Karl May Waldröschen oder
Die Rächerjagd rund um die Erde
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Karl May Waldröschen oder
Die Rächerjagd rund um die Erde
YA B
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Lieferungs- und frühe Romane Waldröschen – Zweiter Teil
Karl May Waldröschen oder
Die Rächerjagd rund um die Erde Zweiter Teil
© YAB-Bibliothek für diese Ausgabe
DIE ERSTE RACHEJAGD
ERSTES KAPITEL
Der Auszug der Rächer »Das Segel schwellt, es weht der Wind, Hinaus drum in die blaue See! Es winkt die Fluth. Lieb Weib und Kind, Es muß geschieden sein, ade! Ich fürchte nicht des Sturmes Wuth Und nicht der Klippe Krallenriff; Es wächst in der Gefahr mein Muth, Und fest im Steuer läuft das Schiff. Es schwellt die Hoffnung mir das Herz, Hinaus treibt es mich ohne Rast. Es strebt mein Glaube himmelwärts, Wie auf dem Decke ragt der Mast. Es gilt, ein kühnes Werk zu thun Mit frohem, ungetrübtem Sinn; Drum darf des Schiffes Kiel nicht ruhn, Bis ich am fernen Ziele bin.« Geht man in Paris am rechten Ufer der Seine vom Bassin du Canal St. Martin nach dem Boulevard Morland hinab, so kommt man nach den Quais des Célestins, des Ormes, de la Greve, Pelletier, de Gévres und de la Mégisserie. Hinter dem Letzteren zieht sich vom Platze des Louvres nach der Place du Chatelet als Fortsetzung der Rue des Pretres die Straße St. Germain l’Auxerrois, an welcher sich die Mairie des vierten Arrondissements befindet. Gegenüber dieser Mairie, in der Rue des Lavande, Nummer , bewohnte Professor Letourbier die erste Etage. Es war dies derselbe Professor, bei welchem Doctor Karl Sternau assistirt hatte, ehe er nach Rodriganda ging. Er gehörte zu den berühmtesten medizinischen Größen der Metropole und hatte in
Sternau ein Talent erkannt, in welchem er einen würdigen Nachfolger finden konnte. Darum hatte er den Deutschen nicht gern nach Spanien gelassen, und deshalb freute er sich herzlich, als er ihn wiedersah. Wir haben nämlich bereits gesehen, daß Sternau seinen Verfolgern in Spanien glücklich entkommen war; wir haben ihn sogar bereits in Rheinswalden bei dem Oberförster Rodenstein getroffen, wir wissen aber auch, daß er vorher in Paris bei Professor Letourbier war, um diesem seine geisteskranke Geliebte zu zeigen. Zur Zeit dieses Aufenthaltes in Paris war es, daß er eines Abends ziemlich spät sich von dem Professor verabschiedete, um nach seinem Hotel zurückzukehren. Dieses lag in der Rue de la Barillerie, und er mußte daher durch die Saunerie über den Pont Change gehen. Die Brücke war in Folge eines starken Nebels kaum nothdürftig erleuchtet, so daß man Gesicht und Gehör anstrengen mußte, um Collisionen zu vermeiden. Sie wurde jetzt von nur wenigen Passanten belebt, so daß der Einzelne mehr Aufmerksamkeit erregte als zu einer bewegteren Tageszeit. Sternau hatte die Brücke fast überschritten, als er plötzlich vor sich eine halblaute, schluchzende Stimme hörte: »Jesus, vergieb mir!« Von einer schnellen Ahnung getrieben, sprang er rasch vorwärts, aber er kam bereits zu spät. Eben als er den Mittelpunkt zwischen zwei Pfeilern erreichte, warf sich eine weibliche Gestalt von dem Geländer, welches sie erstiegen hatte, hinab in die von dichten Nebeln überwallte Fluth. »Hilfe!« rief er, so laut er vermochte. Mehrere Stimmen antworteten vom Ufer und von der Brücke her. »Es ist Jemand von der Brücke gestürzt!« rief er ihnen zu.
Dann hatte er aber auch bereits Hut, Stock, Uhr und Portemonnaie von sich geworfen. Er schwang sich nun seinerseits ebenfalls über das Geländer und sprang hinab. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Die Gewalt des Sprunges tauchte ihn tief unter die Oberfläche des Wassers hinab, aber einige Augenblicke später schwamm er bereits oben. Er konnte sich denken, daß die Unglückliche abwärts getrieben werde, daher gab er sich einige Stöße in dieser Richtung hin. Er hatte es gerade ganz außerordentlich gut getroffen, denn vor ihm erschien ein Frauenrock auf den Wogen. Er griff nach ihm und hielt ihn fest, dann warf er sich auf den Rücken, ließ sich treiben und zog den leblos scheinenden Körper an sich, so daß er ihn quer über sich herüber legte. »Hollah, hier ist ein Kahn,« rief eine Stimme. »Giebt es noch Leben?« »Hierher!« gebot er. Am Ufer hatten sich bereits viele Neugierige versammelt. Der Kahn kam näher; es saß nur ein Mann darin. »Ah,« sagte er, als er den Schwimmenden bemerkte, »das nenne ich Muth und Glück.« »Bitte, nehmen Sie zunächst die Dame hinein,« bat Sternau. »Natürlich, her damit!« Sie wurde in den Kahn gehoben, und während der Ruderer sich auf der anderen Seite bestrebte, das Gleichgewicht zu halten, schwang sich auch Sternau hinein. »Das ist gelungen!« sagte der Fremde. »Nun schnell an das Ufer!« »Nein,« sagte Sternau. »Dort sind zu viele Leute!« »Aber, das ist ja gut, mein Herr!« »Unter diesen Umständen möchte ich es umgehen, weil es eine Dame ist.« »Sie sprang absichtlich in das Wasser?«
»Ja.« »Dann haben Sie vielleicht Recht. Man muß ihr die Beschämung ersparen. Aber die nächste Pflicht wäre es doch, für ihr Leben zu sorgen.« »Ich bin Arzt!« »Ach so, dann ist ja Alles in Ordnung. Befehlen Sie also, daß ich abwärts fahre?« »Ich bitte darum!« Der Mann war ein Seinematrose. Während die Leute am Ufer auf die Befriedigung ihrer Neugierde warteten, lenkte er das Boot nach der Mitte des Stromarmes und ließ es dort abwärts treiben. Unterdessen beschäftigte sich Sternau mit der Untersuchung des Mädchens. »Ist sie todt?« fragte der Matrose. »Nein. Sie lebt; sie ist nur ohnmächtig.« »Grace à dieu! Das arme Kind hätte mir leid gethan.« »Wissen Sie nicht da abwärts ein Haus, in welches wir sie tragen könnten?« »Ich weiß eines, mein Herr,« sagte der Matrose. »Da links am Quai Conti gleich am Beginn der Straße Guénégaud wohnt unsere Mutter Merveille, die sicher ein kleines Stübchen zur Verfügung hat.« »Wer ist diese Mutter Merveille?« »Sie hat einen Kaffeeschank für ärmere Leute, ist aber eine sehr gute und anständige Frau.« »So führen Sie uns zu ihr!« Der Matrose lenkte nach dem linken Ufer des Flusses, wo er sein Boot befestigte. Sternau nahm das Mädchen auf den Arm und ließ sich von ihm führen. Sie traten in ein Haus in der angegebenen Straße. Eine Parterrehälfte desselben wurde von dem Kaffeelokale eingenommen. Der Matrose bat den Arzt, einen Augenblick zu warten, und ging in die
Küche. Bald trat die Wirthin heraus, einen Schlüssel und ein Licht in den Händen. »Mein Gott!« sagte sie. »Ist es möglich! Eine Ertrunkene!« »Nein, sie lebt noch, Madame,« sagte Sternau. »Haben Sie nicht ein Bett übrig?« »Gern, sehr gern, mein Herr!« sagte sie mit der eifrigsten Bereitwilligkeit. »Kommen Sie nach hinten; dort ist das Schlafzimmerchen meiner Tochter.« Der Matrose wollte sich anschließen, wurde aber von Mutter Merveille abgewiesen. »Bleib, Gardon!« sagte sie. »Wir sind Manns genug, der Herr Doktor und ich, und Deine Gesellschaft ist bei einer kranken Dame ganz überflüssig.« Sternau hatte seine Gerettete noch gar nicht genauer betrachtet. Jetzt nun, als er in dem kleinen Zimmer sie zunächst auf das Sopha legte, damit sie von der Wirthin entkleidet werde, konnte er ihre Züge deutlich erkennen. »Wie schön!« sagte Mutter Merveille. »Gebe Gott, daß sie wirklich noch lebt!« »Sie lebt; sie wird genesen,« sagte er, ergriffen von dem Ausdruck der sanften, bleichen Züge. »Legen Sie sie in das Bett!« »Was mag sie veranlaßt haben, in das Wasser zu springen?« Diese Frage wurde im Tone innigster eilnahme, aber nicht in dem der Neugierde ausgesprochen. »Ich vermuthe es,« sagte Sternau. »Vielleicht ist sie vom Vater ihres Kindes verlassen worden.« »Ah,« sagte die Wirthin mit einem verständnißvollen Nicken. »Sie vermuthen – –? Hm, Sie sind Arzt; Sie werden das wissen. Armes Kind! Was ist jetzt zu thun?« »Sorgen Sie jetzt für eine Tasse Fliederthee. Ich werde bei ihr bleiben.«
»Aber, Monsieur, Sie sind ja durch und durch naß! Wo haben Sie Ihren Rock?« »Ah, daran denke ich jetzt erst! Wie heißt der Matrose, welcher mich zu Ihnen brachte?« »Gardon.« »Senden Sie ihn nach dem Pont au Change, von welchem ich in den Fluß sprang. Dort warf ich Rock und Hut ab. Die Uhr und das Portemonnaie steckte ich in eine Tasche des Rockes. lch vermuthe, daß man diese Sachen respektirt hat.« »Sicher. Er soll eilen!« Sie ging, und noch war sie kaum eine Minute fort, so begann das Gesicht des Mädchens sich zu röthen. Ihre Hände bewegten sich, und dann öffnete sie auch bald die Augen. Sie blickte zunächst verwundert um sich. »Was ist’s?« fragte sie leise. »Wo bin ich?« »Sie sind bei guten Leuten, Mademoiselle,« antwortete Sternau. »Wie befinden Sie sich?« »Ich? Mich?« fragte sie langsam und sinnend. Dann schien ihr das Geschehene einzufallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Er ließ sie gewähren; er saß bei ihr, ohne ein Wort zu sagen. »O, warum bin ich nicht todt!« sagte sie endlich. »Ist es Ihnen so leicht geworden, in den Tod zu gehen?« fragte er in mildem Tone. Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. »Leicht? O, schwer, so schwer!« »Und dennoch thaten Sie es!« Wieder legte sie das Gesicht in die Hände, um in ein erschütterndes Schluchzen auszubrechen. »O, Monsieur, hätten Sie mich doch sterben lassen!« sagte sie dann.
»Der Mensch soll erst dann sterben, wenn Gott ihn ruft. Und Sie, wissen Sie nicht, daß Sie im Begriff standen, nicht nur sich selbst, sondern auch noch ein zweites Leben zu tödten!« »O, woher wissen Sie das? Sie kennen mich!« »Nein. Ich bin Arzt. Ich habe Sie im Wasser gehalten und dann nach hier getragen.« Sie erglühte. »Mein Herr, ich weiß, daß ich im Begriff gestanden habe, eine große Sünde zu begehen,« sagte sie; »aber mein Muth ist dahin.« »Fassen Sie Vertrauen! Gott ist gut; er läßt keinen Menschen verloren gehen.« »Ja, Gott ist gut; aber die Menschen, die Menschen – –« »Haben Sie bereits so schlimme Erfahrungen gemacht?« »So schlimme, daß es nur noch den Tod gab!« »Gab es keine Hilfe, keine Rettung?« »Keine!« sagte sie dumpf. »Mein Kind, das ist ja eine wirkliche Verzweiflung, zu welcher Sie jedenfalls das Recht nicht haben!« »Nicht? O, wenn Sie wüßten!« »So theilen Sie mir Ihren Kummer mit! Ich zweifle nicht, daß ich im Stande sein werde, Ihnen, wenn nicht Hilfe, so doch Rath und Trost zu bringen.« »Unmöglich, mein Herr!« »Warum unmöglich? Sie dürfen an meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, nicht zweifeln.« »Ich zweifle nicht; ich sehe es Ihnen an, daß es Ihr Ernst ist, daß Sie ein Herz besitzen, welches mild von einer Unglücklichen denkt; aber ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich ihnen erzählen soll.« »Warum nicht?« Sie erröthete abermals tief und schwieg. »Stehen Sie allein?« fragte er, um ihr die Mittheilung zu erleichtern. »Sie haben doch noch Eltern und Geschwister?«
»Nur den Vater, und einen Bruder. Jener ist eigentlich Fischer, aber, ach, es ist lange her, seit er seinen Beruf nicht mehr betreibt.« »So hat er einen anderen Beruf erwählt?« Sie schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause: »Einen anderen? O nein, leider nicht! Ach, mein Herr, wie bin ich doch so unglücklich!« Sie hüllte ihr Gesicht in die Decke des Bettes und weinte. Er bat sie, aufrichtig zu sein, und seinem freundlichen Zureden gelang es endlich, sie zu beruhigen und dann zur Mittheilung zu bewegen. »Mein Vater war ein so guter und nüchterner Mann,« sagte sie. »Ja, das war er – bis meine gute, gute Mutter starb. Er hatte sie lieb gehabt; er grämte sich, und er suchte Trost im Branntwein. Ich war ein Mädchen von neun Jahren, und mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich. Der Vater gewann den bösen Trank immer lieber, denn er kam in schlimme Gesellschaft. Er verkehrte bald mit Männern, die er früher verachtet hatte. Er verlernte die Arbeit; er verkaufte nach und nach Alles, was er hatte, und wir begannen, zu hungern.« Sie hielt inne. Es wurde ihr sichtlich schwer, diese Geständnisse zu machen. Dann fuhr sie fort: »Mein Bruder war ein starker Knabe; er wurde ein Schmied. Die Schmiede sind sehr oft rohe und gewaltthätige Leute; er wurde es auch, aber er hat mich immer lieb behalten, obgleich er bald in die Fußtapfen des Vaters trat. Er gab bald seine lohnende Arbeit auf und ging des Abends mit dem Vater aus. Wenn sie dann des Nachts nach Hause kamen, so waren sie oft reich, oft auch arm, und ich durfte niemals fragen, woher sie die Dinge brachten, von deren heimlichem Verkaufe sie lebten.« »Armes Kind!« sagte Sternau. Sie nickte traurig und fuhr dann fort:
»Einst kehrten sie nicht zurück, und ich wurde des anderen Tages zur Mairie citirt. Dort erfuhr ich, daß Beide gefangen seien; man hatte sie bei einem Einbruche ertappt. O, mein Herr, das war ein trauriger Tag! Ich habe damals viel geweint, aber ich ließ den Muth nicht sinken. Während der Vater und der Bruder viele Monate lang im Gefängnisse saßen, arbeitete ich bei einer Näherin; ich hatte keine Noth und legte mir ein Ersparniß zurück, damit die Meinen nicht hungern sollten, wenn sie wieder frei würden. Sie kamen; sie nahmen mein Erspartes und vertranken es. Ich mußte zu ihnen ziehen und das alte Leben begann von Neuem. Sie wurden wiederholt bestraft; ich bat und flehte, aber sie besserten sich nicht. Nun war ich groß geworden, und Vater sagte, daß ich hübsch sei. Er meinte, jetzt sei die Zeit gekommen, in welcher er sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen brauche. Er brachte junge Männer zu mir, Männer, vor denen mir graute. Ich widerstand lange, aber ich erhielt Schläge. Ich wollte gehen, fliehen, aber ich wurde eingeschlossen. Endlich zwang man mich eines Abends, starken Wein zu trinken; ich wurde sehr betrunken und war nun zum Widerstande zu schwach.« Sie hielt abermals inne. Die Erinnerung an jene Zeit entlockte ihr ein Meer von ränen. »Nahm Ihr Bruder Sie nicht in Schutz?« fragte Sternau. »Sie sagten doch, daß er Sie immer lieb gehabt habe.« »Ja, er hatte mich lieb, aber er war nun auch dem Trunke ergeben; er hielt das, was der Vater von mir verlangte für ein Vergnügen, aber nicht für eine Schande, und darum hatte ich von ihm keine Hilfe zu erwarten. Ich gehorchte ihnen jetzt. Und dann – dann fühlte ich, daß ich, daß ich – ein Kind haben würde. Der Vater gab mir eine Arznei, es zu tödten, aber ich gehorchte nicht. Da erhielt ich abermals viel Schläge von ihm, meist, wenn der Bruder nicht daheim war. Heute war es wieder so, und darum schlich ich mich fort, um zu sterben.«
Sie schwieg. Sie hatte eine Biographie gegeben, wie sie in Paris auf Tausende junger Mädchen paßt, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluche wird. »Haben Sie nie einen Schritt gethan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?« fragte Sternau. »Nein,« antwortete sie. »Es war ja mein Vater und mein Bruder,« sagte sie einfach. »Und nun? Was gedenken Sie nun zu thun, mein Kind?« »O,« klagte sie, »ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.« »Nein, das sollen Sie nicht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht nöthig haben.« Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie: »Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?« »Ja, ich werde helfen, und wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.« »O, Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein,« rief sie entzückt. »Man hat mich zu den Verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern Alles thun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir!« »Ich glaube es Ihnen,« sagte er. »Wo wohnen Sie?« »Wir wohnen in einem Hinterhause der Rue St. Cloy.« »Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben –« Da öffnete sich die ür, und die Wirthin trat ein, mit einem eebrette in der Hand. »Hier ist der Fliederthee,« sagte sie. »Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?«
»Ja,« antwortete das Mädchen. »O, Madonna, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben.« »Ich that es gern; Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Wie befinden Sie sich?« »So trinken Sie schnell den ee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.« Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, welche mit hereinwollten, von ihm aber bedeutet wurden, einstweilen zurückzubleiben. »Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen,« sagte er. »Ah, sie sind nicht verloren gegangen?« fragte Sternau. »Nein; ein Polizist hatte sie an sich genommen.« »Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?« »Wie Sie sehen! Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt; man darf ihm schon Etwas anvertrauen.« »Wie fanden Sie es an der Brücke?« »Es standen viele Menschen da, welche auf die Rückkehr unsers Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.« »Was wollen sie?« »Sie wollen diese Demoiselle sehen; sie vermuthen, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.« »Wie heißen sie?« fragte das Mädchen. »Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.« »Sie sind es,« sagte sie. »Mein Name ist Annette Mason.« »Wünschen Sie, sie zu sehen?« fragte Sternau. »Darf ich, mein Herr?« »Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.« »Die Andern mögen gehen, Sie aber bitte ich, zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater.«
»Gut,« sagte Sternau zur Mutter Merveille. »Lassen Sie die Beiden eintreten!« Sie entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Mason’s kamen herein. Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewaltthätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch so etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu. »Endlich habe ich Dich!« rief er. »Heraus aus dem Bette, und folge mir!« »Ich bin krank, Vater,« sagte sie bittend. »Krank?« fragte er. »Du bist ja wach; Du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit Dir!« Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte: »Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie Du uns drohtest, Annette?« »Ja,« gestand sie leise. »Welch’ eine Dummheit.« »Dummheit?« rief der Vater. »Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamiren; sie wollte uns um das Geld bringen, was sie uns zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und daheim soll sie sehen, was ihrer wartet.« »Du wirst ihr nichts thun,« sagte der Sohn. »Nichts? O nein, nichts, gar nichts?« antwortete der Vater höhnisch. »Nein, ich verbiete es Dir!« »Was hättest Du mir zu befehlen! Sie soll gehorchen lernen!« »Das wird sie, aber auch ohne, daß Du sie schlägst. Sie hat eine Dummheit begangen und wird sie bereuen. Komm, Annette!«
Das Mädchen blickte Sternau Hilfe suchend an. Die beiden Männer hatten sich bisher gar nicht um ihn gekümmert. Er sagte nun mit ruhiger aber fester Stimme: »Die Demoiselle wird hier bleiben!« »Ah,« sagte der Vater. »Wer sind Sie?« »Ich habe Ihre Tochter aus der Seine geholt und hierher gebracht und glaube mir dadurch das Recht erworben zu haben, an Ihrer Unterhaltung mit eil nehmen zu können.« Der Alte blickte ihn giftig an und sagte: »Meinetwegen! Aber unsere Unterhaltung ist leider bereits vorüber.« »Wohl schwerlich,« meinte Sternau. »Sie verlangen, daß Ihre Tochter Ihnen folgt, und ich verbiete es ihr.« »Ah! Wirklich?« fragte Mason höhnisch. »Mit welchem Rechte?« »Zunächst mit dem Rechte des Arztes.« »O, Sie sind Arzt? Sie holen sich Ihre Patienten selbst aus dem Wasser? Das ist außerordentlich praktisch. Leider aber steht es hier nur allein mir zu, von welchem Arzte meine Tochter behandelt werden soll.« »Schweig, Alter!« gebot der Sohn. »Dieser Herr hat Annette gerettet; er ist ihr nachgesprungen und hat sein Leben gewagt; seine Kleider triefen noch jetzt von dem Wasser des Flusses. Du bist ihm Dank schuldig und wirst höflich mit ihm sein. Wenn er Arzt ist, werden wir seine Meinung anhören.« »Den Teufel werde ich anhören,« entgegnete der Alte. »Das Mädchen will ich haben, weiter nichts. Vorwärts!« Er faßte Annette bei der Hand, um sie aus dem Bette zu ziehen; da aber schob ihn Sternau zur Seite. »Halt,« sagte er, »Sie haben diese Patientin nicht zu berühren. Ich als Arzt muß wissen, ob sie bereits jetzt das Bett verlassen darf. Sie
wird bleiben; sie wird Ihnen nicht folgen, jetzt nicht und vielleicht auch später nicht.« »Ah, wirklich?« frug der Alte ganz erstaunt. »Ja, wirklich!« »Und das sagen Sie mir, mir, dem Vater?« »Wie Sie hören! Zunächst ist Ihre Tochter krank; sie bleibt heute hier liegen. Und sodann weiß ich ganz genau, was für ein Schicksal ihrer daheim wartet; sie wird nicht nach Hause zurückkehren.« »Nicht? Gewiß nicht?« fragte der Alte zwischen maßlosem Erstaunen und aufkeimendem Zorn. »Nein, gewiß nicht. Sie haben nicht als Vater an ihr gehandelt; Sie haben Ihre Vaterrechte verloren; es wird anderweit für sie gesorgt werden.« »Nicht als Vater an ihr gehandelt? Nicht, nicht? Wer hat dies gesagt? Sie selbst, keine Andere, als sie selbst. Und das soll sie mir büßen.« Er erhob den Arm, um nach seiner Tochter zu schlagen; Sternau aber gab ihm einen Stoß, daß er zurückfuhr und an die Wand taumelte. Da trat der Sohn, welcher sich bisher nur beobachtend verhalten hatte, vor. »Mein Herr,« sagte er, »Sie haben meine Schwester gerettet, aber das giebt Ihnen noch kein Recht, meinen Vater zu schlagen.« Da erhob sich Sternau von dem Stuhle, auf welchem er saß und stellte sich mit seiner Herkulesgestalt dem Schmiede gegenüber, der nun erst jetzt merkte, welch’ einen Mann er vor sich hatte. »Monsieur Mason,« sagte er, »es ist gar nicht meine Absicht, Ihren Vater zu schlagen; ich beabsichtige nur, mich dieses Mädchens anzunehmen. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß sie Ihnen nicht folgen wird, sondern daß ich sie in die Familie braver, rechtlicher Leute bringen werde, wo sie sich glücklich fühlen wird. Das werde ich thun, und wer mich daran zu hindern versucht, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich Gewalt anwende.«
»Wie schön das klingt,« höhnte der Alte. »Er will sie für sich selbst behalten.« »Pah,« antwortete Sternau, »ich bin fremd; ich verlasse sehr bald diese Stadt; meine Absicht ist eine reine und ehrliche.« »Ich glaube es Ihnen,« sagte der Sohn. »Sie sehen wie ein ehrlicher Mann aus. Aber was wollen sie thun, wenn wir Ihnen die Schwester nicht lassen?« Sternau lächelte überlegen und sagte: »Glauben Sie, daß Sie mir dieselbe vorenthalten können?« »Gewiß!« »Sie irren sich. Ich brauche nur zu beweisen, daß Sie ohne Existenzmittel sind und daß Sie es Ihrer Tochter und Schwester zumuthen, Sie auf eine Weise zu ernähren, welche gegen alle sittlichen Gesetze verstößt, so wird sich die Polizei sofort Ihrer Schwester annehmen und auch auf Sie ein wachsameres Auge haben, als bisher.« »Donnerwetter, Sie drohen uns?« »Allerdings!« »Und Sie glauben, daß wir uns fürchten?« »Ich vermuthe es!« »Ah, das hat mir noch Keiner gesagt.« »Das ist möglich, also sage ich es. Ich rathe Ihnen sehr, sich den gegenwärtigen Umständen gutwillig zu fügen. Ihr Widerstand würde nicht nur nutzlos, sondern Ihnen sogar schädlich sein.« »Das wollen wir sehen,« meinte der Vater. »Fasse an, Junge! Sie muß mit!« Aber sein Sohn folgte diesem Rufe nicht. Er sah den hohen stolzen Deutschen vor sich stehen; er blickte in dessen mildes und doch so ernstes Auge und fühlte sich durch den Blick desselben besiegt und entwaffnet. Es war der Eindruck einer reinen, festen Männlichkeit auf einen moralisch haltlosen Charakter.
»Schweige!« gebot er seinem Vater. Und dann fragte er den Arzt: »Sie meinen es mit meiner Schwester wirklich ehrlich, und werden dafür sorgen, daß sie einen guten Weg durch das Leben findet, dadurch, daß Sie ihr eine Stellung in einer hiesigen Familie geben?« »Ja, gewiß werde ich dies thun.« »Und sie nicht veranlassen, ihren Vater und Bruder zu verleugnen und zu verachten?« »Es wird das auf sie selbst ankommen; ich werde sie in dieser Beziehung nicht im Mindesten beeinflussen. Ich bahne ihr den Lebensweg, ob und wie sie ihn wandeln wird, das ist ganz allein nur ihre eigene Sache.« »Werden wir erfahren, wo sie sich befindet?« »Sie wird es Ihnen mittheilen.« »Gut, mein Herr, so sind wir einig. Ich überlasse Ihnen meine Schwester gerne.« »Aber ich überlasse ihm meine Tochter nicht,« rief der Vater. »Ich brauche sie; ich bin alt und schwach; ich kann nicht mehr arbeiten.« »Sie haben einen Sohn,« sagte Sternau, »einen starken, kräftigen Sohn, der gewiß gern für Sie sorgen wird.« »Ja,« sagte der Sohn. »Komm, Vater, wir gehen unsern Weg weiter, aber wir wollen uns dabei von dem Vorwurfe freihalten, daß wir Annette mit uns fortgerissen haben.« »Nein, ich gehe nicht, ich bleibe, bis das Mädchen gehorcht,« behauptete der Mann. »Pah! Ich will es, und so wirst Du es auch wollen!« meinte sein Sohn. »Ich werde morgen wieder hier nachfragen; jetzt aber gehen wir. Vorwärts, Alter!« Der Vater wollte sich sträuben, der Sohn aber faßte ihn und schob ihn zur ür hinaus.
Annette hatte während des letzten Verlaufes des Gespräches wortlos im Bette gelegen, jetzt aber streckte sie dem Arzte ihre Hand entgegen. »Mein Herr, o, wie danke ich Ihnen!« sagte sie. »Sie sind mein doppelter Retter. Sie haben mich zweimal gerettet, erst aus dem Wasser der Seine und nun aus dem Schlamme des Elendes, in welches man mich zurückziehen wollte.« Er bemerkte, daß ihr große Schweißtropfen auf der Stirn standen. »Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie schwitzen in Folge des ees?« »Ich weiß es nicht. Ich habe so große Schmerzen.« »Plötzlich?« »Ja, ich kann sie kaum ertragen.« »Ach, ich ahnte es. Ich werde Ihnen Jemand schicken. Haben Sie nur kurze Zeit Geduld.« Er zog seinen Rock an und setzte seinen Hut auf, um zu gehen. Draußen trat ihm bereits die Wirthin entgegen. »Ich hörte die beiden Menschen gehen. Mein Gott, waren dies rohe Leute!« »Sind Sie bereit, Madame, das Mädchen bis zu ihrer Genesung bei sich zu behalten?« »Von Herzen gern, mein Herr!« »Aber Sie werden viel Störung von ihr haben.« »Das scheue ich nicht. Das Mädchen ist nicht schuld an seinem Elende.« »Gewiß nicht! Und was Sie an ihr thun, wird Gott Ihnen lohnen. Uebrigens versteht es sich von selbst, daß ich die auflaufende Rechnung auf mich nehme.« »Das ist sehr edel von Ihnen, mein Herr, obgleich ich darnach nicht fragen würde, trotzdem ich selbst arm bin.« »Nun, dann nehmen Sie hier diese Börse, Madame. Der Fall in den Strom und der Einfluß des kalten Wassers haben auf unsere
Patientin eine Wirkung hervorgebracht, welche mich zu der Bitte veranlassen, doch schleunigst nach einer Hebamme zu schicken. Ich werde jetzt gehen, morgen früh aber wieder hier sein. Gute Nacht!« »Ihr Befehl soll erfüllt werden, mein Herr. Aber wie nun, wenn die Verwandten der Patientin wiederkommen?« »Sie werden nicht zu ihr gelassen.« Er ging. Als er sein Hotel in der Rue de la Barillerie erreichte, war es bereits Mitternacht. Er besuchte zunächst seine kranke Braut, welche sich in abgeschiedenen Räumen unter der Aufsicht der guten Elvira und einer barmherzigen Schwester befand, und ging dann schlafen. Als er am anderen Morgen seine Gerettete bei Mutter Merveille wieder besuchte, ergab es sich, daß er gestern Abend ganz richtig vermuthet hatte: es hatte eine Frühgeburt stattgefunden, und Annette lag in großer Schwäche darnieder. Das Kind war todt. Dieser letztere Fall konnte wohl kaum ein Unglück für sie genannt werden, da sie den neuen Lebensweg nun frei und ungehindert gehen konnte. Sternau begab sich von ihr weg zu Professor Letourbier, bei welchem er zum Frühstücke geladen war. Im Laufe des Letzteren erzählte er sein gestriges Abenteuer und erregte dadurch die eilnahme der Frau Professorin in einer solchen Weise, daß sie sich erbot, das Mädchen zu sich zu nehmen. Dies hatte er beabsichtigt. Besonders erfreut war er, als die Professorin bei seinem Fortgange sich erbot, ihn zu seiner Patientin zu begleiten. Sie fanden dieselbe jetzt einigermaßen kräftiger. Sie weinte ränen der Freude, als sie hörte, daß sie eine solche Beschützerin erhalten solle, und wurde von Sternau auch sofort der Professorin definitiv übergeben.
Zwei Tage später reiste er mit Rosa, Alimpo und Elvira ab, um seine Mutter und Schwester in Rheinswalden aufzusuchen. Der geehrte Leser weiß bereits, daß es ihm dort gelang, die Geliebte von ihrem Irrsinne zu heilen. – Es war nur einen Tag nach seiner Abreise von Paris, als auf dem Perron der Bahn von Orleans ein junger Herr aus einem Wagen erster Klasse stieg. Ein schwarz gekleideter Diener, welcher in einem Wagen zweiter Klasse gesessen hatte, eilte herbei, um ihm behilflich zu sein. »Das Gepäck bleibt hier. Ein Wagen nach irgend einem Hotel!« Der Diener gehorchte, und bald rollten Beide einem auf dem nahen Platze Walhubert liegenden Hotel zu. Dort verlangte der Fremde neben einer Flasche Wein das Adreßbuch der gesammten Stadt Paris und schlug da die Abtheilung »L« auf. Hier glitt er mit dem Finger von Zeile zu Zeile, bis er auf den Namen »Letourbier, Charles Francois, Professeur de medecin« stieß. »Dort ist seine Adresse ganz sicher zu erfahren,« murmelte er. »Bei diesem Professor war er, ehe er nach Rodriganda kam, und bei ihm wird er jedenfalls auch wieder vorgesprochen haben. Also Rue des Lavande .« Er gab seinem Diener einen Wink und sagte ihm dann mit gedämpfter Stimme: »Du sagtest, als ich Dich in Orleans engagirte, daß Du Paris kennst.« »Allerdings, gnädiger Herr.« »Weißt Du, wo die Rue des Lavande liegt?« »Ganz genau. Sie verbindet die große Rue de Rivoli mit dem Quai de la Megisserie.« »Gut. Du nimmst jetzt eine Droschke und suchst Nummer Vier dieser Straße. Dort wohnt ein Professor Namens Letourbier, bei welchem erfahren werden kann, wo ein gewisser Doktor Karl
Sternau zu finden ist, welcher vor kurzer Zeit aus Spanien zurückkehrte.« »Darf ich direkt beim Professor nachfragen?« »Es würde mir das nicht angenehm sein, ist es aber nicht zu umgehen, so mußt Du es thun.« »Darf man es wissen, wer die Adresse dieses Arztes haben will?« »Nein, auf keinen Fall.« »Ich werde bald wieder zurück sein.« Er ging und setzte sich in eine Droschke; da, wo die Rue des Lavande an die Straße St. Germain l’Auxerrois stößt, stieg er aus und trat in das Portal der Mairie, welcher die Nummer Vier gegenüber lag. Er sah da drüben zahlreiche Leute ein- und ausgehen und bemerkte endlich auch ein Mädchen, welches begann, mit einem Besen den Flur zu reinigen. Er begab sich hinüber zu ihr und grüßte höflich: »Guten Morgen, Mademoiselle! Verzeihen Sie! Serviren Sie in diesem Hause?« »Ja,« antwortete sie, sichtlich geschmeichelt von dem höflichen Tone seiner Anrede. An welcher Abtheilung des Hauses?« »Im Parterre.« »Ah, wie schade, weil ich gern in der ersten Etage eine kleine Erkundigung eingezogen hätte.« »Darf ich es Marion sagen?« »Wer ist Marion?« »Das Stubenmädchen des Professors, welcher da oben wohnt.« »Ja, bitte, Mademoiselle! Aber es wird doch nicht auffallen?« »Nein, mein Herr.« Sie hüpfte davon und die Treppe empor. In kurzer Zeit kehrte sie mit einem Mädchen zurück, welches die eigenthümliche Tracht der Bretagne trug. »Das ist der Herr, Marion,« sagte sie.
»Was wünschen Sie zu wissen, Monsieur?« fragte Marion in dem harten Dialecte, welcher der Bretagne eigen ist. »Eine kleine Auskunft, mein Fräulein.« Dabei griff er in die Tasche und offerirte einer jeden der beiden Mädchen ein blankes Frankstück. »Sie soll Ihnen werden, mein Herr,« sagte Marion. »Ich sehe, daß Sie in einem gebildeten Hause serviren.« »Das ist allerdings wahr,« sagte er. »Mein Herr ist der Vicomte de Rallineux, der leider bereits längere Zeit krank darnieder liegt.« »Ah, ich bedaure!« sagte das Mädchen des Parterres höflich. »Ich ebenso,« fügte Marion hinzu. »Danke, meine Damen. Der Herr Vicomte bedienten sich früher eines Doktors Sternau, dessen Geschicklichkeit er fast seine Heilung zu verdanken hatte, als dieser Arzt leider plötzlich nach Spanien verreiste.« »Ich weiß das,« beeilte Marion sich, zu bemerken. »Monsieur Sternau erhielt einen Ruf zu dem berühmten Grafen de Rodriganda.« »Das war schlimm für den Herrn Vicomte, denn sein Uebel wurde sofort größer, und kein Arzt brachte Hilfe. Jetzt nun erfährt mein Herr zufällig, daß Monsieur Sternau von Spanien zurückgekehrt sei – –« »Das stimmt,« sagte Marion. »Und da er nun weiß, daß beim Herrn Professor die Adresse dieses Arztes jedenfalls bekannt ist – –« »Allerdings, mein Herr!« »So ertheilte er mir den Auftrag, mich hier zu erkundigen, natürlich aber, ohne den Herrn Professor selbst zu incommodiren.« »So wollen Sie also wissen, wo Monsieur Sternau wohnt? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Sie gehen von hier aus durch die Saunerie und über den Pont Change –« »Ja, Mademoiselle.«
»Da kommen Sie zwischen dem Quai de l’Horloge und dem Quai aux fleurs hindurch in die Straße de la Barillerie – –« »Ich kenne sie,« nickte er. »Auf der rechten Seite dieser Straße liegt der Justizpalast und die kleine Straße St. Chapelle, und an der Ecke dieser Straße steht das Hotel d’Aigle. In demselben bewohnt Monsieur Sternau einige Zimmer der ersten Etage.« Sie hatte das in sehr umständlicher Weise gesagt, dennoch aber machte der höfliche Diener eine tiefe Verbeugung und sagte: »Ich danke Ihnen, Mademoiselle! Wird Monsieur Sternau um diese Zeit zu sprechen sein?« »Ich weiß es nicht. Ah, da fällt mir ein, daß ich glaube gehört zu haben, daß vorgestern von seiner Abreise die Rede war.« »Sie meinen also, daß ich mich beeilen muß?« »Gewiß, mein Herr. Ich hörte zwar nur im Vorübergehen eine Silbe fallen, aber es ist doch besser, Sie gehen sicher.« »Dann darf ich Ihnen nicht länger mißfällig sein. Adieu, meine Damen!« Er verabschiedete sich mit einem Complimente, als ob er zwei Herzoginnen vor sich habe. Sie blickten ihm nach, und dann meinte Marion: »Ein sehr feiner Herr!« »Sehr fein,« nickte die Andere. »Ich wollte, er fände den Doktor nicht. Dann käme er vielleicht wieder.« »Hm, ja! Ich werde den Flur ein wenig langsam kehren, damit ich noch da bin, wenn er zurückkommt.« »Aber Du wirst mich sofort rufen!« »Gewiß! Dieser Vicomte de Rallineux muß ein sehr, sehr feiner Herr sein!«
»Sicherlich, denn einen Herrn erkennt man an seinem Diener. Ein Diener ist nicht immer in der Lage, Douceurs von zwei Franken zu geben.« Die Erwartung der beiden Mädchen erfüllte sich nicht. Der Diener kehrte zu seinem Herrn zurück und theilte ihm mit, was er erfahren hatte. »Hotel d’Aigle sagst Du?« fragte dieser. »Ja, Rue de la Barillerie.« »So werden wir dort wohnen.« »Soll ich einen Wagen besorgen, gnädiger Herr?« »Nein.« Er starrte eine Weile in das Leere und drehte sich, wie in einiger Verlegenheit, die Spitzen seines Schnurrbartes; dann sagte er: »Du bist wirklich gut in Paris orientirt?« »Sehr genau.« »Hm, es gilt nämlich einen Scherz.« Der Diener verbeugte sich. »Dieser Doktor Sternau ist ein Freund von mir, soll mich aber nicht erkennen.« »Ah, ich verstehe, gnädiger Herr! Sie wünschen, sich zu verkleiden, und bedürfen einen falschen Bart und so weiter?« »Ja, aber Alles sehr fein gearbeitet. Kennst Du einen Ort, wohin man sich in dieser Angelegenheit mit Vertrauen wenden könnte?« »Hm, es ist bedenklich. Der gnädige Herr verzeihen; aber das Verlangen nach einer solchen Veränderung des Aeußeren ist leicht verdächtig – –« »Ich weiß das.« »Wollten Sie sich an einen bekannten Friseur oder Kosmetiker wenden, so würde dieser verlangen, daß Sie sich legitimiren.« »Das wäre mir allerdings unbequem.«
»Darum gestatte ich mir einen Vorschlag, der allerdings kühn ist. Es giebt hier Leute, welche sehr oft ihr Aeußeres verändern, doch nicht eines Scherzes halber –« »Ah, die Ritter des Verborgenen!« »Ja. Ihnen stehen Künstler zu Diensten, denen selbst der gewandteste eaterfriseur das Wasser nicht zu reichen vermag. Diese Künstler wohnen freilich nur im Dunklen, im Schmutze, und ich weiß nicht –« »Pah! Kennst Du einen solchen Menschen?« »Ja, es ist der alte Papa Terbillon; er wohnt im Keller eines Hauses der Rue de l’Odeon.« »Du meinst, daß er im Stande sein wird, mich so zu verändern, daß mich selbst mein bester Freund nicht erkennt?« »Ganz gewiß.« »Ist man bei ihm vor Verrath sicher?« »Er ist stumm in solchen Dingen.« »Schlingel! Hätte ich doch nicht gedacht, einen Diener zu bekommen, der in solchen Dingen diese Erfahrung besitzt.« »Verzeihung, gnädiger Herr! Die Herren, denen ich servirte, zwangen mich, mir Kenntnisse solcher Art anzueignen.« »So führe mich! Ist es weit?« »Ziemlich. Es ist am Ende der Rue de Vaugirard in der Nähe von St. Sulpice.« Sie verließen das Hotel und bestiegen eine Droschke, mit welcher sie sich bis zur Straße Monsieur le Prince fahren ließen. Dort stiegen sie aus und begaben sich zu Fuße nach der Odeonstraße. »Kennt der Alte Dich?« fragte der Herr. »Ja.« »So magst Du mit eintreten.« Als sie das Haus erreichten, schritten sie durch den weiten orweg desselben nach dem Hofe und gelangten dort an eine Art Kellerthür, neben welcher ein hölzerner Klingelgriff befestigt war. Der
Diener klingelte, und es dauerte eine geraume Zeit, bis geöffnet wurde. Ein altes Weib erschien. »Was wollt Ihr?« frug sie. »Ist Papa Terbillon daheim?« fragte der Diener. »Ja.« »So laßt uns ein! Wir sind Freunde. Sagt es ihm!« »So wartet!« Sie verschwand und schloß die ür hinter sich zu, und die Beiden mußten abermals eine längere Weile warten. Dies hatte seinen guten Grund. Papa Terbillon nämlich war nicht allein, sondern er hatte Besuch. Es befand sich bei ihm ein junger, ungewöhnlich stark gebauter Mensch, in welchem wir den Schmied Gérard Mason, den Bruder Annettens, wieder erkennen. Der alte Terbillon war ein vorn und hinten ausgewachsenes Männchen mit einem vollständig kahlen Kopfe. Er trug eine große Hornbrille auf der großen Nase und stak in einem alten Schlafrokke, welcher aus lauter Flicken und Flecken bestand. Das Zimmer, in welchem die Beiden saßen, war nur ein Loch zu nennen. Es enthielt einen alten Tisch, drei Stühle, ein Bänkchen, einen kleinen Windofen, einen alten Spiegel und eine Petroleumlampe, welche immer brennen mußte, da der Raum kein Fenster besaß. Aus diesem Ameublement hätte man sicher nicht auf den Stand und die Beschäftigung des Alten zu schließen vermocht. Er hockte auf dem Schemel, hatte die Arme um die empor gezogenen Kniee gelegt und hörte dem zu, was ihm der Schmied mittheilte. »Und sie rannte wirklich fort?« fragte er. »Ja.« »Und in das Wasser?« »Geradewegs!« »Welch’ eine Dummheit! So ein hübsches Mädchen, welches sich täglich zwanzig bis dreißig Franken verdienen könnte, wenn es
nicht so sehr lieblos gegen die Herren sein wollte. Sie ist natürlich ertrunken?« »Nein.« »Nicht? Bei Gott, was denn?« »Sie wurde von einem Herrn gesehen; der sprang ihr nach und zog sie wieder heraus.« »Wieder heraus? Welch’ eine Albernheit. Einen Menschen, der sich ersäufen will, den läßt man im Wasser; das versteht sich ja ganz von selbst. Wer war der Kerl?« »Ich weiß es nicht.« »Hast Du ihn nicht gesehen?« »Doch, sogar gesprochen habe ich ihn.« »Und weißt nicht, wer er war! Welch’ eine Dummheit!« »Ja, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesprochen, aber ich habe ihn nicht gefragt, wer er ist. Er hatte Etwas an sich, was mir den Muth zur Frage nahm.« »Dummheit!« »Und zudem glaubte ich, daß Annette ihn fragen würde.« »Und sie hat es wohl auch nicht gethan? Welch’ eine Albernheit!« Der alte Terbillon schien die Worte Dummheit und Albernheit vorzugsweise gern zu gebrauchen. Sein Gesicht hatte Affenzüge, und seine ganze Gestalt zeigte etwas Meerkatzenähnliches. »Sie hat geglaubt, ihn öfters zu sehen, aber er ist nicht wieder gekommen,« entschuldigte sich der Schmied. »Er ist abgereist.« »So war er ein Fremder?« »Jedenfalls. Er ging über die Brücke, als Annette in das Wasser sprang; er stürzte sich ihr nach und rettete sie; er trug sie zur Mutter Merveille, wo sie verpflegt wurde, und nun soll sie in die Familie des großen Letourbier kommen.« »Des Professors! Wie kommt sie zu diesem?« »Ihr Retter hatte sie empfohlen.«
»Und das laßt Ihr Euch gefallen? Welch’ eine Dummheit wieder! Wißt Ihr, daß sie Euch eine sehr gute Revenue einbrachte? Daß Ihr also gar nicht zu arbeiten brauchtet?« »Richtig! Das ist wahr.« »Und daß Ihr nun arbeiten müßt?« »Das wollen wir; deshalb komme ich zu Dir, Papa Terbillon. Du wirst mir Arbeit geben.« »Ich? Hm! Du hast bisher für den alten Gambreully gearbeitet?« »Ja, an der Garotte.« An der Garotte arbeiten heißt nämlich, einsame Spaziergänger überfallen, ihnen die Kehle zudrücken oder zuschnüren, um ihnen die Baarschaft abzunehmen. Hierzu gehören sehr kräftige Leute, und gewöhnlich arbeiten Zwei mit einander. Diese Arbeit wird förmlich geschäftsmäßig betrieben. Es giebt wirkliche Entrepreneurs, welche fünfzig und mehrere Arbeiter in verschiedenen Fächern beschäftigen. »Was hast Du Dir verdient?« »Verdammt wenig. Sechs Franken pro Tag.« »Hm, ich würde Dir acht Franken geben, denn Du bist ein kräftiger Bursche. Wie oft bist Du bereits gefangen gewesen?« »Erst fünfmal.« »Und Dein Vater?« »Zwölfmal.« »Welche Dummheit! Zwölfmal! Du scheinst klüger zu sein, als Dein Alter. Willst Du für acht Franken, so schlage ein.« »Ich möchte doch nicht bei der Garotte stehen bleiben, vielmehr avanciren. Was giebst Du einem guten Einbrecher?« »Das ist verschieden. Bis hundert Franken pro Tag; nämlich pro Arbeitstag!« »Ach so. Hast Du schon genug Kräfte?« »So ziemlich, obgleich ein tüchtiger Kerl allezeit zu gebrauchen ist. Laß Dir also Etwas sagen: Ich werde Dich einmal auf Probe
nehmen, zunächst für zehn Franken an die Garotte. Ist’s Dir recht?« »Gut, ich thue mit; habe aber kein Geld.« »So beginnen wir gleich heut. Ich werde Dir den heutigen Tag bezahlen.« Er griff in die Seitentasche seines alten Schlafrockes und zog einen ledernen Beutel heraus; diesem entnahm er ein goldenes Zehnfranksstück und gab es dem Schmied. »Hier hast Du Deinen ersten Tageslohn. Bin ich mit Dir zufrieden, so gehst Du bald zu den Einbrechern über. Aber, Du kennst unsere Gesetze, und weißt, daß für den Lohn, den ich Dir zahle, Alles mir gehört, was Du erbeutest.« »Ja, dies ist mir vollständig bekannt.« »Denke daran, daß man seine Arbeiter zu kontroliren versteht! Es hat mich schon Mancher betrügen wollen; für kurze Zeit ist ihm dies gelungen, dann aber –« »Nun, dann?« »Dann sind sie zur Strafe stets in das Zuchthaus gewandert. Ich bezahle meine Leute gut, sind sie aber unehrlich gegen mich, so weiß ich ihnen stets die Polizei auf den Hals zu schicken. Aber, da fällt mir ein, Du hast einen Spitznamen?« »Ja.« »Man nennt Dich Gérard l’Allemand, den Deutschen?« »Ja.« »Warum?« »Weil ich deutsch spreche und verstehe.« »Wo hast Du es gelernt?« »Von meiner Mutter; sie war eine Deutsche. Und vor drei Jahren habe ich das ganze Elsaß und Baden durchwandert.« »Das ist mir lieb; Du wirst gut zu gebrauchen sein.« In diesem Augenblicke ertönte eine Klingel, und einige Zeit später trat die Alte ein.
»Was giebt es?« fragte Papa Terbillon. »Es sind zwei Männer draußen. Sie seien Freunde, sagte der Eine; ich kenne sie aber nicht.« »Ich werde sie ansehen.« Er erhob sich und verließ den Raum. Draußen gab es vor der Kellerthür einige finstere Stufen, welche er emporstieg. In der üre waren einige feine Löcher eingebohrt, durch welche man blicken konnte, und so sah sich der Alte die beiden Kommenden an. Er kehrte in seine Wohnung zurück und sagte zu dem Schmiede: »Vielleicht giebt es sogleich Arbeit für Dich.« »Ah, das sollte mich freuen!« »Ja. Den Einen kenne ich; er ist ein Diener, der mir bereits schon manchen Herrn gebracht hat. Der Andere scheint sein gegenwärtiger Herr zu sein, ein feiner Mann mit Ringen unter dem Handschuh und einer Fünfhundertfrankenkette an der Uhr.« »Donnerwetter!« Der Alte zeigte auf eine niedrige ür, welche neben dem Ofen angebracht war. »Gehe hier heraus. Du kannst Dir ihn durch das Glasfenster betrachten, das Uebrige wird sich dann später finden.« Gérard verschwand hinter der ür. Er befand sich jetzt in einer Art von Kammer, welche allerlei Raub zu enthalten schien. Es war vollständig dunkel in ihr, aber er fühlte verschiedene Gegenstände, darunter auch einen Sack, der mit weichen Stoffen gefüllt war und gerade hinter der ür lag, so daß er sich auf ihn setzen und dabei ganz bequem durch das Fensterchen in die Stube blicken konnte. Eben jetzt traten die beiden Fremden ein. »Guten Tag, Papa Terbillon!« grüßte der Diener. »Guten Tag,« dankte der Alte mürrisch, ohne sich von seinem Sitze, auf dem er wieder Platz genommen hatte, zu erheben. »Nun, stehe auf, Papa Terbillon, wenn feine Leute zu Dir kommen!« sagte der Diener.
»Das thue ich, wie ich will. Es sagt Mancher hier, er sei fein, und wenn man ihm gefällig ist, erfährt man das Gegentheil.« »Aber hier wirst Du es nicht erfahren. Dieser Grundherr ist ein Edelmann.« Der Alte machte ein sehr verwundertes Gesicht und sagte: »Woher?« »Das ist Nebensache.« »Für mich aber Hauptsache! Ich muß die Leute kennen, welche zu mir kommen. Was wollt Ihr?« »Dieser Herr hat einen kleinen Maskenscherz vor –« »Es ist nicht Fastnacht!« »Du bist bei schlechter Laune. Es handelt sich um einen Masken-, aber nicht um einen Fastnachtsscherz.« »Ich bin kein Maskenverleiher.« »Das weiß ich. Aber dieser Herr wünscht, unkenntlich gemacht zu werden; willst Du dies übernehmen? Es wird gut bezahlt!« »Ich thue es dennoch nicht, da es verboten ist. Es kommen oft Spitzbuben nach falschen Haaren; wenn ich ihnen den Willen thäte, käme ich nicht aus dem Gefängniß heraus.« »Aber hier handelt es sich doch nicht um einen Spitzbuben!« »Weiß ich es?« Da nahm auch der Herr das Wort: »Papa Terbillon, wollt Ihr, oder wollt Ihr nicht? Ich bin nicht gewohnt, so lange Zeit gute Worte zu geben!« Erst jetzt erhob sich der Alte und machte eine Art von Verbeugung. »Ah, das klingt wirklich, als ob Sie ein echter Edelmann seien. Werden Sie gut zahlen, wenn ich Ihnen diene?« »Was Du verlangst!« »Das richtet sich ganz nach der Arbeit. Was wünschen Sie also?«
»Ich wünsche, vollständig unkenntlich gemacht zu werden. Wie Du das anfängst und wie Du es fertig bringst, das ist Deine Sache.« »Unkenntlich für welche Zeit?« »Hm,« sagte der Fremde nachdenklich. »Wenn ich es für längere Zeit sein will, und ich hätte Veranlassung, mein echtes Gesicht wieder zu zeigen, ehe diese Zeit verflossen ist, kann man dann die Imitation entfernen?« »Sofort.« »Und welches ist die längste Zeit?« »Fünf bis sechs Wochen. Später wird der Bart zum Verräther.« »So wollen wir es für diese Zeit versuchen. Was verlangst Du?« »Zweihundert Franks.« »Alle Teufel, das ist viel!« meinte der Fremde. »So gehen Sie zu einem Andern!« »Pah, ich bleibe! Ich werde sie Dir zahlen, aber nach beendigter Arbeit.« »Und ich beginne die Arbeit nicht vorher. Es kommt Mancher zu mir, der mich betrügt.« Der Fremde machte eine verächtliche Handbewegung und sagte: »Es handelt sich nur darum, ob Deine Arbeit zweihundert Franks werth ist.« »Tausend Franken ist sie werth!« betheuerte der Alte. »Nun gut, so zahle ich Dir jetzt die Hälfte und die andere Hälfte dann, wenn ich mit Dir zufrieden bin.« »Ich will es gelten lassen, Monsieur.« »So nimm, hier!« Er zog sein Portefeuille hervor, öffnete es und nahm eine der darin liegenden Hundertfrankennoten hervor, die er dem Alten gab.
Dieser that gar nicht, als ob er das Portefeuille beachte, aber es war doch ein blitzesschneller, scharfer Blick gewesen, den er darauf geworfen hatte. »Ich danke,« sagte er, indem er die Note in die Tasche seines Schlafrockes schob. »Setzen Sie sich gefälligst auf diesen Stuhl.« Während der Fremde Platz nahm, verschwand der Alte hinter einer dritten ür und kehrte bald mit einem großen Kasten zurück, welcher Messer, Scheeren, Kämme, Haare, Bartwolle, Farben und Beitzen und verschiedene Flaschen, Schachteln und Büchsen enthielt. »Sie sind dunkelblond,« sagte er. »Soll ich Sie brünett oder schwarz machen?« »So, daß man mich nicht erkennt; weiter verlange ich nichts.« »Also schwarz.« »Aber daß keine nachträglichen Spuren bleiben.« »Keine Sorge, Monsieur!« Papa Terbillon begann nun sein Werk. Es ging höchst langsam vorwärts, aber es gelang ihm ausgezeichnet; er mußte eine ganz besondere Uebung besitzen. Endlich trat er auf einen Augenblick in den Raum, in welchem der Schmied saß. »Hast Du Dir ihn genau angesehen?« flüsterte er ihm zu. »Ja,« antwortete Gérard ebenso leise. »Er hat Geld, viel Geld!« »Ich habe es gesehen.« »Ich muß es haben, und zwar durch die Garotte. Wenn Du es mir bringst, erhältst Du zweihundert Franken Gratifikation.« »Ich werde es versuchen und ehrlich sein.« »Du hast Dein Tagelohn; Du hast den Mann bei mir kennen gelernt, folglich gehört sein Geld nun nur mir allein.« »Mache Dir keine Sorge, Papa Terbillon!« »Gut, so verlaß jetzt das Haus und warte draußen auf ihn. Dann folgst Du ihm und läßt ihn heut nicht wieder aus den Augen.«
»Wie kann ich das Haus verlassen, ohne daß er mich sieht?« »Komm!« Er zog ihn weiter in das Dunkel hinein, bis an eine Treppe, welche nach oben ging. Diese stieß an eine ür, und als der Alte diese öffnete, stand Gérard auf dem Flur des Hinterhauses. »So, nun gehe! Ich werde heute warten, bis Du kommst,« sagte Terbillon. »Und wenn er mir nun erst spät in die Hände kommt?« »So kommst Du morgen früh.« »Und wenn er heute vorsichtig ist?« »So wird er morgen unvorsichtig sein. Adieu.« Er schloß hinter dem jungen Manne wieder zu und kehrte dann nach seinem Atelier zurück. Hier that er, als habe er noch Einiges hinzuzufügen, und dann endlich sagte er: »Fertig! Das war eine tüchtige Geduldsprobe.« »Allerdings,« sagte der Fremde. »Ich hoffe, daß Dein Werk desto besser gerathen ist!« »Ich bin zufrieden,« sagte der alte Terbillon wohlgefällig. »Wie steht es?« fragte der Fremde seinen Diener. »Ausgezeichnet!« sagte dieser. »Der gnädige Herr sind unmöglich zu erkennen.« »So wollen wir sehen!« Er trat an den Spiegel und fuhr um einen Schritt zurück. »Verdammt!« rief er. »Es ist wahr. Ich kenne mich selbst nicht!« »Und welch’ noble Maske!« sagte der Diener. »Alter, Du bist ein Virtuos!« sagte der Fremde zu Terbillon. »Hier hast Du die zweiten hundert Franks. Wie lange wird das Zeug halten?« »Sechs Wochen.« »Und wie habe ich mich zu verhalten?«
Terbillon belehrte ihn, und dann gingen die beiden Fremden fort. Draußen auf der Straße blieb der Herr stehen und sagte zum Diener: »Jetzt gehst Du nach dem Bahnhofe und holst meine Effekten nach dem Hotel d’Aigle. Ich komme dann nach.« »Als was soll ich Sie ankündigen, gnädiger Herr?« »Als das, was ich bin, der Marchese Acrozza.« Der Diener eilte die Rue Racine hinab, um zum Bahnhof von Orleans zu gelangen, während der Herr langsam die Rue Mazarine hinaufschlenderte und sein Bild in den großen Ladenfenstern spiegelte. An einem derselben blieb er stehen. Er sah sich in Lebensgröße und erkannte erst jetzt, welch’ ein Meisterwerk Papa Terbillon geliefert hatte. »Bei Gott, es kann mich kein Mensch erkennen,« dachte er. »Nicht einmal dieser scharfsinnige Vater, dieser Gasparino Cortejo würde in mir seinen unehelichen Sohn, den Grafen Alfonzo de Rodriganda vermuthen.« Er ging weiter, und dabei setzte er seinen Gedankengang fort: »Wie gut ist es, daß auch dieser französische Diener meinen eigentlichen Namen nicht weiß! Er hält mich für den Marchese Acrozza. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Er trat in ein Kaffee und blieb darin, bis er glaubte, daß sein Diener sich bereits eingerichtet habe. Dann bestieg er eine Droschke und fuhr ebenfalls nach de la Barillerie. Vor dem Hotel d’Aigle angekommen, wurde er mit Auszeichnung empfangen und von dem Wirth selbst auf seine Zimmer begleitet. Dort fragte der Letztere nach den Wünschen des Gastes. »Diese Wünsche wird Ihnen mein Diener melden,« sagte Alfonzo de Rodriganda. »Für jetzt habe ich nur eine Frage: Wohnt hier vielleicht in der Nähe ein tüchtiger Arzt?«
»Mein Hausarzt, welcher der tüchtigste des ganzen Arrondissements ist, wohnt nicht weit von hier, in der Rue de la Calaudel.« »Weiter giebt es keine? – Auch in Ihrem Hause zufällig nicht?« »Nein.« »So bin ich falsch berichtet. Ich hörte, daß ein Doktor Sternau bei Ihnen wohne.« »Ah, das war bis gestern richtig.« »So ist er gestern ausgezogen?« fragte Alfonzo enttäuscht. »Ausgezogen nicht, sondern abgereist nach Deutschland.« »Wo ist er abgefahren?« »Vom Nordbahnhof. Er ließ sich sein Gepäck nach dem Bahnhof an der Barre St. Denis schaffen.« »Welche Stadt war das Ziel seiner Reise?« »Ich glaube, daß er von Mainz gesprochen hat; er stammte ja wohl aus jener Gegend. Er erzählte beiläufig, daß er dort Mutter und Schwester hat, und zwar auf einem Dorfe oder Schlosse der Umgegend.« »Haben Sie den Namen desselben nicht gehört?« »Ich glaube, er nannte ihn Rheinswalden.« »Ich danke Ihnen. Wohnte er allein hier?« »Nein. Er hatte einen Herrn und zwei Damen bei sich, die Spanier waren.« »In welchem Verhältnisse standen sie zu ihm?« »Die jüngere Dame war krank. Er behandelte sie mit außerordentlicher Aufmerksamkeit, so daß man vermuthen konnte, daß sie seine Gemahlin sei. Die beiden anderen Personen waren Diener.« »Wurden sie nicht eingetragen?« »Nein.« »Ich denke, Sie haben jeden Gast einzutragen!« »Monsieur Sternau war nicht mein Gast. Er wohnte bei mir bereits, ehe er nach Spanien reiste. Er hatte seine Zimmer von mir
gemiethet, und ich nahm mir also nicht das Recht, diejenigen Personen zu controlliren, welche er bei sich hatte.« »So wissen Sie wohl auch keine Namen?« »Nein.« »Beschreiben Sie mir den Diener!« »Er war klein und trug ein sehr eigenthümliches Bärtchen. Die Dienerin war auch klein, aber sehr dick. Beide schienen recht gute Menschen zu sein.« »Und die jüngere Dame?« »Sie war von einer außerordentlichen Schönheit und – ah, ich hörte einst, daß sie von Monsieur Sternau ›Rosa‹ genannt wurde.« »Sie sagten, daß sie leidend gewesen sei. Welcher Art war ihr Leiden?« »Sie war geisteskrank. Ich sah sie nur dreimal, dann aber auch stets betend. Es war das wohl eine Monomanie.« »Ich danke Ihnen, Monsieur. Diese Auskunft genügt. Ich werde leider morgen Paris wieder verlassen, um nach Lyon zu gehen.« Der Wirth entfernte sich, und nun sah sich Alfonzo allein. Er schritt erzürnt im Zimmer auf und ab. Er war Sternau gefolgt, um ihn zu erreichen und zu verderben, und sah ihn nun doch nach Deutschland entkommen. »Aber er ist noch nicht gerettet! Nein, nein! Von uns Beiden kann nur Einer bestehen, denn er weiß bereits zu viel. Er muß fallen. Ich reise ihm nach Deutschland nach!« Er grübelte eine Zeit lang, und dann murmelte er: »Ja, ich reise ihm nach. Ich kann ihm getrost begegnen, ich kann mich vor ihm sehen lassen, und er wird mich nicht erkennen. Und diesen Diener, welcher von meiner Maske weiß? Ah pah, den werde ich bald los werden; den führe ich an der Nase bis nach – ja, bis wohin denn? Bis nach Rouen. Von ihm darf ich mir nicht in die Karten sehen lassen.« Er klingelte und der Diener erschien.
»Warst Du bereits einmal in Rouen?« fragte er ihn. »Einmal,« antwortete derselbe. »Welches ist das beste Hotel?« »Das Hotel zu den ›Drei Kronen‹.« »Wo liegt es?« »Ganz in der Nähe der Kirche St. Ouen.« »Es erwartet mich ein kleines Abenteuer dort. Ich muß morgen dort sein, muß aber sofort bei meiner Ankunft wissen, ob eine Gräfin Rossey sich in einem der dortigen Hotels befindet.« »Soll ich voranreisen und mich erkundigen?« »Allerdings muß ich Dir diesen Auftrag ertheilen. Du magst mit dem ersten Mittagszuge reisen, und mich im Hotel zu den ›Drei Kronen‹ erwarten.« »Soll ich dort Zimmer bestellen?« »Nein, denn ich weiß nicht vorher, ob ich wirklich dort bleibe.« Das war nur eine Finte, den Diener los zu werden. Er gab ihm das nöthige Reisegeld und ließ ihn ohne Gewissensbisse per Bahn nach Rouen reisen. Nun erst hielt er sich in seiner Verkleidung für sicher. Er ging des Nachmittags spazieren und bemerkte nicht, daß eine Person ihm stets von Weitem folgte. Es war Gérard Mason, der Schmied, der es sich wirklich zur Aufgabe gemacht hatte, ihm seine Baarschaft abzunehmen. Alfonzo begab sich später in das eater, nicht der Vorstellung wegen, sondern um zu sehen, ob die an ihm vorgenommenen kosmetischen Manipulationen vielleicht auffällig seien. Es bekümmerte sich Niemand um sein Aeußeres, und das beruhigte ihn. Nach dem eater besuchte er ein sehr frequentirtes Weinhaus in der Straße Montorgueil, und dann kehrte er nach seinem Hotel zurück. Es war ziemlich spät geworden, wohl eine Stunde nach Mitternacht. Er bog in die Rue de la Tonnellerie ein und dann in die enge
Straße de la Poterie. Er glaubte, hier näher zu kommen, hätte aber besser gethan, durch die Rue du Roule nach dem Quai de l’Ecole zu gehen. Die enge Gasse war kaum nothdürftig erleuchtet und fast ganz menschenleer. Indem er ihr langsam nachfolgte, bemerkte er wohl, daß Jemand in schnellen Schritten hinter ihm herkam, aber es dünkte ihm das nicht auffällig. Der Betreffende war kein Anderer als Gérard, der Schmied. Er erreichte den Grafen. Dieser wollte sich zur Seite halten, um den schnellen Passanten vorüber zu lassen, fühlte sich aber in demselben Augenblicke von hinten an der Kehle gepackt. Sie wurde ihm so fest zusammengeschnürt, daß er keinen Athem holen konnte und die Besinnung verlor. Er stürzte zur Erde. Der Schmied garottirte diesesmal ohne Gehilfen; er war allein. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, nahm ihm Uhr und Kette, Börse und Brieftasche, und zog ihm sogar, nachdem er die Handschuhe herabgerissen hatte, die Ringe vom Finger. »Das ging leicht!« murmelte er vergnügt. »Nun schnell fort.« Er eilte durch die Rue de la Poterie und wandte sich dann rechts in die kurzen Gassen Lenoir, Bourdonnais und Bertin Poiree, bis er zum Quai de la Megisserie kam. Da dies aber der Weg war, den auch der Beraubte einzuschlagen hatte, um zum Hotel d’Aigle zu kommen, so drehte sich der Schmied abermals rechts, ging den Quai de l’Ecole und den Quai du Louvre hinab, an Port St. Nicolas vorüber bis an die große Galerie du Musee, schritt links über die Nationalbrücke hinüber und befand sich nun bei den Bateaux à vapeur *, pour St. Cloud. An dieser Stelle legten die Dampfschiffe von St. Cloud an. Es gab auch leere Kähne genug, und Gérard suchte sich einen derselben aus, welcher hell von einer der Quailaternen beschienen wurde. Er stieg hinein und setzte sich. Es sah aus, als ob er der Eigenthümer *
Dampfbooten
sei. Nun hatte er auch Muse und Beleuchtung genug, um seinen Raub zu betrachten. Die Uhr war kostbar, und was die Kette betraf, so hatte Terbillon deren Werth heute sicherlich nicht unterschätzt. Die Ringe, deren er fünf hatte, waren sämmtlich mit Brillanten gefaßt; die Börse enthielt mehrere hundert Franken in Gold und wenig Silber, und in dem Portefeuille stacken achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen. »Donnerwetter,« brummte der Schmied, »ist das ein Fang! Wie heißt der Kerl?« Er schlug das Notizbuch auf, welches in das Portefeuille eingebunden war und las auf der ersten Seite desselben: »Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla.« Er blätterte weiter und schüttelte den Kopf. Die Notizen waren alle in spanischer Sprache abgefaßt. »Das verstehe ich nicht; das ist eine fremde Sprache. Soll ich das Portefeuille fortwerfen?« Er sann einen Augenblick nach und sagte dann: »Nein. Wer weiß, wozu es nützen kann. Ich werde sehen, ob es italienisch, oder spanisch ist; dann kaufe ich mir ein Wörterbuch und schlage so lange nach, bis ich mir den Inhalt übersetzt habe. Ich brauche mir ja nur eine Zeile abzuschreiben und einen Buchhändler zu fragen, welche Sprache es ist.« Er steckte Alles zu sich und fragte sich dann: »Was nun? Gebe ich das Alles wirklich an Papa Terbillon ab? Ah, daß ich ein or wäre! Ich habe über zweitausend Franken baar; davon kann ich längere Zeit leben, ohne daß ich diesen alten Terbillon brauche. Und die Uhr und die Ringe? Pah, die behalte ich keine Viertelstunde bei mir. Etienne Lecouvert kauft mir sie sofort ab. Also fort, zu ihm! Er verließ den Kahn, schritt die Quais Voltaire, Malaquais, Conti, des Augustins und St. Michel bis zum Hotel Dieu hinauf
und wandt sich dann durch die hier liegenden kleinen Gassen rechts bis zur Rue des Carmes hinüber. In dieser Straße wohnte zu jener Zeit einer der berüchtigtsten Hehler von Paris. Er nannte sich Etienne Lecouvert und war der Besitzer einer viel besuchten Bier- und Branntweinkneipe. Sein Lokal zerfiel in zwei eile; der eine war öffentlich und der andere geheim. Zu dem Letzteren hatten nur seine vertrauten Kunden Zutritt, zu denen auch der Schmied gehörte. Dieser trat in den Flur des Hauses, schritt an der eigentlichen Gaststubenthür vorüber und blieb im Hintergrunde des dunklen Hausganges vor einem alten Schranke stehen, an welchen er auf eigenthümliche Weise klopfte. Es wurde wieder geklopft, und als er eine ähnliche Antwort gab, bewegte sich der Schrank auf unsichtbaren Rollen von seiner Stelle, und es kam nun eine offen stehende ür zum Vorschein. Der Schmied trat ein, und sofort rückte der Schrank an seine vorige Stelle zurück. Der Gast befand sich in einem nicht sehr großen Zimmer, in welchem mehrere Tische mit Stühlen standen. Es gab da kein einziges Fenster, sondern nur ein Loch in der Decke, durch welches die ungesunde Luft abziehen sollte. Ein Gast war noch nicht anwesend; nur der Wirth saß vor dem Schänktische, und am Eingange stand ein gnomenartiges Geschöpf, welches das Oeffnen und Schließen des Einganges zu besorgen hatte. »Guten Abend, Etienne Lecouvert!« grüßte Gérard. »Ah, Gérard l’Allemand!« sagte der Wirth. »Willkommen!« Er erhob sich von seinem Sitze und reichte dem Eingetretenen die Hand. »Noch Niemand hier?« fragte dieser. »Kein Mensch.« »Ist mir lieb, da ich ein Geschäft habe.«
Der Wirth hatte das Aussehen eines Biedermannes, und Niemand hätte in ihm so leicht einen berüchtigten Hehler vermuthet. Aber bei den letzten Worten des Schmiedes warf er einen Blick auf denselben, der gar nicht habgieriger sein konnte. »Bringst Du Etwas, das lohnt?« fragte er. »Ich denke. Sind wir aber wirklich sicher?« »Wie im Himmel!« »Da, Etienne, siehe Dir einmal diese Uhr an!« Er zog die Uhr heraus und reichte sie dem Hehler hin. »Verdammt!« fluchte dieser, als er einen Blick darauf geworfen hatte. »Diese Uhr hat keinem Lump gehört! Seit wann hast Du sie?« »Seit zehn Minuten.« »Alle Teufel, Du gehst sehr schnell zu Werke. Was willst Du haben?« »Was bietest Du?« Der Wirth drehte Uhr und Kette nach verschiedenen Richtungen, untersuchte Beides genau und sagte dann: »Zweihundert Franken sollst Du haben. Mehr nicht.« »Dann verkaufe ich die Uhr an einen Anderen,« sagte der Schmied kaltblütig. »Es wird sie Dir kein Anderer abkaufen,« sagte der Wirth ebenso ruhig, »weil Papa Terbillon allen Collegen heute verboten hat, von Dir zu kaufen. Er schickte seine Alte, welche sagte, daß Du bei ihm in Arbeit stehst.« »Der Teufel soll ihn holen! Ich werde ihm seinen Tagelohn wiedergeben und mein eigner Herr bleiben. Her mit der Uhr!« Der Hehler besah sich dieselbe abermals und sagte dann: »Du weißt, daß ich mir aus dem alten Terbillon nichts mache; die Anderen aber fürchten ihn. Ich bin wirklich der Einzige, der sie kauft.« »Um dieses Lumpengeld bekommt sie Keiner!«
»Gut, so will ich Dir fünfzig Franken zulegen.« »Die Uhr sammt Kette kostet dreihundert Franken. Giebst Du sie, so habe ich noch weitere und weit bessere Sachen für Dich; giebst Du sie nicht, so gehe ich sofort wieder!« »Gemach, gemach!« sagte der Hehler besänftigend. »Du hast noch Anderes?« »Ja, ich habe noch Juwelen.« »So hast Du heute eine glückliche Hand gehabt. Zeige her!« »Nicht eher, als bis die Uhr bezahlt ist!« »Höre, Gérard, das ist nicht freundschaftlich gehandelt! Zweihundert Franken gebe ich Dir!« »Gute Nacht!« Er nahm dem Wirthe schnell die Uhr aus der Hand, steckte sie ein, und wandte sich dem Ausgange zu. »Halt!« sagte der Wirth, indem er ihn zurückhielt. »Du sollst die dreihundert haben!« Der Schmied drehte sich kaltblütig wieder um. »Geld her!« sagte er. »Aber Du hast auch wirklich Juwelen?« »Habe ich Dich einmal belogen?« »Nein, ich glaube Dir. Hier hast Du das Geld.« Er zog einen Kasten des Schänktisches auf und nahm die Summe heraus, welche der Schmied einsteckte. »Hier, sieh’ Dir diesen Ring an,« sagte dieser dann. Er zog den unscheinbarsten der Ringe hervor und gab ihn dem Wirth. Dieser ließ den Stein gegen das Licht spielen. »Aecht!« sagte er nickend. »Ich gebe fünfzig Franken.« »Gut. Und für diesen?« Er gab einen zweiten hin. »Donnerwetter, ein Rubin, und so groß. Ich gebe zweihundert Franken.« »Und für diesen?«
Er gab den dritten hin. Der Wirth hielt ihn gegen das Licht. »Ah, das ist ein sibirischer Smaragd, für den ich auch zweihundert Franken biete.« »Und dieser?« »Ein Saphir,« rief der Wirth, indem er den Stein betrachtete. »Du bist ja zu einer förmlichen Sammlung gekommen! Nun, für diesen bekommst Du hundert Franken.« »Und für diesen letzten?« Er gab ihm den fünften und kostbarsten Ring hin. Das Auge des Hehlers blitzte auf, als er ihn erblickte, denn er erkannte einen echten, wasserhellen Diamanten. »Ein Brillant! Alle Teufel, hast Du Glück gehabt! Für den sollst Du den höchsten Preis von fünfhundert Franken haben.« »So erbitte ich mir die Ringe retour.« »Retour? Warum?« fragte Lecouvert mit gut gespieltem Erstaunen. »Weil ich sie für diese Preise nicht verkaufe.« »Es bietet Dir Keiner mehr.« »Das wollen wir nicht untersuchen, ich verkaufe sie aber anderswo sicher.« »Hm! Wir sind Freunde, Gérard, Du darfst mich nicht drükken! – Sage, was Du haben willst!« »Du kennst mich, Etienne, und weißt, daß ich nicht weiche, wenn ich einmal eine Zahl gesagt habe. Du giebst für diese Steine fünfzehnhundert Franken. Willst Du?« »Kerl, Du prellst mich!« rief der Wirth mit scheinbarem Entsetzen. »Her damit!« Er wollte die Steine wieder an sich nehmen, aber Etienne wehrte sich dagegen. Er wußte, daß der Brillant allein den zehnfachen Preis des Geforderten selbst unter Hehlern bringen werde. »Zwölfhundert gebe ich!« sagte er.
»Fünfzehnhundert!« »Zwölf – – – ah, Du bist schlecht!« Gérard hatte nämlich mit einem kräftigen Griffe seine Hand erfaßt und ihm die Ringe aus derselben gewunden. »Gute Nacht!« sagte er. »Vierzehnhundert will ich wagen,« erklärte der Wirth. »Fünfzehnhundert! Keinen Sous weniger!« »Ah! Na, gut! Weil Du es bist, sollst Du sie haben. Gieb die Ringe her!« »Erst das Geld; aber noch Eins. – Papa Terbillon darf nichts erfahren.« »Das versteht sich ganz von selbst.« »So sind wir einig. Hier sind die Ringe.« »Und hier ist das Geld!« Er zählte ihm aus dem Kasten fünfzehnhundert Franken auf den Tisch, so daß der Schmied sich jetzt auf einmal im Besitze von gegen viertausend Franken befand. »Und nun sage auch, wo Du den Fang gemacht hast!« sagte der Wirth. »Auf der Rue de la Poterie.« »Ah, wo Deine Mignon wohnt! Der Besitzer war ein Fremder?« »Ja.« »Du garottirtest ihn?« »Ja. Es war gerade vor der Wohnung der Mignon; ich kannte den Fremden nicht.« »So wünsche ich Dir und mir alle Tage einen so guten Fang. Denn ich hoffe, daß er nicht blos die Uhr und die Ringe, sondern auch eine Börse, wohl gar ein Portefeuille bei sich hatte.« »Es war eine Wenigkeit, und – – –« Er hielt inne, denn es war am Eingange gepocht worden. »Oeffne!« sagte der Wirth zum ürhüter. »Es war das richtige Zeichen.«
Der Mensch schob den Schrank zurück und es erschienen zwei Personen, voran ein Mädchen und hinter ihr ein Herr. »Donnerwetter, die Mignon!« rief der Wirth beim Anblick des Mädchens erfreut aus. Auch der Schmied ließ einen Ruf der Freude hören, wurde aber im nächsten Augenblicke leichenblaß, denn der Herr, welcher mit eintrat, war – Alfonzo, der von ihm Garottirte. Das Haus, vor welchem der Schmied den Grafen gewürgt hatte, gehörte zu jenen dunkelen Häusern, in denen die Liebe für Geld verkauft wird. Es enthielt im Parterre eine Weinkneipe, deren Besitzerin zugleich die Gebieterin von ungefähr zwölf Mädchen war, welche alle zu der beklagenswerthen Klasse der Magdalenen gehörten. Die Hübscheste unter ihnen führte den Kriegsnamen Mignon, denn keines dieser Mädchen wurde bei ihrem ursprünglichen Namen genannt. Obgleich diese Geschöpfe aus der Liebe ein Gewerbe machen, haben sie in Beziehung auf ihre Anbeter sehr feste Grundsätze. Es giebt selten eins dieser Mädchen, welches nicht einen wirklichen Geliebten hätte, der über ihr Gewerbe hinwegsieht und dafür aus ihren Einnahmen Nutzen zieht. Mignons Geliebter war Gérard, der Schmied. Die zwölf Magdalenen saßen heute Abend schön herausgeputzt in der Trinkstube zusammen, welche sie Salon nannten. Es befand sich kein einziger Gast bei ihnen, und darum herrschte eine ungewöhnliche Stille im Gemache. Doch diese Stille wurde plötzlich unterbrochen. Die üre wurde geöffnet und es trat ein junger Mensch ein, welcher zu den gewöhnlichen Gästen des Lokals gehörte. Die Dirnen sprangen sofort alle auf ihn und umringten ihn. »Ah, der Robert Barlemy!« riefen sie. »Willkommen, willkommen!«
Sie faßten ihn von allen Seiten und wollten ihn zu einem Sitze drängen, er aber wehrte ihnen entschieden ab und sagte: »Laßt mich, Ihr Mädels! Wir haben Nothwendigeres zu thun.« »Nothwendigeres? Was?« fragten zwölf Stimmen. »Kommt, und helft mir. Draußen vor der üre liegt ein Toter!« »Ein Todter! Oh! Ah! Mein Gott!« So erklangen zwölf Schreckensrufe durcheinander. »Ist’s wahr?« fragte die Wirthin erschrocken. »Ja,« antwortete der Gast. »Ich fiel beinahe über ihn hinweg.« »So muß man zur Polizei laufen. Der Todte muß fort!« »Nein,« sagte der Mann. »Zunächst muß er hier herein geschafft werden.« Die Wirthin stieß einen Ruf des Entsetzens aus. »Sind Sie verrückt!« rief sie. »Ein Todter zu uns? Was sollen wir mit ihm?« »Es kann ja noch Leben in ihm sein: es schien zwar, daß er todt sei, aber man muß sich doch überzeugen, ob es wirklich so ist. Eine Blutung sah ich nicht; im Uebrigen war er sehr fein gekleidet. Er scheint den höheren Ständen anzugehören.« »So mag man ihn bringen, aber nicht herein in den Salon, vielmehr nach dem hintern Zimmer!« »Nein,« sagte Mignon, die ein mitleidiges Herz besaß; »man trage ihn nach meiner Stube!« Der Gast trat mit dem Hausknechte hinaus auf die Gasse und hob mit Hilfe desselben den Grafen auf. Sie trugen ihn herein und nach dem kleinen Zimmer, welches Mignon bewohnte. Dort fand sich auch die Wirthin mit den Mädchen ein. »Er ist wirklich nicht verwundet,« sagte sie. »Wie hübsch,« meinte eins der Mädchen. »Noch jung,« eine Zweite. »Und so elegant,« eine Dritte. »Man muß nach einem Arzte schicken,« sagte die Wirthin.
»Halt, warten Sie!« sagte der Gast. »Er lebt.« »Er lebt?« riefen Alle zugleich. »Ja. Er ist warm, und sein Puls geht.« »Mein Gott, er schlägt die Augen auf,« sagte Mignon. Alfonzo kam allerdings jetzt zu sich und öffnete die Augen. »Ja, er lebt! Er ist gerettet! Er sieht uns!« rief es rundum im Kreise der Mädchen. Alfonzo mußte sich erst besinnen, was mit ihm geschehen war, dann fragte er: »Wo bin ich?« Seine Stimme klang ganz rauh von dem Würgen. »Sie sind in sehr guten Händen, Monsieur,« antwortete die Wirthin. »Wünschen Sie Etwas?« »Um einen Schluck Wein bitte ich.« »Den sollen Sie sofort haben. Aber darf ich fragen, wer Sie sind?« »Ich bin der Marchese Acrozza.« »Ein Marchese? O mein Gott, holt schnell ein Glas Wein, ein Glas vom Besten, oder vielmehr eine ganze Flasche! Schnell, schnell!« gebot die Wirthin. »Aber, Monsieur le Marchese, wie kommen Sie in eine solche Lage?« »Man hat mich gewürgt und niedergerissen.« »Und niedergerissen! Vielleicht gar garottirt?« »Was ist das?« fragte er. »Man würgt die Passanten, um sie zu berauben.« »Berauben, ah!« sagte er. Erst jetzt bemerkte er, daß ihm die Handschuhe abgezogen seien. Er griff in die Taschen und erschrak. »Sie erschrecken,« sagte die Wirthin. »Fehlt Ihnen Etwas, Monsieur?« »O, ja, leider!« stöhnte er. »Es fehlt mir Alles. Meine Brillantringe, Uhr mit Kette, sowie meine Börse mit einigen hundert Franken;
dann auch mein Portefeuille, das achtzehnhundert Franken enthielt.« »Das ist ja ein ganzes Vermögen,« jammerten die Anwesenden. »Ich möchte dies gern verschmerzen,« sagte er; »aber es enthielt auch ein Notizbuch mit sehr kostbaren Bemerkungen, die mir ganz unersetzlich sind.« »Welch’ ein Unglück! Aber da kommt der Wein. Trinken Sie, Monsieur.« Er nahm das Glas, und nun erst während des Trinkens ließ er sein Auge forschend über die Umgebung schweifen. Er bemerkte, in welch’ einem Hause er sich befand und fragte: »Wie komme ich zu Ihnen, Madame?« »Sie lagen vor unserer ür.« »Und Sie haben sich meiner angenommen?« »Ja. Dieser Herr fand Sie.« »Ich danke Ihnen. Wem gehört dieses Zimmer?« »Mir,« antwortete Mignon. »So bleiben Sie hier, während ich mich ein Wenig erhole. Die Andern aber bitte ich, sich nicht länger zu bemühen.« Die Mädchen verschwanden sofort mit der Wirthin und dem ersten Gaste, und Alfonzo befand sich nun mit Mignon allein, welche ihm gegenüber saß. Er verfiel in ein finsteres Nachdenken. Die Bemerkungen seines Notizbuches waren nicht so unersetzlich, wie er gesagt hatte, aber sie enthielten gewisse Enthüllungen, die er unter Umständen zu fürchten hatte. »Grämen Sie sich nicht, mein Herr,« bat das Mädchen nach einer Weile. »Vielleicht ist es möglich, den äter zu entdecken.« »Wer sollte ihn entdecken?« »Die Polizei. O, wir haben hier in Paris eine sehr schlaue Polizei.« »Wohin müßte man sich da wenden?«
»An die Mairie des Arrondissements; sie liegt zugleich hier an der Straße St. Honoré zwischen der Straße de l’Arbre Sec und der Rue du Roule.« »So werde ich dort Anzeige machen. Aber ich glaube nicht, daß es Etwas hilft. Dieser Garotteur wird sich nicht fangen lassen.« »So lassen Sie sich einen Vorschlag machen, Monsieur. Sie sagen, daß es Ihnen meist um das Notizbuch zu thun ist und machen in einigen Blättern bekannt, daß Sie den Diebstahl nicht verfolgen werden, wenn der Dieb wenigstens das für ihn nutzlose Taschenbuch an Ihre Adresse sendet.« »Ah,« sagte er, »der Gedanke ist gut!« »Ich glaube, daß Sie auf diese Weise Erfolg haben werden, denn diese Garotteurs sind zwar sehr gewaltthätige aber oft sonst gute Menschen.« »Meinen Sie?« »Ja,« sagte sie. »Ein Garotteur ist ehrenhafter als ein Taschendieb oder Einbrecher.« Das war nun allerdings eine eigenthümliche Ansicht, und darum sagte Alfonzo mit einem leichten Lächeln: »Das dürfte schwer zu beweisen sein.« »Nein, das ist leicht, wenn ich nur wollte.« »Ah! Erklären Sie sich, Mademoiselle!« »Nun,« sagte sie, leicht erröthend, »Sie wissen vielleicht nicht, in welch’ einem Hause Sie sich gegenwärtig befinden.« »Ich ahne es,« antwortete er. »So werden Sie auch glauben, daß hier Männer aller Stände verkehren, sogar Verbrecher, auch Garotteurs.« Sie dachte dabei an Gérard, ihren Geliebten, von welchem sie ganz genau wußte, daß er sich durch die Garotte seinen Unterhalt erwarb. »Und das sind gute Menschen?« lächelte er.
»Wenigstens Einer von ihnen. Er ist gut und treu und tapfer und verschwiegen. Er ist ein braver Kamerad, der zwar weiß, wie man einen festen Griff oder einen guten Hieb anzubringen hat, aber der Freund kann sich auf ihn verlassen.« Alfonzo horchte auf. Bei den Worten des Mädchens kam ihm ein Gedanke. Dieser Mensch war vielleicht mit andern Garotteurs bekannt und konnte ihm zu seinem Notizbuch verhelfen. Ja, noch weiter: Dieser Mensch war vielleicht auch später zu gebrauchen. »Kennen sich die Verbrecher unter einander?« fragte er. »Meist, und die Garotteurs sicher. Eine jede Abtheilung kennt ihre Angehörigen genau.« »Vielleicht könnte der, den Sie meinen, mir behilflich sein, mein Notizbuch wieder zu erlangen?« »Ah, Monsieur, das ist sehr leicht möglich.« »Wenn ich ihn nur einmal sprechen könnte! Kommt er öfters zu Ihnen?« »Ja, aber heute nicht, denn er war erst gestern da.« Alfonzo blickte sie schweigend an. Dann sagte er: »Aber, Mademoiselle, Sie sind unvorsichtig!« »In wiefern, Monsieur?« »Weil Sie mir solche Geheimnisse anvertrauen. Wie leicht könnten Sie sich selbst, Ihrem Hause und auch dem betreffenden Menschen schaden.« Sie lächelte unbesorgt. »Sie irren sich, mein Herr,« sagte sie. »Auch die Polizei kennt diese Leute, aber sie weiß, daß ein Garotteur nur bestraft werden kann, wenn er ertappt oder überführt wird.« »Wann wird dieser Mann wieder zu Ihnen kommen?« »Das ist unbestimmt.« »Ah, wenn ich wüßte, wo er zu treffen ist.« »Hm! Werden Sie ihn für seine Mühe belohnen?«
»Ja. Ich gebe ihm hundert Franken für das Portefeuille, und ihnen gebe ich fünfzig, wenn Sie mich zu ihm bringen.« »Monsieur, soll ich Sie führen?« »Ja, jedoch sogleich?« »Das ginge wohl, aber es ist mit Schwierigkeiten verknüpft, denn Madame läßt so spät kein Mädchen fort.« »Auch nicht gegen eine Belohnung?« »Dann vielleicht.« »So rufen Sie sie!« Das Mädchen ging und brachte die Wirthin mit. »Was wünschen Sie, Monsieur?« fragte diese. »Würden Sie mir diese junge Dame für eine kurze Zeit anvertrauen? Sie soll mich zu einer Person bringen, welche ich noch heute kennen zu lernen wünsche.« »Zu wem?« »Zu Gérard l’Allemand,« antwortete Mignon. »Ah,« sagte die Wirthin. »Du weißt ja, wo er zu finden ist. Ich werde es erlauben, Monsieur, wenn Sie dreißig Franken zahlen.« »Ich zahle sie.« »Aber Sie sind ja ausgeraubt worden!« »Ich habe meine Hauptkasse im Hotel. Ich werde mit dieser Demoiselle zunächst nach meinem Hotel fahren, um mich mit Geld zu versehen.« »Welches Hotel ist es?« »Hotel d’Aigle in der Rue de la Barillerie.« »Gut, ich vertraue Ihnen und gebe meine Erlaubniß.« Sie ging. Mignon fragte: »Aber wie steht es mit der Anzeige auf der Mairie?« »Diese werde ich unterlassen in der Hoffnung, daß Ihr Freund mir nützlich sein wird. Wie nannten Sie ihn?« »Gérard. d’Allemand.« »L’Allemand? Ist er denn ein Deutscher?«
»Nein, sondern er spricht deutsch. Seine Mutter war eine Deutsche.« Er horchte auf. Ein Garotteur war ein sehr brauchbarer Mann für ihn, und da dieser Garotteur des Deutschen mächtig war, so hielt er es für mehr als einen Zufall, mit ihm bekannt zu werden. Von der Anzeige auf der Polizei sah er ab, denn die Werthsachen konnte er verschmerzen, und es wäre ihm sehr peinlich gewesen, seine Notizen in den Händen der Behörde zu sehen. Dort hätten sie ihm leicht gefährlich werden können. »Sind Sie bereit, mit mir zu gehen?« fragte er. »Ja. Ich brauche nur einen Mantel überzuwerfen.« »So bitte ich Sie, eine Droschke holen zu lassen.« Sie that es, und bald rollten sie der Straße de la Barillerie zu, wo die Droschke vor dem Hotel d’Aigle halten mußte. Dort stieg Alfonzo aus, um sich nach seinem Zimmer zu begeben. Er öffnete den Koffer, um ihm neuen Geldvorrath zu entnehmen, zugleich aber auch einen Revolver für den Fall, daß er abermals in Gefahr gerathen könne. Hierauf setzte er mit Mignon seine Fahrt nach der Rue des Carmes fort. »Wo werden wir Ihren Freund finden?« erkundigte er sich. »In einer Schänke.« »Da wird man aber gar nicht ungestört mit ihm sprechen können!« »Kein Sorge, Monsieur. Es ist dafür gesorgt, daß Sie nicht beobachtet werden!« Sie ließ den Wagen an der Ecke der Straße des Noyers halten und führte ihn dann zu Fuße nach der Branntweinschänke. Sie war hier bekannt, denn ihr Geliebter hatte sie oft mit hierher genommen. Darum klopfte sie an den Schrank, und trat, als derselbe sich bewegte, in die verborgene Stube. »Donnerwetter, die Mignon!« rief der Wirth, als er sie erblickte.
»Weiß Gott, die Mignon!« stimmte Gérard bei. Doch im nächsten Augenblicke erbleichte er, denn er erkannte Alfonzo, den von ihm Garottirten, und sein erster Gedanke war natürlich, daß dieser auf irgend welche Weise erfahren habe, wer der äter sei und wo man denselben finden werde. »Alle Teufel, woher noch so spät?« fragte der Wirth. »Direkt von zu Hause.« »Und mit – mit einem Fremden?« In seinem Tone und Blicke lag ein Vorwurf, sie aber sagte rasch: »Keine Sorge, Etienne Lecouvert! Dieser Monsieur sucht meinen Gérard d’Allemagne.« »Was will er von mir?« fragte Gérard. Sein Auge glänzte halb besorgt, halb drohend. »Das sollst Du sofort erfahren. Setze Dich zu uns. Dieser Monsieur, welcher ein Marchese d’Acrozza ist, wird dafür sorgen, daß wir nicht dürsten.« »Ja,« meinte Alfonzo mit einem verbindlichen Lächeln. »Sie erlauben, daß ich dies thue.« Gérard nickte stumm. Er konnte noch nicht klug werden. Dieser Marchese that allerdings nicht so, als ob er wisse, wer ihn beraubt habe. »Haben Sie Wein?« fragte Alfonzo den Wirth. »Nein,« sagte dieser. »Bei mir trinkt man Absynth oder ein Glas Bier aus dem Elsaß. Aber wenn dem Herrn Marchese der Wein lieber ist, so werde ich welchen besorgen.« Er hatte Wein im Keller, verleugnete dies aber, um ihn theurer anzubringen. »Wird dies nicht zu schwierig sein?« fragte Alfonzo. »Nein. Wir haben eine Weinstube in der Nähe, welche wohl noch offen ist. Welche Sorte wünschen Sie, mein Herr?« »Was giebt es?« »Am liebsten trinkt man dort einen rothen Roussillon.«
»Nun gut, so lassen Sie ein Dutzend holen. Was wir nicht trinken, wird trotzdem nicht verderben. Hier sind fünfzig Franks!« Er zog die Börse und entnahm ihr die angegebene Summe. Gérard Mason erstaunte. Woher hatte dieser Mann das Geld? Hatte er zwei Börsen einstecken gehabt? Der Wirth gab das Geld seinem ürsteher, welcher dabei einen heimlichen Wink bekam, was er zu thun habe. Der Mensch begab sich in den eigenen Keller und setzte in einen Korb zwölf Flaschen eines Rothweines, welchen Etienne Lecouvert gewöhnlich für achtzig Centimes verkaufte. Unterdessen hatten sich die Gäste an einen der Tische gesetzt, und auch der Wirth nahm bei ihm Platz. »Also Du suchtest mich?« fragte Gérard, welchen es drängte, so bald wie möglich Klarheit zu erhalten. »Ja,« sagte sie. »Dieser Grundbesitzer will mit Dir sprechen, über ein Geschäft. Willst Du Dir hundert Franken verdienen, Schatz?« Gérard zeigte lachend seine weißen Zähne. »O, tausend, wenn es sein kann,« sagte er. »Einstweilen nur hundert. Dieser Herr wird sie Dir zahlen. Uebrigens giebt er mir bereits fünfzig Franken dafür, daß ich ihn zu Dir gebracht habe.« Sie blickte Alfonzo dabei schalkhaft aber erwartungsvoll an, so daß dieser schnell in die Tasche griff. »Ah, Mademoiselle, ich hatte das fast vergessen,« sagte er. »Hier nehmen Sie!« Er legte ihr die Summe auf den Tisch. »Ich danke Ihnen!« sagte sie. »Ein prompter Zahler wird auch gut bedient. Sie werden sich auf Gérard l’Allemand verlassen können.« »Das sage ich selbst auch,« meinte der Schmied. »Aber darf ich erfahren, um was es sich handelt? Es naht bald die Stunde, in welcher die Stammgäste kommen, und dann sind wir nicht mehr ungestört.«
»Die Sache ist nämlich die, daß dieser Herr garottirt worden ist,« sagte Mignon. »Vor vielleicht einer Stunde geschah es in der Rue de la Poterie.« »Das ist ja dort, wo Du wohnst, Mignon!« »Allerdings. Es ist sogar gerade vor unserer üre geschehen.« »Nicht möglich!« Er spielte den Erstaunten sehr gut. Der Wirth zog die Brauen zusammen und warf ihm einen unbemerkten Blick zu, welcher gar nicht sprechender sein konnte. »Nicht möglich, sondern sogar wirklich,« sagte sie. »Er lag ohne Leben vor der ür, und wir haben ihn nach meinem Zimmer geschafft.« »Welche Barmherzigkeit!« meinte der Wirth ironisch. »Und man hat ihn unbarmherzig bestohlen!« »Das muß man anzeigen!« meinte der Wirth. Gérard aber wandte sich zu Alfonzo: »Aber, mein Herr, wie kam es, daß man Sie überfiel?« »Es war kein Mensch auf der Straße,« antwortete der Gefragte, »und ich bin hier fremd. Ich hatte keine Ahnung, daß mir Gefahr drohen könne.« »Des Nachts muß Jedermann vorsichtig sein; das müssen Sie sich merken. Sie wurden plötzlich überfallen?« »Nein. Es kam ein Passant hinter mir her, ich hörte ihn kommen; also eigentlich plötzlich ist es nicht geschehen.« »So waren Sie sehr unvorsichtig. Des Nachts blickt man sich um, wenn man von Jemandem verfolgt wird. Was geschah weiter?« »Ich ging zur Seite, um ihn vorüber zu lassen, aber er faßte mich bei der Gurgel und drückte sie so zusammen, daß ich den Athem und die Besinnung verlor.« »Alle Teufel!« sagte der Wirth. »Das ist ein kräftiger, resoluter Kerl gewesen!«
»Ja, Kraft hatte er,« nickte Alfonzo. »Als ich erwachte, befand ich mich in dem Zimmer dieser Demoiselle und bemerkte, daß ich beraubt worden sei.« »Was hat man Ihnen genommen?« fragte der Wirth lauernd. »Meine fünf Ringe, dann die Uhr mit Kette, die Börse, welche über zweihundert Franken enthielt, und endlich das Portefeuille, das achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen barg.« Der Wirth sperrte vor Erstaunen den Mund auf. »Dieser Hallunke!« rief er. »Zweitausend Franken in Geld! Und wer weiß, wie er den armen Teufel, an den er die Pretiosen verkauft, drückt und schindet! Der Teufel soll ihn holen!« Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Schmied, den aber zum Glück weder Alfonzo noch das Mädchen bemerkte. »Aber, was hat dies mit mir zu thun?« fragte Gérard gespannt. »Ich wollte erst Anzeige machen –« meinte Alfonzo. »Ganz recht! Wird nur nicht viel nützen.« »Das dachte ich auch. Uebrigens kann ich das Geld verschmerzen, aber um das Portefeuille ist es mir zu thun. Es enthält sehr werthvolle Notizen. Darum werde ich in einigen Blättern den Garotteur auffordern, mir wenigstens das Portefeuille zuzustellen. Er kann dies ja ganz ohne Gefahr für sich thun, und das Uebrige mag er behalten.« »Hm!« brummte der Wirth. »Ohne Gefahr es thun zu können, daran glaube ich nicht. Wie sollte dies möglich sein?« »Er braucht es ja nur zur Post zu geben!« »Ja. Und die Postbeamten haben Ihre Annonce auch gelesen, und werden, sobald sie die Adresse lesen, den Ueberbringer festhalten. Denn in Briefform könnte die Tasche doch nicht in den Kasten geworfen werden.« »Das ist richtig!« meinte Alfonzo nachdenklich. »Aber er könnte sie mir doch direkt senden.« »Durch einen Boten, den Sie vielleicht festhalten?«
»Das werde ich nicht thun.« »Das wird er nicht glauben. Solche Leute pflegen sehr mißtrauisch und vorsichtig zu sein.« »Er kann ja einen Boten wählen, der ihn gar nicht kennt!« »Der ihn aber möglicher Weise wieder erkennen wird! Nein, ich glaube nicht, daß er so unvorsichtig sein wird.« »Ich glaube es auch nicht,« stimmte der Schmied bei. »Er wird sich den Teufel daraus machen, ob Sie das Portefeuille brauchen oder nicht.« »Nun, so bleibt mir noch ein letzter Weg, Mademoiselle hat mir gesagt, daß Sie vielleicht im Stande seien, gewisse Erkundigungen einzuziehen – –« »Ah!« machte es der Schmied mit einem finsteren Blick auf das Mädchen. »Ja, daß Sie vielleicht besser als ein Polizist im Stande seien, den äter zu erfahren.« »Und Ihnen anzuzeigen?« fragte Gérard rasch. »Nein, das verlange ich nicht. Vielleicht aber könnten Sie mein Portefeuille verschaffen.« // // »Hm! Wie viel ist es Ihnen werth?« »Hundert Franks.« »Das ist zu wenig. Wenn ich den Mann ja finden sollte, so wird er also erfahren, daß das Buch einen Werth für den Besitzer hat. Er wird mehr als hundert Franken von mir fordern. Was bleibt mir dann für meine Mühe?« »Gut, so wollen wir zweihundert sagen!« »Das mag eher sein, obgleich ich meine gewissen Gründe habe, anzunehmen, daß ich den Mann nicht entdecken werde.« »Darf man diese Gründe erfahren?« »Ja. Der Hauptgrund ist, daß ich nicht nachforschen kann.«
»Warum nicht?« »Ich muß arbeiten, um zu leben; zum Nachforschen aber gehört Zeit und Geld, und ich habe keines von Beiden.« »So werde ich Ihnen hundert Franken auf Abschlag zahlen.« »Das läßt sich hören!« lachte Gérard. »Hier sind sie.« Der Schmied steckte das Geld gleichmüthig ein und sagte: »So werde ich bereits morgen früh sehen, was sich thun läßt. Wohin habe ich meine Nachrichten zu bringen?« »Nach dem Hotel d’Aigle, Rue de la Barillerie.« »Schön! Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber Mühe werde ich mir geben.« Damit war die Angelegenheit genügend besprochen, und man begann nun, dem Wein sein Recht zu geben. Es war auch Zeit gewesen, da sie nicht länger allein blieben. Es begann jetzt die Zeit, in welcher die Industrieritter verschiedenster Art zu Etienne Lecouvert kamen, um ihre nächtliche Beute zu verwerthen. Alfonzo sah sie kommen, Einen nach dem Anderen, und wußte nun, in welch’ ein Lokal er gerathen sei. Es wollte ihm in dieser Gesellschaft etwas ängstlich werden, und darum brach er bald auf, mußte aber dem Wirth versprechen, das Geheimniß seines Lokales nicht zu verrathen. Als er fort war, wandte sich der Schmied an sein Mädchen: »Dummkopf, was fällt Dir ein, diesen Kerl hierher zu bringen!« »Er dauerte mich,« sagte sie. »Der – – –?« »Ja. Er sieht so vornehm und anständig aus.« »Vornehm und anständig? Hahaha! Ich sage Dir, daß er ein Spitzbube ist, zehnmal gefährlicher als ich und hundert Andere.« »Das ist nicht zu glauben!« »O doch! Ich habe ihn bei Papa Terbillon gesehen.« »Unmöglich! Bei Terbillon verkehren ja nur –« Sie stockte.
»Nur Spitzbuben – – –, willst Du sagen?« lachte er. »Du hast Recht, und dieser sogenannte Marchese d’Acrozza ist auch einer, weil er falsche Haare, falschen Bart und falschen Teint trägt. Sogar seine Züge sind verändert worden. Er ist ursprünglich nicht schwarz, sondern dunkelblond.« »Das hat ihm Papa Terbillon gemacht?« »Ja, und diesen Menschen führst Du zu mir!« »O, ich ahnte doch nicht – –« »Sei still. Du hast ihm sogar gesagt, daß ich ein Garotteur bin.« »Gérard – –!« »Gestehe es! Du hast ihm gesagt, daß ich den äter entdecken werde, weil ich als ein Garotteur sämmtliche Kameraden kenne.« »Vergieb mir! Ich wollte mir gern die fünfzig Franks verdienen und wollte auch haben, daß Du die hundert bekommst. Ah, da fällt mir ein, daß er mir die dreißig Franks für Madame nicht gegeben hat!« »Madame forderte dreißig?« »Ja. Was thue ich, um sie zu erhalten?« »Ich werde sie Dir geben und sie morgen von ihm zurück verlangen.« »Ich danke Dir! Wird es Dir Schaden machen, daß ich ihn zu Dir geführt habe?« »Hm, das muß erst noch abgewartet werden.« In diesem Augenblicke winkte der Wirth ihn zu sich hin an den Schänktisch. »Weiß Mignon Alles?« fragte er ihn. »Nein.« »Also Du selbst bist es gewesen, Hallunke! Was dachtest Du, als er eintrat?« »Hm, ich glaube fast, daß ich für den ersten Augenblick erschrokken war, dann aber stand es fest: ich hätte ihn kalt gemacht, wenn er gewußt hätte, daß ich es war, der ihn erleichterte.«
»Ich traue es Dir zu. Ich traue Dir überhaupt seit heute Abend Alles, jede Schlechtigkeit, ja, jeden Verrath gegen Freunde zu!« »Habe ich Dich verrathen?« »Nein, aber betrogen im höchsten Grade!« »Du willst doch nicht sagen, daß Du mir für die Sachen zu viel bezahlt hast?« »Ja, gerade dies will ich sagen!« »So gieb sie mir wieder heraus; Du erhältst Dein Geld sofort retour!« »Das will ich nicht an Dir thun!« sagte der Wirth verlegen. »O bitte, thue es getrost an mir!« antwortete der Schmied. »Es wird mein Schade ganz und gar nicht sein.« »Du solltest mit tausend Franks zufrieden sein!« »Fällt mir gar nicht ein!« »Du hast ihm ja über zweitausend Franks baar abgenommen!« »Das hat mich Arbeit gekostet!« »So gieb wenigstens die hundert Franks, welche er Dir vorhin auszahlte.« »Welches Recht hast Du daran?« »Ich bin der Eingeweihte; ein Wort von mir hätte Dich verrathen.« »Und Dich mit, Alter! Nein, nein, von mir bekommst Du keine Centime heraus. Ich liebe die glatten Geschäfte. Uebrigens hast Du an Deinem Wein vierzig Franks verdient, abgerechnet auch, daß wir nur drei Flaschen getrunken haben und Du also, den heutigen Preis gerechnet, für fast vierzig Franks übrig behältst. Gute Nacht! Ich muß Mignon nach Hause bringen.« »Wann kommst Du wieder?« »Vielleicht morgen.« »Dann gute Nacht, Geizhals!« Der Schmied verließ mit seiner Geliebten das Lokal. Unterwegs fragte er sie:
»Mignon, wie viel bist Du Deiner Madame schuldig?« »Gegen vierhundert Franks.« »Wenn Du die bezahlst, so bist Du frei?« Sie blieb vor Erstaunen stehen und blickte ihn an. »Wie kannst Du so fragen!« sagte sie. »Du weißt ja, daß ich Dich sehr lieb habe!« »Und daß Du Dich sehnest, ein braves Mädchen werden zu können?« »Ja. Ich gebe viel, sehr viel darum, wenn ich von Madame fort könnte. Ich kann nähen, häckeln und sticken; ich kann waschen und bügeln; ich würde nicht Hunger zu leiden brauchen. Ich würde Tag und Nacht arbeiten, damit auch Du die gefährliche Garotte nicht mehr brauchtest. Aber woher diese vierhundert Franks nehmen!« »Und Du würdest mich wirklich lieb behalten und mir nicht nachtragen, daß ich ein Garotteur gewesen bin?« »Ich würde nicht daran denken, denn Du sollst ja auch vergessen, was ich war.« »Nun wohl, Mignon: ich habe die vierhundert Franks.« »Ist’s wahr, ist’s möglich?« fragte sie ungläubig. »Aber von wem?« »Von diesem Marchese Acrozza.« »Du scherzest! Er hat Dir ja nur hundert gegeben.« »Nein, er hat mir viertausend gegeben.« Sie blieb abermals stehen, beinahe starr vor Erstaunen. »Das begreife ich nicht,« sagte sie. »Habe ich Dir nicht erzählt, daß ich ihn bei Papa Terbillon gesehen habe?« »Allerdings.« »Nun, dort sah ich seine Kette, seine Ringe und die Banknoten, welche er bei sich trug.« »Weiter, Gérard, weiter,« sagte sie dringend.
»Papa Terbillon hatte mich als Garotteur engagirt für täglich zehn Franken; er gebot mir, diesen Marquis oder Marchese nicht aus den Augen zu lassen –« »O, nun ahne ich Alles. Du selbst hast ihn vor unserm Hause niedergeschlagen. Hätte ich das gewußt.« »Ich habe ihm sein Geld abgenommen und seine Pretiosen bei Etienne Lecouvert verkauft; ich bin im Besitz von viertausend Franks.« »Mein Gott, welch’ ein Glück!« Das Mädchen dachte nicht daran, daß dieses Glück eine sehr verbrecherische Grundlage habe. »Ich werde morgen kommen, und Dich loskaufen.« Sie fiel ihm entzückt um den Hals. »Gérard, ich schwöre Dir, daß Du es nie bereuen sollst,« sagte sie. »Auch ich werde nichts Böses mehr thun,« gelobte er. »O mein Gott, wie gut das ist!« »Ja. Auf diesen Gedanken hat meine Schwester Annette mich gebracht. Ich habe Dir bereits erzählt, daß sie in den Fluß sprang. Jetzt ist sie wieder gesund. Heute war ich bei ihr. Sie wohnt bereits bei Professor Letourbier, und ich habe eingesehen, daß es viel besser und vortheilhafter ist, dem Laster adieu zu sagen.« »Das habe ich längst gedacht. Aber – Papa Terbillon gehören doch eigentlich die Viertausend.« »Hm, er mag sie sich holen.« »Er wird sich rächen.« »Vielleicht erfährt er gar nicht, daß mir der Ueberfall gelungen ist.« »O, er ist schlau; er erfährt Alles.« »Nun, ich fürchte ihn dennoch nicht. Er wird mich allerdings verfolgen, aber ich werde Paris verlassen, so daß er mich nicht findet. Du gehst mit mir.«
»O Gérard, welche Seligkeit! Wohin wirst Du gehen?« »In die Provinz. Du wirst dort meine kleine Frau sein. Du wirst für die Leute nähen und sticken, und ich werde als Schmied in die Fabrik gehen. Annette soll nicht sagen, daß sie einen Bruder habe, dessen sie sich schämen muß.« »Und Dein Vater?« »Der geht mit uns.« »Gérard, werden wir dies wagen dürfen?« »Ja. Mein Vater war ursprünglich gut. Der Gram um den Tod der Mutter hat ihn haltlos gemacht, und der Schnaps trug das Uebrige dazu bei. Ich werde streng mit ihm sein, und so wird er thun müssen, was ich will.« »Ich füge mich in Alles, mein Gérard: nur bitte ich Dich, mich wirklich aus diesem Hause zu holen; ich halte es da nicht länger aus.« »Habe keine Sorge; ich komme noch am Vormittage.« Während dieses Gespräches waren sie bereits über die Ile de la Cité hinübergekommen, und bald standen sie vor der Wohnung des Mädchens. Es war noch Licht im Salon, denn in diesen Häusern pflegt man erst spät schlafen zu gehen. »Gehst Du mit herein?« fragte sie. »Nein. Ich sehne mich nach Ruhe.« »Ich werde nicht ruhen können. Ich gehe sogleich auf mein Zimmer und schließe mich ein, um ungestört an unser Glück denken zu können.« Sie nahmen Abschied. Gérard hatte einen weiten Weg, um seine Wohnung zu erreichen. Er fand dort seinen Vater vollständig betrunken auf der Matratze liegen und legte sich neben ihn, ohne ihn zu wecken. Er war bereits früh wieder munter und ging vor allen Dingen, um der Geliebten sein Wort zu halten.
Sie hatte wirklich gar nicht geschlafen und empfing ihn mit großer Freude. »Ist’s denn wirklich wahr, daß ich frei sein soll?« fragte sie. »Ich komme ja deshalb.« Sie fiel ihm um den Hals, und dabei hatte sie ein ganz anderes Aussehen als früher. Sie erschien ihm so lieblich, so züchtig, daß er sich ganz glücklich zu fühlen begann. »Wo ist Madame?« fragte er. »Sie schläft noch, sie wecken darf man aber nicht; sie wird sehr zornig.« »So warten wir!« erklärte er. Sie setzten sich neben einander und begannen von ihrer Zukunft zu sprechen. »Du wirst gleich jetzt das Geld bezahlen, und mich auch sofort mitnehmen?« fragte sie ihn. »Natürlich! Wirst Du überall hingehen, wohin ich Dich führe?« »Ja, gewiß!« »So höre, was ich mir ausgesonnen habe: Wir können noch nicht zusammen wohnen.« »Nein,« sagte sie verschämt. »Einestheils weil es sich nicht schickt und sodann auch aus Vorsicht vor Papa Terbillon.« »Ja, er wird Dich suchen.« »Und wenn er bemerkt, daß wir zusammenziehen, so wird er wissen, daß ich den Marchese garottirt habe. Uebrigens wollen wir ja nach der Provinz gehen, und da muß ich vorher hin, um mir Wohnung und Arbeit auszumachen. Da muß ich Dich an einem Orte unterbringen, wo ich Dich sicher weiß; doch denke ich, daß Du nicht gern hingehst!« »Ist der Ort schlimm?« »Nein, gut. Nur für die Bösen ist er schlimm.« »So sage es; ich fürchte mich nicht!«
»Hast Du einmal von Häusern gehört, in denen Mädchen aufgenommen werden, welche von der Sünde nichts mehr wissen wollen?« »Ja. Man nennt sie Magdalenenhäuser.« »Und weißt Du, wie das Leben in diesen Häusern ist?« »Es soll ernst sein. Die Zöglinge arbeiten und beten.« »Ja, aber sie sind dort sicher vor allen Verfolgungen und Versuchungen. Würdest Du Dich vor einem solchen Hause fürchten?« »Nein. Wer es ernst mit seiner Besserung meint, der braucht sich doch nicht zu fürchten.« »Nun wohl, in einem solchen Hause solltest Du wohnen, bis ich eine Heimath für uns gefunden habe. Willst Du?« »Gérard, ich will. Ich freue mich auf so ein stilles Leben.« Sie sah ihn so aufrichtig und gut an, daß er sie an sich zog und herzlich küßte. »Wir werden sehr glücklich sein, denn wir werden uns viel vergeben,« sagte er. In dieser Weise unterhielten sie sich fort, bis die Madame kam. Sie wunderte sich, den Schmied schon bei sich zu finden. »Mignon ist gestern gar nicht in den Salon gekommen, sondern gleich schlafen gegangen,« sagte sie. »Wie steht es mit meinen dreißig Franks?« »Hier sind sie,« sagte das Mädchen, indem sie das Geld auf den Tisch legte. »Hast Du Dir auch Etwas verdient?« fragte sie die Wirthin. »Ja, einen Führerlohn von fünfzig Franks.« »Teufel! Das ist viel!« »Ja, und Gérard hat gar hundert bekommen dafür, daß er den Garotteur entdecken helfen soll.« »Wenn das so fort geht, so werdet Ihr reich, und Du wirst nicht mehr bei mir bleiben wollen.« »Das kann möglich sein.«
»Ah, Du sehnst Dich fort?« fragte die Madame, einigermaßen beleidigt. »Wir möchten gern Mann und Frau werden.« »Das hat gute Weile. Verdient Euch erst das Geld dazu. Heirathen ist theuer. Mir allein hast Du dreihundertachtzig Franks zu zahlen, ehe Du von mir fort darfst.« »Dreihundertachtzig?« fragte Gérard rasch. Er wußte, daß er sie jetzt schnell beim Wort halten müsse, da später die Rechnung jedenfalls eine weit höhere geworden wäre. So aber ahnte die Wirthin nicht, daß das Mädchen wirklich schon im Begriffe stehe, fortzugehen, und darum antwortete sie: »Ja, dreihundertundachtzig.« »Das ist wohl zu viel, Madame!« sagte der schlaue Schmied. »Ich bitte, mir es vorzurechnen.« »Ah, Sie glauben, daß ich meine Mädchen übervortheile?« »Nein, aber ich möchte gern wissen, wie eine solche Summe zusammenkommen kann.« »Sie werden es gleich erfahren!« Sie holte ein Buch herbei und zog aus demselben alle das Mädchen betreffenden Posten aus. »Nun addiren Sie selbst!« sagte sie. Der Schmied rechnete genau nach und sagte dann: »Wirklich, es stimmt, genau dreihundertachtzig Franks!« »Nicht wahr?« sagte die Wirthin triumphirend. »Glauben Sie nun, daß ich ehrlich bin?« »O, Madame, das habe ich stets geglaubt. Also sobald Mignon diese Summe bezahlen könnte, wäre sie frei und könnte sofort gehen?« »Gewiß!« Da griff er in die Tasche, zog ein Portemonnaie hervor und sagte: »Nun gut, so wollen wir sogleich bezahlen.«
Die Wirthin riß die Augen vor unendlichem Erstaunen weit auf. »Bezahlen?« rief sie, als ob sie ein Wunder sähe. »Aber das ist ja gar nicht möglich, denn woher wollen Sie das viele Geld haben?« »O, wir haben es; das ist genug.« »Aber, ich begreife nicht –« »Es ist genug, wenn ich es begreife, Madame! Ich hatte bereits Etwas gespart, dann bekam ich gestern hundert und Mignon bekam fünfzig Franks; das machte die Summe voll. Hier ist sie!« Er zählte das Geld auf den Tisch. »Mein Gott,« rief sie. »Sie will also fort, wirklich fort? Mein liebstes, mein hübschestes Mädchen!« »Eben deshalb heirathe ich sie, weil sie hübsch ist.« »Das kann ich nicht zugeben,« zürnte sie, »denn Sie haben mich überrascht, überrumpelt. Sie haben mich überlistet. Ich hatte keine Ahnung davon, daß sie fort wollte!« »So wissen Sie es nun jetzt!« »Ja, aber die Rechnung wird anders, und zwar höher. Ich habe hier viel zu wenig angerechnet.« »Sie werden es aber doch gelten lassen müssen,« sagte der Schmied bestimmt. »Wer will mich zwingen?« fragte sie, indem sie sich drohend erhob. »Ich, Madame!« antwortete er ruhig. »Und wie? wenn ich fragen darf!« »Das will ich Ihnen erklären: Sie betreiben ein verbotenes oder höchstens sehr ungern geduldetes Gewerbe. Ein jedes Mädchen, welches wünscht, Sie zu verlassen, steht unter dem Schutze der Polizei. Sie müssen ein jedes Mädchen trotz aller Schulden sofort entlassen. Ich nun aber will ehrlich sein und Sie bezahlen. Nehmen Sie das Geld nicht, so zwingen Sie mich, unter zwei Wegen denjenigen zu wählen, welcher mir der vortheilhafteste zu sein scheint!«
»Ah! Welche wären diese Wege?« »Entweder lasse ich Ihre Rechnungen gerichtlich prüfen, und das würde nur von großem Nachtheile für Sie sein, da die Herren vom Gerichte manche Angabe streichen, oder wenigstens reduziren würden –« »Und der andere Weg?« »Ich zahle Ihnen gar nichts, nehme aber Mignon mit und stelle sie unter polizeilichen Schutz. Sie erhalten dann keinen Centime. Wählen Sie!« Sie sah ein, daß er Recht hatte, aber sie ergab sich doch noch nicht. »Sie sind schlecht!« rief sie grollend. »Und Sie unklug!« »Ich werde mich rächen! Ich werde ihnen bei der Polizei zuvorkommen!« »Womit?« fragte er lächelnd. »Ich werde verrathen, daß Sie ein Garotteur sind!« »O, Madame, das weiß die Polizei bereits sehr gut. Man wird sich freuen, daß ich im Begriffe stehe, ein ehrlicher Mann zu werden und auch meine Geliebte zu einer ehrlichen, braven Frau zu machen. Nehmen Sie das Geld, oder nicht?« »Ich nehme es nicht,« trotzte sie. »So stecke ich es wieder ein und nehme trotzdem Mignon mit!« Er that, als wolle er die Summe wieder einziehen; da aber griff sie schnell zu und strich das Geld in ihre Tasche. »Halt!« sagte sie. »Ich sehe, daß Sie keinen Verstand annehmen, und darum werde ich großmüthig sein. Aber Eines müssen Sie noch zahlen. Der Marchese hat gestern seine Flasche Wein nicht bezahlt, die kostet zehn Franks.« »Ich gebe fünf.« »Zehn!« »Gut, so gehen Sie selbst zu ihm. Mich geht das nichts an!«
»Gérard Mason, Sie haben keine Bildung!« rief sie. »Wissen Sie nicht, wie man eine Dame behandelt?« »Man giebt ihr, was sie verlangt; dennoch handle ich in diesem Falle aber lieber ohne Bildung.« »Gut, so zahlen Sie fünf!« »Hier sind sie. Mignon, packe ein!« Er legte das Fünffrankenstück auf den Tisch, und das Mädchen ging, um ihre Effekten in den Koffer zu legen. »Wo werden Sie mit ihr hingehen?« fragte ihn die Wirthin. Er zuckte die Achseln. »Das werde ich Ihnen nicht sagen,« antwortete er. »Warum nicht?« »Mignon geht von hier fort, und mit diesem Schritte hat sie mit der Vergangenheit gebrochen und ein neues Leben begonnen. Es sollen alle Fäden zerrissen sein.« »So wird man sie niemals wiedersehen, und Sie auch nicht?« »Nein.« »So sind Sie ein Undankbarer, und ich werde Sie ganz und gar zu vergessen suchen!« »un Sie das; ich bitte darum!« Er ging, um eine Droschke zu holen. Als diese kam, war Mignon fertig. Sie luden den Koffer auf und stiegen ein. Sie fuhren fort, ohne dem Hause der Sünde einen einzigen Blick zuzuwerfen. – – Es war am Nachmittage desselben Tages, als Alfonzo de Rodriganda, welcher sich hier Marchese d’Acrozza nannte, in seinem Zimmer saß und in banger Sorge an seine Brieftasche dachte. Da wurde ihm vom Kellner ein Schmied, Namens Gérard gemeldet. »Lassen Sie ihn eintreten!« sagte er schnell. Der Garotteur kam herein und verbeugte sich sehr höflich. »Ah, endlich!« sagte Alfonzo. »Haben Sie geforscht und gefunden?«
»Ah, das geht nicht so schnell, mein Herr. Diese Art Leute gehen sehr vorsichtig zu Werke.« »Also noch gar nichts?« »Ich habe Gelegenheit gehabt, einem der Garotteurs einen kleinen Dienst zu erweisen, und da er sich mir da zum Gegendienst verpflichtet fühlt und diese Leute einander Alle kennen, so glaubte ich Hoffnung zu haben –« »Papperlapapp!« unterbrach ihn der Graf. »Machen Sie mir nichts weiß! Ich weiß genau, daß Sie selbst Garotteur sind.« »Wirklich?« fragte der Schmied. »Von wem wissen Sie es?« »Von Ihrem Mädchen.« »Schön, ich gebe es zu, Monsieur. Zugleich aber erkenne ich auch, daß man sich auf Sie nicht verlassen kann, denn Sie sind unvorsichtig und plauderhaft.« Der Graf trat stolz einen Schritt zurück. »Was wagen Sie!« rief er. »Ich bin ein Marchese!« »Und ich ein Garotteur!« Diese vier Worte waren in einem Tone gesprochen, welcher dem Grafen Respekt einflößte. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. »Daß ich Jedem die Wahrheit sage, er mag sein, wer er will. Warum mußten Sie mir sagen, daß ich ein Garotteur bin? Warum mußten Sie es mich wissen lassen, daß mein Mädchen so unvorsichtig gewesen ist, mich Ihnen zu verrathen? Kein Mensch hat Sie gezwungen, und irgend einen Nutzen haben Sie auch nicht davon!« Alfonzo begann, Respekt vor diesem Mann zu bekommen. »Er paßt für Dich; er ist kühn, rücksichtslos und verschwiegen!« dachte er, und laut fügte er hinzu: »Sie haben Recht, Gérard; ich war unvorsichtig. Also, was haben Sie erfahren?«
»Ich will offen gestehen, daß ich alle Garotteurs der Hauptstadt kenne. Ein Jeder hat seinen bestimmten Bezirk, in welchen ein Anderer nur ausnahmsweise einmal kommt; daher wissen wir stets mit ziemlicher Gewißheit zu sagen, wer diese oder jene Garotte unternommen hat. Ich habe nun heute früh den Inhaber des Bezirks, in welchem Sie beraubt wurden, aufgesucht; aber er ist es nicht gewesen, er liegt krank. Ich bin nun weiter forschen gegangen und glaube, den Richtigen gefunden zu haben.« »Ah, welch ein Glück!« »Bitte, nicht sanguinisch sein! Ich sagte, ich glaube, den Richtigen gefunden zu haben. Ich muß mich zunächst überzeugen. Darf ich die Frage aussprechen: Sie waren gestern Abend im eater, und besuchten dann ein Weinhaus in der Rue Montorgueil, von der Sie durch die Rue de la Tonnellerie gingen?« »Ja, es ist so, wie Sie sagten.« »Und bogen von da in die verhängnißvolle Straße de la Poterie ein?« »Das stimmt! Woher wissen Sie das?« fragte der Graf schnell. »Derjenige, den ich im Verdacht habe, der äter zu sein, war auch im eater, auch in demselben Weinhause und ist dann denselben Weg gegangen. Er theilte es mir mit, ohne zu ahnen, was ich eigentlich bei ihm wollte.« »Ah, er ist es, er ist es! Haben Sie ihn gefragt?« »Nein; das wäre sehr unvorsichtig!« »Aber, was kann mir das Uebrige nützen?« »Sorgen Sie sich nicht! Ich habe ihm von Ihrem Ueberfalle erzählt. Er that natürlich so, als ob er gar nichts davon wisse.« »Sagten Sie, daß ich keine Anzeige gemacht habe, und ihn nicht bestrafen lassen will; vielmehr daß er die Werthsachen behalten kann, da es mir nur auf die Brieftasche ankommt?« »Ja.« »Und was antwortete er?«
»Ich erzählte natürlich, daß ich Sie getroffen hätte, Monsieur, und daß ich dies Alles aus Ihrem eigenen Munde erfahren hätte. Er wußte natürlich sofort, daß ich ihn für den äter hielt und daß ich die Absicht hatte, ihn zur Herausgabe des Portefeuilles zu bewegen; aber er war vorsichtig; er gestand nichts ein; er that, als wisse er von nichts. So viel aber habe ich ganz gewiß erreicht, daß er das Portefeuille aufbewahrt, wenn er es nicht vielleicht bereits vernichtet hat.« »Aber was nützt mir dies Aufbewahren? Haben muß ich es!« »Dies Aufbewahren nützt Ihnen sehr viel, Monsieur. Sie können von dem Manne doch nicht verlangen, daß er so mir nichts Dir nichts gesteht, daß er es gewesen ist, und mir dann die Brieftasche giebt.« »Nein.« »Sie können auch nicht verlangen, daß er die Brieftasche umsonst herausgiebt, da er ja nun weiß, welchen Werth sie für Sie hat.« »Nein. Aber ich will ihn ja bezahlen!« »Richtig. Sie werden jedoch zugeben, daß er versuchen wird, möglichst viel zu erlangen.« »Wenn das, was ich geboten habe, noch nicht langt, so gebe ich mehr.« »Gut. Ich werde ihn heute abermals besuchen.« »un Sie Ihr Möglichstes; ich werde dankbar sein. Vielleicht habe ich dann später etwas noch Lohnenderes für Sie; ich werde noch mit Ihnen darüber sprechen, sobald wir mit dieser Angelegenheit zu Ende sind.« »Dann wird es vielleicht zu spät sein, weil ich Paris bereits in den nächsten Tagen verlasse.« »Wirklich?« »Ja. Ich ziehe in die Provinz.« »Das ist mir nicht lieb – das ist mir unangenehm,« sagte der Graf sinnend.
»Vielleicht entschließen Sie sich zu einer früheren Mittheilung!« »Hm, ja, setzen Sie sich!« Der Schmied nahm in gespannter Erwartung Platz; der Graf schritt einigemal hin und her und sagte dann: »Ein Garotteur kann Blut sehen?« »Haha!« lachte Gérard statt aller Antwort verächtlich. Er wußte, daß Das, was der Graf von ihm verlangen würde, nur ein Verbrechen sein könne; er war fest entschlossen, es nicht zu begehen, aber ebenso entschlossen war er auch, alle sich ihm bietenden Vortheile auszunutzen. Er wollte einen neuen Hausstand gründen, und dazu war vor allen Dingen Geld nöthig. »Es kann vorkommen, daß ihm eins seiner Opfer unter den Händen stirbt, trotzdem er dies eigentlich gar nicht bezweckt hat?« »Ja, das kommt wohl vor, Monsieur.« »Er bebt also vor einem Mord nicht zurück?« »Fällt ihm nicht ein. Alle Menschen müssen sterben!« Der Schmied versuchte, sich ein möglichst gewissenloses Air zu geben. »Ist es Ihnen auch schon passirt, daß Ihnen Jemand starb?« »Hm!« machte er es achselzuckend. »Kommen Sie zur Sache, Monsieur! Ich bin kein Freund der unnützen Einleitungen.« »Nun, die Sache ist die, daß ich eines Mannes bedarf, der Blut sehen kann; nun habe ich geglaubt, daß Sie der Rechte sind.« »Möglich!« Er legte dabei die Beine sorglos übereinander und lächelte so verschmitzt wie möglich. »Sie sagen ja?« »Wie kann ich das? Ich weiß ja noch gar nicht, um wen, oder was es sich handelt!« »So hören Sie! Ich habe einen Feind, der mir sehr zu schaden sucht, sowie meine ganze Existenz bedroht – – –« »So packen Sie ihn bei seiner Existenz an!«
»Das will ich ja; nur fragt es sich, was Sie unter seiner Existenz verstehen?« »Sein Leben natürlich!« »Gut, soweit sind wir eins! Wollen Sie mir behilflich sein?« »Warum thun Sie es nicht selbst?« »Das ist mir unmöglich. Sie verstehen die deutsche Sprache, welche Sie vollkommen sprechen. Sehen Sie, das ist bei mir nicht der Fall, und daher kann ich die Rache nicht selbst übernehmen. Und Zeit, das Deutsche vorher zu erlernen, giebt es nicht.« »Was hat diese Sprache mit Ihrer Rache zu thun?« »Der Mann, den ich meine, wohnt in Deutschland; gegenwärtig hielt er sich aber hier in diesem Hotel auf. Ich verfolgte ihn bis hierher, aber er ist einen Tag vor meiner Ankunft abgereist.« »So wollen Sie ihm nach?« »Ja, und Sie sollen mit.« »Das wird schwer gehen. Ich bin vorbereitet, Paris zu verlassen und mein Mädchen zu heirathen – – –« »Dieselbe, welche ich gestern gesprochen habe?« »Ja. Sie hat das Haus, worin Sie sie trafen, verlassen. Sie sehen, daß es mich große Opfer kosten würde, Sie zu begleiten.« »Ich bin reich, ich vergüte Ihnen Alles!« »Hm! Wohin soll die Reise gehen?« »Nach Mainz. – Wie lange wir abwesend sind, das kommt ganz auf die Verhältnisse und auf Ihre Geschicklichkeit und Entschlossenheit an.« »Sie meinen, daß ich Ihnen zunächst als Dolmetscher zu dienen habe?« »Ja, als Dolmetscher in Gestalt eines Dieners in Livree; und zweitens, daß Sie diese Person zu beseitigen haben, sowie auch eine Dame.« »Die sämmtlich sich an demselben Orte befinden?« »Ja.«
»Und wenn ich Ihnen nun diese Opfer bringen möchte, was bieten Sie mir dafür?« »Was verlangen Sie?« »Ich habe eine Braut und einen Vater zurückzulassen; ich habe Pläne aufzuschieben, oder gar aufzugeben, welche sich auf meine Zukunft beziehen; dafür sind tausend Franks wohl nicht zu viel!« »Ich zahle sie, und zwar vor der Abreise!« »Ferner habe ich zwei Menschen verschwinden zu lassen. Was zahlen Sie für ein Menschenleben, welches Sie so außerordentlich belästigt, daß sogar Ihre Existenz dadurch in Frage gestellt wird?« »Auch tausend Franken.« »Pah, das ist zu wenig! Ich frage jetzt nicht, wer diese beiden Personen sind. Später, wenn ich bemerke, daß sie den höheren Ständen angehören, könnte ich wohl einen sehr hohen Preis verlangen!« »Was fordern Sie?« »Fünfzehnhundert Franks wenigstens.« »Das wären dreitausend Franks für Beide, die ich gebe; nun sind wir einverstanden?« »Noch nicht.« »Was giebt es noch?« »Ein jeder Geschäftsmann hat das Risiko zu berechnen. Ich riskire Leben und Freiheit, das kann ich nicht umsonst thun.« »Alle Teufel, Sie sind ein guter Rechner.« »Das muß ich. Wie nun, wenn man mich in Mainz fängt und köpft? Ich muß in diesem Falle für die Meinen sorgen.« »Ich sehe, daß Sie sehr sorgfältig verfahren und hoffe, daß Sie in meiner Angelegenheit ebenso handeln. Darum will ich auf Ihre sonst ungewöhnliche Forderung eingehen. Wie viel verlangen Sie für Ihr sogenanntes Risiko?« »Tausend Franks.« »Verdammt, das ist viel!«
»Sie werden mir erlauben, anzunehmen, daß mein Leben mir tausend Franks werth ist, das Glück der Meinen gar nicht mit gerechnet.« »Gut. Die Summe beträgt also fünftausend Franks.« »Ja, dreitausend vorher zu bezahlen, weil ich sie brauche.« Der Graf lachte cynisch. »Das ist allerdings ein sehr triftiger Grund. Aber wenn ich sie nun verweigere?« »So reisen Sie allein nach Mainz. Was ich sage, das gilt. Sie werden mich in dieser Beziehung noch kennen lernen.« »Gut, so will ich mich einverstanden erklären. Aber ich hoffe auch, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen!« Der Graf bemerkte das zweideutige Lächeln nicht, mit welchem Gérard antwortete: »Keine Sorge, Monsieur, ich werde meiner Pflicht sicherlich richtig nachkommen.« »So ist dies abgemacht. Wir werden abreisen, sobald ich die Brieftasche wieder in den Händen habe. Wann gehen Sie wieder hin zu dem Manne?« »Vielleicht am Abend; eher würde es auffällig sein, auch fürchte ich, daß er dann eine größere Entschädigung verlangen würde, da er meinen müßte, das Portefeuille sei von höchstem Werthe.« »Gut. So können Sie mir jetzt helfen. Ich habe Ursache, dieses Hotel zu verlassen. Der Wirth soll denken, daß ich nach der Bahn von Orleans fahre, ich will aber in der Nähe des Nordbahnhofes wohnen. Wissen Sie dort ein gutes Hotel?« »Das Hotel de l’Empereur auf der Rue de St. Quentin, in der Nähe des Bahnhofes.« »So senden Sie mir den Kellner mit der Rechnung herauf, und holen Sie mir eine Droschke.«
Der Schmied erhob sich von seinem Sitze und ging. Draußen blieb er einen Augenblick stehen und reckte die riesigen Glieder drohend empor. »Schuft!« murmelte er drohend. »Warte, ich werde Dir das Handwerk legen! Zunächst aber muß ich wissen, wem sein Mordanschlag gilt.« Er stieg die Treppe hinab und traf unten auf den Hausknecht. »Ah, Freund, eine Frage,« sagte er. Er griff dabei in die Tasche und reichte ihm ein Frankenstück hin. »Danke! Was?« »Hat kürzlich ein Deutscher hier gewohnt?« »Ja, und zwar der Herr Doctor Sternau; ich glaube, es war ein Deutscher aus Mainz.« »Hatte er Damen mit?« »Eine Spanierin. Außerdem war ein Diener und eine Dienerin bei ihm.« »Danke! Schicken Sie den Kellner hinauf zum Marches d’Acrozza. Er will die Rechnung haben.« Der Schmied ging, um eine Droschke zu holen. Er ging sehr langsam, denn die Auskunft, welche er erhalten hatte, gab ihm viel zu denken. »Ein Doktor, ein Arzt ist es,« brummte er leise vor sich hin »und die Dame ist eine Spanierin. Alle Wetter, was hat mir denn Annette gesagt, als ich sie gestern bei dem Professor besuchte? Ein deutscher Arzt war es, der sie gerettet hat, und eine kranke spanische Dame ist bei ihm gewesen. Das hat sie von Marion, dem Stubenmädchen erfahren. Himmel, wenn er es wäre, dem ich an das Leben soll!« Er machte eine Geste in der Luft, als ob er Jemand erwürgen wolle, und brummte dann weiter:
»Das muß ich zu erfahren suchen. Aber wenn diese Dame eine Spanierin ist, so ist dieser unechte Marchese d’Acrozza jedenfalls auch ein Spanier, und sein Taschenbuch ist in spanischer Sprache geschrieben. Sein richtiger Name steht darin. Er heißt Alfonzo de Rodriganda y Sevilla, und dies ist nicht italienisch, sondern spanisch; wenigstens liegt Sevilla in Spanien. Na, warte Bursche! Eine Droschke hole ich Dir, aber zum Teufel sollst Du fahren, wenn der Sternau, dem ich an das Leben soll, derselbe Arzt ist, der meine Schwester Annette aus den Fluthen der Seine gezogen hat.« Er erreichte den Halteplatz der Fiaker und nahm einen mit zum Hotel. Dort wurden die Effecten des Marchese aufgeladen. Dieser stieg ein, der Schmied hinten auf, und nun ging es scheinbar dem Bahnhof von Orleans und Lyon zu. Bei der Brücke Notre Dame angekommen aber, gebot der Marchese, in die lange Straße Martin einzulenken und nach dem Bahnhof du Nord zu fahren. So gelangten sie an das Hotel de l’Empereur auf der Straße St. Quentin, wo sie abstiegen und Alfonzo sich einige Zimmer anweisen ließ. »Jetzt weißt Du genau, wo Du mich zu finden hast?« sagte er zu Gérard. »Gewiß, Monsieur.« »Ich werde nicht ausgehen. Sobald Du das Portefeuille hast, kommst Du.« »Ich gehe heute Abend hin.« »Vergiß nicht, daß ich mitten in der Nacht für Dich zu sprechen bin, Gérard!« Der Schmied ging. Als er aus Sicht des Hotels war, nahm er eine Droschke und ließ sich nach der Rue des Lavande Nummer Vier fahren, wo der Professor wohnte. Der Zutritt zu seiner Schwester stand ihm offen, und als er sich mit seiner Erkundigung an sie wandte, erfuhr er, daß ihr Retter allerdings jener Doktor Sternau gewesen sei, der eine spanische Dame bei sich gehabt hatte.
Er sagte von dem Grunde seiner Erkundigung nichts und ging zunächst nach Hause, um seinen Vater aufzusuchen, den er ganz ohne Mittel wußte. Er hatte sich vorgenommen, während seiner Abwesenheit in Deutschland in der Weise für den Vater zu sorgen, daß dieser keine Noth litt, ohne aber seiner Trunksucht fröhnen zu können. Er traf ihn, auf einer alten Matratze liegend, doch in vollständig nüchternem Zustande, da er keine Mittel gehabt hatte, sich Branntwein zu kaufen und sein Kredit so erschöpft war, daß ihm kein Budiker mehr borgte. »Kommst Du endlich,« grollte der Alte. »Man könnte sterben und verderben.« »Wie ich sehe, lebst Du noch,« antwortete der Sohn. »Aber wie! Hast Du Geld?« »Hm! Wenig.« Der Alte sprang von seinem Lager auf. »Gieb her!« sagte er, die vor Begierde zitternde Hand ausstrekkend. Gérard griff in die Tasche und gab ihm einen Franks. »Eins!« sagte der Vater mit heiserem Lachen. »Zwei –!« Dabei streckte er die Hand abermals aus. »Aus Zwei wird nichts,« antwortete der Sohn, »weil ich nicht mehr geben kann, als ich selbst habe. Das Andere brauche ich für mich.« »Hallunke!« Bei diesem Worte faßte der Vater den Sohn beim Arme und schüttelte ihn. »Du schimpfest mich?« fragte dieser. »Mit welchem Rechte?« »Du belügst mich, nachdem Du behauptest, Du habest nichts weiter, und bist doch reich.« »Reich? Wo soll bei mir der Reichthum herkommen?« »Pah! Von der Garotte natürlich.«
»Das Geschäft geht schlecht.« »Nein, es geht gut; ich weiß es ganz genau. Du hast einen reichen Italiener garottirt.« »Ah,« sagte Gérard überrascht. »Wer sagte das?« »Papa Terbillon, der bei mir war.« »Welche Seltenheit.« »Ja, eine Seltenheit; es konnte sich also nicht um eine Kleinigkeit handeln. Er suchte Dich eben dieses Italieners wegen. Er hat Dir dieses Mannes wegen zehn Franks gegeben.« »Das ist wahr.« »Du stehst also in seinem Dienste.« »So lange es mir gefällt.« »Aber Du hast den Italiener garottirt in der Rue de la Poterie.« »Donnerwetter!« sagte Gérard überrascht. »Wer sagte das? Wer will das wissen?« »Papa Terbillon. Er weiß es ganz genau.« »Pah! Es ist eine Lüge.« »Nein, Spitzbube. Der alte Terbillon geht ganz sicher. Er hat es selbst beobachtet. Er war im eater und in der Weinstube, der Italiener auch und Du ebenso.« »Das mag sein; er wird sich verkleidet gehabt haben. Aber das beweist noch gar nichts.« »Der Beweis ist dennoch da, denn Papa Terbillon ist Euch gefolgt und hat gesehen, daß Du den Italiener in der Straße de la Poterie niedergeschlagen hast.« »So hat er falsch gesehen.« »Lüge nicht! Er hat gute Augen und wird Dich in das Verderben bringen.« »Das wollen wir abwarten.« »Er hat mir anbefohlen, daß Du sofort zu ihm kommen sollst.«
»Ich werde zu ihm gehen, sobald es mir beliebt. Uebrigens habe ich jetzt keine Zeit dazu; ich muß nach Italien verreisen, wohin ich als Diener eben dieses Mannes gehe, den ich garottiren sollte.« »Alle Teufel!« »Das beweist doch zur Genüge, daß ich ihn nicht garottirt habe. – Ich werde Papa Terbillon seine zehn Franken zurückerstatten, dann kann er mir nicht sagen, daß ich ihn betrogen habe.« »Gieb sie mir; ich werde sie ihm bringen.« »Hopp, Alter, das werde ich bleiben lassen, weil Du das Geld für Dich verwenden würdest.« »Donner und Wetter! Hältst Du mich für einen Spitzbuben?« »Ja, ganz gewiß,« lachte Gérard. »Ich habe Erfahrung genug, um zu wissen, was Du bist.« »Hallunke!« rief der Alte. »Und das will mein eigener Sohn sein; aber wie kommt denn der Kavalier gerade auf Dich?« »Ich habe mich gemeldet.« »Bist Du des Teufels! Jetzt bist Du Dein eigener Herr, dann aber ein Diener, ein Sklave.« »Ich will aufhören, ein Verbrecher zu sein.« »Ah! Und was wird aus mir? Erst hast Du mir Annette genommen, und nun gehst Du selbst fort. Wovon soll ich leben?« »Arbeite!« »Bist Du verrückt?« »Nein. Hast Du früher nicht auch gearbeitet?« »Das war anders; da lebte Deine Mutter noch; da war ich jung und kräftig und – und – –« Er stockte. »Und hattest Dich dem Branntwein noch nicht ergeben,« fügte Gérard hinzu. »Hm, Du magst Recht haben,« sagte der Alte. »Aber man glaubt gar nicht, wie gut ein Schluck dem alten Körper thut.« »Das ist Täuschung.«
»Was weißt Du! Du bist jung!« »Eine Suppe, ein Glas Bier thut ganz dasselbe. Ich werde es Dir beweisen, Vater.« »Ah, wie?« »Vielleicht bin ich gar nicht sehr lange fort von hier, und ich will dafür sorgen, daß Du während meiner Abwesenheit nicht zu hungern und zu dürsten brauchst.« »Also hast Du Geld?« fragte der Alte rasch. »Dazu, ja; aber zum Vertrinken nicht.« »So gieb her, Junge!« Er streckte abermals die Hand aus. Gérard schüttelte den Kopf. »Nein, so nicht,« sagte er. »Du würdest Alles vertrinken.« »Ich sage Dir, daß ich sparsam sein werde!« betheuerte der Alte. »Ich glaube es nicht.« »Ja, wie willst Du denn für mich sorgen, wenn Du mir nichts giebst?« »Du kennst die Restauration der alten Mutter Merveille. Ich werde zu ihr gehen und für Dich abonniren. Du sollst täglich dort Dein Frühstück, Mittags- und Abendbrod haben, das ich Dir im Voraus bezahle.« »Welch’ eine Schlechtigkeit! Dieser Mensch hat Geld und vertraut es seinem Vater nicht an! Ich mag nicht zur Mutter Merveille!« »Pah! Ueberdies werde ich Mutter Merveille noch fünfzig Franken für Dich geben.« »Ah, endlich! Wann kann ich sie mir holen?« »Täglich.« »Gut! So hole ich sie mir gleich morgen.« »Nur nicht hitzig, Alter! Ich habe gesagt, nämlich täglich einen Franken. Auf diese Weise hast Du täglich ein Taschengeld; gebe ich Dir die Summe sofort, so ist sie in einigen Tagen durch die Gurgel gerollt.« »Ich verspreche Dir, sparsam zu sein!«
»Ich glaube es nicht.« »Donnerwetter! Soll ich Dich massacriren? Welch’ ein Gedanke, fünfzig Franken zu besitzen und nicht anrühren zu dürfen!« »Dieser Gedanke ist ganz heilsam. Ueberdies werde ich die Wohnungsmiethe bezahlen, die während meiner Abwesenheit fällig werden wird.« »So gieb mir das Geld; ich will es sofort zum Wirth tragen.« Er streckte zum dritten Male die Hand aus. Gérard lachte und sagte: »Daraus wird nichts; ich werde selbst zu ihm gehen.« »Du bist ein Teufel!« zürnte der Alte. »Und Du ein Engel, der nicht mit Geld umzugehen versteht. Also Du wirst täglich Deine Mahlzeiten und einen Franken haben; das genügt. Bist Du klug, so suchst Du Dir Etwas dazu zu verdienen; dann stehst Du Dich wie ein Kavalier. Adieu!« »Du willst schon fort? So gieb nur wenigstens noch fünf Franken!« »Keinen einzigen! Und merke Dir: komme ich zurück und Du hast gut Haus gehalten, so mache ich Dir eine große Freude. Ich werde Dir dann Etwas schenken, und zwar eine Schwiegertochter.« »Eine Schwie – – –« rief der Alte ganz erstaunt. »Wie kommst Du auf diesen Witz?« Der Alte lachte, und frug dann weiter: »Kerl, so bist Du verliebt?« »Sehr!« »So ist es aus mit Dir, und das ganze Geschäft geht kaput!« »Welches Geschäft meinst Du? Etwa die Garotte? Dieses Geschäft soll allerdings kaput gehen. Ich will ein ehrlicher Arbeiter werden, Vater.« »Unsinn! Das bringt kein Garotteur fertig.« »Ich werde Dir das Gegentheil beweisen.«
»Man wird es Dir schwer werden lassen. Die Polizei kennt Dich zu sehr.« »Ich werde nicht in Paris bleiben, ich gehe vielmehr in die Provinz. Wohin, das weiß ich noch nicht.« »Und wer ist Dein Mädchen, he?« »Eine Arbeiterin; doch sie hat Geld; ich glaube viertausend Franken.« »Donnerwetter, das ist Etwas!« »Für den Anfang,« lächelte Gérard. Er sagte die Unwahrheit, um den Vater für sein Mädchen gut zu stimmen. Er war entschlossen, sein Geld für das Ihrige auszugeben. »Und wo wohnt sie?« fragte der Alte. »Das erfährst Du später.« »Ah, Du denkst, ich besuche sie und pumpe sie an?« »Ja.« »Alle Wetter, Du bist verdammt vorsichtig! Aber was wird mit mir, wenn Ihr fortzieht?« »Du gehst mit.« »Hei! Wird sie mich mitnehmen?« »Ja, obgleich sie weiß, daß Du den Branntwein liebst und Garotteur bist.« »Und will es versuchen mit mir!« »Ja.« »Kerl, Du bist dieses Mädchens gar nicht werth! Sie muß Dich sehr lieb haben, Gérard; darum heirathe sie. Sie muß überdies gut und brav sein.« »Ich hoffe es.« »Gut, so will ich mir Mühe geben, ich will einmal sehen, ob ich mit dem Branntwein fertig werde.« »Versuche es, und Du wirst sehen, daß es gelingt. Siehe, ich selbst gewinne es ja über mir!«
»Das ist etwas Anderes; Du bist jung. Wohin gehest Du jetzt?« »Zum Wirth und zur Mutter Merveille.« »Darf ich gleich mit?« »Hm, ja; es ist besser, Du hörst, was ich mit ihr bespreche. Komm’!« Sie gingen zum Besitzer des Hauses, um die Miethe zu bezahlen, und suchten dann die Restauration der Mutter Merveille auf, wo Gérard den Vater als Tischgast anmeldete und den Betrag zweier Monate sofort pränumerando entrichtete. Am späten Abend suchte dann Gérard einen jener alten, kleinen, aber wohl renommirten Gasthöfe auf, in denen man gut, wenn auch einfach und billig wohnt, und ließ sich ein Zimmer geben. In demselben saß er die ganze Nacht und schrieb das Notizbuch des Grafen ab. Außerdem copirte er noch eine einzelne Seite desselben. Mit dieser begab er sich am Morgen zu einem Buchhändler, um zu fragen, welche Sprache dies sei. Er erfuhr, daß es spanisch sei, und wußte also nun, was er zu thun hatte. Er ging nach der Rue de St. Quentin, um den Grafen aufzusuchen. Er fand diesen, mit großer Ungeduld seiner wartend. »Nun, wie steht es?« wurde er gefragt. »Leidlich, vielleicht auch gut,« antwortete er. »Was soll dies heißen?« »Es soll heißen, daß ich das Buch gesehen habe, aber nicht weiß, ob Sie es bekommen werden, weil Ihnen der Preis zu hoch sein wird; er verlangt tausend Franks, und sagte, daß er keinen Sous herablassen würde.« »Dieser Schuft! Warum verlangt er eine solche Summe? Das Buch hat ja keinen Werth für ihn!« »Er sagte, es habe desto mehr Werth für die Polizei.« Der Graf verfärbte sich. »Warum?« fragte er.
»Er hat mir gar nichts Ausführliches darüber mittheilen wollen.« »So handelt es sich vielleicht um eine andere Brieftasche. Die meinige hat wohl Werth für mich, aber nicht das mindeste Interesse für die Polizei.« »Das kommt wohl auf eine Probe an. Er hat eine Seite des Notizbuches abgeschrieben und mir die Abschrift mitgegeben.« »Ah! Zeige her!« Gérard nahm das Blatt heraus und zeigte es dem Grafen. Dieser las es und sagte dann: »Es stimmt; es ist mein Portefeuille. Hast Du diese Zeilen gelesen?« »Nein; ich verstehe nicht spanisch.« »Donnerwetter, aber Du weißt, daß es spanisch ist!« »Er sagte es mir, da er spanisch versteht.« »Wirklich?« fragte der Graf erbleichend. »Ja; er hat in Spanien als Kaufmann conditionirt.« »Alle Teufel! Das ist verdammt unangenehm!« Er zerknitterte das Papier in der geballten Faust und trat an das Fenster. Seine Mienen bewegten sich in der Reihenfolge der Gedanken und Gefühle, welche über sein Gesicht gingen. »Wie heißt er?« fragte er, sich endlich wieder umdrehend. »Das kann ich nicht sagen, denn ein Kamerad verräth den andern nicht.« »Dummheit! Wenn er Dir nun im Wege wäre?« »Gute Kameraden sind sich nie im Wege.« »Oder einem Anderen?« fragte der Graf mit eigenthümlicher Betonung. Gérard verstand ihn sofort, that aber so, als ob er ihn nicht begriffen habe. »Das geht mich nichts an,« sagte er. »Aber, wenn er nun mir im Wege wäre, und Du tausend Franks erhieltest, wenn –«
Erst jetzt warf Gérard ihm einen verständnißvollen Blick zu und fragte: »Dieser Mann, der Ihr Taschenbuch in der Hand hat, ist Ihnen im Wege?« »Ja, und zwar dieses Taschenbuches wegen.« »So enthält es Dinge, welche Ihnen schaden können, und mein Kamerad hat Recht gehabt, als er von der Polizei sprach –« »Hm, ja, vielleicht. Ich denke, daß ich Dir mein Vertrauen schenken darf!« »Ganz gewiß, Monsieur. Mein Kamerad hat Ihr Taschenbuch durchgelesen.« »Ich kann es mir denken. Also Dir hat er nur ein Weniges gesagt? Sei aufrichtig!« »Er sagte, wenn das Buch Ihnen gehöre, so könnten Sie unmöglich der Marchese d’Acrozza sein.« »Wer sonst?« »Das sagte er nicht.« »Ah,« meinte der Graf mit einem Athemzuge der Erleichterung, »er ist verschwiegen gewesen.« »Ferner sagte er, daß Sie aus Spanien kommen.« »Sagte er weiter gar nichts?« »Kein Wort.« »Und tausend Franks will er dafür? – Das stellt mich aber nicht sicher. Jetzt zahle ich die Summe, und später plaudert er dennoch.« »Er wird mir Verschwiegenheit geloben müssen!« »Das ist noch keine Bürgschaft. Kann ich ihn einmal sehen? »Nein; er hat es verboten.« »Dann kenne ich nur ein Mittel, mir Sicherheit zu verschaffen, und dies ist sein Tod.« »Alle Teufel! Er wird keine Lust haben, Ihnen zu Liebe zu sterben!«
»Ich glaube es. Aber Du wirst Lust haben, Dir tausend Franks zu verdienen.« »Das ist wahr. Es fragt sich, wofür ich diese Summe erhalten soll.« »Nun, für sein Leben.« »Ah, Sie scherzen, Monsieur!« lachte der Schmied. »Es ist mein ganzer Ernst.« »Das glaube ich nicht, weil Sie mir, wenn es Ihr Ernst wäre, etwas mehr bieten würden, als tausend Franks.« »Schlingel!« »Rechnen Sie nach, Monsieur! Tausend Franks geben Sie diesem Manne für seinen Raub, mir aber wollen Sie dieselbe Summe für diesen Raub und für sein Leben geben. Das ist sehr unverhältnißmäßig.« »Nun gut, wie viel verlangst Du?« »Es ist ein Kamerad von mir; unter zweitausend thue ich es nicht.« »Mensch, Du wirst ja ein reicher Mann durch mich; fünfzehnhundert gebe ich Dir.« »Zweitausend, anders nicht. Sonst sprechen wir gar nicht mehr davon.« »Gut, ich will nachgeben. Wann kann es geschehen?« »Sobald es paßt.« »Es muß sofort geschehen. Ich muß sonst gewärtig sein, er mißbraucht meine Notizen.« »So will ich sehen, ob ich ihn treffe.« Er wandte sich zum Gehen, aber der Graf rief ihn zurück. »Halt!« sagte er. »Welche Sicherheit bringst Du mir, daß Du ihn getödtet hast?« »Ihr Portefeuille.« »Das ist keine Bürgschaft, daß er getödtet ist.«
»Doch jedenfalls, Monsieur. Oder glauben Sie, daß er mir das Buch freiwillig giebt?« »Ja, ich glaube es. Ihr seid Kameraden. Ihr theilt die zweitausend Franks.« »Ah, Ihr Vertrauen zu mir ist kein sehr großes!« »Das kannst Du nicht übel nehmen.« »So dürfen auch Sie es nicht übel nehmen, wenn mein Vertrauen zu Ihnen schwindet.« »Was soll das heißen?« »Wer garantirt mir meine zweitausend Franks, wenn ich meinen Auftrag ausführe?« »Mein Wort!« »Und wenn ich diesem Worte nicht glaube?« »Mensch, ich bin ein Edelmann.« »Ah, schön,« sagte Gérard mit versteckter Ironie. »Und von mir verlangen Sie Garantie?« »Ja, ein Glied seines Leibes.« »Alle Teufel! Welches Glied?« »Den Kopf.« »Das geht nicht, Monsieur. Es ist mir zu auffällig, den Kopf eines Gemordeten zu transportiren.« »Gut, so bringe die rechte Hand.« Der Schmied sann nach. »Hm,« sagte er endlich, »das würde weniger auffällig sein. Eine Hand läßt sich eher verstecken als ein Kopf. Also wenn ich diese Hand bringe und Ihr Portefeuille, so erhalte ich zweitausend Franks?« »Sofort!« »Gut, ich will mich auf Ihr Edelmannswort verlassen. Wo finde ich Sie, wenn Sie nicht hier sind, Monsieur?« »Ich gehe gar nicht aus.« »Dann adieu, Monsieur le Marchese.«
Gérard ließ den Grafen in banger Erwartung zurück und schritt der Cité zu. Sein Gesicht hatte einen außerordentlich pfiffigen Ausdruck, als er vor sich hinmurmelte: »Ein Kunststück, ein wahres Kunststück: ich soll Einen umbringen, der gar nicht lebt, den es gar nicht giebt. Wie fange ich das an? Pah, für zweitausend Franks wird es fertig gebracht!« Indem er die lange Rue du Faubourg St. Denis hinab ging, griff er in die Tasche und zog sein Messer heraus. Er öffnete es und probirte die Schärfe an dem Nagel seines Fingers. »Es geht,« dachte er. »Die Schärfe ist gut; sie geht durch die Flechsen und Sehnen wie durch Butter, und der Rücken ist stark; die Klinge wird also nicht abbrechen.« Er steckte das Messer wieder ein und wanderte nach der Morgue. Die Morgue ist ein Haus, in welchem die Leichen von Verunglückten oder Selbstmördern aufbewahrt bleiben, um rekognoszirt zu werden. Dieses Haus ist Jedermann geöffnet. Als Gérard den ürschließer stehen sah, sagte er: »Ist heute ein Mädchen eingeliefert worden, Monsieur?« »Ein Mädchen? Wie alt?« »Sechzehn Jahre, die Haare sind blond, und die Gestalt ist voll und lang.« »Das dürfte stimmen. Suchen Sie ein solches Mädchen?« »Leider. Es ist eine Cousine seit gestern verschwunden.« »So gehen Sie hinein. Es ist gerade jetzt kein Mensch zugegen, und ich warte auf Jemand. Nehmen Sie sich die Tücher gefälligst selbst hinweg!« Das war dem Schmied sehr lieb. Er betrat den schauerlichen Raum, in welchem sechzehn Leichen lagen, mit weißen Tüchern bedeckt. Er lüftete diese Tücher und erblickte bald einen Mann, der seinem Zwecke geeignet war. Im Nu hatte er sein Messer gezo-
gen, und ebenso schnell löste er an der Leiche die rechte Hand vom Arme. Rasch steckte er Hand und Messer in die Tasche und zog den Aermel des Todten weiter herab, damit man die Amputation so spät wie möglich bemerke; dann verließ er die Morgue. Hierauf trieb er sich einige Stunden lang in der Stadt herum und kehrte dann zu dem Grafen zurück. Dieser hatte ihn kommen sehen und kam ihm bis zur Zimmerthür entgegen. »Nun?« fragte er. »Schlecht!« antwortete Gérard. »Es war gefährlich, weil ich beinahe erwischt worden wäre; der Kerl schrie wie ein Spatz und wehrte sich wie ein Bär.« »So verstehst Du Dein Handwerk nicht.« »Pah! Ich hatte es mit einem Garotteur zu thun.« »Du hast die Hand?« Der Gauner zog sie hervor und zeigte sie dem Grafen, derselbe betrachtete sie ganz ohne Grauen und sagte: »Das ist ein starker Kerl gewesen! Aber ich sehe nicht die mindeste Blutspur!« »Das fehlte auch noch! Sollte ich mich verrathen?« »Du hast die Hand wohl abgewaschen?« »Ja, im Waschtische.« »Gescheidt! Aber mein Portefeuille?« »Wo haben Sie die zweitausend Franks?« Der Bandit zog das Portefeuille hervor und hielt es dem Grafen entgegen; dieser wollte zugreifen, aber der Schmied zog die Hand schnell zurück. »Sachte, Monsieur,« sagte er. »Ist es ihre Brieftasche?« »Ja.« »So erbitte ich mir das Geld.« »Aber ich muß doch sehen, ob Alles vorhanden ist.« »Das heißt, wenn Etwas fehlt, erhalte ich mein Geld nicht?« »Allerdings.«
»Das wurde nicht ausgemacht, Monsieur!« »Das versteht sich ja ganz von selbst!« »Aber ich kann ja nicht dafür, wenn Etwas fehlen sollte.« »Ist die Brieftasche nicht vollständig, so hat sie keinen Werth für mich.« »Das hätten Sie eher sagen sollen, Monsieur, so lebte mein Kamerad noch.« »Meinetwegen! Also her damit.« Gérard steckte das Portefeuille behutsam wieder ein. »Sie erhalten es nicht, Monsieur,« sagte er sehr bestimmt. »Ich sehe, Sie halten nicht Wort, obgleich Sie ein Edelmann sind, obgleich ich, der Garotteur, Wort gehalten habe.« Alfonzo wollte aufbrausen, hielt aber an sich. »Ich hoffe nicht, daß Du mich moralisiren willst,« sagte er. »Nein,« antwortete der Schmied kalt; »aber ebenso hoffe ich nicht, daß Sie glauben, ich werde mit nach Deutschland gehen.« »Alle Teufel, Du opponirst!« »Ja. Ich hantiere nur mit Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Adieu!« Er wandte sich um, als ob er gehen wolle, da aber faßte ihn Alfonzo beim Arme und hielt ihn fest. »Halt, bleib!« sagte er. »Nein, ich gehe, Monsieur!« »Ich gebe Dir die zweitausend Franks und zugleich das übrige ausbedungene Geld.« »Gut, so bleibe ich.« »Also her das Portefeuille.« »Vorher das Geld.« Alfonzo zog die Stirn in Falten, aber er erkannte sich als den Schwächeren. Er öffnete den Koffer, entnahm demselben das Geld und zählte es dem Schmied auf den Tisch. Als dieser nachgezählt hatte, sagte er:
»Es stimmt, Monsieur; hier ist das Buch!« Er gab das Portefeuille hin, welches der Graf sofort genau durchsuchte. »Stimmt es?« fragte Gérard. »Ja,« lautete die Antwort. »So sind wir quitt.« Er strich die Stumme ein, sehr zufrieden mit sich, daß er einen so feinen Spitzbuben übertölpelt hatte. »Was geschieht mit der Hand?« fragte der Graf. »Ich werfe sie in die Seine.« »Gut. Bist Du zur Abreise fertig?« »Nein. Ich habe Abschied zu nehmen von meiner Braut.« »Dazu wirst Du nicht lange Zeit brauchen. Was hast Du noch zu thun?« »Ich muß einen Manufakturisten und einen Schneider aufsuchen, und zwar der Livree wegen.« »Alle Wetter ja, das ist wahr. Kann man in Paris fertige Livree’s bekommen?« »In Phantasie, ja; nach Vorschrift natürlich nicht.« »So suche Dir eine in Phantasie aus.« »Und wer bezahlt sie?« »Du,« sagte Alfonzo lachend. »Ah, ich hätte nicht gedacht, daß ein Marchese d’Acrozza so ein Geizhals sein könnte!« »Gut, so nimm sie auf meine Kasse. Was wird sie kosten?« »Vierhundert Franken, da sie anständig sein muß.« »Schelm!« »Pah! Da muß ich mir Wäsche und Fußzeug aus meiner eigenen Tasche dazu kaufen.» »Hier hast Du sie!« Gérard steckte die vierhundert Franken schmunzelnd ein und fragte dann:
»Wie lange geben Sie mir Urlaub?« »Wie lange brauchst Du?« »Drei Stunden, wenn ich Droschke nehme.« »So gebe ich Dir vier Stunden.« »Ich danke. Adieu!« Er steckte die Hand ein und ging. Unten stieg er in einen Fiacker und fuhr direkt nach dem Magdalenenstifte, in welchem sich Mignon befand. Er ließ sich zunächst der Oberin melden und wurde sogleich vorgelassen. Sie erkannte ihn sofort und empfing ihn mit den freundlichen Worten: »Siehe da, Monsieur Mason, dem wir den neuen Zögling verdanken!« »Ja, Madame,« sagte er. »Verzeihen Sie die Störung!« »Ich stehe Ihnen zu Diensten. Was bringen Sie?« »Eine Bitte, Madame. – Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Mignon meine kleine Frau werden soll; wie urtheilen Sie über sie?« »Oh, bis jetzt bin ich mit ihr zufrieden, obgleich ich gestehen muß, daß uns sehr oft der Schmerz bereitet wird, uns in unseren Hoffnungen und in unserem Vertrauen getäuscht zu sehen.« »Ich bin gewiß, daß Sie sich in ihr nicht täuschen werden!« »Ich wünsche dies von Herzen. Sie kommt mir vor, als ob sie sich wirklich nach einem ordentlichen Leben sehne. Haben Sie aber daran gedacht, was es heißt, ein Weib zu besitzen, welches eine solche Vergangenheit hat?« »Ich habe mir es sehr reiflich überlegt.« »Und lieben Sie Mignon genug, um sie später achten zu können?« »Gewiß, Madame. Auch ich habe meine Fehler.« »Und haben Sie auch daran gedacht, daß Sie Beide arm in’s Leben treten werden?« Er lächelte fröhlich und sagte:
»O, arm sind wir nicht, Madame; dieses Punktes wegen komme ich zu Ihnen. Ich habe nämlich einen kleinen Gewinn gemacht. Ich hatte ein Loos in der Dombaulotterie von Besancon, und habe gewonnen, welcher Gewinn für meine Verhältnisse reicht. Ich habe Ihnen auch gesagt, daß ich Paris verlassen will, und dieser Punkt macht mir Sorgen, des Geldes wegen.« »un Sie es zu einem Bankier.« »Dazu habe ich keine Lust.« »So geben Sie es einem Verwandten in Aufbewahrung.« »Ich habe keinen; und mein Vater ist nicht zuverlässig, – denn er trinkt zuweilen; deshalb komme ich zu Ihnen.« »Zu mir – – –?« »Allerdings. Ich dachte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden, mir das Geld aufzubewahren, bis ich wiederkomme.« Ihr Gesicht wurde noch freundlicher als vorher, und sie sagte: »Haben Sie denn so viel Vertrauen zu mir?« »Gewiß! Ich habe Ihnen ja meine Braut anvertraut, welche mir lieber ist, als dieses Geld.« »Nun, wir wollen sehen. Wie hoch ist die Summe?« Er griff in die Tasche, trat an den Tisch und zählte ihr das Geld vor. Je weiter er zählte, desto erstaunter wurde ihr Gesicht. »Aber, Monsieur Mason, das ist ja ein Reichthum!« rief sie. »Ja,« lachte er; »das wird beinahe langen, um mir eine kleine Schmiede zu kaufen.« »Und diese große Summe soll ich Ihnen aufheben?« »Gewiß, wenn Sie wollen!« »Ich will. Ich werde sie Ihnen so anlegen, daß sie Zinsen bringt.« »Das werden Sie thun, wie es Ihnen gefällig ist.« »Und vor allen Dingen werde ich Ihnen einen Depositenschein einhändigen.« »Ist dies unbedingt nöthig? Ich weiß ja, daß Sie mich nicht schädigen werden.«
»Ja, es ist geschäftlich unbedingt nothwendig.« »So thun Sie es. Dann habe ich noch eine Bitte. – Mignon soll von diesem Gelde nichts wissen, um sie bei unserer Hochzeit damit überraschen zu können.« »Ich bin einverstanden, Monsieur.« »Aber Sie wissen, daß auf Reisen manches Unvorhergesehene geschehen kann – – – auch mir kann so Etwas passiren. Sollte ich in drei Monaten noch nicht zurückgekehrt sein, so geben Sie das Geld meiner Braut, und zwar unter der Bedingung, daß sie meinen Vater pflegt.« »Sie setzen ein großes Vertrauen auf sie, Monsieur.« »Ich kann es; ich weiß das genau.« »Gut, so werde ich diesen Punkt auf dem Depositenschein mit bemerken.« Sie stellte den Schein aus, den Gérard an sich nahm und strich dann das Geld zur Aufbewahrung ein. Nachdem er Mignon gesehen und von ihr Abschied genommen hatte, ging er zunächst nach der Seine, wo er die Hand unbemerkt in das Wasser warf. Hierauf kaufte er sich eine Livree nebst Wäsche und andere Requisiten und war, ehe die vier Stunden verstrichen waren, wieder bei Alfonzo. Dieser hatte sehr bald eingepackt. Sie fuhren nach dem Bahnhofe und dampften innerhalb kurzer Zeit von Paris ab. Der Zug, in welchem sie sich befanden, nahm für Doktor Sternau und Rosa von Rodriganda eine große Gefahr mit nach Deutschland. Es war noch im Winter, aber es gab ein sehr mildes Wetter. Zur Mittagszeit konnte man glauben, sich mitten im Mai zu befinden, und die Abende glichen jenen elegischen Oktoberabenden, welche fast noch schöner sind, als die Abende des Frühlings. Daher war es kein Wunder, daß auf allen Höhen und Gebirgen der Schnee verschwand; er verwandelte sich in Wasser, welches alle Ströme, Flüsse, Seen und Bäche füllte. Der warme Sonnenstrahl leckte die Feuchtigkeit wieder empor, und so entstanden feuchte
Niederschläge, welche in Form von anhaltendem Regen wieder zur Erde fielen. Dadurch wuchsen die Fluthen und alle Zeitungen berichteten von Ueberschwemmungen, die in ungeahnter Rapidität zu einer Höhe wuchsen, welche man seit Menschengedenken noch nicht beobachtet hatte. Ganze äler wurden überschwemmt, ganze Ortschaften fortgerissen. Der Verkehr stockte, denn die Fluth überragte die Straßen und riß die Bahndämme ein. Auch die sonst so ruhige Nahe, welche bei Bingen in die linke Seite des Rheines mündet, brachte eine Wassermasse, für welche ihr Bett lange, lange nicht tief und breit genug war. Die Fluthen glichen den Wogen eines großen Stromes. Sie hatten die Straße überstiegen und leckten gierig an dem Damme der Bahn, welche Bingerbrück über Neunkirchen, Saarbrücken, Forbach, Metz und Pagny mit Paris verbindet. Die Bahnbeamten hatten Befehl erhalten, ganz außerordentlich aufmerksam zu sein, und ein jeder Bahnwärter mußte seine Strekke zwischen den einzelnen Zügen ganz genau untersuchen. Zwischen Bingerbrück und Langenlonsheim stand ein Bahnhäuschen, dessen Inhaber heute Besuch hatte. Der Forstgehilfe Ludewig aus Rheinswalden war ein Vetter des Bahnwärters, hatte gestern einen kleinen Sprößling desselben aus der Taufe gehoben und befand sich auch heute noch hier, um seinen Urlaub tüchtig auszunützen. Er saß mit der Familie am Tische. Man hatte das Abendbrod gegessen; es hatte neun Uhr geschlagen, und in nicht ganz einer halben Stunde mußte der Eilzug vorüberkommen, welcher um fünf Uhr von Metz abgeht. »Sieht es bei Euch in Rheinswalden auch so traurig aus?« fragte der Wärter. »Nein, Gevatter,« antwortete Ludewig. »Wir liegen dahier nicht so nahe am Rhein, daß uns das Wasser packen könnte.«
Man sieht, daß der gute Ludewig sein liebes »Dahier« auch in der Fremde nicht vergaß. »Und es geht bei Euch Alles gut?« fragte der Wärter weiter. »Es geht uns Allen wohl. Der Herr Oberförster flucht immer noch wie vorher, und die gute Frau Sternau ist mit Fräulein Helene lieb und gut wie immer; auch ist der Steuermann Helmers noch da, und sein Junge – – – der Tausendsapperment! aus dem wird einmal ’was Tüchtiges werden; er ist aber auch in tüchtigen Händen.« »Du bist noch immer sein Lehrmeister?« »Versteht sich!« meinte der Forstgehilfe mit Selbstgefühl. »Und die Gäste?« »Du, da wird’s dahier wohl bald Hochzeit geben. Ich gönne das unserm guten Herrn Sternau recht von Herzen.« »Donnerwetter, macht der da eine Parthie!« »Ja, sie ist eine Gräfin dahier.« »Und noch dazu eine spanische! Sagtest Du nicht früher einmal, daß es ihr im Kopfe gerappelt hätte?« »Gerappelt? Dummes Zeug! Unter Rappeln verstehe ich verrückt sein. Das ist sie aber gar nicht gewesen.« »Aber es hieß doch überall, daß sie geisteskrank wäre?« »Gevatter, Du bist ein Schafskopf dahier! Ja, ein Schafskopf! Unsere gute, liebe Gräfin verrückt zu heißen! Da hört doch Alles und Verschiedenes auf dahier! Spanisch ist sie gewesen, reineweg spanisch, aber doch nicht verrückt! Sie haben ihr Etwas eingegeben, daß sie wahnsinnig ward. Und was ist das gewesen, he, Gevatter?« »Ja, das weiß doch ich nicht!« antwortete der Bahnwärter ganz verblüfft. »Na, was denn weiter als eine spanische Fliege dahier!« »Eine spa – a – – oh!« sagte der Wärter, indem er vor Verwunderung den Mund sperrangelweit öffnete. »Ja, eine spanische Fliege.« »Wird man denn da wahnsinnig?«
»Versteht sich. Hast Du denn schon einmal eine solche spanische Fliege gesehen?« »Das ist ein Pflaster.« »Dummheit, Gevatter! Eine spanische Fliege ist eine Fliege, aus der erst das Pflaster gemacht wird dahier. Eine spanische Fliege ist nicht etwa wie eine deutsche Fliege. Sie hat Flügel gerade so groß wie die Flügel einer Gans.« »Sapperment, muß die aber summsen!« »Ja. Sechs Beine hat sie, so groß wie Storchbeine.« »Himmelelement!« »Ja; ich als Jäger muß das wissen.« »Hast Du schon ’mal eine geschossen?« »Nein, aber beinahe. Ihr Kopf ist halb wie ein Pferde- und halb wie ein Krötenkopf, und einen Leib hat sie dahier, gerade wie eine große Stachelsau.« »Himmelelement!« »Ja. Der Schwanz klappert wie bei einer Klapperschlange, und ernähren thut sie sich nur von Leichen und Weintrauben.« »Darum ist sie so giftig!« »Ja, Leichen und Weintrauben zusammen, das giebt das schrecklichste Gift dahier. Ein einziger Tropfen Blut von so einer Fliege, in eine Netzkanne voll Wasser gethan, Leinewand hinein und wieder ausgequetscht, das giebt unser spanisches Fliegenpflaster.« »Darum zieht das Zeug so!« »Ja. Ist’s da ein Wunder, wenn man confus wird, wenn man so eine ganze spanische Fliege einnehmen muß?« »Eine ganze – mit den Flügeln und den Beinen, sowie mit dem Kopf und dem Schwanz?« »Ja.« »Donnerwetter, da dauert mich Eure Gräfin!«
»Natürlich! Sie hätte auch sterben müssen dahier, wenn unser Doktor Sternau nicht gewesen wäre. Der hat sich das mit der spanischen Fliege natürlich gleich gedacht.« »Wie hat er sie denn ’raus gebracht?« »Das weiß ich nicht dahier.« »Ich denke, Du warst mit dabei!« »In der Krankenstube nicht.« »Und die Fliege, hast Du sie denn nachher gesehen?« »Nein. Ich glaube, sie haben sie in Spiritus gesetzt dahier, aber sie zeigen sie keinem Menschen. Es soll kein schöner Anblick sein.« »Hm!« sagte der Bahnwärter kopfschüttelnd, »was doch in der Welt Alles vorkommt. Unsereiner ist doch noch recht dumm!« »Richtig!« »Ich hatte mir eine spanische Fliege ganz anders vorgestellt.« »So geht es, wenn man kein Jäger ist!« »Ja, Ihr seht mehr als andere Leute und habt viel Bücher. Bei uns giebt es blos das Gesangbuch und die Instruktion.« »Eure Instruktion mag der Teufel holen!« »Hm, sag das nicht so laut! Recht hast Du. Sieh’, in zwei Minuten kommt der Eilzug. Ich muß hinaus. Gehst Du mit?« »Ja.« Es hatte bereits das Zeichen gegeben, daß der Zug in Langenlonsheim abgegangen sei. Der Bahnwärter nahm seine Laterne und ging mit dem Gaste hinaus, wo die Frau des Wärters stand, welche das Signal besorgt hatte. In kurzer Zeit hörte man das donnernde Rollen des Zuges; darauf sah man die beiden Lichter der Locomotive, und nun brauste der Zug vorüber, wobei der Wärter das Zeichen gab, daß Alles in Ordnung sei. »Der wahre Teufel, so eine Locomotive!« sagte Ludewig.
»Schon mehr feuerspeiender Drache,« fügte der Wärter hinzu. »Ich möchte wissen, was vor hundert Jahren die Leute gedacht hätten, wenn so ein Ding vorübergesaust wäre!« »Sie wären vor Schreck rein übergeschnappt.« »Gerade wie von der spanischen Fliege! Aber jetzt muß ich meine Strecke revidiren. Weiter unten steht das Wasser am Damme.« »Ich gehe mit.« Sie schritten mit einander in die Dunkelheit hinein. Die Bahnstrecke, auf welcher sie sich befanden, wurde nur von dem Lichte der kleinen Laterne erleuchtet, welche der Wärter bei sich trug. Von der Seite her hörte man das Rauschen der Fluth, und aus der Nähe erklang das bedenkliche Gurgeln und Gluchzen des Wassers, welches den Damm bedrohte. Der Wärter ging sehr vorsichtig und sorgfältig zu Werke. Nach einer halben Viertelstunde hatte er diesen eil seiner Strecke absolvirt, und da nahte auch das Licht seines Nachbarkollegen, welcher ihm entgegenkam. »Guten Abend!« grüßte derselbe, als er herangekommen war. »Guten Abend!« dankten die Beiden. »Ah, der Herr Pathe noch mit da?« Da er auf dem gestrigen Tauffeste mit gewesen war, so kannte er den Forstgehilfen. »Ja,« antwortete dieser. »Hören Sie die Fluth? Hier scheint es gefährlicher zu werden, als droben bei meinem Gevatter.« »Allerdings; aber ich habe noch keine Angst. Das Wasser steht zwar am Damm, aber die Strecke ist gut gebaut, und so lange drüben am Flusse der Damm noch hält, so lange sind wir auch hier sicher.« Sie trennten sich und schritten nun rasch wieder zurück, denn es ertönte das Signal, daß der dem Eilzuge in einer Viertelstunde folgende Personenzug in Langenlonsheim abgehe. Sie kamen gerade zur rechten Zeit an das Häuschen, um den Zug kommen zu
sehen. Er kam ganz mit derselben Geschwindigkeit wie vorhin der Eilzug. Sie standen an der Bahn, und der Wärter gab ganz wie vorher das Zeichen, daß Alles in Ordnung sei. Noch war der Zug im Vorüberbrausen, als sich von fernher ein Geräusch vernehmen ließ, welches selbst das Rollen des Zuges übertönte. Es war ein eigenthümliches Geräusch, fast ein Brüllen zu nennen, unter dem die Erde bebte, und dieses Beben unterschied sich ganz genau von dem Zittern, welches durch den Zug veranlaßt wurde. »Herrgott, was ist das?« fragte der Wärter. »Ein Erdbeben,« antwortete Ludewig. »Nein, nein, das ist kein Erdbeben; der Damm, der Damm ist geborsten, ganz gewiß!« »So ist der Zug verloren!« »Vielleicht noch nicht, wenn er glücklich vor der Fluth vorüberkommt. Frau, Laternen her! Fort, fort! Wir müssen sehen, wie es steht!« So rief der brave Mann. Die Frau kam mit einer zweiten Laterne herbei, und eben setzten sie sich in Bewegung, als von weit unten herauf ein Krach erscholl, als sei die Erde geborsten und habe Alles, Alles in ihren dunklen Schlund hinabgerissen. »Das ist’s! Das war’s!« rief der Wärter, indem er mit doppelter Schnelligkeit vorwärts strebte. »Der Zug verunglückt?« fragte der Forstgehilfe. »Ja, ganz gewiß.« »So macht um Gotteswillen rasch!« »Frau, renne zurück und hole Leinwand und was sonst zum Verbinden nöthig ist!« Sie gehorchte in fliegender Eile der Aufforderung, während die beiden Männer mit den Laternen weiter rannten. Sie waren eine Wegsstrecke von wohl einer Viertelstunde vorwärts gekommen und befanden sich längst auf dem Gebiete des
Nachbars des Bahnwärters, als sie entsetzt halten blieben. Vor ihnen hörten sie ein wirres Schreien und Rufen, während ein dumpfes Tosen und Donnern zu ihnen drang, welches nur von dem Wasser herrühren konnte, welches das Ufer und dann den Bahndamm durchbrochen hatte. »Weiter, weiter!« rief der Wärter. Da, da endlich standen sie an der Stelle. Der Bahndamm war wirklich durchbrochen. Die Lokomotive war in den Riß hinabgestürzt und hatte sich jenseits desselben tief in die Erde hineingewühlt. Die vordersten Wagen waren ihr gefolgt, die hinteren aber hatten nicht mit hinabgekonnt. Im fürchterlichen Zusammenprall waren sie theils zertrümmert, theils umgeworfen worden, und nur die allerletzten standen noch aufrecht auf den Schienen. Der Zug war ein gemischter, und es war ein Glück, daß sich die Güterwagen vorne, die Personenwagen aber hinten befunden hatten. Die Passagiere, welche in den unversehrten Waggons gesessen hatten, waren ausgestiegen, um den Stand der Dinge zu untersuchen. Sie hatten die Wagenlampen genommen und leuchteten über die Unglücksstätte hin. Jetzt kam der Wärter mit dem Jägerburschen dazu; auch der andere Wärter war bereits da. »Ist es schlimm?« fragte der Erstere. »Sehr. Drei Personenwagen zertrümmert, zwei umgeworfen und zwei nebst dem Postwagen unversehrt,« antwortete der Letztere. »Das Andere liegt Alles im Wasser.« Man suchte zunächst an Menschenleben zu retten, was zu retten war; aber das war nicht viel. Diejenigen, welche in den zertrümmerten Wagen gesessen hatten, waren zermalmt worden; der Maschinist, der Heizer, die Bremser, sie waren todt. Alle, welche sich in den umgestürzten Waggons befunden hatten, waren mehr oder weniger, meist aber schauderhaft verletzt. Man suchte, ihre Körper
in das Freie zu bringen. Zu Dem, was im Wasser lag, konnte man gar nicht kommen, da die Fluth zu tief und reißend war, als daß Menschenkräfte hier etwas vermocht hätten. Da kam die Frau des Wärters und brachte Verbandzeug. »Spring zurück, und gieb das Zeichen, damit Hilfe kommt!« gebot ihr Mann. Auch der jenseitige Bahnwärter kam jetzt. Das Unglück war hart an seiner Grenze geschehen; er hatte sofort gewußt, woran er war, und seinerseits bereits das Signal nach Bingerbrück gegeben. Es wurde jetzt nicht gefragt, wer Schuld sei; an diese Frage zu denken, hatte jetzt kein Mensch die Zeit; man bemühte sich nur, zu retten und zu bergen, was möglich war. Ein junger Mann in der Livree eines Bedienten machte sich an einem der umgestürzten Waggons zu schaffen. »Hier ist es, mein Herr,« sagte er zu einem der unverletzten Passagiere, der mit ihm ein und dasselbe Coupee inne gehabt hatte und ihm nun behilflich war. »Ist es das richtige Coupee?« fragte dieser. »Ja.« »Das Fenster ist zertrümmert. Oeffnen wir die ür.« Sie thaten es, und es erscholl ihnen ein erschütterndes Aechzen und Stöhnen entgegen. Der Bahnwärter trat mit seiner Laterne heran und leuchtete hinein. »Drei Passagiere!« sagte er. »Alle todt!« rief der Diener. »Nein. Sie hören ja das Aechzen.« »Ich denke, es kommt aus dem Nachbarcoupee. Da liegt mein Herr; heraus mit ihm!« Er faßte eine der drei Personen behutsam an und hob sie heraus. Als er sie lang gestreckt auf die Erde legte, sah man, daß der Verletzte sehr fein gekleidet war; aus diesem Umstande und dem wei-
teren, daß er einen Diener hatte und in einem Coupee erster Classe fuhr, konnte man schließen, daß er ein Herr von Distinction sei. »Und hier ist auch sein Koffer,« sagte der Diener, indem er ein kleines, feines Handköfferchen zum Vorschein brachte. »Nun auch die beiden Anderen heraus!« sagte der Wärter. Ludewig war hinzugetreten und half. Es stellte sich heraus, daß der Eine von ihnen todt und der Andere innerlich schwer verletzt war. Der Herr des Dieners befand sich in einer tiefen Ohnmacht, aus welcher er erst erwachte, als der Diener ihm die Glieder bewegte, um zu sehen, ob er verletzt sei. Er schlug die Augen auf und stieß einen Ruf des Schmerzes aus. »Oh!« sagte er. »Hier nicht!« »Der Arm ist gebrochen,« sagte der Diener. Er probirte weiter, und es fand sich, daß sonst nichts verletzt sei. Mittlerweile war von den Nachbarstationen Hilfe angelangt. Auch einige Aerzte waren gekommen. Als einer derselben den fremden Herrn untersuchte, erklärte er, daß der Arm zweimal gebrochen sei. »Wer ist dieser Herr?« fragte er. Der Fremde war während der Untersuchung in eine neue Ohnmacht gefallen. Der Diener antwortete: »Marchese d’Acrozza, ein Italiener.« »Wünschen Sie, daß ich für ihn sorge?« »Ich bitte darum!« »Sie sind sein Diener?« »Ja.« »Sehen Sie jene Lichter da drüben?« Er deutete in das Dunkel des Abends hinein; man erblickte aus weiter Ferne den Schein einiger Lichter. »Ja,« antwortete der Diener. »Das ist das Dorf Genheim. Ich kenne den Lehrer dort. Er wird den Herrn Marchese recht gern aufnehmen.«
»Wer soll ihn benachrichtigen?« »Sie.« »Ich weiß keinen Weg und bin dem Herrn vielleicht sehr nöthig.« »Ihr Herr braucht Sie jetzt nicht, und wir Anderen sind hier nöthiger als Sie. Getrauen Sie sich, durch das Wasser zu kommen?« »Weiter unten, ja.« »So gehen Sie. Sie brauchen nur die Lichter fest im Auge zu behalten.« Gérard Mason, denn dieser war der Diener, glitt von der Böschung des Bahndammes hinab und schritt dann vorsichtig an dem sich hier weit ausbreitenden Wasser hin. Er kam nur langsam vorwärts, und daher war er hoch erfreut, als er Stimmen hörte, welche sich ihm näherten. Er rief. »Hollah!« antwortete es ihm entgegen. »Wer ruft?« »Ein Fremder. Kommen Sie näher!« In kurzer Zeit standen mehrere Männer vor Gérard, welche Dekken und Tragbahren trugen. »Wir hörten ein Krachen und Prasseln,« sagte ihr Anführer. »Der Zug ist verunglückt, wie wir vermutheten. Wir sind sofort aufgebrochen, und hinter uns kommen noch Andere; sie sind aus Genheim.« »Ah, das ist gut; dahin wollte ich.« »Zu wem?,« »Zum Lehrer.« »Das paßt; der bin ich.« »Ah, das trifft sich glücklich! Einer der Aerzte, welche sich an der Unglücksstätte befinden, sendet mich zu Ihnen. Mein Herr, der Marchese d’Acrozza gehört zu den Verunglückten; er hat einen Doppelbruch am Arme, und der Arzt meinte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden, ihn bei sich aufzunehmen.«
»Das versteht sich ganz von selbst. Aber ein Marchese –?« »Das ist er.« »Wird er mit einem armen Dorflehrer fürlieb nehmen?« »O, gewiß.« »Und Sie werden auch bei ihm sein?« »Ich wünsche es.« »Nun, so wollen wir sehen, ob sich Platz schaffen läßt. Kehren Sie also wieder mit um!« Der Lehrer schien ein sehr resoluter Mann zu sein. Er schritt voran und trat, als sie an der Unglücksstätte ankamen, sofort zu dem Arzte, den er sogleich bemerkt hatte. »Da bin ich, Herr Doctor,« sagte er. »Ah, so rasch!« »Ich traf den Diener unterwegs.« »Gut, kommen Sie, mir zu helfen!« »Die Brüche einrichten?« »Nein, nur einen Nothverband anlegen. So bald ich hier entbehrt werden kann, komme ich zu Ihnen nach Genheim, wo das Andere dann besser geschehen kann.« »Er ist nicht weiter verwundet?« »Vielleicht noch eine Contusion, die ich in der Eile nicht bemerkte.« »So ist ja keine Gefahr.« Als sie zu Alfonzo traten, lag dieser wieder in einer Ohnmacht. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte: »Hm, ich scheine mich doch geirrt zu haben.« »Wieso?« fragte der Lehrer. »Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere; es scheint also doch wohl eine innerliche Verletzung vorzuliegen. Kommen Sie!« Die beiden Männer legten den Arm in Verband, wobei Alfonzo erwachte und Zeichen seines Schmerzes gab. »Wo fühlen Sie?« fragte der Arzt.
»Im Arm, sowie auch im Kopf Schmerz, mehr ein schreckliches Drücken und Zusammenpressen.« »Hm! Es müssen während der Nacht fleißig Umschläge gemacht werden; kalt natürlich.« »Wollen Sie sich mir anvertrauen, Herr Marchese?« fragte der Lehrer. »Wer sind Sie?« »Ich bin der Lehrer aus Genheim.« »Werde ich dort einen Arzt haben?« »Ja, diesen Herrn hier.« »So nehmen Sie mich mit; ich werde es Ihnen lohnen.« Natürlich war diese Unterhaltung von Seiten Alfonzo’s nicht in deutscher Sprache geführt worden, sondern Gérard Mason machte den Dolmetscher. Der Verletzte wurde mittelst Decken auf eine der Bahren gebettet. Gérard legte das Köfferchen hinzu, griff mit einem der Bauern zu, und so setzten sie sich, von dem Lehrer angeführt, in Bewegung. Unterwegs begegneten ihnen noch einige Trupps von Hilfsbereiten, welche zur Unglücksstätte eilten. An ihnen vorüber erreichten sie das Dorf und bald auch das Schulhaus. Dieses war ein nicht sehr geräumiges, aber, wie es schien, freundliches Gebäude. Eine Frau trat ihnen, mit der Lampe in der Hand, unter der ür entgegen. »Mein Gott, was bringt Ihr da?« fragte sie besorgt. »Einen Verunglückten, Mutter,« antwortete der Lehrer. »So ist also wirklich der Zug verunglückt?« »Ja. Mach schnell das Besuchsstübchen bereit!« »O, das ist ja stets in Ordnung. Kommt schnell herein!« Als die Bahre im Flur niedergesetzt wurde, leuchtete sie Alfonzo in das Gesicht. »Er liegt in Ohnmacht,« sagte sie. »Das arme, junge Blut. Weißt Du, was er ist?«
»Ein Herr von Adel.« »O weh! Ach ja!« rief sie, denn jetzt erst achtete sie auf die Livree Gerards. »Er ist ein Marchese d’Acrozza, ein Italiener.« »Aber, Mann, wird er mit uns fürlieb nehmen?« »Wir müssen es versuchen.« »So kommt! Könnt Ihr die Treppe empor?« »Ich denke es.« Es ging langsam und schwierig, aber dennoch gelang es, mit der breiten Bahre die verhältnißmäßig schmale Treppe zu passiren. Die brave Lehrerin öffnete eine ür, und nun traten sie in das kleine, aber sehr freundlich eingerichtete Besuchsstübchen, in welchem der Kranke, nachdem ihn die Männer vorsichtig seiner Kleider entledigt hatten, auf das Bett gelegt wurde. Den Aermel des Rockes hatte ihm bereits der Arzt aufgeschnitten. Nachdem für Alles gesorgt worden war, entfernten sie sich, und nur Gérard blieb bei ihm zurück. Dieser betrachtete sich, während sein Herr noch in Ohnmacht lag, das Stübchen. Es enthielt außer dem Bette einen Tisch, eine Kommode, einige Stühle, einen Waschtisch, einen Spiegel und zwei Bilder. Nach einiger Zeit machte der Graf eine Bewegung, und in Folge dessen stellte Gérard die Lampe so, daß ihr Schein den Patienten nicht in das Gesicht treffen konnte. Dadurch fiel dieser Schein nun direkt auf die Bilder, so daß Gérard sie deutlich erkennen konnte. »Alle Teufel!« sagte er leise, sich erhebend und hinzutretend. »Wer ist denn das?« Das eine Bild stellte einen jungen Mann, und das andere ein junges Mädchen vor. Der Erstere war in spanische Tracht gekleidet, und die Letztere trug die Fetzen einer Zigeunerin. Obgleich es nur Kreidezeichnungen waren, erkannte man sehr deutlich, daß die Zigeunerin eine große Schönheit sei.
»Wer ist denn das?« wiederholte Gérard verwundert. »Das ist doch mein Herr!« In diesem Augenblicke bewegte Alfonzo sich abermals, und Gérard eilte zu ihm hin. Der Kranke hatte die Augen geöffnet und blickte sich im Raume um. »Wo bin ich?« fragte er, sich besinnend. »Beim Lehrer,« antwortete Gérard. »Bei welchem Lehrer?« »Sie wissen das nicht?« »Nein.« »O, dann sind Sie auch im Kopfe verletzt. Sie haben ja mit dem Lehrer gesprochen!« »Ich? Wo?« fragte Alfonzo verwundert. »An der Bahn.« »An der Bahn? Ach so! Es kam ein Mann und wollte mich zu sich nehmen. Ich besinne mich. In welchem Orte sind wir?« »In einem Dorfe, welches Genheim heißt. Der Lehrer hat Ihnen sein bestes Zimmer angewiesen.« »Wo bin ich verletzt? Ah, im Arme!« Er hatte den Arm bewegen wollen und fühlte dabei den Schmerz in demselben. »Ja, Monsieur. Sie haben ihn zweimal gebrochen.« »Donnerwetter! Was wird da aus unserer Reise!« »Sie wird auf einige Zeit unterbrochen werden.« »Das ist verdammt unangenehm! Aber ein Armbruch genirt ja nicht im Gehen. Wenn er eingerichtet ist, werden wir die Reise fortsetzen.« »Dazu müßten wir die Erlaubniß des Arztes haben.« »Ich frage den Teufel nach seiner Erlaubniß. Wann wird er zu mir kommen?« »Sobald er von der Unglücksstätte fort kann.« »So werde ich gleich nach dem Verbande abreisen.«
Gérard lächelte. »Sie sind ja nicht nur am Arme verletzt!« sagte er. »Am Kopfe ebenfalls.« »Dummheit! Ich fühle nur ein wüstes Pressen.« »Aber Sie gerathen doch aus einer Ohnmacht in die andere!« »Wirklich?« »Ja. Ich denke, wir werden auf einige Zeit hier verweilen müssen.« »Sind mein Köfferchen und die übrigen Effekten gerettet?« »Das muß sich erst finden. Sie befanden sich im Gepäckwagen.« »Wie heißt der Lehrer, bei dem ich mich befinde?« »Ich weiß es nicht. Soll ich fragen?« »Nein.« Er drehte sich ab, und dabei fiel sein Blick auf die beiden Bilder. Seine Augen vergrößerten sich und seine Lippen bebten. »Mein Gott, was ist das!« sagte er. »Kennen Sie die Bilder, gnädiger Herr?« fragte der Diener. »Kennen? Oh, ich kenne sie!« »Wer ist es?« Unter anderen Verhältnissen wäre es sicher nicht geschehen, jetzt aber gab der Graf doch eine Antwort. Er war jedenfalls am Kopfe verletzt. »Das ist mein Vater.« »Ihr Vater? Ah, darum sieht das Bild Ihnen so ähnlich!« »Und Zarba.« »Zarba? Wer ist das?« »Eine Zigeunerin. Spring’ rasch hinunter, und frag’, wie der Lehrer heißt! « »Das wird auffallen, Monsieur! Es ist besser, wir warten. Die Lehrerin hat versprochen, bald wieder zu kommen.«
Der Kranke nickte und schloß die Augen. Nach einiger Zeit öffnete er sie wieder, fuhr sich mit der Hand an den schmerzenden Kopf und fragte: »Gérard, hast Du diese Bilder bereits gesehen?« Der Gefragte stutzte. War sein Herr denn irre? »Ja,« antwortete er. »Hast Du mich vielleicht gefragt, wen sie vorstellen?« »Nein,« sagte Gérard, um ihn auf die Probe zu stellen. »Wirklich nicht?« »Nein.« »Mir war es gerade so, als ob ich mit Dir darüber gesprochen hätte!« »Ich weiß nichts davon.« »So bekümmere Dich nicht darum. Du brauchst nicht zu wissen, wer sie sind.« Er schloß die Augen wieder, aber über sein Gesicht zuckte und zitterte es, als ob er mit wirren Gedanken ringe. Da trat die Lehrerin vorsichtig herein. »Ist er noch nicht wieder erwacht?« fragte sie leise. »O doch,« antwortete Gérard ebenso leise. Aber der Kranke hatte das Flüstern doch vernommen. »Wer ist da, Gérard?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen. »Ich bin es, die Wirthin,« antwortete die Lehrerin französisch. Da öffnete der Kranke die Augen, blickte sie lange forschend an und sagte dann: »Sie sprechen französisch?« »Ja, mein Herr.« »Wo haben Sie es gelernt?« »Im Institut. Ich war Erzieherin.« »Ah, das ist gut! So können wir mit einander sprechen.« Er schloß die Augen wieder, und es verging fast eine Viertelstunde, ehe er sie wieder öffnete; dann aber schien er die Gegenwart
des Dieners ganz vergessen zu haben; er richtete den Blick auf die Bilder und fragte: »Wer ist dieses Mädchen, Madame?« »Eine Zigeunerin,« antwortete sie. »Wohl ein Phantasiebild?« »Nein, ein Portrait.« »Ah, sie ist eine Schönheit! Wo lebt sie?« »Sie lebte in Spanien, in Saragossa; sie hieß Zarba.« »Zarba! Lebt sie noch?« »Vielleicht.« »Und wer ist der Herr neben ihr?« »Ein Spanier.« »Ja, er trägt spanische Tracht. Auch ein Portrait?« »Ja. Es war ein gewisser Gasparino Cortejo.« »Ah! Was war er?« »Er war Haushofmeister bei dem Herzoge von Olsunna.« »Sie sind eine Deutsche?« »Ja.« »Wie kommen Sie zu diesen Portraits?« »Wir haben sie von einer entfernten Verwandten meines Mannes.« »Wie heißen Sie?« »Mein Mann heißt Wilhelmi.« »Ah! Und wie heißt jene Verwandte?« »Sie ist eine geborene Wilhelmi, jetzt aber eine verwittwete Sternau.« Alfonzo schwieg eine Weile; er hatte viel zu denken, aber sein Kopf war zu schwach dazu. Endlich aber sagte er, langsam und jedes einzelne Wort sich überlegend: »Wo ist diese Sternau zu den Bildern gekommen?« »In Spanien. Sie war Gouvernante dort.« »Bei wem?« »Erst bei einem Bankier Salmonno und dann bei dem Herzog von Olsunna.«
»Und lebt sie noch?« »Ja.« »Hat sie Kinder? »Zwei. Einen Sohn und eine Tochter.« »Was ist der Sohn?« »Er ist Arzt; er war in der letzten Zeit in Spanien bei einem Grafen de Rodriganda.« Bei diesem Namen horchte der Diener Gérard auf. »Ah! Wie ist sein Vorname?« »Karl Sternau.« »Wo befindet er sich?« »Er befindet sich auf Schloß Rheinswalden bei dem Hauptmanne von Rodenstein.« »Was thut er da?« »Er lebt da zur Heilung seiner Braut, welche eine Gräfin de Rodriganda ist.« »Ah! Kommt er zuweilen zu Ihnen?« »Niemals.« »Woher wissen Sie so genau, daß er hier ist?« »Ich würde es nicht wissen, da wir jetzt keinen Verkehr mit einander haben, aber ein Jäger des Schlosses war in der Nähe Gevatter; er suchte mich mit auf, da er unsere Verwandtschaft kennt und erzählte mir dies Alles.« »Warum hat jene Frau Sternau die beiden Bilder von sich gegeben?« »Sie hat sie selbst gezeichnet, vor langen Jahren, den Einen aus Rache und die Andere aus Liebe; aber sie hat beide Bilder nicht bei sich haben wollen, um nicht an eine Zeit erinnert zu werden, in welcher sie sehr unglücklich gewesen ist, und darum hat sie dieselben dem Vater meines Mannes in Aufbewahrung gegeben.« »Sie sprechen von Rache?«
»Vielleicht habe ich da einen falschen Ausdruck gewählt. Man mag die Leute nicht vergessen, welche man liebt, und vielleicht auch die nicht, welche man haßt.« »Haben Sie von den Erlebnissen dieses Doktor Sternau in Spanien Etwas gehört?« Jetzt wurde Frau Wilhelmi aufmerksam. Warum frug der Kranke so angelegentlich nach diesem Allen? »Kennen Sie ihn, Monsieur?« fragte sie. »Nein,« antwortete er. »Oder haben Sie von ihm gehört?« »Nein. Ich interessire mich nur für ihn, weil Jemand, der als deutscher Arzt eine spanische Gräfin als Braut besitzt, Interessantes erlebt haben muß.« Die Frau fühlte sich durch diese Antwort beruhigt und sagte: »Da haben Sie Recht. Es ist wahrhaft Romanhaftes, was dieser Karl Sternau erlebt hat.« »Darf man es erfahren?« »Gern; aber Sie sind zu schwach dazu.« Die Röthe des Fiebers färbte seine Wangen, aber das gab ihm gerade ein recht munteres Aussehen. Er fühlte sich zum Tode matt; der Arm schmerzte ihn fürchterlich und der Kopf ebenfalls, aber er wollte, er mußte hören, was diese Frau von der Sache wußte. »Ich bin nicht schwach,« sagte er. »Bitte, erzählen Sie immerhin!« Während der Diener mit außerordentlicher Spannung horchte, sagte die Lehrerin: »Der alte Graf de Rodriganda war blind, und Karl Sternau sollte ihn operiren. Die Operation gelang, aber dafür wurde der Graf wahnsinnig.« »Es wird ihm bei der Operation ein Gehirnnerv verletzt worden sein.«
»Nein; man hat ihm ein Gift eingegeben, welches wahnsinnig macht.« »Ah!« Alfonzo war ganz erstarrt, in diesem versteckten Winkel Deutschlands einen Bericht über jene Vorkommnisse anhören zu müssen. Es begann ihm unheimlich zu werden; er fühlte, daß eine neue Ohnmacht ihre Arme nach ihm ausstreckte, aber er strengte alle seine Kräfte an, sie von sich fern zu halten. Er mußte Alles hören, was diese Frau wußte. »Doktor Sternau hat das Gift entdeckt und auch das Gegenmittel gewußt,« fuhr die Lehrerin fort, »aber da hat man den alten Grafen geraubt.« »Geraubt? Unmöglich!« »Ja, doch!« »So Etwas kommt nur in Romanen vor!« »O, auch in der Wirklichkeit.« »Weshalb sollte man ihn geraubt haben?« »Man hat ihn entführt, damit er nicht wieder hergestellt werden könne. Sogar seiner Tochter hat man dieses fürchterliche Gift gegeben.« »Und ist auch sie wahnsinnig geworden?« »Ja.« »Und jetzt ist sie Braut! Wie läßt sich dies vereinigen?« »Man hat dann Doktor Sternau falsch beschuldigt und ihn eingesteckt, damit er sie nicht heilen könne. Aber es ist ihm gelungen, zu entkommen; er hat die Gräfin auch befreit und ist mit ihr nach Deutschland gekommen. Hier hat er sie wie durch ein Wunder geheilt. Sie ist seit zwei Tagen gesund, und nun wird es wohl bald eine Hochzeit geben.« »Das wird nicht so schnell gehen!« »Warum nicht?«
»Weil Verschiedenes dazu erforderlich ist, ehe eine spanische Gräfin mit einem deutschen Arzte getraut werden kann.« »O, ich kenne diesen Karl Sternau; für ihn giebt es niemals Hindernisse.« »Aber, wozu hat man denn dem Grafen und der Gräfin Gift gegeben? Es muß doch einen Grund dazu haben!« »Der Erbfolge wegen.« »Ah! Sehr romanhaft!« »Ja, es soll ein Sohn da sein, der gar nicht der Sohn des Grafen ist.« »Donnerwetter!« Dieser Fluch sollte wohl ironisch klingen, aber er klang mehr nach Ueberraschung und Schreck. Sogar die Röthe des Fiebers wich dabei aus dem Gesichte des Kranken. »Ja,« fuhr die Frau des Lehrers fort. »Der Hauptspitzbube ist ein gewisser Gasparino Cortejo, eben der, dessen Jugendbild Sie hier erblicken.« Gérard Mason horchte auf. Hatte sein Herr nicht gesagt, daß es das Bild seines Vaters sei? War dieser falsche Marchese d’Acrozza der Sohn dieses Gasparino Cortejo? Aber wie kam er da zu dem Notizbuche, in welchem »Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla« zu lesen war? »Inwiefern der Hauptspitzbube?« fragte der Kranke. »Er hat den richtigen Sohn des alten Grafen umgetauscht und seinen eigenen Pankert an dessen Stelle geschoben.« »Alle Teufel!« rief Alfonzo, jetzt noch mehr erschrocken als vorher. »Ja, nun ist der Sohn dieses Cortejo der junge Graf de Rodriganda; aber Doktor Sternau wird dafür sorgen, daß er es nicht lange bleibt.« Gérard warf einen Blick auf das Bild und dann auf seinen Herrn; er nickte leise mit dem Kopfe; er wußte nun, woran er war. Er hat-
te seinen Herrn gesehen, bevor er sich bei Papa Terbillon in Paris sein Aeußeres verändern ließ; er wußte also, wie ähnlich dieser Marchese dem Gasparino Cortejo war. Die Lehrerin freilich konnte dies nicht sehen. »Und dies Alles hat Ihnen der Jäger erzählt?« fragte Alfonzo. »Ja.« »Von wem weiß er es?« »Auf Schloß Rheinswalden wissen es Alle.« »Bedientenphantasie!« »Nein, Wahrheit! Wie der gute Ludewig es erzählte, mußte man es glauben, obgleich es einen Punkt gab, welcher Lächerlichkeit war.« »Welcher?« »Er sagte, er kenne das Gift, welches der Graf und die Gräfin bekommen haben.« »Ah! Welches sollte es sein?« »Spanische Fliege.« »Aeußerlich?« »Nein, innerlich.« »Bringt diese Wahnsinn hervor?« »Möglich, obgleich die Wirkung vorher eine andere ist; aber der Wahnsinn des Grafen und der Gräfin scheint mir nicht der Art gewesen zu sein, daß er durch den Genuß von Kanthariden hervorgebracht worden sein kann.« »Eine Geschichte, ein Roman, ein ganz schöner Roman,« sagte Alfonzo, indem seine Stimme immer müder wurde. »O, Monsieur, das ist wieder Ohnmacht!« rief die Lehrerin. Sie wollte ihm beispringen, aber Gérard hielt sie davon ab. »Lassen Sie!« flüsterte er. »Die Ohnmacht wird ihn stärken. Bitte, kommen Sie heraus!« Er führte die Frau leise aus dem Zimmer und sagte dann zu ihr:
»Madame, wollen Sie mir versprechen, meinem Herrn nichts zu sagen, daß ich dieser Unterredung beigewohnt habe. Ich habe triftige Gründe zu dieser Bitte.« »Und diese Gründe darf ich nicht erfahren?« »Jetzt noch nicht, aber später werde ich sie Ihnen mittheilen.« »Ihr Herr scheint der Familie Rodriganda nicht fern zu stehen, vielleicht ist er verwandt mit ihr?« »Das ist mir nicht wahrscheinlich. Sie sprachen von einem Jäger, von welchem Sie das Erzählte erfahren haben; ist er noch in der Nähe?« »Er wollte erst nächsten Mittag abreisen. Sie wollen mit ihm sprechen in dieser Angelegenheit?« »Vielleicht.« »Er hat Gevatter gestanden bei dem zweiten Bahnwärter von der Unglücksstätte aufwärts, und dort ist er jedenfalls zu finden.« »Ah, es war auf der Unglücksstelle ein Mann, welcher Jägeruniform trug. Er kam mit einem Bahnwärter herbei.« »Das ist er ganz sicher gewesen.« »So werde ich warten, bis der Arzt hier gewesen ist, und dann hin zu ihm gehen.« »Das können Sie, da ich glaube, Ihren Herrn bis zu Ihrer Rückkehr pflegen zu können.« Als jetzt Gérard wieder in das Zimmer trat, lag Alfonzo mit offenen Augen im Bette. Er hatte einen abwesenden Blick, der aber wieder zu sich kam, als er auf den Diener fiel. »Gérard!« sagte er leise. »Monsieur!« »Warst Du fort?« »Ja.« »War die Wirthin jetzt bei mir?« »Ja.« »Hast Du gehört, was ich mit ihr gesprochen habe?«
»Sie sehen ja, daß ich nicht hier gewesen bin!« »Hm! Gieb mir einmal Deinen Taschenspiegel her!« Gérard griff in die Tasche und gab ihm das Verlangte entgegen. Alfonzo betrachtete sich sehr aufmerksam in dem Spiegel, und sein Diener dachte bei sich: »Jetzt will er sehen, ob bei dem Zusammenprall die Toilettenkünste gelitten haben.« Der Graf schien das Resultat seiner Forschung für ein befriedigendes zu halten; er gab den Spiegel zurück und meinte: »Ich sehe nicht so leidend aus, als ich glaubte. Hast Du schon einmal ein Glied gebrochen oder einer Deiner Bekannten? Das Einrichten muß sehr wehe thun –« »Hm! Jaques Guijard, mein Meister, brach einst den Arm. Und als der Arzt denselben zurecht gezogen hatte, meinte er, das hätte nicht weher gethan, als ob Einen ein Floh sticht.« »Das war ein Schmied?« »Ja.« »Aber kein Marchese. Du hättest das viel besser ausgehalten als ich. Warum mußte doch mein Wagen umstürzen und nicht der Deinige. Du bist auch ein Schmied!« »Sie fuhren erster Classe und ich dritter, Monsieur, und der gute Gott scheint der dritten günstiger zu sein, als der ersten.« Das lange Gespräch mit der Wirthin hatte die Kräfte des Grafen doch zu sehr angestrengt. Er fiel wieder in seine Apathie zurück. Es war dieses Mal keine wirkliche Ohnmacht, sondern eine Stumpfheit, eine Unempfänglichkeit gegen äußere Eindrücke. Erst gegen Morgen kam der Arzt. Auch er sah außerordentlich angegriffen aus; er hatte sich über seine Kräfte anstrengen müssen und kam nun doch noch zu dem entfernten Patienten, dem er seine Hilfe versprochen hatte. Er kam in Begleitung des Lehrers, welcher bis jetzt an der Unglücksstätte mit gearbeitet hatte, den Verunglückten die erste Hilfe zu bringen.
Die Lehrerin empfing sie. »Wie steht es?« fragte sie. »Ist das Unglück groß?« »Es sind der Opfer weit mehr als wir erwarteten,« antwortete Wilhelmi. »Wie geht es unserm Marchese?« »Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere.« »So sind edle eile verletzt,« sagte der Arzt. »Wir haben glücklicher Weise Alles bei uns, was wir bedürfen. Kommen Sie, Wilhelmi!« »Soll ich mit?« fragte die Frau. »Nein, das ist nichts für Sie.« Die beiden Männer gingen nach oben, und bald hörte die lauschende Lehrerin das laute Wimmern des Patienten, der nicht die Kraft besaß, seiner Schmerzen Herr zu werden. Nach langer Zeit erst kamen die Herren wieder herab. Gérard war bei ihnen. »Das war ein böser Act,« sagte der Arzt. »So ein feiner Herr hat keine Widerstandsfähigkeit. Er wird aufopfernder Pflege bedürfen.« »Daran soll es nicht fehlen,« sagte die Lehrerin. »Ist die Einrichtung des Armes gelungen?« »Ich glaube es. Aber sein Kopf macht mir Sorgen; er hat eine mehr als kräftige Contusion erlitten. Wir müssen unausgesetzt Eisumschläge machen. Haben Sie Eis?« »Ja,« sagte der Lehrer. »Im Walde draußen giebt es trotz des milden Wetters desselben mehr als genug. Wir haben da Schluchten, wohin keine Sonne dringen kann. Ich werde mir sogleich welches holen lassen.« »Kann ich jetzt einmal fort?« fragte Gérard. »Ja,« sagte der Arzt. »Ihr Herr ist so angegriffen, daß er vor einigen Stunden sicher nicht erwachen wird.« »Bis dahin bin ich zurück.«
»Ich werde mich seiner in Ihrer Abwesenheit annehmen,« sagte die brave Lehrerin. Gérard ging. Es war nun Tag geworden, so daß er den Weg gut finden konnte. Je mehr er sich der Bahn näherte, desto deutlicher sah er, welche Verwüstung der Fluß angerichtet hatte. Der fürchterliche Anprall der Wogen hatte den Bahndamm gerade in dem Augenblicke zerrissen, an welchem der Zug an die Stelle kam. Jetzt nun waren zahlreiche Arbeiter beschäftigt, den Durchbruch zu verstopfen. Das war bei der Macht, mit welcher sich die Fluthen hindurchdrängten, eine sehr schwierige Arbeit. Man rollte schwere Baumstämme hinab, welche sich vor die Dammöffnung legten und so einen ersten Anhalt boten. Darauf warf man riesige Quaderstücke, welche die Kraft des Wassers zum großen eile brachen und nun durch Steinschutt verbunden wurden, welcher die Wogen vollends zur Seite lenkte, so daß man zur Ausfüllung durch Erde schreiten konnte. Oben auf dem Damme war man bereits beschäftigt, die beschädigten Schienen zu entfernen und durch neue zu ersetzen. Das sah Gérard, als er kam. Am Fuße des Dammes standen die Herren der Commission, welche gekommen waren, den Sachverhalt zu untersuchen und dabei zu ermitteln, wen die Schuld treffe. Es hatte sich bereits herausgestellt, daß der Wärter, auf dessen Strecke das Unglück geschehen war, seine Pflicht gethan habe. Die Hauptentlastungszeugen waren sein College und der Jäger Ludewig, welcher auch vernommen worden war. Beide konnten beschwören, daß der Betreffende vor der Ankunft des Zuges seine Strecke besichtigt habe. Die einzige Ursache bildete der Fluß, welcher seine Ufer durchbrochen und sich nun mit aller Macht gegen den Bahndamm geworfen hatte. Aus fernen Maschinenwerkstätten waren kräftige Eisenarbeiter herbeigeeilt, welche mit ihren schweren Werkzeugen unter den
Wagentrümmern aufräumten. Ihnen sah Gérard eine Weile zu, bis er bemerkte, daß der Jäger sich einmal allein befand und nun zu sprechen sei. Er trat zu ihm. »Erlauben Sie, daß ich mich bei Ihnen bedanke!« sagte er sehr höflich zu ihm. »Warum?« frug Ludewig; aber er besann sich sofort und fügte hinzu: »Ah, ich habe Sie heute Nacht bereits gesehen.« »Ja; Sie kamen sofort, nachdem das Unglück geschehen war, um uns zu helfen.« »Sie sind unverletzt dahier?« »Ja, Gott sei Dank. Aber mein Herr hat den Arm zweimal gebrochen und auch eine Contusion am Kopfe.« »Das ist schlimm dahier! Wo liegt er?« »Drüben im Dorfe Genheim, beim Lehrer Wilhelmi.« »Da ist er an einem guten Orte.« »Sie kennen diese braven Leute?« fragte Gérard. »Sehr gut. Sie sind ja mit meiner Herrschaft verwandt dahier. Ich war gestern dort.« »Mit Ihrer Herrschaft? Darf ich fragen, wer das ist?« »Jawohl. Ich stehe da drüben in Rheinswalden beim Oberförster Hauptmann von Rodenstein in Dienst. Er ist unverheirathet, und seinem Hause steht eine Frau Sternau vor, welche mit dem Lehrer Wilhelmi verwandt ist.« »Diese Dame ist nicht verheirathet?« »Nein; sie ist Wittwe dahier.« »Sternau, Sternau –!« sagte Gérard nachdenklich. »Ist dieser Name Ihnen bekannt?« »Ja, von Paris her.« »Ah! Möglich!« »Ich kannte dort einen Doctor Sternau, der ein Deutscher war.« »Vielleicht ist dies der Sohn unserer Frau Sternau.« »Er war bei Professor Letourbier –«
»Das stimmt, das stimmt dahier! Der junge Herr war bei diesem Professor.« »Ah! Wo befindet er sich jetzt?« »In Rheinswalden, bei uns.« »Er hat eine Dame aus Spanien bei sich?« »Ja. Er hat sie von einer fürchterlichen Fliege geheilt dahier.« »Und einen Spanier nebst einer Spanierin als Dienerschaft?« »Ja; das ist unser Alimpo und unsere Elvira. Aber woher wissen Sie das?« Gérard durfte nicht zu viel sagen; er antwortete also: »Ich erfuhr es ganz zufällig. Ich sprach mit einer Dienerin des Professors, welche mir es im Laufe des Gespräches erzählte.« »So sind Sie ein Franzose dahier?« »Ja.« »Und Ihr Herr auch?« »Nein; er ist ein Italiener, ein Marchese d’Acrozza.« »Ein Marchese? Das ist so viel wie ein Marquis dahier?« »Ja.« »So freut es mich, daß er sich in so guten Händen befindet. Bei Wilhelmi’s ist er so gut aufgehoben, daß er gewiß zufrieden sein wird dahier. Ich denke, daß er sich – –« Er wurde unterbrochen. Droben auf dem Damme war eine der Schienen gesprungen, und die eine Hälfte derselben stürzte herab, gerade in der Richtung, in welcher die beiden Sprechenden standen. »Vorsicht! Weg da unten!« rief es von oben. Es war bereits zu spät. Sie sprangen zwar Beide zur Seite, aber das Schienenstück traf auf einen Stein auf; dadurch wurde die Richtung seines Falles verändert, und es schlug mit seiner ganzen Schwere auf Gérard hernieder, der augenblicklich zusammenbrach.
»Mein Gott, den hat es erschlagen dahier!« rief Ludewig ganz erschrocken. In Zeit von einer Minute waren alle Anwesenden um den Bewußtlosen versammelt. »Es ist ein Diener. Wer kennt ihn?« fragte ein Herr der Untersuchungs-Commission. »Ich,« sagte der Jägerbursche. »Nun?« »Er steht bei einem italienischen Marchese in Diensten, der heute Nacht mit verunglückt ist.« »Und wo befindet sich dieser Herr?« »Drüben in Genheim beim Lehrer Wilhelmi.« Der Herr bog sich nieder und untersuchte den Verletzten. »Er ist nicht todt,« sagte er; »er athmet noch. Der Schlag hat ihn auf die Achsel getroffen. Welch’ eine Unvorsichtigkeit, sich hierher zu stellen!« Ein anderer Herr schnitt den Livreerock auf und untersuchte die Schulter. »Die Knochen dieses Mannes müssen von Panzerstahl geschmiedet sein. Ich glaube, daß nur das Schlüsselbein verletzt ist,« sagte er. Die Schmerzen dieser etwas derben Untersuchung erweckten Gérard aus seiner Betäubung; er schlug die Augen auf und blickte sich im Kreise um. »Wie befinden Sie sich?« fragte ihn der Herr, welcher ihn zuletzt untersucht hatte. Er machte sehr erstaunte Augen, besann sich aber, erhob sich und fühlte nach seiner Schulter. »Donnerwetter, die Clavicule ist caput!« sagte er. »Die Clavicule? Was ist das dahier?« fragte Ludewig. »Das Schlüsselbein,« antwortete der Schmied gleichmüthig.
Dann bückte er sich nieder, faßte die Schiene mit der Hand der unverletzten Seite, hob sie empor, wiegte sie prüfend, blickte dann forschend an dem Damme empor und sagte: »Ein Wunder ist es nicht. Wenn ein solches Stück sieben Meter hoch herunter stürzt, so mag der Teufel ein ganzes Schlüsselbein behalten!« Die Anwesenden blickten sich ganz erstaunt an; dann begann Einer zu lächeln, nachher zu lachen; die Anderen stimmten ein, und so ernsthaft die Situation eigentlich war, es erschallte rundum ein lautes Gelächter, welches erst verstummte, als einer der Herren rief: »Aber, Mensch, ich denke, es muß Sie todtgeschlagen haben!« »Pah! Das müßte anders kommen!« »Ich wollte Sie eben aufladen und nach Genheim schaffen lassen!« »Danke sehr, Monsieur! Ich gehe selbst.« Er machte Miene, den Platz zu verlassen. »Aber so warten Sie doch!« warnte man ihn. »Nehmen Sie wenigstens Jemand mit. Sie werden unterwegs umfallen!« »Keine Sorge, meine Herren!« sagte er. »An einem Schlüsselbeinbruch fällt man nicht um; der heilt unter Umständen sogar von selbst. Besten Dank, und Adieu!« Er ging. Die Leute blickten ihm nach, so lange sie ihn sehen konnten, aber sie konnten nicht das leiseste Zittern oder Wanken an ihm bemerken. Er war ein Garotteur; seine Nerven waren von Eisen, seine Flechsen von Stahl und seine Knochen von einer Materie, welche einen Bruch wohl auszuhalten vermag. – – Auf das außerordentlich milde Wetter folgte plötzlich eine ganz ungewöhnliche Kälte, welche die übergetretenen Gewässer zu Eis erstarren ließ und in Feld und Wald alles Leben zu ertödten schien.
Das war eine böse, schwere Zeit für die armen Heimgesuchten, deren Obdach von den Fluthen der Ueberschwemmung zerstört worden waren. Sie litten am Meisten, wenn auch nicht allein. Die Armuth getraute sich nicht in die grimmige Kälte hinaus, um ein Bündel Leseholz für die kalte Stube zu holen; die Sperlinge fielen von den Dächern, und das Wild kam in die unmittelbare Nähe der Menschen, um bei ihnen Hilfe gegen Frost und Hunger zu suchen. Aber nicht blos Frost und Hunger drohte den anmuthigen Bewohnern des Waldes, es gab noch andere, gefährlichere Feinde, welche der Frost aus den Höhen der Gebirge herbeigezogen hatte. Der Hauptmann von Rodenstein saß in seiner Arbeitsstube qualmte seine Morgenpfeife und brachte allerlei Rechnungen zu Papiere, was nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung war. Daher lag seine Stirn in Falten, und sein Auge warf grimmige Blicke auf die Ziffern, welche er an einander reihen mußte, wie die Soldaten einer Kompagnie. Da klopfte es. »Herrrrein!« rief er. Die ür ward geöffnet und der kleine Kurt Helmers trat ein. »Guten Morgen, Herr Hauptmann!« grüßte er. »Morgen!« brummte der Alte, indem er weiter schrieb. Erst nach längerer Zeit warf er einen forschenden Blick auf den Knaben, der noch immer in Achtung an der ür stand. »Donnerwetter!« rief er da. »Wo hast Du Deine Pelzjacke, Junge?« »Drüben, Herr Hauptmann, im Kleiderschrank.« »Im Kleiderschrank! So!« Er warf die Feder von sich und erhob sich mit drohender Geberde. »Sage einmal, wozu Du die Jacke hast, Bube!« »Zum Anziehen, Herr Hauptmann!« antwortete Kurt furchtlos.
»Gut, zum Anziehen! Im Sommer oder im Winter, he?« »Im Winter.« »Was ist denn jetzt? Etwa Sommer?« »Es ist Winter, Herr Hauptmann.« »Na, warum ziehst Du sie denn nicht an, he?« »Der Vater hat’s verboten.« »Der Va – – –! Ah, den soll der Teufel reiten! Warum hat er es verboten, he?« »Er sagt, ich würde eine alte Frau, wenn ich mich so einmummele.« »So, so! Hm, hm! Eine alte Frau! Jetzt, bei zweiundzwanzig Grad Reaumur! Sage einmal, wer hat da drüben auf dem Vorwerke die Herrschaft?« »Der Vater.« »Und hier im Schlosse?« »Der Herr Hauptmann von Rodenstein.« »Und wo bist Du jetzt? »Auf dem Schlosse.« »Wem hast Du also zu gehorchen?« »Dem Herrn Hauptmanne.« »Gut! Ja! Also! Jetzt packst Du Dich hinüber, ziehst die Pelzjacke an, setzest die Pelzmütze auf die Ohren und kommst wieder.« »Und wenn es der Vater nicht leiden will?« »So sagst Du ihm, daß ich hinüber komme und ihm einige Pfund Rehposten auf den Pelz brenne. Pasta! Abgemacht! Rechtsum kehrt! Marsch!« Der Knabe hatte bis jetzt in Achtung gestanden. Jetzt machte er kehrt und stampfte mit militärischem Schritt zur ür hinaus. Der Hauptmann konnte bei diesem Anblicke doch ein Lächeln nicht beherrschen. »Wetterjunge!« brummte er. »Ist mir weiß Gott an’s Herz gewachsen wie das Kraut an den Strunk!«
Er dachte keineswegs daran, daß dieser Vergleich für ihn ganz und gar nicht schmeichelhaft sei; er setzte sich wieder nieder, nahm die Feder zur Hand und schrieb neue Ziffern. Aber schon nach wenigen Minuten wurde er von Neuem gestört. Es klopfte abermals. »Herrrrein!« rief er. Kurt war es wieder; aber in Pelzjacke und einer gewaltigen Fuchsmütze, unter welcher seine Augen hell und lustig in die Welt blickten. »Guten Morgen, Herr Hauptmann!« grüßte er zum zweiten Male. »Morgen!« brummte der Alte. Erst nach einer ganzen Weile warf er einen Blick auf den Knaben, und nun erheiterte sich sein Gesicht. Er warf die Feder abermals fort und sagte: »Na, ist das nicht etwas Anderes, Junge?« »Ja, wärmer, Herr Hauptmann.« »Versteht sich! Du sollst mir keine alte Frau werden; aber bei dieser Kälte fährt man in die Federn oder in den Pelz. Wie steht es mit Deiner Aufgabe?« »Fertig.« »Her damit!« »Hier!« Er griff in die Tasche und zog eine Papierrolle hervor, welche er dem Oberförster überreichte. Dieser machte sie auf und sagte: »Rührt Euch!« Auf dieses Kommandowort nahm der Knabe eine bequemere Stellung an. Der Alte aber betrachtete mit leuchtenden Augen die Figuren, welche auf das Papier gezeichnet waren. Es waren die Fährten der verschiedensten jagdbaren iere. Der Junge mußte seine Sache sehr gut gemacht haben. Plötzlich aber verfinsterte sich das Gesicht des Oberförsters, und er fuhr den Knaben an:
»Wer hat geholfen?« »Niemand, Herr Hauptmann.« »Lüge nicht, Kerl!« Da blitzten die Augen des Knaben zornig auf, er trat schnell an den Schreibtisch, zog einen leeren Bogen herbei, ergriff einen Bleistift und sagte: »Probiren!« Er sagte nur dies eine Wort, aber auf seinem jugendlichen Gesichte lag und aus dem Tone seiner Stimme klang eine solche Zuversichtlichkeit, daß der grimmige Alte einsehen mußte, daß er ihm Unrecht gethan habe. »Papperlapapp!« sagte er. »Wozu probiren! Also Du hast das wirklich ganz allein gemacht?« »Ja.« »Auch Niemand gefragt oder gezeigt?« »Nein.« »Na, das ist Gottstrampach Alles, was nur möglich ist! Zeichnet mir dieser Bube die Fährten so richtig und genau, daß ich es nicht besser machen könnte! Komm’ her, Schlingel; ich muß Dir einen Schmatz geben, und zwar einen ordentlichen!« Gerade als er seine bärtigen Lippen auf den jugendlichen Mund des Knaben drückte, klopfte es abermals an die ür. »Herrrrein!« rief er. Der Bursche Ludewig trat ein. »Guten Morgen, Herr Hauptmann!« »Morgen! Was giebt es?« »Kaffee oder Warmbier?« »Warmbier! Zweiundzwanzig Grad Reaumur!« Der Bursche drehte sich um, trat hinaus, nahm dem draußen stehenden Mädchen eines der beiden Services ab, welche sie in den Händen hatte, und setzte es dem Oberförster vor. Es enthielt Warmbier.
»Schön!« sagte der Alte. »Abtreten!« Aber Ludewig ging nicht, sondern blieb stehen. »Na, warum nicht?« fragte der Hauptmann. »Was giebt es noch?« »Etwas Außerordentliches dahier, Herr Hauptmann.« »Ah, was denn?« »War heut im Walde, und habe ein Spur gesehen, ah!« Da griff der Alte nach der Zeichnung des Knaben, reckte sie dem Burschen hin und fragte: »Welche von diesen?« Ludewig blickte die Zeichnung durch und rief erstaunt: »Donnerwetter! Prachtvoll gemacht! Gewiß eine Arbeit des Herrn Hauptmann, noch von der Akademie aus, dahier?« Der Alte machte ein sauersüßes Gesicht. »Dummheit, Akademie,« sagte er; »der Junge da hat es gemacht!« »Der da, der Kurt?« fragte der Bursche ganz erstaunt. »Ja. Hörst wohl schwer?« »Da fahre doch das Wetter drein! Der Kerl hat sogar mich über dahier!« Jetzt lachte der Alte vergnügt. »Dazu gehört nicht viel,« sagte er, während des Knaben Augen vor Genugthuung leuchteten. »Aber welche Fährte von diesen hast Du heute gesehen?« »Sie ist hier nicht mit dabei.« »Dann ist’s ’was ganz Außerordentliches!« »Allerdings.« »Nun?« »Darf ich sie hinzumalen, Herr Hauptmann?« »Ja.« Ludewig ergriff den Bleistift und zeichnete. Er hatte den dritten Tapfen noch nicht fertig, so sprang der Hauptmann auf und rief:
»Ist’s wahr! Ein Wolf!« »Ja, Herr Hauptmann, ein Wolf, und was für einer. Er war am Forellenbach.« »Donnerwetter! Mache Dich fertig; wir holen ihn.« »Wer noch mit?« »Die Andern alle und die Hunde. Ich will erst frühstücken und die Rechnungen fertig machen. In einer halben Stunde geht es fort.« Der Hauptmann hatte diese Befehle ganz im Tone der Begeisterung gegeben, denn ein Wolf war hier eine Seltenheit. »Darf ich mit, Herr Hauptmann?« fragte da der Knabe. »Du? Bist Du gescheidt! Der Wolf würde Dich fressen.« »Mich?« fragte Kurt, indem seine Augen zornig blitzten. »Ja. Das ist nichts für Knaben. Ein Wolf ist in solcher Kälte ein gefährliches ier.« »Ich habe ja meine Doppelbüchse!« »Papperlapapp! Habe jetzt keine Zeit! Packt Euch!« Er schob alle Beide zur üre hinaus. Draußen blieb der Knabe stehen und flüsterte: »Ludewig, geht es wirklich nicht?« »Nein, mein Junge; er hat es einmal gesagt.« »Gieb Du ihm doch gute Worte!« »Ich werde mich hüten. Dieser Wolf ist ein ganz außerordentlicher Kerl dahier; so groß wie ein richtiges Kalb. Da wärst Du verloren.« Er ließ den Knaben stehen und eilte davon. Kurt verweilte einen Augenblick ganz betrübt an derselben Stelle; dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht, und er eilte davon, zur Treppe hinunter, zum Hofe hinaus und nach dem Vorwerk hinüber. »Warte, nun grade, nun grade!« raisonnirte er unterwegs bei sich. »Mich soll kein Wolf fressen, mich, mich!«
Im Vorwerk angekommen, ging er nach der Stube. Dort saß sein Vater, der Steuermann, über verschiedenen Seekarten, welche vor ihm auf dem Tische lagen. Er sah, daß der Junge nach seinem Hinterlader griff und Patronen einsteckte. »Wohin?« fragte er. »Krähen schießen, Papa.« »Gut, aber nicht lange; es ist zu kalt.« Es kam täglich vor, daß Kurt zu seiner Uebung Krähen schoß; darum fiel es heute nicht auf. Der Junge steckte unbemerkt sein kleines Waldmesser und eine feste Leine zu sich; dann ging er. Draußen hinter dem Vorwerke blieb er überlegend stehen. »Am Forellenbache! Sie dürfen nicht sehen, daß ich vor ihnen hinaus bin. Ich mache einen Umweg, gehe durch die Erlen und dann hinüber nach dem Eichberge; da habe ich auch die Luft für mich.« Also die Richtung des Windes hatte er doch schon, und zwar ganz unwillkürlich, gesichert. Der muthige Knabe hatte gar keine Ahnung, welcher Gefahr er entgegen ging. Er huschte auf die Straße hinüber, schritt eine ziemliche Strecke auf derselben hin und trat dann in einen Erlenschlag ein, welcher sich links hinüberzog. Er schritt unbesorgt wohl zehn Minuten lang zwischen den Büschen hin, bis ein trockenerer Boden kam, der mit hohen Eichen bestanden war. Er hatte wohl noch eine halbe Stunde bis zum Forellenbach zu gehen, nahm aber doch sein scharf geladenes Doppelgewehr, welches er damals vom Hauptmann geschenkt erhalten hatte, von der Schulter und führte es schußgerecht im Arme. Er fühlte nichts von der grimmigen Kälte; der Gedanke, einen Wolf zu sehen, erwärmte ihn. Er dachte nicht daran, daß das ier erst gesucht werden müsse, daß es zwar am Forellenbache seine Fährte gezeichnet habe, jetzt aber bereits stundenweit davon entfernt sein könne. Er schritt weiter und weiter, dem Bache zu.
Da krachte im Forste ein Baum. Ganz unwillkürlich richtete er sein Auge nach der Richtung, aus welcher der Schall gekommen war, und sofort blieb er stehen. »Ein Hund!« flüsterte er. »Ein fürchterlich großer Hund! Oder ist das der Wolf?« Rasch trat er hinter die nächste Eiche. Nicht dreißig Schritte von ihm entfernt stand die Gestalt eines hundeähnlichen ieres, welches auch nach der Richtung äugte, in welcher der Baum gekracht hatte. Die spitzen Ohren waren horchend empor gerichtet, und der buschige Schwanz stak zwischen den hintern Beinen. Es war ein großes, mächtiges aber sehr mageres ier; es mußte der Wolf sein. Er mochte sich beruhigt haben und kam jetzt im Troddelschritte näher. Jetzt war er kaum noch zwanzig Schritte entfernt. Die Luft stand gut. Da hob Kurt sein Gewehr. Er zitterte nicht im Geringsten; er hatte ja zwei Schüsse. Er zielte gerade auf die Brust des ieres und drückte ab. Der Schluß krachte, das ier fuhr auf die Hinterbeine zurück, that einen halben Sprung vorwärts, brach zusammen, wollte sich wieder aufraffen, stieß ein halbes, abgebrochenes Heulen aus und lag dann verendet am Boden. Zunächst lud Kurt den abgeschossenen Lauf wieder, dann trat er zu dem Tiere; es bot einen ekelhaften Anblick, so daß der Knabe sofort im Stillen meinte: »Das ist kein Hund, sondern der Wolf.« Vor Freude glühend, stand er da. »Was thue ich?« fragte er sich. »Schaffe ich ihn heim? Nein. Sie werden seiner Fährte folgen und ihn bereits erlegt finden. Dann sehen sie auch meine Fußtapfen. Welch ein großer, großer Aerger! Ich gehe fort und lasse ihn liegen.« Und das that er. Aber er befand sich nun einmal im Walde und wollte nicht gleich wieder nach Hause gehen, darum schritt er
langsam durch den Schnee immer weiter in den Eichwald hinein. Er dachte, auf irgend ein kleines Wild noch zum Schusse zu kommen. So suchte und suchte er, bis er fühlte, daß er ermüdet sei. Es gab da eine umgebrochene Blutbuche, auf deren Stamm er sich setzten konnte, und er that dies, um ein Wenig auszuruhen. Hier saß er wohl eine Viertelstunde lang, als er auf einen ganz eigenthümlichen Laut aufmerksam wurde. Es klang, als ob ein Eichkätzchen da oben in den Eichen seine Kletterversuche mache, aber viel lauter und kräftiger. Er blickte nach der Richtung, aus welcher dieses Geräusch kam, empor und – duckte sich im Nu unter den Stamm nieder, auf welchem er gesessen hatte. »Eine Katze, eine wilde Katze gewiß,« flüsterte er. »Aber was für ein Vieh!« Es war allerdings ein katzenähnliches ier, welches er erblickte, aber von einer ganz bedeutenden Größe. Es bewegte sich nicht am Boden, sondern oben in den Zweigen von einem Baume zum andern. Es war über anderthalbe Elle lang, sah oben fuchsroth und unten weiß und hatte einen schwarz geringelten Schwanz. Es machte Sprünge von bedeutender Weite und duckte sich, von einem Baume auf dem andern angekommen, erst tief und eng auf dem Aste nieder, um zu gewahren, ob es sicher sei. »Nein, eine Wildkatze ist es nicht,« dachte Kurt. »Aber was sonst? Ah, mag es sein, was es will, ich schieße!« Das mußte aber schnell geschehen, denn das ier nahm seine Richtung nach seitwärts hinüber. Eben schlich es sich nach dem vordern eile eines starken Astes und erhob sich, um einen Sprung zu thun, da legte der muthige Knabe sein Gewehr an. Das ier gab ihm in seiner gegenwärtigen Stellung ein schönes Ziel zu einem guten Schusse. Nur einen einzigen Augenblick zielte er, dann krachte der Schuß. Das ier sprang nach einem Aste des nächsten Baumes, erreichte diesen aber nicht, sondern stürzte, sich
in der Luft zweimal wendend, zu Boden herab. Da aber richtete es sich empor und starrte nach der Richtung, aus welcher der Schuß gefallen war. Seine Augen glühten wie Feuer. »Noch einmal!« Diese Worte rief Kurt ganz laut. Das ier bot ihm jetzt gerade die vordere Brust. Er drückte den zweiten Lauf ab, und im nächsten Augenblicke prallte das ier gegen den Stamm, hinter welchem er lag. Es krallte seine Klauen in denselben ein, aber es kam nicht hinüber; es war zum Tode getroffen. Ein eigenthümliches Pfauchen und Knurren erscholl; dann ertönte ein Schrei, und nun war es still. Der Knabe hatte nach dem zweiten Schusse die Büchse fortgelegt und das Messer gezogen. Er wußte, daß es so richtig sei. Er hatte auch in knieender Stellung das Messer zum Stoße bereit gehalten, falls das ier über den Stamm herüber kommen würde, aber was wäre er in diesem Falle gegen ein solches Raubzeug gewesen! Jetzt erhob er sich, lud sein Gewehr wieder und betrachtete sich das ier. Er erschrak. »O, was ist das!« rief er vor Schreck ganz laut. »Das Vieh hat Ohrpinseln; das ist ein Luchs!« Es schien ihm ganz unglaublich, ein solches ier erlegt zu haben; aber er erhielt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn er vernahm von Weitem her ein Geräusch und drehte sich nach demselben um. Er brauchte nicht lange zu warten, so erschien ein Mann aus dem nächsten Dorfe mit einem Holzschlitten. Er war arm und trotz der Kälte in den Wald gegangen, um sich Fallholz aufzulesen, was ja erlaubt war. Beide kannten einander. »Ah, wer ist denn das?« sagte der Mann. »Mosjeh Kurt! Guten Morgen!« »Guten Morgen, Klaus!« sagte der Kleine hoch erfreut. »Höre Klaus, willst Du Dir einen aler verdienen?« Der Mann schlug die Hände zusammen.
»Einen aler? O, wie gern! Aber wie?« »Du sollst mir einen Luchs und einen Wolf nach dem Schlosse fahren.« »Einen Luchs und einen Wolf? Die giebt es ja hier bei uns nicht.« »Nicht?« lachte der Knabe fröhlich. »Wollen wir wetten?« »Ich bin arm; ich habe Nichts zu verwetten.« »So schau einmal hierher!« Kurt deutete hinter den Stamm, und der Mann sah sich das erlegte ier an. »Herrgott, das ist wirklich ein Luchs!« rief er. »Wer hat den geschossen?« »Ich natürlich!« »Sie, Mosjeh Kurt? Das ist unmöglich!« »Hast Du die Schüsse nicht gehört und siehst Du andere Tapfen als die meinigen?« Der Mann blickte sich aufmerksam um und rief dann: »Es ist bei Gott wahr; Sie sind es gewesen! Aber, Mosjeh Kurt, da hat Sie der liebe Gott beschützt!« »Ja, aber mach’ schnell! Der Luchs und der Wolf müssen aufgeladen werden, ehe der Herr Hauptmann kommt. Er will den Wolf schießen.« »Denselben?« »Denselben,« nickte der Knabe lachend. »Ich wollte mit, aber ich durfte nicht, denn der Herr Hauptmann dachte, daß der Wolf mich fressen würde.« »Und da sind Sie allein gegangen?« »Ja.« »Welch ein Wagniß!« rief der Mann ganz entsetzt. »O, nun kann ich den Wolf essen, und den Luchs dazu! Aber nun schnell; lade auf!«
Die seltene Beute wurde aufgeladen, und eben wollte sich der Mann in Bewegung setzen, da hielt ihn Kurt noch zurück. »Höre, Klaus,« sagte er, »der Herr Hauptmann wird meine Spur finden, und ihr nachgehen; darum wollen wir sie verbergen. Du trittst in die Tapfen, die ich gemacht habe, und nun vorwärts!« Kurt schritt voran, ganz in seinen früheren Fußtapfen, und Klaus folgte, indem er die Tapfen des Knaben größer trat. So gelangten sie zu der Stelle, an welcher der Wolf lag. Auch er wurde aufgeladen, und dann deckte Klaus beide iere mit Reißig zu. Nun ging es auf demselben Wege zurück, auf welchem Kurt durch die Erlen gegangen war, wobei auch hier seine Tapfen verwischt wurden. So jung er war, so klug fing er seine Sache an. Auf diese Weise gelangten sie nach dem Vorwerke. Der Steuermann trat aus dem Hause und wollte zanken, daß Kurt so spät zurückkehrte, dieser jedoch fiel ihm in die Rede: »Papa, hast Du einen aler?« »Einen aler?« fragte Helmers, ganz erstaunt über diese Forderung. »Für wen?« »Für den Klaus hier. Da unter dem Reißig steckt Etwas; er hat es mir aus dem Walde hierher gefahren, und ich habe ihm dafür einen aler versprochen.« »Du bist nicht klug!« »Hältst Du mich für dumm, Papa?« »Hm! Was ist es denn?« »Das darf jetzt nicht gesagt werden, erst wenn der Herr Hauptmann aus dem Walde kommt.« Helmers überlegte sich die Sache. Der Hauptmann konnte ja Etwas verlegt haben. »Ist es einen aler werth, was Du da bringst?« fragte er den Mann. »Ja, noch viel mehr!« antwortete dieser. »Gut, so sollst Du ihn haben. Hier!«
Er gab Klaus das Geldstück und frug dann seinen Sohn: »Also ich darf nicht wissen, was es ist, und sonst auch Niemand?« »Nein.« »Aber Klaus braucht seinen Schlitten; Du mußt also abladen.« »So gehst Du in die Stube, und wir laden in dem Holzstall ab, dessen Schlüssel ich behalte.« »Heimlichkeit über Heimlichkeit!« sagte Helmers. Aber er that doch Kurt seinen Willen und ging in die Stube. Klaus fuhr mit seinem Schlitten und seinem aler ab, ohne das Geheimniß zu verrathen, und Kurt lief den ganzen Vormittage im Vorwerke und im Schlosse umher wie Einer, dem irgend Etwas das Herz abdrücken will. Endlich kehrte der Hauptmann mit seinen Untergebenen aus dem Walde zurück. Kurt sprang ihm entgegen. »Haben Sie ihn, Herr Hauptmann?« fragte er. »Packe Dich zum Teufel, Bube!« lautete die Antwort. Der Oberförster war augenscheinlich in einer höchst grimmigen Stimmung. Er schob den Knaben einfach bei Seite und ging nach seiner Wohnung. Kurt wartete, bis die Burschen sich in ihrer Stube versammelt hatten, und trat dann dort ein. »Habt Ihr ihn, Ludewig?« war auch hier seine erste Frage. »Nein, sondern er hat uns gefoppt,« antwortete der Gefragte. Er zog den Tabaksbeutel hervor, um sich eine neue Pfeife zu stopfen. Als dies geschehen war und der Tabak brannte, setzte er sich zu den Andern an den Ofen und sagte: »Kurt, Du bist noch sehr jung dahier, aber man darf Dir schon Etwas sagen.« »Was?« fragte der Knabe neugierig. »Ich meine, Etwas, was Du noch nicht zu wissen brauchst, weil dabei selbst uns Großen der Verstand stille steht dahier.« »Ja, vollständig stille!« stimmte ein Anderer bei.
»Halt’s Maul, wenn ich rede!« fuhr ihn Ludewig an. »Dein Verstand steht übrigens stets stille! Kurt, hast Du einmal von der schwarzen Henne gehört, oder von einem dreibeinigen Hasen?« »Nein.« »Vom achtbeinigen auch nicht?« »Nein.« »Von der Eule mit vier Flügeln, oder vom Hunde mit einem Kopf und Schwanz vorn und hinten?« »Auch nicht.« »Aber vom wilden Hackelberg hast Du gehört, sowie vom wilden Jäger und vom getreuen Eckehardt?« »Ja.« »Und von der guten Frau Holle?« »Ja.« »Nun gut, wir sollen Dir von solchen Sachen nichts erzählen; der Herr Hauptmann hat es uns verboten, aber aus ihnen geht doch hervor, daß es im Walde nicht ganz ohne ist dahier. Verstanden?« »Ja.« »Ich habe auch Vieles nicht geglaubt; aber seit heute glaube ich Alles und Jedes, weil ich ein Gespenst gesehen habe.« »Ein Gespenst?« fragte der Knabe. »Ja. – Gottstrampach, es ist wahr dahier!« »Was denn für eines?« »Hast Du einmal etwas gehört vom verwünschten Bär, oder vom Geisterwolf?« »Nein.« »Nun, siehst Du, Kurt, den habe ich gesehen.« »Den Geisterwolf?« »Ja. Wenn Du dem Herrn Hauptmann nichts wiedersagst, will ich es Dir erzählen.« »Ich sage nichts.«
»Nun gut! Also ich gehe heute Morgen in den Wald und nehme einige Bunde Heu mit für die Rehe. Auf dem Rückwege komme ich an den Forellenbach, und da huscht Etwas, so etwa zwanzig Schritte weit, an mir vorüber in’s Gebüsch.« »Der Wolf?« »Ja. Als ich hinkomme, sehe ich sofort an der Fährte, daß es ein Wolf ist. Ich ging zum Herrn Hauptmann, zeichnete ihm die Fährte vor, und auch er sagte, daß es ein Wolf sei.« »Ich war dabei.« »Ja, Du bist also Zeuge dahier! Darauf ziehen wir mit dem ganzen Hundezeug hinaus, um den Wolf zu stellen. Wir finden seine Fährte, folgen ihr und – – weg ist sie auf einmal, wie fortgeblasen. Sie verlor sich auf einer Schlittenfährte, der wir bis auf die Straße gefolgt sind. Es sieht also ein Jeder sehr leicht ein, daß es der Geisterwolf gewesen ist.« »Ihr hättet mich mitnehmen sollen!« meinte Kurt sehr ernsthaft. »Nein, bei Leibe nicht; denn weißt Du, was es bedeutet, wenn der Geisterwolf erscheint?« »Was?« »Es stirbt Einer aus der Gesellschaft. Mich mag es immerhin betreffen. Seit ich damals den Sauschuß gethan habe, ist mir Alles egal dahier!« – Am Nachmittage hatte sich Kurt abermals bei dem Oberförster einzustellen; er erhielt um diese Zeit Unterricht von ihm. Er machte sich also in Pelzjacke und Pelzmütze auf den Weg zu ihm. Er klopfte wie gewöhnlich an, und auf das »Herrrrein!« des Alten trat er ein. »Guten Tag, Herr Hauptmann!« »’n Tag! Was giebt’s?« »Stunde, Herr Hauptmann.« »Heute ist keine,« brummte der Oberförster. »Werde mir eine Stunde geben! «
Er saß auf seinem Stuhle und starrte durch das Fenster; erst nach langer Zeit wandte er sich zu dem Knaben und fragte: »Hast Du mit Ludewig gesprochen über den Wolf?« »Ja.« »Was sagte er?« »Ich darf es nicht sagen, Herr Hauptmann, weil ich es versprochen habe.« »So! Das muß ich gelten lassen. Aber ich kann mir trotzdem denken, wovon die Rede gewesen ist. Von Geistern und Gespenstern. Hm! Junge, glaubst Du, daß ein ier verschwinden kann?« »Ja, Herr Hauptmann.« »Alle Teufel! Du!« rief er zornig. »Wenn es fortläuft.« »Ach so! « »Oder fortgeschafft wird.« »Hm, nicht übel! Heute ist uns unser Wolf verschwunden.« »So ist er fortgelaufen.« »Nein.« »Oder fortgeschafft worden.« »Könnte ich diesen Hallunken erwischen! Ein gescheidter Kerl ist er. Ich gäbe gleich zehn aler d’rum, wenn ich ihn bekommen könnte!« »Den Wolf oder den Kerl, Herr Hauptmann?« »Den Kerl zunächst!« »Ich kenne ihn.« Da sprang der Hauptmann auf. »Wer ist es?« »Ich darf es nicht sagen.« »Donnerwetter! Hast Du etwa auch ihm Verschwiegenheit versprochen?«
»Ja. Sagen darf ich nichts; aber zeigen darf ich dem Herrn Hauptmann Etwas, woraus sich gleich errathen läßt, wer der Kerl gewesen ist.« »Kerl, ich will nicht hoffen, daß Du mit mir Unsinn treibst!« »Es ist mein Ernst.« »Wo ist Das, was ich sehen soll?« »Drüben bei uns.« »So gehe ich mit, jetzt gleich.« »Herr Hauptmann, darf der Ludewig mit? Es ist auch für ihn.« »Gut, meinetwegen!« »Und die Anderen? Ich bitte darum!« »Nun gut, sie mögen mitlaufen, Alle mit einander. Aber der Teufel soll Dich holen, wenn es Dir vielleicht einfallen sollte, Unsinn zu treiben!« Sie brachen auf; die Burschen wurden gerufen, und nun ging es in Gesammtheit hinüber in den Hof des Vorwerks. Dort stand der Steuermann, der große Augen machte über den Zug, der bei ihm einwanderte. »Guten Tag, Herr Hauptmann!« grüßte er ehrfurchtsvoll. »’n Tag! Wißt Ihr, was wir hier wollen?« »Nein.« »Uns von Eurem Jungen an der Nase führen lassen!« »Das mag ihm nicht einfallen!« »Will’s ihm auch nicht rathen!« Kurt machte eine triumphirende Armbewegung und sagte zu seinem Vater: »Hier, Papa, hast Du den Schlüssel. Mache dem Herrn Hauptmann den Holzstall auf!« Der Steuermann nahm den Schlüssel. »Ah,« sagte er, »endlich klärt sich das Geheimniß auf!« »Ein Geheimniß?« fragte der Hauptmann.
»Ja. Er hat hier Etwas versteckt; wir werden es aber sogleich sehen.« Er öffnete und trat zur Seite, um dem Hauptmanne den Vortritt zu lassen. Dieser trat ein, blieb unter der ür stehen und war einige Augenblicke lang ganz sprachlos. »Himmeldonnerwetter!« Diesen Ruf hörte man; da man aber nur seinen Rücken sehen konnte, so wußte der Steuermann nicht, ob dies ein Ruf des Zornes oder der Ueberraschung sei. Er warf in Folge dessen seinem Sohne einen drohenden Blick zu und fragte: »Was ist’s, Herr Hauptmann?« »Kreuzhimmeldonnerwetter!« »Herr Hauptmann,« sagte Helmers, »wenn der Bube eine Dummheit gemacht hat, so – –« Da drehte sich der Alte endlich um. Sein Gesicht strahlte vor freudigem Erstaunen, und er unterbrach den Steuermann: »Maul halten! Ludewig, er hat ihn!« »Wen?« fragte der Bursche. »Rathe!« Ludewig sann eine Weile nach und sagte dann: »Ja, wer soll sich das denken!« »Nun, den wir heute suchten!« Der Bursche machte eine sehr bestürzte Miene und sagte: »Doch nicht etwa gar den Wolf!« »Ja, ihn gerade!« »Den Geisterwolf?« »Den Geisterwolf, Du Esel!« lachte der Oberförster grimmig. Er wollte bei Seite treten, um den Anderen einen Einblick in den Holzstall zu lassen, da trat der Briefträger durch das Hofthor. Aller Augen richteten sich für einen Augenblick auf ihn. Er sah den Oberförster und fragte:
»Herr Hauptmann, soll ich Ihre Briefe hinüber tragen, oder darf ich sie sogleich hier abgeben?« »Gieb her!« Er langte ihm einige Briefe zu, darunter ein großes, amtlich versiegeltes Couvert. Der Hauptmann besah es. »Vom großherzoglichen Oberforstamte!« sagte er erstaunt. »Und ein »Eilig« darauf! Das muß sofort gelesen werden!« Er steckte die anderen Briefe in die Tasche, öffnete diesen einen und las ihn durch. Sein Gesicht erhielt dabei einen ganz eigenthümlichen Ausdruck. Als er fertig war, rief er: »Da schlage doch ein hundertneunundneunzigtausendfaches Wetter d’rein!« »Eine Hiobspost, Herr Hauptmann?« fragte Helmers. »Nein, eine solche Freudenpost, daß man unbedingt fluchen muß. Hört einmal!« Er stellte sich in Positur, noch immer unter der Stallthür, so daß Niemand hineinsehen konnte, und las langsam mit erhobener Stimme Folgendes: »An den Herrn Oberförster Kurt von Rodenstein, Hauptmann a. D., auf Rheinswalden. Geehrter Herr! Nachdem die Strenge des Winters aus den Ardennen und anderen Bergen und Wäldern allerlei ebenso seltenes wie schädliches Raubzeug herbeigeführt hat, so werden unsere Ober- und Unterforstämter hiermit bedeutet, allen Ernstes gegen dasselbe vorzugehen. Wie vernommen, lassen sich hier und da Wölfe sehen; also theilen wir mit, daß Demjenigen, welcher das erste dieser iere im Bereiche unseres Landes schießt, eine Prämie von zwanzig alern, jedem Folgenden aber eine solche zu fünf alern ausgezahlt werden soll.
Zu Unserm großen Erstaunen vernehmen wir, daß vorgestern in der Gegend von Winnweiler gar ein Luchs gesehen worden ist, ein ier von der Gattung, welche man Felis lynae oder Felis lupulinus, zu deutsch Rothluchs nennt. Da nun dieses ier ohne allen Zweifel das schädlichste Raubthier in Europa ist und auch höchst gefährlich für den Menschen, so ergeht an alle unsere Forstbeamten die Weisung, dasselbe unverweilt aufzusuchen und zu erlegen. Derjenige, welcher es erlegt, soll einen Ehrenpreis von hundert alern erhalten, und soll die Meldung davon sofort anhero an Unsere Oberforstdirection geschehen. Wornach genau zu achten und sich zu verhalten! Geschehen zu Darmstadt, den … Großherzogl. Oberforstdirection. Ludwig III. Postscriptum: Zum Erweise der Wahrheit sind von jedem Wolfe die beiden Ohren, von dem Luchse aber das ganze Fell nach hier abzuliefern, welches Letztere noch extra nach Preis und Umständen honoriret werden soll. D. O. …« Man kann sich kaum denken, welchen Eindruck der Inhalt dieses Schreibens auf die Burschen machte. »Ein Luchs!« rief Ludewig. »Unmöglich!« »Ist seit Menschengedenken noch gar nicht vorgekommen,« sagte ein Zweiter. »Wir müssen sofort eine große, allgemeine Streife vornehmen,« meinte ein Dritter. »Juchhe, Hurrah!« rief ein Vierter, und dieser Vierte war kein Anderer als Kurt. Der Oberförster warf ihm einen verweisenden Blick zu und sagte zu ihm:
»Halte den Schnabel, Junge! Bei solcher Streiferei mußt Du hübsch zu Hause bleiben! Aber diese Streiferei ist gar nicht nothwendig, denn hört, Ihr Leute, wir haben sie!« »Wen?« wagte Ludewig zu fragen. »Den Wolf und auch den Luchs.« »Den Wolf und auch den L – –!« Das Wort blieb dem braven Gehilfen im Munde stecken. »Ja, seht her!« Er trat zu Seite und ließ den Zutritt frei. Die Leute traten in den Schuppen, und sofort erscholl ein vielstimmiger Ruf der höchsten Verwunderung. »Gottstrampach, es ist wahr dahier!« rief Ludewig. »Weiß Gott, der Wolf!« rief ein Zweiter. »Und der Luchs!« fügte ein Dritter hinzu. »Ja, sie sind es,« sagte der Oberförster triumphirend. »Jungens, Ihr sollt heute einen Grog kriegen, der sich gewaschen hat, da mir die Ehre wird, daß dieses Zeug auf meinem Reviere erlegt wurde.« »Halloh, hurrah, der Herr Hauptmann!« riefen Alle. »Aber,« fragte dieser den Steuermann, »wo ist denn der Wendelin oder der alte Stengler, he?« Er meinte seine beiden Unterförster. »Habe sie nicht gesehen, Herr Hauptmann,« antwortete der Gefragte. »Sie waren also heute nicht zu Hause?« »Ich bin heute nicht vom Hofe fortgekommen.« »So müssen Sie doch auch die Förster gesehen haben oder einen von ihnen!« »Nein.« »Na, wer soll denn sonst das Viehzeug gebracht haben!« »Der alte Klaus.«
»Der alte Klaus?« fragte der Hauptmann erstaunt. »Wer hat ihn denn geschickt? Doch nur der Stengler oder der Wendelin. Ein Anderer hat die iere nicht erlegt.« »Herr Hauptmann, fragen Sie Den da!« Er zeigte auf seinen Sohn. »Den da, Dummheit! Was hat der damit zu thun?« »Er ging mit seinem Hinterlader in den Wald und –« »In den Wald? Wann denn?« »Gleich als er von Ihnen kam.« Das Gesicht des Alten verfinsterte sich. »Ich habe es ihm ja verboten! Der Sakkerment soll seine Strafe erhalten! Wollte der dumme Junge mit auf die Wolfshatz gehen! Also weiter, Steuermann!« »Also,« sagte dieser, »er ging mit seinem Hinterlader in den Wald und kam erst nach ungefähr anderthalb Stunden wieder – »Der Bengel!« rief der Oberförster zornig. »Anderthalb Stunden! Der Wolf konnte ihn packen, oder gar der Luchs ihn zerreißen. Weiter!« »Er brachte den alten Klaus mit –« »Ah, jetzt kommt’s!« »Sie hatten auf einem Schlitten eine Last, die mit Reißig zugedeckt war. Ich sollte nicht wissen, was es war, und da versteckten sie es hier in dem Holzstall. Jetzt nun ist’s der Luchs und der Wolf.« »Und wo ist der Klaus?« »Gleich wieder fort.« »Er hat aber doch gesagt, welcher Förster das Zeug schickt?« »Nein, kein Wort.« »Dummheit von dem alten Kerl! So Etwas vergißt man doch ganz und gar nicht!« Nun wandte er sich an Kurt und sagte: »Hat er es Dir gesagt, Junge?«
»Nein.« »Hast auch nicht gefragt?« »Nein.« »Donnerwetter, nach so Etwas fragt man doch! Warum hast Du das Maul nicht aufgethan?« Der Knabe that sich eine innerliche Güte, all diese Leute so auf die Folter zu spannen. »Weil ich es eher wußte als der Klaus, wer es gewesen ist,« lachte er. »Du weißt es? Nun, heraus damit!« Sie Alle lauschten in gespannter Erwartung auf den Namen. »Ich selber!« sagte er triumphirend. »Du sel – – Junge, mach keine Faxen, sonst fuchtele ich Dich!« schrie der Hauptmann. »Es ist wahr!« »Kurt!« warnte sein Vater. »Es ist aber doch wahr!« behauptete er. Sie standen Alle sprachlos um ihn her. Der Hauptmann war ganz aus aller Fassung. »Junge, entweder bist Du ein verdammter Lügner oder Du hast den Teufel!« rief er. »Sag, wie es ist!« »Ich habe sie geschossen, Herr Hauptmann!« »Alle Beide?« »Alle Beide!« Da machte Ludewig drei Kreuze und sagte: »Er hat Gottstrampach den Teufel! Sonst ist’s nicht die Möglichkeit dahier!« »Kerl,« sagte der Oberförster, der das unmöglich begreifen wollte, »wenn Du uns jetzt belügst, so ist es ab; Du mußt mir von Haus und Hof!« Da endlich ging dem Jungen die Geduld aus. Er machte ein finsteres Gesicht, stampfte mit dem Fuße und sagte:
»Sie brauchen mich gar nicht fort zu jagen; ich gehe ja schon ganz von selber!« »Ah!« »Ja, ich gehe, und jetzt gleich! Wer da denkt, daß ich wegen eines lumpigen Wolfes und wegen so einer alten Katze ein Lügner werde, der hat’s bei mir weg. Da muß ja auch einmal ein Kreuzhimmeldonnerwetter dreinschlagen! Verstanden!« Er drehte sich um und ging in das Haus. Die Anderen standen da, ganz perplex vor Erstaunen. So Etwas ging ihnen doch über alle Begriffe, sogar dem Hauptmann selbst. Der Steuermann zitterte fast in Erwartung dessen, was nun kommen werde. Er wußte, daß sein Sohn kein Lügner sei, aber er konnte auch nicht glauben, daß so ein Knabe zwei solche iere erlegen könne, noch dazu in so kurzer Zeit. Da endlich faßte sich der Hauptmann. Er holte tief Athem und sagte: »Himmelbataillon, hat der es mir gesteckt! Helmers, laufe Er und hole Er ihn mir rasch!« Er beachtete es gar nicht, daß er in seiner Aufregung Er anstatt Sie gesagt hatte. Der Steuermann ging in die Stube und brachte den Knaben, der ein sehr trotziges Gesicht machte. »Also, Du bist es wirklich gewesen, Schlingel?« fragte Rodenstein. »Ich hab’s schon zehnmal gesagt; ich sage es nicht wieder!« klang die zornige Antwort. »Hollah, Kerl, zanke nicht!« »Brechen Sie das Viehzeug auf!« sagte Kurt, »so werden Sie meine Kugeln finden!« »Ah ja, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie sind sie denn getroffen worden?« Er bückte sich nieder und untersuchte zuerst den Wolf.
»Sapperment, im Feuer zusammengebrochen!« sagte er. »Die Kugel ist ihm vorn grade in’s Herz gegangen. Das ist brav! Besser schieße ich selber nicht. Und der Luchs?« »Er hat zwei Schüsse,« sagte Kurt. »Wo?« »Ich sehe sie von Weitem!« »Ah, ich glaube gar, der Junge untersteht es sich, mir eine moralische oder intellectuelle Maulschelle zu geben! Ja, da sind die Schüsse: der eine von der Seite in die Lunge und der andere grade von vorn in’s Herz. Drei Meisterschüsse! Junge, wenn Du sie gethan hast, so hast Du den Teufel! Es ist kein Zweifel daran!« »Er hat ihn dahier!« murmelte Ludewig. Dabei aber blickte er doch mit Stolz auf Kurt, der ja sein Zögling war. »Erzähle einmal!« gebot der Hauptmann. Der Knabe stellte sich in Positur. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden, und sein Gesicht glänzte vor Freude und Genugthuung, als er begann: »Also ich ging in den Wald – – –« »Das solltest Du aber doch nicht!« unterbrach ihn der Hauptmann. »Nun gerade ging ich, denn Sie hatten gesagt, daß der Wolf mich fressen werde. Ich nahm meine Büchse und sagte, daß ich Krähen schießen wolle.« »Schöne Krähen! Gott sei Dank, daß Alles abgelaufen ist, wie man es sieht!« »Ich machte einen Umweg durch die Erlen und ging dann nach dem Eichberge; ich wollte nach dem Forellenbach.« »Wie schlau! Wir sollten seine Spur nicht sehen. Junge, Du hast wahrhaftig den Teufel im Leibe!« Ludewig machte abermals drei Kreuze und murmelte: »Er hat ihn! Aber ein tüchtiger Kerl ist er dennoch dahier!«
Kurt fuhr fort: »Da krachte ein Baum; ich blickte hin und sah den Wolf. Ich sprang sogleich hinter die nächste Eiche.« »Wie weit war das Vieh von Dir?« »Dreißig Schritte.« »Ah, ein prächtiger Schuß!« »Ich ließ den Wolf bis auf zwanzig herankommen – – –« »Und hast nicht gezittert?« »Warum zittern?« fragte der Knabe aufrichtig. »Ich wußte doch, daß ich ihn gut treffen werde. Ich legte an und drückte ab; da brach er zusammen. Er wollte noch einmal auf, aber es ging nicht; er fiel mausetodt um.« »Ein Kapitalschuß! Junge, ich glaube, Du wirst in Deinem Leben nicht erfahren, was Angst ist oder Furcht. Weiter!« »Ich lud meinen Lauf wieder – – –« »Natürlich!« »Und guckte mir dann den Wolf an. Erst wollte ich ihn mitnehmen; ich hatte eine Leine mit und konnte ihn schleifen; aber ich dachte, Sie würden kommen und ihn finden.« »Sapperment, das Kerlchen hat uns ärgern wollen!« lachte Rodenstein. »Ja, weil Sie gesagt hatten, daß der Wolf mich fressen würde,« gestand Kurt aufrichtig. »Nachher ging ich noch ein Bischen in die Eichen hinein. Ich dachte, ich könne vielleicht einen Waldhasen schießen. Aber der Schnee war tief und ich wurde müde. Da setzte ich mich auf die Blutbuche, die neben den zwei großen Eichen umgebrochen ist.« »Ah, dort!« nickte der Oberförster. »Da hörte ich Etwas kommen – – –« »Im Schnee?« »Nein, sondern oben im Geäst. Ich sah hin und dachte, es wäre eine wilde Katze, denn auf die Ohrlöffel hatte ich gar nicht ge-
sonnen. Das Vieh wollte seitwärts vorüber; es sprang von Ast zu Ast. Ich duckte mich unter die Buche und zielte. Gerade als es springen wollte, hatte ich einen guten Schuß; der Luchs fiel zu Boden – – –« »War aber nicht todt?« »Nein.« »Ja, solch’ Zeug hat ein zähes Leben! Aber nun warst Du in größter Lebensgefahr, Bursche, denn der Luchs springt sogar dem stärksten Manne nach dem Kopfe.« »O, er kam auch, aber ich gab ihm die zweite Kugel. Er sprang gerade bis jenseits des Buchenstammes; da legte ich die Büchse weg und zog mein Messer.« »Wetterjunge! Schulgerecht wie ein Oberstforstmeister! Glücklicher Weise war es mit dem Vieh vorüber?« »Es kratzte und schlug nach mir, aber es konnte nicht mehr über den Stamm herüber. Es pfauchte und schrie noch ein wenig, und dann war es todt.« »Eine Heldenthat, eine wirkliche Heldenthat für so einen Jungen! Ich bleibe dabei, er hat den leibhaftigen Gottseibeiuns!« Ludewig bekreuzigte sich abermals und murmelte: »Den Beelzebub; er hat ihn ganz gewiß dahier, der gute, wackere Junge!« Kurt fuhr fort: »Da kam der Klaus dazu. Er wollte gar nicht glauben, daß ich einen Wolf und einen Luchs geschossen hatte. Er hatte den Schlitten mit, und ich versprach ihm einen aler, wenn er mir das Viehzeug nach dem Vorwerk schaffen wolle. Mein Papa hat den aler bezahlt.« »Aber, wie kam es, daß wir Deine Spur nicht fanden? Nicht einen einzigen Tapfen haben wir gesehen.« »Der Klaus mußte alle meine Tapfen austreten.«
»Ah, wie schlau! Der Junge hat uns richtig an der Nase herumgeführt! Na, Bube, ich werde mich abfinden. Doch davon später! Jetzt, Steuermann, sagen Sie mir zunächst einmal, was wir mit ihm machen! Soll er seine Prügel bekommen?« »Hm!« antwortete dieser, »er hat sie eigentlich verdient. Ein Glück ist’s, daß meine Frau nach der Stadt ist; sie wäre vor Angst gestorben!« »Ja, da stehen die Hasen am Berge! Er hat sich die Prämie verdient und auch die Strafe. Na, das wollen wir uns noch überlegen. Jetzt nun das Nothwendigste: die Ohren des Wolfes und den Pelz des Luchses. Wir müssen uns mit dem Wolfe beeilen, weil es da mehrere geben soll, sonst kommt uns ein Anderer zuvor, und zwanzig aler oder fünf, das ist doch ein Unterschied. Ludewig, Du bist der beste Reiter – – –« »Herr Hauptmann, das will ich meinen dahier!« sagte der Angeredete. »Sattele den Braunen. Ich werde den Bericht schreiben, und dann reitest Du sofort nach Darmstadt.« Ludewig that einen Freudensprung. »Zum Oberforstdirektor?« fragte er. »Ja.« »Mit den Ohren und dem Fell?« »Natürlich, und mit meinem Berichte.« »Sapperment, das wird fein! Darf ich meine Staatsuniform anziehen dahier?« »Das mußt Du sogar. Du kommst ja zur Audienz. Ich gebe Dir übrigens einen ganzen aler Auslösung.« »Danke! Und soll ich erzählen, wer das Zeug geschossen hat?« »Natürlich!« »Vorwärts! Knöpfe putzen!«
Er sprang davon, um sich in Wichs und Glanz zu werfen, und in einer halben Stunde ritt er zum ore hinaus, das Fell hinter sich auf das Pferd geschnallt. Der Braune war lange Zeit nicht an die Luft gekommen, darum flog der Weg nur so unter ihm hin, und er erreichte Darmstadt in der Hälfte der sonstigen Zeit. In der Wohnung des Oberforstdirektors erfuhr er, daß derselbe mit dem Großherzoge nach dem Jagdschloß Kranichstein gefahren sei, welches drei Viertelstunden im Nordwesten der Stadt liegt. Er ritt in Carriere hinaus und stieg vor der Rampe des Schlosses vom Pferde. Ein Stallknecht trat herbei und fragte ihn, was er wolle. »Ist seine Excellenz, der Herr Oberforstdirektor hier?« »Ja, auf einige Tage.« »Ich muß zu ihm.« »Oho! Müssen!« »Ja,« antwortete Ludewig stolz. »Man muß erst abwarten, ob man vorgelassen wird,« sagte der Stallknecht ebenso stolz. »Ich bin Kurier!« sagte nun Ludewig noch stolzer. »Ah, das ist etwas Anderes! Von wem?« »Das ist Geheimniß. Führen Sie mein Pferd in den Stall!« Er schnallte das Fell ab, welches in einen Mantelsack geschlagen war, und stieg die Treppe empor. Der Stallknecht ließ sich verblüffen und nahm sich des Pferdes mit aller Sorgfalt an. Droben traf Ludewig auf einen Lakaien. »Wie kommt man zum Herrn Oberforstdirektor Excellenz?« fragte er diesen. »Was wollen Sie?« »Depesche!« »Von wem?« »Vom Herrn Oberförster Hauptmann von Rodenstein.«
»So ist es nothwendig?« »Ja, sehr!« »Hm! Seine königliche Hoheit, der Großherzog, sind beim Herrn Direktor; aber da es so nothwendig ist, werde ich Sie melden.« Der gute Ludewig dachte gar nicht, daß seine einfache Sendung nicht unter die Rubrik der nothwendigen oder dringlichen Kurierbotschaften fiel. Die Erlegung des Luchses hatte ihn berauscht. Der Lakai führte ihn einen Corridor entlang in ein Zimmer, wo er warten mußte. Nach aber kaum zwei Minuten bereits wurde ihm eine hohe Flügelthür geöffnet. Als er eintrat, war es aber doch, als ob ihm sein Muth entfallen wolle. Er trat in ein Zimmer, dessen Pracht ihn fast betäubte. Auf kostbaren Fauteuils saßen ein Herr und zwei Damen. Der Herr war der Großherzog Ludwig III.; die Damen waren die Großherzogin, eine geborene Prinzeß von Bayern, und die Oberforstdirektorin. Der Oberforstdirektor aber hatte sich erhoben und trat auf den Jägerburschen zu. Er hatte jedenfalls von den hohen Herrschaften die Erlaubniß erhalten, den Kourier in ihrer Gegenwart zu empfangen. »Sie sind ein Untergebener des Herrn Oberförster von Rodenstein?« fragte der Oberforstdirektor. Ludewig stand in Achtung, mit dem Mantelsack unter dem Arme. »Zu Befehl, Excellenz,« sagte er. »Und kommen als Kurier von ihm?« »Zu Befehl!« »Das muß eine höchst wichtige Angelegenheit sein.« »Höchst wichtig dahier!« stimmte Ludewig bei. Der Direktor war über dieses »Dahier« einigermaßen überrascht, fragte jedoch weiter: »Welche Angelegenheit betrifft Ihr Ritt?« »Excellenz, wir haben den ersten Wolf geschossen!«
Ludewig sagte dies mit möglichst stolzem Nachdruck. Er sprach einstweilen nur von dem Wolfe, denn er wollte der Excellenz so nach und nach zu wissen geben, was für Leute es in Rheinswalden gebe. Leider aber machte die Excellenz ein sehr enttäuschtes Gesicht. Und über das Gesicht des Großherzogs, welcher bisher in sichtlicher Spannung dagesessen hatte, zuckte eine gewisse Ironie. »Mir dies zu sagen, kommen Sie als Kourier?« fragte der Oberforstdirektor. »Zu Befehl!« »Hat Ihnen der Herr Oberförster gesagt, daß Sie sich als Kurier melden sollen?« »Zu Befehl, nein.« Die Züge des Herrn verfinsterten sich. »Und warum thaten Sie das?« fragte er mit scharfer Stimme. Der gute Ludewig wurde sehr verlegen. »Hm,« sagte er, »weil ein Wolf doch immerhin eine ganz verteufelte Bestie ist dahier!« Der Director warf einen überraschten Blick auf ihn und dann einen forschenden auf den Großherzog; da er aber auf dem Gesichte desselben ein belustigtes Lächeln bemerkte, so beruhigte er sich auch seinerseits und fragte: »Was haben Sie denn hier?« »Das Fell, Excellenz!« Da ließ sich ein leises, kurzes, goldenes Lachen hören. Es war die Großherzogin Mathilde, der es komisch vorkam, daß man ein Wolfsfell per Kurier sende. Dieses Lachen gab dem Oberforstdirector seine gute Laune wieder. »Was soll ich denn mit dem Felle?« »Hm, das geht mich nichts an dahier. Excellenz haben es verlangt.« »Ich weiß nichts davon.«
»So ist es Seine königl. Hoheit, der Herr Großherzog selbst gewesen.« Da warf die Excellenz einen fragenden Blick auf den Großherzog. Dieser meinte mit sehr heiterer Miene: »Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?« »Ich habe doch den Brief gehört,« antwortete Ludewig muthig. »Welchen Brief?« »Den, welchen der Herr Hauptmann heute aus der Oberforstdirection erhalten hat. Er hat ihn uns vorgelesen dahier, und da stand darunter: Ludwig der Dritte.« Die beiden Damen konnten ihr Lachen kaum verbergen. Der Großherzog ahnte eine komische Scene und erhob sich. »Ah, diese Zuschrift!« sagte er. »Ja, zu Befehl, Hoheit!« »Und da ist in Rheinswalden heute sofort der erste Wolf geschossen worden?« »Zu Befehl!« »So zeigen Sie uns das Fell,« sagte er freundlich. Dem guten Ludewig kam bei der guten Laune der Anwesenden seine ganze Verlegenheit abhanden. Er fühlte sich als Helden der Situation und wickelte mit wichtiger Miene den Mantelsack auf. »So, da ist das Fell!« sagte er. Er breitete es ganz ungenirt auf dem getäfelten Boden aus. Die Damen hatten sich jetzt auch erhoben, aber alle Vier zeigten eine große Ueberraschung, als sie das Fell erblickten. »Ah,« sagte der Großherzog. »Was wollen Sie denn! Das ist ja das Fell eines Luchses, aber nicht eines Wolfs!« Das war dem braven Ludewig zu viel. So dumm hatte er sich diese Herrschaften nicht gedacht. Er trat in höchster Entrüstung einen Schritt zurück, machte mit der Hand eine Bewegung der Ueberlegenheit und platze heraus:
»Na, das versteht sich doch Gottstrampach ganz von selber dahier!« Die Herrschaften sahen ihn zunächst ganz erstaunt an; als sie aber seine tragikomische Entrüstung bemerkten, konnte sich der Großherzog nicht halten: er brach in ein schallendes Gelächter aus; die Großherzogin folgte ihm, und nun brauchten sich die beiden Andern auch keinen Zwang mehr aufzuerlegen: es erscholl ein munteres, herzliches Lachquartett in dem Zimmer, wie es hier vielleicht noch nicht gehört worden war. »Sagen Sie einmal, Mann, wie heißen Sie?« fragte der Großherzog, noch immer lachend. »Ich bin der Ludwig Straubenberger dahier,« lautete die Antwort. »Ludwig Straubenberger? Den Namen muß man sich merken.« »Zu Befehl, Hoheit!« antwortete der Gehilfe ganz verkehrt. Ein erneutes Lachen erscholl, und dann fragte der Großherzog weiter: »Wie lange dienen Sie bereits?« »Fünfzehn Jahre.« »Und sind noch nicht Förster?« »Ich mag nicht dahier, denn ich habe den Herrn Hauptmann zu lieb. Wir passen so gut zusammen, und so mag ich nicht von ihm fort.« Ueber dieses »Wir passen so gut zusammen« lachten die Herrschaften abermals, und dann fragte der Großherzog weiter: »Ist Ihnen denn bereits ein Avancement angeboten worden?« »Das versteht sich. Bereits dreimal dahier.« »Und Sie haben es abgeschlagen?« »Ja.« »Hm, das spricht sehr für Ihre Treue und Anhänglichkeit. Aber sagen Sie, haben Sie denn nichts Schriftliches von dem Herrn Oberförster mit?«
Jetzt erst besann sich Ludewig auf das Schreiben. »Sapperment,« sagte er, »so albern bin ich in meinem ganzen Leben noch gar nicht gewesen dahier! Hier ist der Brief!« Er griff in die Tasche, zog das Schreiben hervor und hielt es den Herren entgegen. Der Großherzog langte darnach, aber da zog Ludwig die Hand zurück und sagte: »Halt, nein! Es ist nur für den Herrn Oberforstdirector Excellenz.« »Excellenz wird mir gestatten, es zu öffnen!« sagte der Großherzog. Der Director verbeugte sich, nahm das Schreiben und hielt es ihm entgegen. Der Herzog öffnete und las es; dann sagte er, zu den Damen gewendet: »Unser guter Rodenstein bleibt doch der Alte; er hat immer etwas Originelles für uns. Erst sendet er uns diesen braven Ludwig Straubenberger, und dann schreibt er uns einen Brief, den ich Ihnen vorlesen muß.« Er las folgendermaßen: »Schloß Rheinswalden, den … An die hohe großherzogl. Oberforstdirection zu Darmstadt! Trotzdem ich nicht viel Zeit habe, theile ich einer hohen Oberforstdirection mit, daß ich einen Knaben besitze, fünf Jahre alt und einige Monate. Er schießt, reitet, schwimmt, haut und sticht und heißt Kurt Helmers, ein tüchtiger Kerl! Ist heute in den Wald gelaufen, schießt den ersten Wolf und nachher sogar den Luchs und sagt doch, es sei eine alte Katze. Ich sende sofort den Ludewig Straubenberger. Ist auch ein guter Kerl, versteht das Forstwesen aus dem Fundamente, fast besser als ich, hat zwei Ohren und ein Fell, worüber ich mir Quittung und Prämie ausbitte.
Sollten wir noch mehr Wölfe schießen, so schicke ich ihn mit noch mehr Ohren, was ich wünsche, ihm gut zu bekommen, da er ein Freund vom Trinkgelde ist. Wünsche noch allerseits bestes Wohlsein und Betragen und zeichne mich selbst so wie auch mit Unterthänigkeit Kurt von Rodenstein, Hauptmann a.D., Oberförster.« Natürlich brachte dieses Schreiben eine abermalige Heiterkeit hervor, welche jedoch in Hinsicht auf die Stellung des Schreibers möglichst unterdrückt wurde. Dann suchte der Großherzog sich aufzuklären: »Was ist es mit diesem Knaben?« fragte er. »Das ist der Kurt,« antwortete Ludewig. »Sein Vater ist der Steuermann Helmers.« »Er wohnt auf Rheinswalden. Der Knabe ist, wie es scheint, der Liebling des Herrn Oberförsters?« »O, er ist Allen ihr Liebling dahier, Hoheit!« »Wirklich erst fünf Jahre alt und soll einen Wolf geschossen haben, auch den Luchs dazu?« »Ja.« »Das ist ein Irrthum oder eine Mystification!« »Ein Irrthum ist es nicht, Hoheit, von dieser Mystification weiß ich nicht, was das Wort bedeutet dahier.« »Ich meine eine Fopperei.« »Das ist es nicht. Der Kurt foppt uns nicht und läßt sich auch nicht foppen.« »Aber es ist doch unglaublich!« »Wir wollten es auch nicht glauben; aber er hat es bewiesen.« »Ist er ein solcher Schütze?« »Er schießt die Schwalben.« »Ah, das wäre ja ein Wunderkind! Aber dennoch, ein Wolf, ein Luchs, hm!«
»Na, Hoheit, ich dächte doch, ein Wolf oder ein Luchs wäre leichter zu treffen als eine Schwalbe dahier!« »Ja,« lachte der Großherzog, »aber die Angst, die Angst vor einem solchen iere!« »Angst? O, die kennt der Bube nicht. Da kürzlich ging ein wilder Eber auf unsern Doctor Sternau und unsere Gräfin Rosa los, und den hat der Junge sofort erschossen.« »Doctor Sternau? Hm! Dieser Name –« Da fiel ihm die Großherzogin in die Rede: »Erlaube! Doctor Sternau ist der berühmte Arzt, von welchem uns Geheimrath Belling kürzlich referirte.« »Ah, ja! Doctor Sternau wohnt bei Euch und auch jene spanische Gräfin Rodriganda?« »Ja, Hoheit.« Der Großherzog that einige Schritte auf und ab und sagte dann zu Ludewig: »Wird der Herr Oberförster morgen zu Hause sein?« »Jedenfalls, Hoheit.« »Doktor Sternau und die Gräfin auch?« »Ich denke.« »Und dieser Kurt Helmers?« »Der ist auch da, wenn er nicht im Walde herumläuft dahier.« »Sie reiten heute noch nach Rheinswalden retour?« »Zu Befehl!« »So grüßen Sie den Herrn Oberförster von uns, und sagen Sie ihm, daß wir ihn morgen Mittag Punkt zwölf Uhr besuchen würden.« »Sapperlot!« rief Ludewig erschrocken. »Und daß wir mehrere Herren und Damen mitbringen.« »Kreuzdonnerw – – – ah, Verzeihung dahier, Hoheit!« »Wir wollen uns selbst überzeugen, ob es wahr ist, was er uns über diesen Knaben berichtet.«
»Es ist wahr; ich gebe mein Wort darauf!« Der Großherzog lächelte und fuhr fort: »Und ob Sie wirklich ein Fell und zwei Ohren haben, für welche wir Quittung und Prämie geben sollen.« »Da liegt es ja! Und die Ohren – heiliges – – na, die habe ich ganz vergessen!« »Sie haben die Ohren vergessen?« »Ja, bisher. Aber sie stecken glücklicher Weise noch in der Tasche. Hier sind sie!« Er zog die Wolfsohren hervor und reichte sie dem Großherzog hin. Dieser nahm sie und legte sie auf den Tisch. Dann sagte er: »Sie bemerken ferner dem Herrn Oberförster, daß wir wünschen, er stelle uns den Herrn Doktor Sternau und dessen Verlobte vor.« »Das wird richtig besorgt dahier, Hoheit!« »Und nun zur Hauptsache, mein Lieber! Der Herr Oberförster ist so fürsorglich, uns auf ein Trinkgeld aufmerksam zu machen.« »Hm!« Ludewig zuckte verlegen die Achseln. »Sind Sie auch seiner Ansicht?« Die Augen der Herrschaften glänzten vor Vergnügen. Ludewig antwortete endlich beherzt: »Na, Hoheit, Sie können es ja auch noch lassen dahier!« »Ah!« »Ja. Sie kommen ja morgen nach Rheinswalden!« Jetzt brach ein erneutes Lachen los. So köstlich hatte man sich seit langer Zeit nicht amüsirt. »Ich habe also Kredit bei Ihnen?« scherzte der Großherzog. Ludewig fühlte sich so wohlig und animirt, daß er sofort antwortete: »Na, wenn Sie nicht, wer denn sonst dahier!« Das Lachen setzte sich fort. Der Herzog griff in die Tasche und zog seine Börse.
»Sagen Sie dem Herrn Oberförster, daß wir die Prämien morgen persönlich zahlen werden,« meinte er. »Wie hoch schätzen Sie das Fell?« »Hm, es ist hier eine Seltenheit,« sagte Ludewig langsam. »Ah, Sie werden Geschäftsmann; Sie machen die Waare theuer!« »Nein, Hoheit. Es stand in dem Briefe, daß das Fell bezahlt werden soll?« »Allerdings.« »Na, ein sibirischer Luchsbalg kostet bis fünfzehn aler und taugt doch nichts.« »Das wissen Sie so genau?« »Ja, die Haare brechen. Dieser hier wird nicht viel billiger sein. Geben Sie, was Sie gutwillig d’ranwenden wollen dahier!« »Sind zwanzig aler genug?« »Ich wäre schon zufrieden, wenn ich sie kriegte; aber sie sind dem Herrn Hauptmann oder unserem Kurt.« »Beide werden zufrieden sein. Hier sind nun noch fünf aler für Sie. Ist’s genug?« »Sapperment, das versteht sich!« rief Ludewig erfreut. »Der Herr Hauptmann hat mir für den Ritt einen aler gegeben, und ich dachte, das wäre schon nobel dahier!« Da nahm auch der Oberforstdirektor das Wort: »Die Sendung war eigentlich an mich gerichtet. Gestatten Hoheit einen Beitrag?« »Ja, aber ja nicht weniger als ich!« lautete die Antwort. »Ich gehorche gern. Also, hier sind noch fünf aler!« Ludewig griff schmunzelnd zu. »Danke!« sagte er. »Ich wollte, es gebe alle Tage einen solchen Luchs dahier!« »Und wir Frauen?« fragte die Großherzogin. »O bitte,« meinte Ludewig bescheiden, »das wäre doch ungalant von mir!«
»Na, nehmen Sie; es sind nur drei aler!« »Zehn und drei macht dreizehn! Sapperlot, ich werde noch ganz zu Gelde!« »Und zwei macht fünfzehn!« sagte die Oberforstdirektorin. »Ich habe nicht mehr bei mir.« Ludewig nahm das Geld und nickte ihr freundlich zu. »Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen, Madame Excellenz,« sagte er. »Ich bin nicht habsüchtig; ich bin mit Allem zufrieden dahier.« »Na, so sind wir also einig,« lachte der Großherzog. »Richten Sie unsere Aufträge gut aus. Wir werden uns gern an Sie erinnern. Leben Sie wohl!« Er machte die Handbewegung der Entlassung, aber Ludewig blieb stehen und sagte: »Hoheit, es muß erst noch Etwas von meinem Herzen herunter, ehe ich gehe!« »Sprechen Sie!« nickte der Herzog leutselig. »Meine Herrschaften, ich freue mich zwar auch über das Geld, aber die Hauptsache ist doch die Freundlichkeit. Man hat immer einen gewissen Respekt für solche Leute, und wenn es zum Treffen kommt, so sind sie vielleicht besser als andere Menschen dahier. Sie haben mir nichts übel genommen und ich Ihnen auch nicht; das ist die Würze des Lebens, und darum wollte ich, daß Sie so glücklich wären wie ich in dieser Stunde dahier. Adieu!« Er machte eine sehr tiefe Reverenz, hob dabei seinen Mantelsack vom Boden auf und ging. Hinter ihm erscholl noch ein herzliches Lachen. Drunten ging er nach dem Stalle, in welchem er den Reitknecht bei seinem Pferde fand. »Fertig?« fragte dieser. »Ja.« »Waren die Herrschaften gnädig?«
»Gnädig?« sagte Ludewig mit wichtiger Miene. »Die Herrschaften sind mit mir stets gut daran. Haben Sie dem Pferde etwas Heu und Wasser gegeben?« »Ja.« »So sagen Sie mir, wie viel Sie gewöhnlich Trinkgeld bekommen, wenn Sie das Pferd eines Offiziers oder Grafen einstellen?« »Hm, Trinkgeld! Meist nichts. Diese Leute sind am Knickrigsten. Zuweilen bekomme ich ein Achtgroschenstück. Man denkt, wir haben Gehalt genug.« »Hm! Welches war Ihr höchstes Trinkgeld?« Der Reitknecht hatte während dieser Unterhaltung das Pferd aus dem Stalle geführt, und Ludewig stieg auf. »Das Höchste war ein aler; den bekam ich von einem englischen Lord.« »Wie hieß dieser Lord?« »Lord Wellesfield.« »So! Hier haben Sie zwei aler. Und wenn Sie nach meinem Namen gefragt werden, ich bin der Forstgehilfe Ludewig Straubenberger. Adieu dahier!« Er sprengte davon. Unterdessen hatte in Schloß Rheinswalden eine ernstere Unterredung stattgefunden. Kaum nämlich war Ludewig fort, so fuhr ein Wagen in den Schloßhof. In demselben saß jener Staatsanwalt, welcher sich Doktor Sternau’s so warm angenommen hatte. »Ist der Herr Hauptmann zu Hause und auf seinem Zimmer?« fragte er den Burschen, welcher herbei gekommen war, um die Pferde zu halten. »Jedenfalls.« Er stieg die Treppe empor und traf eben mit Sternau zusammen, welcher aus seinem Studierzimmer trat. »Ah, das trifft sich gut, Herr Doktor!« sagte er. »Willkommen! Sie wollen zu mir?«
»Zu Ihnen, ja. Vorher aber stand ich im Begriff, den Herrn Hauptmann zu begrüßen.« »So kommen Sie!« Der Staatsanwalt wurde von Rodenstein herzlich willkommen geheißen. »Sie bringen Nachricht?« fragte der Letztere. »Nehmen Sie Platz!« Nachdem man sich eine Cigarre angebrannt hatte, begann der Beamte: »Sie wissen, daß ich mich nach dem Schiffe ›La Pendola‹ und dem spanischen Kapitän Henrico Landola erkundigen wollte.« »Allerdings wollten Sie die Güte haben,« meinte Sternau. »Nun, ich habe es gethan. Ich besitze Verwandte und auch sonstige Verbindungen in dem auswärtigen Amte in Berlin. Ein Freund von mir ist bei der Gesandtschaft in London angestellt. Ich habe da nun alle Minen springen lassen und heute eine Depesche erhalten.« »Günstig?« fragte Rodenstein. »Vielleicht. Man hat von Berlin und London aus an verschiedene Konsulate telegraphirt, und das Ergebniß ist die Nachricht, daß die Pendola vorige Woche auf Sanct Helena angelegt hat, um Wasser einzunehmen. Dann ist sie nach der Kapstadt gegangen, wo sie jetzt noch vor Anker liegt.« »Das ist doch eine günstige Nachricht,« rief Sternau erfreut. »Man weiß ja nun, wo man den Mann zu suchen hat.« »Weiß man blos das?« fragte der Hauptmann. »Nein, man weiß weit mehr, und zwar, wo man ihn zu suchen und wo man ihn festzuhalten hat!« Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Herr Hauptmann!« »Nicht? Donnerwetter, warum nicht?«
»Erstens liegen keine genügenden oder vielmehr sind keine erwiesenen Gründe vorhanden, um die Polizei zum Einschreiten zu bewegen.« »Ah! Und zweitens?« »Zweitens ist Landola ein Spanier und wir sind Deutsche. Das soll sagen, daß, selbst wenn die angeregten Gründe vorhanden wären, es doch verschiedene Formalitäten zu erfüllen giebt, welche für uns sehr fatal sind.« »Warum fatal?« »Weil sie ihm Zeit geben, zu entkommen.« Der Hauptmann rückte zornig auf seinem Stuhle hin und her. »Sie wollen wohl sagen, daß wir ihn durch die Organe der Regierung niemals fassen werden?« »Wie die Sachen jetzt liegen, ja. Herr Doktor, haben Sie mir über ihre Verhältnisse Alles mitgetheilt?« »Alles!« betheuerte Sternau. »Selbst das Geringste.« »Und es giebt Nichts, welches Sie vergaßen oder mir verheimlichten?« »Ich weiß wirklich nichts.« »Nun, so bin ich sicher, daß wir das Material noch nicht besitzen, diesen Seekapitän gefangen zu nehmen. Darum habe ich die geeigneten Schritte gethan, um mehr von diesem Materiale zu sammeln.« »Darf ich fragen, worin diese Schritte bestehen?« »Sie sagen, daß Henrico Landola in Barcelona anzulegen pflegt?« »Ja.« »Nun, so bald er dort ankommt, wird er sich fest rennen. Ich habe nämlich einen unserer gewandtesten Polizisten dort stationirt.« »Wie freundlich und umsichtig! Die Kosten trage natürlich ich!« »Darüber sprechen wir später. Dieser Polizist hat zugleich die Aufgabe, Schloß Rodriganda genau zu überwachen.«
»Das ist gut; das kann von großem Vortheile sein!« »Einen Erfolg habe ich schon zu verzeichnen.« »Welchen?« fragte Rodenstein neugierig. »Er telegraphirt mir, daß Graf Alfonzo nach Frankreich verreist sei. Ich setzte mich sofort mit Paris in Verbindung und habe da bereits erfahren, daß er sich in Orleans einen Diener genommen hat und mit demselben in Paris angekommen ist. Dort ist er aber spurlos verschwunden.« »Man wird ihn finden.« »Ich hoffe es. Ich ahne, daß diese Reise mit Ihnen in Beziehung steht. Ferner theilt mir jener Polizist mit, daß man gesonnen ist, Ihre Flucht aus dem Gefängnisse in Barcelona zu ignoriren.« »Das erwarte ich,« sagte Sternau. »Ich hatte nichts begangen.« »Er hat ferner noch andere Schritte gethan. Er theilt mir mit, daß man nicht gewillt ist, zu bestreiten, daß die Dame, welche sich hier befindet, die Gräfin Rosa de Rodriganda sei.« »Daraus folgt also, daß man ihr das Recht nicht abspricht, ihr Erbe zu beanspruchen?« »Allerdings. Ich habe gerade in dieser Beziehung auch mit dem spanischen Gesandten in Berlin correspondirt und Depeschen gewechselt. Er ist gewillt, das Möglichste für Sie zu thun.« »Ich bin Ihnen wirklich zu sehr großem Dank verpflichtet.« »Sie sehen, daß in dieser kurzen Zeit bereits sehr viel geschehen ist. Weiter, dann habe ich mich hier an den Geheimrath Belling gewandt.« »In Darmstadt?« »Ja. Er besitzt großen Einfluß am Hofe. Ich habe ihm das Nöthigste mitgetheilt, und er hat mir versprochen, dahin zu wirken, daß der Großherzog sich für Sie interessirt. Geschieht dies, so haben Sie für hier festen Grund gefunden. Ich erwarte stündlich seine Resolution.«
»Dann würde es ja gerathen sein, mich ihm einmal vorzustellen?« »un Sie das. Sie haben zunächst die Aufgabe, Ihre Braut zu Ihrer Gemahlin zu machen, und hierbei fällt die Gunst des Hofes bedeutend in die Wagschale. Uebrigens kann uns jeder Tag neues bringen. Ich lebe der schönen Hoffnung, daß Alles sich schnell zum Besten lenken lassen wird.« »Halten Sie noch fest an Ihrer früheren Meinung, daß jener spanische Kapitän nur zur See gefangen werden kann?« »Es ist noch jetzt meine Ueberzeugung. Sie müssen wissen, wohin er Ihren Freund, jenen Husarenlieutenant Alfred de Lautreville entführt hat. Sie müssen ferner wissen, welche Bewandtniß es mit dem Manne hat, welcher in Mexiko aufgeladen und als Sklave nach Härär transportirt wurde. Das Alles erfahren Sie nur dann von ihm, wenn Sie sein Meister werden, wenn Sie, Gewalt gegen Gewalt, ihn in Ihre Hände bekommen.« »So ist es beschlossen, daß ich eine Dampfyacht kaufe und nach dem Kap gehe, um ihn zu verfolgen.« »Ich rathe Ihnen dazu. Vorher aber stellen Sie Ihre hiesige Existenz fest. So, das wäre, was ich Ihnen für heute bringe. Darf man die Damen sehen?« »Ich werde sie nach dem Salon rufen lassen,« meinte der Hauptmann. »Ich bitte darum! Ich möchte sie begrüßen, und wir können ja in ihrer Gegenwart noch weiter über unser ema verhandeln.« Man begab sich also nach dem Salon, wo der Hauptmann, Sternau, der Anwalt, Gräfin Rosa und die beiden Damen Sternau bis über die Dunkelstunde hinaus beisammen saßen. Eben erhob sich der Anwalt, um aufzubrechen, als ein Reiter in den Hof galoppirte. »Wer mag das sein?« fragte er. »Vielleicht ein Bote nach mir. Ich werde erwartet.«
»Nein, den Schritt dieses Pferdes und die Art und Weise dieses Reiters kenne ich,« sagte Rodenstein. »Es ist mein Ludewig.« Er hatte im Laufe der Unterhaltung dem Anwalte die heutige Heldenthat Kurt’s erzählt und auch gesagt, daß er den Burschen nach Darmstadt geschickt habe. Darum kannte dieser die Angelegenheit und sagte, sich wieder niedersetzend: »So bleibe ich noch eine Minute. Ich möchte doch sehen, was der Oberforstdirector zu unserm kleinen Nimrod gemeint hat.« Es dauerte gar nicht lange, so trat Ludewig ein. »Eingetroffen, Herr Hauptmann!« meldete er. »Du warst länger als ich dachte,« sagte der Oberförster. »Der Herr Oberforstdirector war gar nicht in Darmstadt dahier,« entschuldigte sich der Bursche, »sondern in Kranichstein.« »Und da bist Du hinaus! Nun, wie ging es?« Ludewig trat mit stolzen Schritten an den Tisch und zählte das Geld auf denselben. »Dahier!« sagte er. »Das ist für den Balg.« »Zwanzig aler? Ah, das ist viel. Das hätte ich dem Oberforstdirector nicht zugetraut,« sagte der Oberförster. »Es ist auch gar nicht von ihm; vielmehr von der Hoheit selbst.« »Von der Hoheit? Du meinst doch nicht etwa von dem Großherzog?« »Ja, gerade den meine ich dahier!« »Bist Du toll?« »Nein, aber reich.« Er lachte im ganzen Gesichte, griff in die Tasche und klimperte mit seinem Gelde. »Mensch, das klingt a nach lauter harten alern!« rief der Hauptmann. »Von wem sind sie?« »Ich hätte noch zwei aler mehr; aber die habe ich dem großherzoglichen Stallknecht als Trinkgeld gegeben, weil er mir den Braunen versorgt hat.«
»Zwei aler?« fragte Rodenstein. »Du bist wohl übergeschnappt!« »Nein. Ich gab sie, weil der Kerl mich erst über die Achsel ansah dahier, und geben konnte ich sie, weil ich fünfzehn aler Trinkgeld erhalten habe.« »Fünfzehn – – ah, Hallunke, Du hast einen Rausch!« »Das wäre gar kein Wunder, wenn man vor lauter Freude einmal besoffen würde.« »Wer gab Dir denn das Trinkgeld?« »Ich will es erzählen, Herr Hauptmann. Vom Großherzog fünf aler –« »Mit dem Großherzog hast Du gesprochen?« fragte der Hauptmann überrascht. »Ja, mit ihm habe ich gesprochen, und zwar gerade so wie mit mir selbst. Er hat mich sogar ›unsern guten Ludewig Straubenberger‹ genannt dahier! Also von ihm fünf aler, von dem Herrn Oberforstdirector fünf aler, macht zehn –« »Mir bleibt der Verstand stille stehn!« sagte der Hauptmann. Ludwig fuhr fort: »Von der Frau Großherzogin drei, macht –« »Alle Teufel,« fuhr Rodenstein auf, »auch mit der hast Du gesprochen?« »Ja. Von ihr drei, macht dreizehn, und von der Frau Oberforstdirectorin zwei, macht fünfzehn dahier!« »Aber Mensch, wie kommst Du denn zu dem Glücke, mit dem Großherzog zu reden?« »O, dazu kann Mancher kommen, Herr Hauptmann. Zum Beispiel Sie, und schon morgen.« »Morgen?« Rodenstein sprang auf. »Was willst Du damit sagen, Kerl?«
»Morgen kommt der Großherzog, der Oberforstdirector und noch eine ganze Menge anderer Herren, alle mit ihren Weibern dahier.« »Kerl, ich schlage Dich todt, wenn Du es etwa wagst, Dir einen Spaß zu machen!« rief der Oberförster, außer sich vor Ueberraschung. »Sie kommen, weiß Gott, sie kommen, Herr Hauptmann!« betheuerte der Bursche. »Herrgott, ist’s möglich! Welch’ eine Ueberraschung! Und so viele, mit ihren Damen?« »Ja.« »Na, das wird eine schöne Prosit die Mahlzeit! So Etwas muß man doch viel länger vorher wissen! Weshalb nur gerade morgen?« »Den Kurt wollen sie sehen! Ja, und den Herrn Doctor und unser gute Gräfin Rosa; und die Prämien will der Großherzog bringen, hundertzwanzig aler in Summa dahier.« Diese Nachricht brachte eine ungeheure Aufregung in der Versammlung hervor. Die Anwesenden alle erhoben sich von ihren Plätzen und drangen mit Fragen auf Ludewig ein. Der Oberförster wehrte ab und sagte: »Halt, Ihr Herrschaften! Das muß ordentlich gehen, nicht Alles durch einander! Laßt mich allein fragen; dann kommen wir schneller zum Ziele.« Und sich nun wieder zu dem Jägerburschen wendend, erkundigte er sich: »Zu welcher Zeit wollen sie kommen?« »Punkt zwölf Uhr Mittags.« »Und wie viele wollen kommen?« »Sehr viele. Weiter weiß ich nichts dahier.« »So erzähle, wie es Dir in Kranichstein ergangen ist!« »Nun, ich übergab mein Pferd dem Stallknecht und sagte einem Diener, zu wem ich wollte dahier. Er sagte, daß der Großherzog bei
dem Oberforstdirector sei , daß er mich aber anmelden werde, weil ich ein Kurier sei.« »Donnerwetter, Du hast Dich für einen Kurier ausgegeben!« »Ja.« »Bist Du gescheidt oder nicht, Kerl?« »Ich bin gescheidt; das wird sich gleich zeigen.« »Da bin ich doch neugierig! Na, ich werde eine schöne Nase erhalten, wenn morgen die Herrschaften kommen! Mach weiter!« »Der Lakay meldete mich, und ich kam nun in ein Zimmer, wo es Gottstrampach schöner war als im Himmel dahier. Da saßen der Großherzog und der Oberforstdirector mit ihren Weibern.« »Wem gabst Du den Brief?« »Hm, den kriegte jetzt einstweilen noch Niemand.« »Niemand? Aber, Mensch, den mußtest Du doch sofort abgeben!« »Das fiel mir gar nicht ein, denn ich hatte es vergessen. Sie fragten mich zunächst, wer ich bin dahier und warum ich mich wegen eines Wolfes als Kurier ausgeben könne –« »Da hat man’s! Meine Nase werde ich ganz sicher bekommen, daß ich so einen Dummhut geschickt habe!« »Dummhut, Herr Hauptmann? Das dürfen nur Sie mir sagen; einen Andern würde ich zu Boden schlagen, daß ihm die Seele aus der Haut fahren sollte dahier! Ich habe keine Dummheit begangen, sondern mit den Herrschaften gesprochen, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Sie sind auch ganz prächtig mit mir einverstanden gewesen, und ich mit ihnen auch. Ich habe ihnen sogar tüchtig vor die Zähne gesprochen, als ich ihnen das Fell ausbreitete und sie dachten, es wäre eine Wolfshaut.« »Eine Wolfshaut?« fragte der Hauptmann ungläubig. »Ja.« »Unmöglich. Der Großherzog und der Oberforstdirector wissen schon eine Wolfshaut von einem Luchsbalge zu unterscheiden!«
»Es ist aber doch so. Sie hatten es für eine Wolfshaut angesehen, bis sie dann selber einsahen, daß es ein Luchsfell war. Und da konnte ich mich nicht halten, da habe ich ihnen die Pathen gesteckt.« »Sapperlot, Du bist doch nicht etwa unvorsichtig gewesen?« »Nein, nicht im Geringsten.« »Was hast Du gesagt?« »Hm! Der Großherzog sagte: Das ist doch ein Luchsbalg. Und da sagte ich: Na, das versteht sich doch Gottstrampach ganz von selber!« »Himmelheiligeskreuz –! Bist Du denn geplatzt, Hallunke?« »Nein, Herr Hauptmann.« »Haben sie Dich denn nicht gleich arretiren lassen?« »Nein.« »Was haben sie denn gemacht?« »Gelacht haben sie, weiter nichts.« »Da hat man’s! Das ist noch schlimmer! Meinen Boten haben sie ausgelacht; das ist gerade so gut, als ob sie mich selber ausgelacht hätten.« »Ausgelacht, Herr Hauptmann? Das ist nicht wahr! Vor Vergnügen haben sie gelacht, vor Freude über mich dahier. Und dann haben sie mich gefragt, wie lange ich schon diene und warum ich keine Försterstelle annehme, und als ich sagte, daß ich nicht von dem Herrn Hauptmann weg wolle, da haben sie mich gelobt, und der Großherzog hat gemeint, daß er an mich denken wolle dahier. Und als ich nachher den Brief hingab, da hat ihn der Großherzog laut vorgelesen –.« »Die Andern und auch die Damen haben ihn gehört?« erkundigte er sich ganz stolz. »Ja.« »Nun, was sagten die denn zu einem solchen Briefe?«
Der Hauptmann hielt sich nämlich für einen großen Schrifthelden; er erwartete, jetzt eine große Lobrede zu hören, doch der wahrheitsliebende Bursche sagte: »Ausgelacht sind Sie worden, Herr Hauptmann.« »Wa – wa – wa – waaaas?« »Ausgelacht!« »Un – un – unmöglich!« Seine Nase war vor Schreck ganz kreideweiß geworden, und sein Mund stand vollständig offen. »Ja!« behauptete Ludewig mit Nachdruck. »Alle, auch die Damen.« »Aber weshalb denn, beim Teufel?« »Ja, wegen Vielerlei.« »Nun, zum Beispiel?« Der gute Ludewig hatte seinen Herrn lieb, aber es that ihm gut, ihm auch einmal einen Jagdhieb versetzen zu können. Daher sagte er: »Na, wegen dem Styl dahier.« »Wegen dem Styl? Das ist mir Gottstrafmich doch zu stark! Kein Mensch hat so einen schönen Styl wie ich!« Die Anwesenden lächelten, sagten aber nichts. Nur der Jägerbursche meinte: »Die Herrschaften verstehen vielleicht von einem guten Style nichts; sie lachten, und der Herzog sagte, das wäre originell.« »Schafskopf, das ist doch ein Lob, aber kein Tadel!« »Gottstrampach, da bin ich also doch ein tüchtiger Kerl dahier!« »Wieso?« »Der Großherzog sagte: Unser Rodenstein bleibt doch immer der Alte; erst schickt er uns diesen braven Ludewig Straubenberger und dann diesen Brief! – Also, wenn der Brief tüchtig war, so bin ich auch tüchtig; das versteht sich ja ganz von selber dahier. Aber
gelacht haben sie doch, besonders wegen der Haut und den zwei Ohren.« »Wieso?« »Nun, Sie hatten doch geschrieben, daß ich eine Haut und zwei Ohren hätte –« »Kerl, ich haue Dich! Ich werde doch wissen, was ich geschrieben habe! Ich habe geschrieben: Hier schicke ich meinen Ludewig Straubenberger, und so weiter, der hat eine Haut und zwei Ohren, für die Sie ihm die Prämie geben sollen.« Der Oberförster blickte sich im Kreise um und sah, daß sich Alle Mühe gaben, ihr Lachen zu verbergen; es ging ihm eine Ahnung auf, und so fragte er: »Na, Herr Staatsanwalt, Sie lachen. War es nicht richtig?« »Hm! Aus Ihrer Wortstellung geht allerdings hervor, daß Sie von der Haut und den Ohren Ihres Ludewig gesprochen haben.« Er glaubte es noch immer nicht, und darum fragte er Sternau: »Ist’s wahr, Herr Doktor?« »Es ist allerdings so, wie der Herr Staatsanwalt sagte,« antwortete dieser. »Heiliges Pech, so habe ich mich blamirt, gewaltig blamirt!« »Und dann das Trinkgeld!« sagte Ludewig. »Sie haben doch geschrieben, daß sie mir Trinkgeld geben sollen.« »Das habe ich mit Fleiß gethan; da habe ich den Zahlmeister gemeint. Wer denkt denn, daß mein Brief dem Großherzog in die Hände kommt! Na, ich werde eine schöne Nase kriegen, morgen, eine Nase, zwölf Meilen lang! Wer gab Dir denn das Geld für den Balg?« »Der Großherzog.« »Donnerwetter, dem hättest Du es schenken sollen!« »Das fällt mir gar nicht ein; so dumm bin ich nicht dahier. Er hat mir die zwanzig aler sehr gern gegeben; ich sah es ihm an.« »Etwas Schriftliches hast Du nicht bekommen?«
»Nein. Sie wollen morgen Alles mündlich abmachen.« »Also was verlangten sie für morgen?« »Den kleinen Kurt wollten sie sehen.« »Sie glaubten nicht, daß er’s gewesen ist?« »Nein. Der Großherzog redete sogar von Fopperei.« »Alle Teufel!« »Ja. Dann will der Großherzog den Herrn Doktor vorstellen.« »Papperlapapp! Ich soll ihm den Herrn Doktor vorstellen; so wird er es gemeint haben.« »Möglich! Den Herrn Doktor und die gnädige Gräfin von Rodriganda.« »So wußte er bereits von uns?« fragte Sternau. »Ja.« »Hat er keine Bemerkung fallen lassen, aus der man errathen könnte, von wem er von uns erfahren hat?« »Hm, die Großherzogin sagte so Etwas; doch muß ich mich erst besinnen. Es war ein Geheimrath dabei, wie ich glaube.« »Wurde der Name genannt?« »Allerdings; er fällt mir aber gar nicht gleich ein dahier.« »Vielleicht Belling?« »Ja, ja, Belling, Geheimrath Belling; so war es.« »Sehen Sie, Herr Staatsanwalt,« sagte Sternau, zu diesem gewendet, »daß der Herr Geheimrath sein Wort bereits gehalten hat!« »Ich war überzeugt davon,« sagte der Beamte; »ihm haben Sie den Besuch der Herrschaften zu verdanken. Es würde mir angenehm sein, wenn ich morgen auf Schloß Rheinswalden sein dürfte.« »Was hält Sie ab?« fragte der Hauptmann. »Etwa Ihre amtlichen Verrichtungen?« »Diese weniger – – –« »Nun, wenn es nur an meiner Einladung fehlt, so wissen Sie ja, daß Sie mir jederzeit herzlich willkommen sind. Wollen Sie zusagen?«
»Gut, ich komme!« »Schön, abgemacht! Frau Sternau, wie steht es mit der Küche?« »Da befinde ich mich allerdings sehr in Verlegenheit,« antwortete sie. »Ich weiß ja nicht, was die Herrschaften zu genießen wünschen – – –« »Dummheit! Sie müssen nehmen, was sie kriegen; nach ihren Wünschen zu fragen, ist es zu spät. Aber sie sollen zufrieden sein. Wild haben wir?« »Genug! Schweinernes auch.« »Na, wegen dem Uebrigen schicken Sie gleich einen Expressen in die Stadt.« »Aber ich weiß nicht, für wie viele Personen – – –« »Abermals Dummheit! Wir machen, was wir kriegen können; was übrig bleibt, das essen wir selber. Den Weinkeller werde ich nachher gleich untersuchen.« Frau Sternau hatte den Haushalt in einer musterhaften Ordnung; aber die Ankunft solcher Gäste war doch immerhin bedenklich. Es verging der Abend und fast die ganze Nacht mit Vorbereitungen, und erst als am anderen Vormittage der Staatsanwalt ankam, konnte man sagen, daß man der Ankunft des Großherzogs nun mit Ruhe entgegensehe. Auch außerhalb des Schlosses war während der ganzen Nacht gearbeitet worden. Der Hauptmann hatte sämmtliche Bewohner von Rheinswalden aufgeboten, um die Straße, welche durch den Wald führte, mit grünen Guirlanden und Festons zu schmücken. Da nur zwei Böller vorhanden waren und Rodenstein ein Freund von Ehrensalven war, so wurden Kanonenschläge gefertigt, welche in regelmäßigen Zwischenräumen angezündet werden sollten, kurz, man traf alle Vorbereitungen, um den Landesherrn gebührendermaßen zu empfangen.
Ludewig hatte den Braunen wieder bestiegen und war den Herrschaften entgegengeritten, um bei ihrem Anblicke sofort umzukehren und ihre Ankunft zu melden. Der Großherzog war pünktlich. Zwei Minuten später sprengte Ludewig zum or herein und rief: »Sie kommen!« Draußen begannen allsogleich die Kanonenschläge zu krachen; der hundertstimmige Ruf eines begeisterten Hurrahs kam schnell näher, und da rollten auch schon acht vollbesetzte Equipagen herein, begleitet von Herren, welche es vorgezogen hatten, zu reiten. Es waren wohl vierzig Personen. Der Hauptmann stand in seiner Oberförstersuniform am Portale, um die Herrschaften zu empfangen. Die Burschen glänzten in ihren Staatsuniformen, an ihrer Spitze der Ludewig. Neben diesen stand der kleine Kurt. Auch er steckte in einer grünen Uniform und hatte einen glänzenden Hirschfänger an der Seite. Der Großherzog sprang, die Hilfe des Lakaien verschmähend, aus dem Wagen. Er bog sich nach demselben zurück, um der Großherzogin die Hand zu geben, da erblickte er den Burschen. »Ah, unser Ludewig Straubenberger!« sagte er. »Kommen Sie heran!« Ludewig pflanzte sich kerzengerade vor ihm auf. »Geben Sie Ihrer königlichen Hoheit die Hand,« sagte der Fürst; »Sie dürfen ihr aus dem Wagen helfen!« »Ist sie krank dahier?« fragte der gute Bursche. Er hatte keine Ahnung davon, daß ihm hier eine Ehre geboten werde, nach welcher mancher hohe Offizier und manche Hofcharge vergebens schmachtete. »Nein,« lachte der Großherzog; »sie will es so.« »Na, wenn’s sein muß, so denn los!« Mit diesen Worten trat er an den Wagen, streckte der Großherzogin die Faust entgegen und sagte:
»Guten Tag, Hoheit! Da kommen Sie her, wenn Sie denken, Sie purzeln heraus!« Er faßte sie an und hob sie buchstäblich aus dem Wagen. Der Oberforstdirektor hatte zu der Cavalcade von der gestrigen Unterhaltung gesprochen; die Herren und Damen waren in Folge dessen begierig, den braven Ludewig zu sehen; aber daß er mit der königlichen Hoheit so summarisch verfahren werde, hatten sie doch nicht gedacht. Die Großherzogin machte übrigens gute Miene zum bösen Spiele und legte dann ihre Hand in den Arm ihres hohen Gemahls. Sie schritten nach dem Portale, gefolgt von den anderen Herrschaften. Der Oberförster machte sein glänzendstes Honneur. Sein Gesicht brannte förmlich vor Freude, seinen Landesherrn bei sich zu sehen. »Hier sind wir,« sagte dieser jovial. »So zahlreich haben Sie uns doch nicht erwartet, mein lieber Rodenstein.« »Je mehr, desto besser, Hoheit!« antwortete er. »Geben Sie meinem Hause die Ehre, näher zu treten!« Der Fürst reichte ihm die Hand, welche er leise drückte, dann führte er diejenige der Fürstin mit Ehrerbietung an seine bärtigen Lippen, verbeugte sich vor dem Gefolge und schritt nun Allen voran nach den heute einmal geöffneten Staatsgemächern des Schlosses. Im Saale desselben, welcher von seltenen Geweihen und anderen Jagdtrophäen geschmückt war, nahm man Platz, um eine Erfrischung zu nehmen. Der Großherzog hatte einige Lakaien mitgebracht, um sich von ihnen bedienen zu lassen; aber Rodenstein kannte seine Schuldigkeit als Wirth; seine wackeren Burschen waren da und machten ihre Sache wider Erwarten ganz gut. Nach dem ersten Trunke sagte der hohe Herr:
»Ich komme zunächst, um mir einmal Ihren kleinen, fünährigen Nimrod anzusehen, doch ist es dazu immerhin noch Zeit. Ist Doktor Sternau zu Hause?« »Ja. Befehlen Hoheit?« »Er soll kommen!« Rodenstein gab einen Wink und Ludewig eilte hinaus. Die abenteuerlichen, fast romanhaften Erlebnisse des Arztes hatten sich bereits überall herumgesprochen; man kannte ihn noch nicht und war daher nicht wenig begierig, den Mann zu sehen, dem die schönste Gräfin Spaniens ihre Hand schenken wollte. Er trat ein. Hatte man vielleicht gedacht, daß ein Arzt schon durch seine äußere Haltung eingestehen werde, welche Gnade und Auszeichnung es sei, in der Mitte solcher Herrschaften erscheinen zu dürfen, so hatte man sich hier allerdings bedeutend geirrt. Hoch und breit von Gestalt, ein echter Enakssohn, trat er in der Haltung eines Königs ein. Kein einziger Zug seines offenen, männlichen Gesichtes verrieth eine Spur von Verlegenheit, und sein großes, schönes Auge flog mit einem ruhigen, forschenden Blicke über die Versammlung, als sei er der Gebieter, welcher hier erwartet werde. Der Großherzog erhob sich unwillkürlich, und die Anderen folgten seinem Beispiele. »Mein Gott, der Herzog von Olsunna!« sagte ziemlich laut ein erstaunter Herr vom Hofe, welcher hinter dem Fürsten stand. Schon hatte Sternau das Fürstenpaar erreicht, und der Hauptmann eilte an seine Seite. »Der Herr Doktor Sternau!« stellte er ihn vor und trat dann zurück. Der Fürst und die Fürstin erwiderten die Verbeugung des Arztes, und der Erstere sagte: »Man hat mir von Ihnen gesprochen. Sie sind in meinem Lande geboren?«
»Ich habe die Ehre, ein Landeskind Eurer Hoheit zu sein.« »Wie kamen Sie nach Spanien?« »Ich befand mich in Paris bei Professor Letourbier, als ich nach Rodriganda gerufen wurde, um den Grafen dieses Namens von einem doppelten Leiden zu befreien.« »Welche Leiden waren es?« »Der Stein und der Staar.« »Ah! Gelangen die Operationen?« »Ich war glücklich .« »So darf man Ihnen Glück zu so großem Erfolge wünschen!« Sternau verbeugte sich dankend, und der Großherzog fuhr fort: »Uebrigens haben wir gehört, daß Sie sich ein außerordentlich angenehmes Honorar mitgebracht haben – –?« Er lächelte freundlich, was die Eigenthümlichkeit seiner Worte in der Weise milderte, daß Sternau mit einem leisen Lächeln antwortete: »Es wurde freiwillig gegeben, Hoheit.« »Wir haben von Ihren Schicksalen gehört, und königliche Hoheit, die Großherzogin, wünscht die Gräfin de Rodriganda zu sehen. Oder hält die Dame sich so zurückgezogen, daß – –« »O nein, Hoheit. Darf ich Rosa de Rodriganda holen?« »Ja, wir bitten darum.« Man nahm wieder Platz. Ein leises Flüstern ging von Mund zu Munde; der Arzt hatte auf Alle, besonders aber auf die Damen, ein bedeutenden Eindruck gemacht. Nun war man desto neugieriger auf die Gräfin, der man den Vater geraubt und sie selbst dann wahnsinnig gemacht hatte, so daß sie nur von einem Arzte wie Sternau hatte gerettet werden können. Während dieser leisen Unterhaltung hatte sich der Großherzog an den alten Herrn gewendet, welcher hinter ihm jene Aeußerung gethan hatte.
»Es entschlüpften Ihnen vorhin einige Worte, Excellenz – –?« fragte er so, daß es nur noch die Großherzogin hören konnte. »In einer wirklichen Ueberraschung, Hoheit.« »Sie nannten einen hohen Namen?« »Den des Herzogs von Olsunna.« »Was hat es für ein Bewandtniß?« »Dieser Doktor Sternau gleicht dem Herzoge so, daß ich fast erschrocken war.« »Sie kannten den Herzog?« »Sehr gut. Ich lernte ihn kennen, als ich als Attaché in Spanien war.« »Zufall!« »Hm!« Der Mann machte bei diesem Laute ein so eigenthümliches Gesicht, daß der Großherzog aufmerksam wurde. »Was meinen Sie?« fragte er. »Ich dachte soeben an einige Eigenthümlichkeiten.« »Die man erfahren darf?« »Nur Hoheit gegenüber spreche ich davon. Haben Hoheit die zwei kleinen Male bemerkt, welche der Doctor im Gesichte hat?« »Auf der Stirn und an der linken Wange?« »Ja; sie sind nicht auffällig, ja, sie geben den Zügen eher etwas Pikantes.« »Was ist’s mit ihnen?« »Dieselben Male hatte der Herzog ganz an derselben Stelle.« »Ah, das könnte allerdings aufmerksam machen!« »Ferner ist Madame Sternau, welche die Honneurs von Schloß Rheinswalden vertritt –« »Sie ist hier?« unterbrach ihn der Fürst. »Sie und ihre Tochter. Sie war als Gouvernante in Spanien, und zwar auch kurze Zeit bei dem Herzoge von Olsunna als Erzieherin von dessen Tochter.«
»Das ist allerdings sehr auffällig!« »Sie ging ungewöhnlich schnell ab und verließ Spanien. Es mußte irgend eine Scene gegeben haben. Ich kenne das, da ich gerade zu jener Zeit bei der Gesandtschaft war und ihren Paß in die Hand bekam.« »Stimmt das Alter des Arztes mit der Zeit?« »Ja, und noch mehr: Ich habe diesen Doctor Sternau schon früher gesehen.« »Ah!« »Als Kind, ganz zufällig. Das war bei einem Verwandten der Frau Sternau, einem gewissen Wilhelmi, dessen Sohn jetzt in Genheim Lehrer ist. Ich rechnete bereits damals nach und kam zu dem überraschenden Resultate, welches Ew. Hoheit jedenfalls vermuthen werden.« »Eigenthümlich, sehr eigenthümlich!« Die Großherzogin hatte Alles mit gehört und sagte: »Man wird sich für diesen Arzt wirklich interessiren müssen!« Und lächelnd fügte sie hinzu: »Er hat wirklich so etwas – – hm, so etwas ›Herzogliches‹ an sich.« »Gewiß!« sagte der Großherzog. Eine weitere Bemerkung konnte er nicht machen, denn es öffnete sich die ür und Rosa trat am Arme Sternau’s ein. In einer andern Versammlung wäre ein hörbares Ah! der Bewunderung durch den Saal gegangen; diese Hofleute aber waren es gewohnt, sich zu beherrschen; und doch rückte hier und da ein Stuhl; man hörte das leise Scharren eines Fußes oder das Rauschen eines seidenen Kleides, welches durch eine Bewegung der Ueberraschung hervorgebracht worden war. Und schön war sie, unendlich schön, so schön, daß sich keine der anwesenden Damen nur im Entferntesten mit ihr hätte messen können. Und wie einfach ging sie! Sie trug nichts als ein Kleid von weißem Alpacca, eine Rose im Haare und zwei Nelken am Busen.
Es war, als ob die Schönheit Fleisch geworden sei und nun hier eintrete, um die Herren in Entzücken und die Damen in bitteren Neid zu versetzen. Auch bei ihr erhoben sich Alle. Die Großherzogin ging ihr einige Schritte entgegen und reichte ihr die Hand. Rosa beugte sich mit vornehmstem Anstand auf dieselbe nieder, und als sie den schönen Kopf wieder erhob, senkte sich der vorhin so stolze, königliche Blick so innig bittend und vertrauend in das Auge der Fürstin, daß diese ergriffen wurde und sofort fühlte, daß sie diesem schönen Geschöpfe eine Beschützerin sein werde. »Prinzeß Rosa de Rodriganda y Sevilla!« sagte Sternau laut. Dann trat er einen Schritt zurück. »Erlaucht,« sagte die Großherzogin in französischer Sprache, da sie vermuthete, daß Rosa des Deutschen noch nicht mächtig sei; »ich heiße Sie willkommen in unserm Lande und empfehle Sie hiermit der Gewogenheit Seiner Hoheit.« Der Großherzog neigte gütig den Kopf und sagte: »Wenn Sie es gestatten, Erlaucht, werden wir Ihnen gern mit unsern Kräften zur Verfügung stehen. Man wird Sie veranlassen, sich den Kreisen unseres Hofes nicht länger zu entziehen.« »Ich danke, Hoheit, danke von ganzem Herzen,« sagte sie; »aber gestatten Sie mir noch länger, mich in der Einsamkeit dem Andenken von Ereignissen zu widmen, welche mein ganzes Leben umgestaltet haben. Mein Herz wiegt Ihre Freundlichkeit und findet sie unendlich werthvoll für ein verwaistes Leben; aber ich habe noch stillen Abschluß zu halten mit Allem, was hinter mir begraben wurde.« »Was aber doch wieder auferstehen soll!« sagte die Großherzogin. »O, wo giebt es einen Christus, der hier sagen kann, Jüngling, ich sage Dir, stehe auf!« Da sagte der Großherzog:
»Erlaucht, wir sind keine Erlöser, keine Propheten und Wunderthäter, doch wenn es einmal möglich wäre, ein Wort zu sprechen, welches im Stande wäre, eine der gestorbenen Hoffnungen wieder aufzuerwecken, so werden wir dieses Wort sicher und von Herzen gern sprechen. Wir wollen Sie Ihrer Einsamkeit, die Ihnen vielleicht wohlthut und Ihrer Seele den Frieden bringt, nicht entreißen, aber sollten Sie einmal unseres Wortes bedürfen, so hoffen wir bestimmt, daß Sie uns dann nicht vergessen haben. Jetzt aber lassen Sie uns Platz nehmen. Bitte, Erlaucht, an meine Seite! Und Sie, Herr Doctor, nehmen Sie neben Ihrer Königlichen Hoheit Platz. Sie sollen uns erzählen von dem berühmten Lande der Kastanien.« Die beiden Verlobten erhielten also die Ehrenplätze neben den Hoheiten. Und nun begann die Aufgabe des Hauptmannes, sich als Wirth zu zeigen. Es gelang ihm vortrefflich. Das Mahl hatte in allen seinen Gängen den Beifall der Herrschaften, und der Wein, welcher so lange unberührt im dunklen Schloßkeller gelegen hatte, war so gut, daß am Ende der Tafel eine fast animirte Stimmung herrschte. »Rodenstein,« sagte der Großherzog, »treten Sie einmal näher!« Der Oberförster folgte dem Befehle. »Wie lange dienen Sie bereits?« »Vierunddreißig Jahre.« »Und haben es noch zu nichts gebracht?« »Zu nichts, Hoheit? Hm! Ich dächte, ich wäre doch bereits Etwas!« »Ja, aber es ist ein Unterschied zwischen Etwas sein und Etwas haben!« »Hm!« Er wußte gar nicht, wohinaus der Großherzog wollte. Dieser fuhr fort:
»Da Sie also nach Ihrer Meinung Etwas sind, so sollen Sie heute auch Etwas dazu haben. Treten Sie noch näher. Excellenz, geben Sie her!« Die alte Excellenz, welche vorhin von dem Herzoge von Olsunna gesprochen hatte, griff in die Tasche und zog ein zierlich gearbeitetes Etui hervor. Der Großherzog öffnete es und entnahm ihm den Ludwigsorden, welchen er dem Hauptmann an die Brust heftete. Dieser wußte gar nicht, wie ihm geschah. Er wurde bald bleich, bald roth; seine Lippen zitterten, und der Athem ging ihm schwer. »Dies soll Ihnen ein Zeichen unserer außerordentlichen Huld und Gewogenheit sein,« sagte der Großherzog. »Tragen Sie ihn heute, uns Allen zur Freude. Das Uebrige werden Wir noch verfügen.« Da endlich kam dem Hauptmann die Sprache wieder: »Königliche Hoheit – Sapperlot – das ist ja – o heiliges Kr – na, so eine Ueberraschung! Das habe ich ja gar nicht verdient!« »Ob Sie diese Auszeichnung verdient haben, das zu ermessen, kommt uns allein zu. Jetzt nun aber lassen Sie einmal Ihren kleinen Nimrod kommen.« Rodenstein winkte einem seiner Burschen, und dieser ging, den Befehl des Großherzogs auszurichten. Dieser fragte weiter: »Wie alt ist er? In Ihrer Zuschrift stand fünf Jahre.« »Und einige Monate,« sagte Rodenstein. »Also ein Knabe, der noch nicht schulpflichtig ist, und schießt einen Wolf, sogar einen Luchs? Das ist unglaublich!« »Der Junge ist ein Mirakel, Hoheit!« »Das muß so sein, wenn hier nicht ein Irrthum vorliegt. Was meinen Sie, Herr Doctor?« Sternau antwortete: »Der Knabe hat beide iere ganz gewiß geschossen, Hoheit. Auch ich würde es nicht glauben, aber ich kenne ihn. Er würde
ebenso ruhig auf einen Elephanten anlegen wie auf einen Hasen. Er hat bereits einmal in meiner Gegenwart einen wüthenden Eber erlegt, welcher Prinzeß Rodriganda in Lebensgefahr brachte.« »So bin ich allerdings begierig, den kleinen Helden zu sehen.« Jetzt trat Kurt ein. Man hatte ihm gesagt, wie er sich zu benehmen habe. Er machte seine Sache ganz vortrefflich. Er kam in kerzengrader Haltung furchtlos heranmarschirt, stellte sich in Achtung vor dem Großherzog auf und machte sein Honneur. »Ah, da bist Du ja!« sagte der Fürst. »Sie haben befohlen!« meinte er, indem er die hellen, klugen Augen fest auf seinen Landesvater richtete. »Wie heißest Du?« fragte dieser. »Kurt Helmers. Helmers von meinem Papa und Kurt von dem Herrn Hauptmann, der mein Pathe ist.« »Schön, das ist deutlich! Wie alt bist Du?« »Fünf und ein Viertel.« »Was ist Dein Vater?« »Seemann.« »Wo ist er?« »Er war Steuermann auf der Jeffrouw Mietje, jetzt aber ist er zu Hause, hier auf Rheinswalden.« »Was willst Du einmal werden?« »Hoheit, ein tüchtiger Kerl!« Bei dieser Antwort kniff er die Lippen so energisch zusammen, daß man es ihm ansah, es sei sein voller Ernst. »Das ist brav von Dir! Aber ich meine, welchen Stand Du Dir wählen wirst.« »Das verstehe ich nicht; das überlasse ich Papa und dem Herrn Hauptmann, vielleicht auch dem Herrn Doctor Sternau.« »Warum diesen Dreien?« »Sie sind gescheidter als ich und wissen es besser, wozu ich tauge.«
Der Großherzog nickte wohlgefällig, sagte aber doch: »So hast Du also keine Vorliebe für irgend einen Stand?« »O doch! Ich will Etwas werden, was recht schwer ist, wo man recht viel zu lernen hat und wo man recht kämpfen muß. Ein Jäger, ein Seemann oder ein Soldat.« »Das gefällt mir. Lernst Du gern? Zähle einmal auf! Lesen?« »Hm,« sagte er stolz, »das rechnet man nicht! Lesen und Schreiben und so weiter kann jeder Gänsebube! Ich kann Englisch und Französisch; ich muß zeichnen und vieles Andere thun, was mir der Herr Hauptmann lehrt. Sodann kann ich schießen, reiten, fechten, schwimmen, turnen – na, das ist Alles ja nicht schwer!« »Du bist ein Hauptkerl. Was hast Du denn schon geschossen? Scheibe?« Diese Frage war in einem ein Wenig spöttischem Tone ausgesprochen, aber der Knabe antwortete ganz ruhig: »Ja, Scheibe; erst feste und nachher Schwingscheibe, sodann Steine, die man in die Luft warf.« »Nachher? Einen Hasen etwa schon?« »Ja, Hasen; in diesem Winter bereits einige Hundert.« »Auch bereits anderes Wild?« »Ja.« »Und wie war es denn mit dem Wolfe?« »O, das war sehr einfach: ich sah ihn, und da schoß ich ihn nieder. Was kann man weiter thun!« »So so! Hattest Du keine Furcht?« Der Knabe sah ihn groß an. »Furcht? Vor wem denn? Vor dem Wolfe? Der hat sich doch vor mir zu fürchten, vor mir und vor meiner Büchse!« »Ah so! Aber der Luchs?« »Das war ebenso; aber er hat zwei Kugeln erfordert.« »Und auch den hast Du nicht gefürchtet?«
»Nein; ich war dumm; ich dachte erst, es sei eine Wildkatze; ich hatte die Ohrpinsel nicht bemerkt.« Der fünährige Bube sprach so furchtlos und verständig, daß die Hoheiten sich förmlich verwunderten. Die Großherzogin legte ihm die feine Hand auf den Kopf und zog ihn zu sich heran. »Hast Du denn Deine Mama noch?« fragte sie. »Jawohl,« sagte er. »Und hast Du sie lieb?« »Gar sehr!« »Hast Du denn nicht an sie gedacht, als der Wolf vor Dir stand?« »Nein,« sagte er ehrlich. »Das ist Unrecht von Dir, mein Sohn!« »Unrecht?« fragte er. »Warum?« »Denke nur an die ränen Deiner Mutter, wenn Dich der Wolf, oder der Luchs getödtet hätte!« »Ja,« sagte er, »da hätte sie sehr viel geweint, denn sie hat mich lieb. Aber meine Mama geht doch auch in den Wald – –!« »Was willst Du damit sagen, Kind?« »Wenn nun der Wolf oder der Luchs die Mama getödtet hätte? War es da nicht besser, ich ging hinaus und schoß das Viehzeug nieder?« Die Großherzogin fühlte sich überrumpelt und geschlagen. Sie lächelte und sagte: »Du sprichst richtig wie ein Held!« »Ach, Hoheit, ich bin kein Held. Wenn Sie einen Helden sehen wollen, so müssen Sie hier meinen Onkel Sternau ansehen, der ist in Amerika und Afrika gewesen, sogar in Asien. Da hat er Löwen, Panther, Tiger und Elephanten gejagt; da hat er auch mit wilden Menschen gekämpft. Was bin ich da gegen ihn! Ein dummer Teufel!«
»Ah,« sagte der Großherzog, »das haben wir nicht gewußt. Sie waren in Amerika, Herr Doktor?« »Allerdings,« antwortete Sternau. »Und im Oriente?« »Einige Jahre.« »Und haben wirklich diese iere gejagt?« »Nebenbei. Der Hauptzweck meiner Wanderungen waren natürlich die Studien.« »Dann werden wir gewiß bald Gelegenheit suchen, uns von Ihnen erzählen zu lassen. Dieser Kleine profitirt gewiß auch von Ihren Erfahrungen?« »Einigermaßen. Jetzt zum Beispiel lehre ich ihm, das Lasso zu gebrauchen.« »Nicht möglich! Ein fünähriger Knabe!« »Und doch. Ich habe ihm ein Lasso gefertigt, fünfzehn Fuß lang und vierfach geflochten. Er gebraucht es bereits ziemlich gut.« »Gegen wen?« »Gegen die Hunde und Ziegen, sowie gegen sein kleines Ponny, das zwar nicht die Kraft hat, wie größere iere.« »Das möchte man einmal sehen!« sagte die Großherzogin. »O, das ist nichts!« fiel Kurt ein. »Hoheit müssen den Onkel Sternau sehen, wenn er eine Stunde giebt. Schieße ich fünfzig Schritte weit, so nimmt er dreihundert; reite ich über einen Baumstamm, so sprengt er über eine Mauer; fange ich mit dem Lasso eine Ziege, so reißt er ein Pferd nieder. Er schießt von vier Steinen, welche ich empor werfe, zwei mit einem Schusse herab, und jeden Stein, jede Kugel, welche ich werfe, trifft er im raschesten Galopp. Das ist der richtige Held! Aber, ich lerne es auch noch!« Seine Wangen glühten, und er sah dabei so hübsch aus, daß ihn die Großherzogin streichelte. Der Großherzog sagte: »Dann wundere ich mich nicht mehr, daß Du Wölfe schießest. Ist der Wolf noch zu sehen?«
»Ja,« sagte Kurt. »Er liegt im Holzstall.« »Und der Luchs?« »Der liegt auch noch drüben, nackt, ohne Haut.« »So werden sie nachher in Augenschein genommen. Also auch fechten kannst Du, und mit allen Waffen?« »Es ist so, Hoheit!« »Wer war denn Dein Lehrer?« »Der Herr Hauptmann. Und jetzt lerne ich gar noch boxen vom Onkel Sternau.« »Das geht ja nicht; Du bist klein und er so groß.« »Ach, das wird anders gemacht! Es muß ein Junge aus dem Dorfe her, den nehme ich; der Onkel nimmt den Ludewig; diese Beiden machen es vor, und wir machen es nach.« »Ach so! Und wer bekommt da die Hiebe?« »Der Junge und der Ludewig. Dann ruft er immer: ›Gottstrampach dahier!‹ Es ist das ein sehr lustiger Unterricht!« »Das glaube ich,« lachte der Großherzog. »Also auch ein Reiter bist Du?« »O, nur ein Ponnyreiter; aber man hat dennoch Respekt vor mir.« »So wirst Du uns nachher einmal Etwas vorreiten?« »Sehr gern.« »Und wie steht es mit den Sprachen? Du sprichst Französisch?« »Ja. Wir können jetzt ja französisch oder englisch sprechen, Hoheit. Mir ist’s egal.« »Du Tausendsassa! Aber wir wollen doch beim Deutsch bleiben! Wer hat Dich in diesen Sprachen unterrichtet?« »Der Herr Hauptmann und meine Frau Sternau. Jetzt aber habe ich noch einen anderen Lehrer; den Tombi, er ist ein Waldhüter, eigentlich ein Zigeuner.« »Welche Sprache lernst Du von ihm?«
»Das sagt er noch nicht; aber ich habe ihn überlistet und einmal nachgeschlagen. Man liest verkehrt, nämlich von rechts nach links; es wird wohl Arabisch sein, oder Malayisch.« »Davon weiß ich ja noch gar nichts!« sagte Sternau. »Ach, ich soll es geheim halten, denn Tombi denkt, der Herr Hauptmann raisonnirt darüber.« »Aber warum lehrt er es Dich?« »Er sagt, ich könne es vielleicht einmal gebrauchen, und er will in der Uebung, bleiben.« »So wird es wohl die Zigeunersprache sein. Die sollst Du allerdings nicht lernen.« »Zigeunerisch ist es nicht, nein! Die Zigeuner beten doch nicht!« »Ah, er lehrt Dich Gebete?« »Ja. Alle meine Sprüche, Lieder und Gebete übersetzt er mir. Onkel, nicht wahr, Du verstehst Arabisch?« »Ja.« »Nun, so kannst Du gleich einmal sehen, ob es vielleicht Arabisch ist. Soll ich Dir einmal den Anfang des Vaterunsers sagen?« »Ja. Arabisch heißt er: ›Ja abana ’Iledsi fi ’s-semavati jata-kaddeso ’smoka‹.« »Nein, das ist es nicht; das Meinige lautet: ›Bapa kami jang ada de surga, kuduslah kiranja namamu‹.« »Was! Woher hat der Waldhüter diese seltene Sprache! Es ist Malayisch.« »Malayisch?« fragte der Großherzog. »Ein deutscher Waldhüter, und Malayisch! Wie es scheint, sind hier auf Rheinswalden lauter außerordentliche Menschen zu finden.« »Er ist in der Malayensee gewesen,« sagte der Knabe. »Er hat mir von Borneo und Timur und Celebes erzählt.« »Dann muß ich mit ihm hierüber sprechen.« »Also, Onkel Sternau, darf ich diese Sprache weiter lernen?«
»Jawohl, in Gottes Namen. Auch ich kann Einiges davon; ich werde mitthun!« »Außerordentlich!« sagte die Großherzogin. »Man sieht, daß man Veranlassung hat, zum Oefteren nach Rheinswalden zu kommen.« »Ja, ja, kommen Sie, Hoheit!« rief Kurt freudig. »Ah, warum sagst Du das?« fragte sie freundlich. »Weil ich Sie lieb habe!« Sie beugte sich über ihn und fragte: »Und warum bist Du mir gut, Kurt?« »Weil Sie so gute Augen haben.« »Also, Du fürchtest Dich nicht vor mir?« »Nein. Warum sollte ich mich fürchten?« »Weil – nun, weil ich eine Fürstin, eine Großherzogin bin,« lächelte sie. »Darum? O nein,« sagte er. »Ist denn eine Großherzogin so etwas Schreckliches? Wie kann ich mich vor Ihnen fürchten, wenn ich mich nicht vor dem Luchs gefürchtet habe!« Die Hofdamen wurden verlegen. Dieser Verstoß war zu groß, als daß nach ihrer Meinung die Großherzogin ihn ruhig hinnehmen konnte; diese aber dachte anders als ihre Damen. Sie nickte gütig und sagte: »Du hast Recht, mein Sohn. Auch eine Fürstin braucht Liebe; man soll sie ehren, aber man soll sie nicht fürchten. Nun aber magst Du uns einmal Deine Künste zeigen.« »Nicht erst den Wolf und den Luchs?« »Ja, auch so ist es uns Recht. Komm’!« Sie nahm ihn bei der Hand, und nun spazierten sämmtliche Herrschaften hinüber nach dem Vorwerke, um die beiden iere zu sehen, welche man ihrer Seltenheit wegen noch gar nicht aufgerissen hatte. In der jetzt herrschenden Kälte waren sie gefroren
und boten also nichts Widerliches. Der Großherzog untersuchte die Schüsse mit eigenen Händen. »Und das bist Du wirklich gewesen?« fragte er erstaunt. »Ja,« antwortete der Kleine. »Und Niemand war bei Dir?« »Kein Mensch!« »Kind, so bist Du ein Liebling der Vorsehung. Sie muß Dich zu Ungewöhnlichem bestimmt haben. Sei immer brav und gut, und hüte Dich vor allem Unrecht!« »Das werde ich, Hoheit!« sagte Kurt sehr ernsthaft. »Aber nun darf ich wohl mein Ponny und meine Waffen holen?« »ue das,« sagte der Hauptmann. »Die Herrschaften werden aus den Fenstern zusehen.« »Und,« wendete sich die Großherzogin zu Sternau, »werden auch Sie uns eine Ihrer ritterlichen Künste zeigen?« Ueber seine Stirn legte sich eine leise Falte; es widerstrebte ihm, als Kunstreiter oder Kunstschütze aufzutreten. Die hohe Dame bemerkte es und fügte hinzu: »Wir haben noch nie ein Lasso gesehen. Bitte, Herr Doktor!« Die Falte glättete sich, und er machte eine zustimmende Verbeugung. »Ich stelle mich zur Verfügung.« »Ja, Onkel Sternau, Sie müssen mitthun!« rief Kurt. »Dann habe ich auch mehr Lust, und es geht weit besser.« Der Schloßhof war groß genug zu den beabsichtigten Experimenten. Der Kälte wegen gingen die Damen in den Saal, durch dessen Fenstern sie Alles sehen konnten; die Herren aber blieben erwartungsvoll im Freien stehen. Sternau war nach seiner Wohnung gegangen. Nach einiger Zeit kam er wieder herab. Man kannte ihn kaum. Er trug ein wildledernes Jagdhemd und eben solche Hosen, lange, schwere Trapperstiefel und einen breitrandigen Filzhut. In seinem Gürtel staken zwei
Revolver, ein Bowiemesser und ein Tomahawk; über seinem Rükken hingen zwei Gewehre, und um die Hüfte hatte er ein Lasso geschlungen, an welchem noch eine südamerikanische Bola hing. »Ah, ein Prairiejäger!« rief der Großherzog, ganz enthusiasmirt. Auch die anderen Herren stießen sich leise an. Der Anblick dieses Mannes war verheißungsvoll. »Allerdings, ein Prairiejäger,« sagte Sternau lächelnd. »Ich bin kein Künstler, sondern ein einfacher Savannenläufer; aber vielleicht gelingt es mir, den Herrschaften ein Bild des dortigen Kampflebens zu geben. Da kommt Kurt.« Der Knabe kam jetzt in den Hof herein geritten, ohne Sattel, nur mit einem einfachen Zaum. Er hatte seine grüne Kleidung abgelegt und trug einen Anzug, der ganz demjenigen Sternau’s glich. Seine Doppelflinte hing ihm über der Schulter. »Was thun wir zuerst, Onkel Sternau?« fragte er. »Das Lasso!« »Gut. Ludewig, laß einmal den Ziegenbock heraus!« Der Jägerbursche ging nach dem Stalle und lockte einen großen, ungewöhnlich starken Bock heraus, der beim Anblick des Ponnys sich sofort in kampfbereite Positur stellte. Sternau stand an der Seite des Großherzogs. »Hoheit werden nur Kindliches sehen,« sagte er. »Von einem fünfjährigen Knaben geleistet, ist es jedoch immerhin interessant.« »Keine Sorge!« antwortete der Fürst. »Wir sind Alle außerordentlich gespannt.« »Soll ich?« fragte Kurt. »Ja, fange an!« rief der Hauptmann. Der Knabe band sich das eine Ende des Lassos um den Leib, legte den übrigen eil in Rollen und nahm diese in die rechte Hand. Mit der Linken lenkte er das Pferd. Sobald sich dieses in Bewegung setzen wollte, stellte sich ihm der muthige Bock entgegen und stieß mit den Hörnern nach ihm.
»Der Bock weiß, was losgehen soll; er wehrt sich,« sagte Sternau. Das Ponny schlug mit den Vorderhufen nach ihm; aber der Bock wich nicht. »D’rüber weg!« rief Sternau. »Halloh!« antwortete der Knabe. Er nahm das Pferdchen hoch, schnalzte mit der Zunge und schnellte im nächsten Augenblicke über den Bock hinweg. »Mein Gott, dieser kühne Sprung! Welch’ ein Knabe!« Dies sagte hinter dem Fenster die Großherzogin zu Rosa, welche neben ihr stand. »Ja, es ist ein außerordentliches Kind. Es leistet wirklich bereits mehr als mancher Erwachsene,« antwortete die Spanierin. »Sehen Sie, wie er jetzt rund um den Hof sprengt! Welche Carriere, ventre-à-terre!« »Und ohne Sattel!« sagte eine Hofdame. »Ohne Bügel!« fügte eine Andere hinzu. Der Knabe flog im rasenden Galopp um den Hof. Er saß frei auf dem Pferde. Jetzt zog er die Füße empor; er kniete auf dem Rücken seines Ponny. »Halloh, Ludewig!« rief er. »Ja,« antwortete dieser. »Nimm die Peitsche!« Der Bursche, welcher bei diesen Uebungen seine Obliegenheiten kannte, hatte die Peitsche bereits in der Hand. Er trat hervor und trieb den Bock, welcher in der Mitte des Hofes stand, von der Stelle. Das ier wollte sich erst zur Gegenwehr stellen, gehorchte aber doch und flog bald im Galopp davon – Kurt jetzt hinter ihm her. Der Bock wußte, daß er jetzt mit dem Lasso gefangen werden solle. Er strengte alle seine Kräfte an, um zu entkommen. Er rannte nicht in continuirlichem Laufe herum, sondern im Zickzack durch den Hof, machte Finten und Seitensprünge, aber es half ihm
nichts – der gewandte Knabe war auf seinem Pferdchen immer hinter ihm her. »Exquisit!« rief der Großherzog. »Er reitet wahrhaft meisterhaft!« meinte einer der erstaunten Hofherren. Droben hinter den Fenstern hörte man ein Beifallklatschen von zarten Händen. Der Junge blickte empor und warf während eines Seitensprunges, den er meisterlich ausführte, eine Kußhand hinauf. »Er hätte den Bock schon lange,« bemerkte Sternau – »Warum nimmt er ihn nicht?« »Er wartet mein Kommando ab; das macht es ihm schwieriger.« »So thun Sie!« »Achtung!« rief Sternau. Der Knabe, welcher bis jetzt noch immer geknieet hatte, setzte sich schnell wieder zurecht und ließ die Schleifen des Lasso um seinen Kopf schwingen. »Jetzt!« kommandirte Sternau. »Halloh!« rief Kurt begeistert. Das Lasso flog; die Schleifen rollten sich auf, und die Schlinge warf sich um den Kopf des Bockes. In demselben Augenblicke riß der Knabe sein Pferd in die Höhe und herum; es war geschult; es stand fest. Der Bock that noch einige Sprünge; dabei lief das Lasso ab, die Schlinge zog sich zusammen, und der Bock stürzte zur Erde. »Bravo!« rief es rund im Kreise. »Bravo!« erschallte es auch von oben herab. »Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Lehrer!« sagte der Großherzog zu Sternau. »O,« antwortete dieser, »bei einem solchen Schüler ist der Unterricht eine Lust.« »Er wird einmal ein ausgezeichneter Mensch.«
»Ich bin überzeugt davon.« »Aber dieses Lasso ist eine fürchterliche Waffe!« »In der Hand des Geübten allerdings.« »Kann man ihr nicht entkommen?« »O doch, aber es gehört ein außerordentlich scharfes Auge dazu. Man muß gerade in dem Augenblicke, an welchem die Schlinge über dem Kopfe schwebt, Abwehr treffen, keinen Moment früher oder später.« »Ist dies möglich?« »Darf ich es Ew. Hoheit zeigen?« »Ich bitte!« »Ich hoffe, daß es gehen wird, obgleich ich dieses Experiment mit Kurt noch nicht vorgenommen habe.« Kurt war abgestiegen und hatte den Bock, welcher zu ersticken drohte, von der Schlinge befreit. Jetzt kam er langsam herbei. »War es so recht, Hoheit?« fragte er. »Sehr, mein Junge. Das hatte ich nicht von Dir erwartet.« »O, eine solche Schlinge ist hübsch; man fängt Alles mit ihr.« »Auch mich?« fragte Sternau lächelnd. »Nein! Sie reiten besser als ich. Sie würden sich immer in einer solchen Entfernung halten, daß mein Lasso zu kurz ist, Sie zu erreichen.« »Nein, das würde ich nicht thun.« »O, dann fange ich Sie!« »Wirklich?« »Ganz sicher!« sagte der Knabe zuversichtlich. »Auch wenn ich mich hier in die Mitte des Hofes stelle und gar nicht fortschreite?« »Na, dann ist es ja ganz leicht!« »Wollen wir es versuchen?« »Sie machen doch blos Spaß!«
»Nein. Also ich bleibe fest auf der Stelle stehen, und wenn es Dir gelingt, mich mit dem Lasso zu umschlingen, dann – ja, was dann?« »Dann schenken Sie mir einen kleinen Tomahawk und lehren mich, ihn zu gebrauchen!« sagte Kurt mit leuchtenden Augen. »Gut, es gilt!« »Na, so ist der Tomahawk bereits mein!« »Warte es ab, Kleiner!« Sternau stellte sich inmitten des Hofes auf und nahm von den beiden Gewehren, welche er auf dem Rücken trug, das lange herunter. »Nun, Kurt, es kann losgehen!« sagte er. »So gelingt es gleich beim ersten Wurfe; passen Sie auf!« Der kleine Prairiejäger stellte sich in abgemessener Entfernung auf, rollte das Lasso kunstgerecht zusammen, schwang es über dem Kopfe und warf es. Aber in dem Augenblicke, als die Schlinge gerade über dem Kopfe Sternau’s schwebte, hob dieser seine schwere Büchse empor, schlug einen Wirbel und fing die Schlinge auf. »Nun?« fragte er lachend. »Ja,« sagte der Knabe ganz verblüfft, »da bringe ich nichts!« »Versuche es noch einmal!« Der Versuch wurde wohl noch ein Dutzend Mal gemacht, aber immer mit demselben Mißerfolge. Ludewig war näher geschlichen. Er stand fast hinter dem Großherzoge. »Das ist viel, sehr viel von dem Herrn Doctor,« sagte er; »das macht ihm Keiner nach; das ist ein wirkliches Kunststück dahier!« »Es geht nicht,« sagte Kurt, ganz enttäuscht. »Nun, so zeige Dich zu Pferde, mit Hindernissen.« »Schön!« rief der Knabe. »Ludewig!« »Ja.«
»Schaff meine Hindernisse her!« »Hat sich ’was zu Hindernissen,« brummte dieser. »Sie sind ja für den Jungen gar keine Hindernisse mehr dahier.« Er legte Bretter und Latten, stellte alte Töpfe und Kessel, Kisten und Fässer kreuz und quer und zog über die Zwischenräume noch verschiedene Stricke, alles ohne Symmetrie und Berechnung. »Da kommt Keiner durch!« sagte einer der Offiziere. »Wenigstens dieser Knabe nicht,« stimmte der Großherzog bei, welcher selbst ein sehr gewandter Reiter war. »Ohne Sattel und Bügel! Das sind ja keine berechneten Kunstreiterhindernisse.« »Hoheit werden sich vom Gegentheile überzeugen. Der Junge reitet wirklich famos, und das Ponny ist ein ausgezeichnetes ierchen.« »Na, wollen sehen; Sie machen mich wirklich gespannt.« Der Bock war wieder in seinen Stall geschafft worden, und Kurt stieg nun wieder auf. Er ritt im Schritt durch das Labyrinth, ohne anzustoßen, ohne einen Augenblick lang anzuhalten oder verlegen zu werden, dann im Trabe, wobei er sich schon in sehr schwierigen Sprüngen und Wendungen zeigen mußte, und endlich im Galopp. Die Herren rissen förmlich die Augen auf über die Kühnheit, mit welcher er über die Fässer, Kisten und Stricke hinwegsetzte, und über den Scharfblick, mit welchem er die Töpfe, Teller und Scherben zu vermeiden wußte. Droben wurden trotz der Kälte von den Damen die Fenster geöffnet, und je mehr man ihm zuklatschte und zurief, desto mehr wagte er, bis ihm endlich Sternau das Zeichen gab, einzuhalten. Er ging wieder in den Trab und dann in den Schritt zurück und sprang dann vom Pferde. »Unglaublich!« rief der Großherzog. »Das war noch nie da. So Etwas hat man nicht gedacht!« In solchen und ähnlichen Ausdrücken sprachen die Herren ihre Bewunderung aus.
»Nicht wahr?« meinte der Hauptmann. »Es ist ein Donnerwetterjunge!« »Er hat sich heute selbst übertroffen,« sagte Sternau. »Die Gegenwart der Herrschaften hat ihn förmlich begeistert.« Der Großherzog wandte sich ernst zu den Beiden: »Meine Herren, dieser Knabe wird einmal nicht nur ein fescher, schneidiger Husarenoffizier, sondern in ihm steckt noch Größeres. Wer bei solcher Kühnheit eine solche Umsicht und einen solchen Scharfblick besitzt, der hat ganz sicher das Zeug zu einem Kommandeur. Herr Oberförster, lassen Sie später mich für den Knaben sorgen!« »Es wird mir eine Genugthuung sein, Hoheit, diesem Befehle nachzukommen,« antwortete der Hauptmann, im höchsten Grade geschmeichelt. »Herr Oberförster,« ertönte die Stimme der Großherzogin von oben herab, »senden Sie uns den Knaben herauf. Wir müssen den kleinen Ritter einmal bei uns haben.« Kurt erhielt einen Wink und verschwand im Portale, während Ludewig das warm gewordene Ponny in den Stall führte. »Und Sie, Herr Doctor,« fragte der Fürst, »auch Sie haben Ihr Lasso mit? Ah, was ist denn das?« Er deutete nach dem dreistrahligen Riemenstern, welcher an Sternau’s Lasso hing. »Das ist eine Bola –« »Ah, davon habe ich gelesen. Die Gauchos von Südamerika bedienen sich ihrer. Ist sie praktisch?« »Mehr als das, Hoheit. Sie ist sogar noch gefährlicher als das Lasso. Sie zerbricht, wenn sie von geschickter Hand geschleudert wird, die Beine eines Pferdes, ja eines Ochsen. Ich will Ihnen den Gebrauch zeigen, darf aber dazu kein ier nehmen, da ich es ganz sicher schwer verletzen würde.«
Er zeigte zunächst die Bola herum. Sie bestand aus drei kurzen Lederriemen, welche an einem Ende zusammengebunden, am andern aber mit einer schweren Kugel versehen waren, die in einer festen, ledernen Hülle stak. Dann ließ er von den Knechten an dem einen Ende des Hofes einen Pfahl in die Erde rammen und schritt nach dem andern Ende hin. »Hoheit,« sagte er, »damit die Herrschaften sehen, wie sicher ein guter Bolawerfer trifft, werde ich dieses Mal den Pfahl zehn Zoll unter seiner Spitze treffen.« Er stand wohl über fünfzig Schritte von dem Pfahle entfernt, nahm die eine Kugel der Bola in die rechte Hand, wirbelte die beiden andern einige Male um den Kopf und ließ sie dann fliegen. Sich immer um einander drehend, flogen die Kugeln in einem Bogen durch die Luft, trafen den Pfahl mit erstaunlicher Sicherheit und schlangen sich um denselben. Man hörte einen Krach – die Spitze des Pfahles war abgebrochen. »Außerordentlich!« rief der Großherzog. Er eilte zu dem Pfahle, und die Andern folgten ihm. Eine zehn Zoll lange Spitze war abgebrochen. Der Fürst nahm sie vom Boden auf und gab sie von Hand zu Hand. »Welche Sicherheit, welche Kraft!« sagte er. »Treffen Sie stets so genau?« »Stets! Ich will es beweisen,« sagte Sternau. Er warf noch vier Male und traf jedes Mal die Stange an dem Orte, den er bezeichnet hatte. »So ist dies die gefährlichste Waffe, welche es giebt, wenigstens in der Prairie,« sagte der Großherzog. »O, dieses Schlachtbeil ist noch gefährlicher,« meinte Sternau. Er nahm seinen Tomahawk aus dem Gürtel und zeigte ihn vor. »Dieses schwache Beil mit dem kurzen Griffe?« sagte der Fürst. »Ist es nicht nur eine Waffe für den Nahekampf?«
»Nein. Es spaltet den dicksten Schädel, aber es trifft auch aus großer Entfernung das kleinste Ziel. Ich tödte mit ihm einen Flüchtling, welcher im Galopp entspringt, indem ich hier ruhig stehen bleibe. Ich berechne ganz genau, ob ich seinen Kopf, seinen Hals, seinen Arm, seinen Leib oder sein rechtes oder linkes Bein treffen werde.« »Das wäre ja kaum zu denken!« »Doch. Und was das Sonderbarste ist, dieses Beil fliegt, wenn ich es werfe, erst wagerecht mit dem Boden fort, dann steigt es empor, so hoch, als ich es berechnet habe, senkt sich wieder nieder und trifft gerade den Punkt, welchen ich mir zum Ziele nahm. Darf ich dies den Herrschaften beweisen?« »Bitte, wir sind ganz außerordentlich gespannt!« sagte der Großherzog. »So werde ich zunächst den Rest dieses Pfahles treffen.« Er hing die Bola in den Gürtel und nahm den Tomahawk zur Hand. Als er an das äußerste Ende des Hofes zurückgekehrt war, stellte er sich mit der linken Seite nach der Gegend des Zieles, schwang mit der Rechten den Tomahawk und ließ ihn dann fahren. Er traf den Pfahl gerade in der Mitte. »Erstaunlich!« rief der Großherzog. »Es sind wenigstens fünfzig Schritte.« »Ich treffe das Ziel auf fünfhundert Schritte,« behauptete Sternau. »Unmöglich! Wenigstens nicht so genau.« »Ich werde es beweisen. Zwar ist der Hof nicht so lang, aber es wird sich dennoch machen lassen. Um Ihnen die Sicherheit des Wurfes zu beweisen, werde ich das Ziel nur einen Fuß vom Fenster wählen; dann verlasse ich den Hof durch das or, dessen Flügel wir weit öffnen, gehe genau fünfhundert Schritte auf die Straße hinaus und werfe den Tomahawk.«
Keiner der Herren glaubte an die Möglichkeit des Gelingens. Aber Sternau ließ gerade unter einem Fenster der hintern Hoffronte einen Pfahl einschlagen und legte auf diesen einen Stein. Dann wurden die orflügel geöffnet. »Die Herren sehen,« sagte er, »daß dieser Stein nur einen Fuß unterhalb des Fensters liegt; ihn will ich treffen. Man könnte ganz getrost das Fenster öffnen und herausblicken; ich schädige Niemand.« »Das wäre ein Wunder!« ließ sich Einer hören. »Es ist nur die Folge einer langen Uebung.« Er verließ den Hof und schritt die Straße, welche kerzengerade auf das or zulief, fünfhundert Schritte weit hinaus. Die Herren retirirten sich hinter die Mauern, um nicht getroffen zu werden, und die Damen hatten zwar die Fenster geöffnet, getrauten sich aber nicht, aus denselben herabzublicken. Jetzt schwang er den Tomahawk, beschrieb mit demselben zunächst einige vertikale Kreise und schleuderte ihn dann nach dem Ziele. Das Indianerbeil flog, ganz wie er es gesagt hatte, erst am Boden hin, stieg dann rasch und plötzlich bis über erste Etagenhöhe empor, senkte sich dann jäh und – warf mit einem lauten Krach den Stein vom Pfahle und gegen die Mauer, ohne diesen Pfahl dabei im Mindesten zu berühren. Auf dieses Meisterstück brach ein außerordentlicher Beifallssturm los. Sternau kam zurück, bedankte sich mit einer stummen Verbeugung und sagte: »Die Herren sehen, welch’ eine Waffe das ist.« »Die fürchterlichste!« meinte der Großherzog. »Ich stimme unbedingt bei,« meinte Sternau. »Aber es gehört bei einer solchen Entfernung nicht nur die von Ihnen erwähnte Uebung dazu, sondern auch eine Riesenkraft, wie nur Sie dieselbe unter uns Allen besitzen.« Sternau lächelte.
»Hier ist die Kunst, den Tomahawk zu schleudern, eine brodlose,« sagte er, »aber da drüben in der Prairie ist sie eine Lebensfrage. Was Sie jetzt gesehen haben, bringt ein jeder Indianer fertig.« »Und nun Ihr Lasso? Bitte!« sagte der Großherzog. »Nur Ihnen und diesen Herrschaften, Hoheit,« antwortete der Arzt. »Anderen eine Fertigkeit zu zeigen, würde nichts als eine prahlerische Schaustellung sein.« »un Sie es immerhin, mein Lieber! Sie sollen uns nicht amüsiren, sondern belehren.« Sternau ließ das or wieder schließen und den Braunen des Hauptmanns satteln. Dann wurden sämmtliche Pferde aus dem Stalle gelassen. Jetzt hatten die Damen wieder den Muth, aus den Fenstern zu blicken. Er stieg zu Pferde und tummelte es einige Male hin und her. Man konnte sich keine ritterlichere Figur denken, als ihn. »Ein schöner, ein sehr schöner Mann!« flüsterte die Großherzogin der Gräfin Rosa zu. Diese erglühte und antwortete dann: »Und ein edler Mann, Hoheit; ein Mann, der Kind und Held zu gleicher Zeit ist.« »Dann sind Sie glücklich?« »Unendlich!« hauchte sie. Auch die anderen Damen flüsterten sich ihre Bemerkungen zu. »Man könnte diese Rodriganda beneiden!« meinte die Eine. »Er hat die Attitude eines Bayard!« sagte eine Andere. »Er reitet wie ein Gott!« Der, welchem diese Worte galten, knüpfte jetzt das eine Ende seines Lassos an den Sattelknopf und legte ihn dann in Schlingen. »Meine Herren,« sagte er, »mein Pferd ist das Lasso nicht gewohnt, und der Raum ist hier zu beschränkt, um Ihnen das richtige Bild einer Pferdebändigung zu geben. Mein Lasso hat eine Länge von
vierzig Fuß, viel zu viel, um frei agiren zu können; doch wollen wir es versuchen.« Er gab den Burschen den Befehl, die Pferde scheu zu machen und durch einander zu treiben. Mit Hilfe von Peitschen und Stükken angebrannten Schwammes gelang dies sehr bald. Die iere fegten im Galopp im Hofe umher. »Welches Pferd wünschen Sie, Hoheit?« fragte Sternau. »Den Rapphengst,« lautete die Antwort. »Gut!« Er gab jetzt seinem Pferde die Sporen und sprengte mit lautem, schrillem Indianerschrei zwischen die anderen hinein. Diesen war so Etwas noch nicht passirt; sie wurden noch wilder als vorher und rannten wie toll im Kreise herum. Sternau befand sich mitten unter ihnen und regte sie durch seine Schreie bis auf das Höchste auf. Dann zog er plötzlich die Füße aus den Bügeln und stellte sich auf den Rücken seines Pferdes. »Ah, ein Büffelritt!« meinte der Großherzog, »ein Ritt mitten in einer wilden Heerde!« »Herr Doktor,« rief da Ludewig von Weitem, »ich habe noch einen Kanonenschlag dahier; soll ich?« »Los damit!« antwortete der Gefragte. Der Bursche brannte den Zunder an und warf dann die Kapsel mitten auf den Hof. »Mein Gott, das wird lebensgefährlich!« rief die Großherzogin. »Ich vergehe!« zitterte Rosa. »Doktor, um aller Welt willen – –« rief der Großherzog. Er kam nicht weiter. Noch stand Sternau frei auf dem Pferde, da krachte der Schuß und sämmtliche Pferde schnellten erschreckt hoch empor. Auch sein Brauner stieg. Jeder glaubte, er müsse stürzen und unter die stampfenden Hufe gerathen; aber er hatte den rechten Augenblick ersehen; gerade als sein Pferd sich bäumen
wollte, war er herab in den Sattel geglitten, in welchem er fest saß, wie mit dem Pferde zusammengewachsen. Ein Ah! der Erleichterung erscholl, aber dennoch war die Situation gefährlich. Die durch den Schuß auf das Aeußerste aufgeregten Pferde jagten wie toll im Hofe herum. Er dirigirte den Braunen in eine Ecke, musterte mit scharfem Auge den wirren Knäuel, der im Galopp umhersetzte, und gab dann seinem Pferde die Sporen. »Herr Gott, was fällt ihm ein!« rief der Großherzog. Die Damen schrieen aus den Fenstern und die Herren standen steif vor Schreck. Er flog gerade auf die rasenden Pferde zu; es sah aus, als müsse er ganz unvermeidlich mit ihnen zusammenprallen; aber da nahm er den Braunen empor und flog in einem wildverwegenen Satze über zwei neben einander her galoppirende Pferde hinweg. Es hatte ganz den Anschein, als ob er gegen die Mauer springen müsse, aber mitten im Sprunge riß er sein Pferd herum; das kühne Wagniß gelang, und frei galoppirte er nun hinter der vor ihm fliehenden Pferdetruppe her. »Bravo! Hurrah!« rief der Großherzog, ganz hingerissen von dieser Verwegenheit. Die Herren und Damen stimmten ein. So Etwas hatten sie noch nie gesehen, selbst in einem Circus nicht. Sternau nickte dankend mit dem Kopfe und schwang das Lasso. Es schwirrte durch die Luft und flog mitten im Jagen dem Rapphengst um den Hals. Sofort riß er sein Pferd herum, in die entgegengesetzte Richtung – ein fürchterlicher Ruck, sein Pferd ward auf die Hinterbeine niedergerissen; aber der Rappe flog zu Boden und schlug mit den Hufen in der Luft herum; das Lasso schnürte ihm den Hals zusammen und raubte ihm den Athem. Jetzt sprang er aus dem Sattel und erlöste den Hengst. Ein erneuter Beifall erscholl. »Ma foi, Doktor, sind Sie ein Reiter!« rief der Großherzog.
Sternau übergab mit einem Winke den Knechten die Pferde und trat hinzu. »Was ich that, thut jeder Indanerknabe,« sagte er. »Aber Sie hatten die beiden Gewehre auf dem Rücken!« »Die legt ein Prairiejäger niemals ab. Soll ich Ihnen zeigen, wie man mit ihnen umgeht?« »Ja, thun Sie das; wir bitten darum!« »Dann möchte ich wünschen, Kurt sei wieder da.« »Sogleich!« Er theilte Sternau’s Wunsch der Großherzogin mit, und sogleich wurde der Knabe von ihr entlassen; er war oben von den Damen mit Liebkosungen überhäuft worden. »Nimm Dein Gewehr,« sagte Sternau. »Es gilt zu zeigen, daß Du auch noch Anderes treffen kannst, als einen Hasen.« Der Knabe hatte dasselbe vorhin gegen die Mauer gelehnt; er nahm es und trat zu Sternau. »Die Krähe auf der Dachfirste!« sagte dieser. Hoch oben auf der stellen Firste des Daches saß eine einsame Krähe. Kurt legte an und drückte ab. Sie fiel herunter, und als man sie beobachtete, ergab es sich, daß sie mitten durch den Leib geschossen war. »Vortrefflich!« sagte der Großherzog. »Verzeihung, Hoheit, das ist ein schlechter Schuß,« sagte Sternau. »Warum?« »Eine Krähe ist ein so großes Object, daß man sie billiger Weise nur durch den Kopf schießen wird.« »Ah, bringen Sie das?« »Ich?« fragte Sternau lächelnd. »Ja.« »Dieser Knabe bringt es bereits!« »Aber in welcher Nähe!«
Sternau wendete sich gegen die Burschen: »Ludewig, gehen Sie hinaus nach der Tanne, und bringen Sie die Krähe, welche Kurt jetzt herabschießen wird!« Der Bursche ging. Draußen vor dem Schlosse stand eine hohe Tanne, deren Aeste über die Mauer emporragten. Auf ihren Zweigen saß eine ganze Schaar von Krähen. Sie hatten sich durch den einen Schuß nicht erschrecken lassen, denn sie waren in der Nähe des Försters das Schießen gewöhnt. »Welche?« fragte Kurt. »Auf dem dritten Ast die äußerste.« »Ungezählt?« »Nein, das wäre zu leicht.« »Gut, ich bin fertig!« »Eins – zwei – drei!« Sternau sprach diese Zahlen nicht etwa langsam, sondern schnell hinter einander aus. Bei Eins erhob Kurt das Gewehr, und bei Drei krachte sein Schuß. Die Krähe fiel herab, und die anderen erhoben sich kreischend in die Luft. »Aufpassen!« rief Sternau. Er riß das kleinere seiner beiden Gewehre vom Rücken und zielte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Schüsse krachten hinter einander, fast schneller, als man zählen kann, und ebenso viele der entfliehenden Vögel fielen aus der Luft herab. »Ah, was ist das für ein Gewehr?« fragte der Großherzog. »Ein Henrystutzen.« »Ein Repetirgewehr?« »Ja.« »Mit wie vielen Schüssen?« »Mit fünfundzwanzig.« »Zeigen Sie!«
Sternau gab das Gewehr zur Besichtigung ab. Unterdessen kam der Ludewig wieder herein. »Nicht eine, sondern sieben sind es dahier,« schmunzelte er. Er legte die Vögel vor und die Herren staunten, denn eine jede der Krähen war durch den Kopf geschossen. »Wunderbar!« rief der Großherzog. »Wunderbar!« echoten die Anderen nach. »Das ist keine Kunst,« meinte Sternau lächelnd. »Kurt, gehe hinauf in mein Zimmer, und hole das Lineal von meinem Schreibtische!« »Darf ich nicht vorher den Sperling schießen?« fragte der Knabe. »Welchen?« »Oben auf dem Glockenthürmchen?« »Ja.« Auf einem hohen Seitengebäude des Schlosses befand sich ein kleines, offenes ürmchen, in welchem eine Glocke hing, welche dazu diente, die in Wald und Feld zerstreuten Leute heimzurufen. Dieses ürmchen hatte eine Wetterfahne, und auf derselben saß ein Sperling. »Den trifft er nicht!« meinte einer der Herren. »Wollen wir wetten?« fragte der Knabe. »Ja,« lachte der Sprecher. »Wie hoch?« »Fünf aler!« lautete die Antwort, wohl um den Knaben abzuschrecken. »Gut, es gilt!« Er hatte sein abgeschossenes Gewehr wieder geladen. »Onkel Sternau, zählen Sie,« sagte er; »aber rasch, ehe er fortfliegt.« »Eins – zwei – drei!« rief Sternau.
Kurt hatte bei diesem schnellen Zählen kaum Zeit zum Zielen gehabt, aber er drückte ab, und der Sperling fiel von der Wetterfahne auf das Dach und rollte von demselben in den Hof herab. Es zeigte sich, daß ihm die Kugel mitten durch den Leib gegangen war. »Erstaunlich!« rief der Großherzog. »Major, Sie zahlen die Wette!« »Dieses Mal sehr gern!« sagte dieser. Er zog die Börse und hielt dem Knaben einen Doppellouis’dor entgegen: »Hier, mein kleiner Tell!« Kurt griff zu und sagte: »Danke, Herr Major! Einen so werthvollen Sperling habe ich noch nie geschossen!« Alle lachten, und der Knabe ging, um das Lineal zu holen. »Ich glaube, meine Herren, das macht ihm von uns so leicht Keiner nach!« sagte der Großherzog. »Hm!« sagte der Major. »Oder glauben Sie etwa, Major – – –?« fragte der Fürst. »Ja, wo gleich einen Sperling hernehmen!« antwortete dieser. »Da fliegt einer!« sagte Sternau, in die Luft deutend. »Donner, wer soll den treffen, kein Mensch!« Sternau lächelte leise, und der Großherzog sagte: »So schießen Sie nach der Wetterfahne, wie Hans Winkelsee, im Eschenheimer urm, wie uns Simrock erzählt. Sie ist zwar auch größer wie ein Sperling, aber es bleibt bei dieser Höhe immerhin ein Meisterschuß.« Der Major nahm den Hinterlader auf, welchen Kurt einstweilen weggelegt hatte, und beobachtete ihn. »Ein prachtvolles Gewehr; sehr gut und sorgfältig gearbeitet; ein kleines Meisterstück!« sagte er. »Ich werde es versuchen.« Er zielte und drückte ab – – es war ein Fehlschuß.
»Donner!« rief er. »Hier sind zwei Patronen, Herr Major!« sagte Kurt, der mittlerweile zurückgekehrt war. »Gut! Ich werde es noch versuchen!« Er lud und gab noch zwei Schüsse ab, ohne zu treffen. »Teufel!« sagte er. »Das ist wahrhaftig eine Blamage!« Der Major war als ein guter Schütze bekannt; darum sagte der Großherzog: »Es ist keine Blamage, Major. Sie kennen das Gewehr nicht, und das Ziel ist wirklich ein wenig zu entfernt. Lassen Sie ab davon! Was soll das Lineal, Herr Doktor?« »Es soll ein Ziel sein,« antwortete Sternau. »Kurt, vertraust Du mir?« »Ja,« antwortete dieser. »Willst Du es halten?« »Ja.« »Auch über den Kopf?« »Das ist bei Ihnen egal.« »So tritt hier an das or, fasse es mit beiden Händen an den Enden und halte es über den Kopf empor.« »Halt, Herr Doctor!« rief der Großherzog, »das ist lebensgefährlich; das ist ja der reine Tellschuß!« »Das soll er auch sein, Hoheit!« »Aber das können wir nicht dulden! Wir glauben, daß Sie treffen, aber wir wissen auch, daß der kleinste Umstand hier den Tod zur Folge haben kann.« »Den Tod?« lachte der Knabe zuversichtlich. »O, Onkel Sternau schießt noch ganz anders als so, wie er es jetzt zeigen will. Ich gehe!« »Nein, Du bleibst!« Da trat der Hauptmann vor und sagte:
»Hoheit, lassen Sie die Zwei! Die wissen, was sie wollen und können!« »Aber ich trage keine Verantwortung!« »Es giebt hier faktisch keine!« Kurt eilte nach dem ore und hielt dort mit beiden Händen das Lineal quer über den Kopf empor. »Wie viele Schüsse?« fragte er. »Zehn,« antwortete Sternau. Dieser war an das entgegengesetzte Ende des Hofes gegangen und nahm dort den Henrystutzen empor. Die Damen, welche von oben die Unterhaltung der Herren nicht bis in das Einzelnste verstehen konnten, merkten jetzt erst, um was es sich handelte. »Mein Gott, was geht da vor!« rief die Großherzogin herab. »Ein Tellschuß!« antwortete ihr Gemahl empor. »Nein, zehn Tellschüsse!« fügte der Oberförster hinzu. Sie wollte Einspruch erheben und sagte: »Das soll nicht sein, das darf –« Sie wurde unterbrochen, denn Sternau’s sonore Stimme erklang: »Fertig, Kurt?« »Ja.« »Halt fest und still!« Ein, zwei, drei, fünf – sieben – neun, zehn Schüsse fielen so schnell hinter einander, daß man sie kaum zu zählen vermochte; dann kam Sternau rasch herbeigeschritten und hielt, ohne sich um Kurt und das Lineal zu bekümmern, dem Großherzog den Stutzen hin. »Hoheit, sehen Sie, welch eine Arbeit dieses Gewehr ist! Zehn Schüsse, so schnell hinter einander abgegeben, und doch ist der Lauf noch nicht erhitzt.« »Das wäre allerdings fast ein Wunder!«
Das Gewehr ging von Hand zu Hand und Alle überzeugten sich von der vortrefflichen Construction desselben. Dann aber fragte der Großherzog: »Und das Lineal?« »Hier, Hoheit!« sagte Kurt, welcher bereits herbeigekommen war und hinter ihm gewartet hatte. Der Fürst nahm ihm das Lineal aus der Hand und sah zu seinem Erstaunen in demselben zehn Schußlöcher, eines neben dem andern, in einer so geraden Linie, als sei sie mit dem Lineal gezogen, und so gleich weit von einander entfernt, als ob die Distanzen mit einem Zirkel abgemessen worden seien. Natürlich gab es Ausrufe der Verwunderung und verschiedene Lobeserhebungen, aus denen sich aber Sternau nicht viel zu machen schien. Er wendete sich ruhig an den Major: »Mein Herr, Sie sagten vorhin, daß ein Sperling im Fluge nicht zu treffen sei?« »Ich behaupte es!« antwortete dieser. »O, man schießt sogar die Schwalbe.« »Zufall!« »Ich will Ihnen keine Wette anbieten, und Schwalben giebt es nicht; aber warten wir; den ersten Sperling, welcher wieder über den Hof kommt, den hole ich herab.« »Da bin ich doch neugierig!« sagte der Major zweifelnd. Von jetzt an hingen aller Augen in der Höhe. Sternau hielt das Gewehr in beiden Händen, aber nicht angelegt. Eine, zwei, drei Minuten vergingen. »Da – da – da – da!« rief es endlich aus aller Mund. Ein Sperling kam schnell wie der Blitz über das eine Dach herüber und schwippte nach dem andern hinüber. Aber ehe er es erreichte, blitzte der Schuß, und er stürzte zur Erde herab. »Erstaunlich, ganz erstaunlich!« rief der Großherzog.
»O,« antwortete Sternau, »ein leidlicher Schuß garantirt für jeden Sperling. Es ist das ja nichts Schweres.« »Sie sind ein ausgezeichneter Schütze, auf Ehre!« ließ sich da eine Stimme vernehmen, welche man noch nicht gehört hatte. Sie gehörte einem Herrn an, dessen Verhalten bisher ein sehr reservirtes gewesen war. Er hatte noch kein Wort gesprochen; aber als er jetzt Aller Blicke auf sich gerichtet sah, fuhr er fort: »Habe kürzlich viel von Prairie erzählen hören. In Berlin, bei amerikanischen Gesandten. Sprachen von Savanne, von Trapper und Squatter, von Rothhaut und Bleichgesicht. War interessant, sehr interessant, auf Ehre.« »Das ist Etwas für Sie gewesen, mein lieber Graf,« sagte der Großherzog. »Sie sind ja unser Sportsman comme il faut.« Und sich an Sternau wendend, sagte er vorstellend: »Graf Walesrode, bester Doctor!« Die beiden Herren verbeugten sich; dann fuhr der Graf fort: »Habe viele Romane gelesen, Reisebeschreibungen. Cooper, Marryat, Möllhausen, Gerstäcker. Habe gedacht, Alles Schwindel. Aber doch anders. Hörte in Berlin beim Gesandten, daß Alles wahr. Gesandter früher selbst in Prairie gewesen. Berühmte Häuptlinge und Jäger gesehen. Allerberühmteste Häuptlinge in Neumexiko. Sollen heißen Bärenherz und Büffelstirn. Gesandte viel Abenteuer von ihnen erzählt.« »Bärenherz und Büffelstirn?« rief da Sternau erfreut. »Ah, das sind Shosh-in-liett und Mokaschi-motak, die Häuptlinge der Jicarillas-Apachen und der Miztecas.« »Ah, kennen Sie?« »Ich habe sie nicht gesehen, aber viel von ihnen gehört. Sie schweifen viel nach dem alten Mexiko hinüber.« »Richtig! Also doch wahr! Auch noch gehört von zwei sehr berühmten Jägern.«
»Wie heißen sie, Graf? Wenn sie wirklich berühmt sind, so muß ich sie kennen.« »Habe ihre Indianernamen vergessen, hießen aber Donnerpfeil und Fürst des Felsens. Fürst des Felsens soll famoser Kerl sein. Nie Fehlschuß, nie verlaufen in Prairie, Urwald oder Felsenbergen. Famoser Yankee, auf Ehre!« »Sie irren, Graf; dieser ›Herr des Felsens‹ ist kein Yankee.« »Was sonst?« »Ein Deutscher.« »Ah! Wunderbar! Kennen ihn?« »Ja. Ich kenne auch den Namen des Andern. Donnerpfeil wird von den Wilden Itinti-ka genannt. Ich habe ihn nicht gesehen. Aber den Herrn des Felsens kenne ich sehr genau; die Rothhäute nennen ihn Matava-se.« »Ah, wahrhaftig! War dieser Name, auf Ehre. Soll ein Riese sein.« »Ja, er ist kein Zwerg,« lächelte Sternau. »Wahrer Goliath! Schlägt ein Pferd mit Faust nieder!« »Oho!« ertönte es rundum. Der Graf blickte sich im Kreise um und fragte: »Wer glaubt nicht? Schlägt ein Pferd nieder, auf Ehre! Wer zweifelt noch?« Auf diese drohende Frage erfolgte keine Antwort, und der Großherzog meinte: »Ich möchte doch einmal so einen berühmten Westmann sehen!« Und der Graf fügte nickend hinzu: »Ich auch. Würde ihn einladen. Freund sein. Famos reiten und schießen, auf Ehre!« »O, der Wunsch der Herren ist ja bereits erfüllt!« sagte Sternau. »Wenn? Wo?« fragte der Graf. »Jetzt, hier,« antwortete Sternau.
»Ah, Sie?« »Ja, ich.« »Hm, ja. Sind sehr famoser Kerl, aber doch nur Tourist gewesen. Habe mich erst zurückgezogen; dachte an Humbug; habe aber gesehen, daß Sie exquisiter Mann. Aber noch kein echter Westläufer, kein Kerl wie Donnerpfeil oder gar Fürst des Felsens.« »Sie irren abermals,« sagte Sternau; »denn dieser Matava-se, dieser Fürst des Felsens bin ich selbst.« »Ah!« Der Graf riß die Augen auf und den Mund noch weiter. Vor Ueberraschung drückte er das Monocle vor das Auge und blickte den Arzt starr an. Auch die Andern glaubten eher an einen Scherz als an Ernst. »Ist es wahr, Doctor?« fragte der Großherzog. »Gewiß. Oder dürfte ich es wagen, mir mit Ew. Hoheit einen Scherz zu erlauben!« »Halt!« sagte der Graf. »Wollen sehen! Prüfen!« »Prüfen Sie!« sagte Sternau ruhig. »Fürst des Felsens soll ’mal fürchterlichen Stich in Hals erhalten haben.« »Hier ist die Narbe. Blicken Sie her!« Er zog den Kragen zurück, und alle überzeugten sich von dem Dasein der Narbe. »Gut, sehr gut!« sagte der Graf. »Fürst des Felsens hat berühmte Kugelbüchse, Bärentödter; schießt Kugel Nummer Null. Ungeheuer schwer.« »Hier ist die Büchse!« Er nahm die große Büchse vor und hielt sie dem Grafen hin. Man sah ihm nicht an, daß dieses Gewehr schwer sei, aber als der Graf zugriff, ließ dieser sofort den Arm sinken. »Teufel!« rief er. »Schweres ier! Zwanzig Pfund, wie?«
Auch der Großherzog griff nach der Bärenbüchse, und nun begann ein großes Wundern. »Aber, Doctor,« sagte der Fürst, »Sie hantieren mit dieser Büchse ja wie mit einem leichten Stocke. Vorhin, als sie das Lasso mit ihr parirten, sah es aus, als ob sie kaum ein Pfund schwer sei.« »Riesige Kraft! Ist wirklich Fürst des Felsens, auf Ehre!« meinte der Graf. »Ich werde den Herren noch einen weiteren Beweis geben. Es wurde vorhin nicht geglaubt, daß dieser Matava-se mit der bloßen Faust ein Pferd niederschlägt. Ludewig!« »Ja, Herr Doctor!« antwortete der Bursche. »Führe einen der schweren Ackergäule vor!« »Ah!« rief der Graf, welcher jetzt ganz begeistert war. »Prachtvolles Experiment! Ackergaul niederschlagen. Famos! Nicht dagewesen! Prächtiges Amusement!« Der Bursche brachte das Pferd; es war ein etwa neunjähriger Fuchs, welcher lange nicht an die Luft gekommen war. In Folge dessen zeigte er sich sehr lebhaft; es gelang ihm, sich los zu reißen, und nun trabte er wiehernd im Hofe umher. Ludewig wollte ihn wieder fangen. »Laß ihn!« sagte Sternau. »Er wird gehorchen.« Um es sich noch schwerer zu machen, warf er sich die Gewehre über den Rücken und schritt auf das Pferd zu. Dieses wandte sich wiehernd von ihm ab und entsprang. So entstand ein Haschen, welches dem Fuchse Spaß zu machen schien. Da aber holte Sternau aus, nahm einen Anlauf – ein Sprung, und er saß auf dem Pferde. »Ach, glanzvoll! Auf Ehre!« rief der Graf. Sternau trieb durch den einfachen Schenkeldruck den Fuchs einige Male im Hofe auf und ab, dann stieg er wieder ab. »Aufpassen, meine Herren!« rief er. »Nicht niederschlagen, sondern niederwerfen.«
Er steckte dem Pferde zwei Finger der rechten Hand in die Nüstern, so daß es vorn emporsteigen wollte – ein kurzer Schritt zur Seite, eine Wendung nach hinten, ein gewaltiger Ruck, und der Fuchs lag an der Erde. Die Herren klatschten und auch die Damen fielen ein. »Wahrer Goliath! Simson! Auf Ehre!« meinte der Graf. »Ist Fürst des Felsens! Glaube es gern!« Der Fuchs hatte sich aufgerafft und stand zitternd vor dem riesenstarken Manne. »Jetzt niederschlagen!« rief dieser. Er holte aus und traf mit einem fürchterlichen Hiebe seiner Faust die Stirn des Pferdes, grad über dem einen Auge. Eine einzige Sekunde lang ging ein sichtbares Zittern durch den Körper des ieres, dann aber brach es mit einem einzigen Rucke zusammen und blieb regungslos am Boden liegen. »Ach! Oh! Verteufelter Kerl!« jubelte der Graf, ganz enthusiasmirt. »Wer macht das nach? Keiner! Auf Ehre!« Die Zuschauer waren ganz starr vor Erstaunen über eine solche physische Stärke. Droben standen die Damen noch erstaunter als die Herren. »Mein Gott, solch ein Herkules ist mir noch nicht vorgekommen!« sagte die Großherzogin. »Haben Sie das gewußt, theuerste Gräfin?« Rosa’s Gesicht glänzte vor Genugthuung. »Ja,« sagte sie. »Er hat sich bei uns in Rodriganda gleich als Held eingeführt.« »Ach!« »Wir wurden von einer ganzen Schaar Räuber überfallen; es waren fünf; vier tödtete er, und der Fünfte floh.« »Außerordentlich!« »Einen unserer größten Feinde hielt er frei über den Abgrund hinaus.«
»Gott! Vor solch einem Manne sollte man sich eigentlich fürchten!« »Ja, wenn er nicht auch an Herz und Gemüth ein eben solcher Riese wäre!« »Er sollte Offizier sein. Denken Sie sich diesen Mann, diese Gestalt in Uniform.« Rosa erröthete. »Ja, man muß ihn auch so lieben,« fügte die Großherzogin hinzu. »Sie erlauben doch, daß wir ihn Ihnen öfters zu uns entführen?« »Er wird Ew. Majestät Befehlen stets gehorsam sein.« Auch unten sprachen sich die Herren in ganz gleicher Weise über ihn aus. Der Oberförster war zu ihm und dem Pferde getreten; er hatte doch eine kleine Sorge. »Doctor, Sie sind weiß Gott ein ganz verteufelter Kerl!« sagte er. »Danke!« lachte Sternau. »Ich wollte mich ein Wenig in Respect setzen.« »Aber das hat mich ein Pferd gekostet.« »Wieso?« »Es ist ja todt!« »Fällt ihm gar nicht ein!« »Also nur betäubt?« »Ja. Oder glauben Sie wirklich, daß ein Mensch, selbst wenn er wirklich ein Riese wäre, mit einem Faustschlage ein Pferd tödten kann? Nur zu betäuben vermag er es.« »Aber es war ein Schlag, gerade wie mit dem Schmiedehammer. Was thut Ihre Hand?« »Nichts.« »O, ich denke, die muß ganz zerschmettert sein!« »Das fällt ihr gar nicht ein.« »Zeigen Sie her!« »Hier!«
Der Oberförster untersuchte die Hand, wobei auch die anderen Herren sich neugierig näherten. Er schüttelte den Kopf. »Meine Herren,« sagte er; »sehen Sie diese Hand, so weich wie eine Frauenhand. Nur der kleine Finger ist etwas geröthet.« »Unbegreiflicher Mensch! Famoser Kerl!« sagte Graf Walesrode. »Müssen zu mir kommen, Doctor! Auf Schloß Grillstein schöne Waffen, vortreffliche Pferde, guten Wein, auf Ehre! Müssen Freunde werden! Wie?« »Ich acceptire!« sagte Sternau. »Hier Hand, topp!« »Topp!« »Aber nun noch zeigen Bärentödter! Nur ein Schuß, ein einziger! Bitte, Doctor!« »Wenn die Herren es wünschen –?« »Ja, wir bitten um einen Schuß,« sagte der Großherzog. »Geben Sie mir ein Ziel!« Die Herren sahen sich vergebens nach einem solchen um. Da sagte Sternau: »Sehen die Herren drüben über der Mauer und weit jenseits der Tanne die Eiche?« »Gewiß!« sagte der Graf. »Ist groß genug! Famoses Geäst! Echt deutsche Eiche, auf Ehre!« »Nehmen Sie den langen Ast, welcher rechts am Weitesten hervorsteht.« »Gut.« »Ein Zweig geht von ihm abwärts?« »Sehe ihn!« »An seiner Spitze sind drei Blätter, und auf dem mittelsten sitzt ein Eichapfel.« »Unmöglich! Wer kann Eichapfel sehen so weit! Mein Auge ist kein Riesentelescop, auf Ehre!«
Auch die andern Herren sahen nichts. Den Zweig konnten sie wohl erkennen, aber die drei Blätter und gar der Apfel waren für sie nicht zu unterscheiden. »Sie sehen wirklich den Apfel, Doctor?« fragte der Graf. »Ja, ganz genau.« »Mirakulös, ganz vehement mirakulös!« »Ich habe Prairienaugen.« »Hm, ja! Und diesen Apfel wollen Sie schießen?« »Ja.« »Unmöglich! Ganz und gar unmöglich. Diese Distance und dieses Object! Bringen es nicht fertig, Doctor!« Sternau nahm aber doch den Bärentödter vor und wandte sich an den Großherzog: »Wollen Hoheit die Güte haben, sich in die Nähe des Baumes zu begeben, bis der Eichapfel zu sehen ist? Auf ein Zeichen werde ich ihn herabholen.« »Halt,« sagte der Oberförster, »ich habe ja ein Fernrohr und auch einen Operngucker.« Diese Instrumente wurde herbeigeholt, und dann verließen die Herren den Hof, um sich nach der Eiche zu begeben. Da trat Ludewig heran. »Sehen Sie wirklich den Apfel, Herr Doctor?« fragte er. »Ja, aber nur als kleinen, dunklen Punkt.« »Und Sie werden ihn treffen?« »Den Apfel nicht direct, denn sonst fehlte mir der Beweis. Ich werde das Blatt herabschießen, an welchem er sich befindet.« »Wenn Ihnen das gelingt, so haben Sie den Teufel, grad wie der Kurt dahier!« Nach einiger Zeit erscholl ein lauter Zuruf. Sternau nahm die Büchse empor, frei in die Hand und ohne anzulegen, zielte sehr sorgfältig, setzte auch ein und zwei Male ab, denn es galt einen Meisterschuß zu thun, aber endlich krachte der Schuß.
Er setzte die Büchse ab, warf einen scharfen Blick nach der Eiche und lächelte befriedigt. »Getroffen?« fragte Ludewig. »Ja.« »Und ich habe nicht einmal das Blatt, geschweige denn den Apfel gesehen dahier!« Eine Minute lang blieb Alles ruhig, dann aber ließ sich von draußen ein Jubelruf vernehmen, und die Herren kehrten zurück. Ihnen voran eilte Graf Walesrode. Er hatte das Blatt und hielt es in die Höhe. »Getroffen!« rief er von Weitem. »Famoser Kerl! Noch nie gesehen. Das Blatt Ihr Eigenthum natürlich!« Sternau zuckte die Achsel. »Wollen Sie das Blatt verkaufen? Kostbares Blatt! Viel Effect damit machen! Zahle jeden Preis, auf Ehre.« »Pah, ich verkaufe kein Blatt, Graf.« »So wollen behalten?« »Nein. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, so bewahren Sie es auf; es mag ein kleines Andenken sein an den Mann, dem Sie nicht glaubten, daß er der ›Fürst des Felsens‹ ist.« »O, Pardon, mein Lieber! Müssen verzeihen; auf Ehre, müssen verzeihen! Sind ja Freunde!« Da trat der Großherzog an ihn heran und streckte ihm die Hand entgegen. »Doctor,« sagte er, »Sie sind ein ganz außerordentlicher Mann. In Allem, was Sie einmal begonnen haben, sind Sie Meister. Ich muß Sie näher kennen lernen. Wollen Sie mich morgen auf Schloß Kranichstein besuchen?« »Ich stehe zu Befehl, Hoheit.« »Nein, nicht zu Befehl. Sie sollen mir einen Gefallen thun; das nur ist es. Nicht als Fürst will ich Sie empfangen. Aber nun haben wir die Damen genug vernachlässigt. Lassen wir uns diese Sünde
verzeihen. Vorher aber, Doctor, zeigen Sie mir Ihr Zimmer. Ich muß wissen, wie ein solcher Mann wohnt und arbeitet.« Sternau verbeugte sich zustimmend und führte ihn nach seiner Wohnung. Die Herren aber kehrten nach dem Saale zurück. Nach einiger Zeit erschien Sternau, um die Großherzogin und Rosa de Rodriganda mit sich zu nehmen. Später wurde der Staatsanwalt und Frau Sternau geholt. Es mußte eine wichtige Unterhaltung geben, denn es währte wohl über eine Stunde, ehe die Herrschaften wieder erschienen. Als sie zurückkehrten, bemerkte man, daß Rosa geweint hatte, und auch die Lider der Großherzogin Mathilde waren geröthet. Nun ließ der Großherzog nach Kurt’s Eltern schicken, welche ihren Sohn mitbringen sollten. Die braven, einfachen Leute wurden von dem Fürsten mit außerordentlicher Huld empfangen. »Sie sind Seemann?« fragte er Helmers. »Ja, Hoheit.« »Und haben es bis zum Steuermann gebracht?« »Ja.« »Haben Sie Ihre Eltern noch?« »Nein.« Diese Fragen wurden mehr aus Gewohnheit ausgesprochen, aber es sollte sich bald zeigen, welche Folgen sie hatten. »Auch keine Geschwister?« »Einen Bruder, Hoheit.« »Ist auch er ein Unterthan von mir?« »Er ist in Hessen geboren, befindet sich aber in Amerika.« »Als was?« »Als – als – – ich kann das wirklich nicht sagen; das Richtige ist wohl, wenn ich sage, daß er Jäger ist.« »Ah, Jäger! Das ist interessant. Wissen Sie nichts Genaues über ihn?«
»Seit einem halben Jahre haben wir keine Nachrichten von ihm. Er hat sich als Squatter versucht, dann als Fallensteller; nachher ist er in die Goldminen gegangen – –« »Und ein Millionär geworden?« lächelte der Fürst. »Das Gegentheil. Er verließ Kaliformen und wurde Cibolero. Er schrieb mir dieses Wort, aber ich weiß nicht, was es bedeutet.« »Der Herr Doktor wird es uns erklären,« sagte der Großherzog. »Ciboleros werden die mexikanischen Büffeljäger genannt,« antwortete dieser. »Auch da brachte er es zu nichts; da wurde er Gambusino.« »Goldsucher,« erklärte Sternau. »Dabei wurde er von den Comanchen gefangen. Er floh und nahm zur Strafe einen ihrer Häuptlinge mit – – –« »Ah!« rief da Sternau schnell. »Einen Häuptling?« »Ja.« »Wissen Sie das gewiß?« »Ganz gewiß. Er hat es mir ja geschrieben.« »Haben Sie den Brief noch?« »Ja. Es steht auch der Name des Häuptlings darin.« »Ah, hieß er vielleicht Yo-ovuts-tokvi?« »Ein solch’ kauderwelsches Wort ist’s, was da steht, aber dahinter steht zu Deutsch der Name ›der schwarze Wolf‹.« »Ja ja; Yo-ovuts-tokvi heißt in der Utahsprache, welche viele Stämme der Comanchen sprechen, der schwarze Wolf. Ist das möglich! Wie wunderbar!« »Was ist wunderbar?« fragte Graf Walesrode. »Meine Herren, wir haben vorhin von einem berühmten weißen Jäger gesprochen; es wurden zwei Namen genannt, der meinige und der seinige; nun, unser Herr Helmers hier ist der Bruder dieses berühmten Mannes.« Das gab nun wieder eine Ueberraschung. Sogar der Großherzog sagte:
»Heute ist ein Tag der Außerordentlichkeiten. Aber, irren Sie sich nicht, Doktor?« »Nein, Hoheit. Wenn der Bruder von dem Steuermanne wirklich den Häuptling der Comanchen entführt hat, so ist er Der, welchen wir meinten. Ich werde gleich den Beweis führen.« Und sich an Helmers wendend, fragte er: »Wenn Ihr Bruder Ihnen den Namen des Comanchen genannt hat, so hat er Ihnen jedenfalls auch geschrieben, wie er selbst da drüben geheißen wird?« »Ja.« »Nun?« »Er hat auch so einen indianischen Namen, und weil es der Bruder ist, so habe ich ihn mir gemerkt; daneben steht dann die deutsche Uebersetzung.« »Nun, wie heißt er?« »Itinti-ka, das heißt Donnerpfeil.« »Nun, meine Herren, habe ich Recht oder nicht?« fragte Sternau. »Außerordentlich! Wunderbar! Famose Geschichte!« rief Graf Walesrode. »Donnerpfeil habe ich gehört bei amerikanischen Gesandten!« »Und ich habe gesagt, daß Donnerpfeil auf Indianisch Itintika heißt,« meinte Sternau. »Das würde, wenn es eine Folge dieser interessanten Entdeckung gäbe, eine Fügung Gottes genannt werden müssen,« sagte die Großherzogin. »O, Hoheit, ich bin überzeugt, daß die Folge nicht ausbleiben wird,« sagte Sternau. »Ich glaube an Gott, und habe tausendmal erkannt, wie seine Hand selbst das Entfernteste verbindet. Es war das damals eine ganz außerordentliche Geschichte, als Donnerpfeil als Gefangener entwich und sogar den schwarzen Wolf mit sich entführte. Das war eine Heldenthat, welche geradezu in Aller Munde
lebte. Wenn Hoheit gestatten, so werde ich dieses hochinteressante Abenteuer morgen in Kranichstein erzählen.« »Ja, gewiß,« sagte der Großherzog. »Wir rechnen darauf, daß Sie kommen. Sie bringen natürlich hier unseren Rodenstein mit. Ich würde Sie heute um diese Geschichte bitten, aber unsere Zeit ist bereits längst abgelaufen. Ich wollte nur nicht scheiden, ohne die Eltern unseres kleinen Kurt gesehen zu haben. Komm’ her, mein Sohn!« Kurt trat näher heran. »Weißt Du, welche Prämien auf den Wolf und auf den Luchs gesetzt waren?« »Ja.« »Nun?« »Zwanzig aler und hundert aler.« »Sie gehören Dir. Komm’, halte Deine Hände auf!« Der Knabe streckte, am ganzen Gesichte lachend, seine beiden Hände hin. Der Großherzog zog seine mit Gold gefüllte Börse und zählte sie ihm voller Goldstücke. »Hier, hast Du fünfzig Dukaten.« »Fünfzig Dukaten?« sagte Kurt. »Das stimmt nicht!« »Wie? Nicht?« fragte der Großherzog. »Nein; es ist zu viel, Hoheit.« »Nun, das Uebrige ist auch Dein. Nimm es als Dank für die Künste, welche wir heute von Dir gesehen haben.« Da blickte der Knabe dem Fürsten freudig bewegt in die Augen und fragte: »Ist das wahr, Hoheit?« »Ja.« »Und ich darf damit machen, was ich will?« »Ja,« sagte der Großherzog gespannt. »Nun, so bekommen meine hundertzwanzig aler die Eltern und das Uebrige erhält der Klaus.«
»Warum?« »Der hat mir das Viehzeug nach Hause gefahren; der hat kein Holz, und vor einer Woche sagte mir seine kleine Anna, daß ihr der Bauch so weh thut, weil sie nichts zu essen haben.« Das war nicht gewählt gesprochen; aber die Großherzogin zog den Jungen an sich und drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Sie war kinderlos, aber sie hatte ein gutes, weiches Herz. Nun wurde aufgebrochen. Da der Großherzog über Mainz fuhr, so erhielt der Staatsanwalt die Erlaubniß, sich ihm anzuschließen. Der Abschied der Herrschaften war ein herzlicher, und die Einladung auf morgen wurde abermals wiederholt. Als die Wagen und Reiter verschwunden waren, stand der Hauptmann von Rodenstein vor dem großen Pfeilerspiegel, um zu sehen, wie ihm das Kreuz des Ludwigsordens stand; da trat der Forstgehilfe Ludewig herein. »Nun, Herr Hauptmann, habe ich meine Sache gestern wirklich so schlecht gemacht, wie Sie sagten?« fragte er. »Kerl, Du bist ein Prachtjunge!« lautete die Antwort. »Statt der Nase diesen Orden! Himmeldonnerwetter, ist das ein Unterschied! Ich muß nur gleich zum Doktor gehen, um zu erfahren, was in seinem Zimmer gesprochen worden ist!« Er fand den Doktor mit Rosa beisammen. Sie saßen traulich neben einander und schienen sich über denselben Gegenstand unterhalten zu haben, welcher den Hauptmann herbeiführte. »Gott sei Dank!« sagte dieser. »Es ist eine große Ehre, diese Herrschaften bei sich zu sehen; aber heiß wird Einem doch dabei. Den Wirth greift es am Meisten an; obgleich ich sagen muß, daß auch Sie ganz tüchtig gearbeitet haben, Doktor. Diese hohen Herren und Damen haben einen ganz gewaltigen Respekt vor Ihnen bekommen.« »Ja,« sagte Rosa ganz glücklich, »man möchte fast sagen, daß er eine Schlacht gewonnen hat. Er hat sich die Achtung und das
Wohlwollen von Personen erkauft, denen wir viel zu verdanken haben werden.« »Hat der Großherzog sich dahin ausgesprochen?« »Ja,« sagte Sternau. »Wir haben ihm Alles erzählen müssen.« »Und – – –?« »Er hat uns einen Rath gegeben, welchen ich schleunigst befolgen werde.« »Welchen?« Rosa erröthete; Sternau antwortete: »Ich werde baldigst abreisen, um Kapitän Landola aufzusuchen; vorher aber, so lautete der Rath der Hoheiten, sollen wir uns vermählen.« »Donnerwetter! Ist dies so schnell möglich?« »Ja. Der Großherzog will alle Hindernisse beseitigen und dann während meiner Abwesenheit Rosa unter seinen speciellen Schutz nehmen.« »Oho! Sie steht jetzt bereits unter meinem Schutze. Sollte dieser etwa nicht ausreichen?« »Gewiß, mein bester Herr Hauptmann; aber Sie werden zugeben, daß in unseren eigenthümlichen Verhältnissen die Protektion eines solchen Herrn für uns von großem Vortheile ist.« »Zugegeben! Aber ob ich mir unsere liebe Gräfin entreißen lasse, das werde ich mir doch sehr überlegen.« Am anderen Tage ritt Sternau mit dem Hauptmann nach dem Lustschlosse, wo sie mit Auszeichnung empfangen wurden. Der Erstere mußte von seinen Abenteuern und Erlebnissen erzählen; dann kam seine gegenwärtige Lage zur Sprache, und nun zeigte sich, daß der Großherzog bereits Schritte gethan hatte, um ihm den Weg zu ebnen. Sternau erfuhr, daß die Vermählung bereits innerhalb einer Woche stattfinden könne, und die Hoheiten luden sich zu derselben ein.
Nun begann ein fleißiges, glückliches Rühren auf Schloß Rheinswalden. Rosa wünschte, daß die Hochzeit in aller Stille vor sich gehe, und dieser Wunsch kam den Ansichten Sternau’s entgegen. Es war am Montag, wo der Großherzog zum zweiten Male, dieses Mal aber ohne Gefolge nach Rheinswalden kam. Nur die Großherzogin war bei ihm. Man hatte im Saale einen Altar errichtet, und mit Hilfe der großherzoglichen Orangerie war der Raum in einen südlichen Blumengarten verwandelt worden. Der Hofprediger war bereits vor dem Fürsten angekommen; es war Wunsch des Letzteren gewesen, daß der Erstere die Trauung vornehmen solle. Rosa erschien in einem einfachen Seidenkleide, außer dem Schleier und der Myrthenkrone nur von ihrer eigenen Schönheit geschmückt. Das Hochzeitspaar wurde vom Großherzoge und der Großherzogin zum Altare geleitet. Ihnen folgten der Hauptmann mit der Mutter und Schwester des Bräutigams; dann kam der wakkere Alimpo mit seiner Elvira, während die Jägerburschen in ihrer Galauniform den Hintergrund füllten. Der Prediger sprach Worte, welche vom Herzen kamen und zum Herzen gingen. Aller Augen standen voll ränen, und man kann wohl sagen, daß der gute Kastellan und seine Elvira sich fast ebenso glücklich fühlten, wie das Hochzeitspaar selbst. Nach dem feierlichen Akte vereinte ein einfaches Mahl die wenigen eilnehmer. So war es der Wunsch der Braut, und das hatte die Zustimmung Aller gefunden. Nicht so einfach aber waren die Geschenke, welche die Glücklichen dann von dem Großherzoge und dessen gütiger Gemahlin erhielten. Man sah es, daß die beiden Letzteren sich nicht nur als Protektoren, sondern als Freunde zu dem schönen, interessanten Paare stellten. Nun war der einfache, deutsche Arzt mit der schönen, reichen spanischen Gräfin vereint, und er konnte daran denken, an die Lösung der tiefen Geheimnisse zu gehen, welche sich über die Ver-
hältnisse der Familie Rodriganda ausbreiteten. Er gestattete sich nur eine einzige Woche Zeit, um das Glück seiner jungen Ehe zu genießen und die Vorbereitungen zu seiner Reise zu treffen. Dann verließ er mit dem Steuermann Rheinswalden, sein euerstes unter dem Schutze des Großherzogs und des Hauptmanns zurücklassend. Er hatte sich außer mit einer größeren Baarsumme auch mit guten Wechseln auf England versehen und wurde von dem Hauptmann nach Mainz begleitet, der ihn auf das Dampfschiff brachte, auf welchem er den Rhein hinabfahren wollte. Der Abschied von seinem jungen Weibe war ein rührender; sie wollte sich gar nicht von ihm trennen und lag immer und immer wieder weinend an seiner Brust, ihn mit ihren Armen umschlingend. Und dann stand sie noch unter dem ore und blickte dem Wagen, der ihn nach Mainz brachte, nach, so lange, als sie ihn noch zu sehen vermochte. Alimpo und Elvira standen bei ihr. »Weinen Sie nicht, meine theure Gräfin,« sagte die Letztere. »Unser guter Herr wird bald wieder zurückkommen; das sagt mein Alimpo auch.« »Ja,« meinte dieser. »Der Herr Doctor ist ganz der Mann dazu, diesen Kapitano Landola zu fangen. Er wird ihn sicherlich finden; das sagt meine Elvira auch.« Und von Weitem stand der Ludewig neben Kurt; auch der Knabe weinte, und dem Jägerburschen stand eine dicke räne im Auge, deren er sich fast schämen wollte. »Was weinst Du, Junge!« sagte er zu dem Knaben. »Man darf keine Memme sein dahier!« »Du weinst doch auch!« meinte Kurt, ihm in das Auge blickend. »Ich? Weinen? Dummheit! Das ist nur ein Schweißtropfen. Es ist eine ganz verteufelte Hitze heute. Vor acht Tagen war es kalt wie in
Sibirien dahier, und heute fährt sogar das Dampfschiff wieder. Es ist eine ganz abnorme Witterung heuer.« Alle diese Bewohner von Rheinswalden ahnten nicht, welche Reihe von Jahren vor ihnen lag, ehe Sternau mit dem Steuermarine wiederkehren werde. Dieser fand am Landeplatze den Staatsanwalt, welcher gekommen war, ihn noch einmal zu sprechen. Der Beamte versicherte, daß Sternau ruhig reisen könne; er werde seine Interessen auf das Sorgfältigste wahren und sich der jungen Frau Doctorin stets mit aller Aufmerksamkeit annehmen. Der Hauptmann fuhr bis Köln mit. Hier trennten sie sich. Die Reise mußte per Bahn fortgesetzt werden, da in Folge der Ueberschwemmung das Fahrwasser nach abwärts nicht mehr zuverlässig war. »Wie lange gedenken Sie, fort zu bleiben, Doctor?« fragte er. »Wer kann das wissen!« antwortete Sternau. »Meine Wege stehen in Gottes Hand.« »Das ist richtig. Und ich hoffe, daß Gott ein Einsehen haben und Sie uns recht bald wieder zurückbringen wird.« »Grüßen Sie mir Rosa noch, und auch alle Uebrigen!« »Soll geschehen, Doctor! Na, wollen uns das Herz nicht länger schwer machen. Auf das Scheiden kommt ja oft ein Wiedersehen. Adieu!« »Leben Sie wohl! Sie drückten sich die Hand, und dann – ging Sternau mit dem Steuermanne einer Zukunft entgegen, welche glücklicher Weise noch im Dunkel vor ihnen lag. –
ZWEITES KAPITEL
Der verlorene Sohn »Ich jage durch die wilde Fluth, Die Wogen sind meine Meute; Ich sehne mich nach des Feindes Blut, Vergossen um goldene Beute. Im Kampf wird doppelt stark die Faust, Zu Helden werden die Feigen, Drum, wer meine Flagge erkennt, dem graust, Er weiß ja, er kann nicht entweichen. Selbst im Orkan, wenn’s Andern graut, Erhebe ich Steuern und Zölle; Der Sturm ist mein Kumpan, die See meine Braut, So segle ich kühn in die Hölle.« An der Westseite Schottland’s, da wo der Clydefluß sich in das Meer ergießt, bildet dieser einen Busen, an dessen Südseite die unter allen seefahrenden Nationen berühmte Stadt Greenock liegt. Auf den Werften dieser Stadt sind die meisten Schiffe des deutschen Lloyd und der deutschen Kriegsmarine gebaut worden, und manches stolze Orlogschiff sowie manches große oder kleine Handelsfahrzeug durchfliegt die See, welches Greenock zum Geburtsorte hat. In einem der frequentesten Hotels dieser Stadt finden wir Sternau und den Steuermann Helmers. Sie hatten sich hierher begeben, weil es hier am Leichtesten ist, ein kleines Fahrzeug, wie sie es suchten, kaufen zu können. Sie hatten bereits den ganzen Hafen und auch die Werfte abgesucht, ohne ein solches zu finden und saßen nun an der Table d’hote, sich während des Essens von dieser Angelegenheit unterhaltend.
Gegenüber saß ein alter Herr, welcher ihre Worte hörte und darauf hin ihnen mittheilte, daß oben am Flusse eine ganz prachtvolle Dampfyacht liege, welche zu verkaufen sei. Er fügte hinzu, daß ein dort in der Nähe wohnender Advokat mit dem Verkaufe derselben beauftragt sei; das Fahrzeug liege grad vor der üre der Villa, welche derselbe bewohne. Sternau dankte ihm für diese Mittheilung und machte sich nach beendigtem Diner sofort mit dem Steuermann auf, die Yacht anzusehen. Sie hatten nur den Hafen bis dahin untersucht, wo der Fluß in denselben mündete; jetzt aber schritten sie am Ufer weiter aufwärts, und nach einiger Zeit entdeckten sie die betreffende Yacht, welche am Ufer vor Anker lag. Es war einer jener ausgezeichneten Schnelldampfer, hundert Fuß lang, sechzehn Fuß breit und sieben Fuß tief, mit zwei Masten, Takel- und Segelwerk versehen, um den Dampf durch die Kraft des Windes zu unterstützen, so daß in Beziehung auf Geschwindigkeit es kein anderes Schiff mit einer solchen Yacht aufzunehmen vermag. Da ein Brett das Ufer mit dem Bord verband, gingen sie vorläufig an Deck; die Lucken waren offen, und auch die Kajüte zeigte sich unverschlossen. Sie zeigte eine prachtvolle Einrichtung, und als Helmers als Kenner alles Uebrige genau untersucht hatte, sprach er sein Gutachten dahin aus, daß das Schiff ein ausgezeichnetes sei und nichts zu wünschen übrig lasse. Sie kehrten nun an das Ufer zurück und sahen die betreffende Villa in einem Garten liegen, an dessen offen stehender Pforte ein Schild mit der Aufschrift befestigt war: »Emery Millner, Advocat.« Sie traten ein, schritten durch den Garten und trafen da eine Dienerin, welche sie nach dem Zimmer des Advocaten führte. Hier gaben sie ihre Absicht kund und erfuhren, daß sowohl die Villa als auch die Yacht Eigenthum des Grafen von Nothingwell seien.
»Des Grafen von Nothingwell?« fragte Sternau überrascht. »Darf ich Sie um den vollständigen Namen des Grafen bitten?« »Sir Henry Lindsay, von Nothingwell,« antwortete der Advocat. »Ach, dessen Tochter Amy vor einiger Zeit auf Schloß Rodriganda in Spanien bei Gräfin Rosa, ihrer Freundin, zu Besuch war?« »Gewiß,« antwortete der Engländer, nun seinerseits erstaunt. »Kennen Sie die Dame?« »Sehr gut sogar. Auch ich befand mich auf Rodriganda und darf mir wohl erlauben, mich ihren Freund zu nennen.« Er sowohl als auch der Steuermann hatten natürlich ihren Namen genannt, daher rief der Advocat erfreut: »So sind Sie wohl gar jener Arzt Sternau, welcher den alten Grafen operirte?« »Ich bin es.« »Dann ist es mir eine große Freude, Sie bei mir zu sehen! Sir Lindsay und Miß Amy waren vor ihrer Abreise nach Mexico hier, und die Dame hat uns sehr viel von Ihnen erzählt. Sie müssen wissen, daß sie sehr freundschaftliche Gesinnungen für meine Frau hegt und ihr Alles mittheilte, was in Rodriganda geschehen ist.« »So will ich aufrichtig sein und Ihnen sagen, daß Gräfin Rosa de Rodriganda jetzt meine Frau ist. Sie wohnt in Deutschland bei meiner Mutter.« »So schnell ist das gegangen!« rief der Advocat. »Aus der Erzählung von Miß Amy ersahen wir allerdings, daß sich ein solches Ereigniß vermuthen lasse, daß es aber so bald eingetreten ist, kann nur eine Folge ganz außerordentlicher Verhältnisse sein. Fast bin ich begierig, dieselben zu erfahren!« »Da Miß Amy Ihnen ihr Vertrauen geschenkt hat, so habe ich keinen Grund, Ihnen das meinige zu verweigern,« sagte Sternau höflich.
»So bitte ich Sie, Ihnen vor allen Dingen meine Frau vorstellen zu dürfen. Ich ersuche Sie dringend, für die Zeit Ihres Aufenthaltes in Greenock mein Gast zu sein!« Sternau mußte trotz seiner anfänglichen Weigerung diese Einladung annehmen. Die Frau des Advocaten hörte mit großer Freude, wer die Fremden seien und that alles Mögliche, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Der Deutsche erzählte seine abenteuerlichen Erlebnisse und wurde in Folge dessen geradezu mit Freundlichkeiten überschüttet. Er erfuhr, daß Lord Lindsay die Yacht nur deshalb verkaufe, weil er sie während seines voraussichtlich langen Aufenthaltes in Mexiko nicht brauchen könne, und Sternau erhielt sie für eine Summe, welche klein genannt werden konnte. Nun ging es an die Ausstattung und Bemannung des Fahrzeuges. Diese Letztere bestand außer Helmers in vierzehn Matrosen, von denen einige die Maschine zu bedienen verstanden. Diese Matrosen nannten den bisherigen Steuermann Helmers »Kapitän«, und Sternau bestätigte als Eigenthümer des Fahrzeuges diesen Titel. Die Yacht hatte bisher »the fleeds« geheißen, wurde aber nun »Rosa« genannt! Sternau ließ diesen Namen an den Bug und auch am Sterne der Yacht anbringen. Der Advocat war ihm behilflich beim Einkaufe des Proviantes, der Munition und der Waffen. Da es galt, einen Seeräuber aufzufinden, so waren auch einige Kanonen nöthig. Aus diesem Grunde erhielt die »Rosa« sechs Bordkanonen und zwei drehbare Geschütze, sogenannte Drehbassen, von denen je eine am Vorder- und Hintertheile angebracht wurden. Das Fahrzeug hatte eine Schnelligkeit von achtzehn Meilen per Stunde und verbrauchte während dieser Zeit zweihundert Pfund Kohlen. Daher war es nöthig, öfters anzulegen, um neuen Kohlenvorrath einzunehmen. Als erste dieser Stationen wurde der Hafen von Avranches in Frankreich bestimmt, und dann dampfte
die Yacht den Clyde hinab, dem Meere entgegen und einem Ziele zu, welches noch Niemand bestimmen konnte. Nur war soviel zu vermuthen, daß Kapitän Landola wahrscheinlich an der Westküste Afrika’s zu suchen sei. – Avranches, wo die ersten Kohlen eingenommen werden sollten, liegt nicht unmittelbar am Meere sondern auf einem Höhenzug, welcher die Seeküste überragt; aber ganz nahe schiebt sich die Bucht von Mont St. Michel in das Land, und von dem innern Ufer derselben hat man kaum eine halbe Stunde zu gehen, um die Stadt Avranches zu erreichen. Auf einer Höhe an der Bucht stand damals einer jene hölzernen, kühn gebauten Leuchtthürme, welche an den gefährlichen Küsten der Normandie den Schiffen als Wahrzeichen dienen. Der Wärter dieses Leuchtthurmes hieß Gabrillon, verkehrte nur selten mit den Menschen und galt für einen Sonderling, den man nicht belästigen müsse. Er hatte weder Weib noch Kind, und nur eine alte, taube Frau hauste mit ihm auf dem Leuchtthurme, den sie nur für kurze Zeit verließ, um den geringen Gehalt Gabrillons einzukassiren und dann die kleinen Einkäufe zu besorgen, welche die Führung ihrer kleinen Wirthschaft vorschrieb. Früher war es zuweilen vorgekommen, daß Freunde oder Einheimische den Leuchtthurm besuchten, um von seiner Höhe aus einen Blick auf den ewig gleichen und doch stets wechselvollen Ocean zu genießen, aber seit einigen Monaten zeigte Gabrillon sich gegen solche Besucher so widerstrebend, ja geradezu grob, daß den Leuten die Lust zum Wiederkommen verging. Man forschte nach der Ursache dieses Widerstrebens, fand aber nichts. Nur einige alte Schiffer, welche sich mit nächtlichem Schiffhandel abgaben, behaupteten, des Nachts ganz oben auf der Galerie, welche sich um das Lichtgehäuse des Leuchtthurmes zog, eine lange, hagere Gestalt bemerkt zu haben, welche in spanischer oder einer ähnlichen Sprache kurze, klägliche Laute ausgestoßen habe.
Von dieser Zeit an glaubten die abergläubigen Strandbewohner, der Wärter Gabrillon stehe mit dem Teufel oder anderen bösen Geistern, welche ihn nächtlich besuchten, im Bunde, und mieden ihn nun noch mehr, als sie es erst bereits gethan hatten. Nur der Maire* der Stadt dachte anders. Gabrillon war bei ihm gewesen und hatte ihm in seiner mürrischen, verschlossenen Weise gemeldet, daß er einen alten Vetter, der nicht so ganz richtig im Kopfe war, bei sich aufgenommen habe. Gabrillon hatte diese Meldung nicht umgehen können, und der Maire schwieg darüber, weil es ihm Spaß machte, daß die Leute diesen verrückten Vetter in den Teufel verwandelten. Noch eine andere Neuerung hatte sich in Avranches vollzogen. Ein junger Arzt, welcher erst kürzlich hergezogen war, hatte eine Quelle untersucht, deren trübes, gelbes Wasser bisher nicht benutzt worden war, weil es einen außerordentlich üblen Geschmack besaß. Dieser Mann behauptete, daß es ein Mineralbrunnen sei, der verschiedene sonst tödtliche Krankheiten heile. Er analysirte das Wasser, sandte seine Analyse und eine Probe des Wassers an die Akademie der Wissenschaften ein, welche ihm beistimmte, ließ große Berichte und Annoncen in die Blätter setzen, faßte die Quelle ein und baute ein Kurhaus in die unmittelbare Nähe derselben. Von da an kamen allerlei Kranke und Gesunde herbeigepilgert, um sich heilen zu lassen oder sich in der erquickenden Seeluft und den stärkenden Meereswogen zu erfrischen. Es wurden Wege gebaut, Promenaden mit Ruhebänken angelegt, und bald entwikkelte sich in der Nähe des alten Leuchtthurmes ein Leben, welchem der mürrische Wärter Gabrillon mit immer finsterem Blicke zuschaute. Es war an einem schönen Sommernachmittag. Gestern hatte es ein wenig gestürmt, und die See zeigte heute noch einen ziemlich hohen Gang; aber die Luft war klar, und man konnte bis weit in *
Bürgermeister
die See hinaus die Möven erkennen, welche über die Wogenkämme strichen, um Fliegen und Mücken zu haschen. Ihre Flügel glänzten im Sonnenstrahle, und wenn ein breitschwingiger Albatros durch die Lüfte schoß, so funkelte sein weißes Gefieder zwischen den dunklen Schwingen wie hellpolirtes Silber. Ein dicker Mann mit einer goldenen Brille auf der Nase und einem spanischen Rohre in der Hand stieg aus der Stadt nach einer der Fischerhütten, welche am Strande lagen, herab. Ihm folgte ein junger Mensch, welcher eine große Schreibmappe und ein riesiges Tintenfaß zu tragen hatte. Vor der Hütte saß der Besitzer derselben und strickte an einem Netze. »Ihr seid der Fischer Jean Foretier?« fragte der Dicke. Der Schiffer erhob sich höflich, nahm die Mütze ab und antwortete: »Ja, so heiße ich, Herr Notar.« »Es wohnen Badegäste bei Euch?« »Ja. Es ist ein vornehmer Herr mit seiner Tochter, einem Diener und einer Dienerin. Sie haben ihre eigenen Meubles und Betten mitgebracht, und da sie das ganze Haus gebrauchen, so mußte ich weichen und schlafe beim Nachbar Grandpierre.« »Wer ist der Herr?« »Es ist ein Spanier; er nennt sich Herzog von Olsunna.« Und leise setzte er hinzu: »Er wird nicht mehr lange machen, Herr Notar. Er hat die Auszehrung; er spuckt Blut, hustet Tag und Nacht und kann kaum noch einen Schritt weit gehen. Ich denke, unsere Seeluft kann ihn nicht mehr retten, und in einer Woche wird er gestorben sein.« »Liegt er?« »Ja. Die beiden Domestiken sind zur Stadt gegangen, aber die gnädige Dame ist bei ihm.« »In welchem Zimmer?«
»Hier unten auf der anderen Seite. Sie können klopfen und eintreten. Er ist nicht stolz und verlangt nicht, daß man sich vorher anmelden lasse.« Der Notar folgte dieser Anweisung, klopfte behutsam an und trat nach einem leisen, von einer weiblichen Stimme gesprochenen »Herein« in die Stube. Der Raum war einfach und niedrig, wie es bei einem Schifferhause zu sein pflegt, aber die Meublirung war bequem, beinahe elegant. Auf einer Chaise-longue ruhte der Patient. Sein wachsbleiches Gesicht war über alle Maßen abgemagert, und seine dunklen Augen blickten glanz- und hoffnungslos aus ihren tiefen Höhlen. Ein lang gewachsener, schwarzer, struppiger Vollbart ließ seinen Teint noch bleicher erscheinen, und die hohe, breite, kahle Stirn schien einem ausgegrabenen Todtenkopf anzugehören. Dies war der einst so stolze, kräftige Herzog von Olsunna, der Löwe der schönen Frauen, welcher mit Hilfe Cortejo’s Sternau’s Mutter überwältigt und verführt hatte. Neben ihm saß eine hoch und stark gebaute Dame. Sie mochte fast dreißig Jahre zählen, aber ihr Gesicht zeigte eine reine, mädchenhafte Frische, und ihre bei aller Fülle doch schlanke Gestalt hatte so jungfräuliche Linien, daß man sie für noch unverheirathet halten mußte. Eine Falte, welche sich über ihre hohe, weiße Stirn zog, schien mehr die Folge einer tiefen Herzenssorge als des Alters zu sein. Ihr großes Auge hatte einen zwar jetzt bewegten aber offenen Ausdruck. Wer in dieses Auge und in diese Züge sah, mußte der Dame vertrauen und sie lieb gewinnen. Das war Prinzeß Flora von Olsunna, die Tochter des Herzogs, deren Erzieherin für jene kurze, unglückliche Zeit Sternau’s Mutter gewesen war. Damals war Zarba, die Zigeunerin, noch ein junges, schönes Mädchen gewesen; jetzt nun war die Zeit vergangen; Flora hatte nun selbst die Mädchenjahre hinter sich, ohne das
Glück genossen zu haben, welches diese Jahre gewöhnlich mit sich bringen. Sie blickte die beiden Eintretenden überrascht und erwartungsvoll an. Der Notar verbeugte sich höflich und sagte: »Excellenz haben nach mir gesandt. Ich bin der Notar Belltoucheur aus Avranches.« »Nach einem Notar hast Du gesandt, Papa?« fragte Flora, indem sie sich erschrocken erhob. »Ja, mein Kind,« antwortete der Herzog mit leiser, trockener Stimme. »Ich wollte Dich nicht beunruhigen, darum sagte ich es Dir nicht. Du brauchst nicht zu erschrecken, es ist eine Geschäftsangelegenheit, welche ich mit diesem Herrn zu ordnen habe.« Nachdem ihn ein böser Husten unterbrochen hatte, fuhr er fort, zu dem Notar gewendet: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, mein Herr; aber ich ließ Sie bitten, drei Zeugen mit zu bringen?« »Ich bin diesem Wunsche nachgekommen,« antwortete der Mann. »Ich wußte nicht, welcher Art das Geschäft ist, welches mich zu Ihnen ruft, Hoheit; ich hielt eine kleine Vorherbesprechung für vielleicht nothwendig, und darum traf ich die Vorkehrung, die Zeugen eine Viertelstunde später zu bestellen.« »Diese Vorkehrung ist mir erwünscht,« meinte der Herzog. »Nehmen Sie Platz!« Und zu Flora sich wendend fügte er hinzu: »Du kannst mich jetzt verlassen, mein Kind; ich werde Deiner vor einigen Stunden nicht bedürfen.« Sie warf einen besorgten Blick auf ihn und fragte: »Aber wirst Du eine so lange Conferenz auch aushalten können, mein Vater?« »Gewiß. Und sollte ich ja gezwungen sein, zu klingeln, so brauchst Du nicht selbst zu kommen, sende mir den Diener.« Es trat in ihr Auge eine nicht zurückzudrängende Feuchtigkeit; sie war überzeugt, daß es sich um die Anfertigung eines Testamen-
tes handele, aber dem Vater zu Liebe beherrschte sie sich möglichst und verließ das Zimmer. Grade in diesem Augenblicke kehrte der Diener aus der Stadt zurück, und so war für Flora keine Veranlassung vorhanden. Sie ertheilte ihm die nöthige Instruction und bereitete sich dann zu einem kurzen Spaziergange vor. Die Pflege des kranken Vaters nahm ihre Kräfte so sehr in Anspruch, daß sie um ihretwillen gezwungen war, sich diese Erholung zu gönnen. Sie stieg langsam die Anhöhe hinauf. Rechts vor ihr lag die Stadt, und zur linken Hand dehnte sich die weite unruhige See. So unruhig war auch ihr Herz. Sie wußte, daß sie bald, o, wie nur zu bald den Vater verlieren werde; sie stand dann allein, ganz allein auf der Welt. Zwar hatte sie ihren Rang und ihren unermeßlichen Reichthum; Beides war genug, um ihr die Welt, die Gesellschaft mit allen ihren Genüssen und Gütern zu öffnen, aber sie trachtete nach dem allen nicht. Während sie so emporstieg, ging ihre Vergangenheit an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie hatte ihre Mutter niemals gekannt, war stets nur fremden Händen anvertraut gewesen, denn auch ihr Vater, der Herzog hatte sich nicht viel um sie gekümmert. Alle diese Bonnen, Gouvernanten und Erzieherinnen waren ihr fremd vorgekommen und fremd geblieben; nur eine Einzige hatte sie lieb gehabt, jene Deutsche, Sennora Wilhelmi, welche so plötzlich wieder verschwunden war. Sie hatte nach ihr geklagt und geweint, war aber dafür vom Vater bestraft worden. So war die Zeit vergangen, sie war zur Jungfrau heran gereift. Sie war schön gewesen, das durfte sie sich bekennen, der Spiegel hatte es ihr gesagt, und von hundert Anbetern war es ihr in allen Tönen versichert worden. Aber keiner von diesen Hundert war der Mann gewesen, dem sie sich hätte zu eigen geben mögen. Der Herzog hatte auf sie gescholten, aber vergebens. Er hatte schließlich an ihrer Stelle für sie gewählt, aber sie, die sonst so gehorsame Toch-
ter, war hier zum ersten Male so muthig gewesen, Widerstand zu leisten. Sie hatte erklärt, daß sie Denjenigen, dem sie ihre Hand geben werde, selbst wählen wolle. Der Vater hatte gezürnt, war aber durch ihre Festigkeit genöthigt worden, ihr nachzugeben. Dann aber war plötzlich ein Umschwung seiner Stimmung eingetreten. Eine Krankheit hatte ihn erfaßt und auf das Lager geworfen; zwar hatte ihm die Kunst der Aerzte das Leben erhalten, aber die Folgen der Krankheit waren nicht zu vermeiden gewesen, sie entwickelten sich zu einer unaufhaltsamen Abzehrung. Der Herzog hatte seinen Jugendkräften zu viel zugemuthet, und jetzt kam die Strafe. Er wurde ernst; er lernte, an das Ende und an das Jenseits denken; er hielt Heerschau über die vergangenen Tage seines Lebens, und er sah, daß die Sünde seine einzige ätigkeit gewesen sei. Da erfaßte ihn bittere Reue. Er dachte an die, welchen er ihre Tugend, ihre Unschuld, geraubt hatte; er gedachte besonders jener Deutschen, die er durch den Teufelstrank gezwungen hatte, sich zu ergeben; er fühlte den Wunsch, ja die heilige Verpflichtung, dieses wieder gut zu machen, und in seinem immer schwächer werdenden Hirn tauchte die Erinnerung eines Tages auf, den er längst vergessen zu haben glaubte. Er war einst im Parke seines Schlosses Olsunna promeniren gegangen, voll untröstlicher Gedanken an seine Vergangenheit und ein sich mit grausamer Sicherheit näherndes Ende. Da hatte es plötzlich in den Büschen geraschelt, und es war ein altes, widriges Zigeunerweib vor ihn hingetreten. »Kennst Du mich, Olsunna?« hatte sie gefragt. Er hatte sie betrachtet, aber keinen bekannten Zug in ihrem durchfurchten Gesicht gefunden. Sie hatte ihn schadenfroh angegrinst und unter hartem Lachen gesagt: »Ja, wir sind beide in Schande alt geworden; Niemand kennt uns mehr!«
»Weib, wer bist Du?« hatte er sie da angedonnert, so daß seine kranke Lunge ihn geschmerzt hatte. »Ich glaube, daß Du Zarba, die Zigeunerin, nicht mehr kennst; aber vergessen hast Du sie sicherlich nicht!« So war ihre Antwort gewesen. Er erschrak, aber er faßte sich und fragte: »Was willst Du von mir?« »Rechenschaft!« rief sie, die braune Rechte erhebend. »Rechenschaft!« sagte er, wie zu sich selbst, im Traume. »Ja, Rechenschaft! O, die habe ich mir bereits längst schon abgefordert. Ich gehe ein, ich sterbe. Mein Leben ist zu kurz, um wieder gut zu machen, was ich that, und ich habe keinen Erben, der um des Vaters willen die Sühne auf sich nimmt.« »Keinen Erben!« lachte Zarba. »Ja, keinen Erben hast Du! Die stolze, edle Familie der Olsunna’s geht zu Grabe; ihr Wappen wird zerbrechen, und ihr Geschlecht stirbt aus. Das ist der Fluch Deiner Jugendsünden. Aber ich will Dir Etwas sagen: Einen Erben hast Du, Du stolzer, schöner Herzog, aber er ist illegitim. Zwar bist Du einflußreich und mächtig, Du könntest ihn legitimiren lassen, Du könntest Dich mit seiner Mutter noch vor Deinem Tode vermählen, denn sie ist Wittwe, aber ich werde Dir nicht sagen, wo sie sich befindet. Das ist die Rache, die ich an Dir nehme!« »Ha!« rief er. »Diese Rache wäre fürchterlich!« »Nicht so fürchterlich, wie Dein Verbrechen war!« »Ich habe ein Kind, einen Knaben?« fragte er. »Ja, einen Knaben, einen Mann, der herrlicher ist als tausend Andere; er ist ein Held an Tugend, an Wissen und an Tapferkeit, aber Du sollst ihn nicht finden!« »Wer ist seine Mutter?« »Jene deutsche Erzieherin, jene Sennora Wilhelmi, welche Du mit Deiner Kantharidentinctur vergiftetest. Sie ging nach Deutschland und fand dort einen braven Mann. Sie ward Wittwe, aber sie erzog
Deinen Sohn zu einem Manne, der würdig ist wie kein Zweiter, die Herzogskrone zu tragen. Suche sie, ja suche sie nur; Du wirst sie niemals finden!« Da hatte er ihr die Hände entgegengestreckt und sie bittend angerufen: »So grausam darfst Du nicht sein! Sage mir, wo er zu finden ist, und ich werde Alles gut machen. Ich will Dir Gold und Steine, ich will Dir Hunderttausende geben, nur sage mir, wo ich diesen Sohn finde!« Sie hatte ihn höhnisch angelacht und war dann im Gebüsch verschwunden; das war ihre Antwort, das war ihre Rache gewesen, aber nur der Anfang derselben. Von dieser Zeit an hatte er keine Ruhe mehr gehabt, keine Ruhe bei Tage und keine Ruhe bei Nacht. Er hatte Boten ausgesandt, Deutschland zu bereisen und seinen Sohn zu suchen. Er hatte mit fieberhafter Ungeduld ihre Berichte erwartet, aber sie waren alle wieder zurückgekehrt, ohne ihre Aufgabe gelöst zu haben. Er wußte den Namen jenes von ihm verführten Mädchens noch, aber er hatte vergessen, aus welcher Gegend Deutschlands sie gewesen war. Er schrieb dem Gesandten seines Landes in Deutschland, aber auch dies war ohne Erfolg, denn Frau Sternau lebte in solcher Abgeschiedenheit bei dem Oberförster, daß man ihre Verhältnisse gar nicht kannte. So verging Monat um Monat. Krankheit und Reue, Ungeduld und Sehnsucht zehrten um die Wette an dem Leben des Herzogs. Und das Allerschlimmste war, daß nun die fürchterliche Zigeunerin sich an seine Fersen heftete und ihm häufig erschien, um ihn zu verhöhnen. So oft er seine Wohnung verließ, begegnete er ihr, und ihre Worte oder ihre Blicke sagten ihm, daß ihre Rache eine unversöhnliche sei und daß er von ihr niemals erfahren werde, wo sich sein Sohn befinde.
Das rieb ihn auf. Die Aerzte riethen ihm eine Veränderung des Ortes; er verreiste; aber kaum war er aus dem Wagen gestiegen, so hielt ein Anderer an, aus welchem ihm das höhnische Gesicht Zarbas entgegengrinste. Da las er von der neu entdeckten Heilquelle in Avranches. Er ließ alle Pracht und allen Glanz hinter sich; er nahm nur seine Tochter und zwei Domestiken mit und reiste nach Frankreich. Diese Reise verzehrte einen großen eil seiner noch übrigen Kräfte, aber er hatte die Hoffnung, von der fürchterlichen Zigeunerin erlöst zu sein. Bereits nach einiger Zeit bemerkte er, daß die Seeluft ihm schade, anstatt ihm zu nützen. Er wurde immer schwächer; es war, als ob der Tod seine kalte Hand bereits nach ihm ausstrecke. Darum dachte er daran, sein Testament zu machen, und daher ließ er den französischen Notar mit drei Zeugen rufen. Von dem Augenblicke an, an welchem er erfahren hatte, daß er einen Sohn habe, war er froh gewesen, daß seine Tochter noch unverheirathet war. Von diesem Augenblicke an hielt er sie von jeder Gesellschaft fern und suchte sie zu verhindern, männliche Bekanntschaften zu machen. Ja er ging noch weiter: er fragte sie, ob ihr Herz noch frei sei, und als sie dies bejahte, so bat er sie inständigst, diese Selbstständigkeit festzuhalten. Den Grund konnte sie nicht erfahren. Noch heute am Vormittage hatte er sie gebeten, ihr Herz zu wappnen und nicht an einen Mann zu denken. »Ich kann Dir den Grund noch nicht sagen,« hatte er gemeint, »aber Du wirst ihn bald erfahren, zu bald vielleicht.« An diese Worte dachte sie, als sie jetzt die Höhe emporstieg. Es war ihr bisher sehr leicht gewesen, den Vater über diesen Punkt zu beruhigen, heute fragte sie sich, ob sie denn wohl nicht im Begriffe stehe, ungehorsam zu werden. Seit einiger Zeit hielt sich ein Badegast hier auf, der sich keinem Menschen anschloß. Er schien weniger aus Gesundheitsrück-
sichten als vielmehr um die See zu studiren, hier zu sein. Er saß halbe Tage lang droben auf der Höhe bei den Weichselbüschen und beobachtete die immer sich neu gebärenden Wogen der See. Zuweilen öffnete er dann sein Skizzenbuch, um dies hehre Bild festzuhalten. Da oben war sie ihm begegnet. Sie hatte auf derselben Bank gesessen, als er herbei kam, und er hatte umkehren wollen, als er sie erblickte. Sie aber hatte ihm zugerufen, seinen Sitz einzunehmen, und war dann selbst gegangen. Später hatten sie sich wieder gesehen und darauf fast alle Tage, wenigstens auf einige Minuten. Sie hatte erfahren, daß er Maler sei, aber nicht nach seinem Namen gefragt. Sie hatten sich unterhalten über Kunst und Wissenschaft, über Alles, was ein Prüfstein für die innere und äußere Bildung des Menschen ist, und sich gegenseitig achten gelernt, ohne einander zu kennen. Er hatte ein schönes, offenes Angesicht, über welches die Schwermuth eines geheimen Leidens ausgebreitet lag. Das erweckte ihr Mitgefühl. Sie begann in seinen Zügen zu forschen; sie traf dabei oft sein Auge, welches mit einem tiefen, klaren Blicke auf ihr ruhete. Sie erröthete; ihr Herz klopfte. Sie fühlte, daß dieser Mann ihr gefährlich sei und daß sie ihn meiden müsse; aber stets, wenn die Stunde kam, in welcher sie ihn oben auf der Höhe wußte, trieb es sie hinaus aus dem Fischerhause und hinauf zu ihm. So auch heute. Der Wunsch des Vaters, das Zimmer zu verlassen, machte es ihr leicht, dem Zuge ihres Herzens Folge zu leisten. Sie schritt dem Orte zu, der ihr so lieb geworden war. Der Vater schritt dem Tode entgegen und ließ sie dann allein. War sie wirklich so allein? War es denn wirklich unmöglich, sich vor einer so traurigen Vereinsamung zu bewahren? Sich selbst und vielleicht auch das Herz? So dachte sie, und dabei schlug ihr Herz immer lebendiger. War das vom Bergsteigen, oder – – –?
Sie blieb stehen, legte die Hand auf den wogenden Busen und athmete tief auf. Es wurde mit einem Male hell und klar in ihr. Sie liebte ihn, sie liebte ihn! Sie, die Tochter eines Herzogs, diesen unbekannten Maler! Welch ein Gedanke! Sie fragte sich, ob sie zurückkehren solle, und doch schritt ihr Fuß immer vorwärts; sie zitterte vor der Begegnung, und doch sah sie ihn bereits vor sich. Er hatte ihr Kommen bemerkt und sich vom Sitz erhoben, um ihr einige Schritte entgegen zu gehen. Er grüßte sie ehrfurchtsvoll; er bemerkte die Röthe ihrer Wangen; er schrieb diese der Anstrengung des Weges zu und sagte: »Sie echauffiren sich, Sennorita, und das ist bei dieser scharfen Seeluft nicht gerathen. Hüllen Sie sich in Ihre Mantille, und nehmen Sie Platz!« Er gab ihr den seidenen Umhang über den Kopf und führte sie zum Sitze. Sie hatte ihn nur mit einer Verneigung gegrüßt; es war ihr unmöglich zu sprechen. Auch er saß neben ihr und hatte lange Zeit den Blick wortlos auf die See gerichtet. Was dachte er? Auf seinen Zügen war kein Wechsel der Gedanken geschrieben, aber seine schweren, fast halb geschlossenen Augenlieder ließen errathen, daß die gegenwärtige Stimmung seines Innern keine glückliche sei. Endlich ließ er das Auge von der See hinweg auf seine schöne Nachbarin gleiten und sagte mit leise vibrirender Stimme, aus welcher sich auf eine innere Erregung schließen ließ: »Sehen Sie diese Wogen, Sennorita! Vorgestern war die See ruhig; gestern gab es Sturm, und heut grollt die Fluth noch immer. Wird sie sich beruhigen? Wird es einen neuen Sturm geben? So ist es im Leben, und so ist es im Herzen. Und wie vielen Genezarethseelen fehlt der Heiland, welcher seine Hand erhebt, um den Sturm zu beschwören!«
Das war ein verfängliches ema; es wäre besser gewesen, nicht zu antworten; sie fühlte das; aber dennoch fragte sie ganz unwillkürlich: »Bedürfen Sie eines solchen Heilandes?« »Ja, ich bedarf seiner!« seufzte er. »Ich auch,« hauchte sie unbedachtsam. »Sie auch? Ja, ich habe es Ihnen sofort, als ich Sie zum ersten Male erblickte, angesehen, daß Sie an einem Leide tragen. Aber tragen Sie es allein? Haben Sie keinen Menschen, der Ihnen diese Last wenigstens zum eile abnehmen könnte?« »Keinen!« antwortete sie. »Das ist traurig! So stehen Sie also einsam in der Welt?« Sie hob den niedergesunkenen Blick zu ihm empor und antwortete: »So kennen Sie mich nicht?« »Sie meinen Ihren Namen? Denn Ihr Herz, Ihr Gemüth, Ihre Seele ist mir nicht unbekannt. Nein, ich kenne Sie nicht.« »Also bin ich Ihnen vollständig unbekannt?« »Ja, vollständig. Ich gehöre nicht zu den Leuten, welche Anhänger der gesellschaftlichen Neugierde sind. Ich stand allein in der Welt, mit einem großen Kummer auf dem Herzen. Der Gram vereinsamt den Menschen; ich zog mich zurück und suchte Trost und Frieden nur am Herzen der Natur. Da erschienen Sie mir. Es war mir, als ob der Glanz eines versöhnenden Gedanken mich umleuchte, und darum floh ich Sie nicht, wie ich Andere fliehe. Ich sah Sie wieder, und ich that einen Blick in Ihr reines, klares Wesen, einen Blick, welcher mir den verlornen Glauben an die Menschheit wieder zurückbrachte. Ich war glücklich in Ihrer Nähe, zum ersten Male glücklich seit langer, langer Zeit. Ich hätte vor Sie niederknieen und Ihnen sagen mögen, daß Sie meine Madonna sind, zu der ich beten möchte. Wenn ich hier auf Sie wartete, so fragte jede Fiber, jede Faser meines Innern, ob Sie auch kommen würden,
und wenn Sie dann nahten, so war meine Seele ein einziges großes Dankgefühl. Sie sind meine Sonne geworden. Ich weiß, daß diese Sonne mir untergehen wird, aber ich werde trotzdem nicht in finstere Nacht versinken, denn den Wahrheitsstrahl Ihrer Augen werde ich nie vergessen; sie werden mir leuchten jetzt und immerdar; sie werden die Sterne sein, welche meine Erinnerung erhellen und mich das Glück im Angedenken genießen lassen, welches mir in der Wirklichkeit versagt ist. Ihre Seele ist mein geistiges Eigenthum geworden, und etwas Anderes als Dies können Sie mir nicht sein. Darum habe ich nicht gefragt, wer und was Sie sind; darum habe ich Sie nicht um Ihren Namen gebeten, und darum habe ich mich nicht einmal erkundigt, wo Sie wohnen.« Er hatte sich in seiner Erregung erhoben; er stand vor ihr mit über die Brust gekreuzten Armen. Es sprühte aus seinen Augen keine versengende Liebesgluth; seine Worte enthielten ja auch nicht eine Liebeserklärung im gewöhnlichen Sinne; aber es lag auf seinem Gesichte eine Helligkeit, eine Verklärung, deren Ursache nicht die Sonne sein konnte, eine Verklärung, welche ihre Strahlen auch auf Flora warf. Ihr Herz bebte, und ihr Busen wogte. Sie hob das Auge zu ihm empor und sagte leise bebend: »Mir ging es ebenso.« Diese Worte durchzuckten ihn wie ein electrischer Schlag. »Auch Ihnen ging es so?« fragte er. »Mit wem? O sagen Sie, mit wem?« »Mit Ihnen,« hauchte sie. Da machte er eine Bewegung, als wolle er sich ihr zu Füßen stürzen, aber er beherrschte sich, wendete sich ab und sandte seinen umflorten Blick weit hinaus auf die See. Dann hob er den Arm und zeigte nach dem Meere. »Sehen Sie da draußen die englische Yacht, Sennorita,« sagte er. »Sie kämpft mit den Wogen und wird doch die schützende Bucht erreichen. Ich aber habe keinen Hafen; ich habe keinen Vater, kei-
ne Mutter; ich habe weder Bruder noch Schwester; ich habe nicht einmal einen Namen, den ich tragen darf; ich bin verfehmt und verflucht und darf es nicht wagen, die Hand nach einem Herzen auszustrecken, welches mir gehören will. Ich bin wie der junge Adler, den die Alten aus dem Neste werfen; denn Anderen gehören die Firnen und der Aether, er aber soll da unten im Abgrunde jammervoll verschmachten. Und selbst wenn er nicht verdirbt, so sind ihm die Schwingen gebrochen, und er hockt einsam und verlassen zwischen den Felsen.« Das war nicht eine leere Tirade, sondern das waren schrille Schmerzensschreie, die aus der Tiefe einer gequälten Brust erschollen. Sie fühlte das; sie ahnte, daß sein Weh ein ungewöhnliches, ein wahres sei, und das Leid macht die Menschen ebenbürtig. Auch sie erhob sich, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Sie sind ein Mann, Sennor; wollen Sie verzweifeln?« »Sehe ich aus wie ein Verzweifelnder?« fragte er mit einem stolzen, aber doch auch wehmüthigen Lächeln. »Nein. Ich wollte sagen zweifeln, anstatt verzweifeln. Sie dürfen sich nicht absondern. Es giebt kein Herz, welches nicht ein anderes fände, und wenn Sie keinen Vater und – – –« »Nein, ich habe keinen, obgleich er noch lebt,« unterbrach er sie in einem Tone, dem man ein tiefes Grollen anzuhören vermochte. »Keinen? Und doch lebt er?« fragte sie. »Wie soll ich das verstehen?« Er zuckte die Achseln; es war, als ob ein tiefer Zorn ihm die Lippen zusammenpressen wolle, aber er besiegte diese Regung, so daß seine nächsten Worte nur bitter erklangen: »O, sehr einfach, Sennorita: Ich bin der verlorne Sohn des Evangeliums. Ich war dem Vater ungehorsam, und darum verstieß er mich. Er verbot mir sogar, seinen Namen zu tragen. Ich führe denjenigen
meiner verstorbenen Mutter, welche dies ihrem einzigen Kinde verzeihen wird.« Seine Augen füllten sich mit ränen; es waren Mannesthränen, welche doppelt tief brennen. Kein fühlendes Weib bleibt dabei ungerührt. »Verstoßen! Unmöglich!« rief Flora. »Sie sind kein verlorner Sohn! Alles glaube ich Ihnen, nur dieses nicht! Eher nehme ich an, daß Sie einen Rabenvater besitzen! Was haben Sie gethan, daß er Ihnen sogar den Namen genommen hat, der Ihr Eigenthum ist, den Sie berechtigt sind, zu tragen?« Es war nicht Neugierde, welche ihr diese Frage dictirte; er wußte das, und darum antwortete er: »Ich bin ein Deutscher. Mein Vater war Offizier und bekleidet jetzt die Stelle eines Oberförsters in Rheinswalden bei Mainz. Ich darf seinen Namen nicht führen, aber nennen kann ich Ihnen denselben; er heißt Kurt von Rodenstein. Er war ein heftiger, strenger, jähzorniger Mann, ob jetzt noch, das weiß ich nicht. Auch ich sollte Offizier werden. Ich besuchte die Kriegsschule. Da entwickelte sich während des Zeichnenunterrichtes ein Talent, welches man mir bisher nicht zugemuthet hatte, und alle meine Lehrer waren einstimmig überzeugt, daß ich zum Maler geboren sei. Sie machten meinem Vater Vorstellungen, und ich vereinte meine Bitten mit ihnen, er aber hörte nicht darauf. Ich sollte und mußte beim Mordhandwerke bleiben, und er drohte mir mit seinem Fluche, wenn ich ihm nicht gehorsam sei. Ich gehorchte, bestand mein Examen und wurde Offizier. Ich that als solcher meine Pflicht, aber während jeder freien Stunde saß ich an der Staffelei. Ich hätte es für eine Sünde gehalten, mein mir von Gott gegebenes Talent nicht auszubilden. Lange Zeit wagte ich mich nicht an die Oeffentlichkeit, endlich aber gab mir das Zureden meines Professors den Muth dazu. Ich fertigte ein Bild und bat den Vater, es zur Ausstellung senden zu dürfen; er verbot es mir. Da überredeten mich
die Freunde, dies dennoch zu thun; sie glaubten, einer vollendeten atsache gegenüber werde der Vater nachgeben müssen; auch ich glaubte es, besonders da alle Kenner überzeugt waren, daß ich mich meines Werkes nicht zu schämen haben werde. Lassen Sie mich kurz sein, Sennorita. Ich sandte es ein, es wurde vom Comité angekauft, und ich erhielt den ersten Preis, zu gleicher Zeit aber auch vom Vater einen Brief, in welchem er mir verbot, die Heimath wieder zu betreten.« »Mein Gott, wie hart, wie grausam!« rief Flora. »Ich richte ihn nicht; er ist mein Vater! Trotz seines Verbotes eilte zu ihm. Ich bat und flehte; ich versprach, niemals wieder ein Bild öffentlich zu zeigen, aber alles dies half nichts; ich hatte in dieser, nach seiner Ansicht hochwichtigen Angelegenheit seinem Befehle entgegengehandelt, ich hatte meinen Offizierscharakter, meine Ehre verleugnet und war unter das verächtliche Volk der Künstler getreten; ich war also seiner nicht mehr würdig. Er verbot mir abermals sein Haus, er verbot mir, seinen Namen zu tragen, und als ich mich nicht sogleich entfernte, ließ er mich durch seine Diener vor das or führen. Da stand ich, wie vom Schlage gerührt. Die Diener weinten, aber sie verschlossen das or; ich klopfte daran, erst leise bittend, dann laut, laut im Grimme – es öffnete sich mir niemals wieder. Ich mußte gehen. Ich kam um meinen Abschied ein und erhielt ihn. Ich warf mich nun der Kunst ganz in die Arme, und sie war nicht so grausam gegen mich wie der Vater; sie schmückte mich mit Ruhm; sie brachte mir Gold und Unabhängigkeit, aber mein Herz blieb erschrocken wie damals, als ich an der ür des Vaterhauses stand, vergeblich wieder Einlaß begehrend, ein ausgestoßenes Menschenkind, welches kein Recht hat auf das Glück dieses Lebens.« Da umfaßte sie in heißer Aufwallung ihrer Gefühle seine Hand und sprach:
»Kein Recht, Sennor? O doch, Sie sind nicht rechtlos. Ein jeder Mensch hat von Gott die Erlaubniß erhalten, glücklich zu sein. Fassen Sie getrost zu! Folgen Sie muthig der Stimme Ihres Herzens! Diese Stimme wird Sie ganz gewiß nicht täuschen!« Er hielt ihre Hand fest und antwortete: »Sennora, wissen Sie, was Sie sagen? Ahnen Sie, was ich thun müßte, um dieser Stimme zu gehorchen?« Sie antwortete nicht, aber der tiefe, warme, vertrauensvolle Blick, mit welchem ihr Auge in dem seinen ruhte, sagte ihm, daß sie es nicht nur ahne, sondern wisse. »Ich möchte Sie, ja Sie, Sennora, an mein Herz nehmen und nimmer, nimmer davon lassen,« fuhr er fort. »Ich müßte Sie festhalten, damit meine Sonne nicht untergehe und meine Sterne mir nicht nur in der Erinnerung, sondern in der Nähe leuchten. Habe ich denn die Erlaubniß dazu, Sennora?« Es traten ihr schwere ränentropfen in die Augen; sie schlang, ihrer nicht mehr mächtig, die Arme um seinen Nacken und antwortete: »Ja, Du heißgeliebter Mann, Du hast das Recht dazu. Ich gebe es Dir, denn ich bin Dein, ich kann nicht anders!« Da drückte er sie an sich, fest und innig, und im lauten Jubeltone rief er aus: »Herrgott, ich danke Dir! Jetzt wird mein Leben licht und hell; jetzt weicht der Alp von mir, welcher auf mir lastete, nicht zentner- sondern bergesschwer! Und mein Erlöser, meine Erlöserin bist Du, Du, die ich liebe mit jedem Gedanken meines Innern, für die ich tausend Leben geben würde und die ich anbete, wie man zu einer Gottheit betet! Sage mir, Du herrliches Wesen, wie ich Dich nennen soll!« »Flora!« flüsterte sie erglühend.
»Flora, meine süße, herrliche Flora, hast Du mich lieb, wirklich lieb?« fragte er, sich zu ihr niederbeugend, in jenem unbeschreiblichen Tone, dessen nur die Liebe fähig ist. »Sehr, o sehr!« lispelte sie. »Und Du willst mein Eigen sein und bleiben, trotzdem der Vater mich verstieß?« »Ich werde Dir ihn und die ganze Welt ersetzen, mein –« »Otto,« ergänzte er. »Mein Otto!« Sie blickte so innig zu ihm auf, ihre Augen waren halb geschlossen und ihre vollen Lippen schwollen ihm gewährend entgegen. Er legte seinen Mund auf sie zu einem langen, langen, heißen Kusse. Sie tranken Seligkeit voneinander und hatten Alles um sich her vergessen, bis ein lauter Kanonenschuß sie aus ihrem Entzücken erweckte. Sie blickten hinab nach der Bucht, wo sich noch das Rauchwölkchen des Dampfes kräuselte. »Siehst Du,« sagte Otto, »die Yacht hat die Bucht glücklich erreicht; sie hat einen braven Kapitän. Auch ich werde nun einen Hafen erreichen und meine Liebe soll der Führer sein, der mich zu demselben leitet. Nur ihr will ich leben, nur ihr und Dir ganz allein!« »So hast Du also gar keinen Menschen, dem Du Dich angeschlossen hättest?« »Nein. Ich habe nicht nach Freunden gesucht. Und doch, einen habe ich, einen einzigen. Und dieser ist ein Freund im vollsten, edelsten und wahrsten Sinne des Wortes.« »Wer ist es, mein Otto? Ich werde ihn auch lieben, aus Dankbarkeit dafür, daß er Dein Freund gewesen ist.« »Er heißt Sternau, Karl Sternau. Wir lernten uns auf dem Gymnasium kennen. Sein Vater war Professor, starb aber bald. Dann ging er zur Universität, ich aber zur Kriegsschule, doch sahen wir uns oft. Unsere Freundschaft hatte zur Folge, daß seine Mutter als
Wittwe zu meinem Vater gerufen wurde, um dessen Hauswesen vorzustehen. Er ist jetzt einer der berühmtesten Aerzte. Er hat fremde Erdtheile bereist und sich mit wilden ieren und Menschen herumgeschlagen; jetzt erkämpft er seine glorreichen Siege mit dem Messer und der Lanzette. Er wird der berühmteste Operateur werden, davon bin ich vollständig überzeugt.« »Weiß er, daß Dein Vater sich von Dir trennte?« »Ja. Er befand sich damals in Algier und ich schrieb es ihm. Als er zurückkehrte, konnte er nichts für mich thun, denn er wurde in Paris festgehalten, aber er schrieb seiner Mutter oft und bat sie, für mich zu wirken. Sie hat den Versuch gemacht, ist aber auf einen so furchtbaren Zorn gestoßen, daß sie fliehen mußte. Vater hat einfür allemal befohlen, mich nie mehr zu erwähnen. Wer es dennoch wagt, es zu thun, der wird augenblicklich fortgejagt. Ob Sternau sich noch in Paris befindet, das weiß ich nicht. Ich war jetzt längere Zeit in Egypten und hielt mich weit oben bei den Nilkatarakten auf, wo eine Korrespondenz sehr erschwert ist.« »Ich möchte ihn wohl einmal sehen.« »Er ist ein herrlicher Mann, hoch und stolz gewachsen. Und wie sein Aeußeres ist, so ist auch sein Inneres. Und ein sonderbares Spiel der Natur muß ich dabei erwähnen. Ihr Beide seht nämlich einander ganz außerordentlich ähnlich. Das fiel mir sogleich auf, als ich Dich zum erstenmale erblickte, und diese Aehnlichkeit mit dem einzigen Freunde, den ich habe, ist es wohl auch gewesen, welche die erste Ursache war, daß ich Dir nicht geflohen bin.« Sie standen Arm in Arm auf der Höhe und konnten die ganze Bucht überblicken. Sie sahen, daß die Yacht Anker warf, und gleich darauf gingen zwei Männer von Bord an das Land. Man konnte die Gesichter nicht erkennen, denn die Beiden hatten sehr breitkrämpige Hüte auf, aber die Gestalten waren deutlich zu sehen. »Schau den Einen,« sagte Otto zu Flora. »Gerade so eine hohe, stolze Gestalt wie er, ist auch Sternau; auch sein Gang ist so si-
cher und elegant. Befände ich mich nicht in diesem abgelegenen Winkel der Erde, so würde ich behaupten, daß dieser Mann kein Anderer sei als Sternau.« Er hatte Recht, die beiden Männer waren Sternau und Helmers. Sie waren gekommen, um Kohlen einzunehmen, und gingen nach der Stadt, um den betreffenden Kauf abzuschließen. Otto von Rodenstein kannte natürlich auch den Steuermann, den jetzigen Kapitän der Yacht »Rosa«, denn dieser wohnte ja in Rheinswalden. Aber die Entfernung zwischen den beiden Paaren war zu bedeutend, als daß eine Erkennung möglich gewesen wäre. Das unerforschliche Schicksal bereitete hier eine jener Begegnungen vor, welche ganz unerwartet eintreten und doch für das Schicksal der Betreffenden von außerordentlichen Folgen sind. Die beiden Liebenden saßen noch lange droben auf der Bank und flüsterten ganz glücklich sich jene Fragen, Antworten, Betheuerungen und Versicherungen zu, welche bei ihnen solche Bedeutungen haben, während ein Dritter dazu lächeln würde. Endlich entwand Flora sich den Armen des Geliebten und sagte: »Verzeihe, Otto, meine Zeit ist bereits längst abgelaufen, und mein Vater wird mich mit Sehnsucht erwarten.« »Dein Vater ist hier?« fragte er. »Nicht auch Deine Mutter, mein Leben?« »Nein. Ich habe nur den Vater. Und,« fügte sie mit einer plötzlich hervorquellenden räne hinzu, »ich werde ihn nicht lange mehr haben, vielleicht nur noch wenige Tage.« »Mein Gott, er ist krank?« fragte Otto erschrocken. »Ja, sehr,« weinte sie. »Er ist zum Tode krank.« »Vermögen die Aerzte nichts zu thun?« »Gar nichts, denn er leidet an Schwindsucht, welche unheilbar ist.« »An Auszehrung! Eine fürchterliche Krankheit, in welcher der Patient mit vollem Bewußtsein den Tod Schritt um Schritt sich
nähern sieht! Wie bedaure ich ihn und Dich, mein Herz! Wäre ich ein Arzt, so stellte ich mich an die Seite des Krankenbettes, um mit dem Tode zu kämpfen mit allen Mitteln der Wissenschaft! Aber da fällt mir ein, wir sprachen ja von Sternau. Kann ein Mensch helfen, so ist er es. Ich werde sofort an seine Mutter schreiben und mir seine Adresse geben lassen. Nein, ich werde telegraphiren, und ihn dann telegraphisch herbeirufen.« »Es ist zu spät, Otto! Ach, während ich hier an Deinem Herzen die Wonnen der Liebe genoß, liegt mein Vater bereits auf dem Sterbelager, und der Notar ist bei ihm, um das Testament aufzusetzen! Welch’ eine schlechte Tochter bin ich!« »Tröste Dich! Auch die Liebe hat ihre unveräußerlichen Rechte, selbst in so ernsten Stunden. Ich werde aber jedenfalls telegraphiren und zwar sogleich.« »Wird Sternau aber kommen?« »Sicher! Er wird Alles im Stiche lassen, um die Bitte des Freundes zu erfüllen. Ich eile. Aber mein Herz, darf ich Deine Wohnung wissen? Ich möchte in diesen trüben Stunden nicht von Deiner Seite weichen.« »Ich danke Dir, Du Guter!« antwortete sie. »Wahrlich, ich bedarf des Trostes, und doch darf ich Deinen Wunsch nicht erfüllen. Meine Wohnung sollst Du wissen; sie ist im Hause des Schiffers Jean Foretier; aber Deine Gegenwart ist dort noch nicht möglich.« »Warum, Flora?« Sie blickte sinnend zur Erde; dann erhob sie das Auge zu ihm und fragte: »Hast Du Vertrauen zu mir, Otto?« »Ja,« antwortete er mit einem Blicke voller Aufrichtigkeit; »ich vertraue Dir aus voller, ganzer Seele.« »So erfülle mir meine erste Bitte: Frage mich jetzt noch nicht, wer ich bin; erkundige Dich auch nicht in der Stadt nach uns! Du sollst es bald erfahren, aber nur aus meinem eigenen Mund. Es
bangt mir, es Dir zu sagen, denn ich fürchte, Dich dann doch noch zu verlieren. Aber glaube mir, der Grund liegt in Dir und nicht in mir. Ich habe mich meiner Verhältnisse nicht zu schämen, ja ich bin überzeugt, daß sie Deinem Vater reichlich Veranlassung geben werden, seine Härte zu bereuen und sich mit Dir auszusöhnen. Willst Du?« »Ja,« nickte er. »Du hast den Ausgestoßenen an Dein reines Herz genommen; und ich werde nicht fragen, sondern ruhig warten, bis Du selber sprichst. Aber wenn Sternau kommt, darf ich ihn zu Euch senden?« »Ja, sogleich. Wir treffen uns wie immer hier. Ich werde, wenn es mir möglich ist, niemals fehlen. Jetzt, lebe wohl, mein Geliebter!« »Lebe wohl, mein Engel, mein Trost, mein Glück, mein Ein und Alles auf der Erde!« Eine lange, heiße Umarmung vereinte ihre Herzen, welche warm aneinander schlugen; noch ein Kuß, noch einer und abermals einer, dann trennten sie sich. Sie schritt den Berg hinab, und er stand oben, um ihr nachzublikken, so lange er sie zu sehen vermochte; dann ging er in die Stadt und zwar direct nach dem Telegraphenamte. Dort gab er seine an Frau Sternau gerichtete Frage auf, fügte seine Adresse bei und bat um sofortige Beantwortung. Sein Herz war zum Zerspringen voll; er fühlte ein Glück, eine Wonne, wie noch nie in seinem Leben. Er hielt die ganze Welt nicht für würdig, den Strahl der Seligkeit auf seinem Gesichte zu sehen; er ging nach seinem Gasthaus und schloß sich in seinem Zimmer ein. Dort öffnete er seine Mappe und nahm ein Blatt heraus. Er lehnte es auf dem Tische gegen die Wand, so daß der Strahl des Lichtes voll darauf fiel. Es enthielt das Porträt Flora’s. Es war zum Sprechen getroffen. Das war ihr reiches Haar, ihre reine, hohe Stirn, die sanft gebogene Nase, die großen, sprechenden Augen, das volle lieblich geschweifte Lippenpaar, der schön aufgesetzte Hals,
die volle, schwellende Büste. – Er trat mit verschlungenen Armen einen Schritt zurück, betrachtete das Bild mit strahlender Miene und sagte, als ob das Original vor ihm stände: »Ja, so bist Du, meine Flora! So habe ich Dir im Stillen einen Cultus errichtet, ohne daß Du es ahnen solltest, und nun bist Du doch mehr als blos im Geiste mein geworden. Deine Liebe hat mich gefangen genommen; sie umweht mich wie ein magisches Fluidum; sie leuchtet in das Dunkel meines Lebens hinein; nicht ernst und düster wie ein Nordlicht, sondern warm, freundlich und erlösend wie der belebende Blick der Morgensonne. Du giebst mir meinen Gott, meinen Glauben, mein Vertrauen wieder, und darum sollst auch Du an mich glauben und mir vertrauen dürfen, trotzdem ich Dich noch nicht kennen darf!« Es war dem Glücke ein braver Mensch zurückgewonnen. Die Liebe kommt von Gott, darum führt sie auch zu Gott. Sie ist die Tochter des Himmels, ohne welche unsere Erde ein Jammerthal sein würde. Der Tag verging; es wurde Abend, ja es wurde Nacht. Bereits war es im Gasthofe still geworden; es hatte sich Alles zur Ruhe begeben. Nur Otto wachte; er erwartete mit fieberhafter Ungeduld die Beantwortung seiner Anfrage. Die Minuten wurden ihm zu Stunden; da endlich, endlich läutete unten die Hausglocke. Der Portier öffnete, und gleich darauf trat der Bote des Telegraphenamtes ein. Otto fertigte den Mann schnell ab und öffnete dann, als sich der Bote entfernt hatte, das Couvert. Er las die wenigen Worte und ließ dann die Hand, welche die Depesche enthielt, entmuthigt sinken. Die Antwort lautete: »Mein Sohn ist in England. Wo, weiß ich nicht. Kehrt erst nach langer Zeit zurück.« Das war ein harter Schlag für den Maler, der gehofft hatte, in dem Freunde einen Retter für den Vater der Geliebten zu finden. Es trieb ihn mit bangen Schritten im Zimmer auf und ab; er konn-
te keine Ruhe finden und suchte erst mit dem grauenden Tage sein Lager auf. Darum war es sehr spät, als er erwachte. Er erhob sich, machte Toilette und ging in die Gaststube hinab, um sich den Morgenkaffee geben zu lassen. Es war nur ein einziger Gast zugegen; er trug Seemannskleider und saß vor einem großen Glase Rum. Als Otto ihn erblickte, traute er seinen Augen kaum. »Ist es möglich!« rief er. »Helmers, Steuermann Helmers! Sehe ich recht?« Helmers erhob sich, ebenso überrascht, wie es der Sprecher war. »Herr von Rodenstein!« rief er. »Herr Otto! Ja, ich bin es. Welch’ ein Zusammentreffen!« Sie eilten auf einander zu und schüttelten sich die Hände. »Was thun Sie hier in Avranches, hier in diesem Hause?« fragte der Maler. »Hier in diesem Hause habe ich heut Nacht geschlafen; hier in diesem Zimmer trinke ich soeben ein Glas Rum, und hier in Avranches will ich Kohlen einnehmen, damit meine Yacht weiter dampfen kann.« »Ihre Yacht? So sind Sie gestern Nachmittage hier angekommen?« »Ja.« »So hätte ich mir meine Depesche ersparen können!« »Welche Depesche?« »Ich telegraphirte an Frau Sternau, um zu erfragen, wo sich Doctor Sternau befindet.« »Ach wunderbar! Was antwortete sie?« »Daß er wahrscheinlich in England sei, sie weiß aber nicht, wo. Ich sah die Yacht in die Bucht laufen. Hätte ich gewußt, daß Sie an Bord waren, so wäre ich mit Dampfesgeschwindigkeit den Berg heruntergerannt.« »Den Berg? Ah, Sie standen oben auf der Höhe?«
»Ja.« »Sapperlot, das hätte ich wissen sollen! Wir sahen einen Herrn und eine Dame – –« »Das war ich!« »Die hatten sich gepackt und umschlungen als ob kein Mensch in der Nähe wäre.« »Ja,« wiederholte Otto lächelnd, »das war ich. Wir sahen, als die Yacht kaum Anker geworfen hatte, zwei Männer an das Land und in die Stadt gehen.« »Das war ich.« »Und der Andere?« »Ha!« antwortete Helmers mit einem fröhlichen Spiele seiner Mienen; »das war der Eigenthümer der Yacht.« »Er war grad’ wie Sternau gebaut.« »Glaube es. Er heißt auch so!« »Was! Wie!« rief Otto rasch. »Das ist doch nur ein Zufall!« »Nein,« meinte Helmers mit einem lustigen Augenzwinkern; »der Name eines Mannes ist niemals Zufall. Ein Zufall ist es eher, daß wir grad’ hier in Avranches Kohlen einnehmen. Wir hätten dies auch in Cherbourg, Morlaix oder Brest thun können. Aber jedenfalls ist es nun nicht nöthig, daß Sie den Herrn Doktor Sternau in England suchen.« »Mein Gott! Ist’s wahr? Ist er hier, er selbst?« »Freilich!« lachte Helmers. »Die Yacht ist ja sein.« »Wo ist er? Schnell! wo finde ich ihn?« »Auch er wohnt hier im Hause. Er ist erst spät schlafen gegangen und wird wohl noch im Bette – – o nein, da kommt er ja!« In diesem Augenblicke hatte sich die ür geöffnet, und Sternau trat ein. Er erkannte den Freund, der ihm entgegen eilte, sofort und öffnete seine Arme, ihn zu empfangen. »Otto, Du hier!« fragte er.
»Ja, Karl. Welch’ ein Zufall! Welch’ ein Glück! Ich habe gestern nach Dir telegraphirt und heut’ trittst Du hier ein. Das muß Gottes Schickung sein!« »Du wohnst in diesem Hause?« »Ja.« »So hättest Du mich bereits gestern sehen können.« »Ich habe dies bereits von Helmers erfahren. Aber es soll Alles nachgeholt werden, denn es ist noch Zeit genug vorhanden. Komm mit auf mein Zimmer, wir haben uns sehr viel zu erzählen!« »Gewiß, Otto, jedenfalls aber ich Dir mehr, als Du mir.« Sie zogen sich aus dem nicht verschwiegenen Gastzimmer zurück, so daß Helmers nun in der sehr angenehmen Lage war, noch einige Rums trinken zu können. Als Flora gestern von ihrem Ausgange zurückkehrte, fand sie den Vater schlafend. Der Notar hatte ihn mit den drei Zeugen soeben verlassen, und die lange Konferenz hatte ihn so angestrengt, daß der Schlummer sofort wieder Gewalt über ihn bekommen hatte. Sie zog sich leise zurück, um zu warten, bis er erwachen und nach ihr klingeln werde. Dies geschah erst am spätesten Abend, als Mitternacht bereits nahe war. Sie eilte zu ihm und fand ihn aufrecht auf der Chaiselongue sitzend; ein großes, versiegeltes Schreiben lag auf der Decke vor ihm. Sie eilte auf ihn zu und liebkoste ihn. »Wie befindest Du Dich, mein Vater?« fragte sie. »Ich danke Dir, mein Kind,« antwortete er. »Ich habe einen sehr guten Schlummer gehabt, und es ist mir leichter und wohler als lange Zeit vorher. Dies mag wohl auch mit daher kommen, daß ich eine heilige Pflicht erfüllt habe. Die Pflichterfüllung giebt dem Menschen immer Ruhe und neue Kraft.« Sein Blick ruhte auf dem Schreiben; auch ihr Auge fiel auf das große Notariatssiegel, und sie schauderte. Er bemerkte es und sagte, matt lächelnd:
»Der Anblick dieses Dokumentes ist Dir unangenehm? Wie unangenehm wird Dir erst sein Inhalt sein! Und doch mußt Du ihn erfahren und zwar noch heute, jetzt gleich. Komm, meine Tochter, setze Dich und höre mir zu!« Sie gehorchte diesem Befehle und setzte sich neben ihn, aber es standen ihr bereits die ränen in den Augen. »Ahnst Du, was dieses Schriftstück enthält?« fragte er. »Ja,« antwortete sie leise. »Was ist es?« »Dein – Dein – o Papa, ich mag das Wort gar nicht aussprechen!« »Meinst Du mein Testament, Flora?« »Ja, mein Vater,« antwortete sie, jetzt bereits laut schluchzend. »Du hast recht gerathen, mein Kind,« sagte er, »aber weine nicht! Man kann an sein Ende denken, ohne den Tod nahe zu wissen. Will es Gott, so wirst Du mich noch lange nicht verlieren, aber ich habe gefühlt, daß es meine Pflicht ist, an die Zukunft zu denken und meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.« Sein Husten unterbrach ihn und übertäubte auch das leise Weinen der Tochter, dann fuhr er fort: »Dieses Testament lege ich in Deine Hände nieder, Flora. Ein Duplikat davon liegt bei dem Notar, der es angefertigt hat. Schwöre mir, daß Du nach meinem Tode alle darin getroffenen Bestimmungen erfüllen wirst! Willst Du?« »Papa,« schluchzte sie, »es bedarf des Schwures nicht, aber wenn es Dich beruhigt, so will ich hiermit schwören, daß Dein Wille bis an das Kleinste befolgt werden soll!« »Auch dann, wenn dieser Wille für Dich ein harter, unväterlicher zu sein scheint?« »Auch dann, Papa. Ich weiß, er wird nur hart scheinen, aber nicht hart sein. Du liebst Dein Kind und wirst mich nicht unglücklich machen.«
»Ich danke Dir! Und nun trockne Deine ränen, denn ich habe mit Dir zu sprechen; ich will Dir die Härten, welche mein Testament für Dich enthält, erklären; ich will Dir erzählen, ich will – ja, mein Kind, Dein Vater will Dir – – beichten!« Sie sollte ihre ränen trocknen, aber dies gelang ihr nicht. Ihr Vater wollte – beichten. Wie dieses Wort so fürchterlich klang! War er ein Verbrecher? Warum wollte er sich gerade vor seinem Kinde demüthigen? Er wartete geduldig die lange Zeit, welche sie brauchte, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Dann begann er: »Mein Kind, ich habe eine große, eine schwere Sünde auf dem Gewissen. Du hast einen Bruder, ohne daß ich Dir von ihm gesagt habe. Kannst Du mir dies verzeihen?« Anstatt zu erschrecken, blickte sie in freudigem Staunen zu ihm hin. »Einen Bruder!« sagte sie. »Ist das wahr, Papa?« »Ja.« »O, da habe ich Dir ja nichts zu verzeihen! Du wirst Deine weisen Gründe gehabt haben, seine Existenz geheim zu halten. Du erfreust mich mit dieser Nachricht außerordentlich, anstatt mich zu betrüben!« »Deine Worte nehmen eine schwere Last von meiner Seele, Flora, aber ich muß leider bekennen, daß es nicht weise Gründe waren, welche mir Schweigen auferlegten. Ich selbst wußte bis vor einiger Zeit von dem Dasein dieses Sohnes nichts. Er ist nicht ein Sohn Deiner Mutter, er ist der Sohn einer Anderen; er ward geboren, als Deine Mutter bereits längst todt war; er ist ein – illegitimes Kind.« Es wurde dem Kranken schwer, dieses Bekenntniß auszusprechen, und Flora erröthete, als ob sie selbst es von sich abgelegt hätte. Aber sie erkannte den Ernst dieser Mitternachtsstunde und sagte mild:
»Papa, er ist dessenungeachtet mein Bruder und ich werde ihn herzlich lieben. Wo befindet er sich?« »O, wenn ich das wüßte!« »Du weißt es nicht? Aber wo ist seine Mutter, Papa?« »Auch dieses habe ich nicht erfahren können; aber sie ist Dir bekannt, mein Kind. Es ist nämlich Sennora Wilhelmi, welche einst für kurze Zeit Deine Erzieherin war.« Das Gesicht Flora’s zeigte eine vollständige Bestürzung. Sie brauchte Zeit, sich von derselben zu erholen, dann sagte sie: »Meine liebe, gute Wilhelmi? Mein Gott, was mag sie gelitten haben!« »Ja,« nickte er voll Reue. »Und was mag sie noch leiden! Aber sie soll entschädigt werden. Vorher jedoch will ich Dir Alles erzählen. Höre, meine Tochter!« Es mag einem Vater schwer werden, einem reinen, unverdorbenen Kinde einen Einblick in seine Jugendsünden thun zu lassen. Auch dem Herzoge wurde es nicht leicht, aber er besiegte alle Zurückhaltung und alles Bedenken und erzählte Flora von seinem wüsten Leben, von Cortejo’s Verführungen, von jener Maskerade, während welcher er Sennora Wilhelmi zum ersten Male gesehen hatte. Er erzählte ihr aufrichtig, wie er sie in sein Haus gelockt und mit jenem teuflischen Mittel überwunden habe. Er verschwieg ihr auch nicht, daß sie dann fortgegangen sei, ohne eine Unterstützung von ihm zu erhalten, so daß sie also, wie er noch jetzt meinte, ohne alle Subsistenzmittel gewesen sei. Auch über sein späteres Leben sprach er, über die Zigeunerin, die ihn zuerst auf das Vorhandensein eines Sohnes aufmerksam gemacht habe, und über die Reue, von welcher er nun ergriffen worden sei. Diese Reue war so aufrichtig, so tief und wahr, sie sprach sich so in seinen Worten, seinen Geberden und seinen ränen aus, daß Flora auf das Tiefste davon ergriffen wurde. Als er geendet hatte, fragte sie schluchzend:
»Glaubst Du nicht, Papa, daß diese fürchterliche Zarba Dich belogen hat?« »Nein; sie hat die Wahrheit gesprochen.« »So müssen wir Alles thun, um meinen Bruder aufzufinden. Ist er wirklich so ein Mann, wie sie gesagt hat, so brauchen wir uns seiner ja nicht zu schämen, und lebt er in Armuth und Elend, so ist es ja noch viel mehr unsere Pflicht, ihn zu erretten und an die ihm gebührende Stelle zu setzen.« »Aber,« fragte er, »denkst Du dabei auch an die Verluste, welche Du erleiden wirst, an die schweren Opfer, welche Du zu bringen hast?« »Nie, Vater, daran denke ich nicht,« antwortete sie aufrichtig. »Das Alles wird für mich kein Opfer sein. Ich werde einen Bruder haben, dem meine Liebe gehört; das wiegt Alles auf. Wir müssen die Nachforschungen von Neuem beginnen!« Seine matten Augen leuchteten bei diesen Worten auf, welche eine so schwesterliche Großmuth bekundeten. Das hatte er nicht erwartet. Er sagte: »Und doch ist es Pflicht, Dich über jedes aufzuklären, Flora. Wenn ich keinen Sohn habe, so gehört Dir nicht nur mein vollständiges Erbe, sondern auch mein Rang und Titel. Nach spanischen Gesetzen bist Du nach meinem Tode Herzogin, und Dein erster Sohn erbt die Herzogskrone der Olsunna’s, mag Dein Gemahl immer heißen, wie er wolle. Auf dieses Erbe und diese Krone verzichtest Du für Dich und Deine Nachkommen, wenn Du nach dem Bruder suchst, der ja auch jünger ist, als Du.« »Das ist erstens meine Pflicht, und zweitens thue ich es gern, Papa. Diese Frage ist ein für allemal entschieden.« »Gott sei Dank!« seufzte er nun endlich erleichtert. »Es wird sich also die große Besorgniß, welche mich in letzter Zeit so peinigte, nicht erfüllen; Du wirst meinem Andenken, wenn ich gestorben sein werde, nicht fluchen, mein Kind?«
Da legte sie die Arme um ihn, küßte ihn auf die bleichen Lippen und rief: »Was denkst Du von mir, mein Vater! Du weißt doch, wie sehr ich Dich liebe. Was Du gefehlt hast, das darf ich nicht richten, denn ich bin Deine Tochter, ich bin ja selbst sünd- und fehlerhaft. Dein Gewissen und Gott sind Deine einzigen Richter, und unsere Religion lehrt, daß Gott die Liebe sei; er zürnt nicht ewig. Du hast den Willen, Alles zu sühnen, und ich gebe Dir mit Freuden die Hand dazu. Ich versichere Dich, daß mir dies nicht schwer fällt, ja, ich fühle vielmehr eine unendliche Freude, so unerwartet ein brüderliches Herz zu finden, dem ich meine Liebe widmen darf. Handle ganz so, wie Deine Reue es Dir eingiebt; ich bin ja ganz gern mit Allem einverstanden!« Er drückte sie an sich und weinte, der früher so stolze und starke Mann. »Meine Tochter, meine liebe, gute Tochter!« sagte er. »Gott wird Dir es lohnen, daß Du so nachsichtig mit mir bist! Nun aber weißt Du auch, warum ich in letzter Zeit so froh war, Dein Herz noch frei von Liebe zu wissen. Du wirst auf das Glück der Ehe verzichten müssen. Alles, was ich habe, gehört dem Sohne, und es steht ganz in seinem Belieben, wie viel er Dir abtreten will. Eine Rente und eine Aussteuer hast Du zwar zu fordern, doch, wenn ich sterben sollte, nur von ihm. Dein mütterliches Erbtheil beträgt nur zwei Millionen, es gehört zwar unbeschränkt nur Dir, aber Du siehst ein, daß es zu wenig ist, eine standesgemäße Ehe zu schließen.« Da lachte sie trotz des Ernstes des Augenblickes hell auf und sagte: »Nun, so schließe ich eine nicht standesgemäße Ehe. Dazu werden die zwei Millionen gewiß hinreichend sein!« Er blickte sie forschend an. »Flora,« fragte er dann besorgt, »Du hast mir Etwas verheimlicht?«
»Nein, Papa,« antwortete sie; »aber es ist gestern Etwas geschehen, was ich Dir ganz offen erzählen muß.« Bei diesen Worten bedeckte eine tiefe Gluth ihre Wangen, so daß er ausrief: »Kind, Du liebst!« »Ja,« gestand sie. »Ich liebe, Papa, und Den, welchen ich liebe, gehört mein Herz und mein ganzes Leben. Ich werde sein Weib, und keines Anderen!« »Wer ist es?« »Er ist ein Künstler, ein deutscher, berühmter Maler, zwar von Adel, aber nur mit einem ganz einfachen »Von«. Ich gestehe Dir sogar, daß er seiner Kunst wegen von seinem Vater verstoßen wurde.« Der Herzog schwieg. Seine Augen schlossen sich, und sein Kopf sank leise in das Kissen zurück. So lag er lange, lange wortlos da. Was mochte er denken, er, der Herzog, dessen Tochter ihm gestand, daß ihre ganze Liebe einem armen, von seinem Vater verstoßenen Maler gehöre! Flora beobachtete die Mienen des Vaters, aber es zeigte sich in seinem eingefallenen Gesichte nicht ein einziger Zug, welcher seine Gedanken verrathen hätte. Da wurde es ihr angst. Es war, als ob er todt vor ihr daläge, gestorben vor Schreck über die ebenso unerwartete wie erschütternde Mittheilung, welche sie ihm gemacht hatte. Das preßte ihr abermalige ränen aus; ihr kindliches Herz zitterte, und sie sagte stockend: »Papa, er ist ein Sohn ohne Vater, ganz wie der Deinige. Wenn Du es haben willst, so werde ich dieser Liebe entsagen!« Es verging abermals eine Weile, dann öffnete er die Augen und antwortete: »Mein Kind, ich habe soeben einen schweren Kampf durchkämpft, einen Kampf mit meinem Rechte und den Ansichten unseres hohen Standes, und ich habe – gesiegt. Die Tochter des
Herzogs von Olsunna liebt einen obscuren Edelmann, einen von seinem Vater Verstoßenen! Du wirst glauben, daß dieses Geständniß mich erschüttert hat. Ich sehe darin eine wohl verdiente Strafe für mich, denn ich habe die Liebe einer gewöhnlichen Erzieherin, die Liebe von sogar noch tiefer stehenden Mädchen besessen und – betrogen. Meine Liebe war unlauter, die Deinige aber ist rein. Du hast mir Deine Hand geboten und Opfer gebracht, um den Sohn der Erzieherin zu Deinem Bruder zu machen; es wäre grausam und undankbar, wenn ich Dir Dein Herz brechen wollte. Ich stehe am Rande des Grabes; da rechnet man mit anderen Faktoren als im vollen, frischen Leben. Ich sehe den Menschen, aller äußeren Würden, alles falschen Glanzes entkleidet, den ihm eine zufällige Geburt verleiht, ich taxire jetzt mit dem Auge Gottes, vor dem nicht der Rang, sondern nur die Eigenschaft des Herzens gilt, und so will ich Dir denn meine Antwort sagen: Der Name Olsunna darf nicht aussterben; die Traditionen unseres Geschlechtes müssen erhalten und fortgeführt werden; bleibst Du die einzige Trägerin dieses Namens, so bist Du gezwungen, eine standesgemäße Ehe einzugehen, und Dein erster Sohn wird Herzog von Olsunna werden; findet sich aber Dein Bruder, so habe ich ihn in meinem Testamente zu meinem Nachfolger ernannt. In den Händen des Notares befindet sich ein Gesuch an den Herrscher Spaniens, welches zur Folge haben wird, daß man ihn anerkennt; wenigstens hoffe ich das. Diese Anerkennung stände außer allem Zweifel, wenn ich länger leben und die einstige Erzieherin nachträglich zu meinem Weibe machen könnte. Bleibt diese Anerkennung aus, so bist Du die Erbin der Olsunna’s und hast Deine Pflicht zu thun, wird sie aber nicht verweigert, so gebe ich Dir hiermit die Erlaubniß zur Verbindung mit dem Geliebten, vorausgesetzt, daß er beweist, daß er ein Ehrenmann ist, der nur unschuldigerweise von seinem Vater verstoßen wurde.«
Diese lange Rede war oft durch längere Hustenanfälle unterbrochen worden. Als er jetzt schwieg, knieete Flora vor seinem Lager nieder, benetzte seine hageren Hände mit ränen des Schmerzes und der Freude zugleich und schluchzte: »Dank, tausend Dank, mein lieber, nachsichtiger Vater! Dein Wille soll mir als unumstößliches Gesetz gelten, aber ich versichere Dich, daß Otto ein Ehrenmann ist. Ich bitte Dich, Dir ihn vorstellen zu dürfen! Prüfe ihn, und sei überzeugt, daß er diese Prüfung vollständig bestehen wird!« »Ich hoffe es, mein Kind! Jetzt aber gönne mir nun die Ruhe, deren ich bedarf! Ich habe mir doch zu viel zugemuthet und bin sehr müde. Schlafe wohl, Flora, und bitte Gott, daß er Alles zum Besten lenke und Deinem Vater vergebe, was er gefehlt und verbrochen hat!« Sie trennten sich. Flora fand keinen Schlaf; ihre Erregung war zu groß, und die widerstreitendsten Gefühle ihres Herzens stürmten auf sie ein. Es ging ihr wie dem Geliebten; sie fand erst gegen Morgen die nöthige Ruhe und erwachte erst dann, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Eine Stunde später saß sie wieder beim Vater. Draußen auf der Bank vor dem Hause saß abermals der Schiffer und strickte an seinem Netze. Da hörten sie nahende Schritte, und dann fragte eine tiefe, sonore Stimme: »Hier wohnt der Schiffer Jean Foretier?« »Ja, mein Herr,« antwortete der Gefragte. »Ich bin es selbst.« »Ich danke!« Man hörte, daß der Frager in den Flur trat und an die ür klopfte. Auf das »Herein« Flora’s trat ein junger Mann ein, dessen hohe Figur einem Riesengeschlechte entstammt zu sein schien. Er war von einer ungewöhnlichen männlichen Schönheit, und der tiefe Ernst, welcher auf seiner Stirn thronte, wurde durch den mil-
den Blick seines Auges und das freundliche Lächeln seiner vollen Lippen angenehm gemildert. »Verzeihen Sie meine Kühnheit!« bat er mit einer tiefen Verbeugung. »Man hat mir gesagt, daß ich in diesem Hause einen Patienten finden werde.« »Zu wem sind Sie gewiesen worden?« fragte der Herzog. »Man konnte mir keinen Namen nennen, denn er war dem Freunde, welcher mich sendet, selbst unbekannt.« Da erhob Flora sich rasch. »Ah, bitte, mein Herr, wie ist Ihr Name?« »Ich nenne mich Sternau.« »Sternau! Ah, Doktor Sternau! Sie sind hier infolge der Depesche Ihres Freundes! Doch nein, so schnell kann dies doch nicht gehen!« »Allerdings nicht,« lächelte Sternau. »Ich bin der Besitzer der Yacht, welche gestern hier eingelaufen ist, und ich befand mich in Avranches, ohne daß der Freund es ahnte. Er telegraphirte gestern nach mir und erhielt während der Nacht die Benachrichtigung, daß mein gegenwärtiger Aufenthalt nicht angegeben werden könne, und es war eine eigenthümliche Schickung, daß wir uns heute Morgen trafen.« »Das ist mehr als seltsam, das ist fast, als ob es der Wille Gottes sei!« meinte Flora. »Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie Platz, und erlauben Sie mir, Vater den Zusammenhang zu erklären! Ich habe ihm noch nicht gesagt, daß zwischen Otto und mir die Rede von Ihnen gewesen ist.« Sternau setzte sich und Flora erzählte dem Herzoge den Zusammenhang. Dieser hatte den Arzt mit einem seltsamen Blicke betrachtet. Als die Tochter mit ihrem Berichte zu Ende war, sagte er mit mattem Lächeln: »Das ist allerdings ein mehr als eigenthümliches Zusammentreffen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Sternau, daß Sie sich zu
mir bemüht haben. Aber ich befürchte, daß die Kunst selbst des berühmtesten Arztes an meiner Krankheit scheitern wird; sie ist bereits zu weit vorgeschritten, und die Aerzte, welche mich bisher behandelten, haben mich Alle aufgegeben.« »Unsere Kunst und unsere Wissenschaft ist allerdings schwach, dem Willen Gottes und den Kräften der Natur gegenüber,« antwortete Sternau; »jedoch giebt Gott uns oft einen Fingerzeig, dem wir zu gehorchen haben. Der Arzt hat die Pflicht, sein Wissen zu bereichern, sich in seiner Kunst zu üben und seine Erfahrungen zu vermehren; aber sein ganzes Wirken soll nur darauf gerichtet sein, das Vertrauen auf Gott zu lenken und die Selbstheilkraft der Natur anzuregen und zu unterstützen. Dann wird er sich segensreicher Erfolge zu erfreuen haben.« Das waren allerdings Anschauungen, wie man sie bei den meisten Aerzten nicht findet. Der Herzog ebenso wie seine Tochter blickten mit Ueberraschung auf den Sprecher. Der Erstere warf einen Blick der Hochachtung, in welchen sich noch ein eigenartiger Glanz mischte, auf Sternau, und die Letztere sagte: »Sie sprechen mir aus dem Herzen. Gott giebt uns zuweilen einen Fingerzeig. Sollte Ihre unvermuthete Anwesenheit nicht auch ein solcher sein?« »O,« antwortete der Gefragte, »es kommt mir nicht in den Sinn, mich als Werkzeug Gottes zu präsentiren, aber ich gestehe aufrichtig, daß ich während meiner Reisen und meiner Praxis zahlreiche Erfahrungen gesammelt habe in Beziehung auf das Leiden, mit welchem wir es, wie es scheint, hier zu thun haben. Man darf sich dem Ausspruche der Aerzte nicht unbedingt überlassen. Es giebt bei einem Krankheitsbilde so zahlreiche und oft verwickelte Umstände zu berücksichtigen, daß es kein Wunder ist, einmal in einen Irrthum zu verfallen. Ich zum Beispiele habe bereits jetzt die Ueberzeugung, daß unser Patient nicht an Phthisis, nicht an Auszehrung leidet.«
Der Eindruck dieser Worte auf den Kranken und seine Tochter war ein gewaltiger. »Nicht, wirklich nicht?« fragte Flora erregt. »Nicht Verzehrung?« rief der Herzog, indem er sich mit einer Kraft aufrichtete, als ob er ein Jüngling sei. »Nein,« antwortete Sternau. »Die Verzehrung hat ihre ganz eigenthümlichen Erkennungszeichen, und eines dieser Zeichen fehlt in Ihrem Auge. Fast möchte ich Sie ersuchen, sich mir auf fünf Minuten zu einer eingehenden Untersuchung anzuvertrauen.« »Papa, thue es; ich bitte Dich inständigst!« sagte Flora, indem sie sich zu gleicher Zeit erhob, um zu gehen und den Patienten mit dem Arzte allein zu lassen. »Ihre Worte sind sehr kühn,« sagte der Herzog, »aber wenn man Ihnen in das Auge schaut, kann man nicht anders, als Ihnen vertrauen. Wollen Sie mich untersuchen?« »Gewiß; ich bat Sie ja bereits darum!« »So stelle ich mich Ihnen zur Verfügung.« Der Herzog entfernte alle hinderlichen Hüllen, und Sternau begann sein Werk. Es nahm bedeutend mehr Zeit in Anspruch, als die erwähnten fünf Minuten. Man sah, daß der Arzt mit einer ganz besonderen Gewissenhaftigkeit verfuhr. Die Diagnose schien außerordentlich schwierig zu sein, und der Patient hatte sehr viele Fragen zu beantworten. Endlich aber war Sternau zu einem bestimmten Resultate gelangt und sagte: »Erlauben Sie mir, mein Herr, der Dame zu klingeln?« »Ah, Herr Doktor, Ihre Frage ist für mich eine sehr tröstliche,« antwortete der Herzog, indem ein glückliches Leuchten über sein blasses Gesicht flog. »Sie würden meine Tochter nicht als Zeugin Ihres Ausspruches dulden, wenn dieser nicht so ganz unverhofft ein beruhigender wäre. Rathe ich richtig?« »Sie rathen recht,« nickte Sternau, »doch ehe ich klingele, muß ich vorher eine höchst discrete Frage aussprechen, welche Sie mir
erstens verzeihen und dann aufrichtig beantworten werden. Sie haben in Ihrer Jugend einmal an einer Hautkrankheit gelitten?« Der Herzog erröthete trotz seiner Blutarmuth. »Welche Hautkrankheit meinen Sie, Herr Sternau?« gegenfragte er. »Ich meine, beim richtigen Namen genannt, die Scabies, die Krätze.« »Herr! Wie können Sie glauben – –!« Der Herzog sprach diese Worte mit einer krankhaften Entrüstung, hielt aber plötzlich inne, als er das scharfe, durchdringende Auge des Arztes auf sich gerichtet sah. Er versuchte, sein frisches Schamgefühl zu bekämpfen, schwieg eine Weile und sagte dann mit gesunkener Stimme: »Sie haben recht. Im Angesichte des Todes wäre ein Leugnen geradezu ein Selbstmord zu nennen. Ich verkehrte in meiner Jugend zuweilen mit Schönheiten, deren Gesundheit nicht ganz zweifellos war; ich erhielt die von Ihnen genannte Krankheit und wendete mich nicht an meinen Hausarzt, vor dem ich mich schämte, sondern an einen Quacksalber, der mich binnen zwei Tagen herstellte, aber nur scheinbar, wie ich aus Ihrer Frage fast vermuthe.« »Ihre Vermuthung geht nicht irre. Diese Krankheit wurde nicht geheilt, sondern nach innen getrieben; sie vergiftete Ihr Blut, eroberte alle edlen Organe und ward zuletzt ein Bestandtheil aller Ihrer Säfte, Ihres ganzen Körpers – sie ward zur Psora. Das ist Ihr Leiden, dem Sie allerdings in kurzer Zeit erlegen wären. Die Krankheit hat alle Symptome der Verzehrung, und daher kommt es, daß Sie von Ihren Aerzten als ein Auszehrender betrachtet und behandelt wurden. Ich kann diese Herren zwar entschuldigen aber nicht rechtfertigen, denn es handelt sich um ein Menschenleben.« »Und Sie glauben, mich retten zu können?« fragte Olsunna in fieberhafter Erregung.
»Ja. eilen Sie diesen Ausspruch getrost Ihrer Tochter mit; ich vertrete ihn!« Er zog an der Glocke und im nächsten Augenblicke trat Flora ein. Das Gesicht ihres Vaters glänzte wie Sonnenschein. Er streckte die Arme nach ihr aus und rief: »Komm her, mein Kind! Dieser Arzt giebt mir die Hoffnung des Lebens. Ich soll nicht sterben!« Sie eilte auf ihn zu, um ihn zu umarmen, blieb aber auf halbem Wege vor Sternau stehen und fragte: »Ist es wahr, mein Herr? Wären Sie im Stande, das Leben meines Vaters festzuhalten?« »Ich hoffe es, ja, ich bin es überzeugt,« antwortete er bescheiden und ohne alle Ueberhebung. Da stieß sie einen lauten Jubelruf aus, faßte seine Hand und küßte dieselbe schnell, ohne daß er es verhindern konnte. »Siehst Du, Papa, daß es ein Fingerzeig Gottes war!« rief sie. »O, Herr Sternau, wie glücklich machen Sie uns durch den Trost, welchen Sie uns geben!« Sie standen einander gegenüber, und als sie ihm so selig in das Angesicht schaute, erinnerte sie sich an die Worte ihres Geliebten, welcher ja gesagt hatte, daß Sternau ihr ganz außerordentlich ähnlich sehe. Sie fand dies bestätigt; es war ein eigenthümliches Gefühl, welches sich ihrer bemächtigte, sie hätte diesen hohen, schönen Mann augenblicklich umarmen und küssen können, ohne zu glauben, daß sie damit einen Fehler begehe. Und er, er stand vor diesem schönen Mädchen, und es war ihm dabei, als hätte er sie lange, lange Zeit schon gekannt, als wäre er vertraut mit ihr gewesen, wie ein Bruder mit der Schwester, als könne er ihr sein ganzes Herz offenbaren, ganz und rückhaltslos, wie es eben nur einer Schwester gegenüber geschieht. »Ich danke Ihnen für die Zuversicht, mit welcher Sie meine Worte hinnehmen,« sagte er. »Ich wiederhole, daß die Heilung nicht
nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist, wenn Sie mich unterstützen wollen.« »O gern!« antwortete sie. »Fordern Sie Alles, was Sie wollen!« Er blickte sich im Zimmer um und fragte dann mit halbem Lächeln: »Würde Ihnen ein Ortswechsel möglich sein?« »Warum nicht?« sagte der Kranke. »Verzeihung! Ich kenne Ihre Verhältnisse nicht und ein Ortswechsel pflegt mit mehr oder weniger Kosten verknüpft zu sein.« »Ah, Sie kennen unsere Verhältnisse, vielleicht sogar meinen Namen noch nicht?« »Allerdings nicht. Mein Freund kennt ihn nicht, da Fräulein ihn aufforderte, nicht darnach zu forschen, und er bat mich, deshalb meinerseits auch nicht zu fragen. Ich bin einfach zu dem Patienten gekommen, welcher im Hause des Fischers Jean Foretier wohnt.« »Sonderbar!« sagte der Herzog. »O, Papa,« fiel Flora ein, »ich hatte ja noch nicht mit Dir gesprochen, und darum mußte Otto mir versprechen, sich nicht zu erkundigen.« »Nun verstehe ich Dich, mein Kind, und dieser Herr Otto gewinnt dadurch sehr in meiner Achtung. Sagen Sie ihm das und theilen Sie ihm mit, daß ich ihn morgen Vormittag bei mir erwarte, um ihm Dank zu sagen, daß er mir einen so ausgezeichneten Arzt gesandt hat. Uebrigens theile ich Ihnen mit, daß meine Kasse vielleicht auch einen nicht ganz billigen Ortswechsel vertragen wird. Ich will mich nicht reich nennen, aber um die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens brauche ich nicht mit allzu großer Anstrengung zu sorgen.« Es war, als ob die Nähe des zuversichtlichen Arztes bereits einen recht guten Einfluß auf seinen Zustand ausübe. Er hatte den langen Satz ohne alle Anstrengung und ohne zu husten gesprochen und die letzten Worte hatten sogar einen schalkhaften Klang, der
nichts mit der Todessicherheit zu thun hatte, in welcher er sich vorher befunden hatte. »Nun, so werde ich Sie also ersuchen, Avranches zu verlassen,« sagte Sternau. »Weder das hiesige Klima, noch die hiesige Quelle können Ihnen Heilung bringen. Die rauhe Seeluft muß ich Ihnen ganz verbieten. Ich rathe Ihnen ein mittleres Klima, einen Ort an einem Flusse, Wald und Feld, mit Raum genug zu Spaziergängen und einer erheiternden Aussicht –« »Spaziergänge?« fragte Olsunna. »Mein Gott, ich kann ja das Zimmer nicht einmal überschreiten!« »Haben Sie keine Sorge! Ich werde Ihnen Quebracho, Coca und männliche Dattelblüthe geben, Dinge, welche sich in der hiesigen Apotheke nicht finden werden, wohl aber unter meinen Reisevorräthen. So werden Sie binnen einer Woche kräftig genug sein, eine Bahntour mit Unterbrechungen auszuhalten. Sie fahren also nach – – ah, da kommt mir ein Gedanke! Waren Sie bereits einmal an dem Rheine?« »Nein,« antwortete der Herzog. »So reisen Sie hin. Ich werde nicht nach Ihrem Namen fragen, aber ich werde Ihnen Empfehlungen mitgeben. In der Nähe des Rheins giebt es ein altes wunderschönes Schloß, dessen Bewohner mir verwandt sind und Sie mit Freuden aufnehmen werden. Dort warten Sie Ihre Heilung ab. Sie haben jetzt vor allen Dingen die vorhin erwähnten stärkenden Mittel in der Weise zu nehmen, wie ich es auf der Etiquette des Fläschchens vermerke, und nach Ihrer Ankunft am Rheine gebrauchen Sie ein Recept, welches ich Ihnen schreiben werde. Eine einfache, milde Kost, den Kräften angemessene Spaziergänge, ein heiteres Gemüth und sorgsames Fernhalten aller Aufregung, das ist es, was ich Ihnen empfehle oder befehle. Ihre Krankheit wird durch die Haut zu Tage treten; dann gebrauchen Sie fleißig warme Bäder. Ich werde jetzt gehen, um die Medizin zu bereiten.«
»Ich, ich bin wie neugeboren!« rief der Herzog. »Und ich, o mein Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!« stimmte Flora bei, indem ihr die Freudenthränen über die Wangen strömten. Sie knieete vor dem Vater nieder, nahm seinen Kopf in ihre Arme und küßte seine Lippen wieder und immer wieder. Diesen Ausbruch des Glückes benutzte Sternau, um sich leise zu entfernen. Draußen forderte er den alten Schiffer auf, mit ihm zu gehen. Als Vater und Tochter ihre Umarmung lösten, bemerkten sie erst, daß der Arzt fort war. »Er ist zu zartsinnig, um zu bleiben,« sagte Olsunna. »Er ist gegangen, um die Arznei zu holen. Ich habe noch keinen Arzt gesehen, der einen solchen Eindruck macht wie er. Schon sein bloser Anblick, sein bloses Wort bringt Heilung.« »Er ist ein Mann wie ein Halbgott, Papa. O, Papa, Du wirst gesund werden; denke Dir dieses Glück!« Sie umarmten sich abermals und schwelgten in der reinen Freude, welche ihnen die neu erwachte Hoffnung gewährte. Sie warteten auf Sternaus Rückkehr wohl eine Stunde lang, bis es anklopfte und Jean Foretier eintrat. Er hatte einen Brief in der Hand und in der andern ein in Papier gewickeltes Fläschchen. Er streckte Beides Flora entgegen und sagte: »Eine Empfehlung von dem Arzte, gnädiges Fräulein. Er sendet diesen Brief und diese Arznei.« »Er sendet es; er kommt nicht selbst zurück?« fragte sie erstaunt. »Ja. Er kann ja nicht kommen.« »Warum nicht?« »Weil soeben die Yacht in See geht. Hören Sie den Schuß?« In diesem Augenblicke ertönte ein Kanonenschuß. Flora eilte an das Fenster, von welchem aus man die Bucht überblicken konnte. Sie sah die Yacht, welche die Anker gelichtet hatte und sich soeben von der Küste löste. Auf dem Hinterdecke stand Sternau und
schwang sein weißes Tuch, um einen Mann verabschiedend zu grüßen, welcher am Ufer stand und dasselbe Zeichen gab. Dieser Mann war Otto von Rodenstein. Sie hätte hinaus eilen mögen, um die Yacht zurück zu rufen, wenn das nicht zu auffällig gewesen wäre. Es war ihr, als sei ihr plötzlich ein schweres Leid angethan worden, als habe ihr Jemand einen Stich in das Herz versetzt. »Geht sie wirklich in See?« fragte da der Herzog. »Ja, Papa,« antwortete sie. »Er hat nicht länger bleiben können und es uns nicht gesagt, um sich unserm Dank zu entziehen.« »Mein Gott, ich hatte meine ganze Hoffnung auf ihn gesetzt!« »Er wird diese Hoffnung nicht täuschen. Wir müssen sehen, was in seinem Briefe steht.« Sie gab dem Schiffer das Zeichen, daß er sich zurückziehen könne und öffnete das große Couvert, welches sich sehr inhaltreich anfühlte. Es enthielt das versprochene Recept, zwei versiegelte Briefe und eine offene Zuschrift Sternau’s, welche folgendermaßen lautete: »Verzeihen Sie, daß ich zu Ihnen nicht von der Nothwendigkeit einer sofortigen Abreise sprach! Es giebt zwingende Verhältnisse, welche mir nicht gestatten, eine Minute zu verlieren. Als ich bei Ihnen war, wurde bereits der Kessel meiner Yacht geheizt, und ich sah die Nothwendigkeit ein, Ihnen die Aufregung und sprachliche Anstrengung eines mündlichen Abschiedes zu ersparen. Sie dürfen aber trotzdem an der Zuversicht festhalten, daß Ihre Gesundheit zurückkehren wird. Nehmen Sie den Inhalt der beifolgenden Flasche so, wie ich es Ihnen gesagt habe, und Sie werden in Zeit von einer Woche Ihre Reise antreten können. In Paris und Straßburg werden Sie ausruhen und dann über Mannheim nach Mainz gehen, wo man Sie leicht nach Rheinswalden weisen kann. Dort wird man Sie infolge der beiden beiliegenden Briefe mit offenen Armen aufnehmen.
Sobald Sie dort sich ausgeruht und eingerichtet haben, lassen Sie sich nach dem beifolgenden Recepte das Mittel bereiten, welches Sie vollständig herstellen wird. Alle Ihre weiteren Fragen kann mein Freund, Herr Otto von Rodenstein, Ihnen beantworten, dem ich soeben die ausführlichsten Instructionen gegeben habe und der infolge Ihrer freundlichen Einladung Ihnen morgen seine Aufwartung machen wird.« Der Schluß des Briefes enthielt die gewöhnlichen Höflichkeitsphrasen und die dringende Bitte Sternau’s, seinen Anordnungen gewissenhafte Folge zu leisten. »Ich athme wieder auf!« gestand der Herzog. »Diese Worte geben mir allerdings meine volle Zuversicht wieder, und ich werde genau Alles thun, was er anbefohlen hat. Dieser Sternau ist nicht nur ein außerordentlicher sondern auch ein edler Mensch. Er öffnet uns eine Gastfreundschaft, ohne zu wissen, wer wir sind, und ich werde dieselbe schon deshalb acceptiren, weil mir auf diese Weise die sichere Gelegenheit geboten wird, die Dankbarkeit, welche ich ihm schuldig bin, wenigstens den Seinen zu erweisen. Wie sind die Briefe adressirt, mein Kind?« »Der eine an Frau Sternau und der andere an den Oberförster, Hauptmann von Rodenstein in Rheinswalden. Ach, welche Ueberraschung!« »Was, Flora?« »Dieser Hauptmann von Rodenstein ist ja – der Vater Otto’s!« »Wirklich?« fragte er überrascht. »Sollte dies ein abermaliger Fingerzeig sein, meine Tochter? Wir werden also den Vater Deines Geliebten kennen lernen und also im Stande sein, den inneren Werth dieses Letzteren beurtheilen zu können.« »O, mein Vater, über diesen Werth giebt es bei mir keinen Zweifel. Du wirst ihn achten und lieben, sobald Du ihn kennen lernst!« »Ich hoffe das, um Deinetwillen. Aber bitte, gieb mir einmal von der Medizin!«
Sie öffnete die Flasche und verabreichte ihm die vorgeschriebene Dosis, welche eine wunderbare Wirkung hatte, denn er fiel bereits nach einigen Minuten in einen Schlaf, dem man anmerkte, daß er erquickend sei, denn es lagerte sich über das Gesicht des Kranken ein ruhiges, glückliches Lächeln; seine schwache Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Intervallen, und sein Athem ging leise und gleichmäßig wie in den Tagen seiner Kraft und Gesundheit. Dieser Schlaf dauerte sehr lange, fast bis zum Abende, und als der Herzog dann erwachte, fühlte er sich so gestärkt, daß er vermeinte, aufstehen und im Zimmer herum spazieren zu können. Doch blieb er auf seinem Ruhebette liegen und nahm vor Freude über die Wirkung des Mittels eine abermalige Dosis desselben. Der darauf folgende Schlaf dauerte bis zum Morgen, und als Flora eintrat, dem Vater den Morgenkuß zu bringen, fand sie ihn – angekleidet auf einem Stuhle sitzen. Er hatte alle Vorstellungen des besorgten Dieners siegreich bekämpft. »Mein Gott, Papa, was thust Du!« rief sie. »Komm her, mein Kind, und umarme mich!« antwortete er mit seligem Lächeln. »Ich fühle, daß ich gerettet werde. Dieser Sternau ist wirklich ein von Gott begnadeter Arzt, und ich kann ihn mit allen meinen Reichthümern nicht bezahlen. Ich bin wie neu geboren; meine Muskeln spannen sich, und meine Beine zitterten nicht, als ich das Lager verließ. Sobald die Sonne wärmer scheint, werde ich mich nach der Bank vor dem Hause führen lassen.« »Du wagst zu viel, Papa!« wandte sie ein. »Nein, mein Kind. Diese wenigen Schritte werden mich nicht anstrengen; ich fühle es. Dieser Sternau hat mich durch seinen bloßen Anblick gestärkt, und seine Medizin wird seine Weissagung zur Wahrheit machen.« »Papa, hast Du nicht bemerkt, wie er mir ähnlich sieht?« »Ja, ich habe es mit Erstaunen gesehen. Grade wie er war ich in meiner Jugend. Die Natur gefällt sich oft in einer so frappanten
Wiederholung ihrer Formen. Es war mir, als ob ich mich selbst vor mir stehen sehe, als er sich bei uns befand. Auch meine Stimme, meine Bewegungen waren ganz dieselben. Aber siehe, da kommen die Sonnenstrahlen. Rufe den Diener, damit er mich zur Bank führe.« Sie versuchte es, ihn von der Ausführung dieser Absicht zurückzuhalten, aber er behauptete, stark genug zu sein, und so mußte sie sich in seinem Willen fügen. Einige Minuten später ruhte er, in einen weichen, warmen Negligérock gehüllt, draußen auf der Bank und ließ seine Blicke mit der Wonne eines Genesenden über die lichtüberfluthete Landschaft und über die glänzende See gleiten, welche sich seit vorgestern vollständig beruhigt hatte. Flora saß bei ihm, hatte seine Hand in der ihrigen und schaute mit innerer Freude in sein Angesicht, dessen tiefe, tödtliche Blässe gewichen war, um einer leichten Röthe der wieder erwachenden Gesundheit Platz zu machen. Sie war in diesem Augenblicke von heißem Dank erfüllt für den Retter ihres Vaters; sie gab sich ganz dem Eindruck hin, den Sternau auf sie gemacht hatte, und ohne daß sie es wollte, entfuhren ihr in Folge ihres Gedankenganges die halblauten Worte: »O, ich liebe ihn sehr!« Er wandte schnell den Kopf zu ihr und sagte lächelnd: »Ah, Du denkst an den Geliebten!« »Nein, Papa,« antwortete sie erröthend. »Ich dachte an einen ganz Anderen.« »Darf ich wissen, an wen?« »Ja, an Sternau.« Er nickte mit dem Kopfe. »Wie sonderbar! Auch ich dachte an ihn. Er kam zu uns wie ein Engel, der Glück und Freude bringt, ich möchte rufen: Ich liebe ihn! Er ist vor meinen Augen, und ich kann den Blick nicht von
ihm wenden. Alle sehen auf ihn und sind ruhig, denn sie wissen, daß sie ihm vertrauen können.« Sie versanken wieder in jenes so beredte Schweigen, welches dem Glück so eigenthümlich ist, bis der Herzog einmal nach dem Wege sah, welcher von der Stadt herabführte. Er erhob schnell den Kopf, blickte schärfer hin und erbleichte. »Was ist Dir, Vater?« fragte sie. Sie hatte gefühlt, daß seine Finger wie unter einem tiefen Schrekke in ihrer Hand zuckten. »Schau da hinauf!« antwortete er. Ihr Auge folgte der angegebenen Richtung. »Eine alte Zigeunerin!« sagte sie. »Warum erschrickst Du da so sehr?« »O, Madonna! Das ist Zarba, das fürchterliche Weib!« Nun erschrak auch Flora. Sie faßte die Alte scharf in das Auge und fragte: »Irrst Du Dich nicht vielleicht, Papa?« »Nein, sie ist es; sie ist es sicher und gewiß! Dieser Teufel ist mir nachgefolgt, um mich zu quälen. Sie muß allwissend sein, sonst könnte sie nicht ahnen, daß ich hier bin.« »Fasse Dich, mein Vater! Du hast mich an Deiner Seite. Der Herzog von Olsunna darf nicht vor einer Vagabundin zittern. Sei ruhig; ich werde an Deiner Stelle mit ihr sprechen.« Es war wirklich Zarba. Dieses Weib war nicht allwissend; sie hatte nicht die mindeste Ahnung, daß sich der Herzog in Avranches befand. Sie war aus einer ganz anderen Ursache gekommen. Sie wollte Gabrillon, den Leuchtthurmwärter, besuchen, welcher ja der Hüter eines ihrer Geheimnisse war. Sie kam langsam des Weges daher, welcher an der Fischerhütte vorüberführte. Da fiel ihr Blick auf die beiden vor der ür Sitzenden, und unwillkürlich stockte ihr Fuß. Sie erkannte den Herzog und seine Tochter. Ein Zug der Freude und Genugthuung blitzte
über ihr faltenreiches Gesicht, und ohne sich lange zu besinnen, lenkte sie ihre Schritte nach dem Hause. Dort angekommen, nahm sie eine demüthige Stellung ein, streckte die Hand aus und sagte zu Flora: »Eine kleine Gabe für eine arme, alte Zingaritta, meine schöne, blanke Dame!« Flora griff in die Tasche und gab ihr einen Fünffrankenthaler. »Hier, Alte,« sagte sie. »Du erhältst es gern!« Ihre Miene zeigte nicht im Geringsten, daß sie die Zigeunerin kenne. Ihr Vater aber hatte sich mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt und gab sich alle Mühe, gleichgiltig zu erscheinen. »Ich danke!« sagte Zarba, indem sie das Geld einsteckte. »Soll ich Ihnen vielleicht wahrsagen, schöne Dame?« »Nein,« antwortete Flora mit einer abwehrenden Handbewegung. »Nicht! Warum nicht? Ich bin Zarba, die Königin der Gitanos. Ich kann in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft. Geben Sie mir immerhin Ihre Hand!« »Schon gut, gut!« wehrte Flora ab. »Was vergangen ist, weiß ich, und was die Zukunft betrifft, so gelüstet es mich nicht, sie vorher zu erfahren!« »Wie stolz!« grinste die Zigeunerin. »Aber vielleicht beliebt es diesem Herrn, sich wahrsagen zu lassen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie seine Hand und hielt sie so fest, daß der Kranke sie ihr nicht wieder zu entziehen vermochte. Sie that, als studire sie die Linien dieser Hand und sagte dann: »Was sehe ich! Eine düstere Vergangenheit, ein Leben voll Untreue, Falschheit und Betrug, im Leben – – –« »Halt!« sagte da Flora mit strenger Stimme. »Schweig, Alte! Deine Gaukeleien sind hier am unrechten Platze!«
»Gaukeleien?« fragte Zarba höhnisch. »Was ich sage, das steht in diesen Linien geschrieben; ich sehe und lese es deutlich!« »Lies was Du willst, aber wir wollen es nicht hören!« »O, wenn die blanke Dame es hören wollte, so würde sie erstaunen darüber – – –« »Ueber Deine Zudringlichkeit und Frechheit, Alte!« unterbrach sie Flora. »Ich kenne Dich und weiß Alles, was Du willst.« »Sie wissen es? O sicherlich nicht!« antwortete Zarba. »Ich las aus dieser Hand das Dasein eines Bruders, der nicht aufzufinden ist. Ja, meine blanke Dame, die Freche, die Zudringliche sagt Ihnen, was für einen Vater Sie haben. Der Fluch folgt jedem seiner Schritte, denn er hat – – –« »Genug!« gebot Flora mit stolzem Tone. »Bei mir findet Deine Rachsucht keinen fruchtbaren Boden. Du willst mein Herz von dem des Vaters trennen; Du willst durch Dein Erscheinen ihn in Krankheit und Tod treiben; Du verbirgst den Sohn, damit der Vater vor ungestillter Sehnsucht nach ihm vergehe. Du bist ein Ungeheuer! Wer nicht vergeben kann, der ist ein Teufel. Packe Dich fort, Alte! Du hast über Niemanden zu richten, sondern Du wirst selbst gerichtet werden!« Sie stand nicht mit flammenden, zornblitzenden Augen vor der Zigeunerin, sondern sie sprach diese Worte mit jener gleichgiltigen Kälte des Tones und jener stolzen Unbeweglichkeit der Mienen, welche mehr verletzt als der lauteste Zorn. Und als die Zigeunerin sich dennoch nicht entfernte, wandte sie sich nach der ür, unter welcher in Folge der heftigen Worte Zarba’s der Diener erschienen war: »Fort mit dem Weibe!« Diese mit einer gebieterischen Handbewegung begleiteten Worte befolgte der Diener, indem er ohne Verzug die Alte beim Arm faßte und fortführte. Sie sträubte sich nicht dagegen, aber sie wendete sich noch einmal um und rief unter schadenfrohem Lachen:
»Und Ihr werdet ihn niemals finden, den Herzogssohn, nie, nie, niemals! Das ist meine Rache!« Der Herzog lehnte schwach und angegriffen auf seinem Sitze. Das Zusammentreffen mit dem rachsüchtigen Weibe hatte ihn tief erschüttert. »O, sie ist eine Furie!« seufzte er. »Wirst Du klug gethan haben, sie zu erzürnen, meine Tochter?« Flora schüttelte ernst den Kopf und antwortete: »Ich glaube, Du hast diesem Weibe gegenüber einen falschen Weg eingeschlagen, mein Vater. Kein Mensch hat das Recht, die Bestrafung einer at selbst in die Hand zu nehmen; dazu sind ja die Gesetze und die Richter da. Und was sie Dir vorzuwerfen hat, ist ja nicht mehr vor das Forum irgend einer Gerichtsbarkeit gehörig. Dein Richter ist Dein Gewissen und die Mutter Deines Sohnes.« »Aber Zarba weiß, wo er sich befindet. Ich glaube immer, sie durch ein freundliches Verhalten zu bestimmen, mir seinen Aufenthalt mitzutheilen.« »Du siehst ja selbst, was diese Freundlichkeit gefruchtet hat; sie ist von der Zigeunerin für Schwäche gehalten worden. Soll dieses Weib Dich, den Herzog von Olsunna, beherrschen? Soll sie Deinen Stolz demüthigen, Dein Selbstbewußtsein zertreten, Dein Gemüth verfinstern und Deine Gesundheit zerstören? Nein, mein Vater! Seit Du mir den Grund Deines Kummers mitgetheilt hast, habe ich die heilige Pflicht, Deine Seele von ihm zu befreien. Gott ist allgütig; er wird uns den Weg finden lassen, welcher zu Deinem Sohne, zu meinem Bruder führt. Und wenn alles Andere nutzlos wäre, so wende ich mich an die Behörde und lasse die Zigeunerin festnehmen. Man wird sie zu zwingen wissen, den Aufenthalt des Gesuchten anzugeben.« Da leuchtete das Auge des Kranken freudig auf.
»Welch ein guter Gedanke!« sagte er. »Deine Entschlossenheit giebt mir neue Hoffnung, wie mir dieser Arzt Sternau neues Leben gegeben hat. Gott scheint Deinen Vorschlag zu billigen, da er die Zigeunerin nach hier geführt hat. Laß uns schnell überlegen, wie wir zu handeln haben, ehe sie wieder verschwindet!« »Das wird in diesem Augenblicke unmöglich sein, denn siehe, dort kommt der Besuch, welchen wir erwarten.« Der Kranke blickte nach dem Wege, welcher von der Stadt nach dem Hafen führte, und sah einen Herrn langsam daherkommen. Flora ging demselben entgegen. Es war Otto von Rodenstein. Dieser hatte noch immer keine Ahnung von dem hohen Stande, welchem die Geliebte angehörte. Er sah zwar in diesem Augenblicke, daß der gallonirte Diener, der die Zigeunerin fortgebracht hatte, in das Haus trat, welches Flora bewohnte, aber er dachte nicht, daß sie die Herrin desselben sei. Er sah also mit ziemlicher Unbefangenheit dem Augenblicke entgegen, der ihn mit dem Vater der Geliebten bekannt machen sollte. Sie kam ihm, wie gesagt, entgegen und streckte ihm beide Hände zum Gruße dar. »Willkommen!« sagte sie, mit dem Lächeln der Freude in den Zügen und dem Strahle des Glückes in den großen, treuen Augen. »Du kommst zur guten Stunde, Vater wird Dich gern willkommen heißen!« Die Augen des Herzogs ruhten forschend auf der Gestalt und den Zügen Otto’s, der sich ihm mit der Tornüre eines Edelmannes und Künstlers näherte und nach einer gewandten Verbeugung sagte: »Ich bin von ganzem Herzen erfreut, Sie begrüßen zu können, mein Herr. Mein Name wird Ihnen bereits bekannt sein. Es ist mein höchster Wunsch, nach dem Besitze Ihrer Achtung trachten zu dürfen!« »Man sieht, daß Sie dieselbe zu erlangen wissen werden,« sagte der Herzog in wohlwollendem Tone.
Das Aeußere Otto’s hatte sichtlich einen vortheilhaften Eindruck auf ihn gemacht, und er lud denselben mit einer Handbewegung ein, an seiner Seite Platz zu nehmen, da der aufmerksame Diener einen Gartensessel für Flora gebracht hatte. Diese brachte das Gespräch sofort auf einen vortheilhaften Gegenstand, indem sie sagte: »Vater war sehr leidend, fühlt sich aber von neuer Hoffnung beseelt, seit Doktor Sternau bei ihm gewesen ist.« »Ja,« fiel der Herzog lebhaft ein. »Schon das Aeußere, das ganze Auftreten, die geistige Sicherheit dieses Mannes macht einen Eindruck, welcher das innigste Vertrauen erweckt. Ich habe Ihnen sehr zu danken, daß Sie ihn zu mir sendeten. Wie ich höre, ist er Ihr Freund?« »Der einzige, den ich habe, Monsieur; aber er ersetzt mir alle andern, die ich haben könnte, aber nicht haben mag. Die Richtung, welche mein Leben verfolgt hat, ist mir keine Aufmunterung zur Anschließung an Andere gewesen.« »Ja, ich hörte bereits, daß Sie die Einsamkeit lieben,« meinte der Herzog, indem er mit einem feinen aber doch nicht unfreundlichen Lächeln seinen Blick von Otto auf Flora gleiten ließ. »Und ich gebe Ihnen Recht. Die Einsamkeit hat auch ihr Anziehendes. Doch, um nicht von Sternau abzukommen, so hat es mich sehr betrübt, daß er so plötzlich und unerwartet abreiste. Ich war sogar zunächst erschrocken über seine Abreise.« »Sie müssen ihn entschuldigen, mein Herr,« bat Otto. »Mein Freund lebt in ganz und gar außerordentlichen Verhältnissen, die ihn gerad jetzt zwingen, eine Seereise zu unternehmen, während welcher ihm jede Minute kostbar ist. Er hat auch mir nur eine Stunde widmen können. Darf ich fragen, ob er Ihre Behandlung abgelehnt hat oder nicht?« »Er hat mir Medizin gegeben und – – –«
»Ach, dann können Sie sicher sein, daß Sie genesen werden, wenn Sie seinen Rathschlägen genau Folge leisten. Er macht niemals einem Patienten vergebliche Hoffnung, und ich habe noch nie einen so erfahrenen, gelehrten, gewissenhaften aber auch wahrheitsliebenden Arzt gekannt, wie er ist. Er ist einer der besten Operateurs der Gegenwart, und das Glück begleitet ihn treu durch seine ganze ätigkeit. Er sprach zu mir von einigen Empfehlungsschreiben, welche er Ihnen zustellen wollte?« »Ich habe sie erhalten. Wissen Sie, an wen sie gerichtet sind?« »Ja; er hat es mir natürlich mitgetheilt. Der eine Brief lautet an seine Mutter und der andere an meinen Vater – –« »Von dem Sie leider getrennt leben, wie ich gehört habe,« fiel der Herzog ein. »Allerdings,« antwortete Otto, indem sich sein Blick verschleierte. »Ich kann nicht sagen, daß ich falsch gehandelt habe; ich bin einem innern Drange, einem Impulse gefolgt, dem ich nicht widerstehen konnte; ich glaube, daß Vater mir Unrecht thut, aber ich würde Vieles darum geben und wäre zum größten Opfer bereit, wenn er sich versöhnen lassen wollte. Das Herz des Menschen ist mit unzerreißbaren Banden mit dem Erzeuger seines Daseins vereint; ich habe ihn lieb von ganzer Seele. Die Kunst hat mir Ruhm und eine sorgenfreie Existenz gebracht, aber jetzt wäre ich doch stark genug, ihr zu entsagen, nur um sagen zu können, daß ich einen Vater habe, dessen Liebe ich mir zwar einst verscherzt, nun aber wieder errungen habe.« Sein Auge schimmerte feucht, und seine Lippen bebten vor tiefer, innerer Erregung. Die Kunst hatte ihm Alles gebracht, was ein begabter Jünger nur von ihr erwarten kann, und dennoch war er bereit, sie zu verleugnen. Wie schwer ist ein solcher, tief in das innere und äußere Leben eingreifender Schritt zu thun! Wie lieb mußte er seinen Vater haben! Sein Gemüth war rein und tief. Das Zerwürfniß zwischen ihm und dem alten Hauptmanne mußte ihn
fürchterlich ergriffen und um die Freude am Leben, um die Ruhe und Klarheit des Schaffens, um den ganzen Frieden seiner Seele gebracht haben. Als er so da saß, das Bild eines von Gott begnadeten Künstlers und doch auch eines von einem tiefen Schmerze gequälten und gefolterten Mannes, da tropfte auch von der Wimper Floras ein großer, heller Tropfen. Auch der Herzog fühlte sich ergriffen und zu dem Manne hingezogen, der trotz seiner unverschulderen Leiden dem Spender desselben nicht zürnte, sondern ihm seine Liebe treu bewahrt hatte. Er streckte ihm unwillkürlich die Hand entgegen, um ihm die seinige zu drücken, und sagte: »Verzagen Sie nicht, Herr von Rodenstein. Es ahnt mir, daß Sie noch glücklich werden, und wenn ich nicht sterbe, so ist mir vielleicht vergönnt, Ihren Vater zu versöhnen. Er ist vielleicht hart, aber ich hoffe, nicht grausam.« Otto erzählte nun ausführlich, wie es gekommen war, daß man ihm das Vaterhaus verboten hatte. Er klage den Vater nicht an, er entschuldigte auch sich nicht; er sprach so wahr, so mild, daß der Herzog sich gar nicht mehr wunderte, daß dieser Mann das Herz seiner Tochter gewonnen hatte. »Und werden Sie die Empfehlungsbriefe Sternaus benutzen?« fragte Otto schließlich. »Ja, ich werde nach Rheinswalden reisen, nicht nur meiner Gesundheit wegen, sondern auch um Ihretwillen,« antwortete der Kranke. »Fast möchte ich mich vor Ihrem Vater fürchten, doch werde ich mir Muth einreden, und ich hoffe, daß auch Flora sich ein Wenig Mühe geben wird, den alten Herrn milder zu stimmen.« Diese letzten Worte erfüllten Otto mit einem unendlichen Glükke. Daß der Vater seiner Tochter eine solche Aufgabe zuertheilte, war ein fast vollgiltiger Beweis, daß ihm ihre Liebe nicht mißfiel. Und so saßen sie noch längere Zeit beisammen, bis man die alte Zigeunerin vom Leuchtthurme her, in welchem sie gewesen war, des
Weges kommen sah. Der Herzog wollte sich durch den Anblick des alten Weibes nicht um seine jetzige gute Stimmung bringen lassen und bat Flora, ihn in das Haus zu führen; das war für Otto das Zeichen, sich zu verabschieden. Er empfahl sich und erhielt die freundliche Aufforderung, recht bald wiederzukommen. Er fühlte sich innerlich so selig, so glücklich, daß er es vermeiden wollte, sich durch den Anblick kalter, ernster Menschen stören zu lassen. Er suchte daher die Einsamkeit und fand sie am Ufer des Meeres, wo die weichen, flüsternden Wogen die Spitzen seines Fußes liebkosend benetzten. Er befand sich unweit des Leuchtthurmes. Am Fuße desselben gab es ein moosbedecktes Felsenstück, welches zum Sitzen einlud. Er trat näher und ließ sich darauf nieder. Er verfiel in die Krankheit aller Verliebten: er träumte still vor sich hin und malte sich das Glück aus, welches er an dem Herzen und in den Armen Flora’s finden werde. Er dachte gar nicht daran, daß der Vater der Geliebten seinen Namen nicht genannt hatte. Er hatte ihr Auge in Glück und Liebe aufleuchten sehen; er durfte wiederkommen, so bald und so oft es ihm beliebte; was wollte er mehr! Da wurde er aus seinem Sinnen durch eigenthümliche Töne aufgeschreckt, welche an sein Ohr klangen. Kamen sie von einer menschlichen Stimme? Das klang so klagend, so trostlos und doch so sanft und ruhig. Jetzt wieder! Ja, es war ein Mensch, welcher sprach; die einzelnen Worte waren nicht zu verstehen, aber sie wiederholten sich immer wieder; es war stets derselbe Klang, derselbe klagende, ergreifende Ton. Otto fühlte sich im Innern gepackt, ohne daß er sagen konnte, warum. Ein Glücklicher war Derjenige, der solche Laute hören ließ, sicherlich nicht. War es vielleicht Einer, welcher der Hilfe bedurfte? In seiner gegenwärtigen seligen Stimmung konnte Otto nicht gleichgiltig bleiben bei dem Gedanken, daß es Einen gebe, den er
trösten könne. Er erhob sich also, trat um die Ecke des urmes herum und befand sich bei der Eingangsthür. Sie war nicht verschlossen; er öffnete und trat ein. Der urm bestand hier nur aus den vier hölzernen Wänden, welche an hoch emporstrebende Schiffsmasten genagelt waren. Eine schmale, auch hölzerne Wendeltreppe führte nach oben. Er stieg empor und gelangte nun an einen stubenähnlichen Verschlag, dessen ür von innen verriegelt war. Aus diesem Verschlage klangen die Töne, welche er gehört hatte; sie klangen auch jetzt noch fort. Er klopfte an, und sofort schwieg der geheimnißvolle Sprecher. Er klopfte abermals, und nun hörte er Schritte, welche sich näherten. Dann wurde der Riegel zurückgeschoben und die ür geöffnet. Es stand ein Mann vor derselben, schlank und hoch, aber von gebeugter Gestalt. Sein Haar und Bart war schneeweiß, und sein Gesicht trug fast die weiße, mattglänzende Farbe des Alabasterglases. »Sie entschuldigen, mein Herr, daß ich incommodire,« sagte Otto, natürlich französisch, da er sich ja in Frankreich befand. »Ich hörte Jemand in einem sehr klagenden Tone sprechen, und da ich dachte, daß – –« Er hielt mitten in seiner Rede inne; die zwei Augen, welche starr und ausdruckslos auf ihm ruheten, machten ihn irre. Dieses schöne Greisenantlitz konnte dennoch keinem ganz hochbejahrten Manne angehören, wie die Weiße des Haares es vermuthen ließ; es war öde und leer, und das starr geöffnete Auge war todt, ohne alles geistige Leben. Otto faßte sich wieder und fragte: »Sind Sie vielleicht unglücklich, mein Herr? Bedürfen Sie vielleicht der Hilfe?« Der Fremde stand noch immer unbeweglich unter der ür, die er in der Hand hielt, und blickte ihn mit den glanzlosen Augen an.
Da, jetzt öffnete er die bleichen, farblosen Lippen und sagte nicht in französischer, sondern in spanischer Sprache: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« Das klang in einem leisen, klagenden, geistesabwesenden Tone, in demselben Tone, den Otto vorhin gehört hatte. Er hatte die Ueberzeugung, daß er es mit einem geistig gestörten Menschen, mit einem Wahnsinnigen zu thun habe, der aber nicht gefährlich sei. Darum blieb er stehen und fragte: »Sind Sie ein Bewohner dieses urmes?« »Ich bin der treue, gute Alimpo,« klang es zum zweiten Male. Ja, das war Wahnsinn; dieser Ton der Stimme, die unbeweglichen Züge, das erstorbene Auge bestätigte es. Otto schauderte, aber dennoch sagte er: »Ich wünschte, es wäre erlaubt, den urm einmal zu betreten. Man muß von seiner Höhe eine weite Aussicht nach der See haben.« Der Andere hatte jedenfalls kein Wort dieses Wunsches verstanden, denn er wiederholte nochmals: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« Da trat Otto einen Schritt näher, und nun wich der Wahnsinnige zurück, so daß der Erstere eintreten konnte. Da aber ließen sich Schritte vernehmen, welche von oben herabkamen. Aus diesem Raume führte nämlich eine Treppe abermals in die Höhe. Es kam ein Mann herab, der die rauhe Kleidung eines gewöhnlichen, armen Seemannes trug. Ein dichter, struppiger Bart verbarg den unteren eil seines Gesichtes. Sein Auge blickte zornig auf den Eingetretenen, und mit einem höchst barschen Tone fragte er: »Was wollen Sie hier? Wer hat Ihnen erlaubt, einzutreten?« Es war Gabrillon, der Leuchtthurmwärter. Otto war nicht gewohnt, in einem solchen Tone mit sich reden zu lassen, zumal von einem so gewöhnlich aussehenden Menschen, fiel es ihm nicht ein,
es zu dulden. Daher sagte er in einem ruhigen, aber sehr bestimmten Tone: »Bitte, sprechen Sie etwas weniger grob! Wer sind Sie?« »Ob ich grob bin oder nicht, das ist meine Sache! Und wer ich bin, das geht Sie gar nichts an!« lautete die noch gröbere Antwort. »Vielleicht geht es mich aber doch etwas an! Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind?« »Ich bin der Wärter des Leuchtthurms,« sagte Gabrillon, der sich unwillkürlich dem Eindrucke der gebieterischen Blicke Otto’s nicht entziehen konnte. »Nun wohl, ich wünsche den Leuchtthurm besteigen zu können.« »Das geht nicht!« »Warum nicht?« »Es ist nicht erlaubt.« »Wer hat es verboten?« Diese Frage brachte Gabrillon einigermaßen in Verlegenheit, denn es war behördlich nicht untersagt, den Leuchtthurm zu betreten; die dabei verabreichten Trinkgelder hatten vielmehr bisher einen nicht ganz unbedeutenden eil seiner Einnahme gebildet. »Es ist verboten, und damit gut!« antwortete er trotzig. »Ich wünsche aber doch sehr, zu erfahren, von wem dieses Verbot ausgeht!« sagte Otto, dem das Verhalten des Wärters wie dasjenige eines Menschen vorkam, der sich nicht auf einem rechtlichen Wege befindet. »Ich bin der treue, gute Alimpo!« sagte der Wahnsinnige zum vierten Male. Da erschrak Gabrillon so, daß Otto es deutlich bemerkte und fuhr den Geisteskranken mit harter Stimme an: »Packe Dich, alter or und halte den Mund mit Deinen Faseleien!«
Er faßte ihn beim Arme und schob ihn zur Treppe. Der Wahnsinnige gehorchte willig und entfernte sich, zur Höhe emporsteigend. Dann wendete sich Gabrillon wieder zu Otto und sagte mit zusammengezogenen Augenbrauen: »Nun, ich habe Ihnen ja gesagt, daß der Zutritt zu dem urme verboten ist. Was wollen Sie noch hier?« »Ich will noch immer wissen, von wem dieses Gebot ausgegangen ist!« »Erkundigen Sie sich darnach. Ich habe keine Zeit, mich mit jedem abzugeben, dem es beliebt, mich in meiner Behausung zu stören. Gehen Sie!« Er trat drohend auf Otto zu. Dieser fühlte keine Lust, sich mit diesem Manne in ätlichkeiten einzulassen und verließ das Gemach, dessen ür hinter ihm mit lautem Geräusch verriegelt wurde. Als er dann am Strande entlang hinschritt, kam ihm das Verhalten des Leuchtthurmwärters verdächtig vor. Warum sollte kein Mensch den urm betreten? Doch wohl nur des Wahnsinnigen wegen. Warum verweigerte dieser Mensch die Auskunft darüber, wer den Zutritt verboten hatte? Doch nur deshalb, weil es kein solches Verbot gab. »Ich bin der treue, brave Alimpo!« Was war das für eine Rede? Steckte da irgend ein Sinn dahinter? Das war jedenfalls eine Monomanie! Wer war der Wahnsinnige? Er hatte trotz seiner geistigen Gestörtheit so distinguirt ausgesehen. Diese feinen Züge, diese kleinen aristokratischen Händchen konnten nicht einem Manne angehören, der in näherer Beziehung mit dem rauhen Wärter stand, dessen Aeußeres und ganzes Auftreten dasjenige eines rohen Menschen aus der Hefe des Volkes war. Hatte man ihm den Kranken anvertraut? Diesen Gedanken konnte Otto nicht fassen. Der sturmumsauste, in allen Fuchen krachende Leuchtthurm war kein Ort, einen Wahnsinnigen zu beherbergen. Beim Sturm der aufgeregten, brüllenden
und tobenden Elemente konnte ein geistig Gestörter die ihm so nothwendige Ruhe nicht finden, Heilung aber noch viel weniger. Hier mußte irgend ein Geheimniß vorliegen. Dies schien dem Maler um so wahrscheinlicher, je mehr er darüber nachdachte. Darum beschloß er, sich den Eingang zum urme zu erzwingen und zu diesem Behufe den Maire aufzusuchen als den Einzigen, von welchem ein etwaiges Verbot ausgegangen sein konnte. Er fand ihn in der Expedition und wurde von ihm sehr freundlich empfangen, da die beiden Männer sich von ihren Promenaden, wobei sie sich getroffen hatten, und von der Ressource her kannten. »Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« fragte der Beamte. »Mit einer kleinen Auskunft, Monsieur. Wer hat den Zutritt zu dem Leuchtthurm verboten?« »Meines Wissens Niemand,« lautete die Antwort. »Ihres Wissens? Ich denke, daß Sie infolge Ihres Amtes jedenfalls der Mann sind, es am Ehesten und Besten zu wissen?« »Ja, wer hat denn von einem solchen Verbote gesprochen?« »Der Wärter.« »Ah, Gabrillon! Der ist ein eigenthümlicher Kerl, eine Art Menschenhasser oder Menschenfresser. Er sieht es gern, wenn man ihn in Ruhe läßt; er mag nicht gern gestört sein, mein Herr.« »Ah! Worin könnte denn ein Mann gestört werden, der nichts zu thun hat, als des Abends seine Lichter anzubrennen und des Morgens wieder zu verlöschen? Giebt es vielleicht etwas Gesetzwidriges bei ihm, was er nicht sehen lassen will?« »Wie kommen Sie auf diese Idee, Monsieur?« fragte der Maire erstaunt. »Weil Sie von einer Störung sprechen, für welche ich keine Ursache aufzufinden vermag, besonders weil ihm die Trinkgelder doch willkommen sein sollten, und ferner, weil er mich mit einer Dring-
lichkeit fortwies, welche ganz aussah wie eine Grobheit, der eine unverkennbare Angst zu Grunde lag.« »Ah, Sie waren bei ihm?« »Ja. Ich wollte die Aussicht über die See genießen.« »Und er wies Sie fort?« »Sogar mit ausgesuchter Ungezogenheit. Er sagte, der Zutritt sei verboten, wollte mir aber nicht mittheilen, von wem das Verbot ausgegangen ist. Und als ich es zu wissen begehrte, sah ich mich veranlaßt, die Flucht zu ergreifen, um eine ätlichkeit zu vermeiden, welche mir jedenfalls auch als Sieger nicht zur Ehre gereicht hätte.« »Das ist allerdings stark! Wir sind hier gewohnt, Gabrillon seine Wege gehen zu lassen, aber wenn die Fremden, deren Besuch des hiesigen Bades uns doch nur willkommen sein muß, Ungezogenheiten zu erleiden haben, da muß man denn doch eingreifen. Sie werden Genugthuung haben. Ich werde sofort einen meiner Beamten beauftragen, nach dem urm zu gehen und dem Wärter solche Ungebührlichkeiten unter Androhung einer Strafe zu untersagen.« »Ich habe nichts Anderes erwartet, Monsieur, und danke ihnen herzlich. Soll hier aber von einer Genugthuung wirklich die Rede sein, so ersuche ich Sie um die Erlaubniß, bei der Ausführung dieses Ihres Befehles gegenwärtig sein zu dürfen.« »Dies steht ganz in Ihrem Belieben. Der Gensd’arm steht im Vorzimmer; er kann den Weg sofort antreten.« »So werde ich vorangehen und ihn erwarten. Apropos, ich sah einen ältlichen Herrn im urme, dessen Geist mir gestört zu sein schien. Wer ist dieser Mann?« »Es ist ein Verwandter Gabrillons.« »Ein Verwandter? Hm!« »Ja, ein Vetter oder Oheim oder Aehnliches.« »Wie heißt er, und woher stammt er?«
»Wie er heißt?« fragte der Beamte verlegen. »Ah! Hm! Er heißt – ich glaube, ich weiß es selbst nicht. Gabrillon hat ihn zwar angemeldet, aber nichts Schriftliches vorgelegt.« »Ich habe geglaubt, daß bei einer jeden Anmeldung die Vorzeigung gewisser Documente erforderlich sei.« »Ja, hm, eigentlich! Ich werde das wohl noch besorgen müssen. Man hat so viel zu thun, daß es kein Wunder ist, wenn eine solche Kleinigkeit übersehen wird.« Damit mußte der Maler sich begnügen. Er ging, und zwar wieder nach dem urme. Da er hart an den Klippen des Ufers hinschritt, so konnte er von Gabrillon nicht gesehen werden. Er hatte kaum eine Minute gewartet, so sah er den Gensd’arm kommen. »Sind Sie der Herr, welcher mich erwartet?« fragte dieser. »Ja. Es thut mir leid, Sie meinetwegen belästigt zu sehen. Hier haben Sie eine kleine Entschädigung!« Er griff in die Tasche und gab ihm einen Fünffrankenthaler, bei dessen Anblick der Gensd’arm, der ein so hohes Trinkgeld wohl noch nie gesehen hatte, ein Gesicht machte, welches erwarten ließ, daß er seine Pflicht mit dem allergrößten Eifer erfüllen werde. »Kommen Sie, mein Verehrtester!« sagte er. »Wir werden diesem Gabrillon einmal zeigen, wie er sich gegen Herren von Ihrer Großmuth zu betragen hat!« »Lassen Sie mich voransteigen und warten Sie auf der Treppe,« sagte Otto. Als er die ür erreichte, war dieselbe verschlossen, aber er bemerkte einen Klingelzug, welchen er bei dem vorigen Besuche nicht gesehen hatte. Er klingelte, und nach einiger Zeit wurde die ür geöffnet. Der Wärter blickte hervor und rief, als er Otto erkannte, mit ärgerlichster Stimme: »Sie wieder? Das ist stark! Packen Sie sich zum Teufel!« Er wollte die ür zuschlagen, aber Otto hielt sie fest.
»Lassen Sie offen!« sagte er, »Ich will den Leuchtthurm besteigen.« »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß dies verboten ist. Sind Sie taub?« »Und ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich wissen will, wer es verboten hat!« »Das geht Sie nichts an! Fort!« Er wollte die ür mit Gewalt zuziehen, da aber kam der Gensd’arm herbei. Er hatte die Unterredung gehört. »Was fällt Dir ein, Gabrillon!« sagte er. »Wer hat Dir den Befehl gegeben, solche Besuche abzuweisen?« Der Wärter war beim Anblicke des Beamten überrascht zurückgetreten. »Soll ich mir denn gefallen lassen, daß ein jeder hergelaufene Mensch mich stört und belästigt?« fragte er. »Sieht dieser Herr wie hergelaufen aus, Du Grobian?« rief der Gensd’arm. »Ich werde Dich sofort arretiren, wenn Du noch ein einziges solches Wort sagst. Ich habe Dir auf den Befehl des Herrn Maire zu melden, daß der Besuch des Leuchtthurmes nicht verboten ist. Kommt noch ein solcher Fall vor, so wirst Du abgesetzt! Verstanden! Dieser Herr wird uns melden, ob er sich abermals über Dich zu beklagen hat. Richte Dich danach!« Der Gensd’arm schritt nach diesen Worten mit der stolzen, selbstbewußten Miene eines siegreichen Helden die Treppe wieder hinab. Otto trat in das Gemach. Der Wärter begrüßte ihn mit keiner Silbe, sondern stieg in höchster Eile die zweite Treppe empor, ohne sich scheinbar weiter um ihn zu bekümmern. Der Maler folgte langsam. Als er das zweite Gemach erreichte, sah er die alte Wirthschafterin, welche auf einem hölzernen Schemel saß und ihn mit den Blicken eines mordlustigen Krokodils anklotzte. Er achtete nicht auf sie und stieg höher. Die dritte Abtheilung des urmes war in zwei kleine Gemächer getheilt. Das eine
derselben war verschlossen, aber Otto hörte deutlich da drinnen die Stimme des Wahnsinnigen und die klagenden Worte: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« Jetzt wußte Otto nun, daß Gabrillon so schnell emporgestiegen war, um den Geisteskranken einzuschließen, damit der Besuch ja in keine nähere Berührung mit ihm komme. Der Wärter stand in dem anderen Gemache und beobachtete mit finsterer Miene, ob Otto Notiz von den Worten nehme, die er hörte. »Warum schließen Sie den Kranken ein?« fragte er. »Das geht Sie nichts an!« sagte der Gefragte rauh und verbissen. »Haben Sie etwa kein gutes Gewissen, in Beziehung auf diesen Patienten?« »Herr,« brauste Gabrillon auf, »was kümmert Sie meine Familie? Ich bin gezwungen, Ihnen Zutritt zu gewähren, aber sobald Sie mich beleidigen, werfe ich Sie die Treppe hinab!« »Sie? Mich?« fragte Otto geringschätzend. »Wenn es mich nicht ekelte, lägen Sie bereits unten!« Er stieg weiter und hatte noch vier Abtheilungen zu passiren, ehe er den Lampenapparat erreichte. Die Aussicht hier oben war allerdings großartig, aber sie konnte in diesem Augenblick auf den Beschauer den gewaltigen Eindruck, den sie ein anderes Mal gemacht hätte, nicht hervorbringen. Seine Gedanken waren bei dem Wahnsinnigen, welcher einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Es schien ihm über allen Zweifel gewiß zu sein, daß hier irgend ein schlimmes Geheimniß vorliege. Er sann und grübelte, kam aber immer wieder zu dem Resultate, daß ihm die Sache nichts angehe. So stieg er denn, ohne die Aussicht genossen zu haben, wieder hinab. Er fand Gabrillon noch immer vor der üre des kleinen Gemaches, welches er wie ein wilder, bissiger Kettenhund bewachte, und schritt an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen,
oder ihm ein Geschenk zu verabreichen. Er hatte sich den verweigerten Zutritt erzwungen; das war für jetzt genug. Aber der Gedanke an den Wahnsinnigen verfolgte ihn den ganzen Tag hindurch, und des Nachts träumte ihm, er selbst sei wahnsinnig und werde von Gabrillon vom urme herab in die See geworfen. Er kämpfte mit aller Anstrengung gegen die wilden Fluthen und – erwachte, in Schweiß gebadet. Am Nachmittage ging er, um die Geliebte zu besuchen. Sie sah ihn kommen und eilte ihm aus dem ore entgegen. Das war so schön, so wonnig. Seine Brust hob sich, und sein Herz wurde weit, als ob eine ganze Welt voll Glück in ihm wohne. Gerade so dachte er es sich, daß sie als sein liebes, süßes Weib ihm zur Umarmung entgegeneilen werde, wenn er von einer Wanderung oder einem Ausgange heimkehrte. Er hätte sie umarmen und küssen mögen, so schön, so lieb und gut stand sie vor ihm; aber drin im Zimmer saß der Vater am geöffneten Fenster und da war es gerathen, sich zu beherrschen. Aber der Blick seines Auges sagte ihr, wie selig er sich fühlte. »Willkommen, Otto,« sagte sie. »Vater fühlt sich heut noch wohler als gestern. Wir haben bereits nach Dir ausgeschaut.« »Wirklich?« fragte er innig, ihr in die seelenvollen Augen blikkend. »O ja, seit Langem schon!« antwortete sie. »Hätte ich das gewußt, so wäre ich schon längst gekommen.« »So will ich Dir sagen, daß Du mich niemals warten lassen darfst, Otto. Ich bin so glücklich, wenn Du bei uns bist und ich bemerke, daß Vater Dich gern leiden mag.« »ut er das?« »Ja, Du hast ihm gefallen.« »Ich danke Dir, mein Leben! Erst jetzt bin ich sicher, daß wir glücklich sein werden.«
Sie waren bei diesen Worten in den Flur getreten, und da kein Mensch zugegen war, so schlang er den Arm um sie, hob ihr Köpfchen empor und küßte sie auf die ihm so voll und warm entgegenblühenden Lippen. Sie schloß die Augen und trank seinen Kuß wie eine Himmelsgabe; ihr voller, schwellender Busen hob sich, ihre Hand legte sich um ihn; er athmete ihren würzigen, reinen Odem und küßte und küßte sie immer und immer wieder, bis sie sich ihm entzog und mit reizendem Schmollen warnte: »Nicht zu viel, Du Kühner, Du Böser! Vater merkt es sonst! Komm!« Sie traten ein. Sein Auge leuchtete noch, trunken von der Wonne dieses Augenblickes, und ihr schönes Angesicht glühte wie die Farbe der Rosenknospe, welche schwillt, um aufzubrechen und den Strahl der Sonne zu saugen. Der Herzog bemerkte es, aber er that, als sähe er nichts, und sagte: »Willkommen, Herr von Rodenstein! Ich habe Sie bereits erwartet, um Ihnen Zweierlei recht sehr Gutes mitzutheilen.« Bei diesen Worten lachte aus seinen hageren Zügen ein Strahl inniger Freude. »So muß ich mein spätes Kommen entschuldigen,« antwortete Otto. »Aber eine gute Nachricht zu hören, ist es nie zu spät.« »Ich hoffe es! So hören Sie: Erstens sollen Sie mit uns diniren. Ist Ihnen das recht?« Otto nickte mit dankbarem Lächeln. Diese Einladung war ihm ja ein neuer Beweis, daß er das Wohlwollen des Kranken besitze. Er fühlte in diesem Augenblicke nicht die geringste Spur seines früheren Menschenhasses, seiner Verbitterung mehr und antwortete: »Ich acceptire mit Freuden. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich mich innig beglückt fühle, Ihnen Gesellschaft leisten zu können.«
»Nun ja,« sagte Olsunna freundlich. »Die Gesellschaft eines Patienten ist nicht immer angenehm. Flora wird die Aufgabe haben, dies auszugleichen. Nun aber schnell meine zweite Nachricht, die jedenfalls noch besser ist als die erste, wenigstens für mich: Ich fühle mich nämlich heut noch viel, viel wohler als gestern. Dieser Trank von Doktor Sternau thut wirklich Wunder. Er besteht aus Dattelblüthe, Coca und Quebracho, wie ich glaube. Ich fühle mich so munter, so stark und rüstig, daß ich eine längere Tour machen möchte, zu Fuß oder auch – zu Pferde, etwa von hier bis Petersburg, oder noch weiter.« Es war rührend, den abgemagerten Mann diese Worte sagen zu hören. Floras Blicke hingen mit unendlicher Liebe an seinem Munde, und Otto ergriff seine Hand, drückte sie an seine Lippen und betheuerte mit vibrirender Stimme: »Glauben Sie mir ja doch, daß ich Gott recht innig danke, daß er Sie von Neuem hoffen läßt! Fast bin ich auf Freund Sternau eifersüchtig. Ich wollte, ich könnte Einiges zu Ihrer Genesung beitragen!« »Das können Sie ja,« antwortete der Herzog. »Eine freundliche Gesellschaft ist für den Kranken immer erquickend. Wenn meine Genesung mit solchen Riesenschritten vorwärtsschreitet, so darf ich allerdings sicher sein, daß Sternaus Voraussagung sich erfüllt und ich in kurzer Zeit meine Reise antreten kann.« »Könnte ich Sie begleiten!« wünschte Otto. »Des Vaters wegen, ja! Verfügen Sie nicht frei über Ihre Zeit?« »O doch! Es ist auch nicht allein des Vaters wegen. Es würde mir eine große Beruhigung sein, Sie während Ihrer Reise unter sorgsamen Augen zu wissen.« »Ich danke Ihnen,« sagte Olsunna nachdenklich. »Vielleicht sprechen wir über diesen Punkt noch einmal ausführlicher. Aber, Flora, willst Du nicht befehlen, daß man servire?« Flora klingelte, und der Diener trat ein.
Jetzt erst erkannte Otto, daß dieser so reich gallonirte Domestike zu Flora gehöre. Ah! War sie so wohlhabend? Aber wie staunte er erst, als die Tafel gedeckt wurde und sämmtliche Geschirre von der feinsten getriebenen Silberarbeit waren. Dieses Porzellan war echt chinesisches, und dieses Silber war massiv, Tafeltuch und Servietten waren vom feinsten, theuersten, französischen Leinen. Und dieses Geschirr war – er saß zu weit entfernt, um es genau erkennen zu können – mit einer Krone gezeichnet. Träumte er? Der Diener lud ein, Platz zu nehmen. Als der Maler die Serviette entfaltete, hätte er sie vor Schreck fast fallen lassen. Sie war mit einer Herzogskrone gezeichnet, und darunter befand sich das Monogramm E. O. Das sollte natürlich Eusebio von Olsunna bedeuten, was er aber noch nicht wußte. Beide, der Herzog sowohl wie seine Tochter, sahen sein Erschrekken und weideten sich im Stillen daran, ohne ein Wort zu verlieren. Tausend Gedanken drangen auf ihn ein, und darunter war auch einer, der ihn beruhigte. Konnte der Vater seiner Geliebten nicht der Beamte eines hohen Aristokraten sein, in dessen Aufbewahrung sich dies kostbare Tafelzeug befand? Ja, so war es jedenfalls. Und um den Geliebten festlich zu bewirthen, hatte Flora sich das Vergnügen gemacht, es einmal für sich zu benutzen. Dieser Gedanke gab ihm seine Fassung wieder, so daß er frei von Sorgen an der Unterhaltung theilnehmen konnte, welche fast nur zwischen ihm und Flora geführt wurde. Der Diener hatte sich entfernt, da Flora die kleinen Handreichungen übernommen hatte. Welche Seligkeit durchströmte ihn, wenn sie so hausfraulich für ihn besorgt war, und das Beste für ihn auswählte! Sie reichte ihm Etwas dar; er griff darnach und dabei berührte er ihr Händchen. Es war nur eine leise, kaum bemerkbare Berührung, aber sie durchzuckte dennoch seinen Körper wie ein magnetisches Fluidum.
Auch Flora schien dasselbe zu fühlen, denn stets wenn ihre Hände sich gestreift hatten, flog eine tiefe Röthe über ihr Gesicht. Der Herzog aß wenig, aber mit sichtbarem Behagen; der böse Husten schien ihn fast ganz verlassen zu haben. »Sternau ist ein Wundermann,« sagte er. »Möchte doch jeder meiner Wünsche für ihn ein Segel sein, welches ihn glücklich durch die Fluthen führt. Ich beneide seine Eltern. Ein solcher Sohn, der die Mühen der Eltern so überreichlich belohnt, ist ein Glück, dessen Größe nur ein Vater und eine Mutter empfinden kann.« »Sein Vater ist leider schon längst todt,« bemerkte Otto. »Ah, das bedaure ich! Was war er?« »Er starb als Professor. Er war ein sehr gelehrter Mann und liebte Weib und Kind über Alles. Er hatte seine Frau in Spanien kennen gelernt.« »In Spanien? War er dort?« »Ja. Er war Erzieher in einem vornehmen Hause und sie Erzieherin in eben solchen Verhältnissen.« Der Herzog horchte auf, und auch Flora blickte auf den Sprecher. »In welchem Hause war sie Gouvernante?« fragte der Herzog, welcher aber keineswegs ahnte, wie nahe er der Entdeckung sei, nach welcher er bisher so vergeblich getrachtet hatte. »Beide waren zu gleicher Zeit engagirt in Saragossa, bei einem Bankier – hm, ich glaube, der Name ist mir doch entfallen.« Da legte der Herzog das Messer fort. Seine Augen öffneten sich, und über sein bleiches Gesicht zog eine Welle rothen Blutes. »Papa!« rief Flora, die dies bemerkte, warnend, obgleich sie selbst tief erregt war. »Nimm Dich in Acht!« »Laß mich! Ich bin stark genug!« wehrte er sie ab. Und mit einer Stimme, die vor Erwartung plötzlich ihren natürlichen Klang verloren hatte und nur stockend und fast heiser tönte, sagte er: »Hieß dieser Bankier vielleicht Salmonno?«
»Salmonno, ja Salmonno, so war der Name,« antwortete Otto. »Aber nein, Herr, was ist Ihnen!« rief er dann bestürzt. Olsunna war in die Lehne des Stuhles zurückgesunken und hatte die Augen geschlossen. Alles Blut, alles Leben schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Flora war aufgesprungen und schlang angstvoll die Arme um ihn. »Vater, mein Vater!« rief sie. »Ich wußte es! Erwache, lieber Papa! Hörst Du mich? Ich bin da, Deine Flora ist bei Dir!« Sie drückte schluchzend seinen Kopf an sich. Auch Otto war herzugetreten. Er ergriff eine Krystallkaraffe, welche Wasser enthielt, aber diese Hilfe war nicht nöthig, denn der Herzog öffnete die Augen, warf einen unbeschreiblichen Blick empor, drückte dann die Hand der Tochter und sagte: »Aengstige Dich nicht, mein Kind! Ich war nicht ohnmächtig; aber es drang auf mich ein wie die Fluth eines ganzen Meeres von Wonne, Glück und Seligkeit. Doch noch ist das keine sichere Nachricht, noch muß ich die Antwort auf weitere Fragen haben!« »Aber wirst Du stark genug sein, mein Vater?« »Ja, das versichere ich Dir!« Wie um zu beweisen, daß er keine Schwäche fühle, erhob er sich, richtete das Auge erwartungsvoll auf Otto und sagte: »Sind Sie mit den weiteren Schicksalen der Frau Sternau bekannt, Herr von Rodenstein?« »Ich glaube es,« antwortete dieser, gar nicht begreifend, daß diese Schicksale ihn so interessiren, ja, so tief ergreifen konnten. »So sagen Sie mir, ob die Stellung bei dem Banquier Salmonno ihre letzte gewesen ist!« »Nein. Sie ging eine andere Condition ein, welche aber nicht von langer Dauer war. Sie wurde Erzieherin der Prinzeß Flora von Olsunna.«
Da fuhr der Herzog mit beiden Händen nach seinem Kopfe; aber er nahm sich mit all’ seinen Kräften zusammen, stützte sich auf die Lehne des Stuhles und auf die Schulter seiner Tochter und fragte: »Wie war ihr Mädchenname?« »Wilhelmi.« »Flora! Kind, Kind!« Mit diesem jauchzenden Ausrufe öffnete er die Arme. Flora umfing ihn und hielt ihn fest, an seinem Herzen liegend. Beide schluchzten laut wie Kinder. Otto konnte zwar den Vorgang nicht begreifen, aber er trat näher, um den Herzog nöthigenfalls zu stützen. Diesem liefen die hellen ränen über die Wangen. »Erlöst, erlöst! Endlich! O, mein guter, gnädiger, barmherziger Gott, wie danke ich Dir!« rief er. »Erst sendest Du mir den Erretter von dem leiblichen Tode, und nun steht hier ein zweiter Bote, der mir auch für das arme, so lange gemarterte Herz das Evangelium bringt.« Er legte bei diesen Worten die Hand auf Otto’s Achsel. »Ist das wirklich, wirklich so, wie Sie mir es sagen?« fragte er. »Ja.« »Flora, halte mich fest! Ich fühle doch, daß alle meine Fasern beben!« »Setze Dich, Papa; lege Dich!« bat sie; »es ist zu viel für Dich!« Sie selbst aber zitterte auch an allen Gliedern, und ihre Wangen waren vor Erregung mit tiefer Blässe bedeckt. »Nein, stehend will ich das Weitere hören! Stehend, ja; dann mag es mich meinetwegen niederstürzen. Es ist ein Sturz in das größte Glück hinein, und ich weiß, daß ich nicht daran sterben werde. Herr von Rodenstein, Sie werden das Alles nicht verstehen und begreifen, aber Sie sollen es erfahren. Wir stehen vor einem Augenblicke, der in seinem Schoße Tod oder Leben trägt. Ich weiß, entweder wird meine Hoffnung erfüllt, oder – ich sterbe!«
»Mein Herr,« bat Otto bestürzt, »heben wir dies doch für jetzt noch auf. Ich sehe allerdings, daß ein gewaltiger Sturm Ihr Inneres bewegt. Lassen Sie ihn vorübergehen, und dann werde ich jede Ihrer Fragen beantworten.« »Nein, nein! Dann müßte ich auch sterben – vor Ungeduld. Reden Sie, reden Sie um Gottes willen; ich flehe Sie an! Sie stehen vor mir wie ein Heiland, der mir den Himmel öffnen kann; ich werde Ihnen das nicht vergessen, nie, nie, nie! Reden Sie und sagen Sie: Hat Frau Sternau mehrere Kinder?« »Ja.« »Ah! Wie viele?« »Zwei. Diesen Sohn und eine Tochter.« »Sind ihr vielleicht andere Kinder gestorben?« »Nein, sie hat nur diese beiden gehabt.« »Wer ist älter, der Doctor oder die Schwester von ihm?« »Er. Sie ist bedeutend jünger.« »O Gott, es ist, als ob sich eine große, eine herrliche Sonne vor mir erhöbe! Wissen Sie vielleicht genau, wie alt Sternau ist?« »Ganz genau. Wir beschenkten uns immer an unseren Geburtstagen. Er ist am zwanzigsten März geboren und zählt jetzt achtundzwanzig Jahre.« »Er ist’s! Er ist’s! Er ist’s!« rief er frohlockend, die Hände zum Himmel erhebend. »Nun will ich mich setzen,« fügte er leiser hinzu. Die Arme sanken ihm nieder, und mit immer leiser werdender, ersterbender Stimme fügte er hinzu: »ja, setzen! Ich bin matt – müde – o Gott, ich – – ich bin – –« Er schloß die Augen und brach zusammen; aber er fiel nicht zur Erde, sondern Otto hielt ihn in seinen Armen fest. »Ich dachte es!« rief Flora, weinend vor Entzücken und zugleich vor Sorge über den Vater. »Es kann ihn tödten!«
»Nein, er lebt!« sagte Otto. »Meine Hand liegt auf seinem Herzen, und ich fühle es schlagen, leise zwar, aber doch deutlich genug. Komm, laß uns ihn niederlegen!« Er trug ihn nach einem Sopha, wo er ihn in die Kissen bettete; dort knieeten sie Beide bei ihm nieder. Flora ergriff mit der einen Hand die Rechte des ohnmächtigen Vaters, und die Andere schlang sie um den Geliebten. Sie legte, noch immer schluchzend, ihren Kopf an seine Brust und sagte: »Otto, lieber Otto, welch’ eine Nachricht, welch’ ein Glück hast Du uns gebracht!« »Ein Glück muß es sein, ein großes Glück; das sehe ich,« antwortete er, »obgleich es mir ein Räthsel ist.« »Es wird Dir gelöst werden, mein Geliebter. Aber wirst Du mir dann auch verzeihen?« »Verzeihen? Ich hätte Dir etwas zu verzeihen, meine Flora?« »Ja. Ich habe Dich für eine große Sünde um Vergebung zu bitten.« Da drückte er ihr Köpfchen innig an sich, strich ihr liebkosend über das Haar und sagte: »Die Sünde wird sehr klein sein, und nur Deine Sorge ist groß. Ich verzeihe Dir im Voraus und bitte Dich, daß auch Du immer nachsichtig mit mir sein mögest.« »Nein, nicht im Voraus,« sagte sie fast ängstlich. »Es ist wirklich etwas sehr Schweres.« »Darf ich es nicht jetzt erfahren?« »Nein, Vater muß es mit hören, sonst fürchte ich mich vor Dir.« Er lächelte glücklich und drang nicht weiter in sie. So knieten sie noch eine Zeit, bis der Herzog zu sich kam. Er schlug die Augen auf, sah sie Hand in Hand vor sich und sagte, mit einem Strahle der Verklärung im Gesichte: »Wie ist es, habe ich geträumt, Flora?« »Nein, Papa,« antwortete sie. »O, ich hatte Angst um Dich!«
»Nein, die Freude tödtet mich nicht; ich muß ja leben, um mein Werk zu vollbringen. Ja, leben, leben, leben, für ihn und – für sie!« Er richtete sich auf, und auch sie erhoben sich. Das köstliche Essen stand noch in den noch köstlicheren Gefäßen, aber Niemand dachte daran. Olsunna blickte lange zum Fenster hin. Er sah durch dasselbe das Meer und die Landschaft, überstrahlt von dem goldenen Lichte der Sonne. So warm und hell war es auch in seinem Innern. Endlich sagte er: »Flora, mein Kind, sagte ich nicht heut’, daß Gott allgütig sei und uns den Weg zeigen werde? Hat er uns nicht erhört, weit über alles Hoffen und Erwarten? Was bleibt nun noch von der Rache dieser Zigeunerin übrig!« »Wie wunderbar, Papa!« sagte sie, die Hände zusammenschlagend, wie zum Gebete. »Wir suchten ihn, und wir kennen ihn nun doch!« »Ja, er war hier. Wir sahen ihn, und dennoch wußten und ahnten wir es nicht. Bebte mir nicht das Herz, als ich seine Stimme hörte? So klang die meinige, als ich noch jung war. Erfüllte mich nicht seine hohe Heldengestalt mit unsagbarem Stolze? Das war das Ebenbild meiner Jünglingszeit. Und er ist reiner und edler, als ich es war!« »Und sagte ich nicht, daß ich ihn lieben müsse, Papa?« fügte sie hinzu. »Ich hätte ihn umarmen und küssen mögen, als er so selbstbewußt, so siegesgewiß und doch so mild, warm zu sprechen wußte.« Und in ihrem Glücke vergaß sie alle Zurückhaltung, welche sie zu anderer Zeit dem Vater schuldig zu sein geglaubt hätte. Sie wendete sich zu Otto und sagte: »Du brauchst nicht zu zürnen, Lieber, den ich umarmen und küssen wollte, ist nicht ein Fremder, sondern mein – mein – – o Papa, sage Du es! Ich habe dieses schöne Wort nie sagen dürfen!«
»Ja, ich, ich will das Wort sagen, ich zuerst,« meinte der Herzog. »Herr von Rodenstein, Flora spricht von ihrem – Bruder, von meinem – von meinem Sohne.« Bei diesen letzten Worten strahlte sein Gesicht vor Liebe und vor Stolz. »Sie haben einen Sohn?« fragte Otto, auch in freudigster Ueberraschung. »O, so erlauben Sie, daß ich mich nach ihm erkundige!« »Ja, ja, fragen Sie! Fragen Sie immer zu! Ich werde Ihnen gern antworten. O ja, wie gern, wie so sehr gern, will ich Ihnen Auskunft über meinen Sohn ertheilen. Ich bin nämlich stolz auf ihn, unendlich stolz, und ich habe alle Ursache dazu. Also fragen Sie, mein lieber Herr von Rodenstein!« Mein lieber Herr von Rodenstein! Wie drang dieses Wort so beseligend in die Brust des Mannes, der bisher von sich gesprochen hatte, als von einem verstoßenen Sohne! Er dachte nicht daran, daß seine Fragen eine Zudringlichkeit, eine Indiscretion enthalten könnten, und erkundigte sich: »Wo befindet sich Ihr Herr Sohn?« »Auf der See.« »So ist er Seemann?« »Nein,« lächelte der Herzog. »Also handelt es sich um eine Reise?« »Jedenfalls. Aber diese Reise soll von großer Wichtigkeit sein, wie Sie mir gestern sagten.« »Ich?« fragte Otto erstaunt. »Ja, Sie! Wir sprachen doch von meinem Sohne!« Das Gesicht Otto’s war jetzt ein sehr beredtes Fragezeichen. Jetzt lachte der vor Kurzem noch todtkranke Mann so vergnügt, wie seit langer Zeit nicht, und sagte: »Ja, wir haben von ihm gesprochen. Sie haben ihn sogar gesehen und mit ihm gesprochen. Ja, Sie haben ihn zu mir geschickt, wie Sie sich erinnern werden.«
»Ich? Mein Gott, ich bin ja ganz irre, ganz fassungslos!« »Sie sandten ihn zu mir, damit er mich vom Tode erretten möge!« »O Himmel, Sie sprechen von Sternau?« fragte Otto, der befürchtete, daß der Herzog im Fieber redete. »Ja, von Doctor Sternau, von meinem Sohne.« Da warf Otto einen ängstlichen Blick auf Flora. Er fürchtete für die Zurechnungsfähigkeit ihres Vaters; aber auch sie sah ihn mit einem von Glück strahlenden Auge an und sagte: »Du darfst es glauben, Otto, Sternau ist mein Bruder.« Da fuhr er vom Stuhle in die Höhe und rief: »Aber davon weiß ich ja gar nichts, nicht ein einziges Wort!« »O, auch wir haben es nicht gewußt,« meinte Olsunna. »Sie selbst sind es gewesen, der es uns gesagt hat.« Otto kam aus dem Unbegreifen gar nicht heraus, aber Flora kam ihm zu Hilfe: »Wir wollen ihn nicht martern, Papa, sondern es ihm sagen. Sternau ist mein Bruder, ohne, daß wir es gewußt haben, und auch er hat es jedenfalls nicht gewußt.« »Ja,« fügte der Herzog hinzu; »Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß ich Ihnen dankbar sein werde, so lange ich lebe und darum will ich Ihnen ein Geständniß machen, obgleich Sie mich dann vielleicht hart beurtheilen mögen: Ich kannte Frau Sternau kurz vor ihrer Vermählung; ihr Sohn ist auch der meinige, obgleich er den Namen eines Anderen trägt.« »Ah,« rief Otto, bei dem es nun endlich klar wurde. »Habe ich Dir nicht gesagt, Flora, daß er Dir so ähnlich sehe!« »Ja, aber da hatte ich ihn noch nicht gesehen; da hatte ich noch keine Ahnung von dem, was wir heute von Dir erfuhren. Ich bin nämlich Spanierin. Sennora Wilhelmi war meine Erzieherin.« Da richtete der Maler einen raschen Blick auf Beide und sagte: »So sind Sie der Banquier Salmonno?«
»Nein,« lachte der Herzog vergnügt. »Nicht? Welche Räthsel! Aber Sennora Wilhelmi ist nur an zwei Orten Erzieherin gewesen, bei Salmonno und beim Herzoge von Olsunna.« »Nun,« sagte der Herzog, »ich sah vorhin bei beginnender Tafel, daß Sie unser Wappen mit einiger Befremdung betrachteten. Kennen Sie diese Krone?« »Es ist eine herzogliche, mein Herr.« »Richtig! Und mein Monogramm haben Sie auch bemerkt?« »E. O.? Allerdings.« »Nun, das ist mein Name: Eusebio, Herzog von Olsunna. Meine Tochter hier – Sie verzeihen, daß ich sie Ihnen noch nicht vorgestellt habe – ist eine Prinzessin von Olsunna.« »Eine herzogliche Prin – – –« Otto von Rodenstein stockte. Er brachte das Wort nicht heraus. Es war ihm, als sei ihm mit einer Keule ein fürchterlicher Hieb versetzt worden; er wankte. Da eilte Flora auf ihn zu. Er aber streckte den Arm abwehrend gegen sie aus. Er raffte sich mit aller Gewalt zusammen. Sein ganzes Innere bebte; er fühlte sich tausendmal unglücklicher als je zuvor und sagte: »Bleiben Sie, Durchlaucht! Ich war einige Tage glücklich, und ich werde den Himmel preisen für diesen Lichtblick in meinem dunklen Leben, aber ich kehre in meine Einsamkeit zurück, um von dieser einen zauberhaft schönen Erinnerung zu zehren bis an mein Ende.« »Mein Gott, Otto,« rief sie, »das sollst Du ja nicht! Das ist ja das, was Du mir verzeihen sollst!« »Ja, jetzt verstehe ich Sie, Durchlaucht,« antwortete er. »Sie sprachen von einer Sünde, die ich Ihnen zu vergeben habe. Es ist ein Sünde, eine große, schwere, eine fürchterliche Sünde. Es wird mir das Herz brechen. Ich habe den Fluch des Vaters getragen, für das Uebrige aber sind meine Kräfte zu wenig. Es wird – –« er preßte
die Zähne knirschend zusammen, um sein Herz zu bemeistern. Er hatte die Lehne des Stuhles ergriffen, um sich daran festzuhalten; der Sessel krachte in allen seinen Fugen, denn auf ihm ruhte jetzt das ganze Gewicht des Mannes, der vor Schmerz kaum mehr wußte, was er sprach – »es wird wieder finster um mich werden, finsterer als vorher – und – und – –« Seine Blicke verschleierten sich; es wurde ihm dunkel vor den Augen; die Zunge versagte ihm den Dienst; er bewegte die Lippen, um zu sprechen, aber es war kein Laut zu hören. Es war ein Ausdruck des entsetzlichsten Schmerzes, der Ausdruck und das Bild einer Verzweiflung, welcher seine ganze Manneskraft nicht gewachsen war. Er mußte im nächsten Augenblicke zusammenbrechen; einen einzigen Laut stieß er mit letzter Anstrengung hervor; es war ein Lallen, ein unverständliches Stammeln, dann knickte er – – nein, er brach nicht zusammen, denn Flora war herbeigesprungen; sie schlug die Arme um ihn und hielt ihn fest. »Otto, mein Otto!« rief sie. »Sei stark! Ich liebe Dich ja, ich liebe Dich!« Sie drückte ihn an sich und küßte ihn auf die bleichen, wortlosen Lippen, und dabei rannen ihr die ränen einer unbeschreiblichen Angst über die Wangen. Auch der Herzog erhob sich und kam herbei. »Fassen Sie sich, Herr von Rodenstein!« sagte er. »Sie haben kein Opfer zu bringen; wir nehmen es nicht an.« Er kam unter den Küssen der Geliebten wieder zu sich. Sie fühlte, daß seine Kräfte wieder zurückkehrten, daß sie ihn nicht mehr zu halten brauchte. »Otto, sei gut!« bat sie. »Komm, setze Dich, und höre uns an!« Sie führte ihn zum Stuhle, auf welchem er sich mechanisch niederließ. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; sein Blick war verstört; aber sie schlang den Arm um ihn, legte ihm die Hand an die kalte Stirn und flüsterte ihm Worte in das Ohr, so innig, so
zärtlich und liebevoll, daß der Ausdruck seines Auges klarer und milder wurde und er endlich fragte: »Du liebst mich wirklich, Flora?« Das klang immer noch wie mechanisch, wie die Stimme eines Automaten. »Ja, unendlich liebe ich Dich, Otto!« betheuerte sie. »Eine Herzogin und – und ein verstoßner Sohn! O, warum hast Du mir das gethan! Wir dürfen uns nie, nie gehören! Du kennst die Pflichten Deines hohen Standes, diese Pflichten, auf denen der Fluch so manches gebrochenen Herzens ruht.« »Was gehen mich diese Pflichten an! Vater hat mich von ihnen entbunden. Er hat mir versprochen, meiner Liebe folgen zu dürfen, wenn der Bruder gefunden wird. Hier steht er; frage ihn selbst, Otto!« Da kehrte ihm das Blut in die Wangen zurück. Er holte tief, tief Athem, als zöge er mit demselben neue Lebenskraft ein. Dann stand er auf und trat auf den Herzog zu. »Sie haben mich schwach gesehen, Hoheit,« sagte er; »verzeihen Sie es mir! Es steht dem Manne nicht an, sich von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen; aber denken Sie an das, was mein Herz bereits gelitten hat; ich möchte nicht noch Schlimmeres erdulden. Ist es wahr, was Flora sagte?« »Ja,« antwortete der Herzog milde. »Kommen Sie her, mein lieber Herr von Rodenstein. Setzen Sie sich zu uns, und lassen Sie sich alles erzählen, warum ein Vater seinen Sohn suchen muß. Dann werde ich sehen, ob Sie mit mir in das Gericht gehen wollen, oder ob ich auf Ihre Hilfe rechnen kann.« Er zog, wie er es bereits zu Flora gethan hatte, den Schleier schonungslos von seiner Vergangenheit, und Otto hörte zu. Welche Gefühle drangen dabei auf den Maler ein! Er wurde bald warm und bald kalt; es war ihm, als ob er im Fieber liege. Da saß sie neben
ihm, die Heißgeliebte. Er fühlte, daß es ohne sie weder Glück noch Heil für ihn geben könne. Konnte er von ihr lassen? Durfte und mußte er von ihr lassen? War es nicht Feigheit, zurückzutreten, wo es galt, ein solches Juwel festzuhalten und zu vertheidigen gegen alle Vorurtheile und Herkömmlichkeiten? Jetzt hatte der Herzog geredet. Er fügte hinzu: »Sie sind es, der mir heut Licht in dieses Dunkel brachte, dem ich das Glück verdanke, welches mir neue Kräfte giebt. Zweifeln Sie an meiner Dankbarkeit?« »Nein, ein edler Mann ist immer dankbar,« antwortete Otto. »Aber nicht mir haben Sie zu danken, sondern dem Zufalle oder Gottes Schickung. Und selbst dann, wenn ich Dankbarkeit zu beanspruchen hätte, würde das was ich fordern würde, so köstlich, so hoch und werthvoll sein, daß – –« »Daß ich es Ihnen demnach nicht versagen würde,« unterbrach ihn Olsunna. »Wie? Höre ich recht? Sie wollten – – –!« rief Otto, einige Schritte auf den Herzog zutretend. »Ja. Ich denke jetzt nicht an meinen Rang, sondern an das Glück meines Kindes. Sie sind Künstler. Der Adel der Kunst steht vielleicht noch höher als der Adel der Geburt. Es giebt Könige, Herzoge, Fürsten, Grafen und Ritter des Geistes. Nun wohl, Sie gehören diesem Adel an; Sie stehen nicht auf der niedersten Stufe desselben; Sie sind mir und meiner Tochter ebenbürtig. Sie sind ein reiner, edler Mann und haben unverschuldet viel gelitten. Flora, liebe ihn und mache ihn glücklich!« Als hätte ein Blitz vor ihm niedergezuckt, so erstarrt stand Otto für einen Augenblick, dann aber stürzte er vor dem Herzog auf die Knie. »Ist’s wahr? Ist’s wahr?« fragte er. »Sie wollen mir das köstlichste Kleinod anvertrauen, welches Sie besitzen; das Kleinod, welches Millionen Male mehr werth ist als Ihre Herzogskrone? O mein
Gott, wo nehme ich die Worte her, Ihnen meinen Dank zu sagen!« »Danken Sie nicht mit Worten, sondern mit der at! Machen Sie mein Kind glücklich, glücklicher als ihr Vater gewesen ist!« Auch Flora war vor ihm niedergesunken, überwältigt von ihren Gefühlen. Sie lagen, innig umschlungen, vor ihm auf den Knieen. Da legte er einem Jeden von Beiden eine seiner Hände auf das Haupt, erhob den Blick gen Himmel und sagte mit zitternder Stimme, aber innig flehendem Tone: »Gott, Vater, der Du überall bist und auch jetzt bei uns, ich flehe Dich an aus der tiefsten Tiefe meines Vaterherzens, leg meine Schuld nicht auf die Meinigen; laß sie nicht tragen, was ich gefehlt habe. Laß Deine Güte auf sie leuchten und Deine Liebe über ihnen walten jetzt und allezeit. Ich lege meinen Vatersegen auf ihre theuren Häupter; gieb diesem Segen Kraft und Beständigkeit; sei Du ihr Freund und Beschützer, ihr Schirm in allen Nöthen, ihr Helfer, wenn kein Anderer helfen kann; leite sie zur Wahrheit und führe sie zum Frieden, den Niemand geben kann als nur Du allein. Erhöre mein Gebet, um Deiner ewigen Gnade willen. Amen!« Es war ein heiliger Augenblick. Der Segen und das Gebet eines geweihten Priesters hätten keine andächtigeren, ergriffeneren Zuhörer haben können als diese Bitte aus dem Munde eines Vaters, der für seine Tochter auf den Glanz einer Herzogskrone verzichtet hatte, nur um sie glücklich zu sehen. Als Olsunna geendet hatte, hob er sie mit ränen zu sich empor und drückte sie Beide an das Herz. Ihre Umarmung war wortlos, denn die Gefühle, von denen diese drei Personen bewegt wurden, konnten nicht durch schwache Laute beschrieben werden. »Von jetzt an, mein Sohn, sage ›Du‹ zu mir,« meinte endlich der Herzog. »Ich werde Dir Vater sein, da der Deinige Dir fremd geworden ist. Aber ich hoffe, daß er seinen Groll schwinden lassen wird, wenn ich bei ihm bin und mit ihm spreche.«
»Vater, mein Vater! O, ich habe einen Vater!« jubelte Otto. »Ja, er wird und er muß mir verzeihen. Ein Sohn, der dem Vater die Tochter eines Herzoges als Kind entgegenführt, muß Verzeihung erhalten.« »Und will er auf Euch nicht hören,« sagte Flora, »so werde ich einen Kampf mit ihm beginnen, in welchem er unterliegen muß. Meiner Liebe und meinen Bitten soll er sicherlich nicht widerstehen. Aber, Papa, Otto reist doch mit uns nach Rheinswalden?« »Natürlich! Außer er befindet es für gut, seine Verlobte und seinen Vater zu verlassen.« »O, ich gehe mit, wie gern, wie gern!« rief Otto, indem er die Geliebte an sich zog. »So bist Du unser Reisemarschall und hast alle Unannehmlichkeiten von uns fern zu halten, mein Sohn. Ich fühle eine Kraft in mir, als könnten wir bereits morgen abreisen.« »Davon rathe ich ganz entschieden ab,« sagte der Maler. »Den Anordnungen Sternau’s muß ganz entschieden Folge geleistet werden. Aber Flora kann einstweilen an Frau Sternau und meinen Vater schreiben, um die Empfehlungsbriefe zu übersenden und unsere Ankunft zu melden. Nur bitte ich, mich jetzt noch nicht zu erwähnen.« »Ja, thue das,« stimmte der Herzog eifrig bei. »Aber die Briefe geben wir erst persönlich ab. Frau Sternau darf nicht wissen, daß ich komme. Schreibe einen anderen Namen, meine Tochter, schreibe, daß uns Doctor Sternau sendet und, daß wir seine Empfehlungsbriefe selbst überbringen werden.« »Wird das nicht unrecht sein, Papa?« »O nein,« lachte er vergnügt. »Ein Herzog hat das Recht, incognito zu reisen. Ueberhaupt gehe ich ja, mir meine Braut zu besehen; das thut der Bräutigam in einem jeden Roman gewiß nicht anders, als incognito.«
Der alte Herr war recht fröhlich geworden. Er scherzte und lachte, und diese Gemüthsstimmung äußerte einen ganz vortheilhaften Einfluß auf sein körperliches Befinden. Er fühlte sich so wohl, so wie neugeboren, daß er endlich gar vorschlug, das unterbrochene Mahl von Neuem zu beginnen, ein Vorschlag, welcher die Billigung der beiden Anderen fand, die sich über die gute Stimmung des Vaters herzlich freuten. Als Otto von Rodenstein sich vorhin an die Tafel gesetzt hatte, war es ihm gar nicht eingefallen, zu denken, daß er nach so kurzer Zeit bereits als der Verlobte Flora’s an deren Seite sitzen werde. Er aß, aber er wußte vor Glück nicht, was er aß. Die Geliebte schob ihm das Beste hin; er ließ es sich schmecken, aber er sah nur auf die zarten, weißen Hände, welche ihn bedienten und auf ihre Augen, die so seelenvoll vergnügt auf ihn leuchteten. Der Herzog bemerkte dieses ganz und gar Versunkensein in die Liebe; er lächelte, als er sah, welche Portionen Otto hinunterschluckte, ohne darauf zu achten; nach und nach aber wurde er besorgt; es wurde ihm angst und bange, und er sagte: »Halt ein, Flora, sonst bringst Du mich um den Sohn, den ich soeben erst gewonnen habe!« Sie sah ihn an und fragte unbefangen: »Wie meinst Du das, Papa?« »Wirf doch nur einen Blick auf die Tafel, mein Kind. Muß denn die Liebe gar so nachhaltig gespeist, ich möchte fast sagen, gemästet werden? Ich sage Dir, er wird ganz sicher ersticken!« Jetzt lachten sie alle Drei, und nun der Maler aufmerksam geworden war, fühlte er erst, daß er den schönen Händen und Augen der Geliebten wegen, fast ganz allein den Tisch abgeräumt hatte. »Eine Hungerkur macht Alles gut,« sagte er. »Hat man aus Liebe gegessen, kann man aus Liebe auch hungern; ich will es wenigstens versuchen.«
Die Unterhaltung war durch dieses kleine Intermezzo noch lebhafter geworden als zuvor und kam zuletzt doch wieder auf den Angelpunkt der ganzen Situation, auf Sternau, um den sich Alles drehte. »Es ist eine unangenehme Fügung, ihn gefunden und sofort wieder verloren zu haben,« klagte der Herzog. »Es handelte sich nur um eines Tages Länge, so säße er hier bei uns, ebenso glücklich wie wir, wie ich hoffe. Hat er nicht gesagt, wann seine Seereise beendet sein wird?« »Nein,« antwortete Otto. »Er kann dies selbst nicht wissen. Er hat nämlich eine außerordentlich abenteuerliche Aufgabe zu lösen.« »Welche?« »Er will einen Seeräuber fangen.« »Einen Seeräuber?« fragte Flora erschrocken. »Mein Gott, welche Gefahr!« »Unser Otto scherzt!« lächelte der Herzog. »Mit einer kleinen Lustyacht fängt man keinen Seeräuber.« »Und dennoch scherze ich nicht,« sagte Otto. »Diese Sache ist ernst, sehr ernst. Es handelt sich um das ganze Glück, ja um die ganze Existenz einer hochgestellten Familie. Hast Du einmal von dem berüchtigten Korsarenschiffe ›Lion‹ gehört, Papa?« »Von dem ›Lion‹, Kapitän Grandeprise? Ja, oft. Er soll ein ganz schrecklicher Mensch sein, wie man sich erzählt.« »Nun, diesen Grandeprise will Sternau fangen.« »Nicht möglich!« rief Olsunna erbleichend. »Und doch!« »So ist er verloren!« »Ich glaube es nicht. Sternau ist ein Held. Er hat fremde Welten bereist, sich mit Löwen, Panthern, Elephanten, Krokodilen, Kaffern, Arabern und Indianern herumgeschlagen; er ist ein Riese an Kraft und ein Virtuose in Führung der Waffen. Wenn es einen giebt, der Grandeprise fängt, so ist er es.«
»O, nun sinkt mir all’ mein Muth!« klagte der Herzog. »Ich werde den Sohn wohl nie wiedersehen!« »Aber warum begiebt er sich in diese fürchterliche Gefahr?« fragte Flora. »Um Geheimnisse zu entdecken, welche für ihn sehr wichtig sind, um Menschen zu finden, welche man geraubt und versteckt hat, um Verbrecher zu bestrafen, welche ihn und seine Familie in das Verderben bringen wollen.« »Seine Familie? Also seine Mutter und Schwester?« »Ich meine eigentlich die Familie seiner Frau.« »Seiner Frau! Ah, er ist verheirathet?« rief der Herzog, indem er vom Stuhle emporsprang. »An diese Möglichkeit habe ich gar noch nicht gedacht!« »Ja, er ist sehr glücklich verheirathet,« sagte Otto, der jetzt ein innerliches Lächeln kaum unterdrücken konnte. »Das ist unangenehm, höchst unangenehm!« rief der Herzog. »Ich habe die Absicht, ihn anzuerkennen; er soll der Erbe meiner Titel, meiner Würden und Besitzungen werden, und nun steht zu erwarten, daß – –« »Daß er als Arzt keine solche Partie gemacht hat wie ich als Maler, nicht wahr?« vervollständigte Otto. »Ja, das meine ich.« »Ich kann Dich glücklicher Weise beruhigen, lieber Papa. Er hat keine Mesalliance eingegangen.« »Nach dem Maßstabe eines Arztes?« »Allerdings auch nach diesem nicht. Es ist übrigens eigenthümlich; auch seine Frau ist eine Spanierin.« »Ah? Woher?« fragte Flora. »Aus Rodriganda in Aragonien.« »Aus Rodriganda, der Besitzung des Grafen Emanuel de Rodriganda und Sevilla?« »Ja, mein Herz.«
»Dort bin ich bekannt. Ich war einmal einige Zeit bei der Gräfin Rosa; sie besuchte dann auch uns in Madrid. Ich war leider älter als sie, sonst wären wir sicher Freundinnen geworden. Sie hatte sich nur einer einzigen Dame angeschlossen, einer Engländerin, welche Amy Lindsay hieß.« »Diesen Namen kenne ich; Sternau nannte ihn mir vorgestern.« »Er kennt sie?« fragte Flora überrascht. »Sehr. Er war zu gleicher Zeit mit ihr auf Rodriganda. Er war aus Paris dorthin gerufen worden, um einen Kranken zu operiren; dabei lernte er die Dame kennen, welche jetzt seine Frau ist.« »O weh!« sagte der Herzog enttäuscht. »Rodriganda ist klein. Dort giebt es keine einzige Familie, deren Tochter ich mir als Schwiegertochter wünschte.« »Nicht?« fragte Otto, indem sein inneres Lächeln nun auch äußerlich zu Tage trat. »Eine Familie giebt es doch wohl dort, lieber Papa?« »Welche wäre das?« »Diejenige des Grafen.« »Pah! Graf Emanuel sucht sich für seine Tochter keinen Arzt aus!« »Warum nicht? Da doch der Herzog von Olsunna sich einen Maler ausgesucht hat!« »Schelm!« »Uebrigens ist der jetzige Besitzer von Rodriganda nicht mehr Graf Emanuel, sondern dessen Sohn Alfonzo.« »Wirklich?« rief der Herzog bestürzt. »So wäre Graf Emanuel gestorben? Wir haben längere Zeit im Auslande und überdies sehr abgeschieden gelebt; ich konnte also so rein private Ereignisse nicht verfolgen.« »Man sagt allerdings, daß er gestorben sei; Sternau bezweifelt dies. Er reist ja eben deshalb, um den Grafen zu suchen, wie er mir erzählte.«
»Das verstehe ich nicht, mein Sohn. Liegt ihm die Familie des Grafen so nahe?« »Freilich, lieber Vater! Der Graf ist sein Schwiegervater und Gräfin Rosa ist seine Frau.« Jetzt war es an Flora und ihrem Vater, zu überraschen, doch aber auf eine freudige Weise. »Gräfin Rosa, seine Frau!« rief der Herzog. »Meine gute, süße Rosa, meine Schwägerin!« rief Flora. »Freilich, freilich!« lachte Otto, ganz entzückt darüber, daß er diesen zwei lieben Menschen eine so fröhliche Nachricht geben konnte. »O, Freund Karl hat keine Mesalliance gethan; das fällt ihm gar nicht ein! Wir werden Rosa sehen. Sie wohnt jetzt ja in Rheinswalden, sie und Elvira mit ihrem Alim – – – Mein Gott, was ist das! Dieser Name – – –!« Er war vom Stuhle emporgefahren und starrte ganz verstört in’s Leere. »Was hat Du?« fragte Flora. »Du meinst wohl den Kastellan Alimpo, der immer spricht: Das sagt meine Elvira auch?« »Ja, den meine ich. Ich kenne ihn nicht, aber Sternau hat mir von ihm erzählt. O, und an ihn dachte ich nicht. Gott, wäre es möglich!« »Was denn?« rief Flora fast angstvoll, als sie seine erschreckten Züge sah. Er beantwortete diese Frage nicht, sondern wandte sich zu dem Herzog: »Lieber Vater, Du kennst den Grafen Emanuel?« »Ja, sehr gut.« »Wann haben Sie ihn zum letzten Male gesehen?« »Vor zwei Jahren. Er ist blind geworden.« »Er ist wieder sehend. Er war eben der Kranke, weshalb Sternau aus Paris geholt wurde; er hat ihn glücklich operirt, so daß er wieder sehen kann. Und Du, Flora, kennst Du den Grafen auch?«
»Ja, ich war ja bei ihm!« »Würdet Ihr ihn wieder erkennen, selbst wenn er durch eine abzehrende Krankheit erschreckend hager geworden wäre?« »Ich hoffe es,« sagte der Herzog. »Ich auch,« stimmte Flora bei. »Die Züge, welche Graf Emanuel trägt, können sich nicht in der Weise verändern, daß man ihn nicht erkennen könnte. Warum fragst Du so, Otto?« Er antwortete abermals nicht. Es war ein beinahe ungeheuerlicher Gedanke, der ihn in Anspruch nahm. Sternau hatte ihm alle seine Erlebnisse mitgetheilt und dabei auch den treuen Alimpo und seine Elvira erwähnt. Er hatte ferner im Laufe des Berichtes erwähnt, daß der wahnsinnig gewordene Graf Emanuel nichts gesprochen habe als einige stereotype Worte; er habe sich für seinen Diener gehalten. Diese stereotype Redensart hatte Sternau leider aber nicht wörtlich angeführt. Nun war Otto auf dem Leuchtthurm gewesen und hatte den Wahnsinnigen gesehen und auch sprechen gehört. Das war ihm aufgefallen, aber er hatte die gehörten Worte in keinerlei Beziehung zu der Angelegenheit der Rodriganda gebracht. Jetzt aber, da er von Sternau gesprochen hatte, war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, ob der Wahnsinnige auf dem Leuchtthurm nicht Graf Emanuel sein könne. Dieser Gedanke war, wie bereits gesagt, zwar ungeheuerlich, aber es war bisher so Außerordentliches geschehen, daß man Alles für möglich halten konnte. Er faßte einen Entschluß und trat an das kleine Schreibepult, welches in dem Zimmer stand. Er nahm ein weißes Blatt Papier und schrieb darauf: »Dringendes Telegramm an Frau Doctor Sternau in Rheinswalden bei Mainz. Welches sind die Worte, die Graf Emanuel immer wiederholte, als er wahnsinnig geworden war? Bitte um sofortige Rückantwort. Sehr eilig und wichtig. Meine Adresse bei Frau Sternau.«
Er las diese Depesche den Beiden vor. »Was soll das bedeuten? Warum fragen Sie an?« fragte der Herzog. »Weil es möglich ist, daß ich den Grafen hier gesehen habe.« »Hier? Es häufen sich immer mehr Räthsel. Der Graf ist wahnsinnig! Er soll hier sein!« »Es ist möglich. Ich werde Ihnen sogleich Alles erzählen!« Er klingelte und übergab dem Diener die Depesche zur schleunigen Besorgung. Dann fand er Zeit, Alles zu erzählen, was Sternau ihm berichtet hatte. Man kann sich denken, mit welcher Spannung die beiden Zuhörer an seinen Lippen hingen. Wie stolz leuchteten ihre Augen, wenn er einen neuen Zug von Sternau’s Muth, atkraft und Hochsinn erwähnte; wie verhielten sie den Athem, wenn er berichtete, daß sein Freund sich in Gefahr befunden habe! Es war so Vieles, so Außerordentliches, so Unglaubliches! Und nun war dieser Held gar zur See gegangen, um den Knoten der Verwikkelung zu zerhauen, wie einst der macedonische Alexander! Hunderte von Ausrufungen der Freude, des Schmerzes, des Staunens, der Bewunderung, des Entzückens, des Schreckens unterbrachen ihn. Es verging weit über eine Stunde, ehe er bis an den gestrigen Tag und seinen Besuch auf dem Leuchtthurm gelangt war. Als er geendet hatte, schlug der Herzog die Hände zusammen und rief: »Welch ein Mensch ist dieser, mein Sohn! Ich werde ihn mit Freuden in meine Arme schließen, wenn Gott mir die Gnade gewährt, ihn wiederzusehen.« »Und ich werde stündlich für ihn beten,« fügte Flora bei, »daß der gute Gott ihn beschützen möge auf seinem gefahrvollen Wege. Zürne ihm nicht, mein Vater, daß er sein schönes Weib verlassen hat, um den Bösewicht zu verfolgen!« »Zürnen? O nein!« sagte Olsunna. »Wenn meine Stimme hinaustönen könnte über die weite See, so würde ich ihm nachrufen, daß
ich ihn für diesen kühnen Entschluß segne. Nun ich weiß, was ihn auf seiner kleinen Nußschale hinausgetrieben hat in die Wüste des Meeres, bin ich überzeugt, daß er zurückkehren wird. Gott muß einen solchen Mann beschützen; er kann den Gerechten nicht untergehen lassen, um den Ungerechten mit Glück zu überschütten. Jetzt aber liegt uns der Graf Emanuel nahe. Was werden wir thun, mein Sohn?« »Wir gehen sofort nach dem Leuchtthurme und recognosciren den Wahnsinnigen,« sagte Flora. »Man kann nicht begreifen, wie er nach hier kommen konnte, aber nun ich Deine Erzählung gehört habe, Otto, ist mir selbst das Allerunglaublichste glaubhaft geworden.« »Wir wollen nicht unvorsichtig sein,« antwortete der Maler. »Dieser Wärter Gabrillon ist mir sehr verdächtig erschienen, aber – – –« »Ach,« unterbrach ihn der Herzog, dem ein neuer Gedanke kam, »was hat diese Zarba bei ihm gewollt?« »Zarba, die Zigeunerin, von welcher Sternau mir erzählte?« fragte Otto. »Ja, dieselbe!« »Sie war gestern auf dem Leuchtthurm?« »Gestern. Sie sprach ja auch mit uns. Ach, das zu erzählen, hatte ich vergessen, mein Sohn!« »Da gewinnt meine Vermuthung sehr an Wahrscheinlichkeit. Diese Zarba hat überall die Hand im Spiele. Wenn sie hier gewesen ist, so steht zu erwarten, daß sie einen Faden der uns jetzt interessirenden Begebenheiten bis nach hier gesponnen hat. Dieser Gabrillon hat ganz das Aussehen eines Zigeuners; vielleicht ist er einer der Ihrigen; sie soll ja die Königin der Gitanos sein. Und warum hat er keine Legitimation über den Wahnsinnigen auf der Mairie niedergelegt?« »Wir müssen sofort zu ihm!« rief Flora.
»Nein, jetzt noch nicht. Wir müssen erst die Antwortsdepesche aus Rheinswalden erwarten; dann können wir mit um so größerer Sicherheit auftreten. Wie gut, daß ich mein Telegramm als dringend bezeichnet habe! Wir können die Antwort bereits in zwei Stunden erhalten, und ich werde um diese Zeit mich nach meiner Wohnung verfügen, um sie empfangen zu können.« Es wurden nun die Einzelheiten besprochen, welche vorher nicht ausführlich zu behandeln gewesen waren. Der Herzog fühlte sich gar nicht mehr krank. Durch die Schicksale seines Sohnes hatte sein Geist eine Spannkraft erhalten, welche sich auch seinem Körper mittheilte. Er war nicht müde; er sah zwar hager, aber sehr wohl aus, und als die Zeit gekommen war, trieb er selbst den Maler fort, damit die Eröffnung der erwarteten Depesche ja keinen Augenblick verzögert werde. Dieser ging nach seinem Hotel, aber noch war keine Antwort da. Er wartete von Viertelstunde zu Viertelstunde – da endlich klopfte es an und der Bote des Telegraphenamtes trat ein. Er riß, als dieser die ür kaum hinter sich geschlossen hatte, voll Ungeduld das Couvert auf und verschlang die Worte. Ja, da stand sie, nach vorheriger Angabe seiner Adresse, die wichtige, verhängnißvolle Antwort: »›Ich bin der treue, gute Allimpo.‹ Gott, warum fragen Sie? Haben Sie eine Spur gefunden? eilen Sie es mir ja sogleich mit, Rosa Sternau.« Er steckte das Telegramm ein, nahm den Hut und stürmte zur ür hinaus und die Treppe hinab, ohne sich erst Zeit zu nehmen, die ür zu verschließen. Die Leute blickten ihm verwundert oder lächelnd nach, als sie ihn im Sturmschritte vorüberlaufen sahen. Erst vor dem Eingange der Mairie holte er Athem, dann begab er
sich nach der Expedition des Maire, klopfte an und trat ein, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten. Der Beamte sah ihn halb freundlich, halb mißbilligend an und fragte: »Sie scheinen es sehr eilig zu haben, Monsieur? Wollen Sie mir vielleicht melden, daß Sie mit der gestrigen Genugthuung zufrieden sind?,« »Ja, das will ich, mein Herr. Also meinen besten Dank! Aber ich komme in einer noch viel, viel wichtigeren Angelegenheit.« »Ah!« sagte der Maire, indem er sich erhob und erwartungsvoll die Brille von der Nase auf die Stirne schob. »Es muß allerdings sehr wichtig sein, denn Sie sind ganz echauffirt!« »Das hat seinen guten Grund. Ich komme, um mir in einer kriminellen Angelegenheit Ihre amtliche Hilfe zu erbitten.« »Kriminell?« fragte der Beamte, indem er schnell die Brille wieder auf die Nase rückte und den jungen Mann forschend anblickte. »Ach, kriminell! Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?« »Ich denke es!« »Kriminell kommt her von crimen, Verbrechen; es handelt sich also um ein Verbrechen?« »Ja. Sie haben schleunigst eine Zigeunerin, Namens Zarba, verfolgen zu lassen, respective dem Präfecten sofort telegraphisch Meldung zu thun, daß er diese Verfolgung in seinem ganzen Kreise anbefiehlt. Sie ist gestern hier gewesen. Ferner haben Sie – –« »Pst, Monsieur!« unterbrach ihn der Maire. »Nicht so hitzig! Was ich habe oder was ich zu thun habe, das werde ich selbst entscheiden, nachdem ich gehört habe, um was es sich denn eigentlich handelt. Bis jetzt hatten Sie nicht die Güte, mir es mitzutheilen.« Otto verbeugte sich, ein Wenig beschämt. »Verzeihen Sie, Monsieur!« sagte er. »Ich bin so aufgeregt, daß ich wirklich die schuldige Höflichkeit verletzt habe. Gestatten Sie mir also, Ihnen das Nöthige in kurzen Worten zu sagen!«
»Gut, setzen wir uns!« Sie nahmen Platz, und Otto begann: »Der spanische Graf Emanuel de Rodriganda y Sevilla ward plötzlich geisteskrank und Einer der bedeutendsten Aerzte constatirte, daß dies die Folge einer Dosis Curaregift oder Pohon Upas sei, die ihm verbrecherischer Weise beigebracht worden war. Es gab Personen, welche Veranlassung hatten, den Grafen zu tödten, oder wenigstens seiner Selbstbestimmung zu berauben, um sein Erbe anzutreten. Der betreffende Arzt nahm ihn in Behandlung; er hätte ihn hergestellt, aber des anderen Morgens war der Graf verschwunden. Später fand man in einem nahen Abgrunde eine Leiche. Die betreffenden Leute recognoscirten dieselbe als diejenige des Grafen, der Arzt aber behauptete, es sei der Körper eines ganz anderen Menschen. Die Personen, von denen ich spreche, waren mächtig; die Aussage des Arztes wurde nicht berücksichtigt, und man setzte die Leiche als die des Grafen in der Familiengruft bei. Auch Gräfin Rosa, die Tochter des Grafen, war durch eine Dosis des erwähnten Giftes um den Gebrauch ihres Verstandes beraubt worden, der erwähnte Arzt aber entriß sie mit Gewalt den Händen ihrer Feinde, entführte sie in das Ausland und stellte sie vollständig wieder her.« »Parbleu! Das ist ja ein Kriminalroman, wie er im Buche steht! Aber was habe ich als französischer Maire mit einem Verbrechen zu thun, welches in Spanien vollbracht wurde?« »Was ich jetzt sagte, betrifft Sie nicht, mein Herr; es war nur die Einleitung. Der Arzt war überzeugt, daß man eine falsche Leiche untergeschoben und den wahnsinnigen Grafen entfernt habe. Er suchte ihn jetzt überall, sogar auf der See, kann ihn aber nicht finden, denn der Wahnsinnige ist mit Gewalt nach Frankreich geführt worden und wird dort gefangen gehalten.« »Donnerwetter! Das ginge uns nun allerdings etwas an! Aber warum kommen Sie gerad zu mir?«
»Weil sich das Versteck in Ihrem Amtsbereiche befindet.« »Teufel! Ein crimen, ein ordentliches, regelrechtes crimen! Ich werde sofort einschreiten. Wo befindet sich der Graf?« »Auf dem Leuchtthurme.« Der Maire fuhr einige Schritte zurück und rief entsetzt: »Unmöglich!« »Nein, wirklich! Sie können in arge Verlegenheit gerathen, Monsieur. Sie haben einen wahnsinnig Gemachten aufgenommen, ohne nach seiner Legitimation zu fragen. Derjenige, den Gabrillon für seinen Verwandten ausgiebt, ist der Graf Emanuel de Rodriganda.« Dem Maire stand bereits der Angstschweiß auf der Stirn. »Fatal, höchst fatal!« sagte er. »Ich werde diesen Gabrillon ad coram nehmen! Aber, mein Herr, können Sie beweisen, daß dieser Mann wirklich der Graf ist?« »Ja. Als er vom Wahnsinne befallen wurde, verging ihm das Gedächtniß vollständig; dies ist eine spezifische Wirkung jenes Giftes. Nur eine einzige Erinnerung ist ihm geblieben. Es befand sich sein Kastellan Alimpo zugegen, und dies hat er festgehalten; er hält sich für jenen Diener und sagt stets nur die Worte: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« Sie geben zu, daß kaum die Möglichkeit vorhanden ist, daß ein zweiter Wahnsinniger auf gerade diese Monomanie und ganz dieselben Worte verfällt. Sie sind also ein sicheres Erkennungszeichen.« »Wahrscheinlich. Doch müßte zuvor amtlich bestätigt werden, daß der unglückliche Graf sich wirklich gerade dieser Worte bedient habe.« »Diese Bestätigung wird mir leicht werden. Außerdem aber giebt es hier noch Herrschaften, welche den Grafen ganz genau kennen und ihn recognosciren werden.« »Das wäre allerdings sehr wesentlich. Aber sind diese Personen nicht etwa gerichtlich zu beanstanden?«
»Nein. Es ist der Herzog von Olsunna und Prinzeß Flora, seine Tochter.« »Das genügt! Das genügt vollständig, mein Herr!« »Um ganz sicher zu gehen, habe ich an die Gräfin Rosa de Rodriganda telegraphirt und um telegraphische Mittheilung jener Worte gebeten. Hier ist die Antwort. Bitte, lesen Sie!« »Ah! Ich bin der treue, gute Alimpo! Richtig! Hm! Mein Herr, ich stehe mit allen Kräften zu Diensten, aber ich hoffe, daß Sie diese fatale Angelegenheit in einer Weise behandeln, die mir keinen Schaden wegen meiner kleinen Vergeßlichkeit bringt!« Dieser Mann hatte wirklich Angst. »Ich werde mich bemühen, Ihren Wunsch zu erfüllen,« antwortete der Maler. »Aber was ist’s mit jener Zigeunerin? Zarba heißt sie, nicht wahr?« »Sie ist jedenfalls Diejenige, welche in diese Angelegenheit eingeweiht ist. Sie ist jedenfalls eine Bekannte Gabrillon’s und war gestern Vormittag hier, ihn zu besuchen. Wir müssen sie finden.« »Ich werde Alles thun, was Sie befehlen.« »So geben Sie sofort Ordre, daß nach der Zigeunerin gefahndet werde, und sodann kommen Sie mit der nöthigen Hilfe zum Herzoge. Wir begeben uns nach dem Leuchtthurme; das Uebrige wird sich finden.« »Schön! Gut! Vortrefflich! In einer Viertelstunde werde ich bei Durchlaucht sein. Ich finde Sie dort?« »Ja, ganz sicher!« »Sie malen wohl für die Durchlaucht?« »Nein,« antwortete Otto lächelnd. »Ich bin der Verlobte der Prinzessin.« Der Maire schob die Brille zurück, trat bei Seite und rief: »Unmöglich, mein Herr!« »Warum unmöglich, Monsieur?«
»Sie ein Maler, und die Durchlaucht eine herzogliche Prinzessin!« »Ueberzeugen Sie sich selbst!« »Also doch! Also wirklich! Gratuliere demüthigst, Monseigneur, gratuliere!« Er machte die tiefste Reverenz, welche er fertig brachte und begleitete den Verlobten einer Prinzessin bis auf die Straße, wo er die Brille von der Nase nahm, und mit derselben einige Höflichkeitsphrasen in die Luft zeichnete. Nun eilte Otto zu Olsunna. Dort war seine Rückkehr mit der größten Ungeduld erwartet worden, und als er eintrat, riefen ihm zwei Stimmen zugleich entgegen: »Wie ist’s? Wie steht’s?« Er blieb vor ihnen stehen, faltete die Depesche auseinander und las: »Ich bin der treue brave Alimpo! Gott warum fragen Sie? Haben Sie eine Spur gefunden? eilen Sie es mir ja sogleich mit. Rosa Sternau.« »Also er ist es!« rief der Herzog. »Kein Zweifel!« »Nun sogleich nach dem Leuchtthurm, vorher aber auf die Mairie!« sagte Flora. »Ich war bereits dort. In einer Viertelstunde ist der Maire hier.« »Recht so, mein Sohn!« meinte Olsunna. »Aber werde ich bis zum Leuchtthurme gehen können?« »Dies wird gar nicht nöthig sein, mein lieber Vater. Wir bringen den Grafen her. Der Maire wird ganz gern darauf eingehen.« »Aber ich gehe mit!« sagte Flora entschlossen. »O, warum mußte uns der Bruder so schnell verlassen! Er hätte hier einen der Gesuchten gefunden!«
Der Maire stellte sich noch eher ein, als er gesagt hatte. An dieser Eile war jedenfalls nur der Rang der Personen schuld, mit denen er es hier zu thun hatte. Er erging sich in den demüthigsten Verbeugungen und Redensarten und meldete, daß er drei Gensd’armen und auch noch fünf handfeste Civilisten mitgebracht habe. »So vieler Menschen bedarf es gar nicht,« sagte Otto lächelnd. »Wir wollen kein Aufsehen erregen und uns deshalb vertheilen. Wir nähern uns dem urme ganz in der Art und Weise von absichtslosen Spaziergängern; das Uebrige wird sich dann ergeben.« Dieser Vorschlag wurde angenommen, und man entfernte sich. Otto nahm Flora am Arme, welche ihm mittheilte, daß auch ihr Diener den Grafen Rodriganda genau kenne. Er hatte früher sogar in dessen Dienst gestanden und erinnerte sich genau eines kleinen Males, welches die Erlaucht grad unterhalb des linken Ohres habe. Das war ein Zeichen mehr. – Ungefähr eine halbe Stunde, bevor sich die Betheiligten in Bewegung setzten, huschte eine Frauengestalt hart am Gestade längs der Küste hin, so, daß man sah, daß sie nach dem urme wolle. Es war Zarba. Sie hatte keine Ahnung von der Gefahr, welche ihr drohte, sondern sie schlug diesen abgelegenen Weg nur deshalb ein, weil sie nicht mehr vor dem von dem Herzog bewohnten Häuschen vorüber wollte. Die ihr gestern von Flora und dann von dem Diener gegebene Lection wollte sie nicht noch erneuert haben. Als sie den urm erreichte, trat sie ein, stieg die Treppe empor und wollte eben klingeln, als die ür geöffnet wurde. Gabrillon war es. »Ich sah Dich kommen,« sagte er. »Warum kommst Du so früh?« »Es ist besser, ich bin bei Dir, wo mich Niemand sieht, als draußen auf der Straße oder im Felde, wo man mich bemerken könnte. Es giebt Leute hier, welche mich kennen,« sagte sie. »Wann kommen Deine Leute?«
»Gleich nach Beginn der Dunkelheit. Sie bringen ein Boot mit. Man hat nichts gesehen, als der Graf gebracht wurde, so soll man auch nichts sehen, wenn wir ihn wieder fortschaffen.« »Es wird Zeit!« brummte der Wärter. »Sogar dieser Fremde schien Verdacht zu schöpfen.« »Wer ist es? Kennst Du ihn?« »Nein, aber ich habe vom urme beobachtet, daß er in das Haus des Herzogs ging.« »Dann ist er uns gefährlich!« sagte sie rasch. »Hast Du die Papiere, welche ich Dir mit dem Grafen sandte, hervorgesucht?« »Ja. Sie liegen oben beim Ofen, schon bereit.« »So laß sie uns sogleich verbrennen. Man weiß nicht, was geschehen kann. Wie befindet sich der Graf, Gabrillon?« »Wie immer. Er war mir eine große Last, und ich bin froh, daß ich ihn los werde.« Sie stiegen empor bis zu dem Gemache, welches dem Wärter als Wohnung diente. Dort stand ein Ofen, und auf einem Schemel daneben lag ein altes, geöffnetes Kästchen, in dem sich einige Papiere befanden. Sie enthielten den Ausweis über die Person des Grafen, über den Leichenraub und die Verwechslung des Todten mit dem Grafen. Es wäre daraus Manches klar geworden, vor allen Dingen aber die Absicht der Zigeunerin, den Grafen nicht am Leibe und Leben zu schaden, sondern ihn nur zum Werkzeug ihrer Rache zu gebrauchen. Sie las den Inhalt durch und steckte dann die Papiere in den Ofen; ein daran gehaltenes Zündholz versetzte sie in lodernden Brand. »So!« sagte sie. »Und wenn selbst in diesem Augenblicke Etwas passirte, so könnte man uns doch nichts beweisen. Dein Vetter Marcello ist gestorben; ihn können sie nicht anfassen, und so würdest Du sagen, daß er es gewesen ist, der Dir den Wahnsinnigen
brachte. Jetzt komm wieder hinab in die niedere Stube! In dieser schwindelnden Höhe wird es mir angst.« Sie stiegen hinab, und eben, als sie in den Raum kamen, klingelte es; Gabrillon öffnete und blickte hinaus. Er sah Otto, hinter welchem Flora auf der stellen Treppe stand. »Was wollen Sie schon wieder?« fragte er zornig. »Ich wünsche, dieser Dame von der Höhe des Leuchtthurmes aus die See zu zeigen,« antwortete er. Er trat ohne alle weiteren Umstände ein und die Dame mit ihm. Er kannte Zarba nicht; er hatte sie noch nie gesehen; darum beachtete er sie mit keinem Blicke. Die Zigeunerin aber, welche ihre Zurechtweisung nicht vergessen konnte, fühlte sich unter dem Schutze Gabrillon’s sicher, wendete sich an Flora und sagte: »Das ist ja die blanke, stolze Dame, die mich nicht erhören wollte! Jetzt wird sie wohl erlauben müssen, daß ich rede. Ihr Vater ist – –« Otto, welcher sofort begriff, wen er vor sich hatte, unterbrach sie rasch, indem er die Geliebte fragte: »Ist diese Person die Zigeunerin Zarba, von der wir sprachen?« »Ja, ich bin Zarba,« antwortete die Alte hastig selbst. »Also der blanke Herr hat bereits von mir gehört? Nun, so werde ich ihn zum Zeugen meiner Mittheilung machen, die ihn so sehr interessiren wird.« »Ich verzichte auf Deine Mittheilungen, Alte!« antwortete er ihr stolz. »Mach Platz! Wir wollen nach oben.« »Ich mache nicht eher Platz, als bis ich gesprochen habe,« sagte sie hartnäckig, indem sie vor der zweiten Treppe stehen blieb. »Und wenn der Herr meint, daß das, was ich zu sagen habe, nicht wichtig ist, so irrt er sich. Ich könnte diesen Herzog von Olsunna glücklich machen, wenn ich wollte; aber ich thue es nicht. Ich weiß, wer – –«
»Schweig!« gebot er ihr, »Leute Deines Gelichters hätten eben das Zeug, einen Herzog glücklich zu machen!« Und im verächtlichen Tone fügte er hinzu: »Was Du willst, das weiß ich. Wir brauchen Deine Mittheilungen gar nicht; wir kennen Sternau besser als Du. Da hast Du Deine Neuigkeiten. Packe Dich fort!« Er schob sie zur Seite und stieg mit Flora, welche die Alte keines Blickes gewürdigt hatte, die Treppe empor. Zarba widerstrebte nicht; sie stand ganz starr da und blickte den Beiden mit weitgeöffneten Augen nach. Daß ihr Geheimniß verrathen sei, daß der Herzog wußte, wer sein Sohn sei, das hatte sie erschreckt; das machte einen großen eil ihrer Pläne zu nichte. Aber bald faßte sie sich und murmelte: »Und dennoch sollt ihr ihn nicht haben! Der Waldhüter Tombi in Rheinswalden wird dafür sorgen!« Und dem Leuchtthurmwärter flüsterte sie zu: »War dies der Fremde, welcher Verdacht gefaßt zu haben schien?« »Ja,« antwortete Gabrillon leise. »Und den Du beim Herzoge eintreten sahst?« »Ja.« »Ist die ür zu dem Grafen verschlossen?« »Nein, nur verriegelt.« »So folge ihnen schnell! Sie könnten die Absicht haben, ihn zu sehen.« Er gehorchte diesen Worten und hatte die beiden jungen Leute bald ein. Diese erreichten eben das dritte Stockwerk, in welchem sich die kleine Kammer befand, die der Wahnsinnige bewohnte. »Hier wird er sein,« sagte Otto zu Flora, indem er nach dem Riegel griff. »Halt!« rief da Gabrillon. »Was wollen Sie hier?« »Ich will mir nur einmal Deinen Vetter ansehen, Alter,« lautete die Antwort.
»Der geht Sie nichts an! Gehen Sie!« sagte der Wärter, indem er sich vor die ür stellte. »Vielleicht geht er mich doch Etwas an! Gieb Raum, sonst werde ich mir zu öffnen wissen!« »Sie?« fragte Gabrillon mit funkelnden Augen. »Sollten Sie es wagen, mich anzugreifen, so werde ich mein Hausrecht zu vertheidigen wissen!« »Angreifen? Dich?« sagte Otto. »Pah! Du bist mir zu schmutzig dazu! Wirst Du nicht freiwillig öffnen, so wird man, auch ohne daß ich mich mit Dir beschmutze, schon erfahren, warum man diesen Unglücklichen nicht sehen darf.« »Nein, öffne nicht!« erklang es von der ür her. Zarba war ihnen gefolgt. Die Besorgniß um die Geheimhaltung des Wahnsinnigen hatte ihr keine Ruhe gelassen. Da zog Otto sein Taschentuch heraus und winkte damit durch die Fensteröffnung hinaus. »Was ist das für ein Zeichen?« fragte Zarba argwöhnisch. Otto antwortete ihr gar nicht, sondern er horchte nach der Treppe hin, die nach unten führte. Es ließen sich bald rasche Schritte hören. Der Maire erschien. »Wir treffen es sehr glücklich, Monsieur,« sagte der Maler zu ihm. »Dieses Weib ist die Zigeunerin, welche wir suchen.« »Ah! Schon gut!« sagte der Beamte, indem er die Alte durch seine Brille musterte. »Du also bist das Weib, welches gestorbene und begrabene Leute versteckt?« Sie erschrak bei diesen Worten, beherrschte aber ihren Schreck und antwortete: »Ich verstehe Sie nicht. Wer sind Sie?« »Ich bin der Maire und wünsche einige Worte mit Dir zu sprechen, Alte. Zuvor aber sollt Ihr uns einmal den Wahnsinnigen zeigen. Wo ist er?«
Jetzt sah Zarba ihre Befürchtung eingetroffen, aber sie erkannte auch, daß an eine Gegenwehr gar nicht gedacht werden konnte. Hier war nur ein hartnäckiges Leugnen am Platze, und dann kamen ja heut Abend ihre Leute, um den Grafen zu holen und an einen anderen sicheren Ort zu schaffen. »Da drin ist er,« sagte Gabrillon, auf die ür deutend. Er war nicht sehr besorgt, denn er glaubte es nur mit dem Maire zu thun zu haben. »Also er ist ein Verwandter von Dir?« fragte dieser. »Wie heißt er?« »Anselmo Marcello.« »Und woher ist er?« »Aus Varissa.« »Hast Du seine Legitimationen in Ordnung?« »Mein Vetter brachte ihn zu mir und versprach, mir diese Papiere zu senden. Er ist aber unterdessen gestorben.« »So solltest Du Dir diese Papiere durch einen Anderen besorgen lassen. Ich werde mich in Varissa erkundigen, ob dieser Vetter wirklich einmal verreist war, um Dir diesen Mann zu bringen. Oeffne die ür!« Der Wärter gehorchte und nun sahen sie ein Kämmerchen vor sich, kaum so lang und breit, um für einen Strohsack Raum zu bieten. Auf diesem lag der Wahnsinnige. Dieser sah die Anwesenden und erhob sich. Sein Auge ruhte geistesabwesend auf ihnen, und in klagendem Tone sagte er: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« »Hören Sie, Monsieur!« sprach Otto zu dem Maire. »Ja, es sind wahrhaftig diese Worte!« meinte dieser. Und sich zu Flora wendend, fragte er: »Finden Sie eine Aehnlichkeit, Durchlaucht?« Die Augen der Gefragten hatten erst forschend auf dem Wahnsinnigen geruht, jetzt aber waren sie bereits voller ränen. Sie trat
auf den Kranken zu, faßte seine beiden Hände und fragte unter tiefer Bewegung: »Erlaucht, Don Emanuel, kennen Sie mich noch?« »Ah, er ist es also?« rief der Maire. »Ja, Monsieur, er ist es!« betheuerte Flora. »Ich kenne ihn zu gut; es ist der Graf Emanuel und kein Anderer. Er ist hagerer geworden, hat sich aber sonst nicht im Mindesten verändert, ausgenommen nur, daß er sehen kann. O, Don Emanuel, reden Sie doch! Sagen Sie mir doch, ob Sie mich erkennen! Ich bin ja Flora Olsunna, die Sie in Rodriganda besucht hat.« Der Kranke hielt seine Augen mit einem öden, leeren Blick auf sie gerichtet. Sein Gesicht war bleich, wie aus Wachs geformt, ohne Bewegung, ohne einen einzigen Zug, der auf eine Spur von noch vorhandenem Seelenleben hätte schließen lassen. Nur seine bleichen Lippen öffneten sich und mit jener Stimme, welche dem Erzeugnisse einer künstlichen Sprechmaschine glich, sagte er: »Ich bin der treue, gute Alimpo!« Otto fühlte sich von diesem Anblicke tief ergriffen, auch der Maire räusperte sich, um eine Aufwallung des Mitleides zu bekämpfen, welche er mit der Würde seines Amtes nicht vereinbar hielt. Flora aber fühlte ihr ganzes Gemüth in Aufruhr. Ein unendlicher Jammer trieb ihr immer neue ränen in die Augen; es überkam sie ein so herzliches, so inniges Erbarmen über den Anblick dieses früher so oft gesehenen Mannes, daß sie die Arme um ihn schlang und unter lautem Schluchzen rief: »O mein guter, unglücklicher Don Emanuel, wie finde ich Sie wieder! Wer Ihnen das angethan hat, wird es in jenem Leben nicht verantworten können!« Zarba war erschrocken, als sie den Grafen erkannt sah. Sie trat jetzt vor und sagte: »Diese Donna irrt sich. Der Kranke ist Anselmo Marcello; ich kenne ihn.«
»Schweig, Betrügerin!« rief Flora. »Herr Maire, ich fordere Sie auf, dieses Weib und den Wärter festzunehmen!« »Uns?« fragte da Gabrillon mit gut gespielter Entrüstung. »Was habe ich gethan? Dieser alte, verrückte Mann ist mein Vetter. Wenn er ein Graf wäre, so wäre er nie wahnsinnig geworden. Die Noth und der Hunger hat ihn um den Verstand gebracht. Ich habe ihn aus Mitleid zu mir genommen und soll nun zum Lohne dafür gefangen gesetzt werden? Es ist lächerlich!« Der Maire fühlte sich durch diese Auslassung außerordentlich beleidigt. »Ruhig!« gebot er. »Was das Gericht und die Polizei thut, das ist niemals lächerlich. Du bist mein Gefangener. Ich verhafte Dich und die Zigeunerin im Namen des Gesetzes!« »Verhaften? Mich?« fragte Gabrillon. »Greift zu, wenn Ihr es fertig bringt!« Er sprang auf den Maire, der das nicht erwartet hatte, zu, stieß ihn zur Seite und flog – nicht die Treppe hinab, wie er beabsichtigt hatte, sondern den Gensd’armen in die Arme, die da postirt waren. »Donnerwetter!« rief er erschrocken. »Haltet ihn fest!« gebot der Maire. »Durch diesen Fluchtversuch hat er seine Schuld bestätigt. Nehmet auch dieses alte Weib fest. Sie soll uns sagen, wie sie den Grafen hierher gebracht hat!« »Ich? Ich soll arretirt werden? Ich, die Unschuldige!« rief Zarba. »Ich bin die Königin der Gitanos; wer will mich richten! Ihr habt in diesem Augenblicke die Gewalt, mich festzunehmen, aber Ihr habt nicht die Macht, mich festzuhalten.« »Keine Faselei, Alte!« sagte der Gensd’arm, welcher sie beim Arme faßte. »Dein Königreich ist der Bettel, und Deine Unterthanen sind Lumpen. Man wird wenig Federlesens mit Dir machen!«
Sie wurde zur ür hinaus geschoben und, ebenso wie der Leuchtthurmwärter, nach dem Gefängnisse gebracht. Als sie fort waren, sagte der Beamte: »Man wird ihnen wegen dieses crimen einen bösen Prozeß machen. Nun aber bitte ich die Herrschaften, sich zu seiner Durchlaucht, dem gnädigen Herzog zu bemühen, um auch ihn zu fragen, ob er den Grafen erkennt.« »Wir haben noch einen Zeugen, nämlich den Diener des Herzoges,« bemerkte Otto. »Dieser hat bei dem Grafen Rodriganda früher serviert und kennt ihn ebenfalls. Er behauptet, daß Seine Durchlaucht unterhalb des linken Ohres ein kleines Mal besitze.« »Das können wir ja gleich untersuchen!« meinte der Maire, indem er zum Grafen trat und die Stelle betrachtete. »Ja wahrhaftig, hier ist es, das Mal! Er ist’s; es ist gar kein Zweifel mehr. Lassen Sie uns gehen. Ich habe bereits dafür gesorgt, daß der arretirte Wärter sogleich ersetzt wird.« Der Graf ging ohne alles Widerstreben mit ihnen. Als sie das Fischerhaus erreichten, trat ihnen der Diener entgegen. »Graf Emanuel!« rief er, sobald er diesen erblickte. Und nachdem er die linke Seite des Halses betrachtet hatte, fügte er hinzu: »Hier ist das Mal, meine Herren. Sehen Sie es. Das ist der Beweis, wenn Sie mir sonst nicht glauben wollen.« »Wir haben das Mal bereits gesehen und glauben Ihnen,« sagte der Maire. »Es ist nur, um gar nichts zu versäumen, daß wir nun auch die Meinung Seiner Durchlaucht hören.« Als sie beim Herzog eintraten, stand dieser aufrecht mitten in der Stube, und man sah es seinen Zügen an, daß er tief ergriffen war. Er hatte die Männer kommen sehen und den Grafen sogleich erkannt. »Er ist’s!« rief er ihnen sogleich entgegen. »Ich erkannte ihn bereits von Weitem. O mein Gott, wie muß ich ihn wieder sehen!« »So sind wir also einig,« meinte der Beamte.
»Ja, er ist’s!« wiederholte der Herzog in überzeugendem Tone. Und indem er die Hand des Grafen ergriff, sagte er zu ihm: »Don Emanuel, blicken Sie mich an! Erkennen Sie Ihren Freund Olsunna?« Der Graf schien gar nicht zu bemerken, daß eine Ortsveränderung mit ihm vorgenommen worden sei. Er nahm auch nicht die mindeste Notiz von seiner Umgebung; er merkte nur, daß gesprochen wurde, und sagte: »Ich bin der treue, gute Alimpo.« Nun wiederholte sich ganz derselbe rührende Auftritt, welcher bereits auf dem urme statt gefunden hatte, bis endlich Otto den Maire fragte: »Sie sind hoffentlich nun überzeugt, daß ein Irrthum gar nicht obwalten kann?« »Gewiß, Monseigneur! Ich werde sofort nach meiner Heimkunft das Protokoll abfassen, und dann ist meine Pflicht, nach Rodriganda zu berichten, daß man einen falschen Todten an der Stelle des Grafen beerdigt hat, da derselbe hier bei uns aufgefunden worden sei. Aber, meine Herrschaften, wie verfügen Sie über den Wahnsinnigen? Soll auch hier die Behörde eingreifen, oder – – –?« »Nein! er bleibe bei uns!« sagte Flora. »Nicht wahr, lieber Papa?« »Das versteht sich ganz von selbst,« antwortete der Gefragte. »Wir werden uns dann überlegen, was weiter zu geschehen hat.« »Ich rathe davon ab, ihn vorläufig wieder nach Spanien zu schikken und dadurch seinen Feinden wieder zu überliefern,« warnte Otto. »Wir reisen ja nach Deutschland und nehmen ihn mit, um ihn Donna Rosa, seiner Tochter zu überbringen.« »Das ist das Allerbeste, was wir thun können,« stimmte der Herzog bei. »Nun, dann bin ich beruhigt,« meinte der Maire. »Ich gehe jetzt, meine Pflicht zu erfüllen. Zu einem Verhöre der Gefangenen ist es
heut zu spät; ich werde es indessen morgen früh sofort vornehmen und Ihnen die Stunde anzeigen, da ich mir denken kann, daß Sie dabei sein wollen.« Er empfahl sich, und nun wurde sofort nach der Stadt geschickt, um den Grafen mit andern Kleidern und Wäsche zu versehen; er war in dieser Beziehung mehr als vernachlässigt worden. Dies war zum Anbruche des Abends geschehen, und nun saß der Graf bei den Freunden, ohne sie zu erkennen, ohne zu ahnen, was mit ihm vorgegangen war. Sie besprachen sich darüber, ob es rathsam sei, seine Tochter sofort zu benachrichtigen. Nach längerer Ueberlegung beschlossen sie, es nicht zu thun. Der freudige Schreck, den Rosa haben konnte, hätte eine nachtheilige Wirkung ausüben können. Und übrigens stand sehr zu erwarten, daß Rosa die Ankunft des Vaters nicht erwarten, sondern von ihrer kindlichen Ungeduld getrieben werde, die weite Reise nach Frankreich zu unternehmen. Darum schrieb Flora mit Zustimmung der beiden Männer folgenden Brief nach Rheinswalden: »An Frau Rosa Sternau in Rheinswalden bei Mainz. Geehrteste Dame! Ich befinde mich meiner leidenden Gesundheit wegen in dem hiesigen Bade, doch hat weder der Brunnen noch die Kunst der Aerzte es vermocht, den raschen Fortschritt der Krankheit aufzuhalten. Da gefiel es Gott, mir Ihren Herrn Gemahl als Retter zu senden. Er kam auf seiner Yacht aus Greenock in Schottland, um hier Kohlen einzunehmen und dann weiter zu fahren. Während seiner kurzen Anwesenheit, gelang es ihm, mir neue Hoffnung einzuflößen, und ich befinde mich jetzt in Folge der mir von ihm verabreichten Mittel bereits bedeutend wohler, so daß ich die fast volle Ueberzeugung habe, durch ihn zu genesen.
Zur sicheren Genesung nun hat er mir eine Ortsveränderung anbefohlen. Ich soll mit meiner Tochter nach Deutschland, an den Rhein. Und zwar wurde mir von ihm Rheinswalden vorgeschlagen. Er gab mir die Versicherung, daß mein Aufenthalt daselbst keinerlei Beschwerden oder Störung verursachen werde, und hat mich mit Empfehlungsbriefen an seine Frau Mama und den Herrn Hauptmann von Rodenstein versehen. Dann reiste er ab. Wohin sein Cours gerichtet ist, darüber werden wohl die beiden Briefe Auskunft ertheilen. Kurz nachdem er uns verlassen hatte, kamen wir in Kenntniß eines sehr eigenthümlichen Umstandes, welcher für ihn wohl von großem Interesse gewesen wäre. Der Maler Otto von Rodenstein, welcher sich, wie Sie wohl wissen, hier aufhält, ist der Verlobte meiner Tochter. Wir sprachen mit ihm von Ihrem Herrn Gemahle und erfuhren so Einiges von den Verhältnissen, in Folge deren Sie sich gegenwärtig in Deutschland befinden. Wir erfuhren, daß sich an einem Orte ein Wahnsinniger befinde, welchen man zu verbergen trachte und der immer nur die Worte sagt: ›Ich bin der treue, gute Alimpo!‹ Herr Rodenstein telegraphirte an Sie, um sogleich zu erfahren, ob dies dieselben Worte seien, welche Ihr Herr Vater, der Graf Emanuel ausspreche, und Ihre Antwort bestätigte dies. Nun haben wir sogleich mit unsern Recherchen begonnen und werden Ihnen den Erfolg derselben mittheilen. Wollten Sie uns gestatten, diese Mittheilung mündlich zu machen, so würden wir sehr erfreut sein. Wir werden nach Verlauf einer Woche in Begleitung des Herrn von Rodenstein in Mainz eintreffen und dann auch erfahren, ob die Befolgung der Anordnung des Herrn Doctor Sternau auf Schloß Rheinswalden wirklich nicht mit Belästigungen für Sie verbunden ist. Indem ich mich und meine Tochter Ihrer Güte empfehle, habe ich die Grüße des Herrn von Rodenstein beizufügen und zeichne
mit der vorzüglichsten Hochachtung Baron Franz von Haldenberg.« Dieser Brief wurde noch am Abende zur Post gesandt, und es stand zu erwarten, daß er ganz den Eindruck hervorbringen werde, welchen man beabsichtigte. Zu derselben Zeit, in welcher die Drei mit diesem Briefe beschäftigt waren, geschah Etwas, was mit den heutigen Begebenheiten eng zusammenhing. Es war dunkel und die gewöhnliche Abendkühle wehte leicht über die Fluthen des Meeres dahin. Ein Boot kam um die südliche Landzunge, welche die Bucht begrenzt, herumgesteuert. Es saßen sechs Männer in demselben, von denen vier ruderten, einer das Steuer und einer das Kommando führte. »Da ist das Licht des Leuchtthurms,« sagte der Letztere. »Wir halten gerade auf denselben zu und legen an der Klippe an.« Dies geschah. Als das Boot festsaß, stieg nur dieser Eine aus und ging nach dem urme. Er schien hier bekannt zu sein, denn er trat ein und stieg die Treppe empor, um an der ersten ür zu klingeln. Der von dem Maire neu angestellte Wärter erschien und fragte nach dem Begehr des Fremden. »Ich will mit dem Wärter des Leuchtthurmes sprechen,« antwortete dieser. »Der bin ich.« »Sie? Ich denke, er heißt Gabrillon?« In seinem Tone drückte sich ein großes Erstaunen aus. »Gabrillon hatte dieses Amt bis heute, wurde aber von demselben suspendirt.« »Alle Wetter! Warum?« »Er ist arretirt worden.« Wäre der Schein der kleinen Oellampe auf das Gesicht des Fremden gefallen, so hätte der Wärter bemerken können, daß sein
scharf gezeichnetes, verbranntes Gesicht den Ausdruck des höchsten Schreckens zeigte. »Arretirt? Warum?« erklang nach einiger Zeit die gefaßte Frage. »Hm! Das ist eine sehr schlimme Angelegenheit! Er wird wohl für lebenslang die Galeere erhalten. Sind Sie etwa ein Freund oder gar Verwandter von ihm?« »Nein, er geht mich gar nichts an, als daß er mir eine kleine Summe schuldig ist,« log der Fremde. »Da verzichtet nur! Er ist mit einer Zigeunerin von dem Herrn Maire selbst gefangen genommen worden – –« »Mit einer Zigeunerin?« fragte der Fremde rasch. Der Ton seiner Stimme zitterte und sein Schreck war jetzt jedenfalls noch viel größer als vorher. Der Wärter bemerkte, oder beobachtete dies nicht; er antwortete: »Ja. Dieses Weib heißt Zarba. Gabrillon hat einen spanischen Grafen, den man wahnsinnig gemacht hat, bei sich festgehalten und die alte Hexe ist seine Mitschuldige.« »Das ist schlimm, verdammt schlimm!« sagte der Fremde, mehr zu sich selbst, als zu dem Wärter. »Ja,« meinte dieser. »Man sollte ihnen den Strick geben, anstatt der Galeere!« »Und was ist mit dem Grafen geworden?« »Er befindet sich bei dem Herzog von Olsunna, welcher Derjenige ist, durch den die Sache an den Tag kam.« »Ah, der Herzog befindet sich hier?« »Ja; er ist todtkrank und wohnt mit seiner Tochter in dem Hause des Schiffers Jean Foretier. Es ist das erste Haus, wenn man von hier nach der Stadt geht. Wie ich Ihnen sagte: Streichen Sie die Schuld aus; Sie erhalten nichts!« »Und wo ist die alte Frau, welche bei Gabrillon war?« »Niemand weiß es. Sie ist in der Stadt gewesen, als er verhaftet wurde, und seit dieser Zeit nicht wieder gesehen worden. Sie wird
von der Arretur gehört und sich da gleich aus dem Staube gemacht haben. Aber ich muß nach dem Leuchtapparate sehen und habe keine Zeit mehr. Gute Nacht!« Der Fremde ging und kehrte nach dem Boote zurück. Als man ihn dort allein kommen sah, fragte Der, welcher am Steuer saß: »Nun, Garbo, wie steht es? Es ist hoffentlich Alles in Ordnung!« Der Gefragte war also Garbo, der vertraute Zigeuner Zarba’s, welcher damals die Ausgrabung der Leiche und die Entfernung Don Emanuel’s geleitet hatte. Er antwortete: »Es ist vielmehr Alles in der verfluchtesten Unordnung! Haltet Euch ruhig! Dieser Gabrillon ist ein großer Esel; er ist arretirt worden, und da Zarba bei ihm war, hat man sie mit eingesteckt.« Alle Männer in dem Boote waren Zigeuner. Sie erschraken bei der Nachricht, welche sie erhielten, vermieden aber jeden Ausruf, der ihre Anwesenheit hätte verrathen können. Der Steurer erkundigte sich leise: »Weshalb hat man sie denn arretirt?« »Man hat entdeckt, daß der Wahnsinnige der Graf ist,« antwortete Garbo und erzählte Alles, was er erfahren hatte. Die Gitano’s hielten nun eine kurze Berathung, deren Ergebniß war, daß man die Königin befreien müsse. Sie zerstreuten sich, um zu recognosciren, und nur Einer blieb bei dem Boote zurück, um dasselbe zu bewachen. Als sie sich nach einiger Zeit wieder zusammenfanden, war das Ergebniß ihrer Nachforschung ein nicht ganz unbefriedigendes. Diese Leute waren im Nachspüren alle außerordentlich erfahren und gewandt und so wußten sie bereits nach so kurzer Zeit, daß der Wachtmeister des Gefängnisses alle Abende in das Weinhaus gehe und erst spät nach Mitternacht heimkehre; seine Familie legte sich zeitig schlafen, und der Schließer, welcher der Einzige war, dem nun die Bewachung des Gefängnisses oblag, pflegte dann eine gegenüberliegende Absynthkneipe zu besuchen, anstatt
seinen Pflichten nachzukommen. Garbo hatte sich sogar nach dem Gefängnisse gewagt und sowohl den Wachtmeister, als auch den Schließer gesehen. Es wurde nun beschlossen, den Ausgang des Gefangenhauses heimlich zu bewachen. Den Wachtmeister wollte man passiren lassen, den Schließer aber einfach niederschlagen oder erwürgen, ihm die Schlüssel abnehmen und dann die Gefangenen befreien. Dies wurde ausgeführt. Bei der herrschenden Dunkelheit hatte kein Mensch eine Ahnung, daß fünf bewaffnete und entschlossene Männer sich in der Nähe des Gefängnisses befanden. Garbo stand dem Ausgange am Nächsten. Er sah den Inspektor gehen. Später verlöschten die Lichter in der Familienwohnung desselben; dies war das Zeichen, daß die Seinen schlafen gingen. Nun verging eine halbe Stunde, dann wurde die ür leise auf- und dann wieder zugeschlossen; der Schließer trat seinen heimlichen Kneipweg an. Er hatte kaum einige Schritte gethan, so legten sich zwei kraftvolle Hände von hinten um seine Kehle, die so zusammengepreßt wurde, daß er keinen Athem holen und keinen Laut ausstoßen konnte. Die Todesangst riß ihm den Mund weit auf und sofort wurde ihm ein Knebel zwischen die Zähne geschoben. »So ist’s gut,« hörte er eine leise Stimme sagen. »Nun brauchen wir ihn wenigstens nicht zu tödten. Schafft ihn bei Seite!« Er wurde nach einem abgelegenen, Abends nicht besuchten Orte getragen, wo sein leises Röcheln nicht gehört und zum Verräther werden konnte. Die Schlüssel hatte Garbo ihm abgenommen. Nun drangen die Zigeuner leise in das Gefängniß ein. Sie hatten ein Fenster erleuchtet gesehen; dies war jedenfalls dasjenige des Raumes, in welchem der Schließer eigentlich zu wachen gehabt hatte. Sie begaben sich dorthin und fanden da auf dem Tische ein Zellenverzeichniß, aus welchem sie ganz leicht ersahen, in welcher der Zellen sich die Gesuchten befanden.
Sie wurden herbeigebracht, ohne daß man das geringste Geräusch dabei verursachte. Dann verließen sie das Gefängniß, dessen Schlüssel sie stecken ließen. Erst jetzt fühlten sich die beiden gefangen Gewesenen frei und Zarba sagte: »Ich wußte, daß Ihr mich holen würdet und habe es diesem Maire gesagt, daß er nicht die Macht besitzen würde, mich festzuhalten.« »Ja, Du bist frei,« sagte Garbo. »Aber hier droht uns Gefahr, wir wollen schnell das Boot aufsuchen und dieses Nest verlassen.« »Ohne den Grafen?« fragte sie, »das fällt mir nicht ein! Ich bin gekommen, um ihn zu holen, und was ich mir vorgenommen habe, das führe ich aus.« »Wir sind einverstanden!« meinte Garbo für die Anderen. »Habt Ihr erfahren, wo er sich befindet?« »Beim Herzog von Olsunna. Ich kenne das Haus.« »Ah, beim Herzog! Ich konnte es mir denken! Es freut mich, daß er sich an keinem anderen Orte befindet, denn ich habe mit diesem Olsunna abzurechnen. Kommt, wir wollen uns das Haus betrachten, um zu sehen, wie wir hineingelangen!« Sie schlichen sich aus der Stadt hinaus und nach der Bucht hin, wo die Wohnung lag, welcher ihr Ueberfall gelten sollte. Um diese Zeit hatte Otto von der Geliebten und deren Vater Abschied genommen, um nach Hause zu gehen. Am Wege stand eine hohe Ulme, deren Stamm von erhöhtem Rasen umgeben war. Er ging nicht vorüber, sondern setzte sich auf den Rasen. Die Liebe macht träumerisch, und er fand es schön, hier noch ein Wenig an das Glück zu denken, welches seinem Leben so ganz unerwartet eine ganz neue, glanzvolle Wendung gegeben hatte. So saß er in der Dunkelheit ganz still und allein, mit dem Rücken an den Stamm des Baumes gelehnt. In Folge dieser Stille mußte ihm das geringste Geräusch auffallen, welches auf dem Wege ent-
stand, und so kam es denn auch, daß ihm das leise und vorsichtige Nahen mehrerer Personen auffiel. Warum gingen diese Leute so leise? Er bückte sich und sah nun sieben Gestalten, welche, indem sie an ihm vorüberhuschten, sich gegen den Himmel abzeichneten. Es war eine Frau dabei; fast hatte es ihm geschienen, als ob sie eine Kleidung trüge, wie er sie bei Zarba gesehen hatte. Zarba! Dieser Name rief alle seine Besorgniß wach. Sie hatte gesagt, daß man sie nicht halten könne. War sie entflohen? War sie von Verbündeten befreit worden? Dann galt ihr heimliches Hierschleichen ganz sicher dem Grafen. Dieser Gedanke durchschreckte ihn. Er zog die Stiefel aus und huschte ihnen nach. Es gelang ihm, nicht gehört zu werden. Sie hielten vor dem Fischerhause still. Nun war er überzeugt, daß es auf den Grafen abgesehen sei. Er wußte, daß man hinter ihm die Hausthür verschlossen hatte, daß aber die hintere ür noch offen gewesen war. Schnell schlich er sich nach dem kleinen Gärtchen, stieg über den Zaun und ging nach der ür. Sie war noch offen. Man hatte keine Veranlassung gehabt, sie zu verschließen. Er trat in den Flur, schob den großen, hölzernen Riegel vor, so daß nun wenigstens die beiden Eingänge wohl verwahrt waren und die Bewohner des Hauses sich wenigstens für den Augenblick in Sicherheit befanden. Er kannte die Räumlichkeiten alle. Rechts war die Wohnung des Herzogs, welcher heute mit dem Grafen auch hier im Parterre schlief. Links wohnte der Diener und in einem andern Raume Flora’s Zofe. Flora selbst schlief in einem Stübchen, welches eine Treppe hoch lag. Der Diener hatte noch Licht; er war beschäftigt, sich auszukleiden, und seine ür war noch unverschlossen. Das war Otto lieb, da er es nicht für gerathen hielt, den draußen Lauschenden durch das Anklopfen zu verrathen, daß man auf ihren Besuch vorbereitet sei. Otto trat ein, und der Diener war nicht wenig erstaunt, den Maler, hinter welchem er vor kaum einer Viertelstunde die ür
verschlossen hatte, jetzt hier im Hause wiederzusehen. Er blickte ihn bestürzt an und wollte eine laute Frage aussprechen, da aber kam ihm Otto zuvor. »Pst!« sagte er leise. »Schweigen Sie! Ich komme durch die hintere ür wieder zurück. Ich glaube, man hat Zarba und den Leuchtthurmwärter befreit. Draußen stehen sieben Personen, welche jedenfalls die Absicht haben, den Grafen zu entführen.« Der Diener war Soldat gewesen und ein entschlossener Mann. Er verlöschte sofort das Licht, damit man von außen nicht bemerken könne, daß man im Hause noch wach sei. »Ach,« sagte er dann leise. »Wir werden sie empfangen!« »Haben Sie Waffen?« »Ja. Zwei Paar Doppelpistolen, welche wir auf unseren Reisen stets bei uns führen. Ich habe sie hier im Kasten.« »Sind sie geladen?« »Ja.« »Gut. Geben Sie mir zwei und nehmen Sie die anderen. Können wir den Herzog benachrichtigen, ohne daß man Geräusch von Außen bemerkt?« »Ja. Den Schlüssel zum Wohnzimmer habe ja ich, denn ich muß stets dort sein, ehe die Durchlaucht sich erhebt.« »So wecken Sie. Es ist besser, die Herrschaften sind wach und vorbereitet, als daß sie durch unsere Schüsse erschreckt werden. Auch Donna Flora und die Zofe müssen geweckt werden.« »Ich werde das besorgen,« sagte der Diener. »Treten Sie einstweilen in die Flur, um Alles zu hören, was geschieht. Hier sind Ihre Pistolen, und hier haben Sie auch einige Patronen.« Sie verließen das Stübchen leise und trennten sich dann. Otto lauschte. Er vernahm ein leises Schleichen, und dann probirte man zunächst an der vorderen dann auch an der hinteren ür. Da der Diener die ür zum Wohnzimmer des Herzoges, in welches er jetzt getreten war, aufgelassen hatte, so konnte Otto
deutlich hören, daß man dort die Läden untersuchte, ob sie fest verschlossen seien. Unterdessen gelang es, die Schlafenden zu wecken. Die Zofe wurde zu dem Grafen gethan, um diesen zu bewachen; Flora war heruntergeschlichen und traf da auch ihren Vater, welcher eine der Pistolen forderte, um an der Vertheidigung eil zu nehmen, obgleich er Patient war. Er erhielt von dem Diener eine der Waffen. Auch Flora verlangte eine Pistole, ließ sich aber von Otto überzeugen, daß diese in der Hand eines geübten Schützen von größerem Werthe sei als in der ihrigen. Da trat sie zu dem offenen Herde und nahm von dort ein großes Messer zu sich. Man konnte nicht wissen, was geschah. Man schien mit der Untersuchung zu Ende zu sein. Vor der hinteren ür hörten die Wartenden leise flüsternde Stimmen. Otto schlich sich hin und horchte. »Ohne Lärm kommen wir nicht hinein,« sagte Einer. »Es ist alles zu fest verschlossen.« »So müssen wir durch eines der oberen Fenster steigen.« »Pah! Durch die Fenster eines normannischen Schifferhauses? Die sind ja viel zu klein. Diese Leute bauen ihre Fenster nicht höher als die Kajütenlucken ihrer Schiffe. Nein, wir müssen etwas Anderes finden.« »Wenn man nur wüßte, wie viel Köpfe das Haus bewohnen!« Da ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen; es war diejenige Zarba’s; Otto hörte dies sofort. »Wer soll denn da wohnen!« sagte sie. »Kein Mensch, den wir zu fürchten hätten. Da ist Gabrillon, der wird es Euch sagen.« Gabrillon mußte eben erst hinzugetreten sein, denn es dauerte einen Augenblick, ehe man ihm erklärte, um was es sich handele. »Ich habe dieses Haus vom urme aus beobachtet,« flüsterte er. »Jean Foretier, dem es gehört, hat es dem Herzog ganz überlassen und wohnt bei seinem Nachbar; ihn haben wir also nicht zu fürch-
ten. Hier giebt es nur den Herzog, der ist bereits eine halbe Leiche, er thut uns nichts; ferner seine Tochter und eine Zofe, die werden sich unter die Bettdecken verkriechen und wimmern; endlich giebt es einen Diener, welcher der Einzige ist, mit dem wir zu rechnen haben. Aber wir sind ihm sechsfach überlegen.« »Da hört Ihr’s!« sagte Zarba. »Hört, was ich Euch sage: Diese hintere ür ist nicht so fest als die vordere; wenn zwei sich dagegen stemmen, so drücken wir sie ein. Wir dringen in das Haus und suchen zunächst Licht. Finden wir dieses, so ist es nicht schwer, auch den Grafen zu finden. Ehe sich die Anderen nur besonnen haben, sind wir bereits fort und wieder auf unserem Boote. Ich freilich darf nicht in das Haus. Euch kennt man nicht, mich aber mehr als genau, und wenn man ahnen wird, daß der Plan von mir ausgeht, so soll man mir es doch nicht beweisen können. Also vorwärts! Macht los, ich warte hier!« Es vergingen einige Augenblicke, dann stemmten sich von draußen einige kräftige Schultern gegen die ür. Diese krachte, erst leise, dann stärker und stärker. Otto hatte sich von ihr zurück und zu den Anderen hingeschlichen. »Sie kommen,« sagte er. »Wir haben acht Kugeln; das genügt vollständig. Doch wollen wir nicht sofort schießen, sondern sie erst anrufen.« Die ür wurde vom Riegel gehalten, aber endlich schien er doch nachzugeben. Es prasselte abermals; dann folgte ein lauter Krach, und die ür flog auf. Die Zigeuner schickten sich an, einzutreten. »Halt!« rief ihnen da der Maler entgegen. »Was wollt Ihr? Wir schießen!« »Drauf!« gebot als Antwort Garbo, der Anführer der Zigeuner. »Das ist der arme Wicht, der Diener!« Sie drangen ein, wurden aber von den Schüssen empfangen, welche erkrachten. Laute Schreie und Flüche erschollen, daneben
einige Hilferufe, denen ein schmerzliches Aechzen und Stöhnen folgte. Die Kugeln hatten getroffen. »Zurück!« hörte man die Stimme Garbo’s kommandiren. Dann vernahm man, daß die noch Unverwundeten davon rannten. Sie ließen die andern im Stiche, sie wagten nicht, sich mit Fortschaffen aufzuhalten, da die Pistolensalve sie auf die Vermuthung gebracht hatte, daß die Vertheidiger zahlreich seien. Diese wiederum sahen von einer Verfolgung ab, die bei dem Dunkel der Nacht keinen Erfolg haben konnte. Es wurde Licht angebrannt, und nun sahen sie, daß drei Zigeuner im Hause lagen, zwei todt und einer schwer verwundet. Otto eilte nun schleunigst in die Stadt, wo er die Polizei bereits in Aufregung fand. Der Gefängnißinspector hatte bei seiner Heimkehr die Abwesenheit des Schließers und die Flucht der Gefangenen entdeckt und sofort Anzeige erstattet. In Folge dessen fand der Maler den Maire bereits wach und theilte ihm das Geschehene mit. Der Beamte begab sich nun sofort in Begleitung seiner Gensd’arme nach der Wohnung des Herzogs, um dort den atbestand aufzunehmen. Der verwundete Zigeuner wurde verhört. Seine Verletzung war tödtlich, aber selbst die Nähe des Todes vermochte ihn nicht zu bewegen, ein offenes Geständniß abzulegen. Er hing an Zarba so sehr, daß er kein Wort sprach, welches ihr den geringsten Schaden hätte bereiten können. Nur das sagte er aus, daß der Wahnsinnige wirklich Graf Emanuel Rodriganda sei, den man vom Leuchtthurm habe entfernen wollen. Aber wie der Graf dorthin gekommen sei und wohin er hatte geschafft werden sollen, das sagte er nicht. Er behauptete, es nicht zu wissen. Er wurde mit den beiden Leichen fortgeschafft und starb noch während der Nacht im Gefängnisse. Von den entflohenen Zigeunern war keine Spur mehr zu finden. Die Polizei vigilirte vergebens nach ihnen; sie wurden nicht entdeckt. Freilich schienen die Nach-
forschungen nicht sonderlich angestrengt betrieben zu werden. Es handelte sich ja um Ausländer, und dem Maire nebst seinen Vorgesetzten lag nichts daran, von der ganzen Angelegenheit viel Geschrei zu machen; sie konnten nichts dabei gewinnen. Im Uebrigen gaben sich auch der Herzog und Otto zufrieden, den Grafen Emanuel als solchen amtlich ausgewiesen und anerkannt zu sehen. Alles Weitere konnte nur Unbequemlichkeiten für sie mit sich bringen, oder gar ihre Abreise verzögern. Sie machten vor Gericht ihre Aussagen in Betreff der Abwehr der Zigeuner, und da sie nur in berechtigter Selbstvertheidigung gehandelt hatten, erwuchsen ihnen aus der Tödtung der drei Männer keinerlei Unannehmlichkeiten. Indessen besserte sich die Gesundheit des Herzogs so, daß er nach der von Sternau angegebenen Zeit seine Reise wirklich antreten konnte. Einige Tage Aufenthalt zuerst in Paris und dann auch in Straßburg hatten einen wohlthätigen Einfluß auf ihn, und als er Mainz erreichte, hatte er zwar immer noch ein leidendes Aussehen, aber seine Kräfte waren gestärkt, und er bot einen ganz andern Anblick als bei Beginn der letzten Woche, welche eine so verhängiß- und ereignißvolle gewesen war. – – – Sternau war, nachdem er die Bucht verlassen hatte, nach Süden gedampft. Er kam glücklich über den, der Seefahrt so gefährlichen Meerbusen von Biscaya, welcher von den Schiffern der Matrosenkirchhof genannt wird. Er legte, um Nachforschungen anzustellen, bei den Cap Verdischen Inseln, bei den Kanarien und den Azoren an, konnte aber nichts erfahren. Nun ging er direct nach Sanct Helena, wo er seinen Kohlenvorrath ergänzen wollte, und endlich fand er die erste Spur. Auch Kapitän Landola hatte mit seiner »Pendola« hier angelegt, um Wasser einzunehmen, und war dann nach Süden gegangen. Nun stand zu erwarten, daß man in der Capstadt Weiteres von ihm hören werde und darum hielt Sternau nach Cap der guten Hoffnung zu.
Die Yacht »Rosa« befand sich einige Grade nördlich vom Cap, und es war früher Morgen, als Helmers, welcher jetzt nicht mehr Steuermann, sondern Kapitän genannt wurde, in die Kajüte kam, wo Sternau sich befand und ihm meldete, daß in West ein Dreimaster in Sicht sei. Man hatte einen Neger an Bord, der ein sehr scharfes Auge besaß und das Schiff vom Maste aus mit bloßem Auge eher entdeckt hatte, als es von Helmers mit dem Fernrohre bemerkt worden war. »Ist es die Pendola?« fragte Sternau. »Das ist noch nicht zu entscheiden,« antwortete Helmers. »Man erblickt zunächst nur die Mastspitze. Aber nach der Stellung der Segel scheint es ein Kauffahrer zu sein. Ich werde auf ihn zuhalten lassen.« Sie gingen mit einander an Deck und nahmen das Rohr zur Hand. Nach der Zeit von einigen Minuten bemerkten sie, daß der Fremde ebenso südlichen Kurs hatte, wie sie, doch kamen sie schneller vorwärts als er, denn sie hatten einen sehr günstigen Wind und konnten das Segelwerk benutzen und da die Dampfkraft unterstützen. Während sie so mit erhöhter Geschwindigkeit dahinschossen, stieß der Neger, welcher immer noch oben im Top des Mastes hing, einen lauten, scharfen Ruf aus, welcher halb wie Schreck und halb wie Ueberraschung klang. »Was ist es?« fragte Sternau empor. »Noch ein Schiff, Massa!« antwortete der Gefragte. »Wo?« »Da in West. Aber man kann es nicht gut sehen; es hat schwarze Segel.« »Schwarze Segel?« fragte Helmers schnell. »Die hat kein anderes Fahrzeug: das ist der schwarze Kapitän!« Er richtete das Fernrohr nach der Gegend, welche der Neger mit dem ausgestreckten Arme angedeutet hatte, und sah nun aller-
dings ein zweites Schiff, welches mit vollem Winde auf das erste zuhielt. Die dunkle Farbe seiner Segel machte, daß man es nur schwer erkennen konnte. »Es ist wirklich der Schwarze!« sagte endlich Helmers mit erregter Stimme. »Täuschen Sie sich nicht?« meinte Sternau. »Nein. Dieser Landola ist ein schlauer Schurke. Er hat zweierlei Segeltuch. Wenn er einen Hafen anläuft, so hängt er das weiße an; befindet er sich aber auf hoher See, so braucht er das schwarze. Das Umtauschen verursacht eine riesige Arbeit, aber er scheut sie nicht, da sie zu seiner Sicherheit beiträgt. Wie es scheint, hat er es auf den Kauffahrer abgesehen; er hält gerade auf ihn los.« »So kommen wir dem Angegriffenen zu Hilfe!« sagte Sternau. »Endlich, endlich habe ich diesen Landola, und ich hoffe, daß er mir nicht entkommen soll!« Der Kapitän schüttelte mit sehr ernster Miene den Kopf und sagte: »Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere kleine Yacht dem Seeräuber nicht gewachsen ist. Unsere Aufgabe kann nur sein, ihn am Bord zu treffen; bei einem Kampfe auf hoher See können wir ihm zwar großen Schaden machen, aber in die Hand bekommen wir ihn nicht. Doch hoffe ich, daß der Kauffahrer sich wehren wird; dann sind wir Zwei gegen Einen. Ich werde jetzt die Segel beschlagen lassen und den Dampf benutzen, damit er uns so spät wie möglich bemerkt.« Es wurden nun alle nöthigen Vorbereitungen getroffen. Die Segel, welche man sehr weit sehen konnte, wurden eingezogen und die Geschütze geladen. So schoß das kleine Fahrzeug jetzt unbemerkt dem voraussichtlichen Kampfe entgegen. Nach einiger Zeit hatte der Seeräuber sich dem Kauffahrer genügend weit genähert. Er zog die rothe Piratenflagge auf und gab durch einen Kanonenschuß das Zeichen, beizudrehen. Der Kauf-
fahrer schien sein Schicksal bereits erkannt zu haben. Er hatte seine ganzen Segel beigesetzt und gab sich alle Mühe, zu entkommen. Eine rasche Schwenkung brachte ihn aus dem Kugelbereich des Piraten; dieser aber führte gleich ganz dasselbe Manöver aus und schoß hinter ihm her. Er war ein besserer Segler und holte den Andern bald wieder ein. Ein zweiter Schuß erdröhnte über die See herüber. Dieses Mal hatte der Pirat scharf geladen; man sah, daß seine Kugel in das Holzwerk des Kauffahrers eindrang und mächtige Splitter aus demselben riß. Ein lauter Jubelschrei erscholl auf dem Seeräuber, und ein lautes Rufen der Wuth antwortete vom Kauffahrer her. Dieser Letztere ließ plötzlich einige Segel fallen und drehte bei, so daß der Pirat an ihm vorüberflog. In diesem Augenblicke kräußelten sich zwei Wölkchen vom Verdeck des Kauffahrers auf, zwei Schüsse krachten, und sogleich sah man, daß eine augenblickliche Verwirrung am Bord des Piraten entstand; die beiden Schüsse hatten getroffen. »Ach, sehr gut!« rief Helmers. »Der Kauffahrer ist ein Engländer; er hat einige Kanonen an Bord und ist entschlossen, sich seiner Haut zu wehren. Seine Jungens können brav zielen. Vorwärts! Wir nehmen den Räuber von der andern Seite!« Die beiden Schiffe lagen jetzt einander gegenüber und wechselten Schüsse. Es war klar, daß der Pirat dem Engländer überlegen war, aber eine langweilige Kanonade schien ihm nicht zu behagen. Er setzte plötzlich die vorher eingezogenen Marssegel wieder bei, um den Wind zu fangen und sich mit dem Kauffahrer Bord an Bord zu legen. »Er will ihn entern!« rief Sternau. »Ja,« antwortete Helmers. »Aber sehen Sie, daß der Engländer auch ein ganz geschickter Junge ist! Auch er fängt den Wind und dreht sich auf dem Kiele! Er zeigt dem Piraten nur den Bug, grad wie ein Fuchs, der dem Hunde nur die Zähne zeigt. Jetzt gebe ich
vollen Dampf; in fünf Minuten sind wir bei ihnen und werden ein lautes Wort reden.« Die Yacht hatte bisher vermieden, Rauch zu machen und war also von den beiden Schiffen gar nicht bemerkt worden. Jetzt aber zog ein dunkler, langer Streifen aus ihrem Schornstein empor, und sofort erscholl auf dem Engländer ein lauter Ruf der Freude. Auch der Pirat sah jetzt den neuen Gegner, hielt es aber gar nicht für nöthig, den kleinen Zwerg zu beachten, sondern ließ sich in seinem Angriffe nicht im mindesten stören. Da schoß die »Rosa« bei dem Engländer vorüber. Der Kapitän stand auf dem Quarterdecke und rief herunter: »Hollah, Yacht! Ist’s Hilfe oder nicht?« »Es ist Hilfe!« antwortete Sternau. »Ergebt Euch nicht!« »Fällt uns nicht ein!« Er machte diese Worte sofort wahr, indem er dem Räuber eine neue Salve gab, welche gut gezielt sein mußte, nach den Flüchen zu urtheilen, welche an Deck desselben erschollen. Da hörte man eine laute, zornige Stimme rufen: »Ruder in See! Kommt an ihn! Fertig zum Entern!« »Ah, das ist Landola,« sagte Helmers. »Diese Stimme kenne ich. Aber wir werden ihm das Entern sofort verleiden.« Die Yacht steuerte einen Bogen und hielt dann gerade vor Backbord des Piraten. Sie hatte so nahe an demselben beigedreht, daß sie von den Kanonen desselben gar nicht getroffen werden konnte. »Feuer!« kommandirte jetzt Helmers. Seine Geschütze krachten und der Räuber erbebte. Die sämmtlichen Kugeln hatten ihn in den Rumpf getroffen. »So ist’s recht!« rief Helmers. »Gebt ihm Kartätschen auf das Deck!« Während die zwei Mittelgeschütze der Yacht sich bemühten, dem Feinde unter der Wasserlinie ein Leck beizubringen, bestrichen die
Drehbassen sein Verdeck mit Kartätschen. Er sah erst jetzt ein, daß der kleine David ein ganz respectabler Gegner sei, und schenkte ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Aber seine Geschütze konnten nicht treffen und gegen die Büchsenkugeln hatte Helmers sein niederes Verdeck durch Matten geschützt, welche längs des Bordes aufgehängt waren. So lag der Pirat zwischen dem Engländer und der Yacht. Beide hielten sich wacker, und er mußte erkennen, daß er sich in keiner angenehmen Lage befand. Es war klar, daß er den Kauffahrer nicht eher bekommen konnte, als bis er die Yacht von sich abgeschüttelt hatte. »Entert die verdammte Nußschale!« rief er. In Zeit von einigen Minuten waren zwei seiner Boote herabgelassen und bemannt, um die Yacht anzugreifen. »Das ist mir recht!« lachte Helmers. »Sie sollen sogleich Wasser trinken.« Er ließ Rückdampf geben, um freies Ziel zu erhalten, und stellte sich dann selbst an eines der Geschütze. Soeben kam das größere der Boote auf ihn zu. Er zielte höchst sorgfältig und gab Feuer. Die Kugel fuhr in den Bug des Bootes, ging durch die ganze Länge desselben und dann hinten wieder hinaus. Mehrere der Ruderer wurden zerrissen und das Steuer zerschmettert. Das Fahrzeug faßte Wasser und sank. Die Leute sprangen in die See und das zweite Boot eilte herbei, sie aufzunehmen; da aber wurde auch dieses von einer abermaligen Kugel getroffen; es erhielt ein großes Leck und schöpfte Wasser. »So!« rief Helmers. »Gebt ihnen nun Kartätschen. Sie sollen nicht wieder an Bord kommen!« Dies geschah und nun erst sah der Pirat ein, daß die kleine Yacht ein gefährlicherer Gegner sei als das englische Vollschiff. Er schnaubte vor Wuth. Man sah ihn droben am Ruder stehen und hörte seine Stimme deutlich.
»Werft Handgranaten hinab!« befahl er. »Wir wollen diesen Zwerg zerreißen.« Da trat Sternau hinter der schützenden Matte hervor und rief hinauf: »Henrico Landola, ich grüße Dich von Cortejo in Rodriganda!« Da erbleichte der Räuber. Er sah sich entlarvt und brüllte: »Granaten! Schnell, schnell! Dieser Kerl darf uns nicht entgehen!« Aber Helmers ließ die Maschine arbeiten und zog sich in solche Entfernung zurück, daß die Handgranaten die Yacht nicht erreichen konnten; aber nun lagen sie vor den Mündungen der Kanonen des Piraten, die ihnen gefährlich werden konnten; darum legte Helmers sich vor das Steuer des Feindes, wo ihm nur die Sternkanone desselben beschwerlich werden konnte, und versuchte, das Steuer zu zerschießen. Gelang dies, so war der Pirat manövrir unfähig gemacht. Dies sah Landola ein. Er zog die Segel auf und trachtete, die Yacht in Grund zu segeln, doch wich sie ihm hurtig und geschickt aus. Unterdessen war auch der Engländer thätig gewesen. Er war zwar mehrfach beschädigt, aber auch seine Kugeln hatten bedeutende Spuren zurückgelassen. Dadurch, daß der Pirat seine Aufmerksamkeit und seine Kräfte theilen mußte, kam er in Nachtheil. Von einem Entern des Kauffahrers war keine Rede mehr und als jetzt die Yacht alle ihre Schüsse nach seinem Steuer richtete, sah er sich bedroht, kampfunfähig gemacht zu werden. Er zog also alle seine Segel auf und ging unter dem Winde davon, nachdem er dem Engländer noch eine ganze Breitseite in den Rumpf geschossen hatte. Am Bord des Kauffahrers erhob sich ein lautes Jubelgeschrei, und als jetzt die Yacht sich ihm näherte, um an seinem Fallreep anzulegen, wurde sie mit freudiger Dankbarkeit begrüßt. Sternau ging mit Helmers an Bord des geretteten Schiffes.
»Das war Hilfe zur rechten Zeit, Sir!« rief ihnen der Kapitän zu, indem er ihnen die Hände reichte. »Ihre Yacht ist ein verdammt kleiner Held!« »Und Sie selbst sind auch kein Feigling, Sir!« antwortete Sternau. »Pah, ich that meine Schuldigkeit! Aber ich bin doch neugierig, ob der Kerl mich wieder angreifen wird!« »Das läßt er sicherlich bleiben, denn ich würde Ihnen wieder Gesellschaft leisten.« »Ah, das klingt ja, als ob Sie mich begleiten wollten!« »Nicht Sie, sondern ihn werde ich begleiten. Ich habe diesen Kerl bereits seit Wochen gesucht und werde ihn nicht wieder aus dem Auge lassen.« »Wirklich?« fragte der Kapitän verwundert. »Haben Sie mit ihm vielleicht eine kleine Rechnung abzuschließen?« »O, nicht ein kleine, sondern eine ziemlich große. Aber sagen Sie, Sir, gehen Sie vielleicht nach der Kapstadt?« »Ja.« »So thun Sie mir den Gefallen und melden Sie, daß Sie mit dem ›Lion‹, Kapitän Grandeprise, gekämpft haben, daß aber diese Namen falsch sind. Das Schiff heißt ›La Pendola‹ und der Kapitän ist ein Spanier Namens Henrico Landola. So wird man ihn greifen können. Ich werde so thun, als ob ich in Ihrem Kielwasser auch nach der Kapstadt gehe; er wird sich dann sicher fühlen und nicht vermuthen, daß ich ihm folge.« »Aber, was haben Sie mit ihm, Sir?« Sternau erzählte ihm so viel, als er für nöthig hielt, und kehrte dann auf die Yacht zurück, welche nach Süd dampfte, während der Räuber den Kurs nach Südwest einhielt. Als er sich so weit entfernt hatte, daß von seinem Verdecke aus die Yacht selbst mit dem besten Fernrohre nicht mehr zu erkennen sein konnte, schlug Helmers dieselbe Richtung ein.
»Nun weiß ich, wie er zu fassen ist,« sagte er zuversichtlich. »Wie?« fragte Sternau. »Er weiß, daß Sie ihn kennen, und er denkt, daß wir nach dem Kap fahren und dort Alles erzählen. Sein Geheimniß ist verrathen und er darf sich also da nicht sehen lassen. Er wird nach Amerika gehen, um sich und das Fahrzeug unkenntlich zu machen. Dazu giebt es keinen passenderen Ort als die westindischen Inseln. Dort werden wir ihn treffen.« Daß diese Ansicht richtig war, zeigte sich bald. Die Yacht heftete sich an den Räuber und bemerkte bereits am nächsten Tage, daß er den Kurs nach Amerika verlegte. Sie eilte ihm voraus, um ihn in dem verworrenen westindischen Inselmeere zu erwarten. – Während also Sternau nach Amerika und der Herzog von Olsunna auf der Eisenbahn nach Deutschland dampften, glaubten die Bewohner von Rheinswalden sicher nicht, daß ihnen eine große Gefahr drohe, und dennoch war es so. Zu Genheim bei Bingen saß Graf Alfonzo am Fenster und blickte hinaus auf die vor ihm sich ausbreitenden Gärten und Felder. Er war so lange krank gewesen, trug auch jetzt noch den Arm in der Binde, fühlte sich aber sonst so ziemlich wohl und hergestellt. In seiner Nähe stand Gérard Mason. Auch er trug den Arm noch in der Binde; der Schlag der Eisenbahnschiene war doch schlimmer gewesen, als er es vorher eingestanden hatte; doch konnte ihn das jetzt nicht mehr hindern, für seinen gegenwärtigen Herrn thätig zu sein. Er empfing eben jetzt einen Befehl desselben. Er sollte sich nämlich nach Rheinswalden begeben und Erkundigungen einziehen. Graf Alfonzo schärfte ihm alle Details ein und machte ihn besonders darauf aufmerksam, daß er ja mit dem Jägerburschen des Oberförsters bereits bekannt sei, und sich nur an diesen zu wenden brauche.
Gérard fuhr mit der Bahn nach Mainz und ging von da zu Fuß nach Rheinswalden, um sich das Opfer anzusehen, welches unter seinen Händen sterben sollte. Das Glück war ihm günstig, denn als er so die Straße durch den Wald dahinschritt, trat Ludewig zwischen den Bäumen hervor und erkannte ihn sogleich. Sie begrüßten sich und unterhielten sich, neben einander hinschreitend, zunächst über den Eisenbahnunfall. Dies gab dem Franzosen Gelegenheit, von den Verletzungen zu sprechen, die er und sein Herr erlitten hatten. Er habe gehört, daß es auf Rheinswalden einen Doktor Sternau gebe, der ein sehr großer Arzt sei; zu ihm wolle er gehen, um sich noch einmal untersuchen zu lassen, ob sein Arm richtig behandelt worden sei. Auch kenne er den Herrn Doktor bereits von Paris aus. Er erfuhr nun von dem redseligen Ludewig, daß Sternau nicht mehr hier sei. Der Jagdgehilfe freute sich, einmal so recht von der Leber weg sprechen zu können und erzählte Alles, was er von den Bewohnern des Schlosses wußte. So erfuhr denn der Garotteur von Rodriganda, von Cortejo, von Henrico Landola, der jetzt gesucht werde, von Sternau und Helmers, welche zur See waren. Sonderbar! Alle diese Namen standen in dem Notizbuche, welches Gérard Mason sich abgeschrieben hatte. Dieses Buch mußte mit all’ diesen abenteuerlichen Begebenheiten in direkter Beziehung stehen. Es lag ihm sehr daran, den Zusammenhang zu erfahren, doch handelte es sich zunächst nur noch darum, Gräfin Rosa zu sehen, um sein Opfer genau kennen zu lernen. Darum sagte er dem Jäger, daß er wenigstens Frau Sternau sprechen wolle, da der Doktor nicht selbst zugegen sei, und als sie Rheinswalden erreichten, meldete ihn Ludewig an. Frau Sternau, ihre Tochter und Rosa befanden sich in der Wohnung der Ersteren, als Ludewig sagte, daß ein Franzose aus Paris sie zu sprechen wünsche; es sei derjenige, der damals bei dem Eisenbahnunfalle von der Schiene verletzt worden sei. Der Fremde erhielt die Erlaubniß,
einzutreten; als er sich dreien Damen gegenüber erblickte anstatt nur einer, überkam ihm eine Art von Verlegenheit, doch überwand er dieselbe und machte eine ziemlich gelungene Verbeugung. »Verzeihung, Madame« sagte er zu Frau Sternau. »Ich wollte eigentlich mit dem Herrn Doktor Sternau sprechen – –« »Der ist leider verreist,« sagte sie in französischer Sprache freundlich zu ihm. »Ich hörte es; aber ich bringe ein Herz voll Dankbarkeit mit, welche ich Ihnen zu Füßen legen möchte, da der Herr Doktor nicht selbst anwesend ist.« »Ah, Sie kennen ihn? Sie sind Franzose, wie mir der Diener sagte?« »Ja.« »Und wohnten in Paris?« »Allerdings.« »So hat er Ihnen gewiß in einer Krankheit beigestanden?« »Nein. Hat der Herr Doktor Ihnen nicht erzählt von der armen Annette Mason?« »Ich kenne den Namen nicht.« »Welche sich in die Fluthen der Seine stürzte?« »Nein. Mein Gott, welch’ ein armes Kind!« »Und der er nachsprang, mitten in der dunkelsten Nacht und an einer der tiefsten und gefährlichsten Stellen?« »Kein Wort hat er davon erzählt! Er ist ihr nachgesprungen?« »Ja, und er hat sie herausgeholt und auf seinen eigenen Armen zu einer braven Frau getragen. Und dann hat er ihr bei dem Professor Letourbier eine gute Condition verschafft. Das Alles hat er gethan.« »Und davon wissen wir nichts, gar nichts!« »Nun bin ich zufällig in der Nähe, und so kam ich, um ihn einmal zu sehen und zu danken. Wie schade, daß ich ihn nicht sprechen kann!«
Rosa hatte sich erhoben und war ihm nahe getreten. Ihr schönes Angesicht strahlte von Glück über die Heldenthat, welche von dem geliebten Manne berichtet wurde. »Sie müssen ein braver Mann sein, da Sie so dankbar sind,« sagte sie. »Wann ist das geschehen, was Sie hier erzählen?« »Kurz vor seiner Abreise von Paris nach hier.« Er blickte in dieses Auge und fühlte sich überwältigt von dem Strahle, welcher aus demselben drang. Das war seine Frau; das war Rosa de Rodriganda, die er verschwinden lassen sollte! Nie, niemals! »Wir danken Ihnen! Sie haben uns mit Ihrer Erzählung eine sehr große Freude bereitet. Könnten wir Ihnen irgend eine Bitte erfüllen?« sagte sie. »Ich habe keinen Wunsch, als daß es Ihnen stets wohl gehen möge, gnädige Frau.« »lch danke, mein Freund!« »Es giebt Einige, welche Ihnen das Gegentheil wünschen – –« »Warum denken Sie dies?« Er konnte den Blick nicht von ihr wenden; er wurde von ihrem Anblicke immer mehr berauscht und fuhr fort: »Es giebt sogar Leute, welche Ihnen nach dem Leben trachten.« »Mein Gott!« rief sie, erschrocken zurückweichend. »Ja, es giebt Leute, welche Mörder dingen und bezahlen, um Sie und den Herrn Doctor verschwinden zu lassen, aber Gott hat Sie in seinen besonderen Schutz genommen; er wird nicht zugeben, daß Ihnen ein Haar Ihres Hauptes gekrümmt werde.« »Sie erschrecken mich! Wovon sprechen Sie?« »Ich will es Ihnen sagen, Madame,« antwortete er, ganz trunken von der Nähe eines so herrlichen Weibes. »Hier in der Nähe wohnt Graf Alfonzo de Rodriganda unter einem falschen Namen; er hat aus Paris einen Mörder mitgebracht, der Sie tödten soll, aber dieser
Mann ist nur mit nach Deutschland gegangen, um Sie zu warnen. Mehr kann ich nicht sagen. Adieu!« Ehe ihn Jemand halten oder noch eine Frage vorlegen konnte, war er verschwunden. Die drei Damen standen einander regungslos gegenüber. »Was war das?« fragte Rosa. »Gott, bin ich erschrocken!« seufzte die Mutter. »Ist das Wahrheit oder eine Mystification?« fragte Fräulein Sternau. »Das war Wahrheit!« sagte Rosa. »Ja, dieser Mann war kein Lügner!« stimmte Frau Sternau bei. »Aber wer war er?« »Er nannte den Namen seiner Schwester, Annette Mason.« »War er selbst der gedungene Mörder?« »Seine Worte machen es wahrscheinlich!« »Also der Graf ist in der Nähe!« »Aber wo?« »Mein Kind, rufe einmal Ludewig!« sagte die bedachtsame Mutter. Die Tochter rief den Gehilfen. Er erschien augenblicklich. »Wissen Sie, wie der Mann heißt, den Sie jetzt zu uns brachten?« fragte Frau Sternau. »Nein.« »Auch nicht, was er ist?« »Er ist Diener.« »Bei wem?« »Bei einem italienischen Marchese.« »Wo befindet sich dieser?« »Beim Lehrer Wilhelmi in Genheim.« »Bei Wilhelmi? Wie kommt ein Marchese in das Schulhaus?« »Er hat beim letzten Unglück den Arm gebrochen, und der Arzt ließ ihn hinschaffen.«
»Hast Du ihn gesehen?« »Nein.« »Oder gehört, ob er jung ist oder alt?« »Nein.« »Hm! Laß anspannen!« »Sogleich?« fragte er, da er sah, daß es sich um etwas Wichtiges handeln müsse. »Sofort!« beschied sie ihn. Ludewig eilte hinaus, und Rosa frug die Mutter: »Sie wollen ausfahren?« »Ja, und Sie sollen mit.« »Wohin?« »Nach Genheim, um uns diesen Marchese anzusehen.« »Das ist auffällig, Mama!« »Nein. Der Lehrer ist ein Cousin von mir.« »Und wenn es der Graf wäre, der sich bei ihm befindet?« fragte Rosa besorgt. »So lassen wir ihn auf der Stelle festnehmen!« »Aber die Gefahr, in welche wir uns begeben! Ich habe einen anderen Vorschlag.« »Welchen?« »Wir fahren nach Mainz zum Staatsanwalt und nehmen denselben mit.« »Kind, das ist ein sehr kluger Einfall. Wir machen schnell Toilette, daß wir keinen Augenblick versäumen.« »Ist Eile so dringend nöthig?« »Ja, sonst fliegt der Vogel aus.« »Gerade jetzt?« »Gewiß. Dieser brave Mann ist ehrlich. Er hat uns gewarnt, aber er wird es auch dem Grafen sagen, daß er uns gewarnt hat. Und was dann geschieht, das kann man sich denken.« »Er wird sofort abreisen.«
»Und lieber alles Andere im Stiche lassen, denn wenn er festgenommen würde, so hätte er sein ganzes Spiel verspielt. Darum müssen wir eilen!« – Gérard hatte das Zimmer und das Schloß verlassen und wollte nach Mainz zurückkehren; aber er war so entzückt, so aufgeregt, daß er beschloß, nicht die Straße zu gehen, sondern quer mitten durch den Wald die Einsamkeit zu genießen. So wanderte er langsam in der angenommenen Richtung weiter, als er plötzlich eine Blöße erreichte, auf welcher ein einsames Häuschen stand. Es war die Wohnung des Waldhüters Tombi. Dieser stand vor derselben und baute an einem der Läden herum, als er den Fremden kommen sah. Beide standen und blickten einander an. »Wer sind Sie?« fragte Tombi. »Ein Fremder, der durch den Wald nach Mainz will,« antwortete Gérard. »Und wer sind Sie?« »Ich bin Forsthüter.« »Bei wem?« »Beim Herrn Hauptmann von Rodenstein. Haben Sie es nothwendig, daß Sie grade durch den Wald schneiden wollen?« »Nein; es war eine kleine Laune von mir.« »Sie sprechen das Deutsche recht fremd?« »Sie auch!« »Ich bin Franzose.« »Ah, und ich Spanier.« »Spanier? Ist’s wahr?« »Ja, ich bin ein spanische Zigeuner.« Gérard dachte sofort an das geschriebene Notizbuch. Was der Waldhüter las, erfuhr sicherlich Niemand, denn wer bekümmerte sich um einen Zigeuner. »Darf man bei Ihnen ein Bischen ausruhen?« fragte er daher. »Gewiß! Kommen Sie mit herein in die Stube.«
Sie traten ein und unterhielten sich dort über alle möglichen Gegenstände. Der Waldhüter erzählte, daß er trotz seiner Jugend in Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland, Polen und anderen Ländern gewesen sei, und da fragte Gérard: »Aber sprechen Sie denn auch die Sprachen dieser Länder?« »So ziemlich.« »Und schreiben und lesen?« »Leidlich.« »Lesen Sie spanisch?« »Ja.« »Ich habe da ein altes Heft gefunden, welches spanisch sein muß. Wollen Sie es einmal ansehen?« »Zeigen Sie.« Gérard gab dem Hüter das Buch hin, welches er stets bei sich stecken hatte, und dieser nahm und las es. Je weiter er hinein kam, desto eifriger wurde er, bis endlich, als er ganz fertig war, er es ganz ruhig in seine eigne Tasche steckte. »Nun?« fragte Gérard. »Es ist spanisch.« »Was ist der Inhalt?« »Das ist nichts für Sie!« »Oho! Sie haben wohl die Güte, mir das Heft zurückzugeben?« »Nein, diese Güte werde ich nicht haben.« Da richtete sich Gérard, der Garotteur langsam auf und fragte: »Darf ich erfahren, warum Sie mir die Rückgabe verweigern?« »Weil dieses Heft nicht Ihr Eigenthum ist,« antwortete Tombi gleichmüthig. »Ach! Wem sollte es denn sonst gehören?« »Dem Grafen Alfonzo de Rodriganda. Ich sehe es aus dem Inhalt.« »Nun gut, so habe ich es ihm wiederzugeben, denn er hat es verloren.«
»Das ist nicht wahr!« »Nicht wahr?« rief Gérard zornig. »Mein Herr, reizen Sie mich nicht; ich bin nicht gewohnt, Widerstand zu finden.« »So haben wir Beide ganz dieselben Gewohnheiten, wie es scheint,« sagte Tombi ruhig. »Eine solche Handschrift hat kein Graf; man sieht, daß dies hier nur eine Abschrift ist. Sie haben das Buch gefunden und abgeschrieben. Dem Grafen gaben Sie das Original zurück, die Abschrift aber behielten Sie, um Sie zu verwerthen.« Der einfache Waldhüter stand wie ein Examinator vor dem riesigen Garotteur. Dieser blickte ihn mit zornig glühenden Augen an und sagte: »Und selbst wenn es so wäre, gehörte doch diese Abschrift mir. Sie ist ein Produkt meiner Arbeit, und Sie werden sie mir herausgeben!« »Nein, das werde ich nicht!« antwortete Tombi. »So werde ich Sie zu zwingen wissen!« rief Gérard, indem er die mächtigen Fäuste ballte und drohend erhob. Da lächelte der Waldhüter und sagte: »Sie kennen mich nicht, sonst würden Sie in einem anderen Tone mit mir sprechen. Aber im Gegentheile habe ich das Glück, Sie zu kennen, und das kommt mir sehr zu statten. Sie werden nie wagen, die Hand an mich zu legen. Ich erkannte Sie sofort, als ich Sie sah, obgleich ich mich wunderte, Sie hier in Deutschland zu sehen.« »Ach, wirklich? Sie wollen mich kennen?« fragte Gérard erschrocken. »Ja. Sie sind ein Schüler unsers famosen Friseurs, den wir Papa Terbillon nennen. Habe ich recht?« Mason trat einen Schritt zurück und rief: »Bei Gott, Sie kennen Terbillon!« »Ja. Sie sind Gérard Mason, der berühmte Garotteur.« Gérard erbleichte, Tombi aber fuhr in beruhigendem Tone fort:
»Erschrecken Sie nicht; wir sind ja Freunde! Papa Terbillon gehört zu uns. Ich bin Zigeuner; ich bin Tombi, der Sohn der Mutter Zarba. Sie kennen sie doch?« »Zarba?« sagte der Franzose erstaunt. »O, wer sollte diese nicht kennen! Sie ist überall und nirgends; sie ist nicht die Königin der Zigeuner, sondern sie beherrscht alle Leute, welche vom Gesetze aus der Gesellschaft gestoßen sind.« »Ja; sie hat ein Verzeichniß aller ihrer Verbündeten; Ihr Name, Monsieur Gérard, ist auch mit dabei. Ich war längere Zeit in Paris; daher kenne ich Sie. Sie wissen nun, daß Sie mir vertrauen können. Wie sind Sie zu diesem Buche gekommen?« »Das darf ich nicht sagen.« »Warum nicht?« »Ich habe nicht das Recht, einem Manne zu schaden, dem ich jetzt diene. Sollte ich aber seinen Dienst verlassen, so bin ich bereit, Ihnen Alles mitzutheilen.« »Gut! Sie sind mir sicher. Ich will nicht forschen, was Sie nach Deutschland führt; es hat ein jeder das Recht, seine Geheimnisse zu bewahren. Muß ich es dennoch später wissen, so werden Sie es mir doch sagen. Für jetzt genügt mir der Besitz dieses Buches, welches für mich sehr wichtig ist, und ich bin überzeugt, daß Sie es mir nun, da Sie mich kennen, freiwillig überlassen werden. Wie lange gedenken Sie sich in Deutschland aufzuhalten?« »Ich reise baldigst ab.« »So weiß ich, daß Sie bald in Paris zu finden sind.« »Ja. Das Buch lasse ich Ihnen. Der Sohn Zarba’s, der zukünftige König der Gitanos hat das Recht, eine solche Rücksicht zu fordern. Haben Sie sonst noch einen Wunsch oder einen Befehl?« »Nein. Lassen Sie uns also als Freunde scheiden, nachdem wir uns einen Augenblick lang scheinbar als Feinde gegenüber gestanden haben!« Sie nahmen Abschied von einander.
Als der Franzose die Hütte verlassen hatte, schlug Tombi das Buch abermals auf, überflog den Inhalt und sagte mit triumphirender Miene: »Welch’ ein Zufall! Welch’ ein Glück! Da kommt dieser Mason, der mich nicht erkannt hat, weil ich in Paris falsche Frisur trug, aus Frankreich nach Deutschland; er weiß nicht, welchen Schatz er besitzt, und giebt mir mit demselben den Schlüssel zu dem Räthsel, welches wir bisher vergebens zu lösen trachteten! Jetzt endlich ist es in unsere Hand gegeben, klar zu blicken und mit der Rache zu beginnen. Das muß ich sofort Zarba melden!« – Auch Gérard wunderte sich über das Zusammentreffen, obgleich es ihm bereits oft begegnet war, daß er in einem scheinbar völlig fremden Menschen ein Mitglied jener großen Verbrüderung kennen gelernt hatte, welche sich über ganze Länder verbreitet hatte und zu der auch Zarba mit den Ihrigen gehörte. Er ging durch den Wald und dachte an Rosa. Dieses herrliche Weib hatte einen tiefen, nicht sinnlichen, sondern ethischen Eindruck auf ihn gemacht. Diese Frau sollte es werden? Nein und abermals nein! Sie war ja noch dazu die Frau desjenigen Mannes, der seine Schwester vom Tode des Ertrinkens errettet hatte. Aber an seinem gegenwärtigen Herrn wollte er auch nicht zum Verräther werden. Er war ein gewaltthätiger Mensch, der vor keinem Raube, vor keinem Morde zurückbebte, aber eine Lüge machte er nicht gern. Darum beschloß er, seinem Herrn Alles zu sagen. Er kam erst am Abende spät nach Hause. In dem Zimmer des Grafen war kein Licht; dieser befand sich bei der Familie des Lehrers, »Ach!« dachte der Garotteur. »Das paßt! Tödte ich die schöne Frau nicht, so komme ich um die Summe, welche ich noch zu erhoffen habe. Dieser sogenannte Marchese d’Acrozza ist ein Schurke; ich trete aus seinem Dienst, und dann ist es keine Untreue, wenn ich mich ein Wenig bezahlt mache.«
Er schlich sich also leise zur Wohnung Alfonzo’s empor und brannte das Licht an. Da stand der Handkoffer, in welchem die Werthsachen aufbewahrt wurden; der Schlüssel steckte an. Gérard öffnete und sah eine gefüllte Brieftasche, deren Inhalt er untersuchte. Sie enthielt sechzigtausend Franken. Daneben lagen zwei Beutel, mit Goldstücken gefüllt. »Ach, eine schöne Summe!« schmunzelte der Garotteur. »Jetzt kann ich Hochzeit machen und ein ehrlicher Mann werden. Wie wird sich mein Mädchen freuen! Ja, es ist kein Verbrechen, dieses Geld zu nehmen. Der Marchese, der sicherlich nicht Acrozza sondern Rodriganda heißt, benutzt es, um Verbrechen auszuführen; ich aber benutze es, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Her damit!« Er steckte Alles zu sich, verschloß den Koffer, verlöschte das Licht und schlich sich leise wieder zur Treppe hinab. Nun erst that er, als ob er jetzt von seinem Ausfluge zurückkehrte. Er trat unten ein und wurde von seinem Herrn bedeutet, ihm nach oben zu folgen. Als sie aber aus dem Wohnzimmer des Lehrers in den Hausflur traten, sagte er zu Alfonzo: »Monsieur, gehen wir nicht hinauf in das Zimmer! Was wir zu sprechen haben, das eignet sich am Besten für die dunkle Nacht.« Er trat hinaus in das Freie und Alfonzo folgte ihm. Als sie sich nun überzeugt hatten, daß kein Lauscher vorhanden sei, fragte Alfonzo: »Warum führst Du mich nach hier? Was giebt es so Geheimnißvolles?« Der Gefragte stellte sich breitspurig vor ihn hin, steckte die Hände in die Taschen, in welchen sich das Geld befand, und sagte im Vollgefühl eines reichen Mannes, der mit einem armen Schlucker spricht: »Sehr Vieles giebt es, sehr Vieles, was Sie gar nicht erwarten werden, Monsieur. Unsere Mission ist nämlich gescheitert.«
»Alle Teufel! Ist Rosa de Rodriganda nicht in Rheinswalden?« »Sie ist da. Ich habe aber von meinem Bekannten, dem Jäger, so Vieles gehört, was der Sache eine ganz andere Wendung giebt.« »So rede!« gebot Alfonzo drängend. »Hören Sie zunächst, daß Rosa de Rodriganda verheirathet ist!« »Alle Teufel!« rief der Graf. »Mit wem?« »Mit Herrn Doctor Sternau. Und dieser ist verreist, um einen Seekapitän Landola aufzusuchen.« »Tollheit!« sagte Alfonzo; seiner zitternden Stimme war der Schreck leicht anzumerken. »Warten Sie, Monsieur; es kommt noch toller! In Rheinswalden weiß man, daß ein gewisser Graf Alfonzo de Rodriganda von Spanien nach Deutschland gekommen ist.« »Bist Du verrückt?« »Nein,« kicherte der Franzose listig; »man hat mir kein Gift gegeben, wie der Gräfin Rosa, ich bin also noch nicht wahnsinnig.« »Mensch!« brauste Alfonzo auf. »Pst, Monsieur, lassen Sie uns leise reden!« warnte Mason in überlegenem Tone. »In Rheinswalden weiß man sogar, daß dieser Don Alfonzo sich bereits in Deutschland befindet, ja daß er hier unter dem Namen eines Marchese d’Acrozza bei einem Lehrer wohnt.« Alfonzo antwortete nicht. Er brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln; dann sagte er: »Ist das möglich?« »Ja. Ich glaube sogar, daß man bereits unterwegs ist, um diesen Alfonzo, der aber ein geborener Cortejo ist, festzunehmen.« Da verrieth sich der Spanier, indem er sagte: »Pah, sie mögen kommen! Sie werden mich nicht erkennen, denn ich trage ja die Maske, welche mir Papa Terbillon angefertigt hat!« »O, diese Maske ist bereits sehr hinfällig geworden, Monsieur. Die Schminke entfärbt sich; die Falten trocknen aus, und der Bart
wird von dem natürlichen Haare, welches nachwächst, losgestoßen. Ein leidlicher Polizist wird sofort erkennen, daß alles Kunst ist; ich bin überzeugt davon.« »So gehen wir von hier fort und suchen einen sicherern Ort. Ich verlasse Deutschland nicht eher, als bis diese Rosa todt ist!« »Sie wird nicht sterben; sie ist bereits gewarnt, Monsieur.« »Ah! Wer sollte sie gewarnt haben? Es weiß Niemand von unserem Vorhaben!« »Ich selbst habe sie gewarnt,« sagte Gérard aufrichtig. »Du?« fragte Alfonzo. »Mensch, was fällt Dir ein, Spaß mit mir zu treiben!« Da trat der Franzose näher, legte ihm seine mächtige Faust auf die Schulter und sagte: »Monsieur, hören Sie, daß ich im Ernste zu Ihnen spreche! Ich bin Gérard Mason, der Garotteur; man kennt mich in meinen Kreisen als einen braven Kerl, mit dem nicht gut zu spaßen ist. Dieser Doctor Sternau hat meine Schwester mit eigener Lebensgefahr aus der Seine gefischt; ich bin ihm Dankbarkeit schuldig, und ich werde es nicht dulden, daß ihm oder einem der Seinigen ein Haar gekrümmt werde. Sie wollen seine Frau tödten, die für Ihre Schwester gilt. Wir stehen uns gleichberechtigt gegenüber. Sie sind weder ein Marchese, noch ein Graf. Ich bin Gérard Mason, der Garotteur, und Sie sind Alfonzo Cortejo, der Betrüger, Giftmischer und Mörder. Wir sind uns vollständig ebenbürtig, und ich sage Ihnen, daß Doctor Sternau mit all den Seinen unter meinem Schutze stehen. Ich stand bis zu diesem Augenblicke in Ihren Diensten und werde nicht hinterlistig an Ihnen handeln. Ich habe die Familie Sternau’s zwar gewarnt, aber ich habe Sie nicht verrathen. Sie haben vollständig Zeit zur Flucht. Kehren Sie augenblicklich nach Spanien zurück! Ich werde Frau Sternau überwachen und beschützen und sage Ihnen: geschieht ihr das geringste Leid von Ihnen, so sterben Sie unter den unerbittlichen Fäusten des Garotteurs. Denken Sie
nicht, daß Sie mächtiger sind, als ich es bin. Ihre Macht bestand in dem Gelde. Sie haben keins mehr; diese Macht befindet sich jetzt in meinen Händen. Vergessen Sie ja nicht, was ich Ihnen sagte; ich werde Wort halten! Leben Sie wohl, Monsieur!« Er preßte mit seiner Faust die Schulter Alfonzo’s, daß diesem ein lauter Schmerzensschrei entfuhr und trat zurück – er verschwand im Dunkel des Abends. Alfonzo stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Alles, Alles war vergebens! Er erkannte, daß mit diesem schrecklichen Manne nicht zu spaßen sei. »Diese Macht befindet sich jetzt in meinen Händen? Was wollte er damit sagen?« Mit diesen Worten kehrte er in das Haus zurück und begab sich nach seinem Zimmer. Dort angekommen, zündete er die Lampe an und öffnete den Koffer. Mit einem Rufe des Schreckens fuhr er zurück. »Fort! Alles fort! Die Brieftasche und die Beutel! Sechzigtausend in Scheinen und zehntausend in Gold! Dieser Dieb!« Er starrte mit weit offenen Augen auf die leeren Stellen, an denen sich das Verschwundene befunden hatte und murmelte: »Es bleiben mir noch höchstens dreihundert Franks, welche ich zufälliger Weise in meiner Börse habe. Ich muß fliehen, sogleich, sogleich! Er sagte ja, daß die Verfolger bereits unterwegs seien. Aber diese kleine Summe wird reichen, bis ich zu einem Bankier komme, dem ich mich ohne Gefahr vorstellen kann. Glücklicher Weise habe ich meine Legitimationen nicht im Portefeuille gehabt, sonst wären auch sie verschwunden.« Er packte in den Koffer, was unumgänglich nothwendig war, und verließ dann heimlich das Haus. Er verschwand ebenso im Dunkel der Nacht wie vorhin der Garotteur. Rosa Sternau war einer großen Gefahr entgangen.
Nur zwei Stunden später erschien der Mainzer Staatsanwalt in Begleitung mehrerer Gensd’armen im Schulhause, wo sich Alles bereits zur Ruhe gelegt hatte. Die Familie des Lehrers wurde geweckt, aber als man die Stube des Marchese untersuchte, fand man die überzeugendsten Beweise, daß Beide, er und sein Diener, die Flucht ergriffen hatten. Es wurden sofort alle Maßregeln ergriffen, ihrer habhaft zu werden, aber vergebens; sie waren glücklich entkommen. – – Einige Tage später brachte der Rheindampfer, welcher in Mainz anlegte, einige fremde Passagiere, welche sich nach dem vornehmsten Hotel der Stadt begaben. Es war ein älterer und ein junger Herr, eine Dame von ungewöhnlicher Schönheit und dann noch ein männlicher und ein weiblicher Domestike. Der alte Herr schien schwer krank gewesen zu sein, ging aber jetzt aufrecht und hatte ein höchst distinguirtes, gebieterisches Ansehen. Den jüngeren Herrn konnte man für einen Künstler halten, und der Dame sah man es an, daß sie es gewöhnt sei, sich in den exclusiveren Kreisen zu bewegen. Es war der Herzog von Olsunna, Flora, seine Tochter, und Otto von Rodenstein, der Verlobte derselben. Sie erkannten, daß ihre Ankunft hier den Beginn einer großen Entscheidung bilde. Besonders bewegt war der Maler, dessen kindliche Liebe beim Anblicke der heimathlichen Gegend doppelt stark angeflammt war. Er wollte nichts von einem Zustande banger und aufreibender Ungewißheit wissen, und darum diktirte der Herzog seiner Tochter, sobald sie kaum es sich in der Hotelswohnung bequem gemacht hatten, folgendes Billet in die Feder: »An Frau Rosa Sternau in Rheinswalden. Wir melden Ihnen, gnädige Frau, hiermit unsere Ankunft. Da wir noch nicht wissen, ob unser Besuch dem Herrn Hauptmann von Rodenstein genehm ist, so ersuchen wir Sie um eine gütige kleine
Benachrichtigung. Gründe, welche wir brieflich nicht andeuten können, lassen uns jedoch wünschen, Sie möchten persönlich kommen, damit wir uns Ihnen vor unserem Aufbruche vorstellen können. Mit der ergebensten Hochachtung Franz, Baron von Haldenberg.« Mit diesem Billette wurde ein Diener des Hotels nach Rheinswalden gesandt. Er traf die Bewohner des Schlosses beim Oberförster versammelt. Rosa konnte, als sie die Zeilen gelesen hatte, den Inhalt derselben nicht verschweigen. Sie theilte ihn den Uebrigen mit und richtete damit große Freude an, da man sich auf den bereits von Frankreich aus angesagten Besuch vorbereitet hatte. »Gott sei Dank, daß dieser Baron Haldenberg endlich anmarschirt kommt!« sagte der Hauptmann in seiner derben Weise. »Nun werden wir ja auch ausführlich erfahren, in welcher Weise er unseren guten Sternau kennen gelernt hat.« »Und ob er die Spur meines armen, verschwundenen Vaters verfolgt hat,« fügte Rosa hinzu. »Was mich aber wundert, ist, daß der Herr Baron eine Frauenhand schreibt. Ich fand dies bereits aus dem ersten Briefe, und es ist mir ganz so, als ob ich diese Schriftzüge schon einmal gesehen hätte.« »Ja, es giebt Männer, welche so zierlich schreiben wie die Frauen,« sagte der Hauptmann und lachend fügte er hinzu: »Meinem Duktus merkt man es allerdings sogleich an, welcher Bär ihn geschrieben hat. Aber, meine liebe Frau Sternau, spannen Sie uns nicht so lange auf die Folter, sondern fahren Sie sogleich mit dem Boten nach Mainz, um diesen Baron schleunigst herbeizuholen!« Diesem Wunsche wurde Genüge gethan. Der Wagen rollte bereits nach kurzer Zeit zum ore hinaus, seinem Ziele entgegen. Als der Herzog die Ankommende aussteigen sah, führte er den
Grafen Emanuel in ein Nebenzimmer, um ihn bis zur geeigneten Zeit daselbst zu verbergen. Rosa ließ sich durch den Diener anmelden und wurde sofort vorgelassen. Als sie beim Eintritte die Anwesenden erblickte, zauderte ihr Fuß vor Ueberraschung. »Mein Gott, ist es möglich!« rief sie erstaunt. »Durchlaucht von Olsunna! Sie hier! Und auch Durchlaucht Flora!« Flora eilte ihr entgegen, um sie zu umarmen. »Ja, wir sind es, meine Liebe,« sagte sie. »Sie konnten uns in Deutschland allerdings nicht erwarten, ebenso wie wir Sie. Desto größer aber ist meine Freude, Sie zu sehen.« »O, auch ich bin ganz glücklich,« meinte Rosa. »Meine Freude ist noch größer als meine Ueberraschung. Ich suchte einen Baron von Haldenberg und bin wohl in ein falsches Zimmer gewiesen worden. Dennoch aber will ich – –« »Nein,« unterbrach sie der Herzog, »man hat Sie nicht in ein falsches Zimmer gewiesen, sondern wir sind es, die Sie erwarten.« »Sie selbst?« fragte Rosa befremdet. »Wie ist das möglich?« »Wir hatten Gründe, unseren Namen einstweilen zu verschweigen, und so nannte ich mich Baron von Haldenberg.« »Ah, und Durchlaucht Flora hat den Brief und auch das heutige Billet geschrieben?« »Allerdings.« »So ist es mir klar, warum diese Damenhand mir so bekannt erschien.« »Ja, ich habe Ihnen einst einige Zellen geschrieben, wie ich mich erinnere,« bestätigte Flora. »Lassen Sie sich nieder, liebe Gräfin! Wir haben Einiges zu besprechen, was Ihnen Freude machen wird.« »Sie meinen, von meinem Manne?«
»Ja. Wir haben mit dem Herrn Doctor Sternau gesprochen. Wir theilten Ihnen dies bereits in dem Briefe mit, den ich Ihnen schrieb.« Flora erzählte von der Krankheit ihres Vaters, von der Hoffnungslosigkeit, in welcher sie geschwebt hatten, und von der unerwarteten Hilfe, welche Sternau gebracht hatte. Rosa lauschte ihren Worten; es war ihren Mienen, ihren strahlenden Augen und ihren hochgerötheten Wangen anzusehen, wie sehr sie ihren Gemahl liebte und wie glücklich sie sich fühlte, ihn von diesen hochstehenden Leuten so geachtet zu sehen. Der Herzog verhielt sich schweigsam; er beobachtete die junge Frau und sagte sich im Stillen, daß es auf Erden kein schöneres und lieblicheres Wesen geben könne, als sie. Otto von Rodenstein saß ebenso still dabei. Er war Rosa mit Absicht nicht vorgestellt worden und hielt sich und den Freund Sternau für die beiden glücklichsten Menschen unter der Sonne, von zwei solchen Frauen geliebt zu sein. Als Flora geendet hatte, fragte Rosa: »Sie schrieben mir von einer Spur meines Vaters, welche Sie erst nach der Abreise meines Mannes entdeckt haben?« »Ja,« antwortete Flora. »Es hat uns ernstlich Leid gethan, daß der Herr Doktor Sternau nicht mehr zugegen war.« »O, bitte, erzählen Sie, erzählen Sie! Haben Sie die Spur verfolgt?« »Wir haben sie verfolgt,« antwortete der Herzog, welcher sich des Gespräches bemächtigte, um vorzubeugen, daß die Aufregung der jungen Frau nicht eine zu große werde. »Haben Sie Glück dabei gehabt? O bitte, sagen Sie es schnell!« bat diese. »Vielleicht,« antwortete Olsunna reservirt. »Vielleicht! Was soll dies heißen, Durchlaucht?«
»Es befand sich ein Wahnsinniger in unserer Nähe. Er wurde versteckt gehalten, und wir erfuhren, daß er immer die Worte ausspreche: »Ich bin der gute, treue Alimpo.« Wir forschten weiter und fanden, daß eine alte Zigeunerin bei dieser Angelegenheit die Hand im Spiele habe.« »Eine alte Zigeunerin? Wie hieß sie?« fragte Rosa schnell. »Zarba.« »Zarba, ah, wenn sie es ist, so ist’s der Vater sicherlich gewesen. Gott, ach Gott, Sie haben die Spur doch sicherlich nicht aus den Augen verloren?« »Nein, Gräfin. Ich hoffe, daß wir zum Ziele gelangen werden.« »Wann? Doch bald, ja, recht bald!« »Vielleicht. Es ist möglich, daß wir den Aufenthalt Ihres Vaters baldigst kennen lernen.« »Ich denke, Sie wissen ihn bereits?« »Er befand sich auf einem Leuchtthurme in halber Gefangenschaft. Er sollte, wie es scheint, heimlich wieder von da entfernt werden. Jetzt befindet er sich – – –« »Wo, wo – –?« »Bitte, meine liebe Gräfin, beherrschen Sie sich! Eine übermäßige Freude ist ebenso gefährlich, wie ein großer Schreck.« »Eine Freude! Sie sprechen von einer Freude! O, Sie haben eine gute, ein glückliche Nachricht für mich!« »Ich will das nicht ableugnen. Versprechen Sie mir, sich zu fassen, falls wir Ihnen diese Nachricht mittheilen?« Rosa blickte ihm forschend in das Gesicht, erhob sich von dem Sessel, auf welchem sie Platz genommen hatte und antwortete ernst: »Durchlaucht, ich habe so viel Schweres und Trauriges erlebt, daß mein Herz fest geworden ist. Ich könnte Beides, das Schrecklichste und das Seligste erleben, ohne so schwach zu sein, in eine Ohnmacht zu fallen. Antworten Sie! Lebt mein Vater noch?«
»Ja.« »Im Wahnsinne?« »Ja, leider.« »Sie wissen, wo er sich befindet?« »Ja.« »Weit von hier?« »Nein.« Es zuckte trotz ihrer vorigen Versicherung eine tiefe Erregung über ihr schönes Angesicht, aber sie beherrschte sich doch und sagte: »Ah, ich danke Ihnen! Nun weiß ich, warum Sie sich so sehr befleißigen, in Ihren Antworten so vorsichtig wie möglich zu sein. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke und vermuthe?« »Ich bitte Sie darum!« Der Strahl ihrer Augen wurde inniger; ihre Lippen zuckten leise, und auf ihren Wangen wechselte die Röthe mit der Blässe. Sie hatte die Drei durchschaut und sagte mit bebender Stimme: »Durchlaucht, Sie haben den Vater bei sich und ich werde ihn mir holen.« Sie blickte im Zimmer umher. Ihr Auge fiel auf die ür, welche zum Nebenkabinet führte. Mit einem raschen Schritte eilte sie hin, streckte die Hand aus und öffnete. Ein lauter Jubelruf erscholl, und als die Anderen herbeitraten, sahen sie, Vater und Tochter innig verschlungen, sie, unter lautem, erschütterndem Schluchzen Freudenthränen vergießend, er aber kalt und theilnahmslos, das geistesleere Auge auf sie gerichtet. Er fühlte ihre Arme um seinen Hals und ihr Köpfchen an seiner Brust, aber er wußte nicht, wer sie war und was mit ihm vorging. »Vater, mein Vater, mein lieber, armer guter Papa, kennst Du mich denn nicht?« fragte sie. »Ich bin es, ich, Deine Rosa! Antworte, o, antworte mir doch ein Wort, ein einziges, einziges Wort nur!«
Sie blickte erwartungsvoll zu ihm auf, aber in seinem leeren Gesichte gab es keinen Zug, der auf eine Spur von Seelenbewegung hätte schließen lassen. Nur seine schmalen, bleichen Lippen öffneten sich und mit monotonem Klange sagte er: »Ich bin der gute, treue Alimpo.« Die Dabeistehenden erwarteten, daß dieser Mißerfolg sie erschüttern werde, aber dies war keineswegs der Fall. Sie küßte dem Wahnsinnigen wieder und wieder die Hände und den Mund und rief: »Ja, Du bist krank, mein lieber Papa, aber wenn Du heute unseren Alimpo siehst, so wirst Du Dich nicht länger mit ihm verwechseln. Und wenn auch das nicht helfen sollte, so wird mein Mann zurückkehren und Dich gesund machen. Er hat ja das Mittel, welches auch mir geholfen hat.« Sie zog den Kranken hinaus zu den Uebrigen und zu sich auf das Sopha nieder und während sie sich da in tausend Liebkosungen erschöpfte, mußten sie erzählen, wie es ihnen gelungen war, seiner habhaft zu werden. Dabei kam natürlich auch Otto von Rodenstein zur Sprache, welcher ihr nun erst vorgestellt wurde. Als sie seinen Namen hörte, stutzte sie. Sie hatte während ihres Aufenthaltes auf Rheinswalden von dem Zerwürfnisse zwischen dem Hauptmanne und seinem Sohne gehört, wußte aber auch, daß dieser Letztere stets und zu aller Zeit ein treuer Freund ihres Mannes gewesen sei. »Wie wunderbar!« sagte sie. »Herr von Rodenstein, Sie haben so sehr viel zur Entdeckung meines Vaters beigetragen; das wird bei dem Ihrigen gar sehr in die Wagschale fallen. Ich schmeichle mir, seine ganze Liebe zu besitzen, und ich hoffe, daß meine Bitte bei ihm keine Fehlbitte sein wird. Sie stehen durchaus nicht ohne Schutz und Hilfe da!« Sie reichte ihm das Händchen dar, welches er achtungsvoll an seine Lippen zog.
»Was die Hilfe betrifft,« sagte der Herzog, »so sind Sie nicht die Einzige, auf deren Beistand Herr von Rodenstein rechnen kann. Ich selbst und auch Flora werden uns aus allen Kräften bemühen, ihn mit dem Vater zu versöhnen, und ich hoffe ein glückliches Gelingen, da es kaum denkbar ist, daß der Herr Hauptmann seiner Schwiegertochter gleich die erste Bitte abschlagen wird.« »Seiner Schwiegertochter?« fragte Rosa befremdet. »Ja.« »Ah, ich wußte nicht – – –! Hat er vielleicht einen Sohn, der verheirathet ist, Durchlaucht?« »Nein.« »So sind Sie verheirathet, Herr von Rodenstein?« »Nein, sondern einstweilen erst verlobt,« antwortete der Gefragte mit dem glücklichsten Lächeln, das es nur geben kann. »Ah! Darf ich fragen, mit wem?« »Gewiß, meine Gnädige. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Braut vorzustellen!« Er nahm Flora bei der Hand, und Beide machten vor ihr eine tiefe, halb ceremoniös ernsthafte, halb spaßhafte Verbeugung. Rosa wußte nicht, wie ihr geschah. Sie blickte das Paar erstaunt an; aber da hier eine Mystifikation ganz unmöglich am Platze war, so sagte sie: »Ist das wahr; ist das möglich?« »Es ist nicht nur möglich, sondern wirklich und wahr,« antwortete der Herzog. »Sie hatten sich lieb, und meine Tochter behauptete, sie könne ebenso gut die Gattin eines Malers werden, wie Gräfin de Rodriganda die Gemahlin eines Arztes geworden ist.« »O, Durchlaucht, sagen Sie nicht blos Gemahlin, sondern glückliche Gemahlin!« rief Rosa, indem sie aufsprang und Flora innig umarmte. »Das ist ein Ereigniß, welches ich mit Entzücken begrüße. O, nun wird der alte, brave Isegrimm nicht länger zögern, seine Hand zur Versöhnung zu bieten, und wir Alle wollen nur dem
Herzensglücke leben, welches an keine Rangstufe gebunden ist. Fahren wir sogleich nach Rheinswalden!« »Gern,« sagte Olsunna; »aber Herrn von Rodenstein möchte ich für jetzt doch noch rathen, nicht dort zu erscheinen. Sein Auftreten kann nur dann erst erfolgreich sein, wenn die Einleitungen vorüber sind.« »Allerdings,« antwortete Rosa. »Aber zu entfernt darf er doch nicht sein; er muß sich stets bei der Hand und zu unserer Verfügung befinden.« Da entschied Otto selbst: »Ich fahre mit nach Rheinswalden, gehe aber nicht auf das Schloß, sondern bleibe auf dem Vorwerke bei der Frau Steuermann Helmers.« Dies wurde als das Beste anerkannt, und nachdem der Herzog sich vorher nach der Anwesenheit und dem Befinden von Sternau’s Mutter erkundigt hatte, trat man die Fahrt nach Rheinswalden an, zu welcher allerdings der Wagen Rosa’s nicht genügend war; es mußte noch ein zweiter genommen werden. Es war dabei rührend anzuschauen, mit welcher kindlichen Liebe und Aufmerksamkeit Rosa um ihren Vater besorgt war. Sie wich nicht von seiner Seite, und wollte ihr Angesicht beim Anblicke seines Leidens ja einen Zug tiefen Leides annehmen, so wurde er doch sofort wieder durch den glücklichen Gedanken ausgewischt, den Vater wiedergefunden zu haben. Dies war ja für jetzt die Hauptsache; das Uebrige stand in Gottes Hand und Rosa war überzeugt, daß die Kunst ihres Mannes den gefangenen Geist des Grafen sicher von seinen Fesseln befreien werde. Otto stieg eine Strecke vor Rheinswalden aus, um unter dem Schutze des Waldes nach dem Vorwerke zu gelangen und dabei Frau Helmers die erfreuliche Botschaft zu bringen, daß er sich an Bord der Yacht befunden und mit ihrem Manne bei dieser Ge-
legenheit gesprochen habe. Die Anderen setzten ihre Fahrt nach dem Schlosse fort. Dort angekommen, fanden sie den Hauptmann unter dem Portale stehend, um die Gäste zu empfangen. Die beiden Damen Sternau, Mutter und Tochter waren nicht zugegen; sie befanden sich in der Küche, um die Vorbereitungen zum ersten gastfreundlichen Male zu treffen. Es war ganz außerordentlich, welch’ ein befriedigendes Aussehen der Herzog hatte. Sein Befinden war ein höchst günstiges. Er fühlte sich in einer gehobenen, glücklichen Stimmung, durch welche seine Kräfte ihre alte Spannkraft ganz wieder erhalten hatten. »Willkommen auf Rheinswalden!« rief der Hauptmann, indem er an die Wagen herantrat, um beim Oeffnen derselben behilflich zu sein. »Der Herr Baron von Haldenberg?« »Zu dienen!« antwortete der Herzog schnell, um Rosa keine Zeit zu einer Antwort zu lassen, durch welche sein Incognito bereits jetzt hätte verrathen werden können. »Und hier meine Tochter Flora, Herr Hauptmann!« Der Hauptmann machte seine tiefste Verbeugung, indem er im Stillen dachte: »Alle Teufel, das ist ein hübsches Frauenzimmer! Die hat Augen wie eine Prinzeß!« »Und hier, wer ist das, Herr Hauptmann?« fragte Rosa, indem sie auf ihren neben ihr sitzenden Vater zeigte. »Dieser Herr, hm, den kenne ich nicht.« Da wendete sich der Wahnsinnige zu ihm hin und sagte: »Ich bin der gute, treue Alimpo.« »Donnerwetter!« rief da der Oberförster, indem er geradezu erschrocken zurückwich. »Das sind ja die Worte – – die verteufelten Worte – – oh, ich hoffe, ich meine, ich denke – – hm, Donnerwetter!« »Nun, was meinen Sie?« fragte Rosa.
»Etwa gar eine Ueberraschung?« »Allerdings.« »Himmelelement! Etwa gar Ihr Vater, der Herr Graf de Rodriganda?« »Ja, er ist es,« antwortete sie, aus dem Wagen steigend. »Denken Sie sich meine Ueberraschung, meine Freude!« »Hollah! Hurrah! Hosiannah! Halleluja! Donner und Doria! Der Herr Graf ist da! Ludewig, Kurt, Heinrich, Wilhelm, wo steckt Ihr denn, Ihr Hallunken? Wollt Ihr wohl sofort kommen, um Seine Erlaucht, den Grafen Emanuel aus dem Wagen zu heben, Ihr Faulpelze!« Die gerufenen Jägerburschen eilten herbei und hoben den Kranken zur Erde, wo ihn aber Rosa sofort wieder in Empfang nahm, um ihn nach dem Empfangssaale zu führen. Dort wiederholte sich üblicher Weise die Vorstellung, und dann konnte der Oberförster sich nicht enthalten, seiner riesigen Neugierde Ausdruck zu geben. »Aber, Baron, wie kommen Sie zu dem Grafen?« fragte er. Der Gefragte erzählte ihm den Hergang kurz, nannte aber den Sohn des Hauptmannes nicht mit dem Namen, sondern bezeichnete ihn einfach als einen Freund des Doctor Sternau. »Alle Wetter, das war ein sehr glückliches Zusammentreffen!« meinte der Oberförster. »Wenn dieser Freund nicht gewesen wäre, so hätten wir den Grafen heut nicht hier.« »Allerdings. Und außerdem kämen Sie und wir Alle um ein freudiges Ereigniß, von dem Sie baldigst hören werden.« »Was ist es?« »Gedulden Sie sich nur eine kurze Zeit, Herr von Rodenstein! Sie werden dann Alles erfahren.« »Ja, ja. Ich bin zwar nicht sehr geduldig geartet, aber hier sehe ich doch ein, daß Sie ermüdet sind und sich wohl ein wenig auszuruhen haben. Erlauben Sie mir, Ihnen und Fräulein Flora Ihre
Zimmer anzuweisen. Unsere Rosa wird für ihren Papa einstweilen selber sorgen.« Er führte die Beiden nach den für sie bestimmten Räumen, wo sie dienende Kräfte vorfanden, welche ihrer bereits warteten; dann trug er Sorge, daß das Mahl bereit stehe, weshalb er sich in die Küche begab. »Sie sind da!« meldete er dort den beiden Damen. »Graf Rodriganda dazu.« »Graf Rodriganda?« fragte Frau Sternau erstaunt. »Welcher?« »Der Wahnsinnige.« Jetzt ging auch hier das Erstaunen los, doch sorgte der Hauptmann dafür, daß trotzdem nichts versäumt wurde. Rosa hatte sich mit ihrem unglücklichen Vater zuerst im Speisesaale eingefunden. Die beiden Damen Sternau servirten. Sie unterhielt sich mit dem Hauptmann, als Flora mit ihrem Vater eintrat. Frau Sternau warf einen forschenden Blick auf die Beiden und erkannte trotz der Länge der Jahre und trotz der Veränderungen, welche im Laufe derselben mit dem Herzoge vorgegangen waren, diesen sofort. »Herzog Eusebio von Olsunna!« rief sie, vor Schrecken erbleichend. »Der Herzog von Olsunna?« fragte Rodenstein. »Nein, Frau Sternau; dieser Herr ist der Herr Baron von Haldenberg, und diese Dame ist seine Tochter.« »Verzeihung!« fiel da der Herzog ein. »Mein Name ist allerdings nicht Haldenberg, sondern Olsunna. Es gab einen Grund, meinen Namen für kurze Zeit zu verändern, doch ich hoffe, daß dies von Ihnen entschuldigt werde.« »Donnerwetter! Ein Herzog! Ja, das habe ich ihr gleich angesehen! Sie sieht aus wie eine Prinzeß!« rief der Hauptmann, indem ihm vor Erstaunen der Mund geöffnet blieb.
Unterdessen war Flora bereits zu Frau Sternau getreten. Sie streckte derselben herzlich die beiden Hände entgegen und sagte: »Wir erkennen einander nicht, denn es ist eine lange Zeit her, daß ich die Sennora Wilhelmi einst so lieb gewann, daß ich so viel nach ihr geweint habe. Ich bin Ihre kleine Flora Olsunna, Frau Sternau. Wollen wir so gute Freunde sein wie damals? Ich bitte recht herzlich darum!« Diesem Entgegenkommen konnte der Schreck der Dame nicht widerstehen. Die Blässe wich von ihren Wangen; eine schimmernde Feuchtigkeit breitete sich über ihre Augen, und in ihrer Stimme war ein leises Vibriren zu hören, als sie die angebotenen Hände nahm und antwortete: »Eine solche Dame ist aus meiner kleinen Floritta geworden? Seien Sie herzlich gegrüßt, Hoheit! Warum sollte ich Ihnen die Gesinnungen meines Herzens nicht bewahrt haben. Sie sind mir hoch willkommen!« Während Flora nun auch zu Fräulein Sternau trat, näherte sich nun auch der Herzog der Mutter derselben. »Sennora,« fragte er spanisch, um von dem Hauptmann nicht verstanden zu werden; »ich habe einst schwer an Ihnen gesündigt. Ich war lange Zeit dem Tode nahe und konnte doch nicht sterben, bevor ich meiner großen Schuld ledig sei. Wollen Sie mir verzeihen? un Sie es um meiner Tochter willen.« Es war ein tiefer, ernster inhaltsreicher Blick, den sie auf ihn warf. Es sprach sich darin alles Elend, alle Sorge von damals aus, aber es glänzte aus demselben auch die unveräußerliche Güte und Großmuth des weiblichen Herzens. Sie nahm die Hand an, welche er ihr dargeboten hatte, und sagte: »Excellenz, ich verzeihe Ihnen.« Es waren dies nur wenige Worte, welche sie sprach, aber er hörte und verstand, daß sie in Wahrheit und ohne Heuchelei Alles enthielten, was er sich gewünscht hatte. Darum antwortete er:
»Ich danke Ihnen! Vielleicht geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen zu zeigen, wie tief meine Reue ist und wie ernstlich mein Bestreben, meine damalige Schuld an Ihnen zu sühnen.« Während der Tafel herrschte zunächst, wie dies ja gewöhnlich zu geschehen pflegt, ein etwas befangener Ton, der aber später beweglicher wurde. Der Herzog beobachtete Frau Sternau und fand, daß sie trotz ihrer Jahre noch immer einen großen eil jener Schönheit bewahrt hatte, welche damals so verhängnißvoll für sie geworden war. Auch sie warf öfters einen verstohlen forschenden Blick auf ihn und fand, daß er jetzt einen ganz andern Eindruck auf sie mache als früher. Das Herz des Weibes ist schwach gegen den Eindruck des Leidens, und die Spuren seiner schweren Krankheit erweckten eine eilnahme in ihr, welche sie diesem Manne gegenüber gar nicht für möglich gehalten hätte. Und wenn sie dann Flora betrachtete, so ging ihr das Herz auf. Ja, das war die Dame, welche zu werden bereits das Kind damals versprochen hatte, das war ein Charakter ganz ohne Falsch und Tadel. Sie fühlte sich auf das Innigste zu ihr hingezogen und freute sich daher herzlich, als sie sah, daß Flora sich ihr anschloß, als man nach der Tafel sich eine Zeit lang im Garten erging. Hier näherten sich die Seelen der beiden Frauen einander mit offener Herzlichkeit. Sie fühlten, daß sie einander nahe stehen, nahe bleiben und sich lieben müßten, und Flora schlang schließlich den Arm um die Taille ihrer einstigen Erzieherin und sagte: »Meine liebe Frau Sternau, Papa wird Ihnen eine große Bitte vortragen. Werden Sie dieselbe erfüllen?« »Ja, wenn ich kann,« antwortete die Gefragte. »Vielleicht werden Sie können; o, ich wünsche es von ganzem Herzen!« »Welche Bitte wird es sein?« Nach einem kurzen, nachdenklichen Zögern antwortete Flora:
»Ich bin nicht beauftragt, es ihnen zu sagen, aber es ist besser, ich bereite Sie darauf vor. Papa will Sie bitten – – Herzogin von Olsunna zu werden.« Das war ein unvermittelt ausgesprochenes, gewichtiges Wort. Es traf mit seiner ganzen Schwere auf Die, an die es gerichtet war. Sie trat mehrere Schritte zurück und sagte ganz erschrocken: »Herzogin von Olsunna? Ich?« »Ja, meine liebe, liebe Sennora Wilhelmi,« antwortete Flora, sie schmeichelnd bei ihrem Mädchennamen rufend. »Sie sollen Herzogin von Olsunna werden und also meine Mama. O, wie unendlich würde es mich freuen, wenn Sie diese Bitte meines Vaters erfüllen wollten!« »Unmöglich! Unmöglich! Ich träume! Was will der Herzog mit einem so ungeheuerlichen Antrag bezwecken?« Da zog Flora die früher so schwer geprüfte Frau näher an sich und sagte: »Ich soll die Schwester meines Bruders sein dürfen, meines Bruders, nach welchem ich mich so innig sehne. Karl Sternau soll Don Karlos de Olsunna werden, damit Alles vergessen werde, was früher geschehen ist.« Da erröthete Frau Sternau so tief wie das jüngste Mädchen. Wer sie jetzt gesehen hätte, dem wäre es wohl beigekommen, daß sie einst ein sehr schönes Mädchen gewesen sein müsse. »Mein Gott,« sagte sie; »der Herzog hat geplaudert! Sie wissen – – –?« »Daß Ihr Sohn mein Bruder ist? Ja, das weiß ich. Als Papa zum Sterben darniederlag, hat er es mir mitgetheilt, und ich bin mit großer Freude darauf eingegangen, mir diesen Bruder aufzusuchen und zu gewinnen.« »Das freut mich um Ihretwillen, mich aber drückt es unendlich nieder, denn ich weiß nicht, ob der Herzog Ihnen Alles erzählt hat.«
Flora ahnte die Gedanken der Sprecherin und antwortete darum schnell: »Alles, Alles hat er mir gesagt; seine ganze, schwere Schuld hat er mir eingestanden. Auf Ihnen liegt nicht die geringste Spur eines Vorwurfes oder Makels. Aber dennoch würden Sie ihm verzeihen, wenn Sie wüßten wie schwer er bereut!« »Ich habe ihm verziehen,« erklang es mit milder Stimme. »Ich danke Ihnen! Er hat nach Ihnen und nach seinem Sohne geforscht, eine lange Zeit; er hat sich alle Mühe gegeben, Sie aufzufinden, doch vergeblich, bis Herr von Rodenstein zu uns kam und uns sagte, wo Sie sich befänden. O bitte tausend Mal, weisen Sie den Vater nicht zurück! Gräfin Rosa ist eine herrliche Frau; sie hat Ihrem Sohne aus reiner Liebe ihre Hand gegeben; sie hat so unendlich viel gelitten; sie ist es werth, Herzogin von Olsunna zu werden!« »Verzeihen Sie mir, mein liebes Kind, daß ich nicht sogleich zur Entscheidung komme! Es handelt sich hier um einen so ungewöhnlichen, ja außerordentlichen Schritt, daß man dabei nicht stürmisch sein kann. Ich will Ihnen gestehen, daß ich meinem Gemahle nicht jene heiße, glühende Liebe entgegen gebracht habe, welche auch nach seinem Tode mein ganzes Herz mit Trauer um sein Andenken erfüllen müßte; ich will auch gestehen, daß ich Ihrem Vater nicht mehr zürne, daß ihr Anerbieten einer Anderen unwiderstehlich verlockend vorkommen würde, und daß ich um meines Sohnes, ja auch um Ihretwillen auf einen so ehrenvollen Vorschlag eingehen müßte; aber geben Sie mir Zeit, gewähren Sie mir Sammlung. Es ist eine glanzvolle Zukunft, welche mir entgegenwinkt, aber ich glaube nicht, daß sie mir den Frieden zu ersetzen vermag, den ich hier in der Stille und Einsamkeit gefunden habe und den ich um keinen noch so hohen Preis verlieren oder verkaufen möchte.«
»Ich weiß das. Ich weiß, daß Sie uns ein großes Opfer bringen. Auch mir giebt der trügerische Glanz, der lügenhafte Schimmer nichts, von welchem Sie sprachen. Sie sollen Ihren lieben Frieden uns nicht zum Opfer bringen, denn wir wünschen nichts sehnlicher, als Ihre Einsamkeit zu theilen. Vater ist nur durch die Kunst Ihres Sohnes, meines geliebten Bruders, gerettet worden. Er ist vom Tode erstanden und wünscht, seine Tage nur der Liebe zu den Seinigen widmen zu dürfen. Karl, sein Sohn würde dies billigen, und auch ich bin herzlich gern bereit mich Ihnen anzuschließen.« »Auch Sie? Sie dürfen Ihrer reich bevorzugten Stellung nicht entsagen. Sie sind berufen, an der Seite eines hochgestellten Mannes die Würden zu vertreten, welche ein Attribut des hohen Standes sind, in dem Sie geboren wurden.« »O, ich habe bereits entsagt; ich habe mir bereits den Mann gewählt, der mein Glück ist und der dasselbe Glück aus meiner Hand empfangen wird. Es ist kein Herzog kein Fürst; es ist ein – einfacher Maler.« »Ein Maler! Ists möglich! Und Ihr Vater – –? »Er billigt meine Wahl; er hat sie gebilligt unter der Voraussetzung, daß Sie seinem Sohne erlauben, der Erbe seiner Reichthümer und Würden zu sein. Sie sehen, daß es nur von Ihnen abhängt auch mich glücklich zu machen.« »Sie legen da eine schwere Verantwortung auf mich, mein liebes Kind,« sagte Frau Sternau nachdenklich. »Ja, aber mit dieser Verantwortung lege ich auch die Macht und den Einfluß in Karls Hände, die Feinde der Rodriganda’s, welche nun auch die unserigen sind, niederzuschmettern.« »Das ist allerdings sehr zu beherzigen. Darf ich vielleicht wissen, wer der Maler ist, dem Sie mit Ihrem Herzen ein so köstliches Geschenk gemacht haben?« »Herzlich gern! Meine Mama wird ja meine beste Freundin und Vertraute sein; es soll ihr keine Falte meines Herzens verborgen
bleiben. Ueberdies würden Sie ja so recht bald erfahren, wer er ist. Er heißt Rodenstein.« »Rodenstein?« fragte Frau Sternau überrascht; »doch nicht etwa – – –?« »Ja, Sie rathen richtig. Er ist Otto von Rodenstein.« »Der Sohn des Herrn Hauptmannes?« »Ja.« »Mein Gott, welch eine Schickung! Welch eine Fügung des Himmels! Wahrlich, die Wege des Herrn sind wunderbar! Wie oft hat dieses unglückselige Zerwürfniß meine ganze, vollste eilnahme erregt! Herr Otto trägt nicht die mindeste Schuld daran; ich kenne ihn genau; ich liebe ihn sehr; er ist Ihrer Liebe in jeder Beziehung vollständig würdig. Die Starrheit seines Vaters hat ihn schwer darnieder gebeugt, nun schickt der gütige Gott Sie als Engel, der die Versöhnung bringt; ich danke ihm von ganzem Herzen!« »Und ich bin so unendlich glücklich, auserlesen zu sein, den Frieden bringen zu dürfen. Sie sehen, wir Frauen haben den herrlichen Beruf, die Liebe und Versöhnung ausstreuen zu dürfen. Auch Sie sind dazu berufen, und ich bitte Sie mit aller Inständigkeit, Papa nicht zurückzuweisen. Sie erblicken gewiß in dem Allen die weisen, allgütigen Fügungen des Himmels. Gott will nicht, daß der Sünder untergehe und verderbe. Seien Sie der Dolmetscher, der Vermittler der Vorsehung, und lassen Sie meinem armen, guten Papa die Vergebung finden, nach der er sich so innig gesehnt hat. Wir Alle werden es Ihnen danken, so lange wir athmen. Ihr Sohn hat ja mit seinem außerordentlichen Scharfblicke sogleich erkannt, daß das Leiden meines Vaters keine körperliche Ursache hat, sondern eine Folge des Leides ist, welches seine Seele belastet!« Sie stand so innig und demüthig bittend vor ihrer einstigen Erzieherin, sie, die herzogliche Prinzessin. In ihren Augen standen große ränentropfen, und Frau Sternau fühlte sich so tief ergriffen, daß auch sie ihren ränen nicht gebieten konnte.
»Seien Sie getrost, mein gutes Kind!« sagte sie. »Ich werde mit Gott zu Rathe gehen, und er wird Alles zum Besten lenken. Lassen Sie uns jetzt schweigen. Was so tief die Seele bewegt, darf auch nur im Heiligthum des Herzens zur Klarheit gelangen.« Sie umschlangen sich und setzten in dieser herzlichen Vereinigung nun still und wortlos den begonnenen Spaziergang fort. Es war gewiß, daß der Herzog keinen besseren Anwalt, keinen glücklicheren Fürsprecher haben konnte, als seine Tochter. Ohne daß er es ahnte, war durch sie sein bedeutungsvolles Anliegen bereits gewonnen worden. Unterdessen schritt auch der Hauptmann an der Seite des Herzoges im Gespräche dahin. Er fühlte sich hoch geehrt, einen solchen Mann als Gast bei sich sehen zu dürfen, und war ganz entzückt von dem einfachen, anspruchslosen Wesen desselben. Man begab sich in die Stallungen und besichtigte die Wirthschaftsräume; man ging sogar ein Stück in den Wald hinein. Dabei fand der brave, wenn auch etwas schroffe Hauptmann hinreichend Gelegenheit, sich auszusprechen, und als er dann später in sein Zimmer zurückkehrte, fühlte er sich so glücklich wie noch selten in seinem Leben. Und als dann der Gehilfe Ludewig Straubenberger bei ihm eintrat, um ihm eine dienstliche Meldung zu machen, fand er den Oberförster in einer ganz seltenen guten Laune. Ja, dieser ließ sich sogar so weit gehen, daß er fragte: »Wie gefallen Dir unsere Gäste, Ludewig?« »Zu Befehl, Herr Hauptmann, ganz ausgezeichnet dahier.« »Der fremde Herr?« »Ein Baron, ein feiner Kerl!« »Baron? Pah, ein Herzog ist er!« »Ein Herzog? Donnerwetter!« rief der brave Ludewig ganz erstaunt. »Ja, ein Herzog. Er ist nur incognito gekommen, wie es bei solchen hohen Herrschaften die Mode ist.«
»Eine hübsche Mode, Herr Hauptmann! Unsereiner bringt kein Incognito fertig.« »Ich wollte es mir auch sehr verbeten haben, daß Du einmal so incognito zu mir kämst! Und seine Tochter – was sagst Du zu ihr?« »Hm!« schmunzelte der Gehilfe, daß ihm die Backen breit wurden. »Was denn hm?« »Ein ganz famoses Frauenzimmer! Fast so schön wie unsere liebe Gräfin Frau Sternau dahier!« »Dummheit! Sie ist ebenso schön wie sie. Die Schönheiten sind nähmlich ganz und gar verschieden. Man theilt sie in verschiedene Kompagnien, Bataillone, Regimenter und Divisionen ein. Es giebt schwarze, braune und blonde Schönheiten; es giebt auch große und kleine, dicke und dünne Schönheiten; es giebt endlich feurige und schmachtende, zärtliche und zurückhaltende, stolze und bescheidene Schönheiten; es giebt Rosen und Veilchen, Himmelschlüsseln und Disteln, Klatschrosen und Vergißmeinnicht unter den Schönheiten; es giebt endlich ächte und künstliche, süße und saure Schönheiten.« »Brrrr!« »Ja, brrrr! Du hast Recht. Wir wollen Beide Gott danken, daß wir von diesen sauren nichts zu kosten haben! Aber diese herzogliche Prinzeß hat es mir wahrhaftig angethan. Hätte ich einen Sohn und wäre ich ein Herzog, so – –« Er stockte mitten in der Rede. Es war bei ihm seit langer Zeit nicht vorgekommen, daß er das Wort Sohn ausgesprochen hatte; jetzt war es ihm doch entschlüpft, und halb zornig, halb verlegen darüber, fuhr er den Gehilfen an: »Nun, was stehst Du noch da? Wir sind fertig. Oder denkst Du etwa, daß ich meinen Vortrag über die Schönheiten gerade Dir gehalten habe? Ich dachte, Du wärst längst hinaus. Packe Dich!«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann!« Der brave Ludewig ging. Er war diesen Ton bei seinem Herrn längst gewöhnt und nahm sich dergleichen Schroffheiten nicht zu Herzen. Draußen auf dem Corridor traf er auf die schöne Prinzeß, von welcher soeben die Rede gewesen war. Er stellte sich an die Wand, um sie vorüber zu lassen, aber sie blieb bei ihm stehen und fragte: »Wie ich beim Diner sah, haben Sie die Bedienung bei Tafel?« »Ja,« antwortete er. »Heute Abend beim Souper auch wieder?« »Ja.« »Können Sie schweigen?« »Ganz fürchterlich dahier!« betheuerte er mit Nachdruck. »Nun, so will ich Ihnen ein Geheimniß anvertrauen: Herr Otto von Rodenstein befindet sich hier in Rheinswalden – – –« »Donnerw – – Sapperm – – Herrjeh, wollte ich sagen! Entschuldigen Sie dahier! Aber der junge Herr darf ja gar nicht nach Rheinswalden!« »Leider! Aber ich hoffe, daß sich dies heute noch ändern wird. Er befindet sich jetzt drüben bei Frau Helmers. Wenn heut Abend beim Souper ich Ihnen einen Wink gebe, so springen Sie eiligst hinüber, um ihn zu holen. Lassen Sie dann die ür nur angelehnt, so wird er unsere Unterhaltung hören und wissen, wann er einzutreten hat. Wollen Sie das thun?« »Das versteht sich dahier ganz von selbst,« versicherte er. Sie nickte ihm freundlich zu und ging weiter. Er blickte ihr lange nach und brummte dann vor sich hin: »Ja, ja, der Herr Hauptmann hat ganz recht; diese Herzogin hat es auch mir angethan. Wäre mein Vater nicht ein Holzhacker, sondern ein Herzog gewesen dahier, so wüßte ich, was ich thäte. Wollen thäte sie mich schon, denn ich bin kein unebener Kerl, und sie hat mich ganz freundlich angelacht. So Eine könnte manchmal
immer ein Bischen sauer sein; die macht man bald wieder süß! Also der junge Herr ist da! Hm! Das wird einen schönen Skandal geben; aber ich thue ihr doch den Gefallen und hole ihn. Für so Eine holte ich meinetwegen den Teufel bei den Ohren herbei, besonders wenn sie Einen so zärtlich anblickt, wie mich jetzt eben!« Es gab zwischen den Bewohnern des Schlosses und ihren Gästen so viel zu erzählen, daß der Nachmittag sehr schnell verging. Zur Abwechslung mußte der kleine Kurt Helmers erscheinen, um seine Künste zu zeigen. So kam der Abend heran und mit ihm das Souper, bei welchem man recht munter war. Der Herzog fühlte sich fast gar nicht mehr als Patient; eine frohe Nachricht hatte ihm seine frühere Spannkraft fast ganz zurückgegeben. Flora hatte ihm nämlich ihre Unterredung mit Frau Sternau mitgetheilt; kurz vor dem Souper hatte eine ähnliche Unterredung stattgefunden; sie war zwar nur sehr kurz gewesen, aber Frau Sternau hatte angedeutet, daß sie entschlossen sei, dem Glücke so Vieler nicht entgegen zu treten. Auch das hatte der Herzog natürlich sofort erfahren und er beschloß, den alten Hauptmann durch einen Handstreich zu überrumpeln, um jede Abweisung von vorn herein abzuschneiden. Er sah während des Essens die Augen der einstigen Gouvernante so mild und versöhnlich auf sich gerichtet; er hörte aus dem sanften Tone ihrer Stimme ein Etwas, was ihm Muth machte; darum war er so heiter gestimmt, und daher sagte er, als von seiner Krankheit die Rede war und von der Hoffnung, daß er hier in Rheinswalden vollständig genesen werde: »Gerade deshalb hat mich der Herr Doctor Sternau hergeschickt, und ich danke ihm herzlich dafür; aber es giebt noch einen zweiten Grund meines Kommens; er bezieht sich auf Sie, Herr Hauptmann.« »Auf mich?« fragte dieser. »Darf ich ihn erfahren, Durchlaucht?«
»Freilich! Meine Tochter steht nämlich im Begriffe, sich zu vermählen; ich werde dann einsam sein und habe, um diesem zu entgehen, mich entschlossen, denselben Schritt zu thun wie sie.« »Sich zu vermählen?« fragte der Hauptmann. »Ja,« antwortete der Herzog. Frau Sternau wußte, was nun kommen werde, und gab sich alle Mühe, ihre Bewegung zu verbergen. Flora aber gab Ludewig den betreffenden Wink, worauf er sofort aus dem Speisesaale verschwand. »Zwar bin ich nicht mehr jung,« fuhr Olsunna fort, »und habe mich von meinem Leiden noch nicht erholt, doch hoffe ich bald wieder rüstig zu sein und dann die Befähigung zu besitzen jenes heitere Glück genießen und geben zu können, welches auf gegenseitiger Achtung und freundlicher Zuneigung beruht. Ich habe auch bereits gewählt, nicht eine Spanierin, sondern eine Deutsche, welche auch zu dem Kreise Ihrer Bekannten zählt Herr Hauptmann.« »Ah, wirklich? Wer ist es?« fragte dieser, vor Erstaunen gar nicht überlegend, daß er mit seiner Frage eine große Indiscretion begehe. »Ich werde es Ihnen nachher mittheilen. Sie wissen, daß es Gepflogenheit ist, sich in solchen Angelegenheiten an einen Freund zu wenden, welcher das Amt eines Freiwerbers übernimmt. Ich hoffe, Sie glauben meiner aufrichtigen Versicherung, daß ich Sie als Freund betrachte und so kenne ich keinen geeigneteren Herrn, mich ihm anzuvertrauen, als Sie, mein bester Herr Hauptmann. Wollen Sie die Werbung für mich übernehmen?« Der Oberförster machte ein Gesicht wie noch nie in seinem ganzen Leben. Er saß mit weit geöffnetem Munde da; er war ganz perplex. Er sollte den Freiwerber für einen Herzog machen! Er, der einfache Hauptmann außer Dienst! Welche Ehre! Sein Selbstge-
fühl dehnte sich in das Unendliche und gab ihm die Fassung zurück. Er sprang rasch auf und rief eifrig: »Mit allergrößtem Vergnügen, Durchlaucht! Ich werde meine Sache so schön machen, wie kein Anderer; ich werfe mich in die feinste Gala; befehlen Sie über mich! Und der Teufel soll das Frauenzimmer holen, welches es wagt, Sie nicht zu mögen!« Alle lachten, sogar Frau Sternau mit, über diese drastische Aeußerung, zu welcher er sich von seinem Eifer hatte hinreißen lassen. »Einer besonderen Galauniform bedarf es nicht, mein bester Herr von Rodenstein,« meinte der Herzog. »Die Dame, welche ich meine, ist sehr anspruchslos; Sie können Ihres Amtes gerade in demselben Kostüm warten, welches Sie gegenwärtig tragen. Darf ich Ihnen die Zeit angeben, in welcher ich die Werbung von Ihnen gethan wünsche?« »Jawohl, jawohl! Ich bin zu jedem Augenblicke bereit!« »Nun gut, so haben Sie die Güte, sofort zu beginnen!« »Sofort? Wie meinen Sie das, Excellenz?« »Ich meine, daß Sie jetzt, in dieser Minute, die betreffende Dame fragen sollen, ob sie mich mit ihrer Hand und uns Alle beglücken will.« »Jetzt! In dieser Minute! Die betreffende Dame!« rief der Hauptmann ganz verwirrt. »Das klingt ja, als ob die Dame sich hier befände!« »Allerdings befindet sie sich hier. Flora, Du sitzest neben dem Herrn Hauptmanne; sage ihm den Namen.« Flora beugte sich zum Ohre des Hauptmannes hinüber und flüsterte ihm den Namen in das Ohr. Er machte ein Gesicht, als ob er eine Ohrfeige erhalten habe, streckte die Hände wie abwehrend von sich und sagte: »Sie scherzen, Durchlaucht! Aber ich sage Ihnen, daß meine brave Frau Sternau nicht die Dame ist, mit der ich spaßen möchte!« Da antwortete Olsunna ernst:
»Sie haben recht. Ich scherze keineswegs. Frau Sternau war in Spanien; sie ist eine Bekannte von mir. Ich habe sie geliebt, als sie noch eine Sennora Wilhelmi war, und dieser Liebe gebe ich jetzt Ausdruck, indem ich ihr meine Hand antrage. Mein Rang kommt hier gar nicht in Betracht; ich trete in das Stillleben zurück und erkläre den Herrn Doctor Sternau für meinen Sohn, der mein Nachfolger, der Träger aller meiner Ehren sein wird.« Diese Erklärung war für Rosa und Fräulein Sternau fast ebenso überraschend, wie für den Hauptmann. »Das ist entweder ganz toll, oder die reine Wahrheit!« rief der Letztere. »Es ist die reine Wahrheit; thun Sie also jetzt Ihre Pflicht, Herr Hauptmann!« Dieser befand sich noch immer in einer großen Verlegenheit. Die ganze Sache war ihm so ungeheuerlich, daß er nicht daran glauben konnte. Wollte man ihn foppen? War es vielleicht in Spanien erlaubt, solche Scherze zu treiben? Aber der Ton des Herzogs war ein so ernster, fast befehlender. Es war ja Alles möglich. Hatte doch auch Gräfin Rosa den Doctor Sternau zum Manne genommen! Es mußte gesprochen werden, es mochte daraus werden, was nur wolle; darum nahm er eine möglichst würdevolle Haltung an und sagte, zu Frau Sternau gewendet: »Meine liebe Frau Sternau, ich weiß allerdings nicht, woran ich eigentlich bin, aber Sie haben ja selbst gehört, daß ich nicht anders kann. Seine Durchlaucht, der Herzog Eusebio von Olsunna giebt mir den ehrenvollen Auftrag, Sie für ihn um seine Hand zu bitten. Weiß Gott, diese Hand ist brav; sie ist ebenso viel werth, wie die Hand einer Hofdame! Sie wissen besser wie ich, ob ein Scherz gemeint ist. Ist es aber wirklich ernst, so wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen Glück zu dieser Verbindung und ersuche Sie, mir eine klare und offene Antwort zu geben!«
Da stand die Befragte auf, reichte ihre Linke dem Oberförster und ihre Rechte dem Herzoge dar und antwortete: »Mein bester Herr Hauptmann, es ist wirklich ernst gemeint. Ich danke Ihnen herzlich und erkläre, daß ich bereit bin, die Gemahlin eines Herzoges zu werden, nicht des Glanzes willen, sondern um Derer willen, die ich liebe und welche diese Verbindung wünschen.« Da sprang Flora auf sie zu und schloß sie in ihre Arme. »O, Mutter, jetzt habe ich eine Mutter, die ich lieben kann! Wie glücklich machst Du Deine Tochter!« Das hagere Gesicht des Herzogs glänzte vor Freude. Rosa konnte das Alles noch nicht so recht verstehen, auch Fräulein Sternau ging es so, doch traten Beide herbei, um den Verlobten ihre Glückwünsche darzubringen. An der ür stand Ludewig wieder. »Ist dies Komödie oder Wahrheit?« brummte er. »Unsere Frau Sternau eine Herzogin dahier! Das hätte ich ihr doch nicht angesehen! Wie sich so eine Frau doch verstellen kann; vielleicht war sie auch blos incognito auf Rheinswalden!« Und hinter der ür lauschte Einer, dem das Herz in banger Erwartung stürmisch klopfte – Otto von Rodenstein. Er wußte, daß jetzt die Entscheidung kommen werde und wünschte nichts sehnlicher, als daß sie bald vorüber sei. Der Hauptmann begriff jetzt endlich, daß man keinen Scherz getrieben habe; er konnte zwar das ungeheure Glück nicht begreifen, welches seiner Wirthschafterin widerfuhr, aber er blieb nicht zurück und brachte nun auch seine Gratulation an. Dann fügte er hinzu: »Durchlaucht, Sie nehmen mir da eine Dame fort, welche mir nie wieder zu ersetzen sein wird. Und das Schlimmste ist, daß nun auch Fräulein Sternau nicht mehr wird bei mir bleiben wollen.«
»Tragen Sie keine Sorge!« antwortete Olsunna. »Ich glaube heute nicht, daß wir uns auf weite Entfernungen und längere Zeiten trennen werden, doch werde ich sofort für einen Ersatz sorgen, von dem ich hoffe, daß er Ihnen genügend sein wird.« »Eine neue Haushälterin?« fragte der Hauptmann zweifelnd. »Ja, oder wohl etwas noch viel Besseres. Sie haben die Ihnen von mir anvertraute Werbung übernommen, Herr Hauptmann; ich bin Ihnen dafür zu Dank verpflichtet, und der angemessenste Gegendienst, den ich Ihnen dafür zu leisten vermag, ist der, daß ich nun meinerseits bei Ihnen als Freiwerber auftrete.« »Bei mir?« fragte Rodenstein erstaunt. »Ja, mein Bester!« »Ich habe keine Tochter!« »Aber einen Sohn, und ich hoffe, daß ich keine schlimmere Antwort erhalte, als sie Ihnen von meiner jetzigen Braut gegeben worden ist!« »Bitte, Durchlaucht, schweigen wir!« sagte da der Hauptmann streng. »Dies ist ein ema, von dem ich befohlen habe, daß es bei mir niemals berührt werden soll!« »Sie werden mir erlauben, nicht zu den Unterthanen zu gehören, denen Sie diesen Befehl gegeben haben. Und ferner werden Sie als Derjenige, dessen Gast ich bin, die Höflichkeit besitzen, mich anzuhören!« Das Gesicht Rodensteins hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen als vorher, dennoch beherrschte sich der sonst so jähzornige Mann und sagte: »Einem Anderen würde ich eine solche Rede nicht erlauben. Sprechen Sie!« »Sie haben Ihrem Sohne das Recht genommen, sein Vaterhaus zu betreten,« begann Olsunna. »Er hat es verdient!« unterbrach ihn Rodenstein.
»Das ist Ihre Meinung, Herr Hauptmann; ich aber will es nicht untersuchen, ob es recht oder unrecht ist, einen hochbegabten Sohn zum Sclaven eines Principes zu machen und ihm in Folge dessen zu verbieten, der Stimme Gottes zu gehorchen, welcher ihm sein Talent gegeben hat um Großes zu leisten. Ihr Sohn hat der Stimme Gottes gehorcht, nach schweren Kämpfen; Sie haben ihn von sich verbannt, ihn des Vaterhauses, der Vaterliebe, des Namens beraubt; vielleicht hätten Sie anders gehandelt, wenn die vermittelnde Stimme der Mutter dazwischen hätte klingen können, des Weibes, welches Sie einst geliebt haben und an das Sie denken mußten, ehe Sie den Sohn von sich stießen, denn dieser gehört nicht Ihnen allein.« »Donnerwetter!« brummte der Hauptmann. Es war nicht genau zu bemerken, ob dies ein Wort des Zornes sein sollte, oder ob es einen Mißmuth bedeutete über eine zartere Regung, welche sich aus seinem verschlossenen Innern empordrängte. Alle wußten, daß er an seiner verstorbenen Frau mit großer Innigkeit gehangen hatte, und daß gerade der Hader über ihren Verlust ihn so rauh und grillig gemacht hatte. Der Herzog fuhr unbeirrt fort: »So ist Ihr Sohn also seinen eigenen Weg gegangen, und dieser Weg hat ihn zur Höhe geführt. Trotzdem hat er seinem Ruhme entsagen wollen, um das Vaterherz wieder zu gewinnen. Dieses Opfer war groß, war ungeheuer; es gehörte die ganze Summe einer außerordentlichen Selbstverleugnung und Kindesliebe dazu, es zu bringen; Sie aber haben es nicht angenommen und die Großherzigkeit Ihres Sohnes nicht anerkannt. Ich hege eine bessere Meinung von ihm; er hat sich meine vollste Hochachtung erworben. Er ist ein ungewöhnlicher Mann, auf den Sie stolz sein sollten, und so bin ich bereit, ihm Achtung und eilnahme auf eine ungewöhnliche Art zu beweisen. Er hat eine junge Dame von sehr ehrenwerther Stellung kennen gelernt, aber er will sich ohne
Wissen seines Vaters nicht vermählen; er ist der Künstler, durch den wir den Grafen Rodriganda entdeckt haben; ich bitte an seiner Stelle für ihn um die Erlaubniß, jener Dame seine Hand reichen zu dürfen!« In dieser Weise hatte noch Niemand mit dem Hauptmann zu sprechen gewagt. Es wurmte ihn gewaltig, aber über sein Gesicht zuckte es doch wie väterlicher Stolz, seinen Sohn von einem solchen Manne so gelobt zu sehen, und wie eine herzliche Rührung, welche er nicht zu unterdrücken vermochte. »Wer ist diese Dame?« fragte er endlich. »Hier steht sie,« antwortete der Herzog, »meine Tochter Flora.« Da that der Oberförster einen Schritt vorwärts und rief: »Ihre Tochter, die Prinzeß? Wenn vorhin Alles Ernst war, so ist doch dies hier Scherz!« »Glauben Sie wirklich, daß der Herzog von Olsunna seine einzige Tochter einem armen Teufel geradezu anbietet, um sich nur einen Spaß zu machen? Meine Tochter liebt Ihren Sohn; er ist das werth; sie sollen glücklich sein, darum gab ich ihnen mein Jawort. Jetzt thun Sie, was Sie vor uns, vor Gott und vor Ihrem Vaterherzen verantworten können!« Da legte der Hauptmann die beiden Hände an seine Stirn und sagte: »Bin ich irrsinnig! Mein Sohn die Tochter des Herzogs von Olsunna! Sollte ich mich wirklich so gewaltig in ihm geirrt haben! Sollte er wirklich so ein Sapperlot sein, der sich an eine Prinzessin wagt! Hole mich der Kukuk, dann wäre ich ja der dümmste Kerl gewesen, den es nur geben kann! Aber, Durchlaucht, wo ist er denn? Wenn sie ihm die Hand Ihrer Tochter geben wollen, so müssen Sie doch wissen, wo er sich befindet.« »Hier bin ich, Vater, hier!« rief es von der ür her. Otto drang herein, eilte auf den Vater zu und faßte ihn bei beiden Händen.
»Was, hier?« fragte der Hauptmann. »Das habe ich Dir verboten. Beweise mir erst, daß Alles wahr ist, sonst glaube ich es nicht!« »Es ist wahr!« bestätigte da Flora. Sie trat näher, umarmte und küßte ihren Verlobten und schlang dann auch die Arme um den Hauptmann. »Nicht wahr, lieber Papa, Sie sind ihm nicht mehr bös?« schmeichelte sie. »Er hat Sie so lieb; er hat so sehr getrauert und ohne Ihre Liebe ist es mir ganz und gar unmöglich, ihn glücklich zu machen!« Da rieb er sich abermals die Stirn und fragte: »Prinzeß, Blitzmädel, ist’s wahr, Du umarmst den alten Rodenstein?« »O, ich küsse ihn sogar, denn ich habe ihn bereits recht lieb!« So antwortete sie, und ehe er sich versah, fühlte er ihre vollen, warmen Lippen ein-, zwei-, dreimal auf seinem bärtigen Munde. Da warf er jubelnd beide Arme in die Luft und rief: »Es ist wirklich wahr! Mein Junge heiratet eine Herzogin! Er ist ein Kerl, vor dem sogar ein König Respect haben muß! Victoria! Halleluja! Hosianna, Davids Sohn! Hussa! Hurrah! Ludewig, lauf, renn, hinunter in den Hof! Die Kerls sollen sogleich ihre Jagdhörner hernehmen und dreißigtausend Fanfaren blasen, bis ihnen der Athem ausgeht!« Im Nu war der treue Jagdgehilfe verschwunden. Der Hauptmann aber breitete die Arme aus so weit er konnte und rief: »Kommt an mein Herz, Kinder, Alle, Alle! Verzeiht dem alten Rodenstein, daß er ein solcher Dummrian gewesen ist, sich und seinem guten Jungen das Leben so sauer zu machen. Von jetzt an aber soll es anders werden!« Jetzt flossen allerseits die hellsten Freudenthränen, denn das Glück drängt die heißen Tropfen ebenso aus dem Herzen wie das Leid. Eine solche Freude war auf Schloß Rheinswalden noch gar nicht erlebt worden, und noch bis in die späte Nacht saßen die Ver-
söhnten und Vereinten beisammen, um sich Einer an der Wonne des Anderen zu berauschen. Die einzigen Schattenpunkte bildeten der Zustand des Grafen Emanuel, der bei all dem Jubel theilnahmlos blieb, und die Abwesenheit Sternau’s. Man beschloß, den Letzteren sofort von Allem zu benachrichtigen sobald man eine sichere Adresse von ihm erfahre. Dies geschah auch später; wir werden noch erfahren, ob dieser Brief an ihn gelangt ist oder nicht. – – –
DRITTES KAPITEL
Ein Wiedersehen »Ich lag in tiefer, finsterer Nacht, Von ränen des Grimmes befeuchtet. Es hat kein Stern mich angelacht, Kein Sonnenstrahl mir geleuchtet. Doch Deine Liebe war mein Stern, Und die Hoffnung war meine Sonne. Ich schrie empor zu Gott, dem Herrn, Und dachte des Rächers mit Wonne. Nun hat der Barmherzige mich erhört; O, Er weiß auch, was noch ich erflehe: All’ Denen, die mir mein Glück zerstört, Ein Wehe, ein dreifach Wehe!« Nach dem Zusammentreffen mit dem Räuberschiffe dampfte die »Rosa« in den Fluß zurück. Die Nacht war zwar dunkel und die Flußfahrt in Folge dessen nicht ungefährlich, aber Kapitän Helmers hatte während des Tages jede Biegung und Krümmung des Flusses kennen gelernt und getraute sich, die Mission glücklich zu erreichen. An seiner Seite stand Sternau in einer Aufregung, welche nicht gewöhnlich war. Er war zu wenig Seemann, um die Vorsicht des Kapitäns zu begreifen. Dieser ahnte seine Stimmung und versuchte, sich zu rechtfertigen. Es gelang ihm erst dann, als er nachwies, daß die »Pendola« jedenfalls nach dem Cap segeln werde. Die kleine Yacht war als Dampfer viel schneller und mußte dort eher ankommen; sie konnte ihn erwarten und abfangen. »Wir gehen sofort nach unserer Landung zum Gouverneur,« sagte Helmers, »und zeigen ihm an, daß die ›Pendola‹ nichts anderes ist als das berüchtigte Piratenschiff der ›Lion‹. Darauf wird der Gou-
verneur keinen Augenblick versäumen, alle Maßregeln zu ergreifen, diesen Kapitän Henrico Landola festzunehmen.« »Aber wenn nun Landola zu klug ist, um nach dem Kap zu gehen?« »So wird er es wenigstens umschiffen, denn der Neger hat Ihnen doch gesagt, daß der gefangene Husarenlieutenant nach Borneo gebracht werden soll. Wir kreuzen im Kanale von Mozambique und werden ihn selber auffangen.« »Er kann auch auf die Ostseite von Mozambique zu halten und zwischen dieser Insel und Bourbon hindurch gehen.« »So kreuzen wir von der Delagoa-Bai bis zum Kap St. Marie hinüber, welches er jedenfalls doubliren muß. Wir treffen ihn, mag er nun in der Kapstadt anlegen oder um das Kap herumsegeln.« Das war ganz klug gedacht und gesagt, aber der brave Helmers hatte die Verschlagenheit Landola’s nicht mit in seine Berechnung gezogen. Ein Pirat darf nicht nur ein tüchtiger Seemann, sondern er muß auch, so zu sagen, ein Stratege, ein guter Schachspieler sein, der die Pläne seines Gegners erräth und nach denselben seine Gegenzüge einrichtet. Und das war Landola im hohen Grade. Dieser hatte am Abende seine Leute ausgeschifft und nach der Mission geführt, diese aber vollständig verlassen gefunden, sein Plan war mißglückt. Erst hatte er die Häuser vor Wuth in Brand stecken wollen, aber seine Klugheit hatte ihm gesagt, daß dies nicht nur zwecklos, sondern sogar gefährlich sei. Die Häuser, welche ja außer dem Missionsgebäude nur Hütten waren, enthielten nichts Werthvolles, da die Bewohner, wie sich herausstellte, Alles mitgenommen hatten; wurden sie verbrannt, so waren ja bald wieder neue hergestellt. Und sodann hätte ein solcher Brand die ganze Gegend beleuchtet und den Rückzug der Piraten auf das Höchste gefährdet. Man wußte nicht, wo die Vertheidiger versteckt lagen und konnte ihren Waffen leicht zum Opfer fallen.
Aus diesen Gründen zog Landola sich zurück, ohne Rache zu nehmen. Am Ufer theilte er verabredeter Maßen seine Leute. Mit der einen Hälfte kehrte er zur »Pendola« zurück und die andere Hälfte sollte die norwegische Barke wieder aufsuchen. Eben als er sein Schiff erreichte, wurde er von der Dampfyacht angegriffen. Er hatte die Schüsse derselben, denen die Barke erlegen war, gehört, und die Kanonade nicht begreifen können; jetzt aber, nachdem er den »Gruß aus Rodriganda« gehört hatte, ging ihm eine Ahnung auf. Er ließ der verwegenen Yacht eine Breitseite geben, welche aber nicht traf, und befahl dann zu kreuzen. Dem Steuermann war das unerklärlich. »Wir müssen dieser Nußschale nach; wir müssen sie in den Grund bohren!« sagte dieser. »Pah!« antwortete der Kapitän. »Wir erreichen sie nicht, denn sie ist schneller als wir, und der Fluß ist uns gefährlich. Wir haben jetzt Ebbe und können nicht aufwärts, und wenn wir es könnten, so wären wir doch verloren. Diese kleine Yacht ist im Flusse ein Gegner, den man nicht gering schätzen darf.« »Aber warum kreuzen? Ich denke, wir gehen nach dem Kap, wie Sie ja befohlen hatten?« »Habt Ihr denn die Kanonenschüsse nicht gehört? Ich ahne, daß die Yacht unsere Barke schlecht zugerichtet hat, vielleicht wurde sie gar in den Grund gebohrt, da die Besatzung der Yacht sich gar so verwegen und begeistert zeigte. In diesem Falle kann ja die andere Abtheilung unserer Leute gar nicht an Bord kommen, und wir müssen sie hier aufnehmen. Gebt, damit sie uns finden, einige Schüsse ab, und zieht die gelben Lichter empor!« Dies geschah, und es zeigte sich, daß Landola recht gehabt hatte, denn die Boote kamen bald herbei und meldeten, daß die Barke untergegangen sei. Sie hatten dies an den Trümmern gesehen, auf welche sie gestoßen waren.
Landola sah ein, daß er seine Absicht hier unmöglich erreichen werde und segelte nach Süden. Der »Gruß aus Rodriganda« war ihm ein Räthsel. Derjenige, welcher ihm denselben zugerufen hatte, war ein Feind; daran konnte gar nicht gezweifelt werden; aber Landola konnte sich nicht denken, wer es sei. Er sagte sich, daß die Yacht jedenfalls nach dem Kap dampfen werde, um dort Anzeige zu machen, und traf seine Vorkehrungen darnach. Er selbst mußte eigentlich noch einmal nach der Kapstadt, um dort Nachrichten einzunehmen, welche vor einigen Tagen noch nicht eingegangen gewesen waren, und doch durfte er sich nicht sehen lassen, da die Yacht jedenfalls vor ihm dort anlangte und gewiß sofort Anzeige erstattete. Daher hielt er weit nach West, über den eigentlichen Kurs hinaus, um keinem Fahrzeuge zu begegnen, ging dann nach Süd und lenkte einige Seemeilen vor der Höhe der Kapstadt gerade nach Ost um. Als er sich in dieser Breite befand, war es Nacht, und er konnte also ungesehen sich der Küste nähern. Dort suchte er einige Zeit vor dem vollen Anbruche des Tages, also beim ersten Morgengrauen, eine einsame Bucht auf, in welcher er vor Anker ging, ohne von Jemand gesehen worden zu sein. Dann schrieb er einen Brief an seinen Agenten in der Kapstadt, dem er vollständig vertrauen konnte, und welcher die Aufgabe hatte, alle eingehenden Briefe und Depeschen für ihn aufzubewahren. Diesen Brief erhielten zwei Leute, welche ein Fahrzeug bestiegen, ein Segel setzten und nach der Kapstadt fuhren. Sie erreichten diese unbehelligt, und während der Eine im Boote blieb, ging der Andere zu dem Agenten, welcher den Brief las. »Es ist ein Glück, daß Ihr Euch versteckt habt,« meinte er, als er fertig war. »Ein Deutscher, welcher gestern Abend auf einer Dampfyacht hier einlief, hat angezeigt, daß Kapitän Landola gleichbedeutend ist mit dem Piraten Grandeprise.« »Ist er noch hier?« fragte der Mann.
»Ja; er nimmt Kohlen ein; sein Vorrath ist auf die Neige gegangen.« »Wie heißt er?« »Sternau. Und der Kapitän der Yacht heißt Helmers. Der Gouverneur hat alle Agenten zu sich beordert, um sie zu warnen, mit Landola auch nur schriftlich zu verkehren, ohne alle Correspondenzen, welche sich auf ihn beziehen, sofort an die Behörde abzuliefern. Auch ich bin gezwungen, vorsichtig zu sein. Zwar werde ich jetzt eine Depesche, welche ich gestern erhielt, noch aushändigen, weiter aber kann ich für die nächste Zeit nichts mehr wagen.« Er gab dem Manne die Depesche, welche geöffnet, aber in einer Art von Zifferschrift abgefaßt war, und dieser entfernte sich. Er hatte von Landola Weisung erhalten, sich so genau wie möglich nach der Yacht zu erkundigen, und ging deshalb nach dem Hafentheile, an welchem sie vor Anker lag. Er hatte diesen Ort noch nicht erreicht, so begegnete ihm ein Mann, welcher bei seinem Anblicke wie sinnend stehen blieb und sich dann wieder umwendete, um ihn anzuhalten. Der Fremde trug die Tracht eines gut situirten Seemannes. »Holla, Junge,« sagte er, »zu welchem Schiffe gehörst Du?« »Zu den Amerikanern da draußen,« antwortete schnell gefaßt der Pirat. Er deutete auf eine amerikanische Brigg, an welcher er bei seiner Einfahrt in den Hafen vorübergekommen war. »So, so!« meinte der Andere zweifelnd. »Ich glaube, Dich bei einem anderen Schiffe gesehen zu haben. Kennst Du Funchal, mein Bursche?« »Ja.« »Wann warst Du dort?« »Vor langen Jahren; ich diente damals auf einem Franzosen.« »So! Da kennst Du wohl auch die lange, dürre Mutter Dry?« »Kann mich nicht besinnen. Es ist zu lange her.«
»Hm, ich dachte, Dich vor nicht so gar zu langer Zeit dort gesehen zu haben. Hast Du einmal Etwas vom ›Jeffrouw Miete‹ gehört?« »Nie.« »Dann irre ich mich sehr. Ich dachte wirklich, Du gehörtest noch vor Kurzem auf die ›Pendola‹, Kapitän Landola.« »Kenne den Mann nicht, habe überhaupt keine Zeit. Adieu!« Er ging weiter. Aber hinter der nächsten Ecke blieb er einen kurzen Augenblick stehen, um hinter ihrem Schutze vorsichtig zu lugen, und da sah er, daß der Fremde ihm folgte. Er erkannte sofort, daß es gefährlich sei, sich länger aufzuhalten und suchte deshalb rasch seine Zille auf, mit welcher er sofort die Stadt verließ. Der Fremde, welcher ihn angeredet hatte, war kein Anderer als Helmers, welcher zum Hafenmeister gehen wollte, um seine Papiere zu klaren, denn die Rosa war fertig mit der Aufnahme der Kohlen und sollte wieder in See stechen. Er erinnerte sich ganz genau des Gesichtes dieses Mannes und schöpfte Verdacht. Daher folgte er ihm von Weitem und kehrte, als er sah, daß er vom Lande stieß, schnell zu der Yacht zurück, auf welcher er Sternau traf. »Herr Doctor, sehen Sie die Zille, welche dort Außen hält?« fragte er ihn. »Ja.« »Es sitzen zwei Kerls darin, von welchen der Eine noch vor Kurzem auf die ›Pendola‹ gehörte. Er sagte mir, daß er auf dem Amerikaner da draußen diene, aber ich glaube es ihm nicht, denn die Zille war verdammt wenig amerikanisch gebaut. Hier giebt es vielleicht eine Spur. Setzen Sie das Boot aus und lassen Sie ihn von zwei Mann verfolgen, aber so, daß er nichts merkt. Ich wäre selbst dabei, aber ich muß auf das Hafenamt.« Er verließ das Schiff, und Sternau folgte seinem Rathe. Er bemerkte bald, daß die Zille nicht bei den Amerikanern anlegte,
sondern an ihm vorüber segelte. Daher beorderte er vier tüchtige Ruderer und einen Steurer in das Boot, welches den Befehl erhielt, die Zille zu verfolgen, ohne sich sehen zu lassen. Das Meer ging zwar nicht unruhig, aber dennoch waren die Wogen so hoch, daß man das Boot, da es kein Segel führte, von weitem gar nicht sehen konnte, da die Wogen es verdeckten; das Segel der Zille aber leuchtete auf weite Entfernung hin. Die beiden Piraten hatten eine gute Fahrt. Sie brauchten nicht zu rudern und saßen faul auf der Bank. Der Wind war hinter ihnen, und so erreichten sie in angemessen kurzer Zeit die »Pendola«. Der Kapitän nahm die Meldung wortlos hin und ging sodann in die Kajüte, um die Depesche zu entziffern. Sie lautete: »Doctor Sternau, der, welchen wir in Barcelona einschließen ließen, ist hinter Ihnen her. Er weiß Alles. Cortejo.« Graf Alfonzo hatte nämlich nach seiner Ankunft in Rodriganda Alles erzählt und auch das, was sein Diener Gérard in Rheinswalden erfahren hatte, und so hielt es Gasparino Cortejo für gerathen, den Kapitän zu benachrichtigen. Er hatte ganz dieselbe Depesche an verschiedene Plätze geschickt, von denen er wußte, daß Landola dort verkehre. Die Chiffreschrift war einst von ihnen entworfen worden, und sie hatten bereits seit längerer Zeit in derselben mit einander verkehrt. Kapitän Landola kehrte auf das Verdeck zurück und suchte seinen ersten Offizier auf. »Laßt den Anker lichten!« sagte er. »Jetzt?« fragte dieser erstaunt. »Ist es nicht gefährlich, sich bei Tage hier sehen zu lassen?« »Allerdings, aber noch gefährlicher ist es, hier zu bleiben. Wir gehen direct nach Westindien.« Der Offizier wußte, daß der eigentliche Cours nach dem indischen Ocean gewesen war; darum machte er ein so erstauntes Gesicht, daß Landola ihm erklärte:
»Wir haben einen Verfolger hinter uns, den wir unbedingt irre führen müssen. Und überdies ist es bekannt geworden, daß die ›Pendola‹ der ›Lion‹ ist. Wir müssen Bau und Takellage verändern und andere Papiere haben. Vorwärts also!« Als das Schiff die Bucht verließ, hielt das Boot Sternau’s nicht viel über eine halbe englische Meile entfernt hart am Ufer, von welchem es nicht gut unterschieden werden konnte. Die fünf Männer blickten der »Pendola« nach, so lange sie zu sehen war und kehrten sodann nach der Capstadt zurück, die sie, da sie den Wind gegen sich hatten und den Weg per Ruder zurücklegen mußten, erst spät erreichten. Die »Rosa« wartete ihrer bereits mit geheiztem Kessel. Sternau und Helmers hörten ihren Bericht mit an, fragten genau nach den Manoeuvren der »Pendola« und dann sagte Helmers: »Er reißt aus; er geht nicht um das Cap.« »Aber wohin sonst?« »Ha, das ist schwer zu errathen. Man muß ihm augenblicklich folgen. Ich habe so einen Gedanken, der zwar falsch sein, aber auch das Richtige treffen kann.« Er ging einige Male über die Breite der Yacht hin und her und meinte dann: »Landola weiß nun, daß er verrathen ist. Er muß, um sicher zu sein, sein Schiff und auch den Namen desselben verändern. Und wo kann er das thun? Auf einer öffentlichen Werft nicht. Er muß vielmehr einen verborgenen Ort aufsuchen, und den findet er am Besten in Westindien, hinter den Antillen, auf einer der kleinen Inseln, die dort zu Hunderten zu treffen sind. Ich glaube, daß meine Vermuthung die richtige ist.« »So müssen wir ihm schnell nach!« »Das ist schwer. Er wird alle gebahnten Seewege vermeiden, und so ist er nicht leicht aufzufinden. Den Golfstrom aber muß er auf-
suchen, und wenn wir ihm nach dort vorausdampfen, so finden wir ihn sicher.« »Ich begreife das nicht.« »Herr Doktor, Sie sind kein Seemann. Für uns giebt es ebenso genau führende Straßen wie für den Fuhrmann zu Lande. Verlassen Sie sich auf mich; er entgeht uns nicht. Und zu Ihrer Beruhigung will ich ein Stück nach West gehen und dann zwischen Nord und Süd kreuzen, wo wir ihn ganz sicher zu sehen bekommen. Dann werden wir ja finden, welchen Kurs er einhält.« »Wir greifen ihn sofort an!« »Das geht nicht. Wir können ihn nur verwunden, er aber kann uns tödten. Er hat Bote, um sich zu retten, wenn es uns gelingen sollte, sein Schiff anzuschießen; trifft aber uns eine einzige unglückliche Kugel, so sind wir verloren. Unsere zwei Bote fassen nicht die Hälfte unserer Leute; sie sind gebaut für kurze Ruderstrecken, nicht aber, um über den Ocean zu fahren.« Sternau mußte dem verständigen und erfahrenen Kapitän Recht geben und bemerkte also, daß er sich seiner besseren Einsicht fügen werde. In kürzester Zeit fuhr darauf die »Rosa« zum Hafen der Kapstadt hinaus, um die hohe See zu gewinnen. – – – – Es war zwei Wochen später, da saß drüben in Mexiko ein wunderhübsches Mädchen in ihrer Hängematte und hielt zwei Briefe in der Hand. Den einen hatte sie bereits gelesen, und der andere, auf welchem jetzt ihr schönes Auge ruhte, lautete: »An Miß Amy Lindsay, Mexiko. eure Miß. Es waren sehr eigenthümliche Verhältnisse, unter denen Sie Rodriganda verließen, und da ich wohl annehmen darf, daß Sie die Entwickelung derselben zu hören wünschen, so glaube ich, auf
Ihre Verzeihung rechnen zu können, wenn ich mich zum Berichterstatter aufwerfe. In der Anlage erhalten Sie, da ich grad dazu jetzt Muse besitze, eine ausführliche Darstellung aller Ereignisse bis auf den heutigen Tag, und Sie werden aus dem Schlusse ersehen, daß ich diese Zeilen hier in Greenock auf einem Ihrer Wohnsitze, und als Gast des Herrn Advokaten Millner schreibe. Morgen reise ich ab, und so Gott will, finde ich die Spur des Herrn von Lautreville, der sich als Gefangener an Bord der »Pendola« befindet. Da Sie heut die gegenwärtige Adresse von Rosa erfahren, so darf ich vielleicht hoffen, daß dieselbe ein freundliches Lebenszeichen von Ihnen erhält. Sobald ich nur einigen Erfolg habe, wird Ihnen derselbe gemeldet von Ihrem ergebenen Karl Sternau.« Dies war der Begleitbrief. Nun begann sie die vielseitige Einlage zu lesen. Sie erfuhr aus derselben Alles, was sich seit ihrer Abreise von Rodriganda ereignet hatte, auch die Vermählung ihrer Freundin mit Sternau, und dies brachte sie auf den trüben Gedanken von dem unerklärlichen Verschwinden ihres eigenen Geliebten. Wie oft, wie so sehr oft hatte sie an diesen gedacht, und nun erfuhr sie, daß er als ein unfreiwilliger Gefangener mitgeschleppt werde hinaus in die weite Welt, hinaus auf das unendliche Weltmeer. Warum? Was hatte er verbrochen? Warum besaß er so grausame Feinde? Würde es Sternau, diesem braven, starken, kühnen Manne gelingen, ihn zu befreien? Sie saß und sann und merkte gar nicht, daß ihr dabei eine räne um die andere aus den schönen Augen perlte. Da wurde sie aus ihrem trüben Sinnen gestört. Die Dienerin erschien und meldete ihr Sennorita Josefa Cortejo.
Sie wischte schnell die verrätherischen ränen fort und hatte noch nicht Zeit gehabt, die Briefe wegzulegen, als die Angemeldete erschien. Die beiden Damen hatten sich in einer Tertullia kennen gelernt. Unter einer Tertullia versteht man in Mexico eine gesellige Zusammenkunft von Herren und Damen, welche nur den Zweck der Unterhaltung hat. Bei einer solchen Gelegenheit war Josefa Cortejo ihr vorgestellt worden und hatte sich nicht wieder von ihrer Seite fortbringen lassen. Diese Dame Cortejo mit den unangenehmen Eulenaugen war ihr widerwärtig; sie hatte sie daher auch gar nicht aufmunternd behandelt, war aber von ihr bei ähnlichen Zusammenkünften immer aufgesucht worden, und gestern hatte Sennorita Josefa sogar um die Erlaubniß gebeten, Miß Amy besuchen zu dürfen. Amy konnte diese Bitte nicht abschlagen, ohne ganz und gar unhöflich zu sein, und die Folge war der jetzige Besuch. Als die Angemeldete eintrat, erhob sich Amy mit einem Lächeln, welches zwar höflich aber nicht sehr freundlich war. Diese Josefa war förmlich zudringlich, trotzdem Amy sich nicht einmal erkundigt hatte, wer oder was ihr Vater eigentlich sei. Sie pflegte das bei Personen, welche ihr gleichgiltig oder gar unsympathisch waren, niemals zu thun. »Sie verzeihen, beste Miß, daß ich hier störe,« sagte Josefa mit einer Verneigung, welche verbindlich sein sollte, zu welcher aber ihre Gestalt die nöthige Eleganz nicht besaß. »O bitte; ich heiße Sie willkommen,« lautete die kühle Antwort. Als ihr ein Sitz angewiesen war, fuhr sie fort: »Ich würde von der mir gestern gewährten Erlaubniß so baldigst keinen Gebrauch gemacht haben, wenn mir nicht ein Besuch meines Vaters die Gelegenheit geboten hätte. Er befindet sich gegenwärtig bei Don Lindsay.« »Ach, ihr Vater ist bei dem meinigen?« fragte Amy verwundert.
»Ja. Es ist eine Geschäftsangelegenheit, welche Vater mit dem Ihrigen als dem Vertreter Englands zu besprechen hat. Ich schloß mich ihm sofort an, weil ich mich so freue, die Bekanntschaft einer Dame von wirklicher Distinction gemacht zu haben. Man ist in dieser Beziehung hier fast nur auf sich selbst angewiesen.« Amy warf einen verwunderten Blick auf die Besucherin; diese kam ihr doch gar nicht so sehr vornehm und distinguirt vor. »Ich denke doch, daß Mexiko sehr viele hervorragende Familien zählt!« bemerkte sie. »Hm, vielleicht!« sagte Josefa mit einem widerwärtigen Nasenrümpfen. »Hervorragend, aber doch nicht wirklich vornehm. Ich als Braut des reichsten Grundbesitzers Mexiko’s habe in der Wahl meiner Freundinnen vorsichtig zu sein.« So eben erschien die Dienerin und brachte die in Mexiko gebräuchliche Chokolade. Als sie sich wieder entfernt hatte, setzte Amy das Gespräch mit der Frage fort: »Sie sind verlobt?« »Oeffentlich noch nicht, da gewisse diplomatische Gründe zu berücksichtigen sind.« »Ach, ihr Verlobter ist Diplomat?« »Eigentlich nicht,« antwortete Josefa mit einiger Verlegenheit, »aber ich durfte diesen Ausdruck gebrauchen, da ihm drüben im Vaterlande eine bedeutende Zukunft offensteht, welche er grad jetzt im Begriffe steht, anzutreten.« »Dann gratulire ich!« »Ich danke, Miß Lindsay. Sie haben doch von dem Grafen de Rodriganda gehört?« »Von dem Grafen de Rodriganda?« fragte Amy überrascht. »Ja. Der Name scheint Sie zu frappiren?« Amy hatte sich schnell gefaßt und antwortete: »Ich habe eine Freundin dieses Namens.« »Eine Spanierin?«
»Ja. Rosa de Rodriganda y Sevilla. Ihr Vater war der Graf Emanuel Rodriganda.« Die Eulenaugen Josefas zogen sich zusammen wie bei einem Raubthiere. Sie fragte: »Wo lernten Sie Rosa kennen?« »In Madrid. Später besuchte ich sie auf Rodriganda.« »Wann?« Dieses »Wann« war in einem förmlich inquisitorischen Tone ausgesprochen worden. Er berührte Amy unangenehm, und darum gab sie unwillkürlich nicht die Zeit an, sondern sagte nur: »Einige Zeit nach unserm ersten Zusammentreffen.« »Wann war dies, Miß?« Der Ton dieser Frage war förmlich streng. Amy war keine Politikerin, auch kein polizeiliches Talent, aber sie hatte soeben brieflich von Sternau erfahren, was vorgegangen war, und so kam ihr der Gedanke, hier vorsichtig sein zu müssen. Darum erlaubte sie sich eine kleine Unwahrheit, indem sie antwortete: »Vor beiläufig sechs Monaten.« »Es muß später gewesen sein!« sagte Josefa zudringlich. Amy erröthete, aber nicht vor Scham, sondern vor Aerger über den Ton, in welchem dieses Mädchen zu sprechen sich erlaubte. »Wie schließen Sie das?« fragte sie kurz. »Weil Sie vorhin von jener Rosa sagten, ihr Vater war der Graf Emanuel.« »Vor sechs Monaten ist er es noch gewesen. Ich erfuhr später, daß er todt sei.« »Wann?« »Heut.« »Heut? Ach Miß Lindsay, von wem?« »Von einem Freunde.« »Und wer ist dieser Freund?«
Das war Amy denn doch zu viel. Sie erhob sich und sagte mit ihrem kühlsten Tone: »Sennorita, rechnet man es hier in Mexiko zu den Höflichkeiten, sich in einer so – polizeilichen Weise nach Privatverhältnissen zu erkundigen?« Das Mädchen mit den Eulenaugen ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie antwortete: »Man rechnet es hier zu den Beweisen der eilnahme.« »So nehmen auch Sie es als eilnahme, wenn ich Sie frage, wer Sie sind.« »Ich wurde Ihnen vorgestellt, Miß!« »Einfach als Sennorita Josefa.« »Mein Name ist Cortejo.« »Das erfuhr ich nachträglich. Aber wer ist Sennor oder Don Cortejo?« »Er ist Sekretär des Grafen Ferdinando de Rodriganda gewesen und ist dasselbe heute noch bei Graf Alfonzo.« »Sekretär! Also Schreiber!« sagte Amy, indem sie einen Schritt zurücktrat. »Wissen Sie, was ein englischer Lord bedeutet?« »Ganz genau!« Da blitzten die schönen Augen Amys erzürnt auf; sie trat den Schritt wieder näher und sagte: »Und Sie wissen, daß mein Vater ein solcher ist.« »Ja, Miß Amy.« »Und Sie, die Tochter eines Schreibers, wagten es, sich mir vorstellen zu lassen und mich zu besuchen! Aber das mag sein; das erlaube ich dem einfachsten Mädchen, wenn ich sie lieben kann. Aber Sie wagen es, mich auszufragen wie ein spanischer Alkalde eine Zigeunerin? Was fällt Ihnen ein. Bitte verlassen Sie meine Wohnung!« Josefa wurde kreidebleich. Sie griff nach ihrer Mantille, welche sie abgelegt hatte und fragte:
»Das ist Ihr Ernst, Miß?« »Ja, mein voller Ernst. Ist Ihr Vater mit Gasparino Cortejo in Rodriganda verwandt?« »Ja; sie sind Brüder und außerdem die innigsten Freunde.« »So ist meine Antipathie gegen Sie doch begründet gewesen. Ich habe Sie stets nur mit Widerwillen sehen können. Ihr Oheim Gasparino ist ein Bösewicht, dem man das Handwerk legen wird. Er macht Grafen und Gräfinnen wahnsinnig; er läßt Menschen verschwinden, um sie über das Meer zu versenden; er – – ah, gehen Sie! Ich mag Sie nicht mehr sehen!« Sie wandte sich und verließ das Zimmer. Josefa stand allein, fast steif vor Ueberraschung und Wuth. Der Grimm wirkte fast wie ein Starrkrampf auf ihre Glieder, aber endlich bewegte sie sich doch. Sie ballte die beiden Fäuste, erhob sie drohend gegen die ür, hinter welcher Amy verschwunden war und knirrschte: »Das sollst Du mir büßen, Du stolzer Wurm! Und zwar bald!« Sie ging und als sie das Zimmer verlassen hatte, kehrte Amy zurück. Sie war durch das Zusammentreffen und die Unterredung mit der Mexikanerin zornig aufgeregt, beruhigte sich aber bald wieder, als sie schaukelnd in der Hängematte lag und an ihre Freundin Rosa dachte, welche jetzt so glücklich verheirathet war. Nach einiger Zeit trat die Dienerin abermals ein und meldete den Lord. Lindsay befolgte auch seiner Tochter gegenüber die Höflichkeit, sich bei ihr stets anmelden zu lassen. Sie ging ihm entgegen und empfing ihn mit einem Kusse. »Wie gut, daß Du kommst, Pa!« sagte sie. Pa ist die Abkürzung für Papa, ebenso wie man Mama in Ma abkürzt. Diese Zärtlichkeitsform wird besonders in Amerika häufig, aber auch in England angewendet. »Hast Du mich erwartet?« fragte er. »Nein; doch wird Deine Gegenwart mich wieder aufheitern. Ich habe mich sehr geärgert.«
»Du?« fragte er lächelnd. »Worüber?« »Ueber diese Josefa Cortejo.« »Ihr Vater war bei mir. Er sagte mir, daß seine Tochter bei Dir sei. Ist sie Deine Freundin?« »Nein. Sie wollte es sein; sie ist mir verhaßt, diese Tochter eines – – Schreibers!« Er machte eine Geberde komischen Erstaunens und fragte: »Wie kommt es, daß meine gute Amy plötzlich so stolz geworden ist?« »Stolz? Stolz bin ich nicht; aber leiden kann ich sie nicht. Sie drängte sich stets an mich heran, ließ sich nicht zurückweisen, machte mir heute sogar einen Besuch und wagte es dabei, mich nach ganz privaten Dingen auszufragen wie ein Schulmeister.« »Was thatest Du?« »Ich wies ihr die ür.« »Ganz so, wie ich es mit ihrem Vater gethan habe,« sagte der Lord. »Du hast ihn fortgejagt?« »Ja.« »Warum?« »Er wollte mich betrügen. Er hat gehört, daß ich die Absicht habe, mich in Mexiko anzukaufen; da bot er mir kürzlich eine große Besitzung an, welche im Norden liegt, eine Hazienda, ›del Erina‹ heißt sie, und ein gewisser Petro Arbellez sollte dort Inspector sein. Heute kam er wieder, um meinen Bescheid zu hören.« »Und da hast Du ihn fortgejagt?« »Ja, denn ich habe unterdessen erfahren, daß die Hazienda diesem Arbellez gehört; Cortejo hat gar nicht das Recht, sie im Auftrage des Grafen Rodriganda zu verkaufen.« »Sie hat dem Grafen Rodriganda gehört?« »Ja, und Graf Ferdinando hat sie ihm geschenkt. Aber, weshalb ich zu Dir komme: Du reisest gern?«
Sie horchte auf. »Ja, das weißt Du doch,« antwortete sie. »Du hast bereits sehr weite Reisen ganz allein unternommen; ich weiß, daß ich um Dich keine Sorge zu tragen brauche, jetzt aber kann ich mich doch nicht so leicht entschließen.« »Hast Du eine Reise für mich, Pa?« »Ja. Ich habe dem Gouverneur von Jamaika sehr wichtige Depeschen zu überbringen, Depeschen, welche einen solchen Werth haben, daß ich sie gar nicht fremden Händen anvertrauen darf. Es liegt ein Kriegsschiff im Hafen von Vera Cruz, welches sie überbringen soll, aber ich darf sie dem Offizier desselben nicht in die Hände geben, denn er ist kein Diplomat. Ich weiß kein anderes Mittel, als Dich zu senden. Zwar hat eine Dame eigentlich keinen Zutritt auf einem Orlogschiff, aber man muß hier eine Ausnahme machen, wenn ich es wünsche.« Da sprang Amy auf. »Vater, ich reise! Ueberlaß diese Sendung getrost mir!« »Gut!« nickte er. »Ich vertraue Dir und dachte nur, Dir beschwerlich zu fallen. Aber ich sehe, daß Du eine ächte Engländerin bist, welche sich vor einem solchen Ausfluge nicht fürchtet. Doch ist die Angelegenheit eine sehr dringende. Wann kannst Du fertig sein?« »Bereits morgen früh.« »So mache Dich fertig. Ich werde Dich bis Vera Cruz begleiten und auf das Schiff bringen. Der Gouverneur von Jamaika ist mein Freund, an den ich Dir einen Privatbrief mitgebe. Er wird Dich hoch willkommen heißen; darauf kannst Du Dich verlassen.« Am anderen Morgen brach eine Cavalcade von zwanzig Reitern auf, welche den Wagen begleiteten, in diesem Lindsay seine Tochter nach Vera Cruz brachte. Sie wurden von dem Befehlshaber des Kriegsschiffes mit Auszeichnung aufgenommen. Er räumte Amy seine eigene Kajüte ein, und nachdem der Vater von der Tochter
Abschied genommen und ihr seine wichtigen Depeschen anvertraut hatte, verließ das Schiff den Hafen. Das Wetter war günstig und die Fahrt darum eine schöne und schnelle. Am Tage saß Amy unter einem Zeltdache, welches die Sonnenhitze von ihr abhielt, und des Abends erfreute sie sich an der wunderbaren Klarheit des westindischen Meeres, welches ja sowohl wegen seiner Gefährlichkeit berüchtigt, als auch wegen seiner Schönheit berühmt ist. Keine See leuchtet so herrlich, wie diejenige, durch welche das Kriegsschiff dampfte. Man sah wie durch flüssiges, krystallenes Gold bis hinab auf den tiefen Grund. Man sah die wunderbaren Gestalten der iere und Pflanzen des Meeres. Vorn am Bug spritzte der leuchtende Gischt in glühenden Funken empor, und hinten am Steuer bildete sich eine brillirende Furche, welche durch den Lauf des Schiffes immer von Neuem gebildet und belebt wurde. So ging die Fahrt durch die Campeche-Bay nach dem Canale von Yukatan und dann in das Karaibische Meer hinein. Man hatte die Honduras-Bay zur Rechten und die Insel Cuba zur Linken. Es ging an Groß- und Klein-Cayman vorüber und dann kam man in die Nähe von Jamaika. Um die Hauptstadt Kingston zu erreichen, mußte man die gefährliche Petro-Bank passiren, welche mit ihren Korallenriffen bereits Hunderten von Schiffen gefährlich geworden ist. Das war am Vormittage. Die Sonne stand noch nicht hoch und man konnte kaum auf der spiegelnden Fläche der See mit dem Auge verweilen, ohne in demselben Schmerzen zu fühlen, wie es in diesen sonnendurchglänzten Breiten immer der Fall zu sein pflegt. Da meldete der Mann auf dem Ausguck ein Segel in Sicht. Als dasselbe näher kam, erkannte man eine kleine Dampfyacht, welche sich neben des Dampfes auch noch zweier Raasegel zum Fortkommen bediente. Amy saß unter ihrem Zeltdache und der Kapitän stand bei ihr.
»Ein kleines, verteufeltes Fahrzeug,« sagte er. »Es kommt mit einer Geschwindigkeit daher, wie ich sie gar nicht für möglich gehalten habe. Sehen Sie, Miß Lindsay!« Sie trat mit ihm an den Bord des Schiffes, um die Yacht besser sehen zu können. Jetzt löste der Kriegsdampfer eine Kanone, um das kleine Fahrzeug zum Beidrehen aufzufordern. »Was für ein Fahrzeug?« fragte der Deckoffizier hinüber. »Privatyacht Rosa!« lautete die Antwort. »Wem gehörig?« »Karl Sternau in Deutschland!« Bei diesem Namen stieß Amy einen Ruf der Ueberraschung aus. Sie strengte ihre Augen mehr an und sah nun auch die hohe Gestalt Sternau’s am Steuer stehen. »Kennen Sie den Mann, Miß?« fragte der Kapitän, der ihren Ruf gehört hatte. »Ja, Sir; es ist einer meiner besten Freunde. O bitte, darf er nicht an Bord kommen?« »Gewiß, wenn Sie es wünschen.« Und die Hände um den Mund legend, fragte er nach der Yacht hinüber: »Ist Mr. Sternau selbst an Bord?« »Ja,« ertönte die Antwort. »Kommen Sie an Bord!« »Ich habe keine Zeit,« erwiderte der Aufgeforderte, trotzdem er wohl wußte, daß er gezwungen war, an Bord zu kommen, sobald er von einem Kriegsschiffe dazu aufgefordert wurde. »Miß Amy Lindsay ist hier!« erklärte der Kapitän. »Ah, ich komme!« Bald stieß ein Boot von der Yacht ab, und je mehr es sich dem Kriegsschiffe näherte, desto besser konnten sich die Beiden erkennen. Sie ließ ihr Taschentuch wehen und er seinen Hut. Endlich stieg er das Fallreep empor und stand auf Deck. Seine erste Be-
grüßung galt natürlich dem Kapitän, und dann wendete er sich an Amy, die ihn mit hoher Freude bewillkommnete. »Ich glaubte Sie in Afrika!« sagte sie, nachdem sie ihm beide Hände gereicht hatte. »Ich habe den ›Lion‹ bis hierher gejagt,« antwortete er. »Den ›Lion‹? Welchen ›Lion‹? Doch nicht etwa das Piratenschiff?« fragte der Kapitän. »Allerdings, Sir,« antwortete Sternau. »Ich habe nicht viel Zeit; ich darf es nicht aus den Augen lassen. O, Sir, wenn Sie mir helfen wollten, diesen Kapitän Grandeprise zu fangen!« »Sofort, Sir, sofort!« rief der Engländer ganz erregt. »Es ist das ja ein Glück, welches ich sogleich festhalten muß. Wo ist er?« »Er ist hinter der Pedro-Bank. Wenn Sie Steuerbord fahren und ich Backbord, bekommen wir ihn in die Mitte.« »Aber wie kommen Sie mit Ihrer Nußschale um Gottes willen dazu, diesen Grandeprise zu verfolgen?« »Ich habe jetzt keine Zeit, dies zu erklären, Sir. Hier steht Miß Amy, welche Ihnen indessen Alles erzählen soll. Nur das will ich noch sagen, daß ich ihm an der Küste von Südafrika bereits ein Schiff in den Grund gebohrt habe. Wir müssen uns beeilen, ihn hinter der Petro-Bank zu treffen.« Er machte Miene, das Fallreep wieder hinabzusteigen. Der Kapitän hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Sir,« sagte er, »sollte der Pirat den Kampf vermeiden wollen, so treiben wir ihn einfach entweder auf die Serranilla- oder auf die Rosalind-Bank, wo er zwischen den Felsen stecken bleiben wird. Jetzt gehen Sie!« Sternau kehrte nach der Yacht zurück und lief mit derselben mit vollem Dampfe um die Petro-Bank herum. Nach einer halben Stunde sah er die »Pendola« vor sich. Der Kapitän des kleinen Schiffes lächelte vor sich hin, blickte auf die Seekarte und sagte dann zu Sternau:
»In zehn Minuten hat er die Bank umsegelt. Er wird uns nicht kennen und uns also heranlassen. Wir schießen ihm das Steuer weg; dann ist er vollständig hilflos.« »Gut! Aber schießt nicht unter die Wasserlinie; dort steckt jedenfalls der Gefangene. Das Schiff darf um keinen Preis sinken.« »Dasselbe müssen wir auch dem Engländer sagen.« Die Yacht that, als ob sie sich um den Piraten gar nicht kümmere. Das Fahrwasser war sehr eng, und so fiel es nicht auf, daß sie sich nahe zu ihm hielt. Als er wieder in freieres Meer gekommen war, lenkte sie plötzlich auf ihn zu, strich hart hinter seinem Stern vorüber und feuerte erst die eine, dann die andere Breitseite so wohlgezielt ab, daß das Steuer geschossen wurde und augenblicklich brach. Dieses ebenso kühne wie unerwartete Manoeuvre erregte auf der »Pendola« natürlich den größten Schrecken. Alles eilte auf das Verdeck; auch Landola kam herauf. »Das ist derselbe Schurke!« rief er. »Gebt es ihm!« Aber die »Pendola« war nicht klar zum Gefechte. Hier in der Nähe so vieler Häfen hatte man die Luken maskirt und die Geschütze versteckt. Die wenigen Büchsen, welche schnell herbeigeschafft und zur Hand genommen wurden, reichten bereits nicht mehr zur Yacht hinüber. Dort stand Sternau aufrecht auf dem Decke. »Ein Gruß von Rodriganda!« rief er. Im Nu hatte er seine Büchse erhoben und zielte. Das weittragende Gewehr krachte, und sofort brach Kapitän Landola zusammen. »Ich habe ihn nicht getödtet, sondern nur tödtlich verwundet. Der Schuß ist durch die Achsel gegangen und hat die Knochen zerschmettert. Der Mann muß ja noch reden!« Diese Worte sagte Sternau; dann krachte auch bereits sein zweiter Schuß. Der erste Offizier, welcher an seiner Standarte kenntlich war, fiel todt um.
Sternau ließ die Maschine stoppen, so daß die Yacht sich ruhig wiegte, und lud die beiden Läufe wieder. Sein nächster Schuß traf den Steuermann und der vierte nahm dem zweiten Offizier das Leben. »So ist’s richtig, jetzt sind sie ohne Offiziere!« rief Helmers. »Und sehen Sie, da kommt auch bereits der Engländer.« Das Panzerschiff kam gerade jetzt um das Riff herum und legte sich vor den Piraten. »Hallo!« rief der Kapitän zu Sternau herab. »Sie haben ihn lahm gemacht? Bravo!« »Und ihm die vier Offiziere getödtet,« fügte Sternau hinzu. »Schonen Sie den Gefangenen, welcher im Kielraume steckt.« »Soll geschehen!« Der Engländer gab einen Schuß ab, dessen Kugel über das Deck der Piraten hinflog, zum Zeichen, daß er die Flagge zeigen solle. Er zog die spanische. »Welches Schiff?« fragte der Engländer. »La Pendola, Kapitän Landola.« »Wie viel Mann an Bord?« »Vierundzwanzig!« lautete die Antwort. »Verdammter Lügner! Herüber mit den Leuten auf mein Schiff!« Die »Pendola« war verloren; sie konnte nicht gesteuert werden. Für ihre Bemannung gab es keine andere Rettung als die Flucht. Man that, als ob man den Befehl des Engländers befolgen wolle, und ließ die Boote in See, doch anstatt herüber zu steuern, ruderten sie mit aller Macht gegen das Land von Jamaika zu. Die Leute hatten keine Zeit gehabt, Etwas mitzunehmen; sie retteten nichts als das nackte Leben. Aber auch dies sollte ihnen nicht gegönnt werden. Sternau war im Nu mit seiner windesschnellen Yacht hinter ihnen her. Er sah, daß sie keinen Gefangenen bei sich hatten,
und segelte zwei von den Booten einfach in den Grund, während er das dritte und vierte zusammenschoß. Jetzt kehrte er zu dem Schiffe zurück. Auch der Engländer hatte seine Boote herabgelassen und steuerte nun auf den Piraten zu. Auf dem Decke desselben fand man drei Leichen; es war der Steuermann mit den beiden Offizieren. Der verwundete Kapitän fehlte. Man hatte ihn mit in eins der Boote genommen, welche Sternau zusammengeschossen hatte. Nun war von ihm allerdings keine Auskunft mehr zu erlangen. Jetzt begann die genaue Durchsuchung des Schiffes. Man fand die deutlichsten Beweise, daß es ein Seeräuberschiff gewesen war. Um diese Sachen aber bekümmerte Sternau sich nicht. Er brannte sich eine der vorgefundenen Laternen an und stieg hinab in den Kielraum. Quimpo war bei ihm, um ihn zu führen. Damit ein Schiff nicht nach der Seite falle, sondern tief im Wasser gehe, wird der unterste eil seines Raumes mit Steinen oder Sand beladen. Dies nennt man den Ballast. Hier bei der »Pendola« bestand er aus lauter Sand. Und da ein jedes Schiff Wasser schöpft, so war dieser Sand vollständig durchfeuchtet. In diesen nassen Sand hinein nun hatte man eine Grube gegraben und mit starken Bohlen ausgelegt. Sie glich einem niedrigen Schweinestalle, und in diesem verpesteten Räume stak, mit Ketten fest angehängt, das lebendige Skelett eines Menschen, der ganz genau einer der bekannten Abbildungen des Todes glich. Als er die Beiden kommen hörte, klirrte er mit den Ketten. »Wer ist da?« fragte er. Der Grabeston dieser Stimme war erschütternd. Sternau trat näher und sagte: »Herr Lieutenant, es kommen Freunde.« »Welch eine Stimme! Ist’s wahr, oder irre ich mich?« Er richtete sich mühsam im Sande empor und starrte die beiden Männer an.
»Quimbo!« sagte er. »Du wieder hier! Und dieser andere Herr, wer ist es?« Sternau hob die Laterne so, daß sein Gesicht in den Schein derselben kam. »O mein Gott,« rief da der Gefangene. »Sennor Sternau!« Er konnte nicht weiterreden; er fiel vor Freude ohnmächtig in das Loch zurück. – Sternau untersuchte seine Fesseln und fand, daß sie mit einer Zange zu lösen seien. Quimbo aber war bereits nach oben geeilt und kehrte mit dem Schlüssel zurück. Er hatte gewußt, daß derselbe in der Kajüte des Kapitäns hing. Jetzt wurde der Lieutenant losgeschlossen und in noch bewußtlosem Zustande nach oben getragen. Da seine Augen jetzt nicht mehr an das Licht gewöhnt waren, so schaffte man ihn nicht auf das Verdeck, sondern in die Kajüte, worauf Sternau sofort ein Boot nach dem Kriegsschiff sandte, um Amy Lindsay holen zu lassen. Mittlerweile kam der Lieutenant, oder Mariano, wie er bei den Räubern des Gebirges genannt worden war, wieder zu sich. »Sennor Sternau, Engel des Himmels, ist es wahr, ist es kein Traum?« fragte er. »Es ist Wirklichkeit,« antwortete dieser. »Aber fragen Sie nicht. Man wird Ihnen Alles sagen und erzählen. Bitte, Ihre Kleidung ist verfault. Sie sind vollständig unmöglich zu betrachten. Dieser Kapitän Landola wird in seinem Koffer einen Anzug haben. Lassen Sie uns suchen; denn Sie werden in einigen Minuten Besuch erhalten.« »Aber, wie ist das gekommen, Sennor? Ich hörte schießen!« »Das erfahren Sie später. Ich bin Ihrer Spur von Europa nach Afrika und von da wieder hierher gefolgt. Wir befinden uns bei Jamaica. Doch davon später. Hier ist eine Hose, eine Jacke, ein Hemde, Schuhe, Taschentuch, Hut, Alles, was Sie brauchen. Hier ist auch Wasser zum Waschen. Beeilen Sie sich!«
»Wer ist der Besuch, welcher kommen will?« »Eine Dame. Weiter sage ich nichts. Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind!« Sternau verließ die Kajüte, und Mariano begann, sich um- und anzukleiden. Während er damit beschäftigt war, hörte er draußen ein leises Flüstern. Er war sehr schwach, aber es gelang ihm doch, in die anderen Kleider zu kommen, und als er sich dann im Spiegel besehen und da bemerkt hatte, daß er nun wenigstens ein sauberes Aussehen habe, öffnete er den Riegel und klopfte. »Treten Sie ein, Miß. Er wird vor Freude nicht sterben.« So hörte er draußen die Stimme Sternau’s sagen. Er blickte auf und – sah die Geliebte vor sich, welche sein einziger Gedanke gewesen war in all der Zeit seiner schweren, bitteren Gefangenschaft. Ihr Angesicht strahlte ihm entgegen, wie die Sonne, deren Anblick er so lange entbehrt hatte. Er wankte, aber er raffte sich zusammen. Die Arme ausbreitend in unendlichem Entzücken trat er auf das jetzt vor Freude doppelt schöne Mädchen zu und jauchzte: »Amy, Miß Amy, welch eine Wonne!« Sie sah nicht seine abgezehrte Gestalt, seine bleichen, eingesunkenen Wangen; sie sah nur das Leuchten seiner Augen und streckte ihm beide Hände entgegen. »Alfred,« antwortete sie, »endlich, endlich bist Du wieder frei!« Sie sanken einander an das Herz und hielten sich lange fest und innig umschlungen. Kein Wort wurde gesprochen, aber ihre Lippen fanden sich wieder und immer wieder; ihre Herzen schlugen an einander, und die Wonne des Wiedersehens ließ ihnen den Augenblick vergessen und dazu Alles, was zwischen ihrer Trennung in Rodriganda und dem heutigen Tage lag. Da endlich lösten sich seine Arme, mit denen er sie hielt, langsam von ihrer Schulter, sie sanken ermattet herab; Todesblässe breitete sich über sein Angesicht; seine Augen schlossen sich und sein Körper wankte. »Alfred!« rief sie, ihn voller Angst festhaltend; »was ist mit Dir!«
»Das Glück – – ist zu mächtig – – – für mich!« seufzte er mit leiser Stimme. Er griff mit den Händen, wie um einen Halt zu suchen, in die Luft. Er wurde ihr zu schwer, und sie ließ ihn vorsichtig in einen der vorhandenen Sessel gleiten. »Setze Dich, und ruhe aus,« bat sie. »Du hast viel gelitten; Du bist zu schwach.« Sie kniete vor ihm nieder, schlang die Arme um ihn und blickte innig und besorgt zu ihm auf. Erst jetzt bemerkte sie die Zerstörung, welche Gefangenschaft, Hunger, Durst und seelisches Leiden in seinem Gesichte und seinem ganzen Körper hervorgebracht hatten. Ihr Herz krampfte sich zusammen; sie hätte laut aufschreien mögen vor Mitleid und Schmerz, aber sie bezwang sich und gab ihre unendliche, angstvolle eilnahme nur durch die mit zitternder Stimme ausgesprochene Frage kund: »Du leidest? Du bist krank, mein Geliebter?« Es währte einige Zeit, bis er seiner augenblicklichen Schwäche Herr werden konnte; dann öffneten sich seine Augen; sein Blick senkte sich mit glücklichem Ausdrucke in den ihrigen; es kehrte eine leise Röthe auf seine Wangen zurück, und er antwortete: »Ich habe viel erduldet; ich wäre meinen Leiden in kurzer Zeit erlegen, aber nun ist Alles, Alles gut.« Sie streichelte ihm vor überquellender Zärtlichkeit die hageren Wangen und sagte: »Ja, mein Alfred, Du sollst wieder stark werden, so stark wie damals, als Du in Spanien unser Schutz und Retter warst. Ich werde Dich nicht wieder von mir lassen; ich werde Dich pflegen, bis alle Spuren Deiner Leiden verschwunden sind. Und dann – – –« Sie hielt erröthend inne und sprach den begonnenen Satz nicht aus. »Und dann – – –?« fragte er, sich liebevoll zu ihr niederbeugend.
»Und dann – –« fuhr sie leise fort, »dann werden wir vereinigt bleiben für das ganze Leben.« Sie schmiegte ihr schönes Köpfchen innig an ihn; er aber schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Das wird wohl nicht möglich sein!« »Warum nicht?« fragte sie. »Du kennst mich nicht. Du weißt nur wenig von mir, und das, was Du weißt, das ist – – das ist reine Unwahrheit.« Man sah es ihm an, wie schwer es ihm wurde, diese letzten Worte auszusprechen. Ueber ihr Gesicht flog es wie ein leichtes Erschrecken. Sie blickte ihm forschend in die Augen; sie sah darin nur Liebe und Trauer; darum drückte sie seine Hände und sagte: »Haben Dich die Leiden so verzagt gemacht? Dein Muth wird wiederkehren, mein Geliebter. Ja, ich weiß wenig von Dir, aber ich weiß ja, daß Du mich liebst, und das ist genug für mich. Das Andere alles ist meinem Herzen eine Nebensache.« »Aber dennoch mußt Du es erfahren. Höre mich an! Ich bin nicht der, der ich scheine – –« Sie legte ihm die Hand auf den Mund und unterbrach ihn rasch: »Nicht jetzt, Alfred! Ich weiß, daß Du rein und edel bist und mehr mag ich jetzt nicht erfahren. Hast Du Dich gekräftigt, dann magst Du mir erzählen, was Du auf dem Herzen trägst. Jetzt aber laß uns nur daran denken, Gott zu danken, daß er Dich aus solch einer Trübsal erlöst und mir wiedergegeben hat.« Ein leises, glückliches Lächeln breitete sich über sein Angesicht und er that ihr den Willen. Seine Hände lagen in den ihrigen, und sein Auge hing trunken an ihren schönen, milden Zügen. Sie dachten nur an sich; sie achteten nicht des Lärmes, welcher dadurch erregt wurde, daß vielfache Schritte die Luckentreppe auf- und niederstiegen. Dies kam daher, daß die auf dem Piratenschiffe
vorhandenen Waaren, Waffen und andere Gegenstände auf das Kriegsschiff übergeladen wurden. Endlich klopfte es leise an die ür, und auf ihren Zuruf trat Sternau herein. »Entschuldigen Sie,« bat er. »Die Sorge um den Freund veranlaßt mich zu der Störung. Ich komme als Arzt und möchte den Herrn Lieutenant ersuchen, mit auf das Verdeck zu kommen. Ein Mann, welcher Monate lang im Kielraume eines Schiffes eingekerkert war, darf sich der Sorge um seine Gesundheit nicht länger entziehen, als es durchaus unumgänglich ist.« Sie folgten ihm hinauf. Da droben sah es wirr und chaotisch aus. Da lagen Kisten, Säcke, Ballen, Waffen, Munition und Proviant bunt durcheinander, und alle Hände waren beschäftigt, diese Dinge auf das Kriegsschiff zu bringen, welches sich Seite an Seite mit dem Piraten gelegt hatte. Am anderen Bord des Letzteren lag die kleine Dampfyacht, deren Bemannung den Engländern bei der Arbeit half. Jetzt, da der Spanier von dem vollen Lichte der Sonne beschienen wurde, sah man erst mit Deutlichkeit, welchen Einfluß seine traurige Gefangenschaft auf ihn hervorgebracht hatte. Er glich der Abbildung des Todes. Seine Farbe spielte in das Grüne; seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, und die Haut spannte sich scharf über die hervortretenden Knochen. Er war der körperlichen Auflösung ebenso nahe gewesen wie dem geistigen Verschmachten. Sternau untersuchte ihn sorgfältig, wobei das Auge des Mädchens voller Angst auf dem ernsten Angesicht des Arztes ruhte. »Wir wollen Gott danken,« sagte er endlich, »daß wir Sie heut getroffen haben, Lieutenant. Eine Woche später wären Sie nicht mehr unter den Lebenden gewesen.« Amy erschrak und entfärbte sich. »O mein Gott!« rief sie. »Ist sein Zustand so Besorgniß erregend, Herr Doktor?«
»Nein, Miß,« antwortete Sternau. »Ich konstatire nichts als eine allerdings hochgradige Schwächung, deren wir aber bei einiger Vorsicht recht bald Meister werden wollen. Freie Luft, fleißige Bewegung und eine sorgfältige, dem Leiden angemessene Ernährung werden das Ihrige thun, unserem Freund seine früheren Kräfte wieder zu geben.« »O, ich danke Ihnen für diesen Trost!« sagte sie, dem Arzte ihre Hand entgegen streckend. »Ich werde ihn pflegen nach besten Kräften und Nichts versäumen, was nöthig ist.« Er blickte sie fragend an und sagte: »Werden Sie Gelegenheit dazu finden, Miß Amy?« »Gewiß. Ich werde mich ja nicht wieder von ihm trennen!« »Dann bitte ich Sie vor allen Dingen, mich zu unterrichten, wie Sie an Bord dieses Kriegsschiffes in die Nähe von Jamaika kommen.« »Ich will zum Gouverneur dieser Insel, um ihm wichtige Briefschaften zu überbringen.« »So ist unser Zusammentreffen also ein rein zufälliges – – –« »O nein,« unterbrach sie ihn schnell. »Es ist viel mehr als das; es ist eine Fügung Gottes, dem wir nicht genug Dank dafür sagen können.« »Ich gebe dies natürlich zu. Wie lange werden Sie sich auf Jamaika verhalten?« »So lange, bis ich die Antwort erhalten habe. Oder meinen Sie, daß der Zustand unseres Freundes einen längeren Aufenthalt nöthig macht?« »Ich möchte ihm allerdings eine längere Zeit der inneren und äußeren Ruhe verordnen; aber das Klima von St. Jago de la Vega ist sehr ungesund.« »Der Gouverneur residirt jetzt nicht in dieser Hauptstadt, sondern in Kingston.«
»O, Kingston ist noch gefährlicher. Diese Stadt ist ja berüchtigt in Beziehung auf ihre Fieberluft; ich möchte dort keinen Patienten wissen. Das Ziel Ihrer Rückreise ist Mexiko?« »Ja. Der Kriegsdampfer hat Auftrag, mich wieder nach Vera Cruz zu bringen.« Sternau nickte nachdenklich und sagte dann: »Der Dampfer wird bis morgen hier liegen bleiben, um die Güter des Piraten über zu laden. Ich schlage daher vor, Sie dampfen sogleich mit meiner Yacht nach Kingston. Der Gouverneur wird, wenn Sie ihn darum ersuchen, sich beeilen, Ihnen seine Antwort zu geben, und dann bringe ich Sie sofort selbst nach Vera Cruz. Sie können sich meiner Yacht getrost anvertrauen. Sie ist schneller als das Kriegsschiff und auch gut bewaffnet, so daß wir nichts zu befürchten haben. Je eher wir den Lieutenant nach der gesunden Hochebene von Mexiko bringen, desto sicherer können wir auf seine baldige Herstellung rechnen.« Sie ging auf diesen Vorschlag ein, und Mariano, der einstige Räuber, stimmte bei. Der Kapitän des englischen Kriegsschiffes wurde von diesem Entschlusse benachrichtet. Er bemerkte zwar, daß die Dame ihm anvertraut sei, konnte sie aber doch nicht zwingen, auf seinem Fahrzeuge zu bleiben. Er machte in ehrlicher Weise Sternau darauf aufmerksam, daß dieser bei dem Angreifen des Piraten mitgewirkt habe und also eilhaber am Prisengelde sei, doch dieser schlug dies aus, ließ die Effekten der Engländerin an Bord der Yacht bringen und dampfte dann davon, Kingston entgegen. Als sie dort anlangten, wurde nach den nothwendigen Formalitäten Amy an das Land gesetzt, und Sternau begleitete sie zum Gouverneur. Dieser wollte sie seiner Familie vorstellen und bat sie, längere Zeit der Gast derselben zu sein; sie aber bat, sie von einem solchen Aufenthalte zu dispensiren, da sie Veranlassung habe, mit möglichster Schleunigkeit nach Mexiko zurückzukehren. Als der Beamte bemerkte, daß sein Bitten nichts fruchtete, versprach er
sofortige Erledigung der Depeschen und er hielt auch in der Weise Wort, daß die Yacht »Rosa« bereits am nächsten Vormittage in See stechen konnte. Sie dampfte ganz denselben Weg zurück, den das Kriegsschiff gekommen war; darum traf sie an der Pedro-Bank wieder auf dasselbe. Es lag noch immer neben der »Pendola« um deren Ladung zu löschen. Sternau legte einige Augenblicke bei und erfuhr da, daß man bald mit der Arbeit fertig sei und dann das Räuberschiff anbohren und in die Tiefe senken werde. »Es wird von den Piraten wohl keiner entkommen sein,« sagte Amy. »Das ist sehr fraglich,« meinte der englische Kapitain. »Als Sie uns gestern verlassen hatten, suchte ich mit dem Fernrohre die da drüben liegende Küste von Jamaika ab, und da glaubte ich einige Männer in Seemannstracht zu bemerken, welche einen Verwundeten oder überhaupt Kranken trugen. Da dieser eil der Küste unbewohnt ist, fiel mir die Anwesenheit dieser Leute auf und ich sandte sofort ein Boot ab; doch fanden meine Jungens zwar menschliche Spuren aber keine Personen.« »Sollte es wirklich dem Kapitän gelungen sein, an das Ufer zu kommen?« meinte Sternau. »Dann wäre es besser, einmal dort anzulegen.« »Warum sollte es grade der Kapitain sein?« fragte der Engländer. »Weil ich ihn allein verwundet habe, und zwar mit Vorbedacht; die Anderen habe ich erschossen.« Da meinte Mariano mit finsterer Miene: »Er ist des Lebens nicht werth, aber dennoch würde ich mich freuen, wenn er lebte, denn dann hätte ich Hoffnung, ihm noch einmal zu begegnen und mit ihm abzurechnen. Er ist wie ein Teufel gegen mich gewesen; ich habe Höllenqualen bei ihm erduldet, und das sollte er mir mit doppelten Qualen entgelten.«
»Gut, verschaffen wir uns Gewißheit!« sagte Sternau. »Die Nachforschung erfordert einen Aufenthalt von höchstens einer Stunde, und es ist besser wir wissen, woran wir sind.« Die Yacht dampfte dem Punkte der Küste entgegen, welchen der Kapitain bezeichnet hatte, und erreichte denselben binnen einer Viertelstunde. Da Sternau sich von den Andern die Spuren nicht verderben lassen wollte, stieg er zunächst allein aus um den Ort sorgfältig abzusuchen, aber die Küste bestand aus hartem Korallenfelsen, und da gestern, als der Kampf stattgefunden hatte, grad Ebbe gewesen war, so hatte die Fluth inzwischen die vorhandenen Spuren wieder verwaschen. Sie mußten also unverrichteter Sache wieder abfahren. Die Fahrt nach Vera Cruz war eine sehr schnelle und glückliche. Als man dort anlangte, wurde beschlossen, daß Sternau und Helmers die beiden Liebenden nach Mexiko begleiten sollten. Die Yacht blieb unter der Obhut der Matrosen zurück. Da Mariano an so großer Schwäche litt, so war es unmöglich, zu Pferde zu reisen. Es wurde die Postdiligence benutzt, welche zwischen Mexiko und dem Hafen regelmäßig hin und her geht. Die drei Männer bewaffneten sich, versahen sich mit Proviant, da man in jenen Gegenden von unseren wohleingerichteten Gasthäusern und Restaurationen nichts weiß, und dann verließen sie die fieberduftende Hafenstadt. Eine Fahrt mit der mexikanischen Diligence ist nichts Bequemes und Erfreuliches. Ein solcher Wagen ist für zwölf bis sechzehn Personen eingerichtet und wird von acht halbwilden Maulthieren gezogen. Vorn sind zwei, in der Mitte vier und an der Deichsel wieder zwei angespannt. Diese iere weiden Tag und Nacht im Freien und müssen vor dem Gebrauche immer erst mit dem Lasso eingefangen werden. Sie lassen sich das Geschirr nur mit höchster Widerspenstigkeit anlegen, aber einmal im Zuge, sind sie auch kaum aus ihrem rasenden Galoppe heraus zu bringen.
Die Gegend welche man durchfährt, ist beinahe ganz unbevölkert; der Weg geht durch öde Felsenstrecken, tiefe Schluchten, finstre Urwälder, und nur selten bemerkt man einmal eine einsame armselige Indianerhütte, welche von einem herabgekommenen Nachkommen der einstigen Beherrscher des Landes bewohnt wird. Kein Europäer kann sich einen Begriff von den Hindernissen machen, welche der Reisende zu überwinden hat. Oft ist die Straße weiter nichts als das ausgetrocknete, mit Felsbrocken bedeckte Bette eines im Frühjahre reißenden Bergstromes; oft führt sie an Abgründen vorüber, in welche man beim geringsten Fehltritte stürzt. Und dabei braust die Diligence in einem rasenden Galoppe immer weiter. Der Kutscher sitzt auf dem Bocke, die sechzehn Zügel in der Hand, und neben ihm sein Adjutant, der Mauleselbube. Dieser hat keine Minute lang Rast und Ruhe. Er springt mitten im Galoppe vom hohen Bocke, um die iere zu richten oder den Wagen zu halten; dabei sammelt er sich die tiefen Taschen voller Steine, springt mitten im Lauf wieder auf, ohne daß dem Tempo im Geringsten Einhalt gethan wird und bombardirt nun mit seinen Steinen diejenigen iere, welche sich faul oder unlenksam zeigen. Dies ist die hohe Schule, durch welche er gehen muß, um später selbst Kutscher werden zu können. Ein guter Diligencekutscher ist eine sehr geschätzte Persönlichkeit, und zwar mit vollem Rechte. Er wird von jedermann »Sennor« genannt. Wenn er die Strecke zwischen Mexiko und Vera Cruz versieht, so bezieht er eine Gage von Pesos pro Monat; das sind nach unserem Gelde ungefähr Mark. Dabei wird er ganz verköstigt und hat am Ende des Jahres, wenn er kein einziges Mal umgeworfen hat, noch Anspruch auf eine Extrabelohnung von Mark zu machen. Er steht sich also weit besser als ein deutscher Postillon.
Eine große Plage ist die Unsicherheit des Weges. Ein jeder Mexikaner ist mehr oder weniger ein Freibeuter; zuweilen thun sich Mehrere zusammen und so ist es kein Wunder, wenn man eine solche Reise nur sehr wohl bewaffnet unternimmt. Und dennoch kommt es häufig vor, daß die Passagiere ihr Ziel nicht unberaubt, vielleicht auch gar nicht erreichen, weil sie getödtet werden. Am Abend erreichten unsere Reisenden eine Art von Gehöfte, wo sie gezwungen waren, zu übernachten. Dieses Gehöfte bestand aus einer sehr niedrigen schmutzigen Hütte, an welche eine weite Umzäunung stieß, welche von stacheligen Cactus hergestellt war. Innerhalb dieser Umzäunung weideten einige magere Pferde und Maulthiere. Die Hütte bewohnte der »Postmeister«, ein hagerer Mexikaner, welcher einem Raubmörder ähnlicher sah, als einem ehrlichen Manne. Er führte neben der »Posthalterei« zugleich einen Pulque-Schank; das heißt, er sammelte den Saft einer Agaven-Art, ließ denselben in schmutzigen Töpfen und Krügen gähren und verkaufte ihn sodann gegen hohes Geld an diejenigen Insassen der Diligence, welche sich nicht ekelten, ihren Durst mit dieser Brühe zu stillen. Amy behauptete, sich vor diesem Manne zu fürchten; sie scheute sich überdies vor dem gräßlichen Schmutze seiner Wohnung, und so wurde ihr in der Diligence ein Lager zubereitet. Die drei Männer wollten in der Nähe derselben im Freien schlafen. Der Abend war ein herrlicher. Die Sterne des Aequators leuchteten wie glühende Funken vom Himmel hernieder, und balsamische Lüfte fächelten die ruhende Erde. Amy und Mariano hatten sich von den Andern getrennt und wandelten unter dem Schutze der Umzäunung auf und nieder. Sie führten sich am Arme; das Herz war ihnen voll, und doch fanden sie keine Worte, um die Größe ihres Glückes zu beschreiben. Endlich sagte Amy mit leiser, inniger Stimme: »Welch eine Zeit zwischen jetzt und Rodriganda!«
»Eine Zeit schwerer Trübsale für mich,« antwortete er. »Und für mich eine Zeit bitterer Sorge um Dich, mein Alfred.« Da ließ er ihren Arm fahren, blieb stehen und sagte: »Nenne mich nicht mehr Alfred, sondern Mariano, denn so ist mein Name.« »Mariano?« »Ja. Alfred de Lautreville war nur ein angenommener Name.« Sie blickte überrascht zu ihm empor und sagte nach einer kleinen Pause: »War es das, was Dich so sehr bedrückte?« »Ja, das war es. Komm, laß uns niedersetzen. Ich muß wahr gegen Dich sein.« »Hat dies nicht noch Zeit, mein Geliebter?« »Nein. Es lastet schwer auf meiner Seele, und diesen Druck will ich los werden.« »Aber Du bist krank. Du wirst Dich aufregen!« »Trage keine Sorge, Amy. Das Bewußtsein, unredlich zu handeln, schadet mehr als die Erinnerung an eine Zeit, von der ich wünsche, daß sie nicht stattgehabt hätte.« Ein Felsenblock gab ihnen einen bequemen Sitz. Sie nahmen Platz, und nachdem Mariano einige Zeit lang trüb vor sich hingeblickt hatte, begann er: »Du hast von Sternau Einiges über meine muthmaßliche Abstammung gehört?« »Ja; bereits in Rodriganda gab er mir einige Andeutung, und später schrieb er mir.« »Nun wohl. Ich bin das Opfer eines Verbrechens, welches aufzudecken meine Lebensaufgabe ist. Ich wurde meinen Eltern geraubt und kam in eine Räuberhöhle.« Amy stieß einen Ruf der Ueberraschung aus. »Ists möglich! In eine Räuberhöhle?« »Ja. Ich bin ein Brigant, ein Räuber.«
Das hatte sie nicht erwartet; das stürmte mit voller Wucht auf sie ein. Sie holte tief Athem, aber sie vermochte nicht, ein Wort zu sprechen. Er bemerkte das mit unendlichem Schmerz, rückte von ihr fort und sagte: »Du schweigst. Du verachtest mich. Das war es, was ich fürchtete!« Da faßte sie ihn bei der Hand und fragte: »Du konntest nicht dafür, daß Du an diesen schauerlichen Ort kamst?« »Nein, denn ich war noch ein Kind.« »Und Du wurdest ohne Deine Schuld als Brigant erzogen?« »Ich lebte unter den Briganten, aber ich wurde nicht als solcher erzogen. Ich habe nie das Geringste gethan, was mich mit dem Gesetz hätte in Conflikt bringen können.« »Gott sei Dank!« sagte sie. »Da ist ja Alles gut. Aber wie konntest Du unter den Räubern der Mann werden, der Du geworden bist?« »Weil der Kapitän höhere Absichten mit mir verfolgt zu haben scheint. Er ließ mich ganz nach dem Stande erziehen, dem ich eigentlich angehöre. Das einzige Unrecht, welches ich beging, war, daß ich in Rodriganda einen falschen Namen trug.« »Du konntest nicht anders, mein Mariano.« Es war das erste Mal, daß sie diesen Namen aussprach. Er drückte ihre Hand an sein Herz und sagte: »Ich danke Dir, mein Leben! Du machst mir das Herz leicht, und nun habe ich auch den Muth, Dir Alles, Alles zu erzählen, was mich so lang und so schwer bedrückte.« Er zog sie an sich, legte leise ihr Köpfchen an seine Brust und begann zu erzählen. Er berichtete von den Erinnerungen an die ersten Tage seiner Kindheit, von seinem Leben unter den Briganten und von Allem, was später gekommen war. Es dauerte lange, ehe er fertig wurde, aber als er geendet hatte und ihr dann auch
all die scharfsinnigen Combinationen Sternau’s berichtet hatte, da schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn innig und sagte: »Ich danke Dir für Deine Offenheit! Nun ist Alles, Alles gut, denn nun weiß ich, daß Du meiner würdig bist. Gott wird Alles zum Besten lenken.« »Aber Dein Vater – –?« fragte er. »Trage um ihn keine Sorge! Er ist gerecht und mild und liebt mich von ganzem Herzen; er wird thun, was ihm seine Liebe gebietet.« Sie saßen noch eine ganze Weile bei einander, versunken in Hoffnung und Glück, dann aber kehrten sie zu den Andern zurück, um sich zur Ruhe zu begeben. Amy schlief in dem Wagen, und die Andern lagen, in ihre Decken gehüllt, neben demselben. Am andern Morgen wurde die Reise fortgesetzt. Das fürchterliche Fahren griff Mariano bei seinem geschwächten Zustande außerordentlich an, und als sie Mexiko erreichten, war er fast noch mehr krank als vorher; aber Sternau beruhigte das besorgte Mädchen. Er sagte Amy, daß einige Wochen der Erholung hinreichen würden, ihm seine Kräfte und seine Gesundheit zurückzugeben. Amy wollte, daß ihre drei Begleiter sofort mit nach dem Palazzo ihres Vaters fahren sollten, aber Sternau schlug dies ab. »Wir bleiben im Hotel,« sagte er. »Ihr Vater kennt uns noch nicht persönlich, und was Sie ihm von uns erzählt haben, das reicht noch nicht hin, so ohne Weiteres seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.« »Aber Sie haben mir so große Dienste geleistet und mich sicher nach Mexiko gebracht!« Er lächelte und antwortete: »Miß Amy, wollen Sie unsern Freund Mariano so ganz ohne alle Einleitung Ihrem Vater als Ihren Verlobten vorstellen?« Sie erröthete und antwortete dann:
»Sie mögen Recht haben. Steigen Sie einstweilen im Hotel ab; aber versprechen Sie mir auch, daß Sie sich nicht zurückziehen wollen, wenn Vater wünscht, daß Sie bei uns wohnen sollen!« »Das verspreche ich gern, Miß. Ich bin nach Mexiko auch gekommen, um diesen Cortejo kennen zu lernen, und das wird leichter sein, wenn ich bei Ihnen wohne. Vielleicht finden wir hier den Schlüssel zu dem Räthsel, dessen Lösung unsere Aufgabe ist.« Die Diligence brachte zunächst die drei Männer nach dem Hotel, wo sie abstiegen, und führte dann Amy nach dem Palaste ihres Vaters. Dieser hatte keine Ahnung gehabt, daß seine Tochter so schnell zurückkehren werde, und war daher im höchsten Grade erstaunt, sie bei sich eintreten zu sehen. »Amy!« rief er, sich von seinem Arbeitssessel erhebend. »Ist das möglich!« »O, Papa, es ist sogar wirklich,« lachte sie. »Wenigstens hoffe ich, daß Du mich nicht als einen Geist ansiehst.« »Aber Du kannst ja gar nicht in Jamaika gewesen sein!« »Freilich war ich dort. Ich werde Dir dies beweisen, indem ich Dir die Antwort des Gouverneurs überreiche.« Sie zog ihr Portefeuille und legte ihm die Scripturen vor. »Wahrhaftig!« meinte er. »Aber wie ist das zugegangen? »Das hast Du nur den Herren zu verdanken, welche mich begleiteten, Pa.« »Welchen Herren?« »Nun, vor allen Dingen Herrn Sternau.« »Herrn Sternau?« fragte er, abermals verwundert. »Ja, Herrn Doctor Sternau.« »Alle Tausend! Du meinst doch nicht etwa jenen famosen Doctor Sternau, von dem Du mir erzählt hast, und den Du in Rodriganda trafst?« »Gerade den meine ich!«
»Der hat Dich nach Mexiko gebracht?« »Erst nach Jamaika und dann zurück nach Mexiko. Er ist in Begleitung zweier Herren hier. Ich werde Dir das erklären, nachdem Du die Antworten des Gouverneurs gelesen hast. Bis dahin habe ich Zeit gefunden, meine Reisetoilette abzulegen.« Erst jetzt fanden Vater und Tochter Zeit, sich durch eine herzliche Umarmung zu begrüßen; dann verließ sie ihn, um sich von den Spuren der Reise zu befreien. Nach einer Stunde befand sie sich abermals bei ihm. Sie saß an seiner Seite und erzählte, wahr und aufrichtig, wie es einer Tochter geziemt. Er hörte ihr mit sehr ernster Miene zu. Das, was er hörte, klang ja noch abenteuerlicher als ein Roman; es machte ihm schwere Sorgen. Amy war seine einzige Tochter; er hatte weitgehende Pläne mit ihr gehabt, und nun theilte sie ihm auf einmal mit, daß sie – – einen spanischen Räuber liebe. Als sie geendigt hatte, wartete sie vergebens auf eine Antwort. Er erhob sich und schritt wortlos im Zimmer auf und ab. Endlich aber blieb er vor ihr stehen und sagte mit mildernster Stimme: »Amy, mein Kind, ich habe immer nur Freude an Dir erlebt, heute aber ist es das erste Mal, daß Du mich betrübst.« Da sprang sie empor und schlug die Arme um seinen Hals. »Verzeihe mir! Ich will Dich nicht betrüben,« sagte sie, »aber Gott hat diese Liebe in mein Herz gelegt, und nun kann ich nicht anders.« Er schob sie leise von sich ab und fragte: »Und Du glaubst an Alles das, was Du mir jetzt von diesem Mariano erzählt hast?« »Ja; ich glaube es sicher und fest.« »Und Du liebst wirklich diesen – – diesen Zögling eines Räuberhauptmannes?« »Ich liebe ihn,« sagte sie, indem sie den Vater offen anblickte; »ich liebe ihn so, daß ich ohne ihn nie glücklich werden kann!«
»Und an mich, an Deinen Vater denkst Du nicht?« fragte er, beinahe traurig. »Doch, Pa, ich denke auch an Dich.« »Und dennoch sprichst Du von dieser abenteuerlichen Liebe!« Da trat sie einen Schritt auf ihn zu und fragte: »Vater, Du gönnst es mir glücklich zu sein?« »Gewiß! Und eben weil ich wünsche, daß Du glücklich seist, thut es mir so wehe, Dein Herz in diesen Fesseln zu wissen.« »Prüfe Mariano, Pa, prüfe ihn! Und wenn Du dann noch sagst, daß er meiner unwürdig sei, so werde ich Dir gehorchen und ihn nie wiedersehen.« Es lag ein großes Kindesvertrauen in diesen Worten; der Lord wußte das, und daher klärten sich seine Züge auf. »Ich danke Dir für dieses Wort, Amy!« sagte er. »Du sollst Dich in Deinem Vater nicht täuschen. Gehe jetzt, und ruhe von Deiner Reise aus; ich werde unterdessen nachdenken, was ich thun kann, um Dich glücklich zu sehen.« Er küßte sie mit väterlicher Zärtlichkeit, und dann wandte er sich seiner Arbeit zu, aber nur scheinbar. Als sie ihn verlassen hatte, erhob er sich wieder von seinem Sessel und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. »Es giebt nur Einen, an den ich mich in dieser schlimmen Angelegenheit wenden kann,« sagte er zu sich selbst. »Das ist kein Anderer, als jener Sternau, der ein wahrer Held an Geist und Körper zu sein scheint. Ich kenne ihn zwar persönlich nicht, aber was ich von ihm gehört habe, das ist genug, um ihm mein volles Vertrauen zu schenken.« Er klingelte seinem Diener und ließ sich zum Ausgehen ankleiden. Heute aber machte er von seiner Equipage keinen Gebrauch. Zwar ist es in Mexiko fast eine Schande, sich als Fußgänger auf der Straße sehen zu lassen, aber der Lord zog es dennoch vor, nach dem
Hotel zu gehen, welches ihm als Absteigequartier der drei Herren von seiner Tochter bezeichnet worden war. Als er dort angekommen war, erkundigte er sich bei dem Wirthe nach Sennor Sternau. »Er ist in seinem Zimmer,« lautete die Antwort. »Wollen Sie ihn sprechen?« »Ja.« »Wen soll ich melden?« »Einen Herrn, der ihn unter vier Augen zu sprechen verlangt.« Sternau wunderte sich allerdings, als er so kurze Zeit nach seiner Ankunft hörte, daß ihn bereits ein Fremder zu sprechen wünsche, noch dazu unter vier Augen; doch gewährte er sofort diese Bitte. Als der Lord eintrat und nun die beiden sich gegenüber standen, maßen sie sich zunächst mit forschenden Blicken. Sternau erkannte sofort, daß er keinen gewöhnlichen Mann vor sich habe, und das Auge des Lord’s wiederum hing mit sichtbarem Wohlgefallen an der Riesengestalt und dem offenen Angesichte des Deutschen. »Sie haben mich zu sprechen verlangt?« sagte der Letztere im wohlklingenden Spanisch. »Allerdings,« antwortete der Erstere. »Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn wir uns der deutschen Sprache bedienen?« »Ah, Sie sind ein Deutscher?« »Nein, ein Engländer. Mein Name ist Lindsay.« Sternau machte eine Geberde der Ueberraschung. »Lindsay, Sir? Sie sind vielleicht gar Lord Lindsay, der Vater von – –?« »Allerdings bin ich der, mein Herr.« »Dann bitte ich dringend, Platz zu nehmen, Sir! Ich konnte allerdings nicht ahnen, daß ich einen so unerwarteten Besuch bei mir sehen würde.« »Unerwartet ist dieser Besuch,« sagte Lindsay, indem er sich setzte. »Aber Sie werden dennoch den Grund desselben ahnen.«
»Vielleicht,« antwortete Sternau mit einer ernsten Neigung seines Hauptes. »Lassen Sie sich zunächst Dank sagen, Herr Doctor, für die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, welche Sie meiner Tochter erwiesen haben!« »O bitte! Ich that nichts Anderes, als was jeder gebildete Mann thun würde!« »Und sodann erlauben Sie mir, mich in einer etwas schwierigen Sache mit Ihnen zu unterreden!« Sternau hielt es für seine Pflicht, dem Lord entgegen zu kommen. »Sie meinen den Freund, welcher bei mir ist?« fragte er. »Ja. Ich meine das Verhältniß dieses Herrn zu meiner Tochter.« »So hat Miß Amy Ihnen sofort erzählt – –?« »Sofort! Ich konnte das auch gar nicht anders von ihr erwarten. Sie ist gewöhnt, ihrem Vater zu vertrauen. Sie kennen diesen Freund genau, Herr Sternau?« »Ja.« »Und auch seine Verhältnisse?« »Ja.« »So sind Ihnen diese Verhältnisse also kein Räthsel?« »Nein.« »Aber Amy sagte doch, daß er sich unter Umständen befinde, welche eine geradezu abenteuerliche Entwickelung erwarten lassen.« »Wollen Sie mich nicht falsch verstehen, Sir!« bat Sternau. »Sie fragten mich, ob ich die Verhältnisse meines Freundes kenne, und ich bejahete diese Frage, weil ich die Verhältnisse meinte, in denen er sich gegenwärtig befindet. Er ist – um kurz zu sein – ein entsprungener Räuberzögling, der auf Gottes weiter Welt nichts, gar nichts sein Eigen nennt. Das sind die Verhältnisse, welche ich meine.«
Der Lord sah den Sprecher fragend und ungewiß an. Dann sagte er: »Aber dieser Zögling der Räuber hat wohl eine Zukunft?« »Höchst wahrscheinlich.« »Und welche?« Sternau zuckte die Achseln. Er kannte den Lord nicht; er wußte nicht, mit welchem Hintergedanken derselbe gekommen sei, und verhielt sich daher zurückhaltend. »Sie sind sehr reservirt, Herr Sternau,« sagte Lindsay. »Lassen Sie sich sagen, daß ich nichts so sehnlich wünsche, als daß mein Kind glücklich sei. Sie werden aber einsehen, daß ein vorsichtiger Vater keineswegs das Glück seines Kindes in einer Verbindung mit einem Manne gesichert sieht, von welchem er nichts Anderes weiß, als daß dieser ein Räuber war.« »O bitte, Mariano war nicht Räuber, Sir!« »Gut, ich will das zugeben. Sie werden jedoch meinen Wunsch begreifen, etwas Näheres über diesen Mariano zu erfahren. Und da Sie mir als ein Ehrenmann geschildert worden sind, so hielt ich es für das Einfachste, Sie um eine kleine Aufrichtigkeit zu bitten. Wird diese Bitte eine Fehlbitte sein?« Diese Worte waren in einem so offenen und herzlichen Tone gesprochen, daß Sternau sich besiegt fühlte. Er antwortete: »Mylord, was ich weiß, das sollen Sie erfahren. Fragen Sie!« »Man vermuthet, daß Mariano das geraubte Kind des Grafen Emanuel de Rodriganda sei?« »Ja.« »Und was halten Sie selbst von dieser Vermuthung?« »Ich halte sie für sehr begründet. Ja, ich bin sogar Derjenige, dem diese Vermuthung zuerst gekommen ist.« »Darf ich Sie um die Gründe bitten, welche Sie auf einen ebenso seltsamen wie kühnen Gedanken gebracht haben?«
»Gewiß! Wenn es Ihnen Ihre Zeit erlaubt, werde ich Ihnen meine Erlebnisse Alle erzählen.« »Ich ersuche Sie darum. Zwar hat mir meine Tochter bereits einige Mittheilungen gemacht, doch sind diese noch so lückenhaft, daß ich auf Ihre Mittheilungen förmlich gespannt sein muß.« »So hören Sie!« Sternau erzählte nun auf das Ausführlichste alle seine Erlebnisse und Gedanken, von seiner Ankunft in Spanien an bis auf die gegenwärtige Stunde. Der Lord hörte mit immer wachsender Spannung zu. Sternau’s Worte trugen das Gepräge der nüchternsten Wahrheit, und seine Schlüsse, welche er zog, ruhten auf so sicheren Gründen und Voraussetzungen, daß der Lord sich schließlich ganz überzeugt fühlte. »Aber das ist ja etwas ganz und gar Außerordentliches!« rief er. »Das liest man ja auf diese Weise kaum in einem Roman!« »Ich gebe das zu, Mylord,« sagte Sternau. »Aber Sie werden nicht glauben, daß ich Ihnen Unwahrheiten erzählte!« »Keineswegs!« sagte Lindsay schnell. »Und ebensowenig werden Sie sagen, daß meine Berechnungen in der Luft ruhen!« »Auch das nicht. Ich fühle mich hingegen von der Schärfe Ihrer Schlüsse ganz fortgerissen und überzeugt. Also lassen Sie uns einmal die Summe ziehen: Dem Grafen Emanuel de Rodriganda wurde der einzige noch lebende Sohn geraubt – –« »So ist es.« »Der Raub geschah mit Hilfe von Briganten, die den Knaben in ihre Höhle verbargen. Der eigentliche Räuber aber ist jener Gasparino Cortejo.« »Ich bin vollständig überzeugt davon.« »Aber in welcher Absicht geschah der Raub? Das ist eine hochwichtige Frage!«
»Um einen Sohn dieses Gasparino Cortejo zum Grafen Rodriganda zu machen.« »Und die Mutter dieses Kindes ist jene fromme Schwester Clarissa?« »Ja.« »Gut, so wollen wir weiter summiren: Der Pater Dominikaner kannte das Geheimniß und verrieth es auf Veranlassung jenes Bettlers Petro so ziemlich an den geraubten Knaben. Dieser erhielt dadurch eine Ahnung von seiner Abstammung. Er kam nach Rodriganda und wurde von Cortejo erkannt. In Folge dessen übergab dieser ihn dem Piratenkapitän, der ihn unschädlich machen sollte. Sie retteten ihn und bringen ihn nach Mexiko. Ist es so?« »Vollständig!« »Was aber beabsichtigen Sie mit Ihrer gegenwärtigen Reise nach Mexiko?« »Zunächst will ich sehen, ob jene Maria Hermoyes, welche das untergeschobene Kind nach Mexiko brachte, noch lebt, und ebenso jener Petro Arbellez, welcher zur damaligen Zeit Inspector des Grafen Ferdinando hier war.« »Das werden Sie sehr leicht erfahren!« »Und ferner dürfen Sie nicht vergessen, Mylord, daß ich vermuthe, daß Graf Ferdinando damals gar nicht gestorben ist. Jener Steuermann, welcher im Gefängnisse von Barcelona starb, erzählte von einem Gefangenen, welcher nach Harrar verkauft worden ist.« »Und Sie vermuthen in jenem Gefangenen den Grafen Ferdinando?« »Ja. Diese Vermuthung mag Ihnen außerordentlich kühn erscheinen, aber wenn Sie nachdenken, mit welchen Mitteln Cortejo operirt, so werden Sie keine Unwahrscheinlichkeit darin erblicken. Ich bin fest entschlossen, das Erbbegräbniß der Rodriganda hier
in Mexiko zu öffnen, um zu sehen, ob sich die Leiche im Sarge befindet.« »Ich werde Ihnen behilflich sein, die Erlaubniß der Behörde dazu zu erhalten.« Sternau machte eine geringschätzige, verneinende Handbewegung und sagte: »Ich danke ihnen, Mylord. Ich sehe von aller behördlichen Hilfe ab.« »Aber Sie begeben sich da in eine große Gefahr, Herr Sternau!« »Pah! diese Gefahr fürchte ich nicht. Wenn ich Sie um etwas bitte, so ist es ein Anderes.« »Was?« »Vielleicht ist es Ihnen möglich, mir die Bekanntschaft mit Pablo Cortejo zu erleichtern.« »Das will ich Ihnen sehr gern zu Gefallen thun. Sie wollen ihn kennen lernen?« »Ja; es ist dies durchaus nothwendig.« »Gut! Ich verkehre in Kreisen, in denen auch er zuweilen anwesend ist. Uebrigens bin ich überzeugt, daß er ein Schurke ist. Er wollte mich kürzlich – – – ah, da fällt mir ja gleich ein – – Sie suchten den Aufenthalt des Petro Arbellez?« »Ja; ich sagte dies bereits vorhin.« »Nun, da kann ich Ihnen Auskunft geben. Er ist jetzt der Besitzer der Hazienda del Erina im Norden des Landes. Cortejo wollte mich betrügen. Ich sollte diese Hazienda von ihm kaufen, obgleich sie Eigenthum dieses Arbellez ist.« »So bin ich vielleicht gezwungen, diese Hazienda aufzusuchen.« »Aber, Herr Sternau, warum geben grad Sie sich so große Mühe in dieser Sache?« »Ich bitte, daran zu denken, daß Contezza Rosa de Rodriganda jetzt meine Gattin ist. Mariano ist ihr Bruder, folglich mein Schwager.«
»Weiß er das?« »Nein. Ich habe es vorgezogen, ihm dies noch zu verschweigen. Miß Amy und meinen Begleiter Helmers bat ich, nicht davon zu sprechen. Er soll es erst erfahren, sobald wir vor sicheren atsachen stehen. Auf welche Weise kann man wohl ohne Auffälligkeit erfahren, wo das Erbbegräbniß de Rodriganda sich befindet?« »Das will ich Ihnen besorgen, mein Lieber. Eine Frage meinerseits wird kein Befremden erregen.« »Ich danke Ihnen, Mylord, und bitte, etwas schleunig dabei zu verfahren, denn – – –« Er wurde unterbrochen. Die ür öffnete sich, und Mariano trat herein. Als er einen Fremden erblickte, wollte er wieder zurücktreten, aber Sternau erhob sich schnell und winkte ihm, herbei zu kommen. »Immer treten Sie näher, mein Freund!« sagte er. »Sie stören uns nicht.« Er wandte sich zu dem Lord und erklärte ihm: »Dieser Herr ist mein Freund Mariano.« Und sich zu dem Letzteren wendend, sagte er: »Und hier sehen Sie Lord Lindsay, den Vater der Dame, welche zu begleiten wir die Ehre und das Vergnügen hatten.« Als Mariano den Namen des Vaters seiner Geliebten hörte, erröthete er, aber er kämpfte die ihm aufsteigende Verlegenheit schnell nieder und verbeugte sich mit edlem Anstande vor dem Lord. »Soeben haben wir von Ihnen gesprochen,« sagte dieser mit voller Aufrichtigkeit. »Ich wünschte Sie in Folge dessen zu sehen, und Ihr Erscheinen erspart es mir, mich bei Ihnen melden zu lassen. Sie sind während der Rückreise meiner Tochter ihr ein treuer Beschützer gewesen. Nehmen Sie meinen herzlichen Dank entgegen!« Er reichte dem jungen Manne die Hand. Dieser ergriff sie und sagte:
»O, Mylord, mein Schutz hätte Miß Amy wohl von keiner Gefahr befreien können. Ich bin Patient und als solcher unvermögend, der tapfere Ritter einer Dame zu sein.« Sein müdes Auge hatte sich belebt, und über seine bleichen Züge flog eine leichte Röthe. Man sah es ihm an, welch ein schöner Mann er in den Tagen seiner Kraft und Gesundheit gewesen sein müsse. Hatten die Auseinandersetzungen Sternaus dazu beigetragen, die Bedenken des Lord abzuschwächen, so war es jetzt das leidende Aussehen Mariano’s, welches das Mitgefühl des Engländers erweckte. Er behielt die abgemagerte Hand des Armen in der seinigen und sagte mild und freundlich: »Sie bedürfen sehr dringend der Pflege und Erholung. Werden Sie diese hier im Hotel bei fremden Leuten finden?« »Ich hoffe es, Mylord.« »Ja, Sie hoffen es, aber diese Hoffnung wird eine vergebliche sein. Ein mexikanisches Gasthaus ist kein Aufenthalt für einen Kranken. Ich bitte Sie daher, mit mir für lieb zu nehmen!« Mariano blickte schnell auf. Es leuchtete ein Blitz des Glückes aus seinen Augen. »Mylord,« sagte er, »ich bin ein armer, ausgestoßener Mann; ich darf es nicht wagen, von Ihrer Güte Gebrauch zu machen.« »un Sie das immerhin, mein Freund. Herr Sternau hat mir von Ihren Schicksalen Einiges mitgetheilt, und das veranlaßt mich grad erst recht, ihnen zu beweisen, daß Sie zwar arm, aber doch nicht ausgestoßen sind. Wollen Sie?« Mariano blickte überlegend nach Sternau hin und sagte dann: »Ich möchte mich nicht gern von meinem Freunde trennen, Mylord.« Der Engländer antwortete mit einem Lächeln und sagte dabei: »Was das betrifft, so versteht es sich ja ganz von selbst, daß Herr Sternau mit Ihnen kommt. Auch Herr Helmers, welcher bei Ihnen
ist, wird sich vielleicht bereit finden lassen, das Hotel mit meiner Wohnung zu vertauschen. Nicht?« Diese Frage war an Sternau gerichtet. Dieser trat erfreut zu dem Lord heran, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte mit einem Leuchten seiner treuen Augen: »Mylord, das ist mehr als Gastlichkeit. Gott vergelte es Ihnen! Wir kommen.« »Aber so bald wie möglich, meine Herren! Ich verlasse Sie jetzt, um Ihnen einen Wagen zu senden. Adieu!« Er ging, und der Arzt begleitete ihn bis vor die ür. Als Sternau sein Zimmer wieder betrat, fand er Mariano auf das Sopha gesunken und mit ränen in den Augen. »Was ist Ihnen?« fragte er besorgt. »Nichts, mein Freund,« antwortete der Spanier. »Es sind ränen des Glückes. Ich hatte eine solche Bangigkeit über die Art und Weise, wie er Amy’s Eröffnung aufnehmen werde.« »Nun, Sie sehen, daß er Ihnen wenigstens nicht zürnt, mein Lieber.« »Ja, und das habe ich Ihnen zu verdanken. Ich ahnte ja, daß er zu Ihnen kam, um sich nach mir zu erkundigen. Zürnen Sie mir ob meiner ränen nicht. Ein Kranker giebt sich sowohl dem Schmerze, als auch der Freude leichter hin als ein Gesunder. Und Freude habe ich, nein noch mehr: ich fühle mich entzückt und selig darüber, daß dieser Mann mir nicht zürnt, daß er so lieb und mild zu mir gesprochen hat.« Nach einiger Zeit fuhr eine glänzende Equipage vor, um sie nach dem Palaste des Lords zu bringen. Dieser war einer der prächtigsten Palazzo’s der Stadt und hatte eine Menge der herrlichsten Zimmer. Die drei Gäste erhielten Wohnungen, mit denen der König hätte zufrieden sein können, und die Bedienung war bemüht, jeden ihrer Wünsche auf das Beste und Schnellste zu erfüllen.
Mariano konnte nicht ausreiten, und der brave Helmers war kein bedeutender Pferdebändiger; er hatte während seines Lebens kaum zehn mal auf einem Pferde gesessen. Aber der Deutsche mußte bereits am nächsten Tage mit dem Lord auf die Alameda reiten, und dort erregte er nicht geringes Aufsehen. Der Lord hatte ihm das beste Pferd seines Marstalles anvertraut. Seine hohe, imposante Gestalt zog die Augen Aller auf sich, und als er sich, von so vielen Blicken geradezu dazu aufgefordert, nun auch als Reiter kühn und gewandt zeigte, da lächelte Lindsay sehr zufrieden und sagte zu ihm: »Ich mache Effekt mit Ihnen. Sehen Sie das Fächerspiel der Damen, Herr Sternau?« »Ich habe meine Dame, Mylord,« antwortete Sternau ernst. »O, man nimmt es hier nicht so genau!« »Desto genauer nehme ich es!« »So beabsichtigen Sie nicht, einen dieser Mexikaner eifersüchtig zu machen?« »Ich verzichte darauf!« »Nun, wollen sehen, ob Sie wirklich so hieb- und stichfest sind. Jetzt aber wollen wir die Gelegenheit benutzen. Ich werde Sie einigen dieser eleganten Reiter und Reiterinnen vorstellen.« Dies geschah, und es war den Mexikanern anzusehen, daß sie sich wunderten, daß ein deutscher Arzt eine so noble Tournure besitzen könne. Als die Beiden heimkehrten, brachten sie eine ganze Menge Einladungen mit, und in Zeit von nur einigen Tagen sprachen alle Damen der Haute-volée mit Vorliebe von dem ritterlichen Deutschen, der alle Mexikaner tief in den Schatten stellte. Um diese Zeit war es, als Josefa Cortejo in ihrem Zimmer auf der Hängematte lag. Sie rauchte eine jener Cigaretten, welche die Mexikanerinnen so außerordentlich lieben, und hatte ein Buch in der Hand, in welchem sie aber nicht las. Ihre Eulenaugen ruhten nicht auf den Buchstaben, sondern sie blickte wie abwesend in eine
weite Ferne. Sie dachte an Graf Alfonzo, den Geliebten, der ihr vor seiner Abreise die Ehe versprochen hatte, ohne sie doch zu lieben. Sie dachte ferner der schönen feurigen Spanierinnen und wie leicht es sei, daß er eine finden könne, die im Stande sei, ihn zu fesseln. Da trat ihr Vater ein, mit Falten auf der Stirn, und einen Brief in der Hand. »Hast Du Zeit?« fragte er. »Für Wichtiges immer,« antwortete sie. »Es ist wichtig.« »Für Dich?« »Auch für Dich. Die Post ist angekommen, und unter den übrigen Sachen finde ich einen Brief meines Bruders.« Im Nu sprang Josefa aus der Hängematte und streckte die Hand nach dem Briefe aus. »Gieb her! Wie steht es drüben?« »Hm! Schlecht und gut. Alfonzo ist in Paris und auch in Deutschland gewesen.« »Ah! Was wollte er dort?« »Dieses schlimmen Doktor Sternau wegen. Dieser Mensch ist doch nur unserem Unheile wegen nach Spanien gekommen, er ist unser ärgster Feind und schlimmster Gegner.« Ihre Augen zogen sich verächtlich zusammen. »Pah, ein Doctor! Wer soll ihn fürchten!« sagte sie mit geringschätzigem Tone. »Wir müssen ihn fürchten,« sagte er ernst. »Er hat seit dem ersten Tage seiner Anwesenheit in Rodriganda unsere Pläne durchschaut und durchkreuzt. Er besitzt einen Scharfsinn, der ganz erstaunlich ist, und hat dabei ein Glück, daß man ihn für einen Liebling des Teufels halten könnte.« »Nun, vielleicht ist er es auch, und der Teufel kommt seiner Zeit, um ihn zu holen. Ich dachte vorhin zufällig an ihn.« »Zufällig?«
»Ja. Hast Du nicht von dem Deutschen gehört, der jetzt hier unsere Salons so unsicher macht?« »Ja. Er ist ein Arzt, und Aerzte sind den Frauen ja immer sympathisch.« »Hast Du seinen Namen gehört?« »Nein.« »Er heißt Sternau, Sennor Sternau. Er ist Gast des englischen Gesandten und wurde von diesem den höchsten Aristokraten vorgestellt. Sogar beim Präsidenten war er gestern geladen. Ein Arzt, ein einfacher Arzt. Es ist lächerlich!« »Sternau heißt er? Caramba! Es wird doch nicht etwa derselbe sein!« »So habe ich mich auch gefragt, aber Name und Stand sind jedenfalls nur ein Spiel des Zufalles. Jener famose Karl Sternau, vor dem Du Dich so fürchtest, ist ja gegenwärtig in Deutschland; da kann er füglich doch nicht in Mexiko sein.« Das Gesicht Cortejo’s verfinsterte sich. »Meinst Du?« fragte er. »Wer sagt Dir, daß er jetzt in Deutschland ist?« »Nun, der Oheim schrieb es ja in seinem vorletzten Briefe.« »Allerdings; aber seit jenem Briefe ist eine geraume, eine lange Zeit vergangen.« »Du meinst doch nicht etwa – – –?« fragte sie gedehnt. »Ich meine, daß Du diesen Brief lesen sollst,« antwortete er kurz. Er reichte ihr das Schreiben. Sie nahm es, öffnete und las: »Lieber Bruder! Dieses Mal habe ich Dir Wichtiges mitzutheilen. Wie Du weißt, ist uns Doctor Sternau entgangen; die Briganden halfen ihm, so daß er über die Grenze kam. Ich ließ ihn heimlich verfolgen und erfuhr, daß er nach Paris zu gehen beabsichtige. Natürlich lag mir
daran, ihn unschädlich zu machen und so schickte ich ihm unseren Alfonzo nach. Leider kam Alfonzo zu spät. Sternau war bereits nach Deutschland abgereist. Alfonzo ging ihm nach, erlitt aber während eines Bahnunglücks eine Verletzung, so daß er liegen blieb. Darüber verging eine wichtige Zeit, und unterdessen wurde dieser Sternau mit Rosa – – vermählt. Es geschah das in einer deutschen Ortschaft, welche Rheinswalden heißt. Alfonzo kam zu spät. Die Trauung war vorüber, und Sternau hatte sich bereits auf eine Reise begeben. Wißt Ihr, was er beabsichtigt? Dieser verwegene Mensch will den Kapitän Landola aufsuchen, um ihm jenen Mariano, der sich auf Rodriganda Alfred de Lautreville nannte, abzujagen. Diesem Menschen ist das Aeußerste zuzutrauen, ich hoffe aber, daß seine Pläne zu Schanden werden. Ich habe sogleich an alle Häfen, in denen Landola zu verkehren pflegt, theils telegraphirt, theils auch geschrieben, und da es immerhin eine Möglichkeit ist, daß er seinen Curs auf Mexiko nimmt, so ertheile ich auch Dir Nachricht. Dieser Sternau muß unschädlich gemacht werden, sonst sind wir verloren. Nun zu etwas Besseren und Angenehmeren. Alfonzo steht jetzt an der Spitze des Hauses Rodriganda; er hat die Interessen desselben zu vertreten und auch dafür zu sorgen, daß die Traditionen desselben nicht verlöschen; mit einem Wort: er muß sich vermählen. Ich habe an seiner Stelle Umschau gehalten und es ist mir auch geglückt, sein Auge auf eine Dame zu richten, welche alle Erfordernisse besitzt, den Namen Rodriganda zu noch höheren Ehren zu bringen. Du weißt, daß ich einst Haushofmeister des Herzogs von Olsunna war. Ich habe Dir auch von seinem Verhältnisse zu jener deutschen Gouvernante erzählt, welche ihm dann entfloh. Diese Liaison hat ihn in meine Hand gegeben, so daß ich ihm
vorschreiben kann, was mir beliebt. Er besitzt ein einziges Kind, eine Tochter. Sie ist zwar um ein Weniges älter als Alfonzo, aber sie ist schön, unermeßlich reich und von einem höheren Grade noch als die Rodriganda’s. Alfonzo hat sie gesehen und schwärmt für sie. Ich hoffe, daß es meinem Einflusse auf den Herzog gelingt, diese glanzvolle Verbindung zu Stande zu bringen und werde Dir, sobald ein Resultat erzielt ist, das Weitere mittheilen. Dein Bruder Gasparino Cortejo.« Diese Worte las Josefa. Während der letzten Hälfte des Briefes hatte sie sich entfärbt. Sie war blaß geworden, und als sie jetzt zu Ende war, knirrschte sie wild die Zähne zusammen, ballte das Papier zu einem Knäuel, warf diesen auf den Boden und stampfte mit dem Fuß darauf. »So wie diesem Papiere soll es ihnen gehen, wenn Alfonzo nicht Wort hält!« rief sie voller Wuth. »Ich zertrete, ich zermalme sie!« Sie bildete in ihrem Grimme einen Anblick, der nichts weniger als schön genannt werden konnte. Ihr Vater aber legte beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nur ruhig; noch ist es nicht so weit!« sagte er. Sie warf den Kopf stolz in den Nacken und antwortete: »Ja, noch ist’s nicht so weit, und es soll auch nie so weit kommen! Aber schon, daß sie einen solchen Gedanken hegen können, das ist ein schmählicher Verrath an mir!« »Auch das nicht!« »Wieso? Willst Du sie etwa in Schutz nehmen?« »Den Bruder, ja, nicht aber Alfonzo. Gasparino wird gar nichts davon wissen, daß Alfonzo uns sein Wort gegeben hat; gegen ihn also darf sich Dein Zorn nicht richten.« »Aber desto mehr gegen den Treulosen. Ich gebe ihn nicht los. Er ist mein; er ist mein Eigenthum, und keine Andre soll ihn haben.
Ich will Gräfin von Rodriganda sein und was ich will, das weiß ich auch durchzusetzen, mit allen Mitteln, verstehst Du?« Sie stand wie eine Furie vor dem Vater. Dieser sagte mit möglichster Ruhe: »Ich werde Gasparino schreiben.« »Ja, schreibe ihm, und verlange sofortige Antwort!« »Und wenn er ›Nein‹ sagt?« »So ist er verloren; das schwöre ich Dir!« »Josefa, er ist mein Bruder!« »Eben deshalb soll er desto eher auf unsern Willen eingehen, und desto strafbarer ist er, wenn er es nicht thut. Du weißt, daß ich das Testament in der Hand habe.« »Du wirst es nicht gegen ihn gebrauchen!« Sie stieß eine höhnische Lache auf, trat frech auf den Vater zu und sagte: »Wie kommst Du mir vor? Dein Bruder hat einen Sohn, und Du hast eine Tochter. Wir Alle sind Diebe, Betrüger, ja auch Mörder geworden, um Rodriganda zu erlangen. Soll es sein Sohn allein besitzen; soll Deine Tochter leer ausgehen? Nein; es gehört ihm und mir. Wenn er Graf wird, so werde ich Gräfin; das ist die einzig richtige Lösung der Frage; und davon gehe ich nicht ab.« Cortejo hielt es für gerathen, einzulenken. »Ich gebe Dir ja recht,« sagte er; »nur halte ich es nicht hier am Platze, Dich unnöthig zu ereifern. Wir haben ja genug Veranlassung, zunächst an das Nähere zu denken!« »So? Und was ist denn wohl jetzt das Nähere?« fragte sie erbost. »Ich meine diesen Doktor Sternau.« »Ach so!« sagte sie, nun endlich auch an den ersten eil des Briefes denkend. »Ja, was sagst Du dazu? Also dieser Mensch hatte Deutschland verlassen, um den Kapitän Landola zu finden? Pah, ein Arzt, eine Landratte! Macht Euch nicht lächerlich!«
»Beurtheile die Deutschen nicht falsch. Sie haben harte Köpfe. Sie sind lange Zeit still und geduldig; aber wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt haben, so führen sie ihn auch aus.« »Und Du meinst, daß der Sternau, welcher sich jetzt hier befindet, und jener Sternau eine und dieselbe Person sei?« »Ich halte es für möglich.« »So muß man dies untersuchen!« »Aber wie? Man kann doch nicht bei Lord Lindsay anfragen lassen!« »Nein,« lachte sie. »Laß mich machen! Ich werde dafür sorgen, daß wir eine Einladung bekommen und ihn sehen.« »Ist er Dir beschrieben worden?« »Ja.« »Nun?« »Er ist ganz ungewöhnlich hoch und stark gebaut, ein Riese unter allen Uebrigen.« »Er ist es. Gasparino schrieb uns ja, daß dieser Mensch ein wahrer Goliath sei.« »Das beweist noch nichts. Sie können ja Brüder oder sonstige Verwandte sein. Ich habe übrigens gehört, daß es in diesen nördlichen Gegenden viele Menschen geben solle, die zum Geschlechte der Riesen gerechnet werden könnten. Es bleibt dabei; ich versorge uns eine Einladung, und das Uebrige wird sich finden.« – Sternau war auf ein solches Zusammentreffen gefaßt. Er konnte sich denken, daß er dem Namen nach Pablo Cortejo bekannt sei, er wußte, daß er der Gegenstand der Unterhaltung sei und daß also auch Cortejo von ihm hören werde, und so war das Verlangen des Letzteren, ihn zu sehen, ja vorauszusetzen. So erwartete er bei jedem Besuche, den er machte, Cortejo zu treffen. Er hatte sich erkundigt und erfahren, daß Cortejo als Vertreter des Grafen Rodriganda auch in höheren Kreisen angenommen werde. Sich ausfragen zu lassen, war seine Absicht nicht.
Es war bereits eine Woche seit ihrer Ankunft vergangen, als Lindsay den Arzt zu einem ihrer gewöhnlichen Spazierritte aufforderte. Sie verließen die Stadt und tummelten ihre Pferde draußen zwischen den Höhen herum. Bei der Rückkehr kamen sie an einer Mauer vorüber, wobei der Engländer sagte: »Endlich kann ich Ihnen heute mein Wort halten!« »Wegen des Erbbegräbnisses, Mylord?« »Ja.« Er erhob sich im Sattel und zeigte über die Mauer hinüber. »Sehen Sie da drüben das Mausoleum?« »Das mit den korinthischen Säulen?« »Ja. Es ist das Erbbegräbniß, in welchem Ferdinando Rodriganda begraben liegt.« »Darf man eintreten?« »Warum nicht? Die Pforte des Friedhofes ist bei Tage stets geöffnet.« Sie stiegen von ihren Pferden und traten ein. Da mehrere Besucher vorhanden waren, so thaten sie, als ob ein anderer Zweck sie herbeigeführt habe und näherten sich erst später wie zufällig dem Mausoleum. Der Eingang zu demselben war durch eine Gitterthür verschlossen, doch reichte das Gitter nicht hoch empor. Es ließ oben einen offenen Raum, so daß man übersteigen konnte. »Wissen Sie gewiß, daß dies das Gesuchte ist, Mylord?« fragte Sternau. »Ja; ich habe es mir genau beschreiben lassen.« »So ist es uns nicht schwer gemacht, hier einzudringen. Gehen wir wieder fort!« – »Wann werden Sie es thun?« »Gleich heute Abend. Wollen Sie beiwohnen?« »Ich danke. Ich bin der Vertreter einer Nation und muß sehr vorsichtig sein!« – Am Abende, kurz vor Mitternacht, schritten drei Männer diesem Friedhofe zu. Es war zwei Tage nach Neumond und also nicht
sehr hell. Bei der Mauer angekommen, stiegen sie über dieselbe hinweg. Es waren Sternau, Mariano und Helmers. Mariano hatte sich während der acht Tage so weit erholt, daß er dieses Abenteuer mitmachen konnte. »Bleiben Sie hier stehen!« flüsterte Sternau. »Ich will erst sehen, ob wir sicher sind.« Er suchte den Friedhof sorgfältig ab und kehrte erst dann zu den Gefährten zurück, als er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr der Entdeckung vorhanden sei. »Jetzt kommen Sie hinter mir her, aber leise!« Auf diese seine Worte setzten sie sich in Bewegung. Bei dem Mausoleum angelangt, schwang er sich zuerst über die Gitterpforte, und dann folgten die Anderen. Nun standen sie vor einem starken Zinndeckel, welcher die Oeffnung des Gewölbes bedeckte. »Dieser Deckel muß aufgeschraubt werden!« sagte Sternau. Er hatte sich am Tage Alles genau angesehen und in Folge dessen für drei Schraubenschlüssel gesorgt. Die drei Männer arbeiteten eine Zeit lang leise und unhörbar, dann gab der Deckel nach und ließ sich abnehmen. Eine schmale, eingemauerte Treppe führte hinab. Sie stiegen hinunter, Einer hinter dem Anderen. Sternau war der Vorderste und tastete umher, bis er an einen Sarg stieß. »Hier steht der Sarg,« meldete er. »Helmers, brennen Sie die Blendlaterne an; aber vorsichtig, daß kein Lichtschein in die Höhe dringt!« Helmers folgte dem Gebote, und nun sahen sie bei dem kleinen Strahle der Laterne den Sarg vor sich. Es war der einzige, welcher in dem Gewölbe stand. »Was werden wir sehen?« flüsterte Mariano. »Entweder Nichts oder die Ueberreste Ihres Oheims Ferdinando,« antwortete Sternau. »Mir graust!« »Fürchten Sie sich?«
»Nein,« antwortete Mariano. »Aber bedenken Sie meine Lage! Der geraubte Neffe steht vor dem Sarge seines Onkels!« »So fassen Sie sich. Es ist kein Leichenraub, keine Grabesschändung, welche wir begehen. Wir stehen hier als Vertreter des forschenden Gerichtes und was wir thun, das können wir vor Gott und unserem Gewissen verantworten.« »Es ist ein Eichensarg,« meinte Helmers. »In welchem der eigentliche Zinksarg stehen wird,« fügte Sternau hinzu. »Er ist zugeschraubt. Oeffnen wir!« Sie setzten abermals die Schraubenschlüssel an. Die Schrauben knirrschten in dem Holze; sie gaben nach und wurden herausgezogen. Nun konnte der Deckel abgenommen werden, und es kam wirklich der Zinksarg zum Vorschein. Auch er war mittelst Schrauben verschlossen, welche herausgedreht werden mußten. Als dies geschehen war, blickten sich die drei Männer gespannt an. Sie standen vor der Enthüllung eines Geheimnisses und das erweckte in jedem ein Gefühl, welches erst bemeistert werden mußte. »Nun in Gottes Namen fort mit dem Deckel!« sagte Sternau. Er griff zu und hob die Decke in die Höhe; sie entschlüpfte seiner Hand und fiel wieder nieder. Das gab einen dumpfen, grausigen Ton in dem tiefen Gewölbe, dessen Finsterniß durch das kleine Licht der Laterne nur noch mehr hervorgehoben wurde. – »Es ist als wehre sich der Todte gegen die Störung seiner Ruhe,« flüsterte Mariano. »Er wird uns nicht zürnen, wenn wir uns überzeugen, daß mit ihm kein Frevel getrieben worden ist,« antwortete Sternau. Er faßte den Deckel jetzt mit mehr Vorsicht an, nahm ihn ab und legte ihn bei Seite. Nun leuchtete Helmers in den offenen Sarg – – die drei Männer blickten wie auf ein Kommando empor und sich einander in das Angesicht. »Der Sarg ist leer!« sagte Mariano. »Ganz wie ich es dachte!« bemerkte Sternau.
»Es hat gar kein Todter drin gelegen!« fügte Helmers hinzu. »O doch!« meinte Sternau, indem er Helmers die Laterne abnahm und auf die weißen Atlaskissen leuchtete, welche das Innere des Sarges füllten. »Hier sehen Sie ganz deutlich die Eindrücke, welche der Körper gemacht hat.« »So ist der Onkel also doch gestorben gewesen!« sagte Mariano. »Aber warum hat man seine Leiche entfernt?« »Man hat keine Leiche entfernt, sondern einen Lebenden,« behauptete Sternau. »Die Leiche zu entfernen, hätte keinen Zweck gehabt. Giebt es Gift, um den Wahnsinn hervorzubringen, so giebt es auch Medicamente, einen Menschen scheintodt zu machen.« »So wäre also der Mann, welcher in Vera Cruz eingeschifft und nach Harrar verkauft wurde, wirklich Ferdinando de Rodriganda gewesen?« »Ich bin jetzt überzeugt davon. Verschließen wir die beiden Särge wieder; aber so genau und sorgfältig, daß keine Spur unserer Anwesenheit zu bemerken ist!« Dies geschah, und dann wurde die Laterne wieder ausgelöscht. Die drei Männer stiegen nun empor und schraubten die Zinkdecke wieder fest; darauf schwangen sie sich über das Gitter hinaus und verließen den Friedhof so leise, wie sie gekommen waren. Kein Mensch hatte von ihrem un eine Ahnung. Zu Hause wartete Lord Lindsay in großer Spannung auf das Ergebniß ihrer Nachforschung. Er hatte Sternau und Mariano gesagt, daß sie sofort zu ihm kommen sollten. Als sie ihn aufsuchten und ihm das Resultat berichteten, sagte er entsetzt: »Ich wollte es nicht glauben. Welch’ ein Verbrechen! Man muß Anzeige machen.« »Das würde zu nichts führen.« »Warum nicht?« »Ich habe kein Vertrauen zu der mexikanischen Gerechtigkeit.« »Man wird sie zwingen, ihre Pflicht zu thun!«
»Wer will sie zwingen, Mylord?« fragte Sternau. »Ich!« antwortete Lindsay sehr energisch. »Es würde vergeblich sein.« »Oho! Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen!« »Sie würden nur beweisen können, daß die Leiche fehlt. Wohin sie gekommen ist, ob Der, welcher begraben wurde, todt oder lebendig war, und wer der Urheber des Verbrechens ist, das würde unentdeckt bleiben. Durch eine Anzeige machen wir unsere Feinde ganz unnützer Weise darauf aufmerksam, in welcher Gefahr sie schweben.« »Aber, Herr Sternau, soll ein solcher Betrug unbestraft bleiben?« »Nein. Er wird bestraft werden, aber erst dann, wenn wir den Grafen Ferdinando gefunden haben. Dann werden wir die äter nach dem Friedhofe führen und die Leiche des Vermißten von ihnen fordern lassen; eher nicht.« »So wollen Sie wohl gar nach Harrar?« »Allerdings.« »Wann?« »Wenn wir zuvor auf der Hazienda del Erina gewesen sind. Mit Petro Arbellez müssen wir sprechen, und zunächst hier auch mit Maria Hermoyes.« »Mit dieser können Sie hier nicht sprechen, denn auch sie befindet sich auf der Hazienda del Erina.« »Sie lebt also noch? »Ja.« »Und warum ging sie fort?« »Man weiß es nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben. Weil Sie mir die größte Vorsicht anriethen, haben meine Erkundigungen eine längere Zeit in Anspruch genommen. Eine direkte Anfrage hätte uns gleich am ersten Tage eine Antwort gebracht!« »Das hätte unsere Absicht verrathen können.«
»Ich gebe das zu. Darum gab ich einem meiner Diener den Auftrag, eine Liebschaft im Hause der Rodriganda anzuknüpfen. Es ist ihm dies gelungen. Heute Abend hat er nun zum ersten Male Gelegenheit gehabt, seine Fragen anzubringen, und er brachte mir die Antwort, als Sie bereits nach dem Kirchhofe waren.« »So bin ich begierig, das Nähere zu hören.« »Es ist nicht viel. Die alte Maria Hermoyes hat bei Pablo Cortejo und seiner Tochter nicht gut gestanden, auch beim jungen Grafen Alfonzo nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben und ist vielleicht so unklug gewesen, es sich merken zu lassen. Eines Abends nun sind zwei Indianer in den Stall gekommen, haben den Knecht geknebelt und die besten Pferde weggenommen. Mit diesen Indianern ist Maria Hermoyes nach der Hazienda del Erina entflohen.« »Wunderbar!« »Ja, und eben weil es so sonderbar ist, muß es Verdacht erregen. Der junge Graf Alfonzo ist dann mit Militär nach der Hazienda geritten, aber als Flüchtling wiedergekommen. Das sind Nachrichten, welche mich glauben lassen, daß Sie mit Ihren Vermuthungen recht haben, Herr Sternau.« »Ich ahne irgend ein Unheil,« sagte der Letztere. »Am Besten wäre es wohl, wenn wir baldigst aufbrechen könnten, aber Freund Mariano ist noch zu schwach dazu. Eine Woche Zeit müssen wir ihm gestatten, ehe er stark genug für die Anstrengungen eines solchen Rittes ist.« »Und,« fügte der Lord hinzu, indem er leise lächelte, »eine Woche wenigstens müssen Sie auch Herrn Helmers gestatten, um sich die nöthige Fertigkeit im Reiten anzueignen.« »Es ist nichts kleines als ungeübter Cavalerist an die Grenze der Indianer zu gehen.« Was Mariano betraf, so hatte er den besten Arzt in Amy, und die beste Arznei in dem Glücke, welches er an ihrer Seite genoß. Sie waren fast stündlich zusammen, und Lord Lindsay that, als ob
er dies nicht bemerke. Er glaubte, dies sei das Beste, was er thun könne. Zwei Tage nach der Untersuchung des Grabes war Lord Lindsay nebst Sternau zu einem kleinen Feste geladen, und der Diener des Ersteren hatte von seiner Geliebten erfahren, daß Cortejo mit Sennorita Josefa auch erscheinen werde. Sternau war in Folge dessen auf das Erscheinen der Beiden vorbereitet. Er begab sich zeitig mit dem Lord dahin, um noch vor Cortejo anzukommen. Das Fest fand bei einer reich begüterten Familie statt, und es standen den Geladenen mehrere Räume zur Verfügung, in denen sie sich nach Belieben zerstreuen und ergehen konnten. Nach ihrer Ankunft, als sie der Dame des Hauses ihr Honneur gemacht hatten, trennte sich Sternau von Lindsay und sagte ihm, daß er in der Orangerie zu finden sein werde. Dort wartete er, bis Lindsay erschien und ihn benachrichtigte, daß Cortejo gekommen sei. »Wollen Sie mich vorstellen, Mylord?« fragte er. »Wünschen Sie es?« »Ja, sehr.« »So kommen Sie!« Sie kehrten nach den vordern Gemächern zurück und sahen Cortejo nebst seiner Tochter bei einer Gruppe von soeben angekommenen Gästen stehen. »Der lange, hagere Sennor ist Cortejo,« bemerkte der Lord. »Ah, er sieht seinem Bruder außerordentlich ähnlich,« sagte Sternau. »Und die Sennora zu seiner Rechten ist seine Tochter.« »Die mit dem Uhugesichte?« »Ja.« »So halte ich die Tochter für schlimmer als den Vater selbst.« »Sie sind ein großer Physiognom? Aber kommen Sie! Wir werden sie überraschen, denn sie stehen mit dem Rücken jetzt gegen uns.«
Sie schritten auf die Gruppe zu, der Lord schnell, Sternau etwas langsamer. »Ah, Mylord,« sagte Cortejo, als er den Ersteren bemerkte, »welche Freude, Sie hier zu sehen! Haben Sie sich meinen Antrag überlegt?« »Welchen?« »Wegen der Hazienda del Erina?« Lindsay’s Brauen zogen sich zusammen. »Ich liebe es nicht, in Gesellschaften Geschäfte zu besprechen,« sagte er. »Uebrigens muß ich zuvor wissen, ob die Hazienda wirklich Eigenthum des Grafen Rodriganda ist.« »Natürlich ist sie es!« »Und Sie haben den Auftrag, sie zu verkaufen?« »Ja.« »Aber man sagt ja, der Besitzer sei Petro Arbellez, welchem die Hazienda nach dem Tode des Grafen Ferdinando zufallen mußte.« »Das ist eine Unwahrheit, Mylord, ein leeres Gerede.« »Nun, das wird sich finden; ich werde die Wahrheit ja bald erfahren.« »Durch wen?« »Durch einen Freund von mir, welcher sich nächstens nach der Hazienda begeben wird. Ich mache mir das Vergnügen, Sie ihm vorzustellen.« Er deutete mit der Hand nach rückwärts, wo Sternau stand, und sofort drehte sich Cortejo und ebenso auch seine Tochter nach demselben um. Der Erstere trat schnell zwei Schritt zurück; ein starres Erstaunen breitete sich über seine Züge. »Der Herzog von Olsunna!« rief er. Alle in der Nähe Stehenden blickten ihn höchst überrascht an. »Ach, nein, das ist ja gar nicht möglich!« fügte er hinzu, sich besinnend. »Aber welch eine ganz außerordentliche Aehnlichkeit.«
»Sie irren sich allerdings,« lächelte der Lord. »Dieser Sennor ist mein Freund, Doktor Sternau.« »Doktor Sternau?« fragte Cortejo, indem er sein Auge scharf und spitz über das Gesicht und die Gestalt des Deutschen gleiten ließ, dann aber nahm seine Miene den Ausdruck der Gefälligkeit an, und er sagte: »Es ist eine Ehre für mich, Sennor Sternau, Sie kennen zu lernen. Sie sind, wie man mir bereits sagte, ein Deutscher?« »Ja.« »Ich liebe die Deutschen. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meine Tochter Josefa vorstelle!« Sternau wechselte mit der Dame eine Verbeugung und wurde dann von ihnen in die Mitte genommen und nach einer Bank geführt, welche sich rund um das Zimmer zog. Dies geschah so auffällig, daß Sternau sogleich ahnte, daß ein Verhör beginnen werde. Er hatte sich nicht geirrt, denn kaum hatte er sich zwischen den Beiden auf die Bank niedergelassen, so begann Cortejo: »Ich höre, daß Sie nach der Hazienda del Erina wollen, Sennor Sternau?« »Vielleicht.« Sternau antwortete mit diesem Worte. Es war ihm außerordentlich unlieb, daß der Lord diese seine Absicht verrathen hatte. »Darf ich fragen, in welcher Absicht?« »Ich will Mexiko und seine Bewohner kennen lernen. Daher werde ich auch den Norden des Landes bereisen. Als dies der Lord erfuhr, bat er mich, mir die Besitzung del Erina einmal anzusehen, da er die Absicht habe, sie anzukaufen.« »Ach so!« meinte Cortejo befriedigt. »Ich habe in del Erina einen renitenten Pächter, welcher behauptet, die Hazienda sei sein Eigenthum. Lächerlich! Wie es scheint, reisen Sie viel?« »Allerdings.«
»Dann sind Sie glücklich!« sagte Josefa mit liebenswürdig sein sollender Miene. »Ein Mann, welcher vollständig Herr seiner Zeit ist, ist glücklich zu preisen. Welche Länder haben Sie bereits besucht, Sennor Sternau?« »Amerika, Afrika und ein Wenig von Asien.« »Und Europa?« »Da bin ich geboren!« lächelte er. »Ja, richtig; das nennt so ein Weltläufer nicht eine Reise. Kennen Sie Frankreich?« »Ja.« »Vielleicht auch Spanien?« »Ich war auch da.« Sie tauschte mit ihrem Vater einen schnellen Blick des Einverständnisses und fragte weiter: »Spanien ist unser Mutterland, für welches wir uns natürlich am Meisten interessiren. Darf ich erfahren, welche Provinz oder Städte Sie kennen?« Er nahm seine gleichgiltigste Miene an und antwortete: »Ich war leider nur kurze Zeit in diesem schönen Lande. Ich bekam als Arzt einen Ruf zu einem Grafen Rodriganda, um ihn von einem Uebel zu befreien.« »Rodriganda? Ach, wissen Sie, daß dieser Graf auch hier Besitzungen hat?« »Ja.« »Und wissen Sie, daß mein Vater Verwalter dieser Besitzungen ist?« Sternau heuchelte ein sehr erstauntes Gesicht. »Ach, ist das möglich, Sennor Cortejo!« Und dann setzte er, wie sich besinnend, hinzu: »Es giebt auch in Rodriganda einen Sennor Cortejo. Sie sind vielleicht verwandt mit ihm?« »Er ist mein Bruder,« meinte Cortejo.
»Das freut mich sehr, Sennor, denn ich bin mit Sennor Gasparino sehr oft zusammengetroffen.« »Er ist nicht sehr umgänglich,« forschte Cortejo. »Das habe ich nicht gemerkt. Wir haben uns im Gegentheile sehr gut kennen gelernt.« Josefa biß sich erzürnt auf die Lippe, denn sie verstand den Doppelsinn dieser Worte nur zu gut; dennoch sagte sie in ihrem freundlichsten Tone: »Wollte Gott, Sie hätten unsern guten Grafen Emanuel retten können, Sennor!« »Ja, ich gäbe Vieles, sehr Vieles darum, Sennorita.« »Woran starb er? Ich glaube an einem unglücklichen Falle?« »Ja, dieser Fall war allerdings ein sehr unglückseliger.« Auch hier lag ein Doppelsinn vor, den die Beiden gar wohl verstanden. »So haben Sie doch auch Gräfin Rosa kennen gelernt?« forschte sie eifrig weiter. »Gewiß. Sie ist jetzt meine Frau.« Sternau war überzeugt, daß ihnen das bereits bekannt sei; sie gaben sich den Anschein der allerhöchsten Ueberraschung. »Was Sie sagen, Sennor!« rief Cortejo. »Ist das denn möglich?« fragte Josefa. »O, der Liebe ist Alles möglich, Sennorita,« lächelte Sternau. »Man mag in Spanien allerdings etwas strenger auf die Abgeschlossenheit des Standes halten als in meinem Vaterlande. Wir aber sind in Letzterem vermählt worden.« »So hat Contezza Rosa ihr Vaterland verlassen?« »Ja.« »Und Graf Alfonzo gab dies zu?« »Er hat es nicht gehindert,« antwortete Sternau in gleichgiltiger Weise. »Sie kennen Graf Alfonzo auch?«
»Natürlich! Er war ja seit seiner frühesten Jugend hier bei uns in Mexiko!« »Ja, wirklich; ich dachte nicht daran.« »Es wurde uns geschrieben, daß Contezza Rosa gefährlich erkrankt sei!« »Sie ist vollständig geheilt, Sennorita. Aber entschuldigen Sie! Dort winkt mir Lord Lindsay. Er wird gewiß die Absicht haben, mich Jemand vorzustellen.« Er erhob sich, um sich zu entfernen, und die Beiden erhoben sich folglich mit. »Das ist ein wunderbarer und sehr lieber Zufall,« sagte Cortejo, »einen Sennor hier zu treffen, welcher Rodriganda kennt. Würden Sie uns gestatten, Sie einmal bei uns zu sehen?« »Ich stehe mit Vergnügen zu Gebote.« »Oder Sie einmal bei Lord Lindsay zu besuchen?« fügte Josefa bei. »Ich bin glücklicher Weise mit Miß Amy sehr eng befreundet.« »Es soll mir ein Vergnügen sein, Sie bei mir zu sehen!« Er verbeugte sich und entfernte sich. Die Beiden warteten, bis er ihren Augen entschwunden war, und dann sagte Josefa: »Caracho, er war es!« »Ja, er war es!« murmelte auch ihr Vater. »Hast Du ihn genau betrachtet?« »Sehr genau.« »Nun?« »Er ist ein Gegner, den man nicht unterschätzen darf.« Sie blickte ihren Vater fast verächtlich von der Seite an und antwortete: »Den man nicht unterschätzen darf? Du sprichst eigenthümlich. Ich sage Dir, das ist ein Gegner, der hundert Männern gewachsen ist, ob aber einem Weibe, das soll und wird sich zeigen. Diese Gestalt, diese Stirn, dieses Auge! Jetzt begreife ich Rosa, daß sie ihn liebt! Wie ruhig er sprach! Und doch kennt er uns, doch weiß er
Alles, doch ist er in irgend einer feindseligen Absicht nach Mexiko gekommen. Er muß untergehen; er thut mir leid, aber es geht nicht anders. Er ist ein Feind, für den man schwärmen könnte!« »Du schwärmst ja bereits! Wie konntest Du sagen, daß wir ihn besuchen wollen!« »Glaubst Du wirklich, daß er zu uns kommt? Wenn wir ihn ausforschen wollen, so müssen wir zu ihm.« »Er wird zu uns kommen. Er sieht ganz aus wie ein Mann, dem es ein Kleines ist, in die Höhle des Löwen zu gehen. Wenn ich nur wüßte, was er in Mexiko will!« »Wir werden es erfahren, denn wir werden ihn bereits morgen besuchen.« »Bist Du toll? Nachdem diese Engländerin Dich in dieser Weise abgefertigt hat?« »Daran denke ich nicht, wenn es sich um eine solche Wichtigkeit handelt.« »Ich begleite Dich nicht!« »So gehe ich allein!« sagte sie trotzig. »Ich glaube fast, daß Du dies thun würdest!« »Ich thue es sicher. Aber ich weiß, daß Du mitgehst. Wir müssen ihn aushorchen; wir müssen Alles erfahren, Alles, um zu wissen, mit welcher Waffe er anzugreifen ist.« Während diese Beiden von Sternau sprachen, wurde dieser von dem Lord gefragt: »Nun, wie finden Sie das Paar?« »Habicht und Eule, nur daß hier die Eule mehr Courage und Energie besitzt als der Habicht.« »Sie halten also Beide dessen fähig, wessen wir sie beschuldigen?« »Ganz gewiß. Diese Gebrüder Cortejo sind einander vollständig ebenbürtig. Aber Mylord, verderben wir uns diesen Abend nicht
mit dem Gespräche über solche Menschen. Es ist genug, daß man sie sieht.« »Wurden Sie nicht eingeladen?« »Ja.« »Und werden Sie gehen?« »Jedenfalls, wenn sie nicht etwa vorher mich aufsuchen.« »Sie sind des Teufels! Haben sie etwa davon ein Wort fallen lassen?« »Die Dame sprach davon. Sie behauptete, mit Miß Amy sehr befreundet zu sein.« Der Lord zuckte die Achseln und wandte sich ab. Sternau gab sich während des ganzen Abends Mühe, nicht mehr in die Nähe der Beiden zu kommen, und noch während der Nacht träumte es ihm von Eulen und Ungeziefer mit denen er zu ringen hatte. Bereits am andern Vormittage öffnete der Diener die ür und meldete Sennor und Sennorita Cortejo. Sternau wollte seinen Ohren nicht trauen, mußte ihnen aber endlich doch Glauben schenken, als seine Augen ihm die Wahrheit des Gehörten bestätigten: Cortejo trat mit seiner Tochter ein. »Verzeihen Sie, Sennor Sternau,« sagte er, »daß wir Sie so bald aufsuchen. Josefa hat so große Sehnsucht, Etwas aus ihrer Heimath zu hören. Wir haben sehr lange Zeit keine Nachricht von dort erhalten, und so machen wir von Ihrer freundlichen Erlaubniß Gebrauch.« Sternau bemeisterte seinen Aerger und bewillkommnete sie mit möglichster Höflichkeit. Das Examen, welches er zu erwarten hatte, begann sofort, nachdem sie Platz genommen hatten. »Sie sind in Vera Cruz gelandet?« fragte Cortejo. »Ja, Sennor.« »Mit welcher Gelegenheit?« »Per Dampf,« antwortete Sternau kurz. »Ich nehme an, daß Sie an Lord Lindsay empfohlen waren?«
»Ich lernte Miß Amy in Rodriganda kennen.« »Ah,« sagte Josefa überrascht, »sie ist eine Freundin von Contezza Rosa gewesen.« »Gewiß.« »War das Leben in Rodriganda ein gesellschaftlich bewegtes, Sennor Sternau?« »Ich habe das stricte Gegentheil gefunden.« »Das glaube ich nicht. Sie sagen, Miß Amy sei zugegen gewesen, und in einem Briefe an uns wurde ein französischer Offizier erwähnt. Ich glaube aus diesem Grunde, daß man nicht einsam gelebt habe.« Sternau merkte sehr wohl, daß er jetzt über Mariano ausgefragt werden solle. »Ja, es war fast einsam,« sagte er kalt. »Aber diesen Offizier lernten Sie auch kennen?« »Ja.« »Können Sie sich seines Namens erinnern?« »Er nannte sich Alfred de Lautreville.« »Und war er lange in Rodriganda?« »Einige Tage.« »Dann kehrte er nach Frankreich zurück?« »Hm! Er reiste ab, ohne uns das Ziel zu nennen, Sennorita.« Sie sah, daß Sternau so nicht zu fassen war. Er sagte ihr zwar keine direkte Unwahrheit, aber er gab ihr auch die gewünschte Auskunft nicht. Sie stand eben im Begriff, eine neue Frage zu formuliren, als Helmers eintrat. Dies war Sternau sehr lieb. Er konnte sich auf kurze Zeit entfernen, da Helmers als Seemann genug Spanisch gelernt hatte, um sich leidlich verständlich machen zu können. Er stellte den Seemann vor und entfernte sich dann unter einem schnell gesuchten Vorwande. Er eilte zu dem Lord, bei welchem er Amy und Mariano fand.
»Was bringen Sie?« fragte der Erstere. »Sie treten ja in einer ganz bedeutenden Eile ein.« »Ich bringe Ihnen die Bestätigung meiner gestrigen Muthmaßung: Cortejo ist da.« »Unmöglich! Bei Ihnen?« »Ja, er und seine Tochter!« Der Lord schüttelte den Kopf und sagte dann lachend: »Und Sie haben Beide sitzen lassen?« »Nein; Helmers ist bei ihnen. Ich komme nur, um Ihnen eine Bitte vorzutragen.« »Sprechen Sie!« »Laden Sie die Beiden zum Frühstücke ein.« Der Lord machte ein sehr erstauntes Gesicht. »Die beiden Cortejo’s?« fragte er. »Ich nehme an, daß Sie im Scherze sprechen.« »O, nein, ich spreche im vollsten Ernste. Zwar sehe ich, daß auch Miß Amy sich über meine Bitte wundert, aber ich ersuche dennoch um die Erlaubniß, sie aufrecht zu erhalten.« »Aber, beim Teufel, aus welchem Grunde denn?« fragte Lindsay. »Dieses Geschmeiß ist mir so verhaßt und widerwärtig, daß ich es gar nicht sehen mag!« »Ich muß wissen, welchen Eindruck der Anblick unseres Mariano auf sie macht.« »Ah, so, das ist etwas Anderes! Aber so nehmen Sie ihn doch mit herüber zu ihnen!« »Nein, Mylord. Sie und Miß Amy sollen ja Zeugen dieses Eindruckes sein!« Der Lord nickte leise vor sich hin, und da er jetzt auch auf dem Angesicht seiner Tochter die Bestätigung von Sternau’s Bitte las, so sagte er: »Gut, das kann von Werth für uns sein. Sie mögen also zum Frühstücke kommen.«
»Aber ich kann sie nicht einladen, Mylord!« meinte Sternau. »Hm, auch das noch! Nun wohl, gehen Sie in Gottes Namen; ich werde das besorgen.« Sternau kehrte in sein Zimmer zurück, wo er jetzt von unbequemen Fragen verschont blieb, da die Anwesenheit des Seemannes dem Gespräche eine allgemeine Richtung gab. Nach einiger Zeit trat der Lord ein. Er gab sich den Anschein, als ob er geglaubt habe, Sternau allein zu treffen, und von der Anwesenheit der Beiden gar nicht unterrichtet sei. Er begrüßte sie mit vornehmer Freundlichkeit, blieb einige Zeit und lud sie dann ein, am Frühstück mit eil zu nehmen. Sie nahmen es an. Nach kurzer Zeit versammelte man sich im Speisesalon. Es waren Alle da, und nur Mariano’s Stuhl war unbesetzt; dennoch aber wurde begonnen, und ein lebhaftes Gespräch würzte die reichlich aufgetragenen mexikanischen Delikatessen. Da, nach einer ziemlichen Weile erst, trat Mariano ein. Man hatte Cortejo und seine Tochter so placirt, daß sie ihn jetzt nicht sofort sehen konnten. Er trat näher und stand dann bei seinem leeren Stuhle, welcher sich neben dem Sitze Cortejo’s befand. Jetzt erst merkte der Letztere, daß ein neuer Gast eingetreten sei und blickte auf. Kaum aber hatte er in das Gesicht Mariano’s gesehen, so fuhr er erschrocken von seinem Stuhle empor. »Graf Emanuel!« rief er. Sein Gesicht war bleich geworden, und seine Augen standen weit geöffnet. Auch seine Tochter hatte sich erhoben und starrte Mariano an. Es befand sich im Palaste der Rodriganda ein Bild aus des Grafen Emanuel Jugendzeit, und diesem Bilde glich der junge Mann so genau, daß auch Josefa erschrak. »Sie irren,« sagte Sternau. »Dieser Herr ist nicht Graf Emanuel de Rodriganda, sondern der Lieutenant Alfred de Lautreville, nach welchem Sie mich gestern fragten.«
»Sie scheinen überhaupt ältere Personen mit jüngeren gern zu verwechseln,« bemerkte der Lord. »Gestern hielten Sie Herrn Sternau für den Herzog von Olsunna und heut den Lieutenant für einen Grafen Rodriganda. Das ist merkwürdig!« Jetzt endlich hatten sich die Beiden wieder gefaßt. »Verzeihung!« sagte Cortejo. »Es liegt hier allerdings eine kleine Aehnlichkeit vor, welche mich irre führte und nicht daran denken ließ, daß die Jahre vergehen.« »Und mich hast Du förmlich erschreckt!« entschuldigte sich Josefa. »Sie sagen es liege eine Aehnlichkeit vor, zwischen dem Lieutenant und dem Grafen Emanuel?« fragte Lindsay. »Allerdings, Mylord.« »So gab es wohl auch wirklich eine Aehnlichkeit zwischen Sennor Sternau und dem Herzoge von Olsunna?« »Sogar eine frappante.« »Haben Sie den Herzog gekannt?« »Sehr genau. Mein Bruder war Haushofmeister bei ihm. Darf ich vielleicht Sennor Sternau fragen, wo er geboren ist?« »In Mainz,« antwortete der Gefragte. »Wunderbar! Eine solche Aehnlichkeit zwischen Angehörigen ganz verschiedener Nationalitäten! Es ist der reine Zufall. Ihr Vater war gewiß auch Arzt, wie Sie?« »Nein. Er starb als Professor und war früher in Spanien Erzieher gewesen.« Der Frager warf seiner Tochter einen Blick zu, den nur sie verstand, und dann bewegte sich das Gespräch wieder in einem gewöhnlicheren Geleise. Während des weiteren Verlaufes ruhten die Augen Josefa’s fortwährend auf Mariano und Amy. Das scharfsinnige Mädchen bemerkte die Herzensverwandtschaft, welche zwischen diesen
Beiden stattfand, und ein nie geahntes Gefühl zog ihr das Herz zusammen. Wie oft hatte sie vor dem Bilde des Grafen Emanuel gestanden. Sie hatte es als einen Inbegriff männlicher Schönheit zu betrachten gelernt; ihre Phantasie hatte sich mit demselben beschäftigt; sie hatte von diesen Zügen geträumt, und es sich als das größte Glück vorgestellt, von einem solchen Manne geliebt zu sein. Und nun saß das Ebenbild dieses Gemäldes ihr gegenüber. Das waren ganz genau dieselben Züge. Sie hätte auauchzen können vor Wonne, ihr Traumbild verkörpert zu sehen. Sie fühlte in diesem Augenblicke, daß Graf Alfonzo ihr vollständig gleichgiltig sei; sie erkannte, daß es eine Liebe giebt, die in einem einzigen Augenblicke kommt und siegt. Sie verschlang die Züge Mariano’s förmlich, und konnte sich nur gezwungen von diesem Anblicke trennen, als das Frühstück beendet war. Sie fuhr mit ihrem Vater nach Hause. Dort angekommen, sagte er: »Weißt Du nun, woran Du bist?« »Nun?« sagte sie wie abwesend. »Dieser Lieutenant ist der ächte Graf Alfonzo.« Sie nickte schweigend. »Sternau hat ihn befreit.« »Wahrscheinlich!« »Aber wie und wo? Was ist aus Landola und seinem Schiffe geworden?« Er bemerkte in seinem Eifer das eigenthümliche Verhalten seiner Tochter gar nicht und fuhr höchst zornig fort: »Und wie habe ich mich blamirt! Erst gestern Abend, und dann heut. So eine zweimalige Verwechselung! Aber die Aehnlichkeit war zu groß. Und, Josefa, weißt Du, wer jener Sternau ist?« »Ein ganz und gar ungewöhnlicher und bedeutender Mensch!«
»Das mag sein, aber ich meine etwas Anderes. Erinnerst Du Dich, was Gasparino vom Herzoge von Olsunna schrieb?« »Meinst Du die Liaison mit der Gouvernante?« »Ja. Nun, diese Gouvernante ging mit einem deutschen Erzieher in ihr Vaterland zurück, und dieser Erzieher – Caramba, es fiel mir vorhin wie Schuppen von den Augen – dieser Erzieher hieß Sternau. Ich hörte den Namen von meinem Bruder.« Seine Tochter sah ihn fragend an und sagte: »Nun, was weiter?« »Was weiter?« rief er ganz ereifert. »Was ist’s denn mit Dir, Mädchen? Hast Du denn Deine Gedanken verloren, he? Was weiter? Dieser Sternau ist der Sohn, und noch dazu der einzige Sohn des Herzogs von Olsunna!« Jetzt erst wurde sie aufmerksam. »Du phantasirst wohl?« fragte sie. »Das fällt mir gar nicht ein. Ich muß auch einen Brief von Gasparino da haben, in welchem er auf jenes Abenteuer zurückkommt. Ich werde ihn sogleich suchen.« Er eilte fort. Sie aber warf sich in die Hängematte und blickte lange, lange sinnend in das Leere. Ihre Eulenaugen bekamen einen milderen Ausdruck; ihre bleichen Wangen rötheten sich, und endlich erhob sie sich wieder und schritt hinauf in das Bibliothekzimmer ihres Vaters, wo das Jugendbild des Grafen Emanuel an der Wand hing. Sie nahm es herab, trat damit an das Fenster und betrachtete es. »Es gleicht ihm auf das Haar,« sagte sie leise. »O, was ist Alfonzo gegen ihn! Was ist der falsche gegen den ächten Rodriganda!« Ohne es zu wissen, drückte sie ihre Lippen auf das Bild. »Wie erschrak ich, als ich ihn erblickte!« dachte sie laut. »Es gab mir einen Stich durch das Herz, aber dieser Stich that nicht wehe, er brachte keinen Schmerz. Und dann, als er sprach, da klang mir
seine Stimme bis in die tiefste Tiefe meiner Seele hinab. Was war das? War das etwa die Liebe?« Und abermals drückte sie ihre Lippen auf das Bild. »Und er saß neben dieser blonden Amy, und er hatte sie lieb! Ihre Augen suchten und fanden sich an jedem Augenblicke. Ihre Hände begegneten einander unter dem Tische; ich habe es gesehen. Da gab es mir abermals einen Stich durch das Herz; aber dieser Stich that wehe, er brachte mir Schmerz. War das die Eifersucht?« Ihr Blick senkte sich inniger und inniger auf das Bild, und ihr Mund legte sich zum dritten Male auf die Stelle, wo der Pinsel des Malers den Mund des Grafen mit köstlichem Roth versehen hatte. »Giebt es wirklich eine Liebe, welche keine Jahre, keine Monate und Wochen braucht, um zu entstehen? Giebt es eine Liebe, welche beim ersten Blick erwacht und dann nimmer wieder vergehen und sterben kann? Ja, es giebt eine solche; es giebt eine; ich fühle es. Und diese Liebe ist bei mir erwacht, für ihn, der Dir gleicht, Du süßes, süßes Angesicht!« Sie küßte wieder und immer wieder das Bild, bis eine Stimme sie aus ihrer Verzückung weckte. Ihr Vater war unbemerkt eingetreten und rief verwundert: »Josefa, Mädchen, was machst Du! Was fällt Dir ein! Ich glaube gar, Du küssest das alte Bild! Willst Du es gleich wieder an den Nagel hängen!«
VIERTES KAPITEL
Eine Heilung »Es lag auf meinem Geist ein Alp Nicht zentner- sondern bergesschwer. Der Wahnsinn legte dicht und falb Um mich sein ödes Nebelmeer. Ich bebte, dennoch war ich todt; Es schlug mein Herz, doch fühlt es nichts; Und mitten in des Morgens Roth Stand ich, beraubt des Tageslichts. Und nun ich endlich aufgewacht, Da hör’ ich in mir fort und fort Von früh bis spät, bei Tag und Nacht Nur der Vergeltung blutig Wort.« Von diesem Tage an ging eine eigenthümliche Veränderung mit Josefa Cortejo vor. Sie war für ihren Vater nur wenig zu sprechen. Ihr Mädchen erzählte ihm, daß die Sennorita stets am Spiegel stehe, um sich zu schmücken, dann aber immer wieder die Blumen und den Schmuck herabreiße und dabei zornig ausrufe: »Wie häßlich, wie häßlich! Kein Gold, kein Stein, keine Rose macht das anders!« Und wenn Cortejo sich nach dem Zimmer seiner Tochter schlich, so hörte er sie drinnen sprechen, als ob Jemand bei ihr sei; er aber wußte, daß sie allein war. Und legte er dann lauschend das Ohr an die ür, so hörte er sie leise sagen: »O wie lieb, wie so lieb habe ich Dich. Komm, küsse, o küsse mich!« Und wenn er ein anderes Mal kam und horchte, so hörte er sie zornig sagen:
»Unbarmherziger, ich tödte Dich, ich erwürge Dich! Ich hasse Dich, denn Du hast mir das Herz aus der Brust gerissen!« Er wußte gar nicht, was er sich dabei denken solle. Darum erzwang er sich einmal den Zutritt zu ihr, um ernstlich mit ihr zu sprechen. Er fand sie vor dem Spiegel stehen. Sie hatte sich ganz dekolletirt angekleidet und musterte sich, ob sie schön sei. Aber ihre hageren Arme, ihr dürrer Hals, ihr scharfer Nacken, ihr spärlicher Busen traten nur um so häßlicher hervor. »Was thust Du hier!« fuhr er sie an. »Ich glaube gar, Du bist von Sinnen!« Sie wandte sich schnell um und warf, als sie ihn erblickte, erröthend ein Tuch über ihre entblößten Reize, die alles Reizes entbehrten. »Was ich thue, ich probire meine Toilette an,« entschuldigte sie sich. »Das soll eine Toilette sein? Wo willst Du Dich so zeigen?« »Ich war ja noch gar nicht fertig. Ich will heute zur Phantasia gehen.« »Ah, endlich ein vernünftiges Wort! Also ausgehen willst Du? Und zwar zur Phantasia? Das ist gut. Ich gehe mit. Die ganze Noblesse wird zugegen sein. Der erste Preis besteht in einem kostbaren Reitzeuge, welches die Gräfin Montala dem Sieger übergeben wird.« »Die Gräfin Montala? Warum diese? Giebt es keine Andere?« »Sie ist die Schönste. Oder willst etwa Du die Preise vertheilen?« lachte er. Ihre Augen glühten zornig auf; aber sie biß die Zähne zusammen und wandte sich ab. »Hast Du Dir überlegt, was ich Dir gestern sagte?« fuhr er fort. »Nein,« sagte sie kalt. »Warum nicht?« »Ich habe keine Zeit.«
»Keine Zeit!« sagte er zornig. »Wann hast Du jemals keine Zeit gehabt, Dich mit unseren Feinden zu beschäftigen? Vorhin habe ich es erfahren, wann sie abreisen.« Bei diesen Worten drehte sie sich im Nu herum zu ihm und fragte mit bebender Stimme: »Wann reisen sie?« »Uebermorgen.« Es war, als ob ihr blasses Gesicht noch blässer werde, aber sie bezwang sich und sagte kalt: »So mögen sie!« »Was? So mögen sie? Wir sollen den wirklichen Grafen Rodriganda entkommen lassen?« »Der Falsche bringt uns auch keinen Nutzen!« »Das sollst Du nicht sagen! Ich habe Dir ja gestern wieder versprochen, daß er Dich heirathen soll. Ich werde an meinen Bruder schreiben.« »Warte noch!« »Bis wann?« »Bis Uebermorgen!« Er schüttelte den Kopf. Er begriff und verstand sie nicht; sie war ihm ein Räthsel. »Also gehst Du zur Phantasia?« erkundigte er sich. »Ja.« »Ich begleite Dich.« »Ich gehe allein!« Er schüttelte abermals den Kopf und hielt es für das Beste, sich zurückzuziehen. Kaum aber war er fort, so riegelte sie die ür hinter ihm zu, warf das Tuch ab und begann, sich Hals, Busen, Stirn und Nacken mit Pudre zu bestreichen und auf die Wangen Roth zu legen. Sie wollte sehen, ob sie auf diese Weise schöner werden könne. Da klopfte es leise an die ür.
»Wer ist da?« fragte sie. »Amaika.« Sofort sprang sie, ohne ihre Blößen zu bedecken, zur ür und öffnete. Es trat eine alte Indianerin ein. Sie diente im Hause und genoß das Vertrauen der Sennorita, deren eigentliches Mädchen für eine Plaudertasche galt. Josefa schloß wieder zu, stellte sich vor den Spiegel und sagte: »Amaika, sieh mich an! Bin ich schön oder häßlich?« Die Alte schlug die Hände zusammen und antwortete: »Häßlich? O Madonna, wie können Sie häßlich sein! Schön, sehr schön sind Sie!« »Meinst Du das wirklich?« »Ja, bei meiner armen Seele!« betheuerte die heuchlerische Alte. »So hat der Pudre also wirklich geholfen! Soll ich die Wangen noch mehr röthen?« »Nein, Sennorita. Sie sehen so recht zart und lieblich. Man muß Sie lieben!« »Man, ja man, aber er nicht!« »Er?« lächelte die Indianerin. »Er wird Sie auch lieben. Er wird Sie umarmen und küssen, wenn Sie so wie jetzt heute Abend nach der Phantasia zu ihm treten. Sie sind ja so reizend, daß er gar nicht widerstehen kann!« »Aber, ob er kommen wird!« sagte sie, sich geschmeichelt fühlend. »Er wird kommen.« Diese Worte wurden in einem so bestimmten Tone ausgesprochen, daß diese Sicherheit Josefa auffiel. Sie wandte sich rasch zu der Indianerin und fragte: »Weißt Du das genau?« »Sehr genau, Sennorita. Sie wissen, daß ich über Sie wache und Alles thue, um Sie glücklich zu sehen.« »Wer sagte es?«
»Dieser Zettel.« Dabei zog sie einen langen, gedruckten Zettel aus der Tasche und reichte ihn ihr hin. Die hervorragenden Bewohner Mexiko’s pflegen nämlich von Zeit zu Zeit wilde Kampfspiele zu veranstalten, bei denen oft ganz bedeutende Preise erstritten werden. Sie finden gegen Abend statt, wenn die Sonnenhitze nicht mehr so drückend ist, und dann folgt am Abend noch eine Maskerade, an welcher sich Alles betheiligen kann, was Lust und Freude an dergleichen Dingen findet. Die höchsten Sennores betheiligen sich an diesen Kampfspielen, die oft wirklich lebensgefährlich sind, und auch jeder anständige Fremde wird zur Arena gelassen, natürlich mit den Waffen, für welche er sich entscheidet. Ein solches Kampfspiel wird Phantasia genannt und heute Abend sollte eine dergleichen stattfinden. Der Zettel, welchen die Alte gebracht hatte, enthielt die Namen derer, welche mit kämpfen wollten. Sie las diese Namen der Reihe nach leise, zwei aber las sie laut: »Sennor Carlos Sternau für Lasso, Büchse, Degen und Dolch. Sennor Alfred de Lautreville für Büchse, Degen und Dolch.« So lauteten die beiden Namen. »Ah, ich wußte es, er ist ein Held!« sagte sie. »Er kämpft nicht für nur eine Waffe, sondern für drei; er wird einen Preis gewinnen. O, wenn er denselben aus meiner Hand erhalten könnte!« Die Indianerin machte ein sehr verschmitztes Gesicht. »Das kann er ja,« sagte sie. »In wie fern? Die Gräfin Montala theilt ja die Preise aus!« »Diese Preise, ja. Aber können Sie ihm nicht auch einen Preis geben?« Josefa erröthete und fragte: »Welchen?« »Einen Kuß, eine Umarmung, eine recht innige und zärtliche!« »Vielleicht. Du wirst mich begleiten und dafür sorgen, daß ich ihn finde.«
Damit war die Alte von Herzen gern einverstanden, und Beide trafen ihre Vorbereitungen für den genußreichen Abend. Auch im Palazzo des Lord Lindsay traf man dergleichen Vorbereitungen. Mariano hatte sich vollständig wieder erholt. Seine Augen leuchteten wieder; seine Wangen hatten sich wieder gefüllt und frisch geröthet und er konnte ein Pferd mit derselben Sicherheit wie früher tummeln. Darum hatte er sich entschlossen, an der Phantasia theilzunehmen und Sternau hatte ihm versprochen, das Gleiche zu thun. Sternau war übrigens in den letzten Tagen sehr einsilbig und nachdenklich gewesen und zwar in Folge eines kurzen Gespräches. Am Abende nach jenem Frühstücke, an dem die beiden Cortejos theilgenommen hatten, hatte ihn der Lord unter vier Augen gefragt: »Herr Sternau, was sagen Sie zu dem Herzoge von Olsunna?« »Sie meinen zu der Verwechselung?« »Ja, und zu Ihrer Aehnlichkeit mit ihm?« »Das ist ein seltenes und interessantes Naturspiel, weiter nichts.« »Ich finde es auffällig. Ihr Vater war ein Deutscher?« »Ja.« »Und Ihre Mutter?« »Auch sie.« »Sprachen Sie nicht vorgestern mit Mariano davon, daß Ihre Mutter in Spanien Erzieherin gewesen sei?« »Das ist sie allerdings gewesen.« »Nun, mein Freund, ich will das Andenken Ihrer Mutter nicht entheiligen, aber aus Zufall scheinen keine solche Aehnlichkeiten zu entstehen. Denken Sie nach!« Und Sternau hatte nachgedacht. Aber dieses Nachdenken war ihm wie eine Sünde gegen die Mutter erschienen; er hatte gegen die aufkeimenden Gedanken gekämpft, war ihrer aber doch nicht
völlig Meister geworden, und um sich zu zerstreuen war er gern bereit gewesen, an der Phantasia mit theilzunehmen. Der Nachmittag rückte heran, und Tausende zogen hinaus auf die Ebene, wo eine Arena für die Kämpfer abgesteckt worden war. An einem bestimmten Orte versammelten sich die Kämpfer und ritten dann hinaus. Als ihr Zug den Platz erreichte, tönte ihnen ein donnernder Zuruf entgegen. Manches Frauenauge leuchtete glühend auf den Gestalten der Tapferen, welche sich nicht scheuten, ihre Geschicklichkeit im Kampfe zu messen. Auf einem Balkon saßen die Preisrichter, umgeben von einem reichen Flor stolzer und schöner Frauen und Mädchen. Unter diesen befand sich die Gräfin von Montala, die schönste Wittwe des ganzen Landes. Sie war umworben und angebetet von Vielen, aber Keiner konnte Gnade finden vor ihren Augen. An ihrer Seite saß eine Freundin, welche aus Morella herbeigekommen war, die Kampfspiele mit anzusehen. Soeben nahte der Zug der Streiter, Alle ohne Unterschied in die reiche mexikanische Tracht gekleidet. Da stieß die Freundin die Gräfin an und fragte: »Dios, wer ist der Ritter, welcher dort auf dem Rappen soeben durch den Eingang reitet?« »Hast Du ihn noch nicht gesehen?« gegenfragte die Gräfin. »Nie.« »Ja ja, Du warest seit drei Wochen nicht in der Hauptstadt.« Die schöne Gräfin verfolgte den Reiter mit glühenden Blicken und vergaß dabei, der Freundin Antwort zu geben. »Nun?« erinnerte diese. »Er ist ein Deutscher,« klang die kurze Antwort. Die Freundin blickte die Gräfin forschend an, lächelte heimlich und sagte dann: »Ein Deutscher! Ist das Alles, was Du von ihm weißt?« »Er ist der Gast des englischen Gesandten.«
»Lord Lindsays?« »Ja.« »So ist er nicht von gewöhnlichem Stande, denn Lindsay ist exclusiv.« »Im Gegentheile; er ist Arzt.« »Und heißt?« »Auf der Kampfliste steht Carlos Sternau.« Wieder lächelte die Freundin. »Auf der Kampfliste? Du hast den Namen früher nicht gekannt und gehört?« »Gehört, aber wieder vergessen.« »Wohl Dir!« »Warum?« »Ich glaubte, wer diesen Mann einmal gesehen hat, der könne ihn nie wieder vergessen. Dir ist dies wenigstens mit dem Namen gelungen. Sich, diese Gestalt!« »Zu massiv, viel zu massiv.« Die Freundin lächelte zum dritten Male heimlich. »Das ist Sache des Geschmackes,« sagte sie. »Ich traue seiner starken Figur keine Gewandtheit zu. Und ein Deutscher, wie kann er sich in Lasso und Dolch mit einem Mexikaner messen. Die Deutschen sind zu zahm. In Büchse und Degen mögen sie immerhin einige Uebung haben.« »Du tadelst ihn, folglich ist er Dir gefährlich!« »Pah!« sagte die Gräfin stolz. Dabei folgte ihr Auge aber unverwandt der stattlichen Gestalt Sternaus. »Und wer ist der Sennor an seiner Seite?« fragte die Freundin. »Ein Freund des Deutschen und ebenso Gast des englischen Gesandten. Er ist Offizier und nennt sich Alfred de Lautreville.« »Du scheinst diese Fremden genau zu kennen?«
»Was willst Du! Die ganze hiesige Damenwelt ist vernarrt in sie.« »Natürlich außer Dir.« »Ich bestreite das nicht. Man ist gefeit gegen das, was Andere Liebe nennen. Ich danke!« Nachdem ein Jeder der Kämpfer seinen Platz eingenommen hatte, begann das Spiel. Zunächst wurde mit dem Degen gekämpft, immer Zwei gegen Zwei, und dann die Sieger gegen einander. Sternaus Klinge konnte Keiner widerstehen, und Mariano’s Gewandtheit war einem Jeden gewachsen. So kam es, daß Beide zuletzt um den Preis kämpfen sollten, Sternau aber wehrte ab und trat freiwillig zurück. »Siehst Du,« sagte die Gräfin zu ihrer Freundin; »seine rohe Kraft fürchtet sich vor der Gewandtheit des Freundes. Er wird keinen Preis erlangen.« Nun kam der Dolch an die Reihe. In dieser Waffe besitzt der Mexikaner eine ganz bedeutende Uebung. Hier konnte es ohne Wunden gar nicht abgehen. Viele bluteten, Andere traten zurück. Nur Einer war nicht einmal geritzt worden, nämlich Sternau. Er blieb Sieger. »Nun, fehlt es ihm noch immer an Gewandtheit?« fragte die Freundin. »Zufall!« »Wenn Einer mit Zwanzig kämpft und Sieger bleibt, das nennst Du Zufall?« Die Gräfin schwieg, denn jetzt wurden die Pferde bestiegen, um die Lasso’s schwingen zu lassen. Es ritten je Zwei hervor, von denen der Eine den Anderen vom Pferde zu reißen suchte. Die Besiegten ritten zurück, und die Sieger blieben bereit, um mit einander zu kämpfen. Der Freundin schien es Spaß zu machen, die Gräfin zu necken.
»Glaubst Du, daß der Deutsche einen Lasso führen kann?« fragte sie. »Nein.« »Dann wäre es unklug von ihm, sich mit den Anderen messen zu wollen.« »Der Preis, den er jetzt errungen hat, macht ihn betrunken und unvorsichtig.« »Hm, so war er bereits betrunken und unvorsichtig, ehe er diesen Preis erhielt, denn er war ja bereits entschlossen, mit dem Lasso zu kämpfen.« Die Entscheidung ließ dieses Mal lange auf sich warten, und als sie endlich gefallen war, hatte sich wieder – Sternau den Preis errungen. Er hatte nicht ein einziges Mal im Sattel gewankt, es hatte ihn kein einziger Lasso fassen können, er aber hatte alle Gegner vom Pferde gerissen. Jetzt begann der vierte Gang mit den Büchsen. Es wurden Scheiben aufgestellt. Auch hier besiegte Sternau alle Anderen. Und als er den Entscheidungsschuß gethan hatte, zog ein großer, weißköpfiger Geier hoch droben durch die Luft. Sternau deutete stumm nach dem Vogel empor und lud seine Büchse. Ein dumpfes Murmeln ließ sich hören. Kein Mensch glaubte, daß eine Kugel den Vogel erreichen könne, aber schon krachte Sternau’s Schuß und der Geier fiel in einer engen Spirallinie zur Erde herab. Ein lauter, tausendstimmiger Jubelruf belohnte den Meisterschuß. Nun nahten sich die Sieger der Tribüne. Was Keiner vorher gedacht hatte: es waren nur zwei, und zwar zwei Fremde. Die mexikanische Tracht saß ihnen ebenso gut wie den Einheimischen, und als sie jetzt die Preise in Empfang nahmen, da verbeugten sie sich mit demselben ritterlichen Anstande, als ob sie gewohnt seien, sich alle Tage aus schönen Händen einen Preis anzueignen.
Jetzt war das Kampfspiel vorüber, und der Maskenscherz begann. Die Sitte verbot nur den beim Kampfe betheiligt Gewesenen das Tragen einer Verkleidung. Sternau und Mariano hatten ihre Pferde und Preise einem Diener des Lords übergeben und schlenderten auf dem Lustplatze umher, wurden aber später getrennt. Zwei der Kämpfer standen neben einander und besprachen den Erfolg des heutigen Spieles. Sie waren voller Wuth, daß die beiden Fremden die Ehre des Tages hinweggenommen hatten. »Was meinst Du, Gonzalvo,« sagte der Eine, »ist es überhaupt richtig, daß man Fremde zuläßt?« »Nein, zumal solche Elephanten, denen kein Mensch widerstehen kann. Wenn es mir einfällt, versetze ich diesem Sennor Sternau einen kleinen Stich in den Rücken, an dem er genug haben soll.« »Ich bin dabei; aber woher nehmen wir das Geld, um uns die Absolution für eine solche at bei den frommen Patres zu erkaufen?« »Das ist’s, was auch mir Bedenken macht, sonst säße ihm mein Dolch bereits schon im Leibe. Es ist nichts Kleines, mit einem Morde auf dem Gewissen dereinst in jene andere Welt zu gehen.« In ihrer Nähe hatte eine andere Maske gestanden, der diese halblaut geführte Unterhaltung nicht entgangen war. Jetzt trat sie näher und fragte: »Wie viel wird die Absolution bei den frommen Patres kosten, Sennores?« »Was geht das Euch an?« fuhr ihn Gonzalvo an. »Vielleicht sehr viel.« »Warum?« »Weil ich Euch die Summe schenken will.« »Alle Teufel! Ist das wahr?« »Ja,« nickte die Maske. »Wer seid Ihr denn?« fragte Gonzalvo.
»Das thut nichts zur Sache. Ich ärgere mich gerade so wie Ihr, daß dieser Mensch uns Mexikanern den Preis fortnimmt. Stecht den Frechen nieder; die Absolution bezahle ich.« »Das wird aber ein hübsches Sümmchen sein, Freund!« »Wie viel?« »Fünfzig Pesos für uns Beide.« »Ich gebe Euch hundert, wenn dieser Sternau in einer Stunde fertig mit dem Leben ist.« »Wann gebt Ihr sie?« »Sofort nach der at.« »Und wo?« »Wo es Euch paßt und gefällt.« »Das klingt ganz gut. Aber wenn das Werk vollbracht ist, und Ihr wollt nicht zahlen, dann können wir nichts thun!« »So stecht Ihr mich nieder!« »Kennen wir Euch? Nehmt für einen Augenblick die Larve ab!« Die Maske that, wie ihr geheißen wurde, und die beiden Männer blickten ihr in das Gesicht. »Ah,« sagte Gonzalvo, »Ich kenne Euch, Sennor Cortejo; Ihr werdet uns nicht betrügen. Wir werden unser Werk thun und uns den Lohn dann morgen holen.« Die beiden Männer nahmen sich unter die Arme und ließen Cortejo stehen. Es klingt unglaublich, daß ein solcher Handel so leicht und schnell abgeschlossen wird, aber wer in Mexiko gelebt hat, der weiß, daß dies gar keine Seltenheit ist. Mariano hatte, als er Sternau verlor, sich wacker in das Menschengewühl gestürzt. Er freute sich seiner wieder erlangten Körperfrische und wandte sich in Folge dessen immer nur solchen Gegenden zu, wo es Mühe kostete, sich durch die Menge hindurch zu arbeiten. Da wurde plötzlich seine Hand erfaßt, und er sah an
seiner Seite eine weibliche Maske, welche ihn zur Seite zog. Dies schien ein Abenteuer zu bedeuten, und so folgte er ihr. Als sie das Gedränge hinter sich hatten, führte sie ihn zu dem eingefallenen Gemäuer einer Wasserleitung. »Setzt Euch, Sennor,« sagte sie, »ich habe mit Euch zu reden.« Er folgte aus Höflichkeit diesem Befehle und lehnte sich dann mit dem Rücken bequem an einen emporragenden Mauertheil. »So, Sennora,« sagte er. »Ich bin Euch gehorsam, nun seid auch gefällig und sagt mir, was Ihr von mir begehrt.« »Ich will Euch eine Frage vorlegen,« antwortete sie. »So sprecht!« »Darf ich mich zuvor neben Euch setzen?« »Ja.« Sie setzte sich an seiner Seite nieder und machte dabei einiges Geräusch, in Folge dessen die Beiden ein anderes Geräusch auf der anderen Seite der Mauer nicht vernahmen. Lord Lindsay war nämlich auch auf den Gedanken gekommen, sich zu maskiren. Er hatte Mariano bemerkt und ihn ein Wenig necken wollen. Noch aber hatte er ihn nicht ganz erreicht, als sich die weibliche Maske des jungen Mannes bemächtigte. Das gab eine willkommene Gelegenheit, sich über den Charakter Mariano’s aufzuklären. Ging er ohne Weiteres auf ein Liebesabenteuer ein, so war er Amy nicht werth. Darum folgte Lindsay ihm nach und versteckte sich, als er sah, wo die Beiden sich niedersetzten, an die andere Seite der Mauer, wo er jedes Wort vernehmen konnte. »Nun, so beginnt, Sennora,« hörte er jetzt Mariano sagen. »Schwört mir zuvor, daß Ihr mir unter keiner Bedingung die Larve abnehmen wollt, Sennor!« »Seid Ihr so häßlich, daß man Euch nicht ansehen darf?« »Das ist es nicht. Ich will nicht erkannt sein, außer ich erlaube es Euch.« »Nun wohl, ich gebe Euch mein Wort.«
»Nicht Euer Wort, sondern Euren Schwur!« »Gut, also meinen Schwur. Nun aber dürft Ihr auch beginnen!« »Sagt einmal, habt Ihr eine Braut, Sennor?« »Nein.« »Oder eine Geliebte?« »Ist Euch das so nothwendig zu wissen?« »Ja. Was ich Euch sagen will, ist von der allergrößten Wichtigkeit für Euch.« »Das klingt sehr nachdrücklich. Na, ich kann ja ohne dies aufrichtig sein. Ja, ich habe eine Geliebte.« »Und Ihr seid ihr von ganzem Herzen gut?« »Ich mag ohne sie gar nicht leben.« Ein langer, tiefer Seufzer quoll unter der Larve hervor; dann fragte sie weiter: »Ihr würdet unter keiner Bedingung von ihr lassen?« »Unter keiner!« »Aber sie ist ja Eure Verlobte, Braut oder Frau noch nicht!« »Das ist egal. Ich habe ihr in meinem Herzen Treue geschworen, und diesen Schwur werde ich halten.« »Ihr würdet sie auch nicht verlassen um eines großen Vortheils willen?« »Fällt mir nicht ein.« »Und wenn es sich nun um Glück und Leben handelt?« »Mein Glück gehört ihr und mein Leben Gott; ich halte meinen Schwur!« Sie schwieg und wieder ließ sich der vorige lange, tiefe Seufzer hören. Dann sagte sie in einem energischeren Tone: »Ich will glauben, daß Ihr jetzt so denkt; später aber wird es anders. Ich habe mir vorgenommen, aufrichtig zu sein, und so will ich Euch sagen, daß ich Euch liebe.« »Alle Wetter,« sagte er überrascht; »so soll ich meine Geliebte wegen Euch verlassen?«
»Ja.« »Das geht nicht!« »Warum nicht?« »Weil ich sie liebe und nicht Euch.« »Ihr kennt mich nicht; vielleicht bin ich schöner als sie!« »Möglich, aber nicht wahrscheinlich!« »Und reicher!« »Ist gleichgiltig.« »Von edlerer Geburt und besserem Charakter!« »Das ist unmöglich!« »Ihr würdet mich sicher lieben!« »Ich würde Euch hassen und mich verachten, daß ich meinen Schwur gebrochen habe.« Sie schien eine ganze Weile nachzusinnen; dann bat sie mit sanfter Stimme: »Gebt mir einmal Eure Hand.« »Hier.« Sie ergriff seine Hand und schob sie unter den Mantel. »Greift an mein Herze, Sennor,« sagte sie, »und fühlt, wie es für Euch schlägt!« »Caramba, was fällt Euch ein!« sagte er. »Euren Mantel will ich wohl angreifen, aber nichts weiter. Sprecht um Gotteswillen nicht davon, daß Ihr ein braves, ehrliches Mädchen seid!« Sie zuckte zusammen und antwortete in halb zornigem Tone: »Ich bin es! Was ich thue, das thue ich, weil ich Euch glühend liebe.« »So thut Ihr mir leid, denn ich kann Euch wahrlich nicht helfen.« »So werde auch ich Euch nicht helfen!« Sie sprach das in einem Tone, welcher seine Aufmerksamkeit erregte.
»Ich wüßte doch auch nicht, in welcher Angelegenheit Ihr mir helfen wolltet!« sagte er. »O, in einer höchst wichtigen!« versetzte sie. »Ah? Darf ich es wissen?« »Ja. Ihr nennt Euch Alfred de Lautreville, aber Ihr seid es nicht!« Er stutzte doch und fragte: »Wer bin ich denn?« »Euer richtiger Name würde Alfonzo de Rodriganda sein.« Da faßte er sie schnell beim Arme, bog sich zu ihr herab und sagte: »Weib, was sprichst Du da? Woher weißt Du das? Wer bist Du?« Sie ließ sich den scharfen Druck seiner Hand gefallen, ohne ein Wort des Schmerzes auszustoßen, denn dieser Schmerz war ihr eine Wonne, aber sie antwortete: »Das fragt Ihr mich vergebens!« »Du mußt es sagen!« »Ich muß? Wer will mich zwingen?« »Ich.« »Womit?« »Ich werde erfahren, wer Du bist! »Ihr habt mir geschworen, mir die Maske zu lassen, und wie Ihr der Geliebten den Schwur haltet, werdet Ihr Euer Wort auch mir halten.« Er ließ ihren Arm los und sagte: »Ihr habt recht; ich halte mein Wort. Also Ihr wißt, wer ich eigentlich sein sollte?« »Ja, und Niemand weiß es besser als ich. Ich weiß es besser als Euer Kapitän, als Euer Sternau, als Euer Kapitän Landola; ich weiß es besser als Alle, Alle, Alle.« »Und Du willst es mir nicht sagen?«
»Nein. Nur dem Geliebten würde ich es sagen. Verlasse Dein Mädchen!« »Nie!« »Ist Dir diese blonde Amy wirklich lieber als eine Grafschaft?« frug sie zornig. »Tausendmal lieber! Aber woher kennst Du den Namen Amy?« »Das geht Dich nichts an. Ueberlege Dir, was Du thust! Ich gebe Dir eine Bedenkzeit von zehn Minuten. Es handelt sich nicht nur um Dich, sondern auch noch um Andere. Vielleicht lebt Dein Vater noch und ebenso Dein Oheim Ferdinando!« Er fuhr empor. »Weib, bist Du allwissend!« rief er erschreckt. »In Deiner Angelegenheit bin ich es. Ich habe alle Macht in meiner Hand. Es kostet mich nur ein einziges Wort, Dich zu erhöhen oder zu verderben. Ich liebe Dich; ich will Dich besitzen, und darum biete ich Dir Alles für Deine Liebe!« »Du bietest mir dies Alles umsonst; mein Herz ist nicht mein Eigenthum; ich kann es nicht verschenken.« »So verkaufe es!« »Was ich nicht verschenken darf, darf ich auch nicht verkaufen!« Sie hatte bis jetzt verhältnißmäßig ruhig gesprochen; jetzt aber, als sie sah, daß all’ ihr Bitten und Drohen erfolglos sei, erhob sie sich und sagte mit vor Aufregung zitternder Stimme: »Ich habe Dir die Wahl gelassen zwischen Liebe und Haß, Glück und Unglück, Himmel und Hölle. Wenn Du mich annimmst, bist Du innerhalb einer Woche hier als Graf Alfonzo anerkannt. Verstößest Du mich, so soll Deine Seele schreien und brüllen vor Schmerz. Die Bedenkzeit ist abgelaufen, jetzt wähle!« – Auch er erhob sich. »Ich bleibe meinem Worte treu,« sagte er ruhig und bestimmt. »Ist dies Dein letztes Wort?« »Mein letztes!«
Jetzt zitterte sie vor Eifersucht, Grimm und Rachgier. »So bist Du verloren, Du und Deine Amy,« sagte sie. Und dennoch fügte sie hinzu: »Entscheide Dich noch einmal; entscheide Dich anders!« »Ich kann nicht anders!« »So sei verflucht, verliebter or! Du sollst und wirst mich kennenlernen!« »Ich kenne Dich bereits. Ich brauche Dir die Larve nicht vom Gesicht zu reißen. Was Du weißt, kann nur Eine wissen, und was Du sprichst, das kann nur Eine sprechen. Du bist Josefa Cortejo, die Tochter des Mörders und Betrügers!« Sie hatte bereits im Begriff gestanden, zu gehen, jetzt aber drehte sie sich schnell um und sagte: »Ihr irrt, Sennor. Ich habe mit dieser Josefa Cortejo nichts gemein!« »O doch! Du hast Alles mit ihr gemein, Alles, selbst die Schönheit, an welche Du mich führen wolltest. Packe Dich fort von hier!« Das war der schlimmste Schlag für sie. Sie blieb noch einen Augenblick stehen. »Wurm!« knirrschte sie. »Zittere! Wenn Du nur wüßtest, wer ich bin, so würdest Du erkennen, daß Du in meine Hand gegeben bist!« »Pah!« lachte er. »Sei froh, daß ich Dir mein Wort gegeben habe, sonst würde ich Dir die Larve vom Gesicht reißen!« Da ertönte neben ihm eine Stimme: »Ich werde es thun, denn ich habe ihr mein Wort nicht gegeben!« Eine Maskengestalt kam hinter der Mauer hervor und schoß auf das Mädchen zu. Josefa erkannte, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie griff unter den Mantel und zog einen Doch hervor. Die Klinge desselben fuhr in die Hand, welche nach ihr greifen
wollte und während der Lord einen Laut des Schmerzes ausstieß und die Hand schnell an sich zog, huschte das Mädchen fort und verschwand einige Augenblicke später in der Menge der anderen Masken. »Alle Teufel, sie hatte einen Dolch!« sagte Lindsay, sein Taschentuch ziehend, um damit das Blut zu stillen. »Wer seid Ihr, Sennor?« fragte Mariano ihn. »Ein Freund von Euch!« Die Stimme klang hinter der Larve so dumpf, daß Mariano sie nicht erkannte. »Und Ihr habt unser Gespräch belauscht?« »Von Anfang bis zum Ende.« »Ohne Euch zu entfernen?« »Ohne davon zu laufen. Ich kam ja zu dem Zwecke her, Euch zu belauschen.« »So seid Ihr ein Schuft!« »Meinetwegen!« »Und verdient eine derbe Züchtigung!« »Ganz richtig!« »Ich verlange, daß Ihr die Larve abnehmt!« »Warum?« »Weil ich sehen will, wer der Schurke ist, der sich herumschleicht, um die Geheimnisse Anderer zu belauschen.« »Das könnt Ihr leicht haben.« Er nahm die Larve ab und hielt Mariano sein Gesicht entgegen. Mariano erkannte ihn trotz der Dunkelheit; er erschrak auf das Heftigste und sagte: »Mylord, Sie sind es! Verzeihung!« »Pah, ich bin es, dem verziehen werden muß,« sagte Lindsay. »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie belauscht habe?« »Gern, Mylord. Jeden Anderen aber hätte ich gezüchtigt.«
»Das glaube ich Ihnen; Sie sind ein verteufelter Kerl! Sie staken da in einer gewaltigen Klemme; dieses Frauenzimmer hat Ihnen die Hölle heiß gemacht. Glauben Sie wirklich, daß es die Tochter des Cortejo ist?« »Sie war es ganz sicher.« »Auch ich bin überzeugt davon. Leider habe ich sie nicht gefangen und nun können wir ihr nichts nachweisen, trotz des Geständnisses, welches sie Ihnen gemacht hat. Binden Sie mir doch einmal das Tuch um die Hand; ich habe eine Schmarre davongetragen.« Mariano verband ihm die Wunde, dann nahm der Lord die Larve wieder vor, steckte seinen Arm in den des jungen Mannes und zog diesen mit sich fort. Mariano folgte ihm mit einem Gefühle des Glückes. Lindsay hatte Alles gehört; er wußte nun genau, wie lieb er Amy hatte, und dieser Gedanke gab Mariano die Hoffnung, daß den Wünschen seines Herzens von jetzt an wenigstens keine unüberwindlichen Schwierigkeiten entgegen stehen würden. Sternau hatte, als er Mariano verlor, sich nach der anderen Seite gewendet. Er ging von Gruppe zu Gruppe und bemerkte dabei nicht, daß ihm zwei Männer immer nachfolgten. Endlich ward er des Lärmens müde und wandte sich dem Freien entgegen. Dort war es still. Er spazierte weiter, in tiefe Gedanken versunken. Er dachte an die Heimath, an das Weib seines Herzens, an den alten Oberförster, an die Mutter und Schwester und merkte immer noch nicht, daß ihm zwei Gestalten nachschlichen. Endlich wollte er sich umkehren, warf sich aber im nächsten Augenblick, nachdem er sich umgedreht hatte, zu Boden. Die beiden Mörder hatten nämlich nicht bedacht, daß er sie beim Umwenden sofort erblicken müsse, da hinter ihnen der hell erleuchtete Festplatz lag und ihre Gestalten sich in der Helle desselben abzeichnen mußten.
Also Sternau hatte sie sofort bemerkt; es war klar, daß sie ihm in irgend einer bösen Absicht folgten und so verschwand er ihnen mit jener Schnelligkeit und Geistesgegenwart, welche den Mann der Prairie auszeichnet. Er kroch am Boden zur Seite hin und ließ sie herankommen. Sie blieben in seiner Nähe stehen und suchten das nächtliche Dunkel mit ihren Augen zu durchdringen. »Ich sehe ihn nicht mehr,« sagte der Eine. »Und Du?« »Ich auch nicht.« »Er muß sich gesetzt haben.« »Oder hat er die Richtung verändert.« »Das wäre verdammt! Kehrt er zum Platze zurück, so wird es uns schwerer, hier hätten wir so leichte Arbeit gehabt.« »Die hundert Pesos wären bald verdient. Wir müssen uns theilen, und wer ihn trifft, der führt den Stoß.« »Gut, so gehe Du mehr rechts und ich mehr links!« Sternau überlegte, was er thun solle. Er hielt es für das Klügste, sie laufen zu lassen. Schlug er sie nieder und zeigte er sie an, so konnte er es ihnen ja nicht beweisen, daß sie es auf ihn abgesehen gehabt hätten. So wartete er also, bis sie sich weit genug entfernt hatten, und kehrte dann nach dem Platze zurück, wo er bald Mariano und den Lord traf. Er erzählte ihnen sein Abenteuer, und sofort vermutheten die Beiden, daß der Anschlag von Cortejo ausgehe. Sie hielten es für das Beste, nach Hause aufzubrechen, was auch sofort geschah. Im Palazzo angekommen, wurden sie von Amy empfangen, welche zwar während des Kampfes auf dem Festplatze gewesen war, dann aber sofort zurückgekehrt war. »Da kommen die Sieger,« meinte sie freudig, die drei Männer in den Salon führend; »es ist unsere Pflicht, auf sie stolz zu sein.« »Vor allen Dingen auf den dreifachen Sieger,« sagte Mariano, auf Sternau deutend.
»Und auch auf den Anderen,« fügte der Lord hinzu. »Unser Freund hat nach dem Kampfspiele noch einen Sieg errungen, der größer war als der vorige. Darum soll er auch seinen Preis erhalten.« Er nahm Amy’s Hand und legte sie in Mariano’s Rechte. »Ihr habt Euch lieb, Kinder, und Ihr seid Euch werth. Werdet glücklich, so wie ich es Euch wünsche!« Das war eine Ueberraschung, an welche Niemand gedacht hatte, und ein Preis, wie er nach einem Kampfspiele noch niemals ausgezahlt worden war. Die beiden Liebenden lagen sich in den Armen und schoben sich dann den gütigen Lord einander zu. Der Abend wurde zu einem Freuden- und Wonneabend, ganz anders wie bei Cortejo, welcher nach Hause gegangen war, um, falls Sternau getödtet werde, nachweisen zu können, daß er nicht in der Nähe gewesen sei. Nach einiger Zeit kehrte auch Josefa zurück. Ihr Angesicht glühte, und ihre Augen blitzten. Sie warf den Maskenanzug von sich und trat energisch vor ihren Vater. »Vater, dieser Sternau reist übermorgen nach der Hazienda?« fragte sie. »Ja.« »Allein?« »Nein, sondern die beiden Andern mit ihm.« »Willst Du sie entkommen lassen?« Er blickte sie verwundert an und antwortete dann mit verhaltener Ironie: »Du scheinst Dich seit heut Vormittage sehr geändert zu haben.« »Nicht im Geringsten; aber ich bin zu einem Entschlusse gekommen.« »Und dieser lautet?« »Wir lassen diesen Menschen keine Minute Frist.«
»Das ist meine Ansicht auch. Der Eine von ihnen ist bereits wohl jetzt schon todt.« »Welcher?« »Sternau.« »Ach, ich dachte, der Andere!« »Nein. Ich schickte ihm ein Paar Hidalgo’s auf den Hals, welche ich kenne. Für hundert Pesos laufen sie in die Hölle.« »Gut, so ist der Eine abgethan! Aber der Andere?« »Warte bis morgen, dann wird sich darüber sprechen lassen.« Vater und Tochter saßen noch beisammen, als zwei Männer Einlaß begehrten. Sie wurden eingelassen; es waren die beiden Hidalgos. Als sie Josefa erblickten, wollten sie sich zurückziehen, aber Cortejo gab das nicht zu. »Tretet nur ein, Sennores,« sagte er. »Meine Tochter darf hören, was Ihr mir zu sagen habt. Ich hoffe, daß Euer Werk Euch gelungen ist!« »Leider nicht,« lautete die Antwort. Cortejo blickte sie streng an; ihm schien dieser Fall unglaublich. »Warum nicht?« fragte er. »Wir verloren ihn aus den Augen. Er ging in die Nacht hinaus, ganz einsam und allein. Wir folgten ihm und sahen ihn nicht mehr. Als wir nach dem Platze zurückkehrten, sahen wir ihn mit Lord Lindsay die Pferde besteigen.« Cortejo schüttelte zornig den Kopf. »Ihr seid oren und feige Miethlinge; ich mag nichts von Euch wissen.« »Wir werden es nachholen, Sennor,« sagte der Eine. »Ich brauche Euch nicht; Ihr könnt gehen. Für Eure unnütz verschwendete Mühe sollt Ihr ein kleines Geschenk haben. Hier habt Ihr zehn Pesos; theilt Euch darein, und trollt Euch dann von dannen.«
Die Hidalgo’s waren froh, so viel erhalten zu haben, und gingen. Josefa begab sich zur Ruhe, aber sie konnte nicht schlafen. Sie brütete Rache wegen ihrer verschmähten Liebe, kam aber zu keinem Entschlusse, der der Stärke ihres Grimmes entsprochen hätte. Auch Cortejo schlief nicht. Er sann und grübelte einige Stunden lang und schien endlich zu einem Entschlusse gekommen zu sein, denn er ging nach dem Stalle und ließ satteln. Gegen Morgen verließ er die Stadt in nördlicher Richtung, und als Josefa am Vormittage nach ihrem Vater fragte, erfuhr sie, daß er auf einige Zeit verreist sei. – – – Nicht einen Tag, sondern zwei Tage später hielten drei tüchtige, kraftvolle Pferde vor dem Palazzo des Lords, während drin in der Wohnung selbst Abschied genommen wurde. »Also wie lange gedenken Sie auszubleiben, Doktor?« fragte Lindsay. »Wer kann dies unter den gegenwärtigen Umständen bestimmen,« lautete die Antwort. »Wir kommen so bald wie möglich zurück.« »Das hoffe ich. Schont die Pferde nicht; es laufen ihrer Tausende auf der Weide herum. Haben Sie noch einen Wunsch?« »Ja, Mylord. Man weiß nicht, was Einem in diesem Lande begegnen kann. Nehmen Sie sich, wenn sich meine Rückkunft verzögern sollte, meiner Yacht und ihrer Bemannung an!« »Das werde ich thun, obgleich ich nicht befürchte, daß ich die Veranlassung dazu haben werde. Leben Sie wohl.« Sternau und Helmers saßen bereits zu Pferde, als Mariano noch immer oben an der Treppe stand und sich von Amy gar nicht trennen konnte. Endlich kam er, und nun ging es fort, zur Stadt hinaus auf ganz demselben Wege, welchen zwei Tage vorher Cortejo eingeschlagen hatte. Sternau hatte vorgezogen, ohne Diener und Führer zu reisen. Er hatte eine Karte von Mexiko bei sich, das war ihr Führer, und
obgleich keiner von den Dreien diesen Weg bereits einmal zurückgelegt hatte, verirrten sie sich nicht ein einziges Mal. Es mochte noch eine kleine Tagereise von der Hazienda sein, daß sie über eine mit einzelnen Gebüschinseln bestandene Ebene ritten. Sternau war der Erfahrenere von den Dreien; es entging ihm kein gebrochener Halm, kein abgeknickter Zweig, kein von seinem Platze gestoßenes Steinchen. Während sie lautlos dahinritten, sagte er zu seinen beiden Gefährten: »Wendet den Kopf jetzt weder nach rechts noch links; aber schielt einmal nach dem dichten Seifenbaumstrauche, dort rechts am Wasser.« »Was giebt’s?« fragte Mariano. »Dort liegt ein Mensch auf der Lauer und sein Pferd ist hinter ihm angebunden.« »Ich sehe nichts.« Auch Helmers versicherte dasselbe. »Das glaube ich. Es gehört Uebung und Erfahrung dazu, in diesem Dickicht bereits von Weitem einen Mann und ein Pferd zu unterscheiden. Sobald ich meine Büchse empornehme, thut Ihr es auch, schießt aber nicht eher, als bis ich selbst schieße.« Sie ritten weiter, bis sie sich parallel mit dem Buschwerk befanden; da aber hielt Sternau plötzlich sein Pferd an, riß die Flinte vom Rücken und legte auf das Gebüsch an. Die beiden Anderen folgten seinem Beispiele. »Holla, Sennor, was sucht Ihr da drin an der Erde?« rief er hinüber. Ein kurzes, rauhes Lachen erscholl, und dann hörte man die Worte: »Was geht das Euch an?« »Sehr viel,« antwortete Sternau. »Kommt doch einmal hervor, wenn Ihr so gut sein wollt!« »Ist das Euer Ernst?« lachte es zurück.
»Ja doch.« »Na, so will ich Euch den Gefallen thun.« Die Büsche theilten sich, und es trat ein Mann hervor, der ganz in starkes Büffelfell gekleidet war. Sein Gesicht trug die Spuren indianischer Abstammung, aber seine Kleidung hatte den Schnitt, wie ihn die Ciboleros* lieben. Bewaffnet war er mit einer schweren Büchse und einem fürchterlichen Messer. Der Mann sah ganz so aus, als ob er sich in seinem Leben noch niemals gefürchtet habe. Sobald er das Gebüsch verlassen hatte, folgte ihm sein Pferd von selbst. Er überflog die Gruppe der drei Männer mit bohrenden Augen und sagte: »Hm, das war nicht übel gemacht, Sennores! Man möchte fast denken, daß Ihr bereits in der Prairie gewesen wäret.« Sternau verstand ihn sofort, aber Mariano fragte: »Warum?« »Weil Ihr so thatet, als ob Ihr mich nicht bemerkt hättet und dann doch plötzlich Eure Gewehre auf mich anlegtet.« »Es kam uns natürlich verdächtig vor, einen Menschen hier versteckt zu sehen,« sagte Sternau. »Was thatet Ihr in dem Busche?« »Ich wartete.« »Auf wen?« »Ich weiß nicht. Vielleicht auf Euch.« Sternau zog die Brauen etwas zusammen und warnte: »Macht keinen dummen Witz, sondern erklärt Euch deutlicher!« »Das kann ich thun. Sagt mir aber vorher, wohin Ihr wollt?« »Nach der Hazienda del Erina.« »Gut, so seid Ihr auch Diejenigen, auf welche ich warte.« »Das klingt ja gerade so, als hätte man unsere Ankunft gewußt und Euch uns entgegengeschickt!« *
Büffeljäger
»So ähnlich ist es! Ich jagte gestern da oben in den Bergen einen Büffel und fand auf dem Rückwege verdächtige Spuren. Ich ging ihnen nach und belauschte da einen ganzen Trupp Weiße, welche beisammen lagen und sich laut erzählten. Da hörte ich, daß sie einige Reiter abfangen wollten, welche nach der Hazienda von Mexiko aus unterwegs sind. Ich brach natürlich sofort auf, um diese Leute zu warnen. Seid Ihr die Rechten, so ist es gut, seid Ihr aber die Rechten nicht, so bleibe ich hier liegen, bis die Richtigen kommen.« Da reichte ihm Sternau die Hand entgegen und sagte: »Ihr seid ein braver Kerl, ich danke Euch! Wie die Sache liegt, werden wir wohl die Rechten sein. Wie viele Männer waren es?« »Zwölf.« »Hm, das sind ihrer gerade so viele, als ich auf mich selbst nehme. Fast habe ich Lust, ein Wörtchen mit ihnen zu reden.« Der Büffelhauptmann blickte Sternau von der Seite an und sagte: »Ihr nehmt Zwölf auf Euch, Sennor?« »Ja, unter Umständen noch mehr,« antwortete Sternau ernsthaft. »Das sind wohl Elf zu viel, he?« »Ganz wie Ihr denkt. Wenn es auf mich ankäme, so würde ich mir diese Leute einmal betrachten. Aber es ist doch wohl nicht gerathen, sich unnöthig in Gefahr zu begeben.« »Ich denke das auch,« nickte der Fremde ironisch. »Wohin geht nun Euer Weg?« fragte Sternau. »Zur Hazienda. Soll ich Euch führen?« »Wenn es Euch Vergnügen macht, ja.« »So kommt.« Er bestieg sein Pferd und setzte sich damit an die Spitze der kleinen Truppe. Er hing, ganz nach Indianerart, vornüber auf dem Pferde, um jede Spur sogleich bemerken zu können, und Sternau
sah es seinem ganzen Habitus an, daß es ein Mann sei, auf den man sich verlassen könne. Gegen Abend, als man ein Nachtlager brauchte, zeigte sich der Mann im Auffinden einer passenden Stelle und den Vorsichtsmaßregeln so erfahren und gewandt, daß Sternau erkannte, es mit keinem gewöhnlichen Manne zu thun zu haben. Er nahm von den Speisen der Drei, er rauchte auch eine Cigarrette, aber als man ihm einen Schluck Rum anbot, wies er diesen zurück. Ein Feuer wurde der Unsicherheit des Weges wegen nicht angemacht und so wurde das kurze Abendgespräch im Dunkeln geführt. »Kennt Ihr die Leute auf der Hazienda, Sennor?« fragte Sternau den Führer. »Ja, gewiß,« antwortete dieser. »Wer ist dort zu treffen?« »Zunächst Sennor Arbellez, der Haziendero, sodann Sennorita Emma, seine Tochter, sodann Sennora Hermoyes und endlich ein Jäger, welcher am Kopfe krank ist. Dann giebt es noch Gesinde und vierzig Vaqueros und Ciboleros.« »Zu den Ciboleros gehört wohl auch Ihr?« »Nein, Sennor. Ich bin ein freier Miztekas.« Da horchte Sternau auf. »Ein Miztekas seid Ihr?« fragte er. »Ja.« »O, da müßt Ihr doch auch Mokaschi-motak, den großen Häuptling Büffelstirn kennen?« »Ich kenne ihn,« sagte der Gefragte ruhig. »Wo ist er jetzt zu finden?« »Bald hier, bald dort, wie der große Geist ihn treibt. Wo habt Ihr von ihm gehört?« »Sein Name ist allüberall; ich habe ihn sogar drüben über dem großen Meere nennen hören.«
»Wenn er das erfährt, so freut er sich. Wie soll ich Euch nennen, Sennores, wenn ich mit Euch spreche?« »Ich heiße Sternau, dieser Sennor heißt Mariano und der andere Helmers. Und wie nennen wir Euch, Sennor?« »Ich bin ein Miztekas; nennt mich so.« Das war das ganze Abendgespräch, dann ging man zur Ruhe, während welcher die Nachtwache unter die Vier vertheilt wurde. Am anderen Morgen wurde in der Frühe aufgebrochen und bereits noch vor der Mittagszeit sah man die Hazienda vor sich liegen. Da hielt der Miztekas an und zeigte mit der Hand nach der Besitzung. »Das ist die Hazienda del Erina, Sennores,« sagte er. »Nun könnt Ihr sie nicht mehr verfehlen.« »Wollt Ihr nicht mit?« fragte Sternau. »Nein. Mein Weg ist der Wald. Lebt wohl!« Er gab seinem Pferde die Hacken und sprengte links ab davon. Die anderen Drei aber ritten der Ummauerung entgegen und hielten vor dem ore an. Als Sternau klopfte, erschien innen ein Vaquero und fragte nach ihrem Begehr. »Ist Sennor Arbellez zu Hause?« »Ja.« »Sagt ihm, daß Gäste aus Mexiko zu ihm wollen.« »Seid Ihr allein, oder kommen noch Mehrere?« »Wir sind allein.« »So will ich Euch vertrauen und öffnen.« Er schob den gewaltigen Riegel zurück und ließ die Reiter in den Hof. Hier sprangen sie von ihren Pferden, welche der Vaquero übernahm, um sie zu tränken. Als sie den Eingang des Hauses erreichten, kam ihnen der Haziendero bereits entgegen. Sein Blick ruhte mit staunendem Erschrecken auf der hohen Gestalt Sternau’s.
»Dios mios, was ist das!« sagte er. »Seid Ihr ein Spanier, Sennor?« »Nein, ein Deutscher.« »So ist es ein Naturspiel. Fast hätte ich Euch für den Herzog von Olsunna gehalten.« Schon wieder hörte Sternau diesen Namen. »Habt Ihr ihn gekannt, Sennor?« fragte er. »Ja; ich bin ja ein Spanier. Aber es ist ja richtig; Ihr könnt gar nicht der Herzog von Olsunna sein, der viel älter als Ihr ist. Seid willkommen!« Er reichte ihm die Hand und streckte sie auch Mariano entgegen. Dieser hatte das Gesicht abgekehrt gehalten, weil er nach den Pferden blickte; jetzt drehte er sich herum und nun der Haziendero in sein Gesicht blickte, zog er die Hand zurück und stieß einen lauten Ruf der Ueberraschung aus. »Caramba, was ist das! Graf Emanuel! Doch nein, auch das kann nicht sein, denn Graf Emanuel ist viel älter.« Er griff sich an die Stirn; diese beiden Aehnlichkeiten machten ihm zu schaffen. Nun fiel dabei sein Auge auf Helmers und sofort schlug er die Hände zusammen. »Valgame Dios, Gott stehe mir bei, bin ich verhext!« rief er. »Was ist’s, Vater?« fragte hinter ihm eine klare, süße Mädchenstimme. »Komm her, Emma, mein Kind,« antwortete er. »So etwas ist mir noch nicht geschehen, das ist ja wunderbar! Da kommen drei Sennores; der Eine sieht dem Herzoge von Olsunna, der Andere dem Grafen Emanuel und der Dritte Deinem armen Bräutigam so ähnlich, wie ein Ei dem anderen.« Emma trat hervor und lächelte; aber als sie Helmers erblickte, sagte sie: »Es ist wahr, Vater, dieser Sennor sieht gerade so aus, wie mein armer Antonio.«
»Na, das wird sich aufklären,« meinte der Haziendero. »Seid willkommen, Sennores, und tretet ein in mein Haus!« Er streckte nun auch Mariano und Helmers die Hand entgegen und führte die Gäste empor in den Speisesaal, wo ihnen zunächst eine Erfrischung gereicht wurde. Eben hob Helmers das Glas empor, um zu trinken, als er es wieder absetzte. Sein Auge hing an der üre, welche sich geöffnet hatte, um eine hagere, bleiche Gestalt einzulassen, welche mit irren, nichtssagenden Augen die Angekommenen überflog. Helmers trat ein paar Schritte nach der üre zu und fixirte den Kranken. »Ist es möglich!« rief er dann. »Anton, Anton! O mein Gott!« Der Irre blickte ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich bin todt, ich bin erschlagen worden,« wimmerte er. Helmers ließ die Arme sinken und fragte: »Sennor Arbellez, wer ist dieser Mann?« »Es ist der Bräutigam meiner Tochter,« antwortete der Haziendero. »Er heißt Antonio Helmers und die Jäger nannten ihn Donnerpfeil.« »Also doch! Bruder, o mein Bruder!« Mit diesem Ausrufe stürzte er sich auf den Irren zu, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Der Kranke ließ sich liebkosen, blickte gleichgiltig in das Angesicht seines Bruders und sagte nur: »Ich bin erschlagen worden, ich bin todt!« »Was ist mit ihm; was fehlt ihm?« fragte Helmers den Wirth. »Er ist wahnsinnig,« antwortete dieser. »Wahnsinnig? O Herr, mein Gott, welch ein Wiedersehen!« Der Deutsche legte sich die Hand vor die Augen, warf sich in einen Stuhl und weinte. Die Anderen standen wortlos und ergriffen dabei, bis Arbellez ihm die Hand auf die Achsel legte und mit leiser Stimme fragte: »Ist es wahr, daß Ihr der Bruder von Sennor Antonio seid?«
Helmers richtete die in ränen schwimmenden Augen zu dem Frager empor und antwortete: »Ich bin sein Bruder! O mein Gott, welch ein Wiedersehen!« »So seid Ihr Seemann?« »Ja.« »Er hat uns viel von Euch erzählt.« »Ich bin todt, ich bin erschlagen,« klagte der Irre dazwischen. Sternau hatte bisher kein Auge von ihm verwandt, jetzt fragte er: »Was ist die Ursache seiner Krankheit?« »Ein Schlag auf den Kopf,« antwortete Arbellez. »Haben Sie einen Arzt gehabt?« »Ja, längere Zeit.« »Hat dieser gesagt, daß keine Hilfe möglich sei?« »Ja.« »So ist dieser Arzt ein Pfuscher, ein unverständiger Ignorant. Fassen Sie sich, Helmers. Ihr Bruder ist nicht wahnsinnig, sondern geistig gestört; es ist noch Hilfe möglich.« Da ertönte ein heller Jubelschrei. Emma Arbellez hatte ihn ausgestoßen. Sie kam auf Sternau zugeflogen, faßte seine beiden Hände und fragte: »Sagen Sie die Wahrheit, Sennor?« »Ja.« »Gewiß? Sind Sie ein Arzt?« »Ich bin ein Arzt und hoffe das Beste. Sobald ich die näheren Umstände weiß, unter denen er erkrankte, werde ich Ihnen mit Gewißheit sagen können, ob ich Hilfe bringen kann.« »O, so lassen Sie sich schnell erzählen –« »Gemach, Sennorita!« unterbrach Sternau sie. »Das möchten wir uns denn doch bis zu einem ruhigeren Augenblicke aufsparen. Zunächst haben wir noch Anderes zu besprechen, welches ebenso wichtig und nöthig ist.«
Sie ließ sich nur ungern zurückweisen und führte den Irren aus dem Zimmer. »Es muß eine sehr wichtige Angelegenheit sein, welche Sie hierher geführt hat,« sagte der Haziendero in einer Art von Vorahnung. »Eine sehr, sehr wichtige,« bestätigte Sternau. »Meine Hazienda war Ihr einziges Ziel?« »Ja.« »Und Sie haben sie ohne Führer gefunden?« »So ziemlich. Erst gestern trafen wir einen Mann, der uns bis hierher begleitete. Es war ein Indianer vom Stamme der Miztekas.« »Der Miztekas? Das ist Büffelstirn gewesen.« »Büffelstirn?« fragte Sternau überrascht. »Er trug doch gar nicht die Abzeichen eines Häuptlings!« »Das thut er nie. Er kleidet sich nur in Büffelhaut und trägt als Waffe eine Büchse und sein Messer.« »So war er es. Ich bin mit Büffelstirn geritten, ohne es zu wissen. Er hat es uns verschwiegen; er ist ein echter, richtiger Mann. Wird man ihn wiedersehen?« »Er ist jetzt täglich in der Gegend. Sie bleiben doch auf einige Zeit mein Gast?« »Das werden die Umstände bestimmen. Wann haben Sie Zeit, zu hören, was uns hierher geführt hat?« »Sogleich oder auch später, je nachdem Sie es wünschen. Ist die Sache kurz und muß sie sogleich erledigt sein?« »Nein. Sie bedarf einer längeren Zeit und will überhaupt sehr achtsam behandelt sein. Es handelt sich um ein Familiengeheimniß, zu dessen Aufklärung wir Ihre Hilfe und diejenige von Maria Hermoyes brauchen.« »Ich stehe zur Verfügung, bitte aber zunächst um die Erlaubniß, Ihnen Ihre Zimmer anweisen zu dürfen. Sie bedürfen ja vor allen Dingen der Aufmerksamkeit, das ema kann warten bis später.«
Karja, die Indianerin, trat ein. Sie hatte nach den Zimmern gesehen und kam nun, um die Herren zu führen. Sternau erhielt dasjenige, welches Graf Alfonzo gewöhnlich bewohnt hatte. Er reinigte sich vom Schmutze der Reise und ging dann auf einen Augenblick hinunter in den Garten. Dort sah er die schöne Tochter des Haziendero sitzen, neben ihr den Irren, welcher sich höchst gleichgiltig von ihr liebkosen ließ. Sie erhob sich, um dem Gaste Platz zu machen. Er setzte sich so, daß er den Kranken beobachten konnte, und begann nun mit der Sennorita ein Gespräch, im Verlaufe dessen sie ihm die Abenteuer in der Höhle des Königsschatzes und also auch den Grund von der Erkrankung ihres Bräutigams mittheilte. Er hörte aufmerksam zu, denn ihre Erzählung erregte noch mehr als blos sein ärztliches Interesse. »Also der berühmte Bärenherz war auch mit dabei,« sagte er dann. »Hat sich dieser Apachenhäuptling seitdem wieder sehen lassen?« »Nein.« »Und all, all dieses Unheil nur um eines einzigen Menschen, um dieses Alfonzo Rodriganda willen! Man wird ihm das Handwerk legen und all seine Missethat sühnen lassen.« »O, Sennor, wird auch hier bei meinem armen Antonio eine Sühne, eine Hilfe möglich sein? Sein Bruder hat mir bereits erzählt, während Sie auf Ihrem Zimmer waren, daß Sie ein großer und berühmter Arzt sind und daß Sie sogar Ihre eigene Gemahlin vom Wahnsinne errettet haben.« »Der größte Arzt ist Gott; ich hoffe, daß er auch hier helfen wird. Ist Ihr Patient geduldig und gefügig?« »Sehr.« »Wird er mit mir gehen?« »Sofort.«
»So werde ich ihn mit mir nehmen, um ihn sogleich zu untersuchen. Ich führe meine Bestecks stets bei mir und hoffe, daß ich Alles habe, was ich brauche.« Er ergriff die Hand des Patienten und dieser folgte ihm mit der allergrößten Bereitwilligkeit. Emma ging auf ihr Zimmer und sank dort auf ihre Kniee, um zu beten. Als sie dann in den Salon kam, waren bereits Alle erwartungsvoll versammelt, um den Ausspruch des Arztes zu vernehmen. Dieser aber kam erst später. Er wurde sofort mit Fragen bestürmt. »Ich will Ihnen Allen eine frohe Botschaft bringen,« sagte er lächelnd. »Ich werde Sennor Helmers herstellen.« Ein lauter, vielstimmiger Jubelruf erscholl durch den Raum, dann fuhr er fort: »Der Schlag ist ein außerordentlich kräftiger gewesen, aber er hat dennoch die Hirnschale nicht zertrümmert; doch unter derselben hat irgend ein Blutgefäß seinen Inhalt gerade auf das Organ des Gedächtnisses ergossen, und so kommt es, daß der Patient Alles vergessen hat, nur nicht das Letzte, was er vom Leben fühlte, nämlich den Schlag. Er weiß, daß er todtgeschlagen werden sollte, er hat den Hieb gefühlt und glaubt nun, daß er todt sei. Die sicherste Hilfe ist möglich nur durch die Trepanation. Ich werde die Hirnschale öffnen, um das ausgeflossene Blut zu entfernen, dann hört der Druck desselben auf die Hirnmasse auf, das Organ beginnt seine unterbrochene ätigkeit und in demselben Augenblicke wird auch das vollständige Gedächtniß wiederkehren.« »Ist diese Operation lebensgefährlich?« fragte Emma besorgt. »Schmerzlich, aber nicht lebensgefährlich,« tröstete er. »Wenn die Angehörigen des Patienten mir ihre Vollmacht ertheilen, werde ich morgen die Trepanation vornehmen.« Sie erklärten sich Alle einverstanden, und Arbellez fügte lächelnd hinzu:
»Und um das Honorar dürfen Sie nicht bange sein, Sennor. Der Patient ist reich, steinreich; er hat aus der Höhle des Königsschatzes ein Geschenk erhalten, welches ihn in den Stand setzt, sogar eine Trepanation zu bezahlen.« »Hoffen wir, daß die Operation ihn so weit herstellt, daß er seinen Schatz genießen kann,« sagte Sternau und ging dann wieder fort, um nach seinen Instrumenten zu sehen, die ja morgen sich in einem brauchbaren Zustande befinden mußten. Am Abende nach dem Nachtmahle gab es eine Sitzung, in welcher der eigentliche Zweck der Reise erörtert wurde. Was Arbellez und die alte Maria Hermoyes da erzählten, das bestätigte die Vermuthungen, welche Sternau bis jetzt gehegt hatte. Der brave Haziendero bot Mariano sofort seine Hazienda an, und in dem ganzen Hausstande war nicht ein Einziger, welcher nicht überzeugt gewesen wäre, daß er der richtige, wirkliche Graf Alfonzo sei. Nun nahte der nächste Tag, an welchem die Operation stattfinden sollte. Sternau bat Helmers, Mariano und Arbellez, ihm zu assistiren, wies aber sonst jede Störung von sich. Um die Mittagsstunde begaben sich die vier Männer nach dem Zimmer des Patienten. Der Korridor, in welchem dasselbe lag, war für Jedermann verschlossen. Die ganze Bewohnerschaft des Hauses hielt sich beisammen und jeder Gedanke und jedes ausgesprochene Wort war ein Gebet um das Gelingen des großen Unternehmens. Zuweilen war es, als ob ein schmerzhaftes Wimmern oder ein lauter, schriller Schrei durch das Haus ertöne, dann aber war Alles wieder ruhig. Endlich nach langer, langer Zeit kam Arbellez herab. Er sah bleich und angegriffen aus. »Wie steht es?« kam ihm Emma entgegen. »Sennor Sternau hofft Alles. Der Patient liegt in Ohnmacht. Du sollst kommen und bei ihm bleiben.« »Ich allein?«
»Nein, ich mit. Wenn er erwacht, darf er nur bekannte Gesichter sehen.« Sie folgte dem Vater. Droben im Korridor begegnete ihnen Helmers. Auch er hatte die Farbe des Todes. Der Kranke mußte viel ausgestanden haben. Als die Beiden leise eintraten, stand Sternau über den Kranken gebeugt, um seine Pulsschläge und Athemzüge zu zählen. Als Emma in die fürchterlich ermatteten und entstellten Züge des Geliebten blickte, hätte sie geradeauf schreien mögen, aber sie bezwang sich. »Sennora, setzen Sie sich so, daß er Sie sofort sieht, wenn er erwacht. Ich werde mich hinter den Vorhang zurückziehen,« flüsterte Sternau. »Wird es lange dauern, ehe ihm das Leben wiederkehrt?« fragte sie. »Höchstens zehn Minuten, und dann wird es sich entscheiden, ob das Gedächtniß wieder da ist. Warten und beten wir!« Er trat hinter den Vorhang zurück und Emma setzte sich neben das Bett, während Arbellez in der Nähe desselben Platz nahm. So dehnten sich die Minuten gleich Ewigkeiten dahin, bis endlich, endlich der Patient die Hand regte. »Erschrecken Sie nicht,« sagte Sternau ganz leise. »Nach meiner Berechnung wird er einen Todesschrei ausstoßen, weil er meint, erschlagen zu werden.« Der kluge Arzt hatte sich nicht getäuscht. Der Kranke regte sich mit einemmale am ganzen Körper, lag dann einige Sekunden lang starr, und das waren die Augenblicke, in denen sein Denkvermögen wieder in Kraft trat, und nun stieß er einen Schrei aus, so entsetzlich, so schauerlich, daß selbst Arbellez zitterte und Emma sich anhalten mußte, um nicht zusammenzubrechen. Diesem Schrei folgte ein tiefer, tiefer Seufzer und dann – dann schlug der Kranke die Augen auf.
In diesen Augen hatte Monate lang keine Spur des Selbstbewußtseins gelegen, jetzt aber war es, als ob der Kranke aus dem Schlafe erwache; er blickte zunächst geradeaus, dann nach rechts, nach links – er stutzte; sein Blick verschärfte sich und fiel auf Emma. Da öffneten sich auch die Lippen. »Emma!« sagte er leise. »O Gott, mir träumte, daß mich dieser Alfonzo erschlagen wolle; es war in der Höhle des Königsschatzes. Ist’s wahr, daß ich bei Dir bin?« Er streckte ihr die Hand entgegen, sie nahm sie in die ihrige und sagte: »Du bist bei mir, mein Antonio!« Da griff er mit der Hand nach dem verhüllten Kopfe. »Aber doch thut mir der Kopf so weh, an der Stelle, an welcher mich der Schlag traf,« sagte er. »Warum bin ich verbunden, Emma?« »Du bist ein klein wenig verletzt,« sagte sie. »Ja, ich fühle es,« antwortete er. »Du wirst mir das erzählen, jetzt aber will ich schlafen, denn ich bin sehr müde.« Er schloß die Augen und bald zeigte das ruhige Athmen seiner Brust, daß er in Schlaf verfallen sei. Nun trat Sternau wieder hervor und flüsterte mit freudestrahlender, triumphirender Miene: »Gewonnen! Es ist gelungen! Wenn das Wundfieber gut verläuft, so ist er vollständig hergestellt. Gehen Sie hinab, Sennor Arbellez, und bringen Sie den Wartenden diese freudige Nachricht. Ich werde mit der Sennorita hier wachen.« Der brave Haziendero eilte fort und versetzte mit seiner Nachricht alle Bewohner des Hauses in Freude und Entzücken. Der Tag und die folgende Nacht verflossen sehr günstig, aber der Morgen brachte eine Unruhe, welche sich allerdings nicht auf den Kranken bezog. Es erschien nämlich Büffelstirn, der Häuptling der Miztekas, und fragte nach dem Haziendero.
Als er zu diesem geführt wurde, erzählte er ihm, daß jedenfalls ein Ueberfall der Hazienda geplant werde. Arbellez erschrak. »Da muß ich gleich Sennor Sternau holen,« sagte er. »Sennor Sternau? Den großen Fremden, den ich zu Euch brachte?« fragte der Indianer. »Ja.« »Was soll dieser?« »Uns einen guten Rath ertheilen.« Der Indianer machte eine Bewegung der Geringschätzung und fragte: »Was ist dieser Mann?« »Ein Arzt.« »Ein Arzt der Bleichgesichter! Wie kann er geben einen guten Rath an Büffelstirn, den Häuptling der Miztekas!« »Dir soll er ihn nicht geben, sondern mir. Ihr sollt miteinander berathen, was zu thun ist.« »Ist er ein Häuptling des Rathes im Kampfe gegen die Feinde?« »Er ist ein kluger Mann. Er hat Donnerpfeil gestern in den Kopf geschnitten und ihm den Verstand und das Gedächtniß wiedergegeben.« Der Indianer erstaunte. »Mein Freund Donnerpfeil spricht wieder wie ein vernünftiger Mann?« fragte er. »Ja. Er wird in wenigen Tagen gesund sein.« »So ist dieser Sennor Sternau ein großer Arzt, ein kluger Medizinmann, aber ein Krieger ist er nicht.« »Warum?« »Hast Du seine Waffen betrachtet?« »Ja.« »Hast Du ihn reiten sehen?« »Ja. Ich sah ihn von weitem kommen.«
»Nun siehe, er sitzt auf seinem Pferde wie ein Bleichgesicht, und seine Waffen glänzen wie Silber; das ist bei einem großen Krieger niemals der Fall.« »Du willst also nicht mit ihm berathen?« »Ich bin ein Freund der Hazienda, ich werde es thun, aber es wird keinen Nutzen bringen. Er mag geholt werden und kommen.« Arbellez ging und trat bald darauf mit Sternau ein. Er hatte diesem unterwegs erzählt, was der berühmte Häuptling gesagt hatte. Sternau begrüßte diesen daher mit einem kleinen Lächeln und erkundigte sich: »Ich habe gehört, daß Ihr Büffelstirn seid, der größte Häuptling der Miztekas. Ist dies wahr?« »Ich bin es,« lautete die Antwort. »Welche Botschaft bringt Ihr uns?« »Ich sah, bevor ich Euch nach der Hazienda führte, zwölf Bleichgesichter, welche Euch überfallen und tödten wollten; jetzt aber sah ich dreimal so viele Weiße, welche die Hazienda zerstören und alles Lebendige darin morden wollen.« »Habt Ihr sie belauscht?« »Ja.« »Wann wollen sie kommen?« »Morgen in der Nacht.« »Wo befinden sie sich?« »In der Schlucht des Tigers.« »Ist diese weit von hier?« »Nach dem Maße der Bleichgesichter muß man eine Stunde reiten oder über zwei Stunden gehen.« »Was thun sie jetzt?« »Sie essen, trinken und schlafen.« »Ist Wald in der Schlucht?« »Es ist ein großer, dichter Wald in der Schlucht. Im Walde ist eine Quelle und an dem Wasser liegen sie.«
»Haben sie Wachen ausgestellt?« »Ich habe zwei Wachen gesehen, die eine am Eingange und die andere am Ausgange der Schlucht. Sie saßen unter dem Baume und blickten gen Himmel.« »Wie sind die Bleichgesichter bewaffnet?« »Sie haben Flinten, Messer und Pistolen.« »Wollt Ihr mich hinführen?« Bei dieser Frage blickte der Häuptling den Arzt mit sichtlichem Erstaunen an. »Was wollt Ihr dort?« fragte er. »Ich will mir die Bleichgesichter ansehen.« »Wozu? Ich habe sie bereits gesehen. Wer sie sehen will, der muß durch den Wald und im Moose kriechen, und da würdet Ihr Euch Eure schönen, mexikanischen Kleider beschmutzen.« Dies sagte er mit einem beinahe beleidigenden Lächeln, und dann fügte er hinzu: »Und wer zu ihnen geht, sie zu belauschen, den werden sie erschießen.« »Fürchtet Ihr Euch, mich zu begleiten?« fragte Sternau. Da blickte ihm der Miztekas verächtlich in das Angesicht und sagte: »Büffelstirn kennt keine Furcht. Er wird Euch führen, aber er kann Euch nicht helfen, wenn dreimal zwölf Bleichgesichter über Euch herfallen.« »So wartet!« Mit diesen Worten entfernte sich Sternau, um sich für den Weg vorzubereiten. »Dieser Doktor wird sterben!« meinte der Indianer mit großer Bestimmtheit. »So wirst Du ihn beschützen!« antwortete Arbellez sehr ernst. »Er hat gesagt, daß er sich vor zwölf Feinden nicht fürchtet: er hat einen großen Mund und eine kleine Hand, er spricht viel und wird nichts thun.«
Damit trat er an das Fenster und blickte hinaus, als ob ihn alles Weitere nichts angehe. Sternau hatte seine Jägerkleidung mit auf die Reise genommen. Er hatte sie auf der Yacht eingepackt und mit nach Mexiko gebracht und in Mexiko dann hinter sich auf das Pferd geschnallt. Er legte sie an und kam dann zurück. »Jetzt können wir gehen,« sagte er. Der Miztekas drehte sich um. Sein Auge fiel auf den Mann, welcher vor ihm stand, und auf seinem Gesichte spiegelte sich sofort das lebhafteste Erstaunen. Sternau trug ein Paar elennlederne Leggins, ein festes Jagdhemde, einen breitkrämpigen Hut und hoch heraufgehende Stiefel. Ueber seiner Schulter hingen ein Henrystutzen, mit dem man fünfundzwanzigmal schießen kann, ohne zu laden, und eine doppelläufige Bärenbüchse. In seinem Gürtel steckten zwei Revolver, ein Bowiemesser und ein glänzender Tomahawk. Diese Waffen, außer dem Tomahawk, hatte der Indianer bereits gesehen. Das Aeußere Sternau’s war jetzt so durchaus kriegerisch und gebieterisch, daß es recht wohl Bedenken einzuflößen vermochte. Der Indianer schritt an ihm vorüber und sagte nur das eine Wort: »Kommt!« Da er Sporen an den Stiefeln trug, fragte Sternau: »Seid Ihr beritten?« »Ja,« antwortete Büffelstirn, noch einen Augenblick stehen bleibend. »Wollt Ihr nach der Schlucht des Tigers reiten?« »Ja.« »Laßt Euer Pferd da, wir werden gehen.« »Warum?«
»Ein Mann kann sich eher verbergen, als ein Reiter, und ein Pferd verräth sehr leicht Den, dem es gehört. Ich will nicht die Fährte eines Pferdes machen.« Der Blick des Miztekas leuchtete auf. Er sah ein, daß Sternau recht hatte. Er führte sein Pferd nach der Walde und trat dann mit dem Deutschen hinaus in das Freie. Er schritt mit langsamen, großen Schritten voran, ohne sich umzusehen. Nur einmal, als der Boden sandig war, blieb er stehen und blickte auf die Spur zurück, welche sie gemacht hatten. Es war nur die Spur eines einzigen Mannes, denn Sternau war in die Fußtapfen seines Führers getreten. »Ugh!« sagte dieser und nickte still mit dem Kopfe. Der Weg führte erst über von Sandflächen durchbrochenes Weideland, dann über einige mit Kleinholz bewachsene Höhen und endlich in einen tiefen Wald, dessen Bäume so stark waren, daß sich ein Mann ganz gut hinter ihnen verbergen konnte. Jetzt waren sie nun fast zwei Stunden gegangen und Sternau bemerkte, daß der Indianer vorsichtiger wurde; er schloß daraus, daß die Schlucht des Tigers in der Nähe sei. Zum Ueberflusse blieb der Miztekas stehen und sagte leise: »Sie sind nicht weit von uns; macht keinen Lärm!« Sternau beantwortete diese Mahnung mit keiner Silbe, mit keiner Miene und folgte seinem Führer schweigend weiter. Endlich legte sich dieser platt auf den Boden und bedeutete ihm, ein Gleiches zu thun. So krochen sie nun leise, ganz leise vorwärts, bis laute Stimmen an ihr Ohr schlugen. Sie kamen nun in kurzer Zeit an den Rand einer tiefen Schlucht, deren Wände steil abfielen, so steil, daß man sie unmöglich erklettern konnte. Diese Schlucht war vielleicht achthundert Schritte lang und dreihundert Schritte breit. Auf ihrem Grunde schlängelte sich ein Wasser dahin und an dem Ufer desselben lagen, im Grase
ausgestreckt, gegen dreißig wohlbewaffnete Gestalten. Sowohl am Ein- als auch am Ausgange der Schlucht saß eine Wache. Sternau überblickte das in einer Sekunde, dann flüsterte er: »Ihr habt dreimal zwölf Krieger gesehen?« »Ja.« »Jetzt sind es kaum zweimal fünfzehn. Die Anderen sind fort.« »Sie werden auf Kundschaft gehen.« »Oder auf Raub.« Er horchte hinab. Es wurde so laut gesprochen, daß man ganz deutlich jedes Wort vernehmen konnte. Diese Menschen mußten sich sehr sicher fühlen. »Und wie viel sollten wir erhalten, wenn wir sie erwischten?« sagte der Eine. »Zehn Pesos der Mann? Das war genug. So viel sind zwei Deutsche und ein Spanier nicht werth.« Aus diesen Worten hörte Sternau, daß die Rede von ihm und seinen beiden Gefährten war. »Sie hatten einen anderen Weg eingeschlagen, hole sie der Teufel!« sagte ein Zweiter. »Warum fluchst Du?« fragte dessen Nachbar. »Ich sage Dir, es ist gut, daß sie uns entgangen sind, denn nun erhalten wir die ganze Hazienda als Beute, allerdings nur unter der Bedingung, daß wir Alles niederschießen, besonders aber den einen Deutschen und den Spanier.« »Wie nannte der Sennor die beiden Namen?« »Der Deutsche heißt Sternau und der Spanier Lautreville.« »Ob wir Männer genug sind, um die Hazienda zu überwältigen? Dieser Arbellez soll gegen fünfzig Vaqueros haben.« »Narr, wir überraschen sie ja!« Jetzt wußte Sternau genug. Er war nicht der Mann, unnöthigerweise Menschenblut zu vergießen, hier aber handelte es sich um die Ausrottung einer Räuber- und Mörderbande. Er griff zum Henrystutzen und nahm ihn langsam und vorsichtig von der Schulter.
»Was wollt Ihr thun?« flüsterte der Indianer besorgt. »Diese Menschen tödten.« Der Häuptling sperrte den Mund auf. »So Viele?« fragte er. »Ja.« Man sah es dem Gesichte des Indianers an, daß er seinen Begleiter für vollständig verrückt halte. Er wollte sich zurückziehen. Aber Sternau gebot: »Bleib! Oder fürchtest Du Dich! Ich bin Matava-se, der Fürst des Felsens. Diese Mörder sind alle in unsere Hand gegeben.« Bei der Nennung dieses Namens fuhr der Indianer vor Schreck halb empor, um eine Bewegung der tiefsten Ehrerbietung zu machen. »Du bestreichst den Ausgang mit Deiner Büchse. Es darf Keiner entkommen.« Bei diesen Worten legte Sternau auch die Büchse handgerecht vor sich hin, griff dann wieder zum Stutzen, legte an und senkte das Rohr nach abwärts. Aber er besann sich doch anders. »Du sollst sehen, wie der Fürst des Felsens seine Feinde besiegt.« Mit diesen Worten erhob er sich, so daß er von unten vollständig gesehen werden konnte. Er stieß einen lauten Schrei aus, wie die Prairiejäger es thun, wenn sie sich im Urwalde verloren haben, und sofort richteten sich Aller Augen nach ihm empor. »Hier steht Sternau, den Ihr haben wollt!« rief er hinab. Seine Stimme schallte im Echo wieder und zugleich krachte sein Stutzen zum erstenmale. Die Briganden waren aufgesprungen und griffen nach ihren Gewehren, welche in der Schlucht zerstreut umher lagen. Aber sobald sich Einer nach dem Gewehre bückte, traf ihn die Kugel aus dem furchtbaren Stutzen des Deutschen und sobald Einer Miene machte, durch den Eingang zu entfliehen, streckte ihn die nächste Kugel nieder.
Die Schüsse fielen so schnell hintereinander, als ob zehn Schützen aus Doppelgewehren feuerten. Auch der Indianer hatte mit seiner Büchse Zwei niedergestreckt, und als Sternau endlich den Stutzen wegwarf und nach der Büchse griff, waren nur noch Zwei übrig. Den Einen schoß er nieder, den Letzten aber wollte er schonen. »Lege Dich nieder und bewege Dich nicht!« rief er ihm zu. Der Mann gehorchte auf der Stelle. »Geh hinab zu ihm, während ich ihn von oben bewache,« gebot er dem Häuptling der Miztekas. Dieser eilte in weiten Sprüngen am Rande der Schlucht dahin, bis er unten am Ausgange die Sohle erreichte und dann den Mann, der noch immer bewegungslos am Boden lag. Nun konnte dieser nicht entkommen, und Sternau folgte nach. »Stehe auf!« gebot er ihm, als er unten angekommen war. Der Mann erhob sich. Er zitterte an allen Gliedern. Ein solches Massacre war ihm noch gar nicht vorgekommen. »Wie viele Männer wart Ihr?« fragte ihn Sternau. »Sechsunddreißig.« »Wo sind die Fehlenden?« Der Mann zögerte mit der Antwort. »Rede, sonst kostet es Dich Dein Leben!« »Sie sind nach der Hazienda Vandaqua.« »Was thun sie dort?« »Sie besuchen den Sennor.« »Wer ist der Sennor?« »Der uns befahl, die Hazienda del Erina zu überfallen.« »Hat er Euch seinen Namen nicht genannt?« »Nein.« »Ach, ich kenne ihn dennoch. Habt Ihr Pferde bei Euch?« »Ja.« »Wo sind sie?« »Sie weiden nicht weit von hier auf einer Lichtung.«
»Wie weit ist es von hier bis zur Hazienda Vandaqua?« »Drei Stunden.« »Wann ritten die Leute fort?« »Vor einer Stunde.« »Wann wollen sie wiederkommen?« »Kurz vor Abend.« »Gut! Führe uns nach der Weide, wo sich die Pferde befinden!« Sternau lud zunächst seine Gewehre wieder, dann ließ er sich nach der Weide bringen. Hier wurden die drei besten Pferde ausgelesen und nach der Schlucht gebracht. Alle vorhandenen Waffen wurden in Decken gebunden und den Pferden aufgeladen. Sodann wurde auch der Gefangene aufgebunden; die beiden Sieger stiegen auf, und es ging fort, im Schritt durch den Wald, im Trab über die Berge und im Galopp auf der Ebene. Wie erstaunten die Bewohner der Hazienda, als die kleine Truppe dort anlangte. Sternau hatte seinen Patienten verlassen müssen, daher war sein erster Weg zu diesem. Unterdessen erzählte der Miztekas seinen staunenden Zuhörern, was geschehen war. »Dieser Arzt ist der größte Held der Prairie,« sagte er. »Er ist Matavase, der Fürst des Felsens. Er hat fast zweimal fünfzehn Feinde getödtet in zwei Minuten, und dennoch ist seine Büchse nicht warm geworden.« Er war soeben mit seinem Berichte fertig geworden, als Sternau wieder erschien. Er hatte seinen Patienten schlafend gefunden und Emma seine Maßregeln eingeschärft. Alle anderen Bewohner der Hazienda standen im Hofe versammelt. Petro Arbellez trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand. »Sennor, Sie sind ja ein wahrer Teufel!« sagte er. »Aber es ist gut so, denn Sie haben mich von einem fürchterlichen Feinde errettet.« Sternau nickte nur und erkundigte sich dann: »Wie weit liegt die Hazienda Vandaqua von hier?«
»Drei Reitstunden.« »Wie stehen Sie mit dem Besitzer?« »Er ist mein Feind.« »Ich dachte es. Dort steckt jetzt Pablo Cortejo, welcher diese Mörderbande gegen Euch gedingt hat. Wir müssen ihn haben. Ihr, Mariano und ich reiten mit zehn Mann hin. Büffelstirn kehrt mit zehn Mann nach der Schlucht des Tigers zurück, um die Pferde und sonstige Beute zu holen, und die Uebrigen bleiben unter Aufsicht meines Freundes Helmers hier zum Schutze der Hazienda, da man nicht wissen kann, was geschieht. Seid Ihr einverstanden?« Alle die Genannten hatten nichts gegen die Rollen, welche ihnen zugetheilt worden waren, und so dauerte es nicht lange, so ritten die beiden Trupps von der Hazienda ab, ihrem Ziele entgegen. Die Abtheilung unter Büffelstirn hatte glatte Arbeit. Die Leute erreichten die Schlucht, plünderten die Todten und luden die sämmtliche Beute auf die Pferde, welche sie nach Hause brachten. Anders war es mit der Abtheilung, welche nach der Hazienda Vandaqua bestimmt war. Diese mußte vorsichtig verfahren. Als man die Grenze überschritten hatte, begegnete ihnen ein Cibolero, der von der Hazienda kam. Sternau ritt an ihn heran und fragte: »Du kommst von der Hazienda Vandaqua?« »Ja, Sennor.« »Ist der Besitzer zu Hause?« »Er sitzt beim Monte und spielt um silberne Pesos.« »Mit wem spielt er?« »Mit einem fremden Sennor aus der Hauptstadt.« »Wie heißt dieser?« »Ich habe den Namen wieder vergessen.« »Cortejo?« »Ja.« »Sind noch andere Fremde bei Euch?«
»Noch sechs Sennores, welche vorhin erst kamen. Sie liegen bei den Vaqueros und spielen auch, aber nicht um silberne Pesos.« Jetzt galt es nun vor allen Dingen, die richtige Art und Weise zu treffen, Cortejo in die Hand zu bekommen. Einen Hausfriedensbruch zu wagen, davon konnte gar keine Rede sein; dennoch aber stimmte sowohl Sternau als auch Mariano dafür, direct dem Haziendero vor das Haus zu reiten und dann zu sehen, was weiter zu machen sei. Man hatte noch eine tüchtige Viertelstunde zu reiten, ehe man die Hazienda zu Gesicht bekam, aber vorher schon bemerkte man von Weitem einige dunkle Punkte, welche weit draußen über die Ebene jagten. Als die Truppe bei der Hazienda ankam, trat ihnen der Besitzer entgegen. »Ach, Sennor Arbellez,« sagte er, indem ein unbeschreibliches Lächeln um seine Lippen spielte. »Was verschafft mir denn die so seltene Ehre, Herr Nachbar?« Da drängte Sternau sein Pferd vor und antwortete an Arbellez’ Stelle: »Verzeiht, Sennor! Ich bin hier fremd und suchte Sennor Cortejo in der Hazienda del Erina. Ich erfuhr aber, daß ich zu Euch muß, um ihn zu finden. ist er zu sprechen?« Das Aeußere Sternaus machte einen solchen Eindruck auf den Haziendero, daß sein Lächeln verschwand. Er erhob den Arm, deutete hinaus in die Ferne und antwortete: ut mir leid, Sennor. Cortejo ist vor Kurzem aufgebrochen.« »Wohin?« »Ich weiß es nicht.« Sternau nickte lächelnd vor sich hin. Es war ja leicht erklärlich, daß dieser Mann Cortejo nicht verrathen würde. Es galt nur, zu prüfen, ob er vorher die Wahrheit gesprochen habe, als er sagte, daß Cortejo aufgebrochen sei. Darum fragte Sternau:
»Würde es uns erlaubt sein, für kurze Zeit auf dieser Hazienda zu rasten?« »Gern,« antwortete der Mann. »Tretet näher, Sennores!« Diese Einladung war Beweis genug, daß Cortejo nicht mehr anwesend sei. »Wer waren die Männer, welche da nach Westen hinüber ritten?« fragte darum Sternau. »Quien sabe – wer weiß es!« antwortete der Haziendero. Es war seinem listigen, verschlagenen Gesichte recht gut anzusehen, daß er hätte antworten können, wenn er gewollt hätte. Sternau machte also kurzen Prozeß: »Lebt wohl!« sagte er, indem er sein Pferd drehte. »Wir werden bald wissen, wer es gewesen ist.« Er sprengte davon, und die Andern folgten ihm. Sie schlugen ganz dieselbe Richtung ein, in welcher sie den Reitertrupp bemerkt hatten; es war die Richtung nach der Schlucht des Tigers. Als sie den Wald erreichten, konnten sie nur sehr langsam vordringen. Die Pferde hinderten das Fortkommen; auch mußten sie eine besondere Vorsicht anwenden, da die Gegner sich versteckt haben konnten, um die Verfolger aus der Verborgenheit heraus niederzuschießen. Sie gelangten jedoch glücklich an den Eingang der Schlucht. Hier ließ Sternau den Trupp halten, um die Spuren zu untersuchen. Er fand, daß die Vaqueros bereits hier gewesen waren; er fand aber auch Spuren, welche aus der Schlucht heraus in westlicher Richtung in den Wald hineinführten. Das war ganz sicher Cortejo mit seinen Leuten gewesen, und nun galt es, zu erfahren, wohin derselbe sich begeben habe. Aus diesem Grunde folgte Sternau mit seinen Leuten diesen Spuren. Dieselben führten immer tiefer in den Wald hinein, schlugen dann eine südliche Richtung ein und traten dann in derselben aus dem Walde hinaus in die baumlose Ebene.
Zur größeren Sicherheit folgte man den Spuren noch bis gegen Abend und überzeugte sich während dieser Zeit, daß die Verfolgten die Absicht hatten, sich nach dem kleinen Städtchen El Oro zu begeben. Dann hielt man beruhigt wieder inne. »Wir können umkehren,« sagte Sternau. »Diese Leute sind uns ungefährlich, wenigstens für einige Zeit. Sie haben eine Lehre erhalten, welche sie sich merken werden.« »Ich werde Anzeige erstatten,« bemerkte der Haziendero. »Was wird dies Ihnen helfen?« »Nichts; ich weiß es wohl. Dieses von der Natur so reich gesegnete Land ist doch eins der unglücklichsten der Erde. Es wird von Parteien zerspalten und zerrissen; der Eine ist gegen den Andern; Gerechtigkeit ist nicht zu finden; es gilt das Recht entweder des Schlechteren oder des Stärkeren, und wer Genugthuung haben will, der muß sie sich selbst nehmen. Ja, laßt uns zurückkehren. Der Anschlag, welcher gegen uns gerichtet war, ist niedergekämpft worden, und man wird uns nicht so bald wieder beunruhigen.« Sie erreichten die Hazienda del Erina, als es bereits längst dunkel geworden war. Was Cortejo betrifft, so war er allerdings in der benachbarten Hazienda gewesen. Um seinen Zweck zu erreichen, hatte er eine der herumziehenden Freibanden, auf welche er zufällig traf, in seinen Sold genommen. Diese Leute hatten zunächst die Aufgabe, Sternau und seine Begleiter unterwegs zu überfallen und zu tödten, und als dies nicht gelang, da die Bedrohten von Büffelstirn gewarnt und sicher nach ihrem Ziele gebracht worden waren, so wurde der Ueberfall der Hazienda beschlossen. Man begab sich in die Nähe derselben, in die Schlucht des Tigers, welche Einigen der Freischärler bekannt war; dort jedoch wurden sie wieder von Büffelstirn belauscht und dann gar von diesem und Sternau ohne Gnade und Barmherzigkeit niedergemacht.
Cortejo fühlte sich zu vornehm, als daß er seinen Aufenthalt bei diesen Leuten hätte nehmen mögen; darum besuchte er die benachbarte Hazienda, von deren Besitzer er wußte, daß er dem braven Petro Arbellez feindlich gesinnt sei. Dort kam ihm die Kunde, daß man nach der Gegend der Schlucht des Tigers ein heftiges Schießen gehört habe, und er brach schnell auf, um sich zu überzeugen, wem dasselbe gegolten habe. Als er die Schlucht erreichte, waren die Vaquero’s unter Anführung Büffelstirns mit ihrer Beute bereits wieder unterwegs, und er fand daher nur die nackten, ausgeblünderten Leichen seiner Verbündeten. Im höchsten Schrecken sprang er vom Pferde und untersuchte die Schlucht. »Sie sind von der Hazienda del Erina hier gewesen,« sagte er zu seinen Begleitern. »Man hat erfahren, was wir beabsichtigten und unsere Leute überfallen. Sehen wir rasch nach unseren Pferden!« Als sie den Ort erreichten, an welchem die iere sich auf der Weide befunden hatten, war keins derselben mehr vorhanden. »Fort, Alles fort!« rief Cortejo. »Diese Leute haben sich ganz gewiß nach Allem genau erkundigt und wissen, daß wir fort waren und hier eintreffen werden. Sie werden also wiederkommen oder haben uns bereits einen Hinterhalt gelegt. Wir müssen fliehen, und zwar schnell, sogleich!« »Ohne uns zu rächen?« fragte finster einer der Männer. »Wir werden uns rächen, aber erst dann, wenn wir Aussicht auf Erfolg haben.« »Und wohin reiten wir?« »Dahin, wo wir am Schnellsten vor Kampf und Verfolgung sicher sind, also nach der nächsten Stadt.« »Also nach El Oro?« »Ja. Aber wir reiten nicht direct, sonst könnten sie uns dorthin folgen. Wir machen einen Umweg.«
»Gut. Wir thun Euch Euren Willen, aber wir bedingen uns aus, daß wir uns dann rächen werden. Wir haben die Verpflichtung, den Tod unserer Kameraden quitt zu machen.« »Diesen Willen sollt Ihr haben.« Cortejo sprach diese Worte aus, ohne daß er es gewußt hätte, wie es ihm möglich sei, sein Versprechen zu erfüllen. Er sah ein, daß sein Vorhaben vollständig verunglückt sei und daß man auf der Hazienda del Erina die Augen offen halten werde. Für die nächste Zeit war nichts zu machen; das glaubte er mit aller Gewißheit annehmen zu können. Sie schlugen also einen Umweg nach Westen zu ein und wandten sich erst wieder nach Süden, als sie den Wald fast hinter sich hatten. Das nahm eine bedeutende Zeit weg, und als sie in die Nähe von El Oro gelangten, war es bereits Nacht geworden. Die Pferde traten sicherer auf als vorher, denn sie fühlten jetzt einen gebahnten Weg unter ihren Hufen. Es war der Weg, welcher nach dem Städtchen führte. Einige Lichter schimmerten ihnen entgegen, und oben tauchte das erste Haus aus dem Dunkel vor ihnen auf, als sie von einer barschen Stimme angerufen wurden. »Wer da?« ertönte die Frage. »Was soll das?« fragte Cortejo. »Was das soll? Eine Antwort will ich haben!« »Wer seid Ihr?« »Donnerwetter, merkt Ihr das nicht? Dann seid Ihr ungeheuer dumm. Eine Schildwache bin ich, verstanden! Und wissen will ich, wer Ihr seid und was Ihr hier wollt!« »Eine Schildwache? Macht keinen Spaß!« sagte Cortejo. »Ich möchte wissen, weshalb man hier eine Schildwache herstellte?« »Ihr werdet sogleich sehen, ob ich zum Spaße oder zum Ernste hier stehe!« antwortete der Mann mit drohender Stimme. »Also, wer da?« »Gut Freund!« lachte Cortejo. »Laßt uns weiter!«
Da zog der Mann ein Pfeifchen aus der Tasche und blies hinein. Ein heller Pfiff ertönte. »Was thut Ihr da?« fragte Cortejo. »Ihr hört es ja. Ich gebe ein Signal.« »Macht keine Faxen!« Mit diesen Worten wollte Cortejo den Mexikaner zur Seite schieben, dieser jedoch schlug sofort sein Gewehr auf ihn an und rief: »Zurück! Bleibt halten, sonst jage ich Euch eine Kugel durch den Kopf! Ihr habt zu warten, bis Leute kommen. El Oro steht unter Belagerungszustand.« »Ach! Seit wann?« »Seit zwei Stunden.« »Und wer hat es unter diesen Zustand gestellt?« »Sennor Juarez.« Dieser Name übte eine sofortige Wirkung. Die Männer, welche Cortejo begleiteten, hatten Miene gemacht, den Posten einfach über den Haufen zu reiten, jetzt aber drängten sie ihre Pferde zurück. Auch Cortejo stieß einen Ruf der Ueberraschung aus. »Juarez!« rief er. »Ist er hier in El Oro?« »Ihr hört es ja!« »O, das ist etwas Anderes; ich werde mich fügen! Da kommen schon Eure Kameraden.« Auf den Pfiff des Postens war ein zweiter als Antwort erschollen und jetzt nahten einige sehr gut bewaffnete Männer, von denen der Eine, ihr Anführer, fragte: »Was giebt es, Hermillo?« »Diese Männer wollen in die Stadt.« »Wer ist es?« »Sie haben den Namen noch nicht gesagt.« »So werden sie mir ihn wohl nennen.«
»Ich heiße Cortejo,« sagte dieser, »und bin aus der Hauptstadt. Jetzt befinde ich mich auf dem Rückwege nach derselben und wollte in El Oro übernachten.« »Gehören die Andern zu Euch?« »Ja.« »Was seid Ihr?« »Ich bin Verwalter der Besitzungen des Grafen Rodriganda.« »Ach, auch so ein vornehmer Blutsauger! Kommt, und folgt mir!« Diese Worte wurden in einem nicht sehr freundschaftlichen Tone gesprochen. »Ich werde doch vielleicht vorziehen, weiter zu reiten,« sagte Cortejo schnell. Er fand keinen Wohlgefallen an seiner gegenwärtigen Lage; sie konnte ihm muthmaßlicher Weise von keinem Vortheile sein; daher machte er die letzte Bemerkung. »Das geht nicht,« antwortete der Mann. »Ihr seid bis an unsere Vorposten gekommen und dürft nun nicht mehr zurück. Vorwärts!« Jetzt folgte Cortejo. Es war kein großes Wagestück, auf dem Pferde in der Finsterniß der Nacht zu entkommen, aber Cortejo war kein Held; er zog es vor, zu gehorchen. Der Patrouillenführer geleitete sie in das Städtchen, welches nur aus wenigen Häusern bestand, heute aber sehr belebt war. Ueberall erblickte man angehängte Pferde, deren Reiter sich bei den Einwohnern des Ortes gütlich thaten. Juarez ist derselbe, welcher in dem traurigen Schicksale des Kaisers Maximilian von Mexiko später eine so hervorragende Rolle spielte. Er war jetzt noch nicht Präsident sondern nur ein Parteiführer, doch besaß er bereits genug Berühmtheit, um gefürchtet zu werden. Er war kein Weißer, sondern ein Indianer. Man wußte, daß er verwegen, listig und grausam sei; aber er besaß einen uner-
schütterlichen Charakter und einen Willen, der fast genug war, in den politischen Wirrwarr des Landes Klarheit und Festigkeit zu bringen. Er hatte sein Quartier im besten Hause des Städtchens aufgeschlagen. Dorthin wurde Cortejo mit den Seinen geführt. Vor dem Eingange hielten vier bewaffnete Fahnenreiter mit gezogenen Degen Wache. Cortejo stieg mit den Seinen vom Pferde und gelangte mit seinem Führer in das Innere des Hauses. Dort wurde er sofort in ein großes Gemach geleitet, in welchem man soeben beim Abendbrode saß. Am oberen Ende der Tafel präsidirte Juarez, der Indianer. Er trug sein Haar damals ganz kurz geschoren, so daß man den eckigen Bau seines mächtigen Schädels deutlich bemerken konnte. Er war sehr einfach gekleidet, einfacher als alle die Herren seiner Umgebung, aber selbst ein Fremder hätte ihm angesehen, daß er ihrer aller Herr sei. »Was ist’s?« fragte er kurz, als er die Eintretenden bemerkte. »Diese Leute sind vom Posten angehalten worden,« antwortete der Wachthabende. Das dunkle Auge des Indianers richtete sich mit stechender Schärfe auf Cortejo. »Wer seid Ihr?« fragte er. »Ich heiße Cortejo, bin der Verwalter des Grafen de Rodriganda und wohne in Mexiko,« antwortete Cortejo. Juarez sann einen Augenblick nach und fragte dann weiter: »Des reichen Spaniers Rodriganda, dem auch die Hazienda del Erina gehörte?« »Ja.« »Wo wollt Ihr hin?« »Heim nach Mexiko.« »Und wo kommt Ihr her?« »Von der Hazienda Vandaqua.«
»Was habt Ihr dort gethan?« »Den Haziendero besucht.« »In welcher Angelegenheit?« »Aus Freundschaft.« Die Augenbrauen Juarez’ zogen sich finster zusammen, und er stieß die Frage hervor: »Ach, Ihr seid sein Freund?« »Ja,« antwortete Cortejo unbefangen. »So seid Ihr der meinige nicht. Dieser Mensch ist ein Anhänger von Miramon.« Cortejo erschrack. Miramon war der Präsident von Mexiko, und Juarez trachtete nach der Präsidentschaft. Er zog im Lande umher, um sich Anhänger zu sammeln, und vernichtete dabei rücksichtslos Denjenigen, welcher sich ihm nicht ergeben zeigte. »Ich habe ihn nach seiner politischen Ansicht niemals gefragt.« Mit diesen Worten wollte Cortejo sich vertheidigen, schien aber seine Lage nicht verbessert zu haben, denn es traf ihn ein Blitz aus den dunklen Augen. Die Lippen Juarez’ zogen sich auseinander, so daß man die weiß glänzenden Zähne erblickte, etwa wie bei einem Zähne fletschenden Kettenhunde, und dann meinte er: »Das macht mir nicht weiß! Wo Zwei beieinander sind, da wird von Politik gesprochen; das bringt der gegenwärtige Stand der Verhältnisse mit sich. Uebrigens weiß ich, daß auch Ihr ein Anhänger von Miramon seid.« Das klang noch bedrohlicher als vorher, und Cortejo beeilte sich daher, sich zu vertheidigen. Er sagte: »Das muß ein Irrthum sein, Sennor. Ich habe den Parteien stets fern gestanden.« »So seid Ihr weder warm noch kalt, und das ist noch schlimmer. Uebrigens habe ich gehört, daß Graf Rodriganda auf bloßen Wunsch hin ein ganzes Detachement Lanzenreiter erhalten hat,
um sich die Hazienda del Erina zu unterwerfen. Muß er da nicht Freund des Präsidenten sein?« »Er vielleicht, aber doch nicht ich!« »Pah! Wie der Herr, so der Diener. Ich werde mit Euch vorsichtig sein und Euch, so lange ich nicht vom Gegentheile überzeugt bin, als Spion betrachten.« »Sennor, der bin ich nicht!« stieß Cortejo ängstlich hervor. »Das wird sich finden. Ihr kommt mir verdächtig vor. Von Mexiko bis nach der Hazienda Vandaqua macht man keinen bloßen Freundschaftsbesuch!« »Aber, Sennor, ich habe gar nicht gewußt, daß Sie in El Oro sind!« »So haben Sie es erfahren wollen. Oder liegt El Oro etwa auf dem Wege von der Hazienda nach Mexiko? Weshalb dieser Umweg?« Cortejo konnte eine Verlegenheit nicht verbergen. »Ihr schweigt?« fuhr der Indianer fort. »Gut, ich lasse Euch einsperren, und morgen wird sich die Wahrheit finden.« »Ich bin unschuldig!« betheuerte Cortejo. »Das wird gut für Euch sein! Jetzt aber fort mit Euch!« Da erhob sich unter den an der Tafel Sitzenden eine Stimme: »Sennor Juarez, erlaubt! Haltet Ihr mich für einen aufrichtigen Freund?« Der Sprecher war ein großer, ungewöhnlich stark gebauter Mexikaner. Seine Gestalt fiel umso mehr auf, als die Bewohner Mexikos gewöhnlich kleiner Statur sind. »Welche Frage, Sennor Verdoja!« antwortete Juarez. »Hätte ich Euch zum Kapitän meiner Leibwache gemacht, wenn ich Euch nicht traute? Was wollt Ihr mit dieser Frage?« »Ich möchte Euch bitten, den Worten Cortejo’s zu glauben!« sagte der Große. Cortejo hatte in seiner Befangenheit die Einzelnen noch gar nicht näher gemustert und also auch diesen Mann nicht beachtet;
aber bei dem tiefen, rauhen Klange seiner Stimme zog der Ausdruck einer freudigen Ueberraschung über sein Gesicht. Er fühlte sich gerettet, denn er kannte seinen Fürsprecher. Verdoja war zwar kein Millionär, aber doch ein ziemlich wohlhabender Grundbesitzer. Er besaß im Norden des Landes ein weitläufiges Weidegebiet und war dort der Nachbar Rodriganda’s. Auch der Graf hatte dort eine Besitzung. Es befanden sich auf derselben alte Quecksilbergruben, und deshalb hätte Verdoja dieses Besitzthum gern an sich gebracht, aber Graf Ferdinando hatte nicht verkaufen wollen. »Wieso? Kennt Ihr ihn?« fragte ihn Juarez. »Ja,« lautete die Antwort. »Ihr haltet ihn nicht für gefährlich?« »Nein, im Gegentheil, er ist Euer Freund. Ich garantire für ihn!« Juarez musterte Cortejo nochmals aufmerksam und sagte dann: »Wenn Ihr garantirt, so mag es gehen. Aber Ihr seid verantwortlich für Alles.« »Gern, Sennor!« Da wendete sich Juarez zu Cortejo: »Wer sind die Männer bei Euch?« »Es sind meine Begleiter, brave Leute, die Keinem etwas thun.« »Sie können abtreten und sich ein Lager suchen. Ihr aber mögt mit uns essen. Ich übergebe Euch an Sennor Verdoja. Ihr habt gehört, daß er verantwortlich für Euch ist, und ich hoffe, daß Ihr ihn nicht in Schaden bringt!« Somit hatte sich die erst so gefährlich aussehende Angelegenheit zum Besten gewendet. Man machte Cortejo Platz am Tische; er kam neben Verdoja zu sitzen und theilte das Abendbrot des berühmten oder vielmehr berüchtigten Indianers Juarez, welcher berufen war, Präsident von Mexiko zu werden und einem Oesterreichischen Erzherzoge die Kaiserkrone vom Kopfe zu stoßen.
Das Mahl war nicht fein, aber desto mehr substantiös. Es wurden Speisen und Getränke in Menge vertilgt, und als man fertig war, konnte kein Einziger mehr sagen, daß er nüchtern sei. Nur Juarez allein war so mäßig gewesen wie die Indianer es gewöhnlich sind. Er hob die Tafel auf und zog sich zurück. Dies war das Signal zum Aufbruche, und nun erst konnten Verdoja und Cortejo ungestört miteinander sprechen. Der Erstere nahm den Letzteren unter den Arm und verließ mit ihm das Haus. »Ihr werdet bei mir schlafen,« sagte er. »Ich hoffe, daß es Euch nicht unangenehm ist, mein Quartier zu theilen!« »Ich bin im Gegentheil sehr erfreut darüber,« antwortete Cortejo. »Nehmt übrigens meinen Dank für Eure Befürwortung, Sennor Verdoja. Ohne dieselbe hätte ich heute Nacht vielleicht nicht sehr bequem geschlafen.« »Höchst wahrscheinlich. Ich erschrak förmlich, als ich hörte, daß Ihr auf der Hazienda Vandaqua gewesen seid; denn dieser gilt ja, im Vertrauen gesagt, unser Besuch.« »Ist’s möglich!« Cortejo erschrak jetzt nachträglich so, daß es ihm war, als habe er einen Schlag erhalten. Er kannte den Ruf des Indianers und bemerkte jetzt, daß sein Leben an einem Haare gehangen habe. »Ja, es ist so,« antwortete der Hauptmann. »Ich sollte es Euch allerdings nicht sagen, denn es ist bis jetzt noch Geheimniß. Aber was zum Teufel habt Ihr denn auf dieser Hazienda zu thun gehabt? So viel ich weiß, ist Euch dieser Nachbar doch niemals recht gewogen gewesen!« »Das ist anders geworden, Sennor Verdoja. Er ist mein Nachbar nicht mehr!« »Nicht? Wie geht das zu?« »Die Hazienda del Erina gehört uns nicht mehr.« »Wem sonst? Habt Ihr verkauft?«
»Nein. Petro Arbellez hat sie geerbt.« »Donnerwetter! Vom Grafen Ferdinando?« »Ja.« »Da schlage das Wetter drein! Mir verkaufte er den Fetzen Landes, den ich haben wollte, nicht, und hier verschenkt er einen Flächenraum von zwanzig geographischen Quadratmeilen. Doch, darüber sprechen wir weiter. Tretet ein; ich wohne hier.« Sie waren an ein anderes Haus gekommen, dessen ür bei ihrem Nahen geöffnet wurde. Die Eigenthümer der Wohnung ließen sich nicht sehen. Verdoja hatte das beste Zimmer inne; sein Lager war bereitet und auf dem Tische war ein Mahl aufgetragen. »Essen werden wir wohl nicht,« sagte er. »Hier in dem Bette schlafe ich, und ihr müßt mit meiner Hängematte zufrieden sein, die wir aufmachen werden.« »Ich bin zufrieden; genirt Euch nicht, Sennor,« meinte Cortejo. Die Hängematte wurde befestigt und Cortejo nahm in derselben Platz. Der Hauptmann setzte sich auf sein Bette, streckte dem Anderen eine Cigarrette hin, steckte sich selbst eine an und fragte dann: »Wie ich hörte, ist Graf Ferdinando gestorben?« »Allerdings.« »Und Alfonzo ist Erbe?« »Ja.« »Er befindet sich in Spanien?« »Seit einiger Zeit.« »So habt Ihr die Verwaltung seiner hiesigen Ländereien ganz allein über?« »Ja.« »Das will ich Euch gönnen, Sennor Cortejo!« lachte Verdoja cynisch. »Ihr sitzt nun im Rohre und werdet Euch Pfeifen schneiden. Könnte dabei nicht vielleicht Etwas für mich abfallen, mein lieber Cortejo?«
»Ihr meint in Bezug auf das Quecksilberland?« »Ja, natürlich.« »Hm, darüber läßt sich jetzt vielleicht besser sprechen als früher. Aber sagt mir zunächst einmal, was Juarez auf der Hazienda Vandaqua will!« »Er will dem Haziendero an den Kragen.« »Alle Teufel! Warum?« »Er ist von ihm verrathen worden.« »In wiefern?« »Das darf ich nicht sagen, aber so viel ist sicher, morgen um diese Zeit lebt der Haziendero nicht mehr. Juarez kennt keine Gnade und Nachsicht. Uebrigens werde ich dabei Eure Hazienda del Erina auch schon zu sehen bekommen.« »Ah! In wiefern?« »Weil ein eil von uns dort Quartier nimmt.« »Hm!« brummte Cortejo. »Und Ihr mit?« »Ja.« Cortejo blickte still vor sich hin, und der Hauptmann, dem dies auffiel, fragte ihn: »Worüber denkt Ihr nach, Sennor?« »Ueber das Quecksilberland,« lächelte Cortejo. »Wieso? Wollt Ihr den Grafen Alfonzo bereden, daß er es mir verkauft?« »Nein, sondern ich will etwas thun, was Euch noch bedeutend lieber sein wird.« »Was? Ihr macht mich neugierig.« »Die Besitzung, welche Ihr das Quecksilberland zu nennen beliebt, liegt Euch bequem?« »Natürlich. Sie liegt ja an meiner Grenze.« »Graf Ferdinando verkaufte sie nicht, weil er meinte, daß dort ein ungeheurer Metallreichthum liege.« »Er irrt sich!«
»Pah! Ihr wißt ebenso gut wie ich, daß er recht hat, Sennor Verdoja. Wie viel bietet ihr für das Land?« »Wollt Ihr verkaufen?« fragte Verdoja schnell. »Zunächst will ich wissen, wie viel Ihr bietet.« »Hm, viel wird es nicht sein. Es ist kein Weideland, und gerade dies brauche ich nothwendig.« »Geberdet Euch nicht wie ein Jude, der den Gegenstand tadelt, den er zu haben wünscht. Wir kennen uns seit längerer Zeit, und ich glaube, daß wir aufrichtig miteinander reden können. Also sprecht!« »Es ist, wie gesagt, kein Weideland. Es besteht aus schroffen, unbewachsenen Höhen und tiefen, vegetationslosen Schluchten: aber es liegt in meiner Nachbarschaft, und darum würde ich vielleicht hunderttausend Pesos bieten.« Cortejo stieß ein Lachen aus und sagte: »Ihr seid hunderttausendmal nicht klug.« »Warum meint Ihr das, Sennor?« »Das Besitzthum wurde vom Grafen mit fünfmalhunderttausend Pesos gekauft und ist, wie es jetzt liegt, wenigstens viermal so viel werth.« »Das sind Ansichten!« »Bewahrheitet sich aber meine Vermuthung, daß dort neben dem Quecksilber auch noch die edlen Metalle zu finden sind, so ist es mit fünf Millionen nicht bezahlt, denn es wird eine Rente bringen, die sich nicht nur auf Hunderttausende, sondern vielleicht auf eine Million beziffern kann.« »Ihr phantasirt!« »Ich sage meine nüchterne Ansicht, spreche aber allerdings nicht von der Gegenwart, sondern von der Zukunft und gehe dabei von der Voraussetzung aus, daß jener Landestheil eine zahlreiche Arbeiterbevölkerung erhält.« »Aber Voraussetzungen pflegt man nicht mit zu bezahlen!«
»Ich weiß das. Ich stelle Euch das übrigens nicht in egoistischer, sondern nur in einer sehr wohlmeinenden Absicht vor.« »Donnerwetter, seit wann seid Ihr da auf einmal so wohlmeinend geworden?« »Seit heute. Ihr wißt, daß ich zu rechnen verstehe, aber Ihr habt mir heute einen großen Dienst erwiesen. Ohne Euch wäre ich vielleicht erschossen worden, und darum will ich wegen des Quecksilberlandes einmal nicht so mit Euch rechnen.« Der Hauptmann zog eine spöttische Miene und sagte: »Ihr wollt mir die Besitzung doch nicht etwa schenken?« »Ja,« antwortete Cortejo. Verdoja sprang vom Bette auf. »Was sagt Ihr da?« rief er. »Was Ihr gehört habt: daß ich Euch dieses schöne Quecksilberland geradezu schenken will.« Der Andere ließ sich wieder auf sein Bett nieder und sagte kalt: »Unsinn! Das klingt ja ganz ungeheuerlich!« »Und dennoch ist es wahr!« »Hört, Cortejo, was würdet Ihr thun, wenn es mir einfiele, Euch beim Worte zu nehmen?« »Ich würde es halten.« »Hört, jetzt seid Ihr hunderttausendmal nicht klug, wie Ihr vorhin zu mir sagtet!« »Dieses scheint nur so, ich weiß ganz genau, was ich sage.« Jetzt wurde Verdoja ungeduldig. »So redet im Ernste und erlaubt Euch keinen so albernen Scherz mit mir!« sagte er. »Ich spreche ja im Ernste, Sennor.« »Aber, beim Teufel, ein solches Land verschenkt ja kein halbwegs vernünftiger Mensch!« »Wenigstens nicht ohne anderweitige Absicht und Berechnung.«
»Ah, jetzt kommt die Erklärung! Ihr habt also eine Absicht und Berechnung dabei?« »Natürlich!« »Darf man dieselbe kennen lernen?« »Versteht sich! Es handelt sich nämlich um einen kleinen Dienst, den Ihr mir leisten sollt.« »So redet! Ich bin begierig, zu erfahren, für welchen Dienst ich eine solche Gratification erhalten soll.« »Hm, man muß dabei ein Wenig vorsichtig sein. Wir kennen uns zwar und dürfen uns also Vertrauen schenken. Ich weiß, daß Ihr tüchtige Körperkräfte besitzet – –« »Allerdings. Aber was hat dies hierbei zu thun?« »Daß Ihr ein tüchtiger Schütze und Fechter seid – –« »Freilich! Auch meinen Dolch weiß ich zu führen.« »Das ist es, was ich brauche. Auch nehme ich an, daß Ihr Euch stets in einer guten Uebung erhalten habt – –« »Gewiß,« lachte der Hauptmann noch. »Es hat Mancher, der mit mir anzubinden wagte, in das Gras beißen müssen.« »Nun, so stehen Eure Aktien so ziemlich gut. Es handelt sich nämlich um einige Personen, welche mir im Wege stehen.« »Ah!« rief der Hauptmann. »Meint Ihr einen solchen Dienst, Sennor Cortejo?« »Allerdings.« »Ihr wollt mich als Meuchelmörder dingen?« »Nein. Ich will Euch nur auf einige Leute aufmerksam machen, mit denen Ihr sonst sehr leicht in Streit gerathen könnt. Und dann würdet Ihr Euch, so weit ich Euch kenne, wohl zu helfen wissen.« »Ich denke es. Also wenn diese Leute mit mir anbinden würden und sich dabei eine Kugel oder einen guten Stich oder Hieb holten, so – hm?« »So würde ich Euch das Quecksilberland schenken.« »Donnerwetter! Ist’s wahr?« fragte Verdoja ganz begeistert.
»Gewiß.« »Aber das Land gehört Euch nicht, es gehört dem Grafen Alfonzo de Rodriganda.« »Er würde beistimmen.« »Ihr wollt sagen, daß er die Schenkungsurkunde unterzeichnen würde?« »Ja, gerade dies und nichts Anderes will ich sagen, Sennor Verdoja.« »So wünsche ich nichts sehnlicher, als daß ich diese Leute treffe.« »Nichts leichter als das. Vielleicht seht Ihr sie bereits am morgenden Tage.« »Wo?« »Auf der Hazienda del Erina.« »Alle Teufel! Ihr meint doch nicht etwa gar den alten Sennor Petro Arbellez?« »Nein, sondern seine Gäste. Es befinden sich nämlich einige Männer bei ihm, die ich gern im Himmel oder meinetwegen auch in der Hölle wissen möchte.« »Wer sind sie?« »Da ist zunächst ein deutscher Arzt, welcher Doktor Sternau heißt.« »Schön. Ich werde mir diesen Namen merken.« »Sodann ein deutscher Seemann, er heißt wohl Helmers; und drittens ist es ein Spanier, der sich Mariano oder vielleicht auch Lieutenant Alfred de Lautreville nennt.« »Also diese Drei?« »Ja.« »Sternau, Helmers und Mariano, oder Lautreville. Ich werde diese Namen nicht vergessen. Also ich setze den Fall, daß sie Händel mit mir beginnen und ich erwehre mich ihrer, so ist das Quecksilberland mein?«
»Ja.« »Wer garantirt mir?« »Ich, mit meinem Ehrenworte.« »Hm, das ist zwar auch eine Garantie, aber eine ungewisse. Was habt Ihr denn eigentlich gegen diese Leute? Haben sie Euch beleidigt?« »Ja.« »Macht mir nichts weiß, Sennor Cortejo. Um sich wegen einer Beleidigung rächen zu können, giebt man keine solche Besitzung umsonst hin. Es muß etwas Anderes sein.« »Und wenn es das ist, was geht es Euch an?« »Das ist richtig; aber warum bringt Ihr sie nicht selbst auf die Seite?« »Kann ich? Ich bin mit Petro Arbellez verfeindet und darf mich in Folge dessen nicht auf der Hazienda del Erina blicken lassen.« »So lauert sie ab, wenn sie die Hazienda verlassen!« »Mein Amt läßt mir nicht die Zeit dazu. Uebrigens war ich jetzt deshalb hier. Ich will Euch sagen, daß ich mir einen Trupp hübscher Burschen angeworben hatte –« »Dreier Männer wegen?« spottete der Hauptmann. »Ja, lacht nur! Diese drei Kerls haben neunundneunzig Teufel im Leibe!« »Das macht pro Mann dreiunddreißig. Nun, und wie es scheint, seid Ihr nicht mit ihnen fertig geworden?« »Nein. Sie haben mir meine Leute alle erschossen und nur zufällig bin ich mit den Wenigen davongekommen, welche Ihr bei mir gesehen habt.« »Das wäre ja entweder ein Wunder oder sonst etwas Aehnliches! Da bin ich doch begierig, diese drei Kerls kennen zu lernen. Also diese Leute, welche Ihr bei Euch habt, waren von Euch angeworben?« »Ja.«
»Sie nehmen es also mit dem, was man Recht und Gewissen nennt, nicht sehr genau?« »Nein.« »Hm, die wären zu gebrauchen. Wenn Ihr sie mir doch ablassen könntet, Sennor!« Bei diesen Worten fiel Cortejo eine Last vom Herzen. »Herzlich gern,« sagte er. »Ich wußte nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Sie sind ganz Feuer und Flamme, sich an den Dreien zu rächen, und von mir aus hätten sie jetzt keine Gelegenheit dazu erhalten können.« »Gut, so sollen sie diese Gelegenheit bei mir finden. Morgen mit dem Frühesten werde ich mit ihnen sprechen. Ihr kehrt nach Mexiko zurück?« »Ja.« »So werde ich Euch Nachricht geben, sobald es mir gelungen ist.« »Dann wird die Schenkungsurkunde oder der fingirte Kauf sofort nach Spanien gehen, um von Graf Alfonzo unterzeichnet zu werden. Aber wie wollt Ihr es anfangen, die drei Kerls zu beseitigen?« »Das weiß ich jetzt noch nicht. Das werde ich erst dann sagen können, wenn ich sie gesprochen und beobachtet habe. Habt Ihr in dieser Angelegenheit noch Etwas zu bemerken?« »Nein.« »So entschuldigt mich jetzt. Schlaft ruhig ein. Ich muß vorher gehen, um die Posten zu inspiziren. Juarez ist in solchen Sachen sehr streng, und wenn er eine Nachlässigkeit bemerkt, so sitzt selbst der Kopf eines Offiziers nicht fest auf seinem Körper.« Cortejo lehnte sich in seine Hängematte zurück und lächelte befriedigt vor sich hin. Er konnte ruhig und sorgenlos nach Mexiko zurückkehren, denn er war überzeugt, seine Angelegenheit den besten Händen anvertraut zu haben.
Er kannte Verdoja als einen rohen, gewissenlosen und habgierigen Menschen, der um des Quecksilberlandes nicht nur drei, sondern zehn und zwanzig Morde auf sich nehmen würde. Uebrigens behielt er sich die Erfüllung seines Wortes im Stillen noch vor. Waren die Drei getödtet, so konnte man den Fall ja ganz einfach ignoriren. Verdoja wagte es sicher nicht, den Preis seines Verbrechens gerichtlich einzuklagen, denn dann wäre er ja selbst verloren gewesen. Während Cortejo diesen Gedanken nachhing, ging der Hauptmann draußen von Posten zu Posten. Er hatte dabei aber weniger auf seine militärischen Obliegenheiten Acht, als vielmehr auf die Gedanken, welche der eigenthümliche Handel in ihm erweckte. »Also, eine Beleidigung ist es nicht, um deretwillen sie verschwinden und sterben sollen,« dachte er. »Was aber ist es dann?« Er ging eine Strecke in die finstere Nacht hinein und überlegte für sich: »Es ist ein hoher Preis, den er zahlt. Die Besitzung ist wirklich eine Million werth, und wer eine Million zahlt, bei dem muß es sich um noch vielmehr handeln. Aber was kann das sein? Der Graf giebt das Quecksilberland, folglich muß es sich um die ganze Grafschaft handeln. So möchte man fast denken. Wer sind diese drei? Ein Arzt und ein Seemann; beide sind Deutsche. Der Dritte ist ein Spanier; er heißt Mariano, oder Alfred de Lautreville. Das klingt sehr geheimnißvoll. Er scheint Derjenige zu sein, um den es sich eigentlich handelt.« Er setzte jetzt seine Inspection fort, konnte aber seine Gedanken nicht von diesem Gegenstande abbringen. Der ungeheure Vortheil, den ihm der Handel versprach, nahm alle seine Gedanken gefangen. »Aber wird er auch Wort halten?« dachte er. »Ich kenne diesen Cortejo als einen ausgemachten Schlaukopf. Wie nun, wenn ich die Drei umbringe und er thut dann, als ob er gar nichts von der
ganzen Sache wisse? Dann wäre das Quecksilberland allerdings zum Teufel. Ich könnte nichts machen. Aber Cortejo ginge auch zum Teufel; das ist gewiß. Ich werde mir die Angelegenheit beschlafen.« Er kehrte in sein Quartier zurück und legte sich zu Bette. Am anderen Morgen ließ er die bisherigen Begleiter Cortejo’s zu sich bescheiden und nahm sie in Gegenwart des Letzteren vor. »Wer seid Ihr eigentlich?« fragte er sie. Derjenige, welcher bereits gestern den Sprecher gemacht hatte, antwortete: »Hat Euch dies Sennor Cortejo nicht gesagt?« »Nein.« »Nun, wir sind arme Teufel, welche sich auf verschiedene Art und Weise ihr Brot verdienen.« »Die Art und Weise macht Euch also nicht bedenklich?« »Das fällt uns nicht ein.« »Wollt Ihr Euch ein Wenig Brot bei mir verdienen?« »Das geht nicht, denn wir stehen jetzt in Sennor Cortejo’s Dienste.« »Er hat Euch an mich abgetreten.« »Oho!« rief der Mann. »Das geht nicht!« »Warum nicht?« »Das ist unsere und des Sennor Cortejo’s Sache.« »Er hat mir Alles anvertraut,« sagte der Offizier. »Ihr könnt offen mit mir sprechen.« »Ist’s wahr, Sennor?« fragte der Mann Cortejo. »Ja,« antwortete dieser. »Das dürfen Sie nicht, Sennor! Sie dürfen uns an Niemand abtreten; wir sind freie Männer. Sie haben uns versprochen, daß wir unsere Kameraden rächen sollen!« »Ich halte mein Wort. Ich habe keine Zeit, Euch weiter zu führen, aber dieser Sennor wird es an meiner Stelle thun.«
»Ist das wahr?« »Ja,« sagte Verdoja. »Ihr sollt Euch rächen; Ihr begleitet mich nach der Hazienda del Erina.« »Mit den Lanzenreitern?« »Nein; das geht nicht. Ihr folgt uns. Kennt Ihr die Hazienda?« »Ja.« »Sie hat eine Umzäunung?« »Ja, eine sehr feste.« »Nun wohl. Heute um Mitternacht – bis dahin haltet Ihr Euch versteckt – kommt Einer von Euch an die südlichste Spitze dieser Umzäunung. Dort werde ich mich befinden, um ihm Verhaltungsmaßregeln zu ertheilen.« »Aber wie steht es mit dem Preise?« »Es bleibt derselbe wie bei Sennor Cortejo.« »So sind wir zufrieden. Dürfen wir aufbrechen?« »Nein. Juarez hat noch nichts befohlen.« Sie traten einstweilen ab. Der Hauptmann begab sich in Juarez’ Quartier und erhielt dort bald den Befehl, Cortejo zu holen. Als dieser eintrat, stand der Indianer mitten in dem Zimmer und empfing ihn mit finsterem Auge. »Weißt Du, wem Du Dein Leben zu verdanken hast?« fragte er ihn. »Ich weiß es. Ich hätte es unschuldiger Weise verloren.« »Schweig! Sennor Verdoja hat sich auch weiter für Dich verbürgt. Du willst nach Mexiko?« »Ja.« »Man soll dort nicht wissen, daß ich hier in El Oro war, aber man wird es durch Dich erfahren. Ich darf Dich also nicht von mir lassen.« »Sennor, ich werde schweigen!« Der spätere Präsident machte eine verächtliche Handbewegung und sagte geringschätzig:
»Ein Weißer schweigt nie; nur ein Indianer weiß Herr seiner Zunge zu sein. Ein Weißer hält höchstens dann sein Wort, wenn er es beschworen hat.« »So will ich schwören, Sennor.« »Gut, schwöre!« Cortejo mußte die Hand erheben und beschwören, daß er von dem Zusammentreffen mit Juarez nichts verrathen wolle. Erst jetzt schien der Letztere ihm zu glauben. »Jetzt kannst Du gehen,« sagte er. »Nimm Deine Leute mit und merke Dir, daß Du für sie verantwortlich bist!« Einige Minuten später saß Cortejo zu Pferde und verließ El Oro auf der entgegengesetzten Seite, wo er gestern eingeritten war. Die Freischärler begleiteten ihn, denn es sollte ja Niemand wissen, daß sie mit dem Hauptmanne in Beziehung standen. Erst nach einiger Zeit trennten sie sich von Cortejo und suchten auf einem Umwege die Richtung nach der Hazienda del Erina zu gewinnen. Sie waren bis jetzt unglücklich gewesen in ihren Absichten auf die Hazienda, jetzt aber brannten sie vor Begierde, sich für das Erlebte reichlich zu entschädigen. Kurz nach Cortejo’s Abreise verkündigte der Ton einer Trompete den Aufbruch. Die Lanzenreiter bestiegen ihre Pferde. Juarez setzte sich mit den Offizieren an die Spitze und dann flogen sie auf ihren halbwilden ieren über die Ebene dahin wie die Windsbraut, der Niemand widerstehen kann. Es waren damals gar schlimme Zeiten für Mexiko. Es hatte sich längst vom Mutterlande Spanien losgesagt und sich einen eigenen Herrscher gegeben, aber es hatte nicht die Kraft, ein selbstständiger Staat zu sein. Ein Präsident verdrängte den anderen; die Finanzen befanden sich im schlechtesten Zustande; das Beamtenthum war corrumpirt; es herrschte weder Treu und Glauben, noch Gehorsam im Lande. Kein Militär wollte gehorchen; jeder Offizier wollte regieren, und jeder General wollte Präsident sein.
Wer an das Ruder kam, der suchte das Land schleunigst auszusaugen, denn er wußte, daß ihm nicht viel Zeit dazu übrig bleibe. Der Nachfolger that ganz dasselbe, ebenso der Statthalter jeder einzelnen Provinz. Zuletzt wußte kein Unterthan mehr, wem er zu gehorchen habe, und am Wohlsten befanden sich die Haziendero’s, welche die entlegendsten Gegenden bewohnten. Mitten in diesem Wirrwarr war Juarez aufgetaucht und erlangte bald einen solchen Einfluß, daß er, obgleich er nichts weniger als Präsident war, sogar mit der Regierung der Vereinigten Staaten Traktate abschloß. Er war bald hier, bald dort. Er flog im Lande umher, um für sich zu werben, um zu belohnen oder zu bestrafen, und ein solcher Zweck führte ihn auch heute nach der Hazienda Vandaqua. Als die Lanzenreiter dort ankamen, erregte ihr Anblick allgemeinen Schreck. Juarez stieg vom Pferde und trat, gefolgt von einigen Offizieren, in das Haus. Der Besitzer desselben befand sich mit seiner Familie beim zweiten Frühstück, als der Fürchterliche bei ihm eintrat. »Kennst Du mich?« fragte der Indianer streng. »Nein,« antwortete der Haziendero. »Ich bin Juarez.« Bei diesem Namen erbleichte der Mann. »O heilige Madonna!« rief er. »Rufe die Madonna nicht, es ist vergebens; sie wird Dir nicht helfen!« sagte Juarez finster. »Du bist ein Anhänger des Präsidenten?« Der Mann erbleichte. »Nein,« sagte er. »Lüge nicht!« donnerte ihn der Indianer an. »Stehst Du mit seinen Anhängern in Briefwechsel?« »Nein.« »Ich werde mich überzeugen. – Sucht!«
Das letzte Wort war an die Offiziere gerichtet. Diese winkten einige der Mannschaften herbei, und nun begann eine genaue Untersuchung des ganzen Hauses. Nach einiger Zeit kam einer der Offiziere mit einem Packet Briefen herbei, welche er dem Indianer wortlos überreichte. Dieser nahm sie ebenso wortlos entgegen und las sie. Als der Haziendero die Briefe bringen sah, war er todtenbleich geworden. Jetzt hing sein Auge angstvoll an dem Gesichte Juarez’. Die Seinen standen stumm in der Ecke und erwarteten mit klopfendem Herzen das Kommende. Endlich war Juarez fertig mit Lesen. Er erhob sich von seinem Sitze und fragte den Haziendero: »Du hast diese Briefe empfangen?« »Ja.« »Und gelesen?« »Ja.« »Und beantwortet?« »Ja.« »Du hast vorhin gelogen; Du bist ein Anhänger des Präsidenten. Du bist Mitglied einer Verschwörung gegen die Freiheit des Volkes. Hier hast Du Deinen Lohn!« Er zog ein Pistol hervor, zielte und drückte ab. Der Haziendero stürzte, durch die Stirn getroffen, zu Boden. Ein lauter, vielstimmiger Schrei des Entsetzens erscholl. Er wurde ausgestoßen von den Verwandten des Gerichteten. Juarez wandte sich mit einer unerschütterlichen Ruhe und Kälte an diese: »Schweigt! Auch Ihr seid schuldig, aber Ihr sollt nicht sterben. Ihr verlaßt das Haus. Ich confiscire diese Hazienda mit Allem, was dazu gehört, als Eigenthum des Staates. In einer Stunde müßt Ihr fort sein. Ich gewähre Euch Pferde, auf welche Ihr Euer Eigenthum packen könnt. Auch Euer Geld dürft Ihr mitnehmen. Jetzt fort aus meinen Augen!« »Dürfen wir den Todten mitnehmen?« fragte jammernd die Frau.
»Ja. Jetzt aber packt Euch! Die Leute nahmen ihren Todten auf und trugen ihn hinaus. Als die Stunde vergangen war, verließen sie thränenden Auges die Hazienda. Jetzt gab Juarez dieselbe seinen Soldaten frei. Es wurde geplündert so lange Etwas zu finden war. Dann schlachtete man einige Rinder und begann im Freien nach Herzenslust zu schmaußen. Juarez war unterdessen in dem Zimmer geblieben; Verdoja hatte die Plünderung beaufsichtigt. Als er nun bei dem Indianer eintrat, sagte dieser: »So müssen Alle enden, welche gegen das Wohl des Vaterlandes sündigen. Verdoja, Ihr seid treu?« Er richtete dabei einen wahren Tigerblick auf den Gefragten. Dieser antwortete ruhig: »Ja, Sennor; das wißt Ihr.« »Gut. Ich werde Euch eine Aufgabe ertheilen. Habt Ihr Muth?« »Hm,« lächelte der Hauptmann, »habt Ihr mich einmal erbleichen sehen?« »Nein, und darum werdet Ihr es zu hohen Ehren bringen. Kennt Ihr die Provinz Chihuahua genau?« »Ich bin dort geboren und habe an der Grenze meine Besitzungen.« »Gut. Ihr werdet Euch nach der Hauptstadt gleichen Namens begeben und meine Interessen dort vertreten. Wir trennen uns heute. Zuerst aber begleitet Ihr mich nach der Hazienda del Erina.« »Reise ich mit Militärbegleitung?« »Ihr erhaltet die eine Schwadron; mit der andern kehre ich zurück. Vorwärts!« Eine Minute später saßen sie zu Pferde und ritten, nur von einigen Lanzenreitern begleitet, fort. Einer der anwesenden Vaqueros mußte den Führer machen.
Als sie die Hazienda erreichten, waren sie bereits bemerkt worden. Da die Bewohner derselben gewitzigt worden waren, so hatten sie das or fest verschlossen. Juarez selbst klopfte an. »Wer ist draußen?« fragte Arbellez von innen. »Soldaten. Oeffnet!« »Was wollt Ihr?« »Alle Teufel, wollt Ihr öffnen, oder nicht?« Sternau, Helmers und Mariano standen neben dem Haziendero. »Soll ich öffnen?« fragte dieser leise. »Ja,« antwortete Sternau. »Es sind ja nur einige wenige Reiter.« Als das or offen war und Juarez in den Hof ritt, musterte er mit funkelndem Auge die Leute, welche vor ihm standen. »Warum gehorchter Ihr nicht?« donnerte er. »Wir kennen Euch nicht,« antwortete Arbellez. »Seid Ihr Einer, dem man zu gehorchen hat, Sennor?« »Ich bin Juarez. Kennt Ihr meinen Namen?« Arbellez verbeugte sich ohne alle Verlegenheit und antwortete: »Wohl kenne ich ihn. Verzeiht, daß wir nicht sogleich öffneten. Tretet in mein Haus; Ihr seid uns willkommen.« Er geleitete die beiden Gäste nach dem Salon, wo sich Beide ohne Umstände niederließen. Trotz des freundlichen Empfanges hatte Juarez seine finstere Miene nicht verloren. Er fragte: »Saht Ihr uns kommen?« »Ja, Sennor.« »Und Ihr saht, daß wir Soldaten sind?« »Ja, das sahen wir.« »Und Ihr öffnet trotzdem nicht? Das verdient Strafe!« »O, Sennor, der Präsident hat auch Soldaten. Diese würden mir nicht willkommen sein. Ich konnte doch nicht wissen, daß Sie es selbst waren.« Juarez’ Züge heiterten sich auf. »Also, ich bin Euch wirklich willkommen?«
»Von Herzen.« »Warum?« »Weil Sie eine feste Hand haben, Sennor, und diese fehlt unserm armen Lande.« »Ja. Diese feste Hand hat bereits Mancher gefühlt. Vorhin wieder Einer. Sagt, kennt Ihr die Hazienda Vandaqua?« »Ich kenne sie genau.« »Und Alles, was dazu gehört?« »Alles; ich bin ja der Nachbar.« »Wie viel Pacht ist diese Besitzung wohl werth, Sennor Arbellez?« »Sie ist ja Eigenthum, aber kein Pachtgut.« »Beantwortet meine Frage!« sagte Juarez ungeduldig. »Nun, wenn sie sich unter bessern Händen befände, könnte man zehntausend Duros zahlen, jetzt aber nicht.« »Gut, so sollt Ihr sie für siebentausend Duros zum Pacht erhalten.« Arbellez blickte den Indianer verwundert an. »Sennor, ich verstehe Euch nicht,« sagte er. »Ich spreche deutlich genug. Ich denke, diese Pachtung liegt Euch bequem. Wollt Ihr sie oder nicht?« »Ich habe keine Ahnung, daß die Hazienda Vandaqua zu verpachten ist!« »Sie ist’s. Ich habe sie für den Staat confiscirt und gebe sie Euch.« Arbellez erschrak. »Er starb an meiner Kugel; er war ein Verräther. Seine Familie hat die Besitzung verlassen müssen. Entschließt Euch schnell, Sennor!« »Wenn es so steht, so sage ich »ja«. Aber –« »Kein Aber! Holt Schreibzeug! Wir wollen diese Angelegenheit sofort ordnen.«
Wie Alles, was Juarez in die Hand nahm, so wurde auch diese Sache in fliegender Eile und doch ganz sorgfältig und ordnungsmäßig erledigt. Dann sagte er: »Dieser Sennor ist Hauptmann Verdoja. Er wird einige Tage bei Euch wohnen.« Das war dem Haziendero überraschend, aber er ließ sich nichts merken, sondern hieß den Hauptmann willkommen. Juarez fuhr fort: »Er hat eine Schwadron Reiter mit. Könnt Ihr diese verpflegen?« Arbellez bejahte diese Frage, obgleich er lieber »nein« gesagt hätte. »Diese Leute werden gegen Abend hier eintreffen. Sorgt für sie und macht dann mit dem Hauptmann Eure Rechnung. Lebt wohl!« Er erhob sich und schritt zur ür hinaus. Verdoja folgte ihm. Sie ritten mit ihrer Begleitung im Galopp davon, die Bewohner der Hazienda del Erina in Verwunderung zurücklassend. Weshalb hatte der Nachbar sterben müssen? Weshalb sollte gerade Petro Arbellez der Pächter sein? Also dieser Mann war Juarez, der große Indianer, welchen ganz Mexiko fürchtete und zugleich liebte und haßte? Diejenigen, welche diese Frage aussprachen, ahnten nicht, welche Folgen die Anordnungen des Parteigängers für sie haben würden. Als dieser die Hazienda Vandaqua erreichte, fand er vor dem Hause Alles aufgeschichtet, was die Lanzenreiter des Mitnehmens für werth gehalten hatten. Diese Beute wurde getheilt, und so wenig auf den Mann kam, es erregte bei den nicht an Luxus gewöhnten Leuten doch unendliche Freude. Nun das vorüber war, erhielt Hauptmann Verdoja seine Instruction. Sein Aufenthalt bei Arbellez hatte nur den Zweck, die Pferde ausruhen und kräftigen zu lassen, da der Weg hinüber nach Chihuahua ein sehr beschwerlicher ist. Verdoja sollte sich auf der
Hazienda del Erina nicht zu lange verweilen und dann schnell seinen Bestimmungsort zu erreichen suchen, wo er im Interesse seines jetzigen Vorgesetzten zu wirken hatte. Beide sprachen lange Zeit heimlich und angelegentlich mit einander. Man sah es ihnen an, daß sie höchst wichtige Sachen besprachen; dann aber schieden sie mit einem einfachen Händedrucke von einander. Juarez ließ aufsitzen und flog mit seiner Schwadron den Weg zurück, den er heut am Vormittage gekommen war. Er glich einem Rachegeiste, welcher ebenso schnell verschwindet, wie er kommt, immer aber die blutige Spur seines Wirkens hinter sich läßt. –
FÜNFTES KAPITEL
Tief unter der Erde Es wogt der Aufruhr durch die Gassen, Die Höhen leuchten blutig roth; Es geht durchs Land ein grimmig Hassen, Und reiche Ernte hält der Tod. Der Menschheit wild gewordne Schaaren Ziehn mordend durch den weiten Gau, Und tausend tückische Gefahren Wälzt die Empörung durch die Au. Das stille Land wird zum Vulkane, Der weithin sein Verderben speit, Und die Erneute zum Orkane, Zertrümmernd Alles, weit und breit. Es war bereits gegen die Zeit der Abenddämmerung, als donnernder Hufschlag das Nahen der Lanzenreiter verkündigte. Nur die Offiziere sollten in dem Hause wohnen, die Mannschaft mußte es sich unter dem freien Himmel so bequem wie möglich machen. Das ist in jenen Breiten nichts ungewöhnliches und wird nichts weniger als hart empfunden. Die Pferde sind dort halb wild und bedürfen keiner Stallung, und die Menschen führen ein Leben, welches es ihnen ganz gleichgiltig macht, ob sie in einem weichen Bette, in einer einfachen Hängematte, oder auf der harten Erde liegen. Kapitän Verdoja wurde mit seinen Offizieren zunächst in den Salon geführt; dann trat nach dem Willkommentrunk die alte Hermoyes ein, um die Herren nach ihren Zimmern zu führen. Emma Arbellez hatte das Krankenbett des Geliebten verlassen, um diese Zimmer noch einmal zu revidiren, ob sich Alles in Ordnung befinde. Sie stand in dem Raume, welcher dem Kapitän zugewie-
sen wurde. Sie hörte seine Schritte; es war zu spät, sich zurückzuziehen. Er öffnete die ür, um einzutreten, da sah er sie in der Mitte des Zimmers stehen. Sie war vorher bereits schön gewesen, jetzt aber hatte die Sorge um den Geliebten ihren Zügen etwas BewegtInniges aufgeprägt, welches den Eindruck ihrer Erscheinung noch um ein Bedeutendes steigerte. Die Sonne sank soeben hinter dem Horizont hinab; ihre letzten Strahlen drangen durch das Fenster herein und umflossen die Gestalt des schönen Mädchens in einem rosig goldenen Scheine. Es war, als ob die Königin des Tages ihre schönsten Strahlen hereinsende, um auf die schwellenden Lippen der Holden einen Abschiedskuß zu drücken. Verdoja blieb überrascht stehen. Das war ein Bild, wie es die Hand des größten Künstlers nicht auf die Leinwand zu werfen vermochte. Er fühlte sich ergriffen und gepackt, aber nicht von jenem reinen, heiligen Gefühle, welches das Schöne liebt und zugleich ehrt, sondern von einer plötzlichen, leidenschaftlichen Empfindung, wie sie dem Herzen eines in Genußsucht und Frivolität versunkenen Menschen eigen ist. Emma verbeugte sich erröthend und bat mit lieblich klingender Stimme: »Treten Sie näher, Sennor! Sie befinden sich in Ihrer Wohnung.« Er gehorchte dieser Aufforderung und verbeugte sich mit dem Anstande eines gewandten, im Umgange mit dem schönen Geschlecht erfahrenen Kavaliers. »Ich bin entzückt, meine Wohnung durch die Anwesenheit der Schönheit geweiht zu sehen,« antwortete er, »Und bitte um Ihre milde Verzeihung, daß ich diesen Weiheakt durch meine Dazwischenkunft profanire.« Sie hatte bereits im Begriffe gestanden, ihm nach mexikanischer Sitte die Hand zum Willkommen entgegenzustrecken, jetzt aber zog sie dieselbe wieder zurück. Es lag in seinem Wesen, seinen
Worten, in seinem Gesichte und auch im Tone seiner Stimme ein Etwas, was sie feindselig berührte. »O bitte, der ganze Weiheakt bestand nur darin, nachzusehen, ob genügend für Ihre Bequemlichkeit gesorgt sei,« sagte sie. »Ah, so sind Sie also der Schutzgeist des Hauses! Vielleicht gar –?« »Der Haziendero ist mein Vater,« sagte sie kurz. »Ich danke, Madonna! Mein Name ist Verdoja; ich bin Hauptmann der Lanzenreiter und fühle mich in diesem Augenblicke unendlich glücklich, Ihr kleines reizendes Händchen küssen zu dürfen.« Er hatte dabei ihre Hand ergriffen und drückte, ohne daß sie es so schnell zu verhindern vermochte, seine Lippen auf dieselbe. Sie zog die Hand wie erschreckt zurück. »Erlauben Sie, daß ich Ihr Gebiet Ihnen überlasse,« sagte sie. »Sie werden der Ruhe und Erfrischung bedürfen.« Sie machte Miene sich der ür zu nähern, er aber trat ihr mit einem schnellen Schritte in den Weg. »O, ich bedarf der Ruhe gar nicht,« sagte er; »und mein eigentliches Gebiet ist die Liebe und die Anbetung der Schönheit. Lassen Sie sich nieder, Madonna. Ich sehe Sie erst seit nur einer Minute, aber ich schmachte darnach, hier an Ihrer Seite bleiben zu dürfen.« Sie gerieth in eine sichtliche Verlegenheit. Dieser Mann war jedenfalls gewöhnt, mit den koketten Damen der Hauptstadt zu verkehren, sie aber fühlte sich einem so selbstbewußten Auftreten gegenüber fast waffenlos. »O bitte, erlauben Sie!« bat sie. »Ich habe Pflichten zu erfüllen.« Sein Auge bohrte sich flammend und verlangend in ihr Angesicht. Er antwortete: »Die vornehmste Pflicht der Wirthin ist, sich dem Gaste angenehm zu machen.«
»Und die Pflicht des Gastes ist es, aufmerksam gegen die Wirthin zu sein!« »Das bin ich, wahrhaftig, das bin ich!« rief er. »Erlauben Sie mir Ihre Hand, und verlassen Sie mich jetzt noch nicht!« Er griff nach ihrer Hand, sie aber brachte es fertig, in diesem Augenblicke an ihm vorüber zu schlüpfen und die ür zu erreichen. »Adieu, Sennor!« sagte sie, dieselbe öffnend. »Halt!« rief er. »Ich lasse Sie nicht fort.« Er griff nach ihr, aber schneller als seine Hand war, huschte sie hinaus und drückte die ür hinter sich zu. Er stand da und starrte lange Zeit die ür an. »Donnerwetter!« meinte er. »Welch eine Schönheit. Die ist noch rein und unbeschmutzt. Das reizt den Appetit. Es ist mir noch gar nicht so gegangen wie jetzt, daß ich gleich beim ersten Anblicke so perfekt verliebt bin. Das wird ein reizendes Quartier. Wäre ich nicht bereits verheirathet, so wäre ich vielleicht im Stande, hier an dieser wunderbar hübschen Klippe zu scheitern. Aber mein muß sie werden!« Emma war froh, glücklich entkommen zu sein. Die unlautere Begierde, mit welcher die Augen dieses wüsten Mannes auf ihr geruht hatten, erschreckte sie, und sie nahm sich vor, seine Nähe so viel wie möglich zu meiden. Sie begab sich von ihm direkt nach dem Krankenzimmer, wo jetzt ihr immerwährender Aufenthalt war. Dort fand sie Sternau und Helmers, welche neben dem Kranken saßen. Der Zustand desselben war ein befriedigender zu nennen. Die Operation war vortrefflich gelungen, und das Wundfieber machte ihm noch nicht viel zu schaffen. Er besaß sein vollständiges Bewußtsein, wenigstens in diesem Augenblicke, und sprach mit dem Arzte, welcher ganz in der Nähe des Bettes saß. Als er die eintretende Geliebte bemerkte, breitete sich die Röthe der Freude über sein blasses Gesicht.
»Komm her, Emma,« bat er. »Denke Dir, Herr Doktor Sternau behauptet, meine Heimath zu kennen.« Emma wußte dies bereits, aber sie stellte sich, als ob es ihr neu sei. »Ah,« sagte sie, »das ist ein sehr glückliches Zusammentreffen.« »Ja. Meinen Bruder kennt er auch. Er hat ihn vor seiner Abreise gesehen.« Dieser Bruder saß hinter dem Fenstervorhange; daß er da sei, durfte der Patient noch nicht wissen. Es war nothwendig, jede Aufregung, mochte sie nun eine fröhliche, oder traurige sein, von ihm fern zu halten. Uebrigens war er durch seinen krankhaften Zustand und die darauf folgende Operation so geschwächt, daß er fast stets im Schlafe, oder in einem traumhaften Halbwachen lag, und so waren die vollständig hellen Augenblicke, wie der gegenwärtige, nur selten. Dies zeigte sich auch jetzt. Kaum hatte sich Sternau erhoben und Emma an seiner Stelle Platz genommen, so ergriff der Kranke ihre Hand, lächelte ihr glücklich zu und schloß die Augen. Er pflegte mit ihrer Hand in der seinigen einzuschlafen. Dies that er auch jetzt. »Sie hegen keine Befürchtung mehr?« flüsterte da Emma Sternau zu. »Nein. Diese stets wiederkehrende Ruhe, dieser gesunde Schlaf wird ihn körperlich und geistig schnell kräftigen. Wir haben nichts zu thun, als das Besserungsbestreben der Natur zu unterstützen, indem wir alles Störende von ihm fern halten. Aber Sie selbst müssen sich auch die nöthige Ruhe gönnen, sonst bringt uns die Heilung des Einen die Erkrankung des Andern.« »O, ich bin stark, Sennor!« sagte sie. »Haben Sie um mich keine Sorge.« Sternau ging und nahm Helmers mit sich. Sie begaben sich hinab vor das Haus, um das Lagerleben der Soldaten in Augenschein
zu nehmen. Dort trafen sie auch Mariano, den die gleiche Absicht herbeigetrieben hatte. Die Lanzenreiter waren beschäftigt, Holz zu ihren Lagerfeuern herbeizuschaffen. Sie trugen, während die Pferde frei zur Weide gingen, die Sättel zusammen, die als Kopfkissen zu dienen hatten. Arbellez hatte ihnen einen Stier zur Verfügung gestellt, welchen sie geschlachtet hatten und jetzt bereits zerstückten. Alles das gab ein lebhaftes, bewegtes Bild, welchem die Männer eine ganze Weile zuschauten. Dann kam die Zeit des Nachtmahles. Sie begaben sich nach dem Speisesalon, wo sich auch bald die Offiziere einstellten. Der erste Blick des Hauptmanns, oder vielmehr Rittmeisters flog in der Runde herum, um zu sehen, ob Emma anwesend sei. Verdoja fühlte sich enttäuscht, als er bemerkte, daß sie nicht zugegen war. Die alte, gute Hermoyes mußte ihre Stelle vertreten. Arbellez stellte die Gäste einander vor. Die mexikanischen Offiziere verhielten sich höflich, aber zurückhaltend gegen die Fremden. So feine Kavalleros, wie sie, brauchten um die Gunst eines Deutschen nicht zu buhlen. Verdoja beobachtete die drei Männer. Sternau, Helmers und Mariano; das also waren die Männer, deren Tod ihm einen Länderbesitz im Werthe von über eine Million einzubringen hatte. Sein Auge glitt über Mariano und Helmers schnell fort und blieb auf Sternau haften. Die mächtige Gestalt desselben imponirte ihn. Mit diesem Manne war nicht leicht anzubinden; der war ja ein Riese, höher und stärker als Verdoja selbst. Und welches Selbstbewußtsein in jeder seiner Bewegungen und in jedem der wenigen Worte, welche er sprach. Der Rittmeister nahm sich vor, bei diesem Manne sein Heil nur in der List zu suchen. Im Laufe der Unterhaltung während der Tafel machte Arbellez eine Bemerkung, welche der Rittmeister sofort aufgriff.
»Es ist uns nicht nur eine Freude, sondern auch eine Beruhigung, Sie hier zu sehen, Sennores,« sagte der Haziendero. »Noch gestern erst drohte uns eine große Gefahr.« Verdoja kannte diese Gefahr aus seiner Unterredung mit Cortejo, aber er that doch so, als ob er gar nichts davon wisse. »Eine Gefahr? Welche war es?« fragte er. »Wir sollten überfallen werden,« antwortete Arbellez. »Nicht möglich! Von wem?« »Von einer Schaar von Freibeutern oder Briganten.« »Dann muß diese Schaar eine bedeutende gewesen sein.« »Ueber dreißig Mann.« »Alle Wetter! Wenn sich solche Banden zusammenthun, so ist es nothwendig, die Zügel fester anzuziehen. Galt es Ihrer Hazienda, oder hatte man es nur auf Personen abgesehen?« »Eigentlich wohl das Letztere, aber da diese Personen sich in meinem Hause in Sicherheit befanden, so plante man, dasselbe zu überfallen, zu zerstören und Alles zu tödten.« »Teufel! Darf man erfahren, welche Personen das sind?« »Gewiß. Es sind die Sennores Sternau, Mariano und Helmers.« »Sonderbar! Wie haben Sie sich der Spitzbuben erwehrt?« »Unser Sennor Sternau hat sie Alle niedergeschossen.« Der Rittmeister blickte überrascht zu dem Genannten hinüber, und auch die anderen Offiziere lächelten überlegen und ungläubig. »Die ganze Bande?« fragte Verdoja. »Nur einige Wenige ausgenommen.« »Und das hat Sennor Sternau ganz allein fertig gebracht?« »Ja. Er hatte nur einen einzigen Begleiter mit, welcher vielleicht zwei der Feinde erschossen hat; die Anderen kommen Alle auf Sennor Sternau’s Rechnung.«
»Das klingt unglaublich. Dreißig Mann sollten sich so ohne alle Gegenwehr von einem einzigen Manne niederschießen lassen? Ihr irrt!« »Es ist wahr!« sagte der Haziendero begeistert. »Lassen Sie es sich erzählen!« Da warf Sternau einen ernsten Blick auf Arbellez und sagte: »Bitte, lassen wir das! Was geschah, ist keine Heldenthat.« »Es ist eine Heldenthat, dreißig Mann zu tödten,« sagte der Rittmeister, »und ich hoffe, Sennor, daß Sie nichts dagegen haben, daß wir uns diese interessante atsache erzählen lassen.« Sternau zuckte die Achseln und ergab sich in das Unvermeidliche. Petro Arbellez machte den Berichterstatter, und er erzählte so lebendig, daß die Offiziere mit ihren Blicken bis zu seinem letzten Worte an seinem Munde hingen. »Kaum glaublich!« rief der Rittmeister. »Sennor Sternau, ich gratuliere Ihnen zu einer solchen at.« »Danke,« sagte dieser ziemlich kühl. »Solche Tapferkeit ist nicht zu verwundern,« meinte Arbellez. »Haben Sie einmal von dem Indianerhäuptling Büffelstirn gehört, Sennor Verdoja?« »Ja. Er ist der König der Büffeljäger.« »Und kennen Sie vielleicht einen nördlichen Jäger, den man den Fürst des Felsens nennt?« »Ja. Er ist der stärkste und verwegenste Jäger, den es geben soll.« »Nun, Sennor Sternau ist dieser Jäger, und Büffelstirn war sein Begleiter nach der Schlucht des Tigers.« Die Offiziere stießen einen Ruf der Ueberraschung aus. Sie hatten nicht geahnt, daß sie sich einem so berühmten Mann gegenüber befanden. »Ist dies wahr, Sennor Sternau?« fragte der Rittmeister. »Ja,« antwortete dieser, »obgleich es mir lieb wäre, meine Person nicht in dieser Weise in den Vordergrund gedrängt zu sehen.«
Verdoja war ein kluger Compinist. Er sagte sich, dieser Mariano ist die Hauptperson des Geheimnisses und wenn sich dieser »Fürst des Felsens« seiner annimmt, so muß das Geheimniß ein werthvolles sein. Er beschloß, klug zu handeln, und fragte daher: »Aber wie kommt es, daß man es gerade auf diese drei Sennores abgesehen hat?« »Das kann ich Ihnen erklären,« antwortete der Haziendero. Aber ehe er seine Erklärung beginnen konnte, fiel Sternau ein: »Das ist eine Privatangelegenheit, von der ich nicht glaube, daß sie Sennor Verdoja interessiren wird. Brechen wir ab!« Arbellez nahm diese verdiente Zurechtweisung schweigend entgegen, der Rittmeister aber gab sich nicht zufrieden. Er fragte: »Liegt die Schlucht des Tigers weit von hier?« »Sie ist in einer Stunde zu erreichen,« antwortete Sternau. »Ich bin begierig diesen Ort zu sehen. Würden Sie vielleicht die Güte haben, mich oder uns dorthin zu begleiten, Sennor Sternau?« »Ich stehe zur Verfügung,« antwortete der Gefragte. Ueber das Gesicht des Rittmeisters glitt ganz unwillkürlich ein Zug der Befriedigung, den er nicht sofort zu beherrschen vermochte. Sternau, gewohnt selbst auf das Geringste zu achten, bemerkte dies; es fiel ihm auf; es kam ihm vor, als sei der Rittmeister aus irgend einem Grunde froh, diese Zusage der Begleitung zu erhalten. Er wurde aufmerksam und mißtrauisch, ließ sich aber nichts merken. »Und wann können wir reiten?« fragte Verdoja. »Ganz wann es Ihnen beliebt, Sennor,« antwortete Sternau. »So werde ich mir erlauben, Ihnen die Stunde mitzutheilen.« Damit war dieser Gedanke abgethan und wurde im weiteren Verlaufe des Gespräches auch nicht wieder berührt. Nach dem Abendmahle begaben sich die Offiziere nach ihren Gemächern. Der eine Lieutenant, ein junger, rücksichtsloser
Wüstling, legte sich in sein Fenster, um die von den Wachtfeuern erleuchtete Szenerie zu genießen. Da erblickte er ein weißes Frauengewand, welches hell aus den dunklen Bosquets des Blumengartens emporleuchtete. »Eine Dame,« dachte er. »Wo Damen sind, da giebt es Abenteuer; da sucht man Liebe und Erhörung. Ich gehe hinunter.« Der Mexikaner ist gewohnt, mit jeder Dame zu tändeln; er findet niemals eine Zurechtweisung, und so machte sich Lieutenant Pardero kein Bedenken, sich ein kleines Abenteuer zu suchen. Die Soldaten hatten den Blumengarten respectirt; sie waren nicht in denselben eingedrungen, und so kam es, daß sich die Dame ganz allein befand. Es war Karja, die Indianerin, die Schwester Büffelstirns. Sie hatte sich im Garten ergangen, um der Vergangenheit zu gedenken. Sie dachte an Graf Alfonzo, den sie geliebt hatte, und wunderte sich, daß es möglich gewesen war, einem solchen Menschen ihr ganzes Herz zu schenken; jetzt haßte sie ihn. Sie dachte an Bärenherz, den tapferen Häuptling der Apachen, der sie geliebt hatte, und wunderte sich, daß es möglich gewesen war, einem solchen Krieger gegenüber kalt und gleichgiltig zu bleiben; jetzt liebte sie ihn. Wie glücklich wäre sie gewesen, ihn einmal wiederzusehen. Aus diesem Sinnen weckte sie ein leiser Schritt, der in ihrer Nähe erklang. Sie blickte auf und sah den Lieutenant. Sie wollte sich entfernen, er aber trat ihr in den Weg und bat mit einer galanten Verbeugung: »Entfliehen Sie mir nicht, Sennorita! Es sollte mir leid thun, wenn ich Sie im Genusse dieser herrlichen Blumendüfte störte.« Sie blickte ihn forschend an und fragte dann: »Wen suchen Sie, Sennor?« Es war ziemlich dunkel, aber die Wachtfeuer warfen ihren Schein über die Planken herein, und bei diesem flackernden Lichte er-
blickte er eine schlanke und doch volle Gestalt, welche fast negligee gekleidet war, und ein dunkel gefärbtes Gesicht mit glühenden Augen und einem Lippenpaare, welches zum sofortigen Genusse einladete. Er sah nach seiner Meinung eine jener üppigen, feurigen Indianerinnen vor sich, welche es für ein Glück zu rechnen haben, wenn ein Weißer die Knospe bricht, welche ihm entgegenschwillt. »Ich suche Niemand,« antwortete er. »Der Abend war so schön, und da trieb es mich in den Garten. Ist der Zutritt zu demselben verboten?« »Den Gästen des Hauses steht Alles offen.« »Aber Sie werden durch meine Gegenwart gestört, schöne Sennorita?« »Karja läßt sich durch Niemand stören,« sagte sie. »Es ist Raum für uns Beide in dem Garten.« Das war ein Wink, sich zu entfernen, aber der Lieutenant that so, als ob er ihn nicht verstanden habe. Er trat dem Mädchen einen Schritt näher und sagte: »Karja heißen Sie. Wie kommen Sie auf diese Hazienda?« »Sennorita Emma ist meine Freundin.« »Wer ist Sennorita Emma?« »Sie sahen sie noch nicht? Sie ist die Tochter von Sennor Petro Arbellez.« »Haben Sie noch Verwandte hier?« fragte er als ein gewandter Verführer, der stets wissen muß, ob er die Rache eines Verwandten zu fürchten hat. »Büffelstirn ist mein Bruder.« »Ah,« sagte er, sehr unangenehm berührt, »Büffelstirn, der Häuptling der Miztecas?« »Ja,« antwortete sie in einem selbstbewußten Tone. »Befindet er sich gegenwärtig auf der Hazienda?« »Nein.«
»Aber er war doch gestern hier? Er ist mit Sennor Sternau nach der Schlucht des Tigers gegangen und hat dort am Kampfe mit theilgenommen?« »Er ist ein freier Mann; er geht und kommt, wie es ihm gefällt und sagt keinem Menschen, was er thut.« »Ich habe viel Rühmliches von ihm gehört. Er ist der König der Ciboleros, der Büffeljäger; aber daß er eine so schöne Schwester hat, das wußte ich nicht.« Er ergriff die Hand der Indianerin, um auf dieselbe einen Kuß zu drücken, aber ehe dies geschehen konnte, entzog sie sie ihm. »Gute Nacht, Sennor!« sagte sie, sich abwendend. Jetzt hatte er sie im Profile vor sich. Gerade in diesem Augenblicke flackerte eines der Wachtfeuer hoch auf, und diese Flamme beleuchtete hell die weichen, reinen Linien des dunklen Gesichtes und die volle, reizende Büste der schönen Indianerin. Der Lieutenant trat hastig einen Schritt näher und versuchte, den Arm um ihre Taille zu legen. »Fliehen Sie nicht, Sennorita,« bat er, »ich bin ja nicht Ihr Feind.« Sie schob seinen Arm von sich, aber so kurz die Berührung gewesen war, hatte er doch die Wärme ihrer weichen Taille gefühlt und dabei bemerkt, daß sie nach Art der Indianerinnen nur ein einziges Gewand trug, welches hemdartig bis auf die Knöchel herabfließend ihren Körper umfloß. Die Begierde, welche in ihm erwachte, ließ ihn alle Rücksicht vergessen. Er faßte jetzt mit festem Griff ihre Hand und sagte: »Ich lasse Sie nicht gehen, Sennorita; ich liebe Sie.« Sie ließ ihm ihre Hand, aber er fühlte, daß alle Wärme aus derselben wich. »Sie lieben mich?« sagte sie. »Wie ist das möglich? Sie kennen mich ja nicht!«
»Ich kenne Sie nicht, meinen Sie? Sie irren. Die Liebe kommt wie der Blitz vom Himmel herab, wie die Sternschuppe, welche plötzlich leuchtet; so ist sie bei mir gekommen, und wen man liebt, den kennt man.« »Ja, die Liebe der Weißen kommt wie der Blitz, der Alles vernichtet, und wie die Sternschuppe, die in einem einzigen Augenblicke kommt und vergeht. Die Liebe der Weißen ist das Verderben, ist Untreue und Falschheit.« Sie entzog ihm die Hand und wendete sich zum Gehen. Da legte er die Hand um sie und versuchte, sie an sich zu ziehen. Da war es, als ob ihre Gestalt an Höhe und Kraft gewinne; ihre schwarzen Augen glühten ihm entgegen so wild und drohend wie die Augen eines Panthers. »Was wollen Sie?« fragte sie in strengstem Tone. »Was ich will?« fragte er. »Dich lieben, Dich umarmen und küssen!« Er zog sie näher an sich und bog sich zu ihr nieder, um sie zu küssen. Da entzog sie sich ihm mit einer schlangengleichen Bewegung und sagte: »Lassen Sie mich! Wer giebt Ihnen die Erlaubniß, mich zu berühren!« »Meine Liebe giebt mir sie.« Er faßte sie von Neuem; er preßte sie an sich. Sein Athem glühte ihr heiß in das Angesicht. Sie bog den Kopf zurück und versuchte, sich von ihm loszureißen. »Weg, fort von mir!« sagte sie. »Sonst – –!« »Was, sonst?« fragte er. »Ich liebe Dich; ich muß Dich haben; Du mußt mein sein um jeden Preis!« Er hatte seinen Mund bereits an ihren Lippen; da gelang es ihr, sich den rechten Arm frei zu machen, und sofort stieß sie ihm die
geballte Faust mit solcher Gewalt unter das Kinn, daß ihm der Kopf nach hinten flog, als ob er das Genick gebrochen hätte. »Donnerwetter!« fluchte er. »Warte, Du Teufel! Das sollst Du mir entgelten!« Er hatte sie unwillkürlich fahren gelassen und wollte sie jetzt wieder ergreifen, aber sie flog schnell über den Sandweg dahin, dem Eingange des Gartens zu. Er eilte ihr nach. Auch der Rittmeister hatte sein Fenster geöffnet, um dem Duft seiner Cigarrette freien Abzug zu verschaffen. Er schritt sinnend in seinem Zimmer auf und ab und trat dabei einmal an das geöffnete Fenster. Sein Blick fiel zufällig in den Garten hinab und wurde durch das weiß glänzende Gewand gefesselt. Er strengte seine Augen mehr an und bemerkte, daß eine männliche Person neben der Frauengestalt stand. »Donnerwetter, wer ist das?« fragte er sich. »Ist das die Hazienderita? Und wer ist der Kerl bei ihr? Wenn sie bereits eine Liebschaft hat, so darf ich mich nicht wundern, daß sie spröde gegen mich ist. Ich werde den Menschen kennen lernen!« Er eilte nach der ür und begab sich in den Garten hinab. Eben als er die Pforte desselben geöffnet hatte und im Begriffe stand einzutreten, kam die weiße Gestalt auf ihn zugeflogen, ohne ihn in der Eile der Flucht zu bemerken. »Ah, Sennorita!« sagte er. Da erst gewahrte sie ihn und blieb stehen. Sofort hatte er sie erfaßt und wollte sie an sich drücken. Da aber holte sie aus und stieß ihm gerade wie vorher dem Lieutenant die Faust an die Gurgel, so daß er sie fahren ließ und zurückflog. »Alle Teufel!« rief er. »Wer ist diese Katze?« In diesem Augenblicke kam der Lieutenant nachgesprungen und wollte, auch ohne ihn zu bemerken, an ihm vorüber. »Lieutenant Pardero!« sagte er. »Ihr seid es? Wohin so schnell?« Bei diesem Zurufe blieb Pardero stehen und sagte:
»Ah, Kapitän, Sie sind es? Ist Ihnen diese kleine, weiße Hexe begegnet?« »Allerdings. Ich habe sie nicht blos gesehen, sondern auch gefühlt.« »Gefühlt?« fragte der Lieutenant. »Ja, leider!« lautete die Antwort. »Sie sind wohl mit ihr zusammengestoßen?« »Ja, das heißt, ihre Faust ist mit meiner Kehle zusammengestoßen.« »Verdammt! So haben Sie sie küssen wollen, gerade wie ich.« »Möglich! Gerade wie Sie! Ah, Sie verrathen sich!« »Meinetwegen!« »Und wie schmeckte der Kuß?« »Verteufelt gesalzen; ich hatte den Stoß viel eher, als den Kuß.« »Aber diesen Kuß doch auch?« »Nein. Der Teufel mag küssen, wenn Einem der Kopf in’s Genick getrieben wird.« »Gerade wie bei mir,« lachte der Rittmeister. »Das tröstet mich!« lachte nun auch der Lieutenant. »Aber, Pardero, Sie gehen auf schlimmen Wegen. Vergilt man die Gastfreundschaft auf diese Weise?« »Pah! Was hat denn Sie in den Garten getrieben!« »Nur allein der schöne Abend.« »Das machen Sie mir nicht weiß. Ich wette, daß es Ihnen gerade so wie mir gegangen ist.« »Nun, wie?« »Sie sahen zum Fenster heraus –« »Zugegeben.« »Erblickten ein weißes Frauenkleid –« »Auch das.« »Gedachten sich einen Kuß zu holen, oder etwas dergleichen –« »Eingestanden.«
»Und gingen herab in den Garten.« »Auch das hat Ihr bekannter Scharfsinn errathen.« »So haben wir also ganz dieselbe Absicht gehabt und auch ganz denselben Erfolg errungen,« lachte der Lieutenant. Der Rittmeister war der Vorgesetzte, aber in Mexiko sind die Dienstverhältnisse andere, als in Deutschland. Uebrigens befanden sich Beide jetzt nicht im Dienste und, was die Hauptsache war, sie waren Freunde, sie kannten sich und pflegten sich bei ihren kleinen und großen Abenteuern zu unterstützen. Daher kam es, daß sie jetzt so ohne alle Reserve mit einander sprachen und einander auslachten. »Wer war denn die Kleine?« fragte der Rittmeister. »Sie hieß Karia und ist eine Indianerin.« »Und so spröde! Sie schien reizend zu sein.« »Außerordentlich! Man könnte dieses Mädchens wegen recht gut irgend Jemand umbringen. Ich war ganz Feuer und Flamme.« »Und sie ganz Eis und Schnee.« »Leider. Aber ich hoffe, dieses Eis zum Schmelzen zu bringen.« »Was thut sie denn hier in der Hazienda?« »Sie scheint eine Gesellschafterin der Tochter des Hauses zu sein.« »Der Tochter? Also von Sennorita Emma?« »Ja. Kennen Sie diese Emma?« »Ja.« »Caramba! Welch ein Glück! Ist sie schön?« »Schöner noch als diese Karja, weit schöner.« »Das will viel sagen. Vielleicht auch freundlicher?« »Ich habe das nicht gefunden. Dieses Haus scheint sehr klösterlich gesinnte Bewohner zu haben. Ich werde Ihnen einen Vorschlag machen, Pardero.« »Ich höre.« »Sie wollen diese kleine Indianerin?«
»Um jeden Preis! Und Sie diese kleine Sennorita Emma?« »Auch um jeden Preis! Helfen wir uns?« »Versteht sich! Hier meine Hand!« »Topp! Da gilt es zunächst, zu erfahren, ob die Herzen dieser keuschen Dianen bereits engagirt sind. Es scheint so, nach der Kälte, welche wir verspürt haben!« »Vielleicht ist uns dieser Sternau zuvorgekommen! Er ist ein sehr schöner Mann, der wohl hundert Mädchen die Köpfe verdrehen könnte.« »Ich meine dies nicht; eher erscheint mir dieser Mariano verdächtig. Haben Sie nicht bemerkt, daß ihn der Haziendero so auf eine stille, unauffällige, feine Weise auszuzeichnen sucht? Es ist fast, als ob er der Höhere von den Dreien sei.« »Ich hatte keine Veranlassung, so scharf zu beobachten. Erlauben Sie mir, schlafen zu gehen. Dieses Mädchen hat eine Faust, wie ein indischer Athlet; man sollte es ihren kleinen, weichen Händchen gar nicht anfühlen. Mein Genick schmerzt und ist mir so steif geworden, als ob es aus Holz gedrechselt sei. Der Teufel hole die Liebe, welche ihre Stärke und Innigkeit mit der Faust beweist!« »So schlafen Sie aus, Lieutenant. Morgen erneuern wir den Angriff, und ich denke doch, daß es uns gelingen wird, Bresche zu schießen. Gute Nacht!« »Gute Nacht, Sennor Verdoja!« Pardero ging; der Rittmeister aber verweilte sich noch längere Zeit im Garten, bis seine Uhr die Nähe der zwölften Stunde zeigte. Dann that er, als ob er die Runde mache, und versuchte dabei, unbeobachtet an die südliche Ecke der Umzäunung zu kommen. Dies war ja der Ort, wohin er den Briganten bestellt hatte. Dieser war bereits eingetroffen; er hatte sich im tiefsten Schatten so eng nieder gehockt, daß ihn Niemand sehen konnte, auch der Rittmeister nicht.
»Sennor!« flüsterte er daher, als Verdoja an ihm vorüberschleichen wollte. »Ah, bist Du es!« sagte der Angeredete, indem er stehen blieb. »Ja, Sie sehen, daß ich pünktlich bin.« »Das habe ich erwartet. Wo sind Deine Gefährten?« »In der Nähe.« »Man wird sie doch nicht bemerken?« »Tragen Sie keine Sorge! Nun, was haben Sie uns zu befehlen?« »Kennst Du diesen Sternau persönlich?« »Nein.« »Keiner von Euch kennt ihn?« »Keiner.« »Das ist unbequem. Er reitet mit mir nach der Schlucht des Tigers.« »Und wir sollen ihn dort erwarten?« »Erwarten und niederschießen.« »Das werden wir thun; bei der heiligen Mutter Gottes, wir werden es thun. Er hat unsere Kameraden getödtet; er muß auch sterben, er und die Anderen.« »Aber Ihr kennt Ihn nicht. Ich weiß noch nicht, wer uns begleitet. Ich kann nicht allein mit ihm reiten und werde daher wohl einige meiner Leute mitnehmen. Vielleicht gehen noch Andere mit. Welch ein Zeichen soll ich Dir geben, um ihn zu erkennen?« »Beschreiben Sie mir ihn!« »Er ist wohl noch länger und stärker gebaut als ich und trägt einen blonden Vollbart. Was für Kleider er tragen und welch ein Pferd er reiten wird, das weiß ich heute natürlich noch nicht.« »Nun gut, so wollen wir ein Zeichen bestimmen, an welchem ich ihn erkenne. Halten Sie sich womöglich stets an seiner rechten Seite.« »Wird das genügen?« »Vollständig. Aber was wird mit den andern Beiden?«
»Ich liefere sie Euch bei einer anderen Gelegenheit. Hauptsache ist, daß Du an jeder Mitternacht Dich hier einfindest. Wir können uns besprechen. Für jetzt aber trennen wir uns. Man könnte uns bemerken.« Er ging und legte sich schlafen. Er schlief sehr ruhig; der soeben besprochene Mordanschlag lag ihm nicht im Mindesten auf dem Gewissen. Am andern Morgen brachte er beim ersten Frühstücke, welches gemeinschaftlich eingenommen wurde, die Rede auf den beabsichtigten Ritt nach der Schlucht des Tigers. Er hielt es für zweckmäßig, den Morgen dazu zu verwenden, und Sternau erklärte sich bereit dazu. Die beiden Lieutenants baten mitkommen zu dürfen, was ihnen bereitwilligst zugestanden wurde. Von den Andern nahm keiner eil, da ihnen die Offiziere unsympathisch waren. Das hatte der Rittmeister gewünscht. Sternau war der einzige Civilist, welcher bei ihnen war, und so konnte keine Verwechslung vorkommen; die Kugel mußte ihn treffen. Als sie zu Pferde die Hazienda verließen, hatte der Deutsche nicht die entfernteste Ahnung, daß er dem Tode verfallen sei. Sie ritten ganz denselben Weg, den Sternau mit Büffelstirn gegangen war. Er machte natürlich den Führer. Im Walde wurde abgestiegen, da man die Pferde stellenweise führen mußte. So näherten sie sich der Schlucht. Als man den Eingang zu derselben fast erreicht hatte, blieb Sternau stehen. »Lassen wir die Pferde hier,« sagte er. »Sie mögen bis zu unserer Rückkehr weiden.« Die Anderen thaten mit, und so schritt man ohne die iere weiter. Sternau hatte keine andere Waffe als seinen Stutzen mit; nur das Messer stak ihm noch im Gürtel. Als sie den Eingang der Schlucht erreichten, blieb er plötzlich stehen und blickte nieder, um das Gras zu betrachten.
»Was suchen Sie?« fragte der Rittmeister. »Hm, gehen wir weiter!« Mehr sagte er nicht, aber sein Auge haftete nur am Boden. Als man die Schlucht erreichte, hielt sich der Rittmeister an seiner Seite. Er suchte mit seinen Blicken die beiden Seitenwände und die Ränder der Schlucht ab; jeden Augenblick konnte der tödtliche Schuß fallen; es waren Minuten der peinlichsten Erwartung. Auf der Sohle des ales lagen die Todten, wie man sie bei der Plünderung hingeworfen hatte; man konnte bereits den Verwesungsgeruch verspüren. »Also hier war es, Sennor?« fragte der Rittmeister. »Ja,« antwortete Sternau. »Und diese Leichen sind Ihr Werk, außer zweien?« »Man zählt solche Dinge nicht genau. Bemerken Sie, daß Alle durch den Kopf getroffen sind?« »Wirklich!« Sie betrachteten die Leichen und sahen, daß eine jede ganz genau an demselben Punkte der Stirn getroffen war. Bei dieser Betrachtung gewahrten sie nicht, daß Sternau sich mehr bückte als nothwendig war, und daß er hinter ihren Körpern sehr sorgfältig Deckung suchte. Auch sahen sie nicht, daß seine Blicke verstohlen rechts und links an den Seiten der Schlucht emporblitzten. »Das ist viel,« sagte der Rittmeister. »Sie sind wirklich ein ganzer Schütze, Sennor. Man hat noch nie gehört, daß ein einziger Mann in der Zeit von zwei Minuten gegen dreißig Feinde erschießt.« Sternau zuckte geringschätzig die Achsel. »Ja, so ein Henrystutzen ist eine fürchterliche Waffe,« sagte er. »Aber es gehört auch Etwas dazu, diese Waffe im geeigneten Augenblicke zu gebrauchen. Dreißig sichtbare Feinde sind leichter zu erlegen als ein unsichtbarer« »Ein solcher dürfte wohl gar nicht zu erlegen sein,« meinte Lieutenant Pardero.
»Ein guter Schütze erlegt auch ihn,« lächelte Sternau, indem er sich noch immer hinter den Körpern der Anderen hielt. »Das ist unmöglich,« sagte der Rittmeister. »Soll ich Ihnen die Möglichkeit beweisen?« »un Sie es!« meinte der Lieutenant neugierig. »So frage ich Sie, ob Sie glauben, daß sich hier ein einziger Feind befindet?« »Wer sollte das sein, und wo sollte er stecken?« Sternau lächelte überlegen und sagte: »Und dennoch lauert man mich hier auf, um mich zu erschießen.« Er hatte seinen Stutzen schon längst von der Schulter genommen und hielt ihn unter dem Arme. Der Rittmeister erschrak. Woher wußte Sternau, daß man sein Leben bedrohte? »Sie belieben zu scherzen, Sennor Sternau,« sagte der Offizier. »Ich werde Ihnen beweisen, daß es Ernst ist.« Mit diesen Worten riß er den Stutzen empor, zielte und drückte zweimal ab. Ein mehrmaliger Schrei erscholl am Rande der Schlucht herunter. Sternau aber sprang nach der Seite dieses Randes hinüber und schnellte dann in mächtigen Sätzen, von den Büschen gedeckt, dem Ausgange der Schlucht zu, hinter welchem er verschwand. Von seinem ersten Schusse an bis zu diesem Augenblicke war nicht eine Minute vergangen. »Was war das?« rief Pardero. »Er hat einen Menschen getödtet,« antwortete der andere Lieutenant. »Ein fürchterlicher Kerl!« stieß der Rittmeister hervor. Er konnte nichts anderes sagen. »Wir stehen in Gefahr, wir müssen uns zurückziehen,« sagte Pardero. Sie retirirten nach dem Eingang der Schlucht und warteten. Nach einer Weile ertönten ganz oben noch zwei Schüsse; dann
blieb es längere Zeit still. So verging wohl eine Viertelstunde, da raschelte es hart neben ihnen in den Büschen so daß sie erschrokken hinblickten und zu den Waffen griffen. »Fürchten Sie sich nicht, Sennores,« klang es ihnen entgegen. »Ich bin es.« Es war Sternau, welcher hervortrat. »Aber, Sennor, was war das, was haben Sie gethan?« fragte der Lieutenant. »Geschossen habe ich,« lachte der Gefragte. »Das wissen wir. Aber warum?« »Aus Gegenwehr, denn ich war es, der erschossen werden sollte.« »Unmöglich! Wer sollte das sein! Woher wissen Sie das?« »Meine Augen sagten es mir.« »Und wir haben nichts bemerkt!« »Das ist Ihnen nicht anzurechnen, denn Sie sind keine Prairiemänner. Der Herr Rittmeister bemerkte, daß ich vorhin hier das Gras betrachtete. Ich sah die Fußspuren von Menschen, welche vor einer Viertelstunde hier gewesen waren; sie führten da rechts empor. Hier blicken Sie her; sie sind noch zu sehen.« Er deutete auf den Boden nieder. Die Offiziere gaben sich alle Mühe, konnten aber nicht das Mindeste erkennen. »Ja, es gehört ein geübtes Auge dazu,« lachte Sternau. »Nun weiter! Weil die Spuren rechts nach der Höhe führten, suchte ich nach unserem Eintritt in die Schlucht den Rand derselben ab, und da bemerkte ich denn einige Männerköpfe, welche hinter dem dort stehenden Buschwerke versteckt, uns beobachteten. Sie konnten nicht sehen, daß ich sie beobachtete, da meine Augen sich im Schatten meiner Hutkrämpe befanden.« »Aber wie konnten Sie wissen, daß es Feinde waren?« fragte der Rittmeister.
»Weil sie ihre Büchsen durch die Sträuche steckten, als wir in die Schlucht eindrangen. Ich sah ganz deutlich zwei Läufe auf uns gerichtet.« »Caramba!« fluchte Lieutenant Pardero, der keine Ahnung von dem Zusammenhange hatte. »Das konnte auch uns gelten anstatt Ihnen.« »Nein, es galt mir. Ich weiß, daß ich Veranlassung habe, auf meiner Hut zu sein; darum versteckte ich mich, je weiter wir gingen, immer hinter den Körper des Herrn Rittmeisters. Wer mich schießen wollte, mußte erst ihn treffen.« Der Rittmeister sperrte den Mund auf. »Donnerwetter,« meinte er endlich, »so bin eigentlich ich es gewesen, der sich in Lebensgefahr befunden hat!« »Allerdings,« lachte Sternau. »Es ist mir dabei sehr auffällig, daß diese Mörder den Schild, als der Sie mir dienten, so sorgfältig respektirt haben.« Diese Bemerkung verursachte dem Rittmeister doch einiges Bedenken. Ahnte dieser Sternau vielleicht den Zusammenhang? Dieser Letztere fuhr fort: »Uebrigens wurde es mir sehr leicht, mich zu decken; die Büchsen blickten von rechts herab, und der Herr Rittmeister hatte die Güte, sich mit einer gewissen Anstrengung stets auch an meiner rechten Seite zu halten.« Der Rittmeister erbleichte leicht. Jetzt war kein Zweifel übrig, daß er durchschaut war. Sternau ahnte, wer an dem Ueberfalle Schuld trage. Er fuhr fort: »Sie sahen die Gewehre nicht. Ich aber weiß ganz genau, in welcher Richtung von der Mündung einer Büchse der Kopf des Zielenden zu suchen ist. Als ich meine beiden Schüsse abfeuerte, traf ich zwei Männer gerade in den Kopf. In demselben Augenblicke aber fuhren neben ihnen noch zwei Büchsen durch die Sträucher; darum sprang ich nach rechts hinüber, wo ich Deckung fand und
eilte dem Ausgange zu. Die Bursche hatten ihre Position sehr schlecht gewählt; sie verdienen Ohrfeigen für ihre Dummheiten.« »Und wo gingen Sie dann hin?« fragte der Rittmeister, »Ich pürschte mich so eilig wie möglich hinauf, um den Leuten in den Rücken zu kommen. Aber als ich an den Ort gelangte, waren sie klug gewesen, sich davon zu machen. Ich hörte noch von Weitem die Büsche knacken und schickte ihnen auf’s Geradewohl zwei Kugeln nach.« »Und die Todten?« »Sie liegen oben. Wollen Sie sie sehen?« »Ja.« »So kommen Sie. Ihre Kameraden haben ihnen nur die Waffen und das Geld abgenommen; das Uebrige werden wir noch finden.« Sie folgten dem muthigen Manne am Rande der Schlucht empor und fanden dort oben wirklich zwei Männer liegen, welche beide durch den Kopf geschossen waren. Der Rittmeister erkannte mit Befriedigung, daß der Anführer, mit dem er um Mitternacht gesprochen hatte, und den er heute um dieselbe Zeit wieder erwartete, nicht dabei war. »Sennor, Sie wagten viel, als Sie die Gewehre auf sich gerichtet sahen und dennoch mit uns gingen,« sagte der zweite Lieutenant. »Ich wagte wenig. Aber diese beiden Todten wagten viel, daß sie mich ihre Läufe sehen ließen, ehe sie zum Schusse kamen. Ein erfahrener Westmann thut das nie.« »Was thun wir mit den Leichen?« »Nichts, sie mögen bei den Andern liegen, zu denen sie gehören. Ich irre mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß diese beiden Menschen gestern mit einem gewissen Cortejo in El Oro gewesen sind. Sie selbst kamen ja wohl von dort her?«
Er sagte das in einem scheinbar gleichgiltigen Tone, aber der Rittmeister hörte aus demselben doch die Spur einer Anklage heraus. »Ja, ein gewisser Cortejo kam zu Juarez, als wir gerad zur Tafel saßen,« sagte der zweite Lieutenant unbefangen und ahnungslos. Der Rittmeister warf ihm einen wüthenden Blick zu, der aber nicht bemerkt wurde. »Waren Leute bei ihm?« fragte Sternau. »Ja. Fünf oder sechs.« »Gehörten diese Beiden hier zu ihnen?« »Ich habe sie nicht so genau angesehen, aber es ist mir so, als hätte ich sie bemerkt. Der Herr Rittmeister kann vielleicht nähere Auskunft ertheilen.« »Warum der Herr Rittmeister?« »Weil jener Cortejo bei ihm geherbergt hat.« Ein zweiter wüthender Blick traf den Sprecher, wurde aber von ihm ebenso wenig bemerkt, wie der erste. Nur Sternau fing ihn auf, ließ sich aber nichts merken und sagte ruhig: »Ich glaube nicht, daß ich von Sennor Verdoja Auskunft erhalten werde. Uebrigens ist ja die Sache abgemacht. Diese beiden Kerls haben ihren Lohn und mögen nun da verwesen, wo ihre Kameraden verfaulen.« Er stieß die beiden Leichen über den Rand der Schlucht, so daß sie den steilen Abhang hinabstürzten und unten halb zerschmettert liegen blieben. Nun kehrten die vier Männer nach dem Orte zurück, an welchem sie ihre Pferde stehen gelassen hatten. Sie fanden dieselben ruhig weidend, stiegen auf und traten den Heimritt an. Während dieses Rittes wurde von Sternau kein Wort gesprochen; auch der Rittmeister verhielt sich vollständig schweigsam, und nur die beiden Lieutenants plauderten halblaut miteinander. Sternau war der Gegenstand des Gesprächs. Sein Muth, seine Geistesgegenwart und Geschicklichkeit wurde von ihnen mit Bewunderung
besprochen, und noch waren sie keine Stunde lang zu Hause, so wußten sämmtliche Soldaten von dem Abenteuer, welches ihre Offiziere mit dem kühnen Deutschen erlebt hatten. Die Bewohner der Hazienda erfuhren es natürlich auch, und es wurde von ihnen auf verschiedene Weise aufgenommen. Während der Eine nur das Verhalten Sternau’s pries, hob der Andere hervor, daß man sich nun wohl sicher fühlen könne, und ein Dritter bedauerte, daß nur zwei getödtet worden seien und nicht auch die Anderen mit. Da Sternau sich sagen konnte, daß er von dem Rittmeister beobachtet werde, so hielt er sich von allem Verkehr fern und machte auch während der Mittagsmahlzeit über sein heutiges Erlebniß nur einige allgemeine Bemerkungen. Als aber am Nachmittage Verdoja einen Spazierritt unternahm, ließ er den Haziendero und die Freunde zu sich kommen und theilte ihnen seinen Verdacht mit. Sie glaubten anfangs, daß er sich getäuscht habe, schenkten später aber doch seinen Gründen einigermaßen Glauben und beschlossen, den Rittmeister genau zu beobachten und sich möglichst vor ihm in Acht zu nehmen. Der Abend verging wie der gestrige, nur daß die Indianerin sich hütete in den Garten zu gehen. Als der Rittmeister sich zur guten Nacht empfahl, ging Sternau scheinbar auch schlafen, kehrte aber auf der Treppe wieder um und begab sich in eines der Gemächer, welche im Parterre neben dem Hausflur lagen. Wenn der Rittmeister mit dem Mordgesindel in Beziehung stand, so war es klar, daß er nur des Nachts mit diesen Leuten verkehren konnte; daher hatte Sternau beschlossen, sich auf die Lauer zu legen. Die hintere ür war verschlossen und da in Folge dessen das Haus nur durch die vordere verlassen werden konnte, so mußte Sternau den Rittmeister, sobald dieser einen heimlichen Weg antrat, unbedingt bemerken.
Er öffnete den einen Flügel seines Fensters ein Wenig, um besser hören zu können und ließ sich dann auf einen Stuhl nieder. Es kam ihm oft der Gedanke an die Heimath und an sein schönes, herrliches Weib, aber er drängte diese Vorstellung zurück, da er seine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu konzentriren hatte. So saß er lange mit scharf wachenden Sinnen, bis Mitternacht nahe war. Da kam es ihm vor, als ob er ein Geräusch vernehme, welches sich draußen im Flur hören ließ. Er horchte mit doppeltem Fleiße und hörte die vordere ür, neben welcher sein Fenster lag, leise öffnen. Ein scharfer Blick durch das Fenster zeigte ihm die Gestalt des Rittmeisters, welcher behutsam das Haus verließ und nach dem ore schritt. Dasselbe war nicht verschlossen, da die Gegenwart der Lanzenreiter mehr als genug Schutz und Sicherheit bot. Man mußte es auf lassen, damit Mannschaft und Offiziere auch des Abends und Nachts mit einander verkehren konnten. Der Rittmeister trat in das Freie hinaus. Sternau sprang durch sein Fenster, dessen Flügel er wieder anlehnte und folgte ihm, aber nicht hinaus in das Freie, sondern nur bis an die Palissaden, welche den Hof umschlossen. Ueber dieselben hinweg konnte er in das Freie blicken und so den Rittmeister sehen, wie er von Feuer zu Feuer ging, um die Wachen zu inspiciren. Wie dieser draußen ging, so folgte ihm Sternau im Inneren des Hofes. – Bei einem zufälligen Rückblick auf das Gebäude bemerkte Sternau oben auf dem platten Dache desselben eine Gestalt, welche langsam auf- und niederschritt. Er konnte ihre Züge nicht erkennen, aber er wußte, daß es Emma sei, der er heute ernstlich anbefohlen hatte, frische Luft zu genießen, da sie sonst sich am Krankenbette zu sehr anstrenge. Des Tages wollte sie mit dem Militär nicht in Berührung kommen, und so zog sie es vor, jetzt, da der Geliebte schlief, sich auf dem Dache des Hauses zu ergehen.
Der Rittmeister hatte das ganze Lager durchschritten und hätte nun eigentlich zurückkehren müssen, aber er huschte nach der südlichen Ecke des Hauses zu. Was wollte er dort? Warum schritt er nicht laut, wie ein ehrlicher Spaziergänger? Sternau folgte ihm von innen mit vollständig unhörbaren Schritten und kam so an die Stelle, an welcher draußen vor den Planken die Beiden mit einander sprachen. Er hörte eine fremde Stimme sagen: »Sie selbst waren uns im Wege. Wir hätten ja Sie getroffen!« »Warum postirtet Ihr Euch nicht auf die linke Seite?« »Das blieb sich gleich. Wer denkt, daß dieser Mensch so scharfsinnig ist!« »Es scheint fast, als ob er allwissend sei. Ich kann für den Augenblick nicht gleich einen neuen Plan entwerfen, sondern muß erst abwarten und beobachten. Zudem ist es möglich, daß dieser Sennor Sternau mich beobachtet, darum dürfen wir uns hier nicht wieder treffen.« »Wo denn?« »Hast Du Papier und Blei?« »Nein.« »Aber Schreiben und Lesen kannst Du?« »Ja.« »Hier hast Du einige Bogen und auch eine Bleifeder, welche ich Dir mitgebracht habe. Wenn man von hier nach der Schlucht des Tigers geht und an den Wald kommt, liegt zwischen den ersten Bäumen ein nicht zu großer Stein. Dorthin werde ich Euch des Vormittags, oder wenn es paßt, Euere Instruktion stecken; sie wird unter dem Steine liegen. Und habt Ihr mir eine Antwort zu geben, so werde ich sie an demselben Orte finden. Hast Du es verstanden?«
»Ja; man braucht kein Gelehrter zu sein, um es zu begreifen. Aber sagen Sie, Sennor, was ist das für eine Gestalt, welche dort oben hin- und herläuft?« »Wo?« »Auf dem Dache.« »Ich habe sie noch gar nicht bemerkt. Ah, das ist Emma, die Tochter des Haziendero. Ich werde ihr ein wenig Gesellschaft leisten. Hast Du sonst vielleicht noch etwas zu fragen?« »Nein.« »So gehe. Aber das merke Dir: wenn Ihr Euch abermals so ungeschickt benehmt wie heute morgen, so ist es aus mit unserem Geschäfte. Ich kann keine Dummköpfe gebrauchen. Gute Nacht.« Als Sternau die beiden letzten Worte hörte, schlüpfte er schleunigst zurück, stieg durch das Fenster wieder ein und verschloß dasselbe. Er hatte genug erfahren. Seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen; dieser Rittmeister war als Todfeind zu betrachten; er war von Cortejo beauftragt worden und that nun sein Möglichstes, diesen Auftrag zu erfüllen. Ein Glück war es, daß Sternau das Versteck des Correspondenten erfahren hatte, denn nun konnte er leicht die Machinationen seiner Feinde durchkreuzen. Aber, was wollte der Rittmeister jetzt droben auf dem Dache? War das nur eine leichtsinnige Bemerkung gewesen, oder war es ihm Ernst, Emma aufzusuchen? Das mußte abgewartet werden. Sternau sah bald seinen Gegner durch das or zurückkehren; er hörte ihn durch die Hausthür eintreten und dann leise, ganz leise die Treppe ersteigen. Nach einigen Minuten öffnete auch er die ür seines Zimmers geräuschlos und folgte dem Offizier. Mit unhörbaren Schritten stieg er langsam die erste und zweite Treppe empor, welche letztere auf das platte Dach mittelst einer leiterähnlichen Fortsetzung führte. Man trat durch eine Fallthüre hinaus.
Als Sternau diese letztere erreichte, fand er sie offen. Er steckte vorsichtig den Kopf hindurch und erblickte Emma und den Rittmeister, welche ganz in der Nähe standen. »Sie wollen mich wirklich fliehen, Sennorita?« fragte soeben der Letztere. »Ich muß fort,« antwortete Emma mit einer Bewegung nach der ür. Sternau sah, daß der Rittmeister sie bei der Hand gefaßt hatte und daran fest hielt. »Nein, Sie werden bleiben, Sennorita,« entgegnete der Offizier. »Sie werden bleiben und anhören, was ich Ihnen zu sagen habe von meinem vollen Herzen, von meiner unendlichen Liebe und von meinem glühenden Verlangen, Sie an meine Brust zu nehmen. Kommen Sie, Emma, sträuben Sie sich nicht, denn dies würde vergeblich sein!« »Ich bitte Sie inständigst, lassen Sie mich gehen, Sennor,« bat sie in einem Tone, der die Größe ihrer Herzensangst erkennen ließ. »Nein, ich lasse Sie nicht. Ich muß Ihre Lippen küssen; ich muß Ihr Herz an dem meinigen klopfen fühlen; ich will mit Ihnen verschlungen sein Arm in Arm und Mund an Mund!« Er versuchte, sie an sich zu ziehen; sie wehrte sich vergeblich und sagte endlich verzweifelnd: »Mein Gott, soll ich denn um Hilfe rufen!« Mit einem raschen Schwunge stand da auf einmal Sternau neben ihnen. »Nein, Sennorita, das brauchen Sie nicht; die Hilfe ist schon da. Wenn Sennor Verdoja nicht sofort Ihre Hand freigiebt, fliegt er vom Dache hinab in den Hof!« »Ah, Sennor Sternau!« stammelte sie erleichtert. »Helfen Sie mir!« »Sternau!« knirrschte der Rittmeister. »Ja, ich bin es. Lassen Sie die Dame los!«
Da legte der Offizier nun erst recht seinen Arm um sie und fragte: »Was wollen Sie hier? Was haben Sie mir zu befehlen? Packen Sie sich, Unverschämter!« Er hatte dieses Wort kaum ausgesprochen, so sauste die Faust Sternau’s durch die Luft, ein fürchterlicher Schlag traf seinen Kopf und er brach zusammen. Dann wandte sich der Deutsche zu dem Mädchen, welches von dem Offizier fast mit niedergerissen worden wäre: »Kommen Sie, Sennorita; ich werde Sie hinunter leiten!« »O mein Gott,« klagte sie, am ganzen Körper zitternd, »ich habe nichts gethan, was ihm den Muth zu einem solchen Ueberfalle geben könnte!« »Ich weiß es,« antwortete er. »Diese Art von Menschen hat den Muth zu allem Bösen, aber nicht zum Guten.« »Diese Lanzenreiter lassen mir nur die Plattform des Hauses zum Promeniren übrig, und nun werde ich auch diese meiden müssen.« »Nein, Sennorita. Sie bedürfen der Erholung in freier Luft, und man soll Ihnen diese abendliche Promenade nicht rauben. Ich werde dafür sorgen, daß Sie fernerhin ungestört bleiben.« »Aber Sie werden sich dadurch grimmige Feinde machen, Sennor!« »Ich fürchte diese Sorte von Feinden nicht,« sagte er im wegwerfenden Tone. »Sie haben den Mann niedergeschlagen. Wird das zu keinem Rencontre führen?« »Vielleicht. Aber sorgen Sie sich nicht um mich. Eine offene Forderung hat ungleich weniger zu bedeuten, als eine versteckte Heimtücke, gegen die man nicht gewappnet ist. Lassen wir jetzt den Mann liegen, und versuchen Sie, die freche Beleidigung im
Schlafe zu vergessen. Er ist nicht werth, viel Worte um ihn zu verlieren.« Er geleitete sie die Treppe hinab bis vor die ür des Krankenzimmers, wo er sich von ihr verabschiedete, denn sie wollte bei dem Bräutigam bleiben. In sein eigenes Gemach zurückgekehrt, an welchem der Kapitän der Lanzenreiter vorüber mußte, lehnte er die ür nur leicht an und wartete. Erst nach längerer Zeit hörte er ihn mit leisen Schritten vom Dache herabkommen und dann den Korridor durchschleichen. Nun erst begab sich auch Sternau zur Ruhe. Emma fühlte sich durch die ihr angethane Infamie so aufgeregt und geängstigt, daß sie, in der Hängematte am Krankenbette liegend, keinen Schlaf fand. Sie wurde von peinigenden Gedanken gequält. Die Lanzenreiter wollten noch einige Zeit auf der Hazienda verweilen. Da fand Kapitän Verdoja leicht Gelegenheit, seinen Angriff zu wiederholen, und es war mehr als fraglich, ob sich dann abermals ein so muthiger Beschützer finden werde. Auf ihren Vater konnte sie nicht rechnen. Er war erstens nicht zum Helden geboren und hatte zweitens alle mögliche Rücksicht auf die halb wilden Soldaten, welche zudem ja seine Gäste waren, zu nehmen. Sie sagte sich ferner, daß die Rolle eines Beschützers unter den gegenwärtigen Umständen mit einer nicht geringen Gefahr verbunden sei. Sternau hatte ganz gewiß sein rasches und energisches Auftreten zu büßen. Was waren zwei oder drei noch so muthige Männer gegen eine zahlreiche Schaar uncivilisirter Lanzenreiter, von denen jeder Einzelne so ziemlich außerhalb der gesetzlichen Ordnung stand! – In solchen Gedanken und Befürchtungen verging ihr die Nacht. Sie konnte denselben um so mehr nachhängen, als der Kranke die im Zimmer herrschende Stille nicht unterbrach. Er lag in einem festen Schlafe, der so gesund war, daß er sich nicht ein einziges Mal regte. Er schlief sogar noch, als am Morgen Karja, die schöne Indianerin, hereinschlüpfte, um nach ihrer Gewohnheit Emma in
den nothwendigen häuslichen Anordnungen für einige Zeit abzulösen. »War seine Nacht eine gute?« fragte sie. »Ja,« antwortete Emma. »Er hat ohne Unterbrechung geschlafen, und nun steht, Gott sei Dank, zu erwarten, daß seine Genesung sicher und ungestört fortschreiten wird. Sennor Sternau sagte, die Trepanation sei an und für sich nicht gefährlich, aber man müsse das Wundfieber und die sonstigen Folgen fürchten. Wir haben ihm von unserem Wundkraut aufgelegt und eingegeben; in Folge dessen ist das Fieber kaum zu spüren. Es steht zu erwarten, daß Gott ihn beschützen und recht bald gesund machen werde.« »Das ist mein innigster Wunsch,« sagte Karja. »Also um Sennor Helmers brauchen wir fast nicht mehr bange zu sein; aber um Deinetwillen bin ich besorgt.« »Warum?« »Du siehst so bleich und angegriffen aus. Das Nachtwachen schwächt Dich zu sehr.« »Das ist es nicht. Wenn ich mich ermüdet fühle, so ist es nicht der Krankenpflege, sondern eines anderen Grundes wegen.« Sie erzählte nun mit leiser Stimme, um den Schlummernden nicht zu wecken, ihre Abenteuer auf dem Dache. Karja, welche ihr mit vollster eilnahme zuhörte, wurde dadurch veranlaßt, auch ihre Begegnung mit dem Lieutenant Pardero im Garten in Erwähnung zu bringen. Beide waren noch dabei, ihren Abscheu über solche unverzeihbare Zudringlichkeiten in Worte zu fassen, als Sternau eintrat. Er hatte gleich nach seinem Erwachen nach dem Patienten sehen wollen, war ganz leise eingetreten und hörte die letzten Worte ihrer Unterhaltung, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Als sie ihn sahen, war es zum Schweigen zu spät. Er entschuldigte sich und fragte die Indianerin: »Wie, auch Sie haben in ähnlicher Weise wie Sennorita Emma zu leiden gehabt?«
»Leider ja,« antwortete sie. »Von wem?« »Lieutenant Pardero fiel mich im Garten an und als ich entfloh, lief ich dem Kapitän in die Hände, welcher mich fassen wollte.« »Schurken!« Sternau sagte nur dieses eine Wort, dann wendete er sich zu dem Schlafenden. Als er ihn aufmerksam betrachtet und besonders auch seine ruhigen Athemzüge gezählt hatte, nickte er befriedigt. Er hörte nun, daß der Patient ununterbrochen geschlafen habe; da heiterte sich sein Gesicht noch mehr auf und er sagte: »Lassen wir ihn ruhig schlafen. Schlaf und Ruhe sind die besten und sichersten Mittel zu seiner Wiederherstellung.« Er unternahm jetzt einen Morgenspaziergang hinaus nach den Weideplätzen, fing sich eines der Pferde und galoppirte auf demselben eine Strecke in die Savanne hinein; dann kehrte er wieder zurück. Er gab das Pferd frei und schritt zu Fuße der Hazienda zu. Unter dem ore begegnete ihm der Lieutenant Pardero. »Ah, Sennor Sternau!« sagte dieser, stehen bleibend und in einem nicht eben höflichen Tone. »Ich habe Sie gesucht!« »Weshalb?« fragte Sternau kurz. »Ich muß mit Ihnen sprechen!« »Sie müssen?« meinte der Deutsche in einem verwunderten Tone. »Heißt das vielleicht, daß ich gezwungen bin. Sie anzuhören?« »Allerdings,« lautete die spöttische Antwort. »Nun ja, ein gebildeter Mann verweigert keinem Anderen das Gehör, vorausgesetzt, daß die nöthigen Höflichkeiten nicht vernachlässigt werden. Unter dem orwege ertheile ich keine Audienz. Haben Sie mich zu sprechen, so kommen Sie nach meinem Zimmer.« Der Lieutenant verfärbte sich, trat einen Schritt zurück und sagte:
»Sie sprechen so hochmüthig von Audienzen. Halten Sie sich für ein gekröntes Haupt?« »Pah! Ich verstehe Audienz im weiteren Sinne, bei welcher es sich um eine Unterredung zwischen einem höher und einem niedriger Gestellten handelt. Sie werden mir doch zugeben, daß unsere Stellungen in bürgerlicher, intellectueller und moralischer Beziehung sich nicht gleich sind. Ich werde dennoch bereit sein. Sie anzuhören.« Er wandte sich zum Gehen, doch der Lieutenant faßte ihn hastig beim Arme und fragte mit drohender Miene: »Meinen Sie etwa, daß ich moralisch unter Ihnen stehe?« »Ich meine niemals Etwas, sondern ich sage stets nur das, von dessen Wahrheit ich vollständig überzeugt bin. Nehmen Sie übrigens Ihre Hand von meinem Arme; ich liebe derartige Berührungen nicht!« Er schüttelte die Hand des Mexikaners von sich ab und ging fort. Der Lieutenant fühlte sich durch den Ton und den Blick des Deutschen eingeschüchtert; er ließ ihn gehen, verfolgte ihn aber mit flammenden Augen und murmelte: »Prahler, das sollst Du büßen! Diese Deutschen sind wie die Maulesel; sie tragen geduldig und ohne Muth und ohne Ehrgefühl die größten Lasten, rappelt es aber einmal in ihrem Kopfe, so werden sie störrisch und ungezogen; man kann sie dann nur durch Prügel zähmen. Und dieses Experiment werde ich hier anwenden. Wir wollen doch einmal sehen, ob dieser Sternau so stolz bleibt, wenn er erfährt, um was es sich handelt.« Er wartete ein kleines Weilchen und begab sich sodann nach der Wohnung Sternau’s. Dieser hatte ihn erwartet; er ahnte, welchen Gegenstand die Unterredung betreffen werde, und empfing den Eintretenden mit einer kalten, aber höflichen Verbeugung. »Sie sehen, Sennor, daß ich komme,« sagte der Mexikaner mit einem höhnischen Lächeln.
Sternau nickte. »Zur Audienz,« fügte der Mexikaner hinzu. Sternau nickte abermals, ohne ein Wort zu sagen. »Darum hoffe ich, daß ich jetzt Gehör finden werde!« fügte Pardero jetzt drohend hinzu. »Jedenfalls, wenn Sie sich anständig betragen,« antwortete der Deutsche. Da brauste der Mexikaner auf: »Herr, haben Sie mich einmal unanständig gesehen?« »Kommen wir zur Sache, Sennor Pardero!« sagte Sternau eiseskühl. »Gut, wir können ja diesen Gegenstand einstweilen fallen lassen. Aber ich bin nicht gewöhnt, stehend mich zu unterhalten!« Er blickte nach einem der vorhandenen Stühle. Sternau that, als habe er den Blick gar nicht bemerkt und antwortete mit einem sarkastischen Lächeln: »Von einer Unterhaltung ist hier keine Rede, sondern von einer Audienz. Der Empfangene hat sein Gesuch stehend vorzutragen. Ist dies gegen Ihren Geschmack, so muß ich die gegenwärtige Zusammenkunft für beendet erklären.« Hatte er bei diesen Worten beabsichtigt, den Mexikaner auf das Tiefste zu beleidigen, so war es ihm vollständig gelungen. Pardero’s Gesicht flammte von der Röthe des Zornes, seine Augen glühten und seine Stimme zitterte, als er antwortete: »Sennor, ich fühle mich nicht mehr in der Lage, Sie für einen Kavalier zu halten!« »Ihre Lage ist mir vollständig gleichgiltig,« lächelte Sternau. »Aber bitte, kommen Sie zur Sache. Ich bin nicht in der Lage, mich für einen Schwätzer halten zu lassen!« Pardero wollte aufbrausen, als er aber sah, daß Sternau sogleich nach dem Hute griff, um sich zu entfernen, bezwang er sich und sagte mit möglichster Gelassenheit:
»Ich komme im Auftrage meines Vorgesetzten, Kapitän Verdoja.« Als Sternau keine Miene machte, diese Einleitung mit einem Worte zu beachten, fuhr der Mexikaner leichthin fort: »Gestehen Sie, daß Sie ihn beleidigt haben?« Sternau zuckte die Achsel und sagte lächelnd: »Sie scheinen nicht gewohnt zu sein, Ihre Ausdrücke treffend zu wählen. Gestehen kann nur ein Verbrecher dem Richter gegenüber, und ich bin eben so wenig das Erstere, wie Sie das Andere sind. Von einem Geständnisse meinerseits kann also keine Rede sein. Uebrigens habe ich diesen Mann nicht beleidigt, sondern niedergeschlagen. Vielleicht ist das Ihrer Ansicht nach eine Beleidigung im Comparativ oder gar im Superlativ.« »Ja,« rief der Lieutenant, »das ist es allerdings. Der Kapitän fordert Genugthuung!« »Ah!« dehnte Sternau mit gut gespielter Verwunderung. »Genugthuung? Und diese fordert er durch Sie?« »Wie Sie hören!« »Hm! Sind Ihnen die Regeln des Duells bekannt, Sennor Pardero?« »Zweifeln Sie daran?« »Ja.« »Donnerwetter!« »Bitte, ich bin nicht gewöhnt, in meinem Zimmer dergleichen Ausdrücke zu vernehmen. Ich zweifle an Ihrer Kenntniß der Duellgesetze, weil Sie sich zum Cartellträger in einer Angelegenheit hergeben, welche nichts weniger als ehrenvoll für Sie sein kann. Ist Ihnen die Veranlassung zu dem Hiebe bekannt, welchen Kapitän Verdoja von mir erhalten hat?« »Vollkommen,« antwortete der Gefragte mit vor Wuth bebender Stimme.
»Nun, dann verachte ich Sie! Ich schlug den Kapitän nieder, weil er eine anständige Dame beleidigte, welche sogar die Tochter seines Gastfreundes war. Wer sich zur Vermittelung eines solchen Falles hergiebt, der ist in meinen Augen nicht nur eine moralische Null, sondern er ist sogar ein ganz bedeutendes sittliches Minus.« Da griff der Mexikaner nach seinem Degen, zog die Klinge halb heraus und rief: »Was sagen Sie? Was wagen Sie? Ich werde – –!« »Nichts werden Sie!« sagte Sternau ruhig, aber diese Ruhe war diejenige vor dem ersten Donnerschlage. In seinen Augen blitzte ein Wetterleuchten auf, welches auch einen muthigeren Mann, als der Lieutenant war, hätte erschrecken können. Er fuhr fort: »Nehmen Sie die Hand vom Degen, sonst zerbreche ich ihn vor Ihren Augen! Es kann mich eigentlich nicht wundern, daß Sie die Botschaft des Kapitäns übernommen haben, denn Sie sind ein ebenso großer Schurke wie er. Sie haben – – –« »Halt!« schrie der Lieutenant, den die Wuth jetzt übermannte. »Sagen Sie noch ein solches Wort, so durchbohre ich Sie! Wollen Sie mir sogleich diesen Schurken abbitten?!« Er zog den Degen vollends heraus und holte zum Stoße aus. Sternau stellte sich ihm gemüthlich gegenüber, schlug die Arme über der breiten, mächtigen Brust zusammen und sagte: »Gut, wenn Sie es wünschen, so bitte ich Ihnen den ›Schurken‹ ab. Es ist wahr; Sie sind kein Schurke sondern ein Doppelschurke, ein Elender!« Der Eindruck dieser Worte war kein augenblicklicher. Der Mexikaner stand ganz steif; er konnte im ersten Momente sich gar nicht fassen und seinen Gegner gar nicht begreifen; dann aber stieß er einen heißeren Schrei der Wuth aus und zückte den Degen. Aber in demselben Augenblicke befand sich die scharfe, spitze Waffe in der Hand des Deutschen; der Mexikaner wußte gar nicht, wie sie
ihm entwunden worden war. Sternau bog die Klinge zweimal zusammen und warf die drei Stücke dem Lieutenant in das Gesicht. »Hier haben Sie Ihren Apfelschäler!« sagte er lachend. »Sie haben Sennorita Karja beleidigt ebenso, wie Ihr Kapitän Sennorita Emma beleidigte. Es ist ein Schurke so groß wie der Andere. Wenn Sie mein Zimmer nicht sofort verlassen, werfe ich Sie zum Fenster hinaus!« Er streckte seinen Arm drohend nach dem Gegner aus. Dieser schlüpfte gewandt unter demselben hinweg und sprang nach der ür. Dort aber drehte er sich noch einmal um und rief, dem Deutschen die geballte Faust entgegenstreckend: »Das sollen Sie büßen, und zwar bald, bald! Sie werden sich mit Zweien zu schlagen haben anstatt nur mit Einem, und wenigstens einer von uns wird Sie tödten, wenn Sie nicht geradezu den Teufel haben.« Er eilte zur üre hinaus. Sternau brannte sich ruhig eine Cigarrette an und wartete nun gleichmüthig der Dinge, die da kommen sollten. Seine Geduld sollte nicht lange auf die Probe gestellt werden, denn bereits nach einer kleinen Viertelstunde klopfte es an seine ür, und auf sein lautes »Herein!« trat der andere Lieutenant durch die geöffnete ür. Er verbeugte sich sehr höflich und sagte in einem ebenso höflichen Tone: »Verzeihung, Sennor Sternau, daß ich Sie störe! Können Sie sich mir auf höchstens fünf Minuten widmen?« »Gern, Sennor. Bitte, nehmen Sie Platz, und bedienen Sie sich einer Cigarrette!« Der Offizier war ganz überrascht über diese Freundlichkeit. Lieutenant Pardero hatte ihm doch jedenfalls von dem Verhalten Sternau’s erzählt, und anstatt in diesem einen Wütherich zu finden, wurde er mit solcher Höflichkeit empfangen. Was ein europäischer Offizier als Cartellträger nicht gemacht hätte, der Lieutenant that es; er nahm eine Cigarette und ließ sie sich von Sternau in Brand
stecken. Eigentlich mußte ihm die Veranlassung seines Besuches doch verbieten, sie anzunehmen. Als Beide nun einander gegenüber saßen, begann der Offizier: »Aufrichtig gestanden komme ich nicht gern zu Ihnen, Sennor; denn die Angelegenheit, welche mich zu Ihnen führt, ist eine feindliche.« Er hielt inne und blickte Sternau erwartungsvoll an. Dieser wollte ihm das Schwierige seiner Lage erleichtern und sagte daher mild: »Sprechen Sie getrost, Sennor! Ich bin jedenfalls auf das, was Sie mir bringen, bereits genugsam vorbereitet.« »Nun, ich komme im Auftrage der Sennores Verdoja und Pardero, welche von Ihnen beleidigt zu sein glauben.« Sternau nickte leichthin. »Sie gebrauchen den richtigen Ausdruck,« sagte er. »Diese Sennores glauben, von mir beleidigt zu sein, aber im Gegentheile sind diese Beiden es, welche zwei Damen beleidigten, welche sich ohne Schutz befanden, dann aber in mir den Rächer fanden. Sennor, Sie bringen mir nun eine Aufforderung zum Zweikampfe?« »Ja, Sennor Sternau.« »Und mit wem soll ich mich schlagen?« »Mit Beiden.« »Hm! Das thut mir leid um Ihretwillen, denn Sie sind nicht der Abgesandte von Männern, die ich achten kann. Uebrigens brauche ich die Ausforderung gar nicht anzunehmen, da man sich nur mit Ehrenmännern schlägt. Aber ich will Sie, der Sie höflich zu mir sprachen, nicht kränken, und ebenso will ich bedenken, daß ich mich gegenwärtig in einem Lande befinde, in welchem der Ehrbegriff vielleicht noch nicht die nothwendige Läuterung und Krystallisation erfahren hat, und darum will ich mich zu der Forderung bekennen. Haben die beiden Herren bereits Wünsche in Beziehung auf das Arrangement ausgesprochen?« »Allerdings.«
»Nun?« »Der Kapitän wünscht, sich auf Degen zu schlagen, der Lieutenant aber auf Pistole.« »Das glaube ich!« lachte Sternau fröhlich. »Ich habe des Lieutenants Säbel zerbrochen; er weiß also, daß ich mit dieser Waffe umzugehen verstehe und wählt daher Pistolen. Ich will den beiden Herren die Erfüllung ihrer Wünsche zugestehen, aber nur unter zwei Bedingungen.« »Ich will sie hören, Sennor.« »Ich schlage mich mit dem Kapitän per Degen, bis Einer von uns durch eine Wunde gezwungen ist, den Degen fallen zu lassen.« »Das wird vielleicht zugestanden.« »Und mit dem Lieutenant schieße ich mich über die Barriere mit zwei geladenen Läufen. Die Barriere ist drei Schritte, und jeder hat zwei Kugeln.« »Mein Gott, Sennor, auf diese Weise gehen Sie ja einem sicheren Tod entgegen!« warnte der Offizier. »Wenn Sie dem Kapitän entkommen, werden Sie doch dem Lieutenant nicht entgehen, welcher der beste Pistolenschütze ist, den ich kenne.« »Vielleicht giebt es noch bessere, als er ist,« lachte Sternau. »Haben Sie bereits einmal von berühmten Schützen, Jägern oder Savannenmännern gehört, Sennor?« »O, sehr oft!« »Können Sie mir die Namen Einiger sagen?« »Nun, ich habe gehört von Sansear, von Shatterhand, von Firehand, von Winnetou, von dem berühmten Fürst des Felsens und von – –« »Halt, Sennor; glauben Sie, daß dieser Fürst des Felsens eine Pistole zu führen versteht?« »Besser wie jeder Andere!« meinte der Mexikaner rasch. »Nun, dieser Fürst des Felsens bin ich. Haben Sie also keine Sorge, daß ich mich vor Ihrem Lieutenant fürchte. Ich theile Ihnen
vielmehr mit, daß ich das Resultat des Doppelduells bereits jetzt kenne.« Der Mexikaner blickte ihn überrascht an. »Daß Sie der Fürst des Felsens sind, weiß ich ja, und wie Sie schießen, das weiß ich ebenso gut,« sagte er. »Aber Sie sind ja auch nur ein Mensch. Ein kleiner Zufall kann Ihnen verderblich sein. Wie wollen Sie das Resultat des doppelten Zweikampfes vorher wissen?« »Ich würde Ihnen dieses Resultat bereits jetzt mittheilen, wenn Sie nicht der Sekundant meiner Gegner wären, doch vor Beginn des Duells werde ich Ihnen beweisen, daß ich Ihnen die Wahrheit sage. Das Uebrige besprechen Sie gütigst mit Sennor Mariano, welcher so freundlich sein wird, mir zu sekundiren.« »Und Zeugen, Unparteiische?« »Brauchen wir nicht!« »Einen Arzt?« »Auch nicht. Arzt bin übrigens ich selbst, werde aber meinen Gegnern nicht die mindeste Handreichung leisten.« »Bedenken Sie, Sennor, daß auch Sie verwundet werden können!« sagte der Lieutenant. »Pah, von diesen beiden Männern ist keiner im Stande, mich zu verwunden!« Mit diesen Worten wendete Sternau sich stolz ab, und der Offizier ging. Als dieser fort war, suchte Sternau Mariano auf, um ihn von dem Stande der Sache zu unterrichten. Der junge Mann war sofort bereit, Sekundant zu sein und ging augenblicklich, um den Sekundanten der beiden Gegner aufzusuchen. Es dauerte nicht lange, so kehrte er wieder zurück und meldete, daß die Bedingungen Sternau’s angenommen worden seien. Dieser Letztere hatte als der Geforderte das Recht, seine eigenen Pistolen mitzubringen, und da er derselben ganz und gar sicher war, so fühlte er sich des Erfolges ganz gewiß.
Von diesem Augenblicke kam er nicht von dem Fenster seines Zimmers hinweg. Er wußte, was nun geschehen werde und behielt den Ausgang der Hazienda im Auge. Aber erst um die Zeit der Mittagshöhe schwang der Kapitän sich auf sein Pferd und ritt davon. Sternau ahnte, daß er die Absicht habe, einen Brief unter den Stein zu stecken und ließ auch sich sein Pferd vorführen. Kaum war der Kapitän am nördlichen Horizonte verschwunden, so sprengte Sternau nach Süden davon. Beide hatten die Absicht, andere irre zu leiten, denn der Ort, an welchem sich der Stein befand, lag nach Westen. Sobald Sternau nicht mehr gesehen werden konnte, lenkte er nach Westen ein und spornte sein Pferd zur größten Schnelligkeit an. Es lag ihm daran, eher da zu sein, als der Kapitän. Da sich aber dessen Helfershelfer in der Nähe befinden konnten, so war die größte Vorsicht geboten. Je näher er kam, desto aufmerksamer wurde er; er vermied alles freie Terrain und hielt sich sorgfältig gedeckt. Endlich stieg er gar vom Pferde, führte dasselbe in ein dichtes Gebüsch und band es dort an. Dann setzte er seinen Weg zu Fuße weiter fort. In der Nähe des Steines angekommen, legte er sich auf die Erde und kroch leise mit der äußersten Vorsicht weiter fort. Endlich erblickte er ihn, und nun umkroch er ihn in einem weiteren Kreise. Er erhielt die Ueberzeugung, daß kein Lauscher in der Nähe sei, und suchte sich nun ein Versteck. Kaum zehn Schritte von dem Steine entfernt, stand eine nicht zu hohe Ceder, deren dicht behangene Aeste nicht schwer zu erreichen waren. Er schwang sich empor, und es gelang ihm, sich so gut zu verbergen, daß er unmöglich gesehen werden konnte. Dies war kaum geschehen, so erklang der Hufschlag eines Pferdes. Das Geräusch verstummte draußen gerade vor den Bäumen. Ein Mann sprang aus dem Sattel und schritt eilig auf den Stein zu. Er hob ihn halb empor und legte einen zusammengefalteten Zettel
darunter. Dann brachte er ihn in seine ursprüngliche Lage zurück, ging zum Pferde, schwang sich auf und ritt davon. Im Nu war Sternau vom Baume herab und holte den Zettel heraus. Er faltete ihn auseinander und las: »Heut gerade um Mitternacht bei den Ladrillos. Aber ganz bestimmt; es ist sehr nothwendig. Morgen sind wir am Ziele.« Eine Unterschrift war nicht vorhanden. Verdoja hatte eine solche nicht nur für überflüssig, sondern sogar für gefährlich gehalten. Sternau legte den Zettel genau wieder so zusammen, wie er erst gewesen war, und steckte ihn unter den Stein. Er vernichtete seine Spuren und kehrte dann nach seinem Pferde zurück, welches er bestieg, um im Galopp die Hazienda aufzusuchen. Als er sie erreichte, war der Kapitän noch nicht wieder da; er kehrte erst nach geraumer Zeit zurück und hatte keine Ahnung, daß sein Geheimniß bereits verrathen sei. Vielleicht erfuhr er gar nicht, daß Sternau die Hazienda verlassen gehabt hatte. Ladrillos ist ein spanisches Wort und bedeutet zu deutsch Ziegelsteine. Die Urbewohner Mittelamerikas bauten nämlich ihre Pyramiden und Städte meist aus in der Sonne gedörrten Pack- oder Ziegelsteinen, welche von ihnen Adobes genannt wurden, bei den Spaniern aber Ladrillos hießen. Man findet noch heute die Ruinen solcher Adobesstädte und bewundert die Kunst, mit welcher jene Urvölker zu bauen verstanden. Hier und da trifft man mitten im Urwalde, mitten in der Savanne oder in einer Felseneinöde ein einsames, halb oder auch ganz zerfallenes Gemäuer, welches aus solchen Ladrillos besteht und als Zeuge dient, daß früher diese Einöden bewohnt und bebaut waren. Auch in der Nähe der Hazienda del Erina gab es eine solche Ruine. Sie lag höchstens eine halbe Stunde von dem Hause entfernt mitten in einem Felsengewirr und wurde von Gedorn und
Schlingpflanzen so überwuchert, daß sie ganz unzugänglich war. Aber kurz vor der eingefallenen Frontmauer des einstigen Gebäudes befand sich ein rundes Loch, gerad so, als ob hier ein Schacht ausgefüllt worden sei. Dieses Loch war zugänglich und an seinem Rande von dichtem Gebüsch umstanden, und Sternau glaubte, mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß die Zusammenkunft hier stattfinden werde. Er sagte keinem Menschen ein Wort von dem, was er wußte und saß im Verlaufe des ganzen Nachmittages bei dem Kranken, der sich ganz wohl fühlte und seine Erinnerung so vollständig wieder erhalten hatte, daß er ihm sein Abenteuer in der Höhle des Königsschatzes erzählen konnte. Emma brachte die Kostbarkeiten herbei, und Sternau konnte den Reichthum bewundern, durch welchen der einst so arme Jäger zum Millionär geworden war. Emma schwebte in Wonne, den Geliebten so wohl zu sehen. Sie hoffte auf ein baldiges Glück und sagte, auf den Steuermann Helmers deutend, zu dem Kranken: »Eigentlich brauchst Du diesen Reichthum gar nicht, denn die ganze Hazienda del Erina wird uns gehören. Solltest Du da nicht mit Deinem Bruder theilen?« Der Kranke nickte lächelnd und sagte: »Bruder, was ich habe, gehört auch Dir. Sprachst Du nicht gestern von einem Sohn, den Du hast?« »Ja. Ich habe Weib und Kind zu Hause,« antwortete der Steuermann. Er erzählte nun von den Seinen und wurde in dieser Schilderung von Sternau reichlich unterstützt. Der Kranke hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Dieser Knabe ist ein Wunderkind und muß eine entsprechende Ausbildung erhalten. Du hast zwar an Deinem Landesherrn und dem Oberförster zwei mächtige Gönner, aber das ist doch immer eine Abhängigkeit. Du mußt die nöthigen Mittel von mir anneh-
men; ich bin ja Dein Bruder, der Oheim Deines Knaben und darf Dir eine Gabe anbieten, ohne Dich zu beleidigen.« Der brave Steuermann wies das von sich ab, aber die Anwesenden waren alle gegen ihn, und auch der Haziendero Petro Arbellez zeigte dieselbe Gesinnung wie die Uebrigen. Und so wurde halb im Scherze und halb im Ernste beschlossen, daß die Hälfte des eiles, welches Helmers vom Königsschatze erhalten hatte, dem kleinen Kurt Helmers in Rheinswalden gehören solle. Gegen Abend fühlte sich der Patient wieder ermüdet und schlief ein. Während Emma bei ihm blieb, gingen die Anderen zum Abendbrote. Die Offiziere waren nicht dabei. Nach dem, was vorgefallen war, hielten sie es gerathen, ganz zurückgezogen auf ihren Zimmern zu speisen. Nach dem Essen sagte Sternau, daß ihn einige nothwendige Arbeiten nöthigten, ungestört in seiner Wohnung zu bleiben. Er wollte nicht haben, daß man seine Abwesenheit bemerke. Er wartete den geeigneten Augenblick ab, steckte Waffen, Tücher und einige Riemen zu sich und schlich sich in eines der Zimmer, welches nach dem hinteren Hofe lag und unbewohnt war. Er hatte in dem seinigen das Licht brennen lassen, damit man glauben solle, daß er anwesend sei, aber von außen die ür verschlossen, daß Niemand zufälliger Weise das Gegentheil bemerke. Er öffnete das Fenster, stieg hinaus und zog das Fenster wieder zu; dann schlich er sich über den Hof hinüber und schwang sich über den Palissadenzaun. So gelangte er glücklich in das Freie, ohne bemerkt worden zu sein, umging die Hazienda und schlug dann die Richtung nach den Ladrillos ein. Es war zwar dunkel, aber sein geübtes Auge erkannte die Umgebung so gut, daß er nicht zu befürchten brauchte, die Richtung zu verfehlen. Er hatte während seiner Wanderungen durch die Wildniß gelernt, unhörbaren Schrittes zu gehen. So hätte auch
heute nur dann Einer ihn bemerken können, auf den er geradezu gestoßen wäre. Als er glaubte, den Ladrillos nahe gekommen zu sein, verdoppelte er seine Vorsicht und bewegte sich schließlich nur in kriechender Stellung vorwärts. Plötzlich hielt er an und sog die Luft mit geöffneten Nasenflügeln ein. »Was ist das?« dachte er. »Das ist ein brenzlicher Geruch, untermischt mit dem Dufte von gebratenem Fleische. Ich glaube gar, dieser Kerl ist so dumm, oder so verwegen, ein Feuer zu brennen. Auf ebener Erde aber kann das nicht sein, denn dann müßte man es bemerken. Es ist nahe von hier, denn der Bratengeruch geht nicht weit. Wollen doch sehen!« Er kroch dem Geruche nach und gelangte bald an das weiter oben beschriebene Loch. Es hatte höchstens zwanzig Fuß im Durchmesser und zehn Fuß in der Tiefe. Am Rande standen dichte Büsche, unter welche Sternau sich versteckte. Er sah nun den Mann, welcher unten bei einem kleinen Feuer saß und sich ein wildes Kaninchen briet. Mitternacht war gar nicht mehr fern, und Sternau machte es sich so bequem wie möglich in seinem Verstecke. Der Mann begann, sein Kaninchen zu verspeisen, und zwar mit einem solchen Appetit, daß bald nichts mehr übrig war. Er hatte eine Doppelbüchse neben sich liegen und ein Messer im Gürtel. Seine Gestalt war zwar kräftig und untersetzt gebaut, aber Sternau sah, daß es ihm nicht schwer fallen werde, diesen Menschen ohne großes Geräusch zu überwältigen. So wartete er, bis es ihm war, als ob er leise Schritte vernehme. Er war so klug gewesen, sich entgegengesetzt der Seite zu verbergen, nach welcher die Hazienda lag; daher brauchte er sich nicht zu sorgen, von dem Nahenden bemerkt zu werden. Die Schritte wurden deutlicher. Auch der Mexikaner da unten lauschte und erhob sich dann. Drüben auf der anderen Seite des Randes wurde das Buschwerk aus einander gezogen und die
Gestalt des Rittmeisters oder Kapitäns erschien, von dem matten Scheine des Feuers beleuchtet. »Bist Du toll, Mensch?« fragte er. »Warum?« meinte der Mexikaner. »Daß Du ein Feuer brennst!« »O, das sieht kein Mensch. Ich hatte Hunger und habe mir einen Braten gemacht.« »Der Teufel hole Deinen Braten! Man riecht das Feuer ja auf hundert Schritte!« »Ja, aber auf hundert Schritte kommt nur der heran, der hier zu thun hat. Wir sind hier vollständig sicher. Kommt herab, Sennor!« Der Kapitän stieg hinab, ließ sich aber nicht bei ihm nieder. »Ich darf nicht lange abwesend sein,« sagte er, »darum wollen wir es kurz machen. Wo sind Deine Leute?« »Drüben hinter den Bergen im Walde.« »Wissen sie, wo Du bist?« »Nein.« »Hm, das ist mir lieb. Ich wünschte so wenig wie möglich Vertraute haben zu können. Kannst Du sie nicht los werden?« »Vielleicht. Aber kann ich denn allein verrichten, was Ihr von uns verlangen werdet?« »Ich hoffe es.« »Bei derselben Bezahlung?« »Ja. Ich zahle Dir ganz dasselbe, was ich den Anderen in Summa geben würde. Wenigstens das, was ich jetzt verlange, kannst Du allein verrichten.« »Was ist es?« »Hm, ich sehe, daß Du ein doppelläufiges Gewehr hast. Bist Du Deines Schusses sicher?« »Ich fehle nie.« »Du sollst zwei gute Schüsse für mich thun.«
»Ah, ich errathe! Wen soll ich treffen?« »Den Sternau und den Spanier.« »Schön, sie sollen die Kugeln haben; aber wann und wo, das ist die Frage.« »Das sollst Du hören. Kennst Du den alten Kalkbruch da hinter dem Berge?« »Sehr gut, denn eben dort sind meine Leute.« »Die müssen fort. Morgen früh fünf Uhr habe ich ein Duell dort.« »Caramba! Wollt Ihr Euch ermorden lassen?« »Ohne Deine Hilfe ist das sehr leicht möglich. Ich und Lieutenant Pardero haben den Deutschen gefordert, und dieser Mariano ist sein Sekundant. Er hat sich zwar Zweien zu stellen, aber dieser Sternau hat tausend Teufel im Leibe; man muß sich vor ihm in Acht nehmen. Er muß bereits vor Beginn des Duells unschädlich gemacht werden, und das sollst Du thun.« »Gern, Sennor. Und der Mariano auch?« »Ja.« »Ich stehe zu Diensten. Dieser Sternau hat meine Kameraden abgeschlachtet; die Hölle soll ihn bekommen! Aber wie wünscht Ihr, daß die Sache angefangen werde?« »Du führst Deine Leute fort, damit der Platz frei wird, kehrst aber noch vor fünf Uhr zurück und versteckst Dich in der Nähe. Es sind genug Bäume und Sträucher da.« »Richtig, ich begreife! Ihr werdet Euch nicht sehr sputen; daher kommt der Deutsche mit dem Spanier eher an als Ihr, und wenn Ihr mit dem Lieutenant eintrefft, so liegen die Beiden bereits mit zerschmetterten Schädeln da.« »Nein, so nicht. Ich muß dabei sein; ich will die Kerls verenden sehen. Es muß werden wie bei einem Schauspiel auf der Bühne. Ich habe ihn auf Degen gefordert; der Lieutenant kommt erst nach mir. Ich bin also der Erste, und wenn Sternau mir gegenüber steht,
schießest Du ihn über den Haufen. Die zweite Kugel muß dann sofort den Spanier treffen.« »Dieser Plan ist nicht übel. Aber der Lohn, Sennor?« »Den erhältst Du morgen.« »Wo?« »Hier, wieder um Mitternacht.« »Gut; ich bin es zufrieden; diesen Lohn werde ich allein einstekken, und Ihr könnt weiter auf mich rechnen.« »Wann warst Du bei dem Steine?« »Erst gegen Abend.« »Der Ort ist sicher; wir können ihn ohne Sorge vor Entdeckung weiter benutzen. Jetzt weißt Du Alles. Ich hoffe, daß ich mich auf Dich verlassen kann. Gute Nacht!« »Gute Nacht, Sennor! Seid versichert, daß meine Kugeln ganz genau treffen werden!« Der Rittmeister ging. Der Mexikaner schabte und biß noch ein Wenig an seinen Kaninchenknochen herum, dann erhob er sich, warf die Büchse über und kletterte empor. Schnell huschte Sternau aus seinem Versteck hervor und schlich sich dahin, wo der Mann aus dem Kreise der Büsche treten mußte. Ohne die geringste Ahnung von der ihm so nahen Gefahr schob der Mexikaner die Zweige auseinander; kaum aber hatten sie sich hinter ihm wieder geschlossen, so tauchte Sternau vor ihm auf und faßte ihn bei der Gurgel. Nicht einen einzigen Laut konnte der Mann ausstoßen. Die Kehle wurde ihm so fest zugepreßt, daß er zuerst den Athem und dann auch die Besinnung verlor. Die erst convulsivisch sich bewegenden Arme und Beine wurden steif, und der Bewußtlose fiel zu Boden. Einige Augenblicke später war er geknebelt, gebunden und so mit Tüchern umwickelt, daß er ein steifes Packet bildete. Sternau faßte ihn nebst seiner Büchse auf, warf Beide sich auf die Achsel und kehrte nach der Hazienda zurück. Es schien Alles in tiefster Ruhe zu liegen, aber Sternau traute dem Kapitän noch
nicht. Dieser war ja erst vor Kurzem zurück und konnte sich sehr leicht noch außerhalb des Hauses befinden. Daher wartete er wohl noch eine Stunde, ehe er sich mit seinem Gefangenen dem hinteren Plankenzaune näherte. Dort schob er erst sein lebendes Paket hinüber, und dann sprang er nach. Ebenso schob er den Gefangenen vorsichtig zu dem Fenster hinein, stieg nach und schloß es zu. Nun recognoscirte er zunächst vorsichtig den Korridor, und als er fand, daß Alle schliefen, trug er den Mexikaner nach seiner Wohnung, die er hinter sich wieder verschloß. Das Licht brannte noch; es war kein Mensch hier gewesen. Als er seinen Gefangenen von den ihn umhüllenden Tüchern befreit hatte, bemerkte er, daß dieser die Augen mit dem Ausdrucke des Schreckens auf ihn richtete. »Ah, Bursche, Du erkennst mich!« sagte er mit halblauter Stimme. »Ja, der Kapitän sagte, ich hätte den Teufel im Leibe, und das muß wohl auch so sein, denn sonst hätte ich Dich nicht so schön in meine Hände bekommen. Hier kannst Du besser schlafen als da draußen. Zuvor aber werde ich Dir einmal in Deine Taschen greifen. Wer so unvorsichtig ist, sich in der Nähe seiner Feinde ein Kaninchen zu braten, der ist vielleicht auch so einfältig, einen Zettel aufzubewahren, den er unter einem gewissen Steine gefunden hat.« Er durchsuchte die Taschen des Mannes und fand wirklich den Zettel zusammengeknittert in einer derselben. Er steckte ihn wieder dahin zurück und sagte: »Du sollst ihn noch bis früh behalten, denn eher brauche ich ihn nicht. Jetzt aber beschlafe Dir die Frage, ob Du beim Verhöre leugnen oder ein Geständniß ablegen willst.« Er umband ihn noch sorgfältiger mit Schnüren, fesselte ihn außerdem an zwei Beine des Bettes und legte sich dann in dasselbe, um einige Stunden zu schlafen. Er wurde um die richtige Zeit von
Mariano geweckt, welcher an die ür klopfte. Er bat diesen, unten zu warten und erhob sich. Es war ihm nicht eingefallen schriftlich oder mündlich eine letztwillige Verfügung zu treffen. Er fühlte sich bereits im Voraus als Sieger, untersuchte zunächst die Sicherheit seines Gefangenen, verschloß die ür seines Zimmers und schritt mit den Pistolen so ruhig die Treppe hinab, als ob er zum Frühstück gehe. Unten wartete Mariano. Sie schritten nach dem Stalle, sattelten selbst und trabten dann fort. Dabei warf Mariano einen Blick nach Verdoja’s Fenster und bemerkte, daß dieser an demselben stand. »Der Kapitän sieht uns reiten,« sagte er. Sternau warf keinen Blick hinauf sondern fragte nur: »Erräthst Du, was er jetzt denkt?« Die beiden Freunde nannten einander jetzt bereits Du. »Ja,« antwortete Mariano. »Nun?« »Er denkt, daß Du ihnen nicht entkommen wirst. Wenn Dich der Eine nicht fällt, so gelingt es doch dem Andern. Der Lieutenant soll ein vortrefflicher Schütze sein. Sie behandelten gestern die Angelegenheit so leicht und sorglos, daß ich überzeugt bin, sie haben nicht die mindeste Angst.« Sternau trieb sein Pferd zum rascheren Laufe, und als er sah, daß Mariano dasselbe that, antwortete er: »Auch ich bin überzeugt, daß sie sich nicht fürchten, aber aus einem anderen Grunde.« »Welcher sollte das sein?« »Sehr einfach. Sie glauben ganz bestimmt, daß es gar nicht zum Duelle kommt.« »Ah! Warum?« »Weil wir Beide, Du und ich, bereits vorher zwei todte Männer sind.« »Ich verstehe Dich nicht!«
»Du sollst mich gleich begreifen, höre!« Er erzählte dem Freunde nun die Art und Weise, wie er den Kapitän beobachtet hatte und hinter die Schliche desselben gekommen war. Mariano war fast erschrocken über das, was er vernahm. Eine solche teuflische Niederträchtigkeit und Bosheit schien ihm ganz unglaublich. Er fixirte wirklich längere Zeit das Gesicht Sternau’s, um zu sehen, ob dieser sich vielleicht einen nicht ganz passenden Scherz mit ihm machen wolle. »Und dies Alles ist wahr, wirklich wahr?« fragte er. »Natürlich!« antwortete Sternau. »Und den Mörder hast Du in Deinem Zimmer?« »Wie ich Dir sagte, ja.« »Wenn er nun ausbricht!« »Er ist sehr gut gefesselt.« »Oder wenn man ihn hört und in die Stube dringt. Er wird die Leute belügen, und sie lassen ihn frei!« »Auch das wird nicht geschehen. Er ist so geknebelt, daß er kaum zu athmen vermag. Das Rufen ist ihm eine Unmöglichkeit. Und selbst wenn er zu stöhnen vermöchte, so daß man es hört, freigeben wird man ihn doch nicht, denn man wird sich ja denken können, daß ich meine Gründe habe, einen Menschen in meinem Zimmer anzufesseln.« »Seine Genossen sind nicht beim Kalkbruche?« Jetzt horchte Sternau auf. »Alle Teufel, das ist ja wahr; daran habe ich ja gar nicht gedacht!« sagte er. »Welch eine Unvorsichtigkeit! So leichtsinnig bin ich noch gar nicht gewesen. Ich nehme den Mann mit mir und denke gar nicht daran, daß es ihm nun unmöglich ist, seine Kollegen aus dem Bruche zu entfernen. Na, der Fehler wird noch auszubessern sein. Ich kenne zwar den Bruch nicht und habe mir ihn nur von einem Vaquero beschreiben lassen; aber ich glaube nicht, daß wir Gefahr laufen. Wir müssen die Kerls nur überraschen. Wir haben bereits
zehn Minuten getrabt; dort liegt der Berg, links herum kommen wir an den Bruch. Wir wollen ihn im Sturme nehmen!« Sie gaben ihren Pferden die Sporen und jagten im Galopp weiter. Nach einigen Minuten öffnete sich vor ihnen der weißglänzende Kalkbruch, der eine breite und nicht sehr tiefe Oeffnung in den Berg bildete. Die Höhen rechts und links waren mit Bäumen bestanden, der Bruch selbst aber nur mit Gestrüpp. Er hatte vor Jahren den Kalk zum Baue der Hazienda geliefert. Als sie im Galopp den Eingang forcirten, erblickten sie zwei Männer, welche am Boden gesessen hatten und sich erhoben. Drei Pferde grasten zwischen den Büschen. Sternau ritt sofort einen derselben nieder, und Mariano that ganz dasselbe mit dem Zweiten. »Hallo, was thut Ihr hier?« rief Sternau, sich vom Pferde werfend und den Mann packend. »Wer seid Ihr Strolche?« »Oho!« antwortete der Mensch, sich das Knie reibend, welches er sich beim Sturze beschädigt hatte. »Wer seid denn zuvor Ihr, daß Ihr es wagt, ehrliche Leute niederzureiten?« »Wer wir sind, das weißt Du ganz genau, Hallunke. Ihr habt ja den Auftrag, uns todtzuschießen. Ich werde Dich ein wenig unschädlich machen, Bursche!« Er schlug ihm die Faust gegen die Schläfe, daß der Mann zusammenbrach. Nun erst drehte er sich nach Mariano um. Dieser kniete auf dem zweiten Manne, welcher vollständig überwältigt unter ihm lag. »Warte, ich werde nachhelfen!« Mit diesen Worten eilte er hinzu und versetzte dem Manne einen eben solchen Hieb, der auch ganz dieselbe Wirkung hatte. »Nun schnell fesseln, knebeln und fortschaffen, damit sie nicht gefunden werden!« Die beiden Männer wurden mit ihren eigenen Riemen gefesselt und mit ihren eigenen Tüchern geknebelt. Dann wurden sie auf ihre Pferde mittelst der Lasso’s festgebunden. Das dritte Pferd
gehörte jedenfalls dem Anführer, den Sternau bereits um Mitternacht überwältigt hatte. Die drei iere wurden eine genügende Strecke, um nicht gesehen und gehört zu werden, fortgeschafft und dort an Baumstämme festgebunden. Dann kehrten sie nach dem Bruche zurück, um die Spuren von der Anwesenheit dieser Leute zu verwischen. Sie waren kaum damit fertig, so erschienen die drei Offiziere. Man grüßte sich mit förmlicher Höflichkeit. Die beiden Freunde beobachteten den Kapitän und bemerkten mit innerlicher Genugthuung, daß er seine Blicke forschend umherschweifen ließ. Er suchte das Dunkel der Büsche und Bäume zu durchdringen, um seinen Verbündeten zu sehen, aber es gelang ihm dies natürlich nicht. Die beiden Sekundanten traten zusammen, um sich noch einmal zu besprechen. Der Sekundant der Gegenpartei hatte auch für Sternau einen Kavalleriesäbel mitgebracht, da dieser sich augenblicklich nicht im Besitze eines solchen befand. Er machte zunächst einen Versuch, eine Versöhnung zu Stande zu bringen, aber der Kapitän lehnte diesen Versuch mit stolzer Miene und Bewegung ab. »Kein Wort weiter!« sagte er. »Ich will Blut sehen. Mein Gegner hat die Bedingung gemacht, daß Genugthuung erst dann vorhanden sein soll, wenn Einer von uns durch seine Verwundung gezwungen ist, seinen Degen fallen zu lassen. Ich habe diese Bedingung acceptirt und fühle nicht die mindeste Lust, von ihr abzugehen.« »Und Sie, Sennor Sternau?« fragte der Sekundant. »Auch ich halte die Bedingung fest,« antwortete der Gefragte, »und das um so mehr, als sie erst von mir ausgegangen ist. Uebrigens habe ich nur Ihnen noch eine Bemerkung zu machen, wenn Sie dieselbe gestatten.« »Ich bitte!« sagte der Offizier.
»Ich bemerkte Ihnen bereits gestern, daß mir der Ausgang dieses Kampfes bekannt sei, und Sie glaubten mir nicht. Ich werde Ihnen jetzt den Beweis liefern. Wer den Degen fallen läßt, ist besiegt. Nun wohlan, ich werde meinem Gegner die vier Finger der rechten Hand abschlagen. Es wäre mir leicht, ihn zu tödten, aber ein Schuft muß gezeichnet, nicht aber getödtet werden.« »Herr!« brüllte der Kapitän. »Pah!« antwortete Sternau mit dem Tone tiefster Verachtung. »Sennor,« erinnerte der Sekundant, »Sie selbst haben mich gestern auf die Regeln des Duells verwiesen. Ist es Sitte, seinen Gegner noch am Platze in einer solchen Weise zu beschimpfen?« »Nein. Es ist ja nicht Sitte sich mit einem Schurken zu schlagen, thut man es dennoch, so geschieht es doch nur unter dem Vorbehalte, ihn als solchen zu behandeln. Uebrigens will ich gleich jetzt Ihnen noch bemerken, daß ich meinen zweiten Gegner ebenso zeichnen werde. Unsere ersten Schüsse werden zu gleicher Zeit fallen, aber nicht treffen, auch sein zweiter Schuß trifft nicht, der meinige aber wird ihm die rechte Hand zerschmettern. Vorwärts!« »Ja, vorwärts!« rief auch der Kapitän. »Er soll in die Hölle gehen, noch ehe er es denkt!« Sternau antwortete ihm nicht; aber als er seinen Degen erhalten hatte und die beiden Gegner sich nun gegenüberstanden, fragte er den Sekundanten: »Ist mir vorher noch ein Wort erlaubt?« »Wenn es keine neue Beleidigung enthält, ja,« lautete die Antwort. »Es enthält keine Beleidigung sondern nur eine einfache Bemerkung, deren Wahrheit ich später beweisen werde.« »So sprechen Sie!« »Wohlan, der Mann, welchem ich jetzt gegenüberstehe, erwartet mit großer Bestimmtheit, daß jetzt zwei Schüsse fallen werden, vielleicht da von der Höhe herab oder hier zwischen den Büschen
hervor. Der eine Schuß soll mich, der andere aber hier meinen Sekundanten treffen; der Mörder ist erkauft und soll heut um Mitternacht bei den Ladrillos für den doppelten Meuchelmord seine Bezahlung erhalten.« Der Offizier trat einen Schritt zurück und rief zornig: »Sennor, das ist unwürdig, das ist eine neue tödtliche Beleidigung.« »Es ist die reine Wahrheit,« antwortete Sternau kalt. »Sehen Sie Ihren Kameraden, diesen Kapitän, diesen Kavalier an! Sieht er nicht leichenblaß aus vor Schreck? Sehen Sie nicht die Klinge in seiner Hand zittern? Sehen Sie nicht seine Lippen beben? Sehen Sie seinen Blick, stier vor Schreck und Angst? Ist dies der Anblick eines Unschuldigen?« Der Sekundant betrachtete seinen Vorgesetzten und sagte, nun selbst erbleichend: »O Dios, es ist wahr, Sie zittern, Kapitän!« »Er lügt!« stammelte dieser. »Und hören Sie, wie sogar seine Stimme zittert?« fragte Sternau. »Es ist die Angst. Er weiß, daß der Herr des Felsens nicht besiegt werden kann; er weiß, daß ich Wort halten werde; er weiß, daß seine rechte Hand verloren ist. Vorwärts, beginnen wir die Komödie!« Da raffte sich der Kapitän zusammen. »Ja, beginnen wir!« rief er und drang sogleich auf Sternau ein. »Halt!« rief dieser, indem er ihm mit einem blitzschnellen, gewaltigen Hiebe den Degen aus der Hand wirbelte. »Noch stehen die Sekundanten nicht zu unserer Linken, und noch ist das Zeichen nicht gegeben. Passen Sie auf die Regeln, sonst werfe ich den Degen fort und greife zur ersten, besten Ruthe!« Der Degen wurde wieder geholt, und die Gegner legten sich aus. Mariano war ein ausgezeichneter Fechter; noch keiner hatte ihn überwunden, aber wie Sternau die in dem Degenkorbe seines
Gegners steckenden vier Finger von der Hand trennen wollte, das wußte er nicht; er hielt es für eine Unmöglichkeit. Jetzt wurde das Zeichen gegeben, und der Kampf begann. Der Kapitän warf sich mit wildem Muthe, oder vielmehr mit wilder Angst auf Sternau; dieser aber stand da, stolz, ruhig und lächelnd, jeden Ausfall mit graziöser aber kraftvoller Leichtigkeit parirend, bis plötzlich seine Augen aufblitzten; ein gewaltiger Hieb trieb den Arm seines Gegners zur Seite; die Klinge wandte sich blitzesschnell, die Spitze desselben fuhr in den Korb hinein – ein Ausruf des Kapitäns, und der Degen desselben fiel zur Erde. »O, ich Unglücklicher, meine Hand!« brüllte er. Der Degen lag am Boden; im Korbe der Waffe staken zwei abgetrennte Finger; zwei andere lagen daneben, während der Verwundete den blutenden Stumpf in die Schöße seines Rockes grub. Sternau zog ruhig sein Taschentuch und trocknete das Blut von der Spitze seines Degens ab. Dann wandte er sich an den Sekundanten: »Sie sehen, daß ich Wort halte, Sennor. Dieser Mann wird mit seiner Rechten niemals wieder eine Dame berühren, welche es ihm nicht erlaubt.« Da erhob der Kapitän den blutenden Stumpf und rief: »Mensch, Du bist ein Teufel; aber ich mache Dich doch noch zahm!« Sein Sekundant trat zu ihm, Lieutenant Pardero auch. Sie sprachen ihm zu und gaben sich Mühe, die Blutung durch einen provisorischen Verband zu stillen. Er ließ es geschehen, indem er wilde, halblaute Drohungen gegen Sternau ausstieß. Dieser kümmerte sich nicht um dieselben. Mariano war zu ihm getreten und sagte: »Das war ein Meisterstück, welches ich nie für möglich gehalten hätte. Wirst Du das andere Versprechen auch halten können?« »Sicher,« antwortete Sternau lächelnd. »Aber fünf Schritte Barriere und beide schießen zugleich!«
»Pah! Paß auf, wie ich dies mache! Aber tritt nicht seitwärts von mir, sondern gerad hinter mich.« »Dann kann mich die Kugel des Gegners treffen!« »Nein. Sie müßte ja erst mich durchbohren.« »So soll sie seitwärts fliegen?« »Ja, die meine und die seine.« »Caramba, Du willst auf die Oeffnung seiner Pistole zielen?« »Ja.« »Auf seinen rechten Lauf?« »Versteht sich!« »Und wenn er nun den linken zuerst abschießt!« »Das thut so ein Männchen nicht. Habe keine Sorge; es geschieht mir nicht das Mindeste.« Diese Worte waren leise gesprochen worden, so daß sie von den drei Offizieren ungehört blieben. Der Kapitän war jetzt zur Noth verbunden. Er raunte Pardero zu: »Wenn Sie diesen Hund niederschießen, quittire ich Ihnen Ihre ganze Spielschuld!« Pardero nickte mit dem Kopfe, aber es war ein automatisches, seelenloses Nicken, eine fast unbewußte Bewegung. Er sah ebenso bleich aus, wie der Kapitän vorher, und sein Auge hing voll Angst an den Sekundanten, welche jetzt die Barrieren markirten. Die beiden Doppelpistolen wurden sorgfältig untersucht und geladen, dann wurden sie von den Gegnern aus dem Hute gewählt. Sie stellten sich einander gegenüber, nur drei Schritte von einander entfernt. Der Lieutenant stellte sich seitwärts, Mariano aber hinter Sternau. »Sennor, welche Unvorsichtigkeit!« rief ihm der Sekundant des Gegners zu. »Sie müssen ja getroffen werden!« »O, mein Freund und ich, wir sind unverwundbar!« antwortete er lächelnd.
Dennoch aber war er sich bewußt, daß es nur das Vertrauen in Sternau’s außerordentliche Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit sei, welche ihn veranlaßte, eine so exponirte Stellung einzunehmen. Der Kapitän stand an einem Busche in der Nähe, hielt seinen Arm in der improvisirten Binde und schleuderte haßlodernde Blicke auf Sternau. Er hätte jetzt sein halbes Leben, vielleicht noch mehr darum gegeben, wenn er jetzt hätte die Kugel Pardero’s nach dem Herzen des Feindes lenken können. Der Lieutenant erhob jetzt die Hand und zählte: »Eins!« Die rechten Arme der Gegner erhoben sich mit den Pistolen, die Läufe gerade auf die Brust des Vis-a-vis gerichtet. »Zwei!« Die Hand Pardero’s zitterte; er biß die Zähne zusammen und überwand dieses Beben. Er hielt das Auge gerade auf die Stelle gerichtet, wo das Herz Sternau’s klopfte. Dorthin, gerade dorthin mußte die Kugel kommen. Auf drei Schritte Entfernung konnte ja gar nicht gefehlt werden, kein Zoll breit, keine Linie breit, nicht den Gedanken eines Haares breit. Und diese Ueberzeugung gab ihm seine Ruhe und sein ganzes Selbstvertrauen zurück; die beiden Mündungen seiner Waffe starrten fest und unverrückbar, als ob sie auf einer granitenen Unterlage ruhten, nach dem Herzen des Gegners. Dieser aber, Sternau, stand hoch und stolz vor ihm mit einem Zuge lächelnder Ueberlegenheit auf den Lippen. »Drei!« Das war das Todeswort. Sternau hatte seinen festen Blick nicht vom Auge Pardero’s verwandt, dennoch richtete sich seine Waffe bei dem letzten Kommandoworte von dessen Brust mit Gedankenschnelle weg auf die Mündung von dessen Waffe. Die beiden Schüsse krachten. Pardero’s Hand wurde mit sammt der Pistole zurückgeschleudert; Sternau’s zweiter Schuß blitzte auf, nur einen Augenblick später auch derjenige seines Gegners, aber dieser stieß
einen Schrei aus und ließ die Pistole sinken. Zu gleicher Zeit stieß auch der Kapitän dort an seinem Busche einen Schrei aus. »Meine Hand!« rief der Lieutenant. »Ich bin getroffen!« schrie der Kapitän. »Unmöglich!« rief der Sekundant und eilte zu ihm. »Es ist so,« sagte Sternau ruhig. »Sennor Pardero hat keine feste Hand. Meine erste Kugel ging nach seinem Laufe, warf denselben zurück und diagonalisirte mit der seinigen zur Seite. Meine zweite Kugel zerschmetterte seine Hand und so ging seine zweite zur Seite, rückwärts hinter mich, und wie ich sehe, in den bereits verwundeten Arm meines ersten Gegners. Wer sich schlagen oder schießen will, muß etwas gelernt haben, und wer den Muth hat, Damen zu beleidigen, der muß den Muth haben, die Folgen zu tragen. Ich habe die Gewohnheit, solchen Leuten die rechte Hand zu nehmen. Adieu, Sennores!« Er steckte die beiden abgeschossenen Pistolen zu sich und schritt nach seinem Pferde. Da stellte sich ihm der Sekundant in den Weg und sagte: »Herr, Sie sind Arzt?« »Ich hatte bereits gestern die Ehre, es Ihnen zu sagen.« »Nun wohl, hier sind zwei Verwundete!« »Ich pflege nicht Wunden zu heilen, welche ich schlage, weil sie verdient worden sind; so ähnlich sprach ich mich bereits gestern aus. Uebrigens ist die zweite Wunde Ihres Freundes eine einfache Fleischwunde, wie ich bereits aus der Haltung seines Armes sehe; sie hat nichts zu bedeuten. Vielleicht hütet er sich später vor Freunden, welche auf ihn schießen, während vom Feinde sein Leben geschont wird. Adieu!« Er stieg auf und ritt davon; Mariano folgte ihm. Die drei Offiziere blieben zurück. Pardero stand da, mit zerschmetterter Hand, und Verdoja ließ sich den Aermel aufschneiden, um seine Schuß-
wunde zu verbinden. Ihre Flüche und Verwünschungen folgten den Davonreitenden nach. Diese kümmerten sich nicht darum, sondern suchten den Ort auf, an welchem sie ihre Gefangenen verwahrt hatten. »Wie ist mir jetzt das Herz so leicht!« meinte Mariano. »Ich kam nicht ohne Besorgniß zum Rendez-vous.« »Du hast mich noch nicht gekannt,« meinte Sternau heiter. »Jetzt aber laß uns eilen, daß wir die Hazienda eher erreichen als sie, sonst kommen wir um eine Ueberraschung, auf welche ich mich ganz außerordentlich freue.« Sie fanden die drei Pferde noch an den Bäumen, banden sie los, nahmen sie bei den Zügeln und galoppirten davon. Die beiden Gefangenen waren so fest auf ihre iere gebunden, daß sie sich kaum regen konnten. Unterwegs nahm ihnen Sternau die Knebeln aus dem Munde. »Ihr redet kein Wort,« befahl er ihnen, »sonst jage ich Euch eine Kugel durch den Kopf. Ich will Euch sogar die Hände frei geben, doch unter der Voraussetzung, daß Ihr Euch stets hart vor uns haltet. Es geht nach der Hazienda del Erina.« Er knüpfte ihnen auch die Handfesseln auf, so daß sie nun die Zügel regieren konnten. Sie waren nun nur mit Stricken befestigt, welcher von dem einen ihrer Füße unter dem Pferde hinweg nach dem anderen lief. Dies war nicht nur eine Gnaden- sondern auch eine Vorsichtsmaßregel von Sternau. Entgehen konnten ihnen die Gefangenen nicht; sie waren ja an die Pferde gebunden und hatten keine Waffen, die ihnen von Sternau und Mariano abgenommen worden waren. Ferner wollte Sternau den bei der Hazienda lagernden Lanzenreitern nicht wissen lassen, daß er Gefangene bringe; das hätte dann der Kapitän zu früh erfahren. Gab er den beiden Männern also die Zügel frei, so hatten sie das Aussehen freier Begleiter und konnten sehr leicht für Leute gehalten werden, welche zur Hazienda gehörten.
Es ging im Galoppe dieser Letzteren zu. Das or stand, wie jetzt gewöhnlich, offen, und so ritten sie in den Hof ein, ohne von den Soldaten beachtet zu werden. Der Haziendero stand am Portale und erstaunte, sie mit zwei Begleitern und einem ledigen Pferde ankommen zu sehen. »Ah, da sind Sie ja,« sagte er. »Wir haben nach Ihnen gesucht. Sie bringen mir Gäste mit, Sennores?« »Nicht eigentlich Gäste, Sennor,« antwortete Sternau. »Es sind Gefangene.« Der Haziendero machte ein erstauntes Gesicht. »Gefangene?« fragte er. »Wie so? Mein Gott, was ist Ihnen schon wieder passirt?« »Das werden Sie erfahren. Aber bitte, öffnen Sie uns ein Gewölbe, in welchem wir diese Männer sicher unterbringen können, von deren Hiersein die Offiziere der Lanzenreiter zunächst noch nichts wissen dürfen.« Es wurden den beiden Männern jetzt die Hände wieder gefesselt; dann band man sie von den Pferden los und steckte sie in ein Gewölbe, welches ohne Fenster war und dessen ür so verschlossen wurde, daß an eine Flucht gar nicht gedacht werden konnte. Die Soldaten merkten nicht das Geringste davon. Jetzt nun begaben sich die beiden Freunde nach dem Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Dort fanden sie Helmers, Karja und Emma, welche auf einige Augenblicke ihren reconvalescenten Pflegling verlassen hatten, und erzählten ihnen das gehabte Abenteuer. Petro Arbellez wußte noch gar nichts davon, daß seine Tochter auf dem Dache beleidigt worden sei; er erschrak, als er es hörte. Als dann die Rede auf das Duell kam, erbleichte sie. Mariano berichtete den ganzen Hergang desselben und Sternau erntete eine wohl verdiente Bewunderung von seinen Zuhörern. Diese war aber gemischt mit der Befürchtung, daß die Lanzenreiter nun an der
Hazienda und ihren Bewohnern Rache nehmen möchten. Sternau versuchte, diese Befürchtungen zu zerstreuen. »Die Lanzenreiter sind ja Untergebene von Juarez, der es früher oder später ganz sicher zum Präsidenten bringen wird,« sagte er. »Juarez aber ist Ihnen wohl gesinnt, Sennor Arbellez, das hat er Ihnen bewiesen, indem er Ihnen die Verwaltung der Hazienda Vandaqua anvertraute. Das werden diese Offiziers bedenken müssen. Uebrigens haben wir gegen diese eine sehr gefährliche Waffe in der Hand, nämlich unsere Gefangenen, welche wir jetzt verhören werden. Der Mensch, welchen ich gestern Abend gefangen nahm, liegt noch wohl verschlossen in meinem Zimmer; ich habe heute noch nicht nach ihm sehen können und werde ihn herbei bringen.« Er ging nach seiner Wohnung und fand den Mann noch in derselben Lage, wie er ihn verlassen hatte. Es stand zu vermuthen, daß er sich alle Mühe gegeben hatte, frei zu kommen, aber seine Fesseln waren zu fest gewesen. Sein Gesicht hatte eine bläuliche Farbe und ein leises, röchelndes Stöhnen drang unter dem Knebel hervor, welcher ihn verhindert hatte, in freier Weise zu athmen. Sternau erkannte, daß der Gefesselte in kurzer Zeit den Erstickungstod gestorben wäre, und nahm ihm den Knebel ab. Dann band er ihn vom Bette los und befreite auch seine Beine und Füße von den sie umschlingenden Riemen, so daß er nur noch an den Händen gebunden war. »Stehe auf!« gebot er ihm. »Ich habe mir Dir zu sprechen.« Der Gefangene erhob sich mühsam; er hatte während der langen Zeit, in welcher er in Banden gelegen hatte, den freien Gebrauch der Glieder verloren. Er konnte athmen und so stellte sich eine natürlichere Gesichtsfarbe ein, und seine Augen verloren den stieren Ausdruck, den sie gehabt hatten; aber der Blick, welchen er auf Sternau warf, zeigte keine Spur von Ergebung.
»Wie können Sie sich an mir vergreifen!« sagte er. »Ich bin ein freier Mexikaner.« »Laß diesen dummen Spaß!« antwortete Sternau. »Du siehst ja, daß Du jetzt aufgehört hast, ein freier Mexikaner zu sein!« »Aber ohne meine Schuld. Ich verlange Freiheit und Genugthuung!« »Was Du verlangst, ist uns gleichgiltig; was Du bekommst, das wird sich baldigst finden. Nur erwarte nicht, daß ich eater mit Dir spiele. Du gehst jetzt mit mir!« Er faßte ihn und schob ihn vor sich her zur üre hinaus. Der Mexikaner gab sich Mühe, einen trotzigen Gang und eine eben solche Haltung anzunehmen, aber es gelang ihm schlecht, da in Folge seiner Fesselung das Blut noch nicht in der früheren Weise durch seine Adern pulsirte. Er hatte seine Bewegungen noch nicht wieder in seiner Gewalt, und so kam es, daß er nicht den mindesten Versuch machte, sich durch einen raschen Sprung zu befreien, obgleich Sternau ihn nicht mit der Hand gefaßt hielt. Als sie in den Speisesaal traten und er die dort Anwesenden erblickte, sagte er: »Was soll ich hier?« »Meine Fragen beantworten, weiter nichts,« antwortete Sternau, indem er ihn vorwärts stieß. »Hier stellst Du Dich her! Sieh diesen Revolver; bei der geringsten Bewegung, welche Du etwa unternimmst, um zu entfliehen, schieße ich Dich nieder!« »Ich protestire gegen eine solche Behandlung!« meinte er trotzig. Sternau zuckte geringschätzend die Achseln und antwortete nicht, sondern wendete sich zum Fenster. Draußen war der Hufschlag eines Pferdes zu hören, und als er hinaus blickte, sah er einen Lanzenreiter, welcher auf schweißtriefendem Pferde beim Lager ankam. Es war gewiß ein Bote, welcher irgend einen Befehl überbrachte.
Nun wendete sich Sternau wieder zu dem Gefangenen und sagte zu ihm: »Du stehst vor einem Verhöre, welches über Dein Schicksal entscheidet. Ich hoffe, daß Du an Deinen eigenen Vortheil denkst und mir aufrichtig antwortest.« »Es hat Niemand das Recht, mich zu verhören; ich gestehe dieses Recht nur dem Richter zu; das aber ist Keiner von Ihnen.« »Du irrst. Wir Alle, die wir hier sind, sind Deine Richter; Du wirst das sehr bald bemerken. Ich sage Dir, daß wir wenig Federlesens mit Dir machen werden. Du bist gedungen worden, Einige von uns zu tödten. Ich habe Deine Unterhaltung um Mitternacht unten bei den Palissaden und bei der Ruine belauscht und jedes Wort vernommen; ich bin auch bei dem Steine gewesen und habe den Zettel gelesen, welchen der Kapitän dort für Dich verbarg und den Du noch in Deiner Tasche hast. Ihr habt in der Schlucht des Tigers auf mich geschossen – ich weiß das Alles, Du bist ein Mörder, und ich werde Dich ohne alle Umstände binnen zehn Minuten aufhängen lassen, wenn Du nicht durch eine offene Bereitwilligkeit Dein Leben zu retten versuchst.« Diese Worte waren in einem hohen Ernst gesprochen, der den Mann bedenklich machte. Er hörte zu seinem Schrecke, daß Alles verrathen sei und der angenommene Trotz wich aus seinen verwitterten Zügen. Er antwortete nur mit einem Schweigen. »Ich frage Dich zunächst, ob Du aufrichtig antworten willst,« fuhr Sternau fort. »Willst Du nicht, so ist das Verhör allerdings beendet, und Du wirst aufgehängt.« Der Mann blickte düster zu Boden und antwortete dann: »Wenn Sie das thun, so wird man mich rächen; darauf können Sie sich verlassen!« »Wer würde denn der Rächer sein?« fragte Sternau. »Ich habe noch Gefährten.«
»Pah! Du hattest nur noch ihrer Zwei übrig. Sie warteten in dem Kalkbruche auf Dich, wie Du gestern Abend zu dem Kapitän sagtest. Wir sind heute dort gewesen und haben sie gefangen genommen. Du wirst sie bald sehen!« Der Mexikaner erbleichte, antwortete aber doch: »Das glaube ich nicht. Sie sagen die Unwahrheit, damit ich schüchtern werden soll.« »Du bist nicht der Mann, deswegen ich eine Unwahrheit sagen würde. Tritt an das Fenster und blicke hinab. Ihre Pferde stehen noch unten im Hofe, und das Deinige mit.« Der Mann that, wie ihm befohlen war. Er sah die beiden Pferde seiner Gefährten; er erkannte auch das seinige und sah nun ein, daß Sternau die Wahrheit gesagt hatte. Dennoch machte er noch einen Versuch, den Anwesenden Furcht einzuflößen: »Der Kapitän wird mich rächen!« Sternau war mit seinen Blicken dem Gefangenen, als dieser aus dem Fenster sah, gefolgt, und dabei bemerkte er drei Reiter, welche von Westen her auf das Lager zu geritten kamen. Er erkannte sie sofort und antwortete dem Manne: »Siehe jetzt dort hinüber! Erblickst Du die drei Reiter? Es ist der Kapitän mit seinen beiden Lieutenants. Wenn sie näher kommen, wirst Du sehen, daß Verdoja und Pardero ihre rechten Hände verbunden haben. Ich habe mich heute Morgen in dem Kalkbruche mit ihnen geschlagen und dabei Beide um die rechte Hand gebracht. Von ihnen hast Du keine Hilfe zu erwarten.« Der Gefangene erschrak von Neuem und blickte angestrengt zum Fenster hinaus. Auch die Anderen traten herbei, um die Ankömmlinge zu beobachten. Diese kamen im Trabe näher, ritten ohne bei den Ihrigen, den Soldaten, anzuhalten, in den Hof ein und stiegen ab. Nach einigen Augenblicken hörte man an ihren Schritten, daß sie sich nach ihren Zimmern begaben. Alle Anwesenden hatten bemerkt, welch ein Zug entschlossener Rachgierig-
keit auf den Gesichtern der Drei gelegen hatte; diesen Mienen nach hatte man auf einen friedlichen Weiterverlauf der Dinge allerdings nicht zu rechnen. »Nun, hoffst Du noch auf Hilfe von dem Kapitän?« fragte Sternau. Der Gefragte schwieg. Er wollte nicht mit Worten eingestehen, daß er bereit sei, seinen bisherigen Widerstand aufzugeben. »Antworte mir jetzt!« fuhr Sternau fort. »Gestehst Du ein, daß Ihr von einem gewissen Cortejo gedungen waret, mich und meine Gefährten aufzulauern?« »Ja, das will ich gestehen,« sagte der Mann. »Als dies mißlang und ich Eure Leute in der Schlucht des Tigers getödtet hatte, engagirte Euch Uebrigen der Kapitän Verdoja, uns niederzuschießen?« »Ja.« »Ihr habt in Folge dessen auch wirklich auf mich geschossen?« »Ich nicht, sondern nur die Beiden, welche Sie in der Schlucht tödteten.« »Entschuldige Dich nicht; Du warst ihr Anführer. Du hast dann mit Verdoja einige Zusammenkünfte gehabt, und bei der letzten derselben, gestern, forderte er Dich auf, mich und Sennor Mariano heute mit Deinem Doppelgewehre zu erschießen, und zwar in dem Augenblicke, in welchem ich mit ihm auf der Mensur stehen werde?« »Ja,« antwortete der Mexikaner kleinlaut. Er sah ein, daß Leugnen ganz vergeblich sei, fügte aber hinzu: »Sie können mir aber glauben, Sennor Sternau, daß ich es nicht gethan hätte; ich hätte Sie auf keinen Fall erschossen.« »Ah! Was hättest Du denn gethan?« »Ich wäre hervorgetreten und hätte Ihnen gesagt, was der Kapitän mit Ihnen im Sinne hatte.«
»Das mache einem Anderen weiß. Du wirst übrigens jetzt Deine Kameraden zu sehen bekommen. – Mariano, willst Du die beiden Leute holen?« Mariano ging und brachte sie nach kurzer Zeit herbei. Sie erschraken sichtlich, als sie ihren Gefährten erblickten, und es bedurfte von Seiten Sternau’s nur einer kleinen Einschüchterung, um sie zum vollen Geständniß zu bringen. Sie hörten, daß ihr Mithelfer bereits Alles gesagt habe, und sahen nun keinen Grund, um durch ein unnöthiges Leugnen ihre an und für sich bereits gefährliche Lage zu verschlimmern. »Ihr seid Mörder und wohl auch noch mehr als das,« sagte Sternau; »es gehört Euch der Strick ohne alle Gnade und Barmherzigkeit, aber ich will Nachsicht üben, sobald Ihr bereit seid, eine Bedingung zu erfüllen.« »Welche ist es?« fragte der Eine. »Ich fordere von Euch, daß Ihr Euer Geständniß in Gegenwart des Kapitäns wiederholt, sobald ich es verlange. Seid Ihr bereit dazu?« Sie blickten einander an und antworteten nicht. Endlich fragte der Anführer: »Ist das unbedingt nothwendig?« »Ja. ut Ihr es nicht, so geschieht das mit Euch, was ich Euch bereits sagte: ich lasse Euch unverzüglich aufhängen. Denket nicht, daß ich nur drohe!« »Hängen lassen wir uns des Rittmeisters wegen nicht. Wenn es wirklich nicht anders geht, so werden wir also auch in seiner Gegenwart die Wahrheit sagen.« »Gut. Das Leben ist Euch also geschenkt und das Weitere wird sich finden. Ihr werdet jetzt zusammengesperrt. Versucht nicht, zu entfliehen, denn jeder Versuch wird Euern Tod zur Folge haben!« Sie wurden jetzt zu Dritt in dasselbe Gewölbe eingeschlossen, in welchem bereits die Zwei gesteckt hatten. Sternau ahnte mit den
Uebrigen, daß sehr bald eine Kundgebung feindseliger Art von den Offizieren zu erwarten sei, und so zogen sie es vor, im Hause zu bleiben, um einander an jedem Augenblicke zur Hand zu sein. Die drei Offiziere waren nach dem Aufbruche Sternau’s und Mariano’s noch längere Zeit auf dem Kampfplatze geblieben; sie sahen sich durch die Verwundungen dazu gezwungen. Die Hand Pardero’s war zwar vollständig zerschmettert, aber die Blutung zeigte sich bei ihm als nicht übermäßig. Das Taschentuch und ein Stück von der Pferdedecke genügten zum einstweiligen Verbande. Anders war es bei dem Kapitän. Die scharfen Schnittflächen seiner vierfachen Fingerwunde begünstigten das Hervorbrechen des Blutes, und die Kugelwunde im Arme, obgleich nicht gefährlich, schien eine bedeutende Vene zerrissen zu haben. Hier war die Blutung mit weit größerer Mühe zu stillen. Während dieser Verbandarbeiten wurde nur wenig gesprochen, und das, was geredet wurde, trug den Charakter des Grimmes und der Wuth an sich. »Wer hätte das gedacht!« meinte Pardero. »Daß Sie so ungeschickt sind, auf mich zu schießen!« unterbrach ihn der Kapitän. »Ich? Sie haben ja bereits gehört, wie es zugegangen ist. Dieser Sternau ist ein Fechter und ein Schütze, wie es keinen zweiten giebt.« »Und Sie ebenso ein Schütze, wie es keinen zweiten giebt, nämlich so schlecht!« »Ich bitte die Herren, sich nicht zu entzweien!« sagte der Sekundant, welchem das Geschäft des Verbindens allein oblag, da die beiden Anderen durch ihre Wunden verhindert waren, ihm durch eine Handreichung beizustehen. »Das Rendez-vous war ein ganz und gar außerordentliches. Dieser Sternau kann wirklich fast ein Teufel genannt werden, obgleich Alles sehr natürlich zugegangen ist. Seine Geschicklichkeit sowohl in Beziehung der Schieß- als
auch der Hiebwaffe ist eine geradezu auffällige, noch aber auffälliger sind mir die Worte, welche er sprach.« »Allerdings auffällig im höchsten Grade,« stimmte Pardero bei. »Er beschuldigte Sie, Kapitän, ja geradezu, einen Mörder gedungen zu haben, der ihn und seinen Sekundanten niederschießen solle.« »Schlechtigkeit!« antwortete Verdoja. Aber trotz dieses Wortes konnte er die tiefe Röthe nicht verbergen, welche in sein vorher so todtenbleiches Gesicht getreten war. Wer bei solchem Blutverluste so tief erröthen konnte, der mußte sich getroffen fühlen. Der Sekundant fixirte ihn mit scharfem Auge. Er war ein Ehrenmann, der, wenn gleich ein Mexikaner, sich der Beihilfe einer Unehrenhaftigkeit nicht schuldig machen wollte. Er hatte keine Ahnung von den eigentlichen Absichten seines Vorgesetzten, dem er nur sehr ungern als Sekundant gedient hatte, da es sich ja um die Beleidigung einer Dame handelte; aber gerade daß es sein Vorgesetzter war, hatte ihn vermocht, eine Weigerung nicht auszusprechen. Er fühlte, ja, er war fest überzeugt, daß Sternau’s Anschuldigung eine begründete sei, und darum fragte er: »Was sollte diesen Deutschen zu einer solchen Beschuldigung veranlassen?« »Eben seine Schlechtigkeit,« antwortete der Kapitän. »Sie irren wohl, Sennor!« sagte der Sekundant ruhig. »So wie ich Sternau beurtheile, ist er nicht der Mann zu einer solchen Bosheit.« »So war es ein übel angebrachter eatercoup, um den Effekt zu erhöhen.« »Auch das glaube ich nicht. Sternau, der berühmte Jäger, ist kein Schauspieler.« Da stampfte Verdoja zornig mit dem Fuße. »Schweigen Sie! Oder wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie glauben, was dieser Mensch ausgesprochen hat?«
»Er hat eine offene Anschuldigung ausgesprochen, die Sie nicht wiederlegten,« antwortete der Lieutenant gemessen. »Ich enthalte mich natürlich eines jeden Urheiles, bis bewiesen ist, daß der Ankläger sich geirrt hat.« »Das will ich Ihnen auch rathen!« Der junge Mann blickte von dem Verbande auf, mit dem er beschäftigt war, zog die Brauen zusammen und fragte: »Soll das eine Drohung sein, Kapitän?« »Allerdings!« lautete die zornige Antwort. Sofort ließ der Lieutenant das Tuch los und trat zurück. »Ich verbitte sie mir sehr ernstlich!« sagte er. »Sie sind im Dienste mein Vorgesetzter, in einem Ehrenhandel aber ist meine Stellung keine andere, als die Ihrige. Ihr Verhalten gegen mich ist mir unbegreiflich, und ich sage Ihnen, daß ich sofort nach unserer Rückkehr mit Sennor Sternau sprechen werde. Er hat Sie des Meuchelmords angeklagt; geschah es mit Unrecht, so muß er widerrufen und Genugthuung geben; geschah es aber mit Recht, so werde ich aus meiner Stelle scheiden.« »Ich verbiete Ihnen, mit diesem Menschen zu sprechen!« schnaubte der Kapitän. »Sie haben mir nur in dienstlichen Dingen Befehl zu ertheilen, sonst nicht. Sie kennen jetzt meine Ansicht. Soll ich den Verband vollenden, so ersuche ich Sie, das jetzige ema fallen zu lassen.« Der Kapitän schwieg nothgedrungen und hielt ihm den Arm entgegen. Der Zorn, welcher ihn beherrschte, war nicht geeignet, die Wallungen seines Blutes zu beruhigen, und so kam es, daß das Verbinden eine längere Zeit in Anspruch nahm. Während der Lieutenant mit dem Arme seines Vorgesetzten beschäftigt war, wechselte dieser Blicke mit Pardero, aus denen er erkannte, daß er in letzterem einen Verbündeten haben werde. Endlich stiegen sie zu Pferde, um nach der Hazienda zurückzukehren. Sie thaten dies, wie bereits bemerkt, mit düsteren Mienen,
doch war bei dem Lieutenant der Grund dazu ein ehrenhafterer als bei den beiden Anderen. Bei den Lanzenreitern befand sich einer, welcher einmal Arzt hatte werden wollen, aber wegen schlimmen Lebenswandels relegirt worden war. Er war der Chirurg der Schwadron und hätte bei dem Duelle eigentlich zugegen sein müssen. Aber Sternau hatte die Anwesenheit eines Arztes abgelehnt, und der Kapitän war so überzeugt gewesen, daß sein meuchlischer Anschlag gelingen werde, daß man nicht für nöthig befunden hatte, ihn zu benachrichtigen. Kaum aber waren Verdoja und Pardero nach der Hazienda zurückgekehrt, so ließen sie ihn kommen, um sich einen regelrechten Verband anlegen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit erfuhren sie von ihm, daß ein Bote angekommen sei, der von Juarez die Weisung gebracht habe, sofort nach Monclova aufzubrechen, da dort die Bevölkerung im Aufstande gegen die Regierung stehe. Dieser Bote war derselbe Reiter, welchen Sternau hatte kommen hören. Der Kapitän ließ ihn zu sich kommen und empfing den schriftlichen Befehl, den Monclovanern gegen die Regierungstruppen beizustehen. »Werde ich reiten können?« fragte er den Chirurgen. »Ja,« antwortete dieser. »Das Reiten strengt den Arm nicht an. Es ist nur das Wundfieber zu befürchten, und da ich das Wundkraut angewendet habe, so wird es gar nicht eintreten.« »Und Lieutenant Pardero?« »Seine Wunde ist schmerzhafter als die Ihrige, gefährlicher aber nicht. Auch er kann reiten. Allerdings den Degen werden Sie Beide nicht wieder führen können.« »So fechte ich mit der linken Hand. Morgen früh brechen wir auf.« Während der Chirurg mit den beiden Verwundeten beschäftigt war, führte der Lieutenant seinen Vorsatz aus und begab sich zu
Sternau. Dieser sah ein, daß er es mit einem Ehrenmann zu thun hatte, verweigerte ihm aber einstweilen jede Auskunft. »Und doch muß ich auf diese Auskunft bestehen,« sagte der Lieutenant. »Es ist ein Bote angekommen, welcher unseren schleunigen Aufbruch fordert. Juarez dirigirt uns nach Monclova. Haben Sie ein wirkliches Recht, den Kapitän des Meuchelmordes oder der Anstiftung dazu zu beschuldigen, so trete ich aus, oder zwinge ihn, auszutreten. Ganz dasselbe wird auch mit Pardero der Fall sein, denn ich vermuthe sehr, daß die Beiden zusammenhalten werden. Eigentlich genügt schon ihr ehrloser Angriff auf die Damen, mich von ihnen loszusagen.« »Und doch dienten Sie ihnen als Sekundant!« »Wer sonst hätte es thun sollen? Uebrigens erfuhr ich das Ausführliche erst auf dem Wege nach dem Stelldichein. Jetzt sehen Sie wohl ein, daß ich unbedingt um sofortige Aufklärung bitten muß.« »Sie soll Ihnen werden, wenn auch nicht in dieser Minute, aber doch in ganz kurzer Zeit. Der Kapitän sieht seinen Anschlag mißlungen, und er wird, wie ich vermuthe, in kurzer Zeit ausreiten, um an denjenigen, welcher den Mord ausführen sollte, eine Botschaft zu richten. Ich beabsichtige ihn dabei zu beobachten; Sie werden mich dabei begleiten, denn dies ist der Weg, Sie von der Wahrheit meiner Behauptungen zu überzeugen. Bereiten Sie sich auf einen baldigen Spazierritt vor, aber ohne daß es Jemand merkt.« Der Lieutenant mußte sich damit zufrieden geben und entfernte sich einstweilen. Sternau hatte sich in seinen Vermuthungen nicht getäuscht, denn kaum hatte der Chirurg den Kapitän verlassen, so verließ dieser zu Pferde die Hazienda, aber nicht allein, sondern er forderte den Lieutenant Pardero auf, ihn zu begleiten, da er mit ihm zu sprechen habe. Pardero war ein ächter Mexikaner, leichtlebig, leidenschaftlich, seinen Wünschen und Begierden Alles unterordnend. Er war
arm, wollte es aber nicht bleiben, denn der Besitz ist ja das einzige Mittel zur Befriedigung aller Bedürfnisse. Reich zu werden, war ihm kein Mittel zu verwerflich, aber leider hatte er bis jetzt noch keinen Erfolg gehabt. Er hatte es bisher zu Nichts gebracht als nur zu Schulden, und sein Hauptgläubiger war der Kapitän, an den er im leidenschaftlichen Spiele Summen verloren hatte, welche nicht ganz unbedeutend waren. Dies wollte Verdoja benutzen. Er brauchte einen Verbündeten, der von ihm abhängig war, und dazu paßte Niemand besser als Pardero. Daher nahm er ihn auf seinem jetzigen Ritte mit, um ihn für seine Zwecke zu engagiren. Verdoja wußte nicht, daß seine Helfershelfer gefangen seien; er konnte nicht begreifen, wie Sternau seinen Anschlag erfahren hatte, und wollte nun für den Mörder einen zweiten Zettel unter den Stein stecken, um ihn für Mitternacht abermals zu bestellen. Doch ritt er nicht direkt der Gegend zu, in welcher sich der Stein befand. Er wußte sich von Sternau beobachtet, darum machte er einen Umweg, und zwar einen noch weiteren, als sein gestriger gewesen war. »Warum brechen wir erst morgen nach Monclova auf?« fragte Pardero unterwegs. »Der Weisung nach müßten wir doch sofort reiten.« »Wir haben erst hier noch Einiges abzumachen, ich und Sie,« antwortete Verdoja. »Ich?« fragte Pardero erstaunt. »Ja. Oder wollen Sie diesen Sternau, der Ihnen die Hand zerschmettert hat, unbestraft lassen?« »Ah, wenn ich ihn fassen könnte!« knirrschte der Lieutenant. »Das werden wir. Uebrigens denke ich auch, daß die schöne Indianerin Ihr Blut in Wallung gebracht hat. Sie ist schuld an Ihrem Rencontre mit dem Deutschen. Wollen Sie von hier fortgehen, ohne sich diese Schuld in liebenswürdiger Weise abtragen zu lassen?«
Aus den Augen Pardero’s leuchtete eine gefährliche, sinnliche Gluth. »Teufel, ja,« sagte er. »Ich gestehe aufrichtig, daß ich vor Lust brenne, sie willfährig zu sehen. Sie ist das schönste Mädchen, das ich kenne, und ich gebe viel darum, sie einmal – nun, als – als Frau zu besitzen!« Dies war ein sehr offenes Geständniß. Der Kapitän nickte mit dem Kopfe. »Als – wirkliche Frau?« fragte er lächelnd. »Fällt mir nicht ein!« »Und nur ein einziges Mal?« »Je länger, desto lieber!« »Gut! Sie werden offen, und so will ich Ihnen ebenso ehrlich sagen, daß es mir ganz ebenso geht mit dieser Sennorita Emma. Ich habe mich in sie vergafft und bin wirklich ganz verliebt in den Gedanken, meine innigen Gefühle belohnt zu sehen. Freiwillig wird das nicht geschehen, aber wer kann uns widerstehen, wenn wir vereint handeln? Wollen wir uns verbinden, Lieutenant?« Er streckte Pardero die Hand entgegen. »Gern!« rief dieser, indem er sofort und kräftig einschlug. »Aber wie?« »Lassen Sie nur mich sorgen! Ich habe übrigens noch andere Pläne, welche nicht nur für mich, sondern auch für Sie von Vortheil sind.« »Ich hoffe, daß ich sie erfahren werde!« »Hm, sie sind etwas heikler Natur, und ich weiß nicht, ob ich Ihnen vertrauen darf, ob ich auf alle Fälle und unter allen Umständen auf Ihre Verschwiegenheit rechnen kann.« »Ganz sicher! Ich schwöre es Ihnen!« »Nun wohl, ich will einmal kühn sein und Ihnen glauben. Was halten Sie von der Anschuldigung, welche Sternau heut gegen mich ausgesprochen hat?«
»Hm!« antwortete Pardero, indem er nachdenklich auf den Sattelknopf niederblickte. »Nun? Reden Sie offen!« »Wenn Sie es befehlen, so sage ich Ihnen aufrichtig, daß Ihr Verhalten bei dieser Sache nicht ganz geeignet war, das Gegentheil glauben zu lassen.« »Richtig. Ich gestehe Ihnen, daß dieser Deutsche Recht hatte.« Dieses rücksichtslose Bekenntniß machte Pardero doch etwas verdutzt. »Also wirklich!« sagte er erstaunt. »Ja, und wenn mein vorsichtiger Anschlag gelungen wäre, so befänden wir uns beide noch im Besitze unserer Hände und den Deutschen mit sammt seinem Sekundanten hätte der Teufel geholt. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich von sehr hoher und einflußreicher Seite den Befehl habe, Sternau und seine Begleiter unschädlich zu machen.« Diese letzten Worte enthielten eine schlaue Berechnung; sie sollten Pardero willig machen, dem Kapitän Hilfe zu leisten. »Das ist überraschend,« sagte dieser. »Darf man nach Namen fragen?« »Jetzt noch nicht. Dieser Sternau ist mehr als er scheint. Es hängt von seinem Verschwinden das Gelingen weittragender Pläne ab, und Derjenige, welcher ihn verschwinden läßt oder dabei Hilfe leistet, hat auf eine nachhaltige Dankbarkeit zu rechnen. Sie können sich denken, daß ich mich nicht in Gefahr begeben hätte, wenn ich nicht wüßte, daß mir dadurch eine Carriere, eine Zukunft geöffnet wird, an die ich sonst nicht denken dürfte.« Das war nicht wahr; das war eine große Lüge, aber der Kapitän sprach sie mit großem Vorbedacht aus. Indem er vorgab, in einem höheren Auftrage zu handeln, stellte er sich als einen Bevollmächtigten hin, dessen aten nicht gerichtet werden konnten. Und indem er von einer nachhaltigen Belohnung sprach, versicherte
er sich des Beistandes Pardero’s, der gar keine Ahnung hatte, daß die Worte seines Vorgesetzten eine Unwahrheit enthielten. Dieser fragte: »Sie glauben, daß auch ich belohnt werde, wenn ich Ihnen behilflich bin?« »Gewiß. Sie werden sogar doppelt belohnt, ebenso wie ich. Zunächst haben wir entweder auf ein schnelles Avancement oder auf eine bedeutende pecuniäre Berücksichtigung zu hoffen, und sodann ist es ja für uns Beide eine Genugthuung, diesen Kerls zu beweisen, daß wir uns zu rächen vermögen. Ich darf also auf Sie rechnen?« »Vollständig, Kapitän! Ich stehe Ihnen mit größtem Vergnügen zur Verfügung und bitte, mir zu sagen, was ich zu thun habe.« »Das weiß ich in diesem Augenblicke selbst noch nicht. Zunächst muß ich erfahren, weshalb mein Beauftragter heut nicht gekommen ist.« »Wir werden jetzt mit ihm sprechen?« »Nein. Wir werden ihm jetzt zunächst ein Zeichen geben, daß ich heut Abend mit ihm sprechen will. Da erfahre ich, was ihn abgehalten hat und werde dann augenblicklich handeln. Dies ist auch der Grund dazu, daß ich heut noch nicht nach Monclova aufbrechen kann; es kann dies jedenfalls erst morgen geschehen.« »Aber wie hat Sternau erfahren, was Sie mit ihm vorhatten?« »Das ist mir ein Räthsel.« »Ihr Mann wird Sie doch nicht verrathen haben?« »Nein; er ist sicher. Eher glaube ich, daß Sternau uns belauscht hat. Er muß sich zufällig an dem Orte befunden haben, an welchem ich eine Unterredung hatte. Daher werde ich die heutige Besprechung nach einem anderen Platze verlegen. Kommen Sie!« Pardero mußte sich mit diesen Andeutungen für jetzt begnügen und folgte dem Kapitän, welcher sein Pferd in einen schnelleren Gang versetzte. Sie hatten Beide keine Ahnung, daß Ihr Ritt nicht
nur ein vergeblicher sein, sondern ihnen geradezu zum Schaden gereichen werde. Nämlich sobald sie von der Hazienda aufgebrochen waren, stieg auch Sternau mit dem Lieutenant zu Pferde und schlug ganz denselben Weg ein, den er gestern geritten war, um zu dem Steine zu gelangen. Sie verbargen ihre Pferde ganz an demselben Orte, wo er gestern das seinige versteckt hatte, und begaben sich dann nach der improvisirten Poste-restante Station. Der Lieutenant bestieg die Ceder, und Sternau versteckte sich hinter einige Büsche, die ihm genügenden Schutz gewährten. Sie hatten eine längere Weile zu warten, ehe sie den Hufschlag nahender Pferde vernahmen. Die Reiter hielten draußen am Rande des Gehölzes, stiegen ab und kamen dann bis zu dem Steine heran. Es waren Verdoja und Pardero. Der Erstere hob den Stein empor und steckte einen Zettel unter denselben. Sie lauschten einige Sekunden lang, ob sich in der Umgebung etwas rege, dann kehrten sie zu ihren Pferden zurück und ritten davon. Nun verließen die beiden Lauscher ihre Verstecke, und Sternau nahm den Zettel hervor. »Pardero war dabei,« sagte der Lieutenant; »er ist also eingeweiht. Darf ich diesen Zettel lesen, Sennor?« Sternau hatte die Worte bereits überflogen und reichte ihm das Papier hin. Darauf stand: »Bleibe in der Nähe dieses Ortes. Um Mitternacht treffe ich Dich hier beim Steine. Du hast Dich zu rechtfertigen.« Auch dieses Mal fehlte die Unterschrift. Der Lieutenant fragte Sternau: »Das ist für denjenigen bestimmt, der Sie und Sennor Mariano erschießen sollte?« »Ja.«
»Er wird den Zettel finden?« »Nein.« »So beabsichtigen Sie nicht, ihn wieder unter den Stein zurückzulegen? Ich würde das thun und dann um Mitternacht das Gespräch belauschen.« »Das ist nicht möglich, da der betreffende Mann nicht kommen wird. Er befindet sich bereits in meiner Gewalt; er ist Gefangener auf der Hazienda. Kommen Sie zu den Pferden. Nun Sie die beiden Mörder mit eigenen Augen beobachtet haben, werde ich Ihnen Alles erzählen, das kann ich während des Heimrittes thun.« Was der Lieutenant hörte, das forderte nicht nur sein Erstaunen, sondern auch seine tiefste Indignation heraus; er beschloß, ganz nach den Gefühlen zu handeln, deren er sich jetzt nicht mehr erwehren konnte. »Was werden Sie thun?« fragte er Sternau. »Ich werde den Kapitän und seinen Helfer entlarven,« war die Antwort. »So recht! Werde ich dabei sein dürfen?« »Gewiß. Ich werde Sie sogar bitten, mein Zeuge zu sein.« »Und was gedenken Sie mit den Gefangenen zu thun, Sennor?« »Ich habe ihnen versprochen, ihr Leben zu schonen, falls sie ein offenes Geständniß ablegen; sie haben dies gethan, und nun ist es meine Pflicht, mein Wort zu halten.« »Hm, das ist nicht vorsichtig. Diese Kerls haben den Strick verdient. Werden sie ohne Strafe entlassen, so sind Sie Ihres Lebens ja gar nicht mehr sicher.« »Das sage ich auch, aber ich habe mein Wort noch nie gebrochen und werde es auch jetzt nicht thun. Vielleicht macht meine Nachsicht einen bessernden Eindruck auf sie.« »Dies glaube ich nicht; auf diese Art von Menschen macht Liebe keinen Eindruck, da sie die Milde doch nur für Schwäche halten.
Aber Sie haben leider Ihr Wort einmal gegeben, und so ist nichts daran zu ändern.« Sie langten eine bedeutende Weile später auf der Hazienda an, als der Kapitän und Pardero. Der Erstere befand sich im Lager der Soldaten und sah sie kommen. Er runzelte die Stirn. Daß der Lieutenant sich in Sternau’s Gesellschaft befand, war ihm im höchsten Grade unangenehm, ja bedenklich; darum trat er ihm mit finsterer Miene entgegen und fragte: »Lieutenant, wo waren Sie?« »Spazieren,« lautete die Antwort. »Hatten Sie meine Erlaubniß?« klang es drohend. »Bedarf ich derselben?« fragte der Offizier scharf. »Ich denke. Wir befinden uns nicht in Garnison, sondern auf dem Marsche.« »Ich meine, daß wir uns nicht auf dem Marsche, sondern im Bivouak befinden, Kapitän.« »Diese Unterscheidungen sind hier nutzlos, Lieutenant. Sie haben um Urlaub anzufragen, sobald Sie die Absicht haben, sich zu entfernen.« Der junge Offizier erröthete, aber nicht vor Scham, sondern vor Unwillen. Die Lanzenreiter standen umher und konnten jedes Wort hören, welches gesprochen wurde. – »Dies hätte ich nur dann zu thun,« antwortete er, »wenn ich die Absicht hätte, zu verreisen, oder mich während einer Zeit zu entfernen, welche den dienstlichen Angelegenheiten gewidmet sein soll. Gegenwärtig aber habe ich ebenso einen Spazierritt gemacht wie Sie und Lieutenant Pardero. Was dem Einen gestattet ist, muß auch dem Anderen erlaubt sein. Sie werden mir da wohl recht geben?« Der Kapitän streckte sich zu seiner vollen Höhe empor. »Sennor, wissen Sie, was Widersetzlichkeit zu bedeuten hat?« rief er drohend.
»Das weiß ich genau so gut, wie Sie, Sennor; aber von Widersetzlichkeit ist hier keine Rede. Es handelt sich um eine einfache Meinungsverschiedenheit, welche in ruhiger und anständiger Weise ausgeglichen werden kann. Es versteht sich doch ganz von selbst, daß ein Offizier sich vor den Augen der Mannschaft nicht grundlos maßregeln lassen kann!« Die Augen des Kapitäns blitzten vor Wuth. Er trat einen Schritt näher, streckte die Hand aus und gebot: »Geben Sie Ihren Degen ab, Lieutenant! Sofort!« Der Lieutenant war zwar noch jung, aber doch ein furchtloser Mann. Er vermochte sich so zu beherrschen, daß er lächelnd sagen konnte: »Meinen Degen? Pah! Den haben Sie nicht zu verlangen!« »Ich bin Ihr Vorgesetzter!« »Gewesen! Sie sind ein Schurke, ein großer, ein ausgefeimter Bösewicht. Es wäre für mich die größte Schande, wenn Sie meinen ehrlichen Degen nur anrührten!« Diese Worte waren mit erhobener Stimme gesprochen worden, so daß sie von sämmtlichen Soldaten verstanden werden konnten. Die mexikanische Disciplin ist eine andere als die preußische zum Beispiel. Als die Lanzenreiter die fürchterliche Anschuldigung vernahmen, schlossen sie sofort einen Kreis um die Offiziere. Pardero stand auch dabei, und Sternau hielt nach der Seite des muthigen, jungen Lieutenants, so daß er sich also mit den drei Offizieren in der Mitte des Kreises befand. – Der Schimpf, welcher in den letzten Worten lag, war so groß, daß der Kapitän für den ersten Augenblick gar keine Worte zur Entgegnung fand, dann aber riß er den Revolver aus dem Gürtel, zielte auf den Lieutenant und rief mit donnernder, aber vor Wuth zitternder Stimme: »Widerrufen Sie sofort, oder ich schieße Sie nieder!« »Widerrufen? Nein. Ich wiederhole, was ich sagte,« lautete die furchtlose Antwort.
Da wollte der Kapitän wirklich losdrücken, aber in demselben Augenblicke gab Sternau seinem Pferde die Sporen; es schoß in einer kräftigen Lancade an dem Kapitän vorüber und dieser erhielt dabei von Sternau einen solchen Faustschlag, daß er augenblicklich zusammenbrach. »Was ist das? Was wagen Sie?« rief da Pardero. »Nichts!« antwortete Sternau. »Höchstens wage ich, meine Hand zu besudeln.« »Ja,« rief der junge Lieutenant seinem Kameraden zu, »ich erkläre auch Sie für einen Schurken, an dessen Berührung man sich nur besudeln kann!« Pardero wurde bleich, entweder vor Aerger oder vor Angst oder aus allen beiden Gründen. »Sie phantasiren wohl!« rief er. »Nein, ich bin im Besitze meiner Besinnung, ja sogar eines vollen moralischen Bewußtseins, was bei Ihnen nicht der Fall ist.« »Ah, Sie mögen daran denken, daß ich Ihr Vorgesetzter bin. Sie sind der jüngste Offizier!« »Sie sind mein Vorgesetzter nicht mehr. Ich diene keinen Augenblick länger mit Ihnen.« »Ah, Sie treten aus?« »Das wird sich finden. Entweder trete ich aus, oder Sie Beide.« »Sie vergessen, daß man nicht so leicht und schnell auszutreten vermag,« lächelte Pardero höhnisch. »Zunächst verhafte ich Sie wegen Subordination, und auch Sennor Sternau ist wegen Körperverletzung ein Gefangener!« »Meinen Sie?« sagte Sternau. »Sie Wurm hätten das Geschick, mich gefangen zu nehmen. Kommen Sie einmal her!« Pardero stand in seiner unmittelbaren Nähe; das war eine Unvorsichtigkeit von ihm, denn Sternau langte zu, faßte ihn beim Kragen, riß ihn zu sich empor und schmetterte ihn darauf mit solcher Gewalt zu Boden, daß er liegen blieb. Das war den Lanzenreitern
denn doch zu viel. Der alte Wachtmeister der Truppe trat hervor, salutirte vor dem Lieutenant und fragte: »Sennor Lieutenant, dürfen wir erfahren, was dies Alles zu bedeuten hat?« Der Gefragte nickte ihm freundlich zu und sagte: »Bartholo, wer ist Euch der liebste Offizier? Sage es aufrichtig!« »Hm! Sie, Herr Lieutenant; das wissen Sie. Wir hätten sonst wahrlich nicht so ruhig zugesehen, daß Sennor Verdoja und Sennor Pardero von Ihnen in dieser Weise insultirt wurden. Und von einem Civilisten erst recht nicht!« »Nun gut, Bartholo, so will ich Dir sagen, daß diese beiden Sennores ganz und gar infam gehandelt haben. Sie haben sich mit Räubern und Mördern verbunden, um ehrliche Leute zu morden und brave Damen zu beleidigen.« »Das ist wahr, Sennor?« »Ja, Du kannst es glauben. Wir haben heute Morgen ein Duell gehabt; dabei sind sie um ihre rechten Hände gekommen; das war ein Gottesgericht. Und eben jetzt war ich mit diesem Sennor draußen im Walde, um sie zu belauschen. Sie sind nicht werth, brave, mexikanische Lanzenreiter zu befehligen. Ich diene nicht unter ihnen weiter.« »Caramba, Sennor, da trete ich auch aus!« meinte der Alte. »Das ist nicht nöthig, Bartholo. Du bist ein altgedienter Haudegen und weißt genau, was sich schickt. Ich meine, wir untersuchen den Fall und bestimmen dann, wer auszutreten hat, sie Beide oder ich.« »Das ist wahr, Sennor Lieutenant,« meinte der Wachtmeister, indem er sich den gewaltigen Schnautzbart strich. »Müssen Sie austreten, dann trete ich mit aus, und ich glaube, es löst sich die ganze Schwadron auf. Werden aber diese Beiden, denen wir ja Alle nicht grün sind, zum Teufel gejagt, so sind Sie Kapitän.« »Und Du wirst Oberlieutenant. Die Anderen folgen nach, ganz nach der Reihenfolge.«
»So meinen Sie also, wir constituiren ein Kriegsgericht?« »Nein, denn ihre Verbrechen sind keine militärischen. Ich meine ein Ehrengericht.« »Gut. Nehmen wir ihnen die Waffen ab?« »Das versteht sich.« »Fesseln?« »Nein. Aber sie sind einstweilen Arrestanten und werden in einem Zimmer der Hazienda bewacht. Das Gericht wird im Hofe abgehalten, so daß die ganze Schwadron es hören kann. Sie sind besinnungslos. Laß sie einschließen und bewachen, und dann kommst Du herauf zu mir, um bei der Voruntersuchung zugegen zu sein.« Es war ein Glück, daß der junge Lieutenant die Liebe seiner Untergebenen in diesem Maße besaß, sonst wäre der Ausgang dieser gefährlichen Scene sicherlich ein ganz anderer gewesen. Wie zwei Helden hielten er und Sternau in der Mitte der halb wilden Soldateska; auf seinen Wink wurden den beiden Bewußtlosen die Waffen genommen und dann schaffte man sie in ein kleines Zimmer, dessen ür und Fenster bewacht wurde. Nun begaben sich die Beiden hinauf in den Saal, wo sie erzählten, was sie erlebt hatten. Mariano bestand darauf, daß das Ehrengericht in Anwesenheit der Bewohner der Hazienda gehalten werde, und daß die beiden Gefangenen unter Aufsicht einiger kräftiger Vaqueros vorgeführt werden sollten. Beides wurde zugestanden und dann auch sofort die Vorbereitung zu der Sitzung getroffen. Während unten die Lanzenreiter in einzelnen Gruppen den ungewöhnlichen Vorfall besprachen, kam der alte Wachtmeister und wurde mit dem Lieutenant zu den drei gefangenen Mexikanern geführt, welche ihre Aussagen wiederholen sollten. Sie thaten es, und da hierdurch alle Vorbereitungen erfüllt waren, so wurden nun mehrere Stühle und Bänke in den Hof geschafft, auf denen die Hauptpersonen Platz zu nehmen hatten.
An einem Tische saß der Lieutenant und an seiner Seite der Wachtmeister, rechts und links von ihnen die Unteroffiziere. Sie bildeten den Gerichtshof. An der anderen Seite hatten Sternau, Mariano und die beiden Damen Platz genommen; sie waren die Ankläger. Ihnen gegenüber saßen Helmers und der Haziendero als vielleicht zu gebrauchende Zeugen und auf der vierten Seite standen in einiger Entfernung die Lanzenreiter nebst mehreren Vaqueros und Ciboleros als Publikum. Jetzt wurden Verdoja und Pardero vorgeführt. Es läßt sich gar nicht beschreiben, in welcher Verfassung sie sich befanden. Eine solche Lage, eine solche Demüthigung hatten sie gar nicht für möglich gehalten. Sie schäumten vor Wuth, und wenn sie ihre rechten Arme hätten gebrauchen können, so wären sie von den vier Vaqueros, von denen sie herbei gebracht wurden, wohl kaum zu bändigen gewesen. »Was soll das?« rief Verdoja, als er die Versammlung bemerkte. »Was steht Ihr hier?« brüllte er die Soldaten an. »Packt Euch hinaus, Ihr Hunde!« »Mäßigen Sie sich, Sennor Verdoja!« sagte der Lieutenant als Vorsitzender. »Sie stehen als Angeklagter vor uns, und es kommt ganz allein nur auf Ihr Verhalten an, wie Sie von uns behandelt werden!« »Als Angeklagter?« rief er. »Wer klagt mich an?« »Das werden Sie sofort vernehmen.« »Und wer soll mein Richter sein?« »Wir, die Sie hier sitzen sehen.« Da schlug er ein schallendes, höhnisches Gelächter auf. »Befinde ich mich unter Wahnsinnigen?« fragte er. »Meine Soldaten wollen mich richten! Schurken, die Ihr seid, wollt Ihr hinaus an Eure Plätze gehen! Ich lasse Euch auf der Stelle füsiliren!« Er erhob die linke Faust und trat auf den Wachtmeister zu, wurde aber bald von den Vaqueros abgehalten, thätlich zu werden.
»Ich stelle den Antrag, die beiden Angeklagten zu fesseln, wenn sie sich nicht augenblicklich beruhigen!« sagte Sternau. »Der Antrag ist angenommen!« antwortete der Lieutenant. »Wagt es einmal!« rief der Kapitän. »Ich lasse die ganze Hazienda demoliren!« »Habt Ihr Riemen oder Stricke?« fragte anstatt der Antwort der Vorsitzende die Vaqueros. Diese griffen in ihre Taschen und brachten das Verlangte hervor. »Ihr seht, Sennores, daß wir nicht scherzen,« sagte der Vorsitzende. »Fügt Euch in das Unvermeidliche, sonst werdet Ihr gezwungen. Euch zu fügen!« »Fügen!« rief Verdoja. »Was haben wir verbrochen? Wer kann wagen, ein Kriegsgericht über seine eigenen Vorgesetzten zu halten? Ich! Ich bin es, der anzuklagen hat!« »Sie irren sich. Es handelt sich nicht um ein Kriegs- sondern um ein Ehrengericht, und es soll entschieden werden, ob Ehrenmänner unter Euch noch weiter dienen können.« Der Kapitän wollte eine seiner kräftigen Antworten geben, aber Pardero legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Um Gottes willen ruhig! Mit Grobheit kommen wir hier nicht durch!« Darum faßte er sich und sagte: »Nun wohlan, beginnt Eure Faxe, aber ich behalte mir das Spätere vor!« Da jetzt die Ruhe der Erwartung eintrat, so sagte der Vorsitzende: »Sennor Sternau, sprechen Sie!« Sternau erhob sich. »Ich klage im Namen dieser beiden anwesenden Sennoritas diese beiden Männer der ehrlosen Handlung gegen unbeschützte Da-
men an,« sagte Sternau. »Ich klage sie ferner an des Mordanschlages gegen mich, Sennor Mariano und Sennor Helmers.« »Können Sie diese Anklagen beweisen?« »Ja.« Der Lieutenant wandte sich zu den beiden Angeklagten und fragte: »Wie gedenken Sie sich gegen diese Anschuldigungen zu verhalten?« »Sie sind so ungereimt, daß ich sie einer Antwort gar nicht für werth halte!« So antwortete Verdoja, und Pardero schloß sich dieser Meinung an. »Ich danke Ihnen,« antwortete der Lieutenant ironisch. »Wenn Sie wirklich gar nichts dazu sagen, so vereinfachen Sie das Verfahren auf eine sehr erwünschte Weise. Ueber die erste Anklage gehen wir billiger Weise hinweg; die Angeschuldigten beantworten sie nicht und gestehen also die Wahrheit derselben ein. Was aber die zweite betrifft, so sind wir da zu einer größeren Ausführlichkeit gezwungen. Da die beiden Angeklagten uns eine jede Antwort verweigert haben, so werde ich Sie, Sennor Sternau, bitten, Ihre Angaben zu machen.« Sternau brachte hierauf seine Anklage in ausführlicher Weise vor, aber ohne ahnen zu lassen, daß die drei gedungenen Mörder ihm als Zeugen zur Verfügung ständen. Er erzählte Alles, was von dem Augenblicke an geschehen war, an welchem Büffelstirn die Reisenden vor dem Hinterhalte gewarnt hatte. Er berichtete über den Ritt, den er mit Verdoja und den Lieutenants nach der Schlucht des Tigers gemacht hatte, und bemerkte, daß bereits da sein Verdacht entstanden sei. Er erwähnte das nächtliche Schleichen und die verdächtigen Ausflüge des Kapitäns und schloß damit, daß der letzte Ritt, den derselbe mit Pardero unternommen habe, wohl auch nur aus feindseligen Gründen geschehen sei.
Als er geendet hatte, ergriff der Kapitän das Wort, obgleich er gesagt hatte, daß er keine Antwort geben werde. »Ich scheine es wirklich mit Wahnsinnigen zu thun zu haben,« sagte er. »Dieser Mann hat nichts als leere Vermuthungen ausgesprochen, und auf diese hin wagt man es, zwei Kavalleros und Offiziere unserer glorreichen Republik vor ein Ehrengericht zu stellen; das ist nicht nur lächerlich, sondern geradezu schändlich, und eine solche Schändlichkeit werde ich zu bestrafen wissen, sobald diese Komödie beendet ist!« »Eine derartige Bestrafung habe ich nicht zu befürchten,« antwortete Sternau, »denn ich werde meine Vermuthungen sofort mit Beweisen belegen. Als die beiden Sennores heute ausritten, ahnte ich den Zweck des Rittes und brach mit dem Herrn Lieutenant auf, um sie zu belauschen. Verdoja hatte nämlich im Walde eine Post errichtet, einen Stein, unter welchen er seine geschriebenen Befehle steckt. Der heutige lautet: ›Bleibe in der Nähe dieses Ortes. Um Mitternacht treffe ich Dich hier beim Steine. Du hast Dich zu rechtfertigen.‹ Ich glaube nicht, daß Verdoja uns das ableugnen wird.« Als Sternau den Stein erwähnte und den Zettel hervorzog, um seinen Inhalt vorzulesen, erbleichte Verdoja; Pardero ging es ebenso. Beide schwiegen, als sie jetzt Aller Augen auf sich gerichtet sahen. Sternau fuhr fort: »Ich muß nämlich bemerken, daß ich die heimlichen Zusammenkünfte des Angeklagten belauschte. Ich hörte, was gesprochen wurde und habe danach gehandelt. Es stehen mir Zeugen zur Verfügung, deren Aussage über Alles weitere die beste Auskunft geben wird.« Auf seinen Wink wurden die drei gefangenen Mexikaner herbeigebracht. Bei ihrem Anblicke erschrak Verdoja so, daß er sichtlich zurückprallte. Das hatte er nicht gedacht. Nun mußte ja Alles an den Tag kommen!
Und es kam an den Tag. Die Gefangenen legten ihre Aussagen zwar unter allen Zeichen der Verlegenheit, aber doch so wahrheitsgetreu und ausführlich ab, daß gar kein Zweifel übrig blieb. Die beiden Zettel wurden als von der Hand Verdoja’s kommend recognoscirt, und so war es diesem vollständig unmöglich, zu leugnen. Die beiden Angeklagten versteckten sich hinter einen wortlosen Trotz und verweigerten jedes Eingeständniß. »Die Schuld der Angeklagten ist auf das Glänzendste erwiesen,« erklärte der Vorsitzende. »Nach den Gesetzen des Landes hat Verdoja den Tod verdient. In wie weit Pardero mitschuldig ist, wollen wir nicht untersuchen. Wir haben uns blos als ein Ehrengericht constituirt; wir haben also nicht zu bestrafen, sondern nur zu entscheiden, ob wir mit diesen beiden Männern fort dienen wollen. Was nun mich betrifft, so erklärte ich mit aller Entschiedenheit, daß ich austrete und zwar von dem jetzigen Augenblicke an.« »Ich verweigere Ihnen den Abschied!« rief Verdoja, indem ihm sein Grimm den Muth gab, sich zusammen zu raffen. »Danach wird nicht gefragt,« antwortete der Lieutenant. »Sie haben sich als ehrlos erwiesen, und kein Ehrenmann wird sich durch Ihre Weigerung zwingen lassen, Sie von jetzt an als Vorgesetzten anzuerkennen. Uebrigens, und das betone ich mit allem Nachdrukke, haben Sie selbst sich der Insubordination, des Ungehorsams, der Nachlässigkeit und Eigenmächtigkeit schuldig gemacht. Sie erhielten den Befehl, sofort nach Monclova aufzubrechen, und thaten es nicht, sondern ließen sich von Ihren meuchelmörderischen Absichten hier festhalten. Ich sehe mich verpflichtet, ein Protokoll abzufassen und dasselbe mit einem Eilboten an Juarez zu senden. Hiernach werden Sie zugeben, daß ich Alles, was ich zu thun beschließe, recht wohl verantworten kann. Von dem Augenblicke an, da Sie den Befehl Juarez’ mißachteten, sind Sie Rebeller, und Ihre Untergebenen haben nicht nur das Recht, sondern sie sind sogar verpflichtet. Ihnen den Gehorsam zu verweigern.«
»Gut, so treten Sie aus; ich halte Sie nicht!« knirrschte der Kapitän. »Sie werden weder mich noch Andere halten können, denn ich bin überzeugt, daß das Beispiel, welches ich gebe, nicht unfruchtbar sein wird.« »Man soll es wagen!« lachte er. »Pah! Sehen Sie!« Der alte Wachtmeister hatte sich erhoben. »Auch ich erkläre, nicht länger unter Schurken dienen zu wollen,« sagte er, »und ich hoffe, daß sämmtliche Kameraden dasselbe thun wie ich!« Verdoja erhob seine Stimme zu einem energischen Widerspruch, aber er wurde überboten durch den bunten, vielstimmigen Zuruf, mit welchem die Unteroffiziere und sämmtliche Mannschaften erklärten, von Verdoja und Pardero nichts mehr wissen, den Lieutenant aber als Kapitän haben zu wollen. Er wollte sich unter die Leute stürzen, wurde aber von den Vaqueros festgehalten. Als die Ruhe wieder hergestellt war, sagte der Lieutenant: »Ich nehme die Führung der Schwadron an und werde die Offiziere nach der Reihenfolge ergänzen. Juarez wird meinen Bericht erhalten und bestimmen, ob dieses Interim Geltung behalten soll. Hiermit hat unser Ehrengericht seine Schuldigkeit gethan; die Mordanstifter nebst ihren Komplicen aber übergeben wir zur Bestrafung Denen, gegen welche ihre Anschläge gerichtet waren. Sie bleiben nebst Allem, was ihr persönliches Eigenthum ist, hier zurück, wir aber brechen innerhalb einer Viertelstunde nach Monclova auf.« Dieser Befehl wurde unter allgemeinem Jubel entgegen genommen. Man schaffte die Gefangenen nach ihrem Gewahrsam zurück, und der Lieutenant begab sich nach seinem Zimmer, um seinen Bericht an Juarez schleunigst abzufassen und abzusenden.
Dann nahm er herzlichen Abschied von den Bewohnern der Hazienda und sprengte mit seiner Schwadron davon. Als Verdoja sich mit Pardero wieder im Zimmer eingeschlossen sah, war sein Seelenzustand ein unbeschreiblicher. Sein Blut kochte förmlich in den Adern; er fühlte sich auf eine Weise gedemüthigt, welche die grimmigste Rache herausforderte; doch hatte er Selbstbeherrschung genug, sich gegen Pardero nichts merken zu lassen. Dieser stand am Fenster und blickte hinaus. »Zwei Vaqueros stehen draußen,« sagte er, »bis an die Zähne bewaffnet. Man glaubt, wir möchten ausreißen. Aber, Verdoja, erklären Sie mir Ihr Verhalten!« »Wie?« fragte dieser, scheinbar ruhig. »Wir sind auf eine geradezu unerhörte Weise gedemüthigt worden, und Sie haben sich dem Beschlusse gefügt. Ich beginne, an der Wahrheit dessen, was Sie mir sagten, zu zweifeln. Sie sprachen von großer Protektion, von nachhaltiger Belohnung – –?« »Pardero, soll ich Sie einen Schwachkopf nennen? Sehen Sie nicht ein, daß die ganze Sache nur eine vorübergehende Episode, ein allerdings unangenehmes Intermezzo ist, welches uns aber gleichgiltig sein muß? Dieser neugebackene Kapitän hat allerdings das Recht, so zu handeln, wie er gehandelt hat, aber was wir heute verlieren, werden wir hundertfach wieder gewinnen. Ich habe den Befehl, gewisse Personen unter allen Umständen unschädlich zu machen, und dies wird geschehen, obgleich ich die gegenwärtige Unannehmlichkeit zu tragen habe. Der Lohn wird dann um so größer sein.« »Sind Sie dessen gewiß?« »Vollständig!« »Aber wie wollen wir Personen unschädlich machen, in deren Gewalt wir uns befinden! Sie können uns ja tödten!« Verdoja hegte zwar dieselbe Befürchtung, aber er durfte es sich nicht merken lassen. Er gab sich Mühe, Pardero darüber zu beru-
higen, was ihm schließlich auch gelang. Er wußte ganz genau, daß er bei Juarez nichts mehr zu hoffen habe; er wußte ebenso genau, daß er bei der Gegenpartei doch nur Mißtrauen und in Folge dessen heimliche Beaufsichtigung finden werde, und so nahm er sich im Stillen vor, vom Militärdienst ganz abzusehen und nur zweien Aufgaben zu leben. Die eine Aufgabe war, sich die Ländereien zu verdienen, welche Cortejo ihm versprochen hatte, und die andere richtete sich auf Emma, durch deren Besitz er sich schadlos halten wollte für die Verachtung, die ihm geworden war. Dabei brauchte er der Hilfe; er mußte einen Gefährten haben, auf dessen Treue und Anhänglichkeit er rechnen konnte, und das sollte Pardero sein. Darum suchte er ihn zu umstricken; darum log er ihm vor, daß er auf einen höheren Befehl handele, und darum sagte er auch jetzt: »Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit dem, was geschehen ist. Der Dienst war mir ein Hinderniß, meine schwierige Aufgabe zu erfüllen; nun ist dieses Hinderniß beseitigt und ich kann ohne Störung handeln. Wissen Sie, wie hoch Sie in meiner Schuld stehen, Pardero?« »Hm, es werden einige Tausend Silberpiaster sein.« »Die Sie mir niemals wiedergeben könnten, wenn Sie bleiben, was Sie sind. Helfen Sie mir, meine Aufgabe zu lösen, so zerreiße ich Ihre Schuldscheine und Sie haben noch extra auf Beförderung und Belohnung zu rechnen. Außerdem giebt es einen noch süßeren und angenehmeren Preis: Karja, die schöne Indianerin!« »Donnerwetter! Wenn Sie diese Versprechungen halten, so bin ich ganz der Ihrige!« »Sie können sicher darauf rechnen. Was die Befürchtung betrifft, daß man uns tödten werde, so ist dieselbe vollständig absurd. Wir werden entlassen werden und dann handeln.« »Beabsichtigen Sie, die drei Sennores Sternau, Mariano und Helmers zu tödten?«
»Ich soll sie unschädlich machen, also tödten, denn nur der Todte ist unschädlich. Bis jetzt lag auch nur ihr Tod in meiner Absicht, aber nach Dem, was uns heute angethan wurde, wäre der Tod eine viel zu gelinde Strafe für sie.« Es legte sich ein Zug wahrhaft diabolischer Freude um seinen Mund; er schwebte bereits im Vorgefühle seiner Rache und auch Pardero sagte: »Da haben Sie allerdings recht. Die Schande, welche man uns heute bereitete, bedarf einer geradezu raffinirten Bestrafung. Was werden Sie thun?« »Ganz dasselbe, was sie jetzt mit uns gethan haben; ich werde sie gefangen nehmen und sie an einen Ort bringen, an welchem sie alle Freuden dieser Gefangenschaft bis zur Neige auskosten können. Nicht weit von meiner Hazienda giebt es nämlich eine altmexikanische Opferstätte; es ist das eine Pyramide, welche in ihrem Inneren von Gängen und Höhlen durchzogen wird, welche ich nur kenne; es ist das ein Geheimniß, welches sich nur in meiner Familie fortgeerbt hat. In diesen Höhlen werden die Gefangenen wohnen und verschmachten. In diese Höhlen werden wir auch die beiden Sennoritas Emma und Karja bringen, und dort werden wir sie ja zwingen können, uns im reichlichsten Maße und in schönster Weise das zu gewähren, was sie uns hier verweigerten.« Dem leidenschaftlichen Pardero war diese letztere Verheißung die liebste. »Sie sind ein Teufel, Verdoja,« lachte er cynisch, »aber ein sehr angenehmer Teufel!« »Ja, wir werden die beiden Teufels sein, welche die zwei Engel überwinden. Doch werde ich hierbei nicht nur durch das Gefühl der Rache und Liebe geleitet, sondern es ist auch eine Berechnung, welcher ich folge. Man hat mir Großes versprochen, sobald ich die drei Männer unschädlich mache. Wird man das Versprechen halten? Ich bin überzeugt davon; aber in so unruhigen Zeiten, wie die
jetzigen sind, muß man vorsichtig sein. Wenn ich die Drei tödte und man verweigert mir den Lohn, so kann ich nichts machen, ich bin einfach der Betrogene, leben sie aber noch, befinden sie sich in meinem Gewahrsam, so kann ich kräftig auftreten und meine Bezahlung fordern. Sie sehen, daß ich sehr sorgfältig in meinem und Ihrem Interesse handele.« »Ja, Sie sind scharfsinnig, vorsichtig und schlau; das giebt mir Vertrauen zu Ihnen und läßt mich überzeugt sein, daß unsere Pläne gelingen werden. Sie können von jetzt an vollständig auf mich rechnen. Aber wir zwei sind doch nicht genug, drei starke Männer und zwei Mädchen zu entführen.« »Das macht mir keine Sorge. In unserem gesegneten Mexiko giebt es Männer genug, welche für eine Hand voll Silberdollars bereit sein werden, sich unter unser Kommando zu stellen.« »Und die Verfolgung? Denn verfolgen wird man uns!« »Pah, davor ist mir nicht im Geringsten bange. Wir reiten durch die Wüste Mapimi, und dahin folgt uns Keiner; darauf können Sie sich verlassen.« »Durch die Mapimi!« sagte Pardero schaudernd. »Da gehen wir ja zu Grunde!« »Keine Sorge. Ich kenne diese Wüste wie meine Tasche. Sie besteht nicht aus nur Sand und Felsen, wie man erzählt, sondern man stößt auch auf bedeutende Wälder, in denen man genug Wasser und Früchte findet, um nicht zu verschmachten.« Während diese beiden Männer ihren Anschlag besprachen, waren sie der Gegenstand einer Berathung, welche im Speisesaale stattfand. Man besprach sich darüber, was zu geschehen sei. Mariano rieth, sie einfach zu erschießen, aber die Anderen waren dagegen. Die beiden Gefangenen hatten zwar auf Mord gesonnen, aber denselben nicht ausgeführt. Uebrigens wußte man noch nicht, was der berühmte Juarez zu der ganzen Angelegenheit sagen werde. Es war besser, sie ohne Blutvergießen loszuwerden, da sie ja durch
den Verlust ihrer Hände genug bestraft seien, und so wurde beschlossen, ihnen nur die Waffen zurück zu behalten, sie aber nach zwei Tagen zu entlassen. Dies Letztere geschah, damit sie nicht Gelegenheit fänden, vor dem heute abgegangenen Eilboten bei Juarez einzutreffen. Was ihre drei gefangenen Mitschuldigen betraf, so wollte Sternau das ihnen gegebene Versprechen erfüllen. Sie erhielten ihre Pferde, Messer und Lasso’s; die Büchsen und Pistolen wurden ihnen abgenommen. Dann ließ man sie reiten, aber unter der strengen Androhung, daß ein Jeder sofort erschossen werde, wenn er sich noch einmal in der Nähe der Hazienda erblicken lasse. Am dritten Tage wurden Verdoja und Pardero aus ihrem Gewahrsame geholt und vor die versammelten Bewohner der Hazienda gestellt. Sternau machte ihnen den Beschluß bekannt, welcher über sie gefaßt worden war, und dann wurden sie entlassen. Sie ritten davon, ohne ein einziges Wort gesagt oder geantwortet zu haben, und setzten sich das Städtchen Nombre de Dios zum ersten Ziele. Dort trugen sie Sorge, ihre Uniform mit einer gewöhnlichen Kleidung zu verwechseln, und dann waren sie verschwunden. Nach dieser Zeit der Aufregung folgten auf der Hazienda del Erina einige Wochen ruhigen Stilllebens. Sternau wollte nicht eher fortgehen, als bis der Patient hergestellt sei; der geringfügigste unvorhergesehenste Umstand konnte ja dessen Genesung, sogar sein Leben in Frage stellen. Nach vierzehn Tagen war der Kranke bereits so weit, daß er sein Bett verlassen konnte; nach weiteren acht Tagen durfte er sich im Garten ergehen und als noch eine Woche vergangen war, versuchte er sich bereits in weiteren Fußtouren. Geistig war er vollständig wieder hergestellt, aber seit dem Augenblicke, an welchem sein Gedächtniß von Neuem erwacht war, lebte in ihm der Gedanke, sich an Alfonzo de Rodriganda zu rächen. Darum ließ er die Freunde nicht fort; er wollte sich ihnen auf ihrem Rachezuge anschließen, und da er dies nicht konnte,
bevor er sich an das Reiten gewöhnt hatte, so mußten sie nothgedrungener Weise warten, bis dies geschehen war. Jetzt war ihm die Erschütterung, welche der Gang des Pferdes auf sein Gehirn hervorbrachte, noch zu unerträglich; er konnte sich an dieselbe nur durch langsam fortschreitende Uebung gewöhnen. So vergingen noch einige Wochen. Während dieser Zeit stand Mariano mit seiner Geliebten in brieflichem Verkehre. Er hatte ihr bereits einige Male geschrieben und auch ihre Antworten erhalten. Sie ermunterte ihn, sich der Führung Sternau’s auch fernerhin anzuvertrauen und versicherte ihn ihrer innigsten Liebe und ewigen Treue. Sternau hatte in Vera Cruz, ehe er den Ritt nach Mexiko antrat, seinem jungen Weibe geschrieben und sie gebeten, ihren nächsten Brief nach Mexiko an ihre Freundin Amy Lindsay zu richten, durch deren Hand er denselben auf alle Fälle erhalten werde, er möge sein, wo er wolle. Heute nun erhielt Mariano abermals ein Schreiben von der Geliebten; das Couvert hatte einen ziemlichen Umfang, und als er es öffnete, enthielt es auch einen an – – Sternau adressirten Brief. Dieser Brief war aus der Heimath, aus Rheinswalden gekommen und Sternau öffnete ihn, als er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, mit vor Freude zitternden Händen. Der Inhalt strömte über von Glück und Liebe; er füllte mehrere eng geschriebene Bogen und enthielt auch ein Blatt an Kapitän Helmers, dessen eine Seite von seiner Frau und die andere von dem kleinen Kurt beschrieben war. Rosa erzählte Alles, was sich während Sternau’s Abwesenheit zugetragen hatte, kam dann auf ihre eigene Angelegenheit zu sprechen und erwähnte dabei, daß der Staatsanwalt sich alle Mühe gebe, aber bisher noch keinen weiteren Erfolg zu verzeichnen habe. Das größte Glück aber gewährte dem Leser der Schluß des Schreibens, welcher in Worten, bei denen die Wangen der schönen Schreiberin
sicherlich vor Glück, Freude und wonniger Scham erglüht waren, ihm eine Kunde brachten, bei deren Lesen er einen lauten Jubelruf ausstieß und das Papier zehnmal und zehnmal küßte. Die Worte lauteten: »Und nun noch Eins, mein Carlos, was ich Dir mit entzücktem, wonneschauerndem Herzen mittheile, obgleich eine mädchenhafte Regung mir gebieten will, es Dir zu verschweigen. Sollte Deine Reise länger dauern, als ich hoffe und erwarte, so findest Du Deine Rosa nicht mehr allein, sondern sie eilt Dir entgegen, auf dem Arme einen kleinen Carlico oder eine allerliebste Rosilla, denn anders als Carlos oder Rosa werden wir das geliebte Wesen, welches mich für die Zukunft begeistert, doch nicht nennen. Freue Dich mit mir, und nimm die Millionen Küsse, welche Dir über das weite Meer hinübersendet Deine unendlich glückselige Rosa.« Und wie selten eine Dame schreiben kann, ohne ein Postscriptum anzufügen, so folgte auch hier ein solches. Es lautete: »P. S. – Du wirst nicht zürnen, daß ich dieselbe Botschaft auch meiner Amy mitgetheilt habe. Sie ist meine einzige Freundin gewesen und wird ganz glücklich sein, zu erfahren, welchen Wonnen ich entgegensehe. Rosa.« Sternau faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Brusttasche, damit er auf seinem Herzen ruhe, und ging hinunter. Er fing sich das wildeste Pferd ein, sprang auf und jagte in die weite Savanne hinein. Die Hazienda war zu klein für sein Glück. Und dennoch, als er zurückkehrte, war das Erste, was er that, er zog sich wieder
in sein Zimmer zurück, um den Brief aber- und abermals zu lesen und zu küssen. Es giebt einen Himmel bereits hier auf Erden, und dieser Himmel ist nur zu finden in einem Herzen, welches liebt und weiß, daß diese Liebe beglückt, weil sie erwidert wird. Anton Helmers, der Patient, trug bis jetzt auf dem Loche, welches in seine Schädeldecke gebohrt worden war, ein Stück gekochtes Leder, welches später mit einer Goldplatte vertauscht werden sollte. Er machte täglich vorsichtige Reitausflüge mit Sternau und erstarkte dabei so weit, daß er bald bedeutendere Strecken zurücklegen konnte, vorausgesetzt, daß er ein gutes Pferd hatte, welches einen sanften Gang besaß. Sternau setzte den Tag der Abreise fest; man wollte nur noch eine Woche in der Hazienda del Erina bleiben. Diese Wochen waren für Emma und den Geliebten eine Zeit des Glückes gewesen und Beide hegten eine unendliche Dankbarkeit gegen Sternau, dem sie dieses Glück ja ganz allein zu verdanken hatten. Petro Arbellez war von Juarez, dem später so berühmten Präsidenten, zum Verwalter der Hazienda Vandaqua ernannt worden und daher oft drüben in der Nachbarbesitzung abwesend. Eines Tages war seine Anwesenheit wieder dort nothwendig geworden; er wollte aber seinen künftigen Schwiegersohn vor dessen Abreise noch möglichst genießen und so bat er ihn, ihn zu begleiten. Da bereits die Dämmerung nahe war, so sagte er, daß sie erst am nächsten Tage zurückkehren würden. Beide ritten ab. Kurze Zeit, nachdem sie die Hazienda verlassen hatten, sah Sternau von seinem Fenster aus einen Reiter am Horizonte auftauchen, welcher sich der Besitzung sehr schnell näherte. Als er näher kam, erkannte der Deutsche, daß es ein Lanzenreiter und zwar ein Offizier sei. Sternau ging rasch zu den Uebrigen, welche sich bereits im Speisesaale versammelt hatten, und meldete ihnen die Ankunft des Fremden.
Dieser ritt bereits nach kurzer Zeit in den Hof ein und wurde von Emma, als der Dame des Hauses, mit Höflichkeit empfangen. »Hier ist die Hazienda del Erina?« fragte er nach dem ersten Gruße. »Ja,« antwortete ihm Emma. »Deren Besitzer Petro Arbellez heißt?« »So heißt er; ich bin seine Tochter.« »Dann erlauben Sie mir die Mittheilung, Sennorita, daß ich ein Courier bin, der mit Depeschen von Juarez nach Monclova geschickt wurde. Juarez sagte mir, daß Sennor Arbellez mir gern Gastfreundschaft erzeigen würde, wenn ich mein Ziel vor der Nacht nicht erreichen könnte.« »Das versteht sich ja ganz von selbst, Sennor. Zwar ist Vater nicht anwesend; er kehrt erst morgen zurück, aber Sie werden Alles finden, was Sie zu Ihrer Bequemlichkeit bedürfen. Bitte, lassen Sie Ihr Pferd dem Vaquero über, und folgen Sie mir nach dem Saale!« Er folgte ihr mit dem Anstande und in der Haltung eines Edelmannes nach oben, wo sie ihn den dort anwesenden Herren vorstellte. Er mußte sich setzen und sofort an dem Mahle theilnehmen. An der Unterhaltung betheiligte er sich wenig und als Sternau ihn nach dem gegenwärtigen Aufenthalte von Juarez fragte, sagte er ausweichend: »Diplomatische und kriegerische Gründe verbieten zuweilen die Beantwortung einer solchen Frage, Sennor. Juarez will nicht wissen lassen, wo er sich befindet.« Das klang befremdlich. Sternau warf einen forschenden Blick auf den Sprecher und sah dann von einer Unterhaltung mit ihm gänzlich ab. Der Fremde erklärte nach einiger Zeit, zur Ruhe gehen zu wollen, da er in der Frühe wieder aufbrechen müsse, und so wurde ihm von der alten Maria Hermoyes sein Zimmer angewiesen. Dort angekommen aber entkleidete er sich nicht, um schlafen zu gehen,
sondern er streckte sich auf seine Hängematte und brannte eine Cigarrette an. Als diese zu Ende, nahm er eine zweite, dritte und vierte; er rauchte fort und horchte dabei in den Corridor hinaus. So kam die Mitternacht heran. Er nahm jetzt das Licht und trat zum Fenster, vor welchem er mit demselben einen Kreis beschrieb. Dies that er noch zweimal, dann löschte er es aus. Einige Minuten später wurden einige Sandkörnchen gegen das Fenster geworfen, und er öffnete. Als der Offizier den Speisesaal verlassen hatte, kam das Gespräch erst in ordentlichen Fluß. Seine Anwesenheit hatte nicht wohlthuend gewirkt. Sein Auge hatte etwas Stechendes, seine Stimme etwas Scharfes, Zurückweisendes gehabt. Am Nachdenklichsten war Sternau gestimmt. Es sprach ein Etwas in ihm gegen diesen fremden Offizier, aber er konnte sich nicht klar werden, was es war. Die Uniform hatte ihm nicht gepaßt, es war gewesen, als ob sie eigentlich für einen Anderen gemacht worden sei; weiter aber ließ sich nichts sagen. Als man sich getrennt hatte, um zur Ruhe zu gehen, und Sternau sich in seinem Zimmer befand, schritt er nachdenklich in demselben auf und nieder. Er fühlte eine Unruhe in sich, die er nicht begreifen konnte; nur das wußte er, daß sie mit der Anwesenheit dieses Offiziers zusammenhing. War der Mann wirklich Offizier? Verdoja und Pardero waren mit Rachegedanken fortgegangen, und seit Arbellez die Hazienda Vandaqua zu verwalten hatte, war die Hazienda del Erina von Vaqueros entblößt. Sternau beschloß, wachsam zu sein. Er schlich sich hinaus auf den Corridor und horchte an der ür des Fremden. Dieser mußte schlafen, denn es ließ sich nicht das mindeste Geräusch vernehmen. Er schlich sich also wieder zurück und begab sich hinunter in den Hof, um da einen Rundgang zu machen und zu sehen, ob Alles in Ordnung sei. Er ahnte nicht, was ihm bevorstand.
Von dem Städtchen Nombre de Dios her kam nämlich, als die Sonne im Untergehen war, eine bewaffnete Reiterschaar. Sie zählte fünfzehn Mann und an ihrer Spitze ritten – Verdoja und Pardero. Die Männer ritten der Hazienda del Erina entgegen und hielten, nachdem es längst dunkel geworden war, bei dem Walde an, an dessen äußerster Ecke sich der Stein befand, welcher dem Kapitän als Postoffice gedient hatte. Dort stiegen sie ab, führten die iere zwischen die Bäume und banden sie an. Drei Mann blieben als Wache zurück, und die anderen Zehn folgten ihren beiden Anführern nun zu Fuße nach der Hazienda. Verdoja und Pardero flüsterten leise. »Es war doch gut, daß sich unsere Uniformen noch in der Stadt befanden,« meinte der Erstere; »so konnte sich Enrico als Spion einschleichen, und wir sind von Allem unterrichtet, ehe wir beginnen.« »Wenn man ihn nur nicht durchschaut!« sagte Pardero. »Ich habe keine Sorge. Er ist ein gewandter Hallunke, der sich durch keinen Blick, keine Miene verrathen wird. Ich habe die Ahnung, daß Alles glücklich gelingen wird.« Es war Neumond und also dunkel. Die Männer umschlichen die Hazienda und kamen an deren hintere Seite als Mitternacht in der Nähe war. »Da droben sind die Fremdenzimmer; da droben wohnt er,« sagte Pardero leise. »Er wird uns bald das Zeichen geben. Wollen wir einstweilen übersteigen?« »Ja. Wir verstecken uns in einer dunklen Ecke.« Die Mannschaften mußten draußen halten bleiben und sich hinter den Palissaden niederducken; die Beiden aber stiegen über dieselben hinweg und schlichen sich in die nahe Ecke. Kaum hatten sie dort Posto gefaßt, so hörten sie den Sand des Hofes leise knirschen. Sternau war es, welcher daherkam. »Nieder, ganz nieder! Es kommt Jemand!« flüsterte Verdoja.
Sternau kam langsam und leise herbei, blieb an der Ecke des Hauses stehen, horchte eine Weile nach der anderen Seite hin und schritt dann weiter. »Er war es!« sagte Pardero leise. »Was thun wir?« »Drauf! Ich schlage ihn mit dem Kolben nieder. Droben macht er uns mehr Arbeit als hier, wo wir ihn überraschen.« »Aber wenn man ihn dann vermißt?« »Man wird ihn nicht vermissen. Es sind Alle zu Bette, und er ist auf eigenen Antrieb recognosciren gegangen. Aufgepaßt!« Verdoja nahm sein Doppelgewehr bei den Läufen und schlich sich an den Palissaden hin, Sternau nach. Dort an den Palissaden war so reichlich Gras aus dem Sande hervorgewachsen, daß man seine Schritte nicht hörte. Hart bei Sternau angekommen, duckte er sich einen Augenblick nieder, um die Figur des Letzteren und deren Entfernung von ihm gegen das Sternenlicht genau abzumessen, dann sprang er vorwärts. Sternau’s Ohren waren scharf; er hörte hinter sich ein leises Geräusch und drehte sich um; aber gerade in diesem Augenblicke krachte ein fürchterlicher Kolbenschlag auf seinen Kopf hernieder; er stürzte sofort zusammen, ohne einen Laut auszustoßen. »Pardero!« sagte der Ex-Kapitän halblaut. »Hier!« »Kommen Sie!« »Haben Sie ihn?« »Ja; ich binde ihn bereits. Lassen Sie sich einen Knebel herüberwerfen!« Nach einigen Augenblicken brachte Pardero den Knebel. »Hier!« sagte er. »Das ist günstig abgelaufen. Dieser Kerl war der Einzige, den man zu fürchten hatte; nun wir ihn haben, werden uns die Anderen keine große Arbeit machen. Ah, dort giebt Enrico das Zeichen!«
Man sah eben jetzt den dreimaligen Lichtkreis, welchen der angebliche Offizier an seinem Fenster beschrieb; dann verlöschte das Licht desselben. »Wo bringen wir Sternau unter?« fragte Pardero. »Wir legen ihn ganz einfach in die Ecke, in welcher wir uns befanden, dort ist er sicher. Er ist fest gebunden; vielleicht habe ich ihn gar erschlagen; entkommen aber kann er uns auf keinen Fall.« Das wurde bewerkstelligt, und dann warf Verdoja einige Sandkörner gegen das Fenster, hinter welchem vorher das Lichtzeichen erschienen war. »Enrico!« »Ja,« antwortete es leise von oben. »Alles in Ordnung?« »Alles!« »Den Faden herab!« Während Enrico eine Schnur aus dem Fenster herabließ, ließ Pardero sich von einem der draußen harrenden Männer eine Strickleiter geben, welche zu diesem Behufe mitgebracht worden war. Sie wurde an die Schnur gebunden, an derselben emporgezogen und dann oben befestigt. »Sie wird halten!« flüsterte Enrico von oben herab. Verdoja stieg empor und als er an das Fenster gelangte, sagte er: »Wir sind glücklich gewesen. Wir haben Sternau schon.« »Ah! Wie denn?« »Er schlich um das Haus und da habe ich ihn niedergeschlagen und gefesselt.« »Das ist gut. Er ist ein starker Mensch und wegen ihm war es mir bange. Er muß durch die vordere ür gegangen sein und diese steht auf. Da bedürfen Sie der Strickleiter nun eigentlich gar nicht.« »O doch. Wenn wir hier bei Dir einsteigen, sind wir sofort oben, während wir hier im Flur und auf der Treppe Geräusch erregen
könnten. Aber ich will zwei Mann an das Portal beordern, damit Niemand entkommen kann.« Verdoja stieg wieder die Leiter hinab und befahl seinen Leuten, sich leise über die Palissaden herüber zu schwingen. Als dies geschehen war, gebot er ihnen, Einer nach dem Anderen an der Leiter empor in das Zimmer Enrico’s zu steigen. Zwei aber nahm er mit sich und führte sie geräuschlos um die Ecke nach der Vorderfronte des Gebäudes, wo er die ür wirklich nur angelehnt fand. Hinter ihr mußten diese Beiden sich aufstellen, und sie erhielten den Befehl, darauf zu sehen, daß kein Bewohner des Hauses dasselbe verlasse. Nun kehrte Verdoja wieder zur Strickleiter zurück, stieg empor, und dann wurde sie wieder empor genommen, worauf man das Fenster schloß. Bis jetzt war Alles gut abgelaufen. Man war in die Hazienda gekommen, ohne von den in ihrer Umgebung lagernden Vaqueros bemerkt worden zu sein; man hatte sich bereits des gefürchtetsten Gegners bemächtigt, und nun galt es, das Uebrige möglichst geräuschlos zu vollenden. »Der Haziendero ist nicht daheim,« flüsterte Enrico. »Wo ist er?« fragte Verdoja. »Auf Vandaqua.« »Allein?« »Sein Schwiegersohn ist mit.« »Alle Teufel! Hat er einen Schwiegersohn?« fragte der Exkapitän hastig. »Ich wollte sagen der Verlobte seiner Tochter.« »Verlobt ist sie? Mit wem?« »Sie nannte ihn Sennor Antonio; er muß, wie ich hörte, sehr krank gewesen sein.« »Ah, dieser? Pah! Und er ist auf Vandaqua?« »Ja.«
»Immerhin! Ihn brauchen wir nicht. Aber Mariano ist da?« »Ja.« »Und Sennor Helmers?« »Ja.« »Auch Sennorita Emma und die Indianerin?« »Ich habe Beide gesehen.« »Gut. Ich kenne die Zimmer, in denen sie Alle schlafen. Hast Du das Blendlaternchen?« »Ja. Soll ich anbrennen?« »Gewiß. Folgt mir!« Sie öffneten leise die ür des Zimmers und traten hinter einander hinaus auf den Corridor, über welchen Enrico einen Strahl seiner Laterne fallen ließ, damit sie sich orientiren konnten; dann steckte er sie wieder in die Tasche zurück. Verdoja führte die Leute zunächst vor die ür Mariano’s, die sie ganz geräuschlos erreichten. Er klopfte einige Male leise an, bis von drinnen eine Stimme fragte: »Wer ist es?« »Ich, Sternau!« antwortete er flüsternd, aber so, daß es drinnen gehört werden konnte. »Ah, Du! Was giebt es?« »Mach schnell einmal auf! Ich habe Dir etwas sehr Nothwendiges zu sagen.« »Gleich!« Man hörte drin das Lager rascheln. »Du brauchst kein Licht anzubrennen!« flüsterte der vorsichtige Verdoja. Mariano zog die nöthigsten Kleidungsstücke an und öffnete. »Komm herein,« sagte er leise. Er war neugierig, zu erfahren, was Sternau von ihm wolle; er hörte einen Mann eintreten, aber nicht, daß ihm Mehrere folgten.
»Es muß etwas sehr Wichtiges sein,« meinte er. »Willst Du nicht die ür schließen?« In demselben Augenblicke wurde er bei der Gurgel gepackt; zwei Hände schlangen sich um seinen Hals und drückten ihm die Kehle so zusammen, daß ihm der Athem verging. Er konnte keinen Laut ausstoßen. Er wollte sich wehren, aber er wurde jetzt von vielen kräftigen Armen ergriffen; feste Riemen wanden sich ihm um Leib, Arme und Beine, und ein Knebel schloß ihm den Mund; dann erst ließen die beiden Hände von seinem Halse ab – er war gefangen. »Den haben wir. Nun zu Helmers!« sagte Verdoja. Bei Helmers wurde ganz in derselben Weise und mit demselben Erfolge verfahren. Sternau, Mariano und Helmers waren gefangen, ohne daß Jemand im Hause erwacht wäre. »Jetzt nun zu der Sennorita,« sagte Verdoja. Auch an Emma’s ür wurde leise geklopft. »Mein Gott, wer ist draußen?« fragte sie. Verdoja gab seiner Stimme den weichsten Flüsterklang, als er antwortete: »Ich bin es, Karja!« »Was willst Du?« »Ich muß mit Dir sprechen. Oeffne, Emma!« »Warum?« »Nicht so laut! Es ist wegen dem fremden Offizier. Ich weiß nicht, ob ich Sennor Sternau wecken soll.« Emma ging in die Falle. »Ah, es giebt eine Gefahr!« sagte sie. »Warte, ich öffne sogleich!« Man hörte, daß sie sich vom Lager erhob; sie kam an die ür, schob den Riegel zurück und sagte mit leiser, aber vor Besorgniß zitternder Stimme: »Komm herein! Was ist es denn?« Verdoja huschte hinein und hatte sie im nächsten Augenblicke bei der Kehle. Sie brach ohne allen Versuch der Gegenwehr zusam-
men; der fürchterliche Schreck hatte sie ohnmächtig gemacht; sie lag am Boden, ohne sich zu regen. Verdoja fesselte und knebelte sie selbst; dann ging man nach dem Schlafzimmer der Indianerin. Auch hier hatte die List denselben Erfolg, nur daß Karja nicht in Ohnmacht fiel. Sie war die Tochter eines Indianerhäuptlings und besaß nicht die zarten Nerven einer verweichlichten Mexikanerin. Jetzt waren alle Personen, die man haben wollte, in den Händen der Räuber. Die ganze erste Etage befand sich im Besitze derselben. Verdoja und Pardero wußten, daß unten im Parterre einige Räumlichkeiten lagen, in denen Vaquero’s schliefen. Sie wollten sich ihren Raub nicht gern streitig machen lassen und verboten daher jede Plünderung. Je vier ihrer Begleiter wurden zu Mariano und Helmers beordert, um ihnen ihre Kleider anzuziehen; Verdoja aber begab sich zu Emma, während Pardero die Indianerin aufsuchte. Als Verdoja das Zimmer der Sennorita betrat, war dasselbe noch dunkel. Er machte Licht und brannte die Kerze an. Emma lag noch ohnmächtig am Boden. Sie war nur mit einem leichten, feinen Hemde bekleidet, und die Augen des Wüstlings verschlangen die offenen Reize mit gierigen Blicken. Aber nicht jetzt wollte er sie genießen; jetzt war keine Muse dazu. Er befreite das Mädchen von ihren Banden und zog ihr die Kleider an, welche sie am Tage vorher getragen hatte; sie lagen noch auf dem Stuhle; dann suchte er aus dem Schranke noch Einiges hervor, was ihm bei einem weiten Ritte dienlich schien, und nun nahm er bei ihr Platz, um ihr Erwachen zu erwarten. Pardero fand Karja nicht leblos am Boden liegend. Sie wälzte sich hin und her und gab sich alle Mühe, sich ihrer Fesseln zu entledigen. Er zog die ür hinter sich zu und brannte die Kerze an. Da bot sich ihm ein Anblick, der ganz geeignet war, alle seine Sinne in Aufruhr zu versetzen. Karja hatte ohne alle Bekleidung im Schlafe gelegen.
Nun lag sie gefesselt am Boden, eine Schönheit preisgebend, so voll und üppig, so sinnberückend, wie Pardero bei all den Orgien, welche er mit gefeiert hatte, noch keine gesehen hatte. Er warf sich auf sie. Er umarmte und küßte sie auf die Wangen, den Hals und den Busen; er wollte die herrlichen Reize betasten und prüfen, aber das Mädchen wälzte sich hin und her, daß ihm sein Vorhaben nicht gelang. Da sprang er auf und griff nach ihrem Hemde. »Gut, ich werde Dich jetzt nicht belästigen,« sagte er; »aber mein wirst Du, und wenn ich Deinetwegen das Leben verlieren sollte. Stehe auf, ich kleide Dich an!« Er faßte sie an und stellte sie empor. Jetzt sah er noch vielmehr als vorher, welche Schönheit er vor sich hatte. Seine Augen wurden größer, seine Lippen zitterten, und er sagte, sich kaum beherrschend: »Du bist mehr als eine Venus; Du bist eine Kleopatra!« Aber die Zeit drängte. Er griff nach ihrem Hemde und legte es ihr an, ihre Fesseln vorsichtig immer so lösend, daß sie keine Freiheit erhielt. So kleidete er sie vollständig an. Sie ließ es jetzt ruhig geschehen. Erst hatten ihre Augen mit unendlicher Wildheit auf ihn geblickt und geblitzt, jetzt aber hielt sie dieselben geschlossen, es schien ihr ganz gleichgiltig zu sein, was mit ihr geschah, und als er ihre Hand berührte, fühlte er, daß diese vollständig kalt war. Da öffnete sich die ür und Verdoja blickte herein. »Sind Sie fertig?« fragte er. »Ja.« »Nehmen Sie noch einige Tücher und Decken. Es geht jetzt fort.« Auch die beiden männlichen Gefangenen hatten ihre Kleidung bekommen. Sie waren so gefesselt und eingewickelt, daß sie kein Glied zu regen vermochten, und wurden nun hinunter in den Hof getragen. Verdoja und Pardero brachten die Mädchen nach.
Das geschah so leise und vorsichtig, daß es von keinem Menschen gehört wurde. Nun öffnete man ebenso leise das große or und holte Sternau herbei. Es war dunkel und man sah also nicht, ob er die Augen geöffnet hielt; eine Bewegung bemerkte man nicht an ihm. Jetzt nahmen je Zwei und Zwei einen Gefangenen auf die Achseln und trugen sie unhörbar davon. Verdoja blieb zurück, um das or zu verschließen und über die Palissaden hinauszuspringen und den Anderen nachzufolgen. Seit sie die Hazienda erreicht hatten, war eine Stunde vergangen; eine halbe Stunde später erreichten sie ihre Pferde im Walde. Für die fünf Gefangenen hatte man fünf Pferde mitgebracht, für die Mädchen sogar Damensättel. Man fesselte sie auf die Pferde fest, und dabei zeigte es sich, daß Sternau wieder zu sich gekommen war. Jetzt theilten sich die fünfzehn Mann in fünf Gruppen. Je drei Mann hatten einen Gefangenen oder eine Gefangene bei sich. Sie trennten sich und ritten in ganz und gar verschiedenen Richtungen davon. Dies war eine List, welche geradezu raffinirt genannt werden konnte, denn sie erschwerte eine Verfolgung auf das Aeußerste. Verdoja hatte diese Trennung angerathen. Erst nach einer vollen Tagereise sollten sich je zwei Abtheilungen zusammentreffen, und diese je sechs Mann sollten dann am Ende der zweiten Tagereise zu ihm stoßen. Die Punkte, an denen dies geschehen sollte, waren vorher bestimmt, und ein Jeder von den Räubern hatte einige Tage vor dem Ueberfalle den Weg, den er zurückzulegen hatte, ganz genau recognoscirt. So war an einem Gelingen kaum zu zweifeln. Zwei Punkte freilich fielen hierbei gegentheilig in’s Gewicht. Verdoja lief bei dieser Zersplitterung Gefahr, von seinen eigenen Helfershelfern betrogen zu werden, und außerdem konnten bei einem Ueberfalle drei Mann doch nicht denselben Widerstand leisten, wie fünfzehn.
Das überlegte er sich erst, als er mit den Seinen am ändern Morgen den ersten Halt machte. Er hatte Emma bei sich; die anderen Gefangenen waren Pardero und den Mexikanern anvertraut worden. Die erste Tagereise führte ihn auf den Kamm des Gebirges, welches als ein eil der mittelamerikanischen Cordilleren sich von Norden nach Süden durch das Land zieht. Am zweiten Morgen ritt er am westlichen Abhange dieses Gebirges herab und erreichte am Nachmittage den Rand der Wüste Mapimi, welche als die verrufenste Strecke Mexikos bekannt ist. Hier war das Rendezvous, wo die vier anderen Truppen zu ihm stoßen sollten, und nun erwartete er mit ängstlicher Spannung den Erfolg der listigen Maßregel, welche er getroffen hatte. Bereits eine Stunde nach seiner Ankunft sah er einen Reitertrupp von Süden kommen. Als derselbe näher kam, zählte er acht Männer, und sein Herz wurde leicht, denn diese Leute gehörten zu ihm. Es zeigte sich, daß es die vereinigten Abtheilungen waren, welche Sternau und Mariano zu transportiren hatten. Sie wurden von ihm mit großer Befriedigung empfangen. Die beiden Gefangenen waren auf eine geradezu unmenschliche Weise gefesselt. Nur die Knebel waren ihnen abgenommen, so daß sie wenigstens Athem holen konnten. Gegen Abend trafen zur großen Freude Verdoja’s auch die Uebrigen mit Karja und Helmers ein. Es war keine einzige der fünf Abtheilungen verfolgt oder beunruhigt worden, und so schloß Verdoja, daß er von jetzt an seinen Ritt mit Sicherheit fortsetzen könne. Es wurde ein Lager errichtet. Man brannte ein Feuer an und aß; dann fütterte man die Gefangenen, welche sich ja ihrer Hände nicht bedienen konnten, theilte sich in die Wache und legte sich zur Ruhe. Verdoja hatte die erste Wache übernommen, obgleich er dies nicht nöthig hatte, da er ja der Anführer war. Aber er hatte sich vorge-
nommen, die Gefangenen, von denen Keiner ein Wort gesprochen hatte, zu peinigen. Sie lagen in der Mitte des Kreises, welchen die dreizehn Mexikaner bildeten. Er trat zunächst zu Helmers. »Nun, Bursche, wie gefällt Dir dieser Spazierritt?« fragte er. »Ich habe Euch von Jemand zu grüßen, der sich sehr für Euch interessirt.« »Von wem denn?« fragte Helmers. »Von einem gewissen Cortejo.« »In Mexiko?« »Ja. Er scheint ein sehr guter Freund von Euch zu sein.« Er gab hier sein Geheimniß preis, und zwar mit Absicht. Es lag ihm daran, zu erfahren, weshalb Cortejo den Tod dieser Männer wünschte; er hätte dann eine Waffe gegen ihn in der Hand gehabt. Darum brachte er die Rede auf ihn, denn er dachte, durch irgend ein Wort oder unbedachte Aeußerung der Gefangenen Aufschluß zu erhalten. »Hole ihn der Teufel!« sagte Helmers. »Das thut er nicht, aber Euch wird er holen!« »Ohne Dich sicherlich nicht!« »Schweig, Schurke! Sonst will ich Dir zeigen, wen Du vor Dir hast!« Er gab Helmers einen Fußtritt und schritt weiter, zu Mariano heran. »Siehst Du nun, was daraus wird, wenn man Schurken als Sekundant dient?« sagte er. »Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Kennst Du Euern Freund Cortejo?« Mariano antwortete nicht. »Kennst Du ihn?« wiederholte Verdoja. Mariano schwieg noch immer. »Ah, ich sehe, daß ich Euch erst recht gefüge machen muß! Ihr werdet schon noch reden lernen!«
Er gab auch ihm einen Fußtritt und kam nun zu Sternau. Dieser war so gebunden, daß er weder Arme noch Beine rühren konnte, aber die Kniee konnte er an den Leib ziehen. »Nun zu Dir, Du Hund!« sagte Verdoja. »Du hast uns um unsere Hände gebracht und wirst doppelt büßen müssen. Wie war Dir’s denn, als Du meinen Hieb auf den Kopf bekamst?« Sternau beachtete ihn gar nicht. »Was, Du willst auch nicht antworten? Warte, ich werde Dir gleich Worte machen!« Er erhob den Fuß, um auch Sternau einen Tritt zu geben; dieser aber zog blitzschnell die Beine an sich, schnellte sie wieder aus und trat ihm mit solcher Gewalt auf den Unterleib, daß er hintenüberstürzte und mit dem Kopfe grad in das helllodernde Feuer fiel. Zwar raffte er sich sofort wieder auf, aber ein lautes Schmerzgeheul zeigte, daß er in irgend einer Weise verwundet worden sei. »Mein Auge, mein Auge!« brüllte er. Die Schläfer erhoben sich sofort, nahmen ihm die Hand vom Auge und untersuchten dasselbe. Da stellte sich heraus, daß er sich ein Aestchen des brennenden Holzes in das Auge gestochen hatte; es war abgebrochen und nun stak die Spitze noch im Auge. »Das Auge ist verloren, denn es giebt keinen Arzt,« sagte Pardero. Verdoja wimmerte noch immer; er mochte furchtbare Schmerzen haben. Er lief im Kreise umher und bat, ihm die Spitze des Aestchens auszuziehen, aber Keiner konnte es thun. »Hier könnte nur Einer helfen,« sagte Pardero. »Wer?« fragte Verdoja. »Sternau.« »Sternau, dieser Hund, dem ich dieses Unglück verdanke! Todtprügeln werde ich ihn!« rief der Verwundete grimmig. »Es ist mir eingefallen, daß er ja Arzt ist.«
»Arzt? Ah, wirklich; es ist wahr. Er hat ja den Kranken auf el Erina behandelt.« »Er wird Ihnen den Splitter entfernen können!« »Das soll er, ja, das soll er. Und dann, dann werde ich ihn krumm auf das Pferd schließen. Er soll an mich und meine Rache denken!« Pardero trat an Sternau heran und fragte: »Sind Sie Augenarzt?« Da Sternau mit »Sie« und im höflichen Tone angeredet worden war, so antwortete er: »Ja.« Er hätte aber trotzdem keine Antwort gegeben, wenn ihm nicht der Gedanke durch den Kopf gefahren wäre, daß er jetzt entfliehen könne. »Werden Sie den Splitter entfernen können?« »Das weiß ich nicht. Ich muß das Auge erst untersuchen.« »So kommen Sie!« »Ich kann mich ja nicht erheben!« »Ah, so! Nun, ich werde Ihnen die Fesseln so weit abnehmen, daß Sie aufstehen können. Warten Sie!« Er nahm ihm die Riemen von den Beinen und Füßen und schob ihn dann zum Feuer, an dem Verdoja wimmernd saß. »Untersuchen Sie ihn!« gebot Pardero. Verdoja nahm die Hand vom Auge, welches er geschlossen hielt, blickte ihn mit dem andern grimmig an und sagte: »Kerl, wenn Du mir das Auge nicht sofort wieder herstellst, so lasse ich Dich mit glühenden Zangen zwicken! Sieh her!« Er hielt das verletzte Auge einige Sekunden lang geöffnet und Pardero leuchtete mit einem Feuerbrande dazu. Das Gespräch wurde natürlich in mexikanisch-spanischer Sprache geführt. Sternau war überzeugt, daß unter Allen, die sich hier befanden,
nur Helmers Deutsch verstehe, und so sagte er, indem er das Auge sehr aufmerksam betrachtete, in deutscher Sprache: »Muth! Ich werde Euch befreien!« »Was sagst Du da?« brüllte Verdoja. »Wir Aerzte nennen jede Krankheit und Wunde bei ihrem lateinischen Namen; ich sagte den lateinischen Namen der Verletzung,« antwortete Sternau. »Geht der Splitter zu entfernen?« »Ja.« »ut es sehr weh?« »Nein, fast gar nicht.« »So thue es, augenblicklich!« »Die Hände sind mir ja gebunden!« »Bindet ihn los!« gebot Verdoja. »Aber wenn er entflieht!« meinte Enrico. »Bist Du klug?« fragte Pardero. »Wir sind fünfzehn Mann. Wie will er uns entkommen? Bildet einen Kreis und nehmt ihn in die Mitte!« Dies geschah. Als Sternau die deutschen Worte sprach, hatte Helmers sich geräuspert, zum Zeichen, daß er ihn verstanden habe. Jetzt konnte Sternau handeln. »Mit dem Finger kann ich den Splitter nicht fassen!« sagte er. »Gebt mir ein Messer!« Er erhielt das Messer. Jetzt war er frei von allen Banden und hatte eine Waffe in der Hand. Es handelte sich nur noch darum, ein Gewehr mit Munition zu bekommen. Um das Lager herum weideten die Pferde. Die Gewehre waren in Pyramiden zusammengestellt, und Verdoja hatte über seinen um die Hüften gewundenen Shawl einen breiten Gurt geschlungen, der ihm als Kasse diente. An demselben hing der Pulver- und Kugelbeutel. Sternau’s Plan war in einer Sekunde gefaßt.
Er betrachtete das Messer, es war gut, scharf und spitz. Nun trat er zu Verdoja heran und legte ihm die Hand auf den Kopf. Aller Augen waren auf die Beiden gerichtet, am gespanntesten aber die Augen der Gefangenen. »Oeffnen Sie das kranke Auge und schließen Sie das gesunde,« bat Sternau. Er beabsichtigte damit, Verdoja solle gar nichts sehen. Dieser folgte der Weisung, und nun näherte Sternau das Messer dem Gesichte des Ex-Kapitäns. Aber plötzlich fuhr er mit demselben niederwärts. Mit einem raschen Schnitte trennte er den Gurt vom Leibe Verdoja’s und faßte ihn, da er seine Hände gebrauchte, zwischen die Zähne. In demselben Augenblicke packte er Verdoja mit herkulischer Stärke und schleuderte ihn gegen die nahe stehenden Mexikaner. Drei oder vier derselben wurden niedergerissen; so entstand eine Bresche, durch welche Sternau in einem weiten Sprunge hindurchflog. Im nächsten Momente hatte er eines der Gewehre an sich gerissen, und eine Sekunde später saß er auf dem Rücken eines der Pferde und galoppirte davon. Dies Alles war so schnell geschehen, fast schneller, als man es denken kann. Als ein fünfzehnstimmiger Schrei des Schreckens erscholl, war es bereits zu spät. Ein Jeder griff nach Gewehr oder Pistole; mehrere Schüsse wurden abgefeuert, aber keiner traf. »Auf! Ihm nach! Wir müssen ihn wieder haben!« brüllte Verdoja. Einige warfen sich sofort auf die Pferde und sprengten nach der Richtung hin, in welcher er entflohen war, ihn einzuholen. Sternau ahnte natürlich, daß man dies thun würde. Indem er in immer gerader Richtung dahinfloh, untersuchte er seine Büchse. Es war ein Doppelgewehr, und zwar geladen. Das genügte; das mußte mehreren Verfolgern das Leben kosten. Er hielt sein Pferd an und wendete den Kopf desselben in die Richtung, aus welcher er den Galopp der Verfolger hörte. Sie rit-
ten nicht in einem Haufen, sondern sie hatten sich auf eine breite Linie vertheilt. Sie hatten nicht die Erfahrung, Geistesgegenwart und Gewandtheit, welche Sternau besaß. Sie nahmen für sicher an, daß dieser in immer gerader Linie fliehen werde, so daß man ihn immer vor sich habe und den Hufschlag seines Pferdes hören müsse. Daß er anhalten und sie erwarten könne, das fiel ihnen gar nicht ein, das war nach ihrer Ansicht so todtesverwegen, daß sie es für ganz unmöglich hielten. Es war so dunkel, daß man einander zwar hören, aber nicht sehen konnte. Sternau’s Pferd stand still und er hielt die Büchse zum Schusse erhoben. Die Verfolger nahten; da durchzuckte ihn ein anderer Gedanke. Er brauchte ja gar nicht zu schießen. Er sprang schnell vom Pferde und riß auch dieses auf den Boden nieder. Da waren die Mexikaner bereits da und sprengten an ihm vorüber, rechts und links von ihm je Einer. Im Nu war er wieder auf und sein Pferd ebenso. Er sprang auf den Rücken desselben und jagte hinter ihnen her. Nach wenigen Augenblicken befand er sich zwischen den Zweien. Sie hatten kein Arg, denn ein Jeder hielt ihn für den Andern. Er setzte die Hähne seines Gewehres in Ruhe, faßte dasselbe bei den Läufen und trieb sein Pferd mit einigen weiten Sätzen hart an den Mexikaner heran, der ihm zur Rechten ritt. Dieser bemerkte es. »Weiter nach links!« rief er. Da sauste aber auch bereits Sternau’s Kolben auf ihn herab und zerschmetterte ihm den Kopf. Zugleich erfaßte der kühne Deutsche den Zügel des Mexikaners und hielt das Pferd desselben auf. In weniger als einer Minute hatte er ihn ausgeplündert, dann galoppirte er weiter. Er hielt jetzt auf den Nachbar zur Linken zu. Als er diesen erreichte, rief derselbe: »Mir gebietest Du, weiter nach links zu gehen, und nun hältst Du selbst nicht Richtung. Mehr nach rechts!«
»Gleich!« antwortete Sternau. Schon war er an ihn heran; der Mann ahnte nicht, was ihm bevorstand. Ein Kolbenschlag zerschmetterte ihm den Schädel. Dann hielt Sternau wieder das fremde Pferd an und nahm dem Reiter Alles ab, was er selbst gebrauchen konnte. Jetzt horchte er. Er hörte die Mexikaner nur nach rechts von sich galoppiren. Er hielt auf diese Seite hin und untersuchte die beiden erbeuteten Gewehre. Sie hatten nur einen Lauf und waren geladen. Er hatte also vier Schüsse. Das war mehr als genug, denn er konnte nur noch zwei Verfolger unterscheiden. Mit diesen war es leicht aufzunehmen. »Hollah!« rief er. »Hierher! Ich habe ihn!« Er hielt sein Pferd an und bemerkte, daß die Beiden dasselbe thaten. »Wo?« fragte eine Stimme. »Hier! Hier! Er ist gestürzt!« Da kamen sie herbeigesprengt. Einer hinter dem Andern. Sternau erhob das Doppelgewehr. Sie kamen heran, sie hielten vor ihm. »So, da habe ich Euch, Ihr Schurken!« donnerte er ihnen entgegen. Seine zwei Schüsse krachten; die Kugeln trafen gut; die Reiter wankten und stürzten von den Pferden. Die iere blieben ruhig stehen. Jetzt horchte Sternau nochmals in die Nacht hinaus; es ließ sich nichts hören, also waren es nur Vier gewesen, welche so unüberlegt gewesen waren, ihn zu verfolgen. Er stieg ab und untersuchte die Todten. Sie hatten wirklich kein Leben mehr. Auch ihnen nahm er Alles ab, was sie bei sich trugen. Er hatte nun fünf Gewehre, mehrere Messer und Pistolen, zwei Lassos und eine hinreichende Menge Munition, denn ein jeder der vier Reiter hatte die seinige bei sich getragen. Außerdem fühlte er in dem Gurte Verdoja’s eine Menge
Goldstücke und Banknoten. Er war also mit Allem versehen, nur nicht mit Proviant. Doch dies machte ihm keine Sorge. Er befestigte seine Beute auf die Sättel der beiden erbeuteten iere, koppelte dieselben zusammen, nahm sie beim Zügel und ritt in die unbekannte Wüste hinein. Seine Hauptsorge war, der Nachstellung zu entgehen. Er wußte, daß man bei Anbruch des Morgens die vier Leichen finden werde. Er erwartete auch, daß man seiner Spur folgen werde, und so galt es, sie irre zu führen. Er dachte sich, daß man von der Hazienda aus die Räuber verfolgen werde; darum galt es, sie so lang wie möglich an einer Stelle festzuhalten. Er beschloß also, einen Kreis zu reiten. Nachdem er einige Stunden immer nach Westen geritten war, lenkte er nach Süden um, und nach Verlauf von abermals zwei Stunden ritt er nach Osten wieder zurück. So erreichte er bei Morgengrauen den Fuß des Gebirges zwei Stunden südlicher, als da, wo sich das Lager befunden hatte. Hier gönnte er den Pferden einige Ruhe, ließ sie grasen und trinken und rauchte einige der Cigarretten, die er den Todten abgenommen hatte. Dann stieg er wieder auf und ritt gerade nach Norden. Das mußte aber mit sehr großer Vorsicht geschehen, da er in jedem Augenblicke die Mexikaner sehen konnte, die ja von Nord nach Süd, also ihm entgegen, ihre Verfolgung beginnen mußten. Es waren seit Tagesanbruch wohl über vier Stunden vergangen, als er die Stelle erreichte, an welcher er die beiden letzten Mexikaner vom Pferde geschossen hatte. Er fand statt ihrer – einen Steinhaufen. Man hatte sie also bereits gefunden und begraben. Als Sternau jetzt den Boden untersuchte, kam er zu der Ueberzeugung, daß der ganze Trupp mit sammt den Gefangenen aufgebrochen sei, um seiner Spur zu folgen. Er lachte, denn er befand sich, da er einen Kreis geritten war, ja hinter ihnen, während sie
ihn vor sich glaubten. Er folgte ihnen unverzüglich, gab aber vorher eines seiner Pferde frei. Er suchte sich dazu das am wenigsten gute aus, nahm ihm Alles ab, sogar Sattel und Zaum, und trieb es dann in die Berge hinein. Er hatte nur noch ein Leitthier zu führen, und darum ging es nun leichter vorwärts, als vorher. Er erreichte die Stelle, an welcher er nach Süden abgelenkt war. Er sah an den Spuren, daß man hier angehalten hatte, um zu berathen, doch war man ihm nachher gefolgt. Als er nach zwei Stunden an der Stelle angelangt, an welcher er nach Osten umgekehrt war, zeigten die Hufspuren, daß man hier abermals eine Berathung vorgenommen hatte, doch war das Ergebniß derselben jetzt ein anderes gewesen. Die Mexikaner hatten von seiner Spur abgelassen und waren von hier aus nach Westen geritten, also grad in die Wüste Mapimi hinein. Er folgte ihnen. Sie waren einen solchen Ritt nicht gewöhnt. Indianer und Jäger reiten stets im Gänsemarsch, damit man aus der Fährte ja ihre Anzahl nicht erkennen kann; diese Mexikaner aber hatten eine breite Truppe gebildet. Sternau zählte fünfzehn einzelne Pferdespuren; sie waren also, außer den vier Getödteten, Alle beisammen, Verdoja, Pardero, vier Gefangene und neun Mexikaner. Er hatte gute Hoffnung, heute Abend ihr Lager zu beschleichen und wieder Einige von ihnen zu tödten. Mit diesem tröstlichen Gedanken sprengte er vorwärts, zumal er sah, daß auch sie Galopp geritten waren. Als am gestrigen Abend die vier Mexikaner dem Entflohenen nachsprengten, horchten die Zurückbleibenden still und lautlos in die Nacht hinein. Sogar Verdoja vergaß die Schmerzen seines Auges. Sie Alle waren überzeugt, daß Sternau eingeholt werde. Es blieb längere Zeit still, dann aber fielen in bedeutender Ferne zwei Schüsse. Der Schall war so leise, daß man ihn kaum noch zu vernehmen vermochte. »Sie haben ihn!« rief Pardero.
»Ja, aber nicht lebendig!« zürnte Verdoja. »Sie haben ihn erschossen, die Schurken! Wie kann ich mich nun an ihm rächen? Wer soll mein Auge behandeln?« »Vielleicht ist er nur verwundet,« meinte einer der Mexikaner. »Dieser Kerl scheint ein zähes Leben zu haben.« »Dann bringen sie ihn herbei. In einer halben Stunde sind sie sicher da!« Aber die halbe Stunde verging und es kam Niemand. Verdoja wurde unruhig. »Warum zaudern die Kerls!« meinte er. »Ich werde sie für diese Nachlässigkeit zu bestrafen wissen!« Es verging noch eine halbe und noch eine ganze Stunde, ohne daß sich Jemand sehen ließ. Das Auge Verdoja’s schmerzte so, daß er ein Tuch vorbinden mußte. Es träufelte ihm eine scharfe Flüssigkeit über die Wange herab, an der er stets zu wischen hatte. Er konnte nicht schlafen. Darum erging er sich während der ganzen Nacht in zornigen Flüchen, und als die Dämmerung nahe war, sandte er zwei Mexikaner aus, um ihre vier Kameraden zu suchen. Sie setzten sich auf ihre Pferde und ritten davon. Bereits nach einiger Zeit fanden sie einen Todten an der Erde liegen. Der Schädel war ihm zerschmettert und man hatte ihm Alles abgenommen, was er bei sich trug. »Was ist das? Wer hat das gethan?« fragte der Eine schaudernd. »Sternau?« »Nein, das ist unmöglich! Er wäre ja während des Kampfes und des Plünderns von den anderen Dreien ergriffen oder getödtet worden. Wir können jetzt hier nichts thun, als weiter reiten.« Sie hatten kaum dreihundert Schritte zurückgelegt, so trafen sie auf eine zweite Leiche, welcher ganz ebenso der Kopf zerschmettert war. Auch sie war ausgeraubt.
Die beiden Männer blickten einander fragend an und ritten weiter, ohne ein Wort zu sprechen; es war ihnen unheimlich zu Muthe. Nach fünf Minuten trafen sie – auf zwei Leichen. Sie waren erschossen worden; die Kugeln waren ihnen durch den Kopf gedrungen. »Sankta Madonna, alle Vier todt!« rief der eine Mexikaner. »Ist dieser Sternau ein Zauberer?« fragte der Andere. »Wir können hier nichts thun, als schnell zurückkehren.« Sie thaten dies. Als sie vom Lager aus in Sicht waren und man also bemerkte, daß sie allein kamen, sprangen alle Zurückgebliebenen erwartungsvoll auf. »Nun?« fragte Verdoja. »Seid Ihr blind? Ihr habt nichts gefunden!« »Mehr als genug, Sennor,« antwortete der Eine. »Nun, wo ist Sternau?« »Das weiß er und der Teufel! Wir haben nur die Kameraden gefunden. Zweien ist der Kopf zerschmettert und Zwei sind erschossen, alle Vier aber sind geplündert und vollständig ausgeraubt.« Bei diesen Worten leuchteten die Augen der männlichen Gefangenen hoffnungsvoll auf; Emma stieß einen Ruf der Freude aus. »Still!« donnerte ihr Verdoja zu. »Ihr jubelt zu früh. Noch ist er uns nicht entkommen. Aber wenn ich ihn fange, so werde ich ihm jedes Glied einzeln aus dem Leibe reißen.« »Niemand wird ihn bekommen!« antwortete Emma muthig. »Er ist ein Held. Er wird Euch verfolgen; er wird Euch tödten, heute Abend oder morgen Abend, wie er diese Vier getödtet hat, und dann wird er uns befreien.« Mariano und Helmers warfen ihr einen warnenden Blick zu und Karja, welche neben ihr lag, flüsterte ängstlich: »Schweige doch! Du machst ihn ja klug und vorsichtig!«
»Still!« gebot auch Verdoja, der von dem Flüstern nichts gehört hatte. »Wer noch einmal redet, erhält seine Strafe. Dieser Satan soll uns nichts mehr schaden, das versichere ich Euch! Vorwärts, wir brechen auf; ich muß wissen, welche Richtung er eingeschlagen hat!« Die Gefangenen wurden auf die Pferde gebunden; die Anderen stiegen auf und nun ging es der Gegend zu, in welcher die Leichen lagen. Man fand die beiden ersten, konnte aber aus den vorhandenen Spuren nicht klug werden, wie ihre Tödtung möglich geworden war; die beiden Pferde hatten sich natürlich während der Nacht verlaufen. Zwei Reiter nahmen die Leichen vor sich und dann ritt man weiter. Als man bei den Erschossenen anlangte, wurde der Platz ganz sorgfältig untersucht, aber man konnte auch hier nicht ergründen, wie es Sternau gelungen war, sie zu überwinden. »Er hat wahrhaftig den Satan!« meinte einer der Männer, indem er sich bekreuzigte. »Ein Flüchtling kann ohne Hilfe des Teufels nicht vier Verfolger tödten.« »Schweig, Dummkopf!« antwortete Verdoja. »Dieser Sternau ist ein listiger Mensch; weiter ist es nichts. Er hat die Pferde der beiden Getödteten mit sich genommen; hier ist die Spur. Wir müssen ihr nach.« Dies geschah. Als die Spur sich nach Süden wendete, wurde Rath gehalten. »Er kehrt nach der Hazienda zurück,« meinte Pardero. »Nein,« antwortete Verdoja. »Die Hazienda liegt gegen Osten aber nicht gegen Süden. Er hat etwas Anderes vor. Hätte er nach der Hazienda zurückkehren wollen, so wäre es bereits vom Kampfplatze aus geschehen. Er ist aber erst einige Stunden lang gerade in entgegengesetzter Richtung in die Wüste hineingeritten; das muß uns vorsichtig machen. Reiten wir auf seiner Spur noch weiter!«
Sie verfolgten Sternau’s Fährte abermals einige Stunden lang und kamen dann an die Stelle, wo er nach Osten eingebogen war. »Sehen Sie? Ich hatte recht!« meinte Pardero. »Er ist nach der Hazienda zurückgekehrt, um Hilfe zu holen.« »Dummheit!« antwortete Verdoja. »Wir sind jetzt nur noch elf Mann. Ein Kerl, welcher in fünf Minuten vier Verfolger tödtet, braucht sich nicht zwei Tagereisen weit Hilfe herbeizuholen, um elf Männer nach und nach zu erschießen. Dieser Sternau ist kein Dummhut. Er braucht zwei Tage hin und zwei zurück; das giebt vier Tage, im günstigsten Falle drei Tage, ehe er hier wieder anlangt. Da sind unsere Spuren vielleicht verweht, jedenfalls aber haben wir einen Vorsprung von drei Tagen und sind gar nicht mehr einzuholen.« »Aber was bezweckt er denn?« fragte Pardero. »Sie sind Offizier, aber kein Taktiker, Sennor! Sternau hat vier Gewehre an sich genommen. Warum? Etwa um sie als Beute mit sich zu schleppen? Nein; er kann damit, da eins derselben doppelt ist, fünf Schüsse hintereinander thun. Das ist ein sicheres Zeichen, daß er es auf uns abgesehen hat. Er hat die Pferde der beiden Getödteten bei sich. Warum? Etwa um nur den Pferdeknecht zu machen? Nein. Er erhielt dadurch eine größere Schnelligkeit, denn wenn sein Reitpferd müde ist, so besteigt er ein lediges, welches noch fast frische Kräfte hat.« »Aber warum reitet er jetzt nach Osten?« »Ich errathe es. Er reitet einen Bogen. Da hinten an den Bergen wird er sich wieder nach Norden wenden, um uns in den Rücken zu kommen. Vielleicht will er auch Zeit gewinnen, denn während wir ihm immer im Kreise folgen, werden wir aufgehalten, bis vielleicht Leute von der Hazienda eintreffen. Sie wissen, daß Sternau jener berühmte Fürst des Felsens ist. Glauben Sie mir, er fürchtet sich nicht, ganz allein mit uns anzubinden; er hat es bewiesen. Aber nun ich errathe, was er will, werde ich mich von ihm nicht über-
tölpeln lassen. Ich bin überzeugt, daß er sich bei jedem Nachtlager Einige von uns holt; einem solchen Savannenmanne gegenüber hilft keine Vorsicht. Wir dürfen also kein Nachtlager halten. Wir reiten bis morgen früh, dann erst ruhen wir einige Stunden, dann reiten wir bis übermorgen früh; da erreichen wir den westlichen Saum der Wüste, und des Abends sind wir am Ziele. Er aber wird, um unsere Spuren nicht zu verlieren, zwei Nächte hindurch lagern müssen; so kommen wir ihm aus den Augen.« »Aber werden unsere Pferde diesen forcirten Ritt aushalten?« »Sicher! Morgen früh sind wir am Muschelsee, wo sie trinken und weiden können. Uebermorgen werden sie zusammenbrechen können, denn wir finden sofort auf jedem Weideplatze frische iere.« »Aber die beiden Mädchen?« »Pah, die müssen es aushalten! Wir geben den Gefangenen die Hände frei, damit sie schwerer ermüden. Am Rande der Wüste lassen wir einige Mann zurück, welche Sternau erwarten müssen. Sobald sie ihn sehen, wird er gefangen oder er bekommt eine Kugel. Jetzt vorwärts!« Verdoja bewies hiermit, daß er Sternau durchschaut und daß er klüger sei, als dieser dachte. Wenn sein Plan gelang, so brachte er seine Gefangenen in Sicherheit und Sternau wurde entweder erschossen oder gefangen. Man gab jetzt den Gefangenen die Hände frei, so daß sie ihre iere selbst lenken konnten, doch kam diese Maßregel mit solcher Vorsicht in Anwendung, daß die Gefesselten sich nicht befreien konnten. Dann ging es in Galopp in die Mapimi hinein. Man sah es den verzerrten Zügen Verdoja’s an, daß er an seinem Auge fürchterliche Schmerzen litt, aber er sagte kein Wort darüber. Es kochte ein fürchterlicher Ingrimm in seinem Inneren, doch galt es jetzt vor allen Dingen, so schnell wie möglich an das Ziel zu gelangen. Die Rache wurde für später aufgeschoben.
So ging es während des ganzen Tages immer nach Westen zu, über steinige Flächen, über nackte Felsen und öde Sandstriche, bis man am Abende den vorgestreckten Arm eines Waldes erreichte. Hier durften sich die ermüdeten Pferde eine halbe Stunde lang erholen, dann ging es wieder vorwärts. Während die Tage in jenen Gegenden heiß sind, zeigen sich die Nächte empfindlich kalt. Diese Kälte war der Truppe von Vortheil, denn sie unterstützte die Beweglichkeit und ließ die Pferde weniger ermüden. Man glaubt übrigens kaum, welch einer Ausdauer die mexikanischen Pferde fähig sind. Am anderen Morgen erreichte man wirklich den von Allen längst ersehnten Muschelsee, wo Rast gemacht wurde. Die Pferde wurden entsattelt und durften trinken und grasen nach Herzenslust. Die Menschen erquickten sich an der mitgenommenen Speise, von der auch die Gefangenen einen eil erhielten. Als die neu gekräftigten Pferde zu wiehern und miteinander zu scherzen und zu kämpfen begannen, war dies ein Zeichen, daß sie nicht mehr ermüdet seien, und man setzte den Ritt in der bisherigen Weise und Richtung fort. Es zeigte sich jetzt eher als gestern einmal eine gewächsreiche Stelle, welche eine Weide oder ein Wäldchen trug; gegen Abend hatte man sogar einen größeren Wald zu durchreiten, und am anderen Morgen lag die Mapimi hinter ihnen. Der Wüstenrand erhob sich plateauartig vor ihnen und sie drangen in einen Engpaß ein, der sich nach kurzer Zeit zu einem älchen erweiterte. Hier wurde Halt gemacht und die Pferde durften sich abermals erholen. Es war vorauszusehen, daß sie dann den Ritt bis zum Abende aushalten würden. Das älchen zeigte eine wild bewachsene Seitenschlucht. Verdoja postirte zwei seiner Mexikaner in dieselbe. Sie sollten Sternau ablauern, der hier jedenfalls längere Zeit verweilen würde, um die Spuren des Lagerplatzes zu untersuchen. Er konnte vor
morgen Abend nicht hier sein, und bis dahin wollte Verdoja von seinen Begleitern noch drei zurückschicken. Sie waren dann zu Fünfen und konnten den Einzelnen überwältigen. Als man wieder aufbrach, mündete der Paß auf eine weite Ebene, welche aus lauter fruchtbaren Weiden bestand. Es wurden Wege eingeschlagen, auf denen man Niemandem begegnen konnte; der Tag verging, ohne daß man eine Hazienda erblickte, obwohl man die Nähe derselben vermuthen konnte, und als die Dunkelheit hereinbrach, hielt man vor einer hohen, mächtigen, pyramidenförmigen Masse, deren Fuß von Felsentrümmern und Sträuchern eingefaßt war. Verdoja steckte den Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Sofort raschelte es in den Büschen und ein Mann trat hervor. »War mein Bote bei Dir?« fragte Verdoja. »Ja, Sennor,« antwortete der Mann. »Er brachte mir Ihren Brief und es ist Alles vorbereitet. Auch Licht habe ich.« »So führe mich! Die Anderen warten hier, bis ich zurückkehre!« Er trat zu Emma und band ihr die Arme auf den Rücken; dann band er sie vom Pferde los, hob sie herab und schob sie zwischen die Büsche hinein. Sie ließ es geschehen, denn sie sah ein, daß Widerstand vergeblich sein würde. Jetzt wurden ihr die Augen verbunden und Verdoja nahm sie auf den Arm. Sie wurde von ihm getragen. Sie hörte an dem dumpfen Tone seiner Schritte, daß sie sich in einem Gewölbe befanden. Sie fühlte, daß es bald auf- und bald abwärts ging; die Luft wurde immer dumpfiger und feuchter. Endlich knarrte eine üre und eine kurze Zeit darauf ließ Verdoja sie auf ihre Füße nieder. Als er ihr die Binde von den Augen nahm, sah sie, daß sie sich in einer Felsenkammer befand, welche ungefähr acht Fuß lang, sechs Fuß breit und sieben Fuß hoch war. Sie enthielt nichts als ein Strohlager, einen Wasserkrug, ein Stück trockenes Brod und zwei Ketten, eine jede in eine der Längsseiten befestigt. Verdoja hatte
eine Laterne in der Hand. Der Führer hatte sich von der mit Eisen beschlagenen üre zurückgezogen. »Jetzt sind wir an Ort und Stelle,« sagte Verdoja triumphirend. »Du wirst nie fliehen können und darum werde ich Dir die Fesseln abnehmen.« Er that es und ließ dabei sein gesundes Auge mit gierigem Blicke über ihre schöne Gestalt gleiten. »Aber, Sennor, was habe ich Ihnen gethan,« hauchte das unglückliche Mädchen voller Angst, »daß Sie mich rauben und an einen solchen Ort bringen!« »Mein Herz hast Du mir geraubt,« antwortete er. »Und dieses Herz will nun befriedigt sein. Hier ist die Kammer der Liebe, in welcher bereits der Widerstand mancher Schönheit gebrochen wurde. Auch Du wirst lernen, meine Liebe zu erwidern.« Er streckte den Arm aus, um sie an sich zu ziehen. Sie wich erschrocken zurück. »Niemals, Du Bösewicht!« rief sie, sich in die hinterste Ecke lehnend. »Und doch! Das werde ich Dir sofort zeigen!« Er trat abermals näher. Da fuhr sie mit der Hand nach seinem Gürtel und entriß ihm sein Messer. Sie zückte es gegen ihn und gebot entschlossen: »Zurück, sonst wehre ich mich!« Er erschrack wirklich und trat zurück; dann aber stieß er ein kurzes, höhnisches Lachen aus und sagte: »Ein Messer in dieser Hand ist mir nicht gefährlicher, als eine Nadel. – Gieb her!« Er wollte zugreifen und setzte deshalb, da er nur eine Hand hatte, die Laterne zur Erde nieder. Sie hob das Messer zum Stoße und rief: »Ich bin ein schwaches Mädchen, aber Sie haben nur eine Hand. Wagen Sie es nicht, mich anzurühren!«
Er zauderte doch. Da aber trat der Führer aus dem Gange herbei und unter die üre. Er hatte also das ganze Gespräch gehört. »Soll ich Ihnen beistehen, Sennor?« fragte er. »Ja,« antwortete Verdoja. »Komm her und nimm ihr das Messer ab!« Emma erkannte, daß sie sich Zweien gegenüber nicht vertheidigen könne; aber sie gab doch die Hoffnung nicht auf, den rohen Angriff zurückzuweisen. Sie setzte sich selbst das Messer an die Brust und drohte: »Wagt es, mich anzurühren, so tödte ich mich selbst!« Der Ausdruck ihres Gesichtes war bei diesen Worten ein so entschlossener, daß Verdoja einsah, daß es ihr vollständiger Ernst sei, sich das Messer in das Herz zu stoßen. Dies aber lag ganz und gar nicht in seiner Absicht. Er wollte das schöne Mädchen lebendig besitzen, aber nicht todt. Darum hielt er den Diener, welcher bereits seine Hand nach ihr ausstreckte, ab und sagte: »Laß sie jetzt! Sie ist mir sicher. Der Hunger ist ein harter Gast, er wird ihren Willen rasch brechen. Sie erhält von heute an nichts mehr zu essen, bis sie mich selbst auffordert, ihr meine Liebe zu erweisen. Wir wollen gehen!« Er nahm die Laterne vom Boden auf und verließ das Gefängniß. Der Diener folgte ihm, die üre schloß sich hinter ihnen und Emma hörte draußen die mächtigen Riegel klirren, welche sich vor die üre legten, um eine Flucht unmöglich zu machen. Da stak sie, die an Freiheit, Liebe und den feinsten Genuß Gewöhnte, in der engen, dunklen Felsenkammer. Stroh war ihr Lager und schmutziges Wasser ihr Getränk. Frische Luft konnte nicht in den elenden Raum dringen und zum Hunger war sie verurtheilt. Das Stück Maisbrod, welches neben dem Wasserkruge lag, konnte nur für eine sehr kurze Zeit hinreichen. Sie hatte während des weiten Rittes einige Male Gelegenheit gehabt, einige Worte ungehört mit Karja zu wechseln, und war
dabei von der Indianerin darauf aufmerksam gemacht worden, sich womöglich eine Waffe zu verschaffen, um den thätlichen Angriffen, welche ihnen Beiden bevorstanden, widerstehen zu können. Diesen guten Rath hatte Emma befolgt; sie befand sich jetzt im Besitze eines Messers und hatte auch bereits die Erfahrung gemacht, welchen Nutzen ihr dasselbe bringe. Sie hielt den Griff noch fest mit ihrer kleinen, zarten Faust umspannt und war entschlossen, es sich nicht wieder entringen zu lassen; viel eher wollte sie es sich in das eigene Herz stoßen. Aber der weite Ritt und der letzte Auftritt hatten ihre Körperund Seelenkräfte so angestrengt und angespannt, daß sie auf das Lager niederglitt und ihren ränen freien Lauf ließ. Sie befand sich tief unter der Erde als Opfer der Lüste eines gefühllosen Bösewichtes und hatte keine einzige Hoffnung, als nur die, daß es Sternau gelingen werde, ihre Spuren zu verfolgen und den Mördern zu entkommen, welche ihm auflauerten, um ihn zu ergreifen oder zu tödten. Verdoja kehrte mit seinem Diener zurück zu Denen, welche vor der Pyramide auf ihn warteten. Diese Pyramide, ein Ueberrest alter, mexikanischer Baukunst, war aus Backsteinen auf einem Felsengrunde errichtet. In diesem Grunde hatte man vor Beginn des Baues zahlreiche enge Kammern ausgebrochen und sie durch Gänge verbunden. Auch die Pyramide war durch solche Gänge durchbrochen, in denen die Fürsten und Priester des untergegangenen Reiches ihre Geheimnisse bewahrt und ihre Orgien gefeiert hatten. Die Backsteine waren unter dem Einflusse der Jahre zerbröckelt und Pflanzen hatten ihre Wurzeln immer tiefer in die entstehenden Ritze getrieben. Das hatte den gewaltigen Bau noch mehr gelockert. Seine Spitze war verwittert und von den Stürmen nach und nach abgeweht worden, und heute hatte er das Aussehen eines pyramidalen Hügels, der von seinem Fuße bis hinauf zur Höhe mit Gesträuch bedeckt war.
Aber in das Innere hatten Sturm und Regen nicht zu dringen vermocht; da waren die Kammern und Gänge noch ganz wohl erhalten und besaßen ganz dieselbe Festigkeit, welche sie seit Jahrhunderten besessen hatten. Der alte Bau lag inmitten der Ländereien, welche Verdoja’s Vorfahren gehörten. Einer derselben hatte lange vergebens nach einem Zugange zum Inneren der Pyramide gesucht, ihn endlich aber doch unter Stein- und Ziegeltrümmern gefunden. Er war darüber nicht mittheilsam gewesen, und so hatte sich das Geheimniß nur in der Familie fortgeerbt. Seit dieser Zeit war im Inneren der Pyramide Manches und Vieles geschehen, was sich dem Tageslichte und dem Auge des Gesetzes entziehen mußte, und der Diener, welcher Verdoja und Emma geführt hatte, war der Wächter des alten Bauwerkes und der Vertraute seines gegenwärtigen Herrn. Beide hüteten ihr Geheimniß mit sorgfältigster Verschwiegenheit und wußten, daß sie sich auf einander verlassen konnten. Nachdem Verdoja aus der Pyramide zurückgekehrt war, wurde Karja, die Indianerin, vom Pferde losgebunden. Man verhüllte ihr die Augen, und ganz dasselbe geschah auch mit Lieutenant Pardero. Dieser sträubte sich dagegen, mußte es sich aber doch gefallen lassen, da Verdoja ihm sagte, daß er den Eingang zur Pyramide keinem einzigen Menschen zeigen werde. Im Inneren angelangt, könne Pardero die Binde abnehmen und ungehindert umherstreifen, nur der Eingang müsse ihm wie Jedermann verborgen bleiben. Der Wächter ergriff das Mädchen und Pardero wurde von Verdoja geführt. Sie gelangten wieder an die Zelle, in welcher Emma steckte. Neben derselben gab es eine ganz ähnliche, welche geöffnet wurde, um die Indianerin da unterzubringen. »Ich gehe einstweilen,« sagte Verdoja zu Pardero, »um die anderen Gefangenen einzuquartieren. Sehen Sie, wie Sie mit ihr fertig wer-
den. Sind Sie zu Ende, so brauchen Sie da vorn am Ausgange des Ganges nur zu rufen oder zu warten.« Er entfernte sich mit dem Wächter und Pardero nahm dem Mädchen nun die Binde ab, auch entfernte er ihr die Fesseln von den Händen, so daß sie sich nun im freien Gebrauche ihrer Glieder befand. Er hatte die Laterne bei sich behalten und betrachtete das schöne Mädchen mit begierigen Blicken. »Nun bist Du mein und kein Mensch soll Dich mir entreißen,« sagte er. »Du hast Dich nur zu entscheiden, ob Du meine Liebe freiwillig oder gezwungen erwidern willst.« Auch ihre Augen funkelten, aber nicht in süßem Verlangen nach seiner Zärtlichkeit, sondern vor Stolz und Zorn. Sie, die Tochter eines berühmten Häuptlings, die Schwester des wenigstens ebenso berühmten »Königs der Ciboleros« fürchtete sich vor dem einhändigen Lieutenant nicht im mindesten. »Feigling!« antwortete sie im Tone der tiefsten Verachtung. »Feigling?« fragte er lachend. »Haben wir Euch nicht besiegt? Haben wir Euch nicht gefangen genommen und bis hierher gebracht?« »Gefangen genommen durch Hinterlist, als wir schliefen. Ein Mann kämpft nicht mit Weibern. Ist Euch nicht Sternau entkommen? Er war ein Mann und Ihr konntet ihn nicht halten. Ihr seid wie die Prairiewölfe, welche nur des Nachts und mit Uebermacht nach Beute gehen, aber vor Angst heulen, wenn sie einen Schuß fallen hören. Ich bin ein Mädchen, aber ich fürchte Dich weniger, als einen Hasen oder als einen Käfer, welcher mich zudringlich umsummt, den ich aber zwischen den Spitzen meiner Finger zu zerquetschen vermag.« Diese Worte waren in einem so verächtlichen Tone gesprochen, daß selbst ein so ehrloser Mensch wie Pardero darüber zornig wurde.
»Schweig!« rief er. »Du befindest Dich in meinen Händen und es kommt nun ganz auf Dein Verhalten an, ob ich Dich zermalme oder Deine jetzige Lage verbessere.« »Mich zermalmen!« antwortete sie. »Pah, Du bist nicht der Mann, die Schwester Büffelstirns zu zermalmen. Du wärst verloren, sobald Du mich nur anrührtest!« Sie stand mit drohend erhobenem Arme vor ihm und war in dieser gebieterischen Stellung so schön, daß alle seine Sinne entbrannten. Er trat auf sie zu und streckte beide Arme, die unverletzte Linke und den umwickelten Stumpf der Rechten, nach ihr aus, als ob er sie an sich ziehen wolle. Sie wußte, welchen Rath sie Emma ertheilt hatte; es war ihr darum zu thun, eine Waffe in ihre Hand zu bekommen, und die muthige Indianerin bebte vor einem Angriffe keineswegs zurück. Sie trat einen Schritt vor, fuhr mit blitzesartiger Schnelligkeit mit beiden Händen nach dem Gürtel Pardero’s und entriß ihm das Messer und den Revolver, ehe er es zu verwehren vermochte. Zugleich gab sie ihm einen so kräftigen Stoß, daß er bis an die üre zurückflog, und nun richtete sie den Lauf ihrer Waffe gegen ihn, während der scharfe Stahl des Messers in ihrer Linken blinkte. »Bestie!« rief Pardero. »Warte, ich werde Dich zähmen!« Er wollte auf sie eindringen. »Keinen Schritt weiter!« rief sie ihm entgegen. »Pah, ein Mädchen schießt nicht sogleich!« lachte er. Er hatte die Laterne bereits vorhin zur Erde gesetzt und sprang jetzt auf Karja ein. Da krachte auch bereits ihr Schuß und mit einem lauten Schmerzgebrülle fuhr er sich an den Mund. Ihre Kugel hatte ihm die Kinnlade zerschmettert und die Zunge verwundet. Er stand einige Momente lang brüllend da, dann aber drang er von neuem auf sie ein. »Satan, das sollst Du mir entgelten!« rief er mit lallender Stimme, da er nun nicht mehr richtig zu sprechen vermochte.
Er drang, während er die linke Hand an die Wunde hielt, mit der rechten auf sie ein, aber da diese nur aus dem Stumpfe bestand, so vermochte er nicht, das Mädchen zu packen. Da blitzte das Messer in ihrer Hand und senkte sich mit fürchterlicher Schnelligkeit ein, zwei, drei Male bis an das Heft in die Brust des Angreifers. »O Dios!« rief er und taumelte. »Geh zur Hölle!« antwortete sie. Zum vierten Male fuhr das Messer ihm zwischen die Rippen und erst jetzt traf es das Herz, so daß Pardero in die Kniee sank und dann nach hinten auf das Lagerstroh stürzte. Im Nu kniete das tapfere Mädchen neben ihm. Sie entriß ihm den zweiten Revolver, den Munitionsbeutel, die Uhr, die Provianttasche, welche über die Achsel herab an einem Riemen an seiner Seite hing, und nahm überhaupt Alles an sich, was er bei sich trug. Da hörte sie nebenan ein lautes Pochen. »Wer klopft, wer ist da?« fragte sie. »Ich, Emma!« antwortete es dumpf. Karja stieß einen Jubelruf aus, ergriff die Laterne und stand im nächsten Augenblicke vor der üre der Nebenzelle. Sie mußte alle ihre Kräfte anstrengen, um die alten, rostigen Riegel zu entfernen, und als dies geschehen war, flog Emma ihr entgegen. »Du hast Waffen und Licht, Du bist frei!« rief diese. »Ich bin bewaffnet aber noch nicht frei,« antwortete die Indianerin. »Du riefst. Wußtest Du, daß ich hier in der Nähe war?« »Ich hörte zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche, und dachte, die letztere müßte die Deinige sein. Dann fiel ein Schuß. Wer hat geschossen?« »Ich. Ich habe Pardero erst die Kinnlade zerschmettert und ihn dann mit dem Messer erstochen.« Sie erhob die vom Blute geröthete Klinge. Emma schauderte. »Mein Gott, das ist furchtbar!« hauchte sie.
»Furchtbar?« fragte Karja. »O nein; es war Nothwehr und er hat seinen Lohn. Aber wir müssen unsere Zeit benutzen. Einschließen lassen wir uns nicht wieder. Kannst Du mit einem Revolver umgehen?« »Ja. Vater hat es mich gelehrt.« »Hast Du eine Waffe?« »Dieses Messer. Ich habe es Verdoja entrissen.« »Gut, ich sehe, daß auch Du muthig sein kannst. Hier hast Du den einen Revolver. Wer uns anrührt, der wird erschossen. Jetzt komm, wir wollen den Gang untersuchen!« Sie schritten in den düsteren Gang hinein, der Richtung entgegen, aus welcher sie gekommen waren. Der Gang war eng und niedrig und die Luft in demselben stagnirend und moderig. Karja ging voran. Plötzlich blieb sie stehen und stieß einen Ruf der Freude aus. »Was ist’s?« fragte Emma. »Ein glücklicher Fund!« antwortete die Indianerin. »Wir werden nicht im Finsteren bleiben und brauchen auch nicht zu hungern. Sieh hierher!« Bei Aufmauerung des Ganges war ein tiefes, viereckiges Loch freigelassen worden und in demselben lag ein Vorrath von Tortillas, wie der Mexikaner seine flachen Maiskuchen nennt, und dabei stand eine große, gefüllte Flasche, deren Inhalt sich beim Scheine der Laterne als Oel erwies. »Welch ein Glück!« sagte Emma. »Ich sollte verhungern!« »Das wirst Du nicht. Wir haben diese Kuchen und ich besitze außerdem die Provianttasche, welche ich Pardero abgenommen habe. Komm weiter!« »Aber ist es nicht gefährlich, in diese Gänge einzudringen?« »Warum?« »Wir verirren uns vielleicht immer weiter in das Innere hinein.«
»Nein. Ich weiß ganz genau, daß wir aus dieser Richtung gekommen sind. Es waren mir zwar die Augen verbunden, aber ich habe gefühlt, daß die üre meines Gefängnisses nach der Seite zu aufging, von welcher wir kamen.« Sie schritten langsam weiter und gelangten schließlich an eine üre, an welcher sich ein sehr schwerer, eiserner Riegel befand, der aber, wie man leicht sehen konnte, vor ganz Kurzem neu eingeölt war. Die üre war nur angelehnt und als sie dieselbe zurückstießen, traten sie in einen zweiten Gang, welcher den ersteren rechtwinklich aufnahm. Karja war vorsichtig und untersuchte zunächst die üre. Diese zeigte auch auf der anderen Seite einen Riegel, konnte also von innen und außen verschlossen werden. »Das war Alles wohl überlegt,« sagte sie. »Dieser äußere Riegel diente dazu, den Gang, in welchem sich unsere Zellen befinden, abzuschließen, und der innere hatte den Zweck, alle Störung abzuhalten, wenn unsere beiden Anbeter uns besuchten.« »Ich schaudere!« gestand Emma. »Welches Schicksal stand uns bevor!« »Das ist glücklich abgewendet.« »Aber was nun weiter?« »Ich hoffe von neuem. Sternau wird uns folgen und unser Gefängniß vielleicht entdecken. Wir haben Waffen, Munition, Oel und Proviant. Wir werden uns wehren und uns nicht ergeben. Wüßte ich nur, wohin wir uns zu wenden haben, ob nach rechts oder nach links.« »Horch!« Auf diesen leisen Zuruf Emma’s lauschten Beide in den Gang hinein. Sie hörten das Geräusch von Schritten, welche sich von fern her näherten. »Zurück! Wir verschließen die üre!« gebot Karja.
Sie schlüpften schnell zurück, zogen die üre an sich und schoben den Riegel vor. Die Schritte näherten sich und – gingen draußen vorüber; man machte keinen Versuch, die üre zu öffnen, nur ein leiser Schlag geschah gegen dieselbe als ob man probiren wolle, ob sie offen sei oder nicht. »Das waren mehr als ein Mann,« flüsterte Emma. »Ja, das schienen sogar vier Personen zu sein,« antwortete Karja. »Ich glaube, es waren Verdoja und der Wärter, welche Sennor Mariano und Sennor Helmers gebracht haben. Sie halten an. Horch, was sprechen sie?« Die vier Vorüberschreitenden hatten sich noch nicht sehr weit entfernt, als man die Stimme Verdoja’s hören konnte: »Halt, da sind wir! Hier hinein der Eine und daneben der Andere. Vorwärts!« Es vergingen einige Minuten, ohne daß sich ein Geräusch vernehmen ließ, und dann hörte man Riegel klirren. Darauf kehrten die Schritte von zwei Männern zurück. Draußen vor der üre des Ganges hielten sie an und man versuchte, zu öffnen. »Ah, er hat verschlossen,« lachte Verdoja. »Das hätte er nicht nöthig gehabt!« brummte der Wärter. »Nun müssen wir warten.« »Pah, er will nicht gestört sein von uns. Ich möchte ihn fast beneiden. Die Indianerin ist ebenso hübsch wie ihre Herrin und wehrt sich jedenfalls nicht so wie sie. Aber ich werde dieser Sennora Emma schon noch Gehorsam beibringen. Uebrigens fällt es mir gar nicht ein, auf Pardero zu warten. Er ist müde. Vielleicht schläft er bei seinem Liebchen ein, und dann wäre es ja Dummheit, uns hierher zu postiren, bis er erwacht.« »Aber wenn er zurückkehren will!« »So mag er warten.« »Er wird vielleicht in die Gänge laufen und sich verirren, oder etwas sehen, was er nicht zu sehen braucht.«
»Wir verschließen die nächste üre, dann kann er nur in diesen Gang gelangen und muß Geduld haben, bis wir ihn holen.« »Aber wenn er von seiner Zelle aus hinterwärts geht!« »So kommt er auch nicht weit. Die hintere üre kann er nicht öffnen, denn er kennt das Geheimniß nicht. Komm, in einer Stunde holst Du ihn!« Sie gingen und die beiden Mädchen holten erleichtert Athem, denn es war ihnen nicht sehr wohl zu Muthe gewesen bei dem Gedanken, daß sie ergriffen werden könnten. Sie lauschten, bis die Schritte verklungen waren, und dann fragte Emma: »Was thun wir jetzt?« »Wir befreien die beiden Sennores.« »Wird dies gehen?« »Ich hoffe es. Dann sind wir zu Vieren und brauchen uns nicht zu fürchten.« Sie entriegelte die üre wieder, stieß sie auf und die beiden Mädchen traten hinaus in den Quergang. Dort schritten sie vorwärts, bis sie an zwei üren gelangten, welche nebeneinander lagen. Karja klopfte, aber es antwortete Niemand. Auch als sie an die andere üre klopfte, blieb es hinter derselben still. Da schob sie den Riegel zurück und ließ das Licht ihrer Laterne in das Innere der nun geöffneten Zelle fallen. Es beleuchtete eine männliche Person, welche, an zwei Ketten befestigt, auf dem Boden lag. »Sennor Helmers!« sagte sie, ihn erkennend. »Warum antworten Sie nicht?« Da klirrten die Ketten, denn der gute Steuermann machte eine Bewegung der freudigsten Ueberraschung. Er hatte nicht gesehen, wer der Oeffnende sei, da Karja das Licht in die Zelle fallen ließ, selbst aber im Schatten stand. Jetzt aber erkannte er sie sofort an der Stimme. »Sennorita Karja!« sagte er. »Wie kommen Sie hierher?« »Wir haben uns befreit,« antwortete sie.
»Wir? Wen meinen Sie noch?« »Sennorita Emma.« »Ah! Ist sie mit bei Ihnen?« »Ja, hier bin ich,« antwortete Emma, als sie in die Zelle trat, um sich sehen zu lassen. »Diese muthige Karja hat Pardero getödtet, ihm seine Waffen abgenommen und mich befreit. Nun sollen auch Sie erlöst werden.« »Gott sei Dank!« rief er, tief aufathmend. »Aber ist Verdoja fort?« »Ja. Er kehrt erst in einer Stunde zurück.« »So haben wir Zeit. Sennor Mariano liegt neben mir.« »Auch er soll frei sein,« sagte Karja. »Aber wie werden wir Ihre Ketten öffnen können? Wir haben keine Schlüssel zu den Schlössern.« »O,« meinte er, »es giebt gar keine Schlösser, sondern nur Vorsteckeisen, hüben und drüben an der Wand, so daß ich sie nicht erreichen kann. Sehen Sie nach, Sennorita!« Es war so, wie er sagte. Er lag auf dem Rücken und war mit einem jeden Arme vermittelst einer Kette an die betreffende Seite der Zelle befestigt. Diese beiden Ketten waren so kurz, daß sie die Arme auseinander hielten, so daß weder der rechte den linken, noch der linke den rechten befreien konnte. Karja erkannte auf den ersten Blick, wie die Ketten gelöst werden konnten, und eine Minute später stand Helmers aufrecht und von den Banden befreit in der Zelle und streckte seine kräftigen Seemannsglieder, um die unterbrochene Cirkulation des Blutes wieder in Gang zu bringen. »Alle Wetter, ist das ein Glück bei allem Unglück!« meinte er. »Aber zunächst wollen wir nicht fragen und erzählen, sondern an unseren Mariano denken.« Sie verließen den Raum und öffneten die nächste Zelle. Es ging Mariano gerade so wie Helmers. Er hatte auf das Klopfen nicht geantwortet, weil er glaubte, daß es einer seiner Peiniger sei, der ihn
in Versuchung führen wolle. Als er aber die drei Personen erkannte, bemächtigte sich eine wahre Wonne seiner. Er war ganz in derselben Weise wie Helmers befestigt und darum nahm seine Befreiung auch nur wenige Augenblicke in Anspruch. Nun, als er sich wieder im vollen Besitze seiner Glieder befand, mußten die beiden Mädchen erzählen, wie es ihnen gelungen war, freizukommen. Sie thaten es und ernteten das volle Lob der zwei Männer, in denen sie nun starke und muthige Beschützer fanden. Mariano schlug vor, daß die Damen die Messer behalten, die Revolver aber ihnen übergeben sollten, da Männer mit denselben besser umzugehen verstehen. Dies geschah und nun wurde ausgemacht, daß die Vier sich unter keiner Bedingung trennen wollten. Wer von den Anderen abkam, konnte verloren sein. Trotzdem wurde der vorhandene Proviant in vier eile getheilt, von denen jede Person einen bekam; man konnte ja nicht wissen, was passiren möchte. Auch die vier Wasserkrüge wurden geholt, jede Person sollte den ihrigen bei sich tragen. Helmers und Mariano theilten sonach die Revolverpatronen, welche Pardero bei sich geführt hatte, und der Erstere steckte zuletzt auch die Oelflasche zu sich. Nun hatten sie Alles bei sich, was die finsteren Gänge ihnen geboten hatten, und gingen zunächst an die Untersuchung dieser letzteren. Der Gang, in welchem die Zellen der beiden Männer sich befanden, war vorn durch eine üre verschlossen und hörte hinten in einem offenen Felsenzimmer auf. Er enthielt nichts als die beiden Zellen. Von ihm aus trat man in den Gang, der die Gefängnisse der Frauen enthalten hatte. Dieser führte in schnurgerader Richtung fort auf eine üre, welche mit zwei verrosteten Eisenriegeln verschlossen war. Es gelang der vereinigten Kraft der beiden Männer, dieselben zurückzuschieben, aber die üre öffnete sich den-
noch nicht; es war ja dieselbe, von welcher Verdoja gesagt hatte: »Er kann sie nicht öffnen, denn er kennt das Geheimniß nicht.« »Was thun?« fragte Helmers. »Wir bringen sie nicht auf.« »Sie soll ja eine geheimnißvolle Vorrichtung haben,« meinte Mariano. »Wir wollen suchen, vielleicht entdecken wir sie.« Sie beleuchteten mit der Laterne jeden Zollbreit der üre und ihrer Umgebung, sie tasteten mit Händen und Füßen nach jeder, auch der kleinsten Erhöhung oder Vertiefung in der üre, auf dem Fußboden und an den Wänden, aber vergebens. »Es hilft kein Suchen,« meinte Helmers. »So kommen wir nicht frei. Wir müssen uns durch List zu erretten suchen.« »Auf welche Weise?« fragte Emma. »Die Stunde, nach welcher der Wächter zurückkehren wollte, muß fast vergangen sein. Wir müssen ihn ergreifen. Haben wir ihn fest, so zwingen wir ihn, uns den Weg in die Freiheit zu zeigen.« »Das ist das beste und einzig sichere Mittel,« stimmte Mariano bei. »Wir haben ja das Feuerzeug, welches Pardero bei sich trug, und können also unsere Laterne getrost verlöschen, damit sie uns nicht verräth. Kehren wir an den Eingang dieses Ganges zurück. Wir öffnen ihn. Einer bleibt im Gange stehen und der Andere versteckt sich hinter die zurückgelehnte üre. Sobald er kommt, wird er gefaßt und überwältigt.« »Und wir?« fragte Karja. »Sie verstecken sich in die Zelle, in welcher Sennorita Emma gesteckt hat. In der anderen liegt die Leiche Pardero’s, der Sie ja nicht Gesellschaft leisten werden.« Wie er es angegeben hatte, so geschah es. Die beiden Damen begaben sich in die Zelle, Mariano blieb im Dunkel des Ganges stehen und Helmers steckte sich hinter die üre. Sie hatten eine ziemliche Zeit zu warten, bis ein fernes Geräusch zu ihnen drang. Dann hörten sie von weitem das dumpfe Schlagen
einer üre, dem ein eigenthümliches Schnarren folgte, und jetzt, ja jetzt hörten sie Schritte, welche sich langsam näherten. Der Wärter kam. Seine kleine Blendlaterne verbreitete auf eine nur sehr kurze Entfernung einen ungewissen Schein, welcher immer näher rückte, bis er auf die geöffnete üre fiel. Da blieb der Mann stehen. »Sennor Pardero!« rief er halblaut. Niemand antwortete; darum trat er näher an den Eingang heran und blickte in den Gang hinein. Das Licht fiel mit seinen zweifelhaften Strahlen auf die Gestalt Mariano’s, welcher hier an der Seite des Ganges lehnte. »Sennor Pardero, sind Sie fertig?« fragte der Wärter. »Ja,« antwortete der Gefragte mit verstellter Stimme. »So kommen Sie. Sennor Verdoja ist bereits nach der Hazienda geritten; ich soll Sie nachbringen.« »Und die Anderen?« Wäre der Gang nicht so eng, feucht, dumpfig und dunkel gewesen, so wäre der Mann wohl nicht so leicht zu täuschen gewesen, so aber erhielt die Gestalt Mariano’s kaum ein halbes Licht und seine Stimme hatte eine eigenthümliche Tonart, daß der Wärter wirklich glaubte, Pardero vor sich zu haben. Er antwortete: »Sie sind Alle zurückgekehrt.« »Alle?« »Ja. Sennor Verdoja wollte nur Einige schicken, aber da dieser Sternau ein gar so gewaltiger und schlauer Patron ist, so sind sie Alle zurückgekehrt, um ihn zu fangen. Sie werden ihren Lohn erst bekommen, wenn sie ihn lebendig bringen, oder seinen abgeschnittenen Kopf. Darum werden sie sich alle Mühe geben, ihn zu erwischen.« »Aber ihre Pferde waren ja ermattet.« Helmers sah ein, daß Mariano wünschte, so viel wie möglich über die Pläne Verdoja’s zu erfahren, aber eine Fortsetzung des
Gespräches konnte gefährlich werden. Er schlich sich also hinter der üre hervor und stellte sich dicht hinter den Wärter. Dieser schöpfte noch immer keinen Verdacht und antwortete: »Sie sind zunächst mit nach der Hazienda, wo sie sofort neue iere erhalten. Uebrigens sind die beiden Kerls, welche Mariano und Helmers heißen, jetzt eingeschlossen und angekettet; sie werden nicht entkommen.« »Nicht?« fragte Mariano. Er trat hervor und zu gleicher Zeit faßte Helmers den Mann mit beiden Händen um die Gurgel. Der also Ueberfallene ließ die Laterne fallen, stieß ein unartikulirtes Stöhnen aus, fuhr mit den Armen in die Luft, bewegte die Beine konvulsivisch, dann ging ein fühlbares Zittern durch seinen Körper und nun hing er steif und bewegungslos in den Händen der beiden Männer, denn auch Mariano hatte ihn ergriffen, sobald er bemerkte, daß Helmers ihn gepackt hielt. »Es ist gut!« sagte Helmers. »Er ist ohnmächtig. Brennen wir die Laterne an!« Sie ließen ihn zu Boden gleiten und steckten das Lämpchen in Brand. Als sie ihn beleuchteten, lag er lang ausgestreckt und steif am Boden. Die Augen standen ihm offen und die Farbe seines Gesichtes hatte ein bleiernes Graublau. »Der ist nicht ohnmächtig, der ist todt,« meinte Mariano. »Nein, todt kann er nicht sein,« antwortete Helmers. »Ich habe ihn ja nur ein ganz klein wenig gequetscht.« »Sehen Sie her, Sennor, das ist nicht die Gesichtsfarbe eines Ohnmächtigen, er ist todt, wirklich todt, aber nicht erquetscht von Ihrer Hand, sondern gestorben vor Schreck, daß er so plötzlich angefaßt wurde.« »Alle Teufel, das ist möglich! Ganz genau so sieht Einer aus, den der Schlag gerührt hat; ich habe mehrere solche Leute gesehen. Aber das ist dumm von diesem Kerl!«
»Warum?« »Weil er uns nun den Ausgang nicht zeigen kann.« »Allerdings. Doch vielleicht finden wir den Weg auch ohne ihn. Wir dürfen ja nur da hinausgehen, wo er hereingekommen ist.« »Das klingt sehr einfach, Sennor, aber diese Gänge scheinen ein Labyrinth zu bilden, in dem man sich leicht verirren kann, und es giebt hier, wie wir ja gesehen haben, üren, welche nicht ein Jeder zu öffnen vermag.« »Wir werden ja sehen. Vor allen Dingen wollen wir untersuchen, ob der Kerl auch wirklich todt ist. Hier hat er ein Messer und auch ein Doppelpistol im Gürtel; da haben wir neue Waffen.« Mariano nahm das Messer und machte einen Schnitt in das Handgelenk des Wärters. Was aus der Wunde hervorquoll, war kein Blut zu nennen, es war eine mehr wässerige Flüssigkeit. Jetzt horchten Beide auf den Athem, sie entblößten seine Brust, um zu sehen, ob hier eine Bewegung zu bemerken sei. Sie beschäftigten sich wohl eine volle Viertelstunde mit ihm und kamen dann zu der Ueberzeugung, daß er wirklich todt sei. »Unerklärlich!« meinte Helmers. »Dieser Mensch schleicht in diesen Gängen herum, ohne sich zu fürchten, und läßt sich bei der geringsten unerwarteten Berührung vom Schlage niederstrecken! Wir wollen ihn zu Pardero schaffen, so daß ihn die Damen gar nicht zu sehen bekommen.« Dies wurde ausgeführt, vorher aber untersuchten sie seine Taschen. Sie fanden eine alte tombackene Uhr, welche ihnen jetzt aber von hohem Werthe war, da sie sehen konnten, ob es Tag oder Nacht draußen sei, ein kleines Taschenmesser und eine ziemliche Menge von Cigarretten, welche der Mexikaner stets bei sich führt. Erst als die Leiche bei der Pardero’s lag, riefen sie die Damen hervor und erzählten ihnen, welches Mißgeschick sie gehabt hatten. »Der Mann schien nicht furchtsam zu sein,« sagte Karja. »Sennor Helmers hat Seemannshände und wird ihn erdrückt haben.«
»Fällt mir nicht ein! Er mag ohne Furcht gewesen sein,« antwortete Helmers, »aber er war kein guter Mensch und hatte ein böses Gewissen. Wer aber dieses hat, der kann ganz leicht bis zum Tode erschrecken. Ich weiß, wie eine Menschengurgel zu behandeln ist, darauf können Sie sich verlassen. Doch, streiten wir uns nicht. Wir wollen sehen, ob dieser Mensch uns den Weg offen gelassen hat.« Sie brachen auf und traten in den Quergang hinaus. Demselben nach rechts hin folgend, denn aus dieser Richtung war der Wärter gekommen, trafen sie auf eine offen stehende üre, welche in einen weiteren Querkorridor führte. Als sie demselben nach rechts hin folgten, kamen sie an eine Felsenwand, hier ging es nicht weiter. Sie kehrten zurück und durchschritten die linke Hälfte des Korridores. Da erreichten sie eine üre, welche durch zwei Riegel verschlossen war. Sie schoben dieselben zurück, aber die üre war nicht zu öffnen. »Auch sie hat ein Geheimniß,« meinte Helmers enttäuscht. »Wahrscheinlich,« antwortete Mariano. »Suchen wir!« Sie wendeten allen ihren Scharfsinn auf, sie suchten und probirten stundenlang, aber vergebens. Sie strengten ihre Kräfte an, um die üre aus ihren Angeln zu drücken, doch auch dies gelang ihnen nicht. »Unsere Mühe ist umsonst,« sagte Mariano. »Wir müssen einen zweiten Ueberfall versuchen.« »Auf wen?« fragte Emma. »Auf Verdoja.« »Ja, er hat recht,« sagte Helmers. »Wenn der Wächter Pardero nicht bringt, so wird Verdoja annehmen, daß Beiden ein Unglück widerfahren sei. Er wird dann nach der Pyramide kommen und wir lauern ihm auf dieselbe Weise auf, wie seinem Diener.« »Aber wenn Sie auch ihn todtdrücken!« meinte Emma. »Fällt mir gar nicht ein! Ich werde ihn gar nicht bei der Gurgel fassen. Wir Zwei sind stark genug, ihn festzuhalten, dann rufen
wir die Damen herbei, die ihn binden, während wir dafür sorgen, daß er sich nicht wehren kann. Um sein Leben zu retten, wird er uns die Freiheit geben müssen.« »Das ist der einzige Weg, zu unserer Freiheit zu gelangen,« stimmte Mariano bei. »Kehren wir nach unserem Gange zurück.« »Zunächst haben wir noch Zeit,« sagte Karja. »Jetzt wird der Wächter noch nicht erwartet, und bis Verdoja besorgt wird, können immerhin einige Stunden vergehen.« »So mögen die Damen zu schlafen versuchen, während wir wachen.« Das wurde angenommen. Aber da die Mädchen sich vor den beiden Leichen scheuten, so schlugen sie ihr gemeinschaftliches Lager in der Zelle auf, in welcher Mariano angefesselt gewesen war, und erhielten die brennende Laterne hinein. Mariano und Helmers aber nahmen ihre Posten an der üre ein, an welcher sie bereits den Wärter ergriffen hatten. Dort konnten sie Verdoja am sichersten erwarten. Dieser hatte unterdessen keine Ahnung von dem Schicksale, welches ihm bei seiner Rückkehr nach der alten Opferstätte bevorstand. Er war mit den Mexikanern, wie der Wärter erzählt hatte, nach der Hazienda geritten. Diese war sein väterliches Erbe und gehörte zu den ungefähr sechzig Landgütern, welche der mexikanische Staat Chihuahua mit der Hauptstadt gleiches Namens aufzuweisen hat. Die Hazienda Verdoja lag wohl zwei Tagereisen von der Hauptstadt entfernt, nach Mexiko aber hatte man über eine Woche lang zu reiten. Darum waren die Vorfahren Verdoja’s echte Hazienderos gewesen, welche sich nur allein der Viehzucht gewidmet hatten, der Politik aber fremd geblieben waren. Er war der Erste, welcher dieses Prinzip aufgegeben hatte. Er war ehrgeizig und wollte eine Rolle spielen; das ist in Mexiko, dem Lande der Parteigänger, leicht, aber auch schwer. Er hatte eine Ahnung gehabt, daß Juarez
zur einstigen Größe berufen sei, und sich ihm daher angeschlossen; er hatte es unter diesem kühnen Parteigänger, dessen Zeit aber damals noch nicht gekommen war, bis zum Rittmeister gebracht, nun aber hatte dieses Debüt ein schmähliches Ende gefunden, denn daß Juarez jetzt von ihm nichts mehr wissen möge, das konnte er sich denken. Es war sehr spät, als er die Hazienda erreichte, und Niemand hatte ihn erwartet. Er hatte zwar einen Boten gesendet, um dem Wächter Befehle in Beziehung der zu erwartenden Gefangenen zu geben, aber dieser Wächter hatte zugleich die Weisung erhalten, gegen Jedermann zu schweigen. Darum befand sich bei seiner Ankunft Alles im tiefsten Schlafe und er mußte einige Vaqueros wecken, welche den Befehl erhielten, vor allen Dingen seine bisherigen Begleiter mit frischen, kräftigen Pferden zu versehen. Als dies geschehen war, sprengten die Mexikaner in die Nacht hinaus, derselben Richtung zu, aus welcher sie gekommen waren. Sie waren vollkommen überzeugt, Sternau zu fangen oder zu tödten und also den versprochenen Lohn zu erhalten. Erst jetzt konnte Verdoja an seine eigene Pflege denken. Er war noch unverheirathet, hatte aber eine entfernte Verwandte auf der Hazienda, welche als Dame des Hauses figurirte. Sie empfing ihn mit Ueberraschung. Sie wußte nicht anders, als daß er sich bei Juarez im Süden Mexikos befinde, und war daher erstaunt, ihn bei Nacht und Nebel ankommen zu sehen. Ihr Staunen aber verwandelte sich in Schreck, als sie bemerkte, daß ihm die rechte Hand fehlte. Sie wollte eine große Beileidsrede beginnen, er aber schnitt ihr dieselbe barsch ab und befahl ihr, ein Abendbrod zu bringen. Während des Essens theilte er ihr mit, daß noch ein Gast komme, ein Sennor Pardero, den der Wächter bringen werde. Auch für diesen sei ein Zimmer und ein Nachtmahl bereit zu halten. Dann begab er sich, ermüdet wie er war, zur Ruhe. –
Als er erwachte, war der Morgen bereits vorgeschritten, und die alte Sennora stand mit der Chokolade bereit. Während er dieselbe wortlos verzehrte, sagte sie ihm, wie gut es sei, daß er auf der Hazienda eingetroffen sei. Die Revolution hatte auch die Bevölkerung des sonst so ruhigen Staates Chihuahua ergriffen und der Gouverneur hatte daher um militärische Unterstützung nach Mexiko geschrieben. Infolge dieses Berichtes waren mehrere Schwadronen Reiter nach Chihuahua detachirt worden, welche nun die Gegend durchzogen und allen Feinden der gegenwärtigen Regierung ihre Oberhand fühlen ließen. Nun war es zur Genüge bekannt, daß Verdoja zu diesen Feinden gehöre, er diente ja unter Juarez, und darum hatte man auf der Hazienda bereits längst einen Besuch der Truppen erwartet und gefürchtet. Verdoja hörte schweigsam zu und äußerte kein Wort darüber, ob diese Nachricht ihm Sorge bereite oder nicht. Endlich aber fragte er, die leere Tasse fortschiebend: »Ist Sennor Pardero bereits munter?« »Sennor Pardero?« fragte sie. »Nun ja, der Sennor, den ich gestern noch erwartete.« »Ah, dieser? Der ist noch gar nicht da.« »Noch nicht?« fragte Verdoja erstaunt. »Und der Wächter, der ihn bringen sollte?« »Den habe ich auch nicht gesehen.« »Du wirst es verschlafen haben und man wird sich geholfen haben, wie man konnte.« Sie machte ein sehr erzürntes Gesicht und sagte: »Man kann sich hier gar nicht helfen, wie man will. Wenn Gäste kommen, so bin ich es, die zu befehlen hat, und ist es des Nachts, so werde ich sicherlich geweckt. Ich habe aber bis zum Anbruche des Morgens gewacht und vergebens gewartet.«
Er sagte weiter nichts und erhob sich. Er schritt nach dem Hofe und befahl, ihm ein Pferd zu satteln. Noch während man damit beschäftigt war, kam einer der Vaqueros herbei gesprengt und meldete, daß eine sehr bedeutende Schaar Dragoner im Anritte sei. Er hatte diese Meldung kaum gemacht, so sah man auch bereits die Reiter dahergesprengt kommen. Jetzt war es also keine Zeit, nach der Opferstätte zu reiten. Verdoja wartete die Ankunft der Dragoner ruhig ab. Sie ritten vor dem Wohnhause auf. Die Offiziere stiegen ab und der Befehlshaber, ein Rittmeister, trat herzu. Nach einem leichten, militärischen Gruße fragte er: »Dies ist die Hazienda Verdoja, Sennor?« »Ja,« antwortete der Besitzer. »Sie gehört einem Sennor gleichen Namens?« »Ja.« »Der als Rittmeister unter Juarez dient?« »Nein.« Der Offizier blickte Verdoja überrascht an und sagte pikirt: »Sennor, wir sind sehr gut unterrichtet!« »Ich bezweifle dies,« antwortete Verdoja kühl. »Sennor!« meinte der Hauptmann, fast drohend. »Sennor!« meinte Verdoja, überlegen lächelnd. »Ich weiß zum Beispiel sehr genau, daß Verdoja sich gegenwärtig in Potosi bei Juarez befindet!« »Ha! Wenn Sie wirklich so gut unterrichtet sind, so bin ich es desto schlechter.« »Ohne allen Zweifel. Sie sehen ein, daß die Regierung alle Veranlassung hat, diese Hazienda zu berücksichtigen. Ich habe den Befehl erhalten, mein Quartier hier aufzuschlagen.« »Mit der ganzen Schwadron?« »Gewiß.« »Auf Kosten der Hazienda?«
»Ja.« »Gegen diese Maßregel muß ich protestiren.« »Mit welchem Rechte?« »Mit dem Rechte, welches dem Besitzer zusteht. Mein Name ist Verdoja, Sennor.« »Ah, Sie sind ein Verwandter des Besitzers?« »Nein; ich bin der Besitzer selbst. Ich befinde mich hier aber nicht in Potosi. Sie sehen also, wer von uns Beiden am besten unterrichtet ist.« »So beruht die Sache auf einem Irrthume?« »Wahrscheinlich. Ich stehe im Begriffe, meine Vaqueros zu inspizieren; dies ist ein Ritt, der sich nicht aufschieben läßt. Quartieren Sie sich nach Belieben ein, aber denken Sie daran, daß ich nicht verantwortlich bin für das, was Sie thun. Adieu!« Er schwang sich auf sein Pferd und ritt davon, ohne einen der Dragoner eines Blickes zu würdigen. Niemand folgte ihm, und er erreichte die Pyramide unbemerkt und unbeobachtet. Er stieg dort ab, führte sein Pferd in das Gebüsch und band es dort an. An dieses Gebüsch stieß ein vielfach zersprungener Felsen, in dessen Rissen sich eine kleine Moosart angesiedelt hatte. Da, wo der Felsen auf dem Boden ruhte, schienen einige dieser Risse sehr tief einzuschneiden. Verdoja kniete nieder und legte die eine Schulter an den Felsen. Er drückte kräftig dagegen und ein Stück dieses Felsens, welches von vier Rissen eingefaßt war, wich nach innen. Jetzt wurde ein großes Loch sichtbar und auf dem Boden desselben einige sehr harte Steinrollen, auf denen sich das Felsenstück bewegt hatte. Das Loch hatte einen genügenden Umfang, um einem Manne in gebückter Stellung Eingang zu gestatten. Verdoja trat ein, wendete sich in eine seitliche Vertiefung und schob den Felsen wieder in sein früheres Lager zurück. In dieser Vertiefung standen einige Blendlaternen von derselben Art, wie der Wächter eine getragen hatte. Verdoja brannte eine der-
selben an und schritt nach einem Gange, der abwärts in den Felsen lief. Nach einer Weile ging es einige Stufen aufwärts, dann wieder abwärts, bald geradeaus, bald in einem Bogen. Er gelangte durch Felsenkammern, er kam an Zellen vorüber. Er öffnete üren und schloß sie wieder, nur durch einen leichten Druck mit der Hand, wobei ein scharfes, metallisches Klingen sich hören ließ. Die Wände waren feucht, der Fußboden noch feuchter. Endlich ging es eine Treppe aufwärts. Er öffnete auf dieselbe geheimnißvolle Weise noch einige üren, kam durch mehrere Gänge und endlich auch an die üre, vor welcher die vier Gefangenen sich vergeblich angestrengt hatten. Sie wich seinem leisen Drucke, obgleich sie auf der anderen Seite mit zwei Riegeln befestigt war. Er hatte noch die üre zu passiren, welche der Wächter offen gelassen hatte, und trat nun in den Gang, in welchem die beiden Zellen lagen, in denen Mariano und Helmers angefesselt gewesen waren. Er hatte alle diese üren hinter sich verschlossen. Er ahnte nicht, daß man in diesem Gange auf ihn warte. Er glaubte, daß Pardero sich noch immer bei der Indianerin befinde, daß er dem Wächter nicht gefolgt sei und daß dieser durch irgend einen zufälligen Umstand verhindert worden sei, nach der Hazienda zurück zu kommen. So schritt er langsam vorwärts und bog in den Gang ein, in welchem die beiden Gefängnisse der Mädchen lagen. Da fiel das Licht der Laterne auf Mariano. Er erkannte ihn vollständig und zu gleicher Zeit wurde er von hinten gefaßt. »Halt! Ich habe ihn!« rief Helmers. »Noch nicht!« brüllte Verdoja. Er riß sich los und versetzte Mariano, welcher ihn gleichfalls packen wollte, einen Fußtritt in den Unterleib, daß der Getroffene zu Boden stürzte. Dann sprang er in langen Sätzen vorwärts, die Laterne in der Hand.
Er ahnte im Augenblicke, wie die Sache stand. Pardero und der Wärter waren überwältigt und getödtet worden, sonst konnten die Gefangenen ja nicht frei sein. Es galt, ihnen zu entkommen und dafür zu sorgen, daß sie den Ausweg nicht fanden. Darum setzte er den Kampf nicht fort, sondern zog die Flucht vor. »Ihm nach!« rief Helmers. Mariano hatte sich augenblicklich wieder erhoben. »Ohne die Damen?« fragte er. »Ja,« antwortete Helmers. »Aber wenn wir sie verlieren! Ich hole sie!« »So laufe ich voran.« Er sprang dem Fliehenden nach, während Mariano die Mädchen holen wollte. Es war nicht nöthig; sie standen bereits hinter ihm, mit der brennenden Laterne in der Hand. Karja war sogar so vorsichtig gewesen, die Oelflasche zu ergreifen. »Kommen Sie, schnell, schnell!« rief er und eilte Helmers nach. Diesem war es unterdessen fast gelungen, Verdoja einzuholen. Dieser hatte die üre erreicht. Sie sprang vor ihm auf, ohne daß er den Riegel berührte. Hinter ihr wurde ein dunkler Raum sichtbar, in dessen Mitte ein schwarzes Loch im Boden gähnte. Ein Bret führte darüber. Verdoja betrat dasselbe eben in dem Augenblicke, in welchem Helmers unter der üre erschien. Er sprang im eiligen Laufe über das Bret, es zitterte und knirschte; er hatte nur noch zwei Schritte zu thun, um den jenseitigen Rand des Schlundes zu erreichen, da – prasselte und knackte es auseinander. »O Dios!« Mit diesem gellend ausgestoßenen Schrei schlug er die Hände empor und stürzte in die gähnende Tiefe hinab. Man hörte seinen Körper unten aufschlagen. »Herr Gott!« rief Helmers, unter der üre stehen bleibend. »Er ist zerschmettert!«
»Wo, wo?« fragte Mariano, welcher hinter ihm angekommen war. »Hier hinab.« Auch die beiden Mädchen kamen herbei. Emma wollte, an den Schlund tretend, die üre hinter sich zufallen lassen, aber Mariano erfaßte dieselbe noch zu rechter Zeit. »Um Gottes Willen, Sennorita, wir dürfen die üre nicht schließen lassen, denn wir können sie nicht wieder öffnen, und dann ständen wir vor diesem Abgrunde. Wir könnten nicht hinüber und hätten hüben kaum so viel Platz, um bequem stehen zu können.« Und es war so. Der Raum, vor dessen geöffneter üre sie standen, war viereckig, aber im Boden klaffte ein wohl fünf Ellen breiter Spalt in die Tiefe, welcher von der rechten bis zur linken Wand ging und also nur mittelst eines Bretes überschritten werden konnte. Diesseits des Loches hatte der Fußboden eine Breite von nur zwei Fuß, so daß kaum Platz zum Stehen war. Beim Scheine der Laterne sahen sie, daß in der Decke ein gleiches Loch war, welches in die Höhe ging. »Es ist ein Brunnen gewesen,« sagte Helmers. »Jedenfalls,« antwortete Mariano. »Horcht!« Aus der Tiefe klangen dumpfe Laute. Helmers kniete nieder und rief hinab: »Verdoja!« Ein gräßliches Wimmern antwortete. »Sind Sie bei Besinnung?« fragte der Deutsche. Man hörte dasselbe Wimmern, aber man vernahm, daß es eine Antwort sein sollte. Einen artikulirten Laut konnte man nicht unterscheiden. »Können wir helfen?« fragte Helmers abermals. Aus dem auch jetzt erfolgenden Wimmern ließ sich nichts nehmen.
»Er ist verloren; es ist wenigstens dreißig Ellen tief,« meinte Mariano. »Er hat seine Strafe,« setzte Karja finster hinzu. »Aber was wird mit uns?« »Die üre ist offen,« antwortete Emma. »Vielleicht entdecken wir jetzt die geheimnißvolle Vorrichtung.« Sie beleuchteten den Eingang und sahen nun zu ihrem Erstaunen, daß die Seitentheile des ürgewändes sich mit der üre geöffnet hatten. Im oberen eile aber und in der Schwelle waren tiefe Riegellöcher zu bemerken, welche in ganz gleiche Vertiefungen führten, und sich in der oberen und unteren Kante der üre befanden. Wie aber die darinnen steckenden Riegel geöffnet und geschlossen werden konnten, das war nicht zu ersehen. Die vier Personen gaben sich die erdenklichste Mühe, dieses Geheimniß zu ergründen, aber es gelang ihnen nicht. Ueber den Abgrund hinüber war nicht zu entkommen; das Wimmern des Verunglückten wurde immer gräßlicher und schneidender und so kehrten sie wieder nach dem Gange zurück, in welchem sie sich vorher befunden hatten. Die üre zu dem Brunnengemache aber ließen sie offen, indem sie das Verschließen durch dazwischen gestecktes Stroh, welches sie aus der Zelle holten, verhinderten. Jetzt standen sie da und blickten einander rathlos an. »Ob er vielleicht, bevor er zu uns kam, eine ür offen gelassen hat?« meinte Mariano. »Wir wollen nachsehen.« Sie verfolgten den Gang bis zu derselben ür, welche ihnen bereits einmal Halt geboten hatte, fanden sie aber fest verschlossen, und so viel Scharfsinn und Körperkraft sie auch daran wandten, sie zu öffnen, es gelang ihnen nicht. »Wir sind eingeschlossen,« sagte Emma. »Wir sind zum Tode des Verschmachtens verdammt; wir müssen sterben.« »Noch nicht,« tröstete Mariano. »Gott wird uns nicht umkommen lassen.«
»Wir wollen fleißig nachdenken und versuchen,« meinte Helmers. »Vielleicht gelingt es uns doch noch, das Geheimniß der üren zu entdecken.« »Wir entdecken es nicht,« sagte Karja. »Hilfe kann nur noch von Sennor Sternau kommen.« »Aber wenn dieser selbst nicht kommt!« klagte Emma. »Sie werden ihn fangen und tödten.« »O, er ist klug; vielleicht entkommt er,« tröstete Helmers. »Uebrigens brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen darüber, wie die üren geöffnet werden. Wir haben ja ein ganz gutes Werkzeug dazu.« »Welches?« fragte Mariano. »Unsere Messer.« »Ah, wirklich!« rief Emma. »Wir schneiden die üren durch.« Helmers konnte sich trotz ihrer schlimmen Lage eines leisen Lachens nicht erwehren. »So ist es nicht gemeint, Sennorita,« sagte er. »Dieses Holz ist so hart wie Eisen; es würde eine Riesenarbeit von einigen Jahren sein, alle üren zu durchschneiden, und selbst dann wäre es noch fraglich, ob wir zu dem richtigen Ausgange gelangen. Und das Holz nur einer einzigen ür zu durchschneiden, würde uns nichts Anderes bringen, als was wir bereits gesehen haben. Wir haben ja bereits eine offene ür, ohne das Geheimniß ergründen zu können. Ich meine vielmehr, wir müssen den eil der Mauer entfernen, welcher sich um das ürgewände legt; in diesem eile ist das Geheimniß verborgen.« »Das ist richtig!« stimmte Mariano bei. »Gehen wir sofort an das Werk!« »Es giebt noch ein kürzeres Mittel, wenn es gelingt,« bemerkte die Indianerin. »Welches?« fragten schnell die Anderen.
»Wir drehen uns ein Seil, und Einer läßt sich zu Verdoja hinab. Lebt er noch, so muß er sagen, wie die üren geöffnet werden.« »Wovon soll das Seil gefertigt werden?« fragte Helmers. »Von den Lassoriemen, mit denen wir gefesselt waren, sie liegen noch in den Zellen; ferner von den Kleidern der beiden Todten, auch von den unserigen, soweit sie entbehrlich sind. Vielleicht können wir die Ketten ausdrehen, an denen die beiden Sennors gefesselt waren. Man nahm für Sennorita Emma und mich einige Decken mit. Sie liegen noch in meiner Zelle und der ihrigen. Wenn wir sie zerschneiden und zusammendrehen wird ein Seil fertig.« Dieser Vorschlag wurde angenommen. Man vereinigte die zerschnittenen Lassostücke; man zerschnitt die Kleider Pardero’s und des Wächters, die man ihnen auszog, ebenso die Decken, und als das Seil fertig war, hatte es eine Länge von über dreißig Fuß. Um seine Festigkeit zu prüfen, zogen Mariano und Helmers mit aller Macht an demselben, es gab nicht nach; und so erklärte Mariano, sich demselben anvertrauen zu wollen, da er der Leichtere sei. Man hatte zwei Laternen. Die eine befestigte Mariano sich um die Taille, und nun begaben sie sich nach dem Brunnengemache. Hier hörten sie das fürchterliche Wimmern noch immer in derselben Stärke wie vorher; Mariano band sich das eine Ende des Seiles unter den Armen fest, um sich hinabzulassen, erklärte aber, aufwärts werde er an demselben emporklettern. Hierzu gab es zwei Gründe, erstens wurde ihm dieses Klettern leichter als Helmers das Ziehen, selbst wenn die Damen mit helfen würden, und zweitens war das Emporziehen für ihn gefährlicher, da das Seil am Rande des Schlundes scheuerte und dadurch leicht reißen konnte. Da vier Krüge mit Wasser vorhanden waren, so opferte man einen davon, um das Seil zu befeuchten; es erhielt dadurch eine größere Elasticität und Widerstandsfähigkeit. Dann ging man an das Werk.
Mariano knieete am Rande nieder, faßte dann das Seil oberhalb der Befestigung mit beiden Händen und stieß die Kniee vom Rande ab. »In Gottes Namen, jetzt hinab!« sagte er. Helmers war stark; niederwärts konnte er ihn allein erhalten, und so verschwand der kühne, junge Mann bald in dem schwarzen Schlunde. Helmers ließ das Seil sehr langsam und vorsichtig ablaufen, und die beiden Frauen, welche sich am Rande niedergeknieet hatten und hinabblickten, sahen den Lichtschein seiner Laterne sich immer weiter entfernen. »Um Gotteswillen, wenn er erstickt!« sagte da Emma. »Dieser Brunnen ist sehr tief und sehr alt; er kann gefährliche Gase enthalten.« Daran hatte man vorher gar nicht gedacht; aber Helmers schüttelte lächelnd den Kopf und fragte: »Sennorita, hören Sie Verdoja noch wimmern?« »Ja,« antwortete sie, »es klingt schrecklich!« »Nun, dieses Wimmern ist ein Zeichen, daß er noch lebt, und er würde nicht mehr leben, sondern erstickt sein, wenn es da unten tödtliche Gase gäbe.« Nach einiger Zeit, als das Seil auf fast nur noch zwei Ellen abgelaufen war, hörte die Spannung auf. Mariano hatte den Boden erreicht, und die drei oben befindlichen Personen lauschten mit großer Spannung hinab. Der Brunnen war, wie bereits gesagt, nicht rund, sondern viereckig, und die vier Wände waren glatt; das schloß jede Gefahr für das Seil aus. Vor Jahrhunderten hatte er wohl Wasser gegeben, jetzt aber war er vollständig ausgetrocknet. Mariano stand an einem porösen Felsen, welcher ringsum von einer sandigen Erdschicht umgeben war. Durch diese war vor Jahren das Wasser hereingesikkert.
Jetzt sah sich der junge Mann nach Verdoja um. Dieser lag zusammengekrümmt wie ein Hund vor seinen Füßen und ließ aus dem offenen Munde jenes Wimmern hören, welches hier unten noch viel schrecklicher klang, als oben. Die Lippen zeigten einen blutigen Schaum; die Augen standen offen, waren aber nicht stier, sondern hatten einen Ausdruck, der erkennen ließ, daß Verdoja bei vollständiger Besinnung sei. »Schreien Sie nicht, sondern antworten Sie,« sagte Mariano. »Ich komme, Ihnen zu helfen.« Der Verunglückte hörte einen Augenblick lang auf mit Wimmern und sah den Retter mit einem Blicke an, in welchem ein wahrhaft teuflischer Haß zu erkennen war. »Wo ist Pardero?« fragte er. Aber man sah ihm an, daß ein jedes Wort ihm die fürchterlichsten Schmerzen bereitete. »Todt,« antwortete Mariano. »Der Wärter?« »Auch todt.« »Die Mädchen?« »Sie sind oben bei uns.« »Mörder!« Er wollte die Fäuste ballen, aber es ging nicht; er hatte beide Arme gebrochen. »Schmähen Sie nicht,« gebot Mariano ernst. »Sie sind an Allem selbst schuld! Und dennoch werden wir Sie retten.« »Ihr? Wie?« fragte Verdoja. Aber er litt dabei solche Schmerzen, daß er fast zwischen jeder Silbe ein tief einschneidendes Jammern ausstieß und daß seine Worte nur schwer zu verstehen waren. »Wir ziehen Sie mit dem Seile hinauf und schaffen Sie nach der Hazienda.«
Ueber das schmerzverzerrte Gesicht Verdoja’s glitt für einen Augenblick ein lichter Zug; dann aber verfinsterte er sich wieder, und er fragte: »Wie kommt Ihr hinaus?« »Sie werden sagen, wie die üren zu öffnen sind und welchen Weg wir einzuschlagen haben.« »Ah! Ihr wißt es nicht!« Ein Zug wahrhaft höllischer Schadenfreude verzerrte sein Gesicht noch mehr, als es bereits vom Schmerze geschah, dann fügte er hinzu: »Ihr müßt verhungern – verdursten – verschmachten!« Er rief jedes dieser drei Worte in einem höheren Tone, bis die letzte Silbe über die höchste Fistel schnappte. Er genoß eine Genugthuung, welche sogar die fürchterlichen Schmerzen, welche er litt, betäubte. »Wir werden nicht verschmachten,« antwortete Mariano, »denn Sie werden wieder frei und gesund sein wollen, und das können Sie nur durch uns.« »Frei! Gesund! Ah!« stöhnte Verdoja. »Nie! Arme gebrochen! Rückgrat gebrochen! Ich muß sterben!« »Sie werden nicht sterben; Sie werden leben und zwar durch uns. Wollen Sie sich uns anvertrauen?« »Nie! Nie! Auch Ihr sollt sterben!« Der Schaum um seinen Mund verdoppelte sich, und seine Augen drohten, aus ihren Höhlen zu treten. Er glich einer gräulichen Schlange, welche sich noch im Tode windet, um Gift zu spritzen. Mit Mariano’s Geduld ging es fast zu Ende. »Aber Mensch, Sie richten sich ja selbst zu Grunde!« rief er. »Ich will es!« antwortete Verdoja. »Und auch Ihr sollt zu Grunde gehen, verfaulen, in die Hölle fahren!« »Ist dies Ihr letztes Wort?« Da fletschte der Mensch die Zähne und grinste:
»Mein letztes, letztes, letztes.« »Nun gut, so hört die Liebe auf und die Strenge beginnt,« sagte der junge Mann. »Wenn Bitten nicht helfen und die eigene Lust zum Leben, so giebt es andere Mittel, einen solchen Teufel zum Reden zu bringen. Wir haben keine Lust, in Folge Deiner höllischen Bosheit hier zu verschmachten.« Er knieete neben Verdoja nieder, faßte die beiden Arme desselben an der Stelle, wo sie gebrochen waren und drückte sie da mit aller Gewalt. Diese Art der Folter preßte dem Bösewicht einen Schrei aus, von dem Mariano meinte, er müsse da oben sogar außerhalb der Pyramide gehört werden. »Wie werden die üren geöffnet?« fragte er. »Ich sage es nicht!« brüllte Verdoja. »Du mußt es sagen; ich lasse nicht nach!« Er drückte und quetschte die Stellen mit aller Macht. Das Geschrei, welches Verdoja bei den entsetzlichsten Schmerzen ausstieß, glich dem Gebrülle von zehn Tigern, aber er gab die gewünschte Antwort nicht. Da faßte ihn Mariano bei den Beinen. – Das half nichts, sie waren gänzlich gefühllos; der Mensch hatte den unteren eil des Rückgrates gebrochen und lachte höhnisch auf, als er die Erfolglosigkeit von Mariano’s Bemühungen sah. Dieser wurde dadurch zorniger. »Lache nur, Du Satan,« sagte er. »Es giebt noch andere Schmerzen.« Er fühlte sich bis zur Gefühllosigkeit zornig; er faßte die Hände des Verwundeten und gab beiden Armen einen so gewaltigen Ruck, daß er glaubte, sie aus dem Leibe zu ziehen. Verdoja stieß einen entsetzlichen Schrei aus, beantwortete aber die Frage nicht. »Mensch, Du bist für den Teufel zu schlecht!« rief er. »So stirb denn so, wie Du es willst. Gott wird uns helfen!« Er rüttelte an dem Stricke, zum Zeichen, daß er empor wolle, und faßte dann denselben mit beiden Händen an. Als Verdoja
dieses bemerkte, erhob er den Kopf, spie nach dem jungen Manne und rief mit überschnappender Stimme: »Seid verflucht! Verflucht! Verflucht!« Diese Abschiedsworte brachten Marlano auf einen Gedanken, den er bis jetzt gar nicht gehabt hatte – wunderbarer Weise. Er knieete noch einmal vor Verdoja nieder und untersuchte dessen Kleider. Er fand eine Uhr, Geld, Ringe, einen Revolver, ein Messer und andere Kleinigkeiten; er nahm ihm Alles ab und steckte es zu sich. »Räuber!« rief Verdoja. »Pah, wir können es gebrauchen, Du aber nicht, Hallunke!« Er probirte nochmals am Seile, ob es oben festhalten werde, und turnte sich dann an demselben empor. Er erreichte den Rand glücklich, und während von unten das herzzerreißende Wimmern heraufscholl, wurde er von den Andern nach dem Erfolge seiner waghalsigen Sendung gefragt. Als er denselben mittheilte und auch erzählte, welche Folter er angewendet habe, um den Menschen zum Sprechen zu bringen, zogen sich die Mädchen voll Grauen zurück, Helmers aber sagte: »Warum haben Sie diesen Satan nicht erstochen oder erschlagen?« »Fällt mir nicht ein. Er will nicht gerettet sein, weil auch wir sonst frei würden, und so mag er krepiren und verschmachten, wie er es uns bestimmt hat.« »So bleibt uns nichts übrig, als zu den Messern zu greifen und die Backsteine um die ür auszugraben. Wenn wir die Konstruktion nur einer einzigen üre kennen, so können wir alle andern üren öffnen.« Sie kehrten in die Gänge zurück und zwar zu der von Verdoja zuletzt verschlossenen ür, und machten sich da an die Arbeit. – Unterdessen hatten sich die Dragoner in der Hazienda Verdoja einquartiert, und ihre Offiziere warteten auf die Rückkehr des
Besitzers. Der Tag verging, der Abend und die Nacht ebenso, und Verdoja kam nicht. Nun war der Rittmeister überzeugt, daß er entflohen sei, und behandelte die Hazienda als feindliches Gebiet. Er hatte die Aufgabe, den Heerd der Empörung gegen Norden zu von der Provinz Sonora abzuschließen, und da in diesen wilden Gegenden das Militär dazu zu schwach war, so waren Botschafter an die Häuptlinge der nördlichen Indianer gegangen, und die Comanchen hatten sich bereit finden lassen, die Gegend zu besetzen. Sie kamen in hellen Haufen herangezogen, aber ihr eigentlicher Zweck war nicht, die Verfassung von Mexiko zu schützen, sondern im Trüben zu fischen und möglichst reich an Beute nach ihren Wigwams zurückzukehren. – – Während es auf der Hazienda Verdoja von Kriegern wimmelte, sah es auf der Hazienda del Erina sehr einsam aus. Petro Arbellez, der Besitzer derselben, hatte jene Nacht, in welcher seine Tochter geraubt wurde, mit Helmers, dem Bruder des Steuermannes, auf der benachbarten Hazienda Vandaqua zugebracht. Dies wissen wir bereits. Als am anderen Morgen die brave Maria Hermoyes erwachte, war ihr Erstes, wie gewöhnlich die Chocolade für Emma und Karja zu bereiten. Als dieselbe in den Tassen dampfte, trug sie sie empor nach den Schlafzimmern der beiden Sennoritas. Wie erstaunte sie aber, als sie die Zimmer verlassen fand. Eine Unordnung, oder gar die Spur eines Kampfes war nicht zu erkennen; dafür hatte Verdoja kluger Weise gesorgt, und da sich bald herausstellte, daß auch die drei Sennores Sternau, Helmers und Mariano die Hazienda verlassen hatten, so glaubte die alte Dame, daß es sich hier um weiter nichts, als einen schnell beschlossenen Morgenausflug handele. Als aber der Morgen und dazu der halbe Nachmittag verging, ohne daß die Vermißten zurückkehrten, so ward die Sorge dringender. Es gab nur noch Beruhigung in der Annahme, daß alle
fünf Personen einen Ritt nach der Hazienda Vandaqua unternommen hätten, um den Vater und den Geliebten zu überraschen. Da kehrten aber Petro Arbellez und Helmers allein zurück, und sogleich stand bei der guten Maria die Ueberzeugung fest, daß es sich hier um ein sehr großes Unglück handle. Sie eilte in den Hof und empfing die beiden mit der weinend ausgesprochenen Frage: »O Sennores, Sie kommen allein! Sind denn die Anderen nicht dabei?« »Wer?« fragte Arbellez. »Was meinst Du?« »Weil es ein Unglück ist, ein fürchterliches Unglück!« »Was denn?« »Daß sie nicht da sind!« »Wer denn, zum Teufel?« »Sennor Sternau.« »Sennor Sternau? Was soll ihm denn passirt sein?« »Und Sennor Mariano!« »Auch er?« »Und Sennor Helmers!« »Diese Drei? O, das sind tüchtige Kerls, die schon dafür sorgen werden, daß ihnen nichts passirt.« »Aber sie sind bereits seit heute Morgen fort.« »Sie werden wiederkommen.« »Und Sennora Karja.« »Hm, auch sie?« »Und Sennora Emma.« »Alle Wetter, sind die beiden Damen denn auch mit?« »Ja.« »Wohin denn?« »Das weiß ja Niemand.« »Wann sind sie fort?« »Auch das weiß kein Mensch. Als ich erwachte, waren sie bereits nicht mehr da.«
Jetzt begann der Haziendero ängstlich zu werden. »Haben sie denn keinem Menschen etwas von dem Ausfluge gesagt?« fragte er. »Keinem.« »So möchte ich wissen, wohin sie geritten sind.« »Das ist ja das Schlimme, daß sie gar nicht geritten sind!« »Nicht? Alle Teufel, da scheint wirklich etwas vorzuliegen! Haben Sie denn auch gestern Abend nichts erwähnt?« »Kein Wort, obgleich sie noch beisammen blieben, als der Lanzenreiter bereits zur Ruhe gegangen war.« »Ein Lanzenreiter war da?« fragte Helmers schnell. »Ja, ein Kurier von Juarez.« »Wann ist er abgereist?« »Er war auch fort.« »Ah! In welchem Zimmer hat er geschlafen? Zeige es mir. Schnell!« Er faßte die Alte beim Arme und zog sie fort, hinauf nach den Gastzimmern zu. Dasjenige, in welchem der vermeintliche Offizier gewohnt hatte, wurde geöffnet, und da zeigte sich nichts als eine Menge Sand, welches auffällig war. Helmers blickte unter das Bett, langte mit dem Arme hinab und zog – eine Strickleiter hervor. Die Räuber hatten sie liegen lassen, hatten nicht wieder an sie gedacht. Arbellez stieß einen Ruf des Schreckens aus und wollte forteilen, um alle seine Untergebenen zu allarmiren, aber Helmers hielt ihn zurück. »Halt!« sagte er; »keine Ueberstürzung. Es scheint allerdings, daß hier etwas Ungewöhnliches geschehen ist; wir müssen das aber in Ruhe untersuchen. Maria, gehen Sie in die Zimmer Emma’s und Karja’s, und sehen Sie, welche Kleider fehlen. Kommen Sie gleich wieder hierher, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen!«
Sie eilte fort. Arbellez zitterte vor Aufregung; auch Helmers war erregt; aber er bezwang sich und öffnete ruhig das Fenster, um hinabzublicken. Er war ein Prairiejäger; er war sogar unter dem Namen Donnerpfeil berühmt gewesen; er verstand es, die Spuren eines Verbrechens zu verfolgen. Als er den Kopf wieder in das Zimmer zog, war sein Antlitz blaß geworden. »Man hat sie entführt und geraubt,« sagte er. »O heilige Madonna, ist das wahr?« fragte Arbellez erschrocken. »Ja. Aber nur Ruhe, mein lieber Vater! Da unten vor dem Fenster haben viele Menschen gestanden; das sieht man an den Spuren. Sie sind über die Pallisaden herübergekommen und durch das Fenster in dieses Zimmer gestiegen. Die vielen Sandkörner hier auf der Diele blieben ihnen an den Sohlen kleben. Sie haben die Verschwundenen jedenfalls einzeln überfallen. Aber es wundert mich, daß dies so in aller Ruhe hat geschehen können, daß Niemand etwas davon gemerkt hat.« Arbellez war sprachlos vor Schreck, und auch Helmers sagte kein Wort mehr, bis Maria Hermoyes zurückkehrte. Sie meldete, daß bei beiden Damen je nur ein Anzug und eine Decke fehlten. »So gehen wir in die Zimmer der verschwundenen Sennores!« sagte Helmers. Sie fanden bei Mariano und dem Steuermanne die Betten eingerissen, sonst aber Alles in Ordnung, bei Sternau aber war das Bett unberührt. Helmers schüttelte den Kopf. »Jetzt in den Hof!« sagte er. »Ich muß Klarheit haben.« Sie umschritten das Gebäude, Helmers stets voran. Er betrachtete jeden Zollbreit des hinteren Hofes, auch die ganze Länge des Palissadenzaunes, zuletzt die eine Ecke desselben und sagte dann: »Jetzt weiß ich es. Der Lanzenreiter war ein Spion; er sollte sie in das Gebäude lassen. Hier an dieser Stelle sind sie über den Zaun gestiegen. Sternau hat Verdacht geschöpft; er ist patrouilliren gegangen; er kam nur bis hierher, wie seine Fußtapfen im Sande
zeigen. Da hat man ihn von hinten meuchlings niedergeschlagen und nach jener Ecke geschleppt. Ich sehe ganz genau, daß er dort gelegen hat. Dann sind sie durch das Fenster gestiegen, haben aber das Haus nicht wieder durch dasselbe verlassen, folglich sind sie durch das or fortgegangen. Nach den Palissaden sind sie von Süden her gekommen, folglich sind sie auch wieder nach dieser Richtung hin gegangen. Wir wollen sehen.« Er führte Arbellez zum ore hinaus und schritt immer nach Süden zu, den Boden genau beobachtend, ohne ein Wort zu sagen. Bei einem Gebüsch angekommen, verweilte er dort längere Zeit. »Warten Sie hier, bis ich wiederkomme.« Mit diesen Worten ging er fort und schlug einen großen weiten Bogen um den Ort, an welchem Arbellez stand. Als er zurückkehrte, sagte er: »Endlich bin ich fertig. Was ich vermuthete, ist wahr: Man hat Ihnen Ihre Tochter und mir meine Braut geraubt. O, wären wir heute Morgen zurückgekehrt, so säße ich den Räubern vielleicht bereits auf dem Nacken. So aber werden sie über einen Tag Vorsprung erhalten.« Arbellez brach fast zusammen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und rief: »O mein Kind, meine Tochter! Wer hat mir das gethan?« »Verdoja und Pardero, kein Anderer. Der Eine trachtete nach Emma und der Andere nach Karja. Und die Anderen haben sie überrumpelt, um sich für das Duell zu rächen. Aber so wahr ich hier stehe und Donnerpfeil genannt werde, der Raub soll ihnen keinen Segen bringen.« Seine Augen funkelten und seine Gestalt reckte sich. Er war nicht mehr der kranke, hilflose Patient, sondern ganz wieder der frühere Westmann, der die Rache in seine Brust verschloß, um die Scene offen zu halten. »Aber was thun wir?« fragte Arbellez.
»Wir verfolgen sie und werden sie erwischen, obgleich sie es sehr schlau angefangen haben. Sie haben sich in fünf eile getheilt und sind von hier aus, wo sie sich versammelten, nach verschiedenen Richtungen fort. Je Drei haben einen Gefangenen bei sich gehabt, fünfzehn Mann und fünf Gefangene. Es giebt ganz sicher einen Punkt, an dem sie sich wieder vereinigen, und dieser ist jedenfalls jenseits des Gebirges.« »So müssen wir jeder dieser Spuren einzeln folgen?« »Nein. Der Räuber ist Verdoja. Hier darf er sich nicht sehen lassen, in Durango auch nicht; in Chihuahua ist er ansässig, sicher geht er dorthin. Da muß er durch die Mapimi, und ich bin überzeugt, daß am Rande dieser Wüste sich alle diese Spuren vereinigen. Hätte ich Büffelstirn oder Bärenherz, den Apachen, hier, so wüßte ich, daß in sechs Tagen Emma wieder in Ihren Armen läge.« »O, Antonio,« rief der Haziendero, »nehmen Sie alle meine Vaqueros und Ciboleros mit sich. Ich selbst will mitgehen! Nur befreien Sie meine Tochter!« »Haben Sie keine Sorge, mein Vater! Ich werde sie befreien. Aber von Ihren Vaqueros geben Sie mir nur zwei mit; den braven Franzesco, der mich begleiten soll, und noch einen, den ich zurücksende, sobald ich eine gute Spur gefunden habe.« »Und wann brechen Sie auf?« »Sogleich. Geben Sie mir sechs Pferde mit, damit ich morgen früh frische iere habe.« Als sie die Hazienda wieder erreichten, standen alle Angehörigen des Landgutes bereits versammelt. Maria Hermoyes hatte nicht zu schweigen vermocht, sondern Allarm geschlagen. Arbellez gab Auskunft und theilte seine Befehle aus, wobei ihm immer die ränen des Grames über die Wangen liefen. Helmers aber ging nach seinem Zimmer, um seinen Trapperanzug wieder anzulegen. Dann suchte er auch die Zimmer der Verschwundenen auf, und als die Pferde gesattelt unten standen, lud man ihnen nicht nur Mu-
nition und Proviant, sondern auch einige Packete auf, in welchen sich Verschiedenes, was den Verschwundenen gehörte, befand, besonders aber ihre Waffen. »Ich werde sie finden,« sagte Helmers, »und dann werden sie sich freuen, sofort die Waffen zu haben, an welche sie sich gewöhnt haben.« Er nahm einen innigen Abschied von dem Haziendero und sprengte davon, von dem Segen desselben begleitet, mit seinen beiden Vaqueros dem Westen entgegen. Petro Arbellez blieb zurück. Er wäre von Herzen gern mitgeritten, um sein einziges Kind aus der Gefangenschaft dieser Menschen zu befreien; er war voll Schmerz über ihr Schicksal und voll Grimm über die Räuber, aber er konnte die zwei Hazienda’s, deren Herr er jetzt war, nicht ohne Aufsicht lassen, und so blieb dem alten, frommen Manne nichts übrig, als für die Rettung seiner Tochter und der übrigen Gefangenen zu beten. Anton Helmers, oder, wie er nun ja wieder genannt werden kann, Donnerpfeil, hatte nun noch drei Stunden Tag für sich, und diese wurden sehr reichlich ausgenützt. Er sagte sich, daß die Räuber die Hazienda del Erina wohl nach Mitternacht erst verlassen hatten; sie hatten also einen Vorsprung von ungefähr zwölf Stunden, und diesen hoffte er einzubringen. Er ließ, so lange es Tag war, die Pferde immer im Galopp gehen, und selbst als der Abend hereingebrochen war, brauchte er diese Schnelligkeit kaum zu vermindern. Die fünf Trupps der Räuber waren gewiß nicht so rasch vorwärts gekommen; sie hatten dann am Versammlungsorte aufeinander warten müssen, während er den nächsten Weg einschlug und mit dem Auffinden ihrer Spur nicht viel Zeit zu verlieren hoffte. Diese Berechnung erwies sich als richtig. Er erreichte mit seinen beiden Begleitern den jenseitigen Fuß des Gebirges kaum zwei Stunden später, nachdem Verdoja mit seinen vier Gefangenen den Weg nach Westen quer durch die Mapimi eingeschlagen hatte.
Dort fanden sie eine Spur, welche sich längs des Gebirges nach Norden zog. Sie stiegen ab und untersuchten dieselbe. »Sechs Pferde,« sagte Donnerpfeil. »Es haben sich also zwei der Abtheilungen bereits vereinigt, und ich hoffe, daß wir das Stelldichein der Anderen bald erreichen.« Es dauerte kaum zehn Minuten, so erfüllte sich dieses Wort. Sie kamen an den Lagerplatz der Mexikaner und sahen aus den Spuren, in welcher Weise diese um das Feuer gruppirt gewesen waren. Die Stellen, an denen die Gefesselten lang gestreckt gelegen hatten, waren sehr leicht zu erkennen. Donnerpfeil zeigte auf eine derselben. »Hier hat Sternau gelegen,« sagte er. »Woraus sehen Sie das?« fragte Franzesco. »Das ist sehr einfach,« erklärte der Gefragte. »Sternau ist ein erfahrener und berühmter Westmann, der alle Schliche des Prairielebens kennt. Er hat sich denken können, daß die Räuber verfolgt werden und darum sich Mühe gegeben, die Spuren so deutlich wie möglich zu machen. Hier hat er mit den Füßen gelegen; man sieht, daß er die Absätze seiner Stiefel mit Vorbedacht in den Boden gegraben hat. Hier rechts und links hat er die Ellbogen tief eingedrückt, und hier oben ist die deutliche Spur seines Kopfes. So handelt nur ein sehr umsichtiger Westjäger, und daraus schon würde ich schließen, daß Sternau es gewesen ist. Aber noch sicherer wird meine Vermuthung durch die Länge der Körpereindrücke. Sternau ist der Längste und Stärkste; nur er kann hier gelegen haben.« »Das stimmt,« antwortete Franzesco. »Aber was ist das hier?« Er zeigte auf mehrere sehr energische Fußeindrücke in der unmittelbaren Nähe der Feuerstelle. Donnerpfeil untersuchte dieselben. »Ah, hier hat Sternau gestanden,« sagte er; »das können nur die Eindrücke seiner Füße sein. Ein Anderer stand grad vor ihm, und die Uebrigen rund im Kreise. Was hat es da gegeben? Wenn er stehen konnte, so hat man seine Füße von den Fesseln befreien
müssen. Sollte er einen Grund gefunden haben, der die Räuber nöthigte, ihn loszubinden? Dann ist er ganz sicher entweder entkommen oder gefallen, denn ein Drittes giebt es bei diesem unvergleichlichen Manne ja nicht. Wollen sehen!« Er forschte weiter, aber schon im nächsten Augenblicke rief er: »Ich hab’ es! Man hat ihm die Fesseln nicht nur von den Beinen, sondern auch von den Händen und Armen genommen. Er muß, er muß sich befreit haben!« Die beiden Vaqueros blickten den Sprecher erstaunt an. So etwas zu erkennen und zu behaupten, waren sie nicht im Stande. »Woraus erkennen Sie das?« fragte Franzesco. »Das will ich Ihnen sagen. Hier hat sich Sternau niedergeknieet und der Mann auch, der ihm gegenüberstand. Sternau muß an diesem irgend etwas untersucht und betrachtet haben; daneben liegt, außerhalb der Asche, ein erloschener Feuerbrand; man hat also dazu geleuchtet. Sternau ist Arzt; er hat einen Patienten vor sich gehabt. Dann haben sich Beide wieder erhoben. Und nun seht, wie tief Sternau seine Fersen in den weichen Boden gegraben hat, und wie hingegen der Andere den Boden mit den Fersen zuerst verlassen und die Zehen eingedrückt hat. Sternau hat eine Last in den Händen gehabt; er hat den Anderen gepackt und emporgehoben. Die Richtung seiner Füße zeigt da hinüber Ich wette um mein Leben, er hat diesen Mann emporgehoben und unter die Anderen hineingeschleudert, um sich einen freien Weg zu bahnen!« Donnerpfeil umging die Feuerstelle und bückte sich auf die dortigen Spuren nieder. – »Seht,« sagte er, »ich hatte recht. Hier sind wenigstens vier Mann zusammengebrochen; der Eine wurde auf sie geschleudert. Dadurch entstand eine Bresche, durch welche Sternau entsprungen ist, das sieht man an den Eindrücken seiner Füße, die ich ganz deutlich erkenne. Er ist in weiten Sätzen davongeflogen, jedenfalls dahin, wo die Pferde standen, denn er wußte ganz genau, daß er
ohne ein solches nicht entkommen könne. Er wurde verfolgt, wie die andern Eindrücke beweisen.« Er schritt den Spuren nach, blieb aber nach fünf Schritten bereits stehen. »Ah, hier hatte man die Gewehre zusammengelehnt; er hat eins derselben mit fortgerissen; er ist also bewaffnet!« Es ging weiter, bis zu dem Orte, an welchem die Pferde gestanden hatten, und noch darüber hinaus bis dahin, wo die von Sternau getödteten Mexikaner begraben worden waren. Donnerpfeil errieth Alles. »Dieser Sternau ist wirklich ein Held, ein geradezu unvergleichlicher Held. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie es ihm gelingen konnte, so viele Männer zu tödten.« Mit diesen Worten gab Donnerpfeil dem Arzte das größte Lob, welches er ertheilen konnte, da er ja selbst ein berühmter Savannenläufer war. Jetzt ritten die Drei den Spuren nach, welche zunächst nach Westen und dann nach Süden führten. Plötzlich aber bogen drei Pferde nach Osten zurück, während die Spuren der Uebrigen nach Westen führten. »Was ist das?« fragte Donnerpfeil sehr nachdenklich. »Wer hat sich hier von den Anderen getrennt?« Er untersuchte die Spuren der drei vereinzelten Pferde und sagte dann mit vergnügtem Nicken: »Ein Teufelskerl, dieser Sternau! Von diesen drei Pferden waren zwei ledig und nur das eine besetzt; das sieht man aus der Tiefe der Hufeindrücke. Das ist Sternau gewesen, er hat zwei iere, welche den Getödteten gehörten, an sich genommen, um den Wechsel zu haben und also rascher vorwärts zu kommen. Dann ist er nach Osten zurückgeritten, um in den Rücken der Mexikaner zu kommen. Er ist also einen Kreis geritten und befindet sich hinter ihnen. Wir haben also sie und ihn vor uns.«
Er blickte bei diesen Worten, als müsse er die Verfolgten sehen, mit scharfen Augen nach Westen aus und sprang dann plötzlich einige Schritte vorwärts. Dort war, was ihm und den beiden Anderen bisher entgangen war, ein ziemlich großes Sandhäufchen errichtet worden. Das konnte kein Werk des Windes oder irgend eines Zufalles sein; das konnte nur ein Mensch gethan haben. »Das ist ganz sicher ein Zeichen von Sternau,« sagte Donnerpfeil erfreut. »Das müssen wir sogleich untersuchen.« Er griff mit den Händen in das Häufchen und brachte nach kurzem Wühlen ein zusammengelegtes Papier hervor. Er faltete es auseinander und las: »Ich bin entkommen, die Anderen noch gefangen, aber gesund und wohl. Habe zwei Pferde und genug Waffen und Munition. Verdoja schlug mich im Hofe nieder. Pardero und dreizehn Mexikaner waren bei ihm. Sie stiegen durch das Fenster des Lanzenreiters und überrumpelten die Vier mit List. Man vergaß, meine Kleider zu untersuchen. Ich habe Papier und Stift bei mir und gebe dieses Zeichen. Die Gefangenen werden befreit werden, keine Sorge. Mir nur schleunigst folgen; ich werde meine Spur sichtbar machen. Den – früh Uhr. Sternau.« »Hurrah!« rief Donnerpfeil. »Jetzt ist Alles gut!« Sich zu dem einen Vaquero wendend, setzte er hinzu: »Franzesco bleibt bei mir, nun wir aber Sicherheit haben, kehrst Du mit den müden Pferden zurück und bringst Sennor Arbellez diesen Zettel. Er wird ihm ein Trost sein. Sage dem Sennor, daß wir nur eine Stunde hinter Sternau sind. Er war um neun Uhr hier und jetzt ist es kaum Zehn. Vorwärts! Rasch!« Die Pferde wurden gewechselt; dann flogen Donnerpfeil und Franzesco auf zwei ungebrauchten ieren in völliger Carriere
nach Westen zu in die Mapimi hinein, immer auf der Spur, welche sehr deutlich zu erkennen war. Der Vaquero aber kehrte sehr gern um; es lag ihm gar nichts daran, die verrufene Wüste kennen zu lernen. Die beiden Anderen ließen ihre Pferde nach Herzenslust ausgreifen. Diese mexikanischen Pferde ermüden, sobald sie ledig gehen, selbst durch den stärksten Tagemarsch nicht; die iere, auf denen Donnerpfeil und Franzesco saßen, waren also so gut wie frisch und ließen die Entfernungen förmlich unter ihren Hufen verschwinden. Da aber Sternau jedenfalls auch die äußerste Schnelligkeit anwendete, so konnte er natürlich nicht in kurzer Zeit erreicht werden. Der Vormittag verging und ebenso ein großer eil des Nachmittages; da endlich erblickten sie in der fernen Ebene vor sich zwei kleine, dunkle Punkte. »Das ist er, er und das ledige Pferd!« sagte Donnerpfeil. »Ah, wir müssen ihn einholen, ehe es Nacht wird.« Sie gaben den Pferden die Sporen zu fühlen, was eigentlich gar nicht nothwendig war, und flogen in größerer Schnelligkeit als derjenigen eines Eilzuges über den Boden dahin. Wieder verging eine halbe Stunde. Die beiden Punkte vergrößerten sich. Man erkannte bereits einen Reiter mit einem ledigen Pferde. Man sah jetzt sogar, daß dieser Reiter die Büchse quer über sich erhob und über dem Kopfe wirbelte. »Er hat sich umgedreht und uns gesehen,« sagte Donnerpfeil. »Aber er hält uns für Feinde,« bemerkte Franzesco. »Warum?« »Weil er nicht anhält und uns erwartet.« »Mein guter Franzesco, Du bist ein tüchtiger Vaquero, aber noch lange kein Savannenmann. Wenn er uns erwarten will, so verliert er Zeit und Raum. Hier ist jede Minute kostbar. Des Nachts können wir die Spuren der Räuber nicht sehen; da bleiben wir zurück, während sie jedenfalls die Nacht noch zum Ritte benutzen. Also
müssen wir die Helligkeit bis zur letzten Sekunde ausbeuten. Darum läßt Sternau es uns über, ihn einfach einzuholen.« »Aber wir könnten doch auch Andere sein?« »Dann wäre es desto dümmer von ihm, nur einen Augenblick wegen uns gewartet zu haben. Er ahnt aber bereits, daß wir zu ihm gehören. Siehe, er giebt das Zeichen wieder.« Jetzt erhob auch Donnerpfeil seine Büchse und wirbelte sie über dem Kopfe. Dies genügte, um Sternau wissen zu lassen, daß er einen Bekannten hinter sich habe, und dieser Bekannte konnte doch nur von der Hazienda del Erina kommen. »Wir kommen ihm doch näher,« meinte Franzesko. »Das ist erklärlich,« antwortete Donnerpfeil. »Er hat die Pferde nehmen müssen, wie sie waren, gut oder schlecht, während wir uns die besten aussuchen konnten. Uebrigens sind die seinigen nicht frisch gewesen, während die unserigen ledig gegangen sind. Auch ist er viel schwerer als Einer von uns Beiden. Siehe, jetzt wechselt er!« Sie sahen, daß Sternau mitten im Galopp von seinem Reitpferde sich hinüber in den Sattel des anderen schwang. »Er nimmt sich nicht einmal Zeit, während des Umsteigens anzuhalten; das ist sehr recht von ihm,« nickte Donnerpfeil. »Paß auf, daß er seine Schnelligkeit nicht im geringsten mindert, um uns zu begrüßen, sobald wir ihn erreichen. Er ist der ›Fürst des Felsens‹ und weiß ganz genau, um was es sich handelt.« Die Entfernung zwischen den Reitern verminderte sich immer mehr. Man konnte sich bereits hören. »Herr Sternau!« rief Donnerpfeil in deutscher Sprache. Da drehte der Angerufene das Gesicht zurück und antwortete: »Herr Helmers! Ah, ich habe Sie schon längst erkannt!« »Hallo! Woran denn?« »So reitet nur ein Westmann, und auf el Erina waren Sie nur der Einzige noch. Aber machen Sie vorwärts!«
»Komme gleich!« Er erhob sich im Sattel, um die Last zu erleichtern, und stieß einen schrillen Schrei aus. Sein Pferd schoß dahin, wie ein Pfeil, dasjenige Franzesco’s ebenso, und in einigen Minuten galoppirten Beide an Sternau’s Seite dahin. »Willkommen, und Gott sei Dank!« sagte dieser, den Beiden die Hand reichend. »Haben Sie meinen Zettel gefunden?« »Ja. Er ist bereits nach der Hazienda unterwegs.« »Das ist gut. Sie hatten noch einen Mann mit?« »Ja, um Sennor Arbellez Nachricht zu bringen, sobald wir Gewißheit fanden.« »Recht so. Aber warum beladen Sie Ihre Pferde mit solchen Pakketen?« Donnerpfeil lächelte. »Das sind lauter nothwendige Sachen,« sagte er. »Ich dachte, daß die Ausrüstung der Herren, welche ich befreien wollte, sehr mangelhaft sein werde, und darum habe ich Einiges mitgebracht. Ihr Trapperanzug und alle Ihre Waffen sind mit dabei.« »Ah, wirklich?« fragte Sternau erfreut. »Ja.« »Mein Bärentödter?« »Ja.« »Mein Henrystutzen?« »Natürlich!« »Meine Revolver, Messer und Tomahawk?« »Alles, Alles! Auch die Waffen Mariano’s und meines Bruders habe ich mitgebracht.« »Ich danke Ihnen! Das ist sehr umsichtig gehandelt. Uebrigens hindert uns der Galopp ja nicht am Sprechen. Wie steht es auf der Hazienda? Wann entdeckte man den Ueberfall?« Donnerpfeil erzählte Alles von dem Augenblicke seiner Rückkehr von der Hazienda Vandaqua an bis zum gegenwärtigen. Und
dann gab Sternau seinen Bericht, dem die beiden Anderen mit Spannung und Staunen folgten. Dabei aber wurde die Schnelligkeit nicht im mindesten vermindert und die braven Pferde hielten aus, bis es dunkle Nacht geworden war und man die Spuren der Räuber ganz unmöglich mehr erkennen konnte. Dadurch wurden die drei Männer gezwungen, Halt zu machen. Zum Glücke gab es gerade an dieser Stelle einiges Gras, welches die Pferde abweiden konnten, Holz aber, um ein Feuer anzumachen, fehlte gänzlich, und so brachten sie die Nacht im Finsteren zu. Gesprochen wurde wenig. Es galt vor allen Dingen, auszuruhen, und erst als dies vorüber war und der Tagesanbruch bevorstand, meinte Donnerpfeil: »Die Schurken werden die ganze Nacht geritten sein!« »Ganz sicher!« antwortete Sternau. »Sie wissen ja, daß ich ihnen folge. Jedenfalls machen sie erst jetzt, am Morgen, einen kurzen Halt, und diesen müssen wir benutzen, die Versäumniß der Nacht möglichst einzuholen.« In jenen Breiten giebt es keine Morgen- oder Abenddämmerung. Tag und Nacht gehen ohne eine Vermittelung in kürzester Zeit ineinander über. Sternau hatte seine letzten Worte noch im Finsteren gesprochen, fünf Minuten darauf war es bereits heller, lichter Tag und die drei Reiter flogen wieder im Galopp über die Mapimi dahin. Da, wo die Südgrenze von Neumexiko und Arizona an den Rio grande del Norte stößt, giebt es im Süden dieses bedeutendsten Flusses Mexiko’s eine nur von wenig Bergzügen unterbrochene Hochebene, welche sich nach Ost und Nordost in die Weideländer der Comanchen-Indianer hinabsenkt. Die Hochebene selbst aber steht im Besitze der Apachen, welche in ewiger Todfeindschaft mit den Comanchen leben.
Diese Comanchen waren, wie bereits erwähnt, nach Mexiko gerufen worden, um den Truppen der Regierung Unterstützung zu leisten. Sie waren diesem Rufe sehr gern gefolgt, denn sie hofften, mit reicher Beute zurückkehren zu können. Sie hatten sich zu mehreren Tausenden aufgemacht, aber nicht auf ein Mal und öffentlich, sondern sie hatten sich in Stämme getheilt und legten ihren Weg heimlich zurück, damit die Apachen, ihre Todfeinde, nichts davon merken sollten. Wohl eine Woche vor den bereits erzählten Ereignissen gab es im Süden des Nordpasses auf einer kleinen Prairie ein außerordentlich reges, wild bewegtes Leben. Es war die Zeit, in welcher die wilden Büffel ihre Wanderungen nach Norden antreten. Sie drängen sich da in hellen Haufen durch den Nordpaß, und da versteht es sich ganz von selbst, daß die angrenzenden Ebenen und Prairien von den Indianern besucht werden, um sich für den ganzen Winter mit Fleisch zu versorgen. Die Sonne stand bereits dem Horizonte nahe und beleuchtete ein blutiges Schauspiel. So weit das Auge reichte, lagen die Körper der getödteten Büffel umher. So weit das Auge reichte, sah man wilde, kupferbraune Gestalten beschäftigt, »Fleisch zu machen«, wie der Prairiejäger sich ausdrückt. Zahlreiche Feuer brannten, über denen der saftige Braten zischte. Tausende von Schnüren und Riemen waren über Pfähle gezogen und daran hingen lange, dünn und schmal geschnittene Stücke Büffelfleisch, um es an der Sonne und in der Luft zu trocknen. Mitten auf dem Schauplatze dieses lebensvollen Bildes standen drei Zelte. Sie waren aus Büffelhäuten gefertigt und mit Adlerfedern geschmückt, ein sicheres Zeichen, daß sie berühmten Häuptlingen zum Obdache dienten. Zwei von ihnen waren jetzt leer. Vor dem dritten aber saß ein alter, hagerer Indianer, vom Kopfe zum Fuße herab tättowirt. Er hatte seinen nackten Körper in ein gegerbtes Hirschfell gewickelt. Neben ihm lag eine lange Flinte. An
seinem Körper sah man zahlreiche Narben und die Haare seines Kopfes waren zu einem helmartigen Schopfe verbunden, in welchem fünf Adlerfedern staken. Dieser Mann war »das fliegende Pferd«, einer der größten Häuptlinge der Apachen. Sein Haar war ergraut und er hatte nicht mehr die Kraft, den muthigen Büffel zu jagen. Aber sein Herz war noch jung und sein Geist scharf; daher war er der Angesehenste am Berathungsfeuer und sein Wort galt mehr, als die Stimmen von hundert tapferen Kriegern. Da er nicht mit jagen konnte, so saß er vor seinem Zelte und sah dem Schauspiele zu, welches ihm geboten wurde durch die Büffeljagd, zu welcher sich drei befreundete Stämme der Apachen vereinigt hatten. Die Ebene war vielfach durch einzelne oder zusammenhängende Büsche unterbrochen und zwischen diesen grünen Inseln spielten sich die muthigsten Zweikämpfe zwischen Indianer und Büffel ab. Auch in der Nähe der drei Zelte stand ein dichtes Strauchwerk. Es wurde von dem alten Häuptlinge kaum beachtet, aber dennoch entging es ihm nicht, daß einige kleine Zweige sich seit kurzem leise bewegten. Er ergriff die neben ihm liegende Büchse. Er glaubte, irgend ein Kleinwild habe sich da verkrochen, und da sein Arm zu schwach war, den Büffel zu tödten, so wollte er es wenigstens hier versuchen, einen guten Schuß zu thun. Sein Auge erkannte eine dunkle Stelle inmitten des Busches. Dort mußte sich das Wild befinden. Er erhob den Lauf und stand fast im Begriffe, den Finger an den Abzug zu legen, als der Busch sich theilte und ein Mann aus denselben trat. Das war kein Apache! Das war ein Fremder! Wie kam er in den Busch, inmitten der jagenden Apachen? Kam er als Feind? Er mußte ein sehr berühmter Jäger sein, sonst wäre es ihm nicht
gelungen, sich bis in den Mittelpunkt eines Jagdfeldes der Apachen zu schleichen, ohne bemerkt zu werden. Das »fliegende Pferd« behielt den Finger am Drücker; der Fremde aber erhob die linke Hand zum Zeichen, daß er in friedlicher Absicht komme. Er war ganz in starke Büffelhaut gekleidet und hatte eine sehr schwere, alte Doppelbüchse in der Hand. An seinem Gürtel sah man außer dem Munitionsbeutel nur ein Messer und einen Tomahawk. Sein Gesicht war rothbraun; er konnte kein Weißer, sondern nur ein Indianer sein. Er nahm, ohne ein Wort zu sagen, zur linken Hand des Apachen Platz, legte Büchse, Messer und Tomahawk weit von sich und nun erst, nachdem er diesen Beweis seiner Friedfertigkeit gegeben hatte, sagte er in der reinen Mundart der Apachen: »Die Söhne der Apachen haben heute eine sehr gute Jagd. Der große Geist ist seinen tapferen Kindern hold.« Der alte Apache war jetzt nun ganz und gar überzeugt, daß er einen sehr berühmten Krieger vor sich habe; aber er sagte im gleichgiltigsten Tone: »Der Apache jagt, um Fleisch zu machen, aber er weiß nicht nur den Büffel zu treffen, sondern auch seine Feinde!« »Das fliegende Pferd sagt die Wahrheit,« meinte der Fremde. Ueber das Gesicht des Alten zuckte es stolz und wohlgefällig. »Du bist ein Fremdling und kennst mich!« sagte er. »Ich habe Dich noch nie gesehen, aber der Ruhm des fliegenden Pferdes dringt über alle Berge und Prairieen, wer ihn sieht, der kennt ihn sofort.« »Das fliegende Pferd ist ein Häuptling, er trägt die Federn des Adlers und sitzt stets auf seinem Pferde, wenn er sein Lager verläßt,« sagte der Alte. In diesen Worten lag eine feine Politik, welche der Fremde wohl bemerkte; darum antwortete er:
»Andere Häuptlinge haben auch Pferde, aber sie verbergen sie, sobald sie auf Kundschaft gehen. Sie haben auch das Recht, viele Adlerfedern zu tragen und die Skalpe von mehr als hundert Feinden umzuhängen, aber sie wollen es dem Manne, dem sie begegnen, nicht sogleich wissen lassen. Ihr Haar ist noch nicht grau, dennoch aber wissen sie, daß ein kleines Täschchen voll List oft besser ist, als ein ganzes Zelt voll Pulver und Blei.« Das imponirte dem Alten gewaltig. »Viele Adlerfedern und mehr als hundert Feinde!« Das konnte selbst das fliegende Pferd nicht von sich rühmen. Darum sagte der Alte: »Der fremde Mann ist muthig und listig. Er schleicht sich mitten unter die Söhne der Apachen. Das gelingt nur einem berühmten Krieger. Der Fremde ist kein Comanche; die Söhne der Apachen sind auf der Jagd, aber nicht auf dem Kriegszuge, ihr Kriegsbeil liegt begraben; kommt der Fremde, um die Friedenspfeife mit ihnen zu rauchen?« »Er hat sie bereits mit ihnen geraucht.« »So ist der Fremde ein Freund der Apachen?« »Er ist ihr Bruder. Ein jeder der Jicarillas-Apachen kennt ihn; daher kommt er, zu suchen den berühmten Häuptling derselben, welcher Schosch-in-liett heißt, Bärenherz.« Jetzt verlor das Gesicht des Alten seine Gleichgiltigkeit; er warf einen überraschten, aber freundlichen Blick auf seinen Nachbar und sagte: »Der Fremde ist der Bruder von Bärenherz?« »Ja.« »Er hat das Recht, sieben Adlerfedern zu tragen?« »Ja.« »Er hat hundertvierzig Skalpe seiner Feinde?« »Noch mehr.« »So kenne ich ihn. Er ist Mokaschi-Motak, Büffelstirn, der Häuptling der Miztekas. Er ist der König der Büffeljäger und
darum trägt er die Adlerfedern nicht, sondern läßt sie in seinem Wigwam zurück.« »Das fliegende Pferd hat recht gerathen,« sagte Büffelstirn. »Mein Bruder Bärenherz befindet hier bei den Apachen?« »Ja. Er hat heute ganz allein mehr als zehn Büffel getödtet. Der Häuptling der Miztekas soll ihn sprechen; er soll unser Bruder sein, und die Krieger der Apachen werden seine Brüder sein und ihn nicht tödten.« Ueber das kühne, ernste Gesicht Büffelstirns glitt ein leises, ganz leises Lächeln. Er sagte: »Die Krieger der Apachen würden ihn nicht fangen und tödten, selbst wenn sie seine Feinde wären. Büffelstirn kennt Niemanden, den er zu fürchten hat.« Der Alte gab seine Zustimmung durch ein längeres Schweigen; dann fragte er: »Soll ich einen Krieger rufen, daß er Büffelstirns Pferd hole?« Der Gefragte verneinte und sagte: »Die Krieger der Apachen sind sehr beschäftigt, die Büffel zu tödten. Büffelstirn wird selbst gehen, um sein Pferd zu holen. Es ist keine Schande für einen Häuptling, nach dem iere zu sehen, welches ihn getragen hat.« Er erhob sich und ging. Er wand sich von Busch zu Busch über den schmalsten eil der Prairie hinweg, ohne von einem der Apachen gesehen zu werden. Sie hatten zu viel mit der Jagd zu thun und wußten sich so sicher vor Feinden, daß sie die sonstige Vorsicht nicht für nöthig hielten; zudem war eine jede seiner Bewegungen so berechnet und schlau, daß er selbst einen aufmerksamen Feind getäuscht hätte. Er hatte dies hier gar nicht nöthig, aber als Indianer suchte er eine Befriedigung darin, selbst auf dem Gebiete der Freunde zu verweilen, ohne von ihnen gesehen zu werden.
Die Prairie, welche hier eigentlich nur eine Einbuchtung der großen Savanne genannt werden konnte, stieß an einen mächtigen Urwald, welcher die Höhen und Schluchten bestand, welche sich nach dem eigentlichen Gebirge emporzogen. Büffelstirn bog in diesen Urwald ein, durchschritt ihn quer und stand im Begriffe, in eine der Schluchten hinabzusteigen, als er da unten ein lautes Stampfen und das gewaltsame Brechen von Büschen und Sträuchern vernahm. Hinabschauend, gewahrte er einen Büffelstier, welcher aus der offenen Prairie hereinbrach und von einem Indianer zu Pferde verfolgt wurde. Dieser trug den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der Linken, in der Rechten aber den langen, elastischen Büffelspeer, welcher für den Büffel gefährlicher ist, als eine Büchsenkugel. Es war ein junger, kaum zwanzigjähriger Mensch, ein älterer und erfahrenerer Krieger hätte das weiche, saftige Fleisch einer Büffelkuh dem harten eines alten Stieres vorgezogen und es sich auch nicht einfallen lassen, so einem mächtigen iere auf ein so gefährliches Terrain zu folgen. Dieser aber hatte sich von der Jagdlust hinreißen lassen und folgte dem Stiere durch dick und dünn, so daß die zusammenschlagenden Aeste ihm das Gesicht zerschlugen und ihn fast vom Pferde rissen. So stürmten sie in die enge, kurze Schlucht hinein, in deren Hintergrunde Büffelstirn sein Pferd versteckt hatte. Dort sah der Stier, daß er nicht weiter konnte. Er senkte den unter der gewaltigen Mähne fast ganz verborgenen Kopf und warf sich gerade in dem Augenblicke herum, als der Indianer den Speer nach der Stelle schleuderte, wo der Büffel am leichtesten zu verwunden ist – hinter und oberhalb der Gegend, wo die Mähne aufhört. Durch die Bewegung des ieres wurde der Zielpunkt verändert und der Speer drang in eine ganz ungefährliche Stelle ein. Der Büffel fühlte sich verwundet; er blies schnaufend einen heißen Dampf aus den Nüstern, senkte den Kopf mit den kurzen, spitzen und fürchterlichen Hörnern abermals und stieß dieselben dem Pferde
in den Leib. Im Nu stürzte dasselbe mit aufgeschlitztem Bauche zur Erde. Die Eingeweide hingen ihm heraus. Der Indianer hatte sich, schon im Sturze, durch einen raschen Sprung auf die Erde gerettet. Er besaß keine andere Waffe als seine Pfeile und sein Messer. Ein Augenblick genügte, um einen Pfeil aus dem Köcher zu nehmen, im zweiten Augenblicke war der Bogen gespannt und im dritten schwirrte der Pfeil von der Sehne ab und dem Stiere in das eine Auge. Das war eine seltene Geistesgegenwart, aber der Stier besaß noch ein Auge, mit welchem er sehen konnte. Er stieß ein tiefes, heiseres Brüllen aus, hielt einen Augenblick inne und senkte den Kopf abermals zu einem Stoße, der jetzt jedenfalls tödtlich gewesen wäre. Da aber blitzte neben dem Indianer ein Schuß auf; mit dem Krachen desselben warf der Büffel den Kopf zur Seite, ein gewaltiges Zittern durchlief seinen kolossalen Körper, er brach erst auf die vorderen, dann auf die hinteren Kniee zusammen und fiel dann zur Seite, er war todt; die Kugel war ihm durch das andere Auge bis in das Gehirn gedrungen. Als Büffelstirn bemerkte, welch einen unglücklichen Ausgang der Kampf nehmen mußte, war er den steilen Hang hinabgesprungen und hatte den Schuß abgefeuert. Als der Indianer sich jetzt nach ihm umwendete, war er nach Jägerart schon beschäftigt, den abgeschossenen Lauf wieder zu laden. »Schmeckt meinem Bruder das Fleisch eines Stieres besser, als das einer Kuh?« fragte er ruhig. »Tödtet mein Bruder den Büffel lieber im Walde, als in der offenen Prairie? Mein Bruder, thue in Zukunft das, was besser und klüger ist!« Man konnte trotz der dunklen Haut des Wilden deutlich sehen, daß er erröthete. Sofort aber hatte er sich gefaßt, warf das Haupt stolz in den Nacken und antwortete auf die Zurechtweisung in zornigem Tone: »Was geht es Dich an, wenn der Stier mich getödtet hätte!«
»Hat mein Bruder keinen Vater, der um ihn getrauert hätte?« fragte Büffelstirn. »Mein Vater ist das fliegende Pferd!« sagte der Indianer stolz. »Und wie heißt Dein Name?« »Mein Name wird genannt werden auf allen Höhen und in allen älern!« »Du hast noch keinen Namen? So wärst Du also hier gestorben, ohne daß man hätte sagen können, wen man begraben habe! Mein junger Bruder ist einer sehr großen Schmach entgangen. Er möge vorsichtiger sein, dann wird er einst einen sehr berühmten Namen tragen.« Bei den Apachen erhält nämlich der junge Krieger erst dann seinen Namen, wenn er seine erste Heldenthat verrichtet und den Skalp eines Feindes erobert hat. Es ist eine Schande, als junger Mann getödtet zu werden, ohne einen Namen zu besitzen. Darum steigerte sich der Zorn des Apachen bei den letzten Worten Büffelstirns noch mehr; er zog das Messer und sagte: »Soll ich Deinen Skalp nehmen und dann einen Namen haben?« Büffelstirn lächelte und antwortete: »Ich würde zehnmal den Deinen haben, ehe Du einmal den meinen!« »Versuche es!« Mit diesem Ausrufe faßte der Apache den Andern bei der Brust und holte zum Stoße aus, aber blitzschnell ergriff Büffelstirn die Hand, welche das Messer hielt, und drückte sie mit solcher Gewalt zusammen, daß der Apache einen lauten Schrei des Schmerzes ausstieß und das Messer fallen ließ. »Seit wann schreit ein Apache, wenn er Schmerz fühlt?« fragte der Häuptling der Miztekas. »Seit wann tödtet ein Apache Denjenigen, der ihm das Leben gerettet hat? Ich hätte jetzt das Recht und die Gelegenheit, Dir den Skalp zu nehmen, aber ich schenke
Dir das Leben, denn – dort kommt ein Anderer, mit dem es würdiger ist, zu kämpfen.« Er deutete nach dem gegenüberliegenden Rande der Schlucht. Dort theilte sich das Gebüsch, und die Beiden sahen einen Bären, welcher hervortrat. Es war nicht der kleine, braune Bär, sondern der ungeheure, graue Bär des Gebirges, den die Amerikaner Grizzly nennen. Er ist, wenn er sich emporrichtet, oft über neun Fuß hoch, besitzt genug Kraft, den größten Ochsen weit fortzutragen und ist das gefährlichste Raubthier des amerikanischen Kontinentes. Wer einen grauen Bären erlegt, gilt für einen Helden, für einen größeren Helden, als wenn er zehn Feinde getödtet und ihre Skalpe erobert hätte. Der Bär war jedenfalls durch die Witterung des Pferdes angelockt worden; da er aber jetzt eine andere Beute vor sich sah, so wandte er sich dieser zu. »O, hätte ich die Büchse meines Vaters!« rief der junge Apache. Ein Apache bekommt nämlich erst bei der Namengebung ein Feuergewehr in die Hand. »Hier hast Du die meinige,« sagte Büffelstirn. Der junge Mann blickte ihn erstaunt an. Das war ihm unbegreiflich, das war ja ganz unmöglich, auf einen solchen Ruhm und eine solche Beute zu verzichten! Als er aber sah, daß es wirklich ernst gemeint sei, ergriff er mit einem lauten Jubelrufe die Büchse, spannte die beiden Hähne und sprang über die Sohle des ales hinüber, dem Bären entgegen. Noch schneller aber war Büffelstirn. Er zog sein Messer, sprang in einem Bogen auch nach dem gegenüberliegenden Rande und kam auf diese Weise dem Bären in den Rücken. Er wollte den Kampf überwachen und, im Falle dieser für den Apachen unglücklich ablaufen sollte, sich mit dem Messer auf das ier werfen. Dieses Letztere hatte nur den Apachen im Auge. Es befand sich jetzt nur noch sechs Schritte von ihm entfernt und erhob sich auf
die Hinterpranken, um ihn zu erdrücken. Dies benutzte der Wilde. Er legte an, zielte zwischen die Rippen auf die Herzgegend, drückte los und sprang in demselben Augenblicke zur Seite, den zweiten Lauf fest auf das ier gerichtet. Dieses that noch einen, zwei – fünf Schritte vorwärts, blieb dann stehen, stieß ein tiefes, röchelndes Brummen aus, wobei ihm ein dicker Blutstrom aus dem Rachen quoll, und brach dann zusammen. »Das war gut!« rief Büffelstirn. »Der Bär ist grad’ in das Herz getroffen. Mein Bruder hat ein sicheres Auge und eine feste Hand. Er hat nicht gezittert und wird einst ein berühmter Krieger werden. Er hat nun das Recht, eine Namen zu erhalten, und ich werde sein Freund sein, so lange der große Manitou mir das Leben schenkt!« Der Apache hatte angesichts des furchtbaren Raubthieres nicht gezittert, jetzt aber bebte er vor Freude. »Ist er wirklich todt?« fragte er. »Ja. Mein Bruder kann sich das Fell nehmen und den geräucherten Kopf als Siegeszeichen aufbewahren, als Erinnerung an die erste Heldenthat, die er verrichtete« Der Apache gab ihm die Büchse zurück und kniete vor dem Bären nieder, in welchem in Wirklichkeit keine Spur von Leben mehr war. Dieser Wilde war mehr erfreut als mancher Weiße, der die Insignien des höchsten Ordens erhalten hat. Er machte sich sogleich daran, seiner Beute das Fell abzuziehen. Büffelstirn lud seine Flinte und schlich zu seinem Pferde; er band es los und ritt davon. Er wollte das Entzücken des Apachen nicht stören, und dieses war so groß, daß derselbe sich gar nicht um den Davonreitenden bekümmerte. Als Büffelstirn den Rand der Prairie erreichte, war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden; in einer halben Stunde mußte es Nacht sein. Man sah die Apachen beschäftigt, die erlegten Büffel mittels des Lasso von ihren Pferden in die Nähe der
Zelte schleifen zu lassen. Der Miztekas gab sich jetzt keine Mühe mehr, nicht gesehen zu werden; er sprengte grad’ auf die Zelte zu, wo sich bereits einige hundert Krieger mit ihrer Beute versammelt hatten, und sprang dort vom Pferde. Vor dem zweiten Zelte stand ein junger Häuptling mit drei Adlerfedern im Schopfe. Es war Bärenherz. Er trat auf Büffelstirn zu und streckte ihm die Hand zum Willkommen entgegen. »Mein Herz hat sich gesehnet nach Dir,« sagte er. »Ich danke Dir, daß ich Dich wiedersehe. Sei der Gast meines Zeltes und rauche das Calummet mit meinen Brüdern.« Die Krieger, welche im Kreise umherstanden, betrachteten in schweigender Ehrfurcht den berühmten Häuptling der Miztecas und bildeten eine Gasse, als Bärenherz ihn zu den beiden andern Häuptlingen führte, welche vor dem Zelte des fliegenden Rosses saßen. Sie erhoben sich, obgleich der Alte den Miztekas bereits gesehen hatte, und reichten ihm die Hände. In kurzer Zeit brannte ein Feuer; viele Büffelrippen brieten über demselben; es wurden noch mehrere angebrannt, immer eins neben dem andern, und bald hatte sich ein Halbkreis von Feuern gebildet, in dessen Mittelpunkte die drei Häuptlinge mit dem Gaste saßen. Das bratende Fleisch verbreitete einen Geruch, der auch dem verwöhntesten Gaumen Appetit gemacht hätte, und die Flammen warfen ihre Reflexe hinaus auf die Prairie, wo kein Krieger sich mehr befand und nur die feigen Prairiewölfe hin- und herhuschten, angelockt von der Ausdünstung des vergossenen Büffelblutes. Nur Einer fehlte, der Sohn des fliegenden Rosses. Sie Alle wußten es, aber Keiner sagte ein Wort. Es wurde überhaupt bei der Zubereitung des Mahles keine Silbe gesprochen. Die geselligen Zusammenkünfte und Vergnügungen der wilden Indianer werden überhaupt stets durch ein sehr angelegentliches Schweigen eingeleitet. Nur dann, wenn das Fleisch gar ist, hat der oberste Häuptling das Recht, die Unterhaltung zu beginnen.
Da plötzlich wurden Aller Augen nach einer grotesken, fürchterlichen Gestalt gerichtet, welche langsam dahergeschritten kam. Es war der junge Apache. Er hatte dem Bären das Fell abgenommen, den Kopf aber darangelassen. Diesen Kopf hatte er sich auf den seinigen gesetzt, so daß ihn das Fell wie ein weiter, ungeheurer Mantel umgab. Der Bär war so groß gewesen, daß dieser Mantel eine Elle lang am Boden nachschleifte. Am Feuer der Häuptlinge hielt er an. Er mochte sich wundern, den fremden Helfer bei ihnen sitzen zu sehen, verrieth das aber durch keine Miene. Er hatte die beiden abgeschnittenen Tatzen des Bären in der Hand und legte sie vor Büffelstirn nieder. Das war eine ehrenvolle und zugleich für die Anderen sehr überraschende Widmung. Sie merkten daraus, daß Büffelstirn mit der Erlegung des Bären in irgend einem Zusammenhang stehe, und daß er der Namengeber, der Pathe des jungen Häuptlingssohnes sein solle; aber Keiner sprach ein Wort, sogar das fliegende Roß nicht. Aber man sah die Augen des Alten leuchten vor Freude, daß sein jüngster Sohn eine solche Heldenthat verrichtet und den gefürchteten Grizzly erlegt habe. Endlich, als das Fett aufzuhören begann, in das Feuer zu tropfen, und die Bratenstücke sich bräunten, griff das fliegende Roß nach der bereit gehaltenen Friedenspfeife. Er erhob sich und begann: »Heute ist den Kriegern der Apachen große Freude widerfahren, denn Büffelstirn, der große Häuptling der Miztecas, der Freund unseres Bruders Bärenherz, ist gekommen, um das Calummet mit ihnen zu rauchen. Seine Hand ist stark und sein Fuß schnell; seine Gedanken sind die Gedanken eines Weisen, und Alles, was er thut, geschieht in der Weise eines Helden. Er sei uns willkommen!« Er legte eine Kohle auf den Tabak und that aus der Pfeife sechs Züge, welche er nach dem Himmel, der Erde und den vier Richtungen von sich blies; dann reichte er die Pfeife dem Gaste, der sich auch erhob. Er sprach:
»Die Söhne der Apachen sind große und tapfere Krieger; sogar ihre Knaben erlegen den grauen Bären mit einer einzigen Kugel und ohne mit der Wimper zu zucken.« Aller Augen richteten sich bei diesen Worten auf den Sohn des Häuptlings. Dieser hatte erst aus den Worten seines Vaters erfahren, welchem berühmten Manne er solche Güte zu verdanken habe, und sein Herz bebte vor Wonne. Auch im Auge des Alten glänzte es feucht, als er hörte, daß sein Sohn von einem solchen Krieger und Häuptling sogar in der ersten, allgemeinen Anrede ausgezeichnet werde. So eine Auszeichnung war noch niemals erlebt worden. Büffelstirn fuhr fort: »Der Häuptling der Miztecas ist zu ihnen gekommen, um ihnen eine Kunde zu bringen. Sie mögen ihn hören nachher, wenn das Mahl gehalten ist. Ihre Feinde sind seine Feinde und ihre Freunde seine Freunde. Er läßt sein Leben für jeden Sohn der Apachen und wird sich freuen, den Ruhm der Miztecas mit dem ihrigen zu vereinigen.« Nach diesen Worten that auch er die sechs beschriebenen Züge aus der Friedenspfeife und gab sie dann an Bärenherz. Dieser und nach ihm der dritte Häuptling, welcher ein Sohn des fliegenden Pferdes war, thaten unter ähnlichen Höflichkeitsausdrücken ebenso, und dann ging die Pfeife im Kreise der Krieger herum. Nur der Sohn des Alten durfte sie nicht in den Mund nehmen, da er noch keinen Namen hatte. Als diese Ceremonie beendet war, begann das Essen. Die fürchterlichen Stücke Büffelfleisches verschwanden in einer Zeit, deren Kürze ganz erstaunlich war, und dann erklärte der Alte, daß man bereit sei, die Kunde Büffelstirns zu vernehmen. Dieser erhob sich und begann: »Es ist in dem Lande Mexiko ein großer Streit ausgebrochen. Die Krieger und Männer sind mit dem Häuptling, welchen sie sich gewählt hatten, nicht mehr zufrieden. Er ist ein Bleichgesicht
und thut nicht, was seines Amtes ist. Sie haben nach einem andern Häuptling gesucht und einen Mann gefunden, der ihnen besser gefällt; er ist ein rother Mann und heißt Juarez. Er ist stark wie ein Büffel, schlau wie ein Panther und erfahren in allen Dingen, die ein Häuptling wissen muß. Er hat die Stimme seines Volkes gehört und will die Seinen glücklich machen. Daher hat er sich mit tapfern Kriegern umgeben und durchzieht das Land, um Alle zu sammeln, welche zu ihm gehören. Da ist es dem bisherigen Häuptling angst geworden, und er hat viele Boten zu den Söhnen der Comanchen gesandt, welche kommen und ihm helfen sollen. Die Häuptlinge der Comanchen haben eine große Berathung gehalten und ihm ihre Hilfe versprochen. Jetzt brechen sie auf, viele hundert Krieger stark, und ziehen nach Mexiko. Sie wollen sich zwischen dieses Land und die Weidegründe der Apachen legen. Wenn ihnen dies gelingt, so sind die Krieger der Apachen von den südlichen Gebieten abgeschnitten und werden in die Gebirge gedrängt, wo sie großen Mangel leiden müssen, denn der Winter ist vor der ür. Der neue Häuptling der Mexikaner aber, welcher Juarez heißt, liebt die tapferen Krieger der Apachen; er will nicht haben, daß sie von den Hunden der Comanchen verdrängt werden, und sendet mich, ihnen zu sagen, daß er sich mit ihnen vereinigen will, den Feind zurückzujagen. Die Comanchen befinden sich bereits auf dem Kriegspfade, aber wenn die Apachen sofort auf brechen und sich zwischen die Wüste Mapimi und die Stadt stellen, welche man Chihuahua nennt, so können die Comanchen ihren Weg nicht fortsetzen und werden mitten in der Wüste erschlagen. Wenn die Krieger der Apachen meine Stimme hören, so werden sie viele Skalpe erbeuten und einen großen Sieg erfechten.« Nach diesen Worten setzte er sich wieder nieder. Die Versammelten blieben zunächst in ein tiefes Schweigen versunken. Dann sagte das fliegende Pferd:
»Die Worte unseres Bruders klingen gut. Der neue Häuptling Juarez ist ein rother Mann, dessen Stimme wir lieber hören, als diejenige eines Bleichgesichts; die Söhne der Apachen werden sich nicht verdrängen lassen von den Feiglingen der Comanchen. Das fliegende Roß bittet die beiden andern Häuptlinge, ihre Stimme zu erheben.« Da stand Bärenherz auf und sprach: »Hier steht mein Bruder Büffelstirn. Er ist ein berühmter Krieger; er fürchtet keinen Feind, und auf seiner Zunge wohnt nur das Wort der Wahrheit. Er wird nie etwas sagen und fordern, was den Söhnen und Töchtern der Apachen Schaden bringen könnte. Ich habe mit ihm die Comanchen getödtet und werde mir mit ihm noch viele ihrer Skalpe holen. Sie befinden sich bereits auf dem Wege, und darum darf keine Zeit verloren werden. Hier sind versammelt drei Stämme der Apachen, um Fleisch zu machen für den Winter. Ich bin der Anführer der tapferen Jicarillas-Apachen; ich werde sogleich mit ihnen aufbrechen, wenn die beiden anderen Stämme uns versprechen, Fleisch für den Winter für uns zu bereiten und uns dann nachzukommen.« Der dritte Häuptling, der Sohn des Alten, nahm auch das Wort. »Mein Bruder Bärenherz hat die Wahrheit gesprochen,« sagte er. »Die Krieger der Apachen dürfen keine Zeit verlieren. Einer der Stämme muß schnell aufbrechen; aber welcher dies sein soll, ob der seinige oder der meinige, das soll die Berathung entscheiden.« Somit hatten alle drei Häuptlinge sich einverstanden erklärt, und es galt nur noch, den Medizinmann zu befragen. Medizin bedeutet nämlich bei den Indianern nicht Arznei, sondern Zauber, der Medizinmann ist also der Zauberer, der Priester. Er hat einen großen Einfluß auf alles Einzelne und Allgemeine; besonders wichtig ist aber seine Zustimmung, wenn es sich um einen Kriegszug handelt. Sagt er voraus, daß der Zug verunglücken werde, so wird dieser sicherlich nicht unternommen.
Der Mann hatte alle Insignien seiner Würde bei sich, wunderbar geformte Skalpe, Beutel, Haarschöpfe, Stäbe und Fähnchen. Er hüllte sich in die frische Haut eines der getödteten Büffel, legte die Zeichen seiner Würde an und begann nun einen Tanz, der um so ungeheuerlicher und grotesker aussah, als er von den düstern Feuern beschienen wurde, welche tiefe Schatten in die dunkle Ebene hinaus zeichneten. Die Indianer sahen mit ernster Andacht zu und wurden nicht ungeduldig, obgleich der Tanz eine ziemliche Weile in Anspruch nahm. Endlich hielt der Zauberer in seinen Bewegungen inne, nahm zwei Feuerbrände und beobachtete die Richtung des Rauches; dann warf er einen forschenden Blick zu den Sternen empor und verkündete dann mit lauter Stimme: »Manitou, der große Geist, zürnt den Kröten, welche sich Comanchen nennen; er giebt sie in die Hände der Apachen und gebietet, daß die Krieger der Jicarillas ausziehen, sobald die Sonne sich zum zweitenmale erhebt; die andern Stämme sollen ihnen folgen, wenn das Fleisch getrocknet ist, welches für den Winter reicht!« In diesen Worten war nicht nur die Erlaubniß Gottes zum Kriegszuge enthalten, sondern es war auf eine sehr schnelle und darum praktische Weise die Frage entschieden, welcher Stamm zunächst aufzubrechen habe; es war der Stamm, dessen Häuptling Bärenherz war. Diese Leute jubelten vor Freude. Sie hatten einen vollen Tag Zeit erhalten, ihre Vorbereitungen zu dem Kriegszuge zu treffen. Dies war ein Umstand, der sie sehr befriedigte, denn ohne diese Vorbereitungen, zu denen besonders das Anmalen mit den Kriegsfarben gehört, glaubt der Indianer nicht an einen glücklichen Ausgang. Es wurden noch verschiedene Einzelheiten besprochen, über welche man sich schnell einigte, denn Alle waren begeistert von dem Gedanken, den Comanchen so viele Skalpe wie möglich abzunehmen.
Nach diesen nothwendigen Verhandlungen war es dem fliegenden Rosse endlich möglich, seinem jüngsten Sohne gerecht zu werden. Dieser hatte bis jetzt bewegungslos dagesessen und kein Wort gesprochen. Nun aber fragte ihn sein Vater: »Mein Sohn hat sich in die Haut des Bären gekleidet. Hat er ein Recht dazu?« »Ich habe ihn erlegt,« antwortete der junge Mann. »Allein?« »Ganz allein.« »Mit welcher Waffe?« »Mit der Büchse, welche der berühmte Häuptling der Miztecas mir lieh. Er ist Zeuge.« Da wandte sich der Alte an Büffelstirn und sagte: »Der Häuptling der Miztecas ist Zeuge von dem Kampfe mit dem Bären, denn die Tatzen desselben liegen zu seinen Füßen. Er mag uns erzählen, was er gesehen hat!« Büffelstirn erzählte mit kurzen Worten das Vorkommniß, vermied aber dabei Alles, was den jungen Mann kränken konnte. Als er geendet hatte, erhob sich Bärenherz und sagte: »Der Sohn des fliegenden Rosses hat den Grizzly erlegt; er hat dazu eines einzigen Schusses bedurft; das ist mehr, als wenn er zwanzig feige Söhne der Comanchen getödtet hätte; sein Herz ist stark, seine Hand fest und sein Auge sicher; er verdient, aufgenommen zu werden unter die Schaar der Krieger. Bärenherz will, daß sein junger Bruder einen Namen erhalte.« Das war sehr schmeichelhaft für Vater und Sohn, denn Beide hatten als die Betheiligten kein Recht, den Antrag zu stellen, welchen Bärenherz jetzt ausgesprochen hatte. Er erhielt lauten, allgemeinen Beifall. Der Besieger des Bären stand noch immer aufrecht am Feuer. Sein Auge glänzte vor Stolz und Freude, und er sagte:
»Bärenherz, mein Bruder, ist berühmt unter den Berühmten; seiner Rede verdanke ich es, daß ich einen Namen haben werde. Wann soll das Fest des Namens gefeiert werden?« »Sobald die Söhne der Apachen heimgekehrt sind in ihre Wigwams,« antwortete der Alte. »Darf Einer, der keinen Namen hat, gegen die Hunde der Comanchen ziehen?« »Nein.« »Aber ich will jetzt Bärenherz, meinen Freund, nach Mexiko begleiten; darum soll man mir bereits morgen einen Namen geben!« »Das ist nicht Sitte; aber die Tatzen des Bären gehören dem Häuptling der Miztecas, er ist unser Gast und mag entscheiden, wann er einen Namen für Dich hat.« Da sagte Büffelstirn: »Diesen Namen habe ich bereits. Mein junger Freund hat den Grizzly überwunden, und darum soll er Grizzly-tastsa, der Grizzlytödter heißen. Ich werde ihm morgen diesen Namen geben, und wenn mein Bruder, das fliegende Roß, erlaubt, so soll Grizzlytödter mit uns nach Mexiko reiten, um sich die Seele des Comanchen zu holen, nachdem er sich die Haut des Bären genommen hat.« Dieser Vorschlag des berühmten Häuptlings war abermals eine ehrenvolle Auszeichnung für den jungen Apachen und wurde darum sofort angenommen. Damit war die Berathung beendet, aber noch lange saßen die Männer beisammen, um sich in ihrer ernsten, ruhigen Weise über den beabsichtigten Kriegszug auszusprechen. Einige aber brachen trotz der Dunkelheit nach der Schlucht auf, um den von Büffelstirn getödteten Stier und den abgezogenen Bären herbeizuschaffen. Es geschah dies durch Schleifen, welche man aus freier Hand fertigte und an die man mittelst Lassos die Pferde spannte.
Darauf trat die nächtliche Stille ein. Büffelstirn schlief im Zelte Bärenherzens, und das Lager war von Posten bewacht, welche sich stündlich abzulösen hatten. Am anderen Morgen wurde die Feier der Namensgebung vorgenommen, bei welcher die beiden gebratenen Bärentatzen eine Hauptrolle spielten. Grizzlytödter erhielt die beste Büchse seines Vaters, und als Häuptlingssohn das Recht, eine Adlerfeder in seinem Haarschopfe zu tragen. Am Nachmittage begannen die Kriegsmalereien. Es waren gegen zweihundert Krieger, welche bei Anbruch des Tages abziehen sollten, und sie alle hatten vollauf zu thun, ihre Kleider und Waffen mit den Trophäen früherer Siege zu schmücken. Als diese Schaar am anderen Morgen das Lager verließ, wurde sie von den Uebrigen eine Strecke lang begleitet, und erst dann, nach der Trennung, formirte man den bekannten, indianischen Zug, ein Reiter immer hinter dem anderen. Der älteste Krieger erhielt das Kommando über die Schaar; Büffelstirn, Bärenherz und Grizzlytödter aber ritten im Galopp davon, um eine halbe Tagereise vor den Ihrigen die Gegend zu erkundigen und für die nöthige Sicherheit zu sorgen. Da man die offene Prairie nicht benutzen durfte, so führte der Zug in das Gebirge und über die verschiedenen Stufen desselben empor auf die Hochebene; dies gab einen Aufenthalt, eine Verspätung, welche man aber der Vorsicht halber keineswegs umgehen konnte, und erst am fünften Tage nach dem Aufbruche wurde die Wüste Mapimi erreicht, und zwar an einem Punkte, welcher sich ungefähr zwischen dem Muschelsee und dem westlichen Ende der Wüste befand. Da es galt, zwischen Chihuahua und den heranziehenden Comanchen Stellung zu nehmen, so drangen die drei Männer nach Süden vor, immer weiter in die Mapimi ein, bis sie plötzlich,
alle Drei zugleich, ihre Pferde anhielten. Grad im rechten Winkel zu ihrer jetzigen Richtung führten Spuren vorüber. »Reiter!« sagte Grizzlytödter, indem er vom Pferde stieg. »Mein Bruder mag zählen, wie viele es ihrer waren,« sagte Bärenherz, indem er ruhig im Sattel blieb. Er wollte nur den Scharfsinn des jungen Apachen üben, denn für ihn selbst hatte es nur einer halben Minute bedurft, um die Zahl der hier vorüber gekommenen Pferde zu erkennen. Grizzlytödter untersuchte die Fährte und sagte dann: »Es waren zehn und ein Pferd.« »Das ist richtig. Wer hat auf diesen Pferden gesessen?« »Es waren Bleichgesichter.« »Woraus sieht das mein Bruder?« »Sie sind nicht hinter einander geritten. Ihre Spur ist so breit, daß man alle Huftritte zählen kann.« »Wann kamen sie vorüber?« Der junge Apache bückte sich abermals nieder und antwortete dann: »Die Sonne steht jetzt bald über uns; sie sind vorübergekommen, als sie gestern fast am Horizonte war.« »Hatten diese Bleichgesichter Eile oder nicht?« »Sie hatten sehr große Eile, denn der Sand wurde von den Hufen zurückgeschleudert. Sie sind im Galopp geritten.« »Mein Bruder hat sehr richtig gesehen, nun aber mag er mir noch sagen, ob es gute Männer waren oder böse!« Grizzlytödter blickte den Häuptling einigermaßen rathlos an, schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf und sagte dann: »Wer soll das aus dieser Fährte erkennen! Kein Mensch!« »Ich werde meinem jungen Bruder beweisen, daß es doch zu erkennen ist. Die Mapimi ist hier vier Tagereisen breit. Wer über drei Tagereisen geritten ist, dessen ier ist sehr ermüdet, und er wird es schonen. Die Eindrücke der Hufe sind nicht leicht, wie gewöhn-
lich beim Galopp, sondern sehr tief; die Sprünge sind nicht weit und lang gestreckt, sondern sehr kurz gewesen. Die iere waren angegriffen und wurden über die Maßen angestrengt, die Reiter befanden sich also auf der Flucht.« Grizzlytödter wollte sich vertheidigen und sagte: »Auch wer sich auf der Verfolgung befindet, reitet schnell.« »Hätten sie einen Feind verfolgt, so wären sie auf der Fährte desselben geritten, dies ist nicht der Fall; es giebt keine frühere Fährte, sie sind geflohen, sie befanden sich auf der Flucht und werden verfolgt. Es sind also böse Menschen gewesen.« Büffelstirn nickte und sagte, scharf nach der Richtung blickend, aus welcher die Fährte kam: »Bärenherz hat recht. Es können in jeder Minute die Verfolger eintreffen, und da wir uns nicht sehen lassen können, so mag Grizzlytödter zurückreiten und sagen, daß die Krieger der Apachen uns nicht hierher folgen mögen, sie sollen weiter nach Norden über die Höhen gehen, welche die Mapimi begrenzen, und dort auf mich und Bärenherz warten. Wir werden sehen, was diese Spuren zu bedeuten haben.« Der junge Apache gehorchte augenblicklich. Er setzte sich auf sein Pferd und ritt im Galopp zurück. Die beiden Anderen verfolgten den westlichen Lauf der Spuren und blickten sich dann an. Sie sahen, daß sie ganz denselben Gedanken hatten. »Die Fährte geht grad nach West,« sagte Büffelstirn. »In jenen Paß hinein. Das ist ein gefährlicher Ort.« »Vielleicht stellen die Verfolgten den Verfolgern eine Falle. Wir müssen nachsehen.« »Aber wir müssen unsere Spuren verbergen, denn die Verfolger können doch unsere Feinde sein. Mein Bruder mag mir helfen.« Sie löschten die Tapfen ihrer Pferde und ihre eigenen mit einer Geschicklichkeit aus, die wirklich bewundernswerth genannt werden mußte, und als dies auf eine genug lange Strecke geschehen
war, ritten sie einen Bogen und erreichten die Berge, welche an der westlichen Grenze der Mapimi liegen, vielleicht eine englische Meile nördlich von der Stelle, an welcher der Paß durch die Berge führte. Es gab zwar hier ein außerordentlich schwieriges Terrain, aber dennoch lenkten sie ihre Pferde die schroffen, von Gebüsch besetzten Höhen hinan, wieder in die Tiefe hinab und ließen sie hier, wo sie in Sicherheit waren, stehen. Dann stiegen sie einen Felsenrükken empor und konnten nun von hier aus eine ziemliche Strecke des Passes übersehen. Derselbe bildete grad unter ihnen das al, in welchem Verdoja zum letzten Male gelagert hatte, und von welchem aus die kleine Seitenschlucht nach Süden strich, in welchem die Mexikaner zurückgeblieben waren, die Sternau tödten oder fangen sollten. Davon aber wußten die beiden Indianer nichts. Sie hatten sich auf den Boden niedergeduckt und konnten von unten unmöglich gesehen werden, während ihre scharfen, geübten Augen Alles erkannten, was unter ihnen lag. »Uff!« sagte Bärenherz. Dieses Wort war ein sicherer Beweis, daß er etwas Ungewöhnliches bemerkte. Büffelstirn sah ihn an und folgte dann der Richtung seiner Augen. Da erkannte er einen Mann, welcher aus dem Seitenthale empor zur Höhe stieg. Die Entfernung war so groß, daß der Mann einem großen Käfer glich, welcher sich aufwärts bewegte, dennoch aber wußten die Beiden sofort, wie sie ihn zu dessiniren hatten. »Ein Mexikaner!« sagte Büffelstirn. »Ja,« antwortete Bärenherz. »Das Seitenthal scheint besetzt zu sein.« »Sie stellen den Verfolgern einen Hinterhalt.« Sie warteten, bis der Mann die gegenüber liegende Höhe erreicht hatte. Dort stand er und blickte nach Osten. Sie folgten ihren Augen ganz unwillkürlich derselben Richtung. Es vergingen einige
Sekunden, ehe sie den dortigen Horizont abgesucht hatten, da aber meinte Büffelstirn: »Uff, sie kommen!« »Drei Reiter!« fiel Bärenherz ein. Sie erblickten drei kleine Punkte, welche aber so winzig waren, daß sie nur von zwei Paar solcher Augen erkannt werden konnten, wie die beiden Indianer besaßen. Der Mexikaner da drüben, jenseits des Passes, hatte sie jedenfalls noch nicht erkannt. »Sollten es die Verfolger sein?« fragte Bärenherz. »Nein,« antwortete Büffelstirn. »Warum nicht?« »Würden elf Krieger vor dreien fliehen?« »Warum nicht, wenn diese Drei tapfer genug sind! Uebrigens können diese Drei ja der Vortrab einer größeren Horde sein.« »Wir müssen es abwarten.« Sie beobachteten den Mann, welcher drüben auf dem Berge stand. Er stieß jetzt einen Ruf aus und glitt so schnell wie möglich von der Höhe herab. Er hatte die drei Nahenden jetzt auch bemerkt. »Er benachrichtete die Anderen, welche sich versteckt haben,« sagte Bärenherz. Der Mann verschwand in dem Seitenthale, und eine Minute später erschien er mit noch zwei Anderen, welche aus dem ale herauskamen und sich mit ihm hinter einen Felsen versteckten, der die ganze Breite des Passes beherrschte. »Sie werden die Nahenden tödten,« sagte Bärenherz. »Aber weshalb sind es nur Drei, da wir doch elf Spuren fanden!« »Die Anderen haben den Ritt fortgesetzt, da die drei Feiglinge genug sind, um zwei tapfere Männer aus dem Hinterhalte zu ermorden.« »Wollen wir die Bedrohten warnen?« »Wir werden sie nicht nur warnen, sondern ihnen sogar helfen, wenn sie es werth sind. Es vergehen nach der Zeit der Weiße noch
fünf Minuten, ehe sie hier sind, und das giebt uns Zeit, hinter ihre Gegner zu kommen. Vorwärts!« Er glitt wieder von der Höhe herab und Büffelstirn folgte ihm. Sobald sie von unten nicht mehr gesehen werden konnten, rannten sie aus Leibeskräften an der Abdachung des Berges dahin, bis sie ein Gebüsch erreichten, welches sich über die Höhe zog und dann drüben bis auf die Sohle des Passes niederstieg. Im Schutze dieses Gebüsches gelangten sie hinab und zwar in genügender Entfernung, um von den drei Mexikanern nicht gesehen zu werden, dann sprangen sie quer über das al hinüber und befanden sich nun auf derselben Seite, an welcher die drei Männer versteckt lagen. Nun aber galt es, sich diesen unbemerkt zu nähern. Es gab zum Glück einige Büsche und einige zerstreute Felsen, welche Deckung gewährten, und so brachten es die beiden Häuptlinge fertig, sich schlangengleich vorwärts zu bewegen und hinter einem Steine Posto zu fassen, welcher kaum fünfzig Schritte von dem Felsenstücke entfernt war, hinter welchem die drei Mexikaner lagen. Die Häuptlinge konnten die Letzteren genau sehen und zugleich auch die ganze Sohle des ales überblicken. Sie kauerten hinter dem Steine und hielten ihre Büchsen schußbereit. Da, jetzt hörte man nahendes Pferdegetrappel, und sogleich erschienen die drei Nahenden am Eingange des Hauptthales, befanden sich aber noch außer Schußweite. Kaum hatten die Indianer einen Blick auf sie geworfen, so konnten sie sich einer Bewegung der lebhaftesten Ueberraschung nicht erwehren. »Uff!« flüsterte Bärenherz. »Das ist ja Itinti-ka, Donnerpfeil, unser Bruder.« »Und Franzesko, der Vaquero!« flüsterte Büffelstirn zurück. »Was thun die hier? Sollte es auf der Hazienda del Erina ein Unglück gegeben haben?«
»Das müssen wir abwarten. Aber wer ist der starke Krieger, welchen sie bei sich haben? Kennt ihn mein Bruder Büffelstirn?« »Ja,« sagte Büffelstirn. »Es ist der berühmteste Jäger der Savanne, es ist der ›Fürst des Felsens‹, vor dem alle Feinde zittern.« »Ugh!« machte es Bärenherz, indem seine dunklen Augen glänzten. »Das ist ein großer Tag, an welchem Bärenherz diesen Krieger kennen lernt. Wir werden die drei Mexikaner tödten!« »Erst wollen wir sehen, was sie vorhaben. Nur wenn sie zu den Waffen greifen, schießen wir sie nieder.« Die Mexikaner lagen hinter dem Steine und flüsterten mit einander. Sie hatten nur Sternau erwartet und zwar auch nicht jetzt schon, sondern erst am nächsten Tage. Sie hatten ihm also doch nicht so viel Vorsprung abgewonnen, als Verdoja geglaubt hatte. Und nun kam er nicht allein, sondern mit zwei Andern. Wer waren sie? »Sie werden unterwegs zu ihm gestoßen sein,« sagte der eine Mexikaner leise zu den beiden Anderen. »Was thun wir? Es sind nun Drei gegen uns.« »Pah!« antwortete der Zweite. »Fangen können wir ihn nicht; das ist nun wegen seiner Begleiter unmöglich; aber erschießen werden wir ihn.« »Und sie? Lassen wir sie laufen?« »Unsinn! Sie müssen mit fallen, damit sie nichts erzählen können. Aber wir haben noch Zeit. Sie sind noch nicht im Bereiche unserer Büchsen, und wir dürfen keinen von ihnen fehlen. Sie müssen alle Drei auf unsere ersten Schüsse fallen, sonst kann es uns übel ergehen; wir wissen ja, was für ein Teufel dieser Sternau ist. Uebrigens haben wir vollständig Zeit zum Zielen. Sie finden hier die Spuren unseres Lagers und werden diese sehr genau untersuchen. Sie verweilen also eine geraume Zeit vor den Mündungen unserer Gewehre und werden uns nicht entlaufen. Wir brauchen uns nicht zu überstürzen und können mit Gemächlichkeit zielen.«
»Wenn unsere Kameraden, welche Verdoja zurücksenden wollte, bereits erschienen wären, so würden wir alle Drei fangen können,« sagte der Dritte. »Wir brauchen sie nicht. Wir sind Manns genug.« Sie ahnten nicht, daß wenige Schritte hinter ihnen zwei furchtbare Männer lagen, die jede ihrer Bewegungen beaufsichtigten. Unterdessen war Sternau mit seinen beiden Begleitern vorwärts geritten, aber nicht so scharf, sondern er hatte den Gang seines Pferdes gezügelt und betrachtete mit forschenden Blicken den Bau des ales und die Entfernung der Wände voneinander. »Ein gefährliches Loch!« sagte er. »Warum?« fragte Donnerpfeil. »Wenn dieser Verdoja uns hier nicht einen Hinterhalt gelegt hat, so verdient er, todt geprügelt zu werden. Wir wollen langsam vordringen und so thun, als ob wir uns gar nicht umblickten. Aber ich werde dabei die Augen sehr offen halten.« Sie ritten im Schritte vorwärts, bis sie an die Stelle kamen, an welcher Verdoja gelagert hatte. Hier blieben sie halten. »Hier haben die Schufte ausgeruht,« sagte Franzesko. Sternau warf einen Blick umher und sagte dann hastig: »Rasch! Steigt von den Pferden, koppelt sie an und thut, als ob wir hier lagern wollten! Schnell, schnell!« Donnerpfeil’s Auge folgte der Richtung, welche der Blick Sternau’s gehabt hatte und sofort sprang er vom Pferde. »Sie haben Recht!« sagte er. »Aber, lassen wir uns nichts merken! Wir müssen uns eine Verschanzung suchen.« »Da, rechts an der Wand, der große Felsblock,« sagte Sternau, »die Pferde werden sie nicht erschießen. Wir theilen uns und thun, als ob wir Holz zum Lagerfeuer suchen wollen; dann springen wir hinter den Felsen.« Sie ließen ihre Pferde grasen und lasen dürre Zweige auf.
»Seht!« meinte der erste Mexikaner. »Sie bleiben hier. Wir können sie also mit aller Gemüthlichkeit niederpuffen!« »Sie suchen Lesholz,« sagte der Zweite. »Wir können sie noch eine Viertelstunde leben lassen. Aber Donnerwetter! Was ist das?« »Verflucht!« sagte auch der Erste. »Sie springen hinter den Felsen! Sollten sie Unrath gewittert haben?« »Hm!« brummte der Dritte. »Wir haben unsere Spuren nicht verwischt!« »Pah, die haben sie ja gar nicht gesehen! Sie sind ja noch gar nicht in das Seitenthälchen gekommen! Es muß einen andern Grund haben.« »Schwerlich! Nun stecken wir hier und sie drüben. Wir sind also ebenso gut belagert wie sie!« So war es auch. Sternau hatte nichts weiter gesehen, als am Eingang zu dem Seitenthale den abgebrochenen Zweig eines Busches. Als der eine Mexikaner, welcher vorhin von der Höhe Umschau gehalten hatte, emporgeklimmt war, hatte er sich an diesem Zweige angehalten und denselben abgebrochen; die Rinde hatte weiter geschlitzt, so war eine helle Stelle entstanden, welche ein scharfes, vorsichtiges Auge sofort sehen mußte. Auch Donnerpfeil hatte sie dann bemerkt. Jetzt nun lagen die drei Bedrohten hinter dem Felsen in vollständiger Sicherheit. »Was gab es denn?« fragte Franzesko. Er konnte sich den Grund dieses Versteckenspielens nicht erklären. »Siehst Du nicht den abgeschlitzten Zweig da drüben am Busche?« fragte Donnerpfeil. »Ah! Ja.« »Und darüber die eigenthümlichen Einschärfungen in das Steingeröll?« »Ja.«
»Nun, es ist vor ganz kurzer Zeit Jemand da oben gewesen und hat nach uns ausgeschaut. Als er uns bemerkte, ist er etwas zu hastig in das al zurückgekehrt; er ist mehr gerutscht als gelaufen und hat also jene Spur zurückgelassen. Da drüben stehen Leute, welche uns auflauern.« »Donnerwetter!« fluchte Franzesko. »Du brauchst keine Angst zu haben,« lächelte Sternau. »Es sind nur zwei, höchstens drei Männer.« »Warum so wenige?« fragte Donnerpfeil. »Glauben Sie,« antwortete Sternau, »daß sich Verdoja mit seiner ganzen Truppe in den Hinterhalt gelegt hat? Nein! Es muß ihm zuerst daran liegen, seine Gefangenen in Sicherheit zu bringen. Es sind vier, die Eskorte aber beträgt nur elf Mann, und so kann er höchstens drei entbehren. Er hat ja nicht gewußt, daß ich Hilfe bekomme; er hat geglaubt, daß ich allein kommen werde, und da wäre ja ein Einziger genug, mir eine Kugel zu geben. Der Hinterhalt da drüben liegt natürlich in Schußweite von dem Lagerorte. Wir wollen einmal Alles genau absuchen. Vielleicht bemerken wir das Versteck.« Sein scharfes Auge glitt langsam und bedächtig über jeden Busch und Stein, der da drüben Deckung geben konnte. »Ah, ich hab’s!« sagte er dann. »Wo?« fragte Franzesko. »Ich sah ein Knie für einen kurzen Augenblick hinter jenen hohen viereckigen Felsen erscheinen. Wollen den Leuten einmal eine Kugel geben!« »Sie wird nicht treffen,« meinte der Vaquero. »Ich bin vom Gegentheile überzeugt.« Er legte sich platt auf den Boden. Es war aus der Ecke des Steines, hinter dem sie steckten, etwas ausgepröckelt, und er konnte also durch diese Oeffnung zielen, ohne sich selbst eine Blöße zu geben. Dann bat er Donnerpfeil:
»Wenn Sie Ihren Hut auf den Gewehrlauf stecken und ihn so weit emporhalten, daß es grad aussieht, als ob Jemand über den Stein hinübersehen wolle, so wird sich wohl Einer da drüben verleiten lassen, nach dem Hute zu schießen; er wird also einen eil von sich sehen lassen müssen, und dann ist es um ihn geschehen.« »Wollen es versuchen,« meinte Donnerpfeil lächelnd, indem er den Hut vom Kopfe nahm und auf den Gewehrlauf steckte. Darüber hatten die beiden Häuptlinge Alles genau beobachtet. Sie legten ihre Büchsen bereit, um an jedem Augenblicke abdrükken zu können. »Jetzt sind sie in Schußweite,« sagte Bärenherz. »Sie steigen ab. Der »Fürst des Felsens« blickte sich um. Ah, sein Auge blitzte auf; er hat etwas Verdächtiges bemerkt. Was muß es sein?« Büffelstirn nickte. »Er ist gewarnt. Er weiß, daß ihm der Tod nahe ist. Jetzt giebt er den Anderen seine Befehle. Wie ruhig! Ja, er ist ein großer Jäger!« »Uff,« flüsterte Bärenherz. »Sie springen hinter den Stein. Sie sind gerettet auch ohne uns. Was werden sie beginnen?« Es verging eine Weile; da erschien da drüben der Hut; es sah ganz so aus, als ob ein Kopf vorsichtig herüberblickte. »Uff« flüsterte Bärenherz. »Welche Unvorsichtigkeit!« »Hält mein Bruder den ›Fürst des Felsens‹ wirklich für so dumm?« fragte Büffelstirn. »Wir wollen den Spaß abwarten!« Die drei Mexikaner flüsterten miteinander; dann griff der Erste nach seinem Karabiner, lehnte ihn an die Kante des Felsens, bog seinen Kopf ein Wenig vor und zielte auf den Hut. Noch aber hatte er nicht losgedrückt, so blitzte es drüben auf, ein Schuß krachte, und der Mexikaner sank mit zerschmettertem Kopfe hintenüber. »Sieht nun mein Bruder, daß es eine List war?« fragte Büffelstirn. »Der ›Herr des Felsens‹ ist wahrhaftig ein großer Jäger!« antwortete der Gefragte.
»Er würde die beiden Anderen auf alle Fälle tödten; aber das dauert zu lange. Wollen wir uns zeigen?« »Ja,« nickte der Apache. Die beiden Mexikaner waren um ihren Todten so beschäftigt, daß sie gar kein Auge für das hatten, was hinter ihnen vorging. Die beiden Häuptlinge erhoben sich und winkten hinüber; dann ließen sie sich wieder nieder. »Alle Teufel, was ist das,« sagte Donnerpfeil. »Das ist ja Büffelstirn,« meinte Sternau. »Wer war der Indianer an seiner Seite?« »Bärenherz, der Apache,« antwortete der Gefragte. »Der berühmte Bärenherz? Welch Zusammentreffen! So haben wir den Feind also zwischen zwei Feuern. Wer konnte ahnen, daß die beiden Häuptlinge in der Nähe sind. Kein Zufall konnte so glücklich sein.« »Sie werden die Mexikaner erschießen; wir brauchen nur ruhig zuzusehen,« meinte Franzesko. »Daran liegt mir nichts,« sagte Sternau. »Besser ist es, wir fangen sie lebendig, damit wir sie ausfragen können. Ich hoffe nicht, daß diese Mexikaner die Sprache der Apachen verstehen. Wenn ich also rufe, werden sie nicht ahnen, wem es gilt und wie es heißt. Und ich glaube auch nicht, daß die beiden Häuptlinge so unbedacht sind, mir mit Worten zu antworten.« »Das fällt ihnen nicht ein,« sagte Donnerpfeil. Sternau ließ einige Augenblicke vergehen, dann rief er, aber ohne sich sehen zu lassen, mit seiner weithin schallenden Stimme: »Tlao nte akajia – wie viele Feinde sind drüben?« Sofort erhoben sich hinter dem Verstecke der Häuptlinge zwei Arme. »Also nur zwei,« meinte Sternau; »ich hatte Recht.« Er rief abermals:
»Ni no-khi eti tastsa, ni no-khi ho-tli inta-hinta – ich will sie nicht todt, sondern ich will sie lebendig haben!« »Was schreit nur dieser Sternau da drüben?« meinte der eine Mexikaner. »Will er uns verhöhnen, so mag er doch spanisch reden! Wir stecken in einer verfluchten Patsche. Sobald wir ein Glied sehen lassen, werden sie schießen. Es bleibt uns wirklich nichts Anderes übrig, als hier stecken zu bleiben, bis es Nacht wird, oder gar bis die Unsrigen zurückkehren.« Es sollte aber anders kommen, als er gedacht hatte. Die Häuptlinge hatten Sternau verstanden. Sie legten ihre Büchsen weg, nahmen die Messer zwischen die Zähne, erhoben sich und schlichen sich leise an die Mexikaner heran. Sternau bemerkte dies und sah, daß er die Aufmerksamkeit der Letzteren von den Indianern ablenken müsse; er erhob sich also zu seiner vollen Höhe, legte die Büchse an und zielte. »Ah, er will schießen!« lachte der eine Mexikaner, indem er vorsichtig hinter dem Felsen hervorlugte. »Ich werde ihm eine Kugel geben.« Er langte nach seinem Gewehre, fühlte aber in demselben Augenblicke zwei Hände um seinen Hals, die ihm die Kehle mit solcher Gewalt zudrehten, daß ihm der Athem verging; seinem Kameraden geschah ganz ebenso. »Hinüber!« sagte Sternau. Er sprang quer über das al herüber, und die beiden Anderen folgten ihm. Sie brauchten gar nicht zu helfen, denn die Häuptlinge waren bereits beschäftigt, die Besinnungslosen mit ihren Lasso’s zu binden. »Büffelstirn, der Häuptling der Miztecas, rettet mich zum zweiten Male,« sagte Sternau. Er streckte dem Genannten dankbar die Hand entgegen.
»Der Fürst des Felsens hat sich selbst vertheidigt,« antwortete der Häuptling bescheiden. »Hier steht Bärenherz, der Häuptling der Apachen.« Sternau streckte diesem die Hand entgegen. »Ich begrüße den tapfern Häuptling der Apachen,« sagte er. »Sein Name ist berühmt, aber seine Gestalt sehe ich erst heute.« »Noch berühmter ist der Herr des Felsens,« antwortete der Apache. »Er ist ein Freund der rothen Männer, und ich werde sein Bruder sein.« Die beiden großen Jäger und Krieger standen einander gegenüber, Hand in Hand, der eine ein hochgebildeter Weißer und der Andere ein ungebildeter Indianer, aber nach dem Maßstabe der Menschlichkeit Beide von gleich hohem Werthe. Sie dachten in diesem Augenblicke wohl nicht, welchem gemeinschaftlichen Geschicke auf viele Jahre hinaus sie entgegengingen. Auch die Anderen, welche sich ja bereits kannten, begrüßten sich; dann setzten sie sich zur Berathung nieder, aber so, daß die zwei Mexikaner von der Unterhaltung nichts hören konnten. »Was treibt unsere Freunde über die Wüste herüber?« fragte Büffelstirn. »Ein sehr trauriges Ereigniß,« antwortete Sternau. »Die Hazienda del Erina ist überfallen worden.« »Von wem? Von diesen Mexikanern?« »Ja. Diese Schufte haben vier Personen gefangen genommen, nämlich Sennor Mariano, Sennor Helmers, Sennorita Emma und Sennorita Karja.« Die Indianer sind gewohnt, selbst der überraschendsten Nachricht mit stoischem Gleichmuthe entgegenzutreten, bei Nennung dieser Namen aber fuhren die Häuptlinge alle beide erschrocken empor. »Karja, meine Schwester?« fragte Büffelstirn. »Karja, die Blume der Miztecas?« rief Bärenherz.
»Ja,« antwortete Sternau. »Wie ist das gekommen? Waren keine Männer da?« fragten die Beiden wie aus einem Munde. »Es waren alle Männer da, aber –« »Nein, es können keine Männer da gewesen sein,« rief Bärenherz. »Wie können Männer da gewesen sein, wenn man Gefangene fortzuschleppen vermag?« Der Umstand, daß er Sternau gar nicht ausreden ließ, gab eine Ahnung davon, wie sehr sein Herz noch heute an Karja hing. »Ich sage dem Häuptlinge der Apachen, daß ich selbst gefangen war,« sagte Sternau. »Der Fürst des Felsens war gefangen?« fragte Bärenherz ungläubig. »Ja.« »Aber ich sehe ihn frei.« »Weil ich mich befreit habe. Die beiden Häuptlinge mögen hören, was geschehen ist.« Er erzählte in kurzen, gedrängten Worten das Erlebniß der letzten Tage. Als er geendet hatte, reichte ihm der Apache die Hand und bat: »Der Fürst des Felsens möge mir verzeihen. Im Dunkel der Nacht ist es leicht, den stärksten und tapfersten Helden hinterrücks niederzuschlagen. Jetzt aber wollen wir die Pferde verbergen, denn Keiner weiß, wer kommen kann.« Sternau ging selbst mit und die Pferde wurden in das Nebenthal geführt, wo man bei dieser Gelegenheit die drei Pferde der Mexikaner fand. Sie waren hinter dem Gebüsche verborgen, wo sie ruhig weideten. Die Mexikaner, welche wieder zu sich gekommen waren, wurden wieder herbeigeschafft; Franzesco blieb am Eingange des Seitenthales als Wache zurück, und die Uebrigen hörten den Fragen zu, welche Sternau an die beiden Gefangenen richtete. »Ihr gehört zu der Truppe Verdoja’s?« fragte er.
Keiner antwortete. »Ich habe Euch bei ihm gesehen, es hilft Euch also weder das Schweigen, noch ein Leugnen in Etwas,« sagte er. »Aber ich will Euch bemerken, daß Ihr Euer Schicksal verschlimmert, wenn Ihr hartköpfig seid. Weshalb bliebt Ihr zurück?« »Verdoja gebot es uns,« erwiderte der Eine barsch. »Was solltet Ihr?« »Wir sollten Sie fangen oder tödten.« »Das konnte ich mir denken. Aber getrautet Ihr Drei Euch denn wirklich an mich? Ihr habt mich ja kennen gelernt. Tödten war leicht, aber das Fangen wäre Euch schwer geworden.« »Wir dachten, Sie würden erst morgen hier vorüberkommen, und Verdoja wollte uns ja Hilfe senden.« »Ah! Es kommen noch Leute?« »Ja.« »Wann?« »Vielleicht bereits morgen am Vormittage.« »Wie viele?« »Das wissen wir nicht.« »Wohin hat Verdoja die Gefangenen geführt?« »Auch das wissen wir nicht.« »Lüge nicht!« »Glauben Sie, daß Verdoja uns solche Geheimnisse mittheilt?« »Hm! Aber Diejenigen, welche morgen nach hier zurückkehren, werden es wissen?« »Jedenfalls.« »Wo wollten sie mit Euch zusammentreffen?« »Hier im ale.« »Wie viel hat Verdoja Euch für den Raub versprochen?« »Dem Manne hundert Pesos.« »Es ist gut. Man wird über Euer Schicksal berathen.«
Diese Berathung fiel für die beiden Gefangenen allerdings sehr ungünstig aus. Sternau hätte ihnen gern das Leben geschenkt, aber die beiden Häuptlinge gaben es nicht zu, und Donnerpfeil nebst Franzesco schlossen sich ihnen an. Die Mexikaner wurden tiefer in das Seitenthal hineingeführt. Sternau blieb zurück, und als er zwei Schüsse fallen hörte, wußte er, wem sie gegolten hatten. Zu den beiden Todten wurde auch der Leichnam des Dritten geschleift; man begrub sie gar nicht, sondern ließ sie den Geiern, welche sich bald versammelten, zum Fraße liegen. Jetzt waren sie zu fünf Mann versammelt und konnten auch von der Veranlassung sprechen, welche die Apachen herbeigeführt hatte. Sternau wußte nichts zu sagen, als daß ein Lieutenant mit einer Schwadron Lanzenreiter, welche zu Juarez hielten, in Monclova hielten. Verdoja hatte noch sechs Mexikaner bei sich. Selbst wenn diese Alle morgen zurückkehrten, brauchte man sie nicht zu fürchten, und so wurde beschlossen, daß Bärenherz zu seinen Apachen gehen solle, um sie über sein Wegbleiben zu beruhigen, und dann jenseits des Gebirgszuges auf die Anderen zu warten. Er ging mit Büffelstirn ab. Beide mußten ihre Pferde aufsuchen, worauf sie sich trennten. Büffelstirn kehrte zu Sternau zurück. Während des ganzen Nachmittages und auch während der Nacht unterbrach nichts die Einsamkeit des stillen ales, auch fast der ganze Vormittag verging, aber um die Zeit des Mittages ließ sich fernes Pferdegetrappel vernehmen. Sternau hatte für diesen Fall einem Jeden seinen Posten angewiesen und den Befehl gegeben, zunächst nur die Pferde zu erschießen. Als sich das Geräusch vernehmen ließ, steckte sich daher ein jeder Einzelne hinter einen der herumliegenden Felsenbrocken. Es erschienen die sechs Mexikaner an der Stelle, wo nach Westen hin das al sich wieder zum Passe verengte. Sie blieben halten, um das al zu überblicken. Als sie aber keinen ihrer Gefähr-
ten bemerkten, schwenkten sie in das kleine, enge Seitenthal ein. Kaum waren sie dort angekommen, so fielen vier Schüsse und darauf aus den Doppelgewehren noch zwei. Alle sechs Pferde bäumten sich empor und stürzten dann zur Erde; sie waren zu gut getroffen, als daß sie sich hätten wieder erheben können. Pferde und Reiter bildeten für einige Zeit einen Wirrwarr, den die vier Schützen augenblicklich benutzten. Sie sprangen herbei und schlugen die Mexikaner, noch ehe dieselben sich von den Pferden losmachen konnten, mit den Kolben zu Boden und banden sie mit ihren eigenen Lassos so, daß an eine Flucht nicht zu denken war. Der Anführer dieser Leute war Derjenige, welcher auf der Hazienda del Erina als Lanzenreiter-Offizier erschienen war. »Jetzt sehen wir uns wieder, mein Bursche, und werden Abrechnung halten,« sagte Sternau zu ihm. »Du sollst nicht so bald wieder Gelegenheit finden, den Offizier zu spielen.« Der Mann warf einen haßerfüllten Blick auf ihn und antwortete: »Ich bin ein freier Mexikaner, mit mir hat kein Fremder Abrechnung zu halten.« »Ein freier Mexikaner?« lachte Sternau. »Ich habe noch nicht gewußt, daß Jemand, der in Fesseln liegt, frei ist. Wohin habt Ihr Eure Gefangenen gebracht?« »Das geht Niemandem etwas an.« »Ich wiederhole meine Frage, aber nur dies eine Mal. Wo sind die Gefangenen?« »Ich sage es nicht!« Da zog Büffelstirn das Messer, hielt es ihm entgegen und sagte: »Wo ist Karja, meine Schwester?« Der Mexikaner schwieg trotzig; er kannte den Sinn der Indianer nicht. Der Häuptling der Miztekas bemerkte mit ruhiger Stimme: »Antworte!« »Ich sage nichts!«
»So brauchst Du nicht zu leben. Nur die Todten schweigen, und wer schweigt, soll todt sein. Aber Dein Tod soll nicht schnell sein, sondern Du sollst ihn langsam kommen sehen.« Er setzte ihm das Messer auf den Unterleib und riß ihm denselben mit einem raschen Schnitte auf, so daß die Eingeweide sofort aus der Wunde hervorquollen. Der Mann stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Er sah, daß er dem unvermeidlichen Tode verfallen sei, und rief: »Verdammte Rothhaut, nun sollst Du erst recht nichts erfahren!« Und sich an seine Gefährten wendend, setzte er hinzu: »Verflucht, tausendmal verflucht sei Der von Euch, welcher sagt, wohin wir die Gefangenen geschafft haben!« »So werden sie Alle sterben, gerade wie Du!« sagte Büffelstirn kaltblütig. Er setzte das Messer dem Zweiten auf den Leib und fragte: »Wirst auch Du schweigen, oder sagst Du mir, wo sie sind?« Der Mann besann sich nur eine Minute lang; er wollte gern sein Leben retten, aber der Fluch des Anderen hatte ihn eingeschüchtert. Diese Minute entschied über ihn; sie dauerte dem Miztekas zu lange; er senkte sein Messer in den Leib des Mexikaners und sofort quollen auch dessen Gedärme durch die fürchterliche Wunde. »Ihr sollt sterben, wie die Hunde,« sagte Büffelstirn. »Ihr sollt Eure Kaldaunen sehen und zählen bis der Brand Euch tödtet. Sprich, Hund, wo sind die Gefangenen!« Während die beiden Aufgeschlitzten vor Schmerz und Todesangst ächzten und wimmerten, setzte er bereits dem Dritten das Messer auf den Leib. »Ich will es sagen!« rief dieser eilig. »Schweig!« brüllte der Anführer. »Daß ich ein Esel wäre!« antwortete der Mann. »Ich will leben und nicht sterben, nur Dir zu Liebe!« »So möge Dich die Hölle verderben, schuftiger Verräther!«
Der Sprecher, der jetzt sah, daß er sein Leben nutzlos geopfert hatte, schäumte vor Schmerz und Wuth. Seine Augen unterliefen mit Blut und dicker Gischt stand auf seinen bleichen Lippen. »Rede schnell!« gebot Büffelstirn dem Mexikaner. Mit dieser Aufforderung drückte er die Klinge seines Messers durch die Kleidung des Gefesselten, so daß die Spitze den bloßen Leib berührte. »Ich spreche ja schon; thue das Messer fort!« rief der Mann erschrocken. »Die Gefangenen befinden sich in einer alten Opferstätte.« »Leben sie noch?« »Ich hoffe es!« »Wo ist die Opferstätte?« »Im Staate Chihuahua, in der Nähe der Hazienda Verdoja.« »Beschreibe sie mir!« »Es ist eine alte, mexikanische Pyramide; sie liegt im Norden von der Hazienda und ist mit Gebüsch bewachsen.« »Wo ist der Eingang?« »Das weiß ich nicht. Es war Nacht, als wir hinkamen. Wir mußten im Freien halten bleiben und durften nicht mit hinein.« »Keiner von Euch?« »Keiner. Nur Sennor Verdoja, Sennor Pardero und ein alter Diener gingen in die Pyramide. Erst wurden die Damen und dann die beiden Anderen hineingeschafft.« »Auf welcher Seite befindet sich der Eingang?« »Ich weiß es nicht.« »Dummkopf! Auf welcher Seite hieltet Ihr, als Ihr dort ankamt?« »Auf der Ostseite.« »Und auf dieser Seite verschwand Verdoja in der Pyramide –« »Nein. Er ging nach den Büschen, welche an der Ecke der Pyramide stehen, und verschwand dann auf der Südseite.«
»So ist dort der Eingang. Was thatet Ihr, als die Gefangenen fort waren?« »Wir ritten nach der Hazienda Verdoja, erhielten frische Pferde und Proviant, dann brachen wir sofort wieder auf.« »Nach hier?« »Ja.« »Wie lange seid Ihr geritten?« »Von zwei Stunden nach Mitternacht bis jetzt.« »Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir also des Abends bei der Pyramide sein?« »Ja.« »Gut. Du wirst uns führen, und zwar so, daß wir von Niemand bemerkt werden. Aber beim kleinsten Verdacht, daß Du uns betrügen willst, bist Du ein Kind des Todes. Hast Du Dir den Weg gemerkt?« »Ja, ich kenne ihn genau.« »Das genügt, und wir brauchen die Anderen nicht. Sie haben nach den Gesetzen der Savanne den Tod verdient und sie sollen ihn haben; aber da sie nicht widersetzlich gewesen sind, so sollen ihn leicht und schnell finden.« Er zückte, ehe Sternau es verhindern konnte, dreimal das Messer und senkte es bis an das Heft in die Herzen der drei übrigen Mexikaner; sie waren augenblicklich todt. Dann wendete er sich an die Zwei, welche mit aufgeschlitzten Leibern hier lagen, und durchschnitt ihre Banden. »Ihr sollt hier liegen und sehen, wie die Geyer Eure Kameraden zerreißen, und dann sollt Ihr mit den Vögeln ringen, bis Ihr matt werdet und sie Euch überwältigen. Wir aber brechen auf, denn es ist keine Zeit zu verlieren.« »Warum nimmt mein Bruder nicht die Skalpe der Todten?« fragte Donnerpfeil. Der Gefragte antwortete in stolzem Tone:
»Der Häuptling der Miztekas nimmt nur die Skalpe solcher Feinde, mit denen er gekämpft hat, dies hier aber sind Hunde, deren Fell er nicht haben mag; sie sind gestorben, wie die Schakals, die man mit dem Stocke erschlägt.« Man nahm den sechs Mexikanern Alles ab, was sie Brauchbares bei sich trugen, dann wurde aufgebrochen. Der gefangene Führer erhielt das Pferd, welches Sternau übrig hatte. Als die fünf Männer davon ritten, sahen sie noch, wie die beiden Lebenden sich bemühten, ihre Gedärme in die geöffneten Leiber zurück zu stecken, und noch lange wurden sie von dem Geschrei der dem langsamen Tode Geweihten verfolgt, welche an diesem einsamen Orte so unerwartet ihre Bestrafung gefunden hatten. Sie ritten durch den Paß und bogen nach Norden um, wo die Apachen ihrer warteten. Diese hatten Posten vorgeschoben, um leichter gefunden zu werden. Als Bärenherz hörte, was im ale geschehen war, gab er zu dem, was Büffelstirn gethan hatte, seine volle Zustimmung. Der Führer wurde gefragt, ob er vielleicht gehört oder gesehen habe, daß Comanchen in der Gegend von Chihuahua befindlich seien. Er verneinte die Frage, und auch von den Regierungstruppen, welche in der Hazienda Verdoja lagen, wußte er nichts. Er hatte die Hazienda ja bereits in der Nacht vor dem Morgen verlassen, an dem sie dort angekommen waren. Es wurde beschlossen, insgesammt aufzubrechen. Die Apachen wollten sich der Hazienda bemächtigen und Verdoja mit Pardero gefangen nehmen. Beide waren dann ja gezwungen, ihre Gefangenen herauszugeben, und dann sollte Gericht über sie gehalten werden. Einer der Apachen ritt als Bote zurück, um dem »fliegenden Rosse« zu melden, wo die nachfolgenden Krieger mit den zuerst aufgebrochenen zusammentreffen sollten. Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Voran ritten die Weißen mit Bärenherz und Grizzlytödter, den wohl bewachten Führer in der Mitte. Dann folgten unter Anführung des ältesten Kriegers die
Apachen in ihrer gewohnten Weise, Einer immer in den Tapfen des Anderen reitend. Sie erreichten die Hochebene von Chihuahua und passirten die Gebiete mehrerer Haziendas, ohne von den Bewohnern derselben gesehen zu werden. Am Spätnachmittage ritten sie an einem Walde vorüber, der sich so sehr in die Länge dehnte, daß es unmöglich war, ihn zu durchsuchen, was eigentlich durch die Vorsicht geboten worden wäre. Als es dunkel wurde, gelangten sie an die Grenze von Verdoja’s Besitzung und sahen im Westen die Pyramide aufsteigen, welche das Ziel ihrer Wanderung bildete. Sie erhob sich noch finsterer als die Finsterniß des Abends, von jeher der Schauplatz von aten, welche das Licht zu scheuen hatten.
SECHSTES KAPITEL
Kurzes Glück »Wir lagen in des Kerkers Nacht, Zu uns kein Ton des Lebens drang, Die Todten hatten uns bewacht, Uns selbst, uns wurde sterbensbang. Und nun uns die Erlösung schlug Und als uns die Errettung kam, Da ward die Freiheit uns zum Trug, Und doppelt bitter ist der Gram.« Im Norden der Mapimi, da, wo von Südwesten aus der Gegend von Cosihuirachi her mehrere größere Wässer die Hochebene durchfließen, um sich dann von dem Plateau hinab in den Rio grande del Norte zu stürzen, entlocken diese Wasser dem sonst unfruchtbaren Boden eine ziemlich üppige Vegetation. Es giebt fruchtbare Weidestrecken, welche von dichten Wäldern umschlossen werden, die sich hinab nach Sonora, der nordwestlichsten Provinz von Mexiko, erstrecken, wo sie sich dann in die leblosen, glühenden Ebenen der Apacheria verlieren, denen dann weiter im Norden durch den Rio Gila einige Fruchtbarkeit abgezwungen wird. Einer dieser Wälder war derjenige, an welchem die Apachen unter Anführung Sternau’s, Büffelstirn’s und Bärenherzens vorüberritten. Sie hatten während des ganzen Rittes keinen einzigen Menschen gesehen und hielten sich für vollständig sicher und unbeobachtet. Hätte der Wald einen geringeren Umfang gehabt, so wäre er ganz gewiß von ihnen umstellt und durchsucht worden, dies war aber bei seiner ganz bedeutenden Größe vollständig unmöglich, und so begnügte man sich, an ihm vorüber zu reiten und nichts als seinen Saum zu durchforschen.
Zu ganz derselben Zeit hätte ein aufmerksamer Beobachter in der Tiefe dieses Waldes ein leises aber continuirlich sich fortbewegendes Geräusch vernehmen können. Bald klang es wie das Knicken eines kleinen, dürren Zweiges, bald wie das Zusammenreiben von Blättern, an welche Jemand stieß. Dieses Geräusch blieb nicht an einer Stelle, sondern es bewegte sich fort, nach dem Rande des Waldes hin. Endlich erklangen sogar einige flüsternde Worte: »Hat mein Bruder gelernt, sich unhörbar zu bewegen?« Darauf hätte man eine ebenso leise geflüsterte Antwort hören können: »Unter den Bäumen ist es dunkel. Hat mein Bruder etwa die Augen einer Katze, daß er alle Zweige und Blätter erkennen kann?« Darauf wurde es wieder still, nur ein geheimnißvolles Rauschen ließ sich hören. Da verstummte auch dieses, und nach kurzer Zeit lispelte es: »Warum steht mein Bruder? Hat er etwas gehört?« »Ja, er hörte das ferne Schnauben eines Pferdes.« Da erklang dasselbe Schnauben abermals und zwar in größerer Nähe. »Es kommen Reiter. Hier ist eine große Weihmutskiefer, wer oben in den Zweigen sitzt, kann nicht gesehen werden und hat die Prairie vor sich liegen.« Es waren zwei Indianer, welche dieses Gespräch führten. Derjenige von ihnen, welcher die letzten Worte gesprochen hatte, umfaßte den Stamm und kletterte empor, der Andere folgte ihm augenblicklich. Beide kletterten den dicken Stamm empor, wie Eichkätzchen; sie zeigten eine solche Gewandtheit, daß nicht das geringste Geräusch zu vernehmen war. Als sie oben zwischen den dicht benadelten Aesten saßen, waren sie von unten unmöglich zu bemerken. Sie hatten ihre Waffen an sich hängen, wurden von denselben jedoch nicht im Mindesten belästigt.
Kaum saßen sie fest, so hörten sie nahende Schritte. Es waren diejenigen Apachen, welche von ihren Pferden gestiegen waren, um den Rand des Gehölzes zu untersuchen. Man konnte sie von oben nicht sehen. Als sie, dem Geräusche nach, vorüber waren, ertönte draußen lautes Pferdegetrappel und die Truppe ritt vorüber. »Uff!« flüsterte der eine Indianer. »Apachen!« »In den Farben des Krieges!« fügte der Andere bei. »Es sind Bleichgesichter bei ihnen.« »Vier! Uff! Uff!« Die beiden letzten Worte waren in einem solchen Tone der Ueberraschung geflüstert, daß der Andere leise fragte: »Worüber wundert sich mein Bruder?« »Kennt mein Bruder das große, starke Bleichgesicht, welches an der Spitze reitet?« »Nein.« »Es ist der Fürst des Felsens. Ich habe ihn gesehen vor drei Wintern, als ich in der Stadt war, welche die Bleichgesichter Santa Fé nennen.« »Uff! Das ist das tapferste Bleichgesicht, welches es giebt! Aber kennt mein Bruder die beiden Häuptlinge, welche daneben reiten?« »Der eine ist Bärenherz, der Apachenhund.« »Und der Andere ist Büffelstirn, der Miztekas. Wir wollen sehen, wie viele Apachen vorüber reiten.« Ihr Sitz war so hoch, daß sie über die Wipfel des Waldrandes hinausblicken und den ganzen Zug übersehen konnten. Sie zählten genau, und als die Apachen vorüber waren, sagte der Eine: »Zwanzigmal zehn und noch sechs Apachen und vier Bleichgesichter!« »Mein Bruder hat richtig gezählt, aber der Fürst des Felsens gilt hundert Apachen. Wohin gehen sie?«
»Diese Richtung geht nach der Hazienda Verdoja. Der Präsident von Mexiko hat die Krieger der Comanchen gerufen, und nun wird der Verräther Juarez die Apachen gerufen haben. Sie gehen nach der Hazienda, wohin auch wir wollen, und werden die Reiter, die sich dort befinden, tödten wollen. Morgen kommen viele Krieger der Comanchen; die Apachen sind verloren und werden uns ihre Skalpe geben müssen. Wir müssen unsere Freunde auf der Hazienda warnen, aber wir müssen auch den Hunden der Apachen folgen, um gewiß zu sein, was sie beabsichtigen.« »So trennen wir uns. Ich folge ihnen und mein Freund eilt nach der Hazienda.« »So soll es sein.« Sie glitten vom Baume herab und drangen bis zum Rande des Waldes vor. Dort überzeugten sie sich zunächst, daß kein Nachzügler zu erwarten war, und dann traten sie auf die offene Prairie hinaus. Jetzt konnte man Beide genau erkennen, Es waren zwei Comanchen im vollen Kriegsschmucke. Sie trugen nicht das Häuptlingsabzeichen, aber sie waren jedenfalls keine gewöhnlichen Krieger, sonst hätte man ihnen nicht die schwierige Aufgabe anvertraut, das Terrain zu sondiren und auf der Hazienda Verdoja die Ankunft der verbündeten Comanchen anzusagen. Die Sonne war im Untergehen und in der Ferne verschwand jetzt der lange, schlangengleiche Zug der Apachen. »Mein Bruder beeile sich, ihnen zu folgen. Er muß sie stets vor Augen haben, denn es wird nun so dunkel, daß man sich nicht auf die Fährte verlassen kann.« Der Andere eilte, ohne eine Antwort zu geben, vorwärts. Ein Kriegskundschafter hat selten ein Pferd bei sich, da ihm dasselbe oft hinderlich sein würde. So war es auch hier, und da der Comanche als Fußgänger in dem weiten Raume der Prairie nur einen verschwindenden Punkt bildete und eine jede Art der Deckung
leicht benutzen konnte, so war es ihm leicht, selbst jetzt, da es noch hell war, sich den Apachen zu nähern, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Sein Kamerad blickte ihm eine Weile nach und schritt dann in gerade westlicher Richtung davon. Die Apachen machten, um unbemerkt zu bleiben, einen Umweg; der Comanche aber konnte sich direkt nach den Weideplätzen der Hazienda wenden und kam dort also eher an, als sie, obgleich sie beritten waren. Er war wohl noch nie in dieser Gegend gewesen, aber sein Instinct und ein Rundblick über den Horizont ließen ihn errathen, wo die Hazienda liegen werde, und er hatte auch wirklich die ganz genaue Richtung dahin eingeschlagen. Er eilte mit den langen, elastischen und ausgiebigen Schritten vorwärts, welche man bei einem Indianer, wenn er Eile hat, beobachtet. Es wurde bald dunkel, aber er eilte weiter, als ob er jeden Fußbreit dieser Gegend kenne. Er sah schließlich verschiedene Heerdenfeuer, welche die Vaqueros angezündet hatten, um sich zu erwärmen und die wilden iere abzuhalten; er hielt sich von ihnen fern, obgleich er als Freund kam und also Niemanden zu fürchten hatte. Er schlich sich unbemerkt zwischen den Heerden hindurch und erreichte die Hazienda. Dort weideten die Pferde der Dragoner, an den Vorderbeinen eng gefesselt, und vor der Umzäunung, welche jede Hazienda besitzt, lagen die Krieger um mehrere Feuer. Der Comanche duckte sich zur Erde, schlich nahe an sie heran und stand plötzlich mitten unter ihnen, wie aus der Erde emporgefahren. Dies thut der Wilde auch dann gern, wenn er zu Freunden kommt, denn wer es versteht, sich unbemerkt anzuschleichen, der wird für einen guten Krieger gehalten. Die Dragoner erschraken beim Anblicke der dunklen Gestalt, sprangen empor und griffen zu den Waffen, indem sie ihn sofort umringten.
Bei diesen Zeichen der Feindseligkeit machte er eine geringschätzende Handbewegung, blickte sich ruhig im Kreise um und fragte: »Fürchten sich die Bleichgesichter vor einem einzelnen rothen Krieger?« Einer der Dragoner, welcher die Abzeichen des Unteroffiziers trug, antwortete: »Pah, wir fürchten uns vor hundert Rothen nicht! Wer bist Du?« »Können die Bleichgesichter die Kriegsfarben der rothen Männer nicht unterscheiden?« »Ihr seid viele hundert Stämme, und der Teufel kann sich da die Malereien alle merken; aber wie mir scheint, bist Du ein Comanche?« »Ich bin es. Wo ist der Häuptling der Weißen?« »Du meinst den Rittmeister? Was willst Du bei ihm?« »Ich habe mit ihm zu sprechen.« »Das läßt sich denken, aber es fragt sich, ob auch er mit Dir zu sprechen hat.« »Er muß froh sein, wenn der rothe Krieger zu ihm kommt,« antwortete der Comanche stolz. »Ich komme als Abgesandter der verbündeten Comanchen und habe ihm eine wichtige Botschaft mitzutheilen.« »Das ist etwas Anderes. Komm, ich werde Dich führen! Er schritt voran und der Indianer folgte ihm. Sie schritten durch das Palissadenthor und begaben sich in das Innere des Gebäudes; dort mußte der Wilde warten, bis er angemeldet war. Als er eintreten durfte, sah er den Rittmeister mit seinen Offizieren rauchend und spielend am Tische sitzen. Er blieb ruhig und wortlos an der üre stehen. Der Rittmeister warf einen verächtlichen Blick auf ihn, spielte seine Parthie erst aus, warf dann die Karte von sich und fragte unmuthig: »Was willst Du, Rothhaut?«
Der Indianer antwortete nicht. »Was Du willst, frage ich!« wiederholte der Rittmeister. »Mit wem spricht der Offizier?« fragte jetzt der Comanche. »Mit Dir!« rief der Rittmeister. »Ich dachte, der weiße Häuptling rede mit einem Fuchse.« »Mit einem Fuchse? Bist Du toll!« »Der weiße Häuptling sprach mit einer Rothhaut, und der Fuchs hat eine rothe Haut.« »Ah,« lachte der Offizier, »Du fühlst Dich beleidigt! Nun gut, so werde ich höflicher sein. Was willst Du, Comanche?« »Ich bringe den Gruß unserer großen Häuptlinge. Der Präsident hat uns gebeten, ihm unsere Hilfe zu leihen, und die Häuptlinge haben beschlossen, es zu thun.« »Sehr freundlich von Euch! Also Eure Krieger werden kommen?« »Ja, sie kommen. Bereits morgen früh wird ein ganzer Stamm sich in dem Walde befinden, welcher von hier gerade gen Osten liegt.« »Ah, das geht rasch! Und die Anderen?« »Sie kommen nach, täglich ein berühmter Häuptling mit den Seinen.« »Ihr scheint lauter berühmte Häuptlinge zu haben, ob sie uns aber großen Nutzen bringen, das wird sich erst zeigen. Sie werden sich zunächst unter meinen Befehl zu begeben haben. Ich werde noch heute Abend einen Boten nach Chihuahua senden, um mir Verhaltungsmaßregeln geben zu lassen.« Der Comanche lächelte auf eine eigenthümliche Weise und antwortete: »Mein weißer Bruder spricht Worte, welche ich nicht begreife.« »Warum nicht?« »Er will einen Boten senden, um Befehle zu holen, also kann er kein Häuptling sein, und dennoch verlangt er, daß die berühmten
Führer der Comanchen ihm gehorchen sollen. Die Comanchen werden kommen, ihre Häuptlinge werden eine Berathung halten mit den Häuptlingen der Weißen und dann wird man thun, was beschlossen worden ist. Ein Comanche stellt sich nicht unter den Befehl eines fremden Kriegers.« Der Rittmeister sah gar wohl ein, daß er hier nicht starke Saiten aufziehen dürfe, und antwortete daher: »Wir streiten uns nicht. Wenn Deine Häuptlinge kommen, werde ich mit ihnen sprechen. Was mich betrifft, so würde ich allerdings keinen Rothen brauchen.« Das Auge des Indianers glühte auf. »Wenn Du keinen Rothen brauchtest, so wärst Du morgen eine Leiche und Dein Scalp hinge an dem Gürtel eines Apachen,« antwortete er. »Alle Wetter! Was sagst Du da?« fragte der Rittmeister erschrokken. »Was Du gehört hast!« »Du sprachst von Apachen?« »Ja.« »Sind sie etwa in der Nähe?« »Ja.« »Wo?« »Sie sind von ihren Weideplätzen aufgebrochen, um die Weißen zu tödten.« »Das ist möglich; aber sie haben einen weiten Weg.« »Sie haben gute Pferde!« »Eure Comanchen werden eher hier sein als sie.« »Die Apachen sind eher da als wir.« »Donnerwetter! Morgen kommt Ihr, da müßten sie also bereits heute hier sein!« »Sie sind hier!« »Wo?«
»Sie können jetzt in diesem Augenblicke bereits draußen bei Euren Pferden sein.« »Heilige Madonna, ist das möglich?« Er sprang erschrocken auf und die Anderen mit ihm. Der Comanche lächelte über den Eindruck, den seine Worte machten. Ein Indianer wäre ganz kaltblütig sitzen geblieben. Er wußte sehr genau, daß die Wilden ihre Angriffe am liebsten gegen Morgen unternehmen. Wenn er auch die Apachen gesehen hatte, so war er doch überzeugt, daß die Hazienda jetzt noch vor ihnen sicher sei. Darum sagte er in stolzem Tone: »Die Bleichgesichter fürchten sich!« »Nein!« rief der Rittmeister. »Aber wir wollen uns nicht unvermuthet und wehrlos morden lassen. Hast Du die Apachen gesehen? »Ja.« »Wo?« »Sie ritten am Walde vorüber, in welchem morgen die Comanchen ankommen werden.« »Wann?« »Vor so viel Zeit, als die Bleichgesichter eine Stunde nennen.« »Wie viele waren es?« »Zehn mal zwanzig und sechs.« »Alle Teufel, zweihundert und sechs! Doppelt so viel, als wir sind!« »Es waren vier Bleichgesichter bei ihnen!« »Ah! Jedenfalls Anhänger dieses Juarez. Jetzt ist es sicher, daß sie es auf die Hazienda abgesehen haben. Wir müssen uns in Vertheidigungszustand versetzen!« »Es werden dennoch viele Bleichgesichter fallen.« »Das befürchte ich nicht. Wir ziehen uns hinter die Umzäunung zurück und sind dann vor ihren Kugeln sicher.« »Es ist bei ihnen der größte Krieger der Bleichgesichter; er hat ein Gewehr, welches hundert Feinde tödtet, ehe er wieder ladet.«
»Wer wäre das?« »Der Fürst des Felsens.« Dieser Name war überall bekannt und berühmt; auch die Offiziere hatten ihn bereits gehört. »Der Fürst des Felsens?« frug der Rittmeister. »Donnerwetter, das wäre ja die beste Gelegenheit, diesen famosen Kerl einmal zu sehen. Ist er wirklich dabei?« »Ja, ich kenne ihn.« »Aber was haben wir ihm gethan, daß er als Feind zu uns kommt?« »Der Fürst des Felsens ist der Freund der Apachen und Comanchen; er ist der Freund aller rothen und aller weißen Männer,« sagte der Indianer. »Er ist gerecht und gut; er tödtet nur den, der ihn beleidigt hat. Wenn er als Feind nach der Hazienda Verdoja kommt, so muß es hier einen Mann geben, der sein Feind ist!« »Hm, vielleicht Verdoja selbst? Aber der ist nicht mehr da; der hat sich aus dem Staube gemacht, der ist entflohen. Wo stecken die Apachen?« »Ich weiß es nicht, aber es war einer meiner rothen Brüder bei mir, der ist ihnen nachgeschlichen. Er wird kommen und berichten, wo sie zu finden sind.« »Das genügt. Du bleibst bei uns, bis Eure Krieger kommen?« »Ich bleibe hier während der Nacht, dann aber gehe ich meinen Brüdern entgegen, um sie nach der Hazienda zu führen.« Somit war dieses Gespräch beendet und der Rittmeister traf seine Vorbereitungen zum Empfange der Apachen. Die Pferde wurden auf der Weide gelassen, um den Anschein zu bewahren, daß man von der Anwesenheit der Feinde gar nichts wisse; die Dragoner aber löschten ihre Feuer aus und zogen sich hinter die Palissaden und in das Gebäude zurück. Da ein Jeder einen Carabiner, einen Degen und auch Pistolen hatte, so war vorauszusehen, daß die Apachen mit fürchterlichen Verlusten zurückgeschlagen wurden.
Als der Comanche die Hazienda erreichte, waren die Apachen auch bei der Pyramide angekommen. Sie hielten in der Nähe des finsteren Bauwerkes, und die Anführer betrachteten dasselbe mit nicht sehr angenehmen Gefühlen. Im Innern dieses massiven Mauerwerkes staken ja diejenigen, denen ihre Liebe gehörte. »Könnte man das Dings da zertrümmern!« knirrschte Donnerpfeil. »Nur Geduld!« antwortete Sternau. »Wir werden die Unsrigen ganz sicher befreien.« »Davon bin ich überzeugt. Aber was werden sie zu leiden haben, ehe wir sie finden!« »Vielleicht gelingt es uns, ihre Leiden sehr bald zu beenden.« Da sagte Büffelstirn: »Jeden Seufzer, den Karja, die Tochter der Miztecas, ausgestoßen hat, bezahlt ein Feind mit dem Leben! Wo wird der Eingang sein?« Sternau wendete sich an ihren Führer, den Mexikaner: »An welcher Stelle habt Ihr angehalten?« »Kommen Sie.« Er ritt eine Strecke weiter ab und blieb dann halten. »Hier war es,« sagte er. »Und wo verschwand Verdoja mit den Gefangenen?« »Hier ist der Busch, neben den er in das Dickicht drang, und dort die Ecke, an welcher ich das Licht der Laterne aufleuchten sah.« »Gut. Wenn Alles sich wirklich so verhält, soll Dir das Leben geschenkt sein.« »Sennor, ich rede die Wahrheit!« »Das ist gut für Dich.« Er rief die beiden Häuptlinge und Donnerpfeil herbei und zeigte ihnen das Terrain. »So darf jetzt kein Mensch das Gebüsch und den Fuß der Pyramide betreten,« sagte Büffelstirn. »Verdoja ist öfters hin- und herge-
gangen; es müssen Spuren vorhanden sein trotz der Länge der Zeit, die seitdem vergangen ist, und diese Spuren können wir erst sehen, wenn es Tag geworden ist.« »Warum warten, bis der Tag anbricht?« fragte Bärenherz. »Jawohl!« stimmt Donnerpfeil bei. »Meine Braut soll keine Minute länger in diesem Kerker schmachten, als es durchaus nothwendig ist.« »Sie meinen, daß uns Verdoja selbst den Weg zeigen soll?« fragte Sternau. »Ja.« »So überfallen wir die Hazienda?« »Ja, unbedingt! Und wehe ihm, wenn er uns nicht gehorcht.« »Gut, so wollen wir zunächst einmal forschen, wie es in der Hazienda steht.« »Warum erst forschen,« sagte Donnerpfeil. »Wir reiten hin, fassen den Kerl fest und schleppen ihn her. Weiter ist ja nichts Anderes möglich!« Der gute Anton Helmers, genannt Donnerpfeil, hätte am liebsten gleich den Himmel herabgerissen, um der Geliebten baldige Erlösung zu bringen. Eben wollte Sternau antworten, als ein lauter Ruf erscholl: »Uff! No-ki peniyil – Uff, kommt herbei! Das waren Worte im Apachendialekt, es war also ein Apache, der gerufen hatte. Die Stimme klang in der Nähe, und zwar von der Richtung aus, aus welcher sie gekommen waren. »Wer war das?« fragte Sternau. »Der Grizzlytödter,« antwortete ein Apache. »Ist er fort?« »Ja, er wollte die Gegend durchsuchen, ob wir sicher sind.« »So hat er etwas Wichtiges entdeckt. Schnell hin zu ihm!« Er selbst sprang eilig vom Pferde und eilte nach dem Orte hin, an welchem der Ruf erklungen war. Da fand er den jungen Apachen
am Boden knieend, und unter ihm lag ein Mensch, den er fest an der Erde hielt. »Ein Comanche!« sagte er. Im Nu war ein Lasso zur Stelle, und der Comanche wurde gebunden. Es war der Bote, welcher sich im Walde von seinem Kameraden getrennt hatte, um den Apachen nachzuschleichen. »Wie kommt mein Bruder Grizzlytödter zu diesem Hunde?« fragte Bärenherz. »Ich ritt am Ende des Zuges und hörte ein Schleichen hinter uns,« erklärte der junge Held. »Es folgte uns ein Mann. Darum stieg ich vom Pferde, als wir hier angekommen waren, und suchte ihn. Ich fand ihn hier; er wollte unsere Rede belauschen. Da warf ich mich auf ihn und hielt ihn fest.« Da trat Sternau herzu und betrachtete den Gefangenen. »Ja,« sagte er, »es ist ein Comanche; er ist uns gefolgt.« »Tödtet den Hund!« sagte einer der Apachen. Da wandte sich Sternau zu dem Sprecher und sagte in scharfem Tone: »Seit wann sprechen bei den Apachen die Männer, ehe die Häuptlinge gesprochen haben? Wer seine Rede nicht zügeln kann, ist ein Knabe, oder ein Weib.« Da trat der Mann beschämt zurück. Bärenherz stand auch dabei und fragte den Gefangenen: »Wo hast Du Deine Gefährten?« Der Gefragte antwortete nicht. Da versetzte ihm Grizzlytödter einen Hieb in das Gesicht und sagte: »Wirst Du antworten, wenn Dich ein Häuptling der Apachen fragt!« Aber der Mann schwieg. Es versuchten Einige, ihn zum Reden zu bringen, aber vergeblich. Da änderte Sternau die Sache, indem er fragte:
»Du bist ein Krieger der Comanchen und antwortest nur dem, der Dich als tapferer Krieger behandelt. Wirst Du fliehen, wenn ich Deine Fesseln löse?« »Ich bleibe,« antwortete der Mann. »Wirst Du mir antworten?« »Dem Fürsten des Felsens antworte ich; er ist gerecht und gut; er schlägt keinen Gefangenen, der sich nicht wehren kann.« Das ging auf Grizzlytödter, der sich durch seinen Schlag in dem Comanchen einen Todtfeind erworben hatte. »Wie, Du kennst mich?« fragte Sternau. »Ich kenne Dich und bin Dein Gefangener.« »Du gehörst Dem, der Dich besiegt hat. Stehe auf!« Er band das Lasso los; der Gefangene erhob sich vom Boden und machte nicht die geringste Miene, zu entfliehen. »Bist Du allein hier?« fragte jetzt Sternau. »Nein,« lautete die Antwort. »Sind Viele bei Dir?« »Nur Einer.« »So seid Ihr als Kundschafter gekommen?« »Ja.« »Und es kommen sehr viele Krieger hinter Euch?« »Weiter darf ich nichts sagen.« »Gut, ich werde Dich nicht weiter fragen. Also Du wirst nicht entfliehen?« »Ich werde fliehen.« »Sprechen die Söhne der Comanchen in zwei Zungen? Du versprachst mir doch, zu bleiben.« »Wenn ich Dein Gefangener sein kann. Der Gefangene eines Knaben, der mich schlägt, mag ich nicht bleiben.« »So müssen wir Dich wieder binden.« »Versucht es!«
Er holte aus und hätte Grizzlytödter mit einem Schlage seiner Faust niedergeworfen, wenn Sternau nicht schneller gewesen wäre. Er faßte den erhobenen Arm des Comanchen mit der Linken und versetzte ihm mit der Rechten einen Hieb an die Schläfe, daß er zusammenbrach; in demselben Augenblicke aber erhob auch Grizzlytödter sein Messer und stieß es dem Niederstürzenden in das Herz. »Sein Scalp ist mein!« rief er. »Ein schlechter Scalp!« sagte Sternau, indem er sich unwillig abwandte. Grizzlytödter sah ihn betroffen an und fragte: »Warum soll der Apache nicht den Comanchen tödten?« »Weil er ihn nicht in einem ehrlichen Kampfe erlegt hat, soll er den Scalp nicht tragen,« sagte Bärenherz. »Der Comanche war bereits betäubt. Warum hast Du ihn geschlagen? Ein tapferer Krieger trägt nicht den Scalp dessen, den er entehrt hat.« Das war eine harte aber wohlverdiente Zurechtweisung. Der junge Apache wendete sich ab und warf keinen Blick wieder auf die Leiche. Er getraute sich nicht, wieder in die Nähe der Häuptlinge zu treten, die sich jetzt mit halblauter Stimme beriethen. »Wenn heute zwei Kundschafter hier sind, so steht es fest, daß die Comanchen bald nachkommen,« sagte Sternau. »Wir müssen vorsichtig sein. Die Zwei haben uns gesehen und sich dann jedenfalls getheilt. Der Eine ist uns nachgefolgt, und der Andere ist nach der Hazienda geeilt, um deren Bewohner zu warnen. Wollen wir sie überfallen, so ist es nöthig, vorher zu recognosciren. Und das werde ich selbst thun. Die Zurückbleibenden mögen absitzen, um ihre Pferde weiden zu lassen. Sie mögen ein Lager ohne Feuer bilden und Wachen aufstellen. Sie mögen ferner dafür sorgen, daß die Spuren Verdoja’s nicht zerstört werden.« Nach dieser Anordnung und nachdem er sich bei dem mexikanischen Führer nach der Lage der Hazienda erkundigt hatte, schritt
er davon. Die schwere, ihn hindernde Büchse ließ er beim Pferde zurück, aber den Henrystutzen warf er über die Schulter. Es war ganz dunkel geworden, aber als er ungefähr fünf Minuten gegangen war, sah er die Heerdenfeuer leuchten. Sie dienten ihm als untrügliche Wegweiser. Eines dieser Feuer brannte an der Seite eines großen Felsblockes, der mitten in der Ebene lag. Die Flamme war hier gegen den Luftzug geschützt, und fünf bärtige Vaqueros bildeten einen Halbkreis um dieselbe. Sternau’s scharfes Auge erkannte die günstige Gelegenheit, etwas zu erlauschen, sofort. Er schlich sich herbei, und dies wurde ihm nicht schwer. Der nur von der einen Seite erleuchtete Felsen warf nach der entgegengesetzten Richtung einen tiefen Schlagschatten, in dessen Dunkel Sternau vollständig sicher herbeischleichen konnte. Er nahm an dieser Seite des Felsens Posto und konnte nun jedes Wort des Gespräches belauschen. »Verdammt gefährlich ist’s für uns,« sagte jetzt einer der Vaqueros. »Nicht im Mindesten,« antwortete ein Anderer. »So? Wenn die Apachen kommen, über wen fallen sie zuerst her? Ueber uns.« »Ich wette mein Leben, daß sie erst gegen Morgen kommen, und dann sind wir nicht mehr da. Wir sollen uns ja bereits um Mitternacht in die Hazienda zurückziehen.« »Wo mögen sie stecken?« »Das werden wir erfahren, sobald der andere Comanche kommt; er ist ihnen nachgegangen. Dieser Rittmeister, der Dragoner, scheint ein tüchtiger Kerl zu sein. Er hat die Hazienda verbarrikadirt, daß sicherlich kein Apache über die Pallissaden kommt. Und wenn über hundert Dragonertruppen krachen, dann werden nicht viele Rothhäute übrig bleiben.«
Ah, war das so! Sternau hörte, daß ein Rittmeister mit einer Schwadron Dragoner hier lag. Das gab der Sache eine ganz andere Wendung. Er trat schnell entschlossen hinter dem Felsen hervor und grüßte. Die Vaqueros sprangen entsetzt auf und griffen nach ihren Gewehren, als sie aber sahen, daß sie einen Weißen vor sich hatten, beruhigten sie sich. »Es liegen Dragoner in der Hazienda?« fragte er. »Ja,« antwortete Einer. »Wie viele?« »Ueber hundert.« »Regierungstruppen?« »Ja.« »Wird man den Rittmeister sprechen können?« »Sicher!« »Gute Nacht!« Er wandte sich ab und schritt der Hazienda zu. »Santa Madonna,« sagte der Vaquero, »ich dachte zunächst, es sei der Teufel!« »Ja,« meinte ein Zweiter, »dann dachte ich, es sei der Geist des Riesen Goliath. So einen Kerl habe ich noch gar nicht gesehen!« »Wie er Einen anguckte! Man war ganz verblüfft. Man hätte ihn doch eigentlich sehr examiniren sollen! Wer mag er sein?« »Er war keine Rothhaut, und das ist genug. Er sah aus wie ein Jäger aus dem Norden; wir werden ihn noch kennen lernen, denn jedenfalls sucht er sich ein Nachtlager in der Hazienda.« Während hier am Feuer diese Vermuthungen ausgesprochen wurden, schritt Sternau dem Hause entgegen. Er sah die vor demselben weidenden Pferde und lächelte. Durch diese Pferde wäre kein einziger Apache zu dem Glauben verleitet worden, daß die Bewohner der Hazienda noch ungewarnt seien.
Er schritt den Palissaden entlang und hörte dahinter flüstern. Diese Dragoner waren nicht die Kerls, einen Savannenmann zu täuschen. Am ore klopfte er an. »Wer ist draußen?« fragte eine Stimme. »Ein Fremder,« antwortete er. »Was will er?« »Mit dem Rittmeister sprechen.« »Ah, ist’s ein Rother oder ein Weißer?« »Ein Weißer.« »Allein?« »Ganz allein!« »Hm, wer darf trauen! Das or öffne ich nicht. Könnt Ihr klettern?« »Ja.« »So steigt über die Palissaden; wir wollen’s erlauben, wenn es nur Einer ist; sind es aber Mehrere, so schießen wir sie über den Haufen!« »So tretet hinten weg!« Er schritt eine kurze Strecke zurück und nahm einen Anlauf; im nächsten Augenblicke flog er über die Planken hinüber und mitten unter die Dragoner hinein, welche nicht geahnt hatten, daß sie es mit einem solchen Voltigeur zu thun hatten. Er riß einige davon zu Boden, während die Anderen zusammenprallten, daß die Köpfe krachten. »Donnerwetter!« rief die Stimme, welche bereits vorhin gesprochen hatte. »Was ist denn das? Ihr fliegt ja aus den Wolken herab! Ich denke, Ihr wollt über die Palissaden steigen!« »Das that ich auch, aber nur in meiner Weise,« lachte Sternau. »Aber das ist eine ganz verdammte Art und Weise! Ihr könnt dabei Hals und Beine brechen und anderen ehrbaren Leuten die Knochen zerschlagen. Wer seid Ihr denn?«
Es war ein Unteroffizier, der das sagte. Er rieb sich den Rücken, denn er gehörte zu Denen, welche niedergerissen worden waren. »Ein Jäger bin ich.« »Ein Jäger? Hm, ich denke, Ihr hättet es auch zum Seiltänzer bringen können! Und mit dem Rittmeister wollt Ihr reden?« »Ja,« »Was denn?« »Was Euch nichts angeht! Wenn ich es Euch sagen wollte, brauchte ich es nicht dem Rittmeister zu erzählen. Verstanden!« »Heilige Madonna, seid Ihr ein Grobian! Woher wißt Ihr denn, daß ein Rittmeister hier ist?« »Es hat mir geträumt. Vorwärts, ich habe nicht viel Zeit.« »Hopp, hopp! Wenn ein mexikanischer Unteroffizier der Dragoner Auskunft verlangt, so hat man ihm zu antworten!« »Das thue ich ja auch. Oder bin ich Euch vielleicht zu einsilbig?« »Bei Leibe nein! Ihr redet eher zu viel. Seid Ihr bewaffnet?« »Ja.« »So gebt die Waffen ab!« »Weshalb?« »Es sind Kriegszeiten, und da muß man vorsichtig sein. Wie nun, wenn Ihr nur kämt, um den Rittmeister zu ermorden!« »Glaubt Ihr, daß es so einen Wahnsinnigen geben kann? Ich wäre ja sofort des Todes. Oder sind die mexikanischen Dragoner Memmen, die man nicht zu fürchten braucht, weil sie selbst sich fürchten vor einem einzelnen Manne, der eine Flinte hat?« »Hört, Mann, zu reden versteht Ihr wie sonst Einer! Aber ich will einmal von der Regel absehen und Euch auch bewaffnet zum Rittmeister lassen. Kommt!« Er führte Sternau ganz in dasselbe Zimmer, in welchem nicht lange Zeit vorher der Comanche gewesen war. Dieser befand sich natürlich nicht mehr darin, aber die Offiziere saßen noch immer
beim Spiele. Als sie Sternau erblickten, erhoben sie sich unwillkürlich. Der Eindruck seines Aeußern gab sich sofort zu erkennen. »Wer sind Sie, Sennor?« fragte der Rittmeister, als er den höflichen Gruß des Eintretenden erwidert hatte. Sternau warf einen Blick im Zimmer umher und dann auf die Offiziere. Sie trugen ihre Degen, waren aber sonst unbewaffnet. Er antwortete: »Mein Name ist Sternau, Sennor; ich bin Arzt und reise theils in Familienangelegenheiten und theils, um meine Erfahrungen zu erweitern. Ich komme nach dieser Hazienda, um mit Sennor Verdoja in Ihrer Gegenwart ein Wort zu sprechen.« »Das ist unmöglich, denn Verdoja ist nicht hier!« »Ah! Wo befindet er sich?« »Ich weiß es nicht; ich vermuthe, daß er sich vor uns aus dem Staube gemacht hat.« »Das ist mir höchst unangenehm. Seit wann befinden Sie sich hier?« »Seit heute Vormittag.« »War da Verdoja bereits fort?« »Nein. Ich sprach mit ihm. Er sagte, daß er seine Vaqueros zu inspiziren hätte, und ritt davon. Er kam nicht zurück, und ich habe erfahren, daß er bei keinem einzigen Vaquero gesehen wurde. Er war ein Anhänger von Juarez und floh deshalb. Sein Lieblingsdiener ist mit ihm verschwunden.« »So befindet sich wenigstens Sennor Pardero hier?« »Pardero? Ah, der Lieutenant Verdoja’s? Nein; er ist nicht hier.« Das gab Sternau zu denken. Waren diese beiden Männer mit ihren Gefangenen entflohen? Möglich war es. Oder hatten sie sich vor den Regierungstruppen in die Pyramide geflüchtet? Welch ein Loos erwartete da die beiden Mädchen! Es lag auf der Hand, daß keiner der Offiziere von dem verbrecherischen un
Verdoja’s etwas ahnte. Sollte Sternau es ihnen erzählen? Vielleicht war es gut, vielleicht auch nicht. »Sie sind mit Verdoja und Pardero Freund?« fragte der Rittmeister. »Nein,« antwortete Sternau. »Diese beiden Männer sind die größten Schurken, welche ich jemals kennen lernte. Ich kam, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.« »Ach, ich theile Ihre Meinung vollständig; um so mehr thut es mir leid, daß Sie diese Leute nicht finden.« »Sie haben wirklich keine Ahnung, wo sie zu suchen sind?« »Nicht die geringste.« »So habe ich Sie umsonst incommodirt und bitte, mich zu entschuldigen.« Man hatte während der kurzen Unterhaltung noch nicht daran gedacht, ihm einen Sessel anzubieten; jetzt, als er sich mit einer Verbeugung verabschieden wollte, sagte der Rittmeister: »Nehmen Sie doch Platz, Sennor! Sie bleiben diese Nacht doch hier?« »Nein.« »Ach, nicht? Sie wollen weiter? Die beiden Männer suchen?« »Ja, allerdings.« »Hören Sie, das ist gefährlich! Sie sind fremd und es ist gewissermaßen Revolution im Lande. Es streifen wilde Indianer grad in dieser Gegend herum, und ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß wir sogar diese Nacht einen Ueberfall der Apachen hier erwarten. Wenn Sie diesen Schuften in die Hände fallen, so sind Sie verloren!« »O, ich fürchte sie nicht, Sennor!« »Nicht? Hm, Sie sind ein Neuling im Lande!« »Nicht so ganz! Uebrigens weiß ich, daß die Indianer im Grunde genommen bessere Menschen sind, als man zu meinen gewohnt ist.«
»Sie irren, Sie irren sehr. Da liegt neben der hiesigen Besitzung eine weite Länderei, welche dem Grafen Rodriganda gehört. Er hat eine Anzahl Pueblos-Indianer angestellt, und vorige Woche haben sie den Majordomo mit fast sämmtlichen Weißen abgeschlachtet.« »Das ist mir leid, hat seinen Grund aber jedenfalls in der nicht menschenfreundlichen Administration des Sennor Cortejo.« »Ah, Sie kennen diesen Cortejo, der die Güter des Grafen verwaltet?« »Ja, er wohnt in Mexiko.« »Das ist richtig. Dieser Graf Rodriganda ist einer der reichsten Grundbesitzer dieses Landes. Ich möchte wünschen sein Sohn, oder Erbe zu sein.« Sternau lächelte und verbeugte sich verbindlich. »Dann wären wir Verwandte,« sagte er. »Verwandte?« fragte der Offizier. »Ja. Meine Frau ist eine Contezza de Rodriganda y Sevilla, die einstige Erbin der Güter, von denen Sie sprachen.« Der Rittmeister fuhr empor. »Nicht möglich!« rief er. »Eine Gräfin de Rodriganda, die Frau eines Arztes!« »Es ist dennoch so!« »Dann sind Sie von Adel?« »Nein.« »Aber ich bitte Sie! Das wäre ja kaum zu verstehen!« Sternau griff in die Tasche und zog den letzten Brief hervor, den er von Rosa erhalten hatte. Er zeigte dem Rittmeister die Ueberund die Unterschrift, den Stempel des Bogens und das Siegel des Couverts. »Bitte überzeugen Sie sich,« sagte er. »Wahrhaftig, das ist das Siegel der Rodriganda; ich kenne es sehr genau. Sie müssen nämlich wissen, daß ich mit Alfonzo de Rodriganda, der sich jetzt in Spanien befindet, sehr befreundet war.
Ich habe von ihm erfahren, daß er eine Schwester besitzt, welche Rosa heißt, und sehe also, daß Sie die volle Wahrheit sagen. Nun müssen Sie bei uns Platz nehmen, denn es versteht sich ganz von selbst, daß ich Sie nicht fort lasse!« Sternau lächelte abermals und sagte: »Ihre Freundlichkeit verpflichtet mich zum größten Dank, aber ich darf nicht bleiben.« »Warum?« »Ich werde erwartet.« »Wo? Außerhalb der Hazienda Verdoja?« »Ja.« »Teufel, wo könnte das sein? Bis zur nächsten Besitzung hat man fast einen Tag zu reiten. Und daß Ihre Gesellschaft im Freien campirt, nehme ich doch nicht an.« »Und doch ist es so. Ich werde von den Apachen erwartet.« Sternau sprach diese Worte mit einem unendlichen Gleichmuthe aus, und doch war die Wirkung ganz dieselbe, als ob eine Bombe geplatzt wäre. Die Herren Offiziere fuhren von ihren Sitzen auf und dann weit auseinander. »Von den Apachen?« fragte der Rittmeister mit offenem Munde. »Ja.« »Alle Wetter, das ist ein Spaß! Erklären Sie mir das!« »Die Erklärung ist sehr einfach, ich bin der Anführer der Apachen.« »Die Bestürzung der Herren verdoppelte sich; sie waren das, was man perplex nennt. – »Ihr Anführer? Aber das ist ja unmöglich!« »Es ist im Gegentheil nicht nur möglich, sondern wirklich. Soll ich es Ihnen beweisen?« »Ja, ich bitte Sie darum, ich bitte Sie recht sehr darum!« »Nun, Sie haben einen Comanchen hier?« »Das stimmt. Aber was hat das mit Ihrem Beweise zu thun?«
»Und den anderen Comanchen haben wir,« fuhr Sternau unbeirrt fort. »Sie haben ihn?« fuhr der Offizier auf. »Ja. Diese beiden Comanchen beobachteten uns und dann trennten sie sich. Der Eine ging nach dieser Hazienda, und der Andere folgte unserer Fährte. Er war dabei sehr unvorsichtig, wurde ertappt und von einem der Apachen erstochen.« Da griff der Rittmeister an seinen Degen und donnerte: »Sennor, ist das wahr?« »Ja.« »Und das sagen Sie uns, die wir mit den Comanchen verbündet sind! Sie wagen es, in dieses Haus zu kommen!« »Ah, pah, ich wage nichts! Ich kam in dieses Haus, um mit Verdoja eine Abrechnung zu halten, und nun ich ihn nicht finde, halte ich es für meine Pflicht, Ihren Leuten zu sagen, daß sie schlafen gehen können. Die Apachen werden keinen Angriff auf die Hazienda unternehmen.« »Aber, zum Teufel, träume ich denn?« fragte der Offizier, indem er sich an den Kopf griff. »Nein, Sie wachen. Mein Erscheinen hier mag ein Wenig ungewöhnlich erscheinen, ist aber sehr leicht zu erklären. Die Apachen kommen nicht, um mit den Weißen Krieg zu führen; sie beabsichtigen weiter nichts, als sich von den Comanchen einige Scalpe zu holen; sie sind meine Freunde, aber darum bin ich noch nicht Ihr Feind, Sennor. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß die Apachen weder Ihnen noch der Hazienda einen Schaden zufügen werden, und daher erwarte ich, daß auch Sie meine Freunde nicht belästigen.« »Den Teufel können Sie erwarten!« rief der Rittmeister. »Die Apachen sind Feinde unserer Verbündeten, also auch die unserigen, ich werde sie niedersäbeln, wo ich sie finde!«
»Ich habe keine Veranlassung, Sie zu bekehren; aber betrachten Sie mich wenigstens als einen Abgesandten, der Sie um einen dreitägigen Waffenstillstand bitten will!« »Fällt mir nicht ein! Die Rothhäute mögen heute Nacht kommen und sich blutige Köpfe holen. Und kommen sie nicht, so werde ich sie morgen aufsuchen; darauf können Sie sich verlassen!« »Dies ist Ihr Ernst?« »Mein vollständiger!« »Dann habe ich hier nichts mehr zu suchen. Gute Nacht!« Da trat ihm der Rittmeister in den Weg. »Halt! Wohin?« fragte er. »Fort, zu meinen Apachen,« antwortete Sternau gleichmüthig. »Sie? Fort? Daß ich ein Narr wäre! Sie bleiben da, Sie sind mein Gefangener!« »Sie scherzen!« lachte Sternau. »Donnerwetter, in solchen Sachen scherzt man nicht. Es ist mein vollständiger Ernst!« »Sie erklären einen Abgesandten, einen Parlamentair, für gefangen?« »Von den Rothen erkenne ich keinen Parlamentair an. Uebrigens sind Sie ganz ohne meine Erlaubniß gekommen; ich habe keinerlei Verpflichtung gegen Sie. Sie sind gekommen, um sich unsere Vorbereitungsmaßregeln anzusehen, ich erkläre Sie für einen Spion!« »Halt, Sennor! Der Gemahl einer Rodriganda ein Spion?« »Pah, ich glaube jetzt nicht mehr an das, was ich vorhin für wahr hielt!« »un Sie, was Ihnen beliebt! Ich aber bemerke Ihnen, daß ein Spion sich wohl nicht in der Weise in die Hazienda wagen würde, wie ich es gethan habe.« »Nun gut, Spion oder nicht! Sie sind in der Hazienda, Sie haben unsere Vorbereitungen gesehen, und Sie dürfen also nicht fort!« »Wer will mich halten?«
»Ich, Sennor!« sagte der Rittmeister drohend. »Pah, Sie und alle Ihre Dragoner können mich nicht halten. Ich werde gehen, wie mir es beliebt, grad so, wie ich gekommen bin, als es mir beliebte.« Da zog der Offizier den Degen. »Sie bleiben!« gebot er. »Sie riskiren sonst Ihr Leben »Haben Sie keine Sorge um mich,« lächelte Sternau. »In solcher Gesellschaft riskirt der Fürst des Felsens ganz und gar nichts.« Da erbleichte der Rittmeister und mit ihm die anderen Offiziere. Er trat zurück und sagte: »Der Fürst des Felsens? Dios, ja, er soll dabei gewesen sein!« »Allerdings war er bei den Apachen. Ich selbst bin es. Und nun versuchen Sie einmal, mich zu halten!« Der Rittmeister war doch muthig genug, ihm wieder nahe zu treten. Er gebot: »Und wenn Sie es zehnmal sind, Sie bleiben mein Gefangener. Legen Sie die Waffen ab!« »Das dürfte mir wohl schwerlich einfallen! Uebrigens haben Sie nur ihre Degen, Sennores, ich dürfte nur den Revolver ziehen, so wären Sie verloren; aber ich thue es anders. Ich habe gesagt, daß ich Ihr Feind nicht bin, und bitte nochmals, mich zu entlassen.« »Sie bleiben!« gebot der Rittmeister. »Nun denn, Sie wollen es nicht anders!« Er erhob blitzesschnell die Faust, und in ganz derselben Sekunde krachte der Rittmeister besinnungslos zu Boden. Ehe die beiden Lieutenants nur einen Gedanken haben konnten, stand er auch bereits schon vor ihnen – zwei Faustschläge, und auch sie lagen an der Erde; er hatte sich die Bahn frei gemacht. Er ging. Als er in den Hof kam, empfing ihn derselbe Unteroffizier. »Fertig?« fragte dieser. »Ja. Laßt mich hinaus!«
»Durch die ür?« »Versteht sich, denn nun werdet Ihr ja glauben, daß ich allein bin!« »Na, so kommt!« Er trat an das or, um es zu öffnen. In diesem Augenblicke kam eine dunkle Gestalt herangeschlichen; es war der Comanche, welcher einen Rundgang gemacht hatte. Die hohe Gestalt Sternau’s fiel ihm auf; er trat heran und warf einen forschenden Blick auf ihn. »Der Fürst des Felsens!« rief er. »Der Fürst des Felsens!« erscholl es von Mund zu Mund. »Haltet ihn fest!« rief der Comanche. Zugleich faßte er Sternau, um ihn fest zu halten. »Sei nicht dumm, Comanche!« gebot Sternau. »Wie kannst Du den Fürsten des Felsens halten! Ich weiß, Du willst meinen Tod nicht, ich den Deinen auch nicht. Packe Dich!« Er ergriff den Rothen und gab ihm einen Stoß, daß er weit fort flog. Da aber wurde ein Fenster aufgerissen, und man sah den von der Lampe beschienenen Kopf des Rittmeisters erscheinen. »Ist er noch da?« rief er in den Hof heraus. »Nehmt ihn gefangen!« »Hier ist er! Haltet ihn, haltet ihn fest!« rief es aus mehr als einem Dutzend Kehlen. Doppelt so viele Hände streckten sich nach ihm aus. Er riß den Stutzen von der Schulter und schlug ein gewaltiges Rad mit demselben; das war ein zwölffacher Hieb, den er austheilte, er bekam freie Bahn, nahm einen Anlauf und flog ebenso schnell über die Palissaden hinaus, wie er über dieselben hereingekommen war. Jetzt griff Alles zu den Gewehren; man kletterte an den Planken empor und schoß nach ihm. Er hatte dies vorausgesehen und war im eiligsten Laufe um die nächste Ecke gebogen; daher flogen die Kugeln in eine vollständig falsche Richtung.
»Zu den Vaqueros, zu den Vaqueros!« rief der Rittmeister. »Sie mögen ihn fangen!« Das or wurde geöffnet und mehrere der flinksten Dragoner rannten zu den Heerdenfeuern, um die Vaqueros zu unterrichten; da aber bog Sternau wieder um die Ecke herum und schlich sich zu den Pferden. Vier von ihnen weideten auf einem separaten Platz; das waren jedenfalls die Offizierspferde, die Besten von Allen. Er sprang hinzu, löste die Fessel des einen, schwang sich auf und galoppirte davon, ehe noch einer der Vaqueros erfuhr, um was es sich handele. Die Herren Dragoner hatten heute Abend den Fürsten des Felsens kennen gelernt. Sternau ritt natürlich nicht direkt nach der Pyramide. Er wußte, daß man auf den Hufschlag seines Pferdes hören werde, und wandte sich daher der entgegengesetzten Richtung zu, machte nachher einen weiten Bogen und kam, da er sich so fern wie möglich von der Estanzia halten mußte, erst spät zu der Pyramide. Als man dort das Pferdegetrappel hörte, sah er sich plötzlich von den Wachen der Apachen umringt. Die Wilden rufen keinen Menschen an. Wäre dieser Reiter nicht Sternau gewesen, so hätte er sterben müssen, ohne daß eine Silbe gesprochen worden wäre. »Wo sind die Häuptlinge?« fragte er. Er wurde zu ihnen geführt. Unmittelbar am westlichen Fuße des Bauwerkes entsprang eine Quelle; man hatte sie entdeckt und nun wurden die Pferde dort getränkt, und die Häuptlinge hatten sich dort niedergelassen. Das war dieselbe Quelle, welche in früheren Zeiten den im Innern der Pyramide befindlichen Brunnen gespeist hatte. Dort war das Wasser versiecht und hatte aus irgend einem geognostischen Grunde einen direkten Ausgang nach Außen suchen müssen. Sternau theilte mit, was er gesehen und gehört hatte. Es war sicher, daß diese Nacht nicht die mindeste Störung vorkommen
würde, aber eben so sicher war es, daß man morgen die Apachen aufsuchen würde, und so fragte es sich, was für einen solchen Fall zu thun sei. Sich zurückziehen wollte Keiner; Alle wollten den Platz behaupten, die Einen, weil sie nicht gehen wollten, ohne ihre Lieben zu erlösen, und die Anderen in Folge des regen Ehrgefühles, welches die Apachen auszeichnet. Die Dragoner brauchte, oder wollte man nicht fürchten. Vielleicht hatten die Rothen doch anders gedacht, wenn nicht der Fürst des Felsens und Donnerpfeil bei ihnen gewesen wären. Und die Comanchen, welche eintreffen wollten, bekamen es jedenfalls sehr bald mit den Apachen zu thun, welche das fliegende Roß nachsenden wollte. »Wir bleiben hier!« entschied auch Sternau, und das entschied. »Wir können unmöglich gehen,« fuhr er fort, »ohne zu wissen, ob die Unserigen zu retten sind, oder nicht. Dieser alte Opferplatz bietet uns eine Position, wie sie bequemer, fester und sicherer gar nicht gedacht werden kann. Wir haben Wasser für uns und die Pferde; die Büsche geben uns Deckung, es fehlt uns nur der Proviant. Und dieser ist sehr leicht beschafft, wir dürfen ja nur eine Anzahl Rinder herbeitreiben. Von Mitternacht an sind die Vaqueros nicht mehr auf der Weide; sie werden uns nicht stören.« Das wurde gethan. In sehr kurzer Zeit hatte man eine genügende Anzahl Rinder da, um die Apachen auf zwei Wochen lang mit Fleisch zu versehen, und das Areal, auf dessen Mittelpunkte die Pyramide stand, war groß genug, diesen Rindern mit sämmtlichen Pferden Futter zu gewähren. Jetzt nun legte sich ein Jeder, der nicht zu wachen hatte, in seine Decke gewickelt zur Erde, um sich für die Anstrengungen des kommenden Tages zu stärken. Donnerpfeil, Bärenherz und Büffelstirn schliefen nicht. Sie dachten an die Gefangenen, welche jedenfalls im Innern der Pyramide steckten, und die Sorge um diese ließ sie nicht schlafen.
Schon mit Tagesanbruch weckten sie Sternau, ohne den sie nichts unternehmen mochten. Dieser war ihnen auch sofort zu Willen. Diese vier Männer stellten sich an den Punkt, den der Mexikaner ihnen gestern Abend gezeigt hatte, und als sie die Erde untersuchten, fanden sie Spuren, welche deutlich nach der südöstlichen Ecke der Pyramide führten. Sie folgten diesen Spuren durch das Gebüsch, dann aber gab es grasigen Boden, auf welchem sie vollständig verschwanden. Es war zu lange Zeit vergangen, und so hatte sich das Gras wieder aufgerichtet. Das war schlimm. Die vier scharfsichtigen Männer, denen es wohl selten Einer gleich that, standen völlig rathlos da; es wurde Alles versucht und probirt, aber vergeblich. Nun mußten die Apachen herbei. Das ganze Gebüsch, die Umfassung der Pyramide, die vier Seiten und die stumpf gewordene Spitze des alten Bauwerkes, Alles wurde auf das Genaueste untersucht, doch man fand nichts. Es war fast ein Gefühl der Verzweiflung, welches sich der vier Männer bemächtigte, aber man beschloß, die Untersuchung von Neuem zu beginnen. Man war bereits wieder im vollen Zuge, als plötzlich von der Höhe der Pyramide ein lauter Ruf erscholl. Man blickte empor. Grizzlytödter stand oben, winkte, daß man sich verstecken solle, und kam auch selbst mit größter Schnelligkeit herunter. »Was giebt es?« fragte Sternau. »Reiter,« lautete die Antwort. »Wo?« »Von der Hazienda her. Es sind ihrer viele und sie kommen im Galopp.« Ja, die Dragoner waren im Anzuge. Der Comanche hatte bereits gestern Abend von dem Rittmeister erfahren, daß sein Genosse von den Apachen getödtet worden sei, und dies hatte ihn zur Rache getrieben. Er war noch während der Nacht nach dem Walde gegangen, in welchem er auf der Weihmutskiefer gesessen hatte,
und hatte dann mit Tagesanbruch sein Werk begonnen; er war den Spuren der Apachen gefolgt. Als er in die Nähe der Pyramide kam, gebot ihm die Klugheit, Halt zu machen. Er ahnte, daß sie sich dort bei der Pyramide befänden. Er schlug einen weiten Kreis um dieselbe und erfuhr da, daß die Spuren nur bis zu dem Bauwerke, aber nicht weiter führten. Jetzt kehrte er in die Hazienda zurück und machte dem Rittmeister seine Meldung. Dieser war noch voller Wuth über die Schlappe, welche er gestern Abend erhalten hatte, und beschloß, sich sofort zu rächen. Er ließ satteln und aufsitzen und ritt mit allen seinen Leuten nach der Pyramide; auch die meisten Vaqueros schlossen sich an, um Zeugen des Kampfes zu werden. Als Sternau den Reitertrupp herankommen sah, nickte er nachdenklich mit dem Kopfe. Ueber sein schönes, männliches Gesicht glitt ein Zug lustiger Ironie. »Das sind über hundert Mann,« sagte er. »Wie viele Apachen sind nöthig, sie abzuhalten?« »Fünfzig,« antwortete Bärenherz. »Sagen wir hundert,« meinte Sternau. »Die anderen hundert will ich mit mir nehmen.« »Wohin?« »Das ist noch mein Geheimniß. Grizzlytödter mag hundert Mann aufsitzen lassen und mit mir kommen.« Noch war kaum eine Minute vergangen, so saß diese Mannschaft im Sattel und wartete auf Sternau, um sich von ihm anführen zu lassen. »Was beabsichtigen Sie denn eigentlich?« fragte Donnerpfeil. »Das werden Sie später sehen.« »Sie kommen doch wieder?« »Versteht sich. Halten Sie sich gut gegen die Dragoner!« Er setzte sich an die Spitze seiner Reiter und verließ die Pyramide. Gerade von Süden her kamen die Dragoner und gerade nach Nor-
den ritten die Apachen davon; die Ersteren konnten die Letzteren nicht sehen, da das breite, hohe Bauwerk dazwischen lag. Sternau ritt im schnellsten Galopp. Als er bemerkte, daß er von der Pyramide aus nicht mehr gesehen werden konnte, schwenkte er nach Westen und dann nach Süden um und schwenkte nach einer Weile nach Osten ein. Auf diese Weise hatten sie einen Halbkreis geschlagen und kamen von Westen her auf die Hazienda zu. Als sie die Besitzung endlich sahen, bemerkten sie, daß kein einziger Vaquero sich auf der Weide befand, darum erreichten sie das Haus ganz unbemerkt. Es war nur die alte Wirthschafterin mit dem weiblichen Dienstpersonale vorhanden. Sie erhoben ein fürchterliches Angstgeheul, als sie die Apachen erblickten, wurden aber bald zur Ruhe gebracht. Jetzt nun wurde das ganze Haus durchsucht. Man fand Proviant in Menge, auch Waffen und Munition, von der Letzteren den ganzen Vorrath der Dragonerschwadron. Alles, was bei einem Bivouak der Pyramide gebraucht werden konnte, wurde auf die Pferde geladen; die Frauen waren eingesperrt worden, und als die Apachen nun fertig waren, warteten sie auf die Rückkehr der Dragoner. Als diese vorhin in die Nähe der Pyramide gekommen waren, hielten sie zunächst an, um zu recognosciren. Ein Unteroffizier wußte mit seiner Section absteigen und zu Fuß vorrücken. Sie näherten sich den Büschen immer mehr, ohne daß man dort ein Lebenszeichen bemerkt hätte. Schon glaubte der Rittmeister, daß der Comanche sich geirrt habe und daß hier von Apachen gar keine Rede sei, da erdonnerte plötzlich eine Salve und der Unteroffizier stürzte mit seiner ganzen Section todt zu Boden nieder, kein Einziger lebte. »Heilige Madonna, sie sind wirklich da!« rief der Rittmeister. »Das Plänkeln hilft nichts. Diese verdammten Rothhäute fürchten den offenen Angriff, sie werden sofort ausreißen. Drauf auf sie!«
In donnerndem Galopp brauste die Schwadron gegen das Gebüsch. Der Kommandeur war ein muthiger Mann, aber er besaß keine Klugheit. Als Büffelstirn und die anderen Anführer erkannten, daß der Angriff nur von dieser Seite geschehen werde, riefen sie alle ihre Leute zusammen. Am Rande des Gebüsches lagen sie versteckt, Mann an Mann, und als die Reiter in genügender Nähe herangekommen waren, krachten ihre Büchsen und schwirrten ihre Pfeile. Es entstand ein gewaltiger Wirrwarr unter den Dragonern. Todte und verwundete Menschen und iere lagen unter einander, und die Anderen waren gezwungen, anzuhalten. Auch den Rittmeister hatte ein Pfeil verwundet. »Das ist dieser Fürst des Felsens!« zürnte er. »Ohne diesen Menschen würden die Rothen nicht Stand halten. Holt die Verwundeten zurück, und dann wollen wir versuchen, die Mäuse aus ihren Löchern zu locken.« Es wurde versucht, aber ohne Erfolg. Die Apachen waren zu klug, um ihre schöne, sichere Deckung aufzugeben. Der Rittmeister saß rathlos auf dem Pferde. »Was thun?« fragte er zornig. »Ich habe einen Plan, der vielleicht gut ist,« meinte der Oberlieutenant. »Nun?« »Der Platz ist nur im Sturme zu nehmen.« »Ja,« lachte der Rittmeister höhnisch, »wir haben es gesehen und erfahren!« »Es fragt sich nur, wie man den Plan ausführt.« »Haben Sie eine neue Methode erfunden?« »Nein. Es ist klar, daß der Feind seine Leute hier, uns gegenüber concentrirt. Die anderen Seiten sind also von Vertheidigern entblößt. Wir thun also, als wollen wir diese eine Seite angreifen, schwenken aber kurz vor der Linie nach rechts ab, fassen das
Terrain von der anderen Seite und rollen den Feind einfach auf; dadurch jagen wir ihn hinaus in das Freie, wo er seine Pferde nicht hat, und reiten ihn dann nieder.« »Die Idee ist gut, Lieutenant. Sie wird sofort ausgeführt!« Die Dragoner formirten sich abermals zum Chor und drangen im Galopp vor, aber sie hatten sich verrechnet, denn während sie sich beriethen, wurde an der Pyramide auch eine Berathung gehalten. »Was werden sie jetzt thun?« fragte Büffelstirn nachdenklich. Auch die Anderen überlegten. »Der zweite Häuptling macht dem ersten einen Vorschlag,« meinte Bärenherz, der den Feind scharf beobachtete. »Dieser Vorschlag scheint nicht viel zu tauchen,« lachte Donnerpfeil; »ich glaube sehr, daß ich ihn errathe.« »Unser Bruder sage uns seine Gedanken,« bat Bärenherz. »Die Dragoner werden bemerkt haben, daß die Krieger der Apachen sich meist auf dieser Seite befinden; sie werden ihren Angriff nun auf eine andere richten.« »Auf welche?« »Das muß man sehen.« »Dann ist keine Zeit mehr,« meinte Büffelstirn. »Mehr als genug!« versicherte Donnerpfeil. »Sie werden thun müssen, als ob ihr Angriff abermals dieser Seite gälte; wenn sie dann abschwenken, gerathen sie auf einige Zeit in Unordnung, und das giebt uns die nöthige Frist. Wir stellen uns hier in der Mitte der Seite auf, so daß wir beliebig nach rechts oder links schwenken, oder auch vorgehen können. Haben wir sie dann zwischen den Büschen, so können sie zu Pferde gar nichts thun, während wir zu Fuß ganz andere, freiere Bewegung haben.« Die Anderen sahen die Wahrheit dieser Worte ein und trafen die Aufstellung ihrer Leute darnach. Sie sahen die Schwadron herangebraust kommen, dann umschwenken und sich nach der Ostseite
wenden. Da nahmen auch die Apachen Stellung gegen Osten, und als die Dragoner herankamen, stutzten sie fast, daß kein einziger Schuß fiel; als sie aber sammt und sonders in die Büsche eingedrungen waren, da krachte es von allen Seiten auf sie ein. Es entstand ein schauderhaftes Gemetzel. Die Dragoner, hoch zu Roß, konnten sich fast gar nicht vertheidigen, weil ihnen das Strauchwerk hinderlich war; die Apachen aber hatten Raum genug zur Bewegung. Dieser Kampf dauerte nicht zehn Minuten, aber er war ein mörderischer. Als der Rittmeister seine Leute sammelte, hatte er von seinen hundert Mann nur noch einige Zwanzig. Er hatte eine Dummheit begangen, die ihm von seinen Vorgesetzten sicherlich nicht vergeben wurde. Er hielt noch lange unentschlossen draußen auf der Ebene; fast war es, als ob er noch einmal angreifen wolle, um sich den Tod zu holen, dann aber ritt er doch nach der Hazienda zurück. Seine Todten und Verwundeten ließ er liegen; er wußte sicher, daß er sie nicht erhalten hätte; ein Indianer verschenkt keinen Scalp. Die beiden Lieutenants waren auch gefallen. Er war der einzige Offizier, und als er die Hazienda erblickte, welche er mit so stolzem Muthe verlassen hatte, da hätte er sich vor Grimm und Scham erschießen können. Sie ritten in den vorderen Hof; der Kommandeur ging sofort nach seinem Zimmer. Sternau war so vorsichtig gewesen, die Apachen mit ihren Pferden nach dem hinteren Hofe zu schicken. Als der Rittmeister in seine Stube trat, riß er den Degen aus der Scheide, warf ihn zu Boden und rief grimmig: »Eine verdammte Heldenthat! Diese Rothhäute haben wohl nicht fünf Mann verloren, ich aber über achtzig!« »Das ist traurig!«
Der Rittmeister schrak zusammen, als er diese Worte hörte. Er hatte geglaubt, allein zu sein, und drehte sich um – da saß Sternau auf dem Stuhle. »Tausend Teufel! Sie hier!« rief der Offizier. »Wie Sie sehen,« meinte Sternau, ruhig sitzen bleibend. »Ich habe mir erlaubt, mir eine Ihrer Cigarretten anzubrennen.« »Ich denke, Sie haben bei der Pyramide mit gekämpft?« »Fällt mir nicht ein! Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich nicht Ihr Feind bin. Ja, ich habe Ihnen sogar einen großen Gefallen gethan.« »Welchen?« »Haben Sie noch nichts bemerkt?« »Daß ich nicht wüßte,« sagte der Rittmeister, der gar nicht wußte, wie er sich zu benehmen habe. »So wissen Sie doch vielleicht, wie stark die Apachen sind?« »Zweihundert und sechs Mann.« »Und gegen wie viele haben Sie heute gekämpft?« »Gegen diese alle, jedenfalls.« »Sie irren; es hat nur die Hälfte Ihnen gegenübergestanden.« »Nur hundert?« »Hundertundsechs.« »Unmöglich! Dann wären wir an Zahl ja gleich gewesen! Und hätten siegen müssen!« »Sehr falsch, wie sich erwiesen hat. Ich habe Ihnen den Gefallen gethan und den Häuptlingen hundert ihrer Krieger entführt.« »Ah! Ist das wahr!« »Vollständig.« »Aber weshalb thaten Sie es?« »Um Ihnen den Sieg leichter zu machen,« antwortete Sternau mit ironischem Lächeln. »Wollen Sie mich verspotten?« brauste der Rittmeister auf.
»Gar nicht. Ich spreche sehr im Ernste. Hätte ich diese hundert Mann nicht entführt, so wäre keiner der Ihrigen entkommen. Als Sie im Süden anrückten, ritt ich nach Norden ab. Sie konnten das nicht sehen; die Pyramide verdeckte mich.« »Wie kommt es da, daß ich Sie hier finde?« »Ebenso könnte ich Sie fragen: Wie kommt es, daß ich Sie an der Pyramide sah? Sie kamen, um uns anzugreifen, und ich komme, um Sie anzugreifen. Sie wollten mich gestern festhalten, heute dreht sich das Ding um: Sie sind mein Gefangener!« Bei diesen Worten erhob er sich und trat auf den Rittmeister zu. »Sind Sie bei Sinnen?« rief dieser. Bei diesen Worten griff er nach seinem Revolver, den er vom Kampfe her noch im Gürtel hatte. Sternau blitzte ihn mit seinen leuchtenden Augen an und drohte: »Hand von der Waffe! Oder wünschen Sie einen ähnlichen Hieb, wie gestern?« Der Rittmeister nahm doch die Hand weg, aber er sagte: »Sie werden mir unbegreiflich! Ich werde meine Leute rufen!« »Und ich die meinigen.« Er trat an den Tisch und ergriff eine darauf stehende Chocoladentasse. Er warf sie durch dasjenige Fenster des Zimmers, welches nach dem hinteren Hofe ging. Er hatte mit seinen Indianern ausgemacht, sobald er das Fenster zerbreche, sollten sie nach dem vorderen Hofe gehen und alle Dragoner gefangen nehmen. Daß sie dieser Verabredung Folge leisteten, bewies ein wirres Geschrei, welches sich jetzt unten erhob. »Kommen und sehen Sie!« gebot Sternau. Der Rittmeister sprang zum Fenster und kam gerade recht, um zu sehen, daß der Letzte seiner Leute niedergerissen und gefesselt wurde. Die Apachen hier!« rief er erschrocken.
»Natürlich!« antwortete Sternau. »Und zwar wiederum Ihnen zu Liebe. Wir wollen Sie nicht nach Chihuahua gehen lassen, wo Ihrer eine fürchterliche Nase wartet für den Streich, den Sie heute spielten. Sie sind mein Gefangener und bleiben mit Ihren Leuten bei uns!« »Was soll ich bei den Apachen?« fragte der Rittmeister entsetzt. »Es geschieht Ihnen nicht das Mindeste. Sie sind eine Geisel, sind mein Gefangener; es wird Sie Niemand anrühren.« »Eine Geisel? Wozu?« »Das werden Sie später erfahren. Packen Sie Ihr Nothwendigstes zusammen, Sie hören, meine Apachen sind bereits vor der ür.« Da endlich sah der Offizier ein, daß es Ernst war. »Sennor, Sie sind ein Verräther!« rief er. »Sie als Weißer überantworten mich den Rothhäuten!« »Ob ich ein Verräther bin, müssen meine Freunde wissen. Ich habe Ihnen gestern gesagt, daß die Apachen nicht mit Ihnen kämpfen wollen; ich habe Sie um einen dreitägigen Waffenstillstand gebeten; Sie wollten nicht. Sie haben den Kampf herbei gezwungen und mögen nun auch die Folgen tragen.« Er öffnete die ür und ließ einige Apachen herein, welche den Rittmeister ohne Umstände banden und fortführten. Jetzt nun begab er sich in den Raum, wo man die Frauen eingeschlossen hatte. Als er unter die ür trat, erhoben sie ein großes Geschrei. »Still!« gebot er. Aber solchen Weibern ist schwer Schweigen zu gebieten. Die alte Haushälterin warf sich vor ihm nieder, hob die Hände auf und flehte: »Sennor, habt Erbarmen! Wir haben Euch doch nichts gethan! Oder ist mein Cousin Euer Feind gewesen?« Bei diesen Worten kam Sternau ein Gedanke. »Verdoja war Euer Cousin?« fragte er.
»Ja, Sennor. Ich bin die Dame dieses Hauses.« »Hatte er Vertrauen zu Euch?« »Hätte er mich sonst zur Dame des Hauses gemacht, Sennor?« »Ich meine es anders. Hat er Euch zuweilen Dinge mitgetheilt, die er Anderen nicht sagen würde?« »Einiges.« »Wißt Ihr, wo er sich befindet?« »Nein.« »Hat Verdoja die Nacht hier in der Hazienda geschlafen?« »Ja.« »Kennt Ihr die Pyramide, welche hier in der Nähe liegt?« »Ich kenne sie.« »Wißt Ihr nicht, ob sie hohl ist?« »Sie ist hohl, denn Sennor Verdoja war sehr oft darin.« »Ah,« fragte Sternau erfreut, »wie ist er hineingekommen?« »Das weiß ich nicht, das war ein Geheimniß schon zu Zeiten seines Vaters; aber droben im Schreibtische, da liegt eine Zeichnung, auf welcher es steht, wie es in dem Inneren der Pyramide aussieht.« »Führen Sie mich zu dem Schreibtisch.« Die Alte führte ihn nach dem Wohnzimmer Verdoja’s. Dort stand ein sehr alter Schreibtisch, welchen mit dem Messer zu öffnen, Sternau Mühe hatte. Endlich sprang der Kasten auf, und nun fand Sternau wirklich einen Plan, der sich auf das Innere der Pyramide beziehen mußte. »Aber was wird Sennor Verdoja sagen, wenn er sieht, daß der Tisch aufgesprengt worden ist!« sagte die Alte ängstlich. »Habt keine Sorge,« antwortete Sternau. »Er wird nichts merken, denn er kehrt gar nicht zurück; die Apachen werden ihn tödten. Und übrigens werde ich die Hazienda jetzt anbrennen.« »Anbrennen? – O heilige Madonna! Was habe ich Euch denn gethan, daß Ihr mich Aermste unglücklich machen wollt?«
»Verdoja hat es verdient.« »Aber ich nicht! Wenn er wirklich todt ist, so bin ja ich die Erbin!« Das machte Sternau zur Milde gestimmt. Die Alte bat und flehte; ihr Geschrei rief die anderen Frauenzimmer herbei, und als sie hörten, um was es sich handele, so fielen sie ihm zu Füßen und baten mit ränen, daß er barmherzig sein möge. Er willigte endlich ein. Er steckte den Plan als einen jetzt köstlichen Schatz in die Tasche und gebot dann seinen Apachen, aufzubrechen. Sie waren unterdessen nicht müßig gewesen und hatten den Pferden der Dragoner auch noch Verschiedenes aufgeladen. Die iere brachen fast unter ihrer Last zusammen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Alle Männer gingen zu Fuße, und ein Jeder führte sein beladenes Pferd. Die Dragoner waren so gefesselt, daß sie zwar ihre Pferde führen, aber nicht entfliehen konnten. Von den Vaqueros ließ sich keiner sehen. Erst waren sie Zeugen des unglücklichen Kampfes gewesen, dann waren sie zu ihren Heerden zurückgekehrt, und jetzt, als sie die Apachen erblickten, versteckten sie sich, so gut es gehen wollte. Als die lange Karavane die Pyramide erreichte, war die Ueberraschung eine ganz bedeutende. Sternau hatte alle verschont gebliebenen Dragoner zu Gefangenen gemacht und eine Beute gebracht, welche ihnen das Lagerleben erleichterte und sie an Proviant und Munition so bereichert, daß sie eine förmliche Belagerung hätten aushalten können. Sein Lob erklang aus Aller Munde; das Beste aber, was er mitgebracht hatte, waren Hacken und Brechstangen, welche er vielleicht zu gebrauchen glaubte. Die Vorräthe wurden aufgespeichert, die Gefangenen unter gute Bewachung gestellt und dann Kundschafter ausgesendet, um etwa anrückende Feinde sofort zu melden. Nun erst nahm Sternau sich Zeit, die Karte zu studiren.
Sie war sehr deutlich gezeichnet. Das Innere der Pyramide bestand aus drei Stockwerken, deren Mitte der tiefe, viereckige Brunnen bildete. Conzentrisch zu diesem Brunnen liefen Gänge, welche durch Quergänge verbunden waren, und nach den Ecken zu waren Zellen angebracht. Die Pyramide hatte unten an ihrem Fuße vier Eingänge gehabt, an der Mitte einer jeden Seite einen. Jetzt handelte es sich darum, einen dieser Eingänge, die jetzt jedenfalls vermauert waren, zu finden. Sternau theilte den Andern den Plan des Bauwerkes mit, und dann begab man sich auf die Suche. Es fand sich nichts, bis Sternau auf den Gedanken kam, die genaue Mitte der Seite abzumessen. Als diese gefunden war, kam man an einen Felsen, der eigenthümlich zerrissen war. Sternau untersuchte ihn und verzweifelte bereits, als er sich einmal niederkniete und an dem Steine zu schieben versuchte – er bewegte sich. Da sprang er auf, leichenblaß vor Freude. »Ich hab’s!« rief er. »Ist’s möglich?« fragte Donnerpfeil. »Ja. Hier ist der Eingang; ich habe es gefühlt.« »Wo? Wo? Rasch! Rasch!« »Man muß diesen Mittelstein nach innen schieben.« Sofort kniete Donnerpfeil nieder und schob aus Leibeskräften. Der Stein wich nach innen, und es waren die steinernen Rollen zu sehen, auf denen er lief. »O mein Gott, Dir sei Dank!« rief Donnerpfeil, indem er auf den Knieen liegen blieb, halb betend und halb von der Freude überwältigt. Sternau blickte in die Oeffnung. »Hier steht eine Laterne; es müssen mehrere hier gestanden haben,« sagte er. »Auch eine Flasche voll Oel ist da.« »Schnell anbrennen, und dann hinein!«
Bei diesen Worten sprang Donnerpfeil auf und steckte die Laterne in Brand. Dann schritt er eiligst vorwärts, ohne in seinem Eifer darauf zu achten, ob ihm Jemand folge oder nicht. Sie waren aber alle Drei hinter ihm her, Sternau, Büffelstirn und Bärenherz; ganz zuletzt kam auch der Vaquero Franzesco. Es ging den langen Gang hinter, aber dann stand man vor der ür. Sternau hielt den Plan an die Laterne und betrachtete ihn. »üren sind hier nicht verzeichnet,« sagte er. »Ist ein Schloß daran?« »Nein,« antwortete Donnerpfeil. »Doch ist sie fest zu.« »So befindet sich entweder auf der inneren Seite ein Riegel, oder es giebt irgend eine geheime Mechanik daran. Wir können uns nicht damit auf halten, diese Mechanik zu entdecken. Wir haben Pulver genug; wir wollen die ür aufsprengen. Macht mit den Messern einige Sprenglöcher zwischen die Mauer und das ürgewände. Die Mauer ist aus Backsteinen und weich. Ich gehe und hole das Pulver.« Die Andern machten sich sofort an die Arbeit, und als er zurückkehrte, waren sie bereits fertig. Die Löcher wurden gefüllt, mit einer Lunte versehen, die man aus einigen Faden zusammendrehte und mit Pulver einrieb, dann gut gepropft. Jetzt brannte man die Lunten an und eilte zum Ausgange zurück. Es dauerte eine kleine Weile, dann aber hörte man es schnell hintereinander viermal krachen. Schon wollten sich die Fünf wieder nach dem Innern begeben, als Grizzlytödter herbeikam. Man sah es seinem eiligen Laufe an, daß er etwas Wichtiges zu verkünden habe. »Was bringt uns mein Bruder?« fragte Bärenherz. »Die Hunde der Comanchen kommen durch den Wald, an welchem wir gestern vorüberritten.« »Wer hat diese Kunde gebracht?« »Der rothe Hirsch.«
»So wollen wir ihn zunächst hören. Hole ihn!« Der Apache, welcher den Namen »rother Hirsch« trug, kam herbei. Er war einer von denen, welche auf Kundschaft ausgesendet worden waren. »Mein Bruder sage uns, was er gesehen hat!« gebot Bärenherz. »Ich ging den Weg zurück, den wir gestern gekommen sind,« sagte der Kundschafter. »Die beiden Comanchen, deren Einen wir tödteten, hatten uns gesehen, und das konnte nur im Walde geschehen sein. Ich ging also dem Rande desselben entlang und fand eine sehr neue Fährte, welche hineinführte; ich untersuchte sie und erkannte die Fährte eines Indianers, welche von der Hazienda kam.« »Es war jedenfalls der Comanche, der auf der Hazienda übernachtete; er wird seine Gefährten geholt und ihnen auch gesagt haben, daß wir hier sind,« sagte Sternau. »Der rothe Hirsch mag fortfahren!« »Ich verfolgte die Fährte,« fuhr dieser fort. »Sie führte grad’ in den Wald hinein. Ich kam nur langsam vorwärts, da ich meine eigene Spur immer verwischen mußte. Da hörte ich das Krächzen mehrerer Raben. Sie waren von Jemand, der im Walde ging, aufgescheucht worden; darum verbarg ich mich schnell in ein Dickicht und wartete. Es dauerte gar nicht lange, so kamen die Hunde der Comanchen an mir vorüber. Es war ein großer Stamm, denn ich zählte über vier mal zehn mal zehn Krieger, und es waren drei Häuptlinge dabei.« »Kanntest Du diese?« fragte Bärenherz. »Nein.« »Wohin gingen sie?« »Als der letzte vorüber war, folgte ich ihnen. Sie gingen bis an den Rand des Waldes. Dort erzählte ihnen der Spion, daß wir hier sind, und Alles, was geschehen ist. Darauf hielten sie eine kurze Berathung, und dann gingen sie zur Hazienda.«
»So werden wir sie bald zu sehen bekommen.« »Vielleicht erst heut’ Nacht,« sagte Donnerpfeil. »Nein. Sie werden uns einschließen, damit uns jede Verbindung abgeschnitten wird,« meinte Sternau. »Dann aber greifen uns des Nachts an. Haltet gut Wache, und wenn etwas Wichtiges passirt, so kommt uns in diese Höhle nach und sagt es uns.« Damit war der Kundschafter entlassen; die Anderen aber drangen wieder in den Gang hinein. Als sie die Stelle erreichten, wo sich die ür befunden hatte, lag diese am Boden. Sie war sammt dem Gewände aus der Mauer gerissen worden. Sie wurde aus dem Mauerbruch hervorgezogen und untersucht. Es war nichts zu sehen, als oben und unten ein viereckiges Loch. Nun untersuchte man den Boden an der Stelle, wo sie befestigt gewesen war, und ebenso die Decke; da fand man oben und unten einen eisernen Zahn, der in das Loch eingegriffen hatte; aber dieser Zahn war so fest und unbeweglich, und man konnte die Mechanik nicht entdecken, mittelst welcher er vor- und zurückgeschoben wurde. »Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, als alle üren aufzusprengen,« sagte Sternau. »Ich werde wieder Pulver holen. Zunächst aber wollen wir weiter sehen.« Sie hatten eine bedeutende Strecke zu gehen, ehe sie wieder an eine ür kamen. Diese war an der rechten Mauer, der Gang aber führte weiter. Da nahm Sternau den Plan abermals vor und sah nach. »Was sucht mein Bruder?« fragte Bärenherz. »Ich suche den Ort, an dem sich die Gefangenen befinden. Jedenfalls sind sie in der Mitte der Pyramide, in der Nähe des Brunnens, denn dort sind sie am sichersten. Bis zum Brunnen haben wir noch fünf üren. Diese hier muß aufgesprengt werden, denn dem Gange folgen wir nicht weiter.«
Wieder machten sich die Anderen daran, Sprenglöcher zu bohren, und als Sternau mit Pulver zurückkehrte, wurden die selben geladen. Man kehrte in genügende Entfernung zurück, und als die Knalle erfolgt waren, fand man ganz dasselbe Ergebniß, wie vorhin. Auch hier sahen oben und unten die eisernen Zähne aus dem Gestein hervor, ohne daß man ihre Mechanik entdecken konnte. Der Mann, der diese Vorrichtung erfunden hatte, war ein kluger Mann gewesen. Man drang nun nach Sternau’s Anweisung weiter vor. Dieser hatte außer dem Pulver jetzt auch eine Hacke und einen eisernen Hebebaum mitgebracht. Bei der nächsten ür wurden diese beiden Instrumente versucht, aber sie erwiesen sich als nicht zulänglich. Es mußte wieder zur Hilfe des Pulvers geschritten werden. Diese ür hatte von zwei Seiten schwere Riegel; man mußte mehr Pulver als bisher verwenden. Das gab einen fürchterlichen Knall, so daß der ganze Bau zu beben schien. Als man zu der gesprengten ür kam, war so viel Mauer und Decke mit fortgerissen, daß man nicht weiter vorwärts konnte. Man mußte zunächst den Schutt forträumen. Dies gab eine bedeutende Arbeit, worüber mehrere Stunden vergingen. Die Decke mußte gestützt werden, und es fehlte an geeignetem Material dazu. Noch während man damit beschäftigt war, kam ein Bote und rief die Häuptlinge nach außen. Sie sagten sich, daß das Wohl und Wehe, ja das Leben der Eingesperrten an einem einzigen Augenblick hange, aber da draußen standen zweihundert Apachen, deren Schicksal ihnen anvertraut war. Sie mußten dem Rufe folgen. Als sie vor der Pyramide anlangten, sahen sie, daß die Comanchen einen weiten Ring um dieselbe gezogen hatten. Sie waren eingeschlossen. Als sie die Feinde zählten, waren es nicht viel über hundert, aber alle hatten Pferde. »Sie haben sich mit den Pferden, welche zur Hazienda Verdoja gehören, beritten gemacht,« sagte Sternau. »Die Anderen greifen
noch weiter, um Pferde zu finden. Sie werden den Kampf nicht eher beginnen, als bis sie Alle iere besitzen. Wir sind also jetzt noch sicher und können an unser Werk zurückkehren.« Es darf nicht Wunder nehmen, daß sich hundert Indianer auf er einzigen Hazienda beritten machen; es giebt Hazienderos, welche viele tausend Stück halbwilder Pferde auf den freien Weiden haben. Giebt es doch auch in den ungarischen Pusten und in den Steppen Rußlands Pferdeheerden von mehreren Tausend Stück. Während die Gefahr des Kampfes sich der Pyramide immer weiter näherte, saßen die vier Gefangenen im Innern derselben und erwogen die Möglichkeit der Rettung untereinander. Sie hatten auf Sternau gerechnet, aber es waren nun bereits zwei Nächte vorüber, und das ist in solchen Verhältnissen eine Ewigkeit. Das Wasser war fast alle, der Proviant reichte nur noch kurze Zeit, die Leichen Pardero’s und des Wärters verbreiteten bereits einen fast unerträglichen Gestank, und aus dem Brunnen klang in regelmäßigen Zwischenräumen ein wahnsinniges Schmerzgebrüll oder ein markerschütternder Jammerschrei Verdoja’s. Es war, als ob ein wildes ier am Spieße lebendig gebraten werde. Karja, die Indianerin, war wortkarg, aber Emma konnte ihrer Angst nicht gebieten. Sie glaubte nicht mehr an die Möglichkeit einer Rettung. Sie hatten die Messer an der ür versucht, sie aber als unzulänglich befunden. Rettung konnte nur von außen kommen, und wer sollte da der Retter sein? Das Innere der Pyramide war Geheimniß, und Diejenigen, welche allein es kannten, lagen todt oder gelähmt in der Zelle und in der Tiefe des Brunnens. Emma faltete die Hände und flehte: »O, heilige Mutter Gottes, bitte für uns in dieser entsetzlichen Noth! Laß uns nicht verschmachten und verderben in dieser Finsterniß! Laß uns das Licht des Tages wiedersehen, und ich will Deine Güte preisen, so lange ich lebe!«
Der Steuermann war still geworden, aber Mariano ergriff die Hand der Sennorita und bat mit trostvoller Stimme: »Verzagen Sie noch nicht! Ich kenne Gott, der allmächtig ist, und ich kenne Sternau, den man fast auch allmächtig nennen mag. Er bringt fertig, was kein Anderer vermag. Er weiß, was für ein Schicksal unser bei Verdoja und Pardero erwartet, und wird Alles wagen und thun, um uns zu finden und zu retten.« »Aber wer soll ihm sagen, daß wir uns hier befinden?« »Dafür lassen Sie Gott und ihn sorgen. Er findet uns, ich bin es überzeugt!« »Aber wenn ihm selbst ein Unfall wiederfährt?« »Ihm geschieht nichts Böses. Er weiß, was für uns davon abhängt, daß er in keine Fährlichkeit geräth, und wird vorsichtig sein. Vielleicht ist grad’ diese Vorsicht schuld, daß wir warten müssen. Es sind ja erst zwei Tage verflossen; es ist ja sehr leicht möglich, daß er jetzt erst in dieser Gegend eintrifft. Nun wird er nach Spuren suchen; er wird sie finden. Er wird auch ein Mittel entdecken, zu uns zu gelangen. Es ist mir, als – – horch!« Sie lauschten, hörten aber nichts. »Was war es?« fragte Emma. »Es war mir, als ob ich ein leises Rollen hörte, fast wie fernen Donner.« »Das war eine Täuschung, Sennor. In diese Tiefe dringt kein lebendiger Ton!« Es trat wieder eine Stille ein, bis der Steuermann aus seinem Grübeln auffuhr: »Hol’s der Teufel, ich finde nichts!« »Was suchen Sie?« fragte Mariano. »Nach einem Mittel, diese verteufelte Pyramide in die Luft zu sprengen, aber natürlich so, daß wir unbeschädigt sitzen bleiben.« »Geben Sie sich keine Mühe, es ist Alles vergeblich. Wir können nur von außen Hilfe erwarten.«
»Nun, dann mag sie bald kommen, nicht um meinetwillen, denn ich halte Etwas aus, sondern um dieser Sennoritas willen, die so Etwas nicht verdient haben. Es muß ein miserabler Tod sein, hier unten so langsam – horch!« Jetzt horchten sie Alle auf, denn Alle hatten einen Donner vernommen. »Das war ganz wie vorhin, aber stärker,« sagte Mariano. »Es giebt doch jetzt kein Gewitter! Und wie sollte man hier unten den Donner hören können?« »Das war kein Donner,« erklärte der Steuermann; »das war ein Schuß.« »Es ist ganz unmöglich, es hier unten zu hören, wenn ein Schuß fällt,« sagte Emma. »Aber wenn der Schuß nun hier unten gefallen wäre?« fragte Helmers. »Wer sollte da schießen?« »Weiß ich es? Ich weiß nur so viel, daß ich als Seemann den Donner von einem Schusse sehr genau unterscheiden kann. Es war ein Schuß. Wäre er aber gefallen, so müßte es ein Kanonenschuß gewesen sein, und ich bezweifle, ob man selbst einen solchen hier hören würde. Wir haben ihn aber gehört, folglich ist er unten abgefeuert worden.« »Aber es hat kein Pistol und keine Büchse einen solchen Klang. Und wozu sollte man hier unten schießen? Etwa, um uns Zeichen zu geben? Sternau weiß ja, daß wir nicht antworten können.« Auf diese Worte Emma’s schüttelte der Steuermann den Kopf. »Ja, eine Büchse hat keinen solchen Klang,« sagte er, »aber wissen Sie, was genau so klingen würde?« »Was?« »Ein Sprengschuß.« »Allmächtiger! Sie glauben –?« Er nickte und antwortete:
»Ich glaube, daß Sternau da ist; es war ein Sprengschuß. Ich kenne meinen Herrn Sternau genau. Ihm ist nichts zu schwer. Vielleicht ist er gar auf die Idee gekommen, die üren aufzusprengen, weil er sie nicht öffnen kann.« Diese Worte waren in einem so zuversichtlichen Töne gesprochen, daß Emma mit vor Hoffnung leuchtenden Augen sagte: »Sie geben mir Trost, Sennor Helmers. Es ist mir, als ob ich jetzt an eine Errettung glauben dürfte. O mein Vater, mein armer, guter Vater! Werde ich Dich einmal wiedersehen dürfen?« Sie weinte, aber es waren doch ränen des Schmerzes und nicht der Hoffnung, die sie vergoß. Da ertönte mitten in ihr Schluchzen hinein ein gewaltiger Knall. Sie fühlten, wie der Boden und die Wände des Ganges zitterten. Und als auf diesen Knall ein dumpfes Prasseln erscholl, da sprang der Steuermann in die Höhe. »Hurrah! Hurrah! Sternau ist da, ist wirklich da!« rief er. »Das war ein Sprengschuß, wie er leibt und lebt, und dahinter prasselte die Mauer ein. Die Rettung ist da, juchhe, sie ist da!« Auch Emma wollte sich erheben, aber sie wankte und sank wieder in die Kniee. »Wär’s möglich,« hauchte sie. »Ich glaube selbst, daß Sennor Helmers Recht hat,« sagte Mariano. »Was glauben Sie, Sennorita Karja?« Die Indianerin schlug langsam die geschlossen gewesenen Augen auf und sagte: »Es ist Sternau, ich wußte, daß er kommen würde.« Da fiel Emma der Sprecherin um den Hals und küßte sie. »Herrgott, ich danke Dir! Nie will ich Deine Liebe vergessen, so wie Du jetzt auch unserer nicht vergessen hast!« jubelte sie. Jetzt verging eine längere Zeit, während welcher sie lauschten. Sie saßen in dem Gange, in dessen Zellen Mariano und Helmers gesteckt hatten.
»Wollen wir nicht an die vordere üre gehen?« fragte der Steuermann. »Ja, vielleicht hören wir da besser, was geschieht,« antwortete Mariano. Emma stützte sich auf den Letzteren, so begaben sie sich nach der ür, an der sie ihre Messer vergebens versucht hatten. Dort ließen sie sich auf den feuchten Boden nieder und lauschten. Sie hörten ein dumpfes Stoßen und Schieben, welches kein Ende nehmen wollte. »Wissen Sie, was das ist, Sennorita?« fragte Helmers. »Nein.« »Sie räumen den Schutt weg. Der letzte Schuß war stark und hat den Gang höchst wahrscheinlich sehr beschädigt.« »Ach, wenn es doch so wäre.« »Es ist so, Sennorita. Ich bin still gewesen da hinten in dem Gange, denn ich dachte an mein Weib und an meine Lieben, die mir Gott erhalten möge, aber den Muth habe ich doch nicht verloren gehabt. Der Tod ist ein eigenthümlicher Kauz; er wagt sich nicht an jedes Menschenkind heran.« »Aber horch, man hört jetzt nichts mehr.« »Sie ruhen wohl aus,« tröstete der brave Steuermann. Es war jetzt die Zeit, in welcher die Häuptlinge nach oben gerufen wurden, um die Umzingelung der Comanchen zu beobachten. Nun herrschte eine erwartungsvolle Stille unter den Eingeschlossenen, bis sich das Stoßen und Schieben wieder vernehmen ließ. Dann hörte man laute Schläge wie mit einem Beile oder einer Hacke gegen Holz, und dabei war es, als ob ferne Menschenstimmen erklängen. Da – da nahten Schritte, die laut und deutlich zu vernehmen waren. »Nun diese ür,« sagte eine sonore Stimme. »Sie führt ganz sicher nach dem Brunnen. Wir haben noch Pulver genug.«
Den Eingeschlossenen war es, als ob sie einen elektrischen Schlag erhielten; sie konnten vor Wonne nicht sprechen und hielten einander nur mit der Hand gefaßt. »Sternau!« flüsterte endlich der Steuermann. »Ich wußte es! Und er weiß sogar, daß diese ür nach dem Brunnen führt.« Sie lauschten. Ein suchendes Tasten ließ sich an der ür vernehmen, dann sagte eine andere Stimme: »Das kostet wieder viel Pulver; es ist eine ür mit Doppelriegel.« Da schnellte Emma empor und stieß einen Schrei des Entzükkens aus: »Gott, mein Gott! Antonio, Antonio!« Einen Augenblick lang war es drüben still; der freudige Schreck lähmte die Zungen; dann aber rief Donnerpfeil herüber: »Emma, meine Emma, bist Du es?« »Ja,« antwortete sie; »ich bin es, Geliebter!« »Gott sei tausend Dank! Bist Du allein?« »Nein, wir sind da, alle Vier.« Da rief eine Stimme, die man bisher noch nicht gehört hatte: »Alle Vier, Karja, Du auch?« Der Ton dieser Stimme rief die Röthe des Entzückens auf die bleichen Wangen der Indianerin. »Ja,« rief sie; »Karja Deine Schwester ist da!« »Uff! Uff!« ließ sich darauf eine neue Stimme vernehmen. Die Wangen Karja’s wurden bei dem Klange dieser Stimme wieder blaß. War dies vor Schreck oder vor Freude? »Wer sprach da?« fragte der Steuermann leise. »Diese Stimme kenne ich,« antwortete Emma. »Es ist Bärenherz, der Häuptling der Apachen. Die Helden sind alle beisammen: Bärenherz, Büffelstirn, Donnerpfeil, aber wo ist Sternau? Ich höre ihn nicht mehr. Habe ich mich vorhin in jener Stimme getäuscht?«
Diese Wechselreden und Ausrufungen folgten natürlich viel schneller aufeinander, als sie geschrieben oder gelesen werden können. Sie flogen herüber und hinüber, und es gab zwischen ihnen keine Pause, welche auch nur den zehnten eil einer Sekunde lang gewesen wäre. Jetzt wieder fragte Donnerpfeil: »Wie befindet Ihr Euch, Emma?« »Gut! O, nun ist ja Alles vergessen!« Da klopfte es und endlich erklang Sternau’s Stimme zum zweiten Male: »Wie geht es denn meinem braven Steuermann? Er wird ja ganz vergessen über die Andern, sogar von seinem Bruder!« »Danke sehr, Herr Doctor!« rief Helmers hinüber. »Ich bin noch fest auf dem Kiel. Machen Sie nur das Fahrwasser frei, daß wir bald heraussegeln können.« »Soll gleich geschehen! Fragen und antworten können wir ja später; jetzt aber nur das Eine: Ist Verdoja drüben? Und Pardero?« »Ja.« »Was thun sie? Sie scheinen doch nicht bei Euch zu sein.« »Sie sind in der Nähe und haben genug. Pardero ist todt und auch der Gefängnißwärter. Verdoja ist in den Brunnen gefallen und hat das Rückgrat und die beiden Arme gebrochen; er lebt aber noch.« »Ach, welch eine Schickung!« hörte man Sternau drüben sagen: »Sie scheinen sich wacker gewehrt zu haben. Nun schnell, wir hinüber kommen!« Und dann fragte er noch durch die ür: »Ist’s finster drüben?« »Nein. Wir haben sogar zwei Laternen,« antwortete Helmers. »Das ist gut. Zieht Euch soweit wie möglich zurück. Wir sprengen die ür. Oder könnt Ihr nicht?« »O, sehr weit!« »So geht jetzt! Dann kommen wir gleich.«
Sie kehrten bis in den nächsten Gang zurück und theilten sich Glück in glühenden Worten mit. Dann lauschten sie dem knirschenden Bohren der Messer. »Sagte ich es nicht, daß Sternau kommen würde,« meinte Helmers. »Das ist ein Mann, wie es keinen zweiten giebt.« »Ich wußte es sicher!« bestätigte Mariano in dem Tone der vollsten Ueberzeugung. »Wäre ich ein Heide, so würde ich sagen, er sei ein Halbgott oder ein Liebling der Götter. Niemand kann ihm genug danken! Es verging einige Zeit, und dann erfolgte abermals ein Krachen, welches wegen der größeren Nähe fast ebenso gefühlt wie gehört werden konnte. Die Wände bröckelten, und aus der Decke brachen ganze Stücke, dann aber rief vorn an der Sprengstelle Donnerpfeils Stimme: »Emma, wo bist Du?« »Hier!« jubelte sie und eilte den Gang vor. Dort stand er diesseits des Schuttes, zwar im Dunkeln, aber von der jenseitigen Laterne genügend erleuchtet. Sie flog an seine Brust, und er legte seine Arme um sie, so fest und innig, daß sie sein stilles Gelübde fühlen konnte, sie nie, nie wieder zu verlassen. »Mein Antonio!« flüsterte sie. »Fast wäre ich gestorben.« »Gott sei Dank, daß dieses nicht geschehen ist,« antwortete er mit tiefster Innigkeit. »Mein kranker Kopf hätte das nicht ausgehalten, und ich wäre wieder wahnsinnig geworden.« Da tauchte neben ihnen die Gestalt Büffelstirns auf. »Wo ist Karja, die Tochter der Miztekas?« rief er. Da kam sie herbeigeflogen, und sie fanden sich zu einer glücklichen Umarmung. Nenne man nicht den Indianer einen Wilden. Er ist dasselbe Ebenbild Gottes, wie der Weiße, der sich doch unendlich höher dünkt. Jetzt kam Sternau herüber und reichte Allen die Hand. Mariano umarmte ihn und sagte in innigster Dankbarkeit:
»Schon wieder rettest Du mich! Carlos, Du bist mein Schutzgeist für und für!« Und der Steuermann meinte bewegt: »Herr Doktor, wenn ich die Meinen wiedersehe, so habe ich das nur Ihnen zu verdanken. Gott vergelte es Ihnen; ich kann es nicht!« Nun wurde in kurzen, abgerissenen Sätzen das Geschehene schnell erzählt. »Wie, Du hast diesem Verdoja das Messer entrissen und ihm gedroht?« fragte Donnerpfeil seine Braut. »Ja. Er durfte mich nicht anfassen; ich hätte ihn oder mich getödtet.« »Meine Heldin!« Mit diesem Ausrufe der Bewunderung drückte er sie an sich, fest und warm. Und in demselben Augenblicke wurde hinter Karja eine halblaute Frage hörbar: »Die Tochter der Miztekas hat diesen Pardero mit eigener Hand getödtet?« Es war Bärenherz, der Apache, den sie jetzt liebte mit der vollen Gewalt ihres Herzens, obgleich sie einst so thöricht gewesen war, ihm Graf Alfonzo vorzuziehen. »Ja,« antwortete sie leise. »Und dann ihre Mitgefangenen losgemacht?« »Ja.« »Die Tochter der Miztekas ist eine Heldin; sie verdient, zu werden die einzige Squaw eines großen Häuptlings.« Er fuhr ihr mit der Hand liebkosend über das Haar und wendete sich dann ab; aber sie wußte, daß diese Worte und dieses fast unfühlbare Streichen ihres Haares bei ihm mehr zu bedeuten hatte, als bei einem Anderen eine Rede von tausend Worten. Da aber kam noch Einer und sagte schüchtern:
»Sennorita, wie freue ich mich, Euch wiederzusehen!« Emma blickte sich um und erkannte den Vaquero. »Franzesco, Du auch hier?« sagte sie hocherfreut. »Du bist mir wie ein Gruß vom Vaterhause. Das werde ich Dir nicht vergessen!« Sie reichte ihm die Hand, und dann sagte Sternau: »Verschieben wir Alles für später und denken wir zunächst an die Gegenwart. Wir wollen die Zellen sehen, in denen sie gesteckt haben, und die Leichen.« Mariano ergriff die eine Laterne und machte den Führer. Die Retter schauderten, als sie die engen, moderigen Zellen erblickten. Als sie zu den beiden Leichen kamen, sprach Keiner ein Wort. Sie fühlten, daß hier Gottes Strafgericht gewaltet habe. Da ertönte ein entsetzlicher, lang gezogener Schrei. »Was ist das?« fragte Donnerpfeil. »Verdoja ist’s,« antwortete Mariano. »Fürchterlich!« meinte Sternau. »Ich muß ihn sehen!« Sie schritten vorwärts und nur die beiden Mädchen blieben zagend zurück und baten den Steuermann, bei ihnen zu bleiben. Gerade als sie an den Brunnen traten, ertönte ein neuer Schrei. Es giebt kein ier, welches einen solchen Laut ausstoßen könnte. Er durchzitterte die Männer, welche oben am Rande standen, so daß sie sich schüttelten. »Und er hat nicht sagen wollen, wie die üren geöffnet werden?« fragte Sternau. »Nein. Wir sollten zu Grunde gehen.« »So ist er wirklich ein Teufel. Ich gehe hinab zu ihm!« Er rollte sein Lasso los und ließ sich noch denjenigen von Büffelstirn und Bärenherz geben. Er band sich fest, nahm die Laterne und wurde hinabgelassen. Als er unten ankam, ließ er das Licht auf den Zerschmetterten fallen. Dieser öffnete die blutunterlaufenen Augen, starrte auf ihn, wie auf ein Gespenst, und rief dann:
»Hund, bist Du es!« »Ja, ich bin es,« sagte Sternau. »Du Teufel in Menschengestalt sollst erfahren, daß Deine Pläne zu Schanden geworden sind. Wir sind gekommen, Deine Gefangenen zu befreien; die üren sind offen, sie sind erlöst.« »So verdamme Euch –« Er wollte sich vor Wuth aufrichten, aber diese Bewegung verursachte ihm solche Schmerzen, daß er seinen Fluch nicht aussprechen konnte, sondern einen seiner entsetzlichen Schreie ausstieß. »Du stehst an der Schwelle des Todes, Du stehst vor dem ewigen Gerichte,« sagte Sternau, »bitte Gott um Erbarmen, statt zu fluchen!« Verdoja wollte die Fäuste ballen, aber es ging nicht. Er knirschte mit den Zähnen, fletschte sie, wie ein Raubthier, und schrie: »Fort! Ich mag keine Gnade!« Diese Gottlosigkeit ertödtete den letzten Funken von Mitgefühl in Sternau’s Brust. »Nun gut, so sollst Du auch keine Gnade haben,« sagte er, »wenigstens bei mir nicht. Gott hat Dich gestraft, und diese Strafe sollst Du auskosten bis zum letzten Tropfen. Du gehörst in die Hölle und sollst eine Hölle haben, eine Hölle voll unbeschreiblicher Qualen und Schmerzen bereits hier auf Erden. Ich werde Dich untersuchen und dann Alles thun, Dich mitsammt Deinen Schmerzen am Leben zu erhalten.« Er bückte sich nieder und begann seine Untersuchung. Er gab sich keine Mühe, zart und behutsam zu sein, und so entfuhr dem Munde des Verruchten ein Schmerzgeheul, welches geradezu unmenschlich war. Endlich war Sternau fertig. »Das ist Gottes Gericht,« sagte er. »Du bist zermalmt am ganzen Leibe, Deine Glieder sind zerbrochen und können nie wieder vereinigt werden; aber dennoch ist dies Alles nicht tödtlich. Deine
Eingeweide sind unverletzt und kräftig, Du wirst leben, aber den Schmerz, der Dich jetzt zerfrißt, nie los werden. Eine solche Strafe kann nur Gott, oder der Teufel ersinnen, und Du, Du sollst sie leiden, dafür will ich sorgen.« Er band sich von den Lassos los und befestigte den Zerschmetterten daran, ohne die geringste Rücksicht auf dessen Zustand zu nehmen. Dann gab er das Zeichen. Die Männer oben zogen an, in dem Glauben, daß es Sternau sei, aber bald sagte ihnen ein näher kommendes Qualgebrüll, wen sie emporzogen. Als er oben war, legten sie ihn in den Gang, knüpften ihn ab und ließen die Lassos wieder in den Brunnen hinab. Sternau kletterte jetzt selbst daran empor. »Aber was soll mit diesem Menschen werden?« fragte Donnerpfeil. »Er soll nicht sterben, denn sein Tod wäre ja eine Belohnung für ihn. Er soll leben, aber dabei keinen Augenblick frei von Schmerzen sein.« »Das ist recht!« stimmte Bärenherz bei. »Der Große Geist ist gerecht!« »Er hat es verdient,« meinte Büffelstirn einfach; dann wendete er sich ab. »Ich werde einige Apachen senden,« sagte Sternau, »die ihn nach dem vordersten Gange schaffen, dort soll er liegen, so lange es mir gefällt. Jetzt aber laßt uns an das Licht des Tages zurückkehren!« Sie gingen zu den Frauen und führten sie durch die jetzt aufgesprengten üren nach dem Ausgange. Als Emma dort anlangte, blieb sie wie geblendet stehen. Dann füllten sich ihre Augen mit ränen und sie breitete ihre Arme aus, um Sternau zu umfassen. »Wenn ich Ihnen dies vergesse, Sennor, so möge mir die Seligkeit verschlossen sein!« Auch Büffelstirn reichte ihm die Hand. »Der Fürst des Felsens fordere mein Leben, es ist sein!« sagte er.
Sie Alle drängen sich an ihn, und er hatte Mühe, von all den Dankes- und Liebeserweisen nicht erdrückt zu werden. Jetzt nun stieg man ein Stück an der Seite der Pyramide empor, um eine freie Aussicht zu erlangen. Die Comanchen waren weit zahlreicher geworden. Man konnte ihrer wohl bereits dreihundert zählen. Sie waren alle wohl beritten und, wie es schien, mit zahlreichen Waffen versehen. Emma ward Angst beim Anblicke so vieler Feinde, doch versuchten die Männer, ihr Muth einzuflößen, was ihnen auch gelang. Was hingegen Karja betraf, so verachtete sie die Comanchen und verlangte eine Büchse, um an der Vertheidigung mit eil zu nehmen. »Wir haben einen großen Fehler begangen,« sagte später Sternau. Die Frauen konnten das nicht hören, denn man hatte ihnen an einem geschützten Orte ein Lager bereitet, wo sie warm und weich ruhen konnten. »Welchen?« fragte Büffelstirn. »Erst waren es ihrer nur hundert, wir aber waren zweihundert. Griffen wir sie an, so hätten wir sie besiegt und konnten den Ort verlassen, oder die Uebrigen einzeln aufreiben.« »Der Fürst des Felsens hat Recht,« sagte Bärenherz, »aber unsere Herzen kannten nur die Sprache des Mitleids mit unseren gefangenen Freunden. Doch werden diese Comanchen uns nichts thun. Wir sind hier sicher, und das fliegende Roß wird uns fernere Krieger senden, welche zu uns stoßen.« »Sie mögen kommen, diese Comanchen,« sagte Büffelstirn. »Sie sind wie die Heuschrecken, welche man zertritt.« Das war muthig gesprochen, aber kurz vor Sonnenuntergang sah man, daß die Feinde vollständig beisammen waren; sie zählten über vierhundert Mann, welche einen engen Kreis um die Pyramide geschlossen hatten.
Als es dunkel wurde, sah man ihre Wachtfeuer rundum brennen und auch die Apachen durften mehrere Feuer anzünden, um ihr Fleisch zu braten, denn es war ein Rind für sie geschlachtet worden. Diese Feuer ließ man später verlöschen, und auch diejenigen der Comanchen waren gegen Mitternacht am Verglimmen. Jetzt nun galt es, aufmerksam zu sein. So lange die feindlichen Feuer brannten, war ein Angriff nicht zu befürchten, da man jede feindselige Bewegung sehen konnte. Jetzt aber war dies anders. Die Häuptlinge hatten beschlossen, daß die Leute des Tages schlafen, des Nachts aber alle munter bleiben sollten. Rings am Rande des Gebüsches lagen die Schützen im Anschlage, die scharfen, wachen Augen in das Dunkel hinaus gerichtet. Und Sternau hatte die Einrichtung getroffen, daß zwischen der freundlichen und feindlichen Position eine Postenkette placirt wurde. Diese Leute krochen so weit hinaus, dem Feinde entgegen, als es nur möglich war. Sie trugen keine schweren Waffen, sondern nur ihre Messer bei sich. Sie hatten den Befehl, nicht zu kämpfen, sondern sich sofort zurück zu ziehen, sobald sie eine Angriffsbewegung des Feindes bemerkten. Bärenherz kommandirte an der nördlichen, Büffelstirn an der südlichen, Donnerpfeil an der östlichen und Sternau an der westlichen Seite der Pyramide. Der Letztere hatte zugleich den Oberbefehl überkommen und vier gute Läufer dazu bestimmt, ihm als Adjutanten zu dienen. So vergingen zwei Stunden nach Mitternacht, als Donnerpfeil einen Mann sandte, um Sternau sagen zu lassen, daß der Feind heimlich sich nach Nord und Süd ziehe. Kurze Zeit darauf ließen Bärenherz und Büffelstirn melden, daß die Comanchen alle nach der Westseite gingen. Daraus war zu schließen, daß sich alle vierhundert Feinde im Westen versammelten, um die Apachen auf dieser Seite mit Uebermacht anzugreifen. Sofort gab Sternau den Befehl, daß alle Apachen sich auf seine Seite ziehen sollten. Kaum
war dies geschehen, so kamen die Außenposten herbeigekrochen und meldeten, daß von Westen her der Feind vorrücke. Da wendete sich Sternau an Bärenherz: »Mein Bruder nehme seine fünfzig Krieger, um die Comanchen zu umgehen und ihnen in den Rücken zu fallen. Er wird leicht ihre Pferde finden, auf diese setzt er sich mit seinen Leuten und reitet den Feind nieder.« »Uff!« antwortete der Apache, dem dieser Auftrag außerordentlich behagte. »Der Fürst des Felsens ist ein großer Feldherr. Wir werden einen großen Sieg gewinnen.« In kurzer Zeit war er mit seinen Leuten unhörbar verschwunden. Jetzt ertheilte Sternau seinen übrigen Hundertfünfzig den Befehl, nicht auf Reiter zu schießen, da dies ihre Brüder seien, und dann erwartete man in Stille den Beginn des Kampfes, dessen Ausgang noch sehr zweifelhaft war. Es verging immer noch eine geraume Zeit, aber als es bleich im Osten zu werden begann und es wenigstens so viel Licht gab, daß man in der Nähe Freund und Feind unterscheiden konnte, da erscholl plötzlich ein fürchterliches, vierhundertstimmiges Kriegsgeheul, und die Comanchen stürmten im raschesten Schritte heran. Der Indianer kämpft am liebsten zu Pferde, aber hier, wo es die Pyramide zu erobern galt, nutzten die Pferde nichts, darum waren die Feinde alle zu Fuß. Freilich ist der Rothe kein sehr guter Fußkämpfer: die Apachen hatten ein gutes Ziel, und als der Feind genug herangekommen war, wurden auf Sternau’s hellen Ruf hundertfünfzig Kugeln oder Pfeile abgeschossen. Das gab einen fürchterlichen Treffer; die Comanchen kamen in’s Stocken, wurden aber von ihren Häuptlingen von Neuem vorwärts getrieben. Aber, so kurz das Stocken gewesen war, die Apachen hatten doch Zeit bekommen, wieder zu laden, und ihre zweite Salve hatte eine eben solche Wirkung wie die erste.
Ein entsetzliches Gebrüll zeigte die Wuth der Comanchen an. Sie rotteten sich abermals zusammen und drangen zum dritten Male vor. Die Apachen hatten jetzt nicht Zeit, ihre einläufigen Büchsen zu laden, es schien ein Kampf Mann gegen Mann bevorzustehen, und nun war der entscheidende Augenblick gekommen. Wer eine Kugel im Lauf hatte, schoß ab und griff dann zum Tomahawk. Da aber, da brauste es plötzlich heran auf galoppirenden Pferden – es war Bärenherz mit seinen Fünfzig. Still, ohne einen Kriegslaut auszustoßen, drangen sie in den dicht zusammengedrängten Haufen der Comanchen ein und rissen Alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Es war fast Tag geworden, und Sternau konnte den ganzen Kampfplatz übersehen. Sein Scharfblick sagte ihm, was das beste sei. Er erhob seine Stimme und rief: »Auf die Pferde, und d’rauf!« Die Pferde der Apachen standen zufälliger Weise hier an der Westseite. In weniger als einer Minute brausten sie mit ihren Reitern auf die Comanchen ein. Einem solchen Angriff waren diese nicht gewachsen. Sie wandten sich, kämpften sich durch Freund und Feind hindurch und flohen in die Ebene hinaus. Die Wahlstatt gehörte den Apachen, welche eine furchtbare Ernte an Scalpen hielten. Sternau hatte keinen einzigen Schuß gethan. Er hatte seinen Henrystutzen bis auf einen gefährlichen Moment aufheben wollen, war aber nicht dazu gekommen. Die Apachen hatten gegen zweihundert Scalpe erbeutet, selbst aber gegen dreißig Krieger verloren. Diesen Sieg hatte man der Umsicht Sternau’s zu verdanken. Während die Apachen sich ausruhten, sah man die Comanchen sich im Westen wieder sammeln; dann unternahmen sie dasselbe Manöver wie gestern, sie umzingelten die Pyramide, um die Apachen abzuschneiden. Sternau hielt mit den Häuptlingen Rath.
»Jetzt können wir durchdringen,« sagte er, »die Comanchen können uns nicht aufhalten, die Niederlage hat ihren Muth geschwächt.« »Warum sollen wir fort?« fragte Bärenherz. »Hier können die Comanchen uns nicht besiegen, und bald werden unsere Brüder zu uns stoßen.« Auch die Anderen waren derselben Meinung, und so mußte Sternau nachgeben. Verdoja war in die Nähe des Eingangs der Höhle geschafft worden, wo einer der Apachen die Aufsicht über ihn hatte. Er aß und trank wie ein gesunder Mensch, bot aber mit seinen geschwollenen, gebrochenen Armen und dem bewegungslosen Unterkörper einen schauderhaften Anblick. Die gefangenen Dragoner wurden streng bewacht. Sternau wollte sie als Geiseln benutzen, falls von Chihuahua ein anderes Commando gegen ihn ausgesandt werde. Der erste Tag verging und auch die darauf folgende Nacht, der zweite ebenso, ohne daß die erwarteten Krieger kamen. Die Comanchen hingegen schienen wieder zahlreicher zu werden. Da, in der nächsten Nacht sah einer der Außenposten einen Mann auf dem Bauche heranschleichen. Beide erblickten sich zu gleicher Zeit; sie lagen kaum acht Fuß von einander. Schon griff der Posten nach seinem Messer, als ein leiser Laut ihn aufmerksam machte – der Andere war auch ein Apache, aber nicht von demselben Stamme. Er kam heran und flüsterte leise: »Mein Bruder hält die Wache?« »Ja.« »Welcher Häuptling hat den Befehl bei ihm?« »Der Fürst des Felsens.« Der Fremde schwieg betroffen, dann fragte er: »Ist der Fürst des Felsens hier bei meinen Brüdern?« »Ja.«
»So werden sie große Tapferkeit verrichten. Wo ist er zu finden?« »Gehe weiter! Man wird Dich sehen und zu ihm führen.« Der Fremde folgte diesem Gebote und gelangte an das Gebüsch, wo er angehalten wurde. Man führte ihn sofort zu Sternau, der eben eine Berathung hielt. »Wer bist Du?« fragte er. »Ich bin der fliegende Geyer, der Häuptling der TaraconeApachen,« antwortete er. Bei dieser Antwort erhob sich Bärenherz schnell und trat auf ihn zu. »Der fliegende Geyer? Uff, ja, Du bist es, mein Bruder. Du bist uns willkommen. Wann kommst Du mit Deinen Apachen?« »Ich komme als Bote.« »Nicht als Häuptling?« »Nein. Das fliegende Roß hat die Häuptlinge aller Apachen versammelt, um ihnen zu sagen, daß Krieg sei in Mexiko, und daß Juarez ein Freund der Apachen sei. Es waren versammelt alle großen Krieger, aber sie wollen nicht Krieg beginnen mit dem rechten Häuptling von Mexiko. Darum haben sie das Kriegsbeil in die Erde gegraben, und ich bin abgesendet worden, Dir dies zu sagen.« »So kommen keine Krieger zu uns?« »Nein. Das fliegende Roß läßt Dir sagen, Du sollst mit Deinen Kriegern zurückkehren in die Jagdgründe, um Fleisch zu machen.« Bärenherz senkte den Kopf, ohne etwas zu sagen. Da aber nahm Büffelstirn das Wort und sprach: »Seit wann hat der Apache zwei Zungen? Erst sagt das fliegende Roß, daß wir das Kriegsbeil nehmen sollen, und dann sagt er, es soll vergraben werden. Wir haben einen großen Sieg erfochten, wir haben zweihundert Scalps erbeutet, und nun sollen wir wieder Fleisch machen?«
»Du brauchst nicht zu gehorchen, Du bist der Häuptling der Miztecas,« sagte der Bote. »So schweige ich!« meinte Büffelstirn trotzig. »Was sagt der Fürst des Felsens zu der Botschaft?« fragte endlich Bärenherz. »Ich liebe den Frieden, obgleich ich dem Freund helfe. Mein Bruder Bärenherz mag thun, was ihm beliebt.« Da sagte auch der Bote: »Ich habe gesagt, was ich sagen sollte; meine Brüder mögen berathen. Ich aber muß noch in dieser Stunde zurück, das ist der Wille der Häuptlinge. Aber ich werde erzählen, daß ich gesehen habe den Fürsten des Felsens, den großen Häuptling der Bleichgesichter.« Er nahm Abschied und verschwand, wie er gekommen war. Sein Weg war ein lebensgefährlicher; er mußte sich zwischen den Comanchen hindurch schleichen. Wurde er ergriffen, so war es um ihn geschehen. Unter den Zurückbleibenden wurde die Angelegenheit vorläufig nicht weiter besprochen. Gegen Morgen ließ sich im Lager der Comanchen ein außerordentliches Jubelgeschrei vernehmen, es mußte etwas für sie höchst Erfreuliches geschehen sein. Was das war, das sah man, als es hell wurde. Nämlich rings umher erblickte man eine Menge von Kriegern, welche während der Nacht angekommen waren. Da waren ja weit mehr als tausend Comanchen beisammen. Das war das Groß der Hilfstruppen, welche die Häuptlinge dem Präsidenten sandten. Sternau erschrak, trotzdem er ein tapferer Mann war. Hier war an ein Entkommen nicht zu denken, hier konnte man nur sterben.
Auch die Krieger der Apachen blickten finster auf den weit überlegenen Feind. Sie hatten nun nichts mehr zu hoffen, denn Ersatz wurde ja nicht gesandt. Doch dies war noch nicht Alles. Am Vormittage sprengte von Süden her eine Schwadron Dragoner herbei und saß mitten auf dem Felde ab. Zwischen ihren Offizieren und den Häuptlingen der Comanchen entspann sich ein lebhafter Verkehr, dessen Folge war, daß ein Lieutenant sich als Parlamentair näherte. Er trug auf der bloßen Degenspitze sein weißes Taschentuch zum Zeichen, daß er in friedlicher Absicht komme. Sternau ging ihm selbst entgegen. »Wer ist der Anführer dieser Apachen?« fragte der Offizier nach einem höflichen Gruße, wobei er Sternau mit bewundernden Blikken betrachtete. »Bärenherz, ihr Häuptling.« »Ist ein Mann hier, den man den Fürsten der Felsen nennt?« »Ja.« »Wo ist er?« »Er steht vor Ihnen.« Der Lieutenant verbeugte sich tief und sagte im verbindlichsten Töne: »Ich komme als Abgesandter meines Rittmeisters und der Häuptlinge der Comanchen. Wollen Sie mich hören?« »Gewiß. Kommen Sie!« Er führte ihn dahin, wo die anderen Häuptlinge saßen, hieß ihm, Platz zu nehmen, und forderte ihn dann durch ein Zeichen mit der Hand auf, zu sprechen. Der Mann begann: »Erlauben Sie mir zunächst, Ihnen meine Hochachtung auszusprechen, Sennor. Ich bin –« »Bitte,« unterbrach ihn Sternau. »Was haben Sie uns Dienstliches zu sagen?«
»Das ist freilich ein Wenig unangenehm, Sennor. Diese Apachen haben mit der Schwadron Dragoner gekämpft, welche in der Hazienda Verdoja lag?« »Ja.« »Sie haben sich an dem Kampfe betheiligt?« »Nein.« »Aber Sie haben eine Anzahl Dragoner gefangen genommen?« »Ja.« »Nun gut. Mein Rittmeister verlangt ihre Auslieferung und auch diejenige der sämmtlichen Anführer. Die anderen Leute haben freien, ungehinderten Abzug.« »Weiter verlangt ihr Rittmeister nichts?« »Nein.« »Sie sagten, daß Sie auch im Auftrage der Häuptlinge kämen. Was lassen uns diese sagen, Sennor?« »Sie verlangen ihre Todten nebst den erbeuteten Scalpen, sowie zehn Apachen, um sie den Martertodt sterben zu lassen. Dann können die Uebrigen abziehen.« »Haben meine Brüder das gehört?« fragte Sternau seine Freunde. Sie neigten zustimmend den Kopf. »Was werden sie beschließen?« »Sie werden kämpfen,« sagte Büffelstirn. Bärenherz und Donnerpfeil stimmten ihm bei. »Sie hören, was für eine Antwort Sie erhalten,« sagte Sternau zu dem Offizier. »Und was ist nun auch Ihr Bescheid, Sennor?« fragte dieser. »Hm, ich würde mich nicht ausliefern, selbst wenn ich ganz allein hier auf der Pyramide säße!« »Ich ehre dieses Wort als das Wort eines Helden, halte es aber doch für meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß Sie gegen eine mehr als zehnfache Uebermacht kämpfen.«
»Ganz richtig; dafür aber ist unsere Position eine hundertfach stärkere, abgesehen davon, daß es unter uns Männer giebt, welche es mit zwanzig Feinden aufgenommen haben.« »Dies ist Ihr fester Entschluß?« »Ja. Aber Eins muß ich Ihnen bemerken. Ich habe den Hauptmann jener Dragonerschwadron nebst einigen Zwanzig seiner Leute als Gefangene bei mir. Bis jetzt sind sie meine persönlichen Gefangenen. Besteht Ihr Chef darauf, daß ich mich ihm mit den anderen Anführern ausliefere, so werden jene Leute dann Gefangene der Apachen, und was da ihr Schicksal ist, das können Sie sich denken.« »Ah, Sie wollen sich mit Geiseln decken?« »Ich gestehe, daß dies meine Absicht ist.« »Es wird Ihnen nichts nützen. Im Süden stehen die Regierungstruppen; von Nord und Ost nähern sich neue Schaaren der Comanchen. Sie sind auf jeden Fall verloren. Uebrigens geben wir Ihnen Bedenkzeit bis morgen um dieselbe Stunde. Das thun wir, weil wir ganz genau wissen, daß Ihre Lage eine hoffnungslose ist. Sie erhalten keinen Ersatz; wir aber möchten Blutvergießen vermeiden.« »Wir werden während dieser Bedenkzeit nicht angegriffen?« »Nein.« »Auch von den Comanchen nicht?« »Nein; ich gebe Ihnen mein Wort.« »Gut, so kommen Sie morgen wieder, um sich unsere Antwort zu holen, Sennor!« Der Offizier entfernte sich. Sternau stieg auf die Spitze der Pyramide. Er wollte allein sein, um sich seine Lage zu überdenken. Er wußte, daß die Häuptlinge ganz dasselbe thun würden; so konnte man später zu einem klaren Entschlusse gelangen.
Seine Lage war eine kritische. Es handelte sich hier um die Freiheit, vielleicht gar um das Leben. Würde er seine Lieben jemals wiedersehen? Er langte in die Tasche, um den letzten Brief Rosa’s noch einmal zu durchlesen, zog aber statt dessen den Plan der Pyramide hervor. Er faltete ihn auseinander und überflog ihn mehr instinktiv als absichtlich nochmals mit den Augen. Die Gänge waren überaus symmetrisch gebaut, nur einer, ein ganz kurzer, paßte nicht in die Ordnung. Es schien kein Gang, sondern eine lange, schmale Kammer zu sein. Auf der Zeichnung stand das Wort peta-pove, ein Wort, welches Sternau noch niemals gehört. Während er nachdachte, kam Büffelstirn auch emporgestiegen. Mehr aus wirklicher Zerstreutheit als aus Ueberlegung fragte er ihn: »Hat mein Bruder einmal das Wort peta-pove gehört?« »Ja.« »Was bedeutet es? « »So sprechen die Jemes-Indianer. Es heißt »in das al gehen«. Warum fragt mein Bruder?« Er bekam keine Antwort, denn Sternau hatte sich erhoben und blickte scharf nach Westen, wo sich die Cordilleren von Sonora erhoben. Ein Blitz durchzuckte sein Inneres, und dann wendete er sich rasch um. »Mein Bruder folge mir!« Mit diesen Worten eilte er an der Seite der Pyramide hinab nach dem Orte, wo die beiden Mädchen ihr Lager hatten. Auch ihnen war die Menge der Comanchen, die Anwesenheit der Dragoner und die Sendung des Lieutenants aufgefallen. Sie wollten die Beiden mit Fragen bestürmen, aber Sternau ließ sich auf keine Antwort ein. Er nahm ein kleines Fäßchen Pulver, welches zum Vorrath der Dragoner gehört hatte, rief einige kräftige Apachen herbei, denen
er Hammer und Hacke nebst Brecheisen gab, bat Bärenherz, wohl Acht zu haben, und verschwand mit Büffelstirn und den Apachen in der Eingangsöffnung zum Inneren der Pyramide. Verdoja stieß bei ihrem Anblicke einen Schrei aus, wurde aber gar nicht beachtet. Man brannte einige Laternen an und vertiefte sich dann in das Innere. Da, wo man zum erstenmale rechts eingebogen war, schritt Sternau geradaus, bis er an eine üre kam. Sie leistete der Hakke und Brechstange Widerstand und wurde dann gesprengt. Mit einer zweiten ür ging es ebenso. Dann gelangte man an eine Treppe, welche abwärts führte. Hier traf man auf die ür, welche den Raum verschloß, den Sternau der Zeichnung nach für eine lange, schmale Zelle gehalten hatte. Als auch sie gesprengt worden war, gab es einige Stufen niederzusteigen, und man gelangte in ein schmales, hohes Gewölbe, welches kein Ende nahm. Es war – – ein unterirdischer, aus Backsteinen gemauerter Gang, welcher in schnurgerader Richtung grad’ nach West führte. Das war es, was Sternau gedacht hatte, als er die Uebersetzung des fremden Wortes hörte. Das Herz wurde ihm froh und leicht. Er eilte voran, immer den finsteren Gang hinein, den seine Laterne nur nothdürftig erhellte. Wie lange das so fortging, das wußte er gar nicht, bis er plötzlich wieder vor Stufen stand, aber sehr lang war es gewesen. Er stieg die Stufen bergan und fand da die Wölbung mit großem Steingeröll gefüllt. Hier war die Hacke und das Brecheisen zu gebrauchen. Das Geröll wurde zur Seite gestoßen, nach unten geworfen, und – plötzlich brach das Tageslicht herein. Sie machten die Oeffnung weiter, stiegen heraus und standen in einem kleinen älchen, welches nur aus Steingeröll bestand und nicht die Spur der Vegetation zeigte. Sie bestiegen vorsichtig die eine Seite des älchens und gewahrten in einer Entfernung von mehr als einer englischen Meile die Pyramide im Osten und zwischen ihr und dem ale die Menge
der Comanchen. Die Pferde derselben weideten kaum fünf hundert Schritte von dem ale entfernt. »Was sagt mein Bruder zu dieser Entdeckung?« fragte Sternau den Miztekas. »Sie ist viele Menschenleben werth,« antwortete dieser mit ruhiger Stimme, aber man sah es seinem Auge an, daß ihm das Herz leicht geworden war. »Die Söhne der Comanchen werden glauben, wir sind Zauberer.« »Sie werden uns suchen und nicht finden, denn wir sind mit ihren Pferden fortgegangen. Karja, die Tochter der Miztekas, braucht nun nicht zu sterben von der Hand ihres Bruders, der sie erlösen wollte von der Schande, das Weib eines Comanchen zu sein.« Er, der Bruder, dachte doch immer sogleich an seine Schwester. »Nun müssen wir zurückkehren,« warnte Sternau. »Man darf uns hier nicht sehen.« Sie stiegen wieder in den Gang hinab und legten soviel Geröll wie möglich vor die Oeffnung. Dann kehrten sie auf dem unterirdischen Wege nach der Pyramide zurück. Wer weiß, was dieser Weg früher alles gesehen hatte! Gewiß hatte er dazu gedient, das gläubige Volk zu mystificiren; die Priester waren ihn hin- und hergewandelt, wenn droben auf der Pyramide das Blut der Menschenopfer in Strömen vergossen wurde. Jetzt nun wurde eine große Berathung gehalten, zunächst unter den Häuptlingen, und dann zog man auch die Krieger dazu heran. Sie alle hatten sich bereits verloren gegeben, nun, da sich ihnen ein solcher Ausweg bot, gab es keinen Einzigen, der widersprochen hätte. Am glücklichsten waren die beiden Mädchen, welche auch der Berathung mit beiwohnten.
Es wurde beschlossen, daß man insgesammt die Cordilleren ersteigen wolle, um sich dann zu trennen. Aber Bärenherz fügte hinzu: »Bärenherz liebt seine Freunde; er wird sie begleiten bis Guaymas.« Die Wangen Karja’s rötheten sich. Sie wußte recht gut, wem diese Aufmerksamkeit eigentlich galt. Auf den Bergen war wenig Proviant zu finden, darum war es gut, daß man mit demselben reichlich versehen war. Da man die Pferde nicht mit durch die unterirdischen Gewölbe nehmen konnte, so mußte man sie zurücklassen und dafür die der Comanchen zu bekommen suchen. Ein Jeder war beschäftigt mit den Vorbereitungen zur Abreise. Alles, was man fortbringen konnte, sollte mitgenommen werden, und so legten sich die Apachen sogar ihre Sättel zurecht, in welche sie sich eingewöhnt hatten. Als die Sonne zu sinken begann und bereits den Horizont erreichte, stieg Karja zur Höhe empor. Sie stand da oben hoch und schlank wie eine mexikanische Priesterin. Ihr Gewand flatterte im Winde, und ihre dunkeln Wangen belebten sich unter dem Abschiedskusse der scheidenden Sonne. Woran dachte sie? Ihr Auge blickte nach Norden. Dort lag nicht Guaymas, das nächste Ziel ihrer Reise, dort lag auch nicht die Hazienda del Erina, ihre Heimath, in welche sie zurückwollte, aber dort lagen die Jagd- und Weidegründe der Apachen, und Bärenherz, der Häuptling derselben, hatte es ihrem Herzen angethan. Wie hatte sie nur glauben können, den Grafen Alfonzo zu lieben. O, könnte sie doch jene Abende aus dem Leben streichen, jene Abende am Bache hinter der Hazienda, jene Abende, an denen sie dieser Mensch geküßt und an sich gedrückt hatte! Wie anders war dagegen Bärenherz! Sie hätte für ihn sterben können.
Sie hörte nicht, daß auf der anderen Seite der Pyramide auch Jemand emporgestiegen kam; es war kein Anderer, als der, an den sie dachte. Nicht Ueberlegung oder Absicht führte Beide hier herauf, sondern der unbewußte Instinkt des Herzens, welcher oft richtiger führt, als die raffinirteste Ueberlegung. Bärenherz sah sie und blieb stehen. Er sah die Sonne auf ihrem Scheitel und ihren Wangen glänzen; er sah ihre dunklen Augen in träumerischer Wehmuth nach Mitternacht gerichtet; er sah die schönen, runden Linien ihrer vollen schlanken Gestalt, und jetzt begriff er, wie Pardero um dieses Mädchens willen so Vieles wagen konnte. Es stieg ihm heiß zum Herzen. Wenn dieses schöne Mädchen, diese Tochter der Edelsten ihres Volkes, unterlegen wäre! Wenn Pardero durch Hunger, Durst oder Gewalt ihren Widerstand besiegt hätte! Das war jetzt ein fürchterlicher Gedanke für den Apachen, und er legte unwillkürlich die Hand an den Tomahawk. Er trat ihr näher; da hörte sie seine Schritte und wendete sich um. Als sie ihn erblickte, ward sie trotz ihres dunkeln Teint’s bis tief in den Nacken roth. Das war ja der, an den sie soeben gedacht hatte; er mußte es ihr ja sofort ansehen! Er sah ihre Verwirrung, trat einen Schritt zurück und sagte: »Die Tochter der Miztekas erschrickt, wenn Bärenherz erscheint. Er wird wieder gehen, aber er weiß nicht, womit er sie beleidigt hat.« Sie schwieg, und erst als er sich wirklich von ihr wendete, sagte sie, kaum hörbar: »Der Häuptling der Apachen hat mich nicht beleidigt.« Er drehte sich wieder um, blickte sie forschend an und fragte: »Aber sie haßt ihn, sie möchte fort sein, wenn er kommt?« Jetzt nahm sie sich den Muth, zu antworten, wenn auch nur ein kleines Wörtchen: »Nein.«
»Kann Bärenherz dafür, daß er immer ihre Fährte trifft? Kann der Mann die Gedanken aus seiner Brust schneiden? Kann er dem Traume befehlen, was er bringen soll und was er nicht bringen darf? Warum sieht das Auge in den Wellen des Flusses, in den Wolken des Himmels immer nur das eine Haupt und die eine Gestalt? Bin ich Manitou, bin ich ein Gott, daß ich das Leben tödten kann, welches in meiner Seele wohnt?« Sie schwieg, aber er sah, daß sie leise, ganz leise bebte. Er zog die Brauen finster zusammen; er, der Heldenhäuptling, wußte nicht, daß es auch ein Beben des Glückes, der Wonne, der Erwartung giebt. »Warum antwortet Karja nicht?« fragte er. »Wie lange wird Bärenherz noch Diejenige sehen, welche er liebt? Einige Tage, einige Stunden. Dann wird sie das Weib eines Anderen, und er geht, um dies an seinen Feinden zu rächen.« »Sie wird nie das Weib eines Anderen sein!« flüsterte sie. Da trat er schnell näher. »Nie, sagst Du, nie?« fragte er. »Nie!« antwortete sie. »Weißt Du das wirklich, weißt Du das genau?« »Wer Bärenherz liebt, kann keinen Anderen lieben!« Da faßte er sie bei der Hand und fragte: »Und kennst Du Eine, die ihn liebt?« Sie schwieg. »Du willst es nicht sagen; Du willst mich nicht glücklich sehen!« »O,« antwortete sie, »ich möchte Dich glücklich sehen; aber Du willst ja nicht glücklich sein!« »Weshalb glaubst Du das?« fragte er. »Wer glücklich sein will, der muß Liebe haben, Liebe, blos für Eine.«
»Du hast Recht. Und habe ich Dir nicht bereits unten in dem Gewölbe gesagt, daß Du werth bist, die einzige Frau eines Helden zu sein? Wäre ich ein Held, so würde ich Dich bitten, meine Frau zu sein!« »Du bist ein Held!« sagte sie, ihn mit stolzem, entzücktem Auge betrachtend. »Bin ich wirklich Einer, so sag’, ob Du mich lieb hast, Karja!« »Ich habe Dich lieb,« flüsterte sie, erglühend. »Und ich Dich auch. Du sollst das Weib des Apachen sein, sein einziges Weib, das schönste, stolzeste und glücklichste Weib unter den Rothen. Du sollst nicht arbeiten wie andere Frauen, sondern Du sollst es haben wie eine weiße Sennora, deren Wunsch ist wie ein Befehl!« Er schlang die Arme um sie, drückte sie an sich und küßte sie, ganz unbekümmert darum, daß sie auf der Höhe der Pyramide standen und von allen Comanchen gesehen werden konnten. Da unten lauerte der Tod auf sie, und hier oben ruhten die Herzen warm aneinander. Da unten sprach man bereits das Todesurtheil über sie, und da oben schlossen sie einen Bund für das Leben. Die Liebe kennt keinen Tod, denn sie selbst ist ja das Leben. So standen sie, eng verschlungen, sich selbst und alles Andere vergessend, beleuchtet vom Abendrothe, welches nach und nach im Westen verglimmte. Da drehten sie sich erschrocken um, denn eine bekannte Stimme hatte gefragt: »Wer von Euch ist der Kranke, daß ihn der Andere stützt?« Büffelstirn war es. Es war fast Zeit zum Aufbruche, darum hatte er die Schwester gesucht, er hatte allerdings nicht geahnt, sie in den Armen des Apachen zu finden. Dieser wurde für einen Augenblick verlegen, doch faßte er sich schnell und fragte mit fester Stimme: »Ist Büffelstirn noch mein Freund und Bruder?« »Er ist es,« antwortete der Gefragte ernst.
»Zürnt er mir, daß ich ihm das Herz seiner Schwester raube?« »Er zürnt nicht, denn das Herz der Schwester kann mir Keiner rauben. Im Herzen eines guten Weibes haben Beide Platz, der Gatte und der Bruder.« »Erlaubst Du mir, nach der Hazienda del Erina zu kommen und die Morgengabe zu bringen?« »Ich erlaube es.« »Worin soll sie bestehen?« »Bestimme es selbst! Büffelstirn verkauft seine Schwester nicht.« »Soll ich Dir bringen hundert Scalps Deiner Feinde?« »Nein; ich nehme mir diese Scalps selbst.« »Oder zehn Felle des grauen Bären?« »Nein; ich habe der Felle genug.« »So sage, was Du von mir forderst!« Da wurde das Auge des Königs der Ciboleros feucht; er legte dem Apachen die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich verlange von Dir nicht Scalpe und Häute, nicht Gold und Silber, sondern ich verlange von Dir, daß Karja, die Tochter der Miztekas, glücklich sei in Deinem Hause. Du bist mein Freund und Bruder, aber wäre meine Schwester nicht glücklich bei Dir, so würde ich mit diesem meinem Tomahawk Dir den Kopf spalten und Dein Gehirn den Ameisen zur Speise geben. Geh’ nach Deinem Weidegrund und sprich mit den Deinen; dann komme nach der Hazienda del Erina, und Du sollst sie haben!« Er drehte sich um und schritt hinab. Bärenherz forderte von der Geliebten noch einen Kuß, dann folgte er ihm, hoch und stolz, wie ein Mann, der nie ein süßes Wort mit einem Weibe gesprochen hat. So lange es noch hell war, durfte man den Lagerplatz nicht verlassen, sobald es aber dunkel war, sollte der Aufbruch beginnen. Vor allen Dingen galt es, Verdoja nichts wissen zu lassen. Er wurde aus der Höhle heraus und an einen Ort geschafft, von wo aus
er nichts bemerken konnte. Seine Schreie hallten da wie die Rufe böser, gequälter Geister hinaus in die stille Nacht, und die Comanchen schüttelten die Köpfe über die fürchterlichen Laute, welche sie zu hören bekamen. Jetzt war nun der Weg frei, und die Apachen betraten die Gänge, ein Jeder seine Waffen bei sich und das, was er nicht entbehren zu können glaubte. Als der Letzte eingetreten war, wurde der Stein wieder vorgeschoben, und dann setzte sich der lange Zug in Bewegung, voran Büffelstirn und hintenan Sternau. Dieser Letztere hatte Pulver mitgenommen. Als der Zug die Treppe passirt hatte, legte er eine Mine in den Gang und zündete die Schnur an. Dann folgte er den Andern. Sie passirten den unterirdischen Gang ohne alles Licht und gelangten glücklich an den Ausgang desselben, der sofort wieder verschüttet wurde. Eben als sie damit fertig waren, vernahmen sie ein leises Rollen, wie von einem fernen Erdbeben, aber es war kein verrätherischer Luftblitz dabei zu sehen, so fest Sternau auch seine Augen auf die Ruinen richtete – die Mine war explodirt und hatte den Gang eingestürzt. Jetzt konnte Niemand sagen, wie sie entkommen waren. Nun galt es vor allen Dingen, ungefähr hundertsiebenzig Pferde zu verschaffen, eigentlich keine Kleinigkeit, hier aber doch nicht schwer, da viele Hunderte derselben gar nicht weit von dem älchen weideten. Es wurden zunächst Kundschaftet ausgesandt, um zu sehen, ob die iere sehr sorgfältig bewacht seien. Sie kamen mit der Meldung zurück, daß sie nur drei Wächter bemerkt hätten. Sie wurden also voran geschickt, diese Wächter unschädlich zu machen, und nun folgten die Anderen, ein Jeder sein Eigenthum gleich bei sich. Es waren Indianerpferde, sie ließen also die Indianer heran zu sich, ohne zu schnaufen oder sonst ein Zeichen der Unruhe zu geben. Auf Sternau’s Befehl ging man sehr vorsichtig zu Werke. Es durften nicht Alle auf einmal aufsitzen und im Trupp wegreiten;
dadurch wären ja die Comanchen aufmerksam gemacht worden, sondern es holte sich ein Jeder sein Pferd einzeln und leise weg, führte es eine genügende Strecke weit fort und stieg erst dann auf. Da es hier weichen Prairieboden gab, so wurde kein Mensch etwas von dem Pferderaube gewahr, und als der nächste Morgen graute und man die Leichen der drei erstochenen Wächter fand, hatten die Apachen schon fast eine halbe Tagereise zurückgelegt. Sie kümmerten sich wenig um die Aufregung und um die Enttäuschung der Comanchen, als diese ihre Feinde verschwunden wußten. Es wurde nach Erklärungen gesucht, und schließlich wurde allgemein angenommen, daß der Fürst des Felsens die Macht besitze, durch die Luft zu fliegen und seine Freunde mitzunehmen. Sein Ruhm war jetzt größer als längst vorher. – – – – – – Unterhalb von Colima in Westmexiko bildet der gleichnamige Fluß bei seinem Austritte in den großen Ocean einen ausgezeichneten Hafen, den Puerto de Colima, auch Manzanillo genannt. Colima ist eine Stadt von beiläufig , Einwohnern, liegt in einer sehr fruchtbaren Gegend und betreibt einen nicht unbedeutenden Handel, so daß in der Mündung des Flusses auch Schiffe mit nicht geringem Tonnengehalte vor Anker gehen. Grad’ jetzt lag ein solches Schiff da vor Anker. Es schien ganz neu zu sein, war wie abgeleckt und bot dem Auge des Kenners einen sehr erfreulichen Anblick dar. Dies schienen auch die beiden Männer zu fühlen, welche jetzt mit einander am Ufer standen und das Schiff betrachteten. »Goddam, ein schmuckes Ding!« sagte der Eine. Er war längst nicht mehr jung, war lang und dürr aufgeschossen und trug einen ziemlich gemischt-modigen Anzug an seinem Leibe. »Das ist auf einer amerikanischen Werft gebaut!« »Das sieht man auf den ersten Blick,« meinte der Andere, eine starkknochige, viereckige Gestalt, die man für einen Steuermann hätte halten können, wenn die Füße nicht in zerrissenen Lackstie-
feletten und die Hände in aufgesprungenen Glacéhandschuhen gesteckt hätten. »Ob sich da wohl ein verborgenes Kanonenbord anbringen ließ, he?« meinte der Erstere. »Fragt nur nicht, Kapitän; Ihr versteht das Ding ja besser als ich!« »Meinst Du? Hahaha! Aber nenne mich nicht Kapitän, sonst versprichst Du Dich auch dann, wenn wir nicht belauscht sind. Ich bin der ehrenwerthe Schauspieldirektor Guzman, und Du bist mein – na – – – wie heißt es doch – ›Regisseur‹!« »Ja, mein Regisseur Hermilio Martinez. Verstanden?« »Jawohl, Herr Direktor!« antwortete der Andere mit einer furchtbar mißlungenen Verbeugung. Der Direktor fragte weiter: »Wohin muß das Schiff bestimmt sein?« »Wer weiß es! Aber man kann es ja erfahren. Der Schiffsjunge da im Boote scheint zu der Equipage zu gehören.« Sie traten näher an das Ufer hin, wo ein Kapitänsboot vor dem Taue lag. In demselben saß ein etwa sechszehnjähriger Junge und blickte den beiden sonderbaren Gestalten mit jugendlichem Muthwillen entgegen. Als sie das Boot erreicht hatten, fragte der Direktor: »Ah, Sennor, gehört Ihr zu dem Schiffe da?« Es war dem Jungen noch nie passirt, Sennor genannt zu werden, aber grad’ aus diesem Grunde bekam er plötzlich eine ganz passable Meinung von den beiden Männern, die ihn mit solcher Höflichkeit behandelten. »Ja,« antwortete er. »Wie heißt das Schiff?« »Die Lady. Da steht’s ja mit goldenen Buchstaben!« »Ja, ja, ich sah das nicht gleich, Sennor. Hat dieses schöne Schiff vielleicht auch einen Kapitän?«
»Das versteht sich!« lachte der Bube. »Was soll es denn haben?« »Ich dachte, vielleicht einen Lieutenant.« »Das ist bei Kriegsschiffen der Fall.« »Wie heißt denn dieser Kapitän, Sennor?« »Master Wilkers.« »Ah, er ist ein Nordamerikaner?« »Ja, ein ächter. Ich auch!« »Das glaube ich. Was habt Ihr denn geladen?« »Verschiedenes, nebst einer hübschen Fracht nach Guaymas.« »Nach Guaymas? Hm! Vielleicht könnte man mit Euch fahren. Wir wollen auch nach Guaymas. Wo ist der Kapitän?« »Der ist an Land, wird aber bald wiederkommen. Ah, dort kommt er!« »Welcher? Der Kleine?« »Ja, der die Hände in den Hosentaschen hat.« Die Beiden stellten sich am Ufer auf und blickten dem Nahenden entgegen. Er war ein kleiner, dürrer Mann, und aus seinen gerötheten Wangen, dem wankenden Gange und den wässerigen Augen konnte man leicht schließen, daß er heute einen Schluck zuviel getrunken habe. »Hollah! Coq, mach los! Ich komme!« rief er bereits von Weitem dem Jungen zu. »Nicht so schnell, Sir!« antwortete dieser. »Nicht? Ah, warum nicht schnell? Wenn ich komme, so muß es schnell gehen; dreißig Knoten in einer Viertelstunde. Das merke Dir!« »Aber jetzt nicht, denn diese Herren, diese Gentlemen, wollen mit Ihnen reden.« »Mit mir? Hm! Mit mir? Wer sind sie denn?« Er betrachtete sich die Beiden mit gemüthlicher Naivität, lachte dann ein Wenig, schnipste mit den Fingern und sagte: »Landratten! Nicht?«
Die beiden Männer hatten die Hüte tief gezogen und standen in demüthiger Haltung vor ihm, als ob er ihnen Audienz ertheile. Der Lange sagte dabei: »Verzeihung, Capitano! Ich bin der eaterdirector Guzman, und dieser ist mein Regisseur, Martinez.« »Schauspieler? Hm, gemüthliche Leute, spaßhafte Leute! Was wollt Ihr von mir?«, »Wir hören, daß Sie nach Guaymas segeln. Auch ich will nach Guaymas, mit meiner ganzen Gesellschaft.« »Donnerwetter! Wie viele Personen sind es?« »Sechs Herren und fünf Damen, alle jung, schön und munter, Sennor!« »Alle Wetter, das gäbe einen Spaß!« lachte der Kapitän. »Könnt Ihr denn auch zahlen, he?« »Wenn’s nicht zu viel ist!« »Fünf Dollars pro Person, aber nur die Fuhre. Alles andere ist Eure Sache.« »Dies machte fünfundfünfzig Dollars? Geht es mit fünfzig, Sennor?« »Fünfzig? Hm, eigentlich nicht. Aber weil Ihr Künstler seid und Damen bei Euch habt, so mag es sein. Gezahlt wird sofort beim Besteigen des Bords, sonst werfe ich Euch in’s Wasser.« »Wann geht es fort?« »Heut Abend noch. Der Fluthwechsel ist um neun Uhr; um Elf geht’s fort.« »Wir danken sehr, Sennor, für Ihre freundliche Bereitwilligkeit! Halb zehn werden wir an Bord sein.« Sie verbeugten sich tief und entfernten sich. Er blickte ihnen vergnügt lächelnd nach und stieg dann in das Boot. Die beiden Künstler schlenkerten ein Wenig durch den Ort, gingen dann mehr landeinwärts und kamen da an ein einstöckiges Gebäude, welches außerordentlich verfallen aussah. Es war eine
Schänke, und so hatten die beiden Männer wohl kein Bedenken, einzutreten. Sie schienen überhaupt hier nicht unbekannt zu sein, denn sie wurden von einigen Kerls, welche am zerbrochenen Tische, bei dem Safte der Agave, saßen, mit Freude begrüßte. »Nun, Director, noch nichts?« fragte der Eine. »Doch, heute endlich!« antwortete der Director. »Es wird Zeit. Aber wie?« »Schauspieler, sechs Herren und fünf Damen.« »Schön! Hahaha! Das wird doch ’mal ein Witz.« Der Director trank ein einziges Glas und verließ dann die Schänke wieder, und zwar mit der Bemerkung, daß er die Gesellschaft abholen werde. Der Tag verging; der Abend brach an, und die »Lady« machte sich segelfertig. Es war bereits neun Uhr vorüber, und die Matrosen lugten über Bord nach den Passagieren. Da endlich kamen sie, elf Personen, eine immer hinter der Andern. Da sie nicht in das kleine Boot gingen, so mußte es zweimal fahren; es nahm erst die Herren und dann die Damen. Kapitän Wilkers stand an der Schiffstreppe und streckte die Hand aus; der Director bezahlte, und der Kapitän begab sich auf das Hinterdeck; das war die ganze Zeremonie. Nach einem Passe oder sonstiger Legitimation wurde nicht gefragt; ein Platz für sich oder ihre Sachen wurde ihnen nicht angewiesen, aber sonderbar, sie zogen sich zusammen, sie machten sich klein, und wo sie etwas hinthaten oder sich selbst hinsetzten oder stellten, da waren sie sicherlich nicht im Wege, darum sagten die Matrosen bereits nach einer Stunde, daß diese Gentlemen und Ladies doch recht anständige Leute seien. »Aber ob’s die Ladies aushalten!« meinte Einer. »Es ist eine hohe See und da kommt die dumme Seekrankheit stets drein.« Er hatte sich umsonst gesorgt, weder einer der Gentlemen noch eine der Ladies bekam einen Krankheitsanfall. Das war nun ei-
gentlich sonderbar, fiel aber den Seeleuten nicht auf. Sie saßen im Vorderdeck und erzählten. Der Steuermann stand hinten, liebäugelte mit den Sternen, und der Kapitän lag in der Kajüte und verschlief seinen Rausch. »Die Künstlergesellschaft saß zusammengerückt auf einem Segel und alle schienen zu schlafen. Da, es mochte zwei Stunden nach Mitternacht sein, machte der Director eine Bewegung. »Es wird Zeit,« flüsterte er, »wir haben bereits die Breite von Guadalaxara hinter uns.« »Alle zugleich?« fragte eine der Damen. Aber trotzdem sie nur flüsterte, klang es doch nicht wie eine Frauenstimme. »Ja,« antwortete der Director. »Seht die Wolke dort. Sie kommt näher. Sobald sie über dem Schiffe steht, nimmt ein jeder seinen Mann. Das Messer grad in das Herz, und drin stecken lassen; das giebt keinen Tropfen Blut.« Es vergingen noch einige Minuten, da hatte die Wolke die Höhe des Schiffes erreicht, und es wurde um einige Schatten dunkler als bisher. »Auf! Vorwärts!« flüsterte der Director. Die Leutchens warfen auf einmal alles Weiße von sich ab, so daß die Kleidung vollständig schwarz war, und huschten wie die Schatten davon. Man hörte hier einen Seufzer und dort ein lautes Athmen; dann war es still wie vorher. Der Director war nach dem Hinterdeck geglitten. Dort stand der Steuermann, hatte sich nach hinten gewendet und schaute der vorübereilenden Wolke nach. Da fühlte er einen Druck auf das Herz; etwas Kaltes, Starres drang in dasselbe ein, er wollte rufen, brachte es aber nicht fertig. Er sank zu Boden, und in demselben Augenblicke stand der Director am Steuer. Er stieß einen leisen Pfiff aus, und sofort stand der Regisseur vor ihm.
»Wie steht es?« fragte er diesen. »Alles gut, Sennor!« »Nehmt das Steuer. Ich will zum Kapitän.« »Was wird mit dem Jungen? Er schläft unten.« »Können ihn nicht gebrauchen!« »Schade. War so ein netter Frosch.« So war über zwei weitere Menschenleben entschieden. Der Director ging nach der Kajüte. Sie war nicht verschlossen. Er öffnete und trat ein. Der Kapitän schlief. Der Mörder hob ganz ruhig die Decke auf, setzte die Spitze des Messers mit furchtbarer Genauigkeit auf das Herz und stieß zu. Er ließ das Messer stecken und trug den Kapitän auf das Deck. Nach einigen Minuten brachte er auch die Leiche des Schiffsjungen. Nun wurde im Ballastraume nach schweren Steinen gesucht; diese hing man den Leichen an die Füße, und versenkte sie in das Meer. »Vor Cap Lucas kreuzen wir,« sagte der Director zu seinem Regisseur, dann ging er in die Kajüte. Dort studierte er mit der allergrößten Aufmerksamkeit die Schiffsbücher, Tabellen und alle Scripturen, welche er vorfand. Dies dauerte, bis es Tag war; dann kehrte er auf das Deck zurück. Ein Stoß in eine kleine, silberne Pfeife brachte alle Mann nach dem Hinterdeck. »Der Spaß ist gelungen, Jungens,« sagte der Mann. »Nun soll ein Leben losgehen, um das Euch ein König beneiden könnte. Zunächst aber müssen wir noch vorsichtig sein. Wir haben Fracht nach Guaymas. Dort ist das Schiff noch unbekannt und seine Bemannung auch. Wir behalten also die Namen, welche in dem Buche verzeichnet sind. Ich bin der Kapitain Wilkers.«
Er gab einem jeden seinen Namen und machte ihn mit seiner Rolle bekannt. Dann befahl er, nicht mehr zu kreuzen, sondern in den engen Meerbusen von Kaliformen einzulaufen. Die »Lady« war ein ausgezeichneter Segler, und am nächsten Tage lief sie in den Hafen von Guaymas ein. Guaymas ist ein hübsches, freundliches Hafenstädtchen, welches zur mexikanischen Provinz Sonora gehört. Seine hübsche Umgebung wird von den Seeleuten auf fleißigen Ausflügen genossen. Kapitain Wilkers besorgte seine Obliegenheiten bei der Hafenpolizei und bei dem Kaufmanne mit einer Unverfrorenheit, als ob er der rechtmäßige Eigenthümer dieses Namens und des Schiffes sei. Dann gestattete er sich einige Tage des Genusses. Er war dies auch seinen Leuten schuldig, obgleich der Ort hier so nahe am Schauplatze des Verbrechens ein gefährlicher genannt werden mußte. Er machte an einem dieser Tage eine Landparthie und nahm seinen Steuermann dazu. Sie mietheten sich zwei Maulthiere und ritten in die Berge. Nachdem sie den ganzen Tag umhergestreift waren, kehrten sie gegen Abend zurück. Sie brachten noch einige Stunden in einer Kneipe zu und gingen dann nach dem Schiffe. Unterwegs kam ihnen eine männliche Gestalt entgegen. Als sie nahe heran war, fiel durch ein unverschlossenes Fenster der Lampenschein auf den Fremden, zwar nur auf einen Augenblick, aber doch so, daß man das Gesicht erkennen konnte. Alle Beide stutzten, sowohl der Kapitain wie auch der Steuermann. »Alle Teufel!« sagte der Erstere. »War das ein Geist?« »Welche Aehnlichkeit!« fügte der Zweite bei. »Der Teufel soll Euch holen, wenn er es nicht war! Kommt, Steuermann; wir müssen ihm nach!« Sie wendeten um und eilten dem Manne nach. Er schwenkte eben nach einem Wohnhause ein, welches inmitten eines Gartens lag. Dort klingelte er. Nach ganz kurzer Pause wurde geöffnet, und
es erschien eine sehr schöne, junge Dame, welche eine Lampe trug. Das Licht derselben fiel voll auf den Ankommenden, und man hörte deutlich den Gruß der Dame: »Ah, Sennor Mariano! Willkommen! Sennor Sternau erwartet Sie schon.« »Beim Teufel, er ist’s!« sagte der Kapitän. »Ja, er ist’s,« stimmte der Steuermann bei. »Und wißt Ihr, wer hier wohnt?« »Wer? »Jener Sternau, der uns an der Küste von Jamaika mit seiner verdammten Yacht angriff und dann alle meine Offiziere niederschoß, mich aber nur verwundete. Ihr rettetet Euch damals, und darum seid Ihr mein Steuermann geworden.« »Donnerwetter, könnten wir denn da nicht ein Wenig das Chor der Rache spielen? Ich hätte große Lust dazu!« »Ich habe nicht nur Lust, sondern für mich ist’s sogar eine Lebensfrage, ob ich diese beiden Hallunken wieder in meine Hand krieche oder nicht. Horch, sie kommen auf die Gartenveranda! Da können wir lauschen. Schnell, über den Zaun!« Sie schwangen sich über den Zaun hinüber und versteckten sich hinter einigen üppig wuchernden Zierbüschen. Die Bewohner des Hauses kamen allerdings auf die Veranda. Es wurden zwei Tische zusammengeschoben und mit einem weißen Tuche bedeckt. Man stellte die Lampe darauf, präsentirte einige Früchte und begann eine lebhafte Unterhaltung. Um die Tische saßen Sternau, Büffelstirn, Bärenherz, Donnerpfeil, der Steuermann Helmers, Emma und Karja. Sie waren erst gestern hier in dem Orte angekommen, und da es nicht sogleich ein Schiff gab, welches sie benutzen konnten, so hatten sie sich in verschiedene Privatwohnungen eingemiethet und hielten hier bei Sternau ihre Zusammenkunft.
Das Gespräch erstreckte sich auf verschiedene Privatsachen, welche die Lauscher nicht interessirten; endlich aber bekam es doch eine höchst spannende Wendung, denn Emma fragte: »Und wenn Sie Mexiko erreicht haben, Sennor Sternau, was werden Sie dann thun?« »Ich werde ein wenig nach Afrika fahren,« antwortete er. »Ah, Sie kühner Mann! Was wollen Sie denn dort?« »Ich will den alten Grafen Ferdinando de Rodriganda suchen.« »So glauben Sie also wirklich, daß er noch lebt?« »Ich glaube, daß er in Mexiko nicht gestorben ist. Sie haben doch von jenem schuftigen Henrico Landola gehört?« »Dem Seeräuber, den Sie bei Jamaika mit in den Grund schossen?« »Ja. Dieser hat den alten Grafen nach Afrika geschafft, an die Ostküste dieses Erdtheiles. Ich weiß ganz genau, wo ich ihn zu suchen habe. Wenn er nicht gestorben und verdorben ist, werde ich ihn in Harrar finden.« »Und dann, meinen Sie, ist die Schlinge gegen diese Cortejo’s zum Zusammenziehen fertig?« »Nein. Erst muß der alte Graf Emanuel de Rodriganda, mein Schwiegervater, aufgefunden werden. Ich bin überzeugt, daß er noch lebt. Aber, weg mit diesen Traurigkeiten! Heute habe ich an meine Frau geschrieben und ich will mir ihr liebes Bild nicht durch solche Schatten schwärzen lassen.« Von jetzt an nahm die Unterhaltung einen so einfachen Verlauf, daß die Lauscher gar nicht mehr auf sie hörten. »Dieser Schuft, dieser Sternau!« knirschte der Kapitän, in dem wir ja schon längst Landola wieder erkannt haben. »Nehmen wir ihn fest, Kapitän!« meinte der Steuermann. »Das thue ich, und soll es mir den Hals kosten. Aber wie es anfangen!«
»Das findet sich. Es gilt zunächst, die jetzigen Verhältnisse und Absichten der ganzen Sippe kennen zu lernen. Ihr dürft Euch nicht sehen lassen.« »Pah, ich habe meine falschen Bärte!« »Auf die kann man sich solchen Leuten gegenüber nicht verlassen. Ich werde für Euch handeln. Ich werde bereits morgen zu spioniren beginnen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sich nicht eine Durchfahrt finden ließe!« »Ich hoffe es. Aber hört, sie brechen auf. Wir müssen diesem Mariano nachgehen; ich muß unbedingt wissen, wo er wohnt. Schnell wieder über den Zaun, und dann stecken wir uns da drüben in den Winkel. Es ist am besten, wir bleiben nicht zusammen, folgen ihm aber Beide. Sollte ihn der Eine ja verlieren, so wird ihn der Andere desto sicherer halten.« Sie warteten, bis Mariano vorüber war, und folgten ihm dann nach, getrennt von einander und sich den Anschein von unbefangenen Spaziergängern gebend. Er schritt nach dem Strande zu und trat da in das Haus, in welchem er sich eingemiethet hatte. Sie beobachteten ihn, bis er verschwunden war, dann trat der Kapitän zu dem Steuermanne und sagte: »Jetzt wissen wir, wo er wohnt, und die Logis der Anderen kennen wir auch. Es handelt sich also nun darum, zu erfahren, was sie beabsichtigen.« »Ich werde mich erkundigen,« meinte der Steuermann. »Mich kennt weder Sternau noch ein Anderer dieser Leute.« »Das muß aber bald geschehen, möglichst morgen früh bereits.« Sie begaben sich nach Hause, und am anderen Morgen beabsichtigte der Steuermann, seine Nachforschungen anzustellen, begab sich aber vorher nach dem Hafen, um zu sehen, ob an Bord Alles in Ordnung sei. Das Glück lächelte ihm, denn am Ufer stand Sternau mit Mariano. Beide betrachteten das Schiff, und als sie bemerkten,
daß der Steuermann die Absicht habe, an Bord zu gehen und also wohl zu der Bemannung des Fahrzeuges gehöre, fragte Sternau: »Kennen Sie vielleicht die Bestimmung dieses Schiffes, Sennor?« Den Steuermann durchzuckte ein Gedanke, welcher für die Absichten seines Kapitäns außerordentlich vortheilhaft war; er beschloß, denselben auszuführen, sich aber vorher über die Intentionen Sternau’s zu informiren. Darum antwortete er: »Warum fragen Sie, Sennor? Wollen Sie vielleicht als Passagier an Bord gehen, oder können Sie uns eine Ladung überweisen?« »Das Erstere ist der Fall,« antwortete Sternau. »Ich beabsichtige, mit einigen Gefährten nach Acapulco oder einem anderen südlichen Hafen zu gehen.« »Hm!« nickte der Steuermann, »das dürfte passen, denn ich habe allerdings die Absicht, auf meiner Fahrt den Hafen von Acapulco anzulaufen.« »Ah, Sie sind der Kapitän?« »Allerdings.« »Wann lichten Sie die Anker?« »Morgen mit dem Frühesten. Die Passagiere müßten noch heute gegen den Abend an Bord kommen. Wollen Sie sich das Schiff ansehen?« »Ich werde dies in vielleicht einer Stunde thun; dann können wir ja uns über Ihre Bedingungen einigen.« Er wollte sich das Schiff nur in Gegenwart seines Steuermannes Helmers betrachten, da dieser ja in solchen Angelegenheiten der Erfahrenste war. Während er jetzt mit Mariano zur Stadt ging, um Helmers zu holen, ruderte der Steuermann nach dem Schiffe. Es war ihm außerordentlich lieb, daß Sternau erst später kommen wollte, denn auf diese Weise bot sich die nöthige Zeit, alles Verdächtige zu entfernen und das Innere des Schiffes so einzurichten, daß die Passagiere nicht abgeschreckt wurden. Das Personal erhielt die nothwendigen Instructionen, und als Sternau mit Helmers
kam, wurden Beide in der entgegenkommendsten Weise empfangen und die Besichtigung fiel so günstig aus, daß Sternau sogleich den Handel abschloß und auch das Passagegeld bezahlte. Um nach der Hazienda del Erina zurückzukehren, hätten die beiden Damen unter der Begleitung Donnerpfeil’s und der beiden Häuptlinge den Landweg einschlagen können, aber dieser war zu gefährlich und anstrengend, darum entschlossen sie sich, mit nach Acapulco zu fahren und von da aus nach Mexiko zu gehen, wo es dann leichter war, die Hazienda zu erreichen. Büffelstirn und Bärenherz jedoch schlossen sich nicht mit an. Sie wollten den directen Landweg wählen, um auf demselben eher nach del Erina zu gelangen und dem Besitzer die gewiß heiß ersehnte Nachricht zu bringen, daß seine Tochter gerettet sei und über die Hauptstadt Mexico wohlbehalten zurückkehren werde. Beide jedoch wollten vor ihrer Abreise mit an Bord gehen, um den Abend noch mit den Freunden vereinigt sein zu können. Als Kapitän Landola hörte, wie glücklich sein Steuermann gewesen sei, konnte er seine Freude kaum beherrschen. »Das fügt sich ja günstiger, als man erwarten konnte,« sagte er zu ihm. »Auf diese Weise habe ich weder einen falschen Bart noch irgend eine Verkleidung nöthig. Ich komme an Bord, wenn es ganz dunkel ist. Dann nehmen wir sie gefangen.« »Sollen sie leben bleiben?« »Ja. Es ist vortheilhafter für mich.« »Aber das wird einen fürchterlichen Kampf geben! Ein jeder dieser Kerls nimmt es mit einigen von uns auf.« »Pah, wir überrumpeln sie einzeln. Man wird das nicht schwer zu bewerkstelligen wissen. Sternau ist der Gefährlichste; er muß zunächst unschädlich gemacht werden.« »Aber doch erst dann, wenn die beiden Indianer das Schiff verlassen haben?«
»Sie werden es gar nicht verlassen, sondern auch mit gefangen werden. Ich bin dazu gezwungen, damit später kein Mensch weiß, auf welche Weise die Gesellschaft verschwunden ist. Haben wir uns ihrer bemächtigt, so segeln wir nach Westen. Ich kenne eine einzelne Insel, welche so ganz und gar verloren in der See liegt, daß kein Schiff in ihre Nähe kommt. Dort setzen wir sie aus. Sie können sich erhalten, denn es giebt Quellwasser und Früchte genug für sie. Es wird ein jeder Fluchtversuch vergebens sein, und so bleiben sie unsere Gefangenen entweder auf Lebenszeit oder bis ich vielleicht Gründe finde, ihrer zu bedürfen.« »Wo liegt die Insel?« »Sie liegt weit von jedem Schifffahrtskurse entfernt unter dem vierzigsten Grade südlicher Breite auf der Höhe der Osterinseln und ist ein sichereres Gefängniß, als eine von den stärksten Mauern umgebene Bastille. Sie hat noch keinen Namen und besteht aus Korallen. Die auf ihr vorhandenen Bäume sind nicht so groß, daß man ein Schiff bauen könnte, und selbst wenn dies den Gefangenen gelänge, so würden sie mit einem so unvollkommenen Fahrzeuge nicht durch die fürchterliche Brandung kommen, welche Tag und Nacht sich an den Korallenriffen bricht.« »Aber wir werden zu viele Zeugen haben. Ein jeder Einzelne von unseren Leuten kann später das Geheimniß ausplaudern.« Der Kapitän warf seinem Steuermanne einen mitleidigen Blick und sagte dann langsam und mit Nachdruck: »Wir werden keinen Zeugen haben, denn wir Beide werden die Einzigen sein, welche, von dieser Fahrt zurückgekehrt, lebendig das Schiff verlassen.« Das war sehr deutlich gesprochen. Dem Steuermanne schauderte. Wie nun, wenn der Kapitän gar keinen Zeugen haben wollte und in Folge dessen auch ihm das Leben nahm? Er beschloß, sehr vorsichtig zu sein.
Gegen Abend kamen die Passagiere an Bord und wurden mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen. Sie erhielten eine sehr reichliche Abendmahlzeit servirt, welche in der Kapitänskajüte eingenommen wurde. Während derselben stellte sich Landola ein, und sofort begann das Werk. Es war sehr finster und zugleich lag ein so dichter Nebel auf dem Wasser, daß man nicht drei Schritte weit zu sehen vermochte. Einige der stärksten Matrosen stellten sich am Gangspill auf und dann ging ein Anderer hinab zur Kajüte, wo er von dem angeblichen Kapitän, also dem Steuermanne, mit verstellter Barschheit angeredet wurde: »Was hast Du hier in der Kajüte zu suchen, he?« »Verzeihung, Sennor Kapitano,« entschuldigte sich der Mann. »Es kam jetzt in einem Boote ein Fremder, welcher mit Sennor Sternau sprechen will.« »Mit mir?« fragte Sternau. »Ja.« »Wer ist er?« »Er sagte, daß er der Wirth sei, bei dem Ihr gewohnt habt. Er hat Euch unter vier Augen eine nothwendige Mittheilung zu machen.« »Gut, ich komme!« Er erhob sich und folgte dem Matrosen, der ihn auf das Deck führte. Als sie an dem Gangspill vorüberkamen, fühlte er plötzlich zwei Fäuste an seiner Kehle und zu gleicher Zeit erhielt er mit einer Handspeiche einen solchen Hieb auf den Kopf, daß er besinnungslos zusammenbrach, ohne nur einen Laut ausgestoßen zu haben. »Der ist expedirt!« lachte Landola halblaut. »Bindet ihn und schafft ihn hinunter in den Raum. Dann holen wir zunächst den einen Indianer, der in Büffelleder gekleidet ist. Er scheint mir nach Sternau der Stärkere zu sein.«
Nach einiger Zeit erschien der Matrose wieder in der Kajüte und sagte Büffelstirn, daß er einmal hinauf zu Sennor Sternau kommen solle. Er folgte dem Führer nichts ahnend und wurde ebenso widerstandslos niedergemacht. Nach kaum zwei Minuten kam Bärenherz an die Reihe und erlitt das gleiche Schicksal. Da stand Mariano auf und sagte: »Das sieht ja ganz aus, wie eine sehr wichtige Neuigkeit, von welcher man nichts wissen soll. Ich werde mich einmal erkundigen.« Er stieg die Kajütentreppe empor. Die beiden Brüder Helmers, welche nun mit den zwei Damen und dem angeblichen Kapitän allein am Tische saßen, hörten seine sich entfernenden Schritte und warteten vergeblich auf seine Rückkehr. Da verließen auch sie die Tafel und versprachen Emma und Karja, ihnen Nachricht zu bringen, was es da oben für eine so wichtige Unterredung gebe. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich nahende Schritte hören ließen. Die üre wurde geöffnet und Landola trat ein. Die Damen sahen ihn mit ängstlichem Erstaunen an. Er machte ihnen eine sehr höfliche Verbeugung und meldete: »Sennoritas, haben Sie die Güte mir zu folgen. Die Herren wollen gern mit Ihnen sprechen!« Die beiden Mädchen kamen seiner Aufforderung ahnungslos nach. Er führte sie aus der Kajüte hinauf auf das finstere Verdeck, wo sofort zwei Männer zu ihnen traten und sie erfaßten. Als sie dabei einen Schrei des Schreckens ausstießen, gebot er ihnen Ruhe und sagte: »Schweigen Sie! Sie haben lautlos das anzuhören, was ich Ihnen jetzt sage! Sie und die Männer, welche bei Ihnen sind, haben sich so feindselig gegen mich und meine Freunde benommen, daß ich mich Ihrer Personen versichern muß. Die Herren befinden sich bereits in meinem Gewahrsam und auch Sie sind meine Gefangenen!«
»Mit welchem Rechte?« fragte Karja, die sich als geistesgegenwärtige Indianerin schnell faßte. »Mit dem Rechte des Stärkeren,« lachte er. »Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen. Mein Name ist Landola.« »Landola, der Seeräuber!« hauchte Emma erschrocken. »Ja, der Seeräuber,« antwortete er in rohem Stolze. »Es ist ein jeder Widerstand unnütz. Es soll den Damen nichts geschehen; ja, sie sollen sogar unter Aufsicht auf dem freien Verdecke promeniren dürfen, aber sobald Sie die geringste Miene machen, gegen meine Befehle zu handeln, tödte ich die Sennores. Sie werden diese während unserer Fahrt nicht zu sehen bekommen; sie liegen gefesselt unten im Räume und ich werde ihnen sagen, daß sie sich allen Widerstandes zu enthalten haben, weil sonst die Sennoritas getödtet werden.« »Und was soll unser Schicksal sein?« fragte Karja sehr gefaßt. »Ich werde Sie mit den Herren auf einer unbewohnten Insel aussetzen, damit mir Niemand keinen Schaden mehr machen kann. Es wird Ihnen unterwegs nicht das Mindeste geschehen, keiner meiner Leute wird Sie anrühren; aber ich verlange dafür einen unbedingten Gehorsam und alles Aufgeben eines Versuches der Flucht oder der Meuterei, die Sie nur unglücklich machen würde. Jetzt kommen Sie; ich werde Ihnen den Raum anweisen, welcher Ihnen als Aufenthaltsort dienen wird.« Er führte sie durch die Fockmarsluke hinab in einen engen, festen Verschlag, in welchem er sie einschloß. Sie fielen einander dort im Finsteren in die Arme. Ein einziger Augenblick hatte sie vom Gipfel des Glückes wieder in eine grauenvolle Tiefe hinabgeworfen. Jetzt nun begab sich der Pirat nach dem Raume zu seinen männlichen Gefangenen. Sie befanden sich nicht etwa in dem Güterraume, in welchem die Fracht aufgestapelt zu werden pflegt,
sondern ganz unten auf dem unter dem Wasser liegenden Boden des Schiffes. Es muß nämlich erwähnt werden, daß ein Schiff, selbst wenn es schwer beladen ist, Ballast mit sich führen muß. Dieser Ballast besteht in Steinen, Sand oder anderen schwer wiegenden Materialien, welche in dem tiefsten Raume aufgehäuft werden, damit das Schiff tief in das Wasser sinkt. Hat es keinen Ballast, so schwimmt es zu seicht, wankt herüber und hinüber, verliert den Halt und kann sehr leicht von Wind und Wogen umgeworfen werden. Vieles, wenn nicht gar das meiste Unglück zur See kommt davon her, daß man zu wenig Ballast eingenommen hat; das Fahrzeug folgt dann dem Steuer nicht exact, wird durch den Druck der Segel hinten emporgehoben, bekommt einen wankenden Gang, gerade wie ein Betrunkener, dessen Schwerpunkt ja auch im Kopfe liegt, und kann mit Mann und Maus an einem Augenblicke untergehen, an welchem ein gut beballastetes Schiff gerade die beste Fahrt machen würde. So verschwinden Fahrzeuge, von denen man nicht weiß, wohin sie gekommen sind, obgleich es keine Spur von einem gefährlichen Sturm oder gar Orkan gegeben hat. Der betreffende Raum des gegenwärtigen Schiffes nun war bis zur Höhe von drei Ellen mit Sand gefüllt. Ein jedes, selbst das best gebaute Holzschiff leckt, das heißt, es dringt ein gewisser, immer aber ungefährlicher eil Seewassers durch die Planken hindurch, und so kam es, daß dieser Sand eine nicht unbedeutende Menge Feuchtigkeit enthielt. In diesem nassen Sande lagen die Gefangenen. Es waren an die Rippen des Schiffes, an welchen die Planken befestigt sind, schwere Ketten eingeschraubt, an welche man die Männer befestigt hatte, und zwar in solcher Entfernung, daß sie einander zwar hören aber nicht erreichen konnten. Außerdem waren ihnen die Hände und Füße so mit festen Tauen zusammengebunden, daß sie den Gebrauch dieser Glieder vollständig verloren hatten.
Landola kam mit einer Laterne zu ihnen in den selbst am hellen Tage vollständig dunklen Raum und er fand da, daß sie Alle sich von der Besinnungslosigkeit bereits wieder erholt hatten. Er untersuchte jeden Einzelnen und setzte sich dann Sternau gegenüber, der ihn auf den ersten Blick erkannt hatte und nun wußte, daß von diesem Menschen nichts Gutes zu erwarten sei. »Sennor Sternau, erkennen Sie mich?« fragte er höhnisch. Der Gefragte antwortete nicht. Er that, als ob er seine Gegenwart ganz und gar nicht bemerkt habe. »Ah, Sie spielen den Stolzen?« lachte Landola. »Nun, das muß ich mir gefallen lassen. Da mich aber die anderen Sennores wohl noch nicht gesehen haben, so will ich ihnen sagen, daß ich Henrico Landola bin, der Kapitän der berühmten ›Pendola‹. Man nennt mich auch zuweilen Kapitän Grandeprise vom Piratenschiff ›Lion‹. Nun habe ich mich Ihnen vorgestellt und hoffe, Ihnen bekannt zu sein. Antworten Sie!« Aber keiner von Allen sprach ein Wort. »Gut!« meinte der Seeräuber. »Ich bin überzeugt, daß ihnen nur die Angst die Sprache geraubt hat; darum will ich nachsichtig sein. Doch nehme ich an, daß Ihnen wenigstens das Gehör geblieben ist, und so will ich Ihnen mittheilen, was ich für Absichten mit Ihnen verfolge.« Er ließ den Blick von Einem zum Anderen schweifen und bemerkte, daß ihn auch jetzt noch Keiner anblickte. Er nickte mit einem boshaften Lächeln und fuhr fort: »Ich habe den Auftrag erhalten, Sie Alle unschädlich zu machen, indem ich Sie tödte; Sie sind endlich in meine Hand gegeben und ich könnte Sie mit leichter Mühe tödten. Ich habe jedoch beschlossen, dies nicht zu thun, nicht etwa aus Mitleid, denn dies wäre eine Schwäche, welche Henrico Landola nicht kennt, sondern aus einer einfachen Berechnung, welche sich ganz von selbst ergiebt.«
Er warf abermals einen forschenden Blick auf sie, aber er bemerkte nicht die mindeste Miene, daß Einer auf seine Mittheilung gespannt oder neugierig sei. Er setzte also seine Mittheilung nach einer kurzen Pause fort: »Ich habe nämlich, wenn ich Sie unschädlich mache, auf einen großen Lohn zu hoffen. Es ist aber sehr leicht möglich, daß man mir diesen Lohn verweigert, sobald man bemerkt, daß ich meinen Auftrag wirklich ausgeführt habe. In diesem Falle hätte ich keine Zeugen. Lasse ich Sie aber leben, obgleich ich Sie verschwinden lasse, so steht es mir später zu jeder Stunde frei, Sie wieder erscheinen zu lassen. Dadurch wird mein Auftraggeber gezwungen, mir meinen Lohn auszuzahlen. Erhalte ich ihn, so bleiben Sie verschollen für alle Ewigkeit, verweigert man ihn mir aber, so hole ich Sie ab und gebe Sie unter der Bedingung frei, daß ich meine Bezahlung dann von Ihnen erhalte und natürlich meine Begnadigung dazu.« Er sprach in einem so geschäftsmäßigen Tone, als ob es sich um einen ganz geringfügigen Handel und nicht um das ganze Lebensglück so vieler Menschen handele. Er fuhr fort: »Sie sehen, daß ich Ihnen ganz und gar nicht gefährlich werden will, ja daß Sie unter Umständen sogar später auf Ihre Befreiung rechnen können. Darum denke ich aber auch, daß Sie vernünftig und dankbar sein werden. Unter dieser Dankbarkeit verstehe ich besonders ein Verzichten auf jeden Versuch, sich zu befreien. Er würde nur zu Ihrem eigenen Schaden ausfallen. Auch die beiden Sennoritas sind gefangen. Man wird sie anständig behandeln, ebenso, wie man Sie nicht unnöthiger Weise quälen wird; aber ein jeder Rettungsversuch der Parteien, ich gebe Ihnen mein heiliges Wort, kostet der anderen das Leben. Droht mir von Ihnen Beschwerde oder gar Gefahr, so tödte ich die Damen, sind mir aber diese ungehorsam, so lasse ich Sie umbringen. Merken Sie sich das!« Er hielt inne, um den Eindruck zu beobachten, welchen seine Worte auf sie gemacht hatten; aber sie lagen noch immer so re-
gungslos wie vorher und gaben keinen Laut von sich, der ihn hätte vernehmen lassen, welchen Erfolg er erreicht hatte. Darum sagte er zum Beschlusse: »Ich theile Ihnen endlich noch mit, daß Sie so liegen bleiben werden wie jetzt und daß täglich unter meiner Aufsicht jemand kommen wird, um für einen Augenblick Ihre Hände zu befreien, damit Sie essen und trinken können, sowie auch das Uebrige, was unumgänglich nöthig ist. Jetzt wissen Sie genug. Vergessen Sie nicht, daß Sie es mit einem Manne zu thun haben, der den kleinsten Ungehorsam mit dem Tode bestrafen wird. Gute Nacht!« Er nahm seine Laterne auf, ging und verschloß die Lucke, deren schwere eiserne Riegel sie rasseln und klirren hörten. Einige Minuten lang blieb in dem engen, dumpfen, feuchten Raume Alles ruhig. Man hörte nur die Ratten, welche auf jedem dieser Art Schiffe besonders im Ballastraume zahlreich zu finden sind, hin und her springen. Dann vernahm man die Stimme des Apachen, welcher nur das eine Wort ausstieß: »Uff!« »Uff!« antwortete nach einer Weile Büffelstirn, der Häuptling der Miztekas. Wieder trat eine Stille von der Länge von vielleicht fünf Minuten ein, dann fragte Mariano Sternau, welcher sein Nachbar war: »Was sagst Du dazu, Karlos?« »Nichts!« lautete die ernste Antwort. »Oder könnte es Dir vielleicht noch während der Nacht gelingen, Dich von der Kette frei zu machen?« »Unmöglich! Sie ist zu fest. Ueberdies sind wir ja auch an Händen und Füßen zugleich gefesselt!« »Nun, so müssen wir uns fügen! « Er sagte diese Worte mit ruhiger Stimme, aber das laute Knirschen seiner Zähne verrieth, was in ihm vorging. Sie alle waren Männer, welche dem Tod und allen Gefahren kühn in das Ange-
sicht geschaut hatten; sie waren nicht gewohnt, zu heulen und zu lamentiren, denn sie wußten, daß es nur bei klarem Geiste und ruhiger Sammlung möglich sei, sich aus Fährlichkeiten zu retten. Dennoch aber kochte es wohl in einem Jeden von ihnen, obgleich sie zu stolz waren, dies äußerlich bemerken zu lassen. Erst nach einer längeren Weile sagte Büffelstirn: »Dieser Räuber ist verloren, wenn er Karja, der Schwester des Häuptlings der Miztekas, nur ein Haar ihres Hauptes krümmt!« Der berühmte Jäger dachte nicht an sich, sondern nur an seine Schwester. »Er würde die größten Martern erleiden,« stimmte der Apache bei, der auch nicht an sich dachte, sondern an das Mädchen, welches er liebte, trotzdem ihr Herz auf eine kurze Zeit für den falschen Rodriganda geschlagen hatte. Es war das von den Beiden so stolz und selbstbewußt gesprochen, wie es sich für Indianerhäuptlinge geziemt. Sie waren gefangen, sie konnten sich kaum bewegen, sie hatten nicht die kleinste Hoffnung, sich von ihren Fesseln befreien zu können, und dennoch drohten sie dem Feinde und sprachen davon, daß sie ihn bestrafen würden. Helmers, der berühmte »Donnerpfeil«, that ganz so wie sie. »Der Teufel soll sie holen, wenn sie nur die kleinste Unhöflichkeit gegen Emma begehen!« sagte er. »Wir werden in diesem verdammten Schiffe nicht umkommen und dann werden wir ja sehen, was zu thun ist.« Sternau, welcher immer an das zunächst Wichtige dachte, fragte ihn: »Wie sind Sie überwältigt worden? Durch einen Griff um die Gurgel oder durch einen Hieb?« »Man drosselte mich,« antwortete der Gefragte. »So können Sie von Glück reden. Ein Hieb auf Ihre Kopfwunde hätte Sie unbedingt getödtet. Uebrigens wollen wir jetzt nicht kla-
gen und drohen, sondern einmal allen Ernstes versuchen, ob denn wirklich Keiner seinen Ketten gewachsen ist. Mich hat man ganz besonders bedacht; ich bin doppelt so stark gefesselt als Ihr. Sonst würde es mir wohl gelingen, das bischen Eisen abzudrehen.« Sie folgten seinem Vorschlage. Durch das Dunkel des Raumes hörte man jetzt nichts, als ein angestrengtes Klirren, Zerren, Drehen und Schrauben der Ketten, aber sie Alle mußten den Versuch als nutzlos aufgeben. »Es ist nichts!« sagte Mariano. »Wir müssen auf einen glücklichen Zufall rechnen.« »Das werden wir kaum dürfen. Dieser Mensch wird noch während der Nacht mit uns in See gehen,« antwortete Sternau. »Sind wir bis dahin noch nicht frei, so bleiben wir seine Gefangenen, bis es ihm beliebt, uns zu ermorden oder an einer wüsten, unbewohnten Insel auszusetzen, wie aus seinen Worten ja deutlich hervorgeht. Unterwegs hätten wir nicht nur mit ihm und seinen Leuten, sondern auch mit den Elementen zu kämpfen. Die Fesseln sprengen wir nicht. Es gäbe höchstens die eine Möglichkeit, daß es den Damen gelänge, uns auf irgend eine Weise ein Werkzeug zuzustellen, mit welchem wir die Ketten lösen könnten. Das aber ist wohl unmöglich. Und wäre es möglich, so werden sie es doch nicht wagen, da ja ein solcher Versuch geradezu mit unserem Tode bedroht worden ist. Berücksichtigen wir zunächst, daß wir nicht getödtet werden sollen. Auch ich denke an mein Weib, an alle meine Lieben, aber ich halte es für das Beste und unser Würdigstes, diese neue Prüfung mit Festigkeit zu tragen. Halten wir den Muth und die Hoffnung fest, ermuntern wir uns, damit unsere Gesundheit nicht zu sehr leide, so wird uns ganz sicher eine Stunde der Freiheit und der Vergeltung schlagen. Das hoffe ich zu Gott!« Diese festen Worte richteten die Anderen auf. Es entstand eine lautlose Stille. Man hörte nur zuweilen das Rascheln einer Kette im Sande, und wahrhaftig – bald bewiesen die geregelten Athemzüge,
daß diese Männer schliefen, trotzdem sie heute eine der größten Täuschungen ihres Lebens erfahren hatten und sich in einer Lage befanden, in der ein Anderer verzweifelt wäre. Sie erwachten erst, als die Wasser des Meeres an die Planken rauschten, zum Beweise dafür, daß das Schiff unter Segel gegangen sei. Wohin, davon hatten sie keine Ahnung. Warum die Stunden, die Tage und Wochen beschreiben, welche da unten im dunklen Raume vergingen? Warum die Gefühle schildern, welche während fast dreier Monate die Herzen der Gefangenen bewegten? Obgleich die beiden Damen Luft und Licht genießen durften, litten sie doch am Meisten. Es entging ihnen jenes zähe Selbstbewußtsein, welches die Männer besaßen, welche selbst in Ketten sich ihres Werthes vollständig bewußt waren und keinen einzigen Augenblick die Ueberzeugung verloren, daß der Tag der Rache einst ganz sicher kommen werde. Man hatte längeres ruhiges Wetter gehabt, man hatte einige Stürme erlebt, doch nie war das Schiff angehalten worden. Da endlich, endlich schlugen die Wogen leiser und langsamer gegen die Planken, man hörte den Anker rasseln – eine tiefe Stille trat ein, und dann hörte man den Schritt mehrerer Männer zur Lukentreppe herabkommen. »Jetzt naht die Entscheidung,« sagte Sternau. »Selbst das schlimmste Loos wird besser sein, als diese tödtliche Ungewißheit!« Die Luke wurde entriegelt und geöffnet. Landola trat herunter mit mehreren von seinen Leuten. »Macht ihnen die Ketten los!« gebot er. »Aber bindet sie vorher so, daß sie nicht stehen oder die Arme bewegen können.« Dies geschah. Und nun wurden die Gefangenen auf das Deck geschafft, wo man sie wie Holzklötze niederlegte. Jetzt sahen sie nach so langer Zeit zum ersten Male wieder die Sonne und den Himmel; jetzt athmeten sie zum ersten Male wieder freie, reine Luft. Wie aber sahen diese Männer aus! Gehungert
und gedürstet hatten sie nicht, aber seit Monaten nicht gepflegt, gewaschen, gekämmt, lagen sie da mit halb verfaulten Kleidern, welche von den Ratten zerfetzt worden waren. In der Nähe standen die beiden Mädchen. Sie waren heute auch gefesselt, sonst hätten sie sich sicher vor Schmerz auf die Geliebten geworfen. Zur Rechten lag die weite See, zur Linken erblickten sie eine Insel, welche von einem weiten Korallenkreise umgeben war, an welchem die Brandung haushoch emporschäumte. In diesem Brandungsringe gab es nur eine einzige Oeffnung, aber auch diese war jedenfalls nur von einem sehr stark gebauten Boote zu passiren. Die Gefangenen hatten zunächst nur einen kurzen Blick für die Insel. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt der Bemannung des Schiffes, welche sich, den Kapitän an der Spitze, um sie geschaart hatte. Dieser sagte zu den Gefesselten: »Sennores, wir sind am Ziele, denn diese Insel soll Ihre Wohnung sein. Sie werden nie erfahren, wie sie heißt und wo sie liegt, denn es kann Ihnen kein Mensch Auskunft geben, da das Eiland ganz außerhalb jeden Kurses liegt und niemals besucht wird. Sie werden nicht verhungern und verdursten, denn es giebt hier zwei frische Quellen und Früchte, Fische, Vögel und anderes Wild genug. Die Waffen, welche ich Ihnen abgenommen habe, erhalten Sie nicht wieder, doch können Sie ja Schlingen legen oder Bogen und Pfeile fertigen, um sich Nahrung und Häute zu Ihren Kleidern zu verschaffen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß wir uns unter Umständen wiedersehen werden. Wenn sich Ihnen jemals ein Schiff naht, so ist ganz sicher das meinige, glauben Sie nicht, daß es ein anderes sein werde. Ich lasse Sie jetzt durch die Brandung an das Land fahren. Wenn sich meine Leute dann entfernt haben, können Sie sich mit Hilfe spitziger und scharfer Steine sehr leicht von ihren Fesseln befreien. Adieu, Sennores! Adieu, Sennoritas!«
Die Matrosen griffen zu und legten die Gefangenen in die beiden Boote, welche dann vom Schiffe abstießen. Es gelang ihnen, durch die Brandung zu kommen. Am stilleren Ufer wurden die Gefesselten ausgeladen und hingelegt, dann kehrten die Matrosen zurück. Sternau wälzte sich an eine scharfe Kante des Korallenufers und rieb den Strick, welcher seine Hände verband, so lange gegen dieselbe, bis er zerriß. Nun schlug er ein Stück dieser Kante ab. Er gebrauchte sie als Messer, befreite mit demselben auch seine Füße und war nun frei. Nach noch nicht zehn Minuten standen Alle aufrecht da, im vollständigen Besitze des Gebrauches ihrer Glieder. Da erhob Büffelstirn die Hand, deutete auf das Schiff und fragte: »Wünschen meine Brüder, daß wir das große Kanoue unserer Feinde erobern?« Sternau mußte trotz des Ernstes ihrer Lage doch beinahe lächeln, als er antwortete: »Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!« Da deutete Büffelstirn auf die Brandung. »Fürchten sich meine Brüder vor diesem Wasser?« fragte er. »Der Häuptling der Miztekas schwimmt durch jedes Wasser!« »Aber ehe er hinauskommt, ist das Schiff bereits fort. Da zieht es schon die Segel wieder in den Wind. Es geht weiter. Welcher Schwimmer kann es erreichen!« Es war so, wie er sagte. Das Schiff hatte seinen Lauf wieder aufgenommen. Es war ein guter Segler und machte eine so schnelle Fahrt, daß die Insel, besonders da sie nicht sehr groß war, bald aus den Augen der Bemannung verschwand. Der Kapitän stand oben auf dem Quarterdeck und blickte noch mit dem Fernrohre nach ihr zurück. Als er sie nicht mehr erkennen konnte, schob er das Rohr zusammen und drehte sich zu dem Steuermanne.
»Fertig!« sagte er. »Diese Herrschaften sind sicher aufgehoben.« »Sicher?« fragte der Mate. »Wie nun, wenn es ihnen doch gelingen sollte, sich zu befreien?« »Das gelingt ihnen nie. Sie machen mir keine Sorge, wohl aber diese hier.« Er deutete bei diesen Worten auf seine Matrosen. »Man wird Maßregeln treffen müssen,« meinte der Steuermann mit verschlagenem Lächeln. »Das werden wir,« nickte der Kapitän. »Halten wir unseren Kurs nach Westnordwest. Ich will die Insel Pitcairn anlaufen.« »Hm!« brummte der Mate, indem er langsam mit dem Kopfe nickte. Er hatte seinen Gebieter vollständig verstanden. Die Fahrt blieb auch jetzt eine gute. Pitcairn wurde glücklich erreicht und der Kapitän ging mit seiner Gig ganz allein an das Land. »Das hat etwas zu bedeuten!« dachte der Steuermann. »Ich aber will mich in Acht nehmen.« Als Landola zurückkehrte, machte er eine sehr ärgerliche Miene. »Es war nichts!« sagte er. »Ich wollte unsere Kerls gegen neue Mannschaften umtauschen und mich gar nicht aufhalten. Aber das geht sehr langsam hier. Wir werden einige Tage warten müssen.« »Soll ich es nicht lieber einmal versuchen, Kapitän?« fragte der Mate. Es war ihm jetzt nicht so recht geheuer auf dem Schiffe. Landola wollte die Zeugen seiner at unschädlich machen, und er selbst, der Steuermann, befand sich ja in derselben Gefahr, da er auch ein solcher Zeuge war. Landola machte ein freundliches Gesicht, als sei er einer großen Sorge überhoben, und antwortete: »Das wäre mir das Liebste. Es können noch Einige mitgehen, und wenn Ihr bis morgen Abend bleibt, so könnt Ihr genug Leute finden. Vier Mann im Boote werden genug sein.«
»Völlig. So werde ich mich sogleich fertig machen.« »Aber die Waffen nicht vergessen, denn mit diesen Eingeborenen ist nicht zu scherzen.« Der Steuermann ging. Als er sich entfernt hatte, lachte der Kapitän höhnisch und brummte leise vor sich hin: »Dieser Kerl durchschaut mich. Er soll der Erste sein, der dran muß. Wie gut, daß ich gleich die Mannschaft des gescheiderten Wallfischfängers fand, welche froh ist, aufgenommen zu werden. So kann ich kurzen Prozeß machen.« Er stieg dem Steuermanne nach. Dieser stand im Begriffe, seine gute, mit blanken Ankerknöpfen besetzte Jacke anzuziehen. Auf dem kleinen, angeschraubten Tischchen lag ein Doppelterzerol. Der Mate hatte es bereits geladen, um eine Waffe gegen etwaige Ueberfälle der Eingeborenen zu haben. »Bereits scharf geladen?« fragte der Kapitän, indem er die Waffe ergriff, wie um sie zu besehen. Der mißtrauische Steuermann ahnte etwas. Er griff schnell zu und sagte: »Halt, Vorsicht, Kapitän! Mit dem Dinge ist nicht zu spaßen!« »Das will ich auch nicht!« Mit diesen Worten riß der Kapitän seine Hand, welche das Pistol fest gefaßt hatte, los und drückte ab. Die Kugel fuhr dem Steuermanne durch das Auge in das Gehirn. Er stürzte sofort todt zusammen. Nun sprang der Kapitän rasch an Deck und rief die Leute zu Hilfe. »Der Mate hat sich verwundet!« rief er. »Er ist mit seinem Gewehre unvorsichtig umgegangen.« Alles eilte hinab. Man fand, daß von einer bloßen Verwundung keine Rede war; er war vollständig todt. Die gefühllosen Kerls machten sich nicht viel daraus, denn nun avancirten sie ja um einen Grad empor. Die Leiche wurde in einen Sack gesteckt und
ohne Ceremonie in das Wasser geworfen. Der Hauptzeuge war unschädlich gemacht. Nun blieben die Anderen übrig. Er rief sie zusammen und theilte ihnen mit, daß nun das eigentliche Geschäft erst beginnen solle, und aus diesem Grunde habe er sich die hier befindliche Bemannung eines verunglückten Wallfischfahrers engagirt. »Sie halten uns für friedliche Kauffahrer und müssen erst nach und nach eingeweiht werden. Darum müßt Ihr zunächst verschwiegen und vorsichtig gegen sie sein. Sie dürfen jetzt meinen Namen noch gar nicht ahnen.« Sie versprachen ihm, schlau zu sein, Als dann die Wallfischfahrer an Bord kamen, wurden sie von der Bemannung des Schiffes freundlich empfangen. Der Kapitän nahm den Steuermann zu sich in die Kajüte und sagte: »Ich habe Euch bereits gesagt, daß meine Leute revoltirt haben. Sie tödteten mich nur deshalb nicht, weil ich der Einzige bin, der die Seerechnung versteht. Wollt Ihr mir behilflich sein, so seid Ihr morgen Steuermann. Der meinige hat sich vorhin unvorsichtiger Weise erschossen.« »Ich bin bereit,« lautete die Antwort. »Gut. Ich gebe Euch als Willkommen einen tüchtigen Trunk. Ihr macht sie total betrunken, fallt dann mit Euren Leuten über sie her und wir fesseln sie im Kielraume fest. Dann übergeben wir sie dem nächsten Kriegsschiffe oder Konsulate zur Verurtheilung.« Von diesem Vorschlage wurde die erste Hälfte ausgeführt. Die Piraten wurden in der Betrunkenheit überwältigt, aber Einer nach dem Anderen erhielt von Landola Gift, so daß in acht Tagen Keiner mehr lebte. Der Kapitän hatte alle Zeugen bei Seite geschafft. Er galt bei seiner neuen Bemannung für einen ehrlichen Mann und ließ sich auch nicht merken, daß er das gerade Gegentheil sei. Er fuhr nach dem Mendana-Archipel. Dort gelang es ihm, zu veräußern, was er bei sich hatte, und eine gute Ladung einzuneh-
men, mit welcher er nach Valparaiso ging. Dort brachte er es durch seine Schlauheit fertig, sich als Eigenthümer des Schiffes zu legitimiren. Er verkaufte es mit sammt der Ladung und bestieg dann mit einer bedeutenden Summe einen Dampfer, über Rio de Janeiro nach Spanien in seine Heimath zu gehen, wo er auch glücklich anlangte.
SIEBENTES KAPITEL
Die Blume des Waldes »Um Tannen schlingt sich eng die Ranke, Sie trägt ein Röschen, zart und mild; Der Unschuld lieblichster Gedanke Verkörpert sich in ihrem Bild. Du fragst, was man der Helden, Lieben, Für einen Namen geben mag? Die Antwort ist sehr bald geschrieben: »Waldröschen« ist’s, im grünen Hag! Es wohnt im stillen Heiligthume Des Forsts ein zartes, frohes Kind. Wie eine süße Menschenblume, Um die des Märchens Zauber spinnt. Welch’ Name soll dies Duftbild preisen Dort in der Tannen dunklen Schlag? »Waldröschen«, ja, so soll es heißen, »Waldröschen« ist’s, im grünen Hag!« Während Henrico Landola mit seinen Gefangenen nach dem großen Oceane segelte, um die Unglücklichen zur tiefsten Einsamkeit und Verlassenheit zu verurtheilen, erwartete man in der Heimath vergebens ein Lebenszeichen von ihnen. Aber auch noch Andere warteten, und zwar ganz ebenso vergebens. Da waren zunächst Lindsay und Amy, welche sich nach einer Nachricht von Mariano und seinen Gefährten sehnten. Und da waren ferner Pablo Cortejo und seine ebenso häßliche Tochter Josefa, denen ganz außerordentlich daran lag, über das Schicksal dieser Männer etwas zu erfahren. Und dennoch vergingen Wochen und Monate, ohne daß eine Kunde kam. Das lag nun zwar daran, daß man sie hatte verschwin-
den lassen, aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, lagen die höchst verwickelten politischen Verhältnisse Mexiko’s so im Argen, daß die Sicherheit von Sendungen und Nachrichten eine höchst problematische war, denn das an und für sich so schöne Land war von Wirren heimgesucht, deren Lösung bisher noch keiner Hand gelungen war. Einen freilich gab es, welcher das Geschick dazu hatte; das war Benito Juarez, der Indianer aus dem Stamme der Zapoteken, dem wir im Verlaufe unserer Erzählung ja bereits begegnet sind. Viele kennen ihn nicht und beurtheilen ihn falsch. Darum ist es die Pflicht des unparteiischen Lesers, sein Bild der reinen Wahrheit nach zu zeichnen. Ein gerechter Beurtheiler vermag in Juarez freilich nicht einen außerordentlichen Träger jenes Genies erkennen, welches einer Periode, einem Volke das Gepräge seines Geistes und Willens aufdrückt, aber dieser nicht geniale Mann besaß einen gesunden Verstand, eine eiserne Willenskraft und neben seiner Rechtlichkeit, Entschlossenheit, Nüchternheit und Vaterlandsliebe eine Menge anderer Eigenschaften, welche ihn befähigten, seinem Volke größere Dienste zu leisten, als wenn er nichts als blos ein Genie gewesen wäre, welches wie eine Wetterfahne von den dortigen Verhältnissen herumgedreht und herumgerissen worden wäre. Er wurde in dem kleinen Orte San Petro in der Sierra de Oaxaca geboren und hat in seinen Jugendjahren gelernt, sich wacker mit den Hindernissen der Armuth, Zurücksetzung und nationalen Verachtung herumzuschlagen. Unter vielen, fast unüberwindlichen Beschwerden gelang es ihm, die Rechtswissenschaft zu studiren und dann am Collegium von Oaxaca Lehrer dieser Wissenschaft zu werden. Das war für einen Indianer, für eine verachtete Rothhaut, bereits sehr viel erreicht. Neben diesem Lehramte widmete er sich der Advocatur, und dieses sein Wirken brachte ihm weithin den Ruf eines streng ehrlichen
und tadellos redlichen Mannes. Daher kam es, daß er zum Gouverneur des Staates Oaxaca gewählt wurde, und selbst seine Feinde müssen zugeben, daß niemals dieses Amt so selbstlos und kraftvoll verwaltet wurde, als von ihm. Er erwarb sich eine so bedeutende Achtung, daß ihm die alte, berühmte Kreolenfamilie Mazo ihre Tochter Margarita zur Frau gab, während sonst die stolzen Kreolen jede Vermischung mit Indianern streng vermeiden. Er zeichnete sich als Gouverneur aus durch Besserung der Rechtspflege, Hebung der Finanzen, Abstellung von Mißbräuchen und Schlendrian des Beamtenthums, Förderung des Gewerbefleißes und Mehrung der Verkehrsmittel. Der Wohlstand und die Sicherheit der von ihm beherrschten Provinz erhob sich dadurch so schnell und hoch, daß er im ganzen Lande berühmt wurde, und so war es gar nicht zu verwundern, daß er bald zum Vorsitzenden des höchsten Nationalgerichtshofes erwählt wurde, und zwar in Folge einer unmittelbaren Volkswahl, was eine um so größere Ehre für ihn ist. Sodann wurde er gar Justizminister, als welcher er den bösen Praktiken des Präsidenten Commonfort entschieden entgegentrat und als strenger Rechtsmann, einsichtiger Patriot und edler, redlicher Staatsdiener seinen bereits erworbenen Ruf befestigte und behauptete. Nach dem Falle dieses Präsidenten wurde Juarez selbst Präsident. Hiermit erhielt der einst so verachtete Indianer nicht nur die höchste Würde des Staates, sondern er erbte mit derselben von seinen Vorgängern die ganze, unglückselige Corrumption der Verhältnisse, an welcher er weder eil noch Schuld hatte. Er erbte ebenso die fürchterliche Last des Krieges mit den Armeen und Flotten Frankreichs, die tiefen Zerwürfnisse mit Spanien und England, die schiefe Stellung mit den Vereinigten-Staaten, den hartnäckigen Widerstand seiner inneren Feinde und – den armen Maximilian
von Oesterreich, welcher von Napoleons des Dritten Gnaden zum Kaiser von Mexiko ausgerufen wurde. Diese Aufgabe war eine geradezu ungeheure. Hat er sie gelöst? Welche Frage! Konnte sie von einem Einzigen, konnte sie in einem Menschenalter, in der kurzen Zeit einer Präsidentschaft gelöst werden? Er erkannte, daß ein Kaiser von Napoleons Gnaden in Mexiko unmöglich sei. Er widmete dem guten Max seine persönliche Sympathie und eilnahme, aber er war ein echter Mann des Principes, ist auf seiner Ueberzeugung stehen geblieben und hat für sie gekämpft, ohne sich von dem Franzmanne blenden zu lassen, zäh, muthig und ausdauernd und doch in persönlichen Angelegenheiten immer eine ruhige, sichere Würde, ein feines Gefühl und eine gewinnende Sanftmuth und Milde zeigend. Einer unserer neueren bedeutendsten Geschichtsschreiber fällt das Urtheil über ihn: »Alles in Allem: Benno Juarez ist die bedeutendste geschichtliche Gestalt, welche innerhalb des Kreises der europäischen Civilisation bisher aus der indianischen Rasse hervorgegangen ist.« Während Juarez noch Kriegsminister war und bereits vorher, saß Commonfort auf dem Präsidentenstuhle. Dieser war früher Zöllner in Acapulco gewesen und erhielt einen Gegenpräsidenten, welcher Miramon hieß und jene traurigen Eingriffe in das Eigenthum fremder Staatsangehörigen begann, welches schließlich das englisch-französisch-spanische Einschreiten veranlaßte. Man plünderte sogar das Hotel des englischen Gesandten, und die Ansprüche der also Geschädigten beliefen sich zuletzt auf die ungeheure Summe von beinahe fünfhundert Millionen Mark. Dieser Miramon war Freund mit dem früheren Präsidenten Juan Alvarez, auch ein Indianer, welcher seiner außerordentlichen Grausamkeit wegen der »Panther des Südens« genannt wurde. Diesen Beiden werden wir leider sehr bald begegnen. – Seit dem Tage, an welchem Sternau mit Mariano und Helmers Mexiko verlassen hatte, war nun beinahe ein Jahr vergangen. Da
kam von Norden her ein Reiter in die Stadt. Er war sehr bestaubt und alle Anzeichen verriethen, daß er einen langen und beschwerlichen Ritt zurückgelegt habe. Hinter ihm trabten mehrere Vaqueros; sie waren, ebenso wie er, gut bewaffnet, doch bedeutend jünger als er und führten ein kräftiges Maulthier bei sich, welches eine sorgfältig verpackte Last trug, welche zwar nicht groß war, aber sehr schwer zu sein schien. Der alte Mann ritt durch mehrere Straßen und hielt vor dem Palaste des Obertribunals. Dort stieg er vom Pferde und fragte den ürsteher, ob seine Gnaden, Sennor Benito Juarez, zu sprechen sei. Der ürsteher betrachtete den Alten mit einem geringschätzigen Blicke und sagte: »Für Euch jedenfalls nicht!« »Warum nicht?« »Hat er befohlen, heut zu ihm zu kommen?« »Nein.« »So wartet! Ohne Anmeldung empfängt er nur Freunde bei sich.« »So melde mich an. Uebrigens darf ich mich sehr wohl zu seinen Freunden zählen!« Die sichere Antwort des Greises machte Eindruck auf den Diener. Er fragte: »Welchen Namen tragt Ihr, Sennor?« »Ich heiße Petro Arbellez und bin Besitzer der Hazienda del Erina.« »O, das ist etwas Anderes, Sennor! Ihr seid sehr weit geritten und Euer Aussehen machte mich irre. Man hat zu sorgen, daß der Herr nicht zu sehr überlaufen wird. Alle Welt will zu ihm, weil es bei einem Anderen keine Gerechtigkeit giebt. Tretet ein und laßt Eure Diener in den Hof reiten!« Die Vaqueros begaben sich mit ihren Pferden nach dem Innenhof des Hauses und Arbellez wurde von einem Domestiken nach
einem geräumigen Zimmer geführt. Es hatte trotz seiner Größe nur ein Fenster, zwei Hängematten und einen Tisch. Auf dem Tische stand ein Schreibzeug neben einem Stoße Papier. In der einen Hängematte saß ein Mann, welcher eine Cigarrette rauchte, und in der anderen saß ein Zweiter, der auch eine Cigarrette rauchte. Der Erstere war Benito Juarez, der oberste Richter des Landes. Er erhob sich beim Eintritte des Gastes ein wenig und sagte: »Ah, Sennor Petro Arbellez! Euch habe ich seit einem Jahre nicht gesehen, wißt Ihr, seit ich Euch die Hazienda Vandaqua in Pacht gab. Was bringt Ihr mir?« »Eben den Pachtzins bringe ich, Sennor,« antwortete der Gefragte. »Und außerdem möchte ich Euch eine große Bitte vorlegen.« »Privat?« »Nein. Ich komme zu Euch als Richter.« »So sollt Ihr gehört werden; vorher aber muß ich die Angelegenheit dieses Sennors erledigen, da sie keinen Aufschub erleidet. Legt das Schreibzeug zu Boden und setzt Euch auf den Tisch. Ich habe keinen anderen Platz!« Arbellez hielt es für unmöglich, sich auf den Tisch zu setzen, aber Juarez machte eine so kurze und gebieterische Handbewegung, daß er gehorchte. Nun wendete sich der Oberrichter an den Anderen, der ein mittel bejahrter Mann war, ein dicht behaartes Gesicht und dunkle, stechende Augen hatte: »Also, Sennor, ich habe Euch aus dem Gefängnisse rufen lassen, um Eure Sache schnell zu erledigen. Es ist sehr unhöflich, Jemand warten zu lassen, und ich bin nicht gern unhöflich. Brennt Eure Cigarrette noch?« »Ja, Sennor.« »Schön!« fuhr Juarez im Tone der heiteren Conversation fort. »Wie lange hält man Euch bereits gefangen?« »Volle drei Wochen, Sennor!«
»Ah, das ist unartig; ich muß es gestehen. Ich werde diese Unterrichter bitten, zuvorkommender zu sein. Euer Urtheil ist noch gar nicht gefällt?« »Leider noch nicht. Ich hoffe, daß ich mit demselben zufrieden sein werde!« »Ich bin überzeugt davon,« sagte Juarez freundlich. »Ich werde Keinem Unrecht thun, weder Euch noch Eurem Gegner. Also es handelt sich um einen kleinen Schuß?« »Allerdings.« »Traf dieser Schuß?« »Die Dame gerade in den Kopf. Ich hatte gut gezielt.« »Ah, so seid Ihr also ein sehr sicherer Schütze! Das freut mich, denn gute Schützen sind in dieser bösen Zeit sehr gut zu gebrauchen. Warum aber habt Ihr auf die Dame geschossen?« »Weil sie mir sagte, daß sie einen Anderen heirathen werde. Ich bat sie höflich, sich zu besinnen; aber sie blieb dabei und so schoß ich sie nieder.« »Das ist klar!« nickte der Oberrichter höflich. »Sie wollte Euch nicht und so schoßt Ihr sie nieder. Ein Jeder hat die Folgen seiner Handlung zu tragen. Eure Cigarre ist alle, Sennor. Darf ich Euch eine von den meinigen anbieten?« Er schenkte dem Anderen eine Cigarrette, welche dieser sich anbrannte, und fuhr dann fort: »Der Vater der Dame hat Euch leider angezeigt und so müssen wir über die Sache reden. Ihr sagt also, daß Ihr sie wirklich erschossen habt?« »Allerdings.« »Nun, so werden wir gleich fertig sein. Auf Tod steht Todesstrafe; ich werde Euch also auch erschießen lassen. Ist Euch dies recht so, Sennor?« Der Andere machte doch etwas andere Augen. Er hatte an die Möglichkeit dieses Urtheils gar nicht gedacht, da Juarez die Un-
tersuchung, welche fast eine freundschaftliche Unterhaltung zu nennen war, in dieser freundlichen Weise geführt hatte. »Aber, Euer Gnaden, ich denke doch –« »Bst!« unterbrach ihn Juarez. »Unter Männern macht man nicht viele Worte bei einer so einfachen, klar liegenden Sache. Ihr habt sie erschossen und werdet wieder erschossen; ein Jeder hat eben die Folgen seiner Handlung zu tragen, das sagte ich bereits vorhin. Wollet Ihr mir ein wenig Feuer geben? Das meinige ist ausgegangen.« Juarez brannte seine Cigarrette an derjenigen des Mörders an, steckte dann den Finger in den Mund und stieß zwei schrille Pfiffe aus. Sofort erschienen zwei Alguazils*. »Gebt mir ein Stück Papier und taucht die Feder ein!« gebot er. Die Männer kamen der Aufforderung nach; der Oberrichter legte das Papier auf sein Knie, schrieb einige Worte darauf und reckte es dem Mörder hin. »Hier, Sennor, lest! Das ist Euer Urtheil. Es ist Euch doch recht, daß ich Euch sogleich erschießen lasse?« Der Mann erhob sich bleich aus der Hängematte und sagte: »Euer Gnaden, ich muß denn doch bitten –« »Bst!« unterbrach ihn Juarez abermals und zwar mit einem Lächeln voll Nachsicht und Gefälligkeit. »Ihr habt vorhin geklagt, daß Ihr volle drei Wochen wartet, ich habe Euch also eine Genugthuung zu geben. Man muß immer möglichst gefällig sein! Also, sofort, Sennor. Brennt Eure Cigarrette noch?« »Ja, ich danke!« stotterte der Mann. »Schön! Es giebt nichts Unangenehmeres, als wenn Einem bei einer wichtigen Angelegenheit die Cigarre ausgeht. Es kann das fälschlicher Weise leicht für einen Mangel an Selbstzufriedenheit oder Behaglichkeit genommen werden. Und das muß man ver*
Polizisten
meiden. Verzeiht nur, Sennor, daß ich leider nun nicht länger Zeit habe. Adios!« Er machte dem Manne eine sehr höfliche Verbeugung; dieser erwiderte sie und verschwand mit den Alguazils. Juarez horchte einige Augenblicke – da fielen einige Schüsse; er legte sich in die Hängematte zurück und meinte: »Er ist todt! Was meint Ihr zu meiner Art und Weise, Gericht zu halten, Sennor Arbellez?« Der Gefragte hatte der interessanten Verhandlung mit dem größten Staunen beigewohnt. Er antwortete: »Sennor, sie scheint mir ganz und gar ungewöhnlich zu sein!« »Aber praktisch, mein lieber Arbellez!« nickte der Oberrichter. »Gerecht, freundlich und schnell, so muß die Justiz handeln, anders nicht. Darum wollen auch wir Beiden keine Zeit versäumen. Also Ihr bringt mir den Pacht?« »Ja. Ich werde ihn vorzählen; ich habe das Geld noch auf dem Maulthiere.« »Laßt das, Sennor! Schickt mir das Geld nachher herein, wenn wir uns verabschiedet haben. Ich weiß, daß ihr mich nicht betrügen werdet. Gehen wir lieber jetzt gleich zu Eurer Bitte über!« »Aber, Euer Gnaden, sie wird nicht so schnell zu behandeln sein, wie das Todesurtheil.« »Das wird uns nicht hindern, denn jedes Ding bedarf seiner Zeit. Also Ihr kommt zu mir als zum Richtet?« »Ja, ich flehe um Gerechtigkeit.« »Für wen?« »Für mich und die Meinen.« »Und gegen wen?« »Gegen Viele! Es wird das eine sehr umfangreiche Erzählung werden; aber, Sennor, ich habe so Schweres gelitten und ich leide auch jetzt noch so sehr, daß mein Vaterherz bitten muß, mir aufmerksam zuzuhören.«
»Sprecht nur, mein guter Arbellez,« sagte der Oberrichter. »Ich werde Euch bis zum Ende anhören. Aber brennt Euch vorher eine von meinen Cigarretten an.« »Wie kann ich das thun, Euer Gnaden! Ich würde vor Schmerz und ränen keinen Zug thun können!« »Eben gerade darum sollt Ihr rauchen. Ich ehre den Schmerz und auch die ränen, wenn sie ehrlich gemeint sind, aber sie machen den Richter leicht irre und parteiisch. Er braucht vor allen Dingen eine wahrheitsgetreue Darstellung der Sache. Darum sollt Ihr rauchen, denn dann werden Eure ränen den Eindruck Eurer Erzählung nicht stören und benachtheiligen können. Hier, nehmt Feuer und beginnt dann Euern Bericht!« So sah Arbellez sich gezwungen, zu rauchen. Er erzählte. Er begann von vorn, von seinen Jugenderfahrungen, von den späteren Erlebnissen; er schilderte die Personen, wie er sie gefunden hatte, er theilte seine Ansichten und Vermuthungen mit, und – wunderbar, es war keine einzige räne geflossen, als er geendet hatte. Der große Indianer hatte ihm ruhig, beinahe wortlos zugehört; jetzt erhob er sich aus der Hängematte und schritt im Raume auf und ab, um zu recapituliren. Er dachte lange nach, er verglich und folgerte; dann blieb er vor dem alten Haziendero stehen und sagte: »Sennor Arbellez, wenn Ihr es nicht wäret, der mir diese Geschichte erzählt, so würde ich sie nicht glauben, da ich Euch aber für einen nüchternen, wahrheitsliebenden Mann halte, so glaube ich Euch Wort für Wort und verspreche Euch meine ganze Hilfe. Wo dieselbe anzufassen hat, weiß ich freilich selbst noch nicht. Ich habe mir vorher Vieles zurechtzulegen, ich muß verschiedene und sehr genaue Erkundigungen einziehen, bin ich damit aber zu Ende, so soll auch, das verspreche ich Euch, Schlag auf Schlag kommen, bis dieses ganze schändliche Complott aufgedeckt und bestraft worden ist. Bleibt Ihr für einige Zeit hier?«
»Ja, bei Sir Lindsay.« »Ah, bei dem! Warum gerade bei ihm?« »Weil ich auch ihm das Alles erzählen muß und weil er mir eine Bitte erfüllen soll.« »Darf ich erfahren, welche dies sein soll?« »Gewiß, Sennor. Ich habe erwähnt, daß Donnerpfeil ein Geschenk aus der Höhle des Königsschatzes erhalten hat. Sein Bruder besitzt drüben in Deutschland, seiner Heimath, einen hoch begabten Knaben, welcher aber arm ist. Donnerpfeil, der Bräutigam meiner Tochter, hat nun vor einem Jahre, das heißt, seit er verschwunden ist, beschlossen, daß dieser Knabe die Hälfte dieses Geschenkes erhalten soll. Es konnte ihm nicht geschickt werden, und so geht gerade die Zeit verloren, in welcher dieser Reichthum dem Knaben den meisten Nutzen bringen wird. Darum habe ich die Kostbarkeiten aufgeladen und mitgebracht. Ich werde sie dem Lord bringen, der sie nach Deutschland senden mag.« »Wo wohnt der Knabe?« »Bei Mainz auf einem Schlosse, dessen Namen ich vergessen habe. Doch ist es leicht zu finden, denn es gehört einem Hauptmanne und Oberförster von Rodenstein. Diesen Namen habe ich behalten.« »So überlaßt diese Sendung lieber mir als dem Engländer. Ginge sie von ihm aus, so würde sie von unseren Bravos* nicht respectirt. Kommt sie aber aus meiner Hand, so will ich den Mexikaner sehen, der sich an ihr vergreift. Ich werde das Sicherste wählen und sie an ein Bankhaus in Mainz adressiren. Der Bankier wird den Knaben ausfindig machen.« »O, wie bin ich Euch dankbar, denn Ihr nehmt mir da eine große Last vom Herzen!« »Wie heißt der Knabe?« »Kurt Helmers. Sein Vater ist Steuermann.« *
Räubern
»Ich werde mir das notiren. Uebrigens ersuche ich Euch, lieber bei mir als bei dem Engländer zu wohnen, so lange Ihr in Mexiko bleibt. Es ist möglich, daß ich Euch in Eurer Angelegenheit öfters zu sprechen habe, und da ist es bei mir bequemer. Ich werde Euch ein gutes Zimmer anweisen lassen und Sir Lindsay wird es uns nicht übel nehmen, Ihr könnt ihn ja immerhin besuchen. Bringt einmal den Schatz herein! Und da es nun in Einem geht, könnt Ihr auch gleich den Pacht mitbringen.« Der Haziendero entfernte sich und brachte bald mit Hilfe eines seiner Vaqueros die Maulthierlast herein. Sie enthielt zwei Packete, beide in ungegerbtes Büffelleder eingeschnürt. Die eine Hälfte enthielt den Pachtbetrag in vollwichtigen Goldstücken, den der Oberrichter rasch quittirte. Als die andere Hälfte geöffnet worden war, wurden von dem Inhalte die durch das Fenster einfallenden Sonnenstrahlen aufgefangen und in tausend funkelnden Reflexen durch das Zimmer geworfen. Benito Juarez stieß einen Ruf der Bewunderung aus. »Dios! Welche Pracht und Herrlichkeit!« rief er. »Welche Kostbarkeiten! Welch ein Reichthum! Welch einen Werth repräsentirt dieses seltene Geschmeide! So etwas habe ich noch gar nicht gesehen!« Und mit finsterer Miene fügte er hinzu: »Dieser Schatz in der Höhle der indianischen Könige könnte Mexiko groß machen; aber seine Bewohner sind es nicht werth. Der Häuptling der Miztekas hat Recht. Sein Geheimniß mag mit ihm sterben. – Und diese Sachen sind nur die Hälfte, was Euer Schwiegersohn bekam?« »Ja.« »Habt Ihr die andere Hälfte gut verwahrt?« »Ja. Sie ist an einem Orte vergraben, an welchem sie von Niemand gefunden wird.«
»Und diesen eil wollt Ihr wirklich nach Deutschland senden? Ein Knabe soll ihn bekommen, der den Werth nicht kennt und der auch kaum den rechten Gebrauch davon machen wird?« »Ja. Der Häuptling der Miztekas hat es selbst so gewollt und ich muß ihm gehorsam sein. Sollte er ja zurückkehren, so wird er mich loben, daß ich seinen Willen befolgt habe.« »So können wir nichts dagegen machen. Dieser Schatz geht aus dem Lande. Vielleicht aber kommt er in würdige Hände.« Er trat an den Tisch, öffnete den Kasten und nahm ein Buch heraus, welches er öffnete. Es enthielt ein Namensverzeichniß, bei welchem die Course von Actien und den verschiedensten Werthpapieren angegeben waren. Juarez suchte eine Zeit lang und sagte dann: »Hier steht Mainz. Ich finde da das Bankhaus Wallner verzeichnet. Dorthin wird die Sendung gehen, und ich bin überzeugt, daß bei dem großen Werthe derselben der Mann sich Mühe geben wird, den Adressaten ausfindig zu machen. Wollt Ihr einen Brief beilegen?« »O, Sennor, das Schreiben fällt mir jetzt sehr schwer. Aber Miß Amy Lindsay wird die Güte haben, es für mich anzufertigen.« »So bringt denselben heute noch zu mir, denn diese Sendung soll morgen mit dem Frühesten bereits abgehen. Ich werde ihr eine genügende Eskorte geben und sie auch gut versichern lassen. Jetzt aber wollen wir ein Verzeichniß anfertigen, und sodann erhaltet Ihr die Bescheinigung, daß Ihr mir die Gegenstände übergeben habt.« Dies geschah, und dann erhielt der Haziendero ein Zimmer angewiesen, welches er bewohnen sollte und in welchem er sich von dem Staube der Reise befreite, um dann Sir Lindsay aufzusuchen. Dort war nur Miß Amy zu Hause, von welcher er mit herzlicher Freude empfangen wurde.
Der alte, brave Mann hatte als ein glücklicher Vater bisher seine Tochter für das schönste Mädchen der Welt gehalten, aber als er die Engländerin erblickte, wie sie in einem schneeweißen, von rosaseidenen Spitzen verzierten Anzuge vor ihm in der Hängematte lag, da glaubte er, die Madonna sei vom Himmel herabgestiegen, um mit ihm zu sprechen. Sie erhob sich, reichte ihm ihr Händchen entgegen und sagte: »Sennor Arbellez! Aus del Erina! Welch eine Ueberraschung, welch eine Freude! Was für Nachrichten bringt Ihr mir?« Ihre Schönheit entzückte ihn trotz seines Alters so sehr, daß er die Beantwortung der letzteren Frage einstweilen vergaß. Er drückte einen Kuß auf ihre Finger und sagte: »O, Sennora, wie schön seid Ihr! Wer kann es unserem gnädigen Herrn verdenken, daß er Euch so lieb hat!« »Euerm gnädigen Herrn? Wen meint Ihr?« »Nun, den rechten, wahren Herrn von Rodriganda, der bisher fälschlicher Weise Mariano oder Herr de Lautreville genannt wurde.« »Ah!« rief sie erfreut. »So seid auch ihr überzeugt, daß er es wirklich ist?« »Seine Aehnlichkeit und seine Schicksale sind Beweises genug. Außerdem hoffe ich zu Gott, daß es uns gelingt, auch andere Beweise zu finden, welche vor dem Richter noch wirkungsreicher sind.« »Wir Alle hoffen es. Aber, was thut Mariano? Wo befindet er sich jetzt? Warum hat er mich während einer solchen Ewigkeit ohne alle Botschaft gelassen?« »Sennorita, er hat jedenfalls nicht gekonnt. Es scheint, die Sachen stehen so, daß ich der einzige Bote bin, der Euch von ihm erzählen kann. Dies ist freilich nur wenig und nicht tröstlich, und zudem war der Weg von der Hazienda nach hier während langer Monate
so unsicher, daß ich mir weder getraute, einen Boten zu senden noch aber auch selbst zu gehen.« »Untröstlich?« fuhr sie auf. »Mein Gott! Setzen Sie sich und erzählen Sie!« Er nahm bedächtig Platz und erzählte. Sie hörte ihm mit größter Spannung zu. Beide vergaßen ganz, daß sie nicht allein seien. In einer anderen Hängematte saß nämlich ein Mädchen, welches vor der Ankunft des Haziendero beschäftigt gewesen zu sein schien, der Miß vorzulesen. Es war ihre Duenna, ihre Gesellschafterin. In Mexiko ist es unabweisbare Sitte, daß jede anständige Dame eine Duenna habe. Dieses Mädchen war sehr schön. Sie war augenscheinlich eine Mestize, das heißt, sie stammte von einem weißen Vater und einer indianischen Mutter ab. Diese Mischlinge sind gewöhnlich sehr schön, erben aber oft nur die schlechten Eigenschaften ihrer Eltern, welche sie unter der glänzenden Hülle ihres Aeußeren geschickt zu verbergen wissen. Sie hielt die Augen niedergeschlagen und blickte scheinbar aufmerksam in das Buch. Aber wer sie schärfer beobachtet hätte, der konnte bemerken, daß sie den Worten des alten Mannes mit außerordentlicher eilnahme folgte. Ihr Auge warf zuweilen durch die langen, verhüllenden Wimpern einen blitzähnlichen Blick auf die Beiden, und ihre Mundwinkel zuckten dabei zu beiden Seiten empor, daß man den herrlichen Schmelz ihrer Zähne sehen konnte. Sie hatte dabei ganz das Aussehen eines bissigen Köders, welcher sehr gern zufahren möchte, aber aus Furcht sich nicht getraut, es zu thun. Ein Menschenkenner hätte diesem Mädchen niemals seine Zuneigung oder gar sein Vertrauen schenken können. Während derselben Zeit gab es in einem anderen Hause eine Unterredung, welche sich ganz auf denselben Gegenstand bezog. Es war das im Palaste des Grafen de Rodriganda. Dort befand sich Josefa Cortejo in ihrem Zimmer. Auch sie lag in der Hängematte
hingestreckt, aber welch einen anderen Anblick bot ihre Erscheinung gegen derjenigen der lieblichen Amy Lindsay! Das Jahr, welches vergangen war, hatte nicht dazu beigetragen, ihre Häßlichkeit zu verschönern. Sie war womöglich noch hagerer geworden, ihre Finger schienen aus langen, dünnen Todtenknochen zu bestehen, und da sie noch nicht Besuchstoilette gemacht hatte, so fehlten ihr die falschen Zähne. Ihr schwarzer, brandiger Mund glich einem ausgestorbenen Krater, und während die falschen Locken noch auf der Toilette lagen, hing ihr natürliches Haar in kurzen, dünnen, spärlichen Strähnen über den scharfen, wirbeligen Hals herab, so daß man die Kopfhaut hindurchscheinen sah. Sie schien bei schlechter Laune zu sein, denn als ihre Dienerin jetzt eintrat, um sie zu frisiren, erwiderte sie deren höflichen Gruß mit keinem Worte. Die Dienerin war noch immer jene Indianerin, welche wir bereits bei ihr gesehen haben und die den Namen Amaika führte. Sie begann, stillschweigend ihre Herrin anzukleiden. Es wurde dabei kein Wort gesprochen, und erst als die Indianerin die letzte Hand an die Toilette legte, fragte die Herrin: »Hast Du mit Deiner Tochter gesprochen?« »Nein,« lautete die Antwort. »Warum nicht?« »Weil ich, wenn ich uns nicht verrathen will, doch nicht zu ihr gehen darf. Und zu mir ist sie jetzt nicht gekommen.« »Ich sehe, daß Ihr Beide nachlässig seid! Ich höre, daß diese Amy Lindsay eine Duenna sucht; ich lasse es mir Geld, Mühe und andere Opfer kosten, um ihr von anderer Seite Deine Tochter empfehlen zu lassen. Ich sehe zu meiner Freude, daß mir die Intrigue gelingt, daß sie sie engagirt. Aber nun ich durch die Spionin etwas von Bedeutung endlich einmal erfahren will, läßt sie sich nicht sehen!«
»Sie wird kommen, sobald sie etwas Wichtiges erlauscht hat, darauf könnt Ihr Euch verlassen, meine liebe, schöne Sennorita!« »Schön!« rief da Josefa. »Lüge nicht!« Da schlug die Alte ganz erstaunt die Hände zusammen und sagte: »Lügen? Mein Gott, sehen Sie doch in den Spiegel, Sennorita! Der wird Ihnen sagen, ob ich lüge oder nicht!« Josefa warf wirklich einen Blick in den Trumeau und da sie frisirt, gepudert und geschminkt worden war, so ließ sie sich wirklich von ihrem eigenen Bilde täuschen. »Ich will Dir glauben,« sagte sie. »Aber warum halten mich Andere nicht für schön?« »Andere? Wer sollte denn das sein?« »Nun – dieser – dieser Herr de Lautreville, weißt Du, der vor Jahresfrist mit jenem Sternau alle unsere Preise weggewann.« »Der? O, der war blind! Ja, bei der heiligen Madonna, ich glaube fast, daß er blind gewesen ist!« Die Herrin zuckte verächtlich mit der Achsel und sagte: »Nein, blind war er nicht, aber verliebt. Und das ist ja ganz dasselbe.« Die Indianerin war die Vertraute ihrer Herrin. Sie hatte mit ihr täglich über diesen Gegenstand gesprochen und darum wußte sie sehr genau, wie sie sich zu verhalten hatte. Sie meinte in einem höchst geringschätzigen Tone: »Verliebt? Wohl gar in jene Engländerin? Das glaube ich nicht! Er war ein gar so hübscher Sennor und wird sich nie in dieser Weise wegwerfen.« »Aber man redet doch heimlich davon, daß Verlobung gefeiert worden sei, ehe er von hier abreiste!« »Ich glaube nicht daran; diese Amy will sich nur rühmen.«
»Doch warum sagte er denn da draußen auf der Fantasia zu mir, daß er nicht von ihr lassen möge, daß er keine Andere lieben könne!« »So war er verrückt! « »Ja, verrückt. Sie hat ihm mit ihren großen, lichten Augen den Verstand genommen. Ich bot ihm meine Schönheit und meine Liebe an und er wies mich zurück. Ich bot ihm ein Grafenthum an und er wies mich zurück. Ich bot ihm Glück, Reichthum und Ehre und er wies mich zurück. Ich drohte ihm, daß seine Amy verloren sei, wenn er nicht von ihr lasse, und er wies mich zurück. Er hatte einen Helfershelfer hinter sich, der mich fangen und demasciren wollte, und ich bin ihm nur mit Hilfe meines Dolches entgangen. O ja, wir Mexikanerinnen haben Dolche und wissen sie zu gebrauchen! Verdammt sei diese Amy, verdammt und verflucht dreimal, nein, tausendmal! Ich richte sie zu Grunde. Wenn nur Deine Tochter ihre Pflicht thun wollte! Sie weiß ja, daß ich sie königlich belohnen werde.« Sie hatte sich erhoben und stand in Mitten des Zimmers, wie eine Furie, mit blitzenden Augen, zusammengekniffenen Lippen und geballten Händen. »Sie wird aufpassen, Sennora!« sagte die Dienerin in beruhigendem Tone. »Ihr müßt nur bedenken, daß sie sich zuerst in das Vertrauen dieser kalten Engländerin einzuschmeicheln hat.« »Ich weiß das. Aber sie ist nun lange genug bei ihr und soll mir nun endlich einmal zeigen, daß ich mich auf sie verlassen kann. Diese Amy muß fallen, muß verschwinden oder sterben. Wenn ich nur zuvor wüßte, was aus Lautreville und seiner Gruppe geworden ist. Da, horch! Ich höre den Vater kommen. Er wird mir die Zeitungen und Neuigkeiten bringen. Du kannst gehen.« Die Alte entfernte sich. Sie begegnete Cortejo draußen vor der üre. Dieser überzeugte sich genau, ob sie auch wirklich verschwunden sei und nicht etwa zum Lauschen zurückkehren werde;
dann trat er bei der Tochter ein. Ihr fiel seine vor Freude glänzende und triumphirende Miene auf, und als sie bemerkte, daß er in der Hand einen geöffneten Brief hielt, fragte sie rasch: »Einen Brief ? Von wem? Ist’s die ersehnte Nachricht? « »Ja,« antwortete er, tief aufathmend. »Wie lautet sie? Zeig her!« Sie griff nach dem Schreiben, aber er zog die Hand zurück, hielt sie hoch empor und rief mit einem Ausdrucke, in welchem sich der ganze Triumph eines hart gesottenen und herzlosen Bösewichtes aussprach: »Gewonnen! Endlich gewonnen! Wir können nun vollständig ruhig sein!« »Ah! Ist’s wahr? Gieb her; gieb her!« Ihre dürren Finger zitterten vor Aufregung, als sie sich abermals nach dem verheißungsvollen Schreiben ausstreckten. Der Vater ließ es ihr mit den Worten: »Ja, nimm hin und lies! Es ist die größte Freude und Genugthuung meines Lebens, welche mir heute wiederfahren ist.« Sie warf einen Blick auf das Papier und sagte einigermaßen enttäuscht: »Ah, von Deinem Bruder, dem Oheim? Von ihm hatte ich die entscheidende Nachricht nicht erwartet. Ich denke, diese soll von hier aus Mexiko kommen, und zwar von Verdoja und Pardero, den beiden Offizieren!« »Lies nur, mein Kind! Es wird Dir dann Alles erklärlich sein!« Sie konnte sich nicht niedersetzen; die Aufregung trieb sie im Zimmer hin und her, und so las sie im Auf- und Niederschreiten Folgendes: »Lieber Bruder. Endlich, endlich kann ich Dir eine Nachricht geben, welche ungeheuer werthvoll ist. Gestern war Landola bei mir. Er ist
um die Südspitze von Amerika herum nach Spanien gekommen. Er hat im Hafen von Guaymas folgende Personen getroffen: Sternau, Mariano, zwei Deutsche, Namens Helmers und zwei Indianer, von denen der eine Büffelstirn und der andere Bärenherz heißt. Ferner sind bei ihnen gewesen zwei Mädchen, nämlich die Schwester dieses Büffelstirn und sodann Emma, die Tochter des alten Petro Arbellez, des Haziendero auf del Erina. Diese Personen haben nach Acapulco gewollt und den Kapitän nicht gekannt. Er hat sie Alle auf sein Schiff genommen, scheinbar, um sie nach dem verlangten Hafen zu bringen. Sie sind von ihm in Fesseln geschlagen worden, und da hat er von den Mädchen erfahren, daß sie dem Kapitän Verdoja glücklich entgangen sind, dem Du den Auftrag gegeben hattest, sie zu vernichten. Am ersten Abende der Fahrt, während Alles schlief und nur eine Wache an Deck war, hat Landola eine Lunte an die Pulverkammer gelegt und sich unbemerkt auf dem kleinen Boote davongemacht. Das Schiff ist in die Luft geflogen und mit Mann und Maus zu Grunde gegangen. Der Kapitän hat sich genau überzeugt, denn er ist bis zum Tagesanbruch an Ort und Stelle geblieben. Kein Einziger ist gerettet worden. Durch diesen kühnen Streich des Kapitäns sind wir nun alle Sorgen los. Ich theile Dir es schleunigst mit und behalte mir vor, Dir noch ausführlicher darüber zu berichten. Dein Bruder Gasparino Cortejo.« Josefa ließ die Hand mit dem Briefe sinken. Sie fühlte sich in diesem Augenblicke von den widersprechendsten Empfindungen in Beschlag genommen und wußte nicht, ob sie zunächst lachen oder weinen solle. Sie war leichenblaß, ob vor Freude oder vor Schreck, das ließ sich nicht bestimmen. »So sind sie todt?« fragte sie, die Augen starr auf ihren Vater gerichtet.
»Jawohl! Freilich! Du hast es ja gelesen!« rief er, vor Freude glühend. »Alle?« »Alle!« »O Dios! Also auch er!« hauchte sie. »Er? Wer?« fragte er. »Lautreville!« antwortete sie. Da trat er näher an sie heran, faßte sie am Arme und sagte beinahe drohend: »Mädchen, ich hoffe, daß Du den Verstand nicht ganz und gar verloren hast! Er liebte Dich nicht, er hat Dich von sich gewiesen. Und selbst wenn wir ehrlich mit ihm gewesen wären und ihn zum Grafen von Rodriganda gemacht hätten, würde er uns einige Tausend Duros gegeben haben, weiter nichts; Dich aber hätte er nicht angesehen. Diese Engländerin war ihm lieber. Sie wäre seine Gräfin Rodriganda geworden« »Ja,« stimmte sie mit funkelnden Augen bei. »Sie hätte sein Glück getheilt; darum soll sie auch sein jetziges Schicksal theilen!« »Wie meinst Du das?« »Sie soll untergehen wie er!« »Pah!« lachte er. »Willst Du sie in die Luft sprengen, wie der Kapitän ihren Anbeter?« »Es giebt noch andere Wege.« »Von denen Du keinen einzigen betreten wirst. Ich verbiete es Dir auf das Strengste! Wir dürfen den Sieg, welchen wir gewonnen haben, nicht durch die Unvorsichtigkeit eines Mädchens wieder in Gefahr bringen. Ich habe ganz andere Dinge vor; ich darf das Gelingen meiner Pläne nicht durch einen Jugendstreich in Frage stellen.« »Deiner Pläne? Welche wären denn das?« Er warf sich stolz in die Brust und erklärte:
»Ich habe bisher gegen Dich geschwiegen, sehe aber, daß ich nun endlich sprechen muß, um Dich vor Dingen zu bewahren, welche uns großen Schaden machen können. Du weißt, daß wir jetzt zwei Präsidenten haben, von denen ich keinen für geschickt halte, sich zu behaupten. Das Land bedarf einer einheitlichen Regierung, Jetzt aber ist es zwischen diesen beiden Männern gespalten. Es ist ein Mann von Nöthen, der bei einer rücksichtslosen Schlauheit auch die Geldmittel besitzt, seine Gegner zu bestechen; er wird dann Präsident und dann stehen ihm alle Reichthümer der Nation zu Gebote. Und dieser Mann werde ich sein.« »Du?« fragte sie mit dem Ausdrucke des unverhohlensten Erstaunens. »Ja, ich!« antwortete er im Tone stolzen Selbstbewußtseins. »Oder wunderst Du Dich darüber? Ich habe meinen Neffen zum Grafen von Rodriganda und meinen Bruder zum Verweser von dessen Einkünften gemacht. Das Haus Rodriganda besitzt über hundert Millionen. Soll ich leer ausgehen? Nein, sondern ich werde die mexikanischen Besitzungen erhalten. Sie repräsentiren einen Werth von vierzig Millionen. Ich stehe schon längst in Unterhandlung mit dem »Panther des Südens«. Wenn ich ihm eine Million zahle, fällt mir sein ganzer Anhang zu. Er will mich in diesen Tagen aufsuchen; vielleicht kommt er bereits heute Abend. Er beherrscht sämmtliche Bewohner der Gebirge und die freien Indianer des Südens. Sobald ich ihm seine Million gegeben habe, wirbt er an und erscheint mit über zehntausend Mann dann hier in der Stadt. Benito Juarez wird gefangen genommen und erschossen; mit den Anderen habe ich dann leichtes Spiel.« Die Augen des Mädchens glänzten vor Entzücken. »Und das ist wahr, wirklich wahr?« fragte sie. »Glaubst Du, daß ich träume?« »O nein, sondern mir ist ganz so, als ob ich es sei, welche träumt. Ich, Josefa Cortejo, von der sich die Anderen stolz zurückziehen,
die Tochter des Präsidenten, die höchste Dame des Landes! Wer hätte das gedacht! O, wie werde ich sie Alle mit Verachtung strafen, die sich jetzt einbilden, hoch über mir zu stehen! Sie sollen ihren Stolz büßen müssen, Alle, Alle, Alle!« Er nickte jetzt, wohlgefällig zustimmend, und sagte: »So will ich Dich hören und sehen, denn so bist Du eine echte Cortejo. Wir sind stets gewohnt gewesen, unsere Herren zu leiten und zu beherrschen und uns an unseren Widersachern zu rächen. Was ist dann mein Bruder, was ist sein Sohn, der falsche Rodriganda, gegen mich und Dich! Was wäre auch jener Mariano, der echte Rodriganda, wenn er nicht in die Luft geflogen wäre, gegen uns? Ich werde der Beherrscher von Mexiko sein. Ich werde dieses Land zu einem erblichen Königreiche machen und für Dich wird dann nur ein königlicher Prinz gut genug sein. Du siehst, daß wir vor einer Aufgabe stehen, deren Lösung wir uns nicht durch leichtsinnige Jugendstreiche unmöglich machen dürfen. Ich hätte nichts dawider, wenn Du Dich an dieser Amy und ihrem stolzen Vater rächen wolltest, wenn es nur ohne Gefahr für uns geschehen könnte. Aber wie leicht könnten wir verrathen werden, und dann wäre das Gelingen unseres Planes sehr in Frage gestellt. Ich darf mich nicht blamiren oder gar unpopulär machen.« »Ich gebe Dir Recht! O, wäre es doch bereits so weit. Also um eine Million handelt es sich?« »Ja, gerade um eine Million.« »Aber woher diese ungeheure Summe nehmen, bevor Dir die mexikanischen Besitzungen zugesprochen worden sind?« »Ich verkaufe eine derselben im Namen des Besitzers, oder, was noch besser und müheloser ist, ich schenke sie dem Panther des Südens. Nun unsere gefährlichsten Feinde vernichtet sind, darf ich Alles wagen.«
»Aber haben wir wirklich keine Feinde mehr, durch welche es entdeckt werden kann, daß Alfonzo nicht der richtige Sohn des alten Rodriganda ist?« »Diejenigen, welche noch übrig geblieben sind, habe ich nicht zu fürchten.« »Auch nicht den Haziendero Petro Arbellez und die schändliche Maria Hermoyes, welche von uns zu ihm geflohen ist?« »Bin ich Präsident, so sind sie in meine Hand gegeben!« »Rosa de Rodriganda, welche jetzt Frau Sternau heißt?« »Sie hat ihr Erbtheil ausgezahlt erhalten und ist unschädlich!« »Der Kapitän Henrico Landola, welcher das ganze Geheimniß kennt?« »Er erhält seinen Lohn und wird schon um seiner selbst willen verschwiegen sein!« »So haben wir also keinen Menschen eigentlich mehr zu fürchten und können ruhig sein, Aber wenn ich mich an dieser Amy Lindsay rächen könnte, ohne uns Schaden zu machen, so würde ich mein Glück vollständig nennen.« »Vielleicht ist es möglich. Man kann eben nicht in die Zukunft blicken. Sollte sich eine Gelegenheit bieten, so hoffe ich, daß Du nicht handelst, ohne mich vorher um Rath gefragt zu haben. Jetzt weißt Du Alles. Ich muß zum Präsidenten gehen. Je mehr ich mich bei ihm einschmeichele, desto fester habe ich ihn im Sacke. Adios, meine Tochter!« »Adios, mein Vater! Er küßte sie und sie ihn, ein Zärtlichkeitserguß, welcher zwischen diesen beiden Verwandten seit langer Zeit nicht mehr stattgefunden hatte. Als er sich entfernt hatte, eilte sie an den Spiegel, um sich zum tausendsten Male zu betrachten und dabei heute allerdings zum ersten Male zu beurtheilen, ob ihre Schönheit einer Präsidenten- oder gar Königstochter würdig sei. Sie war noch mit dieser
Untersuchung beschäftigt, als es leise an die üre klopfte. Auf ihr »Herein!« trat jene Halbindianerin ein, welche als Duenna jetzt im Dienste von Amy Lindsay stand. Sie war die Tochter der alten Amaika und hatte ihre jetzige Stellung nur zu denn Zwecke angetreten, Josefa Cortejo als Spionin zu dienen. »Ah,« sagte diese, »endlich! Ich dachte bereits, daß Du vergessen hast, daß Du in meinem Solde stehst. Hast Du etwas Wichtiges erfahren?« »O, etwas sehr Wichtiges, Sennorita!« antwortete die schöne Spitzbübin. »So erzähle schnell!« »Darf ich mich vorher setzen?« »Setze Dich!« Das Mädchen nahm in der Hängematte Platz, und zwar in einer Stellung, in welcher alle ihre Reize zur Geltung kamen. War sie eine natürliche Kokette, oder beabsichtigte sie, der Sennora zu zeigen, welche von Beiden die Schönere sei? »Nun?« fragte Josefa in einem nicht sehr freundlichen Tone, da sie unwillkürlich die Schönheit dieser Dienerin mit der ihrigen vergleichen mußte. »Ich hoffe, heute eine sehr gute Belohnung zu erhalten, Sennorita,« sagte das Mädchen, »denn ich bringe wirklich einige Neuigkeiten von größter Bedeutung. Nämlich Petro Arbellez war jetzt bei uns.« »Der Haziendero von del Erina?« fragte Josefa erstaunt. »Ja. Er ist auch beim Oberrichter gewesen, der ihn sogar eingeladen hat, bei ihm zu wohnen.« »Santa Madonna! Was hat dies zu bedeuten?« »Nicht sehr viel. Ich habe Alles gehört, denn ich war bei Miß Amy als er kam und ihr Alles erzählte. Zunächst hat er den Pacht gebracht, den er dem Oberrichter zu bezahlen hat. Sodann hat er goldenes Geschmeide gebracht, welches fortgeschickt werden soll.
Und drittens hat er ihm erzählt, daß seine Tochter geraubt worden ist und daß Alle verschwunden sind, welche den Entführern nachjagten.« Josefa verbarg den Eindruck, den diese Mittheilung auf sie machte, und fragte nur: »Was hat Benito Juarez dazu gesagt?« »Er will die Sache untersuchen und über sie Erkundigungen einziehen.« »Wer sind Diejenigen, welche verschwunden sind?« »Es war eine lange Reihe von Namen, und Namen kann ich nicht gut merken.« »Das ist die eine Nachricht. Sie interessirt mich nicht sehr. Und nun die andere?« »Wenn Ihr Euch für die erste nicht interessirt, so werdet Ihr es für die zweite noch viel weniger thun. Es liegen nämlich große Schätze im Hause des Lord.« »Ah!« fuhr Josefa auf. »Ja, mehrere Millionen.« »Woher weißt Du das?« »Miß Amy hat es zu dem Haziendero gesagt. Dieser hatte nämlich den Lord bitten wollen, einige Kostbarkeiten für ihn nach Deutschland zu schicken, aber der Oberrichter hat dies übernommen, weil Werthsachen, welche der Lord schickt, nicht sicher bis an die Küste gehen. Miß Amy stimmte dem bei. Sie sagte, daß ihr Vater wohl an die fünf Millionen Pesos im Keller liegen habe und nicht fortsenden könne, weil er die Bravos fürchten müsse. Dieses Geld gehört nicht ihm, sondern den englischen Kapitalisten, welche an Mexiko Geld geborgt haben. Es sind theils Zinsen und theils zurückgezahlte Kapitalbeträge.« »Auch das geht mich nichts an,« sagte Josefa, obgleich sie ihre Freude kaum beherrschen konnte. »Kennst Du diesen Keller?« »Ja. Ich muß zuweilen Eingemachtes aus demselben holen.«
»Ist er groß?« »Sehr groß. Vorn ist der Küchenkeller, dann kommt der Weinkeller und hinter diesem liegt noch ein kleines Loch, vor welchem eine starke, eiserne üre ist. Da drin steht das Geld in eisernen Kisten.« »Woher weißt Du das?« »Miß Amy sagte es dem Haziendero, um ihm zu zeigen, wie vorsichtig man hier mit dem Gelde sein müsse.« »Und gerade dadurch handelt sie außerordentlich unvorsichtig. Wenn es nun Jemand erfährt und in den Keller dringt!« »Das geht nicht, denn stets Abends müssen die Schlüssel zu den Vorkellern an den Lord abgegeben werden. Den Schlüssel zu dem hintersten hat er stets und giebt ihn niemals aus der Hand. Er schließt sie alle in das geheime Fach seines Toilettentisches ein, welcher in seinem Schlafzimmer steht.« »Dann allerdings ist er sicher, daß Niemand zu dem Gelde kann. – Und nun das Dritte, was Du mir mitzutheilen hattest?« »Es war ja nur dies Zweierlei. Ich dachte, daß es Euch interessiren würde, Sennorita, weil ich Euch bisher nichts Anderes mittheilen konnte.« »Nun, ich sehe wenigstens Deinen guten Willen. Hier hast Du fünf Goldstücke. Paß auch ferner auf und sage mir besonders Alles, was von der verschwundenen Tochter des Haziendero und einem gewissen Mariano oder Herrn von Lautreville gesprochen wird. Jetzt kannst Du gehen.« Das Mädchen schlüpfte aus der Hängematte heraus, schlug die Mantille graziös um sich, machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer. Josefa lauschte, bis die Tritte verklungen waren, schlug dann die Hände frohlockend zusammen und sagte: »Gefunden! Die Rache ist da! O, wenn doch der Panther des Südens bald käme!«
Aber dieser kam weder heute noch morgen. Erst am dritten Abende überraschte er Cortejo. Josefa hatte am Tage wieder den Besuch ihrer Spionin gehabt und von derselben erfahren, daß Petro Arbellez wieder abgereist sei. Sie erzählte das ihrem Vater, als sie noch sehr spät am Abende bei einander saßen. Von dem Uebrigen aber hatte sie ihm noch nichts mitgetheilt. Da öffnete sich vollständig geräuschlos die üre und eine dunkle Gestalt huschte herein, so unhörbar, als ob sie nur ein Schatten sei. Josefa stieß einen lauten Schrei des Schreckens aus; selbst ihr Vater fuhr empor. Da trat der Fremde aus dem Dunkel in den Lichtkreis der Lampe und winkte den Beiden mit der Hand Beruhigung zu. Er war in die einfache Tracht eines gewöhnlichen Peon* gekleidet, doch zeigten seine Waffen mehr als den Reichthum eines Dieners. Sein langes, dunkles, schlaffes Haar, seine braune Haut und die Bildung seines kühnen, von Leidenschaften zerrissenen Gesichtes zeigten, daß er von indianischer Abstammung sei. Er war der Wütherich, Juan Alvarez, der Panther des Südens. »O, Sennor Alvarez, wie habt Ihr uns erschreckt!« sagte Josefa. »Wir erwarten Euch bereits seit vorgestern. Seid willkommen!« Der Indianer blickte sie mit kaltem Staunen an und sagte zu Cortejo: »Ich komme im Dunkel der Nacht, um keinen Zeugen zu haben! Und Ihr gebt mir ein Weib zum Zeugen!« »Sie ist meine Tochter,« entschuldigte sich Cortejo. »Ist eine Tochter kein Weib?« klang es scharf zurück. Da trat Josefa einen Schritt auf ihn zu. Wenn es sich um solche Dinge, welche das Licht zu scheuen hatten, handelte, so war sie ganz an ihrem Platze. Darum sagte sie in einem stolzen, selbstbewußten Tone: »Glaubt Ihr etwa, daß ich mich vor dem Panther des Südens fürchte? Bin ich denn Schuld, daß ich ein Weib bin? Giebt es nicht *
Reitknechtes
unter den Männern Weiber? Warum soll es nicht unter den Weibern Männer geben? Ein solcher Mann bin ich. Mein Vater vertraut mir Alles an, und er hat es noch nie zu bereuen gehabt. Auch Ihr sollt noch heute erfahren, daß ich Eures Vertrauens würdig bin und wie ein Mann zu handeln weiß!« Auf die schmalen Lippen des grimmigen Mannes trat ein leises, höhnisch zuckendes Lächeln und er antwortete: »Sie spricht wie ein Mann, Sennor Cortejo. Wenn sie aber nicht wie ein Mann handelt, so ist es Euer Schaden. Der Panther des Südens giebt seine Geheimnisse nur so vielen Ohren kund, als es ihm beliebt. Laßt uns von unserer Angelegenheit reden!« »Setzt Euch, Sennor!« bat Cortejo, indem er dem Gaste einen Stuhl hinschob. »Nein,« antwortete dieser kopfschüttelnd. Er schlug die Hände über die breite Brust zusammen, leuchtete den Spanier mit seinen Flammenaugen an und fuhr fort: »Ich werde im Stehen sprechen. Da Ihr eine Mitwisserin habt, ohne mich vorher um Erlaubniß zu fragen, so können wir kurz sein. Habt Ihr das Geld?« »Baar allerdings nicht.« »So sind wir fertig!« Er drehte sich kalt um und wollte gehen. Doch Cortejo ergriff ihn am Arme und bat: »Bleibt noch einen Augenblick, Sennor, und hört meine Erklärung an. Ich sagte, daß ich das Geld nicht baar habe, denn wer legt in der jetzigen Zeit eine Million leichtsinnig her. Aber ich habe Besitzungen, von denen jede einzelne mehr werth ist als so viel. Soll ich eine verkaufen, so erhaltet Ihr das Geld. Soll ich Euch eine schenken, so thun wir, als hättet Ihr sie gekauft. Was wählt Ihr?« Der Indianer hatte ihm halb abgewendet zugehört; jetzt drehte er sich herum und fragte: »Habt Ihr das Recht, eine Besitzung zu verkaufen oder zu verschenken?«
»Ja.« »Seid Ihr der Besitzer?« »Nein, aber ich bin vom Grafen Rodriganda autorisirt, zu thun, was mir beliebt. Ich darf in seinem Namen unterschreiben.« »Das ist Eure Sache; ich aber glaube es nicht. Ich will keine Hazienda kaufen oder mir schenken lassen, welche ich früher oder später wieder hergeben muß. Lebt wohl!« Er dreht sich wieder um; dieses Mal war es Josefa, welche ihn zurückhielt. »Wartet, Sennor!« sagte sie. »Ich werde diese Angelegenheit ordnen.« Er lächelte höhnisch wie vorher und sagte in ungeduldigem Tone: »Wozu die unnöthigen Worte! Wie will ein Weib eine Sache ordnen, zu welcher der Mann, der es thun sollte, kein Geld hat! Und gerade Geld ist es, was ich brauche.« »Ihr sollt es haben!« »Wann?« fragte er kalt. »Wann Ihr es wollt.« »Eine Million?« »Nein, sondern fünf Millionen!« Jetzt trat er doch erstaunt einen Schritt zurück. Doch sagte er sofort: »Diese Sennora ist nicht bei Sinnen!« Auch ihr Vater blickte in höchster Verwunderung zu ihr hinüber. Sie aber ließ sich nicht irre machen, sondern fuhr fort: »Ich will deutlicher sprechen. Mein Vater hat Euch eine Million versprochen, Sennor. Er wollte sie Euch auszahlen, hier auf diesen Tisch; Ihr konntet sie einstecken leicht und mühelos. Ich nun biete Euch vier Millionen mehr und mache nur die zwei Bedingungen, daß Ihr sie Euch selbst holt und meinem Vater dennoch Euer Versprechen haltet.«
»Wo sind sie zu finden?« fragte er rasch. »Das werde ich Euch sagen, sobald Ihr mir Euer Wort gegeben habt und wir noch über einen anderen Punkt einig geworden sind.« »So redet!« Er stellte sich, wie vorher, mit über die Brust gekreuzten Armen vor die Beiden hin und richtete seine Augen mit einem wahrhaft durchbohrenden Blick auf das Mädchen, welches fortfuhr: »Es gibt zwei Personen, welche meiner Rache verfallen sind. Sie sollen sterben oder wenigstens in die fernen Berge verschwinden, in denen Ihr Gebieter seid. Es ist Vater und Tochter. Sie haben fünf Millionen baares Geld bei sich und wohnen hier in der Stadt. Ich kenne den Ort, wo diese Summe zu finden ist, und ich kenne auch die Art und Weise, wie man zu ihm gelangt. Ihr sollt Euch das Geld holen. Ihr sollt diese beiden Personen mitnehmen und verschwinden lassen. Ihr sollt endlich, wenn dies Euch gelingt, annehmen, daß mein Vater Euch seine Million bezahlt hat, und ihm ehrlich das Wort halten, welches Ihr ihm gegeben habt. Unter diesen Bedingungen sage ich Euch, welche Personen und welchen Ort ich meine.« »Alle Teufel, jetzt weiß ich, wen Du meinst!« rief Cortejo. »Und Du weißt genau, daß diese ungeheure Summe dort zu finden ist?« »Ganz genau. Du kennst ja meine Spionin.« Da legte ihr der Indianer die Hand auf den Arm und sagte mit tiefer Stimme: »Sennora, der Panther des Südens läßt sich nicht betrügen, am allerwenigsten von einem Weibe. Wenn ihr lügt, so morde ich Euch!« »ut es!« antwortete sie, ihm furchtlos in die vor Geldgier funkelnden Augen blickend. »Ich bin meiner Sache gewiß.« »Nun, so seid Ihr wirklich kein Weib, sondern ein Mann. Wem eine Rache mehr werth ist, als fünf Millionen, dem darf man Ver-
trauen schenken. Ich gehe auf den Handel ein und nehme Eure Bedingungen an.« Jetzt endlich war es ihr geglückt. Ihre fahlen Wangen rötheten sich vor Freude. Doch ging sie sicher und fragte speziell: »Ihr nehmt den Mann und die Tochter mit?« »Ja,« antwortete er. »Quittirt meinem Vater die Million?« »Ja.« »Und steht ihm bei, auf den Präsidentenstuhl zu gelangen?« »Ja.« »Gebt uns Eure Hand und schwört es uns!« Er reichte den Beiden seine Hände hin und gelobte mit fester Stimme: »Ich schwöre es Euch und werde mein Wort halten, wenn Ihr die Wahrheit gesprochen habt. Jetzt nun sagt mir den Ort, Sennorita!« »Kennt Ihr Lord Lindsay, den Engländer?« Er horchte auf; seine Lippen öffneten sich ein wenig und ein leise pfeifender Ton schnitt zwischen seinen Zähnen hervor. »Ist’s bei ihm?« fragte er. »Ja. Ihr scheint überrascht. Wollt Ihr vielleicht zurücktreten, Sennor?« »Nein. Redet weiter.« »Der Keller seines Hauses hat drei eile; vorn der Küchenkeller, dann der Weinkeller und endlich der Geldkeller. Er ist klein und mit einer eisernen üre verschlossen. Er enthält die eisernen Geldkisten. Der Schlüssel dazu und alle anderen befinden sich im geheimen Fach seines Toilettentisches im Schlafzimmer. Das ist Alles, was ich weiß und zu sagen habe.« »Es ist genug,« meinte der Indianer. »Bleibt morgen Abend zu Hause, Sennorita!« »Warum? Kommt Ihr wieder?«
»Ja, denn morgen werde ich mir das Geld holen. Ihr werdet dabei sein.« »Ich? Warum?« fragte sie erschrocken. »Was soll ich dabei thun?« »Nichts. Man wird Euch nicht bemerken, denn ich werde Euch an einen Platz stellen lassen, wo Ihr sicher seid. Ist das Geld im Keller, so bringe ich Euch nach Hause und halte mein Wort. Habt Ihr mich aber belogen, so hängt Ihr am nächsten Morgen an der Kellerthür.« »Dios! Wenn nun das Geld vorhanden ist und Ihr gelangt nicht dazu?« »So seid Ihr schuldlos und ich halte Euch dennoch mein Wort. Ihr seht, daß ich ehrlich mit Euch handle. Komme ich morgen Abend, um Euch abzuholen, und Ihr stellt Euch nicht, so seid Ihr verloren und Euer Vater dazu!« Er wartete keine weitere Entgegnung ab und ließ die Beiden in einer nicht sehr fröhlichen Stimmung zurück. Wie nun, wenn die Spionin sich geirrt hatte! Der Indianer hörte die Befürchtungen nicht, welche hinter ihm laut wurden. Er ging durch den finsteren Korridor mit einer Sicherheit, als ob es am hellen Tage sei, und mit dem unhörbaren Schritte einer Katze gelangte er in den Hof und schwang sich über die Mauer. Dann schritt er durch die Straßen und kam nach einer kleinen halben Stunde an das freie Wasser eines Kanales, dessen Ufer von Büschen umsäumt waren. Dort hockten mehrere dunkle Gestalten am Boden. Die eine derselben erhob sich bei seinem Kommen und fragte leise: »Vater?« »Ich bin es, Diego,« antwortete er. »Steigt auf. Wir gehen zurück.« Da standen auch die Anderen vom Boden auf; es wurden Pferde herbei geholt, welche in der Nähe verborgen gewesen waren, und bald setzte sich der kleine Trupp in Bewegung.
Der Panther ritt mit seinem Sohne voran; die Anderen folgten respectvoll in einiger Entfernung. Die Pferde gingen sicher, obgleich es sehr dunkel war; sie und ihre Reiter schienen jeden Schritt breit des Weges zu kennen. Die ganze Umgegend, die ganze Natur war in tiefe Stille versunken, so auch der Panther. Doch endlich fragte er seinen Sohn: »Weißt Du noch, als wir den Präsidenten Santa Anna aus Mexiko jagten?« »Ich weiß es,« antwortete der Gefragte einfach. »Es gab einen fürchterlichen Straßenkampf, in welchem unser Häuflein fast erlag.« »Ja. Ich erhielt einen Stich in die Brust und einen Hieb über den Kopf und stürzte nieder. Als ich erwachte, lag ich im Bette, in einem schönen Zimmer.« »Im Hause des Engländers Lord Lindsay. Ich hätte Dich damals verloren, denn jede Deiner beiden Wunden war tödtlich. Aber man pflegte Dich wie einen Sohn und gab Dich mir wieder. Wir schworen Beide, dankbar zu sein.« »Wir sind es noch nicht gewesen.« »Wir werden es morgen sein. Ich soll mir aus dem Hause des Engländers Geld holen und ihn und seine Tochter tödten. Aber er soll sehen, daß der Panther des Südens keine Wohlthat vergißt. Ich werde mir das Geld holen, ihn und seine Tochter aber nicht tödten, sondern Beide in die fernen Berge von Chiapa als Gefangene senden. Sie dürfen uns nicht sehen, sie dürfen nicht wissen, wer ihnen das Geld nahm. Darum werde ich sie einem Anderen anvertrauen, der sie festnimmt und an ihren Bestimmungsort bringt, wo sie nicht entfliehen können, sondern bewacht werden, so lange es mir gefällt.« »Wie viel Geld ist es?« »Fünf Millionen.«
Der Sohn antwortete nicht. Diese Summe war so groß, so unfaßbar für ihn, daß ihm mit der Sprache fast der Athem ausging. Aber eben so groß und unfaßbar dünkte ihm auch die außerordentliche Dankbarkeit seines Vaters, der ja nur aus Dankbarkeit die fünf Millionen nahm, ohne den Besitzer zu tödten. – Am anderen Abende blieb Lindsay etwas länger als gewöhnlich wach mit seiner Tochter. Er hatte einen sehr ausführlichen Bericht nach der Heimath zu verfassen gehabt und unterhielt sich dann mit Amy noch über den Besuch des alten, ehrlichen Haziendero und über die verschollenen Freunde. Ueber Amy’s Wesen lag ein Hauch tiefer Schwermuth ausgebreitet, welcher ihre angeborene Lieblichkeit zu verdoppeln schien, und auch der Lord war mißmuthiger als gewöhnlich gestimmt. Er war der ewigen mexikanischen Wirren herzlich müde und sehnte sich aus diesem Lande fort, welches nie zur Ruhe kommen konnte. Endlich nahmen sie einen herzlichen, innigen Abschied von einander; der Lord steckte, da die Dienerschaft bereits zur Ruhe gegangen war, sich sein Licht selbst an und begab sich nach seinem Schlafzimmer. Dort öffnete er den Toilettentisch, drückte an der verborgenen Feder, worauf ein Kästchen aufsprang. In dieses legte er mehrere Schlüssel, welche er aus der Tasche zog, und verschloß es dann durch denselben Federdruck. Er bemerkte nicht, daß unter dem Bette heraus vier Augen jeder seiner Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit folgten. Er entkleidete sich, verlöschte das Licht und begab sich zur Ruhe. Bald hörte man an seinen leisen, ruhigen Athemzügen, daß er eingeschlafen sei. »Hast Du die Feder bemerkt?« raunte es, selbst für einen Wachen, der im Bette gelegen hätte, ganz unhörbar unter demselben. »Ich würde sie im Dunkeln finden!« lautete die ebenso leise Antwort. »So komm!«
Kein Hauch, nicht die leiseste Spur von Geräusch verrieth, daß jetzt zwei Gestalten unter dem Bette hervorkrochen und sich dann neben dem Vorhange desselben emporrichteten. Der eine der Männer zog ein Tuch und ein Fläschchen aus der Tasche, tröpfelte aus der Letzteren eine Flüssigkeit auf das Erstere, schlug den Vorhang zurück und trat zu dem Schlafenden. Er hielt ihm erst das Tuch sehr vorsichtig nahe an Mund und Nase, und als er das Geräusch des Athmens nicht mehr hörte, legte er es ihm ganz auf das Gesicht. »Fertig!« sagte er jetzt halblaut. »Gieb die Maske her!« »Soll ich das Licht anbrennen?« »Ja; schließe aber die Vorhänge erst!« In der Zeit von einer Minute brannte das Licht wieder. Dem narkotisirten Lord wurde eine schwarze Kopfbedeckung über den Kopf gezogen, welche unten am Kinn zugebunden werden konnte. Sie hatte nur drei Oeffnungen, für die Augen und den Mund. Dann zogen ihm die beiden Indianer, denn solche waren es, die sämmtlichen Kleider wieder an und steckten ihm, da er nun bald wieder erwachen konnte, durch das Loch der Maske einen Knebel in den Mund. Unterdessen war Amy noch nicht sofort schlafen gegangen. Sie saß, mit dem Rücken nach der ür gekehrt, am Tische und blätterte in einem Album, welches die Bildnisse bekannter Personen enthielt. Auch das des Geliebten war dabei. Sie betrachtete die theuren Züge. Sie dachte sich in die Zeit zurück, in welcher sie ihn in Rodriganda zum ersten Male gesehen und dann kennen und lieben gelernt hatte. Die Erinnerung drang so mächtig auf sie ein, daß die Gegenwart vor ihren Sinnen schwand. Sie hörte nicht ein leises, leises Geräusch, sie sah auch nicht, daß die ür sich öffnete und daß die beiden Männer eintraten, welche soeben im Schlafzimmer ihres Vaters gewesen waren.
Beide winkten einander. Der Eine zog abermals das Tuch hervor und befeuchtete es mit der Flüssigkeit aus seinem Fläschchen. Dann rückten sie näher an die in so tiefes Sinnen Versunkene heran. Plötzlich faßte der Eine sie mit beiden Händen bei der Gurgel, so daß sie keinen Laut ausstoßen konnte, und der Andere legte ihr das Tuch auf Mund und Nase. In kurzer Zeit lag sie in ihrem Stuhle, wie eine Leiche. »Wie schön!« flüsterte der Eine. »Wir wollen ihr nicht wehe thun,« meinte der Andere. »Sie hat den Sohn des Panthers gerettet.« Da fiel das Auge des Ersten auf das Album. Er blätterte einen Augenblick lang darinnen und flüsterte dann: »Sie hat Diejenigen lieb, deren Bilder dies sind. Wollen wir ihr dieses Buch mitgeben?« »Wird der Panther nicht zanken?« »Muß er es denn wissen? Er darf sie ja gar nicht zu sehen bekommen.« »So nimm es mit!« Er schlich, während sein Gefährte das Album zu sich nahm, zur ür hinaus und kam bald darauf mit einigen anderen Indianern zurück. Von diesen Leuten wurden die Lichter verlöscht und die beiden Gefangenen vorsichtig emporgenommen, um sie fortzutragen. Der Weg ging den Corridor entlang und die Treppe hinab. Hier wurde die hintere ür entriegelt, so daß man in den Hof gelangen konnte. Dort trat eine dunkle Gestalt zu ihnen. Es war der Panther. »Endlich!« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ihr habt mich lange warten lassen. Leben die Beiden noch?« »Ja,« antwortete Einer. »Habt Ihr die Schlüssel?« »Hier sind sie!« »Wie erfuhrt Ihr, welches die Zimmer dieser Beiden seien?«
»Ich lernte am Tage die Duenna kennen. Ich ging als Bettler her und sang dem Gesinde einige Lieder vor. Das Mädchen vernarrte sich in mich und gab mir Antwort auf alle meine Fragen.« »Gut. Wißt ihr, wo die Kellerthür ist?« »Hier, gleich neben der Treppe.« »So schafft die Beiden zur Stadt hinaus zu den Pferden und schickt mir die Anderen her. Sie warten dort in der Ecke des Hofes. Aber wenn Ihr Euch unterwegs sehen oder gar ergreifen laßt, so ist es Euer Tod!« Sie gingen davon, die Gefangenen auf ihren Armen, und nach wenigen Augenblicken schlichen sich andere Gestalten herbei, fast dreißig an der Zahl. Sie traten in das Haus und zogen die ür des Hofes wieder hinter sich zu, deren Riegel sie vorschoben, um ja von Außen nicht zufälliger Weise gestört zu werden. Der Panther tappte sich zur Stelle, die ihm bezeichnet worden war, und fand die ür. Sie war mit Eisen beschlagen und hatte ein Loch für einen großen Hohlschlüssel. Deshalb wußte er sogleich, welches der richtige war, wählte ihn unter den anderen Schlüsseln aus, steckte ihn leise an und öffnete, ohne daß er ein Geräusch verursachte. Dann befahl er, noch immer mit leiser Stimme: »Hier ist die offene ür! Folgt mir die Stufen hinab! Die zwei Letzten ziehen den Schlüssel ab und die ür hinter sich heran. Auf der obersten Treppenstufe bleiben sie als Wache stehen. Die Lichter werden erst unten angebrannt.« So geschah es. Als sich Alle, außer den beiden Wachen, unten in dem Küchenkeller befanden, wurden einige kleine Laternen hervorgezogen und angebrannt. Nun konnte man das Terrain ganz leidlich überblicken. Ein Stück weiter hinten in dem mit allerhand Speisewaaren besetzten Keller gab es eine zweite ür. Der Panther untersuchte das Schloß derselben, zog einen Schlüssel hervor, welcher paßte, und öffnete.
Jetzt befand man sich im Weinkeller, welcher einen großen Vorrath von Faßwein und ein noch größeres Flaschenlager zeigte. Keiner der Indianer machte Miene, eine der Flaschen anzurühren. Ganz im Hintergrunde gab es nun eine dritte, kleinere ür, welche aus dickem Eisen bestand. Auch hierzu fand sich der Schlüssel. Der Panther war das Schloß nicht gewöhnt, es schien sich sehr schwer zu öffnen. Er trat zur Seite, um mehr Kraft anwenden zu können. Da plötzlich sprang die ür auf und zu gleicher Zeit krachte ein Doppelschuß. Das Pulver sprühte ihnen aus der üröffnung entgegen und zwei der Indianer stürzten nieder. Die Indianer standen vor Schreck wortlos da, und nur der Panther blieb gefaßt. Er bückte sich kaltblütig zu den Gefallenen nieder, leuchtete sie an und befühlte sie, dann sagte er: »Sie sind todt. An einen Selbstschuß habe ich nicht gedacht. Er war mit zwei Kugeln geladen. Schafft sie zur Seite!« Dann leuchtete er empor, um das Gewölbe zu untersuchen, und sagte, um seine Leute zu beruhigen: »Man kann die Schüsse da oben gar nicht hören. Sie waren ganz allein zur Vertheidigung angebracht, nicht aber, um die Bewohner des Hauses zu allarmiren. Uebrigens haben wir die beiden Wächter und im Nothfalle unsere Waffen. Treten wir also ein!« Es rührte ihn nicht im Mindesten, daß er nur durch einen geringfügigen Zufall dem Tode entgangen war. Hätte er nicht zur Seite gestanden, so wäre er von einer der Kugeln oder von allen beiden getroffen worden. Das kleine Gewölbe konnte gar nicht Alle fassen. Aber Diejenigen, welche eintreten konnten, sahen nichts als sechs schwarze, eiserne Kisten, welche am Boden standen. Keiner von ihnen wußte, um was es sich eigentlich handele; der Anführer hatte es nicht für gut befunden, ihnen mitzutheilen, daß es sich um den Raub von fünf Millionen handle. »Faßt an!« gebot er.
Es gehörten vier starke Männer dazu, eine der Kisten in die Höhe zu heben. »Nun fort damit, hinauf, und zunächst in den Hof!« Der Panther leuchtete voran und seine Leute schleppten die überreiche Beute hinter ihm her. Als er zu den Schildwachen gelangte, fragte er: »Habt Ihr den Schuß gehört?« »Nur dumpf,« lautete die Antwort. »Verspürtet Ihr oben etwas Verdächtiges?« »Nein.« »So kommt Alle! Löscht aber zuvor die Laternen aus und laßt sie zurück!« Nur er allein ließ die seinige brennen, um den Flur und die nach der Etage führende Treppe zu beleuchten. Er fand Alles in Ruhe und Sicherheit und öffnete nun die Hofthür, nachdem er sein Licht auch verlöscht hatte. Seine Leute folgten ihm hinaus, keuchend vor Last. Es ging bis hin zur Mauer, hinter welcher ein Weg vorüber führte. Zwei Männer standen hier, welche nicht unthätig gewacht, sondern einen Bock hingestellt hatten, über welchen einige starke Bretter vom Boden hinauf zur Kante der Mauer führten. Der Panther war umsichtig gewesen und hatte für Alles gesorgt. »Ist der Wagen noch nicht da?« fragte er die Wachen. »Er wartet bereits draußen,« antwortete der Eine. »Hörte man ihn kommen?« »Nein, denn die Hufe und die Räder sind ja umwickelt. Nur die Pferde schnaubten ein wenig.« »So, nun schnell an das Werk, damit wir vollends zu Ende kommen.« An der anderen Seite der Mauer hielt ein Wagen, welcher mit vier Pferden bespannt war. Die Kisten wurden mit Hilfe der Bretter zunächst auf die Mauer gebracht und dann auf den Wagen geladen.
Dies ging nicht ganz geräuschlos ab, aber man befleißigte sich einer solchen Schnelligkeit, daß keine Gefahr zu befürchten war, selbst wenn Jemand Verdacht geschöpft hätte und herbeigekommen wäre. Das hätte ja immerhin eine gewisse Zeit erfordert. Als die Kisten sich auf dem Wagen befanden, gab der Panther Befehl zum Aufbruche. Einer seiner Untergebenen wagte zu fragen: »Sollen wir nicht unsere Todten mitnehmen, Sennor?« »Nein,« antwortete er barsch. »Sie bleiben da, ebenso wie die Laternen und diese Bretter, damit Niemand denken möge, daß der Engländer selbst mit diesen Kisten geflohen sei. Also vorwärts! Es kommt nur noch darauf an, den Wagen glücklich aus der Stadt zu bringen. Wer Euch hindern will, den schießt Ihr einfach nieder!« Der Wagen fuhr ab. Der Panther blieb noch eine Weile auf der Mauer stehen, dann zog er einen Zettel aus der Tasche, warf ihn in den Hof zurück und sprang jenseits hinab auf den Weg. Auf demselben schlich er sich fort, trat um zwei dunkle Ecken und stand nun vor zwei Männern, welche ein Frauenzimmer zwischen sich hatten. »Ihr könnt gehen und mir mein Pferd bringen!« gebot er. Sie entfernten sich eilig. Er wartete, bis er von ihren leisen Schritten nichts mehr hörte, dann sagte er: »Nun, Sennora, ist Euch die Zeit lang geworden?« »Unendlich!« antwortete sie mit grollender Stimme. »Meine Gegenwart war ganz und gar unnöthig!« »Im Gegentheil, sehr!« höhnte er. »Ist es gelungen?« »Ja, bis jetzt,« »Habt Ihr die Kisten alle?« »Alle!« »So werdet Ihr also Wort halten?« »Ich werde mein Wort natürlich nicht brechen, vorausgesetzt, daß es wirklich fünf Millionen sind.«
Da dachte Josefa daran, daß ihre Spionin nicht von vollen fünf Millionen, sondern von »wohl an die fünf Millionen« gesprochen hatte. Darum sagte sie: »Sollte eine Kleinigkeit fehlen, so kommt es wohl nicht darauf an.« »Soll ich etwa auch eine Kleinigkeit an meinem Worte fehlen lassen, Sennora?« spottete er. »Ich kann mein Wort nicht in eile zerlegen und werde mir also auch nicht die mir garantirte Summe theilen lassen. Ich bin meines Wortes entbunden, sobald ein einziges Goldstück, ein einziger Peso fehlt.« »Das wäre schändlich!« rief sie, fast zu laut für die Vorsicht, welche anzuwenden hier so nothwendig war. »In diesem Falle würdet Ihr mich zwingen, zu verrathen, wer die Kisten geholt hat!« Sie hatte diese Worte in einem drohenden Tone gesprochen. Er lachte in seiner höhnisch kalten Weise und antwortete: »Und ich würde in diesem Falle verrathen, wer diese Kisten zunächst ausspionirt, mir angeboten und sodann hier Wache gestanden hat. Da bringt man mein Pferd. Lebt wohl, Sennora. Ich werde Euch die Summe, welche ich finde, ganz genau wissen lassen!« Er stieg auf und ritt davon. Es blieb ihr nichts Anderes übrig, als im Dunkel der Nacht allein nach Hause zu gehen, und dabei ahnte ihr, daß sie diese Millionen auf das Spiel gesetzt habe, ohne das Geringste dabei zu gewinnen. – Bereits am frühen Morgen versetzte die Nachricht von dem Verschwinden des Geldes die ganze Stadt Mexiko in die größte Aufregung. Ein solcher Raub* war so unerhört, daß man gar nicht begreifen konnte, wie er hatte gelingen können, obgleich die Spuren deutlich genug waren, um daraus zu sehen, in welcher Weise er unternommen worden war. Man fand den abgeschossenen Selbstschuß, die beiden Todten, die Laternen, den Bock mit den Brettern und sogar auch den Zettel, welcher die Worte enthielt: * Dieser Raub ist eine geschichtliche atsache. Der Verfasser.
»So muß es allen Fremden gehen, welche nach Mexiko kommen, um Humanität zu predigen und dabei doch Reichthümer zusammenzuscharren und die Hilfsquellen des Landes zu verstopfen! Einer, dem nie seine Rache mißlingt.« Der äter konnte kein gewöhnlicher Mann gewesen sein. Er mußte ungewöhnliche Mittel in Bewegung zu setzen haben und eine Kühnheit besitzen, die ihresgleichen suchte. Aber alle Nachforschungen nach ihm blieben resultatlos. Eine weitere Frage war die, wohin Lindsay mit seiner Tochter gekommen sei. Er war und blieb verschwunden für lange Jahre und man wußte nichts weiter von den beiden Unglücklichen, als daß sie zu gleicher Zeit mit dem Gelde verschwunden seien. Lindsay’s Aufzeichnungen wiesen nach, daß die geraubte Summe vier und eine halbe Million in Gold und Staatspapieren betrage, und als dies Cortejo und seine Tochter hörten, vermochten sie ihre Wuth kaum zu zügeln. Sie hatten den Contract mit dem Panther des Südens umsonst gemacht und waren doch gezwungen, ihren Aerger und ihre Enttäuschung zu verbergen. Und als ob es auch noch dieser besonderen Mittheilung bedurft hätte, erhielten sie nach einigen Tagen die Zeitungsnummer zu geschickt, in welcher von dem Raube die Rede und die genaue Summe angegeben war. Und am Rande der betreffenden Stelle stand geschrieben: »Meines Wortes quitt! Fragt Euch überhaupt, ob Ihr das Zeug zum Präsidenten habt und Sennora Josefa zur Tochter eines solchen!« *** Wie Lindsay mit Amy verschwunden waren, so war es auch mit dem Briefe, den sie für den alten Petro Arbellez nach Deutschland geschrieben hatte. Der Brief gelangte ebenso wenig an seine
Adresse, wie die kostbare Sendung, welcher er beigegeben war. Der Oberrichter hatte alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, aber da keine Reclamation einging, indem der Adressat nicht die mindeste Ahnung von der Sendung hatte, so hielt Juarez sich für überzeugt, daß sie richtig an den Mann gekommen sei. Mittlerweile war bereits vor Monaten in Erfüllung gegangen, was Rosa ihrem geliebten Sternau mit so innigen, glückathmenden Worten geschrieben hatte: sie war von einem Töchterchen entbunden worden, bei dessen Geburt eine hohe, allgemeine Freude in Rheinswalden eingezogen war. Die weiblichen Bewohner des Schlosses hatten vor und bei Eintritt dieses längst erwarteten Ereignisses Alles gethan, was im Bereiche der liebevollsten Hilfeleistung steht, und die männlichen waren schweigend umhergelaufen oder hatten die Köpfe geheimnißvoll zusammengesteckt um von einem »vielleicht ein Mädchen« oder gar einem »Donnerwetter, wenn’s gar ein Junge wäre« zu munkeln. Der Hauptmann saß in seinem Arbeitszimmer, rechnete und rechnete, und als er nicht fertig werden konnte, da bemerkte er, daß er subtrahirt statt dividirt und addirt statt multiplicirt hatte. Und als er wieder von vorn anfing, um die Bestände seiner Waldungen zu berechnen, da mengte er Scheffeln, Erlen, Hasen, Morgen, Rehe, Tannen, Unterförster, Quadratruthen und Rebhühner so gründlich unter einander, daß er die Feder wegwarf und halb zornig, halb lachend ausrief: »Kreuzbataillon, nun hört’s aber doch auf! Was Einen das verrückt macht, wenn sich so ein Bube oder Mädel einstellen will! Ich danke doch meinem lieben Gott, daß ich ein alter Junggeselle geblieben bin. Wäre ich so ein zwölf- bis sechszehnfacher Familienvater geworden, so möchte ich nur meine Rechnungen, Gutachten und Monatsberichte sehen. Ich mengte Eichen, Ziehflaschen, Dachse, Wiegenpferde, Windeln, Holzklaftern, Alles, Alles untereinander. Aber neugierig bin ich doch, wer da Gevatter wird!«
Und indem er das sagte, ging die ür auf und der ehrliche Ludewig Straubenberger trat ein, stellte sich in Achtung und wartete, bis er angeredet werde. »Was willst Du?« fragte der Oberförster. »Um Verlaub, Herr Hauptmann, ich möchte blos fragen, was?« »Was?« wiederholte der Hauptmann, ganz erstaunt über diese geistreiche Ausdrucksweise. »Was?« »Ja, was?« »Nun, was denn, zum Teufel?« »Ja, das ist es ja eben! Was denn, zum Teufel? Es fällt mir vor lauter Neugierde das Richtige gar nicht ein. Ob ›Sah ein Knab’ ein Röslein stehn‹ oder vielleicht ›Ein Schäfermädchen weidete‹. Man weiß ja noch gar nicht, ob’s ein junge oder ein Mädchen wird dahier!« Da konnte der Oberförster nicht länger an sich halten und donnerte, indem er sich drohend erhob: »Kerl, bist Du denn ganz und gar perplex geworden!« »Zu Befehl, Herr Hauptmann, allerdings ganz perplex,« nickte Ludewig. »Aber was, zum Teufel, ist’s denn eigentlich mit dem Knab’ und dem Schäfermädchen, he?« »Nun, die Burschen stehen mit den Waldhörnern unten. Wird’s ein Junge, so denke ich, wir blasen ›Sah ein Knab’ ein Röslein stehn‹, wird’s aber ein Mädel, so blasen wir ›Ein Schäfermädchen weidete‹. Oder befehlen der Herr Hauptmann vielleicht ›Ich bin vom Berg der Hirtenknab’‹ und ›Bin i net a schöner Rußbuttenbub’ –‹ oder ›Das Mädchen hat ein hübsch Gesicht‹ und ›Madle, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite‹? Das sind alles lauter wunderschöne Lieder, und wir blasen sie vierstimmig mit Gefühl und Dreivierteltakt dahier.«
Der Oberförster hatte diese Auslassung seines Lieblingsgehilfen vor lauter Erstaunen wortlos angehört, jetzt aber bekam er die Sprache wieder: »Kerl, Mensch, Ludewig, soll ich Dich etwa hinauswerfen, Dich, die Anderen, den Rußbuttenbub’, die grüne Seite und den ganzen Dreivierteltakt? Bläst man denn einer schwachen Wöchnerin die Ohren voll, he? Leg’ Du Dich doch einmal hin und laß Dich anmusiciren, wenn der Storch in Deiner Feueresse klappert! Nein, so etwas ist doch unerhört!« Der arme Ludewig stand da, als ob ihn der Schlag gerührt hätte. Er brachte vor lauter Verlegenheit nichts hervor als: »Ich soll mich hinlegen, Herr Hauptmann! Ich habe mir doch noch gar keine Frau genommen und bin zweitens auch nicht verheirathet!« »Das weiß ich! Aber das war nur so ein Beispiel. Ich sage Dir, Ludewig, diese Blaserei ist die größte Dummheit, die Du Dir in Deinem ganzen Leben ausgesonnen hast. Ich denke –« Er wurde unterbrochen, denn die ür wurde aufgerissen und der kleine, dicke Alimpo keuchte herein, ganz roth vor Anstrengung. »Ein Mädchen! Herr Hauptmann!« meldete er. »Ein Mädchen?« fragte der Oberförster. »Ist’s wahr?« »Ja. Meine Elvira sagt’s auch!« »Hurrah! Und gesund, Alimpo?« »Wie ein Fisch!« »Victoria! Hurrah! Hussa! Lauf’, Alimpo, lauf’ zum Herzog von Olsunna und zu meinem Sohne und sag’s, daß es ein Mädchen ist! Ludewig, laß satteln! Ich reite sofort nach Darmstadt zum Großherzog! Ein Mädchen! Ein Mädchen! Na, Ihr Kanaillen, was steht Ihr denn noch! Heute bekommt Alles Freibier. Fräulein Sternau soll gleich Napfkuchen backen und gebackene Zwetschken in die Mitte! Ich nehme den Braunen, Ludewig; der Fuchs läuft nicht
mehr so rasch. Der Heinrich mag zum Pfarrer und zum Küster gehen. Bei solchen Anmeldungen muß man pünktlich sein!« Der gute Hauptmann kannte sich vor Freude selbst nicht mehr. Während er auf seinem Braunen nach Darmstadt jagte, lag die junge Mutter auf dem blüthenweißen Lager und betrachtete ihr süßes, schlafendes Kind. Bei ihr saß Flora, die Herzogstochter, die jetzige Frau des einfachen Malers. »Wie ist Dir jetzt, meine Rosa?« flüsterte sie besorgt. »Ich bin matt, aber glücklich,« hauchte Rosa. »Gieb mir sein Bild!« Sie winkte mit den schönen Augen nach der Wand, an welcher Sternau’s Portrait hing. Flora holte es und legte es auf das Bett neben den kleinen Engel. Nun betrachtete Rosa Beide, das Bild und das Kind, um sie mit einander zu vergleichen. »Sieht sie ihm ähnlich, Flora?« fragte sie leise. »Sehr!« lächelte die Gefragte, obgleich sich die Aehnlichkeit eines Neugeborenen wohl kaum bestimmen läßt. »O, wenn er es doch wüßte, der Liebe, Gute!« Sie faltete die Hände und über ihre schönen, jetzt ermatteten Wangen flossen ränen des Gebetes für den Fernen und für das theure Pfand von ihm, welches jetzt an ihrem Herzen lag. Ihre Augen irrten unter diesen ränen immer wieder vom Bilde zum Kinde und vom Kinde zum Bilde, bis sie müde wurden und sich schlossen – sie entschlummerte. Und noch während dieses Schlummers stritten sich in ihren reinen, frommen Zügen das süße, holde Glück der Mutter mit dem Weh des treuen, liebenden Weibes, welches den euren in der Ferne weiß, mitten in Noth und Gefahr. Nun folgten Tage des stillen, ruhigen Zuwartens, bis Rosa sich gekräftigt fühlte und Besuche anzunehmen vermochte. Jetzt nun zeigte es sich so recht, wie sehr die aus dem fernen Spanien Herbeigezogenen allerorts geliebt und geehrt wurden. Die allerhöch-
sten Herrschaften kamen und ebenso sämmtliche Chargen des großherzoglichen Hofes nebst den bedeutenden Bewohnern der Umgegend, um ihre Freude zu äußern und ihre Gratulationen entgegenzubringen. Und einige Wochen später wurde die kleine Weltbürgerin getauft. Der Großherzog, die Herzogin von Olsunna und der Hauptmann von Rodenstein waren Pathe. Das Kind wurde wie ihre Mutter genannt, Rosa, und die Liebe verwandelte diesen Namen in das deutsche Röschen, obgleich die der spanischen Sprache Mächtigen gern auch Rosita sagten. Dieses schöne Glück wurde leider schwer getrübt durch den Gedanken an die Fernen, welche noch immer nichts von sich hören ließen. Es verging ein Jahr und noch ein zweites, und nun schien es wirklich, daß sie spurlos verschollen und unwiederbringlich verloren seien. Auch von Amy Lindsay kam keine Nachricht, obgleich Rosa öfters an sie geschrieben hatte. Da diese Briefe nicht zurückkamen und auch nicht beantwortet wurden, so wußte man sich hierfür gar keine Erklärung zu geben. Rosa betrachtete sich je länger, desto sicherer als Wittwe. Hätte sie Röschen nicht gehabt, so hätte sie den Gram nicht zu überwinden vermocht. Nun aber concentrirte sich ihre Sorge und die ganze ätigkeit ihrer Seele auf ihr Kind und auf den alten, leider immer noch wahnsinnigen Vater. Otto von Rodenstein hatte sich auch in Rheinswalden niedergelassen und genoß hier an der Seite seiner Flora, der Herzogstochter, ein Glück, welches ungetrübt hätte genannt werden müssen, wenn nicht die eilnahme für Rosa und die Verschwundenen ihren Schatten auf dasselbe geworfen hätte. Der Herzog von Olsunna konnte nicht vergessen, daß er durch die Kunst Sternau’s, seines jedenfalls echten Sohnes, vom Rande des Grabes hinweggerissen und dem Leben wiedergegeben worden war. Er liebte seine Gemahlin jetzt fast mit dem Feuer einer
Jugendliebe und bat Gott Tag und Nacht, zu verhüten, daß sein Sohn verloren gegangen sei. Aber je längere Zeit verging, desto hinfälliger wurde die so krampfhaft fest gehaltene Hoffnung. Der Kreis dieser guten, wahrhaft edlen Menschen wurde immer stiller und stiller, und selbst wenn der alte Rodenstein einmal in seiner derben Art und Weise Leben und Bewegung schaffen wollte, so bekam er nur ein schwaches, verzagtes Lächeln zur Belohnung. »Das kann nicht länger so fortgehen,« meinte er daher einmal zum Herzog von Olsunna, als Beide mit einander still und allein durch den Wald strichen. »Sie sind krank, Hoheit; Ihre Frau, meine gute Sternau, ist krank; Alles ist krank, Alles läßt die Flügel hängen und will nicht mehr ein leises Flattern versuchen. So wird der Mensch ganz und gar alle, so geht er zu Grabe! Man muß Hilfe suchen; nicht bei einem Doctor und bei einem Apotheker, sondern wo ganz anders. Zerstreuung ist da das Beste. Wie wäre es mit einer Reise?« Der Herzog schüttelte den Kopf. »Hier habe ich Ruhe gefunden, hier bleibe ich,« sagte er. »Und die Anderen?« »Die denken ebenso, ich bin es überzeugt.« »Also da wäre es mit meinem Vorschlage nichts,« meinte Rodenstein nachdenklich. »Ließe sich denn nicht etwas Anderes finden? Hm! Vielleicht treffe ich es. Also Sie wollen am Liebsten hier bleiben?« »Das ist mein Wunsch.« »Und die Anderen?« »Sie haben denselben Wunsch. Wir setzen natürlich voraus, daß wir Ihnen nicht beschwerlich fallen.« Da blieb der Hauptmann schnell stehen, blickte den Herzog verwundert an, machte sein allergrimmigstes Gesicht und antwortete:
»Das ist’s aber ja eben, Sie fallen mir beschwerlich, ganz außerordentlich beschwerlich. Ich halte es nicht länger aus.« »Ah, Sie scherzen!« meinte der Herzog lächelnd. »Ich scherzen? Fällt mir gar nicht ein!« brauste da der Hauptmann auf. »Ich habe da diese viele Menschheit auf dem Halse, muß diese sauren Gesichter sehen! Das geht nicht länger! Ich brauche meinen Platz selbst; habe ihn erst schon gebraucht und brauche ihn jetzt noch viel nothwendiger.« Der Herzog erschrak fast bei diesen Worten. »Aber, mein bester Rodenstein,« bat er, »sagen Sie mir doch, ob dies wirklich Ihr Ernst ist!« »Mein voller, richtiger, wirklicher Ernst. Ich mag diese trübselige Einquartierung nicht mehr bei mir leiden. Sie wollen hier bleiben, und ich leide es nicht; was bleibt da übrig, Hoheit? Haben Sie Geld?« »Wenn es an diesem fehlt, so –« »Pah, ich brauche keins! Ich frage nur, ob Sie Geld haben. Ja oder nein?« »Ja.« »Nun gut, so bauen Sie! Mein Nachbar, der Baron Hauwald, verkauft. Kaufen Sie ihm seinen Krimskrams ab; er verlangt nicht zu viel. Dann bauen Sie, bauen ein hübsches, nettes Schlößchen, an welchem die Damen etwas Neues sehen und ihre Freude haben. Bauen Sie da ein Maleratelier für meinen Sohn und Ihre Flora. Bauen Sie ein kleines Rodriganda für unsere arme, liebe Rosa und ihr Röschen. Das gibt Zerstreuung. Verstehen Sie mich?« Da konnte sich der Herzog nicht länger halten. Er streckte dem Hauptmanne dankend beide Hände entgegen und rief: »Ja, jetzt verstehe ich Sie, Sie lieber, grober Oberförster. Jetzt weiß ich, wie Sie es meinen. Ja, ich werde Ihren Rath befolgen; ich werde kaufen und bauen, und wir sollen sehen, ob es Segen bringt.« »Es bringt Segen, darauf dürfen Sie sich verlassen! –
Drei Jahre waren seit Röschen’s Geburt vergangen, da wurde der Grundstein zu dem neuen Schlosse gelegt. Der Plan hatte die eilnahme Aller erhalten. Mitten im Parke sollte das Schloß von Rodriganda in Miniatur hinkommen. Endlich wurde das Schloß fertiggestellt, und der Herzog lud zur Einweihung desselben den Adel der Umgegend ein. Es verstand sich von selbst, daß der Großherzog nebst Gemahlin erschien. Die Letztere fuhr mit einigen ihrer Hofdamen etwas vorher, um vorerst nach Klein-Rodriganda zu gehen und ihr liebes Pathenkind zu sehen. Da sahen sie etwas Helles durch die Büsche schimmern. Sie traten näher und erblickten Röschen, mit einem aus Tannenreisern und Hageröschen geflochtenen Strauß auf dem Kopfe und einer eben solchen Guirlande um den Leib. Kurt kniete vor ihr, um sie zu schmücken. Die beiden Kinder erschraken nicht, als sie die hohe Frau erblickten, sondern traten getrost näher. »Was spielt Ihr da?« fragte die Großherzogin freundlich. »Weil Röschen jetzt im Walde wohnt, möchte sie gern Waldröschen heißen, und so habe ich sie gerad wie ein Waldröschen geschmückt.« Da bog sich die Großherzogin, hingerissen von der kindlichen Schönheit des lieblichen Wesens, zu ihr nieder, küßte sie und sagte gerührt: »Ja, Du sollst Waldröschen heißen, denn Du bist so zart und rein, so hold und so schön wie die Blüthen, welche Du trägst. Gott schütze Dich, mein Liebling!« Seit jener Stunde wurde Röschen Waldröschen genannt. Kurt hatte ihr diesen Namen gegeben, und die Großherzogin hatte ihn bestätigt. – Am anderen Tage ging Röschen wieder in den Park. Sie suchte Kurt und fand ihn nicht. Darum ging sie weiter. Da endlich sah sie ein kleines Häuschen vor sich. Sie sah die Pforte des Stacketenzäunchens offen und die ür der Hütte angelehnt und trat ein.
Aber fast hätte sie vor Schreck laut aufgeschrieen, denn auf einem Schemel inmitten des engen, niederen Raumes saß zwar der Waldhüter, aber vor ihm auf dem Stuhle eine alte Frau, so häßlich, wie sie noch gar keine gesehen hatte. Sie wollte fliehen, aber Tombi hatte sie bereits bemerkt und winkte sie näher. Da drehte sich auch die Alte nach ihr um, blickte sie scharf an und sagte: »Das ist sie! Diese Züge tragen fürstliches und gräfliches Gepräge. Wache über sie, mein Sohn! Ich aber will dem Unglücke gebieten, von ihrem reinen Haupte fern zu bleiben!« Sie trat zu Röschen, legte ihr die Hände wie segnend auf das schöne Lockenköpfchen, und während sich ihre Augen emporrichteten, bewegten sich ihre Lippen wie im Gebete. Das Mädchen hob die Wimpern leise und blickte verstohlen zu der Alten empor. Und als sie dieselbe so warm und innig beten sah, war es ihr als ob sie jetzt nicht mehr häßlich aussehe, sondern lieb und gut, wenn auch ein Wenig recht sehr alt. Dann nahm die Frau die Hand wieder zurück, beugte sich freundlich herab und fragte: »Fürchtest Du Dich vor mir?« »Nein,« antwortete Röschen mit einem warmen Aufschlage ihres Auges. »Das sollst Du auch nicht, mein Kind. Merk’ auf, was ich Dir jetzt sage! Ich heiße Zarba und bin der Schutzgeist der Deinen, obgleich sie mich jetzt verkennen. Ich werde Euch erscheinen zu der Zeit, welche da ist für Euch die Stunde des Glücks, für Eure Widersacher aber die Stunde der Rache.« Das waren für Röschen unverständliche Worte, aber sie gruben sich ihr tief in das kleine Herz hinein, und noch als sie die Hütte verließ, blieb sie am Gatterpförtchen stehen, um nachzudenken, was Zarba, der Schutzgeist, gemeint habe. Die Alte aber stand unter der ür, beschattete mit der Hand ihre Augen und blickte dem Waldröschen mit dem Ausdrucke eines Wohlwollens nach, welches den Zügen ihres tief ausgewitterten Gesichtes einen Abendschein
jener Glorie gab, mit welcher einst die Sonne des Südens ihren glücklichen, damals noch unentweihten Lebensmorgen bestrahlte. Und was hatte die einst so schöne Gitana auf das Haupt des Kindes herabgefleht? Wir können es uns denken und werden baldigst erfahren, daß ihr Gebet beim allmächtigen Lenker des Geschicks Erhörung fand.