James Fenimore Cooper
Wildtöter und Große Schlange
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James Fenimore Cooper
Wildtöter und Große Schlange
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James Fenimore Cooper Wildtöter und Große Schlange Alle fünf Lederstrumpferzählungen
Verlag Neues Leben Berlin
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Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1972 Lizenz Nr. 303 (305/138/72) ES 9 D 4/5 Schutzumschlag und Einband: Eberhard Binder-Staßfurt Typografie: Gerhard Schulz Schrift: 10 p Baskerville Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
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Wildtöter Der letzte Mohikaner Pfadfinder Die Ansiedler Die Prärie Nachwort
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Erstes Buch Wildtöter
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Ein Krieg bricht aus Wohin das Auge sah, wohin der Fuß trat, wuchs Wald. Von den Siedlungen an der Küste zwischen New York und Boston bis zu den Südufern der Großen Seen und unermeßlich weit in den Westen hinaus erstreckte sich ein Meer von Eichen und Buchen, Ulmen und Schierlingstannen, an den Flußufern standen Erlen und Weiden, auf den Höhen Fichten und Kiefern. Bäche und Flüsse schnitten Täler ein, weiteten sich zu Seen. Nur ganz selten wich der Wald und machte Streifen von Grasland oder sandigen Hügeln Platz. Noch waren europäische Siedlungen selten, noch ahmten weiße Grenzer den primitiven Hackbau der Indianer nach, aber schon waren die Ureinwohner aus den Küstenregionen vertrieben. Felle der hier lebenden Pelztiere waren auf dem europäischen Markt gefragt und zogen Jäger und Handelskompanien an; Engländer und Franzosen, Holländer und Schweden wetteiferten um den Erwerb. Biber und Dachs, Marder und Luchs starben unter den Kugeln einheimischer und fremder Jäger oder gingen in ihre Fallen. Es waren ungewöhnlich robuste Männer, die dieses Gewerbe betrieben und die Gefahren und Strapazen der Wälder nicht scheuten. Abenteuer und Freiheit hatten sie hierhergelockt, eine Freiheit, die sie nicht selten mißbrauchten. An einem heißen Juninachmittag mühten sich weit von jeder Zivilisation entfernt zwei Männer durch Unterholz und über gestürzte Stämme. Einer von ihnen hieß Henry March, da aber die Bewohner dieser Wälder von den Indianern die Sitte übernommen hatten, jemanden nach seinen Eigenschaften zu benennen, redete ihn jeder mit Hurry Harry an, was Eiliger Harry bedeutete, oder sagte 7
einfach Hurry, denn March war ein sorgloser, lauter, zu raschen Entschlüssen neigender Mensch. Er war hochgewachsen und bärenstark, besaß eine dröhnende Stimme und liebte ausholende Gebärden, seine Hirschlederkleidung war nachlässig, seine Waffen zeigten nicht den geringsten Schmuck. Hurry March war Mitte bis Ende zwanzig, sein Begleiter, Natty Bumppo, einige Jahre jünger. Auch Natty war groß, aber schlanker gebaut, schien behende und zäh zu sein, sein Gesicht war wenig auffallend und nicht sonderlich anziehend, machte aber einen gutartigen, vertrauenerweckenden Eindruck. Der Wald, der vor March und Natty lag, war dunkel, aber nicht unwegsam, sein Boden war fest und trocken. Buchen, Fichten und Schierlingstannen wuchsen hier, Unterholz gab es kaum. „Ich habe es dir gleich gesagt“, rief March, „daß ich den Buchenstamm wiederfinde! Das Bäumchen dort war durch den Schnee niedergedrückt, ich hab’s hochgebogen. Das ist mein Kennzeichen. Faß mit an!“ Hurry March und Natty Bumppo räumten Rindenstücke weg und zogen ein Kanu aus dem hohlen Stamm der gestürzten Buche. „Tom wird sich über unseren Besuch freuen“, sagte March, „und Judith noch mehr.“ „Hör auf, du hast den letzten Abend genug von ihr geschwärmt!“ „Mein Junge, so ein Mädchen findest du nicht bis nach Kanada hinüber! Sie ist hübsch, witzig und außerdem klug wie zehn alte Indianer.“ „Und warum hat Tom Hutter sich mitten auf dem See angesiedelt?“ Während die beiden Waldläufer das Versteck wieder schlössen, erzählte Hurry March, Tom Hutter wäre Seemann gewesen und hätte deshalb eine Vorliebe für das Wasser, und obendrein hätten ihm die Indianer schon einige Male seine Behausung über dem Kopf angezündet. Nun säße der alte Fallensteller in seiner kleinen Festung, 8
mit seiner Arche kreuze er auf dem See, und trotz aller Zwistigkeiten hier oben an der Grenze zwischen der britischen Kolonie Newyork und dem französischen Kanada hätte er noch immer seinen Skalp behalten. Das Kanu war nicht gerade klein, Sitze und Paddel lagen darin, aber March hob es dennoch allein auf die Schulter. „Geh voran, Wildtöter“, sagte er zu Natty, „und drück die Zweige zur Seite. Ich schaff’s schon allein.“ Natty ärgerte sich. Seit Tagen zog er mit March durch den Wald, sie hatten kein gemeinsames Ziel, aber etwa den selben Weg, und schon einige Male waren sie aneinandergeraten. March benutzte jede Gelegenheit, mit seinen Bärenkräften zu prahlen, und hatte am vergangenen Abend am Lagerfeuer höhnisch gelacht, als Natty ihm gesagt hatte, er hätte noch keinen Menschen getötet. Natty war über die Protzerei Marchs nicht so verdrossen wie darüber, daß ihn dessen rohe, ziemlich gemeine Überlegenheit befangen machte und er rot geworden war, als er den Standpunkt verteidigt hatte, man dürfte kein Tier schießen, wenn man nicht sein Fleisch oder seine Haut brauchte. Jetzt ging Natty voran und suchte den bequemsten Weg, er hörte hinter sich die schweren Schritte des beladenen Hünen und war zufrieden damit, daß sie sich bald trennen würden. Nach zehn Minuten traten sie ins Licht. Vor ihnen breitete sich ein Wasserspiegel, durchsichtig und von reinem Grün, an die zehn Meilen lang, buchtenreich, gerahmt von Hügeln und einem einzelnen Berg. Der See lag unter einem hohen Himmel zwischen den Wäldern und war von einer Schönheit, wie sie nur die völlig unberührte Natur zeigt, es war ein überschwenglich großartiges Bild, und über allem wölbten sich die mittägliche Stille und der weiche Hauch des Juni. „Das ist wunderbar“, sagte Natty 9
ergriffen und lehnte sich auf seine Büchse. „Kein Baum ist zerstört, alles ist wie am ersten Schöpfungstag. Wie heißt der See?“ „Ich weiß nicht, ob es Karten gibt, auf denen er einen Namen hat. Wir Waldläufer nennen ihn Silberglas.“ „Ein herrlicher See und ein schöner Name. Und da drüben wohnt Tom Hutter? „ „Das ist sein Kastell. Die Arche kann ich nicht sehen, der alte Biber wird mit ihr in einer Bucht vor Anker liegen. Also los, Wildtöter, in einer Viertelstunde sind wir drüben!“ Langsam paddelten sie auf das Kastell zu. Manchmal ließen sie das Kanu treiben und blickten in Buchten, die sich vor ihnen öffneten, über das wechselnde Panorama der Hügel und den dunklen Streifen der Bäume, die über das Wasser hingen. Natty sagte: „Tom Hutter ist zu beneiden.“ „Wenn du ihn beerben willst, mußt du seine zweite Tochter heiraten.“ „Bisher hast du nur von einer erzählt.’’ „Über Hetty kann man nicht viel sagen. Sie ist nicht so hübsch wie Judith, sie ist ein gutes Mädchen, hat aber nicht alle Gedanken beieinander.“ „Kommen oft Indianer hierher?“ „Manchmal in kleinen Trupps, aber kein Stamm erhebt Anspruch auf dieses Gebiet.“ Sie griffen wieder zu den Paddeln und trieben das Kanu weiter auf das Kastell zu. Natty hatte ein derartiges Bauwerk noch nie gesehen. Es stand etliche hundert Fuß vom nächsten Punkt des Ufers entfernt auf Pfählen mitten im See und war aus dicken Fichtenstämmen gefügt. An einem kleinen Landeplatz, einer offenen Plattform, banden die beiden Männer ihr Kanu fest; sie kletterten hinauf und 10
riefen, aber niemand antwortete. Während March die Fischerspieße, Ruten und Netze auf der Plattform musterte, trat Natty neugierig ins Haus. Er war ein Weißer wie March, hatte aber die meisten Jahre seines Lebens unter Indianern verbracht. Auf seine Eltern, besonders die Mutter, besann er sich nur dunkel. Erinnerungen an seine Kindheit wurden in ihm wach, als er die Räume betrat, in denen Tom Hutter mit seinen Töchtern lebte. Das Haus war in mehrere Zimmer gegliedert, die Stämme waren an der Innenseite geglättet, alles erschien Natty viel sauberer und wohnlicher als die Blockhäuser, die er bisher kennengelernt hatte; sogar einige Sessel, eine Uhr und eine dunkle, massive Truhe hatte der Hausherr in seine kleine Festung gebracht. Der Kamin war sorgsam aus Lehm gebrannt, in einem der Schlafzimmer sah Natty Kleidungsstücke, die nicht in diese Einöde paßten, zierliche Schuhe, Fächer, Federbetten und ein Paar lange Handschuhe, die an die Wand geheftet waren. Er ging wieder auf die Plattform hinaus, wo Hurry March saß und über den See blickte. „Durch diese Wände dringt kein Flintenschuß“, sagte Natty, „und drinnen vergißt du, daß du bis zur nächsten Ansiedlung wochenlang laufen mußt. Ich habe noch nie ein Blockhaus gesehen, das so solid gebaut ist.“ Er musterte die Wände, die aus senkrecht stehenden, oben und unten in Querriegeln verzahnten Balken bestanden; fest verbundene, mit Rinde bedeckte Stämme bildeten das Dach. „Hutter ist ein alter Fuchs, ich hab dir’s gesagt, und wie ich an seinen Geräten sehe, hat er sich aufs Biberfangen gelegt. Wenn du willst, können wir einen großartigen Sommer verleben. Ich fange mit Hutter, du versorgst uns mit Wild. Weil du ein geschickter Jäger bist, bekommst du den vollen Anteil.“ 11
„Dazu wird wahrscheinlich keine Zeit sein.“ „Hast du die Falltür gesehen? Sie ist Hutters beste Idee.“ March bückte sich zwischen die Pfähle hinab, auf denen das Kastell stand. „Hutter kann mit einem Kanu unter seine Burg fahren. Dort ist eine Klappe, durch die er von unten ins Haus gelangt.“ „Hier hält Hutter einen kleinen Indianerkrieg aus. Aber etwas anderes: Hat dieser See einen Abfluß?“ Hurry March setzte ein Fernrohr, das neben der Haustür gelegen hatte, ans Auge und suchte damit das Ufer ab, Bucht für Bucht, Baum für Baum. „Natürlich, jeder See hat einen.“ „Dort will ich meinen Freund treffen.“ „Aber erst suchen wir Hutter. Es wird so sein, wie ich gedacht habe: Bei schönem Wetter zieht der alte Kerl mit seiner Arche im Südteil des Sees umher. Wir werden ihn schon aufstöbern.“ Sie setzten sich wieder ins Kanu und paddelten nach Süden. Das Ufer war steil, selten war ein Streifen Strand zu sehen, meist hingen Äste über das Wasser. March setzte seine ganze Kraft, Natty seine Geschicklichkeit ein, und so kamen sie rasch vorwärts. Jedesmal, wenn sie eine Landspitze umrundeten, hofften sie die Arche des Fallenstellers zu entdecken, aber nach zwei Stunden, weit im südlichen Teil des Sees, zogen sie ratlos die Paddel ein. March sagte: „Es könnte sein, daß Hutter ein Stück den Fluß hinabgeschwommen ist, aber vielleicht ist er in eine Bucht gekrochen, die das Rattenloch heißt. Wir wollen nachschauen.“ March war jetzt ziemlich sicher, hier die Arche zu finden. Eine bewaldete Landzunge schloß eine Bucht ab, in der die Arche den ganzen Sommer liegen konnte, ohne entdeckt zu werden, und March wußte, daß Hutter es liebte, sich in Busch und Rohr zu verkriechen. 12
Aber die Bucht war leer, March und Natty kehrten um und lenkten ihr Kanu dem Ausfluß des Sees zu. Allmählich wurde ihnen warm unter der klaren Sonne, sie zogen ihre hirschledernen Jacken aus. Das einzige Geräusch war das Schwappen und Strudeln des Wassers, wenn sie ihre Stechpaddel durchzogen, und jedesmal, wenn sie sich danach aufrichteten, ließen sie ihr Auge über ein Uferstück streifen. Sie arbeiteten hart und gerieten in Schweiß, und Natty Bumppo hatte Zeit, darüber nachzudenken, ob es wohl richtig war, daß er sich an der Suche nach Tom Hutter beteiligte, er, der nichts von ihm wollte und vor Tagen dessen Namen zum erstenmal gehört hatte, er, der nur deshalb hier war, um an einem Felsen am Ufer dieses Sees mit dem Delawarenhäuptling Große Schlange zusammenzutreffen. Er sagte: „Das Ganze wird allmählich langweilig, findest du nicht?“ „Bleibt bloß noch der Abfluß.“ «Und dann gibt es noch dreißig Buchten.“ „Und ich sag dir, Hutter steckt im Abfluß!“ Natty hatte keine Lust zu streiten, er legte sein Gewehr quer vor sich hin, zog einen Lappen aus der Tasche und putzte das Schloß, öffnete das Pulverhorn und überzeugte sich, daß das Pulver trocken war. Er wollte keine Verstimmung, und da er wußte, wie gern March über Judith Hutter sprach, fragte er: „Wie kommt das Mädchen zu ihren hübschen Sachen?“ „Den Winter verbringt Hutter manchmal mit seinen Töchtern in einem Fort, dort verdreht Judith den Offizieren reihenweise die Köpfe. Übrigens, hinter dieser Eiche dort beginnt der Abfluß.“ Langsam geriet das Boot in den Sog; March und Natty hatten nichts anderes zu tun, als es in der Strömung zu halten. Das Wasser war tief und völlig klar, über ihm 13
wölbte sich das Laubdach uralter Bäume, Buschwerk drängte bis ans Ufer heran. Windung um Windung trug das Wasser das Kanu hinunter, wachsam musterten March und Natty Bumppo Büsche und Bäume. Plötzlich faßte March nach einem Zweig; sofort griff Natty zum Kolben seiner Waffe. „Dort ist der alte Kerl“, flüsterte March und zeigte flußabwärts, „bis zu den Knien steht er im Wasser und schaut nach seinen Fallen. Bloß von der Arche ist nichts zu sehen. Denk nur nicht, daß Judith ihrem Vater bei dieser Dreckarbeit hilft. Ich möchte wetten, daß sie inzwischen an einer Quelle sitzt, sich kämmt und ihre Schönheit betrachtet.“ „Ziemlich hartes Urteil. Ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie sich in der Arche um den Haushalt kümmert?“ Die beiden Männer erschraken, als eine Stimme dicht über ihnen sagte: „Es ist ein Vergnügen, eine derartige Wahrheit aus dem Mund eines Mannes zu hören. Ich freue mich wirklich, daß Hurry diesmal jemanden mitbringt, der höflicher ist als er selbst.“ Ein Zweig wurde zur Seite geschoben, ein hübsches, frisches Mädchengesicht tauchte dahinter auf; da begriffen March und Natty, daß sie unmittelbar neben der Arche lagen, die hinter Zweigen und Ästen versteckt, in dieser Biegung des Flusses ankerte. „Teufel“, rief March, „das ist genau der Empfang, den ich mir ausgemalt habe! Da marschiert man tagelang durch die Wälder, sucht den halben See ab und erntet diese Herzlichkeit! Judith, wie kommen wir zu dir rüber?“ „Drückt das Kanu zurück, und dann an dem Busch dort entlang.“ „Ich sehe schon, daß dein Vater wieder einmal ganze Arbeit geleistet hat.“ March und Natty Bumppo zogen ihr Boot unter einer 14
Buschwand hindurch, bugsierten es neben die Arche und kletterten hinauf. Die Begrüßung zwischen March und Judith war lärmend und burschikos, beide breiteten theatralisch die Arme, Judith rief: „Mein brauner Riese, ich glaube, du bist noch gewachsen!“ Sie legte die Hände auf Marchs Schultern, aber als er sie küssen wollte, faßte sie in seinen Bart und schob sein Kinn hoch. „Willst du mir nicht deinen Freund vorstellen?“ „Das ist Wildtöter, ich hab ihn unterwegs aufgelesen. Mein Junge, mach einen artigen Diener, du stehst einer Dame gegenüber, und so was ist knapp in dieser Gegend.“ Natty fühlte, daß er errötete und ärgerte sich darüber. Es war lange her, daß er einem weißen Mädchen begegnet war, und Judith war wirklich hübsch. Sie war blond, ihre dunkelblauen Augen standen ein wenig weit auseinander, sie waren schmal und blickten Natty abschätzend und prüfend an. Aber gleich darauf lächelte sie, daß Natty ihre weißen Zähne sah, sie trat einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. Sie sagte: „Machen Sie sich nichts draus, Hurry ist nun einmal ein rauhes Produkt. Seien Sie herzlich willkommen. Habt ihr Hunger?“ „Immer“, sagte March. „Aber laß dich erst anschauen. Ich hatte schon Angst, du wärst dick geworden oder hättest Falten bekommen, doch ich sehe, dieser Sommer tut dir gut.“ „Und dein Bart ist noch schöner, und deine Locken sind noch prächtiger geworden. Hurry, du bist der herrlichste Mann, den es weit und breit gibt.“ Natty bückte sich zum Kanu hinab und band es fest. Sein Leben in den Wäldern hatte ihm von klein auf eine rasche Beobachtungsgabe anerzogen, und so sah er mit wenigen Blicken, daß diese Arche aus einem rechteckigen Floß bestand, auf dem sich ein niedriges Gerüst erhob; es war 15
in seiner Bauweise dem Kastell ähnlich, aber von so leichtem Material, daß es keiner Flintenkugel standgehalten hätte. Dünne Stämme waren zusammengefügt, an manchen war noch die Borke zu sehen, alles hatte Hutter sehr zweckmäßig, aber ohne übertriebene Sorgfalt ausgeführt. Das Versteck war ausgezeichnet; die Arche lag in einer Bucht hinter Büschen verankert, und Natty ärgerte sich, als ihm klarwurde, daß March und er trotz aller Aufmerksamkeit daran vorbeigetrieben wären, wenn Judith sie nicht angerufen hätte. Während Natty die Arche musterte, hörte er, wie March und Judith ihr herzhaftes Gespräch fortsetzten, und da er wußte, wie schwer es ihm fallen würde, den gleichen Ton zu finden, ging er zur anderen Seite des Aufbaus. Ein Mädchen saß dort und schaute zu ihm auf, es hatte eine lederne Hose auf den Knien liegen und war dabei, einen Riemen durch deren Schlaufen zu ziehen. „Sie sind wahrscheinlich Hetty“, sagte er. Das Mädchen war nicht so hübsch wie ihre Schwester, wenn sie ihr auch ähnelte, ihr Blick war ruhig und friedlich, und da sich Natty auf Marchs Auskunft besann, sie sei schwachsinnig, versuchte er einen Zug davon in ihrem Gesicht zu entdecken. „Ja, ich bin Hetty“, sagte sie, „und wer sind Sie?“ Ihre Stimme klang ruhig, und sie zeigte nicht die geringste Überraschung, daß in dieser Einsamkeit unversehens ein Mann vor ihr stand. „Wollen Sie sich nicht setzen?“ „Hurry March hat mich hierhergebracht.“ Hetty blickte ihn ohne Scheu an und wiederholte: „Wer sind Sie?“ „Das ist eine Frage, die sich leichter stellen als beantworten läßt.“ „Aber Sie haben doch einen Namen?“ „Allerdings. Mein Vater hieß Bumppo, mein Vorname ist 16
Nathaniel, die meisten nennen mich Natty. Ich wuchs bei den Delawaren auf, und da sie meinten, ich könne nicht lügen, nannten sie mich Geradzunge. Als sie herausfanden, daß ich das Wild aufspürte wie ein Hund, bekam ich den Namen Schlappohr. Aber seit ich ein Gewehr besitze und einen Wigwam mit Fleisch versorgen kann, heiße ich Wildtöter.“ Es raschelte im Gebüsch, die Spitze eines Kanus wurde sichtbar, mit einem Paddelschlag trieb der Mann, den Natty bei den Fallen gesehen hatte, sein Boot neben die Arche. Hurry March rief: „Tom, alte Ratte, es war gar nicht so leicht, dich zu finden!“ „Ich habe dich seit voriger Woche erwartet“, brummte Hutter. „Ein Bote hat mich benachrichtigt, daß zwischen uns und Kanada wieder Krieg ausgebrochen ist, und ich fühlte mich gar nicht wohl mit drei Skalpen und nur zwei Armen, sie zu beschützen. Wen hast du mitgebracht?“ „Das ist Wildtöter“, antwortete March, „es gibt schlechtere Männer als ihn.“ Hutter stieg auf die Arche hinüber und streckte Natty die Hand hin. „Junger Mann, sei willkommen, in solchen Zeiten ist jedes Bleichgesicht das Gesicht eines Freundes. Kinder machen manchmal ein Herz schwach, und meine Töchter bereiten mir mehr Sorgen als alle meine Fallen und Häute zusammen. Es sind Indianer am Silberglas aufgetaucht.“ March rieb sich das Kinn und sagte: „Wenn das wahr ist, liegt die Arche an einer verdammt ungünstigen Stelle. Falls sie trotz aller Tarnung gefunden wird, gibt’s kein Entrinnen.“ „Mag sein.“ Hutter wandte sich an Natty. „Was führt dich in diese rauhe Gegend?“ „Das ist schnell erzählt. Nachdem die Delawaren 17
erfahren hatten, daß ihnen ein Kriegsbeil geschickt werden sollte, erkundigte ich mich in der nächsten Garnison nach dem Stand der Dinge und erstattete Bericht. Jetzt will ich mit Große Schlange, einem jungen Häuptling, an diesem See zusammentreffen, um zu beobachten, wie sich die Feindseligkeiten entwickeln.“ So standen sie im Dreieck auf der Arche, der alte Hutter mit seinem eisgrauen Bart, der verwitterten Stirn und der zernarbten Nase, der riesige Hurry March, die Daumen seiner Pranken in den Gürtel gehängt, breitbeinig, das Kinn gesenkt, und der schlanke Natty Bumppo, den sie Wildtöter nannten, der jüngste von ihnen, der sich, wie oft, wenn er nachdachte, auf seine Büchse stützte. Sie tauschten aus, was sie gehört hatten, was sie als Ursachen annahmen, was sie aus ihrer Erfahrung heraus schlußfolgerten, sie taten es ohne Hast und mit großer Sorgfalt, denn sie wußten, daß von jedem Schritt, von jeder Entscheidung ihr Leben und das Leben der beiden Mädchen abhing. Wahrscheinlich, vermuteten sie, hatte der neue Krieg seinen Ursprung in Verwicklungen Englands und Frankreichs in Europa, so war es bisher immer gewesen, und so würde es in diesem Sommer des Jahres 1740 wieder sein. Nun mobilisierten Franzosen und Engländer auch hier im nördlichen Amerika ihre Truppen, hetzten die auf ihrem Gebiet lebenden Indianerstämme in den Kampf und stachelten sie durch Skalpprämien an, nun würden auch hier die Siedlungen brennen, Blut würde fließen und der Todesschrei der Menschen die Stille der Wälder vergiften. An Schlachten wie in Europa war nicht zu denken, in den unendlichen Wäldern südlich des Erieund des Ontario-Sees, an Hudson und Susquehanna war der Krieg immer von kleinen Trupps, von Mann zu Mann, mit Listen und Gegenlisten und ursprünglicher 18
Grausamkeit geführt worden; diesmal würde es nicht anders sein. „Wahrscheinlich stecken wir schon mittendrin“, meinte Tom Hutter. „Ich habe einen Mokassin gefunden, wie er nicht in diese Gegend gehört. Wenn nicht alles täuscht, stammt er von einem dieser kanadischen Schufte.“ Er bückte sich zu seinem Kanu hinab; ein Lederstück ging von Hand zu Hand, und March und Natty schlössen sich der Meinung des Fallenstellers an. „Ein Mokassin der Mingos“, urteilte March. „Wenn wir schnell aus diesem Loch herauskommen, können wir wahrscheinlich unsere Skalpe als Nachtmützen behalten.“ Die drei machten sich sofort ans Werk. Mühselig zwängten sie die Arche durch die schützenden Büsche und in den freien Fluß hinaus. Hutter hatte, bevor er hinuntergetrieben war, oben im See einen schweren Stein versenkt, an dem ein Tau befestigt war; nun zogen die drei Männer Hand über Hand die Arche an ihm in den See zurück. Judith stand am Heck mit einem Ruder und half, sie durch die Windungen zu steuern. Bisweilen streifte die Arche das Gebüsch, dann drückte Hetty sie mit der Stange ab. Allen war bewußt, daß jeden Augenblick ein Angriff vom Ufer her erfolgen konnte, und sie atmeten auf, als sie unter dem Laubtunnel heraus die freie Fläche- des Silberglas sahen. „Strengt euch noch mal an!“ rief Hutter und zog, daß die Adern auf seinen Armen hervortraten. „Paßt auf, die Enge an der Mündung ist die gefährlichste Stelle. Ihr Mädchen, versteckt euch in der Kajüte!“ Die Strömung war hier nicht mehr so arg, einen Augenblick lang ruhten sich die Männer aus und wischten sich den Schweiß von der Stirn. „Wild-töter“, ordnete Hutter an, „du gehst in die Kajüte und beobachtest durch die Fenster. Aber laß dich nicht blicken, wenn du dir 19
deinen Pelz ohne Loch erhalten willst! Hurry, wir beide ziehen von der Tür aus, dort sind wir sicherer.“ Langsam glitt die Arche dem See zu. Natty hatte eben das östliche Ufer gemustert und nichts Besorgniserregendes bemerkt, er ging auf die andere Seite und blickte durch eine Spalte. Was er sah, ließ ihn zusammenzucken. Über das Wasser ragte beinahe im Halbkreis ein junger Baum, auf dem nicht weniger als sechs Indianer hockten, am Ufer standen noch einige andere. „Zieht!“ schrie Natty, „zieht, wenn euch euer Leben lieb ist!“ Neben sich hörte Natty das Ächzen Marchs, der jetzt mit seinen Riesenkräften das Seil packte. Hutter und Natty faßten mit zu, und so schoß das leichte Fahrzeug mit einem Ruck unter dem Baum und seiner gefahrbringenden Last hindurch. Als die Mingos merkten, daß sie entdeckt waren, stießen sie einen schrillen Kriegsruf aus, ein Indianer lief auf dem Stamm entlang und sprang ab, die anderen folgten, und die am Ufer gestanden hatten, kletterten ihnen nach. Aber nur dem ersten, dein Häuptling, gelang es, die Arche zu erreichen, die übrigen klatschten hinter ihm ins Wasser. Der Häuptling war an der Kante des Daches abgeglitten und unglücklich auf das Hinterdeck gestürzt, dort lag er einen Augenblick, ehe er aufzustehen vermochte. Diese wenigen Sekunden nutzte Judith zu einer Tat, die ihr niemand zugetraut hatte. Sie packte das Ruder, mit dem sie die Arche gelenkt hatte, sprang aus der Kajüte und stieß den Indianer über Bord. „Zurück, Mädchen!“ schrie Natty, rannte ebenfalls hinaus und riß Judith unter das Dach. Schwer atmend und noch erschrocken von ihrer Tat lehnte sie sich an ihn. Flintenkugeln schlugen gegen die Wand der Kajüte, Natty zerrte mit am Seil, über ihm fetzten die Kugeln 20
Holzsplitter und Borke ab. Hurry March keuchte jetzt, seine Lungen arbeiteten schwer, Stirn und Nacken waren gerötet und schweißnaß. „Schieß zurück“, stieß er heraus, „Wildtöter, knall die Hunde zusammen!“ „Nicht mehr nötig. Haben wir Glück gehabt!“ Die Arche schwamm jetzt im See und näherte sich ihrem Anker, von dem Tom Hutter das Seil löste, dann ruderten Hutter und March, wobei sie sich im Schutz der Kajüte hielten, endgültig vom Ufer weg. Die Indianer schössen nicht mehr, sie sahen wohl ein, daß sie damit nur ihre Munition verschwendet hätten. Das Ufer lag wieder so friedlich wie zu der Stunde, als Natty es zum erstenmal betreten hatte, die Sonne, die sich zu senken begann, vergoldete die riesigen Eichen, die das Tor des Flusses überwölbten. Niemand, der die vergangenen Minuten nicht miterlebt hatte, hätte geahnt, daß eben fünf Menschen einem fürchterlichen Tod entronnen waren. „Judith“, sagte Natty, „woher haben Sie nur den Mut genommen!“ „Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht konnte ich das tun, weil mir keine Zeit zum Nachdenken blieb.“ Zum erstenmal, seit Natty Bumppo an Bord der Arche war, sah Judith ihn richtig an; sie wunderte sich, daß ihr erst jetzt auffiel, daß er klare graue Augen hatte, die nachdenklich, vielleicht ein wenig traurig blickten und von denen auch nach diesen gräßlichen Minuten eine große Ruhe ausging. Sie hätte gern gewußt, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn Hurry March sie gerettet hätte, aber wahrscheinlich hätte March daraus Ansprüche abgeleitet, die sie ihm nicht zugestehen mochte. „Ich muß mich bei Ihnen bedanken.“ „Jeder von uns muß sich bei jedem bedanken.“ Nattys Blick fiel auf Hetty, die still und blaß auf einem Fellbündel saß. Er fragte erschrocken: „Mein Gott, sind 21
Sie verletzt?“ Ohne aufzublicken, antwortete Hetty: „Nein, ich habe für uns alle gebetet.“
2 Die Arche trieb auf dem offenen See; für einige Minuten fiel eine Lähmung über die fünf Menschen wie oft nach einer großen Gefahr. Es klang, als ob Hutter den anderen Mut machen wollte, als er sagte: „Ich kenne jedes Kanu an diesen Ufern, es gibt jetzt nur noch zwei, und sie sind so gut versteckt, daß keine Rothaut sie findet. Auf dem See sind wir also sicher.“ Natty war nicht so zuversichtlich, aber er sprach seinen Gedanken nicht aus. Er überprüfte seine Waffe, eine langläufige Kentuckybüchse, öffnete den Kolbenkasten und sah nach, daß die Geschoßpflaster an ihrer Stelle lagen. Die Mädchen zogen sich in die Kajüte zurück, und zwischen Hutter und March begann eine Debatte, ob sie es mit einem Jagdtrupp oder einem Kriegerschwarm zu tun hätten, ob Frauen und Kinder dazugehörten, ob die Mingos nach dem Beginn der Feindseligkeiten über die Grenze gedrungen oder schon vorher als Jäger durch diese Wälder gestreift wären - es gab ebenso viele Argumente für oder gegen jede dieser Ansichten. „Alter Tom“, sagte March, „ich habe den Eindruck, das Kastell und deine Arche und deine Fallen sind heute nur noch halb so viel wert wie gestern.“ „Mir sind im Moment meine Töchter wichtiger.“ March brummte: „Möchte nicht in deiner Haut stecken!“ „Ich darf doch in den nächsten Tagen auf eure Hilfe zählen?“ „Auf meine immer“, sagte Natty, „und wenn ich morgen abend meinen Freund getroffen habe, besitzen wir noch ein Gewehr mehr.“ Nach einer kleinen Pause setzte March hinzu: „Natürlich laß ich dich nicht im Stich, Tom.“ Natty 22
hatte den Eindruck, daß dieser Satz ein wenig zu laut gesprochen worden war, als daß er echt gewirkt hätte. Eine Stunde später war das Halbdunkel des Abends auf das sanfte Zwielicht der Dämmerung gefolgt, und alles innerhalb der schwarzen Umrahmung der Wälder lag in der Ruhe der Nacht. Aus dem Saum der Bäume drang nicht einmal ein Flüstern herüber, und der einzige Laut war das regelmäßige Klatschen und Knarren der Ruder, mit denen March und Natty die Arche zum Kastell hin lenkten. Hutter stand auf dem Heck, aber da die beiden Ruderer genau im gleichen Takt arbeiteten, konnte er das Steuer nachschleppen lassen. Später erhob sich Südwind, Hutter zog ein Rahsegel hoch, zwei Stunden danach tauchte das Kastell in der Dunkelheit auf. Die Männer banden die Arche fest und stiegen auf die Plattform hinüber; sie fanden alles unversehrt. „Bisher haben wir Glück gehabt“, sagte Hutter, „aber ich kann nicht ruhig schlafen, ehe ich nicht alle Kanus im Dock unter meiner Burg vertäut weiß. Wie war’s, wenn wir die übrigen zwei heute nacht holten?“ „Ich bin natürlich dabei.“ Hurry March reckte die Arme, als sehnte er sich nach einem neuen Abenteuer, und er konnte es nicht lassen, Natty zu hänseln. „Dein erster Kriegszug, Wildtöter. Bißchen flau um den Magen?“ „Jeder fängt jede Sache mal an“, erwiderte Natty. „Wir wollen sehen.“ Es war Mitternacht, als die drei Männer ein Kanu bestiegen. Hutter setzte sich an die Spitze, March und Natty tauchten mit aller Vorsicht die Paddel ein. Hutter ließ keinen Blick von der Silhouette der Bäume; nach einer halben Stunde flüsterte er, sie wären am Ziel. Minutenlang blieben sie in einiger Entfernung vom Ufer liegen, horchten, spähten, aber sie hörten kein Knacken 23
eines Astes unter einem Mokassin, sahen keinen Feuerschein und rochen keinen Rauch aus der Asche eines sterbenden Feuers. Da griffen sie wieder zu den Paddeln, und wenig später schob sich der Bug des Kanus leise knirschend auf das kiesige Ufer. Hutter und March sprangen sofort an Land, Natty nahm sein Gewehr an die Hüfte und spannte den Hahn. Totenstill lagen See und Wald. Hutter und March schlichen bergauf, alle paar Schritte blieben sie stehen und lauschten. Sie fanden die hohle Linde, in der das Kanu versteckt war, zogen es heraus und tasteten nach Paddeln und Sitzen. Hurry March lud sich die Last auf die Schulter, Hutter, der jetzt beide Gewehre trug, ging voran. In den letzten Minuten dieses Abenteuers packte Furcht nach March, ohne Rücksicht auf Lärm brach er durch das Ufergebüsch, und in aller Eile, bei jedem Paddelschlag fürchtend, hinter ihnen bräche die Hölle los, nahmen die drei Männer das zweite Kanu in Schlepp und flüchteten auf den See hinaus. Auf der Mitte der Wasserfläche überließ Hutter dieses Boot dem Wind, der es langsam auf das Kastell zutreiben würde. Dann wendete er wieder nach Süden, und March und Natty paddelten der Stelle des Ufers zu, an der noch ein Boot versteckt lag. Eine Landzunge schloß hier eine Bucht ab, das Gelände war eben, erst einige hundert Schritt weiter hinten begannen die Berge. Wieder schlichen Hutter und March durch den Wald, sie fanden das Kanu, trugen es zum See und setzten es ins Wasser. Sie waren jetzt, da sie alle Boote rund um den Silberglas in ihrem Besitz wußten, zuversichtlicher als jemals seit der Stunde, als sie, noch unten im Abfluß, ihren Kriegsrat gehalten hatten. Hutter flüsterte: „Jetzt sollten wir uns noch ein wenig umsehen. Vielleicht finden wir heraus, wo das Lager der Rothäute 24
liegt.“ Nun kam auch Natty mit an Land, zu dritt drangen sie auf einer Landzunge vor, um einen Blick in die Bucht dahinter zu werfen. Fast gleichzeitig erstarrten sie, denn auf der anderen Seite zuckte ein erlöschendes Feuer, ein glühender Punkt in der Finsternis; es war zweifellos der Rest eines Lagerfeuers. Hutter wußte, daß eine Quelle in der Nähe lag und diese Bucht einer der reichsten Fischplätze des Sees war, und so stand für ihn fest, daß sich hier das Lager der Frauen und Kinder des Indianerschwarms befand, dessen Krieger versucht hatten, die Arche zu erobern. „Gute Beute“, flüsterte er March zu. Sie standen eine Weile und spähten hinüber, einmal sahen sie, wie jemand vor dem Feuer vorüberging, dann erlosch es völlig. Sie schlichen zu den Kanus zurück, bestiegen das größere, nahmen das andere in Schlepp und paddelten auf den Eingang der Bucht zu. Hutter sagte: „In dieser Nacht werden wir noch ein hübsches Stück Geld verdienen. Unsere Offiziere zahlen für Skalpe ebensogut wie die Franzosen.“ „Da mache ich nicht mit“, erwiderte Natty sofort. „Wobei machst du nicht mit?“ „Ich gehe nicht auf Skalpjagd“, beharrte Natty. „Selbst wenn unsere Offiziere die Indianer zu diesem blutigen Gewerbe anstacheln, sollten wir weißen Männer die Finger davon lassen.“ March stieß die Luft aus. „Ich hab mir bald so was gedacht“, schnaufte er, „ein grüner Junge mit einem Haufen unnützer Moral! Zum erstenmal dabei, wenn’s brenzlig riecht, und schon mit allerhand Weibergeschwätz bei der Hand!“ Marchs Stimme war es anzuhören, daß es ihn Mühe kostete, sie zu dämpfen. „Du Idiot!“ stieß er hervor. „Am liebsten würde ich dir die Faust zwischen die 25
Hörner schlagen!“ „Seid friedlich!“ bat Hutter. „Wir müssen alle an einem Strick ziehen und können es uns nicht leisten, uns gegenseitig zu beschimpfen. Wildtöter bleibt bei den Kanus und deckt den Rückzug, wir beide pirschen uns an das Lager heran und versuchen, ob in dieser Nacht noch eine Prämie für uns herausspringt. Nun keinen Streit mehr!“ March knurrte noch etwas, dann erklärte er sich einverstanden. Hutter legte seinen Plan dar. Natty sollte das zuletzt geborgene Kanu auf den See hinausbringen und treiben lassen und in dem anderen langsam am Ufer entlangpaddeln. Er sollte Obacht geben, wie sich die Dinge entwickelten, und im rechten Augenblick Hutter und March aufnehmen. „Ich werde den Lommenschrei nachahmen“, sagte March. „Du kommst ans Ufer, Wildtöter, wenn du ihn hörst. Hoffentlich wird unserem Jungchen nicht übel, wenn wir das Kanu voller Skalpe laden.“ „Du hältst endlich dein Maul“, sagte Hutter. Gleich darauf verschwanden er und March in der Dunkelheit. Natty blieb mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Er sann dem Satz nach, den Hutter bei ihrem Zusammentreffen gesprochen hatte, daß jeder Weiße in dieser Situation jedes Weißen Freund wäre, er drehte ihn um: Da wäre also jeder Rote jedes Weißen Feind - aber Große Schlange war der beste Freund, den er je gefunden hatte, und er konnte in seinem Herzen keinen Haß auf die Indianer entdecken, die am Ufer des Silberglas streiften, auch nicht, weil sie versucht hatten, die Arche zu überfallen. Er hoffte, Hutter und March möchten von den Wachen der Mingos rechtzeitig bemerkt werden und unverrichteterdinge umkehren, sie möchten die auf dem See treibenden Kanus 26
wiederfinden und mit ihnen die Arche erreichen. Vielleicht, sann Natty, tauge ich wirklich nicht für diese vertrackte Situation? Ich will die Mädchen schützen, ich will, daß kein Blut fließt. Aber was nutzt dieser Wille, wenn Krieg ist? Natty stieg wieder ins Boot. Einige hundert Fuß vom Ufer ragte Schilf aus dem Wasser; er packte ein Bündel davon, so daß sein Kanu zur Ruhe kam. Den Uferstreifen erkannte er als besonders dunklen Ballen in der allgemeinen Finsternis, die Stille auf dem See und am Ufer war vollkommen. Nattys Gedanken glitten zurück zu den vielen Nächten, die er auf der Jagd im Freien verbracht hatte, er spürte Müdigkeit auf die Augen drücken und trank, um sich zu ermuntern, einige Schluck Wasser, er ärgerte sich, daß er sich nicht geweigert hatte, March und Hutter den Rücken zu decken, und hoffte, am nächsten Abend seinen Freund zu treffen und mit ihm das tun zu können, was sie sich vorgenommen hatten. Es mochten anderthalb Stunden vergangen sein, seitdem Hutter und March im Walde verschwunden waren, als der Ruf einer Lomme von der gegenüberliegenden Seite des Silberglas, allem Anschein nach nicht weit vom Ausfluß entfernt herüberdrang. Schrill, tremolierend und langgehalten klang er über das Wasser, Natty hatte ihn oft gehört und wußte, daß ihn Weiße und Rote gleichermaßen als Warnruf oder Signal nachahmten. Allerdings kam er von einem Punkt, von dem Natty ihn nicht erwartet hatte. March und Hutter hatten genügend Zeit gehabt, zur Südspitze des Sees zu gelangen, aber es war nicht wahrscheinlich, daß sie den Weg dorthin eingeschlagen haben sollten. Hätten sie das Lager leer gefunden, wären sie direkt zum Ufer zurückgekehrt, war es aber zu stark bewacht, so ließ sich kein Grund denken, warum sie es 27
umgangen haben sollten, um in so großer Entfernung wieder auf den See zu stoßen. Natty überlegte: Gehorchte er dem Ruf und ließ sich weglocken, so konnten March und Hutter dadurch ihr Leben verlieren, beachtete er den Schrei, in der fälschlichen Annahme, daß er von einem Vogel stammte, nicht, so konnte dasselbe geschehen. In dieser Ungewißheit wartete er ab, hoffte, der Ruf werde wiederholt. Wenige Minuten später zitterte er erneut über den See; diesmal glaubte Natty sicher zu sein, daß er echt war. Da beschloß er, weiter an dieser Stelle zu warten. Gleich darauf wurde die Stille durch einen entsetzlichen Schrei aus der Kehle einer Frau oder eines Kindes voller herzzerreißender Angst unterbrochen. Äste knackten, dürre Zweige brachen, ein Schuß fiel, die Berge jenseits der Bucht warfen ein rollendes Echo herüber. Natty ließ das Schilfbüschel los und paddelte auf das Ufer zu. Er glaubte, daß sich die Geräusche im Wald schräg zum Ufer hin bewegten, er versuchte, ihnen zu folgen, hörte die Stimme Hurry Marchs, einen Fluch und den wütenden Satz: „Ich kann den Teufel nicht packen, seine Haut ist eingeölt!“ Gleich darauf war unter den Bäumen, die das Steilufer einfaßten, der Fall eines schweren Körpers zu hören, und Natty hatte den Eindruck, als habe March einen seiner Verfolger dort hinabgestürzt. Wieder hörte er Ächzen und Rufen, dann knallten Schüsse, und schließlich, da Natty nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt war, sah er einen Mann den Hang herabrennen, er wurde verfolgt von einem anderen. March stieß einen Lommenschrei aus, aber gleich darauf sprangen weitere Schatten den Hang herunter. Natty hörte wieder Flüche, Schreie, das Gelärm eines Handgemenges, er stoppte das Boot, trieb es zurück, denn jetzt deutete alles darauf hin, daß der Kampf zuungunsten von Manch und Hutter 28
entschieden worden war. Nur einmal war die Stimme Hutters zu vernehmen, er schrie: „Wildtöter, paß auf die Mädchen auf!“ Dumpfes Gurgeln folgte; ein Indianer hatte wohl dem alten Fallensteller den Mund verschlossen. Natty spürte, daß er fror. Seit der furchtbare Schrei aus dem Indianerlager die Nachtstille zerrissen hatte, waren nur wenige Minuten vergangen. In ihnen war Natty von so vielen widerstreitenden Gefühlen und Gedanken hin und her gerissen worden, daß er sich erschöpft zurücklehnte. Drüben am Ufer ließen einige Geräusche erkennen, daß die Gefangenen weggeführt wurden; es schien Natty, als ob sie sich nicht dagegen sträubten. Dann war die Stille wieder vollkommen, sie griff nach Natty und machte ihm seine Einsamkeit bitter bewußt. Er versuchte, im Zorn auf Hutter ein Ventil zu finden, auf den Mann, der sich in Gefahr begeben hatte und womöglich in ihr umkam. Von Hutter war ihm die Sorge für dessen Töchter aufgebürdet worden, aber Hutter hatte eben noch den Töchtern anderer Väter nach Leben und Skalp getrachtet. Natty erwachte aus seiner Lähmung, als ihm bewußt wurde, daß Judith und Hetty in der Tat keinen anderen Beschützer besaßen als ihn. Er paddelte langsam, wie einer, der im Gehen denkt, der Mitte des Silberglas zu. Dort drehte er nach Norden und behielt den leichten Luftzug im Rücken. Nach einer Viertelmeile wurde ein dunkler Gegenstand auf dem Wasser sichtbar, es war das Kanu, das er zuletzt ausgesetzt hatte; er band es am Heck seines Bootes fest. Dann ließ er sich zurücksinken; er spürte ein Ziehen in den Schultern vom ungewohnten Paddeln, seine Handflächen schmerzten, und jetzt, da er sich zu entspannen versuchte, fühlte er bösen Hunger. Einmal fuhr er auf, da er glaubte, Marchs Signalruf gehört zu haben, Bilder des vergangenen 29
Tages und der wirren Ereignisse dieser Nacht zuckten durch sein Hirn, ein Mingo sprang auf das Dach der Arche, Hurry March zeigte ihm das Dock unter dem Kastell, ein Schrei gellte aus dem Indianerlager, und Hetty sagte leise: „Ich habe für uns alle gebetet.“ Natty öffnete die Augen und blickte zu den Sternen hinauf, die kalt über dem See standen, er versuchte sich über die Rolle klarzuwerden, in die er ohne Absicht hineingeraten war und die er einen Tag lang gespielt hatte. Er fand, daß man Ursachen und Wirkungen, eigenen und fremden Willen, Leistungen und Versagen abwägen mochte, wie man wollte - eines stand fest: Er war verpflichtet, Hetty und Judith zu schützen. Noch einmal schrie vom Südufer her klagend und zitternd eine Lomme, als trauere sie um einen Toten, dann schlief Natty ein.
3 Die Sonne war noch nicht aufgegangen, sanfte Röte überzog den Himmel, die Luft war erfüllt vom Gejauchze der Vögel, da erwachte Natty Bumppo, weil ihn fror und ihn sein Rücken schmerzte. Er richtete sich auf und sah, daß der Wind ihn gefährlich weit ans Ufer herangetrieben hatte, und er entdeckte das dritte Kanu, das weiter nördlich kaum hundert Fuß von einem vorspringenden Punkt des Ufers schwamm. Das Kastell stand auf seiner Sandbank beinahe in gleicher Linie mit den Kanus, die während der Nacht meilenweit getrieben worden waren, die Arche lag an der Plattform der hölzernen Festung vertäut wie viele Stunden vorher. Natty paddelte dem dritten Kanu nach. Er hoffte, es noch vor dem Ufer zu erreichen, als der Wind frischer zu wehen begann und es schneller gegen den Strand trieb. Natty überprüfte sein Gewehr, beobachtete das Ufer und näherte 30
sich ihm in einem vorsichtigen Bogen. Ihm war klar, daß auch die Mingos das Boot in der Morgendämmerung entdeckt haben mußten, auch sie würden seine Richtung berechnet haben, und es war nur eine Frage der Zeit, ob sie schon die Stelle erreicht hatten, an der es stranden mußte. Eben jetzt blieb es an einer Klippe hängen, drehte sich um sich selbst und wurde weiter aufs Land zu gedrückt. Natty wußte, in welche Gefahr er sich begab, wenn er sich allein dem Ufer näherte. Aber ein Kanu in den Händen der Indianer bedeutete eine ebensolche Gefahr, so nahm er durch einige kräftige Schläge Fahrt auf und griff zum Gewehr. In diesem Augenblick fiel ein Schuß, eine Kugel zischte an Nattys Ohr vorbei, er tat, als sei er getroffen und ließ sich fallen. Er hörte einen Kriegsschrei, riß die Büchse hoch und sah einen Indianer aus dem Gebüsch auftauchen, das Kanu stieß auf den Strand, Natty taumelte, und ehe er das Gewehr wieder in Anschlag bringen konnte, war der Indianer verschwunden. Natty wußte, daß er sich jetzt im Vorteil befand, weil der Mingo einige Zeit brauchen würde, seine Büchse zu laden. Deshalb sprang Natty sofort an Land. Vor ihm lag ein Stück Hochwald; nach einigen Sprüngen stellte sich Natty hinter einen Baum, horchte und spähte, und gleich darauf sah er den Arm des Indianers, wie er eine lederumwickelte Kugel in den Lauf seiner Büchse stieß. Natty war als Christ erzogen, er hatte viele Male das Gebot gehört und nachgesprochen, daß man nicht töten sollte, und ein Tag und eine Nacht am Silberglas hatten nicht genügt, ihm die mitleidlosen Kampfesregeln des Indianerkrieges anzuerziehen. Er hoffte immer noch, dieser Zusammenstoß möchte ohne Blutvergießen enden, und so wartete er, bis der Indianer geladen hatte, und, sorgsam 31
um sich schauend, hinter der Eiche hervortrat. Da rief er ihn an: „Stehenbleiben, Rothaut!“ Der Mingo zuckte zusammen, doch gleich darauf hatte er sich so weit gefaßt, daß er den Kolben seiner Büchse ins Gras stellte und in einer Geste stolzer Höflichkeit erstarrte. Aber die Selbstbeherrschung des Mingos war doch nicht so groß, daß Natty in dessen Augen nicht kalten Zorn wahrgenommen hätte. „Drei Kanu“, erklärte der Indianer in den Guttural -tönen seiner Rasse, „zwei für dich, eines für mich.“ Natty lachte. „Da wird nichts draus, Mingo. Dir gehört keines, und du wirst auch keines bekommen, solange ich das verhindern kann. Es ist Krieg zwischen Kanada und unserer Kolonie, aber deshalb sehe ich nicht ein, warum wir beide uns umbringen sollten. Du verschwindest, so schnell du kannst.“ „Hugh!“ rief der Indianer. „Ich heißen Luchs, meine Freunde mich so nennen, weil Ohr fein. Ich hören sehr gut, daß weißer Bruder ein Missionar, großer Redner, alles von Manitu.“ „So auch wieder nicht. Aber wenn schon geschossen werden muß, dann nicht wegen eines elenden Rindenkanus.“ „Gut!“ rief der Indianer. „Mein Bruder jung, aber sehr weise. Kleiner Krieger, großer Redner! Manchmal Häuptling im Rate?“ Natty hörte Spott aus diesen Worten heraus, aber als der Indianer auf ihn zutrat und ihm die Hand hinstreckte, schlug er ein. Zusammen schritten sie zum Strand, wobei der Mingo voranging, wohl um zu zeigen, daß er den Weißen in seinem Rücken nicht fürchtete. „Jeder sein Kanu haben“, sagte der Indianer, „mein Kanu mein, dein Kanu dein.“ 32
„Du wirst sehen, Luchs, daß dir kein Boot gehört.“ Vor den Kanus stieß der Indianer wieder seinen Lieblingsruf aus: „Gut!“ Dann gab er zu: „Das nicht mein Kanu. Das Bleichgesichtkanu.“ Natty setzte den Fuß auf das einzelne Kanu und stieß es in den See hinaus. Der Indianer warf ihm einen ärgerlichen Blick nach, faßte sich aber schnell und sagte: „Gut, junger Kopf, alter Verstand. Leb wohl, Bruder. Du schwimmen nach Hause zu Bisamrattenhaus, ich gehen ins Lager, Häuptling sagen, kein Kanu gefunden.“ Er streckte wieder die Hand hin und wandte sich dem Wald zu, die Büchse im Arm, ohne sich nur einmal umzusehen. Natty traute dem Frieden nicht. Er machte sein Boot zur Abfahrt fertig, warf aber dem Mingo immer wieder einen Blick nach. Als dieser im Dickicht verschwunden war, setzte er sich ins Kanu, legte das Gewehr vor sich hin und langte nach dem Paddel. Wieder blickte er zum Ufer, in einer Lücke zwischen zwei Büschen sah er den Kopf des Indianers auftauchen. In diesem Augenblick brachte der Mingo sein Gewehr in Anschlag, da riß auch Natty die Büchse hoch. Er war es gewohnt, das Wild im Sprung zu erlegen; während der Bewegung spannte er den Hahn, beinahe blindlings zielend feuerte er. Seine Reaktion war so schnell, daß er und der Indianer im selben Augenblick abdrückten und der Knall beider Gewehre zusammenschlug. Natty sprang ans Ufer, während seine Hände mechanisch zu Pulverhorn und Ladestock griffen. Er hatte keine Zeit zu überlegen, wie er sich gegen seinen heranstürmenden Gegner wehren sollte, wahrscheinlich hätte er mit dem Gewehrkolben zugeschlagen, denn der Mingo rannte, sein Kriegsgeschrei ausstoßend und den Tomahawk schwingend, auf ihn zu. Etwa zwanzig Schritt vor ihm schleuderte der Mingo sein Kriegsbeil, aber dieser 33
Wurf war so schwach und unsicher, daß Natty keine Mühe hatte, das Beil aufzufangen. Gleich darauf stürzte sein Feind, das Gesicht voran, wie ein gefällter Baum auf die Erde. Langsam, die Büchse in der einen, den Tomahawk in der anderen Hand, trat Natty näher. Er drehte den Indianer um und sah, daß die Kugel ihn in den Leib getroffen hatte. Das Gesicht des Verletzten war starr, ein dünner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel, aber die Augen folgten angstvoll jeder Bewegung, die Natty machte. „Keine Angst, Luchs“, sagte Natty, „ich werde dich nicht skalpieren. Mußtest du auf mich schießen?“ Er hatte noch nie einen Menschen im Kampfe fallen sehen, er wußte nicht, ob er seinen Gegner zu Tode verwundet hatte, aber ihm war klar, daß er sich nicht lange hier aufhalten durfte. Er war leichtsinnig genug gewesen und begriff, daß es endlich Zeit war, sich auf die harten Bräuche dieses Krieges einzustellen. So lud er sein Gewehr, bog die Zweige des Dickichts, aus dem der Mingo auf ihn geschossen hatte, zur Seite und hob dessen Waffe auf. Er trug sie zum Kanu und ging zurück. Die Haut des Mingos war inzwischen fahl geworden, nur mit Mühe konnte er den Blick heben. Er murmelte: „Wasser!“ „Viel kann ich nicht für dich tun.“ Natty hob den Sterbenden auf und trug ihn die wenigen Schritte zum See, er hielt ihm den Kopf so, daß er trinken konnte, und lehnte ihn an einen Stein. Er tröstete: „Du wirst bald deine glücklichen Jagdreviere finden.“ „Gut!“ stammelte der Indianer. „Junger Krieger, alte Weisheit. Auge wie Falke.“ Sein Kopf fiel nach vorn, er murmelte noch: „Solltest heißen Falkenauge.“ Dann war er tot. Natty spürte einen Druck in der Brust, als er in sein Boot 34
stieg und auf den See hinauspaddelte. Er war weit von jedem Gefühl des Triumphes entfernt und fragte sich, ob er durch irgendeinen Schritt den Tod des Mingos hätte vermeiden können, aber er fand, daß er sich nichts vorzuwerfen brauchte außer zuviel Vertrauen in die Ehrlichkeit seines Gegners. Im letzten Augenblick hatte er töten müssen, um nicht sein eigenes Leben zu verlieren, er war der bessere Schütze gewesen und hatte Glück gehabt. Einmal blickte er zurück; da sah er, daß die Leiche des Mingos zusammengesunken vor dem Stein lag. Er war sicher, andere Indianer würden sie bald finden. Natty wußte, daß keine Zeit zu verlieren war, die Kanus zu bergen, er mußte das Kastell in Verteidigungsbereitschaft setzen und noch einige Stunden schlafen, um für den nächsten Abend, an dem er Große Schlange treffen wollte, frisch zu sein. Das Kanu, das er kurz vorher auf den See hinausgestoßen hatte, war bald erreicht und festgebunden. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, sie stand über den östlichen Bergen und überschüttete den See mit ihrem Licht. Das Gurgeln des Wassers hinter Nattys Paddelschaufel war das einzige Geräusch, kein Kriegsruf erscholl, kein Schuß fiel, und wer jetzt zum erstenmal das Ufer des Silberglas betreten hätte, wäre in das gleiche andächtige Staunen versunken wie Natty Bumppo vor nicht länger als einem Tag. Während Natty sich dem Kastell näherte, fühlte er, daß es in eigentümlichem Einklang mit dem See und den Hügeln stand. Wenngleich an nichts als an Festigkeit und Sicherheit bei seinem Bau gedacht worden war, harmonierten doch die massiven Stämme mit ihrer Rinde, das vorspringende Dach und die schmalen Scharten mit der grandiosen Umwelt. Obwohl Natty kaum mehr als eine Stunde im Kastell und auf der 35
Plattform verbracht hatte -in diesen Minuten hatte er das seltene Gefühl, nach Hause zu kommen.
4 Keine der Schwestern sprach, während Natty die Kanus an der Plattform anband. Erst als er hinübergestiegen war, fragte Judith: „Vater?“ „Ihm ist ein Unglück zugestoßen; er und March sind in den Händen der Mingos. Judith erbleichte, während Hettys Gesicht den stillen, in sich gekehrten Ausdruck beibehielt, als hätte sie nicht begriffen. Natty berichtete gedrängt, was in der vergangenen Nacht geschehen war, er verhehlte nicht seine Besorgnis über einen möglichen bitteren Ausgang, doch es war unnötig, den im Grenzerleben erfahrenen Mädchen zu sagen, in welcher Gefahr sich Hutter und March befanden. Judith fragte wenig, ihre Stimme klang gepreßt, ihre Augen waren feucht. Nach diesem Gespräch zog sich Natty die Bluse über den Kopf und wusch sich im morgenkalten Wasser des Sees. Das erfrischte ihn, es weckte seinen Hunger, und als ihn Judith zu Tisch bat, langte er mit dem Appetit der Jugend zu, der auch die beunruhigendste Situation übersteht. Die Mädchen aßen kaum; einmal sagte Judith: „Wie würde Vater dieser Salm geschmeckt haben! Er meint, hier im Silberglas sei er fast so gut wie auf dem Meer.“ „Hurry March deutete an, Ihr Vater sei Matrose gewesen.“ „Ich weiß es selbst nicht genau. Mal erzählt Vater so und mal so. Wenn ich wüßte, was in dieser Truhe da ist, wäre ich klüger.“ Schon bei seinem ersten Besuch im Kastell war Natty eine schwere Eichentruhe aufgefallen, die von Eisenbändern und Schlössern gesichert war. Er fragte: „Wird sie nie geöffnet?“ „Vater hat seine Geheimnisse. Aber wie soll es nun 36
weitergehen?“ „Wir müssen diesen Tag abwarten, am Abend treffe ich meinen Freund Große Schlange, dann sind wir zu zweit. Ich vermute, wenn die Mingos merken, daß sie dem Kastell und der Arche nichts anhaben können, werden sie uns die Rückgabe der Gefangenen anbieten.“ Hetty flüsterte: „Möge Gott es geben.“ „Wir müssen warten“, wiederholte Natty. „Außerdem bin ich hundemüde, ich könnte schlafen, wo ich gehe und stehe. Ihr Mädchen versprecht mir, daß ihr den See im Auge behaltet und mich weckt, wenn etwas Auffälliges geschieht?“ Auf Hutters Lagerstätte, unter einer Felldecke, schlief Natty bis zum Mittag. Er wurde wach, als Hetty ihn an der Schulter berührte; ihrem Gesicht glaubte er anzusehen, daß sie ihn nicht einer Gefahr wegen aus dem Schlaf rüttelte. „Sie müssen essen“, sagte sie. Die Schwestern hatten die Mahlzeit auf der Plattform angerichtet. Ein in der Glut des Herdes gebratener Rehrücken lag auf einer Holzplatte, und wieder war es Natty, der das meiste davon aß. Er wollte die Mädchen aufmuntern, indem er ihnen sagte, daß er lange nicht mehr so komfortabel und in solch netter Umgebung gespeist habe und daß er in diesem Kastell eine Belagerung beinahe vergnüglich fände; aber es gelang ihm nicht, ihre Mienen aufzuhellen. Nach dem Essen ging Natty noch einmal durch alle Räume, musterte die Schießscharten und die Verriegelung der Bodenklappe, die Vorräte an Lebensmitteln, Pulver, Waffen und Munition. Er fand alles in gutem Zustand und hoffte, die kleine Festung ließe sich auch gegen Angreifer verteidigen, die auf Flößen herankamen. Was er am meisten fürchtete, war jedoch kein offener Kampf, sondern eine indianische List. Am späten Nachmittag machten sich Natty und die 37
Mädchen daran, das Haus zu verriegeln. Sie ketteten die Kanus im Dock an, versperrten die Fenster, stiegen durch die Falltür in ein Kanu hinab und verschlossen die Klappe. Mit dem Kanu erreichten sie die Arche; von ihr aus suchte Natty mit Hutters Fernrohr noch einmal das Ufer ab, wobei er nichts Verdächtiges bemerkte, vor allem schien nirgends der Bau eines Floßes im Gange zu sein. Ihm war klar, daß Späher jede Bewegung im Kastell und auf der Arche beobachteten, und so griff er zu einer List. Er hißte das Segel und ließ die Arche nach Osten treiben. Der Wind, der an den Hängen mit den Ästen spielte, drang kaum herunter und kräuselte nur schwach den Spiegel des Sees. Die Sonne stand am westlichen Himmel in einer Höhe, die noch zwei Stunden Licht versprach; Schichten flockiger Wolken trieben von Norden heran, Ketten von Enten strichen über das Wasser, und ein einzelner Adler kreiste hoch über den Bäumen. Judith lehnte sich neben Natty an die Brüstung. Sie trug eine Leinenjacke und Hosen aus Hirschleder wie jedermann an der Grenze; sie fragte: „Dieser Häuptling ist schon lange Ihr Freund? Wir können uns auf ihn verlassen?“ „Wie auf mich selbst.“ „Und wann wollen Sie ihn treffen?“ „Wenn die Sonne untergeht. Der Treffpunkt, ein Felsen, ist nur einen Flintenschuß weit vom Ufer entfernt. Ich steure noch nicht auf ihn zu, und Mingos, die uns am Ufer verfolgen, werden sich müde Füße holen.“ Als die Sonne hinter den Fichten eintauchte, segelte die Arche an dem Landvorsprung vorbei, an dem March und Hutter in Gefangenschaft geraten waren. Dort schickte Natty die Schwestern in die Kajüte, duckte sich hinter die Brüstung und gab der Arche eine neue Richtung; 38
auffrischender Wind trieb sie gegen den Ausfluß des Sees. Westlich davon ragte ein Stein aus dem Wasser, auf ihn hielt Natty zu. Dreihundert Fuß vor dem Felsen zog er das Segel ein und warf den Anker aus; die Arche besaß noch genügend Fahrt, um langsam weiterzuschwimmen. Natty rief den Mädchen zu, durch die Luken das Ufer zu beobachten; er selbst hielt das Ankertau in der Hand, seine Büchse lehnte in Reichweite. Er kannte die indianische Pünktlichkeit, die fast eine Manie war, zur Genüge, und wußte, dass Große Schlange, sollte er seinen Weg durch die Späher und Posten der Mingos gefunden haben, seinen ganzen Ehrgeiz dareinsetzen werde, zur Minute des Sonnenuntergangs auf diesem Felsen zu stehen. Die Kajüte verdeckte Natty die Sicht, da er sich nicht vom Tau entfernen wollte, und so rief er den Mädchen zu, sie sollten Stein und Ufer keine Sekunde aus den Augen lassen. Als der Schatten die Kuppe des Steins überkroch, rief Judith: „Wild-töter, ein Indianer steht auf dem Felsen!“ „Wo trägt er die Falkenfeder, über dem linken Ohr oder an der Kriegslocke?“ „Am Ohr!“ „Das ist Chingachgook!“ Natty ließ das Tau noch ein Stück durch seine Hände gleiten, bis die Arche unter einem Aufsprung schwankte, dann zog er mit allen Kräften an. Die Tür der Kajüte wurde aufgerissen, und ein Indianer trat auf die Plattform. „Hugh!“ sagte er und stellte sich neben Natty; das tat er mit solcher Selbstverständlichkeit, als hätten sie sich am Tag vorher zum letztenmal getroffen und würden sich zufällig begegnen. In diesem Augenblick kreischten die Schwestern auf und schrien: „Ziehen! Wildtöter, ziehen!“ Was sie sahen, war in der Tat schrecklich: Zwanzig 39
Mingos stürzten sich von den Uferbäumen ins Wasser und wateten auf die Arche zu. Natty und sein Freund zogen mit aller Kraft, aber es war schwer, die Arche in Bewegung zu bringen, und so kamen die ersten Feinde bedrohlich nahe. Hetty und Judith bemerkten, daß manchen das Wasser bereits bis zur Brust reichte, gleich darauf versuchten einige, schwimmend der Arche nachzusetzen. Diese kam in Fahrt, ein paar Mingos kehrten um und versteckten sich wieder hinter Bäumen und Büschen. Unterdessen glitt die Arche bis an den Anker heran, Natty hob ihn vom Seegrund auf, und schließlich lag so viel Raum zwischen der Arche und dem Ufer, daß kein Schuß mehr gefährlich werden konnte. „Ich freue mich, daß du da bist, Schlange“, sagte Natty. „Wir haben eben wieder mal Glück gehabt.“ Die Mädchen traten aus der Hütte heraus. „Das ist Chingachgook“, sagte Natty, „das bedeutet so viel wie Große Schlange, so hat man ihn wegen seiner Schlauheit genannt. Ihr könnt euch denken, daß ich mit ihm allerlei zu besprechen habe. Wie war’s, wenn ihr uns inzwischen etwas zu essen machen würdet?“ Die Schwestern gingen in die Kajüte zurück, Natty und Große Schlange setzten sich auf das Vorderteil der Arche und schauten sich zum erstenmal richtig an. Große Schlange trug die Kriegsbemalung seines Stammes; es gelang ihm auch jetzt, Wiedersehensfreude und Aufregung zu verbergen. Natty sagte: „Du bist in Teufels Küche geraten, Schlange. Was seit gestern an diesem See geschehen ist, hat das Unterste zuoberst gekehrt. Und mir scheint, es war erst der Anfang.“ Er erzählte, der Indianer hörte zu, dann berichtete Große Schlange, wie er einen Tag lang die Wälder am Ausfluß des Sees mit aller 40
Vorsicht durchstreift und sich immer wieder vor den Trupps der Mingos verborgen hatte; zuletzt war er durch deren Postenkette geschlüpft. Natty fragte: „Hast du im Lager dieser Burschen zwei Weiße gesehen?“ „Chingachgook hat sie gesehen, die fallende Schierlingstanne und die hohe Fichte.“ „Gut formuliert. Und deine Braut?“ „Der Bäume waren zu viele, und Blätter bedeckten die Äste wie Wolken den Himmel bei Gewitter. Aber Chingachgook hat das Lachen von Wah-ta-Wah gehört, es klang in sein Ohr wie das Zwitschern des Zaunkönigs.“ Natty wußte, daß der delawarische Häuptling nicht nur an den Silberglas gekommen war, um feindliche Trupps zu beobachten, er wollte auch seine Braut, die sich in deren Händen befand, befreien. „Ich glaube“, sagte Natty, „wir werden in den nächsten Tagen mehr zu tun haben, als uns lieb ist. Hutters Töchter schützen, March und Hutter auslösen, Wah-ta-Wah herausholen - und auf unsere eigenen Skalpe müssen wir schließlich auch aufpassen. Schlange, unser erster gemeinsamer Kriegszug hat’s in sich!“ Der Himmel hatte sich inzwischen verdunkelt, Wolken verdeckten die Sterne. Der Nordwind hatte sich gelegt, ein leiser Luftzug erhob sich von Süden. Bevor sich die vier zum Abendessen niedersetzten, zog Natty das Segel auf, und so trieb die Arche langsam dem Kastell zu. Das Mahl verlief schweigsam, danach begann ein tastendes Gespräch, was nun zu tun sei, und Natty war überrascht, mit welch klaren Vorschlägen sich Judith daran beteiligte. Er hatte sie als gefallsüchtig, auch als zu flatterhaft eingeschätzt, als daß er ihr den nötigen Weitblick in einer derartigen Lage zugetraut hätte, aber jetzt zeigte sie Ernst 41
und Umsicht und bewies, daß das Leben an der Grenze ihr manche Erfahrung eingetragen hatte. „Die Indianer“, sagte sie, „werden die Gefangenen gegen Lösegeld freilassen, das ist mit Vater schon einmal geschehen, und ich bin sicher, daß es sich wiederholen wird.“ „Und was wollen Sie anbieten?“ Niemand achtete darauf, daß Hetty während dieses Gesprächs aufstand und auf das Hinterdeck hinaustrat. Judith sagte: „Im Kastell befindet sich manches, was für die Indianer von Wert ist, Felle und Pulver zum Beispiel. Schließlich bleibt der Inhalt der Truhe. Ich würde riskieren, sie zu öffnen.“ Judith versuchte, sich zu erinnern, was sie empfunden hatte, als Natty Bumppo am Vortag die Arche betreten hatte, sie war sicher, ihm nicht mehr als einen Blick gewidmet zu haben, so sehr hatte er im Schatten von Hurry March gestanden. Er war ihr linkisch und schüchtern erschienen; der riesige March hatte mit seiner dröhnenden Stimme die Situation beherrscht. Judith überlegte, ob sie jetzt lieber mit March beraten würde, und ihr war sofort klar, daß Wildtöter ungleich verläßlicher und besonnener war. Natty, Große Schlange und Judith kamen überein, nichts zu tun, was die Situation verschärfen könnte, zunächst das Kastell anzusteuern und dort den Rest der Nacht zu verbringen. Vermutlich würden sich die Indianer am Morgen mit ihnen wegen eines Lösegeldes in Verbindung setzen, erst dann konnte man weitere Schritte planen. Nach diesem Entschluß standen die drei auf und traten auf die Bugplattform hinaus, schauten über das Wasser, hörten, wie sich schwache Wellen murmelnd an der Arche brachen. Einmal sagte Natty: „Ich bin an der Grenze aufgewachsen und kenne die Indianer besser als die Weißen. Ich hätte nie gedacht, daß in diesen Wäldern 42
etwas geschehen könnte, das mich aus der Ruhe bringt. Aber ich sag’s ehrlich: Der letzte Tag hat mir so viel Überraschungen gebracht, daß mein Bedarf gedeckt ist. Ich hätte nichts dagegen, wenn es morgen wesentlich ruhiger zuginge.“ Er ließ ein leises, kaum hörbares Lachen folgen, er schaute nach rechts zu Große Schlange und nach links zu Judith und versuchte, sich an den Augenblick zu erinnern, als Judith sich an ihn gelehnt hatte; das war unmittelbar nach dem ersten Überfall der Mingos gewesen. Himmel, dachte er, es fehlt wohl gerade noch, daß ich mich hier in ein Liebesabenteuer einlasse. Nach einer Weile schien es ihnen, als Hörten sie Paddelgeräusche, der Delaware beugte sich vor und wies in die Dunkelheit hinaus, dort lag in der Tat ein Schatten auf dem Wasser. Natty hob die Büchse und rief: „Nicht näher kommen, wenn euch euer Leben lieb ist!“ Eine zitternde Stimme antwortete: „Schießt nicht, Wildtöter!“ „Hetty“, flüsterte Judith. Natty rannte durch die Kajüte zum Heck, wo er ein Kanu vertäut hatte; es war verschwunden. Augenblicklich begriff er, was geschehen war. Er rannte wieder nach vorn und riß das Segel herunter, konnte aber die Arche nicht stoppen, bevor sie nicht hinter dem Kanu, in dem Hetty saß, vorbeigetrieben war. Große Schlange und Natty griffen zu den Paddeln, um die Arche zu drehen, aber Hettys Boot war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Natty hoffte, sie noch vor dem Ufer einzuholen, aber je weiter sich die Arche in den dunklen Streifen unter den Uferbäumen hineinschob, desto mehr mußte er seinen Wunsch begraben. Er warf einen Anker aus, Totenstille senkte sich wieder über den See, in die Judith, Große Schlange und Natty hinauslauschten, aber sie konnten nicht den geringsten Laut ausmachen. Einmal stand Judith 43
neben Natty, er fragte leise: „Warum hat sie das getan?“ „Sie liebt Vater, in Hurry March ist sie vernarrt; sie vermag wohl nicht zu begreifen, was Hurry für ein eitler und unsteter Mensch ist. Ich bin sicher, daß sie zu ihnen will.“ „Sie wird niemals die Mingos überlisten.“ „Das wird sie auch nicht versuchen, dazu ist sie viel zu redlich. Sie wird nie etwas tun, was die Bibel nicht gutheißt.“ „Auch dann ist sie in tödlicher Gefahr.“ „Ich glaube nicht.“ Judith flüsterte, sie habe schon einige Male bemerkt, daß Indianer einen seltsamen Respekt vor Hettys Einfalt zeigten, als ob sie meinten, wer schlichten Geistes sei, stünde den Göttern näher. Sie schwiegen wieder, horchten, aber nichts rührte sich. Nach einer Stunde begriffen sie, daß sie nichts ausrichteten, wenn sie länger hier liegenblieben. Aber es war durchaus möglich, daß sich die Mingos schon in den Besitz von Hettys Kanu gebracht hatten, dann war das Kastell in größter Gefahr. Da zog Natty wieder das Segel auf. An einer Landspitze stand Hetty, sie erkannte Wildtöters Stimme, als er Judith anwies, wie sie steuern sollte, und sah die Arche am Ufer vorbeistreifen. Da gab sie ihrem Kanu einen Stoß. Wenig später hörte sie überraschte Stimmen drüben auf der Arche; sie durfte sicher sein, daß das Boot bemerkt und eingefangen worden war. „Hetty!“ rief Judith über das Wasser, „um Gottes willen, antworte, Hetty! Wir holen dich zurück! Die Wälder sind voll von Mingos und wilden Tieren!“ Hetty rief zurück: „Sie werden einem armen, nur halb klugen Mädchen nichts tun. Ich will Vater und Hurry helfen, sie werden gemartert werden, wenn sich niemand 44
ihrer annimmt.“ Natty war schon im Begriff, ins Kanu zu springen, als er Brechen des Unterholzes hörte. Es bestand kein Zweifel, daß Hetty in den Wald eindrang, dort würde sie in der Dunkelheit der Nacht, die ihr tausend Verstecke bot, nicht zu finden sein. Judith rief noch einige Male, aber ihre Schwester antwortete nicht. Da brachten Natty, Große Schlange und Judith schweren Herzens die Arche wieder in Fahrt; sie sprachen kein Wort, so beklommen war ihnen zumute. Der Wind stieß aus schwarzen Wolken herunter, die Bäume rauschten, knatternd schlug das Segel, kurze, harte Wellen brachen sich an der Bordwand. Die drei Menschen auf der Arche wußten, daß ihr Leben an einem Faden hing, wenn sie das Kastell nicht vor ihren Feinden erreichten.
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Der erste Skalp Die Besatzung der Arche verdankte es weit mehr dem Glück als ihrer seemännischen Kunst, daß sie das Kastell fand; nach zwei Stunden trat es aus der Dunkelheit heraus und lag als ungefüge Schattenballung auf dem Wasser. Große Schlange und Natty vertäuten die Arche an der Plattform und untersuchten Schlösser und Riegel, die sich als unversehrt erwiesen. Judith fühlte sich so erschöpft, daß sie sich sofort schlafen legte; die beiden Männer überprüften ihre Gewehre, dann wachten sie abwechselnd. Als sich die Sonne über den Hügeln erhob, waren alle drei wieder auf den Beinen. Die Luft war noch kühl über dem Silberglas, Nebelschwaden standen handbreit über ihm, in den Buchten verdickten sie sich und hingen in Streifen und Schleiern in den Bäumen. Es bestand kein Zweifel, daß dort die Späher der Mingos hockten. Beim Frühstück wurden natürlich die Ereignisse des letzten Tages erörtert; Judith rief: „Wildtöter, wir dürfen nicht ruhig sitzen und Vater und Hetty in den Händen der Rothäute lassen!“ Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: „Und March natürlich auch nicht.“ Natty wollte nichts übereilen, er erwiderte: „Wir müssen Geduld haben, sonst verderben wir alles. Wir müssen auch die Befreiung der Braut meines Freundes in unsere Pläne einbeziehen. Die Mingos werden die ersten Schritte tun, dessen bin ich sicher. Es wäre gut, wenn wir dann schon wüßten, was wir als Lösegeld zu bieten haben.“ „Vater besitzt ein gutes Gewehr, es trägt den Namen Killdeer. Ein Fäßchen Pulver, etwas von meiner Kleidung...“ „Das alles genügt bei weitem nicht. Die Franzosen zahlen für zwei Skalpe Preise, für die man mehr als ein Gewehr, 46
ein Fäßchen Pulver und etwas Frauenkleidung kaufen kann.“ Judith erblaßte. „Dann bleibt bloß noch die Truhe.“ Sie standen auf und gingen ins Haus. Der Delaware befühlte Holz, Eisenbänder und Schlösser der Truhe und versuchte, das Holz mit einem Nagel zu ritzen. „Holz nicht von hier“, urteilte er. „Mingos geben zehn Männer für Truhe.“ Natty betonte, daß Judith natürlich die Verantwortung für das öffnen übernehmen müsse, und fügte hinzu, ehe man nicht die Schlüssel für die drei Schlösser gefunden habe, könne man ohnehin nichts tun. Judith sagte: „Vater wird das öffnen verzeihen, wenn wir ihm einen furchtbaren Tod ersparen. Irgendwo im Haus müssen die Schlüssel sein.“ Der Wohnraum wurde durchforscht, das Schlafzimmer Hutters durchstöbert, in Hettys Zimmer das Unterste zuoberst gekehrt. In einer alten Tasche, die an einem Pfahl hing, fand der Delaware schließlich einen Schlüssel, der zu allen drei Schlössern paßte. Ehe der Deckel geöffnet wurde, gingen die beiden Männer noch einmal auf die Plattform hinaus und musterten See und Ufer; auch jetzt konnten sie nichts Auffälliges entdecken. Sie kehrten ins Haus zurück, Natty drückte den Deckel hoch und befestigte ihn mit einer Stütze, zog ein Stück Leinwand beiseite und hob einige Kleidungsstücke heraus, darunter einen scharlachfarbenen Rock mit goldumsäumten Knopflöchern und ein schweres Brokatkleid. Große Schlange stieß einen Ruf aus, der seine Überraschung zeigte, Judith hielt das Kleid probierend an den Körper, und alle waren sich einig, daß diese beiden Stücke durchaus als Tauschware in Frage kämen; sie würden das Auge eines Indianers blenden, wenn auch nicht einzusehen war, was man in diesen Wäldern mit ihnen anzufangen 47
vermochte. Unter einem weiteren Leinwandstück fand Natty zwei silberverzierte Pistolen. Große Schlange lächelte und sagte geringschätzig: „Kinds Gewehr.“ Natty öffnete die Pfannen und war überrascht, daß sie mit Pulver gefüllt waren, das durch Feuchtigkeit und Druck wie Kohlenstücke zusammengebacken war; er fühlte mit dem Ladestock in die Läufe hinein und merkte, daß beide Waffen geladen waren. Darüber wunderte er sich, denn er war es gewöhnt, täglich das Pulver zu erneuern und in kurzen Abständen die Ladung zu überprüfen. „So etwas kann leicht ins Auge gehen“, sagte er. „Wir wollen die Waffen abfeuern und sehen, ob sie noch etwas taugen.“ Sie traten auf die Plattform hinaus, streuten frisches Pulver auf und kamen überein, einen Astfleck am Aufbau der Arche als Zielpunkt zu benutzen. Natty sagte: „Treten Sie zurück, Judith, damit Ihnen nichts passiert.“ „Und warum ziehen Sie die Ladung nicht heraus?“ „Das ist nicht üblich, manche sagen sogar, es sei unmännlich.“ Der Delaware versuchte einen Anschlag nach dem anderen; als er endlich abdrückte, traf er weder das Aststück noch überhaupt die Arche, und seine Kugel tanzte über das Wasser. Natty lachte. „Schlange, du hast immerhin den See getroffen! Jetzt laß mich ran.“ Er trat einen Schritt vor, führte die Waffe von unten nach oben rasch ins Ziel und drückte sofort ab. Mit lautem Knall flog die Pistole auseinander, ein Stück fiel auf das Dach des Blockhauses, ein anderes auf die Arche, und Natty hielt nicht viel mehr als den Kolben in der Hand. „Dreckding“, schrie er, der froh war, daß dieser Versuch so glimpflich abgegangen war. Als er sich umdrehte, sah er, daß Judith bleich war bis in die Lippen. 48
Sie kehrten ins Haus zurück und durchsuchten weiter die Truhe. Sie fanden einen Sextanten, dessen Zweck sie sich nicht erklären konnten, und schließlich hob Natty ein Säckchen heraus, in dem große, kunstvoll aus Elfenbein geschnitzte Schachfiguren steckten. Die Springer waren Ritter auf Pferden, die Türme standen auf Elefantenrücken, sogar die Bauern hatten fein herausgearbeitete Gesichter. Große Schlange vergaß vor Überraschung völlig seine sonst so sorgsam bewahrte Würde. Besonders die Elefanten hatten es ihm angetan, und immer wieder rief er: „Hugh!“, während er Rüssel, Ohren und Schwänze betastete. „Gut für Mingos!“ schloß er, „dafür ganzen Stamm kaufen!“ „Wildtöter“, sagte Judith, „das genügt völlig, wir brauchen die Truhe nicht bis zu ihrem Grund durchzukramen. So wird wenigstens ein Teil von Vaters Geheimnis bewahrt.“ Sie trugen die Elefantenfiguren in Tom Hutters Schlafzimmer und machten sich daran, das übrige wieder zusammenzupacken und in der Truhe zu verstauen. Sie wollten gerade den Deckel schließen, als sie leichte Schritte auf der Plattform hörten, ein Schatten verdunkelte die Tür; Judith kreischte erschrocken auf, ehe sie erkannte, daß Hetty vor ihr stand. Gleich darauf tauchte ein etwa sechzehnjähriger Indianer neben Hetty auf. „Ich bin zurück“, sagte Hetty leise. Judith ging rasch auf sie zu und schloß sie in die Arme. „Mein Gott“, stöhnte sie, „was hab ich mir für Sorgen gemacht! Hast du Vater gesehen?“ „Natürlich, und Hurry auch. Die Mingos haben mir nichts getan, ich war in ihrem Lager, ich habe mit ihnen gesprochen und mit Wah-ta-Wah auch. Judith, sie ist 49
meine Freundin geworden!“ Natty hatte Große Schlange einen Wink gegeben, sich nicht blicken zu lassen, jetzt trat er rasch auf die Plattform hinaus. Er sah, daß Hetty und der junge Mingo allein gekommen waren; ein kunstlos aus Tannenstämmen gebautes Floß schwamm neben der Arche. Natty warf sich vor, mindestens eine halbe Stunde lang keinen Blick auf den See geworfen zu haben; diese Zeit hätte auch für eine ungleich bösere Überraschung genügt. Die Augen des Mingos huschten hin und her - es war offenkundig, daß er sich so viele Einzelheiten wie nur möglich einzuprägen versuchte. Er fragte: „Wo ist anderer Bruder?“ „Er schläft. Woher weiß mein junger Freund, daß noch ein Mann hier ist?“ „Ihn gesehen von Ufer. Mingos lange Augen haben über Wolken hinaus.“ „Und was wollen deine Häuptlinge mit den gefangenen Bleichgesichtern tun?“ Der Indianer setzte den Zeigefinger an die Schläfe und fuhr, wobei er keine Miene verzog, rund um den Schädel. „Kleiner Skalp, viel Gold.“ „Wir werden euch einen Vorschlag machen. Warte hier!“ Natty ging ins Haus, wo Judith auf ihre Schwester einsprach; sie beschwor sie, nie wieder allein wegzugehen, aber Hetty schien sich durchaus nicht bewußt zu sein, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. Sie sagte: „Ich habe dem Häuptling aus der Bibel vorgelesen. Vielleicht ist die Saat der Gottesworte noch nicht aufgegangen. Aber eines Tages wird sie bestimmt wirken.“ Natty fragte, Hetty erzählte, daß sie ihren Vater und March gesund und sogar frei von Fesseln vorgefunden hatte, sie berichtete auch, wie sie mit Wah-ta-Wah zusammengetroffen war. Als Natty genug gehört hatte, um 50
sich ein Bild zu machen, nahm er zwei der Elefantenfiguren und trat wieder zu dem jungen Mingo hinaus. Er sagte: „Für jeden Gefangenen geben wir eine Figur.“ Die Augen des Indianers wurden starr vor Staunen und Begierde. „Hugh!“ rief er mehrere Male und schlug vor, eine Figur als Probe mitzunehmen, um sie seinem Häuptling zu zeigen; aber darauf ließ sich Natty nicht ein. Er sah zu, wie der Indianer sein primitives Fahrzeug bestieg, und davonpaddelte, und versuchte, alles, was in der letzten Stunde geschehen war und was Hetty berichtet hatte, zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei stützte er sich auf seine Büchse, wie er es gern tat, wenn er nachdachte. Drin im Hause sagte Hetty gerade zu Große Schlange: „Wah-ta-Wah hat mir aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, daß Sie den Mingos nicht trauen dürfen, denn sie seien hinterhältiger als alle anderen Indianer. Sie sagte, ein großer, glänzender Stern werde eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit sichtbar. Genau zu dieser Zeit will Wah-ta-Wah auf dem Vorsprung, auf dem ich gelandet bin, auf ihren Bräutigam warten.“ Eine Zeitlang rührte sich Natty nicht. Er machte sich bewußt, daß er im Auftrag eines Delawarenstammes an den Silberglas gekommen war, um auszukundschaften, wie sich die Feindseligkeiten entwickelten, er hatte vorgehabt, mit Große Schlange dessen Braut aus den Händen der Mingos zu befreien, aber zu allem Überfluß hatte er sich mit diesem Schlagetot March zusammengetan und mußte sich nun um ihn und Hutter und die beiden Mädchen kümmern, er hatte einen Indianer erschossen, und wie die Dinge lagen, besaß er nicht die geringste Chance, sich aus diesem Wirrwarr zu lösen, wenn er nicht alle Achtung vor sich selbst verlieren wollte. Er bemühte 51
sich, herauszufinden, wann er den Schritt in diese Verwicklungen hinein getan hatte, nach dem ein Umkehren nicht mehr möglich gewesen war; es gelang ihm nicht. Diese Sache hier war auch zu seiner Sache geworden. Große Schlange trat neben Natty und sagte: „Chingachgook wird heute nacht die liebliche Stimme von Wah-ta-Wah hören.“ „Das ist unser Problem, Schlange, ich weiß; die Schlägerei um dieses Kastell ist nur so dazwischengekommen. Ich denke eben darüber nach, „ob es klug von uns ist, hier hocken zu bleiben. Die Burschen da drüben können Flöße bauen, das haben sie bewiesen. Vielleicht sollten wir uns auf die Arche zurückziehen und während der Nacht auf dem See’ kreuzen?“ Der Delawarenhäuptling war einverstanden. Die beiden Männer setzten die Mädchen in Kenntnis und machten sich daran, mit ihnen zusammen alles auf die Arche zu tragen, was sie benötigen könnten und was einigermaßen wertvoll war, Betten und Kleidung, Waffen und Munition, Küchengeräte, Lebensmittel und die Truhe. Nach zwei Stunden waren sie fertig; als sie gerade die Fenster verriegeln und die Tür verbarrikadieren wollten, sahen sie, wie das primitive Floß der Mingos wieder von der Küste abstieß. Natty hob Hutters Fernrohr ans Auge und erkannte, daß zwei Indianer auf ihm saßen; allem Anschein nach waren sie unbewaffnet. Er zog einen Stuhl an den Rand der Plattform; auf ihm, die Büchse zwischen den Knien, erwartete er die Indianer. Als das Floß auf Rufweite heran war, stellten die Mingos das Paddeln ein, langsam trieb das Floß weiter auf das Kastell zu. „Seid ihr Häuptlinge?“ rief Natty. „Oder haben mir die Mingos Krieger ohne Namen geschickt?“ 52
„Hugh!“ antwortete der ältere, „ Gespaltene Eiche ist ein Wort, das einen Delawaren zittern macht! Hat mein Bleichgesichtkrieger schon einen Namen gewonnen?“ „Einer eurer Krieger, dessen Geist gestern morgen zu den glücklichen Jagdrevieren aufgeflogen ist, meinte, mir stünde der Name Falkenauge zu.“ „Hugh! Falkenauge hat eine Botschaft gesandt und unsere Herzen froh gemacht. Sie hören, er besitzt kleine Tiere mit zwei Schwänzen. Will er sie seinen Freunden zeigen?“ Natty warf eine der Figuren hinüber, Gespaltene Eiche fing sie auf, gleich darauf zeigten er und sein Begleiter die gleiche kindliche Freude, die Natty schon bei Große Schlange und dem jungen Mingo wahrgenommen hatte. Das Floß schwamm jetzt so dicht neben der Plattform, daß Natty jeden Zug im Gesicht der Mingos erkennen konnte, er sah, daß Gespaltene Eiche ein schwerer Mann war, der sich seine Körperkraft trotz seines Alters bewahrt hatte, dessen Stirn und Wangen gefurcht waren, dessen Augen aber mit jugendlicher Klarheit blickten. Gespaltene Eiche sagte: „Hugh, Falkenauge spricht mit dem Häuptling des Stammes, der an diesem See lagert. Will Falkenauge offen mit ihm reden?“ „Wenn Gespaltene Eiche genau so offen redet, warum nicht?“ „Hugh, besitzt mein Bleichgesichtbruder noch mehr dieser kleinen Schweine?“ „Ich besitze einige. Aber eines ist genug, um dafür fünfzig Skalpe zu kaufen.“ „Einer meiner Gefangenen ist ein gewaltiger Krieger, hoch wie eine Tanne, stark wie ein Elch, schnell wie der Hirsch, trotzig wie der Panther! Er wird einmal das Heer des britischen Königs anführen.“ 53
Natty lachte. „Aus Hurry March werdet ihr noch nicht einmal einen Korporal machen.“ „Mein alter Gefangener sehr weise, König des Sees.“ „Wenn er weise wäre, wäre er euch nicht in die Hände gefallen. Ein Tier mit zwei Schwänzen ist zwei solcher Skalpe wert.“ Der Häuptling verlegte sich aufs Handeln, seine Schlauheit siegte endlich über die Verblüffung, in die ihn der Anblick der Figuren versetzt hatte. Er verlangte zwei von ihnen, behauptete dann, sie wären zuwenig, tat so, als wollte er es auf einen Abbruch der Verhandlungen ankommen lassen, und lenkte doch wieder ein. Schließlich schlug Natty vor, der Häuptling solle eine Figur mit ans Ufer nehmen und seinen Freunden zeigen, zwei weitere würde er dafür kriegen, daß er die Gefangenen freiließe, und wenn dies noch an diesem Tag erfolgte, fände sich womöglich noch ein viertes Exemplar dazu. Die Bedingungen wurden in blumigen Formulierungen wiederholt, endlich erklärte sich Gespaltene Eiche einverstanden. Er und sein Begleiter faßten wieder zu den Paddeln und trieben ihr schwerfälliges Gefährt zum Ufer zurück. Stunde um Stunde verstrich. Es gab nichts mehr auf die Arche zu tragen, niemand wußte etwas zu tun, worin er einen Sinn gesehen hätte, und so wurde das Warten immer quälender. Das Gespräch drehte sich mühselig um den Punkt, ob und wie die Mingos versuchen würden, sie zu betrügen, Judith zwang sich immer wieder dazu, einen günstigen Ausgang zu erhoffen, und schließlich äußerte Hetty die Ansicht, die Bibelverse, die sie den Mingos vorgelesen hatte, würden nun allmählich wirken. Danach sprach niemand mehr; es wurde so still, daß Judith zusammenzuckte, als ein Fisch dicht neben dem Kastell 54
aus dem Wasser sprang. Die Sonne senkte sich schon, als Natty unter den Bäumen einen Trupp Mingos entdeckte. Es verstrich noch einige Zeit, ehe das Floß abermals abgestoßen wurde. Zwei Indianer paddelten; nach einiger Zeit rief Judith, die von einem Fenster aus beobachtete, sie könne erkennen, daß ihr Vater und Hurry March gebunden in der Mitte des Floßes lägen. Der Austausch stand also bevor; die Zeit bis dahin nutzte Natty, ins Haus zu gehen und die Mädchen anzuweisen, alle Waffen in einem Winkel zu verstecken. Dann stellte er sich auf die Plattform und sah zu, wie die Mingos das Floß eifrig herantrieben. Gespaltene Eiche rief herüber: „Mein Bruder, ich setze Vertrauen in dich! Ein Skalp, ein Tier mehr!“ Kurz darauf humpelte der alte Hutter auf die Plattform. Auch Hurry Marchs Beine wurden losgebunden, er hatte große Mühe, herüberzuklettern. Er fluchte und fragte Natty: „Bruder, hab ich überhaupt noch Füße da unten in den Mokassins? Ich sehe sie zwar, aber zu fühlen ist von ihnen absolut nichts.“ Natty steckte Gespaltene Eiche drei Elefantenfiguren zu und winkte, der Häuptling und sein Gefährte sollten sich schleunigst davonmachen, dann sagte er zu March: „Bißchen mitgenommen scheinst du zu sein, aber ich bin froh, daß dir die Mingos deine herrlichen Locken gelassen haben.“ „Höre, Wildtöter, du solltest weniger witzig und dafür freundschaftlicher sein.“ Bei diesen Worten streckte March seine noch immer gebundenen Hände vor. Natty löste die Fesseln der beiden Männer, die danach fluchend und Verwünschungen gegen die Indianer ausstoßend auf der Plattform herumstampften. Die Mädchen rannten aus dem Haus, umarmten ihren Vater und bestürmten ihn und March mit Fragen. Jetzt erst 55
entdeckte March, wie weit sich das Floß schon entfernt hatte, der Wunsch nach Rache packte ihn, er griff nach Nattys Gewehr, das an der Brüstung lehnte, spannte den Hahn und wollte auf Gespaltene Eiche und dessen Begleiter anlegen, aber Natty sprang hinzu und faßte die Büchse am Kolben. Einen Augenblick lang rangen die beiden, dann löste sich der Schuß, als die Mündung nach oben gerichtet war. Enttäuscht ließ March die Waffe fahren. Natty sagte: „Das fehlte gerade noch! Ich habe den Mingos mein Wort gegeben, daß der Handel ehrlich ausgeht.“ March brummte: „Wirst noch an deiner blöden Moral ersticken.“ Mühselig, einen Fuß nachziehend, verschwand er im Haus. Aber ehe er ein Gewehr gefunden hatte, waren die beiden Indianer so weit entfernt, daß er seine Rachepläne nicht ausführen konnte. In einer Ecke des Wohnraumes kniete unterdessen Hetty und dankte Gott in einem langen Gebet.
2 Die Ruhe des Abends verband sich mit dem zunehmenden Dunkel, die Wolken über dem Silberglas waren dicht und versprachen wieder eine finstere Nacht. Nur wenige Risse zogen sich durch die Wolken; die sinkende Sonne hatte sie golden gerahmt, aber jetzt verblaßten sie immer mehr. Große Schlange wachte auf der Plattform. Sein Gesicht war beherrscht wie stets, aber er sehnte erregt die Stunde herbei, in der er seine Braut in die Arme schließen konnte, und hoffte, die Rückkehr der beiden Weißen würde seinen und Nattys Plan nicht gefährden. Drin im Haus machten Hutter und March ihrem Ärger über die Demütigungen der letzten Stunden Luft. March rief: „Für den Skalp des Spitzbuben Gespaltene Eiche 56
würde ich doppelt soviel bezahlen wie die Verwaltung der Kolonie. Judith, hast du gehörig um mich getrauert, als ich in den Händen der Wilden war?“ Das Mädchen lachte. „Um Vater haben wir uns gesorgt, wie es sich gehört, aber um dich haben wir geradezu Tränen regnen lassen. Hast du nicht gemerkt, wie der See angeschwollen ist?“ Die Fensterläden wurden geschlossen, kein Laut drang mehr zu Große Schlange heraus. Drüben am Ufer schrie ein Nachtvogel, manchmal sprang ein Fisch, einmal strich eine Kette Enten über den See. Nach einer Weile wurde der Blick des Delawaren zum Ufer gelenkt, denn dort flackerte ein Licht auf, es näherte sich zuckend, und schließlich erkannte Große Schlange, daß der halbwüchsige Mingo, der mit Hetty herübergekommen war, eine Fackel auf sein Floß gesteckt hatte. Große Schlange vermutete eine List, argwöhnte, daß er abgelenkt werden sollte, während von einer anderen Seite eine wirkliche Gefahr drohte, aber aus dem Dunkel heraus drang kein zweiter Paddelschlag an sein Ohr. Das Floß glitt heran; als es noch fünfzig Fuß von der Plattform entfernt war, warf der Mingo ein Bündel Hölzer herüber. Sofort drückte er die Fackel ins Wasser, gleich darauf hörte Große Schlange energische Paddelschläge; der Mingo bemühte sich, so schnell wie möglich zu verschwinden. Die Tür wurde geöffnet, Natty trat heraus, stumm hielt ihm der Delaware das Bündel hin. Natty ging damit ins Haus, zeigte es March und sagte: „Du brauchst nicht mehr zu rätseln, ob wir uns nach dem Tauschgeschäft im Krieg oder im Frieden befinden.“ „Was ist das?“ „Jeder Stecken ist an einem Ende in Blut getaucht. So sieht eine indianische Kriegserklärung aus.“ 57
March stürzte fluchend auf die Plattform hinaus, wollte wissen, wie das. Bündel zum Kastell gelangt sei, und als er es erfahren hatte, schrie er den Delawaren an: „Warum hast du Idiot diese verdammte Rothaut nicht abgeknallt?“ Er hob seine mächtigen Fäuste, für einen Augenblick sah es aus, als wollte er sich auf den Häuptling werfen, aber die finstere Haltung des Delawaren machte ihm klar, in welche Abenteuer er sich damit eingelassen hätte. So versuchte er seine Wut an Natty abzureagieren, schließlich verlangte er ein Kanu, um dem Mingo nachzusetzen. Aber Natty wandte ein, der Mingo wäre mit offenem Licht gekommen und hätte einen Auftrag ausgeführt; jeder Wilde in den finstersten Wäldern würde diese Mission respektieren. Außerdem wäre der Mingo bereits zu weit fort, niemand könnte ihn mehr auf dem nächtlichen See finden. Tom Hutter faßte March am Arm und zog ihn ins Haus. Natty blieb bei Große Schlange; sie vereinbarten, sich durch keine Torheit Hutters und Marchs von ihrem Plan, Wah-ta-Wah zu befreien, abhalten zu lassen. Große Schlange sagte: „Mein Bruder wird in einigen Stunden lieblichen Gesang hören.“ Nach einer Weile traten Hutter und March wieder heraus; March hatte sich abgekühlt und schien vernünftigen Argumenten gegenüber zugänglicher zu sein. Natty erläuterte, welchen Plan er und der Delaware gefaßt hatten; Hutter und March erklärten sich einverstanden, und kurze Zeit darauf gingen alle auf die Arche hinüber. Der Himmel war jetzt fast so schwarz wie die Hügel am Rande des Sees. Hutter zog das Segel auf und steuerte vom Kastell weg. Die Mädchen legten sich in der Kajüte zum Schlafen nieder, die Männer hockten auf der Plattform, spähten, lauschten auf das Murmeln des Wassers, planten 58
und verwarfen wieder, was sie sich vorgenommen hatten. In Natty wuchs das Mißtrauen gegen Hutter und March, ihm wurde klar, daß es nun auf der Arche wieder zwei Parteien gab. Auf Große Schlange konnte er sich verlassen wie auf sich selbst, Judith hatte sich seinen Argumenten gegenüber aufgeschlossen gezeigt, Hetty kam als Beratungspartner ohnehin nicht in Frage. Natty wollte den Graben zu den Mingos nicht vertiefen, aber Hutter und March waren voller Rachegelüste, die Lehre der Gefangenschaft hatte ihnen nicht genügt, und immer noch fühlten sie sich stark genug, es mit einem ganzen Stamm aufzunehmen. Einmal stand Hutter neben Natty, die Nase gereckt, als prüfe er den Wind. Natty wartete auf ein ruhiges Wort wie unter Freunden, aber Hutter schwieg. Das Frösteln, das Natty überkam, rührte nicht nur daher, daß es kühl wurde, sondern auch aus seiner inneren Einsamkeit. Der Wind trieb die Arche nach Süden. Natty kannte diesen Teil des Ufers inzwischen so gut, daß er trotz der Nacht an der Silhouette der Hügel erkannte, daß sie der Landzunge zusteuerten, auf der Wah-ta-Wah in kurzer Zeit ihren Verlobten erwarten wollte. Einmal sah er glimmende Feuer im Dickicht, dort lagerten also die Mingos. Nach einer Weile trat Hutter neben ihn, gähnte und sagte, er und March würden sich schlafen legen, sie seien hundemüde nach den Aufregungen des letzten Tages. Hutter verschwand in der Kajüte. Judith, die ihrem Vater Platz gemacht hatte, lehnte sich neben Natty. Sie hatte ein Tuch um die Schultern geschlungen und fragte: „Wann schlafen Sie?“ „Wenn der Delaware und ich dessen Braut geholt haben.“ „Sie gehen mit ans Ufer?“ „Es ist besser, wenn ich dabei bin.“ 59
Judith hatte in den vergangenen Wintern in einem Fort etliche Offiziere kennengelernt, die ihr den Hof gemacht und sie beschenkt hatten, die niemals müde geworden waren, andere vor ihr auszustechen. Sie wußte natürlich, daß sie hübsch war, sie nahm es als selbstverständlich, daß sich March vor ihr aufspielte, und fand es allmählich kränkend, daß Wildtöter, der so nach gar nichts aussah, den niemals jemand erwähnt hatte, den Vater und March herablassend behandelten, ihr noch keinen bewundernden Blick zugeworfen und ihr mit keinem Wort zu schmeicheln versucht hatte. Sie wollte sich für diese Gleichgültigkeit rächen, als sie sagte: „Aber der Delaware wird das Mädchen heiraten, nicht Sie.“ Natty suchte vergeblich nach einer raschen, treffenden Antwort; er fürchtete, jeder Satz klänge hochtrabend. In diesen Wäldern war sich jeder selbst der nächste, das hatte er oft erfahren müssen, und Hutter und March lebten offensichtlich radikal nach dieser Devise; für sie hatte jedes Bündnis nur Wert für sie selbst und wurde ohne Rücksicht gebrochen, wenn es nichts einbrachte. Es war denkbar, daß auch Judith in dieser Moral aufgewachsen war. Schließlich sagte Natty: „Ich habe bislang Ihnen und Ihrer Schwester geholfen, obwohl ich keine von Ihnen heiraten möchte.“ Erschrocken legte Judith die Hand auf seinen Arm und sagte: „So war’s nicht gemeint, Wildtöter. Ich wollte nur andeuten: Sie riskieren Ihr Leben dabei.“ „Das ist seit einigen Tagen nichts Neues.“ Wenig später stiegen Große Schlange und Natty in ein Kanu; sie steuerten auf die Mitte des Sees hinaus, schlugen einen Bogen und näherten sich der Stelle, an der Hetty gelandet war und Wah-ta-Wah warten würde. Die Dunkelheit nahm eher zu als ab, aber es war doch noch 60
möglich, die Umrisse der Berge zu erkennen. Vergeblich suchte Natty am östlichen Horizont nach dem erwähnten Stern, Als sich das Boot dem Ufer auf Wurfweite genähert hatte, legte Große Schlange, der am Bug saß, sein Paddel weg und griff zum Gewehr. Natty bemühte sich, seine Schaufel geräuschlos einzutauchen. Die Uferbäume schienen sich immer höher vor ihnen zu wölben, der Wald wuchs zu einer schwarzen Wand auf, und endlich knirschte Kies unter dem Bug. Große Schlange glitt leise über den Rand, watete die wenigen Schritte zum Ufer, lauschte, schlich spähend an den Büschen entlang und kehrte unverrichteterdinge zurück. Flüsternd beriet er sich mit Natty. Die Wolken rissen immer mehr auf, der Abendstern schimmerte zwischen den Zweigen einer Fichte. Aus der Tiefe des Waldes drangen manchmal Stimmen; Weinen von Kindern und Lachen von Frauen waren zu hören. Über die Wipfel weiter im Wald drin zuckte hin und wieder Feuerschein. Natty schlug vor, die Halbinsel zu umfahren, um sich von der anderen Seite einen Überblick zu verschaffen, aber der Delaware mochte diesen Platz nicht verlassen, da er hoffte, seine Braut könnte immer noch auftauchen. So paddelte Natty allein. Diesmal hielt er sich dicht am Ufer, die Dunkelheit unter den Bäumen ausnutzend. Er umrundete die Halbinsel, der Feuerschein verstärkte sich, und mit einem Male, zwischen einem Paddelschlag und dem nächsten, hatte er das Panorama eines Indianerlagers auf einer Lichtung vor sich. Natty war absolut ungelehrt, besaß aber ein ausgeprägtes, völlig natürliches poetisches Gefühl für Erhabenheit und Romantik; er liebte die Wälder wegen ihrer Frische und Riesenhaftigkeit und durchstreifte sie selten, ohne bei eigentümlichen 61
Schönheiten zu verweilen. Das Bild, das er jetzt sah, ließ ihn für Augenblicke die Gefahr, in der er sich befand, und das Ziel, das er verfolgte, vergessen. Gebannt starrte er zum Ufer. Es war die Stunde, da im Indianerlager die Arbeit vorüber war und sich noch niemand in die Hütten zurückgezogen hatte, es war die kurze Spanne des Feierabends, des Ausruhens. Das Leben dieser Jäger und Sammler zwang den ganzen Tag über alle zu angespannter Tätigkeit, um das zum Unterhalt Nötige zusammenzutragen und zuzubereiten; für die Frauen und selbst für die Kinder gab es kein Verschnaufen, geregelte Pausen waren nicht möglich bis auf die eine zwischen der abendlichen Hauptmahlzeit und der Nachtruhe. Ein Feuer loderte, an dem wohl eben noch gekocht und gebraten worden war, jetzt lagerten Männer, Frauen und Kinder, satt offensichtlich und zufrieden mit dem neuen Camp, im zuckenden Schein. Natty sah auf den ersten Blick, daß nicht viele Krieger anwesend waren. Darüber dachte er nicht nach; Tage später aber, als er Zeit hatte, alle diese turbulenten Ereignisse zu durchdenken, machte er sich deshalb heftige Vorwürfe, denn vieles wäre anders gekommen, hätte er aus diesem Umstand die richtigen Schlüsse gezogen. So ließ er sich .weiterhin von dem romantischen Bild gefangennehmen, sah, daß Gespaltene Eiche eben einem Stammesgenossen eine der Elefantenfiguren zeigte, während ihm ein Junge neugierig über die Schulter blickte. Weiter hinten lagerten an die zehn Krieger; ihre Waffen lehnten in Reichweite. Auf der anderen Seite des Feuers hatten sich Frauen und Kinder zusammengefunden, alle schienen gut gelaunt zu sein, nur eine alte, häßliche Frau saß mißmutig abseits. Natürlich suchte Natty nach der Braut seines Freundes, vermochte 62
sie aber nirgends zu entdecken. Nach einer Weile tauchten aus dem Dunkel ein junger Indianer und zwei Mädchen auf, von denen eines tatsächlich Wah-ta-Wah war. Die alte Frau ging schimpfend auf sie zu; es war also Wah-ta-Wah nicht gelungen zu entschlüpfen. Natty hatte den Eindruck, als ob die Delawarin zu den Bäumen hinaufblickte, und vermutete, daß sie nach dem Stern suchte, bei dessen Aufgehen sie an der Spitze der Landzunge sein wollte; es mußte wohl auch ihr klar sein, daß dieser Zeitpunkt verstrichen war. Natty hatte genug gesehen. Er paddelte wieder um die Landspitze herum und traf den Delawaren am alten Platz an. Er berichtete, was er beobachtet hatte, und zog das Kanu auf den Strand. Beide überprüften ihre Waffen und schlichen auf das Lager zu. Der Boden war anfangs flach und mit Eichen bestanden, die, wie oft in amerikanischen Wäldern, auf hohen glatten Stämmen erst weit oben in üppigen Kronen ausluden. Ein Bach hatte eine Schlucht durch die Hügel weiter landeinwärts gewühlt; durch sie hindurch kletterten Natty und Große Schlange und näherten sich dem Lager von einer Anhöhe her, welche sie vor dem Schein des Feuers schützte. Von dort aus, vom Stamm einer Eiche gedeckt, spähten sie über das Lager hin. Natty sah die Lichtung jetzt von der entgegengesetzten Seite. Die Krieger waren ihm am nächsten, eine Elfenbeinfigur ging in ihrer Runde von Hand zu Hand, und augenscheinlich waren sie in Mutmaßungen vertieft, warum sie ganz anders geformt war als alle Tiere, die in ihren Wäldern lebten. Die Frauen und Mädchen waren so nahe, daß ihre Stimmen bis zu Natty und Große Schlange drangen und ganze Gesprächsfetzen zu verstehen waren. 63
Wah-ta-Wah wies eben einen Angriff auf die delawarischen Männer zurück. „Einen gibt es“, rief sie, „Chingachgook, der so stattlich ist wie eine junge Esche und so zäh wie die Hagebuche!“ Natty boxte dem Häuptling fröhlich in die Seite. Nach einer Weile drückte Große Schlange seinen Freund in die Knie und ahmte den dünnen, grämlichen Pfiff des Eichhörnchens nach. Dieser Laut ist in den amerikanischen Wäldern so gewöhnlich, daß keine der Mingofrauen auf ihn achtete, nur Wah-ta-Wah verstummte sofort. Mit diesem Ruf hatte ihr Bräutigam sie oft aus dem Wigwam zu einem Stelldichein gelockt, sie begriff augenblicklich, daß er in der Nähe war, und besaß so viel Selbstbeherrschung, den Kopf nicht zu wenden. Sie beteiligte sich noch am Gespräch, doch immer wieder horchte sie in den Wald hinaus, ob sich das Signal ihres Freundes wiederholte. Erst, als die Frauen aufstanden und zu ihren Hütten gingen, blickte sie in die Richtung, aus der sie den Pfiff gehört hatte. Es war Zufall, daß in dieser Minute ein Krieger die alte Frau, die die Gefangene zu bewachen hatte, bat, ihm Wasser vom Bach zu holen. Die Frau nahm einen Lederbecher von einem Ast und winkte Wah-ta-Wah, sie zu begleiten. Große Schlange und Natty verließen leise ihren Platz, schnitten den beiden Frauen den Weg ab und stellten sich hinter einen Baum. Als die Frauen dicht vor ihnen waren, wiederholte Große Schlange seinen Pfiff. Da blieb die alte Frau stehen, gaffte den Baum an und orakelte, es bedeute Unheil, wenn ein Eichhörnchen so spät noch munter wäre. Wah-ta-Wah antwortete, sie hätte das kleine Tier in der letzten Viertelstunde dreimal pfeifen hören, vermutlich suchte es noch nach Futter. In diesem Augenblick sprang Natty vor und packte die alte Frau an 64
der Kehle, Große Schlange riß seine Braut mit sich fort und rannte mit ihr in die Tiefe des Waldes hinein. Natty hatte die Frau zu Boden geworfen, aber es war ihr trotzdem gehingen, einen Schrei auszustoßen. Natty hörte das Stampfen der Krieger, als sie vom Feuer aufsprangen, und die Rufe, mit denen sie sich verständigten. Auf dem Hügelrücken erhoben sich die ersten Schatten gegen den Feuerschein, da ließ Natty die Frau los, die sofort wieder schrie, und rannte gebückt zwischen den Stämmen hindurch zum Bach hinab und den jenseitigen Hang hinauf. Hinter sich hörte er den Lärm des aufgescheuchten Lagers. Er kannte die Indianer gut genug, um zu wissen, daß sie ihn nicht nur direkt verfolgen, sondern auch Streifen in andere Richtungen schicken würden; er mußte eher als sie die Stelle erreichen, an der das Kanu lag, ohne den geraden Weg dahin einschlagen zu dürfen. So rannte er in einem Bogen über einen Hügelrücken, sah unter sich den See, blieb keuchend stehen, um die Richtung des Feuers mit der Uferlinie zu vergleichen, stürzte sich durch verfilztes Buschwerk eine Böschung hinab, kam ins Rutschen, hatte Mühe, sein Gewehr festzuhalten, durchbrach das letzte Gesträuch und stolperte auf den Grasstreifen, der hier den Silberglas säumte. Auf ihm rannte er der Spitze der Landzunge zu, hörte den Eichhörnchenruf seines Freundes, strengte seine letzten Kräfte an und erreichte mehr taumelnd als laufend das Kanu, in dem Große Schlange und Wah-ta-Wah bereits saßen. Er reichte sein Gewehr hinüber und wollte schon ins Boot springen, als ihn ein riesiger Indianer anfiel. Natty besaß noch so viel Geistesgegenwart, das Kanu mit einem Fußtritt in den See hinauszustoßen, dann stürzte er nach vorn und schlug, seinen Feind mit sich ziehend, ins Wasser. Hier war es brusttief, jeder der beiden versuchte, 65
den anderen unter Wasser zu drücken und selbst den Kopf oben zu behalten, sie standen sich prustend und keuchend gegenüber und hielten sich die Arme fest, um den Gegner zu hindern, das Messer zu ziehen. In diesen Sekunden entschieden einige Mingos, die am Ufer auftauchten, den Kampf. Mühselig kletterte Natty ans Ufer, spie Wasser und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er fühlte sich so erschöpft und niedergeschlagen wie noch nie in seinem Leben. Er drehte sich zum See um, aber es war natürlich Unsinn, Hilfe von Große Schlange zu erwarten, zumindest in diesem Augenblick. Der Delaware mußte erst seine Braut in Sicherheit bringen, dann würde er, daran zweifelte Natty nicht, ihm beistehen. Die Mingos packten Natty und zogen ihn in Richtung des Lagers, sie redeten aufgeregt durcheinander, wobei sie mehr Freude über ihren Erfolg als Haß auf ihren Gefangenen erkennen ließen. Einer schrie: „Hugh! Wir dich gefangen wie dumme Ratte!“ Die anderen hielten, so schien es, diesen Satz für einen großartigen Witz. Gepaltene Eiche stand am Feuer; als er Natty erkannte, zuckte Freude über sein zerfurchtes Gesicht. „Falkenauge in unserer Hand“, rief er. „Mein Freund Bleichgesicht jetzt nicht mehr fliegen wie Falke!“ Er ließ sich von seinen Kriegern berichten, wie sie den Weißen überwältigt hatten, und besonders die Tatsache, daß dieser sich geopfert hatte, um seinen Kameraden und dessen Braut zu retten, erfüllte ihn mit Respekt. Er wies an, den Gefangenen ans Feuer zu führen, damit er seine Sachen trocknen könnte, und ihm lediglich eine Hanfschnur um die Knöchel zu binden, um ihn am plötzlichen Aufspringen zu hindern. Natty hatte Zeit, seine Lage einzuschätzen. Er war 66
gefangen, wurde aber mit Achtung behandelt. Zwar schüttelte die alte Frau, der er die Kehle zugedrückt hatte, in wildem Zorn ihre Fäuste vor seinem Gesicht und nannte ihn Hund, Stinktier, Stachelschwein, Kröte und Spinne, aber bald schob Gespaltene Eiche sie weg. „Mein Bleichgesichtsfreund willkommen“, begann er mit vertraulichem Kopfnicken und einem versteckten Lächeln. „Mingos unterhalten warmes Feuer für ihn.“ „Schönen Dank dafür, Häuptling.“ „Falkenauge guter Name. Falkenauge kein Weib, warum lebt er bei Delawaren?“ „Die Delawaren haben mich als Kind aufgenommen, ich habe ihnen viel zu verdanken, und Chingachgook ist mein Freund.“ „Hugh, Falkenauge besitzt keine Gabelzunge. Er hat im Bau von Bisamratze gewohnt, aber er kann nicht dessen Freund sein. Bisamratze weder weiß noch rot, weder Fisch noch Fleisch. Bisamratze wie Wasserschlange, will Skalpe machen wie Räuber. Mein Freund Falkenauge soll wissen, Gespaltene Eiche hat guten Plan.“ Natty wedelte seine Jacke hin und her, seine Haut wurde allmählich trocken. Er fand seine Lage nicht mehr so verzweifelt wie unmittelbar nach der Gefangennahme. „Und was ist das für ein Plan?“ „Falkenauge soll zu Bisamratze zurückgehen und sagen, daß er geflohen ist. Wenn Nebel aus dem See steigt, wird Falkenauge den Bau öffnen für Mingos. Ha! Falkenauge darf meiste Beute nehmen, Mingos werden Skalpe nach Kanada tragen.“ „Das ist deutlich gesprochen, Mingo. Ich soll im Hause von Tom Hutter sein Brot essen und mit seinen Töchtern plaudern, und anschließend soll ich sie euch ans Messer liefern. Für eine derartige Schweinerei müßt ihr euch 67
einen anderen suchen.“ „Liebt Falkenauge die Bisamratze? Oder liebt er die Töchter?“ „Keines von beiden, aber solch eine Gemeinheit mach ich nicht mit, verstehst du endlich?“ Das Gesicht des Häuptlings verdüsterte sich, reglos starrte er ins Feuer. Er versuchte noch einmal, seinen Gefangenen umzustimmen, und versicherte, daß er sich an die Abmachungen halten würde. Dann wechselte er das Thema, fragte, ob nur Große Schlange oder noch andere an der Befreiung von Wah-ta-Wah beteiligt gewesen wären, und schließlich erklärte er: „Falkenauge sieht Wahrheit auch in schwarzer Nacht, er darf seine Freunde nicht erschlagen. Er ist großer Krieger, und wenn er gemartert werden soll, wird er gemartert werden wie Häuptling.“ Natty spürte, wie er trotz der Hitze des Feuers fror. Er hob den Blick und glaubte an eine Sinnestäuschung, aber es war tatsächlich Hetty Hutter, die lautlos aus dem Dunkel auftauchte. Sie war durch die Posten der Indianer hindurchgegangen, ohne List anzuwenden, die Mingos hatten sie, von der sie wußten, daß sie schwachsinnig war, ihres Weges ziehen lassen wie schon einmal, nun stand sie hier und sagte: „Wildtöter, Judith schickt mich. Sie brachte mich mit einem Kanu an Land.“ „Was ist mit Chingachgook und Wah-ta-Wah?“ „Sie sind wohlbehalten auf der Arche. Vater und Hurry March schlafen noch. Judith meint, ich soll die Mingos fragen, ob sie noch mehr Figuren zum Tausch annehmen. Ich habe auch die Bibel mitgebracht. Ich werde den Mingos vorlesen.“ „Warum sorgt sich Judith um mich? Ach, ich verstehe: 68
Sie fürchtet, wenn March erwacht, bevor sie mich ausgelöst hat, wird er versuchen, mich herauszuhauen, und vor einem solchen Risiko möchte ihn deine Schwester bewahren.“ „Judith kümmert sich nicht um Hurry. Sie macht sich Sorgen um Sie.“ Gespaltene Eiche, der im Auftauchen von Hetty keine Gefahr erblickte, ging zu seinen Kriegern, teilte die Nachtwachen um das Lager und auf der Landspitze ein und hockte sich vor seine Hütte. Hetty sagte unterdessen zu Natty: „Wildtöter, ich lasse Ihnen meine Bibel da, Sie werden daraus Kraft schöpfen, wenn Sie gemartert werden.“ „Gutes Kind, leider kann ich nicht lesen.“ Für einen Augenblick schien Hetty verwirrt zu sein, dann drückte sie Natty die Hand und lächelte ihm herzlich zu. Sie ging zu den Frauen hinüber und setzte sich zu ihnen, jemand gab ihr eine Hirschhaut, und bald schlief sie wie die übrigen. Stille senkte sich über das Lager. Der Mann am Feuer, der den Gefangenen bewachte, legte hin und wieder einen Ast nach; auch Natty Bumppo rollte sich auf die Seite und zog die Jacke um seine Schultern. Manchmal zuckten Flammen auf, meist glühte nur das Holz. Nach kurzer Zeit war nichts mehr zu hören als das gelegentliche Stöhnen eines Schlafenden und das Murmeln des Baches drüben in seiner Schlucht. Gegen Mitternacht stand Hetty auf. Sie ging zum Feuer und legte ein Scheit nach, sinnend blickte sie auf den schlafenden Natty, nickte dem Posten zu und verließ zwischen den Hütten hindurch das Lager. Das alles tat sie mit solcher Selbstverständlichkeit und ohne die geringste Verstellung, daß der Posten sie nicht hinderte. Sie spürte keine Furcht im Wald, leise sprach sie vor sich hin. So erreichte sie den See. Der Wächter am Strand glaubte 69
zunächst, sein Mädchen, mit dem er sich verabredet hatte, käme auf ihn zu. Hetty sprach freundlich auf ihn ein, aber er verstand kein Englisch; ihr Gehabe war so ganz anders als das einer Flüchtenden, und so ließ er sie passieren. Während sie weiterging, nahm sie ihr Selbstgespräch wieder auf, nach einer Weile rief sie leise nach Judith. Vom See her fragte die Stimme ihrer Schwester: „Hetty, bist du allein?“ Der Bug eines Kanus wurde in der Dunkelheit sichtbar, Hetty stieg hinüber, rasch stieß Judith wieder ab. Sie fragte: „Hast du Wildtöter gesehen?“ „Oh ja, er saß mit gebundenen Füßen am Feuer, aber die Arme haben sie ihm frei gelassen.“ „Und was hat er gesagt?“ „Er hat gesagt, er könne nicht lesen.“ „Mein Gott, das ist doch nicht wichtig! Hast du ihm ausgerichtet, daß ich dich an Land geschickt habe und mich um ihn sorge?“ „Ich glaube, aber ich bin nicht sicher. Vielleicht habe ich es vergessen.“ Judith wußte, daß man Hetty nur noch mehr verwirrte, wenn man ungeduldig war. So fragte sie ruhig und sachlich, ließ sich durch Abschweifungen nicht beirren und erfuhr nach und nach, was sie wissen wollte. Immer wieder fragte sie: „Und du bist sicher, daß ihn die Wilden martern werden?“ „Ja, das hat Wildtöter gesagt. Er nahm es gefaßt hin. Er ist längst nicht so schön wie Hurry, aber er ist viel tapferer.“ „Er ist mehr wert als eine Million Hurrys! March ist ein Riese und sieht sehr männlich aus, aber er besitzt kein Herz.“ Judith legte das Gesicht auf die Hände. Sie fragte sich, wie es kam, daß die Gefangenschaft Wildtöters ihr so ungleich mehr Sorgen bereitete als die Hurry Marchs und vielleicht sogar mehr als die ihres Vaters. Es war nicht 70
sonderlich klug gewesen, das begriff sie jetzt, ihre Schwester an Land zu schicken; Hetty hatte nicht viel mehr erfahren, als sie sich selbst hatte zusammenreimen können. Hetty hatte vergessen, die Indianer zu fragen, ob sie sich abermals auf einen Tausch einlassen würden, und das war schließlich der wichtigste Teil ihres Auftrags gewesen. Judith hätte gern gewußt, ob sie Wildtöter um alles in der Welt aus den Händen der Mingos befreien wollte, weil er sich in jeder Minute, seit sie ihn kannte, als grandanständig erwiesen hatte, oder weil sie in ihn verliebt war. Hetty sagte: „Wir sollten versuchen, die Arche zu finden!“ Judith griff nach dem Paddel. Die Finsternis und die tiefen Schatten, die Hügel und Wälder auf das Wasser warfen, machten es schwer, den richtigen Kurs zu halten. Aber beide Mädchen waren erfahren im Umgang mit einem leichten Rindenkanu, und es erforderte mehr Geschicklichkeit als Kraft, es über den See zu treiben. Einige Male glaubten die Schwestern, die Arche zu sehen, aber jedesmal stellten sie fest, daß sie sich getäuscht hatten. Nach einer Weile sagte Judith: „Die Arche muß abgetrieben sein.“ „Vielleicht hat der Südwind ...“ Da zuckte Feuerschein auf, der Donner eines Schusses rollte an den Bergen entlang, unmittelbar darauf gellte ein Schrei, der in ein Wimmern überging. Der Schuß war gegenüber der Landzunge über dem See aufgeflammt, am Ufer hatte jemand geschrien; wenn nicht alles täuschte, war es eine Frau gewesen. Hetty fragte erschrocken: „War es Wah-ta-Wah?“ Sofort wendete Judith das Boot und trieb es mit raschen Schlägen vorwärts; als die Schwestern die Landspitze passierten, sahen sie dieses Bild: Sechs oder acht Indianer hielten Kienholzfackeln, die ein starkes Licht auf Sträucher und Bäume warfen, ein Mädchen 71
lehnte an einem Stamm, Blut färbte ihre Brust, ihr Gesicht war blaß und vom Tod gezeichnet. Hetty flüsterte: „Ich kenne sie, sie hat mir vorhin ein Fell zum Zudecken gegeben.“ Gleich darauf wurden die Fackeln gelöscht, die Indianer hatten wohl gemerkt, daß hier jede Hilfe vergeblich war. Hetty stammelte: „Wer mag bloß geschossen haben?“ Judith antwortete erbittert: „March natürlich. Wer sonst?“
3 Tom Hutter war durch den Schuß aus dem Schlaf geschreckt worden; jetzt trat er an die Brüstung der Arche. „Was war los?“ „Drüben am Ufer hörte ich Stimmen der Mingos“, brummte March. „Hast du getroffen?“ „Ein Weib, wie’s scheint.“ „Das bringt uns nicht weiter.“ „Diese Hexe kann wenigstens keine roten Teufel mehr auf die Welt bringen.“ Die beiden horchten in die Nacht hinaus, Stille hatte sich wieder auf den Silberglas gesenkt, die Dunkelheit war vollkommen. Leise erzählte March, was er, nachdem er erwacht war, von Große Schlange über die Befreiung von Wah-ta-Wah, die Gefangennahme von Wildtöter und die Aktion der beiden Mädchen erfahren hatte. Unterdessen zog Hutter das Segel auf und drehte die Arche, daß sie vom Ufer wegtrieb. Er sagte: „Wildtöter ist selber schuld, daß sie ihn gefaßt haben. Wer sich so dämlich anstellt, braucht sich nicht zu wundern.“ „Sicher, Tom. Wir beide haben jedenfalls keinen Grund, unsere Haut für ihn zu riskieren. Aber wie findest du es, daß sich die Mädchen für ihn in Stücke reißen lassen? Als wir beide gefangen waren, haben sie sich nicht vom Fleck gerührt.“ Schwere, feuchte Nachtluft drang von den Hängen herunter, drückte ins Segel und trieb die Arche vom Ufer 72
weg. Tom Hutter fürchtete die Vergeltung der Indianer jetzt besonders stark, er wußte außerdem, daß es keinen Zweck hatte, in Ufernähe nach seinen Töchtern zu suchen. Draußen auf dem See fühlte er sich sicher, er hatte vor, im Morgengrauen zum Kastell zurückzukehren, und auf einmal schien ihm Wildtöters Plan, die Nacht auf der Arche zu verbringen, voller Tücken. „Wildtöter ist ein grüner Junge“, urteilte er, „er redet durchtrieben wie ein Advokat, das hat uns getäuscht und den Mädchen den Kopf verdreht.“ March spuckte geräuschvoll. „Ein Schwächling, weiter nichts. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihn nicht mit hierher gebracht.“ Er stapfte zum Heck der Arche, wo Große Schlange und Wah-ta-Wah eng beieinandersaßen und sich leise unterhielten. Er überlegte, ob es sinnvoll wäre, so schnell wie möglich diesen See zu verlassen, und wog den Vorteil einer Flucht mit dem Nachteil ab, dann natürlich Judith Hutter gegenüber jede Chance zu verlieren. Während er über die Beine von Große Schlange hinwegstieg, dachte er: Vor allem nutzt mir Judith überhaupt nichts, wenn ich meinen Skalp einbüße. Es war eine kurze, laue Juninacht, bald rötete sich der Horizont, und die Wasservögel begannen mit ihrem Morgengeschrei. Im Zwielicht waren alle Farbtöne weich und die Konturen verschwommen, in einem blassen Grau, von Nebelschwaden überhaucht, lag der See. Im wachsenden Licht traten die Umrisse des Kastells aus der Dämmerung heraus. Hutter nahm das Fernglas, überprüfte Wände und Dach, Plattform und Scharten, ihm schien alles unversehrt. Da drehte er die Arche auf das Kastell zu und rief nach Große Schlange und March, sie sollten mit den Rudern die schwache Brise unterstützen. Gleich darauf sah Hutter auf dem nördlichen Teil des Sees ein 73
Kanu schwimmen; er musterte es lange mit dem Fernrohr, ehe er sicher war, daß ein Stück von Judiths Schultertuch über den Rand hing; wenig später sah er, wie sich Hetty hinkniete und den Kopf zum Morgengebet neigte. „Hurry, alter Junge“, brüllte er, „alles ist in Ordnung, die Mädchen leben, meine Burg steht noch. Strengt euch an, ich will in einer halben Stunde auf der Plattform frühstücken!“ Wah-ta-Wah trat aus der Kajüte und atmete tief die klare Morgenluft ein. Nachdem Hutter das Fernrohr abgesetzt hatte, ergriff sie es und schaute hindurch. Sie stieß einen Laut der Überraschung und der Freude aus, und wie im Spiel betrachtete sie in rascher Folge Kastell und Kanu mit dem bloßen Auge und durch das Fernrohr. Nach einiger Zeit stutzte sie und redete aufgeregt auf ihren Bräutigam ein. Große Schlange setzte das Fernrohr ans Auge und pfiff leise durch die Zähne. Hutter fragte: „Was ist los, Schlange?“ „Nicht nach Kastell gehen. Mingos dort.“ „Mach mir die Fische nicht verrückt! Hast du etwa bessere Augen als ich?“ „Wah-ta-Wah bessere Augen. Siehst du Mokassin unter Haus?“ Hutter ließ sich das Fernrohr geben. Jetzt sah er, daß wirklich ein Mokassin neben einem Pfeiler schwamm. „Ist doch keine Seltenheit“, sagte er. „Ich trage Mokassins genauso wie meine Tochter.“ Dennoch zog Hutter das Segel herunter, so daß sich die Fahrt der Arche verlangsamte. Alle blickten der Reihe nach noch einmal durchs Fernrohr. Da hing in der Tat ein Lederstück an der rauhen Rinde eines Pfeilers draußen an den Palisaden. Hutter, March und Große Schlange gingen die vielen Möglichkeiten durch, wie der Mokassin dorthin gekommen sein konnte, der Wind mochte ihn über den See getrieben haben, es war aber auch denkbar, daß ihn 74
ein Mingo verloren hatte, als er von einem Floß auf die Plattform geklettert war. March wollte die Sache auf die leichte Schulter nehmen, aber Große Schlange warnte: „Wenn Spur im Wald, ich immer fürchten: schlechte Spur.“ „Die Rothaut hat recht“, brummte Hutter. Die Arche lag jetzt ruhig, kein Wind wehte, es war still über dem Silberglas und dem Ufer, die Vögel hatten sich weit hinaufgeschwungen oder zogen über den Hügeln ihre Bahn. Große Schlange breitete die Arme, als wollte er alles das in seine Worte einbeziehen, als er sagte: „Zu viel Frieden.“ March antwortete mit einer abfälligen Handbewegung. „Los, Tom, wir fahren ran!“ Große Schlange warf seiner Braut einen Blick zu und sagte: „Ich sehen nach.“ Er stieg ins Kanu, das an der Arche befestigt war. Dabei wußte er, daß ihm Wah-taWah ängstlich nachschaute, aber seine Erziehung verbot ihm, sich zu ihr umzuwenden. Langsam paddelte er auf das Kastell zu. Dabei war ihm klar, in welche Gefahr er sich begab, er war ohne jede Deckung, und die Gewehre der beiden Weißen boten ihm nur schwachen Schutz. Wachsam hielt er die Schießscharten im Auge, in jeder Sekunde war er bereit, sich über den Rand des Kanus abrollen zu lassen. Er erreichte die Palisaden neben dem Dock, schaute zu den Schießscharten hinauf, sah, daß die Tür verrammelt und das Schloß an der Klappe zum Dock unversehrt war, weder Riegel noch Fensterläden waren zerbrochen. Langsam umrundete er das Bauwerk, ohne den geringsten Laut zu hören und etwas Verdächtiges zu sehen. Große Schlange fühlte sich versucht, auf die Plattform hinaufzusteigen und durch eine Schießscharte ins Innere zu blicken, aber er hatte durch die Älteren seines Stammes 75
so viel von indianischen Listen gehört, daß er dieses Wagnis unterließ. Mit einer kaum merklichen Bewegung seines Paddels warf er den Mokassin ins Kanu und drehte es wieder der Arche zu. Dieser Rückweg war das Gefährlichste des Unternehmens, deshalb hielt er es für das klügste, so zu tun, als hätte er nichts Bemerkenswertes entdeckt; gemächlich paddelte er, hielt sogar einmal an und steckte die Feder über seinem Ohr fest. Hurry March half ihm beim Aussteigen, fragte: „Na, Schlange, was Neues von den Bisamratten? Haben sie die Zähne gezeigt?“ Wah-ta-Wah stand lächelnd an der Tür der Kajüte, Große Schlange nickte ihr zu; die Spannung, die er durchlebt hatte, fiel von ihm ab und machte einer plötzlichen Erschöpfung Platz. „Mir nicht gefallen“, sagte er leise. „Zu still. Kann Schweigen sehen!“ March rief: „Typisch indianisch! Als ob etwas weniger Lärm machen könnte als nichts!“ Große Schlange beugte sich ins Boot hinab und hob den Mokassin heraus. Alle betrachteten ihn, und Wah-ta-Wah, die wochenlang unter Min-gos gelebt hatte, erklärte, die Art, wie die Stachelschweinstacheln an der Spitze befestigt waren, sei kennzeichnend für einen Mokassin der Mingos. „Wenn schon“, entschied Hutter. „Es gibt viele Möglichkeiten, wie er dorthin gelangt ist. Aber nun los, ich will mich endlich wieder in meinen eigenen vier Wänden umschauen.“ Die Sonne war inzwischen aufgestiegen und hatte den Nebel in die Buchten gedrängt. Hutter schaute noch einmal nach dem Kanu seiner Töchter, unter ihren Paddeln flirrte der Schaum im klaren Licht. „Judith und Hetty werden uns schon wieder satt bekommen“, sagte Hutter zu March. „Und wenn eine von ihnen wegen Wildtöter flennt, 76
schlage ich mit der Faust auf den Tisch.“ Er zog das Segel hoch, gemächlich trieb die Arche auf das Kastell zu. March sprang, als sie noch ein paar Fuß von der Plattform entfernt war, in prahlerischer Sicherheit hinüber, lief zu den Palisaden, die das Dock schützten, und zog sie hoch. Er rüttelte an Tür und Fensterläden und rief zur Arche hinüber, alles wäre in bester Ordnung. Hutter zog sein Kanu an der Arche entlang zur Spitze und bugsierte es in den Dockeingang, er und March kletterten hinein und schwammen mit einem Stoß unter das Kastell. Auch hier war alles unversehrt, weder Schloß noch Kette, noch Riegel waren beschädigt. Hutter schloß auf, nahm den Riegel ab und hob die Falltür hoch, dann steckte March den Kopf hindurch. „Alles im Lot“, sagte er. „Ich hab’s gewußt, die Rothaut ist ein Narr.“ Große Schlange war auf der Arche geblieben. Entgegen der Anweisung Hutters hatte er das Segel nicht heruntergezogen; er hatte die Arche um die Plattform gelenkt, so daß sie durch die Palisaden vor Flintenkugeln geschützt war und sofort wieder ablegen konnte. Er traute dem Frieden noch immer nicht, hielt die Schießscharten im Auge und ließ seinen Blick zum Dach hinaufschweifen. Er hörte schwere Schritte drin im Haus, gleich darauf stieß March die Tür auf und rief triumphierend: „Los, rauf, alter Tom, dein Haus ist so leer wie eine Nuß, die in den Pfoten eines Eichhörnchens war. Wenn der Delaware noch immer behauptet, er könne das Schweigen sehen, soll er herkommen und es fangen!“ March lachte dröhnend und wandte sich ins Haus zurück. Im nächsten Augenblick hörte Große Schlange einen schweren Fall und Marchs Fluchen, dann mischten sich so viele Geräusche durcheinander, als sei mit einem Schlag eine Horde Teufel lebendig geworden. Indianerschreie 77
übertönten Marchs Gebrüll, es klang, als würden immerfort Körper auf den Boden und gegen die Wände geschleudert. Große Schlange hörte, wie March schrie, ob in Hutters Küche keine Messer waren, und Hutter brüllte zurück, March solle versuchen, sich zu ihm durchzuschlagen. Ein Poltern folgte, als sei der Ofen eingestürzt, dann triumphierte wieder das Geschrei der Mingos. Große Schlange war im Zwiespalt, was er tun sollte. Alle Waffen waren auf der Arche geblieben, es bestand keine Möglichkeit, sie in die Hände der beiden Weißen zu bringen oder ihnen in irgendeiner anderen Weise zu helfen. So stieß Große Schlange die Arche vom Kastell weg, er und Wah-ta-Wah halfen mit den Rudern nach, und bald trennte eine Steinwurfweite die Arche vom Kastell. Große Schlange sprang in die Kajüte zurück, stellte die Büchsen in Reichweite und überzeugte sich mit einem Blick, daß Hutters Töchter nicht näher gekommen waren; ihnen mußte aufgefallen sein, daß etwas nicht stimmte. Die Kampfgeräusche im Hause ließen keinen Augenblick lang nach. Da wurde die Tür aufgestoßen, drei Mingos drängten heraus, als wären sie froh, einem Gemetzel zu entrinnen, ein Mingo flog Hals über Kopf durch die Tür und stürzte schwer auf die Plattform. Unmittelbar danach erschien March, wütend und tobend, die Jacke zerrissen, einen halben Stuhl in der Hand. Er holte tief Luft, ließ seine Waffe krachend auf einen Indianer hinabsausen, packte einen anderen und schleuderte ihn ins Wasser. Den Gestürzten stieß er mit dem Fuß von der Plattform, er schrie: „Alter Tom, komm raus, du kannst die verdammten Rothäute schwimmen sehen!“ Einem anderen Mingo trat March in den Magen, daß dieser sich krümmte und zusammenbrach, dann stand ihm nur noch ein Gegner 78
gegenüber. Er war groß und stark und ein gewandter Ringkämpfer, er hatte sich bisher zurückgehalten und ging ausgeruht ins Gefecht. Sein Oberkörper war nackt, auf bloßen Sohlen, die Hände vorgestreckt, umschlich er March. Dieser versuchte zuerst, den Mingo auf die Planken zu schleudern, packte ihn am Arm und griff nach dessen Hals, wollte ihn über das vorgestreckte Bein ziehen, aber der Mingo wich geschickt aus, faßte March an der Jacke, March riß seinen Gegner zu sich heran, und so rangen sie eine Minute lang, ohne daß es einem gelang, einen Vorteil zu gewinnen. Sie schoben sich hin und her, versuchten sich an der Kehle zu packen und mit den Knien in den Leib zu stoßen, dann endlich siegte Marchs größere Stärke, er warf den Mingo gegen die Wand des Kastells. Der Aufprall war heftig, der Mingo ächzte, aber gleich darauf stürzte er sich erneut in den Kampf. March faßte ihn an der Hüfte, zog ihn hoch, schleuderte ihn auf den Boden und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn fallen. Der Indianer war halb betäubt, sein Kopf hing über den Rand der Plattform hinaus, March drückte ihm die Kehle zusammen, daß die Augen des Mingos heraustraten. Wenige Sekunden später würde March seinen Gegner getötet haben, aber jetzt endlich kamen dessen Stammesgenossen zu Hilfe. Eine Schlinge wurde March um die Arme geworfen und zusammengezogen, gleich darauf waren auch Marchs Beine gefesselt, und die Mingos machten sich unter Geheul daran, ihren Feind zu einem Bündel zusammenzuschnüren. Große Schlange und Wah-ta-Wah hatten diesem Kampf von der Arche aus. zugesehen. Einige Male hatte Große Schlange die Büchse gehoben, aber er hätte niemals schießen können, ohne auch March zu gefährden. Jetzt mußte er versuchen, die Arche weiter wegzutreiben, was 79
ihm Mühe bereitete, denn er war es nicht gewohnt, große Ruder zu bedienen. Endlich zog er das Segel hoch. Die Sonne hatte sich während der Schlacht um das Kastell über die Hügel erhoben, Wind kräuselte das Wasser und trieb die Arche aus der Gefahrenzone. Wah-ta-Wah stand auf dem Hinterdeck und versuchte Judith und Hetty Zeichen zu geben, sich zur Arche zu flüchten, aber die Schwestern schienen die Situation so wenig übersehen zu können, daß sie sich lieber in die Weite des Silberglas zurückzogen, von wo aus sie Sicht nach allen Seiten und die günstigsten Fluchtmöglichkeiten besaßen. Große Schlange war erfahren im Umgang mit einem Kanu wie viel Indianer, aber noch nie hatte er ein Fahrzeug wie diese Arche gelenkt. Er lief nach dem Heck, um das Steuer festzuzurren, als der Wind das Segel blähte und die Arche auf der Stelle herumdrehte. Das Wasser, das an der Leeseite anschwoll, gab der Arche zusätzliche Fahrt, und so schob sie sich wieder auf die Plattform zu. Große Schlange wußte nicht, wie er diese Bewegung aufhalten sollte, er sah die Wand des Kastells mit ihren Scharten immer näher vor sich und griff zur Waffe, um den ersten Mingo, der es wagen würde, herüberzuspringen, niederzuschießen. Zu allem Überfluß blieb die Arche mit ihrer Spitze an einem Pfahl hängen und schwenkte, durch den Wind getrieben, gegen die Plattform. March, der dort lag, schrie: „Schlange, drück die Arche mit dem Bootshaken weg!“ Wah-ta-Wah spähte durch ein Kajütenfenster, sie begriff augenblicklich die Lage und rief March zu: „Herüberrollen! Herüberrollen!“ Ihre Worte wurden durch den Knall fast aller Gewehre der Indianer übertönt, Kugeln schlugen durch die Scharten, aber weder Große Schlange noch seine Braut wurden verletzt. Noch immer 80
hing die Spitze der Arche an den Pfeilern, während sich das Heck langsam drehte. Die Mingos achteten nicht auf March, sondern luden ihre Gewehre zu einem neuen Feuerüberfall, so konnte sich March aufbäumen und über die Planken wälzen. Wieder krachten die Büchsen, noch einmal ruckte sich March zur Seite, er erreichte den Rand der Plattform und kippte über ihn weg, aber inzwischen hatte sich die Arche schon wieder ein Stück bewegt, so daß March nicht aufs Heck, sondern dicht dahinter ins Wasser fiel. Wah-ta-Wah sprang aus der Kajüte, wand ein Stück Tau ab und warf es dem eben wieder auftauchenden und nach Luft schnappenden March zu, dem es über den Kopf fiel, so daß er ein Stück mit den gebundenen Händen und sogar mit den Zähnen zu fassen bekam. March war ein erfahrener Schwimmer, so legte er sich flach aufs Wasser, daß nur das Gesicht herausragte, hielt das Tau mit den Zähnen und, soweit das möglich war, mit den Händen fest. Noch hatten die Mingos sein Entweichen nicht bemerkt, wieder feuerten sie auf die Kajüte. Die Arche hatte inzwischen ihre Drehung beendet, die Spitze löste sich von den Palisaden, Große Schlange begriff, daß seine Feinde die günstigste Gelegenheit zum Entern verpaßt hatten, und schoß zurück, aber auch er nahm sich zuwenig Zeit zum Zielen und traf keinen seiner Gegner. Rauchwolken standen jetzt über Kastell und Arche, Büchsen krachten, Kugeln pfiffen und klatschten ins Holz, die Arche aber nahm Fahrt auf, das Seil, an dem March hing, straffte sich und zog ihn nach, und diese Bewegung rettete ihn vor dem Versinken. Als die Arche hundert Fuß vom Kastell entfernt war, konnten sich Große Schlange und Wah-ta-Wah wieder um March kümmern, sie hielten sich dabei im Schutz der Kajüte und hatten Mühe, den schweren Mann 81
heraufzuziehen. Große Schlange bückte sich zu March hinab und schnitt die Stricke an Händen und Armen durch; danach konnte March ein wenig besser zupacken, und schließlich lag er, keuchend und fluchend, Wasser erbrechend und halb ohnmächtig auf dem Deck. Erst jetzt merkten die Mingos, daß ihnen die so sicher geglaubte Beute entronnen war, sie brüllten wütend, und drei von ihnen zerrten hastig ein Rindenkanu aus dem Dock unter dem Kastell heraus. Das dauerte einige Minuten, in dieser Zeit war die Arche dreihundert Fuß fortgetrieben. Als die Mingos endlich im Boot saßen, merkten sie, daß sie gegen die Arche mit ihrer Besatzung keine Chance hatten. Sie schlugen einen Bogen; da sahen sie weit draußen auf dem See das Kanu mit den beiden Mädchen.
4 Die Pulverwolken über dem Kastell waren verflogen, kein Schuß hallte mehr über den Silberglas. Atemlos und voller Entsetzen hatten Judith und Hetty das Gefecht beobachtet, ohne zu begreifen, was im einzelnen geschehen war. Hetty hatte Gott angefleht, er möchte Vater und Hurry March, Wah-ta-Wah und Chingachgook, er möchte auch die Mingos vor Schaden bewahren. „Lieber Gott“, betete sie, „alle sollen leben bleiben, alle!“ „Bete lieber für uns“, rief Judith. „Siehst du das Boot dort? Und wenn du gebetet hast, greif zum Paddel, sonst geht es uns an den Kragen.“ Das Kanu der Mingos hielt jetzt direkt auf sie zu. Die Schwestern verausgabten sich nicht, denn sie wußten, daß die Flucht lange dauern konnte. Die Indianer hinter ihnen besaßen nur zwei Paddel für drei Mann, einer war also unnütze Überfracht. Die Mädchen waren geschickt, sie waren leichter als die drei Männer, und so gelang es ihnen immer wieder, das freie Wasser zu gewinnen und sich 82
nicht ans Ufer drängen zu lassen. Nach einer Weile legten die Mingos einen Spurt ein, da zogen auch Judith und Hetty die Paddel mit aller Kraft durch. Die Mingos lösten sich jetzt ab, hielten sich im Kielwasser der Mädchen, kamen ihnen merklich näher, aber da brach dem Stärksten von ihnen das Paddel, was sie um jede Aussicht brachte, die Flüchtenden noch einzuholen. Sie schickten ihnen einen haßerfüllten Schrei nach, wendeten und trieben langsam zum Kastell zurück. Judith und Hetty ließen die Arme sinken. Ein Schwächegefühl befiel Judith, wie durch eine Wand hindurch hörte sie die Stimme ihrer Schwester: „Du wirst zugeben, Judith, daß Beten hilft.“ „Wir sind gerettet, das stimmt. Aber auf wie lange? Und ist auch die Arche in der Hand der Rothäute? Was wird mit Vater sein?“ Eine Stunde lang geschah kaum etwas auf dem Silberglas. Die Sonne stand hoch an einem klaren Himmel, Schwalben schössen kreuz und quer, unberührt lagen die Wälder ringsum. Die Arche trieb jetzt weit jenseits des Kastells, und sosehr sich die Mädchen auch mühten, so konnten sie doch nicht erkennen, wer sich auf ihr befand; auf alle Fälle schien es ihnen nicht so, als ob ihr Vater sie mit erfahrener Hand lenkte. Die Mädchen waren in der vergangenen Nacht zu einem, wie sie planten, kurzen Streifzug aufgebrochen, hatten keine Lebensmittel mitgenommen und fühlten sich erschöpft durch Hunger und Anstrengung und Aufregung. Einmal kam es Judith in den Sinn, an Land zu gehen und sich durch die Wälder zur nächsten Garnison durchzuschlagen, aber sie begriff rechtzeitig, daß sie keine Chance haben würden, die Späher der Mingos zu überlisten. Zum erstenmal, seit die Feindseligkeiten am Silberglas 83
entbrannt waren, fühlte sie sich so verzweifelt, daß ihr Tränen in die Augen traten; sie wünschte, Wildtöter wäre bei ihr, denn ihm traute sie zuallererst zu, einen Ausweg zu finden. „Judith, die Wilden ziehen sich zurück!“ Judith hob den Kopf, sie sah, daß ein mit Mingos besetztes Kanu aus dem Dock herausschwamm. Gemächlich steuerten die Indianer der Küste zu, stiegen ans Ufer und verschwanden zwischen den Bäumen. Da wendeten die Schwestern den Bug ihres Kanus zum Kastell, sie näherten sich vorsichtig, riefen hinüber, lauschten. Nichts rührte sich. Natürlich konnte ein Mingo zurückgeblieben sein, aber die Mädchen waren so hungrig und hofften, die Mingos hätten etwas zu essen dagelassen, daß sie zu einem Wagnis bereit waren. Judith sagte: „Hetty, dir haben die Indianer nie etwas getan, traust du dir zu, das Kastell zu durchsuchen?“ Hetty nickte, Judith steuerte rasch an die Plattform heran und legte, nachdem Hetty hinübergesprungen war, sofort wieder ab. Hetty ging ins Haus, nach kaum einer Minute trat sie wieder heraus und rief: „Kein Mingo ist hier, und Vater schläft in seinem Zimmer.“ Judith band das Kanu fest und stieg auf die Plattform. Hetty sagte leise: „Ich glaube, Vater ist betrunken.“ Judith blickte überrascht auf. „Die Mingos sollten mit ihm getrunken haben? Das ist doch wohl nicht möglich.“ Ein Stöhnen drang aus dem Haus, rasch ging Judith hinein. Sie fand ihren Vater zurückgelehnt in einem Winkel sitzend, er hatte das Kinn auf die Brust gedrückt. Eine Leinwandmütze bedeckte den Kopf und den größten Teil des Gesichts. In einer schlimmen Ahnung hob Judith die Mütze an. Sie schrie voller Grauen auf: Das Blut auf der Stirn zeigte, daß Tom Hutter skalpiert worden war, obwohl er noch lebte. 84
Entsetzt wich Judith zurück, krampfte sich an einem Stuhl fest, starrte auf das fürchterliche Bild. „Vater!“ stammelte sie, „Vater!“ Es bedurfte unsäglicher Anstrengung, sich aus der Starre zu lösen. Sie nahm Leinwand aus einer Lade, verband den Kopf, trug mit Hilfe ihrer Schwester den Verletzten auf sein Bett. Jetzt erst sah sie, daß Tom Hutter an der Brust durch einen Messerstich verletzt war. Sie verband auch diese Wunde und wusch das Blut ab. „Wasser“, stammelte Hutter. Hetty brachte einen Becher, Judith drückte den Rand an die Lippen des Verletzten. „Oh, Judith“, sagte Hetty, „Vater hat selbst Jagd auf Skalpe gemacht, jetzt hat er seinen Skalp verloren. Die Bibel sagt solche furchtbaren Strafen voraus.“ „Was nützt es uns schon, daß du recht hast.“ Judith fragte: „Vater, was können wir für dich tun? Liegst du bequem?“ Hutter murmelte: „Ich bin nicht euer Vater. Seht in der Truhe nach, da findet ihr...“ „Vater“, erwiderte Judith, „vielleicht redest du im Fieber?“ „Nein, ich weiß, was ich sage. Ich bin nicht euer Vater, ihr müßt es endlich erfahren.“ Hutters Augen schlössen sich wieder, er murmelte etwas, das die Mädchen nicht verstanden. Hetty zog einen Schemel an sein Lager, schlug die Bibel auf und las daraus vor, Judith suchte einige Kleidungsstücke zusammen und schob sie unter seinen Kopf. Das zernarbte Gesicht Hutters zeigte jetzt die durchscheinende Blässe, die dem Tod vorausgeht, sein Mund zuckte, er versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht. Während dieser quälenden Stunde fürchteten die Schwestern nicht ein einziges Mal, die Mingos könnten zurückkehren. Als sie Ruderschläge hörten, trat Judith auf 85
die Plattform hinaus; sie war vom eben erlebten Schrecken noch so erfüllt, daß sie keine Angst spürte. March, Große Schlange und Wah-ta-Wah standen auf der Arche und lenkten sie ihrem Landeplatz zu. March sprang als erster herüber und band die Arche fest. Er hatte, obwohl er wieder im Besitz seiner physischen Kräfte war, durch den erlittenen Todesschreck viel von seiner sonstigen Dreistigkeit eingebüßt; an Judiths Gesicht sah er, daß etwas Grauenvolles geschehen sein mußte, und so ging er still ins Haus. „Alter Tom“, sagte er erschüttert vor dem Lager, „alter Tom.“ Hutter versuchte sich aufzurichten, er murmelte Worte, unzusammenhängende Sätze, einmal war von Seeräubern, dann von einem Zeitungsartikel die Rede. Seine Hand tastete um sich, sein Atem wurde röchelnd, dann stieß er einen langen, letzten Seufzer aus; es schien, als würde mit ihm die Seele den Körper verlassen. Die Mädchen knieten neben dem Lager nieder, sogar March legte die Hände übereinander und senkte den Kopf; Tom Hutter war tot. Dieser Tag endete friedlich am Silberglas. Als die Sonne unterging, trugen March und Große Schlange die Leiche Tom Hutters auf die Arche hinüber. Sie wickelten sie zusammen mit einigen Steinen, die sie vom Feuerplatz genommen hatten, in eine Plane aus Segeltuch und verschnürten sie mit dem Tau, das March das Leben gerettet hatte. Als das geschehen war, stiegen Judith, Hetty und Wah-ta-Wah auf die Arche hinüber. Mit langsamen Ruderschlägen trieb March die Arche über der Sandbank entlang bis zu deren anderem Ende. Dort war vor Jahren die Leiche von Judiths und Hettys Mutter versenkt worden, Hutter hatte damals Erde und Steine vom Ufer herübergebracht und darübergehäuft; noch jetzt war ein Hügel auf dem Seegrund zu sehen. Die 86
Fahrt der Arche hatte etwas von der Feierlichkeit eines Leichenzuges an sich, die Ruderschläge waren mit den gemessenen Schritten von Leidtragenden vergleichbar. Judith weinte, Hetty starrte stumm vor sich hin. Der See wurde von keiner Welle gekräuselt, über allem stand die tiefe Reglosigkeit und Ruhe eines klaren Sommerabends. Nahe dem Ausläufer der Sandbank legte March die Ruder zurück und trug den Toten ans Heck. Ein Seil wurde unter Schultern und Beinen durchgezogen, dann versenkten March und Große Schlange die Leiche im See. Niemand sprach, nach einer Minute des Schweigens sagte March: „Du warst ein guter Kamerad auf einem Jagdzug, Tom, und ein tüchtiger Fallensteller. Solche wie dich gibt’s nicht viele in diesen Wäldern. Weint nicht, ihr Mädchen, denn auch die Besten müssen sterben, und Tränen können Tote nicht wieder zum Leben bringen. Euer Vater ist ein Verlust für euch, aber denkt daran, daß ihr lebt und jung seid. Alter Tom, vielleicht gibt es auch für dich ewige Jagdgründe. Ich wünsche dir dort einen guten Fang.“ Einige Zeit tat niemand etwas, jeder hing seinen Gedanken nach. Es eilte nicht, zum Kastell zurückzukehren, die Nacht war noch weit, erst dann würden Wälder und See voller Gefahren sein. Judith war am Heck geblieben; nach einer Weile setzte sich March zu ihr. Er legte seine Jagdtasche auf die Knie, löste ihre Bänder und knüpfte sie wieder zu, er begann davon zu sprechen, daß Hutters Tod eine Reihe von Folgen nach sich zog; beispielsweise wäre es unmöglich, daß Judith und Hetty allein im Kastell blieben. Judith trocknete die Tränen. Sie ahnte, was auf sie zukam, und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen; sie fragte: „Und an welche Änderung hast du gedacht?“ 87
„Du machst mich ganz verlegen, Judith, und sicherlich ist es auch nicht der geeignete Augenblick, von Liebe zu reden. Ich hab dir oft gesagt, daß ich dich für das hübscheste Mädchen in diesen Wäldern halte.“ Ein Riemen in Marchs Händen riß, er blickte verwundert darauf und murmelte: „Ich möchte dich heiraten.“ »Endlich ein klares Wort. Und ich gebe dir auch eine deutliche Antwort. Heute ist nicht der Tag für Spielerei, nicht wahr?“ Judith zog ihr Tuch eng über der Brust zusammen, als wäre ihr kalt, und sagte: „Ich liebe dich nicht und werde dich nie so lieben können, daß ich deine Frau werden könnte. Das ist alles.“ Marchs Hände erstarrten, seine Lippen preßten sich zusammen. Er war überrascht und fühlte sich gekränkt, er wollte seinem Zorn Luft machen und auf die Offiziere der Grenzgarnison schimpfen, die Judith den Kopf verdreht hätten, aber in seine stumpfen, dumpfen Gedanken hinein drang doch das Begreifen, daß das alles zwecklos war. An einem anderen Tag wäre er vielleicht wütend vor Judith auf und ab gestapft und hätte mit seinen Kräften geprahlt, aber der Todesschreck, als er gebunden im Wasser getrieben war, und das furchtbare Ende Hutters hatten ihre Spuren hinterlassen. „Du mußt wissen, was du tust, Judith“, murmelte er. Judith antwortete nicht. Nach einer Minute des Schweigens sagte March: „Der Silberglas hat für mich keinen Reiz mehr. Tom ist tot, du hast mich abgewiesen, und an diesen Ufern hockt hinter jedem Baum ein Mingo.“ „Dann geh doch. Wie ich dich kenne, wirst du dein Leben nicht für andere aufs Spiel setzen. Für Wildtöter doch wohl auf keinen Fall.“ „Dieser grüne Junge soll selbst auslöffeln, was er sich eingebrockt hat.“ So leise, daß es kaum zu hören war, 88
sagte Judith: „Nun verschwinde, so schnell du kannst.“ March stand auf und warf sich die Tasche über die Schulter; er hielt den Kopf gesenkt, seine Hände hingen schlaff. Judith sagte: „Sobald es dunkel ist, will ich dich an Land setzen, du magst dich dann zur nächsten Garnison durchschlagen. Wenn du uns Hilfe schickst...“ „Das werde ich tun, Judith, und ich will mit zurückkommen und euch heraushauen.“ „Ach, March, wenn du doch immer so gesprochen hättest!“ Judiths Stimme wurde lebhafter, als sie fortfuhr: „Am Mohawk wirst du einen Kapitän treffen, der Warley heißt. Sag ihm, was hier am Silberglas geschieht.“ „Gut. Du kannst dich auf mich verlassen.“ March zog das Segel hoch, die Arche drehte sich und trieb langsam auf das Kastell zu. Kleine Wellen schlugen an die Bordwand. March hielt eine Hand ins Wasser, spürte es kühl am Gelenk, das noch immer brannte, starrte auf das Holz der Arche und die blauen und grauen Töne des Silberglas, wünschte, er wäre nie hiergewesen, hätte nie Tom Hutter und schon gar nicht Judith kennengelernt. Er schöpfte Wasser mit der hohlen Hand, spülte sich den Mund aus und spie das Wasser in den See zurück. Er dachte: drei, vier Stunden noch.
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Am Marterpfahl Die Dunkelheit hatte sich noch nicht auf den See gesenkt, die Sonne leuchtete hinter hohen Streifenwolken über den Hügeln, als ein Kanu vom Ufer ablegte, die dichten Schatten unter den Bäumen verließ und sich dem Kastell näherte. Die Arche lag wieder an ihrem Platz, Judith, Hetty und Wah-ta-Wah prüften, was von den Lebensmitteln noch brauchbar war, während Große Schlange und March die Stelle im Dach musterten, durch die die Mingos eingestiegen waren. March mußte ihnen zugestehen, daß sie den schwächsten Punkt der Festung herausgefunden hatten: Um Schlösser und Riegel hatten sie sich nicht einen Deut gekümmert, waren aufs Dach geklettert, hatten Rindenstücke weggeräumt, Stangen ausgebrochen und von innen die Rinde wieder an die alte Stelle geschoben. Wenn nicht einer der Krieger dabei seinen Mokassin verloren hätte, wäre die Täuschung vollkommen gewesen. Als erste bemerkte Hetty das Kanu. Judith nahm das Fernrohr, ein freudiger Schreck durchfuhr sie, als sie erkannte, daß Natty Bumppo darin saß. „Wildtöter!“ rief sie, „Wildtöter kommt zurück!“ March sagte: „Dieser Anfänger sollte die Mingos überlistet haben?“ Eine Viertelstunde später legte Natty an der Plattform an. Die Begrüßung war ernst und beklommen, Judiths Freude wurde durch all das Schreckliche, das an diesem Tag geschehen war, gedämpft. Natty gab ihr die Hand, er sagte, er habe im Indianercamp erfahren, daß das Kastell in den Händen der Rothäute gewesen sei, und fragte nach Tom Hutter. „Wir haben ihn soeben bestattet“, antwortete Judith. Natty hatte diesen Ausgang befürchtet, und während er Judith und 90
Hetty sein Mitgefühl aussprach, ließ ihn dieses schreckliche Bild nicht los: Indianische Krieger hatten die Kopfhaut Tom Hutters triumphierend ‘auf einer Stange ins Lager getragen. Judith fragte: „Sie sind entflohen?“ „Dazu war leider keine Gelegenheit. Ich bin auf Urlaub hier.“ March fragte: „Wie soll ich das verstehen?“ „Das werde ich der Reihe nach erzählen.“ Natty begrüßte nun auch Wah-ta-Wah und Große Schlange und fuhr fort: „Wir müssen gründlich beraten und sollten uns dabei Zeit lassen. Für diese Nacht ist kein Überfall zu befürchten.“ Die Mädchen gingen an ihre Arbeit im Haus zurück, Hurry March besserte seine Mokassins aus, Große Schlange saß in düsterem Nachdenken. An der Wand neben der Tür lehnte Tom Hutters Büchse, Killdeer genannt, eine Waffe, von der Natty viel gehört hatte. Jetzt nahm er sie in die Hand und musterte sie mit den Augen des Waffenkenners und des ausgezeichneten Schützen. Das Gewehr war ungewöhnlich lang und stammte zweifellos aus der Werkstatt eines hervorragenden Waffenschmieds. Der Lauf war sauber gezogen, alle Teile fügten sich reibungslos zusammen, das Material schien erstklassig zu sein; die sparsamen silbernen Ornamente bedeuteten für Natty demgegenüber wenig. Einige Male lehnte er die Schwanzschraube an die Schulter und blickte über das Visier, er beugte sich vor und brachte die Waffe langsam in Anschlag, als wollte er auf ein Wild zielen. Schließlich sagte er zu March: „Eine großartige Büchse, Hurry. Es ist nur schade, daß Mädchen sie geerbt haben, die nichts damit anzufangen wissen. Hör nur, wie das Schloß schnappt, keine Wolfsfalle hat eine kräftigere Feder. Hahn und Pfanne spielen wunderbar zusammen, und einen so elegant geformten Schaft habe ich noch nie gesehen.“ 91
March zog gerade Lederriemen durch seinen Mokassin, er sagte: „Tom hielt große Stücke auf Killdeer, ein bedeutender Schütze war er allerdings nicht. Offen gestanden, ich hoffte schon, Judith würde mir die Büchse vermachen.“ „Keiner weiß, wozu Frauen fähig sind. Aber du und Killdeer passen nicht zusammen.“ „Denkst du, sie würde auf meiner Schulter nicht prächtig wirken?“ „Das schon. Aber es gibt Leute, die mit Killdeer an einem Tag mehr Wild erlegen könnten als du in einer Woche. Einen besseren Schützen als dich würde dieses Gewehr zum König der Wälder machen.“ Durch das Fenster war Judiths Stimme zu hören: „Dann behalten Sie die Büchse, Wildtöter, und werden Sie König der Wälder.“ Bedauernd setzte Natty die Büchse ab und lehnte sie wieder an die Wand. „Ein solches Geschenk kann ich unmöglich annehmen.“ „Dann essen Sie wenigstens mit uns.“ Die Mädchen hatten geräucherte Hirschkeule aufgeschnitten und Maiskörner geröstet; das Mahl verlief schweigsam, niemand außer Natty zeigte rechten Appetit. Danach schlug Judith vor, sogleich mit der Beratung zu beginnen. Es fanden sich einige Stühle im Haus, die das Handgemenge überstanden hatten, sie und Fellbündel wurden auf die Plattform getragen, auf ihnen ließen sich die sechs nieder. Bald erhellten nur noch die Sterne den Silberglas; am Ufer lag das Dunkel in schwerer Masse, aber auf der Breite des Sees, der von der Abendluft leicht bewegt wurde, tanzten tausend Lichter. „Urlaub“, fragte Judith, „was heißt das?“ Natty berichtete: „Als die Mingos vom Kastell zurückkamen, haben sie ein Freudenfeuer angezündet und 92
sich beraten. Sie kamen zu dem Ergebnis, Tom Hutter sei tot oder doch so gut wie tot, und Hurry March habe den Tod so nahe gespürt, daß er für diesen Sommer zweifellos nicht wünschte, ihn noch einmal in der Nähe zu sehen; also möge er schnellstens das Feld räumen. Als einzigen Gegner glauben die Mingos Chingachgook vor sich zu haben. Ich soll ihm ausrichten, er habe sich wacker gehalten für einen Anfänger, er möge jetzt über die Berge zu seinen Dörfern zurückkehren, und wenn er einen Sklap gefunden habe, möge er ihn mitnehmen. Denn die Mingos können einen jungen Krieger verstehen, der nicht mit leeren Händen heimkommen will. Wah-ta-Wah aber, so verlangen sie, müsse zu den Mingos zurück, denn sie habe etwas mitgenommen, was ihr nicht gehört.“ Hetty fuhr auf: „Niemals würde Wah-ta-Wah...“ Natty unterbrach sie: „Du verstehst die Sprache solcher Botschaften nicht, Hetty. Wah-ta-Wah hat die Liebe eines jungen Mingos mit sich genommen. Die Mingos sagen, Schlange sei ein viel zu talentierter Krieger, als daß er nicht so viele Frauen fände, wie er möchte, aber diese eine müsse er zurückgeben.“ Judith erwiderte: „Mir scheint, Wildtöter, diese Häuptlinge verstehen wenig vom Herz einer Frau.“ „Ich möchte euch erst das ganze Paket der Mingos überreichen, wir können es dann gemeinsam aufschnüren. Auch für Sie, Judith, gibt es eine Botschaft. Die Mingos sagen, die Bisamratze, so nennen sie Ihren Vater, sei untergetaucht auf den Seegrund, und seinen Töchtern werde es an Nahrung fehlen. Die Mingohütten, so erklären sie, sind warm. Ein großer Krieger hat kürzlich seine Frau verloren, außerdem ist ein Mädchen in der Nacht erschossen worden. Zwei Plätze sind frei im Indianercamp, Hutters Töchter sollen sie ausfüllen.“ 93
Judith fuhr auf: „Und ausgerechnet Sie, Wildtöter, bringen diese Botschaft? Ich soll die Sklavin eines Indianers werden?“ „Ich habe nicht meine Meinung gesagt, denn auf die kommt es nicht an.“ March warf ein: „Deine Meinung, Wildtöter, interessiert mich trotzdem. Über das, was ich tun werde, gibt es für mich keinen Zweifel.“ „Wenn ich du wäre, würde ich mich weigern, mich dem Diktat der Rothäute zu beugen. Niemals würde ich Frauen im Stich lassen.“ Marchs Stimme klang drohend, als er antwortete: „Du bist ein junger Dachs, man hört es aus jedem Wort heraus. Ich bin nicht so närrisch, es als einzelner mit einem ganzen Stamm aufnehmen zu wollen. Ich lasse außerdem keine Frauen im Stich, sondern eine Frau hat mich im Stich gelassen. Sollte Judith ihre Absicht ändern, so nehme ich sie mit an den Mohawk, und Hetty obendrein.“ Judith antwortete sofort: „Ich bleibe bei meiner Meinung.“ Natty sprach nicht gleich weiter. Er hatte, während er über den See gepaddelt war, herauszufinden gesucht, wie jeder der kleinen Besatzung des Kastells auf die Vorschläge der Mingos reagieren würde. In der Beurteilung von Große Schlange und Wah-ta-Wah war er einer klaren Meinung gewesen; er hatte gehofft, Hurry March würde über seinen Schatten springen können. Judiths kluges Auftreten bei dieser Beratung überraschte ihn, und wenn er nicht gefürchtet hätte, damit March unnötig zu reizen, hätte er es ihr gesagt. Jetzt versuchte er wie schon unablässig seit der Nachmittagsstunde, in der Gespaltene Eiche ihn mit dieser Botschaft beauftragt und ihm sein Wort abgenommen hatte, zurückzukehren, für sich selbst einen Ausweg zu finden; für einen Augenblick 94
stellte er sich vor, er könnte mit March diesen See auf demselben Weg verlassen, auf dem er zu ihm gekommen war, aber dann hätte er alles aufgeben müssen, was seine Achtung vor sich selbst ausmachte. Er blickte zu den Sternen, die unbeweglich über dem See standen, und wurde sich bewußt, daß er sie womöglich in dieser Nacht zum letztenmal sah. Ehe Selbstmitleid nach ihm packte, riß er sich aus diesen Gedanken heraus und fragte: „Wie ist das, Wah-ta-Wah, willst du zu den Mingos zurückgehen und einen von ihnen heiraten?“ In ihrer Erregung sprang Wah-ta-Wah auf. „Wildtöter, sag den Mingos, daß sie dumm sind wie Maulwürfe. Delawarenmädchen sind wie Geißblattblüten, duften am süßesten in ihrem eigenen Wald. Rotkehlchen und Marder kommen jedes Jahr zurück zum eigenen Bau, soll ein Weib weniger treu sein als ein Vogel? Wah-ta-Wah hat nur ein Herz, liebt nur einen Mann.“ „Ich habe nichts anderes erwartet. Nun bist du an der Reihe, Schlange.“ Wie seine Verlobte, so stand auch Große Schlange auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Hört, was Chingachgook von den Delawaren zu sagen hat den Hunden von den kanadischen Seen, die durch unsere Wälder streifen. Sie sind schlau genug, junge Weiber zu stehlen, aber zu dumm, sie zu verwahren. Chingachgook nimmt sein Eigentum zurück, er fragt keinen Köter aus Kanada um Erlaubnis. Wildtöter, sag den Mingohunden, Chingachgook wird sich nicht die Mühe machen, von seinen Dörfern mehr Krieger zu holen. Er wird die Mingos allein aufstöbern wie Füchse und wird ihnen Ohren und Schwänze stutzen. Er wird sie jagen bis zu ihren stinkigen Wigwams. Wah-ta-Wah wird bei ihm bleiben, sein Wildbret zu kochen, und zu zweit werden sie Delawaren genug sein gegen alle Mingos.“ 95
Das war mit großem Ernst gesprochen, aber dennoch mußte Natty über die blumige Ausdrucksweise lächeln. Er hatte keine andere Antwort erwartet, er nickte nur und blickte Judith an, denn sie war an der Reihe zu sprechen. Sie zögerte, dann sagte sie: „Wildtöter, ich möchte wissen, welchen Einfluß unsere Antworten auf Ihr Schicksal haben.“ „Genauso könnten Sie mich fragen, woher in der nächsten Woche der Wind wehen wird.“ „Ich muß nachdenken. Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen, ehe ich mich entscheide.“ Aus diesen Worten klang so viel Entschiedenheit, daß niemand widersprach. Alle standen auf. Sie spürten jetzt die Kühle, die vom See aufstieg. Die Mädchen gingen ins Haus, Große Schlange übernahm die Wache. Natty sagte ihm, daß nichts zu befürchten sei, die Frist zum Überbringen der Botschaft gelte als Waffenstillstand, aber Große Schlange antwortete, er kenne die Mingos und rechne mit jeder Teufelei. Hurry March packte unterdessen seine Siebensachen; er tat dies in verdrossenem Schweigen. Er wußte natürlich, daß man ihm vorwerfen konnte, er ließe Kampfgefährten und Frauen im Stich, und wie alle egoistischen und rohen Menschen suchte er dafür die Schuld bei anderen. Der Abschied von den Delawaren verlief kühl, Judith gab ihm die Hand ohne ein Wort und wandte sich sofort ab. Nur Hetty stand auf der Plattform, als Natty und March ins Kanu stiegen. „Leb wohl, Hurry“, sagte sie, „nimm dich in acht in den Wäldern, und beeil dich, daß du die Garnison erreichst.“ March reichte ihr die Hand hinauf. „Bist ein gutes Mädchen. Zu deinem Vater habe ich gepaßt wie ein Schuh zum anderen, und um dich tut’s mir leid.“ „Ich werde ein Kapitel aus der Bibel für dich lesen, ehe 96
ich zu Bett gehe.“ „Schaden kann’s nicht. Wildtöter, nun los!“ Sie legten ab und tauchten die Paddel ein; das Boot zog eine Spur durchs Wasser. Nach einer Weile sagte Natty: „Wenn du den Mohawk erreichst, solltest du die Offiziere zu bewegen suchen, uns Truppen zu Hilfe zu schicken. Am besten wäre es natürlich, du stelltest dich als Führer zur Verfügung. Du kennst alle Wege hierher und die Ufer dieses Sees wie deine Westentasche. Stürmt gleich auf das Lager der Mingos los und erteilt ihnen einen Denkzettel. Für mich wird das alles nicht mehr wichtig sein, fürchte ich.“ „Was wird bis dahin mit dir?“ „Die Mingos brennen auf Rache.“ „Ich wünschte, Hutter und ich hätten diese ganze Bande skalpiert.“ „Und ich wünschte, ihr hättet das nie versucht. Dann wären die Mingos vielleicht weitergezogen, und Hutter lebte noch, und wir müßten uns nicht mit diesem verdammten Ultimatum herumschlagen.“ Wenig später fuhr der Bug des Kanus auf dem Kies des Strandes auf. Mit einigen Griffen hatte March Gewehr, Jagdtasche und Deckenbündel umgehängt; er stand schon am Ufer, als er sagte: „Du wirst doch nicht etwa zu dieser Mörderbande zurückgehen?“ „Ich habe mein Wort gegeben, und das halte ich. Keine Rothaut soll sagen können, daß ein Mingo sein Wort höher hält als ein Weißer, und wenn es doch einmal geschieht, dann will ich nicht schuld sein.“ „Ich hab’s immer gewußt, du bist ein Narr.“ „Dann verstehst du nichts, das ist alles.“ „Wildtöter, ein Wort, das unter derartigen Umständen gegeben worden ist, gilt doch nicht!“ 97
„Für mich gilt es. Und nun sieh zu, daß du fortkommst. Wir reden uns noch die Mingos auf den Hals.“ Natty drückte das Kanu ab, er hörte noch raschelnde Schritte und wenig später das Brechen eines Astes. Er überlegte, ob er wenigstens in dieser Situation so sein möchte wie Hurry March. Ob der zu beneiden war, der alle Argumente und Normen so drehen konnte, daß sie für den eigenen Vorteil sprachen? Aber er gab diese Bemühungen als fruchtlos auf. Bevor er wendete, schaute er über den sternenhellen See. Von hier aus hatte er zum erstenmal über Silberglas geblickt, da hatte dessen Fläche unter der hellen Sonne eines Sommermittags geglänzt. Jetzt wuchsen die Berge ringsum auf wie schwarze Mauern, und die Streifen blassen Lichts auf dem offenen Wasser waren schwach wie die Hoffnung für Nattys Zukunft. Seufzend paddelte er zum Kastell zurück. Judith erwartete ihn voller Ungeduld. Hetty und Wah-taWah schliefen, auch Große Schlange hatte sich, Judith die Wache überlassend, in einem anderen Raum hingestreckt und eine Felldecke über sich gezogen. In der Arche brannte eine Lampe, was selten geschah und von Judith als Luxus betrachtet wurde. Judith half Natty beim Anlegen und Festmachen des Bootes und bat ihn in die Arche hinüber. An ihrer Erregung merkte Natty, daß etwas Besonderes geschehen war, er schaute sie erwartungsvoll an, und was er hörte, war für ihn wirklich erstaunlich: Tom Hutter war also, so hatte er vor seinem Tod .offenbart, nicht der Vater von Judith und Hetty gewesen, und Judith versprach sich nun von dem Inhalt der Truhe, der noch nicht untersucht war, weitere Aufschlüsse. Sie sagte: „Ich möchte gern, daß Sie beim öffnen dabei sind.“ „Sie sollten Hetty hinzuziehen.“ 98
„Sie wissen doch, was sie begreift und was nicht. Sie wollen mir nicht helfen?“ „Doch, natürlich“, antwortete Natty rasch. „Ich weiß nur nicht, ob ich das kann.“ Judith zögerte eine Sekunde, ehe sie sagte: „Ich will nicht allein sein, wenn ich meiner Vergangenheit gegenübertrete. Ist das so schwer zu verstehen?“ „Ich weiß selber nicht viel über meine Eltern. Das stimmt schon: Wenn ich mehr von ihnen erfahren könnte, wäre ich sicherlich ebenso aufgeregt wie Sie jetzt.“ Sie hoben den Deckel der Truhe hoch, räumten die Stücke, die sie schon kannten, heraus und wickelten aus, was darunterlag. Zunächst kam eine große Fahne zutage, wie sie wohl einmal auf einem Schiff geweht haben mochte, dann brachte Judith einen Packen Briefe zum Vorschein, die vor langer Zeit von einer Mutter an deren Tochter gerichtet worden waren, die Warnungen vor einem Offizier aussprachen, der gerade von Europa herübergekommen wäre und nichts als Abenteuer suchte. Namen und Adressen waren weggeschnitten oder ausradiert, und so hatte Judith viele Mühe, sich zusammenzureimen, daß diese Briefe von ihrer Großmutter an ihre Mutter geschrieben worden waren. Andere Briefe stammten von einem gewissen Thomas Hovey oder waren von ihrer Mutter an ihn adressiert, in ihnen wurde von bevorstehender Heirat gesprochen, und schließlich fand Judith einen Zeitungsartikel, der zur Festnahme einiger Seeräuber, darunter eines Thomas Hovey, aufrief. Allmählich festigte sich in Judith dieses Bild: Ihr und Hettys Vater war jener europäische Offizier; ihre Mutter hatte später den ehemaligen Piraten Hovey geheiratet, der sich in Hutter umbenannt und an diesen See zurückgezogen hatte. 99
Während Judith las, saß Natty stumm dabei. Er sah, mit welcher Erregung Judith sich in einen Brief nach dem anderen vertiefte, er selbst aber konnte nicht lesen und wollte, nicht in die Geheimnisse anderer Menschen eindringen. Nachdem Judith die Briefe wieder gebündelt und beiseite gelegt hatte, wurde die Truhe vollends ausgeräumt, einige elegante Degen, Silberschnallen und kostbare Kleidungsstücke lagen auf dem Boden. Judith sagte: „Damit könnten wir Sie loskaufen.“ „Das ist großzügig von Ihnen, aber ich bezweifle, daß Gespaltene Eiche darauf eingehen wird.“ „Das sind doch alles wertvolle Stücke!“ „Schon, aber die Mingos sind überzeugt, daß sie sie sowieso bekommen werden.“ „Das Kastell und die Arche sind in unserer Hand, Chingachgook ist ein ausgezeichneter Krieger, es wird nicht lange dauern, bis March Hilfe herbeigeholt hat, und wenn Sie hierbleiben...“ Natty hob die Hand. „Über diesen Punkt brauchen wir nicht zu debattieren. Ich habe den Mingos mein Wort gegeben, zurückzukehren, und werde es unter allen Umständen halten. Ich glaube nicht, daß Sie mich zu etwas überreden wollen, wegen dessen Sie mich dann nicht mehr achten könnten.“ Judith schloß die Truhe und setzte sich darauf. Wildtöters Gesicht war jetzt dicht vor ihr, es erschien ihr weicher, jungenhafter im Lampenschein als sonst. Sie sagte: „Tom Hutter war nicht mein Vater, und er war auch nicht Tom Hutter. Er hieß Hovey und war ein Seeräuber. Hörten Sie nie Gerüchte über ihn?“ „Hin und wieder schon, aber ich habe nicht viel darauf gegeben.“ „Jedenfalls möchte ich den Namen Hutter nicht länger 100
tragen.“ „Da bleibt Ihnen immer noch der Name Ihrer Mutter.“ Natty spürte, wie ihm die Müdigkeit auf die Augen drückte. Er hätte gern etwas gegessen oder sehr kaltes Wasser getrunken, er fand, er hätte sich nun genügend um die Familienprobleme dieses Mädchens gekümmert, um Dinge, die lange zurücklagen und keinen Einfluß auf das hatten, was morgen an diesem See geschehen würde. „Ist es denn so wichtig, wie einer heißt?“ „Sie haben leicht reden, Sie haben einen ehrlichen Namen. Hetty oder ich würden tausendmal lieber Hetty oder Judith Bumppo heißen als Hetty oder Judith Hutter.“ „Das ist leider unmöglich.“ Natty unterdrückte ein Gähnen und sagte: „Mich wird schließlich keine von euch beiden heiraten.“ „Hetty wird nicht heiraten, denke ich. Da käme also bloß ich in Frage.“ Natty lachte: „Denken Sie ja nicht, unter den Bumppos hätte es noch keine hübschen Frauen gegeben!“ „Mir ist heute nicht nach Alberei zumute. Im Ernst: Können Sie sich vorstellen, mit einem Mädchen wie mir verheiratet zu sein?“ Natty streckte die Arme und sagte: „Ach Gott, kurz vor dem Schlafen noch ein derartiges Problem! Ein Mädchen wie Sie paßt zu einem Offizier, nicht zu einem simplen Jäger. Sie sind gebildet, Sie sind hübsch - übrigens, haben die Mingos wenigstens eine Haut hiergelassen, mit der ich mich zudecken kann?“ „Sie nehmen mich nicht ernst.“ „Natürlich tue ich das.“ „Sie zweifeln doch wohl nicht daran, daß ich viele Bewerber gehabt habe? Beinahe jeder Jäger oder Fallensteller, der in den letzten Jahren an den Silberglas 101
kam, wollte mich mitnehmen; ich fürchte, es waren sogar einige verheiratete unter ihnen.“ „Glaub ich Ihnen gern.“ „Es waren sehr gutaussehende Männer dabei. March zum Beispiel.“ „Ich dachte wirklich, Sie würden ihn heiraten.“ Judith zuckte die Schultern. Sie hatte auf etwas angespielt, was für sie sehr wichtig war; Wildtöter hatte nicht darauf reagiert, und sie scheute sich, noch einmal vorzufühlen. Sie fragte sich, ob es der Verlust des Vaters war, der sie die Einsamkeit so bitter fühlen ließ, daß sie sich nach Geborgenheit bei einem anderen Menschen sehnte, oder ob ihr Wildtöter mehr bedeutete als alle anderen Männer vorher, und ob sie ihn liebte. „Sie sind noch nicht müde?“ „Doch, natürlich.“ Judith rang sich zu einer erneuten Frage durch: „Sie meinen also, ich passe nicht zu einem Jäger oder einem Fallensteller?“ „Genau umgekehrt. Ein Jäger paßt nicht zu Ihnen.“ Judith merkte, daß Wildtöter auch beim zweiten Anlauf nicht begriff, worauf sie hinauswollte, und brachte nicht den Mut auf, direkt zu fragen. Sie war enttäuscht und für einen Augenblick auch zornig, daß es alle Überlieferung unmöglich machte, schlicht zu fragen: Wildtöter, möchten Sie mich heiraten? Sie blies die Lampe aus und dachte, wie einfach alles wäre, würde er sie ohne zu fragen in die Arme nehmen und küssen; ein Offizier in der Garnison hätte in einer derartigen Situation gewiß nicht gezögert. Aber Natty Bumppo hielt ihr die Tür auf und warnte sie, nicht zu stolpern, er gab ihr die Hand, als sie auf die Plattform hinübertrat, und ließ sofort wieder los. „Eine stille Nacht“, sagte er. „Wir können ruhig schlafen, die Mingos haben Waffenstillstand bis zum Morgen 102
zugesichert; ich bin überzeugt, daß sie ihn halten werden.“ „March wäre nicht überzeugt.“ „Weil er selbst nicht bereit ist, ein Abkommen zuhalten.“ „Übrigens wäre es mir lieb, wenn wir March zum letztenmal erwähnt hätten.“ „Schön. Und nun schlafen Sie gut, Judith.“ Natty ging in die Kajüte zurück, legte sich auf eine Bank und deckte sich mit einer Haut zu. Er stellte sich wieder Judiths Gesicht vor, als sie die Briefe gelesen hatte, als im Schein der Lampe ihre Augen noch rätselhafter erschienen waren, er hörte ihre Stimme, als sie gesagt hatte: „Sie nehmen mich nicht ernst.“ Er versuchte sich auszumalen, er wäre Judiths Mann, sie wohnten zusammen im Kastell, er fischte und jagte, sie führte das Haus. Aber dann setzten Offiziere über den See, kamen in bunten Uniformen mit blitzenden Orden, brachten Geschenke, drechselten Komplimente, erzählten von einer fernen, strahlenden Welt. Natty sah sich neben ihnen, sah die Offiziere und sich mit den Augen Judiths. Bevor er diesen Gedanken zu Ende brachte, schlief er ein.#
2 Wah-ta-Wah brauchte nur wenige Minuten für ihre Toilette; sie drehte ihr langes tiefschwarzes Haar zu einem Knoten zusammen, schloß den Gürtel über dem Kalikogewand und fuhr in die Mokassins. So trat sie auf die Plattform, um die reine Morgenluft zu atmen. Große Schlange saß dort, Ufer, Berge und Himmel mit dem scharfen Auge des Indianers musternd. Wah-ta-Wah legte die Arme um seine Schultern, er zog sie an sich, sie streichelten sich und lächelten sich an, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Gesicht wurde weich und zärtlich, als er seine Braut so hübsch und frisch nach dem Schlaf vor sich sah, aber gleich darauf wurde es wieder ernst und sogar 103
traurig. Große Schlange zeigte über den See, der in morgendlicher Herrlichkeit lag, und sagte: „Hugh, das Land des Manitu. Aber Mingoköter heulen in den Wäldern. Sie denken, die Delawaren schlafen.“ „Einer ist hier, und er ist wach.“ „Was ist ein Krieger gegen einen Stamm? Der Weg. zu unseren Dörfern ist lang und voller Windungen, und wir werden unter einem bewölkten Himmel gehen müssen. Geißblattblüte, ich fürchte, wir werden auf diesem Weg allein sein.“ Wah-ta-Wah verstand die Anspielung; sie wurde traurig. Sie lehnte sich wieder an die Schulter ihres Bräutigams. Große Schlange sagte: „Wenn die Sonne am höchsten steht, wird der große Jäger unseres Stammes zu den Mingos zurückkehren, und sie werden ihn schinden und rösten wie einen Bären.“ „Der Große Geist möge ihre Sinne besänftigen. Ich habe unter den Mingos gelebt und kenne sie. Sie haben Herzen und werden daran denken, was ihren Kindern geschehen könnte, wenn sie in die Hände der Delawaren fallen.“ „Der Wolf heult immerfort, und das Schwein hört nicht auf zu grunzen. Wildtöter hat einen ihrer Krieger in die ewigen Jagdgründe geschickt, und sogar die Weiber werden nach Rache schreien. Wildtöter hat die Augen eines Adlers und kann in die Mingoherzen schauen, er weiß, daß er nicht auf Gnade hoffen darf. Es ist eine Wolke der Trauer über seinem Geist.“ Eine Pause trat ein, in der Wah-ta-Wah die Hand ihres Bräutigams ergriff und in sein Gesicht schaute, das sich in wütender Entschlossenheit verfinsterte. Sie fragte: „Was will der Häuptling tun? Er ist berühmt im Rat, obgleich er noch jung ist. Spricht sein Hirn die gleichen Worte wie sein Herz?“ 104
„Wildtöter ist in Gefahr. Da kann Große Schlange nicht feige über die Berge zu seinem Wigwam zurückkriechen. Ich werde in Wildtöters Nähe bleiben, solange Atem durch meinen Mund geht.“ Wah-ta-Wah drückte seine Hand und sagte: „Weder Wah-ta-Wah noch Große Schlange könnten je wieder lachen oder ruhig schlafen; sie müßten von den Mingos träumen, sollte ihr Freund unter einem Tomahawk sterben, ohne daß sie ihr Leben für ihn gewagt hätten. Lieber würde Wah-ta-Wah allein zu den Feuern der Delawaren heimkehren, als solch einen Schatten auf ihr Glück fallen zu lassen.“ „Hugh!“ erwiderte Große Schlange. „Der Mann und sein Weib haben nur einen Gedanken.“ Dann sdrwiegen sie und schauten über den See; sie waren glücklich in ihrer Gemeinsamkeit, und keiner verspürte Angst um den anderen. Als die Sonne über die Wipfel der Fichten stieg, öffnete Natty die Tür der Kajüte. Er hob die Hand zum Gruß, beugte sich zum Wasser, wusch Gesicht und Hände und trank einige Schlucke. Er sah einem Fischschwarm zu, der im Sonnenlicht um einen Pfeiler spielte; Stück für Stück kehrte in seine Erinnerung zurück, was am vergangenen Tag geschehen war, und er hoffte, er würde sich an diesem Tag in jeder Stunde so verhalten, wie er es jetzt wünschte. Große Schlange stellte sich neben ihn und fragte: „Wenn die Sonne über diesem Ende des Sees steht, wo wird mein Freund dann sein?“ „Das weißt du so gut wie ich. Aber eine andere Frage: Wo wirst du sein, wenn morgen die Sonne aufgeht?“ „Chingachgook wird bei seinem Freund Wildtöter sein. Wenn er im Land der Geister ist, wird Große Schlange ihn begleitet haben.“ 105
„Siehst du, Schlange, genau das habe ich befürchtet. Es ist edel, so zu denken, es mag gut sein, so zu sprechen, aber es wäre falsch, so zu handeln. Du hast nicht nur einen Freund, sondern auch eine Braut. Du darfst Wah-ta-Wah nicht verlassen.“ „Wah-ta-Wah ist eine Tochter der Mohikaner, sie wird ihrem Mann gehorchen.“ „Das ist nicht meine Sorge. Schlange, es ist purer Wahnsinn, wenn du dich ohne Sinn abschlachten läßt. Du wirst dir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es ist keineswegs gewiß, daß mich die Mingos martern werden. Vielleicht ergibt sich ein Ausweg, mit dem wir jetzt noch nicht rechnen.“ Große Schlange war nicht umzustimmen, er sagte: „Wenn Chingachgook in den Händen der Mingos wäre, was würde Wildtöter tun? Nach den Dörfern der Delawaren schleichen und melden: Seht, hier ist Wah-taWah, gerettet und wohlbehalten, aber ein wenig müde, und hier steht Wild-töter, nicht so müde wie die Geißblattblüte, denn seine Beine sind stärker, aber wohlbehalten ist auch er?“ „Ach, Schlange“, stöhnte Natty, „ihr Indianer habt eine Logik, die das Argumentieren schwer macht. Wenn Aussicht besteht, mir zu helfen, dann sollt ihr das tun; ich bin kein Selbstmörder, ich verbiete dir das nicht. Aber du sollst dich nicht zwecklos opfern. Verstehst du mich endlich?“ Große Schlange schwieg, und Natty begriff, daß es ohne Sinn war, dieses Gespräch fortzusetzen. Hetty rief aus dem Haus, sie könnten frühstücken, da folgten er und sein Freund diesem Ruf. Als letzte setzte sich Judith an den Tisch; sie war bleich nach einer Nacht, in der sie nur wenig Ruhe gefunden hatte. Niemand sprach bei dieser 106
Mahlzeit, dann gingen alle auf die Plattform hinaus. Natty wollte das drückende Schweigen brechen, er fragte Judith: „Haben Sie noch einmal darüber nachgedacht, wer Killdeer erhalten soll?“ „Ich sagte schon, daß das Gewehr bei Ihnen in den besten Händen ist. Thomas Hutter schoß damit selten daneben, und Sie...“ Natty zwang sich zu einem Lächeln. „Ein Meisterschütze war Hutter gerade nicht.“ Er wurde ernst, als er fortfuhr: „Ich weiß nur nicht, wie lange ich die Büchse tragen kann. Wären Sie einverstanden, wenn sie nach mir mein Freund Chingachgook besitzt?“ „Sie gehört Ihnen, selbstverständlich können Sie darüber verfügen.’“ Natty bedankte sich, holte das Gewehr aus der Kajüte und stellte sich neben den Delawaren. Er sagte: „Du wirst Killdeer nach mir haben, das ist ein weiterer Grund für dich, vorsichtig zu sein. Denn es wird für jeden Stamm einen Sieg bedeuten, dieses Gewehr zu erobern. Die Mingos werden erblassen vor Neid, und niemand wird sich in die Nähe eines Dorfes wagen, in dem diese Büchse ist.“ „Büchse wie jede andere“, erwiderte Große Schlange kühl. „Welcher Indianer versteht schon wirklich etwas von einem Gewehr! Wie wär’s mit einem Probeschießen?“ Die Mädchen waren dankbar für jede Abwechslung, die ihre trüben Gedanken verscheuchen konnte. Tom Hutter hatte mehrere Gewehre besessen, die ständig geladen waren, deren Pfannen nur noch mit Pulver bestreut zu werden brauchten, um feuerfertig zu sein. Die Schwestern brachten alle auf die Plattform heraus, und Natty schlug vor, erst Hutters gewöhnliche Waffen zu prüfen und mit Killdeer und dem Gewehr des Delawaren zuletzt zu 107
feuern. Er zeigte auf eine Ente, die in günstiger Schußentfernung auf dem Wasser schwamm, Große Schlange zielte und drückte ab, aber die Ente tauchte beim Blitzen des Schusses unter, und die Kugel tanzte über das Wasser. Da riß Natty ein Gewehr hoch. In dem Augenblick, da die Ente auftauchte und das Gefieder schüttelte, drückte er ab; die Kugel durchschlug die Brust des Vogels und warf ihn leblos aufs Wasser. Natty sagte: „Das beweist noch nichts. Ich überraschte die arme Ente in einem für sie ungünstigen Moment. Jetzt dort drüben, Schlange!“ Eine schwarze Gans schwamm auf dem Wasser. Diesmal zielte Große Schlange sorgfältiger, er traf das Tier in einen Flügel, so daß es aufkreischte und dicht über dem Wasser zu fliehen versuchte. Natty gab der Gans den Tod; seine Kugel trennte den Kopf so sauber vom Rumpf, als wäre es mit einem Beil geschehen. Große Schlange, der zum zweitenmal geschlagen war, suchte ein neues Ziel. Über dein Kastell schwebte ein Fischadler; ein größerer Kreis des Vogels unmittelbar nach dem Schuß bewies, daß er durch die Kugel erschreckt, aber nicht verletzt worden war. Natty schoß, der Fischadler stieß herab, aber es war nicht klar, ob er getroffen worden war. Da rief Natty, jetzt müßte Killdeer zeigen, was in ihm steckte. Der Fischadler fing sich, stieg in weitem Bogen auf, noch einmal feuerte Große Schlange, schließlich griff Natty zum besten Gewehr des alten Tom. Länger als sonst zielte er, ehe er abdrückte. Der Vogel drehte sich auf die Seite, flatterte herunter, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Flügel schlagend, bis er schwer niederstürzte und auf das Heck der Arche fiel. Wah-ta-Wah und Hetty liefen hin und trugen ihn auf die Plattform; dort sah Natty, daß die Kugel ihn zwischen dem Flügel und dem Brustbein getroffen hatte. Jetzt tat es ihm leid um den schönen 108
Vogel. „Wir hätten uns andere Ziele suchen sollen“, sagte er. „Immerhin, Killdeer ist eine wundervolle Büchse.“ Über diesem Probeschießen war die Sonne höher gestiegen; fast gleichzeitig blickten alle zu ihr hin. Natty lehnte das Gewehr an die Hütte und sagte: „Es wird Zeit.“ Er stellte es ohne Bedauern fest, als sei es zwecklos, an etwas eine Gemütsbewegung zu verschwenden, das unabänderlich war. Judiths Vorschlag, Hetty sollte ihn an die Küste begleiten, nahm er nach einigem Zögern an; immerhin hatten die Mingos schon einige Male bewiesen, daß sie Hetty nichts zuleide taten. Judith mußte mit den Tränen kämpfen, als Natty ihr zum Abschied die Hand gab. Er wünschte ihr und Wah-ta-Wah viel Glück, dann trat Große Schlange zu einem letzten Gespräch an den Rand der Plattform. „Hör zu“, sagte Natty, „wir alten Freunde brauchen nicht viele Worte zu verlieren. Sollte es zum schlimmsten kommen, vermache ich alles, was ich an Waffen, Fallen und Fellen besitze, deiner Braut; das wird ihr das Leben erleichtern. Wenn von mir etwas übrigbleibt, so begrab es bitte, ich möchte nicht, daß sich die Wölfe darüber hermachen.“ „Es soll geschehen, wie mein Bruder sagt. Wenn sein Herz schwer ist, leere es aus in die Brust seines Freundes.“ „Ach Schlange, es gäbe eine Menge zu reden. Ich wollte, ich wäre dir ein besserer Freund gewesen, als ich es sein konnte. Mein Gott und dein Manitu allein wissen, ob und wann wir uns wiedersehen.“ Er gab ihm die Hand und drückte das Kanu ab. Große Schlange, Wah-ta-Wah und Judith winkten ihm nach, er winkte noch einmal zurück, wendete scharf und zog die Paddelschaufel hart durch. Einen Augenblick lang fürchtete er weich zu werden, deshalb schaute er nicht zurück. Vor diesem Abschied hatte er Angst gehabt, das wurde ihm jetzt bewußt, er war 109
ihrer Herr geworden und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, welche Geschichten von verbissener Tapferkeit und stummer Opferbereitschaft er an den Lagerfeuern gehört hatte. Es waren viele, und sie waren erzählt worden, solange er denken konnte. Sie verwoben sich zu Legendenketten, drangen bis in die Kneipen der Hafenstädte, in die Forts an den Flüssen und die vorgeschobenen Stützpunkte oben an den Seen und an die Feuer weit drüben im Westen, wo die Wälder in die Prärie übergingen. Vielleicht, dachte Natty, würde auch einmal berichtet werden, wie ein junger Mann namens Wildtöter, der auf seinem ersten Kriegszug war, sein Wort gehalten hatte. Ihm war klar, wieviel Äußerlichkeit in diesen Gedanken steckte. Natty wußte, daß es alle Indianer als hohe Tugend erachteten, eine Verabredung pünktlich einzuhalten. Er und Hetty steuerten auf den Punkt des Ufers zu, der dem Kastell am nächsten lag, dort hatten oft Jäger gelagert und ihre Feuer entzündet, dort war das Gras niedrig und von Brandstellen genarbt, weithin wuchs kein Buschwerk unter den Wipfeln der Eichen. Die meisten Mingos hatten es nicht für möglich gehalten, daß ein Weißer freiwillig zurückkehren und sich den Qualen der Marter aussetzen würde, nur einige der Älteren hatten Wildtöter, der sich tapfer und kaltblütig gezeigt hatte, soviel Mut zugetraut. Wäre Wildtöter nicht erschienen, hätten die Mingos triumphiert und alle Schmach den verhaßten Delawaren aufgebürdet, daß sich einer, der in ihren Dörfern aufgewachsen war, feige gezeigt hatte. Alle Krieger und Kundschafter waren zusammengerufen worden, auch die Frauen und Kinder hatten sich auf dem Landvorsprung versammelt. Ein großes Floß mit einer Brustwehr lag in einer versteckten Bucht bereit, und wenn Wildtöter seinem 110
Wort nicht treu geblieben wäre, hätte bald darauf der Sturm -gegen das Kastell begonnen. Gespaltene Eiche war unruhig geworden, er fürchtete beinahe jede Stunde das Anrücken von Militär, und so hatte er für die nächste Nacht den Aufbruch und den Rückzug zur kanadischen Grenze befohlen. Er hoffte, bis dahin die Angelegenheit mit Wildtöter und dem Kastell in seinem Sinn zu bereinigen. Als die Sonne den Zenit erreicht hatte, sprang Natty ans Ufer. Ihm bot sich ein imponierendes Bild: Die älteren Krieger saßen in der Mitte auf einem Stamm, rechts standen im Schmuck ihrer Waffen und ihrer Kriegsbemalung die jüngeren Männer, die Frauen und Kinder hatten sich auf der linken Seite zusammengeschart. Wie nicht selten bei den Stämmen der Ureinwohner wurde dieser Indianerschwarm von zwei Häuptlingen angeführt, die beinahe gleiche Autorität besaßen. Der eine war Gespaltene Eiche, ein älterer, besonnener Mann, beredsam und geschätzt bei Beratungen, der andere war weit jünger, ein tapferer, wilder Krieger, schlau und voller Listen im Kampf, der sich den Namen Panther erworben hatte. Unter seinem Befehl waren die Krieger durch das Dach in Hutters Kastell eingestiegen, er hatte den Skalp des Fallenstellers ins Lager getragen. Jetzt saßen die beiden Häuptlinge nebeneinander in der Mitte, sie bildeten dem Ankommenden entgegen, ohne sich zu rühren und ohne ein Wort zu sprechen. Das Rascheln von Nattys Mokassins im Gras war das einzige Geräusch, während er die dreißig Schritte vom Boot bis zu den Häuptlingen zurücklegte. „Hier bin ich“, sagte er, „und dort oben steht die Sonne. Mein Wort ist erfüllt.“ Gespaltene Eiche streckte den Arm zu einer höflichen 111
Geste aus und antwortete: „Bleichgesicht, du bist ehrlich. Mein Stamm ist glücklich, daß er einen Mann und keinen schleichenden Fuchs gefangen tat. Du hast einen unserer Krieger getötet und geholfen, andere zu töten, wir sind zufrieden, daß du bereit bist, dein Leben als Ersatz zu geben. Einige meiner jungen Kämpfer dachten, das Blut eines Bleichgesichts würde zu dick sein und nicht unter einem Messer der Mingos fließen wollen. Das ist nicht so, und es ist eine Freude, solch einen Mann zum Gefangenen zu machen. Sollten meine jungen Krieger annehmen, ihr gefallener Freund Luchs könne nicht allein ins Land der Geister wandern, sein Feind müsse ihm nachgeschickt werden, so werden sie doch würdigen, daß Luchs durch die Hand eines Tapferen fiel. Sie werden dich mit allen Zeichen der Achtung auf die Reise schicken, daß Luchs sich deiner Gesellschaft nicht schämen wird. Hugh, so ist’ meine Meinung.“ „Ich habe verstanden“, sagte Natty, „und bin bereit, mich eurem Urteil zu beugen.“ ..Noch ist kein Urteil gesprochen. Meine alten Männer mochten nicht über ein Bleichgesicht beraten, ehe sie es vor sich sahen. Sie sagten, es wäre, als ob man zu Rate säße über die Winde, die wehen, wohin sie wollen.“ Auf einen Wink des Häuptlings hin geriet der Stamm in Bewegung. Posten schwärmten aus und sicherten den Landvorsprung ab, die Männer des Rates traten zusammen. Das Kanu, in dem Hetty und Natty gekommen waren, wurde an Land gezogen, die Mädchen scharten sich um Hetty und begrüßten sie, während ein junger Krieger sich Natty näherte und ihm mitteilte, er dürfe sich während der Beratung innerhalb des Lagerplatzes bewegen. Natty war freiwillig zurückgekehrt, damit war der Vertrag zwischen den Mingos und ihm erfüllt, jetzt 112
stand es ihm frei zu fliehen, das wußte er, und natürlich würden die Indianer allerlei Vorkehrungen treffen, das zu verhindern. Er nickte Hetty zu, als wollte er ihr Mut machen, dabei fühlte er, daß er alle Energie brauchte, um seinen eigenen Mut zu behaupten. Das Leben auf dem Lagerplatz nahm nun wieder seinen gewohnten Gang. Die älteren Krieger und die Häuptlinge berieten; eine einzige Frau war hinzugezogen worden, Sumach, die Witwe von Luchs. Die jungen Krieger schlenderten umher, mit indianischer Geduld das Ende des Rates abwartend, die Frauen setzten Kessel mit Brei aufs Feuer. Eine gute Stunde verstrich, ehe Natty wieder vor die Häuptlinge gerufen wurde. Gespaltene Eiche begann: „Töter des Wildes, meine Männer haben weise Worte gesprochen. Du bist ein Mann, dessen Väter jenseits des riesigen Salzsees wohnten, wir sind Kinder der untergehenden Sonne, wir wenden, wenn wir nach unseren Dörfern blicken, das Gesicht den großen süßen Seen zu. Wenn wir nach Osten schauen, empfinden wir Sorge, weil Kanu auf Kanu mehr von eurem Volk über das unermeßliche Wasser bringt, als würde euer Land von Männern und Frauen überquellen. Eine unserer Hütten ist leer geworden, es wird lange dauern, ehe ein Sohn stark genug ist, den toten Vater zu ersetzen. Hier steht seine Witwe, es wird ihr an Fleisch für sich und ihre Kinder fehlen. Skalp um Skalp, Leben um Leben, Blut um Blut, so lautet ein Gesetz. Aber es gibt ein anderes, es heißt, daß man die Kinder satt machen muß. Wildtöter, du hast nur eine Zunge, sie ist nicht gegabelt wie die einer Natter. Wenn du Unrecht getan hast, wirst du es wieder gutmachen. Da steht Sumach, sie lebt allein in ihrem Wigwam, und ihre Kinder schreien nach Nahrung. Dort lehnt eine Büchse, geh hinaus in den Wald und schieß 113
Wild, bring es und leg es vor die Witwe des Luchs, füttere ihre Kinder und werde ihr Gatte. Danach wird dein Herz nicht mehr das eines Weißen oder eines Delawaren sein, du wirst Mingo heißen, kein Kind mehr wird vor Hunger schrein, und mein Stamm zählt wieder die alte Zahl von Kriegern.“ Natty hob die Hände zu einer bedauernden Geste und erwiderte: „Gespaltene Eiche, diesen Vorschlag habe ich befürchtet. Ich würde die Kinder von Luchs und Sumach gern ernähren, aber leider sind unmögliche Bedingungen daran geknüpft. Einmal ist Sumach so alt, daß sie meine Mutter sein könnte, zum anderen habe ich mir vorgenommen, nie zu heiraten, und wenn es dennoch geschähe, wünschte ich, daß ich die Frau, mit der ich zusammenlebe, auch liebte. Aber viel wichtiger ist, daß ich ein Weißer bin, daß die Delawaren mich aufgezogen haben, mein bester Freund heißt Chingachgook und ist Häuptling der Delawaren. So kann ich kein Mingo werden, ich kann nicht alles verraten, was mir teuer ist, ohne mir selbst ins Gesicht spucken zu müssen. Gespaltene Eiche, du hast gesagt, daß ich keine Gabelzunge habe, und ich möchte dir recht geben. Ist meine Antwort klar genug?“ Ein Schrei der Empörung war die Antwort. Sumach und die übrigen Frauen fühlten sich beschimpft, die jungen Krieger in ihrer Stammesehre verletzt, und ehe Gespaltene Eiche besänftigend eingreifen konnte, sprang Panther auf und riß das Kriegsbeil aus dem Gürtel. „Hund von einem Bleichgesicht“, schrie er, „belle unter den Kötern deiner elenden Jagdreviere!“ Er schwang den Tomahawk über den Kopf und schleuderte ihn nach dem Gefangenen. Natty riß den Arm hoch und fing das Beil vor seinem Gesicht auf, durch die Wucht wurde sein Arm 114
zurückgebogen, im gleichen Bruchteil einer Sekunde, in einer blitzschnellen Reflexhandlung warf er die todbringende Waffe zurück. Erst als sie Panther mit der Schneide über der Nasenwurzel traf und ihm den Schädel spaltete, begriff Natty, was er getan hatte. Jetzt blieb keine Zeit, nachzudenken, ob seine Gegenwehr klug oder töricht war, vielmehr besaß Natty so viel Geistesgegenwart, die Verwirrung zur Flucht zu benutzen. Einige Krieger sprangen zu Panther hin, um ihn aufzufangen, im Drehen sah Natty noch, daß Blut aus dessen Kopfwunde schoß, da rannte er schon auf das Gebüsch zu, das ihm am nächsten war, schlug Zweige beiseite, strauchelte, riß sich hoch, hörte hinter sich einen Schuß und vielstimmiges Wutgeheul zusammenschlagen. Er erreichte das Ufer und rannte im flachen Wasser dicht am Strand entlang, mit einem Seitenblick sah er drüben das Kastell, aber kein Kanu schwamm auf dem See, das ihn hätte aufnehmen können. Wieder knallten Schüsse, Natty hörte, wie sich die Mingos zuriefen, in welcher Richtung sie die Verfolgung aufnehmen sollten, da bog er scharf ab, drängte sich durch das Ufergebüsch und rannte in den Hochwald hinein. Er keuchte eine Anhöhe hinan, die nicht sehr lang und nicht sonderlich steil war, nur selten fiel er in Schritt und erreichte den Hügelrücken gut hundert Fuß vor seinen Verfolgern. Sie kamen in breiter Linie heran, er sah, daß sie, um schneller laufen zu können, ihre Gewehre weggeworfen hatten. Jenseits der Höhe brach das Gelände steil ab, eine tiefe Schlucht zog sich vor dem nächsten Hügel entlang. Hastig blickte sich Natty um, sah einen Baum parallel zum Hang in niedrigem Gesträuch liegen, da stieß er einen triumphierenden Schrei aus, als jubele er, nun in die Schlucht hinabrennen zu können, sprang, duckte sich, lief zur Seite und kroch unter den gefallenen 115
Stamm. Jetzt erst merkte er, wie rasend sein Herz schlug, wie angestrengt seine Lungen arbeiteten. Er hörte Schritte, die einen Augenblick verhielten, ein Mingo nach dem anderen sprang auf den Stamm, unter dem Natty lag, und von diesem in die Schlucht hinab. Natty beobachtete sie durch die Zweige der Büsche hindurch, er hörte die Rufe, mit denen sie sich die Richtung wiesen und sich auf mögliche Verstecke aufmerksam machten. Bald sah er sie auf dem Grund der Schlucht, bald die ersten schon am jenseitigen Hang, aber jetzt setzten sie die Jagd nicht so ungestüm fort, es mußte ihnen wohl klargeworden sein, daß der Flüchtling nicht mehr vor ihnen sein konnte. Natty versuchte, ihre Zahl zu schätzen, es mochten an die vierzig sein, die über ihn hinweggesprungen oder an ihm vorbeigelaufen waren. Da hoffte er, kein Feind sei mehr in seinem Rücken, er kroch unter dem Stamm heraus und hetzte über den Hügel zurück, aber er wurde dennoch gesehen. Die Mingos stießen wütende und gleich darauf triumphierende Schreie aus, denn sie hatten den Flüchtling nun auf drei Seiten eingeschlossen. Natty begriff, daß seine Lage jetzt kritischer war als jemals zuvor. Nur noch eine Richtung blieb ihm, auf den See zu, denn einige Mingos rannten auf dem Grund der Schlucht entlang, andere kletterten hinter ihm den Hügel hinauf, und die schnellsten folgten ihm schon auf dem Kamm. Natty wußte, daß es nur eine Rettung gab, er mußte das Kanu erreichen und mit ihm auf den See hinausgelangen. Jetzt rannte er den Hügel hinab in weiten Sprüngen dem Lager zu. Frauen und Kinder kreischten auf und versuchten, ihm Äste zwischen die Beine zu werfen, aber er brach zwischen ihnen hindurch, zwängte sich durch das Ufergebüsch und erreichte den See etwa zwanzig Schritt vom Kanu entfernt. Das Wasser spritzte auf, er bückte sich 116
im Rennen und schöpfte sich mit der hohlen Hand ein paar Schlucke Wasser in den ausgetrockneten Mund, erreichte das Kanu und sah zu seinem Entsetzen, daß die Paddel herausgenommen worden waren. Dicht hinter sich hörte er das Geschrei seiner Verfolger, da warf er einen Ast, der auf dem Wasser trieb, ins Kanu, stieß es ab, watete neben ihm her, solange das möglich war, gab ihm noch so viel Schwung, wie er vermochte, und ließ sich über die Bordwand hineinrollen. Als er auf dem Boden lag, wurde ihm schmerzlich bewußt, daß er nun nichts mehr tun konnte. Er hoffte, das Boot würde weit genug hinaustreiben, ehe die Mingos ihr Floß flottgemacht hätten, ein günstiger Wind würde es vor sich herschieben, und Große Schlange und Judith kämen ihm zu Hilfe. Über sich sah er die Wipfel der Bäume; langsam glitten sie aus seinem Gesichtsfeld, klar und tiefblau breitete sich der Himmel. Natty lag einige Minuten reglos, sein Herz beruhigte sich, aber immer quälender wurde die Gewißheit, durch nichts auf sein Schicksal einwirken zu können. Er war einzig und allein auf sein Ohr angewiesen, ihm fiel auf, daß die Geräusche am Ufer abnahmen: seine Feinde hielten wohl eine Beratung ab. Er hoffte zu hören, wenn jemand heranschwamm, wußte aber nicht, was er dann hätte tun sollen. Natty hatte die Erfahrung gemacht, daß Indianer nie so schweigsam sind, als wenn sie zu einem Schlag ausholen, er mußte alle Willenskraft aufbieten, um sich nicht zu erheben und hinüberzurufen, daß er seine Flucht als gescheitert betrachte und sich ergebe. Ein Schuß knallte, die Kugel durchschlug wenige Zentimeter oberhalb von Nattys Kopf beide Seiten des Kanus. Natty rührte sich nicht. Langsam rückte der Wipfel einer Eiche in sein Gesichtsfeld. Vorsichtig schob er sein Auge an das Einschußloch, da erkannte er, daß sich sein 117
Kanu nach Süden gewendet hatte und einem Landvorsprung näherte. Er hörte das Brechen von Zweigen, begriff, daß er nicht viel mehr als hundert Fuß vom Ufer entfernt vorbeitrieb, und wurde sich der großen Gefahr bewußt, in die er abermals geriet. Glücklicherweise erhob sich ein leichter Südwestwind, der auf die Bordwand drückte und die Bewegung beschleunigte. Noch befand sich Natty in der Reichweite der Büchsen der Mingos. Um sie zu täuschen, steckte er seine Mütze auf den Ast, den er ins Kanu geworfen hatte, streckte den Ast von sich und hob die Mütze langsam über die Bordwand. Die Mingos fielen auf diesen Trick allerdings nicht herein, ein Schuß knallte, und die Kugel durchschlug am anderen Ende des Kanus beide Bordwände. Da preßte sich Natty wieder auf den Boden, wartete reglos minutenlang auf einen weiteren Schuß, er fühlte sich so hilflos den Gewehren der Mingos ausgesetzt, daß sein Herz wieder hart zu schlagen begann und seine Stirn feucht wurde. Er zuckte zusammen, als noch einmal eine Kugel durch das Kanu pfiff, hob den Stecken über die Bordwand und versuchte, ihn als Ruder zu benutzen, um endlich weit genug vom Ufer fortzukommen, aber ein Scharfschütze schoß ihm den Ast mittendurch. Da ergab sich Natty abermals in sein Schicksal. Stille lastete wieder über dem See, der Wind hatte sich gelegt. Natty wagte es nicht mehr, seinen Kopf zu einem der Einschußlöcher zu heben, so sah er nicht, daß er langsam auf die Küste zutrieb. Der Boden des Kanus schurrte über Kies, über den liegenden Natty beugte sich ein faltiges Gesicht. „Mein Freund ist lange herumgesegelt“, sagte Gespaltene Eiche, „nun wird es Zeit, daß er seine Beine gebraucht, damit er das Laufen 118
nicht verlernt.“ Mühselig stapfte Natty an Land. Er war müde und niedergeschlagen, aber sein Stolz verbot ihm, das geringste davon merken zu lassen. Er stopfte sich das Hemd in die Hose und zog den Gürtel zurecht. Am Ufer standen an die vierzig Mingos, alle, die ihn gejagt hatten, ihre Gesichter waren ohne Siegesgefühl und ohne Haß. Gespaltene Eiche fuhr fort: „Mein Freund ist ein junger Elch. Seine Beine sind lang, sie haben meinen Kriegern Mühe gemacht. Aber Falkenauge ist kein Fisch, er findet nicht seinen Weg im See. Mein Bruder ist weit über die Hügel gelaufen und hat eine geruhsame Fahrt auf dem Wasser gehabt. Vielleicht hat er genug erlebt, um seinen Sinn zu ändern?“ „Du hast gut reden“, antwortete Natty. „Ihr habt mich wieder eingefangen; ich hätte wohl wissen müssen, daß ein Fluchtversuch ohne Sinn war.“ „Er wäre voller Sinn gewesen, wenn du deinen Sinn geändert hättest. Ich weiß, daß in den Reden meines Freundes keine Windungen sind. Seine Ohren sind nun weiter offen als vorher, und seine Augen wurden durch den Wind des Laufes gewaschen. Sumach ist jetzt ärmer als je. Früher besaß sie Kinder, einen Bruder und einen Gatten. Der Gatte brach auf zu den ewigen Jagdgründen. Er war ein großer Jäger, es war herrlich, das Wildbret und das Bärenfleisch zu sehen, das im Winter in seiner Hütte trocknete. Jetzt ist es verdorben, es hält sich nicht in der Sommerhitze. Manche dachten, der Bruder würde der Schwester beistehen und die Hütte im nächsten Winter versorgen. Aber der Panther brüllte, sein Schädel wurde gespalten, er folgte dem Schwager auf dem Todespfad. Wer, wenn nicht der Mann, der beide auf die Reise geschickt hat, soll nun 119
die Kinder ernähren?“ Natty stöhnte: „Es ist die alte Geschichte. Warum sollen wir uns im Kreise drehen? Ich kann kein Mingo werden, ich habe es schon gesagt.“ „Die roten Männer wollen beraten. Mein Freund Falkenauge wird warten und den Spruch der Weisen vernehmen.“ Mit diesen Worten ging der Häuptling- auf seine Krieger zu, er winkte ihnen, sich mit ihm zurückzuziehen.
3 Natty war allein auf der Halbinsel. Er kannte die Mingos gut genug, um zu wissen, daß sie allerhand Vorkehrungen getroffen hatten, eine abermalige Flucht zu verhindern. Aber dennoch ging er zu der Stelle zurück, an der er an den Landvorsprung getrieben worden war; natürlich war sein Kanu verschwunden. Er überlegte, ob er versuchen sollte, zum Kastell zu schwimmen, aber gewiß würde er mit dem Kanu verfolgt und eingeholt werden. Lange blickte er zum Kastell hinüber, aber dort war alles still, und ihn überkam ein lähmendes Gefühl der Verlassenheit. Ziellos streunte er am Strand auf und ab, dabei stieß er auf einen Haufen frischer Zweige, nahm die obersten weg und fand darunter die Leiche des Panther. Die Augen des Toten standen schreckensstarr offen, zwischen ihnen klaffte die entsetzliche Wunde. Voller Abscheu warf Natty die Zweige wieder an ihre alte Stelle. Als er sieh umwandte, sah er zu seiner Überraschung Hetty auf sich zukommen. Sie trug die Bibel unter dem Arm; ihr Gesicht, auf dem gewöhnlich schwermütige Schatten lagen, erschien jetzt besonders traurig und hoffnungslos. Sie fragte: „Warum haben Sie den Mingo getötet?“ „Ach, Hetty, an Sie habe ich in dem Trubel überhaupt 120
nicht mehr gedacht. Haben Sie nicht gesehen, daß er sein Beil nach mir schleuderte?“ „Ich hoffte, Sie würden Böses mit Gutem vergelten.“ „Hetty, das predigen die Missionare, aber mit ihren Weisheiten findet man in der Wildnis nicht weit.“ „Werden Sie Sumach heiraten?“ „Fangen Sie auch damit an? Sagen Sie mir lieber, was die Mingos jetzt tun und ob eine Möglichkeit zur Flucht besteht.“ „Einige begraben das arme Mädchen, das in der vergangenen Nacht erschossen worden ist, einige beraten, andere lauern hinter den Bäumen und beobachten uns. Ich bin nicht gefangen, ich kann gehen, wohin ich will. Aber Sie würden nicht ein zweites Mal entwischen.“ Da brachen Äste, die Mingos, Männer, Frauen und Kinder, drängten durch das Dickicht und umschlossen ihren Gefangenen. Gespaltene Eiche setzte sich auf einen Baumstamm, die älteren Krieger stellten sich zu seinen Seiten auf. Natty sah, daß einige Jungen scharfkantige Splitter aus harzigen Wurzeln in den Händen hielten, die, wie er wußte, ihrem Opfer ins Fleisch gesteckt und angezündet werden sollten; jüngere Männer hatten Stricke zum Fesseln mitgebracht. Natty spürte, daß er die Hände krampfhaft zusammenpreßte, die Nägel schmerzten im Fleisch; da zwang er sich, ruhig einige Schritte auf Gespaltene Eiche zuzugehen, er legte die Hände auf den Rücken, richtete sich auf und blickte den Häuptling fest an. Dabei hoffte er, niemand würde ihm anmerken, welche Angst er überwinden mußte. Der Häuptling begann: „Töter des Wildes, Falkenauge, die Sonne steht nicht mehr über unseren Köpfen, müde, über den Mingos zu scheinen, senkt sie sich gegen die Fichten an der Seite des Tals. Der streifende Wolf sucht 121
seine Höhle auf, wenn er seine Jungen sehen möchte. Die Mingos sind nicht ärmer als die Wölfe, sie besitzen Wigwams und Maisfelder, die guten Geister werden müde sein, sie zu bewachen. Meine Leute müssen heimkehren, es wird Freude herrschen in den Hütten, wenn ihr Ruf vom Wald her erschallt. Aber Kummer wird mit uns ziehen, denn nur ein Skalpruf wird zu hören sein. Wir tragen den Pelz der Bisamratze mit uns, sein Kadaver schwimmt bei den Fischen. Falkenauge muß entscheiden, ob noch ein Skalp auf unserem Pfahl sein soll. Zwei Hütten stehen leer, ein Skalp, lebendig oder tot, ist für jede Tür nötig.“ Natty hatte wieder Gewalt über sich gewonnen, seine Stimme klang unerschrocken, als er antwortete: „Ich kann kein Mingo werden und meine delawarischen Freunde verraten, das habe ich gesagt und wiederhole es. Nehmt meinen Skalp, Mingos. Wenn ihr mich martern wollt, so beginnt.“ Ein junger Indianer, der Rote Krähe genannt wurde, schrie: „Der Bleichgesichthund klemmt den Schwanz zwischen die Beine! Den Luchs tötete er, während er rückwärts blickte, um den Blitz der eigenen Büchse nicht zu sehen. Er grunzt wie ein Schwein; wenn die Mingofrauen anfangen werden, ihn zu martern, wird er Schrein wie ein Ferkel. Er ist ein delawarisches Weib, gekleidet in die Haut eines Engländers.“ Gespaltene Eiche befahl, den Gefangenen zu fesseln. Natty sträubte sich nicht; Arme und Beine wurden ihm zusammengeschnürt, er wurde an einen Baum geschleppt und so fest an den Stamm gebunden, daß er nur den Kopf bewegen konnte. Gespaltene Eiche hatte die Hoffnung noch nicht begraben, sein Gefangener würde auf seinen Vorschlag eingehen; ihm bedeutete Rache weit weniger als die Verstärkung seines Stammes durch einen 122
großartigen Schützen, und er hatte erlebt, daß das Bewußtsein, ohnmächtig der Willkür sogar eines Knaben ausgesetzt zu sein, schon manchen Charakter gebrochen hatte. Jetzt schickte er Sumach zu einem letzten Verhandlungsversuch vor. Sie war nicht mehr jung, war aber einmal hübsch gewesen und war auch jetzt noch nicht ohne Reiz. Sie trat vor Natty, ihre Kinder hielt sie an der Hand. „Grausames Bleichgesicht“, rief sie, „ich habe dich gefunden, aber ich finde den Luchs nicht und nicht den Panther. Ich habe sie auf dem See, im Wald, in den Wolken gesucht. Was hatten meine Krieger getan, daß du sie erschlugst? Sie waren die besten Jäger und die kühnsten Krieger ihres Stammes, der Große Geist wollte, daß sie lebten, bis sie verwitterten gleich den Zweigen der Tanne und durch ihr eigenes Gewicht ins Gras fielen.“ Natty unterbrach sie: „Sie wollten mir ans Leben, Sumach, ich habe mich verteidigt, das weißt du genauso wie ich und jeder deines Stammes.“ „Sumach hat nur eine Zunge, sie kann nur eine Geschichte erzählen. Das Bleichgesicht erschlug zwei Mingos. Aber die übrigen Mingos schließen die Augen und tun so, als hätten sie es nicht gesehen. Die jungen Männer werden glauben, Panther und Luchs wären auf die Jagd gezogen, Sumach wird mit ihren Kindern in die Hütte des Bleichgesichts gehen und sagen: Hier sind deine und meine Kinder, ernähre uns.“ „Soll ich immerfort wiederholen, daß ich auf diese Bedingungen unmöglich eingehen kann? Versteh endlich: Ich heirate dich nicht!“ Sumachs Gesichtsausdruck, ihre Stimme, ihr ganzes Verhalten änderten sich mit einem Schlag. Bisher hatte sie Trauer und Schmerz im Interesse ihrer Kinder und des Stammes unterdrückt, jetzt fühlte sie sich in ihrem Stolz 123
und in ihrer Ehre als Frau beleidigt. Kreischend stürzte sie sich auf Natty, spie ihm ins Gesicht, überschüttete ihn mit Schimpfwörtern und riß ihn an den Haaren, schlug auf ihn ein und würgte ihn. Die Krieger, die ihr am nächsten standen, beeilten sich keineswegs, sie wegzuziehen. Jetzt sah Gespaltene Eiche den letzten Vermittlungsversuch gescheitert. Seine Stammesgenossen blickten ihn erwartungsvoll an; er konnte nur einen Befehl geben, den, mit den Martern zu beginnen. Es war indianischer Brauch, zunächst die Nerven des Opfers auf die Probe zu stellen. Die meisten Gefangenen suchten dann ihre Peiniger zu reizen, damit diese ihre Qualen abkürzten, und nur den Tapfersten gelang es, stoisch zu schweigen. Natty, der die Beschimpfungen durch Sumach ohne Laut über sich hatte ergehen lassen, nahm sich fest vor, jede Qual ohne Stöhnen zu ertragen, um seinem Delawarenstamm keine Schande zu bereiten. Sobald Gespaltene Eiche das Zeichen zum Foltern gegeben hatte, sprangen die jungen Krieger vor den Gefangenen und zogen ihre Kriegsbeile aus den Gürteln, um sie möglichst dicht neben dem Kopf ihres Opfers in den Stamm zu schleudern. Der erste Werfer hieß Rabe, er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich einen kriegerisch klingenden Beinamen zu erwerben. Sein Tomahawk schwirrte durch die Luft, riß etliche Zoll neben Nattys Wange einen Splitter aus dem Holz und blieb dahinter in einem Eichenstamm stecken. Der Wurf war miserabel und wurde mit Hohngelächter quittiert. Als nächster trat der Elch vor den Gefangenen. Er war ein erfahrener Krieger mittleren Alters, ruhig hob er das Beil, schwang es nur kurz und warf, Natty sah die scharfe Waffe auf sich zuschwirren und mußte alle Willenskraft aufbringen, den Kopf nicht zu senken; er glaubte, sein 124
Ende sei gekommen, aber er wurde nicht verletzt, das Beil packte nur seinen Haarschopf und heftete ihn an den Stamm. Der allgemeine Beifall galt nicht nur dem geschickten Werfer, sondern auch dem Opfer, das ohne mit der Wimper zu zucken standgehalten hatte. Dem Elch folgte der Hüpfende Junge, ein zappliger, nervöser Bursche, der in seinem Ungeschick Nattys Jacke an der Schulter zerfetzte und heftig beschimpft wurde; danach warfen andere Krieger, bis um den Kopf Nattys herum der Baum mit Beilen gespickt war. Messerwerfer schleuderten ihre Waffen in die Lücken zwischen den Beilen, und schließlich erklärte Gespaltene Eiche, es sei nun genug, das Bleichgesicht habe sich als Mann bewährt, er sei zwar ein delawarischer Schuft, aber wenigstens kein Weib. Die nächste seelische Folter war die Büchsenprobe. Natty fühlte Erleichterung; er wußte, daß Indianer im allgemeinen nicht besonders gut schießen konnten, und hoffte, einer würde um einen Zoll fehlen und ihm einen schnellen, schmerzfreien Tod bringen. Er hatte nun mit seinem Leben abgeschlossen. Bisher war es ihm gelungen, seine Nerven im Zaum zu halten, er fürchtete nicht mehr, schwach zu werden, sondern stand in völliger Ruhe; ihn erfüllte sogar eine gewisse schwermütige Freude, daß er vermutlich durch das von ihm so geliebte Gewehr den Tod finden sollte. Der erste Schütze hob seine Waffe, da trat Hetty vor den Gefangenen. Das bisherige grausame Schauspiel hatte auf ihren schwachen Geist lähmend gewirkt, jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen und rief: „Warum martert ihr Wildtöter, rote Männer? Wenn ihr ihn verletzt hättet, wer könnte seine Wunden heilen? Und außerdem: Als March und mein Vater auf Skalpe auszogen, hat sich Wildtöter 125
geweigert, mitzugehen. Wißt ihr das nicht?“ Gespaltene Eiche antwortete: „Wir hören gern die Worte meiner Tochter, denn der Große Geist redet oft in solchen Zungen. Aber jetzt hat sie ihre Augen nicht weit genug geöffnet. Sonst hätte sie gesehen, daß zwei Krieger unseres Stammes fehlen.“ „Ihr wißt selbst, warum sie gefallen sind.“ „Meine Tochter möge uns nicht aufhalten. Sie möge sich zu Sumach setzen und sie trösten. Die Mingokrieger sollen zeigen, wie gut sie schießen können, und das Bleichgesicht wird beweisen, wie wenig es sich um Kugeln kümmert.“ Gesenkten Kopfes ging Hetty zur Seite und verdeckte das Gesicht mit den Händen; immer, wenn ein Schuß fiel, zuckte sie zusammen. Die Min-gos schössen aus kurzer Entfernung, daß der Gefangene das Pulver roch und meinte, gerade in die Mündung der Gewehre hineinzusehen. Jeder Mingo zielte auf die Stirn des Opfers, schwenkte die Waffe zur Seite und drückte ab, wenn die Schläfe gerade aus der Visierlinie heraus war. Schuß um Schuß fiel, alle Kugeln schlugen dicht neben Nattys Kopf ein, aber keine streifte ihn auch nur. Natty hatte sich jetzt so weit in der Gewalt, daß er rief: „Das nennt ihr Schießen? Es gibt Frauen unter den Delawaren und holländische Mädchen am Mohawk, die besser sind als ihr. Bindet mir einen Arm los, legt mir ein Gewehr in die Hand, und ich werde die dünnste Skalplocke an jeden Baum nageln, den ihr mir zeigt, und das auf hundert Schritt.“ Die Mingos murrten. Gespaltene Eiche hatte die Hoffnung, den Gefangenen doch noch für seinen Stamm zu gewinnen, nicht aufgegeben, er wollte nicht, daß seine Krieger zum Äußersten gereizt und mit der körperlichen 126
Folter beginnen würden. So sagte er: „Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben Falkenauge so festgebunden, daß seine Glieder nicht zittern können. Löst ihm die Stricke, und wir werden sehen, ob er nicht doch eine heulende delawarische Memme ist.“ Sofort knüpften einige Mingos Nattys Fesseln auf; eine halbe Minute später stand er frei neben dem Stamm. Er rieb die Gelenke, ließ die Arme kreisen und beugte die Knie, und in dem Maß, in dem er seine Glieder wieder gebrauchen konnte, kehrte sein Lebensmut zurück. Die Krieger umschlossen ihn in einem dichten Kreis, die Frauen beschimpften und verhöhnten ihn, wobei sich Sumach, die vor einer Stunde noch seine Frau hatte werden wollen, am heftigsten aufführte. Natty tat so, als verstünde er keines ihrer Worte, er war viel zu sehr damit beschäftigt, nach einem Ausweg zu suchen, er schätzte, wie lange es dauern konnte, bis es dunkel wurde, hoffte auf Hilfe durch Große Schlange oder durch die von March herbeigeholten Soldaten und machte sich klar, daß mit jeder Stunde, die er überlebte, seine Chance stieg. Stille trat ein, die Mingofrauen drehten sich um, erstarrten, tuschelten, da erst sah Natty, was das allgemeine Erstaunen hervorgerufen hatte: Würdevoll schritt Judith durch die Reihen der Krieger. Sie hatte das kostbare Brokatkleid aus Hutters Truhe angelegt, sie trug elegante Schuhe, eine Stola, die Handschuhe, die Natty an der Wand ihres Zimmers gesehen hatte; mit ihrer Schönheit hätte sie in dieser erlesenen Kleidung sogar auf einem Ball in Boston oder New York Aufsehen erregt, ungleich größer war natürlich die Wirkung auf die Indianer, die so etwas nie gesehen hatten und glaubten, eine Königin wäre unter sie getreten. Erst war die Verblüffung so groß, daß kein Laut zu hören war, dann 127
riefen die älteren Krieger: „Hugh!“ Auch Natty war völlig überrascht, und das nicht nur über die glanzvolle Erscheinung Judiths, sondern vor allem über ihren Mut. Judith fragte mit weithin klingender Stimme: „Wildtöter, wer ist der vornehmste Häuptling unter diesen Männern? Mein Auftrag ist zu wichtig, als daß ich ihn an jemanden von niederem Rang übermitteln könnte.“ Natty zeigte auf Gespaltene Eiche, Judith wandte sich ihm zu und sagte: „Ich zweifle nicht, daß Ihr die wichtigste Person dieses Stammes seid; ich sehe in Eurem Gesicht die Züge des Nachdenkens und der Weisheit.“ Der Häuptling antwortete höflich: „Möge die Blume der Wälder sprechen. Wenn ihre Worte so lieblich sind wie ihr Aussehen, werden sie nie meine Ohren verlassen; ich werde sie noch hören, lange nachdem der kanadische Winter alle Blüten des Sommers getötet und alle seine Reden starr gemacht hat.“ Judiths Worte klangen so hochtrabend, wie sie es beabsichtigte: „Nun, Mingo, höre! Ihr seht, daß ich keine gewöhnliche Frau bin. Ich bin nicht die Königin dieses Landes, die ist weit weg, aber ich bin eine ihrer Vertrauten. Eure Augen sind klug, Häuptling, sie werden sehen, wer ich bin, und Eure Ohren sind weise, daß sie hören, wer zu ihnen spricht.“ Gespaltene Eiche war der einzige seines Stammes, der bei aller Bewunderung doch Mißtrauen hegte. „Meine Tochter ist schöner als die wilde Rose am Ontario“, antwortete er vorsichtig. „Es gibt einen Vogel, winzig klein, und dennoch glänzen seine Federn wie der Schweif des Pfau. Der Große Geist verleiht manchmal sehr kleinen Tieren ein prächtiges Kleid, während sich der mächtige Elch mit groben Haaren begnügt. Wir Indianer begreifen nur, was wir sehen.“ 128
Judith ließ sich nicht von ihrer Linie abbringen. Sie wiederholte, sie sei sehr mächtig, fügte hinzu, es wäre im Augenblick sinnlos zu erzählen, wo ihr Reich läge und wie groß es wäre. „Hätte ich“, fuhr sie fort, „Truppen mit mir genommen, wären die Mingos erschrocken, es wäre zum Kampf gekommen, und der Weg der Mingos heim nach Kanada wäre vom Blut gerötet gewesen. Ich habe den Namen Gespaltene Eiche rühmen hören und glaube, es ist besser, er kehrt in Frieden in sein Dorf zurück. Er liebt Tiere aus Elfenbein und kleine Flinten, sollte er sie nicht mitnehmen und auf einen Skalp verzichten? Ich habe Kostbarkeiten mitgebracht, um sie ihm zu zeigen, er wird einsehen, daß sie hundertmal wertvoller sind als der Skalp dieses Jägers da.“ Judith nahm zwei Elefantenfiguren und zwei Pistolen, von denen eine allerdings arg beschädigt war, aus einem Beutel und legte sie vor Gespaltene Eiche ins Gras. Einige Krieger beugten sich erregt darüber, der Häuptling allerdings bewahrte seine Zurückhaltung. Er erwiderte trocken: „Behalte meine Tochter ihr zweischwänziges Schwein; es könnte ihr einmal an Wildbret fehlen. Die kleinen Gewehre brauchen wir nicht, die Mingos besitzen lange Büchsen, mit denen sie genug Wild erlegen können. Und dieser Jäger da darf die Mingos nicht verlassen. Meine Männer wollen wissen, ob er so tapfer ist, wie er prahlt, es zu sein.“ Natty protestierte sofort, nie geprahlt zu haben, aber Gespaltene Eiche erwiderte geringschätzig: „Das Bleichgesicht prahlt, er sei kein Prahler. Ich höre einen seltsamen Vogel singen, er hat prächtige Federn. Aber die Mingos werden sich schämen, in ihre Dörfer zurückzukehren, weil ein schöner Vogel wunderbar gesungen hat, wenn sie nicht seinen Namen nennen können.“ 129
Judith erwiderte: „Ich heiße Judith, viel steht über Judith in der Bibel.“ „Ich werde meine Tochter mit dem schwachen Geist fragen, ob das stimmt. Komm her und antworte. Du heißt Hetty?“ „So nennt man mich. In der Bibel allerdings wird mein Name Esther geschrieben.“ „Auch er steht in der Bibel? Und wie heißt diese Königin da?“ „Sie ist keine Königin“, antwortete Hetty, die nicht das mindeste von dem verstanden hatte, was Judith beabsichtigte. „Es ist meine Schwester Judith, wir sind die Töchter von Thomas Hutter.“ Ein höhnisches Lächeln zuckte über das gefurchte Gesicht des Häuptlings. Judith begriff augenblicklich, daß alles verloren war. Natty sagte: „Sie haben viel riskiert, Judith, ich danke Ihnen, aber Gespaltene Eiche ist zu schlau, Sie hätten es wissen müssen.“ „Auf alle Fälle haben wir Zeit gewonnen. Und die Mingos werden es nicht wagen, Sie vor meinen Augen zu martern.“ „Da bin ich nicht so sicher. Glauben Sie bitte, mir wäre lieber, Sie hätten sich nicht hierher gewagt.“ Judith raffte ihren Rock und ging dicht an Natty vorbei. Leise sagte sie: „Jede Minute ist kostbar.“ Der Häuptling spürte nun kein Mitgefühl mit seinem Gefangenen mehr. Er war erbittert, daß ihn eine Frau fast überlistet hätte. Sein Wunsch, den Gefangenen zu retten und für seinen Stamm zu gewinnen, war erloschen, so gab er den Befehl, mit den körperlichen Martern zu beginnen. Natty wurde wieder an den Baum gebunden, trockenes Holz wurde um ihn herum aufgeschichtet. Das alles ging hastig vor sich, kaum jemand sprach. Ein junger Krieger 130
trug ein brennendes Scheit vom Lagerfeuer herüber und setzte das Holz am Rande des Haufens in Brand. Die Mingos wollten ihren Gefangenen durch das Feuer noch nicht töten, sie wollten ihn durch Hitze und Rauch quälen und dazu bringen, daß er jammerte und um Erbarmen flehte. Sie hatten jedoch die Windrichtung nicht richtig berechnet, Flammen schlugen Natty beinahe ins Gesicht, in diesem Augenblick sprang Hetty vor und warf mit einem Stock die Scheite auseinander. Einige Männer rissen Hetty zurück, andere schichteten den Scheiterhaufen erneut, aber jetzt in größerer Entfernung von ihrem Opfer, und Jungen drängten sich vor, um dem verhaßten Weißen spitze Stücke von Wurzelholz ins Fleisch zu stoßen. Der Rauch brannte Natty in den Augen, drang in die Nase und zwang ihn zu einem quälenden Husten; er hoffte, ohnmächtig zu werden, um die Hitze nicht zu spüren, der Satz Judiths, daß jede Minute kostbar sei, zuckte durch sein Hirn. Er dachte an Große Schlange, und in dieser furchtbaren Situation fühlte er wenigstens die Genugtuung, daß es ihm gelungen war, seinen Freund von einer sinnlosen Selbstaufopferung abzuhalten. Er hörte die Flammen prasseln, Rauch hüllte ihn ein, er schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen und hoffte, er würde nicht ein einziges Mal schreien. Wütendes Schimpfen drang durch das Prasseln des Holzes, der Rauchvorhang vor Nattys Gesicht zerriß, er sah, daß eine Indianerin das brennende Holz auseinanderstieß. Es war Wah-ta-Wah, die sich durch die Mingos gedrängt hatte. Sie rief: „Wah-ta-Wah hilft Wildtöter! Er ist der Freund eines Delawarenhäuptlings, und ich bin eine Delawarin!“ Sie hatte ihren Satz noch nicht beendet, als ein Mann mit solcher Geschwindigkeit und Gewandtheit durch die 131
Mingos hindurchschlüpfte, daß niemand erkennen konnte, ob er ein Freund oder ein Feind war. Mit einigen schnellen Schnitten trennte er die Stricke, mit denen Natty gebunden war, Natty sprang über die Flammen hinweg, sah, daß Große Schlange ihn befreit hatte, spürte ein Gewehr in der Hand, und gleich darauf stand er, die Mündung drohend vorgestreckt, neben dem Delawarenhäuptling im Kreis der Mingos. Diese wichen langsam zurück und sahen sich nach ihren Gewehren um, die hinter ihnen an den Bäumen lehnten. Große Schlange rief: „Mingos, die Erde ist weit, jenseits der großen Seen ist genügend Platz für euch, kehrt zurück und laßt uns unseren Weg nach Süden gehen!“ Gespaltene Eiche war als erster wieder Herr der Lage. Er winkte einigen Kriegern zu, Große Schlange und Wildtöter einzuschließen, andere griffen zu ihren Gewehren und stellten sich hinter Bäumen in Deckung, Frauen und Kinder stoben kreischend auseinander. Im nächsten Augenblick hätte der Häuptling den Befehl zum Feuern gegeben, Große Schlange und Natty hätten bestenfalls jeder noch einen ihrer Feinde niederschießen können, dann wäre ihr Schicksal besiegelt gewesen. Da aber hörten alle ein dumpfes, rhythmisches Stampfen und sahen, daß Soldaten heranmarschierten, nur wenig behindert durch den lichten Hochwald, in breiter Linie, diszipliniert und waffenstarrend. Scharlachrot glänzten die Uniformen durch das Grün des Waldes. Augenblicklich brach Panik unter den Mingos aus. Sie waren in einer entsetzlichen Lage: Die Halbinsel war von drei Seiten von Wasser umgeben, auf der vierten rückte eine furchtbare Übermacht heran. Nicht einmal ihrem kampferfahrenen Häuptling gelang es, den Widerstand zu organisieren. Frauen und Kinder hinderten mit ihrem 132
kopflosen Hin- und Herrennen den Aufbau einer Verteidigungslinie, und die allgemeine Lähmung war so stark, daß die Indianer es versäumten zu schießen, als die Formation noch nicht ganz heran war. Natty begriff sofort die Lage. Er brachte Judith und Wah-ta-Wah hinter Bäumen in Deckung, sah, daß Hetty durch einen Schwärm von Mingofrauen mitgerissen wurde, und griff die Flanke der zurückweichenden Krieger an. Jetzt feuerten auch die Mingos, vom Flügel der heranrückenden Truppe war das Geschrei Hurry Marchs zu hören, seine Büchse krachte, dann waren die Soldaten heran, und die Bajonette begannen mit ihrer grausamen Arbeit.
4 Als am nächsten Morgen die Sonne über dem Silberglas aufstieg, standen die Bäume in friedlicher Ruhe, schwammen Vögel auf dem Wasser oder zogen ihre Bahn über den Himmel, war die Luft von seidiger Frische. Eine Schildwache pendelte auf der Plattform des Kastells auf und ab, Gewehre standen zu Pyramiden zusammengestellt, ein Offizier, Kapitän Warley, suchte mit Hutters Fernrohr das Ufer ab. Drüben auf der Halbinsel erkannte er Soldaten, die ihre Röcke ausgezogen hatten und Gräber für die Opfer des Gemetzels vom Vorabend aushoben. Eine Ordonnanz trat heran und meldete, ein Soldat sei eben seinen Verletzungen erlegen, die übrigen Verwundeten befänden sich außer Gefahr. Kapitän Warley fragte: „Wie geht es dem Mädchen?“ Hetty lag in der Kajüte der Arche, der Arzt der Truppe stand neben ihr. Eine Gewehrkugel hatte sie in den Leib getroffen. Man hatte Hetty dort gefunden, wo Sumach und viele andere Frauen und Mädchen der Mingos niedergemacht worden waren. Judith und Wah-ta-Wah saßen neben dem Bett, Natty und Große Schlange standen 133
zu dessen Füßen, Hurry March hatte sich einen Stuhl an die Tür gezogen und hockte da in finsterem Schweigen. Hetty schlug die Augen auf und fragte: „Judith, wer ist der Mann in der Uniform?“ „Er gehört zu den Soldaten, die uns befreit haben. Er ist aus der Garnison gekommen, in der wir im Winter waren.“ „Bin ich auch befreit? Lebt Hurry?“ „Ja, und Wildtöter auch, wir alle leben.“ „Und warum haben sie auf mich armes Mädchen geschossen?“ „Es war ein Zufall, Hetty. Bestimmt wollte dir niemand etwas zu leide tun.“ Natty wandte sich ab und ging auf die Plattform hinüber. Kapitän Warley lehnte am Geländer, er war ein großer Mann mit harten Zügen und einer geröteten Haut, die die Sonne schlecht zu vertragen schien. „Großer Sieg“, sagte Warley, „ich erfahre eben, die Verluste stehen zehn zu eins.“ „Großer Sieg“, wiederholte Natty ohne Schwung. Er dachte an Hetty, die im Sterben lag. „Großer Sieg“, sagte er noch einmal und versuchte vergeblich, etwas wie einen Triumph zu spüren. Als Junge hatten ihn einmal Soldaten zu einer Patrouille mitgenommen, ein Sergeant neben ihm war verwundet worden, er selbst hatte, ohne in seiner Angst und Bestürzung zu wissen, was er tat, ein Gewehr ergriffen, den herandrängenden Indianern entgegengestreckt und so den wehrlosen Sergeanten vor dem Tode geschützt, bis andere Soldaten zu Hilfe geeilt waren. In den Tagen darauf waren alle Geräusche wie durch eine Wand zu ihm gedrungen, er hatte jede Bewegung vorausbedenken müssen, das Heben des Arms und jeden Schritt, er hatte nur langsam sprechen und mühevoll denken können; erst eine Woche danach hatten 134
Soldaten ihm gesagt, daß das Gewehr, das er so tapfer gehalten hatte, nicht geladen gewesen war. Jetzt fühlte er sich wie damals. Ihm schien, als wäre etwas nicht wahr gewesen oder wäre jetzt nicht wirklich, es konnte nicht sein, daß er am Marterpfahl gestanden hatte, die Lungen voller Rauch, da er jetzt unter einer klaren Sonne über den Silberglas schaute. Er versuchte, um herauszufinden, ob sein Gedächtnis intakt war, sich an den Namen des Sergeanten zu erinnern; erst nach einer Minute fiel er ihm ein: Dunham. Natty wünschte, dieser Sergeant Dunham wäre jetzt hier. Warley musterte Natty und sagte: „Mir scheint, ein Glas Branntwein könnte Ihnen guttun.“ „Vielleicht wirft es mich auch um. Sagen Sie, wie haben Sie uns eigentlich gefunden?“ Kapitän Warley wußte, daß viele günstige Umstände zusammengetroffen waren, und machte daraus kein Hehl. Seine Truppe war schon alarmiert gewesen, weil ein Kundschafter von einem Mingoschwarm berichtet hatte, und befand sich gerade auf dem Abmarsch, als Hurry March ins Lager geeilt war. March führte die Soldaten auf kürzestem Weg zum Silberglas. Die Schüsse, die Nattys Nerven zermürben sollten, hatten die Truppe auf die richtige Seite des Sees gelenkt, Große Schlange war als zusätzlicher Pfadfinder hinzugestoßen. „Mir scheint“, sagte Warley, „wir kamen gerade zur rechten Minute.“ „Ich konnte nichts mehr sehen. Als mich Schlange vom Pfahl wegriß, war ich wie blind.“ „Aber gleich darauf haben Sie schon wieder geschossen und sogar getroffen.“ „Alte Schule.“ Mein dritter Toter, dachte Natty, und gleich darauf der vierte und der fünfte und vielleicht der 135
sechste und siebente. Wie lange zählte man seine Toten? „Übrigens, Ihre Augenbrauen sind völlig versengt.“ „Es war wie in der Hölle, wenigstens wie am Eingang.“ „Wer an der Höllentür gestanden und den Rückweg gefunden hat, lebt ewig.“ Natty fand, er hätte jetzt viel zuviel geredet. Alles, was an diesem Morgen und auf dem Kastell und der Arche geschah, verlief in gedrückter Stimmung, niemand wurde des Sieges froh. Kanus waren zum Ufer und zurück unterwegs., ein Leutnant meldete, die Toten seien beerdigt, und erbat neue Instruktionen. Am Ufer, nicht weit von der Stelle entfernt, wo die Mingos niedergemetzelt worden waren, wurde ein provisorisches Lager errichtet, dort befanden sich auch die wenigen Gefangenen, darunter der verwundete Häuptling Gespaltene Eiche. Gegen Mittag starb Hetty. Sie war bis zuletzt bei vollem Bewußtsein und sprach darüber, daß sie nun bald bei ihrer geliebten Mutter sein werde. Sie gab allen, die sie kannte, die Hand, Wah-ta-Wah und Große Schlange, Natty und Hurry March. Zuletzt umarmte sie Judith, sie flüsterte: „Es ist alles so dunkel, wird es schon Nacht? Aber dort ist Mutter. Mutter, ich kann dich sehen!“ Dabei sank sie zurück. Am Abend wurde Hetty im See bestattet wie vor ihr ihre Mutter und Tom Hutter; der Arzt der Truppe sprach das Totengebet. Judith und Wah-ta-Wah weinten ohne Hemmung, Natty starrte in das klare Wasser, sogar Große Schlange mußte sich abwenden, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Am Ufer zog zu dieser Zeit eine Abteilung entlang, an deren Spitze Hurry March ging; sie sollte mit den Verwundeten, den Gefangenen und der Beute so schnell wie möglich das Fort am Mohawk erreichen. 136
Wieder sank die Sonne über dem Silberglas, eine Amsel sang auf der Eiche, die auf der äußersten Spitze der Landzunge stand, von der aus Natty Bumppo zum erstenmal den See gesehen hatte. Wenig später stieg der Stern auf, nach dem Wah-ta-Wah sich bei ihrer Flucht hatte richten wollen. In dieser Nacht schliefen alle, die im Kastell und auf der Arche zurückgeblieben waren, einen totenähnlichen Schlaf, auch Natty, auch Judith; nur eine Schildwache schritt auf der Plattform hin und her. Im Morgengrauen ließ Warley wecken, nach einem raschen Frühstück befahl er den Aufbruch. Natty war es recht, daß er ohne Verantwortung war, daß er nichts vorausbedenken und entscheiden mußte. Er half, alles, was von Wert war, in die Arche zu tragen und die Fenster des Kastells zu verriegeln. Einige Male ging er an Judith vorüber, beim erstenmal nickten sie sich zu, sprachen aber nicht miteinander. Was vergangen war, war noch zu frisch, und die Zukunft lag in zu nebelhafter Ferne, als daß es sinnvoll erschienen wäre, darüber zu reden. Auch Warley spürte das; alle seine Maßnahmen gingen von der Voraussetzung aus, daß das Kastell aufgegeben werden mußte. Das war so selbstverständlich, daß er darüber kein Wort verlor. Die Soldaten schifften sich auf der Arche ein, besetzten die Ruder und drückten von der Plattform ab. Natty und Große Schlange hoben zwei Kanus aus dem Wasser und trugen sie ins Kastell, sie versperrten die Tür und kletterten durch die Falltür in die beiden restlichen Kanus im Dock hinunter. Der Delaware nahm seine Braut auf, Natty paddelte um das Kastell herum. Judith stand noch immer auf der Plattform, er half ihr beim Einsteigen. Jetzt, als Judith das Kastell nach menschlichem Ermessen für immer verließ, begann sie wieder zu weinen. Natty 137
paddelte der Arche nach, er suchte nach einem Wort des Trostes und fühlte sich erleichtert, als Judith zu sprechen begann; sie sagte: „Dieser See wird nun verlassen sein, und dabei wäre man jetzt an ihm so sicher. Die Mingos werden sich hüten, wieder hierher zu kommen.“ „Diese Gegend ist ihnen bestimmt auf lange Zeit verleidet.“ „Was werden Sie jetzt tun?“ „Ich gehe zu den Delawaren zurück, was dann geschieht, weiß ich nicht. Es ist Krieg, da hängt nicht allzuviel von mir ab.“ „Wäre es Ihnen nicht lieber, friedlich zu leben?“ „Und wenn es mir lieber wäre: Wir jungen Männer dürfen nicht zusehen, wie die Strolche aus dem Norden das Land überschwemmen.“ „Sie haben genug getan.“ „Das wird man erst ‘an dem Tag beurteilen können, an dem wieder Frieden herrscht.“ Judith wußte, daß jetzt die letzte Gelegenheit war, auszusprechen, was sie bewegte; es war nicht sicher, ob sie auf dem Marsch zum Mohawk noch einmal mit Wildtöter unter vier Augen reden konnte, außerdem würde es dann zum Umkehren zu spät sein. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte: „Es fällt mir sehr schwer, von dem zu sprechen, was für mich jetzt das wichtigste ist. Hoffentlich halten Sie mich nicht für dreist. Ich weiß, daß Sie die Wälder und das Leben in ihnen lieben. Jetzt steht das Kastell leer, ich bin in ihm aufgewachsen, es ist meine Heimat, meine engsten Verwandten liegen in diesem See bestattet. Können Sie verstehen, daß ich hierbleiben möchte?“ „Schon. Aber allein ist das für eine Frau unmöglich.“ „Ich habe Sie kennengelernt. Manchmal genügen wenige 138
Tage, um zu entscheiden, welchen Wert ein Mensch besitzt. Sie haben nie eine Sekunde gezögert, für andere ihr Leben zu wagen. Wildtöter, ich...“ Judith brach ab; als sie fortfuhr, sprach sie so leise, daß Natty sie kaum verstand: „Ich möchte mit Ihnen hier leben, wir sollten im Fort heiraten und zurückkehren.“ Natty legte das Paddel quer vor sich hin und lehnte sich zurück!, er starrte auf Judiths Nacken und suchte nach Worten, die nicht verletzend wirkten; nach einer langen Pause des Nachdenkens antwortete er: „Judith, Sie fühlen sich allein und sind erschüttert durch das Entsetzliche, das in den letzten Tagen geschehen ist. Um Sie herum sind furchtbare Lücken gerissen worden, nun wollen Sie eine Lücke schließen.“ Judiths Stimme klang eine Spur sicherer, als sie sagte: „Auch wenn ich von einem Schwärm von Freunden und Verehrern umgeben wäre, würde ich nicht anders sprechen.“ „Ich danke Ihnen von Herzen, Judith, aber ich möchte Ihre Verzweiflung nicht ausnutzen. Sie sind hübsch und gescheit, Sie besitzen so viele Vorteile, und doch bilden Sie sich jetzt ein, die Erde mit allem, was sie enthält, befände sich in diesem Kanu. Wenn Sie an den Mohawk kommen, werden Sie sehen, wieviel die Zukunft für Sie aufgespart hat. Wirklich, Sie haben keinen Grund, sich an diesem See zu vergraben.“ Judith wagte einen letzten Anlauf. „Es könnte so schön sein, Wild-töter. Wir könnten die Soldaten bitten, alles auf die Arche zurückzubringen, was wir brauchen. Die Häute der Tiere, die Sie erlegen, könnten Sie in der Garnison verkaufen, von dort würden wir alles beziehen, was wir zum Leben braudien. Wildtöter, ich bin sicher, wir könnten glücklich sein. Ich würde“, und jetzt gelang ihr 139
zum erstenmal seit dem Tod Hettys ein Lächeln, „ich würde gleich nach unserer Rückkehr das Brokatkleid und alles andere, was Ihnen vielleicht als hochtrabend erscheint, in den Ofen stecken, damit ich dann genau so bin, wie Sie mich wollen.“ „Judith“, sagte Natty und griff wiederum zum Paddel, „Judith, Sie sind ein großartiges Mädchen. Sie sind nicht nur hübsch, Sie haben auch Mut. Aber ich glaube doch nicht, daß wir auf die Dauer glücklich wären; wir sind einfach zu verschieden. Ich wäre froh, wenn Sie mir nicht böse sein könnten. Jetzt müssen wir sehen, daß wir nicht zu weit hinter den anderen zurückbleiben.“ Ihm fiel ein, wie er an einem der vergangenen Abende auf der Plattform gestanden und über seine Rolle in den Wirren am Silberglas nachgedacht hatte; er wußte, daß er niemals in den letzten Tagen vergessen hatte, warum er hierhergekommen war. Er konnte unmöglich hierbleiben, denn er hatte in diesem Krieg einen Auftrag seines Stammes zu erfüllen. Das Ufer lag dicht vor ihnen, als er sagte: „Bitte, wir wollen vergessen, was wir in diesem Kanu gesprochen haben. Es ist einfach nicht gewesen, einverstanden?“ Judith drehte sich um und schaute Natty an, langsam siegte die Trauer über die gekränkte Eitelkeit. Sie musterte sein Gesicht, versuchte, sich den Ausdruck der Augen und die Linien des Mundes einzuprägen, sie sah hinter ihm das Kastell und hörte die Rufe der Soldaten. Das Bild vor ihren Augen begann zu zittern, da wandte sie sich rasch dem Ufer zu. Dort wartete Kapitän Warley. Die Soldaten hatten sich inzwischen in Marschordnung aufgestellt. Ein Luftzug packte die leere Arche und trieb sie auf den See hinaus. Mit einigen letzten Paddelschlägen brachte Natty sein Kanu ans Ufer, dort stand der Kapitän, 140
der Judith die Hand hinhielt und ihr beim Aussteigen half. Natty hörte das Kommando zum Abmarsch, blickte über den See und zu der Landzunge, auf der die Mingos begraben lagen, und versuchte sich vorzustellen, was er gedacht und gefühlt hatte, als er an diesen See gekommen war. Als Wildtöter hatte er sein Ufer betreten, als Falkenauge verließ er ihn. Aber wahrscheinlich war das nicht das wichtigste. Große Schlange kam heran, er sagte: „Die Delawaren warten in ihren Dörfern auf Wah-ta-Wah, sie wollen ihre liebliche Stimme hören und wollen erfahren, wie die Büchsen am Silberglas gedonnert haben. Ist mein Freund bereit zu einem langen Weg?“ „Natürlich, Schlange“, sagte Natty. „Gleich brechen wir auf.“
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Zweites Buch Der letzte Mohikaner
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Schüsse am Glenn Wenn in Europa der Krieg zwischen England und Frankreich aufflammte, sprang er gewöhnlich auch auf die nordamerikanischen Kolonien über. Forts wurden angelegt, die die Straßen beherrschten, wurden genommen und verloren, zerstört und wieder aufgebaut. Die Pflanzer flüchteten von den Grenzen hinter die Wälle der Befestigungen, Heere vergruben sich in den Einöden, aus denen sie fast immer als Banden von Gerippen, durch Niederlagen demoralisiert, wieder herauskrochen. Die britischen Farmer mußten mit ansehen, wie ein starkes Heer, geführt von einem erfahrenen General, durch eine Handvoll Franzosen und Indianer schmählich zersprengt wurde und der völligen Vernichtung nur dadurch entrann, daß ein junger Mann, der aus Virginia stammte und Washington hieß, einen schmalen Pfad für die Rettung fand. Angst breitete sich über die britische Kolonie aus; ihre Bewohner glaubten, das Geheul der kanadischen Indianer mische sich in jeden Windstoß, der aus den Wäldern des Nordwestens pfiff. Zahllose Gemetzel waren in der Erinnerung wach, und wenn Reisende von den Schrecken in den Grenzwäldern berichteten, gerann den Ängstlichen vor Entsetzen das Blut, und selbst in den Städten warfen Mütter besorgte Blicke auf ihre schlafenden Kinder. Seit den turbulenten Ereignissen am Silberglas waren siebzehn Jahre vergangen. Zum drittenmal brandete um den Besitz Schlesiens ein Krieg, der preußische Friedrich und die österreichische Maria Theresia warfen ihre Truppen in einen Kampf, der sieben Jahre dauern sollte. Auch die Verbündeten der Habsburger und Hohenzollern wurden wieder in die Kriegswirren hineingerissen. 143
Frankreichs General Montcalm stieß im Sommer 1757 von den kanadischen Seen nach Süden vor. Die Briten antworteten ihm, indem sie ihr Fort William Henry verstärkten; sie versuchten, ihre Bewegungen durch Späher abzuschirmen, Waldläufer sicherten die Flanken, drangen in die Dickichte ein und schauten von Bäumen und Bergkuppen nach dem Rauch der Lagerfeuer aus. Offiziere beider Parteien warben indianische Hilfstruppen an, alte Fehden wurden ins Gedächtnis gerufen, zu neuen angestachelt. Indianer, die eben noch dem Fischfang, der Jagd oder ihrem primitiven Ackerbau nachgegangen waren, bemalten Gesichter und Körper mit den schreckenerregenden Farben des Krieges; in den Wäldern und an Flüssen, in Einöden und an den Rändern der Siedlungen fielen die ersten Schüsse. An einem sonnigen Nachmittag im August dieses Jahres zogen zwei Kundschafter am Ufer eines reißenden Flusses entlang. Ein Laubdach dehnte sich über dem Tal aus, die Sonnenstrahlen drangen kaum hindurch, fern rauschte ein Wasserfall, und von der Höhe des Hanges herunter klang das Hämmern eines Buntspechts. An einer Flußbiegung machten die beiden Späher halt, öffneten ihre Beutel, aßen und unterhielten sich leise und mit großen Pausen. Es waren Natty Bumppo und sein Freund Große Schlange, die im Auftrag der Engländer an diesen Fluß gekommen waren. Natty band gerade seinen Beutel zu, als eine kehlige Indianerstimme hinter ihm sagte: „Unkas ist da.“ Natty griff unwillkürlich nach der Büchse, während der Häuptling nicht einmal den Kopf wendete. Gleich darauf setzte sich ein junger Indianer neben sie. Eine Weile warteten die drei, denn indianische Sitte verbot ihnen, Neugier zu zeigen, dann fragte Große Schlange seinen Sohn: „Wagen es die Mingos, ihre Mokassins in den 144
Boden dieser Wälder zu drücken?“ „Ich war auf ihrer Spur und habe gezählt, daß sie so viele sind wie die Finger an meinen Händen. Aber sie haben sich wie Mäuse verkrochen.“ Natty warf ein: „Die Diebe lauern auf Beute. Montcalm wird seine Spione noch bis in unser Lager schicken, wenn wir ihnen nicht auf die Zehen treten.“ „Genug!“ erwiderte Große Schlange. „Falkenauge, wir wollen hier schlafen und morgen den Mingos zeigen, daß wir Männer sind.“ „Männer müssen essen. Ich sehe dort unten in den Zweigen ein Gehörn. Unkas, wetten wir, daß ich den Rehbock genau zwischen den Augen treffe, und zwar näher dem rechten als dem linken Auge?“ „Aber du siehst doch nur die Spitzen des Gehörns.“ „Du bist reichlich jung, Unkas. Wenn ein Jäger ein Teil eines Tieres sieht, weiß er auch, wo das übrige ist. Ich bilde mir ein, als ich sechzehn war wie du jetzt, war ich klüger.“ Große Schlange murrte: „Willst du uns die Mingos ans Nachtlager locken?“ „Dein Vater hat recht. Unkas, du wirst zeigen müssen, daß du mit Pfeil und Bogen umgehen kannst.“ Unkas ließ sich auf den Boden nieder und schlich mit aller Vorsicht auf den Bock zu. Als er etwa dreißig Schritt von ihm entfernt war, legte er einen Pfeil auf den Bogen und zog die Sehne straff, im nächsten Augenblick fuhr der Pfeil ins Gebüsch, der Rehbock bäumte sich auf und stürzte aus seinem Versteck, Unkas wich geschickt dem Gehörn aus und stach seinem Opfer das Messer in die Kehle. Der Bock raffte sich noch einmal auf, taumelte und brach am Flußufer zusammen. „Gut gemacht, Unkas!“ Natty verstummte, ein Laut 145
drang an sein Ohr, er sagte: „Da scheint ja ein ganzes Rudel zu sein!“ Große Schlange beugte sich nieder, bis sein Ohr beinahe die Erde berührte. „Hier ist nur ein Rehbock“, entschied er, „und der ist tot. Ich höre Fußtritte!“ „Vielleicht wird das Rudel von Wölfen verfolgt.“ Große Schlange erhob sich und sagte: „Pferde kommen, Falkenauge, deine weißen Brüder werden darauf sitzen. Sprich mit ihnen.“ Zwischen den Bäumen weiter oberhalb wurde ein Reiter sichtbar, andere folgten ihm. Natty legte die Büchse über den Arm, brachte den Finger an den Abzug und rief: „Anhalten! Wer seid ihr?“ „Freunde des britischen Königs. Wir sind auf dem Weg nach Fort William Henry.“ Natty lachte. „Ihr seid so weit von der Spur wie ein Köter, wenn der Hudson zwischen ihm und dem Wild liegt! Ihr solltet den Fluß hinabreiten, so kämt ihr nach Fort Edward und könntet bei General Webb Schutz finden.“ Ein anderer Reiter trieb sein Pferd durchs Unterholz und rief: „Wir sind am Morgen in Fort Edward aufgebrochen.“ Natty schüttelte den Kopf: „Dann haben Sie die Orientierung verloren und sind im Bogen geritten.“ „Unser indianischer Führer wollte abkürzen.“ Hinter den beiden Reitern tauchten, ebenfalls zu Pferd, zwei Frauen auf. Natty sah, daß sie erschöpft waren, und wunderte sich, wie sie es wagten, in so unruhigen Zeiten abseits der Heerstraße mit so geringer Bedeckung zu reisen. „Ein Indianer soll den Weg verfehlt haben? Ist er ein Mohikaner?“ „Nicht von Geburt, aber er ist in diesen Stamm aufgenommen worden. Er kommt aus dem Norden und 146
war ursprünglich Mingo.“ Natty schaute sich nach Große Schlange und Unkas um, deren Blicke sich verfinsterten. Er sagte: „Ich habe keine gute Meinung von den Min-gos, und da Sie sich einem von ihnen anvertraut haben, wundert es mich nur, daß Sie nicht schon mit einer ganzen Mingobande zusammengestoßen sind.“ Der Reiter wurde ungeduldig. „Ich kenne den Mann, und Sie kennen ihn nicht. Wie weit sind wir von Fort Edward entfernt?“ „Und wenn ich es sage, wer garantiert mir, daß ich keinem Spion der Franzosen den Weg zeige? Nicht jeder, der englisch spricht, ist schon deshalb über jeden Zweifel erhaben.“ „Wenn Sie einer unserer Kundschafter sind, dann kennen Sie das sechzigste Regiment.“ „Darüber erfahre ich von Ihnen nichts Neues.“ „Dann kennen Sie bestimmt seinen Major.“ „Selbstverständlich. Major Effingham.“ „Das ist der älteste Major. Und wie heißt der jüngste, der die Kompanien in William Henry befehligt?“ Natty überlegte einen Augenblick. „Ich habe gehört, daß ein reicher junger Mann aus dem Süden diesen Posten erhalten hat.“ „Das stimmt. Ich bin dieser Major und heiße Heyward.“ Natty schob die Mütze aus der Stirn. „Heute morgen soll eine Abteilung aus dem Lager abmarschiert sein.“ „Das ist völlig richtig. Ich wählte einen kürzeren Weg, wobei ich mich auf diesen Indianer verließ.“ „Ich möchte ihn mir ansehen.“ Natty ging an dem Pferd des Majors vorbei, nickte den beiden Frauen zu und näherte sich dem indianischen Führer, der hinter ihnen an einem Baum lehnte. Der Indianer hielt Nattys prüfendem Blick mit finsterer Miene stand; sein Gesicht war so 147
wütend dabei, daß Natty in seinem Vorurteil, das er seit seinem ersten Kriegszug gegen die Mingos hatte, noch bestärkt wurde. Er ging zum Major zurück und sagte: „Der Bursche macht einen üblen Eindruck. Am liebsten möchte ich ihm eine Bleiladung ins Bein schießen, damit ihm für einen Monat das Herumstreichen in den Wäldern vergeht. Wenn ich jetzt zu ihm zurückkehre, könnte er Verdacht schöpfen und sich verdrücken.“ Heyward erwiderte, daß er eine so brutale Handlungsweise nicht mochte, übrigens wäre keinesfalls erwiesen, daß der Indianer sie absichtlich in die Irre geführt hätte. Da gab Natty seinen Freunden einen Wink, den diese sofort verstanden. Große Schlange und sein Sohn lehnten ihre Gewehre an einen Baum und verschwanden in den Büschen. Natty sagte zu Heyward: „Diese Delawaren wollen den Strolch fangen, ohne ihm die Schminke zu verderben. Am besten, Sie gehen zu ihm und halten ihn eine Weile mit Reden hin. Wenn dieses Problem geklärt ist, will ich für Sie und Ihre Leute für ein Nachtlager sorgen.“ „Ich will ihn selbst fassen.“ „Was erreichen Sie zu Pferd gegen einen Indianer im dichten Wald?“ „Ich steige ab.“ „Dann wird er Verdacht schöpfen.“ „Gut, ich tue, was Sie sagen.“ Major Heyward wendete und ritt an seiner kleinen Karawane entlang, trieb sein Pferd neben den Indianer und sagte: „Es wird Nacht, und ich habe eben erfahren, daß wir im Laufe dieses Tages dem Fort William Henry nicht näher gekommen sind. Wir haben den Weg verloren. Aber gottlob trafen wir einen Jäger, der die Gegend kennt und uns zu einem Platz führt, an dem wir die Nacht über sicher sind.“ 148
„Dann kann Le Renard gehen. Munro wartet auf ihn.“ „Was willst du dem General über seine Töchter melden? Glaubst du nicht, daß er wütend sein wird, wenn er hört, daß du sie verlassen hast?“ „Le Renard ist Führer genug, braucht keinen weißen Mann.“ Heyward hatte kein Interesse daran, die Situation zuzuspitzen, und so sagte er: „Wir sind Freunde, deshalb sollten wir keine bösen Worte wechseln. Ruhe dich aus und iß, denn wir haben nur wenige Minuten Zeit zum Rasten. Wenn die beiden Frauen gegessen haben, reiten wir weiter.“ Der Indianer öffnete seinen Beutel. Heyward zog einen Fuß aus dem Steigbügel und schob die Decke über dem Pistolenhalfter zur Seite. Er schwang sich aus dem Sattel, trat vor den Indianer hin und sagte: „Dein Mais ist nur halb geröstet, ich werde dir etwas von unserem geben.“ Er schnallte eine Tasche vom Sattel und hielt sie dem Führer hin, er versuchte, seine Hand dem Arm des Indianers zu nähern, ehe er aber zupacken konnte, schlug der Mingo ihm die Hand weg, wobei er einen Schrei ausstieß, und war im nächsten Augenblick im Gebüsch verschwunden. Große Schlange tauchte wie ein Schatten auf, der Blitz eines Schusses erhellte die Dämmerung. Nach dem Knall waren nur noch das Brechen von Ästen und die Rufe der Verfolger zu hören. Auch Heyward drang ins Unterholz ein, er hatte aber noch keine fünfzig Schritt zurückgelegt, als ihm Natty und die beiden Delawaren entgegenkamen. Natty zeigte auf einen Zweig und sagte: „Das ist Blut von diesem Schuft. Ich habe ihn leider nur gestreift.“ Der Major drängte darauf, die Verfolgung fortzusetzen, doch Natty winkte ab. „Er würde uns nur in den Bereich der Tomahawks seiner Freunde locken. Es ist besser, wenn wir schnellstens verschwinden. Wer sind Ihre Begleiter?“ 149
„Die beiden Damen sind die Töchter von General Munro, der das Fort William Henry befehligt, und reisen zu ihrem Vater. Der andere Mann hat sich uns unterwegs angeschlossen. Schon an seinem seltsamen Aufzug sehen Sie, daß er nicht in die Wälder paßt. Er ist ein Musiklehrer.“ Natty sagte: „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich werde Sie und Ihre Reisegesellschaft an einen Ort bringen, an dem Sie sicher sind. Und nun los!“ Die kleine Schar zog zum Fluß hinunter und am Ufer aufwärts. Die Nacht senkte sich herab, es wurde dunkel unter den Bäumen, nur auf den Fluß drang noch spärliches Licht vom Himmel herunter. Der Wind spielte oben in den Bäumen; stärker als das Rascheln der Blätter war das Plätschern des Flusses, der über Steine sprang, sich zwischen Felsbrocken hindurchzwängte oder in sandigen Becken kreiste. Ein Rauschen überlagerte das Blätterfächeln und das Murmeln des Flusses, wurde nach jeder Biegung stärker und schien voller Geheimnis und Drohung zu sein. Einmal sagte Heyward: „Es klingt, als ob ein Sturm auf uns zukäme.“ „Es ist ein Wasserfall“, erwiderte Natty. „Sie werden bald seine Bekanntschaft machen.“ „Und was garantiert mir, daß Sie es ehrlich meinen und uns in keine Falle führen?“ Natty blieb abrupt stehen. „Wenn Sie ein wenig länger beim Regiment wären, hätten Sie meinen Namen gehört und würden diese Frage nicht stellen. Aber Sie können sofort umkehren.“ „So war’s nicht gemeint.“ „Das will ich hoffen. Und ich möchte, daß wir dieses Thema nie mehr berühren.“ 150
Nach einer Meile zog Natty ein Kanu aus dem Ufergesträuch und forderte die beiden Frauen auf, hineinzusteigen. Sie sträubten sich nicht, aber als sie saßen, drängten sie sich furchtsam aneinander. Große Schlange und sein Sohn nahmen die Pferde am Halfter, während Natty, Heyward und der Musiklehrer das Kanu flußaufwärts schoben. Hin und wieder hielten sie an und horchten in die immer stärker werdende Dunkelheit hinein, doch nie drang ein anderer Laut als das Rauschen des Wasserfalls an ihr Ohr. In einer Felsenklamm banden sie die Pferde an Sträucher, auch Große Schlange und Unkas stiegen ins Kanu, Natty stellte sich ans Heck und trieb das nun schwer beladene Fahrzeug mit einer Stange vorwärts. Minutenlang mußte er alle seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden, ehe er das Boot an Felsen vorbei und durch wechselnde Strömungen in eine Bucht gelenkt hatte, die von steilen Felsen umgeben war. Er schob das Kanu an ein Felsband heran und forderte die Insassen auf hinüberzusteigen. Hinter einer Felsnase bat er Heyward, den Musikmeister und die beiden Frauen, ein wenig zu warten, und kaum eine Minute später flammte dort, wo es bisher am dunkelsten gewesen war, eine Fackel auf; Natty hatte einen Fichtenast in Brand gesteckt und leuchtete die Wände einer Höhle ab. Er rief Unkas zu, seine Begleiter heraufzuführen und den Höhleneingang mit Ästen und Decken zu verschließen, er forderte die Schwestern auf, es sich auf Zweigen bequem zu machen, und fügte hinzu, der Rehbock, den Unkas vor ihrer Begegnung geschossen hatte, würde ihnen bald schmecken. Als das Feuer aufloderte, als der Bock zerlegt war und seine besten Teile über der Glut brieten, hatte Natty Bumppo Gelegenheit, die vier Menschen, die er in seine 151
Obhut genommen hatte, genauer zu betrachten. Die beiden Frauen waren jung, gut angezogen und hübsch, allerdings wäre Natty niemals auf die Idee gekommen, daß es Schwestern waren, wenn es ihm Major Heyward nicht gesagt hätte, denn eine hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und gebräunte Haut, während die andere blond und blauäugig war. Auch im Wesen schienen sie verschieden zu sein, denn die Dunkle, die von Heyward Kora genannt wurde, fand sich mit der unerwarteten Situation beherzter ab als ihre anscheinend jüngere Schwester. Heyward war ein hochgewachsener, kräftiger Mann, und Natty war überzeugt, in ihm, sollte es hart auf hart gehen, einen tapferen und erfahrenen Mitstreiter an seiner Seite zu haben. Ganz anders schätzte er den Musiklehrer ein, einen dürren, linkischen Vierziger, der augenscheinlich nicht wußte, wohin er mit seinen langen Gliedern sollte, der sich die Finger verbrannte, als er sein Fleischstück drehen wollte, an dem weder im Wesen noch im Äußeren etwas Kriegerisches war, der keine Waffe trug und dem auch nicht zuzutrauen war, daß er mit ihr hätte umgehen können. Heyward fragte: „Sind wir in dieser Höhle wirklich sicher? Ein einziger bewaffneter Feind am Eingang hätte uns alle in der Gewalt.“ „Füchse wie Chingachgook und ich“, antwortete Natty, „lassen uns niemals in einem Bau fangen, der nur einen Ausgang hat. Dieser Felsen besteht aus Kalkstein, in den das Wasser seit Jahrtausenden seine Gänge gräbt. Einmal ist es auch durch diese Höhle geflossen, jetzt sucht es sich andere Wege und strömt zu beiden Seiten um uns herum. Wir sind auf einer Insel, die von Wasserfällen flankiert wird. Wenn es tagt, könnten wir durch eine zweite Höhle auf die Kuppe hinaufsteigen und hätten von dort einen 152
höchst romantischen Blick. Ich fürchte nur, daß uns dann die Mingos die Pelze versengen würden. Dieses System von Wasserfällen und Stromschnellen trägt den Namen Glenn.“ Die Mahlzeit verlief ohne Störung. Unkas holte aus einer Nische einfache Haushaltsgeräte hervor, eine Kürbisflasche und aus dem Holz des Pfefferbaums geschnitzte Teller; der älteren Schwester reichte er das Fleisch mit besonderer Zuvorkommenheit. Allmählich fiel von den Reisenden der größte Teil ihrer Sorgen ab, sie fühlten sich halbwegs geborgen. Natty zog ein Fäßchen unter einer Laubdecke heraus und forderte den Musiklehrer auf, das darin befindliche Bier, das aus den Sprossen der Pechtanne gebraut war, zu probieren. Dabei fragte er: „Wie sagten Sie doch gleich, daß Sie heißen?“ „David Gamut. Ein Schluck Bier ist jetzt nicht zu verachten. Aber noch besser wäre es, den Tag mit einem Lied zu beschließen, Fräulein Kora und Fräulein Alice, ich darf hoffen, daß Sie einstimmen?“ Sprachlos vor Staunen sah und hörte Natty zu, wie Gamut ein Büchlein aus der Rocktasche zog, mit einem Pfeifchen den Ton angab und zu singen begann. Die Schwestern fielen ein, und bald füllte ein Psalm den Höhlenraum, langsam auf- und absteigend, voll klingend und wieder leiser werdend. Strophe auf Strophe wurde angestimmt, und als der letzte Akkord verklungen war, hatten Worte und Töne sogar die harten Züge Nattys gelockert und ein wenig von der Starre aus den Gesichtern der Indianer vertrieben. Ein Schrei ließ sie alle erschrecken. Alice flüsterte entsetzt: „Was war das?“ Natty und die Delawaren saßen reglos und warteten, daß sich der Schrei wiederholte, sie berieten sich leise, und auf 153
einen Wink seines Vaters hin glitt Unkas unter dem Vorhang hindurch ins Freie. Natty sagte: „Chingachgook und ich ziehen seit dreißig Jahren durch diese Wälder, und doch haben wir noch nie derartige Töne gehört. Wir hoffen, daß uns Unkas aufklären wird.“ Kora fragte: „War das nicht der Schrei der Indianer, wenn sie ihre Feinde erschrecken wollen?“ Natty sagte: „Der klingt ganz anders.“ Nach einer Weile kam Unkas zurück und meldete, um den Felsen wäre alles ruhig, kein Licht dringe durch den Vorhang hinaus, nichts deute darauf hin, daß die Mingos sie aufgespürt hätten. Natty sagte: „Was auch immer dieser Schrei zu bedeuten gehabt hat, so müssen wir doch schlafen, wenn wir morgen kräftig genug sein wollen, um nach dem Fort durchzubrechen. Wir Männer werden mit der Wache abwechseln.“ Er nahm eine Fackel und ging den Schwestern voran in eine andere Höhle. Auf einem Lager von Zweigen und Laub legten sich die Frauen nieder und zogen eine Decke über sich. Natty war längst gegangen, als die Schwestern noch flüsternd über die Aufregungen sprachen, die ihnen dieser Tag gebracht hatte. Angst klang in Alices Stimme, als sie fragte: „Und wo werden wir morgen um diese Zeit sein?“ Da drang noch einmal dieser gräßliche Schrei herein; Alice warf die Arme um die Schultern ihrer Schwester. Sie merkte, daß auch Kora zitterte.
2 Der Mond zog über die schäumenden Wasser des Glenn, ließ sie silbern aufleuchten und strich schwarze Schatten unter Bäume und Felsen. Das gleichmäßige Brausen des Wassers blieb für lange Stunden das vorherrschende Geräusch. Einmal sagte Major Key ward, als er neben Natty wachte: „Ich glaube, ich weiß jetzt, 154
woher die Schreie stammten. Ich habe erlebt, wie Pferde in der Schlacht verwundet wurden und die Todesangst nach ihnen packte. Dann haben sie so geschrien.“ Natty sagte: „Vielleicht haben sich Wölfe an unsere Pferde herangeschlichen.1’ „Oder Mingos.“ Als der Mond hinter den Uferbäumen verschwunden war und sich im Osten das erste Frührot zeigte, mahnte Natty zum Aufbruch. Heyward trat gerade zu den schlafenden Schwestern, als sich ein so gellendes Gebrüll erhob, als ob alle Höllengeister die Luft erfüllten. Gamut, der auf einer Felsplatte geschlafen hatte, fuhr erschrocken auf, Schüsse blitzten, eine Kugel warf ihn besinnungslos auf die Steine zurück. Eine Feuerpause nutzte Heyward, zu Gamut hinzuspringen und ihn an eine geschützte Stelle zu zerren, dann krachten wieder die Büchsen, und mit dumpfem Klatschen schlug sich das Blei an den Felsen platt. Große Schlange, Unkas und Natty krochen hinter Gestrüpp und Felsbrocken vor und erwiderten bedächtig das Feuer. In der Mitte der Insel hatten ein paar verkrüppelte Fichten ihre Wurzeln geschlagen, dorthin sprangen Natty und Heyward, schoben sich Auflagen für ihre Gewehre zurecht und starrten zum Ufer hinüber. Nach dem Feuerüberfall geschah längere Zeit nichts. Die Sonne stieg auf, ihre Strahlen glitzerten auf dem Wasser, das sich an einem Felsen oberhalb der Inselmitte brach und zu beiden Seiten hinunterstürzte. Natty überlegte, was er täte, wenn er an der Stelle der Mingos wäre, und mutmaßte, daß er versuchen würde, auf diesen Felsen zu gelangen. Er wollte seine Überlegung gerade mit Major Heyward besprechen, als sich dort oben vier Köpfe über einigen Stämmen Treibholz zeigten. Gleich darauf erschien noch ein fünfter Indianer am grünen Rand des Wasserfalls, allerdings ein Stück von der Insel entfernt. 155
Dieser Mann bemühte sich mit verzweifelten Kraulschlägen, die Inselspitze zu erreichen, seine Gefährten streckten schon die Arme nach ihm aus, als er von einem Wirbel gepackt und vorbeigerissen wurde. Er stieß einen Entsetzensschrei aus und stürzte in den Abgrund. Natty sagte kalt: „Wieder eine Ladung Pulver gespart.“ Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff, da kroch Unkas neben ihn. „Ich nehme den ersten“, sagte Natty, „du nimmst den letzten. Major Heyward, ob Ihre Pistolen für die beiden anderen genügen?“ Gleichzeitig sprangen die Indianer aus ihrer Deckung und rannten in wilden Sätzen vorwärts. Erst als sie auf zwanzig Schritt heran waren, schoß Natty, worauf der erste wie von der Axt gefällt aufs Gesicht stürzte. Unkas feuerte und setzte den letzten außer Gefecht. Heyward drückte seine Pistolen ab, verfehlte aber, und ein erbitterter Nahkampf begann. Nattys Gegner war ein Hüne von gigantischem Wuchs und wutschnaubender Miene. Mit gleicher Gewandtheit hatten Natty und sein Feind einander die Hand aufgefangen, die das Messer hielt, fast eine Minute rangen sie stehend, sich in die Augen starrend, dann endlich gelang es Natty, den Arm des Mingos zurückzudrücken, die bewaffnete Hand loszureißen und seinem Feind das Messer ins Herz zu stoßen. Nicht so glücklich war Heyward. Er und sein Gegner hatten bald ihre Waffen verloren, sie rangen an der Kante des Felsens und versuchten, einander hinabzustoßen. Heyward glitt aus, fühlte eine Hand an der Kehle, seine Kräfte erlahmten schon, da sprang Unkas hinzu und machte dem Kampf mit einem Messerstich ein Ende. Mit hocherhobenen Armen stürzte der Mingo in den Abgrund. Natty schrie: „Deckung!“ 156
Diese Warnung kam keine Sekunde zu früh. Vom Ufer her hatten Mingos den Kampf beobachtet, es war ihnen nicht möglich gewesen zu schießen, ohne die eigenen Leute zu gefährden, jetzt rissen sie ihre Büchsen hoch. Blitze zuckten, Schüsse knallten, wieder klatschte Blei gegen die Felsen. Große Schlange, der in unerschütterlicher Ruhe auf seinem Posten in den Klippen ausgehalten hatte, erwiderte besonnen das Feuer und jagte die Mingos in den Schutz der Bäume zurück. Natty rief Unkas zu, nicht soviel Pulver auf die Pfanne zu geben, dadurch würde es nur verschwendet, und obendrein würde der Rückstoß zu stark. Nur einmal wurde einer der Verteidiger der Insel ernsthaft gefährdet: Ein Geschoß pfiff dicht neben Heywards Kopf vorbei. Unkas entdeckte, wer diesen Schuß abgegeben hatte: Ihnen gegenüber neigte sich eine mächtige Eiche weit über den Strom; in ihrer Krone hatte sich ein Schütze eingenistet und schob eben sein Gewehr durch die Zweige. Natty drückte ab, fetzte aber nur Rinde vom Baum, gleich darauf feuerte der Mingo; die Kugel riß Natty die Mütze vom Kopf. Jetzt kroch Große Schlange heran, er, sein Sohn und Natty gaben eine Salve ab, trafen aber nicht. Lange lauerten nun die beiden Delawaren, bis sich ein Bein hinter dem Stamm zeigte. Gleichzeitig schössen sie, und beide trafen; der Mingo sackte zusammen. Diesen Augenblick nutzte Natty zu einem tödlichen Schuß. Die Büchse fiel zuerst aus dem Blattwerk, dann stürzte der Mingo ins schäumende Wasser, das ihn dem Fall entgegenriß. Lähmende Stille folgte, in sie hinein sagte Natty: „Ich habe eben die letzte Ladung und das letzte Pulver aus meiner Tasche genommen. Unkas, hol bitte das große Pulverhorn aus dem Kanu. Wie ich die Strolche da drüben kenne, werden sie uns nicht lange in Ruhe lassen. Wie 157
geht es übrigens unserem Musiklehrer?“ Heyward antwortete: „Er ist betäubt. Wahrscheinlich hat ihm der Schreck mehr zu schaffen gemacht als die Kugel. Ich denke, er wird bald zu sich kommen.“ Natty kannte die Indianer gut genug, um zu wissen, daß sie nach dem Tod ihres Baumschützen und dem Mißlingen des direkten Angriffs erst einmal berieten. Dann würden sie wieder und wieder versuchen, die Insel zu erobern, ihre gefallenen Kameraden zu rächen und Skalpe und Waffen zu erbeuten. Bevor die Nacht kam, mußte er den Ring seiner Feinde durchbrechen. Das Kanu lag wohlgeborgen am Fuße der Insel, Heyward hatte sich als unerschrockener Soldat bewährt, Pulver und Blei waren reichlich vorhanden: Es gab also einige Gründe, die zuversichtlich stimmen konnten. Der Musiklehrer war ebenso hilflos wie die Generalstöchter - vier Kämpfer mußten drei Wehrlose beschützen, und das war kein gutes Verhältnis. Ein Schrei aus der Kehle von Unkas schreckte Natty auf. Er zwängte sich durch einen Höhlengang, sprang über Felsblöcke zum Rande der Klamm und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie das Kanu durch die Strudel hinabgerissen wurde. Ein Mingo spähte über den Rand und stieß die Hand triumphierend hoch. Natty brachte im Nu die Büchse in Anschlag, drückte ab, der Stein sprühte, aber kein Pulver war auf der Pfanne und keine Kugel im Lauf. Geheul drang aus den Wäldern herüber; die Mingos bejubelten nach bitteren Niederlagen nun ihren ersten Erfolg. Mit gesenktem Kopf trat Natty in die Höhle, wo ihn die Schwestern angstvoll erwarteten. Gamut richtete sich eben mühselig auf, faßte sich an die Stirn und fragte leise: „Wo bin ich? Was ist geschehen?“ 158
„Es ist verdammt viel geschehen“, antwortete Natty, „und durch einen noch so gut gesungenen Psalm kann man nicht das geringste daran ändern. Unsere Munition ist aufgebraucht, die kanadischen Schufte haben eben unsere Reserve gestohlen. Wir hätten klüger sein und sie beizeiten in die Höhle bringen können, das begreife ich jetzt natürlich, aber nun ist nichts mehr zu ändern. Die besten drei Gewehre in diesen Wäldern sind nicht mehr wert als ganz gewöhnliche Knüppel.“ Heyward fragte: „Was wird nun?“ Natty fuhr statt einer Antwort mit dem Finger um den Schädel. Heyward rief: „Aber so verzweifelt steht es doch gar nicht! Wir können uns noch immer verteidigen.“ Natty fragte ungerührt: „Mit den Pfeilen, die Unkas im Köcher trägt? Mit Messern?“ Große Schlange setzte sich auf ein Felsstück, nahm die Adlerfeder vom Kopf und begann, seinen Haarschopf für den letzten, empörenden Dienst, den er seinen Feinden leisten sollte, zu ordnen. Mit stoischer Stimme sagte er: „Chingachgook hat den Sieg der Mingohunde vergiftet. Elf ihrer Krieger hat er getötet, seit der Schnee geschmolzen ist, und niemand weiß, wo sie liegen, wenn Chingachgooks Zunge verstummt.“ Zum erstenmal mischte sich Kora in die Beratung ein. „Warum sterben!“ rief sie. „Fliehen Sie doch lieber!“ „Um vor Ihren Vater hinzutreten und ihm zu sagen, daß wir zwar leben, aber nicht wissen, was aus seinen Töchtern geworden ist?“ Natty schüttelte den Kopf. „Lady, das können Sie nicht von uns verlangen. Es gibt zwar eine Möglichkeit zur Flucht, wir könnten in den Fluß springen, die Strömung würde uns aus dem Bereich der 159
Mingobüchsen hinaustragen. Wollen Sie das ebenfalls wagen?“ „Das würde über unsere Kräfte gehen. Aber Sie und Ihre Freunde sollten fliehen und meinem Vater melden, daß Sie uns in unserem Auftrag, auf unsere Bitte hin verlassen haben, um Hilfe zu holen. Sagen Sie ihm, daß man uns gefangen hat und wahrscheinlich nach dem Norden schleppen wird. So können Sie sich und uns retten. Ist das nicht sinnvoller, als gemeinsam zu sterben?“ Natty Bumppo stützte sich auf den Lauf seiner Flinte. Nach einer Weile sagte er: „Ihre Worte klingen vernünftig, Lady.“ Er wandte sich in delawarischer Sprache an Große Schlange und dessen Sohn. Große Schlange hörte ernsthaft zu, dann steckte er die Adlerfeder wieder in seine Skalplocke. Er zog den Gürtel enger und befestigte Messer und Tomahawk daran, schlich zu einem Felsvorsprung, der von der anderen Seite des Flusses nicht einzusehen war, und schnellte kopfüber ins Wasser. Natty sagte zu Kora: „Sie sehen, daß wir Ihrem Rat folgen. Noch ein Hinweis: Führt man Sie in die Gefangenschaft, so versuchen Sie bitte, hin und wieder einen Zweig zu knicken, es fällt uns dann leichter, auf Ihrer Spur zu bleiben.“ Natty gab Kora und Alice die Hand, ehe er Große Schlange nachsprang. Das Wasser war eiskalt und riß ihn in einen Strudel hinein, er hatte Mühe, die richtige Schwimmlage zu finden. Einmal wurde er an die Oberfläche gewirbelt, holte Luft, fürchtete einen Schuß und tauchte erneut, sah die Steine des Flußbettes unter sich und ließ langsam die Luft aus den Lungen. Als er zum zweitenmal auftauchte, als er neben sich die Felswand einer Klamm sah, wußte er, daß er entkommen war. Oben vor der Höhle stand noch immer Unkas. „Unkas 160
bleibt“, sagte er ruhig. „Springen Sie doch!“ rief Kora. „Hier darf es keinen Kampf mehr geben, wenn wir nicht alle niedergemacht werden sollen. Fliehen Sie und richten Sie meinem Vater aus, er möge Ihnen Geld geben, damit Sie meine Schwester und mich loskaufen können. Es ist mein Wunsch, meine Bitte, daß Sie fliehen!“ Unkas’ Miene verfinsterte sich, dann sprang auch er. Als er verschwunden war, sagte Heyward: „Bitte verlangen Sie nicht, daß ich diesen drei Männern folge, Ihr Schicksal wird mein Schicksal sein.“ Ein Fischadler, der auf dem Wipfel einer Fichte gesessen hatte, schoß herab und schwebte in weiten Kreisen über dem Fluß, eine Elster flog, einen Ast zum Nestbau quer im Schnabel, mit langsamen Flügelschlägen vom Walde heran. Heyward nahm Kora und Alice am Arm und führte sie in die Höhle. Der Musiklehrer hockte auf einem Reisighaufen, hielt sich den Kopf und stöhnte. „Sie haben Glück gehabt“, sagte Heyward. „Die Kugel besaß wenig Kraft und hat Sie nur betäubt, anstelle Ihnen den Schädel zu zertrümmern. Hoffentlich haben Sie jetzt alle Sinne beieinander; Sie könnten sie brauchen.“ Gamut hob den Blick und erwiderte: „Die Damen und ich haben schon einmal Kraft geschöpft, als wir die Stimme zum Lobe des Herrn erhoben. Wir werden es abermals versuchen.“ „Sie halten hübsch den Mund und locken uns nicht die Mingos auf den Hals. Noch bleibt uns die Spur einer Chance.“ Heyward führte die Schwestern und Gamut in den hintersten Teil der Höhle, hängte Decken vor eine Nische und tarnte sie mit Gestrüpp. Sie hatten sich noch nicht lange dort versteckt, als sich ohrenbetäubender Lärm vor dem Eingang erhob. Einige Indianer riefen von der 161
Klippe herauf, von der sich Natty und die Delawaren in den Fluß gestürzt hatten, andere antworteten von der Höhe des Felsens herab, dann waren bereits Stimmen aus der Mitte der Höhle zu hören. Alice flüsterte: „Wir sind verloren!“ und drängte sich an ihre Schwester. Heyward flüsterte zurück: „Noch nicht ganz. Jetzt brüllen die Mingos so gräßlich, weil sie ihre Toten gefunden haben. Noch haben sie uns nicht entdeckt.“ Triumphgeheul erscholl nur wenige Schritte vom Versteck entfernt. Die Mingos hatten die Gewehre ihres Feindes Falkenauge und der beiden Delawaren entdeckt, reichten sie von Hand zu Hand, jubelten und hielten eine Beratung ab, aus der Heyward herauszuhören glaubte, daß sie hofften, die Leichen ihrer Gegner in den Felsspalten zu finden. Die Höhle wurde jetzt systematisch durchsucht, mehr als einmal kam ein Mingo dem Gestrüpp vor dem Versteck bedrohlich nahe, eine Decke rutschte ein Stück herunter, durch die Lücke sah Heyward den Kopf und die Schulter eines riesigen Indianers. Die Mingos rannten hin und her, warfen Zweige durcheinander, schrien triumphierend auf, wenn sie ein zurückgelassenes Ausrüstungsstück fanden, und am lautesten war ihr Jubel, als sie das noch halbvolle Faß mit Sprossenbier entdeckten. Heyward hoffte schon, die größte Gefahr wäre vorüber, als er sich plötzlich einem indianischen Gesicht gegenübersah, schwarze, wütende Augen starrten ihn an — Le Renard, sein ehemaliger Führer, hatte ihn aufgespürt. Der Mingo stieß einen Schrei aus, seine Stammesgenossen rissen Äste und Decken beiseite, packten Heyward, den Musiklehrer und die beiden Frauen und führten sie unter Freudengebrüll ins Tageslicht vor die Höhle. Dort standen die vier Weißen eine knappe Minute nach ihrer Entdeckung, bleich vor Entsetzen, umringt von 162
einer waffenstarrenden Schar von Feinden. Eine halbe Stunde lang herrschte wirres Durcheinander. Die Mingos hofften, nun auch ihre übrigen Gegner zu finden, plünderten die erbeuteten Reisetaschen und bestürmten ihre Gefangenen mit Fragen, von denen nicht eine einzige zu verstehen war. Endlich trat Le Renard vor Heyward hin und sagte: „Meine Freunde fordern das Leben von Falkenauge, oder sie wollen das Blut derer, die seinen Schlupfwinkel nicht verraten.“ Heyward antwortete: „Er ist zu weit fort, als daß die Mingos ihn einholen könnten.“ Der Mingo lächelte verächtlich. „Wenn der weiße Mann stirbt, glaubt er, er finde Frieden, aber die roten Männer quälen selbst die Geister ihrer Feinde. Wo ist der Kadaver von Falkenauge?“ „Falkenauge ist nicht tot, er ist entkommen.“ „Ist er ein Vogel? Ist er ein Fisch, daß er schwimmen kann, ohne zu atmen?“ „Und doch sind er und die Delawaren den Fluß hinabgeschwommen.“ „Warum blieb dann der weiße Offizier zurück? Ist er ein Stein, der zu Boden sinkt, oder brennt ihm der Skalp auf dem Kopf?“ Heyward hatte seine Fassung und seinen Mut wiedergewonnen, er erwiderte scharf: „Der weiße Offizier glaubt, daß nur Memmen ihre Frauen im Stich lassen.“ Allmählich war es still geworden. Als Heyward geendet hatte, starrten die Mingos stumm Le Renard an, der ihnen mit wenigen Worten und Gebärden zum Fluß hin klarmachte, was er erfahren hatte. Die Mingos antworteten mit Wutgeheul, einige rannten sogar zum Fluß und spuckten hinein. Ein kräftiger junger Krieger packte Alices langes blondes Haar, drehte es um seine Hand und deutete mit 163
einem Messer Schnitte durch die Kehle und um den Kopf herum an. Heyward versuchte, ihr zu helfen, wurde aber gepackt und zu Boden gerissen. Als er sich mühselig erhob, hatte der Krieger von Alice abgelassen, sie lehnte totenbleich an ihrer Schwester. „Verliert den Mut nicht“, sagte Heyward, „gewöhnlich sind die Drohungen der Indianer schlimmer als ihre Taten. Wir sind bei der Gefangennahme nicht umgebracht worden, wir werden schon durchkommen.“ Die Indianer drängten sich zu einer Beratung zusammen, und anschließend wurde das Kanu, das sie durch einen Handstreich erbeutet und mit dem sie die Insel erobert hatten, durch die Stromschnellen herangetrieben und an der gleichen Stelle festgebunden, an der Natty Bumppo am vergangenen Abend ans Ufer gestiegen war. Le Renard zeigte hinunter, Heyward riet dem seit der Gefangennahme völlig stummen, apathischen Musikmeister und den Schwestern, widerstandslos zu folgen, und ging ihnen zum Kanu voran. Sie stiegen ein; zwei Indianer stakten geschickt durch die Stromschnellen zum anderen Ufer, die übrigen schwammen hinüber. Die Pferde, mit denen Heyward und seine Reisegesellschaft in diese Wildnis gekommen waren und die sich längst in den Händen der Mingos befanden, wurden herangebracht, und nach einer erneuten Beratung teilte sich der Trupp. Die meisten Mingos folgten dem Häuptling, der sich auf Heywards Pferd geschwungen hatte, nur sechs unter Führung von Le Renard blieben als Bewachung bei den Gefangenen. Heyward betrachtete diese Maßnahmen mit verstärkter Sorge. Nachdem die Hauptmacht zwischen den Bäumen verschwunden war, wandte er sich an Le Renard und sagte: „Mein roter Freund hat sich seines ehrenvollen Namens würdig erwiesen. Ich erkenne seine Weisheit und 164
alles, was er für uns getan hat. In der Stunde seiner Belohnung werde ich nichts davon vergessen. Le Renard hat gezeigt, daß er nicht bloß ein großer Häuptling ist, sondern auch weiß, wie er seine Feinde täuschen kann.“ Der Indianer fragte kalt: „Was hat Le Renard getan?“ „Er hat gesehen, daß in den Wäldern Feinde lauerten, und verlor deshalb absichtlich den Pfad, um sie zu verwirren. Gab er da nicht vor, zu seinem Stamm, der ihn einst mißhandelt hat, zurückkehren zu wollen? Und standen wir ihm nicht bei, indem wir uns verstellten, um die Mingos glauben zu machen, der weiße Mann sei überzeugt, sein Freund sei sein Feind geworden? Le Renard hat ein großes Spiel gespielt, und seine Rechnung ist aufgegangen. Jetzt wird er die Schritte rückwärts wenden, um dem reichen, grauköpfigen General die Töchter heimzuführen, und er wird für seine Ehrlichkeit mit Medaillen überhäuft werden, sein Hörn wird von Pulver überquellen, und er wird so viele Dollars in seiner Tasche tragen, wie Kiesel am Hurican glänzen.“ „Und was will der junge Offizier geben?“ „Ich werde das Feuerwasser schneller in die Kehle meines Freundes fließen lassen, als der brausende Hudson strömt.“ Le Renard hatte Heywards raffinierte Rede mit unbewegtem Gesicht angehört. Nach einer Weile zeigte er auf den Verband an seiner Schulter und fragte: „Machen Freunde diese Zeichen?“ „Hätte Falkenauge dein Herz verfehlt, wenn er es nicht anders gewollt hätte?“ „Genug, Le Renard ist ein kluger Häuptling, er wird wissen, was er zu tun hat. Jetzt öffne deinen Mund nicht wieder!“ Le Renard winkte Heyward zu, den Schwestern in die Sättel zu helfen, und gab den Befehl zum Aufbruch. 165
Er selbst ging voran, rasch zog die Kolonne nach Süden, fort vom Lager William Henry. Manchmal gelang es Kora, die sich der Worte Natty Bumppos erinnerte, einen Zweig zu knicken, meist aber wurde sie durch die wachsamen Blicke ihrer Bewacher daran gehindert. Einmal brach sie den Zweig eines Sumachbaumes und hatte dabei den Einfall, einen Handschuh fallen zu lassen, aber ein Mingo gab ihn ihr zurück und zerknickte mehrere Zweige nahebei, so daß es aussah, als sei hier Wild durchs Gebüsch gebrochen. Danach legte der Indianer die Hand mit so eindeutiger Gebärde auf sein Beil, daß es Kora nicht wagte, noch einmal Bumppos Rat zu befolgen. Ohne einen anderen Kompaß als die Sonne und gelenkt von Merkmalen, die nur dem Scharfsinn der Indianer deutlich werden, verfolgte Le Renard seinen Weg durch öde Fichtenwälder, querte fruchtbare Täler, überschritt Bäche und Flüßchen. Nie war er unschlüssig, nichts hemmte seine Eile, keinen Augenblick ermattete er, stets schritt er dem Zug voran, und immer wenn die Gefangenen den Blick hoben, sahen sie an der Spitze des Zuges die Feder auf seinem Schöpf wippen. Nachdem er ein Tal durchschritten hatte, durch das ein reißender Bach floß, stieg er einen Hügel hinan, der so steil und unwegsam war, daß die Schwestern absteigen mußten. Der Gipfel des Hügels war abgeplattet, nur wenige Bäume standen auf ihm. Hier gab er endlich das Zeichen zur Rast. Während des Eilmarsches hatten die Mingos ein Hirschkalb mit einem Pfeil getötet, jetzt wurde es zerlegt. Eine Stunde verging mit den immer gleichen Handgriffen, wenn ein Lager in der Wildnis eingerichtet wird; die Pferde wurden versorgt und angebunden, trockenes Holz wurde gesammelt und ein Feuer entzündet, die Mingos aßen das Wildbret zum Teil roh, während Heyward sich 166
mühte, den Anteil für die Gefangenen so gut wie möglich zu braten. Le Renard hatte sich abseits von seinen Stammesgenossen niedergesetzt und schien in tiefes Nachdenken versunken. Heyward, der nicht mehr an Flucht oder gewaltsame Befreiung glaubte, hoffte, der Samen, den er im Gespräch mit seinem ehemaligen Führer ausgestreut hatte, würde nun keimen. Als er sein Fleischstück hinuntergeschlungen hatte, ging er zu Le Renard hin und fragte: „Hat mein roter Freund die Sonne lange genug im Gesicht gehabt, um weit genug von den Kanadiern fort zu sein? Und wird sich der General der Festung .William Henry nicht stärker freuen, wenn er seine Töchter wiedersieht, ehe noch eine zweite Nacht sein Herz hart macht? Und wird der General mit seinen Geschenken...“ Der Mingo unterbrach ihn: „Lieben die Bleichgesichter ihre Kinder weniger am Morgen als am Abend? Denkt Munro überhaupt an die Kinder, die seine Squaws ihm gegeben haben? Er ist kalt gegen seine Krieger, und seine Augen sind aus Stein.“ „Er ist streng gegen die Faulen und Bösen, aber gütig gegen die Tüchtigen und Treuen.“ Heyward verstummte, denn er konnte sich nicht erklären, warum sich der Gesichtsausdruck des Mingos so rasch veränderte. Zuerst schien es, als ob der Gedanke an Belohnung Le Renards Züge lockerte, dann wurden sie boshaft. „Geh“, sagte der Indianer schließlich, „und schick mir die schwarzhaarige Tochter. Ihr Vater wird nicht vergessen, was seine Tochter verspricht.“ Heyward kehrte zum Feuer zurück und beugte sich zu Kora. „Sie müssen freigebig in Ihrem Anerbieten sein“, riet er. „Sie wissen, daß die Indianer Waffen, Pulver und Decken lieben. Branntwein ist vielen am wichtigsten. 167
Denken Sie daran, daß von Ihrem Verhandlungsgeschick auch das Leben Ihrer Schwester abhängt.“ „Und Ihres, Major.“ Kora entsann sich, schon beim Beginn dieser Reise das verwegene Gesicht Le Renards mit Unbehagen betrachtet zu haben, aber nun war es natürlich zu spät, sich vorzuwerfen, über die Warnung einer inneren Stimme hinweggegangen zu sein. Kora trat vor den Mingo hin und begann: „Was will Le Renard der Tochter eines Generals sagen?“ Der Indianer faßte sie am Arm, als wollte er damit die Wirkung seiner Worte erhöhen. „Höre! Ich wurde als Häuptling unter den Mingos an den großen Seen geboren. Die Sonne von zwanzig Sommern wusch den Schnee von zwanzig Wintern in die Ströme, ehe ich ein Bleichgesicht erblickte, und ich war glücklich. Dann kamen die französischen Väter in die Wälder und brachten das Feuerwasser, und ich begann es zu lieben. Die Mingos verzeihen es keinem Krieger, wenn er den Verstand an das Feuerwasser verliert, und so trieben sie Le Renard von den Gräbern seiner Väter. Wer war schuld? Die Franzosen waren es, nicht Le Renard, denn er wußte nicht, daß zum Tier wird, der das Feuerwasser trinkt. Die Min-gos verjagten ihn, als ob er ein Wolf war. Er rannte den Fluß hinab bis zu der Stadt, wo die Kanonen der Engländer stehen, dort jagte und fischte er. Aber kein roter Mann will allein leben, er braucht Brüder, und so wurde Le Renard ein Krieger bei den Mohawks. Aus einem Stamm, der den Franzosen gehorcht, war er zu Männern gekommen, über die der große weiße Vater aus England befiehlt. Ist es seine Schuld, daß sein Hirn nicht aus Stein war? Wer gab ihm das Feuerwasser? Die Blaßgesichter, deine Freunde sind schuld, daß er sich auf der Erde wälzte und wie ein Köter heulte.“ 168
„Was kann ich dafür, daß es schlechte Weiße gibt?“ Der Indianer ließ seinen Gedankengang nicht unterbrechen. „Höre! Als die englischen und französischen Väter das Beil aus der Erde gruben, zog Le Renard auf Vorposten bei den Mohawks und kämpfte gegen seinen alten Stamm. Der graue Häuptling am Hurican, dein Vater, war unser Anführer. Er erließ ein Gesetz, daß kein roter Mann Feuerwasser trinken dürfe, aber Le Renard öffnete töricht den Mund, und das Feuerwasser trieb ihn vor Munros Augen. Was tat der Graue?“ „Er vergaß sein Gesetz nicht und bestrafte dich. Das ist Gerechtigkeit.“ Le Renard faßte den Arm des Mädchens fester. „Gerechtigkeit“, höhnte er, „heißt das Gerechtigkeit, wenn man Unheil schafft und dafür bestraft? Der Häuptling Le Renard wurde wie ein Hund gebunden und vor den Augen aller Bleichgesichtskrieger ausgepeitscht. Hier sind die Narben von Kugeln und Messern, dafür darf sich ein Krieger rühmen. Aber auf den Rücken hat der Graukopf Spuren gezeichnet, die ein Mann vor den Squaws verbergen muß.“ „Aber ein Mann kann besänftigt werden! Wenn mein Vater dir unrecht getan hat, so verzeih ihm und bring ihm seine Töchter zurück. Sein Lohn wird doppelt groß sein. Was willst du haben?“ „Was ein Mingo liebt! Gutes für Gutes, Böses für Böses.“ Kora erbleichte. Sie versuchte, ihren Arm zurückzuziehen, aber der Indianer hielt ihn eisern umklammert. „Höre“, sagte er, „als Le Renard sein Volk verlassen mußte, wurde seine Squaw einem anderen gegeben. Nun soll die Tochter des englischen Häuptlings mit nach Norden gehen und in seinem Wigwam wohnen.“ Kora mußte alle ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um 169
gelassen zu erwidern: „Was würdest du für ein Vergnügen daran finden, mit einer Frau zu leben, die dich nicht liebt?“ Der Indianer antwortete mit kaltem Haß: „Als Hiebe den Rücken Le Renards trafen, wußte er schon, wie er die Schmerzen tilgen wird. Die Tochter Munros sollte sein Wasser tragen, sein Feld hacken und sein Wildbret kochen. Der Leib Munros sollte unter seinen Kanonen schlafen, sein Herz aber unter Le Renards Messer bluten.“ Kora schrie ihm ins Gesicht: „Du Ungeheur! Doch deine Rechnung geht nicht auf, du wirst erleben, wozu eine Tochter Munros fähig ist!“ Der Mingo lächelte geringschätzig und wandte sich seinen Kriegern zu, die gerade ihre Mahlzeit beendeten. Heyward eilte zu Kora und bestürmte sie mit Fragen, aber sie antwortete nicht. Ihr erloschener Blick war deutlich genug. Le Renard setzte im Kreise seiner Gefährten zu einer weitschweifigen Rede an. Er schilderte den langwierigen Kriegszug in diese Wälder, pries die Taten jedes einzelnen und kam auf den erbitterten Kampf zu sprechen, der der Eroberung der Insel im Glenn vorausgegangen war. Dabei zeigte er auf Heyward und nannte den Namen des Mingos, der durch dessen Hand getötet worden war, und als der Name Falkenauge fiel, steigerte sich seine Stimme in loderndem Zorn. „Was sollen wir berichten“, schloß er, „wenn wir zurückkommen und nicht einen einzigen Skalp von einem weißen Schädel mitbringen? Die Weiber werden mit Fingern auf uns zeigen. Ein Fleck haftet auf unserem Namen, den wir nur mit Blut abwaschen können.“ Diese Haßrede verfehlte ihre Wirkung nicht. Bei den letzten Worten sprangen die Mingos auf, packten ihre 170
Messer und stürzten sich auf die Gefangenen. Heyward stellte sich vor die Schwestern, er wurde von zwei Mingos überwältigt; für einen dritten war es ein leichtes, den Musikmeister zu Boden zu werfen. Heyward wurde nach verzweifelter Gegenwehr an einen Baum gebunden, die jungen Frauen wurden rechts und links davon mit Weidenruten an Stämme gefesselt. Einige Indianer schleppten trockenes Holz herbei, um einen Scheiterhaufen zu entzünden. Le Renard trat vor Alice hin, die vor Schrecken und Angst halb ohnmächtig war, schwang sein Beil und nagelte damit eine ihrer Locken an den Stamm. Diese grausame Tat brachte Heyward zur Verzweiflung. Mit einer gewaltigen Anstrengung sprengte er seine Fesseln und stürzte sich auf einen anderen Mingo, der gerade sein Beil zum Wurf hob. Beide rangen, stürzten zu Boden; der nackte Leib seines Gegners bot Heyward keinen Halt, nach kurzem Kampf spürte er das Knie seines Feindes auf der Brust. Über ihm blitzte das Messer, im nächsten Augenblick wäre Heywards Kehle durchschnitten worden. Da krachte ein Schuß, der Indianer ließ das Messer fallen und sank stöhnend zur Seite. Für eine Sekunde erstarrten die Mingos, dann schrie einer von ihnen: „Falkenauge!“ Lärm aus einem Gebüsch, in dem die Mingos unvorsichtigerweise ihre Gewehre abgestellt hatten, lenkte ihre Blicke dorthin, da brach Natty Bumppo, der sich nicht die Zeit nahm, die Büchse erneut zu laden, heraus, das Gewehr über dem Kopf schwingend. Schneller noch als er waren Große Schlange und Unkas. Le Renard erfaßte sofort die Situation und sprang Große Schlange an, im nächsten Augenblick war das Handgemenge allgemein. Unkas stürzte sich auf einen Gegner und zerschmetterte ihm den Schädel, Heyward zerrte Le Renards Beil aus 171
dem Stamm, an den Alice gebunden war, und schleuderte es einem angreifenden Mingo entgegen. Er traf ihn an der Brust, sprang mit bloßen Händen vor und mußte sich gleich darauf der hitzigen Messerstöße seines Feindes erwehren. Natty erlöste ihn mit einem Kolbenschlag auf den Kopf des Mingos aus dieser gefährlichen Lage. Unterdessen war es Kora gelungen, sich zu befreien, sie eilte auf ihre Schwester zu, wurde aber von einem Mingo an den Haaren gepackt und zu Boden gerissen. Schon zückte er das Messer zum tödlichen Stoß, als das Beil Heywards und der Kolben Nattys gleichzeitig auf ihn niederfielen. Der Kampf war jetzt bis auf das Handgemenge zwischen Große Schlange und Le Renard entschieden. Beide hatten versucht, mit ihren Messern zuzustechen, dann hatten sie sich gepackt und rangen nun am Boden, bedeckt von Staub und Blättern und kaum voneinander zu unterscheiden. Unkas und Natty rannten zu ihnen hin, da gelang es Große Schlange, seinem Feind einen Stich zu versetzen. Er glaubte, gesiegt zu haben, und sprang triumphierend auf, Natty hob den Kolben, um Le Renard den Kopf zu zerschmettern, als sich der Mingo mit einer unvermuteten raschen Wendung den Hang hinabrollen ließ und mit einem Satz zwischen den Büschen verschwand. „Das sieht dieser zähen Katze ähnlich!“ rief Natty. Man hörte Äste brechen, dann war es still auf dem Hügel. Die Schwestern blickten schaudernd auf die getöteten Indianer, Unkas befreite den Musikmeister von seinen Fesseln, Große Schlange machte sich daran, die herumliegenden Waffen aufzusammeln. Als erster brach Heyward das Schweigen: „Ihr kamt gerade im rechten Augenblick.“ Natty hielt seine wiedergewonnene Büchse in den 172
Händen, richtete den Feuerstein und schob eine Kugel in den Lauf. Er sagte: „Wenn wir nach dem Fort gegangen wären, hätten wir eure Skalpe nicht gerettet, aber wir blieben auf der Spur und griffen ein, als es höchste Zeit war.“ Gamut hinkte heran. „Lob und Preis meinen Rettern!“ rief er. „Ich lade euch alle ein zu einem Lobgesang für die wundervolle Fügung, die uns den Händen der Ungläubigen entrissen hat,“ Er zog sein Pfeifchen aus der Tasche und ließ einen jubelnden Ton hören. Die Schwestern hatten die Arme umeinandergelegt und weinten. Gamut blickte auf sie hinab; er begriff, daß sie nicht in den Gesang einstimmen würden. Natty sagte: „Singen Sie, Meister, singen Sie. Schaden kann’s nicht. Aber dann müssen wir weiter.“
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Geier über Fort William Henry Der Weg von dem Hügel fort, auf dem die Leichen der Mingos zurückblieben, querte sandige, von Tälern und Hügeln unterbrochene Ebenen. Am Morgen hatte Le Renard geführt, jetzt hielt Natty Bumppo die Spitze. Die Sonne hatte sich tief gegen die entfernten Berge gesenkt, die Hitze war nicht mehr so drückend, und so ging der Marsch zügig voran. Natty achtete auf die Merkmale der Natur ebenso wie Le Renard mit einer Art von Instinkt; ein rascher Blick im Vorbeigehen auf das Moos an den Stämmen, auf die sinkende Sonne, auf die Richtung der Bäche genügte ihm. Unterdessen wechselte der Wald seine Farbe, das lebhafte Grün verlor sich in dem gedämpften Licht, das den Einbruch der Nacht ankündigte. Am Rande eines Hügels, in der Nähe einer Quelle gab Natty das Zeichen zur Rast. Die Pferde, auf denen Kora und Alice geritten waren, weideten, Natty entfachte ein Feuer, Große Schlange und sein Sohn umkreisten wachsam das Lager, um es in der gefährlichen Zeit der Dämmerung vor einer Überraschung zu sichern. Am heißesten hatte Gamut das Ende des Marsches herbeigesehnt, ächzend kühlte er im Bach seine Füße. Heyward, der Natty am Feuer half, fragte: „Eigentlich haben wir Weißen doch genügend Grund, den Indianern zu mißtrauen. Und Sie hegen diesen beiden Mohikanern gegenüber keinerlei Argwohn?“ Kora fragte dazwischen: „Mohikaner? Ich denke, es sind Delawaren?“ „Die Bezeichnungen gehen durcheinander“, antwortete Natty. „Die Stämme nennen sich selbst anders, als sie von ihren Nachbarn genannt werden, und wir Weißen, Holländer ebenso wie Engländer und Franzosen, tragen durch Verstümmelung der Namen noch weidlich zur Verwirrung 174
bei. Meine Freunde kann man Mahicanni, Mohikaner, Lenape, Delawaren oder Wanapachki nennen, und immer hat man recht.“ „Sie vertrauen ihnen rückhaltlos?“ „Wie mir selbst. Schauen Sie, Major, Sie kennen die Indianer nur im Krieg, wenn sie von uns oder von den Franzosen aufgeputscht werden. Dann sind Indianer grausam, listig und rachsüchtig, ihre Reden strotzen von Prahlereien, sie können zu Teufeln werden, und dabei unterscheiden sich die Stämme südlich oder nördlich der Großen Seen durchaus nicht. Ich aber bin unter ihnen aufgewachsen, ich kenne sie im Frieden, und da sind sie gerecht, edelmütig, gastfreundlich und bescheiden. Der Krieg tut ihnen nicht gut. Ist es nicht ein Jammer, daß wir sie so selten in Ruhe ihrer Jagd, ihrem Fischfang und ihrem Maisanbau nachgehen lassen?“ „Ich bin Soldat“, brummte Heyward. „Was Sie da auf werfen, gehört ins Fach der Politiker.“ „Mag sein, aber mich beschäftigt es. Und wenn ich sage, daß der Krieg die Indianer so nachteilig verändert, so muß ich hinzufügen, daß er auch uns Weiße nicht edler macht. Ich kann mich noch erinnern, welche Skrupel ich einst besaß, einen Menschen zu töten. Ich zögerte so lange mit dem Schuß, bis ich beinahe selbst das Leben verloren hätte. Jetzt zähle ich die Feinde schon gar nicht mehr, die durch meine Büchse gestorben sind, und ich habe vorhin ungerührt zugesehen, wie mein Freund Chingachgook den Toten die Skalpe abgezogen hat.“ Die Rast war nur kurz. Als der Mond aufgestiegen war, ordnete Natty den Aufbruch an. Jetzt gingen er und Große Schlange an der Spitze, hinter ihnen ritten Kora und Alice, gefolgt von dem hinkenden Gamut; Heyward und Unkas bildeten den Schluß. Natty wollte in dieser Nacht möglichst nahe an das Fort William Henry herankommen, 175
er hoffte, die Franzosen hätten den Belagerungsring noch nicht geschlossen, und er und seine Begleiter könnten im Morgengrauen durch die Postenkette schlüpfen. Mehr als einmal hielt Natty an, um sich mit dem Delawarenhäuptling zu beraten; er zeigte zum Mond und untersuchte die Rinde der Bäume. In diesen Pausen lauschten Heyward und die Schwestern angespannt, aber sie hörten nichts außer dem leisen Fächeln der Blätter und dem Murmeln eines Baches. Am Ufer eines Flüßchens machte Natty halt und flüsterte seinen Begleitern zu, sie sollten die Mokassins ausziehen, dann wateten sie, um ihre Spuren zu tilgen, eine halbe Stunde lang im Flußbett abwärts. Der Mond versank hinter einer Masse schwarzer Wolken am westlichen Horizont, da verließen sie das Gewässer und stiegen auf eine sandige Fläche hinauf. Hier kannte sich Natty aus, er marschierte ohne zu zögern an der Spitze, die Büchse schußbereit an der Hüfte. Nachdem sie eine Schlucht durchschritten hatten, wandte sich Natty gegen die Berge und führte seine Begleiter in den tiefen Schatten, der von ihren Gipfeln fiel. Der Boden war mit Felsblöcken übersät, mehr als einmal strauchelten die Pferde. Heyward zog jetzt das Pferd, auf dem Alice saß, am Zaum, manchmal stützte er das Mädchen und flüsterte ihr zu, das Schlimmste läge hinter ihnen, bald wäre Fort William Henry erreicht. Er wußte aber nur zu gut, daß der Durchbruch durch die Belagerer noch einmal allen Mut, große Geschicklichkeit und viel Glück erforderte. Natty stieg einen Pfad hinan, er wand sich zwischen Felsen und Baumen entlang, war rauh und steil und forderte von ihm und seinem Trupp die letzten Kräfte. Die Finsternis wich, allmählich rötete sich der Horizont, die Gegenstände gewannen ihre natürlichen Farben. Als Natty aus einem Gehölz verkrüppelter Bäume, das sich um den 176
kahlen Gipfel des Berges zog, auf einen flachen moosbewachsenen Felsen hinaustrat, fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die grünen Hügel jenseits des Tales. Natty bat die Schwestern abzusteigen, nahm den müden Tieren Sattel und Zaum ab und klatschte ihnen auf die Kruppe. „Sucht euch euer Futter“, sagte er, „und paßt auf, daß euch nicht die Wölfe fressen.“ Heyward fragte: „Brauchen wir sie nicht mehr?“ „Wir wollen auf diesen Felsen kriechen, von dort aus werden Sie sehen, was los ist.“ Natty und Heyward schlichen, wobei sie jede Deckung ausnutzten, an die Kante des Felsens. Vor ihnen breitete sich ein überraschendes Bild. Zu ihren Füßen beschrieb der Hurican einen weiten Halbkreis um eine Fläche, die dahinter rasch anstieg. Gegen Norden erstreckte sich der klare, schmale Spiegel eines Sees, der sich in unzählige Buchten auffächerte, von Bergen gerahmt und von Inseln besät war. Zwischen ihm und den bewaldeten Bergen im Süden kräuselten Rauchwolken aus Hütten und von offenen Feuerstellen auf, streckten sich die Erdwälle und niedrigen Festungsbauten des Forts William Henry, ragten Bastionen aus dem Fluß. Rings um die Festungswerke war der Wald gefällt, vor dem Fort patrouillierten Feldwachen, innerhalb der Wälle gingen und standen Soldaten, wurden Kanonen geladen und neue Verschanzungen aufgeworfen. Gegen Südosten, tausend Schritt vom Fort entfernt, erhob sich ein befestigtes Lager auf einer Anhöhe, über dem die französische Fahne wehte. Heyward stellte fest: „Wir sind zu spät gekommen.“ Natty suchte die umliegenden Wälder und Hügel ab, überall entdeckte er Zelte und Wachfeuer. Er sagte: „Natürlich hat Montcalm seine Hilfstruppen mitgebracht, 177
Mingos, Huronen, Irokesen und wie die Stämme im Norden alle heißen. Die Wälder strotzen von ihnen, und ich möchte lieber von den Franzosen gefangen werden, als ihren Verbündeten in die Hände fallen.“ Von den Batterien der Belagerer stiegen weiße Wolken auf, über den Wällen des Forts zerplatzten Granaten; dumpfes Grollen drang bis auf den Felsen herauf. Über dem See ballte sich eine Dunstschicht zusammen, die vom Morgenwind das Tal heraufgetrieben wurde. Der Pulverdarnpf der Kanonade mischte sich mit dem Nebel und überzog bald einen Teil der Festungswerke. „Das ist unsere Chance!“ rief Natty. „Wenn es uns überhaupt gelingt, zum Fort durchzubrechen, dann jetzt. Wenn wir zerstreut werden sollten, merkt euch, daß ihr den Wind immer von links spüren müßt!“ Natty sprang den Hang hinab, Heyward und Gamut halfen den Schwestern. In wenigen Minuten waren sie am Fuß des Berges angelangt, den sie mit so viel Mühe erklommen hatten. Der Nebel hüllte die Baumspitzen ein, vor ihnen fiel hin und wieder ein Gewehrschuß. Große Schlange und Unkas pirschten, ehe die Frauen nachgekommen waren, ein Stück auf die Ebene hinaus, sie kamen zurück und meldeten, daß sich links von ihnen eine Formation von Franzosen und Irokesen aufstellte. Nattys Plan, in gerader Linie ein Ausfalltor des Forts zu erreichen, war nun nicht mehr ausführbar, und er wußte, wie rasch er sich, wenn er einen Bogen schlagen mußte, im Nebel verirren konnte. Aber ihm blieb keine Wahl. Er winkte Heyward zu, ihm zu folgen, rannte gebückt in den Nebel hinein, warf sich hin, versuchte sich nach dem stärker werdenden Schießen zu orientieren und sprang wieder auf, als er hinter sich die Schritte Heywards und der Schwestern hörte. Jemand rief etwa zwanzig Schritte 178
neben ihnen: „Qui va là?“ Als keine Antwort erfolgte, knallten Schüsse. Kugeln pfiffen, französische Kommandos wurden geschrien. Natty und die Delawaren glaubten, sich durch eine Salve Respekt verschaffen zu können, sie feuerten in die Richtung, aus der sie angerufen worden waren, in den Nebel hinein. Heyward sagte: „Wir ziehen uns das ganze Heer auf den Hals, wenn wir nicht endlich wegkommen! Los jetzt!“ Unkas faßte Kora und zog sie weiter, Heyward trug Alice mehr, als daß er sie führte. Geschrei, Flüche, Befehle und Flintenschüsse folgten ununterbrochen und, wie es schien, von allen Seiten. Plötzlich riß ein Feuerstrahl den Nebel auf, eine Kanonenkugel tanzte über das Gras und fetzte eine lange Spur hinein. Natty rief: „Das war ein Geschütz vom Fort!“ Er merkte, daß er die Richtung verloren hatte, wandte sich nach links und schrie Heyward zu: „Wir wären beinahe den Mingos in die Messer gelaufen. Schnell jetzt, wir haben es gleich geschafft!“ Er sah Gestalten im Nebel rechts und links, noch einmal fiel ein Kanonenschuß, und jetzt erkannte Natty auch, woher er kam. Blitz und Donner schlugen zusammen, von oben herab, wie aus den Wolken, brüllte ein Mann: „Wartet, bis ihr die Franzosen seht! Und tief halten!“ Natty warf sich zu Boden, eine Salve fegte über ihn hin, er richtete sich auf die Knie und rief: „Nicht schießen, wir sind Freunde!“ Alice taumelte neben ihm zu Boden. Aus dem Nebel heraus war ein neuer Befehl zu hören: „Männer vom sechzigsten Regiment, spart mit Munition!“ „Vater!“ rief Alice, „Vater, laß nicht schießen, deine Töchter sind hier!“ Für einen Augenblick erstarben alle Geräusche, dann wurde auf dem Wall befohlen, das Tor zu öffnen. Heyward hörte das Knarren der Angeln, riß Alice hoch 179
und stürzte mit ihr vorwärts, gleich darauf stieß er auf eine Reihe dunkelrot uniformierter Soldaten. Oben auf dem Wall schoß noch einmal eine Kanone, aber ihre Kugel flog weit in die Ebene hinaus. Die Schwestern wurden von englischen Soldaten umringt, durch die sich ein Offizier zwängte. „Meine Töchter!“ rief er und zog Kora und Alice an die Brust. Heyward hielt sich keuchend an einem Pfahl der Verschanzung fest. Munro rief ihm zu: „Major, ich danke Ihnen!“ Heyward nahm Haltung an und suchte nach einer Formel, mit der er melden konnte, was ihn in dieses Fort führte und was auf dem Weg dahin geschehen war. Jemand schrie: „Das Tor wieder schließen! Alle zurück!“ Heyward wurde mitgerissen, er sah sich nach Natty Bumppo um, wieder schössen die Kanonen von der Höhe des Walles herunter. Gleich darauf wurde hinter Heyward die Ausfallpforte zugeschlagen; eine Welle der Freude stürzte über ihm zusammen, als er begriff, daß er gerettet war. Währenddessen lag Natty hundert Schritt vor dem Fort auf der Wiese. Das Plänklerfeuer nahm wieder zu, von rechts hörte er französische Befehle, dort vermutete er Große Schlange und Unkas. Im Liegen mühte er sich, sein Gewehr zu laden und bereute, es blindlings in den Nebel hinein abgefeuert zu haben, er wußte nicht, ob er seinen Freunden helfen konnte oder ob es klüger war, sich ins Fort zu flüchten. Gerade hatte er die Kugel in den Lauf geschoben und ein Geschoßpflaster darauf gedrückt, als er hinter sich metallisches Klappern hörte. Er fuhr herum, drei Franzosen standen wenige Schritte von ihm entfernt und hielten ihre Gewehre auf ihn gerichtet, überdeutlich sah er die Augen, die Barte auf der Oberlippe, jeden Knopf an ihren Mänteln und die runden, drohenden 180
Mündungen ihrer Waffen. Da ließ er sein Gewehr fallen und hob die Hände.
2 Vier Tage später stand Major Heyward auf einer Bastion des Forts und schaute auf die Ebene hinaus. Ihm gegenüber hatten die Franzosen eine Batterie aufgestellt, von der höchsten Stelle der Verschanzung wehte die französische Flagge. Montcalm schien es darauf anzulegen, die Belagerten einzuschüchtern, denn er hinderte die ihm verbündeten Indianerstämme keineswegs, sich in ihrer übermächtigen Zahl zu zeigen. Auf den Höhen ringsum brannten Lagerfeuer, Trupps streiften durch das Tal und drangen bis in den Bereich der britischen Kanonen vor. Aber General Munro hatte befohlen, mit Munition zu sparen. Drüben über der französischen Schanze wurde jetzt eine weiße Fahne aufgezogen, vom Fort her wurde mit dem gleichen Zeichen geantwortet. Bald darauf zogen Hunderte junger Franzosen aus ihren Befestigungen hinaus und zum Fluß hinunter; sie warfen Netze aus, badeten, und ihr fröhliches Geschrei war bis auf die Bastion hinauf zu hören. Drei Männer kamen auf das Fort zu, ein Soldat trug eine weiße Fahne, ihm folgten ein Offizier und ein Mann in der graugrünen Kleidung der Jäger und Fallensteller; Heyward sah, daß dieser Mann gefesselt war, und wenig später erkannte er in ihm Natty Bumppo. Heyward lief auf dem Wall entlang und die Stufen zu einer Pforte hinunter. Der französische Offizier übergab gerade den Gefangenen, zwei britische Soldaten lösten Nattys Fesseln. Nattys Züge waren eingefallen, seine Miene war finster. Heyward packte Natty an der Schulter, beteuerte, wie sehr er sich freute, seinen Mitstreiter lebendig und wieder frei zu sehen, aber Nattys 181
Gesicht hellte sich nicht auf. „Ich soll zu Ihrem General gehen“, sagte Natty. „Ich glaube, er wird sich über meine Nachrichten nicht gerade freuen.“ „Und Sie sind unverletzt?“ „Das schon.“ „Ich hoffe, ich spreche Sie bald.“ Natty wurde zum Haus des Generals gebracht, Heyward blieb in zwiespältigen Gefühlen zurück. Die Lage des Forts war miserabel, er wußte es wohl. Die Franzosen waren an Zahl weit überlegen, hatten starke Hilfstruppen an ihrer Seite und wurden von Montcalm zielstrebig geführt. Alle Hoffnung der Belagerten richtete sich auf Entsatz durch General Webb, aber Hilfe mußte bald kommen, wenn nicht Munition und Verpflegung zu Ende gehen sollten. Ein energischer Sturm der Franzosen würde vielleicht jetzt schon nicht mehr abgewehrt werden können, und dabei wurde das Fort erst seit fünf Tagen belagert. Mit jeder Stunde spitzte sich die Situation stärker zu. Wenig später wurde Heyward ins Quartier seines Generals befohlen. Munro stand vor einer Karte, seine Miene zeigte tiefen Ernst, beinahe Erschütterung. Heyward meldete sich zur Stelle, Munro sagte: „General Montcalm hat mir meinen treuesten Kundschafter zurückgeschickt. Da Montcalm weiß, welch große Stücke ich auf den Burschen halte, liegt in dieser Geste infamer Hohn. So geht man mit einem Mann um, den man erniedrigen will. Was gibt es bei Ihnen Neues?“ „Nichts Gutes, General. Die Hälfte unserer Geschütze ist zersprungen.“ „Das kann nicht anders sein. Die einen wurden aus dem See gefischt, die anderen rosten seit der Entdeckung des Landes in den Wäldern. Wieder andere sind gar keine 182
richtigen Kanonen, sondern bestenfalls Spielzeug für Seeräuber. Woher soll man dreitausend Meilen von der Heimat entfernt Woolwicher Geschütze bekommen?“ „Die Mauern stürzen uns über dem Kopf zusammen, die Verpflegung wird knapp. Es gibt unter der Mannschaft erste Zeichen von Disziplinlosigkeit.“ „Die Lage drängt zur Entscheidung“, sagte der General. „Montcalm hat mir eine Unterredung angeboten. Nach der Art und Weise allerdings, wie er mir Bumppo zurückgeschickt hat, möchte ich ihm nicht gegenübertreten. Heyward, Sie werden die Verhandlung führen.“ Heyward nahm Haltung an; ihm war klar, wie groß die Auszeichnung war, die ihm durch diesen Befehl erteilt wurde. General Munro wies auf die Karte, erläuterte den Stil, in der Heyward die Unterredung führen sollte, und schärfte ihm ein, wieviel von seiner Wendigkeit und Klugheit abhing. Zehn Minuten nach dem Ende dieses Gesprächs verließ Heyward, begleitet von einem Trommler und einem Soldaten mit einer weißen Fahne, das Fort. Auf der anderen Seite wurde er von einem Offizier der Vorposten empfangen und zum Zelt des französischen Generals geführt. Marquis von Montcalm empfing Heyward sofort, einige Offiziere und mehrere Indianerhäuptlinge standen bei ihm, zur Überraschung von Heyward auch Le Renard, der ihn haßerfüllt anstarrte. Montcalm gelang es, den Ärger zu unterdrücken, daß sein Gegenspieler Munro nicht selbst erschienen war; er bot mit höflicher Geste Platz an. Montcalm begann: „General Munro ist ein tapferer Mann und ein hervorragender Soldat. Aber wäre es nicht Zeit, der Menschlichkeit den Vorrang vor dem Mut zu geben?“ „Wir halten diese Eigenschaften für untrennbar und 183
sehen keinen Grund, die eine der anderen vorzuziehen.“ „Möglich, daß mein Fernrohr mich täuscht und Ihre Werke die Beschießung besser überstehen, als es den Anschein hat. Sie kennen unsere Mittel?“ „Unsere Berichte lauten verschieden, aber wir glauben nicht, daß Sie mehr als zwanzigtausend Mann besitzen.“ „Schade, daß es uns nicht gelungen ist, die Stärke unserer Armee zu verbergen. Ich hoffe, Major, Sie sind berechtigt, über die Übergabe des Forts zu verhandeln?“ „Wir fühlen uns keinesfalls so schwach, auch nur an Übergabe zu denken.“ Montcalm überlegte einen Augenblick und fuhr fort: „Ich würde es bedauern, wenn sich die Verteidigung so lange hinausziehen sollte, daß meine roten Freunde noch stärker gereizt werden.“ Er wies zur Gruppe der Häuptlinge hinüber und setzte hinzu: „Es fällt mir jetzt schon schwer, sie in den Grenzen unserer Kriegsbräuche zu halten. Diese Herren da können fürchterlich werden, wenn sie sich in ihren Hoffnungen getäuscht sehen. Wollen wir nicht lieber über die Übergabe verhandeln?“ „Ich fürchte, Eure Exzellenz sind über die Stärke der Besatzung und ihre Bewaffnung falsch unterrichtet worden.“ Montcalm erwiderte ärgerlich: „Ich belagere keine Festung, sondern Erdschanzen, die von zweitausenddreihundert Soldaten verteidigt werden.“ „Das stimmt so ungefähr. Aber nur wenige Stunden entfernt steht eine beträchtliche Macht, die uns sofort Hilfe bringen kann.“ „Sechs- bis achttausend Mann unter General Webb“, antwortete Montcalm geringschätzig, „aber ihr Führer fühlt sich hinter seinen Schanzen sicherer als im offenen Feld.“ 184
So ging das Gespräch hin und her, ohne von der Stelle zu kommen, bis der General die Unterredung für beendet erklärte. Montcalm begleitete Heyward vor sein Zelt und wiederholte dort seine Einladung an Munro. Dann kehrte Heyward ins Fort zurück. Er fand seinen General im Quartier; Kora und Alice waren bei ihm. Alice sprang erfreut auf, als sie Heyward sah, aber Munro entschied, die Stunde der familiären Plauderei sei vorbei, jetzt sei er wieder General und nicht mehr zärtlicher Vater. Er schickte seine Töchter in ihr Zimmer und fragte: „Major, was haben Sie zu melden?“ Heyward berichtete von der Unterredung mit Montcalm, die kein anderes Ergebnis gehabt hatte, als daß von dem Belagerer erneut der Wunsch ausgesprochen worden war, mit Munro zu verhandeln. Munro, der sich von Stunde zu Stunde mehr über die schwierige Lage klar wurde, in der sich seine Formation befand, zögerte jetzt nicht mehr, auf den Vorschlag des Franzosen einzugehen. Er befahl Heyward, die Truppen zu alarmieren, um bereit zu sein, falls die Franzosen eine List beabsichtigten. Ein Signal wurde geblasen und eine Ordonnanz mit einer Parlamentärfahne vorgeschickt, dann machten sich Munro und Heyward auf den Weg. Kaum hatten sie das Ausfalltor verlassen, kam ihnen Montcalm entgegen. Als Munro den weißen Federbusch auf Montcalms Helm sah, straffte sich seine Gestalt, sein Blick wurde kühl und hart, als ob er ins Gefecht ginge. Die beiden Befehlshaber schritten aufeinander zu, Montcalm schwenkte seinen Helm, daß der Federbusch beinahe den Boden berührte, und rief: „Es freut mich, daß ich Sie kennenlernen darf, Monsieur! Ich möchte Sie in mein Zelt einladen.“ Munro hatte nicht übersehen, daß Gruppen von Indianern aus den Wäldern auf die Ebene hinausschwärmten; 185
deshalb antwortete er, er möchte in dieser Situation nicht gern auf seine Bedeckung verzichten, aber Montcalm gab ihm das Ehrenwort eines französischen Offiziers für seine Sicherheit. Montcalm lächelte, als er hinzufügte: „Ich möchte gern, daß Sie mein Lager besichtigen, meine Truppen inspizieren und sich so selbst überzeugen, wie sinnlos weiterer Widerstand ist.“ Munro antwortete, er wisse, daß der König von Frankreich viele Truppen besitze, aber auch die britische Krone sei in guter Hut. Montcalm spielte seine ganze Überlegenheit aus, als er erwiderte: „Aber zu unserem Glück sind die meisten Soldaten Englands weit entfernt. Die Berge ringsum machen es uns leicht, Ihre Werke zu beobachten, und ich kenne deren bedenklichen Zustand ebenso wie Sie selbst.“ Munro antwortete stolz: „Ich bezweifle, daß Ihre Fernrohre bis an den Hudson reichen. Dann würden Sie wissen, wie stark und wie nahe General Webb ist.“ General Montcalm gab einem Adjutanten einen Wink, ihm wurde ein geöffneter Brief überreicht, den er Munro hinhielt. Er sagte: „General Webb soll darauf persönlich antworten.“ Munro sah das Siegel Webbs und dessen Unterschrift, er las den an ihn gerichteten kurzen, dürren Text, der ihn in Kenntnis setzte, es sei unmöglich, ihm auch nur einen einzigen Mann zu schicken; vielmehr wurde ihm befohlen, sich sofort zu ergeben. Munros Lippen bebten, er senkte den Kopf wie jemand, der einen Schlag empfangen hat. Ohne ein Wort reichte er Heyward den Brief. Während Heyward las, sagte Montcalm: „Monsieur, das ist die Lage. Wir haben den Brief abgefangen. Ich habe ihn Ihnen nicht zu lesen gegeben, um sie zu demütigen, sondern um Ihnen den Ernst der Situation vor Augen zu führen.“ 186
Heyward rief: „Wir werden uns nicht durch Verrat entehren lassen, sondern kämpfen und unser Blut so teuer wie möglich verkaufen!“ Munro warf Heyward einen traurigen Blick zu, er fragte den Franzosen: „Wie sind Ihre Bedingungen?“ Montcalm antwortete: „Es muß jedem vernünftigen Menschen klar sein, daß es unmöglich ist, das Fort länger zu halten. Mein Interesse erfordert es, die Befestigungen zu schleifen. Ihren Truppen biete ich ehrenvolle Kapitulation an und gewähre freien Abzug.“ Heyward fragte: „Unsere Fahnen?“ „Sie dürfen sie mitführen.“ „Unsere Waffen?“ „Sie dürfen Degen und Gewehre behalten.“ Munro hatte sich inzwischen wieder so weit gefangen, daß er antworten konnte: „Marquis, ich danke Ihnen. Zwei Dinge sind geschehen, die ich für unmöglich gehalten habe: Ein Brite läßt seinen Kameraden im Stich, und ein Franzose besitzt so viel Ehrgefühl, auf einen Vorteil zu verzichten. Ich schicke Major Heyward in Ihr Zelt, er soll mit Ihnen die Einzelheiten der Übergabe festlegen. Sie gestatten, daß ich mich verabschiede.“ Er legte die Hand an die Mütze, wandte sich um und ging langsam, schleppenden Schritts zu seinem Fort zurück. Die Männer, die ihn an der Ausfallpforte erwarteten, glaubten, er sei um Jahre gealtert.
3
Die Heere, die sich im Tal des Hurican gegenüberlagen, verbrachten die Nacht zum 9. August 1757 nicht anders, als wenn sie auf einem europäischen Schlachtfeld aufeinandergetroffen wären. Die Wachtfeuer der Franzosen loderten, die Sieger triumphierten, und wer noch eine Flasche Branntwein in seinem Gepäck fand, 187
leerte sie mit seinen Kameraden auf den Sieg, auf reiche Beute, auf erhoffte Beförderung und baldige Heimkehr. Stille und Niedergeschlagenheit dagegen herrschten hinter den Mauern des Forts. Die Posten standen noch auf den Wällen; einige Male hoben sie ihre Waffen, als sie verdächtige Geräusche zu hören glaubten. Aber niemand näherte sich den Schanzen vor der festgesetzten Stunde, kein Schuß fiel. Bleierne Ruhe lag über Bastionen und Hütten, als sich der Himmel über den Bergen erhellte. Zu dieser Stunde trat Montcalm aus seinem Zelt. Le Renard, der sich in eine Decke gehüllt hatte, hockte in der Nähe; als er den General sah, ging er zu ihm hin und fragte: „Was sollen die Mingos beginnen?“ „Weiß mein Sohn nicht, daß das Kriegsbeil zwischen dem Engländer und seinem französischen Vater begraben ist?“ „Aber keiner meiner Krieger erbeutete einen Skalp.“ Montcalm sah keinen Grund, mit Le Renard sonderlich zartfühlend umzugehen. „Deine Krieger? Es sind noch gar nicht lange wieder deine Krieger. Wie viele Sonnen gingen unter, seit mein Sohn die Engländer verlassen hat?“ „Noch steckt die Sonne hinter den Bergen, aber Le Renard ist die Sonne seines Stammes. Wolken waren zwischen ihm und seinen Brüdern, aber jetzt leuchtet der Himmel hell.“ „Du solltest es dadurch beweisen, daß du deinem Volk klarmachst, wie es sich gegen die Engländer zu betragen hat.“ Der Mingo ließ nicht locker. „Warum führte mein französischer Vater seine jungen Krieger in die südlichen Wälder und feuerte seine Geschütze gegen das Haus aus Erde ab?“ 188
„Um es zu erobern. Er wird es heute in Besitz nehmen. Die Engländer ziehen sich zurück, deshalb sind sie nicht mehr seine Feinde.“ „Aber die Mingos hoben das Kriegsbeil, um es mit Blut zu färben. Noch ist es blank. Erst wenn es rot glänzt, soll es begraben werden.“ „Le Renard ist verpflichtet, das französische Banner nicht zu entehren.“ Der Mingo rief: „Und was wird aus der Ehre Le Renards?“ Er schlug die Decke zurück, drehte sich um und wies auf die Narben auf seinem Rücken. „Mein Vater, was ist das?“ „Er scheint mißhandelt worden zu sein.“ Le Renard lachte dumpf und böse. „Und was soll Le Renard seinen Kriegern sagen? Soldaten bekommen Sold, aber die roten Männer, die Le Renard in den Kampf rief, weil die französischen Väter es wollten, erhielten nichts außer ein wenig Pulver und Blei. Nun sollen sie heimziehen mit leeren Händen? Die französischen Väter versprachen ihnen Decken und Schmuck und Gewehre aus der Beute, wenn das Erdhaus erobert ist. Seit vielen Sonnen ziehen die roten Männer ihren Vätern nach, nun sollen sie ohne Lohn umkehren?“ „Es ist Friede, hast du mich nicht verstanden?“ „Aber die Maissäcke der Mingos sind leer, sie gingen nicht auf die Jagd, um für ihre Wigwams zu sorgen.“ „Le Renard wird seinen Brüdern sagen, daß sie in ihre Dörfer zurückzukehren haben!“ Noch einmal lachte der Indianer bitter auf, gleich danach hatte er sich wieder in der Gewalt, seine Stimme klangkalt und ruhig, als er sagte: „Le Renard wird den Mingokriegern melden, daß Frieden ist.“ Damit wandte er sich ab und verschwand zwischen den Zelten. Montcalm blickte ihm in schweren Gedanken nach. Schon einmal 189
war sein Name durch eine Greuelszene befleckt worden; damals waren die Umstände den heutigen verzweifelt ähnlich gewesen. Eine Weile grübelte Montcalm über die Verantwortung nach, die jemand auf sich lud, der Kräfte in Bewegung setzte, die er später nicht mehr kontrollieren konnte. Wie es schien, glitt er soeben in solch eine Situation hinein. Inzwischen war es Tag geworden, Trompeten und Trommeln rissen die Truppen Montcalms aus dem Schlaf und fanden im Fort ihr Echo. Als das französische Heer zum Morgenappell angetreten war, blitzten die Waffen in den Strahlen einer weißglänzenden Sonne. Montcalm verkündete den Sieg, wieder schmetterten die Trompeten, mit donnerndem Hurra grüßten die Soldaten Frankreichs ihren fernen König. Dann wandten sich alle Blicke dem Fort zu. Hinter den Wällen ordnete Munro seine Truppen zum Abzug. Die Soldaten schulterten die ungeladenen Gewehre, Frauen und Kinder irrten zwischen ihren Habseligkeiten hin und her. Munro winkte Heyward zu sich und befahl ihm, sich um seine Töchter zu kümmern. Als Heyward vor dem Kommandantenhaus eintraf, sah er Kora und Alice von weinenden Frauen umringt, die sich hier versammelt hatten, wo sie am ehesten Schutz erwarten durften. Kora zeigte ihre gewöhnliche Festigkeit, obgleich ihre Wangen blaß waren, Alices Augen aber verrieten, daß sie bitterlich geweint hatte. Beide empfingen Heyward mit dankbarer Freude. Heyward sagte: „Ihr Vater gehört jetzt an die Spitze seiner Truppen und hat mich beauftragt, mich Ihrer anzunehmen.“ Kora wies auf die Tür des Hauses. „Denken Sie nur, das Schicksal hat uns einen weiteren Beschützer gesandt.“ Auf der Schwelle saß Gamut, der Musikmeister, und las 190
in seinem Psalmenbüchlein. Heyward trat zu ihm hin, Gamut schreckte auf, daß ihm beinahe die Brille von der Nase gefallen wäre. „An Sie habe ich überhaupt nicht mehr gedacht“, sagte Heyward. „Ich habe mir die Freiheit genommen, mich abermals den Damen anzuschließen.“ „Hören Sie“, sagte Heyward leise, „es wird vielleicht nicht alles so glatt gehen, wie wir wünschen. Sie bleiben in der Nähe der Ladys, es könnte sein, daß es Indianer oder versprengte Franzosen auf das Gepäck abgesehen haben. Dann müssen Sie auf die Bedingungen der Übergabe verweisen und drohen, den Fall Montcalm zu melden.“ Gamut steckte sein Büchlein ein und vergewisserte sich, daß das Pfeifchen, mit dem er den Ton anzugeben pflegte, an seinem Platz war. Heyward zweifelte, daß Gamut verstanden hatte, worum es ihm zu tun war, er ging zu den Schwestern zurück, und als er noch nach Argumenten suchte, um ihre Zuversicht zu stärken, schlugen am Tor die Trommeln; die Schar der Besiegten setzte sich in Bewegung. Alice nahm den Arm ihrer Schwester. Als sie das Tor passiert hatten, sahen sie zu beiden Seiten die weißen Uniformen der Franzosen. Über dem Wall wehte schon die französische Fahne, draußen in der Ebene standen einige Bataillone unter Waffen. Kein Wort des Hohns wurde laut, stumm grüßten die Sieger die aus dem Tor ziehenden Geschlagenen. Die Kolonne der Engländer war uneinheitlich und schlecht gegliedert. An der Spitze ritt Munro mit einigen Offizieren, hinter ihm marschierte eine leidlich intakte Truppe, Wagen mit Verwundeten und Kranken folgten. Aber nicht alle Verletzten hatten Platz im Stroh finden können, manche hinkten zwischen ihren Kameraden oder 191
schleppten sich an Stöcken vorwärts. Frauen und Kinder hatten sich unter die Soldaten gemischt, Bündel waren auf Pferde gebunden, sogar Kühe wurden mitgezerrt. Die Engländer zogen am Lager der Franzosen vorbei und erreichten eine Straße, die durch den Hochwald in Richtung auf den Hudson führte. Rechts und links in den Wäldern beobachteten Scharen von Indianern den Marsch, begleiteten ihn in einiger Entfernung, manche sickerten sogar in den Zug hinein. Munro hatte mit seinem Vortrupp schon den Wald erreicht, als es zu einer Stockung kam. Ein englischer Soldat, der wenige Schritte abseits des Weges sein Schuhwerk in Ordnung brachte, wurde von einigen Indianern umringt, die ihm seinen Tornister entreißen wollten. Der Mann wehrte sich, von beiden Seiten mischten sich andere in den Streit, und plötzlich wimmelten nicht mehr nur Dutzende, sondern Hunderte von Mingos zu beiden Seiten der Straße. Kora sah, wie Le Renard von einem Trupp zum anderen eilte und ihnen etwas zurief. Die Frauen und Kinder der Geschlagenen drängten sich zusammen, doch dann beruhigten sich die Indianer wieder, und die Kolonne setzte sich erneut in Bewegung. Wenig später aber zog der bunte Schal einer Frau die Blicke eines Indianers auf sich. Er packte nach dem Schal, den die Frau schreiend festhielt, da ließ er ihn fahren, griff nach dem Kind der Frau und riß es ihr weg. Die Frau rannte ihm nach, hielt ihm den Schal hin, um dafür ihr Kind zurückzubekommen, der Indianer grinste und streckte die Hand aus, um seine Bereitschaft zum Tausch anzudeuten. Als er aber sah, daß ein anderer Indianer nach dem Schal griff, wurde er wütend und schmetterte das Kind mit dem Kopf gegen einen Stein. Eine Sekunde lang stand die Mutter regungslos vor der kleinen Leiche, sie hob die Hände auf, um Gott 192
anzuflehen, da spaltete ihr der Indianer mit einem furchtbaren Hieb seines Tomahawks den Schädel. Auf einen derartigen Zwischenfall hatte Le Renard gewartet. Er glaubte sich von den Franzosen hintergangen; sie hatten die Mingos in hellen Scharen zu diesem Krieg angeworben und ihnen Beute versprochen, jetzt schlössen die Weißen über die Köpfe der Indianer hinweg Frieden. Die Mingos fühlten sich um ihren Lohn geprellt, in allen schwelte der Wunsch, sich auf eigene Faust das zu verschaffen, was sie für ihr Recht hielten. Diese Stimmung nutzte Le Renard aus. Er legte beide Hände an den Mund und stieß einen Kriegs- und Racheschrei aus. Überallher aus den Wäldern antworteten seine Stammesgenossen, drängten an den Weg heran und stürzten sich ins Gefecht; mehr als zweitausend Indianer rissen ihre Messer und Beile aus den Gürteln. Die englischen Truppen ballten sich hier und da zu Kampfformationen zusammen, viele Soldaten aber ließen sich in der Hoffnung, ihre Angreifer damit zu beschwichtigen, die ungeladenen Gewehre aus den Händen reißen. Überall wütete der Tod in seiner schrecklichsten und abscheulichsten Gestalt, machte vor Frauen, Kindern und Verwundeten nicht Halt, Blut floß, triumphierend schwenkten die Mingos ihre erbeuteten Skalpe. Vergeblich versuchte Munro, seine Kompanien zu ordnen; als das nicht gelang, brach er mit einer kleinen Schar aus, um Montcalm anzuflehen, die Kapitulationsbedingungen einzuhalten und französische Einheiten zu Hilfe zu schicken. Rund um Alice und Kora starben Männer, Frauen und Kinder, wurden Gepäckstücke zerfetzt und Kleider von den Körpern der Toten gerissen. Major Heyward sah, daß sich fünfzig Schritt weiter oberhalb ein Dutzend Engländer formierte, dorthin wollte er vordringen, um sie 193
zum Schutz der Frauen einzusetzen, aber als er sich durchgeschlagen hatte, drängte sich ein Schwärm Mingos in seinen Rücken. Kaum ein Schuß fiel zu dieser Zeit, die Nahkampfwaffen hielten furchtbare Ernte. Heyward zog den Degen und versuchte, sich zurückzukämpfen. An seiner Seite focht für kurze Zeit Natty Bumppo, der wie ein grüner Schatten aus dem Gebüsch aufgetaucht war. Heyward schrie: „Wir müssen den Frauen helfen!“ Aber er war nicht sicher, ob Natty ihn verstanden hatte. Das Gefechtsgewühl drängte ihn und die wenigen Soldaten, die noch lebten, weiter in den Wald hinauf. Von dort aus sah Heyward noch einmal Koras wehendes schwarzes Haar, dann mußte er sich zweier Mingos auf einmal erwehren. Gleich darauf riß ihn die allgemeine Flucht fort. Alice war besinnungslos zu Boden gesunken, Kora beugte sich über sie. Gamut rief: „Ladys, das ist das Fest des Teufels, laßt uns Gott anflehen!“ Er betrachtete erschüttert die Mädchen, richtete sich auf, blickte zum Himmel und stimmte einen Choral an. Einige Indianer stürzten eben heran, um die Schwestern umzubringen und zu berauben, aber als sie die seltsame Gestalt des Musiklehrers sahen und seinen Gesang hörten, blieben sie verdutzt stehen. Es imponierte ihnen, wie dieser Weiße sein Totenlied sang, und so wandten sie sich weniger tapferen Opfern zu. Eine Minute verging, Gamut sang aus voller Brust, daß seine Stimme weit über das Schlachtfeld drang und das Ohr von Le Renard erreichte. Der Mingohäuptling zwängte sich durch das Getümmel und stieß siegestrunkene Schreie aus, als er seine ehemaligen Gefangenen wieder in seiner Gewalt sah. Er packte Kora am Arm und brüllte ihr ins Gesicht: „Ist der Wigwam Le Renards nicht besser als der Tod?“ Er hielt ihr die Hand vor die Augen und höhnte: „Die Hand ist rot, das Blut floß 194
aus weißen Adern!“ Kora war starr vor Entsetzen. Le Renard wußte, mit welcher Liebe sie an Alice hing, das brachte ihn auf eine barbarische Idee. Er riß die ohnmächtige Alice hoch, warf sie sich über die Schulter und rannte mit ihr davon. „Laß das Mädchen!“ schrie Kora und stürzte ihm nach; auch Gamut folgte. Durch Sterbende und Tote hindurch ging ihr Weg, durch den Wald und ein Stück über die Ebene, schließlich in eine Schlucht hinein, in der die Pferde standen, die Natty Bumppo wenige Tage vorher freigelassen hatte. Le Renard setzte Alice auf eines der Pferde und winkte Kora zu, das andere zu besteigen. Trotz des Abscheus vor Le Renard fühlte sich Kora doch erleichtert, dem Blutbad entronnen zu sein, ihre Widerstandskraft war erlahmt, und so tat sie, was von ihr verlangt wurde. Le Renard ergriff die Zügel und führte die Pferde in den Waid hinein, Gamut stolperte ihnen nach. Ein schmaler Pfad führte bergauf, auf dem Gipfel erkannte Kora den Platz wieder, von dem aus sie zum erstenmal auf die Flußkrümmung und das Fort William Henry geblickt hatte. Im Tal war das grausame Werk noch nicht zu Ende. Nach allen Seiten flohen die Besiegten, überall war noch das Gemetzel im Gange, die französischen Formationen aber rührten sich nicht. „Meine schwarze Blume wird den Wigwam Le Renards schmücken“, triumphierte Le Renard und trieb die Tiere weiter. An der Straße, zusammengeschart mit anderen Engländern, kämpfte Heyward; vergeblich versuchte er abermals, zu der Stelle vorzudringen, an der er von den Generalstöchtern getrennt worden war. Einmal gewannen er und seine kleine Truppe so viel Zeit, ihre Gewehre zu laden; als die Indianer einen Bagagewagen plünderten, konnte er sich absetzen. Er schlug einen Bogen durch den 195
Wald und erreichte die Straße, die zum Hudson führte; beklemmend einsam lag sie zwischen den Bäumen. Am Wegrand fand Heyward ein Gewehr, das einer der Flüchtenden weggeworfen hatte, er hob es auf und ließ sich von den Soldaten Pulver und Blei geben. Einer fragte: „Sie kommen nicht mit, Sir?“ „Ich habe hier noch zu tun.“ Allein, das Gewehr schußbereit an der Hüfte, wie er es bei Natty Bumppo gesehen hatte, bahnte sich Heyward seinen Weg den Hang hinauf. Zwischen Brombeergestrüpp und gestürzten Bäumen verkroch er sich. Vor ihm auf einem Zweig saß ein Vogel und blickte ihn mit schräggestelltem Köpfchen an. Da erst merkte Heyward, daß seine Lippen zitterten.
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Auf Le Renards Spuren Einige Tage darauf bot das Tal des Hurican, in dem die Engländer ihr Fort errichtet und an die Franzosen verloren hatten, ein völlig verändertes Bild. Die mit Schande bedeckten Sieger waren abgezogen, ihr Lager war eine verwüstete Hüttenstadt, die Festung lag in rauchenden Trümmern; verkohlte Dachsparren, Stücke geplatzter Kanonenrohre und gesprengtes Mauerwerk waren in wilder Unordnung über die Wälle verstreut. Das Wetter hatte sich geändert, vom Norden her stob kalter Wind mit der Wucht eines Novembersturms über die Berge und peitschte den Fluß gegen die Ufer. Grau wie der Himmel war der See, Böen fegten über den Boden und drückten das Gras nieder oder fuhren schrill pfeifend in die Wälder, rissen Blätter und Zweige ab und deckten sie über die Hunderte von Leichen, die in ihnen faulten. In den Regenschauern kämpften Geier mit dem Sturm, ließen sich über das Wäldermeer hinauftragen und stürzten sich wieder zu der unermeßlichen Mahlzeit hinab, die im Dickicht auf sie wartete. An diesem Tag traten eine Stunde vor Sonnenuntergang fünf Männer aus dem Wald heraus. Ihre ersten Schritte waren vorsichtig, lange spähten sie über das Tal. Ein Jüngling ging voran, kletterte auf Hügel, wies seinen Gefährten den Weg. Es war Unkas, der mit seinem Vater an der Straße zum Hudson mit Natty Bumppo zusammengetroffen war, später hatte sich ihnen General Munro angeschlossen, und als sie sich zum Rückweg nach dem Fort aufgemacht hatten, war Major Heyward zu ihnen gestoßen. Jetzt, als die fünf das Grausen der Szenerie überblicken konnten, sagte Munro: „Nie wird Montcalm von der Schmach befreit werden, dieses Blutbad 197
zugelassen zu haben. Ich habe ihn angefleht, wie nur ein Mann einen anderen anflehen kann, ich habe ihm zugeschrien, daß Frauen und Kinder abgeschlachtet werden, während Soldaten des allerchristlichsten Königs Gewehr bei Fuß stehen. Er hat nur geantwortet, seine Bedingungen des Waffenstillstands seien erfüllt, und alles Weitere ginge ihn nichts an.“ Natty wandte den Kopf, eben war ihm der Gestank der verwesenden Toten als süßliche Wolke in die Nase gestiegen. Leichen von Frauen und Kindern lagen dicht bei dicht, Fliegenschwärme stiegen von den schwarzen Wunden auf. Natty drehte mit dem Gewehr einige Körper um; er sah, daß die Generalstöchter nicht dabei waren. Da stieß Unkas einen Schrei aus: Er hatte an einem Strauch einen Fetzen von Koras grünem Schleier entdeckt. Munro rief: „Mein Kind, wo ist mein Kind?“ Munro preßte den Schleier an sich, während seine Blicke angstvoll über die Leichen irrten. Natty zwängte sich in das Dickicht hinein, er musterte jeden Zweig und jeden Grasfleck. Als er herauskam, sagte er: „Entweder ist Kora allein oder mit denen, die sie entführt haben, durch diese Sträucher gedrungen. In ihnen liegen keine Leichen, das Gemetzel hat eine andere Richtung genommen. Major, Sie sollten sich keine Gewissensbisse mehr machen. Selbst wenn Sie sich zu dieser Stelle zurückgekämpft hätten, so hätten Sie die Töchter des Generals doch nicht angetroffen.“ Heyward fragte leise: „Und Alice?“ „In den Tagen, in denen ich in der Nähe der Schwestern war, haben sie sich nie getrennt. Wir wollen hoffen, daß es diesmal nicht anders ist. Im übrigen haben wir eine Spur, und es ist ganz erstaunlich, was meine delawarischen Freunde aus der geringsten Kleinigkeit herauszulesen 198
verstehen.“ „Hugh!“ sagte Große Schlange. Er untersuchte eine Lücke im Unterholz und zeigte auf einen kaum sichtbaren Eindruck im Boden. Natty bückte sich und stellte fest: „Die Spur eines Männerfußes am Rand dieser Pfütze. Es scheint, als ob die Mädchen gefangen worden sind, und das ist mir lieber, als wenn sie allein geflohen wären, denn dann würden sie bald vor Hunger umkommen. Unkas, was sagt dir die Spur?“ Unkas entfernte einige Blätter, hielt die Hand vergleichend an den Eindruck und stellte fest: „Le Renard!“ Munro fragte: „Ist diese Antwort nicht reichlich kühn?“ Natty antwortete: „Wir haben Le Renards Mokassin so manches Mal gemessen, als wir den Schurken vom Glenn her verfolgten. Und was hängt da im Busch?“ Gleich darauf hielt Natty das Pfeifchen des Musikmeisters in der Hand. Er sagte zu Unkas: „Jetzt brauchst du nur noch die Spur eines Fußes zu finden, der lang genug ist, ein hohes schlotterndes Menschengebilde zu tragen.“ Große Schlange und Unkas suchten noch eine Weile die Umgebung ab, sie fanden einige Abdrücke, die nicht mit Gewißheit zu identifizieren waren und von fliehenden Soldaten oder verfolgenden Mingos herrühren konnten. In einer Schlucht entdeckten sie Hufspuren- Große Schlange verbürgte sich dafür, daß die Pferde bis hierher ohne, den Hang hinauf aber mit Belastung geführt worden waren. Natty sagte zu Munro: „General, ich glaube, wir können Ihnen gratulieren. Ihre Töchter leben, und wir sind auf ihrer Fährte.“ Heyward rief: „Dann wollen wir uns unverzüglich an die Verfolgung machen!“ „Es wird bald Nacht“, erwiderte Natty. „Die Indianer 199
haben eine gute Sitte: Vor einem langen Zug versammeln sie sich am Feuer und rauchen. Wir wollen es genauso halten und die Nacht hinter den Wällen des Forts verbringen. Morgen sind wir frisch und können das Tageslicht nutzen.“ Niemand widersprach. Als die Männer durch ein Tor des geschleiften Forts traten, hatten die Schatten der sinkenden Nacht das Unheimliche des Platzes noch verstärkt. Natty und die Delawaren lehnten verkohlte Balken an eine Wand und bedeckten sie mit Gestrüpp. Zu diesem primitiven Unterschlupf führten sie Munro, den die Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage arg mitgenommen hatten. Große Schlange und Unkas zündeten ein Feuer an und verzehrten ihre Mahlzeit aus gedörrtem Bärenfleisch, während Heyward auf den Wall stieg, der das Fort zum Fluß hin begrenzte. Der Wind hatte sich gelegt, die Wellen schlugen nicht mehr so wild an den Fuß der zerstörten Bastion, die Wolken zerteilten sich und ließen hier und da einen Stern funkeln. Heyward sah das Feuer seiner Kameraden zwischen den Trümmern, das schwache Licht auf dem Fluß und die dunklen Bergkämme ringsum, er entsann sich der Stunde, als er an einem hellen Mittag hier gestanden hatte und noch voller Hoffnung gewesen war, das Fort könnte sich behaupten. Jetzt waren alle Träume auf Kriegsruhm und Waffenglück zerronnen, Munro war ein General ohne Armee, den nur noch die Sorge um seine Töchter am Leben erhielt. Heyward sah die Szene vor sich, als Alice und Kora Arm in Arm durch das Tor des Forts hinausgegangen waren, er stellte sich Alice vor, ihr schmales, blasses Gesicht mit den blauen Augen, ihr blondes Haar, er wandte sich nach Norden, wo sie sein mußte, wenn sie noch lebte, und er schwor, nicht zu ruhen, ehe er sie nicht befreit hatte. 200
Später wurde Heyward durch Unkas abgelöst und setzte sich ans Feuer, wo Große Schlange und Natty berieten, was aus den gefundenen Spuren herauszulesen war, was man für Schlüsse ziehen und für Pläne schmieden konnte. Große Schlange plädierte dafür, sich nicht von der Spur zu entfernen. Aber Natty nannte die Absicht seines Freundes kleinlich und wenig vorausschauend, und schließlich setzte er seine Meinung durch, auf schnellstem Weg ein Dutzend Meilen nach Norden zurückzulegen und direkt die Wigwams der Mingos anzusteuern, zu denen Le Renard die Schwestern ohne Zweifel bringen würde. „Hugh“, sagte Große Schlange am Ende, „mein Freund denkt in den Tagen, die Manitu noch verschlossen hält.“ Vom Wall herunter drang leises, warnendes Zischen. Sofort streute Natty eine Handvoll Sand aufs Feuer, dann schlichen er und Heyward auf den Wall hinauf. Unkas hatte das Ohr auf die Erde gepreßt, kurz darauf ließ er sich lautlos den Hang hinabgleiten. Heyward überlegte, ob es möglich sein könnte, daß ein Mingo, lüstern auf Beute, noch einmal in dieses Tal zurückgekehrt war. Unten am fast erloschenen Feuer saß Große Schlange, plötzlich warf er sich zur Seite, ein Schuß knallte, Schritte raschelten im Gras, und wenig später rollte aus der Weite des Tales der Donner eines zweiten Schusses herüber. „Jemand hat auf Chingachgook geschossen“, flüsterte Natty Heyward zu, „aber Unkas hat dem Strolch den Weg abgeschnitten. Ich möchte wissen, ob sich nur ein einzelner Bandit herangeschlichen hat.“ Große Schlange kratzte seelenruhig den Sand von der Glut und blies sie an; er suchte die Kugel, die sich dicht neben ihm platt geschlagen hatte. Eine Viertelstunde später tauchte Unkas aus der Dunkelheit auf und setzte sich wortlos ans Feuer. Heyward fragte: „Unkas, was ist 201
aus unserem Feind geworden? Wir hoffen, daß deine Büchse nicht umsonst gesprochen hat.“ Unkas schob sein Jagdhemd zurück und zeigte den Skalp seines Opfers. Große Schlange nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und entschied: „Oneida.“ Natty wiederholte: „Ein Oneida. Wenn das stimmt, und da Chingachgook es sagt, stimmt es, sind wir von allen Seiten von Teufeln umgeben. Unkas, war er allein?“ „Nur ein Paddel lag in seinem Kanu.“ „Und wo ist das Kanu jetzt?“ „Wo nur Unkas es findet.“ Heyward warf ein, der Oneida müsse sie für Franzosen gehalten haben, denn schließlich seien die Oneidas mit den Engländern verbündet, aber Natty entgegnete: „Der Krieg der Weißen hat die Rothäute in solche Verwirrung gebracht, daß es schwer ist, sich durchzufinden. So schießen Huronen und Oneidas, die fast die gleiche Sprache sprechen, aufeinander, selbst die Delawaren sind gespalten. Einige stehen im Sold der Franzosen, der größte Teil aber haßt die Mingos aus Kanada von alters her. Franzosen und Engländer haben Verbündete angekauft, wo sie nur zu finden sind, und wenn man ehrlich ist, muß man zugeben, daß beide ihren Krieg auf dem Rücken des roten Mannes austragen. Auf zehn tote Indianer kommt noch nicht ein gefallener Weißer. Ohne unseren Krieg wäre dieser Oneida noch am Leben.“ Noch einmal wurde eine Pfeife angezündet, dann übernahm Heyward wieder die Wache. Große Schlange hüllte sich in eine Decke und streckte sich auf der nackten Erde aus, während Unkas die verkohlten Reste des Feuers zusammenscharrte, um die Füße seines Vaters zu wärmen. Bald darauf lag auch Natty Bumppo in tiefem Schlaf. In langen Jahren in den Wäldern hatte er sich die Fähigkeit anerzogen, die Länge des Schlafs nach seinem Wunsch zu 202
bemessen, so wurde er wach, als die Sterne noch am Himmel standen, und weckte die Delawaren und zuletzt den General. Sie verließen das Fort, wobei Natty mahnte, nur auf Holz oder Steine zu treten, um keine Spuren zu hinterlassen. Unkas führte sie zu der Stelle am Fluß, wo er das Kanu des Oneida versteckt hatte, und Natty sah zu seiner Freude, daß es groß genug war, fünf Männer zu tragen. Da nur ein Paddel darin lag, mußte Unkas aus den Trümmern des Forts einige Bretter herbeiholen, die notdürftig als Paddel verwendet und später zurechtgeschnitzt werden konnten. Natty und Große Schlange hoben das Kanu an einer steinigen Stelle ins Wasser, legten eine Bohle hinüber und balancierten auf ihr entlang, zogen die Bohle weg und ließen sie den Fluß hinabschwimmen. An der gesprengten Bastion, wo auch Munros Stiefel keine Spuren hinterlassen konnten, nahmen sie ihn, Heyward und Unkas auf, stießen ab und trieben das Kanu auf die Mitte des Flusses hinaus. Sie arbeiteten hart, Heyward, der ein Brett als Paddel benutzte, rieb sich die Hände auf, aber als der Tag anbrach, hatten sie mehrere Meilen zurückgelegt und glitten zwischen den zahllosen Inseln hindurch, die den Georgsee sprenkeln. Große Schlange saß mit schußbereitem Gewehr am Bug. An diesen Ufern war Montcalm mit seinem Heer entlanggezogen, und es war denkbar, daß er einen Posten zurückgelassen hatte, um den Rückzug zu decken und Versprengte zu sammeln. Große Schlange musterte aufmerksam Insel für Insel, Busch für Busch, sein Blick schweifte zu den Felsen hinauf, die den See säumten. Nach einiger Zeit hob er die Hand und stieß einen warnenden Pfiff aus. Sofort legten Unkas und Natty ihre Paddel weg und griffen nach den Gewehren. Große Schlange zeigte nach vorn, da schwebte über einer flachen 203
Insel ein kaum merklicher Dunststreifen. Heyward fragte: „Kann es nicht Morgennebel sein?“ Natty antwortete: „Da kennen Sie Schlange schlecht. Das ist Rauch von einem Feuer, sonst hätte er uns nicht aufmerksam gemacht. Major, wollen wir umkehren?“ „Niemals.“ „Also müssen wir uns auf einen Zwischenfall gefaßt machen.“ Sie griffen wieder zu ihren Paddeln. Als sie halb an der Insel vorbei waren, entdeckten sie am Ufer zwei Kanus. Gleich darauf knallte ein Schuß, eine Kugel spritzte vor ihnen ins Wasser, einige Indianer sprangen aus dem Gebüsch, stürzten in die Boote und begannen eine ungestüme Verfolgung. Natty überließ sein Paddel dem Delawarenhäuptling und hob die Büchse, er wollte seinen Feinden einen Denkzettel verpassen und ihnen von vornherein deutlich machen, wer ihnen gegenüberstand. Dreimal brachte er das Gewehr in Anschlag, aber jedesmal mußte er sich überzeugen, daß die Entfernung für einen sicheren Schuß zu groß war. Da stieß Unkas einen warnenden Schrei aus, Natty blickte nach vorn und sah, daß sich von einem Felsvorsprung ein weiteres Kanu löste und dabei war, ihnen den Weg abzuschneiden. Natty griff zum Paddel, Große Schlange änderte die Richtung, und mit aller Anstrengung gelang es, im spitzen Winkel zwischen den Verfolgern hindurchzuschlüpfen und um den Vorsprung einer Insel zu biegen. Einmal kam ein Boot so weit heran, daß Natty fürchtete, die Indianer würden das Feuer eröffnen; ihm war klar, daß bereits die Verwundung eines seiner Gefährten ihnen allen die Skalpe kosten konnte. Aber die Indianer verpaßten den für sie günstigsten Augenblick, und als Große Schlange das Boot um die Landspitze gelenkt hatte, war die größte Gefahr fürs erste gebannt. Natty rief: „Schlange, steure aus der 204
Sonne! Den Schuften fällt dann das Zielen schwerer!“ Das Boot schoß im Schatten der Bäume dahin, glitt aber am Ende der Insel wieder ins Licht hinaus. Jetzt feuerten die Verfolger, eine Kugel schlug Große Schlange das Paddel aus der Hand und schleuderte es durch die Luft. Die Mingos kreischten vor Freude, aber Unkas gab dem Kanu eine andere Richtung, und so gelang es Große Schlange gleich darauf, sein Paddel wieder aufzufischen. Er schwang es über dem Kopf, stieß einen Schlachtruf aus und zog es wieder mit aller Kraft durchs Wasser. Natty gab sein Paddel dem Major, überprüfte das Pulver auf der Pfanne, zielte schnell und feuerte. Der Mingo im Bug des nächsten Kanus, der eben das Gewehr im Anschlag gehalten hatte, sank zurück und ließ die Waffe fallen. Seine Kameraden hörten zu paddeln auf und kümmerten sich um den Verletzten, da legten auch die beiden Delawaren eine Pause ein. Jetzt erst sah Unkas, daß Blutstropfen über die Schulter seines Vaters rannen, er schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und wusch die Wunde, die von einem Streifschuß herrührte. Große Schlange hatte es für unter seiner Würde gehalten, sie auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Der Verfolgungseifer der Mingos war durch eine einzige Kugel Nattys erlahmt. Ihre Boote blieben zurück, kein Schuß fiel mehr, kein Kriegsgeschrei schreckte die Vögel auf der Wasserfläche oder im Schilf auf. Der See dehnte sich hier weiter aus, die Felsen traten zurück, die wenigen Inseln waren leicht zu umsteuern. Stunde um Stunde trieben die Delawaren, Natty und Heyward das Kanu nach Norden, während Munro apathisch im Heck saß. Es war hoher Mittag, als sie am nördlichen Ufer anlegten. Von einem Hügel aus beobachteten Natty und Heyward die Umgebung, und was sie sahen, bewies ihnen, daß sie 205
durchaus nicht außer Gefahr waren. In weiter Entfernung bewegte sich ein dunkler Punkt unter einer Landspitze; es bestand kein Zweifel, daß es ein Kanu der Mingos war. Natty sagte: „Die Burschen fischen gerade, aber ich bin überzeugt, daß sie nur die Dunkelheit abwarten, um uns zu verfolgen. Wir müssen sie abschütteln oder darauf verzichten, Le Renard einzuholen. Auch der Rauch über den Felsen da gefällt mir nicht. Wir müssen eine List anwenden, wenn wir die nächste Nacht überleben wollen.“ Natty und Heyward kehrten zu ihren Kameraden zurück, hoben das Kanu aus dem Wasser und trugen es zum Wald, wobei sie sich durchaus nicht mühten, Spuren zu vermeiden. Sie überschritten einen Bach und fühlten bis zu einer Geröllstrecke vor. Von hier aus, wo sich Spuren verlieren mußten, gingen sie äußerst vorsichtig in den eigenen Fußstapfen rückwärts bis zum Bach und in dessen Bett zum See, dort setzten sie das Boot ein und trieben langsam unter überhängenden Zweigen am Ufer entlang. In einer Bucht blieben sie liegen, bis die Dämmerung die Konturen verwischte, dann paddelten sie in aller Stille zum jenseitigen Ufer. Über eine Felsplatte trugen sie das Kanu hinauf, nahmen Waffen und Gepäck heraus und versteckten es unter Reisig und Moos. Heyward fragte Natty leise: „Sie wissen, wo wir sind?“ „An der Wasserscheide von Champlain, Hudson, Mohawk und des Sankt-Lorenz-Stromes, oder doch zumindest nicht weit davon. Ich verlasse mich völlig auf Chingachgook. Ich hoffe nur, daß der General den Marsch durchhält. Hier oben kann von Pfaden nicht die Rede sein, es gibt kaum einen rauheren Landstrich.“ Der Marsch in die Dunkelheit hinein forderte tatsächlich von allen das Äußerste. Heyward nahm Munro den Beutel 206
ab, Natty trug ihm das Gewehr, so gelang es dem alten Mann, mit den anderen Schritt zu halten. Als Natty das Zeichen zur Rast gab, schlief Munro von einer Minute zur anderen ein. Unkas entzündete ein Feuer, die üblichen Vorbereitungen für die Nacht wurden getroffen, und bald war nichts mehr zu hören als das gelegentliche Knistern eines Astes in der Glut oder der Atemzug eines Schläfers. Erst als die Sonne den Tau getrocknet hatte und ihr Licht zwischen die Stämme goß, brachen die fünf Männer auf. Nach einigen Meilen ging Natty langsamer, untersuchte den Boden sorgfältiger, aber nicht er, sondern Unkas stieß auf die erste Spur. Es war der Abdruck eines Pferdehufes, bald wurden andere Abdrücke gefunden, und im Morast an einem Bachlauf entdeckte Große Schlange sogar eine Spur von Le Renards Mokassin. Natty sagte: „Dieser verdammte Strolch marschiert so unbekümmert durch die Landschaft, als bestünde gar keine Möglichkeit, daß sich sechs der besten Augen dieser Grenze an seine Fährte heften. Mich sollte nicht wundern, wenn er sich eine Kutsche besorgt und vierspännig weiterfährt.“ Munro fragte: „Und meine Töchter?“ „Sitzen auf den Pferden. Ich kenne die Gäule, sie sind zu leicht, ohne Reiter derartige Spuren zu hinterlassen. Unsere Rechnung ist aufgegangen, wir sind unserem Ziel ein bedeutendes Stück näher.“ Die Verfolgung verlief rasch und ohne Stocken. Wenn felsiger Grund oder ein Bach die Fährte unterbrach, sorgte der umherschwärmende Unkas dafür, daß sie schnell wiedergefunden wurde. Sehr erleichtert wurde das Vordringen nach Norden dadurch, daß sich Le Renard aus Gründen der Bequemlichkeit fast ausschließlich an die Täler gehalten hatte; so war Natty mit jeder Stunde stärker überzeugt, daß der Mingo keine Gefahr in seinem Rücken 207
fürchtete. Am Nachmittag überschritten die fünf den Scaroon, einen reißenden Gebirgsfluß, folgten einem Bach und stießen in einer Senke auf einen verlassenen Rastplatz. Asche und verkohltes Holz lagen in der Nähe einer Quelle, Knochen und Fell eines Damhirschs waren verstreut und die Blätter der Bäume von Pferden abgeweidet. Am Rande der Wiese fand Heyward ein primitives Laubdach; er stellte sich vor, Kora und Alice hätten unter ihm die Nacht verbracht. Ringsum war das Gras zertreten, Pferdespuren zogen sich den Hang hinauf, und hier fand Unkas zu seiner Überraschung Pferdedung, der so frisch war, daß noch nicht einmal Fliegen darauf saßen. Wenig später führte Unkas zwei Pferde aus dem Unterholz, ihre Sättel waren zerbrochen und ihre Decken beschmutzt, als wären sie tagelang führerlos herumgelaufen. Munro erbleichte und fragte: „Was hat das zu bedeuten?“ „Daß wir in Feindesland sind“, antwortete Natty. „Niemand muß fürchten, daß Le Renard den Mädchen etwas zuleide getan hat, denn er hat sich nicht bedrängt gefühlt. Wir sind in der Nähe eines Mingolagers, von hier aus hat Le Renard mit seinen Gefangenen den Marsch zu Fuß fortgesetzt und hat die Pferde zurückgelassen, weil er ihre Spuren fürchtete. So ganz arglos war der alte Fuchs doch nicht. Wir müssen die Umgebung absuchen, um herauszufinden, in welcher Richtung die Karawane weitergezogen ist.“ Aber alles Suchen war lange Zeit vergeblich. Blätter und Äste wurden aufgehoben, denn es war bekannt, daß Indianer bisweilen damit ihre Abdrücke tarnten. Schließlich einigten sich Natty und die Delawaren darauf, daß die Mingos mit ihren Gefangenen im Bachbett abwärts gewatet sein mußten. Die Suche an den Ufern war 208
mühselig und zeitraubend, endlich wurden weit unterhalb Mokassinabdrücke im Moos und gleich darauf Spuren am Hang entdeckt, die durch einen lichten Hochwald verfolgt werden konnten. Die Mingos waren sorgsam in die Stapfen ihrer Vorderleute getreten, aber hin und wieder hatte doch einer einen Schritt zur Seite getan, und so konnte der Abdruck Le Renards und mit einiger Wahrscheinlichkeit der des Musikmeisters ausgemacht werden. Nichts aber deutete darauf hin, daß sich auch Kora und Alice in diesem Trupp befunden hatten. Hin und wieder fragte der General, Natty vertröstete ihn, er sann unablässig nach, welchen Trick sich Le Renard ausgedacht haben mochte, kam aber zu keinem Schluß. Als er sich zu sorgen begann, suggerierte er sich, daß der Mingohäuptling so dicht vor dem Ziel keinen Grund gehabt haben konnte, seine Gefangenen zu ermorden, aber er vergaß auch die Szene auf jenem Hügel nicht, als Le Renard sein Messer gegen Kora geschwungen hatte und er selbst erst in letzter Sekunde eingreifen konnte. Wieder besaß Unkas die schärfsten Augen. Seitlich von der Spur war ein Zweig geknickt, Unkas kroch ins Dickicht und brachte die Überreste zweier primitiver Tragen zum Vorschein. „Jetzt ist alles klar“, sagte Natty, „und ich bin um eine Erfahrung mit indianischen Listen reicher. General, es wird nicht lange dauern, und ich kann Ihnen überaus niedliche Spuren zeigen, warten Sie nur ab.“ An einem sandigen Hang fand Große Schlange wenig später Abdrücke des mächtigen Schuhs des Musikmeisters und daneben die kleinen Fußspuren der Schwestern. Heyward und Munro knieten nieder wie vor einem Heiligtum, sie maßen sie mit der Hand, und Munro murmelte: „Wie halten meine Töchter dies alles nur aus!“ 209
Natty sagte: „Wir sind kurz vor einem indianischen Camp, und zweifellos sitzen Ihre Töchter jetzt schon in einem Zelt oder einer Hütte, bekommen zu essen und erholen sich von den Strapazen. Ich bin sicher, daß die indianischen Frauen sie als Gäste behandeln und ihnen das Beste zustecken, was sie besitzen.“ „Wir werden sie unverzüglich befreien“, rief Heyward. Natty wollte übertriebenen Optimismus dämpfen, als er erwiderte: „Die härteste Arbeit liegt noch vor uns, Major.“ Noch vorsichtiger als bisher zogen sie weiter. Der Wald wurde lichter, Biber hatten einen Bach angestaut und ihre komplizierten Bauten errichtet. Auf einer abgestorbenen Eiche hockten Krähen und strichen ab, als Unkas als erster aus dem Dickicht trat. Natty hatte die Erfahrung gemacht, daß Krähen gern in der Nähe von Indianerlagern lebten, weil sie dort leicht Beute fanden; so blieb er stehen und spähte über die Ebene. Nach einer Weile bat er Große Schlange, von einem Hügel zur Linken aus zu beobachten, während Unkas nach rechts dem Bach folgen sollte. „Ich bleibe auf der Spur, und wenn ihr etwas Auffälliges bemerkt, meldet ihr euch mit dem Krähenruf.“ Die Hitze eines windstillen Sommerabends lag über der Lichtung. Hunderte von Biberburgen standen am Rand des Sees oder im Wasser, ihre Kuppen zeugten von größerer Sorgfalt als manche Indianerhütte. Heyward sah den schwarzen Gesellen zu, die von Bau zu Bau huschten, ihre Köpfe argwöhnisch witternd aus den Öffnungen steckten und wie der Blitz verschwanden, wenn sie sich entdeckt glaubten. Er erschrak, als sein Blick auf einen Mann fiel, der auf der anderen Seite der Bibersiedlung stand und gerade so wie er selbst das Treiben der schlauen Tiere beobachtete. Heyward ließ sich zu Boden sinken und gab Munro und Natty ein Zeichen, Natty stieß den Ruf der 210
Krähe aus, der vom Hügel und vom Bach her beantwortet wurde. Natty flüsterte: „Der Bursche hat uns noch nicht bemerkt, und wie es scheint, ist er unbewaffnet.“ Die Gestalt kam arglos näher, allmählich konnte Natty immer mehr Einzelheiten unterscheiden. Unter einer grotesken Malerei waren die Gesichtszüge unmöglich zu erkennen, allem Anschein nach sollten die roten und weißen Linien Schwermut und Trauer ausdrücken. Der Kopf war geschoren bis auf einen Schöpf, von dem drei Federn herabhingen, der Mann trug einen zerrissenen Kalikomantel und an den Beinen ein Hemd; er hatte die Beine durch die Ärmel gesteckt und die jämmerliche Aufmachung mit einem Riemen um den Leib zusammengebunden. Natty flüsterte: „Ich werde nicht schlau aus dem Kerl, ein Mingo vom gleichen Stamm wie Le Renard ist er jedenfalls nicht. Er hat einen Weißen ausgeplündert, das steht fest. Major, decken Sie mich, ich will versuchen, diesen Landstreicher lebendig zu fangen.“ Heyward brachte seine Waffe in Anschlag, Natty schlug einen Bogen durch ein Wäldchen; es dauerte eine Weile, ehe Heyward ihn wieder entdeckte. Natty tauchte im Rücken der seltsamen Gestalt zwischen den Bäumen auf und schlich näher. Der Mann streckte den Hals vor und ließ einen dünnen, klagenden Ton hören, da sprangen einige Biber erschrocken ins Wasser. Natty richtete sich auf, stützte sich auf seine Büchse und schmunzelte; er rief: „Alter Freund, wollen Sie den Bibern das Singen beibringen?“ Das Gesicht, das sich ihm zuwandte, zeigte unter der greulichen Maske fassungsloses Erstaunen. Die Ärmel flatterten, als der Mann die Hände hob, eine Feder löste sich, er machte einige Schritte rückwärts, daß er beinahe über einen Stamm gestolpert wäre. 211
„David Gamut“, rief Natty und lachte wieder, „wer hat Sie bloß so zugerichtet?“ „Mein Retter!“ rief Gamut, „mein Retter in dieser fürchterlichen Höhle und auf jenem blutigen Hügel! Gott hat Sie mir erneut in den Weg gesandt!“ „Das ist schon möglich, aber ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie nicht gleich einen Choral anstimmen wollten. Die Mingos sind nahe.“ Munro und Heyward, die sahen, daß sich Natty mit dem vermeintlichen Indianer freundschaftlich unterhielt, kamen heran, erkannten erst bei den letzten Schritten den Singmeister und überfielen ihn mit einem Schwall von Fragen. „Ihre Töchter leben“, antwortete Gamut dem General. „Sie befinden sich in Gefangenschaft der Heiden, sie sind natürlich sehr niedergeschlagen, aber gottlob gesund. Die Kost war nicht die beste, der Marsch verlief anstrengend, aber wir haben ihn überstanden.“ „Gott segne Sie für diese Worte!“ rief Munro mit zitternder Stimme. „So erhalte ich meine Kinder wohlbehalten zurück!“ Natty fragte: „Wo ist Le Renard?“ Gamut antwortete: „Ich habe versucht, ihn durch die Gewalt der Töne sanft zu stimmen, aber sein Ohr ist taub für jeden Wohlklang. Heute ist er mit einigen jungen Männern auf die Elchjagd gegangen, morgen will er weiter nach Norden ziehen. Fräulein Kora ist zu einem benachbarten Stamm gebracht worden, der hinter jenen dunklen Hügeln lebt, Fräulein Alice wohnt bei den Weibern der Mingos, die auf der Ebene dort drüben ihre Hütten gebaut haben.“ Heyward rief: „Es muß furchtbar für Alice sein, daß sie von ihrer Schwester getrennt ist. Zu allem auch noch das!“ „Ich habe sie oft durch die Kraft der Harmonien 212
aufgerichtet“, fuhr Gamut fort. „Bisweilen haben wir gemeinsam unsere Stimmen erklingen lassen, aber ich will nicht verhehlen, daß das Fräulein öfter weint als lächelt.“ Der General fragte: „Und warum läßt man Sie frei herumlaufen, während man meine Töchter gefangenhält?“ Gamut versuchte seinem Gesicht den Ausdruck von Bescheidenheit und Demut zu geben, als er antwortete: „Es stimmt wohl, Sir, daß ich mir keinerlei Kriegsruhm erworben habe, und wenn auch mein Psalmengesang auf dem Schlachtfeld roh unterbrochen wurde, so hat er doch auf die Gemüter der Heiden gewirkt, und ich kann gehen und kommen, wann ich will.“ Natty fragte, warum Gamut dann nicht zum Fort Edward zurückgekehrt wäre und Hilfe für Munros Töchter geholt hätte; Gamut antwortete, er wäre keineswegs sicher gewesen, den Weg durch die Wälder zu finden, und obendrein hätte er die Schwestern nicht allein lassen wollen. Jetzt tauchten auch Große Schlange und Unkas auf; Unkas betrachtete sorgfältig die Linien, mit denen die Mingos das Gesicht des Sängers bemalt hatten. Natty suchte in den Taschen seines Jagdhemdes, bis er fand, woran er seit Tagen nicht mehr gedacht hatte; er sagte: „Ich habe etwas von einem Strauch abgepflückt. Glück für Sie, Gamut, daß ich damit noch kein Feuer entzündet habe, immerhin ist es aus trockenem Holz. Da, nehmen Sie, und pfeifen Sie nach Herzenslust!“ Gamut fing das Pfeifchen, das Natty ihm zuwarf, hocherfreut auf und probierte sofort einige Töne. Wahrscheinlich hätte er ein Danklied angestimmt, wenn nicht Munro und Heyward ihn weiterhin mit Fragen bestürmt hätten. Jede Kleinigkeit wollten sie wissen, die Kora und Alice betrafen. Als Gamut am Ende seines 213
Berichts einige Einzelheiten über den Stamm erwähnte, zu dem Kora gebracht worden war, fragte Natty: „Was besitzen diese Indianer für Messer, englische oder französische?“ „Ich habe nicht auf Nebensächlichkeiten geachtet. Mir ging es um den Trost der Damen.“ Natty erwiderte ärgerlich: „Hoffentlich müssen Sie nicht einmal das Messer eines Indianers als äußerst wesentlich für Ihren Skalp ansehen. Haben diese Rothäute ein Kornfest gefeiert? Oder haben Sie etwas über die Totems dieses Stammes bemerkt?“ „Korn besitzen sie im Überfluß“, antwortete Gamut, „es gab manches Fest, Mais in Milch gekocht schmeckt nicht übel und ist dem Magen eines Christen bekömmlicher als halbrohes Wildbret. Aber was sind Totems?“ Natty erklärte ihm die Bräuche der Indianer, Tiere zu Schutzgeistern zu bestimmen, wobei er sich zur Geduld mit dem einfältigen Gamut zwingen mußte. „Der Natur nachgeahmte Bilder“, rief der Musiklehrer schließlich, „habe ich tatsächlich gesehen. Mancher Mann hat sich mit lächerlicher Sorgfalt bemalt. Besonders ein Bild fiel mir auf, das sich häufig wiederholte, es war das einer Schildkröte.“ „Hugh!“ riefen die beiden Delawaren gleichzeitig. Große Schlange öffnete das Hemd und wies auf seine Brust, alle sahen, daß mit blasser blauer Farbe eine Schildkröte darauf gemalt war. Der Musikmeister sagte: „Genau so! Ist dieser rote Herr etwa ein Mitglied dieser Horde?“ „Das alles ist kompliziert“, antwortete Natty. „Mein Freund gehört zu den Delawaren und ist der Häuptling einer Untergruppe, die sich die Schildkröte zum Wahrzeichen gewählt hat. Die Delawaren sind gespalten, einige aus der Schildkrötensippe gehören offenbar dem 214
Stamm an, von dem unser Sänger gesprochen hat. Ob das für uns günstig ist oder nicht, wird sich herausstellen, denn ein abgefallener Freund ist oft gefährlicher als jemand, der schon immer ein Feind war. Schade ist es natürlich, daß Gamut sich nicht die Mühe gemacht hat, die Zahl der Krieger zu zählen, die die Ladys bewachen und denen wir bald gegenüberstehen werden.“ Große Schlange und Unkas berieten leise in ihrer Sprache, der Musiklehrer entlockte seinem Pfeifchen klagende Töne, denen er versonnen lauschte, Munro stand mit schlaffen Armen und zuckendem Mund. Heyward entwarf ebenso kühne wie unausgegorene Vorschläge, die Schwestern zu befreien, schließlich sagte Natty: „Wir dürfen uns nicht von Ungeduld hinreißen lassen. Am besten ist es, wenn unser Sänger ins Lager zurückkehrt. Hören Sie, Gamut, können Sie das Krächzen einer Krähe vom Pfeifen eines Windfängers unterscheiden?“ „Der Windfänger stößt einen sanften und melancholischen Ton aus, sein Takt ist allerdings nicht exakt.“ Natty sagte: „Sie meinen den Wish-ton-wish. Nun gut, soll sein Ruf unser Signal sein. Wenn Sie ihn dreimal hören, kommen Sie in das Gebüsch, in dem Sie den Vogel vermuten.“ „Einen Augenblick bitte“, warf Heyward ein. „Ich möchte Gamut begleiten.“ Natty war verblüfft. „Sind Sie lebensmüde?“ „Daß Gamut vor uns steht, beweist, daß die Mingos nicht immer unbarmherzig sind. Ich nehme es auf mich, jede mögliche Rolle, sogar die eines Wahnsinnigen, zu spielen, wenn es mir dadurch gelingt, Fräulein Alice zu befreien. Es gibt Mittel, mich zu verkleiden; bemalt mich, macht meinetwegen einen Narren aus mir. Die jüngere der Ladys 215
befindet sich bei unseren erbittertsten Feinden, es wird schwieriger sein, sie als ihre Schwester zu befreien. Meiner Jugend steht es zu, das Äußerste zu wagen.“ Heyward blickte Munro an, wollte hinzufügen, daß er Alice liebte und eher bereit war zu sterben, als sie in den Händen der Indianer zu lassen, aber er sah, daß es taktlos gewesen wäre, in der Gegenwart dieses gebrochenen Mannes vom Tod zu sprechen. „Einem Idioten werden die Mingos nichts tun“, fügte er hinzu. Dieser Vorschlag entsprach in seiner Kühnheit so sehr Nattys Wesen und seiner Vorliebe für spektakuläre Abenteuer, daß er seine Meinung änderte. „Sie sind ein erwachsener Mann und wissen selbst, was Sie zu tun haben. Chingachgook wird schneller einen Verrückten aus Ihnen machen, als Ihnen lieb ist. Setzen Sie sich auf den Baumstamm dort. Oder wie gefällt Ihnen diese Idee: Sie geben sich als Arzt aus?“ „Dazu besitze ich keinerlei Kenntnisse.“ „Einen Verband werden Sie anlegen können, das haben Sie als Soldat gelernt; im übrigen genügt es, wenn Sie den Indianern irgendwelchen Hokuspokus vormachen.“ Große Schlange, der aufmerksam zugehört hatte, begann mit seiner Arbeit. Er war geübt im Brauch der Indianer, ein Gesicht oder einen ganzen Körper zu bemalen, und so zog er schnell und gewandt eine Reihe von Linien, die eine heitere, zu Scherzen aufgelegte Stimmung ausdrückten. Alles, was auf kriegerische Gesinnung hätte schließen lassen, wurde sorgfältig vermieden. Als Große Schlange sein Werk beendet hatte, sagte Natty, daß sich der Major nun bei den Mingos, zumal er französisch sprach, auch als Gaukler ausgeben könne, der von Stamm zu Stamm zog und einmal hier, einmal dort für Heiterkeit sorgte. Er fügte hinzu, daß er den General unter dem 216
Schutz Chingachgooks zurücklassen und zusammen mit Unkas dem Stamm nachspüren wollte, bei dem Kora gefangengehalten wurde. „Lassen Sie es sich gesagt sein, Major: Sie werden alle Ihre Tapferkeit und mehr Schläue brauchen, als man aus Büchern lernt. Und seien Sie überzeugt: Wenn Sie trotz allem Ihren Skalp verlieren, werden die beiden Delawaren und ich Sie erbittert rächen.“ Heyward legte einen Teil der Kleidung ab und ließ auch seine Waffen zurück, zog die Jacke verkehrt herum an und machte danach einen nicht weniger skurrilen Eindruck als Gamut. Er schüttelte den Gefährten lange die Hand i Tränen traten in Munros Augen, als er flüsterte: „Gott möge Sie schützen, mein Sohn.“ Heyward winkte dem Sänger zu, sich ihm anzuschließen, gemeinsam gingen sie auf das Dorf der Mingos zu. Jetzt erst wurde sich Heyward voll und ganz der Schwierigkeiten seines Plans bewußt. Das abnehmende Tageslicht verstärkte noch das düstere Aussehen der Wildnis, selbst die Bauten der Biber hatten nun etwas Unheimliches an sich. Heyward mußte sich das Bild der zarten Alice ins Gedächtnis rufen und sich vorstellen, wie verzweifelt sie war, um nicht den Mut zu seinem Vorhaben zu verlieren. Nach einer halben Stunde hatten Heyward und Gamut die Senke durchquert und eine Anhöhe erstiegen; von hier aus war die Sicht frei ‘auf eine zweite Lichtung. Fünfzig bis sechzig Hütten standen auf ihr, sie waren aus Baumstämmen, Zweigen und Erde errichtet. Vor dieser Siedlung hüpften Kinder im Gras herum, balgten sich, rannten einander nach und stoben schreiend auf das Dorf zu, als sie die beiden Männer erblickten. Ihr Lärm lockte zehn, zwölf Krieger aus den Hütten, die mit würdigem Gleichmut den Ankommenden entgegenblickten. Gamut ging ohne Zögern an ihnen 217
vorbei, sein beherztes Verhalten machte Heyward Mut, und eine Minute später traten sie in das größte der rohen Bauwerke ein, das in der Mitte des Dorfes lag und öffentlichen Beratungen diente. Männer hockten auf der Schwelle und an den Wänden, zwischen ihnen gingen Gamut und Heyward hindurch und setzten sich auf einen Haufen Zweige. Einige Indianer verließen ihre Plätze und stellten sich vor Heyward auf, den Augenblick erwartend, an dem er zu sprechen beginnen würde. Eine Fackel warf ihren Schein auf die Gesichter der Umstehenden; Heyward versuchte erfolglos, aus ihrem Ausdruck auf ihre Stimmung ihm gegenüber zu schließen. Nach einer Weile trat ein grobgebauter Mann vor, in dessen Haar sich Grau mischte, und redete Heyward im Dialekt der Huronen an. Heyward, der nur Brocken verstand, fragte englisch und französisch, ob jemand eine dieser Sprachen spräche, bekam aber keine Antwort. Schließlich sagte er auf französisch, es wäre für ihn bitter, wenn er glauben müßte, keiner dieser weisen Krieger hätte die Sprache des Vaters aus Paris gelernt, und schwer müßte diesem das Herz werden, wüßte er, daß ihm seine roten Kinder so wenig Ehrfurcht bewiesen. Nach langer Pause antwortete der Krieger, der zuerst gesprochen hatte, in leidlichem Französisch: „Wir wissen nicht, ob unser Vater seine kanadischen Kinder noch liebt. Wie wird er urteilen, wenn er hört, wie viele Skalpe noch vor wenigen Nächten auf den Köpfen der Engländer wuchsen, jetzt aber an unseren Gürteln hängen?“ „Er wird sagen: Es ist gut, meine Mingos sind tapfer.“ „Aber sein kanadischer Unterhäuptling denkt anders. Statt seine roten Krieger zu belohnen, blickt er rückwärts und zählt die toten Engländer. Weiß er nicht mehr, daß sein Mund den Mingos Gewehre, Mäntel und Korn aus 218
dem Haus aus Erde versprochen hat, in dem die Engländer wohnten? Doch er vergaß, was über seine Lippen gekommen war, er wollte, daß Mingokrieger mit leeren Händen vor ihre Squaws treten und von ihnen verspottet werden.“ Der Indianer blickte sich um, richtete sich zornig auf und fügte hinzu: „Aber ein Mingo kennt sein Gesetz, er nimmt sich, worauf er Anspruch hat. Nun ist das Auge des kanadischen Vaters blind gegenüber den Mingos.“ „Das ist unmöglich! Seht, er hat mich, der ich Kranke heilen kann, zu seinen Freunden über den großen See geschickt.“ Der grauköpfige Krieger dolmetschte, eine Pause im Dialog trat ein, in der aller Augen neugierig und kritisch auf Heyward gerichtet waren, schließlich fragte der Sprecher der Mingos: „Bemalen sich die Gelehrten aus dem Land der französischen Väter die Haut? Sie rühmen sich doch sonst ihres bleichen Gesichts!“ „Wenn ein Indianerhäuptling seine französischen Väter aufsucht“, erwiderte Heyward ohne Zögern, „legt er seine Lederkleidung ab und schlüpft in das Hemd, das ihm geboten wird. Meine Farben sollen zeigen, daß ich meine roten Brüder liebe.“ Beifallsgemurmel bewies Heyward, .daß er den richtigen Ton getroffen hatte. Gerade trat ein anderer Indianer vor, um das Gespräch fortzuführen, als sich draußen Geschrei erhob. Alle Krieger sprangen auf und drängten hinaus, Heyward ging ihnen nach, er sah, daß der gesamte Stamm auf den Beinen war, Frauen und Kinder, Krieger und alte Männer quirlten durcheinander. Es war noch hell genug, um zu erkennen, daß ein Trupp aus dem Wald herauszog. Der Vorderste trug eine Stange, an der Skalpe hingen. Vor den ersten Hütten machte die Schar halt, noch einmal erklang das erschreckende Geheul, das den Todesschrei 219
der Besiegten und den Triumph der Sieger gleichermaßen darstellte. Die Bewohner des Dorfes antworteten mit Rufen des Willkommens und der Freude, Männer bildeten Spalier, wobei sie ihre Messer schwangen, Frauen erhoben drohend Keulen und Knüppel, die Jungen zogen ihren Vätern die Kriegsbeile aus den Gürteln und ahmten die Gesten der Erwachsenen nach. Eine alte Frau zerrte Gestrüpp zusammen und zündete es an, Flammen schlugen hoch und beleuchteten zuckend das furiose Durcheinander. Jetzt erst sah Heyward, daß ein Gefangener vor die Beratungshalle geführt wurde, zwei Männer hielten ihn an den Armen und stießen ihn vor die Häuptlinge; entsetzt erkannte Heyward, daß es Unkas war. Nur eine Sekunde war vergangen, seit die Bewacher Unkas losgelassen hatten, da sprang der junge Delaware zur Seite, drängte sich durch die Kinder und wollte im Dunkel zwischen zwei Hütten verschwinden. Als sich ihm einige Männer in den Weg stellten, wandte er sich nach der anderen Seite, hoffte, so den Wald zu erreichen, sprang über ein Feuer, prallte gegen einen Mann, kam zu Fall, rollte zwischen die Füße von Frauen, die vergeblich versuchten, ihn zu packen, schnellte wieder hoch und floh zurück. Einen Augenblick schien es, als könnte Unkas die Reihe der Krieger durchbrechen, aber er wurde zurückgeschleudert. Ein katzengewandter Mingo blieb Unkas auf den Fersen; Unkas rannte dicht an Heyward vorbei, der stellte dem Verfolger ein Bein, und so vermochte Unkas noch einmal einen Haken zu schlagen und umklammerte einen Augenblick später einen bemalten Pfosten vor dem Tor der Haupthütte. Heyward hatte genug von indianischen Bräuchen gehört, um zu wissen, daß Unkas hier so lange geschützt war, bis der Stamm über sein Schicksal beraten hatte. Unkas atmete schwer und 220
hielt den Balken mit beiden Armen umschlungen. Frauen und Kinder umringten und verspotteten ihn, sie schrien ihm zu, seine Füße seien besser als seine Hände, er sei eine Krähe, aber kein Mann. Die alte Frau, die das Feuer entzündet hatte, höhnte: „Ihr Delawaren seid ein Geschlecht von Weibern, ihr könnt mit der Hacke besser umgehen als mit dem Gewehr. Eure Squaws gebären Fische und Vögel, und wenn einmal eine Schlange dabei wäre, würdet ihr flüchten. Die Mingomädchen sollen einen Rock für dich nähen, dann werden wir uns nach einem Mann für dich umsehen.“ Wildes Gelächter folgte dieser Schmährede, aber Unkas ließ sich dadurch zu keiner Bewegung hinreißen. Sein Atem ging jetzt flacher, er blickte zu den Kriegern hinüber, die in die Beratungshütte hineindrängten. Ein Krieger bahnte sich seinen Weg durch die Menge, faßte Unkas am Arm und führte ihn vor die Versammlung der Männer. Die Häuptlinge saßen im Vordergrund, sie wurden von einer Fackel hell beleuchtet. Unter einer Öffnung im Dach, durch die Sterne schimmerten, stand Unkas. Der grauhaarige Häuptling erhob sich und sagte: „Delaware, du stammst aus einer Horde von Memmen, aber dennoch hast du dich als Mann erwiesen. Gern würden wir dir Nahrung geben, aber wer mit den Mingos ißt, muß ihr Freund werden. Zwei meiner Krieger verfolgen deinen Gefährten; wenn sie zurück sind, werden wir entscheiden, ob du lebst oder stirbst.“ Unkas rief verächtlich: „Hat ein Mingo keine Ohren? Zweimal knallte die Büchse von Falkenauge, eure jungen Männer kehren niemals heim.“ „Wenn die Delawaren oder Mohikaner oder Lenapen oder wie sie heißen so geschickt sind, warum steht dann einer ihrer flinksten Krieger hier?“ 221
Unkas antwortete ungerührt: „Er folgte einem fliehenden Feigling und geriet in eine Schlinge. Sogar der schlaue Biber kann gefangen werden.“ Eine alte Frau trat in den Kreis und begann einen schleppenden, schwermütigen Tanz. Einmal packte sie eine Fackel und hielt sie hoch, daß ihr Schein auf Unkas fiel. Der wandte den Blick nicht und beharrte in seiner hochmütigen Haltung; es sah aus, als ob er in eine ferne Zukunft schaue. Das alles erlebte Heyward mit, der an der Wand lehnte, der kaum etwas von dem verstand, was gesprochen wurde und nur wenig von all dem erfaßte, was hier geschah. Nach einer Weile zwängte er sich hinaus. Durch die Gefangennahme von Unkas, den Fluchtversuch und die Beratung der Häuptlinge war das ganze Dorf so aufgeregt, daß es für Heyward leicht gewesen wäre, zu seinen Freunden zurückzukehren. Aber er hatte ja noch nicht das geringste über Alice erfahren. So streifte er von Hütte zu Hütte, lauschte, spähte durch Spalten zwischen Felldecken, umrundete auf diese Weise das Dorf. Ihm fiel ein, daß er seit mehr als zwei Stunden den Musikmeister nicht mehr gesehen hatte. Er überlegte, wie er Unkas befreien könnte, und hätte gern gewußt, ob er auch dann in dieses Dorf gegangen wäre, wenn ihm klar gewesen wäre, was darin auf ihn wartete. Er versuchte sich zur Kritik an jedem bisherigen Schritt zu zwingen und glaubte überzeugt sein zu dürfen, noch keinen Fehler gemacht zu haben. Aber weitergekommen war er auch nicht. Der Nachthimmel stand als sternengesprenkelte Kuppel über dem Indianerdorf, als Heyward wieder die Beratungshütte erreichte. Die Krieger rauchten, Unkas stand an seinem Platz, ein bewaffneter junger Mingo lehnte am Türpfosten und ließ den Gefangenen nicht aus den Augen. Die Unterhaltung ging ruhig hin und her, 222
niemand achtete auf Heyward, der sich in eine Ecke setzte. Nach einer Weile hockte sich ein Häuptling neben Heyward und sagte: „Ich danke meinem Kanadavater, daß er seine Kinder nicht vergißt und einen weisen Mann geschickt hat. Ein Geist quält die Frau eines meiner Krieger. Kann der kundige Freund ihn vertreiben?“ Heyward antwortete vorsichtig: „Es gibt verschiedene Geister. Die einen weichen der Weisheit, andere sind zu mächtig für sie.“ „Mein Bruder ist ein großer Arzt. Er wird es versuchen. Will er mich begleiten?“ Heyward nickte, der Mingo zog seinen Mantel über der Brust zusammen lind wollte aufstehen, da trat ein Krieger durch die Tür; Heyward zuckte zusammen, als er Le Renard erkannte. Jemand rief: „Willkommen! Hat mein Freund den Elch erjagt?“ Le Renard antwortete: „Meine jungen Krieger schwanken unter den Lasten.“ Er sah Unkas, ging auf ihn zu, Freude zuckte über sein Gesicht, kalt sagte er: „Endlich bist du in unserer Gewalt. Mohikaner, du stirbst!“ Er warf den Mantel zurück und streckte den Arm vor, wortreich schilderte er das Gefecht am Glenn und rief beschwörend die Namen der Mingokrieger, die dort gefallen waren. „Dieser Delawarenhund half unserem Todfeind Falkenauge, er ist die Brut von Chingachgook, mit ihnen überfiel er uns auf einem Hügel, als wir friedlich unser Wildbret aßen, und Mingoskalpe rauchten unter seinem Messer. Unsere toten Brüder rufen um Hilfe. Wenn sie den Geist dieses Mohikaners hinter sich keuchen hören, werden sie erkennen, daß wir von ihrem Blut sind. Wir haben ungezählte Engländer erschlagen, aber ein Fleck auf dem Namen eines Mingos kann nur durch Blut aus den Adern eines Indianers getilgt werden. Also sterbe 223
dieser Delaware!“ Le Renard hatte kaum geendet, als ein heißblütiger Krieger, durch die Haßrede angestachelt, aufsprang, seinen Tomahawk aus dem Gürtel riß und nach Unkas schleuderte. Das Beil blitzte im Fackelschein, schnitt ein Stück der Skalplocke ab und fuhr in den Balken dahinter. Unkas zuckte mit keiner Wimper. Le Renard entschied: „Nicht hier soll dieser Köter sterben. Die Sonne wird seine Schande beleuchten, und unsere Squaws werden sehen, wie sein Fleisch zittert. Bringt ihn an einen Ort, wo Schweigen herrscht! Er soll beweisen, ob er schlafen kann, wenn am Morgen sein Blut fließen wird.“ Einige Krieger fesselten Unkas und führten ihn hinaus. Le Renard folgte; da atmete Heyward auf, denn er war durchaus nicht sicher, ob seine Bemalung dem Blick seines ehemaligen Führers standgehalten hätte. Der Häuptling neben Heyward rauchte seine Pfeife aus, erhob sich und winkte Heyward, ihn zu begleiten. Sie verließen den Beratungsraum, gingen zwischen Hütten hindurch und einen Hang hinunter. Hinter ihnen loderten die Feuer noch einmal auf, Heyward erkannte einen schmalen Pfad, der sich durch das Unterholz schlängelte. Am Rande des Waldes lag eine schwarze Masse, neben ihr zögerte der Häuptling, Heyward hörte ein Brummen, die Masse bewegte sich, wurde größer, und erschreckend sah Heyward, daß sich ein Bär neben dem Pfad aufrichtete. Das Tier wiegte den schweren Kopf, brummte, schien aber keine bösen Absichten zu hegen. Da ging der Mingohäuptling weiter, und Heyward folgte ihm. Er entsann sich, gehört zu haben, daß Braunbären bei den Indianern bisweilen als Haustiere gehalten wurden, aber dennoch blickte er sich ängstlich um, und seine Unruhe stieg, als der Bär dicht hinter ihnen blieb. Näher oder 224
ferner hörte er das Brummen, einmal legte sich sogar eine Pranke auf seine Schulter, so daß er einen Satz nach vorn machte. Der Indianer öffnete eine Rindentür am Eingang einer Höhle, ein Lichtschimmer wurde am Ende eines Ganges sichtbar, der Indianer trat ein, Heyward folgte ihm rasch und wollte die Tür zuziehen, aber der Bär zwängte sich dazwischen. Heyward eilte den Gang entlang, hörte hinter sich immer wieder das Brummen und war froh, als er einen geräumigen Höhlenraum erreichte und das Tier sich in einer Nische auf die Pfoten niederließ. Der Raum war durch Äste, Steine und Rindenstücke in mehrere Kammern geteilt. Auf einer Pritsche lag eine kranke Frau, andere Frauen hockten daneben, zu seiner Überraschung entdeckte Heyward am Kopfende den Musiklehrer. Heyward sah, daß die Frau ohnmächtig war; Gamut zückte gerade sein Pfeifchen, er wollte ihm einen Ton entlocken und einen Choral anstimmen, als sich der Bär in schaukelndem Gang näherte. Gamut erschrak, rief Heyward gerade noch zu: „Sie ist in der Nähe, sie erwartet Sie!“ Dann floh er in panischer Hast aus der Höhle. Jetzt trat der Häuptling ans Krankenlager, winkte den Frauen zu, sich zurückzuziehen, und sagte: „Mein Bruder soll seine Kunst zeigen.“ Heyward fühlte sich höchst unbehaglich. Er schob die Decke der Kranken ein wenig beiseite, aber der Bär drängte ihn vom Lager weg. Der Häuptling sagte: „Der braune Bruder ist eifersüchtig. Ich gehe jetzt, vergiß nicht, mein tapferster Krieger wartet, daß seine Frau gesund zurückkehrt.“ Seine Schritte waren im Gang zu hören, dann klappte die Tür zu. Der Bär wandte sich Heyward zu, Heyward fürchtete einen Angriff und sah sich nach einem Knüppel um. Aber der Bär schüttelte sich, packte mit den Pranken nach seinem Kopf, zerrte an ihm herum, gleich 225
darauf kippte der Bärenkopf zu Heywards grenzenlosem Erstaunen zur Seite, und aus dem Fell heraus wurde das Gesicht Natty Bumppos sichtbar. „Kein schlechter Einfall, was?“ flüsterte Natty. „Reden Sie nicht zu laut, Major, der Mingo könnte an der Tür lauschen. Was ist mit Unkas?“ Heyward mußte sich erst von seiner Überraschung erholen, ehe er berichten konnte. Natty sagte: „Ich habe gefürchtet, daß es so kommen würde. Unkas ist leichtsinnig gewesen, aber wir werden ihn schon heraushauen. Ich zeigte Munro und Chingachgook in einem verlassenen Biberbau ein Versteck, schlich hierher und kam gerade zurecht, als sich ein Zauberer in ein Bärenfell hüllte, um mit seinen Beschwörungen diese Frau da zu heilen. Ein Schlag auf den Kopf hat ihm die Besinnung genommen. Haben Sie Alice gefunden?“ „Keine Spur von ihr.“ „Gamut wird Alice gemeint haben, als er rief: ,Sie ist in der Nähe.’ Der Mingo wird Ihnen genug Zeit für die Beschwörung lassen, ich will sie nutzen, die Höhle zu durchsuchen.“ „Ich helfe Ihnen.“ „Aber nicht mit dieser fürchterlichen Bemalung! Wenn Alice Sie so sieht, erschrickt sie zu Tode.“ Aus einer Felsritze rann Wasser, Heyward wusch sich die Streifen vom Gesicht. Natty bog unterdessen um einen Steinpfeiler, kletterte auf eine Scheidewand hinauf und blickte in die Kammer dahinter. Rasch kehrte er zu Heyward zurück und flüsterte, er habe Alice gesehen, sich aber nicht zu ihr gewagt, um sie nicht durch seinen Anblick zu ängstigen. Heyward zwängte sich an ihm vorbei, drückte eine Tür auf und trat in einen engen Raum, der mit Beute aus dem gebrandschatzten Fort vollgestopft war. Über Bündel, Waffen und Hausgerät bahnte er sich 226
seinen Weg zu Alice. Sie sprang von einem Sessel auf und rief: „Liebster Major! Wie habe ich auf Sie gewartet!“ Heyward nahm Alice in die Arme, er spürte, wie sie zitterte. Erregt flüsterte er, daß sie nun keine Angst mehr zu haben brauche, daß er sie liebe und ihr bis in die Hölle gefolgt wäre. Sie fragte nach ihrem Vater und ihrer Schwester, sie sagte ihm, daß sie gesund sei und keinen Augenblick daran gezweifelt habe, gerettet zu werden. „Von Gamut weiß ich, daß Sie in der Nähe sind.“ „Bumppo ist ebenfalls hier, wir wollen Sie zu Ihrem Vater bringen, dann werden wir Kora befreien.“ Heyward hörte ein Geräusch hinter sich, er glaubte, Natty Bumppo wäre eingetreten, und wandte sich ohne Hast um, aber in der Tür stand Le Renard und spottete: „Die Bleichgesichter fangen den schlauen Biber, aber die Mingos wissen, wie man Engländer fängt.“ Heyward wußte, daß man einem Indianer nicht stärker imponieren konnte, als wenn man ihm dreist gegenübertrat. So mühte er sich, sein Erschrecken nicht merken zu lassen, und erwiderte: „Ich verachte dich und deine List und deine Rache!“ „Wird der weiße Offizier auch am Marterpfahl so sprechen? Le Renard wird seine jungen Freunde herbeirufen, damit sie sehen, wie eine Maus in die Falle getappt ist.“ Er wandte sich um, suchte nach einem Balken, mit dem er die Tür verschließen konnte, als ein Tappen und Brummen aus dem Gang zu hören war. Le Renard war über den Aberglauben seines Stammes erhaben; als er die Maske des Zauberers erkannte, sagte er: „Spiele mit Weibern und Kindern, aber laß dich nicht blicken, wo Männer sprechen!“ Der vermeintliche Bär erhob sich auf die Hintertatzen und wedelte mit den Vorderbeinen in der Luft; Le Renard wollte ihm ärgerlich 227
einen Schlag versetzen, als er sich plötzlich umklammert fühlte. Natty hob Le Renard hoch und schleuderte ihn zu Boden, Heyward riß einen Riemen von einem Bündel und band dem Häuptling Arme und Beine. Le Renard wehrte sich nach Leibeskräften, ohne einen Laut von sich zu geben. Noch als er gefesselt auf dem Rücken lag, schwieg er; erst als Natty den Bärenkopf zur Seite schob und sich über seinen Gefangenen beugte, stieß Le Renard ein überraschtes, anerkennendes „Hugh!“ aus. Natty sagte: „Das wird für einige Zeit dein letztes Wort gewesen sein.“ Er stopfte dem Gefangenen ein Tuch in den Mund und band ein anderes Tuch darüber, dabei sagte er zu Heyward: „Wir müssen so schnell wie möglich aus der Höhle und in den Wald kommen.“ Heyward redete besänftigend auf Alice ein; er folgte Nattys Rat, wickelte sie in einen Indianermantel und führte sie an der kranken Frau vorbei durch den Gang. Als sie die Rindentür öffnen wollten, hörten sie draußen Gemurmel. Natty flüsterte: „Major, nehmen Sie die Lady auf den Arm, behaupten Sie, Sie trügen die kranke Frau, Sie hätten den Geist in der Höhle eingeschlossen und müßten die Kranke in den Wald bringen, damit der Geist sie nicht wiederfindet.“ Natty zog die Bärenmaske über den Kopf und ließ sein Brummen hören. Er drückte die Tür auf und trat hinaus, Heyward blieb dicht hinter ihm. Sie wurden sogleich von etwa zwanzig Indianern umringt. Der Mann der Kranken fragte: „Hat mein Bruder das Böse vertrieben?“ „Der Geist blieb in der Höhle“, erwiderte Heyward, „ich trage dein Weib in den Wald und will es mit Wurzeln stärken. Wenn die Sonne zurückkehrt, wird deine Frau gesund in deinem Wigwam sein.“ Der Häuptling zeigte sich mit dieser Erklärung 228
einverstanden und winkte Heyward, schnell weiterzugehen. Natty schlug den Weg ein, der zum Dorf führte, bog aber bald in die Wildnis hinein. Heyward trug Alice noch ein Stück, dann setzte er sie ab und fragte sie, ob sie laufen könnte. Alice atmete tief die reine Nachtluft ein, sie lehnte sich an Heyward und flüsterte: „Ich bin Ihnen so unendlich dankbar.“ „Keine überflüssigen Worte!“ unterbrach Natty. „Major, Sie bringen die Lady bis zum Bach hinab und folgen dann seinem nördlichen Ufer, bis Sie an einen kleinen Wasserfall kommen, dann steigen Sie nach rechts auf einen Berg, von dort aus werden Sie die Feuer eines anderen Stammes sehen. Es sind Delawaren, bei ihnen finden Sie Schutz.“ „Und Sie?“ „Ich will versuchen, was ich für Unkas tun kann.“ Heyward sagte: „Ich bliebe gern an Ihrer Seite.“ „Glaube ich Ihnen, Major. Aber Fräulein Alice braucht Ihre Hilfe.“ „Jedenfalls habe ich Grund, Ihnen für die Rettung zu danken.“ „Schon gut. Wenn mein Leben weiterhin verläuft wie bisher, wird sich Ihnen bestimmt Gelegenheit bieten, sich zu revanchieren,“ Natty drückte Alice und Heyward die Hand und wandte sich ab. Als ein Rascheln in den Büschen zeigte, daß sich Natty entfernt hatte, flüsterte Alice: „Ein wunderbarer Mensch.“ „Ich habe selten jemanden gesehen, der so selbstlos ist. Alice, wir sollten unseren ersten Sohn Nathaniel nennen.“ „Finden Sie nicht, daß das eine recht seltsame Formulierung für einen Heiratsantrag ist?“ „Zweifellos. Aber ich denke, sie paßt zu dieser 229
Situation.“ Natty ging unterdessen auf die Mingosiedlung zu. Er wußte, welche Gefahren auf ihn lauerten, und überlegte, wie sich in dieser oder jener Situation verhalten, schließlich kam er zu der Ansicht, daß sich nicht genug voraussehen ließ, um einen Plan aufzustellen. Je mehr er sich den Hütten näherte, desto langsamer wurde sein Schritt, er mühte sich jetzt wieder, den charakteristischen Gang des Bären nachzuahmen, brummte dann und wann und fiel für eine Wegstrecke auf alle viere nieder. Eine verwahrloste Hütte stand abseits; als er einen Lichtschimmer wahrnahm, legte er sein Auge an eine Ritze. Auf einem Bündel saß Gamut, er war offensichtlich in tiefes Brüten versunken. Sein Aufzug war immer noch so scheckig und liederlich wie am Tag zuvor, nur hatte er jetzt seinen zu drei Vierteln kahlen Schädel mit einem schäbigen Biberhut bedeckt. Natty schlich um die Hütte, um sich zu versichern, daß niemand in der Nähe war, und trat rasch ein. Gamut zuckte zusammen, rief: „Fort, du Ungeheuer!“ und hatte Mühe, seine Brille aufzufangen, die ihm von der Nase glitt. Natty lachte leise und sagte: „Fünf Worte klares Englisch sind jetzt besser als eine Stunde Schreien.“ Er zog den Bärenkopf herunter, amüsierte sich über Gamuts Verblüffung und setzte hinzu: „Es ist nicht gerade angenehm in diesem Pelz, und ich möchte ihn nicht tragen, wenn die Sonne brennt. Meister, Sie sollten endlich mit Ihrer Überraschung fertig werden und mir sagen, wo Unkas steckt.“ „Falkenauge oder wie auch immer Sie heißen mögen, es ist wirklich viel, was Sie den Nerven eines Künstlers zumuten. Wäre ich doch an der Küste geblieben und hätte mich nicht von meinen Instrumenten und Noten fortgewagt!“ 230
„Aber nun sind Sie einmal hier, und da müssen wir das Beste aus Ihnen machen. Nochmals: Wo ist Unkas?“ „Die Wilden haben ihn gefesselt. Ich war bei ihm, um ihm durch einen Choral Trost zu spenden, die Mingos ließen mich zu ihm wie auch zu dem Mädchen. Hat der Major die arme Alice gefunden?“ „Beide haben ein gutes Stück auf dem Weg zur Freiheit zurückgelegt. Jetzt kommen Sie endlich!“ Natty stülpte den Bärenkopf wieder über, zusammen mit Gamut verließ er die Hütte. Sie gingen ohne jede Heimlichkeit in das Dorf hinein. Mitternacht war längst vorbei, Frauen und Kinder schliefen, die Feuer waren niedergebrannt, nur einige Krieger wachten in der Nähe des Beratungshauses und vor der Hütte, in der Unkas gefangen war. Als die Posten den Musikmeister und die ihnen wohlbekannte Maske ihres Geisterbeschwörers sahen, rührten sie sich nicht. Gamut schob die Tür auf, Natty trat hinter ihm ein. Unkas lag gefesselt am Boden und richtete sich halb auf, er nahm an, die Mingos hätten eine Bestie in die Hütte getrieben, um ihn auf besonders raffinierte Art zu quälen. Er ließ sich wieder auf den Boden sinken und drehte das Gesicht zur Wand. Als er aber das Zischen einer Schlange hörte, drückte er sich abermals hoch und ließ seinen Blick durch die Hütte schweifen. Wieder zischte eine Schlange, der Laut schien direkt aus dem Rachen des Bären zu kommen, da begriff Unkas und flüsterte: „Falkenauge!“ Natty warf den Bärenkopf ab, zog sein Messer und schnitt die Fesseln des Delawaren durch, er löste einige Riemen und streifte das Bärenkostüm herunter. Unkas streckte die Glieder und sagte: „Unkas dankt seinem Freund. Er ist bereit, wir wollen gehen.“ „Wohin?“ „Zu den Schildkröten. Sie sind die Kinder meiner 231
Großväter.“ „Keine schlechte Idee. Wie aber werden wir mit den Wachen fertig?“ Unkas erwiderte verächtlich: „Die Mingos prahlen. Ihr Totem ist der Elch, aber sie laufen wie die Schnecken. Unkas wird vor ihnen davonfliegen.“ „Aber ich? In meinen Jahren gibt das Herz nicht mehr so viel her. Da ist meine Idee besser. Wirst du den Bären spielen können?“ Natty wandte sich an Gamut, als er fortfuhr: „Meister, Ihnen tun die Mingos nichts, das ist erwiesen. Vielleicht glauben sie sogar, hier sei Zauberei im Spiele, das wird Sie stärker als alles andere schützen. Ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie um Ihre Kleidung, um Brille, Buch und Pfeifchen bitte?“ Gamut überlegte nicht einen Augenblick. „Falkenauge, ich verdanke Ihnen mehr als einmal mein Leben, wie sollte ich Ihnen einen Wunsch abschlagen?“ Er nahm den Biberhut ab und streifte die Jacke herunter, Natty und er wechselten die Kleidung, wobei Gamut murmelte: „Wenigstens komme ich auf diese Weise wieder zu einer Hose, wie es einem Christenmenschen ziemt, wenn sie auch ein wenig kurz ist. Ich bitte Sie nur: Geben Sie auf Psalmenbuch und Pfeifdien acht! Sie sind unersetzlich in diesem Heidenland.“ Inzwischen hatte Unkas das Bärenfell übergezogen, Natty half ihm, einige Bänder zu befestigen. Natty streckte sich und ging, den schlaksigen Schritt des Musikmeisters nachahmend, aus der Tür. Draußen fuchtelte er mit dem Arm, als wollte er den Takt zu einem Psalmengesang angeben, führte das Pfeifchen an den Mund und ließ einen hohen, dünnen Ton hören, er versuchte sogar zu singen, brach aber ab, als es gar zu jämmerlich ausfiel. Hinter ihm trottete Unkas. Ein Wächter faßte den vermeintlichen Singmeister an der Schulter und fragte: „Zitterte der 232
delawarische Hund in seinem Käfig vor dem Bären? Werden die Mingos ihn morgen schreien hören?“ Natty fürchtete schon, seine Stimme würde ihn verraten, aber Unkas drang mit wütendem Gebrumm auf den Wachtposten ein, daß dieser zur Seite sprang und für einen Augenblick zweifelte, ob er den Zauberer oder einen wirklichen Bären vor sich hatte. Diese Gelegenheit nutzte Natty, weiterzugehen, wobei er krähende Töne ausstieß. So gelangten sie ins Freie. Sie hatten bereits den Wald erreicht, Unkas streifte gerade seine Verkleidung ab, als sie aus dem Dorf heraus wirres Geschrei hörten. Natty hoffte recht zu haben, als er sagte: „Die Mingos sind nicht eigentlich wütend, sie sind vielmehr überrascht. Das wird unserem Freund das Leben retten.“ Er tastete ins Gestrüpp hinein und zog zwei Gewehre heraus. „Wenn die Teufelsbraten unsere Spur finden, müssen wenigstens die beiden ersten ins Gras beißen. Junge, es wird Zeit, daß wir fortkommen. Bei den Delawaren werden wir unseres Lebens sicher sein.“ Wie Jäger, die ein Wild verfolgen, eilten sie in den Wald hinein.
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Das Zeichen der Schildkröte Das Dorf ähnelte einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Eine halbe Stunde vorher noch waren die Posten furchtsam um die Hütte, in der der Gefangene lag, herumgeschlichen, die Angst vor der Macht des Zauberers hatte sie abgehalten, sich zu nähern, dann hatten sich einige ein Herz gefaßt und ihr Auge an einen Spalt gedrückt. In der Hütte war es so dunkel gewesen, daß sie anfänglich das unförmige Bündel in der Mitte für den Delawaren gehalten hatten, dann war ein trockener Zweig aufgeflammt, Gamut hatte die Beine ausgestreckt und mit seinen klobigen Füßen die Glut beiseite geschoben, schließlich hatte er sich umgedreht, die Mingos hatten sein mildes, biederes Gesicht erkannt und waren mit wütendem Geschrei eingedrungen. Jetzt stand Gamut zerzaust vor der Hütte, er schien den Zorn seiner Bewacher nicht zu fühlen und ihre Verwünschungen nicht zu hören; unbeirrt durch das Toben um sich herum erhob er seine Stimme zum Lobe des Herrn. Es dauerte nur Minuten, bis zweihundert Krieger zusammengeströmt waren. Als sich herumgesprochen hatte, daß Unkas geflohen war, drängten sie sich um die Beratungshütte und riefen nach Le Renard; ihr Ärger und ihre Verwunderung waren groß, als er nirgends zu finden war. Spähtrupps wurden ausgeschickt, Kinder und Frauen rannten durcheinander, Feuer flammten auf. Nach kurzer Zeit kehrte ein Aufklärer zurück und führte den Beschwörer des Stammes vor die Häuptlinge; der Zauberer war abseits vom Lager gefesselt und geknebelt in einem Dickicht gefunden worden. Sein Bericht und der des Mannes der Kranken wurden verglichen, die Häuptlinge zogen Schlüsse daraus, die der Wahrheit recht 234
nahekamen, und zehn der ältesten und erfahrensten Krieger machten sich auf, die Höhle zu durchsuchen. Vor der Rindentür berieten sie noch einmal und tasteten sich schweigend durch den Gang, wobei sie zu zweifeln begannen, ob sie mit irdischen Kräften zu kämpfen haben würden oder ob nicht doch höhere Mächte im Spiele waren. Die Frau lag noch an der gleichen Stelle. Jemand murmelte, er habe doch gesehen, wie sie von dem weißen Arzt in den Wald getragen worden war; da trat ihr Mann ans Lager, beugte sich hinab und sah, daß seine Frau tot war. Er richtete sich auf und sagte gefaßt: „Mein Weib hat uns verlassen. Der Große Geist zürnt seinen Kindern.“ Betroffen und ehrfurchtsvoll schweigend umstanden die Mingos die Tote. Sie hatten sich noch nicht von ihrer neuerlichen bitteren Überraschung erholt, als aus einem Nebenraum ein Bündel vor ihre Füße rollte. Sie prallten erschrocken zurück, hielten eine Fackel tiefer, da sahen sie, daß sich der gefesselte Le Renard über den Boden wälzte. Sofort schnitten sie die Stricke durch und halfen ihm auf die Beine. Le Renard schüttelte sich, sein Gesicht war wutverzerrt, er riß einem Krieger das Messer aus der Hand und blickte sich erregt um, und wenn jetzt Unkas oder auch der simple Gamut in der Nähe gewesen wäre, hätte sich Le Renard nicht damit aufgehalten, raffinierte Foltermethoden zu ersinnen, sondern ihm das Messer ins Herz gestoßen. Der älteste Häuptling fragte: „Ist mein Freund einem Feind begegnet? Befindet sich der Feind in der Nähe?“ Le Renard schrie: „Der Mohikaner muß sterben!“ „Der Mohikaner ist schnell wie der Hirsch, aber meine jungen Krieger sind auf seiner Spur.“ Le Renard brüllte: „Ihr habt ihn entkommen lassen?“ „Ein böser Geist hatte sich eingeschlichen.“ 235
Le Renard höhnte: „Ein Geist? Es war derselbe Geist, der schon so vielen Mingos das Leben geraubt hat, der sie am fallenden Wasser und auf dem Hügel tötete, es war unser Erzfeind Falkenauge!“ Dieser gefürchtete Name ließ die Mingos erstarren, dann knirschten einige vor Wut mit den Zähnen, andere stießen Racheschreie aus. Le Renard registrierte die Erregung befriedigt, keinen Augenblick vergaß er, wie die Leidenschaften seiner Mithäuptlinge und der einflußreichen Krieger zu steuern waren, um sie seinen Interessen zu unterwerfen. Er unterdrückte seinen Zorn und sagte entschlossen: „Wir wollen unser Volk befragen, man wartet auf uns.“ Er ging voran ins Freie, schweigend führte er die Männer zum Dorf. In der Beratungshütte wartete er, bis alle Blicke auf ihn gerichtet waren, erhob sich feierlich, begann langsam zu sprechen und berichtete ohne Beschönigung, wie der weiße Offizier und Falkenauge ihn überwältigt hatten. Während er redete, rührte sich die Menge nicht; allen wurde bewußt, daß sie eine schimpfliche Niederlage erlitten hatten, und in jedem, vom ältesten Häuptling bis zum jüngsten Krieger, wuchs der Wunsch nach Rache. Die Beratung, die Le Renards Bericht folgte, dauerte lange. Alle Häuptlinge schätzten die Lage ein und machten Vorschläge. Zwischendurch wurden die Berichte der Späher angehört und weitere Aufklärer ausgesandt; bald war erwiesen, daß die Flüchtigen den Weg zu dem benachbarten Delawarenstamm eingeschlagen hatten. Sofort forderten einige Häuptlinge den unverzüglichen Überfall auf dessen Lager, sie legten detaillierte Pläne dar, die abgeändert, gutgeheißen oder verworfen wurden; zu all dem schwieg Le Renard, bis er glaubte, seine Stunde sei gekommen. Er wußte, daß seine Vergangenheit nicht 236
vergessen und das volle Vertrauen, das er brauchte, wollte er den Stamm endgültig in seine Hand bekommen, längst nicht wiederhergestellt war. In den letzten Tagen hatte er bisweilen daran gezweifelt, ob es klug gewesen war, seine Rache an Munro mit dem Wiedererlangen der Macht zu verbinden. Vielleicht hätte er schrittweise vorgehen und alles Augenmerk darauf richten sollen, die Generalstöchter zu rauben, eine zu seiner Frau zu machen und für die andere ein Lösegeld zu erpressen, vielleicht hätte er mit dieser Summe einige Häuptlinge auf seine Seite gezogen. Aber er hatte alles auf einmal gewinnen wollen und mußte nun die eingeschlagene Taktik einhalten, um nicht alles verloren zu geben. Nachdem die anderen Häuptlinge gesprochen hatten, erhob sich Le Renard zu einer wohldurchdachten Rede. Zuerst schmeichelte er der Eigenliebe seiner Zuhörer und zählte viele Fälle auf, bei denen sich Mingos für Beleidigungen gerächt und Tapferkeit und kriegerisches Können bewiesen hatten, dann lobte er Weisheit und Umsicht und schweifte zu Vergleichen zwischen den Bibern und den anderen Tieren, den Tieren und den Menschen und schließlich den Mingos und den übrigen Indianerstämmen ab. „Unser blasser kanadischer Vater blickt zornig auf uns“, rief er, „seit unsere Beile gerötet sind. Die Delawaren werden es unserem Kanadavater hinterbringen, wenn wir erneut indianisches Blut fließen lassen, ohne vorher alle Quellen der Weisheit ausgeschöpft zu haben.“ Le Renard sah, daß die älteren Häuptlinge zu diesen Worten nickten, ihm entging aber nicht, daß sich einige junge, heißspornige Krieger verdrossen anblickten. Da wandte er sich an sie und fügte hinzu, es wäre gerade durch Besonnenheit und Klugheit möglich, die Delawaren in eine Situation zu manövrieren, 237
in der ihnen alle Schuld an Feindseligkeiten zufallen müßte, dann könnte man ihnen die Gefangenen entreißen und die Delawaren vernichten, ohne daß in den Augen der französischen Väter ein Makel auf die Mingos fiele. So machte Le Renard Zugeständnisse nach beiden Richtungen, und am Ende glaubte jeder, er habe gerade in seinem Sinne gesprochen. Es war nur natürlich, daß ihm schließlich das Kommando über das folgende Unternehmen erteilt wurde. Le Renard befahl sofort, das Lager der Delawaren zu beobachten, und schickte die Krieger in ihre Hütten mit dem Auftrag, sich auf einen Kriegszug vorzubereiten. Er streifte durch das Lager, sprach hier und da mit einem Häuptling oder einem angesehenen Krieger, von dessen Einfluß er eine Stärkung der eigenen Macht erhoffte, endlich zog er sich in seinen Wigwam zurück. Am glimmenden Feuer saß er lange, starrte in die Glut und überdachte, was in den vergangenen Stunden geschehen war. Hin und wieder strich der Wind durch die Spalten und ließ das Feuer aufflackern, dann fiel ein rötlicher Schein über seine grimmigen Züge. In dieser Stunde glaubte sich Le Renard seinem Ziel, Rache an Munro zu nehmen und die Herrschaft über seinen Stamm wiederzugewinnen, näher als jemals. Im Morgengrauen trat ein Krieger nach dem anderen in Le Renards Wigwam, sie hatten ihre Pulverhörner und Kugelbeutel gefüllt und ihre Gewehre geladen. Als zwanzig versammelt waren, gab Le Renard das Zeichen zum Aufbruch. In die Stapfen des Vordermannes tretend, verließen sie leise das Lager. Le Renard führte sie am Fluß entlang; das Frührot überzog gerade den Himmel, als sie die Lichtung erreichten, auf der die Biber ihre Bauten errichtet hatten. Ein Häuptling, dessen Totemtier der Biber 238
war, hielt eine respektvolle Rede, er nannte die Biber seine Vettern und ermahnte sie, nicht zu vergessen, daß sie ihm ihre Ruhe vor beutegierigen Fallenstellern und Händlern verdankten. „Euer Freund ist auf einem gefahrvollen Kriegszug“, rief er über die Biberburgen hinweg. „Wollt ihr euch für seinen Schutz dankbar erweisen, so schenkt ihm etwas von der Klugheit, für die ihr so berühmt seid!“ Le Renard und die übrigen Krieger hörten dieser Ansprache ernst und aufmerksam zu. Einige Male tauchten schwarze Köpfe aus dem Wasser oder aus den Öffnungen der Burgen auf- der Mingo, der die Rede hielt, freute sich, daß seine Freunde ihm, wie er meinte, verständnisvoll zuhörten. Ein großer Biber schob seinen Kopf aus dem Bau, ihm nickte der Häuptling vertraulich zu. Le Renard befahl weiterzugehen. Während die Indianer am Fluß entlangzogen, blickte ihnen der große Biber nach; es schien, als zählte er sie. Nachdem der Trupp hinter den Weiden verschwunden war, kroch der Biber vollends aus seinem Bau, Menschenhände zogen eine Bibermaske ab, hinter der das Gesicht von Große Schlange zum Vorschein kam. „Die Töchter des Generals sind in Gefahr“, flüsterte der Delaware. Da zwängte sich auch Munro aus dem Bau. Unterdessen führte Le Renard seinen Trupp weiter am Fluß hinauf, über Hügel hinweg und durch unwegsamen Wald zu einer Anhöhe über dem Lager der Delawaren. Dort ließen sich die Mingos zu Boden sinken und krochen durch niedriges Gras vorwärts, bis sie einen Vorsprung erreichten, von dem aus sie das Lager überschauen konnten. Le Renard wußte, daß diese Delawaren ungefähr so viele Krieger aufbieten konnten wie sein Stamm. Sie waren ebenfalls dem Heer Montcalms auf englisches Gebiet gefolgt und in die Jagdgründe der Mohawks 239
eingefallen, hatten sich aber nicht am Kriegszug gegen die englische Hauptmacht beteiligt. Die Franzosen waren aus dieser Zurückhaltung nicht klug geworden, sie hatten vermutet, daß sie von alten Verträgen herrührte. Aus der Erkenntnis heraus, daß ein lauer Verbündeter gegenwärtig besser war als ein offenkundiger Feind, hatten sich die Franzosen mit der diplomatischen Erklärung der Delawaren, ihre Kriegsbeile seien stumpf geworden und es bedürfe einiger Zeit, sie zu schärfen, zufriedengegeben. An diesem Morgen, als Le Renard die Delawaren beobachtete, bereiteten deren Frauen die Morgenmahlzeit, nähten Kleidung oder schwatzten miteinander, die Männer standen in Gruppen beisammen, manche besserten Jagdgerät aus oder putzten ihre Flinten. Nachdem Le Renard diesem Treiben eine Weile zugeschaut hatte, erhob er sich und ging auf das Lager zu. Er hatte seine Waffen zurückgelassen, und sobald er bemerkt wurde, hob er die Hand zu einer begütigenden Geste. Langsam und würdevoll trat er unter die Krieger, die sich im Halbkreis aufstellten. Es wurde so still, daß nur das Klirren des Silberschmucks an Le Renards Armen und das Klingen der Glöckchen an seinen hirschledernen Mokassins zu hören waren. Le Renard grüßte nach allen Seiten und wartete, bis er angesprochen wurde. Einer der Häuptlinge sagte: „Der kluge Mingo ist willkommen. Hat er uns besucht, um mit uns ein friedliches Mahl einzunehmen? „Le Renard neigte den Kopf, der Häuptling legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zu seiner Hütte. Drei Krieger begleiteten sie, sie setzten sich auf Hirschfelle, Frauen stellten Schüsseln mit Succatasch, einem Brei aus Mais und Bohnen, vor sie hin. Schweigend aßen sie, wobei sie sich verstohlene Blicke zuwarfen. Nachdem sie 240
die Schüsseln geleert hatten, fragte Le Renard: „Wird die Gefangene meinen Brüdern lästig?“ Der Häuptling antwortete: „Sie ist uns willkommen.“ „Der Weg zwischen den Delawaren und den Mingos ist kurz. Wenn meine Brüder die Gefangene nicht mehr bewachen wollen, so sendet sie meinen Squaws zurück.“ „Sie ist willkommen“, wiederholte der Häuptling nachdrücklich. Le Renard merkte, daß er so nicht weiterkam, und fragte: „Sind meine Krieger den Delawaren bei der Jagd in den Weg geraten?“ „Meine Jäger beherrschen die Wälder.“ „Hugh! Gerechtigkeit lenkt die roten Männer. Warum sollen ‘sie gegeneinander kämpfen, wenn die Bleichgesichter wie Rudel von Wölfen in ihre Jagdgründe einbrechen? Sind meine Freunde auf die Fußspuren weißer Männer gestoßen?“ „Unsere Kanadaväter sind stets willkommen“, antwortete der Delawarenhäuptling ausweichend. „Aber meinen Spähern schien es, als ob Engländer um das Lager der Delawaren geschlichen wären.“ „Sie werden uns nicht im Schlaf überraschen.“ Wieder wechselte Le Renard die Taktik. „Ich habe meinen Freunden Geschenke mitgebracht. Die Delawaren wollten nicht auf den Kriegspfad gehen, wir aber haben unsere Tomahawks in die Schädel der Engländer geschlagen und nicht vergessen, wo unsere Brüder wohnen.“ Er öffnete einen Beutel und breitete vor den erstaunten Delawaren einige Schmuckstücke aus, die den getöteten Frauen von Fort William Henry abgenommen worden waren. Das Wertvollste überreichte er dem Häuptling und behauptete, erst jetzt könne er des Sieges so richtig froh werden, da auch sein Freund einen Anteil daran habe. Dabei beobachtete er die Mienen seiner 241
Gastgeber, sah, daß viel von der bisherigen Zurückhaltung gewichen war, und hielt es für richtig, zum Kern seines Anliegens vorzustoßen. Er sagte: „Wir Rothäute müssen Freunde sein, unsere Augen sollten auch für den anderen auf die Bleichgesichter achtgeben. Hat mein Freund keinen Weißen in den Wäldern aufgespürt?“ „Fremde Fährten reichten bis an unsere Hütten.“ „Hat mein Freund die Wölfe verjagt?“ „Der friedliche Fremde ist den Delawaren willkommen.“ Der Häuptling schaute dabei seine Stammesgenossen an, sie nickten ihm zu, denn sie billigten seine Vorsicht. Dabei wußten sie, daß seine Worte nur die halbe Wahrheit waren; die Delawaren hatten die drei Weißen, die zusammen mit einem jungen Indianer in der letzten Nacht in ihrem Dorf erschienen waren, zwar aufgenommen und ihnen zu essen gegeben, aber sie hatten sie aufgefordert, Messer und Beile in einem anderen Raum niederzulegen, und ständig standen Krieger vor ihrer Hütte, angeblich zu ihrem Schutz, in Wirklichkeit zu ihrer Bewachung. Le Renard fragte: „Ist auch der Spion willkommen? Die Engländer haben Kundschafter zu unseren Wigwams geschickt, wir aber haben sie verjagt. Als sie flohen, haben sie uns zugerufen, sie wollten ins Lager der Delawaren gehen, denn deren Herz schlage nicht mehr für den kanadischen Vater.“ Diese geschickte Wendung verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Delawarenhäuptling wußte, daß es sich sein Stamm, nachdem er sich aus dem Krieg herausgehalten hatte, nicht leisten konnte, erneut Mißtrauen und Zorn der Franzosen auf sich zu ziehen. Verstreute Lager mit Hunderten von Frauen und Kindern und einem Teil der waffenfähigen Männer befanden sich im Bereich des französischen Heeres, und es bedurfte vieler Klugheit, sich auch 242
weiterhin ungeschoren zwischen den Parteien zu halten. Deshalb entschloß sich der Häuptling zum Gegenangriff und rief: „Das ist eine Lüge! Meine Männer gingen nicht auf den Kriegspfad, weil Träume ihnen Unheil prophezeiten, doch ihre Herzen schlugen für den großen Häuptling der Franzosen.“ „Aber was wird der Kanadavater sagen, wenn er hört, daß sein erbitterster Feind, der so viele Mingos niederstreckte, sich am Feuer der Delawaren wärmt? Was wird er sagen, wenn er erfährt, daß Falkenauge Gast in diesem Lager ist?“ Die Delawaren erschraken. Der Häuptling schwieg minutenlang, ehe er sagte: „Wir werden deine Worte prüfen, Mingo. Wir haben nicht gewußt, wer in dieser Nacht zu uns kam. Wenn Falkenauge in unseren Hütten ist, werden die alten Männer meines Stammes beraten, was geschehen soll.“ Er erhob sich und trat vor die Hütte, er schickte einige Krieger nach allen Seiten aus, um die erfahrensten Männer zusammenzurufen, und befahl, die Wache vor dem Quartier der Gäste zu verstärken. Die Neuigkeit, daß der bekannte Scharfschütze Falkenauge im Lager sei, verbreitete sich mit Windeseile, die Frauen stellten ihre Arbeit ein, die Kinder hörten mit spielen auf, die Männer strömten zusammen. Ihre Besprechung war kurz, sie beschlossen, daß sich der gesamte Stamm versammeln sollte, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Das geschah nur selten, aber dieser Fall war zu wichtig, als daß er von wenigen hätte entschieden werden können; eine Unachtsamkeit hätte genügt, das sorgsam gehütete Gleichgewicht in den Beziehungen zu den Franzosen und den Nachbarstämmen zu stören, und die Folgen wären katastrophal gewesen. Nach einer halben Stunde waren an die tausend 243
Menschen versammelt. Die Sonne stieg über die Berge, ihre Strahlen schnitten durch die Baumwipfel und legten ein weiches Licht auf die Frauen und Kinder, auf die ernsten Gesichter der Krieger und auf die Federbüsche der Häuptlinge. Die meisten schwiegen, selbst die Kinder wurden von der gespannten, gedrückten Stimmung ergriffen, so daß sie nur zu flüstern wagten. Die Blicke vieler waren zu Boden gerichtet, manchmal wandten sie sich der Hütte zu, in der der älteste Häuptling des Stammes wohnte, der weithin berühmte Tamenund. Nachdem auch der leiseste Laut in der wartenden Menge erstorben war, wurde eine Decke zurückgeschlagen und drei Männer traten heraus; zwei von ihnen stützten den Dritten in ihrer Mitte. Mühsam, Schritt für Schritt, kamen sie näher. Längst hatte Tamenund den leichten, federnden Gang des Indianers verloren, er schlurfte, sein Gesicht war von unzähligen Runzeln gefurcht, weiße Strähnen fielen auf die Schulter. Der Anzug des Hundertjährigen bestand aus kostbarem Pelz, seine Brust war mit goldenen und silbernen Münzen bedeckt, Reifen und Spangen umspannten seine Gelenke. Auf dem Kopf trug er ein Diadem aus Silber, von dem Straußenfedern herunterhingen und mit ihrem glänzenden Schwarz einen auffälligen Kontrast zu dem Haar bildeten. Sein Beil war mit Silberplatten verziert, der Griff seines Messers schimmerte golden. Die Augen des uralten Mannes waren geschlossen, als wären sie müde, die Nichtigkeit irdischen Daseins zu betrachten. Seine Begleiter führten ihn an einen erhöhten Platz, dort drehten sie ihn zur Menge um. Tamenund öffnete die Augen und blickte über seinen Stamm hin. Die Häuptlinge legten seine Hand auf ihre Köpfe, als könnten sie so seinen Segen erhalten, die jüngeren Krieger begnügten sich damit, seine Kleidung zu 244
berühren. Nachdem alle zurückgetreten waren, sagte Tamenund mit einer Stimme, die überraschend fest klang und weit trug: „Fremde sind in unserem Lager. Tamenund hörte, daß sie Gefahr über unser Volk bringen. Er will sie sehen.“ Einige Krieger entfernten sich, bald darauf kehrten sie mit Kora und Alice Munro, Heyward und Natty Bumppo zurück. Kora hatte den Arm um die Schultern ihrer Schwester gelegt, Heyward hielt Alices Hand. Natty, der hinter ihnen ging, war sich nicht im klaren, was diese Versammlung zu bedeuten hatte, immerhin begriff er, daß seine Rechnung, als er bei diesem Stamm Zuflucht gesucht hatte, nicht aufgegangen war. Von Anfang an war er halb als Gast, halb als Gefangener behandelt worden, das hatte ihn veranlaßt, seinen Namen zu verschweigen und nur anzugeben, er wäre ein Kundschafter der Engländer und beauftragt, die beiden jungen Frauen loszukaufen. Unkas und er hatten ihre Gewehre abseits vom Lager versteckt, um so den Eindruck zu verstärken, sie wollten Schutz suchen, trotzdem hatte man ihnen Messer und Beile abgenommen. Jetzt überblickte Natty rasch die Menge, um herauszufinden, in welcher Stimmung sie sich ihm und seinen Freunden gegenüber befand, sein Auge wurde von der ehrfurchtgebietenden Gestalt Tamenunds angezogen, und das dichte Gedränge um ihn herum machte in ihm jede Hoffnung zunichte zu fliehen, falls seine Situation bedrohlich werden sollte. Da fragte Tamenund: „Wer ist Falkenauge?“ Natty trat vor. Er hörte bewundernde und zornige Rufe, mühte sich, eine entschlossene, dennoch ehrerbietige Haltung einzunehmen und neigte den Kopf, was er kaum jemals getan hatte. „Du bist also der Krieger, dessen Namen unsere Ohren 245
gefüllt hat! Was hat den weißen Mann ins Lager der Delawaren geführt?“ „Ich suchte Nahrung und Obdach und Freunde.“ „Die Wälder sind voller Wild, ein Krieger braucht kein Obdach als den Himmel, und die Delawaren sind nicht die Freunde, sondern die Feinde der Engländer.“ Natty wollte gerade antworten, als er neben Tamenund seinen alten Feind Le Renard erkannte. Nattys Überraschung deutete Tamenund, als hätte er den Weißen der Lüge überführt. Der greise Häuptling sagte ärgerlich: „Ein alter Mann haßt den Prahler. Gebt diesem Gefangenen ein Gewehr, laßt auch den anderen Weißen zeigen, ob er schießen kann, dann werden wir bald wissen, ob dieser da wirklich Falkenauge ist.“ Natty nahm an, die größte Gefahr hinter sich gebracht zu haben. Wenn sich die Delawaren die Mühe machten, seine Identität zu prüfen, haßten sie ihn nicht blindlings. Wie bei allen Indianern war auch hier ein Mann, der das Waffenhandwerk verstand, hoch angesehen, und Natty war überzeugt, die Delawaren durch seine Schießkünste für sich einzunehmen. Heyward und er bekamen Gewehre, die zu Nattys Freude in ordentlichem Zustand waren, und man forderte sie auf, einen Tonkrug zu treffen, der ungefähr fünfzig Schritt entfernt auf einem Baumstamm stand. Heyward hob die Waffe, zielte sorgfältig und schoß, die Kugel riß das Holz wenige Zoll neben dem Gefäß auf, und beifälliges Gemurmel bewies, daß dieser Schuß anerkannt wurde. Tamenund sagte: „Wenn der weiße Krieger Falkenauge sein will, so treffe er!“ Natty ließ das Gewehr schwer von der rechten in die linke Hand fallen. Der Schuß krachte, die Scherben des Kruges wirbelten durch die Luft, mit einer gleichgültigen Bewegung warf Natty das Gewehr ins Gras. Die Stille der 246
Verblüffung und der Bewunderung war geradezu lähmend, dann regten sich hier und da Zweifel, daß alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, und ein junger Krieger rief: „Es war Zufall! Niemand kann treffen, ohne zu zielen!“ Natty lachte. Er merkte, daß er durch einige Zirkuskunststückchen die Indianer am leichtesten für sich zu gewinnen vermochte, so nickte er den Schwestern aufmunternd zu und rief: „Falkenauge muß nicht seiner Kugel nachblicken, sie findet ihr Ziel auch so!“ Tamenund entschied: „Gebt ihnen neue Gewehre!“ Natty überprüfte die Waffe, die ihm ein Krieger hinhielt, und rief mit der Stimme eines Marktschreiers: „Sehen Sie die Kürbisflasche an dem Baum dort, Major? Wenn Sie ein Schütze sein wollen, wie er an die Grenze paßt, dann treffen Sie!“ Die Kürbisflasche hing an einem Riemen aus Hirschleder von einem dürren Ast, die Entfernung betrug knapp hundert Schritt. Heyward zielte lange und drückte ab, einige Jungen liefen hin und riefen, die Kugel stecke nahe der Kürbisflasche im Baum. Natty spottete: „Diese Schießkunst reicht für einen königlichen Major, aber wenn ich oft ein paar Handbreit daneben geschossen hätte, lebten etliche Marder noch, deren Felle jetzt den Muff einer Lady schmücken, und mancher Mingo würde noch die Farmer an unseren Grenzen belästigen. Ich hoffe, die Squaw, der diese Flasche gehört, besitzt noch eine andere, denn aus ihr wird bald das Wasser auslaufen.“ Er spannte den Hahn und setzte einen Fuß zurück, zog den Kolben zwischen Kinn und Schulter ein und hob den Lauf. Als die Büchse waagerecht lag, ruhte sie kurze Zeit, dann fuhr ein Feuerstrahl aus ihrer Mündung. Gelassen setzte Natty das Gewehr ab und stützte sich auf den Lauf. Die Jungen 247
riefen, sie könnten keinen Einschuß finden, und Tamenund spottete: „Du bist ein Köter, der in der Haut eines Wolfes steckt. Ich hoffte, Falkenauge vor mir zu sehen.“ Natty erwiderte: „Wenn ich meine eigene Waffe hier hätte, würde ich mich verpflichten, den Riemen zu durchschießen, an dem die Flasche hängt. Im übrigen sollten deine Melder nachschauen, ob die Kugel nicht etwa durch die Öffnung hineingefahren ist und den Boden durchschlagen hat.“ Die Jungen rannten los und rissen die Flasche vom Baum, da sahen sie, daß der Schütze tatsächlich so getroffen hatte, wie es seine Absicht gewesen war. Sie zeigten die Flasche ihrem Häuptling, sie machte die Runde durch die ihm am nächsten stehenden Krieger, und keiner verbarg seine Bewunderung. Tamenund sagte: „Mein Gast hat bewiesen, daß er kein Prahler ist und den Namen Falkenauge verdient. Jetzt soll unser roter Bruder vom Stamme der Mingos sprechen.“ Le Renard schritt in den Kreis vor Tamenund und stellte sich gegenüber den Weißen auf. Er musterte Natty Bumppo feindselig, doch mit gewisser Achtung, und warf Heyward einen haßerfüllten Blick zu. Die zusammenzuckende Alice beachtete er kaum, aber als er Kora ansah, mischten sich Triumphgefühl und Begierde in seinem Gesicht. Seine Rede war kunstvoll und weitschweifig, er pries die Zeiten, da noch keines Weißen Fuß dieses Land betreten hatte, da die Delawaren vom großen salzigen Wasser bis zu den süßen Seen leben durften. Er rief: „Glücklich waren diese Jahre! Wenn Sommerwinde wehten, kühlten sie die Körper der roten Männer, im Winter schützten Felle im Überfluß vor der Kälte. Wenn die Kinder Manitus miteinander fochten, so 248
nur, um sich als Männer zu erweisen. Groß waren diese Jahre, ihre Kinder waren glücklich und tapfer und gerecht. Doch warum rufe ich, ein Mingo, meinen delawarischen Brüdern die Vergangenheit ins Gedächtnis? Warum erinnere ich an verblichene Größe, an Ruhm und Glück, die durch den weißen Mann zerstört worden sind?“ Zu Beginn dieser Rede hatte Tamenund die Augen geschlossen, er saß, als schliefe er. Wenn Le Renard die Stimme hob, flog ein Zucken über seine Lider, am Ende öffnete er die Augen einen Spalt und fragte: „Wer redet von Dingen, die vergangen sind? Wird nicht aus dem Ei die Made, aus der Made die Fliege? Warum von verflossenen Jahren, von verlorenen Gütern sprechen? Wir sollten Manitu für das danken, was geblieben ist.“ Le Renard antwortete: „Ein Mingo will den Delawaren sagen, daß sie noch eines besitzen, ihren Sinn für Gerechtigkeit.“ Tamenunds Stimme klang fest, als er bestätigte: „Wir sind gerecht.“ „So darf ich mit mir nehmen, was mir gehört?“ „Kein Delaware wird altes Recht brechen. Mingo, nimm, was dein ist, und kehre zu deinem Wigwam zurück.“ Tamenund hatte kaum sein Urteil gesprochen, als sich einige Krieger auf Natty Bumppo und Heyward stürzten und ihnen die Hände auf den Rücken schnürten. Ohnmächtig mußten die beiden zusehen, wie Le Renard die zusammenzuckende Kora am Arm packte. Sie riß sich los, rannte auf Tamenund zu, warf sich ihm zu Füßen und rief: „Ehrwürdiger Häuptling, höre nicht auf dieses Ungeheuer, das seinen Blutdurst stillen will! Du hast lange gelebt, du besitzt einen großen Namen und solltest Unglückliche und Schwache schützen!“ Tamenund fragte: „Wer bist du?“ „Eine Frau, die dir und 249
deinem Volk nie etwas zuleide getan hat.“ Tamenund blickte seine Häuptlinge an und fragte: „Wo lagert mein Stamm?“ Einer antwortete: „In den Tälern der Irokesen, jenseits der reinen Quellen des Hurican.“ „Viele heiße Sommer kamen und gingen, seit ich aus meinem Fluß getrunken habe, die bleichen Männer haben ihn mir genommen. Sind die Weißen schon bis hierher gefolgt?“ Kora rief: „Ich folge niemandem und will niemandem etwas wegnehmen. Ich bin hierhergeschleppt worden und will nichts anderes, als mit meiner Schwester zu meinem Vater heimkehren. Vor sieben Jahren fiel einer deiner Krieger in die Hände eines weißen Offiziers, und der Offizier ließ ihn frei, weil dieser Mann vom Stamm des gerechten Tamenund war. Erinnerst du dich?“ Tamenund schloß die Augen, nach einer Weile sagte er: „Ich besinne mich, daß ich als Kind am großen Salzsee stand und ein riesiges Kanu sah, das mit Flügeln, die weißer als die des Schwans und breiter als die von zwanzig Adlern waren, aus der aufgehenden Sonne kam.“ „Nein, ich spreche von keiner so fernen Zeit, großer Häuptling!“ „War es, als Engländer und Holländer in die Jagdgründe der Delawaren einbrachen? Da vertauschte Tamenund als erster seines Stammes den Bogen mit dem Feuergewehr.“ Kora machte noch einen Versuch: „Es war viele Jahre später! Du kannst es nicht vergessen haben! Sag mir, Tamenund, bist du Vater?“ „Der Vater eines Stammes.“ „Ich bitte nichts für mich“, fuhr Kora fort, wobei sie die Hände vor der Brust verkrampfte und den Kopf senkte, daß ihr die Locken übers Gesicht fielen. „Aber dort steht meine Schwester, jung und unschuldig an allem, was 250
zwischen unseren Völkern geschehen ist. Ihr Vater ist ein alter, schwacher Mann, dessen Tage gezählt sind. Bewahre sie, ein Opfer dieses Schuftes zu werden!“ Tamenund blickte auf Kora hinab, dann schaute er auf seinen Stamm, auf die tausend Menschen, die sein Urteil erwarteten. Natty Bumppo, aufgewachsen in den fortwährenden Kämpfen in diesen Wäldern, einem indianischen Stamm eng verbunden, glaubte, den alten Mann zu verstehen. Da wollte ein Häuptling die ihm vertrauenden Menschen durch die Klippen eines Krieges steuern, der sie nichts anging, da mußte er das Verhältnis zu einem Nachbarstamm ebenso im Auge behalten wie das zu den übermächtigen Franzosen, da flehte eine Weiße, die er nie gesehen hatte, um ihr und ihrer Schwester Leben. Natty, der nicht nur einmal aus einer ausweglos erscheinenden Lage entkommen war, gab auch jetzt die Hoffnung auf Flucht nicht auf, er versuchte, die Handgelenke gegeneinanderzureiben, aber die Stricke ließen sich nicht lockern. Seine Schießkünste hatten den Delawaren imponiert, aber auch Le Renards Rede hatte sie, denen das wohlgesetzte gesprochene Wort so viel galt, stark beeindruckt. Natty blickte zum Waldrand hinüber und suchte ein Zeichen, wonach Große Schlange darauf sann, ihm zu Hilfe zu eilen, er erinnerte sich des Tages vor anderthalb Jahrzehnten, als die Flammen eines Scheiterhaufens an ihm emporgeleckt hatten und er dennoch entronnen war. Wenig fürchtete er für sich, aber für Kora sah er keine Chance. Tamenund hatte einen Entschluß gefaßt und sagte: „Die Bleichgesichter sind hochmütig und hungrig, sie wollen die Welt besitzen, und der schlechteste von ihnen bildet sich ein, er wäre besser als der klügste und tapferste Indianer. Sie haben die schwarzen Söhne dieser Erde zu 251
Sklaven erniedrigt, nun soll der rote Mann folgen. Die Hunde und Krähen unter den Weißen würden bellen und krächzen, ehe sie eine Frau, die nicht hell wäre wie sie, in ihr Haus nähmen. Aber sie sollen nicht vergessen, daß sie, die bei Sonnenaufgang in unser Land kamen, bei Sonnenuntergang hinausgeworfen werden könnten!“ Kora senkte den Kopf noch tiefer, sie wußte, daß sie verloren war, und ihre Schultern zuckten. Der Häuptling, der Le Renard empfangen hatte, wandte sich an Tamenund und sagte: „Noch ein Gefangener wartet in der Hütte. Er ist ein Indianer im Dienst der Engländer, eine Ratte, der wir die Haut vom Leibe ziehen werden. Willst du ihn sehen?“ Tamenund gab einen Wink, kurz darauf wurde Unkas durch die Menge geführt. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Unkas seine Umgebung, sah, daß Falkenauge und der Major gefesselt waren, daß sich Alice nur mit Mühe aufrecht hielt und Kora wie ohnmächtig auf dem Boden lag. Die Blicke der Delawaren waren feindselig auf ihn gerichtet. Tamenund fragte: „Welche Sprache spricht der Gefangene?“ „Die seiner Väter, der Delawaren.“ Damit hatte niemand gerechnet, ein Schrei der Empörung war die Antwort. Tamenund sprach jetzt lauter als vorher, seine Stimme klang über sein Volk hin, als er sagte: „Ich erlebte, daß die Delawaren von ihren Beratungsfeuern vertrieben und wie versprengtes Wild in die Berge der Irokesen gejagt wurden, ich sah, wie fremdes Volk die Wälder in unseren Tälern mit Äxten niederschlug, ich sah Vögel, die für den Himmel geboren sind, in den Hütten der Menschen leben, aber nie wollte eine Ratte mein Lager teilen. Dieser Spürhund da geifert, wenn ihm ein Engländer eine Fährte zeigt.“ 252
Unkas antwortete sofort: „Und ihr seid Köter, die winseln, wenn ihnen der Franzose die Därme seines Wildes vor die Schnauze wirft!“ Zwanzig Indianer rissen ihre Messer aus dem Gürtel und waren drauf und dran, sich auf Unkas zu stürzen, aber Tamenund hob die Hand und sagte: „Delaware, du verdienst deinen Namen nicht. Mein Stamm hat seit Jahren kein Glück gekannt, und der Krieger, der sein Volk verläßt, wenn Wolken den Himmel verdüstern, gilt als doppelter Verräter. Solange Wasser in den Flüssen fließt, solange Bäume grünen und Vögel nisten, wird es so sein. Verräter, du mußt sterben!“ Mit einem Schlag löste sich die Versammlung auf. Die Jungen rannten nach dem Wald, um Holz für einen Scheiterhaufen zu holen, Frauen richteten einen Pfahl auf, Krieger packten Unkas und rissen ihm das Jagdhemd vom Leib. Aber gleich darauf sprangen sie zurück, einer wies auf Unkas’ Brust, und alle sahen dort die blasse Zeichnung einer Schildkröte. Unkas nutzte den Augenblick der Überraschung, schob einige Krieger beiseite und trat vor die Häuptlinge. Er fragte: „Soll ein Feuer der Delawaren den Sohn meiner Väter verbrennen? Mein Blut würde jede Flamme ersticken.“ Tamenund saß zurückgelehnt, zu viele Eindrücke waren in der letzten Stunde auf ihn eingestürmt, als daß er sie hätte verarbeiten können. Ein Häuptling neigte sich zu ihm und flüsterte ihm zu, was eben geschehen war, da fragte Tamenund: „Wer bist du?“ „Unkas, der Sohn Chingachgooks, ein Sohn der großen Schildkröte.“ Tamenunds Lippen bebten, als er fragte: „Und was führt dich an die Seite der Engländer?“ „Einst hörten meine Väter im Schlaf das Donnern des 253
großen Salzsees, dann stiegen immer mehr Weiße aus ihren mächtigen Kanus. Die meisten roten Männer gingen fort, aber meine Väter wollten aus den Flüssen ihrer Heimat trinken, sie glaubten, daß sie sonst verdursten müßten. Deshalb blieben sie und jagten mit den Engländern und fischten, wie sie es immer getan hatten.“ Tamenund nickte. „Wer von der Asche seiner Feuer vertrieben wurde, versteht dich.“ Er streckte die Hände aus, die Spangen an den Armen klirrten. „Tritt näher, mein Sohn“, bat er mit leiser Stimme, die vor Erregung zitterte. „Meine Tage sind gezählt, ich danke Manitu, daß einer gekommen ist, sich an meinen Platz zu setzen.“ Er faßte Unkas an den Schultern und zog ihn nahe heran, musterte jeden Zug in dessen Gesicht und rief: „Ist Tamenund wieder jung geworden? Tamenunds Pfeil würde das Hirschkalb verfehlen, sein Arm ist wie der dürre Ast einer Eiche, und eine Schnecke kann ihn im Wettlauf besiegen. Aber Unkas ist, wie Tamenund war, als er gegen die weißen Räuber kämpfte.“ Die Aufregung des Stammes hatte sich gelegt, der Pfahl, an den der Gefangene gebunden werden sollte, sank um. In die gespannte Stille hinein sagte Unkas: „Es ist, wie du sprichst, weiser alter Mann. Vier Krieger deines Geschlechts sind gestorben, seit du in die Schlacht gezogen bist. Das Blut der Schildkröte floß in den Adern vieler Häuptlinge, aber sie fielen im Kampf. Nur zwei leben, Chingachgook und ich, sein Sohn.“ Tamenund flüsterte, wobei ihm Tränen über die Wangen liefen: „Dann bist du der letzte Mohikaner. Setz dich an meine Seite.“ „Ich werde es tun, aber nun sind meine Freunde auch deine Freunde.“ Er nahm einem Krieger das Messer aus der Hand, das eben noch ihn hatte treffen sollen, ging zu 254
Natty Bumppo und Heyward und schnitt ihre Fesseln durch. Als er zu Tamenund zurückkam, sagte der alte Häuptling: „Das Bleichgesicht hat meine Krieger getötet, sein Name hat seinen furchtbaren Klang durch die Kugeln erhalten, die er gegen uns abgefeuert hat.“ „Nie tötete er einen Delawaren“, antwortete Unkas. Natty rieb sich die Handgelenke, er trat neben Heyward, der nicht begriff, was eben vor sich gegangen war. „Eine Überraschung, nicht wahr?“ sagte Natty. „Und endlich einmal eine angenehme. Bei den Indianern sind Wendungen möglich, die uns wie Wunder erscheinen. Eben noch sollten wir als böse Engländer unsere Skalpe verlieren, da entdeckten Tamenund und Unkas einen gemeinsamen Vorfahren, schon ist Tamenund bereit, Unkas als seinen Nachfolger einzusetzen, Unkas vergißt in seinem frischen Glück seine Freunde nicht, und vielleicht sitzen wir beide demnächst neben Unkas in der Versammlung der Ältesten.“ Heyward erwiderte: „Sie nehmen alles so gelassen hin.“ „Nach außen mag es so scheinen, aber Sie dürfen mir glauben, daß ich mich wohler fühle als vor einigen Minuten. Wenn die Schwestern nicht wären, würde ich mich mit Ihnen in die Büsche schlagen, denn man kann nicht wissen, was den Delawaren in der nächsten halben Stunde einfällt. Eben haben sie eine großzügige Anwandlung, aber noch steht Le Renard neben Tamenund, und es könnte sein, daß sich Tamenund sehr bald besinnt, daß ihm sein roter Bruder eben doch nähersteht als ein englisches Bleichgesicht.“ Natty hielt es für das beste, sich an der Seite von Unkas zu halten. Er flüsterte ihm zu, seine rasch gewonnene Würde zu benutzen, um den Mingo auszuschalten. Aber da rief Le Renard, der den Umschwung der letzten 255
Minuten wütend und bestürzt mit angesehen hatte: „Der gerechte Tamenund wird nicht behalten, was ihm ein Mingo geliehen hat!“ Tamenund fragte: „Du meinst das Weib, das du in mein Lager brachtest? Aber es will dich nicht begleiten. Eine Frau, die einen Wigwam widerwillig betritt, bringt kein Glück.“ Le Renard schrie: „Sie stammt aus einem Geschlecht von Krämern und feilscht um ihr Schicksal! Ich habe sie im Kampf erbeutet, sie ist mein!“ Tamenund schaute auf die junge Frau, die noch immer vor ihm im Gras lag. Er entsann sich dunkel, daß einmal einer seiner Krieger von einem englischen General zurückgeschickt worden war, irgendwann in seiner unendlichen Vergangenheit war er wohl auch einmal einem Offizier begegnet, der Munro hieß, aber das war verblichen und hatte vor der Gegenwart keinen Bestand. Er hatte seinen Stamm aus den Kriegswirren herausgehalten, keiner seiner Krieger war für britische oder französische Interessen gefallen, und das wog schwerer als die Beute von Flinten oder Decken oder Schmuck. Tamenund sah, wie der englische Offizier, dessen Fesseln von Unkas zerschnitten worden waren, sich neben die Frau stellte, er hörte, wie er ein hohes Lösegeld bot, einen Wagen voller Gewehre, Pulver und Blei, aber Le Renard lehnte erbittert ab. Tamenund fühlte sich erschöpft von geistiger und körperlicher Anstrengung, er schloß die Augen und ließ sich zurücksinken, und es sah aus, als schliefe er. Mitleid mit der jungen Frau kam ihn an, aber er vergaß nicht, wie wenig Erbarmen Weiße mit den Frauen seines Volkes gezeigt hatten. Diese Regung durfte er nicht wichtig nehmen, er wußte es, und nach indianischem Brauch war 256
Le Renard im Recht. Zum letztenmal während dieser turbulenten Beratung hob er die Hand, noch einmal öffnete er die Augen und sagte: „Ein Häuptling wiederholt sich nicht, und ich möchte keine weiteren Worte hören. Mingo, nimm, was dein ist, und entferne dich!“ Le Renard wollte Kora hochziehen, aber sie stand auf, ehe er sie berühren konnte. Sie sah sich um und las aus den Mienen ihrer Schwester, Heywards und Natty Bumppos, daß es für sie keine Rettung gab. Sie ging auf Alice zu, strich ihr übers Haar und küßte sie, zu Heyward sagte sie: „Achten Sie auf meine Schwester, Major. Sie ist so zart und so gütig, sie wird das Schreckliche lange nicht vergessen können, das sie hier durchleben mußte.“ Kora warf Natty einen dankbaren Blick zu, wandte sich zu Le Renard und maß ihn verachtungsvoll, und sie war es, die mit einer Handbewegung das Zeichen zum Aufbruch gab. Heyward rief Le Renard nach: „Die Delawaren haben ihre Gesetze, ich kann sie nicht ändern. Aber ich bin nicht an sie gebunden, merke dir das!“ „Die Wälder sind weit“, erwiderte Le Renard eisig. „Der weiße Offizier mag tun, was ihm gefällt.“ Als Le Renard und Kora an Unkas vorbeigingen, sagte der junge Häuptling: „Mingo, die delawarische Gerechtigkeit stammt von Manitu, sie ist für uns Gesetz. Dreh dich nach der Sonne, noch scheint sie hinter den Ästen dieser Tanne. Dein Pfad ist offen, aber er ist kurz. Wenn die Sonne über den Bäumen steht und dieses Tal erwärmt, werden Männer auf deiner Spur sein.“ Le Renard wandte den Kopf und nickte. In seinem Blick war kein Haß mehr, er hatte sein Ziel erreicht, die Narben auf seinem Rücken waren gerächt. Was nun folgte, hatte mit Vergeltung an den Weißen nichts zu tun, es spielte 257
sich innerhalb indianischer Regeln ab, rote Männer hielten sich an Gesetze, die Manitu erlassen hatte, und der Krieg gehörte dazu. Er blickte zur Sonne und wußte, daß er nicht weit kommen würde, ehe Unkas und dessen Freunde auf seiner Spur wären. Die Luft unter den Bäumen war noch kühl, aber bald würde die Hitze durch das Blätterdach dringen und Brodem aus dem Unterholz steigen. Le Renard schaute zu den Höhen, auf denen seine Krieger ihn erwarteten. Viel Zeit blieb nicht, sie zu erreichen. Dennoch zwang er seine Gefangene zu keinem schnelleren Schritt.
2 Die Delawaren lösten die Versammlung nicht auf, bevor Le Renard und Kora zwischen den Bäumen verschwunden waren; Unkas blickte ihnen nach, solange er Koras Kleid noch sah. Gleich danach drängte er sich durch die Menge und verschwand in der Hütte, in der er die Nacht verbracht hatte. Tamenund schlurfte, von zwei Häuptlingen gestützt, auf seinen Wigwam zu, er hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und die Augen geschlossen, schweigend bildeten seine Stammesgenossen Spalier, als wüßten sie, daß sie zum letztenmal seine Stimme gehört hatten. Einige junge Krieger folgten Unkas, nach wenigen Minuten traten sie aus seiner Hütte und begannen, mit ihren Messern die Rinde einer Zwergfichte abzuschälen, den nackten Stamm färbten sie mit roter Farbe. Natty und Heyward hatten Alice in eine Hütte gebracht und der Obhut einiger Frauen übergeben. Jetzt sagte Natty: „Major, die Krieger da zeigen den übrigen, daß sie zum Kampf entschlossen sind. Alles deutet darauf hin, daß Sie es nicht allein mit den Mingos aufnehmen müssen.“ „Und Sie?“ „Die alte Geschichte: Wenn jemand in Not ist, stehe ich ihm bei.“ 258
Kurz darauf trat Unkas ins Freie, sein Oberkörper war nackt, die Hälfte seines Gesichts hatte er mit tiefschwarzer Farbe wie mit einer drohenden Wolke bedeckt. Langsam schritt Unkas auf den geröteten Stamm zu und umkreiste ihn in einem schwermütigen Tanz. Dazu sang er ein Kriegslied; seine Stimme stieg auf bis zu hohen, schrillen Tönen und fiel ab in dumpfes Grollen, die Worte wiederholten sich viele Male. Manitu wurde gerühmt, er sei groß, weise und gerecht, der Himmel hänge voller Wolken, die Wälder seien mit Kriegsgeschrei erfüllt, und er, der Sänger, besitze keine Kraft ohne Manitu und bitte um Beistand. Nach den ersten Strophen trat ein junger Häuptling an den Stamm, berührte ihn und schloß sich Unkas an, Krieger um Krieger folgte, bald wirbelte ein Strom von nackten, wild bemalten Männern singend und gestikulierend um den Stamm. Natty und Heyward standen abseits. „Ich kenne das“, sagte Natty. „Jetzt sind sie wie von Sinnen, nicht einmal Branntwein könnte sie in einen derartigen Rausch versetzen, und die weisesten Worte von Tamenund würden sie nicht besänftigen. Wahrscheinlich weiß außer Unkas keiner mehr den Grund ihrer Ekstase. Glauben Sie mir, Major, ich möchte verhindern, daß Ihre und meine Geschichte diese Kreise zieht, aber das steht außerhalb meiner Macht.“ Unkas hob sein Beil und schlug es in den Stamm, das war das Zeichen, daß er sich an die Spitze des nun beginnenden Kriegszuges setzte. Ein Krieger nach dem anderen tat es ihm nach, Splitter um Splitter hieben sie den Stamm, das Symbol ihres Feindes, bis auf den Stumpf zusammen. Die Sonne schien jetzt steil auf den Lagerplatz herunter, also war der Waffenstillstand beendet. Unkas stieß einen durchdringenden Schrei aus, augenblicklich 259
legte sich erwartungsvolle Stille über das Lager. Er winkte die Häuptlinge zu sich heran und teilte ihnen seinen Plan mit. Die Delawaren würden in mehreren Trupps, die an den Flanken lose Fühlung hielten, auf die Hütten der Mingos Vorrücken, irgendwo zwischen beiden Lagern würden sich die Mingos zum Kampf stellen, sie sollten angegriffen und zurückgeworfen werden. Nachdem Unkas gesprochen hatte, rückten zweihundert Krieger in breiter Kette vor. Unkas und Natty hielten sich im Zentrum der Schwarmlinie, holten ihre Gewehre unter einem Strauch hervor, überprüften sie und fanden sie unversehrt. An den Flügeln fiel hin und wieder ein Schuß, dort zogen sich die Vorposten der Mingos zurück und signalisierten ihrer Hauptmacht das Anrücken des Feindes. Die Delawaren erreichten den Höhenzug über dem Lager, ohne ernsthaften Widerstand brechen zu müssen, Unkas gab das Zeichen zum Halt und wies einigen Trupps die nächsten Ziele zu. Gerade wollten sie weiter vorrücken, als ein einzelner Mann auf sie zueilte. Natty sagte, wobei er hoffte, recht zu haben: „Vielleicht ein Friedensvorschlag.“ Unkas erwiderte sofort: „Mein Freund Falkenauge darf nicht mit den Mingos verhandeln!“ Natty gab den Delawaren ein Zeichen, nicht zu schießen, und kroch ein Stück nach vorn. Unvermittelt richtete er sich auf und brach in leises Lachen aus. Er drehte sich zu Unkas um und sagte: „Beinahe hätte ich diesem Burschen ein Stück Blei zwischen die Rippen gejagt, aber rechtzeitig erkannte ich ihn. Es ist unser alter Gamut.“ Natty versuchte, wie schon einmal, als er Unkas aus dem Mingolager geführt hatte, einen Choral anzustimmen, es fiel ebenso kläglich aus, aber Gamuts feines Ohr hörte heraus, wer diesen jämmerlichen Lärm anstimmte, und er änderte die Richtung. Natty rief: „Erschrecken Sie nicht, 260
großer Meister, wenn Sie einige höchst kriegerische Rothäute an meiner Seite sehen- sie werden Ihnen nichts anhaben. Wie sind Sie den Mingos entwischt?“ Gamut keuchte, er mußte tief Atem holen, ehe er antworten konnte: „Bei den Heiden da hinten geht alles drunter und drüber. Sie haben vor einer Stunde geheult und gekreischt, daß mir fast die Trommelfelle geplatzt wären, und sind in den Wald gezogen. Ich habe mich davongemacht und hoffe, bei den Delawaren Ruhe für meine Ohren zu finden.“ „Sie wären vom Regen in die Traufe gekommen. Aber was ungleich wichtiger ist: Wo stecken die Mingos?“ „Ich habe viele von ihnen in dem Wald dort drüben gesehen.“ „Le Renard?“ „Er lockte durch sein unharmonisches Gebrüll alle Krieger aus den Hütten.“ Heyward fragte erregt: „Können wir nicht sofort Kora befreien?“ Natty antwortete besonnen: „Ich werde mit zwanzig Kriegern einen Bogen an den Biberburgen vorbei schlagen, Chingachgook und den General aufnehmen und den Mingos in die Flanke fallen. Unkas, wenn du unsere Gewehre hörst, greifst du frontal an und wirfst die Mingos auf das Dorf zurück. Wir befreien die Lady; was dann zwischen den Delawaren und den Mingos geschieht, ist nicht mehr unsere Sache.“ Natty winkte eine Schar von Kriegern zu sich heran, an ihrer Spitze, Heyward neben sich, zog er in eine Senke hinab. Der Wald lag hier so still, als hätte Gott ihn eben erst erschaffen, dicht und frei von Unterholz streckte sich ein Grasteppich. Wenn Natty und seine Männer stehenblieben und lauschten, hörten sie keinen anderen Laut als von einem Vogel, der von einem Ast zum anderen flog, oder von einer Nuß, die aus den 261
Pfoten eines Eichhörnchens fiel. Danach war die Ruhe wieder tief und atemlos. An einem Bach hielt Natty an und fragte, wohin er fließe, ein Krieger antwortete, er vereinige sich weiter unten mit einem anderen Bach, dann sei er groß genug für die Biber. Natty und sein Trupp folgten dem Wasser. Das Ufer wurde steiler, in vielen Krümmungen, von Büschen gerahmt, wand sich der Bach durch hügliges Gelände. Natty schickte Späher nach den Seiten aus, mit äußerster Vorsicht führte er seine Männer durch den unübersichtlichen Wald, in dem überall Gefahren lauern konnten. Immer wieder blieb er stehen und lauschte, er hoffte, er würde hören, wenn weiter oben, wo Unkas vorrückte, das Gefecht entbrannte. Ohne Zwischenfall erreichte er den Zusammenfluß der Bäche, führte seine Männer durch eine Felsenschlucht und kroch wenig später neben Heyward auf einen Hügel hinauf, von dem aus er die Bibersiedlung zu überblicken vermochte. Überall trieben Trümmer umgestürzter Bäume, hier und da entdeckte Natty einen schwarzen Kopf über dem Wasser oder in der Öffnung eines Baus. Er war zufrieden mit dem bisherigen Verlauf seines Umgehungsmanövers, der Wind wehte von vorn, würde den Pulverrauch zurücktreiben und ihm klare Sicht erhalten. Hinter ihm krochen die Delawaren auf den Hügel, er richtete sich auf und ging ihnen voran, um am Rande der Biberburgen weiter vorzufühlen. In diesem Augenblick krachte eine Salve. Natty warf sich zu Boden und sah, wie einer seiner Männer die Arme in die Luft warf und stürzte. Zwischen den Büschen an Nattys Seite quoll Rauch auf, dorthin richtete er sein Gewehr und suchte nach einem Ziel. Er hörte das Brechen von Zweigen und vermutete, daß sich die Mingos, die an Zahl vermutlich unterlegen waren, 262
nach ihrem Feuerüberfall zurückzogen; da sprang er auf und verfolgte sie. Links und rechts griffen die Delawaren an, nach hundert Schritt aber wurden sie durch verstärktes Feuer zu Boden gezwungen. Natty suchte Deckung hinter einem am Boden liegenden Baum, gab einen Schuß ab und sah den Arm eines Mingos zurückzucken, er lud, hörte Kugeln über sich pfeifen und kroch zur Seite, um aus einer anderen Stellung zu feuern, er begriff, daß er in eine ungünstige Lage geraten war und daß die Mingos von einem Mann geführt wurden, der sein Handwerk verstand. Heyward lag neben ihm, ihm rief er zu, jetzt müßten sie Kavallerie einzusetzen haben, in diesem lichten Hochwald könnten sie Attacke reiten und den Feind, der während des Angriffs nur einmal zum Schuß kam, überrennen. Natty schob wieder seine Büchse vor und suchte ein neues Ziel. Er überlegte schon, ob er seine Leute zurücknehmen und aus einer anderen Richtung her vordringen sollte, als im Rücken der Mingos Schüsse fielen und von den Überraschten Geschrei herüberdrang und sich einige Gegner zur Flucht wandten. Natty rief: „Chingachgook und Munro greifen von den Biberhütten her an!“ Er sprang auf und rannte, das Gewehr schwingend, auf die letzten ausharrenden Mingos zu, die Delawaren an seiner Seite folgten ihm, drei von ihnen wurden getroffen, dann aber war der Widerstand gebrochen, und die Mingos, die nicht wußten, daß nur zwei Männer in ihrem Rücken operierten, gaben ihre Stellung auf. Natty verfolgte sie, ohne zu zögern, nach hundert Schritt erkannte er Große Schlange und Munro zwischen den Büschen, sie winkten sich zu und rannten den Mingos nach, bis sie den Waldrand erreichten. Natty und Große Schlange warfen sich keuchend ins Gras, sie wußten, daß es nötig war, erst einmal die eigene Streitmacht zu sammeln, die Gewehre 263
zu laden und besonnen und in straffer Ordnung den unübersichtlichen Streifen vor sich zu durchkämmen. Jetzt hörten sie auch, daß links von ihnen das Gefecht in vollem Gange war; dort stieß Unkas vor. Vögel, von ihren Nestern aufgescheucht, flatterten über die Ebene hinaus, hier und da stieg über den Wipfeln eine blasse Pulverwolke auf. Natty berichtete Große Schlange in aller Eile, was geschehen war, Heyward lag neben Munro und suchte nach möglichst schonenden Worten, um dem alten Mann klarzumachen, daß seine älteste Tochter wieder in den Händen von Le Renard war. „Wir werden sie befreien“, schloß er. „General, verlassen Sie sich darauf!“ Er rief Natty zu: „Wollen wir nicht vorrücken?“ „Ein paar Minuten warten wir noch, Major. Unkas treibt uns die Feinde direkt vor die Mündungen.“ Nattys Umgehungsmanöver trug nun seine Früchte. Der Gefechtslärm drang immer näher, hin und wieder war schon drüben im lichter werdenden Wald ein zurückgehender Mingo sichtbar, aber bis dort hinüber reichten die Gewehre nicht. Dumpf hallten die Flintenschüsse im Wald, heller auf der freien, nur von Büschen bestandenen Fläche. Ein Hohlweg zog sich quer zur Angriffsrichtung, in ihm, so nahm Natty an, würden sich die Mingos zum Widerstand sammeln. Langsam rückten Natty und seine Männer vor, bis sie eine günstige Stellung gefunden hatten. Dort warteten sie, bis sich immer mehr Mingos im Hohlweg einnisteten. Heyward wurde ungeduldig, Natty sagte: „Major, da drüben ballen sich Mingos so zusammen, daß jede Frau, die noch nie ein Gewehr gehalten hat, dieses Knäuel treffen würde.“ Wenig später gab Natty den Befehl zum Feuern. Ein Dutzend Gewehre krachte, einige Mingos fielen, die übrigen sprangen aus ihrer Deckung, die zur Falle 264
geworden war, und suchten ihr Heil in der Flucht. In diesem Augenblick brach Unkas aus dem Wald heraus und machte dem Widerstand am Hohlweg ein Ende. Jetzt war die Flucht allgemein, die Mingos sammelten sich erst wieder am Rand ihres Dorfes. Natty beobachtete, wie sich Delawaren und Mingos in wütendem Handgemenge verbissen, da gab er Heyward und Munro einen Wink, zusammen mit Unkas und Große Schlange schlugen sie den Weg nach der Höhle ein. Sie rannten, fielen atemlos in Schritt, Heyward nahm Munro das Gewehr ab und zog den alten Mann weiter. Vom Dorf her hörten sie das erbitterte Kampfgeschrei der Indianer, Rauch stieg auf, Flammen zuckten aus den Dächern der Hütten. Die fünf Männer hatten die Höhle fast erreicht, als sie vor sich drei Indianer sahen, die offenbar das gleiche Ziel hatten; einer von ihnen war Le Renard. Es kam zu einem Kugelwechsel, bei dem niemand getroffen wurde, ehe Le Renard und seine Begleiter in die Höhle schlüpften. Unkas folgte ihnen als erster. Vor sich sah er den düsteren Schein einer Fackel, dann war es völlig dunkel um ihn, er tastete sich weiter, ließ sich vom rötlichen Zucken eines Feuers leiten und hörte von dort den Schrei einer Frau. Heyward rief: „Das ist Kora!“ Natty versuchte sich an die Abzweigungen zu den einzelnen Kammern zu erinnern, fühlte mit dem Gewehr vor, bog um einen Felspfeiler, stieß auf die Reste eines Feuers, sprang darüber hinweg und schlich in den Gang hinein, der auf der anderen Seite ins Freie führte. Er sah schon den schwachen Abglanz des Tageslichtes und lief schneller, als Le Renard sein Gewehr in die Höhle hinein abfeuerte. Blei spritzte an den Steinen auseinander, Pulverrauch machte das Atmen schwer, hustend erreichte Natty den Ausgang. Vor ihm breitete 265
sich eine Schlucht, er sah, wie zwei Mingos Kora in die Richtung zerrten, die Le Renard ihnen wies. Er schrie: „Lady, wir kommen!“ Hinter ihm drängten Unkas und Große Schlange, Heyward und Munro aus der Höhle, Unkas und Heyward warfen ihre Gewehre weg, um die Fliehenden schneller einzuholen, doch ein erneuter Schuß Le Renards bewies ihnen, daß sie ohne Feuerwaffen keine Chance besaßen. Natty hob seine Büchse, aber Le Renard hielt Kora als Schutzschild vor sich. Grell brach sich sein Geschrei an den Felshängen. Natty rannte in die Schlucht hinein, Heyward und Unkas folgten ihm. Auf der Talsohle überholte Unkas alle anderen, das Gelände stieg an, manchmal verlor Unkas die Fliehenden aus dem Auge, dann wieder sah er Koras Kleid, Le Renards Federbusch oder den mit Kriegsfarben bemalten Rücken eines anderen Mingos. Er hörte Koras Hilfeschrei, das Keuchen von Heyward hinter sich, das Flehen Munros, Kora möge den Mut nicht verlieren. Unkas verkürzte den Abstand immer mehr und schrie mit der letzten Kraft seiner Lungen: „Stell dich zum Kampf, Le Renard!“ Auf einem Felsvorsprung strauchelte Kora, Le Renard riß sie hoch. Sie stöhnte: „Ich gehe keinen Schritt mehr, und wenn du mich tötest, du Scheusal!“ Le Renards Begleiter schwangen ihre Beile, aber Le Renard drängte sie zurück, zückte sein Messer und brüllte: „Flieh mit mir oder stirb!“ Kora fiel auf die Knie, streckte die Hände und rief ihren Gott um Beistand an. Le Renard hob sein Messer, eine Sekunde lang blickte er auf Koras Schultern und Nacken hinab und begriff, daß er den letzten Triumph seiner Rache nicht erreichte, ob er nun diese Frau tötete oder nicht. In diesem Augenblick sprang Unkas von einem Überhang herab auf die Felsplatte neben Le Renard, er fiel 266
auf die Hände, und ehe er sich erheben konnte, stach Le Renard auf ihn ein. Unkas wurde an der Schulter und am Arm getroffen, bäumte sich auf, schwang sein Beil mit der Linken, versuchte mit der verwundeten Rechten seinen Gegner an der Gurgel zu packen, aber mit katzenhafter Gewandtheit unterlief ihn Le Renard und stieß ihm sein Messer bis zum Heft ins Herz. Mit verzerrtem Mund sank Unkas nach vorn und klammerte sich an den Mingo, seine Augen öffneten sich dicht vor Le Renards Gesicht, es schien, als würde er sich des Irrsinns bewußt, daß ein roter Häuptling einen anderen tötete, Dann brach er zusammen. Heyward war fast heran, er sah, wie einer der Mingos sein Messer der knieenden, betenden Kora in den Rücken stieß, in wahnsinnigem Entsetzen stürzte er vorwärts und streckte den Mörder mit einem Kolbenhieb zu Boden. Le Renard schleuderte sein blutiges Messer nach Heyward, traf aber nicht, sprang zur Seite und kletterte zwischen den Felsen aufwärts. Er und sein letzter Gefährte halfen sich über Risse und Felsbänder hinweg, aus dem Tal heraus schössen ihnen Munro und Große Schlange nach, verfehlten ihn aber. Natty, der durch sein Gewehr am schnelleren Laufen gehindert war, erreichte erst jetzt den Platz, auf dem Kora und Unkas lagen. Seine Kehle verengte sich vor Erschütterung, ein Schleier schob sich vor seine Augen, eine Sekunde lang fühlte er sich versucht, das Gewehr wegzuwerfen, auf alle Rache zu verzichten, einzugestehen, daß schon zu viel Blut geflossen war. Das Messer des Mingos steckte noch zwischen Koras Schulterblättern. Natty drehte Kora um, Blut war aus ihrem Mund geronnen, ihre Augen waren leblos. Neben ihr lag Unkas, sein Blut floß über die Steine, mit der Linken umkrampfte er noch sein Beil. Mühselig richtete sich Natty auf. Jenseits einer Klamm, 267
weit über ihm sprang Le Renard über einen Felsspalt, sein Körper stand vor dem tiefblauen Himmel. Le Renard schrie herunter: „Die Bleichgesichter sind Hunde, die Delawaren sind Kröten! Le Renard hat sich gerächt, er läßt ihre Kadaver den Krähen zum Fraß!“ Natty hob seine Büchse und richtete sie auf den Mingo, sie schwankte so stark, daß er sie absetzte, die Augen schloß, tief atmete. Als er wieder aufblickte, sah er, wie Le Renard über einen Abgrund sprang. Der Mingohäuptling hatte die Entfernung falsch eingeschätzt, er erreichte den Rand nicht, konnte sich gerade noch an einer Wurzel festhalten und schlug gegen die Felswand. Dort hing er, bis seine tastenden Füße einen Vorsprung fanden. Er bot alle Kräfte auf, zog sich höher, krümmte sich zusammen und schob ein Knie über den Rand; mit den Fingerspitzen klammerte er sich in einer Ritze fest, allmählich, mit äußerster Vorsicht, verlagerte er das Gewicht und schob seinen Körper Zoll um Zoll hinauf. Natty war seiner Erregung Herr geworden. Wieder hob er das Gewehr und zog es fest in die Schulter ein. Er hielt den Atem an, die Visierlinie seiner Kentuckybüchse war zwischen die Schulterblätter des Mingos gerichtet. Dort schlug die Kugel ein, genau an der Stelle, an der Kora zu Tode getroffen worden war. Le Renard warf die Arme hoch; sich überschlagend, fiel sein Körper in die Schlucht hinab. Natty glaubte, einen Todesschrei zu hören, aber er war sich dessen nicht sicher. Er setzte das Gewehr ab und legte die Hände auf die Felsplatte, er starrte vor sich hin, wobei er sich ausgehöhlt fühlte, so erschöpft wie damals, als er am Marterpfahl gestanden hatte. Auch damals war ein Mädchen getötet worden, das an all dem, was um sie herum vor sich gegangen war, keine Schuld trug. Natty wollte sich an den Namen erinnern, er fiel ihm nicht ein; 268
er sah ein Boot vor sich, ein mit Segeltuch umwickelter Körper wurde versenkt, ein Offizier sprach ein Gebet. Natty erwachte aus seiner Lethargie, als Munro neben Koras Leiche zu Boden sank. Natty ging einige Schritte abseits; seine Hände taten das, was sie seit vielen Jahren unzählige Male getan hatten, sie kratzten die Pulverreste von der Pfanne seines Gewehrs, nahmen Werg und Blei aus dem Kugelbeutel und schoben sie in den Lauf. Aber seine Gedanken waren nicht bei dem, was seine Hände taten.
3 Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, beschien sie einen trauernden Stamm. Hohe Wolken trieben über einen fahlen Himmel; wo die Mingos ihr Lager gehabt hatten, kreisten Geier und Krähen. Feuer hatte die Hütten zerstört, wer von ihren Bewohnern noch lebte, war geflohen. Die letzten Trupps der Delawaren kehrten zurück, sie waren mit Skalps und Beute beladen und trugen ihre Toten. Ihr Sieg war vollkommen, aber dennoch jubelte niemand. In der Mitte des Camps lag Kora aufgebahrt, sie war in Tücher gehüllt, mit Blumen und duftenden Krautern geschmückt, sechs Mädchen standen an ihrer Bahre, hin und wieder taten sie eine Blume zu den übrigen. Zu Koras Füßen saß Munro, die grauen Haare fielen ihm in die Stirn, er hatte den Kopf geneigt und saß so reglos, als wäre er selbst gestorben. An seiner Seite stand Gamut, in den Händen hielt er das Büchlein mit den Chorälen, die Trost in jeder Lage des Lebens spenden sollten, aber seine Kehle war eng, und Tränen machten seine Augen blind. Eine Zeitlang hatten Heyward und Alice mit Munro und Gamut die Totenwache gehalten, aber der Major hatte Alice wegbringen müssen, als sie hemmungslos schluchzend 269
zusammengebrochen war. Am Rande des Lagers hatten Delawarenkrieger die Leiche von Unkas an einen Baum gelehnt. Federschmuck umkränzte seinen Kopf, Brust und Arme waren mit Denkmünzen und Ringen geschmückt. Dem Toten gegenüber hockte sein Vater, er war ohne Waffen und ohne Bemalung, nur das blaue Zeichen der Schildkröte schimmerte auf seiner Brust. Reglos blickte Große Schlange auf das erstarrte Gesicht seines Sohnes. Schweigend umstanden die Krieger, die am Tag zuvor unter der Führung von Unkas gegen die Mingos ausgezogen waren, den toten Häuptling, den Nachfahren Tamenunds, den letzten seines Geschlechts. Acht Männer hatten die Delawaren im Gefecht verloren, ihre Körper lagen neben Unkas im Gras, man hatte ihnen ihre Beile und Messer in die Gürtel gesteckt. Viele der delawarischen Krieger waren leichter oder schwerer verwundet, in den Hütten rangen einige mit dem Tod. In die Stille hinein sagte ein Häuptling: „Manitu hat sein Antlitz hinter einer Wolke verborgen. Sein Auge hat sich abgewendet, seine Ohren sind geschlossen, sein Mund schweigt. Männer der Delawaren, Krieger der Mohikaner, die Schildkröte hat sich in der Erde verkrochen. Manitus Gesicht ist hinter einer Wolke.“ Lähmende Stille folgte diesen Worten, dann begannen murmelnde Stimmen ein Lied zu Ehren der Toten. Frauen und Mädchen sangen sanft und klagend; wenn eine verstummte, nahm die andere den Ton auf, sie priesen die Taten der Gefallenen, wechselten ab zwischen Ruhm und Trauer. Die Mädchen um Koras Bahre zerpflückten Blumen und warfen die Blätter in die Luft, manchmal schrie ein Mann auf, dann weinte eine Frau, die Mann oder Sohn verloren hatte. Ein Mädchen trat vor Unkas und 270
rühmte ihn in überschwenglichen Bildern, nannte ihn den Panther seines Stammes, lobte seine Schnelligkeit, die so groß gewesen sei, daß sein Mokassin keine Spur im Tau zurückgelassen habe, sie verglich seinen Sprung mit dem eines Hirschkalbs, sein Auge mit einem Stern in dunkler Nacht, seine Stimme in der Schlacht mit dem Donner Manitus. Ein anderes Mädchen sang eine Klage zu Ehren Koras. Ihr Tod wäre mit dem von Unkas so eng verknüpft, daß niemand den Willen Manitus übersehen könnte, gemeinsam würden sie nun den ewigen Jagdgründen entgegenwandern. Das Mädchen mahnte Unkas, nicht die Geduld zu verlieren, wenn die weiße Frau nicht gleich alle Arbeiten beherrschte, die ein Krieger von seiner Squaw verlangen dürfte, wenn die ersten Mokassins, die sie ihm nähte, zu eng wären, oder wenn ihr Feuer erlöschte, über dem sie den Mais röstete. Kora sollte, so sang das Mädchen, sich nicht nach den Freunden ihrer Jugend sehnen, sie wäre nun die Frau eines großen indianischen Kriegers, sie würde Fleisch im Überfluß haben. Edel, männlich und großmütig wäre ihr Mann, alles wäre in ihm vereinigt, wonach sich eine Frau sehnte. Natty Bumppo verstand als einziger Weißer den Sinn dieser Worte. Er lehnte an einem Baumstamm und stützte sich auf seine Büchse, seine Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem er Heyward, Gamut und die Schwestern getroffen hatte, er entsann sich des Gefechts am Glenn und der Schlacht um das Fort William Henry, er versuchte im Tod von Kora und Unkas einen Sinn zu finden, aber es gelang ihm nicht, denn dieser Tod hatte niemandem einen Nutzen gebracht, keinem Menschen und keinem höheren Prinzip. Zwei Indianerstämme waren aufeinandergeprallt und hatten sich furchtbare Wunden geschlagen, der Krieg zwischen Engländern und Franzosen aber ging weiter wie 271
seit Jahren. Ob sich Delawaren an Mingos gerächt und ihrem Stolz genügt hatten, war demgegenüber völlig unerheblich. Ein Häuptling gab den Frauen, die Koras Bahre umstanden, ein Zeichen; sie hoben sie auf und trugen sie dem Walde zu. Gamut stützte Munro, sie folgten dem Zug. Auf einem Hügel, der von Fichten umstanden war, setzten die Frauen die Bahre ab. Natty trat zu ihnen und sagte in ihrer Mundart, alles, was sie getan hätten, verdiene den Dank des Vaters und der Schwester und seinen Dank. Die Frauen hoben Koras Leiche in einen Sarg aus Birkenrinde und ließen ihn in eine Grube hinab. Natty war der erste, der eine Handvoll Erde hinunterwarf. Munro und Heyward folgten ihm, Gamut sang mit fester, lauter Stimme einen Choral. Schließlich bedeckten Natty und Heyward den Sarg mit Steinen und Erde. Ergriffen, aber mit der Beherrschung des alten Soldaten, stand Munro, bis dieses traurige Werk vollendet war. Zu Natty sagte er: „Ich danke Ihnen für alles, was Sie für meine Kinder und mich getan haben. Mich hält nichts mehr in diesen Wäldern, ich möchte zurückkehren.“ „Ich habe mit einem Häuptling gesprochen“, erwiderte Natty. „Es ist eine Sänfte gezimmert worden, auf der Fräulein Alice getragen werden kann. Ein Dutzend Krieger wird Sie begleiten, bis Sie die Vorposten Ihres Heeres erreicht haben. Jetzt, nach dem letzten Gemetzel, ist es fürs erste still in den Wäldern. Ich bin sicher, daß Sie ohne Gefahr durchkommen werden.“ Heyward fragte Natty: „Sie begleiten uns nicht?“ „Ich kann meinen Freund Chingachgook nicht allein lassen. In spätestens einer Woche werde ich meinen Dienst als Kundschafter wieder antreten.“ Natty wollte hinzufügen, daß er nie viel von eleganten, gebildeten 272
Offizieren gehalten hatte, die aus den Garnisonen stammten und sich jedem überlegen fühlen, der in den Wäldern aufgewachsen war und weder lesen noch schreiben konnte, die hochmütig denen gegenübertraten, ohne die sie im Grenzkrieg hilflos waren; er hätte gern gesagt, daß Heyward ganz anders gewesen war, bescheiden und tapfer, daß er seine Ansichten Nattys Erfahrungen untergeordnet hatte und bemüht gewesen war, von ihnen zu lernen, aber Natty fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden. So sagte er nur: „Verlieren Sie keine Zeit, Major, es wäre gut, wenn Sie noch heute einige Meilen hinter sich brächten.“ Die Sänfte wurde herbeigeholt. Vier junge Delawaren trugen Alice: Munro und ein Häuptling gingen voran, Heyward und Gamut bildeten den Schluß. Am Waldrand drehten sie sich um und streckten die Hand zum Gruß, Natty hob sein Gewehr über den Kopf; so stand er, bis der Trupp in den Wald eingetaucht war. Dann ging er zu den Männern hinüber, die noch immer die Leichen von Unkas und den Delawarenkriegern umstanden. Die Gesichter der Toten waren der aufgehenden Sonne zugewendet worden, ihre Waffen und Jagdgeräte lagen neben ihnen. Särge wurden herangetragen, die die Leichen vor wilden Tieren schützen sollten; ein Loch war in den Deckel geschnitten, damit die Geister der Toten zu entweichen vermochten. Als alles so weit vorbereitet war, daß die Gefallenen der Erde übergeben werden konnten, erhob sich Große Schlange. Seine Lippen, die im Schmerz zusammengepreßt gewesen waren, öffneten sich, mit weithin klingender Stimme rief er: „Warum trauern meine Brüder, warum weinen die Töchter dieses Volkes? Weil ein junger Krieger zusammen mit seinen Gefährten kämpfte und den Tod fand, weil ein Häuptling seine 273
Pflicht tat? Unkas war edel, er war tapfer, niemand wird es leugnen, Manitu braucht solche Männer, deshalb hat er ihn zu sich gerufen. Ich bin eine abgeschälte Fichte auf einer Lichtung, die von Bleichgesichtern umringt ist. Mein Geschlecht ist von den Ufern des Salzsees und von den Bergen der Delawaren getrennt. Ich bleibe allein.“ Natty trat an die Seite seines Freundes und legte ihm die Hand auf den Arm. „Dein Sohn hat dich verlassen“, sagte er. „Wenn es einen Manitu gibt, werdet ihr euch wiedersehen. Aber bis dahin bist du nicht allein.“ Männer und Frauen der Delawaren hoben die Särge auf und trugen sie zum Wald; sie bestatteten Unkas in der Mitte der Krieger, die neben ihm gefallen waren. Der Himmel hatte sich verdüstert, große Tropfen fielen; als die Delawaren zu ihren Hütten zurückkehrten, regnete es in Strömen. Natty zog sein Gewehr unter die Jacke, damit es nicht naß wurde, ei sagte zu Große Schlange: „Wir sollten uns aufmachen, Bruder. Ich werde erst wieder richtig atmen, wenn wir am Ufer des Hurican stehen.“ „Manitu weint.“ Große Schlange bückte sich in eine Hütte, eine Minute später trat er heraus, er hatte sein Jagdhemd übergezogen, eine Felldedke um die Schultern gehängt und die Adlerfedern eines Häuptlings in seinen Schöpf gesteckt. Durch nasses Gras, zwischen schweigenden Delawaren hindurch, ohne Abschiedsgruß gingen Natty Bumppo und Große Schlange auf den Wald zu. Hinter ihnen schlugen die Zweige zusammen.
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Drittes Buch Pfadfinder
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Wälder, weit wie das Meer Der Sturm hatte die Bäume, die seit Jahrhunderten auf einem Hügel gewachsen waren, in einer einzigen Stunde gestürzt, ein Wirbel hatte sie gepackt und übereinandergeschleudert, auf dem Gipfel des riesigen Scheiterhaufens streckte eine Buche ihre Wurzeln zum Himmel und bildete eine bizarre Zackenkrone. Von ihr aus bot sich ein freier Blick über ein Meer von Blättern, das in wechselndem Grün prangte. Rüstern mit zierlichen Zweigen und Ahorn wuchsen hier, dazwischen spreizten Eichen ihre Kronen, Schwarzlinden bildeten mit ihnen einen Laubteppich, der sich bis zum Horizont hinzog und dort mit den Wolken mischte. Hier und da durchbohrte der Stamm einer Fichte die Ebene und stand wie ein großartiges Denkmal über ihr. Vier Menschen waren durch die Verschlingungen von Wurzeln und Ästen auf die von der Natur aufgeworfene Kanzel hinaufgeklettert und blickten gebannt in die Runde. Es waren ein Indianer und eine Indianerin vom Stamme der Tuscarora, ein Weißer von etwa fünfzig Jahren, der Seemannskleidung trug, und ein junges Mädchen. Der Wind kühlte ihre Gesichter, trieb die Wolken über den Blätterozean und fuhr hier stärker, dort schwächer in die Wipfel, daß ihr Rauschen zu einer ununterbrochenen Melodie zusammenklang. Das Mädchen sagte: „So, Onkel, muß es auf dem Meer sein, nicht wahr?“ „Ach Mabel“, rief der Seemann, „nur ein Kind kann diese Handvoll Äste mit dem Ozean vergleichen!“ Der Indianer beschattete die Augen, zeigte in die Weite hinaus und sagte: „Rauch!“ Der Seemann und seine Nichte spähten in diese 276
Richtung, der Seemann sagte: „Es geht doch nichts über dein gutes Auge, Pfeilspitze!“ Tatsächlich drang eine Meile westwärts ein Dunststreifen aus den Wipfeln und verlor sich als unmerklicher Nebel in der Atmosphäre. Der Tuscarora kletterte auf die höchste Wurzel und stand eine Minute reglos mit gespanntem Gesicht. Der Seemann mutmaßte: „Pfeilspitze, wahrscheinlich sind Oneidas oder Tuscaroras in der Nähe, was meinst du?“ „Dort kein Wigwam, zuviel Rauch. Bleichgesichtsfeuer.“ „Woher willst du das wissen?“ „Feuchtes Holz. Indianer machen Feuer mit Holz, nicht mit Wasser, aber Bleichgesicht viel Buch, wenig Klugheit.“ Der Seemann lachte. Zu seiner Nichte sagte er, auf dem Meer brächte er es fertig, aus jedem Segel am Horizont auf den Bart des Kapitäns zu schließen, und hier in den Wäldern zeigten die Indianer bisweilen einen sechsten Sinn, über den man staunen müßte. Er fügte hinzu, wenn tatsächlich Weiße in der Nähe wären, möchte er natürlich mit ihnen zusammentreffen. Er winkte seinen Reisegefährten zu, ihm zu folgen, und gemeinsam kletterten sie von ihrer luftigen Kanzel herunter. Der Wald war anfangs dicht und zwang zu Umwegen, aber Pfeilspitze verlor die Richtung nicht. Nach einer halben Meile wölbten sich Kronen auf schlanken, geraden Stämmen, unter ihnen wuchs nur Gras. Je mehr sich Pfeilspitze der Stelle näherte, über der er Rauch entdeckt hatte, desto leiser wurden seine Schritte, desto öfter verbarg er sich hinter Stämmen und lauschte. Schließlich streckte er die Hand aus und flüsterte: „Pfeilspitze hat recht: Blaßgesichtsrauch.“ Drei Männer saßen an einem Feuer, einer war ein Weißer, einer ein Indianer, die Kleidung des dritten war so 277
gemischt, daß niemand aus dieser Entfernung erkennen konnte, ob er ein Weißer oder ein Indianer war. Der Seemann fragte leise: „Franzose?“ „Roter Mann Mohikaner“, antwortete der Tuscarora, „weißer Mann Engländer.“ „Und der dritte?“ Als Pfeilspitze nicht antwortete, hob der Seemann die Hände zu einem Trichter an den Mund, um hinüberzurufen, aber Pfeilspitze drückte die Hände rasch herunter und sagte: „Roter Mann kühl und klug, Blaßgesicht erschrickt und schießt. Laß weiße Squaw gehen.“ Der Seemann fragte erstaunt: „Ich soll das Mädchen vorschicken, bist du nicht bei Trost?“ Mabel erwiderte rasch: „Warum eigentlich nicht, Onkel? Vor einer Frau werden die drei nicht erschrecken.“ Ehe der Seemann noch etwas einzuwerfen vermochte, ging Mabel auf das Lagerfeuer zu. Sie bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen, als aber ein Ast unter ihrem Fuß brach, sprangen die drei Männer auf und griffen zu den Gewehren. Der Indianer setzte sich sogleich wieder und legte seine Waffe weg; der Mann, dessen Anzug aus einer Hose von europäischer Art, einer indianischen Hirschlederjacke und einer abgeschabten Fellkappe undefinierbarer Herkunft bestand, kam auf das Mädchen zu. Er war groß und kräftig und in mittlerem Alter, er war ein Weißer, dessen Gesicht allerdings so von der Sonne verbrannt war, daß man es auf einige Entfernung für das eines Indianers gehalten hätte. Er rief: „Haben Sie keine Angst, Lady, Sie sind nicht unter die Räuber gefallen. Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Die Indianer hierherum und die Franzosen nennen mich Langer Karabiner, bei den Delawaren hieß ich früher Wildtöter und heiße jetzt Falkenauge, und die Engländer 278
haben mir den Namen Pfadfinder gegeben.“ „Pfadfinder!“ rief Mabel. „Ist das ein glücklicher Zufall! Sie sind also der Mann, den uns mein Vater entgegenschicken wollte.“ „Ihr Vater? Dann können Sie nur Miß Dunham sein.“ • „Das bin ich, und dort hinter den Stämmen steht mein Onkel Gap. Ein Tuscarora mit Namen Pfeilspitze und seine Frau begleiten uns.“ Natty Bumppo ging noch einige Schritte auf Mabel Dunham zu und gab ihr die Hand. Er sah, daß sie etwa neunzehn Jahre alt war, ihre Augen waren dunkelblau und erinnerten Natty an ein Mädchen, dem er vor unendlich langer Zeit begegnet war, an Judith Hutter, und ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Züge. Gleich darauf wurde er ernst und sagte: „Die Tuscarora sind mir nicht sonderlich sympathisch, und Pfeilspitze ist zu ehrgeizig, als daß er sich mit der Rolle eines simplen Spähers zufriedengäbe. Ich habe genug über ihn gehört, um zu wissen, daß er weitgespannte Pläne verfolgt, und es könnte sein, daß er sich Ihnen als Führer zur Verfügung gestellt hat, um dabei in die eigene Tasche zu arbeiten. Dafür ist Junitau, seine Frau, ein gutes Mädchen. Nun, wir können uns unsere Reisebegleiter nicht aussuchen und müssen sie nehmen, wie sie sind.“ Als Cap, der Seemann, sah, daß die Unterhaltung friedlich verlief, gab er Pfeilspitze und dessen Frau ein Zeichen; langsam kamen sie näher. Mabel stellte ihren Onkel vor, Cap und Natty Bumppo gaben sich die Hand. Sie traten ans Feuer, wo der zweite Weiße vor Mabel die Mütze abnahm. Natty sagte: „Lady, das sind die Männer, die Sie zu Ihrem Vater bringen werden. Der Indianer da, der sich bei seiner Mahlzeit nicht stören läßt, heißt Chingachgook oder auch Große Schlange und ist seit 279
uralten Zeiten mein Freund. Vor Ihnen steht Jasper Western, ein Seemann vom Ontario.“ Cap rief: „Ein Seemann von dieser Pfütze?“ Jasper lächelte und sagte: „Wer den Atlantik kennt, wird unseren See nicht besonders groß finden, aber...“ „Nun nicht gleich ein Fachgespräch, wenn ich bitten darf!“ Natty zeigte zum Feuer. „Wir haben einen Hirsch geschossen, den wir zu dritt beim besten Willen nicht vertilgen können. Seid unsere Gäste, schneidet euch die zartesten Stücke zurecht, wir werden alle satt.“ Cap setzte sich ohne Umstände, Jasper Western trug trockenes Gras herbei und polsterte für Mabel einen Sitz auf einem Baumstumpf, schöpfte Wasser an der nahen Quelle und briet für sie ein Schenkelstück, dabei wagte er sie nur selten anzuschauen und wußte nicht recht, was er reden sollte; Mabels Augen verwirrten ihn, denn es war lange her, daß er mit einem Mädchen zusammengetroffen war. Große Schlange und Pfeilspitze warfen sich wenig freundliche Blicke zu, wortlos stillten sie ihren Hunger. Junitau, die Frau des Tuscarorahäuptlings, saß still, von niemandem beachtet, nur manchmal lächelten sie und Mabel sich an. Allmählich senkte sich der Abend über die Lichtung, kräftiger glühte das Feuer, aus einem nahen Baum glitt eine Eule mit schwerem Flügelschlag durch die Dämmerung. Nachdem Gap satt war, lehnte er sich zurück, öffnete den Gürtel und stöhnte. „Die Luft auf dem Meer macht hungrig, aber ein Marsch durch den Wald nicht weniger. Pfadfinder, wie seid ihr hierherauf gekommen?“ „Auf dem Fluß. Jasper hat ein Kanu über alle Hindernisse bugsiert, während Schlange und ich von den Ufern aus gesichert haben. Es streifen auf dieser Seite des Ontario so viele Irokesen herum, da muß man vorsichtig sein. Jasper 280
Western ist ein erfahrener und geschickter Mann, er hat das Kanu durch die Stromschnellen gebracht, und es gibt wohl nichts Gefährlicheres, als auf einem Fluß zu sein, der durch dichten Wald fließt. Da kann hinter jedem Busch ein Gewehr lauern.“ „Wenn Mabel nicht wäre“, erwiderte Cap, „und wenn ich ihrem Vater nicht versprochen hätte, sie zu diesem gottverlassenen Fort zu bringen, würde ich lieber heute als morgen nach New York zurückkehren und auf einem Ozeansegler anheuern.“ Gelassen sagte Natty: „Wir werden eure und unsere Skalpe schon durchbringen.“ Caps Kopf war fast kahl, die Haare an den Seiten und über dem Nacken hatte er zu einem Zopf geflochten, der in einer Aalhaut steckte. Mechanisch fuhr er sich über den Schädel, wohl um zu prüfen, ob noch alles in Ordnung war, dabei fragte er: „Wie weit sind wir vom Fort entfernt?“ „Fünfzehn Meilen, die meisten davon werden wir auf dem Fluß zurücklegen. Keine Angst, Meister Cap, ich kenne den Wald, den Fluß und die Irokesen gut genug, und mein Gewehr ist das beste weit und breit. Seht mal die Narbe dort über Chingachgooks Ohr, ein Mingo hatte ihm schon die Kopfhaut aufgeschlitzt, eine Sekunde später wäre mein Freund ohne Skalp gewesen, wenn nicht meine Kugel dem Messerhelden das Lebenslicht ausgeblasen hätte. Ich bin noch mit heißeren Situationen fertig geworden, glaubt mir. Jetzt sind wir satt und haben genug geredet, es wird Zeit, daß wir fortkommen.“ Natty warf feuchte Zweige auf das Feuer; beißender Rauch stieg auf. „Du brauchst nicht so kritisch die Stirn zu runzeln“, sagte er zu Cap. „Durch diese schwarze Wolke locke ich Mingos, die womöglich hier herumstreunen, an diese Stelle. Wenn sie den Rastplatz erreicht haben, wird es 281
gerade so dunkel sein, daß sie unsere Spuren nicht mehr verfolgen können. Bei Tagesanbruch schwimmen wir schon den Oswego hinab, und auch die feinste Indianernase findet im Wasser keine Fährte.“ Große Schlange setzte sich an die Spitze, hinter ihm waren die Tuscarora, Cap und Mabel, am Schluß ging Natty und zerdrückte mit seinen Mokassins sorgfältig Mabels schwache, leichte Spuren. Wenn er sich umdrehte, sah er, wie der Rauch über der verlassenen Feuerstelle zerflatterte, er beobachtete, wie Krähen von einem frei stehenden Baum dorthin flogen, wo sie Beute erhofften. Sie kreisten über dem erlöschenden Feuer, ihr Gekrächz erinnerte Natty an das Gerede alter Männer, die sich über die Qualität von Pfeifen und Tabak unterhalten. Da wußte er, daß ihn niemand verfolgte. Ein Dickicht oberhalb eines Bachgrundes wählte Große Schlange als Schlupfwinkel für die Nacht aus. Die Männer wachten abwechselnd, im Morgengrauen weckte Natty seine Begleiter und führte sie ans Ufer. Die Flüsse auf der Südseite des Ontariosees sind im allgemeinen schmal, träge und tief. Nur einige, darunter der Oswego, fließen schnell und stürzen über Felsenriffe. Natty fand das Boot, das Jasper Western unter Aufbietung aller Kraft und Geschicklichkeit heraufgebracht hatte, unversehrt unter einem Gebüsch. Sie stiegen ein, Jasper stieß ab, gleich darauf wurde das Boot von der Strömung gepackt und auf die Flußmitte hinausgetrieben. Natty und Jasper standen aufrecht, der eine am Bug, der andere am Heck, und steuerten mit leichten Paddelschlägen, Cap saß auf einer Bank in der Mitte neben Große Schlange, vor ihnen hatten sich Pfeilspitze und seine Frau hingehockt, Mabel lehnte hinter ihrem Onkel auf einigen Gepäckstücken. Der Oswego war hier nicht besonders breit und von tief 282
dunkler Farbe, an beiden Ufern standen gewaltige Bäume, deren Äste herabhingen und eine undurchdringliche grüne Wand bildeten. Hin und wieder ragte das nackte Geäst eines durch Sturm oder Hochwasser gefällten Urwaldriesen aus dem Fluß, zuweilen vereinigten sich die Äste über der Strömung zu einem Baldachin. Niemand im Boot sprach, alle beobachteten die Büsche und Bäume rechts und links. Einmal drückte Natty das Boot ans Ufer, die Mädchen hielten es an Sträuchern fest, während die Männer Wasser ausschöpften; da sagte Natty: „Ich wünschte, es wäre wieder Frieden, und ich könnte mit Chingachgook durch diese Wälder streifen. Viele Jahre haben wir zwischen den Flüssen bei Wildbret, Salmen und Forellen zugebracht, ohne an einen Mingo oder an die Kostbarkeit unseres Skalps zu denken. Hoff entlich kehren diese Tage bald wieder, denn die Jagd auf Menschen gehört nicht zu meinen Leidenschaften. Ich hoffe, Lady, Sie halten mich nicht für einen, der stolz die Männer zählt, die durch seine Kugeln gestorben sind.“ „Wahrscheinlich hätte mein Vater Sie dann nicht zu meinem Schutz ausgeschickt.“ „Nichts ist wahrer als das! Sergeant Dunham und ich haben manchen Marsch und Kampf zusammen erlebt, er kennt mich wie sich selbst. Alles fertig? Die Fahrt kann weitergehen.“ Wenig später drang ein dumpfer Ton den Fluß herauf, der sich bald zu einem Grollen verstärkte. Cap hob den Kopf. „Das klingt angenehm in den Ohren eines alten Seebären.“ Natty schmunzelte. „Und es ist doch nicht das Meer, sondern nur eine bescheidene Stromschnelle. Wollen Sie sie probieren?“ „Mit dieser Nußschale?“ Jasper, der Caps Frotzelei zu Beginn ihrer Bekanntschaft 283
nicht vergessen hatte, sagte: „Ich denke, die Indianer und die Frauen gehen an Land, und wir drei Weißen führen das Boot durch die Klippen. Meister Cap, Sie als bewährter Weltumsegler sind doch dabei?“ Cap rief: „Auf dem Meer hatte ich allerdings bedeutend mehr unter mir als Leder und Rinde und knapp fingerdicke Spanten.“ Sein Stolz ließ es allerdings nicht zu, Jasper und Natty allein die abenteuerliche Fahrt zu überlassen. Mabel, Junitau, Große Schlange und Pfeilspitze stiegen oberhalb der Stromschnellen aus und kletterten am Ufer über Steine hinunter, während Natty das Boot auf die Flußmitte hinaussteuerte. Er kniete am Bug nieder, Jasper stand am Heck und spähte nach der günstigsten Stelle für die Durchfahrt aus. Natty rief, Jasper solle das Boot in eine Linie mit dem Gipfel einer toten Eiche und dem Stamm einer Schierlingstanne bringen; dann geriet das Boot in den Sog. Cap hörte das Donnern immer näher kommen, er klammerte sich fest, gleich darauf war es ihm, als wäre er in einen Kochkessel geraten. Die Kahnspitze bog sich, er sah das wildbewegte, schaumige Wasser an seiner Seite tanzen, Gischtflocken peitschten ihm ins Gesicht, da mußte er alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zu schreien. Als der Wald ihm entgegenzukippen schien, schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er zu seiner Überraschung und Erleichterung, daß Jasper und Natty das Boot durch das Becken unterhalb der Stromschnelle lenkten. Natty zog eine Kanne und einen Holzlöffel unter der Bank hervor und maß sorgsam das Wasser, das über den Rand geschlagen war; er sagte: „Vierzehn Löffel, Jasper. Du hast es schon mit zehn Löffeln geschafft.“ Gap hustete die Kehle frei und griff nach seinem Zopf. Er schaute flußaufwärts und sah, daß das Wasser schäumend 284
in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über Felsbrocken hinwegschoß, er hörte der Unterhaltung zwischen Jasper und Natty zu, daß einmal eine dreißigpfündige Kanone in zwei verbundenen Kanus durch den Gischt gesteuert worden war, und sah, wie Mabel, Junitau und die beiden Indianer über die Felsen neben dem Fall herabkletterten. Wenig später nahmen alle ihre Plätze wieder ein, der Fluß trüg das Boot eine kurvenreiche Strecke hinunter, dicht war der Wald, später wurde das Tal breiter, die Bäume traten hinter Buschwerk zurück, der Fluß teilte sich in Arme auf, Sandbänke machten die Fahrt schwierig. Natty und Jasper legten am Ufer an; Natty sagte: „Mir ist diese Gegend nicht geheuer. Wir kommen nur langsam vorwärts und bieten in unserem schwerfälligen Boot eine prächtige Zielscheibe. Ich halte es für das beste, wenn Chingachgook als Späher vorangeht.“ Natty besprach sich mit seinem Freund in delawarischer Mundart, danach stieg Große Schlange an Land und verschwand im Unterholz. Nach einer Stunde stieß Natty das Boot ab. Jetzt saß er am Bug und hielt das Gewehr schußbereit, er bat Gap und Pfeilspitze, ihre Waffen in Griffweite zu legen. „Ihr Mädchen duckt euch in der Mitte des Bootes auf diese Felle da“, sagte er. „Es ist nicht gut, wenn eure hübschen Haare die Mingos anlocken.“ Nach einer Fahrt von zwei oder drei Meilen sah Natty den Delawaren am Rande eines Felsens, Große Schlange hob warnend die Hand. Mit einigen Paddelschlägen lenkten Natty und Jasper ans Ufer. Große Schlange sagte: „Mingos sind in den Wäldern.“ „Das haben wir seit Tagen vermutet.“ Der Häuptling zeigte Natty einen Pfeifenkopf und fügte hinzu: „Er lag auf einer Spur. Ein Mann ging auf das Fort 285
zu.“ Natty betrachtete den Pfeifenkopf, er war sorgfältig aus Seifenstein geschnitzt und mit einem Kreuz verziert. Natty sagte: „Kein Indianer, der nicht durch die französischen Priester verdorben worden ist, würde ein Kreuz in die Pfeife ritzen. Wahrscheinlich betet der Schurke jedesmal diesen Kopf an, wenn er einem Unschuldigen an die Kehle will. Schlange, ist die Spur frisch?“ „Der Tabak war heiß.“ Natty und der Delaware schlichen zu der Stelle, an der der Pfeifenkopf gelegen hatte, und untersuchten die Spur. Sie vereinbarten, daß Große Schlange sie ein Stück verfolgen sollte, inzwischen kehrte Natty zum Boot zurück. Er hielt die Lage für ernst, denn nun stand fest, daß sich Mingos zwischen ihm und dem Fort befanden; mit ziemlicher Sicherheit würden sie das Boot entdecken und angreifen. „Wir müssen die Burschen den Fluß hinauf locken“, sagte er zu Gap und Jasper, „dann kommen wir vielleicht ungeschoren durch. Jasper, zünde auf dem Felsen dort ein Feuer an. Nimm genügend grünes Holz, damit sich eine gehörige Wolke entwickelt.“ Pfeilspitze warf ein: „Zu viel Rauch, zu viel Klugheit.“ „Ich weiß schon, was du sagen willst“, erwiderte Natty. „Die Mingos könnten die Absicht merken. Aber Soldaten zünden oft die barbarischsten Feuer an, wenn sie ihren Brei kochen. Also los, Jasper, und wenn es nicht genügend qualmt, hilfst du mit Wasser nach.“ ‘Jasper nahm ein primitives Feuerzeug aus einem Gepäckstück und schlich flußaufwärts. Natty war froh, daß er mit Große Schlange und Jasper Western zwei erfahrene, tapfere Männer an seiner Seite hatte, auf die er sich blindlings verlassen durfte, er nahm an, daß Cap, wiewohl dieser die Schliche und Tücken des Waldkrieges nicht kannte, im offenen Gefecht seinen Mann stehen 286
würde, und Pfeilspitze hatte bisher nichts getan, das Nattys Mißtrauen gerechtfertigt hätte. Natty, der jetzt Große Schlange auf der einen und Jasper auf der anderen Seite im Wald wußte, ließ das Boot weiter flußabwärts schwimmen. Er fand eine kleine Bucht, die von einer von Sträuchern bestandenen Schlammbank abgeschlossen wurde, auf der einen Seite stand dichtes Schilf, dahinter war Buschwerk ineinander verfilzt; in diesen natürlichen Hafen steuerte Natty hinein. Er besann sich, am Anfang seiner kriegerischen Laufbahn an einem Schlupfwinkel, den Tom Hutter für seine Arche angelegt hatte, vorbeigetrieben zu sein, ohne das geringste zu bemerken; den Trick des alten Fallenstellers wollte er jetzt kopieren. Er und Pfeilspitze schnitten Erlengesträuch ab und rissen Bäumchen mit den Wurzeln aus, wobei sie sich mühten, möglichst geräuschlos zu arbeiten. Die Bäume, Sträucher und Äste steckten sie am Eingang der Bucht in den Grund und schufen so einen Schirm, der kaum einen Blick durchließ. So lange, wie sie es brauchten, würden die Blätter nicht welk werden. Noch einmal watete Natty in den Fluß hinein und besah von dort sein Werk; er war zufrieden damit. Durch das Schilf kehrte er zum Boot zurück und flüsterte Mabel zu, hier wären sie so sicher wie hinter den Wällen und Palisaden des Forts und wollten in Ruhe abwarten, wie sich Jaspers List auswirkte. Eine halbe Stunde verging, ohne daß etwas geschah, dann sah Cap, der durch das Schilf spähte, einen Mann im Fluß herunterwaten. Es war Jasper, der das Ufer zu beiden Seiten musterte und offensichtlich besorgt war, weil er Boot und Besatzung nirgends fand. Jasper kam dem künstlichen Versteck bis auf wenige Schritte nahe, ohne daß ihm etwas aufgefallen wäre, erst, als er vorbei war, rief Natty ihn an und lotste ihn durch das Schilf. „Das 287
Feuer brennt“, berichtete Jasper, „es raucht, als kochte eine ganze Kompanie ihre Morgensuppe. Und euer Versteck ist wirklich erstklassig. Ich bin neugierig, ob die Mingos auf unsere List hereinfallen.“ Eine Weile saßen alle reglos im Boot, dann faßte Pfeilspitze seine Frau an der Hand, sie stiegen auf eine trockene Stelle am Ufer hinüber und sprachen leise miteinander. Einmal flüsterte Cap, diese Nervenanspannung wäre leichter zu ertragen, wenn er sich eine Pfeife stopfen und rauchen dürfte; aber natürlich wäre das Wagnis zu groß gewesen, der Tabakgeruch hätte sie verraten können. Mabel fragte, ob es denn nicht besser wäre, das Boot zu verlassen und sich quer durch den Wald zum Fort durchzuschlagen, aber Natty schüttelte den Kopf. Ohne den Blick zu wenden, spähte er durch das Schilf auf den Fluß hinaus. Nach einer Weile sah er Große Schlange am gegenüberliegenden Ufer auf einem Felsen, der Delaware schlich vorsichtig, lag reglos, sprang katzengewandt von einem Stein zum anderen; es bestand kein Zweifel, daß Feinde in der Nähe waren. Dreimal quakte Natty wie ein Frosch, da hob Große Schlange die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Wieder quakte Natty, da watete der Häuptling herüber und kroch nach kurzem Suchen zwischen den Sträuchern hindurch. Seine Augen tasteten das künstliche Verhau Ast für Ast, Blatt für Blatt ab, seine Nasenflügel bebten, als wollte er sogar überprüfen, ob hier etwas anders roch als vorher. Er war naß und schlammbedeckt bis zum Gürtel, eine seiner Adlerfedern hatte er verloren, die Kriegsfarben an den Armen und auf der Brust waren verschmiert. „Fünfzehn Mingos auf unserer Spur!“ flüsterte er. Als er im Boot saß, berichtete er, die Mingos hätten sich tatsächlich vom Rauch anlocken lassen, wären ausgeschwärmt und hätten sich an das Feuer 288
herangepirscht; nachdem sie gemerkt hätten, daß sie an der Nase herumgeführt worden waren, wären sie auf Jaspers Fährte geblieben und suchten nun die Flußufer ab. „Jetzt nichts wie fort!“ schlug Jasper vor. „Wir machen den Kahn flott, ehe die Mingos heran sind.“ Natty fragte: „Und die beiden Frauen?“ „Sie legen sich auf den Boden. Pfadfinder, du setzt dich an den Bug und schießt, Cap und Pfeilspitze paddeln, ich lenke.“ Natty widersprach: „Unser Boot ist schnell, aber eine Kugel ist schneller. Dein Plan ist zu riskant.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter, er wandte sich um und sah, wie Mabel einen Finger an die Lippen drückte. Sie hatte einen Zweig zur Seite geschoben und zeigte auf den Fluß hinaus. Drei Mingos bogen gerade um einen Felsen, sie waren nackt bis zum Gürtel, bewaffnet und grell bemalt. Langsam wateten sie in der Nähe des Ufers stromab, argwöhnisch musterten sie Büsche, Kies- und Sandstreifen, offenbar suchten sie nach der Stelle, an der Jasper das Wasser verlassen hatte. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Versteck. Natty winkte Jasper, Gap und den beiden Indianern zu, sich am Schilf, an der Schlammbank und am Verhau zu postieren, er flüsterte, nur im äußersten Notfall solle geschossen werden. Gap zog zwei Pistolen aus dem Gürtel, Natty legte seine lange Büchse in eine Astgabel. So standen die Männer reglos, während sich die Frauen voller Angst im Boot zusammenkauerten. Die Mingos wateten im Fluß herunter, wobei sie sich in der Nähe der Zweige hielten, die über das Wasser hingen. Im Wald knackten Äste, dort drang also ein anderer Trupp vor, und es konnte nur noch eine Minute vergehen, bis sie das Versteck in der Mitte haben würden. Kaum zwanzig 289
Schritt oberhalb kamen sich die beiden Trupps so nahe, daß sie sich beraten konnten. Natty verstand einzelne Wörter und halbe Sätze, es war davon die Rede, daß der Fluß die Spuren weggewaschen und die Bleichgesichter das Ufer mit ihrem Kanu verlassen hätten. Einer sagte, das wäre unmöglich, denn dann hätten die Gewehre der Krieger weiter unten gesprochen, ein anderer lachte leise, als er hinzufügte, es seien Frauen unter den Verfolgten, und einige Mingokrieger brauchten Squaws für ihren Wigwam. Das Gespräch verstummte, das Rascheln im Wald zeigte, daß die Mingos weiter vorrückten. Die drei Krieger im Wasser blieben vor dem Versteck stehen und musterten das Ufer, wobei ihre Augen zwischen den Kriegsfarben funkelten. Ganz nahe kamen sie an dem tarnenden Gebüsch vorbei, Natty hörte jeden Schritt im Wasser und das Schwappen, wenn einer seinen Fuß aus dem morastigen Grund zog. Natty wollte schon erleichtert aufatmen, da blieb der letzte Mingo stehen. Er mußte etwas entdeckt haben, das ihn mißtrauisch machte, ein welkendes Blatt oder einen geknickten Zweig, vielleicht hatte Natty ein Bäumchen eingerammt, das auf natürliche Weise nicht so dicht am Wasser wuchs, jedenfalls bog der Mingo einen Zweig zur Seite und neigte sich vor. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, ehe er aber einen Ton ausstoßen oder zurückfahren konnte, schnellte der Arm des Delawaren nach vorn, das Kriegsbeil traf den Kopf des Mingos, der riß die Arme hoch, taumelte zurück und brach im Wasser zusammen, , das sich augenblicklich rot färbte und den im Todeskampf zuckenden Körper flußabwärts trieb. Jasper begriff als erster, was zu tun war. Er riß einige Büsche weg und stieß das Boot aus dem Versteck. Cap sprang hinein, Pfeilspitze und seine Frau griffen zu den 290
Paddeln, als letzter schwang sich Natty über die Bordwand. Große Schlange packte nach einem starken Eichenast, der über das Wasser hinausragte, und hangelte an ihm entlang, das Gewehr hatte er dabei zwischen die Beine geklemmt. Am Stamm der Eiche rutschte er hinunter und schlug einen Bogen durch den Wald, um vom Ufer aus den Durchbruch zu unterstützen. Kaum hatte das Boot das freie Wasser erreicht, merkte Jasper, daß das Heck leichter wurde, er fuhr herum und sah, daß Pfeilspitze herausgesprungen war und seine Frau mitgezogen hatte; jetzt wateten beide dem Ufer zu. In seinem Zorn hob Jasper die Büchse, um den Tuscarora niederzuschießen, besann sich aber rechtzeitig, daß der Knall die Mingos eher als nötig auf sie aufmerksam gemacht haben würde. Mit Anspannung aller Kräfte paddelten die Männer auf das andere Ufer zu, gerieten in die Strömung in der Flußmitte, hörten einen Schrei und vermuteten, daß die Mingos gerade den Körper ihres toten Kameraden aufgefischt hatten. Dadurch wurden die Indianer, die den Wald durchstreiften, ans Ufer gelockt, Schüsse fielen, Kugeln klatschten zu beiden Seiten ins Wasser. Natty richtete sich auf, um das Feuer zu erwidern. Gerade in diesem Augenblick gab Jasper dem Boot eine andere Richtung, und Natty kippte über Bord. Er besaß so viel Geistesgegenwart, Gewehr und Kugelbeutel hochzuhalten, das Wasser reichte ihm nur bis zum Gürtel, aber ehe Natty festen Fuß gefaßt hatte, war das Boot aus seiner Reichweite getrieben. Jetzt schössen die Mingos auf ihn; er wußte, daß er am stärksten gefährdet war, wenn er ein ruhiges Ziel bot, so watete er gebückt, bis er eine flachere Stelle erreichte, rannte, wobei das Wasser um ihn aufspritzte, auf einem Sandstreifen entlang und duckte sich hinter einen nur wenige Handbreit über das Wasser 291
reichenden Felsbrocken. Die Mingos hatten ihre Büchsen leergeschossen, inzwischen luden einige wieder und feuerten auf das Boot, das eben das jenseitige Ufer erreichte. Jasper half Mabel beim Aussteigen und zog sie ins Dickicht, Cap machte den Kahn fest und postierte sich hinter einem Baum, um durch sein Feuer Natty so gut wie möglich abzuschirmen. Nattys Lage war ernst. Von dem Ufer, das er erreichen wollte, trennte ihn eine tiefe Flutrinne, die er hätte durchschwimmen müssen, aber dabei wäre sein Pulver verdorben und das Gewehr für einige Zeit unbrauchbar geworden. Noch hatte er sein Gewehr nicht abgeschossen, er wußte, daß es unmöglich sein würde, es im Wasser wieder zu laden. So legte er nur an, worauf die Mingos in Deckung gingen, er zögerte aber, wirklich zu schießen. Er hörte ihr Geschrei und verstand, daß sie sich den Namen zuriefen, den sie ihm zugelegt hatten, Langer Karabiner. Da hoffte er, sie würden sich nicht an ihn heranwagen, solange sein Gewehr feuerbereit war. Hin und wieder krachte eine Büchse, die Kugeln zischten an ihm vorbei oder schlugen seitwärts ins Wasser. Als Natty sah, daß ein Mingo oberhalb auf einer Sandbank vorwärtskroch und ihm in die Flanke gelangen wollte, gab er seine Stellung auf und rannte durch das knietiefe Wasser weiter flußabwärts. Seine Jacke wurde von einer Kugel durchlöchert, er selbst aber nicht verletzt. Einige Male mußte Natty durch Flußarme waten, daß ihm das Wasser bis unter die Achseln reichte, dabei hob er das Gewehr und den Beutel mit Pulver, Lederläppchen und Blei über die Schultern. Das kalte Wasser machte allmählich die Glieder schwer, so atmete er auf, als er einen Stein erreichte, der so weit aus dem Wasser ragte, daß seine obere Fläche trocken war; auf ihr wuchsen sogar 292
Grasbüschel. Dorthin legte er Gewehr und Beutel, sein Körper war gedeckt, und als er sich umsah, fand er seine Lage ein wenig besser als vorher. Hinter ihm gurgelte tiefes Wasser; er würde wohl nicht darum herumkommen, hindurchzuschwimmen. Aus dem Gebüsch am westlichen Ufer rief eine Stimme: „Pfadfinder!“ Natty rief zurück: „Was ist los, Jasper?“ „Cap und ich liegen hier in Stellung und lassen keinen an dich heran. Wäre es nicht besser, du würdest dein Gewehr dort lassen und herüberschwimmen?“ „Das ist kein besonders guter Rat, Jasper. Was ist mit Mabel?“ „Sie ist in Sicherheit. Aber was machen wir mit dir?“ „Ich habe meinen rechten Zeigefinger noch nicht durchgekrümmt, und solange die Mingos wissen, daß eine Kugel in meinem Lauf steckt, haben sie Respekt.“ Natty sah, daß drei seiner Feinde versuchten, über ein Riff unterhalb des Flusses hinwegzuklettern, und staunte nicht wenig, als er erkannte, daß Pfeilspitze sie anführte. Er schwenkte den Lauf, da ließen sich die drei ins Wasser fallen und wurden sofort von der Strömung weggetrieben. Natty rief Jasper zu, daß die Feinde nun zweifellos über ihre Stärke und Bewaffnung und über ihr Ziel informiert wären, was die Aussichten nicht verbesserte. Immerhin könne man den Übergang der Mingos noch zwei, drei Stunden hinauszögern und sich in der Dunkelheit absetzen. Jasper antwortete nicht, Natty bezweifelte, daß er verstanden worden war, er hielt die Mingos mit seiner Büchse in Schach, verlockte sie hin und wieder zu einem Schuß und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, daß jede Viertelstunde, die auf diese Weise verstrich, ein Gewinn war. Nach einer Weile rief Jasper, Cap habe einen Zweig herabschwimmen lassen, dieser sei dicht hinter 293
Natty vorbeigetrieben, nun wollten Cap und er mit dem Kahn dieses Manöver wiederholen. Natty rief: „Ist das nicht verdammt leichtsinnig? Und wenn das Boot den Mingos in die Hände fällt?“ Jasper und Cap ließen sich nicht beirren. Sie stießen das Boot ab und beobachteten gespannt, wie es von der Strömung gepackt und in den Flußarm hineingetrieben wurde, an dessen Rand Natty lag. Die Mingos verstärkten ihr Feuer, abermals mühte sich Pfeilspitze, Natty in die Flanke zu kommen. Natty hätte gern dem Verräter einen Denkzettel verpaßt, aber vor ihm rannte ein Mingo durch das aufspritzende Wasser, wobei er das Beil schwang und wilde Schreie ausstieß. Natty zielte sorgfältig, krümmte langsam durch, seine Kugel traf den Indianer in die Brust, daß er kopfüber ins Wasser stürzte. Nun war es für Natty höchste Zeit zum Rückzug. Der Kahn trieb auf ihn zu, Natty warf Gewehr und Kugelbeutel hinüber, schnellte nach vorn, rollte sich über die Bordwand und schlug auf den Boden. Sein Aufprall drückte den Kahn auf das westliche Ufer zu, Jasper watete ihm entgegen, packte das Boot am Heck und zog es unter ein herabhängendes Gesträuch. „Das ist noch einmal gut gegangen“, schnaufte Natty. „Es ist doch großartig, wenn man jemanden bei sich hat, der sich mit den Tücken des Wassers auskennt. Gap, alte Seeschlange, der Trick war hervorragend, ich will ihn mir merken! Wo habt ihr Mabel gelassen?“ Gap antwortete, er habe das Mädchen in einem hohlen Baum versteckt, habe Brombeergestrüpp vor den Eingang gezerrt und alle Spuren verwischt. Natty teilte seine Absicht mit, die Mingos bis zur Dunkelheit am Übersetzen zu hindern und dann zu versuchen, einen gehörigen Abstand zu gewinnen. Dabei lud er sein Gewehr und stellte erleichtert fest, daß das Pulver trocken geblieben 294
war. Er hockte sich ‘an eine Stelle, von der aus er Sicht und Schußfeld nach allen Seiten hatte, Gap und Jasper wies er neben sich ein. Die Sonne senkte sich auf die Spitzen der Tannen oben am Hang, ihr Licht flirrte auf dem kreisenden, wirbelnden Wasser und ließ die Schatten unter den Uferbüschen noch düsterer erscheinen. Natty besann sich, daß er seit dem Morgen nichts gegessen hatte; er zog ein Stück gebratenes Hirschfleisch aus der Tasche und begann zu kauen, das Fleisch war hart und fasrig und blieb zwischen den Zähnen hängen; er stellte sich vor, wie es Mabel jetzt in dem hohlen Baum zumute sein mußte, und schwor sich, alles zu tun, um das Mädchen wohlbehalten zu ihrem Vater zu bringen und ihr bis dahin Torturen wie die eben jetzt zu ersparen. Es war still über dem Fluß, die Vögel, die durch Schüsse und Geschrei verscheucht worden waren, kehrten zurück; über Natty hatte eine Amsel den Schnabel der niedergehenden Sonne zugewandt und sang ihr Abendlied. Manchmal sah Natty einen Mingo am anderen Ufer aus dem Gebüsch spähen, niemand aber schien den Mut zu haben, die Strömung zu durchqueren. Nach einer Weile rief Jasper, etwas treibe den Fluß herunter, ein Hund oder ein Hirsch vielleicht. Natty richtete sein Gewehr, er sah, daß es zwei kleine Büsche waren, die ihre Stellung zueinander immerfort änderten. Endlich erkannte er, daß sich ein Mann einige Zweige an den Kopf gebunden hatte und einen Stamm vor sich herschob, auf dem, ebenfalls durch Zweige getarnt, Gewehr und Pulverhorn lagen. Natty sagte: „Eine Teufelei der Mingos, oder Chingachgook will sich wieder mit uns vereinigen.“ Auch die Mingos merkten, was gespielt wurde. Ein baumlanger Krieger sprang aus dem Dickicht, rannte, das Gewehr hochhaltend, durch aufspritzendes flaches Wasser, auf 295
einer Sandbank kniete er nieder und legte an. In diesem Augenblick schoß Natty, der Mingo warf die Arme hoch und brach zusammen. Natty rief: „Dieser Wurm hat es nicht besser gewollt! Schlange und ich haben seit unserer Jugend Seite an Seite gekämpft, am Silberglas, am Hurican, am Glenn und am Mohawk, am Ontario und an allen Grenzen zwischen unserem und dem französischen Gebiet, da werde ich nicht tatenlos zusehen, wie er abgeknallt wird.“ Große Schlange erreichte eben das Ufer, prustend und triefend stieg er aus dem Wasser, nahm Waffe und Pulverhorn von dem treibenden Stamm, stieß einen höhnischen Schrei aus und kroch zu seinen Freunden hinauf. Er sagte: „Chingachgook war unter seinen Feinden, er hat ihre Gewehre gezählt und ihr Gebell gehört.“ „Und was wollen die Mingos?“ „Sie wollen die Tochter des Sergeanten und den Mann vom salzigen See rauben, sie wollen Lösegeld und haben ihrem alten Feind Langer Karabiner den Tod geschworen.“ Natty lachte. „Ein frommer Wunsch, aber ich habe die Absicht, meine Büchse noch manches Jahr durch die Wälder zu tragen.“ „Pfeilspitze teilt mit den Mingos Pulver und Blei.“ „Mit diesem Schuft werden wir abrechnen. Jetzt ist es Zeit, Mabel aus ihrem Kerker zu befreien. Jasper, holst du sie?“ Der junge Mann war sofort auf den Beinen. Cap, Natty und Große Schlange berieten, ob sie in der Nacht versuchen sollten, auf dem Oswego die letzten Meilen bis zum Fort zurückzulegen oder sich den Weg durch die Wälder zu bahnen, es sprachen gewichtige Argumente für 296
das eine wie für das andere, und schließlich gab den Ausschlag, daß ein Eilmarsch durch unwegsames Gelände dem Mädchen zuviel Kraft abverlangen würde. Als Jasper mit Mabel zurückgekehrt war, wurde Natty in seiner Ansicht wieder schwankend; denn weder beklagte sich Mabel, daß sie etliche Stunden in der Enge und Dumpfheit eines hohlen Baumes zubringen mußte, noch schien sie vor der Strapaze eines Nachtmarsches zu erschrecken. „Ich bin die Tochter eines Soldaten“, sagte sie, „schon mein Großvater hat beim sechzigsten Regiment gedient, und ich habe von klein auf so viel von Kriegen und Gefahren gehört, daß ich nicht zimperlich bin. Einige Monate lang war mein Vater Ordonnanz von Major Effingham, ich habe für den Major gekocht und seine Uniform in Ordnung gehalten, ich war dabei, als sein Stab in einen Hinterhalt geriet, und habe Verwundete gepflegt.“ „Ich kenne Major Effingham gut genug“, sagte Natty, „und weiß, daß er niemanden in seiner Nähe duldet, der nicht das Herz auf dem rechten Fleck hat wie er selbst. Nicht umsonst ist Effingham zum Ehrenmitglied des Delawarenstammes ernannt worden. Mabel, Sie waren heute wirklich tapfer. Da ich aber Ihrem Vater versprochen habe, Sie wohlbehalten ins Fort zu bringen, werde ich den Weg mit dem geringsten Risiko Buchen. Und der führt den Oswego hinunter.“ Mabel fragte: „Ist erwiesen, daß Pfeilspitze und Junitau uns verraten haben?“ Als Natty nickte, fuhr das Mädchen fort, das wäre für sie eine herbe Enttäuschung, denn Junitau hätte sich in den Tagen des gemeinsamen Marsches als hilfsbereit und anhänglich erwiesen; sie hätte schon geglaubt, eine Freundin gefunden zu haben. Natty sagte: „Sie dürfen Junitaus Verhalten nicht mit 297
unseren Maßstäben messen. Eine Indianerin ist ihrem Mann absolut Untertan, sie ist praktisch seine Sklavin. Junitau mag ein anständiges Mädchen sein, aber wenn Pfeilspitze ihr etwas befiehlt, wird sie nie Einwände wagen. Alle Schuld liegt bei Pfeilspitze. Sie können sich darauf verlassen, daß sein Verrat nicht vergessen wird. Die Kugel für ihn ist schon gegossen.“ Niemand achtete während dieses Gesprächs auf den Fluß, und so entging allen, daß einige Äste heruntertrieben. Die Dämmerung breitete schon ihre Schatten, nur rötliche Wolkenstreifen zeigten noch die Stelle, an der die Sonne gesunken war. Natty nahm sich vor, in einer halben Stunde den Durchbruch im Boot zu versuchen, da hörte er ein Plätschern, zwängte sich durchs Gebüsch und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, daß die Leine, mit der Jasper das Boot an einen Baum gebunden hatte, durchgeschnitten worden war und das Boot abwärts trieb. Ein Feind hatte also die List, die Große Schlange zum Übersetzen angewandt hatte, kopiert, und eben jetzt bewies Triumphgeschrei vom anderen Ufer her, daß die Mingos das Gelingen ihres Plans bemerkt hatten. Natty ärgerte sich über die eigene mangelnde Wachsamkeit und rannte am Ufer entlang dem Kahn nach, aber die Dunkelheit war schon so groß, daß er das Boot nur als Schattenriß auf dem Wasser ausmachen konnte. Niedergeschlagen kehrte er zu seinen Freunden zurück und sagte, nun bliebe wohl doch nichts übrig, als sich durch den Wald zum Fort durchzuschlagen. Gap plädierte dafür, sofort aufzubrechen, Jasper erbot sich, Mabel, wenn nötig, auf dem Rücken zu tragen, aber Große Schlange machte diesen Erörterungen ein Ende, indem er sagte: „Die Mingos sind Weiber, sie sind blind in der Nacht. Chingachgook wird das Kanu finden und seinen weißen 298
Freunden bringen.“ Er streifte das Hemd über den Kopf, steckte Messer und Beil in den Gürtel und gab Natty sein Gewehr. Jasper sagte: „Ich hätte auf das Boot aufpassen sollen, deshalb kann ich nicht zulassen, daß sich Schlange allein in Gefahr begibt.“ Auch er zog Jacke und Hemd aus; der Delaware nickte unmerklich. Beide stiegen leise ins Wasser und schwammen mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen in die Nacht hinaus. Zuerst war das Wasser tief und reißend, dann fühlten Jasper und Große Schlange Grund unter den Füßen, faßten sich an den Händen und wateten vorsichtig in der Richtung fort, in der sie das Boot vermuteten. Jetzt war der Instinkt des Jägers, der in der Unermeßlichkeit des Waldes ein Wild aufspürt, wichtiger als Auge und Ohr, und so überließ Jasper dem Häuptling die Führung. Es war in der Tat außerordentlich schwierig, in der Dunkelheit durch den brausenden Fluß zu waten und die Orientierung nicht zu verlieren. Nach einer Viertelstunde, die Jasper endlos lang erschien, hielt Große Schlange an, er wollte schon seinem Begleiter zuflüstern, es wäre besser, ans Ufer zurückzukehren und von dort einen neuen Versuch zu unternehmen, als sie dicht vor sich eine menschliche Gestalt sahen. Der Häuptling flüsterte Jasper zu: „Mingo! Schlange wird seinem Freund zeigen, wie man einen Feind täuscht.“ Jasper blieb stehen, während Große Schlange weiter auf den Mingo zuwatete. Durch das Brausen des Wassers hindurch rief der Mingo in seiner Mundart: „Hugh, ich habe das Kanu der Bleichgesichter gefunden, aber niemand hilft mir. Wir müssen es von einem Riff herunterziehen.“ Große Schlange antwortete in der gleichen Sprache: „Führe uns hin, wir werden dir helfen.“ Der Mingo stapfte voran, der Delaware hielt sich dicht 299
hinter ihm, Jasper folgte in geringem Abstand. Jaspers Oberkörper war nackt wie der der beiden Indianer, er hoffte, nicht erkannt zu werden, solange er dem Mingo nicht zu nahe kam und nicht von ihm angesprochen wurde. Er vertraute völlig auf das Geschick des Delawaren, dennoch lockerte er das Messer in seinem Gürtel. Nach wenigen Schritten erreichten die drei das Boot, der Mingo stellte sich an den Bug, Jasper ans Heck, Große Schlange hob in der Mitte an, und zu dritt machten sie es flott. Sie kippten das Wasser heraus, der Mingo drehte den Bug nach dem östlichen Ufer, Große Schlange und Jasper folgten ihm; dabei war ihnen klar, daß sie sich in die Höhle des Löwen wagten. Jasper zog das Messer, um die Haut des Bootes aufzuschlitzen, falls es nicht gelänge, es zurückzubringen. Große Schlange hielt schon das Beil in der Hand, um den Mingo niederzuschlagen, zögerte aber, weil er dessen Todesschrei fürchtete. Gleich darauf tauchten vier schattenhafte Gestalten auf. Wortlos faßten die Indianer mit an und schoben den Kahn auf ihr Ufer zu. Jasper hielt sich weiterhin am Heck und mußte alle Willenskraft aufbieten, sich nicht leise zurücksinken zu lassen und zum westlichen Ufer zu schwimmen. Er stellte sich vor, wie Mabel enttäuscht sein mußte, wenn ihr Vorhaben mißlang, er sah ihr Gesicht, ihre dunkelblauen, schönen Augen, hörte ihre Stimme - das gab ihm Kraft, weiter auszuharren. Große Schlange befand sich jetzt inmitten seiner Feinde und hörte, wie sie sich berieten; sie wollten den Kahn zum Ufer schleppen, ihre Gewehre und Pulverhörner holen und übersetzen. Er nahm sich vor, im Fall einer Entdeckung den ihm nächsten Mingo niederzustoßen, unter dem Boot hindurchzutauchen und die Verwirrung für eine schnelle Flucht zu nutzen. Das Wasser wurde flacher, der Saum der Bäume war zu 300
erkennen, da befahl der Anführer seinen Leuten, an Land zu gehen und sich zu bewaffnen. Nur die beiden letzten sollten beim Boot bleiben und es festhalten. Der Indianer, der das Boot losgeschnitten hatte, und Jasper blieben im Wasser zurück; Große Schlange tauchte, solange die Luft reichte, und hob dann vorsichtig den Kopf an die Oberfläche. Jasper tat so, als wollte er das Boot halten, als sei die Strömung aber zu stark und drehe es herum, Große Schlange drückte gegen den Bug, wodurch das Boot in einer Schraubenbewegung abwärts schwamm. Endlich begriff der Mingo, daß etwas nicht stimmte, er rief dem Delawaren ein paar Worte zu, die dieser nicht verstand, und fuhr ihm an die Kehle. Beide versuchten, sich unter Wasser zu drücken und zu verhindern, daß der andere das Messer zog, traten sich und schlugen mit geballten Fäusten aufeinander ein. Das Boot schwenkte herum und prallte Jasper gegen den Kopf, er mußte tauchen, das Boot trieb über ihn hinweg, am Heck packte er es und stieß es auf das westliche Ufer zu. Erst jetzt merkte er, daß er allein war, von weiter oberhalb hörte er einen Schrei, er kam in flacheres Wasser und schob und zerrte das Boot weiter, später lenkte er es schwimmend vor sich her. Als er aus dem Wasser stieg, zitterte er vor Kälte und Erregung; er band das Boot fest und rief halblaut nach seinen Freunden. Eine halbe Minute später waren sie bei ihm. Während Jasper sich mit seiner Jacke trockenrieb, berichtete er hastig, was geschehen war; er schlug vor, sofort überzusetzen und Große Schlange zu Hilfe zu kommen, aber zu seiner Verwunderung lehnte Natty ab. „Das wäre tollkühn“, widersprach Natty, „wir haben die Aufgabe, Fräulein Mabel wohlbehalten zu ihrem Vater zu bringen, und das werden wir ohne Aufschub tun.“ Mabel fragte sofort: „Und Schlange?“ 301
„Der Delaware steht unter dem Schutz seiner eigenen Gottheit, er wird sterben oder durchkommen, wie Manitu es mit ihm vorhat. Wir können ihm nicht helfen und würden alle unsere Skalpe verlieren, wenn wir drüben landen wollten. Fort jetzt, die Finsternis ist kostbar!“ Ein Jubelschrei gellte vom anderen Ufer herüber, Mabel zuckte zusammen und drängte sich schutzsuchend an ihren Onkel. Cap fragte: „Was bedeutet dieses Getöse, Pfadfinder?“ Natty antwortete betroffen: „Vielleicht ist Schlange tot oder in den Händen dieser Teufel.“ „Und wir...“, rief Jasper, aber Natty unterbrach ihn: „Wir können meinem Freund nicht helfen, begreif das doch!“ Mit halberstickter Stimme flüsterte Mabel: „Jasper hat recht. Ihr seid zu dritt, ihr solltet alles tun, Chingachgook zu befreien. Ich fürchte mich nicht, allein hierzubleiben.“ Im gleichen Sinn sprach Cap, Jasper versuchte noch einmal, Natty umzustimmen, schließlich schnitt ihnen Natty das Wort ab: „Was ist das alles für Gerede! Ihr habt keine Ahnung, was dort drüben auf euch wartet, und die Moral dieser Wälder braucht mir niemand zu erläutern. Steigt endlich ein!“ Schweigend setzten sich Mabel und Gap ins Boot, Natty kniete sich an den Bug, Jasper stellte sich mit dem Ruder ans Heck und drückte vom Ufer ab. Niemand sprach während vieler Minuten. Natty ließ alle die unzähligen dramatischen Ereignisse an seinem Auge vorüberziehen, aus denen sich Große Schlange herausgekämpft hatte, obschon seine Lage ohne Chance erschienen war, er wollte Zuversicht daraus schöpfen, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder grübelte er, ob Hilfe möglich gewesen wäre, sah aber keinen Ausweg. Er fürchtete, Mabel Dunham, Jasper Western und Cap hätten 302
ihm nicht verziehen, daß er für seinen Freund keine Hand gerührt hatte; vielleicht glaubten sie, er hätte ihn im Stich gelassen. Doch es lag kein Sinn darin, daß sich alle opferten, wenn einem nicht mehr zu helfen war. Die Wolken lichteten sich, die überhängenden Bäume aber ließen so wenig Licht durchsickern, daß das Boot wie in einem Schacht schwamm. Mabel hatte eine Decke um die Schultern gezogen, sie saß, ohne sich zu bewegen, aber alles in ihr war in Aufregung. Nur ein einziges Mal in diesen turbulenten Tagen hatte sie Angst gespürt, die sie unfähig gemacht hatte zu reagieren. Das war gewesen als der Mingo den Kopf durch das künstliche Verhau gesteckt hatte. Da waren ihre Hände eiskalt geworden, sie hatte den Mund geöffnet, aber kein Schrei war über ihre Lippen gedrungen, und das hatte ihnen allen das Leben gerettet. Als sie in einem hohlen Baum versteckt gewesen war, hatte jeder Schuß ihr Herz stocken lassen, weil sie nie von der Vorstellung losgekommen war, ihr Onkel, Jasper oder Pfadfinder wäre getroffen, vielleicht getötet worden; sie hatte für sie und für Große Schlange und sogar für Junitau gebetet. Jetzt spürte sie keine Furcht. Sie hörte, wie Jasper mit leichten Ruderschlägen das Boot dirigierte, manchmal flüsterte Pfadfinder vom Bug her, wie zu steuern war. Meist trieb das Boot ruhig. Wenn es auf einer Untiefe hängenblieb, stiegen Cap und Natty aus und machten es flott. Alles ging behutsam und leise vor sich, das Murmeln und Rauschen des Oswego klang friedlich wie ein Wiegenlied. Einmal beugte sich Jasper zu Mabel und fragte: „Angst?“ „Ich gebe mir Mühe, keine Angst zu fühlen; ich glaube, das bin ich meinem Vater schuldig.“ Mabel hing dem Gedanken nach, ob Pfadfinder, Jasper und ihr Onkel dem Delawarenhäuptling beigestanden wären, wenn sie nicht den Auftrag ihres Vaters 303
übernommen hätten, sie nach dem Fort zu bringen, sie begriff, welchen Konflikt diese Männer eben durchgestanden hatten, und nahm sich vor, nie zu vergessen, daß sie ihnen viele Male ihr Leben verdankte. Immer weiter trug der Oswego das Boot abwärts. Der Wind wehte den Himmel frei, der Mond schob sich über die Wipfel. Er machte es Jasper leichter, Klippen und Sandbänke zu umschiffen, beschwor aber für alle die Gefahr herauf, entdeckt zu werden. Als der Mond silberhell über dem Fluß stand und sein Licht sich im schäumenden, perlenden Wasser brach, drückte Jasper das Boot ans Ufer. Viele Minuten lang rührten sich die vier Menschen nicht. Sie schauten auf den Fluß hinaus und horchten in den Wald hinein; einmal glaubten sie das weit entfernte Geheul eines Wolfes zu hören. Natty, Gap und Jasper verständigten sich flüsternd, daß sie abwarten wollten, bis Wolken den Mond verdeckten, sie schwiegen wieder und hoben die Gewehre, als unweit ein Ast brach. Natty hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Große Schlange trotz allem den Mingos entronnen war, so ahmte er den Ruf des Käuzchens nach, der schon oft ihm und seinem Freund als nächtliches Erkennungszeichen gedient hatte. Einmal rief er klagend, als wäre das kleine Tier noch halb im Traum, dann wiederholte er den Ruf rasch und lebhaft. Aus dem Wald heraus wurde in umgekehrter Reihenfolge geantwortet. Da war es mit Nattys Selbstbeherrschung zu Ende, da sprang er auf und packte Cap an den Schultern und schüttelte ihn und rief lauter, als es in dieser Situation zu verantworten war: „Chingachgook lebt! Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet?“ Eine Minute später raschelten Zweige, die Silhouette des Delawaren wurde sichtbar, seine dunkle Stimme sagte: 304
„Hugh, die Mingos sind Weiber, einer von ihren Skalps hängt an meinem Gürtel. Sie sind zu dumm, die Große Schlange der Delawaren zu überlisten, ihre Herzen haben kein Blut.“ „Aber warum haben die Mingos gebrüllt, als hätten sie einen Sieg errungen?“ „Eine Leiche trieb im Wasser, und sie sind blind in der Nacht. Mein Beil hatte den Mann getötet, mein Messer hatte ihm den Skalp genommen.“ „Chingachgook, mein Bruder“, sagte Natty leise und mühte sich nicht, das Beben seiner Stimme zu verbergen. „Wie oft haben wir nebeneinander im Kampf gestanden! Ich fürchtete, dich nie wiederzusehen.“ Der Delaware hockte sich ins Boot und berichtete. Nach dem Kampf war er an Land gestiegen, einmal hatte ihn ein Mingo angesprochen, aber es war ihm gelungen, sich als Pfeilspitze auszugeben. Hier und da hatte er einen Gesprächsbrocken aufgeschnappt, dann hatte er sich davongemacht. Wenig später hatten die Mingos die Leiche ihres Kameraden gefunden und in der Dunkelheit zunächst für die eines Feindes gehalten. „Die Mingos schleichen auf dem anderen Ufer“, schloß Große Schlange. „Sie werden sich an den Stromschnellen rächen wollen.“ Gap, der seinen Schreck beim Überfahren des Wasserfalls noch nicht vergessen hatte, fragte hastig: „Stromschnellen?“ Jasper antwortete: „Sie sind das letzte Hindernis vor dem Fort. Am Tage bin ich etliche Male durchgefahren, nachts allerdings noch nicht.“ Gap schlug mit nur schlecht verborgener Angst vor, Mabel, Große Schlange und er sollten die Schnellen umgehen, damit das von Pfadfinder und Jasper gesteuerte 305
Boot nicht zu schwer wäre, aber Große Schlange wiederholte, die Mingos könnten gerade seitlich der Stromschnellen lauern, auf dem Fluß selbst jedoch wäre bei der Geschwindigkeit, mit der das Boot getrieben wurde, wenig zu befürchten. „Wir bleiben zusammen“, entschied Natty. „Ich vertraue Jasper vollständig und kann mir nicht vorstellen, daß uns jetzt, da wir so vielen Gefahren entronnen sind, noch ein Unglück geschieht.“ Um der Debatte ein Ende zu machen, stieß Jasper ab. Der Himmel war nicht mehr klar wie vor einer Stunde, diffuses Licht sickerte durch die Wolken und machte es für Jasper leicht, sich zu orientieren. Nach einer Weile war schwaches Brausen zu hören, das sich unablässig verstärkte. Cap mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht den Vorschlag, die Stromschnellen zu umgehen, zu wiederholen. Der Schrecken, den er im Tosen des Wasserfalls durchlitten hatte, arbeitete noch in ihm, und seine Phantasie malte ihm die Gefahren der Schnellen noch fürchterlicher als die des Falls aus. Gleich darauf wurde das Boot vom Sog gepackt. Drei, vier Minuten lang krampfte sich Mabel an der Bank fest, sie sah um sich herum nichts als gischtenden Schaum und hörte kaum die Rufe Pfadfinders durch das Donnern und Brausen hindurch. Zwanzigmal schien es, als würde das Boot von einer Welle überschüttet, doch einmal nur verlor Jasper die Herrschaft. In diesem Moment wirbelte der Kahn herum, aber durch eine verzweifelte Anstrengung brachte Jasper ihn wieder in seine Gewalt und drückte ihn ins Fahrwasser hinein, in dem er mit verdoppelter Geschwindigkeit vorwärts gerissen wurde. „Alles ist gleich vorbei!“ rief Jasper. „Von jetzt an macht die Fahrt geradezu Spaß!“ Glatt und ohne Hemmnisse schoß das Wasser über flache Steinplatten hinweg, Jasper mußte 306
nichts mehr tun, als das Steuer festzuhalten, und wenig später kam das Boot in einer breiten Ausbuchtung unterhalb der Klippen zur Ruhe. Mabel sagte: „Gott sei gepriesen! Jasper, Ihnen verdanken wir unsere Rettung.“ „Und Pfadfinder! Eine Stunde noch, und Sie können Ihren Vater umarmen.“ Im Unterlauf des Oswego war die Strömung schwach, Natty und Cap griffen zu den Paddeln, nach einer Weile wurden sie von Jasper und Große Schlange abgelöst. Wenig wurde gesprochen. Einmal fragte Cap, ob das Rauschen, das er hörte, von einer weiteren Schnelle herrührte, aber Jasper beruhigte ihn: Es war die Brandung des Ontariosees, die nicht anders als die des Meeres gegen das Ufer schlug. Jeder im Boot war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, als daß jemand Lust zu einer Unterhaltung gespürt hätte, zu viel war in zwei Nächten und einem Tag geschehen, und das grub tiefe Spuren in Herzen und Hirne, zu oft hatte jeden von ihnen der Tod gestreift. Jasper umsteuerte eine Landzunge. Die Nacht war nun wieder dunkel, kein Wind wehte. Auf dem Kap standen sturmzerzauste Bäume, hinter ihnen schimmerte Licht. Jasper sagte: „Das Fort, Mabel. In einer halben Stunde werden wir Ihren Vater aus dem Schlaf klopfen.“ „Ich danke Ihnen so sehr, Jasper, und Ihnen, Pfadfinder, und dem Delawaren auch.“ Natty sagte: „Jasper, Mabel hat deinen Namen zuerst genannt. Ob das etwas bedeutet?“ Niemand ging auf diesen Scherz ein, nur Natty schmunzelte auf seine herzliche Art.
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Ein Verräter an Bord In Mabel Dunhams Schlaf hinein drangen Trommeln und Marschtritte, allmählich drängten sie die Träume zurück. Mabel öffnete die Augen, hörte Kommandos, die Trommeln wurden in raschem Rhythmus geschlagen, und Mabel hätte nicht die meisten ihrer neunzehn Jahre in der Nähe von Kasernen verbracht haben dürfen, wenn sie nicht begriffen hätte, daß draußen ein Morgenappell stattfand. Einmal erkannte sie die Befehlsstimme ihres Vaters, später marschierte eine Kolonne waffenklirrend am Haus vorbei. Mabel drehte sich auf die andere Seite und genoß es, liegenbleiben zu dürfen. Sie hatte nach tagelangen Strapazen und Gefahren zwanzig Stunden lang wie eine Tote geschlafen, jetzt reckte sie sich, überließ sich noch einmal einem flachen Traum, sah Jasper am Heck eines Kahns stehen und auf sie herablächeln, der Kahn schwamm über einen Teich, sie selbst lag auf einer Decke, trug ein buntes Kleid und hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, der Himmel war hell und viel blauer als im wirklichen Leben. Gleich darauf saß sie mit Pfadfinder am Feuer, ein Rebhuhn steckte am Spieß, und ihr Onkel Cap behauptete, Rebhühner gäbe es auch auf dem Ozean, nur hießen sie dort Möwen. Mabel stand auf, als sie Hunger spürte. In einem Zuber wusch sie sich, nahm von einem Bord ein Stück Brot und kaute so lange die braune Rinde, bis sie süß schmeckte. Sie dachte nach, ob sie es über sich brächte, wochen-und monatelang ohne Brot auszukommen wie die meisten Jäger und Fallensteller, sie erinnerte sich voller Abscheu an das außen fast verbrannte, innen halbgare Wildbret, das sie, ohne Gewürz mit Ausnahme von ein wenig Salz, während des Marsches an den Lagerfeuern 308
hinuntergewürgt hatte. Aus einer Kanne goß sie sich frisches Wasser ein, sie genoß alles • um sich, vor allem das Gefühl, hinter den Wällen des Forts nicht um ihr Leben bangen zu müssen. Als Mabel vor die Tür trat, sah sie einen hölzernen Wachtturm, eine grasbewachsene Schanze mit einer Kanone darauf, daneben einen Mast mit der britischen Fahne und dahinter den See, der sich bis zum Horizont dehnte. Sie stieg auf den Wall, dort packte der Wind nach ihrem Haar und warf es ihr übers Gesicht, sie drehte es an der Schulter zusammen. Sie verglich das Fort mit den Befestigungen, die sie bisher gesehen hatte; in ihrer Gegenwart waren schon unendlich viele Gespräche über Wälle, Geschütze, Vorfeld und Bastionen geführt worden, so konnte sie beurteilen, daß diese Festung keiner regelrechten Belagerung standhalten würde, aber einem Indianerangriff jederzeit gewachsen war. Bollwerke waren aus Erde aufgeworfen und mit Baumstämmen gestützt worden, es gab darauf Palisaden und davor einen trockenen Graben, einen Appellplatz und eine Kaserne aus Balken, die als Unterkunft diente und das Herzstück der kleinen Festung war. Feldkanonen standen auf dem Wall, zwei eiserne Stücke flankierten das Tor. Nach Süden hin streckte sich ein grasbestandenes Glacis, unmittelbar dahinter begann der Wald, gegen Osten, Norden und Westen aber breitete sich eine weite Fläche wogenden Wassers. Die Wellen, die sich im Sand unterhalb des Forts totliefen, waren weder glänzend grün wie bei den meisten nordamerikanischen Seen, noch tiefblau wie beim Atlantischen Ozean, sondern von einem hellen, wächsernen Grau oder dem lichtbräunlichen Schimmer des Bernsteins. Vom Ontariosee her strich der Wind kühl und frisch und führte Ketten von Wolken in unablässiger 309
Folge heran. „Ausgeschlafen?“ Mabel drehte sich um. „Ach Sie sind’s, Pfadfinder. Ja, so langsam komme ich wieder zu mir. Und Sie?“ „Ich bin derartige Märsche gewöhnt, kenne ja kaum etwas anderes. Gestern habe ich mit Ihrem Vater und einigen Offizieren Wiedersehen gefeiert, es ist spät geworden, und Branntwein vertrage ich schlecht. Im allgemeinen bin ich wach, sobald der Tag graut, aber heute hat man mich vor dem Appell aus dem Schlaf rütteln müssen.“ „Es gab viel zu erzählen?“ „Ach, Ihr Vater kennt ja alles selbst. Ich war zwölf Jahre alt, als er mich zum erstenmal auf Patrouille mitnahm, seitdem sind dreißig Jahre vergangen.“ „Er hat mir davon erzählt. Sie haben ihm damals das Leben gerettet.“ „Nun ja, so kann man’s nennen. Wir waren in einen Hinterhalt geraten, Ihr Vater wurde verwundet und hätte seinen Skalp verloren, wenn ich nicht aus Instinkt heraus zum Gewehr gegriffen hätte. Geschossen habe ich nicht, mir wäre auch nicht klar gewesen, wie ich das hätte anfangen sollen, aber die Indianer erschraken, als sie mich Bürschchen mit dem mächtigen Gewehr neben dem Verwundeten stehen sahen. Kurze Zeit später haben uns Soldaten herausgehauen und Ihren Vater weggebracht.“ „Gott segne Sie dafür.“ „Sergeant Dunham hat sich inzwischen reichlich revanchiert. Im Augenblick verdanken wir unser Leben Jasper, denn ohne dessen seemännische Künste wären wir kaum den Oswego heruntergekommen. Dort drüben wird er jetzt sein.“ Natty zeigte nach dem Hafen, einer Ausbuchtung des Oswego an der Ostseite des Forts. Eine 310
Sandbank schützte ein fast kreisrundes Becken vor der Brandung, Holzhäuser standen dort, um angelandete Ware aufzunehmen, ein Weg führte vom Hafen unmittelbar auf das Fort zu. Barken, Kähne und Rindenkanus waren an Pfählen vertäut oder auf den Strand gezogen, an einer steinernen Mole lag ein Kutter. „Das ist die ,Scud’“, sagte Natty, „der Stolz unserer winzigen Flotte und der Befehlsbereich von Jasper Western. Er hat mir erzählt, das Schiff sei vierzig Tonnen groß und nach Plänen gebaut, die man eigens aus England in unsere Wildnis gebracht hat. Es soll äußerst geschickt von einem Meister seines Fachs gezimmert worden sein - ich muß Jasper glauben, denn ich verstehe herzlich wenig von der christlichen Seefahrt.“ „Würde auch mein Onkel die ,Scud’ als ein richtiges Schiff bezeichnen?“ „Das wohl kaum. Aber für den Ontario genügt dieser Kutter. Jasper hat eine Kanone an Bord, die Besatzung besteht außer ihm aus zwei Matrosen und einem Schiffsjungen. Die Franzosen sind etwas besser ausgerüstet, sie besitzen drei Schiffe, eines ist wohl ein wenig größer, aber Jasper hat es mit ihnen noch immer aufgenommen.“ Mabel schaute zum Hafen hinüber, sie wäre gern hingelaufen und hätte Jasper guten Morgen gewünscht und sich sein Schiff zeigen lassen, aber sie wußte natürlich, daß sich das für ein Mädchen nicht schickte. Seit ihrer Ankunft zog sie als eines der wenigen weiblichen Wesen der Garnison alle Blicke auf sich, sie wußte, wie leicht man unter Soldaten ins Gerede geriet, und hatte sich vorgenommen, sich jeden Schritt und jedes Wort reiflich zu überlegen. Mit Pfadfinder hier zu stehen hielt sie nicht für kompromittierend, er war fast so alt wie ihr Onkel und 311
ein Freund ihres Vaters, und ihr Vater hatte sie seinem Schutz anvertraut. Sie fragte: „Sie bleiben eine Weile im Fort?“ „Ich weiß nicht genau. Ich habe von einer Expedition nach einer Insel läuten hören, aber Sie wissen ja selbst, daß beim Militär möglichst viel geheimgehalten wird. Zunächst einmal tut es gut, die Beine unter einen Tisch stecken zu dürfen, das gebe ich zu. Chingachgook ist allerdings schon wieder im Wald oder auf dem See.“ Ein Mann stapfte die Stufen zur Bastion herauf, er trug die Uniform eines königlich britischen Sergeanten, seine Schläfen und sein Schnurrbart waren ergraut, aber er ging rasch und hielt sich gerade; es war ein schwerer Mann nahe der Sechzig. Als er vor Natty stand, legte er die Hand grüßend an die Mütze. „Ein schöner Morgen, alter Freund“, rief er. „Ich hoffe, du hast nichts am Zustand des Forts auszusetzen!“ „Das würde ich mir nie erlauben. Hast du den Morgenappell hinter dir?“ Sergeant Dunham schnaufte. Es wäre immer dasselbe, murrte er, Offiziere wie Mannschaften maulten über die Verpflegung, und eine unzufriedene Truppe wäre im Dienst liederlich und manchmal sogar aufsässig. Dabei brächen die Tische fast unter den Massen von Wild und Fisch zusammen, in Europa würde man für die Leckereien, die im Fort dem einfachsten Soldaten vorgesetzt wurden, mit Silber und Gold zahlen, hier aber sehnte sich jeder nach schlichtem Haferbrei. Dunham lehnte sich auf die Brüstung und schaute nach dem Glacis hinüber, wo Soldaten unter der Leitung eines Korporals auf einem Kartoffelfeld arbeiteten, er überlegte, ob er Major Lundie, dem Befehlshaber des Forts, eine Änderung des Küchenzettels vorschlagen oder ihn auf eigene Faust anordnen sollte. Sergeant Dunham wußte, daß er bei seinem Major größere Freiheiten besaß als mancher 312
Offizier. Er war im Dienst ergraut, war gezwungen, enger mit der Mannschaft zusammenzuleben als in einer großen Garnison, und hatte gelernt, sich trotzdem Respekt zu erhalten; er wurde von den Hauptleuten wie ein Kamerad behandelt, den Leutnants war er an militärischer Erfahrung haushoch überlegen, und die Fähnriche schauten wie zu einem Vater zu ihm auf. Mabel blickte ihren Vater von der Seite an, sie fand, daß seine Haut faltiger und seine Brauen buschiger geworden waren, seit sie ihn zum letzenmal gesehen hatte. Zu ihrem Leidwesen hatte sie noch nicht den herzlichen, vertraulichen Kontakt zu ihm gefunden, den sie während der gefahrvollen Reise ersehnt hatte. Zwar hatte er sie in die Arme geschlossen, und seine Augen waren feucht gewesen, aber seine Fragen waren ihr zu förmlich, zu korrekt erschienen, die rauhe Schale des alten Soldaten hatte es ihm schwer gemacht, die Zeit der Trennung rasch vergessen zu machen. „Mabel, es gibt im Quartier allerhand zu tun“, sagte er, und seine Stimme klang fast wie bei einem Befehl. „Meine Hemden sind in einem erbärmlichen Zustand.“ „Ich gehe sofort, Vater.“ Mabel lief die Treppe hinunter. Dunham seufzte und sagte zu Natty: „Sie ist das Ebenbild ihrer Mutter. Vielleicht ist sie ein wenig energischer und selbstsicherer, das wäre ihr nur zu wünschen.“ „Auf unserem Weg den Oswego herunter war sie furchtlos und ausdauernd wie ein Mann.“ Der Sergeant drehte an seinem Schnurrbart und knurrte, er würde den Faulenzern da unten, die schon wieder eine Pause machten, die Ohren abreißen. Natty, der Dunham lange genug kannte, merkte, daß sein Freund etwas auf dem Herzen hatte und sich nicht damit heraustraute; schließlich fragte der Sergeant: „Du hast also eine gute 313
Meinung von dem Mädchen? Und - du findest sie einigermaßen hübsch?“ „Was soll das, alter Haudegen. Du hast doch selbst Augen im Kopf und weißt, daß sie hübsch ist.“ „Sie ist eine brave Soldatentochter. Hör gut zu, Junge, was ich dir sage.“ Verlegen drehte Dunham wieder an einem Bartende, er fuhr fort: „Mabel hat gestern viel über dich gesprochen, über deine Besonnenheit, deinen Mut und deine Ausdauer. Sie hält dich für einen prachtvollen Kerl. Du solltest deinen Jagdrock ausbürsten, dich wieder einmal rasieren und dir das Haar schneiden lassen, und sie wird dir um den Hals fallen.“ Natty lachte. „Mein Gewehr habe ich heute morgen schon so eifrig geputzt, daß es in der Sonne blinkt.“ Dunham erwiderte ärgerlich: „Du darfst mit meinen Worten keinen Ulk treiben, Pfadfinder, ich meine es ernst. Mabel gefällt dir, und sie hält dich für einen großartigen Burschen.“ Natty kratzte sich nachdenklich das Kinn. „Das mag alles sein, aber ich bin zu alt und zu sehr verwildert, als daß ich zu einem Mädchen paßte, das aus der Stadt kommt. Wenn ich zehn Jahre jünger wäre und ...“ Dunham unterbrach ärgerlich: „Verlaß dich auf einen, der die Frauen kennt! Mabel liebt dich bereits halb, und wenn ihr noch vier Wochen zusammen seid, wird sie gar nicht mehr ohne dich leben wollen.“ „Wieso vier Wochen?“ „Das ist ein militärisches Geheimnis. Allerdings pfeifen in unserer Abgeschiedenheit die Spatzen bald alle Geheimnisse von den Dächern, und vielleicht weiß schon jeder Küchenjunge, daß die ,Scud’ bald wieder in See sticht. Kurzum, Mabel und du, ihr werdet vier Wochen lang auf einer hübschen Insel Gelegenheit haben, einander 314
richtig kennenzulernen. Wenn es nach meinem alten Dickschädel geht, heiratet ihr noch in diesem Sommer.“ Natty schüttelte verwundert den Kopf. „Hast du dir wirklich alles reiflich überlegt? Ich bin nur ein armer Jäger, Mabel aber könnte die Frau eines Offiziers werden. Glaubst du, Mabel will auf alle Annehmlichkeiten der Siedlungen, auf gepflegte Kleidung und Wohnung, auf Besuche und Kirchgänge verzichten? Sie wird sich bald nach ihrer alten Lebensweise sehnen.“ „Ach was, einen besseren Mann als dich kann sie nicht finden, und den Plunder der Städte wird sie rasch in der Freiheit der Wälder vergessen. Ich habe den Plan der Heirat gründlich durchdacht wie ein General einen Feldzug. Erst wollte ich dich im Regiment unterbringen, du hättest mein Nachfolger werden können, denn ich werde wohl bald den Dienst quittieren. Aber ich überlegte mir, daß das Kasernenleben für dich nicht das richtige wäre. So halte ich es für das beste, daß Mabel nach der Hochzeit zunächst bei mir wohnt. Du hast dann ein warmes Zuhause, wenn du von deinen Jagdzügen und Patrouillen zurückkommst.“ „Eine verlockende Vorstellung. Wenn ich jünger und schöner wäre, fände ich deinen Plan sehr reizvoll. Ich an Stelle von Jasper Western beispielsweise, neben den äußeren Eigenschaften noch Kapitän eines Schiffes ...“ Dunham blies die Backen auf und prustete. „Jasper Western, wenn ich das schon höre! Er ist ein Jüngling, und du bist ein Mann in den besten Jahren. Und außerdem sind wir Freunde.“ Dunham sprach nicht aus, daß er seine Tochter vor allem in dieses entlegene Fort hatte bringen lassen, damit sie den Mann kennenlernen sollte, den er sich zum Schwiegersohn wünschte, eben Natty Bumppo. Er war es nicht gewohnt, daß jemand seinem Willen 315
Widerstand entgegensetzte, er war überzeugt gewesen, leichter mit seinem Plan zu Rande zu kommen, und so klang seine Stimme ärgerlich, als er sagte: „Wir sind Kameraden seit vielen Jahren, wir haben schon Schulter an Schulter gekämpft, als Mabel noch gar nicht geboren war. Warum so viele Worte?“ Natty wollte Dunham versöhnlich stimmen, deshalb erwiderte er rasch: „Ich sage kein Wort gegen deine Tochter! Aber du weißt selbst, daß Jugend am besten zu Jugend paßt.“ „Ach was, Pfadfinder, bei Frauen ist das ganz anders! Ich habe noch keinen alten Mann gesehen, der etwas gegen ein junges Mädchen einzuwenden gehabt hätte. Und eine junge Frau schaut gern zu einem erfahrenen Mann auf. Du wirst von allen Offizieren geschätzt, selbst Major Lundie unterhält sich oft stundenlang mit dir und hat gestern fleißig mit dir angestoßen. Du bist der beste Pfadfinder und der gefürchtetste Schütze weit und breit, Mabel hat dich in heißesten Situationen kennengelernt, ohne dich wäre sie nicht mehr am Leben. Da sollte sie dich nicht lieben können?“ Natty sah, daß sich das Gesicht des Sergeanten rötete, und da er dessen aufbrausende Art kannte, lenkte er ein. Er werde sich, versprach er, den Vorschlag noch einmal durch den Kopf gehen lassen, sicherlich wäre es am besten, die vier Wochen, von denen Dunham gesprochen hatte, abzuwarten, nichts müsse man sich schließlich so reiflich überlegen wie eine Heirat. Dunham brummte: „Du hast schon zu gründlich überlegt, scheint mir. Darüber sind deine Schläfen grau geworden.“ Er tippte an die Mütze und stapfte zum Appellplatz hinunter. Natty versuchte, seine vielen widerstreitenden 316
Gedanken miteinander in Einklang zu bringen, er verglich Mabel mit den Mädchen und Frauen, die ihm begegnet waren, mit Judith Hutter und Kora Munro, mit Frauen aus Ansiedlungen und Garnisonen. Immer war er einer Bindung ausgewichen und hatte das freie Leben in den Wäldern der Ehe vorgezogen. Natty wurde sich verwundert bewußt, daß er über Dunhams Vorschlag ernsthaft nachdachte - war das ein Zeichen, daß die Jugend vorbei war? Vom Appellplatz scholl die wütende Stimme des Sergeanten herauf. Dunham hatte die Arme in die Seiten gestützt, vor ihm stießen Rekruten mit dem Bajonett nach einem eingebildeten Feind. Natty dachte: Wenigstens weiß ich, daß ich nie länger als drei Tage in einer Garnison leben möchte. Und diese Erkenntnis ist schon etwas wert.
2 Eine Woche nach diesem Gespräch saß Major Lundie, der Kommandeur des Forts, in seinem Büro und überprüfte Listen. Namen von Unteroffizieren und Soldaten, Zahlen von Ausrüstungsgegenständen und Waffen waren aufgereiht, Sergeant Dunham hatte einen Verpflegungsplan hinzugefügt. Der Major hakte Posten ab, verglich, schrieb Bemerkungen an den Rand; er war nicht ganz bei der Sache, denn was er hier überprüfte, war Routine. Ein Teil seiner Streitmacht verließ ihn für vier Wochen, ein anderer Teil kehrte zurück, das war schon einige Male durchexerziert worden und stellte niemanden vor Probleme. Die „Scud“ segelte nach den Tausend Inseln, Leutnant Muir und Sergeant Dunham kommandierten die Ablösungstruppe, Dunham hatte gebeten, seinen Schwager Gap und seine Tochter Mabel mitnehmen zu dürfen; aus einem Grund, der Lundie im Moment nicht einfiel und über den er nicht weiter 317
nachdachte, sollte Bumppo dabeisein. Lundie las: fünfundzwanzig Wolldecken, Planen für ein Zelt, vier Pfund eiserne Nägel - der Major gähnte. In seinem Schrank standen drei kleine Flaschen Branntwein, die er für einen besonderen Fall aufgehoben hatte und die reichen mußten, bis Nachschub eintraf. Der Major hatte Mühe, an sich zu halten, daß er nicht das Durchsehen öder Listen zu einem besonderen Fall deklarierte. Später wurde an die Tür geklopft, ein Leutnant meldete sich mit hartem schottischem Akzent. „Sie sind’s, Muir“, sagte Lundie. „Ich bin gleich fertig mit dieser Fleißarbeit. Morgen abend brechen Sie nach den Tausend Inseln auf.“ „Die letzte Ablösung?“ „Wahrscheinlich.“ Lundie hatte sich eingestanden, daß sein Plan, mit diesem Außenposten den Franzosen einen Pfahl ins Fleisch zu stoßen, nicht aufgegangen war. Die Tausend Inseln waren eine Masse kleiner und kleinster Inseln nahe des Ausflusses des Ontario, Lundie hatte dort ein festes Haus und einige Schuppen bauen lassen, von da aus sollte der Nachschub der Franzosen gestört werden, aber offensichtlich hatte der Gegner seinen Kähnen andere Routen gewiesen. Die Erfolge standen in krassem Mißverhältnis zum Aufwand, und wenn sich keine grundlegende Wandlung ergab, sollte der Stützpunkt in einem Monat zerstört werden. „Wenn ich keinen anderen Befehl nachschicke, lassen Sie beim Abrücken alles in Flammen aufgehen.“ „Jawohl, Sir. Ich fürchte, wir werden in diesen vier Wochen keinen Franzosen zu sehen bekommen. Stimmt es, daß Miß Dunham ihren Vater begleitet?“ „Warum fragen Sie?“ „Das Mädchen richtet in unserem Fort so viele Zerstörungen an wie ein Bombardement der Franzosen.“ 318
Der Leutnant lachte. „Ich bin ein freier Mann, und dieses Mädchen ist wirklich bezaubernd. Unsere schottischen Jungfrauen sind schön und charmant, aber sie werden von manchen dieser Kolonialmädchen an Frohsinn und Herzlichkeit bei weitem übertroffen.“ „Die vier Frauen, die Sie bisher...“ Der Leutnant hob in gespieltem Entsetzen die Hände. „Es waren nur drei, Sir, die vierte Verbindung zählte nicht als Ehe, und wenn meine erste Frau nicht gestorben wäre, hätte ich mich nie nach einer anderen umgesehen. Fräulein Mabel, ich muß gestehen...“ Major Lundie schob seine Listen von sich und warnte: „Leutnant, Sie sollten sich dieses Mädchen aus dem Kopf schlagen. Wissen Sie nicht, daß Fräulein Dunham so gut wie verlobt ist?“ Muir blickte seinen Major verdutzt an. „Wie mir scheint, kommt der Wunsch nach einer Hochzeit mehr vom Vater als von der Tochter. Sergeant Dunham hat verschiedentlich angedeutet, daß Mabel unseren besten Kundschafter heiraten wird.“ „Diesen Bumppo? Und Sie glauben wirklich, Sir, daß Miß Dunham keine höheren Ziele hat? Dieser Mann besitzt keinen Penny und noch nicht einmal einen Dienstgrad, er ist bestenfalls ein Anhängsel der Armee.“ Lundie bildete seinen ältesten Leutnant nachdenklich an, diesen bulligen, aufbrausenden Muir, der mit siebenundvierzig Jahren noch keine höhere Rangstufe erreicht hatte, und verglich ihn mit Bumppo; ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, die beiden könnten sich in die Haare geraten. Außerdem vermochte er sich Mabel Dunham weder als die Frau des einen noch des anderen vorzustellen. „Übereilen Sie nichts“, riet er. „Ich darf mir wohl ausbitten, daß der Dienst unter diese*- Affäre nicht leidet.“ Als Muir nicht antwortete, zog Lundie wieder die 319
Listen zu sich heran und fragte: „Sind Sie mit unserer letzten Pulversendung zufrieden?“ „Schon, Sir, aber die Fässer waren bisher besser.“ Lundie kam zum alten Thema zurück: „Muir, wenn es um eine Schürze geht, entwickeln Sie soviel Temperament und Torheit wie ein Zwanzigjähriger, Ich möchte nicht, daß sich meine Männer wegen einer zugegebenermaßen hübschen jungen Dame verfeinden.“ „Keine Sorge, Major.“ Aber Muir sah Lundie bei diesen Worten nicht an. Er blieb nicht mehr lange im Büro seines Kommandeurs, schlief schlecht in dieser Nacht, immerfort kreuzten Mabel Dunham, Natty Bumppo, der alte Sergeant und Major Lundie in wirren Kombinationen seine Träume, er sah sich im Duell mit Pfadfinder und an der Seite von Mabel allein auf der einsamsten der Tausend Inseln. Als Trompeten und Trommeln die Besatzung aus dem Schlaf rissen, erhob er sich schweißnaß von seiner Pritsche. Dieser Tag war hell und böig, graugelbe Wellen schlugen an den Strand, manchmal knatterte der Wimpel am Mast der „Scud“ wie im Ozeanwind. Pferdewagen pendelten zwischen Fort und Hafen, Kisten und Säcke wurden an Bord des Kutters verstaut. Am Abend setzte die „Scud“ alle Segel, die britische Fahne wehte am Heck, ein Posten stand neben der kleinen Kanone. Als Gap neben Mabel und dem Sergeanten an Bord ging, spottete der erfahrene Seemann natürlich, dieses Schiffchen wäre mit kindlichem Eifer wie ein richtiges Kriegsschiff hergerichtet worden, er war mit den Augen überall, aber nach und nach spürte er Respekt vor der Sachkenntnis und der Liebe, die aus jeder Kleinigkeit sprachen. Jasper Western stand an der Reling und begrüßte alle, die an Bord gingen. Mabels Hand hielt er ein wenig länger als die der übrigen. Mabel und eine Soldatenfrau waren die einzigen weiblichen Wesen an 320
Bord, ihnen stand eine kleine Kajüte zur Verfügung. Für Leutnant Muir, Sergeant Dunham, Gap, zwei Unteroffiziere, zehn Soldaten, Natty Bumppo, Jasper Western und seine Besatzung blieb genügend Raum unter und auf dem Deck, denn der Kutter hätte doppelt so viele Menschen und Lasten aufnehmen können. Allmählich kehrte Ruhe ein. Die Finsternis machte die Wälle des Forts, die Hafenspeicher und den Saum des Waldes undeutlich, das Ufer bildete bald eine gestaltlose schwarze Masse und war vom Himmel nur durch einen schwachen Grad der Helligkeit zu unterscheiden. Als alles zur Abfahrt fertig war, rief Major Lundie, der am Kai stand, Dunham noch einmal von Bord. „Ich schicke Sie mit den besten Leuten aus“, sagte er, „der Einsatz ist, gemessen an unseren Möglichkeiten, hoch, Sie wissen es. Es darf nichts fehlschlagen. Chingachgook ist im Kanu unterwegs, um das Ufer zu sichern, unten bei den Inseln wird er zu Ihnen stoßen.“ Er dämpfte seine Stimme, als er fortfuhr: „Was halten Sie von Jasper Western?“ „Er ist ein großartiger Soldat und ein erfahrener Seemann. Ihm und Pfadfinder verdanke ich, daß meine Tochter den Mingos entronnen ist.“ „Und Sie glauben nicht, daß er Verrat üben könnte?“ Dunham zog erstaunt die Brauen hoch. „Es ist ein anonymer Brief unter meiner Tür hindurchgeschoben worden, darin wird behauptet, Jasper konspiriere mit den Franzosen. Daß er französisch spricht, ist bekannt. In dem Brief stand, die Mingos hätten Jasper und seine Gesellschaft durchschlüpfen lassen, um Jaspers Kredit bei mir zu erhöhen. Nun soll er sein Schiff und Ihre Truppe den Franzosen in die Hände spielen wollen.“ Lundie setzte rasch hinzu: „Ich weiß selbst, was ich im allgemeinen von anonymen Briefen zu halten habe. 321
Immerhin glaube ich, es ist besser, Sie zu informieren. Noch dies: Muir hat ein Auge auf Ihre Tochter geworfen.“ „Ich habe es gemerkt.“ „Ich möchte nicht, daß Eifersucht zwischen dem Leutnant und dem Pfadfinder den Dienst belastet. Lassen Sie beiden freie Hand bei Ihrer Tochter, und sie wird sich für den entscheiden, der ihr am besten gefällt; wir Alten sollten uns nicht zu sehr einmischen. Nun wünsche ich Ihnen gute Rückkehr!“ Dunham meldete sich ab und kehrte an Bord zurück. Wie oft am Abend war der Wind eingeschlafen, die Segel hingen schlaff. Der Anker wurde •gelichtet und der Kutter mit einigen Ruderschlägen in den Oswego getrieben, in dessen Strömung er zum Ontariosee hinabschwamm; dort blieb er in der Flaute liegen. Jasper stand auf dem Hinterdeck, Mabel trat zu ihm, es kam aber keine richtige Unterhaltung zustande. Muir stellte sich zu ihnen und erzählte vom Fort, von diesem See, von den Annehmlichkeiten und Beschwerden seines Dienstes, wobei er einflocht, wie sehr er es bedauere, ohne Frau zu sein. Mabel hätte es lieber gesehen, wenn Muir sie mit Jasper allein gelassen hätte, aber abgesehen davon war Muir kein übler Gesellschafter. Sie überlegte, wer ihr besser gefiel, Jasper oder Pfadfinder, und rief sich die drängenden Worte ihres Vaters ins Gedächtnis, Pfadfinder zu heiraten, sie stellte sich vor, sie wäre Jaspers Frau, Pfadfinder wäre ihr älterer Bruder, Muir käme zu Besuch und machte ihr den Hof, Jasper würde eifersüchtig - sie prustete los und hielt sich wie ein Schulmädchen die Hand vor den Mund, was so gar nicht zu dem paßte, was Muir eben gesagt hatte. Dunham ging über das Deck, er sah seine Tochter in Gesellschaft der beiden Männer und hörte ihr 322
unterdrücktes Lachen, da blickte er sich nach Natty Bumppo um und zog ihn zum Bug. Sie setzten sich auf ein Bündel, dort flüsterte der Sergeant seinem Freund ins Ohr, was er von Major Lundie gehört hatte. Als Natty aufgebracht erwiderte, eine derartige Behauptung wäre eine Verleumdung, er würde die Hand für Jasper ins Feuer legen, erwiderte Dunham leise: „Glaubst du an Ahnungen? Die Schotten in unserem Regiment schwören darauf, daß es übersinnliche Dinge gibt, und ich fürchte, es ist etwas Wahres an der anonymen Warnung.“ „Ich kenne Jasper seit langem und vertraue ihm wie dir und Chingach-gook.“ „Heute morgen habe ich ebenso gedacht, aber seit mich der Major gewarnt hat, habe ich den Eindruck, als ob sich Jasper unnatürlich und gezwungen bewege. Er erscheint mir schwermütig und gehemmt wie ein Mann, der etwas auf dem Gewissen hat. Muir scherzt mit meiner Tochter, und Jasper steht wie ein Holzklotz daneben. Du solltest Mabel nicht so lange mit Muir allein lassen, der Leutnant hat es faustdick hinter den Ohren.“ „Wäre ich mit Mabel verheiratet, müßte sie wochenlang allein bleiben.“ Noch einmal beteuerte Natty, daß er Jasper für anständig und der britischen Krone treu ergeben halte, dann stellten sich er und Dunham zu den wenigen, die in dieser Nachtstunde noch an Deck waren. Einmal hörte man, wie drüben auf dem Wall ein Posten den anderen anrief. Dann klang es wie ein Seufzen und Murmeln, der Wind erhob sich und drückte in die Segel, der Mast knarrte, der Klüver schlug, langsam nahm das Schiff Fahrt auf. Jasper wies einen Matrosen an, die Schoten nachzulassen und unter dem Land zu bleiben, da fragte Muir: „Sie haben doch wohl nicht die Absicht, den Franzosen allzu nahe zu kommen?“ 323
„Ich halte mich wegen des Windes am Ufer, Herr Leutnant“, antwortete Jasper. „Der Landwind ist immer in der Nähe des Strandes am stärksten. Wir müssen eine Bucht kreuzen, damit ist mein Bedarf an offenem See gedeckt.“ Langsam glitt der Kutter durch die Nacht. Gap, Dunham und Natty standen noch eine Weile an der Reling, dann schnürten sie ihre Deckenbündel auf und legten sich schlafen; von den Soldaten war schon längst keiner mehr auf den Beinen. Mabel setzte sich an die Kajütentreppe, sie blickte zu den Wolken, den Umrissen des Ufers und hinauf zu den Segeln. Ihre Gedanken gingen zurück zu den heißen Stunden am Oswego, zum Wiedersehen mit ihrem Vater, der ihr in langen Monaten der Trennung fremd geworden war; sie war überrascht, als sie sich klarmachte, daß sie Pfadfinder und Jasper erst seit vier Tagen kannte. Jetzt fuhr sie zum erstenmal auf einem Schiff, und eben hatte ihr ein Offizier den Hof gemacht. Die Nacht war warm, der Wind trug den Duft der Wälder mit sich, das Reiseziel hatte einen romantischen Klang: die Tausend Inseln. Mabel fragte sich, ob sie jemals so glücklich gewesen war wie in dieser Stunde. Jasper stand am Ruder und horchte auf das Knarren des Mastes und das Plätschern des Wassers. Wenn die Wolken aufrissen und das Sternenlicht über das Wasser flirrte, sah er Mabels Silhouette. Er wäre gern hingegangen und hätte ihr gesagt, wie sehr es ihn schmerzte, daß er nicht so redegewandt war wie der Leutnant Muir und in dessen Gegenwart kein Wort hervorgebracht hatte. Er stellte sich Mabels Augen vor und sagte sich in Gedanken zum hundertstenmal den Satz vor, daß er sie liebte. Aber ihm schien keine Situation denkbar, in der er gewagt hätte, ihn auszusprechen. „Segel ho!“ 324
Jasper fuhr aus seinen Gedanken auf und rannte zum Bug. Dort hatte sich Cap halb aufgerichtet und zeigte nach backbord hinaus, wo ein flacher Schatten auf dem Wasser lag. Dort schwamm ein Rindenkanu; sofort rief Jasper seinem Steuermann zu, das Ruder herumzuwerfen, er sah, daß jemand im Kanu mit aller Kraft paddelte. Das Segel knarrte, die „Scud“ legte sich auf die Seite und beschrieb einen Bogen, einmal kam sie dem Kanu so nahe, daß zwei Personen in dem Kanu zu erkennen waren. Jetzt waren auch Natty Bumppo und Dunham wach geworden, sie beobachteten gespannt Jaspers Segelmanöver, und als der Kutter dem Kanu endgültig den Weg abgeschnitten hatte, hielten sie es mit einem Bootshaken fest. Dunham spannte den Hahn seiner Pistole, Natty und Dunham zogen das Kanu an die Bordwand heran und warfen eine Strickleiter hinunter. Natty rief: „Steigt herauf!“ Zwei Menschen kletterten mühselig über die Reling, zur Verblüffung von Jasper und Natty waren es Pfeilspitze und Junitau. „Alter Schuft“, rief Natty, „es gibt also doch eine höhere Gerechtigkeit!“ Der Tuscarora zeigte nicht die geringste Furcht. Ruhig stand er unter den ihn und seine Frau umringenden Weißen, ohne Hast beantwortete er Nattys Fragen. Zuerst wollte Natty natürlich wissen, warum Pfeilspitze geflohen war. Der Tuscarora antwortete: „Wald und Fluß waren voller Teufel. Pfeilspitze bewahrte seinen Skalp.“ „Mit einem Wort, du hattest Angst und hast dein Weib mitgezerrt. Aber warum hast du dich nicht zum Fort durchgeschlagen?“ „Der Bock muß der Hindin folgen. Junitau verlor den Weg, die Min-gos zwangen sie, in einem fremden Wigwam zu kochen. Pfadfinder kann einen Grund so leicht begreifen, wie er das Moos an den Bäumen sieht. Er 325
wird wissen, daß Pfeilspitze seinem Weib folgen mußte.“ „Seit wann ist Junitau wieder bei dir?“ „Seit zwei Sonnen. Sie ließ ihren Mann nicht warten, als er aus dem Wald rief.“ Natty hatte nicht vergessen, daß Große Schlange das Lager der Mingos belauscht hatte und Zeuge vom Verrat des Tuscarora geworden war. Aber Große Schlange war nicht hier, womöglich hatte er sich getäuscht, und die Antworten von Pfeilspitze klangen einigermaßen plausibel. Natty fragte weiter: „Woher hast du das Kanu?“ „Pfeilspitze kennt sein Eigentum. Das Boot gehört mir, ich fand es am Ufer nahe dem Fort.“ „Wir hätten das Boot sehen müssen.“ Pfeilspitze war auch jetzt nicht verlegen. „Pfadfinder muß wissen, daß sich ein Krieger auch manchmal schämt. Der Vater würde gefragt haben, wo seine Tochter ist, und ich konnte sie ihm nicht geben. So schickte ich Junitau nach dem Kanu, und niemand redete die Squaw an.“ Natty bohrte weiter: „Mein Bruder muß mir noch eines sagen, und keine Wolke wird mehr zwischen ihm und mir sein. Wenn der letzte Nebel weggeblasen ist, wird er mit seinen alten Freunden am Feuer sitzen, zusammen werden sie ihr Wildbret essen. Warum paddelte Pfeilspitze in Richtung auf den Sankt-Lorenz-Strom, wo er doch nur Feinde finden wird?“ „Pfeilspitze sah das große Kanu, er wollte in das Gesicht des Kapitäns schauen. Er schlug dieselbe Richtung ein, um mit ihm zusammentreffen.“ Natty mußte alle seine Willenskraft zusammennehmen, um bei diesen Ausflüchten ruhig zu bleiben. Er fuhr fort: „Ein Satz ist immer das Gegenteil vom anderen. Glaubst du, Kinder vor dir zu haben, die sich von dir Märchen erzählen lassen? Wenn ein Funke Wahrheit in dem ist, was 326
du bisher gesagt hast: Warum hast du dich bemüht, vor dem großen Kanu zu fliehen?“ Zum erstenmal schien Pfeilspitze eine Antwort suchen zu müssen, nach einigen Sekunden erwiderte er: „Pfeilspitze ist nicht geflohen. Er wollte nicht, daß das große Kanu gegen das kleine stößt.“ Jasper, Gap und Dunhain hatten der Vernehmung zugehört, ohne zu unterbrechen, jetzt empörten sie sich, nannten den Tuscarora einen Lügner, Gap verlangte sogar, ihn in Eisen zu legen. Dunham hielt das nicht für nötig, er war dafür, Pfeilspitze und Junitau getrennt in den unteren Räumen des Schiffes einzuschließen und ihren Fall am Morgen weiter zu untersuchen. Natty sagte zu Pfeilspitze: „Eine Frage nur noch, ehe du Zeit hast, dir weitere Ausreden zu überlegen. Warum hast du, als ich im Oswego hinter einem Stein hockte und mein Leben an einem Haar hing, versucht, die Mingos in meine Flanke zu führen?“ „Pfadfinders Auge war blind vom Wasser, ein Mingo hatte sich wie Pfeilspitze bemalt.“ „Du alter Schurke hast Glück, daß wir uns soviel Mühe mit dir geben, andere hätten dich längst am Mast aufgeknüpft! Also, unter Deck mit dir!“ Unbewegt antwortete der Indianer: „Es wird geschehen, wie der weiße Mann befiehlt. Aber die Tuscarora sind nicht arm. Mein Weib wird Decken aus dem Kanu holen.“ „Dann kannst du gleich mit hinuntersteigen und die Paddel heraufbringen.“ Pfeilspitze und Junitau kletterten hinunter. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, es war jetzt hell genug, daß Dunham den Indianer und dessen Frau von Bord aus beobachten konnte. Junitau nahm einige Decken auf den Arm, Pfeilspitze zog die Paddel unter den Sitzen hervor. 327
„Pfeilspitze kommt“, sagte er zu Dunham hinauf und griff nach der Strickleiter, bückte sich aber blitzartig, hieb mit einem Messer das Tau durch, mit dem das Kanu am Kutter befestigt war, und stieß mit dem Paddel gegen die Bordwand. Seiner Frau warf er ein Paddel zu, mit wilden Schlägen trieben die beiden ihr Boot querab. „Hart am Lee“, schrie Jasper und löste die Klüverschote, worauf der Kutter gegen den Wind schoß und alle Segel hängen ließ. Natty hob sein Gewehr, aber da er fürchtete, bei dem Ungewissen Licht Junitau und nicht Pfeilspitze zu treffen, ließ er es wieder sinken. Dunham rief: „Jasper, wir wollen das Beiboot aufs Wasser setzen!“ „Das würde zwei oder drei Minuten dauern, in der Zwischenzeit ist der Schuft in der Dunkelheit verschwunden.“ Jasper drehte ein Segel, langsam füllte es sich mit Wind, mühselig wendete die „Scud“ und nahm wieder Fahrt auf. Aber für eine aussichtsreiche Verfolgung war es zu spät. Dunham faßte Cap am Ärmel und zog ihn zum Heck; er fragte: „Wie ist das, Schwager, hat Jasper alles getan, die Tuscarora einzufangen?“ „Sein Manöver schien mir ziemlich lahm.“ „So glaubst du, er könnte mit unseren Feinden unter einer Decke stekken?“ „Das ist allerdings ein harter Vorwurf.“ „Paß auf ihn auf! Ich fürchte, daß wir eher in einen französischen Hafen einlaufen, als die Tausend Inseln erreichen.“ Überrascht pfiff der Seemann durch die Zähne. „Weiß Muir Bescheid?“ „Ich muß ihn endlich informieren.“
3 Einen Tag lang kreuzte die „Scud“ auf dem Ontario, 328
für nur wenige Stunden verließ Jasper das Ruder. Zeitweilig fielen Nebelschwaden ein und machten die Orientierung fast unmöglich, einmal tauchten aus einer Wolkenbank die Segel eines französischen Schiffes auf, aber ehe die „Scud“ entdeckt worden war, hatte Jasper sie in den Nebel hineingesteuert. Immer war Gap in Jaspers Nähe, er versuchte, den Steuermann und den Schiffsjungen über Strömungen und Wassertiefen auszuhorchen, argwöhnisch beobachtete er jedes Manöver. An den Sorgenfalten auf Dunhams Stirn sah Gap, daß sich sein Argwohn gegen den Kapitän verstärkte. Einmal, als sie allein waren, sagte Cap: „Man kann ihm nichts nachweisen, zumindest ich kann es nicht, weil ich dieses Gewässer nicht kenne.“ Für Natty Bumppo dehnte sich dieser Tag endlos. Er war es nicht gewohnt, längere Zeit an einem Platz zuzubringen, er liebte die Wälder, nicht das Wasser, ihn störte die Hektik, mit der Dunham, Muir und Cap jede Handlung des Kapitäns beargwöhnten, er begriff nichts von den seemännischen Manövern und hörte ohne Interesse den Garnisonsgeschichten zu, die sich die Soldaten erzählten und in denen Frauen und Schnaps die dominierende Rolle spielten. Der beengte Raum an Bord brachte es mit sich, daß er immer wieder mit Mabel zusammentraf. Er merkte, daß es ihm, den die Wälder das Schweigen gelehrt hatten, von Mal zu Mal leichter fiel, ein Gesprächsthema zu finden; die Worte Dunhams, es könnte gar nicht ausbleiben, daß in Mabel aus der Achtung die Liebe erwüchse, kehrten beharrlich zurück. Einmal stieß er im Niedergang mit Mabel zusammen, sie klammerte sich lachend an ihn und kam ihm so nahe, daß er ihren Atem spürte. Abends lag er an Deck und schaute zwischen den Segeln zu den Sternen hinauf. Er stellte sich ein 329
Blockhaus hinter den Wällen des Forts vor, ein Stück abseits von den anderen und so hoch gelegen, daß man über den Wall hinweg den Wald sehen konnte. Das Haus war eingerichtet wie das Kastell Tom Hutters, der Ofen war aus Lehmziegeln gebrannt, Stühle standen um einen Tisch, an einem Pfeiler hingen Handschuhe mit spitzenbesetzten Aufschlägen. Mabel Dunham, genauer: Mabel Bumppo hantierte am Herd, er kam von der Jagd herein, Hasen im Beutel, Fasanen am Gürtel. Mabel drehte sich zu ihm hin und sagte etwas, er sah, wie ihr Mund sich bewegte, aber ihre Worte hörte er nicht. Sie kam auf ihn zu, wieder spürte er ihren Atem, sie küßte ihn. In einer Ecke stand eine Wiege, darin lag sein Sohn, der später mit auf die Jagd gehen würde, wie Unkas mit Große Schlange auf die Jagd gegangen war. Natty riß sich aus diesen Gedanken heraus, stellte sich an die Reling und zog die Jacke zusammen, da ihn fröstelte. Er wunderte sich, als ihm einfiel, daß er sich noch nie vorgestellt hatte, er könnte einen Sohn haben. Der Morgen begann mit einer Brise, und gerade als Natty, Dunham und Cap sich erhoben, befahl Jasper, die Schoten anzuziehen und näher unter Land zu steuern. Cap fragte: „Freund, du willst doch nicht den Franzosen einen Besuch abstatten?“ „Ich halte des Windes wegen so dicht unter Land“, antwortete Jasper. „Der Landwind weht am Ufer am stärksten, allerdings darf man nicht so weit heran, daß die Bäume ihn abfangen. Ich möchte mit dieser Brise die ersten Inseln erreichen, dann sind wir ziemlich sicher, daß uns kein französisches Boot entdeckt.“ Natty fragte: „Jasper, glaubst du, daß die Franzosen Beobachter auf dem See haben?“ „Davon bin ich überzeugt. Gestern stießen wir fast mit 330
einem französischen Segler zusammen, und am Montag abend kamen Spione bis dicht an unser Fort heran. Ein Kanu legte östlich unserer Schanzen an und setzte einen Offizier und einen Indianer ab. Pfadfinder, wenn du auf Streife gewesen wärst, hättest du die beiden unschädlich machen können.“ Natty kratzte sich das Kinn und erwiderte: „Es ist ganz richtig, daß du mir Vorwürfe machst, Jasper. Ich habe um diese Zeit mit dem Sergeanten und seiner Tochter zusammengesessen.“ „Ich mache dir keine Vorwürfe! Jemand, der Wochen und Monate unterwegs gewesen ist, wird sich wohl einen ruhigen Abend gönnen dürfen.“ Cap warf ein: „Und woher weißt du von dem Kanu, Jasper?“ „Chingachgook hat am nächsten Morgen die Spuren eines französischen Militärstiefels und eines Mokassins gefunden. Außerdem beobachtete eine Streife das Kanu auf der Rückfahrt weit draußen auf dem See.“ „Und warum hast du nicht gleich Jagd auf die Spione gemacht? Am Dienstag früh wehte eine kräftige Brise, der Kutter wäre neun Knoten gelaufen.“ „Das wäre ziemlich sinnlos gewesen. Wasser hinterläßt keine Spuren, und Mingos und Franzosen auf der Flucht sind nicht einmal vom Teufel einzuholen.“ Cap erwiderte ärgerlich: „Wenn man das Kanu von Deck aus sehen kann, braucht man keine Spur. Hättest du mich gerufen, wären uns diese Halunken nicht entwischt, dafür garantiere ich.“ Cap brummte noch einige unverständliche Worte, zog Pfadfinder und seinen Schwager auf die Seite und versicherte ihnen, die Geschichte, die sie eben gehört hätten, werfe schweren Verdacht auf Jasper. Warum hatte gerade er von dem Kanu erfahren? Wie konnten die Späher so dicht an das Fort heran, ohne daß ein Posten 331
Alarm schlug? Natty verteidigte seinen Freund, aber Cap ließ sich nicht davon abbringen, daß alle Indizien gegen Jasper sprächen. Dunham schloß die Unterredung mit der Bemerkung, er müsse Leutnant Muir benachrichtigen. Während Dunham in die Kajüte hinunterstieg, war ihm beklommen ums Herz. Er war Schlachten und Scharmützel gewöhnt, indianische Listen überraschten ihn nicht, aber niemals hatte er befürchten müssen, von einem seiner eigenen Leute verraten zu werden. Er bereute zutiefst, Mabel mitgenommen zu haben; die Expedition war ihm wie ein Ausflug erschienen, aber jetzt offenbarte sie ihre Tücken. Mit sorgenvoller Miene berichtete Dunham dem Leutnant, was er eben gehört hatte, und war völlig einverstanden, als Muir sofort entschied, Jasper habe das Kommando an Cap abzugeben und sich in der Kajüte zur Verfügung zu halten. Jasper Western lief rot an, als ihm eine Minute später Muir diesen Befehl gab, unmittelbar darauf wich alles Blut aus seinem Gesicht. Er stieß hervor: „Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat?“ Muir schrie: „Sie haben nicht zu fragen, Sie haben zu gehorchen!“ Er legte die Hand an die Pistolentasche, Jasper warf Natty einen verständnislosen Blick zu und verließ das Ruder. Bis er im Niedergang verschwunden war, herrschte betretenes Schweigen, dann sagte Cap zu Dunham: „Jetzt, Schwager, sei so gut und gib mir Kurs und Distanz an, damit der Kutter richtig anliegt.“ Der Sergeant knurrte: „Von Kurs und Distanz verstehe ich nichts. Wir haben zu unserem Posten auf den Tausend Inseln zu segeln und die Abteilung dort abzulösen. So lautet mein Befehl.“ „Es muß doch aber eine Karte vorhanden sein, auf der der Kurs markiert ist!“ „Jasper hat niemals eine Karte 332
gebraucht. Er kennt den See auswendig.“ Cap fuhr sich ratlos über den Schädel. Auf einmal wünschte er, er hätte Jasper vorhin nicht so arg in die Zange genommen. In der jetzigen Situation war es unmöglich, Jasper um Rat zu fragen, und es konnte seinem Ansehen als frischernanntem Kapitän schwer schaden, wenn er Instruktionen von einem Matrosen oder dem Schiffsjungen einzog. So beschloß er, diplomatisch vorzugehen, schlenderte zum Rudergänger und begann mit der Miene eines Mannes, der die Lage beherrscht: „Hübscher Landwind, weht er jeden Abend so?“ „Ja, Sir, wenigstens um diese Jahreszeit.“ „Bei den Tausend Inseln wird es ebenso sein?“ „Wenn wir weiter östlich segeln, springt der Wind wahrscheinlich um, weil da kein eigentlicher Landwind mehr weht“ „Du weißt natürlich zwischen den Inseln Bescheid.“ „Wo denken Sie hin, Meister Gap! Da kennt sich kein Mensch aus.“ „Jasper auch nicht?“ Der Mann brummte: „Nun, der vielleicht am ehesten.“ „So, hm, hör mal, der Ankergrund da unten ist ausgezeichnet, nicht wahr?“ „Darüber weiß ich nicht mehr als die Küchenfrau in unserem Fort.“ „Seid ihr denn niemals dort vor Anker gegangen?“ „Nein, Jasper Western macht immer an Land fest.“ „Hm, welchen Kanal hältst du für den besten?“ „Davon verstehe ich nichts, Sir.“ Natty, der danebenstand, verbiß sich das Lachen, Cap aber fragte unbeirrt weiter: „Würdest du den Kanal wiederfinden, in den ihr beim letztenmal eingelaufen seid?“ 333
„Da hat mich Jasper Western unter Deck geschickt.“ Als Dunham merkte, daß sein Schwager nicht weiterkam, warf er ein: „Du verstehst doch etwas von der Navigation, Cap. Kannst du dir den Kurs nicht ausrechnen? Ich dachte immer, so was wäre für einen richtigen Salzwasserschiffer eine Kleinigkeit.“ „Wenn ich richtig verstanden habe“, fragte Cap zurück, „wird die Lage eures Stützpunktes sorgfältig geheimgehalten?“ „Natürlich.“ „Und da erwartest du von mir, daß ich ohne Karte, ohne Kursbestimmung und Entfernungsangabe, ohne Länge und Breite, ohne Kompaß und Sextant hinfinden soll? Nun ja, ich werde den Kutter im alten Kurs laufen lassen. Schlimmer, als wenn uns Western direkt den Franzosen in die Arme geführt hätte, kann es ohnehin nicht kommen.“ Zwei Stunden später verdunkelte sich der Himmel, der Wind frischte auf und hämmerte kurze, harte Brecher gegen die Bordwand. Noch schlug die See nicht sehr hoch, da das Schiff immer noch im Lee einer Inselgruppe lief, aber alle, die den Ontario kannten, wußten, daß ein schwerer Herbststurm zu erwarten war. Die Soldaten zogen sich unter Deck zurück, Gap aber fühlte sich jetzt so recht in seinem Element. Ohne Zögern gab er seine Befehle, unter dicht gerefften Segeln flog der Kutter vor dem Sturm dahin. Nach einigen Stunden rief der Ausguck vom Bug her: „Land voraus!“ Gleich darauf fügte er überrascht hinzu: „Unser Fort!“ Die „Scud“ näherte sich also dem Punkt, von dem sie ausgegangen war; ohne eine kundige Hand am Ruder hatte sie beinahe einen Kreis beschrieben, Cap stieß einen ellenlangen Seemannsfluch aus. So rasch, wie es aufgetaucht war, verschwand das Fort wieder im grauen 334
Dunst. Schwer stampfend durchpflügte das kleine Schiff die harten Brecher in nördlicher Richtung. Stunden verstrichen, es wurde Abend und Nacht, aber noch immer ließ der Sturm nicht nach. Keinen Augenblick wich Cap vom Ruder, keine Sekunde lang verlor er die Kontrolle über das schwache Fahrzeug. Er wußte, daß eine winzige Unaufmerksamkeit genügte, um den Kutter kentern zu lassen; dann gab es für niemanden an Bord eine Rettungschance. Im Morgengrauen stapfte Natty Bumppo an Deck. „Der Schlaf ist ein Gottesgeschenk“, sagte er, „ich habe mich durch den Sturm nicht stören lassen. Aber trotzdem glaube ich, es wäre besser, Jasper Western kehrte an seinen Platz zurück.“ Cap brummte verdrossen: „Nicht ich habe ihn eingesperrt.“ „Aber du hast diesen irrsinnigen Verdacht genährt, vor allem hast du nicht zu bedenken gegeben, daß du bei allen deinen seemännischen Kenntnissen letzten Endes auf diesem Gewässer hilflos bist.“ Cap gestand seufzend: „Ganz ehrlich, Pfadfinder, ich weiß kaum noch, wo oben und unten ist. Und was liegt denn da im Lee? Das ist ja Land, so wahr ich Cap heiße! Und eine Steilküste obendrein!“ Natty beobachtete voller Sorge Caps Gesicht. Jetzt kam auch Dunham aus der Kajüte herauf und stellte sich neben das Ruder. Er sagte: „Nach allem, was ich gerade von einem Matrosen gehört habe, sind wir in einer bösen Lage. Der Kutter verträgt nicht mehr Segel und triftet so stark ab, daß wir in einer Stunde gegen die Felsen schlagen werden. Cap, was meinst du?“ Gap starrte bestürzt auf das schroffe Ufer und in ohnmächtiger Wut in die Richtung, aus der der Wind kam. Dunham sagte: „Schwager, es fällt dir offensichtlich 335
schwer zuzugeben, daß du am Ende deines Lateins bist. Wie mir Pfadfinder erzählte, hast du während der Fahrt den Fluß hinunter Jasper gegenüber die große Lippe riskiert, nun möchtest du natürlich nicht eingestehen, daß wir ohne ihn verloren sind. Wenn uns einer vor dem Ersaufen retten kann, dann ist er es. Franzosen sind nicht in der Nähe - ich werde mit Muir reden.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg Dunham unter Deck, die Unterredung mit Muir war kurz, und eine Minute später stand Jasper neben dem Ruder. Er warf einen Blick in die Runde, der genügte, ihn die Lage der „Scud“ erkennen zu lassen. Gap kreuzte die Arme über der Brust, um sich den Anschein von Gelassenheit zu geben, und sagte: „Ich habe dich rufen lassen, um von dir zu erfahren, ob es im Lee einen Hafen gibt. Du kennst den See und wirst hoffentlich in der Lage sein, den Kutter in eine Bucht zu steuern, in der er dieses bißchen Sturm abwarten kann.“ „Darf ich erst einmal fragen, warum man mir mein Kommando abgenommen hat?“ Dunham knurrte: „Da sind höhere militärische Interessen im Spiel, über die ich schweigen muß. Jasper, du solltest dich nicht zieren und an die Frauen an Bord denken.“ Jasper lächelte bitter, als er erwiderte: „Wie rasch man doch mit einer derartigen Floskel ein empörendes Unrecht überspielen kann! Gut. Wir müssen ankern, und das in spätestens einer halben Stunde.“ Gap rief: „Was, hier draußen im See?“ „Ein wenig näher auf die Küste zu.“ „Verstehe ich recht, Jasper, du willst in diesem Sturm an einer Leeküste den Anker auswerfen?“ „Gewiß, wenn ich das Schiff retten soll.“ „Verdammt, das ist halbgewalkte Süßwasserschiffahrt! 336
Junger Mann, ich fahre seit vierzig Jahren zur See, aber so etwas habe ich noch nie gehört. Ehe ich diesen Unfug gestatte, jage ich das Schiff lieber auf ein Riff.“ Jasper antwortete seelenruhig: „Wir drehen den Bug in den Wind und vermindern damit die Abtrift. Wenn wir mit dem Heck voran in die Brandung treiben, ist das halb so gefährlich, als wenn wir mit der Breitseite hineingeworfen werden.“ Jasper wandte sich an Dunham und sagte: „Sergeant, Sie haben mich ohne den geringsten Grund gedemütigt. Dennoch werde ich das Schiff retten, schon weil ihre Tochter an Bord ist. Aber ich verlange, daß meine Befehle ausgeführt werden, ohne daß mir dieser alte Besserwisser dauernd hineinredet.“ Gap lief zornrot an, aber Dunham gab nach. Einen Augenblick später rief Jasper seine Befehle. Das kleine Rahsegel wurde heruntergezogen, ein Stagsegel gesetzt, gleich darauf flog die „Scud“ auf die Brandung zu. Fünf Minuten später schwenkte Jasper das Ruder, der Kutter schoß in den Wind, gleichzeitig fielen die beiden Buganker. Der Kutter riß an den Seilen, aber nach langen, bangen Minuten lag er fest. Bis zur ersten Brandungslinie blieben kaum hundert Fuß. Jasper wischte sich den Schweiß von der Stirn, Natty nickte ihm zu. Dunham hatte die Arme über der Brust verschränkt und starrte auf die Wellen, die zu beiden Seiten der „Scud“ entlangliefen und über dem Riff aufschäumten. Jasper übertrug einem Matrosen die Wache; als er an Dunham vorbeiging, sagte er bissig: „Sergeant, jetzt habe ich das Kommando wohl wieder an Gap abzugeben?“ Dunham murmelte: „Morgen steuerst du uns nach den Tausend Inseln.“ Er stapfte unter Deck, wobei er wünschte, wieder festen Boden unter den Füßen, einen 337
Feind vor und verläßliche Kameraden neben sich zu haben. Links und rechts des Mittelgangs lagen Soldaten; nach den Aufregungen und Strapazen schliefen die meisten. Muir saß auf einem Faß. Dunham sagte: „Wie ein Verräter hat Jasper eben nicht gehandelt.“ „Meinen Sie? Er hat auch sich selbst gerettet, nicht nur das Schiff. Und was nützte den Franzosen eine zerschellte ,Scud’?“ „Da haben Sie leider recht, Sir.“
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Mabel und Junitau Wie ein jähzorniger Mensch brauste der Ontario rasch auf, aber ebenso schnell kamen seine Fluten wieder zur Ruhe. Die „Scud“ ankerte noch nicht lange, als sich der Sturm legte und die. Brandung nachließ. Gegen Sonnenuntergang befahl Jasper, die Segel loszumachen; er hoffte, der Landwind würde bald einsetzen. In der Dämmerung kam das Schiffchen in Fahrt; im Morgengrauen tauchten am Horizont zerzauste Baumgruppen auf. Jasper steuerte die „Scud“ in weitem Bogen heran, lief zwischen zwei Inseln hindurch und rief, der Eingang zum Außenposten wäre gefunden. Muir, Dunham und Natty stellten sich an den Bug und berieten. Niemand von ihnen war schon auf den Tausend Inseln gewesen, und hier auf dem Ontario glich eine Insel der anderen. Natty sagte: „Gefahr droht uns eigentlich nur, wenn Jasper in einen französischen Hafen hineinsteuert. Aber ich betone nochmals: Ich kenne Jasper seit langem, eben hat er uns ‘allen das Leben gerettet, ich vertraue...“ Muir unterbrach: „Jasper spricht französisch, und als die Tuscarora entwichen, hat er sich äußerst verdächtig verhalten. Auf jeder Insel können Franzosen im Hinterhalt liegen. Sollte er uns in eine Falle führen, knalle ich ihn wie einen Hund ab.“ Dunham fügte schwunglos hinzu: „Aber selbst wenn er ein Verräter ist: Niemand außer ihm kennt den Zugang zu unserem Stützpunkt.“ Voller widerstreitender Gefühle beobachtete Dunham, wie die „Scud“ in einen schmalen Arm hineinglitt. Das Wasser war tief und klar, man konnte bis auf den Grund sehen und brauchte kein Lot. Hin und wieder war die Wasserstraße so schmal, daß die Segel die Büsche 339
streiften. Buchten öffneten sich, dann wieder bog Jasper in eine Fahrrinne, wo niemand sie vermutet hatte. Natty stand am Bug und beobachtete das Wasser, die Bäume und Büsche, er wußte, daß von tausend Stellen aus ein Feuerüberfall die Besatzung der „Scud“ vom Deck fegen konnte. Er hockte sich zwischen Ballen und legte das Gewehr vor sich hin. Einmal kam Mabel zu ihm, da sagte er: „Mir wäre lieber, Sie würden in die Kajüte gehen.“ An seinem Gesichtsausdruck sah sie, daß es überflüssig war, nach dem Grund zu fragen. Als die „Scud“ gänzlich von grünen Mauern umschlossen schien, stellte sich Gap neben Natty, kratzte sich dort, wo das Zöpfchen hing, und stöhnte: „Kein Lotse, kein Senkblei, keine Bojen, keine Baken - kann denn das alles mit rechten Dingen zugehen?“ „ Jasper kennt sein Geschäft. Er folgt einer Fährte, die nur für ihn sichtbar ist. Wenn du mit Chingachgook im Wald wärst, würdest du auch nicht erkennen, wonach er sich richtet.“ In kurzen Abständen rief Jasper seine Befehle, exakt wurden sie ausgeführt. In harten Wendungen, unterstützt von einem straffen Wind und einer günstigen Strömung, lenkte er seinen Kutter durch die Engen, zwischen Sträuchern und Schilf hindurch, nie zögerte er auch nur einen Augenblick. Nach zweistündiger Fahrt drückte er das Schiffchen an einen Grasstreifen heran und befahl, den Klüver niederzuholen. Der Schiffsjunge sprang mit einem Tau an Land und wickelte es um einen Stamm, gleich darauf rannten rotröckige Soldaten aus dem Dickicht heraus, winkten und schrien, sie fingen ein weiteres Tau auf, das Jasper ihnen zuwarf, eine Minute später hatte der Steuermann eine Planke ans Ufer geschoben. Über sie ging Dunham an Land, seine Soldaten drängten sich um 340
ihn, Hände wurden geschüttelt, die Wiedersehensfreude zerbrach alle militärischen Formen. Mabel rannte wie ein Kind einen Weg entlang; als sie eine Siedlung von Blockhäusern mit einem turmartigen Gebäude in der Mitte sah, drehte sie sich um und rief: „Pfadfinder, ist es hier nicht herrlich?“ „Herrlich wie überall in der freien Natur.“ „Wir haben eine wundervolle Zeit vor uns!“ Natty musterte seine Umgebung. Die Insel mochte tausend Fuß lang und sechshundert Fuß breit sein, sie erhob sich an ihrem höchsten Punkt höchstens fünfzehn Fuß über dem Wasserspiegel und war von dichten Büschen gesäumt. In ihrer Mitte umstanden wenige Bäume eine Wiesen-flache, die von bunten Sommerblumen gesprenkelt war. „Natürlich läßt sich hier leben“, sagte Natty. Er entsann sich, daß Dunham vorgeschlagen hatte, Mabel und er sollten sich in den vier Wochen auf dieser Insel näherkommen und danach heiraten. Er fühlte sich bei diesen Gedanken wieder so beklommen wie auf dem Wall des Forts. Muir und Dunham leiteten das Ausladen, die alte Besatzung berichtete, was in den vergangenen Wochen geschehen war, die neue machte sich mit dem Stützpunkt vertraut. Am meisten zog sie das Blockhaus an, das inmitten von Hütten und Schuppen aufragte. Es bestand aus starken, vierkantig behauenen Stämmen, die so sorgfältig zusammengefügt waren, daß kein Geschoß durch eine Spalte zu dringen vermochte. Statt der Fenster waren auf jeder Seite schmale Schießscharten eingeschnitten, die groß genug waren, ein wenig Licht einzulassen, und durch die, falls das Gebäude verteidigt werden sollte, der Pulverdampf abziehen konnte. Die Tür war klein, schwer und mit Eisen beschlagen. Auch das 341
Dach war aus Stämmen gezimmert, man hatte sie mit Rindenstücken benagelt. Im unteren Raum lagerten Vorräte an Waffen, Munition und Verpflegung, der erste Stock, der aus einem einzigen Raum bestand, diente der Unterkunft der Soldaten und ebenfalls der Verteidigung. Ein zweites, unmittelbar unter dem Dach gelegenes Stockwerk war in drei kleine Räume unterteilt, in denen etwa zwanzig Soldaten schlafen konnten. In das Fundament des Hauses war eine Zisterne eingelassen, das obere Stockwerk sprang eine Elle vor und war mit Bodenluken versehen, durch die die Flanken zu bestreichen waren - mit einem Wort, das Blockhaus war mit einfachen Mitteln hervorragend für eine Verteidigung eingerichtet worden und konnte von einem Gegner, der nur über Gewehre verfügte, nicht bezwungen werden. Von einem Postenstand auf dem Dach aus blickten Mabel und Natty über die Insel und die sie umgebenden Wasserarme, Natty wies zum Horst eines Fischadlers auf einer Eiche. Dann stiegen sie hinunter, Dunham zeigte Mabel eines der Häuschen, das ihr als Quartier dienen sollte, Natty half, ihre Habseligkeiten von Bord zu tragen, schaffte Wasser und Brennholz heran und sah zu, wie Mabel einen Brei anrührte. Dabei sagte sie: „Ich beneide Sie um Ihr Leben, Pfadfinder. Allmählich werde ich zu einem Grenzmädchen, alles, was ich bisher in den Städten kennengelernt habe, finde ich schal.“ „Die Wälder schweigen nie für den, der ihre Sprache versteht. Ich hab sie wochenlang durchstreift, ohne auf einen Menschen zu stoßen oder ein Gespräch zu vermissen.“ „Ich glaube, am glücklichsten sind Sie allein.“ „Das will ich nicht behaupten. Ich habe schon manches Mal daran gedacht, wie es wäre, verheiratet zu sein.“ 342
„Ein Jäger wird auch in dieser Wildnis eine Frau finden. Die Indianerinnen sollen zärtlich und treu sein. Junitau zum Beispiel ist ihrem Mann ergeben, allerdings mißbraucht Pfeilspitze diese Anhänglichkeit.“ „Ich glaube, Mabel, aus einer Verbindung zwischen einer Indianerin und mir käme nichts Gutes heraus, jeder ist in seiner Art zu verschieden. Ich müßte ein Mädchen wie Sie treffen, das nicht über meine Unwissenheit und Rauheit spottet. Ich habe, um nur ein Beispiel zu nennen, bis heute nicht lesen gelernt.“ Mabel schaute nachdenklich von ihrer Arbeit auf. „Das ist nicht entscheidend. Würden Sie denn ein so unerfahrenes Geschöpf wie mich zur Frau nehmen?“ Ihre Blicke trafen sich, verlegen sagte Natty: „Wissen Sie nicht, was Ihr Vater mit uns vorhat?“ Mabel wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn, sie fühlte, daß sie »errötete. „Ich bin froh, daß Sie die Sprache darauf bringen. Ich bin es gewohnt, meinem Vater zu gehorchen. Aber solch eine Entscheidung...“ „Ich habe nicht den Eindruck, daß Ihr Vater Sie zwingen will.“ Sie seufzte. „Er ist Soldat, er ist es gewohnt, daß alles nach seinem Kopf geht.“ Sie blickte Natty fest an, es war, als ob sie mit einem Ruck alle Hemmungen unterdrücken wollte. „Ich möchte es rundheraus sagen und hoffe, Sie nicht zu verletzen. Ich schätze Sie und verehre Sie fast wie meinen Vater, aber ich könnte Sie wohl nie so lieben, wie eine Frau ihren Mann lieben muß.“ Nattys Kehle zog sich zusammen, er fragte sich verwundert, ob er sich seit dem Gespräch mit Dunham nicht vielleicht doch zu sehnsuchtsvoll ausgemalt hatte, 343
mit Mabel verheiratet zu sein, einen Herd zu besitzen, an den er nach seinen Streifzügen zurückkehren könnte. „Natürlich haben Sie recht“, murmelte er, „ich habe von Anfang an gewußt, daß es so am besten wäre, ich habe es auch Ihrem Vater gesagt.“ Mabel fragte hastig: „Habe ich Sie verletzt?“ „Gar nicht, wirklich nicht.“ Ihm wurde heiß, er öffnete das Hemd am Kragen und lehnte sich zurück; Mabel sah, daß seine Lippen blutleer waren. „Pfadfinder“, flüsterte sie, „Sie sind der beste, tapferste, anständigste Mann, den ich kenne. Ist das nichts?“ „Doch, das ist schon was.“ „Habe ich falsche Hoffnungen in Ihnen geweckt? Das würde mir leid tun.“ „Ich habe sie wohl selbst geweckt. In diesen Wäldern wirkt jedes freundliche Wort zehnmal so stark wie anderswo.“ Er zwang sich zu einem Lachen, es brach mittendurch. Mit einem Ruck stand er auf, griff zu seinem Gewehr und murmelte: „Ich habe noch auf dem Schiff zu tun.“ Mabel fragte: „Sind Sie mir böse, Pfadfinder?“ „Natürlich nicht. Aber glauben Sie bitte, daß es ernüchternd wirkt, wenn man begreifen muß, daß man allmählich alt wird.“
2 Leutnant Muir und Sergeant Dunham ließen sich von dem Fähnrich, der bisher den Stützpunkt befehligt hatte, über die Insel führen, sie besichtigten die Anlegestelle, die Hütten, das Blockhaus, die Postenstände und Verbindungspfade, ruderten im Beiboot der „Scud“ um die Insel und vergewisserten sich, daß Schilf, Weiden und Erlen fast überall einen undurchsichtigen und an manchen Stellen sogar undurchdringlichen Schutzwall zogen. Der Eingang zum Hafen war schwer zu finden und leicht zu 344
bewachen. Der Fähnrich versicherte, bisher spräche kein Anzeichen dafür, daß die Franzosen die Lage des Stützpunktes kannten, denn nach einigen Vorstößen, bei denen leider nur ein einziges Versorgungsboot hatte aufgebracht werden können, war es immer wieder gelungen, die Verfolger abzuschütteln und unbemerkt diesen Schlupfwinkel zu erreichen. Das Boot lag vor der Hafeneinfahrt, als Muir und Dunham den Fähnrich über den anonymen Brief informierten. „Nachdem ich diese Insel kennengelernt habe“, sagte Dunham, „vermag ich mir tatsächlich nicht vorzustellen, daß sie anders als durch Verrat dem Feind in die Hände fallen könnte. Fähnrich, passen Sie bei der Rückfahrt auf Jasper auf!“ Muir fügte hinzu, es wäre ein Jammer, daß nur Jasper den Weg durch die Wasserarme finde; so war er nicht zu ersetzen. Langsam zog Dunham die Ruder durch, er fühlte eine tiefe Unruhe, die aus dem Gefühl heraus geboren wurde, daß er von Gefahren umgeben war, die er nicht kannte und gegen die er kein Mittel wußte. Er sann darüber nach, wie unkompliziert es dagegen war, auf einem Wall zu stehen und in Pulverdampf und Kanonengebrüll den Angriff eines Feindes abzuwehren, und warf sich vor, seine Tochter nicht von Bord geschickt zu haben, nachdem er von Lundie gewarnt worden war. Dazu wäre noch Zeit gewesen. Als Dunham das Boot an der „Scud“ festmachte, war das Ausladen beendet, die abgelöste Truppe ging bereits an Bord. Mabel und Natty Bumppo winkten zu Jasper hinauf. Dunham ging zu ihnen hin und legte seiner Tochter den Arm um die Schultern, so stand er, während auf dem Schiff die Segel aufgezogen wurden und es aus dem Hafen hinausglitt. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte die 345
Vollmacht besessen, schon in dieser Stunde den Stützpunkt zu liquidieren, ihm fiel ein, wie stark viele Schotten schlimmen Ahnungen vertrauten. Dunham sah die Zukunft in düsterem Licht; er fürchtete sich. Die neue Besatzung verstaute die Vorräte im Blockhaus und in den Schuppen, Dunham entwarf einen Ablösungsplan für die Posten und ging zu der Hütte, die er Mabel zugewiesen hatte. Das Mädchen stellte das Essen auf den Tisch, mit Honig gesüßter Haferbrei dampfte in einer Schüssel. Dunham, Gap, Natty und Mabel aßen mit dem Appetit gesunder Menschen, die seit Tagen die erste warme Mahlzeit zu sich nehmen. „Wir werden ohne Wildbret auskommen müssen“, sagte Dunham, „wahrscheinlich ist das den meisten Soldaten gerade recht. Es wäre leichtsinnig, hier auch nur einen einzigen Schuß abzugeben.“ Natty fügte hinzu, wenigstens würden sie genügend Fisch haben, und wenn Große Schlange zu ihnen gestoßen wäre, käme auch wieder Wild auf den Tisch, denn der Delaware hätte es nicht verlernt, mit Pfeil und Bogen zu jagen. Später setzte sich Muir dazu. Ohne sich durch die Anwesenheit von Mabel stören zu lassen, hielten die Männer einen Kriegsrat. Nachdem alle Argumente für und wider abgewogen worden waren, entschlossen sie sich, am nächsten Morgen, noch bevor der Tag graute, zwei Boote auszuschicken, um den Nachschubverkehr der Franzosen zu beobachten und nach Möglichkeit zu unterbinden. Über die Gewässer um die Tausend Inseln herum versorgten die Franzosen von ihrem Fort aus die mit ihnen verbündeten Indianerstämme mit Gewehren, Pulver, Munition, billigem Schmuck und Webwaren; eine Störung dieser Lieferungen mußte das Bündnis der Franzosen mit den Mingos am Ontario belasten. Muir ließ jeden zu Wort kommen, er fügte die 346
Vorstellungen und Erfahrungen der anderen in seine Pläne ein, am Ende entschied er: „Sergeant, Sie führen die Expedition, Pfadfinder begleitet Sie als Scharfschütze. Ein Korporal mit drei Soldaten, Meister Gap und ich bleiben auf der Insel.“ Er schmunzelte, als er hinzufügte: „Eine großartige Köchin haben wir ja!“ Am Ende der Beratung dunkelte es bereits; die Männer gingen zu ihren Quartieren, um noch einige Stunden zu schlafen, ehe der eine Teil aufbrechen, der andere den Nachtdienst auf der Insel übernehmen mußte. Mabel schlief tief und fest; es war heller Tag, als sie erwachte. Märchenhafte Stille lag über der Insel, der Tau war noch nicht getrocknet, kein Lüftchen regte sich. Mabel blickte in die übrigen Hütten; alle waren leer. Die Sonne strahlte von einem blauen Himmel, den keine Wolke trübte; keine Naturstimmung schien denkbar, die heiterer und friedlicher gewesen wäre. Nach kurzem Suchen entdeckte Mabel ihren Onkel, die Soldatenfrau, den Korporal und zwei Musketiere auf einer Lichtung inmitten dichten Gestrüpps, wo sie ein kleines rauchloses Feuer unterhielten und Fischsuppe kochten. Natürlich beherrschte ihr Onkel die Debatte und beschrieb die Rezepte und den Geschmack von Fischsuppen, die er in aller Herren Länder gegessen haben wollte. Der Korporal, der merkte, daß viel Aufschneiderei dabei war, zwinkerte Mabel fröhlich zu. Das Mädchen schnupperte in den Topf hinein, dann ging sie zum Hafen, wo ein Posten stand, und von dort einen nur fußbreiten Pfad entlang, der in dichtes Gebüsch hineinführte. Sie fand einen grasbewachsenen Platz am Ufer, setzte sich zwischen bunte Blumen und blickte über eine von Bäumen umstandene Bucht, sie beobachtete Fischschwärme im durchsonnten Wasser und lauschte dem kaum hörbaren 347
Zu- und Abfluß der winzigen Wellen, die das Ufer wuschen. Mabel hatte eine halbe Stunde lang an dieser paradiesischen Bucht gesessen, als sie glaubte, auf der gegenüberliegenden Seite eine Bewegung gesehen zu haben. Sofort verbarg sie sich hinter einem Strauch und blickte argwöhnisch hinüber. Einige Minuten lang geschah nichts, schon wollte sie zu ihrem Onkel zurückkehren und ihren Verdacht melden, als ein Zweig über den Schilfrand hinausgeschoben und, wie es ihr vorkam, als Zeichen friedlicher Absicht langsam hin und her bewegt wurde. Nach einem Augenblick des Zögerns brach Mabel einen Zweig ab, hob ihn hoch und schwenkte ihn in der gleichen Weise. Drüben wurde das Signal wiederholt; Mabel sah, wie sich das Schilf teilte und Junitau heraustrat. Jetzt verließ auch Mabel das Versteck und kehrte auf die Wiese am Ufer zurück. Junitau gab zu verstehen, daß sie mit Mabel sprechen möchte, und als Mabel eine einladende Geste machte, zog Junitau ein Rindenkanu aus dem Ried und trieb es mit wenigen Paddelschlägen über den schmalen Wasserarm. Mabel hielt die Hand zum Aussteigen hin, die beiden Frauen hoben rasch das Kanu aus dem Wasser und versteckten es im Gebüsch; sie atmeten schwer vor Aufregung und Anstrengung. Mabel hatte nicht vergessen, daß Junitau sich in den Tagen ihrer gemeinsamen Wanderung als freundlich und hilfsbereit erwiesen hatte, sie war überzeugt, daß die Indianerin von ihrem Mann zum Verrat gezwungen worden war, sie lächelte und sagte: „Ich freue mich, dich zu sehen. Wie hast du unsere Insel entdeckt, und warum bist du hier?“ Junitau faßte Mabels Hand und drückte sie, mühsam sagte sie: „Langsam sprechen!“ Sie suchte nach Worten und fuhr fort: „Freundin kommen, will sehen Freundin.“ 348
„Es ist schön, daß du mich besuchst, und du hast recht, ich bin deine Freundin. Aber hast du dich deshalb in Gefahr begeben? Und bist du allein hier?1“ „Junitau bei dir, niemand anderes.“ „Ich glaube dir. Du würdest mich nicht verraten, nicht wahr?“ Junitau legte den Arm um Mabels Schulter und zog sie liebevoll an sich, sie flüsterte einige indianische Worte, die Mabel nicht verstand, und sagte: „Blockhaus gut zum Schlafen.“ „Meinst du, weil ich dort sicher bin?“ Junitau nickte ernsthaft. Mabel fragte, ob Pfeilspitze in der Nähe sei; Junitau zeigte auf ihr Herz, wozu sie sagte: „Mann immer bei Weib. Pfeilspitze immer hier.“ „Du solltest mit meinem Vater sprechen. Mein Vater versteht deine Sprache.“ Junitau lächelte. „Grauer Vater nicht hier, fortgegangen.“ „Das kannst du nicht wissen. Die Insel ist voll von seinen Soldaten.“ „Nicht voll.“ Junitau hielt vier Finger hoch: „So viele.“ „Und Pfadfinder? Möchtest du nicht mit ihm sprechen?“ „Seine Zunge mit ihm gegangen.“ Mabel überlegte und sagte: „Junitau, du wirst selbst wissen, was du mir anvertrauen willst und was nicht, du möchtest mir helfen und darfst deinen Mann nicht verraten. Woher weißt du, daß nur vier Soldaten hier sind?“ „Junitau zählen. Dazu Leutnant und Mann von Salzwasser. Blockhaus dicke Wand, Skalp von Freundin sicher.“ „Aber woher weißt du das alles?“ fragte Mabel erschrocken. „Kennen denn die Franzosen unsere Insel, waren sie hier?“ „Tuscarora überall.“ Mit dieser Auskunft gab sich Mabel nicht zufrieden, sie 349
fragte, erhielt ausweichende Antworten, fragte weiter, schließlich antwortete Junitau: „Manche Engländer sprechen wie kanadische Väter.“ Mabel überlief es heiß und kalt. Einen Engländer kannte sie, der französisch sprach, das war Jasper. Er ein Verräter? Am liebsten hätte sie Junitau an der Schulter gepackt und angeschrien, einen Augenblick lang war sie versucht, ihren Onkel herbeizurufen, aber sie befürchtete, Junitau würde durch Drohungen zu keinem Wort zu bewegen sein. Sie stöhnte: „Mein Gott, in welch gräßlicher Lage bin ich!“ In tiefem Ernst wiederholte Junitau: „Blockhaus gut.“ „Aber woher soll ich wissen, wann mir Gefahr droht? Kannst du mir ein Zeichen geben?“ Junitau dachte nach, wobei sich Falten zwischen ihre dunklen Augen gruben. „Mir bringen Taube.“ „Woher soll ich eine Taube nehmen?“ „Hinter Blockhaus Schuppen, dort Tauben.“ „Du machst mir angst. Du weißt auf der Insel besser Bescheid als ich. Warte hier!“ Mabel eilte zum Hafen zurück, nickte dem Posten zu, schlenderte am Feuer vorbei, umrundete das Blockhaus und fand dahinter tatsächlich im letzten Schuppen ein Dutzend Tauben; sie saßen auf einem Haufen Mais, der aus einer geplünderten Siedlung herübergebracht worden war. Mabel fing eine Taube, band ihr die Flügel zusammen und verbarg sie in einem Tuch. Auf einem anderen Weg, sich durch dornenreiche Büsche zwängend, kehrte sie zum Ufer zurück und gab Junitau die Taube. „Freundin wird leben“, sagte Junitau. „Pfeilspitze erfahren, Junitau sterben. Meine Freundin immer schweigen?“ „Gut“, versprach Mabel tiefbewegt, „ich werde zu niemandem davon sprechen, daß du auf unserer Insel 350
warst.“ „Blockhaus sehr gut!“ wiederholte Junitau. Sie zog ihr Kanu aus dem Schilf und paddelte rasch zurück. Bevor sie hinter einer Landzunge verschwand, hob sie noch einmal die Hand. Mabel winkte zurück. In schweren Gedanken ging sie zum Lagerfeuer. Schweigend löffelte sie die Suppe, während sie überlegte, ob sie ihren Onkel einweihen sollte. Aber sicherlich würde Gap die aufregende Nachricht nicht für sich behalten; wenn Muir sie kannte, teilte er sie seinen Soldaten mit, dann wußte jeder auf der Insel Bescheid, und womöglich konnte Pfeilspitze aus neuen Maßnahmen schließen, daß Junitau Mabel gewarnt hatte. Der Tuscarora mußte davon vor allem erfahren, wenn wirklich ein Verräter auf der Insel war, dann bezahlte Junitau ihre Freundschaft mit dem Leben. Mabel wünschte, ihr Vater oder Pfadfinder wären hier, ihnen hätte sie sich anvertraut, so mußte sie allein mit ihrer Bürde fertig werden. Oder, überlegte sie, gab es gar keinen Verräter, wollte Junitau ihren Verdacht in eine falsche Richtung lenken, war Pfeilspitze auf der Insel gewesen und hatte sie ausgekundschaftet? Plötzlich rief Mabel: „Was sitzen wir hier herum? Ein Posten an der Anlegestelle genügt doch nicht! Meint ihr, nur ihr und Pfadfinder und Chingachgook seid schlau, und die Mingos und Tuscarora schlafen?“ Muir lachte: „Das ist die Stimme einer echten Soldatentochter! Miß Mabel, allen Respekt! Aber glauben Sie einem Mann, der viele Jahre im Pulverdampf gestanden hat, daß jede Sorge überflüssig ist. Ihr Vater und Pfadfinder würden jeden Feind aufspüren, der sich uns nähert, daran zweifeln Sie doch nicht?“ „Vater und Pfadfinder können nur eine Seite beobachten. Und wissen Sie nicht, daß die Indianer meist gerade von 351
dort kommen, woher man sie am wenigsten erwartet?“ „Vergessen Sie nicht, daß auch Chingachgook auf dem Posten ist. Lassen Sie den Schutz der Insel getrost meine Sorge sein.“ Mabel ging in ihre Hütte, um Ordnung zu schaffen, fand aber keine Ruhe. Zweifel an der Ehrlichkeit Junitaus wuchsen in ihr, sie ging wieder zu der Stelle, an der sie Junitau getroffen hatte, und spähte über das Wasser, aber alles war ruhig. Auf einem anderen Weg kehrte sie zum Blockhaus zurück, da erschrak sie: An einem Busch hing ein Streifen grobgewebten Tuchs. Mit einem Blick überzeugte sie sich, daß dieser rote Lappen von der gegenüberliegenden Insel aus gesehen werden konnte, sie argwöhnte, Junitau hätte sie nach der Taube geschickt, um ihn anzubringen, und fürchtete, er sei ein Signal für einen verborgenen Feind. In einem raschen Entschluß nahm sie das Tuch an sich und rannte auf das Blockhaus zu. Fieberhaft überlegte sie, ob es an der Zeit wäre, ihren Onkel zu informieren, sie suchte nach einem Weg, ihm mitzuteilen, was Junitau ihr anvertraut hatte, ohne diese bloßzustellen, da trat Leutnant Muir hinter einem Strauch hervor. „So eilig, mein Fräulein“, rief er, „und so einsam? Ihr Vater würde mir bittere Vorwürfe machen, wüßte er, daß ich mich den ganzen Vormittag über noch nicht um Sie gekümmert habe. Was halten Sie denn da in der Hand?“ Mabel gab Muir das Tuch und zeigte nach dem Busch, an dem es gehangen hatte. „Eine böse Geschichte“, sagte Muir sofort. „Wie kommt der Lappen an den Zweig? Was bedeutet das Ganze?“ Er wendete den Tuchstreifen, wiegte überlegend den Kopf, sagte schließlich: „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Stück Flaggentuch von einem 352
Schiff. Und was am bemerkenswertesten ist: Ich erinnere mich, daß an einem Wimpel unseres Kutters ein Ende fehlte.“ Mabel erbleichte, sie flüsterte: „Jasper?“ „Natürlich fällt der Verdacht auf ihn, aber auch jeder Mann seiner Besatzung und jeder Soldat kann diesen Fetzen abgeschnitten und dort befestigt haben.“ Muir lachte gequält, als er hinzufügte: „Auch ich könnte es gewesen sein. Jedenfalls ist dieser Vorfall so schwerwiegend, daß ich midi mit Ihrem Onkel darüber beraten muß.“ „Wäre es nicht am besten, ich zöge mich mit der Soldatenfrau ins Blockhaus zurück?“ „Jetzt keine Panik! Mabel, Sie sind tapfer und umsichtig, aber Jennie ist eine schlichte Frau, sie würde Gefahren wittern, wo keine sind. Ich spreche mit Ihrem Onkel, wir werden unsere Posten verstärken, mehr ist im Moment nicht nötig.“ Gemeinsam gingen Muir und Mabel zu den Hütten, dort wandte sich Muir zur Feuerstelle, an der Cap saß, seinen Zopf flocht und die Aalhaut darüberzog. Mabel fand die Soldatenfrau beim Auskehren einer Hütte und bat sie, ihr zu helfen, Lebensmittel ins Blockhaus zu tragen; gemeinsam mühten sie sich mit einem Sack ab, als der Korporal des Wegs kam und anhielt. „Vorsicht?“ sagte er. „Natürlich ist Vorsicht gut, Miß Dunham, aber glauben Sie einem Soldaten, der seine fünfundfünfzig Jahre auf dem Buckel hat, daß man durch übertriebene Vorsicht die Indianer geradezu ermutigt. Wenn eine Rothaut merkt, daß man vor ihr Angst hat, wird sie frech. In unseren Kasernen und Lagern sind so viele haarsträubende Geschichten über die Grausamkeiten der Indianer erzählt worden, daß manche Musketiere einen Feind hinter jedem Busch wittern. Lassen Sie sich von einem alten Haudegen sagen, 353
der die Indianer kennt, daß man niemals...“ Der Korporal sprang hoch, drehte sich um sich selber und sank zusammen, gleichzeitig knallte ein Schuß, der Korporal bäumte sich noch einmal auf und fiel leblos zu Boden. Nur eine Sekunde lang stand Mabel wie gelähmt, dann stürzte sie zu dem Korporal hin und versuchte, ihm aufzuhelfen, aber seine Augen waren schon gebrochen. Mabel rannte nach dem Blockhaus, doch die Soldatenfrau war schneller und warf ihr in panischer Angst die Tür vor der Nase zu. Mabel trommelte mit den Fäusten gegen das Holz, bei den Hütten krachten fünf, sechs Büchsen, Mabel sah, wie zwei Indianer über die Feuerstelle sprangen. Jetzt endlich öffnete die Soldatenfrau die Tür, Mabel zwängte sich hindurch, schob sie zu und legte einen Querriegel vor. Mabel bat die Frau, an der Tür zu bleiben und zu öffnen, wenn ein Freund eingelassen werden wollte, und kletterte eilig ins obere Stockwerk hinauf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Auf dieser Seite der Insel konnte Mabel keine lebende Seele entdecken. Dort, wo sie mit Junitau zusammengetroffen war, schwebten Pulverwölkchen, aber jetzt war wieder alles still wie vor dem Überfall. Mabel trat an eine andere Scharte und krampfte die Hände ins Holz, als sie sah, daß wenige Schritte von dem Korporal entfernt drei Soldaten leblos im Gras lagen, offensichtlich hatten sie sich dort zusammengedrängt und waren niedergeschossen worden. Weder Muir noch Cap waren zu sehen. Mit klopfendem Herzen stieg Mabel noch ein Stockwerk höher, von hier konnte sie einen wesentlichen Teil der Insel überblicken; sie sah, daß das Boot noch im Hafen angebunden war, über allem lag Grabesruhe. Nach einer Weile rief die Soldatenfrau herauf: „Miß Mabel, um Gottes willen, sagen Sie mir doch, was Sie sehen! Ist mein Mann am Leben? Ich habe jemanden schreien und stöhnen 354
hören, aber jetzt ist alles ruhig. Sehen Sie meinen Mann?“ „Wir sind alle in Gottes Hand“, antwortete Mabel ausweichend. „Wir müssen der Vorsehung vertrauen. Geben Sie nur gut auf die Tür acht.“ „Sehen Sie meinen Mann?“ Mabel blickte gerade nach der Seite, auf der die gefallenen Soldaten lagen. Sie antwortete: „Drei Soldaten sind bei dem toten Korporal.“ „Dann ist mein Mann dabei! Sandy“, rief die Frau in höchster Angst, „warum sorgst du nicht für dich selbst! Komm ins Blockhaus, ich lasse dich ein!“ Mabel hörte, wie der Riegel zurückgelegt wurde, die Tür knarrte, und ehe Mabel die Soldatenfrau warnen konnte, rannte diese auf die Toten zu. Sie mußte wohl glauben, die Männer hätten sich hingeworfen oder wären verwundet, in ihrer wahnsinnigen Aufregung brach sie neben der Leiche ihres Mannes zusammen, griff nach der Hand des Toten und hob den Kopf auf ihren Schoß; Mabel hörte ihr herzzerreißendes Schreien. In diesem Augenblick stürzten etwa zwanzig Indianer aus den Büschen und zwischen den Hütten hervor, vornweg stürmte Pfeilspitze, mit seinem Beil erschlug er die Frau, zückte sein Messer und skalpierte sie. Es wimmelte jetzt von Indianern bei den Hütten, sie schleppten Säcke und Hausrat heraus, die Waffen der Toten wurden aufgelesen, die Leichen des Korporals und der anderen Soldaten skalpiert. Schaudernd stand Mabel und starrte auf das Grauen zu ihren Füßen. Erst jetzt fiel ihr ein, daß die Soldatenfrau die Tür offengelassen haben mußte, sie rannte zur Leiter und hastete hinunter, sie hatte jedoch das zweite Stockwerk noch nicht erreicht, da kreischte die Tür in den Angeln. Erschrocken sank Mabel in die Knie, sie hielt sich für verloren. Als sie hörte, wie die Tür geschlossen und ein 355
Riegel vorgelegt wurde, vermutete sie in rasch aufwallender Hoffnung, ihr Onkel oder Muir hätte sich ins Blockhaus geflüchtet, sie wollte schon hinunterrufen, daß sie hier sei, daß sie lebte, doch nun fiel Licht durch eine Schießscharte auf schwarzes indianisches Haar. Vor Schreck klammerte sich Mabel an der Leiter fest, kaum wagte sie zu atmen, auf Zehenspitzen schlich sie Schritt für Schritt rückwärts und duckte sich in einen Winkel. Im Erdgeschoß war jetzt alles ruhig, von draußen drang kein Laut herein. Die Leiter wurde gerückt, eine dunkle Stirn, ein Augenpaar schoben sich über die Dielen, im nächsten Augenblick erkannte Mabel, daß Junitau heraufstieg. Erst jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, wurde Mabel von einem Weinkrampf gepackt, sie sank auf die Fässer und preßte die Hände aufs Gesicht. Behutsam umfaßte Junitau ihre Schultern und flüsterte liebevoll: „Blockhaus gut, keine Angst, Junitau bei Freundin!“ Mabel hob das tränennasse Gesicht und fragte: „Was ist mit meinem Onkel?“ Verwundert fragte die Indianerin zurück: „Nicht im Blockhaus?“ „Nein, ich bin ganz allein.“ „Junitau wissen, Junitau sehen. Pfeilspitze nicht fühlen für Weib. Pfeilspitze mich töten, wenn alles wissen.“ Mabel umschlang den Hals der Indianerin. „Das Blockhaus wird uns beide schützen. Aber was ist mit meinem Onkel? Was ist mit Leutnant Muir?“ „Salzwasser hat Boot. Vielleicht fortgeschwommen.“ „Aber ich habe unser Boot eben noch gesehen.“ „Beide nicht tot, Junitau würde wissen. Vielleicht versteckt. Auch roter Mann manchmal verstecken, für Blaßgesicht keine Schande.“ „Ach, Junitau, das kümmert mich jetzt so wenig. Euer 356
Angriff war fürchterlich schnell.“ „Tuscarora!“ antwortete Junitau stolz. „Pfeilspitze großer Krieger!“ „Aber du bist gütig und nicht hart genug für solch ein Leben, du kannst dabei nicht glücklich sein.“ Junitaus Blick verfinsterte sich, als sie sagte: „Engländer gierig, nehmen weg alle Jagdgründe, jagen Indianer, wo Sonne untergeht. Schlechter König, schlechte Soldaten. Blaßgesicht sehr böse.“ Mabel fand keine Antwort auf diese Vorwürfe, sie wußte, daß sie berechtigt waren. Sie fragte: „Was kann ich tun? Deine Leute werden das Blockhaus angreifen, wenn sie draußen keine Beute mehr finden.“ „Blockhaus fest, nicht bekommen Skalp.“ „Aber sie werden entdecken, daß hier keine Männer sind, vielleicht wissen sie es schon.“ „Pfeilspitze alles wissen.“ Junitau hob sechs Finger und sagte: „Vier Skalpe haben, zwei holen.“ „Aber Pfeilspitze und seine Leute könnten denken, daß mein Onkel und der Leutnant hier sind, sie könnten das Haus anzünden, um uns hinauszutreiben.“ „Nicht werden anzünden.“ „Woher weißt du das?“ „Blockhaus grünes Holz. Tuscarora Blockhaus nicht verbrennen, damit Engländer nicht merken, daß roter Mann hier. Bleichgesicht weiß nichts. Roter Mann sehr schlau.“ Mabel wollte antworten, aber da wurde gegen die Tür getrommelt. Sie zuckte zusammen, einen Augenblick lang hoffte sie, ihr Onkel oder Muir stünde draußen, aber ein Blick durch eine Scharte belehrte sie, daß vier Indianer, darunter Pfeilspitze, mit den stumpfen Seiten ihrer Beile an die Tür schlugen. „Mingos“, flüsterte Mabel, „sie sehen 357
schrecklich aus in ihrer Bemalung. Dein Mann ist dabei.“ Junitau ging in eine Ecke, in der Gewehre lehnten, nahm eines und spannte den Hahn. Mabel flüsterte erschrocken, Junitau wollte doch wohl nicht auf ihren Mann schießen; die Indianerin lächelte sie verschmitzt an. Sie riß eine Klappe auf, schob das Gewehr durch die Scharte, hielt den Lauf schräg gegen den Himmel und drückte ab. Nach dem Schuß schlug sie den Fensterladen wieder zu und spähte vorsichtig an einer anderen Stelle hinaus. Sie freute sich: „Alle fortlaufen, alle sich verstecken! Glauben jetzt, Leutnant und Salzwasser hier.“ Mabel hatte sich auf eine Kiste gesetzt. Sie verfiel in Apathie, weil sie so gar nichts für die Rettung ihres Onkels und des Leutnants und für ihre eigene Sicherheit tun konnte. Sie war eine Soldatentochter, aber niemand hatte sie das Schießen gelehrt, sie wußte nicht, wie man zielte und eine Büchse lud. Draußen war jetzt alles ruhig, Junitau beobachtete einmal an dieser, einmal an der anderen Seite, leise schlich sie durchs Haus, kletterte ins obere Stockwerk hinauf, spähte und lauschte. Sie sah, wie die Leichen in ein Gebüsch gezerrt wurden, ein Mingo stieg auf einen Baum, Lebensmittel wurden aus den Hütten getragen, ein Feuer brannte unter dem Kessel, die erbeuteten Waffen gingen von Hand zu Hand. Das alles geschah ohne Hast und Lärm. Nach einer Weile wurde das Boot in ein Dickicht getragen, in dem bereits die Kanus der Mingos lagen. Offensichtlich richteten die Indianer alles wieder so her, wie es vor dem Überfall gewesen war, damit Dunhams Trupp bei seiner Rückkehr arglos landete und dem Feind ins offene Messer lief. Nach einer Stunde sagte Junitau, sie werde jetzt zu ihren Leuten zurückgehen, denn die Gelegenheit, das Haus zu verlassen, sei günstig. Mabel war im ersten Moment 358
argwöhnisch, aber gleich darauf schämte sie sich, denn Junitau hatte wirklich genug getan, um sich ihr Vertrauen zu erwerben. Gemeinsam hoben sie die Querriegel aus den Klammern, Mabel stellte sich dicht hinter die Tür, zog sie auf, Junitau schlüpfte hinaus, worauf Mabel mit klopfendem Herzen die Tür wieder zudrückte und die Riegel vorlegte. Stunden vergingen. Die Indianer kochten und aßen, hin und wieder wurde der Posten auf dem Baum abgelöst. Gegen Mittag sah Mabel, wie sich ein Boot der Insel näherte, ein Mann stieg aus, seine Kleidung war aus europäischen und indianischen Stücken gemischt wie bei Natty Bumppo; als er näher kam und das Blockhaus musterte, erkannte Mabel, daß es ein Weißer war. Dieser Mann, ein französischer Offizier, war auf die Insel gekommen, um zu sehen, wie weit der zwischen Franzosen und Indianern vereinbarte Eroberungsplan gelungen war. Mabel fühlte sich erleichtert, da sie annahm, sie würde sich in der äußersten Not an diesen Mann um Schutz wenden können; sie wußte nicht, wie wenig Macht in mancher Situation ein Weißer über Indianer besaß; Natty Bumppo hätte ihr bittere Beispiele aus seiner langen Erfahrung nennen können, wobei das Gemetzel von Fort William Henry das schrecklichste war. Inzwischen waren die Indianer satt und ließen die Branntweinflaschen kreisen, die sie in Muirs Hütte gefunden hatten. Wenn jetzt Sergeant Dunham und seine Soldaten zurückgekehrt wären, hätten sie schon von weitem trunkenes Grölen gehört. Vergeblich versuchte der Offizier, seine Verbündeten im Zaum zu halten, immer höher ließen sie das Feuer lodern, immer lauter wurden ihre Gesänge und immer wilder ihre Tänze. Diese Stunden erschienen Mabel so lang wie ein Monat. 359
Sie versuchte, im Gebet Trost zu finden, stieg ins obere Stockwerk und schaute nach Hilfe aus, sie hoffte, ein Zufall könnte die „Scud“ zur Umkehr bewegt haben. Dann wieder fürchtete sie, ihr Vater und Pfadfinder würden den Indianern in die Hände fallen, schließlich ängstigte sie sich bei dem Gedanken, daß das Schicksal ihres Onkels und Leutnants Muirs noch immer ungeklärt war. Wieder überprüfte sie die Riegel an der Tür und die Klappen vor den Schießscharten. Sie trank ein wenig Wasser aus der Zisterne, füllte einige Ledereimer und trug sie nach oben, um löschen zu können, wenn die Indianer versuchen sollten, das Blockhaus anzustecken. Als sich die Dämmerung senkte, waren die Mingos so betrunken, daß es der Franzose aufgab, zur Mäßigung zu mahnen; er kehrte auf die Nachbarinsel zurück. Pfeilspitze, der völlig nüchtern war und keinen Augenblick seinen Kriegsplan aus dem Auge verlor, machte noch einige Versuche, die Disziplin wiederherzustellen, aber auch er hatte keinen Erfolg. Jetzt vergaßen die meisten Indianer, daß sie das Blockhaus hatten schonen wollen, der Branntwein ging zur Neige, sie hofften, im Zentrum der Inselbefestigung weitere Flaschen und vielleicht sogar Fässer mit dem begehrten Feuerwasser zu finden, so stürmten sie, im Fackelschein wie leibhaftige Teufel wirkend, gegen die Tür und versuchten, sie mit einem Balken einzurammen. Bei jedem Stoß, der das Haus erzittern ließ, bei jedem Schrei zuckte Mabel zusammen. Einmal blickte sie hinaus, da sah sie, daß einige Indianer grölend davonzogen, sie stützten sich gegenseitig, denn sie vermochten sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Einer stürzte, die anderen fielen lachend über ihn und balgten sich. Etwa zehn Mingos aber zerrten 360
trockenes Holz zusammen, türmten vor der Tür einen Haufen auf, warfen eine Fackel darauf und brüllten siegestrunken, als Flammen am Haus hochschlugen. Qualm drang durch alle Scharten, aber Mabel hatte sich so weit in der Gewalt, daß sie richtig reagierte: Sie feuchtete ein Tuch an, band es sich vor den Mund und schüttete einen Eimer so über einer Luke aus, daß das Wasser außen an der Tür hinunterlief. Eine Qualmund Dampfwolke stieg zischend auf, das Holz der Tür brannte nun nicht mehr, es schwelte nur noch. Alle Krieger hatten sich jetzt vom Blockhaus zurückgezogen; die noch stehen konnten, rangen um die letzte Flasche, andere waren schon besinnungslos zusammengebrochen. Da näherte sich eine Gestalt seitlich aus dem Dunkel, warf mit einer Stange die brennenden und glimmenden Äste auseinander und drängte sich, von Rauch ganz eingehüllt, an die Tür heran. Mabel rief von innen: „Onkel, bist du es?“ „Salzwasser nicht hier“, antwortete Junitau, „öffne schnell, müssen hinein!“ Ohne jede Vorsicht riß Mabel die Tür auf, sie wollte fliehen, wollte sich in den Büschen verbergen, aber Junitau schob sie zurück und schloß die Tür wieder. „Kommen nach oben“, sagte Junitau und faßte Mabels Hand. Sie stiegen hinauf, setzten sich auf eine Kiste, hielten sich umschlungen; Mabel fragte: „Hast du etwas von meinem Onkel gehört?“ „Nicht weiß. Niemand sehen ihn, niemand wissen etwas. Vielleicht Salzwasser in See laufen, vielleicht schwimmen wie Fisch. Ich schauen und schauen, aber nicht finden Salzwasser und Leutnant.“ „Sie müssen ihnen entwischt sein, wenn wir auch nicht wissen, wie. Hast du gesehen, daß ein Weißer auf der Insel 361
gewesen ist?“ „Ja, französisch Kapitän hier und gehen wieder fort.“ „Oh, Junitau, gibt es kein Mittel, meinen Vater und Pfadfinder zu warnen?“ „Tuscarora wartet im Hinterhalt“, antwortete Junitau ungerührt, „Engländer verlieren Skalp.“ „Ach, wo du soviel für mich getan hast, wie kann dir dann das Schicksal meines Vaters gleichgültig sein?“ „Junitau nicht kennen Vater, nicht helfen Vater. Junitau liebt Pfeilspitze. Pfeilspitze will Skalp.“ Mabel suchte nach Worten, um Junitau umzustimmen, aber ehe sie sprechen konnte, fragte Junitau, ob sie wie eine Engländerin fühle, und als Mabel nickte, fügte sie hinzu, dann müsse Mabel auch verstehen, daß sie selbst wie eine Tuscarora empfinde. Niemals würde Mabel den Franzosen verraten, was ihr Vater gegen sie plane. „Das ist wahr“, sagte Mabel, „aber warum hilfst du mir, wo ich doch eine Engländerin bin?“ „Junitau nicht nur Tuscarora, auch Mädchen. Du Mädchen, ich Mädchen. Du warst gut zu mir auf Marsch, ganz anders als andere Bleichgesichter.“ Mabel weinte, aber jetzt nicht aus Furcht oder Schmerz, sondern aus Dankbarkeit. Nach einer Weile trocknete sie die Tränen und fragte, ob Junitau wisse, was die Indianer für den nächsten Tag planten. „Zu viel Feuerwasser jetzt“, sagte Junitau, „Pfeilspitze schlafen, Kapitän auf anderer Insel. Was willst du tun für Bleichgesichter?“ Mabel verstand nicht, da erklärte ihr die Indianerin, Mabel könne hinausgehen und die schlafenden Indianer erschlagen und skalpieren, keiner außer Pfeilspitze wäre in der Lage, sich zu wehren. Mabel schauderte bei diesen Worten, sie beteuerte, sie als weiße Frau könne keinen anderen Menschen töten, sie sei Christin und möchte niemals 362
gegen ihre Erziehung und Überzeugung handeln. Junitau nickte ernsthaft und erwiderte: „Rote Frau so, weiße Frau so. Aber wenn du fliehen, wenn du erschlagen roten Mann, ich laut rufen nach Pfeilspitze.“ „Ich verstehe dich, du darfst nicht anders handeln. Aber wenn in der Nacht mein Onkel kommt und um Einlaß bittet?“ Junitau lächelte, als wüßte sie mehr, als sie zu sagen bereit war. Im weiteren Gespräch flüchtete sie sich vielfach in zweideutige Formulierungen, manchmal tat sie so, als verstünde sie nicht, was Mabel meinte, in allem war sie darauf bedacht, Mabel zu schützen und doch der eigenen Partei nicht zu schaden. Ihr Mann hatte ihr seine Politik so erklärt: Er wünschte den Sieg der von ihm geführten Mingos über die Engländer, er wollte die Engländer vertreiben und sah dazu keine andere Möglichkeit, als französische Hilfe anzunehmenallerdings mochte er auch nicht jede Selbständigkeit gegenüber den Franzosen verlieren. Das war ein kompliziertes Spiel. Pfeilspitze hatte sich scheinbar den Engländern zur Verfügung gestellt, stand aber schon lange mit den Franzosen in Verbindung. Er hatte die Engländer verlassen, als er Pfadfinders Mißtrauen spürte, hatte die Abfahrt der „Scud“ beobachtet und war dem Kutter im Kanu gefolgt. Jasper Western hatte ihn gefangen, aber noch einmal war er entkommen; von französischer Seite war ihm die Lage des britischen Stützpunktes mitgeteilt worden, er hatte die Wasserstraße in dessen Umgebung ausgekundschaftet. Jetzt nahm er von den Franzosen Unterstützung an Waffen und Pulver an, aber sein Ziel war, auch sie aus diesem Gebiet hinauszumanövrieren. Diese Politik mußte Engländern und Franzosen gleichermaßen verlogen erscheinen, aber in ihr lag die 363
einzige Möglichkeit, indianischen Interessen zu dienen. „Jetzt schlafen“, sagte Junitau. „Wir genug geredet.“ Die beiden Frauen legten sich auf Deckenbündel, aber ihre Nerven waren noch so erregt, daß sie lange keine Ruhe fanden. Kühle Nachtluft strich durch die Scharten, es war so still auf der Insel, daß das Fächeln der Blätter und das Wispern des Schilfs zu hören waren. Erst als sich der Horizont rötete, schlief Mabel ein. Auch jetzt hatte Junitau die Augen noch nicht geschlossen.
3 Als Mabel erwachte, strömte Sonnenlicht durch die Schießscharten. Sofort stieg sie auf die Plattform und blickte nach allen Richtungen über die Insel. Wo der Korporal mit Cap und den Soldaten gekocht hatte, schwelte ein halb erloschenes Feuer, die Hütten ringsherum zeigten nicht mehr die geringsten Spuren der Plünderung. Mabel fuhr zusammen, als sie drei Männer in britischen Scharlachuniformen in nachlässiger Haltung im Gras sitzen sah, als plauderten sie miteinander, und ihre Hände zitterten, als ihr Blick auf die blutleeren Gesichter und die erloschenen Augen fiel. Junitau trat leise neben Mabel und zeigte zum Wasser hinunter, da saß ein weiterer Soldat an einen Baum gelehnt, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und hielt eine Angelrute in den Händen. Auch sein skalploser Kopf war mit einer Mütze bedeckt, auch ihm war sorgfältig das Blut aus dem Gesicht gewaschen worden. Mabel wurde fast ohnmächtig beim Anblick dieser Szene, die allen ihren Begriffen von Moral hohnsprach; sie schlug die Hände vors Gesicht, nachdem sie gesehen hatte, daß die Leiche der Soldatenfrau auf einen Besen gestützt in der Tür einer Hütte lehnte; lustig wehten die Zipfel des Kopftuchs im Wind. Mabel stöhnte: „Mein Gott, das übertrifft alles, was ich an Scheußlichkeit 364
für möglich gehalten habe!“ „Tuscarora sehr schlau“, erwiderte Junitau. „Soldaten mit Kahn kommen und andere Soldaten sehen, gehen in Falle.“ Nach diesen Worten stieg Junitau wieder hinunter, bereitete eine Mahlzeit aus geröstetem Mais und getrocknetem Fleisch, sie selbst aß mit Appetit und forderte Mabel immer wieder auf zuzulangen, aber jeder Bissen quoll Mabel im Mund, immer wieder kehrte das Bild vor ihr Auge zurück, wie Jennies wächserne Kinnlade niedergedrückt und ihr Mund zu einem starren Grinsen verzogen war. Mabel wagte sich nicht wieder an die Scharten. Junitau beobachtete, nach einer Stunde rief sie: „Salzwasser!“ Mabel fuhr auf. „Mein Onkel?“ Sie drängte Junitau von der Scharte weg, sie sah Cap, der von einigen Indianern umringt war, sie sah Leutnant Muir dicht dahinter im Gespräch mit dem französischen Offizier und fühlte tiefe Erleichterung, daß ihr Onkel lebte und der Kapitän offensichtlich wieder das Kommando führte. Pfeilspitze wies auf das Blockhaus, alle setzten sich in Bewegung. Mabel sah, daß Cap und Muir nicht gefesselt waren, nichts deutete auf eine Verwundung hin, freilich waren sie ohne Waffen. Zwanzig Schritt vor dem Blockhaus hielten sie an, noch einmal redeten der Offizier und Muir miteinander, dann rief Muir: „Miß Mabel, wir sind gefangen, und bestimmt haben Sie Mitleid mit uns. Wir sind vom Tode bedroht und müssen sterben, wenn Sie nicht die Tür öffnen. Legen Sie die Riegel zurück, sonst tragen Ihr Onkel und ich unsere Skalpe keine halbe Stunde mehr.“ Mabel hatte nicht den Eindruck, daß Muir sehr erschüttert war und wirklich den Tod fürchtete. Sie rief hinunter: „Onkel, soll ich tun, was der Leutnant verlangt?“ 365
„Ich bin glücklich, daß du lebst!“ rief Gap zurück. „Ich dachte schon, auch dich habe ein Beil getroffen wie die arme Frau, die die Indianer wie eine Vogelscheuche herausgeputzt haben. Nimm auf uns alte Knaben keine Rücksicht. Die Mingos werden uns abschlachten, wenn sie die Geduld verlieren, ob du ihnen das Blockhaus übergibst oder nicht. Ich weiß nicht, welche Taktik Pfeilspitze verfolgt, und der Franzose scheint keine Garantie für unsere Skalpe übernehmen zu wollen.“ Muir hatte Cap wütend angeblickt, jetzt rief er: „Hören Sie nicht auf das, was dieser Mann sagt, das Unglück der Gefangenschaft und die Angst haben ihm den Kopf verwirrt! Ich habe die Insel ehrenvoll übergeben, und Sie machen sich des Ungehorsams schuldig, wenn Sie nicht öffnen. Miß Dunham, nehmen Sie Vernunft an, als Soldatentochter wissen Sie, was es heißt, Disziplin zu halten!“ Junitau flüsterte: „Blockhaus gut, nicht hören auf Leutnant!“ Ohne diese Mahnung hätte Mabel vielleicht nachgegeben, jetzt überdachte sie noch einmal alles, was Muir und ihr Onkel gesagt hatten. Wieder rief Muir hinauf, er habe kapituliert, als Widerstand sinnlos geworden sei, jetzt stünde nicht nur sein Skalp, sondern auch die Ehre eines Offiziers der britischen Krone auf dem Spiel. Mabel könne sich noch durch Übergabe des Blockhauses retten, aber niemand vermöge für ihr Leben zu garantieren, wenn die Indianer gezwungen würden, das Haus zu stürmen. Junitau langte ein Gewehr von der Wand und schob es durch eine Scharte. Da rief Mabel hinaus, noch längst wären nicht alle Mittel der Verteidigung erschöpft. Als das Sonnenlicht auf der Mündung blinkte, stoben die Indianer zurück und gingen hinter Bäumen und 366
Büschen in Deckung. Der französische Offizier, der sah, daß das Gewehr nicht auf ihn gerichtet war und nicht zur Seite geschwenkt werden konnte, nahm, um seine Kaltblütigkeit zu beweisen, eine Prise Tabak, während Muir und Cap, die für sich nichts zu fürchten brauchten, ruhig stehenblieben. Muir rief: „Miß Dunham, seien Sie klug, reizen Sie unsere Feinde nicht unnötig!“ Mabel hatte einen Einfall, sie entgegnete: „Herr Leutnant, halten Sie die Verteidigung des Blockhauses auch dann für aussichtslos, wenn Pfadfinder sie leitet?“ „ Pfadfinder ist weit weg!“ „Er ist in der Nacht zurückgekehrt.“ „Dann soll er sprechen.“ Der Offizier wollte es nicht auf eine Probe ankommen lassen; als er den Namen des gefürchteten Scharfschützen hörte, stellte er sich hinter seine Gefangenen und befahl ihnen, zurückzugehen. Mabel sah, wie der Offizier und Pfeilspitze sich in sicherer Entfernung berieten, Gap und Muir wurden weggeführt, und die Mingos begannen an einer abgelegenen Stelle, die vom Wasser her nicht einzusehen war, ihr Essen zu kochen. Als um das Blockhaus herum alles ruhig war, stieg Mabel auf die Plattform, von wo sie die Indianer bei der Mahlzeit beobachten konnte. Auch Muir und Cap erhielten ihren Anteil und saßen am Feuer, als hätte niemals jemand davon gesprochen, sie würden binnen kürzester Zeit Leben und Skalp verlieren, wenn das Blockhaus nicht übergeben würde. Die Mittagsstunden verstrichen, auch am Nachmittag lag die Insel in tiefer Ruhe. Junitau bereitete auf gleiche Weise wie am Vortag eine Mahlzeit zu. Jetzt zwang sich Mabel zu essen, sie redete sich ein, sie hätte Grund zur Freude, denn ihr Onkel lebte; es war also nicht mehr alles 367
so trostlos wie vorher. Als Mabel ihren Napf geleert hatte, nickte ihr Junitau herzlich und anerkennend zu. „Junitau und Mabel Freundinnen“, sagte die Indianerin. Mabel streichelte ihre Hand und wiederholte: „Gute Freundinnen.“
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Man braucht den Spion... Wieder wurde es Nacht über der Insel. Die Indianer löschten alle Feuer bis auf das zwischen den Leichen der drei Musketiere; sie sperrten ihre Gefangenen in einer Hütte ein, zwei Krieger bewachten sie, die Messer locker im Gürtel. Pfeilspitze versammelte die wichtigsten Männer um sich und malte in düsteren Farben aus, was hätte geschehen können, wenn Pfadfinder, der v Sergeant und seine Musketiere sie in der vergangenen Nacht in ihrer Trunkenheit überrascht hätten. Noch einmal legte er seinen Plan dar, diesen Stützpunkt ohne Hilfe der Franzosen zu erobern und daraus das Recht abzuleiten, die Tausend Inseln als Fischgrund und Jagdgebiet zu behalten, er mahnte eindringlich, diesem Ziel alles unterzuordnen. „Ihr habt euch wie Kröten benommen“, tobte er, „nicht wie Krieger, vor denen der weiße Mann zittern soll. Muß nicht der Offizier geglaubt haben, er hätte jaulende Hunde vor sich?“ Pfeilspitze kontrollierte nach dieser Standpauke alle Posten, danach hockte er sich an der Anlegestelle ins Gras und starrte aufs Wasser. Er fühlte, daß es in seinen Plänen viele kritische Punkte gab; am schwersten würde er mit der Sprunghaftigkeit seiner Männer und mit ihrem Unvermögen zu kämpfen haben, eine Idee konsequent bis zum Ende zu verfolgen. Rasche Beute, ein mit geringen Mitteln zu erreichender scheinbarer Vorteil vermochten sie leicht von dem einmal beschlossenen Weg abzubringen. Pfeilspitze wußte: Wenn ihm alle bedingungslos gehorchten wie Junitau, wenn sie mit der gleichen Wendigkeit seine Befehle ausführten, brauchte ihm nicht bange zu sein. Um das Blockhaus breitete sich still die Nacht. Mabel hatte nach der Mahlzeit zwei Stunden geschlafen, sie 369
erwachte, als eine Maus über ihre Hand huschte. Dicht neben sich hörte sie die gleichmäßigen Atemzüge von Junitau. Jetzt fürchtete sich Mabel nicht, sie überlegte ohne Hast, was zu tun war. Vorerst würden, dessen war sie sicher, die Indianer das Blockhaus nicht angreifen, sondern die Rückkehr des Sergeanten und seiner Soldaten abwarten, es würde zum Kampf kommen, und wenn die herausgeputzten Leichen ihren Zweck erfüllten, begannen ihn die Mingos mit bedenklichem Übergewicht. Der gegenwärtige Schwebezustand hielt bestenfalls noch einen Tag lang an. Mabel glaubte nach reiflichem Abwägen, sie würde sicherer sein, wenn sie im Schutz der Nacht das Blockhaus verließ, ans Ufer schlich und auf eine andere Insel hinüberschwamm. Dabei könnte sie, so nahm sie an, nicht nur sich retten, sondern auch ihren Vater bei dessen Rückkehr warnen. Einiges sprach ihrer Meinung nach für eine Flucht, vorausgesetzt natürlich, daß sie gelang. Leise stand Mabel auf und schnürte ihre Mokassins fest. Sie wollte gerade hinabsteigen, als Junitau fragte: „Wohin gehen?“ „Ich will an der Tür lauschen.“ „Ich bei dir sein.“ Mabel erwiderte, es wäre besser, Junitau beobachtete vom Dach aus. Junitau hielt das für unnötig, aber sie fügte sich und stieg hinauf. Rasch war Mabel an der Tür und hob einen Riegel hoch, der zweite glitt ihr jedoch aus der Hand und polterte herunter. Sofort rief Junitau: „Was machen?“ Mabel antwortete nicht, schob hastig die beiden Riegel zur Seite und drückte den dritten hoch, sie hatte ihn fast aus seinen Klammern gehoben, als Junitau sie an den Armen packte. „Was tun?“ rief Junitau, „Blockhaus gut, nicht weglaufen!“ Die Mädchen rangen miteinander, Junitau versuchte, Mabel von der Tür wegzuziehen, Mabel 370
drückte noch einmal gegen den Riegel, und wahrscheinlich hätte sie ihn endgültig gelöst, wenn nicht von außen gegen die Tür gestoßen und dadurch der Riegel festgepreßt worden wäre. Schimpfend drang Junitau auf Mabel ein, vermutlich hätte sie in dem Handgemenge gesiegt, aber ein weiterer kräftiger Stoß warf den Riegel heraus. Die Tür wurde aufgeschoben, entsetzt fuhren die Mädchen zurück, eine Gestalt stand vor dem Nachthimmel, eine Männerstimme sagte: „Seid ihr toll?“ Im nächsten Augenblick war der Mann eingetreten, hatte die Tür wieder geschlossen und die Riegel an die alte Stelle gelegt, er drehte sich um und fragte mit leisem Lachen: „Benehmen sich so junge Damen?“ „Pfadfinder!“ rief Mabel, und wenn sie sich nicht besonnen hätte, welch delikaten Dinge zwischen ihnen eine Rolle spielten, wäre sie ihm um den Hals gefallen. „Oh, Pfadfinder, wie bin ich froh! Sagen Sie schnell, was ist mit Vater?“ „Keine Sorge, er ist gesund. Aber ich bin nicht weniger überrascht als Sie: Was macht Pfeilspitzes Frau hier?“ „Das wird nicht mit wenigen Worten zu erklären sein. Schnell, kommen Sie hinauf, dann werden wir alles besprechen.“ Eine Minute später saßen Mabel und Natty nebeneinander auf dem Deckenbündel. Zuerst berichtete Natty über Sergeant Dunhams Vorstoß; er war überaus erfolgreich verlaufen, denn Große Schlange entdeckte drei französische Boote und lockte sie in einen Hinterhalt. Nach kurzem Kampf flohen die Franzosen, ein Teil der Beute, darunter eine Kanone, wurde umgeladen, das übrige versenkt. „Die Irokesen in Oberkanada“, sagte Natty, „werden in diesem Herbst vergeblich auf europäische Waren warten, und Pulver und Blei werden 371
bei ihnen so knapp sein, daß sie uns in Ruhe lassen müssen. Wir haben keinen einzigen Mann verloren, nicht einem wurde auch nur die Haut gestreift. Major Lundie dürfte zufrieden sein.“ „Aber er wird sich empören, wenn er hört, was inzwischen auf der Insel geschehen ist.“ „Das ist allerdings schrecklich.“ Natty fügte hinzu, daß Mabels Vater ihn und Große Schlange in leichten Kanus vorausgeschickt hatte, er selbst wollte mit den schwerbeladenen Booten am nächsten Tag nachkommen. Große Schlange und er hätten verschiedene Wasserstraßen durchfahren, um zu sehen, ob der Rückweg frei wäre, seit dem Mittag hätte er den Delawaren nicht mehr gesehen. „Pfeilspitze ist ein ernst zu nehmender Gegner“, sagte Natty, „aber einer seiner Leute hat nicht sorgfältig genug gearbeitet, und so merkte ich rechtzeitig, daß etwas nicht stimmt. Der arme Kerl, der einen Angler vortäuschen soll, hielt seine Rute zu hoch. Die Männer vom fünfundfünfzigsten Regiment aber haben allesamt am Oswego fischen gelernt, wenn sie es nicht schon vorher konnten, und obendrein saß der Mann viel zu ruhig für einen, bei dem kein Fisch anbeißen will. Chingachgook und ich gehen nie unvorsichtig auf einen Posten zu. Ich bin einmal eine ganze Nacht vor einer Garnison liegengeblieben und habe mich nicht herangetraut, weil die Wachtstände verlegt worden waren. Weder Schlange noch ich lassen uns durch solche Tricks übertölpeln.“ „Glauben Sie, daß Vater überlistet werden kann?“ „Schlange und ich werden es verhindern.“ Mabel flüsterte, wobei sie den Blick gesenkt hielt: „Pfadfinder, Sie haben gesagt, daß Sie mich heiraten würden?“ „Ach, Mabel, fangen wir doch nicht wieder davon an!“ 372
„Ich schätze Sie und verehre Sie. Wenn Sie meinen Vater vor einem entsetzlichen Tode retten, werde ich Sie lieben können.“ Natty legte seine Hand auf ihren Arm. „Mabel, ich möchte die Lage, in der Sie sich befinden, nicht ausnutzen. Ich tue alles, um Ihrem Vater das Leben zu bewahren, genauso ließe er sich für mich in Stücke hauen. Das hat mit Liebe zwischen Ihnen und mir nichts zu tun.“ Ihm fiel ein, wie sich vor fast zwei Jahrzehnten ein Mädchen mit ebenso blauen Augen wie Mabel Dunham an ihn geklammert hatte, als sie nach schrecklichen Abenteuern allein gewesen war. Jetzt war Natty überzeugter denn je, daß er damals richtig gehandelt hatte, sich nicht an Judith Hutter zu binden, und wenn Gerüchte stimmten, die auf weiten Wegen zu ihm gedrungen waren, lebte Judith in England als Frau eines Offiziers namens Warley und spielte mit ihrer Schönheit und ihrem gewinnenden Wesen eine glanzvolle Rolle in der Gesellschaft. Aber das war eine Geschichte, die so fernab von den unmittelbaren Ereignissen lag, daß Natty nur flüchtig an sie dachte. Eine Weile sprachen Mabel und Natty nicht, dann fragte Natty, wie und warum Junitau ins Blockhaus gekommen sei, er hörte Mabel zu, stellte Zwischenfragen und folgerte nach einigem Nachdenken: „Ich weiß, daß Junitau ihrem Mann treu ergeben ist, und kann mir deshalb nicht vorstellen, daß sie aus freien Stücken und nur aus Liebe zu Ihnen hier herein geschlichen ist.“ „Junitau sagt, Pfeilspitze würde sie töten, wüßte er, daß sie hier ist.“ „Natürlich sagt sie das, aber deshalb muß es nicht stimmen. Pfeilspitze ist weitschauender als die meisten Häuptlinge. Er will das Haus für sich retten, vielleicht will er vor allem, daß Sie leben bleiben. Einige gefallene Soldaten belasten einen Friedensschluß kaum, 373
eine ermordete Frau hingegen kann jeden Kompromiß verhindern. Bisher hat sich Pfeilspitze bei seiner Schaukelpolitik nie den Rückweg zur anderen Partei verbaut, ich halte es für möglich, daß er sich eines Tages wieder mit den Briten verbünden möchte, um für die Indianer einen Vorteil gegenüber den Franzosen herauszuschlagen.“ „Von dieser Seite aus habe ich das alles noch nicht gesehen. Werden Sie wieder fortgehen und meinen Vater informieren?“ Natty antwortete, er halte es für besser, im Blockhaus zu bleiben. Im Kampf um die Insel könne es die entscheidende Rolle spielen, von seinem Dach aus wäre es möglich, Dunham durch Schüsse zu warnen. Natty fand, nun sei genug geredet, er bat Mabel, ihm etwas zu essen zu geben. Sie und Junitau brachten ihm Mais und Fleisch, mit tiefen Zügen trank er das kalte Wasser aus der Zisterne. Dabei überdachte er die Lage und versuchte einzugliedern, was er eben erfahren hatte; die Rolle von Pfeilspitze bereitete ihm dabei das größte Kopfzerbrechen. Er beobachtete Junitau bei ihren Handreichungen und wollte ihr in die Augen sehen, aber beharrlich wich sie seinen Blicken aus. Wieder mühte er sich, indem er sich in den Tuscarorahäuptling hineinzuversetzen suchte, herauszufinden, warum dieser seine Frau ins Blockhaus geschickt haben könnte, aber trotz allem Scharfsinn und aller Erfahrung mit Indianern gelangte er zu keinem unanfechtbaren Ergebnis. Noch einmal dachte er alles, was vom Aufbruch der „Scud“ an geschehen war, der Reihe nach durch; jetzt hielt er es für erwiesen, daß die Lage der Insel an die Franzosen verraten worden war. Aber wer war der Verräter? Sollte er sich doch in Jasper Western getäuscht haben? 374
Draußen prasselten Schüsse, Natty sprang auf und mühte sich, etwas durch die Schießscharten zu erkennen. An der Anlegestelle blitzte Mündungsfeuer, in das Geschrei von Indianern mischten sich englische Befehle und Flüche. Mabel drängte sich neben Natty an die Luke, sie atmete schwer und fragte aufgeregt, was sich da abgespielt haben könnte. Natty wußte es selbst nicht. Er ging einige Möglichkeiten durch, wurde aber durch ein Knarren im Kombinieren unterbrochen; es klang, als hätte sich die Tür in ihren Angeln bewegt. In größter Hast rutschte er die Leiter hinunter und war mit ein paar Sätzen an der Tür, er fand sie sperrangelweit offen, warf sie zu und legte die Riegelhölzer in ihre Klammern. Mit unterdrückter Stimme rief er nach Junitau, erhielt aber keine Antwort; die Indianerin war also geflohen. Er sagte: „Ich bin ganz froh, daß wir sie los sind. Zwar weiß wahrscheinlich schon in dieser Minute Pfeilspitze alles über unsere Situation, aber wenigstens müssen wir nicht mehr fürchten, daß Ihre liebe Freundin uns jeden Augenblick von hinten eine Schlinge um den Hals wirft.“ „Sie ist so gütig“, rief Mabel, „sie hat sich als wirkliche Freundin gezeigt.“ Nattys Zweifel an der Tuscarorin waren nicht beseitigt, er hielt es aber für unnötig, etwas zu erwidern. Draußen war wieder alles ruhig, die Stille wirkte geradezu lähmend. Eine Viertelstunde später hörte Natty Schlurfen im Gras, jemand stöhnte, leise und in regelmäßigen Abständen wurde gegen die Tür geklopft. Natty schlich hinunter, stellte zwei Gewehre bereit und öffnete die Klappe einer Schießscharte. Wieder hörte er ein Stöhnen, wieder wurde geklopft, da fragte er, wobei er seinen Kopf im Schütze der Wand hielt, wer da sei. Es war unverkennbar Dunhams Stimme, die antwortete: „Pfadfinder, Gott sei Dank, daß 375
du hier bist. Laß mich ein!“ „Bist du allein?“ „Ja, ich bin den Mingohunden entkommen.“ „Vater!“ rief Mabel und löste ohne alle Vorsicht die Riegel. Natty richtete sein Gewehr auf die Tür, Mabel nahm den letzten Riegel weg, gleich darauf drehte sich die Tür, und der schwere Körper des Sergeanten, der dagegengelehnt hatte, fiel herein. Mabel beugte sich sofort über ihren Vater, Natty drückte rasch die Tür zu. Die Uniform des Serganten war über und über mit Blut besudelt. In den folgenden Minuten zeigte Mabel Umsicht und große innere Stärke. Sie holte Licht, benetzte die trockenen Lippen ihres Vaters, half Pfadfinder, ein Lager herzurichten, und schob dem Verwundeten ihre Jacke als Kissen unter den Kopf. Natty knöpfte den Uniformrock seines Freundes auf und sah, daß die Kugel die Brust auf der rechten Seite durchschlagen hatte. Das Blut, das aus der Wunde und aus dem Mund floß, war hellrot, die Lunge war also getroffen, das bedeutete, daß Dunham unter diesen Umständen keine Lebenschance besaß. Natty legte trotzdem einen Verband an. Dunhams Augen folgten Mabel bei jeder Bewegung; einmal sagte er: „Meine Tochter, ich bin so froh, daß wenigstens du lebst.“ Als alles getan war, was der Erleichterung des Verwundeten dienen konnte, fragte Natty: „Ihr seid eher zurückgekehrt?“ Da Dunham nicht antwortete, fuhr Natty fort: „Wir hatten verabredet, daß ihr die Nacht auf einer anderen Insel verbringt und erst am Morgen hierher rudert. Ich hätte euch gewarnt.“ Von Husten und Schwächeanfällen unterbrochen, röchelte Dunham: „Der Wind stand günstig, und ich wollte nicht noch eine Nacht fern von Mabel zubringen.“ Natty hielt es nicht für richtig, Dunham in dieser 376
Situation Vorwürfe zu machen, aber er war sicher, daß er, wäre er an Dunhams Seite gewesen, ihm diese Eigenmächtigkeit ausgeredet haben würde. Im Umgang mit Indianern hatte er gelernt, daß nichts fragwürdiger war, als einen Plan ohne Kenntnis aller Partner abzuändern; die Pünktlichkeit der Indianer, die geradezu zur Manie ausartete, war ein Teil dieses Prinzips. Dunham flüsterte: „Wir sind in die Falle der Mingos getappt. Sie haben uns an Land gehen lassen, wir waren schon beim Ausladen, als sie uns angriffen. Sie fielen wie die Teufel über uns her. Es war mein Fehler, ich hätte...“ Natty unterbrach ihn: „Mach dir keine Vorwürfe, Alter. Denk lieber daran, mit welchem Schneid du auf die Franzosen losgegangen bist und ihnen ein Geschütz abgenommen hast. Allerdings wird nun diese Haubitze den Mingos in die Hände gefallen sein, aber das ist nicht zu ändern. Du hast einen großartigen Schlag geführt, und daß das Ende mißlungen ist, mache ich auch mir zum Vorwurf. Nun bleib still liegen, das Sprechen strengt dich nur unnötig an.“ Dunham schloß die Augen, sein Atem ging rasselnd. Mit großer Anstrengung richtete er sich halb auf, fiel aber sofort wieder zurück. Seine Stimme war kaum zu verstehen, als er sagte: „Gebt mir eure Hände, Mabel und Pfadfinder. Ihr versteht euch. Pfadfinder, du wirst meiner Tochter ein braver Mann sein.“ „Vater“, rief Mabel, „du wirst gesund werden, und im Fort ist Gelegenheit, über alles noch einmal zu reden.“ „Ich muß sterben“, murmelte Dunham. „Ich will wissen, daß Mabel in guten Händen ist. Pfadfinder, du versprichst mir, daß du sie nicht im Stich läßt?“ „Du bist mein Freund“, antwortete Natty, „und ich verspreche dir, daß ich auf sie achtgeben werde. Es wird 377
alles so gehen, wie es sein soll.“ „Gebt mir eure Hände“, wiederholte Dunham. Er legte Nattys Rechte auf die seiner Tochter und preßte seine fieberheiße Hand darüber. Er murmelte etwas über seine Frau, was nicht zu verstehen war, es schien, als spreche er zu ihr. „Ich bin schuld“, wiederholte er, „meine Freunde, meine Soldaten.“ Seine Hand bebte, er flüsterte: „Natty, du wirst so zu Mabel sein, wie ich zu ihrer Mutter war. Pfadfinder, ich sterbe, ich gebe dir alles, was ich besitze, ich setze mein ganzes Vertrauen in dich.“ Es schien, als bete er, schließlich sank er zurück und murmelte: „Mabel, gib mir zu trinken.“ Seine Lippen schlössen sich, es sah aus, als ruhe er in dem Bewußtsein, alles getan zu haben, was vor seinem Tod noch möglich war. Einmal flüsterte er: „Meine Kameraden sind tot, ich habe sie auf dem Gewissen.“ Mabel hielt ihrem sterbenden Vater die Hand und trocknete seine Stirn. Tränen liefen über ihr Gesicht, manchmal fragte sie leise, womit sie ihm helfen könne, aber er antwortete nicht. Natty stieg unterdessen hinauf, kontrollierte die Gewehre und horchte nach draußen. Nichts regte sich wie schon seit einer halben Stunde. Natty überprüfte die Klappen an den Schießscharten, hinter jede stellte er eine geladene Büchse. Mit seinem eigenen Gewehr befanden sich zwölf Feuerwaffen im Haus, Pulver und Kugeln waren reichlich vorhanden, er hoffte, damit die Mingos eine Zeitlang abwehren zu können. Das Schlurfen von Nattys Mokassins und das gelegentliche Aufsetzen eines Büchsenkolbens waren die einzigen Geräusche. So war ein leises Kratzen an der Tür bis zu Natty hinauf zu hören. Er stieg hinab, fragte flüsternd, wer draußen wäre, Gap nannte seinen Namen. Mabel öffnete; wie schon beim Kommen Dunhams hielt Natty sein 378
Gewehr schußbereit. „Mabel“, sagte Gap, „daß du nur lebst!“ „Und dir ist nichts geschehen, Onkel?“ „Noch steckt mein Zopf in seiner Aalhaut.“ Cap sah seinen Schwager auf einer Pritsche und verstummte, erschrocken trat er näher und begriff sofort, daß der Sergeant im Sterben lag. Nach einer Weile sagte Cap: „Ich habe dieses Ende befürchtet; ich dachte, keiner unserer Leute auf den Booten wäre mehr am Leben.“ Er beugte sich hinab und lauschte auf die kaum wahrnehmbaren Atemzüge des Verletzten, dann richtete er sich auf und sagte zu Pfadfinder: „Des einen Tod ist manchmal des anderen Leben. Als sich die Mingos auf Dunham und seine Männer stürzten, blieben unsere Bewacher nicht an ihrem Posten, sie dachten wohl, ihnen entginge sonst die Beute. Da bin ich geflohen.“ „Und der Leutnant?“ „Er ist mit mir auf und davon, aber unterwegs haben wir uns aus den Augen verloren.“ „Dann wird er sicherlich bald hier eintreffen, es sei denn, Pfeilspitze und seine Krieger haben ihn wieder eingefangen.“ Pfadfinder hielt es für richtig, das Gespräch fürs erste zu beenden, er bat Mabel, bei ihrem Vater zu bleiben, und forderte Gap auf, ins Obergeschoß hinaufzusteigen und mit ihm die Wache zu übernehmen. Sie schlichen von Scharte zu Scharte, manchmal flüsterten sie sich ihre Wahrnehmungen zu. Es schien ihnen, als raschelten Äste, einmal dröhnten Axtschläge. Als es wieder still war, sagte Gap: „Ich hatte genügend Zeit, mich während unserer Gefangenschaft mit Muir zu unterhalten. Er ist überzeugt, daß dieser Stützpunkt den Franzosen in die Hände gespielt worden ist.“ „Das ist auch meine Meinung. Und wen hält er für den 379
Verräter?“ „Diesen Süßwassermatrosen. Jasper hat, behauptet Muir, einen Fetzen von einer Flagge an einen Ast gebunden und dadurch Pfeilspitzes Bande den Weg gewiesen. Mabel hat das Stück Tuch gefunden.“ „Das ist noch kein Beweis gegen Jasper.“ „Aber ein Indiz.“ Ein Poltern dicht neben dem Blockhaus ließ sie verstummen. Sie lauschten angespannt und kamen zu dem Ergebnis, daß die Mingos Stämme und Äste heranschleppten. Nun, nachdem die Indianer die Bootsbesatzungen niedergemacht oder gefangen hatten, wollten sie offensichtlich das Blockhaus erobern und bereiteten alles vor, es in Brand zu stecken. Natty überlegte, ob es Sinn hatte, die Mingos durch Gewehrfeuer an ihrem Vorhaben zu hindern, aber er hätte ins Dunkel hinein schießen müssen und nur seine Munition verschwendet. Er flüsterte Gap zu, es befänden sich ungefähr fünf Tonnen Wasser in der Zisterne, außerdem sei von Chingachgook Hilfe zu erwarten; sobald es tagte, wären zwölf Gewehre wieder eine Macht, und so hätte eine Verteidigung durchaus ihren Sinn. Natty versuchte sich vorzustellen, was Pfeilspitzes Absichten wären, nachdem er die Bootsbesatzungen ausgeschaltet hatte und von Junitau unterrichtet worden war, über welche Mittel die Blockhausbesatzung verfügte. Nun mußte Pfeilspitze keine Rücksicht mehr darauf nehmen, daß Dunham nicht landen würde, wenn das Blockhaus verbrannt war, vielleicht waren die Mingos jetzt so sehr im Siegesrausch, daß er sie nicht mehr zu bändigen vermochte, vielleicht ging er nun selbst aufs Ganze. Nach einer Weile war Muirs Stimme zu hören. Der Leutnant rief herauf: „Pfadfinder, verstehen Sie mich? 380
Kommen Sie ohne Scheu an eine Öffnung. Sie haben nichts zu befürchten, solange Sie mit einem Offizier des fünfundfünfzigsten Regiments verhandeln.“ Natty zog seinen Kopf ein wenig zurück und antwortete, er fürchte sich durchaus nicht, solange er sein Gewehr in der Hand halte. „Hören Sie!“ rief Muir, „Sie sind ein Mann von Verstand und haben einen großen Namen entlang der Grenze. Sie haben es nicht nötig, ihn durch Tollkühnheit auf die Probe zu stellen. Ich rate Ihnen gut: Der Feind ist zu stark für uns, Sie sollten das Blockhaus in Ehren übergeben.“ „Dazu besteht kein Grund, Leutnant. Wasser und Proviant sind genügend vorhanden, wie Sie wissen, und unsere Gewehre sind geladen.“ „Nehmen Sie doch Vernunft an! Gap ist schon gefallen.“ Gap höhnte hinunter: „So hören Sie zum erstenmal in Ihrem Leben die Stimme eines Toten!“ Muir rief zurück: „Es freut mich, daß Sie leben, Cap, ich glaubte, Ihre Leiche läge neben der von Dunham.“ „Auch Dunham lebt und ist bei uns“, antwortete Natty, „so ist sozusagen die ganze Familie beieinander.“ „Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber das Feuer wird...“ Natty unterbrach: „Sagen Sie Ihren Auftraggebern, Leutnant, daß sie vor allem mit meinem Gewehr zu rechnen haben. Wer ein Reisigbündel an dieses Haus legt, ist ein toter Mann. Wir fürchten keine Brandpfeile, denn wir haben keine trockenen Schindeln auf dem Dach, sondern frische Stämme und nasse Rinde, und Wasser zum Löschen besitzen wir reichlich.“ „Aber die Indianer haben eine Kanone erbeutet.“ „Aber keine Granaten dazu! Mister Muir, wir haben genug geredet. Geben Sie acht, daß Sie nicht ins Feuer meines Gewehres kommen.“ Natty hörte etwas zischen und gab Cap ein Zeichen, aufs 381
Dach zu steigen. Rasch kletterte der Seemann hinauf und fand mehr als zehn brennende Pfeile, die in der Rinde steckten. Er hatte mit dem Löschen alle Hände voll zu tun und ging nur für Augenblicke in Deckung, als die Indianer eine Gewehrsalve abgaben. Natty und Cap waren schon durch zu viele Gefahren hindurchgegangen, als daß sie sich durch diesen Angriff hätten aus der Ruhe bringen lassen. Cap setzte seine Löscharbeiten fort, Natty spähte hinaus und suchte ein Ziel für seine Büchse. Dunham wurde aus seinen Fieberträumen gerissen, er flüsterte Kommandos wie auf einem Schlachtfeld, schließlich murmelte er: „Eine Granate war auf meinem Boot, eine Granate zu der Kanone.“ Mabel verstand ihren Vater erst beim drittenmal, gerade wollte sie Natty und ihren Onkel warnen, als das Haus durch eine Explosion erschüttert wurde. Holz splitterte, Deckenbalken stürzten herunter, die Leiter wurde gegen die Wand geschleudert. Natty entging nur mit knapper Not dem Tod, als er zwischen einige Fässer geworfen wurde, mühselig und mit schmerzenden Gliedern erhob er sich. Er sah, daß ein Loch in der Wand des ersten Stocks klaffte, hörte das Kriegsgeschrei der Indianer und erwartete, jeden Augenblick einen federgeschmückten Kopf in der Bresche auftauchen zu sehen. Mabel rief hinauf: „Pfadfinder, Vater sagt, die Indianer hätten eine Granate erbeutet.“ „Das haben wir eben zu spüren bekommen.“ Cap schrie herunter, das Dach halte noch, und er würde mit dem Feuer schon fertig werden. Mabel verließ den Platz neben ihrem Vater, tauchte Decken in Wasser und brachte sie hinauf, schöpfte Wasser aus der Zisterne und füllte die Ledereimer, die Cap über den aufflackernden Bränden leerte. In Wasserdampf und Rauch gehüllt sprang 382
Cap wie ein Teufel auf dem Dach umher, sein Zöpfchen wippte, seine Kleidung schwelte, Kugeln pfiffen an ihm vorbei. Natty beobachtete unterdessen durch die Schießscharten, wobei er sich bemühte, im toten Winkel zu bleiben, um nicht durch eine zufällig eindringende Kugel getroffen zu werden, er lauschte auf Axtschläge und Rascheln von Gestrüpp, und als ihm klarwurde, daß sich die Mingos an den Fuß des Blockhauses heranschlichen, rief er Cap herunter und bat ihn, Wasser und nasse Decken im ersten Stock bereitzustellen. Unmittelbar darauf zischte ein brennender Pfeil in den Scheiterhaufen an der Wand des Blockhauses, Natty sah im auflodernden Schein einen Mingo zurückspringen und streckte ihn nieder. Gleich darauf feuerte er aus einer Luke daneben mit einem anderen Gewehr noch einmal, worauf ein zweiter Feind zusammenbrach. Jetzt zogen sich die Indianer eilig zurück, und Cap schüttete so viel Wasser auf den Brand hinab, daß er verlöschte. Die Mingos hatten zunächst einmal ihre Kraft erschöpft. Ihre einzige Granate hatte das Blockhaus nicht zum Einsturz gebracht, die Feuerpfeile hatten sich als wirkungslos erwiesen, mit Büchsenkugeln war nichts zu erreichen, und das wenige trockene Holz, das es auf der Insel gab, war aufgebraucht. So tollkühn und erfindungsreich Indianer im allgemeinen waren, so brachten sie doch selten die Zähigkeit auf, etwas, was nicht auf Anhieb gelang, beharrlich zu verfolgen. Pfeilspitze strengte sich vergeblich an, eine systematische Belagerung zu organisieren, die die Verteidiger ermüdet haben müßte; entmutigt durch das Mißlingen ihres Angriffs und schockiert durch den Tod zweier Kameraden, zogen sich die Mingos zurück. So wurde es allmählich ruhig um das Blockhaus. Mabel setzte sich wieder an das 383
Lager ihres Vaters, horchte auf dessen Atemzüge, die immer leiser wurden; erschöpft durch Schmerz und Aufregungen schlief sie schließlich ein. Im Morgendämmern stiegen Natty und Gap aufs Dach und besahen die Schäden, die die Brandpfeile angerichtet hatten. Ein Teil der Rinde war angesengt, nur wenige Stücke, die zu stark geschwelt hatten, waren von Gap abgerissen und hinuntergeworfen worden. Immerhin war deutlich, daß das Dach keinen zweiten Angriff dieser Art aushaken würde, überdies blieb fraglich, ob das Wasser ein weiteres Mal zum Löschen reichte. Das Loch, das die Granate im ersten Stock gerissen hatte, war mannshoch und fast ebenso breit; wenn die Indianer Sturmleitern zimmerten, war es nicht ausgeschlossen, daß sie durch die Bresche eindrangen. Natty nahm sich vor, das Loch durch Balken und Fässer zu verrammeln, ein schwacher Punkt der Verteidigung blieb es dennoch. Der Wind blies heftig von Süden, an vielen Stellen glänzte das Wasser dunkelgrün, hier und da brachen sich schäumende Wellen. Bei den Hütten und am Hafen lagen einige Indianer, sie hatten sich in Decken gehüllt und schliefen. Einer strich unruhig zwischen ihnen auf und ab; trotz der Entfernung erkannte Natty, daß es Pfeilspitze war. „Segel! Ho!“ Gap zeigte aufgeregt über einige Inseln hinweg, dort war in der Tat ein Segel über einer Baumgruppe zu sehen. „Das kann nicht Jasper sein“, sagte Natty schwunglos. „Der Junge kommt bestimmt zu spät, und ich glaube nicht, daß wir uns noch einen Tag lang halten. Die Franzosen schicken ihren Kumpanen Hilfe.“ „Diesmal täuschst du dich. Was wir sehen, ist der obere Teil vom großen Segel der ,Scud’, das weniger als sonst gerefft ist. Außerdem hat Jasper eine Schale um die Gaffel 384
gelegt.“ „Von all dem verstehe ich nicht das geringste.“ „Ich bin überzeugt, daß es Jasper ist. Nur weiß ich nicht, wie wir verhindern, daß er den Mingos in die Arme läuft. Aber wenn er nun doch ein Verräter ist?“ „Das wird sich in wenigen Minuten erweisen.“ Die „Scud“ bog in einen anderen Wasserarm ein. Eben wurde ein neues Stück Leinwand aufgezogen, der Kutter lief mit schäumender Bugwelle vor dem Wind. Niemand war auf dem Verdeck zu sehen, selbst das Ruder schien verlassen. Gap machte Natty darauf aufmerksam, daß das Ruder aus einer Verschanzung heraus bedient werden konnte, und zeigte ihm die Schutzbretter, hinter denen sich vermutlich die Mannschaft verbarg. Es war also möglich, daß die „Scud“ das Fort an der Oswegomündung erreicht hatte und von Major Lundie sofort zurückgeschickt worden war. Als der Segler näher kam, sah Natty, daß ein Kanu auf dem Deck lag, und glaubte sicher zu sein, daß es Große Schlange gehörte. Folglich hatte der Delaware Jasper benachrichtigt, also wußte Jasper, was auf der Insel geschehen war, und näherte sich, um sie zurückzuerobern. Natty überlegte, wie er Jasper ein Zeichen geben könnte, er blickte zu den Mingos hinunter, die sich hastig hinter Schilf und Büschen versteckten. Der Wind blies jetzt noch kräftiger als vorher, er bog die kleineren Bäume und riß Massen von Blättern ab, die wie Vogelscharen von einer Insel zur anderen flogen. Der Kutter erreichte eben die Längsseite der Insel, wobei er sich hart auf die Seite legte. Als er nahe am Blockhaus vorbeisegelte, lehnten sich Natty und Gap über die Brüstung, da sprang Jasper hinter der Verschanzung auf und schwenkte seine Mütze. Natty und Cap winkten zurück, sie riefen und zeigten nach der Landungsstelle, wo die meisten Indianer in Deckung 385
lagen, wußten aber nicht, was Jasper von ihren Worten und Gesten verstand. Zwei Minuten lang verbargen Bäume und Gesträuch die Segel der „Scud“, nur manchmal leuchtete die Leinwand weiß durch die Blätter und ließ die Richtung ahnen, in der der Kutter fuhr. Kurze Zeit schien es, als wollte Jasper landen. Den beiden Beobachtern auf dem Dach blieb fast das Herz stehen, aber Jasper steuerte in einer harten Wendung nur so weit an das Ufer heran, daß seine Matrosen mit Enterhaken die beiden Boote packen konnten, die Dunham an Pfeilspitzes Krieger verloren hatte. Da die Mingos alle ihre Kanus an diesen Booten befestigt hatten, brachte Jasper durch dieses kühne und überaus erfolgreiche Manöver mit einem Schlag vieles von dem an sich, wodurch ihm seine Gegner gefährlich werden konnten. Zu spät erkannten die Mingos, daß sie überrumpelt worden waren, einige sprangen auf, um den Handstreich in letzter Minute zu verhindern, aber schon hatte Jasper gewendet, die Segel füllten sich wieder, und die „Scud“ zog ihre Beute hinter sich her ins freie Wasser hinaus. Ein Schuß knallte vom Dach des Blockhauses, ein Indianer, der sich zu weit vorgewagt hatte, stürzte ins Gras. Auch auf dem Kutter wurde geschossen, ein Mingo krümmte sich verwundet zusammen. Natty rief: „Das war Schlanges Gewehr, ich höre seinen Ton unter Hunderten heraus! Mein Freund ist auf dem Schiff, jetzt gebe ich für Pfeilspitze und seine Bande keinen Penny mehr.“ Jasper holte unterdessen zu einem weiteren Manöver aus. Sobald er sich von der Insel gelöst hatte, ließ er die eroberten Boote in den Wind treiben, wendete und steuerte in hartem Bogen auf den Hafen zu. Natty öffnete die Klappe zum Obergeschoß und rief hinunter: „Mabel, Sie sollten sehen, mit welchem Schwung Jasper angreift, er ist 386
wirklich ein Teufelskerl! Wir beide haben recht gehabt, als wir ihn in Schutz nahmen! Man sollte jeden verprügeln, der ihn einen Verräter genannt hat.“ Mabel rief hinauf, ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen, sie käme liebend gern aufs Dach, wage sich aber nicht von ihrem Vater fort. Ihre Stirn wurde heiß, so sehr freute sie sich, daß Rettung nahte. Sie besann sich, wie sie Jasper an einem Lagerfeuer zum erstenmal gesehen hatte, wie er ihr ein Sitzpolster zurechtgemacht und für sie die saftigsten Stücke aus einem Hirschbraten herausgeschnitten hatte, sie sah seine Augen, als er am Heck seines Seglers gestanden hatte, Wind im Haar, das Ruder in der Faust, sie wünschte inbrünstig, Jasper möge die kommenden Stunden heil überleben, und wurde sich voller Verwirrung bewußt, daß sie eben so heiß für seine Rettung wie für die von Pfadfinder betete. Natty erkannte jetzt, daß am Bug des Kutters eine Plane beiseite gezogen wurde, das Rohr der Haubitze, der einzigen schweren Waffe der „Scud“, wurde sichtbar. Gleich darauf zischte ein Kartätschenschauer in die Büsche. Wie ein Flug Wachteln wurden die Mingos aufgejagt, wieder fiel ein Krieger durch Nattys Büchse, gleich darauf hinkte ein anderer mit einer Kugel des Delawarenhäuptlings im Bein ins Schilf. Pfeilspitze dirigierte seine Männer in neue Feuerstellungen; er hoffte, gegen das Blockhaus ebenso wie gegen die Anlegestelle Front machen zu können, freilich durfte er, da ihm ein Geschütz gegenüberstand, keine Zusammenballung seiner Krieger mehr zulassen. Er war klug genug, seine Lage als äußerst ernst einzuschätzen, und ließ deshalb Leutnant Muir aus seinem Versteck holen; dieser und der französische Kapitän brauchten nur wenige Sätze 387
auszutauschen, um sich einig zu werden, daß Widerstand sinnlos war. So befestigte Muir einen weißen Lappen an einem Stock und trat auf die Wiese zwischen dem Blockhaus und der Anlegestelle hinaus. Er hoffte, nach beiden Seiten verstanden zu werden, als er rief: „Sie haben gesiegt, Pfadfinder, und Sie, Jasper Western ebenfalls! Kapitän Sanglier will Ihnen seine Friedensvorschläge unterbreiten. Sie werden einem tapferen Feind, der brav gekämpft hat und seinem König und seinem Land Ruhm erwerben wollte, einen ehrenvollen Rückzug nicht verweigern. Ich bin von Franzosen und Mingos bevollmächtigt, die Räumung der Insel, den Austausch der Gefangenen und die Rückgabe der Skalpe anzubieten.“ Die „Scud“ drehte bei, die Kanone wurde wieder geladen und ihr Rohr drohend auf den Landeplatz gerichtet. Hinter den Schutzbrettern lagen Große Schlange und die Matrosen und Soldaten des Seglers im Anschlag, während Jasper ein Kanu aufs Wasser setzte und zur Insel paddelte. Die Mingos hatten sich zurückgezogen, nur der Kapitän und Leutnant Muir standen auf dem freien Platz. Jasper legte grüßend die Hand ran die Mütze und ging an ihnen vorbei, er konnte es nicht über sich bringen, einem Mann die Hand zu geben, der unverwundet in Gefangenschaft geraten war und sich nun als Vermittler hergab. Jasper warnte Kapitän Sanglier, daß beim Bruch des Waffenstillstands die Kanone der „Scud“ sofort wieder feuern würde, und dann gebe es für niemanden mehr Erbarmen. Zu Natty rief er hinauf: „Was meinst du, Pfadfinder, sollen wir diese Landstreicher abziehen lassen? Aber was viel wichtiger ist: Wie geht es Miß Dunham?“ Natty antwortete, Mabel wäre gesund und pflege ihren verwundeten Vater. Gleich darauf tauchte Mabels Kopf 388
über der Brüstung auf. Mabel winkte Jasper zu und rief hinunter: „Ich bin hier, und ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Im Namen des Gottes, den wir alle anbeten, lassen Sie nicht zu, daß noch mehr Blut fließt! Es sind schon zu viele weiße und rote Männer auf dieser Insel gestorben, mein Vater ringt mit dem Tod - Pfadfinder und Jasper Western, wenn diese Männer da in Frieden gehen wollen, so laßt sie ziehen!“ Sie blickte auf Jasper, der breitbeinig vor dem Blockhaus stand, die Arme in die Hüften gestützt, das Haar wirr, das Hemd offen, sie sah das Weiß seiner Zähne, als er heraufrief, die Mingos hätten vor seiner Kanone einen heillosen Respekt und würden es nicht wagen, noch einmal zum Gewehr zu greifen. Mabel erinnerte sich, wie Jasper am Heck des Bootes auf dem Oswego und am Ruder der „Scud“ gestanden hatte, und wünschte eine Sekunde lang, alles, was sie mit ihm erlebt hatte, käme wieder, auch das, was voller Gefahren gewesen war. Natty sagte: „Was Sie raten, klingt vernünftig, Mabel, und ich wäre der letzte, der die Mingos wie Hasen abknallen möchte, aber wir dürfen Pfeilspitze keinen Augenblick unterschätzen und müssen vor dem Abzug eine Menge Dinge klären.“ Natty rief hinunter: „Leutnant Muir, sagen Sie uns genau, was Ihre Freunde, die Franzosen und Mingos und der Tuscarorahäuptling, vorzuschlagen haben!“ „Meine Freunde?“ antwortete Muir ärgerlich. „Sie wollen doch nicht die Feinde unseres Königs meine Freunde nennen, bloß weil ich durch ein unglückliches Schicksal in ihre Hände gefallen bin!“ „Aber Cap ist geflohen und Sie nicht, vielmehr haben Sie warme Worte für die Übergabe des Blockhauses gefunden, entsinnen Sie sich?“ 389
„Die Wilden setzten mir das Messer an die Kehle.“ „Lassen wir das“, rief Natty, „ich komme hinunter.“ Eine Minute später löste Natty die Riegel der Blockhaustür und trat, seine Büchse in der Hand, ins Freie. Er und Jasper verhandelten mit Kapitän Sanglier; wenn Muir etwas einwerfen wollte, schnitt ihm Natty das Wort ab. Sanglier erklärte sich einverstanden, daß sich die Mingos ohne Waffen an der Anlegestelle zusammenziehen sollten. Natty bestand darauf, daß sie nicht nur ihre Gewehre, sondern auch Messer und Tomahawks ablieferten; zu deutlich war ihm das Gemetzel von Fort William Henry in Erinnerung. Kapitän Sanglier sträubte sich gegen Nattys Forderung, da sie ein bezeichnendes Licht auf die Art seines Bündnisses mit den Mingos warf, schließlich aber fügte er sich. Über den Punkt, die gefangenen britischen Matrosen und Soldaten auszuliefern, gab es keine Debatte. Sechs Männer wurden aus einem Dickicht geführt, zwei von ihnen waren leicht verwundet. Jasper, Natty und Cap schüttelten ihnen überglücklich die Hände. Die Befreiten übernahmen den Schutz des Blockhauses, wenig später hatten sie das Dach besetzt und richteten ihre Gewehre auf die Indianer, die waffenlos am Ufer standen. Jetzt glaubte es Jasper verantworten zu können, an Bord des Kutters zurückzukehren, zur gegenüberliegenden Insel zu segeln und einen Teil der Kanus, die den Mingos gehörten, herüberzuschleppen. Kritische Minuten verstrichen, in denen Natty fürchtete, die Mingos würden, da die Kanone der „Scud“ sie nicht mehr in Schach hielt, verzweifelt versuchen, ihre Waffen zurückzuerobern, aber sie fügten sich ins Unvermeidliche. Schweigend stiegen sie in ihre Boote, Jasper schleppte sie eine Meile weit ins offene Wasser hinaus. Mühsam paddelten sie, geschlagen und waffenlos, ohne Beute und Ruhm auf das kanadische Ufer 390
zu, von dem sie gekommen waren. Nur Kapitän Sanglier, Pfeilspitze und Junitau waren zurückgeblieben. Natty untersuchte die erbeuteten Waffen und fand, daß einige Gewehre in gutem Zustand waren, bei den anderen zertrümmerte er die Schlösser. Danach trat er ins Blockhaus, beugte sich zu Dunham nieder und lauschte auf dessen Atem. Er hätte ihm gern gesagt, daß das Gefecht um die Insel durch Jaspers Eingreifen gewonnen war, daß die Überlebenden seiner Männer befreit und die Mingos vertrieben waren, aber der alte Soldat war dem Dasein schon so weit entrückt, daß jedes Wort zu spät gekommen wäre. Ein Gefühl der Zärtlichkeit wallte in Natty auf, als er Mabels tränennasses Gesicht sah, er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Sie sind nicht allein“, sagte er, „vergessen Sie das keine Sekunde.“ Als Natty nach einer Weile wieder aus dem Blockhaus trat, war Kapitän Sanglier dabei, eine Suppe aus Wildbret, Beeren und Krautern zu kochen. Aus seinem Gepäck nahm der Franzose Büchschen mit Gewürzen, sorgfältig schmeckte er ab, wortreich rühmte er die Pariser Küche und erbot sich, einen schwachen Abglanz davon in diesen Wäldern leuchten zu lassen. Bevor er zu Tisch bat, rief Leutnant Muir zu Natty hinüber, er möge mit ihm einen Kontrollgang um die Insel unternehmen, um zu sehen, ob sich nicht doch noch irgendwo ein Mingo verborgen halte. Nach einigen Schritten begann Muir, er müsse mit Natty unter vier Augen sprechen. „Sie haben sich großartig gehalten, Pfadfinder“, sagte er, „Ihr Ruf als Wegweiser, als Berater im Grenzkrieg und als Schütze ist nicht mehr zu übertreffen. Wenn Sie regelrechter Soldat wären, würde ich ohne Bedenken eine Beförderung befürworten. Sie haben jetzt guten Grund, sich auf Ihrem Ruhm 391
auszuruhen, Sie sollten sich seßhaft machen und heiraten. Miß Dunham wäre eine großartige Frau für Sie.“ Natty blickte Muir verwundert an. „Das ist ein überraschender Rat aus Ihrem Mund. Ich hielt Sie für meinen Nebenbuhler.“ „Ich leugne nicht, daß mir Mabel gefällt, aber ich weiche Ihnen nach allem, was Sie für das Mädchen getan haben. Wenn es Zweck hätte, würde ich gern ein Wort für Sie bei ihrem Vater einlegen.“ „Das ist nicht nötig, es war sein letzter Wunsch, daß Mabel und ich heiraten.“ „Dann ist ja alles in bester Ordnung“, rief Muir, „ein Stein fällt mir vom Herzen, daß wenigstens etwas an dieser Geschichte einen sicheren Ausgang nimmt. Noch etwas ist zwischen uns zu klären: Nachdem ich gefangen war, führte der Sergeant das Kommando, nach seiner Verwundung hielten Sie, obwohl, nicht Angehöriger der Armee, unsere Fahne hoch. Jetzt ist es wohl recht und billig, daß ich wieder den Befehl über unsere Kräfte auf dieser Insel übernehme, auch über die ,Scud’ und deren Besatzung.“ „Selbstverständlich. Warum fragen Sie?“ „Weil ich klare Verhältnisse wünsche. Gut, wir sind uns in allen Punkten einig und können umkehren. Ich bin gespannt, was der Franzose gekocht hat.“ Kapitän Sanglier war kein Mann, der etwas Verflossenem lange nachtrauerte. Er lebte seit dreißig Jahren in den Kolonien und war von eiserner Gesundheit und robuster Wesensart. Oft hatte er Indianerstämme auf Raubzügen angeführt, hatte Pläne entworfen, die das Interesse und die Fähigkeiten der Indianer für strategisches Denken übertrafen, später hatte er Ausschreitungen und Grausamkeiten zu mildern gesucht 392
und so dem von ihm selbst geschaffenen Übel die Spitze abgebogen. Er war ein Abenteurer, der für Geld und Beförderung diente, seine Unternehmungen waren von Blut, Mord und Raub begleitet, und der Name Kieselherz, den ihm die Indianer gegeben hatten, war kennzeichnend für die Meinung, die über ihn herrschte. Die Suppe war fertig, Sanglier kellte sie aus, Pfeilspitze und Junitau, Cap und Natty kosteten, Natty lobte sie, und Gap fügte hinzu, er habe an den Küsten aller Weltmeere unzählige Gerichte kennengelernt, aber diese Suppe gehöre zum Besten. Nach einigen Minuten sagte Sanglier: „Monsieur Pfadfinder, Sie sprechen Irokesisch?“ „Einigermaßen, es genügt für den Umgang mit ihnen, aber am liebsten sehe ich einen Mingo von hinten.“ „Sie haben meine besten Krieger getötet.“ „Weil sie meinen Freunden und mir ans Leben wollten. Ich bringe nie einen Menschen um, wenn ich auf friedliche Weise meinen Skalp behalten kann.“ Der Franzose blies auf seine Suppe und fuhr fort: „Wir Soldaten sollten nicht so viel über die Rothäute nachdenken. Wir haben unsere Pflicht gegenüber unseren Königshäusern zu erfüllen, und dabei ist es mir lieber, ein Wilder beißt ins Gras als einer unserer Männer. Ich weiß, daß Sie anderer Meinung sind.“ „Ob Weißer oder nicht, ich...“ „Vergessen Sie nicht, was Sie sagen wollten“, unterbrach der Franzose und zeigte zu den Hütten. Natty blickte auf und sah, daß eben zwei Soldaten Jasper die Hände auf dem Rücken banden. Sofort sprang Natty auf und schrie: „Seid ihr wahnsinnig geworden? Laßt sofort los!“ Muir trat Natty in den Weg. „Es geschieht auf meinen Befehl. Sie werden die Soldaten nicht an der Ausführung 393
einer Order hindern, die ihnen ein königlicher Offizier gegeben hat!“ „Eben hat Jasper Sie befreit, und jetzt lassen Sie ihn fesseln?“ „Pfadfinder“, erwiderte Muir kalt, „es riecht verdammt nach Insubordination, was Sie sich eben leisten! Waren wir nicht übereingekommen, daß ich wieder das Kommando übernehme? Also! Jasper hat es mit hinterlistigem Geschick verstanden, den Anschein zu erwecken, als diene er uns, aber sein Verrat ist erwiesen.“ „Nichts ist erwiesen“, beharrte Natty. „Jasper Western ist mein Freund, er ist ein mutiger Bursche, und ich lasse mich für ihn in Stücke hauen. Ich gehöre nicht der Armee an, Sie können mir nicht befehlen, Leutnant!“ „Pfadfinder, nehmen Sie doch Vernunft an! Miß Dunham fand ein Stück Segeltuch an einem Ast, es stammt vom Kutter, Jasper hat es abgeschnitten und an den Ast gebunden, um den Mingos die Stelle zu zeigen, an der sie ungefährdet landen können.“ „Das behaupten Sie! Leutnant, mein letztes Wort: Lassen Sie sofort Jasper los, oder es kommt zum Kampf. Chingachgook, Cap und die Matrosen stehen auf meiner Seite, und Sie dürften wissen, was mein Gewehr wert ist!“ Muir breitete beschwörend die Hände. „Aber was wollen Sie, der Kapitän und Pfeilspitze haben mir bestätigt, daß Jasper ihnen den Weg zum Stützpunkt verraten hat.“ Pfeilspitze sprang auf. Sein Gesicht war wutverzerrt, er hatte die Hände wie Krallen vorgestreckt, stieß Muir gegen die Brust und schrie: „Zu viel lügen! Wo meine Krieger? Wo Skalp, wo Beute? Zu viel lügen!“ Muir fuhr zurück und bückte sich nach einem Gewehr, aber blitzartig hatte Pfeilspitze das Messer aufgehoben, mit dem Sanglier das Wild zerteilt hatte, mit einem Schrei 394
stürzte er sich auf Muir, packte ihn mit der Linken an der Kehle, riß das Messer zu einer Finte hoch und stieß es ihm ins Herz. Wie eine Katze sprang er ins Dickicht, sofort setzte ihm der Delaware nach. Kapitän Sanglier war unbewegt am Feuer geblieben, mit stoischer Geste nahm er eine Prise Schnupftabak. Die Soldaten, die eben noch Jasper fesseln wollten, rührten keine Hand, als Natty die Stricke löste. Jasper rief zu dem Franzosen hinüber: „Sagen Sie selbst, bin ich ein Verräter?“ Der Kapitän steckte seine Tabaksdose ein und antwortete: „Solange Muir lebte, mußte ich sein Geheimnis wahren. Er stand seit Monaten in unserem Sold, er hat uns die Lage dieses Stützpunktes verraten, hat den Lappen an einen Ast gebunden und den anonymen Brief geschrieben, der einen anderen verdächtigen sollte. Ich möchte nicht, daß ein Unschuldiger seinetwegen leidet.“ Er winkte den Soldaten zu, die zu verblüfft waren, als daß sie sich von der Stelle gerührt hätten. „Es wäre mir lieb, würden Sie den Kadaver da wegschaffen. Man braucht den Spion, doch man verachtet ihn. Messieurs, wollen Sie bitte wieder Platz nehmen? Meine Suppe schmeckt nur halb so gut, wenn sie kalt ist.“ Er tauchte den Löffel ein und suchte einen zarten Fleischbrocken heraus. „Ein wenig Pfeffer“, mutmaßte er, nachdem er gekaut hatte, „ein wenig Pfeffer hat womöglich noch gefehlt.“
2 An diesem Abend starb Dunham. In seinen letzten Stunden wechselten sich Mabel, Natty und Jasper mit Wachen ab. Manchmal stand Cap an der Bahre seines Schwagers und murmelte seemännische Redensarten, die niemand verstand. Der Tod kam leise und beinahe 395
unmerklich, Dunham öffnete noch einmal die Augen, blickte Mabel und Natty an und nickte, als sei alles gut. Dann sank er für immer zurück. Natty führte Mabel ins Obergeschoß und bat sie, sich hinzulegen und zu schlafen, er sagte ihr, daß sie in den letzten Tagen Übermenschliches geleistet und erduldet hatte. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, er streichelte sie und dachte an sein Versprechen dem Sergeanten gegenüber, Mabel zu heiraten. Er fühlte sich beklommen dabei. Später ging er hinaus und traf Jasper, der die Posten auf dem Segler und am Ufer kontrollierte. Alles sei ruhig, berichtete Jasper, aber natürlich müsse man auf der Hut sein. Zusammen traten sie ans Feuer, an dem der Franzose saß, und baten ihn, während der Nacht einen Umkreis von zehn Schritt nicht zu verlassen. Der Kapitän nickte, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt. Während Jasper und Natty ihren Rundgang fortsetzten, sagte Natty: „Mir ist es schwer ums Herz. Wir haben gesiegt, aber deshalb bin ich weder stolz noch froh. Ein Verräter wurde gerichtet, ein anderer Mann hat Leben und Skalp verloren, dem ich ein besseres Schicksal gewünscht hätte, ich meine den Tuscarora. Pfeilspitze hat viel für seine roten Brüder riskiert, er hat uns gegen die Franzosen und die Franzosen gegen uns ausgespielt, er griff zu Listen, die uns zu schaffen gemacht haben, und dennoch wäre mir lieber, Chingachgook hätte ihn fliehen lassen. Mir ist manchmal vorgeworfen worden, ich wäre eine halbe Rothaut. Wenn daran etwas Wahres ist, dann das, daß ich mich besser in die Indianer hineinzuversetzen verstehe als jeder, der kaum aus den Küstenstädten oder den Forts herausgekommen ist. Und so stelle ich mir vor, Pfeilspitze und Chingachgook hätten Schulter an Schulter gekämpft, anstelle sich gegenseitig nach dem Leben zu trachten. 396
Wenn die Indianer eine Überlebenschance besitzen, dann nur, wenn sie einig sind. Aber wer führt die Stämme zusammen? Das ist eine Frage, Jasper, die ich nicht beantworten kann. Sosehr ich Schlange schätze, aber das Format dazu besitzt auch er nicht. Stärker als das Ende des Tuscarora liegt mir natürlich der Tod Dunhams auf der Seele. Ich habe meinen ältesten Freund verloren. Meinen Vater habe ich kaum gekannt, und meine Gefühle zu Dunham waren wie die zu einem Vater. Nicht das allein bedrückt mich, und es wäre doch genug. Bisher war ich auf mich gestellt; ob ich einmal von einer Mingokugel getroffen würde, war nur meine Sache. Auf einmal bin ich für jemanden verantwortlich, und vor allem kommt es mir immer wieder vor, als wäre ich für Mabel nicht gut genug.“ „Du bist der beste Kerl, Natty, den es an dieser Grenze gibt.“ „Hier bin ich zu brauchen, das stimmt. Aber wird nicht Mabel ganz andere Kenntnisse, beispielsweise die Fähigkeit zu angenehmer Unterhaltung, bei mir vermissen! Du weißt, ich kann nicht einmal lesen und schreiben.“ Beinahe hätte Jasper gesagt: Das läßt sich erlernen. Aber niemals würde Natty Bumppo lesen und schreiben lernen, er wußte es. Jasper stellte sich Pfadfinder und Mabel in einem Blockhaus vor, das Feuer brannte, schweigend starrte Pfadfinder hinein, für einen Abend war alles erzählt, was er erlebt hatte: eine Pirsch hinter einem Bären her über drei Tage, ein Unwetter, ein glücklicher Schuß, die Plackerei mit dem schweren Fell, das jetzt im Schuppen trocknete. Jasper fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, er sprach schnell von dem Zustand der Gewehre, die man den Indianern abgenommen hatte, und den Schlüssen, die daraus auf die Bewaffnung anderer 397
Stämme und den Nachschub durch die Franzosen zu ziehen wären. Natty hörte kaum zu. Er dachte an sich und an Mabel, am meisten an sich, aber immer im Vergleich zu Mabel und manchmal mit dem Bemühen, sich mit ihren Augen zu sehen. Es stimmte schon, noch konnte bei ihm vom Alter nicht die Rede sein, nur manchmal bemerkte er ein Stutzen bei jemandem, den er lange nicht gesehen hatte. Noch nahm er es mit Jüngeren auf, aber es war schon so weit, daß er jeden darauf prüfte, ob er jünger wäre, und Jasper beispielsweise war fünfzehn Jahre jünger als er. Mit seinen Zähnen war er nicht zufrieden, das Brusthaar wurde silbern, die Schläfen ergrauten, die Haut an den Wangen und über der Stirn war faltig, nicht schlaff, aber das konnte vom Wetter herrühren, von Frost und Hitze. Er leistete sogar mehr als früher, weil er durch seine Erfahrung rascher begriff, was nicht gelingen konnte. Was vielleicht am bedenklichsten war: Viele begegneten ihm mit Respekt, man ließ ihn sprechen, weil er älter war. Das bewahrte ihn vor dem Buhlen um die Jüngeren, es schützte ihn davor, dreist über etwas hinweggehen zu wollen, was zwischen ihm und den Jüngeren stand, und er ertappte sich dabei, ihnen von Männern und Geschehnissen zu erzählen, die sie nicht mehr gekannt hatten und die für sie ohne jedes Interesse waren. Manchmal hörten sie höflich zu, und bereits in dieser Höflichkeit lag ein Vorwurf. Alles dies würde sich verstärken, der Abstand zu Mabel würde größer werden, und in fünfzehn Jahren war sie das, was er ihr zu sein ersparen wollte, die noch immer junge Frau eines verbrauchten Mannes. Am Nachmittag wurde Dunham begraben. Natty hielt Mabels Arm, er mußte sie nicht stützen. Mabel hatte genug geweint, nach dem Schmerz war die große Verwunderung über sie gekommen, daß der für sie 398
wichtigste Mensch nicht mehr lebte und daß dennoch die Bäume sich im Wind bewegten, daß Vögel flogen, daß sie selbst durstig war. Gap hielt die Totenrede, er sagte, nichts Schlimmeres könnte einem Schiff passieren, als daß die Segel morsch würden und die Spanten faulten, daß es schließlich an einem Kai abgewrackt würde; ein Schiff müßte im Sturm untergehen, und Dunham hätte seinen Tod im Sturm gefunden wie ein rechtes Schiff, wie ein rechter Soldat. Die Soldaten wurden bestattet, die neben Dunham gefallen waren, die Soldatenfrau, die Indianer, unter ihnen Pfeilspitze; in hemmungslosem Schmerz warf sich Junitau über ihres Mannes Grab. Es war eine harte Arbeit, so viele Gruben auszuheben und so viele Leichen zusammenzutragen. Als sie getan war, als auch der Körper des Verräters Muir abseits von den anderen verscharrt war, vertrieb der Wind den süßlichen Verwesungsgeruch von der Insel, und Raben und Krähen räumten mißmutig krächzend den Platz, der für sie so verlockend gewesen war. Jasper befahl, alles, was von Wert war, vom Blockhaus und aus den Hütten auf die „Scud“ zu tragen. Matrosen und Soldaten schleppten sich mit Fässern und Kisten ab, der Plunder wurde im untersten Geschoß des Blockhauses auf einen Haufen geworfen. Die Arbeit ging schweigend vor sich, über allen lagen die Schrecken der letzten Tage, und jeder hatte es eilig fortzukommen. Ein letztes Mal wurde eine Suppe gekocht, Mabel half dabei, weil sie hoffte, so am schnellsten ihren Schmerz zu überwinden. Sanglier, obwohl der einzige Offizier auf der Insel, hielt es nicht für unter seiner Würde, ebenfalls Hand anzulegen, er würfelte Fleisch, briet es an, löschte sorgsam mit Wasser ab; dabei verbreitete er sich darüber, welches Festmahl er richten wollte, besuchten Pfadfinder und Mabel, Gap und 399
Jasper ihn nach einem hoffentlich baldigen Friedensschluß in seinem Fort drüben in Kanada. Während der folgenden Mahlzeit wurde wenig gesprochen, alle aßen mit großem Hunger, sogar Mabel. Nur Junitau, die vom Grab ihres Mannes weggezogen werden mußte, rührte kaum einen Bissen an. Später standen Natty und Jasper am Hafen. Jasper sagte, er warte bloß noch auf günstigen Wind, dann wolle er den Befehl zur Abfahrt geben. „Es ist alles vorbei, Jasper“, sagte Natty. „Der arme Dunham hat seine Laufbahn beendet, sein Los kann heute meines oder deines sein. Er hat mir die Obhut über sein Kind übertragen, und das ist ein feierliches Vermächtnis.“ „Ein Vermächtnis, das dir mancher gern abnehmen würde“, erwiderte Jasper mit bitterem Lächeln. „Ich habe oft gezweifelt, ob ich der richtige Mann für Mabel bin, und die letzten Ereignisse haben mich nicht sicherer gemacht. Manchmal habe ich gewünscht, Mabel würde dich und du würdest Mabel lieben, denn wahrscheinlich könntest du sie glücklicher machen als ich.“ Jasper zuckte wie unter einem körperlichen Schmerz zusammen. „Reden wir nicht mehr davon, Pfadfinder. Du wirst Mabel heiraten, alle anderen Erwägungen sind jetzt fehl am Platz. Was mich betrifft, so werde ich Caps Rat folgen und mit ihm zur See fahren.“ „Du, Jasper? Aber warum diese Seen, die Wälder und die Grenze verlassen? Du willst in den öden Städten an der Küste hausen? Ich glaube nicht, daß du dich dort wohl fühlst. Ich habe mir etwas anderes ausgemalt. Ich dachte, du könntest versuchen, eine Frau zu finden, Ich kenne ein schönes Plätzchen etwa fünfzig Meilen westlich der Garnison, dicht dabei ist ein ausgezeichneter Hafen für 400
deinen Kutter. Ich dachte, daß du dich dort mit deiner Frau niederläßt. Gute Jagdgründe liegen in der Nähe, und niemand wäre glücklicher als wir vier.“ „Du vergißt“, sagte Jasper mit gezwungenem Lächeln, „daß dazu die vierte Person fehlt.“ „Sie wird sich finden. Mir ist manchmal ganz sonderbar zumute. Früher schlief ich fest und traumlos, jetzt erscheint mir Mabel in jeder Nacht. Wenn ich das Gewehr hebe, um mir einen Braten zu schießen, blicken mich alle Tiere mit Mabels Augen an, oft höre ich im Gesang der Vögel ihre Stimme, und letzte Nacht träumte ich, ich stünde über dem Niagarafall und hielte Mabel in den Armen und wäre lieber mit ihr hinuntergestürzt, als von ihr zu lassen. Am schlimmsten war es, wenn ich träumte, Mabel ginge mir durch ein Unglück verloren.“ Jasper hatte mit verschlossenem Gesicht zugehört; ohne seine sonstige Zurückhaltung entgegnete er: „Vielleicht kannst du dir in diesen Augenblicken vorstellen, wie schrecklich es jemandem zumute sein muß, der von vornherein keine Hoffnung hat, daß sich seine Liebe erfüllt.“ Natty blickte seinen Freund überrascht an, stieß die Luft durch die Nase, packte Jasper am Arm, ließ wieder los und stöhnte: „Mein Gott, das kommt überraschend, das wirkt wie ein Schlag. Ich habe manchmal gehofft, Mabel würde einen Mann wie dich finden, besser gesagt, sie würde dich lieben und heiraten und nicht mich altes Eisen. Aber ich bin nicht aus Stein, Jasper, ich habe mich an dem Gedanken erwärmt, mit Mabel zu leben. Konntest du nicht eher ein Wort sagen?“ Er starrte zu Boden, als er fortfuhr: „Du konntest wohl nicht, sonst wärst du nicht der, der du bist.“ Jasper schluckte und antwortete mit gepreßter Stimme: 401
„Was hätte das genutzt? Ich liebe Mabel, aber Mabel liebt nicht mich, sondern dich. Da ist es für mich am klügsten, mit Gap an die Küste und auf den Ozean zu gehen. Ich könnte es nicht ertragen, in eurer Nähe zu leben, ich muß Mabel vergessen.“ „Ach, Junge, warum ist nur alles so kompliziert! Ich spreche gegen meine Interessen, das weiß ich, aber ist es wirklich so unmöglich, daß Mabel dich liebt? Der Sergeant hat ihr hart zugesetzt, Mabel ist ein folgsames Mädchen, und es ist schwer, den Bitten eines sterbenden Vaters zu widerstehen. Hast du Mabel je gesagt, daß du sie liebst?“ „Ich habe es nicht über die Lippen gebracht.“ Es war Natty, als ob er einen bitteren Geschmack im Munde spürte. „Glaub mir, es fällt mir schwer, für dich den Bittsteller bei Mabel zu machen. Ich will nicht, daß jemand davon erfährt, denn ich möchte nicht als ein Narr gelten, für den ich mich nicht halte.“ „Aber Pfadfinder, liebt sie dich denn nicht? Hat sie es dir nie gesagt?“ „Wenn ich ehrlich sein soll, nicht direkt, und nicht in solchen Worten. Einmal waren wir uns sogar einig, daß es nicht gut wäre, würden wir uns heiraten, aber Dunhams Wünsche auf dem Sterbebett haben alles wieder umgeworfen.“ Wind fächelte in den Blättern, das Knarren des Mastes auf dem Kutter zeigte, daß sich die Segel füllten. Zwei Soldaten gingen an Natty und Jasper vorbei und fragten, was mit dem Kochgerät geschehen sollte, das in der Hütte lag, in der die Soldatenfrau gewirtschaftet hatte; Jasper gab eine gleichgültige Antwort. Er sah Falten um Nattys Mundwinkel, die ihm bisher entgangen waren. Natty fragte: „Was meinst du, liebt sie dich?“ „Manchmal habe ich es gehofft, dann habe ich gefürchtet, ich bilde mir nur etwas ein. Vor allem wußte 402
ich natürlich, daß Dunham überall erzählte, ihr beide wäret verlobt. Manchmal gab es allerdings einen Blick, ein Lächeln, einen Händedruck, aber ich weiß zuwenig von Mädchen, um sicher zu sein.“ Natty war kaum zu verstehen, als er murmelte: „Wir müssen Mabel fragen.“
3 Am nächsten Morgen wehte der Wind gleichmäßig von Südosten. Natty trat in der Dämmerung ans Feuer und weckte Sanglier. Der Kapitän wickelte sich aus seinem Mantel und war rasch auf den Beinen. Zusammen gingen sie zum Strand, wo Gap neben einem Kanu wartete. Etwas Proviant, eine Decke und ein Paddel, sogar ein Gewehr, das den Mingos gehört hatte, und ein wenig Munition lagen darin. Natty teilte dem Franzosen mit, die Gefangenschaft sei zu Ende, der Wind stünde günstig, in einem Tag könne Sanglier das französische Ufer erreichen, auch wäre dafür gesorgt, daß er nicht wehrlos sei, sollte er mit seinen zwielichtigen Verbündeten zusammentreffen. Der Kapitän bedankte sich in wohlgesetzten Worten für die ausgezeichnete Behandlung während seiner Gefangenschaft, er lächelte, als er schloß: „Monsieur Pfadfinder, ich hoffe nicht, daß Sie jemals unser Gefangener sind. Sollte es dennoch geschehen, wird es mir ein Vergnügen sein, mich zu revanchieren!“ So schieden Sanglier und Natty Bumppo unter Äußerungen gegenseitiger Achtung, während jeder fühlte, daß ihm der andere ein Rätsel war. Natty kehrte zum Feuer zurück, er wies einen Soldaten an, noch einmal nachzulegen. Mabel trat eben aus einer Hütte; die Ruhe schien ihr gutgetan zu haben. „Junitau schläft noch“, sagte sie. „Ich bin froh darüber. Ich habe nie erlebt, daß sich eine 403
Indianerin durch den Tod ihres Mannes so verstört gezeigt hat, meist stehen diese Frauen dem Tod beherzter gegenüber als wir Weißen. Sie sollten sich ihrer annehmen.“ „Ich habe auch schon daran gedacht. Sie kann bei uns bleiben, solange sie will.“ Bei uns, dachte Natty. Bei uns, wiederholte er. Er sah zu, wie die Soldaten ihre Tornister schnürten und an Bord des Seglers gingen. „In einer Stunde sind wir nicht mehr hier“, sagte er. „Mabel, wir sollten vorher noch einmal zusammen sprechen.“ „Ist nicht alles gesagt?“ Natty faßte Mabels Hand und ging langsam mit ihr zur Anlegestelle hinunter. Jasper stand dort und schrie über das Hafenbecken hinweg, beide Boote an Deck zu ziehen. Er wandte sich Natty zu und sagte: „Der Delaware möchte ein Kanu hierbehalten. Welches von diesen beiden ist besser?“ „Vielleicht brauchen wir beide. Mabel“, sagte Natty, „Ihr Vater hat vor seinem Tod bestimmt, daß wir heiraten, wir sollen uns lieben, solange es dem Herrn gefällt.“ Mabel errötete, sie sagte: „Für alles, was Sie für meinen Vater und mich getan haben, möchte ich Sie ein Leben lang belohnen.“ „Ich finde, Mabel, Mann und Frau sollten durch ein kräftigeres Band aneinander geknüpft sein als durch Dankbarkeit.“ Mabels Wangen glühten; obwohl sie sich zu lächeln bemühte, schwankte ihre Stimme. „Pfadfinder, wäre es nicht besser, wir würden diese Unterhaltung aufschieben, bis wir allein sind?“ „Gerade weil Jasper hier ist, möchte ich fortfahren. Ihr Vater glaubte, ich wäre für Sie der geeignetste 404
Lebensgefährte, und obgleich ich, wie Sie wissen, Bedenken hatte, stimmte ich am Ende zu. Mabel, Sie waren einverstanden, nur fürchte ich, Sie hätten anders entschieden, wenn Sie gewußt hätten, was Jasper für Sie empfindet.“ Mabel erbleichte, ihre Brauen zuckten. Sie flüsterte: „Pfadfinder, dieses Gespräch schickt sich nicht. Vergessen Sie nicht, daß wir verlobt sind!“ „Noch ist Zeit, dieses Problem zu erörtern, vielleicht bietet sich uns jetzt die letzte Gelegenheit. Für mich sind diese Minuten schmerzlich, gewiß, aber womöglich wäre alles, was sonst nachkäme, noch schmerzlicher. Mabel, wenn wir jetzt nicht offen sind, könnte Ihr Leben auf eine Bahn geraten, aus der es nicht mehr herauszuführen ist, und vielleicht würden wir es sogar verderben.“ „Pfadfinder, warum diese grausame Prüfung! Jasper schweigt, er fühlt nichts für mich.“ „Mabel!“ rief Jasper. In diesem Wort lag soviel Sehnsucht, soviel Liebe, daß Mabel zusammenschrak, gleich darauf wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Dieses Gespräch ist eine harte Kur“, gestand Natty, „es fällt uns allen dreien schwer, und für mich ist noch nicht einmal das Ende erfreulich.“ Er versuchte zu lächeln, als er hinzufügte, er wäre nun einmal ein halber Wilder und ginge alle Dinge ohne Umschweife an, er mühte sich, die Linie, die er eingeschlagen hatte, bis zum Ende durchzuhalten, großzügig und überlegen zu sein, väterlich, freundschaftlich. Aber sein Lächeln erstarb, als ihm bewußt wurde, daß ihm nichts als Verzicht blieb und daß in seine vielfältigen Gefühle auch die Erleichterung hineingemischt war, einer Verantwortung zu entgehen. Er fragte sich, ob er tatsächlich Grund hatte, sich großmütig 405
vorzukommen, oder ob er zu sehr gewöhnt war, nur für sich selbst sorgen zu müssen, ob seine Furcht vor Verantwortung stärker war als das bittere Gefühl, daß ihm Jüngere ohne Scham zeigten, daß sie jünger waren. Mabel rief: „Pfadfinder, Sie sind mein bester Freund; wenn Mut, Treue und fester Charakter durch Liebe belohnt werden können, dann haben Sie sie verdient.“ „Und wenn es so wäre“, erwiderte Natty, „so gibt es doch Gefühle, die stärker sind. Mabel, ich frage Sie ganz direkt: Wenn Sie gewußt hätten, daß Jasper Sie ebenso liebt wie ich und vielleicht noch stärker, würden Sie dann Ihrem Vater versprochen haben, mich zu heiraten?“ Mabel hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt, sie war unfähig zu antworten. Durch die Finger hindurch warf sie einen Blick auf Jasper, sie hörte Nattys Worte, er und Jasper hätten miteinander über Jaspers Liebe zu ihr gesprochen, wie durch eine Wand hindurch. „Was wollen Sie von mir, Pfadfinder’’, fragte sie endlich, „habe ich nicht meinem armen Vater versprochen, ganz nach Ihren Wünschen zu handeln?“ „Dann wünsche ich, daß es so geht, wie es der natürliche Lauf der Welt ist. Ich bin ein Jäger, nie würde es meiner Familie, wie groß sie auch sein möge, an Wild fehlen. Ich kenne mehrere Sprachen und Dialekte, wie sie hier an der Grenze zu Hause sind, aber ich kann noch nicht einmal meinen Namen schreiben. Mabel, ich bin ein rauhes Produkt dieser Wälder, Sie haben mir vieles voraus, das ich niemals aufholen werde. Ich bin so viel älter, daß ich Ihr Vater sein könnte. Aber da steht ein junger Mann, aufgewachsen in den Kenntnissen und Ansichten wie Sie, in den Jahren zu Ihnen passend, und, was die Hauptsache ist: Er liebt Sie, und Sie lieben ihn. Muß ich noch mehr sagen?“ 406
„Pfadfinder, lieber großmütiger Pfadfinder!“ Mabel schlang die Arme um Nattys Hals und küßte ihn auf die Wange. Rasch wandte sie sich Jasper zu und fragte halb lachend, halb zornig: „Jasper, warum hast du niemals den Mund aufgemacht?“ Natty begriff, daß er jetzt überflüssig war. Er sah, wie Mabel und Jasper die Arme hoben und wieder sinken ließen, er hörte ihr glückliches, entrücktes Geflüster. Da nahm er sein Gewehr und ging zu den Kanus hinunter; nach einigen Schritten drehte er sich um und sah, daß Mabel und Jasper von seinem Weggehen noch nicht einmal Notiz nahmen, sie hielten sich umschlungen und küßten sich. Natty hockte sich neben einem Kanu nieder und ließ seinen Blick über die Rinde schweifen, er wollte sich zwingen, an nichts anderes als an dieses Boot zu denken, an dessen Gewicht, wenn er es zwischen Seen und Flüssen durch den Wald trug, an seine Balance auf einem stillen Wasser oder auf den Wellen des Oswego. Immer waren Kanus gewesen, seit er denken konnte, auf dem Silberglas und am Glenn, immer und überall. „Das Herz meines Bruders ist schwer?“ „Es ist schwer, Schlange.“ Vor Natty auf dem Wasser zitterte der Schatten des Häuptlings. „Es ist so schwer wie dein Herz, als Unkas fiel.“ „Damals waren die Herzen Chingachgooks und seines Freundes groß für einen Schmerz.“ „Es wird heute nicht anders sein. Wir besitzen zwei Kanus und zwei Gewehre, wir haben zwei Herzen, aber alles gehört uns beiden.“ „Mein Freund wird eine Squaw finden.“ „Das bezweifle ich, Schlange. Aber laß uns von etwas anderem reden. Wohin willst du?“ „Chingachgook kennt einen Fluß, an dem Biber wohnen, 407
in dem Fische schwimmen. Chingachgook besitzt genügend Skalpe.“ „Ich komme mit.“ Natty stand auf und ging zur Anlegestelle, wo Gap wartete. Er sagte ihm, Mabel und Jasper kämen bald, er selbst werde vorerst auf der Insel bleiben, das Blockhaus niederbrennen und mit Große Schlange zum Festland übersetzen. „Mein Auftrag ist erfüllt, Gap. Richte dem Major aus, es würde einige Wochen dauern, bis ich wieder zur Verfügung stehe. Und dir wünsche ich ein größeres Schiff als diesen Kutter und immer günstigen Wind.“ „Ich habe manchmal über euer bißchen Wasser und über euer Schiffchen gespottet. Aber weißt du, daß ich auf dem Oswego gräßliche Angst hatte?“ „Natürlich weiß ich das, Gap. Für einen Seemann hast du dich in unseren Wäldern famos gehalten.“ Sie gaben sich die Hand, dann umrundete Natty die Insel, hockte am Ufer und blickte über stille Buchten, schaute zu, wie Wolken in unablässigen Ketten über einen zartblauen Himmel trieben. Zwei Stunden später stieg er auf das Blockhaus hinauf, da war das Segel der „Scud“ nur noch eine blasse Ahnung im Sonnenlicht. Er wollte an etwas denken, was nicht mit Mabel und Jasper und dem Wunsch des alten Dunham und seiner langsam gewachsenen Liebe zu Mabel zusammenhing, aber es war vergeblich. Alles auf dieser Insel erinnerte ihn daran, dieses Blockhaus und die Pritsche im Erdgeschoß, auf der Dunham gestorben war, die Hütte da unten und das Feuer daneben, das noch immer schwelte, und die Enge zwischen zwei Inseln weit drüben, in der er das Segel der „Scud“ zum letztenmal gesehen hatte. Natty stieg hinunter, unten wartete Große Schlange und sagte: „Das Herz meines Freundes ist angefüllt mit dem 408
Lächeln eines Mädchens. Das Herz wird leicht werden in den Wäldern.“ „Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man.“ Natty besann sich, wie er fünfzehn Jahre nach den heißen Tagen am Silberglas wieder an dessen Ufer gekommen war. Große Schlange und Unkas, ein junges Bürschchen, waren bei ihm gewesen. Wah-ta-Wah lebte damals schon nicht mehr. Sie erreichten den See, als die Sonne unterging, alles schien unverändert, der Fluß rauschte noch unter dem Gewölbe der Bäume, der Fels, von dem Große Schlange auf die Arche gesprungen war, ragte aus dem Wasser, die Berge standen in ihrem dunklen, reichen, geheimnisvollen Gewand. Die drei Männer paddelten an allen Vorsprüngen vorbei, Große Schlange zeigte seinem Sohn die Stelle, an der sich die Mingos gelagert hatten, und die Landspitze, von der aus es ihm gelungen war, seine Braut zu befreien. Sie trieben ihr Kanu nach der Sandbank, über der noch Reste des Kastells aus dem Wasser ragten; längst hatten Winterstürme das Dach heruntergefegt, Fäulnis hatte die Stämme angefressen. Schließlich fanden sie an der östlichen Küste die Reste der Arche, schwärzliche Trümmer lagen schräg im Wasser. Die Bänke waren noch erkennbar, vergeblich suchte Natty nach einer Spur, daß ein Mädchen namens Judith Hutter hier gelebt hatte. Später stand Natty am Ufer und blickte über den See wie damals, als er ihn zum erstenmal gesehen hatte, er stützte sich dabei auf das Gewehr, das ihm von Judith geschenkt worden war. Jetzt, nachdem wieder etliche Sommer ins Land gegangen waren, sagte Natty: „Du hast recht, Schlange, die Jahre machen das Vergessen leicht. Aber jedes Jahr hat so viele Tage.“ Er trat zum Feuer und zog ein Scheit heraus, trug es zum Blockhaus hinüber und warf es auf das 409
Stroh, auf dem Dunham gestorben war. Minuten später prasselten Flammen aus allen Scharten. Am Abend stiegen Natty und Große Schlange in ihre Kanus. Hinter ihnen zerstoben die Rauchfahnen im Wind.
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Viertes Buch Die Ansiedler
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Weihnachten in Templeton Schon um das Jahr 1600 waren Holländer in das Gebiet um den Otsegosee eingedrungen. Aus ihm strömte der Susquehanna durch unermeßliche Wälder, in denen Delawaren jagten; mit ihnen führten die Holländer lang anhaltenden, zähen Kleinkrieg, bis die Engländer die Ländereien für ihre Krone eroberten. Die Delawaren wurden von den Irokesen besiegt, viele von ihnen zogen sich nach Westen bis zum Verdigrifluß zurück. Das von den Engländern unterworfene Land wurde von König Karl II. an dessen Bruder, den Herzog von York, übergeben und von diesem New York genannt. Die Londoner Regierung verstand es jedoch nicht, ihre Wünsche mit den Interessen der Siedler in Einklang zu bringen. So entbrannte 1775 der Krieg zwischen England und seiner Kolonie, Washington führte die Rebellen über viele Schlachten hinweg zum Sieg, bis endlich 1783 der Friede zustande kam, der den Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit brachte. Immer neue Wellen von Kolonisten brandeten an Amerikas Atlantikküste, unzählige Baumriesen fielen unter ihren Äxten, um Platz für Getreidefelder zu gewinnen, und immer wieder wurden die Ureinwohner gezwungen, ihre Wigwams und Jagdgründe zu verlassen und nach Westen auszuweichen. Vor dem Unabhängigkeitskrieg war nur ein Zehntel des Staates New York bewohnt, die Ortschaften schmiegten sich in schmalen Gürteln an die Ufer von Hudson und Mohawk. Gegen Ende des Jahrhunderts aber hatte sich die Bevölkerung über fünf Breiten- und sieben Längengrade ausgedehnt und betrug anderthalb Millionen. Unermüdlich arbeiteten die Kolonisten auf ihren Ländereien und in den immer stattlicher werdenden Städten und Siedlungen und 412
mußten nicht fürchten, daß der Boden für sie und die kommende Generation knapp werden könnte. Am Weihnachtsabend des Jahres 1793 glitt ein Sleigh auf eine der vor kurzem gegründeten Niederlassungen des kaum erschlossenen Landstrichs zu. Sleigh und Schlitten waren nicht ganz dasselbe; die Kufen der Sleighs waren mit Eisen beschlagen, es gab einspännige und zweispännige Sleighs, die komfortableren besaßen gepolsterte Sitze, Lehnen und Planen. Der Tag war sonnig gewesen, nur einige große Wolken, die in dem vom Schnee reflektierten Licht strahlend weiß erschienen, segelten über den fahlen Himmel. Der Weg krümmte sich an der Flanke eines Berges entlang, an der Talseite schützten ihn Baumstämme, bergwärts waren hier und da Felsen weggesprengt worden, um Platz zu schaffen. Alles war mit pulvrigem Schnee bedeckt, eine einzige Spur kennzeichnete den Weg. Die Luft glitzerte vor Kälte, auf dem Fell der Pferde vor dem Sleigh schimmerte Reif, vor ihren Nüstern stiegen Dampfwolken auf. Das Pferdegeschirr war mit Platten und Schnallen aus Messing verziert, die in den letzten Sonnenstrahlen, die schräg durch die Wipfel drangen, wie Gold glänzten. Es war so kalt, daß das Gesicht des Negers, der die Zügel hielt, graufleckig geworden war und ihm Tränen in den Augen standen, aber die Rufe, mit denen er die Pferde antrieb, klangen fröhlich. Der Sleigh war so geräumig und bequem, daß er eine ganze Familie hätte aufnehmen können, jetzt aber saßen nur zwei Personen in ihm, die sich mit Büffelhäuten zugedeckt hatten, ein etwa fünfundvierzigj ähriger Mann, der Richter Marmaduke Temple, und seine achtzehnjährige Tochter Elisabeth. Temple war ein stattlicher Mann, der einen verschwenderisch mit Pelz verzierten Mantel trug, seine 413
Marderfellmütze endete in einer schwarzen Quaste aus dem Schwanz des Tieres, die Ohrenklappen hatte er heruntergeschlagen und unter dem Kinn zusammengebunden. Seine Tochter trug einen Kamelottmantel, der sie förmlich begrub; eine ungeheure daunengefütterte Kapuze hüllte ihren Kopf fast ganz ein, nur die Nase und ihre lebhaften dunklen Augen waren zu sehen. Die beiden Reisenden schwiegen, zu sehr waren sie mit ihren Gedanken beschäftigt. Temple dachte an seine Frau, die die einzige Tochter vor vier Jahren, als diese nach New York in ein Pensionat gebracht worden war, zum letztenmal an sich gedrückt hatte; wenige Monate später war sie gestorben. Elisabeth war viel zu sehr damit beschäftigt, die wechselnden Eindrücke der Landschaft zu genießen, als daß sie die großartige Stille durch ein Gespräch unterbrochen hätte. Den Berg, den sie hinauffuhren, bedeckten ungeheure Rottannen, die erst sechzig Fuß über dem Boden ihre Zweige ausbreiteten und oft doppelt so hoch waren. Durch Schneisen und über Kahlschläge hinweg blickte Elisabeth auf immer wieder wechselnde Ausschnitte der Landschaft, auf fernes Hügelland und die Berge jenseits des Tales, dann wieder in Senken und auf eine Lichtung hinunter, auf der eine neue Siedlung wuchs. Die dunklen Stämme erhoben sich aus dem blendenden Schnee wie regelmäßig gemeißelte Säulen, bis hoch oben die Zweige mit ihren immergrünen Nadeln eine Decke bildeten, die in schwermütigem Kontrast zur erstorbenen Erde stand. Auf dem Fahrweg war kein Wind spürbar, aber die Wipfel wiegten sich, und manchmal knarrte ein Stamm mit einem klagenden Ton, der durchaus zu dieser melancholischen Szene paßte. Der Sleigh glitt um den Felsen herum und querte eine Schneefläche, als das Bellen eines Hundes aus der Tiefe 414
des Forstes herüberklang. Temple befahl dem Kutscher anzuhalten. „Das ist der alte Hektor“, sagte er zu seiner Tochter, „ich kenne sein Bellen unter zehntausend Hunden heraus. Lederstrumpf hat seinen besten Hund an diesem schönen Tag in den Wald geführt, und bestimmt ist er hinter einem Stück Wild her.“ Elisabeth rief erfreut: „Der alte Lederstrumpf lebt noch? Und John auch?“ „Ja, bei den beiden hat sich herzlich wenig geändert. Natty trägt wie eh und je Ledergamaschen, die ihm seinen Spitznamen eingetragen haben, und seine Hütte hat, glaub ich, seit zehn Jahren kein neues Dach bekommen. Ein großer Jäger vor dem Herrn ist er noch immer.“ Während dieser Worte schälte sich Temple aus den Decken, sprang aus dem Sleigh und zog aus dem Wust von Gepäckstücken, die hinter der Sitzbank gestapelt waren, eine doppelläufige Vogelflinte heraus. Nachdem er das Schloß überprüft hatte, eilte er auf dem Weg vorwärts und hatte gerade einige Schritt zurückgelegt, als es im Gehölz prasselte und ein Hirsch heraussprang. Temple riß die Büchse hoch und feuerte, das Tier aber lief weiter. Temple schwenkte das Gewehr und schoß erneut, doch gleich darauf tauchte das Wild zwischen den Sträuchern auf der anderen Seite unter. Temple war nicht sicher, ob er auch ein zweites Mal gefehlt hatte, er wollte schon zum Sleigh zurückkehren, als der Hirsch wieder, diesmal in umgekehrter Richtung, auf die freie Fläche hinaussprang. Jetzt fiel ein dritter Schuß, der ungleich schärfer klang als die ersten beiden, der Hirsch schnellte in die Höhe und stürzte in den Schnee, wo er sich überschlug und reglos liegenblieb. Ein lautes Hallo scholl aus dem Wald heraus; gleich darauf traten zwei Männer zwischen den Tannenstämmen hervor. Temple ging auf das Tier zu, 415
wobei er rief: „Natty, wenn ich gewußt hätte, daß Sie im Hinterhalt liegen, hätte ich mein Pulver sparen können. Aber das Bellen des alten Hektor war zu verlockend, da konnte ich nicht tatenlos im Sleigh sitzenbleiben. Und doch bin ich nicht überzeugt, daß es keine meiner Kugeln war, die den Hirsch niederwarf.“ „Ausgeschlossen, Richter“, erwiderte Natty, während er sich zu dem Tier beugte. „Sie haben Ihr Pulver nur abgebrannt, um sich die Nase zu wärmen. Glauben Sie wirklich, Sie könnten ein solch kräftiges Stück mit Ihrer Vogelflinte erlegen? Im Moor gibt es genug Fasanen, und Schneehühner kreisen so dicht um Ihr Haus, daß Sie sie mit Brot füttern können. Das sind Ziele für Ihre Flinte. Wenn Sie aber Hirschfleisch oder Bärenschinken essen wollen, müssen Sie eine lange Büchse nehmen und die Kugel mit gefetteten Pfropfen festdrücken.“ Der Richter verlor seine gute Laune nicht; er erwiderte: „Mein Gewehr ist ausgezeichnet, und ich habe schon einmal einen Hirsch damit geschossen. Vergessen Sie nicht, daß ich einen Lauf mit Hirschposten geladen hatte, den anderen allerdings nur mit Schrot.“ Temple bückte sich ebenfalls und wies Natty auf die Einschüsse bin: Eine Kugel hatte am Hals, die andere ins Herz getroffen. „Vielleicht ist es gleichgültig“, sagte Natty leichthin, „wer den Hirsch zur Strecke gebracht hat, wichtig ist, wer ihn ißt.“ Er zog sein Messer und schnitt dem Hirsch die Gurgel durch, dabei fügte er hinzu: „Es trafen zwei Kugeln, das steht fest, wer aber hat je ein so aufgefetztes Loch wie das am Hals durch ein nichtgezogenes Gewehr gesehen? Sie werden zugeben, daß das Tier erst durch den letzten Schuß getötet wurde, und der kam aus einer Hand, die sicherer und jünger ist als die von Ihnen oder mir. Ich bin arm, ich kann dennoch ohne diese Beute auskommen, 416
aber in unserem freien Land möchte ich doch nicht gern auf etwas verzichten, das mir zusteht. Leider scheint hier wie auf dem alten Kontinent Gewalt vor Recht zu gehen.“ Temple erwiderte: „Nein, Natty, ich wehre mich nur der Ehre willen. Mit einigen Dollars wäre dieses Wild bezahlt, doch das ist für mich keine Entschädigung für die Ehre, einen Hirschschwanz an der Mütze zu tragen.“ „Ach ja, Richter, das Wild wird immer rarer, je weiter sich die Siedlungen ausdehnen. Es gab ein Jahr, in dem ich dreizehn Hirsche, die Kälber nicht mitgerechnet, aus der Tür meiner Hütte schoß! Wenn ich Appetit auf Bärenkeule hatte, brauchte ich nur eine Nacht aufzubleiben, um beim Mondschein einen stattlichen Burschen durch die Spalten meiner Wände zu erlegen. Meinem Hektor haben die Wölfe beinahe die Kehle zerbissen, als er sie hindern wollte, meinen Rauchfang zu plündern. Das war die gute alte Zeit, an die ein Jäger wie ich mit Sehnsucht zurückdenkt.“ Inzwischen hatte der Neger den Sleigh nachgeführt. Elisabeth betrachtete neugierig die beiden Männer, die neben ihrem Vater standen und von denen bisher nur Natty Bumppo das Wort geführt hatte. Er war groß und mager, unter einer abgetragenen Fuchsmütze zottelten dünne rötliche Haare heraus. Sein Gesicht war abgezehrt und faltig, deutete aber auf Gesundheit und Ausdauer hin; Kälte, Wind und Wetter hatten die Haut gleichmäßig gebräunt und gerötet, graue Augen lagen tief unter buschigen, eisfarbenen Brauen. Der Rock aus Hirschleder wurde durch einen wollenen Gürtel zusammengehalten, an den Füßen trug Natty Mokassins aus Hirschhäuten, die nach indianischer Sitte mit Stachelschweinstacheln verziert waren; auch seine Hosen und Gamaschen waren aus weichem, sorgsam zubereitetem Hirschleder genäht. 417
An Nattys Schulter hing ein Ochsenhorn, das so dünn ausgeschabt war, daß man das Pulver darin sah. Vor der Brust trug er eine Jagdtasche, aus ihr nahm er ein Pulvermaß heraus und machte sich daran, seine Büchse wieder zu laden. Der Mann, der neben Natty stand, war wesentlich jünger, er war in einen Wollmantel gekleidet und hielt sich bescheiden im Hintergrund, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Ehe Elisabeth ihn genauer betrachten konnte, wurde ihr Blick wieder zu ihrem Vater gezogen, der eben wiederholte, er nähme die Ehre, den Hirsch erlegt zu haben, durchaus für sich in Anspruch, auch der Schuß durch den Hals wäre tödlich gewesen, und es hätte des Schusses ins Herz danach nicht mehr bedurft. Temple wandte sich jetzt an Nattys Begleiter und rief: „Was sagen Sie dazu, mein Freund? Wollen wir losen und einen Dollar werfen?“ Der junge Mann trat näher und antwortete gleichmütig: „Ich habe den Hirsch geschossen.“ „Zwei gegen einen“, erwiderte der Richter und breitete in gespielter Ohnmacht die Arme. „Mein Kutscher ist Sklave und darf deshalb nicht zeugen, meine Tochter ist minderjährig, so muß ich gute Miene machen. Wollen Sie mir die Beute nicht wenigstens verkaufen? Sind drei Dollar genug für diesen Hirsch?“ Der junge Mann entgegnete: „Erst wollen wir die Rechtslage klären. Es war so: Lederstrumpf und ich schössen gleichzeitig, daß es wie ein einziger Schuß klang, seine Kugel traf den Hals, meine das Herz. Mit wie vielen Posten hatten Sie Ihre Büchse geladen?“ „Mit fünf.“ „Vier schlugen in den Baum dort drüben ein, Sie können die Spuren in der Rinde erkennen.“ „Und der fünfte hat das Tier getötet!“ 418
„Eben nicht.“ Der junge Jäger schlug den Mantel zurück und deutete auf einen blutigen Fleck auf seiner Jacke. „Der fünfte Posten traf hier.“ „Großer Gott!“ rief der Richter erschrocken, „ich vergeude Zeit durch Großtuerei, während ein Mensch durch meine Hand zu Schaden gekommen ist! Jetzt schnell in den SIeigh, es ist nur eine Meile bis zur Siedlung, Sie müssen sofort zum Arzt!“ „Nicht nötig, der Knochen ist nicht verletzt und die Wunde nicht der Rede wert, aber Sie werden wohl jetzt meine Ansprüche gelten lassen?“ „Ich gebe Ihnen sogar das Recht, Hirsche und Bären und alles andere Wild in diesen Wäldern zu schießen, sooft Sie wollen. Bisher durfte das nur Lederstrumpf, aber ich denke, diese Vergünstigung könnte bald von Wert sein.“ Natty unterbrach ärgerlich: „Es leben viele, die überzeugt sind, dass Nathaniel Bumppos Recht, in diesen Wäldern zu jagen, älter ist als das Recht des Richters Temple, es zu verbieten.“ „Wir haben jetzt keine Zeit für einen juristischen Streit“, erwiderte der Richter. Er machte dem jungen Jäger erneut das Angebot, ihm den Hirsch abzukaufen, er nannte eine Summe, die weit über dessen Wert hinausging, aber erneut lehnte der Jäger ab. Wahrscheinlich hätte sich Temple nun gekränkt gefühlt und nicht noch einmal seine Hilfe angeboten, wenn nicht Elisabeth eingeworfen hätte: „Sir, Sie werden meinen Vater nicht beleidigen wollen, indem Sie es ihm unmöglich machen, Sie für diese Verletzung zu entschädigen. Ich bitte Sie herzlich, zu uns in den Sleigh zu steigen.“ Der Richter faßte die Hand des jungen Mannes und sagte versöhnlich: „Die nächste Hilfe finden Sie in Templeton. Nattys Hütte liegt wenigstens drei Meilen entfernt. Unser 419
Doktor wird die Wunde behandeln.“ Jetzt folgte der junge Mann zum Sleigh und stieg ein, wobei er Elisabeth aufmerksam und überrascht musterte. Der Neger half, einige Gepäckstücke zur Seite zu rücken, zusammen mit Natty warf er den Hirsch hinauf. Natty sagte dabei: „Es ist am besten, du gehst mit, Junge. Der Posten steckt noch unter der Haut, und meine Hand ist zu alt, ihn herauszuschneiden. Vor mehr als dreißig Jahren, als ich unter Sir William diente, lief ich einmal siebzig Meilen allein durch die Wildnis mit einer Büchsenkugel im Bein, bis ich sie mir endlich doch selber herausschnitt. Der alte John erinnert sich noch gut daran, er legte damals Heilkräuter auf die Wunde.“ Natty verzog sein Gesicht zu einem Kichern, daß sein letzter grauer Zahn zu sehen war, und fügte hinzu: „Wenn ihr John trefft, so nehmt ihn mit, er versteht sich besser auf Wunden als alle neumodischen Ärzte.“ Der junge Jäger rief: „Und wenn die Kugel heraus ist, Natty, bringe ich dir ein Viertel des Hirsches zum Christfest! Ich bitte dich nur um eines: Sag niemandem, daß ich verletzt bin und in welchem Haus ich mich verbinden lasse.“ „Keine Sorge! In den vielen Jahren, die ich unter Indianern verbracht habe, sollte ich gelernt haben, was Verschwiegenheit ist!“ Natty pfiff seinem Hund und wandte sich dem Wald zu. Der Kutscher hob die Peitsche, die Pferde ruckten an, lautlos glitt der Sleigh auf Templeton zu. Seine Insassen sahen dem alten Jäger nach, der, die Knie einwärts geknickt, zwischen den Bäumen verschwand. Eine Weile schwiegen sie, bis Temple zu dem jungen Mann sagte: „Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, und dennoch kann ich mich nicht auf Ihren Namen besinnen.“ 420
Die Antwort klang unmotiviert frostig: „Ich bin erst seit einigen Wochen in dieser Gegend. Da Sie zwei Monate lang abwesend waren, können Sie mich unmöglich kennen.“ „Und trotzdem bilde ich mir ein, ich hätte Sie schon einmal gesehen. Mein Gedächtnis nimmt erschreckend ab.“ Temple musterte den jungen Mann erneut, bis er zu den blassen Rauchsäulen hinüberblickte, die aus dem Tal aufstiegen. „Gott sei Dank, Mädchen“, rief er seiner Tochter zu, „gleich sind wir daheim. Erkennst du Templeton überhaupt wieder?“ Gespannt blickte Elisabeth auf die Kolonie, die sich in den Jahren ihrer Abwesenheit in der Tat erstaunlich erweitert hatte. Der Sleigh glitt in ein anmutiges Tal hinab, in dem sich ein See erstreckte, der jetzt unter Schnee und Eis nur zu ahnen war. Templeton bestand aus etwa fünfzig meist aus Holz gebauten Häusern, die in verschiedenen Farben glänzten. Einige Häuser waren hinten und vorn weiß gestrichen, andere mit dieser teuren Farbe nur an der Vorderseite bemalt, während die übrigen Seiten mit einem schmutzigen Rot übertüncht waren. Hier und da hatten die Balken schon das Braun des Alters angenommen, manche Häuser waren unvollendet geblieben, denn ihre Erbauer hatten sich bereits weiter westwärts niedergelassen. Die Siedlung war eine wenig gelungene Nachäffung einer Stadt, wobei man mehr an die Bedürfnisse der Nachkommen als der gegenwärtigen Bewohner gedacht hatte. Drei oder vier größere Häuser besaßen Jalousien, die mit ihrem sattgrünen Anstrich lebhaft gegen das Weiß der Umgebung abstachen. Hier wohnten zwei Krämer und der Arzt, dazwischen erhob sich das stattlichste Anwesen des Ortes, das dem Richter gehörte. Die Mauern des Wohnhauses waren aus Stein, ein Teil des Obergeschosses 421
und des Daches aus Weißtanne, es war groß und bequem, im ganzen aber ein bedenklicher Mischmasch verschiedener Baustile. Pappeln und Weiden, erst vor kurzem aus Europa eingeführte Bäume, standen nach der Straße zu, ein Obstgarten zog sich bis in den Grund hinab. Elisabeths Blick flog über den Ort hin und blieb an dem Haus haften, in dem sie ihre Kindheit verlebt hatte, an dem seltsam verzierten Dach, aus dessen Schornsteinen Rauch stieg. Sie flüsterte: „Endlich wieder zu Hause.“ Der Weg senkte sich steiler als bisher hinab, der Kutscher hielt die Zügel straff und ließ die Tiere Schritt gehen. Der Sleigh passierte gerade eine Enge, als durch die laublosen Äste an der Seite ein zweiter Sleigh sichtbar wurde, den vier Pferde zogen. Das Geschirr war mit glänzenden Glöckchen verziert; der rasche Trab trotz des ansteigenden Weges zeigte, daß es dem Lenker vor allem auf ihr lustiges Geklingel ankam. Auf dem Bock saß ein kleiner Mann, der einen weiten pelzverzierten Mantel trug, sein Gesicht war gerötet, mit fröhlichen Zurufen und Peitschengeknall trieb er die Pferde dicht am Abhang eines Steinbruchs entlang. Drei andere Männer saßen außer ihm im Sleigh, Richter Temple kannte sie alle. Der Kutscher war sein Vetter Richard Jones, der ihm bei seinen Geschäften half und mit ausschweifender und bizarrer Phantasie sein Haus entworfen hatte, die übrigen waren ein französischer Kaufmann namens Le Quoi, ein Major deutscher Abstammung, der Hartmann hieß, und Pfarrer Grant, der Prediger der Ortschaft. „Willkommen in der Heimat, Vetter!“ schrie Jones herüber. „Willkommen, liebe Elisabeth! Templetons beste Männer eilen euch zur Begrüßung entgegen!“ „Ich weiß die Ehre zu schätzen!“ rief Temple zurück. Die Sleighs kamen nebeneinander zum Stehen, Hände wurden 422
geschüttelt, Jones fragte nach dem Verlauf der Reise und machte sich nach wenigen Sätzen daran, seinen Sleigh zu wenden. Das war nur hier möglich, wo Steine gebrochen worden waren, überall sonst war der Weg zu eng. Trotzdem gehörte Geschick dazu, Temple bot die Dienste seines Kutschers an, aber Jones rief zurück, seine Pferde wären sanft wie Lämmer, die vorderen hätte er selber eingefahren, die anderen wären seiner Peitsche so nahe, daß er sie fest unter Kontrolle hätte. Mit Hü und Hott drängte er die Vorderpferde gegen den Schneewall an der Seite, sobald aber die Pferde merkten, daß sie bei jedem Schritt weiter einsanken, hoben sie störrisch die Köpfe. Jones wollte nicht nachgeben, schlug auf die Tiere ein und brüllte mit doppelter Lautstärke, worauf sich die Vorderpferde aufbäumten und gegen die Deichselpferde drängten. Nur eine schwache hölzerne Barriere trennte den Weg vom Abgrund, jetzt lag sie im Schnee begraben, der Sleigh wurde darüber hinweggeschoben, und ehe Jones merkte, in welcher Gefahr er sich befand, hing die Hälfte des Sleighkastens über dem Abgrund, der hundert Fuß beinahe senkrecht abfiel. Die Männer im Sleigh erschraken, riefen durcheinander, Jones schlug erneut auf die Pferde ein, Elisabeth schrie entsetzt auf, Temple sah, wie der gefährdete Sleigh noch einige Zoll nach hinten geschoben wurde und sich die Deichsel bereits anhob. In diesem Augenblick sprang der junge Jäger, der während der Begrüßung schweigend im Sleigh gesessen hatte, heraus und rannte auf die um sich schlagenden Pferde zu. Jones hieb noch immer auf sie ein, in den nächsten Sekunden hätten sie den Sleigh in den Abgrund gestoßen und wären selbst hinabgerissen worden, da packte sie der junge Mann mit seiner gesunden Hand am Halfter und riß sie zur Seite. Sie ruckten den Sleigh aus 423
seiner gefährlichen Lage heraus in einer harten Kurve zum Weg hin, dort neigte sich der Sleigh und schlug um. Der Deutsche und der Pfarrer kippten in den Schnee, Jones flog im Bogen vom Kutschbock in den Wall, in dem seine Pferde gescheut hatten, während der Franzose, der sich gerade zum Absprung bereit gemacht hatte, wie ein Frosch, alle viere von sich gestreckt, durch die Luft segelte und mit dem Kopf im Schnee steckenblieb; seine Beine ragten heraus wie die Stelzen einer umgekippten Vogelscheuche. Als erster war Richard Jones auf den Füßen und rief seinem Vetter zu: „Nun, wir sind davongekommen! Es war absolut richtig, daß ich die Zügel nicht fahrenließ, und im günstigsten Augenblick gab ich den Vorderpferden eins zwischen die Ohren, sonst lägen wir jetzt allesamt dort unten, und es würde Mühe machen, unsere Knochen auseinanderzuhalten.“ Er putzte sich den Schnee vom Mantel und rief: „Da seht ihr wieder einmal, was ein erfahrener Kutscher wert ist!“ Sobald der Richter erkannte, daß niemand zu Schaden gekommen war, brach er in unbändiges Gelächter aus. Der Neger und der Pfarrer zogen den prustenden Franzosen aus dem Schnee und stellten ihn auf die Beine. „Ich glaube, Vetter“, rief der Richter, „ohne den entschlossenen Mann dort wäre nicht viel von dir und deinen Pferden übriggeblieben! Vielleicht nimmst du einmal bei ihm Fahrstunde?“ „Ich das Fahren lernen?“ rief Jones, wobei er versuchte, den Sleigh auf die Kufen zu stellen. „Wer ritt ein Fohlen zu, das niemand zu besteigen wagte? Ich! Dein Kutscher wird zwar behaupten, er hätte es vorher gezähmt, aber daran ist kein Wort wahr. Im klassischen Altertum wäre ich ein berühmter Rosselenker geworden, daran zweifelt wohl niemand!“ 424
Inzwischen hatten der Neger und der junge Jäger den Sleigh aufgerichtet, die Pferde beruhigt und die Stränge geordnet. Seufzend stieg Pfarrer Grant wieder ein. Die Männer waren viel zuviel mit sich selbst beschäftigt, als daß sie sich um denjenigen gekümmert hätten, dem sie ihr Leben verdankten; nur Elisabeth fragte den Jäger besorgt, ob sich seine Schmerzen verstärkt hätten, und bat ihn, wieder neben ihr Platz zu nehmen. Inzwischen fragte Jones leise den Neger: „Wer ist eigentlich der Trottel, der meinen Schlitten umgeworfen hat?“ Der Kutscher zuckte die Schultern und sagte einige Worte über den Jagdunfall, da rief Temple, alle sollten sich beeilen, es würde zusehends dunkel, und sein Gast müsse zum Arzt. Jones und der Neger stiegen auf die Böcke, ruckten mit den Zügeln und lenkten ihre Pferde in die Spur hinein, die nach Templeton führte. Jones brauchte nur kurze Zeit, um seine übliche optimistische Laune wiederzugewinnen; noch bevor die Sleighs hinabgeglitten waren, drehte er sich zu seinen Begleitern um und sagte: „Dieser Kerl hat uns übel in die Patsche gebracht. Vielleicht wird er überall erzählen, er hätte die Pferde zurückgerissen, aber wie wäre das mit einem verletzten Arm möglich? Er hätte mir nur eine halbe Minute Zeit lassen sollen, und ich hätte die Pferde mit Zügel und Peitsche auf den Weg dirigiert, ohne den Schlitten umzuwerfen. Aber so ist nun einmal die Jugend, vorschnell und unbedacht. Ich hoffe, die Herren werden sich durch den harmlosen Zwischenfall nicht den Appetit verderben lassen, ich habe von allerlei Vorbereitungen für heute abend gehört, und die Tafel unseres Richters ist ja weit und breit bekannt! Hü, ihr Teufel!“ Und lustig ließ Jones die Peitsche knallen. Bald war die Siedlung erreicht. Als die Sleighs die Straße 425
hinauffuhren, rannten Frauen und Kinder aus ihren Häusern, um Temple und seiner Tochter zuzuwinken. Elisabeth hatte ihre Kapuze wieder zusammengezogen, denn seit dem Untergang der Sonne war es noch kälter geworden. Rasch wechselte die Dämmerung in die Nacht hinüber, und als der Sleigh durch das offene Gartentor fuhr, glitzerte das Licht aus den Fenstern in tausend kleinen Sternen im Schnee. Auf der Schwelle der Eingangstür erschienen mehrere Diener, einem von ihnen, der einen Leuchter hielt, rief Temple zu: „Sieh her, Benjamin, das ist deine junge Herrin Elisabeth. Und du da lauf schnell und hol Doktor Todd! Nun helft uns aus den Decken!“ Eine große Dogge umsprang den Sleigh, Elisabeth tätschelte ihr den Kopf und sagte: „Brave, du guter alter Kerl, erkennst du mich denn wieder?“ Benjamin, der Hausverwalter, gab mit dröhnender Stimme seine Anweisungen, sie waren mit seemännischen Ausdrücken gespickt: Einer Frau rief er zu, sie solle die Kombüse klarmachen, dem Kutscher befahl er, den Sleigh ins Dock zu ziehen. Elisabeth sagte lachend: „Benjamin, wie viele Jahre ist es nur her, daß du zur See gefahren bist! Und noch immer willst du dich nicht daran gewöhnen, daß du auf dem Festland lebst?“ Statt einer Antwort hob der Hausverwalter Elisabeth hoch und trug sie, als hielte er ein Kind auf den Armen, ins Haus, während die übrigen Diener das Gepäck abluden und die Pferde versorgten. Benjamin entzündete alle Kerzen, wenige Minuten später glänzte die Halle in strahlendem Licht. Temple stellte sich vor den Kamin und rieb sich behaglich die Hände. Seine Tochter legte, von der Wirtschafterin unterstützt, den Mantel ab, zog die Pelzstiefel aus und wickelte einen breiten Schal von den Schultern. Nachdem sie die Kapuze 426
abgenommen hatte, fielen lange schwarze Locken auf ihre Schultern, die Wirtschafterin schlug die Hände zusammen und rief, nie hätte sie ein so hübsches Mädchen gesehen, allen Männern in Templeton würde Elisabeth den Kopf verdrehen. Elisabeth lächelte, sie wandte sich um und sagte zu ihrem Vater: „Wir haben unseren Gast vergessen, er braucht doch rasch unsere Hilfe.“ Der Jäger, der am Eingang der Halle stand, trat näher. „Keine Sorge, Miß, Ihr Vater hat bereits nach dem Arzt geschickt.“ Er hatte seine Mütze abgenommen, eben strich er sein dunkles Haar aus der Stirn. Elisabeth sah zu ihrer Verwunderung, daß er eine männliche Vornehmheit besaß, die zu seinem schäbigen Anzug im Widerspruch stand, und jetzt erst wurde ihr bewußt, daß seine Umgangsformen von ihrem Zusammentreffen an bis jetzt viel mehr die eines gebildeten Mannes aus der Stadt als die eines Waldbewohners gewesen waren. Elisabeth fühlte sich verlegen und bereute, keinen Platz angeboten zu haben, da wurde die Tür aufgerissen und Richard Jones stürmte herein. „Meine Rose!“ rief er, „meine Lilie, darf ich dich nach dem ersten Wiedersehen draußen in Eis und Frost nun in deinem Vaterhaus begrüßen!“ Er versuchte, Elisabeth an sich zu drücken, was nicht recht gelang, denn das Mädchen überragte ihn um einen halben Kopf. Sie rief: „Onkel Richard, nur nach meinem Vater habe ich mich mehr gesehnt als nach dir. Erst wenn du hier bist, fühle ich mich richtig zu Hause.“ „Das will ich meinen!“ Der kleine Mann schlüpfte aus seinem Mantel und hielt ihn einem Diener hin. Sein Gesicht war gerötet, was nicht nur auf die frische Winterluft und eine ausgezeichnete Gesundheit, sondern auch auf die Freude an gutem Wein schließen ließ. „Dazu hast du allen Grund, denn wer hat dieses Haus entworfen 427
und zusammen mit Zimmermann Doolittle erbaut? Ich, dein Onkel Richard.“ Es war wie immer: Wo Jones auftauchte, wurde gelacht. Jetzt machte er sich darüber lustig, wie die Frauen seiner Fahrgäste die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatten, als ihre über und über mit Schnee bedeckten Männer heimgekehrt waren. „In einer Stunde aber sind die Herren hier, und ich bin sicher, sie werden bis dahin ihren Appetit wiedergefunden haben.“ Eben wollte Jones eine heitere Begebenheit erzählen, die sich während der Abwesenheit des Richters zugetragen hatte, als die Tür erneut geöffnet wurde und Doktor Todd, der Arzt des Ortes, hereineilte. Er machte sich sofort an die Arbeit. Der Jäger zog Jacke und Hemd aus und legte sich auf den Diwan, Todd nahm das Futteral mit den chirurgischen Instrumenten aus der Tasche und untersuchte die Wunde. Die Blutung war von selbst fast zum Stillstand gekommen. Der Arzt redete seinem Patienten begütigend zu, schnitt mit dem Skalpell einmal längs und einmal quer, während sein Opfer die Lippen zusammenpreßte. Richter Temple, der danebenstand und eine Schüssel mit Wasser hielt, hörte keinen Ton, der Schmerzen verriet, nur einmal zuckten die Brauen des jungen Mannes, das war, als der Arzt mit einer Pinzette in die Wunde hineinfühlte und die Kugel herausholte. Schließlich wusch Dr. Todd die Wundränder und wollte schon einen Verband anlegen, als die Tür geöffnet wurde und ein alter Indianer eintrat. „Sir“, sagte der Jäger, „ich danke Ihnen für Ihre Dienste. Aber eben kommt ein Mann, der sich aufs Pflegen von Wunden versteht. Ich bin überzeugt, daß ich Ihnen in Zukunft jede Mühe ersparen kann.“ „Der alte John“, konstatierte Temple, „siehe da, der Freund unseres Lederstrumpf! Es ist richtig, die Indianer 428
kennen Krauter und ihre Wirkung, von denen wir keine Ahnung haben.“ Der Indianer blieb an der Tür stehen. Ungeachtet der draußen herrschenden Kälte war sein Kopf unbedeckt, eine wilde Masse schwarzer Haare fiel auf die Stirn und sogar über die Wangen. Dieser Mann war siebenundsiebzig Jahre alt, aber seine Nase sprang noch so kühn vor wie in seiner Jugend, sein Mund war ausdrucksvoll, sein Kinn fest, und seine Augen blickten in überraschender Klarheit. Er ließ die Decke fallen, die seine Schultern umhüllt hatte, und trat näher; neben dem Diwan setzte er ein Rindenkörbchen nieder. Der Arzt knurrte: „Die Kugel ist heraus, die Wunde kann jetzt jedes alte Weib verbinden.“ Richard Jones, der bisher stumm zugesehen hatte, glaubte, nun Gelegenheit für eine seiner Spötteleien zu haben, er zog den Arzt damit auf, daß die hochgelehrten Mediziner immer nur so lange auf die Heilkunst der Indianer herabblickten, bis sie mit ihrem Latein am Ende wären. In den Tagen danach pflegte er zu erzählen: „Ich und der Doktor holten die Kugel heraus, ich und der alte John legten den Verband an.“ Jetzt hielt er das Körbchen, während der Indianer getrocknete Krauter und Baumrinde unter unverständlichem Murmeln über der Wunde verrieb. Der Arzt legte nun einen Verband an, dabei pries er die ausgezeichnete Qualität seiner Scharpie, die er selbst gezupft hatte. Der Jäger richtete sich auf, das Blut kehrte in seine Wangen zurück, er lächelte den Indianer an und sprang auf die Füße. Er sagte: „Ich will nun, meine Herren, Ihre Zeit und Geduld nicht länger beanspruchen. Ich danke für die Behandlung und möchte mich noch mit Ihnen, Mister Temple, über den Hirsch einigen.“ „Er gehört Ihnen“, antwortete der Richter, „allerdings 429
sollten wir morgen eine noch wichtigere Angelegenheit besprechen. Meine Tochter wird Ihnen einen Imbiß richten, mein Kutscher bringt Sie danach zu Ihren Freunden.“ „Aber, Sir, ich muß den Hirsch schon heute mitnehmen.“ Jones mischte sich ins Gespräch: „Natürlich bleibt Ihnen das Tier, wir sind nicht darauf versessen, nur möchte ich gern das Lendenstück kaufen. Sie haben Glück gehabt, junger Mann, Sie wurden durch diesen Zufallstreffer nicht zum Krüppel und haben einen besseren Verband bekommen als im ersten Spital von Philadelphia.“ „Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Sir“, antwortete der Jäger, „betone aber nochmals, daß ich die Lende haben muß.“ „Muß?“ rief Jones. „Muß ist ein hartes Wort.“ Elisabeth blickte verwundert auf die Männer, die sich wie im Streit gegenüberstanden. Der Richter schaltete sich ein und begütigte: „Sie sind im Recht, junger Mann, das Stück Wild und auch die Lende gehören Ihnen. Benjamin wird dafür sorgen, daß der Hirsch wieder auf den Sleigh geladen wird, mein Kutscher bringt Sie und Ihre Jagdbeute zu Lederstrumpfs Hütte. Ich möchte Sie aber wiedersehen. Es ist wohl nicht zuviel verlangt, wenn ich Sie um Ihren Namen bitte?“ „Ich heiße Oliver Edwards.“ Elisabeth warf ein: „Es tut uns leid, daß Sie schon gehen, Mister Edwards. Es würde meinen Vater und mich freuen, wenn Sie uns bald besuchen wollten.“ Der Jäger blickte vom Vater zur Tochter, ließ sein Auge durch die Halle schweifen und antwortete kühl: „Ich bedanke mich nochmals, ich werde kommen.“ Er zog seinen Mantel über, wobei ihm der Indianer half, dann verneigte er sich, während sich seine Lippen wie im Trotz verengten, und zusammen mit dem Indianer ging er durch 430
die Tür. Der Richter und seine Tochter blickten ihm verwundert nach. „Es ist sonderbar“, meinte Temple, „daß ein junger Mensch so unversöhnlich und verbittert sein kann. Schon von der ersten Minute an tat er, als hätte ich ihm wer weiß was zuleide getan.“ „Ein hochnäsiger Bursche“, ergänzte Jones. „Aber jetzt wird es Zeit, daß wir etwas essen und uns zum Kirchgang rüsten. Man sieht es in unserer Gemeinde nicht gern, wenn jemand zu spät zum Christgottesdienst kommt.“ In der nächsten Viertelstunde trafen die drei Herren ein, die mit Jones dem Richter und dessen Tochter entgegengefahren waren, Le Quoi, Major Hartmann und Pfarrer Grant. Sie trugen ihre besten Anzüge, noch einmal begrüßten sie Elisabeth, wobei ihnen nicht entging, wie vorteilhaft sich das Mädchen in den vergangenen Jahren entwickelt hatte, und geizten nicht mit anerkennenden, wenngleich wenig sachkundigen Worten über die Garderobe, die Elisabeth aus New York mitgebracht hatte und die in dieser Einsamkeit als höchster Luxus wirkte. Schließlich bot Monsieur Le Quoi der Tochter des Hauses den Arm und führte sie ins Speisezimmer hinüber. Es war geräumig und gut proportioniert, aber an den Ornamenten ließ sich der verschrobene Geschmack erkennen, mit dem Richard Jones das Haus entworfen und eingerichtet hatte. Um einen Tisch standen grün angestrichene Armstühle, ein ungeheurer Spiegel mit vergoldetem Rahmen bedeckte eine halbe Wand, ein lebhaftes Feuer prasselte im Kamin. Sofort rief Temple: „Wie oft habe ich verboten, mit dem Holz des Zuckerahorns zu heizen! Es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, wie der kostbare Saft aus dem Holz quillt. Ich möchte, daß mein Haushalt den Leuten ein Beispiel gibt, nicht mit dem Holz zu wüsten, als ob unsere Forsten keine Grenzen hätten. Wenn wir es so 431
weitertreiben, haben wir in zwanzig Jahren unsere herrlichen Wälder durch die Kamine gejagt.“ Sein Vetter spottete: „Was bist du doch für ein gewaltiger Prophet! Genausogut könntest du behaupten, unsere Fische im See würden verdursten, weil ich im Frühjahr ein Wiesenstück bewässern will.“ Während der Richter seinen Blick über die Tafel schweifen ließ, antwortete er: „Ich hasse es, die Edelsteine unserer Wälder zu Brennmaterial herabzuwürdigen. Deshalb lasse ich im Frühjahr einige Leute in den Bergen nach Steinkohle graben.“ Richard Jones lachte. „Wer zum Teufel soll sich diese Mühe machen, wenn über der Erde so viel Holz wächst, wie niemand in hundert Jahren verfeuern kann?“ Der Richter gab es auf, seinen Vetter überzeugen zu wollen; er lud seine Gäste zum Platznehmen ein. Der Tisch war mit schimmernd weißem Damast bedeckt, Teller und Schüsseln waren aus chinesischem Porzellan, einem in dieser frühen Periode des amerikanischen Außenhandels seltenen Luxusartikel, Messer und Gabeln aus poliertem Stahl mit Elfenbeingriffen. Vor Elisabeth duftete ein gebratener Truthahn, den Mittelpunkt der Tafel bildete ein silberner Aufsatz, der von vier Schalen umgeben war. Frikassee vom Eichhörnchen, gebackener Zander, Forelle in Sahne und gebratene und gespickte Stücke vom Hirsch boten ein prachtvolles Bild. An der Seite stand eine Platte mit Wildschweinfleisch, daneben eine Terrine mit Schöpsenkeule. Die Ecken der Tafel waren mit Kuchenplatten garniert, strotzend von Nußkuchen, Pfefferkuchen, mit Sirup gebackenem Süßkuchen und bräunlichem Fruchtkuchen. Kaum blieb dazwischen Platz für Teller und Gedecke, und jedes freie Fleckchen war mit Branntwein-, Rum-, Wacholder- und 432
Weinflaschen besetzt. Nach freudigen Lobesworten widmeten sich die Gäste mit einem Appetit den Speisen, der der Haushälterin alle Ehre machte. Elisabeth wurde nach ihrer Reise befragt, der Richter erkundigte sich, was in der Gemeinde während seiner Abwesenheit geschehen war, und fragte schließlich, ob jemand etwas Genaueres über Oliver Edwards wüßte. „Richard, kannst du mir keine Auskunft geben? Erst dachte ich, er wäre ein gewöhnlicher Kumpan von Lederstrumpf, aber er drückt sich so gewählt aus, wie man es in unseren Bergen selten findet.“ Jones, der gerade ein Rebhuhn zerlegte, brummte, Edwards wäre ihm nicht unbedingt wie ein Wundertier vorgekommen. Mit Pferden könne der Bursche jedenfalls nicht umgehen und hätte wahrscheinlich sein Leben lang nichts anderes als Ochsen getrieben. „Du tust ihm Unrecht“, widersprach der Richter. „Er hat in einem kritischen Augenblick viel Mut und Besonnenheit gezeigt. Nicht wahr, Elisabeth?“ Seine Tochter errötete, als wäre sie eben aus einem Traum geweckt worden, und antwortete: „Mir kam er gewandt und mutig vor. Aber vielleicht behauptet Onkel Richard, ich verstünde von diesen Dingen ebensowenig wie der junge Gentleman selbst.“ „Gentleman?“ spottete Jones und streckte protestierend eine Rebhuhnkeule in die Höhe. „Wurde solch ein Bursche in deiner Pension Gentleman genannt?“ Rasch und ein wenig scharf antwortete Elisabeth: „Jeder Mann hat Anspruch auf diese Bezeichnung, der Frauen mit Achtung und Anstand behandelt.“ Der Richter wandte sich lachend seinem Hausverwalter zu, der hinter ihm stand, und fragte: „Wohnt Edwards in Lederstrumpfs Hütte?“ 433
„Am Mittwoch werden es drei Wochen“, antwortete Benjamin, „daß Edwards hier aufkreuzte. Er und Lederstrumpf brachten ein Wolfsfell ins Gasthaus und verkauften es. Bumppo befreit ein Tier genauso geschickt von seinem Fell, wie ein alter Seemann einen Korken aus einer Rumflasche zieht. Es gibt nicht wenige in der Schenke, die sagen, er habe seine Kunst an Christenskalpen gelernt.“ „Man darf nicht alles, was von den Faulpelzen in unserem Ort über Natty geredet wird, für bare Münze nehmen“, erwiderte der Richter. „Natty hat das Recht, sich in den Wäldern seinen Unterhalt zu verdienen, und ich werde jedem energisch auf die Zehen treten, der ihn daran hindern will.“ Der Pfarrer räusperte sich. „Wenn ich dazu eine Bemerkung unseres neuen Friedensrichters wiedergeben darf - Doolittle erzählte mir vorgestern...“ Temple hob erstaunt den Kopf und fragte: „Doolittle ist Friedensrichter? Ja, seid ihr denn noch bei Trost?“ „Der Posten war frei“, antwortete Jones, „und auf meinen Vorschlag hat ihn die Gemeindeversammlung gewählt.“ „Himmel!“ rief Temple, „man darf nicht einmal für einige Wochen der Siedlung den Rücken kehren! Doolittle ist egoistisch, feig und hinterhältig, dem sollte man einfach kein öffentliches Amt anvertrauen! Allen Leuten redet er nach dem Mund, eine eigene Meinung hat er noch nie gehabt.“ Jones verteidigte sich: „Als Architekt und Zimmermann ist er angesehen, dein Haus stünde nicht ohne ihn. Er ist wohlhabend, in gemeinsamer Arbeit habe ich ihn als rechtschaffen und strebsam kennengelernt.“ Der Richter rief: „Aber man braucht Doolittle doch nur in die Augen zu sehen, um zu merken, daß man ihm kein 434
Amt geben darf, das Fingerspitzengefühl verlangt!“ Von draußen herein klang das Läuten einer Schiffsglocke, die auf dem Dach des Bethauses hing und den nahen Beginn des Gottesdienstes anzeigte. Wehmütig blickte Richard Jones über die vielen guten Dinge, denen er sich noch nicht hatte widmen können, abermals füllte er sein Glas und leerte es andächtig. Dann erhoben sich Elisabeth und die Männer, zogen ihre Mäntel über und traten in die Nacht hinaus. Der Mond war aufgegangen und goß sein Licht über die Fichten am Rand der Ortschaft und über die Senke, in der die Häuser standen. Die Sterne blinkten wie das Zucken eines erlöschenden Feuers, die vereiste Oberfläche des Sees und der Schnee auf den Feldern warfen ein gleißendes, vielfältig gebrochenes Licht zurück. Auf ihrem Weg zum Gottesdienst musterte Elisabeth die Häuser rechts und links; an einem war angebaut worden, ein anderes war frisch gestrichen, ein drittes stand an einer Stelle, wo ein baufälliges Haus abgetragen worden war, und einige Male fragte Elisabeth nach dem Besitzer eines Anwesens, das bei ihrer Abreise nach New York noch nicht gestanden hatte. Überall waren Menschen unterwegs, sie trugen Mäntel und Kapuzen, aber trotz ihrer Vermummung erkannten sich die meisten und wünschten sich über die Schneewälle hinweg ein gesegnetes, gesundes Christfest. Vor der Schenke, die den Namen „Zum kühnen Dragoner“ trug, trafen der Richter und seine Tochter mit dem Wirt zusammen, von dort war es nicht weit bis zum Betsaal. Ernst und andächtig betraten die Gläubigen das Gebäude; die, die aus der Nachbarschaft gekommen waren, breiteten vorher Decken über die Rücken ihrer Pferde. Immer mehr füllte sich der Saal. Roh gezimmerte, unbequeme Bänke standen in Reihen vor 435
einem ungefügen, häßlichen Kasten, der als Kanzel diente; ein damastbedeckter Mahagonitisch, den der Richter gestiftet hatte, war als Altar hergerichtet. Der Raum war nur durch ein Dutzend Talgkerzen erleuchtet und hätte unwirtlich und düster gewirkt, wenn nicht ein Kaminfeuer Wärme und flackerndes Licht verbreitet hätte. Die Geschlechter waren durch einen Mittelgang getrennt, vorn saßen die Honoratioren, weiter hinten drängten sich die ärmeren Siedler. Natty Bumppo hockte auf einem Holzklotz in der Nähe des Feuers, er hielt seine Flinte zwischen den Knien und blickte verdrossen vor sich hin. Nicht weit von ihm hatten Oliver Edwards und der Indianer, der der alte John genannt wurde, auf einer Bank Platz gefunden. Oliver musterte mit wachen Augen Richter Temple und dessen Tochter, den quirligen Jones, der sich mit Zimmermann Doolittle flüsternd über die Möglichkeit unterhielt, das Dach des Bethauses zu verzieren; dabei verdüsterte sich Olivers Gesichtsausdruck wie schon vor einigen Stunden, als er sich in der Halle des Richters umgeschaut hatte. Der alte Indianer hatte sich so in seinen Mantel gehüllt, daß von seinem Gesicht nur Nase und Augen sichtbar waren. In dieser Stellung verharrte er reglos und lauschte aufmerksam den Worten des Pfarrers. Als Thema der Predigt diente der Satz eines Propheten: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, laßt die ganze Erde vor ihm schweigen.“ Richard Jones erhob sich als erster, ihm folgten die übrigen in andächtiger Stille. Als der Geistliche das Knie zum Gebet beugte, nahm die Gemeinde die Plätze wieder ein; später standen nur wenige abermals auf, die Mehrzahl rührte sich nicht. Die Bewohner dieses Ortes und der Gehöfte in der Umgebung stammten aus so vielen Ländern, waren in so verschiedenen Riten aufgewachsen, daß kaum einige das 436
papistische Zeremoniell kannten. Niemand war unaufmerksam, aber viele betrachteten die Handlungen und Worte des Pfarrers nicht als Gottesverehrung, sondern als Schauspiel. Langsam und eindringlich erläuterte der Geistliche den Text, er hielt die kurzen, feierlichen Pausen ein, die das Ritual nach jeder Bitte vorschrieb, aber keine Stimme aus der Versammlung heraus reagierte auf sein Gebet. Elisabeth bewegte die Lippen, wagte aber keinen Laut, bis sie die Stimme Olivers hörte; mit ihm und einigen anderen antwortete sie dem Pfarrer am Ende mit einem Amen. Schweigend zerstreute sich danach die Gemeinde. Nur wenige blieben zurück. Pfarrer Grant stellte Elisabeth seiner Tochter Luise vor, die erst vor kurzem nach Templeton gekommen war; eine Verabredung für den nächsten Tag wurde getroffen, wobei sich die Mädchen freuten, eine Gefährtin im gleichen Alter gefunden zu haben. Auf seinem Klotz an der Wand saß noch immer Natty Bumppo, auch der alte Indianer und Oliver Edwards hatten die Kirche noch nicht verlassen. Als sich Temple und Elisabeth vom Pfarrer und dessen Tochter verabschiedeten, erhob sich der Indianer, ging auf den Pfarrer zu und sagte: „Vater, ich danke dir. Die Worte, die du gesprochen hast, sind aufwärts gestiegen, und der Große Geist ist erfreut. Was du deinen Kindern gesagt hast, werden sie nicht vergessen, sie werden gütig sein.“ Er richtete sich auf und reckte sein Kinn, als er fortfuhr: „Wenn Große Schlange, den sie den alten John nennen, lange genug lebt, um der untergehenden Sonne nachzuziehen zu seinem Stamm, wenn noch Atem in seinem Körper ist, daß er seine Brüder findet, wird er ihnen die Worte sagen, die er hier gehört hat, und alle werden ihm glauben. Denn wer kann behaupten, Chingachgook habe jemals gelogen?“ 437
Grant’ empfand das Selbstgefühl des Indianers als hochfahrend, so antwortete er: „Verlaß dich auf die göttliche Gnade, John, und sie wird dich nie verlassen. Wenn das Herz mit der Liebe zu Gott erfüllt ist, kann die Sünde keine Wurzeln schlagen.“ Er wandte sich zu Edwards und sagte: „Ich danke Ihnen nicht nur, weil Sie meinen Freunden und mir heute das Leben gerettet haben, ich bin auch froh, Sie in meiner Kirche zu sehen. Es ist selten, in dieser Einöde einen jungen Menschen zu finden, der die heilige Liturgie kennt.“ „Ich bin im Schoß unserer Kirche aufgewachsen“, erwiderte Oliver, „bin getauft und habe nie dem Gottesdienst einer anderen Konfession beigewohnt.“ „Ich freue midi sehr über Ihre Bekanntschaft“, sagte Grant und hielt Oliver die Hand hin. „Ich bitte Sie, mich nach Hause zu begleiten, John und Lederstrumpf sind ebenfalls eingeladen.“ Doch Natty lehnte ab. Er müsse nach seiner Hütte zurück, wendete er ein, er könne sie und seine Hunde nicht so lange allein lassen. „Aber Oliver mag mit Ihnen gehen, er ist es gewohnt, mit Geistlichen über religiöse Probleme zu disputieren, und mit meinem Freund John ist es nicht anders, seit er von den Mährischen Brüdern bekehrt worden ist. Ich bin ein alter, ungelehrter Mann und habe mein Lebtag keinen Buchstaben lesen gelernt. Ich lobe mir die freien Wälder, in einem einzigen Sommer habe ich einmal zweihundert Biber erlegt, das andere Wild nicht gerechnet.“ Grant warf mit belehrendem Tonfall ein: „Ich zweifle nicht, Lederstrumpf, daß Sie immer ein geschickter Jäger gewesen sind, aber nun wird es Zeit, daß Sie auch an das Jenseits denken. Sie kennen doch das Sprichwort: Junge 438
können, Alte müssen sterben?“ Natty lächelte. „Ich bin kein Tor, der hofft, ewig zu leben. Ich habe in diesem Land schon zu viele Veränderungen gesehen, als daß ich glauben könnte, irgend etwas bestünde für immer. Ich habe Hunderte von Malen das Wasser des Onondaga getrunken, als dort noch der Sassafras so häufig war wie heute die Klapperschlangen, ich habe die Garmanebene noch als mächtigen Wald kennengelernt, und heute läuft man dort eine Woche lang, ohne einen einzigen Fichtenstumpf zu entdecken.“ „Wie die Bäume sterben, so stirbt auch der Mensch“, warf der Pfarrer ein. „Aber wir wollen heute, da Christus geboren wurde, nicht über den Tod nachsinnen. Nochmals, meine Herren, gehen wir zu mir!“ Er blies eine Kerze nach der anderen aus, überzeugte sich, daß das Feuer fast niedergebrannt war, und trat ins Freie; seine Tochter und die drei Männer folgten ihm. Während der Pfarrer abschloß, wiederholte Natty, er müsse zu seiner Hütte zurück, er verabschiedete sich und verschwand in der milchigen Helligkeit, seine Mokassins knirschten auf dem Schnee. Oliver Edwards und Große Schlange, der den Kopf wieder in seine Decke hüllte, schlössen sich dem Pfarrer an; Oliver bot der Pfarrers-tochter den Arm. Der Mond stand jetzt hoch und goß seine Strahlen fast senkrecht ins Tal, die Luft war so klar, daß das Licht scharfe Schatten warf, und obwohl kein Wind wehte, war es schneidend kalt. Nach einer Weile wandte sich der Pfarrer Oliver zu und sagte: „Sie müssen eine sorgfältige Erziehung genossen haben, man merkt es an Ihrem Benehmen und an Ihrer Sprache. Aus welchem Staat stammen Sie?“ „Aus diesem, aus New York.“ 439
„Ihrem Dialekt nach vermutete ich das nicht. Vielleicht haben Sie lange in den Städten gelebt? Ich bin jedenfalls froh, Sie kennengelernt zu haben, denn nicht oft trifft man jemanden, der unserer Kirche aufrichtig ergeben ist. Dennoch gestatten Sie einem alten Mann ein kritisches Wort. Ich hörte, daß Sie Richter Temple schroff und gereizt gegenübergetreten sind, obwohl offensichtlich war, daß er Sie ohne Absicht verwundet hat.“ Große Schlange schlug seine Decke zurück, reckte den Kopf und sagte: „Der weiße Mann mag tun, was ihm seine Väter geraten haben, aber in den Adern meines Freundes fließt das Blut eines Delawarenhäuptlings, und der Fleck, den es macht, kann nur durch das Blut eines Feindes abgewaschen werden.“ Erschrocken hob der Pfarrer die Hände und rief: „John, alter Freund, ist das die Religion, die dich die Mährischen Brüder gelehrt haben? Das Gebot Gottes heißt: Liebet eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch beleidigen und verfolgen.“ Der alte Indianer hörte dem Pfarrer nachdenklich zu, der wilde Ausdruck wich aus seinem Gesicht, mit ruhiger Gebärde bat er den Geistlichen weiterzugehen. Vorwurfsvoll schüttelte Grant noch einmal den Kopf und setzte seinen Weg fort. Große Schlange folgte ihm, die Decke wieder um sich zusammengezogen und den Blick gesenkt. Dem Pfarrer war nicht wohl in den nächsten Minuten, er fragte sich, ob alle Missionstätigkeit einen Sinn hatte, wenn aus einem Menschen, der vor mehr als zwanzig Jahren in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen worden war, plötzlich die alte Moral mit derartig ungezügelter Kraft hervorbrach. Oliver Edwards und Luise Grant gingen am Ende. „Wir 440
sollten dem alten John keinen Vorwurf machen“, sagte der Jäger. „Rache gilt dem Indianer als Tugend, man hat meinen Freund von Kindheit an gelehrt, es wäre seine Pflicht, jeden Schlag heimzuzahlen.“ Luise fragte: „Aber Sie sind doch nicht in diesen barbarischen Grundsätzen erzogen worden?“ „ Ich hörte nie etwas anderes als die Lehren unserer Kirche. Auch die Erfahrung meines kurzen Lebens wies mich immer wieder auf die Vergebung hin.“ Grant und der Indianer erreichten inzwischen die Tür des Pfarrhauses, sie warteten, bis Luise und Oliver nachgekommen waren; Grant schloß auf und bat seine Gäste ins Haus. Als die Männer vor dem Feuer Platz genommen hatten, wandte sich der Pfarrer Oliver zu und sagte: „Ich hoffe, Ihre Erziehung hat die rachsüchtigen Maximen verdrängt, die Sie auf Grund Ihrer Abstammung vertreten könnten, denn wenn ich John richtig verstanden habe, sind Sie mit ihm verwandt.“ „Diese Verwandtschaft ist allerdings von ungewöhnlicher Art.“ Oliver Edwards wollte diesen Satz näher erläutern, als Große Schlange mit beiden Händen feierlich einen weiten Kreis beschrieb und zum Pfarrer sagte: „Vater, steig auf den höchsten Berg und blick um dich. Alles, was du von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang siehst, von den Quellen bis dorthin, wo der Susquehanna zwischen den Bergen verschwindet, gehört ihm. Er stammt von den Delawaren ab, das Land ist sein, der weiße Mann hat es geraubt.“ Oliver paßte sich der Ausdrucksweise des alten Häuptlings an, als er ergänzte: „Der Wolf ist nicht gieriger als ein weißer Räuber, und ein Mann wie Temple schleicht nach Geld und Land wie ein Iltis nach Beute.“ Der Pfarrer hob abwehrend die Hände. „Mein lieber junger Freund, 441
ich höre schon wieder die Worte des Hasses! Die Verletzung, die dir der Richter ungewollt zugefügt hat, trübt deine Gedanken. Vergiß nicht, daß es immer Veränderungen auf der Erde gegeben hat; wo ist Babylon, wo blieb das römische Reich? Wir müssen uns mit dem Wechsel abfinden und unseren Verfolgern vergeben. Gewiß, den Indianern ist Unrecht geschehen, aber Richter Temple ist nicht schuldiger als alle Weißen. Dein Arm wird wieder gesund und kräftig werden, du wirst...“ „Dieser Arm? Glauben Sie, ich hielte Temple für einen Mordschützen und wollte mich rächen? 0 nein, er ist viel zu schlau für ein offenkundiges Verbrechen. Sollen er und seine Tochter in ihrem Reichtum schwelgen, eines Tages kommt die Vergeltung!“ Vor so viel ungestümer Kraft in Worten und Gesten ließ der Pfarrer hilflos die Arme sinken. Er wollte sich zur Geduld zwingen, mit neuen Argumenten den jungen Mann auf den Weg des Verzeihens und der brüderlichen Liebe zurückführen, aber die Tür wurde geöffnet, und Luise erschien mit einem Tablett, auf dem Brot und Fleisch lagen. „Disputieren macht Hunger“, sagte sie und deckte den Tisch. „Wir wollen das Gute genießen, das uns der Herr beschert hat. Der Heilige Abend soll der Liebe gewidmet sein, nicht dem Haß. Meine Freunde, langt ohne Umschweife zu.“ Mit diesen Worten nahm sich der Pfarrer vom Braten.
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Truthahnschießen Der folgende Morgen war kalt und klar, Eisblumen bedeckten die Scheiben des Büros, in dem sich Marmaduke Temple einen Überblick über die Geschäfte in den Wochen seiner Abwesenheit verschaffte. Benjamin, sein Hausverwalter, stand neben dem Schreibtisch, den Bauch vorgestreckt und das reichliche Wangenfleisch zu einer gewichtigen Miene gefältelt, er trug Kladden heran und schlug Bücher auf, nannte Holzpreise und Löhne und streute Bemerkungen über Landkäufe konkurrierender Bürger dazwischen. Der Richter las und notierte; er fragte sich, was er wohl anders gemacht hätte, wäre er am Ort gewesen. Temple wußte, daß es in diesem Land niemandem möglich war, sich auf Besitz und öffentlicher Ehrung auszuruhen, wollte er nicht erbarmungslos überholt werden. Die Geschichte seiner Familie bot dafür beredte Beispiele. Um das Jahr 1670 hatte sich sein Vorfahr Marmaduke Temple, ein Freund und Glaubensbruder des Gründers dieser Kolonie, in Pennsylvanien niedergelassen. Aus der alten Heimat hatte er so viel Vermögen mitgebracht, daß er sich zum Besitzer von etlichen tausend Acker Land und zum Pachtherrn einer großen Zahl mittelloser Ansiedler aufschwingen konnte. Seiner Frömmigkeit wegen war er geachtet und wurde zu einem angesehenen Sektenführer, wichtige öffentliche Ämter vertrauten seine Mitbürger ihm an. Aber seine Nachkommen waren zu sehr an Bequemlichkeit gewöhnt und unfähig, im Konkurrenzkampf zu bestehen, sie ließen die Zügel schleifen, und so sank die Familie in der dritten Generation auf das Niveau kleiner Krämer, Handwerker und Farmer hinab. Der Vater des Richters war der erste, der die alte Tatkraft wieder aufbrachte. Eine 443
Heirat verschaffte ihm die Mittel, seinem einzigen Sohn eine bessere Erziehung angedeihen zu lassen, als es im allgemeinen bei dem miserablen Zustand der Schulen in Pennsylvanien möglich und in den vorangegangenen Generationen der Familie Temple üblich gewesen war. In dem Internat, in dem der junge Temple einige Jahre zubrachte, freundete er sich mit dem Sohn eines einflußreichen und begüterten Mannes an, mit Edward Effingham. Das Oberhaupt dieser Familie, Major Effingham, hatte sich in den Ruhestand zurückgezogen, führte in New York ein glänzendes Haus, konnte es sich leisten, auf den halben Sold, der einem Soldaten im Alter zustand, zu verzichten, und schlug obendrein einige Zivilämter aus, die ihm von der Verwaltung der Kolonie angeboten wurden. Der Freund des jungen Temple war der einzige Sohn des Majors. Als Edward Effingham heiratete, wurde ihm die Verwaltung des gesamten Familienvermögens übertragen, das aus bedeutendem Kapital, einer Stadtwohnung, einem Landhaus, Gütern in den alten Teilen der Kolonie und unermeßlichen Flächen in unerschlossenen Gebieten bestand. Der junge Effingham war energielos und verträumt, manchmal auch hektisch, und so war er froh, einen Teil der Verantwortung für die Verwaltung seines Vermögens seinem scharf urteilenden, unternehmungslustigen und fleißigen Freund Temple übertragen zu können. Benjamin räusperte sich, er schob eine Kladde auf den Tisch und sagte: „Die Holzabfuhr.“ Temple schrak aus seinen Gedanken an die Jugendzeit auf. Damals war er fähig gewesen, zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten, er hatte in der Hauptstadt der Provinz Pennsylvanien mit dem Geld Effinghams ein Handelshaus eröffnet und mit kühnen und erfolgreichen Manövern hochgebracht. „Die 444
Holzabfuhr“, sagte er jetzt. Aus dem Oberstock klang das Lachen Elisabeths herunter, Schritte waren auf der Treppe zu hören, die Haustür klappte. Alles ist in Ordnung, sann Temple, das Verhältnis zu meiner Tochter, mein Haus, mein Geschäft, die Beziehungen zu meinen Bürgern. Er las, daß mit fünf Gespannen im Herbst geschlagene Stämme aus dem Wald geschleift worden waren, er fragte Benjamin nach dessen Meinung, mit Firmenkapital ein Sägewerk zu errichten, er zündete sich eine Pfeife an, während Kolonnen von Zahlen seinen Blick passierten. Kein Zweifel: Sein Vermögen hatte sich in den letzten Wochen um ein Quentchen vermehrt, ohne sein Zutun, wie ein Wagen, der, einmal angeschoben, noch ein Stück den Berg hinaufrollte. Aber eben nur ein Stück, schloß Temple diesen Gedankengang, dann brauchte er einen neuen Stoß. Draußen klingelte ein Schlittengespann vorbei, der Richter schaute ihm nach, einer seiner Pächter machte einen Weihnachtsbesuch. „Langt für heute“, sagte er zu Benjamin, „morgen reden wir über die Pachtzinsen. Elisabeth kann mir mein Frühstück bringen.“ Bis zum Mittag saß Temple hinter seinen Geschäftsbüchern, rechnete nach und plante voraus. Elisabeth trat leise ein, stellte Tee und Kuchen neben ihn hin und verließ ohne ein Wort das Büro. So liebte er es, er wollte umsorgt sein, nicht gestört werden. Er aß, trank, ihm fiel ein, daß die Angelegenheit mit dem jungen Edwards nicht auf die lange Bank geschoben werden sollte, er fand, es wäre Zeit, daß er sich wieder einmal im Gasthaus sehen ließ, und er nahm sich vor, den Gedanken über ein Sägewerk mit seinem Vetter Richard Jones, diesem Hansdampf in allen Gassen, durchzusprechen. Später kehrten seine Gedanken wieder dorthin zurück, wo 445
sie durch Benjamin unterbrochen worden waren, zu seiner Jugend, die prall gefüllt gewesen war mit Arbeit, Risiko und Erfolg und an die er doch niemals ohne zwiespältige Gefühle denken konnte, denn sein Glück war mit dem Unglück eines anderen gekoppelt gewesen. Edward Effingham hatte ihm durch Kapital und stille Teilhaberschaft den Start zu weitgespannten Unternehmen ermöglicht, und alles wäre in herzlichem Einvernehmen weitergelaufen, wenn nicht die politische Entwicklung einen Keil zwischen sie getrieben hätte. Es kam zu Spannungen zwischen der Kolonie und dem Königshaus, Temple stand auf der Seite der Empörer, Effingham trat infolge der Tradition seiner Familie für die Interessen Englands ein. Kurz vor der Schlacht von Lexington übergab Effingham alles, was er an Werten besaß, seinem Freund Temple und verließ die Kolonie. Als der Krieg auf seinem Höhepunkt war, tauchte Effingham wieder in königlich-britischer Uniform in New York auf und führte eine Truppenabteilung ins Feld. Marmaduke Temple hatte sich inzwischen eindeutig auf die Seite der Rebellen geschlagen, nun hörte jeder Verkehr zwischen den beiden Freunden auf. Kurze Zeit später mußte Temple die Hauptstadt verlassen; dabei nahm er auch die Papiere mit, die ihm Effingham anvertraut hatte. Während des Krieges arbeitete Temple in verschiedenen Zivilämtern, er leistete der aufständischen Kolonie gute Dienste, vergaß dabei seinen eigenen Vorteil nicht, und als nach dem Sieg die Güter der geschlagenen Königstreuen zum Verkauf ausgeboten wurden, erwarb er ausgedehnte Ländereien für einen Pappenstiel. Sein Freund Effingham galt als verschollen; so eifrig Temple auch nachforschte, so blieben doch alle Mühen vergeblich. Einmal hörte er, Effingham wäre nach England gegangen, aber dieses 446
Gerücht verlor sich im Dunst. Für eine gewisse Zeit wußte er, wo sich der Vater seines Freundes aufhielt, er schickte namhafte Beträge zur Unterstützung, aber wenig später kamen seine Briefe ungeöffnet zurück, und seine Überweisungen wurden nicht mehr angenommen. Temple zog sich damals den Tadel vieler Mitglieder seiner Kirchgemeinde zu. Man nannte ihn einen Spekulanten, der das Unglück anderer ausnützte, aber mit den Jahren gerieten seine Manipulationen in Vergessenheit, er verstand es, Kapital aus dem unsicher werdenden Handelsverkehr herauszuziehen und in seinen Ländereien zu investieren. In kurzer Zeit steigerte er ihren Wert im bergigen Gelände, dem niemand eine sonderliche Zukunft vorausgesagt hatte, um das Zehnfache, und er war noch nicht vierzig, da galt er schon als einer der vermögendsten und einflußreichsten Männer seines Landstrichs. Als der Distrikt, in dem er wohnte, genügend bevölkert war, um zum Bezirk erhoben zu werden, wurde Temple zum Richter ernannt. Er besaß keine juristischen Kenntnisse, die über die eines Kaufmanns hinausgingen, aber damals war es üblich, dem gesunden Menschenverstand mehr als überkommenen Rechtsnormen zu vertrauen, und überdies war es nötig, die Regeln für das Zusammenleben in den neugewonnenen Landstrichen aus den ständig zu erwerbenden Erfahrungen wachsen zu lassen. Temple war ein guter Richter geworden, wie er ein hervorragender Kaufmann war, er konnte mit sich zufrieden sein, und er war es. Als die Standuhr in der Halle die Mittagsstunde im Haus schlug, ging er ins Speisezimmer hinüber. Er aß mit Appetit, ritt später zu einem Vorwerk hinaus, prüfte Bauarbeiten, ließ Saatgut durch die Finger gleiten, und am Nachmittag, als Dunst aus den Niederungen stieg, hielt er 447
auf einem Hügel und schaute nach der Hütte hinüber, in der Natty Bumppo, Große Schlange und neuerdings auch Oliver Edwards wohnten. Niemand war zu sehen, Rauch quoll aus dem Schornstein. Dahinter stieg der Wald an, es war Temples Wald, so weit das Auge reichte, in der Senke links davon lagen seine Felder mit seinem Vorwerk; das Gespann, das eben auf den Ort zu fuhr, gehörte ihm. Ein kleines Reich, sann Temple, mein Reich; ich besäße es nicht ohne das Kapital meines Freundes Effingham, sein Unglück war mein Glück, aber ich habe sein Unglück weder verschuldet noch gewollt. Wann endlich werde ich aufhören, mich immer wieder vor mir selbst zu rechtfertigen? Temple gab seinem Pferd einen Schlag, den er sofort bereute, in raschem Trab ritt er zur Siedlung zurück. Er schlief eine Stunde im Lehnsessel, rechnete im groben aus, was ein Sägewerk kosten könnte, und überlegte, ob er sich mit dieser Investition jemandem zum Feind machte. Am Abend betrat er, wie er es sich vorgenommen hatte, die Schenke „Zum kühnen Dragoner“. Dieses Haus war schon gebaut worden, ehe die Straße in ihrer endgültigen Richtung festgelegt worden war, jetzt ragte es mit seinem Giebel vor und zwang die Fuhrwerke zu einem Bogen. Der Wirt, der lange Jahre als Dragoner gedient und seiner Waffengattung zu Ehren dem Wirtshaus diesen Namen gegeben hatte, erhob sich von seinem Platz neben dem Ofen und hinkte auf den Richter zu. Dr. Todd saß schon an einem Tisch, an einem anderen führte Doolittle, Zimmermann und Architekt, seit kurzem auch Friedensrichter, wie gewöhnlich das große Wort. Temple begrüßte die übrigen Gäste und setzte sich neben den Arzt. Es war damals in diesen Gegenden nicht üblich, daß jeder aus einem Glas für sich trank, vielmehr gingen Bier und 448
andere Getränke in großen braunen Krügen reihum. Ein Farmer schob Temple den Krug zu, der Richter leerte ihn und gab ihn dem Wirt, um ihn wieder füllen zu lassen. Der Arzt berichtete gerade, daß er am Nachmittag nach der erfreulich rasch heilenden Wunde von Edwards gesehen hatte. Der Friedensrichter warf die Frage auf, ob Temple, wäre der junge Mann Familienvater und durch den Schuß arbeitsunfähig geworden, eine Entschädigung, gar eine Rente zahlen müßte; dieser mit vielem Wenn und Aber gespickten Debatte pfropfte Temple das Problem auf, ob er auch zahlen müsse, wenn erwiesen wäre, daß er ohne Absicht den jungen Mann verletzt hätte - es war ein Rechtsstreit, der reichlich abstrakt geführt wurde und dem Richter weit weniger Vergnügen als dem Friedensrichter bereitete. Wie schon am Vortag bedauerte Temple wieder, keine Möglichkeit gehabt zu haben, gegen Doolittles Wahl Einspruch zu erheben. Temple konnte sich keine Funktion vorstellen, bei der die eigene Person so weit hinter die Sache zurücktreten mußte wie die des Friedensrichters. Und gerade dazu schien ihm Doolittle nicht fähig zu sein. Nach und nach füllte sich die Gaststube. Die Wirtin hatte alle Hände voll zu tun, die gewünschten Getränke zu mischen, der Wirt trug die Kannen an die Tische, Toaste wurden ausgebracht. Major Hartmann setzte sich neben den Richter, nach einer Weile erschien Richard Jones; als er einen Krug bestellt hatte, öffnete sich die Tür abermals, und, in eine Wolke kalten Nebels gehüllt, trat Natty Bumppo ein. Er lehnte seine Büchse an die Wand, nickte in die Runde und setzte sich in die Nähe des Feuers, ohne daß er den Mantel ausgezogen oder die Mütze abgenommen hätte. Der Wirt brachte ihm ein Glas Branntwein, das der alte Jäger mit einem Zug leerte. Jemand fragte ihn, wo man am erfolgversprechendsten 449
eine Fuchsfalle aufstellen könnte und welcher Köder am besten wäre - Natty beantwortete die Fragen bereitwillig und sachkundig, er streckte die Füße zum Feuer und blickte ruhig in die Flammen. Am Tisch der Honoratioren wandte sich das Gespräch den Geschehnissen in der weiten Welt zu. Nur selten drangen Nachrichten in diese abgelegene Gegend, so hörten alle begierig zu, als Temple von seiner Reise erzählte. Die Zeitungen in New York hatten von neuen Kämpfen in Frankreich berichtet, der König war aufs Schafott geführt worden, die Österreicher schlugen die Franzosen bei Neerwinden, in Paris regierten die Jakobiner, wieder einmal hatten Polens Nachbarn fette Brocken aus dem ohnmächtigen Land herausgeschnitten. Die Wirtin mischte einen Flip, ihr Mann zog mit einer Zange ein glühendes Stück Eisen aus dem Feuer und tauchte es in den Krug. Zischend stieg eine aromatische Wolke auf; als das Getränk zu brodeln begann, trug es der Wirt an den nächsten Tisch. „Es gibt auch eine Neuigkeit“, sagte der Richter, „die uns angeht. Endlich ist ein Gesetz erlassen worden, das verbietet, in Flüssen und kleineren Seen während der Laichzeit mit Schleppnetzen zu Eschen, und Hirsche dürfen nicht mehr während der Tragezeit geschossen werden. Dieses Gesetz ist längst nötig, und ich hoffe, daß auch bald das Fällen der Bäume amtlich geregelt wird, um den fürchterlichen Raubbau zu unterbinden.“ Natty hatte gespannt zugehört; als der Richter endete, rief er: „Sollen die klugen Leute so viele Gesetze machen, wie sie wollen, aber wer wird Wälder, Flüsse und Seen bewachen? Wer ein Wild trifft, darf es schießen, das kenne ich seit meiner Jugend nicht anders, und ein altes Gesetz ist ebensoviel wert wie zwei neue. Nur wer nichts 450
von der Jagd versteht, wird ein Reh mit einem Kitz an der Seite schießen, denn das Fleisch ist zu dieser Zeit nichts wert.“ „Das Wild ist selten geworden, Natty“, erwiderte der Richter, „das bestreitet niemand. Mit einem durchdachten Gesetz als Handhabe kann eine wachsame Verwaltung viele Mißstände verhindern. Ich hoffe, es gibt bald ein Gesetz, das das Wild zum Besitz des Grundeigentümers macht, damit wir nicht die Tiere unserer Wälder ausrotten.“ „Lauter Neuerungen!“ murrte Natty. „Aber ich denke, vor dem Gesetz soll keiner dem anderen gegenüber einen Vorteil haben. Vor kurzem schoß ich einen Hirsch an, er sprang über einen Zaun. Ich rannte ihm nach, aber das Schloß meiner Büchse verfing sich in einem Busch, und so konnte ich ihn nicht gleich verfolgen. Wäre der Zaun nicht gewesen, hätte ich sofort ein zweites Mal schießen können, so ging mir das Tier durch die Lappen. Nein, Richter, nicht die Jäger machen das Wild selten, sondern die Siedlungen.“ Temple fand das, was Natty eben vorgebracht hatte, nicht sehr logisch, er wollte das Gespräch nicht fortführen, doch Major Hartmann sagte: „Es stimmt natürlich, daß es weniger Hirsche gibt als vor zwanzig Jahren. Aber das Land ist nicht für das Wild, sondern für den Menschen da.“ „Auch ich bin ein Mensch“, entgegnete Natty starrsinnig, „ich bin Jäger, und wenn es nach dem Recht geht, muß ich das ganze Jahr hindurch jagen und fischen dürfen, denn ich muß jeden Tag essen.“ Weder Temple noch Hartmann wollten sich mit Natty streiten und wandten sich anderen Themen zu. Wieder war von Frankreich die Rede, jemand berichtete ausführlich, 451
unter welchen Bedingungen er Feld, Wald und ein Haus verkauft hatte, alle lauschten kritisch und wogen das Für und Wider des komplizierten Geschäfts ab. Sie waren dabei so in ihrem Element, daß sie nicht darauf achteten, wie die Tür abermals geöffnet wurde und der alte Indianer, den sie John nannten, eintrat. Die Wirtin hielt ihm einen Krug hin, der mit einer Mischung von Apfelwein und billigem Whisky gefüllt war, der Indianer leerte ihn mit einem Zug und setzte sich neben Natty. Beide schwiegen, erst als sich das Gespräch wieder dem Jagdunfall zuwandte, bei dem Edwards zu Schaden gekommen war, beteiligte sich Natty daran. Er sagte: „Ich wußte genau, daß der Richter nichts gegen den Hirsch ausrichten konnte. Ich habe erst eine Vogelflinte kennengelernt, mit der sich etwas anfangen ließ, das war vor vielen Jahren an den Großen Seen. Der Lauf dieses französischen Gewehrs war halb so lang wie der meiner Büchse, aber damit konnte man eine Gans auf hundert Schritt herunterholen, allerdings zerfetzte das Schrot das Tier so schrecklich, daß man es fast zusammenkehren mußte. Als ich unter Sir William am Niagara gegen die Franzosen kämpfte, benutzten alle Jäger diese Büchse, sie war eine fürchterliche Waffe in den Händen von Männern, die sie rasch zu laden verstanden. Mein Freund hier neben mir war damals ein gefürchteter Krieger, er hieß Chingachgook und focht mit uns, allerdings schlug er lieber mit dem Tomahawk zu, als daß er schoß. Seitdem haben sich die Zeiten geändert. Damals gab es bestenfalls einen Pfad für Packpferde am Mohawk bis zu den Forts hinauf, jetzt hat man eine Straße gebaut und an beiden Seiten eingezäunt. Ich jagte vor kurzem dort in der Nähe der Farmen, und immer wenn die Hunde an die Straße kamen, verloren sie die Witterung, weil so viel auf allen 452
Wegen gereist wird.“ Die Männer hörten Natty interessiert, aber auch ein wenig amüsiert zu. Da erzählte ein alter Mann von einer Zeit, die lange zurücklag, allmählich wurde sie von einer Romantik verklärt, die sie groß, dunkel und rätselhaft erscheinen ließ. Dieser Jäger hatte in die damalige Zeit gepaßt, aber er fand sich nicht in der heutigen zurecht, die ganz auf Erwerb eingestellt war. Dem Richter, dem Gastwirt, dem Zimmermann, dem Arzt und den anderen Männern, die allesamt auch Grundbesitzer und Kaufleute waren, die von früh bis spät hart arbeiteten und Dollar auf Dollar häuften, erschien dieser abgerissene Alte, der ohne Bedürfnisse in einer Hütte am Waldrand lebte, als anachronistisches Überbleibsel. Natty nahm den Krug, den ihm der Arzt hinhielt, trank und reichte ihn an Große Schlange weiter. Dabei fuhr er fort: „Der alte John und Große Schlange sind zwei gänzlich verschiedene Leute, so kommt es mir heute vor. Ich kann mir selbst nur schwer vorstellen, wenn ich den alten Burschen so sitzen und Bier trinken oder wenn ich ihn in der Kirche beten sehe, daß ich mit ihm die wildesten Abenteuer bestanden habe. Im Krieg von achtundfünfzig stand er in der Blüte seiner Manneskraft, und ich denke, damals war er drei Zoll höher als jetzt. Ich weiß noch: Als wir einmal die Franzosen schlugen, war er nackt bis zum Gürtel, schlank und geschmeidig, die eine Seite seines Gesichts war rot, die andere schwarz bemalt, ein Büschel von Adlerfedern hing an seinem Schöpf. In der einen Hand hielt er das Beil, in der anderen das Messer, ihr könnt euch keinen kriegerischeren Anblick vorstellen. Als das Gefecht vorbei war, hingen dreizehn Skalpe an seinem Gürtel.“ 453
Major Hartmann rief lachend: „Schneidest du nicht ein wenig auf, Lederstrumpf?“ „Das Aufschneiden ist erst jetzt in Mode gekommen. Oder glaubt ihr jedem, der euch erzählt, wie viele Dollars er besitzt? Später wurde mein Freund von den Mährischen Brüdern bekehrt, seitdem hat er niemandem mehr die Kopfhaut abgezogen. Nun ist er der alte John. Ach, manchmal wünschte ich, die Delawaren glaubten noch an Manitu und wohnten in diesen Bergen, die Wälder wären noch ihre Jagdgründe.“ Richard Jones protestierte: „Und an unsere Felder und an die hübschen Ortschaften denkst du gar nicht?“ Wieder wurde Natty ein Krug hingehalten, wieder trank er und gab ihn an seinen Freund weiter. Große Schlange ließ das braune Bier in seine Kehle laufen, als wäre es Wasser, hart setzte er den Krug auf. Natty sagte leise: „Du solltest nicht zu viel trinken, Alter.“ Richard Jones schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ein Krug auf meine Rechnung“, rief er, „und dann wird gesungen!“ Er stemmte sich hoch; während er ein sentimentales Lied sang, das in nicht immer einwandfreien Reimen die Freude an Rosen und Liebe verkündete, wurde es allmählich still. Mit lauter Stimme, die niemand dem kleinen Mann zugetraut hätte, schmetterte er die letzten Verszeilen: „Daß Sorgen nicht streuen die silbernen Flocken zu frühe in unsere dunkelen Locken“, und nahm mit ausgebreiteten Armen den Beifall entgegen. Er lärmte: „Das habe ich selbst gedichtet, ist es nicht großartig? Was sagst du zu dieser Musik, John? Ist sie nicht genauso prächtig wie in einem von deinen Kriegsliedern?“ Der Indianer nickte, Major Hartmann sagte: „Ein wundervolles Lied, aber Natty Bumppo kennt bestimmt 454
eins, das noch schöner ist. Alter Knabe, willst du uns nicht ein Waldlied vorsingen?“ Natty schüttelte den Kopf und brummte: „Ich habe so viel Schreckliches in den Bergen und Wäldern sehen müssen, daß mir die Lust zum Singen vergangen ist. Wenn der, der das Recht hat, über dieses Land zu herrschen, seinen Kummer mit Bier und Whisky ertränken muß, dann sollten die, die von seinem Eigentum leben, nicht so tun, als gäbe es auf der Welt nur Sonnenschein.“ Richard Jones hatte nicht begriffen, was Natty gesagt hatte, oder er wollte es nicht begreifen, weil es so gar nicht zu seiner Stimmung paßte. Er hielt ihm einen mit dampfendem Flip gefüllten Becher entgegen und rief: „Lustig soll es hergehen! Was redest du von Sonnenschein? Bist du blind, Lederstrumpf, daß du den Schnee nicht mehr sehen kannst? Und hörst du, wie John langsam in Stimmung kommt? Die Indianer haben doch eine verdammt traurige Musik, und nach Noten singen sie bestimmt nicht. Wenn unsere Rothaut noch einen Becher geleert hat, wird sie die herzzerreißendsten Grablieder singen, und das zum Weihnachtsfest.“ Große Schlange hatte die Augen halb geschlossen, sein Oberkörper wiegte sich hin und her, während er eine kurze, sich immer wiederholende Melodie sang. Die wenigen Worte, die zu ihr gehörten, stammten aus dem Dialekt der Delawaren; nur Natty verstand sie. Ohne auf seine Umgebung zu achten, sang Schlange sein indianisches Lied, wobei seine Stimme zwischen schrillen Tönen im Falsett und dumpf grollenden im Baß wechselte. Kaum jemand achtete auf ihn. Die Stimmung war weit fortgeschritten, Grüppchen bildeten sich, die heiß und ohne sich um den Nachbarn zu kümmern, über Pfarrer Grants Kunst zu predigen, über die beste Methode, 455
kränkelnde Schweine bei Appetit zu halten und über die Verwundung des Oliver Edwards debattierten. Krug um Krug wurde geleert, Wirt und Wirtin kamen keinen Augenblick zur Ruhe, immer wieder mußten sie Getränke mischen, Flaschen aus dem Keller holen und das glühende Eisen in die Flipkrüge stecken. Rauchschwaden hingen an der Decke; wenn jemand hinausging, schlug die Nachtluft kalt und feucht herein. Als Große Schlange den Kopf auf die Brust sinken ließ, sagte Natty zu ihm: „Wie kannst du von alten Schlachten und Siegen singen, wo der Feind in der Nähe ist, der den Jungen Adler beraubt hat?“ Große Schlange zwang sich aufzustehen, nur mühselig kam er auf die Beine. „Falkenauge“, sagte er, „ich bin ein Häuptling der Delawaren, ich finde die Mingos in ihren Schlupfwinkeln und strecke sie mit einem Schlag zu Boden. Der weiße Mann machte mein Beil blank, aber es war rot vom Blut der Mingohunde.“ „Warum sprichst du davon? Ist es nicht so lange her, daß es jeder vergessen hat? Aber das Blut eines Kriegers fließt in den Adern eines jungen Häuptlings, und dieser sollte sprechen. Doch seine Stimme ist so schwach, daß niemand sie hören würde.“ Durch Nattys mahnende Worte kehrten die Gedanken des alten Indianers allmählich in die Gegenwart zurück. Sein Blick wurde für kurze Zeit wieder klar, er ließ ihn durch den Raum schweifen und auf dem Gesicht des Richters haften. Er flüsterte: „Große Schlange wird sich rächen“, dabei tastete seine Hand nach dem Beil. Natty hielt ihm den Arm fest und warnte: „Kein Blutvergießen, hörst du!“ Das Feuer in den Augen des Delawaren erlosch so rasch, wie es aufgeflammt war, seine Hand sank herab, und der Schritt, mit dem er auf den Tisch der Honoratioren zuging, 456
war unsicher. Richard Jones hielt dem Indianer einen Becher mit Apfelwein hin, Große Schlange packte ihn mit beiden Händen und trank ihn mit einem Zug leer, dann sank er auf die Bank zurück, und der Becher rollte über den Boden. „So geht es allen Indianern“, sagte Natty traurig, „gebt ihnen Alkohol, und sie werden zu Hunden.“ Er zog seinen Freund hoch und führte ihn in einen Nebenraum. Auf Stroh, unter einer Pferdedecke schlief der alte John, der einmal ein Häuptling der Delawaren gewesen war, seinen schweren Rausch aus. Natty nahm sein Gewehr und stapfte zu seiner Hütte zurück. Vor einer Schneewehe stolperte er und stürzte, da merkte er, daß auch er zuviel getrunken hatte. In der Gaststube aber bestellte Marmaduke Temple einen frischen Krug.
2 In dieser Nacht schlug das Wetter um, Wolken überzogen den Himmel von Südosten her, der Mond verschwand hinter einer Dunstmasse, die vom Atlantik nach Nordwesten trieb und Tauwetter ankündigte. Noch fiel kein Tropfen von den Dächern, aber als Elisabeth Temple am Morgen aus dem Haus trat, schmeckte die Luft weich, die kahlen Äste standen reglos vor einem grauen Himmel, und der Schnee knirschte nicht mehr unter den Stiefeln. Noch war es still in Templeton, die Zecher hatten nicht aus den Federn gefunden, und das Gesinde verrichtete nur die nötigsten Arbeiten. Vieh wurde gefüttert, Kühe wurden gemolken, und nach getaner Stallarbeit legte sich mancher noch einmal zu einem Schlummer nieder. Elisabeth ging über die Straße auf das Haus von Richard Jones zu, als sich ein Fenster auftat, ein Gesicht mit einer Nachtmütze sichtbar wurde und Jones rief: „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Mädchen! Du 457
bist schon auf den Beinen? Warte nur einen Augenblick, bis ich in Rock und Stiefeln bin. Niemand kann dir besser erklären, was in den letzten Jahren in unserem Ort verändert worden ist, als ich, denn ich habe die Pläne dazu entworfen.“ Der Kopf verschwand, Elisabeth ging in ihr Haus zurück und trat wenige Minuten später mit einer versiegelten Rolle in der Hand wieder hinaus. Richard Jones stand schon auf der Straße, er sagte: „Die richtige Zeit für einen Spaziergang! Der Schnee wird weich, aber wir bekommen noch keine nassen Füße, und die Luft beißt nicht mehr in die Nase. Es ist schon ein merkwürdiges Klima bei uns hier oben, eben glaubte man noch, man wäre im tiefsten Kanada, und heute riechst du den Ozean. Was hast du da?“ „Ein Geschenk meines Vaters für dich.“ „Ach, ich weiß schon, es wird der Plan für ein holländisches Bethaus sein, den er mir mitbringen wollte. Aber ich lasse mich nicht gern bevormunden, am liebsten baue ich nach eigenen Ideen, und daß ich genug davon habe, beweist unter anderem euer Haus.“ Elisabeth lachte. „Niemand bestreitet, daß du ein gewaltiger Architekt bist, Onkelchen. Aber in meiner Rolle steckt etwas ganz anderes.“ „Vielleicht hat mich dein Vater zum Direktor für die neue Straßenkommission vorgeschlagen?“ „Nein, diese Anstellung ist es nicht.“ „Aber eine andere Anstellung? Hoffentlich keine beim Militär!“ „Das auch nicht. Es ist ein Amt, das Ehre einbringt und obendrein mit einem Gehalt verbunden ist.“ Richard Jones faßte nach der Rolle, Elisabeth zog sie scherzhaft zurück, schließlich gab sie sie ihm, und nachdem er gelesen hatte, rief er: „Das ist wahrhaftig ein 458
großartiges Weihnachtsgeschenk! Ich bin zum Sheriff ernannt worden! Dein Vater vergißt seine Freunde nie. Elisabeth, er kann sich darauf verlassen, daß ich dieses Amt gewissenhaft ausführen werde. Konnte er nicht gestern abend mit dieser Neuigkeit herausrücken? Wir hätten dann einen herrlichen Grund gehabt, noch einige Krüge zu leeren.“ Elisabeth lächelte. „Ich bin froh, daß mein Vater noch einigermaßen zur rechten Zeit nach Hause gekommen ist. Wie ist das, bist du nun der Vorgesetzte des Friedensrichters?“ „Das eigentlich nicht. Doolittle hat kleine Streitigkeiten zwischen Bürgern zu klären, Beleidigungen, Ärger mit Vieh, das in fremde Gärten einbricht und dergleichen. Ich“, und dabei streckte der kleine Mann die Brust heraus, „werde die schweren Verbrechen bekämpfen, Mord, Falschmünzerei, Raub. Allerdings könnte es sein, daß Doolittle mich vertreten muß, wenn ich nicht am Ort bin. Ich setze mich gleich heute nachmittag hin und stelle detaillierte Pläne auf. Ich teile den Bezirk in Ämter ein, und natürlich brauche ich zuverlässige Gehilfen. Aber jetzt erkläre ich dir erst einmal, was wir alles geschaffen haben. Diese Straße da...“ Elisabeth fragte verwundert: „Das Stückchen Weg durch die Fichten nennst du Straße? Sollen denn kurz vor dem Wald und nahe an den Sümpfen Häuser gebaut werden?“ „Unsere Straßen müssen nach allen Richtungen führen, und was stören mich Wald und Sümpfe? Der Wald wird gerodet, der Sumpf wird trockengelegt, und jetzt als Sheriff...“ Jones verstummte und zeigte zwischen die Büsche hinein; leise fuhr er fort: „Wer lungert dort herum? Ich müßte mein neues Amt nicht ernst nehmen, wenn ich einfach weiterginge.“ Jones mühte sich, seinem Gesicht 459
einen Zug von Würde zu geben, er zog seinen Rock straff und räusperte sich, sein Gesicht rötete sich vor Eifer. Elisabeth bog einen Zweig zur Seite, sie sah drei Männer auf einer Lichtung stehen und erkannte Natty Bumppo, den alten John und Oliver Edwards. Sie erwiderte: „Wir wollen weitergehen, wir haben kein Recht, die Geheimnisse anderer Leute zu belauschen.“ „Kein Recht?“ flüsterte der frischgebackene Sheriff. „Ich muß Friede und Ordnung aufrechterhalten, und es sollte mich nicht wundern, wenn diese drei Vagabunden da ein krummes Ding ausheckten.“ Er faßte Elisabeth an der Hand, vorsichtig traten sie näher, bis sie beinahe jedes Wort verstehen konnten. „Wir müssen den Vogel unbedingt kriegen“, sagte Natty eben. „Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen wilde Truthühner hier nicht selten waren, aber jetzt muß man fast bis Virginia laufen, wenn man einen schießen will. Und ein fetter Truthahn ist schließlich etwas anderes als ein Rebhuhn. Ich besitze nur noch einen Schilling, alles übrige Geld habe ich dem Krämer für ein bißchen Pulver gegeben, und da ihr selbst nicht mehr habt, können wir uns nur einen einzigen Schuß leisten. Es ist ein Jammer, aber ich kann es nicht ändern: Wenn es um etwas Wichtiges geht, zittert meine Hand. Also muß John schießen.“ „Ach was“, erwiderte Oliver, „du wirst schon treffen.“ „John muß schießen, ich bleibe dabei. John läßt sich nicht aus der Ruhe bringen, ein Indianer weiß gar nicht, was Nerven sind.“ Große Schlange hatte mit gesenktem Kopf dabeigestanden, jetzt hob er die Augen und sagte: „Als Schlange jung war, flog seine Kugel gerade wie sein Blick. Die Mingos schrien beim Knall seiner Büchse. Nie schoß er zweimal, der Adler flog über den Wolken, aber 460
seine Federn schmückten den Kopf des Häuptlings. Doch jetzt beben seine Hände wie die Flanken eines Hirschs, wenn der Wolf heult. Ist Chingachgook alt? Wird ein Mohikaner nach siebzig Jahren zum Weib? Nein, der weiße Mann macht ihn alt, sein Tomahawk ist das Feuerwasser.“ Oliver rief: „Aber warum trinkst du das Gift? Warum läßt du dich von ihm zum Tier machen?“ „Tier? Ist John ein Tier?“ Große Schlange senkte den Blick auf seine Hände, er murmelte: „Du sprichst keine Lüge. Früher stieg nur selten Rauch in diesen Wäldern auf. Das Reh leckte die Hand des Menschen, die Vögel ruhten sich auf seinem Haupt aus. Meine Väter kamen von den Ufern des Salzsees hierher, sie flohen vor dem Feuerwasser. Damals war John ein Mann. Aber Soldaten und Händler folgten ihm, der eine brachte das lange Messer und der andere das Feuerwasser. Sie waren zahlreicher als die Füchse, sie traten die Beratungsfeuer des roten Mannes aus und raubten sein Land. Der böse Geist steckte in ihren Krügen, und John wurde ein christliches Tier.“ Oliver entgegnete: „Ich wollte dir keinen Vorwurf machen, entschuldige. Du weißt, daß ich stolz bin, deiner Familie anzugehören.“ „Du bist ein Delaware“, murmelte der alte Häuptling. „Deine Worte sind nicht gesprochen worden.“ Richard Jones, dem kaum ein Wort entgangen war, flüsterte Elisabeth zu: „Schon als er meinen Pf erden so ungeschickt in die Zügel fiel, dachte ich mir, daß in den Adern des Burschen Indianerblut fließt; Indianer können eben weder mit Pferden noch mit dem Gewehr richtig umgehen. Aber ich habe ihm verziehen und will dem armen Schlucker noch einen Schilling schenken, damit er 461
beim Weihnachtsturnier zweimal schießen kann.“ Elisabeth legte die Hand auf den Arm ihres Verwandten und flüsterte: „Kannst du denn so ohne weiteres einem Gentleman einen Schilling anbieten?“ „Einem Gentleman? Er ist ein Mischling, weiter nichts, er würde den Schilling genauso annehmen wie ein Glas Branntwein, obwohl er jetzt dagegen wettert. Aber der Junge soll den Truthahn gewinnen, er wird sich allerdings anstrengen müssen, um Billy Kirby zu übertreffen.“ Kurz entschlossen sagte Elisabeth: „Ich werde mit den Männern reden.“ Sie drückte die Zweige beiseite und ging Richard Jones voran. Oliver Edwards verbeugte sich verwirrt und zog die Mütze, weder Natty noch der alte Indianer zeigten irgendeine Überraschung. Elisabeth begann sofort, sie hätte gehört, nach altem Brauch finde wieder ein Truthahnschießen statt, sie möchte einen Einsatz wagen und bitte einen der Herren, für sie einen Schuß abzugeben. Dabei hielt sie Natty einen Dollar hin, den dieser ohne Umstände annahm und in seinen Schrotbeutel steckte. „Gut“, sagte Natty, „Oliver schießt für uns drei, und ich schieße für Sie, Miß Temple, und wenn nicht Kirby mehr Glück hat als wir, sehen Sie heute morgen einen Truthahn vor Ihren Füßen. Wir wollen jetzt keine Zeit mehr verschwenden, sonst kommen wir womöglich zu spät.“ Nicht sehr freundlich wandte Edwards ein: „Aber ich schieße vor dir, Lederstrumpf, darauf bestehe ich! Entschuldigen Sie, Miß Temple, doch ich brauche den Vogel dringend und kann keine Rücksicht darauf nehmen, womöglich unhöflich zu wirken.“ Elisabeth erwiderte lachend: „Wir sind beide Glücksjäger, dem Glück gegenüber hat die Dame keinen Vortritt, und Lederstrumpf ist mein Ritter.“ 462
Natty legte das Gewehr auf die Schulter und schlug den Weg zum Dorf hinunter ein. Oliver Edwards und der Delaware folgten ihm, Jones und Elisabeth gingen am Schluß. Der neuernannte Sheriff sagte: „Wenn du wirklich einen Truthahn haben willst, so hättest du dich nicht an einen fremden Menschen und dazu an eine so zwielichtige Gestalt wie Lederstrumpf wenden sollen. Auf meinem Geflügelhof laufen fünfzig Truthähne herum, du kannst dir jederzeit einen aussuchen.“ „Aber ich will, daß Lederstrumpf mir einen schießt.“ Der kleine Mann reckte das Kinn und sagte: „Hast du schon von dem Schuß gehört, mit dem ich den Wolf traf, der deinem Vater ein Schaf raubte? An diesem Tag war ich in großartiger Form! Allerdings hatte der Wolf das Schaf auf seinen Rücken geworfen und den Kopf nach der anderen Seite gedreht, im normalen Fall...“ Elisabeth unterbrach ihn fröhlich: „So hast du das Schaf erschossen, ich weiß, und der Wolf rannte fort, und niemand weiß, ob du ihm überhaupt das Fell gekratzt hast.“ „Wie dem auch sei“, erwiderte Jones, „meine neue Würde verbietet mir, mich an der heutigen Volksbelustigung zu beteiligen. Aber ich werde dich natürlich begleiten.“ Während dieses Gesprächs erreichten sie den Platz, auf dem das Preisschießen schon begonnen hatte. Der Veranstalter war ein freier Neger, der Geflügel in Käfigen mitgebracht hatte; er band jeweils ein Tier am Stumpf einer Fichte an und setzte den Preis für jeden Schuß fest. Wer den Einsatz bezahlt hatte, feuerte aus einer Entfernung von hundert Ellen; wer das Tier getroffen hatte, durfte es behalten. Schon mehrere Hühner und Enten hatten ihren neuen Besitzer gefunden, die 463
angesehensten Schützen aber standen noch beieinander und warteten auf den Beginn des Truthahnschießens, den Höhepunkt des Wettbewerbs. Zwanzig oder dreißig junge Männer hatten ihre Gewehre mitgebracht, die Schuljungen lungerten um sie herum, lauschten neugierig den großsprecherischen Reden über frühere Meisterschüsse und sehnten den Tag herbei, an dem auch sie ein Gewehr tragen durften. Dicht umringt stand Billy Kirby, der Holzfäller. Er war ein Riese mit breiten Schultern und gewaltigem Brustkorb, seine Stimme dröhnte weit über den Platz. Er stellte eine seltsame Mischung von roher Kraft und gutmütigem Wesen dar, von Arbeitswut und dem Hang, das Leben zu genießen. Er brachte es fertig, wochenlang von Gasthaus zu Gasthaus zu ziehen; manchmal ging er für ein Mittagessen und eine Flasche Branntwein jemandem zur Hand, dann wieder lag er faul in der Sonne oder fing einen Korb Krebse für ein Abendbrot. Verdingte er sich aber einmal jemandem als Holzfäller, umschritt er das Waldstück, das ihm zugewiesen war und markierte die Grenzbäume durch Axtschläge, ging in die Mitte, legte Jacke und Hemd ab, suchte sich einen besonders mächtigen Baum aus und hieb ihn zusammen. Von da an arbeitete er wochenlang vom Tagesanbruch bis in die Dämmerung hinein, zerrte mit einem Ochsengespann die Stämme zusammen, schichtete Scheiterhaufen auf, und unter dem Prasseln der Flammen zog er ab wie ein Sieger, der eine eroberte Stadt in Brand gesteckt hat. Dann lungerte er wieder durch die Schenken und verpraßte auf Jahrmärkten und bei Hahnenkämpfen das Geld, das er sich in schwerer Arbeit verdient hatte. Als Natty Bumppo, Oliver Edwards und der alte Delaware den Platz erreichten, hatte der Neger den 464
Truthahn bereits angebunden und den Preis für jeden Schuß auf einen Schilling festgesetzt; das war die höchste übliche Einlage. Der Truthahn war fast ganz in den Schnee eingegraben, nur Hals und Kopf ragten heraus, sie mußten getroffen werden. Kirby rief: „Beiseite, Jungs, oder ich knalle euch über den Haufen. Hähnchen, einen Augenblick noch, und du gehörst mir!“ Oliver Edwards unterbrach: „Moment, ich beteilige mich ebenfalls. Hier ist mein Schilling!“ Kirby maß Edwards mit einem spöttischen Blick; er sagte, während er den Flintenstein festschraubte: „Nur nicht gleich so hoch hinaus, Junge! Ich hörte, du hattest ein Loch in der Schulter. Meiner Meinung nach müßtest du nur den halben Einsatz zahlen. Bilde dir nicht ein, es sei ein Kinderspiel, Hals und Kopf des Vogels auf diese Entfernung zu treffen. Aber wahrscheinlich kommst du gar nicht an die Reihe, vorher gehört der Braten schon mir.“ „Tu nicht so dick, Billy“, sagte Natty, während er den Kolben seiner Büchse in den Schnee setzte und sich auf den Lauf lehnte. „Du darfst nur einmal schießen, dann kommt Oliver an die Reihe, und wenn er nicht trifft, was bei seiner verwundeten Schulter kein Wunder wäre, bin noch immer ich da.“ „Was sehe ich“, rief Kirby, „Lederstrumpf, du bist schon auf den Beinen? Immerhin, ich habe eher aus den Federn gefunden und habe den ersten Schuß, alter Knabe. Ich glaube, du kannst heute dein Pulver sparen.“ Er trat an die Markierung, die der Neger in den Schnee gezogen hatte, und hob die Büchse. Am aufgeregtesten war jetzt der Neger, der fürchtete, den Truthahn gegen einen einzigen Schilling abgeben zu müssen. Er rief seinem Vogel zu, er solle den Kopf nicht stillhalten, er behauptete, Kirby hätte 465
eben die Linie übertreten - mit diesem Geschrei und wildem Gefuchtel wollte er den Schützen verwirren. Aber all diese Manöver prallten an Kirbys stoischer Ruhe ab. Er zielte konzentriert, für eine Minute herrschte gespannte Stille, dann krachte der Schuß, der Puter duckte sich und schüttelte Schnee von den Flügeln, gleich darauf saß er wieder ruhig und blickte scheu umher. Der Neger rannte zu dem Truthahn hin und umsprang ihn in einem Freudentanz. Er streichelte ihn, rief ihm Kosenamen zu und lief zur Linie zurück, wo sich gerade Oliver Edwards für einen Schuß fertig machte. Kirby war zurückgetreten, in seinem gutmütigen Gesicht mischte sich Staunen über seinen Fehlschuß mit dem Ärger darüber, daß ihm die sicher geglaubte Beute fürs erste entgangen war. Natty sagte eben zu Edwards, es sei hinausgeworfenes Geld, mit einem verletzten Arm ein so schwieriges Ziel treffen zu wollen, aber der junge Mann ließ sich nicht abbringen. Seine Hand besaß nicht genügend Kraft, die Mündung schwankte, und niemand wunderte sich, daß der Puter nach dem Schuß nicht einmal den Kopf wendete. Vor Freude warf der Neger eine Handvoll Schnee in die Luft. Natty zog die lederne Schutzhülle von seinem Gewehrschloß und spannte den Hahn.’ „Da fällt mir ein“, sagte er, „daß ich einmal unten am Schoharie in einer holländischen Siedlung an einem Preisschießen teilnahm, das war kurz vor dem letzten Krieg. Ich habe ein Pulverhorn, drei Stangen Blei und ein Pfund Pulver gewonnen, und hinterher war ein Holländer so wütend, daß er mich erschießen wollte. Ich bin bloß froh, daß mir so was in dieser Christengemeinde nicht passieren kann.“ Er stellte den rechten Fuß zurück, streckte den linken Arm längs des Laufes aus, zielte und drückte ab, aber statt des Schusses war nur das Klicken des Feuersteins zu hören. 466
„Abgeschnappt!“ schrie der Neger. „Abgeschnappt gilt als Schuß, Natty hat geschossen und nicht getroffen!“ „Wenn du nicht sofort aus dem Weg gehst“, schimpfte Natty, „werde ich einen halbverrückten Neger treffen. Es ist völliger Unsinn, daß ein Abschnappen als Schuß zählen soll.“ Der Neger, der sich vor seinen Vogel gestellt hatte, schrie, man solle ihm ehrliche Bedingungen gewähren, überall würde man das Durchziehen des Drückers als Schuß werten. Er rief die Umstehenden als Zeugen an, wandte sich an Richard Jones, sogar an Elisabeth Temple, und natürlich hatte er in Kirby einen Verbündeten. Der Holzfäller behauptete, überall im Lande wäre es so Brauch, wie der Neger sagte; wenn Lederstrumpf noch einmal schießen wollte, müsse er einen weiteren Schilling setzen, jetzt aber wäre erst einmal er selbst wieder an der Reihe. Richard Jones stellte sich in Positur, mit wichtigtuerischer Stimme verkündete er, es wäre durchaus in der Ordnung, daß er, der zum Hüter des Gesetzes bestimmt sei, nach seiner Meinung gefragt würde. „Es steht außer allem Zweifel“, dozierte er und genoß es, daß der Streit um ihn herum verstummte, „die Obrigkeit muß darüber wachen, daß sich Menschen, die Waffen tragen, nicht in die Haare geraten. In diesem Fall liegt weder ein mündlicher noch ein schriftlicher Vertrag vor, so daß ich einen Vergleich ziehen muß. Bei einem Duell gilt das Abschnappen als Schuß, denn es wäre äußerst unvernünftig, einem Mann zu gestatten, den ganzen Tag über zu zielen und immerfort abzuschnappen. Folglich hat Lederstrumpf geschossen und muß noch einen Schilling zahlen, wenn er im Rennen bleiben will.“ Natty merkte, daß er gegen diese Argumente nichts ausrichten würde, und wandte sich mit fragender Miene zu 467
Elisabeth Temple um. „Sie müssen sich fügen“, sagte sie, „machen Sie sich nichts daraus, ich zahle Ihnen einen weiteren Einsatz.“ Natty kramte in seiner Tasche und suchte einen anderen Flintenstein heraus. „Die Händler drehen uns immer schlechtere Steine an“, brummte er, „und wenn man sich selber einen an den Flüssen suchen will, ist zehn zu eins zu wetten, daß der Pflug einem die Freude verdorben hat. Das Wild wird selten, und obendrein gibt man dem Jäger immer schlechteres Schießzeug in die Hand. Vor vielen Jahren vermachte mir einmal ein Mädchen eine Büchse, das war in einem Blockhaus auf einem See, mit dem Gewehr traf ich...“ Natty merkte, daß das, was er eben erzählen wollte, mit dem, was hier geschah, nicht das geringste zu tun hatte, er brach mitten im Satz ab und dachte: Ist das so, wenn man alt wird? Kirby hob bereits die Büchse zu seinem zweiten Versuch. Er zielte und zielte, die Stille auf dem Platz wurde geradezu unheimlich, endlich knallte sein Schuß, aber noch immer streckte der Truthahn seinen Kopf über den Schnee. Wie schon bei früheren Fehlschüssen machte der Neger seiner Freude in grotesken Sprüngen Luft, und sein Geschrei hallte von den Bäumen zurück wie der Kriegsruf einer Indianerhorde. Voller Ärger untersuchte Kirby den Kopf des Puters, er behauptete, seine Kugel hätte an dieser oder jener Stelle eine Feder abgerissen, und als er damit nicht durchkam, maulte er, niemand auf der Welt könne auf hundert Ellen einen Puterkopf treffen, und er wäre ein Narr gewesen, sich auf ein so verzweifeltes Geschäft eingelassen zu haben. Oliver Edwards verzichtete auf einen zweiten Schuß, so trat Natty Bumppo vor, schätzte die Entfernung mit zusammengekniffenen Augen und sagte zu Elisabeth: „Einmal schoß ich auf eine 468
Kürbisflasche, ohne zu zielen, ich warf einfach das Gewehr von einer Hand in die andere und riß dabei den Drücker durch.“ „Zielen Sie nur genau, Lederstrumpf.“ Als Natty die Büchse hob, spürte er, wie alle Erregung von ihm abfiel. Seine Hand war ruhig, die Muskeln seines Arms zuckten nicht; als er über Kimme und Korn den Schnabel des Truthahns sah, hielt er den Atem an und drückte ab. Die Pulverwolke vor der Mündung raubte ihm die Sicht, aber er war völlig sicher, getroffen zu haben, und ein großes Gefühl der Ruhe und des Glücks durchflutete ihn. Er nickte Oliver Edwards zu und sagte zu Elisabeth: „Ich hoffe, Miß, der Braten wird Ihnen schmecken.“ Der Kopf des Truthahns war verschwunden, die Jungen liefen schreiend hin und hoben den toten Vogel aus dem Schnee; sein Hals war fast völlig durchgerissen. Mit betrübtem Gesicht trug ihn der Neger heran und legte ihn vor Natty hin. Elisabeth sagte: „Mister Edwards, ich wollte mich nur von Lederstrumpfs Schießkunst überzeugen, den Truthahn hatte ich von vornherein Ihnen zugedacht. Betrachten Sie ihn bitte als kleine Entschädigung für die Verletzung.“ Elisabeth sah, daß Edwards errötete, sie hörte ihn erwidern, er könne das Geschenk keinesfalls annehmen, sie wiederholte ihre Bitte, schließlich schien es, als ob der Jäger einen inneren Widerstand überwinden müßte, er verbeugte sich und hob den Puter wortlos auf. Elisabeth gab dem Neger ein Silberstück, worauf dessen gute Laune augenblicklich wiederhergestellt war. Richard Jones erbot sich gerade, Elisabeth nach Hause zu bringen, da legte sich eine Hand auf seine Schulter; Richard Temple hatte eben den Schießplatz betreten und fragte: „Sehe ich dich schon im Amt, Vetter?“ 469
Jones breitete impulsiv die Arme und sagte: „Ich danke dir sehr, daß du mich beim Gouverneur empfohlen hast. Du kannst sicher sein, in mir einen großartigen Mann für diesen Posten gefunden zu haben. Jetzt hätte es hier Mord und Totschlag gegeben, wenn ich nicht mit einer salomonischen Entscheidung eingegriffen hätte. Ich werde noch heute eine Wettschießordnung entwerfen, die dann...“ Der Richter unterbrach ein wenig ärgerlich: „Du wirst das alles wunderbar machen, natürlich! Aber ich bin hier, um mit dem jungen Jäger zu reden.“ Temple ging durch die Menge auf Oliver Edwards zu, der, den Puter in der Hand, mit Natty Bumppo und Große Schlange im Gespräch stand. „Hören Sie, Mister Edwards“, begann er, „ich habe Sie verletzt, aber glücklicherweise kann ich Sie wenigstens einigermaßen entschädigen. Mister Jones ist Sheriff unseres Bezirks geworden, dadurch steht er mir kaum noch zur Verfügung, gerade jetzt aber nach meiner langen Abwesenheit brauche ich jemanden, der mir im Geschäft hilft. Ich habe Sie als verständigen Menschen kennengelernt und möchte, daß Sie wenigstens für einige Monate zu mir kommen.“ „Das ist unmöglich, Sir“, erwiderte Edwards sofort. „Ich würde gern eine Anstellung annehmen, denn meine finanzielle Lage ist vielleicht noch schlechter, als man aus meinem Äußeren schließen könnte. Aber ein Umstand, über den ich nicht sprechen möchte, zwingt mich, meinen Unterhalt auch weiterhin als Jäger zu verdienen.“ Jones, der dem Gespräch aus einiger Entfernung zuhörte, flüsterte Elisabeth zu: „Da siehst du’s, das ist der übliche Widerwille des Mischlings gegen geregelte Arbeit. Anderen Leuten die Pferde scheu machen und den Sleigh umwerfen, das kann er!“ 470
Elisabeth erwiderte leise: „Ich halte ihn für keinen Mischling. Er hat schwarzes Haar, nun, das habe ich auch. Aber sonst...“ „Er kann nicht schießen, er kann nicht mit Pferden umgehen, und John hat überall erzählt, daß Edwards seiner Familie angehört. Er ist ein Halbblut, sag ich dir, und wir sollten uns hüten, uns mit ihm einzulassen.“ „Die Jagd ist ein unsicheres Gewerbe, Mister Edwards“, argumentierte gerade der Richter. „Wenn Sie sich in meiner Firma eingearbeitet haben, könnten Sie mein Sekretär sein. Sie würden in meinem Haus wohnen und hätten ein regelmäßiges Einkommen.“ Natty brummte: „Ich bin mein Lebtag in den Wäldern nicht verhungert. Trotz der neumodischen Jagdgesetze kann ich auch jetzt...“ Der Richter unterbrach ihn: „Sie sollten nicht von sich auf andere schließen, Lederstrumpf. Sie stellen kaum Ansprüche und sind für Ihr Alter unvergleichlich zäh. Aber man sollte einen jungen Menschen warnen, so leben zu wollen wie Sie und darin eine Existenzgrundlage zu sehen/ Temple setzte dem jungen Mann auseinander, welche Arbeiten er ihm zugedacht hatte: Edwards sollte die Holzabfuhr beaufsichtigen, bei Viehkäufen und verkaufen über Land fahren, sich um Lohnzahlungen kümmern, vielleicht den Bau des neuen Sägewerks leiten, sich in den Schriftverkehr einarbeiten. Er hätte freie Kost und Logis und ein monatliches Gehalt von zehn Dollar. Edwards hörte interessiert zu, stellte hier und da eine Zwischenfrage, und ihm war anzumerken, daß er mit Freude diesen Posten angenommen hätte, aus irgendeinem Grund aber immer wieder zögerte. Endlich sagte Große Schlange: „Hör auf einen alten Mann deines Stammes. Der große weiße Landhäuptling und Junger Adler sollen 471
unter einem Dach wohnen und zusammen essen. Die Gerechtigkeit braucht viele Sonnen. Mein Sohn, du bist Delaware, und ein indianischer Krieger muß Geduld haben. Mein Sohn, lerne zu warten!“ Leise fügte Natty hinzu: „Schließlich hast du Freunde, Oliver.“ Dieser letzte Satz schien den Ausschlag zu geben; Edwards willigte in den Vorschlag des Richters ein. Temple schüttelte ihm die Hand und bat ihn, am nächsten Morgen den Dienst anzutreten, dann schlenderte er mit seiner Tochter und seinem Vetter in den Ort zurück. Hinter ihnen knallten wieder die Gewehre, das Wettschießen ging weiter. Es geschah selten, daß Richard Jones schwieg, deshalb wandte sich der Richter an ihn und fragte: „Bist du mit meiner Entscheidung nicht einverstanden?“ „Es ist dein Haus“, erwiderte Jones mürrisch, „und du bist ein erwachsener Mann. Aber wenn du mich fragst: Ich würde niemals einem Halbwilden eine Vertrauensstellung geben. Es müssen drei Generationen vergehen, ehe aus jemandem ein Gentleman wird.“ Mit einem Ausdruck, aus dem zu erkennen war, daß Temple keine weitere Debatte wünschte, sagte er: „Ab morgen ißt Edwards an meinem Tisch.“ Jetzt hob sogar seine Tochter verwundert den Kopf. Eine Weile schwiegen die drei. Temple blieb stehen, betrachtete die Wolken und sog prüfend die Luft ein, er bückte sich und ballte eine Handvoll Schnee zusammen. „Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir morgen das schönste Tauwetter. Und die Hälfte meines Holzes liegt noch im Wald. Da wird Edwards sofort zeigen müssen, was er kann.“ Über den Horizont schoben sich Dunstschwaden, die 472
Luft schmeckte weich, schwer gewordener Schnee fiel von den Ästen und narbte die glatte Fläche darunter. Als Temple die Tür seines Hauses öffnete, tropfte es zögernd vom Dach.
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Das neue Gesetz Dieses Frühjahr begann zögernd und mit bösen Rückfällen. Die ungeheuren Schneemassen buken durch häufigen Wechsel von Frost und Tauwetter zu grauen Eisschichten zusammen, die den milden Winden und der Sonne hartnäckig widerstanden. Für kurze Zeit schien es, als wollten sich warme Luftströmungen aus Süden und Westen durchsetzen, dann brachen wieder düstere Wolken aus dem Norden herein. Als endlich lauer Wind siegte, verwandelten sich die Landstraßen in Morast, Schlitten und Sleighs wurden in die Remisen gezogen, mit dem Fuhrwerk durfte sich niemand über Land wagen, und so versank Templeton wie die umliegenden Siedlungen in einen vorübergehenden Zustand der Reglosigkeit und des Mißmuts. Erst in den letzten Märztagen versiegten die zahllosen Rinnsale auf Feldern und Wegen. Richter Temple hatte diesen Zeitpunkt ungeduldig herbeigesehnt, er wollte die Saaten kontrollieren und sehen, wie seine Forsten die Winterstürme überstanden hatten, und so ließ er eines Morgens die Pferde für Elisabeth, Luise Grant, Richard Jones, Oliver Edwards und sich satteln. Unter goldener Sonne trabte die Kavalkade die Straße hinauf, hinter den letzten Häusern zog sie am Wegrand entlang, wo eine Grasnarbe den Hufen besseren Halt bot. Die Erde sah kalt und feucht aus, in den Lichtungen bergwärts lag noch schmutziger Schnee. Aber der Winterweizen stand dicht in frischem Grün. Richard Jones ritt an der Spitze, er wandte den Kopf und rief: „Wir sollten uns Kirbys Zuckerkocherei anschauen, keiner in der ganzen Gegend versteht davon soviel wie er. Heute ist ein wahres Zuckerwetter, ich wette, der Saft strömt aus den Ahornbäumen wie Milch aus einem 474
Kuheuter. Richter, es ist schade, daß wir in Templeton mit der Zuckerproduktion hinterherhinken.“ Temple trieb sein Pferd an die Seite seines Vetters und erwiderte: „Zunächst müssen wir die Bäume gegen die Dummheit der Leute schützen, dann erst sollten wir uns Gedanken machen, wie man die Fabrikation verbessern kann. Du weißt ja, Richard, daß ich einmal Zucker raffinieren ließ, der völlig weiß war.“ „Das schon, aber dein Zuckerstück war kaum größer als eine Pflaume. Du solltest einen Großversuch wagen. Wenn ich hunderttausend oder zweihunderttausend Äcker besäße wie du, ließe ich eine Zuckersiederei bauen, mit der könnte man zehnmal so viel Geld verdienen wie mit einem Sägewerk. Du müßtest einen Wald von kräftigen Bäumen auslesen und immer wieder nachpflanzen, und am Ende jedes Sommers hättest du eine ganze Scheune voll Zucker.“ Temple kannte die Art seines Vetters, schwungvolle Reden zu führen und Luftschlösser zu bauen, aber er selbst tat immer einen Schritt nach dem anderen und hätte sich niemals zu einer Investition hinreißen lassen, die auf so tönernen Füßen stand. Er wollte den Überschwang des Sheriffs bremsen, indem er zu bedenken gab, daß über die Natur des Baumes noch viel zuwenig bekannt wäre, daß man versuchen müßte, dessen Lebensbedingungen durch Hacke und Pflug zu verbessern, dann erst könnte man den nächsten Schritt riskieren und die Zuckergewinnung im Großen betreiben. Aber durch diese Argumente ließ sich Jones nicht abhalten, weiterhin in kühnsten Zukunftsträumen zu schwelgen. Nach einer Stunde erreichten die Reiter eine Bergkuppe, auf der Zuckerahornbäume in einem lichten Hain standen. Das Unterholz war herausgeschlagen worden, aus einem 475
Bohrloch in jedem Baum floß durch ein Röhrchen aus Erlenrinde bräunlicher Saft in eine Mulde. Auf einer Lichtung inmitten hochragender Bäume hantierte Billy Kirby an zwei Kesseln. Jones rief: „Nun, Kirby, wie geht das Geschäft?“ Oliver Edwards stieg als erster ab und hielt die Pferde der Mädchen an den Zügeln fest, er band sie an einen Baum und trat interessiert näher. Kirby erzählte gerade, in diesem Frühjahr hätten die Bäume soviel Saft wie selten, man müsse sie in den letzten Februar- oder in den ersten Märztagen anbohren, dann könne man mit gutem Erfolg rechnen. „Wenn ich einen Kessel voll Saft habe, koche ich ihn ein, bis er wie Sirup wird, dann darf ich nicht mehr so stark feuern, weil der Sud sonst verbrennt und bitter schmeckt. Ich schöpfe den Sirup von einem Kessel in den anderen, bis er Fäden zieht. Wenn er allmählich körnig wird, tun manche ein wenig Ton in die Pfanne, aber ich habe meine eigene Methode.“ Elisabeth fragte: „Ein Geheimnis?“ Kirby lachte, er schöpfte Schaum ab und hielt ihn den Mädchen hin, sie kosteten und lobten. Der Richter und Edwards gingen inzwischen ein Stück in das Gehölz hinein, sie sahen, mit welch barbarischen Hieben Kirby die Stämme angeschlagen hatte, und waren sich einig, daß nur wenige den Sommer überstehen würden. Als sie zu den Pfannen zurückgekehrt waren, sagte der Richter: „Es ist ein Jammer, wie die meisten Ansiedler mit dem Segen der Natur umgehen. Kirby, ich kann dich von diesem Vorwurf nicht ausnehmen, du richtest wegen einiger Pfunde Zucker einen ganzen Wald zugrunde. Ein Baum wächst in hundert Jahren, und du läßt ihn in einem einzigen Frühjahr sterben.“ Kirby runzelte die niedrige Stirn, er mühte sich 476
vergeblich, den Richter zu verstehen. Er hatte sein Leben lang Bäume gefällt und gedachte, noch manche Quadratmeile vom Urwald zu befreien, und so sagte er: „Aber wir brauchen doch Ackerland! Wozu sollen diese Bäume sonst nütze sein? Ich habe erzählen hören, in Europa lassen die Reichen riesige Buchen und Ulmen für nichts und wieder nichts vor ihren Herrensitzen stehen, nur zum Anschauen, und dabei würde jeder Baum fünf Fuder Bauholz oder ein Faß Pottasche geben.“ „Eines Tages werdet ihr mich alle verstehen“, sagte Temple, „dann werden wir Wild und Bäume schützen, und ich hoffe nur, daß es bis dahin nicht zu spät ist. Immerhin, Kirby, wenn dein Zucker gelingt und du Käufer suchst, kannst du in meinem Haus nachfragen.“ Temple schwang sich wieder in den Sattel, Edwards führte die Pferde der Mädchen heran. Beim Weiterreiten sang Jones ein selbstgedichtetes Lied zum Lobe des Zuckerahorns, Elisabeth und Luise lachten, sogar über das wie gewöhnlich ernste Gesicht von Oliver Edwards glitt ein heiterer Zug. Ehe dichter Wald den Zuckersieder den Blicken Elisabeths entzog, wandte sie sich um, da erschien ihr das Bild auf der Lichtung wie ein Gemälde menschlicher Existenz auf der untersten Stufe der Zivilisation; ein Riese unterhielt ein Feuer unter gewaltigen Kesseln und rührte mit einem Löffel, der groß wie eine Schaufel war, den Hintergrund bildeten die Stämme mit ihren Pfannen und eine rohe Rindenhütte, Rauch stieg auf, zuckender Feuerschein rötete das Gesicht des bärenstarken Mannes. Der Weg war schmal und morastig, die Pferde mühten sich durch den Schlamm, und die Reiter waren klug genug, ihnen das Finden des Weges zu überlassen. Ein Steg aus Fichtenstämmen, die lose auf einem Gerüst von 477
Pflöcken lagen, führte über einen Bach, zwischen den Stämmen klafften gefährliche Lücken, aber die Pferde fühlten mit den Hufen so vorsichtig nach einem Halt, daß kein Unglück geschah. Elisabeth rief: „Vater, viel anders kann es in diesen Wäldern nicht ausgesehen haben, als du zum erstenmal hierherkamst. Die Brücke stand damals natürlich noch nicht, aber die Wälder können, denke ich, kaum dichter gewesen sein.“ „Hier und da schon. Als ich anfing, unsere Siedlung aufzubauen, mußte jeder Schritt mit großer Anstrengung und bitterem Hunger erkauft werden.“ „Ja, ihr Mädchen“, rief Jones, „das war eine böse Zeit. Ich wurde damals dünn wie ein Wiesel und so blaß, als litte ich an kaltem Fieber, und Monsieur Le Quoi schrumpfte zusammen wie ein vertrockneter Kürbis.“ Elisabeth fragte: „Und ihr konntet keine Lebensmittel vom Mohawk herüberbringen?“ „Es war ein Jahr der Mißernte“, antwortete ihr Vater. „Die Lebensmittel waren teuer und wurden von Spekulanten aufgekauft, die Auswanderer zogen das Mohawktal hinauf und zehrten alles wie ein Heuschreckenschwarm auf. Natürlich hatten es die Armen damals am schwersten. Ich habe manchen Mann getroffen, der einen Mehlsack auf den Schultern von den Mühlen über die Gebirgspässe schleppte, um seine Kinder am Leben zu erhalten. Es paßt zu unserem Menschenschlag hier in der Neuen Welt, daß wir uns durch die Not nicht entmutigen ließen. Im Gegenteil, die meisten rückten mit verdoppeltem Tatendrang der Krise zu Leibe. Ich kaufte Weizen in Pennsylvanien, der in Albany auf Boote geladen und den Mohawk hinabgebracht wurde, von dort ließ ich ihn auf Tragpferden in die Wildnis transportieren und dort verkaufen. Einmal geschah ein wahres Wunder. 478
Ungeheure Mengen von Lachsen drangen fünfhundert Meilen weit im Susquehanna aufwärts, wir fingen sie mit Netzen und verkauften sie zusammen mit Salz an die Siedler.“ „Ich war dabei“, rief Jones. „Die Leute drängten so wild heran, daß ich Stricke ziehen mußte, um sie mir vom Leib zu halten. Alle stanken barbarisch nach Knoblauch, denn nichts anderes Eßbares fanden sie in den Wäldern. Dieses Jahr warf mich in der Schweine- und Geflügelzucht gewaltig zurück.“ „Ja, Elisabeth“, fuhr der Richter fort, „es war schon eine wirre Zeit. Ich suchte damals Platz für neue Farmen und ritt einem Hirschpfad nach, bis ich auf den Berg da drüben kam, den ich seitdem als Visionsberg bezeichne. Denn was ich sah, erschien mir wie ein Traum: Unermeßliches Land war mit Wald bedeckt, hier und da blinkte der Spiegel eines Sees. Die Wasserfläche unter mir war weiß von Vögeln, eine Bärin stillte mit ihren Jungen den Durst. Es war, als ob ich ins Paradies gekommen wäre. Es gab keine Lichtung, keine Schneise, keine Hütte, soweit mein Auge reichte, niemals schien ein Mensch diese Wildnis betreten zu haben. Länger als eine Stunde schaute ich mich um, stieg hinab, ließ mein Pferd Laub abweiden und untersuchte das Ufer des Sees. Wo ich später mein Haus baute, ragte eine ungeheure Fichte auf; dort rastete ich. Als ich am Abend noch einmal zum Ufer ging, sah ich an der gegenüberliegenden Seite Rauch aufsteigen. Durchs Unterholz drang ich bis dorthin vor und entdeckte am Fuß eines Felsens eine Blockhütte.“ Edwards warf ein: „Lederstrumpfs Hütte?“ „Stimmt. Gleich darauf trat ein Mann aus dem Wald, der einen mächtigen Hirsch trug. An diesem Abend begann meine Freundschaft mit Leder-Strumpf. In einem 479
Rindenkanu brachte er mich über den See und zeigte mir eine Wiese, auf der mein Pferd weiden konnte. Die Nacht verbrachte ich unter seinem Dach. Ich glaube, ich habe nie so viel Fleisch gegessen wie an diesem Abend. Natty war freundlich und kameradschaftlich, aber seine Laune verdüsterte sich, als er hörte, warum ich an diesen See gekommen war. Er betrachtete das Vordringen der Farmer als einen Eingriff in seine Rechte.“ Edwards fragte: „Hatten Sie damals das Gelände schon gekauft?“ „Es gehörte mir längst, nun wollte ich auf dem Boden, der mir in der Hauptstadt übereignet worden war, eine Siedlung gründen.“ „Und sprach Natty nicht von den Rechten der Indianer?“ „Das schon, aber ich verstand ihn kaum, und heute weiß ich nicht mehr, was er einwendete. Sinnvoll war solch eine Debatte ohnehin nicht, denn spätestens seit dem Schluß des Unabhängigkeitskrieges sind die Rechte der Indianer am Boden erloschen, und obendrein besaß ich alle Patente des früheren Gouverneurs, die durch eine Akte unseres Staates bestätigt worden waren.“ Die Bemerkung, die Edwards dazu machte, klang auffallend kühl: „Ganz ohne Zweifel sind Ihre Ansprüche gesetzlich, Sir.“ Der junge Mann zügelte sein Pferd und blieb zurück, während der Richter seiner Tochter diesen und jenen Hügel, dieses und jenes Tal zeigte und ihr erklärte, was dort in den vergangenen Jahren geschehen war. Jones unterbrach seinen Vetter und wies zum nördlichen Himmel, dort schob sich eine Wolkenbank über die Berge. Da änderte Temple die Richtung und schlug den kürzesten Weg zum Ort ein. Auf den Feldern legte er einen scharfen Trab vor, fiel sogar in Galopp. Der Sturm knickte die Federn auf dem Hut von Luise Grant, Zweige wurden von den Bäumen gerissen und auf die 480
Straße gestreut, und als die Reiter in Temples Hof aus den Sätteln stiegen, fielen die ersten Flocken. Noch ehe die Dunkelheit sank, war jede Spur des Frühlings getilgt, Wälder und Felder lagen abermals unter einer weißen Decke. Niemand widersprach, als Richard Jones durch das Schneetreiben rief: „Habe ich diesen Umschwung nicht bei unserem Ausreiten prophezeit?“
2 Aber es wurde doch Frühling. Die Tage waren mild, nachts fiel kein Reif mehr. Der Windfänger sang am Seeufer seine melancholischen Lieder, die Luft über den Sümpfen und Seen war vom Geschrei der Wasservögel erfüllt. An den Berghängen sproß frisches Grün, bald zitterte das Laub der Pappeln im Wind. Bachstelze, Rotkehlchen und Zaunkönig bauten ihre Nester, über See und Fluß zog der Fischadler seine majestätischen Kreise und spähte in immerwährender Gefräßigkeit nach Beute aus. Das Eis war gerade erst verschwunden, als die Bewohner von Templeton ihre Boote zu Wasser ließen. Angeln wurden ausgeworfen, kaum aber war der Zeitpunkt da, an dem das Fischen mit Netzen erlaubt war, als Richard Jones den Bewohnern des Tempieschen Hauses für die folgende Nacht einen Fischzug ankündigte. „Elisabeth, du sollst dabeisein“, schlug er vor, „wir nehmen Miß Grant mit, Benjamin steuert, und wenn ich einige tatkräftige Burschen unter meinem Kommando habe, will ich euch mit meinem fünfzig Klafter langen Netz zeigen, was Fischen heißt. Ich halte nicht viel davon, stundenlang hinter einer Angel zu hocken oder an Eislöchern zu stehen, bis einem die Beine angefroren sind.“ Den Nachmittag über hatte Jones zu tun, den Fischzug vorzubereiten, als es dunkel wurde, stieg er mit Benjamin 481
und einigen jungen Männern in einen großen Kahn. Der Richter, seine Tochter, Luise Grant und Oliver Edwards verabredeten mit Jones, eine Meile entfernt wieder zusammenzutreffen, dann spazierten sie am Ufer entlang. Der Abend war warm, wenig später ging der Mond auf, Grillen zirpten im Gras, es lag eine Stimmung über Wald und See, die alle Sinne beruhigte und das Atmen leicht machte. Auf dem Boot wurde eine Fackel angezündet, später loderte am Ufer ein Feuer auf; Richard Jones war also gelandet und lockte durch den Feuerschein die Fische an. Einer seiner Gehilfen war Billy Kirby, er unterhielt das Feuer und stocherte sich mit einem Holzsplitter zwischen den Zähnen. Als Temple, die beiden Mädchen und Edwards ans Feuer traten, wurde gerade das schwere Netz ins Wasser ‘gelassen und auf den See hinausgeschleppt. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß der Feuerschein eine rötliche Insel aus der Nacht herausschnitt, alles jenseits ihrer Ränder war in tiefe Finsternis gehüllt. Hin und wieder blinkte ein Stern zwischen den Wolken, die Lichter von Templeton schienen meilenweit entfernt zu sein. Billy Kirby und ein anderer junger Mann ruderten, Benjamin hielt das Steuer, Jones stand am Ufer und erteilte seine Anweisungen mit der Stimme und in der Pose eines Generals. Benjamin war, ehe er die Stelle eines Hausverwalters bei Temple angetreten hatte, jahrelang zur See gefahren; jetzt hielt er sich viel darauf zugute, seemännische Befehle zu erteilen. Einmal lachte Elisabeth laut heraus, als Kirby fluchend über den See schrie, wer denn nun hier etwas zu sagen hätte, der Sheriff oder der Admiral. Benjamin warf das Netz geschickt aus, das Boot beschrieb unter seiner Anweisung einen Bogen und kehrte ans Land zurück. Natürlich bezeichnete es Jones als sein 482
Verdienst, als im Schein des Feuers und der Fackeln Hunderte von Fischen im Netz zappelten. Die Männer, die am Ufer gewartet hatten, zogen die Tauenden ans Land, der Sack des Netzes tauchte auf, die weißen Bauchseiten der Fische glänzten im Licht, die erschreckten Fische wimmelten durcheinander, schließlich wurde das Netz vollends an Land gezogen und die Beute unter Geschrei in eine Mulde gezerrt. Ungefähr zweitausend Fische lagen hier neben- und übereinander. Die Männer suchten sich die besten heraus, töteten sie und warfen sie weg, wenn sie einen größeren Fisch oder einen von einer schmackhafteren Sorte entdeckten. Voller Widerwillen wichen die Mädchen zurück, Richter Temple stellte sich zu ihnen und sagte: „Wir treiben eine schreckliche Vergeudung. Die meisten Fische will morgen abend niemand mehr haben, und doch sind viele dabei, die in der Alten Welt auf den Tafeln der Fürsten und Feinschmecker einen Ehrenplatz hätten. Ich kann mir keinen besseren Fisch vorstellen als den Otsegobarsch.“ Jones, der die Worte des Richters gehört hatte, rief herüber: „Das scheint allmählich eine fixe Idee von dir zu werden, Vetter! Erst tun dir alle Bäume leid, dann das Wild, nun jammerst du um die Fische!“ Temple hielt es für zwecklos zu antworten. Während die Fischer unter Anleitung von Jones die Beute teilten, gingen Elisabeth und Luise ein Stück in die Dunkelheit hinein. Elisabeth sagte: „Im Internat ist mein Interesse für die Malerei geweckt worden. Sieh doch nur, wäre das nicht ein herrliches Bild? Der riesige Kirby, wie er meinem Onkel einen Fisch hinwirft, die Würde meines Vaters, wie er melancholisch der Zerstörung zusieht, als ahnte er, daß sich die Natur eines Tages rächen wird, das Spiel der Flammen, das Zucken auf dem Wasser, der 483
nachtschwarze Hintergrund - ein Meister müßte diese typische Szene unseres Lebens für die Nachwelt einfangen.“ Luise wies über den See und sagte: „Dort drüben zündet ein anderer Fischer seine Fackel an, es scheint, als wäre es vor Lederstrumpfs Hütte.“ Durch die Dunkelheit vor dem Berghang schimmerte ein schwaches Licht, das verschwand und wieder auftauchte, es bewegte sich am Ufer hin, als ob es von einem Menschen getragen würde. Koboldhafter Zauber lag in dieser Erscheinung; das Geheimnisvolle, das von ihr ausging, wurde durch die Einsamkeit und Stille der Landschaft noch gesteigert. Luise drängte sich an ihre Freundin und fragte leise: „Hast du von Nattys seltsamem Treiben gehört? Er soll in seiner Jugend unter den Wilden gelebt und zusammen mit ihnen gekämpft haben. Mein Vater sagt, sein Christentum wäre eine höchst eigenartige Mischung von dem, was unsere Kirche lehrt, und heidnischem Glauben. Es ist merkwürdig, daß er seit einiger Zeit niemanden an seine Hütte heranläßt und sie immer sorgfältig verriegelt, wenn er weggeht.“ „Meinen Vater er einmal gastfreundlich aufgenommen.“ „Das ist lange her. Er hat sogar Kinder, die vor dem Unwetter bei ihm Schutz suchen wollten, unter Drohungen fortgejagt.“ Elisabeth erwiderte: „Aber unseren Edwards nimmt er mit in sein Haus. Und da Edwards alles andere als ein Wilder ist, kann man nicht behaupten, Lederstrumpf wolle nur mit Indianern zu tun haben.“ Mit leisem Spott fragte Luise: „Du nennst ihn unseren Edwards?“ „Warum nicht? Schließlich ist er bei meinem Vater angestellt und wohnt in unserem Haus.“ „Es klang eben beinahe so, als ob du ihn zur Familie 484
rechnetest.“ „Das wollte ich allerdings nicht.“ Zu ihrem Ärger merkte Elisabeth, daß sie errötete, und war froh, daß es von der Dunkelheit verborgen wurde. „Meinst du, ich wäre zu vertraulich mit ihm umgegangen und hätte mir dadurch etwas vergeben?“ „Aber nein!“ Luise dachte: Habe ich vielleicht eine empfindliche Stelle berührt? Sieh an, unsere stolze Elisabeth! Das Licht auf dem See änderte seine Richtung, es spaltete sich auf und warf einen rötlichen Schweif über das Wasser. Rasch kam es auf die Mädchen zu, bald konnten sie erkennen, daß es von einer hellen, wehenden Flamme ausging, die einige Handbreit über dem Wasser zu schweben schien. Ein Rindenkanu schob sich aus der Dunkelheit, an seinem Bug war ein eiserner Korb angebracht, in dem Kienholz brannte und die verwitterten Gesichtszüge von Natty Bumppo beleuchtete. Am Heck saß Große Schlange und trieb das Kanu vorwärts, er hielt eine Fischgabel in der Hand und benutzte sie bisweilen als Paddel. Die Wasserfläche kräuselte sich vor dem Bug, mit einer langen Zunge leckte das Feuer über das Wasser. Temple rief: „Kommt her und ladet euer Kanu voll Barsche, hier liegen so viele, wie wir unmöglich brauchen können.“ Das Kanu glitt auf das Ufer zu, Natty neigte sich nach hinten, dadurch hob sich der Bug, und das Boot rutschte mit der Hälfte seiner Länge auf den Kies. Natty sagte: „Nehmt es mir nicht übel, aber ich esse nichts von solch einem mörderischen Fischzug. Wenn ich Appetit auf Aal oder Forelle habe, nehme ich meine Gabel. Wenn die Fische Felle hätten wie die Biber oder wenn man ihre Haut wie die eines Hirsches gerben könnte, hätte ich noch ein 485
gewisses Verständnis für dieses Abschlachten, aber der Fisch ist nur zum Essen da, und niemand kann mehr in sich hineinstopfen, als in seinem Magen Platz hat.“ „Du sprichst mir aus dem Herzen, Lederstrumpf“, entgegnete der Richter. „Mir wäre nichts lieber, als wenn wir meinen Vetter bekehren könnten, aber ich habe die Hoffnung beinahe aufgegeben. Ein Fang mit einem nur halb so großen Netz würde ganz Templeton für eine Woche mit Fisch versorgen.“ Jones rief herüber: „Das ist ja ein eigenartiges Bündnis, das unser Richter da eingeht! Tut sich mit einem Mann zusammen, der die Jagdgesetze nicht anerkennen will! Doch mir kann das letztlich gleichgültig sein; wenn ich fischen will, fische ich, solange mir das kein Gesetz verbietet. Leute, wir machen noch einen Zug, und morgen früh kommen wir mit unseren Wagen her und holen die Beute ab! Denkt ihr, meine Schweine hätten keinen Appetit auf Barsch?“ Temple zuckte die Schultern und ging zu Nattys Kanu. Die beiden Mädchen musterten gerade das schlanke, leichte Boot, sie wunderten sich, daß es überhaupt in der Lage war, Menschen zu tragen, und ließen sich von Edwards erklären, wie es aus Eschenholz und Birkenrinde zusammengefügt worden war. Elisabeth sagte: „Es müßte Spaß machen, darin zu fahren!“ „Das ist nichts für Mädchen“, erwiderte ihr Vater. „Man braucht Kraft und Geschick, wenn man damit umgehen will. Immerhin, ich habe mit solch einem Boot den Otsego an seiner breitesten Stelle überquert.“ „Und ich den Ontariosee“, fügte Natty hinzu. „Dabei hatte ich noch Indianerfrauen im Boot, aber sie konnten mit dem Paddel umgehen und waren eher eine Unterstützung als eine Belastung. Auch ein junges 486
Mädchen aus der Stadt kann sich mit dem alten John und mir auf dieses stille Wasser wagen. John hat das Kanu erst gestern fertiggestellt, es ist ihm großartig gelungen. Wie war’s, Miß, wollen Sie zusehen, wie ein alter Waldläufer einen Fisch sticht?“ Elisabeth wartete die Zustimmung ihres Vaters nicht erst ab, sie kletterte ins Boot und setzte sich auf eine schmale Bank in der Mitte. Luise, die von Natty ebenfalls eingeladen wurde, meinte, sie wollte lieber von Land aus zusehen. Natty und Edwards schoben das Kanu an und sprangen hinein, Natty stellte sich wieder an den Bug, der junge Mann hockte sich vor Elisabeth auf den Boden. Es schien Elisabeth, als glitte das Kanu unter dem Druck einer geheimnisvollen Kraft über den See, so leicht und gleichmäßig waren die Paddelschläge des alten Indianers. Mit kaum merklichen Bewegungen der Fischgabel lenkte Natty das Boot in die gewünschte Richtung; leise murmelten die Wellen am Bug. Das Licht aus dem Feuerkorb drang bis auf den Grund, Elisabeth sah Schwärme von Fischen, die hier im warmen Wasser standen. Jeden Augenblick glaubte sie, Natty würde zustoßen, aber Natty wendete den Kopf ruhig hin und her und schwenkte die Gabel von der einen auf die andere Seite. Einmal flüsterte er: „John, mehr auf den See hinaus! Ich sehe dort einen mächtigen Burschen!“ Natty legte frische Kienstücke auf, im Nu fingen sie Feuer, das Licht drang jetzt zwanzig Fuß hinunter. Dort lag eine Lachsforelle unbeweglich auf dem Grund, nur das Vibrieren der Flossen bewies, daß sie lebte. Natty zeigte über den Rand, Elisabeth beugte sich vor. „Diese Lachsforelle ist ein scheues Tier“, flüsterte Natty, „leider reicht meine Gabel nicht bis hinunter. Aber ich will es trotzdem versuchen. Ich wette, der Bursche hat gut seine 487
zehn Pfund!“ Natty stieß die Gabel mit ganzer Kraft ab, der Schaft verschwand im See, wie ein Speer schoß die Gabel hinunter, im nächsten Augenblick wirbelte Schlamm auf, der Schaft tauchte auf, Natty packte zu und riß ihn hoch, hob einen schweren Fisch über die Oberfläche und kippte ihn neben Edwards ins Boot. „John, das reicht für uns“, rief er. „Für diese Nacht ist unsere Arbeit getan.“ „Hugh“, sagte der Indianer mit seiner tiefen Stimme. Am Ufer loderte jetzt das Feuer hell auf, die Silhouette des Sheriffs hob sich scharf dagegen ab. Jones ärgerte sich über die zurechtweisenden Worte des Richters; aus einem Gefühl des Trotzes heraus wollte er mit seinem zweiten Fischzug noch mehr Beute anlanden als beim ersten. Laut schrie er seine Befehle, die absolut überflüssig waren. Vom Boot aus rief Benjamin, Natty solle mit seinem Feuer die Fische nicht in die falsche Richtung locken, da drückte der Mohikaner das Kanu zurück. Die Bootsbesatzung, die das Netz hinausschleppte, war sich über den Kurs nicht einig, die streitenden Stimmen von Benjamin und Kirby drangen weit über das Wasser, Benjamin gebrauchte seemännische Ausdrücke, schrie von Backbord und Steuerbord, Kirby protestierte dagegen, wie ein Galeerensträfling kommandiert zu werden. Benjamin brüllte: „Hol dich der Henker! Nun rudere endlich ein paar Faden weiter und wirf das Netz herunter! Aber laß dir gesagt sein: Ein Walroß wie dich nehme ich nie wieder mit in mein Boot!“ Wütend zog Kirby sein Ruder mit solchem Ruck durch, daß Benjamin Hals über Kopf ins Wasser stürzte. Kirby lachte dröhnend, Jones schlug sich prustend die Schenkel, sogar Temple schmunzelte, als sein Hausverwalter mit flatternden Rockschößen und fuchtelnden Armen 488
verschwand. Als das Wasser jedoch wieder ruhig wurde und Benjamin nicht auftauchte, verstummte das Lachen und machte bleierner Stille Platz. Als erster begriff Kirby den Ernst der Situation, er sprang auf, schrie: „Der dumme Kerl kann nicht schwimmen!“ und begann fieberhaft, Jacke und Hose auszuziehen. Edwards rief Große Schlange zu, rasch heranzupaddeln, das Licht werde zeigen, wo Benjamin trieb, dann wollte er tauchen und ihn herausholen. Natty lauerte am Bug, das Licht aus dem Feuerkorb leuchtete bis auf den Grund, dort entdeckte er Benjamin, dessen Arme und Beine sich träge bewegten. Edwards wollte gerade springen, aber Natty sagte: „Warte, ob meine Gabel bis hinunter reicht, dann brauchst du dein Leben nicht zu riskieren.“ Jetzt bemerkte auch Elisabeth den Körper Benjamins auf dem Grund, es überlief sie eiskalt, als sie sah, wie sich eine Hand zuckend an einigen Binsen festklammerte. In diesem Augenblick hatte Große Schlange das Kanu so weit herangesteuert, dass Natty eine Zinke seiner Gabel im Rockkragen des Ertrinkenden festhaken konnte. Hand über Hand riß Natty den Schaft hoch, Benjamins Kopf tauchte auf, Kirby packte zu, Edwards half von der anderen Seite, und gleich darauf plumpste der Körper des schweren Mannes ins Boot. Benjamin erbrach Wasser und schnappte nach Luft, seine Augen starrten gräßlich auf das Gesicht Kirbys, der sich in heillosem Schrecken über ihn beugte und ein über das andere Mal beteuerte, er hätte diesen Ausgang nicht gewollt und hätte doch nicht im entferntesten angenommen, daß ein Seemann nicht schwimmen könne. Am Ufer kam Benjamin wieder zu sich, ein Schluck Branntwein weckte seine Lebensgeister. Der Sheriff rief: „Du bist halb voll Wasser und kippst noch Rum in dich hinein, was soll das, Benjamin?“ 489
Der Hausverwalter schüttelte sich und krächzte: „Damit ich nicht mehr voll Wasser, sondern voll Grog bin, wie es einem Seebären Zukommt. Kirby, dir muß ich sagen, daß du der größte Tölpel bist, der mir jemals begegnet ist, und ich will eher in die Hölle kommen, als daß ich mit dir wieder in einen Kahn steige. Natty, gib mir die Hand. Man sagt zwar, du wärst ein halber Indianer und ein alter Skalpierer, aber du hast mir das Leben gerettet und bist von jetzt an mein Freund. Wenn du in Not kommen solltest, kannst du auf mich zählen.“ Richter Temple drängte, daß Benjamin nach Hause und ins Bett gebracht wurde, Natty Bumppo und Große Schlange paddelten zu ihrer Hütte; jetzt hatte es auch Jones eilig, die letzten Fische zu verteilen. Nachtkühle breitete sich aus, die Mädchen zogen Tücher um die Schultern und kehrten mit Temple und Edwards durch das taunasse Gras zum Dorf zurück. Kirby blieb als Wache am See, sein Feuer war der einzige helle Punkt in der sich über Wasser und Wald wölbenden Dunkelheit.
3 Die folgenden Tage waren warm, oft regnete es, und so kam der Frühling mit Macht über das Land; es schien, als habe er sich in den prallen Knospen der Bäume und Büsche zurückgehalten und breche nun ungeduldig hervor. Die Wälder prunkten in allen Schattierungen von Grün, die Stümpfe der gerodeten Bäume verschwanden unter der schwellenden Samtdecke des Weizens. An einem herrlichen Morgen machten sich Richter Temple und Sheriff Jones zum Ausritt fertig, zur gleichen Stunde trafen sich Elisabeth und Luise zu einem Spaziergang. „Wagt euch nicht zu weit in den Wald“, riet der Richter, „und vergeßt nicht, zu Mittag zurück zu sein, ich mache mir sonst Sorgen.“ Dann ritt er an der Seite seines Vetters 490
hinaus. Oliver Edwards trat mit einer Angelrute in der Hand aus einem Schuppen; als er die Mädchen sah, erbot er sich, sie zu begleiten, aber Elisabeth erwiderte, wo keine Gefahr wäre, brauche man keinen Schutz, und außerdem wolle sie Brave, die Dogge ihres Vaters, mitnehmen. Der Hund wedelte eifrig mit dem Schwanz, schaute treuherzig zu seiner Herrin auf und rannte ihr in gutgelaunten Sprüngen voran. Edwards blieb verärgert stehen, etwas in der Art des Mädchens hatte ihn verletzt, ihm schien, als hätte ihm Elisabeth deutlich machen wollen, daß er ein Angestellter war und zu warten hatte, bis man ihn zu einem Dienst aufforderte. Sein Gesicht färbte sich noch dunkler als gewöhnlich, er murmelte einige unzusammenhängende Worte, dann schulterte er entschlossen seine Rute und ging aus dem Hof, die Straße entlang und zum See hinunter. Dort band er ein Boot los, das dem Richter gehörte, und ruderte auf Natty Bumppos Hütte zu. Dabei wich allmählich seine Verstimmung, er machte sich bewußt, daß er sich durch Stolz, der nicht zu seiner Stellung paßte, das Leben unnötig erschwerte. Elisabeth war die einzige Erbin eines reichen Mannes, er selbst ein armer Schlucker, der sein halbes Gehalt brauchte, um sich seiner Stellung als Sekretär entsprechend zu kleiden - so lagen die Dinge, und er war ein Tor, wenn er sich darüber erregte. Vernunft und Ehrgefühl stritten sich in ihm, sein Gesicht rötete sich vor Zorn, und er riß die Ruder durchs Wasser, als wolle er sie zerbrechen. Edwards band das Boot an einem Pfahl vor Nattys Hütte fest und stieg ans Land. Zwei Hunde sprangen unter einem Schutzdach heraus und rissen wie toll an den hirschledernen Riemen; als Edwards ihnen einige beruhigende Worte zurief, verstummten sie und krochen 491
zurück. Edwards löste den Riegel und verschwand in der Hütte; die Tür zog er hinter sich zu. Eine Viertelstunde lang war es völlig still, die Hunde regten sich nicht, nur einmal hallten Axtschläge von Templeton herüber. Danach trat Edwards aus der Hütte, verriegelte die Tür sorgfältig und streichelte die Hunde, die, soweit es ihre Leinen gestatteten, an ihm hochsprangen. „Hektor, alter Bursche“, sagte er, „du scheinst Wild zu wittern. Aber heute ist es nichts mit der Jagd.“ Der Hund drängte nach der Seite, da wurde Edwards argwöhnisch, stieg rasch über eine gefallene Fichte und rannte eine kleine Anhöhe hinauf; er kam gerade noch zurecht, um Doolittle, den Friedensrichter, in verdächtiger Eile zwischen den Büschen verschwinden zu sehen. Verwundert kehrte er zur Hütte zurück, beruhigte die Hunde, überprüfte noch einmal die Verriegelung und stieg in seinen Kahn. Er kannte Stellen, an denen die Barsche eher bissen als in dieser Bucht, aber er überlegte, ob es nicht besser wäre, die Hütte im Auge zu behalten. Während er gemächlich auf eine Landspitze zu ruderte, entdeckte er das Kanu seiner Freunde; Natty und Große Schlange hatten ihre Angeln ausgelegt. Edwards trieb langsam näher und warf ebenfalls seine Angel aus. Die beiden Alten nickten ihm zu, nach einer Weile fragte Natty: „Bist du an unserem Wigwam vorbeigekommen?“ „Ich war sogar drin. Alles ist in Ordnung. Aber Doolittle streunt in der Nähe herum.“ „Der alte Holzwurm“, sagte Natty. „Seit sie ihn zum Friedensrichter gewählt haben, steckt er seine Nase gern in Dinge, die ihn nichts angehen.“ Eine Stunde lang saßen die drei Männer in ihren Booten, zogen hin und wieder einen Barsch aus dem Wasser und redeten über alltägliche Dinge. In die Stille hinein bellte 492
ein Hund, Natty sagte: „Das ist Hektor. Ich möchte schwören, daß er auf diesem Berg ist.“ Edwards warf ein, daß er die Hunde angebunden neben der Hütte gesehen hatte, aber Natty war seiner Sache sicher, er sagte: „Auch Slut ist dabei. Die beiden jagen einen Hirsch, ich wette um ein Biberfell, daß es so ist. Um das neue Gesetz kümmere ich mich nicht, aber das Wildbret taugt jetzt nicht viel, und die beiden Hunde hetzen sich umsonst ab.“ Einige Minuten vergingen, das Gebell kam näher, schließlich sprang ein Hirsch durch das Erlengebüsch und stürzte sich ins Wasser. Die Hunde waren ihm auf den Fersen. Natty rief ihnen zu, zurückzubleiben; widerstrebend folgten sie seinem Befehl. Der Hirsch schwamm auf die Mitte des Sees hinaus, dort änderte er seine Richtung. Natty wurde unruhig, er rief: „Ein prachtvolles Tier! Seht nur das Geweih! Immerhin, wir haben Juli, das Fleisch kann nicht mehr so übel sein. Los, John, der Hirsch ist selber schuld, wenn er so nahe an uns vorbeischwimmt und uns in Versuchung führt.“ Große Schlange griff nach dem Paddel, das Kanu schoß vorwärts, Jagdfieber glänzte in den Augen der beiden alten Männer. Edwards rief ihnen zu, sie sollten an das neue Gesetz denken, noch wäre Schonzeit, jemand könnte sie vom Ufer aus beobachten, und Richter Temple wäre entschlossen, jeden Verstoß zu bestrafen; aber seine Warnung verhallte. Der Hirsch schwamm jetzt eine Steinwurfweite vor dem Kanu seiner Verfolger, er schnaubte vor Angst und Anstrengung, den Kopf mit dem schweren Geweih hatte er zurückgelegt und durchschnitt mit der Kehle den Wasserspiegel. Natty hob die Büchse, aber ehe er anlegte, sagte er zu Große Schlange: „Was meinst du, soll ich? Aber es ist gar zu einfach, einen Hirsch im Wasser 493
abzuschießen, ich werde ihm eine Chance geben.“ Natty nahm einen Speer vom Boden des Kanus und warf, er hatte aber in dem schwankenden Boot keinen festen Halt, und so streifte der Speer nur das Geweih. Die Waffe fiel in den See, der Delaware mußte einen Bogen steuern, damit Natty sie herausfischen konnte, dann setzten die beiden die Verfolgung fort. Der Hirsch änderte mehrere Male die Richtung, einmal schwamm er dicht an Edwards vorbei. Auch ihn, der vor Minuten noch vor einem Verstoß gegen das Jagdgesetz gewarnt hatte, packte die Jagdleidenschaft, er schleuderte dem Hirsch eine Leine ums Geweih, sein Kahn wurde mitgezogen, der Hirsch schüttelte sich vergeblich und tauchte prustend unter, da trieb Große Schlange sein Kanu vollends heran, Natty beugte sich vor und stieß dem Tier das Messer in den Hals. „Uff“, sagte er, „so eine Jagd macht wieder jung, ich habe seit Jahren keinen Hirsch mehr auf dem See erlegt. Wir werden uns den Braten schmecken lassen. Ehrlich gesagt, ich pfeife auf Temples Gesetz.“ Edwards hatte seine gewöhnliche Bedachtsamkeit zurückgewonnen, er sagte: „Hoffentlich hat uns niemand gesehen. Aber ich frage mich: Wie sind die Hunde losgekommen?“ „Sie werden den Hirsch gewittert und sich losgerissen haben. Sieh mal, die Riemen hängen noch an ihren Hälsen.“ Die drei Männer brachten ihre Beute an Land, wo die Hunde schwanzwedelnd auf sie warteten. Natty betrachtete die Riemen und sagte: „Sie sind nicht gerissen und auch nicht von den Hunden durchgebissen worden. Da hat sich jemand mit einem Messer zu schaffen gemacht.“ Edwards fragte: „Durchgeschnitten?“ „Das nun auch wieder nicht. Aber eingeschnitten und 494
dann abgerissen.“ „Doolittle“, sagte Edwards. „Dieser Schuft! Ich werde schnell zurückrudern, vielleicht kann ich ihm den Weg abschneiden.“ „Tu das. Ich werde mit den Hunden zur Hütte gehen, John kann den Hirsch im Kanu nachbringen.“ Edwards sprang ins Boot. Nach wenigen Minuten war er hinter einer Landspitze verschwunden.
4 Die Sonne war inzwischen höher gestiegen, sie erwärmte die Luft über dem Wasser und ließ sie über den Lichtungen flirren. Elisabeth und Luise hatten den Wald oberhalb des Sees durchstreift und setzten sich auf einen moosbewachsenen Stein, von dem aus sie Natty Bumppos Hütte sehen konnten. Elisabeth sagte: „Ich möchte für mein Leben gern wissen, was zwischen diesen Pfosten schon alles geschehen ist.“ Luise lächelte ihre Freundin an, als sie erwiderte: „Sicherlich nichts, was gegen Oliver Edwards spricht.“ „Aber vielleicht könnte uns diese Hütte etwas über seine Herkunft erzählen.“ „Mister Jones hat darüber natürlich schon seine Ansicht verbreitet. Da es nichts auf der Welt gibt, was unser Sheriff nicht wüßte, blieb ihm auch die Vergangenheit dieses Mannes nicht verborgen. Ich hörte, wie er sie meinem Vater so erklärte: Oft gingen englische Offiziere zu den Indianern, um sie als Verbündete anzuwerben. Diese Männer blieben bisweilen jahrelang in der Wildnis, manche von ihnen heirateten indianische Frauen. Jones meint, Edwards stimme aus solch einer Verbindung, sein Vater habe ihn mit an die Küste genommen und dort erziehen lassen.“ Elisabeth lächelte, als sie hinzufügte: „Unser vortrefflicher Richard hat für alles gleich eine Theorie bei 495
der Hand. Zu meinem Vater sagte er, der alte John wäre der Großonkel oder der Großvater von Oliver Edwards, eines unserer Dienstmädchen wollte gehört haben, Lederstrumpf sei Olivers Vater und eine Indianerin seine Mutter. Das ist alles Geschwätz, ich glaube nicht, daß Edwards ein Halbblut ist. Kann der kluge Sheriff auch erklären, warum Lederstrumpf keinen in seine Hütte läßt?“ „Er schämt sich seiner Armut, vermute ich.“ „Niemand ist so wenig eitel wie Lederstrumpf.“ Nach einer Weile setzten die Mädchen ihren Spaziergang fort. Brave lief ihnen in wiegendem Trott voraus, drehte sich um und wartete, manchmal nahm er schnuppernd eine Wildspur auf, entfernte sich aber nie vom Weg. Im Wald war es noch immer kühl, doch als die Mädchen an einen Felshang kamen, der zum See abfiel, spürten sie die Hitze. Von dort schlugen sie den Weg zur Ortschaft ein. Sie waren ihr schon so nahe gekommen, daß Wagenknarren und Peitschenknall heraufdrangen, als Elisabeth zusammenzuckte. „Da schrie eben ein Kind!“ „Dort drüben war’s, wir wollen nachschauen!“ Die Mädchen drangen in ein Gebüsch ein, mehrmals hörten sie klägliches Weinen. Brave blieb an ihrer Seite. Auf einer Lichtung duckte er den Kopf, seine Nackenhaare sträubten sich, er knurrte drohend. In diesem Augenblick sah Elisabeth den schwarzen, schlanken Leib eines Panthers auf dem Ast einer Buche. Erschrocken packte Elisabeth nach Luises Arm; trotz der Angst, die sie überfiel, besaß sie so viel Beherrschung, ihr zuzuflüstern: „Keine hastige Bewegung! Wir wollen ganz langsam zurückgehen!“ Aber Luise stieß einen glucksenden, törichten Laut aus und schlug die Hände vors Gesicht, Elisabeth spürte ihre Last, dann rutschte Luise stöhnend zusammen. Elisabeth versuchte ihre Freundin 496
hochzuziehen; als es ihr nicht gelang, kniete sie neben ihr nieder. „Brave“, flüsterte sie, „Brave, laß uns nicht im Stich!“ Der Hund wich keinen Schritt, der Panther lag regungslos. Vielleicht wäre es Elisabeth gelungen, ihre ohnmächtige Freundin zurückzuziehen, wenn nicht eine junge Pantherkatze aus dem Baum gekugelt wäre. Neugierig tappte sie auf den Hund zu, richtete sich an einem Stamm auf und kratzte an der Rinde, sprang hoch und fiel dem Hund genau vor die Nase. Brave packte zu und schleuderte das Pantherjunge gegen einen Baum, wo es reglos liegenblieb. Wie ein Blitz schnellte die große Katze herunter, Brave heulte auf, schnappte zu und mußte sich eines wütenden Angriffs erwehren, Panther und Dogge wälzten sich im Laub, unter Geheul und Gebell fletschten sie die Zähne. Einmal gelang es dem Panther, sich in die Schulter des Hundes zu verbeißen, aber Brave schüttelte seinen Gegner ab. Bald blutete er aus mehreren Wunden, aber immer noch gelang es ihm, rasch und kraftvoll zu reagieren. Doch der alte Hund ermattete schnell, sein Bellen ging in klägliches Wimmern über. Brave hatte im Haus des Richters ein sattes Leben geführt, das rächte sich jetzt. Der Panther schien sich zur Flucht zu wenden, der Hund setzte nach, aber mit einem überraschenden Satz sprang ihm der Panther in die Flanke und packte ihn an der Kehle. Noch einmal biß Brave zu, aber gleich darauf rötete sich sein Halsband, er sank zur Seite, seine Kiefer konnten den Gegner nicht mehr halten, und seine Beine zuckten im Todeskampf. Elisabeth und Luise waren jetzt der Bestie schutzlos preisgegeben. Der Panther lief zu dem leblosen Körper seines Jungen und beroch ihn, wütend peischte er das Laub mit seinem Schwanz, seine Krallen traten zolllang 497
aus den Tatzen heraus, fauchend kam er näher. Elisabeth war totenblaß, ihre Lippen waren vor Entsetzen geöffnet, sie sah für sich und ihre Freundin keine Rettung mehr. Da raschelten hinter ihr Blätter, jemand rief: „Den Kopf tiefer!“ Eine Sekunde später knallte ein Schuß. Der Panther heulte auf, überschlug sich und biß sich ins eigene Fleisch, seine umherschlagenden Pranken wühlten die Erde auf. Natty Bumppo sprang, das Messer in der Hand, neben die Mädchen, er rief Hektor heran und sagte: „Ihr Hut war meiner Kugel im Wege, Miß. Wir müssen aufpassen, Panther sind zäh.“ Elisabeth schien es, als wäre sie aus dem Grab auferstanden. Durch den Knall war Luise aufgeschreckt, sie schlug die Arme um den Hals ihrer Freundin und weinte hemmungslos. Elisabeth zog Luise hoch, sie standen eng umschlungen, während Natty das Gewehr wieder lud und dem Panther den Gnadenschuß gab. „Ich kam gerade zur rechten Zeit“, sagte er. „Ich hätte auf das Auge und nicht auf den Schädel zielen sollen, dann wäre die Bestie sofort tot gewesen. Aber ich bin mit meinem Schuß trotzdem zufrieden.“ Elisabeth stammelte: „Wie können wir Ihnen nur danken?“ „Ach, da gibt es nichts zu danken. Es ist nun einmal mein Gewerbe, durch die Wälder zu streifen, und wenn mein Arm und meine Büchse gebraucht werden, habe ich noch nie gezögert. Ich saß einmal mit meinem Freund Schlange an einem Fluß, als zwei Mädchen und zwei Männer auf uns zu ritten. Der eine Mann war ein merkwürdiger Kauz, er war dürr wie eine Fischgabel, ein Pfeifchen hing an seinem Hals. Kurzum, diese Mädchen...“ Natty brach ab, als sich das Gebüsch teilte und Doolittle heraustrat. „Ich hörte einen Schuß“, begann der 498
Friedensrichter mit säuerlichem Lächeln. „Lederstrumpf, du bist doch jetzt im Juli nicht etwa auf der Jagd? Ich hoffe, du kennst das neue Gesetz!“ „Ich bin mein Lebtag nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.“ „Aber du handelst manchmal mit Wildbret, Alter. Du weißt hoffentlich, daß jeder, der zwischen Januar und August einen Hirsch schießt, zwölf und einen halben Dollar Strafe zahlen muß. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich heute morgen deine Hunde auf einer Hirschspur gesehen. Aber da ist Blut an deinem Ärmel, du hast also doch gejagt! Und wo ist das Wild, he?“ Natty zeigte ins Gebüsch hinein, Doolittle bückte sich, um besser sehen zu können, und rief: „Das ist ja Brave! Willst du dir den Richter zum Feind machen?“ „Sperr deine Augen auf, siehst du nicht die Panther?“ „Panther?“ Der Friedensrichter sprang erschrocken zurück. Das sah so komisch aus, daß selbst Elisabeth, die sich noch nicht vom Fleck gerührt hatte, lächeln mußte. Natty sagte: „Keine Angst, beide sind mausetot. Wenn ich mich nicht irre, wird für den Abschuß eines Panthers eine Prämie gezahlt. Du als Amtsperson solltest mir eine Bescheinigung ausstellen.“ „Bescheinigung, natürlich“, murmelte der Friedensrichter und schaute noch immer um sich, als hätte er die Hoffnung nicht aufgegeben, einen erlegten Hirsch zu entdecken. Natty ging zu den toten Panthern und schnitt ihnen das Fell vom Schädel; die Trophäen hielt er Doolittle hin. „Gut“, sagte der Friedensrichter, „wir werden in deine Hütte gehen, dort schreibe ich dir eine Bescheinigung aus.“ Natty lachte. „Bei mir findest du weder Papier noch Tinte. Nein, ich bringe die Skalps in die Siedlung. Hektor! 499
Der dumme Kerl zerrt an dem Riemen an seinem Halsband, er wird sich noch erwürgen. Kannst du mir dein Messer leihen?“ Dollittle zog sein Messer aus dem Gürtel und gab es Natty, der schnitt den Riemen ab und sagte: „Ein gutes Stück Stahl, damit hast du bestimmt schon manches Leder durchgeschnitten.“ Doolittle vergaß jede Vorsicht und rief: „Du willst doch nicht behaupten, ich hätte deine Hunde losgemacht!“ „Du? Aber nicht doch! Ich habe sie heute morgen selber von der Leine gelassen.“ Angesichts dieser offenkundigen Unwahrheit war Doolittle sprachlos. Er hatte sich so deutlich verraten, daß Natty seine gewohnte Beherrschung vergaß und brüllte: „Laß dich nicht noch einmal bei meiner Hütte blicken! Es könnte sein, daß ich dich für eine Eule halte und eine Kugel zwischen deine Glotzaugen jage!“ Doolittle trat eilig den Rückzug an, wobei er rief: „Und ich sage dir, ich weiß genau, daß du das Jagdgesetz übertreten hast! Ich werde dich überführen, verlaß dich darauf!“ „Verschwinde, ehe ich dir einen Denkzettel verpasse!“ Nachdem von Doolittle nichts mehr zu sehen war, pfiff Natty seine Hunde heran und hängte das Gewehr über die Schulter. Zu den Mädchen sagte er, sie wollten nun diesen grausigen Platz räumen, er wäre aber erst beruhigt, wenn er sie wohlbehalten bis an die Straße gebracht hätte. „Ich bleibe ewig in Ihrer Schuld“, beteuerte Elisabeth. „Ich werde meinem Vater erzählen, was Sie für uns getan haben, und gewiß belohnt er Sie.“ „Mir war Lohn genug, als ich diese schwarzen Teufel krepieren sah. Jetzt dort entlang, nach einer knappen Meile sind wir aus dem Wald heraus. Und wenn ihr Mädchen 500
wieder einmal spazierengeht, dann nehmt keinen gebrechlichen Hund, sondern einen bewaffneten Mann mit. Ich altes Gerippe muß es ja nicht unbedingt sein.“ Dabei lachte er auf seine verschmitzte, gütige Art.
5 Zu dieser Zeit hatten Richter Temple und sein Vetter eine Schlucht im Gebirge erreicht. Temple sagte: „Nun wirst du mir wohl endlich verraten, warum du mich in diese Einöde geschleppt hast.“ „Hier ist der richtige Platz dafür. Es handelt sich um die drei Individuen, die in der Hütte am See hausen. Bumppo wohnt angeblich seit dreißig Jahren dort, seit einiger Zeit hat sich dieser Mohikaner zu ihm gesellt, und nun ist auch noch der junge Mann dort untergekrochen, der in seiner Ungeschicklichkeit meinen Sleigh umgeworfen hat und den du aus einer Grille heraus, die mir ewig unverständlich sein wird, angestellt hast.“ „Was willst du, Edwards macht seine Arbeit ordentlich! Er ist fleißig und gewissenhaft, ich habe ihn schon mit eigener Verantwortung auf den Markt geschickt, und wenn er mir gegenüber freundlicher und aufgeschlossener ...“ „Gleichviel, trotzdem verbringt er den größten Teil seiner freien Zeit und so manche Nachtstunde weiterhin in der dubiosen Hütte. Und ich will dir sagen, was diese drei grundverschiedenen Männer miteinander verbindet: Es ist die Sucht nach Geld.“ Richard Jones blickte den Richter wichtigtuerisch an und genoß die Verblüffung auf dessen Gesicht. „Es gibt Silberminen in den Bergen, davon hast du bestimmt gehört. Zweifellos kennt sie der alte John. Da er immer noch der fixen Idee anhängt, dieses Land gehöre seinem Stamm, will er sie für sich ausbeuten und hat sich mit den beiden anderen Landstreichern zusammengetan.“ Der Sheriff ritt nahe an seinen Vetter heran und fuhr leise 501
fort: „Ich habe Lederstrumpf und den Mohikaner mit Kasten und Spaten heraufkommen sehen, und Doolittle war Zeuge, wie sie in der Dunkelheit etwas auf geheimnisvolle Weise in ihre Hütte schleppten. Ich sage dir: Es war Erz!“ „Ein Beweis...“ „Hör mich zu Ende an! Im letzten Winter verschwand Bumppo für mehrere Tage in den Bergen. Als er zurückkam, zerrte er einen Schlitten hinter sich her. Etwas Schweres war unter einem Bärenfell versteckt. Nun frage ich dich: Warum baut Lederstrumpf einen Schlitten und schleppt etwas über die Berge?“ „Vielleicht hatte er ungewöhnlich viel Wild erlegt.“ „Aber er hat in den Tagen darauf nichts verkauft. Und dann tauchte Edwards auf. Tagelang sind die beiden herumgestreift, Doolittle hat sie mit Hacken und Schaufeln gesehen. Soll ich dir sagen, was diese sauberen Herren jede Nacht in ihrer Hütte treiben? Sie schmelzen! Vetter, wir sind einer Falschmünzerbande auf der Spur!“ Das alles wurde mit solcher Überzeugungskraft vorgetragen, daß Temples Skepsis abnahm. Es war keine Frage: Wenn sich so viele Indizien häuften, mußte er der Sache nachgehen. „Und wo ist die sagenhafte Mine?“ „In dieser Schlucht.“ „Also auf meinem Grund und Boden!“ „Das ist ja das Niederträchtige! Manche halten Natty für wer weiß wie weltfremd, aber er hat es faustdick hinter den Ohren.“ Die beiden Männer stiegen ab und banden ihre Pferde fest. Jones bog Zweige beiseite, dem Richter voran zwängte er sich durch das Dickicht. Sie mußten über Felsbrocken klettern, die von Brombeergestrüpp überwuchert waren. Temple staunte, auf dem Grund der 502
Schlucht einen kleinen ebenen Grasfleck vorzufinden. Unmittelbar dahinter lag der Eingang einer Höhle. Die Erde davor, die allem Anschein nach jemand herausgeschafft hatte, war zum Teil noch frisch. Der Sheriff bückte sich in die Öffnung hinein, der Richter folgte ihm und sah, daß die Höhle etwa zwanzig Schritt tief und fast ebenso breit war. Der weiche bleifarbene Fels zeigte hier und da noch die Spuren eiserner Werkzeuge. Nach der Seite zu waren schmale Nischen eingehauen, in der Mitte waren Steinbrocken aufgehäuft, alles machte den Eindruck, als ob die Arbeit nur unterbrochen worden war und bald fortgesetzt werden sollte. Temple sagte: „Aber ich sehe kein Erz.“ „Glaubst du, Vetter, Gold und Silber liegen so dicht an der Oberfläche? Diese Burschen graben noch. Ich werde sie im Auge behalten und auf frischer Tat ertappen!“ Im Gebüsch vor der Höhle fand Temple eine Schaufel, Hämmer und Keile. Er versuchte, alles, was er gesehen hatte, mit seiner bisherigen Meinung über Bumppo, Edwards und den Delawaren in Einklang zu bringen, er überlegte, welche Schritte er unternehmen sollte, und fühlte sich beklommen und unsicher. Natty Bumppo, für ihn und viele andere geradezu ein Sinnbild für Redlichkeit, sollte ein Falschmünzer sein - es wollte nicht in Temples Kopf. Während er und Jones aus der Schlucht kletterten und zu ihren Pferden zurückgingen, sagte er: „Keine unbedachten Schritte, bitte! Ich hoffe, alles hängt anders zusammen, als es jetzt scheint.“ „Und ich hoffe, diese Strolche sitzen bald hinter Schloß und Riegel! Morgen halten wir Gericht, unter anderem verhandeln wir gegen eine Falschmünzerbande, und es sollte mich nicht wundern, wenn es mir gelingt, Verbindungen zwischen diesen Verbrechern und dem 503
sauberen Dreigestirn an unserem See nachzuweisen. Vetter, du hast den richtigen Mann zum Sheriff vorgeschlagen!“ In schweren Gedanken ritt Temple auf die Siedlung zu. Bald trennte sich Jones von ihm, weil er in einer anderen Gemeinde einige Geschworene für die Gerichtssitzung verpflichten wollte. Temple ließ seinem Pferd die Zügel, für kurze Zeit bereute er, das verpflichtende Amt des Richters angenommen zu haben; es wäre ihm lieber gewesen, er wäre lediglich Grundbesitzer und könnte sich mit jemandem auseinandersetzen, der ohne Genehmigung auf seinem Boden schürfte. Aber so war er Partei und Richter in einem. Nachdem Temple in seinen Hof geritten war, schwang er sich aus dem Sattel und gab einem Knecht die Zügel. In der Halle lief ihm Elisabeth entgegen und warf ihm die Arme um den Hals. Jetzt erst löste sich der überstandene Schrecken in Tränen auf, stammelnd, immer wieder von Schluchzen unterbrochen, stieß sie heraus, was geschehen war. „Sei ruhig, mein Kind“, begütigte Temple und streichelte ihr übers Haar. „Ein Panther? Ich hätte nicht geglaubt, daß sich dieses Raubtier so nahe an die Häuser herantraut. Aber du bist gesund, leg dich hin und versuch zu schlafen.“ „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sofort die Bestie wieder vor mir und höre sie fauchen. Vater, bleib bei mir, ich...“ „Komm mit in mein Zimmer.“ „Lederstrumpf hat mich gerettet. Du wirst ihn belohnen, Vater, nicht wahr?“ „Natürlich werde ich seine Tat nie vergessen.“ Belohnen? dachte Temple, wie kann ich ihn belohnen und gleichzeitig bestrafen? 504
Temple und Elisabeth wollten gerade ins Obergeschoß hinaufsteigen, als die Tür aufgerissen wurde und Oliver Edwards hereinstürmte. Mit einer Lebhaftigkeit und Wärme, die Temple noch nie an ihm kennengelernt hatte, rief er: „Ich bin ja so froh! Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen, Miß Temple, und Ihnen, Sir, natürlich auch. Ich war eben in Nattys Hütte und hörte, was vor sich gegangen ist.“ Er atmete rasch vom schnellen Laufen, seine Haut war vor Freude und Aufregung gerötet, er streckte Elisabeth die Hand hin und fügte hinzu: „Sie versprechen mir, nie wieder allein in den Wald zu gehen? Das nächstemal begleite ich Sie, ich...“ „Es ist alles glimpflich abgelaufen, Edwards“, sagte der Richter. „Weiß Gott, das soll uns eine Lehre sein!“ Im Arbeitszimmer ihres Vaters beruhigte sich Elisabeth allmählich. Sie erzählte in allen Einzelheiten, wie sich dieses fürchterliche Abenteuer zugetragen hatte, wie Luise ohnmächtig geworden war, wie Natty im rechten Augenblick den Panther zur Strecke gebracht hatte. „Und Brave hat so tapfer gekämpft!“ Wieder weinte Elisabeth, aber jetzt flössen ihre Tränen ruhiger. „Bist mein tapferes Mädchen“, sagte Temple, „bist eine Frau, wie sie in unsere Siedlung paßt. Morgen oder übermorgen bringe ich dir endlich das Schießen bei. Wir nehmen meine Vogelflinte...“ Ein Klopfen unterbrach, Benjamin steckte den Kopf herein. „Entschuldigen Sie, Mister“, sagte er verlegen, „aber Doolittle will Sie unbedingt in einer amtlichen Angelegenheit sprechen. Er hat eine Anzeige zu machen.“ „Muß das gerade jetzt sein? Schick ihn herauf!“ Gleich darauf schob sich Doolittle durch die Tür. Er begrüßte Elisabeth und den Richter und begann: „Miß Elisabeth ist einer schrecklichen Gefahr entronnen, 505
beinahe wäre ich Augenzeuge gewesen. Da wird sich Lederstrumpf eine schöne Prämie verdient haben, hoffe ich! Aber ich komme wegen der Gerichtssitzung, die morgen stattfindet. Unter anderem werde ich Anklage gegen einige Farmer erheben, die das Jagdgesetz übertreten haben.“ „Ja, wir müssen ein Exempel statuieren.“ „Ich weiß, Sie werden hart durchgreifen, Richter. Wegen solch einer Sache bin ich hier. Ich glaube, Natty Bumppo hat einen erlegten Hirsch in seiner Hütte. Sir, ich bitte Sie um Vollmacht, die Hütte durchsuchen zu dürfen.“ Temple ärgerte sich, den Friedensrichter ins Zimmer gelassen zu haben, er hätte gern einen Ausweg zugunsten Nattys gewußt; alles in ihm sträubte sich, den Mann, der eben seine Tochter gerettet hatte, wegen einer geringfügigen Übertretung vor Gericht zu zerren. „Sie glauben, daß er einen Hirsch geschossen hat? Als Friedensrichter müßten Sie das Gesetz kennen. Es schreibt vor, daß jemand seine Beobachtung beschwören muß, ehe eine Hausdurchsuchung angeordnet werden kann.“ „Nun, ich kann auch schwören.“ „Dann schreiben Sie sich die Vollmacht doch selbst aus! Sie sind Friedensrichter, was behelligen Sie mich überhaupt mit diesem Kram!“ Doolittle breitete in gespieltem Erstaunen die Hände. „Ich habe als Zimmermann und Architekt oft in den Wäldern wegen des Bauholzes zu tun und möchte mir Lederstrumpf nicht zum Feind machen. Vielleicht legt er sonst einmal seine Büchse statt auf einen Panther auf mich an! Außerdem glaubte ich, daß gerade Sie wegen eines Jagdfrevels kein Auge zudrücken.“ Temple, der merkte, daß der Ruf seiner Unparteilichkeit auf dem Spiel stand, sah sich zum Nachgeben gezwungen. 506
Er griff nach Papier und Feder, schrieb und stempelte und gab den Schein dem Friedensrichter, der es nun eilig hatte, sich zu verabschieden. Nachdem Doolittle gegangen war, sagte Temple zu seiner Tochter, sie möge sich Nattys wegen keine Sorgen machen; wenn wirklich ein Hirsch in dessen Hütte gefunden würde, so wiege die Strafe geringer als die Prämie für die erlegten Panther. „Außerdem“, fügte er hinzu und lächelte dabei zum erstenmal in diesem Gespräch, „kannst du ja die paar Dollars aus deiner Tasche bezahlen.“ „Das werde ich mit Freuden tun!“ Unterdessen verließ Doolittle eilig dieses Haus. Vor der Kneipe „Zum kühnen Dragoner“ traf er Billy Kirby; mit gewichtiger Miene ging er auf ihn zu und sagte: „Bürger, ich bin vom Richter beauftragt, ein Haus zu durchsuchen, und fordere dich auf, mich als Zeuge zu begleiten.“ Kirby kratzte in seinem Schöpf und fragte: „Ist für so was nicht der Sheriff da?“ „Der hat außerhalb zu tun. Im Namen des Gesetzes, Kirby, fordere ich dich auf, Zeuge bei einer Amtshandlung zu sein. Dafür brauche ich einen ganzen Mann.“ „Meinst du, der Bursche könnte Widerstand leisten? Ich übertreibe wohl nicht, wenn ich behaupte, daß ich der beste Ringer im Bezirk bin.“ „Ich sage ja, daß du goldrichtig für mich bist. Jetzt kein Geschwätz mehr, vorwärts!“ Erst als sie zum See hinuntergingen, fragte Kirby, wessen Haus durchsucht werden sollte, und blieb grinsend stehen, als er hörte, man müsse sich eines Hirsches wegen in Lederstrumpfs Hütte umsehen. Kirby rief: „Was, der Alte macht Scherereien? Mit dem werde ich mit meinem kleinen Finger fertig. Schießen kann er, das ist nicht die Frage, aber glauben Sie wirklich, daß er eines Hirsches 507
wegen den Hals riskiert?“ „Er ist hinterlistig wie ein alter Indianer.“ „Ach was, ich rede mit ihm, und wenn er tatsächlich einen Hirsch geschossen hat, esse ich mit ihm in Ruhe einen Braten.“ Dootlittle hielt es für besser einzulenken, und behauptete, auch er wäre friedfertig, und nichts wäre ihm lieber, als wenn alles in Ruhe geklärt werden könnte. Aber trotzdem blieb er, als sie sich Nattys Hütte näherten, vorsichtig im Schatten einer Fichte. Kirby ging noch einige Schritte auf die Hütte zu, da sprangen Nattys Hunde unter ihrem Schutzdach heraus, kläfften und rissen wütend an ihren Leinen. Natty öffnete die Tür und steckte seinen Kopf heraus, Kirby legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief: „He, Lederstrumpf, ich muß dir etwas Amtliches ausrichten!“ „Kirby, du bist’s? Ich habe keine Bäume zu fällen und keinen Zucker zu sieden, was willst du da bei mir?“ „Ich sag’s doch, ich komme als Bote des Richters, und wenn du mir nicht glaubst, kannst du Doolittle fragen. Es ist nichts Schlimmes, du hast bloß den zwanzigsten Juli mit dem ersten August verwechselt.“ Natty sprach einige Worte in die Hütte hinein und trat über die Schwelle. Kirby setzte sich wenige Schritte von Natty entfernt auf einen Baumstumpf und sagte: „Ich will keinen Streit, Alter. Du warst beim Preisschießen glücklicher als ich, aber deshalb bin ich dir nicht böse. Du sollst einen Hirsch geschossen haben, und der Friedensrichter hat mich als Zeugen mitgenommen. Also, mach keinen Unsinn und laß uns in die Hütte.“ Inzwischen war Doolittle, der sah, daß Natty und Kirby ruhig miteinander sprachen, näher getreten. Er warf sich in Positur und verlas mit gewichtiger Stimme die Vollmacht, 508
die Temple ausgestellt hatte; mit besonderem Genuß betonte er am Ende den Namen des Richters. Natty schüttelte erbost den Kopf. „Hat Temple wirklich seinen Namen unter diesen Fetzen gesetzt? Mir scheint, dieser Mann liebt Ländereien und neumodische Gesetze mehr als seine eigene Tochter. Trotzdem würde ich das arme Ding noch einmal retten, und wenn mir dabei ein Panther an die Kehle springen sollte. Sie hat sich ihren Vater nicht aussuchen können. Also, Doolittle, du hast mir diesen Wisch vorgelesen, was soll nun geschehen?“ „Es ist nur eine Formsache, Natty. Wir wollen ins Haus gehen und die Angelegenheit in Ruhe besprechen. Wenn du wirklich einen Hirsch geschossen hast, kannst du die Strafe leicht von der Prämie bezahlen, die du für die Panther bekommst. Vielleicht gibt dir der Richter auch das Geld aus seiner Tasche, er steht doch tief in deiner Schuld.“ Während dieser Worte trat der Friedensrichter näher, aber Natty hob die Hand und warnte: „Bleib stehen! Ich tue keinem Menschen etwas und will in Ruhe gelassen werden. Zurück, ihr beiden! Sagt eurem Richter, daß ich auf seine Belohnung verzichte, aber das hier ist mein Haus, und ich lasse niemanden hinein, habt ihr mich verstanden?“ Doolittle schwenkte triumphierend den Durchsuchungsbefehl, während er schrie: „Im Namen des Volkes und des Gesetzes! Ich rufe den Bürger Kirby zum Zeugen auf! Kraft meiner Vollmacht und meines Amtes verlange ich Eintritt in dieses Haus!“ Da Natty nichts entgegnete, nahm Doolittle an, er hätte ihn eingeschüchtert, und setzte seinen Fuß auf die Schwelle, aber Natty packte zu, die Adern an seinem mageren Hals schwollen an, er hob den Friedensrichter hoch und schleuderte ihn zum See hinunter. Doolittle stürzte ins 509
Gras, rappelte sich mühsam auf und schüttelte die Fäuste. Kirby, der Natty nicht halb soviel Kraft zugetraut hatte, war sprachlos vor Überraschung, dann brach er in wieherndes Gelächter aus. „Gut gemacht, Alter!“ brüllte er. „Es ist bestimmt am besten, wenn ihr beide euren Streit mit den Fäusten ausfechtet. Was sollen hier Vollmachten und Gesetze. Auf, Friedensrichter, alter Holzbock, ich will Zeuge sein, wer von euch besser raufen kann!“ Doolittle suchte seine Mütze aus dem Gras und rief zu Kirby hinauf: „Bürger Zeuge, im Namen des Gesetzes rufe ich Sie auf, den Strolch da wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festzunehmen!“ Natty griff hinter sich, im nächsten Augenblick hielt er seine Büchse in der Hand und richtete sie auf Kirby, wobei er mit heiserer Stimme warnte: „Keinen Schritt weiter, Junge! Du weißt, daß ich schießen kann.“ Kirby kratzte sich den Kopf. „Mach keinen Blödsinn, Natty! Ich bin nicht als dein Feind hier. Der Friedensrichter soll...“ Er schaute sich ratlos nach Doolittle um, aber der hatte sich fluchtartig zurückgezogen. Als Kirby merkte, daß er allein war, stöhnte er: „Da hat mich Doolittle schön in die Klemme gebracht. Macht mich zur halben Amtsperson, gibt mir einen Auftrag und läßt mich dann im Stich!“ Natty setzte die Büchse ab, sein Zorn war ebenso rasch verflogen, wie er aufgeflammt war. Gleichmütig sagte er: „Ich will keinen Streit mit dir, Kirby, und du sollst durch mich keine Schwierigkeiten bekommen. Dir gegenüber will ich zugeben, daß ich einen Hirsch erlegt habe. Ich werfe dir das Fell heraus, du kannst es dem Richter bringen, dann habe ich wenigstens Ruhe vor Doolittle und ähnlichem Gelichter. Die Prämie für die Panther wiegt die Strafe auf, hoffe ich.“ 510
Kirby war froh, daß die leidige Sache so endete. Natty ging in die Hütte, eine Minute später trat er mit dem Hirschfell heraus und gab es dem Holzfäller. Kirby warf es über die Schulter und kehrte nach Templeton zurück. Einmal lachte er hellauf: Ihm war eingefallen, wie komisch es ausgesehen hatte, als Doolittle den Hang hinuntergerollt war. Kirby war sicher, mit dieser Geschichte beim nächsten Umtrunk die Lacher auf seiner Seite zu haben.
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Ein Berg steht in Flammen Doolittle war aufgeregt durchs Dorf geeilt, hatte hier und da jemandem einige Sätze zugerufen, nun standen Gruppen beieinander und diskutierten das erstaunliche Ereignis: Lederstrumpf, ein eigenbrötlerischer Mensch am Rande der Gemeinschaft, als Lieferant von Wildbret und Häuten mehr geduldet als gebraucht, hatte sich gegen die Ordnung aufgelehnt, den Friedensrichter angegriffen und dessen Zeugen mit der Schußwaffe bedroht. In der Tat: So etwas war seit Jahren nicht vorgekommen. Templeton hatte sein Thema. - Oliver Edwards, der sich im Auftrag des Richters bei Pfarrer Grant nach Luises Befinden erkundigt hatte, brauchte nur bei dieser und jener Gruppe für kurze Zeit stehenzubleiben, um zu erfahren, was geschehen war. Dabei hoffte er, daß übertrieben würde, aber der Sachverhalt mußte im Grunde wohl stimmen, und Edwards kannte Natty genau genug, um zu wissen, daß dieser unter keinen Umständen jemanden an seine Hütte heranließ. „Lederstrumpf muß ins Gefängnis!“ schrie ein Farmer. Edwards zuckte zusammen, als er dachte: Gefängnis, das konnte diesen alten Mann ins Grab bringen. Als Edwards das Haus des Richters betrat, stand Benjamin in der Halle. „Doolittle ist oben“, brummte er. „Eine vertrackte Geschichte! Natty hat mich an meinem eigenen Schlafittchen aus dem Wasser gezogen, seitdem ist er mein Freund, aber ich fürchte, ich kann ihm nicht helfen.“ „Wir müssen ihm helfen!“ rief Edwards. Er war sich bewußt, daß er erheblich zu den Schwierigkeiten beigetragen hatte, in denen sich Natty befand, schließlich hatte er dem Hirsch die Leine ums Geweih geworfen. Er 512
fühlte sich mitschuldig an dem Jagdfrevel, rang sich aber zu der nüchternen Überlegung durch, daß es Natty überhaupt nicht nutzte, wenn er sich dazu bekannte. „Ist das Fräulein zu sprechen?“ Benjamin wies auf Elisabeths Zimmer, Edwards klopfte an und trat ein. Elisabeth hob die tränennassen Augen und sagte: „Ach, Sie sind’s, Edwards. Wie geht es Luise?“ „Sie ist erschöpft, natürlich, hat aber, glaube ich, keinen Schock davongetragen. Ihr Vater tröstet sie.“ Elisabeth zwang sich zu lächeln, ihre Stimme gewann den vertrauensvollen Klang wie sonst nur im Gespräch mit ihrem Vater, als sie fortfuhr: „Lederstrumpf ist nun auch mein Freund geworden. Ich überlege gerade, wie ich ihm eine Freude machen kann. Aber ich kenne seine Bedürfnisse zuwenig. Vielleicht bringe ich ihm eine warme Decke für den Winter. Oder ich bitte Vater, ihm ein Gewehr ...“ Edwards unterbrach sie erregt: „Wissen Sie denn nicht, was geschehen ist? Natty hat einen Hirsch erlegt, er ist angezeigt worden, und Ihr Vater hat den Befehl zur Hausdurchsuchung...“ „Das weiß ich alles. Mein Vater mußte sich an das Gesetz halten. Mister Edwards, Sie leben seit Monaten mit uns zusammen und müßten meinen Vater inzwischen kennen. Sie glauben doch nicht, daß er einen Mann, der eben seine Tochter vor dem Tode gerettet hat, einer Lappalie wegen einsperrt! Nein, Vater ist nicht nur Richter, sondern auch Christ. Ich habe mit ihm diese Angelegenheit durchgesprochen, wegen einiger Dollar Strafe braucht sich niemand zu sorgen.“ Die Tür wurde geöffnet, der Richter trat ein. Seine Stirn war gefurcht, er blickte ratlos von Edwards zu seiner Tochter. „Lederstrumpf hat unsere Pläne durchkreuzt“, 513
murmelte er. „In seiner Starrköpfigkeit hat er Doolittle nicht ins Haus gelassen und zu Boden geschlagen.“ Er hob die Hände zu einer hilflosen Geste und krampfte sie um eine Stuhllehne. „Ich kann das nicht vertuschen.“ Seine Stimme gewann die gewohnte Festigkeit zurück, als er hinzufügte: „Und ich will es auch nicht. Ich bin Richter, ich muß private und öffentliche Dinge auseinanderhalten. Natty hat dich gerettet, Elisabeth, das wird nicht vergessen, ihm ist eine Belohnung sicher, deren ich mich nicht werde schämen müssen. Aber er hat sich gegen das Gesetz aufgelehnt, und ich kann nicht dulden daß es verletzt oder gebeugt wird.“ Oliver Edwards fragte leise: „Und wie werden Sie Natty bestrafen, Sir?“ „Ein Richter kann erst urteilen, wenn er alle Zeugen gehört hat und die Geschworenen gesprochen haben.“ „Werden nicht das Alter, die Gewohnheiten und die geringe Bildung meines Freundes mildernd wirken?“ „Sicherlich, aber seine Schuld wird dadurch nicht ausgelöscht. Es kann kein Zusammenleben von Menschen geben, wenn jemand den Vertretern der Ordnung ungestraft mit Gewalt entgegentreten darf. Ich habe nicht deshalb diese Wildnis der Zivilisation unterworfen, um nun wieder der Anarchie die Tür zu öffnen.“ „Hätten Sie auch den Panther zivilisiert, dann ...“ „Edwards!“ rief Elisabeth. „Bleib ruhig, Kind“, unterbrach der Richter. „Dieser junge Mann wird unsachlich. Edwards, ich nehme Ihnen Ihre Bemerkung nicht übel, denn Lederstrumpf ist Ihr Freund. Aber ich halte es für das beste, wenn wir das Gespräch beenden.“ „Ich werde nicht unsachlich“, erwiderte Oliver Edwards aufgebracht. „Ja, Natty ist mein Freund, und ich bin stolz 514
darauf. Er hat zwar nie eine Schule besucht, aber er besitzt ein Herz und verläßt seine Freunde nie, nicht einmal seine Hunde!“ „Was soll dieser Ton!“ Der Richter zwang sich zur Ruhe, er blickte Elisabeth an, die erschrocken dem Wortwechsel folgte, und fügte hinzu: „Ich habe schon einmal gesagt, daß ich eine derartige Debatte mit einem Angestellten nicht wünsche. Nur noch dies: Trotz aller Freundschaft ist mir Lederstrumpf manchmal kühl und sogar abweisend gegenübergetreten. Das aber wurd die kommende Verhandlung, bei der es um ein Verbrechen geht, genauso wenig beeinflussen wie das Verdienst, das er sich durch die Rettung meiner Tochter erworben hat.“ „Um ein Verbrechen?“ rief Edwards. „Er hat einen Schnüffler von seiner Schwelle gejagt. Sir, wenn in dieser Sache ein Verbrechen verübt worden ist, dann nicht von ihm!“ Der Richter fragte mit eisiger Ruhe: „Von wem sonst?“ Edwards verlor jetzt vollends die Beherrschung. „Fragen Sie Ihr eigenes Gewissen! Treten Sie aus dem Haus und schauen Sie über dieses Tal, den See, diese Berge, und fragen Sie Ihr Herz, woher Ihr Reichtum stammt. Bereits der Anblick Lederstrumpfs und des alten Delawaren, die nichts besitzen außer ihren Gewehren und einer armseligen Hütte, müßte Ihnen die Freude an Ihrem Vermögen verleiden.“ Der Richter mußte seine ganze Energie aufbieten, um nicht in den gleichen Ton zu verfallen. Sachlich, aber äußerst bestimmt antwortete er: „Junger Mann, Sie vergessen, mit wem Sie sprechen. Mir ist zugetragen worden, daß Sie Anspruch auf diesen Boden erheben, weil irgendeine Verwandtschaft zu dem alten John bestehen soll, ich habe aber angenommen, Ihre Erziehung hätte 515
Ihnen klargemacht, welcher Wandel inzwischen erfolgt ist. Diese Ländereien sind von den Indianern abgetreten worden, ich habe sie rechtmäßig erworben. Nach diesem Auftritt ist jedenfalls für Sie in meinem Haus kein Platz mehr. Kommen Sie auf mein Zimmer, ich werde Ihnen auszahlen, was ich Ihnen schulde. Und wenn ich Ihrer Laufbahn anderswo nicht im Wege stehe, dann nur, weil ich Ihnen Ihre Jugend zugute halte.“ Mit diesen Worten verließ der Richter das Zimmer. Eine Minute lang war es totenstill, dann flüsterte Elisabeth: „Mister Edwards, was haben Sie nur getan!“ Die Röte im Gesicht des jungen Mannes wich einer fahlen Blässe, leise und wie abwesend antwortete er: „Miß Temple, ich habe mich vergessen, bitte verzeihen Sie mir. Vor allem habe ich Sie vergessen, und das ist schlimmer. Ich verlasse das Haus, von Ihnen aber möchte ich im Frieden scheiden.“ Traurig blickte Elisabeth auf. „Ich trage Ihnen nichts nach, und auch mein Vater wird Ihnen irgendwann verzeihen. Bestimmt werden Sie alles, was heute geschehen ist, noch einmal durchdenken und dann über uns zu anderen Ansichten kommen.“ „Meine Ansicht über Sie bleibt immer unverändert.“ „Ich begreife nicht alle Zusammenhänge. Bitte, glauben Sie mir, ich möchte, daß Sie völlig offen zu mir sind. Sagen Sie Lederstrumpf, daß er in meinem Vater nicht nur den Richter, sondern in ihm und mir auch seine Freunde sehen soll. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“ Ehe Edwards noch etwas erwidern konnte, hatte Elisabeth die Tür hinter sich geschlossen. Er blieb eine Minute lang wie angewurzelt stehen, dann verließ er, ohne von Temple den ihm zustehenden Lohn angenommen zu haben, das Haus und schlug den kürzesten Weg zum See 516
ein.
2 Spät am folgenden Abend kehrte Richard Jones hoch zu Roß nach Templeton zurück. Er hatte die Verhaftung einer Falschmünzerbande beaufsichtigt, die in einem Schlupfwinkel im Gebirge aufgespürt worden war; einige Gerichtshelfer und Konstabler führten vier gebundene Verbrecher in ihrer Mitte. Jones ordnete an, die Verhafteten im Gefängnis einzusperren, dann schwang er sich in dem Bewußtsein, rechtschaffene Arbeit geleistet zu haben, vor dem Haus des Richters aus dem Sattel. Alle Fenster waren dunkel, aber Jones pochte so lange an die Tür, bis Benjamin öffnete. Der Hausverwalter weigerte sich entschieden, den Richter zu so nachtschlafender Zeit zu wecken, er wandte ein, es hätte wahrlich genügend Aufregung gegeben, so daß jetzt jedermann seinen Schlaf brauche. Fünf Minuten später wußte der Sheriff alles, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. „Widerstand gegen das Gesetz!“ rief er lauter, als es zu dieser Stunde angebracht oder nötig war. „Das muß mir Lederstrumpf büßen!“ Der Sheriff schlief kaum in dieser Nacht, zu sehr war er von der Wichtigkeit seiner Aufgabe erfüllt. Im Morgengrauen klopfte er die Gerichtsdiener heraus, die, wie er es nicht anders vermutet hatte, im Wachtzimmer des Gefängnisses saßen und Branntwein tranken. Er wählte zwei dieser Männer und sechs Konstabler aus, an ihrer Spitze zog er aus Templeton hinaus. Auf der Anhöhe vor dem See versammelte er seine Streitmacht im Halbkreis um sich und legte seinen Schlachtplan dar. „Männer“, begann er mit der Stimme eines Feldherrn, „ich befehle euch, Natty Bumppo, genannt Lederstrumpf, zu verhaften. Dieser Wildfrevler hat sich einer Amtsperson 517
tätlich widersetzt, hat einem Durchsuchungsbefehl nicht Folge geleistet und einen Amtshelfer mit der Waffe bedroht. Wir müssen mit aller Vorsicht vorgehen, denn Bumppo ist bis an die Zähne bewaffnet, und es ist ihm zuzutrauen, daß er sich den Fluchtweg freikämpfen wird. Ihr werdet das Haus umzingeln und vorstürmen, sobald ich den Befehl dazu gebe. Die Tür ist aufzubrechen und Bumppo festzunehmen. Mein Befehlsstand liegt hinter dem Damm seitlich der Hütte, alle Meldungen sind dorthin an mich persönlich zu richten. Gibt es noch Fragen?“ Verwundert schauten die Konstabler auf den Sheriff, einer erinnerte sich dunkel an ein Gemälde, das in einem Kalender reproduziert worden war: Cäsar befiehlt den Rheinübergang. „Ihr schleicht an dieser Seite um die Hütte herum“, fuhr Jones fort, „ihr an der anderen, nach der Vereinigung rückt ihr konzentrisch vor. Männer, vergeßt nie: Templeton blickt auf euch. Vorwärts!“ Einige Minuten lang hörte Jones nur das Knacken von Zweigen unter den Stiefeln. Er selbst schlich gedeckt hinter der Böschung vorwärts. Als es im Wald still geworden war, stieß er ein schrilles: „Drauf und dran, Männer!“ aus und sprang, eine Pistole in der Faust, den Hang hinauf. Er hatte angenommen, unmittelbar der Hütte gegenüberzustehen, zu seiner Verblüffung aber sah er nur rauchende Trümmer, unter denen noch ein wenig Glut schwelte. Die Konstabler stürzten aus dem Wald heraus, sie traten verwundert näher, stocherten in der Asche und blickten verdutzt ihren Kommandeur an. Richard Jones war stumm vor Überraschung. Die Stille wurde schon peinlich, als eine Gestalt zwischen den Bäumen hervortrat. Einige letzte Funken stoben auf, in ihrem zuckenden Licht erkannte Jones den 518
alten Natty. „Was wollt ihr nun noch von mir?“ fragte der Jäger, während er auf die Asche starrte. „Dreißig Jahre lang lebte ich hier, aber ich habe meine Hütte lieber in Brand gesteckt, als sie von euch durchwühlen zu lassen. Jetzt wollte ich von dieser Stelle Abschied nehmen, aber nicht einmal das gönnt ihr mir.“ Die Konstabler standen reglos, keiner wollte als erster Hand an den alten Mann legen. Schließlich raffte sich Jones auf; nichts von der gewöhnlichen Forsche war in seiner Stimme, es klang fast, als wolle er sich entschuldigen, als er sich auf das Gesetz berief und Natty Bumppo aufforderte, zur Siedlung zu folgen. Der Rückweg war alles andere als ein Triumphzug. Der Sheriff und sein Gefangener gingen in der Mitte, Jones fragte, wo der Delaware sei, weshalb um alles in der Welt Natty den Hütern der Ordnung keinen Blick in seine Hütte gestattet habe, warum nur das, was mit einem geringen Vergehen begonnen habe, diese Ausmaße annehmen mußte. Aber Natty antwortete nicht. Ohne Widerstand ließ er sich ins Gefängnis bringen. Am folgenden Morgen strömten Scharen von Menschen aus den umliegenden Dörfern und Weilern in Templeton zusammen. Gerichtstag war auch Markttag, Händler breiteten ihre Waren aus, Sicheln und Äxte, Web-und Seilerwaren lagen auf Holztischen vor dem Gasthaus; dort drängte sich die Menge, die zur Verhandlung kommenden Fälle wurden durchgesprochen, Familienangelegenheiten erörtert, ein Redner verkündete von einem Faß herunter seine politischen Ansichten. Als die Glocke zehn Uhr schlug, trat Richard Jones aus der Tür des Wirtshauses „Zum kühnen Dragoner“. Er hielt ein Schwert in der Hand, das seiner Behauptung nach einer seiner Ahnen in den Schlachten Cromwells getragen hatte, und forderte die 519
Menge auf, dem Gerichtshof Achtung zu erweisen. Der Sheriff war von Konstablern begleitet, ihm folgte Richter Temple mit den Beisitzern. Einige Rechtsanwälte schlössen sich dem Zug an, den Schluß bildeten Neugierige. Der Raum, in dem verhandelt werden sollte, war groß genug für nahezu hundert Menschen. Auf einem Podium an der Stirnseite nahmen die Gerichtspersonen Platz, das Publikum drängte sich auf den Bänken davor. Nachdem Stimmengewirr und Füßescharren verstummt waren, eröffnete Temple den Gerichtstag, gab die Tagesordnung bekannt und vereidigte die Geschworenen. Es war üblich, erst die geringeren Fälle zu er 7 ledigen; die Attraktion dieses Tages, die Verhandlung gegen die Falschmünzer, hatte Temple ans Ende gesetzt. Die leidige Affäre Bumppo wollte er rasch erledigen, er hoffte, alle Beteiligten brächten jetzt noch Mut und Frische zu einem die ungewöhnlichen Umstände und die Person des Angeklagten wertenden Urteil auf, und so rief er als ersten Nathaniel Bumppo vor seinen Tisch. Als dieser Name genannt wurde, trat tiefe Stille ein; während Natty durch die Tür und vor den Richter geführt wurde, konnte man seine schweren Atemzüge hören. Natty schaute sich um, überall traf er auf Augen, die ihn neugierig anstarrten. Temple sagte: „Nehmen Sie Ihre Mütze ab.“ Natty hörte diese Worte nicht oder bezog sie nicht auf sich, jedenfalls reagierte er erst bei der zweiten Aufforderung. Temple gab dem Distrikt-Ankläger einen Wink, dieser schob eine Brille auf die Nase und las mit monotoner Stimme den in altertümlichen Wendungen gehaltenen Text, wonach Nathaniel Bumppo, gemeinhin genannt Lederstrumpf, sich gegen den Friedensrichter Doolittle gewalttätig aufgeführt habe. Natty horchte auf jedes Wort, wobei er sich vorneigte, und, als spreche er 520
einzelne Worte nach, die Lippen bewegte. Als der Ankläger geendet und mit schwungvoller Bewegung die Brille in die Tasche gesteckt hatte, richtete sich Natty auf und seufzte. „Ja“, sagte er, „so ähnlich ist es wohl gewesen. Daß ich den Herrn ein bißchen rauh angefaßt habe, mag wahr sein,“ Der Richter fragte: „Bekennen Sie sich schuldig?“ „Schuldig?“ Natty stieß erregt die Hände von „Schuldig bin ich nie und nimmer! Es war mein gutes Recht, diesen Burschen nicht über meine Schwelle zu lassen, wie kann ich da schuldig sein?“ Diese Bemerkung wurde vom Gerichtsschreiber eingetragen, ehe der Ankläger den Friedensrichter in den Zeugenstand forderte. Doolittle schilderte den Vorgang noch einmal in Worten, die denen der Anklage ähnlich waren, dann erhob sich der Verteidiger, um diese Aussage zu zerpflücken. Er fragte zuerst, ob Doolittle das Recht gehabt habe, das Haus des Angeklagten zu durchsuchen. Doolittle verwies auf die vom Richter ausgestellte Vollmacht, mußte sich aber zu dem Zugeständnis bewegen lassen, Bumppo habe wohl nicht recht begriffen, was vor sich gehe, vielmehr könnte er den Besuch als den eines Nachbarn angesehen haben. Der Verteidiger faßte zusammen: „Der Angeklagte glaubte sich im Recht, diesen Besuch ablehnen zu dürfen. Als der Zeuge dennoch die Schwelle übertreten wollte, griff er zur Selbstverteidigung, wobei er das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht verletzte. Denn wie wir sehen, hat der Zeuge keinen Schaden davongetragen. Folglich beantrage ich Freispruch.“ Temple glaubte, im Interesse Nattys zu handeln, als er feststellte, der Fall wäre jetzt genügend erörtert worden und könne den Geschworenen übergeben werden. Die 521
Jurymitglieder steckten für einige Minuten die Köpfe zusammen und erklärten dann den Angeklagten als nicht schuldig. Natty hatte nicht recht begriffen, er rief zum Richtertisch hinauf: „Nun ja, ich gebe zu, ein wenig hart habe ich ihn angefaßt.“ „Sie sind freigesprochen“, wiederholte Temple. „Aber es wird in einem weiteren Punkt Anklage erhoben.“ Der Ankläger suchte einen anderen Bogen aus seinen Akten heraus und verlas den geschraubten Text. Es ging um Anwendung von Waffengewalt gegen eine Amtsperson, die eine Hausdurchsuchung vornehmen wollte. Einige Formulierungen waren so, daß sich Natty gekränkt fühlte, er rief dazwischen: „Das ist eine Lüge! Selbst die hinterlistigsten Mingos warfen mir niemals vor, ich hätte einem von ihnen nach dem Leben getrachtet, wenn ich mich nicht verteidigen mußte. Wer will hier behaupten, ich hätte Billy Kirby ermorden wollen?“ Der Richter legte sich ins Mittel. „Angeklagter, Sie werden beschuldigt, die Büchse gegen einen Helfer des Friedensrichters erhoben zu haben. Bekennen Sie sich schuldig?“ Natty wies zur Seite und sagte: „Glaubt jemand, Kirby stünde dort, wenn ich auf ihn geschossen hätte? Billy, du erinnerst dich an das Truthahnschießen zu Weihnachten?“ Jetzt wurde Doolittle erneut als Zeuge vernommen. Er war vorsichtiger als beim erstenmal, hütete sich vor jeder Übertreibung und legte unerwartet sachlich dar, was er beobachtet hatte. Natty habe also das Gewehr angelegt und gerufen, Kirby solle keinen Schritt weitergehen, Kirby wisse ja, daß Bumppo schießen könne. Kirby bestätigte diese Aussage, wobei er in ungutem Gefühl zu Natty hinschielte. Der Verteidiger versuchte durch geschickt 522
gestellte Fragen, Doolittle und Kirby in Widersprüche zu verwickeln, mußte aber ohne Erfolg aufgeben. Endlich fragte Temple den Holzfäller: „Haben Sie sich durch die Büchse und die Drohung abhalten lassen, die Hütte zu betreten?“ Billy schnippte mit den Fingern. „Ich hab mich nicht so viel um Nattys Schießeisen gekümmert.“ „Aber Sie haben eben ausgesagt, daß er auf Sie abdrücken wollte.“ „Anfangs dachte ich das wirklich. Richter, Sie hätten sehen sollen, wie Lederstrumpf über das Visier blinzelte! Aber dann überlegte ich: Ach, der will mir ja bloß blauen Dunst vormachen. Später hat er mir die Haut gegeben, und die Sache war erledigt.“ Sofort hakte der Verteidiger ein: „Sie ließen sich nicht einschüchtern?“ Kirby reckte die Brust heraus und antwortete selbstgefällig: „Mich kann keiner so leicht ins Bockshorn jagen.“ „Sie haben sich mit dem Angeklagten an Ort und Stelle geeinigt?“ „Er gab mir die Haut, damit war der Fall geklärt. Was soll ich mich mit dem alten Mann weiter herumstreiten?“ Der Verteidiger war mit dieser Antwort zufrieden, der Ankläger verwies noch einmal darauf, daß der Delinquent unter drohenden Worten das Gewehr erhoben habe, dann zog sich das Gericht zur Beratung zurück und ließ wenig später durch seinen Sprecher mitteilen, die Schuld des Gefangenen sei erwiesen. Ein Raunen ging durch den Saal, Temple erhob sich und sagte: „Wir leben an der Grenze der menschlichen Zivilisation, deshalb ist es doppelt nötig, die Hüter des Gesetzes vor Übergriffen zu schützen. Weil der Angeklagte ein alter Mann ist, sieht das Gericht davon ab, ihn durch Auspeitschen zu bestrafen. Da 523
das Verbrechen aber öffentlich angeprangert werden muß, wird Nathaniel Bumppo eine Stunde lang in den Stock gesperrt. Des weiteren hat er eine Strafe von hundert Dollar zu bezahlen und wird, falls dieser Betrag nicht entrichtet werden kann, dreißig Tage lang in Haft gehalten. Möchte der Angeklagte zu diesem Urteil etwas vorbringen?“ Natty umkrampfte die Schranke, die ihn vom Richtertisch trennte, und rief: „Woher soll ich das Geld nehmen? Laßt mich in die Wälder ziehen, trotz meiner siebzig Jahre will ich nicht ruhen, bis ich so viel Wildbret erlegt habe, daß ich diese Strafe bezahlen kann.“ „Das ist ausgeschlossen, ich muß mich an das Gesetz halten.“ „An das Gesetz?“ rief Natty erregt. „Hat sich der Panther etwa an das Gesetz gehalten, als er Ihre Tochter angriff?“ „Meine persönlichen Gefühle dürfen...“ „Hören Sie mich an, Richter! Ich jagte schon in den Bergen, als Sie noch in der Wiege lagen, und ich fühle, daß ich das Recht habe, sie so lange zu durchstreifen, wie ich lebe. Als Sie an dieses Ufer kamen, gab es hier noch kein Gefängnis und keinen Stock, in die man ehrliche Leute sperren konnte, Sie ließen sich den Braten in meiner Hütte schmecken und fragten nicht, in welcher Zeit ich das Wild geschossen hatte. Hundert Dollar! Woher soll ich sie nehmen? Es gibt Leute, die nichts Gutes über Sie sprechen, Richter, aber so hartherzig können Sie nicht sein, daß Sie einem alten Mann den Tod im Gefängnis wünschen. Lassen Sie mich gehen, ich werde Tag und Nacht auf den Beinen sein, um meine Strafe abzuarbeiten, und wenn ich noch lange genug lebe und Farmen und Felder nicht das letzte Wild vertreiben, wird es mir auch gelingen.“ Temple wollte vermeiden, daß sich der alte Jäger zu 524
Beschimpfungen des Gerichts hinreißen ließ, er wollte dieser ganzen leidigen Geschichte, die ihm so zuwider war, daß er zum erstenmal sein Amt als Last empfand, ein Ende machen, und so winkte er einem Konstabler zu, den Verurteilten abzuführen. Natty leistete keinen Widerstand, mit gesenktem Kopf trat er ins Licht hinaus, wo er sogleich von Neugierigen umringt wurde. Der Block stand unmittelbar neben dem Gerichtsgebäude, der Konstabler hob den oberen Teil hoch und befahl Natty, die Füße in die Kerben zu legen. Natty setzte sich auf die Erde und streckte die Beine aus, er schaute um sich und blickte in viele Gesichter, aber in keinem entdeckte er Freude oder Spott. Der Konstabler wollte den Block gerade schließen, als sich Benjamin durch die Menge drängte; er brüllte: „Wozu sollen solche hölzernen Strümpfe gut sein, he! Natty kann trotzdem in Ruhe seinen Grog trinken, und weh tun sie ihm auch nicht.“ Natty sah zu Benjamin auf. „Du meinst, es täte nicht weh, wenn man wie ein gefangener Bär zur Schau gestellt wird? Ich habe in meinem Leben sechsundsiebzigmal dem Feind gegenübergestanden, nun muß ich den Kindern zum Gespött dienen.“ Benjamin blickte wütend um sich, und wenn ihm nur ein einziges höhnisches Gesicht aufgefallen wäre, hätte er zugeschlagen. Da er nur betroffene oder mitfühlende Mienen fand, setzte er sich neben seinen Lebensretter, steckte die Füße in zwei weitere Löcher des Stocks und sagte: „Nun schließ zu, Konstabler, ich möchte meinem alten Kameraden Gesellschaft leisten.“ „Ich habe keinen Befehl, dich einzusperren.“ „Schließ zu, sag ich!“ Der Konstabler räusperte sich verlegen, nach kurzem Zögern schloß er den Block über den Füßen der beiden 525
Männer. Benjamin bemühte sich, Natty über die mißliche Lage hinwegzutrösten, indem er Schwanke aus seiner Seefahrerzeit erzählte, er bot sich an, ihm künftig bei der Jagd zu helfen, und schlug sogar vor, jemanden nach dem Gasthof zu schicken und Rum bringen zu lassen. Allmählich zerstreute sich die Menge. Die Strafzeit war fast vorbei, als Doolittle heranschlenderte. Er stellte sich vor Natty auf und begann mit einem Farmer ein Gespräch über Regen und Ernteaussichten, mit dem er kundtun wollte, daß er ein braver Bürger wäre, der das Wohl der Gemeinde im Sinn hatte und dessen Recht es war, über einen am Boden hockenden Verbrecher gleichgültig hinwegzusehen. Natty fühlte jeden Satz als einen Hieb. Da aber wagte sich Doolittle zu nahe heran, Benjamin ließ seinen Oberkörper zur Seite fallen, packte Doolittle am Bein und riß ihn zu Boden. Schreiend kippte der Friedensrichter in den Staub, Benjamin hielt ihn mit einer Hand am Gürtel fest und schlug mit der anderen auf ihn ein. Doolittle wand sich, wehrte sich, aber Benjamin war stärker, und der Zorn verdoppelte seine Kräfte. Natürlich strömten jetzt die Neugierigen wieder zurück, einige rannten zum Gerichtsgebäude, unterdessen fiel Benjamins Faust immer wieder wie ein Schmiedehammer auf Doolittle herab. Der zappelte und schrie, flehte nach den Konstablern und dem Sheriff, sein Gesicht schwoll unter den Schlägen an und färbte sich rot und blau. Endlich befreite ein Gerichtsdiener den Friedensrichter aus seiner peinvollen Lage. Gleich darauf drängte sich Sheriff Jones zum Schauplatz durch. Nachdem er gehört hatte, was geschehen war, ordnete er an, Benjamin für die kommende Nacht zusammen mit Natty Bumppo einzusperren, am nächsten Tag wolle er den Fall vor Gericht bringen. Da die Stunde am Pranger abgelaufen war, befahl Jones, 526
Benjamin und Natty zu lösen und abzuführen. Benjamin hatte sich noch immer nicht beruhigt, er schrie dem Sheriff zu, es wäre eine der besten Taten seines Lebens, den elenden Denunzianten durchgeprügelt zu haben, und er hätte dafür statt des Gefängnisses eine doppelte Portion Rum verdient. Benjamin ließ sich in den folgenden Stunden nicht durch die Enge des Kerkers, die schlechte Luft und das faulige Stroh beeindrucken; durch das Gitter hindurch unterhielt er sich mit den Vorübergehenden und bestellte höhnische Grüße an Doolittle. Mancher brachte ihm ein Glas Branntwein, so besserte sich seine Laune immer mehr, und als die Dämmerung sank, hallten seine Seemannslieder weit die Straße hinunter. Natty ging indessen ruhelos auf und ab, er hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, manchmal blickte er mit einem Ausdruck um sich, als begriffe er nicht, wo er sich befand und warum er hierhergebracht worden war. Gegen Abend tauchte Oliver Edwards vor dem Fenster auf. Natty sprach leise mit ihm, dann hängte Natty eine Decke ans Gitter, rückte die Pritsche beiseite und betastete den Boden darunter. Wut und Verzweiflung wichen kalter Ruhe. Vorsichtig löste Natty ein Brett der Pritsche, ein Nagel ließ sich nicht herausziehen, mit mißtönendem Knarren riß ein Bein der Pritsche der Länge nach auf. Natty zuckte zusammen. Aber das Lied von Häfen und Wellen, das Benjamin eben sang, hatte den verräterischen Laut übertönt. Minutenlang saß Natty, ohne sich zu regen. Wieder und wieder erlebte er alles nach, was über ihn hereingestürzt war, er hatte seine Hütte angezündet und war ins Gefängnis gebracht worden, das Gericht hatte ihn verurteilt, ein Konstabler den Block über ihm geschlossen. Um nicht wieder in Zorn zu geraten, erinnerte er sich an 527
frühere Ereignisse, die nicht weniger turbulent gewesen waren; er hatte Tage am Silberglas, am Glenn, am Ontario erlebt und überlebt, die dem vergangenen Tag bei weitem die Waage hielten. Natty lauschte hinaus, der Posten rührte sich nicht. Benjamins Grölen war durch sanftes Schnarchen abgelöst worden. Da begann Natty, mit dem Brett den Boden unter der Außenwand aufzukratzen.
3 Beim Einbruch der Dämmerung beendete das Gericht seine Arbeit, die Besucher gingen nach Hause oder kehrten im Wirtshaus ein; gegen acht Uhr lag die Straße leer und still. Durch eine Allee junger Pappeln gingen zu dieser Stunde Richter Temple und seine Tochter. Elisabeth sagte gerade: „Vater, Gesetze können unmöglich vollkommen sein, wenn ein Mann wie Lederstrumpf ins Gefängnis muß.“ „Menschliche Gesellschaft kann ohne Zwang nicht bestehen“, erwiderte Temple. „Und diejenigen, die Macht ausüben, müssen geschützt werden. Mein Ruf als Richter wäre schwer geschädigt, ließe ich einen Verbrecher durch die Maschen schlüpfen, weil er meine Tochter gerettet hat.“ „Verbrecher?“ fragte Elisabeth. Ihre Stimme klang nachdenklich, als sie hinzufügte: „Ich verkenne nicht, daß du dich in einer schwierigen Lage befunden hast, Vater. Aber haben wir alle zusammen wirklich das Beste daraus gemacht?“ „Du magst in manchen Punkten recht haben, aber du läßt dich zu stark vom Herzen und zuwenig vom Verstand leiten. Immerhin, wir sind in dieser Sache noch nicht am Ende. Nimm diese Brieftasche, in ihr stecken zweihundert Dollar. Gib dem Wärter meine Karte, dann wird er dich zu 528
den Gefangenen lassen. Du händigst Bumppo das Geld aus, er soll davon morgen früh seine Schulden bezahlen; mit dem, was bleibt, kann er sich eine neue Hütte bauen lassen. Und ich bitte dich um eines: Vergiß bei allem, was du Natty sagst, nicht, daß uns erst Gesetze aus dem Urzustand herausreißen und daß ich Richter bin.“ Elisabeth warf die Arme um den Hals ihres Vaters und küßte ihn auf die Wange, sie nahm Karte und Brieftasche und ging die Straße hinauf. Sie begegnete niemandem außer einem Ochsengespann. Der Treiber trug eine lange Jacke und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen; als das Mädchen fast an ihn heranwar, schwang er die Peitsche und rief: „Hü, Schecke!“ Die Stimme kam Elisabeth bekannt vor, beim Vorübergehen blickte sie zur Seite, und trotz der Dunkelheit und der Vermummung erkannte sie, wer da ging. Verwundert stieß sie hervor: „Edwards!“ „Miß Temple!“ „Was machen denn Sie in diesem merkwürdigen Aufzug mitten in der Nacht?“ „Und was führt Sie in die Nähe des Gefängnisses?“ „Ich will Lederstrumpf besuchen und ihm beweisen, daß wir nicht vergessen haben, was er für uns getan hat. Es tut mir leid, Sie bei einer so primitiven Arbeit zu sehen. Ich werde mit meinem Vater...“ „Sorgen Sie sich jetzt nicht um mich, gehen Sie zu unserem Freund. Und sprechen Sie bitte zu niemandem darüber, daß Sie mich getroffen haben.“ Die Verabschiedung war kurz, wenig später klopfte Elisabeth an die Gefängnistür und zeigte dem Wärter die Karte ihres Vaters. Der Wärter schlurfte voran, steckte den Schlüssel ins Schloß der Zellentür und drehte ihn um, konnte aber die Tür nicht aufdrücken. Benjamin fragte, wer denn 529
herein wollte, es schien Elisabeth, als würde in der Zelle ein schwerer Gegenstand gerückt, der Wärter rief, die Häftlinge sollten gefälligst von der Tür weggehen, und Benjamin brummte: „Ich dachte, Doolittle sollte zu mir, und ich habe jetzt keine Lust, ihn noch einmal zu verprügeln.“ Benjamin öffnete, er strahlte über das ganze Gesicht, eine Wolke von Branntweindunst schlug dem Mädchen entgegen, als er rief: „Damenbesuch! Natty, leben wir nicht prächtig?“ Natty drückte sich von der Pritsche hoch. Der Wärter sagte: „Keine lange Debatte, wenn ich bitten darf, um neun muß ich abschließen, bis dahin bleiben noch zwanzig Minuten.“ Knarrend fiel die Tür ins Schloß. „Lederstrumpf“, sagte Elisabeth leise, „lieber alter Freund! Ich habe keine Sekunde lang vergessen, was Sie für mich getan haben. Alles wird gut werden, Ihre Hütte wird wieder aufgebaut, und Sie...“ Natty erwiderte heftig: „Kann man Tote zum Leben bringen? Sie wissen nicht, was es heißt, jahrzehntelang unter denselben Balken gelebt zu haben!“ „Ich bin jung, gewiß. Aber es gibt besseres Holz als das, aus dem Ihre Hütte gezimmert war. Ehe Ihre Haft abgelaufen ist, werden Sie ein neues Dach besitzen, und für den Rest Ihres Lebens sollen Sie in Ruhe und ohne Not leben.“ „Du bekommst jeden Tag deine Flasche Rum“, lallte Benjamin mit schwerer Zunge. „In Ruhe und ohne Not?“ wiederholte Natty. „Ich muß einen Tag lang streifen, ehe ich einen Bock schießen kann, so weit haben die Felder das Wild zurückgedrängt. Vor vielen Jahren, als ich noch Wildtöter hieß, hätte ich zehn Hirsche an einem Tag zur Strecke bringen können, aber 530
ich habe es nie getan. Und ehe ich einen Biber fangen kann, muß ich fast hundert Meilen bis an die Grenze von Pennsylvanien hinauflaufen, denn in den Flüssen und Bächen hierherum sind sie ausgestorben.“ Benjamin zog eine Flasche aus der Tasche und trank einen Schluck. Natty wandte sich ihm zu und sagte: „Nun Schluß damit, sonst kannst du dann nicht laufen.“ Draußen knarrte ein Wagen, es schien Natty, als bliebe er vor dem Gefängnis stehen. „Miß, Sie werden uns nicht verraten“, sagte er und verzog den Mund zu einem verschmitzten Lachen. „Was habt ihr vor?“ fragte Elisabeth erschrocken. „Schon morgen können Sie die Strafe bezahlen, ich habe Geld mitgebracht. Während der Haft werden meine Freundin und ich Sie täglich besuchen, wir nähen Ihnen einen neuen Anzug, worauf Sie auch Appetit haben ...“ „Wollt ihr das wirklich alles für mich tun, ihr guten Mädchen? Aber ich bleibe keine einzige Nacht in diesem Verlies. Einmal, als ich noch Kundschafter hieß, fingen mich die Franzosen oben am Ontario, sie steckten mich und einundsechzig Soldaten in ein Blockhaus, aber für Leute, die mit Holz umgehen können, war es nicht schwer, in wenigen Stunden ein Loch zu bohren. Und wer wie ich hundertmal einen Fuchsbau ausgegraben hat...“ Benjamin sprang auf, fuchtelte mit der Flasche und schrie, er werde künftig die Biberfelle aus Nattys Jagdbeute an die Hutmacher verkaufen; er brach mitten im Satz ab, als ihn Elisabeth bat, still zu sein. Sie wandte sich an Natty und sagte: „So haben Sie doch Geduld, Lederstrumpf! Wenn Sie fliehen, sind Sie in den Wäldern ganz auf sich angewiesen. Hier ist Geld, um die Strafe zu bezahlen, und in einem Monat sind Sie frei. Ich habe zweihundert Dollar in Goldstücken mitgebracht!“ 531
„Gold?“ Natty nahm neugierig ein Stück nach dem anderen in die Hand, dabei sagte er: „Ach, draußen wartet schon mein Freund, wir müssen uns auf den Weg machen. Behalten Sie das Geld, Mädchen - ich weiß, Sie werden uns nicht verraten.“ Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu: „Aber Sie könnten doch etwas für mich tun. Ich brauche Pulver, es wird etwa zwei Silberdollar kosten. Wollen Sie es für mich besorgen?“ „Von Herzen gern, aber wohin soll ich es bringen?“ „Wohin?“ Natty überlegte und sagte: „Wir treffen uns morgen mittag auf dem Visionsberg. Und jetzt verschwinden Sie, es darf nicht heißen, wir wären in Ihrer Gegenwart geflohen; der Wächter soll uns noch mit Ihnen zusammen sehen.“ Benjamin hämmerte an die Tür, der Wächter schloß auf und ließ Elisabeth heraus. Er drehte den Schlüssel nur einmal um; er wollte, nachdem er die Tochter des Richters auf die Straße begleitet hatte, zurückkehren und die Tür sorgfältig verriegeln, er leuchtete auf die Straße hinaus, warf einen mißtrauischen Blick auf das Ochsengespann und schlurfte zur Zelle zurück. Inzwischen mühten sich Natty und Edwards ab, den dicken, betrunkenen Benjamin durch das Loch zu zerren. Edwards flüsterte: „Konntest du nicht besser auf ihn aufpassen? In diesem Zustand bringen wir ihn keine zehn Schritt weit.“ Benjamin wurde mit vieler Mühe auf die Füße gestellt, er brummte etwas, was niemand verstand, und sackte im nächsten Augenblick zusammen. Aus dem Gefängnis heraus drang das Alarmgeschrei des Postens, zu allem Überfluß wurde auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Tür des Wirtshauses geöffnet, und einige späte Gäste, darunter Billy Kirby, traten heraus. Edwards und Natty begriffen, daß jetzt keine Sekunde zu 532
versäumen war; der ursprüngliche Plan, die Flüchtigen unter dem Heu zu verstecken und gemächlich zum Wald zu kutschieren, mußte aufgegeben werden. Elisabeth ging gerade an dem Heuwagen vorbei, sie war es, die den rettenden Einfall hatte und Edwards zuflüsterte: „Setzt Benjamin doch auf den Kutschbock!“ Natty und Edwards hoben den schweren Mann hoch, lehnten ihn gegen das Heu, drückten ihm Peitsche und Leine in die Hand und trieben die Ochsen an. Schritt für Schritt, die schweren Köpfe gesenkt, zogen sie den Wagen die Straße hinunter, wobei das Räderknarren das Schnarchen Benjamins übertönte. Edwards und Natty rannten in die Dunkelheit hinein. Hinter ihnen stürzten die Posten aus dem Gefängnis, ihr Kommandant schickte sie nach verschiedenen Richtungen aus, und einige Männer, die gerade aus dem Wirtshaus kamen, schlössen sich der Jagd an. Billy Kirby blickte verwundert auf das aufgeregte Treiben, es dauerte eine Weile, bis er heraushörte, daß Natty und Benjamin geflohen waren. Er hatte nicht vergessen, wie verdrießlich und peinlich sein Auftreten an der Seite des Friedensrichters geendet hatte, er glaubte, an Natty etwas gutmachen zu müssen, und so verdrückte er sich in eine Seitengasse. Er schlug einen Bogen und hörte die Konstabler schreien, er hoffte, Natty und Benjamin möchten schon das Freie erreicht haben, denn daß sie in der Dunkelheit auf den Feldern oder im Wald nicht gefaßt werden würden, stand für ihn außer Zweifel. Als Kirby die Straße wieder erreichte, begegnete er einem Ochsengespann und stellte zu seiner Verblüffung fest, daß es die Tiere waren, die er zwei Tage zuvor von einem Siedler für den Holztransport ausgeborgt hatte. Er packte den Mann, der die Zügel hielt, an der Brust, 533
Branntweinatem schlug ihm entgegen, eine schwankende Stimme murmelte: „Nur noch ein ganz kleines Gläschen!“ „Benjamin“, stellte Kirby verblüfft und anerkennend fest, „du alter Schurke!“ Er nahm dem Betrunkenen die Zügel sachte aus der Hand, drückte ihn nach hinten und breitete Heu über ihn. An der nächsten Kurve stand ein Konstabler mit schußbereitem Gewehr, er trat dicht vor Kirby hin und starrte ihm ins Gesicht. Kirby fragte: „Ist was los?“ „Ausbruch aus dem Gefängnis! Du bist’s, Kirby.“ „Der Teufel! Ihr habt wohl geschlafen? Unsereiner hat’s nicht so gut, ich bin schon wieder auf dem Weg zur Arbeit. Hü, ihr faule Bande!“ Ein Stück weiter bog Kirby zum Wald hinaus ab.
4 Am nächsten Morgen kaufte Elisabeth im Laden von Le Quoi eine Büchse Pulver, verbarg sie in einem Tuch und machte sich nach dem Visionsberg auf. Seit dem letzten Ausritt kannte sie den Weg, damals hatte noch hier und da Schnee gelegen, jetzt brannte schon am frühen Morgen die Sonne, der Weizen reifte, und es konnte nur noch Tage dauern, bis die Schnitter ihre Arbeit beginnen würden. Die Luft war heiß und trocken, erst im Wald atmete Elisabeth freier. Anfangs folgte sie einem Weg, später einem Wildpfad, verlor ihn jedoch, wo Brennesseln und Brombeeren wucherten, und mußte von da an über Felsbrocken und gestürzte Stämme klettern. Während des steilen Anstiegs blieb sie mehrmals stehen und schöpfte Luft; als sie nach einer letzten schweren Anstrengung die Plattform auf dem Gipfel erreichte, war sie am Ende ihrer Kraft. Hier waren Bäume gerodet worden, andere hatte der Sturm heruntergefegt, eine Lichtung von hundert Schritt Länge und Breite bot freien Blick nach allen Seiten. Elisabeth ruhte sich einige Minuten lang auf einem Stamm 534
aus, umrundete die Lichtung und rief nach Natty. Die Hitze war hier noch stärker als im Tal, die Luft trug die aromatischen Düfte in der Sonne dörrenden Holzes, die Erde war staubig und aufgerissen. Vom Rand der Plattform aus glaubte Elisabeth eine Bewegung wahrzunehmen, sie nahm an, Natty gäbe ihr aus einem Versteck heraus ein Zeichen, und kletterte abwärts. Wurzeln boten ihr Halt, von einem Stein sprang sie auf eine schmale Rasenfläche hinunter und zuckte zusammen, als sie sich unvermutet dem alten Delawaren gegenübersah. „John“, rief sie überrascht, „was tun Sie hier?“ Große Schlange bot einen erschreckenden Anblick. Seine Augen glänzten wie im Fieber, die Decke war von seinen Schultern gerutscht, sein Oberkörper war nackt und wie sein Gesicht mit grellroten Streifen bemalt. Auf der Brust hing die Washingtonmedaille, die ihm im Unabhängigkeitskrieg verliehen worden war und die er nur zu besonderen Anlässen trug. Große Schlange hatte das lange schwarze Haar geflochten und die Ohren nach indianischer Sitte mit Silber, Perlen und Igelstacheln geschmückt. „Tochter“, sprach er feierlich, „hör mich an! Sechsmal zehn Sommer wurden heiß, seit Große Schlange als junger Krieger kämpfte, er war schnell wie die Kugel aus der Büchse Falkenauges und stark wie ein Büffel. Wenn sein Stamm die Mingos verfolgte, fand sein Auge die Spuren ihrer Mokassins, wenn seine Freunde die Beute zählten, hingen Skalpe an seinem Gürtel. Wenn Squaws weinten, weil ihre Kinder hungrig waren, trug Schlange Wildbret im Überfluß in ihre Wigwams.“ „Diese Zeiten sind längst vorbei. Alter John, dein Volk ist zerstreut, und du hast gelernt, in Frieden zu leben und Gott zu fürchten.“ 535
Der Häuptling erhob sich und zeigte ins Land hinaus. „Tritt hierher, Tochter, du kannst die Quelle unseres Flusses und den Wigwam deines Vaters sehen! Seit Chingachgook denken kann, haben englische und französische Väter um dieses Land gekämpft, Blut ist geflossen von den Seen im Norden bis Albany, meine roten Brüder haben sich die Skalpe genommen, weil weiße Väter es befahlen. Lebten die, die das taten, in Frieden? Fürchteten sie Gott?“ „Es war immer so bei den Weißen, du hast recht.“ Große Schlange beschrieb einen Halbkreis von einem Horizont zum anderen und murmelte: „Das alles ist das Land von Junger Adler.“ „Wen nennt ihr so?“ Der Delaware blickte das Mädchen verwundert an, seine Stirn furchte sich noch stärker, als er antwortete: „Junger Adler hat mit dir unter einem Dach gelebt. Er hatte Augen zu sehen, hatte er keine Zunge zu sprechen?“ „Du meinst Oliver Edwards?“ „Weißes Blut fließt in seinen Adern, aber dennoch gehört er meinem Stamm an, nun ist Blut des alten Tamenund in seinem Herzen. Große Schlange sah Tamenund, da war Schlange jung und Tamenund alt. Jetzt ist Schlange alt, er wurde der christliche John, und wenn er Feuerwasser trinkt, ist er ein Tier. Aber heute ist er wieder Chingachgook, der Häuptling der Delawaren, und hier will er sterben. Bald wird er in dem Land sein, in dem sein Volk lebt, Wild wird in den Wäldern wimmeln und Fische im See, kein Kind weint vor Hunger, und kein weißer Räuber darf das Land nehmen.“ „Sprich nicht vom Tod, John! Du wirst mit Natty in einer neuen Hütte leben, alles wird wieder, wie es war. Ich wollte Natty hier treffen, hast du ihn nicht gesehen?“ 536
„Ich sah Wildtöter“, murmelte Große Schlange, „ich sah Falkenauge, ich sah Pfadfinder und Lederstrumpf. Ich werde Manitu sehen.“ Elisabeth hörte ein Prasseln hinter sich, sie drehte sich erschrocken um. Eine Rauchwand wuchs hinter dem Berg, Flammen schlugen heraus, im nächsten Augenblick raste das Feuer an der Flanke des Berges hinunter und ließ Äste und Wurzeln auflodern. Hier hatten Farmer Holz geschlagen und nur die Stämme abgefahren, Wipfel und Zweige waren liegengeblieben und in der Sonnenhitze ausgedörrt, sie brannten wie Zunder. Elisabeth rief: „John, wir müssen fliehen!“ Da sich der Häuptling nicht rührte, packte sie ihn an der Schulter und schüttelte ihn, aber er wandte nicht einmal den Kopf. In diesem Augenblick schrie eine Männerstimme nach John, Steine rollten herab, Oliver Edwards rannte und rutschte herunter, sich nur für Sekunden an Büschen und Wurzeln festhaltend, keuchend stürzte er neben Elisabeth und dem Indianer zu Boden, rief im Aufspringen: „John, der Berg brennt!“ Erst jetzt sah er Elisabeth und riß sie hoch. „Sie hier, Miß Temple? Der halbe Gipfel steht in Flammen, kommen Sie!“ „Und John?“ „Hörst du, John, der Berg brennt!“ Große Schlange drehte sich um, seine Augen waren weit geöffnet, langsam sagte er: „Junger Adler, flieg davon und nimm die weiße Squaw mit. Große Schlange bleibt, denn seine Stunde ist gekommen, und Manitus Feuer brennt auf dem Berg. Tamenund starb, und Unkas starb, nun ist die Reihe an Chingachgook. Er ist auf dem Weg zu Manitu!“ „Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ rief Edwards. Elisabeth sträubte sich, fragte: „Und was wird aus John?“ „Wenn er sich retten will, wird er sich retten, er ist nicht zum erstenmal in solcher Lage. Und wenn er sterben will, 537
wird er sterben!“ Edwards zog Elisabeth mit sich, sie rannten auf einem schmalen Felsband entlang, vor sich eine schwelende Rauchwand, neben sich den Abgrund. Gerade wollten sie einen Haufen dürrer Äste überklettern, als die Flammen hineinschlugen und ihnen einen Funkenvorhang in den Weg warfen. Die Luft war im Nu sengend heiß, Elisabeth preßte die Arme vors Gesicht, Edwards riß das Mädchen zurück. Als sie hinter einem Vorsprung Schutz gefunden hatten, fragte Elisabeth: „Und Lederstrumpf? Er wollte um diese Zeit auf dem Berg sein.“ „Ich habe ihn nicht gesehen. Aber Natty riecht das Feuer meilenweit, um ihn müssen wir uns nicht sorgen.“ Edwards hoffte, auf der anderen Seite eine Stelle zu finden, bis zu der das Feuer noch nicht vorgedrungen war, er führte Elisabeth schräg den Hang hinauf, sie rannten über glimmendes Moos, wurden von einer schwarzen Wolke zugedeckt, die ihnen die Luft raubte, erreichten einen Geröllstreifen und dicht dahinter einen Felsrücken. Der Wald auf dem Gipfel brannte jetzt lichterloh, die Fichten standen als riesige Fackeln, manche stürzten in einem Funkenhagel zusammen und schleuderten das Feuer den Hang hinunter. Elisabeth und Edwards warfen sich ins Heidekraut, dicht am Boden war die Luft noch erträglich, sie sammelten Kraft und krochen abwärts. Brennende Blätter segelten über ihnen und fielen als Asche auf sie, Büsche loderten auf, selbst die dürre Erde schien zu brennen. Edwards kannte diese Seite des Berges genau, weiter abwärts gab es eine Senke, in der sich Rinnsale vereinigten und aus der, die trockenste Jahreszeit ausgenommen, ein Bächlein heraussickerte. Wenn es überhaupt eine Rettung gab, dann dort. So zog Edwards seine Jacke aus, legte sie Elisabeth über Kopf und 538
Schultern und bahnte, indem er mit einem Zweig auf das brennende Heidekraut einschlug, einen Weg. Die Luft war jetzt so heiß, daß sie jeden Atemzug zur Qual machte. Einmal wollte Elisabeth rufen, weiter oben wäre vielleicht ein Durchschlüpfen möglich, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie mußten wohl im Kreise gegangen sein, denn auf einmal sahen sie Große Schlange auf einem Felsvorsprung hocken. Er hatte die Beine untergeschlagen und starrte mit der stoischen Ruhe des Indianers auf die Flammen, die sich wie eine Meeresbrandung auf ihn zu wälzten, es schien, als horche er in eine ferne Zukunft. Einmal wandte er den Blick zu Elisabeth und Edwards hin, es sah aus, als schaue er durch sie hindurch. Dann stimmte er in der Sprache der Delawaren ein Totenlied an. Elisabeth packte Edwards am Arm, sie schrie durch das Tosen des Feuers, Edwards sollte John um Gottes willen dazu bringen, mit ihnen zu fliehen. Aber Edwards antwortete dicht an ihrem Ohr, es wäre unmöglich, den alten Mann auch nur zu einem Schritt zu bewegen, John hätte mit dem Leben abgeschlossen, nun suche er den Tod. Das Feuer jagte den Hang herunter, sprang von Fichte zu Fichte, eine Flammenzunge schoß über das Moos und leckte an dem Baum hinauf, unter dem der Mohikaner saß. Die Flammen tanzten an dem vertrockneten Stamm wie Blitze hoch, unmittelbar darauf wütete eine Glutsäule auf dem Felsvorsprung. Der Häuptling war jetzt völlig von Feuer umgeben, aber er rührte sich nicht. Noch einen Blick warf Elisabeth hinüber, ihr schien, als höre sie noch immer das Totenlied durch das Prasseln des Feuers hindurch, sie klammerte sich an Edwards und schluchzte hemmungslos. Edwards hatte die Hoffnung auf Rettung für Elisabeth und sich noch nicht aufgegeben. Das Feuer 539
hatte ihn von der Senke abgeschnitten, hinter ihnen rückte es unaufhaltsam vor, die Felswand machte ein Ausbrechen zum Tal hin unmöglich. Da faßte Edwards einen Entschluß, vor dem er eine Minute vorher noch zurückgeschreckt war, er wußte, daß er jetzt alles auf eine Karte setzen mußte, er zog Elisabeth hinter sich her den Hang hinauf, dorthin, wo das Feuer zuerst gewütet hatte. Die Erde war hier glühend heiß, aber die meisten Wurzeln waren schon verbrannt, dunkel und zäh stieg Rauch von verkohlten Stümpfen auf. Die Hitze schlug durch die Schuhsohlen hindurch, die Kleidung war so trocken, daß es schien, als wollte sie sich jeden Augenblick von selbst entzünden, Schritt für Schritt taumelten Edwards und Elisabeth, die Hände ineinandergekrampft, durch diese Hölle. „Elisabeth!“ Dem Mädchen schien es, als käme dieser Ruf aus einer fremden Welt. „Elisabeth!“ Sie blieb stehen und sann: Ist das eine Stimme aus dem Himmel, bin ich schon tot? Dort, wo sie zuerst mit Große Schlange zusammengetroffen war, schoß eine Stichflamme hoch. „Das Pulver! Mädchen, wo bist du?“ Im nächsten Augenblick tauchte Natty aus dem Rauch auf, sein Haar war versengt, sein Hemd voller Löcher, sein Gesicht erschien dunkler als je. Mit rußgeschwärzten Händen packte er Elisabeth und Edwards, riß sie über einen Streifen glühender Asche hinweg und drückte sie in einen Quellgrund hinunter. Das Moos hatte den Feuersturm überstanden, Elisabeth preßte ihr Gesicht in die Kühle hinein, sog am Moos, ihre Hände gruben sich in die feuchte Erde. Einmal hob sie den Kopf, dicht neben sich sah sie die aufgesprungenen Lippen von Oliver Edwards, aus denen Blut sickerte. Sie faßte hinüber und tastete wie im Traum über sein Gesicht. Natty beobachtete, wie sich das Feuer gegen das Tal zu 540
vorfraß, im richtigen Augenblick riß er Elisabeth und Edwards hoch und rannte mit ihnen durch eine Gasse, die für kurze Zeit offen blieb. Unter einem Felsen machten sie keuchend halt, Natty fragte nach Große Schlange, und als er gehört hatte, daß sein Freund nicht zur Flucht zu bewegen gewesen war, sagte er ergriffen: „Ein alter Indianer weiß, wann seine Väter ihn rufen. Mein Freund will sterben, diesen Wunsch müssen wir respektieren. Aber wir sind entronnen, es sind nur noch wenige Schritte bis zur Höhle.“ Die Luft war auch hier heiß, aber der Wind blies Funken und Asche nach einer anderen Seite. Natty half Elisabeth, in eine Schlucht hinabzuklettern, aus einer Höhle heraus rief Benjamin: „Hier ist es stickig wie in einer Kombüse! Habt ihr mir wenigstens einen Schluck von der Quelle mitgebracht?“ Elisabeth sank auf ein Deckenbündel, erst nach Minuten hatte sie so viel Kraft geschöpft, daß sie sich in der Höhle umblicken konnte. Nur ein Teil war halbwegs wohnlich mit Hockern, einem Tisch und primitiven Pritschen eingerichtet; eine Nische war mit einer Decke verhängt. Edwards verschwand für kurze Zeit dahinter, es schien Elisabeth, als ob er dort mit jemandem flüsterte, aber sie war sich nicht sicher. Niemand wußte, wie viele Stunden vergangen waren, als sich der Feuersturm legte, die Flammen senkrecht zum Himmel loderten und nach und nach alles aufzehrten, was brennbar war. Von Osten her trieben Wolken heran, Blitze zuckten, ein Gewitterregen löschte die glühende Asche, Dampf brodelte auf und vermischte sich mit dem Rauch und den tiefhängenden Wolken. Keiner in der Höhle sprach, jeder hing seinen schweren Gedanken nach. Niemand vergaß die Todesangst, die nach ihnen gepackt 541
hatte, nur allmählich kehrten die Überlegungen an das, was nun zu tun war, in sie zurück. Es war fast Abend, als der Regen den Brand niedergedrückt hatte. Durch eine gespenstische Landschaft verkohlter Stümpfe und schwarzer Erde führte Oliver Edwards die zu Tode erschöpfte Elisabeth auf die Straße zurück, die nach Templeton führte. Ohne ein Wort machte sich Natty auf, die Leiche seines Freundes zu suchen.
5 Auch am folgenden Morgen hatte sich die Aufregung in Templeton nicht gelegt. Elisabeth, nach der ihr Vater einen Tag lang verzweifelt gesucht hatte, war zurückgekehrt und begann sich von den durchlittenen Schrecken zu erholen. Sheriff Jones trommelte im Morgengrauen den Friedensrichter, die Konstabler und Gerichtsdiener und ein Dutzend waffenfähiger Siedler aus den Betten. „Bürger eines freien Landes!“ schrie er, während er das Schwert reckte, mit dem seiner Behauptung nach ein Vorfahr in den Schlachten Cromwells gestritten hatte. „Unsere Gemeinde erhebt sich wie ein Mann, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wir werden nicht ruhen, bevor die geflüchteten Verbrecher Bumppo und Benjamin wieder hinter Schloß und Riegel sitzen. Mir nach in diesem Feldzug für Recht und Ordnung. Sieg oder Tod!“ Seiner scheckigen Truppe voran ritt Jones dem Visionsberg zu aus Templeton hinaus. Nach Elisabeths Bericht über ihre Rettung durch Lederstrumpf und Edwards zweifelte er nicht, daß sich die Geflüchteten in der Höhle verborgen hielten, die er kurz zuvor mit dem Richter aufgesucht hatte. Eine halbe Meile vorher schwang er sich aus dem Sattel, wies seine Männer an, vorsichtig in einer Schützenkette den Wald zu durchkämmen und sich an den Eingang zur Schlucht 542
heranzupirschen. „Ich befinde mich in Zentrum. Keiner schießt ohne meinen Befehl. Wer etwas Besonderes bemerkt, meldet es an mich persönlich. Männer, vergeßt keine Sekunde, daß Templeton auf euch blickt!“ Der Wald war auch hier bis zum Unterholz hinab verkohlt. Staub stieg nach jedem Schritt auf, hier und da rauchte noch ein Stumpf, manchmal brachen die Männer durch eine Ascheschicht, die vom Regen durchfeuchtet worden war, und wirbelten Glutwolken hoch. „Mir nach durch die Hölle!“ rief Jones. Er bereute, das unhandliche Schwert nicht bei seinem Pferd zurückgelassen zu haben, klemmte es unter den Arm oder legte es über die Schulter, aber das eine war so unbequem wie das andere. „Halt!“ Templetons Streitmacht erstarrte. Im Eingang zur Schlucht stand Lederstrumpf, schwarz wie die Baumstümpfe um ihn, seine Kleidung war zerfetzt und verbrannt, er hielt das Gewehr feuerbereit und schrie: „Keinen Schritt weiter!“ Augenblicklich gingen die Männer um Jones in Deckung, auch der kleine Mann zuckte zusammen, richtete sich aber gleich darauf wieder auf, stellte die Schwertspitze auf einen Stein und stützte sich auf den Knauf. Als neben Natty Bumppo der runde Kopf Benjamins auftauchte, rief Jones vorwurfsvoll: „Benjamin, ist das der Dank, den du dem Vetter deines Herrn schuldest? Ergib dich oder erwarte keinen Pardon!“ Benjamin verschwand wieder, Natty aber rührte sich nicht vom Fleck, er schwenkte die Mündung seiner gefürchteten langen Büchse die Frontlinie entlang und rief: „Wehe, wenn mir einer zu nahe kommt! Und wenn ich ein Stückchen Fleisch von diesem verdammten Doolittle entdecke, jage ich eine Kugel hinein, daß er ewig an mich denken soll!“ 543
Der Friedensrichter duckte sich noch tiefer hinter einen Stamm, der Sheriff aber schwang das Schwert und rief: „Es ist unter der Würde freier Männer von Templeton, mit Verbrechern zu verhandeln. Drauf und dran!“ Er machte einen Schritt vorwärts, trat in glühende Asche und verschwand in einer Qualmwolke. Seine Männer wollten ihm folgen, als eine Stimme hinter ihnen rief: „Keiner geht weiter! Es wird nicht geschossen!“ Richter Temple eilte den Berg hinan, warf seinem Vetter, der eben aus dem Rauch auftauchte, einen zornigen Blick zu und ging ruhig, als käme er gar nicht auf die Idee, daß auf ihn geschossen werden könnte, auf Natty zu. Da sprang Oliver Edwards neben Natty auf und drückte dessen Büchse herunter. „Niemand schießt, Richter“, rief er, „es genügt, daß ein Mann den Tod in den Flammen gefunden hat.“ Natty und Temple standen sich nur noch wenige Schritte voneinander entfernt gegenüber. „Seien Sie vernünftig, Lederstrumpf“, bat Temple. „Wir wollen alles wieder in Ordnung bringen, und dabei müssen Sie helfen, Sie zuallererst.“ „Ordnung? Es gibt Ihre Ordnung und meine, und wenn Sie diesen jungen Mann da fragen...“ Edwards unterbrach: „Es wird Zeit, vieles zu klären, das ist wahr. Bleiben Sie hier, Richter, in wenigen Minuten sind wir zurück.“ Er und Benjamin stiegen in die Schlucht hinunter, bald darauf trugen sie einen mit ungegerbten Hirschhäuten bedeckten Stuhl heraus, auf dem ein uralter Mann saß. Sein Haar hing lang und weiß herunter, der Anzug war sauber und aus gutem Stoff, allerdings sah man ihm an, daß er lange getragen worden war. Der alte Mann blickte verwundert auf Temple, Jones, die Konstabler und Farmer, die zögernd näher traten. Temple fragte: „Wer ist dieser Mann?“ 544
Edwards legte eine Hand auf die Lehne und antwortete: „Er, den Sie in einer Höhle lebend und völlig verarmt sehen, war einst Berater der britischen Krone und ein hervorragender Soldat, er besaß beachtlichen Reichtum und war Herr des Bodens, auf dem wir stehen.“ Marmaduke Temple erbleichte und fragte so leise, daß nur Edwards, Natty und Jones ihn verstanden: „Major Effingham?“ Edwards antwortete: „Ja, der Mann, den Sie längst tot glaubten.“ „Und Sie?“ „Ich bin sein Enkel.“ Temples Augen wurden feucht, er trat auf Edwards zu, hielt ihm die Hand hin und sagte erschüttert: „Ich vergebe Ihnen alle Schroffheit gegen mich Nur verzeihe ich Ihnen nicht, daß Sie diesen Greis in Armut und Einsamkeit leben ließen, wo ihm meine Wohnung und mein Vermögen zu Gebote gestanden hätten.“ „Ich hatte eine falsche Meinung von Ihnen, Mister Temple. Erst als ich bei Ihnen lebte, begriff ich allmählich, daß die Erzählung meines Großvaters und meines Vaters über Sie...“ „Gleichviel. Wo ist Ihr Vater?“ „Er ist tot.“ Temple trat an Major Effingham heran; er sah, daß dessen geistige Kräfte zu schwach geworden waren, um zu verstehen, was vor sich ging. Da das, was hier gesprochen wurde, nur wenige betraf, forderte er den Sheriff mit einem Wink auf, seine Truppe zurückzuführen. Temples Erschütterung war so groß, daß er stumm umherging, Olivers Arm packte und drückte, wieder vor Major Effingham trat und in dessen Gesicht nach Spuren suchte, die in seiner Erinnerung geblieben waren. Er sagte: „Mein Wagen steht unten an der Straße, wir werden Ihren Großvater in mein Haus bringen. Oliver, Ihr Vater war mein Jugendfreund, er vertraute mir sein Vermögen an, ohne eine Quittung annehmen zu wollen. Der Krieg stand 545
zwischen uns, Ihr Vater ließ Ihren Großvater in Connecticut zurück und verschwand spurlos. Nach dem Krieg arbeitete ich mit seinem Geld, ich hatte Erfolg, und einige Zeit unterstützte ich diesen Mann da, bis meine Briefe und Anweisungen ungeöffnet zurückkamen.“ „Mein Vater lebte lange Zeit in England“, erwiderte Edwards, „er wollte heimkehren und ist mit einem Schiff untergegangen. Ich habe im vorigen Jahr davon erfahren.“ Minutenlang sprach niemand, bis der Richter fragte: „Und Sie, Edwards, wie ist Ihr Leben verlaufen?“ „Ich habe die meiste Zeit schlecht und recht an der Küste verbracht, bis mich mein Großvater bat, ihn zu Natty Bumppo zu bringen, der einmal als Soldat in seinen Diensten gestanden hat. Ich war froh, Große Schlange hier zu finden, denn mein Großvater war einst zum Ehrenmitglied des Delawarenstammes ernannt worden. Diese Verbindung wurde auch auf mich übertragen, und ich erhielt den Namen Junger Adler.“ „Und manche vermuteten...“ „Es ist eine Ehrenverwandtschaft, die mich mit dem alten John verband, nichts weiter. Meine Mutter war eine Italienerin, sie starb vor Jahren in New York.“ „Und Sie sind der einzige Nachkomme Ihres Großvaters und Vaters?“ „Ja, und deshalb war ich besonders verpflichtet, mich um diesen hilflosen Greis zu kümmern. Natty nahm ihn im Winter zu sich und sorgte in rührender Weise für ihn, er hatte nicht vergessen, was sie zusammen in vielen Kämpfen durchgemacht hatten. Ich kaufte für mein letztes Geld ein Gewehr und lebte als Jäger in Nattys Hütte. Natty achtete argwöhnisch darauf, daß niemand meinen Großvater sah, er wollte nicht, daß jemand über dessen Ohnmacht spottete. Er legte sogar mit Schlange zusammen 546
in dieser Schlucht ein zusätzliches Versteck an, um ihn verbergen zu können, wenn die Hütte nicht mehr sicher war. Natty und Schlange haben manchen Tag hart mit Hacke und Schaufel gearbeitet, um die Höhle zu vergrößern. Im Herbst wollte ich mit meinem Großvater nach New York zurückkehren, wo eine entfernte Verwandte meiner Mutter wohnt, da kam ich in Ihr Haus alles weitere wissen Sie.“ Auf dem Weg unten rumpelte Tempi es Wagen. Benjamin und Edwards trugen den alten Major hinunter. Temple und Natty folgten, Temple fragte: „Und Sie besaßen nicht so viel Vertrauen zu mir, Lederstrumpf, mich in diese verworrenen Zusammenhänge einzuweihen? Sie versperrten Ihre Hütte, damit niemand Ihren Gast sehen sollte, sie brannten sie sogar nieder und versteckten den armen Mann in einer Höhle. Dabei hoffe ich seit Jahren, Ordnung in diese Dinge bringen zu können. Hassen Sie mich denn so?“ Als Natty keine Antwort gab, fügte Temple hinzu: „Ich glaube, wir verstehen einander einfach nicht.“ Während der Fahrt zur Siedlung wurde wenig gesprochen. Major Effingham war so erschöpft, daß er sofort zu Bett gebracht werden mußte, Temple schickte nach Dr. Todd, der feststellte, daß der Greis unbedingter Ruhe bedurfte, sich aber nicht in Lebensgefahr befand. Elisabeth sorgte liebevoll für den Hilfsbedürftigen, sie, die selbst die Folgen des furchtbaren Tages auf dem brennenden Berg noch nicht ganz überstanden hatte. Am Abend saßen Oliver Edwards und Temple im Büro beisammen, der Richter öffnete Bücher und breitete Briefe aus. „Lesen Sie diese Papiere“, sagte er, „und Sie werden feststellen, daß es niemals in meiner Absicht gelegen hat, Ihrer Familie Unrecht zu tun.“ 547
Zuerst las Edwards das Testament. Es begann mit den üblichen Formalitäten und stellte danach unmißverständlich Temples Verbindlichkeiten gegenüber der Familie Effingham fest. Es führte die Summen an, die Temple übernommen hatte, es wies nach, welche Beträge er nach dem Krieg an Major Effingham geschickt hatte und welche zurückgekommen waren, und teilte schließlich sein Vermögen in zwei gleiche Teile; eines sollte schon zu seinen Lebzeiten und auch nach seinem Tode dem Major Oliver Effingham, dessen Sohn Edwards oder deren Nachkommen zur Verfügung stehen. Während Edwards las, trat Elisabeth leise herein, sie blickte ihm über die Schulter und sagte: „Zweifeln Sie nun immer noch an uns, Oliver?“ „An Ihnen habe ich nie gezweifelt.“ „Und mein Vater...“ „Ich habe mich in ihm geirrt, ich bitte um Verzeihung für alle ungerechten Gedanken und Schroffheiten.“ Marmaduke Temple streckte Oliver die Hand hin und sagte: „Wir haben beide Fehler gemacht. Jedenfalls gehört von dieser Stunde an die Hälfte meines Besitzes Ihnen.“ Die Tür wurde geöffnet, Benjamin steckte den Kopf herein und sagte: „Ich habe in der Halle decken lassen.“ „Eine hervorragende Idee!“ rief der Richter. „Bitte Vetter Jones herüber, damit er uns Gesellschaft leistet. Außerdem, Benjamin, ißt du heute mit uns, damit du dich für die nächsten Tage stärkst. Denn wegen Ausbruchs aus dem Gefängnis verurteile ich dich zu einer Woche Arrest bei Wasser und Brot.“ Nachdem Benjamin davongeschlichen war, sagte Elisabeth vorwurfsvoll: „Vater, zu dieser Stunde ein so strenges Urteil?“ Temple erwiderte fröhlich: „Natürlich. Sonst hätte ich ja niemanden, den ich zur Feier des Tages begnadigen kann.“ 548
6 Der August verstrich, der Weizen brachte eine reiche Ernte, das Wetter blieb auch im September mild, so daß das Vieh lange auf den Weiden bleiben konnte, und aus den Wäldern heraus erklang der Brunstschrei der Hirsche. Unten am See wurde der alte John beigesetzt; Natty stand dem Grab am nächsten, Temple, Elisabeth, Luise und Pfarrer Grant drückten ihm die Hand. Nattys Hunde reckten die Köpfe heulend zum Himmel. Danach ließ sich Natty ohne Widerstand im Gefängnis einschließen, seine Waffen wurden vom Richter aufbewahrt und seine Hunde in dessen Zwinger versorgt. Elisabeth, Luise und Oliver besuchten den Jäger täglich und brachten ihm zu essen. Nach einer Woche traf, von Temple beantragt, ein Gnadenerlaß der Bezirksbehörde ein, und Natty war wieder frei. Elisabeth hatte ihm im Hause ihres Vaters ein Zimmer eingerichtet, aber Natty schlief nur eine Nacht dort, dann verschwand er mit seinem Jagdzeug und seinen Hunden im Wald. Die Nächte waren warm, er brauchte kein Dach, und manchmal sahen die Farmer an stillen Abenden weit oben in den Bergen den Rauch seines Feuers. Das Leben in Templeton kehrte in gewohnte Bahnen zurück, immer seltener sprach jemand von den turbulenten Ereignissen der letzten Julitage. Elisabeth und Oliver sah man täglich zusammen, und eines Abends konnte Richard Jones seinen Freunden Hartmann und Le Quoi am Stammtisch unter dem Siegel heiligster Verschwiegenheit zuflüstern, daß im Hause des Richters die Verlobung der beiden für Weihnachten vorbereitet wurde. Der Ruf des Sheriffs hatte durch seine wenig glücklichen Entscheidungen nicht sonderlich gelitten, und wenn, dann polierte er ihn durch spektakuläre Erfolge in der 549
Schweinezucht wieder auf. Einer aber hatte sich so lächerlich gemacht, daß er nicht hoffen konnte, jemals das alte Ansehen zurückzugewinnen: Doolittle, seines Zeichens Zimmermann und Friedensrichter. Er gab sein Amt auf und stieß seinen Besitz ab, er zog, wie man im Jargon der Farmer sagte, seine Pfähle heraus und wanderte mit Sack und Pack weiter nach Westen. Weder in juristischer noch in architektonischer Hinsicht entstand dadurch für Templeton ein Verlust. Noch im September starb Major Effingham. Seine letzten Tage verdämmerte er in einem sonnigen Zimmer des Tempieschen Hauses, Doktor Todd suchte ihn täglich auf, manche Stunde verbrachte Oliver am Krankenbett. Die geistigen Kräfte des Greises waren zu schwach, als daß er den letzten Wechsel in seinem Leben begriffen hätte, manchmal glaubte er, Temple wäre sein Sohn, dann hielt er Elisabeth für seine Schwiegertochter. Dem Sarg folgte die halbe Siedlung. Auf Olivers Wunsch wurde der Major an der Seite von Große Schlange beigesetzt. Natty fehlte beim Begräbnis, er hatte nichts vom Tod seines alten Kommandeurs erfahren. Sheriff Jones befehligte die Ehrenformation aus Konstablern und altgedienten Soldaten, kerzengerade stand der kleine Mann, seine Stimme hallte weit über den See, als er den Befehl zum Feuern gab. Das Echo der Salve brach sich an den Berghängen ringsum. Tags darauf bestellte Oliver in der Stadt zwei Grabsteine. Als er am Abend nach Templeton zurückfuhr, hielt er an der Stelle, an der er zum erstenmal Temple und Elisabeth getroffen hatte, und ließ, was seitdem geschehen war, vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Er fand, alles, was das Leben einiger Menschen durch lange Jahre verwirrt und belastet hatte, war in diesen zehn Monaten ins Gleis 550
gebracht worden. Nur eines blieb in der Schwebe, Nattys Existenz. Oliver nahm sich vor, gemeinsam mit Elisabeth nach einem Ausweg zu suchen. Vielleicht war Natty zu bewegen, wenigstens den Winter im Tempieschen Haus zu verbringen? Aber Tage und Wochen verstrichen, ohne daß sich Natty sehen ließ. Mitte Oktober wurden die Grabsteine für Major Effingham und Große Schlange aufgestellt. Am nächsten Morgen gingen Elisabeth und Oliver zum See hinab; sie wollten prüfen, ob noch etwas getan werden mußte, um dem Platz die Würde zu verleihen, die ihm zukam. Der Tag begann mild, die Sonne stand wie ein silberglänzender Feuerball am Himmel, Zugvögel aus dem Norden waren in das Schilf eingefallen, die bewaldeten Ufer prunkten in den tausend leuchtenden Farben des Herbstes. Am Hang standen Roteichen und Zuckerahorn, sie schrien förmlich in einem flammenden Feuermeer. Es waren die heiteren Tage, die man Indianersommer nennt. Bald würden sie von frostklaren Nächten abgelöst werden, dann fiel das Laub in Massen, lag kniehoch, der Reif härtete die oberen Schichten, während die unteren schon zu faulen begannen. Jetzt verteidigte sich der Sommer noch mit letzter Kraft und offenbarte, zu welcher Schönheit er fähig war. Wo Nattys Hütte gestanden hatte, war inzwischen das Gras hoch aufgewachsen. Ein paar Schritte abseits schloß eine Mauer die Gräber ein, an der Pforte lehnte zur Überraschung der beiden jungen Leute die lange Büchse Natty Bumppos, vor ihr lagen seine Hunde im Gras. Der alte Jäger stand vor den Grabsteinen, er drehte sich um, als er Schritte hörte, seine Augen waren zusammengekniffen und blinzelten, als wäre etwas hineingeflogen. „Gut gemacht“, sagte er, ohne Verwunderung zu zeigen, 551
Elisabeth und Oliver hier zu treffen. „Pfeife, Tomahawk und Mokassin auf dem Stein sind deutlich zu erkennen, obwohl sie der Mann, der sie gemeißelt hat, wahrscheinlich nur aus Erzählungen kennt. Und was steht darunter?“ Oliver las vor: „Dieses Grabmal gilt dem Gedächtnis eines Häuptlings der Delawaren, bekannt unter dem Namen Chingachgook, Große Schlange oder John. Er lebte hier als Letzter seines Volkes. Seine Fehler waren die eines Indianers und seine Tugenden die eines Menschen.“ Natty bewegte die Lippen, als spräche er Olivers Worte nach. „Ach, Oliver“, sagte er, „wenn du ihn doch in seiner Jugend gekannt hättest! Einmal stand ich am Marterpfahl der Mingos, der Rauch hatte mich schon fast besinnungslos gemacht, da sprang Schlange durch die Flammen und hieb die Fesseln durch. Wir kamen damals nicht um unseren Skalp und nicht bei tausend anderen Gelegenheiten. Wenn ich jetzt auf diese Berge blicke, über denen manchmal der Rauch von zwanzig Lagerfeuern stand, so werde ich traurig. Allenfalls trifft man hin und wieder einen betrunkenen Landstreicher von den Oneidas, aber diese verlotterten Burschen sehe ich lieber gehen als kommen. Es wird Zeit, daß ich weiterziehe.“ Elisabeth rief: „Und wohin wollen Sie?“ „Bleib doch bei uns, Alter“, bat Oliver. „Du kannst in unserem Haus wohnen, wir bauen dir wieder eine Hütte, wenn dir das lieber ist, und jagen kannst du hierherum auch. Du hast es doch nicht nötig, die Strapazen eines weiten Marsches auf dich zu nehmen!“ „Strapazen?“ Natty bückte sich und nahm ein Bündel auf. „Die Jagd in den Wäldern ist keine Strapaze für mich, Oliver, sie ist mein Leben. Ich will nicht überall auf 552
Lichtungen stoßen und Leute wie Billy Kirby treffen, die die Wälder hinmorden. Weit im Westen, hinter dem Mississippi gibt es noch Land, in dem ich keinem Weißen begegne, und wenn, dann ist er Jäger wie ich.“ Elisabeth und Oliver wußten, daß alle Bitten, Natty möge bei ihnen bleiben, vergeblich sein würden. Sie fragten Natty, was sie ihm auf den Marsch mitgeben könnten, er antwortete, er hätte sein Pulverhorn gefüllt, Blei sei in seinem Beutel, und als Kugelpflaster habe er von jeher Hirschhaut benutzt. Oliver bot ihm Geld an, aber Natty lehnte ab. Tränen flössen über Elisabeths Wangen, Olivers Stimme schwankte, Natty kniff die Augen noch stärker zusammen. „Ich wünsche euch Glück“, sagte Natty, „und wenn ihr mit euren Kindern an diese Stelle kommt, dann erzählt ihnen von Chingachgook und Lederstrumpf oder von Große Schlange und Pfadfinder oder von dem alten John und Natty. Lebt wohl, ihr beiden.“ Er warf die Büchse auf die Schulter und pfiff nach seinen Hunden. Elisabeth und Oliver schauten Natty nach, wie er, gebeugt unter seiner Last, mit einwärts geknickten Knien auf den Wald zu ging. Dort wandte er sich um, fuhr sich rasch über die Augen und hob die Hand zum Gruß. Kurze Zeit später bellten seine Hunde weiter oben scharf auf. Elisabeth und Oliver standen noch immer bei den Gräbern und blickten auf den Wald, in den Natty eingetaucht war.
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Fünftes Buch Die Prärie
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Das geheimnisvolle Zelt Um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert wurde in Amerika leidenschaftlich geschrieben und debattiert, ob es klug wäre, das Land um den Mississippi den Vereinigten Staaten anzugliedern. Als das riesige Gebiet schließlich 1803 den Franzosen abgekauft wurde, setzte sich schnell die Meinung durch, daß dieser Schritt vernünftig und weitsichtig war, denn das urbar gemachte Land im Süden hätte leicht zum Streitobjekt mit anderen Staaten werden können, und ringsumher war nun der Weg über unendliche unerschlossene Flächen bis zum Stillen Ozean frei. Kaum war der Kauf perfekt, als sich ein Strom mutiger und abenteuerlicher Menschen aus den Bundesstaaten am Atlantik nach Westen ergoß. Es gab manchen, dem Ohio und Kentucky zu dicht bevölkert erschienen, weil dort zehn Menschen auf einer Quadratmeile lebten. Sorgen und Mühen bei der Kultivierung dieser Provinzen waren vergessen, die ungeheure Weite zu Seiten des Riesenstromes lockte mit zahllosen wirklichen und eingebildeten Vorteilen. Tausende von Farmern packten ihr Hab und Gut und treckten mit ihren Familien nach Westen, gründeten an Mississippi und Missouri neue Ortschaften, die rasch aufblühten, und die waghalsigsten drangen tief in die unbewohnte und vielfach unerforschte Steppe vor. Die Ernte des Jahres 1804 war schon eingebracht, die Bäume färbten sich bunt, als zwischen dem Missouri und dem Felsengebirge, vielleicht dort, wo heute der Staat Nebraska liegt, einige hoch beladene Wagen aus einem Bachbett krochen und über die mit spärlichem Gras bewachsene Prärie rollten. An die zwanzig Menschen, 555
Männer, Frauen und Kinder, gehörten zu diesem Zug, Schafe und Rinder wurden mitgetrieben. Wagen und Tiere ließen auf dem harten Boden kaum andere Spuren als niedergetretene dürre Krauter zurück. An der Spitze ging ein hünenhafter, sonnenverbrannter Mann von etwa fünfzig Jahren. Er war starkknochig und breitschultrig, in seinem Ausschreiten lag etwas von der trägen Kraft des Elefanten, die urplötzlich hervorbrechen kann. Sein Gesicht war grob und hatte einen stumpfen Ausdruck, das Kinn war kantig, aus argwöhnischen Augen beobachtete der Mann das staubtrockene Land. Er trug rauhes, unverwüstliches Lederzeug wie jedermann an der Grenze, der Griff seines Messers aber war mit Silberplatten belegt, und seine Marderfellkappe hätte einer Königin Ehre gemacht. Sein Gewehr war ein Prunkstück: Den Schaft hatte ein Meister seines Fachs aus Mahagoni geschnitzt, die Metallteile glänzten silbern. Auf dem Rücken trug der Mann Tornister und Pulverhorn, über seiner Schulter hing eine scharfe, blinkende Axt. Ihm folgten einige ähnlich gekleidete junge Leute, die Söhne dieses Mannes, der Ismael Bush hieß. Manchmal drehte er sich um, überzeugte sich, daß die Wagen nicht zurückblieben, hin und wieder gab er mit einer Handbewegung eine neue Richtung an. Aus dem ersten Wagen blickten braungebrannte, flachsblonde Kinder, nebenher lief ein etwa achtzehnjähriges Mädchen. Die Plane des zweiten Wagens war zugezogen, als sollte darunter etwas verborgen werden, die restlichen Karren waren bis zur Grenze ihrer Tragfähigkeit mit Ackergerät, Saatgut, Hausrat und Nahrungsmitteln beladen. Das Land ähnelte in seinem Auf und Ab dem Ozean, weit draußen ragten magere Bäume wie die Segel eines Schiffes. Bush suchte eine Stelle, an der drei Bedingungen 556
für ein Nachtlager erfüllt waren, es mußte an ihm Holz, Wasser und Futter geben. Aber die Mulden waren ausgedörrt, von einem Bach oder einem Tümpel konnte nicht die Rede sein. Die Sonne versank bereits hinter dem nächsten Hügel, der Himmel darüber glänzte im Abendrot. Bush und seine Söhne blieben überrascht stehen, als sie sahen, daß sich vor dem golden schimmernden Hintergrund eine Gestalt abhob. Sie schien in der klaren Luft zum Greifen nahe, sie stand in nachdenklicher, ernster Haltung, das Gesicht den Wagen zugekehrt, und wirkte beinahe wie eine überirdische Erscheinung. Bushs Söhne spannten die Hähne und senkten die Mündungen, die Kutscher hielten ihre Karren an. Eine Minute lang rührte sich keiner vom Fleck, bis Bushs Frau mit scharfer Stimme rief, jemand sollte sich durch eine Senke an die seltsame Gestalt heranschleichen. Ein Mann, der dieser Frau ähnelte, trat hinter einem Karren hervor, er brummte, es wäre besser, das Problem mit der Büchse zu entscheiden, Pawnee-Indianer streiften zu Hunderten in der Steppe, und nach einem einzelnen von ihnen würde kein Hahn krähen. Er machte seine Waffe schußfertig, aber das junge Mädchen rief: „Und wenn es ein Freund ist?“ Bush befahl: „Weg mit den Flinten!“ Das Abendrot wechselte seine Farben, dem Glanz, der die Augen geblendet hatte, folgte zerstreutes, mattes Licht, und jetzt sahen alle, daß da vorn kein Fabelwesen stand, sondern ein alter Mann. Bush schämte sich seines Zögerns vor seinen Söhnen, er ging rasch weiter, und mit jedem Schritt erkannte er deutlicher, daß sich auf dem Hügelrücken vor ihm ein Weißer auf seine Büchse lehnte. Dieser Mann war fast so groß wie Bush, seine Muskeln waren mager geworden, aber trotz des hohen Alters machte er einen 557
zähen, abgehärteten Eindruck. Seine Kleidung bestand aus Tierhäuten, deren Fell nach außen gekehrt war, an seiner Schulter hingen Jagdtasche und Pulverhorn. Als Bush auf zwanzig Schritt herangekommen war, hörte er ein dumpfes Knurren; ein fleckiger zahnloser Jagdhund, der im Gras gelegen hatte, richtete sich schwerfällig auf und reckte den Kopf. „Still, Hektor“, murmelte sein Herr. „Siehst du nicht, daß das friedliche Leute sind?“ Bush sagte: „Deinem Aufzug nach scheinst du in diese Gegend zu gehören. Weißt du, wo wir Futter und Wasser finden?“ Der alte Mann war Natty Bumppo. Er antwortete nicht gleich; er blickte über den Zug hin und erinnerte sich an einen Tag vor vielen Jahren, als Karren wie diese an den Otsego gerollt waren, als Marmaduke Temple den Platz für eine Siedlung bestimmt hatte. Er fragte: „Ist das Land östlich des Mississippi schon so übervölkert, daß ihr bis hierher ziehen müßt? Ich glaubte, nie mehr das Gesicht eines weißen Farmers zu sehen.“ „Gutes Land gibt’s drüben nur noch für den, der Geld hat. Wir sind fünfhundert Meilen über den Strom hinaus getreckt, und ich dachte, wir wären hier die ersten. Wie heißt diese Gegend?“ Natty wies zum Himmel. „Wie nennst du die Stelle da oben, wo diese Wolke schwebt?“ Er musterte die Ochsen und Schafe, die Pflüge auf den Karren, die Fäuste der jungen Männer, und begriff, daß er, der fast neun Jahre lang ungebunden in der Prärie gelebt hatte, nun doch eingeholt worden war. Bush fragte noch einmal, wo er Holz, Futter und Wasser finden könne, einen Augenblick lang fühlte sich Natty versucht, diesen Trupp in die Irre zu schicken oder durch eine List zur Umkehr zu bewegen, aber die Kinder taten 558
ihm leid, und so sagte er: „Ich will euch eine Stelle zeigen!“ Er schulterte seine Flinte und schritt vor den anderen her über Sandhügel und durch Senken, kurze Zeit später bog er ab und führte den Wagenzug in einen Talkessel hinunter, in dem sich kleine Quellen zu einem Bach vereinigten. Dort wuchs Gras, weiter unten standen sogar Bäume. Die Zugtiere zerrten die Karren bis an den Bach heran und soffen, noch ehe sie ausgeschirrt worden waren, die Kinder sprangen unter der Plane hervor, die Männer schöpften Wasser, warfen Beutel und Rucksäcke ab und schlugen dürre Äste von den Baumwollbäumen am Hang. Bald prasselte ein Feuer, die Tiere weideten, die Frau des Anführers und das Mädchen hängten einen Kessel über die Flammen. Einige der jungen Männer bugsierten den Karren, dessen Plane geschlossen war, an einen erhöhten Platz, rammten Stangen in den Boden und spannten eine Zeltbahn darüber. Sie glätteten sorgfältig die Falten und verschnürten mit einer Kordel den Eingang. Das alles taten sie stumm und eifrig, keiner rührte dabei die Plane des Karrens an. Als das Zelt fertig war, schickte Bush seine Söhne fort und schob den Karren zur Hälfte in das Zelt hinein. Das alles gehörte so wenig zu den üblichen Arbeiten beim Aufbau eines Lagers, daß Natty neugierig näher trat. Er wollte die Plane anheben und darunterschauen, aber da stellte sich ihm der Mann, der ihn beim ersten Zusammentreffen am liebsten niedergeschossen hätte, in den Weg, packte ihn am Arm und herrschte ihn an: „He, Alter, es gibt ein Sprichwort: Kümmere dich um deinen eigenen Kram. Daran solltest du dich auch hier halten.“ „Ich nahm nicht an, daß etwas in diese Einöde gebracht würde, das man vor anderen verstecken müßte.“ „Niemand kommt mit leeren Händen.“ Der Mann, der 559
Abiram White hieß und der Bruder von Bushs Frau war, ließ Natty los und fügte in versöhnlicherem Ton hinzu: „Streifst du allein hier herum?“ „Ich brauche keine Gesellschaft. Aber trotzdem freue ich mich, wieder einmal mit Menschen meiner Hautfarbe zu sprechen, es ist lange her, daß es zum letztenmal geschehen ist.“ Mit diesen Worten wandte er sich dem Feuer zu. Ismael Bush rief gerade: „Ellen! An deine Arbeit!“ Das Mädchen, das am Feuer hantiert hatte, sprang auf, rannte zum Zelt und schlüpfte hinein. Die jungen Männer schoben unterdessen die Wagen im Halbkreis zusammen, schütteten den Tieren Futter vor und trugen Holz heran. In einem Mörser wurde Mais zerstoßen, nach einer Stunde schrie die Frau über den Lagerplatz, das Essen wäre fertig. Fast immer sind Menschen, die sich in der Wildnis begegnen, gastfrei, und so lud Bush den Mann, der ihm diesen Lagerplatz gezeigt hatte, mit einer Handbewegung zum Essen ein. „Ich danke euch“, sagte Natty, „doch ich habe schon gegessen. Aber ich möchte gern mit euch am Feuer sitzen.“ Bush schöpfte den ersten Löffel aus dem Kessel, noch kauend sagte er: „Und du siedelst hier? Am Mississippi hieß es, dieses Land wäre völlig unbewohnt. In der Tat, nach den kanadischen Händlern am Strom bist du das erste weiße Gesicht, das uns begegnet.“ „Siedler? Das bin ich nicht.“ „ Also bist du Jäger.“ „Ich bin ein Trapper, ein Fallensteller. Fünfzig Jahre lang habe ich mich mit meiner Büchse ernährt, aber mein Auge ist schwach geworden. Jetzt fange ich Biber in Fallen, dieses Tier ist zu schlau, als daß man ihm anders beikommen könnte.“ „Und woher stammst du?“ 560
„Vom Hudson. In meiner Jugend wuchsen dort dichte Wälder, sie waren voller Wild, und manche Indianer jagten noch mit Pfeil und Bogen. Ich kenne die Großen Seen und habe lange am Otsego gelebt, nun streife ich seit Jahren durch die Steppe.“ Natty kaute auf einem Grashalm, nachdenklich fuhr er fort: „Ihr könnt wochenlang weiterziehen, ohne eine Siedlung oder auch nur die Hütte eines Weißen zu finden. Weit im Westen beginnen die Berge, hinter ihnen soll ein Meer sein, aber dort war ich nicht, und ich kenne keinen, der die Berge überschritten hat. Ich stelle es mir nicht leicht vor, mit so vielen Menschen und Tieren die Einöde zu durchqueren.“ „Da hast du ein wahres Wort gesprochen. Wir sind am Ufer des Missouri aufwärts getreckt, haben Vieh und Wagen auf Flößen herübergebracht und halten uns seitdem nach Westen.“ „Und wie weit wollt ihr noch?“ „Bis ich Weiden für meine Tiere und Ackerland für meine Pflüge finde.“ Einer von Bushs Söhnen hatte Natty gebeten, sich dessen Büchse ansehen zu dürfen, er untersuchte das Schloß und blickte über die Visierlinie, wog das Gewehr in der Hand und sagte, als er es zurückgab: „Nicht gerade das neueste Modell.“ Natty verzog den Mund. „Der Mann ist alt, sein Hund ist alt und das Gewehr auch. Aber es hat mich jahrzehntelang begleitet, und ich möchte es nicht gegen die neueste Flinte eintauschen. Ich gieße meine Kugeln selbst in dieser Form, und als Pfropfen schneide ich mir Läppchen aus Hirschhaut.“ Abiram White beugte sich zu Natty und fragte: „Und warum haben die Kugeln dieses Zeichen?“ „Das ist ganz einfach. Diese sechs kleinen Vertiefungen, 561
die wie ein Kreuz angeordnet sind, beweisen, daß die Kugel von mir stammt. Ich habe schon manchen Ärger erlebt, weil mehrere Männer auf ein Stück Wild schossen, aber nur einer traf. Dann wollte jeder den glücklichen Schuß abgegeben haben. Das kann ich auf diese Weise vermeiden.“ Die Mahlzeit war beendet, die Männer verließen ihren Platz am Feuer, schlugen Pflöcke in den Boden und hängten Decken auf. Die Kinder verkrochen sich in den Zelten und schliefen von einer Minute zur anderen ein. Bush brummte: „Alter, bleibst du die Nacht über hier?“ Natty konnte nicht sagen, ob er sich in den letzten einsamen Wochen und Monaten nach einem Gespräch mit Weißen gesehnt hatte. Als er diesem Trupp begegnet war, hatte sein Herz hart gegen die Rippen geschlagen, er hatte seine Sprache hören und in Gesichter von Landsleuten blicken wollen, und gleichzeitig hatte er sich erschrocken des Tages erinnert, an dem Marmaduke Temple in seine Hütte gekommen war. Die Freude war inzwischen schal geworden. Er hatte an einem Feuer gesessen, hatte zugesehen, wie Frauen und Kinder aßen, hatte in Männergesichter geblickt; wenn Sehnsucht nach Menschen in ihm gewesen war, so war sie jetzt gestillt. Die Sorge beim Auftauchen des Trecks hatte der sachlichen Überlegung Platz gemacht, daß tausend und tausend Familien in dieser Steppe wie Wassertropfen versickern konnten, ehe der Raum für das Wild knapp würde. Natty dachte: Bis dahin bin ich längst tot. Natty hatte Bushs Frage überhört, er stand auf und ging dem Rand des Lagers zu. Bushs Söhne verbanden gerade die Wagen durch Baumstämme und legten an der offenen Seite ein Verhau an, dorthinein trieben sie das Vieh. Zwei überprüften die Feuersteine ihrer Gewehre, streuten 562
frisches Pulver auf die Pfannen und bezogen Posten am Hang, von wo aus sie einen Teil der Prärie überschauen konnten. Das unsichere Licht des eben aufgegangenen Mondes ergoß sich über die Steppe, färbte die Hügelränder mit blassem Glanz und füllte die Mulden mit tiefen Schatten. Niemand sprach Natty an, als er das Lager verließ; er ging langsam und mit steifen Knien, sein Hund trottete ihm nach. Eine halbe Meile vom Camp entfernt lehnte sich Natty auf seine Büchse und versank in Erinnerungen an Lager der Engländer und Franzosen an den Großen Seen, an ein Fort, an Mädchen, die jung gewesen waren wie diese Ellen, an Feuer und Wachen. Ein Knurren ließ ihn aufhorchen, sein Hund schnupperte und duckte sich, als wittere er eine Gefahr, gleich darauf sah Natty einen hellen Rock auf dem Hügelkamm. Leise rief er: „Keine Angst, komm nur her!“ Das Gras raschelte, im Mondlicht tauchte das Mädchen auf, das sich auf Bushs Befehl in dem geheimnisvollen Zelt zu schaffen gemacht hatte. „Ellen“, sagte Natty verwundert, „so heißt du doch, nicht wahr? Was treibst du dich nachts in der Steppe herum? Was wird dein Vater dazu sagen?“ „Bush ist nicht mein Vater.“ „Was suchst du dann in dieser wilden Gegend?“ Das Mädchen blickte sich um und fragte: „Sind Sie wirklich ganz allein hier? Haben Sie keinen anderen Weißen gesehen?“ „Seit langem nicht. Still, Hektor! Der Hund wittert eine Gefahr. Manchmal trotten schwarze Bären von den Bergen bis hierher, aber du brauchst keine Angst zu haben, mit denen nehme ich es immer noch auf.“ Gleich darauf sah Natty einen Mann aus der Senke herauskommen. „Scheint ein Weißer zu sein“, murmelte er. Er fühlte in seinen 563
Kugelbeutel hinein und wunderte sich, denn er glaubte sicher zu sein, daß er sechs Kugeln hineingetan hatte, und nun waren es nur fünf. Er dachte ärgerlich: Bin ich schon so alt, daß ich mich selbst bei diesen alltäglichen Dingen nicht mehr auf mein Gedächtnis verlassen kann? Da ist mir wohl vorhin eine Kugel durch die Finger gerutscht. „Bestimmt ein Weißer“, wiederholte er, „ein Indianer tritt leiser auf.“ Er hob das Gewehr, aber Ellen legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte: „Bitte schießen Sie nicht, vielleicht ist es ein Freund!“ „Hier ein Freund? Ich möchte wissen, woher der kommen soll.“ Inzwischen war der Mann auf zwanzig Schritt heran und rief: „Haltet den Hund fest, ich möchte ihm und euch nichts zuleide tun!“ Als er vor Natty und Ellen stand, blickte er dem Mädchen prüfend ins Gesicht, wandte sich an Natty und sagte: „Aus welcher Wolke sind Sie denn gefallen! Oder wohnen Sie in dieser Gegend? Jagen Sie mitten in der Nacht?“ Natty senkte den Lauf seiner Büchse. „Sie sind reichlich neugierig, junger Mann. Ich war eben im Auswandererlager da unten und bin auf dem Weg zu meinem Wigwam. Ellen habe ich zufällig getroffen. Wenn sie Ihre Freundin sein sollte, wird sie Ihnen bestätigen, daß alles so ist.“ „Freundin? Ich sehe das Mädchen zum erstenmal, ich...“ „Still, Paul.“ Ellen hielt dem jungen Mann den Mund zu. „Ich habe unser Geheimnis nicht vergessen, aber bei diesem alten Trapper ist es gut aufgehoben.“ „Trapper? Dann haben wir beide ähnliche Berufe.“ „Sie sind Jäger?“ „Das erst in zweiter Linie. Hin und wieder muß ich einen Rehbock schießen, aber wenn ich satt bin, schenke ich Wölfen und Füchsen den Rest.“ Der junge Mann öffnete 564
ein Büchschen aus Zinn, das an seinem Hals hing, und hielt es Natty unter die Nase. Natty sagte: „Ein Honigsammler! Ich denke, dieser Beruf lohnt sich in der Nähe der Siedlungen, aber wo findet man in dieser Einöde Honig?“ „Sie meinen, Bienenschwärme brauchen immer Bäume, um sich darin niederzulassen? Das stimmt nicht ganz, und so bin ich einige hundert Meilen nach Westen gezogen, um hier den Honig zu kosten. Doch jetzt möchte ich mit Ellen unter vier Augen sprechen. Dafür haben Sie doch Verständnis, nicht wahr?“ Ellen sagte zu Natty: „Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Ich heiße Ellen Wade, dieser Mann ist Paul Hover. Vom ersten Augenblick an haben Sie mir einen vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, aber ich glaube doch, es ist besser, ich höre mir allein an, was Paul zu sagen hat. Vielleicht treffen wir uns dort an dem Busch wieder? Ich möchte Ihnen noch gute Nacht wünschen, ehe ich ins Lager zurückkehre.“ Natty ging langsam auf dem Hügelrücken entlang, nach dreißig Schritten blieb er stehen. Die Schatten der beiden jungen Menschen verflossen ineinander, Natty erinnerte sich an die verliebten jungen Paare, denen er begegnet war, Wah-ta-Wah und Große Schlange, Alice und Heyward, Elisabeth und Oliver. Der Mond hatte über dem Silberglas und über dem Otsego geschienen, er schien auch über dieser Prärie. Nach einer Weile hob Hektor den Kopf und knurrte warnend. So ging Natty zu dem Paar zurück, das viel zu sehr im Gespräch vertieft war, als daß es ihn bemerkt hätte. „Wir sind nicht allein in dieser Steppe“, sagte er leise. „Hektor wittert eine Gefahr.“ „Vielleicht streunt einer von Bushs Söhnen hierherum“, sagte Hover. „Oder sind es Wölfe?“ 565
„Auf sie reagiert Rektor anders.“ Da stieß der Hund ein langes, jämmerliches Geheul aus, es klang in der Nachtluft, als ob ein Geist eine Klage anstimme. Natty fuhr fort: „Vielleicht haltet ihr das, was ich jetzt sage, für das Geschwätz eines alten Mannes. Aber ich habe seit achtzig Jahren meine Erfahrungen mit der Natur, und so weiß ich, daß Hektor ein Unglück fühlt. Ich bitte Sie, Ellen, gehen Sie so schnell wie möglich zum Lager zurück!“ „Still! Das sind Büffel! Es hört sich an, als ob eine Herde Teufel gegen die Erde schlüge.“ „Du täuschst dich“, sagte Natty. „Die Sprünge sind zu weit und zu regelmäßig für Büffel. Es sind Pferde. Jetzt traben sie im Gras, das verschluckt den Ton, jetzt galoppieren sie über festen Boden. Dort kommen sie die Anhöhe herauf - gibt es denn nirgends einen Schlupfwinkel! Es sind Sioux-Indianer!“ Natty riß Ellen und Paul Hover neben sich ins Gras. Hover flüsterte, sie hätten zwei Gewehre und könnten sich wehren, aber Natty widersprach: Zwei Männer könnten sich niemals gegen eine Indianerhorde verteidigen, sie würden so nur ihr eigenes und das Leben des Mädchens aufs Spiel setzen. Der Mond war hinter Lämmerwolken verschwunden, daß nur schwaches Licht hindurchschien und alle Umrisse verwischte. Natty hörte, wie die Sioux rechts und links vorbeipreschten. Als der Huf schlag verklungen war, richtete er sich vorsichtig auf und flüsterte: „Jeder von uns hätte es mit dreißig dieser Halsabschneider zu tun! Jetzt biegen sie zum Bach ab. Verdammt, sie kommen auf uns zu!“ Wieder preßte sich Natty an den Boden, aber jetzt ritten die Indianer nicht so dicht vorbei wie beim erstenmal. Sie sammelten sich in einer Senke; anscheinend berieten sie, dann ritten sie auf das Auswandererlager zu, 566
zerstreuten sich und kehrten in Trüppchen zurück. Auf dem Hügel, auf dem die drei Weißen kaum zu atmen wagten, sammelten sie sich. Einige stiegen ab, die Häuptlinge hielten auf dem Hügelkamm; Natty sah. ihre Köpfe mit den Federbüschen und ihre Speere gegen den fahlen Horizont. Das Mädchen hatte das Gesicht ins Gras gepreßt; Hover tastete nach seinem Gewehr, aber Natty hielt ihm den Arm fest; er wußte, daß bereits das Knacken des Hahnes die Sioux alarmieren würde. Minuten dehnten sich zu einer Ewigkeit. Natty hoffte schon, die Sioux würden weiterreiten, als Hover eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Er fuhr herum und sah das schrecklich bemalte Gesicht eines Indianers über sich. Wie der Blitz sprang er auf, schüttelte seinen Gegner ab und bückte sich zur Waffe, aber Natty riß sie ihm aus der Hand und rief: „Keine Gegenwehr, Junge!“ Im nächsten Augenblick waren sie von einem Dutzend Indianer umringt. Natty hatte seine Erfahrungen mit den Sioux gemacht, er ließ sich ohne Widerstand ausplündern und hielt einem Häuptling sogar freiwillig sein bis zum Rand gefülltes Pulverhorn hin. „Wehrt euch nicht“, riet er Ellen und Paul Hover, „diese Kerle sind stärker. Vorläufig werden sie uns nichts tun, da bin ich sicher.“ Die Gefangenen waren schnell ausgeraubt, gleich darauf versammelten sich die Indianer abseits zu einer erneuten Beratung; nur zwei Posten blieben zurück. „Keine Angst, Mädchen“, flüsterte Natty. „Nicht einmal die Sioux bringen ihre Gefangenen ohne Not um. Jetzt werden sie wahrscheinlich die Schläfer drüben im Lager unsanft wecken.“ Hover erwiderte bitter: „Wenn sie Bush und seine Brut bis ins Felsengebirge verschleppen, würde ich sie daran nicht zu hindern suchen.“ 567
Natty mühte sich, etwas vom Gespräch der Sioux zu verstehen, nach einer Minute angestrengten Lauschens brummte er: „Ich fürchte, eure Freunde werden keine sanfte Nacht haben. Wenn ein Sioux Beute wittert, hält ihn nichts zurück. Doch im Lager sind genügend Männer, und ihre Gewehre sind gut.“ „Hör zu, Alter“, antwortete Hover, „niemand liebt Bush und seine sieben Schlagetots weniger als ich. Aber Mut haben sie und gewaltige Knochen und Muskeln erst recht.“ Die Sioux hatten offenbar einen Entschluß gefaßt, die meisten stiegen von den Pferden und gaben die Zügel einigen Männern, die sie zusammenbanden. Die Nacht verschluckte einen Trupp nach dem anderen; ein Hüne trat zu den Gefangenen und sagte: „Haben die Bleichgesichter alle eigenen Büffel geschlachtet und den Bibern in ihren Wäldern die Felle abgezogen, daß sie hierherkommen, um zu sehen, wie viele bei den roten Männern übriggeblieben sind?“ „Einige von uns sind hier, um einzukaufen“, antwortete Natty in gespieltem Gleichmut, „die anderen wollen verkaufen. Aber wenn unsere Freunde daheim hören, daß es nicht gut ist, den Sioux zu begegnen, wird uns niemand folgen.“ „Reisen Händler mit leeren Händen? Ihr habt euren Besitz in der Prärie versteckt. Zeig meinen jungen Leuten die Stelle, damit sie euch die Waren bringen, ehe die Pawnees sie finden!“ Natty schüttelte den Kopf. „Der Weg dahin ist gefährlich, und jetzt ist es Nacht. Deine Krieger sollten ein Feuer anzünden, an dem wir schlafen können. Wenn die Sonne aufgegangen ist, werden wir wieder miteinander sprechen.“ Natty hoffte, daß durch das Feuer die Posten an 568
Bushs Lager gewarnt würden, aber der Häuptling ging nicht auf diesen ziemlich durchsichtigen Vorschlag ein. Er trumpfte auf: „Ich bin Mahtoree, meinem Befehl gehorchen tausend Krieger. Ich weiß, daß mein Freund reich ist, er führt mehr Leute und Pferde mit sich, als der rote Mann Hunde besitzt. Hat die weiße Squaw die Füße einer Indianerin, daß sie dreißig Tage und Nächte über die Prärie laufen kann, ohne zusammenzubrechen?“ Natty zögerte mit der Antwort. Er wollte Zeit gewinnen, die Sioux aber nicht durch Lügen reizen. „Ich habe diese Frau erst heute getroffen. Sie kam hierher, weil sie gehört hat, hier lebe ein starkes und edles Volk, die Sioux. Sie wünschte, sie kennenzulernen. Sie ist arm wie ich und wird sterben, wenn ihr das wenige nehmt, das sie besitzt.“ Mahtoree stieß zornig hervor: „Viele Lügen quälen mein Hirn! Glaubt der weiße Mann, ein Sioux habe weder Augen noch Ohren? Sag mir, wer sind die Leute, die zwischen den gefällten Bäumen schlafen?“ Dabei zeigte er zum Bach hinunter. Natty stellte sich überrascht und erwiderte: „Wenn mein Bruder meint, daß dort Leute schlafen, so wird es so sein. Ich kenne sie nicht. Gewiß wäre es am besten, du schicktest deine jungen Krieger aus, um sie zu wecken. Dann könntet ihr sie fragen, wer sie sind und wo ihr Ziel liegt.“ Der Häuptling lachte höhnisch. „Die Sioux werden die Fremden nicht in der Nacht erschrecke«, daß sie mit dem Donner ihrer Büchsen antworten. Mahtoree wird zu ihnen schleichen und ihnen etwas ins Ohr flüstern.“ Die Indianer, die ihren Häuptling und die Weißen umstanden, nickten beifällig; Mahtoree wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit. Nur vier Krieger blieben bei den Gefangenen und den Pferden zurück, mit den übrigen schlich Mahtoree in die Senke hinab. Der 569
Häuptling wies seine Männer an, das Lager im Halbkreis zu umschließen, nahm seinen Federschmuck ab und zog den Umhang von den Schultern. Er prüfte, ob das Messer fest im Gürtel saß, fuhr mit dem Daumen über die Schneide seines Tomahawks, ließ sich zu Boden sinken und kroch auf das Lager zu. Immer wieder blieb er liegen und lauschte, wie eine Schlange glitt er aus dem Mondlicht heraus in den Schatten der Senke. Ab und zu richtete er sich auf und warf einen Blick über Wagen und Zelte, wobei er sich vorzustellen suchte, wo ein Posten stehen könnte. Einmal hörte er unruhige Atemzüge, drehte sich zur Seite und sah einen Mann, der mit dem Oberkörper an einem Stamm lehnte. Es war einer von Bushs Söhnen, der wachen sollte, aber vom Schlaf übermannt worden war. Mahtoree zog das Messer, um es dem Mann ins Herz zu stoßen, besann sich aber anders und kroch an ihm vorbei, unter einem Verhau hindurch und ins Lager hinein. Manchmal ging er gebückt, dann wand er sich durch das Gestrüpp der Baumwollbäume, hob die Decken an den Hütten auf und spähte hinein, schlich an schlafenden Männern vorüber und wandte sich schließlich dem Verhau zu, in dem das Vieh eingesperrt war. Die Zugochsen brummten, als er ihre Muskeln betastete. Allmählich reifte in Mahtoree ein Plan. Ein Überfall auf das Lager wäre nicht ohne Verluste abgegangen; wenn er einen schlafenden Weißen erstochen und skalpiert hätte, wäre dadurch sein Ruf gestärkt und seine Position als Häuptling gefestigt, aber doch kein wirklicher Erfolg erzielt worden. Mahtoree hatte einen Einfall, er konnte ohne Gefahr für das Leben seiner Männer reiche Beute machen und die Weißen schwer schädigen: Er mußte ihnen das Vieh rauben. Vorsichtig rüttelte er einen Pfahl locker und zog ihn aus dem Boden. 570
Durch die Lücke kroch er zu seinen Kriegern zurück. Der Mond stand jetzt hoch, leuchtete auch in die Senken hinab und ließ die Spitzen der Gräser silbern glänzen. Die Sioux, die auf dem Hügelrücken die Gefangenen bewachten und die Pferde an den Zügeln hielten, horchten angestrengt in die Nacht hinaus. Natty hatte sich hingehockt, er wußte, daß er nichts für Bush und dessen Familie tun konnte, ohne sein Leben und das von Ellen und Paul Hover zu riskieren. Einmal trat ein Posten vor Natty hin, fuchtelte mit dem Messer und flüsterte, er würde sich blutig rächen, sollte Mahtoree von den Weißen getötet werden. Natty reagierte nicht darauf. Ellen Wade und Hover saßen aneinandergelehnt, sie sprachen leise, Natty vermutete, daß Hover seine Freundin tröstete. Natty hatte es in seinem langen Leben von seinen indianischen Freunden gelernt, daß man geduldig auf eine Chance warten und sie dann, wenn sie sich bot, kaltblütig nutzen mußte. Er schloß die Augen, so daß es aussah, als schliefe er, aber ihm entging kein Laut. Als eine halbe Stunde später am Lager die Hölle losbrach, war Natty mit einem Satz auf den Beinen. Gekreisch, Flintenschüsse, Tiergebrüll und Hufestampfen mischten sich zu einem wirren Getöse. Pferde und Rinder preschten vorbei und wurden von schreienden Sioux verfolgt, unten am Bach krachten Schüsse. „Bush verschwendet seine Munition“, sagte Natty, „sein Vieh ist er los, und durch planlose Knallerei holt er es sich niemals wieder.“ Als Natty sah, daß seine Bewacher dem vorbeijagenden Vieh nachstarrten, ohne auf die Gefangenen zu achten, trat er leise an die Pferde heran und band ihre Leinen los. Sie stoben auseinander, die Posten stürzten hinterher, gleich darauf standen Ellen, Hover und Natty allein auf dem Hügel. Natty lachte kaum hörbar und 571
sagte: „Da sind wir wieder einmal davongekommen.“ Gebückt, die Augen auf den Boden gerichtet, schlurfte er durch das Gras, er fand sein Gewehr, seinen Kugelbeutel und sein Pulverhorn. Er sagte: „Jetzt rasch zum Lager!“ Hover brummte: „Ich habe keinen Grund, mich nach einem Zusammentreffen mit Bush zu sehnen.“ Natty zog den Honigsammler und das Mädchen in eine Senke hinab, dort lauschten sie auf die Schreie der Sioux, die dem Vieh der Weißen und ihren eigenen Pferden nachjagten, und den vereinzelten Schüssen. Natty fragte den jungen Mann: „Was zieht dich wirklich in diese Gegend?“ Statt seiner antwortete das Mädchen mit leisem Lachen: „Wo ich bin, da will auch er sein.“ „Und warum schließt er sich dann nicht Bush an?“ „Weil Bush“, antwortete Hover ärgerlich, „Ellen mit einem seiner Söhne verheiraten möchte.“ „Verstehe“, sagte Natty. „Da sieht er dich nicht gern, und du möchtest ihn dorthin wünschen, wo der Pfeffer wächst. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn du dich in dieser wilden Nacht nicht zu nahe an Bushs Flinten heranwagst. Aber keine Sorge, ich bringe das Mädchen wohlbehalten zum Lager.“ Hover verabschiedete sich und schlich davon. Natty und Ellen gingen weiter auf das Lager zu, wurden angerufen, Natty antwortete, sie wären Freunde, da trat Ismael Bush hinter einem Strauch hervor und packte Natty an der Brust. „Alter Schurke!“ rief er, „du hast die Sioux auf uns gehetzt und willst morgen mit ihnen die Beute teilen!“ Mit unerwarteter Kraft schob Natty die Hand weg. „Red keinen Unsinn, ich brauche kein Vieh.“ Bushs Zorn verflog so rasch, wie er gekommen war. „Acht Pferde und ein Fohlen, alle Ochsen und Kühe, sogar 572
meine Ziegen sind davongerannt.“ „In der Nacht findet ihr nichts wieder. Stellt Posten auf, ich glaube allerdings nicht, daß die Sioux zurückkehren werden. Was mich anbetrifft, so möchte ich vor Morgengrauen noch ein wenig schlafen.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging Natty ins Lager hinein und legte sich in eines der Zelte, in dem die Kinder schliefen. Es wurde kühl, und seine Decke hatten die Sioux geraubt. Als der Morgen graute, schaute Ismael Bush mit zusammengebissenen Zähnen auf die schwerbeladenen Wagen und warf einen Blick auf die erstaunt und hilflos um ihre verzweifelte Mutter gescharten Kinder. Vom Rand der Senke aus spähte er über die Prärie, die ihm nackter und feindlicher erschien als jemals. Als er zurückkam, stand Natty am Bach, ihn fragte er: „Nun sag selber, Trapper, ist das das Land, das ich gesucht habe? Fünfhundert Meilen habe ich hinter mich gebracht, nun liege ich hier ohne Zugtiere und ohne einen Tropfen Milch für meine Kinder. Wenn ich nicht allerhand in fünfzig harten Jahren erlebt hätte, könnte ich verzweifeln. Du hast dich lange in dieser Gegend herumgetrieben, deshalb frage ich dich, was du an meiner Stelle tun würdest.“ Natty kratzte sich das Kinn und antwortete: „Hier dürft ihr nicht bleiben. Die Indianer werden zurückkehren, und ihr könnt dieses Lager nicht mit einem Dutzend Gewehre gegen fünfhundert Angreifer verteidigen. Ein Pfeilregen aus dem Wäldchen da hinten würde euch alle das Leben kosten.“ Bushs Söhne traten heran, sie hielten ihre Gewehre und Äxte in den Händen, so umstanden sie Natty im lockeren Halbrund. Sie hatten immer auf ihre Stärke vertraut, die Ereignisse der letzten Nacht allerdings hatten sie belehrt, daß die List der Indianer wirkungsvoller gewesen war als 573
die eigene überlegene Feuerkraft, und sosehr sie sich auch dagegen sträubten, so mußten sie doch einsehen, daß sie in einer nahezu ausweglosen Lage waren. „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit“, sagte Natty. „Drei Meilen westlich liegt ein Felsen, etwas Seltenes in diesem Landstrich. Ich habe schon manchmal gedacht, wenn ich über die Prärie streifte, daß ein Lager dort oben schwer zu erobern wäre. Aber drei Meilen sind drei Meilen, und wie wollt ihr eure Wagen so weit bringen?“ „Mit unseren Armen!“ rief Asa, Bushs ältester Sohn. „Gut“, brummte Bush. „Schlechter als dieser Fleck hier kann dein Felsen auch nicht sein.“ Sofort gab Bush seine Anweisungen. Seine Söhne spannten sich vor die Wagen und griffen in die Speichen, sie vergossen Ströme von Schweiß, bis sie die Karren aus dem Bachtal herausgewuchtet hatten. Langsam folgten ihnen Bushs Frau, Ellen und die Kinder, alle hatten sich mit so viel Hausrat beladen, wie sie nur tragen konnten. Bush organisierte den Aufbruch, dann und wann stemmte er sich mit seiner mächtigen Schulter gegen einen Wagen, bis das erste Hindernis gewonnen war und der Zug in Gang kam; er gab seinen Söhnen die Richtung an und kehrte mit seinem Schwager Abiram White zu dem verschlossenen Zelt zurück. Natty hatte dem Aufbruch von einem Hügel aus zugesehen, die Kraft und der Schwung, mit dem Bush und seine Söhne zu Werke gingen, hatte ihn mit Bewunderung erfüllt. Jetzt sah er, wie Bush und White argwöhnisch um sich blickten, einen Karren dicht an das Zelt heranschoben, hinter den Decken verschwanden, die Zeltstangen lockerten, die Plane über den Wagen zogen und an allen Seiten sorgfältig befestigten. Das alles ging so rasch vor sich, alle Handgriffe waren aufeinander abgestimmt, daß Natty annahm, die beiden Männer hätten 574
schon viele Male etwas, was nicht einmal Bushs Söhne sehen sollten, vom Zelt in den Karren bugsiert. White hob gerade die Deichsel auf, als sein Blick auf Natty fiel. Wütend rief er: „Verdammt, was spionierst du wieder herum, Alter?“ Natty trat langsam näher. „Was sollte ich spionieren? Gibt es denn ein Geheimnis?“ Bush warf ärgerlich ein, Natty hätte lieber beim Schieben der Karren helfen sollen, hier würde er jedenfalls nicht gebraucht. White drehte die Deichsel, Bush warf sich in die Speichen, bald darauf schoben die beiden den Karren über den nächsten Hügel. Es war eine wüste Plackerei, ehe Bush und seine Familie ihr Hab und Gut bis zu dem Felsen gezerrt hatten, der in der Tat steil aus der Prärie aufragte und nur an einer Stelle über Terrassen hinweg zu ersteigen war. Erschöpft sanken alle am Fuß des Felsens ins Gras, in der folgenden Nacht hielten sich die Männer mit Mühe gegenseitig wach; keiner legte auch nur für einen Augenblick sein Gewehr aus der Hand. Im Morgengrauen begannen sie, auf einer Plattform unterhalb des Gipfels ihr Lager einzurichten, sie trugen die Wagen mehr hinauf, als daß sie sie zogen, bauten Zelte und Hütten, den Zugang verbarrikadierten sie mit Stämmen und Steinen. Eine Woche lang gönnte Ismael Bush niemandem Ruhe, dann war das Lager fertig; es war das beste, das er jemals aufgeschlagen hatte. Nach dieser Zeit änderte sich das Wetter, Regenwolken trieben über die Steppe, der Wind fetzte Laub von den Bäumen und preßte das Gras an den Boden. Aber die Hütten hielten stand, und ein Zelt auf der Spitze glänzte wie eine Schneeflocke. Bush überprüfte die Vorräte, teilte seiner Frau immer kargere Rationen zu und hämmerte seinen Söhnen unablässig ein, in ihrer 575
Wachsamkeit nicht nachzulassen. Mit düsteren Gedanken blickte er in die Zukunft. Am Morgen nach dem Sturm stand Bush mit seinem Schwager Abiram White am Fuß der Barrikade, sie stocherten mißmutig im Boden und beratschlagten, ob sie hierbleiben oder weiterziehen sollten, aber da sie kein Zugvieh besaßen, war dieses Gespräch ohne Sinn. Auf dem Felsen wußten sie sich vor einem Angriff der Sioux sicher, der Bach führte Wasser, in den Senken wuchsen Büsche und Bäume, aber ursprünglich hatten sie noch mindestens hundert Meilen weiterziehen wollen, und der Boden um den Felsen herum war karstig und voller Steine. Asa, Bushs ältester Sohn, schlenderte heran, er zeigte zum Felsen hinauf und sagte, er habe Ellen aufgetragen, Wache zu halten. Eben trat das Mädchen hinter dem Zelt hervor und setzte sich auf einen Stein. Der Wind wehte ihr das Haar über die Schulter, einmal wandte sie sich zur Seite, es schien, als riefe sie etwas, aber die Entfernung war zu groß, als daß sie verstanden worden wäre. Minutenlang blickte sie nach Westen, als ob es dort etwas Besonderes gäbe, und Bush, White und Asa rieten, ob sie einen Hund, einen Büffel oder gar einen Sioux entdeckt hätte. Da sprang sie auf, lief zum Zelt, bückte sich hinein und zeigte in die Ebene hinaus. Ismael Bush brüllte hinauf, Ellen solle vom Zelt weggehen; als sie nicht reagierte, sondern weiter hineinsprach, riß er wütend sein Gewehr an die Schulter, zielte über Ellens Kopf hinweg und drückte ab. Ellen war im nächsten Augenblick im Zelt verschwunden, an ihrer Stelle tauchte eine andere weibliche Gestalt auf, sie trug ein dunkles Kleid, ihre schwarzen Haare fielen bis auf die Schultern hinab, mit einigen Schritten war sie am Abgrund und hob die Arme, als wollte sie Bush auffordern, noch einmal zu schießen 576
und diesmal auf sie zu zielen. Gleich darauf lief Ellen zu ihr hin, es schien, als spräche sie mit der Frau, die sich nun wieder ins Zelt zurückzog. Keiner der drei Männer am Fuß des Felsens sagte etwas. Asa blickte verwundert seinen Vater und seinen Onkel an, er starrte zum Zelt hinauf, in seinem Hirn liefen viele Gedanken durcheinander, endlich glaubte er zu begreifen, er wandte sich an White und stieß wütend heraus: „Daß du in Kentucky mit schwarzem Fleisch gehandelt hast, wußte ich längst. Aber daß du nun eine weiße Frau mitschleppst, das ist ebenso gemein wie idiotisch. Und meine Brüder und mich hast du angelogen, du Schuft!“ Asas Faust schnellte vor und traf White mitten ins Gesicht. White duckte sich und wäre im nächsten Augenblick Asa an die Kehle gesprungen, aber Bush packte seinen Sohn mit der einen und seinen Schwager mit der anderen Hand und brüllte: „Auseinander! Ist unsere Lage nicht ernst genug, daß ihr euch auch noch in die Haare geraten müßt?“ Schwer atmend und sich erbittert anstarrend, standen sich Asa und White gegenüber. Asa stieß hervor: „Jetzt begreife ich, warum wir nicht an den Karren heran durften! Und ich Narr habe mich an diesen Befehl gehalten! Es wird Zeit, daß wir Söhne allmählich unsere Köpfe auch zum Denken gebrauchen.“ Bush schob Asa zurück, White wischte sich das Blut von der Nase. Asa brummte, es wäre besser, White würde sich davonscheren, aber sein Vater fiel ihm ins Wort: „Haben wir nicht Schwierigkeiten genug? Ich gehe jetzt zum Zelt und sehe nach, ob alles in Ordnung ist, und ihr macht euch an die Arbeit. Wer Lust hat, sich zu prügeln, soll mir Bescheid sagen, ich bringe ihn schnell zur Vernunft!“ Ismael Bush stieg zum Lager hinauf. Am Verhau wachte einer seiner Söhne, auf der Plattform dahinter kam ihm 577
seine Frau entgegen. Ein zehnjähriges Mädchen klammerte sich an ihren Rock, ein Junge hockte weinend im Gras, die Frau zeigte auf eine Schüssel und sagte: „Das letzte Mehl, es reicht gerade noch für eine Mahlzeit. Ich habe keine Milch für die Kinder, seit einer Woche wissen wir nicht, wie Fleisch schmeckt, aber ihr lungert herum! Warum hast du eben geschossen?“ „Ein Habicht kreiste um das Zelt da oben.“ „Ein Habicht!“ Die Frau beklagte sich in zänkischem Ton, sie müsse immerfort aufpassen, daß kein Kind den Abhang hinunterstürzte, sie wüßte nicht, wie sie achtzehn Münder sättigen sollte, aber ein erwachsener Mann hätte nichts anderes zu tun, als nach einem Habicht zu schießen! Bush verteidigte sich, er und seine Söhne hätten alle Kraft gebraucht, ihr Lager zu sichern, weit und breit hätte sich kein Wild blicken lassen. Aber seine Frau schrie, von Ausreden würden weder sie noch die Kinder satt, sie wollte umkehren oder weiterziehen, und wenn sie gewußt hätte, wie alles ausging, hätten keine zehn Pferde sie aus Kentucky fortgebracht. „Esther“, sagte Bush leise, „du weißt genau, warum wir losgezogen sind. Glaubst du, ich bin damit zufrieden, daß wir hier hocken? Aber was soll ich...“ „Und diese Geschichte mit dem Zelt da oben!“ schrie die Frau. „Du und Abiram, ihr habt nichts anderes im Kopf! Doch deine Kinder hungern!“ Bush schnaufte, er sah, daß die Kinder erschrocken auf ihre streitenden Eltern blickten, und breitete die Hände, um auszudrücken, daß er beim besten Willen nicht sagen könnte, wie aus dieser vertrackten Lage herauszukommen wäre. Schließlich brummte er: „Gut, wir gehen auf die Jagd. Aber hör auf zu schreien!“ Er stapfte hinab; wenige Minuten später zog er mit vier seiner Söhne und seinem 578
Schwager in die Steppe hinaus. Einmal drehte er sich um und blickte zu dem Zelt hinauf, das Ellen wieder geschlossen hatte; niemand war zu sehen. Bush runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, was sein größeres Problem war, seine Familie satt zu machen, oder die Last, die er sich mit dieser Frau aufgebürdet hatte. Am Horizont bewegten sich Pünktchen; als Sonnenlicht auf sie fiel, sah Bush, daß es Büffel waren. Durch irgend etwas wurden sie erschreckt und stoben davon. Hoch oben flogen Enten, ihr Geschrei klang wie das Knarren rostiger Türangeln. Sie waren etwa eine Meile gegangen, als Bush auf die Idee kam, ihre Chancen wären größer, wenn sie ausschwärmten und getrennt ihr Jagdglück versuchten. So zerstreuten sie sich. Von einem Hügel aus sah Bush nach einer Weile seinen Sohn Asa, der, das Gewehr unter dem Arm, in einer Senke verschwand. Wenig später deckte eine Regenwolke die Prärie wie ein Vorhang zu.
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Mord in der Steppe Der Regen troff von den Zweigen eines Baumwollbaums. Natty Bumppo hockte darunter, er hatte eine Büffelhaut zwischen den Zweigen aufgespannt, von der das Wasser in dünnen Bahnen lief. Einmal schob er die Hose herunter, massierte seine Knie und rieb sie mit Fett ein, das er aus einer Dachshaut herausgekocht hatte. Das half noch am ehesten gegen die Schmerzen, die ihn bei schlechtem Wetter quälten und im Winter unerträglich wurden. Er überlegte, wann sie ihn zum erstenmal geplagt hatten, das mußte noch in seiner Hütte bei Templeton gewesen sein. Die verdammte Eisfischerei, sann er, aber Schlange hatte ihn immer wieder dazu gebracht. Kein Wunder, daß es Schlange bei diesen Barschen gelungen war, ihn zu überreden. Danach saß Natty stundenlang, ohne sich zu rühren, nickte ein, wurde wach, blinzelte seinem Hund zu und versuchte sich zu besinnen, wie lange es her war, daß er diese Auswandererfamilie getroffen hatte. Fünf Tage? Acht? Aber ein Tag war wie der andere gewesen, sie mischten sich in seiner Erinnerung zu einer undeutlichen Masse. Als der Regen aufhörte, nahm Natty seine Büchse, rollte die Büffelhaut zusammen und versteckte sie unter Zweigen. Er schnalzte, Hektor hob den Kopf und trottete am Rand der Büsche entlang. Natty wollte das Licht dieses Tages noch zur Jagd nutzen; Fasanen und Rebhühner mußte es weiter talwärts geben. Neben ihm raschelte es im Dickicht, er riß die Büchse von der Schulter und steckte die Mündung zwischen die Zweige. „Spar deine Kugel“, sagte eine Männerstimme, „du wirst sie noch brauchen.“ Paul Hover trat heraus und 580
fragte: „Hast du Bushs Bande gesehen?“ „Ich kann mir denken, wo sie ist.“ Natty setzte seinen Weg fort, es war ihm gleichgültig, ob ihm der Honigsammler folgte. Hektor lief ihnen, die Nase am Boden, voran. Gegen Abend kam Natty auf einen Büffel zum Schuß. Das Tier weidete in der Nähe eines Tümpels und stürzte gerade dort nieder, wo es Wasser und Holz gab. Natty nahm sich mit der Zubereitung reichlich Zeit. Er löste den Höcker vom Rücken, wickelte ihn in ein Fellstück, grub eine Mulde, entzündete in ihr ein Feuer und legte das Bündel in die Glut. Hin und wieder wendete er seinen Braten, nach drei Stunden hob er ihn heraus, ließ ihn abkühlen und schnitt ihn auf. Das Fleisch war braunrot und saftig, der Duft stieg Hover betörend in die Nase. Natty suchte sich ein zartes Stück und riet Hover, eine Scheibe aus der Mitte herauszuschneiden. „Bisonrücken auf diese Art gebraten ist das beste, was ich mir vorstellen kann“, sagte er. „Und das alles ohne Gewürz. Dafür braucht man weder Salz noch Senf.“ Paul Hover aß heißhungrig, einmal sagte er, wenn er noch einen Schluck Met hätte, wäre das das kräftigste Mahl, das ihm jemals vorgesetzt worden wäre. „Stimmt, es ist kräftig und macht den stark, der davon ißt.“ Natty warf seinem Hund einen Brocken hin und fuhr fort: „Hier, Hektor, du brauchst Kraft in deinen alten Tagen genau wie dein Herr. Glaub mir, Junge, dieser Hund hat bessere Mahlzeiten vor seiner Schnauze gehabt als mancher König auf seiner Tafel. Gott hat ihn zu einem Hund gemacht, und wie ein Hund lebt er. Aber was tun viele Menschen? Sie fressen gierig wie die Wölfe.“ Natty war müde nach der Jagd, er fühlte sich satt und zufrieden. Das Fleisch würde noch für den nächsten Tag reichen, 581
außerdem wollte er sich aus der Haut einen Umhang zurechtflicken, der den ersetzen sollte, den ihm die Sioux geraubt hatten. Hektor spitzte die Ohren und knurrte, mit einer altgewohnten Bewegung griff Natty zum Gewehr. Der Hund zog die Lippen zurück, schnüffelte, japste schwer und legte sich wieder hin. „Hektor wittert kein Raubtier“, murmelte Natty, „aber irgend etwas ist im Busch.“ Er richtete sich auf und sah, daß ein Mann auf seinen Lagerplatz zu kam. Der Fremde mußte den Rauch gesehen haben, er änderte die Richtung nicht, als Nattys Kopf aus dem Steppengras auftauchte. Hover erhob sich ebenfalls, er wollte nicht den Anschein erwecken, als ob er sich durch die Ankunft eines Mannes beunruhigt fühlte, und doch war er vorsichtig genug, die Hand auf sein Flintenschloß zu legen. Als der Fremde heran war, sah Natty, daß von dessen blauer Feldmütze eine goldene Troddel herabhing; unter ihr wucherte schwarzes krauses Haar. Der Mann hatte ein Seidentuch um den Hals geschlungen, sein Jagdhemd war dunkelgrün und an Schultern und Armen mit gelben Fransen verziert. „Einer von der Grenztruppe“, sagte Hover leise. Der Mann trug Lederhosen und indianische Mokassins, zwei Pistolen steckten in Halftern, ein kurzes, schweres Militärgewehr hing an der Schulter, über den Rücken hatte er einen Tornister geworfen, der mit den Buchstaben U. S. bestickt war. „Ich komme in Freundschaft“, rief der Soldat. „Freunde sind immer gern gesehen. Wir sind friedliche Leute und haben nichts zu befürchten. Setz dich an unser Feuer, auch ein dritter Mann wird bei uns satt.“ Natty wickelte das verkohlte Fell noch einmal auf, der Soldat schnitt sich ein Stück Fleisch ab und sagte: „Das ist in der Tat eine großartige Mahlzeit. Entweder bin ich so hungrig, 582
daß mir alles schmeckt, oder euer Bison stammt aus einer besonders vornehmen Familie.“ Natty schaute zu, wie der Soldat aß, er hatte es nicht eilig, nach dem Woher und Wohin zu fragen. Er schabte von dem Fellstück, das ein Umhang werden sollte, Haare und Fettreste ab, Hover trug noch einmal Holz herbei und schichtete es neben dem Feuer auf. Nachdem der Soldat satt war, griff er in seine Brusttasche, zog ein zusammengefaltetes Papier aus einem Lederfutteral und hielt es Natty hin; dabei sagte er: „Ihr habt mich gastfreundlich aufgenommen, da sollt ihr auch sehen, mit wem ihr es zu tun habt.“ Natty winkte ab und erwiderte, er traue einem ehrlichen Gesicht mehr als einem Stück Papier. Aber Paul Hover nahm das Dokument und rief: „Donnerwetter, die Siegel von Präsident Jefferson und vom Kriegsminister! Duncan Unkas Middleton, Hauptmann der Artillerie.“ Natty horchte auf. „Hab ich richtig gehört? Unkas?“ „Ja, so heiße ich. Es ist der Name eines indianischen Häuptlings, der sich um meine Familie außerordentlich verdient gemacht hat.“ Natty beugte sich vor und strich dem jungen Mann das Haar aus der Stirn. „Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher. Sag mir, Junge, wie hieß dein Vater?“ „Genauso wie ich. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, trug den Namen Duncan Unkas Heyward.“ „Und dessen Vater?“ „Er hieß Duncan Heyward. Ihm und meiner Mutter wurde von einem Indianer mit Namen Unkas das Leben gerettet.“ „Ist das möglich!“ rief Natty. „Ein Nachkomme des Majors Heyward? Warte, mir fällt ein, wie seine Frau hieß, Alice, nicht wahr? Major Heyward - lebt er noch?“ 583
Der Soldat schüttelte den Kopf. „Sie haben ihn gekannt?“ „Und ob, mein Junge! Hat er oft von den alten Kriegen erzählt?“ „Ich habe ihm als Kind stundenlang zugehört. Man kann heute kaum glauben, mit welcher Grausamkeit damals Krieg geführt worden ist. Mein Großvater hat auch Seite an Seite mit dem Vater von Unkas gekämpft, der Große Schlange hieß. Wenn Sie meine Großeltern gekannt haben - vielleicht kannten Sie auch Unkas?“ Natty schmunzelte auf seine eigentümliche Art. „Und erzählte dein Großvater nur von Rothäuten?“ „Nein, es lebte auch ein weißer Mann bei den Delawaren. Er besaß eine seltene Gabe, er konnte das Böse vom Guten unterscheiden, immer half er denen, die bedroht waren. Er war der beste Schütze, den es an der Grenze gab, nie tötete er einen Menschen, wenn nicht sein eigenes Leben bedroht war.“ Natty war tief bewegt, seine Hände strichen über die Ohren seines Hundes, öffneten und schlössen die Gewehrpfanne, er blickte von Middleton zu Hover und zurück und fragte mit tonloser Stimme: „Dein Großvater hat diesen Mann nicht vergessen?“ „Er sprach von ihm so oft wie von Unkas und von Große Schlange. Mein Bruder und zwei Vettern tragen den Namen dieses Kundschafters. Nathaniel hieß er, alle Welt nannte ihn Natty.“ Der alte Mann wischte sich über die Augen, seine Stimme klang unnatürlich hohl, als er sagte: „Da habe ich also Heyward überlebt.“ Paul Hover begriff eher als Middleton, er zeigte auf den Trapper. „Das ist Natty, verstehst du endlich?“ Middleton sprang auf, rief: „Mein Gott, ist so ein Zufall möglich? Natty? Nathaniel Bumppo?“ Er kniete neben 584
Natty hin und faßte dessen Hände. „Sie in dieser Einöde? Meine Großeltern haben Briefe nach allen Richtungen geschrieben, um zu erfahren, was aus Ihnen geworden ist.“ „Aus mir?“ Nattys Stimme klang wieder wie gewöhnlich, als er antwortete: „Ich war Kundschafter, dann Jäger, nun bin ich Fallensteller. Ich bin in diese öde Gegend gekommen, um dem Klang der Axt zu entfliehen. Gehörst du zu den Offizieren, die von der Regierung ausgeschickt werden, um das Land zu prüfen, das sie gekauft hat?“ „Ich bin in einer Privatsache hier. Ich zweifle nicht, daß Sie der Mann sind, als den Sie sich ausgeben. Und ich nehme nicht an, daß Sie an Ihrem Feuer jemanden dulden, der nicht so ehrlich ist wie Sie.“ „Du kannst ruhig erzählen, Junge.“ Paul Hover legte noch einmal Holz nach, die Glut knisterte, Flammen zuckten hoch und warfen ihren Schein über die Gesichter der drei Männer. Da begann Middleton mit seiner Geschichte. Er war vor kurzem im Auftrag der Washingtoner Regierung nach Louisiana gekommen, um in dieser neuerworbenen Provinz beim Aufbau der Verwaltung zu helfen. Er hatte beigetragen, durch umsichtige und zurückhaltende Maßnahmen das Vertrauen der Bevölkerung in die neue Obrigkeit zu gewinnen. Middletons Posten lag in der Nähe einer großen Plantage, die einem Mann spanischer Abkunft namens Don Augustin de Certavallos gehörte. Lange Jahre hatte Certavallos in den spanischen Kolonien ein bequemes Leben geführt, war schließlich von Florida ins französische Louisiana gezogen und hatte dort fruchtbare und kultivierte Landstriche erworben. Durch seine Stellung in der Öffentlichkeit fand er bald Kontakt zu den neuen Herren, er lud Offiziere in sein Haus, und so lernte Middleton dessen Tochter Inez kennen, ein blutjunges, 585
schönes und leidenschaftliches Mädchen. Beide verliebten sich Hals über Kopf ineinander, und noch ehe Louisiana sechs Monate im Besitz der Vereinigten Staaten war, ‘hatte sich Middleton bereits mit einer der reichsten Erbinnen am unteren Mississippi verlobt. Die Heirat wurde kurz darauf im Familienkreis vollzogen; den Nachmittag dieses Tages verbrachten Middleton und seine Frau im Garten. Schon schlug Middleton vor, sich zurückzuziehen, als Inez ihn bat, vorher noch ihrer Amme einen Besuch abstatten zu dürfen; nach einer Stunde wollte sie zurück sein. Als diese Zeitspanne überschritten war, machte sich Middleton auf, seine Frau abzuholen, er erfuhr von der Amme, daß Inez bei ihr gewesen war und sich verabschiedet hatte. „Ich lief“, berichtete Middleton seinen beiden schweigsamen Zuhörern, „immer wieder auf dem Weg zwischen dem Haus der Amme und dem meines Schwiegervaters hin und her, dann alarmierte ich die Diener, am nächsten Morgen meine Truppe und das halbe Dorf. Wir suchten im Wald und im Wasser, in den Pflanzungen und im Schilf, wir fragten jeden im weiten Umkreis und gingen dem kleinsten Hinweis nach, aber alles Suchen blieb vergeblich. Schließlich glaubten nur noch wenige, Inez könnte am Leben sein. Ich kehrte zu meinem Dienst zurück, der für mich jeden Reiz verloren hatte, nur selten besuchte ich meinen Schwiegervater. Ich war Ehemann und war es doch lediglich für Stunden gewesen.“ Middleton ließ eine Pause folgen, aus einem Gehölz herüber schrie ein Käuzchen. Hover fragte: „Und weiter?“ „Wie weiter? In den Monaten nach dem Verschwinden meiner Frau geschah nichts, was mein Leben erhellt hätte. Da sprach mich eines Abends ein verwahrlostes Individuum an. Ich hielt diesen Landstreicher für einen 586
gewöhnlichen Bettler und wollte ihn mir mit ein paar Münzen vom Hals schaffen, aber er behauptete, er hätte eine wichtige Nachricht für mich und würde mir sein Geheimnis für zwanzig Dollar verkaufen. Der Kerl machte einen so miserablen Eindruck, daß ich lange zögerte, aber die Hoffnung, etwas über den Verbleib meiner Frau zu erfahren, siegte schließlich. Ich gab ihm die gewünschte Summe, er kaufte sich sofort eine Flasche Branntwein, und während er sie austrank, erzählte er mir, er wäre Sklavenhändler gewesen, hätte sich aber aus diesem scheußlichen Gewerbe zurückgezogen und versuchte nun sein Glück mit dem Verkauf von Tabak. Aus seinen alten Geschäftsbeziehungen wäre zu ihm durchgesickert, ein Sklavenhändler namens Abiram White hätte meine Frau überwältigt und verschleppt. Der Landstreicher gab an, der Schwager dieses White, ein gewisser Bush, hätte bei dem Raub geholfen.“ Natty und Hover wagten kaum zu atmen. „Der Wagen, das Zelt“, murmelte Natty. „Das also ist es!“ „Der Kerl betrank sich immer mehr“, berichtete Middleton weiter, „schließlich lallte er nur noch. Ich schwankte, ob ich ihm glauben sollte. Als die Flasche geleert war, kippte er vom Stuhl und war nicht mehr wachzurütteln. In dieser Nacht schlief ich keine Minute. Als ich am nächsten Morgen wieder nach dem Strolch sah, war er gestorben, vorher hatte er mit ungelenker Hand auf einen Bogen gekritzelt: .Hauptmann, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit, oder ich bin kein Gentle...’. Wir haben ihn begraben, dann bin ich losgezogen, um Männer zu suchen, die White und Bush heißen. Ich erfuhr, eine Familie mit dem Namen Bush wäre an meinem Hochzeitstag durch unsern Ort gekommen, und folgte ihrer Spur den Mississippi aufwärts. Nach hundert Meilen 587
hatte Bush ein Boot gemietet und war bis zur Mündung des Missouri gefahren. Von dort aus hatte er wie viele Siedler den Weg nach Westen in die Prärie eingeschlagen. Ein paar meiner Artilleristen begleiteten mich. Noch einige Male hörte ich von Bush, dann verlor ich die Spur und schickte meine Leute nach verschiedenen Richtungen aus. So kommt es, daß Sie mich allein antreffen. Jetzt suche ich seit Tagen kreuz und quer.“ Hover blickte Natty an und sagte: „Ich glaube, dieser Soldat sitzt am richtigen Feuer.“ Middleton rief: „Soll das heißen...“ „Das heißt“, antwortete Hover, „daß wir wissen, wo White und Bush stecken.“ „Dann wollen wir sofort...“ „Nichts geschieht sofort“, unterbrach Natty. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist Ihre Frau in einem Karren hierher transportiert worden. White und Bush haben ihre kostbare Beute sorgsam behandelt, damit sie nicht an Wert verliert. Jetzt schlafen wir, morgen früh werden wir sehen, wie diesen Räubern beizukommen ist. Wir haben drei Gewehre, Bush, seine Söhne und sein Schwager aber zwölf. Früher nahm ich es mit zehn Mingos allein auf, aber heute kann ich mich nicht immer auf mein Auge verlassen.“ Middleton rief: „Aber Sie helfen mir trotzdem?“ „Natürlich, mein Junge. Doch auch ein alter Mann braucht seinen Schlaf.“ Natty legte sich auf die Seite und zog die Knie an, Hektor schmiegte sich an seinen Rücken, so wärmten sie sich gegenseitig wie in vielen Prärienächten. Middleton flüsterte Hover zu: „Wie weit ist es bis zum Lager dieser Banditen?“ Hover streute Sand aufs Feuer, er sagte: „Laß das nur alles Nattys Sorge sein, Hauptmann.“ 588
2 Es wurde Abend an diesem Tag, die Sonne versank in gelblichem Dunst. Esther Bush rief ihre kleineren Kinder zusammen und gab jedem einige Löffel Brei. Ärgerlich schaute sie nach den Männern aus, die auf Jagd gegangen waren, und machte Ellen gegenüber ihrem Zorn Luft, daß nicht längst versucht worden war, einen Vorrat an Büffelfleisch anzulegen; jetzt war es noch warm genug, in Streifen geschnittenes Fleisch an der Luft zu trocknen. Es war fast dunkel, als einer der Männer nach dem anderen zurückkehrte. Ismael Bush und sein Schwager hatten jeder einen Rehbock geschossen, die Söhne brachten Hasen, Fasanen und anderes Niederwild, nur Asa, der Älteste, fehlte noch. Bush berichtete, er hätte nicht eine einzige Mokassinspur gefunden, die Prärie schien in weitem Umkreis frei von Indianern zu sein. Abiram White entgegnete, er hätte berittene Sioux in der Ferne gesehen; sicherlich könnte Asa seine Worte bestätigen, denn er sei zu dieser Zeit in der Nähe gewesen. Ein Rehbock wurde zerlegt, zwei Stunden danach hockte die Familie um den dampfenden Kessel zu einer späten Mahlzeit; auch jetzt war Asa noch nicht zurückgekehrt. Die Mutter sagte: „Es ist schwer zu verstehen, daß Asa noch immer annimmt, er könnte ein Stück Wild schießen. Wenn alles aufgegessen ist, wird er kommen und so hungrig sein wie ein Bär nach dem Winterschlaf. Für gewöhnlich ist sein Magen die beste Uhr.“ White murmelte: „Hoffentlich ist er nicht den Sioux in die Hände gefallen.“ „Red nicht solchen Unsinn!“ Bush zeigte auf Ellen, als er fortfuhr: „Das Mädchen ist eben ganz blaß geworden. Asa schießt wie der Teufel und ist so stark, daß er es mit einem Dutzend Rothäuten aufnimmt. Mutter hat recht: Er wird 589
auftauchen, wenn wir unseren Rehbock vertilgt haben. Er soll sich nicht einbilden, daß wir ihm auch nur eine Faser übriglassen.“ Aber Asa zeigte sich nicht während der Mahlzeit und nicht, als Bush die Wachen einteilte. Esther schlief schlecht in dieser Nacht, sie meinte, die Rufe ihres Sohnes zu hören, sie sah ihn im Traum, als er noch ein Kind gewesen war, einige Male stand sie auf und trat vor das Zelt, aber jedesmal sagte ihr der Posten, Asa wäre noch nicht gekommen. Sie versuchte sich damit zu trösten, daß Asa sich verirrt hätte, in der Steppe kampierte und am Morgen wohlbehalten wieder dasein würde, aber unaufhaltsam wuchs ihre Unruhe. Beim Frühstück verkündete Bush mürrisch: „Das soll mir Asa büßen! Und daß ihr alle Bescheid wißt: Wenn sich noch einmal jemand die Nacht über draußen herumtreibt, brumme ich ihm zehn Straf wachen auf.“ Abner, der Zweitälteste, sagte: „Vater, alles Schimpfen hat keinen Zweck, wir müssen Asa suchen.“ White widersprach: „Unsinn! Der Junge hat einen Rehbock oder gar einen Büffel geschossen und ist neben dem Tier eingeschlafen. Ihr werdet sehen: Noch vor Mittag taucht er auf und bittet uns, ihm die Beute tragen zu helfen.“ Esther Bush herrschte ihren Bruder an: „Was redest du nur! Asa ist Manns genug, einen Rehbock auf die Schultern zu heben oder einen Büffel zu zerlegen und die besten Stücke ins Lager zu bringen. Außerdem: Hast du nicht gestern behauptet, du hättest Indianer gesehen?“ „Keinen Streit!“ rief Bush. „Wartet ab, bis ich entscheide!“ Bush war in tiefer Sorge. Er kannte seinen Ältesten als besonnenen Jäger und hielt es für undenkbar, daß Asa aus 590
Leichtfertigkeit die Nacht über vom Lager fernblieb. Er überlegte, ob er mit allen Männern suchen sollte und die Bewachung des Lagers den Frauen und Kindern anvertrauen durfte; nachdenklich blickte er zu dem Zelt auf dem Gipfel hinauf. Schließlich hielt er es für das beste, das Gelände dort zu durchstreifen, wo White sich von Asa getrennt hatte. Nachdem Esther darauf bestanden hatte, sich an der Suche zu beteiligen, stieg Bush noch einmal zu der Plattform hinauf, auf der die Hütten standen, und rief Ellen zu sich. Er schärfte ihr ein, auf die Kinder und die Frau im Zelt achtzugeben. Im Falle einer Gefahr sollte sie ein Rauchsignal geben, dann würde er sofort umkehren und ihr zu Hilfe eilen. Acht Männer und eine Frau zogen in die Prärie hinaus. Bush hielt sich auf der Spur vom Vortag und fand die Stelle wieder, an der er White und seine Söhne in verschiedene Richtungen geschickt hatte; White zeigte von einem Hügel aus, wohin Asa gegangen war und wo er die Sioux gesehen haben wollte. Der Felsen war nur noch als schwacher Punkt sichtbar, deshalb wäre Ismael Bush gern umgekehrt. Er stieß den Kolben seines Gewehrs auf den Boden und fragte seinen Schwager: „Fährten von Wild gibt es genug, Abiram, aber wo sind die Spuren der Indianer?“ „Weiter im Westen“, antwortete White. „Hier schoß ich den Bock, die Indianer sah ich später.“ „Du bist ein großartiger Jäger“, spottete Bush und zeigte auf Whites Kittel. „Ein Blutfleck neben dem anderen! Sieh meinen Rock an. Ich habe nicht weniger geschossen und ausgeweidet als du, aber mich nicht beschmutzt, und du schaust wie ein Fleischer aus. Ich finde, daß wir lange genug gesucht haben. Wir sollten noch ein Stück Wild schießen und zurückkehren, ich bin sicher, Asa ist schon 591
im Lager.“ „Ich gebe nicht auf!“ rief seine Frau. Sie raffte ihren Rock und eilte weiter. Einer ihrer Söhne nach dem anderen schloß sich der Mutter an, schließlich zuckte Bush die Schultern und stapfte hinterher. White ging als letzter. Eine halbe Stunde später brach ein Rehbock aus einer Senke heraus und fegte in langen Sprüngen durch das Gras. Ein Hund folgte seiner Fährte, er war nur halb so schnell wie der Bock, auf einem Hügel gab er die Jagd auf, trottete zur Seite, blieb stehen und begann laut zu bellen. Er drehte sich aufgeregt im Kreis und stieß ein winselndes Geheul aus. White rief: „Schießt den Köter tot! Er gehört unserem hinterhältigsten Feind, dem Trapper, der uns die Sioux auf den Hals gehetzt hat!“ Er schob schon die Büchse vor, aber Bush drückte sie herunter. Esther Bush ging schneller, wobei sie sagte: „Daß der Hund so erschrocken ist, hat etwas zu bedeuten.“ Als sie die Stelle erreichte, an der sich der Hund so sonderbar aufgeführt hatte, sah sie, daß Gras und Erde zertrampelt waren. „Blut!“ schrie sie. Die böse Ahnung, von der sie seit der Nacht gequält worden war, machte sich in fieberhaften Bewegungen und Worten Luft, sie schrie die Männer an: „Ihr seid Jäger, nun sagt mir, welches Tier sich hier gewälzt hat! Ist das Büffel- oder Pantherblut?“ „Es war ein Büffel“, antwortete Bush. „Er hat den Boden mit seinen Hufen zertrampelt, und dort sind Spuren seiner Hörner.“ „Aber wer hat ihn erlegt? Menschen? Und wo ist der Abfall? Wölfe? Kein Wolf frißt das Fell!“ Abner war vorausgegangen, er kehrte um und sagte: „Das Tier ist hier nur verwundet worden, es hat sich dort entlanggeschleppt und in diesem Wäldchen verkrochen. 592
Seht ihr die Aasvögel darüber?“ „Das Tier lebt noch“, erwiderte Bush. „Wenn es tot wäre, hätten sich die Krähen schon draufgestürzt. Auch der Hund streicht vorsichtig näher. Vielleicht steckt ein Bär in den Büschen, sie sollen ein erstaunlich zähes Leben haben.“ „Ein Bär, das wird stimmen“, sagte White. „Wir sollten umkehren, gerade verwundete Bären sind gefährlich. Warum riskieren wir etwas, von dem wir nichts haben?“ Esther Bush kümmerte sich nicht um das Gerede der Männer, sie ging furchtlos auf das Gehölz zu. Der Hund stand mit gesträubten Nackenhaaren; es schien, als hielte ihn etwas Außerordentliches zurück, in das Wäldchen einzubrechen. Esther rief ihren Söhnen zu, den Hund hineinzuhetzen, aber Hektor wich in ungeschickten Sprüngen aus; er zitterte am ganzen Körper und schien unfähig zu sein, vorwärts oder rückwärts zu gehen. Esther krampfte die Hände in den Rock, sie blickte ihre Söhne an, da drangen zwei mit schußbereiten Gewehren Schritt für Schritt in das Dickicht ein. Hinter ihnen heulte der Hund, Krähen und Geier kreischten über ihnen, als wären alle Geister der Luft hier versammelt. Da fanden die beiden jungen Männer die Leiche ihres Bruders. Ein gurgelnder Schrei drang aus dem Gehölz, der allen das Mark in den Knochen gefrieren ließ, ihm folgte eine noch grauenvollere Stille. Esther wollte rufen, fragen, aber ihre Stimme versagte. Die Zweige teilten sich, die beiden Bush-Söhne traten heraus, ihre Gesichter waren leichenblaß. Sie trugen Asas steifen, blutbesudelten Körper und legten ihn vor ihrer Mutter nieder. Hektor lief heulend davon, die Krähen und Geier, die um ihre Beute betrogen worden waren, stoben auseinander. Esther flüsterte: „Tretet alle zurück. Ich bin seine Mutter, ich 593
habe die größten Rechte an ihn.“ Sie blickte auf das im Todeskampf erstarrte Gesicht, ihre Hände zuckten, sie stöhnte, als sei sie selbst zu Tode getroffen. Da schrie sie: „Wer hat das getan? Ismael, Abiram, Abner, wer hat meinen Jungen umgebracht?“ Sie kniete nieder, nahm den Kopf ihres Ältesten auf den Schoß und drückte ihm die Augen zu. Ismael Bush stand stumm daneben, lange blickte er mit trockenen Augen auf seinen toten Sohn, ehe er unbeholfene Worte stammelte, die trösten sollten. Als erster faßte Abner einen klaren Gedanken, er sagte: „Mutter, wir werden herausfinden, wer unseren Bruder umgebracht hat.“ Esther stöhnte: „Sucht ihn! Ich will, daß der Mörder stirbt.“ Ismael Bush erwachte langsam aus seiner Erstarrung, er murmelte: „Das werden die Sioux gewesen sein. Erst haben sie unser Vieh geraubt, jetzt haben sie Asa ermordet. Wir werden uns rächen!“ Keiner von Bushs Söhnen war sonderlich denkgewandt, aber alle waren von Kindheit an erfahrene Jäger. Einer nach dem anderen trat von der Leiche zurück und versuchte, sich aus den Spuren ein Bild zu machen, wie sich der Überfall auf Asa, dessen Gegenwehr und Ermordung abgespielt haben konnten. Asa war mehr sitzend als liegend mit dem Rücken an einem dichten Busch gefunden worden, mit seiner fest geschlossenen Faust hatte er Erlenblätter umkrampft. Bis dorthin waren Zweige geknickt und das Gras niedergetreten. Asa war also draußen auf der freien Steppe getroffen worden, man konnte es an den Spuren und den Blutflecken sehen; von dort hatte sich der Schwerverletzte ins Gebüsch geschleppt. Eine Flintenkugel hatte Asa in die Schulter getroffen, sie war an der Brust wieder herausgetreten. 594
Esther kniete noch immer neben ihm, sie tastete die Wunde ab und fand die Kugel, die sich in der Lederkleidung verfangen hatte. Bush beschaute sie sorgfältig, ehe er feststellte: „Es besteht kein Zweifel, sie stammt aus der Gießform des Trappers. Sechs kleine Vertiefungen bilden ein Kreuz.“ White rief: „Ich besinne mich genau, daß er mir Kugeln mit diesem Zeichen gezeigt hat.“ Lange wurde das Für und Wider abgewogen: Sollte der gebrechliche Mann allein den starken Asa überwältigt haben? Hatte er sich mit Indianern verbündet? Immerhin ließen die vielen Wunden auf erbitterten Kampf und auf Asas zähen Widerstand schließen. Warum hatte der Mörder nicht ein zweites Mal geschossen? Hatte er befürchtet, durch den Knall die übrigen Männer der Familie Bush, die in der Nähe jagten, herbeizulocken? Asas Waffe fehlte, vermutlich hatte sie der Mörder geraubt. „Asa hat sich bis zuletzt gewehrt“, schloß Bush die Erörterung. „Wir wollen ihn begraben und den Mörder suchen.“ Dort, wo Asa gekämpft hatte, gruben seine Brüder die Erde auf. Geier umkreisten sie, als wollten sie ihnen bis zuletzt die Beute streitig machen. Esther saß wie ohnmächtig neben ihrem toten Sohn; als die Grube ausgehoben war, führte ihr Mann sie an den Rand, versteinert sah sie zu, wie der Leichnam versenkt wurde. Über ihm traten die Brüder die Erde fest, damit kein wildes Tier den Toten auswühlen konnte. „Esther“, sagte Bush, „wir haben alles getan, was ein Mann und eine Frau tun können. Wir haben Asa großgezogen und zu einem Mann gemacht, wie es an der Grenze nur wenige gab. Jetzt haben wir.ihn begraben. Laß uns gehen.“ Esther löste den Blick von dem Hügel, unter dem ihr 595
Sohn lag, hob die Hände auf die Schultern ihres Mannes und sagte: „Wir wollen zum Lager gehen, dort werde ich in der Bibel lesen.“ Von der nächsten Bodenwelle schauten sie zurück, da schwebten die Geier noch immer über dem Grab.
3 Einige Stunden lang hatte Ellen Wade alle Hände voll zu tun, die Wünsche der Kinder zu erfüllen; bald hatten sie Hunger, bald Durst, bald stritten und balgten sie sich. Die beiden ältesten Mädchen wachten, mit kindlichem Eifer fühlten sie sich in der Rolle von Erwachsenen und ließen keinen Blick von der Prärie. Gegen Mittag rief die zwölfjährige Phoebe, drei Männer wären weit draußen aufgetaucht und näherten sich dem Felsen. Die kleineren Kinder klammerten sich erschrocken aneinander. Ellen suchte angstvoll die Steppe im Umkreis ab. Bush und seine Söhne waren nirgends zu sehen, und wirklich kamen drei Männer heran. Jetzt hatte es keinen Zweck mehr, Rauchzeichen zu geben, nun mußte Ellen versuchen, das Lager auf eigene Faust zu verteidigen. So stellte sie sich neben den Kindern hinter die Verschanzung, die den Zugang blockierte; von hier aus konnten Steine hinabgerollt werden, zwei geladene Musketen lagen auf dem Wall, Felsbrocken waren mit Stricken verankert und brauchten nur gelöst zu werden, um einen Angreifer zu zermalmen. Ellen erinnerte sich vieler Geschichten, wonach Frauen entlang der Grenze sich und ihre Kinder mit dem Mut von Löwinnen gegen Indianer verteidigt hatten, auch Esther Bush hatte einmal einen Angriff auf die Farm ihres Mannes abgewehrt. Ellen hoffte inbrünstig, es diesen Frauen gleichzutun. Sie atmete erleichtert auf, als sie in einem der drei Männer Paul Hover erkannte. Der Mann daneben war der 596
alte Trapper, der sie klug und beherzt aus der Gefangenschaft der Sioux befreit hatte, der dritte schien ein Offizier der amerikanischen Armee zu sein. Paul winkte mit einem Tuch und rief, er möchte mit Ismael Bush sprechen, Ellen antwortete, niemand außer ihr und den Kindern wäre im Lager. Sie sah, wie sich die drei Männer berieten, dann kletterte Hover bis zum Fuß der Verschanzung hinauf und rief: „Ellen, es ist ein fürchterliches Verbrechen geschehen! Ich weiß jetzt, wer im Zelt da oben gefangengehalten wird. Wir sind gekommen, diese Frau zu befreien.“ Ellen erschrak. Sie hatte Bush geschworen, niemandem etwas über die geheimnisvolle Frau zu erzählen, sie hatte an diesem Morgen noch versprochen, das Lager zu hüten. „Paul“, bat sie, „so geduldet euch doch, bis Bush zurück ist!“ „Wir werden keine Minute warten!“ rief der Offizier. Phoebe stieß einen Stein hinab, Hover sprang zur Seite und schrie: „Seid ihr des Teufels? Die Gefangene ist die Frau dieses Hauptmanns, sie ist verschleppt worden.“ „Zurück!“ schrie Phoebe. Ihre Wangen waren gerötet, sie schob eine Muskete vor. Hover ging in Deckung und rief: „Ellen, ich hätte nie geglaubt, daß du mir einmal als Feindin gegenüberstehen könntest. Wir sind hier, ein gräßliches Unrecht gutzumachen.“ „Und ich habe versprochen, niemanden ins Lager zu lassen.“ „Das gilt nicht, Ellen!“ Jetzt trat Middleton näher und rief: „Miß Wade, in dem Zelt da oben wird meine Frau gefangengehalten. Lassen Sie mich allein und ohne Waffen zu ihr hinaufgehen. Ich werde nichts, was Bush gehört, auch nur anrühren.“ „Aber ich habe versprochen ...“ 597
Phoebe stieß einen zweiten Stein hinunter. Da merkten Hover und Middleton, daß sie mit Vernunftsgründen nichts erreichten, und kletterten am Steilhang seitlich der Verschanzung hinauf. Phoebe schnitt ein Tau durch, ein zentnerschwerer Stein rollte hinunter, riß andere Steine mit, und Middleton konnte sein Leben nur retten, indem er sich in eine Spalte zwängte. Über ihn hinweg schoß die Lawine zu Tal. Dort stand Natty Bumppo, er sah Bushs Töchter wie Kobolde hin und her springen, Steine schleudern und Felsbrocken aus ihrer Verankerung lösen. Ellen hatte die Herrschaft über die Kinder verloren, Natty sah, wie sie entsetzt die Hände hob, als Phoebe eine Muskete auf das Zelt richtete und abdrückte. Ellen rannte hinauf, Natty rief Middleton zu, sich weiter rechts zu halten, wo er durch einen Überhang gedeckt war und den Kindern in die Flanke kommen konnte. Dort arbeitete sich auch Hover vor, fand Halt an einer Wurzel, über seinen Rücken kletterte Middleton hinauf, sah das erschrockene Gesicht eines Jungen vor sich, Steine trafen ihn an der Hand und an der Schulter, aber trotzdem konnte er sich hinaufziehen und befand sich nun in gleicher Höhe mit der Verschanzung. Die Kinder stoben kreischend auseinander, Phoebe bemühte sich vergeblich, die zweite Muskete gegen Middleton zu drehen, mit wenigen Schritten war er bei ihr und schleuderte die Waffe mit einem Fußtritt hinunter. Phoebe zitterte am ganzen Leib, sie hielt die Hände vors Gesicht, als fürchtete sie, verprügelt zu werden. An ihr vorbei rannte Middleton, sah das Zelt hundert Schritt über sich, sah, wie die Leinwand zurückgeschlagen wurde, die Silhouette einer Frau hob sich gegen den Himmel ab, er wollte rufen, aber kein Ton bildete sich. Da blieb er stehen, als fürchte er die grausame Enttäuschung, diese Frau wäre nicht Inez. Schritt für 598
Schritt taumelte er weiter hinauf, einmal stürzte er und prellte sich die Hand, er sah das Zelt und die Frau und eine andere Frau, da schrie er doch: „Inez!“ Die Frau rannte ihm entgegen, ein Band löste sich von ihrem Haar, ihr Rock wehte, am Rand des Abhangs trafen sie sich und packten sich an den Schultern und faßten sich an den Händen, stöhnten und lachten und preßten ihre Wangen aneinander. Sie merkten nicht, daß Ellen und Hover erschüttert auf sie niederblickten und Tränen über Ellens Wangen liefen. Hover hustete sich die Kehle frei und sagte: „Wir haben keine Zeit zu verlieren, Bush wird bald hier sein.“ Middleton fragte: „Inez, wie haben dich diese Räuber behandelt?“ „Mir hat es an nichts gefehlt außer an der Freiheit.“ „Abiram White hat dich verschleppt?“ „Ja, so heißt er, er ist zehnmal schlimmer als der Mann, der diese Sippe anführt. Manchmal haben sie sich in meiner Gegenwart schrecklich gestritten.“ „Du hast diese furchtbare Zeit gesund überstanden?“ „Meist habe ich mehr zu essen gehabt als die armen Kinder, die bei diesen Verbrechern aufwachsen müssen. White und Bush wollen aus meinem Vater schweres Lösegeld herauspressen, wahrscheinlich haben sie auch gehofft, daß du...“ „Sie hätten mir das Blut tropfenweise abzapfen können!“ Hover faßte Middleton an der Schulter, dringender als vorher mahnte er zum Aufbruch. Middletons Wiedersehensfreude war so überwältigend, daß es eine Weile dauerte, bis er klar und nüchtern denken konnte, was nun zu tun war. Natürlich hatte er Inez erst dann wirklich gerettet, wenn zwischen ihnen und diesen Felsen 599
hundert Meilen lagen. Er zog seine Frau zum Zelt, rasch suchten sie die wenigen Dinge zusammen, die Inez auf der Flucht brauchen würde. An den teils wütend, teils verdutzt blickenden Kindern vorbei rannten sie den Berg hinab. Dort stand Natty Bumppo, er sagte: „Ich bin froh, daß ich meine eingerosteten Knochen nicht in Bewegung setzen mußte, um die Lady herunterzuholen. Himmel, war das ein Anblick, als Middleton über Hovers Rücken hinaufkletterte! Junger Mann, du trägst den Vornamen Unkas zu Recht. Als ich so zusah, fiel mir ein, wie Sir William den deutschen General Dieskau am Horican...“ „Vielleicht erzählen Sie uns das ein andermal“, unterbrach Middleton. „Jetzt müssen wir schleunigst fort. Wissen Sie ein Versteck?“ „Daran ist diese Gegend nicht gerade reich. Immerhin kenne ich einige Senken, in denen uns Bush nicht so leicht aufstöbern wird.“ Hover faßte Ellen an der Hand, aber sie sträubte sich mitzugehen. „Paul“, sagte sie, „ich kann und darf die Kinder nicht verlassen. Ich bin eine Waise, Bush hat mich aufgenommen und immer gut behandelt, ich darf nicht so undankbar sein, daß ich...“ „Wie?“ rief Hover. „Was redest du von Undank? Er hat dich als Magd arbeiten lassen, ohne dir jemals Lohn zu zahlen. Du hast den Kindern das Lesen beigebracht, und was hat er dir dafür gegeben außer ein paar Löffel Brei und ein bißchen Fleisch?“ „Und trotzdem! Die Kinder hängen an mir.“ „Wann denkst du endlich einmal an dich selbst?“ Hektor hob den Kopf und sog prüfend die Luft ein. Natty meinte, das deute darauf hin, daß Bush und seine Söhne zurückkehrten, nun wäre höchste Zeit zum Aufbruch. Er schulterte seine Büchse und folgte dem Bach. Middleton 600
nahm seine Frau an der Hand und ging ihm nach. Noch immer redete Hover auf Ellen ein, wieder beharrte sie darauf, sie dürfe sich Bush gegenüber nicht als undankbar erweisen. Als Natty kaum noch zu sehen war, fragte sie: „Paul, warum fliehst du nicht?“ „Ich bin’s nicht gewöhnt.“ „Bush wird gleich hier sein. Du hast kein Erbarmen zu erwarten.“ „Von dir, wie ich sehe, auch nicht. Soll er nur kommen. Mir kann nichts weiter passieren, als daß er mir den Schädel einschlägt.“ „Paul, wenn du mich liebst, so fliehe!“ „Allein? Eher würde ich...“ „Paul!“ Ellen streckte beide Hände nach ihm aus, da legte er den Arm um ihre Hüfte und riß sie mit. Vor einer Biegung des Baches wandte sich Natty um und sah, daß ihm Paul und Ellen folgten. In einem scharfen Knick führte er seine Begleiter aus dem Bachgrund heraus, kroch auf einen Sandhügel vor und beobachtete, wie Bush, dessen Frau, sechs der Söhne und Abiram White eine halbe Meile von ihm entfernt auf den Felsen zu gingen. Da schlug er noch einen Bogen, bis er ihre Spuren erreichte, folgte ihnen, bog in ein Moor ab und durchquerte es auf einem Pfad, den er Wochen vorher in stundenlanger Mühe erkundet hatte. Danach war er halbwegs sicher, die Verfolger fürs erste abgeschüttelt zu haben. In einer Senke gab er das Zeichen zur Rast. Jetzt hatte er Zeit, Inez zu betrachten. Sie erinnerte ihn an ein Mädchen, das vor unendlich langen Jahren seinen Weg gekreuzt hatte. Unkas hatte in dieser Geschichte eine Rolle gespielt, und für einen Augenblick glaubte Natty, dieses Mädchen, Kora Munro, wäre die Großmutter des jungen Soldaten gewesen, der eben die Füße seiner Frau 601
massierte. Natty war keineswegs zuversichtlich, ein sicheres Versteck zu finden, hier gab es keine undurchdringlichen Dickichte und schon gar keine Höhlen, das Land war flach und meilenweit zu überschauen. Aber wenn jemand diese vier Menschen retten konnte, dann war er es. Als sich Inez einigermaßen erholt hatte, drängte Natty zum Aufbruch. Nach zwei Stunden drückte Hektor den Kopf an den Boden, sein Fell sträubte sich. Natty traute seinen Augen nicht mehr viel zu, deshalb fragte er Paul Hover, ob etwas Auffälliges zu sehen wäre. Der Honigsammler sagte: „Mir scheint, dort unter diesem Baumwollstrauch liegt eine Schlange. Eben glaubte ich, die Augen funkeln zu sehen.“ Natty spannte den Hahn, hob das Gewehr und rief: „Freund oder Feind! Steh auf, oder ich schieße!“ In diesem Augenblick sprang ein Indianer unter dem Strauch hervor, schüttelte das trockene Laub ab, mit dem er sich getarnt hatte, blieb starr stehen und rief: „Hugh!“ Natty ließ die Büchse sinken und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um, ob dieser Indianer wirklich allein war, dabei lachte er zufrieden, daß seine List gelungen war. Um seine friedliche Absicht deutlich zu machen, drehte er die Handfläche nach außen. Der Indianer war jung und gut gewachsen, das Haar war wie üblich bis auf die Skalplocke in der Mitte abrasiert. Trotz der kühlen Witterung war sein Oberkörper nackt, er trug Hosen aus Wildleder, die er mit roten Gamaschen europäischer Herkunft umwickelt hatte. Die übliche Kriegsbemalung fehlte, nur ein breiter, schwarzer Strich war über den Körper gezogen. Von der Schulter des jungen Indianers hing eine sorgsam bearbeitete Hirschhaut. Mit einer Hand stützte er sich auf einen Bogen aus Walnußbaumholz, die 602
andere hielt einen langen Eschenspeer. Als Natty dicht vor dem Indianer stand, fragte er: „Ist mein Bruder weit von seinen Hütten entfernt?“ „Bis zu den Städten der Bleichgesichter ist es noch weiter“, antwortete der Indianer im Dialekt der Pawnees. „Warum geht ein Pawnee so weit von seinem heimatlichen Fluß fort?“ „Weiber und Kinder hungern in meinem Wigwam.“ Natty musterte die kräftigen Glieder des Indianers und fuhr fort: „Mein Bruder ist noch zu jung, als daß er Familienvater sein könnte. Aber mancher Häuptling wünscht sicherlich, daß er seine Tochter zu sich nimmt. Doch was dachte sich mein Freund, als er mit diesem leichten Bogen und den schwachen Pfeilen loszog? Damit kann er einem Büffel nur die Haut ritzen.“ „Aber er kann einen Sioux töten.“ „Mein Bruder sieht, daß meine Freunde müde sind. Wir möchten uns ausruhen und satt essen. Gehört dieser Boden den Pawnees?“ Bisher hatte der Indianer gleichmütig geantwortet, jetzt bekam seine Stimme einen gereizten Klang. „Unsere Kundschafter berichten, die weißen Väter jenseits des Stromes hätten dieses Land gekauft, und ihre Soldaten streifen aus, um zu sehen, ob der Handel gut war. Doch warum fragte man nicht auch die Häuptlinge der Pawnees? Wird ein Volk gekauft und verkauft wie ein Biberfell?“ Natty seufzte. „Ich denke nicht anders. Aber Gewalt geht vor Recht, und Gewalt wird sogar zum Recht. Wenn ich zu entscheiden hätte, gehörte die Prärie euch. Wer jedoch fragt schon einen alten Mann?“ Der Pawnee legte die Hand auf die Brust und neigte den Kopf zum Zeichen der Ehrfurcht vor dem weißen Haar des Trappers. Natty hoffte, nun endlich zu erfahren, warum 603
der Pawnee diese Gegend durchstreifte, es entspann sich eine längere Unterhaltung, in der Natty nach den Wintervorräten der Pawnees, nach ihren Beziehungen zu den angrenzenden Stämmen, nach Jagderfolgen und Stammesbräuchen fragte, der Pawnee erkundigte sich nach dem Pelzhandel und dem Wert der Fellarten, aus keiner Antwort oder Frage aber konnte Natty das herauslesen, was er wissen wollte. Unterdessen strichen Hover und Middleton durch das angrenzende Gehölz, um ein Versteck zu suchen, die Frauen hatten sich ins Gras gesetzt. Manchmal glitt der Blick des Pawnees über das Gesicht von Inez; es schien Natty, als wäre der Pawnee von der Schönheit der jungen Spanierin geblendet wie von einer göttlichen Erscheinung. Natty sagte: „Jäger und Trapper erwähnen oft einen großen Krieger aus deinem Stamm. Sie nennen ihn Stahlherz. Kennst du ihn?“ Mit unverhohlenem Argwohn fragte der Indianer zurück: „Hat das Bleichgesicht den Häuptling meines Stammes gesehen?“ Ein Schnauben ließ Natty den Kopf wenden, Hover zog gerade ein Pferd aus dem Dickicht. „Ein großartiges Reitpferd!“ rief Hover, „in ganz Kentucky findet ihr keine zehn bessere.“ Natty musterte die Mähne, in die kleine Silberkugeln eingeflochten waren, das seidig glatte Fell, den eleganten Sattel. Er sagte: „Das Pferd eines Häuptlings, keine Frage! Vielleicht haben wir den Sohn von Stahlherz vor uns?“ Der Indianer ging auf Hover zu, nahm ihm die Zügel aus der Hand und schwang sich mit der Geschicklichkeit eines Kunstreiters in den Sattel. Das Pferd bäumte sich auf, aber mit einem Schenkeldruck zwang es der Pawnee zur Ruhe. Er trabte im Bogen um Natty herum, hielt an und sagte: „Es ist weit von hier bis zum Dorf der Pawnees, und der 604
Weg ist krumm. Will der Fallensteller dahin?“ „Er möchte seine Töchter zu den Frauen der Pawnees bringen. Wird man ihnen die Zelte öffnen?“ „Noch nie hat mein Volk vergessen, dem Fremden Speise zu reichen. Aber warum wollt ihr so weit nach Sonnenuntergang reisen? Euer Land liegt, wo die Sonne aufgeht.“ Das Pferd tänzelte, der Pawnee warf noch einen Blick auf Inez, schien sich nicht schlüssig zu sein, ob er bleiben oder fortreiten, ob er das Gespräch weiterführen oder abbrechen sollte. Schließlich riß er sein Pferd auf der Hinterhand herum und sprengte davon. Natty hockte sich neben Inez und Ellen. Das Zusammentreffen mit dem Pawnee hatte keinen Ausweg gebracht, das Wäldchen, in dem Hover das Pferd gefunden hatte, war kein sonderlich gutes Versteck, und Inez war zu erschöpft, als daß sie noch weit hätte gehen können. Sicherlich waren ihnen Bush und White schon auf der Spur, und die Nacht war noch fern. Middleton fragte: „Haben Sie etwas erfahren, was für uns günstig ist?“ „Eigentlich nicht. Wir sind nach wie vor auf uns selbst angewiesen. Die Pawnees sind ein friedliches Volk, sie sind das ganze Gegenteil von den Sioux, aber trotzdem sah der Krieger keinen Grund, etwas für uns zu riskieren.“ Hektor jaulte erschrocken auf, Natty kniff die Augen zusammen und spähte über die Prärie. Er fragte: „Hört ihr das Donnern? Das ist kein Gewitter, vielmehr jagt eine Büffelherde auf uns zu. Vielleicht treiben die Pawnees sie vor sich her. Jetzt könnt ihr ein großartiges Naturschauspiel erleben. Hoffentlich überleben wir es auch.“ In der Ferne tauchten mächtige Tiere auf, denen die Herde als dichtgedrängte Masse folgte. Staub wirbelte hoch, der Wind trug tiefes, hohles Brüllen herüber. Natty 605
sagte: „Es hat keinen Zweck, daß wir uns in diesem Wäldchen verstecken. Zieht die Herde in dieser Richtung weiter, so trampelt sie alles nieder, was ihr in den Weg gerät. Wir Männer müssen versuchen, sie von ihrem Weg abzubringen, die Frauen sollen meinetwegen hinter uns ins Dickicht kriechen. Ich bin nicht sicher, daß es uns gelingt, die Büffel zur Seite zu lenken, aber es ist die einzige Möglichkeit zur Rettung.“ Natty ging ein paar Schritte auf die Herde zu, Hover und Middleton stellten sich neben ihn. Die fünfzig oder hundert Stiere des Vortrabs änderten einige Male die Richtung und verringerten ihr Tempo, aber ein fürchterliches Gebrüll aus der Mitte des nachfolgenden großen Haufens, in das sich das Krächzen der darüber schwebenden Aasvögel mischte, trieb sie weiter auf die drei Männer zu. Die Flanken des heranstürmenden schwarzen Pulks bildeten einen Bogen, die Bullen hatten die buschigen Köpfe mit ihren gefährlichen Hörnern gesenkt, und da Tausende von hinten nachdrängten, preschten sie donnernd vorwärts. Middleton wollte Inez an sich reißen und davonstürzen, aber rechtzeitig machte er sich klar, daß das den sicheren Tod bedeutet hätte. Unerschütterlich stand Natty. Als die Herde auf Schußweite herangekommen war, hob er seine Büchse, zielte auf den Leitbullen und drückte ab. Seine Kugel traf das Tier zwischen die Hörner, der Bulle brach in die Knie, schüttelte den mächtigen Kopf, zwang sich wieder hoch und setzte taumelnd seinen Weg fort. Doch schon nach wenigen Schritten stürzte er und blieb liegen. An ihm vorbei, über ihn hinweg jagte die entfesselte Herde. Hover schrie aus Leibeskräften, aber das Brüllen und Trampeln der Tiere übertönte ihn. Zornig über die Ausweglosigkeit der Lage und zugleich seltsam 606
ergriffen von dem urwüchsigen, großartigen Bild der anstürmenden Herde rief er Natty zu: „Was soll bloß geschehen!“ Natty ließ die leer geschossene Flinte fallen und rückte mit ausgestreckten Armen Schritt für Schritt auf die Büffel zu. Er wußte, daß ein Mensch, wenn er Tieren fest und standhaft gegenübertritt, meist einen verblüffenden Eindruck machen und durch seinen unerschütterlichen Blick übermächtige Kräfte unterwerfen kann. Die vorderen Bullen wichen zur Seite, die ihnen nachdrängende Menge stockte, rechts und links fluteten Hunderte von Büffeln vorbei. Middleton und Hover harrten neben dem alten Mann aus, breiteten gleich ihm die Arme und fuchtelten und schrien. Die Hauptmacht der Herde drängte nach, Staub hüllte die Männer ein und machte sie fast unsichtbar. Middleton wurde von einem Stier gestreift. Nattys Augen waren staubverklebt, das Atmen wurde ihm schwer, wie oft in lebensgefährlichen Situationen stieg in ihm die Erinnerung an die Stunde auf, da er zum erstenmal den Tod gespürt hatte: Am Marterpfahl der Mingos am Silberglas. Seine Arme wurden schwer, er blieb stehen, weil er sich den Büffeln entgegengestellt hatte, um sich und vier jungen Menschen das Leben zu retten, er stand bis zum Ende durch, was er begonnen hatte, diese Situation, die wie ein Sinnbild seines Lebens war. Immer wieder senkte ein Stier vor Natty die Hörner und brach zur Seite aus, die Krähen und Geier teilten sich mit dem Strom der braunen Rücken. Nach und nach lichtete sich die Herde, die Körper drängten nicht mehr dicht an dicht, Nachzügler holperten der Kolonne nach, der Dunst verzog sich. Natty ließ die Arme sinken und drehte sich zu Middleton und Hover um, er rief ins Gehölz hinein, die Frauen könnten 607
herauskommen, diese Gefahr sei vorüber. Seine Stimme klang heiser und brüchig, als er fortfuhr: „Da laufen sie wie Hunde, denen man halbgefüllte Schrotbeutel an die Schwänze gebunden hat, und von den lahmen Gesellen, die hinterherstolpern, brauchen wir nichts zu befürchten.“ Er bückte sich nach seinem Gewehr und blies den Staub vom Schloß, lud es und streute Pulver auf die Pfanne. Er wischte sich die Augen und spähte über die Prärie; nach einer Minute sagte er: „Dachte ich es mir doch: Die Pawnees haben die Büffel in solchen Schrecken versetzt, daß sie uns bald zertrampelt hätten. Dort, wo der Wind eben den Staub aufjagt, könnt ihr sie sehen.“ Die Frauen waren inzwischen aus den Büschen getreten, Inez’ schmiegte sich an Middleton, so blickten sie in die Richtung, die der Trapper wies. Eine halbe Meile entfernt ritten fünfzehn oder zwanzig Indianer in engen Kreisen um einen mächtigen Bullen herum und beschossen ihn mit ihren Pfeilen. Das Tier war schon zu schwer verwundet, um fliehen, aber noch stark genug, sich zur Wehr setzen zu können. Endlich ritt ein Indianer mit einer Lanze heran und stach den Büffel nieder. Natty sagte: „Die Pawnees sind großartige Büffeljäger. Sie haben sich ein kräftiges Tier ausgesucht, von der Herde getrennt, eingekreist und zur Strecke gebracht. Ihr werdet nie erleben, daß sie sich mit einem Schwächling aus dem Nachtrab begnügen. Aber - mein Gott, was ist bloß mit meinen Augen geworden! Das sind ja keine Pawnees! An den Köpfen stecken Eulenflügel und Eulenfedern - das sind Sioux! Versteckt euch, so schnell ihr könnt!“ Hover zog seine Braut, Middleton seine Frau hastig ins Dickicht, Natty warf sich ins Gras und kroch hinter eine Bodenwelle. Ihn quälte der Gedanke, inwieweit er es zu 608
verantworten hatte, daß sich Inez und Ellen in tödlicher Gefahr befanden, denn ohne die Mithilfe, ohne seinen Rat wäre Inez nicht befreit und Ellen nicht von Hover mitgenommen worden; Inez befände sich noch in Gefangenschaft, wäre aber durch die Gewehre Bushs und seiner Söhne gedeckt - es war der widersprüchliche Fall eingetreten, daß die frische Freiheit gefährlicher war als die vorhergehende Gefangenschaft. Dabei war noch nicht einmal versucht worden, Inez auf friedlichem Wege auszulösen, vielleicht hätte Bush, selbst in schwieriger Lage und nun einmal gestellt, sie ohne Federlesens freigegeben. Während die Sioux dem getöteten Büffel das Fell abzogen, ihn zerlegten und die Fleischstücke auf ihre Pferde packten, während sich einige in Nattys Nähe tummelten, fiel ihm ein, daß er es womöglich begrüßen würde, wenn Bush auftauchte und Inez und Ellen wieder unter seinen Schutz nähme, vorausgesetzt, daß er selbst ungeschoren davonkäme. Hektor winselte neben ihm, da sagte er zu ihm: „Da haben wir uns wieder eine schöne Suppe eingebrockt, Alter!“ Einige Sioux blieben bei dem erlegten Tier, die anderen zerstreuten sich. Natty hoffte, die Büffelherde hätte seine und seiner Freunde Spuren zertrampelt, aber nicht weit von ihm stieg ein Sioux vom Pferd und winkte seine Stammesgenossen heran. Zu seinem Erschrecken erkannte Natty unter ihnen Häuptling Mahtoree. Die Sioux berieten, zeigten auf das Wäldchen, in dem sich Inez, Ellen, Middleton und Hover versteckt hielten, ein Sioux folgte der Spur, wurde unsicher, fand augenscheinlich wieder einen Abdruck und zeigte entschlossen nach vorn. Die Sioux schwärmten aus, zogen Pfeile aus den Köchern und ritten im Bogen heran. „Alles ist aus, Rektor“, murmelte Natty, „wir haben eben kein Glück. Ob es uns gelingt, die 609
roten Brüder fortzulocken?“ Er stand auf, legte das Gewehr auf die Schulter und ging auf die Indianer zu. Die ersten sprengten zurück, Mahtoree brachte sein Pferd zum Stehen und hielt die Hand über die Augen. Natty hatte die Mündung seiner Waffe nach hinten gekehrt, er streckte die Hand zu einer friedfertigen Geste aus. Als er heran war, stellte er den Kolben seiner Büchse ins Gras und sagte: „Ich heiße meine Freunde willkommen. Sie sind weit von ihren Dörfern entfernt und sicherlich hungrig. Wollen sie mir in meine Hütte folgen, dort essen und sich ausruhen?“ Kaum hatte Natty geendet, als die Sioux erfreut aufschrien; sie hatten Natty erkannt. Mahtoree ritt näher und sagte: „Alter Mann, du warst schon einmal in unserer Hand und bist entkommen. Wo ist dein junges Weib, und wo blieb der Krieger, den ich fing?“ „Ich habe kein Weib. Ich sagte meinem roten Bruder schon, daß die beiden nicht zu mir gehören. Sie wohnen im Lager der anderen Bleichgesichter. Geht hin und sucht sie dort.“ „Sie sind weggelaufen, aber Mahtoree ist ein kluger Häuptling, und seine Augen reichen weit in die Ferne.“ „Dann sag mir, wo sie sind. Denn meine Augen sind alt und trüb.“ Mahtoree zeigte auf einen Fußabdruck und fragte: „Kann der alte Mann mir sagen, wer hier ging?“ „Vielleicht der weiße Jäger, der auf dem Felsen wohnt. Seine Kinder brauchen Fleisch.“ Mahtoree schien sich seiner Sache nicht sicher zu sein. Er schielte nach dem Gesträuch, winkte einigen Kriegern zu, es zu durchsuchen; sie ritten nahe heran und auch ein Stück hinein, bogen, ohne aus den Sätteln zu steigen, vorsichtig einige Zweige auseinander und sprengten zurück. Natty hoffte inbrünstig, Hover und Middleton würden nicht in Panik verfallen und sich zur Wehr setzen, 610
denn nach einem einzigen Schuß würden sie alle ohne Erbarmen niedergemacht werden. Von einer gründlichen Durchsuchung des Wäldchens konnte nicht die Rede sein, vermutlich fürchteten die Sioux, zu nahe vor die Gewehre der Weißen zu geraten. Mahtoree fragte: „Hat mein alter Vater die weite Reise in unser Land gemacht, um daheim den jungen Leuten zu erzählen, was er gesehen hat?“ „Seit vielen Jahren lebe ich hier, und ich wünsche nicht, das Bleichgesichter das Wild vertreiben.“ Mahtoree wechselte das Thema. „Hat mein Vater seine jungen Leute versteckt, so befehle er ihnen, hervorzukommen. Mein Vater ist weise, sein Haar ist wie der Schnee, er darf keine gespaltene Zunge haben.“ „Häuptling, ich habe dich nicht belogen. Ich bin ein Trapper, ich gehe allein.“ Der Sioux lächelte, als er sagte: „Mein Freund hat eine gute Flinte. Ziele mein Vater auf das Dickicht und schieße!“ Natty zögerte eine Sekunde, aber da er einsah, daß er den Sioux nicht weiterhin täuschen konnte, wenn er diesen Wunsch nicht befolgte, nahm er das Gewehr von der Schulter. Sein Blick streifte über das Wäldchen, dabei fürchtete er nicht, jemanden zu treffen, wohl aber, daß seine Freunde, vor allem die beiden Frauen erschrecken und aufspringen würden, wenn eine Kugel über ihnen durch die Blätter pfiff; dann wäre alle bisherige List vergeblich gewesen. Er zielte ziemlich hoch und drückte ab, der Schuß krachte, der Rauch zog zur Seite, zu Nattys Erleichterung regte sich nichts. Er drehte sich zu Mahtoree um und fragte: „Ist mein roter Bruder zufrieden?“ Unbeweglich wie eine Statue saß der Häuptling auf seinem Pferd. Er hörte nicht auf, Natty zu fragen, wo er die vielen Jahre seines Lebens verbracht hatte, wie er 611
hierher geraten wäre, ob er zu den Männern gehörte, die ihr Vieh verloren hätten und es überall suchten. Geduldig antwortete Natty. Dabei lud er sein Gewehr, bückte sich zu Hektor und streichelte ihm den Kopf, endlich sagte er: „Häuptling, wir haben genug geredet, wollen wir nicht zu deinem oder meinem Feuer gehen und von dem Wild essen, das ihr erlegt habt? Oder soll meine Büchse noch einmal sprechen, damit jeder dem anderen von seinem Wildbret gibt, wie Freunde es tun? Auch ein alter Magen muß essen.“ Mahtoree riß erstaunt und voller Siegesfreude die Hand hoch, Natty drehte sich um und sah zu seinem Erschrecken, in das sich Zorn mischte, daß eben die vier Menschen, für die er sein Leben riskiert hatte, aus dem Wäldchen heraustraten. Middleton hatte den Arm um Inez gelegt, Hover und Ellen gingen hinter ihnen. Der Honigsammler blickte wütend zur Seite, mit einer Armbewegung, die ausdrücken sollte, daß ihm nichts übrigblieb, als sich zu ergeben, wies er in die Ebene hinaus, da erst sahen Natty und die Sioux, die zu sehr in ihren Disput verstrickt gewesen waren, als daß sie ihre Umgebung im Auge behalten hätten, daß sich bewaffnete Männer näherten. Es waren Bush und dessen Söhne. Middleton sagte: „Ich halte es für besser, uns den Sioux gefangenzugeben, als daß Inez wieder in die Hände dieser Menschenräuber fällt.“ Natty wußte, wie wenig in der jetzigen Situation von ihm und wie viel von Mahtoree abhing. Der Häuptling blickte rasch von einer Seite zur anderen, sein dunkles Auge ließ erst Überraschung-, dann Zorn, dann Triumph erkennen; er rief Natty zu: „Die Bleichgesichter sind Toren! Dachte der alte Mann, er könnte Mahtoree überlisten? Aber die Steppe gehört ihm, und die Bleichgesichter werfen sich 612
ihm zu Füßen!“ Sein Blick fiel auf Inez, nachdenklich betrachtete er ihr schönes Gesicht; er musterte Ellen, Middleton und Hover und beobachtete wieder, wie sich Bush und dessen waffenfähige Söhne näherten. Natty wollte die Lage rasch zugunsten seiner Freunde klären, ehe Bush heran war, und sagte: „Mein Bruder sieht, daß meine Zunge nicht gespalten ist. Ich wußte nicht, daß Menschen meiner Rasse in diesem Wäldchen waren, sonst hätte ich nicht mein Blei hineingeschickt. Also wird der große Sioux mit seinen neuen Freunden rauchen.“ Mahtoree hatte einen raschen Entschluß gefaßt, er wollte sich nicht mehr Feinde machen, als nötig war; mit Bush, dem er das Vieh geraubt hatte, würde er sich ohnehin nur schwerlich einigen können, und so sagte er: „Die Blaßgesichter sind willkommen, die Pfeile meiner Männer bleiben in ihren Köchern.“ Seine Männer trieben Pferde heran, Middleton und Inez saßen auf, Paul Hover hob Ellen in den Sattel, Natty, der selten geritten war und es dabei nie besonders weit gebracht hatte, quälte sich ächzend auf einen blanken Pferderücken. Jetzt zeigten die Sioux, daß sie in der Taktik des Präriekrieges unübertroffen waren. Schnelle Reiter schwärmten aus und jagten auf Bushs Formation zu, als sie aber in die Reichweite der Gewehre gerieten, wendeten sie und sprengten zurück. Bush ließ sich zu einer Salve verleiten, Hohngeschrei war die Quittung dafür, daß er seine Munition verschwendete. Mahtoree war klug genug, seine zahlenmäßige Überlegenheit als nicht entscheidend anzusehen; die stärkere Feuerkraft war auch dann auf der anderen Seite, wenn die drei weißen Männer, die halb und halb seine Gäste und seine Gefangenen waren, zusammen mit ihm kämpften. So befahl er eine Schwenkung, seine Hauptmacht ritt um Bushs Männer herum und drängte sich 613
zwischen sie und den Felsen. Bush merkte, in welch ungünstige Lage er geriet, und befahl den Rückmarsch, aber natürlich waren die Indianer auf ihren Pferden schneller. Mahtoree galoppierte mit dem größten Teil seiner Krieger auf den Felsen zu, wobei er achtgab, daß die Gefangenen mitten im Pulk blieben. Einmal drängte er an Natty heran und rief: „Der weiße Köter hat sein Vieh verloren, jetzt werden wir sehen, was in seinen Zelten geblieben ist!“ Hinter ihnen knallten Schüsse, aber die Sioux waren schon zu weit von den sie verfolgenden Farmern entfernt, als daß ihnen die Kugeln hätten gefährlich werden können. Vor ihnen erhob sich der Felsen immer höher aus der Steppe. Natty ritt neben Inez. Er sah, daß sie sich erstaunlich gut im Sattel hielt, zweifellos war sie von Kind an auf den Ländereien ihres Vaters den Umgang mit Pferden gewöhnt. Erhebliche Schwierigkeiten hatte Ellen, aber Hover blieb neben ihr und rief ihr hin und wieder ein aufmunterndes Wort zu. Natty fürchtete, vom Pferd zu stürzen und von einem Sioux, der einen Fluchtversuch witterte, kurzerhand erschlagen zu werden; er klammerte sich an der Mähne fest und zog die Beine so hoch, daß er fast kniete, hinter sich hörte er das Hecheln seines Hundes. Natty hoffte, bis zum Felsen durchzuhalten und dann Gelegenheit zur Flucht zu finden; die Schatten wurden schon lang, die Steppe versank in der Dämmerung, nur der Felsen ragte noch im klaren Licht. Auf der Spitze stand eine Frauengestalt; es war Esther Bush, die in die Prärie hinausspähte. Vor dem Felsen brachte Mahtoree seine Krieger zum Stehen, schickte die Weißen mit einer kleinen Bedeckung hinter ein Gestrüpp von Baumwollbäumen, ritt an das Verhau heran und schwang sich aus dem Sattel. Er hoffte, 614
leichtes Spiel zu haben, aber hinter einem Steinwall blitzte ein Schuß auf, Blei klatschte neben Mahtoree gegen einen Felsbrocken. Schleunigst zog er sich zurück. Wenn er gewußt hätte, daß die zwölfjährige Phoebe abermals den Beweis erbracht hatte, daß sie ein rechtes Kind der Grenze war, wäre er zügig weiter vorgerückt, aber so sammelte er seine Krieger und wies sie an, wie sie sich vorarbeiten sollten. Ehe ihm Bush und die waffenfähigen Männer seiner Sippe gefolgt waren, wollte er seinen Schlag führen. Natty rutschte vom Pferd. Er massierte stöhnend seine Beine, krümmte den Rücken und grinste die Siouxkrieger an, die sich königlich amüsierten, daß ein Weißer so unter den Folgen eines Rittes litt. Middleton und Hover halfen den Frauen aus den Sätteln. Inez und Ellen waren bleich und erregt, aber Natty sagte mit der stoischsten Ruhe, zu der er sich zwingen konnte: „Unsere Lage ist gar nicht so schlecht. Allein sind wir machtlos, wir können weder gegen Bush noch gegen die Sioux etwas ausrichten. Deshalb ist es am besten, wenn wir uns mit der stärksten Partei verbünden, und das sind im Augenblick Mahtoree und seine Männer. Daß ich mir gern andere Freunde aussuchen möchte, steht wohl außer Zweifel.’’ Middleton fragte aufgebracht: „Sie denken nicht an Flucht? Ich muß sagen, alles, was ich über Sie gehört habe...“ „Legenden“, unterbrach Natty. „Nach vielen Jahren hört sich manche Geschichte anders an, als sie in Wirklichkeit war. Ich habe oft klein beigegeben, um die Gelegenheit für eine Wendung abwarten zu können. Ich habe gelernt, geduldig zu sein. Sonst wäre ich längst tot. Einmal hockte ich mit einem Mädchen und einem Seemann in einem Blockhaus, da...“ Ein Poltern ließ Natty verstummen. Ellen flüsterte: „Das 615
war Phoebe, sie hat einen Stein herunterrollen lassen.“ Die Dämmerung breitete sich immer stärker aus, jetzt verblaßte auch der rötliche Schimmer, der auf der Spitze des Felsens gelegen hatte. Esther Bush war verschwunden, wahrscheinlich stand sie jetzt neben ihren Kindern an der Brustwehr. Das Schießen war verstummt, es bestand aber kein Zweifel, daß Bush eiligst näher rückte. Einmal trug der Wind Esthers Stimme vom Felsen herunter, sie schrie: „Sioux, ihr Teufel, ich fürchte euch nicht!“ Vier Indianer waren bei Natty und seinen Freunden geblieben, jetzt banden zwei von ihnen ihre Pferde an die Büsche und schlichen auf den Felsen zu. Die anderen tuschelten miteinander, Natty vermutete, daß sie sich ärgerten, hier wachen zu müssen, während ihre Kameraden auf Beute ausgingen. Natty flüsterte Middleton, Hover und den Frauen zu, sich zur Flucht bereit zu halten, er ging zu den Posten und machte ihnen deutlich, daß er die Pferde weiter unterhalb tränken wollte. Sie nickten gleichgültig, ihr Interesse war auf den Felsen gerichtet. Eine Minute danach leuchtete oben ein Feuer auf. Natty hörte Esthers Stimme, sie rief ihren Kindern zu, Holz hineinzuwerfen. Flammen wälzten sich den Hang hinunter, ergriffen das Strauchwerk, das dort zusammengetragen worden war, und legten eine glühende, prasselnde Wand vor den Felsen. Esther schrie: „Ismael, siehst du jetzt die verdammten Sioux! Drauf! Nimm sie in die Zange!“ Natty zog die Pferde zum Bach, sie soffen und suchten mit ihren Lippen nach den wenigen frischen Grashalmen, die dort wuchsen. Natty blickte zum Felsen; Esther Bush stand im Flammenschein, sie hielt die Arme gereckt, als wollte sie ihrem Mann und ihren Söhnen die Richtung 616
anzeigen, in der sie vordringen sollten. Plötzlich schoß Mahtorees dunkler Schatten zwischen den Bränden hervor, der riesige Indianer warf sich auf die Frau und schleuderte sie zu Boden. Drei andere Sioux sprangen auf die Plattform hinaus und rissen die Glut auseinander, das angstvolle Geschrei der Kinder gellte durch die Nacht. Ellen flüsterte: „Wenn ich ihnen doch helfen könnte!“ Natty flüsterte zurück: „Hoffentlich können wir wenigstens uns selbst helfen.“ Die Sioux bejubelten ihren Sieg. Es war jetzt so dunkel, als wenn sich eine undurchdringliche Wolke vor die glänzende Mondscheibe geschoben hätte. Natty packte die Zügel seines Pferdes und der Pferde der beiden Frauen, behutsam zog er sie aus dem Bachtal in die offene Steppe hinein. Middleton und Hover folgten. Nach einer Weile stiegen sie auf, hielten die Pferde im Schritt, alle ihre Sinne waren nach rückwärts gerichtet. Natty flüsterte: „Sachte, sachte! Für ein paar Minuten sind die Sioux geblendet, aber sie hören jetzt besser als vorher!“ Die folgenden Minuten erschienen Natty wie eine Ewigkeit. Die Pferde überschritten einen Hügelrücken, von ihm aus sah er den Felsen gegen den Nachthimmel. Natty wartete darauf, daß dort Schüsse blitzten, denn inzwischen mußte Bush herangekommen sein. Aber alles blieb ruhig. Natty sann: Sollten Bush und Mahtoree gerade dabeisein, sich zu einigen? Eine Viertelstunde später zuckten am Fuß des Felsens kleine Feuer auf. Natty kratzte sich den Kopf und sagte: „Wenn mich nicht alles täuscht, hat sich das Blättchen gewendet. Mahtoree hat Bushs Frau und die kleinen Kinder gefangen, aber nun hat Bush ihn auf dem Felsen eingeschlossen. Die Feuer brennen, damit Mahtoree nicht entwischt.“ 617
Middleton mutmaßte: „Mahtoree könnte die Frau und die Kinder herausgeben und sich so die Freiheit erkaufen.“ „Irgend etwas in dieser Art wird geschehen. Mahtoree und Bush haben jetzt allen Grund, ihre Feindseligkeiten beizulegen. Ein Friedensschluß zwischen den beiden geht natürlich auf unsere Kosten.“ Natty lenkte sein Pferd in eine Senke, dort rief er: „Nun laßt eure Gäule laufen, was sie können! Aber bleibt auf Gras, damit uns keiner hört.“ In gestrecktem Galopp stoben die Pferde in die Nacht hinein.
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Das Ende eines Mannes Die Sonne stieg glutrot über dem Horizont auf, es schien, als ob an ihren Rändern Flammen zuckten, die das dürre Gras in Brand stecken müßten. Hier ragte es mannshoch auf und umstand den Lagerplatz wie eine Schilfwand. Natty hatte seine Freunde an diese Stelle geführt, jetzt ging er auf der Spur zurück und mühte sich, die Halme wieder aufzurichten. Aber er wußte, daß er damit vielleicht den Blick eines weißen Farmers, niemals jedoch das scharfe Auge eines Indianers täuschen konnte. Mißmutig schaute er zum Himmel: Da kreiste ein Geier, denn wo fünf Menschen und fünf Pferde waren, fiel leicht Beute für ihn ab. Dieser Geier mußte ihn verraten. Nattys Beine und Gesäß schmerzten, verdrossen blickte er auf den knochigen Pferderücken, auf dem er eine Nacht lang durchgeschüttelt worden war. Inez und Ellen schliefen noch auf dürrem Gras, Middleton flickte an einem Sattel, Hover spähte über die Spitzen der Gräser. Natty grübelte, was nun geschehen sollte. Die Rettung lag allein im Osten, er mußte versuchen, einen Weg zwischen den Sioux, den Pawnees und Bushs Leuten hindurch zu finden, er mußte Middleton, Hover und die beiden Frauen hundert Meilen weit bringen, dort würde er Farmer treffen, bei denen sie sicher waren. Danach war es zweifellos besser, wenn er seine Fallen in einem Gebiet aufstellte, in dem er weder auf Mahtoree noch auf Bush stoßen konnte. Minuten später saßen sie beim Frühstück. Natty zerschnitt sein letztes Büffelfleisch in fünf Teile. Dabei sagte er: „Zehn Meilen weiter stöbern wir fettere und zartere Büffel und mehr Hirsche und Rehe auf. Vielleicht gelingt es mir sogar, einen Biber zu fangen. Der Biberschwanz ist die größte Delikatesse, die es überhaupt 619
gibt.“ Middleton fragte: „Und welchen Weg wollen wir einschlagen?“ Ehe Natty antworten konnte, sagte der Honigsammler: „Wir sollten versuchen, einen Fluß zu erreichen. Wenn wir einen Baumwollwald finden, höhle ich binnen vierundzwanzig Stunden einen Stamm zu einem Kanu aus. Ellen ist keine gute Reiterin, und es ist für uns alle bequemer, wenn wir sechs- oder achthundert Meilen abwärtstreiben, als den Weg durch die Steppen zu suchen.“ Inez legte die Hand auf den Arm ihres Mannes und rief: „Sieh doch, Unkas, wie prächtig der Himmel glüht!“ „Himmlisch schön“, erwiderte der Hauptmann. „Besonders der Karmesinstrich in der Mitte ist wundervoll. Ich habe selten einen so herrlichen Sonnenaufgang erlebt.“ „Sonnenaufgang?“ Natty rief: „Die Prärie brennt! Wahrscheinlich haben die Sioux sie angezündet, um uns aus unserem Versteck zu treiben!“ „Gott schütze uns!“ Middleton riß Inez hoch, Hover stand schon bei den Pferden und schrie: „Da ist kein Augenblick zu verlieren! Aufgesessen!“ „Wohin fliehen?“ fragte Natty. „Schnell auf diese Höhe hinauf, vielleicht erkennen wir von dort, wohin wir uns wenden müssen!“ Von dem Hügel aus sah Natty, daß sie auf drei Seiten von Flammen eingeschlossen waren; die Sioux hatten also die Steppe an mehreren Punkten zugleich angesteckt. Überall zuckten Strahlenbündel wie rasch aufflackerndes Nordlicht, dahinter ballten sich Rauchwolken. „Auf die Pferde!“ rief Hover. „Jede Biene verläßt ihren Schlupfwinkel, wenn der Baum brennt. Und dort gibt es noch eine Lücke!“ 620
„Wo keine Flammen sind“, erwiderte Natty, „warten die Tomahawks der Sioux, wir werden List gegen List setzen.“ Inez, die sich schon in den Sattel geschwungen hatte, zeigte in das Flammenmeer und rief: „Der Wind treibt von allen Seiten auf uns zu!“ „Das ist der Feuersturm“, sagte Natty. „Ich weiß nur ein Mittel zur Rettung. Ich habe einmal auf einem bewaldeten Berg ein fürchterliches Feuer erlebt, da konnte ich keine Bäume umstürzen. Aber jetzt greift zu! Fort mit dem Gras!“ Er faßte ein Büschel und riß es aus, Middleton verstand als erster, was Natty vorhatte, und half ihm, gleich darauf waren alle fünf fieberhaft dabei, eine Fläche vom Gras zu säubern. Auf dem freien Raum drängte Natty die Pferde zusammen, schob Inez und Ellen zwischen sie, häufte dürres Gras um die Pfanne seiner Flinte und drückte ab. Im Nu fing das Büschel Feuer, Natty warf es auf einen Haufen und stellte sich zu den Pferden, zog ihre Köpfe herunter und sprach begütigend auf sie ein. Middleton hüllte den Kopf seiner Frau in seine Jacke, Hover band Ellens Haar mit einem Tuch zusammen. Gierig fuhren die Feuerzungen in die abgestorbenen Krauter, augenblicklich waren die fünf Menschen und ihre Pferde von Flammen umringt, Hektor heulte gepeinigt auf, aber schon nach zwei, drei Minuten war alles Brennbare um sie herum aufgezehrt. Das Feuer fraß sich in die Steppe hinein, kein Ruß fiel mehr herab, die Luft wurde allmählich wieder klar. Inez zog die Jacke herunter, sie lächelte unwillkürlich, als sie Ellens geschwärztes Gesicht sah. Natty sagte: „Jetzt sollt ihr sehen, wie Feuer das Feuer bekriegt!“ Sein Experiment bewährte sich, die Flammen gewannen Raum, dehnten sich rasch nach allen Seiten aus und ließen eine schwarze, qualmende, nackte Fläche hinter 621
sich. „Großartig!“ lobte Middleton. „Man sollte die Rekruten in dieser Art des Flammenkrieges unterrichten, ehe man sie in die Prärie schickt.“ „Dein Großvater“, sagte Natty, „war sich nicht zu fein dazu, auf die Ratschläge eines armseligen Waldläufers zu hören, und es freut mich, daß du genauso bist.“ Hover schüttelte verbranntes Gras und Rußflocken aus seinen Haaren, dabei sagte er: „Alter Trapper, ich bin mancher Biene in ihre Höhle gefolgt und verstehe viel vom Wald, aber dieses Kunststück hier erscheint mir noch verblüffender, als einer Hornisse den Stachel abzunehmen, ohne sie anzufassen.“ Natty zog schmeckend die Luft ein. „In einer halben Stunde ist alles vorbei, dann können wir weiterreiten. Ich möchte nur die Hufe unserer Pferde nicht der Hitze des Bodens aussetzen. Jetzt macht die Augen auf, sie sind jünger als meine, daß nicht ein Sioux über die Asche auf uns zu sprengt.“ Als der Brand im weiten Umkreis erloschen war und nur hier und da noch Qualm hochwirbelte, gab Natty das Zeichen zum Aufbruch. Er ritt voran nach Osten. Diese Gegend kannte er nicht genau, überdies hatte der Feuersturm vieles verändert. Aber in gerader Richtung mußte er auf einen Fluß stoßen; ob an ihm Baumwollbäume wuchsen, wußte er allerdings nicht. Er wich Flammeninseln aus und schlug einen Bogen um eine Grasfläche, die jede Sekunde auflodern konnte. Meist ritten sie einer hinter dem anderen, einmal trieb Ellen ihr Pferd neben Natty und fragte: „Was wird aus Bushs Kindern geworden sein?“ „Mach dir keine Sorgen, die Sioux haben ihnen bestimmt nichts getan. Vielleicht hat Bush für jedes eine Wolldecke oder für alle zusammen zwei oder drei Äxte geben 622
müssen.“ Natty erinnerte sich der Schlacht um das Fort William Henry, aber das war lange her, und die Umstände waren anders gewesen. Jetzt sehnte er den Augenblick herbei, da sie auf einen Fluß stießen, er wollte zuschauen, wie Hover ein Kanu aushöhlte, wollte dem Boot nachwinken, bis er es aus den Augen verlor, wollte die Pferde wegjagen und seines Weges gehen. Sein Bedarf an Abenteuern war, so vermutete er, bis an sein Lebensende gedeckt. Nach einer Stunde hielt Natty an und zeigte in eine Mulde hinunter, in der ein halbverbranntes Pferdegerippe lag. „Da könnt ihr euch ein Bild von der Kraft des Brandes machen“, sagte er. „Das arme Tier ist in seinem Lager überrascht worden. Seht nur die geborstenen Knochen, die verkohlte Haut und den nackten Schädel. Zehn Winter können einen Kadaver nicht so zurichten wie das Feuer in einer Minute.“ Hover wies zur Seite: „Dort liegt noch ein Tier.“ Middleton sagte: „Ein seltsames Geschöpf, es hat weder Kopf noch Hufe.“ Natty wollte weiterreiten, aber Hektor lief auf das unförmig zusammengebackene Fell zu und sträubte die Haare. „Hektor!“ rief Natty, „willst du dir endgültig die Pfoten versengen! Her mit dir!“ Er ritt näher und sagte: „Es ist keine Pferde-, sondern eine Büffelhaut. Sie ist kurz vor dem Feuer abgezogen worden, sie war noch frisch, deshalb ist sie nur äußerlich verkohlt. Vielleicht hängt ein Stück gebratenes Fleisch daran, wir sollten sie umdrehen.“ Hektor fuhr knurrend auf die Haut los, da wurde sie zur Seite geschleudert, unter ihr heraus sprang ein Indianer wie eine Katze auf die Füße, riß sein Beil aus dem Gürtel und schaute sich wild um. „Ho!“ rief Natty, „nicht so stürmisch, alter Junge!“ Vor 623
ihm stand der Pawnee, den sie getroffen hatten, ehe die Büffelherde auf sie zu gestürmt war. Die Frauen kreischten auf, Hover riß das Gewehr hoch. Der Pawnee stand mit gebreiteten Armen, gelassen schob er das Beil in den Gürtel zurück. Natty streckte die Hand aus und sagte: „Ich bin froh, mit meinem Freund wieder zusammenzutreffen. Die Sioux haben ihn geräuchert wie einen Schinken, und sein Pferd hat kein Fleisch mehr auf den Knochen.“ „Die Sioux sind Hunde“, stieß der Pawnee hervor. „Wenn das Kriegsgeschrei der Pawnees in ihren Ohren gellt, jammern und heulen sie.“ „Das ist wahr. Aber diese Brandstifter sind hinter uns her, und ich freue mich, einen Krieger zu treffen, der sie haßt wie ich. Will mein Bruder meine Freunde zu seinen Hütten führen? Sollten Sioux in der Nähe sein, so werden wir mit den Gewehren unseren Freund schützen.“ Der Pawnee ließ seine Blicke von Natty zu Middleton und Hover schweifen, sein Auge blieb an Inez haften und nahm wieder den bewundernden Ausdruck an, der Natty schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Der Indianer legte die Hand auf die Brust und sagte: „Mein Vater ist willkommen, die Häuptlinge meines Stammes werden mit ihm rauchen. Seine Söhne werden mit unseren jungen Kriegern jagen und die Töchter mit unseren Mädchen singen.“ „Und wenn wir auf Sioux stoßen?“ „Die Feinde der Bleichgesichter fürchten die Messer der Pawnees.“ Natty fragte, wo der Fluß sei und wo die Siedlung der Pawnees läge, der Indianer wies über die Steppe hin, und Natty merkte, daß er die Orientierung in bedenklichem Maß verloren hatte. Ohne eine weitere Erörterung ging der Indianer voran, er schritt rasch aus, 624
änderte kaum einmal die Richtung und wies nach einer Stunde auf einen gezackten Streifen hinter dem nächsten Hügel: „Wald und Wasser.“ Middleton atmete auf, daß es wie ein Stöhnen klang. Nach einer weiteren halben Stunde trabten die Pferde in den Fluß hinein und soffen, als wären sie am Verdursten gewesen. Dieser Fluß suchte sein Bett wie Hunderte von Flüssen von den Felsengebirgen herunter in östlicher Richtung auf Missouri und Mississippi zu. Die Flammen hatten das Gras bis ans Ufer versengt, der Morgendunst vermischte sich mit dem Rauch der noch schwelenden Feuer, und so war fast die ganze Fläche des Wassers verhüllt und das gegenüberliegende Ufer nur schattenhaft sichtbar. Natty sagte: „Wir können erst rasten, wenn der Fluß hinter uns liegt. Das kalte Wasser wird meinen alten Knochen nicht guttun, aber ein Skalpmesser verträgt mein Schädel noch weniger.“ Bei der folgenden kurzen Beratung stellte sich heraus, daß weder Ellen noch Inez schwimmen konnten. Da es, wie Natty von dem Pawnee erfuhr, erst etliche Meilen flußaufwärts eine Furt gab, drängte er, sogleich hier überzusetzen. Die Büffelhaut des Indianers wurde zusammengebunden und bildete so eine Art Luftsack, an dem sich Inez festhalten konnte. Ellen klammerte sich an den Hals eines Pferdes und wurde auf der anderen Seite von Hover gestützt, Middleton, Hover und Natty schwammen mit dem Indianer den Pferden nach. Das Wasser war kalt und trüb, aber nicht reißend. In der Flußmitte blickte sich Natty um, er sah, daß auf dem steilen Ufer hinter ihnen ein Reiter auftauchte, den Speer hochstieß und damit fünfzig weitere Sioux anlockte. Zum Glück für die Flüchtenden besaß keiner der Verfolger ein Gewehr. Pfeile zischten ins Wasser, da rissen Natty und 625
seine Freunde ihre Pferde vorwärts und schwammen in größter Hast auf das rettende Ufer zu. Triefend und keuchend erreichten sie einen Schilfstreifen, wateten durch Morast und kletterten die Böschung hinauf. Von hier aus sahen sie, daß die Sioux ihre Pferde bereits ins Wasser getrieben hatten und in breiter Kette herüberschwammen. Middleton und Hover zogen die Frauen in ein Gesträuch, rannten zum Ufer zurück und machten ihre Gewehre schußfertig. Natty hatte schon eine Auflage auf einem angeschwemmten Baumstamm gefunden und wartete, bis sich ihm ein günstiges Ziel bot. Hover warf sich neben ihn, legte an und schoß auf einen Indianer, der ein Stück vor den übrigen her schwamm. Es war Mahtoree; blitzschnell tauchte der Sioux unter, und so traf die Kugel sein Pferd in den Kopf. Jetzt hatten einige Sioux die Sandbank erreicht und warteten auf die Befehle ihres Häuptlings. Ein einziger Schuß hatte ihren Verfolgungseifer merklich abgekühlt. Mahtoree wußte, daß ihm drei Gewehre gegenüberlagen. Die Weißen konnten einmal laden, solange seine Männer im Wasser waren, also mußte er damit rechnen, sechs Krieger zu verlieren. Deshalb befahl er, zum eigenen Ufer zurückzukehren. Da sagte Natty zu Middleton und Hover: „Setzt die Frauen auf die Pferde und reitet mit ihnen auf diesen Hügel zu. Dahinter überquert ihr einen weiteren Fluß, und wenn ihr dann genau nach Süden reitet, kommt ihr auf eine sandige Ebene. Dort treffen wir uns wieder. Ich will mit dem Pawnee versuchen, die Burschen noch eine Weile hinzuhalten.“ Hover und Middleton folgten sofort diesem Rat. Die Sioux hatten unterdessen ihre Pferde bestiegen und sprengten auf und ab. Mahtoree schien sich nicht schlüssig zu sein, ob er den Übergang erzwingen sollte. Da änderte 626
sich schlagartig die Situation. Ein Trupp näherte sich aus der Steppe und wurde von den Sioux mit Jubelgeschrei begrüßt. „Die Bleichgesichter, die auf dem Felsen wohnen“, stellte der Pawnee fest. Natty wußte, daß seine Chance, das Übersetzen zu vereiteln, nun nur noch gering war. Er brummte: „Hab ich mir’s doch gedacht. Mahtoree und Bush haben sich verbündet. Mein roter Bruder, jetzt heißt es Fersengeld geben!“ Im Zurückschleichen sah Natty noch, wie die Sioux an den Flügeln, weit außerhalb der Reichweite seiner Büchse, ihre Pferde ins Wasser trieben. Da schlugen sich Natty und der Pawnee in die Büsche, wechselten einige Male die Richtung, eilten in gerader Linie auf den nächsten Fluß zu, der ohne Mühe durchwatet wurde, und fanden, als es schon Mittag war, ihre Freunde an der vereinbarten Stelle. Natty berichtete, daß Mahtoree und Bush sich geeinigt hatten und gemeinsam hinter ihnen her waren; da plädierten Hover und Middleton stürmisch dafür, sofort die Flucht fortzusetzen. Natty schmunzelte, als er sagte: „Wenn ich dich so reden höre, Hauptmann, kommt es mir vor, als stünde dein Großvater vor mir. Er war zwar damals Major und einige Jahre älter als du jetzt, aber er war genauso hitzig und wollte mit dem Kopf durch die Wand, wo einem nur die Geduld weiterhilft. Einmal, als Mingos deine Großmutter verschleppt hatten, fanden wir ein Stückchen von ihrem Schal. Da verlangte er, mitten in der Nacht die Verfolgung aufzunehmen.“ Natty brach ab und überlegte: Wen hatte Heyward damals geheiratet, die Blonde oder die Schwarze? „Gleichviel, was rät mein roter Bruder?“ „Die Sioux schlafen nicht. Wir müssen im Gras bleiben.“ „Genau meine Meinung. Erst in der Nacht können wir weiterreiten.“ Middleton und Hover beugten sich Nattys Autorität. Die Pferde wurden 627
geknebelt und niedergeworfen, Natty zog die Büffelhaut des Indianers über die beiden Frauen und breitete Gras darüber, die Männer legten sich auf die Erde. Die Prärie war wieder wie ausgestorben, der Wind wiegte das dürre Gras und wirbelte hier und da ein Staubwölkchen auf, weit entfernt wechselte ein Hirschrudel von einem Baumwollwäldchen in ein anderes. Natty sah zu, wie eine Maus aus ihrem Loch kroch und sich schnuppernd seiner Hand näherte; er schlief eine Stunde, und als er nach der Sonne schaute, stand sie noch immer hoch. Seine Hoffnung, sie würden bis zur Nacht unentdeckt bleiben, steigerte sich, er zwinkerte seinem Hund zu und malte sich aus, er briete einen fetten Biberschwanz über gleichmäßigem Feuer. Eine Weile darauf versuchte er nachzurechnen, wie lange es her war, daß er mit Heyward zusammen zwei Schwestern nachgejagt war, vierzig Jahre, zweiundvierzig, fünfundvierzig? So genau war das nicht mehr zu bestimmen. Inez schrie erschrocken auf, da fuhr er hoch und sah, daß zehn, zwölf Sioux direkt auf sie zu ritten, andere schwärmten links und rechts in der Steppe. Als die vordersten Reiter auf fünfzig Schritt heran waren, sprangen Hover und Middleton auf, rissen ihre Gewehre hoch und drückten ab, aber es geschah nichts, als daß die Hähne abschnappten. Natty sagte im Aufstehen: „Ich habe euer Zündpulver weggeschüttet. Wenn ihr geschossen und getroffen hättet, wäre es um uns alle geschehen gewesen. Jetzt müssen wir wie Männer unserem Schicksal entgegensehen.’’ Die Sioux preschten heran, Mahtoree musterte tiefbefriedigt seine Gefangenen. „Meine weißen Sperlinge sind weit geflogen“, spottete er. „Aber der Adler hat sie eingeholt.“ Die Freude der Sioux, nach langer Jagd doch 628
am Ziel zu sein, war so groß, daß sie den Pawnee anfänglich nicht beachteten. Aber dann trat Mahtoree zu ihm hin, Siegesfreude zuckte über sein Gesicht, als er sagte: „Stahlherz, ich erkenne dich, endlich bist du in unserer Hand! Meine Weiber werden lachen, wenn ein Häuptling der Pawnees vor ihnen kniet.“ Mit schneidender Stimme befahl er, die Gefangenen auf die Pferde zu binden.
2 Im Zelt herrschte dämmriges Licht, das durch Spalten zwischen den Tierhäuten drang. Wenn Natty den Kopf neigte, konnte er diesen oder jenen Ausschnitt aus dem Lager der Sioux überblicken. Über ein Tafelland oberhalb eines Flusses waren Hunderte von Zelten ohne jede Ordnung verstreut. Der Boden war hier nicht gar so mager, an manchen Stellen hatten ihn die Sioux-Frauen aufgehackt und Mais ausgesät, längs des Flusses und in einem Bachtal wuchs Gras. Eine Meile weiter stand sogar Wald und weckte in Natty beklemmende Sehnsucht nach dessen Duft, nach dem Federn des Mooses unter seinem Fuß und dem Schrei des Eichelhähers. Aber Natty wurde sich bewußt: Dieser Wald war nicht wie an den Ufern von Mohawk und Otsegosee vor einem halben Jahrhundert, ehe Männer wie Billy Kirby ihn abgeholzt hatten, es war der trockenere, ärmere Wald des Präriesaumes, aber Wald war es immerhin. Seit vier Tagen war Natty ohne Büchse und Pulverhorn, er hockte in diesem Zelt, und es bedeutete keine Ehre für ihn, daß er nicht gefesselt war, sondern bewies ihm seine Schwäche. Natty konnte in ein anderes Zelt hineinsehen, es war kegelförmig und von simpler Bauart. Schild, Köcher, Lanze und Bogen hingen an einem Pfosten neben dem Eingang, einfaches Hausgerät aus Holz lag auf dem Boden; über den Rand einer aus Rinde 629
geformten Wiege, die an einem Pfosten schaukelte, schauten ihn die runden braunen Augen eines pausbäckigen Kindes an. Hinter diesem Zelt senkte sich das Gelände zum Fluß hinunter, dort balgten sich Jungen oder ritten auf den Pferden ihrer Väter. Männer standen in Gruppen beieinander, ein hochgewachsener Indianer ging von einer zur anderen; es war Mahtoree. Natty drehte den Kopf halb zur Seite und sagte: „Unser Erzfeind hat etwas vor. In den letzten Tagen habe ich die Sioux nie so heftig miteinander debattieren sehen.“ Middleton fragte aus dem hinteren Teil des Zeltes heraus: „Was macht Bush?“ Natty blickte zum entgegengesetzten Rand des Lagers, dort hatten die Auswanderer ihre Wagen im Ring aufgestellt. Mahtoree hatte Bush den größten Teil seines Viehs zurückgegeben, Bush hatte den Sioux ein Dutzend Messer und zwei Decken abgelassen, nun hausten sie nahe beieinander, unterstützten sich bei der Jagd, und Bush schwankte, ob er sich im Einvernehmen mit den Sioux in diesem Flußtal seßhaft machen oder weiterziehen sollte. „Nichts Neues bei den Siedlern“, sagte Natty. „Einer spannt Pferde vor einen Karren, und Bushs Frau keift, daß man sie bis hierheraufhört.“ Middleton und Hover lagen auf einer Pritsche, ihre Glieder waren mit Hirschlederriemen zusammengeschnürt. An einem Pfahl stand Stahlherz, auch er war gefesselt. Nur Natty konnte sich im Zelt bewegen, aber sechs junge Sioux und die Beile in ihren Gürteln machten ihm deutlich, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Natty ging mit steifen Knien einige Schritte auf und ab, schaute auf der anderen Seite hinaus und sagte: „Meine Meinung: Es braut sich etwas zusammen!“ 630
Middleton stöhnte: „Wollte der Himmel, daß ein paar meiner Artilleristen über dieses verdammte Camp herfielen.“ Nattys Hoffnungen waren weitaus bescheidener: „Ich wünschte, ich hätte nicht einen Fluß durchschwimmen und einen anderen durchwaten müssen. Danach habe ich kein Feuer anzünden können, um meine Kleidung zu trocknen, und mein Büchschen mit Dachsfett haben mir die Sioux gestohlen. Die Gicht ist eine üble Sache, Kinder, das könnt ihr euch in eurem Alter gar nicht vorstellen. Aber ich habe zu oft im Freien übernachtet und war früh steif geworden, und Schlange mit seiner Eisfischerei hat den Rest besorgt.“ Natty stellte sich neben Stahlherz und sagte: „Mir scheint, die Sioux beraten über meinen Bruder.“ „Sie zählen die Skalpe, die sie an ihn verloren haben.“ „Gewiß. Sie werden wütend, wenn sie an ihre Krieger denken, die du erschlagen hast. Es wäre besser gewesen, du wärst eifriger bei der Jagd als im Krieg gewesen.“ „Glaubt mein grauhaariger Vater, ein Häuptling der Pawnees könnte jemals sterben?“ „Ihr Pawnees erinnert mich an die Delawaren.“ Natty musterte die Gesichtszüge des Häuptlings und versuchte, in ihnen wiederzufinden, was ihm von Unkas in Erinnerung geblieben war. „Sag, hast du je von dem mächtigen und edlen Volk gehört, das nach Sonnenaufgang zu an den Ufern des großen Salzsees wohnte?“ „Die Erde ist bedeckt mit den weißen Brüdern meines Vaters.“ „Nein, ich spreche nicht von den Kolonisten, die die Indianer um ihren Boden gebracht haben. Ich rede von einem Volk, dessen Haut rot war wie die Brombeere. Ich habe nie Kinder gehabt. Aber einen Krieger aus der 631
mohikanischen Sippe der Schildkröte habe ich geliebt wie meinen eigenen Sohn, und jetzt kommt es mir vor, als atme er wieder.“ Alle im Zelt schwiegen, einer der Posten ging hinaus und ließ den Eingang offen, da sahen Stahlherz und Natty, daß Mahtoree die übrigen Häuptlinge und eine große Anzahl von Kriegern um sich geschart hatte und mit weitausholenden Gesten zu ihnen sprach. Leise sagte Stahlherz: „Ich habe meinen grauhaarigen Vater gehört. Stahlherz ist noch jung, aber er ist schon Häuptling und will gern dein Sohn heißen. Doch bald wird Manitu uns beide zu sich rufen, dich, weil du weit genug gewandert bist und Schnee auf deinem Haupt liegt, mich, weil der Große Geist einen tapferen Krieger braucht.“ „Ach, Junge, du machst mir das Herz schwer. Ich hoffe, daß ich noch ein paar Sommer erlebe, aber im Grunde genommen hast du schon recht.“ „Dein Sohn hat eine Botschaft für seinen Stamm. Die Sioux zählen die Krieger, die Stahlherz in die Ewigkeit geschickt hat. Mein Vater möge so lange hierbleiben, bis diese Köter versucht haben, die nackten Schädel von achtzehn Sioux mit dem Skalp eines einzigen Pawnees zu bedecken. Dann wird er seine Augen weit öffnen und sich den Platz merken, an dem die Gebeine des Pawnee begraben werden.“ Natty murmelte: „Das werde ich tun.“ „Mein Vater möge zu meinem Volk gehen. Sein Haupt ist grau, seine Worte werden nicht wie der Rauch verwehen. Wenn er zwischen meine Hütten tritt und laut den Namen Stahlherz ruft, dann wird kein Pawnee taub sein. Mein Vater soll sich das schönste Pferd bringen lassen, das noch nie geritten worden ist und glatt ist wie ein Rehbock und schnell wie ein Elch. Führe er es zum Grab seines Sohnes, sage er ihm dort, daß sein Herr, der es 632
aufgezogen hat, es nun braucht. Der Geist des Häuptlings Stahlherz wird sich auf dieses Pferd schwingen und in die ewigen Jagdgründe reiten, achtzehn Sioux warten dort auf ihn, und zusammen werden sie vor den Herrn allen Lebens treten.“ „Es soll geschehen, wie du willst.“ Natty sah, daß sich die Augen des Pawnees verengten, da blickte auch er hinaus. Die Sioux hatten ihre Beratung beendet, Mahtoree und zwei andere Häuptlinge kamen auf ihre Gefangenen zu. Zwanzig Schritt vor dem Zelt blieben sie stehen, Mahtoree stemmte seinen Speer auf die Erde und winkte Natty, er möge zu ihm heraustreten. Als Natty ihm gegenüberstand, streckte Mahtoree feierlich die Hand aus und legte sie dem Trapper auf die Schulter, er sagte, auf der Zunge seines weisen alten Freundes hätten die Sprachen der Bleichgesichter, der Sioux und der Pawnees nebeneinander Platz, deshalb sollte er bei den Verhandlungen helfen, damit jeder verstünde, was gesprochen würde. Danach könnte der alte Mann gehen, wohin er wollte; zwar hätte er zweimal die Sioux getäuscht und einem Hund von den Pawnees geholfen, aber das Messer eines Sioux weigere sich, deshalb ein graues Haupt blutig zu machen. Nach dieser feierlichen Rede winkte er Natty, ihm zu folgen. Durch verbissen schweigende Männer und tuschelnde Frauen gingen sie zu einem anderen Zelt, Mahtoree schlug die Decke am Eingang beiseite, da sah Natty, daß Inez und Ellen darin auf einem Fell hockten. Sie waren so überrascht, den Trapper vor sich zu sehen, daß sie ihn wortlos anstarrten. Natty ließ seinen Blick durch das Zelt schweifen und sagte in der Hoffnung, die Frauen zu trösten: „So schlecht geht es euch ja gar nicht. Eine Schüssel Maisbrei, Fleisch, sogar Milch in diesem Krug und...“ 633
Inez fragte verstört: „Und was wird aus uns?“ „Das weiß ich auch nicht. Aber solange wir den Kopf mitsamt unseren Haaren auf den Schultern tragen ...“ Mahtoree unterbrach ihn: „Sag der Tochter mit den schwarzen Augen, daß das Zelt eines Siouxhäuptlings groß genug für sie und die hellhaarige Squaw neben ihr ist.“ Natty rieb sich mit dem Handrücken das Kinn. Eine Situation trat vor sein Gedächtnis, die verzweifelt ähnlich gewesen war, ein Mingo mit Namen Le Renard hatte Kora Munro zur Frau haben wollen. Natty wunderte sich, mit welcher Klarheit er sich erinnerte, aus einem Gebüsch vorgestürmt zu sein, das leer geschossene Gewehr schwingend, Kora hatte gefesselt an einem Baum gestanden, neben Natty hatte Große Schlange gekämpft. Das war lange her, aber er konnte sich besser daran erinnern als an manches, was vor wenigen Wochen geschehen war. „Keine gute Nachricht“, sagte er. Da er aus dem schreckensstarren Gesicht der jungen Frau herauszulesen glaubte, daß sie den Sinn der Worte des Häuptlings ahnte, versuchte er abzuschwächen: „Aber gar so schlecht ist sie auch nicht. Ihr dürft hier wohnen bleiben. Und Mais mit Milch...“ Aus dem Hintergrund trat eine junge, hübsche Indianerin auf Mahtoree zu, sie trug einen Säugling auf dem Arm und sagte: „Ist Tachechana nicht die Tochter eines berühmten Kriegers, war sie nicht immer Mahtoree eine gute Squaw? Und schenkte sie ihm nicht diesen Sohn? Worum sollen jetzt zwei weiße Frauen neben ihr in seinem Zelt wohnen?“ Mahtoree schob seine Frau beiseite und trat wieder hinaus. Tachechana stand, als wäre sie zu einer Statue gefroren. Als die Starre aus ihren Gliedern wich, legte sie 634
den Knaben nieder und streifte allen Schmuck ab, den Mahtoree ihr geschenkt hatte, die Armbänder, die verschlungenen Kugelkränze von den Schenkeln und den silbernen Reifen von der Stirn. Ihre Stimme bebte, als sie ihr Kind aufhob und Inez hinstreckte. „Eine fremde Zunge wird meinen Knaben lehren, wie er ein Mann wird. Er wird die Stimme seiner Mutter vergessen. Aber so will es Manitu, und ein Siouxmädchen darf nicht weinen. Sprich sanft zu meinem Jungen, denn seine Ohren sind sehr klein.“ Da stand Mahtoree schon vor dem Zelt, er reckte sich zu einer hochmütigen, mißtrauischen Pose auf, als er Bush, dessen Frau und Abiram White vor sich sah. Bush war wütend, das war auf den ersten Blick zu erkennen, seine eng beieinanderstehenden Augen waren zusammengekniffen, er stieß das starke Kinn vor, zeigte auf Natty und schrie: „Dieser verdammte Gauner lebt in deinem Lager, anstatt längst am nächsten Ast zu hängen! Hast du vergessen, was wir vereinbart haben, als du in meiner Hand warst?“ Mahtoree erwiderte höhnisch: „Nie war Mahtoree der Gefangene der Bleichgesichter, aber sein Messer schwebte über den Köpfen der weißen Kinder.“ Natty schüttelte verwundert den Kopf und sagte zu Bush: „Glaubst du denn immer noch, daß ich die Sioux an dein Lager geführt habe?“ Bush antwortete scharf: „Du weißt genau, daß es um ganz andere Dinge geht.“ Er packte den Gewehrkolben fester, Schweiß trat auf seine Stirn unter der Marderfellkappe, er preßte die Kiefer so fest aufeinander, daß Wülste über den Wangenknochen vorsprangen. Mahtoree merkte, daß er nicht zu weit gehen durfte, der Waffenstillstand mit Bush war in Gefahr, und es lag nicht 635
im Interesse des Sioux-Häuptlings, es in der gegenwärtigen Situation zum Bruch kommen zu lassen. So setzte er versöhnlicher hinzu: „Friert mein Bruder? Ich besitze Büffelhäute im Überfluß. Ist er hungrig? So sollen meine jungen Leute Wildbret zu seinen Wagen bringen.“ „Ach was! Ich verlange, daß unser Vertrag eingehalten wird. Ich brauche keine Häute und kein Fleisch, ich bestehe auf meinem Recht! Sioux, du hast versprochen, mir meine Gefangene, meine Nichte und diesen Landstreicher da auszuliefern!“ Mahtoree stemmte sich auf seinen Speer, eine Minute lang dachte er nach, ehe er sagte: „Das Schneehaar kann nicht mehr weit gehen, seine Beine sind steif. Er wird bei den Sioux bleiben, damit sie aus seinem Mund die Weisheit hören. Die beiden weißhäutigen Töchter können nicht zurückkehren, denn sie wohnen schon in Mahtorees Zelt, sie werden einem großen Häuptling Kinder gebären. Doch Mahtoree hat eine offene Hand.“ Er zeigte auf Esther, als er weitersprach: „Siehe, dieses Weib ist zu alt für dich, du solltest es wegschicken. Ich bin dein Bruder und werde dir die Blume der Sioux senden, sie heißt Tachechana, sie wird bei dir wohnen und dein Wildbret braten, sie wird dir starke Söhne schenken. Und für das Hochzeitsmahl schickt Mahtoree Fleisch im Überfluß zu deinen rollenden Häusern. Siehe, ich bin großzügig.“ Inzwischen hatten sich einige Dutzend Krieger neben ihren Häuptling gestellt, Bush sah mißtrauisch, daß sie ihn fast eingeschlossen hatten. Er hörte sich an, wie Natty die Rede des Häuptlings übersetzte, Esther kreischte wütend auf, White fluchte, aber Bush besaß so viel Selbstbeherrschung, die erlittene Kränkung hinunterzuschlucken, denn ihm war klar, daß er einen offenen Zusammenprall nicht wagen durfte. Er forderte 636
noch einmal das, was er für sein Recht hielt, brüllte, die Bedingungen des Waffenstillstandes wären durch die Sioux gebrochen, und stapfte, als Mahtoree bei seinem Standpunkt blieb, wütend zu seinem Lager zurück. Dort gab er den Befehl zum Aufbruch. Da er den Sioux stets mißtraut hatte, war sein Vieh zusammengehalten worden, jetzt ließ er hastig die Zelte abbrechen und aufladen. Ungehindert zog seine Sippe mit Sack und Pack eine Meile weiter und hielt auf einer Höhe, die sich in Sichtweite des Lagers der Sioux über dem Flußufer erhob. Dort schlug er erneut seine Zeltpfähle ein und ließ sein Vieh weiden. Inzwischen nahm im Indianercamp seinen Fortgang, was Mahtoree seit Tagen vorbereitet hatte. Von ihm aufgestachelte Frauen gingen von Zelt zu Zelt und erinnerten in schrillen Reden an alle Wunden, die ihnen die Pawnees, geführt von Stahlherz, in vielen Kämpfen geschlagen hatten. Eine Familie hatte den Sohn verloren, die andere Vieh und Felle eingebüßt. „Denkt an die Skalpe der Sioux“, schrien die Frauen, „die im Rauch der Pawneehütten dörren!“ So peitschten sie Leidenschaften und Racheinstinkte hoch und riefen den Stamm auf, sich um das Zelt mit den Gefangenen zu versammeln. Stahlherz wurde herausgeführt und an einen Pfahl geschnürt, Middleton und Hover, die noch immer gefesselt waren, zu seinen Füßen niedergelegt. Um sie herum versammelten sich die Sioux zur endgültigen Beratung über Tod oder Leben. Ein alter Krieger zündete die Beratungspfeife an, blies den Rauch nach allen vier Himmelsrichtungen und reichte sie Mahtoree, der sie an einen hochbetagten Häuptling weitergab. Ein alter Krieger ergriff das Wort und plädierte dafür, die Gefangenen zu töten. Dieser Vorschlag wurde vor allem von den jüngeren 637
Kriegern leidenschaftlich begrüßt, der nächste Redner jedoch warnte, die Weißen umzubringen - für Stahlherz allerdings fand auch er kein Wort der Gnade. Denn die Weißen, so argumentierte er, würden ihre vermissten Krieger überall suchen, sie wären mächtig und würden sich fürchterlich rächen. Da rief Mahtoree: „Wenn die Erde mit Ratten bedeckt wäre, bliebe kein Raum für die Büffel, die dem Indianer Nahrung und Kleidung liefern. Wären die Prärien voller Pawnees, wüßte ein Sioux nicht, wohin den Fuß stellen. Ein Pawnee ist eine Ratte, ein Sioux aber ein Büffel, deshalb müssen wir die Ratten tottreten, damit die Prärie frei für uns ist!“ Mahtoree nannte Namen auf Namen von Siouxkriegern, die in den Gefechten mit den Pawnees ihr Leben eingebüßt hatten, und schrie schließlich: „So soll die Ratte sterben!“ Aus der Menge heraus drang der Ruf: „Mahtoree wird im offenen Kampf zeigen, daß er ein Büffel ist!“ Mit dieser Wendung hatte Mahtoree nicht gerechnet, er hatte vorgehabt, Stahlherz am Marterpfahl auf grausame Weise umzubringen, aber natürlich war er zu stolz, diesen Zwischenruf zu ignorieren. Wild entschlossen schrie er: „Bindet die Ratte los!“ Die Stricke wurden aufgeknüpft, Stahlherz trat vom Pfahl weg auf Mahtoree zu, Frauen drängten sich an ihn heran und überschütteten ihn mit Beschimpfungen. Ein Krieger, dessen Sohn von Stahlherz getötet worden war, schwang sein Beil, aber Stahlherz war schneller und hielt den Arm des Angreifers fest. Reglos, wie gebannt standen sich die beiden gegenüber, da riß Stahlherz das Beil an sich und ließ es auf den Kopf seines Gegners niedersausen. Mit einem Schrei schwang er es gegen die Frauen, sie stoben auseinander, durch sie hindurch rannte Stahlherz dem 638
Abhang zu, sprang, fiel hinunter, überschlug sich, blieb in einem Gesträuch hängen, Pfeile surrten über ihn hinweg, er sah den Fluß unter sich und die Sioux in dichter Kette am Hang, verschwand in einer Staubwolke und rollte ins Schilf, das den Fluß säumte. Oben am Steilhang stand Mahtoree. Einige junge Krieger wollten dem Flüchtigen nachstürzen, aber Mahtoree hielt sie zurück. Denn durch das flache Wasser preschten berittene Pawnees, Stahlherz watete auf sie zu, durchschwamm einen Flußarm, in dem ihn das Wasser abwärts riß, und vereinigte sich auf einer Sandbank mit seinen Stammesgenossen. Auf den jenseitigen Höhen wirbelte Staub auf, dort schwärmten Pawnees vor. „Manitu spricht“, murmelte Mahtoree. „Er will die Sonne nicht auf Sioux und Pawnees scheinen lassen.“ Er schrie: „Männer meines Stammes, reißt die Zelte nieder!“ Die Jungen rannten in den Grund hinab, um die Pferde zu satteln, die Männer nahmen Pfeile und Speere von den Pfählen und hängten die Köcher um. Die Zelte wurden zusammengelegt und auf Lasttiere verpackt, Mütter schnürten ihre Säuglinge auf den Rücken, die größeren Kinder trieben das Vieh zusammen. In dem scheinbaren Wirrwarr war System, jeder wußte aus langer Erfahrung, was zu tun war, und schon nach wenigen Minuten zeichnete sich eine Gliederung ab: Der Troß zog in eine Senke, formierte sich unter dem Schutz der älteren Männer und der Halbwüchsigen, die Krieger sprengten zu den Häuptlingen, reckten die Speere und erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei.
3 lsmael Bush rieb mit einem Lappen über die Silberplatten auf seinem Gewehrschaft, ihm war kaum bewußt, daß er es tat. Er stand auf einem Wagen, lehnte an 639
einer Planenstütze, sein Hemd war aufgeknöpft bis zum Gürtel. Für sein Lager hatte er den richtigen Platz gewählt, das begriff er mit jeder Minute besser: Er konnte den Aufbruch der Sioux und das Anrücken der Pawnees beobachten, sie würden in seinem Blickfeld zusammenstoßen, ohne ihn in die Kämpfe zu verwickeln. Da Mahtoree weder Inez und Ellen noch den alten Trapper herausgegeben hatte, fühlte sich Bush nicht mehr an die Bedingungen des Waffenstillstandes gebunden. Er mußte den Sioux nicht gegen die Pawnees beistehen, und das war ihm gerade recht. Bushs Söhne trieben das Vieh in die Wagenburg, legten sich zwischen die Räder und vereinbarten, in welcher Reihenfolge geschossen werden sollte. Esther und Phoebe standen hinter ihnen bereit, die Gewehre zu laden, Phoebe rief: „Aber einmal darf ich heute auch schießen, Vater hat es mir versprochen!“ Bush überblickte seine Festung, er fand nichts auszusetzen. Das Lager der Sioux war fast geräumt, der Troß sammelte sich in der Senke vor Bushs Wagenburg, die Krieger hatten die Höhen über dem Fluß besetzt. Es würde zum Kampf kommen; wie dieser ausging, ließ Bush kalt. Indianer würden durch Indianer getötet werden, dann war mehr Platz für weiße Siedler, und das war für Bush die Hauptsache. Abiram White stellte sich neben Bush, er sagte: „Gute Gelegenheit, unser Goldpferdchen wieder zu schnappen.“ „Daß du nichts anderes im Kopf hast! Mir wäre lieber, wir hätten diese Geschichte gar nicht erst angefangen.“ „Wir haben aber! Und du warst von Anfang an dabei, Schwager, vergiß das nicht.“ „Du hast mich angestiftet.“ „So was interessiert kein Gericht“, erwiderte White 640
hämisch. „Wir könnten jetzt allerhand bereinigen: Du holst dir Ellen wieder, denn ein so fielßiges und williges Kindermädchen findest du weit und breit nicht. Mit dem verdammten Trapper, der Asa umgebracht hat, machen wir kurzen Prozeß, ebenso mit Middleton. Den anderen Strolch...“ „Daß du mir keinem ein Haar krümmst!“ brüllte Bush. „Den Trapper will ich lebendig fangen, wir werden ihn richten, wie es in der Prärie Brauch ist. Inez und ihr Mann interessieren mich nicht mehr, diese Geschichte ist für mich beendet, verstehst du?“ White preßte die Hände so fest um sein Gewehr, daß die Knöchel weiß wurden. Er spuckte geräuschvoll aus und brüllte: „Ich laß mir von dir nicht das Geschäft meines Lebens verderben!“ Bush antwortete nicht, seine Aufmerksamkeit war voll und ganz von dem beansprucht, was zu beiden Seiten des Flusses geschah. Stahlherz hatte das gegenüberliegende Ufer erreicht, seine Stammesgenossen gaben ihm Waffen, er bestieg ein Pferd und trieb es in den Fluß. Von der anderen Seite sprengte ihm Mahtoree entgegen, auf der Sandbank inmitten der Strömung begegneten sie sich. Beide waren gleich bewaffnet, trugen Speer und Schild, Pfeil und Bogen, Tomahawk und Messer. Sie ritten aufeinander zu, es schien Bush, als ob sie miteinander sprächen, vielleicht beschimpften sie sich, vielleicht versuchte jeder, den anderen zum Rückzug zu bewegen, womöglich aber, und bei diesem Gedanken erschrak Bush, versuchte einer, ein Bündnis gegen die weißen Farmer zustande zu bringen. Mahtoree eröffnete den Kampf, blitzartig spannte er den Bogen und ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen. Für Stahlherz blieb keine andere Gegenwehr möglich, als sein 641
Pferd hochzureißen; der Pfeil traf es in den Hals. Stahlherz schoß zurück, sein Pfeil blieb im Schild des Sioux stecken. Nun hagelte es Pfeile von beiden Seiten, bis die Köcher leer waren. Die Häuptlinge konnten immer wieder ausweichen, aber die Pferde wurden mehrmals getroffen und stürzten beinahe gleichzeitig in den Sand. Stahlherz verfing sich in den Zügeln, Mahtoree sprang mit dem Beil in der Hand auf ihn los, doch Stahlherz riß sein Messer aus dem Gürtel und schleuderte es gegen den Sioux. Mahtoree wollte ausweichen, rutschte aber aus, das Messer traf seine nackte Brust und drang tief ein. Mahtoree packte den Griff, er schien zu zaudern, ob er das Messer herausziehen sollte; er wankte auf seinen Gegner zu, das Beil entfiel seiner Hand, im Todeszucken wandte er sich zur Seite und kippte kopfüber ins Wasser, das ihn augenblicklich davontrug. Sioux und Pawnees hatten stumm und atemlos dem Zweikampf ihrer Häuptlinge zugesehen, jetzt stürzten sie. sich erbittert in die Schlacht. Auf der Sandbank prallten sie zusammen, schössen und stachen, Pferde bäumten sich wiehernd, bald war das Wasser blutig rot. Die Pawnees waren nicht so gut beritten wie ihre Feinde, aber sie schössen schon aus dem Wasser heraus viele Pferde ihrer Gegner ab, und im Kampf mit Messer und Beil zeigten sie sich überlegen. Truppweise warf Stahlherz seine Krieger in den Kampf, der Sieg ihres Häuptlings hatte den Pawnees Mut gemacht, wild schreiend eroberten sie die Insel und folgten den Fliehenden auf das andere Ufer. Am Steilhang, zwischen Büschen und überhängenden Wurzeln, versteifte sich der Widerstand, aber Stahlherz führte seinen Reitertrupp weiter unten durch das Wasser und fiel den sich verzweifelt wehrenden Sioux in die Flanke. 642
Da gab der alte Häuptling, der den Troß der Sioux befehligte, den Befehl zum Rückzug. Bush hatte jede Phase des Gefechts mit fieberhafter Aufmerksamkeit beobachtet. Die Sioux hatten die Schlacht verloren, das war keine Frage, nun würden sie versuchen, sich mit so wenig Verlusten wie möglich zurückzuziehen. Sie führten mit einem Dutzend Reiter einen Gegenstoß, noch gab es genügend junge Sioux, die die Flanken decken konnten, die um die vorrückenden Pawnees herumschwärmten und sie mit ihren Pfeilen beschossen. Stahlherz hatte von der Sandbank aus die Räumung des Lagers nicht beobachten können, ihn zog es zu der Stelle, an der er gefangengehalten worden war, deshalb führte er den Kern seiner Streitmacht im Bogen um den Steilhang herum über den Hügel hinauf. Dort oben reckte er seinen Speer, sein Siegeslied klang weit über das Schlachtfeld. Er hatte Mahtoree getötet, jetzt stürzte er den Pfahl um, an den er gebunden gewesen war. Nur etwas fehlte zum völligen Triumph: Der Skalp Mahtorees hing nicht an seinem Gürtel, das hatte der Sioux mit einer letzten übermenschlichen Anstrengung verhindert. Geschrei ließ Bush den Blick wenden, da sah er, daß White und zwei seiner Söhne den Hang hinabrannten. Der Troß der Sioux zog ab, zwei weiße Frauen wurden mitgeführt, am Ende hinkte der alte Trapper. Bush schrie Abner zu, daß er auf seinem Posten bleiben sollte, und rannte White nach. Ein paarmal hob er das Gewehr und scheuchte halbwüchsige Sioux zurück, eine Frau, die sich ihm mit gezücktem Messer in den Weg stellte, schleuderte er zu Boden. Er verlor seine Kappe, nun brach sich seine ganze ungeheure Kraft Bahn, wie ein Büffel stürmte er auf die Sioux ein, brüllend und schnaubend warf er jeden beiseite, der ihn aufhalten wollte. Jetzt sah er, daß auch 643
Middleton und Hover fortgeschleppt wurden, die Sioux hatten sie an Packpferde angebunden. „Ellen!“ schrie Bush, „eine Minute nur noch!“ Der alte Häuptling, der den Troß führte, begriff, daß die anrennenden Farmer nichts anderes im Sinn hatten, als die Weißen zu befreien. Da er nicht zwischen zwei Feuer geraten wollte, zog er seine Bedeckung von den gefangenen Frauen ab; so kam es, daß Bush mit dem einen Arm Inez, mit dem anderen Ellen an sich reißen konnte; er kam sich als großmütiger Befreier vor, im Augenblick hatte er völlig vergessen, welches Verbrechen von ihm an Inez begangen worden war. Er schrie seinen Söhnen zu, den Trapper nicht entwischen zu lassen. White hatte schon Hover und Middleton von den Packpferden losgeschnitten, die Fesseln an ihren Händen löste er jedoch nicht und trieb die beiden auf die Wagenburg zu. Einer von Bushs Söhnen zerrte Natty Bumppo zwischen kreischenden Siouxfrauen heraus; jetzt tauchten schon die ersten Pawneereiter vor dem Nachtrab der Sioux auf, Pawnees und Sioux verbissen sich abermals ineinander, und Bush konnte sich absetzen. Er packte den Trapper am Genick und schrie: „Jetzt wird abgerechnet, Freundchen!“ Aber als Bush in seine Wagenburg zurückgekehrt war, hatte er seine gewohnte Beherrschung wiedergewonnen. Er befahl, Middleton, Hover und Natty Bumppo in ein Zelt zu sperren, Inez brachte er zu dem Karren, in dem sie viele Wochen zugebracht hatte. Dabei brummte er: „Haben Sie keine Angst, Miß. Morgen wird alles geklärt.“ Kopfschüttelnd stand er vor Ellen, er sagte: „Mußtest du mir das antun? Hast es bei mir nicht gut gehabt?“ Ellen rief: „Aber was sollte ich denn tun? Ja, mir hat es hier an nichts gefehlt, aber da kam Paul und...“ Bush wartete das Ende dieser Erklärung nicht ab. Wieder 644
kletterte er auf den Wagen hinauf, von dem aus er den Beginn der Schlacht beobachtet hatte. Jetzt näherte sie sich ihrem Ende. Manche Sioux flüchteten sich in hohes Gras und Gestrüpp, in das die Pferde ihrer Feinde nicht eindringen konnten, die Pfeilschüsse der Pawnees wirkten hier weniger. Stahlherz zersprengte mit fünfzig Reitern den letzten geschlossenen Trupp der Sioux, dann war die Flucht allgemein. Frauen und Kinder stoben auseinander und versuchten sich zu verstecken, aber überall schwärmten die Reiter der Pawnees, und die Schlacht löste sich in viele blutige Gemetzel auf. Es war Bush klar, daß nur wenige Sioux das Hauptlager ihres Stammes erreichen würden. Einer seiner Söhne schrie: „Jetzt können wir Beute machen!“ Bush brüllte: „Keiner verläßt das Lager!“ Allmählich wurde es still über der Prärie. Geier und Krähen stürzten sich auf die Leichen von Pferden und Menschen. Wo das Lager der Sioux gewesen war und von dort in der Richtung ihrer Flucht sammelten Pawneefrauen auf, was ihnen von Wert erschien, Messer und Kleidungsstücke, Decken und Hausrat. Ihnen folgten Füchse und Coyoten. Esther Bush stellte sich neben ihren Mann und fragte: „Willst du immer noch, daß wir hier unsere Farm gründen?“ „Hier bleibe ich um nichts in der Welt. Morgen ziehen wir weiter. Aber vorher wird Gericht gehalten.“ In der Nacht flackerten weit im Umkreis die Lagerfeuer der Pawnees. Bush und seine Söhne wechselten sich mit der Wache ab. Im Zelt, in dem die Kinder schliefen, lag Ellen Wade, zwei kleine Jungen hatten ihre Arme um sie geschlungen. Natty Bumppo hockte zwischen Middleton und Hover, seine Hände und Fußgelenke waren gefesselt. „Wenn ich nur wüßte“, sagte er, „was Bush mir wirklich 645
vorwirft. Mit diesen Fesseln tut er mir viel zuviel Ehre an. Meine Beine machen mir schon seit langem Sorgen, aber seit ich durch den Fluß geschwommen bin, sind sie steif wie Bretter. Wenn ich hier herauskommen sollte, werde ich einen Dachs schießen, das Fett aus der Haut kochen und damit mein altes Fell einreihen. Vielleicht hilf t es.“ Middleton fragte: „Und wie hoch setzen Sie die Chance an, daß wir entwischen?“ „Bush möchte kurzen Prozeß machen. Aber ich hoffe auf Stahlherz. Solche Indianer habe ich in meiner Jugend kennengelernt, vielleicht ist er einer der letzten dieser Art. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er uns im Stich läßt.“ Bush hatte die Wache vor dem Morgengrauen übernommen. Der Himmel war klar; Dunststreifen hingen über dem Fluß, die Silberwölkchen über den Sümpfen lösten sich rasch auf. In völliger Ruhe und Windstille lag das weite wellige Land. Als Bush mit einem Hammer gegen eine Pflugschar schlug, flogen eine halbe Meile entfernt Krähen auf. Bush schritt mit finsterer, entschlossener Miene durch das Lager. Seine Söhne, die seinen Ernst, seine Beharrlichkeit und seinen Jähzorn kannten, beeilten sich, die Arbeiten zu tun, die dem Wecken folgten, das Vieh zum Fluß zu treiben und das Feuer anzufachen. Esther spürte, daß sich etwas Außergewöhnliches vorbereitete, und dämpfte ihre Stimme. So, als hätte sie nie diese Familie verlassen, half Ellen, die Morgensuppe zu kochen. Bedrückt und nervös war Abiram White. Einmal trat er, das Gewehr in der Hand, an das Zelt heran, in dem die Gefangenen lagen. Als er merkte, daß Bush ihn nicht aus den Augen ließ, ging er weiter. Schweigend wurde die Suppe gelöffelt, danach befahl Bush, die Gefangenen herzubringen. Hover und Middleton 646
bemühten sich, so gleichmütig wie möglich zu erscheinen, Inez lehnte sich an die Schulter ihres Mannes. Mit einem Wink befahl Bush, Ellen solle sich neben Inez stellen. Gerade wollte er das Gericht eröffnen, als Abner in die Steppe hineinzeigte; dort tauchten drei Reiter auf. Zwei hielten hundert Schritt vor dem Lager an, einer ritt näher, es war Stahlherz. Er schwang sich aus dem Sattel und sagte: „Die Pawnees wollen wissen, was mit dem Mann geschieht, dessen Haupt grau ist. Die Pawnees brauchen seine Weisheit.“ Bush antwortete gelassen: „Du wirst es erfahren.“ Er ging mit solcher Ruhe und Entschlossenheit ans Werk, als sei die patriarchalische Macht, die er jetzt ausübte, allgemein anerkannt. Seine mächtigen Fäuste hingen herab, Falten durchzogen seine Stirn, niemand konnte sich der Ehrfurcht vor dem Tribunal, das er eröffnete, völlig entziehen, nicht einmal der gebildete Middleton. An ihn wandte sich Bush zuerst und sagte: „Ich versehe heute ein Amt, wie es in den Siedlungen den Richtern zukommt. Von der Juristerei verstehe ich nicht viel, aber ein Gesetz kenne ich, es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es paßt in die Prärie, also werde ich mich daran halten.“ Sofort rief Middleton: „Wenn der Verbrecher bestraft wird und der, der niemandem ein Unrecht zugefügt hat, gehen kann, müßten wir beide die Plätze tauschen.“ Bushs Miene verdüsterte sich noch mehr, er erwiderte: „Sie möchten damit sagen, Hauptmann, ich hätte ein Verbrechen begangen, als ich Ihre Frau entführte und in diese Wildnis verschleppte. Ich mag eine böse Tat nicht durch Lügen noch schwärzer färben. Mir ist genug Zeit geblieben, über diese Geschichte nachzudenken, und so sage ich Ihnen, daß ich sie bereue. Deshalb wird die Lady zu ihrem Vater zurückkehren.“ 647
Höhnisch warf White ein: „Denkst du, damit änderst du etwas an dem, was geschehen ist? Wenn du mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hast, so wird er dir am Ende die Rechnung präsentieren.“ Bush hob die Faust. „Du hast mich in diese Sache hineingehetzt, jetzt hindere mich wenigstens nicht daran, wieder herauszufinden.“ Middleton rief Bush zu: „Wenn Sie schon Ihren Fehler einsehen, dann bleiben Sie wenigstens nicht auf halbem Wege stehen und sichern Sie sich Freunde, die Sie vor dem Gesetz schützen können.“ „Sie haben jetzt genug gesprochen, junger Mann“, erwiderte Bush. „Die Sache ist entschieden, Sie und Ihre Frau dürfen gehen. Abner, binde den Hauptmann los. Jetzt zu dir, Hover. Du bist wochenlang um mein Lager herumgeschlichen; bei der ersten Gelegenheit hast du ein Mädchen gestohlen, das ich gern als Schwiegertochter gesehen hätte. Ellen hat in meiner Familie gelebt, auf einmal kommst du daher und ...“ „Laß doch“, unterbrach Esther. „Jede Frau hat ihren Willen, und dass Ellen ihren Honigsammler liebt und nicht einen unserer Söhne, das sieht ein Blinder.“ Bush schnaufte. Sein Plan für den Schiedsspruch, den er sich für alle Beteiligten zurechtgelegt hatte, geriet in Gefahr, aber er ließ sich so weit umstimmen, daß er brummte: „Gut, Ellen, dann rede du.“ „Ihr habt mich aufgenommen“, sagte Ellen sofort, „ich war eine einsame Waise, ich habe es bei euch nicht schlechter gehabt als eure eigenen Kinder, und dafür möchte ich euch danken. Aber ich liebe Paul Hover und keinen eurer Söhne. Obendrein habe ich Lady Middleton versprochen, bei ihr zubleiben.“ Bush nickte. Er befahl, Hovers Fesseln zu lösen, sofort 648
warf sich Ellen in die Arme ihres Verlobten. Bush fragte Middleton: „Nur das noch, Hauptmann: Soll ich Ihnen ein Gespann geben, mit dem Sie zum Mississippi zurückkehren können? Ich habe genug Pferde, suchen Sie sich welche aus.“ Middleton zeigte auf den noch immer gebundenen Natty und sagte: „Ich breche nicht auf, ehe ich nicht weiß, was aus diesem alten Mann wird. Er ist seit beinahe einem halben Jahrhundert ein Freund meiner Familie. Warum wird er nicht ebenfalls freigelassen?“ Bush nahm die Kugel, die seinen Ältesten getötet hatte, aus der Tasche und sagte: „Damit hat dieser Trapper meinen Sohn Asa ermordet.“ Sofort rief Middleton: „Ich halte es für ausgeschlossen, daß Natty auf einen Menschen schießt, wenn er sich nicht verteidigen muß.“ Aller Blicke waren auf Natty gerichtet, er sagte: „Ich habe lange gelebt und viel Böses gesehen. Aber nie habe ich eine Tat begangen, der ich mich schämen müßte. Ich versichere euch, ich habe keinen eurer Familie umgebracht. Aber mir ist, als ich euch meine Flinte und meine Kugeln zeigte, eine Kugel verlorengegangen. Vielleicht ist sie mir auch gestohlen worden. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.“ . Bisher hatte Stahlherz schweigend zugehört, jetzt trat er vor. Er streckte beide Hände aus, eine hielt den Speer, die andere war zum Himmel gerichtet, als rufe er Manitu als Zeugen an. Er sprach laut und gewichtig, als formuliere er einen Eid. „Ein Häuptling der Pawnees hat keine gespaltene Zunge! Stahlherz lag verborgen in der Steppe, er sah zwei Weiße. Einer hob das Gewehr, als der andere nach Büffeln spähte, und schoß ihm in den Rücken.“ Bush knurrte: „Das war dieser elende Trapper!“ 649
Stahlherz sprach weiter: „Es war nicht der Mann, der Schnee auf dem Haupt trägt. Dieser da ließ das Gewehr blitzen!“ Und Stahlherz zeigte auf Abiram White. Der Sklavenhändler erschrak so sehr, daß alles Blut aus seinem Gesicht wich. Er wollte etwas entgegnen, aber seine Zunge versagte. Stahlherz schrie: „Manitu hat dem Mörder die Sprache genommen, Manitu ist gerecht!“ Bush sprang auf White zu und packte ihn an der Brust. „Du Schuft!“ keuchte er, „du hast mich in einen Menschenraub hineingehetzt, und du hast meinen Sohn ermordet, weil er dich einen Verbrecher nannte. Mein Gesetz gilt: Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ White hatte sich ein wenig gefangen, aber es war doch nur ein Röcheln, als er sagte: „Ich habe ihn nicht ermordet, Asa hat mich angegriffen.“ Bush brüllte: „Lüg nicht! Die Wunde war im Rücken!“ Abner sprang hinzu, mit vereinten Kräften überwältigten Bush und sein Sohn den Sklavenhändler, schnürten ihm die Hände zusammen und banden ihn an das Rad eines Wagens. Unterdessen löste Middleton Nattys Fesseln. Bush schwankte mehr, als daß er ging, auf Middleton zu, seine Stimme klang wie nach einer schweren Krankheit, als er sagte: „Geht jetzt, geht alle so schnell wie möglich!“ Er setzte sich auf eine Wagendeichsel und starrte auf seine Fäuste, ihm schien, als kämen alle Laute um ihn von ganz weit her. Er sah Asa neben sich dem Treck voranschreiten, er sah, wie Asa sich in die Speichen warf, um mit seinen Bärenkräften einen Wagen aus einer Senke herauszuschieben, er sah ihn auf dem Felsen stehen und nach Westen über eine grenzenlose Weite blicken. Einmal strich eine Hand über Bushs Schulter, neben seinen Stiefeln sah er den Saum von Ellens Rock, da murmelte er: „Gott segne dich, Mädchen.“ Eine Stunde lang saß er 650
so; als er aufblickte, rollte draußen in der Prärie ein Wagen, Stahlherz ritt daneben, Natty Bumppo hinkte hinterher. Am Mittag dieses Tages befahl Bush den Aufbruch. Abner hatte schon die Zugtiere einspannen lassen, jetzt scheuchte Phoebe ihre kleinen Geschwister auf die Wagen, dabei gebrauchte sie die gleichen Worte wie sonst Ellen. Ismael Bush und Abner warfen den gefesselten White auf den Karren, auf dem Inez bisher transportiert worden war. „Zurück“, befahl Bush, „zum Mississippi.“ Niemand hatte etwas anderes erwartet. Bush schritt dem Treck voran, wie er es wochenlang getan hatte, er suchte den günstigsten Weg, manchmal stützte er sich auf sein Gewehr und starrte zu Boden. Dann hielt der Zug, niemand wagte Bush anzusprechen. Als die Schatten länger wurden, wies Bush in eine Senke hinab. Das Vieh wurde in einem Tümpel getränkt, die Söhne stellten die Karren im Halbkreis auf. Als jedem seine Arbeit zugewiesen worden war, stiegen Bush und seine Frau auf einen Hügel; hier stand eine Weide, Trockenheit und Frost hatten sie absterben lassen, wie die Finger eines Toten krümmten sich die nackten Zweige. Dicht daneben fiel das Gelände steil ab. Bush sagte: „Esther, wir haben einen langen gemeinsamen Weg hinter uns und haben Freud und Leid geteilt, aber eine so schwere Entscheidung mußten wir noch nie fällen. Ich hielt den Trapper für den Mörder unseres Sohnes, ich hätte ihn gerichtet, ohne mit der Wimper zu zucken. Soll nun der, der Asa wirklich gemeuchelt hat, straflos ausgehen?“ „Vergiß nicht, Abiram ist mein Bruder. Müssen wir nicht barmherzig sein?“ „Aber als wir den Trapper für den Mörder hielten, war von Barmherzigkeit und Gnade nicht die Rede. Weißt du 651
noch, was du verlangt hast, als wir unseren toten Sohn fanden?“ Esthers Stimme war kaum zu hören, als sie erwiderte: „Ich bin Mutter, aber ich bin auch Schwester. Ismael, du forderst zu viel von mir. Richte du, ich kann nicht.“ Sie schaute ihren Mann an, für einen Augenblick trafen sich ihre Augen, wortlos gingen sie zum Lager zurück. An diesem Abend sanken alle in tiefen Schlaf wie nach einer schweren Erschöpfung, nur die Posten umkreisten das Lager. Im Morgengrauen befahl Bush, White vom Karren zu heben und auf die Füße zu stellen. „Abiram White“, sagte Bush, „du hast meinen Erstgeborenen ermordet, nach dem Gesetz Gottes und der Menschen mußt du jetzt sterben.“ White murmelte etwas, das niemand verstand, er wurde von einem trockenen Husten gequält. „Sterben?“ röchelte er. „Aber ich bin dein Verwandter, du kannst doch nicht...“ „Auch Asa war dein Verwandter, und doch hast du ihn umgebracht. Mit dem Gewehr hast du meinen Sohn ermordet, und es ist nur gerecht, wenn du ebenfalls durch das Gewehr stirbst.“ White blickte wie wahnsinnig um sich, mit einem irren Lachen wollte er sich selbst davon überzeugen, daß hier ein makabrer Scherz getrieben wurde. Aber die tiefernsten Gesichter seiner Neffen belehrten ihn, daß jede Hoffnung vergeblich war. Bush sagte noch einmal: „Meine Worte sind klar, Abiram White. Du hast einen Menschen ermordet, deshalb mußt du sterben.“ White schrie: „Wo ist Esther? Schwester, du darfst mich nicht verlassen!“ „Schluß jetzt!“ Bush warf White auf den Karren. Pferde wurden vorgespannt, Bush wies auf die Weide oberhalb 652
des Lagers. Dort prüfte Bush die Fesseln, mit denen Whites Arme zusammengeschnürt waren, legte ihm die Schlinge um den Hals, warf den Strick über einen Ast und band ihn am Stamm fest. Er sagte: „Du hast jetzt Zeit, mit deinem Gott ins reine zu kommen, danach sollst du dein eigener Richter sein. Das Amt des Henkers habe ich in deine Hände gelegt. Einen Schritt vor dir ist der Abgrund. Wenn du gebeichtet hast, dann spring!“ „Gnade“, flüsterte White, „Ismael, vergiß nicht, ich...“ „Nichts ist vergessen“, erwiderte Bush, „am wenigsten das, was ich selbst falsch gemacht habe. Es gibt nur eine Gnade für dich: Ich kürze mit meiner Flinte die Zeit deiner Reue ab.“ „Ich will leben, ich ...“ „Auch Asa wollte leben.“ Bush wandte sich ab, Abner lenkte den leeren Karren zum Lager. Wenig später schwankten die Wagen aus der Senke hinaus, die Peitschen knallten, die Männer warfen sich in die Speichen, Staub wirbelte unter den Hufen auf. Stumm saß Esther Bush zwischen ihren Kindern. Ismael schritt vor dem Zug, das kantige Kinn auf die Brust gedrückt, das Gewehr im Arm, die scharfe, blinkende Axt über der Schulter. In seinem Rücken sammelten sich die Geier.
4 Ohne Zwischenfall führte Stahlherz die fünf Weißen, die er in seine Obhut genommen hatte, in sein Dorf. Der Wind ließ Wellen durch den Grasteppich laufen, wirbelte Sand über kahlen Flächen auf und spielte mit dem Laub in den Senken. Büffel zogen ihre Bahn, Hirschrudel wechselten von einem Waldstück zum anderen, über allem kreiste in königlicher Einsamkeit ein Adler. Manchmal ging Natty hinter dem Karren her, manchmal wechselte er mit Ellen den Platz, aber das Rütteln und 653
Stoßen des ungefederten Wagens bereitete ihm noch ärgere Schmerzen als das Laufen. „Am bequemsten ist es doch in einem Kanu“, sagte er zu Middleton. „Hat dir dein Großvater erzählt, wie wir einmal ein Blockhaus mitten in einem See gegen die Mingos verteidigten?“ Blockhaus, sann er, Blockhaus auf einer Insel und im See, beide Male war ein blondes Mädchen dabei. Aber Heyward? Stahlherz wurde als der strahlende Sieger über die Sioux empfangen. Tagelang wurde gefeiert, Mütter rühmten den ehrenvollen Tod ihrer Söhne, Frauen wiesen auf die Wunden ihrer Männer, als würden dadurch sie selbst geehrt, die Mädchen sangen und tanzten mit den jungen Kriegern. An vielen Pfählen vor Hütten und Zelten hingen die Skalpe der Sioux. Alte Männer erzählten von früheren Triumphen, wobei nicht der geringste Zweifel laut wurde, daß der jüngste Sieg so gewaltig war wie keiner zuvor. Stahlherz wurde immer wieder als der tapferste Kämpfer und entschlossenste Häuptling gerühmt, den Manitu jemals seinen geliebtesten Kindern, den Pawnees der Prärie, geschenkt hatte. Stahlherz sorgte dafür, daß Inez und Ellen eine Hütte zugewiesen wurde, mit Nattys Hilfe schlugen Middleton und Hover daneben ihr Zelt auf. Pawneefrauen brachten Mais und Fleisch. Die ganze Nacht hindurch loderten Siegesfeuer, klangen Tanzlieder. Natty saß im Zelt; er hatte sich von einem alten Pawnee ein Klümpchen Dachsfett geben lassen, ächzend rieb er seine Knöchel ein. Am nächsten Morgen meldeten die Wachen die Ankunft von Fremden; zu Middletons Freude waren es vier seiner Artilleristen. Sie meldeten, eine Tagereise westlich ankere ein Boot in einem Fluß, ein Kaufmann hätte mit geringem Erfolg versucht, mit den Prärieindianern Handel zu treiben; nun wolle er zurückkehren und hätte Plätze für 654
einige Passagiere frei. Mit großem Gefolge geleitete Stahlherz seine Gäste aus dem Lager. Auf halbem Wege stellte er seine Krieger im Halbkreis auf und hielt eine Rede voller blumiger Wendungen. Er rühmte die Taten der Pawnees auf der Jagd und im Krieg, bei der Verteidigung ihrer Rechte und bei der Bestrafung von Verbrechern. Ihnen gleich seien die Bleichgesichter, die zu ihnen gekommen wären, nicht, um die Büffel zu vertreiben oder das Wild zu schießen, das den Indianern gehörte. Böse Menschen hätten dem weißen Häuptling die Frau geraubt, sie wäre gehorsam, zart und lieblich über alle Maßen, der mächtige Häuptling hätte die Prärie durchstreift, um seine Frau zu befreien, die Pawnees hätten an seiner Seite gekämpft, nun wollte der weiße Häuptling nach Hause zurückkehren. Er wäre edelmütig wie die Pawnees, deshalb werde ihm ein Wampum geschenkt. Mit diesen Worten hängte Stahlherz dem Hauptmann eine Schnur mit aufgereihten Muschelschalen um den Hals. Die Rede, mit der Middleton antwortete, war nicht weniger feierlich. Er rühmte die Pawnees als hochherziges, tapferes Volk, er dankte ihnen, daß sie geholfen hatten, seine Frau den Händen von Räubern zu entreißen, und sprach die Hoffnung aus, sie bald wieder zu treffen und an ihren Feuern zu sitzen. Natty Bumppo übersetzte die beiden Ansprachen. Als er fertig war, fragte Middleton: „Und Sie wollen wirklich nicht mit uns kommen?“ „Die Einladung ist gut gemeint“, antwortete Natty, „aber was soll ich in meinen alten Tagen in der Stadt? Ich liebe die Wälder und die Prärie, aber die Häuser würden mich erdrücken. Du hast die Pawnees kennengelernt, Unkas, es gibt unter ihnen Gute und Schlechte wie bei den Weißen, 655
darin sind sie Menschen wie wir. Fast neunzig Sommer und Winter habe ich erlebt, meine Tage sind gezählt, und ich will sie in Ruhe verbringen.“ „Können wir etwas hierlassen, was Sie brauchen?“ „Ach, ich habe ja alles. Mein Gewehr haben mir die Sioux weggenommen, aber die Zeit des Jagens ist für mich vorbei, meine Augen werden immer schwächer. Ich weiß genau, Junge, du würdest mir alles schenken, was du besitzt, du bist genau wie dein Großvater.“ Er dachte nach und fuhr fort: „Und doch, meine besten Schlingen haben mir die Sioux gestohlen. Wenn ihr flußabwärts einen Trapper trefft, der hierher zieht, dann kauft Schlingen, macht ein Päckchen und malt sorgfältig mein Zeichen darauf, den Buchstaben N mit einem Hundeohr und einem Flintenhahn. Gebt das Päckchen dem Trapper mit. Ich danke euch jetzt schon dafür.“ Ellen rief: „Ich werde Ihnen die besten Schlingen schicken, die es überhaupt gibt.“ Natty wandte sich ihr zu und sagte: „Ach, Mädchen, es klingt seltsam, aber ich bin froh, daß du diese rauhe Gegend verläßt. Du paßt viel besser in eine Siedlung, und daß ich dich gern in meiner Nähe sehen möchte, spielt daneben keine Rolle. Paul ist dir fast bis in die Hölle gefolgt, so habt ihr euch den Himmel verdient.“ Er schmunzelte, als er hinzufügte: „Du warst Bushs Kindern wie eine zweite Mutter. Also wünsche ich dir zum Abschied ein Dutzend oder wenigstens ein halbes Dutzend eigene Kinder.“ Paul Hover konnte sich nur mit einem Händedruck verabschieden, ihm standen Tränen in den Augen, er wäre seiner Stimme nicht Herr geworden. Inez bedankte sich überschwenglich und versicherte, das Haus ihres Vaters stünde Natty jederzeit offen. „Schon gut, meine Kinder“, 656
sagte Natty. Damit drehte er sich um und folgte den Pawnees, die bereits zu ihrem Dorf zurückritten. Er ging langsam und mit einwärts geknickten Knien, er stützte sich auf einen Stock dabei. Auch auf dem nächsten Hügel sah er sich nicht noch einmal um, es schien, als hätte er die Menschen, die ihm nachschauten, schon vergessen. Die Flüsse führten reichlich Wasser, das Boot des Händlers trieb von einem Fluß in den anderen bis zum Vater aller Gewässer, dem Mississippi, und in weniger als dem Drittel der Zeit, die für eine Landreise nötig gewesen wäre, erreichten Inez und Unkas Middleton, Ellen Wade und Paul Hover das reiche, blühende, in stürmischem Aufschwung befindliche Louisiana. Don Augustin de Certavallos schloß seine Tochter überglücklich in die Arme, erschüttert dankte er seinem Schwiegersohn für ihre Rettung. Nur kurze Zeit konnte sich Middleton am häuslichen Glück erfreuen, dann wurde er wieder mit öffentlichen Aufgaben betraut, die seine ganze Kraft erforderten und seinen Einfluß stärkten. Für Paul Hover wurde eine geeignete Stellung gefunden, und kaum ein halbes Jahr später traten Ellen Wade und Paul Hover vor den Altar. Es war eine Zeit, die niemandem gestattete, die Hände in den Schoß zu legen. Ländereien wurden gekauft und verkauft und ihr Wert in kurzer Zeit auf das Zehnfache gesteigert. Wer über enge Beziehungen zur Regierung verfügte - und dafür hatte Certavallos für seine Person gesorgt -, ließ sich Konzessionen für Brennereien ausstellen, jeder trachtete danach, öffentliche Ämter zu bekleiden und nebenbei seine privaten Unternehmungen zu fördern. Straßen und Brücken wurden gebaut, Zuckerrohr und Baumwolle auf Flächen ausgesät, von deren Größe man vor Jahren nicht einmal geträumt hatte. Inmitten der Plantagen ließen sich die Grundherren 657
kostspielige Landhäuser in spanischem Stil errichten. Wer sein Kapital am schnellsten vermehren -wollte, handelte mit der Ware, ohne die keine anderen Werte geschaffen werden konnten, der sorgte dafür, daß der Zustrom an schwarzen Sklaven von den Westindischen Inseln und von Afrika herüber nicht abriß. Nach wenigen Monaten wurde Middleton befördert, als Major bereiste er im Auftrag seiner Regierung die neugewonnenen Gebiete bis an den Missouri hinauf, und im Herbst des folgenden Jahres durchstreifte er sogar den Landstrich, in dem die Dörfer der Pawnees lagen. Paul Hover begleitete ihn; auch ihm kam es nicht auf einige Tageritte an, um zu sehen, was aus Natty Bumppo geworden war. Middleton und Hover besorgten sich Pferde und ritten in Begleitung einiger Soldaten, von ortskundigen Indianern geführt, in die Prärie hinaus. Einige Meilen vor dem Ziel schickten sie einen Reiter ab, der ihre Ankunft melden sollte, langsam folgten sie ihm. Middleton hatte angenommen, Stahlherz würde ihm einen Boten entgegensenden, und wunderte sich, als es nicht geschah. Seinen Soldaten befahl er, mit der nötigen Vorsicht weiterzureiten; sie nahmen ihre Gewehre aus den Halftern und legten sie vor sich über die Sättel. Auf einem Hügel vor dem Indianercamp hielten sie an. Die Sonne ging eben unter und breitete ihr goldenes Licht über die Steppe, auf das Grün in der Senke, auf die Herden von Pferden und Büffeln und die Hütten und Zelte. Jetzt erst löste sich ein Trupp aus dem Dorf; Stahlherz ritt an der Spitze, er und seine Stammesgenossen waren unbewaffnet, niemand trug Schmuck, wie er gewöhnlich angelegt wurde, wenn rote Männer ihre Freunde willkommen hießen. Dem Empfang fehlte jede Wiedersehensfreude, Stahlherz bat mit einer 658
Handbewegung, ihm zu folgen. Middleton kannte die indianische Sitte, keine Neugier zu zeigen, aber dennoch fühlte er sich beklommen; er hatte mit einer freundlicheren Begrüßung gerechnet. Stahlherz sprach weder ein Wort, noch forderte er seine Besucher zum Reden auf. Die Hütten lagen leer, Hunde streunten umher, nur hier und da hockte ein halbwüchsiges Mädchen oder eine Mutter bei einem Säugling. Fast alle Bewohner waren auf dem Platz in der Mitte des Dorfes versammelt und bildeten einen dichten Kreis. Stahlherz gab einen Wink, der Ring öffnete sich. Die Reiter stiegen ab, Jungen führten die Pferde beiseite. Middletons und Hovers Verwunderung stieg noch, denn kein Ruf, kein Gesang, kein freudiges Gesicht begrüßte sie inmitten eines Stammes, von dem sie sich erst vor kurzem in gutem Einvernehmen verabschiedet hatten. Erst als Stahlherz seine Besucher durch die erstarrte Menge führte, begriffen sie. In einem primitiven Lehnstuhl saß Natty Bumppo. Seine Augen waren ohne Ausdruck, tiefe Falten furchten sein Gesicht, seine Haut war wächsern, der Mund schlaff. Es war keine eigentliche Krankheit, die ihn dahinraffte, sondern der allmähliche Verfall seiner Kräfte. Manchmal zuckte ein Lid, manchmal hob ein Atemzug die Brust. Der alte Trapper saß so, daß ihn die untergehende Sonne bestrahlte, einmal strich ein Luftzug über ihn hin und ließ die dünnen weißen Haare wehen, die über seine Schläfen hingen. Stahlherz neigte sich zu ihm und fragte: „Hört mein Vater die Worte seines Sohnes?“ In Nattys Augen schien das Leben zurückzukehren, leise antwortete er: „Sprich. Du weißt, daß ich fortgehen muß.“ „Der kluge alte Mann braucht sich nicht um seine Reise zu sorgen. Hundert Pawnees werden seinen Weg von Dornen säubern.“ 659
„Pawnee, ich sterbe als Christ, wie ich gelebt habe. Wenn ich vor meinen Gott trete, brauche ich keine Pferde und keine Waffen.“ „Erst sage mein Vater unseren jungen Kriegern, wie viele Feinde er erschlug. Sie wollen wissen, wie sie ihm nacheifern sollen.“ Es schien, als müßte Natty jedes Wort suchen; nur die, die ihm am nächsten standen, vermochten ihn zu verstehen. Feierlich sagte er: „Was ich getan habe, hat Gott gesehen. Er wird sich an das Gute erinnern und mich für meine Fehler bestrafen, aber dabei wird er gnädig sein.“ Middleton faßte Nattys Hand. Er nannte seinen Namen und setzte hinzu, daß er gekommen sei, um den alten Freund seiner Familie noch einmal zu sehen. Natty wandte mühselig den Kopf. „Es ist gut, daß du mich nicht vergessen hast, Unkas. Ich bin am Ende meiner Tage, manche Stunde war voller Mühen, aber es ist keine dabei, an die ich mich nicht gern erinnerte. Ich weiß noch, wie ich dich zum erstenmal sah, Soldat. Besinnst du dich, als uns das Präriefeuer fast den Pelz versengt hätte? Mit deinem Großvater ...“ Natty schloß die Augen, er hustete, was er dann sagte, war nicht zu verstehen. Nach einer Weile fuhr er fort: „Ich möchte dir gern etwas schenken, Unkas, aber was besitze ich schon außer ein paar Schlingen? Sie sollen meinem indianischen Sohn gehören. Wo ist er?“ Stahlherz neigte sich zu Natty, der Trapper legte ihm die zitternden Hände auf die Schulter und sagte: „Es ist eine Gewohnheit meines Volkes, daß der Vater seinen Sohn segnet, ehe er die Augen schließt. Nimm meinen Segen, er wird den Weg eines roten Kriegers zu den ewigen Prärien 660
weder verlängern noch schlimmer machen. Wir haben unseren Glauben, ihr habt euren, trotzdem denke ich nicht, daß es zwei verschiedene Himmel gibt. Du wirst einst vor deinem Manitu stehen, es wird niemand anderes sein als mein Gott. Und ich hoffe, mein Gott ist dein Manitu, und ich darf in euren ewigen Jagdgründen wieder meine Büchse tragen, denn es würde mir sehr schwerfallen, eine Ewigkeit lang auf sie zu verzichten. Und ich habe nie gehört, daß sich im Christenhimmel jemand einen Hirsch schießt, wenn er hungrig ist oder Leder für seine Hose braucht. Stahlherz, dann wollen wir zusammen jagen, Chingachgook und Unkas und du, und meinetwegen auch Le Renard und Pfeilspitze.“ „Die Worte meines Vaters tönen in meinen Ohren.“ „Ich habe keine Verwandten, mit mir stirbt mein Geschlecht aus. Mein Vater liegt in den Wäldern begraben, ich werde in der Prärie meine Ruhe finden.“ Middleton sagte: „Sie könnten an der Seite Ihres Vaters liegen.“ „Ach, wer weiß, ob dort noch Wald wächst, vielleicht haben Leute wie Billy Kirby alles abgeholzt. Ich möchte schlafen, wo ich gelebt habe; außerhalb der Siedlungen. Aber es gibt keinen Grund, das Grab eines ehrlichen Jägers zu verstecken.“ „Sie werden einen Grabstein haben“, versprach Middleton, „was soll darauf stehen?“ Natty tastete nach Middletons Hand, nach langem Nachdenken antwortete er: „Keine prahlerischen Worte, nur mein Name, mein Alter und der Tag meines Todes. Dann bleibt etwas von mir auf der Welt zurück.“ Middleton wiederholte, daß er bereit sei, Nattys Wunsch zu erfüllen, danach sprach niemand mehr. Es schien, als ob der alte Mann seine Rechnung mit der Welt abgeschlossen hätte und nur noch darauf wartete, sie zu 661
verlassen. Meist waren seine Augen geschlossen, wenn er sie öffnete, schien sein Blick auf die Wolken gerichtet, die in schimmernder Farbenpracht zwischen zartestem Rot und dunkelstem Purpur über dem Horizont standen. Einmal sprenkelten Vogelschwärme den Himmel, schoben sich in immer neuen Wellen aus dem Dunst, es waren Stare, die von den Prärien, Seen und Wäldern Kanadas nach Süden flogen, Millionen Stare wie in jedem Herbst. Nach ihnen war der Himmel leer, später zogen hoch oben Ketten von Gänsen und nach ihnen ein Schwanenpaar. Middleton und Stahlherz setzten sich neben Natty und beobachteten schweigend die kaum merklichen Veränderungen in den Zügen des Sterbenden. Als die Sonne sank, fühlte Middleton, wie sich Nattys Hand in seinen Arm krampfte; mit einer letzten, unglaublichen Kraftanstrengung richtete sich der Trapper auf, er stand, von beiden Seiten von seinen Freunden gestützt. Einen Augenblick lang schaute er sich um, als wollte er alle, die ihn umringten, noch einmal sehen, und sagte deutlich und weithin hörbar: „Hier bin ich.“ Dann sank er zurück. Tags darauf wurde Nathaniel Bumppo im Schatten riesiger Eichen begraben. Sie standen auf einem Hügel, von ihm war der Blick frei über grasige Hänge bis zum Fluß hinunter, der sich in vielen Windungen durch das Land schlängelte. Auf der Prärie hinter dem anderen Ufer weideten Bisons, den Horizont schloß ein Wald von Baumwollbäumen ab. Die Pawnees pflegten viele Jahre lang diese Stätte und zeigten sie Reisenden und Händlern als einen Platz, an dem ein gerechter Weißer ruhte. Auf dem Grabstein waren die einfachen Angaben zu lesen, die Natty erbeten hatte; Middleton hatte hinzufügen lassen: „Möge keine mutwillige Hand jemals seine Gebeine stören.“ 662
Nachwort
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Bemerkungen zu diesem Band Es gibt Hunderte von »Lederstrumpf«-Ausgaben in aller Welt. Coopers Hauptwerk steht an der Wiege der klassischen Abenteuerliteratur und hat seine enorme Wirkung bis heute nicht eingebüßt; gelesen werden aber gemeinhin Bearbeitungen. Das Original und seine Übersetzungen gehören ins Literaturmuseum, für die meisten Leser unserer Tage, gar für einen Jugendlichen, wären sie langatmig, ohne Spannung. Das war anders vor und um 1830, als die ersten drei »Lederstrumpf«-Bände den deutschen Buchmarkt im Sturm eroberten. Es war die Zeit der dynastischen Restauration, der Metternichschen Reaktion, Polizeimaßnahmen und Zensur beherrschten das politische und literarische Leben - da wehte aus diesen Büchern ein ersehnter Hauch von Freiheit. Der deutsche Roman stagnierte, es gab kaum Neuerscheinungen; zudem war die Neugier auf »drüben« groß, denn jährlich wanderten etwa 20 000, nach 1848 in keinem Jahr weniger als 100 000 Menschen nach den USA aus. Viele von Coopers Büchern wurden zu Bestsellern, aber nur wenige von ihnen wirken noch, und auch sie nur nach einer Generalüberholung. Arno Schmidt schreibt: »Das Leben aller ganz großen Menschen kondensiert sich im Laufe der Jahre in einen einzigen wetterleuchtend eindringlichen Begriff: In ›Zeppelin‹ sind Name und Gegenstand schon eins; Darwin ist ›der mit dem Affen‹; und Cooper wird mehr und mehr identisch mit jener unsterblichen, von ihm geschaffenen Gestalt, dem ›Lederstrumpf‹.« * 664
Im Jahre 1679 wanderte der Engländer James Cooper von Stratford on Avon, dem Geburtsort Shakespeares, nach Nordamerika aus und wurde Farmer. Einer seiner Nachkommen, William Cooper, siedelte hundert Jahre danach in Burlington im Staat New Jersey; hier wurde ihm 1789 als elftes von zwölf Kindern ein Sohn geboren, den er James nannte. William Coopers Frau hieß mit dem Geburtsnamen Elisabeth Fenimore - aus den Namen seiner Eltern bildete der Verfasser des »Lederstrumpfs« später seinen Namen: James Fenimore Cooper. Nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges erwarb William Cooper weite Landstriche am Oberlauf des Susquehanna und am Ufer des Otsegosees. »Im Jahre 1785«, so notiert er, »besuchte ich die wilde und hügelige Gegend am Otsego, die gänzlich unbewohnt war; ich war allein, dreihundert Meilen von meinem Heimatort entfernt, ohne Brot, Fleisch oder sonstige Vorräte, Feuer und Fischfang waren meine einzigen Unterhaltsmittel. Ich fing Forellen in den Bächen und briet sie in der Asche. Mein Pferd graste auf den Wiesen am Rande des Wassers. Ich legte mich, in meinen Mantel gehüllt, zum Schlaf nieder, nichts als die unwirtliche Wildnis um mich her. Auf diese Weise erforschte ich die Gegend, machte Pläne für zukünftige Ansiedlungen und sann über die Stelle nach, an der ich später eine Handelsstation oder eine Siedlung gründen wollte. Im Mai 1786 begann ich mit dem Verkauf von 4 000 Acker Land, die innerhalb 16 Tagen von Leuten aus ärmsten Schichten übernommen wurden. Bald darauf errichtete ich ein Vorratshaus, zog hin und wohnte allein unter den Ansiedlern bis 1790, in welchem Jahr ich meine Familie nachkommen ließ.« So gründete William Cooper den nach ihm benannten Ort Cooperstown, dem sein Sohn in seinem »Ansiedler«-Roman den Namen Templeton gab; 665
in der Person des Richters Temple entstand ein lebensvolles Porträt seines Vaters. James Fenimore Cooper ergänzte in der Vorrede zu den »Ansiedlern«, daß seine Mutter es vorzog, ihn in einer zivilisierten Gegend zur Welt zu bringen, doch: »Der Autor wurde noch als Kind in dieses Tal gebracht, welchem er die ersten Eindrücke seiner Jugend verdankt. Er wählte auch in späteren Jahren zuweilen seinen Aufenthalt daselbst und glaubt daher, für die Treue seines Gemäldes einstehen zu können.« In dieser Siedlung, umrahmt von einer ursprünglichen, majestätischen Natur, wuchs Cooper auf, er erlebte das Vordringen der Zivilisation, den Raubbau an den unerschöpflich scheinenden Schätzen der Wälder und Seen und begegnete den letzten Indianern, die noch in unwirtlichen Winkeln hausten und immer weiter nach Westen gedrängt wurden. Hier wurde ihm zuteil, was wir heute das Grunderlebnis eines Schriftstellers nennen, hier nahm er eine Fülle von nachhaltigen Eindrücken auf und entwickelte seine humanistische Urteilskraft. Der Otsego mit seinen prunkenden Wäldern bildete die Kulisse für »Die Ansiedler« ebenso wie Jahre später »Wildtöter«; am Otsego steht heute das Denkmal für Natty Bumppo: Er stützt sich auf seine lange Büchse und späht über die Weite des Sees. Mit dreizehn Jahren verließ Cooper seinen Heimatort und besuchte eine Schule in New Haven, von der er drei Jahre später eines Streiches wegen relegiert wurde. Mit Einwilligung seines Vaters ging er nun zur See, als Schiffsjunge und Matrose segelte er an die Küsten Englands und Spaniens, später heuerte er auf dem Ontariosee an. Mit 21 Jahren heiratete Cooper; seine junge Frau brachte ihn dazu, den Seemannsberuf aufzugeben. 666
Eine Zeitlang lebte er in verschiedenen Orten in der Nähe von New York und war u. a. Teilhaber an einem Walfangboot, bis er nach Cooperstown zog. Einer seiner Biographen schreibt: »Er pflanzte Bäume, trieb Landwirtschaft, baute Scheunen, trocknete Sümpfe aus, legte Wiesen an - das einzige, was er nicht tat, war Schreiben.« Inzwischen war er Vater mehrerer Töchter geworden, seine Eltern waren gestorben und hatten ihm weite Ländereien vererbt. Er hätte arbeiten können wie sein Vater, wie seine Romangestalt Richter Temple - da wandelte sich durch Zufall sein Leben. Damals, um das Jahr 1820, gab es kaum Ansätze einer nordamerikanischen Literatur, der Lesebedarf der gebildeten Schicht wurde vor allem durch englische Importe gedeckt. Cooper pflegte seiner Frau vorzulesen, und eines Abends, unzufrieden mit einer Neuerscheinung, behauptete er: »Ich bin überzeugt, ich könnte selbst ein besseres Buch schreiben!« Er versuchte es, und im Herbst 1820 erschien in New York sein erster Roman. Er trug den Titel »Precaution« und behandelte kein eigenes Erleben und noch nicht einmal ein nordamerikanisches Thema, sondern spielte in den Kreisen der Londoner Aristokratie. Diesem Buch hafteten fatale Schwächen eines epigonalen Erstlings an, doch bereits im zweiten Anlauf gelang Cooper ein spontaner Wurf: »Der Spion« (1821), ein Roman, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg spielt. Nun ließ ihn das Schreiben nicht mehr los. 1822 siedelte er, um dem geistigen Zentrum des Landes nahe zu sein, nach New York über, und hier schrieb er den ersten der »Lederstrumpf«-Romane, das Buch seiner Kindheitswelt, »Die Ansiedler« (»The Pioneers«). Es erschien 1823, im »Lederstrumpf«-Zyklus (»LeatherStocking Tales«) steht es an vierter Stelle. 667
Wer die »Lederstrumpf«-Erzählungen liest, muß annehmen, sie seien dem vorgefaßten Plan nach, das Leben des Waldläufers, Pfadfinders und Fallenstellers Natty Bumppo in seinem Ablauf zu schildern, in einem Guß aufgezeichnet worden. Das ist durchaus nicht der Fall. In »Die Ansiedler« zeigte Cooper den Aufbau seiner Heimatgemeinde, Natty und sein Freund Chingachgook waren lediglich Randfiguren. Danach schrieb Cooper den Seeroman »Der Lotse« (1823), einige Erzählungen und eine Studie über Lincoln, ehe er 1826 Natty Bumppo und Chingachgook in »Der letzte Mohikaner« (»The Last of the Mohicans«), dem berühmtesten Band des Zyklus, wieder aufleben ließ. Von 1826 bis 1833 unternahm Cooper mit seiner Familie ausgedehnte Reisen durch Europa, er machte Station in England, Frankreich, der Schweiz, Italien und Deutschland; für einige Wochen hielt er sich in Dresden auf. In Paris beendete er 1827 einen weiteren »Lederstrumpf«-Band, »Die Prärie« (»The Prairie«), in dem Natty als alter Mann die Steppen des Westens durchstreift und hochbetagt stirbt. Daneben brachte Cooper Reisebeschreibungen, Erzählungen und immer wieder Romane heraus. Ein Roman spielt in Deutschland, »Die Heidenmauer«; Ereignisse in der Pfalz des beginnenden 16. Jahrhunderts bilden den Hintergrund. Nach seiner Rückkehr nach Amerika wohnte Cooper ständig in Cooperstown in einem stattlichen Haus. Unablässig war er schriftstellerisch tätig, eine Geschichte der Marine der USA entstand ebenso wie Sketche und Satiren. Erfolge wechselten mit Mißerfolgen, fast jedes Buch war sofort nach dem Erscheinen heftigen Pressefehden ausgesetzt. Erst nach einer Pause von 13 Jahren griff Cooper seinen »Lederstrumpf«-Stoff wieder auf. Im »Pfadfinder« (»The Pathfinder«) verarbeitete er 668
Erlebnisse aus einer lange zurückliegenden Zeit, als er selbst den Ontariosee als Matrose befahren und dort am Bau eines Kriegsseglers teilgenommen hatte. Cooper kannte den See und seine Ufer, hatte unter Soldaten gelebt und war selbst Salz- und Süßwassermatrose gewesen, er brachte also genügend Detailkenntnis für dieses Werk mit. Natty Bumppo in der für ihn ungewohnten Rolle als Liebhaber bot gestalterisches Neuland. »Der Pfadfinder« wurde 1840 gedruckt. An einem Sommerabend dieses Jahres spazierte Cooper mit seiner Tochter Susan, die seine Sekretärin war, wie so oft am Ufer des geliebten Otsegosees entlang. In den Anblick seiner Schönheit versunken, murmelte er: »Ich muß noch ein Buch über unseren See schreiben.« Am Tag darauf begann er mit der Niederschrift des »Wildtöters« (»The Deerslayer«). Ein Jahr später erschien dieser im Verlauf des Schreibens letzter, im Ablauf des Zyklus erster Band der »Lederstrumpf«-Erzählungen. Die weiteren zehn Lebensjahre Coopers waren reich an literarischen Veröffentlichungen, wenig davon hat heute noch Bestand. Wie seine Tochter Susan berichtet, plante er einen weiteren Bumppo-Band; Nättys Kindheit inmitten der Wälder wollte er darin gestalten, das Zusammenleben weißer Waldläufer mit Indianern und Nattys beginnende Freundschaft zu Chingachgook, dem vorletzten Mohikaner. Coopers späte Lebensjahre sind von öffentlichen Fehden überschattet. Er wollte seinen Landsleuten einen kritischen Spiegel vorhalten (schon in den »Ansiedlern« hatte er damit begonnen), das stürzte ihn in solche Konflikte, daß er am Sinn aller seiner Bücher zu zweifeln begann.. Er starb 1851, noch nicht 62 Jahre alt, verbittert und vereinsamt. Seiner Tochter Susan befahl er, alle 669
Aufzeichnungen und Manuskripte zu verbrennen; seine Tagebücher nahm sie mit ins Grab. Cooper-Biographen - so wichtiger Hilfsmittel beraubt haben immer wieder geforscht, ob es für Natty Bumppo ein lebendes Vorbild gegeben hat. Drei Männer dürften Cooper beeinflußt haben. Während seiner Jugendjahre lebte in den Bergen um den Otsegosee der alte Jäger Shipman, der häufig in den Ort und auch ins Haus von William Cooper kam und seine Beute anbot. Später, als das Wild seltener geworden war, zog er mit anderen Jägern weiter nach Westen. Außer ihm kommen der Jäger Daniel Boone und ein Deutscher namens Hartmann in Betracht, der am Mohawk lebte und von dem Cooper gehört haben könnte. Was Cooper jedoch auch immer an Äußerlichkeiten und Handlungsmomenten aus tatsächlichem Geschehen übernommen haben mag: Die Charakterzeichnung Bumppos ist seine Erfindung. Jeder »Lederstrumpf«-Band fand sofort nach Erscheinen weiteste Verbreitung, einige wurden noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt. Goethe las, wie Eckermann notierte, »Die Ansiedler«; Anregungen auf Goethes »Novelle« sind denkbar. Wilhelm Hauff bekennt sich im Vorwort zu »Lichtenstein« zu Einflüssen von Cooper, Adalbert Stifters Naturschilderungen ähneln denen Coopers; im »Hochwald« lehnt sich der Jäger Gregor wie Natty Bumppo auf seine lange Büchse. »Was Landschaftsschilderung anbelangt, hat Cooper das letzte suggestivste Wort gesprochen«, urteilte Balzac. Poe, Scott und Stevenson legten begeistert Zeugnis ab. Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker und viele andere Abenteuerschriftsteller traten in Coopers Fußtapfen. Die populärpan-theistische Lauterkeit Nattys, seine aufrechte Haltung bei intellektueller Schlichtheit, das moralisch 670
instinktsichere, unanfechtbare Handeln in einer von ihm nicht durchschaubaren Welt machen ihn zum Urbild für unzählige Helden abenteuerlicher Szenerien bis in die Tage von Raymond Chandler und Graham Greene. * 1971 wandte sich der Verlag Neues Leben an Erich Loest mit der Frage, ob er es unternehmen wolle, auf fünfhundert Seiten alle fünf »Lederstrumpf«-Erzählungen in der Sprache unserer Tage aufzubereiten. Eine eigenhändige Prosa sollte entstehen, »die sich«, so hieß es später im Vertrag, »durch Straffheit in der Handlungsführung und im Dialog auszeichnet, aber den historischen Hintergrund und die Landschaftsbeschreibung nicht vernachlässigt«. Der Verlag fragte Loest nicht, weil dieser jemals Indianerbücher geschrieben hätte, sondern weil zu hoffen war, die kompakten Handlungen und der sachliche Stil seiner Romane und Erzählungen kämen diesem Vorhaben entgegen. Die gediegene vollständige deutschsprachige Ausgabe, die 1936 von Rudolf Drescher im F. W. Hendel Verlag Meersburg am Bodensee und Leipzig herausgegeben worden ist, bildete die Grundlage; die Arbeit wurde ergänzt durch völkerkundliches und geographisches, literaturwissenschaftliches und biographisches Material. Der kürzeste Band der Hendel-Ausgabe, »Der letzte Mohikaner«, umfaßt 400 Seiten, drei weitere Bände sind jeder etwa 500 Seiten stark, am umfangreichsten ist »Wildtöter« mit fast 600 Seiten. Nach heutigem Sprachgebrauch wäre es also nicht üblich, von Erzählungen zu sprechen, fünf Romane sind es, aus denen literarische Bearbeiter immer wieder ihre Fassungen 671
ableiten, aus denen Filmemacher und Szenaristen von Fernsehfolgen meist recht rüde ihre Streifen schneiden, Romane von quellender Handlungsfülle und gewaltigem epischem Atem. Nicht immer steht am Anfang einer Aufbereitung der tiefe Respekt vor dem großen Menschengestalter und Fabelerfinder James Fenimore Cooper. Aus 2500 Seiten waren 500 zu machen - anders herum: Ein Erzähler unserer Epoche kann beim Vorführen von Coopers Fabeln, Verwicklungen, Charakteren und Landschaften mit 500 Seiten auskommen; er wird so dem Anspruch vieler zeitgenössischer Leser an Spannung gerecht, ein Weniger vergriffe sich allerdings an der Substanz. An Kürzung im herkömmlichen Sinn war bei dieser Ausgabe ohnehin nicht gedacht, und so schrieb der Neufasser die Lebensgeschichte des Natty Bumppo noch einmal in seiner Art. Coopers Text strotzt im Stil der Zeit von endlosen Debatten, heute genügt es bisweilen, das Ergebnis einer seitenlangen Unterhaltung in drei Sätzen zu fixieren. Beim Anspinnen einer Fabel brauchte Cooper, gewöhnlich viele Seiten, ehe er zum Kern der Handlung fand; der heutige Leser will rascher in den Mittelpunkt des Problems geführt werden. Ganz selten wurde eine Formulierung der Hendel-Verlag-Übersetzung in den neuen Text übernommen, es geschah, wenn die blumigen Reden indianischer Häuptlinge wiedergegeben wurden, denn hier liegt eine sprachliche Originalität vor, an die nicht gerührt werden sollte. Aber da ist noch ein Preisschießen zu den anderen, bei denen natürlich Natty gewinnt, da legt Natty zu wiederholtem Male seine Ansicht von der Göttlichkeit der Natur dar, da taucht im letzten Band ein Doktor auf, der dem Musikmeister im zweiten Band verzweifelt ähnelt, da wird eine komische 672
Situation so breit behandelt, daß sie an Witz verliert - hier und bei ähnlichen Gelegenheiten war es möglich zu komprimieren, ohne etwas vorzuenthalten, was für den Inhalt wesentlich ist oder den Geist ausmacht. Beim Schreiben Coopers in der geschilderten Reihenfolge kam es bisweilen zu Unstimmigkeiten im zeitlichen Ablauf, die es zu korrigieren galt, manchmal schien es angebracht, eine rückgeblendete Szene von einem Buch in das andere oder vom Vorwort in den Text zu übernehmen, hin und wieder wurde das geschichtliche Verstehen des Lesers durch eine sparsame Ergänzung unterstützt. Wenn Coopers Helden etwas brauchten, war es da - der Neuformer mühte sich um Argumentierung oder Erklärung. Er drückte sich nicht um das Massaker im zweiten Buch herum wie viele andere Bearbeiter, die dem weißen Mann alle, dem roten Mann keine Grausamkeit gestatten wollen. Er glaubt, sein Möglichstes getan zu haben in dem schwierigen Unterfangen, zwei achtungswerten Herren zu dienen, der weltberühmten Vorlage und dem derzeitigen Leser. E. L.
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