KURT HERWARTH BALL
Wer rief
Überfall 01?
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
1955
Alle Rechte
vorbehalten
Lizenz Nr...
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KURT HERWARTH BALL
Wer rief
Überfall 01?
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
1955
Alle Rechte
vorbehalten
Lizenz Nr.
303
(305/74/55)
Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben
Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark)
Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Ein Finger schob sich in die Nummernscheibe des Te lefonapparates, drehte – die 0, die 1. Der Mann, klein, unansehnlich, lauschte in die eng an das Ohr gepreßte Muschel, während seine schmal zusammengekniffenen Augen auf das Fenster blickten. Jetzt sprach er: „Hier 37 8 91 – schicken Sie sofort ein Kommando – Kollwitzstraße 88 – Überfall…“ Der Mann, immer noch auf das Fenster starrend, im dunklen Zimmer, mühte sich, seiner Stimme einen hei seren, erregten Klang zu geben – wie ein Gewürgter hatte er gesprochen. Langsam, vorsichtig beinahe, um keinen überflüssigen Laut hören zu lassen, legte er den Hörer in die Gabel – und immer noch den Blick zum Fenster hinaus… „Panther zwölf – Panther zwölf – Panther zwölf…“ „Hier Panther zwölf – hier Panther zwölf – ich höre – ich höre…“ „Kollwitzstraße 88 – Überfall in einer Wohnung Tele fon-Notruf – soeben erhalten.“ „Kollwitzstraße 88 – Überfall in einer Wohnung. – Wir fahren. Ende.“ Der Funkwagen der Volkspolizei gewann während der letzten Durchsage schon an Geschwindigkeit, tauchte in die Nacht hinein – Richtung Kollwitzstra
ße… Kriminalkommissar Babendieck drehte den Brief hin und her. Eben, als er den Dienst beenden wollte, war er ihm überbracht worden. Er las das Aufnahmeprotokoll durch. Danach hatten Waldarbeiter den Brief hinter einer eisernen Tafel gefunden, die an einem Gedenk steinsockel angebracht war und die Kenntnis davon gab, daß hier vor rund fünfzig Jahren ein fürstlicher Herr im Schatten einer alten Eiche der Ruhe zu pflegen beliebte. Die Eiche war inzwischen vom Blitz zerspellt worden. Babendieck erinnerte sich noch des Unwet ters, das stundenlang über der Stadt gestanden hatte. Der Landesfürst war 1918 vom Thron gestoßen wor den und war siebenundzwanzig Jahre später auch aus seinen Schlössern geflohen. Jetzt saß er irgendwo im Westen Deutschlands und hoffte wohl noch auf eine Wiederkehr… Allein der Zementsockel war stehenge blieben. Buschwerk und Waldgewächse hüllten ihn ein; er war zu einem ruinenartigen Rest der Vergan genheit geworden, an dem die Sonntagsspaziergänger ihre Freude hatten. Heute nun war einem jungen Waldarbeiter während der Frühstückspause eingefallen, mit einem dünnen Draht hinter einem Käfer herzustochern, der die Tafel als Unterschlupf benutzen wollte, und da fiel der Brief heraus. Die Tafel erwies sich als ein sogenannter „toter Briefkasten“. Babendieck hatte sofort alle Maßnahmen eingeleitet, den Sockel beobachten zu lassen. Es würde kein Ver gnügen für den Kameraden sein, in der Waldeinsam keit, und noch dazu nachts, die Verbrecher zu stellen:
den, für den der Brief bestimmt war, und den, der viel leicht noch einen zweiten brachte. Das Schreiben war chiffriert. Babendieck legte es in eine Akte, da die Dechiffrierstelle um diese Zeit nicht mehr besetzt war. Er sah sich nochmals im Zimmer um. Dann zog er seine Uhr und notierte auf seinem Kalender die Zeit: 23.22 Uhr. Er tat dies seit Jahren, nicht aus sturer Genauigkeit und Bürokratie, sondern weil sich erwiesen hatte, daß es zuweilen nützlich war, den genauen Tagesablauf festzuhalten. Als er im Türrahmen stand, läutete der Fernsprecher. Er ging zurück, nahm den Hörer auf, nannte seinen Namen – und zog die Stirn kraus; dann sagte er: „Gut – ich komme. Wir fahren sofort hinaus.“ Das Haus Kollwitzstraße 88 bewohnte der Be zirkstagsabgeordnete Wilhelm Breitmann; es stand, wie fast alle Gebäude hier am Vorstadtbahnhof, in ei nem Garten, ein wenig abseits der Straße. Bei Breit mann waren, als der Kommissar eintraf, die Fenster des oberen Stockwerks erleuchtet. Babendieck stellte das beim Verlassen des Wagens mit einem Blick fest; zugleich sah er, daß die Nachbarhäuser, bis auf wenige Fenster, im Dunkel lagen. In diesem Augenblick flammte im gegenüberliegen den Hause Licht auf. Babendieck sah einen Mann am offenen Fenster sich aufrichten und hörte ihn eine of fenbar unwillige Bemerkung in das Zimmer hineinsa gen. Das Licht verlosch sofort wieder. Es war eine lau te, etwas heisere Stimme gewesen. Was gesagt wurde, konnte Babendieck nicht verstehen; es war ja auch be langlos, ein Neugieriger sicher, den die Anfahrt der
Funkwagen ans Fenster gelockt hatte. Hinter den beiden Funkwagen, auch „Panther acht“ war herbeigerufen worden, hielt noch ein dritter Wa gen, mit einem Hamburger Nummernschild. Der Volkspolizist in der Haustür erläuterte dem Kommis sar, daß es sich um den Wagen eines der Männer han dele, die den Überfall auf Breitmann versucht hatten. Während Babendieck durch den Flur ging und die Treppe hinaufstieg, hörte er schon die tiefe Stimme Breitmanns, der in einer bei ihm sonst nicht wahrzu nehmenden Erregung sprach. Der Kommissar hatte kaum die Tür geöffnet, als Breitmann ihm schon ent gegentrat und die Hand hinstreckte. „Guten Abend, Kommissar – gut, daß Sie kommen. Die beiden Herren hier haben den liebenswürdigen Versuch gemacht, mich zu überfallen – irgendein Gift in den Wein – “ Breitmann wies mit einer Handbewe gung zu dem Ecktisch, auf dem zwei Weinflaschen und drei Gläser standen. „Das Weitere kann man sich denken.“ Er verstummte, angesichts des Kommissars schon wieder freundlicher gestimmt. Babendieck kannte den Bezirkstagsabgeordneten, der auch in der Nationalen Front und anderen Organisatio nen eine bedeutende Stellung einnahm. Ein tolles Stück offenbar, das man sich da ausgedacht hatte. Er übersah den Raum mit einem schnellen Blick, den Tisch mit Flaschen und Gläsern – es schien Breitmanns Arbeitszimmer zu sein. Schreibtisch, Sessel und Bü cherschrank besaßen die Breitmann angepaßten großen Formate; ein dicker Teppich bedeckte fast den ganzen mit Parkett ausgelegten Fußboden – alles war ein we
nig pompös und großartig, auch die Bilder, von denen eins, eine Werkansicht, fast die halbe Wand über dem Sofa einnahm. Neben dem Schreibtisch stand eine gel be Aktentasche. Die Stores an den Fenstern waren zwar zugezogen, doch durch das weitmaschige Ge webe konnte man vom gegenüberliegenden Hause aus sicher in das Zimmer schauen. Babendieck erinnerte sich der lauten Bemerkung des Herrn am Fenster und mußte unwillkürlich etwas lächeln. Die Gäste Breitmanns, wenn man sie noch so be zeichnen konnte, schienen erregt, verständlicherweise; denn so überrascht zu werden dürfte nicht in ihrem Plan gelegen haben. Sie machten in ihrem Äußeren zwar nicht den Eindruck von Gangstern, aber danach konnte man nicht urteilen. Jetzt versuchten sie noch, ihre durch das vermutliche Handgemenge etwas in Unordnung geratene Kleidung wieder herzurichten. Der eine, ein hochgewachsener Mann, zupfte nervös an seiner Propeller-Schleife, während der andere, etwas kleiner und ein wenig rundlicher, sein Jackett glatt strich und die Hand hob, um sich bemerkbar zu ma chen. Dann, da der Kommissar dem Hausherrn zuge wandt blieb, rief er schnell: „Das Gegenteil ist der Fall.“ „Herr Breitmann wollte Sie überfallen?“ fragte Ba bendieck spöttisch, und Breitmann schüttelte, wie amü siert durch einen guten Witz, den Kopf. Der Kommis sar mühte sich, seine innere Ruhe zu behalten. Einen Bezirkstagsabgeordneten, einen leitenden Staats funktionär in seiner eigenen Wohnung zu überfallen, dazu gehörte immerhin allerhand. Allerhand Frechheit
und Mut. „Bitte, Herr Breitmann, berichten Sie kurz. Ohne Pro tokoll, nur daß ich einen Überblick habe.“ Breitmann reckte sich ein wenig, zog den Gürtel der Hose etwas höher, eine Bewegung, die seine leibliche Fülle und vielleicht auch die Wichtigkeit seiner Person ins rechte Licht rücken sollte; er strich mit der Hand über das dünne Blondhaar. Dabei hat er, dachte der Kommissar, diese Gebärden doch gar nicht nötig – ein Kerl, breit wie ein Schrank, ist er ohnehin nicht zu übersehen. Breitmann lachte kurz auf, und mit tiefer, wohlklin gender Stimme sagte er: „Man hält es nicht für mög lich, Kommissar. Ich hatte die beiden Herren zu einem Glas Wein eingeladen – Herrn Doktor Vogel, der vor einigen Tagen aus Hamburg gekommen ist und mich gebeten hat, ihm behilflich zu sein, hier bei uns eine Stelle zu bekommen, in einem Betrieb, einer Poliklinik oder als frei praktizierender Arzt – und Herrn Doktor Gabler, Leiter und Chefchemiker des VEB Textilche mie; den Betrieb kennen Sie ja wohl auch, Kommis sar? Mit Doktor Gabler bin ich seit langem bekannt – ich hätte ihn bis heute ohne Bedenken als Freund be zeichnet. Als ich einmal aus dem Zimmer ging, haben die beiden Herren es für nötig gehalten, irgend so ein verdammtes Betäubungsmittel in meinen Wein zu tun – warum, tja, Kommissar, nach den Gründen zu for schen, überlasse ich Ihnen. Ich weiß es nicht.“ Er hob die breiten Schultern, streckte die Hände. „Ich weiß nur, daß die beiden Herren sich nicht kannten, als sie kamen – jetzt aber sagen sie plötzlich du zueinander.“
Der als Doktor Vogel Bezeichnete wollte eine Be merkung machen; der Volkspolizist neben ihm hielt ihn zurück, und Kommissar Babendieck sagte: „Bitte, wir haben Gelegenheit, uns im Volkspolizeiamt geruh sam zu unterhalten.“ Zu Breitmann gewandt, fragte er: „Und?“ „Und!“ machte Breitmann. „Die Pillen oder was es für Zeug war, wirkten natürlich, allerdings nicht so, wie die beiden Helden es sich vorgestellt hatten. Meine Konstitution verträgt auch in dieser Beziehung etwas.“ Er klopfte sich selbstsicher auf den Leib. „Vielleicht wollten sie mich erschlagen – was weiß ich? Ermorden – vermuteten Papiere in meinem Schreibtisch. Viel leicht wollten sie mich verschleppen – Vogel hat ja einen Wagen bei sich. Ich kam allerdings nach einer kurzen Pause wieder zu mir, es gab einen kleinen Ringkampf.“ Und spöttisch: „Die beiden Galgenvögel konnten ja nicht wissen, daß ich gerade einen JudoKursus hinter mir habe.“ Babendieck kannte natürlich den Namen Dr. Gabler vom VEB Textilchemie. Es wurden dort bestimmte, sehr wichtige Laborarbeiten für die Verbesserung der Textilfaser durchgeführt. Und dieser Mann sollte sich an einem Überfall beteiligt haben? „Ich halte diesen Doktor Vogel für einen Agenten, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. – Wie Gabler in seine Abhängigkeit geraten ist – eine neue Aufgabe für Sie, Kommissar!“ Und nicht eben eine leichte, wie Babendieck scheinen wollte; aber er unterließ jede Bemerkung, versuchte, während er einige Anweisungen an die Volkspolizisten
der Funkwagen gab, die drei Männer zu beobachten. Sie schienen ihm alle drei recht erregt zu sein, was ja verständlich war; Gabler zeigte sich noch als der ruhig ste, der den ganzen Vorgang mit einer gewissen leicht spöttischen Überlegenheit verfolgte. Als er und Vogel von den Volkspolizisten abgeführt wurden, wollte letz terer noch einmal auf begehren, aber Gabler beruhigte ihn mit einer Handbewegung, worauf der Arzt sich kopfschüttelnd entfernte. Babendieck sorgte dafür, daß der Rest des Weines in kleine Flaschen gegossen wur de, die sich in Breitmanns Wohnung fanden. Im Hausflur unten gab es indessen einen Wortwech sel, und zu Babendieck und Breitmann, die in den Vor saal getreten waren, tönte die Stimme Gablers herauf: „Herr Kommissar, meine Aktentasche – bitte – ich muß die Tasche mitnehmen.“ Breitmann, ohne ein Wort zu verlieren, ging in das Zimmer zurück und kam gleich darauf mit der gelben Aktentasche wieder. Babendieck nahm sie ihm ab, öffnete den Verschluß und warf einen Blick in die Fächer – ein Bündel Akten. Hoffentlich waren es keine wichtigen Entwicklungspa piere. „Na, dann viel Erfolg, Kommissar“, meinte Breit mann, während er die Hand an die Stirn hob. „Ich glaube, die Pillen wirken doch noch nach.“ „Wollen Sie nicht lieber mitkommen, Herr Breit mann? Vielleicht besser, wenn Sie sich in der nächsten Poliklinik untersuchen lassen. Sie sind wohl ganz al lein zu Hause?“ „Meine Frau ist verreist. Oben wohnt noch eine alte
Frau, die hier die Hausarbeiten verrichtet. Aber keine Sorge – Kopfschmerzen, vielleicht auch nur von der Aufregung. Hatten heute auch Blocksitzung. Ich werde mich gleich hinlegen. Übrigens – wollen Sie mir einen Gefallen tun, Kommissar?“ „Wenn es möglich ist…“ „Kann ich bei der Vernehmung dieser beiden anwe send sein? Ich bin wirklich sehr interessiert. Ich begrei fe das alles nicht. Vielleicht können Sie die Verneh mung erst morgen früh beginnen?“ „Ich denke, das wird sich machen lassen“, meinte Ba bendieck, dem Bezirkstagsabgeordneten die Hand hin streckend. „Bis morgen dann.“ Der Wagen mit den „Gästen“ Breitmanns war schon vorausgefahren. Eben wendete ein Fahrer das Auto Dr. Vogels, mit dem er Babendiecks Wagen folgte. Kommissar Babendieck zündete sich gemächlich eine Zigarre an. Heimlich beobachtete ihn der Fahrer des Kraftwagens im Rückspiegel. Wenn ich nicht wüßte, überlegte er, woher Babendieck kommt, könnte ich annehmen, irgendeinen Fahrgast zu haben, der wünscht, gemächlich nach Hause gefahren zu werden. Der Kommissar befand sich aber tatsächlich schon mitten in seinen Überlegungen. Bei einem üblichen Kriminalfall pflegten die Gründe mehr oder weniger auf der Hand zu liegen, und nur große Verbrecher, die ganz gerissenen, verstanden es, mit bestimmten Me thoden und Mitteln über ihre Taten einen Schleier zu hängen, der oftmals nur mit Mühe zu lüften war. Hier aber standen sich drei Männer gegenüber, denen man eine solche Tat kaum zutrauen konnte.
Für einen Augenblick war Babendieck geneigt, das ganze für eine Art Faschingsscherz zu halten, für einen Einfall in der Weinlaune. Aber das schied wohl aus. Möglicherweise war dieser Dr. Vogel ein Agent. Aber wie stand er dann zu Gabler, wie war der bekannte Chemiefachmann in Vogels Hände gekommen? Aus welchem Grunde hatte Breitmann die beiden gleichzei tig zu sich eingeladen? Schließlich konnte Gabler ihm kaum behilflich sein. für Vogel eine Stelle als Be triebsarzt zu vermitteln. Wenn er sich recht erinnerte, hatte es beim VEB Textilchemie noch keinen Fall von Werkspionage oder Sabotage gegeben – vielleicht nur deswegen, weil der Laborleiter selbst die Hände im Spiel hatte und seine Mitarbeiter außerordentlich auf merksam beobachtete? Er versuchte sich den Vorgang in Breitmanns Zimmer vorzustellen, rekonstruierte in seinem Gedächtnis die Einrichtung des Raumes und erinnerte sich plötzlich, daß der Fernsprecher auf dem kleinen Hocker stand, an den die Aktentasche gelehnt war. Warum war die Ta sche noch so sorgfältig gegen den Hocker gelehnt, wenn Breitmann bei der handgreiflichen Auseinander setzung den Notruf gegeben hatte? Hatte ihn denn Breitmann gegeben? Babendieck schnippte mit den Fingern – danach hatte er gar nicht gefragt, vielleicht, weil er es für selbstver ständlich gehalten hatte, vielleicht, weil er durch die unverbindlich-persönliche Art Breitmanns etwas von seiner sonstigen klaren Fragestellung abgegangen war. Der Wagen hielt. Babendieck ging ins Haus und die Treppe hinauf, betrat sein Zimmer und – trotz seiner
Überlegungen zog er doch die Uhr und notierte auf dem Kalenderblatt die Uhrzeit: 0.33. Er legte den Hut auf den Schreibtisch, steckte die Hände wieder in die Taschen des Trenchcoats und kaute auf seiner Zigarre. Halb ein Uhr – er war müde und hatte Breitmann doch versprochen, die Vernehmung erst morgen früh durch zuführen. Und jetzt… Mit einer unwilligen Bewegung zog er den Mantel aus, hängte ihn in den Schrank, legte den Hut. dazu. Er zögerte, mußte sich erst einen inneren Ruck geben, ehe er doch den Hörer abnahm und den Auftrag gab, Gab ler vorzuführen. Diese innere Überwindung war nicht ein Abstreifen der Müdigkeit, auch nicht das Beiseite schieben des Versprechens, das er Breitmann gegeben hatte, sondern entsprang der Notwendigkeit, wieder einmal in ein Wespennest stechen zu müssen, Men schen für die Anklage reif zu machen… Nicht, daß Babendieck diese Menschen bedauerte – es war mehr ein Fluch auf die Zeit und auf jene, die mit allen Mit teln und Methoden dafür sorgten, daß die Zeiten sich nicht normalisierten und in den Menschen ein geradezu furchtbarer Zwiespalt erhalten blieb. Der Wind strich durch die Wipfel der hohen Bäume. Ein Käuzchen rief, und in der Ferne lachte noch ein Mädchen – vielleicht kam es vom Tanz im Wald schloß. Felix Vormann hob das Kinn und schluckte ein paar mal. Wer sich das Gruseln noch nicht abgewöhnt hatte, würde es hier wahrscheinlich kaum schaffen, tief im Wald, zwei Kilometer von den letzten Häusern entfernt
auf Posten stehen und nichts als ein Rauschen zur Un terhaltung, dann und wann vielleicht noch ein Knacken und Knarren und Stöhnen, das ebensogut von einem Menschen herrühren wie es aus den Wipfeln fallen oder zwischen dem Buschwerk aufsteigen konnte. Vormann tastete nach der Lampe – der Pistole. Ein toller Auftrag. Nicht einmal rühren konnte man sieh; man durfte es sogar nicht. Jeder Schritt hier mitten im Wald würde einen Laut hervorrufen, man zertrat einen dürren Ast, stieß gegen einen Stein oder Wurzelstock. Der verdammte Kauz! „Komm mit…“, klang sein Ruf, und Vormanns Mutter hatte ihm, als er noch Kind gewesen war, erzählt: Wer den Kauz so rufen höre, um Mitternacht noch dazu, der sterbe bald. Vielen Dank! Seine Augen, an die Finsternis gewöhnt, starrten zu dem Zementsockel hinüber. Blöde Idee. Nur weil ein Potentat hier einmal seinen mehr oder weniger schönen Leib ins Gras gesetzt hatte, gleich ein Denkmal aufzu stellen. Spießbürger. Hinter ihm, dreißig, vierzig Meter entfernt, ratterte ein Güterzug über den Bahndamm. Dann war es wieder still. Der Wind rauschte, und das Käuzchen schrie… Kommissar Babendieck wies auf den Stuhl vor sei nem Schreibtisch. „Bitte, Doktor Gabler.“ „Danke. – Darf ich mir eine Frage erlauben? Meine Tasche ist doch hier, Herr Kommissar?“ Babendieck deutete auf ein Fach seines Schreibtisches und sagte: „Die haben wir sichergestellt.“ „Danke sehr – es sind nämlich sehr wichtige Papiere darin. Schlußberechnungen eines neuen Verfahrens –
das ist – also ich rechne nicht damit, und es gibt sicher noch wichtigere Erfindungen und Verbesserungen, aber das ist bestimmt den Nationalpreis wert.“ Der Kommissar, seine Zigarre betrachtend, hörte aufmerk sam zu. Dann, wie nebenher, sagte er: „Und so etwas schleppen Sie mit sich herum? Etwas eigenartig, wenn Sie die Bemerkung gestatten.“ Gabler hob die Hände, ließ sie fallen. „Daheim habe ich Zeit und Ruhe, alles noch einmal zu überprüfen – im Betrieb kann man sich leider nicht zweiteilen, da muß man vorwiegend Be triebsleiter sein, und dem Chemiker bleiben oft nur die Nächte.“ „Solche wie bei Breitmann, mit Wein und freundli chem Handgemenge. Vielleicht erklären Sie mir eini ges von dieser doch immerhin eigenartigen Zusam menkunft.“ Der Chemiker sah den Kriminalkommissar an, strich etwas nervös über das leicht graumelierte Haar, griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Mundwinkel, tastete dann nach dem Binderknoten. Allem Anschein nach begriff er erst jetzt, daß er verhaftet war und ei nem Verhör unterzogen wurde. „Sie glauben doch nicht etwa, daß die Bemerkungen Breitmanns stimmen, Herr Kommissar?“ Seine Augen öffneten sich weit. „Wenn ich es nicht glaube, Herr Doktor Gabler, muß ich etwas annehmen, was geradezu unfaßbar wäre.“ Babendieck selbst begriff jetzt erst die ungeheuerliche Verantwortung, die auf ihm lastete. Er wandte sich an die Protokollführerin, die seitwärts Platz genommen hatte. „Sind Sie bereit? – Dann bitte, Doktor Gabler,
Ihre Personalien – darf ich um den Personalausweis bitten.“ „Aber Herr Kommissar…“ Gabler beugte sich auf seinem Stuhl vor. „Sie können doch nicht…“ Nun stutzte er selbst, strich mit einer Handbewegung alle Bedenken von sich. „Vernehmen wir also den Agenten Konrad Gabler“, sagte er mit leisem Spott. „Ich glaube kaum, daß diese Ironie am Platze ist, Herr Doktor. Mir kommt die Sache verdammt ernst vor. Ich möchte Sie immerhin schon jetzt darauf hinweisen, daß derartig wichtige Papiere in den Panzerschrank gehö ren und nicht auf eine Zechtour mitgenommen werden dürfen. Ihren Namen, Vornamen, geboren…“ Konrad Gabler, so wie ihn der Kriminalkommissar sah und sehen mußte, gebärdete sich geradezu erstaun lich frech – als habe er einen Genuß daran. „Ich sehe ein“, sagte er, „daß es Dinge gibt, die erst gesprochen werden müssen, ehe man die unausgesprochenen, ja beinahe unaussprechlichen Dinge für wahr zu nehmen in der Lage ist, Herr Kommissar. Also: Ich heiße Kon rad Gabler, bin am 26. August 1905 in Hamburg gebo ren, habe erst in Jena, dann in Heidelberg studiert und dort auch meinen Doktor gemacht. Ich bekleidete ver schiedene Stellungen und bin seit vier Jahren Be triebschemiker, seit drei Jahren Betriebsleiter und Chefchemiker beim VEB Textilchemie. – Um auf den Vorfall bei Breitmann zu kommen, den Grund meiner Anwesenheit: Heute nachmittag rief mich Breitmann an, ob ich nicht zu einer halben Flasche Wein zu ihm kommen wolle – wir kennen uns aus verschiedenen Ausschüssen. Er wolle mich mit einem Herrn bekannt
machen, einem sehr interessanten Manne, der eben aus dem Westen gekommen sei. Wenn dieser auch nicht gerade Chemiker sei, so interessiere ihn, Breitmann, mein persönliches Urteil. Breitmann weiß, daß ich oft mals noch daheim an wichtigen Papieren arbeite, es geht eben schneller, ruhiger und sicherer, kein Telefon, nichts.“ „Das ist Ihre Gewohnheit also, sicher auch im Betrieb bekannt“, sagte Babendieck. „Nicht allen meinen Mitarbeitern, vielleicht zweien, meinem Vertreter Goldberg, und meinem engsten Mit arbeiter Penzold.“ „Sie haben diesen beiden gesagt, daß Sie die Papiere mitnehmen?“ „Nein. Gewöhnlich erfahren sie es erst am anderen Morgen, aus der Arbeit heraus.“ „Ein immerhin eigenartiges, nicht eben vorbildliches Verhalten, wie mir scheinen will, Herr Gabler“, beton te Babendieck nochmals, „Aber Sie wollten von Breitmann sprechen.“ „Ich habe ihm angedeutet, daß ich noch an einer wichtigen Sache zu arbeiten hätte, aber er lachte und meinte, das könne ich nachher tun. Wir würden be stimmt nicht lange zusammensitzen.“ „Es sind doch immerhin zwei Flaschen geworden und einige Stunden“, bemerkte der Kommissar, und ohne daß er sich seine Handlungsweise genau überlegte, griff er in ein Schreibtischfach und entnahm ihm die gelbe Aktentasche. Er öffnete sie und zog die einzel nen Akten heraus. „Das sind nicht meine Papiere!“ schrie Gabler auf und
beugte sich, die Arme vorgestreckt, zu Babendiecks Schreibtisch hin. Seine Augen blickten von der Mappe zum Kommissar. „Das ist nicht meine Mappe!“ Er war aufgestanden, so erregt, daß der an der Tür wartende Volkspolizist vorsorglich einen Schritt näher trat. Babendieck hatte inzwischen, ohne sich zu äußern, der Tasche sämtliche Akten entnommen; es waren of fenbar belanglose Briefe, sorgsam aufgeklebte Zei tungsausschnitte, die von Versammlungen berichteten. Der Kommissar duldete es schweigend, daß Gabler um den Schreibtisch herumkam und aufgeregt die Akten durchblätterte, die Mappe innen und außen besah. Im mer wieder sagte er: „Das ist nicht meine Mappe! Das ist sie nicht!“, und seine Stimme sank zu einem heise ren Flüstern herab. Die spöttelnde Freude an der Ver nehmung, die Babendieck erst geärgert hatte, war wie weggeblasen. Dann richtete er sich auf, ging an seinen Platz und sagte sehr ruhig: „Bitte, Herr Kommissar, lassen Sie meine Tasche von Breitmann holen. Er – er wird sie verwechselt haben.“ Babendieck blickte auf seine Uhr: 1.10. Er konnte Breitmann unmöglich jetzt noch stören lassen, zumal dieser ihn doch gebeten hatte, die Vernehmung am Morgen durchzuführen. Er strich sich über die Schlä fen, mit spitzen Fingern, so, als fühle er einen Schmerz. Hatte Breitmann die Tasche verwechselt? „Wenn Herr Breitmann mir vorhin aus Versehen eine falsche Aktentasche gegeben hat, wird er Ihre be stimmt morgen früh, das heißt, heute früh herbringen“, sagte er. „Mitbringen - er will zur Vernehmung kom men.“
Gabler schüttelte ungläubig den Kopf. „Die Tasche muß jetzt noch sichergestellt werden, Herr Kommissar. Die Papiere sind ungeheuer wertvoll.“ „Warum schleppen Sie sie dann mit? Warum lassen Sie sie nicht im Panzerschrank, wohin sie gehören?“ Babendieck stand auf. Er wußte im Augenblick nicht weiter. Gabler, ebenfalls wieder aufgestanden, sagte halblaut, aber sehr bestimmt: „Wenn die Papiere nicht wieder herbeigeschafft werden können, wird Sie die Mitschuld treffen, Herr Kommissar. Ich sehe ein, daß ich einen Fehler gemacht habe. Aber wenn die Papiere morgen früh in Westberlin sind…“ Babendieck wandte sich mit einem Ruck zu dem Chemiker: „Wollen Sie damit sagen, daß Herr Breit mann Sie berauben wollte? Daß Herr Breitmann ein – Agent ist?“ Der Kommissar griff zum Telefon, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder auf. Er wandte sich an den Volks polizisten: „Bringen Sie Doktor Gabler in seine Zelle.“ „Und die Tasche, Herr Kommissar?“ fragte Gabler. Babendieck antwortete ihm nicht mehr. Dr. Joachim Vogel ging in dem kleinen Raum erregt hin und her. Ihm war heiß; er hatte den Hemdkragen geöffnet. Nachdenklich sah er in seine Handfläche, als könne er den letzten Händedruck Konrad Gablers darin feststellen. Wenn der alte Freund nicht gewesen wäre – er blickte sich um: Aufhängen wäre das beste. Auf die ser Welt gab es nichts mehr, an dem man Freude haben konnte. Vogel blieb stehen und lehnte den heißen Kopf gegen die kühle Mauer – das tat gut.
Es war Wahnsinn gewesen, hierherzukommen; er hät te in Hamburg bleiben sollen. Hamburg… Hamburg hieß Ellinor, hieß Mettner, hieß Mühlner… Langsam lösten sich, wie Fieberbilder, in seinem schmerzend-erregten Gehirn die Erinnerungen. Er wollte sie alle mit einer Handbewegung zur Seite strei chen, was sollten sie noch – aber sie vergingen nicht, blieben, ordneten sich, ohne sein Zutun – und er sah sich in seiner Wohnung in Hamburg am Schreibtisch sitzen und einen Brief schreiben. Er wollte ihn nachher zum Briefkasten bringen und dann noch eine schwer kranke Patientin besuchen, eine alte Frau, Ellinor trat ins Zimmer, umgekleidet; sie wolle noch ins Kino gehen, sagte sie. Ob er sie später abhole? Es war eine Frage, auf die sie keine Zustimmung erwarte te. Er hörte die Tür hinter ihr zuklappen. Er hielt im Briefschreiben inne und lauschte der Frau nach – ei genartig, wie sie sich im letzten Jahr auseinandergelebt hatten. Dann läutete der Fernsprecher – er möchte sofort kommen, ein Unglücksfall. Er schrieb sich die Adresse auf und verließ die Wohnung. Während er zur Garage hinüberging, fiel ihm ein, daß Mettner in letzter Zeit recht oft zu ihnen gekommen war – Mettner war Kompanieführer gewesen, er selbst Militärarzt; sie hatten sich auf einer Fahrt in den Ur laub kennengelernt, sich während der langen Fahrt fast befreundet. Ellinor hatte ihn auf dem Bahnhof erwar tet, und er hatte ihr Mettner vorgestellt. Der Haupt mann war während des Urlaubs fast jeden Tag bei ih
nen gewesen; Mettner hatte keine Verwandten mehr… Sie waren dann auseinandergekommen, hatten Jahre nichts voneinander gehört, bis der ehemalige Haupt mann vor sieben, acht oder neun Monaten wieder auf getaucht war. Mettner vertrat Gedanken, die er, Vogel, nicht guthieß - er wollte nicht mehr an den Krieg erin nert werden und von neuem Soldatentum und Auffri schung alten Heldentums nichts mehr hören. Ellinor begeisterte sich dafür – komisch – aber dadurch waren sie sich noch fremder geworden. Während er den Wagen durch die spätabendlichen Straßen Hamburgs lenkte und einigermaßen verwun dert war, daß man ihn nach diesem von seiner Praxis so entfernten Stadtteil rief, gingen ihm alle diese Ge danken durch den Kopf. Dann führte man ihn in ein mit schweren, vornehmen Eichenmöbeln ausgestattetes Arbeitszimmer. Er sah sich um: mächtige Bücherschränke, ein dicker Perser, der jeden Schritt verschluckte, Vorhänge an den Fen stern, die jeden Laut der Straße fernhielten. Von hier aus bin ich also angerufen worden, dachte er, und nun sah es aus, als wenn niemand im Hause seiner bedurf te. Sonst wäre es hier schließlich unruhiger gewesen. Der Diener, der ihn empfangen hatte, machte den Ein druck eines in Zivil gesteckten Offiziersburschen. Der Teppich und die Polstermöbel schienen mit Tabak par fümiert zu sein. Er ging unruhig hin und her, ein eigen artiges Gefühl überkam ihn; er dachte an Schauerro mane mit Entführung und ähnlichem. Er betrachtete das Bild, das groß, protzig im Gold rahmen über dem Rauchtisch hing. Auf einem Kupfer
schildchen stand: „Sachsen, Württemberger und Pommern in der Schlacht bei Villiers-Champigny-2. Dezember 1870“ – Karl Röchling hieß der Maler… Er blieb vor einem der Bücherschränke stehen und ver suchte die Titel zu entziffern – militärische Werke… Das Bild an der anderen Wand, ebenso groß und gold gerahmt, zeigte den Marsch der weiß-uniformierten Marinesoldaten „Germans to the Front“ – Boxer aufstand, China 1900 – Die Deutschen an die Front… Ein Wort, das man wieder verdammt oft zu hören be kam… „Erinnerungen, die man nicht ganz vergessen soll“, sagte in diesem Augenblick ein Mann neben ihm, der lautlos eingetreten war und sich mit einer knappen Verbeugung als „Mühlner“ vorstellte. Ein großer schlanker Herr, die grauen Haare in glattem Scheitel, und Vogel mußte denken, während der andere das Deckenlicht einschaltete, er hätte ebensogut „von Mühlner“ sagen und „Oberstleutnant“ hinzufügen kön nen, Vogel war unwillkürlich versucht, vor der metallen klingenden Stimme „Haltung“ anzunehmen. Der Hausherr bat ihn, vor dem Sehreibtisch Platz zu neh men. Er begleitete die Aufforderung mit einer Geste, als wolle er eine Generalstabskarte auf dem Tisch vor sich glätten. Manche Bewegung verlernt man eben nie… Joachim Vogel, allein in der Zelle, eine Art Untersu chungsgefangener in dieser Nacht, erinnerte sich der ganzen Szene genauso scharf, als geschehe sie jetzt in
diesem Augenblick. Im Hinsetzen noch fragte er: „Wo ist der Patient, Herr Mühlner?“ Er beugte sich zu dem glatten, von einem kleinen ironisch-spöttischen Lächeln überzogenen Ge sicht vor und nahm die fast erwartete Antwort entge gen: „Es gibt keinen Patienten in diesem Hause, Dok tor Vogel. Entschuldigen Sie, aber…“ Wieder eine Handbewegung, und das eben noch freundliche Ge sicht schien jetzt kantig zu werden und die Härte des Befehlens anzunehmen. „Ärzten muß man manchmal – nun, sagen wir, einen Patienten zeigen, um sie aus ih rem Schneckenhaus der Praxis zu locken.“ Joachim Vogel hörte sich antworten, daß er das nicht verstehe; wenn er als Arzt benötigt werde, sei er zu jeder Zeit bereit, wenn nicht, dann… „Bitte“, unterbrach ihn Mühlner, „erregen Sie sich nicht, Herr Doktor. Die Welt besteht nicht nur aus Kranken, wie Sie allem Anschein nach nur zu erken nen vermögen, sondern vornehmlich aus Gesunden, die nicht angesteckt werden wollen. Im übrigen möchte ich Sie auch noch in anderer Hinsicht beruhigen – Sie können selbstverständlich die Rechnung präsentieren. So kleinlich sind wir nicht.“ Er, Vogel, wußte mit diesen Worten erst nichts anzu fangen – dann mit einem Male erinnerte er sich, daß es die gleichen oder ähnliche waren, mit denen Mettner ihn bis zum Überdruß zu überreden versuchte: „Wir waren Soldaten, wir sind Soldaten, wir werden wieder Soldaten sein!“ Er stand auf, und auch Mühlner erhob sich. „Diese Unterhaltung interessiert mich nicht, Herr Mühlner. Es
ist eine Unverschämtheit, mich damit zu belästigen, unter einem solchen Vorwand mich hierherzurufen.“ Sie standen sich gegenüber, einer so hart wie der an dere, und Vogel sagte noch: „Es ist mein Beruf, die Menschen zu heilen, sie vor Krankheiten zu bewahren, nicht aber Ihre Machenschaften zu unterstützen und dann wieder Verwundete für die nächste Schlacht kampffähig zu machen.“ Er drehte sich um und ging grußlos hinaus, den Anruf dieses Herrn Mühlner nicht achtend. Zitternd vor Erre gung stieg er in seinen Wagen, und mit einem plötzli chen Entschluß fuhr er zu Mettner, der in einer Pension wohnte. Die Wirtin ließ ihn hinein. Herr Mettner sei anwesend. Er trat auf die Zimmertür zu, klopfte an, öffnete sie – und nach einem Blick in den Raum schloß er sie wieder. Das Mädchen oder die Frau im Vorsaal sah ihn verlegen und erstaunt an. Er aber ging langsam die Treppe hinunter und fuhr nach Hause. Als Ellinor eine Stunde später heimkam, von Mettner begleitet, und beide das, was er, Vogel, in Mettners Zimmer ge sehen hatte, lachend bagatellisieren wollten, ein Scherz, ein Spiel, eine Laune sei es gewesen, da wies er sie beide aus der Wohnung. Ellinor betrog ihn mit diesem – diesem Menschen, der sich sein Kamerad nannte… Der Volkspolizist hatte bereits mehrere Male an die Tür gepocht, hatte auf den Klingelknopf gedrückt. In Breitmanns Haus blieb alles dunkel. Er hämmerte nochmals mit der Paust gegen das Holz. Irgend jemand mußte doch anwesend sein. Er lauschte…
Jetzt schlurfte es auf dem Gang, eine alte Frau öffnete und schrak vor dem Volkspolizisten zurück. Polizei – lieber Gott, war denn die Aufregung noch nicht zu En de? „Warum läuten Sie denn nicht – machen einen Lärm, daß die Umgegend wach wird.“ „Läuten – dann muß Ihre Klingel erst einmal in Ord nung sein.“ Er drückte nochmals auf den Knopf – kein Klingelzeichen. „Ach nee – da hat unser Herr Breitmann die Klingel wohl abgestellt. Vielleicht, als er vorhin weggefahren ist, weil ja dann doch niemand da ist.“ Das war zwar etwas unlogisch, schließlich war sie selbst noch da. „Wohin ist denn Herr Breitmann? Jetzt, mitten in der Nacht?“ „Ihm sei so schlecht, hat er mir gesagt, von den Pil len und der ganzen Geschichte heute abend“, erklärte die alte Frau wichtig. „Lieber Gott, war das eine Auf regung. Unseren Herrn Breitmann zu überfallen, wo er doch Abgeordneter ist.“ Die alte Frau, mit einem Un terrock bekleidet und mit einem Tuch um die Schul tern, war im Begriff, dem Volkspolizisten die Lebens geschichte ihres Herrn Breitmann zu erzählen. Sie be wohnte im Dachgeschoß zwei kleine Kammern und reinigte dafür das ganze Haus. Der Volkspolizist unterbrach sie. „Wann kommt er denn zurück?“ „Vielleicht bleibt er dort, er wollte in die Poliklinik fahren, und eigentlich hätte er ja schon wieder hier sein können. Sie werden ihn dabehalten.“ „Ich muß trotzdem einmal in die Wohnung, gute Frau,“ Kommissar Babendieck hatte ihm ans Herz ge
legt, nicht ohne Gablers gelbe Aktentasche wiederzu kommen. „Ja, ja, Sie dürfen mich schon hineinlassen, ich bin wirklich von der Volkspolizei, liebe Frau.“ Sie ächzte vor ihm die Treppe hinauf und schlurfte dann neben ihm durch alle Räume. Es war alles sauber aufgeräumt, die Schränke und der Schreibtisch waren verschlossen – zu einer Haussuchung hatte er keinen Auftrag, also konnte er wieder gehen. „Wo Herr Breitmann seine gelbe Aktentasche haben mag, wissen Sie wohl nicht?“ „Das hätten Sie nur gleich sagen sollen, lieber Herr; die Tasche hat Herr Breitmann mitgenommen, die läßt er nie zu Hause.“ Um die gleiche Zeit etwa geschah an dem Gedenk stein mitten im Walde etwas Unerwartetes. Felix Vormann fühlte allmählich die Knochen steif werden, die Muskeln schmerzten. Ein Glück, dachte er, daß Sommernacht ist. Im Winter würde er hier anfrie ren. Stundenlang an der gleichen Stelle verharren läßt auch den stärksten Menschen mürbe werden. Und er durfte sich nicht bewegen – es würde niemand um die se Eulenstunde kommen, aber es könnte sein, daß doch jemand kommt, und den würden seine Schritte, die in der stillen Nacht wer weiß wie weit zu hören waren, warnen. Nicht einmal ein Liebespaar hatte sich bis hierher verirrt. Dann knarrte ein Wipfel – ein Ast knickte ab – hun dert Laute, die man noch nie gehört hatte, gab es in der Stille – aber dieser Laut gehörte zu dem Schatten, der sich vor dem Zementsockel bewegte – oder narrten ihn schon seine Augen?
Felix Vormann wußte nicht mehr in einer kaum ein zudämmenden Erregung, ob er recht tat oder falsch handelte. Er ließ die Lampe aufflammen. Das Licht schnitt eine grelle Bahn in die Finsternis. Und in dem scharf die Nacht durchschneidenden Lichtkegel, in die sem geradezu lautlosen Schlag, am Denkmalssockel die Gestalt eines zusammengekauerten Mannes. „Halt! Stehenbleiben! Hände hoch!“ Dabei wagte Vormann nicht, den ersten Schritt zu tun; einfach, weil er fürchtete, in den steif gewordenen Knien zusammenzuknicken. Es kostete ihn unendliche Mühe, sich zu bewegen. Gebannt durch den unbarmherzig weißen Lichtstrahl, verharrte der Mann, bis der Volkspolizist bei ihm war. Er hatte nicht angenommen, daß hier schon jemand stehen könnte. „Ihren Namen bitte – und die übrigen Daten – Sie kennen das ja.“ Babendieck deutete dabei auf den Stuhl an seinem Schreibtisch und sprach bewußt eintö nig und gelassen. Joachim Vogel sah den Kriminal kommissar etwas verstört an. „Ich kenne das durchaus nicht, Herr Kommissar; denn ich werde das erste Mal einer solchen Prozedur unter worfen. Und ich protestiere dagegen – ich bitte, daß mein Protest zu Protokoll genommen wird.“ Kommissar Babendieck war in einer Lage, die, hätte sich ein anderer Kollege darin befunden, von ihm als wenig beneidenswert bezeichnet worden wäre. Er schob jetzt gewissermaßen einen Karren, der langsam, aber sicher über den Rand eines Abgrundes rollte – das
Bild wurde er nicht los. Es blieb ihm im Augenblick nichts anderes übrig, als die Vernehmung weiterzufüh ren. Ganz leise regte sich in ihm die Hoffnung, der Kollege, den er wegen der Tasche zu Breitmann ge schickt hatte, würde diesen selbst mitbringen. Er sagte über seine Gedanken hinweg ganz nüchtern: „Sie werden zugeben müssen, daß die Umstände, unter denen wir uns vor einer Stunde trafen, mindestens ei nen Argwohn unsererseits rechtfertigen.“ Er strich da bei mit der Hand über den Schreibtisch, als könne er mit einer solchen fahrigen Bewegung alles zur Seite schieben. Es war doch ein unmöglicher Gedanke, Breitmann zu verdächtigen. Ein ungeheurer und unge heuerlicher Gedanke war das. „Schließlich muß Herr Breitmann ja einen Grund haben, sich mit Ihnen beiden handgreiflich zu beschäftigen und den Notruf ab zugeben.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte Vogel. „Herr Breit mann hat nicht telefoniert.“ „Ach – demnach wären wir sozusagen aus eigenem Antrieb erschienen. Dann hätten wir sozusagen riechen müssen, daß in dem Augenblick in der Kollwitzstraße eine strafbare Handlung erfolgt. Sie überschätzen unse re Kräfte doch ein wenig, Herr Vogel. Hellsehen ist ja ganz schön, aber mit derartigen Gesellschaftsscherzen gibt sich die Volkspolizei nicht ab. Bleiben wir bei den nüchternen Dingen. Ihre Personalien bitte.“ Es kostete Babendieck einige Mühe, so sachlich zu bleiben. In einer Ecke seines Gehirns wuchs unaufhalt sam die Frage, wer denn den Notruf 01 abgegeben ha ben könnte, wenn nicht Breitmann selbst. Wer hatte
dann angerufen? Es war doch niemand im Hause – seine Frau war verreist… Während Vogel zu sprechen begann, sah sich Babendieck wieder in Breitmanns Zimmer, sah die Stores und erinnerte sich des Mannes, der gegenüber am Fenster gestanden hatte… Indessen erzählte Joachim Vogel: „Ich bin am 31. Mai 1905 geboren, in Hannover. Mein Vater war dort Amtsarzt, später in Hamburg. In Hamburg lernte ich Konrad Gabler kennen, studierte mit ihm zusammen in Jena und Heidelberg, machte dort meinen Doktor der Medizin. Dann war ich Truppenarzt während des Krie ges und richtete mir nachher eine Praxis in Hamburg ein. Ich bin vor drei Tagen nach hier gekommen, heute werden es vier Tage, um mich mit meinem alten Freund Gabler zu beraten, ob es möglich sei, in Ihrer Republik ansässig zu werden. Ich…“ Das Telefon unterbrach Vogels Bericht. Babendieck nahm den Hörer von der Gabel, lauschte in die Mu schel und sagte: „Ich komme.“ Er stand auf. „Einen Augenblick bitte…“ Er ging hinaus. Zwei Minuten später kam Babendieck wieder zurück, trat an seinen Schreibtisch und fragte, im Hinsetzen schon: „Und warum haben Sie sich nicht in Berlin im Ministerium gemeldet? Gabler hätte Ihnen das doch gleich sagen müssen. Sie sind also gemeinsam zu Breitmann gegan gen?“ „Nein. Ich war früher dort – Konrad Gabler wußte nicht, daß ich bei Breitmann auf ihn wartete.“ „Richtig. Herr Breitmann betonte ja schon, daß Sie und Gabler sich anfänglich nicht gekannt hätten – erst später, nach dem versuchten Überfall.“ Er zündete sich
eine Zigarre an. „Ich sollte im Auftrag von Breitmann…“ Babendieck winkte mit der Zigarre ab. „Bleiben wir bei der Reihenfolge: Sie wollten also hier ansässig werden.“ „Ja.“ „Und warum?“ Vogel zögerte einen Augenblick. „Vielleicht darf ich das alles im Zusammenhang sagen, Herr Kommissar. Dann wird es Ihnen verständlicher sein – ich hoffe es wenigstens. Ich fürchte allerdings mehr noch, daß Sie mir nicht glauben werden. Sehen Sie, ich kannte die Verhältnisse hier doch nicht. Was man drüben im We sten hört, ist einigermaßen verworren. Ich wollte mich mit Gabler beraten und wäre auf seinen Vorschlag hin gleich nach Berlin gefahren. Aber da lernte ich Breit mann kennen.“ „Auf der Straße.“ „Nein, bei einem Empfang von Westdeutschen. Ich hatte eine von Breitmann unterzeichnete Einladung erhalten. Er machte sich mit mir bekannt und lud mich ein, ihn am anderen Tag, gestern, vormittags in seinem Büro zu besuchen.“ Joachim Vogel erregte die Erinnerung an das Gesche hene. Babendieck schob ihm die Zigarettenschachtel hin. „Bitte, bedienen Sie sich.“ Er reichte dem Arzt Feuer; denn er brauchte selbst eine Pause. Breitmann sollte in eine Poliklinik gefahren sein; draußen wurde eine nach der anderen angerufen. Wenn Breitmann nicht ernst haft erkrankt war, mußte er sofort hierherkommen.
„Erzählen Sie weiter“, sagte er zu Vogel. „Erzählen – das kann man kaum, Herr Kommissar. Das glauben Sie mir nicht, das glaubt mir keiner, kein Mensch…“ Die ersten Worte hatte er wieder ruhig ge sprochen, den Tabaksrauch nach einem tiefen Zug aus atmend. Dann erfaßte ihn eine Art Leidenschaft oder Angst, irgendein Gefühl, das alles aus ihm herauspreß te. „Wissen Sie denn, wie das ist, wenn man alle Brük ken hinter sieh abbricht, abbrechen muß, und wenn man denkt, mit beiden Beinen auf einem neuen festen Grund zu stehen? Und dann wird man mit einem Male zurückgestoßen. Genau in dem Augenblick, in dem einem gesagt wird, hier sei ein Platz, an dem man ar beiten könne. Meine Praxis in Hamburg war nicht die schlechteste, Herr Kommissar - es gibt Kollegen, de nen es wesentlich schlechter geht, die arbeitslos sind. Arbeitslose Ärzte inmitten eines kranken Volkes, das ist ein Irrsinn, aber ich wäre auch bald einer von diesen gewesen. Meine Praxis wurde von Tag zu Tag schlech ter, die Krankenkassenpatienten wurden mir genom men, die Kredite, die ich für die Einrichtung dringend brauchte, wurden gesperrt – mein Hauswirt kündigte mir die Wohnung, die Praxisräume - und das alles, weil ich es ablehnte, wieder Soldat zu werden, mich als Truppenarzt zur Verfügung zu stellen, wenn die Wehrmacht wieder aufgelichtet wird. Weil ich die Sol datenbünde ablehnte und nichts, aber auch gar nichts mit all dem zu tun haben wollte, was man drüben so eifrig betreibt. Ich habe genug Elend und Jammer ken nengelernt. Die ganze Unvernunft und den ganzen
Wahnsinn des Krieges habe ich erkannt, und ich habe geglaubt, nach diesem sozusagen staatlich konzessio nierten Morden würde nun die Vernunft endlich sie gen. Ich dachte, endlich würde man all die großen Er rungenschaften und Erfindungen und Entdeckungen dieses Zeitalters für den Menschen verwenden – für ihn, nicht gegen ihn. Aber ich habe erkennen müssen, daß dieses…“, er suchte erregt nach Worten, „… die ses Bürgertum, dieses bürgerliche Zeitalter oder wie man sagen soll, seine ganze Großartigkeit verleugnet. Mein Gott, was hat dieses Zeitalter alles geschaffen, wohin sind wir durch die Genialität des Menschen ge kommen – und alles wird mit einer brutalen Gemein heit, in einer ungeheuerlichen Verlogenheit seines wahrhaft edlen Charakters, des großen Sinnes, des herrlichen Zieles beraubt.“ Er atmete tief auf. „Das ist kein Humanismus mehr, Kommissar, das ist – das ist fortwährend Bereitschaft zu neuem Vernichten, mit allen Mitteln. Und das konnte und wollte ich nicht ein zweites Mal mitmachen, dagegen habe ich mich ge wehrt, und als man das merkte, wandte man diese Re pressalien gegen mich an.“ „Sie sind öffentlich aufgetreten?“ fragte Babendieck. „Nein, durchaus nicht. Ich kann mich nicht hinstellen und reden – das wollte auch meine Frau nicht. Aber man wußte natürlich, wie ich dachte, und man bedauer te mich in aller Freundschaft, daß es mir immer schlechter ging – es könnte mir ja wieder besser gehen, von heute auf morgen. Meine Frau drängte mich auch. Meine Frau…“ Er hob die Hand und ließ sie fallen. „Es gibt genug arbeitslose Mediziner geben, die mit
beiden Händen zugreifen – auf eine Art muß der Mensch leben, werden sie sich sagen. Das ist ja die Verruchtheit des Systems, den Menschen keine Arbeit zu geben, sie in Not zu bringen, um schließlich gefügi ge Werkzeuge aus ihnen machen zu können.“ Vogel tupfte die Zigarette im Ascher aus. „Und weil ich damit nichts zu tun haben will, bin ich hierhergekommen – betrogen von allen, auch von – von meiner Frau. Ich kam zu Konrad Gabler, um mich mit ihm zu beraten. Ich hatte ihm vorher nichts von alledem geschrieben, weil meine Post vielleicht schon überwacht wurde. Konrad sagte gleich, ich solle nach Berlin fahren. Aber da lernte ich Breitmann kennen. Mein Freund lobte ihn – ein Mann, der mir bestimmt den richtigen Weg zeigen würde. Ein Mann, dem die ganze Stadt vertraue. Ich bin achtundvierzig Stunden hier gewesen, Herr Kommissar, ich sah ein Land – mit – mit goldenen Türmen vor mir, wie im Märchen…“ Er lachte auf, grell. „Wissen Sie, was mir Breitmann angeboten hat, Herr Kommissar? Das glauben Sie nicht, das glaubt mir niemand!“ „Vielleicht doch, Doktor Vogel, vielleicht doch, Man lernt an diesem Tisch die unmöglichsten Dinge ken nen.“ „Totschießen und Morden im Krieg, Krüppel zusam menflicken, Lebende, die man noch hatte retten kön nen, verrecken lassen, weil die Flucht schneller geht als das Operieren – Kommissar…“, Vogel beugte sich zum Tisch vor, „Kommissar, das scheint noch normal zu sein, vernunftvoll gegen das, was Breitmann mir angeboten hat, von mir forderte. Er bot mir eine Stelle
als Betriebsarzt an, wenn ich mich verpflichten würde, in diesem Betrieb Krankheiten zu züchten und zu verbreiten. Die Mittel dazu, die Kulturen würde er mir zur Verfügung stellen.“ „Nein!“ Babendieck konnte das Wort nicht zurückhal ten. Joachim Vogel achtete nicht darauf, sah auch nicht, wie Babendiecks Gesicht sich veränderte, blasser wurde, blasser und härter. „Breitmann stellte mich vor die Wahl – entweder dies, oder er würde mich als unerwünscht über die Grenze abschieben lassen, oder – und das war das Letzte – , er besäße alle Unterlagen, um mich als Agenten verhaften zu lassen. Als einen Agenten, der herübergekommen sei mit dem Ziel, als Betriebsarzt Seuchen zu verbreiten. – Aber das glauben Sie mir ja nicht, Herr Kommissar, das glaubt mir niemand. Breitmann, das ist ein Mensch, um dessen Stirn sozu sagen der Glorienschein des Volksvertrauens strahlt. Und ich – ich habe Konrad Gabler meine Bedenken mitgeteilt – ausgelacht hat er mich, und Sie würden mich auch ausgelacht haben, wenn ich damit zu Ihnen gekommen wäre.“ Babendieck war versucht, ja zu sagen, aber ein Volkspolizist, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat, enthob ihn dieses Bekenntnisses. Er sah auf die beiden Zettel nieder, die ihm auf den Tisch gelegt wur den. „W. Breitmann in keiner Poliklinik gemeldet.“ „Am ,toten Briefkasten’ von VolkspolizeiWachtmeister Vormann ein gewisser Karl Goldberg festgenommen. Wohnhaft Kollwitzstraße 36. Chemiker
beim VEB Textilchemie.“ Kommissar Babendieck verlor fast den Atem. Er schob die beiden Blätter mit spitzen Fingern von sich, zog sie heran, las sie nochmals. Unsinn, sagte er sich, klaren Verstand behalten. Wo war Breitmann? Und Goldberg – das war doch einer von den beiden Män nern, die wußten, daß Gabler manchmal Papiere mit nach Hause nahm… „Wir müssen unser Gespräch unterbrechen, Herr Doktor“, sagte er zu Vogel. „Ruhen Sie bitte. Ich glau be, wir werden uns in dieser Nacht noch mehr unter halten müssen.“ „Ich habe Ihnen die volle Wahrheit gesagt, Herr Kommissar“, beteuerte Joachim Vogel. „Ich habe Gift nehmen wollen, aber das hat Breitmann mir aus der Hand geschlagen, und dann hat er mich gezwungen, Gabler ein Schlafmittel zu geben, damit er, Breitmann, Gelegenheit hätte, ungehindert die wertvollen Papiere des Chemikers zu fotografieren. Wenn dieser dann erwachte, sollte ihm eingeredet werden, daß er – wahr scheinlich verursacht durch Überarbeitung und den Weingenuß – einen Schwächeanfall erlitten hätte.“ Babendieck sah Vogel an, als stände ein völlig frem der Mensch vor ihm. Sollte einer dabei noch seinen nüchternen Verstand als Kriminalist behalten… Als Vogel, begleitet von einem Volkspolizisten, das Zimmer verlassen hatte, nahm Babendieck den im „to ten Briefkasten“ gefundenen Brief aus der Akte. Er mußte noch in der Nacht dechiffriert werden. „Sofort in die Wohnung von Merring bringen – er muß ihn gleich dechiffrieren“, sagte er zu dem Volks
polizisten, der die beiden Zettel gebracht hatte. Babendieck strich sich über die Stirn. „Lassen Sie uns einen Kaffee aufbrühen“, wandte er sieh an die Proto kollführerin, „aber einen dicken – Doppelmokka. Sie trinken auch einen.“ Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Hier half kein Kombinieren mehr. Er mußte sich täuschen, und das konnte jedem Menschen geschehen, auch einem erfahrenen Kriminalpolizisten. Aber Vogel sah nicht wie ein Verbrecher aus, oder er mußte nicht Arzt, son dern ein ausgezeichneter Schauspieler sein. Ein beina he begnadeter Künstler… Und Gabler hatte zuerst mit einer ihn, Babendieck, fast verspottenden Ruhe ge sprochen… Breitmann war mit der Tasche in einer Taxe weggefahren, in eine Poliklinik, und er war in keiner Poliklinik gemeldet worden. Goldberg war der Chemiker von Gabler und einer jener zwei Männer, die den „toten Briefkasten“ bedienten – wer war der ande re? Und wer hatte den telefonischen Notruf gegeben? Er kam sich wie ein Kennfahrer vor, der vor sich auf der Bahn drei ineinandergefahrene Wagen liegen sieht, bremsen will und nur die Wahl hat: in die Zuschauermenge zu fahren oder mitten in das Chaos… Breitmann ein Agent? Der Bezirkstagsabgeordnete, der Staatsfunktionär? Gabler, der Leiter des VEB Tex tilchemie ein Agent? Vogel? Goldberg bestimmt – Goldberg brauchte Breitmann nicht zu kennen, aber er kannte seinen Betriebsleiter, dessen Pläne, dessen Ar beitsmethode. Vogel war von drüben gekommen, war Gablers Freund und hatte Breitmann kennengelernt, der ihm dieses furchtbare Angebot gemacht hatte.
Breitmann – wo war Breitmann? Was hatte Vogel zum Schluß gesagt? Er sollte im Auftrag Breitmanns Gabler betäuben, damit Breitmann dessen wertvolle Papiere fotografieren kann. Aber er, Vogel, hatte das Mittel in Breitmanns Wein getan; der war umgefallen, war wie der zu sich gekommen – es hatte die handgreifliche Auseinandersetzung zwischen den dreien gegeben. Wer aber hatte den Alarmruf gegeben? Jemand, der, wenn er nicht an den Vorgängen beteiligt war, sie doch beobachtet hatte – jemand, der in das Zimmer schauen konnte der Mann von gegenüber! Goldberg wohnte in der Kollwitzstraße 36 – das konnte beinahe stimmen… Zwei Minuten später wußte Babendieck, daß es stimmte. Goldberg wohnte Breitmann gegenüber, im ersten Stockwerk – er war der Mann, der sich am Fen ster aufgerichtet und unwillig gesprochen hatte, als seine Frau oder sonst wer Licht gemacht hatte. Goldberg und Breitmann arbeiteten Hand in Hand. Goldberg spielte Breitmann die Nachrichten zu, wenn im VEB Textilchemie etwas Besonderes geschah… Eine einigermaßen gewagte Kombination, aber es blieb keine andere Möglichkeit im Augenblick, wenn Gabler und Vogel nicht die Verbrecher sein sollten. Der Kriminalkommissar läutete. Ein Volkspolizist kam. „Bitte sofort die Taxen des Nachtdienstes, auch die Taxenzentralen abfragen, wer Breitmann gefahren hat, wohin er gebracht worden ist. Und bei Breitmann anru fen lassen – alle Viertelstunde, bis er sich meldet. Morgen früh sofort feststellen, wo sich seine Frau be
findet.“ „Und wenn Breitmann sich nicht meldet?“ fragte der Volkspolizist mit einer Babendieck erschütternden Ru he. „Wieso, wie meinen Sie das?“ Der andere hob die Schultern. „Ich habe vor ein paar Wochen Besuch gehabt, einen alten Freund, der las in der Zeitung den Namen Breitmann, und da…“ Babendieck winkte ab. „Das ist ja bekannt, daß Breitmann Offizier gewesen ist, mein Lieber. Ich weiß, was Sie meinen. Die Vergangenheit von vielen Men schen ist nicht so gewesen, wie sie hätte sein müssen, um unser aller Vergangenheit anders sein zu lassen. Das stimmt, aber die Gegenwart entscheidet. Die Ar beit für die Gegenwart und die Zukunft. – Also, erst die Taxistände, dann Breitmann anrufen – er muß so fort herkommen – und dann lassen Sie den Goldberg bringen. Und was Ihr Freund Ihnen erzählt hat, wird man wahrscheinlich von hundert oder tausend anderen auch hören können – Sie sagen es mir dann nachher.“ „Stimmt schon, das mit der Arbeit für die Gegenwart und Zukunft und daß Hunderte und Tausende Offizier und Nazi gewesen sind, aber nicht alle haben Massaker durchgeführt – in Südpolen…“ „Mensch – Werner! Lassen Sie mich damit in Ruhe jetzt! Das kann nicht sein – das darf nicht sein…“ Und während der Volkspolizist hinausging, wußte Baben dieck schon, daß es stimmte, daß alles stimmte – daß Breitmann die Papiere von Gabler haben wollte… Der Arzt Dr. Joachim Vogel aus Hamburg hockte wieder in dem kleinen Raum. Er wußte nicht, ob es
eine Gefängniszelle war oder nicht, und es war auch wohl gleich. Er hatte in Hamburg diese Sorte Men schen erleben müssen, die irgendwelche Orden und Ehrenzeichen des „Braunen Reiches“ in der Tasche trugen. Das waren die Mettner und Mühlner, die Soldat gewesen waren, sich noch als Soldat fühlten und davon überzeugt waren, daß sie es wieder werden würden. Sie nahmen auf die anderen Menschen keine Rücksicht, verfolgten nur ihre Ziele, ganz gleich, ob sie jetzt ei nem Menschen den Beruf zerstörten und die Frau weg nahmen oder später Tausenden, ja Millionen Menschen das Leben nahmen. Und er, Vogel, hatte gedacht, daß der furchtbare Krieg die Menschen zur Vernunft ge bracht hätte, daß ein neues, ein friedliches Leben be ginnen würde, in dem alles, was Großes und Gutes und Schönes geschaffen worden war, dem Menschen dienstbar gemacht werden würde. Und er war hierher in die Deutsche Demokratische Republik gefahren, weil er des Glaubens, der Hoffnung war, hier würde es anders sein, hier würde diese Sorte Menschen nicht das Heft in der Hand haben. Und er war an einen Breit mann geraten, der genauso die Ehrenzeichen des Nazi reiches in der Tasche trug, ja, der noch gemeiner, noch brutaler war. Der das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, mißbrauchte, der wühlte und hetzte, der Verbrechen beging und Verrat betrieb. Joachim Vogel war, wie er meinte, von dem Krimi nalkommissar sehr freundlich behandelt worden, aber hieß das, daß man ihm glaubte und Breitmann zur Re chenschaft ziehen würde? Einen Be zirkstagsabgeordneten, einen Staatsfunktionär. Er, Joa
chim Vogel, hatte am Nachmittag dieses Tages schon aufgeben wollen. Breitmann, der ihm am Vormittag das gemeine, verbrecherische Angebot gemacht hatte, Seuchen zu verbreiten oder als Agent verhaftet zu wer den oder wieder zurückzufahren, zu Mettner und zu Mühlner, war am Nachmittag dann in sein Hotelzim mer gekommen und hatte von ihm gefordert, einen anderen Menschen zu betäuben, ja, wenn nötig, mit einer Dosis Gift zu beseitigen. Breitmann hatte ihm ganz nackt und brutal gesagt, das sei seine Prüfung. In einer Stunde komme ein Mann mit wichtigen Papieren in der Tasche zu ihm. Er, Breitmann, brauche diese Unterlagen. Joachim Vogel hatte das Angebot abgelehnt – zum Verbrecher ließ er sich nicht machen. Und er hatte im Laufe der Ausein andersetzung, bis zum höchsten Grade erregt, nach seiner Reiseapotheke gegriffen und eine Giftampulle herausgenommen – da hatte Breitmann zugeschlagen, hatte ihn mit seiner körperlichen Überlegenheit ge zwungen, mit ihm zu gehen. Was hätte er, Joachim Vogel, tun können – hätte er schreien sollen, hätte er einen Volkspolizisten rufen sollen? Er, ein aus West deutschland gekommener unbekannter Mensch, konnte nichts, aber auch gar nichts gegen Breitmann tun. Er hatte mitgehen müssen; sie hatten bei Breitmann gegessen, und dieser hatte ihm alles, was er tun sollte, jetzt und in der kommenden Zeit, nochmals mit nack ten, nüchternen Worten auseinandergesetzt. Und dann war – dann war Konrad Gabler gekommen. In der Sekunde, als Gabler das Zimmer betrat, war es Vogel hinter Breitmanns Rücken gelungen, seine
Überraschung zu überwinden und Konrad Gabler ein Zeichen zu machen, daß sie sich beide nicht kannten, nicht kennen durften… Und Konrad hatte mitgemacht, vielleicht in dem Glauben, es sei ein Scherz, eine Überraschung für Breitmann. Er hatte auf das Drängen Breitmanns hin in einem günstigen Augenblick eine harmlose Spalttablette in Gablers Glas fallen lassen. Und später war es ihm ge lungen, in einem glücklichen Augenblick, ein starkes Schlafpulver in Breitmanns Wein zu schütten – viel leicht nicht genug, vielleicht hatte es sich noch nicht restlos aufgelöst, jedenfalls kam Breitmann nach einem kurzen Schlaf, gegen den er sich mit all seinen gerade zu riesenhaften körperlichen Kräften wehrte, wieder zu sich – dann gerieten sie in ein Handgemenge, dann kam die Polizei – und nun würde man ihn, Vogel, und auch Gabler verurteilen; denn wer sollte glauben, daß Breitmann ein Verräter war… Der einzige, der in dieser Stunde bereit war, es zu glauben, war Kommissar Babendieck. Er hatte begrif fen, welche Aufgabe ihm gegeben worden war. Er ver suchte seine Kombinationen zu Ende zu führen. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. Er zwang sich, an nichts anderes zu denken als an die Schlußfol gerungen, die er zu ziehen hatte. Goldberg, der ihm jetzt vorgeführt wurde, mußte, obwohl er eigentlich ein Außenseiter war und scheinbar mit der Breitmann Vogel-Affäre nichts zu tun hatte, die Lösung bringen. Babendieck sah den Chemiker des VEB Textilchemie eine halbe Minute schweigend an. Es gehörte zu seiner
Verhandlungsart, Verbrecher erst zu betrachten, um sich ein Bild von ihnen zu machen, von ihrem Äuße ren, von ihrem Innern; denn das enthüllten sie unter dem schweigenden Anschauen durch ihre Unruhe, durch kleine Gebärden oder auch durch Gelassenheit und Frechheit, mit der sie dem Blick standhielten, oder sie zeigten vorgetäuschte Reue. Babendieck versuchte sich in die Gedanken seines Gegenübers einzufühlen und stellte ganz plötzlich die Frage: „Wie hoch ist Ihr Gehalt beim VEB Textilche mie?“ Goldberg sah ihn verdutzt an. Er hatte, seit er in Haft genommen worden war, überlegt, wie er dem bevor stehenden Verhör begegnen könne. Auf diese Frage war er nicht vorbereitet gewesen. „Sechshundertfünfundachtzig Mark brutto“, antworte te er. „Hm“, machte Babendieck. Dann stieß er zu, inner lich immer noch zweifelnd, ob seine Kombinationen richtig waren. „Sie haben Herrn Breitmann direkt oder indirekt da von unterrichtet, daß im VEB Textilchemie eine wich tige Erfindung abgeschlossen worden ist. Sie haben ihn ebenso darauf aufmerksam gemacht, daß Doktor Gab ler gewohnheitsmäßig die Papiere bei sich trägt, um zu Haus daran zu arbeiten. Sie haben, als Gabler und Vo gel bei Breitmann waren, das Zusammensein der drei beobachtet. Sie haben, als Sie sahen, daß Breitmann am Tisch umsackte und daß er, wieder zu sich kom mend, mit seinen Besuchern in ein Handgemenge ge riet, die Volkspolizei alarmiert, den Notruf gegeben.
Sie haben, als alles vorüber war, vorsichtshalber den ,toten Briefkasten’ kontrollieren wollen, nachsehen wollen, ob Breitmann ihn geleert hatte.“ Dies alles waren Kombinationen von Babendieck; aber er hatte das Gefühl, zwischen Goldberg und Breitmann müsse eine Verbindung bestehen. Er mein te, mit einem solchen Kombinationsversuch das dichte Gewebe aufreißen zu können, hinter dem das alles ge schehen war. Die Ergebnisse der Ermittlungen lagen noch nicht vor, und er hätte sie vielleicht noch abwar ten sollen. Aber er mußte etwas tun, er mußte, so oder so, nach einer Klärung suchen; denn – wenn Breitmann wirklich dies alles getan hatte, wo befand er sich dann? Hatte es einen bestimmten Grund gehabt, daß Breit mann ihn beim Abschied bat, erst am Morgen mit der Vernehmung zu beginnen? Babendieck hatte die Sätze kurz, klar, scharf zu Gold berg hingeworfen. Er sah, wie dieser, als er den Namen Breitmann hörte, beinahe aus der Haltung kam, wie er sich Mühe gab, unbeteiligt zu erscheinen, und wie ihn dann doch jeder der fünf Sätze sozusagen in seinem inneren Gefüge lockerte. Babendieck schien es, als fehle nur noch das Antippen mit dem gestreckten Fin ger, um Goldberg wie eine zu scharf gebrannte Tonfi gur zusammenbrechen zu lassen. „Sie glaubten, der Augenblick sei gekommen, sich vom Chefchemiker des Werkes zu befreien und an dessen Stelle zu treten – vielleicht hofften Sie, sich sogar von Ihrer Bindung an die Sabotagegruppe zu lösen.“ Goldberg würgte etwas hervor, was ein „Ja“ sein konnte. Dieser kleine Mann mit den schwarzen Bür
stenhaaren und den blassen, unruhigen Augen, den schmalen Lippen und der eigentlich unintelligenten niedrigen Stirn konnte der Typ des Intriganten genannt werden – wenn der Koloß Breitmann, der seinen Na men zu Recht trug, nicht zugleich bewiesen hätte, daß es in Wirklichkeit gar keinen Intrigantentyp gab. „Erzählen Sie“, forderte Babendieck Goldberg auf, und dieser schien, da der Kommissar die Stimme ver ändert hatte, etwas wie Hoffnung zu haben – vielleicht konnte er sich durch ein umfassendes Geständnis ret ten… Doch ehe er beginnen konnte, läutete der Fernspre cher. Babendieck nahm den Hörer ab. „Ja, ich kom me.“ Das Tempo war in dieser Nacht außerordentlich. Ein Rädchen griff in das andere, ein ganzer Apparat be wegte sich mit einer geradezu erstaunlichen Schnellig keit und Sicherheit. Babendieck, der dem Ganzen die sen Lauf gegeben hatte – gezwungen, schnell aus Kombinationen zu handeln, weil der immerhin eigen tümlich erscheinende Fall kein praktisches Beispiel hatte – , zitterte manchmal in diesen Stunden, wenn er daran dachte, daß es durchaus möglich war, die fal schen Schlußfolgerungen gezogen zu haben. Bis jetzt war zwar alles reibungslos gegangen, aber in seinem Schädel spürte er manchmal etwas wie gähnende Lee re. Für gewöhnlich hatte er ein, zwei Tage Zeit und konnte sich mit seinen Vorgesetzten beraten. Dazu war es jetzt zu spät. Jetzt mußte er ein Resultat bringen oder bekennen, einem Irrtum verfallen, mehr als geris senen Verbrechern aufgehockt zu sein. Gerissen waren
sie auf jeden Fall, nur, ob sie Breitmann oder Vogel und Gabler hießen, das war noch nicht entschieden. Draußen wartete der Taxifahrer, der Breitmann von seiner Wohnung abgeholt hatte. Wenn der ihn in eine Klinik gebracht hatte, wenn Breitmann noch dort lag, doch mit Vergiftungserscheinungen… Der korpulente Mann in Manchesterhose und Leder jacke kam gleich auf den Kommissar zu. „Das liebe ich, Herr Kommissar, nachts zur Volkspo lizei geholt zu werden, vom Funkwagen aufgegriffen zu werden. Was ist denn los? Unsereiner kann doch nicht riechen, wen man fährt. So ein Parfüm gibt’s ja noch nicht. Vielleicht sollen wir uns noch von jedem Fahrgast den Personalausweis zeigen lassen – Frage bogen ausfertigen und so…“ „Das würde auch nicht viel nützen, mein Lieber.“ Ba bendieck lächelte über das gutmütige Gepolter des Fahrers. „Sind Sie innerhalb der letzten Stunden durch den Taxiruf bestellt worden?“ „Ja, aber das ging gleich verkehrt los. Die Kollegin hatte sich in der Hausnummer geirrt – nur gut, daß es das gegenüberliegende Haus war.“ „Ein großer starker Herr mit gelber Aktentasche.“ „Stimmt – der Bezirkstagsabgeordnete Breitmann. Den habe ich schon öfter gefahren. Er hat mich aber in der Nacht wohl nicht erkannt.“ „Er wollte zur Poliklinik gefahren werden und hat dann unterwegs ein anderes Ziel angegeben.“ „Stimmt auch. Hauptbahnhof.“ „Zu welchem Zug?“ „Das hat er mir ja nun nicht gesagt, Herr Kommissar.
Aber wahrscheinlich zu dem Nachtschnellzug nach Berlin; er hat mit einem Male mächtig gedrängelt, und wie ich dann zum Kiosk hinaufging, mir Zigaretten zu holen, sah ich, wie er über den Querbahnsteig trabte.“ „Danke. Geben Sie das bitte zu Protokoll.“ „Das war alles?“ Der Mann mit der Lederjacke atmete erleichtert auf. „Dachte wunder was los sei. Deswegen einen Funkwagen einzusetzen war doch nicht nötig, Herr Kommissar.“ „Doch, doch – “ Babendieck lächelte wieder. Er ging in sein Zimmer zurück. Goldberg saß, wie er ihn ver lassen hatte. Jetzt schrak er hoch. „Herr Kommissar, ich will alles gestehen, ich will…“ Die Angst weitete seine Augen. Babendieck spürte wieder Stiche in der Schläfe. Er blickte auf Goldberg – ihn widerte dieser Mensch an. „Wie hoch waren die Zuwendungen, die Sie für Ihre Agententätigkeit bekamen?“ „Hundert Mark monatlich.“ „In West…“ „Ja – erst – dann nur in Ost…“ „Nur in Ost – “ Babendieck spürte etwas in sich auf steigen, einen grenzenlosen Haß gegen diese Sorte Menschen. „Bringen Sie ihn hinaus!“ rief er dem Volkspolizisten zu. „Ich kann den Menschen nicht mehr sehen.“ Babendieck war wieder allein. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte. Diese Menschen kannten keine Hemmungen. Der eine verriet, vielleicht um Werkleiter zu werden und dann noch besser verraten zu können. Und der andere… Babendieck erinnerte
sich des Volkspolizisten, der ihm von Breitmann er zählen wollte – nachher. Jetzt kam es auf Breitmann an. Der saß im Zug – mit Gablers Papieren. Vom Ost bahnhof war es nur ein Sprung nach Westberlin – Mi nuten nur, dann befand man sich auf der anderen Seite der geteilten Hauptstadt. Dann waren die Papiere drü ben, wie so vieles von diesen Verbrechern schon hin übergeschafft worden war. Babendieck spürte eine un heimliche Kälte im Nacken, wenn er daran dachte, welche Schuld Breitmann auf sich geladen hatte – wahrscheinlich würde das breite Kreuz nicht ausrei chen, die Last zu tragen. Babendieck ließ feststellen, wann der Zug in Berlin eintreffen mußte. Er hielt noch in Bitterfeld und in Dessau. 2.13 Uhr und 2.57 Uhr. Der Zug hatte soeben Dessau verlassen… Durch Fernschreiben unterrichtete Babendieck die Berliner Dienststellen. Er mußte einige Minuten war ten, ehe die Verbindungen hergestellt waren. Er dräng te, daß man schnell und ohne lange Verzögerungen und Nachfragen eingriff. Der Kollege in Berlin schien nicht bereit zu sein, so bedenkenlos zuzugreifen, wie er, Babendieck, es getan hatte. Das Gespräch war beendet. Die Grenzpolizei würde unterrichtet sein, bevor der Zug Schönefeld erreichte. Babendieck ging in sein Zimmer zurück und ließ sich das bisher aufgenommene Protokoll geben. Er begann seinen Bericht zu schreiben. Dann und wann standen draußen Lichter. Manchmal stoben Funken an den Fenstern vorbei, wie brennender
Schnee getrieben. Der Zug war durch große Lichtpas sagen von Bitterfeld nach Dessau gebraust. In einem Abteil zweiter Klasse saß Breitmann. Er versuchte zu schlafen, aber die Erregung hielt ihn wach. Das Abteil wurde von dem blauen Licht der Deckenlampe nur schwach erhellt. Die anderen Rei senden schliefen. Breitmann lächelte vor sich hin – spöttisch, überlegen, zynisch. Er besaß die Papiere, und in zwei Stunden, wenn der Kommissar ausgeschla fen hatte, war er damit in Berlin. Wenn er die letzten Jahre betrachtete: Er war immer wieder durchgekommen. Es hatte manchmal brenzlig ausgesehen, im Krieg und in den folgenden Jahren, und es hatte seine ganze Ruhe dazu gehört, um die kriti schen Fragen so zu beantworten, daß man ihm glaubte, ihm Vertrauen schenkte. Vielleicht wäre auch über haupt alles gutgegangen, wenn nicht die alten Kamera den aus dem Krieg mehr von ihm gewußt hätten als er in der Republik zu sagen bereit gewesen war. Und trotzdem – auch nachher war alles gutgegangen. Er lächelte wieder vor sich hin. Er hatte gut vorgearbeitet – in seinem Schreibtisch la gen die Unterlagen dafür, daß Gabler und Vogel Agen ten waren. Er hatte angenommen, diesen Dr. Vogel als brauchbaren Helfer gewinnen zu können. Die Nach richten aus Hamburg waren doch gut gewesen, beinahe ebensogut wie die über Gabler. Das Loch, in das er ge stolpert war, daß Gabler und Vogel sich kannten – da mit hatte er nicht gerechnet, das hatte man ihm aus Hamburg nicht gemeldet… Nun, Breitmann war zu frieden, daß er nicht mit leeren Händen kam…
Er schlief nun doch ein, beruhigt von dem Wissen, daß er immer Glück gehabt hatte und daß er das Ver trauen seiner Vorgesetzten stets gerechtfertigt hatte. Freilich, und aus diesem Gedanken kam das spöttisch zynische Lächeln, mit dem er einschlief: Wenn, man zweierlei Vorgesetzte hatte, konnte man nur der einen Seite restlos dienen… Er schlief ein, und im Traum sah er sich wieder als Hauptmann vor seinem General ste hen. Als Wilhelm Breitmann die Augen öffnete, hielt der Zug in Schönefeld. Er war sofort hellwach, gespannt, bereit, jedem Angriff zu begegnen. Eiskalt und klar lag jedes Wort in seinem Gehirn bereit. Es war die im Kriege hundertmal erlebte Situation, und es war ja immer noch Krieg! Hatte der Gegner die Vorbereitun gen erkannt? – Griff er an? – Konnte man den Kessel sprengen? Nicht, wer im Kessel blieb, war entschei dend, sondern wer hinauskam, daß man es selbst war – mit dem letzten Flugzeug, in Zivilkleidern, mit Hand granaten, Maschinenpistole und Panzerfaust – daß man nicht liegenblieb… Die anderen – die hatten Pech ge habt – er war immer hinausgekommen… Die Abteiltür wurde geöffnet. Ein langer Grenzpoli zist grüßte. „Guten Morgen – darf ich um die Personal ausweise bitten.“ Vier, fünf, sechs Ausweise wurden ihm hingestreckt. Ein flüchtig scheinender Blick, ein Aufsehen in das Gesicht des Ausweisinhabers. Vier-, fünf-, sechsmal „Danke“ – dann: „Ich wünsche eine angenehme Wei terreise,“ Breitmann ließ sich in das Polster zurückfallen. Der
Durchbruch war wieder einmal gelungen… In dem Augenblick, als der Lokomotivführer den Kopf aus dem Fenster zog und den Regler bedienen wollte, sank das Abfahrtssignal wieder auf „Halt!“ „Was ist denn nun los?“ fragte er und schaute erneut auf den Bahnsteig zurück. Die Kollegin mit der roten Mütze gab, anscheinend selbst erstaunt, immer noch das Abfahrtszeichen. Aber er konnte doch nicht über das Haltsignal fahren. Fauchend und weiß-wolkend stieg der Dampf auf… Kommissar Babendieck war an den Fernschreiber ge rufen worden. Berlin fragte nochmals zurück, ob sich in der Angelegenheit etwas geändert habe. Nein, nein – zum Donnerwetter – der Zug mußte jede Minute in Schönefeld eintreffen. Der Fernschreiber ratterte. Die Kollegin konnte die Tasten kaum so schnell bedienen, wie es Babendiecks Tempo entsprach. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, als das „Ende“ durchgekommen war. Jetzt mußte noch Schönefeld benachrichtigt werden. Hoffentlich reichte die Zeit aus. Hoffentlich war Breitmann in dem Zug – und wenn er einen anderen benutzt hatte, wenn er mit falschen Papieren fuhr, wenn er einen Mitwisser im Zug hatte, die Tasche mit den Papieren oder diese selbst gar nicht mehr in sei nem Besitz waren… Babendieck, wieder in seinem Zimmer, riß die Fen ster auf. Das konnte ja kein Mensch hier aushalten. Die Luft war dickblau von Tabaksrauch… Der Wachthabende der Grenzpolizei in Schönefeld drehte das Fernschreiben hin und her, blickte zum Fen
ster hinaus. Eben verließen die Grenzpolizisten die Wagen… Er nahm den Telefonhörer auf, ließ sich mit dem Fahrdienstleiter verbinden. „Der Zug darf nicht ausfah ren. Ich komme gleich hinüber.“ Die Minuten vergingen. Die Grenzpolizisten standen beim Wachthabenden. „Erinnert sich einer des Namens Breitmann – Bezirkstagsabgeordneter, groß, stark, wahrscheinlich Zweiter Klasse. Wer hat die Zweite Klasse kontrolliert?“ Der schlanke Herbert Wangenheim, dessen Gedanken manchmal mehr bei der Kunstgeschichte waren, die er studierte, hob zögernd die Hand. Er drehte sich um und musterte den Zug. „Breitmann – das muß im mittelsten Abteil gewesen sein, dem ehemaligen Abteil Erster Klasse.“ Breitmann sah die Grenzpolizisten zurückkommen. Er sah, daß einige am Zug entlanggingen und vor und hinter ihm die Gleise überschritten. Er sah, daß an je dem Ende seines Wagens zwei Grenzpolizisten ein stiegen. Er stand auf und trat auf den Gang hinaus, ließ das Fenster herunter – zu spät… Die Falle war zu… Kommissar Babendieck saß, als der neue Tag hell und schön durch das Fenster lachte, mit Konrad Gabler und Joachim Vogel am Schreibtisch. Er glättete das Fern schreiben, in dem ihm die Verhaftung Breitmanns mit geteilt worden war, die Sicherstellung der Papiere. Joachim Vogel erzählte noch einmal seine Geschich te, von Gabler dann und wann mit einem Einwurf un
terstützt. Babendieck sagte: „Sie haben recht; wenn Sie gestern damit zu mir gekommen wären – ich hätte Ihnen das nicht abgekauft. Niemand. Und Breitmanns Gedan kengang war völlig richtig. Er konnte nicht verdächtigt werden – höchstens Sie beide. Ich habe inzwischen die Haussuchung durchgeführt. In seinem Schreibtisch lag fein säuberlich alles Material gegen Sie. Er hat es mit einer vorzüglich zur Schau getragenen Jovialität ver standen, wichtige Geschehnisse seiner Vergangenheit zu verbergen. Er hat neunzig Prozent dessen, was seine Vergangenheit ausmachte, offenherzig klargelegt. Er war Soldat, Offizier, hat wie alle mit einer Tapferkeit gekämpft, die einer besseren Sache würdiger gewesen wäre, hat Orden und Ehrenzeichen erhalten – gut – oder nicht gut – wir haben uns damit abgefunden, und diese Menschen haben mit uns gemeinsam begonnen, ein neues Leben aufzubauen. Sie haben Jahre Zeit ge habt, sich zu bewähren, und auch Breitmann hat sich offensichtlich bewährt.“ Babendieck machte eine Pause. Er rauchte seine letzte Zigarre an. „Ich kann im Augenblick nur kombinieren, aber es wird richtig sein. Wenn Breitmann nur das ge tan hätte, was er bekannt hat, wäre alles gut gewesen. Aber seine Freunde wußten mehr als wir von ihm er fahren hatten, zum Beispiel ein Massaker an den Ein wohnern eines südpolnischen Dorfes. Damit, daß er uns das verschwiegen hat und er bis heute nicht er kannt worden ist, damit haben seine Freunde drüben ihn festgebunden. Entweder oder – und er hat es vor gezogen, für die andere Seite zu arbeiten. Er hat es mit
einer geradezu ungeheuerlichen, grauenhaften Fähig keit verstanden, vier Jahre hindurch den absolut Repu bliktreuen zu spielen. Hier hört, meine ich, das norma le menschliche Verständnis auf. Diese Verbrechen sind nicht entschuldbar. Sie kommen zumeist nicht aus per sönlichen Motiven, sondern liegen in der Erziehung, einer ans Verbrecherische gehenden Erziehung. Schlußfolgerung? Verhüten helfen; daß die Menschen unserer Zeit in die gleichen Bahnen getrieben werden.“ „Und Goldberg?“ fragte Gabler. „Vielleicht haben Sie bis vor einem knappen Jahr recht gehabt, ihm zu vertrauen, Doktor“, erwiderte Ba bendieck. „Goldberg mußte des öfteren nach Berlin fahren?“ „Es gibt fast jede Woche Besprechungen, und ich kann nicht immer fahren.“ „Goldberg hat eine Freundin in Berlin gehabt.“ „Er ist doch verheiratet“, sagte Gabler schnell. „Eben oder trotzdem, wie man will. Er wurde von dieser Frau zum Agenten gemacht. Man wird die nähe ren Umstände noch nachprüfen. Manchmal genügt eine Nacht… Goldberg wurde Kurier, und es ließ ihm keine Ruhe, bis er endlich wußte, wer der Empfänger seiner Briefe war. Und dann baute er sich allein einen Plan. Er vermittelte seiner Zentrale auch persönliche Nach richten über Sie, spielte auf diese Weise Breitmann mehr in die Hände als dieser ursprünglich erwartet hat te. Beim letzten Besuch in der Berliner Zentrale wurde beschlossen, Sie, Doktor Gabler, an Breitmann aus zuliefern, damit Goldberg an Ihre Stelle rücken konnte, was ja durchaus möglich, gewesen wäre. Allem An
schein nach hat man aber Breitmann noch nicht davon verständigt gehabt, daß Goldberg mit in dem Ring saß. Dann kamen Sie, Doktor Vogel, und Breitmann ergriff die Gelegenheit, die sich ihm nach seiner Meinung bot. Glücklicherweise hat Breitmann die letzte Nachricht nicht mehr bekommen. Goldberg brachte sie vorge stern von Berlin mit.“ „Er war zu einer Sitzung im Ministerium“, warf Gab ler ein. „Richtig, und brachte einen Brief mit, den Breitmann noch nicht abgeholt hat. Und dieser Brief enthielt die Nachricht, daß er mit Ihnen vorsichtig sein solle. Sie seien der Freund Doktor Gablers.“ „Das hat meine Frau verraten“, sagte Vogel leise. Sie schwiegen einige Zeit gedankenversunken. Dann sagte Konrad Gabler: „Das letzte Mal, daß ich Papiere mit nach Hause nehme – eher setze ich mich noch vor den Panzerschrank.“ „Tja – “ Babendieck nickte vor sich hin. „Es gibt zu viel Phrasen auf der Welt, und manche, die keine ist, kommt dabei leicht in den Geruch, eine zu sein. Auf passen, sich selbst nicht trauen, jedes Wort wägen… Wir finden auch schon einen dieser Verbrecher nach dem anderen; eines Tages werden wir uns von ihnen befreit haben, weil in uns keine Angst ist und keine Gier.“ „Was werde ich nun beginnen?“ fragte Vogel. „Sie werden in eine Betriebspoliklinik gehen, Doktor. Sie werden sehen, daß wir uns nicht nur mit den ver brecherisch kranken Menschen so energisch beschäfti gen, sondern noch viel energischer mit den gesunden
Menschen, mit denen, die unser Leben aufbauen, die an unserer Zukunft arbeiten, woran uns die Breitmanns und ihre Hintermänner hindern wollen. Sie werden mit uns arbeiten, Doktor – nicht gegen uns.“ „Ja – nach dieser Nacht erst recht, ganz bestimmt.“ Er schüttelte beinahe bedächtig den Kopf. „Daß es kranke Menschen gibt, weiß ich, daß wir ihre Zahl vermindern wollen, ist unser Ziel. Aber manchmal kann man fast verzweifeln vor der Erkenntnis von soviel Gemeinheit, Verworfenheit und Verrat.“ „Warum verzweifeln, Doktor? Sie müssen bei uns ei nes zuerst lernen: daß es mehr Anständigkeit und Ehr lichkeit auf der Welt gibt und daß die Anständigen und die Ehrlichen zuletzt die Stärkeren sind – nicht die Verbrecher.“