BERTE BRATT Warum hast du gelogen? Frau Rehner ließ die Handarbeit sinken, hob den Kopf und horchte. Ja. Es waren Karins...
9 downloads
518 Views
150KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BERTE BRATT Warum hast du gelogen? Frau Rehner ließ die Handarbeit sinken, hob den Kopf und horchte. Ja. Es waren Karins Schritte. Na, Gott sei Dank, daß das Kind da war. Sie war nach dem Essen ohne ein Wort verschwunden. Von der Küche aus hatte Frau Rehner nur das Zuschlagen der Haustür gehört. Was war bloß mit Karin los? Bis vor ein paar Monaten war alles anders gewesen. Nie war sie weggegangen, ohne der Mutter ein schnelles Küßchen zu geben, ohne zu sagen, wo sie hinwollte. »Muttilein, ich gehe eben auf einen Sprung zu Tanja« – »Mutti, ich muß eben zu Lisi, wir wollen die blöden Matheaufgaben zusammen machen« – »Muttchen, ich muß unbedingt in die Stadt, ich muß Strickwolle kaufen – soll ich etwas für dich besorgen?« Wenn sie nach Hause kam, hatte sie kaum Zeit, den Mantel auszuziehen, bevor sie ins Wohnzimmer kam oder in die Küche – wo die Mutter nun zufällig war. »Mutti, guck dir doch die Wolle an, ist die Farbe nicht hübsch?« – »Denk dir, Mutti ich habe Frau Hagen getroffen, in einem todschicken Pelzmantel!« – »Weißt du, Mutti, unten im Supermarkt haben sie jetzt Pfirsichdosen im Angebot, nur 99 Pfennig, soll ich schnell ein paar solche Dosen holen?« Und wie war sie brennend interessiert, als die Eltern ihr von den Bauplänen erzählten! »Klasse!« hatte sie gerufen. »Sich denken, ein eigenes Haus! Dann können wir doch einen Hund halten, findet ihr nicht?« Zusammen mit den Eltern hatte sie die Baupläne studiert, war beglückt über das schöne, große Zimmer, das sie bekommen würde. Zu dritt hatten sie sich die unzähligen Dinge überlegt, die es beim Hausbauen zu überlegen gibt, zusammen waren sie oft hingefahren, um zu sehen, wie weit es nun gekommen war. »Und dann machen wir eine ganz tolle Einweihungsfeier, nicht wahr?« hatte sie gefragt. »Klar«, lächelte der Vater und strich der Tochter übers Haar. »Und wie ist es nun, Karin, wollen wir versuchen, ob du im
Gymnasium ganz in der Nähe aufgenommen wirst? Oder möchtest du ungern die Schule wechseln?« »O nein, das macht mir nichts aus!« versicherte Karin. »Ich habe wirklich keine Lust, jeden Morgen beinahe eine Stunde mit dem Bus oder Rad zu fahren, quer durch die ganze Stadt! Oder meinem armen geplagten Vati zuzumuten, mich jeden Tag per Auto hinzubringen!« Ja, es war alles so schön gewesen. Karin hing an den Eltern, war offen und zutraulich, kam zu ihnen mit ihren Problemen, erzählte von ihren Erlebnissen. Sie liebte ihre Eltern, und sie liebten das Kind. Zugegeben, sie hatten wohl die kleine Karin verwöhnt, ein klein bißchen mehr, als man eigentlich sollte. Aber Herrgott, sie war ihr einziges Kind, ihr geliebtes, ersehntes Kind. Ja, Frau Rehner liebte ihre Tochter so innig, als hätte sie sie selbst in ihrem Schoß getragen, als hätte sie sie selbst zur Welt gebracht. Acht Tage alt war die Kleine gewesen, als Frau Rehner und ihr Mann sie aus der Klinik holten. Viel hatten sie nicht zu wissen bekommen. Den Namen der Eltern erst recht nicht, aber man hatte erzählt, daß die junge Mutter bei der schweren Geburt gestorben sei. Wie waren sie glücklich, als die Adoptionspapiere endgültig in Ordnung waren! Und wie waren sie schweigsam und vorsichtig gewesen, damit kein Mensch zu wissen bekam, daß Karin nicht ihre leibliche Tochter war! Es war nicht immer leicht gewesen. Frau Rehner erinnerte sich an das Telefongespräch, das sie mit ihrer Mutter geführt hatte, ohne zu ahnen, daß die Putzfrau sich gerade im Nebenzimmer befand. Und sie erinnerte sich an die Nachbarin, die sie getroffen hatte, als sie das erstemal mit dem Kinderwagen auf der Straße war: »Das ist aber eine Überraschung, Frau Rehner! Ich ahnte nicht, daß Sie was Kleines erwarteten!« Kleine Bemerkungen, ab und zu einen staunenden Seitenblick – aber das war alles nur in der allerersten Zeit. Außer ihrer Mutter wußte niemand die Wahrheit. Und die Leute bei der Adoptionsvermittlung hatten Schweigepflicht. Nein, niemand konnte es wissen. Und die kleine Karin wuchs und gedieh, sie war ein glückliches, zutrauliches Kind, das nicht ahnte und nie ahnen sollte, daß eine andere Frau sie zur Welt gebracht hatte. Sie sollte sich nicht anders als andere Kinder fühlen, sie sollte in Sicherheit und Geborgenheit aufwachsen! Vielleicht einmal später – viel, viel später, wenn sie erwachsen war, wenn sie sich verlobte und wenn sie ihr eigenes Leben führen
sollte, unabhängig von den Eltern, dann vielleicht würde man ihr erzählen. Aber es war nicht immer leicht gewesen. Besonders in der letzten Zeit. Karin stellte oft Fragen, Fragen, die die Eltern dazu zwangen, mit regelrechten Lügen zu antworten. Angefangen hatte alles, als Karin eines Tages vom Schwimmen kam. »Ich gehe nicht mehr in den Schwimmklub«, sagte sie plötzlich. »Aber warum denn, Kind? Du schwimmst doch so gern… « »Ich habe mich mit Eva gestritten«, sagte Karin. »Sie sagte mir so was Blödes.« »Was denn?« »Sie sagte, daß… daß…«‚ Karin sah plötzlich die Mutter an, aufmerksam, forschend. »Ach nein, das war zu dumm und zu blöde, ich möchte es gar nicht wiederholen!« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Am folgenden Tag sagte sie plötzlich: »Mutti, eigentlich sehe ich dir doch gar nicht ähnlich!« Die Mutter zwang sich selbst dazu, ruhig und gelassen zu antworten: »Nein, das ist komisch, nicht wahr? Du ähnelst eben Vati, du bist ja genauso blond und blauäugig wie er!« Mit einem kleinen Lächeln fuhr sie fort: »Du kannst ja froh darüber sein, denn Vati ist doch sehr hübsch?« Karin lachte und sah plötzlich irgendwie erleichtert aus. Als sie in das neue Haus eingezogen waren und Karin beim Einräumen ihrer Bücher war, saß sie plötzlich da mit ihrem Fotoalbum in der Hand. Das schöne Album, das die Eltern damals gekauft hatten. Damals, als Karin ein acht Tage altes kleines Bündelchen gewesen war. Alle Bilder – und deren waren es sehr viele – waren in der richtigen Reihenfolge eingeklebt, alle mit Datum versehen. »Eigentlich komisch«, sagte Karin. »Daß Vati mich nicht schon am ersten Tag geknipst hat. Ein so eifrigem Fotograf wie er ist!« »Ach«, beeilte die Mutter sich zu erklären, »er hatte doch damals so ein Pech! Irgend etwas klemmte im Apparat, von dem ganzen Film wurde nichts – dann kaufte er sich den neuen Apparat, den er noch hat, und dann klappte es ja vorzüglich, wie du siehst!« Die Lüge kam glatt und gekonnt über ihre Lippen. Aber immer öfter stellte Karin Fragen. – Fragen, auf die die Eltern gar nicht vorbereitet waren.
»Mutti, hast du mich eigentlich gestillt?« fragte sie eines Tages. »Leider nicht«, antwortete die Mutter. »Ich hatte ja keine Milch. Du ahnst ja nicht, wie gern ich dich gestillt hätte!« »War die Geburt sehr schwer?« wollte Karin wissen. »Nun ja. Leicht war sie nicht…« Wenn das Kind bloß nicht so viel fragen wollte! »So schwer, daß du deswegen nicht gewagt hast, mehr Kinder zu kriegen?« setzte Karin unbarmherzig fort. »Oh, gewagt hätte ich es schon, aber es kamen eben keine mehr! Und dann waren wir natürlich doppelt glücklich, weil wir dich hatten, Mäuschen.« Nach solchen Gesprächen wurde Karin immer schweigsam. Sie ging in ihr Zimmer, machte die Tür zu und blieb lange da. »Was hast du denn gemacht den ganzen Nachmittag?« konnten die Eltern fragen. »Habe gelesen.« »Was interessantes?« »Oh, nichts Besonderes.« Wenn die Mutter in Karins Zimmer kam, lagen immer ein paar belanglose Bücher auf dem Nachttisch und dem Schreibtisch. Daß unter der Matratze ein populärwissenschaftliches Buch über Erbanlagen und Erbfaktoren lag, wußte Frau Rehner nicht. Karin wurde immer schweigsamer. Nur selten kamen diese merkwürdigen Fragen, vor denen die Eltern Angst hatten. Gott sei Dank, daß Karin in zwei Tagen in die neue Schule kommen sollte. Neue Umgebungen, neue Freundinnen – vor allem in einer ganz neuen Gegend, weit weg von den Nachbarn von damals. Karin ging die breite Treppe hoch. Sie guckte rechts und links, versuchte, sich zu orientieren. Hübsch war es, das neue, moderne Schulgebäude. So viel Licht und Luft, so breite Treppen, so schöne Farben! Eine Treppe hoch, dritte Tür rechts hatte man ihr gesagt. Da würde sie ihr Klassenzimmer finden, die Klasse 10 b. Ein Mädchen lief an ihr vorbei auf der Treppe, drehte den Kopf, nickte und rief: »Hallo Monika, beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt mit der neuen Frisur!« Bevor Karin dazu kam, das Mißverständnis zu korrigieren, war das Mädchen schon vorbei.
Vor der Tür mit dem Schild »10 b« wäre sie beinahe mit einem anderen Mädchen zusammengestoßen. Das lachte: »Na, du hast es wohl eilig, Monika! Mensch, hast du dir eine schicke Frisur zugelegt!« »Ich heiße nicht Monika«, erklärte Karin. »Ich bin neu hier. Ich heiße Karin Rehner.« »Nun mach mal einen Punkt!« rief das Mädchen. Es riß die Tür auf. »Kinder, guckt mal hier, ist dies Monika oder ist… aber du heiliger Strohsack!«
Zwölf Mädchen starrten Karin an. Direkt vor ihr stand eine blonde Fünfzehnjährige mit einem Gesicht, das Karin bis jetzt nur im Spiegel gesehen hatte. Größe, Haarfarbe, Augen, jeder Gesichtszug war wie ihr eigener. Karin blinzelte, und die andere stand da mit offenem Mund. »Das kann doch nicht wahr sein!« – »Kinder, seid ihr nicht einmal verwandt?« – »Man sagt ja, daß jeder Mensch irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat – « – »Kinder, wird das ein Gaudi werden, wenn die Lehrer euch verwechseln!« Unwillkürlich reichte Karin ihrer Doppelgängerin die Hand. »Wie heißt du? Ich heiße Karin Rehner.« »Und ich Monika Braun.« »Hört euch die Stimmen an!« rief eine. »Genau dieselben!« Der Klassenlehrer erschien. Es wurde ruhig in der Klasse. »Ja, dann haben wir ja eine neue Schülerin zu begrüßen«, sagte er freundlich. Er warf einen Blick ins Protokoll. »Ist Karin Rehner hier?« Karin stand auf. Der Lehrer lächelte. »Einen Augenblick, Monika, falls du etwas auf dem Herzen hast. Ich wollte ja Karin Rehner… «
»Ich bin Karin, Herr Studienrat. Monika sitzt neben mir.« »Hier bin ich«, lächelte Monika und stand ebenfalls auf. »Ich muß zum Augenarzt! Ich sehe ja doppelt!« lachte der Lehrer. Ja, es wurde viel gelacht und viele Witze gemacht. Und die Mitschülerinnen stellten fest, daß es doch einen großen Unterschied zwischen Karin und Monika gab: Monika war lebhaft und gesprächig und immer fröhlich lächelnd. Karin war ernst und sehr schweigsam. Ja, sie schwieg. Sie schrieb automatisch den Stundenplan ab, aber in ihrem Kopf schwirrte nur ein einziger Gedanke. Die Worte, die Eva ihr damals im Schwimmklub an den Kopf geworfen hatte. »Du bist ja nur ein Findelkind!« hatte sie in ihrer Wut gerufen. Als Karin protestierte, hatte Eva noch lauter gerufen: »Natürlich bist du das! Das weiß doch die ganze Nachbarschaft!« Dann hatte Karin sich umgedreht und war ohne ein Wort fortgegangen. Jetzt waren es drei Monate her. Drei Monate Unsicherheit, Verdacht, Angst. Drei Monate, in denen sich eine maßlose Bitterkeit gegenüber den Eltern aufgestaut hatte. Sie hatte in alten Fotos gewühlt, sie hatte eins von der Mutter gefunden, eine Aufnahme, zwei Monate vor Karins Geburt gemacht. Die Mutter war auf dem Bild gertenschlank. Sie ging zu der Zeitung, die die Eltern jahrelang abonnierten, und ließ sich die zusammengehefteten Archivexemplare aus ihrem Geburtsmonat zeigen. Nirgends eine Geburtsanzeige. Wo doch Mutti gesagt hatte, daß sie, Karin, ein Wunschkind gewesen sei, und daß sie sich so wahnsinnig gefreut hätten. Verdacht und Angst wuchsen in ihr. Sollte sie die Eltern direkt fragen? Nein, sie war feige. Sie wollte die Wahrheit nicht wissen. Wollte nicht die Bestätigung haben, daß sie ein Findelkind war, ein unerwünschtes Kind, das von der leiblichen Mutter weggegeben war. Ein einsames Kind, ohne Verwandte. Ein Kind, das nicht das Recht hatte, zu jemandem Onkel oder Tante oder Oma zu sagen. Ein Kind, dessen Eltern gar nicht ihre Eltern waren… Findelkind, Findelkind! Sie hatten den Stundenplan gekriegt, und die Liste über die Bücher, die gekauft werden mußten. Das war dann alles für den ersten Tag. Es kam irgendwie von selbst, daß sie mit Monika zusammen durch das Tor ging auf die Straße, in die strahlende Septembersonne.
»Weißt du was, Karin?« klang Monikas fröhliche Stimme. »Ich fange langsam an, einen Roman zu ahnen! Sag mal, bist zufällig ein Adoptivkind?« Karin riß ihren Arm aus Monikas. »Adoptivkind? Wie kommst du bloß darauf? Daß wir uns ähnlich sehen, ist doch für dich kein Grund, mich zu beleidigen!« »Entschuldige, Karin, ich meinte es wirklich nicht als Beleidigung! Ich bin nämlich selbst ein Adoptivkind, verstehst du, und nun fing ich wahrhaftig an zu glauben, daß ich eine Zwillingsschwester habe!« »Wie kannst du wissen, daß du ein Adoptivkind bist?« fragte Karin leise. »Wie ich es wissen kann? Das habe ich doch immer gewußt! Seit ich ein Dreikäsehoch war – oder noch eher, sagen wir ein Anderthalbkäsehoch! Das hat Mutti mir doch gleich erzählt, als sie mich ›aufklärte‹, wie es heißt. Daß die Kinder aus Muttis Bauch kommen, und wenn eine Frau gar keins bekommt, dann holt sie sich eins, und das heißt Adoptivkind, und die Kinder seien nun so ganz besonders geliebt von den Eltern – und es sei ganz was Feines, ein Adoptivkind zu sein! Na, dann habe ich natürlich gefragt, ob ich auch ein solches Kind sei und war strahlend und mächtig stolz, als Mutti das bejahte! Ach, weißt du, wir denken gar nicht so viel darüber nach, wir sprechen kaum davon, wir vergessen es ganz einfach!« Karin schwieg eine Weile. Dann sagte sie, und ihre Stimme war leise und irgendwie belegt: »Du hast eine sehr kluge Mutter.« »Hab’ ich! Das stimmt schon! Du, wollen wir mal ein Eis oder einen Kuchen essen? Ich hab’ grade mein Taschengeld bekommen!« »Ich auch. Ich lade dich ein!« sagte Karin. Monika kannte sich aus in dieser Gegend und führte Karin zu einer gemütlichen kleinen Konditorei. Da ging Karin zum Kuchentisch. Sie hatte ihre Jacke über dem Stuhl hängen lassen und sah nicht, daß Monika vorsichtig eine Hand in die Jackentasche steckte – da wo Karin grade eine kleine flache Brieftasche reingesteckt hatte. Monika brauchte nicht lange zu suchen. Sie fand, was sie brauchte, und schob schnell die Brieftasche zurück. Gleich darauf kam die Serviererin mit dem Kaffee, und Karin vom Kuchentisch zurück.
»Sie hatten keine Quarktorte, da habe ich Kirschtorte mit Sahne genommen«, erklärte sie. »Prima! Das esse ich für mein Leben gern!« versicherte Monika. »Ich auch«, sagte Karin. »Wieder ein Punkt, in dem wir uns ähneln!« lachte Monika. »Und wenn du nun auch erzählst, daß du den Kaffee immer ohne Zucker trinkst… « Karin wollte es grade bejahen, dann tat sie plötzlich, was sie sonst nie tat. Sie ließ einen Zuckerwürfel in die Tasse fallen. »Nein, da gibt es doch einen Unterschied«, sagte sie und trank einen Schluck von dem süßen Gebräu, das sie nicht ausstehen konnte. Monika plauderte fröhlich weiter. Erzählte vom Sportklub, und daß sie so gern schwimme. »Ich nicht«, sagte Karin. »Ich bin wohl überhaupt kein sportlicher Typ.« Monika sah sie einen Augenblick forschend an. Dann brachte sie das Gespräch auf die Schule, auf die Klassenkameraden und auf den Studienrat Wengland, den sie schon drei Jahre als Klassenlehrer gehabt hätten. Er sei furchtbar nett, immer zu einem Scherz aufgelegt, und seine Deutschstunden waren gradezu einmalig. »Deutsch ist überhaupt mein Lieblingsfach«, fügte Monika hinzu. »Meins ist Mathe«, sagte Karin, ohne mit einer Wimper zu zucken. »O du liebes bißchen!« stöhnte Monika. »Und ich habe immer Nachhilfestunden in Mathematik haben müssen!« Daß bei Karin dasselbe der Fall war, verschwieg sie. Ebenso, daß sie im Deutschen oft eine blanke, klare »Eins« geschrieben hatte. »Wo wohnst du?« fragte Karin. »Prinzenstraße zwölf. Und du?« »Bürgermeisterallee vier.« »Oh, in einem der neuen Häuser? Ein Einfamilienhaus mit einem schmiedeeisernen Tor? Das ist aber nicht weit von uns. Fein, dann können wir vielleicht ab und zu die Schularbeiten zusammen machen?« »Vielleicht«, sagte Karin leise. Monika pfefferte ihre Tasche irgendwohin in den Flur und rannte in das Zimmer. Sie hatte von dort das Geräusch von Muttis Nähmaschine gehört.
»Mutti! Mutti! Laß doch das Nähen einen Augenblick, ich muß dir was erzählen! Wenn du ahntest, was ich erlebt habe!« Monika beugte sich und küßte schnell die Wange der Mutter, dann setzte sie sich ihr gegenüber. »Na, Kind was ist denn? War es so aufregend in der Schule?« »Aufregend ist gar kein Wort. Weißt du, da ist eine Neue in der Klasse, und… nein, ich muß mit was anderem anfangen. Muttchen, du weißt, wir sprechen ja kaum über die ganze Sache mit meiner Geburt und der Adoption und so… aber jetzt müssen wir etwas klären. Du wirst es nicht glauben, Mutti… aber weißt du, was ich habe? Ich habe eine Zwillingsschwester!« Die Mutter schob die Arbeit zur Seite und sah die Tochter mit großen Augen an: »Was hast du?« »Ja, Muttilein, es stimmt! Es stimmt wirklich!« Dann erzählte Monika, schnell, sprunghaft, zwischendurch stolperte sie vor lauter Eifer über ihre eigenen Worte. Erzählte von der unglaublichen Ähnlichkeit – und von Karin, die nicht zugeben wollte, daß sie ein Adoptivkind war. »Aber Monilein, vielleicht ist sie es auch nicht. Es kommt ja vor, daß zwei Menschen sich ganz ähnlich sehen, ohne verwandt zu sein!« »Warte mal, Muttchen. Karin hat den Verdacht, daß sie adoptiert ist. Sie ist verklemmt und unglücklich, niemand hat ihr etwas erzählt, sie trägt sich immer mit dem Gedanken rum und wagt nicht zu fragen! Und sie sträubt sich dagegen – sie war so sehr darauf bedacht, mir zu erzählen, daß wir ganz verschiedene Interessen haben – sie hat gelogen, ich hörte es ihrer Stimme an! Ja, und dann, als wir Kaffee tranken und sie zum Kuchentisch gegangen war, dann guckte ich in ihre Brieftasche. Ja ja, ich weiß schon, sowas macht man nicht, aber in diesem Fall… Ich hoffte ja, einen Ausweis oder sonst was mit ihrem Geburtsdatum zu finden. – Und ich fand etwas, was noch besser war: Eine Unfallschutzkarte, du weißt, diese grünen Karten, Vati hat auch eine. Also, sie ist am fünften Juni geboren, genau wie ich. Und noch etwas: Sie hat die Blutgruppe B – wie ich! Muttchen, wir müssen etwas für Karin tun, sie muß endlich die Wahrheit zu wissen bekommen – wir müssen mit ihren Eltern sprechen, und das so bald wie möglich!«
Frau Braun sah das eifrige junge Gesicht an, lauschte auf die junge, warme eindringliche Stimme. Dann strich sie der Tochter übers Haar. »Ja, Kind Du hast recht. Wir müssen etwas tun. Vor allem müssen wir die amtliche Bestätigung haben daß damals Zwillinge zur Adoption freigegeben wurden! Du weißt, diese Leute bei der Adoptionsvermittlung dürfen nichts sagen.« »Oh, das ist ganz einfach!« rief Monika. »Geh doch hin und sage, daß am soundsovielten Juni damals zwei neugeborene Zwillingsmädchen adoptiert wurden, eins von dir und Vati und eins von Ehepaar Rehner. Ich meine, tu so, als ob das dir bekannt ist, und dann fragst du nur…‚ dann fragst du… ja, irgendeine belanglose Frage. Ach ja, frage, wer von den beiden die älteste ist! Denn ein Altersunterschied von einigen Minuten wird es ja sein! Sage doch, daß wir Schwestern uns gut kennen und Freundinnen sind, und jetzt haben wir gewettet. Oder aus irgendeinem Grund wollen wir es unbedingt wissen, oder müssen wir es wissen. – Glaubst du nicht, daß es sich so machen läßt?« »Und wenn es nun nicht stimmt?« »Es stimmt aber, Mutti! Dafür lege ich beide Hände ins Feuer! Wenn du wüßtest, wie unglücklich Karin ist, weil sie immer diesen Verdacht hat. Seit heute ist es ihr auch ganz klar, und sie braucht Hilfe, Mutti! Sie braucht Hilfe jetzt, sofort!« Frau Braun sah auf die Uhr. »Gut. Ich versuche es. Wenn es so ist wie damals, ist die Adoptionsvermittlung auf bis ein Uhr. Jetzt ist es zwölf, ich gehe los. Du mußt eben die Kartoffeln aufsetzen und die Frikadellen braten, Monilein!« »Mutti, du bist ein Goldstück!« rief Monika. Plötzlich standen ihre Augen voll Tränen. Stil! und tief bewegt saß Monika zwei Stunden später neben der Mutter. Wortlos hörte sie ihr zu. »Ja, ich habe es so gemacht, wie du vorgeschlagen hast«, sagte sie. »Zuerst war die Dame etwas abweisend, sie gäbe keine Auskünfte. Dann sagte ich mit einem Lächeln, daß es nur darum ginge, zu erfahren, welche der beiden Zwillingsschwestern zuerst das Licht der Welt erblickt hatte. »Ist das Ihre einzige Frage?« wollte sie wissen, und als ich das bejahte, suchte sie tatsächlich zwei Karteikarten heraus. Sie fragte noch einmal nach meinem Namen, und dann nach dem Namen des anderen Kindes, oder vielmehr nach dem Namen
der Adoptiveltern – und da ich das alles wußte, begriff sie wohl, daß es keinen Bruch ihrer Schweigepflicht bedeutete, die kleine Frage zu beantworten. Also, mein Kind, du bist um elf Uhr zweiundvierzig geboren und Karin um zwölf Uhr neun!« »Darauf pfeife ich eigentlich«, gab Monika zu. »Hauptsache ist, daß wir es jetzt wissen.« »Ja, Kind, wir wissen es. Es war ein so seltsames Gefühl, als ich sah, daß eure Karteikarten mit einer Büroklammer zusammengeheftet wurden. Dies waren zwei Kinder, die zusammengehörten.« »Ja«, nickte Monika, und ihre Lippen zitterten. »Wir gehören zusammen.« »Und jetzt«, sagte Frau Braun nach einer Weile. »Jetzt werde ich mich in eine Sache reinmischen, die mich nichts angeht. Ich werde Frau Rehner besuchen. Wenn ich bloß wüßte, wann Karin da ist, oder vielmehr wann sie nicht da ist!« »Das weiß ich!« rief die Tochter. »Wir haben uns nämlich für vier Uhr verabredet, wir wollen zusammen in die Stadt und Schulbücher kaufen!« »Dann trödelt so lange herum, wie ihr könnt«, sagte die Mutter mit einem kleinen Schmunzeln. »Oder nimm Karin mit nach Hause zu einer Tasse Tee. Es ist noch ein Stück Napfkuchen da. Hauptsache ist… « »… daß Karin nicht zu früh nach Hause kommt«, ergänzte Monika. »Sei unbesorgt, Muttchen, ich werde schon das meine tun!« Kurz nach vier Uhr klingelte es an der Tür bei Familie Rehner. Da stand eine kleine Frau so um die vierzig, ein unauffälliger kleiner Mensch mit zwei guten, klugen Augen unter graugesprenkelten Haaren. »Mein Name ist Braun«, sagte sie und ihre Stimme war sanft und angenehm. »Sie sind doch Frau Rehner? Meine Tochter ist in derselben Schulklasse wie Ihre Karin, und ich komme zu Ihnen wegen unserer Töchter.« »Kommen Sie doch rein, Frau Braun«, sagte Frau Rehner freundlich. »Geben Sie mir Ihren Mantel – bitte, kommen Sie näher! Karin hat Ihre Tochter gar nicht erwähnt. Hoffentlich ist nichts Unangenehmes?« »O nein, durchaus nicht! Im Gegenteil!«
Die beiden Mütter saßen sich gegenüber in dem schönen, großen Wohnzimmer, dessen Ausstattung zeigte, daß Karin in besseren und reicheren Verhältnissen als Monika groß geworden war. »Ja, also – zuerst zu meiner Tochter«, fing Frau Braun an. »Ich muß zuerst ein paar Worte über sie sagen, damit Sie verstehen… Sie ist fünfzehn, unser einziges Kind, das wir über alles lieben. Ein Kind, das uns immer nur Freude gemacht hat. Ein Kind das unserem ganzen Leben einen Sinn, einen gesegneten Inhalt gegeben hat. Sie müssen wissen, ich konnte keine Kinder kriegen. Fragen Sie nicht, wieviel Tränen mich das gekostet hat. Und dann haben wir unsere Monika adoptiert… « »Adoptiert… «‚ wiederholte Frau Rehner, kaum hörbar. »Ja, vor fünfzehn Jahren – oder genau gesagt, vor fünfzehn Jahren und drei Monaten. Meine Monika ist am fünften Juni geboren.« Frau Rehner umfaßte hart die Armlehne des Sessels. »Sie war ein acht Tage altes Bündelchen, als wir sie bekamen. Ein allerliebstes Baby – und jetzt sieht sie so aus – «‚ ein Foto wurde Frau Rehner in die Hand gegeben. Sie warf einen Blick darauf, dann wurde sie kreideweiß, bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. »Finden Sie das so furchtbar, Frau Rehner?« Frau Brauns Stimme war sanft und mild. »Daß unsere Kinder Zwillingsschwestern sind?« »Nein, ja – ich meine – sehen Sie, Frau Braun… Karin weiß ja nicht… « Frau Braun legte ihre etwas rauhe Hand sanft auf die wohlgepflegte Hand der anderen. »Doch, Frau Rehner. Sie weiß es. Sie weiß, und sie will es nicht wissen! Sie hat Angst vor der Wahrheit, obwohl sie sie kennt. Sie ist ratlos, sie ist verbittert und hilflos. Meine Tochter hat mir das alles erzählt. Helfen Sie jetzt Ihrer Tochter, Frau Rehner! Sagen Sie ihr endlich die Wahrheit, geben Sie ihr ihre Sicherheit wieder! Nie in ihrem Leben hat Ihr Kind so dringend Hilfe gebraucht wie jetzt!« Frau Rehner biß sich auf die Lippen, sie schluckte, dann sah sie Frau Braun hilfesuchend an: »Frau Braun, wie haben Sie es geschafft, ihrer Monika die Wahrheit zu sagen?« »Oh, das war nicht schwer! Sehen Sie, ich dachte es mir so: Ein kleines Kind muß so furchtbar viel lernen, jeder Tag bringt etwas Neues, jeden Tag macht das Kind neue Erfahrungen. Das ist
natürlich für ein Kleinkind. Es nimmt alles hin, was man ihm beibringt. Also erzählte ich auch – ohne etwas besonders Spannendes daraus zu machen und ohne meine Arbeit zu unterbrechen –, ich war grade dabei, Knöpfe an einem Overall anzunähen, ich vergesse es nie -‚ ich erzählte also, die kleinen Kinder wachsen in Muttis Bauch, und die, die keine Kinder bekommen, können doch Muttis werden, denn die holen sich ein Kind, das keine Eltern hat, und grade so ein Kind hat man so ganz schrecklich lieb, und ein solches Kind heiße ein Adoptivkind, und das sei ganz was Feines. Als ich dann sagte, genau so ein Kind sei mein Monilein, da fand sie es wunderbar und fiel mir um den Hals vor lauter Freude.« Frau Rehner schwieg eine Weile. Dann richtete sie den Blick voll auf die andere. »Wie haben Sie richtig gehandelt, Frau Braun«, sagte sie. »Sie kennen nicht die Angst, die Unruhe. Sie brauchen nie zu lügen! Frau Braun nickte nur. »Aber… «‚ fragte Frau Rehner, »hat Ihre Monika denn nie nach ihrer leiblichen Mutter gefragt? Hat sie nie wissen wollen, warum ihre richtigen Eltern sie nicht haben wollten.« »Doch. Aber erst viel später. Viele Jahre später. Eine solche Frage stellt ein kleines Kind nicht. Die Welt eines kleinen Kindes, das sind die Eltern, die Spielkameraden und das Zuhause. Was eine Rolle spielt, ist nur das Gefühl, daß die Eltern immer da sind, daß das Kind weiß, wo es hingehört. Es interessiert sich nur für seine ›Bezugspersonen‹, wie es in der modernen Sprache heißt. Das weitere Philosophieren kommt viel, viel später.« »Sie sagen, daß ich jetzt mit Karin sprechen muß. Und Sie haben recht, Frau Braun, ich sehe ein, daß Sie recht haben, und daß Sie diejenige von uns beiden sind, die richtig gehandelt hat. Aber mit Karin sprechen – sie spricht ja kein Wort mehr mit mir! Sie ist trotzig und unartig, unfreundlich, erzählt meinem Mann und mir nichts mehr. Seit drei Monaten ist sie total verändert, sie ist unmöglich.« Frau Braun nickte: »Würden Sie nicht auch so reagieren, wenn Sie merkten, daß der Mensch, den Sie über alles lieben, Sie jahrelang belogen hat? Wären Sie nicht auch unzugänglich, trotzig und verbittert geworden? Ich sage es noch einmal, Frau Rehner: Helfen Sie jetzt Ihrem Kind! Herrgott, ist es denn eine Schande, ein Kind zu adoptieren? Im Gegenteil! Ist es eine Schande, ein Adoptivkind zu sein? Durchaus
nicht! Karin wird Ihnen nicht gleich um den Hals fallen, sie wird nicht gleich das fröhliche und zutrauliche Kind werden, das sie früher war. Die erste Zeit wird schwer werden. Für Sie und für Karin. Vielleicht wird es Karin eine Hilfe sein zu wissen, daß sie eine Schwester hat, eine Zwillingsschwester, eine, die sich wahnsinnig darüber freut, eine leibliche Schwester zu haben. Monika wird jederzeit Karin helfen, wenn sie kann. Ja, Frau Rehner, nun habe ich eine ganze Menge gesagt, und jetzt wird es Zeit, daß ich verschwinde, bevor Karin nach Hause kommt. Können Sie mir verzeihen, daß ich so frei von der Leber geredet habe – daß ich überhaupt hierhergekommen bin?« Frau Rehner ergriff Frau Brauns Hände. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Frau Braun. Ich danke Ihnen für jedes Wort, das Sie mir gesagt haben!« Es dauerte lange, bis Karin kam. Frau Rehner war allein. Ihr Mann war heute zu einer Sitzung, die würde lange dauern. Es war gut so. Denn das Gespräch, das sie jetzt mit Karin führen mußte, das mußte sie allein schaffen. Nur die beiden, Mutter und Tochter, mußten sich aussprechen, einander die Wahrheit sagen – endlich, endlich die Wahrheit! Es war sieben Uhr, als Frau Rehner sie kommen hörte. »Karinlein, komm mal hier rein zu mir!« »Habe keine Zeit. Ich muß Schutzumschläge für meine Schulbücher machen.« »Das machen wir nachher zusammen, dann geht es schnell. Nun komm, mein Kind.« Langsam kam Karin ins Zimmer. »Na, was ist denn?« »Ich… ich habe Angst um dich, Kind!« »Angst? Um mich? Blödsinn!« »Karin, Kindchen – es ist kein Blödsinn. Herrgott, mein Mädel, wie soll ich dich dazu bringen, mich zu verstehen! Wie soll ich dir klarmachen, wieviel du mir bedeutest? Mein Kleines, mein Herzchen, du bist doch der Inhalt meines Lebens, ich wage nicht daran zu denken, wie es gewesen wäre, falls ich dich nicht gehabt hätte! Das Leben hätte dann für mich keinen Sinn… « Karins Gesichtsausdruck hatte sich geändert. Sie horchte auf die Worte der Mutter. Aber ein Rest des höhnischen Lächelns saß noch in ihren Mundwinkeln.
»Du lügst also diesmal nicht? Ist es wirklich die Wahrheit, die du mir da sagst?« »Ja, Karin, ja, ja! Es ist so wahr, wie ich hier stehe, so wahr wie…« »Daß du mich geboren hast, vielleicht?« Frau Rehner wurde kreidebleich. Hilflos, ratlos streckte sie die Arme aus, wollte Karin an sich ziehen. »Rühre mich nicht an! Erzähle!«
Karin stand da, an die Wand gelehnt, die Mutter wagte nicht, ihr näher zu kommen. So standen sie, Mutter und Tochter, mit der gemusterten Fläche des Teppichs zwischen sich, und führten das Gespräch, das sie zehn Jahre früher hätten führen müssen. Mit zusammengepreßten Händen, mit heiserer Stimme fing Frau Rehner an zu erzählen. Wie unglücklich, ja wie bodenlos verzweifelt sie gewesen war, als der Arzt ihr sagen mußte, daß sie nie Kinder kriegen würde. Wie ihr Unglück sich in ein maßloses Glück gewandelt hatte, als sie das kleine Bündelchen im Arm hatte, und wußte, daß es ihr gehörte, wußte, daß sie doch ihre ganzen Mutterinstinkte, ihre ganze Mutterliebe brauchen würde. Daß sie ein winziges Menschenkind in den Armen hielt, das sie brauchte! »Karin«, schloß Frau Rehner. »Ich weiß es, ich weiß es mit hundertprozentiger Sicherheit: Wenn ich dich selbst zur Welt gebracht hätte, wenn ich dich neun Monate in meinem Körper getragen hätte, ich hätte dich nicht inniger lieben können, als ich es tue!« Karin hob den Kopf und sah der Mutter in die Augen.
»Du hast mich belogen«, sagte sie. »Karin, Karin, verstehst du denn nicht warum… « »Du hast mich belogen«, wiederholte Karin. »Du behauptest, daß du mich lieb hast – und ich frage mich nur, wie man einen Menschen, den man hieb hat, jahrelang belügen kann! Immer zum besten halten, immer eine dämliche Komödie spielen – immer neue Lügen erfinden! Mich immer hinters Licht führen, mich betrügen! Ich bin in Wohlstand aufgewachsen, das stimmt schon. Aber gleichzeitig in einer Atmosphäre von Betrug, von Unwahrheit!« »Wie kannst du gut skilaufen, das hast du von Vati!« Karin ahmte mit einer höhnischen Grimasse die Stimme der Mutter nach. »Karin, deine Strickbegabung hast du von mir!« – »Wie schön, daß du so gern gute Musik hörst – ja, dein Opa spielte so schön Geige! Mein Opa! Als ob du eine Ahnung von meinem Opa hättest! Lügen, Lügen, nichts als Lügen! Und dann kam der Tag, als ich erleben mußte, daß Eva mir das Wort ›Findelkind‹ an den Kopf warf! Hast du eine Ahnung, was ich in den letzten drei Monaten durchgemacht habe! Immer fand ich neue Beweise dafür, daß Eva die Wahrheit gesagt hatte. Ahnst du vielleicht, wie einsam ich war? Ahnst du, wie ich mich geschämt habe, als ich zuletzt meiner Sache sicher war? Ich wollte es nicht glauben, ich suchte Gegenbeweise, ich wollte es ja nicht wahrhaben. Und sei nun ehrlich, sei ausnahmsweise ehrlich: Hättest du mir jemals die Wahrheit gesagt, wenn ich selbst nicht dahintergekommen wäre? Du hättest weiter gelogen! Bis ich vielleicht als erwachsener Mensch einen Schock bekommen hätte! Und warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Das kann ich dir genau erzählen. Eitelkeit war es, nichts anderes als Eitelkeit! Du wolltest nicht zugeben, daß du als Frau versagt hast! Deswegen hast du gelogen! Wie schön hätten wir es zusammen gehabt, wenn du mir gleich, als ich ein kleines Kind war, die einfache Wahrheit gesagt hättest! Aber nein, alle sollten glauben, daß Frau Rehner eine normale Frau war, die Kinder kriegen konnte. Und wer hat den Preis dafür bezahlt? Ich! Deine sogenannte Tochter, die du angeblich so sehr liebst… « Karin drehte sich um und lief aus dem Zimmer. Sie lief die Treppe hoch und hörte nicht das verzweifelte Weinen der Mutter. Karin lag auf ihrem Bett, starrte in die Luft, rührte sich nicht. In ihrem Kopf war eine große, stille Leere. Es war ihr, als wäre etwas geplatzt in ihr. Es tat noch weh, es war ein sonderbarer, müder
Schmerz. Ein ruhiger Schmerz. Ein Schmerz, der allmählich nachlassen würde. Eine Wunde war noch da, aber Wunden können heilen. Minuten gingen, eine Stunde verging. Es war still im Haus. Plötzlich erhob sich Karin. Sie guckte in den Spiegel, bürstete die Haare, zupfte ihre Bluse zurecht. Ihr Gesicht im Spiegel war blaß. Aber sie war jetzt ruhig. Ganz ruhig. Sie hörte leise Geräusche aus der Küche. Die Mutter war dabei, Tee und Butterbrote auf einem Tablett zurechtzumachen. Ihre Augen waren verweint, ihr Gesicht blaß. Sie sah auf von ihrer Arbeit, als Karin kam, sagte nichts, sah nur die Tochter an. Karin kam näher. »Ist das Tablett für mich?« »Ja.« »Und du selbst?« »Oh, ich habe jetzt keine Lust… vielleicht später.« Es kam eine Pause. Dann sprach Karin wieder: »Mutti!« »Ja?« »Hast du mich noch lieb?« Da brach ein Lächeln hervor auf Frau Rehners vergrämtem Gesicht. »Und ob! Und ob, mein Kind! Lieber denn je!« »Nach allem was ich dir vorhin gesagt habe?« »Ja. Ich sehe ein, daß es alles raus mußte. Alles, was sich in diesen Monaten angesammelt hatte. Du mußtest reinen Tisch machen. Stimmt es?« »Ich glaube schon. Und viel von dem, was ich sagte, stimmt. Aber nicht alles. Und das andere – das, was nicht stimmte…. kannst du mir das verzeihen, Mutti?« Da schloß Frau Rehner die Tochter in die Arme, und jetzt waren es Freudentränen, die ihr über die Wangen liefen. »Mutti. Ich muß dir was erzählen. Etwas ganz Merkwürdiges. « »Ich weiß es schon, mein Kind. Du wolltest von deiner Schwester erzählen, nicht wahr?« »Du weißt es? Wie kannst du das wissen? Seit wann – wußtest du es schon damals – als ich zu euch kam?« »Ich weiß es seit heute Nachmittag. Monikas Mutter ist hier gewesen.« »Das war wohl ein Schock für dich?«
»O ja. Ein sehr großer sogar. Aber es war gut, daß sie kam.« Karin nickte. »Ja. Es war gut. Ach Mutti, du hast so viele Brote gemacht, die teilen wir uns – komm, ich nehme das Tablett, nimmst du die Kanne?« Sie tranken Tee, ohne viel zu sagen. Es war Karin, die zuerst sprach. »Mutti. Weißt du, was ich vorhabe?« »Ich bin mir nicht so sicher.« »Dann sage ich es dir. Ich werde in der Schule und überall ganz offen sagen, daß Monika und ich Zwillingsschwestern sind. Daß wir beide als winzigkleine Säuglinge adoptiert wurden. Ich will, daß alle es erfahren! Ich werde mir selbst hundertmal sagen müssen, daß es keine Schande ist, ein Adoptivkind zu sein. Ich werde anfangs gewaltig schlucken müssen, bevor ich das Wort über die Lippen bringe, aber ich will es tun! Ich will ein freier Mensch sein, ich will nichts mit mir rumtragen, was ich verheimlichen muß!« Frau Rehner lächelte ein bißchen. »Du bist ein kluges Kind, Karin.« Auch Karin lächelte. »Mutti, es ist das erstemal, daß du sowas sagst, ohne hinzuzufügen: ›Das hast du von Vati‹.« »Siehst du, ich versuche, mich zu bessern. Ich möchte nämlich auch ein freier Mensch sein, der über alles offen reden kann. Ohne Angst, mich zu verplappern. Endlich – endlich aufatmen zu können!« »Und dann fangen wir neu an? Du, Vati und ich?« »Ja, mein Kind. Wir fangen neu an.« Wieder kam eine lange Stille. Und diesmal war es die Mutter, die die Stille brach. »Bist du nun glücklich, weil du eine Schwester hast, Karin?« »O ja!! Du wirst auch Monika liebgewinnen, Mutti! Sie ist ein prima Mädchen! Ja, bestimmt ist es schön, eine Schwester zu haben. Aber weißt du was: Ich kann dir nicht erklären, wieso und warum – aber Tatsache ist, daß ich noch glücklicher bin, weil ich eine Mutter habe! Eine Mutter, die ich jetzt erst kenne – eine Mutter, die der liebe Gott mir heut, an diesem Tag geschenkt hat!«