgabe betraut, Vorschläge für einen Weltstaat zu entwickeln. Aus dem jahrzehntelangen Diskussionsprozess ging schließlich folgendes Modell hervor: Der Weltstaat ist eine stark föderative Gemeinschaft der bestehenden Länder, in der die nationalen Eigenarten ebenso gewahrt bleiben wie auch ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Selbständigkeit. Zentrales Element dieser Gemeinschaft ist jedoch die weitgehende Abtretung der finanzpolitischen Hoheit an eine Weltregierung und ein Weltparlament. Die einzelnen Länder entrichten jährliche Steuern in Höhe von fünfzig Prozent ihres Bruttosozialprodukts. Neunzig Prozent dieser Steuergelder fließen an die Länder zurück. Dabei findet ein Finanzausgleich zwischen den Ländern statt, der vom Finanzministerium der Weltregierung erarbeitet und vom Weltparlament beraten und verabschiedet wird. Die restlichen zehn Prozent der Steuergelder verbleiben für zentrale Aufgaben bei der Weltregierung. Zu diesen Aufgaben zählen, neben der Finanzierung der Weltregierung, die Förderung wissenschaftlicher, technologischer und wirtschaftlicher Projekte sowie die Unterhaltung einer 1.000.000 Mann starken Mehrzweckarmee. Die Aufgaben dieser Armee sind Polizeiarbeit im Rahmen internationaler Verbrechensbekämpfung, weltweiter Einsatz bei Katastrophen sowie unverzügliche Wiederherstellung von Waffenruhe bei lokalen Konflikten, falls diese bis zur Anwendung von
Waffengewalt eskalieren sollten. Die Armee untersteht dem Weltpräsidenten und wird vom Weltparlament kontrolliert. Das Weltparlament besteht aus eintausend Abgeordneten, die anteilsmäßig von den einzelnen Ländern entsandt werden. Der Abgeordnetenanteil eines Landes entspricht dabei etwa seinem Anteil an der Erdbevölkerung. Die bevölkerungsstarken Nationen wie die USA, Russland, Japan, China und Indien werden unterproportional und demzufolge die übrigen Nationen leicht überproportional berücksichtigt. Das Weltparlament wählt den Weltpräsidenten und einen Vizepräsidenten sowie drei Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Energie. Das überaus wichtige Finanzressort, das den jährlichen Finanzausgleich zwischen den einzelnen Ländern zu erarbeiten hat, wird vom Vizepräsidenten geleitet. Die Amtsperiode für den Präsidenten und Vizepräsidenten, die Minister und das Parlament beträgt fünf Jahre. Nachdem die UNO dieses Modell in seinen Grundzügen mit übergroßer Mehrheit verabschiedet hatte, wurden die Details ausgearbeitet. Im Jahr 2150 wurde dann das erste Weltparlament sowie von diesem die erste Weltregierung aus Präsident, Vizepräsident und den Ministern gewählt. Sitz der Weltregierung war und ist Genf. Dieses Modell hat, wie Sie wissen, bis auf den heutigen Tag Bestand. Es bescherte allen Menschen dauerhaften äußeren Frieden und ein Leben frei von materiellen Existenzsorgen. Und es gab damals den Menschen die Freiheit zurück, sich wieder höheren Dingen zu widmen.“ Dostojewski hielt inne, bemaß die kurze Pause gerade so lang, dass die Spannung in seiner Zuhörerschaft geradezu greifbar im Saal stand. Dann fuhr er fort: „Und sie taten es in vollen Zügen.
Kunst und Wissenschaft entwickelten sich in vielfältigen Facetten. In Literatur und bildender Kunst war die Bewältigung der großen Krise ein immer wiederkehrendes Motiv. Die Naturwissenschaften lösten sich aus ihrer Fesselung an die Lösung des Energieproblems während der großen Krise und wandten sich wieder klassischen Fragestellungen zu. Biowissenschaftler untersuchten wieder die Frage nach der Entstehung des Lebens, Physiker setzten ihre Suche nach den elementarsten Bausteinen der Materie fort, und Kosmologen fragten wieder nach dem Anfang und dem Ende des Universums. Das Wissenschaftsministerium der Weltregierung forderte Forschung in großzügigster Weise. Es finanzierte den Physikern immer leistungsstärkere Beschleunigermaschinen, in denen Materie aufeinandergeschleudert und so in ihre elementarsten Bausteine zertrümmert wurde. Doch mit jeder neuen Maschine wiederholte sich dasselbe Szenario: Für jedes Stück Erkenntnis auf der einen Seite lieferten die Experimente ein neues Rätsel auf der anderen Seite. Es schien, als könne nur die Phantasie und die Denkkraft des menschlichen Geistes dieser Spirale ein Ende setzen. Auch dem Wunsch der Astronomen und Kosmologen, immer weiter in das Weltall hinaus und damit immer weiter in die Vergangenheit des Universums zurückzublicken, kam das Wissenschaftsministerium der Weltregierung nach. Im Jahr 2160 begann deshalb der Aufbau eines Systems aus acht Beobachtungssatelliten, die mit äußerst leistungsfähigen Teleskopen und Empfängern ausgerüstet wurden und von Bodenstationen aus gesteuert werden. Sechzehn dieser Bodenstationen wurden über die gesamte Erde verteilt eingerichtet.
Die Satelliten verwandeln die unermessliche Flut an Signalen, die sie im optischen sowie im Radio- und Röntgenbereich aus den Tiefen des Universums auffangen, zu Signalen im Mittelwellenbereich und geben diese Informationen dann an die Bodenstationen weiter. Dort werden sie von Hochleistungsrechnern analysiert und in Graphiken oder gar in dreidimensionale holographische Bilder umgesetzt.“ Im Publikum war man spürbar erstaunt über die astronomischen Detailkenntnisse des Präsidenten, war doch kaum jemandem bekannt, dass sich Dostojewski, wenngleich nicht vom Fach, brennend für das Gebiet der Kosmologie interessierte. Wer hingegen davon wusste, konnte vielleicht
den Eifer und die Detailliertheit verstehen, mit denen der Präsident jetzt seinen Vortrag fortsetzte. „Die ungeheure Horizonterweiterung, die die hochentwickelten Beobachtungstechniken den Astronomen und Kosmologen bescherten, rückte zwei Fragestellungen wieder und ganz besonders in das Zentrum des Interesses. Zum einen war das die Suche nach Signalen von außerirdischen Zivilisationen. Auf breiten Frequenzbereichen im Radiobereich und in alle Richtungen lauschen die acht Beobachtungssatelliten in das Weltall hinaus. Doch bis heute hat keine Botschaft von einer anderen Welt die Erde erreicht. Diesem Schweigen des Universums gegenüber verhalten sich die Erdbewohner geradezu redselig: In regelmäßigen Abständen und in alle Richtungen strahlen die Satelliten im Kurzwellenband eine einminütige Botschaft mit wichtigen Informationen über die menschliche Rasse aus – für wen auch immer. Zum anderen vermessen Astronomen über die Argusaugen der Satelliten bis zu riesigen Entfernungen die räumliche Verteilung der Galaxien im Weltall. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein waren Kosmologen der festen Überzeugung gewesen, dass sich die Galaxien im wesentlichen gleichmäßig über das Universum verteilen, wenn man einen Maßstab zugrundelegt, der sehr viel größer ist als der mittlere Abstand zwischen zwei benachbarten Systemen. Genaue Beobachtungen über die räumliche Verteilung der Galaxien förderten Ende des 20. Jahrhunderts jedoch äußerst überraschende Ergebnisse zutage. Von einer gleichmäßigen Verteilung konnte überhaupt nicht die Rede sein. Die Galaxien ordnen sich vielmehr in filigranen flächenartigen Mustern an,
zwischen denen sich riesige blasenförmige Leerräume ausbreiten. Zu Beginn des 23. Jahrhunderts hatten die Astronomen mit Hilfe der acht Beobachtungssatelliten die detaillierte räumliche Verteilung der Galaxien im Universum rundum bis zu einer Entfernung von etwa sechs Milliarden Lichtjahren ausgemessen, etwa siebenmal so weit wie am Ende des 20. Jahrhunderts. Dabei waren sie auf einen weiteren sehr überraschenden Befund gestoßen. Die Ende des 20. Jahrhunderts entdeckten und wegen systematischer wie auch instrumentell bedingter Beobachtungsfehler noch sehr vagen Strukturen stellten sich im Laufe der Zeit als erstaunlich genaue wabenähnliche Flächenstrukturen heraus, die sich über riesige Entfernungen erstreckten.
Das eigentlich Aufregende jedoch waren schwache linienförmige gerade Verdichtungen in den Flächen. Die Deutung dieser Muster ist ein auf vielen wissenschaftlichen Tagungen immer wieder heftig und emotional diskutiertes Thema. Dabei haben sich im wesentlichen zwei Schulen herausgebildet. Die eine Schule versucht, die Anordnungsmuster der Galaxien durch komplizierte dynamische Gleichungen im Sinne der gegen Ende des 20. Jahrhundert entdeckten Chaos-Phänomene zu erklären. Demgegenüber vertritt die andere Schule die eher mystische Auffassung, dass zumindest die linienförmigen Strukturen eine universelle Botschaft der Materie von höherem Sinngehalt darstellen. Grundlage dieser Auffassung ist die ebenso kühne wie fast niemals konkret ausgesprochene Deutung der Linienmuster als eine Art biochemischer Code. Zwischen den beiden Schulen herrscht, wie könnte es auch anders sein, beständiger Glaubenskrieg – allerdings in sehr kultivierter Form.“ Bei diesem letzten Satz zog ein deutliches Schmunzeln über Dostojewskis Gesicht, und eine Heiterkeitswelle lief durch den Saal. Der Präsident griff noch einmal zu seinem Wasserglas und begann dann mit der Schlusspassage seines Vortrags. „Magnifizenz, meine Damen und Herren! Wenn es außerirdische Zivilisationen gäbe und wir uns mit ihnen vergleichen könnten, so bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Erde bei einem solchen Vergleich gut abschneiden würde. Ich denke, wir dürfen stolz auf uns und unseren Planeten sein! Lassen Sie uns dafür arbeiten und beten, dass wir uns diesen Stolz auch in Zukunft bewahren können. – Ich danke Ihnen.“
Das Publikum sprang auf und überschüttete den Präsidenten mit einem Beifallsturm, der minutenlang anhielt. Fast schien es, als sei Dostojewski ratlos, ja, geradezu hilflos gegenüber soviel Begeisterung. Er bedankte sich mit wenigen sehr sparsamen Gesten und setzte sich schließlich in die vorderste Reihe, um dem Rektor der Sorbonne das Schlusswort zu überlassen.
Vorboten
Der 1. März 2222 versprach im südlichen Ural ein sanfter und sonniger Vorfrühlingstag zu werden. Die globale Klimaverschiebung während der großen Krise vor etwa einhundertfünfzig Jahren hatte dieser Region ein gemäßigtes Klima beschert. Die langen harten Winter der vergangenen Zeit waren abgelöst worden durch eine kalte Jahreszeit von etwa Anfang November bis Ende Februar, in der zwar reichlich Schnee fiel, die Temperaturen jedoch nur wenig unter den Gefrierpunkt sanken. Dadurch hatte sich die einst karge Flora zu kraftvoller und bunter Vielfalt entwickelt. Der Wuchs der Kiefern, Fichten und Birken war sehr viel stärker geworden. Zu ihnen gesellten sich jetzt Lärchen und Tannen und in den unteren Lagen Buchen und Eichen, ja sogar Pinien. Bereits im Vorfrühling waren die Hänge bis zu einer Höhe von etwa achthundert Metern mit Schneeglöckchen, Krokussen und Primeln übersät. Später dann, im Frühling, weidete sich das Auge an Feldern von Narzissen, weißen, roten und blauen Anemonen sowie Glockenblumen. Und wieder ein wenig später bedeckten Teppiche von Bergazaleen die Hänge. Inmitten dieser Natur von sanfter und ein wenig melancholischer Schönheit hatte man rund zweihundert Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg, in einer Höhe von achthundert Metern, die Bodenstation Ural eingerichtet, eine der sechzehn weltweit eingerichteten Stationen, von denen aus die Beobachtungssatelliten gesteuert wurden und welche die Signale der Satelliten auffingen und auswerteten. Beim Bau
dieser Station hatte man größten Wert darauf gelegt, eine Zerstörung der Landschaft weitestgehend zu vermeiden. So war ein terrassenförmiger und pastellfarbener Bau entstanden, der sich in einen Hang lehnte und sich mit seinen zahlreichen Antennenschüsseln wie ein futuristisches Kunstwerk eigenwillig gut in das umgebende Gelände einfügte. Die Belegschaft der Station zählte vierzig Männer und Frauen, einschließlich eines wissenschaftlichen und eines technischen Direktors. Den Aufgaben der Bodenstationen entsprechend bestand das Herzstück der Belegschaft aus vier Beobachterteams, von denen jedes sich aus zwei Astronomen und zwei hochqualifizierten Technikern zusammensetzte, unter ihnen eine Reihe von Astronominnen und Technikerinnen. Durch die Doppelbesetzung konnten diese Teams auch dann arbeiten, wenn einzelne Mitglieder durch anderweitige Verpflichtungen innerhalb der Station oder auch durch Urlaub oder Krankheit ausfielen. Die vier Beobachterteams hatten die Aufgabe, rund um die Uhr die Signale der Beobachtungssatelliten aufzufangen und auszuwerten. Je zwei Bodenstationen auf der Erde war, nach einem ausgeklügelten Plan, ein Beobachtungssatellit zugeteilt, um durch Doppelaufnahme der Signale mögliche Fehler zu korrigieren. Das Satellitensystem lichtete und lauschte das gesamte erreichbare Universum in regelmäßigen Abständen ab. Zu einer solchen Totalaufnahme zählte die Ablichtung der räumlichen Verteilung der Galaxien bis zu einer Entfernung von etwa sechs Milliarden Lichtjahren ebenso wie die der räumlichen Verteilung der Sonnen in unserer Galaxis. Auch einzelne sehr strahlungsstarke Objekte wurden bis zu einer Entfernung von etwa zwölf Milliarden Lichtjahren registriert.
War die räumliche Verteilung der Galaxien immer noch ein ungelöstes Problem, so waren diese weit entfernten sehr strahlungsstarken Einzelobjekte aus dem Frühstadium des Universums ein tiefes Rätsel. Eine Totalaufnahme des Weltalls dauerte im Jahr 2222 rund ein halbes Jahr; sie hätte Ende des 20. Jahrhunderts etwa zehn Jahre gedauert. Die vier Beobachterteams wurden ergänzt durch eine vierköpfige Gruppe von theoretischen Wissenschaftlern. Alle vier Mitglieder dieser Gruppe besaßen umfangreiche Forschungserfahrung auf dem Gebiet der Allgemeinen Relativitätstheorie, Astrophysik und Kosmologie. Ihre Aufgabe bestand darin, in engem Kontakt mit den entsprechenden Gruppen der anderen Bodenstationen ein theoretisches Verständnis der ständig verbesserten Beobachtungsdaten zu erarbeiten – eine gleichermaßen faszinierende wie gigantische Aufgabe. Trotz dei Abgeschiedenheit der Bodenstation Ural wurde der Belegschaft ein äußerst angenehmes Leben geboten. Jedes Mitglied bewohnte zwei komfortable Räume mit Blick auf die Hänge und Täler des Ural und ausgestattet mit einer Komanlage für Bild- und Tonwiedergabe in höchster Qualität. Eine großzügige Mehrzwecksporthalle mit Schiebedach für schönes Wetter sowie ein großes gepflegtes Schwimmbad mit Dampfbädern und Saunen erlaubten jede Art von Sport und Entspannung. Eine umfangreiche Bibliothek und ein gemütliches Kino boten Gelegenheit zu wissenschaftlicher Arbeit und gehobener Unterhaltung. Schließlich rundeten eine gepflegte Küche und eine gut sortierte Bar das Wohlbefinden ab. Auch medizinisch war die Belegschaft der Station gut versorgt. Vier erfahrenen und kompetenten Ärzten standen medizinische Geräte und Medikamente zur Verfügung, die ihnen jede ambulante Behandlung und sogar kleinere
operative Eingriffe erlaubten. In schwereren Fällen konnte ein Patient innerhalb kürzester Zeit mit dem Helikopter nach Jekaterinburg ausgeflogen werden. Schließlich sorgte ein Stab aus zehn Männern und Frauen für die technische Wartung der Station. Dazu gehörte insbesondere die Wartung der Energieversorgungssysteme. Diese Systeme basierten zum einen auf den Speichereinheiten, die monatlich aufgefüllt per Helikopter angeliefert wurden. Doch besaß die Station auch ein umfangreiches Netz von Sonnenkollektoren, mit denen etwa das Schwimmbad beheizt wurde, sowie mehrere sehr leistungsstarke Windräder, die einen Teil der Energiespeicher vor Ort aufluden. Eine weitere sehr wichtige Wartungsarbeit bestand in der äußerst sorgfältigen täglichen Überprüfung der Antennensysteme – den Augen der Station, mit denen die Menschen über die Beobachtungssatelliten in das Universum hinaus und weit in die Vergangenheit zurückblickten. Die Station bot aber nicht nur ihren Mitgliedern ein äußerst angenehmes Leben. Sie war auch für Zusammenkünfte und kleinere Konferenzen gut gerüstet. Ein komfortabel und freundlich eingerichteter Gästetrakt mit einem eigenen Speiseraum konnte bis zu vierzig Gäste beherbergen. Auf dieses Angebot wurde immer wieder zurückgegriffen. Wissenschaftlicher Direktor und zugleich Leiter der Bodenstation Ural war zur Zeit der fünfundfünfzigjährige Nikolai Sergejwitsch Tolstoi, ein hagerer und sehr in sich gekehrter Russe. Tolstoi hatte Physik studiert und anschließend lange Jahre an der Gorbatschow-Universität in Moskau auf dem Gebiet der Astrophysik und Kosmologie wissenschaftlich gearbeitet und gelehrt. Seine Arbeiten hatten weltweit große Anerkennung gefunden, und so wurde ihm vor
vier Jahren vom Wissenschaftsminister der Weltregierung das Angebot unterbreitet, die Leitung der Bodenstation Ural zu übernehmen, das er nach kurzer Bedenkzeit annahm. Tolstois Liebe galt keinesfalls nur der fraglos aufregenden Astrophysik und Kosmologie, er war zudem großer Musikliebhaber, insbesondere der klassischen russischen Musiktradition, und auch selbst ein recht guter Klavierspieler. An ruhigen Abenden erfüllte so manches Mal sein ausdrucksstarkes und gefühlvolles Klavierspiel die Station und ließ manch einen innehalten und zuhören. Doch mehr noch hing er in seinen Gefühlen seiner schönen Frau Krystina nach, die er vor fünf Jahren durch einen tragischen Unfall verloren hatte. Seither war er, früher fröhlich und brillant, still und verschlossen. Die technische und zugleich stellvertretende Leitung der Station lag in den Händen des fünfzigjährigen Amerikaners John Archibald Woodstock. Woodstock konnte auf eine sehr erfolgreiche Laufbahn als Astronom zurückblicken. Zu seinen bedeutsamen Leistungen zählte eine wesentliche Verbesserung des Satellitensystems vor zwanzig Jahren, die es ermöglicht hatte, die räumliche Verteilung der Galaxien bis zu einer Entfernung von etwa sechs Milliarden Lichtjahren sehr genau auszumessen. Auch in der Empfangstechnik der Bodenstationen und in der an die Antennenschüsseln angeschlossenen Elektronik zur Auswertung der von den Satelliten zur Erde gesandten Signale war er ein anerkannter Experte. Technische Probleme hatten für Woodstock einen tiefen Sinn, nämlich den, unverzüglich gelöst zu werden. Und so geschah es auch fast immer, wenn er am Ort war. Sein lautes Wesen machte allerdings auch keinen Hehl aus seinem Können. Wenn Woodstock irgendwo in der Station bei der
Arbeit war, natürlich erfolgreich, so teilte sich das irgendwie allen Mitgliedern der Station nach kürzester Zeit mit. Woodstock und Tolstoi waren in ihrem Wesen zu verschieden, als dass sie sich über ihre Leitungsaufgaben hinaus etwas zu sagen hätten. Dennoch machte ihre vereinte hohe Kompetenz und ihre gegenseitige Achtung die Bodenstation Ural zu der bei weitem leistungsfähigsten unter den sechzehn Stationen auf der Erde. Am frühen Vormittag dieses 1. März begab sich Tolstoi gerade auf seinen täglichen Routinegang durch die Station, als ihm der dänische Astronom Sven Brahe begegnete. Sven Brahe war der Leiter eines der vier Beobachterteams. Im Gegensatz zu vielen Astronomen, die eher verschlossen und in sich gekehrt waren, besaß er ein offenes Gemüt. Er zählte zu den jüngsten Mitgliedern der Station, und sein jugendliches Wesen wurde durch seine kurzen strohblonden Haare und einen strahlenden Blick noch unterstrichen. Er erfreute sich großer Beliebtheit und war bekannt dafür, dass er, auch bei der Arbeit, sehr gerne Bluesmusik hörte. Diese Leidenschaft teilte er mit seinem isländischen Freund Jorge Yngvasson, einem der beiden Techniker in seiner Gruppe. „Guten Morgen, Sir“, grüßte Brahe in seiner typisch dänischen Freundlichkeit, „haben Sie gut geschlafen?“ „Danke ja, Sven“, erwiderte Tolstoi. „Ich fürchte allerdings, dass Sie Ihren Schlaf der Erscheinung haben opfern müssen, oder täusche ich mich da?“ „Nein, Sir, Sie täuschen sich nicht“, bestätigte Brahe, „das Phänomen lässt mir in der Tat einfach keine Ruhe.“
„Haben Sie seit unserer letzten Beratung irgendwelche Veränderungen beobachtet?“, erkundigte sich Tolstoi. „Nein, Sir“, antwortete Brahe. „Es ist wirklich ein geheimnisvolles Ding, wie aus einer anderen Welt.“ Die beiden bezogen sich damit auf eine merkwürdige Beobachtung, die Brahe mit seinem Beobachterteam bei der zur Zeit laufenden Routineablichtung des Universums vor zwei Tagen als erster gemacht hatte. Beim Vergleich einer von seiner Gruppe gerade abgeschlossenen Aufnahme eines kleinen Sektors mit der entsprechenden Aufnahme bei der letzten Routineablichtung vor etwa drei Monaten war ihm, eher zufällig, aufgefallen, dass in einem winzigen Teilsektor mit einer Öffnung von etwa zehn Bogenminuten ( = 1/6 Winkelgrad) alle dort bisher beobachteten Sterne und Galaxien verschwunden und stattdessen gänzlich neue Objekte aufgetaucht waren. Die Sterne unter diesen neuartigen Objekten wiesen alle eine Rotverschiebung von etwa z = 1,3 auf, und die der Galaxien reichte von z = 1,3 aufwärts bis etwa z = 5. Brahe hatte das zunächst für einen Übertragungsfehler des von der Bodenstation Ural gerade gesteuerten Beobachtungssatelliten gehalten und umgehend die Partnerstation in den Pyrenäen benachrichtigt. Doch diese hatte nach kurzer Zeit die Beobachtung bestätigt. Auch eine neuerliche Aufnahme dieses Sektors vierundzwanzig Stunden später hatte das merkwürdige Phänomen reproduziert. Und es war in der Tat äußerst merkwürdig. Deutete man nämlich die Rotverschiebungen als Maß für die Entfernungen der Objekte, so waren die neuen Sterne alle acht Milliarden Lichtjahre entfernt, und die Entfernungen der neuen Galaxien reichten von etwa acht Milliarden Lichtjahren aufwärts bis zu etwa zwölf Milliarden Lichtjahren. Andererseits war es völlig unmöglich, in einer
Entfernung von acht Milliarden Lichtjahren einzelne Sterne zu beobachten. Brahe hatte daraufhin Tolstoi informiert, der umgehend Woodstock, die acht Astronomen der Beobachterteams sowie die vierköpfige Theoriegruppe zu einer Beratung zusammengerufen hatte. Nachdem Brahe seine Beobachtung ausführlich vorgetragen hatte, hatte eine lebhafte Diskussion eingesetzt, die nach etwa zwei Stunden in dem allgemeinen Konsens gemündet war, dass Brahes Beobachtung eigentlich nur so erklärt werden könne, dass sich zwischen dem nächsten Stern in unserer Galaxis, der in der Richtung des besagten Sektors liegt, und dem Sonnensystem etwas Unbekanntes geschoben hatte, welches das Licht aller Objekte dahinter in den roten Bereich verschob. Die neuen Objekte waren nach dieser Deutung gar nicht neu, sondern es waren die bisher dort beobachteten Objekte, die nur neu erschienen, da ihr Licht durch die unbekannte Erscheinung rotverschoben wurde. Was aber konnte diese Erscheinung sein?? Tolstoi hatte die Theoriegruppe beauftragt, unverzüglich Kontakt mit den entsprechenden Gruppen der anderen Bodenstationen aufzunehmen und nach einer astrophysikalischen Erklärung für die unbekannte Erscheinung zu suchen. Und die Beobachterteams hatten die Anweisung erhalten, die Erscheinung rund um die Uhr in „Auge“ zu behalten und jede Veränderung unverzüglich zu melden. So war also der Stand der Dinge, als sich Tolstoi und Brahe am frühen Vormittag des 1. März begegneten: Ein unbekanntes Etwas war aufgetaucht und verharrte scheinbar unbeweglich am Firmament, während Astronomen und Astrophysiker auf der Suche nach einer physikalischen Erklärung im Dunkeln tappten.
Im Morgengrauen des 2. März läutete gegen 5 Uhr Tolstois Komgerät und ließ ihn aus einem bleiernen Schlaf auftauchen. Am anderen Ende meldete sich Brahe, der nur mühsam seine Erregung beherrschen konnte. „Sir, das Ding ist in den letzten sieben Stunden deutlich größer geworden, sein Durchmesser beträgt zur Zeit etwa einen vollen Winkelgrad!“, rief er. „Was – was ist los, Sven?“, krächzte Tolstoi. „Die Erscheinung wächst, Sir, und zwar verdammt schnell – Verzeihung, sehr schnell“, wiederholte Brahe. „Hat sich die Richtung verändert?“, fragte Tolstoi, jetzt hellwach. „Nein, Sir, das Ding steht unverändert in derselben Richtung“, antwortete Brahe. „Mein Gott, Sven, dann kommt es auf uns zu!“, rief Tolstoi. Und dann entschied er nach einer kurzen Pause: „Wir treffen uns um 8 Uhr 30 im Konferenzraum zu einer Beratung. Bringen Sie bitte weitere Astronomen, soweit sie abkömmlich sind, mit. Ich werde Woodstock und die Theoriegruppe informieren. Vielen Dank und bis nachher, Sven.“ Tolstoi unterbrach die Verbindung und verband sich mit Tina Nordström aus der Theoriegruppe. „Guten Morgen, Tina, hier Tolstoi. Ich hole Sie gewiss aus dem Schlaf, doch es ist außerordentlich wichtig. Sven Brahe hat mir soeben berichtet, dass unsere Erscheinung wächst und offenbar Kurs auf das Sonnensystem nimmt. Ich habe für 8 Uhr 30 eine Beratung im Konferenzraum angesetzt. Bringen Sie bitte dazu auch Ihre drei Kollegen mit.“ „Gewiss, Sir“, antwortete Tina Nordström, auch sie jetzt hellwach, und fragte: „Wissen Sie schon, wie schnell die Erscheinung sich nähert?“
„Nein, bisher nicht“, antwortete Tolstoi, „ich hoffe aber, dass unsere Beratung mindestens darüber Klarheit schafft. Also bis nachher, Tina.“ Tolstoi informierte dann noch Woodstock, der die neue Entwicklung mit einem leisen Pfiff und der Bemerkung kommentierte, jetzt sei doch endlich wieder einmal etwas zu tun. Tolstoi konnte sich diesem Pioniergeist nicht anschließen – Beklemmung kroch in ihm hoch. Die Theoriegruppe der Bodenstation Ural war von sehr eigenwilligem Gepräge. Führender Kopf der Gruppe war die vierzigjährige Schwedin Tina Nordström, eine hochgewachsene Frau von herber Schönheit. Sie genoss weltweite Anerkennung als Kosmologin und Astrophysikerin und war auf Konferenzen keinesfalls nur deswegen immer wieder von auffallend vielen männlichen Konferenzteilnehmern umgeben. Sie besaß eine unvergessliche Ausstrahlung. Trotz ihres gefestigten wissenschaftlichen Rufes hatte sie nicht die Fähigkeit verloren, ganz neue und auf den ersten Blick absurd erscheinende Gedankengänge an sich heranzulassen und ernst zu nehmen. In dieser Eigenschaft ergänzte sie sich sehr gut mit dem Paradiesvogel der Gruppe, dem Iren Paddy Fingal. Fingal vereinigte in sich ein buntes Gemisch von Eigenschaften. Als Wissenschaftler war er ein brillanter Brainstormer, der ein Problem zunächst mit seiner schier unerschöpflichen wissenschaftlichen Phantasie anging. Bei der physikalisch strengen Ausarbeitung der Lösung war es dann immer wieder Tina Nordström, die ihm mit ihrem ordnenden Geist und ihren umfassenden Kenntnissen zu Hilfe kam. In der gesamten Station war Fingal zudem als leidenschaftlicher Spieler und
Wetter bekannt, dessen Leidenschaft mit der Höhe des Einsatzes beträchtlich wuchs, sowie als ausdauernder Whiskyfreund. Diese beiden Eigenschaften hatten Tolstoi mehrfach veranlasst, Fingal daran zu erinnern, dass die Bodenstation Ural eigentlich eine wissenschaftliche Beobachtungsstation und nicht so sehr ein Spielkasino mit angeschlossener Bar sei. Fingal hatte daraufhin jedes Mal seine regelmäßigen Lauf- und Schwimmübungen, seine „Bußübungen“, wie er zu sagen pflegte, verstärkt und Spiel und Whisky zurückgestellt – doch immer nur für wenige Tage. Tolstoi gab sich schließlich damit zufrieden, denn er wollte, obwohl es in seiner Befugnis stand, Fingal auf gar keinen Fall aus der Station entlassen – zu sehr lag ihm an seiner wissenschaftlichen Phantasie, auch wenn sie oft ein wenig überzog, und irgendwie mochte er ihn auch. Die enge fachliche Zusammenarbeit hatte Tina Nordström und Paddy Fingal im Lauf der Zeit auch menschlich einander sehr nahe gebracht. In der Station sprach man hinter vorgehaltener Hand ganz offen die Vermutung aus, dass die beiden von der „Geistercrew“, wie die Theoriegruppe auch genannt wurde, sicherlich ein Liebespaar seien. Die Tatsache, dass die beiden sich mit Sie anredeten, konnte diese Meinung nicht erschüttern – ganz im Gegenteil. Doch Tina und Paddy waren kein Liebespaar. Wohl aber hüteten beide, ein jeder für sich, die schöne und ein wenig melancholische Vorstellung, dass dem vielleicht einmal so sein könnte. Neben Tina Nordström und Paddy Fingal gehörten der Theoriegruppe der Deutsche Max Grundler und der Engländer Arthur Maxwell an. Die beiden waren ganz und gar ihrer Wissenschaft ergeben. Mit ihren umfassenden mathematischen und physikalischen Kenntnissen sowie ihrem
unermüdlichen Fleiß hatten sie bisher eine ganze Reihe äußerst schwieriger Probleme gelöst und sich damit weltweite wissenschaftliche Anerkennung erworben. So stürzten sie sich auch unmittelbar nach Brahes erster Beobachtung auf das Problem, eine physikalische Erklärung für die Erscheinung zu finden – bisher jedoch trotz intensivster Bemühungen ohne Erfolg. Als Tolstoi am Morgen des 2. März um 8 Uhr 30 die Beratung eröffnete, waren alle Astronomen und Astronominnen bis auf die zwei des Teams, das zur Zeit gerade Beobachtungsdienst hatte, anwesend, ebenso die vollständige Theoriegruppe und natürlich Woodstock. Sven Brahe erläuterte zunächst die rapide Vergrößerung der Erscheinung in den vergangenen neun Stunden. Dann eröffnete Tolstoi die allgemeine Diskussion. „Sven, Sie sagten, die Erscheinung habe sich auf etwa einen vollen Winkelgrad vergrößert“, begann Tina Nordström. „Dann müsste es jetzt eigentlich doch möglich sein, sich ein Bild von der räumlichen Verteilung der neuen Objekte zu machen und sie mit der räumlichen Verteilung der bisher dort beobachteten Objekte zu vergleichen. So könnten wir uns jedenfalls vergewissern, dass die neuen Objekte eigentlich die alten sind, deren Licht nur durch ein geheimnisvolles Etwas rotverschoben ist.“ Tinas Charme und Souveränität zogen alle Anwesenden in ihren Bann, sodass eine Pause stiller Bewunderung entstand. Auch der angesprochene Sven Brahe erlag dieser Faszination. „Sven – “ erinnerte Tolstoi mit einem fast unmerklichen Lächeln den Dänen, „ich glaube, Tina hatte Sie etwas gefragt!“
„Ja, natürlich, Sir, äh… Tina, meine ich“, stotterte Brahe, „also, wir haben natürlich mit der Ausmessung der räumlichen Verteilung begonnen. Der Durchmesser der Erscheinung ist aber immer noch zu klein, als dass ein Vergleich mit alten Aufnahmen eindeutigen Aufschluss geben könnte. Es deutet allerdings, bei aller Vorsicht, einiges daraufhin, dass die Verteilung der neuen Objekte nicht mit den alten Aufnahmen übereinstimmt!“ Dieser vorläufige Befund wurde von einigen Kollegen und Kolleginnen Brahes bestätigt und ergänzt. „Das bedeutet“, meldete sich daraufhin Max Grundler zu Wort, „dass unser geheimnisvolles Etwas nicht nur die Spektrallinien ins Rote verschieben, sondern auch noch die Positionen der Objekte verändern kann. Reichlich merkwürdig!“ „Ja, fast könnte man glauben“, fuhr Arthur Maxwell fort, „das Ding ist Fred Hoyles intelligente Wolke, die uns eine Kostprobe ihrer Fähigkeit gibt.“ „Das erscheint mir wenig hilfreich, Arthur“, schaltete sich Tolstoi ein, und dann an Tina Nordström gewandt: „Wie ist zur Zeit der Stand der theoretischen Bemühungen, Tina? Gibt es Ideen und Ansätze, vielleicht auch bei den Theoriegruppen der anderen Stationen?“ „Wir tappen bisher alle im Dunkeln, Sir“, musste Tina Nordström eingestehen, „es will einfach nicht gelingen, eine Wolke zu konstruieren, die so merkwürdige Dinge kann.“ Ratlosigkeit füllte daraufhin den Raum. „Vielleicht ist es ja gar keine Wolke“, knarrte Paddy Fingals verkaterte Stimme in die Stille.
„Wie meinen Sie das, Paddy??“ griff Tolstoi den Gedanken sofort auf. „Ich weiß noch nicht so recht, ich – ich muss erst darüber nachdenken“, wich der Ire aus. „Ja, tun Sie das – und zwar ab sofort und gründlich!“, gab Tolstoi zurück. „Und Paddy“, fuhr er fort, „ich möchte Sie nachdrücklich bitten, während dieser Denkzeit den Whisky vollständig zurückzustellen.“ Es entstand eine peinliche Stille. Diese Direktheit in der Kollegenöffentlichkeit entsprach so gar nicht dem zurückhaltenden und vornehmen Führungsstil Tolstois. Sie war eigentlich nur durch einen Zustand höchster Anspannung erklärbar. „Äh – ja natürlich, Sir“, beendete Fingal die allgemeine Betroffenheit. „Nun ja, wir wissen offenbar nicht, was die Erscheinung ist“, beeilte sich Tolstoi, entgegen seiner sonstigen Souveränität ein wenig unsicher, die Sachdiskussion wieder in Gang zu bringen. „Andererseits, was diese Erscheinung auch immer sein mag, sie kommt ganz offenbar direkt auf den inneren Bereich unseres Sonnensystems zu. Gehen wir einmal davon aus, dass die Erscheinung irgendeine exotische Wolke mit festen Abmessungen ist, die sich auf das innere Sonnensystem zu bewegt. Dann berechne ich mit Hilfe einfachster Geometrie aus der Zunahme des Winkeldurchmessers von 1/6 Bogengrad auf 1 Bogengrad in etwa acht Stunden bis heute morgen um 6 Uhr, dass uns die Erscheinung unabhängig von ihrem Durchmesser hätte gegen acht Uhr erreichen müssen. Das hat sie aber ganz offenbar nicht, was wir daraus schließen können, dass bis zum Beginn unserer Beratung alle Planeten, auch die kleinsten, in ihrer Position und Erscheinung absolut unverändert waren. Ich verstehe das alles nicht, aber vielleicht
begehe ich ja auch einen schlichten Denk- oder gar Rechenfehler…“ „Nein, Sir, das tun Sie nicht“, versicherte Grundler, „Arthur und ich haben exakt dieselben Überlegungen und Berechnungen angestellt. Es ist in der Tat so, dass jeder bessere Schüler, der Grundkenntnisse in Kreisgeometrie bei sehr kleinen Winkeln besitzt, diese einfachen Berechnungen durchführen kann, die Ergebnisse aber offenbar über unseren Verstand gehen.“ „Könnte es nicht vielleicht sein, dass sich das Ding in Wahrheit nur sehr langsam auf uns zu bewegt und seine Größenänderung nur eine Antwort auf das Gravitationsfeld des Sonnensystems ist?“, warf Paddy Fingal in die Debatte. Eine allgemein erwartete gereizte Reaktion Tolstois auf Fingals Spekulation blieb aus. Tolstoi schloss sich vielmehr diesem Gedanken in vager Form an und sinnierte, wohl mehr für sich: „Ja, ja – so etwas muss es wohl sein, aber was und wie genau?“ Die weitere Diskussion war geprägt durch diffuse Gedanken und kühne Vermutungen, vor allem aber durch Ratlosigkeit. Gegen Mittag hob Tolstoi die Beratungsrunde auf. Ihr wesentliches Ergebnis bestand in der mageren Erkenntnis, dass man zur Zeit wohl nichts anderes tun könne, als die Erscheinung einerseits sehr genau zu beobachten sowie andererseits jedes nur erdenkliche Modell einer physikalischen Erklärung gründlich zu durchdenken. In den folgenden Tagen nahm die Erscheinung unaufhörlich zu und erreichte am 5. März einen Winkeldurchmesser von etwa fünfzehn Bogengrad. Ein wissendes und geübtes Auge konnte jetzt bei klarem Sternenhimmel den kreisförmigen dunklen Fleck am Firmament ausmachen, in dem die Sterne verschwunden waren. Das Licht der neuen Sterne in dem
Fleck war in den infraroten Bereich verschoben und daher für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar. Die Beobachtungssatelliten allerdings konnten alles sehr genau „sehen“ – und was sie sahen, war den Wissenschaftlern ein großes Rätsel. Der Fleck war jetzt so groß, dass ein sehr genauer Vergleich der räumlichen Verteilung der neuen Objekte mit alten Aufnahmen möglich war. Und dieser Vergleich ließ kaum noch Zweifel daran, dass die neuen Objekte wirklich neu waren, also nicht die alten Objekte mit rotverschobenem Licht und veränderter Position. Astronomen und Theoretiker arbeiteten fieberhaft unter dem Eindruck, einer bahnbrechenden Entdeckung auf der Spur zu sein. Wissenschaftliche Neugier rückte alles andere in den Hintergrund. Tolstoi hingegen hatte das Gefühl, dass in der Erscheinung eine dunkle Bedrohung lag. Und so war er wohl der einzige in der Bodenstation Ural, der das leichte, fast unmerkliche Zittern registrierte, das am frühen Abend des 4. März für ganz kurze Zeit durch die Station lief. Doch maß Tolstoi dem – gänzlich unverständlich – keine Bedeutung bei. Der Abend des 5. März war ein milder und dunstiger Vorfrühlingsabend. Vor Tagen schon war der letzte Schnee getaut, und es roch nach feuchter Erde. Tolstoi hatte mit einigen Kollegen zu Abend gegessen und sich dann an sein Klavier gesetzt. Wie stets lauschten ihm auch heute heimliche und andächtige Zuhörer. Nachdem er mit einer Etüde von Chopin geendet hatte, saß er noch lange gedankenverloren auf der Bank vor dem Klavier. Morgen jährte sich zum fünften Mal der schreckliche Unfalltod seiner geliebten Frau Krystina. Lähmende Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihm aus – er spürte, dass er
wie in den vergangenen Jahren wieder in Apathie versinken würde. Das Komgerät läutete und Tolstoi schaltete sich mechanisch ein. „Nikolai Sergejwitsch, mein guter alter Freund!“ kam es liebenswert und aufmunternd durch die Komleitung. Es war Michail Fedorowitsch Dostojewski, der derzeitige Weltpräsident, aus seinem Amtssitz in Genf. „Sag’ mir, mein Freund“, führ er fort, „wie geht es deiner guten alten russischen Seele?“ Tolstoi und Dostojewski waren seit über dreißig Jahren enge und miteinander sehr vertraute Freunde. Sie hatten sich während ihres Studiums an der Gorbatschow-Universität in Moskau kennen gelernt. Dostojewski hatte Kybernetik studiert und sich später als Wissenschaftler mit kybernetischen Modellen in Wirtschaft und Verwaltung einen großen Namen gemacht. Sein brillanter Verstand und seine schnelle Auffassungsgabe gaben ihm die Möglichkeit, sich auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen kundig zu machen, und so hatte er durch seine Freundschaft mit Tolstoi gründliche Kenntnisse auch in Kosmologie und Astrophysik erworben. Sein breites Wissen und seine kultivierten Umgangsformen, an denen er auch in schwierigsten Situationen festhielt, hatten ihn bereits vor Jahren in den Kreis der Männer und Frauen gerückt, die für eine führende Aufgabe in der Weltregierung in Frage kamen. Nach langem Zögern – Dostojewskis Hang zu Macht und Einfluss war nur sehr gering ausgeprägt – hatte er vor sechs Jahren das Amt des während der Amtsperiode ausscheidenden Wissenschaftsministers in der Weltregierung übernommen. Als dann nach Ablauf der Amtszeit vor vier Jahren die Weltregierung neu gewählt wurde, entschied sich das Weltparlament nahezu einstimmig für Dostojewski als neuen Präsidenten. Dostojewski nahm erst nach längerem
Zögern und dann auch nur unter der Bedingung die Wahl an, dass das Weltparlament die dunkelhäutige Südafrikanerin Isabel King zu seiner Vizepräsidentin wählen würde. Nur mit der Ausstrahlung und Überzeugungskraft dieser bemerkenswerten Frau fühlte er sich den harten Auseinandersetzungen gewachsen, die er als Präsident zu bestehen hatte – zum Beispiel beim jährlichen Finanzausgleich zwischen den Ländern der Erde. Die langjährige Freundschaft zwischen Tolstoi und Dostojewski gründete sich unter anderem auch auf ihre gemeinsame Liebe zur Musik, auch wenn Dostojewskis Vorliebe der Musik Bachs galt, im Unterschied zu Tolstois musikalischen Neigungen, der die klassische Musik seiner russischen Heimat bevorzugte. Wie Tolstoi am Klavier so suchte auch Dostojewski immer wieder an der Orgel das Musikerlebnis, das den Körper und die Seele so frei macht. Um Dostojewskis ausgezeichnetes Orgelspiel rankten sich mittlerweile eine ganze Reihe kleiner liebenswerter Geschichten. Seit vielen Jahren bereits verbrachte er seine Urlaubswochen in kleinen abgelegenen Ortschaften, deren Kirchen mit einer guten Orgel ausgestattet waren. An den Abenden verlor er sich dann in die triumphierende Orgelmusik Bachs. Die folgende kleine Geschichte ereignete sich wenige Monate, nachdem Dostojewski zum Präsidenten gewählt worden war, in einem kleinen Dorf irgendwo in Süddeutschland. Es war ein Spätsommertag, einer jener Tage, deren sanfte Wärme und deren Licht und Geruch man für immer festhalten möchte und deren Abende man sich endlos wünscht. Dostojewski hatte beim Herannahen der Dämmerung mit seinem abendlichen Orgelspiel begonnen. Aus den offenen Kirchentüren quollen die mächtigen Orgelklänge in den dunstigen
Spätsommerabend. Spaziergänger in der Nähe hielten inne und ließen sich, ein wenig zögernd zunächst, aber dann doch von der Musik in die Kirche ziehen. Nach und nach füllte sich das Gotteshaus in aller Stille mit heimlichen Zuhörern. Sie standen oder saßen irgendwo, ein jeder in sich gekehrt, und ließen sich von den herrlichen Klängen überfluten. Als Dostojewski dann mit der Toccata und Fuge in d-Moll geendet hatte und die brausenden Schlussakkorde abgeebbt waren, war es für eine ganz kurze Zeit totenstill in der Kirche. Dann brach unter den Zuhörern befreiter Jubel los, und da erst bemerkte Dostojewski sein Publikum. Unsicher, fast ein wenig linkisch, klappte er seine Noten zusammen und verließ durch einen Hintereingang schnell die Kirche – der Präsident aller Nationen war alles andere als ein klassischer Politiker. Tolstoi und Dostojewski verband nicht nur die Liebe zur Musik, sondern jahrelang auch die Liebe zu einer Frau. Sie hatten Krystina Romanoff, Tochter finnisch-russischer Eltern, während ihres Studiums kennen gelernt. Sie zählte zu jenen Frauen, deren Schönheit man langsam entdeckt, wenn man ihnen immer wieder begegnet. Tolstoi und Dostojewski hatten sich schon sehr bald in sie verliebt. Krystina erwiderte zaghaft ihre Gefühle. Sie musste sich eingestehen, dass auch sie beide Freunde liebte, und sie wusste, dass sie den jeweils anderen sehr verletzen würde, wenn sie sich für einen der beiden entschied. Sie hatte sich dann doch entschieden – für Nikolai Sergejwitsch, den Schwerblütigen, der dennoch so geistreich und auch so zärtlich sein konnte. Später, nach ihrem Tod, sollte sich Tolstois Schwerblütigkeit zu lähmender Schwermut entwickeln. Krystinas Entscheidung stürzte Dostojewski in tiefe Verzweiflung. Es dauerte Jahre, bis er diese Krise überwunden hatte. Während dieser Zeit mied er die Gesellschaft von
Nikolai und Krystina, und die Freundschaft zwischen Tolstoi und Dostojewski drohte zu zerbrechen. Doch dann hatte er sich eines Tages von einer seiner zahlreichen wissenschaftlichen Reisen gemeldet, die ihn durch alle Kontinente führten. Auf diesen Reisen war er vielen anziehenden und klugen Frauen begegnet, so auch der griechischen Schriftstellerin Julia Greco. Schon bei ihrer ersten Unterhaltung, geistreich und amüsant, hatten sie einander fasziniert. Später dann verzichteten sie darauf, sich durch geistreiche und unterhaltsame Wendungen zu verhüllen; sie äußerten Gefühle, zaghaft erst, dann immer deutlicher. Und dann ahnten sie, dass sie einander vielleicht lieben könnten. Für Dostojewski bedeutete das die Befreiung aus Krystinas Bann. Und so war die Freundschaft zwischen Tolstoi und Dostojewski wieder aufgelebt, reicher geworden durch die beiden Frauen Krystina und Julia. Viele Jahre später, nach Krystinas schrecklichem Tod, war es dann Dostojewski, der dem Freund in seinen endlosen Trauermonologen zuhörte und ihn so vor tödlicher Verzweiflung bewahrte. Und Dostojewski wusste auch von Tolstois lähmender Schwermut, die den Freund in den letzten Jahren stets befallen hatte, wenn sich Krystinas Todestag jährte. Er hatte daher Tolstoi jedes Mal am Vorabend angerufen, und so auch am Abend dieses 5. März. „Ach ja, Fedor“, antwortete Tolstoi müde, als Dostojewski ihn fragte, wie es denn wohl seiner Seele gehe, „es ist wieder wie all’ die Jahre, du weißt schon – “ „Lass’ mich raten, Sergej“, kam ihm Dostojewski zuvor, „du hast Klavier gespielt, und jetzt sitzt du da und grübelst vor dich hin.“ „Ja, ja, genau so ist es, Fedor“, bestätigte Tolstoi.
„Sergej, ich mache dir einen Vorschlag, und ich bitte dich sehr ihn anzunehmen. Komm’ gleich morgen zu uns nach Genf. Du weißt, wie gerne Julia und ich dich hier bei uns haben, und ich bin sicher, dass dir Julias freundschaftliche Zuneigung sehr gut tun würde. Ich habe in den nächsten Tagen nur sehr wenig zu tun, nachdem der diesjährige Finanzausgleich abgewickelt ist. Isabel hat dabei wieder einmal großartig agiert. Und auch du wirst gewiss für einige Tage entbehrlich sein, ihr habt doch den tüchtigen Woodstock. Also, Sergej, was hindert dich?“ „Die Erscheinung, Fedor“, antwortete Tolstoi, „die Erscheinung!“ „Was bitte – ?“, fragte Dostojewski entgeistert zurück und dachte, der Freund sei vielleicht verrückt geworden. „Entschuldige bitte, Fedor, das muss sehr merkwürdig geklungen haben. Lass’ mich kurz erzählen!“, gab Tolstoi zu Dostojewskis Erleichterung zurück. Als Tolstoi geendet hatte, entstand ein kurzes gespanntes Schweigen. „Donnerwetter“, machte sich Dostojewski dann in einer für ihn ganz unüblichen Weise Luft, „dann stimmt also doch, was mir gestern der Wissenschaftsminister erzählt hat! Er war in der Bodenstation Mt. Palomar zu Gast, und dort berichteten sie ihm von eben diesem Phänomen. Einer der Astronomen konnte ihm sogar den dunklen Fleck am Sternenhimmel zeigen, den man allerdings wohl nur sehen kann, wenn man davon weiß. In Genf konnte mir der Minister den Fleck dann leider nicht zeigen, bei uns ist nämlich der Himmel seit Tagen wolkenverhangen. Ich bin dann der Sache nicht weiter nachgegangen, hätte dich aber sicher irgendwann einmal gefragt. Jetzt scheint mir das Phänomen allerdings mehr als nur interessant zu sein. Habt ihr irgendeine Vorstellung, was
es sein könnte? Und, Sergej, sag’ mir ehrlich, glaubst du, dass es uns bedrohen könnte?“ „Ich fürchte ja, Fedor, auch wenn wir bisher keinerlei physikalische Erklärung für die Erscheinung haben – auch nicht ansatzweise“, antwortete Tolstoi. „Du hast mir doch einmal von diesem Iren erzählt, der in deiner Station arbeitet und der mit seinen Ahnungen schon einige Male richtig gelegen hat. Was meint der dazu?“ „Bisher nichts – aber er musste in den letzten Tagen wohl auch erst einmal auf Abstand zu seinem geliebten Whisky gehen – “ „Wirf ihn hinaus, Sergej“, unterbrach ihn Dostojewski, „die Leute in den Bodenstationen werden sehr gut bezahlt, und zwar nicht dafür, dass sie trinken!“ „Sicher, Fedor, du magst ja recht haben. Aber Fingal ist wirklich ein sehr guter Mann, und außerdem bringe ich es nicht – “ Tolstois Stimme brach plötzlich ab. Ein Zittern lief durch die Station, Gläser klirrten in den Schränken und Türen sprangen auf. „Fedor – hörst du mich noch?“, rief Tolstoi. „Ja, ja, ich höre dich – was ist passiert?“, meldete sich Dostojewski. „Bei uns hat gerade die Erde gezittert!“ „Was –?“, schrie Tolstoi und fuhr dann tonlos fort: „Dann ist es soweit!“ „Was meinst du damit, Sergej?“, fragte Dostojewski nervös zurück. „Fedor, auch bei uns hat die Erde gezittert – die Erscheinung hat uns erreicht! Ich rufe dich in den nächsten Stunden zurück – wenn das noch geht. Bis dann, Fedor!“ Tolstoi ging aus der Leitung und verband sich umgehend mit Woodstock. „John, Sie haben gewiss das Zittern bemerkt, das vor etwa einer Minute durch die Station gelaufen ist. Ich sprach zu diesem Zeitpunkt gerade mit Präsident Dostojewski in Genf, und dort hat offenbar exakt zu derselben Zeit die Erde
gezittert. Setzen Sie sich bitte umgehend mit allen seismographischen Stationen auf der Erde in Verbindung und stellen Sie fest, ob das Zittern auch dort registriert wurde! Ich ahne Schlimmes!“ Etwa zwei Stunden später stand zweifelsfrei fest: Am 5. März 2222 um 21 Uhr 13 westsibirischer Zeit wurde die gesamte Erde für wenige Sekunden von einer bisher unbekannten Kraft geschüttelt.
APOKALYPSE
Noch ehe die Wissenschaftler sich dieses neuen Rätsels richtig angenommen hatten – alle Anzeichen deuteten auf eine Gravitationswelle hin, war man allgemein der Meinung, doch wo war die Quelle für eine Gravitationswelle derartiger Stärke, und damit war man wieder bei der rätselhaften Erscheinung –, noch ehe also die Wissenschaftler richtig begonnen hatten, diese Kraft zu enträtseln, griff sie in der Nacht auf den 6. März um 1 Uhr 35 westsibirischer Zeit erneut nach der Erde. Und dieses Mal tat sie es mit kosmischer Gewalt! Und die Erde schrie auf und bäumte sich in wildem Schmerz. Über alle Kontinente zerriss mit höllischem Kreischen die Erdkruste und spie aus ihren Poren Gas und Pestgestank. Die Vulkane schleuderten aus ihren Schlünden Glut, Asche und Geröll. Auf dem Grund der Weltmeere erbrach sich die Erde und stieß Flutwellen aus, die an den Küsten Mensch und Natur zertrümmerten. Angst und panisches Entsetzen rasten über die Menschheit, und in den Metropolen mischten sich in das Kreischen der reißenden Erdkruste und das Tosen der berstenden Wolkenkratzer die Todesschreie unzähliger Menschen. Apokalypse 2222! Als über Europa der Morgen des 6. März heraufdämmerte, gab er ein grausiges Szenario frei. Über den Metropolen, die sonst bei prachtvollem Lichterglanz einen Tag reich an Hoffnung,
Schaffenskraft und Lebensfreude begannen, hingen schmutzige Rauchschwaden, durchzuckt von dunkelroten riesigen Flammen. In den Straßen statt des morgendlichen Aufbruchs lange Züge sich schleppender Gestalten, ihre Gesichter fahl und hohl. Viele dieser Züge wurden von religiösen Fanatikern angeführt, die mit kreischender Stimme das Ende der Welt beschworen und zu Sündenbekenntnis und Buße aufriefen – die Gestalten hinter ihnen antworteten dann in entrücktem und willenlosem Singsang. Darüber legte sich das Tosen der Brände und das durchdringende Geheul der Rettungswagen und Löschfahrzeuge. Und über allem wollte es nicht richtig Tag werden! Der Tag blieb in einer schmutzig gelben Dämmerung stecken! Apokalypse 2222! Der Sitz der Weltregierung in Genf war von der Katastrophe weitgehend verschont geblieben. So konnte der Krisenstab, den Präsident Dostojewski bereits gegen Mitternacht mitteleuropäischer Zeit einberufen hatte, mit den nationalen Regierungen und Krisenstäben Verbindung aufnehmen, um einen ersten Überblick über das erdweite Ausmaß der Katastrophe zu gewinnen. Und diese erste Bilanz war in der Tat apokalyptisch. Nahezu alle großen Städte der Erde waren schwer zerstört, an den Küsten der Weltmeere hatten riesige Flutwellen unvorstellbare Verwüstungen angerichtet – und weitere Wellen waren noch unterwegs, die Zahl der Todesopfer belief sich nach ersten Schätzungen auf etwa 6 Millionen. Gegen dieses Inferno war der Einsatz der Weltarmee eine eher hilflose Geste. Dennoch gab Präsident Dostojewski noch in der Nacht den Einsatzbefehl, und bereits am Vormittag des 6. März trafen die ersten Kontingente mit ihren Katastrophenausrüstungen an ihren Einsatzorten ein.
Diese Einsatzorte waren vom Krisenstab in Genf sehr sorgfältig ausgewählt worden, denn das Ausmaß der Katastrophe ließ eine gleichmäßige Verteilung der Weltarmee über alle betroffenen Gebiete der Erde natürlich nicht zu. So hatte man einen gezielten Einsatz zum einen in extremen Ballungsräumen wie etwa New York und Mexico City und zum anderen in den beiden extrem erdbebengefährdeten Gebieten um San Francisco sowie entlang der japanischen Südküste von Tokio bis Kobe beschlossen. Das Inferno in diesen beiden Regionen entzog sich jeder Beschreibung. Gegen acht Uhr morgens breitete sich im Krisenstab der Erdregierung totale Erschöpfung aus. Schock und Übermüdung hatten die Männer und Frauen tief gezeichnet. Dostojewski ordnete daraufhin eine zweistündige Pause an. Er selbst zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und versuchte mit den verbliebenen Kräften seine Gedanken zu ordnen und sich so vor dem Sturz in das besinnungslose Chaos zu bewahren. Der Weg seiner Gedanken führte weit zurück – zu dem Komgespräch mit seinem Freund Nikolai Tolstoi im fernen Ural vor etwa elf Stunden, als die Erde mit ihren Menschen darauf noch ein Planet der Hoffnung und der Lebensfreude gewesen war. „Ich rufe dich in den nächsten Stunden zurück – wenn das noch geht“, hatte Sergej gesagt. Es war nicht gegangen. Jetzt aber wollte Dostojewski zurückrufen. Denn erst jetzt – warum erst jetzt?? – fragte er sich das erste Mal nach der Ursache der Katastrophe. Und diese Frage konnte ihm, so meinte er, nur Sergej beantworten. Er erhob sich schwer und trat ans Fenster, das ihm an so vielen unbeschwerten Tagen den so sehr geliebten Blick über den Genfer See geöffnet hatte. Ganz besonders in den Morgenstunden der Vorfrühlingstage lud die stille dunstige
Wasserlandschaft zu Besinnung, ja Träumerei ein. Heute lag sie fahl unter einem schmutzig gelben Himmel. Und dieser Himmel war nicht verschmutzt durch Rauchschwaden oder verdunkelt durch Unwetter – dieser Himmel war ein anderer, ein ganz neuer Himmel! Dostojewski erschrak. Er blickte zur Uhr. Sie zeigte 8 Uhr 30. Und dann kroch sie plötzlich in ihm hoch, die wirkliche Angst, die von innen kalt und starr macht. Er bat über das Komgerät um eine Verbindung mit Nikolai Tolstoi in der Bodenstation Ural. Gab es die Station noch, war Sergej noch am Leben?? Bange Sekunden, sein Mund war trocken. Dann plötzlich stand die Verbindung. „Sergej, hier Fedor“, meldete er sich mit tonloser Stimme, und dann brach es aus ihm heraus: „Ihr lebt, Gott sei Dank, ihr lebt!“ „Ja, Fedor, wir sind alle am Leben“, kam es erschöpft durch die Leitung, „und wie durch ein Wunder ist auch unsere Station verschont geblieben. Und – “ „Was ist geschehen, Sergej?“, unterbrach ihn Dostojewski, „was ist nur geschehen?? Unsere Erde zerstört, so unendlich viele Tote, und dann dieser grauenvolle schmutzig gelbe Himmel! Weißt du, was geschehen ist??“ „Nein, Fedor, nein, wir wissen es nicht!“, gab Tolstoi verzweifelt zurück. „Es ist diese verfluchte Erscheinung, aber was ist diese Erscheinung?“, fuhr er fort. „Als wir heute in den frühen Morgenstunden nach dem ersten Schock feststellten, dass unsere Station unversehrt geblieben war, hat Woodstock als erstes unseren Beobachtungssatelliten überprüft. Dabei stellte er zweierlei fest: Erstens war der Satellit leicht aus seiner Bahn geraten, aber viel schlimmer – er war auch noch blind! Die anderen Bodenstationen stellten bei ihren Satelliten dasselbe Phänomen fest! Woodstock hat dann mit seinen Mitarbeitern wie besessen nach dem Fehler gesucht – und ihn schließlich auch gefunden: Die Spiegel der Satelliten waren von einer Staubschicht bedeckt! Bei den vier erdnächsten
Satelliten konnten die Spiegel inzwischen gesäubert werden, mit Hilfe elektrischer Wechselfelder, und nach Bahnkorrektur arbeiten sie jetzt wieder normal. Vor etwa zwanzig Minuten haben wir die neuesten Daten von der Sonne bekommen, und – und diese Daten, Fedor, bedeuten weiteres Unglück! Die Sonne hat sich offenbar in eine dünne Staubschicht gehüllt – daher der schmutzig gelbe Himmel! Das be-“ „Um Himmels Willen, Sergej“, fiel ihm Dostojewski ins Wort, „unsere Energie!“ „Was bitte??“ „Unsere Energiespeicher können nicht mehr richtig nachgefüllt werden, Sergej!“ In der Tat, die extreme Anspannung hatte Tolstoi übersehen lassen, dass die Staubschicht die Energieversorgung der Erde durch die Sonne hochgradig gefährdete. So entfuhr ihm jetzt lediglich ein mattes, „Oh ja, natürlich!“ „Sergej, um Himmels willen, ihr müsst herausfinden, was dort draußen im Weltall passiert ist, ihr müsst!“, redete Dostojewski auf den Freund ein. „Setzt alle Mittel ein, eure Phantasie, euer Hirn, eure Instrumente!“ „Wir werden alles versuchen“, versprach Tolstoi müde und dann, nach einer kurzen Pause, „wenn es uns denn noch helfen kann.“ Dostojewski schwieg. „Fedor, wie sieht es bei euch in Genf aus?“ lenkte Tolstoi ab. „Entsetzlich, wenn auch nicht ganz so furchtbar wie in anderen Großstädten. Wir müssen mit etwa zweitausend Todesopfern rechnen – und natürlich unzähligen Verletzten. Die Krankenhäuser sind überfüllt. Der Regierungssitz hier ist weitgehend unbeschädigt. Vor etwa einer halben Stunde habe ich die Dauersitzung des Krisenstabes unterbrochen, die Mitglieder standen kurz vor dem Zusammenbruch. Die schöne
und sonst so souveräne Isabel – sie kauert in der Ecke und weint ununterbrochen, sie hat ihre beiden Eltern in Kapstadt verloren. Julia liegt mit einem schweren Schock im Krankenhaus und kann nur notdürftig versorgt werden. – Sergej, ihr müsst herausfinden, was dort draußen passiert ist, hast du mich verstanden?“ Jetzt schwieg Tolstoi – und als er immer noch schwieg, verabschiedete sich Dostojewski mit einem leisen „Auf bald, Nikolai Sergejwitsch!“ Er ließ sich mit dem Dag-Hammerskjöld-Krankenhaus verbinden. Dorthin war seine Frau Julia gegen 1 Uhr nachts eingeliefert worden, nachdem sie einen schweren Schock erlitten hatte. „Herr Präsident, es tut mir leid, aber der bedrohliche Zustand Ihrer Frau hat sich bisher nicht gebessert. Wir tun alles, was wir können. Leider ist das zur Zeit nicht viel“, wurde Dostojewski sachlich informiert. Aus dem Hintergrund drangen Schreie und Sirenen. Dostojewski beendete das Gespräch mit einem leisen „Danke sehr!“. Dann sank er in sich zusammen. „Oh mein Gott“, flüsterte er, und dann, sich selbst nicht begreifend, denn er war nie ein gläubiger Mensch gewesen, „willst du uns wirklich verlassen?“
WURMLOCH
Am frühen Nachmittag des 6. März berief Tolstoi eine Versammlung aller Stationsmitglieder ein. Er berichtete den erschöpften Männern und Frauen zunächst über das bisher bekannte Ausmaß der Katastrophe. Dann wandte er sich der Frage nach der Ursache zu. „Als bisher sichtbare Symptome“, fasste er zusammen, „haben wir zunächst das Loch am Himmel mit einem Durchmesser von etwa fünfzehn Bogengrad. In dem entdecken wir eine unbekannte Verteilung von Sternen und Galaxien. Dann hat irgendeine unbekannte Kraft für etwa zehn Minuten an unserer Erde, und ich vermute auch am übrigen Sonnensystem, gezerrt und hier bei uns ein furchtbares Inferno ausgelöst, und schließlich hat sich die Sonne in eine Staubschicht gehüllt, welche die Ursache für das schmutzig gelbe Tageslicht ist. Meine Damen und Herren, wir hier in der Bodenstation Ural haben zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen der anderen Stationen die schwere Aufgabe, dieses Rätsel so rasch wie irgend möglich zu lösen! Ich bitte Sie inständig, Ihre ganze Konzentration und Geisteskraft, alle Ihre Kenntnisse und alle unsere Instrumente für diese Aufgabe einzusetzen.“ Tolstoi hatte geendet, und ratloses Schweigen stand im Raum, unterbrochen von nervösem Räuspern. „Äh – Sir“, meldete sich schließlich Sven Brahe zu Wort, „wir haben inzwischen wieder angefangen, die Verteilung der Sterne und Galaxien im Loch auszumessen. Wir hoffen, bis morgen in der Frühe so viel Material zu haben, dass wir damit dem Rätsel vielleicht auf den Leib rücken können.“
„Ja, sehr gut, Sven!“, nickte Tolstoi ihm zu, und dann zu Tina Nordström: „Tina, gibt es bisher keinen theoretischen Ansatz, überhaupt keinen??“ Tina Nordström reagierte mit einer hilflosen Geste, und als sie eine Antwort versuchen wollte, wandte sich Tolstoi bereits an Paddy Fingal, der ganz in sich gekehrt am Rand der Versammlung auf einem Tisch hockte. „Paddy, was ist mit Ihnen, was meinen Sie dazu?“ „Äh, ja bitte, Sir“, tauchte der Ire auf. „Ach ja, ich vergaß, dass Sie ja gar nicht hier sind“, beendete Tolstoi gleichermaßen gereizt wie resigniert seinen Anlauf. Dann breitete sich wieder zähes Schweigen aus. Es ließ Tolstoi keine andere Wahl, als die Versammlung aufzuheben. Nach dem Abendessen, das der größte Teil der Stationsbelegschaft wie immer gemeinsam eingenommen hatte, an diesem Abend jedoch im krassen Gegensatz zu sonst in äußerst gedrückter Stimmung, machte sich Tina Nordström auf den Weg zu Paddy Fingals Appartement im obersten Stock der Station. Paddy Fingal war nicht zum Abendessen erschienen, und irgendetwas beunruhigte Tina daran. Eigentlich brauchte es sie gar nicht zu beunruhigen, denn Paddys Lebensstil war wie sein Arbeitsstil sehr unregelmäßig, hatte etwas von der chaotischen Unruhe eines theoretischen Wissenschaftlers, dessen Gedanken von einem Übermaß an Phantasie getrieben in alle Richtungen schweiften. So konnte es durchaus sein, dass er sich, statt zu Abend zu essen, einen Science-Fiction-Film ansah und dabei an einem Wurstbrot kaute. Tina hatte gelegentlich, wenn sie abends noch lange gearbeitet hatten, das Vergnügen gehabt, von Paddy zu einem solchen Film bei einem Glas Whisky eingeladen zu werden. Diese Filme bewegten sich meistens an der Grenze zum billigen Weltraumklamauk. Doch stets gab es Szenen, die
Paddy mit einem „Irre gut – oder!?“ kommentierte. Dabei sah er sie dann Bestätigung erhoffend mit seinen blauen Augen an, die Tina immer an den Blick eines traurigen Hundes erinnerten. ‘Aber heute einen Science Fiction – wohl kaum!?’, dachte sie. Da war es schon eher möglich, dass einige seiner Sauf- und Spielkumpanen ihn zum Kartenspiel oder zum Trinken – oder auch zu beidem überredet hatten. Zwei dieser Gesellen, ein Techniker aus Süddeutschland und ein amerikanischer Astronom, waren ihr dabei sehr zuwider. Sie waren ohnehin laute und geltungssüchtige Menschen und wurden, wenn sie getrunken hatten, noch lauter und dabei auch noch gemein und anzüglich. Die attraktive Tina war bereits einige Male Zielscheibe ihrer Zoten gewesen. Paddy, angetrunken wie seine Spielkumpanen, hatte sich daraufhin mit den beiden lautstark und in unflätigster Weise gestritten, hatte sich dann später bei Tina für seine Kumpanen und sich selbst entschuldigt und sie dabei sehr hilflos und traurig angesehen. Wenige Tage nach einem solchen Streit saßen sie dann jedoch wieder bei Whisky am Kartentisch zusammen – die Auswahl an Spielern in der Station war nur sehr klein und Paddys Spielleidenschaft sehr groß. ,Aber auch beim Spiel würde sie ihn heute nicht antreffen – heute sicher nicht?!’, dachte Tina. Und so beunruhigte sie, dass er nicht zum Abendessen erschienen war. Auf ihr Klopfen wurde Tina nicht hereingebeten – auch beim zweiten Klopfen nicht. Sie drückte zögernd die Türklinke, das Appartement war nicht verschlossen. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit. „Paddy?!“
Auch jetzt erhielt sie keine Antwort, und so trat sie vollends ein. Es roch nach Paddys feinen Virginia-Zigarillos. Das Appartement lag im Halbdunkel. Nur die Lampe auf dem Schreibtisch brannte, und in dem Sessel davor saß tief eingesunken mit beiden Händen auf dem Schreibtisch Paddy Fingal. Tina erschrak. „Paddy?!“ Sie ging rasch auf ihn zu und sah, dass vor ihm ein wildes Durcheinander beschriebener Blätter lag. Einige waren mit Formeln und Zahlen in großer Schrift bekritzelt, auf den meisten jedoch war eine Zeichnung zu sehen – offenbar immer dasselbe Motiv in immer neuen Anläufen. „Paddy?!“ Tina berührte leicht seine Schulter. Und jetzt dreht sich Paddy ihr zu und sah sie mit unverwandten Augen an, blickte fast durch sie hindurch und sagte: „Tina Liebling, es ist ein Wurmloch!“ Tina Nordström sollte diesen Satz später niemals vergessen. Doch jetzt starrte sie Paddy Fingal nur entgeistert an. War er übergeschnappt – oder hatte er nur schwer getrunken? Auf dem Schreibtisch stand eine halbvolle Flasche Whisky – vielleicht schon die zweite? Was meinte er mit Wurmloch und, vor allem, warum nannte er sie Liebling?? Ganz besonders diese reichlich intime Anrede hatte sie verwirrt. Und so antwortete sie zunächst darauf betont kühl: „Paddy, ich bin nicht Ihr Liebling!“ „Woher wissen Sie das, Tina?“, gab Paddy gedankenverloren zurück. Tina verschlug es die Sprache, dann stotterte sie: „Weil – weil – ach, lassen wir das, Paddy!“, und dann, wieder Sicherheit gewinnend, „was haben Sie mit dem Wurmloch gemeint?“ „Hier! Das hier!“, rief Paddy und zeigte dabei auf das Durcheinander von Blättern auf seinem Schreibtisch. „Kommen Sie, ich will es Ihnen gern erklären! Aber es wird uns nicht helfen!“
Tina setzte sich neben Paddy auf den Schreibtisch, sich mit dem linken Arm zur Seite abstützend. Paddy spürte ihre Nähe, ihren Körper, fragte sich, ob das von Tina vielleicht so gewollt war, wühlte in seinen Blättern, zog schließlich eine jener unfertigen Zeichnungen hervor, die Tina bereits vorher ins Auge gefallen waren. Dann begann er anhand dieser Zeichnung zu erklären, wobei er sie schrittweise vervollständigte und so seine Erklärung der geheimnisvollen Erscheinung anschaulich untermalte. Paddy erklärte Tina, dass das Sonnensystem auf seinem Weg um das galaktische Zentrum auf ein Wurmloch gestoßen sei. Dieses Wurmloch stellte neben dem normalen Weg eine zweite Möglichkeit dar, um von einem Ort des Universums zu einem anderen zu gelangen, allerdings nur für kleinste Partikel und elektromagnetische Strahlung, denn das Wurmloch sei, abgesehen von seinen weiten Öffnungstrichtern, sehr eng. Der Weg entlang des Wurmloch Schlauches sei dabei etwa so lang wie der normale Weg von Wurmlochöffnung zu Wurmlochöffnung im Universum. In dem engen Schlauch jedoch verlören Licht und Radiostrahlung, die in den Öffnungstrichter am anderen Ende des Wurmlochs einträten, fast keine Intensität, da sie sich nur in Richtung des Schlauches ausbreiten könnten und so daran gehindert würden, sich durch Ausbreitung in alle Richtungen in einem unendlichen Raum beliebig zu verdünnen. Offenbar befinde sich der Öffnungstrichter am anderen Ende des Wurmlochs in einer etwa acht Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie.
Dadurch hätten die Menschen auf der Erde am diesseitigen Ende dieselben Beobachtungsmöglichkeiten wie der Beobachter in der Nähe des Öffnungstrichters in jener fernen Galaxie, denn das Licht, das ihn erreiche, werde praktisch ungeschwächt durch den Schlauch des Wurmlochs zu den Astronomen auf der Erde weitergeleitet. So seien die neuen Sterne, die man im Winkelbereich des Öffnungstrichters beobachte, Sterne jener fernen Galaxie, und die neuen Galaxien solche, die man mit den derzeitigen Beobachtungstechniken von jener fernen Galaxie aus beobachten könnte. Da die Astronomen auf der Erde zur Zeit räumliche Strukturen in der Verteilung der Galaxien bis zu Entfernungen von etwa sechs Milliarden Lichtjahren ausmessen könnten, müsste es möglich sein, durch das Wurmloch räumliche Strukturen bis zu Entfernungen von etwa vierzehn Milliarden Lichtjahren auszumessen. Paddy Fingal brach abrupt ab, und Tina bemerkte Schweißperlen auf seiner Nase. Er griff zur Whiskyflasche und schenkte sich sein Glas voll. Dabei lud er Tina mit einer hilflos fragenden Geste zum Mittrinken ein. Doch Tina schüttelte den Kopf. Sie rutschte von Paddys Schreibtisch und ging schweigend zum Fenster. Von dort fragte sie, in die Dunkelheit starrend: „Und warum ist die Erde fast auseinandergebrochen, warum hat sich die Sonne in eine Staubschicht gehüllt und warum hat sich das Wurmloch dem Sonnensystem nicht so genähert, wie Tolstoi das gestern morgen – ach ja, gestern – vorgerechnet hat? Kannst du das vielleicht auch erklären, Paddy Liebling?“ Jetzt starrte Paddy Fingal Tina Nordström an, doch er vermochte Tinas letzte Frage nicht als vorsichtige Liebeserklärung zu deuten – jedenfalls nicht so, wie er die
seine gemeint hatte. So wich er ins Fachliche aus und versuchte, Tinas Fragen zu beantworten. Die Erde sei fast zerbrochen, weil sie sich der gekrümmten Raumstruktur am äußersten Rand des Öffnungstrichters hätte anpassen müssen. In der Tat befände sich das Sonnensystem wohl nur am äußersten Rand des Trichters, denn weiter innen wären Teile des Planetensystems sicherlich zerbrochen oder explodiert. Die Staubschicht um die Sonne stamme möglicherweise von dem Staub, den der Öffnungstrichter im Laufe langer Zeit großräumig um sich herum angesammelt und von dem die Sonne als bei weitem massivster Körper des Sonnensystems einen ordentlichen Schluck genommen habe, als sich das Sonnensystem dem Wurmloch genähert habe. Schließlich sei das Näherkommen des Wurmlochs so merkwürdig verlaufen, weil das Wurmloch, wenn kein Stern in der Nähe sei, wahrscheinlich mit äußerst kleinem Öffnungstrichter sozusagen schlafe und sich erst beim Näherkommen eines Sterns, in diesem Fall der Sonne mit ihren Planeten, als Antwort auf dessen Gravitationsfeld öffne. Paddy Fingal wischte sich nach diesen Ausführungen mit einem großen roten Taschentuch die Schweißperlen von der Nase. Dann versank er in Schweigen. Es wurde sehr still im Raum, und beide hielten diese Stille ein geraume Zeit aus. Schließlich fragte Tina Nordström: „Und was nun, Paddy?“ Paddy Fingal zuckte hilflos mit den Schultern, dann griff er zur Whiskyflasche, um sich sein Glas erneut voll zu schenken. Doch Tina kam ihm zuvor. Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand und stellte sie mit bestimmter Geste auf die äußerste Ecke des Schreibtisches. Dann ging sie wieder zum Fenster. Doch als sie sich von dort aus wieder Paddy zuwandte, hatte
der die Flasche bereits wieder in der Hand und sah sie dabei triumphierend an. Tina lächelte. „Du solltest deine Erklärung noch heute Abend Tolstoi vortragen – unbedingt!“, schlug sie vor, „ich werde das jetzt gleich in die Wege leiten.“ Sie wartete auf eine Reaktion Paddys – vergeblich. Dann ging sie zum Komgerät. Gegen 21 Uhr traf sich die gesamte Theoriegruppe mit Tolstoi und Woodstock im Arbeitszimmer des Stationsleiters. Nachdem Paddy Fingal seine Deutung der Erscheinung beendet hatte, wurde es wieder ganz still im Raum, so wie etwa eine Stunde zuvor in seinem Appartement. Tolstoi durchbrach die Stille als erster mit der Frage: „Haben Sie getrunken, Paddy?“ „Ja, Sir – ein wenig!“, kam Paddys prompte Antwort. „Hm – “, entgegnete Tolstoi einsilbig, und dann zu Tina Nordström: „Was halten Sie davon, Tina?“ „Wie Sie wissen, Sir“, antwortete Tina, „ist die Frage, ob Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie geometrische Strukturen zulässt, wie sie Paddy mit dem Wurmloch annimmt, so alt wie die Theorie selbst. Die Frage ist bereits im 20. Jahrhundert ausgiebig diskutiert worden, allerdings ohne endgültige Einsichten zu gewinnen. Meines Wissens ist es auch bis heute nicht gelungen, eine solche geometrische Struktur in einem Universum auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie theoretisch zu etablieren. Dennoch glaube ich an Paddys Deutung!“ Tina nahm sich eine Zigarette aus ihrer Jackentasche und ließ sich von Tolstoi Feuer geben. Grundler und Maxwell pflichteten Tinas Einschätzung in allen Punkten bei, und so war es an Tolstoi, den nächsten Schritt zu tun.
„Nehmen wir einmal an, Paddys Deutung entspricht der Wirklichkeit“, fuhr er fort, „was ergibt sich daraus für die derzeitige katastrophale Lage unserer Erde? Können Sie dazu etwas sagen, Paddy?“ Paddy spürte den Alkohol in Kopf und Beinen, wusste nicht, ob er noch Herr seiner Lage und Sinne war, hörte sich aber dennoch sagen: „Ja, Sir, ich denke schon! Offenbar ist das Sonnensystem auf seinem Weg um das galaktische Zentrum auf dieses Wurmloch gestoßen – dann wird es auf seinem weiteren Weg dieses Wurmloch auch wieder verlassen!“ „In welcher Zeit?“, hakte Tolstoi sofort ein. „Das weiß ich beim besten Willen nicht – das kann Tage, aber auch Wochen, vielleicht sogar Monate dauern – ich weiß es nicht!“, gab Paddy müde zurück. An der weiteren Diskussion vermochte er dann nicht mehr teilzunehmen. Gegen 22 Uhr neigte sich die Beratung einem natürlichen Ende zu, und Tolstoi beschloss, sich umgehend mit Präsident Dostojewski in Verbindung zu setzen. Er war mittlerweile von Paddys Deutung überzeugt und wollte Dostojewski den Vorschlag unterbreiten, für den Nachmittag des kommenden Tages eine Konferenz aus Vertretern aller Bodenstationen und der Weltregierung nach Genf einzuberufen, auf der Paddy Fingal seine Deutung der Erscheinung vortragen und auf der dann die Maßnahmen für die nächsten Tage und Wochen beraten werden sollten. Gegen 23 Uhr westsibirischer Zeit berief Präsident Dostojewski diese Konferenz für den 7. März um 16 Uhr Ortszeit nach Genf ein. Tolstoi stellte daraufhin umgehend die vierköpfige Delegation der Bodenstation Ural zusammen. Sie
bestand aus Paddy Fingal und Tina Nordström sowie aus den beiden Direktoren Tolstoi und Woodstock. Der Abflug von der Bodenstation Ural zunächst nach Jekaterinburg wurde auf den nächsten Vormittag um 11 Uhr festgesetzt. Für 9 Uhr bat er Paddy Fingal noch zu einem kurzen Gespräch zu sich.
GENF
Der 7. März 2222 wäre gewiss ein warmer und sonniger Vorfrühlingstag geworden, an dem sich Auge und Seele hätten laben können. Stattdessen aber zog ein schmutzig gelber Himmel auf, und es war kalt. Paddy hatte sehr unruhig geschlafen. Er fühlte sich zerschlagen und hilflos, als er sich kurz vor 9 Uhr auf den Weg zu Tolstoi machte. Der begrüßte ihn freundlich und aufmunternd. „Nehmen Sie Platz, Paddy! Wie haben Sie geschlafen – und möchten Sie vielleicht noch eine Tasse guten Kaffee?“, erkundigte er sich besorgt. „Gerne, Sir“, erwiderte Paddy. Trotz Tolstois hoher Position und trotz der gelegentlichen Differenzen zwischen ihnen fühlte sich Paddy in Tolstois Nähe immer irgendwie wohl. Nachdem der Kaffee gebracht worden war, kam Tolstoi ohne Umschweife zur Sache. „Sie werden heute Nachmittag in Genf vor Astronomen und Kosmologen aus vielen Ländern der Erde eine Erklärung der Erscheinung und verbunden damit der weltweiten Katastrophe anbieten, von der die meisten glauben werden, sie sei der überquellenden Phantasie eines Science-Fiction-Autors entsprungen. Lassen Sie sich nicht beirren! Ich bin mittlerweile wie Tina Nordström und Ihre beiden Kollegen Maxwell und Grundler von der Richtigkeit Ihrer Deutung überzeugt. Bauen Sie Ihren Vortrag auf bildhaften Darstellungen auf, denn die geometrische Struktur eines Wurmlochs im dreidimensionalen Raum übersteigt die Vorstellungskraft auch von Fachleuten!“ Tolstoi machte eine
kurze Pause und fuhr dann fort: „Und dann noch etwas, Paddy. Ihre Deutung der Erscheinung bewegt sich ohnehin an der Grenze dessen, was Menschen in ihr Hirn aufzunehmen bereit sind. Würde diese Deutung zudem noch von einer Whiskyfahne begleitet, wäre die Glaubwürdigkeit wohl dahin. Sie verstehen, was ich meine?“ „Selbstverständlich, Sir“, beeilte sich Paddy zu versichern, „Sie haben mein Wort!“ Tolstoi nickte ernst. Dann gab er ihm lächelnd die Hand: „Um 11 Uhr auf dem Hubschrauberdeck!“ Paddy ging zur Tür und drückte gerade die Klinke, als Tolstoi ihn zurückrief: „Ach Paddy, haben Sie noch einen kleinen Moment Zeit?“ „Natürlich, Sir“, wandte der sich um. „Sagen Sie“, begann Tolstoi ein wenig unsicher, „ich wollte Sie immer schon einmal fragen, ob Ihr eigenwilliger Name eigentlich eine besondere Bedeutung hat.“ „Ja, Sir, in gewisser Weise schon“, nahm Paddy die Frage auf, „es ist der Name eines irischen Sagen-Riesen, eines ziemlich großmäuligen Sauf- und Raufboldes, der in seinem Dorf als der Größte und Stärkste gilt. Eines Tages nähert sich dem Dorf ein schottischer Riese, um sich mit dem legendären Paddy Fingal zu prügeln. Der meint zu erkennen, dass der Schotte wohl so groß ist wie er. Da bekommt er große Angst und läuft schnell in sein Haus. Dort kriecht er in sein Bett und lässt sich von seiner Frau als Paddy Fingals kleines Kind ausgeben, als der Schotte in das Haus hereinpoltert. Der sucht daraufhin so schnell er kann das Weite, und Paddy Fingal gilt als unbesiegbarer Held. – Mir hat diese Geschichte immer sehr gut gefallen.“ Tolstoi lachte von ganzem Herzen. Dabei fiel Paddy ein, dass er ihn noch niemals zuvor hatte lachen sehen. Und so war
er fast ein wenig stolz und glücklich darüber, dass Tolstoi diese Geschichte so gut gefiel. „Haben Sie diese Geschichte schon einmal Tina erzählt?“, erkundigte sich der, immer noch sichtlich belustigt. „Nein, Sir – warum?“ Paddy verstand die Frage ganz offensichtlich nicht. „Tun Sie das – vielleicht nachher auf dem Flug nach Genf! Ich bin sicher, dass Tina sehr viel Freude daran haben wird.“
Tolstois Gesicht war wieder ernst geworden, hatte wieder jene Traurigkeit angenommen, die man in der Station an ihm kannte. Er bedankte sich bei Paddy und verabschiedete ihn dann. Der Hubschrauber mit der vierköpfigen Delegation der Bodenstation Ural startete pünktlich um 11 Uhr nach Jekaterinburg. Dort stieg man in einen der neuen Hochgeschwindigkeitshelikopter um, der die Delegation in etwa sieben Stunden nach Genf bringen würde. Diese neue Helikoptergeneration bot einen beträchtlichen Reisekomfort. Sie war ganz und gar nicht zu vergleichen mit den Lärm- und Rüttelmaschinen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Der elektrische Antrieb der beiden Rotoren sowie eine äußerst wirksame Schallisolierung gaben den Insassen das Gefühl, fast lautlos durch die Luft zu schweben.
Tolstoi hatte sich für die Reise mit dem Helikopter entschieden, weil nicht sicher in Erfahrung zu bringen war, ob die Landebahnen in Genf funktionstüchtig waren. Zudem hatte man so die Möglichkeit, die großen Städte im langsamen Tiefflug zu überqueren, um sich ein Bild von dem Ausmaß der Katastrophe zu machen.
Und so wurde die Reise, die sonst ein erhebendes Vergnügen gewesen wäre, zu einer düsteren Bilanz. Über Moskau, Warschau und Prag hingen riesige schwarze Rauchschwaden, immer noch durchzuckt von roten Flammen – und darüber der schmutzig gelbe Himmel. Paddy hatte eigentlich Tolstois Vorschlag folgend Tina die Geschichte vom irischen Großmaul Paddy Fingal erzählen wollen, gewissermaßen als Reiseunterhaltung, doch der Flug verlief zum großen Teil in lähmendem Schweigen. Die süddeutsche Großstadt Stuttgart schien ein einziger Trümmerhaufen zu sein, Basel hingegen hatte es offenbar nicht so schwer getroffen, desgleichen Genf. Sie landeten dort gegen 14 Uhr 30 auf dem Helikopterdeck des Regierungssitzes. Im Konferenzsaal hatten sich bereits die ersten Teilnehmer eingefunden, als die Delegation der Bodenstation Ural dort eintraf. Sie standen in kleinen Gruppen und diskutierten nervös mit gedämpften Stimmen. Im Hintergrund entdeckte Paddy einen sehr ruhigen und souveränen Mann – und neben ihm eine unnahbar schöne dunkelhäutige Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war. Das konnten nur Präsident Dostojewski und seine Vizepräsidentin Isabel King sein, zumal Tolstoi und Tina sofort nach Betreten des Konferenzsaales auf die beiden zugingen. Dabei bedeutete Tolstoi Paddy, er möge sich ihnen anschließen. Doch Paddy zögerte. Er hatte sich auf Konferenzen noch nie sehr wohl gefühlt. Die klugen und selbstsicheren Reden der von sich so überzeugten Konferenzteilnehmer hinterließen bei ihm immer das Gefühl, selbst aus der wissenschaftlichen Provinz zu stammen, obwohl dem natürlich nicht so war. Und sich jetzt Tolstoi und Tina anzuschließen, um das berühmte Präsidentenduo zu begrüßen, kam ihm irgendwie vermessen vor. Auch fiel ihm plötzlich ein, dass er vergessen hatte, sich
heute morgen zu rasieren, und er war sich auch nicht ganz sicher, ob ihn der Whiskygeruch schon vollends verlassen hatte. So beobachtete er aus der Entfernung, wie sich die beiden Freunde Tolstoi und Dostojewski mit einer herzlichen Umarmung begrüßten. Und er beobachtete voller Erstaunen und Bewunderung, wie Tina und Isabel King zur Begrüßung ihre Wangen aneinander legten und sich dabei an den Händen hielten. Isabel senkte ihren Kopf, und Tina strich ihr mit einer Hand ganz leicht über das Gesicht. Die Vizepräsidentin weinte. Dann bemerkte er, dass Tolstoi ihn entschieden zu sich winkte, und er überwand sich. „Fedor, ich möchte dir unseren Theoretiker Paddy Fingal vorstellen, von dem ich dir bereits gestern Abend bei unserem Komgespräch berichtete. Er ist es, der sehr wahrscheinlich die richtige Erklärung für die Katastrophe gefunden hat.“ Tolstois freundliche und unkomplizierte Art erleichterte Paddy. „Guten Tag, Herr Präsident“, begrüßte er Dostojewski. „Guten lag, Paddy. Ich habe über Nikolai schon sehr viel von Ihnen gehört, und ich bin sehr gespannt auf Ihre Ausführungen“, erwiderte Dostojewski mit einem liebenswerten Lächeln und fuhr dann fort: „Ich habe nämlich heute Abend um 22 Uhr eine äußerst heikle Aufgabe vor mir. Die Erdbevölkerung verlangt zu Recht nach einer sachlichen Erklärung des Präsidenten über die Ursache der Katastrophe und über das, was in den nächsten Tagen und Wochen auf sie zukommt. Bisher war ich dazu nicht in der Lage. So hoffe ich, dass mir Ihre Ausführungen und die daran anschließende Beratung helfen werden, diese Pflicht zu erfüllen. Kommen Sie, ich möchte Sie meiner Vizepräsidentin vorstellen.“
Dostojewski nahm Paddy leicht beim Arm und führte ihn zu Isabel King und Tina, die sehr vertraut und ganz aufeinander konzentriert miteinander redeten. „Isabel, entschuldigst du bitte einen kleinen Augenblick – ich möchte dir den Theoretiker Paddy Fingal aus der Bodenstation Ural vorstellen. Er ist ein Kollege deiner Freundin Tina und wird uns nachher eine Erklärung für die Katastrophe geben.“ Die Vizepräsidentin wandte sich Paddy zu –, und dieser sah in ein Gesicht von unendlicher Schönheit und Traurigkeit. Er verbeugte sich wortlos und hörte Isabel King mit ihrer warmen, erotischen Stimme sagen: „Oh ja, es wäre wirklich gut, wenn Sie uns endlich erklären könnten, was eigentlich geschehen ist!“ Paddy war wie gelähmt. Er war einer solchen Frau noch niemals begegnet. Die wandte sich jetzt Dostojewski zu: „Michail, ich glaube, unsere Gäste aus dem fernen Ural haben eine lange Reise hinter sich und sind gewiss hungrig und durstig. Du – “. „Oh, – ja natürlich“, wurde sie von Dostojewski unterbrochen, „Sergej, Tina und Paddy – entschuldigt vielmals! Im Nebenraum ist ein schmackhafter Imbiss aufgetischt. Lasst es euch gut munden! Und auf einem Tisch an der Seite des Raums liegen auch die Namensschilder aus. Darf ich dich, Sergej, in mein Arbeitszimmer entführen? Ich möchte mit dir, du alte russische Seele, noch ein wenig reden, bevor wir beginnen. Essen und Trinken lasse ich uns bringen.“ Dann wandte er sich Paddy zu: „Bis nachher, Paddy! – Ach ja, die technischen Geräte für Ihren Vortrag habe ich vor einer halben Stunde noch einmal überprüfen lassen. Und wenn Sie sich vorher noch ein wenig sammeln möchten, dann können Sie das in einem der vielen
kleinen Beratungszimmer tun – die Türen dazu sehen Sie an den Seiten. Wir beginnen pünktlich um 16 Uhr.“ Dann verließen die beiden Freunde den Konferenzsaal. Paddy ging in den Nebenraum. Er nahm sich reichlich von dem in der Tat äußerst schmackhaften Imbiss. Unter den Getränken entdeckte er eine Flasche Whisky von erlesener Qualität – doch er zwang sich, sein Versprechen, das er Tolstoi gegeben hatte, einzuhalten. So begnügte er sich mit einer kleinen Flasche irischen Biers. Als er durch den Konferenzsaal ging, um seine Tasche mit den Vortragsunterlagen, die er im Vorraum abgestellt hatte, zu holen, suchte er um sich blickend nach Woodstock. Er entdeckte ihn sofort, denn Woodstock diskutierte lautstark in einer Ecke des Saals, dicht umringt von Konferenzteilnehmern. Paddy zog sich mit seinen Unterlagen sowie einer Tasse Kaffee in eines der Beratungszimmer zurück. Er versuchte, sich auf seinen Vortrag zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht. Immer wieder schob sich das Bild der Vizepräsidentin Isabel King vor sein Auge. Sie hatte geweint. War sie vielleicht in Schwarz gekleidet, weil sie um einen Menschen trauerte? Und dann – wie war es nur möglich, dass diese wunderbare Frau die harten Finanzverhandlungen mit den oft sehr rüden Regierungschefs der einzelnen Länder führte? Eine Geschichte darüber wurde an vielen Orten der Erde immer wieder erzählt. Paddy hatte sie vor einiger Zeit von Tina gehört, und diese Fassung war sicher authentisch, denn Tina und die Vizepräsidentin waren offenbar schon seit geraumer Zeit sehr vertraute Freundinnen.
Der Vizepräsident der Republik Deutschland war im Auftrag des deutschen Kanzlers bei Präsident Dostojewski vorstellig geworden, um aus deutscher Sicht Ungerechtigkeiten im Finanzausgleich zur Sprache zu bringen. Der Vizekanzler neigte, ähnlich wie der überaus füllige deutsche Kanzler, zum weit ausholenden Schwadronieren. Nachdem er sich zunächst in längeren grundsätzlichen Ausführungen ergangen hatte, Dostojewskis Geduld bereits ziemlich beanspruchend, bedeutete dieser ihm kühl, wenn auch diplomatisch, dass er des deutschen Vizekanzlers Beurteilungen durchaus zu schätzen wisse, dass dieser aber doch sicher mit einer konkreten Beschwerde den Finanzausgleich betreffend gekommen sei, und dass er diese am besten seiner Vizepräsidentin vortrage, denn die sei seitens der Weltregierung damit befasst. Das anschließende Gespräch zwischen dem deutschen Vizekanzler und Isabel King war dann wohl sehr einseitig verlaufen. Die überlegene Ausstrahlung und die Kompetenz der Vizepräsidentin brachten den farblosen Deutschen in arge Bedrängnis. Seiner Beschwerde darüber, dass die leistungsstarke Republik Deutschland angesichts ihrer hohen Einzahlungen in den Weltfonds zu wenig Geld zurückerstattet bekomme, begegnete sie kühl mit der Frage, ob er vielleicht vergessen habe, dass der Finanzausgleich kein Prämiensystem sondern ein Solidarsystem sei. Der Deutsche deutete dann in dunklen Wendungen an, dass in seinem Land große Unzufriedenheit darüber herrsche, und dass sich daher bei den in Kürze anstehenden nationalen Wahlen möglicherweise radikale und separatistische Kräfte durchsetzen könnten. Dieser platten Drohung begegnete die Vizepräsidentin mit der süffisanten Bemerkung, dem deutschen Kanzler sei doch aufgrund seiner umfassenden historischen Kenntnisse sicher bekannt, welches Schicksal deutschen Alleingängen bisher
beschieden gewesen sei. Das Gespräch endete dann in Beteuerungen des deutschen Vizekanzlers, dass sich die deutsche Regierung in ihrem Bekenntnis zum derzeitigen politischen System natürlich von niemandem übertreffen lasse. Paddy vermochte nicht zu glauben, dass die schwarz gekleidete Isabel King, wie er sie in ihrer Schönheit und Traurigkeit gerade kennen gelernt hatte, als Vizepräsidentin der Weltregierung so beherrschend auftreten konnte. Doch dem war so. Pünktlich um 16 Uhr eröffnete Dostojewski die Konferenz mit etwa achtzig Teilnehmern. Jede der sechzehn Bodenstationen hatte eine vierköpfige Delegation entsandt. Diese wissenschaftliche Teilnehmergruppe wurde ergänzt durch Vertreter der Weltregierung – neben Präsident Dostojewski und seiner Vizepräsidentin Isabel King durch die drei Minister der Weltregierung mit ihren Beratern. Dostojewski dankte zunächst allen für ihr Kommen. Er gab einen kurzen Überblick über das furchtbare Ausmaß der Katastrophe und sprach davon, dass bisher trotz intensivster Bemühungen keine Erklärung für die Katastrophe gelungen sei, dass aber die Delegation der Bodenstation Ural mit ihrem Theoretiker Paddy Fingal eine mögliche Erklärung vortragen möchte. Dann erteilte er Paddy das Wort. Und der berichtete jetzt ein drittes Mal über das kosmische Wurmloch, das den Menschen auf der Erde so viel Tod und unsägliches Leid gebracht hatte. Nachdem er mit einem „Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit“ geendet hatte, setzte raunende Unruhe ein, die Dostojewski mit den Worten unterbrach:
„Wir danken Ihnen, Paddy, für Ihre Ausführungen. Ihre Deutung ist eine wahrhaft kühne These, über die wir, so denke ich, schwerlich sachgerecht diskutieren können, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben. Ich schlage daher vor, dass wir die Konferenz für eine Stunde unterbrechen. In dieser Zeit sollten wir Paddys Deutung in kleinen Gruppen diskutieren, um dann im anschließenden Plenum zu einer tragfähigen Einschätzung der Lage zu gelangen.“ Dieser Vorschlag wurde allgemein dankend angenommen. Es bildeten sich daraufhin Gruppen von fünf bis zehn Teilnehmern, die teils stehend im Konferenzsaal diskutierten, teils sich in die angrenzenden Beratungszimmer zurückzogen. Paddy wanderte zwischen diesen Gruppen, denn natürlich hatte fast jeder Fragen an ihn. Dostojewski zog sich mit Tolstoi in sein Arbeitszimmer zurück. Er suchte das vertraute Gespräch mit dem Freund sowie dessen Kompetenz, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Zudem drängte es ihn, sich im Dag-HammerskjöldKrankenhaus nach Julias Zustand zu erkundigen. Ihr Befinden hatte sich in den letzten vierundzwanzig Stunden zwar leicht gebessert, dennoch blieb ihr Zustand äußerst bedrohlich. Gegen 17 Uhr 45 eröffnete Dostojewski den zweiten Teil der Konferenz. Zunächst äußerten etwa zwanzig Wissenschaftler in sehr kurzen Beiträgen ihre Einschätzung der von Paddy Fingal vorgetragenen Deutung. Diese Einschätzungen reichten, wie hätte es anders sein können, von abstrusem Science-Fiction über äußerst spekulative Hypothese bis zu seriösem physikalischen Modell. In der anschließenden Diskussion musste Paddy Fingal immer wieder Rede und Antwort stehen,
sich gegen abfällige Bewertungen zur Wehr setzen und viele Missverständnisse ausräumen. Dabei kam ihm Tina Nordström wiederholt zu Hilfe. Deutlich war zu erkennen, wie sie die Bewunderung der Konferenzteilnehmer, insbesondere der männlichen, auf sich zog, und so verschob sich die Einschätzung langsam zugunsten eines seriösen physikalischen Modells. Gegen 19 Uhr 30 schienen nahezu alle Konferenzteilnehmer von Paddy Fingals Deutung überzeugt zu sein. Ein Wissenschaftler aus der Bodenstation Mt. Palomar, der sich anfangs besonders abfällig geäußert hatte, knüpfte jetzt sogar an Paddys Deutung einen interessanten, wenn auch naheliegenden Gedanken. Er wies darauf hin, dass durch das Wurmloch die wohl einmalige Chance für die Astronomen entstanden sei, in einem sonst nicht zugängigen Entfernungsbereich die Muster in der räumlichen Verteilung der Galaxien zu vermessen. Dadurch bekomme man vielleicht tiefere Einsicht in einen möglichen Sinngehalt der bis zu den derzeitigen Entfernungen beobachteten Muster. Dieser Gedanke war in der Tat naheliegend, dennoch löste er unter den Konferenzteilnehmern eine fieberhafte Unruhe aus. Die Vorstellung, einen solchen Sinngehalt vielleicht jetzt entdecken zu können, ließ nahezu alle anwesenden Wissenschaftler vergessen, dass die Erde und mit ihr die Menschheit am Rande des Untergangs taumelte, und sie in heftige Diskussionen eintauchen. Bei Tolstoi hinterließ die Wendung von der „wohl einmaligen Chance“ ein schales und kaltes Gefühl. Er beriet sich leise mit Dostojewski, der dabei wiederholt leicht mit dem Kopf nickte. Dann erhob sich Tolstoi und bat mehrfach um Ruhe. „Meine Damen und Herren“, begann er, nachdem sich die nervöse Unruhe gelegt hatte, „der Präsident hat mich gebeten,
im weiteren die Leitung der Konferenz zu übernehmen. Erlauben Sie mir daher, ein Resümee der bisherigen Diskussion zu ziehen und eine tragfähige Einschätzung als Grundlage unserer weiteren Beratungen vorzuschlagen. Es will mir scheinen, dass die Deutung meines Kollegen Paddy Fingal allen Gegenargumenten bisher standgehalten hat. Wir müssen sie daher wohl als Erklärung der Katastrophe zugrundelegen. Davon ausgehend drängen sich aus meiner Sicht drei wesentliche Fragenkomplexe auf. Erstens: Lässt sich das von Paddy Fingal bildhaft skizzierte Wurmloch auch als mathematische Lösung in der Allgemeinen Relativitätstheorie etablieren? Eine solche Lösung gäbe uns nämlich Einsicht in die genauen physikalischen Eigenschaften des Wurmlochs. Wir könnten dann beispielsweise sein genaues Verhalten bei Annäherung eines Sonnensystems studieren und so Aufschluss darüber bekommen, ob unser Sonnensystem bei seiner weiteren Wanderung um das galaktische Zentrum den Öffnungstrichter des Wurmlochs mitschleppt oder sich aus dessen Wirkungsbereich wieder löst, und wenn ja, in welcher Zeit und mit welchen Folgen für unsere Erde. Gerade letzteres ist von großer Bedeutung für den zweiten Fragenkomplex, nämlich: Wie lange können wir mit der durch die Staubschicht um die Sonne stark verminderten Energiezufuhr leben und führt ein Herauswandern des Sonnensystems aus dem Öffnungstrichter auf der Erde zu einer neuerlichen Katastrophe wie die vor zwei Tagen? Schließen wir uns einmal Paddy Fingals optimistischem Satz an, ‘Das Sonnensystem ist auf seinem Weg um das galaktische Zentrum auf dieses Wurmloch gestoßen – dann wird es auf seinem weiteren Weg dieses Wurmloch auch wieder verlassen’, so wird man für das Verweilen am Rande des Öffnungstrichters eine Zeitspanne zwischen einigen Tagen und einigen Monaten annehmen.
Dann stellt sich die Frage, ob wir vielleicht maximal für ein halbes Jahr mit der verminderten Energiezufuhr von der Sonne leben können, wobei ich davon ausgehe, dass bei einem Herauswandern aus dem Öffnungstrichter der Sonnenwind die Staubschicht von der Sonnenoberfläche fortblasen wird. Diese Frage kann von den für die Energiesysteme Verantwortlichen sicherlich beantwortet werden. Die Frage hingegen, ob bei einem Herauswandern die Erde erneut von einer apokalyptischen Katastrophe heimgesucht wird, können wir wohl nur bei genauer Kenntnis des Wurmlochs einerseits sowie unter Verwendung unserer umfangreichen geophysikalischen Kenntnisse andererseits beantworten. Schließlich drängt sich ein dritter Fragenkomplex auf, auf den der Kollege von der Bodenstation Mt. Palomar bereits hingewiesen hat. In der Tat ist die enorme Entfernung, in die wir durch das Wurmloch hinaussehen können, eine einmalige Gelegenheit, dem Rätsel der Anordnungsmuster nachzuspüren – und wir sollten diese Gelegenheit auch nutzen! Ich hoffe nur, dass wir für diese einmalige Chance nicht zu teuer werden bezahlen müssen! – So weit mein Resümee und meine Einschätzung, zu denen ich jetzt Ihre Kommentare erbitte.“ Tolstois weithin bekannte und hier wieder unter Beweis gestellte Kompetenz und Souveränität taten ihre Wirkung. Allen Anwesenden war klar, dass er nicht „im weiteren eine Konferenz leiten wollte“, sondern dass sein Beitrag als abschließende Zusammenfassung gedacht war, auf deren Grundlage unverzüglich praktische Schritte zu beschließen waren. Es erfolgte daher auch nur eine Wortmeldung, in der eben dies bekräftigt wurde, nämlich, dass Tolstois Zusammenfassung in hohem Maße geeignet sei, unverzüglich praktische Schritte zu beschließen. Und eben dies leitete Tolstoi jetzt auch in die Wege.
„Entsprechend den drei Fragenkomplexen“, nahm er das Wort wieder an sich, „mache ich folgenden Vorschlag. Die Theoriegruppen aller Bodenstationen beginnen umgehend mit der Suche nach einer mathematischen Lösung. Beziehen Sie dabei unbedingt auch die entsprechenden Forschungsgruppen an den Universitäten ein! Die Frage der Energieversorgung wird unmittelbar nach Abschluss der Konferenz von der Weltregierung und entsprechenden Fachleuten aus dem Energiesektor beraten. Das dürfte für die Rede des Präsidenten um 22 Uhr von großer Bedeutung sein. Schließlich veranlassen die technischen Direktoren der Bodenstationen, dass alle acht Beobachtungssatelliten auf den Wurmlochsektor am Himmel ausgerichtet werden und nach einem auf die einzelnen Satelliten abgestimmten Plan diesen Sektor hinsichtlich der räumlichen Anordnung der weit entfernten Galaxien ausmessen. – Seid ihr mit diesem Vorschlag einverstanden?“, wandte sich Tolstoi an Präsident Dostojewski und seine neben ihm sitzende Vizepräsidentin Isabel King. „Ja natürlich, Sergej – vielen Dank!“, erwiderte Dostojewski, und dann an seine Vizepräsidentin gewandt: „Wie ist deine Meinung dazu, Isabel?“ Bei dieser Frage richteten sich alle Augen auf diese Frau. „Ich denke, Nikolai hat einen sehr guten Vorschlag gemacht“, antwortete sie mit ihrer dunklen Stimme – und setzte damit den Schlusspunkt unter die Konferenz. Die Theoretiker nahmen unverzüglich Verbindung mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den einzelnen Bodenstationen auf, um sie über die Konferenz zu informieren und sie über die ihnen zugeteilte Aufgabe ins Bild zu setzen. Desgleichen wurden Forschungsgruppen in Raumwissenschaften an einzelnen Universitäten informiert. Solche Gruppen arbeiteten zum Beispiel an der Gorbatschow-Universität in Moskau, an
der Olaf-Palme-Universität in Stockholm und der NelsonMandela-Universität in Kapstadt sowie an den TraditionsUniversitäten von Princeton, Cambridge, Zürich und Madrid. Für ihre schwere Aufgabe standen den Theoretikern überall auf der Erde Cyber-Systeme zur Verfügung. Diese Systeme übertrafen die Hochleistungsrechner des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht nur um ein etwa Tausendfaches in Speichervermögen und Prozessgeschwindigkeit, sondern besaßen darüber hinaus ein beträchtliches Maß an mathematischer Intelligenz. So bestand die Aufgabe der Theoretiker zunächst darin, in der Form eines mit freien Parametern behafteten Ansatzes eine mögliche Lösung mit „mathematischem Gefühl“ zu erahnen. Der intelligente Dialog mit einem Cyber-System führte dann in sehr kurzer Zeit zu einer Entscheidung darüber, ob der erahnte Ansatz zum gesuchten Ergebnis führen kann. Bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. März begannen überall auf der Erde die Dialoge mit den Cyber-Systemen, um Paddy Fingals Bild vom kosmischen Wurmloch als Erklärung zu bestätigen. Ergebnisse einer Gruppe wurden umgehend den anderen Gruppen mitgeteilt, so dass sich bereits nach wenigen Stunden die einzelnen Gruppen auf unterschiedliche Klassen von Ansätzen konzentrieren und so ihre Systeme sehr systematisch einsetzen konnten. Es könne sich nur um wenige Tage handeln, so war man allgemein der Meinung, bis die mathematische Lösung eines kosmischen Wurmlochs gefunden sei. Die technischen Direktoren der Bodenstationen arbeiteten zügig einen Plan aus, der jedem der acht Beobachtungssatelliten einen bestimmten Bereich im Wurmlochsektor am Himmel zuteilte und, wie üblich, jedem Beobachtungssatelliten zwei Bodenstationen. Bereits gegen 23
Uhr mitteleuropäischer Zeit richteten die Satelliten ihre Augen auf die ihnen zugewiesenen Ausschnitte und begannen mit der Ausmessung der räumlichen Strukturen in jenen unvorstellbaren Weiten von über acht Milliarden Lichtjahren. Schließlich erörterte die Weltregierung unter Vorsitz von Präsident Dostojewski zusammen mit Fachleuten aus dem Energiesektor die Frage, wie lange unter den derzeitigen Bedingungen die Energieversorgung der Weltbevölkerung gesichert sei. Dabei stellte sich bereits nach kurzer Zeit das vergleichsweise beruhigende Ergebnis heraus, dass erst nach Ablauf von etwa 6 Monaten erste Engpässe zu erwarten waren. Ein wesentlicher Grund dafür lag in den beträchtlichen bereits gespeicherten Energiereserven. Mit dieser Information zog sich Präsident Dostojewski gegen 21 Uhr aus der Beratung zurück, um seine kurze Rede an die Weltbevölkerung um 22 Uhr vorzubereiten. Die weitere Leitung der Beratung übernahm Vizepräsidentin King. Die Rede des Präsidenten zur weltweiten Katastrophe war in allen Ländern für den 7. März um 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit angekündigt. Der Schock, der die Menschen auf der ganzen Erde getroffen hatte, saß sehr tief, und so hingen Milliarden Menschen zur angegebenen Zeit an den Komgeräten, um von ihrem Präsidenten Aufschluss über die Katastrophe zu erhalten und Trost in ihrem unsäglichen Leid zu erfahren. Dostojewski war sich dessen in hohem Maße bewusst und hatte sich daher seine Worte sehr genau überlegt. Pünktlich um 22 Uhr begann er mit seiner Rede.
„Meine lieben Erdenbürgerinnen und Erdenbürger! Vor zwei Tagen ist unsere Erde von einer apokalyptischen Katastrophe heimgesucht worden, die unvorstellbare Verwüstungen angerichtet und uns allen unsägliches Leid zugefügt hat. Ich kann Ihnen eine erste Schreckensbilanz dieser Katastrophe nicht ersparen. Nahezu alle großen Städte sind schwer zerstört, die Lage in den erdbebengefährdeten Gebieten um San Francisco und in Japan gleicht einem Inferno, wir haben weltweit über sechs Millionen Tote zu beklagen. Sie alle fragen zu Recht nach der Ursache der Katastrophe. Vor neun Tagen ist den Astronomen in unseren Beobachtungsstationen ein zunächst unscheinbares, wenn auch sehr merkwürdiges Phänomen am Himmel aufgefallen. In der Ausdehnung zunächst winzig, hat es in den darauffolgenden Tagen ständig an Größe zugenommen und war schließlich für geübte Augen als sternloser schwarzer Fleck am Firmament sichtbar. Dann überfiel uns am 5. beziehungsweise 6. März diese furchtbare Katastrophe, und wir mussten davon ausgehen, dass sie mit dem merkwürdigen Phänomen in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Doch es gelang zunächst nicht, trotz intensivster wissenschaftlicher Bemühungen, diesen Zusammenhang aufzudecken. Erst auf einer Konferenz aller Beobachtungsstationen am heutigen Nachmittag im Regierungssitz in Genf konnten Wissenschaftler aus der Bodenstation Ural einen solchen Zusammenhang herstellen. Demnach ist die Sonne mit ihren Planeten, darunter auch unsere Erde, auf ihrer Wanderung durch das Weltall auf einen Raumtunnel gestoßen. Offenbar wandert das Sonnensystem am äußersten Rand der Tunnelöffnung entlang, auf einer Bahn weiter innen wäre es
wohl sicher total vernichtet worden. Doch auch die Raumverzerrungen am äußersten Rand haben in der Kruste unserer Erde noch zu beträchtlichen Verschiebungen geführt, die dann die Katastrophe ausgelöst haben. Zur Zeit untersuchen Raumwissenschaftler mit Hilfe von Cyber-Systemen, wie sich die Lage des Sonnensystems im weiteren Verlauf entwickeln könnte. Zwar lässt sich zur Zeit nicht mit Gewissheit sagen, ob und, wenn ja, wann Sonne und Planeten den Wirkungsbereich des Raumtunnels wieder verlassen werden, doch gibt es berechtigte Hoffnungen, dass dies spätestens in einigen Wochen, vielleicht sogar schon in einigen Tagen geschehen wird. Dann wird auch der schmutzig gelbe Himmel wieder verschwinden. Er hat seine Ursache darin, dass die Sonne Staub, den die Tunnelöffnung weiträumig um sich ansammelte, auf sich gezogen hat. Diesen Staub wird die Sonne mit ihrem Sonnenwind wieder fortblasen, sobald sie den Einflussbereich des Tunnels verlassen hat. Viele von Ihnen fragen sich sicherlich, wo die Hilfe durch unsere sehr große und sehr gut ausgerüstete Weltarmee bleibt… Das Ausmaß der Katastrophe ist jedoch leider zu groß, als dass diese Armee an allen betroffenen Orten der Erde gleicherweise Hilfe leisten könnte. Wir waren daher gezwungen, sie an den Orten einzusetzen, an denen Zerstörung und Leid am größten sind. Dies sind zum einen extreme Ballungsräume, wie etwa New York und Mexico City, und zum anderen die anfangs bereits erwähnten Erdbebengebiete um San Francisco und in Japan.
Liebe Bürgerinnen und Bürger dieser unserer Erde, wir Menschen sind einer totalen Auslöschung knapp entronnen. Mit Mut und Zuversicht sowie Gottes Beistand werden wir Überlebende diese Krise überwinden und unsere Erde wieder zu einem Planeten machen, der reich ist an Schönheit, reich an Lebensfreude seiner Bewohner und auf dem Kunst und Wissenschaft in voller Blüte stehen. – Ich danke Ihnen allen!“ Die auswärtigen Konferenzteilnehmer, sofern sie bei der Erledigung der ihnen übertragenen Aufgaben irgendwie abkömmlich waren, verfolgten die Rede des Präsidenten an den Komgeräten im Gästesalon des Regierungssitzes. Dorthin hatte Dostojewski seine Gäste geladen, wenn ihnen nach getaner Arbeit oder auch zwischendurch der Sinn nach Essen und Trinken oder unterhaltsamer Gesellschaft stand. Zur Rede des Präsidenten fanden sich nahezu alle dort ein. Die kurze eindringliche Ansprache Dostojewskis hinterließ einen starken Eindruck. Nach dem Dankeswort am Schluss herrschte im Salon zunächst jene Stille, die unter Menschen entsteht, wenn sie alle gleicherweise unter dem Eindruck eines übermächtigen Geschehens stehen. Diese Stille löste sich langsam in gedankenverlorenem Hantieren und ersten leisen Äußerungen auf. Schließlich füllte sich der Salon mit gedämpftem Stimmengemurmel, und wieder ein wenig später gingen die meisten zurück an ihre Arbeit. Paddy Fingal war von einer Beteiligung an den theoretischen Arbeiten entbunden worden. Unmittelbar nach Beendigung der Konferenz hatte Tolstoi ihn zu sich gewunken und gesagt: „Die soeben verabredeten Aufgaben treffen für Sie nicht zu, Paddy. Sie ruhen sich jetzt aus oder tun sonst etwas nach Ihrem Sinn!“ Dabei hatte er ihm freundlich zugezwinkert.
Paddy nahm die Befreiung von der Arbeit dankend an, denn zum einen herrschte in seinem Kopf ein wildes Durcheinander, und zum anderen war er nicht gerade ein Freund mathematischer Arbeit, wie sie die Theoretiker jetzt zu leisten hatten. So schlenderte er den Müßiggang genießend auf Umwegen in den Gästesalon. Dort nahm er sich zunächst reichlich von dem aufgetischten Imbiss und wählte dazu erneut eine kleine Flasche irisches Bier. Gut gesättigt sah er sich dann nach einem geeigneten Nachfolgegetränk um. Dabei wollte ihm scheinen, dass die Befreiung von der Arbeit durch Tolstoi möglicherweise auch, zumindest aber doch ein wenig, das jenem gegebene Versprechen betraf. Andererseits war er sich dessen nicht sicher. Schließlich entschied er sich für das erstere und schenkte sich ein großes Glas schottischen Whisky ein. Dazu zündete er sich eine seiner geliebten Virginias an. Auch an Unterhaltung mangelte es nicht, denn trotz der zu leistenden intensiven Arbeit waren beständig irgendwelche Kollegen oder Kolleginnen im Salon anwesend, um sich bei Essen und Trinken für kurze Zeit zu entspannen. Sie sprachen dann fast immer den ihnen durch die Konferenz bekannt gewordenen an, und so erfuhr Paddy vieles Interessante über interne Angelegenheiten in den anderen Bodenstationen. Unter denjenigen, die sich in großer Zahl zur Rede des Präsidenten kurz vor 22 Uhr im Salon einfanden, waren auch Tolstoi und Tina. Die enormen Anstrengungen dieses langen Tages, der nunmehr vor etwa sechzehn Stunden in der Bodenstation Ural begonnen hatte, waren in ihren Gesichtern deutlich erkennbar, und Paddy schämte sich ein wenig seines Müßiggangs. Er versuchte, Tinas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und als sie ihn erblickte, lächelte er ihr mit erhobenem
Glas zu. Sie lächelte zurück – müde und dennoch von ganz innen. Nach der Rede des Präsidenten waren Tolstoi und Tina unter den ersten, die an ihre Arbeit zurückgingen. Gegen 23 Uhr 30 füllte sich der Salon erneut. Die erschöpften Männer und Frauen suchten Ruhe, konnten aber die Ruhe des Schlafs nicht finden und machten sich so auf den Weg, um ihre Erschöpfung mit den anderen zu teilen. Nach kurzer Zeit betraten Dostojewski und Tolstoi gemeinsam den Raum. Alle Augen richteten sich auf die beiden, und das Gespräch ebbte ab. Dostojewski reagierte darauf fast ein wenig belustigt mit der befreienden Bemerkung: „So reden Sie doch bitte weiter und genießen Sie die Entspannung! Wir haben alle gemeinsam hart miteinander gearbeitet. Ich denke, dann steht uns allen auch ein Mußestündchen zu. – Komm’, Sergej!“ Er nahm Tolstoi beim Arm und ging mit ihm zu dem Tisch, auf dem Imbiss und Getränke serviert waren. Das Stimmengemurmel im Salon schwoll wieder an. Später bahnte sich Dostojewski seinen Weg durch den inzwischen reichlich gefüllten Salon zu Paddy, der abseits in einer Ecke mit jenem Kollegen aus der Bodenstation Mt. Palomar diskutierte, der seine Wurmlochdeutung anfänglich so abfällig als Hirngespinst abgetan hatte. Als Paddy den Präsidenten auf sich zukommen sah, stellte er schnell sein Whiskyglas auf einem kleinen rückwärtigen Tischchen ab. Dabei konnte Dostojewski doch gar nicht wissen, wie viele Gläser er bisher getrunken hatte. „Darf ich Ihre Diskussion einen kleinen Moment unterbrechen?“, fragte er, als er die beiden erreicht und ihrem Gespräch für kurze Zeit zugehört hatte. „Selbstverständlich, Herr Präsident“, antworteten Paddy und sein Kollege fast gleichzeitig.
„Ich möchte Ihnen sagen, Paddy“, begann Dostojewski, „dass mich Ihre wissenschaftliche Phantasie außerordentlich beeindruckt hat, ganz abgesehen davon, dass Ihre Wurmlochdeutung uns sehr wahrscheinlich in die Lage versetzen wird, diese Katastrophe in ihren Ursachen zumindest zu verstehen.“ „Vielleicht – “, erwiderte Paddy gedankenverloren und fuhr dann ein wenig elegisch fort, „aber selbst wenn wir die Ursachen verstanden haben und gar den weiteren Verlauf kennen, so wird sich der Lauf der Himmelskörper schwerlich davon beeindrucken lassen – es wird uns am Ende alles nicht helfen!“ Dostojewski zeigte sich sichtlich erstaunt über diese Worte, er konnte ja nicht wissen, dass sie zum Teil auch beflügelt waren durch jenes rückwärtig abgestellte Getränk. „Eine harte Wahrheit, in der Tat“, antwortete er. Es entstand eine kurze Pause. Paddy nutzte sie, um Anlauf zu einer ihm ungewöhnlich scheinenden Frage zu nehmen. „Sir – erlauben Sie mir eine Frage, von der ich nicht weiß, ob sie in dieser Form angebracht ist?“ „Ja, natürlich, Paddy – fragen Sie!“, ermunterte Dostojewski ihn. „Ich – ich hatte irgendwie erwartet, dass die Frau Vizepräsidentin heute Abend unter uns weilen würde. Bedeutet ihre Abwesenheit vielleicht, dass sie sich nicht wohl fühlt?“, brachte Paddy seine Frage heraus. Dostojewski lächelte und fragte dann einfühlsam zurück: „Könnte man sagen, Paddy, dass Sie Isabel heute Abend hier vermisst haben?“ „Oh ja, Sir – ich meine – ich wollte sagen…“ „Wir alle vermissen sie, wenn sie nicht da ist“, kam ihm Dostojewski zu Hilfe, „aber Isabel fühlt sich in der Tat nicht wohl – die schreckliche Katastrophe hat ihr beide Eltern
genommen.“ Schlagartig spürte Paddy den Alkohol. „Oh, mein Gott – “, stammelte er, „jetzt verstehe ich alles.“ Dostojewski verstand natürlich nicht, spürte aber Paddys Verwirrung und sagte: „Ich werde Isabel von ihrem Mitgefühl berichten“, und dann nach einer kurzen Pause: „Nikolai sagte mir, dass Ihre Delegation morgen früh zurückfliegt. Ich denke, dass wir uns dann wohl nicht mehr sehen werden. Ich möchte mich daher jetzt schon von Ihnen verabschieden. – Leben Sie wohl, Paddy.“ Dostojewski reichte Paddy seine feingliedrige Hand, und dieser antwortete sich leicht verbeugend mit einem leisen „Herr Präsident!“. Im Weggehen drehte sich Dostojewski noch einmal kurz um und bemerkte leicht schmunzelnd: „Ihr Whiskyglas hätten Sie aber nicht beiseite stellen müssen, Paddy.“ Tolstoi hatte den Rückflug der Delegation auf 8 Uhr festgesetzt, um wegen der Zeitverschiebung nicht zu spät in die Bodenstation Ural zurückzukehren. Paddy hatte wieder sehr unruhig geschlafen. So war er über den morgendlichen Verrichtungen wie Duschen, Rasieren und Frühstücken in Verzug geraten. Es war bereits 8 Uhr, als er mit seiner großen Tasche durch die verglasten Flure des Regierungssitzes zum Hubschrauberdeck eilte. Draußen lastete wieder der schmutzig gelbe Himmel über der Erde. Paddy fror. Hinter einer der letzten Flurabbiegungen hörte er Schritte und Stimmen. Beim Abbiegen tauchte dann plötzlich vor ihm Vizepräsidentin Isabel King in Begleitung von drei sehr offiziell wirkenden Herren auf. Paddy wurde nervös, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Doch die Vizepräsidentin kam ihm zu Hilfe, indem sie den sie begleitenden Herren beschied: „Gehen Sie bitte schon vor, meine Herren, mein Sekretär wird Sie in Empfang nehmen,
ich selbst komme gleich nach.“ Dann ging sie auf Paddy zu, der seine Tasche absetzte und wie gelähmt dastand. „Guten Morgen, Paddy!“ Ihre dunkle Stimme, die ein wenig an die einer Bluessängerin erinnerte, machte Paddy zunächst sprachlos. „Guten Morgen, Frau Präsidentin – äh, Frau Vizepräsidentin“, brachte er dann hervor, „ich – ich habe gestern Abend von Präsident Dostojewski erfahren, dass Sie um Ihre beiden Eltern trauern, und ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihnen diese Trauer gut nachfühlen kann.“ Paddy ging ein wenig der Atem aus. „Ich danke Ihnen, Paddy, ich danke Ihnen sehr. – Michail sagte mir das bereits heute morgen, und er sagte mir auch, dass Sie mich gestern Abend im Salon vermisst hätten. – Wie schön von Ihnen, Paddy!“ Paddy fand keine Erwiderung, denn Isabels Worte zerrissen ihm fast das Herz. „Leben Sie wohl, Paddy, es hat mir sehr gut getan, Sie kennen gelernt zu haben.“ „Oh ja, mir auch – Isabel“, erwiderte Paddy leise. Dann begriff er die Ungeheuerlichkeit, die Vizepräsidentin beim Vornamen genannt zu haben, griff schnell nach seiner Tasche und hastete den Flur entlang zum Hubschrauberdeck. Kurze Zeit später erhob sich der Helikopter in den schmutzig gelben Himmel – zurück in die Bodenstation Ural. Dort landet die Delegation gegen 19 Uhr. Die Belegschaft der Station saß in äußerst gedrückter Stimmung gerade beim Abendessen, als die vier Zurückgekehrten den Speisesaal betraten. Sie wurden sofort mit zahllosen Fragen bestürmt, die sie in dem entstehenden lauten Gedränge nur schwer beantworten konnten. Tolstoi bat um Ruhe und kündigte für alle Mitarbeiter der Station um 20 Uhr 30 eine ausführliche Information über Anlass, Verlauf und Ergebnisse der Konferenz in Genf an. Daraufhin wandte
sich die Belegschaft wieder ihrem Abendessen zu, das jetzt aber von aufgeregten Diskussionen begleitet war. Bereits deutlich vor Beginn fanden sich die ersten im Konferenzsaal der Station ein. Als Tolstoi dann pünktlich um 20 Uhr 30 die Veranstaltung eröffnete, waren bis auf einen Astronomen des Beobachterteams, das gerade Dienst hatte, alle Stationsmitglieder anwesend. Es herrschte eine mühsam gehaltene, nervöse Ruhe. Tolstoi erläuterte in knappen Sätzen zunächst Paddy Fingals Wurmlocherklärung der Erscheinung und der Katastrophe. Dabei wandten sich alle Blicke dem Iren zu, der wie schon bei der letzten Versammlung vor zwei Tagen mit baumelnden Beinen und gedankenverloren auf einem Tisch im Hintergrund saß. Als Tolstoi ihn fragte, ob er der Wurmlocherklärung noch etwas hinzuzufügen habe, schüttelte er zunächst den Kopf, setzte dann aber doch hinzu: „Nein Sir, ich denke nicht.“ Tolstoi berichtete dann über die Konferenz in Genf und die dort beschlossenen Maßnahmen. Dabei bat er die Leiter der vier Beobachterteams für 22 Uhr zu sich, um mit ihnen über die der Bodenstation Ural zugewiesene astronomische Aufgabe zu sprechen. Schließlich wies er in der berechtigten Annahme, dass sie von allen Stationsmitgliedern gehört worden war, auf die Rede des Präsidenten hin. Nachdem er am Schluss Tina Nordström gefragt hatte, ob er irgendetwas Wichtiges vergessen habe und diese verneint hatte, eröffnete er die Diskussion, die dann ganz überwiegend aus Fragen an die vier Delegationsmitglieder bestand. In Genf war unter den sechzehn Bodenstationen vereinbart worden, dass die Beobachtungsergebnisse aus den Sektoren
der einzelnen Stationen in der Bodenstation Ural gesammelt werden sollten, um so an einer Stelle möglichst schnell die einzelnen Mosaiksteine zu einem geschlossenen Bild zusammensetzen zu können. Tolstoi erläuterte diese Vereinbarung den Leitern der vier Beobachterteams, die sich um 22 Uhr in seinem Arbeitszimmer einfanden. Seit etwa achtzehn Stunden arbeiteten die Beobachtungssatelliten an der Ausmessung der Galaxienverteilung jenseits der unvorstellbaren Entfernung von acht Milliarden Lichtjahren. Auch die Bodenstation Ural empfing seit dieser Zeit Signale aus dem ihr zugeteilten Sektor. So erkundigte sich Tolstoi, ob bereits erste Ergebnisse, auch der anderen Stationen, vorlägen, die man vielleicht zu einem ersten Bild zusammensetzen könne. Sven Brahe verneinte diese Frage und erläuterte, dass dafür noch eine Zeit von mindestens achtundvierzig Stunden erforderlich sei. Später begab sich Tolstoi in die Räume der Theorieabteilung, in denen Maxwell und Grundler zu später Stunde noch fieberhaft bei der Arbeit waren. Sie befanden sich im Dialog mit dem Cyber-System an der Gorbatschow-Universität in Moskau und versuchten, durch immer neue kunstvolle Ansätze eine mathematische Lösung für ein kosmisches Wurmloch zu finden. Doch seit Beginn der Suche waren erst etwa vierzehn Stunden vergangen, und in dieser Zeit hätte nur ein außerordentlich glücklicher Ansatz zum Ziel führen können. Ein solcher aber war bisher keinem der damit befassten Theoretiker gelungen. Tolstoi diskutierte noch eine Zeit lang mit den beiden Wissenschaftlern und gab verschiedene Anregungen. Schließlich aber spürte er eine übermächtige Müdigkeit. Mit einigen aufmunternden Worten verließ er die beiden Kollegen und machte sich auf den Weg in seine Wohnung, um sich schlafen zu legen.
LEBEN
In den folgenden Tagen kehrte in der Station wieder so etwas wie Routine ein. Es war jene Alltagsgeschäftigkeit, derer sich Menschen als Stütze bedienen, wenn auf ihnen ein großes Unglück lastet. So war diese Stütze denn auch sehr brüchig und drohte immer wieder einzuknicken. Die Komnachrichten aus aller Welt trugen mehrmals täglich die schrecklichen Bilder der Verwüstung und des Elends in die abgeschiedene Bodenstation Ural, und jeden Morgen erinnerte der schmutzig gelbe Himmel an die tödliche Bedrohung der Erde aus dem Weltall. Es war Anfang März und eigentlich die schöne Zeit des farbenfrohen und milden Frühlingserwachens. Jetzt aber waren die aufgeblühten Blumen von einem gelblichen Grau überzogen, dazu war es kalt und gespenstisch windstill. Das Leben in der Station erschöpfte sich in vordergründigen Alltagstätigkeiten. Abendliche Geselligkeit, erholsamer Müßiggang, Lachen, Spielen, Trinken – alles das war wie abgestorben. Selbst Tolstois gefühlvolles Klavierspiel war verstummt. Die gedrückte Stimmung der Stationsbelegschaft drohte ständig in überreizte Verhaltensweisen umzuschlagen. So gab es bei nichtigsten Anlässen zunehmend heftige Auseinandersetzungen zwischen Stationsmitgliedern, in denen zum Teil hässliche und grobe Worte fielen. Auch Tina und Paddy waren über einer Belanglosigkeit bei der mühevollen Suche nach einer mathematischen Lösung in Streit geraten. Dabei trieb Paddys irisches Temperament ihn in einen wilden
Wutausbruch, und er verließ mit heftigem Türknallen den Arbeitsraum. Später kehrte er leise zurück und entschuldigte sich mit traurigen Augen bei Tina. Die sah ihn lange an, dann ging sie auf ihn zu, nahm sein Gesicht in ihre Hand und küsste ihn. Dabei sagte sie nur zwei Worte: „Ach, Paddy!“ Und in diesen beiden Worten klangen gleichermaßen Liebe und Verzweiflung. Am Abend des 12. März hatte sich Tolstoi nach einem schier endlosen, arbeitsreichen Tag gegen 23 Uhr in seine Wohnung zurückgezogen, um beim Lesen Abstand von der erdrückenden Wirklichkeit zu gewinnen und für seinen Kopf lösende Entspannung. Erst dann konnte er vielleicht Schlaf finden. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, diese Entspannung am Klavier zu suchen. Doch das Leben auf der Erde war im Großen wie auch im Kleinen schrecklich verändert, und diese Veränderung versperrte Tolstoi seit Tagen den inneren Weg zu seinem geliebten Instrument. Er hörte in seinem Arbeitszimmer das Komgerät läuten. Am anderen Ende meldete sich Sven Brahe – wieder, wie schon vor Tagen, als alles begonnen hatte, Sven Brahe, und wieder äußerst erregt. „Sir, entschuldigen Sie bitte die späte Störung“, begann er hastig, „aber wir haben vor etwa einer Stunde die ersten Beobachtungsdaten der anderen Bodenstationen erhalten und ein erstes Bild der Galaxienverteilung zusammensetzen können. Und dieses Bild ist äußerst merkwürdig. Möglicherweise haben wir auch irgendeinen ganz verrückten Fehler gemacht, ich – ich weiß nicht. Aber es ist wirklich sehr merkwürdig. Würde es ihnen was…“ „Ich komme sofort, Sven!“, unterbrach ihn Tolstoi und beendete abrupt das Gespräch. Sven Brahes Nachricht hatte auf Tolstoi wie ein elektrischer Schlag gewirkt. Jenseits aller
Erschöpfung hastete er aus seiner Wohnung und durch die Station hinüber in die Beobachtungsabteilung. Dort fand er Sven Brahe, Woodstock, Tina und Paddy gebannt auf den Holographen starren, der die Beobachtungsdaten bereits in dreidimensionale Bilder übersetzt hatte. Dabei konnte man unterschiedliche Sichtrichtungen einstellen, sodass die Anordnungsmuster je nach Blickwinkel ihre Form wechselten. Als Tolstoi zu der Gruppe trat, gab Sven Brahe ihm einige kurze Erläuterungen. Und dann wies er ihn auf die erwähnte Merkwürdigkeit hin. Die Verteilung der Galaxien setzte sich jenseits der Entfernung von acht Milliarden Lichtjahren zunächst etwa so fort, wie sie den Astronomen in dem ihnen bisher zugängigen Bereich bis zu einer Entfernung von sechs Milliarden Lichtjahren vertraut war. Dann aber wurden diese Muster in einer Entfernung von etwa zehn Milliarden Lichtjahren abgelöst durch rein linienartige Muster, und darüber hinaus gab es deutlich voneinander getrennte Gruppen solcher Muster. Brahe und Woodstock, die als erste diese Bilder zusammengesetzt hatten, hatten das zunächst für eine optische Täuschung gehalten, konnten sich dann aber durch Einstellung ganz unterschiedlicher Sichtrichtungen davon überzeugen, dass diese linienartigen Muster real waren. Tolstoi war sprachlos vor Staunen. Dann erkundigte er sich, ob die Anordnung der Beobachtungssektoren der einzelnen Bodenstationen auch richtig berücksichtigt worden sei. Das war schnell überprüft und erwies sich als zutreffend. Dann stand die Gruppe wieder schweigend und staunend vor diesen unglaublichen Bildern. Und in diese Stille hinein brummte
Paddy Fingal: „Es sieht aus wie gigantische Strukturformeln chemischer Verbindungen!“ Paddys Bemerkung wurde von dem schweigenden Staunen der Gruppe gewissermaßen verschluckt. Niemand ging darauf ein, zu sehr waren alle mit den Bildern beschäftigt. Schließlich fragte Tolstoi, wie vollständig die bisherigen Daten seien und ob sich durch weitere Daten vielleicht noch wesentliche Veränderungen ergeben könnten. Sven Brahe wollte letzteres nicht vollends ausschließen, hielt es aber dennoch für äußerst unwahrscheinlich. Es folgte wieder ein längeres Schweigen, das Tolstoi schließlich mit der Bemerkung unterbrach: „Ich kann es fast nicht glauben, aber Paddy hat vielleicht gar nicht so unrecht – es sieht in der Tat so aus! Ich werde jetzt gleich versuchen, den Biochemiker Andrej Kasarow in Moskau zu erreichen und ihn bitten, sich diese Bilder gleich morgen hier bei uns anzusehen. Es ist schier unfassbar!“ Er sagte das alles mehr zu sich selbst als zu der ihn umstehenden Gruppe. Dann verließ er kopfschüttelnd den Raum, um sich mit Kasarow in Verbindung zu setzen. Tolstoi kannte Kasarow aus der Zeit, als er noch an der Gorbatschow-Universität in Moskau gelehrt und geforscht hatte. Ihr Verhältnis ging weit über das übliche kollegiale hinaus. Man hätte die beiden als wissenschaftliche Freunde bezeichnen können. So hatte Tolstoi keinerlei Bedenken, den Wissenschaftler in seiner Nachtruhe zu stören und ihm die aufregende Entdeckung mitzuteilen. Und Kasarow war viel zu sehr Wissenschaftler, um das nicht zu verstehen. Er versprach ohne zu zögern, sich in aller Frühe des kommenden Tages mit einem seiner besten Mitarbeiter auf den Weg in die Bodenstation Ural zu machen.
Am 13. März gegen 8 Uhr landete Andrej Kasarow mit seinem Assistenten auf dem Helikopterdeck der Station. Tolstoi begrüßte die beiden Wissenschaftler sehr herzlich und führte sie dann auf direktem Weg in sein Arbeitszimmer. Dort wurde den Ankömmlingen zunächst ein herzhaftes Frühstück serviert. Tolstoi erkundigte sich nach den derzeitigen Verhältnissen in Moskau, und Kasarow berichtete darüber schlimme Dinge. In der russischen Hauptstadt waren etwa zwanzigtausend Tote zu beklagen, und es gab wie überall unzählige Verletzte. Und obwohl Stadt und Land entschlossen begonnen hatten, die Katastrophe zu bewältigen, waren den meisten Menschen Mut und Hoffnung genommen. Weltuntergangssekten, die man seit urlanger Zeit tot geglaubt hatte, traten wieder auf und hatten überall großen Zulauf. Tolstoi überkam ein Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit. Nach dem Frühstück begaben sich die Wissenschaftler unverzüglich in die Beobachtungsabteilung. Dort waren während der vergangenen Nacht weitere Daten eingegangen, und diese Daten zeichneten die Anordnungsmuster immer deutlicher. Sven Brahe zeigte Kasarow die inzwischen recht scharfen Linienmuster aus unterschiedlichen Sichtrichtungen, und dieser stieß einen leisen Pfiff aus. Dann fragte er, ob es wohl möglich sei, die Bilder aus dem Holographen in räumlich maßstabgerechte kleine Modelle zu übersetzen, gewissermaßen zum Anfassen. Die anwesenden Techniker bejahten das, wenngleich eine solche Übersetzung sehr zeitaufwendig sei. So wurde unverzüglich damit begonnen. Am späten Abend des 13. März waren die Bilder von fünf voneinander getrennten Linienmustern in kleine räumliche Modelle übersetzt. Und diese Modelle jener gigantischen Strukturen in über zehn Milliarden Lichtjahren Entfernung lagen jetzt auf einem Tisch in der Beobachtungsabteilung.
Tolstoi und Kasarow wurden benachrichtigt und eilten sofort hinüber. Und dann erkannten Kasarow und sein Mitarbeiter nach kurzer Zeit, dass diese Modelle eindeutig die Strukturformeln von fünf der zwanzig wichtigsten Aminosäuren darstellten, den elementaren Grundbausteinen des Lebens! Diese Feststellung Kasarows und seines Mitarbeiters verschlug allen Anwesenden die Sprache, und jeder von ihnen suchte sich irgendwo eine Sitzgelegenheit, um das schier Unglaubliche zunächst einmal überhaupt aufnehmen zu können. Schließlich ergriff Tolstoi als erster das Wort: „Sven“, wandte er sich an den Dänen, „würden Sie bitte Tina Nordström und ihre Kollegen sowie Woodstock hierher bitten. Wir sollten versuchen, diesen unglaublichen Befund mit kühlem Kopf zu diskutieren, sonst verlieren wir möglicherweise noch den Verstand.“ Kurze Zeit später betraten Woodstock, gefolgt von Tina Nordström und ihren beiden Kollegen Grundler und Maxwell den Raum. Paddy Fingal komme gleich nach, wurde Tolstoi von Tina mitgeteilt. Nachdem die neu Hinzugekommenen von Brahe und Kasarow ins Bild gesetzt worden waren, eröffnete Tolstoi die Diskussion. Sie begann mit einer Reihe mehr ratloser als klärender Kommentare. Schließlich vertrat Tina Nordström eine entschiedene Meinung. „Ich kann das alles nur so verstehen“, begann sie, „dass diese Linienmuster die eigentlich ursprünglichen sind, und dass die uns vertrauten Flächenmuster mit den linienartigen Verdichtungen bereits Verwaschungen dieser ursprünglichen Muster sind.“ Tina ging erstaunlicherweise gar nicht auf die Ungeheuerlichkeit ein, dass die feinen Linienmuster Strukturformeln von Aminosäuren darstellten – das hatte sie
vielleicht, wie möglicherweise auch die anderen, noch gar nicht verarbeitet. „Aber warum“, entgegnete ihr Maxwell, „sehen wir dann nicht überall diese ursprünglichen Muster, warum nur ausgerechnet in jenem so weit entfernten Bereich?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Tina, „aus irgendeinem uns verborgenen Grund haben sich dort diese ursprünglichen Strukturen erhalten können und in anderen Bereichen eben nicht, vielleicht aus dynamischen Gründen.“ „Nehmen wir einmal an“, schaltete sich jetzt Max Grundler ein, „dass zu einer sehr frühen Zeit überall im Universum ausschließlich diese Linienmuster vorhanden waren, und dass neben den von uns jetzt durch das Wurmloch entdeckten fünf Aminosäuren auch alle anderen vertreten waren, dann bedeutet das aus meiner Sicht eine universelle und grandiose Botschaft, nämlich die: Überall im Universum ist Leben wie das auf unserer Erde angelegt!“ Dieser Deutung war in ihrer Klarheit im Augenblick nichts hinzuzufügen, und so herrschte wieder Schweigen. „Ah ja“, drang plötzlich Paddy Fingals Stimme in die Stille, „und am anderen Ende des Wurmlochs zappeln sicher auch so ein paar ganz schlaue Menschen herum!“ Die Gruppe wandte sich der Tür zu, durch die Paddy unbemerkt den Raum betreten hatte – trotz seiner offensichtlichen Trunkenheit. Tina ging sofort auf ihn zu und redete leise aber sehr bestimmt auf ihn ein: „Paddy – bitte!“ „Geh’ ja schon wieder, Tina Liebling“, antwortete dieser und verließ mit einer schwungvollen Armbewegung den Raum. Eine peinliche Stille entstand. Die Mitglieder der Bodenstation sahen dabei verstohlen auf die beiden Gäste und entdeckten in deren Gesichtern ganz unverkennbar Verwunderung und Ratlosigkeit. „Nun ja“, versuchte Tolstoi die Situation zu
retten, „auch die launige Bemerkung unseres Mitarbeiters Paddy Fingal ändert nichts daran, dass Ihre Argumentation, Max, äußerst stichhaltig ist. Ich denke, wir setzen die Diskussion morgen fort. Bis dahin werde ich alle Bodenstationen über unsere Entdeckung informieren.“ Die Gruppe löste sich daraufhin auf. Im Auseinandergehen lud Tolstoi seine beiden Gäste sowie Woodstock und Tina Nordström mit ihren beiden Kollegen Grundler und Maxwell noch zu einem Glas Wein in sein Arbeitszimmer. Zu ungeheuerlich war die Entdeckung, als dass man jetzt hätte schlafen können. Und einen festen Entschluss fasste Tolstoi: Er würde Paddy Fingal die Entlassung aus der Bodenstation androhen, sollte sich ähnliches wie sein Auftritt vorhin noch einmal wiederholen. Gegen Mitternacht teilte die Bodenstation Ural den anderen Stationen auf der Erde die sensationellen Beobachtungsergebnisse mit. Dabei wies Tolstoi die Komtechniker an, dieser Mitteilung die These Grundlers beizufügen. Ferner bat er dringend darum, sowohl die Ergebnisse wie auch Grundlers Interpretation in den einzelnen Bodenstationen gründlich zu erörtern. Dann, so sein Vorschlag, sollten die Leiter der Stationen jeweils in Begleitung eines Mitglieds ihrer Theoriegruppe in der Bodenstation Ural zusammenkommen und über weitere Schritte beraten. Er schlug für diese Zusammenkunft den 15. März, 16 Uhr Ortszeit vor. Die Nachricht endete mit dem Satz: Das Universum lebt!
Die Botschaft aus der Bodenstation Ural löste in den anderen Stationen je nach Tageszeit, zu der die Nachricht dort eintraf, sofort oder einige Stunden später, aufgeregte und heftige Diskussionen aus. Was ganz natürlich war – schien sich doch die alte Kontroverse um die Deutung der Anordnungsmuster in der Verteilung der Galaxien endgültig zugunsten jener Auffassung zu neigen, die in den Mustern eine universelle Botschaft der Materie von höherem Sinn vermutete. Und diese universelle Botschaft besagte nichts weniger, als dass das Universum von Anfang an Leben nach irdischem Muster in sich trug. Die Gesprächsrunde in Tolstois Arbeitszimmer hatte sich kurz nach Mitternacht aufgelöst, und Tolstoi suchte jetzt verzweifelt Schlaf. Doch er konnte die fieberhaften Denkabläufe in seinem Kopf nicht beruhigen. Und so dämmerte er zwischen der übermächtigen Müdigkeit seines Körpers und der fordernden Wachheit seines Gehirns. Erst gegen Morgen gewann der Schlaf die Oberhand. Und dann war er wieder da, dieser Traum, den Tolstoi unzählige Male geträumt und der sich ihm in allen Einzelheiten eingeprägt hatte: Ein Hochsommertag, irgendwo, in der Gluthitze des Mittags. Tolstoi wandert aus einem kleinen Dorf hinaus, vorbei am Friedhof, zu einem kleinen Haus außerhalb des Dorfes. Er erreicht das Haus, es ist kein Mensch zu sehen. Eine offene Tür gibt eine dunkle Öffnung in das Innere des Hauses frei, vor der Tür steht ein Paar Holzschuhe. Aus dem Haus dringt durch die Türöffnung ein leises nicht erkennbares Geräusch. Tolstoi geht weiter. Irgendwo schreit ein Hahn dreimal in die Mittagshitze. Dann hoch oben in der flimmernden Luft ein
leises Brummen. Tolstoi wendet sich wieder dem Haus zu. Aus der Türöffnung rollt Krystinas Sommerhut. Man hört einen entsetzlichen Schrei, und dann – Blut und Sirenen… Tolstoi tauchte schweißgebadet auf und knipste panisch das Licht an. Es war 6 Uhr morgens. Er stand auf, duschte und zog sich an. Dann machte er sich auf den Weg durch die Station. Sie war menschenleer, bis auf das Beobachterteam, das gerade Dienst hatte. Dort suchte Tolstoi Zuflucht. Als er den Aufnahmeraum betrat, wandten sich ihm alle Anwesenden mit größtem Erstaunen zu. Es war in der Station seit Jahren bekannt, dass sich Tolstoi erst gegen 9 Uhr morgens auf seinen täglichen Rundgang begab. „Guten Morgen, Sir“, begrüßte ihn Jonathan Brubeck, der kanadische Leiter des Teams, ein wenig unsicher. „Äh – darf ich fragen, Sir, ob Sie sich nicht wohl fühlen?“ „Danke, Jonathan vielen Dank!“, erwiderte Tolstoi. „Es geht mir schon wieder besser“, und dann nach einer kurzen Pause: „Was machen die Beobachtungen?“ „Wir stoßen gerade in den Bereich jenseits von zwölf Milliarden Lichtjahren vor, Sir“, informierte Brubeck ihn, wieder sicher in der vertrauten Beobachtungsroutine. Jetzt erst, bei dieser konkreten Zahlenangabe, tauchte der gestrige Tag mit seiner unfassbaren Entdeckung wie aus einer fernen Vergangenheit vor Tolstoi auf. „Ja – sehr gut, sehr gut“, antwortete er abwesend auf die Mitteilung des Kanadiers. Dann ging er zur Tür und verließ den Raum. Jonathan Brubeck starrte ihm nach und machte sich dann mit einem leisen „Hm“ kopfschüttelnd wieder an die Arbeit. Um 8 Uhr 30 hatte sich Tolstoi mit seinen beiden Gästen zum Frühstück verabredet. Kasarow hatte darum gebeten, mit seinem Mitarbeiter noch einige Tage in der Bodenstation Ural bleiben zu dürfen, um an der weiteren Entwicklung
unmittelbar teilhaben zu können – er war eben durch und durch Wissenschaftler. Tolstoi hatte dem spontan und hocherfreut zugestimmt. Kasarow war nicht nur ein äußerst kompetenter, sondern darüber hinaus auch ein sehr unterhaltsamer und amüsanter Gesprächspartner. Auf seinen Assistenten hingegen schien letzteres bisher kaum abgefärbt zu haben. Hauptgesprächsthema während des Frühstücks war natürlich der gestrige Tag mit seiner noch immer nicht fassbaren Entdeckung. Tolstoi regte daher eine erneute Diskussion in kleinem Kreis an, schon um für das morgige Treffen mit den Leitern der Bodenstationen gut vorbereitet zu sein. Kasarow stimmte ihm zu, und so bat Tolstoi die Theoriegruppe, aus besonderem Anlass ausdrücklich auch Paddy Fingal, Woodstock und Sven Brahe für 11 Uhr in sein Arbeitszimmer. Dann machte er sich, ein wenig später als üblich, auf seinen morgendlichen Rundgang durch die Station. Als Woodstock, Sven Brahe und Tina Nordström mit ihren beiden Kollegen Maxwell und Grundler nahezu gleichzeitig um 11 Uhr Tolstois Arbeitszimmer betraten, stand dieser mit seinen Gästen schon seit geraumer Zeit am Fenster und versuchte ihnen ausführlich zu schildern, was jetzt mit einem schmutzig gelben Licht überzogen war, nämlich das wunderschöne Naturpanorama im erwachenden Frühling. „Alles das“, schloss er, „wird uns hoffentlich zurückgegeben werden, wenn sich unser Sonnensystem dem Wurmloch wieder entzogen hat. Wir hoffen, dass die Sonne sich dann mit ihrem eigenen Strahlungswind wieder freiblasen wird. Wir hoffen es, denn wir können es keinesfalls mit Bestimmtheit sagen. – Ach ja, Andrej, ich hatte Ihnen gestern ja die gesamte Wurmlochtheorie erläutert. Sie stammt übrigens von Paddy
Fingal, der uns gestern Abend in der Beobachtungsabteilung in diese peinliche Situation gebracht hat.“ „Nun ja – “, gab Kasarow bedächtig zur Antwort und wiegte dabei leicht schmunzelnd seinen mächtigen Kopf mit dem schlohweißen Haar. Tolstoi wandte sich den Eingetretenen zu und bat alle, Platz zu nehmen. Dabei bemerkte er, dass Paddy Fingal offensichtlich nicht mitgekommen war. Auf seinen fragenden Blick hin teilte ihm Tina Nordström mit: „Sir, Paddy lässt sich entschuldigen und bittet Sie um ein Gespräch unter vier Augen.“ Und bevor Tolstoi seinen erkennbar anschwellenden Unmut darüber äußern konnte, kam ihm Tina zuvor: „Ich habe bereits ein sehr deutliches Wort mit ihm gesprochen, Sir!“ Eine kurze Pause entstand, und dann ebbte Tolstois Unmut ab. „Ich danke Ihnen, Tina, ich danke Ihnen sehr“, sagte er ganz offensichtlich erleichtert. Tolstoi eröffnete die Beratung mit einigen einleitenden Bemerkungen über den Zweck der Zusammenkunft sowie zu dem Treffen mit den Leitern der anderen Bodenstationen am folgenden Tag. Dann wandte er sich an die Theoriegruppe mit der Frage, wie weit die Bemühungen um eine mathematische Lösung für ein kosmisches Wurmloch gediehen seien. „Längst nicht so weit, wie wir eigentlich gehofft hatten“, antwortete Maxwell. „Uns ist in Zusammenarbeit mit den Kollegen an der Olaf-Palme-Universität in Stockholm zwar in gewisser Weise eine Lösung gelungen. Diese Lösung hat aber eine fatale Eigenschaft. Sie ist hochgradig instabil, genauer gesagt, bei Annäherung an einen massiven Himmelskörper
und erst recht an einen Stern zerfallt das Wurmloch und verhält sich damit total entgegengesetzt zu unserem Wurmloch!“ Die fast schon familiäre Bezeichnung „unser Wurmloch“ ließ ahnen, dass für Arthur Maxwell und mit ihm wohl auch für Max Grundler die reale Bedrohung aus dem Weltall zu einem äußerst interessanten wissenschaftlichen Problem geworden war, dessen Reiz sich in dem Maß erhöhte, wie es sich einer Lösung entzog. „Danke sehr, Arthur“, schloss Tolstoi den Beratungspunkt ab, „ich denke, dass Sie daran noch reichlich zu arbeiten haben.“ Die Runde wandte sich dann der von Max Grundler am Abend zuvor gezogenen kühnen Schlussfolgerung zu. „Ihre These, Max, eines von Anfang an angelegten Lebens nach irdischem Muster ist durchaus glaubwürdig“, begann Tolstoi. „Dennoch stellt sich die äußerst schwierige Frage, was eigentlich die gigantischen biochemischen Strukturen in der Verteilung der Galaxien mit den mikroskopischen Aminosäuren verbindet.“ „Ja, natürlich!“, pflichtete Max Grundler ihm bei. „Wir dürften zur Zeit allerdings wohl unendlich weit von einer Klärung dieser Frage entfernt sein. Ich habe das Gefühl, dass sich mit der Ergründung dieses Zusammenhangs ein ganz neuer Wissenschaftszweig wird befassen müssen. Und der wird damit ganz sicher Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte beschäftigt sein.“ „Das Gefühl habe ich auch!“, meldete sich Tina Nordström zu Wort. „Ich möchte aber dennoch, mit aller Vorsicht natürlich, einen Gedanken dazu äußern. Wie Sie wissen, führt die Theorie über die Entstehung der Galaxien und verbunden damit über die Anordnungsmuster in der Verteilung der Galaxien, beide Phänomene auf die Muster räumlicher
Verdichtungen in der Energiedichte der elektromagnetischen Strahlung im ganz frühen heißen Stadium des Universums zurück. Es könnte sein, dass diese Muster in der Strahlungsenergiedichte jene jetzt von uns entdeckten biochemischen Strukturen waren und dass sie von Anfang an existierten. Dann wären sie gleicherweise frühe Information an die Materie zur späteren Bildung von Aminosäuren und frühe Schablonen für die spätere Anordnung der Galaxien gewesen.“ Die Kühnheit dieses Gedankens machte alle Anwesenden zunächst sprachlos. Doch war er andererseits auch zu gewagt, als dass er nicht Widerspruch herausgefordert hätte. So setzte eine vehemente Diskussion ein, die Tolstoi nach einiger Zeit mit den Worten abbrach: „Ich halte Ihren Gedanken, Tina, für äußerst bemerkenswert! Dennoch glaube ich, wie Sie und Max es ja schon angedeutet haben, dass die derzeitige Wissenschaft mit der Lösung des Rätsels ganz sicher überfordert ist. Nichtsdestoweniger, so meine ich, sind die entdeckten biochemischen Strukturen ein überdeutlicher Hinweis darauf, dass überall im Universum Leben nach irdischem Muster existiert. Nun – die Frage ist, können wir irgendetwas über dieses Leben in Erfahrung bringen?“ Tolstoi stellte diese Frage eigentlich mehr an sich selbst. Irgendwie ging ihm Paddy Fingals whiskygetränkte Bemerkung von den schlauen Menschen am anderen Ende des Wurmlochs nicht aus dem Kopf. Andererseits hielt er sie für zu abwegig, als dass sie einer ernsthaften Diskussion würdig gewesen wäre. Wiederum andererseits musste er sich eingestehen, dass es merkwürdig inkonsequent war, auf der einen Seite an Leben nach irdischem Muster überall im Universum zu glauben, die Existenz solchen Lebens am anderen Ende des Wurmlochs aber für abwegig zu halten. Aber selbst wenn, dann hatte es dort irgendwann existiert oder
würde dort irgendwann existieren. Und so war seine Frage mehr Ausdruck eines vagen Gedankens, an den er letztlich selbst nicht glaubte. Das schienen auch die anderen Mitglieder der Beratungsrunde zu spüren, und Tina Nordström drückte das mit der Bemerkung aus: „Ich verstehe Sie nicht ganz, Sir. Wie sollten wir in der Lage sein, Einzelheiten über dieses Leben zu erfahren?“ „Wahrscheinlich gar nicht, Tina“, antwortete ihr Tolstoi, „es war nur so ein Gedanke.“ Die Beratung verlor jetzt ihren allgemein verbindlichen Charakter und ging in verschiedene Einzelgespräche über. Schließlich löste sich die Runde gegen 12 Uhr 30 zur Mittagspause auf. Kurz vor dem Abendessen, zu dem sich die Belegschaft der Station jeden Abend um 18 Uhr 30 zusammenfand, bat Tolstoi Paddy Fingal in sein Arbeitszimmer, um mit ihm unter vier Augen zu reden, wie der Ire es erbeten hatte. „Nehmen Sie Platz, Paddy“, begrüßte Tolstoi ihn freundlich und wies auf die gemütliche Sitzecke des Arbeitszimmers. Nachdem beide es sich dort bequem gemacht hatten, eröffnete Tolstoi die Unterredung, denn er spürte deutlich Paddys Unsicherheit. „Wir alle sind nun schon seit vielen Tagen nervlich auf das Äußerste angespannt, Paddy“, begann er. „Wir wissen nicht, ob diese Tage die letzten vor unserem endgültigen Untergang sind oder ob wir daraus hervorgehen wie aus einem gleicherweise bösen wie faszinierenden Traum. So habe ich bis zu einem gewissen Grad durchaus Verständnis dafür, dass Menschen in dieser Lage den Kopf verlieren. – Das eigentlich Peinliche an Ihrem Auftritt gestern Abend war Ihr Verhalten Tina gegenüber, zumal in Gegenwart unserer beiden Gäste. Nun – Kasarow war im ersten Augenblick zwar verwundert, doch hat er heute Vormittag alles mit einem verständnisvollen
Schmunzeln zugedeckt. Bei seinem Assistenten bin ich da nicht so sicher.“ Tolstoi machte eine Pause, um Paddy Gelegenheit zur Erwiderung zu geben. Dabei überlegte er, ob er jetzt die Entlassung aus der Station androhen solle. Doch dann verzichtete er darauf und fuhr, da Paddy schwieg, fort: „Meine größte Sorge allerdings gilt Ihrem Alkohol, Paddy. Ich weiß nicht, ob Sie schon ein Trinker sind oder ob Sie sich auf dem unaufhaltsamen Weg dorthin befinden. Ich – “ „Nein, Sir, ganz sicher nicht! Das glaube ich auf gar keinen Fall!“, beteuerte der Ire heftig. „Ich weiß sehr wohl“, erwiderte ihm Tolstoi, „dass Sie das nicht glauben, Paddy. Das ist ja gerade das Problem. Denken Sie einmal gründlich darüber nach, und seien Sie dabei sich selbst gegenüber grundehrlich, auch wenn das wehtut!“ „Ja, Sir, ich will es gerne versuchen“, versprach der Ire. Es entstand eine Pause, in der jeder der beiden nach einer Gesprächsfortsetzung suchte. Schließlich beendete Tolstoi die Unterredung mit den versöhnlichen Worten: „Nun, ich denke, es ist alles gesagt. – Das Abendessen wartet, und ich glaube, dass uns allen dieses Stück Gemeinsamkeit sehr gut tut. Im übrigen soll es heute Abend etwas sehr Gutes geben, habe ich jedenfalls gehört. Sie können schon vorgehen, Paddy, ich komme gleich nach.“ Paddy erhob sich und ging zur Tür. Tolstoi spielte kurz mit dem Gedanken, ihn nach seiner Bemerkung über die schlauen Menschen am anderen Ende des Wurmlochs zu fragen. Doch dann verwarf er ihn rasch wieder, das hätte Paddy in seiner Trunksucht möglicherweise noch bestärkt. Der Ire hatte sich an der Tür noch einmal umgedreht, um sich zu verabschieden. Dabei spürte er irgendwie Tolstois Gedankenspiel und fragte: „Wollten Sie mir noch etwas sagen, Sir?“ „Nein, nein – es war nur so ein Gedanke. – Vielen Dank, Paddy!“, erwiderte Tolstoi.
Dann verließ der Ire mit einem leisen „Ich danke Ihnen, Sir“ das Arbeitszimmer. Am 15. März traf gegen 13 Uhr die erste Delegation auf dem Helikopterdeck der Bodenstation Ural ein. Tolstoi und Woodstock hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Gäste persönlich zu begrüßen, und so blieben sie nach der Ankunft der ersten Delegation im obersten Stockwerk nahe der Flugplattform. Die über die Erde verteilten Bodenstationen wurden keinesfalls ausschließlich von Männern geleitet, vielmehr bekleideten in sieben der sechzehn Stationen Frauen die Führungsposition. Unter ihnen war die Leiterin der Bodenstation Pyrenäen, die Spanierin Manuela Sanchez, für ihr äußerst strenges Regiment bekannt. Bei dem in allen Stationen gepflegten Klatsch wurde sie oft auch „die eiserne Manu“ genannt. Tolstoi wurde zwar allgemein als führender Kopf unter den Stationsleitern anerkannt, dennoch war sein persönliches Verhältnis zu den einzelnen Kollegen und Kolleginnen sehr unterschiedlich. Das ließ sich an der Art, wie er die Ankömmlinge begrüßte, deutlich ablesen. Sie reichte von formellem Händedruck bis zu herzlicher Umarmung – letztere zum Beispiel bei Ron Nelson, dem dunkelhäutigen Leiter der Bodenstation Südafrika. Tolstoi und Nelson hatten lange Jahre zusammengearbeitet und dabei viele gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Bei den zahlreichen wechselseitigen Besuchen Nelsons in Moskau und Tolstois in Kapstadt war eine ehrliche und unkomplizierte Freundschaft entstanden, die beide trotz
der großen geographischen Entfernung zwischen ihnen sorgfältig pflegten. Als der Hubschrauber mit Manuela Sanchez und ihrem wissenschaftlichen Begleiter zur Landung ansetzte, entfuhr Woodstock ein „Aha – die eiserne Manu“. Tolstoi sah ihn daraufhin wortlos mit leicht gesenktem Kopf und eindringlichem Blick an, und Woodstock beantwortete diesen eindeutigen Blick, indem er beide Hände hob zum Zeichen dafür, dass er wohl verstanden habe. Dabei hatte Tolstoi durchaus Verständnis für Woodstocks sarkastische Bemerkung. Vor Jahren nämlich hatte dieser mit Manuela Sanchez auf einer größeren Konferenz eine ziemlich heftige Auseinandersetzung gehabt, in der Manuela Woodstocks damalige Ideen zur Verbesserung des Satellitensystems als leeres Geschwätz abgetan hatte – nicht nur eine grobe Unhöflichkeit, sondern zudem auch eine fatale Fehleinschätzung, wie sich dann schon sehr bald herausstellen sollte. „Wie schön, Manuela, dass Sie Ihre Station für einige Tage sich selbst überlassen können“, begrüßte Tolstoi seine Kollegin bewusst doppeldeutig. „Warten wir es ab, Nikolai“, erwiderte diese, und dann sehr forsch zu ihrem Begleiter: „Haben Sie unser Gepäck, Leon?“ Woodstock stand derweil ein wenig abseits und betrachtete interessiert den Helikopter, der keinesfalls ein auffälliges Modell war. Gegen 15 Uhr waren alle Delegationen eingetroffen, und die Gäste hatten ihre Zimmer bezogen. Im Speiseraum des Gästetraktes wurde ein kleiner Imbiss gereicht, bevor dann pünktlich um 16 Uhr Tolstoi die Konferenz eröffnete. Aus der Bodenstation Ural nahmen daran neben ihm Woodstock und Sven Brahe, die Theoriegruppe ohne Paddy Fingal und
natürlich Kasarow mit seinem Assistenten teil. Tolstoi schlug als Abfolge der Beratungen zunächst Informationen und anschließende Diskussion über den derzeitigen Stand der theoretischen Arbeiten vor. Der zweite Teil der Konferenz sollte sich dann mit der Entdeckung der biochemischen Strukturen und ihrer Deutung befassen. Dieser Vorschlag wurde ohne jegliche Einwände angenommen. Daraufhin bat Tolstoi seinen Mitarbeiter Arthur Maxwell, über die instabile Wurmlochlösung zu berichten, welche die Theoriegruppe der Bodenstation Ural zusammen mit Kollegen an der Olaf-Palme-Universität in Stockholm gefunden hatte. Nachdem Maxwell geendet hatte, meldete sich der Leiter der Theoriegruppe in der Bodenstation Nord-Anden zu Wort. „Merkwürdig“, begann er, „wir haben in Zusammenarbeit mit den Theoretikern der Bodenstation Mt. Palomar und Kollegen in Princeton auch eine Lösung gefunden. Dieses Wurmloch ist zwar stabil, hat aber einen so kleinen Öffnungstrichter, nämlich etwa 1 Zentimeter, dass es schwerlich ein Modell für das uns bedrohende Wurmloch sein kann. Wir – “ „Stellt sich dann nicht die Frage“, wurde er unhöflich von Augusto Peron, dem chilenischen Leiter der Bodenstation Süd-Anden, unterbrochen, „ob es ein Wurmloch von der Größe, wie es die Bodenstation Ural als Erklärung vorschlägt, überhaupt gibt? Sollten wir nicht zunächst nach weiteren, zuverlässigen experimentellen Belegen dafür suchen, bevor wir uns in ein Hirngespinst verrennen? Oder sollten wir nicht gar nach einem gänzlich neuen Modell suchen?“ Augusto Peron hatte insgeheim schon immer gegen die unausgesprochene Führungsrolle Tolstois opponiert. So war er in Genf natürlich verärgert darüber gewesen, dass die Wurmlochdeutung ausgerechnet in Tolstois Bodenstation geboren worden war und dass alle Bodenstationen sich dem beugten. Er konnte sich auch jetzt noch nicht damit abfinden,
und schon gar nicht damit, dass die Schaltstelle für die neuen aufregenden Beobachtungen wieder die Bodenstation Ural war Tolstois Verhältnis zu Peron war natürlich dementsprechend unterkühlt. Er überlegte noch, in welchem Ton er die provozierenden Scheinfragen des Kollegen beantworten sollte, da kam ihm Tina Nordström zu Hilfe: „Sir“, ergriff sie sich erhebend das Wort, „ich muss Sie auf einige Ungereimtheiten in Ihrem Beitrag aufmerksam machen! Sie warfen die Frage nach weiteren, zuverlässigen experimentellen Belegen auf. Nun, der stärkste experimentelle Beleg, gewissermaßen die Sonde mit den meisten Informationen, ist unsere Erde und das, was wir Menschen zur Zeit auf ihr erleiden müssen und was wir von hier aus beobachten können. Wenn Sie nach einem neuen Modell dafür suchen, dann muss auch dieses neue Modell alles das erklären, und die Stärke des von Paddy Fingal vorgeschlagenen Wurmlochmodells besteht ja gerade darin, dass es für alles das eine schlüssige, wenn auch verblüffende Antwort gibt. Das ist doch seit Jahrhunderten das Paradigma unserer Wissenschaft: Wenn wir mit ungeklärten Erscheinungen konfrontiert sind, dann sehen wir dasjenige Modell als Wirklichkeit an, das diese Erscheinungen schlüssig erklärt, ohne dabei nichtüberprüfbaren Ballast mitzuführen. Ich denke daher, dass die Suche nach einer Wurmlochlösung mit unverminderter Intensität fortgesetzt werden sollte!“ Tina Nordström setzte sich, und im Konferenzsaal herrschte Stille. Augusto Peron beneidete seinen Kollegen Tolstoi insgeheim um diese außerordentliche Wissenschaftlerin, die mit ihrer Kompetenz und Ausstrahlung wieder einmal alle in ihren Bann zog. Gerade letzterer hatte Tina noch kurz vor der Konferenz ganz bewusst durch ein modisches blaues Kostüm nachgeholfen, das ihre gute Figur dezent aber doch unverkennbar zur Geltung brachte.
Tinas Beitrag bestimmte fraglos den weiteren Verlauf dieses ersten Teils der Konferenz. Die Diskussion wandte sich jetzt den mathematischen Details bei der Suche nach einer Wurmlochlösung zu. Lösungstypen und Parameterbereiche wurden ausgetauscht und kritisch analysiert. Gegen 17 Uhr 30 schien die Diskussion dann in unüberschaubare Einzelheiten abzugleiten, sodass Tolstoi anregte, den ersten Teil zu beenden und nach einer halbstündigen Pause mit dem zweiten Teil zu beginnen. Diese Anregung wurde dankbar aufgenommen. Nach Wiedereröffnung bat Tolstoi zunächst Sven Brahe, über die zusammengefassten Beobachtungsergebnisse der einzelnen Bodenstationen zu berichten. Nach einigen erläuternden Vorbemerkungen zeigte dieser die holographischen Bilder der Linienmuster, indem er systematisch in kleinen Schritten den Sichtwinkel veränderte, um so den Mitgliedern der anderen Stationen ein möglichst vollständiges Bild über das von allen gesammelte Beobachtungsmaterial zu vermitteln. Als Tolstoi vor zwei Tagen die ersten Beobachtungsergebnisse den anderen Stationen mitgeteilt und sie zu dieser Konferenz eingeladen hatte, war diese Mitteilung verbaler Natur gewesen. So sahen die Mitglieder der anderen Stationen jetzt zum ersten Mal diese beeindruckenden holographischen Bilder der Linienstrukturen. Und ihre Antwort darauf war, wie hätte es anders sein können, ungläubiges Staunen, das sich in einem lauten Raunen Ausdruck verschaffte. Sven Brahe schloss seinen Bericht mit dem Hinweis, dass seit den ersten Entdeckungen vor zwei Tagen mittlerweile drei weitere voneinander getrennte Linienstrukturen beobachtet werden konnten.
Tolstoi dankte ihm und stellte dann den Konferenzteilnehmern seinen Freund Andrej Kasarow vor. „Er wird uns jetzt erläutern, um welche Art von Strukturen es sich bei diesen Linienmustern handelt“, übergab er dem Biochemiker das Wort. Alle Blicke richteten sich daraufhin auf Kasarow, der sich jetzt bedächtig erhob und mit einem Gewirr von kleinen Stangen mit farbigen Kugeln daran nach vorne ging. Dort legte er die eigentümlichen Gegenstände auf einem Tisch ab. „Meine Damen und Herren“, begann er dann nach einer kurzen Pause, „die von Ihnen entdeckten Strukturen lassen selbst einen hartgesottenen Biochemiker wie mich vor ungläubigem Staunen nur mit den Ohren wackeln. Um es knapp und klar zu sagen: Diese Linienmuster stellen eindeutig in gigantisch vergrößerter Form die räumlichen Strukturformeln von Aminosäuren dar! – Ich habe hier räumliche Modelle einiger dieser Säuren mitgebracht. Diese ein wenig altertümlichen Modelle werden auch heute noch wie schon vor über hundert Jahren von Biochemikern gerne benutzt.“ Er befreite aus dem Gewirr von Stangen und Kugeln ein zusammenhängendes Gebilde und gab dazu folgende Erläuterungen: „In diesen Modellen stellen die farbigen Kugeln die Atome und die Stangen zwischen den Kugeln die chemischen Bindungsarme zwischen den Atomen dar. Dieses Modell hier entspricht exakt der Ihnen von Sven Brahe als erste gezeigten Struktur. Würden Sie noch einmal so liebenswürdig sein, Sven, und das entsprechende holographische Bild zeigen?“ Der Däne kam der Bitte sofort nach, und Kasarow konnte so allen Anwesenden die wahrhaft verblüffende Identität von
biochemischem, mikroskopischem Modell und gigantischer, kosmischer Linienstruktur zeigen. Auch zu den anderen vier holographischen Bildern nahm er von dem Tisch jeweils ein entsprechendes identisches Modell. Schließlich verwies er darauf, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die weiteren drei inzwischen entdeckten Strukturen, von denen bisher noch keine holographischen Bilder existierten, mit den Strukturformeln von Aminosäuren identisch wären. Dabei entnahm er die dafür in Frage kommenden Kandidaten seinem chemischen Baukasten aus Stangen und Kugeln. „Die betont starke Linienausprägung Ihrer beobachteten Strukturen“, fuhr er dann fort, „lässt eigentlich nur eine Identifizierung mit den Bindungsarmen der biochemischen Modelle zu. Atome sind in Ihren Strukturen nicht erkennbar. Doch bedenken Sie bitte, dass es gerade die Bindungen mit ihren Ausrichtungen im Raum sind, die die räumliche Struktur einer Aminosäure und damit ihre biochemische Funktionsweise bestimmen.“ Kasarow machte eine kurze Pause und schloss dann seinen kurzen Vortrag mit den Worten: „Nun – wie Sie alle wissen, bilden Aminosäuren die Grundbausteine unseres irdischen Lebens. Ich bin sehr gespannt darauf, wie Sie als Kosmologen die Entdeckung „kosmischer“ Aminosäuren deuten werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“ Kasarow ging auf seinen Platz zurück, und Tolstoi dankte ihm für seine Ausführungen. „Ich darf jetzt mit Ihrem Einverständnis meine Mitarbeiterin Tina Nordström und meinen Mitarbeiter Max Grundler bitten, ihre Interpretation der kosmischen Aminosäuren vorzutragen“, fuhr er dann fort, „Ich denke, dass ihre Gedanken und
Erklärungsversuche eine gute Grundlage für die weitere Debatte bilden, auch wenn sie an Kühnheit kaum etwas zu wünschen übrig lassen.“ Augusto Peron meldete sich zu Wort und widersprach heftig diesem Vorschlag Tolstois. Er trug vor, dass es wohl langsam an der Zeit sei, auch die anderen Stationen zu Wort kommen zu lassen. Tolstoi stellte diesen Wunsch Perons zur Diskussion, die aber kein klares Bild ergab und der Manuela Sanchez schließlich mit der Bemerkung ein Ende setzte: „Sie bekommen schon noch Ihren Auftritt, Augusto!“ Die daraufhin entstehende allgemeine Heiterkeit löste die Spannung, und Max Grundler begann mit der Erläuterung seiner These, die Tolstoi vor zwei Tagen der Mitteilung der Beobachtungsergebnisse hinzugefügt hatte. Anschließend erläuterte Tina Nordström ihren kühnen Gedanken vom Vortag, der eine Verbindung zwischen den „kosmischen“ Aminosäuren und den mikroskopischen, biochemischen Aminosäuren herzustellen versuchte. Diese Hypothesen lösten eine äußerst kontroverse Debatte aus, die mit zunehmender Heftigkeit geführt wurde, sodass Tolstoi mehrfach um Mäßigung bitten musste. Als Augusto Peron dann die von Tina Nordström und Max Grundler vorgetragenen Gedanken in äußerst abfälligem Ton gar als Hirngespinste bezeichnete, kam es kurzzeitig zu tumultartigen Szenen. Es war wieder Manuela Sanchez, die mit ihrer durchdringenden Stimme für Klarheit sorgte: „Augusto, seien Sie vorsichtig!“, rief sie. „Ich habe auch einmal etwas als leeres Geschwätz abgetan, und zwei Jahre später stellte es sich als bahnbrechende Idee heraus. – War es nicht so, John?“ Mit der letzten Frage wandte sie sich an Woodstock, der ihr ebenso erstaunt wie entschieden beipflichtete.
Peron stand nach dieser Zurechtweisung Manuela Sanchez’ vollends im Abseits und zog sich aus der weiteren Diskussion zurück. Diese beruhigte sich wieder und nahm schließlich den typischen Verlauf einer wissenschaftlichen Debatte, deren Teilnehmer sich ihre Ratlosigkeit nicht so richtig eingestehen wollen. Bevor sie endgültig versandete, meldete sich Ron Nelson mit einem bemerkenswerten Gedanken zu Wort. „Nehmen wir einmal an“, begann er, „Tinas kühne These trifft zu, dann wären die ‘kosmischen’ und die biochemischen Aminosäuren auf eine Ursache zurückgeführt, nämlich auf die Muster in der elektromagnetischen Energiedichte im Frühstadium des Universums. Doch wer oder was hat dann diese Muster angelegt?? Es ist seit vielen Jahrhunderten immer dasselbe: Jede Lösung eines Teilrätsels wirft ein größeres Folgerätsel auf!“ Nelson nahm wieder Platz, und unter den Konferenzteilnehmern herrschte nachdenkliche Stille. Tolstoi nutzte diesen Einschnitt, um die nicht mehr sehr ergiebige Diskussion zu beenden. Zudem erschien ihm der Beitrag seines Freundes als wahrhaft zutreffendes Schlusswort. „Ich denke“, ergriff er das Wort, „Ron Nelsons Bemerkungen haben uns gezeigt, dass wir noch einen unendlich langen Weg vor uns haben. Und solche Wege haben die Eigenschaft, dass sie niemals enden. Ich schlage daher vor, dass wir uns jetzt zum Abendessen begeben. Dieser Weg ist nämlich deutlich kürzer!“ Ein allgemeines herzhaftes Lachen verriet, dass Tolstoi den richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Der Speisesaal des Gästetrakts war während des Abendessens von aufgeregtem Stimmengewirr erfüllt. Natürlich wurde die Diskussion an den einzelnen Tischen weitergeführt – und zwischendurch auch ein wenig gegessen.
In der Gruppe, in der Tina Nordström und Max Grundler saßen, ging es naturgemäß besonders heftig zu. Nach und nach gesellten sich männliche Konferenzteilnehmer, die mit dem Essen fertig waren, hinzu und umringten den Tisch. Dabei war es nicht nur die schlagfertige Diskussion, die sie anzog, es war auch und ganz besonders Tina Nordström mit ihrer herben Weiblichkeit und ihrem brillanten Verstand. Als das Abendessen erkennbar zu Ende ging, bat Tolstoi kurz um Gehör. Er wies die Gäste auf die vielen Annehmlichkeiten der Station hin und lud sie ein, diese zu ihrer individuellen Gestaltung des weiteren Abends zu nutzen. Er schloss mit der Ankündigung, dass das Frühstück am nächsten Morgen ab 9 Uhr bereitstehe. Später am Abend lud Tolstoi seine Gäste Andrej Kasarow und Ron Nelson, die Theoriegruppe sowie Woodstock und Sven Brahe in sein Arbeitszimmer ein, um bei einem Glas Wein und zwanglosem Gespräch diesen Tag ausklingen zu lassen. Als Tina und ihre beiden Kollegen Max Grundler und Arthur Maxwell ohne Paddy Fingal erschienen, zeigte sich Tolstoi sichtlich beunruhigt. Seine Nachfrage beantwortete Tina jedoch mit der beruhigenden Auskunft, dass Paddy nicht etwa getrunken habe, sondern offenbar, wie einige andere auf der Station auch, unter extremer Müdigkeit leide, und dass sie ihn nicht aus dem Schlaf habe reißen wollen. Die Runde war bald vollständig und genoss Tolstois ausgezeichneten Wein. Auf natürliche Weise bildeten sich zwei Gruppen, und man sprach ganz zwanglos über das, was einen gerade bewegte. Tolstoi und Nelson tauschten Erinnerungen aus, unter denen eine ganze Reihe von äußerst komischer und skurriler Natur waren. Nelson entpuppte sich
dabei als sehr witziger und amüsanter Erzähler, und Woodstock und Brahe hörten ihm belustigt zu. In der Sitzecke des Arbeitszimmers hatten es sich Kasarow mit Tina Nordström und ihren beiden Kollegen Grundler und Maxwell bequem gemacht. Kasarow berichtete den drei Stationsmitgliedern zunächst über die Katastrophensituation in Moskau. Als sie dann auf Paddy Fingals Wurmlochtheorie zu sprechen kamen, erkundigte sich Kasarow schmunzelnd bei Tina, wo denn der Teufelskerl stecke. Tina antwortete ein wenig verlegen, dass der Teufelskerl zur Zeit ein wenig unpässlich sei, worauf Kasarow versicherte, dass ihm das aufrichtig leid tue. Es war ganz offensichtlich, dass die beiden einander faszinierten. Tina genoss die bedächtige Ruhe und humorvolle Gelassenheit des siebzigjährigen Kasarow, und diesen hinderten seine siebzig Jahre keinesfalls daran, seinerseits die attraktive Weiblichkeit Tina Nordströms zu genießen. So gewann die Runde im Laufe des Abends wohltuenden Abstand von den Anspannungen des Tages, und als sie sich gegen Mitternacht auflöste, hatte sie für kurze Zeit die schreckliche Bedrohung aus dem Weltall fast vergessen.
HIROSHIMA
Selbstverständlich hatte Tolstoi ihm die Erlaubnis gegeben, sich auf den Weg in seine japanische Heimatstadt Hiroshima zu begeben, nachdem er seit der Katastrophe tagelang vergeblich versucht hatte, Verbindung zu seiner Familie aufzunehmen. Der Astronom Hakamoto Tanaka liebte seine Eltern, seine Großeltern und seine Geschwister, einen Bruder und eine Schwester, auf das Innigste. So hatte er am frühen Morgen des 9. März die Bodenstation Ural, diese stille abgeschiedene Insel der Unversehrtheit, auf der Wissenschaftler nahezu unbeeindruckt von den grauenhaften Verwüstungen auf der Erde ihrer Arbeit nachgingen, mit dem Hubschrauber in Richtung Jekaterinburg verlassen. Dort wartete auf Tolstois Veranlassung hin einer der Hochgeschwindigkeitshelikopter, der ihn in etwa zwölf Stunden über die endlosen sibirischen Weiten und dann über die Mandschurei und das Japanische Meer nach Hiroshima fliegen würde. Weite Teile der sibirischen Landmassen lagen in diesem Jahr noch unter einer dichten Decke aus Schnee. Er leuchtete gespenstisch in der schmutzig gelben Dämmerung des heraufziehenden Tages. Hakamoto fror trotz der gut geheizten Innenkabine des Helikopters. Mit jeder Stunde Flugzeit entfernte sich auch sein Denken mehr und mehr von der gedämpften und, wie er zunehmend empfand, fast weltfremden Atmosphäre der Bodenstation Ural. Als passionierter und anerkannter Astronom hatte er vor Jahren mit großer Freude das außerordentliche Angebot angenommen, unter der Leitung der in Fachkreisen hoch
angesehenen Wissenschaftler Tolstoi und Woodstock zu arbeiten. Seine Welt waren die unermesslichen Weiten des Universums mit seinen Myriaden von Galaxien und Quasaren, mit seinen zahllosen exotischen Sternen und seinen vielen anderen geheimnisvollen Erscheinungen. Und er hatte trotz aller Professionalität nicht das Staunen verlernt, das Staunen darüber, dass all dieses den menschlichen Beobachtern auf diesem winzigen Punkt Erde, einem kosmologischen Nichts, zugänglich war. Doch war es für ihn zugleich auch immer eine Welt gewesen, die mit der irdischen, von Menschen geprägten Welt, die so kompliziert und oft so unverständlich war, nichts gemein hatte. Vielleicht, so dachte er, hatte er sich daher in die Astronomie geflüchtet, und welcher Fluchtort war dafür geeigneter als die Bodenstation Ural. Seit einigen Tagen aber war diese jenseitige Welt des weiten Universums auf grauenvolle Weise in das irdische Leben eingebrochen! Hakamoto war in der abgedunkelten Kabine in einen tiefen Schlaf gesunken, als der Helikopter gegen 15 Uhr Ortszeit in den Luftraum von Hiroshima einschwebte. So blieb ihm zunächst erspart, was die beiden Piloten stumm vor Entsetzen unter sich sahen: Die Stadt – wieder einmal wie vor 277 Jahren – in ihrer apokalyptischen Verwüstung, durchzuckt von dunkelroten Flammen in einem schmutzig gelben Tageslicht und eingenebelt von dreckigen Rauchschwaden. „Oh, mein Gott!“, stammelte der Co-Pilot. Sie landeten auf einem großen Platz im Stadtzentrum, umringt von ausdruckslos gaffenden Menschen. Dann erst weckten sie ihren Fluggast.
Hakamoto erstarrte, sein Gesicht wurde fahl, seine Hände fuhren wirr in der Luft herum, seine Lippen bewegten sich tonlos. Der Pilot legte einen Arm um seine Schulter und führte ihn ein wenig abseits. Jetzt erst lösten sich die Tränen aus seinem schmerzhaft verkrampften Körper, nahmen gänzlich Besitz von ihm. Ein elektrogetriebenes Polizeifahrzeug war aus dem dünnen Verkehr, der den Platz umfloss, ausgeschert und an den Helikopter herangefahren. Zwei Beamte – man sah ihnen ihre tiefe Erschöpfung deutlich an – erkundigten sich barsch nach dem Anlass der Hubschrauberlandung. Sie forderten den CoPiloten auf, die Türen des Helikopters zu öffnen und dann mit erhobenen Händen stehen zu bleiben. Während einer der Polizisten die Innenkabine durchsuchte, hielt der andere mit entsicherter Waffe Wache. Als der Pilot jetzt hinzukam und versuchte, den Vorfall aufzuklären, wurde er angeschnauzt, er solle besser das Maul halten und ebenfalls die Hände hochnehmen. Erst Hakamoto gelang es, die Polizisten zu besänftigen und ihnen den Grund der Landung zu erklären. Daraufhin entschuldigten sie sich bei den beiden Piloten, berichteten kurz, dass sie bereits seit zweiundsiebzig Stunden im Dienst seien und dass die ganze Stadt im Chaos versunken sei. In diesem Augenblick waren jenseits des Platzes in den Trümmern mehrere Schüsse zu hören. „Wahrscheinlich Plünderer“, erläuterte einer der Beamten müde, „wir haben den Befehl, auf diese Hyänen zu schießen.“ Über Funk hatte der andere Polizist inzwischen den Vorfall gemeldet und ein weiteres Fahrzeug angefordert. Die beiden Russen erkundigten sich jetzt näher nach dem Ablauf und dem Ausmaß der Katastrophe in Hiroshima. Die wenigen stummen Worte und verzweifelten Gesten der beiden Japaner beschrieben Grauenvolles. Unter den eingestürzten Bauten
vermute man unzählige Tote – wie viele, wisse niemand. Die wenigen unzerstörten Krankenhäuser seien hoffnungslos überlastet, dort lägen die Menschen dicht gedrängt in den Gängen. Einheiten der Weltarmee hätten am südlichen Stadtrand ein riesiges Lazarett eingerichtet, das über zweitausend Verletzte versorgen könne. Hiroshima taumle führungslos dahin, da der Oberbürgermeister mit seinem gesamten Stab und den höchsten Beamten der Verwaltung während einer Sitzung im obersten Stockwerk des Stadthauses beim Einbruch der Katastrophe ums Leben gekommen seien. Plünderer und Weltuntergangssekten zögen durch die Straßen. In diesem Augenblick wies einer der Polizisten stumm auf eine bestimmte Stelle in den Trümmern. Dort tauchte aus einer schmutzigen Rauchschwade eine Gruppe von Menschen auf. Alle in lange schwarze Gewänder gekleidet, ihre Gesichter von Kapuzen verhüllt, schritten sie langsam mit gesenktem Kopf und einer Kerze in der Hand, einer hinter dem anderen, schweigend über den Platz. Sie nahmen keinerlei Notiz von dem Helikopter und dem Polizeiwagen, zogen wie Gespenster ganz dicht an ihnen vorüber und verschwanden dann auf der entgegengesetzten Seite wieder in den Ruinen. Hakamoto und die beiden Russen starrten ihnen entgeistert nach. Das angeforderte Fahrzeug erschien, und die Piloten übergaben Hakamoto ein handtellergroßes, flaches Funkgerät. Darüber könne er jederzeit mit ihnen Verbindung aufnehmen, wegen des Rückflugs. Dann wiesen die beiden Polizisten Tanaka an, in den Wagen zu steigen, der würde ihn zu seiner Familie bringen – falls es diese noch gäbe. Das Haus seiner Eltern am äußersten nördlichen Stadtrand war nahezu unversehrt, und bei dieser Feststellung fiel ein großer Teil jener bleiernen Last von Tanaka ab. Der kleine Vorgarten
war liebevoll mit bunten Frühjahrsblumen bepflanzt – ein rührender Anblick inmitten der grauenvollen Verwüstung. Hakamoto läutete mit klopfendem Herzen an der Haustür. Sie wurde zaghaft geöffnet – und vor ihm stand seine Schwester Ono, bleich, übernächtigt, mit geröteten Augen. Sie starrte ihn unverwandt an, als erkenne sie ihn nicht. Dann aber stürzte sie plötzlich auf ihn zu und fiel ihm weinend um den Hals. Sie führte ihn in den geräumigen Wohnraum mit den großen Fenstern, verdeckt von Vorhängen aus leichtem und hellem Stoff. Vor einem niedrigen Tisch saßen auf dicken, geblümten Kissen seine Eltern. Seine Schwester sprach sie laut an, sagte ihnen, dass Hakamoto gekommen sei. Sie nickten schweigend, und als Ono wiederholte, dass Hakamoto von der Bodenstation Ural gekommen sei, winkte sein Vater ihn zu sich. „Mein Sohn“, sagte er, „sie sind zurückgekommen, die Geister des Feuers und der Zerstörung. Ein Fluch liegt über der Stadt. Geh’ fort und kehre niemals zurück! Die Geister der Vernichtung werden nicht von uns lassen.“ Er hielt inne und führte mit zitternder Hand eine Tasse Tee zum Mund. Dann starrte er ins Leere. Hakamoto versuchte ihm zu erklären, dass diese Katastrophe die gesamte Erde getroffen habe, nicht nur Hiroshima, dass eine äußerst seltene Erscheinung aus dem Weltall all dieses angerichtet habe und dass schon sehr bald alles wieder gut werden würde. Dabei strich er ihm zärtlich über die Wange. „Ja, sie sind zurückgekommen, die Geister des Feuers und der Zerstörung“, erwiderte sein Vater tonlos. „Ein Fluch liegt über der Stadt. Die Geister der Vernichtung werden niemals von uns lassen.“
Seine Mutter nickte dazu mit großen, ausdruckslosen Augen. In diesem Augenblick wusste Hakamoto, dass seine Eltern sich im Reich des Wahnsinns befanden. Er gab seiner Schwester ein Zeichen, und beide zogen sich in einen Nebenraum zurück. Dort berichtete Ono unter Tränen, dass ihr Bruder beim Ausbruch der Katastrophe im Stadtzentrum gewesen und dort von einem einstürzenden Gebäude erschlagen worden sei. Und auch ihre so geliebten Großeltern hätten das Inferno nicht überlebt. Und dann weinten sie zusammen, unermesslich und endlos, bis in den Abend hinein. Als schließlich die Tränen versiegten, umarmten sie sich, und Hakamoto gab über das kleine Funkgerät an die Piloten die Nachricht durch, dass er nicht mehr in die Bodenstation Ural zurückkehren werde.
KONTAKT
Nachdem am Tag nach der Konferenz in der Bodenstation Ural die Delegationen der anderen Stationen abgereist waren, wandte man sich wieder der täglichen Routine zu – allerdings wie schon zuvor in sehr gedrückter und gereizter Stimmung. Darüber hinaus beobachteten die Ärzte mit großer Sorge ein merkwürdiges Phänomen: In zunehmendem Maße wurden Stationsmitglieder bettlägerig, weil sie von einer starken Mattigkeit an jeder Tätigkeit gehindert wurden. Als medizinische Erklärung dafür wurden physische Einwirkungen durch das veränderte Tageslicht sowie psychische Reaktionen auf das Gefühl existentieller Bedrohung angegeben – eine sehr gelehrte Erklärung, die aber kaum Möglichkeit zur Hilfe bot. In der Nacht vom 19. auf den 20. März hatte die von Sven Brahe geleitete Gruppe von 22 Uhr abends bis 4 Uhr morgens Beobachtungsdienst. Das Team war in dieser Nacht auf zwei Mitglieder geschrumpft: Der polnische Astronom Krysztof Kobinski war in familiären Angelegenheiten nach Warschau geflogen, und die rumänische Technikerin Tanja Dimitroff war von jener geheimnisvollen Mattigkeit befallen. So erledigte Sven Brahe mit seinem Freund, dem isländischen Techniker Jorge Yngvasson, die anfallende Arbeit. Die Beobachtungsabteilung war abgedunkelt, und im Hintergrund spielte leise Bluesmusik aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Die beiden Freunde liebten diese Musik über alle Maßen, konnten sie allerdings während der Arbeit nur hören, wenn die beiden anderen Teammitglieder nicht anwesend
waren, denn diese empfanden Bluesmusik als wahren Ohrenschmerz. Um 1 Uhr 50 gab Jorge Yngvasson einen Satz Beobachtungsdaten in den Holographen, um die räumliche Struktur der neuesten ausgemessenen Verteilungen zu studieren, während Sven Brahe schon seit einiger Zeit im angrenzenden Komraum ein Gespräch mit der spanischen Partnerstation in den Pyrenäen führte. Es ging dabei um die Strukturen, die man seit achtundvierzig Stunden in Entfernungen von über dreizehn Milliarden Lichtjahren beobachtete. Dort schienen die Linienmuster teils in Bruchstücke zu zerfallen, teils wieder flächig verschmiert zu sein, und Brahe wollte sich vergewissern, dass die Ergebnisse der beiden Partnerstationen aus dem ihnen zugeteilten Sektor übereinstimmten. Um 1 Uhr 57 beendete er das Komgespräch und wollte sich zu seinem Freund an den Holographen begeben. Doch die wenigen Schritte dorthin wurden plötzlich unterbrochen – ein Zittern lief durch die Station. Sven Brahe und Jorge Yngvasson erstarrten. Doch bevor Entsetzen und Panik über sie herfallen konnten, ebbte das leichte Beben bereits wieder ab. Brahe löste sich aus seiner Lähmung, ging wie abwesend zum Komgerät und verband sich mit Tolstois Wohnung. „Sir“, begann er mit tonloser Stimme, nachdem Tolstoi sich gemeldet hatte, „Sir – es hat wieder gezittert! Kommen Sie bitte!“ Tolstoi hatte zunächst Mühe zu verstehen, worum es ging, denn er erkannte Sven Brahes von Angst entstellte Stimme nicht gleich. Doch dann fuhr es in ihn wie ein elektrischer Schlag. „Ich komme sofort!“, rief er in das Komgerät und ging
aus der Leitung. Etwa sieben Minuten später erschien er zusammen mit Woodstock in der Beobachtungsabteilung. In aufgeregten Worten schilderte Brahe das kurze Beben vor einigen Minuten. Dann herrschte lähmende Stille. „John“, fasste sich Tolstoi als erster, „fragen Sie bitte bei einigen seismographischen Stationen nach, ob das Beben auch dort registriert wurde. – Und wählen Sie Stationen, die möglichst weit auseinanderliegen!“ Woodstock begab sich sofort in den Komraum. Nach etwa dreißig Minuten kehrte er mit der bedrohlichen Nachricht zurück, dass alle vier befragten Stationen recht genau um 1 Uhr 57 westsibirischer Zeit ein leichtes Beben registriert hätten, das etwa die Stärke der ersten Erschütterungen vom Abend des 5. März aufwies. „Oh mein Gott“, stammelte Tolstoi und setzte sich umständlich auf einen kleinen Tisch in seiner Nahe. Jedes weitere Wort erschien ihm im Augenblick überflüssig, und so versank die Gruppe in brütendes Schweigen. Es war schließlich Woodstock, der die düsteren Gedanken aller mit der Frage ausdrückte: „Wie viel Zeit verstrich damals zwischen den ersten Erschütterungen und der schrecklichen Katastrophe?“ Sven Brahe schaltete auf diese Frage hin einen Bildschirm ein, der ihn mit der Stationsdatei verband, einer Art Stationstagebuch. „Es waren recht genau vier Stunden und zwanzig Minuten“, informierte er die Runde nach kurzer Zeit mit ausdrucksloser Stimme. „Ah ja – “, kommentierte Woodstock die Auskunft Sven Brahes, und dabei war hinter dem trockenen Sarkasmus dieser Bemerkung seine Angst deutlich spürbar. Tolstoi gab Anweisung, sich unverzüglich mit den anderen Bodenstationen in Verbindung zu setzen und sich bei ihnen
nach dem Beben zu erkundigen. Darüber hinaus wies er Sven Brahe und Jorge Yngvasson an, die Beobachtungen umgehend mit äußerster Sorgfalt fortzusetzen, da das leichte Beben sehr wahrscheinlich mit einer erkennbaren Veränderung des Wurmlochs verbunden sei. Darauf sollten, bitte sehr, auch die anderen Stationen hingewiesen werden, auch wenn man sich dort vielleicht ähnliches schon gedacht habe. Dann verließ er die Beobachtungsabteilung, um in seinem Arbeitszimmer mögliche Komgespräche von auswärts zu empfangen. Woodstock begab sich erneut in den Nachrichtenraum der Beobachtungsabteilung und setzte sich mit den weltweit verteilten Bodenstationen in Verbindung. Dabei begann er mit der Partnerstation in den Pyrenäen und hoffte, dass sich nicht ausgerechnet Manuela Sanchez melden würde, denn in Spanien war es ja erst später Abend. Seine Hoffnung wurde erfüllt. Sven Brahe und Jorge Yngvasson begaben sich wieder an die Auswertung der Beobachtungsdaten – in erregter Erwartung auf irgendeine Veränderung. Doch im Sektor der Bodenstation Ural war nichts festzustellen – bis auf den bereits beobachteten rätselhaften Übergang von Linien- zu den Flächenstrukturen in jenen unvorstellbaren Entfernungen von über dreizehn Milliarden Lichtjahren. Kurz vor 4 Uhr morgens erschien Jonathan Brubeck mit seinem ebenfalls auf zwei Mitglieder geschrumpften Team zur Ablösung. Brahe und Yngvasson berichteten den beiden Kollegen von dem leichten Beben, das diese im Schlaf offensichtlich gar nicht bemerkt hatten. Brubeck atmete daraufhin deutlich hörbar aus, und ein leichtes Zucken lief über sein Gesicht. Die vier Astronomen und Techniker kamen rasch überein, in den kommenden Stunden gemeinsam zu
arbeiten, zumal Sven Brahe und Jorge Yngvasson zu aufgewühlt waren, um Schlaf finden zu können. Um 6 Uhr 13 lief erneut ein Zittern durch die Station – spürbar schwächer als das erste leichte Beben vor gut vier Stunden. Die Männer in der Beobachtungsabteilung, unter ihnen auch Woodstock, der ebenfalls geblieben war, erstarrten und sahen sich wortlos an. Dann riss sich Woodstock los und stürzte in den Komraum, um die Stärke des Bebens bei den seismographischen Stationen zu erkunden. Und schon bald stellte sich heraus, dass ihr Eindruck in der Bodenstation Ural sie nicht getäuscht hatte – das zweite Beben war in der Tat erheblich schwächer als die ersten Erschütterungen. Nachdem Woodstock diese Befunde an Tolstoi durchgegeben hatte, fanden die Männer in der Beobachtungsabteilung nicht mehr zur Arbeit zurück. Sie taten stattdessen etwas viel Schwierigeres – sie warteten, sie taten nichts anderes als Warten. Ab 8 Uhr 30 versammelte sich die Belegschaft der Station zum Frühstück. Ein jeder hatte zuvor aufmerksam den Morgenhimmel betrachtet in der flehentlichen Hoffnung, eine Abschwächung des schmutzigen Gelbs zu entdecken, und sei sie noch so gering. Doch es war wie all’ die Tage zuvor, und so lag auch über diesem Tagesbeginn tiefe Hoffnungslosigkeit und Apathie. Die fünf Männer aus der Beobachtungsabteilung betraten den Speisesaal und setzten sich wort- und grußlos wie Verschwörer zusammen an einen Tisch. Sie wussten nicht, ob und wie sie ihr Wissen über die beiden nächtlichen Beben weitergeben sollten. Dann trat Tolstoi ein und bat um Aufmerksamkeit. Er wirkte müde und sehr angestrengt. In knappen Worten berichtete er den anwesenden
Stationsmitgliedern von den nächtlichen Erschütterungen. Er schloss müde mit den wenig überzeugenden Worten: „Aber vielleicht sind das auch die ersten Vorboten, die uns den Weg aus der Katastrophe heraus anzeigen.“ Im Laufe des Vormittags wurde die Erde ein drittes und letztes Mal von einem Zittern erfasst. Es war jedoch so schwach, dass es nur von den seismographischen Stationen registriert wurde. Tolstois Mitteilung löste unter der Belegschaft zunächst große Aufregung, ja fast Panik aus, die sich aber noch im Laufe des Tages wieder legte und in den folgenden Tagen, als keine Veränderungen infolge der neuerlichen Erschütterungen beobachtet wurden, wieder in jene Apathie absank, die schon seit einiger Zeit auf der gesamten Station lastete. In den Katastrophenregionen der Erde kämpften derweil die Menschen mit den schrecklichen Zerstörungen ihres vertrauten Lebensraums, und bei ihrem verzweifelten Bemühen, diesen Lebensraum wiederherzustellen, mussten sie sich zudem gegen die alles lähmende Endzeitstimmung zur Wehr setzen. In der Nacht vom 22. auf den 23. März arbeitete Sven Brahes Team wieder zu dritt – der polnische Astronom Krysztof Kobinski war inzwischen aus Warschau zurückgekehrt. Brahe und Yngvasson hatten ihren Kollegen überredet, zwei Stunden – höchstens zwei Stunden, wie sie versicherten – Bluesmusik zu ertragen, und so wurde ihre Arbeit von jenen Klängen begleitet, die ein alle Zeit überdauernder Ausdruck elementarer menschlicher Gefühle sind. Der Beobachtungssatellit, der die Bodenstation Ural und ihre Partnerstation in den Pyrenäen mit seinen Daten versorgte, tastete sich gegen Mitternacht im zugeteilten Sektor an den
Rand der Wurmlochöffnung heran. Kobinski überprüfte zunächst die Rotverschiebung der aufgenommenen Galaxien – und stutzte. In der Gewissheit, bei der Auswertung einen Fehler begangen zu haben, wiederholte er die Bestimmung – mit demselben Ergebnis. „Was ist das denn?“, entfuhr es ihm dann, und Sven Brahe wandte sich ihm erstaunt zu. „Sven“, winkte Kobinski ihm, „komm doch bitte mal her und sieh’ dir das an!“ Brahe ging zu ihm, und die beiden studierten sorgfältig die Rotverschiebungen der abgelichteten Galaxien. Es gab keinerlei Zweifel: Dort, wo noch gestern Rotverschiebungen einer Entfernung von 13 Milliarden Lichtjahren entsprechend beobachtet wurden, waren jetzt wieder Objekte aufgetaucht, deren Rotverschiebungen ausschließlich unter sechs Milliarden Lichtjahren Entfernung lagen. Brahe stürzte in den Komraum und setzte sich mit der Partnerstation in den Pyrenäen in Verbindung. Dort wurde der Befund bestätigt. Die beiden Stationen benachrichtigten daraufhin unverzüglich alle übrigen Bodenstationen mit der dringenden Bitte, auch in ihren Sektoren den Bereich am Rand der Wurmlochöffnung abzulichten. Gegen 3 Uhr morgens liefen die Meldungen der anderen Stationen in der Bodenstation Ural ein, und alle bestätigten sie das Phänomen auch in ihren Sektoren. Daraufhin weckte Sven Brahe ein viertes Mal innerhalb der letzten drei Wochen zu nächtlicher Stunde Nikolai Tolstoi mit einer dramatischen Nachricht, und wieder erschienen Tolstoi und Woodstock nach kürzester Zeit in der Beobachtungsabteilung. Nachdem die beiden von Brahe und Kobinski ins Bild gesetzt worden waren, wandte sich Tolstoi
ab und begann, ganz in sich gekehrt, langsam auf und ab zu gehen, gefolgt von den Blicken der übrigen Anwesenden. „Es gibt nur eine Erklärung dafür“, begann er plötzlich, mehr zu sich selbst als zu den anderen, „ – das Wurmloch schließt sich!“ Eine höchst einfache und wahrscheinlich die einzig mögliche Erklärung, die aber dennoch auf die anderen wie ein elektrischer Schlag wirkte. Und dieser Schlag befreite. Er befreite zunächst die fünf Männer zu dieser nächtlichen Stunde aus den Fesseln, die sich in den vergangenen Wochen um ihr Denken und Empfinden gelegt hatte, er befreite am folgenden Tag die gesamte Bodenstation Ural aus ihrer Apathie, und er befreite schließlich auch alle anderen Bodenstationen. Und was in der Nacht vom 22. auf den 23. März ganz langsam begonnen hatte, setzte sich in den folgenden Tagen mit wachsender Geschwindigkeit fort: Am 28. März hatte sich die Wurmlochöffnung nahezu vollständig zusammengezogen, das Fenster mit dem Blick auf die kosmischen Aminosäuren in jenen gigantischen Entfernungen hatte sich wieder geschlossen. Am späten Abend des 27. März informierte Tolstoi Präsident Dostojewski über die neuerliche dramatische Entwicklung im Weltall, die dieses Mal jedoch eine gute Nachricht war. „Ich danke dir, Sergej, ich danke dir für diese wundervolle Nachricht, auch wenn du nur überbringst, worauf wir alle in banger Hoffnung haben warten können“, gab Dostojewski gelöst und voller Erleichterung zur Antwort, nachdem Tolstoi ihm in knappen Sätzen berichtet hatte. Tolstoi lächelte amüsiert über diese Antwort des Präsidenten, denn sie
erinnerte ihn in ihrer Diktion an die Sprache englischer Königsdramen. „Du sprichst wie ein altenglischer König, Fedor, dem gerade die Botschaft überbracht wird, dass seine Getreuen in einer wichtigen Schlacht gesiegt haben“, gab er zurück. „Nun ja, Sergej, mir ist auch so, das darfst du mir wohl glauben! – Aber entschuldige bitte meinen elegischen Ausbruch, lass’ uns lieber nüchtern über die weitere Entwicklung sprechen! – Wann wird sich deiner Meinung nach die Staubschicht um die Sonne auflösen? Denn das Wurmloch im Weltall sehen die Menschen auf der Erde nicht, der schmutzig gelbe Himmel aber macht sie mutlos und krank, übrigens krank auch im physischen Sinn. Ich hörte jetzt, dass viele Menschen an einer rätselhaften, tiefen Mattigkeit leiden, die man auf eben dieses schmutzig gelbe Tageslicht zurückführt.“ „Oh ja, einige Frauen und Männer unserer Station leiden auch darunter“, erwiderte Tolstoi und fuhr dann fort: „Was die Staubschicht anbelangt, so stehen uns nur ganz grobe Abschätzungen zur Verfügung. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass der Sonnenwind die Staubteilchen günstigstenfalls auf etwa den tausendsten Teil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, dann würden die Staubteilchen die Umlaufbahn der Erde in 150 Millionen Kilometer Entfernung von der Sonne nach etwa acht Tagen passieren. Dabei ist bereits berücksichtigt, dass die Teilchen zunächst keine Geschwindigkeit haben und die angenommene Geschwindigkeit erst erreichen müssen. Eine deutliche Aufhellung des schmutzig gelben Himmels würden wir dann in etwa vier Tagen beobachten. Nun ist der tausendste Teil der Lichtgeschwindigkeit eine sehr hohe Geschwindigkeit, wir sollten realistischerweise vom zehntausendsten Teil ausgehen. In diesem Fall würden wir erst nach etwa vierzig Tagen eine
spürbare Aufhellung feststellen. Du siehst, wir können nur sehr ungenaue Aussagen machen! – “ Tolstoi brach ab – so, als wolle er noch etwas sagen, das auszusprechen ihm aber große Mühe bereitete. Es entstand ein vielsagendes Schweigen, in dem die beiden Freunde – ein jeder wusste es vom anderen – an die schreckliche Möglichkeit dachten, dass sich die Staubschicht vielleicht gar nicht mehr auflösen könnte. „Habe ich dich richtig verstanden“, beendete Dostojewski schließlich die Sprachlosigkeit, „dass eine Ankündigung an die Weltbevölkerung, die Katastrophe sei endgültig vorüber und der schmutzig gelbe Himmel werde in den nächsten Tagen verschwinden, noch verfrüht wäre?“ „Leider ja, Fedor“, bestätigte Tolstoi, „aber ich bin sicher, dass du diese Ankündigung dennoch bald wirst machen können.“ „Ja, hoffentlich!“, erwiderte Dostojewski, und in seiner Stimme lagen Enttäuschung und große Müdigkeit. „Da wir schon gerade miteinander sprechen“, fuhr er dann mit einem leicht offiziellen Unterton fort, „wir hatten damals am 7. März hier in Genf verschiedene Dinge beschlossen. Ich entsinne mich sehr gut, dass unter anderem die theoretischen Wissenschaftler nach einer mathematischen Lösung für ein kosmisches Wurmloch suchen sollten. Und die Astronomen sollten den Blick durch das Wurmloch nutzen, um Informationen über die Verteilung der galaktischen Nebel einzuholen. Ist das geschehen – und mit welchem Ergebnis?“ Präsident Dostojewski war allgemein bekannt dafür, dass er von sich und allen anderen in seinem Wirkungsbereich ein hohes Maß an Pflichterfüllung verlangte sowie äußerste
Genauigkeit bei der Ausführung von Beschlüssen. Sein Unmut über diejenigen, die diesen Anforderungen nicht genügten, war zwar nicht laut, aber dennoch ein nachhaltiger Eindruck für die Betroffenen. So beeilte sich Tolstoi ihm zu versichern, dass die Beschlüsse vom 7. März sehr gewissenhaft ausgeführt worden seien. „Eine mathematische Lösung für ein kosmisches Wurmloch“, musste er jedoch einschränken, „ist bisher trotz intensivster Bemühungen und großen Einfallsreichtums nicht gelungen. Mehr noch, dieses negative Ergebnis nährt bei einigen Wissenschaftlern bereits den Glauben, dass die Ursache für die Katastrophe vielleicht gar kein Wurmloch gewesen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Suche nach einer mathematischen Wurmlochlösung zu einer ganz neuen wissenschaftlichen Modedisziplin entwickelt, die im Laufe der Jahre den eigentlichen Ursprung völlig aus den Augen verliert.“ „Ja, ja“, entgegnete Dostojewski sinnierend, „diese Wissenschaftler machen aus allem ein interessantes Spielzeug! – Und was habt ihr über die Verteilung der galaktischen Nebel herausgefunden?“ Tolstoi berichtete ihm daraufhin ausführlich über die aufregende Entdeckung der kosmischen Aminosäuren. Dabei spürte er durch die Komleitung zunehmend die tiefe Verblüffung, ja Sprachlosigkeit des Freundes. So entstand dann auch, nachdem er geendet hatte, eine längere Pause, die der Präsident schließlich mit einem für ihn ganz unüblichen „Donnerwetter!“ beendete. „Man könnte fast denken“, fuhr er dann ein wenig elegisch fort, „dass dies eine Offenbarung ist – eine Offenbarung, für die wir Menschen auf der Erde einen sehr hohen Preis haben zahlen müssen.“
„Ja, das ist sehr gut ausgedrückt, Fedor“, pflichtete ihm Tolstoi bei. Dann wechselte er das Thema und erkundigte sich bei Dostojewski nach Julias Zustand. „Ich denke, dass sie in wenigen Tagen das Krankenhaus verlassen kann“, antwortete der. „Sie wird dann sehr viel Ruhe nötig haben, die ich ihr allerdings kaum werde geben können, denn der weltweite Beginn des Wiederaufbaus fordert uns alle hier in Genf rund um die Uhr.“ „Oh ja – das glaube ich dir aufs Wort, Fedor, und ich wünsche euch und uns allen alles Gute dabei!“ stand Tolstoi ihm bei. „Darf ich dir dennoch herzlichste Grüße an die schöne Julia auftragen?“ „Gerne, Sergej“, antwortete Dostojewski, „aber nur, wenn du mich umgehend benachrichtigst, sobald es Entwarnung auch an der Staubfront gibt!“ „Aber selbstverständlich, Herr Präsident!“, beendete Tolstoi das Komgespräch und spielte mit dieser spaßhaften Wendung auf eine kleine Begebenheit vor längerer Zeit an, die den beiden Freunden in lebhafter Erinnerung geblieben war. Damals hatte Dostojewski, eigentlich ganz untypisch für ihn, in einer Auseinandersetzung zwischen ihnen über eine wissenschaftspolitische Angelegenheit autokratisch als Präsident entschieden. Das hatte zunächst zu einer beträchtlichen Verstimmung geführt, die sich dann aber nach nur wenigen Tagen wieder aufgelöst hatte. Als der Morgen des 23. April über dem südlichen Ural heraufdämmerte, schien dies ein weiterer trostloser Tag in der nun schon anderthalb Monate dauernden Zeit der Hoffnungslosigkeit und Apathie zu werden. Nachdem sich die Wurmlochöffnung am 28. März wieder geschlossen hatte, erwartete die Belegschaft der Bodenstation Ural seit nunmehr vier Wochen Tag um Tag vergeblich die Aufhellung des
düsteren Himmels. Die von Tolstoi ausgegebene sehr vorsichtige Prognose, die einen Zeitraum von bis zu zwei Monaten für möglich hielt, hatte das Bewusstsein der meisten Stationsmitglieder nicht erreicht. Und so mehrte jeder Tag die Hoffnungslosigkeit und in beunruhigendem Maße auch die lähmende Mattigkeit. Auch Sven Brahe fühlte diese Müdigkeit langsam in sich empor kriechen. Er hatte sich mit großer Willenskraft gezwungen, in dieser Nacht bis 4 Uhr morgens seinen Beobachtungsdienst abzuleisten. Seit Wochen ging es dabei zum einen um die abschließende Auswertung der Beobachtungen, die man durch das Wurmlochfenster gemacht hatte, und zum anderen um eine neuerliche Durchmusterung des Wurmlochsektors, um festzustellen, ob sich nach der Schließung des Wurmlochs an den alten, jetzt wieder aufgetauchten Strukturen etwas geändert hatte. Nachdem das ablösende Team kurz vor 4 Uhr erschienen war, hatte sich Sven Brahe sofort in sein Appartement begeben und war in einen tiefen dumpfen Schlaf gefallen. Aus diesem Schlaf schreckte er gegen Mittag hoch. Er erhob sich langsam und spürte dabei im ganzen Körper jene lähmende Mattigkeit. Sein Puls begann zu rasen, als er sich zum Fenster schleppte, um die Abdunkelung hochzuziehen. Das Fenster gab den Blick auf den Mittagshimmel frei –, und Sven Brahe stutzte. Er schloss die Augen und öffnete sie nach kurzer Zeit wieder, um sicher zu sein, dass er keiner Sinnestäuschung erlegen war. Doch dann war er sich sicher, ganz sicher: Der düstere Himmel hatte sich gegenüber dem Vortag leicht aufgehellt! Er spürte seinen Willen zurückkehren, und tiefe Freude strömte in seinen Körper. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er gerade noch rechtzeitig zum allgemeinen Mittagessen der Stationsmitglieder kam, wenn er sich mit dem Duschen und Anziehen beeilte.
Auf dem Weg zum Speisesaal begegnete ihm auf den mittagsleeren Fluren der Station sein Kollege Jonathan Brubeck. „Hallo, Jonas“, begrüßte er den Kanadier euphorisch, „sag’ mal, es ist doch richtig, dass sich….“ „Ja, Sven“, kam ihm Brubeck zuvor, „es ist richtig – der Himmel beginnt sich tatsächlich aufzuhellen. Das wolltest du mich doch fragen – oder?“ „Genau das!“, erwiderte Sven Brahe und dann: „Was für ein hoffnungsvoller Tag! Sehen wir uns gleich beim Mittagessen?“ „Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen und komme gleich nach, Sven“, warf ihm Brubeck im Weitergehen zu. Als Sven Brahe den Speisesaal betrat, tauchte er in eine beträchtliche Geräuschkulisse ein: Lautes aufgeregtes Stimmengewirr mischte sich mit dem Klappern von Tellern und Bestecken. Brahe erinnerte sich plötzlich, dass er vor längerer Zeit einen russischen Roman gelesen hatte, in dem an einer Stelle sehr eindrucksvoll beschrieben wird, wie in den zurückliegenden Jahrhunderten und vielleicht auch heute noch in Russland das christliche Osterfest gefeiert wird. Und die Stimmung jetzt und hier in diesem Speisesaal der Bodenstation Ural strahlte ganz ohne Zweifel etwas Österliches aus. Am Tisch der Theoriegruppe entdeckte Brahe einen freien Stuhl. Dort nahm er Platz, nachdem er Tina Nordström und ihre beiden Kollegen Maxwell und Grundler gefragt hatte, ob er sich zu ihnen setzen könne. Im allgemeinen befassten sich die Gespräche der Theoriegruppe mit schwierigen mathematischen Details. Besonders Maxwell und Grundler wandten sich selbst in größerer Gesellschaft mit großer Vorliebe diesen Fragen zu und galten daher nicht gerade als angenehme Gesprächspartner. Heute jedoch diskutierten die
drei ausschließlich darüber, wer von ihnen am frühen Morgen wohl zuerst die Aufhellung des Himmels beobachtet hätte. Sven Brahe konnte daran logischerweise nicht teilnehmen, hörte aber der engagiert geführten Debatte mit großer Belustigung zu. Im Laufe des Nachmittags bis zum frühen Abend verblasste das düstere Gelb des Himmels um einen weiteren, zwar kleinen, aber dennoch deutlich erkennbaren Schritt. So versammelten sich die Stationsmitglieder zum Abendessen in nahezu festlicher Stimmung, zumal die Küche zu diesem Anlass außerhalb des üblichen Speiseplans ein besonderes und sehr gutes Essen servierte. Paddy Fingal konnte an diesem Essen nicht teilnehmen, da er, wie andere Stationsmitglieder auch, seit Wochen an einer besonders starken Form jener rätselhaften Mattigkeit litt. So verließ Tina Nordström gleich nach dem Essen den Speisesaal, um Paddy ein wenig Gesellschaft zu leisten und ihm mit den neuen guten Nachrichten Mut zu machen. Als sie auf dem Weg dorthin den ersten Stock erreichte, an dessen einem äußeren Ende Tolstois Wohnung lag, verharrte sie, um irgendwelchen nicht deutlich hörbaren Klängen aus der Ferne nachzulauschen. Sie versuchte, diesen Klängen nachzugehen, und bog vom Hauptflur in einen Seitenflur ab. Die Klänge wurden deutlicher. Und dann, als sie ein weiteres Mal abbog, wurden sie ganz deutlich: Es war Tolstoi, der diesen Abend auf seine Weise mit laut jubilierendem Klavierspiel feierte. Und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er heute die Tür zu seinem Arbeitszimmer offen gelassen, so dass die herrlichen Klänge ungedämpft in den Flur hinausfluten konnten. Tina war für einen ganz kurzen
Augenblick versucht, in Tolstois Wohnung zu gehen und ihn für dieses wunderbare Geschenk zu umarmen, doch sie wusste in eben diesem Augenblick auch, dass dafür die Distanz zwischen ihr und dem souveränen Stationsleiter viel zu groß war. So ging sie an das große Fenster am Ende des Flurs und lauschte der Musik, während sie gedankenverlorenen in die einsetzende Dämmerung hinausblickte. Und plötzlich rannen ihr Tränen über das Gesicht, immer stärker, unaufhaltsam – Tränen der Erlösung und des Glücks. In den folgenden Tagen löste sich das schmutzige Gelb am Himmel in immer größeren Schritten auf und gab schließlich am 28. April im südlichen Ural einen wolkenlosen, tiefblauen Frühlingshimmel frei. An eben diesem Tag hielt Präsident Dostojewski um 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit seine historische Rede an die Weltbevölkerung, in der er das Ende der Katastrophe verkündete und alle Menschen dazu aufrief, mutig und zuversichtlich am Wiederaufbau der Erde mitzuarbeiten. Etwa neun Stunden vor der Rede des Präsidenten läutete in der Bodenstation Ural am frühen Abend kurz vor dem Abendessen das Komgerät in Tolstois Arbeitszimmer. Am anderen Ende meldete sich Woodstock. Tolstoi spürte durch die Leitung deutlich dessen Erregung – bei Woodstock eigentlich ganz ungewöhnlich. „Nikolai“, begann er eindringlich, „Sie sollten noch vor dem Abendessen in die Beobachtungsabteilung kommen. Wir sind vermutlich auf etwas ganz Außergewöhnliches gestoßen.“ „Mein Gott, John“, erwiderte Tolstoi tief erschrocken, „in neun Stunden wird Präsident Dostojewski seine Rede halten und das Ende der Katastrophe verkünden. Die Rede des Präsidenten ist weltweit angekündigt. Wollen Sie andeuten,
dass wir jetzt auf die Vorboten einer neuen Katastrophe gestoßen sind?!“ „Nein, nein, Nikolai, sicher nicht“, beschwichtigte Woodstock, „aber es ist schier unglaublich! Kommen Sie doch bitte, wenn es Ihnen irgendwie möglich ist, jetzt gleich in die Beobachtungsabteilung. Ich kann Ihnen dann alles weitere dort erläutern.“ „Sofort, John, ich komme sofort!“, erwiderte Tolstoi und beendete das Gespräch, um sich unverzüglich auf den Weg zu machen. In der Beobachtungsabteilung fand er Woodstock mit Sven Brahe und Jonathan Brubeck, dessen Gruppe gerade Dienst hatte, gebannt auf einen Oszillographen starren – so gebannt, dass sie sein Eintreten zunächst gar nicht bemerkten. Erst auf sein „Guten Abend“ hin, wandten sich die drei ihm zu. „Guten Abend, Sir“, erwiderten Brubeck und Brahe seinen Gruß und traten ein wenig zur Seite, um Tolstoi vor dem Oszillographen Platz zu machen. Dann setzte Woodstock den Stationsleiter ins Bild. „Drei Wochen lang“, begann er, „haben wir durch das Wurmloch im Bereich optischer Wellenlängen auf die großräumige Verteilung der Galaxien gestarrt. Nur das hat uns interessiert, und was wir beobachtet haben, ist uns nachträglich sicherlich eine Bestätigung dafür. Doch die Beobachtungssatelliten haben Gott sei Dank unabhängig von den Festlegungen in unseren Gehirnen auch alle Signale im Radiobereich aufgenommen, die durch das Wurmloch zu uns gelangt sind. Vor einigen Tagen haben wir mit der Auswertung dieses Materials begonnen und sind dabei heute auf etwas verdammt Merkwürdiges gestoßen.“ Die von Woodstock benutzte Wendung „verdammt“ ließ die übrigen drei aufhorchen, war sie doch eine geradezu
zwanghaft benutzte Floskel in der amerikanischen Trivialliteratur bis in die gegenwärtige Zeit hinein. „Am 10. März um 13 Uhr 57 westsibirischer Zeit“, fuhr Woodstock fort, „hat uns eine Signalfolge im Frequenzbereich um 80 Megahertz erreicht, die eine ganz außergewöhnliche Struktur besitzt. Sie besteht aus einer 5 Minuten und 37 Sekunden dauernden Einheit, die sich nach einer Pause von 23 Sekunden exakt wiederholt, und so fort. Sie sehen diese Signalfolge hier auf diesem Oszillographen, Nikolai. Nach etwa vierundzwanzig Stunden bricht sie mitten in der 247. Wiederholung ab.“ Woodstock holte tief Luft, da er ein wenig außer Atem geraten war, und es entstand wie schon so oft in den vergangenen Wochen eine Pause tiefster Verwunderung und Ratlosigkeit. „Was meldet unsere Partnerstation in den Pyrenäen dazu?“, fragte Tolstoi fast schon routinemäßig in die Sprachlosigkeit hinein. „Exakt dasselbe!“, erwiderte Woodstock. „Dort hatte man mit der Auswertung der Radiosignale zwar noch nicht begonnen, doch hatten sie auf meine Anfrage hin schnell überprüft und dann bestätigt, dass auch ihre Aufzeichnungen diese Signalfolge enthalten. Natürlich war ich anfangs davon ausgegangen, dass es sich um einen irgendwie gearteten Artefakt handelt, aber dem ist nicht so, es ist ein echtes Signal, das uns durch das Wurmloch erreicht hat!“ „Ist diese Signalfolge auch in den Aufzeichnungen der anderen Bodenstationen enthalten, John?“, erkundigte sich Tolstoi. „Ich glaube kaum, Nikolai“, erwiderte Woodstock. „Wenn wir davon ausgehen, dass die Quelle des Signals in ihrer räumlichen Ausdehnung sehr klein ist, und etwas anderes kann ich mir einfach nicht denken, dann wurde es nur in dem Sektor empfangen, der uns und den Kollegen in den Pyrenäen zugeteilt war.“
„Haben Sie schon eine Vorstellung, was es sein könnte, Sven?“, wandte sich Tolstoi jetzt an den Dänen. „Vielleicht ein exotisches stellares Objekt, das mit einer Periode von etwa 6 Minuten rotiert und pulsiert, sodass durch die Überlagerung von Rotation und Pulsation diese eigenartige Signalfolge erzeugt wird?“ „Nein, Sir“, schüttelte Sven Brahe nachdenklich den Kopf, „das halte ich für nahezu ausgeschlossen! Hinzu kommt der ausgefallene Frequenzbereich um 80 Megahertz. Mir sind keine stellaren Vorgänge bekannt, die Radiosignale in diesem Frequenzbereich abstrahlen“, und dann an Jonathan Brubeck gewandt: „Wie ist deine Meinung dazu, Jonas?“ „Man sollte zunächst berücksichtigen“, ergänzte der Kanadier Sven Brahes Überlegungen, „dass die Signalfolge wie alle anderen Signale auch, die wir durch das Wurmloch empfangen haben, zu größeren Wellenlängen, also geringeren Frequenzen hin verschoben ist. Wenn wir einmal annehmen, dass sie von einem stellaren Objekt stammt, das sich in der Galaxie am anderen Ende des Wurmlochs befindet, dann wäre dieses Signal um z = 1,3 rotverschoben. Der ursprüngliche Frequenzbereich läge dann nicht bei 80, sondern bei 184 Megahertz. Aber selbst diese Radiofrequenz kann ich mit keinem stellaren Vorgang in Verbindung bringen. Dennoch möchte ich die Möglichkeit dafür nicht grundsätzlich ausschließen. – Vielleicht müssen wir auch bei der Lösung dieses Rätsels, wie schon bei der Suche nach einer Wurmlochlösung, unsere Cyber-Systeme einsetzen.“ „Um erneut zu scheitern“, ergänzte Woodstock lakonisch. „Ich sehe im Augenblick aber keine andere Möglichkeit, John“, erwiderte Tolstoi. „Ich denke, wir diskutieren das Problem nach dem Abendessen in etwas größerer Runde weiter. – Eine Bedrohung ist es jedenfalls nicht – Gott sei Dank!“
Er wandte sich zum Gehen und bat Woodstock und Brahe, ihn zu begleiten, damit sie auf dem Weg zum Abendessen den Gedankenaustausch fortsetzen konnten. Nach dem Abendessen rief Tolstoi für 20 Uhr 30 die Leiter der vier Beobachterteams, die Theoriegruppe sowie Woodstock zu einer Beratung in seinem Arbeitszimmer zusammen. Die Theoretiker erschienen zu dieser Runde ein wenig früher und zu Tolstois großer Freude vollständig. Paddy Fingal hatte sich wieder erholt, wenngleich in seinem Gesicht noch deutliche Spuren der überwundenen Schwäche erkennbar waren. „Wie schön, dass Sie wieder unter uns sind, Paddy“, wurde er von Tolstoi freudig und einladend begrüßt. „Ich habe das Gefühl, dass wir Ihre Intuition wieder einmal dringend benötigen.“ „Danke, Sir“, erwiderte der Ire, „ich werde mir große Mühe geben. Zur Zeit habe ich allerdings den Eindruck, dass in mir alles verschüttet ist.“ „Wir werden, es schon wieder ausgraben, Paddy, seien Sie ganz unbesorgt“, ermunterte ihn Tolstoi. Inzwischen waren auch die anderen Teilnehmer der Runde eingetroffen, und auch sie begrüßten Paddy mit freundlichen und herzhaften Worten. Dann eröffnete Tolstoi die Beratung und bat Woodstock, die Anwesenden zunächst umfassend zu informieren. Nachdem Woodstock geendet hatte, war es Arthur Maxwell, der sich mit einem gewichtigen „Don-ner-wetter!“ Luft machte. „Sie sagen es, Arthur“, pflichtete Tolstoi ihm bei. „Unsere Truhe mit ungelösten Rätseln wird langsam reichlich voll.“ Die anschließende Diskussion wandte sich dann zunächst der
Frage zu, ob die Signalfolge in der vorliegenden Form durch einen stellaren Prozess entstanden sein könnte. Nach längeren Überlegungen schlossen die anwesenden Astronomen und mit ihnen die Theoretiker Maxwell und Grundler diese Möglichkeit jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. „John“, griff Tina Nordström erneut diese Frage auf, „diese immer wiederkehrende Einheit von 5 Minuten und 37 Sekunden – haben Sie sie schon in ihre Frequenzanteile zerlegt? Und tauchen dabei vielleicht irgendwelche Teilsignale auf, die für stellare Vorgänge charakteristisch sind? Es könnte ja doch sein, dass das gesamte Signal durch das Wurmloch sehr stark gestört, vielleicht sogar grundlegend verändert ist, sodass nur noch Bruchstücke eines stellaren Prozesses erkennbar sind.“ Ein ebenso naheliegender wie verblüffender Gedanke, der ein stellares Objekt als Quelle der Signalfolge wieder in den Bereich des Möglichen rückte. „Ein sehr guter Gedanke, Tina, wirklich gut“, antwortete Woodstock daher sichtlich erstaunt. Und auch Tolstoi pflichtete ihr durch betontes Zunicken bei. Dennoch war der Diskussionsfaden plötzlich abgerissen. Schweigen machte sich breit, das Tolstoi schließlich beendete, indem er sich an Paddy Fingal wandte, der sich an der bisherigen Diskussion so gut wie gar nicht beteiligt hatte. „Paddy, was sagt Ihr Gefühl dazu?“, fragte er den Iren. „Ich weiß nicht, Sir“, erwiderte der und machte dabei einen leicht aufgeschreckten Eindruck, „aber ich glaube nicht an ein stellares Objekt. Das ist – wie soll ich sagen – ich denke, das ist irgendwie ein intelligentes Signal.“ Stille stand plötzlich im Raum.
„Was meinen Sie mit ‘irgendwie intelligent’?“, fragte Tolstoi zurück. „Die Pause, Sir, diese Pause von 23 Sekunden, sie – sie wirkt irgendwie intelligent. Und dann dieser plötzliche Abbruch! Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber ich empfinde es so“, antwortete Paddy. Wieder wurde es still, und Tolstoi blickte suchend in die Runde in der Hoffnung auf eine hilfreiche Wortmeldung. Max Grundler war es schließlich, der die Debatte fortsetzte. „Ich halte einen intelligenten Ursprung des Signals für völlig ausgeschlossen“, konstatierte er, „und zwar aus folgendem Grund. Wenn dem so wäre, so könnte sich diese intelligente Quelle doch nur in jener Galaxie am anderen Ende des Wurmlochs befinden. Und da, wie wir heute alle glauben, mögliche intelligente Quellen selbst in unserer Galaxie viel zu schwach sind, um uns zu erreichen, sind sie es trotz des Wurmlochschlauchs auch in jener fernen Galaxie.“ Diese Einschätzung Max Grundlers wurde allgemein geteilt, und die Runde kam nach längerer Diskussion überein, zunächst die von Tina Nordström vorgeschlagene Frequenzanalyse vorzunehmen und dann Teilsignale mit Hilfe der Cyber-Systeme auf einen möglichen stellaren Ursprung hin zu überprüfen. Diese ersten Untersuchungen sollten zunächst nur von den beiden Partnerstationen im Ural und in den Pyrenäen durchgeführt werden. Erst nach gründlicher Vorklärung des Problems wollte man dann die anderen Bodenstationen mit einbeziehen. Nachdem diese Vereinbarungen getroffen worden waren, schloss Tolstoi den offiziellen Teil der Beratung und lud alle Anwesenden ein, zu zwangloser Plauderei bei einem Glas Wein doch noch ein wenig zu bleiben. Und da alle Tolstois ausgezeichneten Wein zu schätzen wussten, blieben sie auch
alle, zumal es an Stoff zum Plaudern wahrhaftig nicht mangelte. Als die Runde gegen Mitternacht in gelöster Stimmung auseinander ging, wurde Paddy Fingal von Tolstoi mit der scherzhaften Frage verabschiedet: „Nun, Paddy – die schlauen Menschen am anderen Ende des Wurmlochs?“ „Ja, ja!“, erwiderte der Ire und fuhr dann nach einer kurzen Pause augenzwinkernd fort: „Fragt sich nur, was die uns so dringend mitzuteilen haben.“ In den folgenden Tagen versuchten die Techniker, Astronomen und Theoretiker in den Partnerstationen im Ural und in den Pyrenäen fieberhaft, das Geheimnis dieser rätselhaften vierundzwanzigstündigen Signalfolge zu entschlüsseln. Die zunächst vorgenommenen Frequenzanalysen wiesen dabei durchaus Teilsignale auf, die stellaren Ursprungs hätten sein können, doch bildeten sie nur einen kleinen Bruchteil des gesamten Signals. Auch die theoretischen Arbeiten an den Cyber-Systemen blieben ergebnislos, zumal die Systeme immer noch zu einem großen Teil durch die Suche nach einer Wurmlochlösung belegt waren und dementsprechend auch nur ein Teil der vorhandenen wissenschaftlichen Geisteskraft für die Entschlüsselung des Signals eingesetzt werden konnte. Tina Nordström hatte die Arbeiten der Theoriegruppe in der Bodenstation Ural so eingeteilt, dass sich Max Grundler mit der Signalfolge befasste und sie sich mit Arthur Maxwell weiter um eine Wurmlochlösung mühte. Paddy Fingal war einerseits zwar noch nicht in der Lage, längere Zeit konzentriert zu arbeiten, benutzte diesen Umstand andererseits aber auch als willkommenen Anlass, der mühevollen Arbeit
vollständig aus dem Weg zu gehen. Viel lieber sinnierte er stattdessen über irgendeinen dramatischen intelligenten Ursprung des Signals. Mit der Ergebnislosigkeit nahm im Laufe der Tage auch die wissenschaftliche Neugier und die Arbeitsbereitschaft ab. Tolstoi spürte das deutlich. So meldete er am Abend des 5. Mai ein Komgespräch in der Partnerstation in den Pyrenäen an, um sich mit seiner Kollegin Manuela Sanchez zu beraten. „Guten Abend, Manuela, hier Nikolai aus der Bodenstation Ural“, begrüßte er die Leiterin in den Pyrenäen. „Oh – guten Abend, Nikolai“, erwiderte sie freudig mit ihrer rauen herzhaften Stimme, „wie schön, von Ihnen zu hören! Da wir so selten miteinander sprechen, nehme ich an, dass der Anlass Ihres Anrufs entweder eine neuerliche Katastrophe oder die Lösung aller Probleme ist.“ Tolstoi musste lächeln. Viele mochten Manuela Sanchez nicht, und sie zur Feindin zu haben, konnten sich nur sehr standhafte Menschen leisten. Doch Tolstoi hatte stets ihre Eigenschaft geschätzt, die Dinge rasch und unmissverständlich auf den Punkt zu bringen. „Nein, nein“, widersprach er Manuelas Vermutung, „es ist viel schlimmer, es ist nämlich weder das eine noch das andere. Sie wissen, dass unsere gemeinsamen Bemühungen um eine Entschlüsselung des Signals bisher leider ergebnislos waren. Ich – “ „Sie meinen“, unterbrach ihn Manuela Sanchez, „dass wir wie bei der Suche nach einer Wurmlochlösung auch bei diesem Problem in dichtes wissenschaftliches Unterholz geraten sind.“ „Ja, so kann man es auch ausdrücken, Manuela“, erwiderte Tolstoi schmunzelnd.
„Sie haben doch diesen irischen Hellseher in Ihrer Station, Nikolai“, fuhr sie fort, „wie heißt er doch?“ „Sie meinen Paddy Fingal“, half Tolstoi ihr weiter und fuhr dann betont kühl fort: „Er ist zwar Ire, Manuela, aber er ist, bitte sehr, kein Hellseher, sondern Theoretiker!“ „Nun ja“, gab Manuela Sanchez zurück, „Sie wissen doch, wie ich das meine. – Was sagt der denn zu dem Problem?“ „Er scheint der festen Ansicht zu sein, dass die Signalfolge intelligenten Ursprungs ist“, antwortete Tolstoi. „Was?? – Wie stellt er sich das denn vor??“ , rief die Spanierin mit lauter rauer Stimme in das Komgerät, sodass Tolstoi unwillkürlich die Tonstärke zurückdrehte. „Das weiß er wohl selbst noch nicht, aber – “ „Ah ja, das habe ich mir fast gedacht“, unterbrach ihn Manuela Sanchez erneut, um darauf zu Tolstois Erstaunen einzulenken: „Aber vielleicht ist der Gedanke gar nicht so absurd, wie er zunächst scheint, Nikolai. Sehen wir es doch einmal so: Wir finden keine stellare Quelle und können uns eine intelligente Quelle einfach nicht vorstellen. Also sollten wir nicht auf mögliche Quellen starren, sondern uns an die Signalfolge halten und sie als intelligentes Signal betrachten. Vielleicht können wir durch diese Brille die Information entschlüsseln, die uns dann sicher auch zu der Quelle führen würde.“ „Dann sind Sie also der Meinung“, führte Tolstoi den Gedanken zu Ende, „wir sollten die Dekodiersegmente unserer Cyber-Systeme auf die Signalfolge ansetzen.“ „Genau das meine ich!“, kam Manuelas entschiedene Antwort. „Und noch etwas anderes meine ich, Nikolai. Die Angelegenheit sollte auch weiterhin ausschließlich in unseren beiden Partnerstationen verbleiben. Ich bin nämlich fest davon überzeugt, dass in der augenblicklichen Krisensituation eine
ganze Reihe sensationslüsterner Menschen schrecklich dummes Zeug damit treiben würden.“ „Ich teile diese Meinung in vollem Umfang, Manuela“, antwortete Tolstoi und fügte dann hinzu: „Ich denke, wir sollten alle zwei Tage kurz in Verbindung treten, um den neuesten Stand unserer Bemühungen auszutauschen.“ „Eine gute Vereinbarung, Nikolai“, stimmte ihm Manuela Sanchez zu und beendete das Gespräch. Am 6. Mai begannen die Bodenstationen im Ural und in den Pyrenäen mit dem Versuch, mit Hilfe der hochintelligenten Dekodiersegmente in den Cyber-Systemen in Moskau und in Madrid die Signalfolge als intelligente Information zu entschlüsseln. Trotz der extremen Leistungsfähigkeit dieser Segmente war das Vorhaben äußerst kompliziert und würde eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen. Denn unter welcher Prämisse sollte man suchen, was war die Informationssprache? Waren es Töne, Bilder, Buchstaben oder mathematische Symbole? Oder war es gar eine Art universeller Übersprache, die alle Kategorien auf einer höheren Ebene vereinigte und daher den Menschen kaum zugänglich war? So konnte es nicht verwundern, dass die Suche in den ersten Tagen keinerlei Ergebnisse zeitigte, ja, dass nicht einmal ein brauchbarer Einstieg gefunden wurde. Der Abend des 9. Mai war im südlichen Ural ein milder Frühlingsabend. Es hatte am Nachmittag seit längerer Zeit wieder geregnet, und so war die Luft feucht und weich. Die Theoriegruppe in der Bodenstation Ural hatte zusammen mit Woodstock den ganzen Tag über im Kontakt mit dem CyberSystem an der Gorbatschow-Universität in Moskau an der Signalentschlüsselung gearbeitet – wieder ohne greifbare Ergebnisse. Paddy Fingal beteiligte sich seit zwei Tagen an diesen Arbeiten, entsprachen sie doch seinen Vorstellungen.
Sein Kräftehaushalt war allerdings noch nicht vollständig wieder aufgefüllt, sodass ihn regelmäßig starke Ermüdungsphasen überkamen. Tina Nordström fiel zudem auf, dass er auch während der Arbeit irgendwie abwesend war. Gegen 16 Uhr hatte er sich an diesem Tag in sein Appartement zurückgezogen und mit den anderen vereinbart, sich mit ihnen zum Abendessen zu treffen. Doch zum Abendessen war er nicht erschienen. Tina Nordström war das zunächst nicht aufgefallen, da sie während des Essens mit Woodstock sowie ihren Kollegen Maxwell und Grundler müde und verärgert über diesen weiteren ergebnislosen Tag diskutierte. Erst gegen Ende der Mahlzeit erinnerte sie sich, dass sich Paddy zum Abendessen zu ihnen gesellen wollte, und eine innere Alarmglocke schlug in ihr an. Sie verabschiedete sich hastig von ihren Kollegen und machte sich tief beunruhigt auf den Weg zu Paddys Appartement im obersten Stockwerk. Auf ihr Klopfen wurde Tina nicht hereingebeten – auch nicht beim zweiten Klopfen. Sie drückte zögernd die Türklinke, das Appartement war nicht verschlossen. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit: „Paddy?!“ Auch jetzt erhielt sie keine Antwort, und so trat sie vollends ein. Es roch nach Paddys feinen Virginia-Zigarillos. Das Appartement lag im Halbdunkel, nur die Lampe auf dem Schreibtisch brannte. – Und davor lag Paddy Fingal leblos auf dem Boden. „Paddy!“, schrie Tina auf und stürzte zu ihm. Sie schüttelte ihn und schrie erneut: „Paddy, Liebster, was ist mit dir?!“ Und als der Ire kein Lebenszeichen von sich gab, hastete sie zitternd zum Komgerät, um die medizinische Abteilung zu
alarmieren. Dann entdeckte sie auf dem kleinen Tischchen in der Sitzecke eine leere Flasche Whisky. „Oh, mein Gott“, stammelte sie, „er hat sich tot gesoffen.“ In kürzester Zeit erschienen zwei Ärzte mit einer Trage und einem Sauerstoffgerät. Einer von ihnen überprüfte sehr rasch und routiniert Puls und Atem des Iren. Dann gab er ein Zeichen, und die beiden Mediziner transportierten Paddy auf der Trage in höchster Eile auf die Krankenstation. Tina Nordström blieb wie gelähmt zurück. Wenige Minuten später hörte sie den Helikopter starten. Er brachte Paddy Fingal auf die Intensivabteilung der Zentralklinik in Jekaterinburg. Gegen 21 Uhr 30 empfing Tolstoi ein Komgespräch aus Jekaterinburg: Paddy Fingal war um 21 Uhr 13 an einem Kreislaufversagen infolge stark überhöhten Alkoholgehalts im Blut gestorben. Tolstoi erstarrte, als er die lapidare Nachricht empfing. „Ich danke Ihnen für die Mitteilung“, sagte er mechanisch, ohne den Widersinn dieser Floskel zu begreifen. Und dann fielen sie wieder über ihn her, diese Gedanken an Tod, Vernichtung, Leid, Einsamkeit, die schwer wie Felsbrocken waren. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, stützte seinen Kopf in die linke Hand und starrte mit leerem Blick auf irgendeinen Punkt des Raumes. Erst nach etwa einer halben Stunde fand er die Kraft, sich aus der Umklammerung durch die düsteren Gedanken zu befreien. Er ging zum Komgerät und ließ sich mit Tina Nordströms Appartement verbinden. „Tina“, begann er zögernd, „darf ich Sie trotz der späten Stunde noch zu einem Gespräch in mein Arbeitszimmer bitten?“
„Ja natürlich, Sir!“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Haben Sie etwas von Paddy gehört?“ „Ja – aber kommen Sie bitte zu mir“, antwortete Tolstoi leise und beendete das Gespräch. Kurze Zeit später betrat Tina Nordström das Arbeitszimmer. Ihr fragendes Gesicht war bleich, und in ihren Augen stand Angst. Tolstoi bot ihr mit einer stummen Geste einen Platz an. Nachdem Tina sich gesetzt hatte, begann er mühsam: „Tina, ich – ich muss Ihnen etwas Schreckliches mitteilen. – Paddy ist tot, er ist um 21 Uhr 13 an einem Kreislaufversagen gestorben. Ich…“, er brach ab, denn über Tinas Gesicht rannen Tränen, sie weinte bittere Tränen einer tiefen Trauer und Verzweiflung. Und Tolstoi wusste nur zu gut, dass stumme Ehrfurcht vor der Trauer eines Menschen das einzige war, was den Mitmenschen blieb. Tina Nordström erhob sich und wollte den Raum verlassen. „Tina“, sprach Tolstoi sie leise an, „wenn Sie sich von Paddy verabschieden möchten – ich werde unseren Helikopterpiloten anweisen, Sie nach Jekaterinburg zu fliegen, wann immer Sie wollen.“ „Danke, Sir“, erwiderte sie tränenerstickt. „Möchten Sie, dass ein Ihnen vertrauter Mensch heute Nacht bei Ihnen bleibt, Tina?“, fragte Tolstoi besorgt. Tina schüttelte wortlos den Kopf. Dann verließ sie still und ganz in sich zurückgezogen den Raum. Tolstoi ließ an diesem Abend dann noch allen Stationsmitgliedern mitteilen, sie möchten am morgigen Tag bitte vollständig zum Frühstück erscheinen. Diese Anweisung schloss auch die Mitglieder des zur betreffenden Zeit diensthabenden Beobachterteams ein. Anschließend
informierte er seinen Stellvertreter Woodstock über Paddy Fingals plötzlichen Tod. Am nächsten Morgen hatten sich bis auf Tolstoi und Woodstock sowie Tina Nordström alle Stationsmitglieder bereits vor dem Frühstück im Speisesaal versammelt. Tolstois Anweisung vom vorhergehenden späten Abend musste einen ganz besonderen Anlass haben, denn sie war in der bisherigen Geschichte der Station einmalig. Es herrschte gedämpftes, aber doch spürbar nervöses Stimmengemurmel, als Tolstoi und Woodstock mit versteinerten Mienen eintraten. Alle Anwesenden wandten sich den beiden zu, und das Gemurmel verstummte nahezu schlagartig. „Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begrüßte Tolstoi die Belegschaft sehr knapp, „bitte nehmen Sie Platz!“ Nachdem sich alle gesetzt hatten, und das Stuhlscharren einer lastenden Stille gewichen war, erfüllte Tolstoi seine schwere Aufgabe. „Meine Damen und Herren“, begann er schleppend, „ich muss Ihnen allen eine schreckliche Nachricht überbringen, die einige von Ihnen möglicherweise bereits kennen. Am gestrigen Abend ist unser Kollege Paddy Fingal um 21 Uhr 13 in der Zentralklinik in Jekaterinburg an einem Kreislaufversagen gestorben. Tina Nordström hatte ihn etwa anderthalb Stunden zuvor in seinem Appartement auf dem Boden liegend gefunden. Es – es ist uns allen kein Geheimnis, dass Paddy immer wieder dem Alkohol sehr stark zugesprochen hat. Und so ist es eine Sache der Redlichkeit, Ihnen auch mitzuteilen, dass der Grund für das Kreislaufversagen starker Alkoholgenuss in Verbindung mit einer körperlichen Schwäche war.
Diese Schwäche war offenbar ein Rest jener rätselhaften Mattigkeit, unter der Paddy in besonders starkem Maße gelitten hatte. Und es ist andererseits nichts Unehrliches daran, wenn ich sage, dass wir alle Paddy sehr vermissen werden – ein jeder auf seine Weise. – “ Tolstoi hielt inne, da ihm das Weitersprechen offenbar Mühe bereitete. Sven Brahe erhob sich und kam ihm mit einer Frage zu Hilfe: „Sir – wird die Stationsbelegschaft an seinem Begräbnis teilnehmen können?“ „Nein, Sven“, antwortete Tolstoi wieder gefasst, „Paddy wird auf Wunsch seiner Familie in seine irische Heimat überführt und dort bestattet. Aber ich werde mit Ihrem Einverständnis einen Beileidsbrief an die Familie verfassen, den Sie alle unterzeichnen können. Desgleichen werde ich eine angemessene Mitteilung an Präsident Dostojewski vorbereiten.“ „Ja, Sir“, erwiderte Sven Brahe leise, „wir danken Ihnen sehr dafür.“ Der Däne setzte sich wieder, und betretene Stille, unterbrochen von ratlosem Räuspern, breitete sich aus. „Verbringen Sie diesen Tag im Andenken an Paddy, darum möchte ich Sie alle bitten“, löste Tolstoi schließlich die entstandene Hilflosigkeit auf. Dann verließ er zusammen mit Woodstock den Speisesaal. Tina Nordström hatte eine Nacht voller Tränen und bleierner Gedanken verbracht, zwischen denen sie immer wieder für kurze Zeit eingeschlafen war. Erst im Morgengrauen hatten ihr Körper und das fieberhaft arbeitende Gehirn ihren Widerstand aufgegeben, und sie war in eine bodenlose Erschöpfung gefallen. Sie erwachte gegen 9 Uhr 30, und nach einer kurzen Phase der Benommenheit stach ihr die schreckliche Wirklichkeit des
gestrigen Abends ins Herz. Und wie ein dunkler Berg türmte sich vor ihr der heutige Tag auf, an dem sie sich nach Jekaterinburg fliegen lassen würde, um das Unfassbare noch einmal nachzuerleben. Sie fürchtete sich vor den Stationsmitgliedern, vor der Hilflosigkeit ihr gegenüber und vor ihrer eigenen Hilflosigkeit. Doch mit all dem würde sie lernen müssen zu leben. Und so versuchte sie, nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, diesen Tag mutig zu beginnen. Sie teilte Tolstoi mit, dass sie heute nach Jekaterinburg fliegen wolle und ihren Dienst am morgigen Tag wieder aufnehmen werde. „Tina“, antwortete der besorgt, „ich könnte mir vorstellen, dass Sie sehr viel mehr Zeit brauchen, um diesen Verlust zu verarbeiten. Vielleicht verlassen Sie einfach für längere Zeit das Ghetto unserer Station und fahren in Ihre Heimat nach Schweden. Sie haben von mir dafür eine zeitlich unbegrenzte Erlaubnis.“ Tina bedankte sich für dieses großzügige Angebot, wusste aber nicht, ob sie die innere Kraft zu einem solchen Aufbruch besitzen würde. Am späten Nachmittag kehrte sie müde und ausgebrannt aus Jekaterinburg zurück. Sie hatte keinerlei Vorstellung, wie sie den restlichen Tag verbringen sollte. Sie spürte, dass sie fahrig und gereizt war und daher die Gesellschaft auch verständnisvoller Kollegen und Kolleginnen sicherlich überfordern würde. Nachdem sie eine Zeit lang in ihrem Appartement ziellos herumhantiert hatte, hatte sie plötzlich den starken Wunsch, noch einmal in die Räume zu gehen, in denen Paddy Fingal gelebt hatte.
Sie fand das Appartement unverschlossen und trat ein. Alles hier war noch Paddy, nur er selbst war nicht mehr da. Ihr Blick fiel auf seinen Schreibtisch und das wirre Durcheinander darauf. Lediglich eine kleine Fläche zum Schreiben war frei – wohl freigeschoben. Auf dieser Fläche lag ein Blatt Papier, auf dem ein mit rotem Stift eingerahmtes Wort stand. Tina trat näher, um das Wort zu lesen. Es lautete: Komübertragung. Sie nahm das Blatt Papier an sich, ohne ihm weitere Bedeutung beizumessen, faltete es und steckte es in eine Tasche ihrer Kostümjacke. Dann verließ sie Paddys Räume und machte sich gedankenverloren auf den Weg zurück in ihr Appartement. Die Flure waren menschenleer, die Stationsmitglieder aßen zu Abend. Tina ging zu einem der großen Fenster, an dem sie vor Tagen Tolstois wiedererwachtem Klavierspiel gelauscht hatte, und blickte in die einsetzende Dämmerung hinaus. ‘Woran mag er wohl vor seinem Tod gedacht haben?’ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie suchte in den Jackentaschen nach ihrem Taschentuch. Sie zog es zusammen mit dem gefalteten Blatt Papier von Paddys Schreibtisch heraus. Nachdem sie sich die Tränen getrocknet hatte, faltete sie das Blatt Papier auseinander, um es noch einmal zu lesen: Komübertragung. ‘Verrückter Kerl’, dachte sie, ‘So ein verrückter Kerl! Was hat er sich dabei nur wieder gedacht?’ Sie schüttelte den Kopf und steckte das gefaltete Blatt wieder zurück in ihre Tasche. Und dann schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.
‘Es ist eine Komübertragung! Oh, mein Gott, – er hat gemeint, dass die Signalfolge eine Komübertragung ist!’ Der Gedanke ergriff sofort vollends Besitz von ihr. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Paddy genau das gemeint hatte, aber sie glaubte daran, das Wort Komübertragung hatte in ihr diesen geradezu absurden Gedanken erzeugt. Und dieser Gedanke drängte jetzt aus ihr heraus, sie musste ihn irgend jemandem mitteilen. ‘John’, dachte sie, ‘John Woodstock würde vielleicht auch daran glauben.’ Sie traf Woodstock in seinem Appartement an, er war noch nicht zum Abendessen gegangen. „Tina“, wurde sie von Woodstock freundlich und zuvorkommend begrüßt, „kommen Sie doch bitte herein! Reden Sie, wenn Ihnen danach zumute ist! Ich bin sicher, dass Sie seit gestern Abend schwere Stunden hinter sich haben, und wir alle möchten Ihnen helfen – wenn das überhaupt möglich ist.“ „Danke, John“, erwiderte Tina leise, „ich werde diese Hilfe gerne und dankbar annehmen.“ Dann fuhr sie nach einer kurzen Pause zögernd fort: „John, ich – ich möchte Ihnen etwas sagen und Sie dann etwas fragen.“ „Ja bitte, Tina!?“, erwiderte Woodstock aufmunternd und zugleich ein wenig verwundert und fügte dann hinzu: „Setzen wir uns doch!“ Sie nahmen an einem kleinen Tisch Platz und Woodstock sah sie erwartungsvoll an. „Nachdem ich heute Nachmittag aus Jekaterinburg zurückgekehrt war“, begann Tina ein wenig unsicher, „bin ich
noch einmal in Paddys Appartement gegangen, ich – ich wollte einfach noch einmal dorthin gehen, wo Paddy gelebt hat.“ Sie stockte, und Woodstock nickte ihr verständnisvoll zu. „Auf seinem Schreibtisch“, fuhr sie dann fort, „fand ich diesen Zettel hier.“ Sie griff in die Tasche, zog das mittlerweile ein wenig zerknitterte Blatt Papier hervor und breitete es mit der Hand glättend auf dem Tisch aus. Woodstock las das Wort und blickte Tina dann fragend an: „Nun – “, fuhr Tina, die Absurdität des Gedankens jetzt erst in vollem Umfang begreifend, fort, „Sie wissen, John, dass Paddys Gedanken häufig recht ausgefallen waren. Er besaß, und das habe ich sehr oft an ihm erlebt, eine ausgesprochene Science-Fiction-Phantasie. Ich glaube, dass er bis zu seinem Tod unter anderem auch über den Ursprung der Signalfolge nachgedacht hat. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit diesem Wort hier gemeint hat, dass die Signalfolge eine – eine Komübertragung ist.“ „Wie bitte?? – “, platzte es aus Woodstock heraus. „Ja!“, antwortete Tina ebenso kurz wie entschieden. Woodstock sah sie lange an und sagte dann eindringlich: „Tina, ich möchte Ihnen nicht wehtun, aber haben Sie bedacht, dass Paddy sehr wahrscheinlich schwer angetrunken war, als er dieses Wort aufschrieb?“ „Ja, John, ich weiß!“, erwiderte Tina jetzt äußerst heftig. „Sie mögen ja vielleicht recht damit haben, dass dieses Wort irgendein sinnloses Produkt seiner betrunkenen Phantasie ist, aber es könnte ebenso gut wieder einmal und zum letzten Mal eine seiner verrückten, genialen Eingebungen sein. – Ich selbst
bin mir inzwischen keinesfalls sicher, ob der Gedanke wirklich so absurd ist, wie er zunächst scheint.“ „Haben Sie dabei auch bedacht“, versuchte Woodstock sie inständig zu überzeugen, „welch’ aberwitzig unwahrscheinliche Dinge zusammentreffen müssen, damit die Signalfolge wirklich eine Komübertragung im irdischen Sinn ist? Um nur einige zu nennen: In der Galaxie am anderen Ende des Wurmlochs müsste vor etwa acht Milliarden Jahren in der Nähe des Ausgangstrichters eine menschenähnliche Zivilisation existiert haben, ihr technischer Entwicklungsstand müsste recht genau dem unserer heutigen irdischen Gesellschaft entsprochen haben, insbesondere müsste sie über eine Komtechnik verfügt haben, die mit der unseren nahezu identisch ist, sodann müsste sie irgendeinen merkwürdigen Anlass gehabt haben, diese Signalfolge zu senden, denn es ist offenbar kein routinemäßiges Dauersignal gewesen, sondern es beginnt aus eben diesem merkwürdigen Anlass und bricht dann aus irgendeinem Grund ab – und so weiter, und so weiter. – Haben Sie das alles bedacht, Tina??“ Tina sah ihn lange an und antwortete dann: „Ja, John – das habe ich! – Und haben Sie bedacht, dass nahezu alles, was Sie gerade zu Recht gesagt haben, eigentlich gar nicht den Gedanken einer Komübertragung betrifft, sondern in erster Linie unsere vorausgehende Prämisse, dass das Signal intelligenten Ursprungs ist. Das glauben wir doch oder halten es jedenfalls für durchaus möglich, denn sonst würden wir ja wohl nicht Tag für Tag an den Dekodiersegmenten sitzen. Und wenn wir das glauben, ist der Gedanke einer Komübertragung gar nicht mehr absurd!“
Sie schwiegen. Es war so etwas wie eine geistige Pattsituation entstanden, aus der jeder nach einem Ausweg suchte. Tina versuchte es als erste mit der Frage: „Wäre denn ein Versuch, das Signal als Komübertragung zu entschlüsseln, technisch überhaupt durchführbar, John?“ Woodstock zuckte mit den Schultern und wiegte dabei den Kopf hin und her. „Zunächst einmal“, begann er dann mehr für sich sinnierend, „müsste man das Signal in seinen ursprünglichen Frequenzbereich bei 184 Megahertz hochtransformieren. Das würde uns noch keine Probleme bereiten. Unsere Komsysteme arbeiten heute bei 115 Megahertz. Das bedeutet, wir müssten unsere Systeme mit dem hochtransformierten Signal kompatibel machen. Das wird mit Sicherheit sehr kompliziert, auch wenn wir davon ausgehen, dass Ton, Bild und Farbe dem Signal auf ähnliche Weise aufgeprägt sind, wie wir dies bei uns tun. Aber vielleicht…“ Woodstock stellte noch eine ganze Reihe technischer Überlegungen an, denen Tina nicht folgen konnte. Für sie war von Bedeutung, dass er sich ganz offenbar bereits mit der Lösung des Problems befasste – typisch Woodstock. Und so unterbrach sie ihn mit der Frage: „John, soll das heißen, dass Sie auch an eine Komübertragung glauben?“ „Nein, überhaupt nicht“, antwortete der lakonisch, „ich habe nur eine Schwäche für verrückte Kerle.“ „Dann geht es Ihnen wie mir“, fügte Tina leise hinzu. Woodstock erhob sich lächelnd, und die beiden machten sich gemeinsam auf den Weg zum Abendessen.
Woodstock spürte, dass er von der Idee, die Signalfolge könnte eine Komübertragung sein, zunehmend angesteckt wurde, ohne dass er sich dagegen zu wehren vermochte. Denn wenn die Idee zuträfe, so wäre das ein nahezu schwindelerregendes Ereignis. Und zudem wäre es eine äußerst verlockende technische Herausforderung, den Inhalt dieser Übertragung in die Ton- und Bildsprache irdischer Komsysteme zu übersetzen. So bat er noch an diesem Abend den deutschen Techniker Alfred Hertz zu sich. Hertz war Mitglied des allgemeinen Technikerstabes der Station. Woodstock hatte sich vor Jahren bei Tolstoi nachdrücklich dafür eingesetzt, dass Hertz in die Bodenstation Ural aufgenommen wurde. Er war ein ausgesuchter Spezialist für Komsysteme und verwandte Bereiche und hatte immer wieder durch sein außergewöhnliches Gespür bei der Lösung elektronischer Probleme von sich reden gemacht. Woodstock erläuterte dem Deutschen sorgfältig alle Details des Vorhabens, nannte aber keine Namen, was den Ursprung der Idee anbelangte. So konnte es nicht verwundern, dass Hertz, nachdem Woodstock geendet hatte, mit der süffisanten Frage kam, wer denn bloß in aller Welt die aberwitzige Schnapsidee gehabt habe, dass den Menschen ausgerechnet während der Wurmlochkatastrophe eine interessante Komsendung aus fernen Welten präsentiert wurde. Woodstock musste ihm einerseits irgendwie recht geben, hatte sich aber andererseits schon zu sehr in den Gedanken verstiegen, als dass ihm ein Rückzug noch möglich gewesen wäre. „Das werden Sie noch erfahren, Alfred“, antwortete er daher kurz und entschlossen, und dann: „Ich bin sicher, dass die Komsendung, wenn es denn eine ist, in der Tat äußerst
interessant sein wird. Wir beginnen morgen früh um 8 Uhr 30.“ Am nächsten Morgen begannen Woodstock und Alfred Hertz pünktlich zur festgesetzten Zeit mit der Arbeit. Um die täglichen Routinearbeiten in der technischen Abteilung nicht zu stören, richteten sie sich mit ihren Gerätschaften in einem kleinen Nebenraum ein – beobachtet von fragenden und verwunderten Blicken der übrigen Techniker. Woodstock hatte nach den Bemerkungen des Deutschen vom Vorabend erwartet, dass Hertz wohl nur lustlos, allenfalls ein wenig amüsiert über die Schnapsidee, wie er das Vorhaben bezeichnet hatte, an die Arbeit gehen würde. Um so mehr war er erstaunt, dass Hertz schon beim Einrichten des Nebenraumes äußerst zielstrebig und in stillem Eifer zu Werke ging. Ohne Zweifel, auch Alfred Hertz war von der Idee angesteckt. Der erste Teil ihres Vorhabens, die Frequenztransformation des Signals, gelang ihnen, wie Woodstock es vermutet hatte, ohne Probleme in recht kurzer Zeit. So konnten sie noch vor dem Mittagessen mit dem zweiten, unvergleichlich schwierigeren Teil beginnen, den Inhalt des hochtransformierten Signals in die Ton- und Bildsprache irdischer Komsysteme zu übersetzen. Zu diesem Zweck musste das irdische System dem Signal angepasst werden – ein schier aussichtsloses Puzzle. Doch Alfred Hertz hatte bereits über Nacht ein systematisches Verfahren zur Lösung dieses Problems entworfen, dessen Grundidee darin bestand, die einzelnen Komponenten des irdischen Komsystems getrennt und, über weite Bereiche regelbar, nebeneinander aufzustellen, und sie dann zu einem System zu verbinden, das so im Prinzip in der Lage war, irgendwelche fremden
Komsysteme nachzuahmen. Die Regelung der Einzelelemente erfolgte über Computer, die je nach der bereits erreichten Tonoder Bildqualität darüber entschieden, in welche Richtung die Komponenten verändert wurden. Die Herstellung dieses vielfach variablen Komsystems sowie dessen Ankoppelung an eine Computersteuerung war eine äußerst schwierige Aufgabe, die eigentlich nur ein Spezialist von der Qualität eines Alfred Hertz bewältigen konnte. Woodstock hatte natürlich seine durchaus kompetente Mitarbeit angeboten, doch hatte Alfred Hertz darauf in seiner kurz angebundenen Art gebrummt, Woodstock möge ihm doch besser nicht dazwischenfummeln. So saß der Deutsche jetzt inmitten eines Wirrwarrs aus elektronischen Komponenten sowie Steuerund Kontrollinstrumenten und versuchte, alles zu jenem vielfach regelbaren System zusammenzuschalten. Darüber verstrich der Nachmittag und auch der Abend, an dem Hertz das Essen ausfallen ließ, weil er sich nicht von seinem Instrumentenlabyrinth lösen konnte. Woodstock dagegen traf sich mit Tina Nordström im Speisesaal und berichtete ihr ausführlich über die bisherigen Bemühungen. Tina nahm das mit großer Genugtuung auf und bedankte sich sehr herzlich bei Woodstock. Der kehrte nach dem Abendessen in die technische Abteilung zu Alfred Hertz zurück, um ihm hin und wieder Hilfe zu leisten. So arbeiteten sie bis spät in die Nacht. Erst gegen 2 Uhr schien Hertz mit dem bisher Erreichten zufrieden zu sein, und die beiden verabschiedeten sich nach einem kargen Gedankenaustausch bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr 30. Am späten Nachmittag des folgenden Tages war es Hertz und Woodstock endlich gelungen, das vielfach variable Komsystem einschließlich der Computersteuerung
arbeitsfähig zu machen. Jetzt konnte die Signalfolge eingespeist werden und die Suche nach der richtigen Einstellung der Komponenten beginnen, um das Signal zu übersetzen. John Woodstock und Alfred Hertz waren beide eigentlich sehr nüchterne Menschen. Man hätte sie als illusionslose Technokraten bezeichnen können. So war es überaus verwunderlich, dass sie nun schon seit zwei Tagen diese absurde Idee geradezu besessen verfolgten, und dass sie jetzt, da sich zeigen würde, ob sie einem Hirngespinst nachliefen oder einem genialen Gedanken folgten, der Illusion erlagen, schon nach kurzer Zeit werde sich alles bewahrheiten – so wie Menschen, die von dem Gedanken gefangen sind, etwas ganz Außerordentlichem auf der Spur zu sein, stets daran glauben, dieses Außerordentliche im nächsten Augenblick auch zu finden. Doch in den ersten Stunden war aus den Tongebern nur ein eintöniges Rauschen zu vernehmen, und die Bildplatte zeigte unablässig ein strukturloses helles Grau. Alfred Hertz veränderte in Abständen von etwa einer halben Stunde den groben Suchbereich, um so die Chance wahrzunehmen, bei einem ersten groben Durchlauf durch den gesamten Bereich vielleicht gleich auf die richtige Abstimmung zu stoßen. Als alle seine Bemühungen ergebnislos blieben, begann er leise zu fluchen, und Woodstock hörte ihn brummen, dass die am anderen Ende sich doch bitte sehr eine zivilisierte Komtechnik zulegen sollten. Die anfängliche Euphorie der beiden war bald verflogen, und so machten sie sich, bevor die Zeit zum Abendessen vollends verstrich, auf den Weg zum Speisesaal. Dort trafen sie Tina Nordström, die sich nach ihrem verspäteten Abendessen ihrerseits gerade auf dem Weg in die technische Abteilung befand, um sich nach dem Fortgang der
Bemühungen zu erkundigen. So setzte sie sich jetzt zu den beiden an den Tisch und hoffte, von ihnen aufregende Neuigkeiten zu erfahren. Doch Woodstock und Hertz beschäftigten sich vornehmlich mit ihrem Essen und beantworteten Tinas Fragen äußerst wortkarg und kurz angebunden. „Tina“, brummte Woodstock, „ich glaube, wir sind auf einem grandiosen Holzweg!“ Gegen 20 Uhr 30 kehrten Woodstock und Hertz in die technische Abteilung zurück, um mehr aus einem inneren Zwang heraus als aus hoffnungsvoller Zuversicht die Suche noch für einige Stunden fortzusetzen. Sie betraten die menschenleere Abteilung – und vernahmen aus dem hinteren Teil eigentümliche Geräusche. Dann stellten sie fest, dass diese Geräusche ganz offenbar durch die verschlossene Tür ihres Labors drangen. Die beiden sahen sich schweigend an und stürzten plötzlich wie auf ein inneres Kommando hin gleichzeitig durch die Tür in den Arbeitsraum. Und dann standen sie vor dem ganz und gar Unfassbaren. Sie hatten bei ihrem Weggang zum Abendessen das System nicht abgeschaltet, das so während ihrer Abwesenheit selbsttätig die Suche fortgesetzt hatte und dabei auf den richtigen Abstimmungsbereich gestoßen war. Jetzt versuchte der Steuercomputer, die Feinabstimmung zu verbessern, was daran zu erkennen war, dass Bild- und Tonqualität innerhalb kürzester Zeit beträchtlich schwankten. Und dies war es, was John Woodstock und Alfred Hertz nach zwei Tagen mühevoller Arbeit sahen und hörten: Es begann mit einem tiefen gesangsähnlichen Ton, der ständig wiederholt wurde und dabei an Intensität zunahm. Auf der Bildplatte erschien dabei parallel ein äußerst undeutliches Bild, in dem Woodstock, als die Bildqualität für einen ganz
kurzen Augenblick beträchtlich zunahm, kreisförmige Gebilde mit Punkten darauf zu erkennen glaubte. Dann brach der Ton ab und wurde nach etwa fünf Sekunden durch eine neue Tonfolge abgelöst, während das Bild offenbar unverändert blieb. Die neuen Töne erinnerten irgendwie an eine Form von Musik, aber Woodstock fand einfach keine Bezeichnung dafür. Doch dann, als wieder einmal die Tonqualität für ganz kurze Zeit erheblich anstieg, meinte er deutlich zu hören, dass diese Töne von einem orgelähnlichen Instrument stammten. Nach etwa zwei Minuten verstummte auch diese Tonfolge, und es setzte eine dritte, stark rhythmisch geprägte Sequenz ein, bei unveränderter Bildstruktur. Auch das schien Musik zu sein, war allerdings bei der momentanen Tonqualität überhaupt nicht einzuordnen. Dann brach auch die dritte Tonfolge ab, und es folgte ohne Tonuntermalung in Abständen von etwa fünfzehn Sekunden eine Sequenz nicht erkennbarer Bilder, bis das Signal nach 5 Minuten und 37 Sekunden zu Ende ging, am Schluss wieder begleitet von dem tiefen gesangsähnlichen Ton wie zu Beginn. Dann setzte es nach einer Pause von 23 Sekunden mit eben diesem Ton erneut ein. Hertz und Woodstock glotzten mit offenen Mündern auf die Bildplatte, um sich dann völlig verwirrt den Tongebern zuzuwenden, starrten dann wieder die Bildplatte an, und so im Wechsel. Erst beim dritten Durchlauf des Signals stieß Woodstock ein „Oh, mein Gott!“ hervor und ging wie in Trance zum Komgerät. Er verband sich mit Tolstois Wohnung, und nachdem dieser sich gemeldet hatte, sprach er mit tonloser Stimme in die Leitung:
„Nikolai, kommen Sie bitte sofort in die technische Abteilung, wir sind auf etwas Unfassbares gestoßen. Ich glaube, ich verliere den Verstand. Ich…“ „John“, unterbrach ihn Tolstoi, „John, was ist mit Ihnen?“ „Ich weiß nicht, Nikolai, ich weiß es nicht“, gab Woodstock zur Antwort. „Ich komme sofort!“, entschied Tolstoi nach einer kurzen Pause und machte sich dann umgehend auf den Weg. Dabei trieb ihn nicht so sehr die Erwartung auf eine weitere aufregende Neuigkeit – daran hatte es in letzter Zeit ja auch nicht gemangelt –, als vielmehr die Sorge um Woodstocks Zustand. Nach dem kurzen Gespräch mit Tolstoi verband sich Woodstock mit Tina Nordströms Appartement. „Tina, wir haben es gefunden, es stimmt“, teilte er der Schwedin mit fast entrückter Stimme mit. Und auch Tina fragte besorgt zurück: „John, was ist mit Ihnen?“ „Kommen Sie so schnell wie möglich in die technische Abteilung!“, antwortete der und beendete das Gespräch. Wenige Minuten später betraten Tolstoi und Sven Brahe, dem Tolstoi auf den abendleeren Fluren der Station begegnet war, und unmittelbar darauf Tina Nordström die Abteilung. „Entschuldigen Sie, Sir“, wandte sich Tina sofort aufgeregt an Tolstoi, „aber ich denke, dass ich Ihnen zunächst eine Erklärung schuldig bin für das, was sich hier abspielt.“ „Ja – gerne, natürlich“, gab Tolstoi verdattert zur Antwort. Und dann berichtete Tina Nordström von dem Blatt Papier, das sie auf Paddys Schreibtisch gefunden hatte, und davon, dass sie John Woodstock für diese völlig aberwitzige Idee
hatte gewinnen können. Woodstock, der sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen hatte, setzte den Bericht mit den technischen Bemühungen der vergangenen zwei Tage fort und wies immer wieder darauf hin, dass Alfred Hertz hier ein wahres Meisterstück vollbracht habe. Tolstoi fühlte sich wie betäubt, und für einen kurzen Augenblick glaubte er, dass sein Stellvertreter sowie Tina Nordström und Alfred Hertz wohl tatsächlich den Verstand verloren hätten. Doch es blieb ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Woodstock fuhr fort: „Und jetzt hören und sehen Sie sich das Signal an, Nikolai, das tatsächlich eine acht Milliarden Jahre alte Komübertragung ist!“ Erneut setzten die tiefen, gesangsähnlichen Töne ein. Als die zweite Tonfolge begann, stellten Woodstock und Hertz sofort fest, dass die Qualität durch die Steuerung des Computers mittlerweile deutlich gestiegen war. Und dann hörten sie Tolstoi flüstern: „Mein Gott – eine Orgel!“ Nach dem zweiten Durchlauf des Signals bat Tolstoi mit einer stummen Geste um eine Unterbrechung. Es wurde totenstill, und Nikolai Sergejwitsch begann ganz in sich gekehrt langsam auf und ab zu gehen. Dann, plötzlich, hielt er inne und wandte sich unvermittelt an Alfred Hertz: „Alfred, lässt sich das eigentliche Signal noch deutlicher herausfiltern?“ „Ich denke schon, Sir“, antwortete der Deutsche. „Wie deutlich denken Sie?“, fragte Tolstoi mit einem Anflug von Ungeduld zurück. „Nun, man sollte zunächst den Steuercomputer noch einige Stunden arbeiten lassen“, erläuterte Hertz, „um die optimale Abstimmung zu finden. Und dann stehen uns sehr gute Techniken zur Verfügung, das übersetzte Signal zu
entrauschen und zu entzerren. Dabei erfolgt die Entzerrung natürlich nach irdischen Maßstäben, so dass wir am Ende nicht sagen können, wie originalgetreu das Ergebnis wirklich ist.“ „Vielleicht ist das auch nicht so wichtig“, antwortete Tolstoi mehr zu sich selbst und setzte dann nach einer kurzen Pause entschlossen hinzu: „Also, gut – an die Arbeit, Alfred! Was oder wen Sie dazu auch immer benötigen, John wird Ihnen behilflich sein. Und halten Sie mich bitte auf dem laufenden.“ Dann verließ er ungläubig den Kopf schüttelnd die technische Abteilung. Bis zum Morgengrauen ließen Woodstock und Hertz den Steuercomputer die Feinabstimmung verbessern, bis sich Tonund Bildqualität auf einem beständigen Niveau eingepegelt hatten. Dann begannen sie gegen 6 Uhr zunächst mit der Entrauschung des Signals. Durchlauf um Durchlauf wurden Ton und Bild deutlicher, und was die beiden dabei hörten und sahen, verschlug ihnen den Atem. Im Laufe des Vormittags erkundigten sich immer wieder Techniker neugierig nach den geheimnisvollen Dingen, die Woodstock und Hertz in dem kleinen Nebenraum trieben. Doch die Antworten der beiden lösten nur Kopfschütteln aus. Gegen Mittag hatten sie ein scharfes und sehr klares Bild erreicht, die Tonfolgen dagegen klangen noch sehr fremd für das menschliche Ohr. Alfred Hertz setzte daraufhin ein Entzerrungsprogramm für Musik auf das Signal an. Dabei brummte er: „Wenn die schon dasselbe Komsystem wie wir gehabt haben, dann haben die sicherlich auch dieselbe Musik wie wir gehört.“ Er sollte damit recht behalten, allerdings erst nach vielen Stunden. Gegen 18 Uhr 30 – die Belegschaft der Station
versammelte sich gerade zum Abendessen – war aus den gesangsähnlichen Tönen am Beginn des Signals ein tiefer inbrünstiger Gesang geworden, aus den orgelähnlichen Klängen ein Stück kraftvoller Orgelmusik und aus der dritten, ursprünglich so schwer erkennbaren Tonfolge eine dem menschlichen Ohr durchaus vertraute rhythmische Musik. Woodstock und Hertz hatten seit vierzehn Stunden fieberhaft gearbeitet und dabei alle Mahlzeiten ausfallen lassen. Jetzt standen sie tief erschöpft vor dieser Botschaft, die weit aus dem Jenseits von irdischem Raum und irdischer Zeit zu ihnen gelangt war. Woodstock schleppte sich zum Komgerät, um Tolstoi zu benachrichtigen. „Nikolai, wir sind so weit“, sagte er mit unendlich müder Stimme. Woodstocks kurze Mitteilung löste bei Tolstoi eine tiefe innere Erregung aus. Er stellte sein Abendessen, zu dem er sich gerade begeben wollte, augenblicklich zurück und beorderte stattdessen in großer Eile die Leiter der vier Beobachterteams sowie Tina Nordström umgehend in die technische Abteilung – Tina zudem mit der Bitte, ihre beiden Kollegen Maxwell und Grundler mitzubringen. Kurze Zeit später trafen dort alle nahezu gleichzeitig zusammen. Beim Eintreten begegneten ihnen einige Techniker, die sich gerade zum Essen aufmachten und verwundert nach dem Anlass für diesen prominenten frühabendlichen Besuch fragten. Doch vermochten sie mit den vagen und überaus merkwürdigen Antworten wenig anzufangen und gingen daher kopfschüttelnd ihrer Wege. Tina Nordström, John Woodstock und Alfred Hertz informierten zunächst die noch nicht Eingeweihten unter den
Anwesenden, und die meinten zunächst, einer Posse aufgesessen zu sein, verwarfen dann aber den Gedanken wieder, da ihnen die Anwesenheit des Stationsleiters damit nur schwer vereinbar schien. So erlagen sie einer vollkommenen Ratlosigkeit. Und während sie sich noch hilfesuchend umsahen, verkündete Woodstock mit müder Stimme: „Das hier ist es, was uns aus dem Jenseits erreicht hat.“ Es begann mit einem tiefen inbrünstigem Gesang, der aus einem langgezogenen, stets wiederholten und von Mal zu Mal intensiver gesungenen Ton bestand. Tolstoi fiel dabei sofort ein, woran ihn dieser Gesang erinnerte: An den über tausend Jahre alten Betgesang tibetanischer Mönche, mit dem diese sich in einen Zustand äußerster Konzentration und höchster Kontemplation versetzten. Auf der Bildplatte war während dieses Gesanges eine Graphik zu sehen, die in der Mitte eine große gelbe Vollkugel zeigte, die von fünf ellipsenförmigen geschlossenen Linien umgeben war. Auf diesen Linien bewegten sich ganz langsam, aber unterschiedlich schnell kleine Kugeln, unter denen sich eine durch eine besondere Kennzeichnung von den übrigen vier unterschied. „Ein Sonnensystem – es ist ein Sonnensystem!“, stammelte Jonathan Brubeck. Der Gesang klang aus, und kurz darauf brauste Orgelmusik durch den Raum. Ja, es war eine Orgel, aber sie war vielfältiger, kraftvoller und vollendeter als alle irdischen Orgeln. Tolstoi stockte der Atem, als es ihm gelang, sich auf die Musik zu konzentrieren. Nein, er vermochte es einfach nicht zu glauben, es war doch eigentlich ganz und gar unmöglich! Denn was er hörte, glich in vielerlei Hinsicht einem
Orgelwerk, das ihm sehr vertraut war, das hier aber in überirdischer Vollendung gespielt wurde. „Es ist Bach!“, rief er aufgewühlt. „Es ist die Toccata in dmoll!“ Die Klänge ebbten ab, und nach einer kurzen Pause setzte mit tiefen Basstönen ein satter Rhythmus ein, über den verschiedene Instrumente, die einer elektrischen Gitarre, einem Keyboard und einer Blues-Mundharmonika sehr verwandt waren, kraftvolle Akkorde gossen – gleicherweise weinend, schreiend und jubilierend. „Junge, Junge!“, krähte Sven Brahe, denn der über jeden irdischen Maßstab hinaus vollendete Blues nahm seinen ganzen Körper in Besitz. Nach einem furiosen Schlussakkord verschwand die Graphik mit dem Modell eines Planetensystems, und es folgte ohne Tonuntermalung eine Reihe von Bildern in hintergründig leuchtenden Farben und mit fremdartig anmutenden Motiven. Diese Sequenz wurde schließlich abgelöst durch eine Folge von Bildeinstellungen, auf denen sich zunächst schriftähnliche Zeichen aneinander reihten und später offenbar irgendwelche Zusammenhänge in mathematischer Formelsprache dargestellt wurden. Und dann endete das Signal mit einer Graphik, die wieder von dem inbrünstigen Gesang zu Beginn untermalt wurde und die den anwesenden Menschen vollends den Verstand raubte. Eine Darstellung, ganz ähnlich der von Paddy Fingal angefertigten Wurmlochzeichnung, erschien auf der Bildplatte, und am äußersten Rand des einen Wurmlochtrichters wanderte ganz langsam das anfangs
gezeigte Sonnensystem entlang. Dabei befand sich lediglich der besonders gekennzeichnete Planet im stärkeren Einflussbereich der Trichteröffnung, die vier übrigen Planeten wie auch das Zentralgestirn schienen außer Gefahr zu sein. Und während die anwesenden Menschen ungläubig mit glotzenden Augen darauf starrten, zerplatzte der besonders gekennzeichnete Planet und löste sich in Nichts auf. Das Signal war zu Ende, und allen wollte es scheinen, gemeinsam einen völlig abstrusen Traum geträumt zu haben. „Sie haben es gewusst – sie haben es acht Milliarden Jahre vor uns gewusst!“, schrie Jonathan Brubeck und schlug dabei mit seiner rechten Faust unaufhörlich in seinen linken Handteller. Tolstoi wandte sich benommen zur Seite und hörte Tina Nordström tränenerstickt stammeln: „Dieser verrückte Kerl – dieser dreimal verrückte Kerl!“ Nikolai Sergejwitsch ging zu ihr und tat etwas sehr Ungewöhnliches: Er legte seinen Arm um Tina und brachte sie behutsam zu einem Stuhl. Nachdem sie sich gesetzt hatte, strich er ihr ganz leicht über den Kopf und nickte ihr lächelnd zu. Inzwischen hatte die Botschaft aus dem fernen Jenseits wieder eingesetzt und zog die Gruppe erneut in ihren Bann. Erst nach dem dritten Durchlauf machte Tolstoi den Versuch, sich aus der inneren Umklammerung zu befreien. „Es ist genug!“, rief er. „Alfred, schalten Sie bitte ab!“ Hertz folgte augenblicklich der Aufforderung, und alle Blicke richteten sich daraufhin auf Tolstoi.
„Ich denke, wir sollten auf die Erde zurückkehren“, sagte der mit leiser Stimme, „und etwas ganz Menschliches tun. Wir sollten jetzt gemeinsam zu Abend essen.“ Alfred Hertz und John Woodstock waren von der Botschaft durchaus nicht weniger beeindruckt als die übrigen, wenngleich sie den langen mühsamen Weg bis zur vorliegenden Fassung Schritt für Schritt mitgegangen und daher mit dem Inhalt der Botschaft bereits etwas vertrauter waren. War es aus diesem Grund oder waren es ihre gänzlich leeren Mägen, sie setzten jedenfalls Tolstois Anregung augenblicklich in die Tat um und machten sich auf den Weg zum Speisesaal. Die übrige Gruppe folgte ihnen – nachdenklich und in sich gekehrt die einen, ziel- und ratlos diskutierend die anderen. Während des Abendessens löste sich nur langsam der Bann, der sich auf die Gruppe gelegt hatte. Sie hatten sich abseits von den übrigen Stationsmitgliedern an zwei Tische gesetzt und versuchten jetzt mühsam, das Erlebte in Worte zu fassen und sich so miteinander darüber auszutauschen. Doch erst, als sie die Diskussion nach dem Essen in Tolstois Arbeitszimmer fortsetzten, gelang ihnen eine erste Bestandsaufnahme. Sie diskutierten die Frage, ob vor acht Milliarden Jahren, also etwa drei Milliarden Jahre vor der Entstehung der Erde, überhaupt schon eine so weit entwickelte Zivilisation hätte existieren können. Und dass sie weiter als die Menschheit auf der Erde entwickelt gewesen sei, könne man unter anderem daran erkennen, dass sie das Wurmloch präzise erkannt hätte – einschließlich der Konsequenz ihrer Vernichtung. Die Wissenschaftler jener Zivilisation mussten zudem von der festen Annahme ausgegangen sein, dass ihre Botschaft durch
das Wurmloch andere hochentwickelte Zivilisationen im Universum erreichen würde. Man stellte weiterhin die Frage, warum die Botschaft nichts über das äußere Erscheinungsbild jener Zivilisation enthalte, zum Beispiel über das Aussehen der Wesen und ihres Lebensraumes. Tolstoi vertrat dazu die Auffassung, dass jene Gesellschaft wohl in der Tat sehr viel weiter entwickelt gewesen sei als die Menschheit und daher nur das für wichtig gehalten habe, was aus ihrer Sicht vielleicht allen Zivilisationen gemeinsam sei. Woodstock wies die Anwesenden darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen eine solche Botschaft empfangen, eigentlich gleich null sei, denn jene fremde Zivilisation und die Erde mussten sich dazu im richtigen Zeitabstand von acht Milliarden Jahren jeweils an den Öffnungstrichtern jenes kosmischen Wurmlochs befunden haben. Es falle sehr schwer, so Woodstock, das als rein zufällig anzusehen. Schließlich bemerkte Sven Brahe, dass die Botschaft am Ende einerseits die Auslöschung jener fremden Zivilisation unmissverständlich voraussage, und dass andererseits die Signalfolge in der 247. Wiederholung schlagartig abbreche. Vielleicht könne man, so Brahe, noch einmal die Aufzeichnungen im optischen Bereich durchsehen und dabei möglicherweise während der Zeit der letzten Signalwiederholung ein schwaches Aufblitzen des untergehenden Planeten feststellen. Tolstoi nickte zustimmend und bat Sven Brahe, das noch an diesem Abend zu überprüfen. Die Runde diskutierte so bis lange nach Mitternacht, und als sie schließlich auseinander ging, konnte wohl niemand auf den so sehr ersehnten Schlaf hoffen.
Tolstoi führte noch in dieser Nacht ein langes und vertrautes Komgespräch mit Präsident Dostojewski in Genf. Dabei wurde ihm das erste Mal überdeutlich, dass es wohl nahezu unmöglich sein würde, die Botschaft anderen Menschen glaubwürdig zu vermitteln. Dostojewski fragte bei Tolstois Bericht mehrfach nach, und in diesen Nachfragen spürte Tolstoi deutliche Skepsis, ja sogar Ungläubigkeit bei seinem Freund. Dennoch kamen sie am Ende überein, für den 15. Mai wieder um 16 Uhr Ortszeit die Leiter aller Bodenstationen nach Genf einzuladen, um die Botschaft zunächst in diesem kleinen Kreis bekannt zu machen. Aus der Bodenstation Ural sollten dabei außer Tolstoi natürlich Woodstock und Hertz sowie selbstverständlich auch Tina Nordström teilnehmen. Kurze Zeit nach Beendigung des Gesprächs mit Dostojewski läutete das Komgerät in Tolstois Wohnung. Am anderen Ende meldete sich Sven Brahe. „Ja, Sven?“, fragte Tolstoi und versuchte dabei, seine Erregung zu unterdrücken. „Sir“, antwortete der Däne, „Sir – wir haben den Todesblitz des sterbenden Planeten entdeckt!“ Tolstoi nickte, als ob Sven Brahe vor ihm stünde, und sagte dann lediglich: „Danke, Sven.“ „Erlauben Sie mir eine Bemerkung, Sir?“, fragte daraufhin der Däne. „Selbstverständlich, Sven“, antwortete Tolstoi abwesend. „Wir waren acht Milliarden Jahre später dabei und hätten es fast nicht bemerkt!“, sagte Sven Brahe mit nachdenklicher Stimme. Am folgenden Tag verbreitete sich in der Station die vage Kunde, John Woodstock und Alfred Hertz hätten auf einen
Hinweis Paddy Fingals hin, den man nach dessen Tod auf seinem Schreibtisch gefunden habe, eine Nachricht entschlüsseln können, die durch das Wurmloch zur Erde gelangt sei. Diese Nachricht enthalte merkwürdige Informationen einer hochentwickelten Zivilisation vor acht Milliarden Jahren und sei bis zur Explosion des Planeten, auf der diese Zivilisation existiert habe, gesendet worden. Diese gekürzte Fassung der Botschaft war das Ergebnis von zahlreichen neugierigen Fragen an diejenigen, die am frühen Abend zuvor von Tolstoi ausgewählt worden waren, die gereinigte Fassung des Signals als erste zu sehen und zu hören. Die Befragten antworteten dann immer, dass die Botschaft unter anderem auch wunderbare Musik enthalte, die ganz so wie die Bachsche Orgelmusik und wie herrlicher Blues klinge. Derlei Antworten wurden eher als Übertreibung, wenn nicht gar als Zeichen der Verwirrung gedeutet, und so bezeichnete man den Inhalt der Botschaft schlicht als merkwürdig. Am frühen Vormittag des 15. Mai begab sich die dreiköpfige Delegation der Bodenstation Ural auf ihren Flug nach Genf. Tina Nordström hatte sich entschlossen, an dem Treffen nicht teilzunehmen, was Tolstoi überaus bedauerte. Sie hatte sich vielmehr entschieden, Tolstois Angebot anzunehmen und für unbestimmte Zeit die Station zu verlassen, um in ihrer schwedischen Heimat die übermächtigen Ereignisse zu verarbeiten. Beim Abschied auf dem Helikopterdeck fragte Nikolai Sergejwitsch die Schwedin: „Tina, dürfen wir hoffen, dass Sie zu uns zurückkehren? Wir werden Sie nämlich sehr vermissen.“
„Ich weiß es nicht, Nikolai“, antwortete die, den Stationsleiter beim Vornamen nennend, mit leiser Stimme, „aber ich möchte es gerne.“ Dann fügte sie hinzu: „Überbringen Sie bitte Isabel ganz herzliche Grüße von mir!“ Sie wandte sich schnell um, und ein leichter Frühlingswind fuhr durch ihr prachtvolles blondes Haar. Nikolai Sergejwitsch wurde in diesem Augenblick klar, wie sehr ihn die herbe Schönheit dieser Frau an Krystina erinnerte. Tolstoi hatte für den Flug nach Genf wieder den Helikopter gewählt, um wie schon bei der düsteren Reise Anfang März die großen Städte langsam im Tiefflug zu überqueren und sich so ein Bild von dem Wiederaufbau zu machen. In Moskau und Warschau schienen alle Trümmer geräumt zu sein, desgleichen auch in Prag. Tolstoi erinnerte sich noch sehr gut an die überaus schweren Zerstörungen in der deutschen Zwei-Millionen-Stadt Stuttgart. Dort waren jetzt nicht nur alle Trümmer geräumt, sondern die ganze Stadt war bereits eine unübersehbare Baustelle. Ein Wald gigantischer Kräne ragte in den Himmel, zwischen denen überall neue Bauten aus Stahl und Glas emporwuchsen. ‘Diese ewig emsigen Deutschen’, ging es Tolstoi durch den Kopf. Er wollte sich mit einer diesbezüglichen spaßigen Bemerkung an Alfred Hertz wenden, doch der schien im Augenblick offenbar nicht ansprechbar zu sein. So verwarf Tolstoi den Gedanken wieder. Sie landeten gegen 13 Uhr 30 Ortszeit auf dem Helikopterdeck des Regierungssitzes in Genf. Nach einem herzlichen Empfang wurden sie in ihre komfortablen und stilvoll eingerichteten Zimmer geführt. Präsident Dostojewski und
Vizepräsidentin Isabel King befänden sich noch in einer Besprechung mit nationalen Vertretern, bei der es um Finanzierungsfragen beim Wiederaufbau gehe, sagte man ihnen. Doch ließe Dostojewski ausrichten, dass er diese Besprechung spätestens um 14 Uhr 30 beenden werde. Als die Delegation aus dem Ural kurz vor 15 Uhr das Arbeitszimmer des Präsidenten betrat, stellten die beiden Freunde ein jeder beim anderen sofort fest, wie sehr die vergangenen zwei Monate an ihnen gezehrt hatten. Sie umarmten sich stumm und herzlich, und jeder von ihnen hatte das Gefühl, dadurch dem anderen ein wenig Halt zu geben. Dann begrüßte Dostojewski in seiner liebenswürdigen Art John Woodstock und Alfred Hertz, dessen Gesicht ihm neu war. Er berichtete zunächst, offenbar noch ganz unter dem Eindruck der gerade zu Ende gegangenen Besprechung, von den enormen Anstrengungen, die mittlerweile alle Nationen zum Wiederaufbau ihrer Länder machten, und wechselte dann plötzlich das Thema, indem er die Gäste aus dem Ural fragte, was denn da neben den kosmischen Aminosäuren noch für eine seltsame Nachricht durch das Wurmloch zur Erde gelangt sei. „Es sind die letzten vierundzwanzig Stunden einer fernen Zivilisation, Herr Präsident“, antwortete Woodstock. „Hm“, entgegnete Dostojewski einsilbig, und dann: „Nun ja, die Leiter aller Bodenstationen sind der Einladung gefolgt, und ich denke, dass dies für eine so brisante Nachricht gewiss der richtige Rahmen ist. – John, vielleicht überprüfen Sie zusammen mit Alfred vorher noch die Technik, bevor wir um 16 Uhr beginnen.“ Woodstock verstand den Wink und verließ mit Alfred Hertz das Arbeitszimmer. So konnten sich die beiden Freunde
ungestört in aller Offenheit miteinander austauschen. Und es waren sehr viele Dinge, über die sie in vertrauter Weise sprachen – von den großen Anstrengungen der letzten Zeit, von ihrer grenzenlosen Müdigkeit, von Julias Befinden, von den Ereignissen in der Bodenstation Ural, von Paddy Fingal und Tina Nordström und schließlich von dieser ganz und gar unglaublichen Botschaft. Dostojewskis Skepsis wich zunehmend, jetzt, da der Freund ihm gegenübersaß und so überzeugend erzählte. Und so machte er sich kurz vor 16 Uhr zusammen mit Tolstoi voller Erwartung auf den Weg zu dem kleinen Konferenzraum, in dem die Botschaft vorgestellt werden sollte. Dort hatten sich die Teilnehmer bereits vollständig versammelt. Die meisten von ihnen scharten sich dabei um John Woodstock und Alfred Hertz, um von ihnen vorab einiges über den geheimnisvollen Anlass dieses Treffens zu erfahren. Als Dostojewski und Tolstoi den Raum betraten, ebbte die aufgeregte Diskussion ab, und alle Blicke richteten sich auf den Präsidenten. Doch der winkte mit der Bemerkung ab, dass bis zum Beginn noch Zeit sei für Begrüßungen und kurze Gespräche. Tolstoi bemerkte ein wenig abseits Vizepräsidentin Isabel King im Gespräch mit ihrem Landsmann Ron Nelson und dem Wissenschaftsminister. Rasch ging er zu ihnen und begrüßte Isabel in vollendeter Form mit einem angedeuteten Handkuss. Dann umarmte er freudig seinen Freund Ron Nelson, der ihm launig entgegnete: „Donnerwetter, Nikolai, du hältst uns ja mit deiner Station ganz schön in Atem!“ „Es sind die Außerirdischen, die das tun, Ron, nicht wir!“, antwortete Tolstoi.
Ron Nelson lachte, und Tolstoi wollte noch etwas hinzufügen, als ihm Isabel zuvorkam. „Nikolai, hast du Tina nicht mitgebracht?“, fragte sie erstaunt. Tolstoi gab daraufhin zunächst die aufgetragenen Grüße weiter und berichtete dann, in welcher Verfassung Tina sich nach Paddys Tod befände, und dass sie in ihre schwedische Heimat gefahren sei, um dort die Ereignisse innerlich zu verarbeiten. Isabel nickte verständnisvoll. Dann fragte sie Tolstoi nach der Adresse, unter der sie Paddys Familie in Irland erreichen könne, und Tolstoi versprach, sie ihr unmittelbar nach dem Treffen zu geben. Dostojewski, der sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte, lächelte, als Isabel ihre Bitte vorbrachte, erinnerte er sich doch zu gut an jenen Abend Anfang März, an dem Paddy leicht beflügelt vom Whisky so ehrlich und direkt seine tiefe Verehrung für die schöne Vizepräsidentin geäußert hatte, und wusste er doch zudem, dass auch Isabel den Iren auf ihre Weise in ihr Herz geschlossen hatte. Kurze Zeit später eröffnete der Präsident die Zusammenkunft. „Meine Damen und Herren“, begann er „als wir uns das letzte Mal hier trafen, standen wir alle noch unter dem schockähnlichen Eindruck der großen Katastrophe. Paddy Fingal aus der Bodenstation Ural erläuterte uns damals seine Deutung der Ereignisse, und diese Deutung hat uns ohne Frage in die Lage versetzt, die Ursachen der Katastrophe zumindest zu verstehen, auch wenn sie uns niemals hätte helfen können, einen möglichen Untergang unserer Erde zu verhindern. Diese letzte Apokalypse wurde durch eine gnädige Fügung von uns abgewendet. Und ich kann Ihnen versichern, dass mittlerweile die Menschen in allen Nationen voller Mut und Zuversicht am Wiederaufbau ihrer Länder arbeiten. Dabei ist es der Weltregierung eine große Freude, diesen
Wiederaufbau mit beträchtlichen finanziellen Mitteln unterstützen zu können. Paddy erlebt diese glückliche Phase nicht mehr. Er ist, wie ich allen Bodenstationen seinerzeit mitgeteilt habe, am 9. Mai ganz plötzlich an einem Kreislaufversagen gestorben. Dennoch hat er ganz wesentlich zu unserer heutigen Zusammenkunft beigetragen, wie Ihnen John Woodstock gleich erläutern wird. Die Bodenstationen hatten an jenem 7. März den Auftrag erhalten, die Gelegenheit wahrzunehmen und durch das Wurmloch in ungeahnte Entfernungen zu blicken. Sie haben dabei schier unglaubliche Strukturen entdeckt und diese auf einer kleinen Konferenz in der Bodenstation Ural gründlich erörtert. Ich unterstütze Nikolai Sergejwitsch in seiner Auffassung, dass sich ein ganz neuer Wissenschaftszweig mit dem Verständnis dieser Strukturen wird befassen müssen. Doch hat uns durch das Wurmloch, fast unbemerkt, noch etwas anderes erreicht. Und darüber wird Ihnen jetzt John Woodstock berichten. – John, Sie haben das Wort.“ Woodstock dankte dem Präsidenten und begab sich unverzüglich an das Rednerpult. „Alles begann damit“, eröffnete er seine Ausführungen, „dass wir in der Bodenstation Ural bei der Durchmusterung unserer Aufzeichnungen im Radiobereich am 28. April feststellten, dass uns am 10. März durch das Wurmloch eine etwa vierundzwanzigstündige Signalfolge im Frequenzbereich um 80 Megahertz erreicht hat, die eine ganz außergewöhnliche Struktur besitzt. Eine Signaleinheit mit einer Länge von 5 Minuten und 37 Sekunden wird nach einer Pause von 23 Sekunden ständig wiederholt, bis die Folge in der 247. Wiederholung abbricht. Diese Signalfolge wurde nur in dem
Sektor registriert, der uns und unserer Partnerstation in den Pyrenäen zugeteilt war. Wir…“ „Warum haben Sie dann die Signalfolge nicht umgehend auch den anderen Stationen mitgeteilt?“, wurde Woodstock an dieser Stelle barsch von Augusto Peron unterbrochen. Woodstock stutzte, und dann fehlten ihm offenbar die Worte, was für ihn ganz ungewöhnlich war. So kam ihm Manuela Sanchez zu Hilfe. „Ganz einfach, Augusto“, rief sie, mit ihrer derben Stimme den ganzen Raum füllend, „wir wollten zunächst sichergehen, dass es sich nicht um einen Artefakt handelte. Und als wir uns dessen sicher waren, hielten wir es für angebracht, den Kreis derer, die mit der Entschlüsselung des Signals befasst werden sollten, möglichst klein zu halten, denn Sie werden mir sicher recht geben, dass die Struktur der Signalfolge einen möglichen intelligenten Ursprung nicht ausschließt. Und Sie können sich sicher ausmalen, was ein Durchsickern dieser Nachricht für die Erdbevölkerung in ihrer derzeitigen Krise bedeutet hätte. Ich denke da an gewisse weltweit verbreitete Boulevardblätter – eines davon wird übrigens in Chile verlegt –, die gewiss die gerade überstandene Katastrophe auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft außerirdischer Monster zurückgeführt hätten.“ Es war wieder, wie schon damals bei der Konferenz in der Bodenstation Ural, ein allgemeines befreiendes Gelächter, das der Situation die Schärfe und Augusto Peron die Möglichkeit zum Insistieren nahm. „Nun ja“, fuhr Woodstock, nachdem das Gelächter sich gelegt hatte, fort, „wir gingen natürlich zunächst davon aus, dass der Ursprung des Signals irgendein sehr exotischer stellarer Prozess ist. Und er muss in der Tat sehr exotisch sein, denn die Periodizität der Signalfolge ist, gelinde gesagt,
äußerst ungewöhnlich. So konnte es nicht verwundern, dass wir zum einen mit einer stellaren Deutung letztlich nicht den geringsten Erfolg hatten und daher zum anderen immer stärker die Möglichkeit eines intelligenten Ursprungs in Betracht zogen. In Absprache mit der Bodenstation in den Pyrenäen setzten wir daraufhin die Dekodiersegmente unserer CyberSysteme auf die Signalfolge an. Doch auch die waren offenbar überfordert, war es doch absolut unklar, mit welcher Informationssprache das Signal belegt war. Es war dann ein geradezu absurder Hinweis Paddy Fingals, den Tina Nordström nach seinem Tod zufällig auf seinem Schreibtisch fand, der uns den entscheidenden Zugang zu dem Signal verschaffte.“ Woodstock machte eine kurze Pause und setzte dann fort: „An dieser Stelle berichte ich jetzt stellvertretend für Tina Nordström, die heute aus Gründen, die ich nicht erläutern möchte, nicht unter uns ist. Sie fand auf Paddys Schreibtisch ein Blatt Papier, auf dem in eingerahmter Form und in großen Buchstaben das Wort Komübertragung stand. Tina kam…“ „John, wollen Sie uns etwa die abwegigen Visionen eines Trinkers verkaufen?“, wurde er erneut rüde von Augusto Peron unterbrochen. Es entstand eine peinliche Stille, denn jeder wusste, dass der Chilene mit dieser Bemerkung zu weit gegangen war. Tolstoi spürte Zorn in sich emporquellen. Er bedeutete Woodstock mit einer Handbewegung, dass er als Stationsleiter diesen Einwurf Perons beantworten wolle. Doch dann bemerkte er, dass Dostojewski, der neben ihm saß, seinerseits ihm bedeutete, er möge bitte sitzen bleiben, da er, der Präsident, ein klärendes Wort dazu sagen wolle. Als er sich erhob, wussten alle Anwesenden, dass Peron gut daran getan
hätte, seine üble Bemerkung für sich zu behalten. Der Präsident fasste sich kurz. „Augusto“, sagte er mit jener verhaltenen und unterkühlten Stimme, die viele seiner Mitarbeiter so sehr fürchteten, „ich werde dem Wissenschaftsminister nachdrücklich empfehlen, gründlich zu überprüfen, ob Sie für die Aufgabe eines Stationsleiters noch geeignet sind.“ Dann wandte er sich in ebenso liebenswürdigem wie aufmunterndem Ton an Woodstock: „Ich denke, John, Sie können jetzt fortfahren.“ „Äh – ja natürlich – selbstverständlich, Herr Präsident“, geriet Woodstock ins Stottern. Doch dann fing er sich wieder und setzte seine Ausführungen fort. Er berichtete, dass Tina Nordström das Wort auf dem Blatt Papier als Hinweis Paddy Fingals gedeutet habe, die Signalfolge sei eine von einer fernen Zivilisation gesendete Komübertragung, dass er, Woodstock, das zunächst natürlich für ganz und gar absurd gehalten, sich dann aber doch mit der Idee angefreundet habe und schließlich von ihr überzeugt gewesen sei. Er habe dann auch Alfred Hertz dafür gewinnen können, und der werde jetzt darüber berichten, auf welchem Wege es ihm gelungen sei, die Signalfolge tatsächlich als Komübertragung im irdischen Sinn zu übersetzen. Woodstock übergab das Wort an Alfred Hertz, der auf seine spröde und kurz angebundene Art in wenigen Sätzen erläuterte, was er angestellt hatte, um das Signal in die irdische Komsprache zu übersetzen. „Man sollte es nicht glauben, aber sogar ein schlichtes Musikentzerrungsprogramm konnten wir am Ende mit Erfolg einsetzen!“, schloss er prosaisch und nahm wieder Platz.
Den Anwesenden erschien mittlerweile alles recht merkwürdig, ja geradezu unwirklich. Doch bevor sie noch darüber nachdenken konnten, erhob sich Woodstock und verkündete: „Herr Präsident, meine Damen und Herren Stationsleiter, überzeugen Sie sich jetzt selbst von dem unfassbaren Inhalt der Botschaft, die tatsächlich eine acht Milliarden Jahre alte Komübertragung ist.“ Woodstock dunkelte die Fenster ab und schaltete das Komgerät ein. Eine nervöse Spannung stand im Raum. Als dann das Planetensystem auf der Bildplatte erschien und der inbrünstige Gesang einsetzte, legte sich Beklemmung über die Anwesenden, die alles in ihnen verstummen ließ. Dann setzte die Orgelmusik ein, und Tolstoi hörte den neben ihm sitzenden Michael Fedorowitsch mit heiserer Stimme mühsam stammeln: „Mein Gott, Sergej – eine Orgel – was für eine Orgel – und das ist Bach – das ist Bachs Toccata in d-moll – aber in welch’ überirdischer Vollendung!“ Nachdem die Botschaft am Schluss angelangt war, waren alle in ihrer Erstarrung unfähig zu irgendeiner Äußerung. So begann nach 23 Sekunden der zweite Durchlauf, und erst nachdem dieser beendet war, fasste sich Dostojewski und bat darum, das Gerät abzuschalten. Woodstock ließ die Fensterabdunkelungen wieder hochfahren, und von draußen stürzte das Spätnachmittagslicht in den Raum. Den dort Versammelten wollte es scheinen, als seien sie aus einem grotesken Traum aufgetaucht und jetzt in die eigentliche Wirklichkeit dieses Frühlingsnachmittags zurückgekehrt. Dostojewski stand hilflos auf und deutete mit
einer Handbewegung an, man möge sich zu Wort melden. Doch keiner fand seine Sprache. Schließlich erhob sich der Leiter der Bodenstation Mt. Palomar und warf die Frage auf, ob denn vor acht Milliarden Jahren überhaupt schon eine so weit entwickelte Zivilisation hätte existieren können. Diese Frage wirkte wie ein Dammbruch. Plötzlich setzte ein wildes Durcheinander von Fragen, Antworten und irgendwelchen Feststellungen ein. Dostojewski versuchte vergeblich, das Ganze in geordnete Bahnen zu lenken. Schließlich übertrug er Tolstoi diese Aufgabe, da er noch zu sehr unter dem Eindruck der Botschaft stehend dazu nicht in der Lage war. Tolstoi gelang es dann nach einiger Zeit, das Durcheinander in eine halbwegs geordnete Diskussion zu lenken. Sie wurde gleicherweise heftig, witzig, zynisch, sarkastisch, ungläubig und staunend geführt, und einige wenige beteiligten sich nur durch stummes Zuhören. Und sie bewegte sich immer wieder auch im Kreis, sodass Stunde um Stunde verging, ohne dass eine Übereinkunft, die Einschätzung und das weitere Vorgehen betreffend, näherrückte. Gegen 20 Uhr ergriff wieder einmal Ron Nelson das Wort. „Ob wir es nun begreifen können oder nicht“, begann er mit seiner raumfüllenden Stimme, „wir haben genau das empfangen, worauf die Menschen seit Jahrhunderten gewartet haben. Also sollten wir diese Botschaft jetzt, da sie zu uns gelangt ist, auch so nehmen, wie sie ist. Sie ist in ihrer Musik und in ihren Bildern ganz und gar unmissverständlich, auch wenn das unseren Verstand fast übersteigt. Ich denke daher, dass unsere Aufgabe im weiteren darin bestehen wird, die Teile der Botschaft zu entschlüsseln, die in Schriftzeichen und Symbolen verfasst sind.“
Die Schlichtheit dieser Feststellung war verblüffend und brachte die Debatte augenblicklich zum Erliegen. Dostojewski nutzte die entstandene Pause und bedankte sich bei Ron Nelson für seinen hilfreichen Beitrag. Und, um das Erreichte nicht der Gefahr auszusetzen, in einer ziellosen Diskussion wieder unterzugehen, schlug er vor, jetzt zum Abendessen zu gehen und um 21 Uhr 30 dort fortzufahren, wo Ron Nelson gerade geendet hatte. Der Speiseraum war mit einem Anflug von Festlichkeit gedeckt, und der Präsident hatte zudem in der Küche ausrichten lassen, man möge bitte ein besonders gutes Essen servieren. Dostojewski hatte Ron Nelson gebeten, sich doch zu ihm, Isabel King sowie seinem Freund Nikolai an den Tisch zu setzen. Nachdem sie Platz genommen hatten, wandte sich der Präsident an den Südafrikaner: „Ich glaube, Ron, Südafrika ist für unsere Erde ein Segen. Von dort haben wir einmal unsere ebenso schöne wie tüchtige Vizepräsidentin, von der wir alle hoffen, dass sie unsere nächste Präsidentin sein wird. Und – “ „Michail – bitte!“, wurde er von Isabel King unterbrochen. Mit einer eleganten Handbewegung bat Dostojewski fortfahren zu dürfen. „ – Und dann haben wir von dort einen Stationsleiter, der neben meinem Freund Nikolai Sergejwitsch mit Abstand zu den klügsten zählt.“ „Darin stimme ich dir, was Ron anbelangt, uneingeschränkt zu“, pflichtete ihm Tolstoi bei. Die Suppe war inzwischen aufgetragen, und der Präsident erhob sich, um allen Anwesenden einen verdienten und
gesegneten Appetit zu wünschen. Die aufgeregten Diskussionen an den einzelnen Tischen ebbten hörbar ab, und man wandte sich dem guten Essen zu. Am Tisch des Präsidenten wurde die Frage erörtert, ob und wie man wohl die Schriftzeichen und Symbole in der Botschaft entschlüsseln könne. Ron Nelson zeigte sich in dieser Frage recht optimistisch. Da die Wissenschaftler jener fernen Zivilisation offenbar die Disziplinen Astrophysik und Allgemeine Relativitätstheorie im irdischen Sinn meisterhaft beherrscht hätten, könne man vielleicht, so Ron Nelson, diese auch den Menschen vertrauten Zusammenhänge im Schriftund Symbolteil der Botschaft entziffern und sich dann weiter vorarbeiten. Tolstoi hielt dem entgegen, dass Rons Optimismus wohl nur gerechtfertigt sei, wenn jene Zivilisation dasselbe Sprach- und Symbolverständnis wie die Menschen gehabt hätte. An einem der anderen Tische wurde Alfred Hertz ausführlich nach seinem Verfahren befragt, das er zur Übersetzung des Signals entwickelt hatte. Seine am Nachmittag dazu gegebenen Erläuterungen waren doch recht kurz und sparsam ausgefallen. So verstrich die Zeit bis zum Wiederbeginn der Beratung ziemlich rasch, zumal allein das Essen mit seinen vier Gängen seine Zeit in Anspruch nahm. Als dann gegen 21 Uhr 30 Dostojewski die Diskussion mit dem Hinweis wiedereröffnete, die folgenden Wortmeldungen möchten sich doch bitte an Ron Nelsons Schlusswort aus dem ersten Teil orientieren, war es entweder die besänftigende Wirkung des guten Essens oder auch eine erste gedankliche Distanz zu dem Erlebten, vielleicht auch beides, die dazu führten, dass sich die Beratung in disziplinierter Form ausschließlich mit der Entschlüsselung
der Schrift- und Symbolpassagen in der Botschaft befasste. Man war sich ziemlich bald einig darüber, dass dies, wenn überhaupt, nur mit Hilfe der Dekodiersegmente der CyberSysteme und zudem nur in enger Zusammenarbeit mit den an den Cyber-Systemen arbeitenden entsprechenden Spezialisten möglich sei. Dostojewski gab in diesem Zusammenhang die ausdrückliche Anweisung, den Kreis der Leute, die auf diese Weise mit der Botschaft bekannt würden, strikt auf diesen engen Kreis zu beschränken, da er sich noch darüber beraten wolle, wann und in welcher Form er die Botschaft der Erdbevölkerung mitteile. Gegen 22 Uhr 30 hob der Präsident mit einem Dankeswort die Beratung auf und lud alle noch zu zwanglosem Gedankenaustausch in den Gästesalon ein. Er selbst werde mit seinem Freund Nikolai Tolstoi aus privaten Gründen nur kurze Zeit daran teilnehmen, am morgigen Tag jedoch mit den Gästen gemeinsam frühstücken, um sich dann anschließend von allen persönlich zu verabschieden. Gegen 23 Uhr 30 verließen Dostojewski und Tolstoi die Gäste im Salon, denn Julia hatte inständig darum gebeten, zu dritt fernab von allen offiziellen Verpflichtungen noch einige Stunden mit Nikolai zu verbringen. Als die beiden Freunde in der Präsidentenwohnung den großen und stilvoll eingerichteten Wohnraum betraten, stand dort in der Mitte mit einem strahlenden Lächeln. Julia Tolstoi verharrte und ließ schweigend die Schönheit dieser Frau auf sich wirken. Dann brach es aus ihm heraus: „Julia – wie schön du aussiehst!“ Sie eilte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und umarmte ihn. Tolstoi genoss diese innige Zuwendung einer zutiefst
vertrauten Freundin. Er schob sie leicht ein Stück von sich, um sie besser betrachten zu können. „Du hast dich von deinem schweren Schock blendend erholt, Julia – welch’ ein Glück für uns alle!“, sagte er mit fast zärtlicher Stimme. „Ja, ich fühle mich auch wieder gut, Nikolai – aber ihr beide seht sehr, sehr müde aus“, erwiderte sie. „Kommt und setzt euch, ich bringe euch eine Erfrischung!“ Sie verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Tablett zurück, auf das sie einige einladende Getränke gestellt hatte. Sie tranken zu dritt, und die beiden Freunde spürten deutlich die belebende Wirkung. „Nikolai“, wandte sich Julia jetzt bittend an Tolstoi, „ich weiß, dass du sehr müde bist, aber spielst du mir vielleicht doch etwas auf dem Flügel vor? – Es darf auch ganz kurz sein!“ Natürlich wusste sie, dass Nikolai ihr diese Bitte niemals abschlagen würde. So setzte sich Tolstoi an den Flügel im hinteren Teil des großen Wohnraums und begann zu spielen. Und irgendwie war es für ihn ganz selbstverständlich, jetzt eine Invention von Bach zu spielen, obwohl er das sonst nur äußerst selten tat. Fedor und Julia hatten sich an die Seite des Flügels gestellt und hörten ihm andächtig zu, ihre Arme hinter ihren Rücken umeinander gelegt. Tolstoi spielte zwei Inventionen, und als er geendet hatte, klatschten Julia und Fedor aufrichtig Beifall. Dann ging Julia zu ihm, umarmte ihn wieder und sagte leise: „Danke, Nikolai, danke!“ Sie setzten sich an einen kleinen kunstvoll gearbeiteten Tisch unmittelbar an der Fensterfront mit ihrem Panoramablick auf den Genfer See, der jetzt in der Dunkelheit allerdings nur zu ahnen war. Julia hatte Kerzen angezündet und das elektrische Licht gelöscht, und Fedor stellte einen seiner besten
französischen Weine auf den Tisch. Sodann tranken sie miteinander Wein, erzählten, lachten und genossen die über so viele Jahre gereifte Vertrautheit. Julia wollte natürlich alles erfahren – die Ursache der Katastrophe, was es mit dem Wurmloch auf sich habe, den Inhalt der Botschaft, wem das alles eingefallen sei, wie es jetzt weitergehen solle, und vieles mehr. Fedor und Sergej verspürten bei dem Versuch, das alles zu erläutern, eine merkwürdige Distanz diesen Dingen gegenüber, ja, sie meinten deutlich zu erkennen, dass ihr Wissen um diese unfassbaren Geschehnisse vielleicht gar nicht vermittelbar war. Erst spät in der Nacht, als Fedor und Sergej der übermächtigen Müdigkeit keinen Widerstand mehr leisten konnten, trennten sich die drei – einander umarmend und einen gesegneten Schlaf wünschend. Nach dem gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen und der Verabschiedung der Stationsleiter begann für den Präsidenten ein überaus arbeitsreicher Tag. Am 20. Mai würde sich das Weltparlament zu einer fünftägigen Sitzungsfolge versammeln, um über die Finanzierung des Wiederaufbaus zu beraten und zu beschließen. Bis dahin waren noch eine ganze Reihe von Gesprächen mit nationalen Delegationen zu führen sowie eine beträchtliche Zahl an Vorlagen zu erarbeiten. So waren Dostojewski und seine Vizepräsidentin an diesem Tag bis in den späten Abend hinein mit Arbeit gleichsam zugedeckt, sodass ihnen keine Zeit blieb, über die Ereignisse des Vortags länger nachzudenken. Dennoch spürten sie, dass die Botschaft sie auf einer tieferen Ebene ihres Bewusstseins in Beschlag genommen hatte, denn beide mussten sie an diesem Tag mehrfach bei sich die Erfahrung machen, dass ein Teil ihrer
sonst sehr ausgeprägten vorhanden war.
Konzentration
einfach
nicht
Dostojewski hatte sich vorgenommen, die Frage, ob und wie die Botschaft den Menschen auf der Erde mitgeteilt werden sollte, zunächst mit seiner Vizepräsidentin zu beraten. Doch am späten Abend dieses Tages – es ging bereits auf Mitternacht zu – fehlte ihm die Kraft dazu. So vertagte er die Beratung. Auch der folgende Tag ließ keinen Raum dafür. Erst nach dem Abendessen des dritten Tages fanden beide die nötige Ruhe, diese Frage in Dostojewskis Arbeitszimmer zu erörtern. „Isabel“, begann der Präsident, „ich befinde mich, was die Veröffentlichung der Botschaft anbelangt, in einer sehr schwierigen Lage. Einerseits, so denke ich, haben die Menschen ein Recht darauf, von dieser Botschaft und von den Umständen, unter denen sie zu uns gelangt ist, zu erfahren. Andererseits übersteigt sie so sehr das menschliche Fassungsvermögen, dass ich fürchte, eine Veröffentlichung in der augenblicklichen Lage unserer Erde könnte unter Umständen katastrophale Folgen haben. – Wie denkst du darüber?“ Sie saßen sich in bequemen Sesseln in der Sitzecke des Arbeitszimmers gegenüber, und Isabel rauchte einen dünnen Zigarillo, was sie gelegentlich am Ende sehr arbeitsreicher Tage tat. Auf Dostojewskis Frage hin sah sie ihn nachdenklich aus ihren großen dunklen Augen an, und der Präsident war wieder einmal, wie schon so oft, gebannt von der unwiderstehlichen Ausstrahlung dieser Frau. „Nein, Michail“, sagte sie schließlich mit ihrer warmen dunklen Stimme, „du solltest es nicht tun. Zum einen ist nämlich durchaus richtig, was Manuela Sanchez wohl mehr
spaßhaft gemeint hat und was du in etwas ernsterer Form auch befürchtest, dass nämlich die Erdbevölkerung in erneute Panik geraten könnte, weil sie möglicherweise die Katastrophe und die Botschaft in einen unheilvollen Zusammenhang bringt. Aber ich denke noch an etwas anderes, Michail. Ich stelle mir vor, dass du als Präsident der Erdbevölkerung mitteilst, ein Wurmloch im Universum habe einerseits den Menschen unsägliches Leid gebracht, andererseits sei aber durch eben dieses Wurmloch eine Botschaft von einer fernen Zivilisation ausgestrahlt worden, die unter anderem weiterentwickelte Bachsche Musik in höchster Vollendung enthalte. Ich darf dir versichern, Michail, dass eine ganze Reihe keinesfalls nur billiger und ordinärer Zeitungen die Vermutung anstellen würde, ob das Hirn des Präsidenten vielleicht Wurmlöcher bekommen hat, durch die er jetzt Sphärenmusik hört. – Nein, Michail, du solltest es jetzt nicht tun. Und wenn du, sagen wir, ein Jahr damit wartest, könnte vielleicht alles schon zur Legende geworden sein.“ Isabel streifte die Asche von ihrem Zigarillo und lehnte sich zurück. Dostojewski nickte stumm und gab dann lediglich ein leises „Hm“ von sich. Beide schwiegen sie in ihre Gedanken vertieft. Dostojewski tauchte daraus als erster auf. „Isabel“, fragte er plötzlich mit einladender Stimme, „trinken wir zusammen ein Glas Wein?“ „Ja, gerne, Michail!“, erwiderte sie lächelnd. Der Präsident ließ eine Flasche sehr guten französischen Wein kommen. Nachdem der Hausangestellte den Wein eingeschenkt und sich wieder zurückgezogen hatte, erhob Dostojewski sein Glas und stieß mit seiner Vizepräsidentin an. „Du hast recht, Isabel, es geht einfach nicht“, sagte er nachdenklich. Und dabei lag in seiner Stimme gleicherweise Erstaunen und Ungläubigkeit. Er erhob sich plötzlich und ging
zu seinem Schreibtisch. Dort hantierte er mit der Fernbedienung seines Komgeräts, und Isabel konnte hören, dass er die Tonanlage einschaltete. Dann kehrte er in die Sitzecke zurück und setzte sich wieder bequem in seinen Sessel. Er sah seine Vizepräsidentin bedeutungsvoll an und sagte: „Isabel, ich möchte dir etwas vorspielen.“ „Gerne!“, erwiderte sie und setzte sich erwartungsvoll zurecht. Dostojewski drückte den Startknopf, und urplötzlich war der Raum erfüllt von den gleicherweise dräuenden wie triumphierenden Klängen der Toccata und Fuge in d-moll des irdischen Johann Sebastian Bach, gespielt vom derzeit erdbesten Organisten auf der Orgel in der Kathedrale von Reims. Nachdem die bedrängenden Schlussakkorde der Toccata abgeebbt waren und die Fuge eingesetzt hatte, murmelte Dostojewski: „Oh ja, unser Bach ist auch gut – er ist sogar, verdammt noch einmal, sehr gut!“ Isabel King traute ihren Ohren nicht, hatte sie doch gerade aus dem Munde des Präsidenten das Wort ‘verdammt’ vernommen und war sie sich doch sicher, dass er dieses Wort in seiner bisherigen Präsidentschaft das erste Mal benutzt hatte. Sie beobachtete Dostojewski, der jetzt ganz in sich versunken mit seinen Händen das Spiel des Organisten nachahmte, und lächelte über diesen vernarrten Bachliebhaber, der gleichzeitig nichts weniger war als der Präsident dieser Erde. Sie musste plötzlich daran denken, dass in den letzten Monaten vor der Katastrophe im Erdparlament Dostojewskis Nachfolge immer wieder diskutiert worden war, und dass man allgemein annahm, dass sie wohl bereit sei, das Amt zu übernehmen. Doch sie wusste in diesem Augenblick, dass sie Dostojewski nicht ablösen würde, nicht ablösen wollte. Sie würde ihn vielmehr überreden, das Amt ein weiteres Mal
auszuüben, und sie wusste auch, wie sie das mit Erfolg würde tun können: Sie würde ihm versprechen, ein weiteres Mal seine Vizepräsidentin zu werden.
EPILOG
Tina Nordström kehrte nicht mehr in die Bodenstation Ural zurück. Von der Olaf-Palme-Universität in Stockholm wurde ihr ein äußerst großzügiges Angebot unterbreitet, dort als Wissenschaftlerin in Forschung und Lehre zu arbeiten. Die Botschaft aber bewahrte sie in einem verborgenen Winkel ihres Wissens und Bewusstseins auf, und im Laufe der Zeit erschien ihr dieses Wissen immer schemenhafter. Dostojewski wurde ein weiteres Mal zum Präsidenten gewählt und mit ihm Isabel King als Vizepräsidentin. Unter ihrer Präsidentschaft erstand die Erde wieder in neuem Glanz. Dostojewski verbrachte auch weiterhin seine Urlaubstage in kleinen Dörfern, in denen die Kirchen mit guten Orgeln ausgestattet waren, und er spielte zum Schluss stets die Toccata und Fuge in d-moll. Nur ganz wenige Eingeweihte kannten den Grund dafür. Der kleine Kreis eingeweihter Wissenschaftler suchte weiterhin nach einer Wurmlochlösung, mühte sich um ein Verständnis der kosmischen Aminosäuren und versuchte, die Text- und Symbolpassagen der Botschaft zu entziffern. Doch alle drei Probleme schienen die irdischen Wissenschaftler in hohem Maße zu überfordern. Mit der jahrzehntelangen Ergebnislosigkeit verblasste schließlich das Interesse an diesen Fragen. Im März des Jahres 2422 wurde der Nachthimmel durch eine Erscheinung am Firmament hell erleuchtet. Die Astronomen
stellten fest, dass in einer Entfernung von etwa 30 Lichtjahren ein ganz normaler Stern explodiert war, die Ursache dafür blieb jedoch ein tiefes Rätsel.
ANHANG
1) Das Sonnensystem Unsere energie- und lebensspendende Sonne ist eine gigantische Gaskugel aus Wasserstoff und Helium mit einem Durchmesser von etwa 1,4 Millionen Kilometern (zum Vergleich: Eine Rundreise um den Erdäquator ist etwa 40-tausend Kilometer lang). In ihrem Zentrum ist die Sonne rund 10 Millionen Grad Celsius heiß, an ihrer Oberfläche „nur“ noch etwa 5.500 Grad Celsius. Neun Planeten umkreisen auf mehr oder weniger stark ausgeprägten ellipsenförmigen Bahnen das Zentralgestirn – auf ihren Bahnen gehalten durch die Massenanziehungskraft der gigantischen Sonnenkugel. Der sonnennächste Planet heißt Merkur, es folgen dann nach ihrer Entfernung zur Sonne geordnet die Planeten Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto. Ihre Umlaufbahnen verlaufen alle etwa in einer gemeinsamen Bahnebene (siehe auch Abbildung 1 im Prolog). Die Massen, Umlaufzeiten und Entfernungen zur Sonne sind bei den einzelnen Planeten sehr unterschiedlich. So beträgt die Masse unserer Erde etwa 1/300.000 der Sonnenmasse, der größte Planet, der Jupiter, besitzt dagegen eine Masse, die rund 300-fach so groß ist wie die der Erde. Die Erde benötigt für einen Umlauf um die Sonne 1 Jahr, der entfernteste Planet Pluto, recht genau so groß wie die Erde, dagegen 250 Jahre. Die Entfernungen im Sonnensystem sind bereits so groß, dass eine herkömmliche Angabe in Kilometern keinen wirklichen Eindruck von den riesigen Distanzen vermittelt. Als Entfernungsmaß benutzt
man daher Strecken, die das Licht in einer gewissen Zeit zurücklegt. Solche Strecken sind sehr groß, da die Laufgeschwindigkeit des Lichts extrem hoch ist. Nach heutigem Stand der Wissenschaft ist die Lichtgeschwindigkeit sogar die obere Schranke aller physikalischen Geschwindigkeiten. Das Licht umrundet in 1 Sekunde rund 7 1/2-mal den Erdäquator, die 7 1/2-fache Äquatorlänge ist daher etwa 1 Lichtsekunde. Eine Lichtminute ist dann das 60-fache dieser Entfernung, usw. In Lichtlaufzeiten ausgedrückt beträgt die Entfernung Erde – Sonne etwa 8 1/2 Lichtminuten. Die Entfernung zwischen der Umlaufbahn der Erde und der des Jupiters beträgt rund 35 Lichtminuten. Diese Entfernung ist gleichzeitig etwa die kürzeste mögliche Distanz zwischen den beiden Planeten, nämlich dann, wenn Erde und Jupiter auf ihren Bahnen um die Sonne so stehen, dass sie zusammen mit der Sonne auf einer Verbindungslinie liegen. Entsprechend beträgt die kürzeste Zeit zwischen der Erde und dem äußersten Planeten Pluto etwa 5 Lichtstunden.
2) Das Milchstraßensystem oder die Galaxis Seit Anbeginn der Menschheit fasziniert die Erdbewohner der Blick in einen klaren Nachthimmel. Das mit Sternen übersäte Firmament war Anlass zu vielerlei Mythen und Spekulationen und prägte die frühen Vorstellungen vom Aufbau des Universums. Heute wissen wir, dass alle diese Sterne Sonnen sind. Sie sind in ihrer überwiegenden Zahl etwa so massiv wie unsere Sonne, einige von ihnen jedoch auch sehr viel massiver (bis zur 10-fachen Sonnenmasse). Sie erscheinen unserem Auge nur als Lichtpunkte, weil sie unvorstellbar weit entfernt sind. So ist der nächste Stern, mit Namen Proxima Centauri, etwa 4,3 Lichtjahre von unserer Sonne entfernt. Ein
Raumschiff, das sich mit einer Reisegeschwindigkeit von 20-tausend km/h auf den Weg zum Stern Proxima Centauri machen würde, wäre rund 250-tausend Jahre unterwegs. Hinter der unübersehbaren Zahl einzelner Sterne entdeckt das menschliche Auge in besonders klaren Nächten ein milchiges Band – die sogenannte Milchstraße. Auch dieses Band besteht aus einer riesigen Zahl einzelner Sonnen, die jedoch bereits so weit entfernt sind, dass das Auge sie nicht mehr als Einzelobjekte voneinander trennen kann und daher das Licht aller dieser Sterne nur noch als milchigen Dunst wahrnimmt. Jenseits der Sichtgrenze des menschlichen Auges können wir nur mit Hilfe moderner Beobachtungsinstrumente wie Hochleistungsfernrohre, Spiegelteleskope und Radioteleskope Informationen einholen. Die Beobachtungen zeigen, dass alles das, was das menschliche Auge wahrnehmen kann, nur ein sehr kleiner Teil eines gigantischen Sternenverbundes aus etwa 100 Milliarden Sonnen ist – das Milchstraßensystem, in der Kosmologie auch die Galaxis genannt. Sie hat die Form einer Scheibe, die von der „Seite“ gesehen einer Spindel gleicht und in der „Draufsicht“ eine spiralförmige Anordnung der Sonnen sowie der interstellaren Gas- und Staubwolken aufweist (siehe Abbildung 4). Der Durchmesser der galaktischen Scheibe misst etwa 100 Tausend Lichtjahre und ihre Dicke im Zentrum rund 1/8 des Durchmessers. Abbildung 5 zeigt eine astronomische Aufnahme unserer Nachbargalaxie’), des von unserer Galaxis etwa 2,5 Millionen Lichtjahre entfernten Andromedanebels, der ziemlich genau dieselbe Größe und Form aufweist wie unsere Galaxis. Der „Blick“ von unserer Erde aus fällt dabei schräg auf die Scheibe.
Abb. 5: Astronomische Aufnahme des Andromedanebels.
Die Spiralstruktur lässt eine Rotation des gesamten Systems vermuten. In der Tat, die Spirale dreht sich in etwa 200 Millionen Jahren einmal um sich selbst. Dabei vermag der Innenbereich der Scheibe die Spiralarme nicht vollständig mitzureißen, so dass diese gegenüber dem zentralen Bereich zurückbleiben, und zwar um so stärker, je weiter sie vom Zentrum entfernt sind. Trotz der riesigen Zahl von 100 Milliarden Sonnen in der Galaxis ist der Abstand zwischen den einzelnen Sternen unvorstellbar groß. Zu einer Vorstellung gelangt man nur, wenn man die Galaxis auf irdische Maßstäbe verkleinert. Verkleinert man so die Sonnen auf die Größe von Kirschen, so befände sich in einem solchen Modell je eine Kirsche in den
Hauptstädten Europas, also eine Kirsche in London, eine in Paris, eine in Stockholm, usw… Wie viele der unzähligen Sterne in unserer Galaxis besitzen wie unsere Sonne ein Planetensystem, und in wie vielen dieser Planetensysteme könnte intelligentes Leben nach irdischem Muster existieren? Astrophysiker können heute überzeugende Gründe dafür angeben, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Sonnen ein Planetensystem besitzt. Hingegen ist die Frage, in wie vielen dieser Planetensysteme Leben existiert, äußerst schwierig zu beantworten. Man bedenke dabei, dass dafür zweierlei Grundvoraussetzung ist, nämlich zum einen die richtige chemische Zusammensetzung der Atmosphäre aus Stickstoff und Sauerstoff und zum anderen eine moderate Temperatur. Befände sich zum Beispiel die Erde mit ihrer richtigen Atmosphärenzusammensetzung an Stelle des Planeten Venus, dann würde alles Leben in der venusianischen Hitze von etwa 470 Grad Celsius verglühen, und befände sie sich an der Stelle des Planeten Mars, so würde alles Leben in der eisigen Kälte erstarren. Es bedarf also neben der richtigen Atmosphärenzusammensetzung noch des richtigen Abstands zum Zentralgestirn. So gesehen ist Leben in den Planetensystemen der Sterne sicherlich eine Seltenheit, doch wäre es geradezu vermessen, wollte man behaupten, dass in unserer Galaxis intelligentes Leben nur auf der Erde existiert. Wenn wir also annehmen, dass außer uns noch weiteres Leben in der Galaxis existiert, so stellt sich natürlich die Frage, ob wir mit diesen anderen intelligenten Lebensformen Kontakt aufnehmen können. Einem solchen Kontakt sind aus zwei Gründen äußerst enge Grenzen gesetzt. Die riesigen Entfernungen zu den anderen Sonnen bedingen zum einen enorme Laufzeiten für ausgetauschte Informationen. So beträgt etwa die Laufzeit eines Radiosignals (das sich mit
Lichtgeschwindigkeit fortpflanzt) von uns zum Stern Proxima Centauri oder von dort zu uns 4,3 Jahre, also benötigen Signal und eine Antwort auf das Signal etwa 8 1/2 Jahre. Proxima Centauri besitzt aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gar kein Planetensystem, sondern die Entfernung bis zum nächsten Stern, der möglicherweise von einem Planetensystem umgeben ist, beträgt etwa 10 Lichtjahre. Gravierender als die langen Laufzeiten ist jedoch das Intensitätsproblem. Ein von der Erde ausgestrahltes Radiosignal erreicht ein Planetensystem in 10 Lichtjahren Entfernung nur mit einem extrem winzigen Bruchteil seiner ausgestrahlten Intensität, auch dann, wenn wir die stärksten uns möglichen Sender benutzen und die zur Verfügung stehende Intensität in gebündelter Form auf nur eine Richtung konzentrieren (sodass nicht die später in Abschnitt 4 erläuterte Intensitätsabschwächung zutrifft, die nur für eine Rundumabstrahlung in alle Richtungen Gültigkeit besitzt). Mit den heutigen Mitteln der irdischen Radiotechnik wäre ein solches Signal am Empfangsort nicht registrierbar.
3) Das Universum Der Blick der Astronomen über ihre Spiegel- und Radioteleskope ist keinesfalls auf die Galaxis beschränkt. Er reicht heute weit über das Milchstraßensystem hinaus bis in die Tiefen des Weltalls. Dabei stellen die Astronomen fest, dass das Universum von Galaxien übersät ist – so weit ihr „Auge“ reicht. Viele dieser Galaxien sind Spiralgalaxien wie unsere Galaxis. Doch beobachtet man auch ellipsoidförmige Systeme oder gar exotische Balkengalaxien. Unter den
ellipsoidförmigen Systemen findet man dabei auch „Zwerge“ mit nur etwa 1 Milliarde Sonnen. Eine weitere außerordentlich bedeutsame Beobachtung ist die sogenannte Rotverschiebung des von den Galaxien ausgestrahlten Lichts. Zur Erläuterung dieses Phänomens sei das sichtbare Licht in der Farbfolge blau, grün, gelb, rot angeordnet. Diese Reihenfolge ist eine Anordnung nach steigenden Wellenlängen des Lichts: Blaues Licht hat eine Wellenlänge ? im Bereich um ? = 460 Nanometer, grünes Licht eine Wellenlänge um ? = 530 Nanometer, gelbes Licht um ? = 580 Nanometer und rotes Licht um ? = 700 Nanometer. Dabei entspricht 1 Nanometer = 1/1.000.000.000 Meter. Sendet jetzt eine Galaxie blaues Licht aus, so empfängt der Astronom auf der Erde dieses Licht beispielsweise als grünes Licht, ausgestrahltes grünes Licht wird als gelbes oder gar rotes Licht empfangen und ausgestrahltes rotes Licht schließlich wird im infraroten Bereich empfangen, also für das menschliche Auge gar nicht mehr sichtbar. Die Wellenlängen werden also zum roten Bereich oder auch darüber hinaus verschoben, daher die Bezeichnung Rotverschiebung. Man drückt diese Verschiebung der Wellenlänge durch die Zahl z aus und schreibt:
In dieser Formel bezeichnet ? 0 die Wellenlänge des von der Galaxie ausgestrahlten Lichts und ? die Wellenlänge, in der dieses Licht auf der Erde empfangen wird. Als Beispiel betrachten wir eine ausgestrahlte Wellenlänge von ? 0 = 400 Nanometer und eine empfangene Wellenlänge von ? = 600 Nanometer. Dann ergibt sich
Je kleiner die Rotverschiebung ist, d. h. je dichter ? bei ? 0 liegt, um so kleiner ist auch z. Für ? = ? 0 (keine Rotverschiebung) ist schließlich
Zur Bestimmung der Rotverschiebung z bestimmen die Astronomen das Verhältnis ?/? 0 in Formel (1), indem sie charakteristische Spektrallinien (siehe auch Abschnitt 4) im empfangenen und rotverschobenen Licht identifizieren und diese mit den unverschobenen Linien im Labor auf der Erde vergleichen. Die Rotverschiebung z lässt sich auch durch die Frequenzen ?0 und ? des ausgestrahlten bzw. empfangenen Lichts ausdrücken. Allgemein ist das Produkt aus Wellenlänge und Frequenz einer elektromagnetischen Welle gleich der Lichtgeschwindigkeit c, also ? 0 ? 0 = c und ? ? = c oder ? 0 = c/? 0 und X = c/?. Setzt man diese Ausdrücke für ? 0 und ? in Formel (1) ein, so erhält man
Die Rotverschiebung des von den Galaxien ausgestrahlten Lichts wächst mit der Entfernung der Galaxie vom Beobachtungsort Erde. Die Astronomen fanden in guter
Näherung folgenden Zusammenhang Rotverschiebung z und Entfernung d,
zwischen
Aus der Formel (3’) lässt sich bei gemessener Rotverschiebung z einer fernen Galaxie ihre Entfernung d zum Zeitpunkt der Messung bestimmen. So ergibt sich zum Beispiel für eine Rotverschiebung von z = 1 eine Entfernung von d ~ 7 Milliarden Lichtjahren. Physikalisch deuten lässt sich die Rotverschiebung nur so, dass sich alle Galaxien vom Beobachtungsort Erde bzw. von unserer Galaxis entfernen, und zwar um so schneller, je größer ihre Rotverschiebungen sind, je weiter sie also entfernt sind. Nun ist unsere Milchstraße sicher nicht das Zentrum des Universums. Warum sollte sie das wohl sein bei der riesigen Zahl gleichartiger Galaxien? So bleibt nur die Schlussfolgerung, dass das gleiche Bild auseinanderstrebender Galaxien, das sich von unserer Milchstraße aus bietet, auch von jeder anderen Galaxie aus beobachtet würde. Ein solches Szenario lässt sich mit unseren traditionellen Raumvorstellungen nicht vereinbaren. Die Allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins mit ihrer grundlegenden Revidierung des Raum- und Zeitbegriffs bietet dagegen eine Möglichkeit, diese Verhältnisse zu beschreiben. Diese Beschreibung lässt sich recht gut an einem Bild veranschaulichen, wenn man den dreidimensionalen Raum des Universums auf zwei Dimensionen reduziert. Das sichtbare Universum mit seinen allseits auseinanderstrebenden Galaxien lässt sich dann mit einem Stück der zweidimensionalen Oberfläche eines Ballons vergleichen, der aufgeblasen wird,
wobei den einzelnen Galaxien dicht gesäte Punkte auf der Oberfläche entsprechen. In der Tat, beim Aufblasen des Ballons entfernt sich jeder Punkt auf der Oberfläche von jedem Punkt, und der auseinanderstrebende Punktschwarm sieht von jedem Punkt gleich aus. Auch die Geschwindigkeit, mit der sich ein Punkt P des Schwarms von einem festen Punkt P0 entfernt, ist um so größer je weiter der Punkt von Punkt P0 entfernt ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entfernung entlang der gekrümmten Oberfläche zu nehmen ist, und dass demzufolge auch die Geschwindigkeit, mit welcher der Punkt P sich von Punkt P0 entfernt, als Änderung dieser Entfernung pro Zeiteinheit zu verstehen ist. Bei der Übertragung dieses zweidimensionalen Modells vom Universum auf drei Dimensionen versagt die Anschauung. Wir können uns eben eine zweidimensional gekrümmte Kugeloberfläche vorstellen, nicht aber einen entsprechend gekrümmten dreidimensionalen Raum. Dennoch kann man sagen, dass unser dreidimensionales Universum entsprechend dem obigen zweidimensionalen Modell expandiert. Verfolgt man diese Expansion in der Zeit rückwärts, so gelangt man in ein Stadium, in dem die Galaxien sehr dicht zusammenlagen, noch weiter zurück gab es weder Galaxien noch Sonnen, sondern nur gleichförmig verteiltes heißes Gas aus Protonen und Elektronen, und noch weiter zurück war das Universum so heiß, dass es praktisch nur aus Licht bestand, usw. Die Allgemeine Relativitätstheorie kann ein solches über viele Stadien expandierendes Universum beschreiben. Speist man in dieses theoretische Modell die heutigen Beobachtungsdaten ein, zum Beispiel die Beziehung (3), so macht das Modell die aufregende Aussage, dass das Universum vor etwa 14 Milliarden Jahren begonnen hat, aus einem Zustand mit unendlicher Temperatur und unendlicher
Gasdichte heraus explosionsartig zu expandieren. Diesen Beginn von Raum und Zeit nennt man den Urknall. Er entzieht sich einer physikalischen Beschreibung. Noch heute, 14 Milliarden Jahre nach dem Urknall, können Astronomen ein spätes Nachglühen dieser heißen Geburtsphase beobachten: Das Universum ist nahezu vollständig homogen mit einer elektromagnetischen Hintergrundstrahlung ausgefüllt, die einer Temperatur von etwa -270 Grad Celsius entspricht, etwa 3 Grad Celsius über der tiefsten überhaupt möglichen Temperatur, die am absoluten Temperaturnullpunkt bei -273,2 Grad Celsius liegt. Noch bis vor zwanzig Jahren waren Kosmologen der festen Überzeugung, dass sich die Galaxien im wesentlichen gleichmäßig über das Universum verteilen, wenn man einen Maßstab zugrunde legt, der sehr viel größer ist als der Abstand zwischen zwei benachbarten Systemen. Diese Überzeugung leitete sich aus der nahezu vollständig homogenen Hintergrundstrahlung ab, deren Homogenität man als Indiz für eine homogene Verteilung auch der Massen im Universum, also der Galaxien, auffasste. Zudem vereinbart sich eine gleichmäßige Verteilung der Galaxien besonders gut mit dem ebenso leistungsfähigen wie einfachen theoretischen Modell vom Universum, das die Allgemeine Relativitätstheorie bereitstellt. Genauere Beobachtungen der letzten fünfzehn Jahre förderten jedoch äußerst überraschende Ergebnisse zutage. Von einer gleichmäßigen Verteilung kann überhaupt nicht die Rede sein. Die Galaxien ordnen sich vielmehr in filigranen flächenartigen Mustern an, zwischen denen sich riesige blasenförmige Leerräume ausbreiten. Abbildung 6 zeigt einen im Jahr 1989 veröffentlichten Ausschnitt aus dem Universum’). Jeder Punkt in dieser Abbildung stellt eine
Galaxie von der Größenordnung unserer Galaxis dar. Diese unsere Galaxis mit unserem Sonnensystem und darin der Erde als Beobachtungsort befindet sich in der unteren Spitze des Kreissektors. Von dort aus wurden in einer dünnen keilförmigen Schicht bis zu einer Rotverschiebung von z = 0,05, also nach Formel (3’) bis zu einer Entfernung von etwa 660 Millionen Lichtjahren, alle Galaxien oberhalb einer gewissen Helligkeit registriert. Nimmt man weitere weniger lichtstarke Galaxien hinzu, so füllen sich die Leerräume ein wenig auf, und gleichzeitig prägt sich die Struktur stärker aus. Zu den oben genannten flächenartigen Mustern im Raum gelangt man, wenn man das Anordnungsmuster der Abbildung 6 senkrecht zur Bildebene fortsetzt. Die Entstehung dieser Strukturen ist heute ein zentrales und weitgehend ungelöstes Problem der Kosmologie.
Abschließend sei auf einen Zusammenhang hingewiesen, der für die Deutung von Beobachtungen von größter Bedeutung
ist. Wenn Astronomen eine Galaxie registrieren und mit Hilfe der gemessenen Rotverschiebung z über die Formel (3’) eine Entfernung von beispielsweise 4 Milliarden Lichtjahren ermitteln, dann war das Licht, das sie empfangen, 4 Milliarden Jahre unterwegs und trägt daher eine 4 Milliarden Jahre alte Information über die Quelle, die das Licht ausgestrahlt hat. Der Blick in das Universum hinaus ist daher gleichzeitig ein Blick zurück in die Vergangenheit des Weltalls. Das könnte den Schluss nahe legen, dass die Anordnungsmuster in Abbildung 6, die zu einzelnen Entfernungen gehören, aus unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Universums stammen, also etwa ein Muster in einer Entfernung von 450 Millionen Lichtjahren in der Mitte der Abbildung 6 aus dem Universum vor 450 Millionen Jahren. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Formeln (3) besagen nämlich in Übereinstimmung mit der Theorie der Lichtausbreitung im expandierenden Universum auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie, dass die Entfernung d die heutige Entfernung der einzelnen Objekte ist. Zwar hat eine Galaxie in einer Entfernung von 450 Millionen Lichtjahren das von uns empfangene Licht vor 450 Millionen Jahren, also in einem 450 Millionen Jahre zurückliegenden Stadium des Universums ausgestrahlt, doch hat sich andererseits zwischen dem Zeitpunkt der Aussendung und dem Zeitpunkt des Empfangs heute bei uns der Raum ausgedehnt, sodass sich die Entfernung zwischen Absendeort und Empfangsort während der Laufzeit des Lichts ständig vergrößert hat. Hat das Licht im expandierenden Universum insgesamt die Zeit tL benötigt, um vom Aussendeort zu uns zu gelangen, so beträgt demzufolge die heutige Entfernung des Objekts dh=ctL. Die Theorie der Lichtausbreitung im expandierenden Universum ergibt dann, dass die Entfernung d in den Formeln (3) in der Tat die heutige Entfernung dh=ctL ist.
4) Signale aus dem Weltall Sterne senden wie unsere Sonne weißes Licht aus, eine Mischung aus allen für das menschliche Auge sichtbaren Farben. Zerlegt man dieses Licht nach einzelnen Farbtönen, so stellt man fest, dass bestimmte Farbtöne besonders intensiv vorkommen (charakteristische Spektrallinien). Diese charakteristischen Linien werden von den Atomen bestimmter chemischer Elemente, in Sternen vorrangig von Wasserstoffund Heliumatomen, ausgestrahlt. Entsprechend strahlen auch Galaxien als Systeme aus Milliarden von Sternen. Astronomen empfangen von diesen Objekten jedoch nicht nur sichtbares Licht, sondern auch Radio- und Röntgenstrahlen. Alle drei Strahlungsarten sind physikalisch dieselbe Erscheinung, nämlich elektromagnetische Wellen, d. h. Wellen aus elektrischen und magnetischen Feldern, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum laufen. Sie unterscheiden sich lediglich durch ihre Wellenlänge. Die von Sternen empfangene Röntgenstrahlung weist Wellenlängen von 1/100 Nanometer bis 1 Nanometer auf, der Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichts erstreckt sich von 400 Nanometern (violett) bis 750 Nanometern (dunkelrot), und von Radiostrahlung spricht man bei Wellenlängen von 1 cm bis zu mehreren hundert Metern. Das Fernsehen und der UKW-Funk senden bei Wellenlängen von 30cm bis 3m, der Kurzwellenfunk von 10m bis 100m und der Mittelwellenfunk von 100m bis etwa 300m. Die Ursachen der von Sternen und Galaxien ausgesandten Röntgen- und Radiostrahlung sind bis heute nur zum Teil aufgeklärt. Alle drei Strahlungsarten unterliegen aufgrund ihres gemeinsamen elektromagnetischen Charakters zwei Gesetzen,
die für die Astronomie und Kosmologie von größter Bedeutung sind. Zum einen unterliegen sie alle drei der oben im Abschnitt 3 beschriebenen Rotverschiebung. Dazu ein Beispiel, das zugleich den Umgang mit den Formeln (1) und (3) im vorhergehenden Abschnitt erläutern soll. Wir nehmen an, dass ein Astronom bei einer weit entfernten Galaxie durch Vergleich der charakteristischen Spektrallinien von Wasserstoff ein Verhältnis ?/? 0 = 2 feststellt (siehe Formel (1)). Dadurch ergibt sich ein Rotverschiebungswert z = 1. Formel (3’) sagt ihm dann, dass die Galaxie zur Zeit etwa 7 Milliarden Lichtjahre entfernt ist. Gleichzeitig empfängt er von der Galaxie eine Radiostrahlung mit Wellenlängen um ? = 60cm. Aus Formel (1) bestimmt er dann mit z= 1 die Wellenlänge ? 0 = ?/(1+z) = 30cm. Die Galaxie hatte also vor etwa 7 Milliarden Jahren Radiostrahlung mit der Wellenlänge ? 0=30 cm ausgestrahlt. Das zweite sehr bedeutsame Gesetz betrifft die Abschwächung der Strahlung mit zunehmender Entfernung von der Quelle. Hat eine elektromagnetische Strahlung in einer Entfernung d0 vom Ausstrahlungsort die Stärke (Intensität) I0, so hat sie mit zunehmender Entfernung d die Intensität I=I0 (d0/d)’. Ein Beispiel mag dieses Gesetz verdeutlichen. Eine Spiralgalaxie in einer Entfernung von d = 2 Milliarden Lichtjahren sei recht genau so groß wie unsere Milchstraße. Dann lässt sich aus der Kenntnis über unsere Galaxis berechnen, wie groß die Intensität I0 der entfernten Galaxie für sichtbares Licht in einem Abstand d0=100 Tausend Lichtjahre von deren Zentrum ist. Den Astronomen auf der Erde steht dann zur Beobachtung dieser Galaxie nur noch die Intensität
zur Verfügung. Dieses Gesetz erklärt, warum Astronomen mit zunehmender Entfernung vom Beobachtungsort Erde immer weniger und schließlich nur noch die hellsten Objekte, die mit sehr großer Intensität Io, registrieren können, da die Empfindlichkeit ihrer Spiegel- und Radioteleskope natürlich begrenzt ist.
5) Gravitationswellen Neben Licht- und Radiostrahlung erreicht uns auf der Erde noch eine weitere Strahlung aus dem Universum – die Gravitationsstrahlung. Was hat man sich darunter vorzustellen? Betrachten wir zunächst das zeitlich unveränderliche Gravitationsfeld der Erde, dessen Schwerkraft uns Menschen sowie die Dinge um uns herum beständig auf den Erdboden zieht. Nehmen wir einmal an, die Erde würde in ihrem Innern etwa wie ein Herz pulsieren, dann wäre auch die Schwerkraft auf der Erdoberfläche zeitlich veränderlich, und wir wären, je nach unserem Wohnort auf der Erde, im Rhythmus der Pulsationen einmal schwerer, dann wieder leichter, dann wieder schwerer, usw. Darüber hinaus würden Gravitationswellen die pulsierende Erde verlassen und sich wie elektromagnetische Wellen mit Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen ausbreiten.
In großer Entfernung von ihrer Quelle (unserer pulsierenden Erde) haben diese Wellen folgende Wirkung: Senkrecht zur Ausbreitungsrichtung dehnen und stauchen zwei Kräfte in zueinander senkrechten Richtungen im Rhythmus der Pulsationen (siehe Abbildung 7). Läuft eine solche Gravitationswelle über ein Stück Material hinweg, so würden diese Stauch- und Dehnkräfte bei hinreichend starker Intensität der Welle das Material zerreißen. Glücklicherweise pulsiert unsere Erde nicht! Doch gibt es in unserer Galaxis sehr viele pulsierende Sterne – unsere Sonne Gott sei Dank ausgeschlossen! Und gelegentlich, wenn auch sehr selten, stürzen sehr massive Sterne von 5 bis 10 Sonnenmassen in sich zusammen. Eine solche gigantische Sternkatastrophe trägt den Namen Supernova. Dabei werden unvorstellbare Energiemengen freigesetzt, und natürlich verlässt auch eine Gravitationswelle beträchtlicher Stärke den Katastrophenort. Doch von all dem spüren wir auf der Erde nichts mehr. Die Grundgleichungen der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie, aus denen sich die Existenz von Gravitationswellen ergibt – ähnlich wie sich aus den elektrodynamischen Grundgleichungen von Maxwell die Existenz von Licht- und Radiowellen ergibt – besagen nämlich, dass die Gravitationsstrahlung, die von fernen stellaren Ereignissen zu uns gelangt, zu schwach ist, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Sie kann nicht einmal von unseren derzeitigen Messinstrumenten registriert werden – es sei denn, das Ereignis spielte sich in unserer „unmittelbaren“ kosmischen Umgebung ab, d. h. im Umkreis von etwa 1000 Lichtjahren.
Quellenverzeichnis
1) F. Hoyle DIE SCHWARZE WOLKE Ullstein, 1977 2) W. Brandes PADDY FINGAL Ballade 3) National Optical Astronomy Observatories DIE ANDROMEDA-GALAXIE M31 4) M. J. Geller, J. P. Huchra, Science 17. Nov. 1989