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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Anne Holden Wahrheit aus zweiter Hand
Kriminalroman
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Anne Holden Wahrheit aus zweiter Hand
Kriminalroman
Sylvia Manson hat sich ihr Leben eingerichtet. Verheiratet mit einem Mann, den sie wegen seiner Seriosität und Tüchtigkeit schätzt, sieht sie in der heimlichen Affäre mit Terence Lambert eine willkommene Abwechslung im gleichförmigen Ehealltag. Es ist die alte Geschichte, die jedoch eine unerwartete Wendung nimmt, als Sylvia vom Zimmer ihres Geliebten aus einen Sexualtäter beobachtet. Da sie es für ihre Pflicht hält, der Polizei die so wichtige Personenbeschreibung zukommen zu lassen, aus verständlichen Gründen aber nicht in Erscheinung treten möchte, bittet sie Terence, an ihrer Statt eine Aussage zu machen. Ein halbherziger Entschluß aus Wahrheit und Lüge, der verhängnisvolle Folgen hat.
Anne Holden
Wahrheit aus zweiter Hand
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel „The Witnesses“ Aus dem Englischen von Brigitte Fock Copyright © 1971 by Anne Holden Copyright © 1973 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg (deutschsprachige Übersetzung)
1. Auflage Vertag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 Lizenz-Nr.: 409-160/156/84 • LSV 7324 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 08/2010 622 661 1 00200
1. TEIL
Sylvia streckte den Arm aus, und nach einigem vorsichtigen Tasten hatte sie ihre Uhr auf dem Nachttisch gefunden. Sie bemühte sich eine Minute, die Zeit abzulesen, was in dem dunklen Raum und bei dem kleinen Zifferblatt gar nicht so leicht war. Dann hatte sie es geschafft. Viertel nach zehn, also Zeit, sich anzuziehen und nach Hause zu gehen. Den Mädchen hatte sie gesagt, sie würde kurz nach elf wieder da sein. Sie schlug die Decke zurück und schlüpfte sachte aus dem Bett, um Terence nicht zu wecken. Sollte er ruhig noch ein paar Minuten schlafen; Hose und Pullover hatte er schnell angezogen. Leise ging sie im Zimmer umher und sammelte ihre Sachen zusammen, dann öffnete sie die Badezimmertür und machte sie erst fest hinter sich zu, bevor sie das Licht anknipste. Die plötzliche Helligkeit blendete sie, und sie kniff die Lider zusammen, dann hatten sich ihre Augen daran gewöhnt und lächelnd betrachtete sie ihr Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Was sie sah, gefiel ihr. Selbst mit dem wirren Haar und jetzt ohne Make-up sah sie gut aus, natürlich nicht schön, auch nicht einmal sonderlich jung, aber bestimmt nicht wie eine Frau, die seit neunzehn Jahren mit Edgar Manson verheiratet war. Sie senkte die Lider, stützte eine Hand auf die Hüfte und schob sie gleichzeitig ein Stück vor – die typische Pose früherer Tingeltangelmädchen. „Sylvia Manson, Abenteurerin“, sagte sie laut und brach dann in ein Kichern aus. Das war Terences Einfluß; er brachte es fertig, daß sie sich glücklich, unternehmungslustig und ein biß6
chen frivol fühlte. Sie war vor Monaten zu der Erkenntnis gekommen, daß Terence genau das Richtige für sie war. Sie drehte das Wasser an und trat unter die Brause – mit einem Blick zur Tür. Manchmal, wenn er das Wasser rauschen hörte, kam Terence ins Bad und zu ihr unter die Dusche, aber an diesem Abend blieb die Tür geschlossen. Wahrscheinlich schlief er noch, und wenn sie ihn weckte, würde er versuchen, sie zum Bleiben zu bewegen. Natürlich würde sie auch gern bleiben; das hatte sie ihm in solchen Situationen oft genug versichert, aber tief in ihrem Herzen wußte sie, daß sie keine Änderung der Verhältnisse anstrebte. Wie die Dinge waren, gefielen sie ihr ausgezeichnet. Sie sprühte Parfüm auf Hals und Brüste, puderte sich den Körper ein und verstaute beide Dosen wieder in ihrer Handtasche. Ehe sie sich anzog, betrachtete sie sich noch einmal im Spiegel. Sie strahlte eine animalische Zufriedenheit aus. An diesem Tag und zu dieser Stunde, also am Dienstag, dem 16. Januar um 22 Uhr 30, war Sylvia Manson eine glückliche Frau – attraktiv und gesund, noch gerade unter vierzig, Mutter zweier Töchter, die sie liebte, mit einem Mann verheiratet, den sie wegen seiner Seriosität und seines Erfolgs gern hatte. Sie war stolz auf ihr Heim und zufrieden mit ihrem Lebensstil – und seit einem Jahr hatte sie nun auch noch Terence gefunden, der Farbe und Aufregung in ihr bequemes Leben gebracht hatte. Vor sich hin summend, zog sie den Reißverschluß ihres kornblumenblauen Kleides hoch, ein Kleid, das die Billigung von Terence und ihren Töchtern gefunden hatte und von Edgar nicht bemerkt worden war, dann beugte sie sich näher an den Spiegel, um Lippenstift, Lidschatten und eine Spur Puder aufzutragen. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, daß sie nichts vergessen hatte, dann schlüpfte sie leise ins Zimmer zurück, wobei sie vorsorglich erst das Licht im Bad ausschaltete. 7
Terence schlief immer noch. Sie trat ans Fenster und spähte durch einen Gardinenspalt auf die Straße hinab. Sie mochte die Gegend, in der Terence wohnte – Straßen mit schmalbrüstigen, hohen Häusern, wo die Leute sogar im Souterrain und auf dem Dachboden wohnten, kleine, eingestreute Plätze dazwischen, überall winzige Läden und die vielen ausländischen Studenten … Alles so verschieden von dem vorstädtischen Wohngebiet, in dem sie zu Hause war, mit seinen baumbestandenen Straßen, den Einfamilienhäusern mit ihren Vorgärten und dem Postboten ungefähr als einzigem Fußgänger. Der Blick von Terences Schlafzimmer machte auf sie immer den Eindruck einer Bühnendekoration, besonders nachts, wenn alles vom gelben Schein der Straßenbeleuchtung erhellt wurde. Direkt unter dem Fenster fiel die Straße etwas ab, um dann hinter den Häuserfassaden des kleinen Platzes wieder steil anzusteigen, daß es den Eindruck machte, als mündeten die Straßen alle in verschiedenen Winkeln ein. Außerdem gab es unten verdunkelte Hauseingänge, zu denen Stufen emporführten, zwei oder drei kleine Läden, eine Telefonzelle und verschnörkelte Laternenpfähle. Eine Katze lief quer über den kleinen Platz, und plötzlich bog ein Mädchen um die Ecke, machte sozusagen ihren Bühnenauftritt, und wanderte langsam auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Die Nacht war so still, daß Sylvia das Klappern ihrer Absätze hören konnte. Als das Mädchen unter der Laterne entlangging, konnte Sylvia es deutlich erkennen – ein junges Ding, mit langem blondem Haar, in einer kurzen Jacke und blanken, hohen Stiefeln. Sie hatte beinahe das Ende des Platzes erreicht, als Sylvia den Mann bemerkte. Er tauchte so überraschend auf, daß Sylvia sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, daß er schon eine Zeitlang unten im Schatten gestanden haben müsse. Jetzt hatte er es auf einmal eilig, nur konnte Sylvia, zum Unterschied zu denen des Mädchens, seine Schritte nicht hören. Kein Wun8
der, da er eine Art Turnschuhe trug, stellte Sylvia fest. Auf einmal hatte sie ein ungutes Gefühl. Selbst aus der Entfernung lag etwas Verstohlenes in den Bewegungen des Mannes, wie er da in einigem Abstand hinter dem Mädchen herschlich. Die Kleine sah sich nicht ein einziges Mal um. Sie kam jetzt wieder unter einer Laterne vorbei, und als sie deren Lichtschein verlassen hatte, huschte der Mann bereits durch den Lichtkegel – er hatte den Abstand also beträchtlich verringert –, und als Sylvia die Szene noch verständnislos beobachtete, sprang er vor. Der Schrei des Mädchens drang dünn durch die Fensterscheibe. Erregt stieß Sylvia das Fenster hoch; in der gleichen Sekunde kam es ihr peinlich vor, daß sie aus dem Fenster herausschreien sollte. „He, Sie da!“ und noch einmal: „Hallo, Sie da!“ war alles, was sie herausbrachte. Aber schon näherten sich unten schnelle Schritte, und in einigen Fenstern ging Licht an. Sylvia beugte sich aus dem Fenster, um mehr zu erkennen. Der Mann auf der hinteren Seite des Platzes war verschwunden und das Mädchen lehnte, die Hände vor dem Gesicht und ihre Tasche neben sich auf dem Pflaster, gegen eine Hauswand. „Was ist denn los?“ fragte Terence in ihrem Rücken. „Warum schreist du denn so?“ Sylvia wandte sich zu ihm um. „Hast du denn nichts gesehen?“ Daß sie ihm die aufregende Begebenheit erst beschreiben mußte, anstatt sie mit ihm teilen zu können, machte sie etwas ungeduldig. „Ich hab überhaupt nichts gesehen“, sagte er. „Ich hab geschlafen, bis du mich mit deinem Rufen aufgeweckt hast.“ „Da war ein Mädchen –“ Sylvia wandte sich wieder dem Fenster zu – „du kannst es da unten noch sehen. Plötzlich hat ein Mann sie überfallen; er sprang sie an wie ein wildes Tier.“ Terence stellte sich neben sie und spähte hinaus, wobei 9
er sich ein Hemd vor den nackten Körper hielt. „Es scheint ihr nichts geschehen zu sein“, meinte er. „Sie ist auf den Füßen, und es sind Leute bei ihr. Ob dein Rufen ihn verjagt hat?“ Sylvia dachte darüber nach. „Ich glaub nicht“, sagte sie schließlich. „Es kamen Leute dazu, die haben ihn verscheucht.“ „Aber geschnappt haben sie ihn wohl nicht. Sie stehen nur so herum.“ „Er hatte einen zu großen Vorsprung“, sagte Sylvia. „Aber bestimmt wird man die Polizei benachrichtigen. Mein Gott“, brachte sie heraus, als sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Schon Viertel vor elf! Ich muß los. Sei lieb und zieh dich schnell an. Die Idee, mir jetzt allein ein Taxi suchen zu müssen, behagt mir nicht.“ Während er sich etwas überzog, sah sie weiter aus dem Fenster; es war aber nichts mehr zu sehen. Das Mädchen und ihre Retter hatten sich entfernt, und der Platz lag jetzt wieder verlassen da. Am nächsten Morgen beim Frühstück stellte Sylvia wieder einmal fest, daß die Mansons, wenn sie so vereint am Frühstückstisch saßen, glatt zu einem Werbespot dienen könnten. Da war die Mutter am Kopf des Tischs, dann die beiden gesunden Mädchen (vielleicht hätte zum Bild besser noch ein Junge gehört), mit schimmernden Haaren und jede ein Glas Orangensaft vor sich. Karierte Gardinen am Fenster, lustiges Kaffeegeschirr auf dem Tisch, der blanke Kühlschrank und die dampfende Kaffeekanne. Und natürlich noch der Vater, in dunkelgrauem Anzug mit Weste, in seine Zeitung vertieft, hinter der ab und zu eine Hand hervorkam, um nach der Tasse zu greifen. Um Viertel nach acht brachen die Mädchen auf; um zwanzig nach acht faltete Edgar die Zeitung zusammen, legte sie ordentlich neben seinen Teller und ging nach oben. Fünf Minuten später kam er wieder herunter, fix 10
und fertig für die Stadt angezogen, und küßte Sylvia, die immer noch auf ihrem Platz saß, flüchtig auf die Wange. Das war die allmorgendliche Routine, nur diesmal sagte er, als er sich wieder aufrichtete: „Du bist gestern ziemlich spät nach Hause gekommen.“ Sylvia schrak zusammen. Edgar hatte sich nie darum gekümmert, wie sie ihre Zeit verbrachte. Früher war das ein gewisser Kummer für sie gewesen, jetzt empfand sie es seit längerem schon als höchst praktisch. Seine überraschende Frage rief ihr ins Gedächtnis zurück, wie wichtig diese gewisse Interesselosigkeit für sie war. Gestern abend hatte er kein Wort über die Zeit verloren, aber anscheinend erwartete er jetzt eine Antwort von ihr. „Wirklich? Aber nur ein paar Minuten später als sonst“, sagte sie und griff nach der Kaffeekanne. Nur mit Mühe erinnerte sie sich daran, daß sie offiziell in ihrem Club gewesen war, um sich einen Vortrag anzuhören. „Die Diskussion hat ziemlich lange gedauert“, sagte sie. „Bist du mit dem Bus gekommen?“ erkundigte er sich. Was hatte er bloß? Sie überlegte schnell, was sie antworten sollte. Vielleicht hatte ja jemand sie aus dem Taxi steigen sehen. Andererseits pflegten die Mansons sich nicht oft eines Taxis zu bedienen. „Natürlich“, sagte sie schließlich und hoffte, daß ihr Ton die richtige leichte Überraschung ausdrücken würde. „Mir wär’s lieber, du würdest den Wagen nehmen“, gab er zurück. „Warum willst du in der Kälte auf den Bus warten?“ Sie wandte sich ihm zu und lächelte erleichtert. Er sorgte sich nur, daß sie sich nicht erkältete, das war alles. „Ach, ich brauch nie lange zu warten. Außerdem weißt du doch, daß ich bei Nacht nicht gern fahre.“ Daß sie lieber ein Taxi nahm, war eine Vorsichtsmaßnahme; sie wollte nicht riskieren, daß ihr Wagen in Terences Straße bemerkt wurde. Ihre Antwort mußte ihn befriedigt haben, denn er war 11
bereits auf dem Weg zur Tür. „Wiedersehen, Schatz“, rief sie ihm nach. Als die Tür zugefallen war, schenkte sie sich noch eine Tasse Kaffee ein und griff nach der Zeitung. Jetzt war sie an der Reihe. Sie blätterte die Seiten durch, auf der Suche nach irgendwelchen Sensationsmeldungen, dann machte sie sich daran, sie aufmerksam zu lesen. Trotzdem hätte sie die Meldung beinahe verpaßt, wenn ihr nicht auf der Innenseite die Überschrift Wieder ein Mädchen überfallen ins Auge gesprungen wäre. Sie überflog den Artikel; es ging daraus hervor, daß es sich nicht um den Vorfall handelte, den sie beobachtet hatte. Als sie die Zeilen noch einmal durchlas, stellte sie mit einem gewissen Unbehagen drei Fakten fest – der Überfall hatte gestern am späten Abend stattgefunden, er war in dem Viertel passiert, in dem Terence wohnte, und er war der letzte einer Reihe von Überfällen, die in der Gegend bekannt geworden waren. Sylvia legte die Zeitung auf den Tisch und ging ins Wohnzimmer an den Bücherschrank. Sie holte sich einen Stadtplan hervor und suchte nach der Straße, in der der Überfall stattgefunden hatte. Sie lag keine Viertelmeile von Terences Wohnung entfernt. Plötzlich fiel ihr etwas anderes ein, und sie lief zum Frühstückstisch zurück und schlug die Zeitung wieder auf. Im ersten Absatz wurde die Zeit als ‚gestern am späten Abend‘ angegeben, etwas weiter unten wurde die Aussage eines Mannes wiederholt, der behauptete, er habe ein Mädchen um zwanzig nach elf schreien hören. Dieser Vorfall und der, den sie selber beobachtet hatte, lagen räumlich wenige hundert Yards und zeitlich eine halbe Stunde auseinander. Der Mann war entkommen, und das siebzehnjährige Mädchen befand sich in einem bedenklichen Zustand. „Mein Gott“, sagte Sylvia laut. Sie zögerte eine Minute, dann ging sie entschlossen zum Telefon. Terence freute sich, ihre Stimme zu hören, aber sie fiel ihm schnell ins 12
Wort. „Hast du die Morgenzeitung schon gelesen?“ fragte sie aufgeregt. „Ich bin gerade dabei“, gab er erstaunt zurück. „Warum?“ „Hast du die Meldung über das Mädchen gelesen, das gestern überfallen wurde?“ „Das Mädchen? Du meinst, die Sache unten auf der Straße, die du mit angesehen hast?“ „Nein“, entgegnete sie ungeduldig. „Hol mal die Zeitung und lies es dir durch.“ Sie wartete, bis er zurückkam. „Auf Seite drei“, sagte sie. „Links unten.“ Nach einer Minute erkundigte sie sich: „Was sagst du dazu?“ „Ich weiß nicht …“ Er hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. „Auf jeden Fall kann es sich nicht um dasselbe Mädchen handeln.“ „Das nicht. Aber bestimmt um denselben Mann!“ „Also das erscheint mir nicht unbedingt zwingend“, entgegnete er schnell. Alles Melodramatische lag ihm nicht. „Gott weiß, wie viele Mädchen nachts auf unseren Straßen überfallen werden.“ „In dem gleichen Viertel?“ gab Sylvia zu bedenken. Aber Terence gab sich nicht so schnell geschlagen. „Sie haben das Mädchen doch gleich danach gefunden. Es wird bestimmt eine Personenbeschreibung des Täters liefern können, dann haben sie ihn bald. Und dann wird sich’s herausstellen, ob er mit unserer Sache auch was zu tun hatte. Verlaß dich darauf, sie kriegen den Kerl, und dann ist Schluß mit ihm.“ Aber Terence hatte falsch prophezeit. Die Zeitungen brachten die Story abends auf der ersten Seite. Das Mädchen war gestorben, den Mann hatte man immer noch nicht, und die Presse stimmte ein großes Geschrei an. Während ihre Töchter am Eßzimmertisch Schularbeiten machten und Edgar in seinem Arbeitszimmer saß, las Sylvia die Berichte wieder und wieder durch. Das Mädchen, das gestorben war, ein au pair girl, das sich auf 13
dem Heimweg von seinem Studentenclub befunden hatte, war von hinten überfallen und sterbend in den nächsten Vorgarten geworfen worden. Es hatte noch schreien können, worauf die Hausbesitzer angelaufen gekommen waren; bis dahin war ihr Angreifer aber bereits verschwunden. Die Sensation der Story lag aber weniger in der sinnlosen Brutalität des Überfalls als in der Tatsache, daß in knapp zwei Jahren fünf bekannt gewordene Überfälle auf Frauen und Mädchen in dem gleichen Viertel stattgefunden hatten. Dies war der sechste und der schlimmste. Wann würde der Täter zum siebtenmal zuschlagen, fragten die Zeitungen besorgt. Ob der Vorfall, den sie am Vorabend beobachtet hatte, in den fünfen enthalten war, überlegte Sylvia. Sie bezweifelte es eigentlich, das wäre bestimmt in den Berichten erwähnt worden. Am liebsten hätte sie Terence angerufen, aber mit dem Nebenanschluß in Edgars Arbeitszimmer war das nicht möglich. Ob sie schnell zur Telefonzelle an der Ecke laufen sollte? Aber bei der Dunkelheit und den vielen Bäumen und Hecken war ihr die Vorstellung unheimlich. So wartete sie bis zum nächsten Morgen, bis ihre Familie das Haus verlassen hatte, und rief ihn dann an. „Du hast auch nicht den kleinsten Beweis, daß es sich um denselben Mann handelt“, entgegnete er. „Der, den du beobachtet hast, kann ebensogut ein Taschendieb gewesen sein, der es auf die Handtasche des Mädchens abgesehen hatte.“ „Hat er nicht“, widersprach sie. „Der Überfall hat ihr gegolten. Er hat das Mädchen regelrecht angesprungen.“ „Sie wurde aber nicht verletzt.“ „Das wissen wir nicht. Es war spät, und wir hatten es eilig. Du hast dich anziehen müssen, weißt du noch? Es ist glatt möglich, daß man sie mit einem Krankenwagen abgeholt hat.“ 14
„Dann hätten wir die Sirene gehört.“ „Was ist denn mit ihr geworden?“ fragte Sylvia. „Sie ist doch nicht einfach davonmarschiert.“ „Vielleicht hat sie jemand ins Haus geholt und ihr eine Tasse Tee gegeben. Oder jemand hat sie heimgefahren. Als wir ’runter auf die Straße kamen, war jedenfalls nichts mehr von allem zu sehen.“ „Vielleicht ist ihr ja auch nichts passiert“, meinte Sylvia. „Er wurde gestört und rannte davon.“ „Und das muß doch jemand bemerkt haben“, sagte Terence. „Wart’s ab, den haben sie bald.“ Aber Terence irrte sich damit schon wieder. Anscheinend hatte niemand den Mann beobachtet. Es vergingen mehrere Tage, in denen nichts passierte, trotzdem wurde die Story am Leben gehalten. Man begann, von Jack the Ripper zu reden, und die Polizei ermahnte die Frauen des Viertels, nicht mehr nach einsetzender Dunkelheit auf die Straße zu gehen. „Allmählich scheint’s mir, als ob ich der einzige Mensch sei, der den Mann gesehen hat“, sagte Sylvia einige Abende später zu Terence, als sie zusammen in seiner Wohnung waren. „Das bedrückt mich richtig.“ „Dazu liegt kein Grund vor“, entgegnete er irritiert und drückte seine Zigarette aus. Sie saßen nebeneinander im Bett, und bald war es Zeit, sich wieder anzuziehen. „Schließlich hast du den Mord ja nicht gesehen.“ „Das nicht, aber wahrscheinlich den Mörder“, gab sie zurück. „Ich habe noch genau vor Augen, wie er ihr auf der anderen Seite des Platzes nachgeschlichen ist. Wenn ich ihn wiedersähe, könnte ich ihn bestimmt identifizieren – ich glaub’s wenigstens.“ Er sah sie erstaunt an. „Doch“, beharrte sie. „Ich weiß zum Beispiel, wie groß er ist – ungefähr deine Größe. Außerdem war er jung, das merkte man an seinen Bewegungen.“ 15
„Also ein junger Mann von durchschnittlicher Größe“, sagte er ironisch. „Außerdem weiß ich, wie er angezogen war“, sagte sie eigensinnig. „Er hatte einen schwarzen Trainingsanzug an und weiße Turn- oder Tennisschuhe. Darum hab ich ihn zuerst auch für einen Sportler gehalten. Aber das Wichtigste ist – er hat rote Haare!“ Das kam so triumphierend heraus, daß er sie verblüfft anstarrte. „Aber Sylvia, das kannst du doch nicht mit Gewißheit behaupten. Rote Haare!“ „Warum kann ich das nicht?“ fragte sie. „Ich habe ihn unter zwei Straßenlaternen vorbeigehen sehen; das Haar war brandrot und vorne hochgebürstet.“ Sie deutete bei ihrem eigenen Haar an, wie sie das meinte. „Aber warum hast du das denn nicht schon früher gesagt?“ stieß er heraus. „Wieso? Ich behaupte doch schon seit Tagen, daß ich den Mann gesehen habe – oder vielleicht nicht?“ „Aber nicht, daß er rotes Haar hat!“ „Weißt du“, überlegte sie, „normalerweise würde ich es für meine Pflicht halten, der Polizei von meinen Beobachtungen Mitteilung zu machen. Unter den gegebenen Umständen ist das natürlich unmöglich.“ „Du meinst, weil du es von hier gesehen hast?“ fragte er. „Nun, das kannst du kaum jemand erzählen.“ Sie hätte erleichtert sein sollen, daß er mit ihrer Ansicht übereinstimmte; einesteils war sie es auch, aber gleichzeitig fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen. Sie hatte Gegenargumente erwartet und bereits die Gründe parat gehabt, warum sie nicht zur Polizei gehen könnte, Gründe, die sie Terence erklären wollte – also lehnte sie sich in die Kissen zurück, bereit, alles noch einmal mit ihm durchzugehen. Aber er rückte von ihr weg. „Es wird Zeit für dich.“ Seine Bemerkung kränkte sie zutiefst. Bis jetzt war immer sie es gewesen, die zum Aufbruch gemahnt hatte. 16
Trotzdem konnte sie sich, als sie wenige Minuten später unten auf der Straße standen und auf das Taxi warteten, die Frage nicht verkneifen: „Sehen wir uns morgen?“ Bisher hatte sie es ihm immer überlassen, die Verabredung für ein nächstes Zusammensein zu treffen, aber an diesem Abend sehnte sie sich mehr als sonst nach seiner Gesellschaft; diese Sehnsucht hatte außerdem etwas mit der neuen Unsicherheit zu tun. Er war etwas kurz angebunden gewesen, außerdem hatte er sie ohne Widerspruch gehen lassen – alles Kleinigkeiten, die sie aber wie die erste beginnende Herbstkühle nach einem heißen Sommer anmuteten. Seine Antwort kam aber prompt und eifrig. „Aber klar. Ich freu mich schon.“ „Aber nicht in deiner Wohnung“, bat sie. „Laß uns mal zur Abwechslung woanders hin gehen. Die Wohnung ist mir in letzter Zeit etwas auf die Nerven gegangen, als ob mir die Decke auf den Kopf fallen wollte.“ Ihre Eröffnung erstaunte Terence. Vor Monaten waren sich beide einig geworden, ihre kostbaren Stunden nicht in irgendwelchen Bars oder Restaurants zu vergeuden. So kamen sie also überein, sich den nächsten Abend in der Stadt zu treffen. In dieser Nacht konnte Sylvia lange nicht einschlafen. Die Erinnerung an Terences Verhaltensweise bedrückte sie; es half auch nichts, daß sie sie auf das unglückselige Ereignis im Januar zurückführte. Wenn sie doch bloß nicht aus dem Fenster gesehen hätte! Sie verfiel schließlich in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem sie bald wieder hochfuhr, mit dem beunruhigenden Gefühl, daß etwas nicht stimmte, daß da etwas Unangenehmes, aber Wichtiges war, das sie hätte tun sollen. Sie versuchte, das Gefühl zu ergründen, und kam zu der Erkenntnis, daß es ebenso wie Terences Unfreundlichkeit von dem Vorfall herrührte, den sie beobachtet hatte. In der lastenden 17
Dunkelheit des frühen Morgens bildete sie sich ein, daß Terences gewisse Kühle die Strafe für ihre Entschlußlosigkeit sei. Und auf einmal war es ihr sonnenklar, daß sie den Behörden Mitteilung machen mußte, und sie begriff gar nicht mehr, warum sie das nicht längst getan hatte. Außerdem kam es ihr peinigend zum Bewußtsein, daß das andere Mädchen vielleicht noch am Leben sein könnte, wenn sie damals sofort die Polizei benachrichtigt hätte. Sich vorzumachen, daß die Leute, die das erste Mädchen gerettet hatten, den Vorfall gemeldet hatten, wäre ein Selbstbetrug gewesen – sie hatten den Angreifer nicht bemerkt. Sie allein hätte der Polizei eine Personenbeschreibung liefern können, und sie hatte geschwiegen. Wie um ihre mangelnde frühere Aktivität wiedergutzumachen, fühlte sie plötzlich in dem stillen Raum und mit dem ruhig neben ihr schlafenden Edgar im Nebenbett das dringende Bedürfnis nach Betätigung. Sie überlegte sogar, ob sie sich leise nach unten schleichen und gleich die Polizei anrufen sollte. Aber als sie schon die Bettdecke fortgeschoben hatte, rief sie sich zum hundertstenmal ins Gedächtnis zurück, welche Konsequenzen das für sie haben würde. Sie konnte mit dem besten Willen nicht öffentlich zugeben, daß sie den bewußten Abend in Terences Wohnung verbracht hatte. Und wenn sie die Polizei nun bat, die Mitteilung vertraulich zu behandeln? Aber andererseits, wenn ihre Beobachtung wichtig gewesen war, wenn sie den Mörder identifizieren müßte? Das würde auf jeden Fall im Gerichtssaal geschehen müssen, und mit ihrem vollen Namen. Also, wenn sie nicht bereit war, alle Konsequenzen auf sich zu nehmen und unter Eid auszusagen, dann war es sinnlos, sich überhaupt an die Polizei zu wenden. Zitternd legte sie sich wieder zurück und versuchte, sich einen neuen Weg auszudenken. Wie wär’s denn, wenn sie es mit einem anonymen Telefonanruf versuchte? Sie brauchte doch nur zu sagen, daß man in Verbin18
dung mit den Überfällen nach einem rothaarigen jungen Mann Ausschau halten solle. Wenn sie von einer öffentlichen Fernsprechzelle anrief und ihre Stimme verstellte … Aber wahrscheinlich trafen im Moment Hunderte von ähnlichen Hinweisen bei der Polizei ein, und man würde sich gar nicht groß darum kümmern. Trotzdem fühlte sie sich etwas beruhigt, nachdem sie nun zu einer Art von Entschluß gekommen war, und schlief wieder ein. Aber dann träumte sie, daß sie und Terence einen rothaarigen Mann durch verschiedene Nachtclubs verfolgten, von denen einer immer ausgefallener war als der andere. Schließlich hatten sie ihn auf dem Gelände von Sylvias alter Schule gestellt. Da riß der Gejagte plötzlich seine rote Perücke vom Kopf, und Sylvia stellte fest, daß es Edgar war, den sie beide die ganze Zeit verfolgt hatten. Es war noch sehr früh, als Sylvia wieder aufwachte, aber der Traum hatte sie so erregt, daß sie nicht mehr einschlafen konnte. Sie schlüpfte leise aus dem Bett, ging nach unten und versuchte krampfhaft, an etwas Angenehmes zu denken. Zum Beispiel an das neue Kleid, das sie für Julies Abschlußtanz hatte nähen lassen wollen. Den Stoff hatte sie schon besorgt – türkisfarben, jetzt brauchte sie sich nur noch für einen Schnitt zu entscheiden. Auf einmal, völlig übergangslos, überlegte sie wieder, wie sie die Polizei informieren könne. Im kalten Licht des Morgens erschien ihr ein anonymer Anruf ganz unmöglich. Nach wem sollte sie fragen, was sollte sie sagen? Telefongespräche hatten es an sich, daß sie unbefriedigend blieben. Oft genug, wenn sie mit Terence gesprochen hatte, war sie hinterher die Unterhaltung noch einmal durchgegangen, hatte sich seine Bemerkungen ins Gedächtnis zurückgerufen und sich gefragt, ob sie sich auch ganz klar ausgedrückt habe. Wieviel leichter noch konnte es zu Mißverständnissen kommen, wenn sie mit einem Fremden sprach, der von Beruf aus argwöhnisch, wenn nicht gar feindlich eingestellt 19
war! Nein, sie konnte die Polizei nicht anrufen. Aber etwas tun mußte sie, jetzt, wo ihr Gewissen erwacht war. Zum Schluß entschied sie sich für die alte Lösung: Sie würde einen Brief schreiben. Darin konnte sie alles sagen, was zu sagen war. Und wenn sie es geschickt anfing, würde man sie nicht als Absender identifizieren. In dem angenehm erregten Gefühl, an einem Drama teilzuhaben, ohne aber mit hineingezogen zu werden, begann sie, die Einzelheiten auszuarbeiten. Der Brief muß anonym bleiben, das verstand sich von selbst, und ein anonymer Brief durfte natürlich weder von Hand noch mit einer Maschine geschrieben werden, die man aufspüren konnte. Also würde sie die Wörter aus Zeitungen ausschneiden und aufkleben müssen. Gleich nachdem ihre Familie aus dem Haus war, würde sie den Stapel alter Zeitungen aus dem Schrank holen und sich an die Arbeit machen. Nach dem Frühstück aber kamen ihr Bedenken. Wenn man die Zeitungen nun bis zum Haushalt der Mansons zurückverfolgte? Also zog sie sich den Mantel an, kaufte an einem weiter entfernten Kiosk, wo man sie nicht kannte, mehrere Blätter und eilte nach Hause zurück. Ohne erst den Mantel abzulegen, setzte sie sich mit den Zeitungen und ihrer Nähschere hin, als ihr aufging, daß sie noch einen Bogen weißes Papier und ein Fläschchen Klebstoff brauchte. Nach einigem Kramen fand sie alles in Marions Zimmer. Nach einigen Fehlansätzen gab sie die Idee auf, ganze Wörter zu benutzen, und machte sich daran, aus den Balkenüberschriften einzelne Buchstaben auszuschneiden. Das dauerte eine unglaublich lange Zeit, außerdem vergaß sie immer wieder, welche Buchstaben sie als nächstes benötigte. So beschloß sie, sie je nach Bedarf auf den Bogen zu kleben. Die Buchstaben waren von unterschiedlicher Größe und standen schief und krumm auf dem Papier. Obwohl sie sich für einen kurzen Text entschieden 20
hatte, füllte die Mitteilung schließlich zwei ganze Seiten. Sie lautete: Betr.: Mord an dem au pair girl Mireille Samuel und die Überfälle auf andere Mädchen. Halten Sie nach einem jungen Mann mit roten Haaren Ausschau, ungefähr eins vierundsiebzig groß, mit schwarzem Trainingsanzug und weißen Turnschuhen. Viel war es nicht, aber mehr hatte sie nicht dazu zu sagen. So faltete sie den Brief zusammen, schob die beiden Bogen in einen braunen Geschäftsumschlag und adressierte ihn mit Blockbuchstaben an das Polizeirevier, in dessen Bezirk das Mädchen ermordet worden war. Anschließend fuhr sie mit dem Bus weit genug fort, ehe sie wagte, den Brief in einen Postkasten zu stecken. Es war Donnerstag, und die Mädchen hatten nur vormittags Schule; sie mußte sich also beeilen, vor ihnen wieder im Haus zu sein. Als sie zu Hause war, merkte sie, daß sie weder eingekauft noch im Haus aufgeräumt hatte. Der Brief hatte sie den ganzen Morgen beschäftigt. Sylvia ging öfter aus, aber nur selten an zwei aufeinanderfolgenden Abenden. Eigentlich hätte sie gedacht, daß Edgar keine Notiz davon nehmen würde, als sie aber an diesem Abend im Mantel vor ihren Mann trat, sah der sonst so wenig Neugierige von seinem Buch auf. „Schon wieder fort?“ bemerkte er milde. „Und warum nicht?“ entgegnete sie in einem Ton, der ihre beiden Töchter veranlaßte, aufzublicken. Mit Mühe bezwang sie ihre Ungeduld. „Ich bleib nicht lang.“ „Warum mußt du denn überhaupt gehen?“ wollte Julie wissen. „Weil ich ein paar Leute sprechen möchte, wegen des Weihnachtsspiels, das wir im Club geben.“ Die Antwort kam unüberlegt und war eine unnötige Lüge, etwas, das sie normalerweise vermied. 21
Marion entgegnete auch prompt: „Ich denke, du hast alles an Mrs. Ballance übergeben.“ Sylvia erinnerte sich, daß sie etwas in der Art gesagt hatte; die Mädchen hätten vielleicht durch die Mütter ihrer Freundinnen erfahren können, daß sie nicht mehr bei den Proben erschien. „Es sind nur noch ein paar Dinge zu regeln; danach können sie ohne mich auskommen“, sagte sie. „Heißt das, daß du dann wieder öfter zu Hause bleiben wirst?“ beharrte Marion. Herr im Himmel! Was war in die drei gefahren? „Vielleicht, so genau kann ich das nicht sagen“, entgegnete sie so vage wie möglich, während sie auf die Tür zuging. „Ihr werdet sicher noch auf sein, wenn ich zurückkomme.“ Sie seufzte vor Erleichterung, als die Tür hinter ihr zufiel, und rannte beinahe bis zur Kreuzung, an der sie ein Taxi finden würde. Dank eines rücksichtslosen Busfahrers und einer zufälligen grünen Welle der Verkehrsampeln war Terence zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit bei dem Café angekommen, wo er mit Sylvia verabredet war. Da sie sowieso immer etwas zu spät kam, sah er keinen Grund, warum er im knöcheltiefen Schneematsch draußen auf sie warten sollte. Er ging also hinein, wählte einen Tisch, von dem er die Eingangstür und einen Teil der Straße überblicken konnte, bestellte sich eine Tasse Kaffee und machte sich daran, Sylvia in aller Ruhe zu erwarten. Seine Aufmerksamkeit wurde aber bald abgelenkt. Er hatte einmal ganz in der Nähe des Cafés gearbeitet und dementsprechend seine meiste Freizeit hier verbracht. So hatte er kaum einen ersten Schluck getrunken, als zwei frühere Bekannte auftauchten, ihm auf die Schulter schlugen und sich zu einem Schwatz niederließen. Als Sylvia schließlich nach fünfminütiger Wartezeit in der Kälte zitternd das Café betrat, stellte sie empört fest, daß ihr Terence sich in einer angenehmen Unterhaltung 22
befand, anstatt sie draußen verfroren und besorgt herbeigesehnt zu haben. Er sah sie sofort, winkte sie zu sich an den Tisch, stellte ihr seine beiden Bekannten vor und ließ ihr Kaffee und Kuchen bringen. Aber das alles besänftigte sie nicht. Sie wollte ihn allein sprechen, außerdem ärgerte sie sich, daß er seinen Freunden ihren Namen genannt hatte – zwar ohne das dazugehörige „Mrs.“, aber schließlich trug sie einen Ehering, der wenig zu Terences besitzergreifender Haltung ihr gegenüber passen wollte. Dann beruhigte sie sich etwas: Sie konnte ja auch verwitwet oder geschieden sein. Die Unterhaltung versiegte langsam, da sie ziemlich schweigsam blieb. Die beiden Männer sahen auf die Uhr, erhoben sich und verabschiedeten sich. Terence, der sie wegen ihrer guten Erscheinung und Eleganz stolz vorgestellt hatte, war jetzt durch ihre offensichtliche Kälte in Verlegenheit gebracht. „Was hast du denn bloß?“ fragte er, kaum daß die beiden außer Hörweite waren. Sylvia explodierte prompt, und er gab ihr nichts nach. Es wurde ihr bisher bitterster Krach. Sie beruhigten sich wieder und zogen in einen Pub, wo Terence zwei Whiskeys und sie einen Brandy trank. Als sie sich endlich trennten, waren sie wieder versöhnt, aber Terence hatte nichts von der Platte erwähnt, die er ihr mitgebracht hatte, und Sylvia hatte aus Trotz geschwiegen und nichts von dem Brief an die Polizei erzählt. Um halb elf war Sylvia wieder zu Hause und ging gleich ins Bett – mit der Entschuldigung, sie habe Kopfschmerzen. Aber sie konnte nicht schlafen. Dauernd mußte sie daran denken, wie fröhlich Terence gewirkt hatte, als er mit seinen Freunden zusammengesessen hatte. Sie fand es empörend, daß sie sich allein mit Problemen herumschlagen durfte und Terence sich überhaupt keine Gedanken machte. Eigentlich könnte er ihr doch irgendwie helfen. Schließlich – so argumentierte sie in 23
der Dunkelheit – war es ja seine Schuld, daß sie in diese Lage geraten war. Morgens war sie dann wieder vernünftigen Überlegungen zugängig; sie gab ihm nicht mehr die Schuld an allem, behielt aber den leicht schwelenden Ärger zurück, daß sie allein sich mit der Sache herumschlagen durfte. Das war nicht fair, fand sie. Abends beim Essen sagte Julie: „Barbara hat mir heute in der Schule erzählt, daß sie dich gestern abend gesehen hat.“ Unwillkürlich warf Sylvia einen verstohlenen Blick zu Edgar hin, der war aber gerade aufgestanden und zum Sideboard gegangen, um sich den Senf zu holen. Hatte er Julies Bemerkung gehört? „Mich gesehen?“ wiederholte Sylvia nicht allzu laut. „Ja. Sie und ihre Mutter haben dich in der Gillies Street gesehen.“ „Was hatte denn Barbara dort zu suchen?“ fragte Sylvia eingeschnappt zurück. Julie riß verwundert die Augen auf. „Was hat das denn damit zu tun? Ich glaube, sie und ihre Mutter haben eine alte Tante besucht. Du wärst aus einem Restaurant rausgekommen, sagte Barbara.“ Hat sie nur mich oder Terence und mich gesehen, überlegte Sylvia. „Das muß eine Verwechslung sein“, sagte sie entschlossen. „Ich war nicht einmal in der Nähe von der Gillies Street.“ „Das hab ich Barbara auch gesagt“, entgegnete Julie. „Du warst doch im Club.“ „Da war ich nicht“, sagte Sylvia, die es mit der Angst bekam. „Dort ist es immer so schlecht geheizt, daß wir uns im Haus eines Mitglieds getroffen haben.“ „Wo denn?“ erkundigte sich Marion uninteressiert. „Bei Mrs. Miller“, sagte Sylvia auf gut Glück und setzte schnell hinzu: „Möchte jemand noch Kartoffeln?“ Bei dem einsetzenden Geplauder überlegte sie noch einmal, 24
was sie gesagt hatte. Natürlich war es falsch gewesen, mit einer so definitiven Antwort aufzuwarten. Sie hätte sagen sollen: „Ach ja, ich war in der Gegend; wir haben ein paar Requisiten abgeholt.“ Zu spät nun. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, daß die Mädchen den Vorfall vergessen würden. Ob Edgar etwas von der Unterhaltung aufgeschnappt hatte? Sie bezweifelte es. Seit Jahren hatte er sich angewöhnt, die familiären Gespräche zu überhören und nur zu reagieren, wenn er direkt angesprochen wurde. In der darauffolgenden Woche mußte Sylvia des öfteren an dies peinliche Gespräch zurückdenken, aber als niemand mehr darauf zu sprechen kam, vergaß sie es beinahe. Übrigens hatte Julie noch einmal bei Barbara nachgefragt. Diese hatte nur die Achseln gezuckt. „Es war deine Mutter“, hatte sie gleichgültig gesagt. „Und meine Mammy hat sie auch erkannt.“ Julie erzählte nichts davon zu Hause. Trotz ihres gewissen Ärgers beabsichtigte Sylvia nicht, Terence aufzugeben. Sie sehnte sich mehr denn je nach ihm und wagte kaum, das Haus zu verlassen, um seinen Anruf nicht zu verpassen. Nach drei Tagen meldete er sich endlich – so lange hatte er noch nie gewartet. „Warum hast du nicht schon früher angerufen?“ fragte sie und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Ich hätte dich doch wohl kaum über das Wochenende anrufen können“, entgegnete er überrascht. „Wo deine ganze Familie daheim war.“ Er vermied es immer, Edgar namentlich zu erwähnen. „Das hat dich früher nicht gestört“, sagte sie und dachte mit schmerzlicher, Sehnsucht an ihre reizvollen Gespräche, während sie Edgar durchs Fenster zugesehen hatte, wie er die Rosen beschnitt oder sich seinen anderen Sonntagsaufgaben widmete. Doch aller Verdruß verflüchtigte sich, als Terence ihr 25
am Abend die Tür öffnete. Er war so glücklich, sie zu sehen. Sie legten einen Stapel Platten auf und gingen ins Bett, und es war so schön wie eh und je. Hinterher jedoch, als sie entspannt und glücklich hätte sein sollen, war sie unruhig und nervös. „Ich wünschte, du würdest die Polizei anrufen“, sagte sie auf einmal. „Schließlich ist es deine Wohnung.“ „Weswegen?“ fragte er überrascht. „Ach so, du redest von der alten Geschichte. Macht die dir denn immer noch zu schaffen?“ „Was glaubst du wohl?“ rief sie. „Und du solltest auch mal darüber nachdenken. Warum kannst du nicht anrufen und sagen, was wir gesehen haben? Du brauchst ja nichts von meiner Gegenwart zu erwähnen.“ „He, Moment mal“, sagte er. „Ich hab schließlich nichts beobachtet.“ „Aber ich hab dich doch gerufen“, beharrte sie. „Etwas mußt du doch mitbekommen haben.“ „Als ich ans Fenster kam, war alles schon vorbei. Schön, ich hab das Mädchen unten stehen sehen und bei ihr ein paar Leute, das war aber alles.“ „Dann hast du den Mann überhaupt nicht bemerkt?“ „Natürlich nicht, das weißt du doch. Worauf willst du eigentlich hinaus?“ „Wenn du gleich gekommen wärst, als ich dich rief, dann hättest du ihn aber gesehen.“ „Ich hab geschlafen“, entgegnete er. Es paßte ihm nicht, sich beschuldigen zu lassen. Sylvia schwieg einen Moment, und als sie sich endlich zu einer Antwort aufraffte, klang ihre Stimme weicher, beinahe bittend. „Terence“, sagte sie, „kannst du nicht behaupten, du hättest den Mann gesehen? Nein, hör mir erst zu, du brauchst doch nur die Beschreibung zu wiederholen, die ich dir gegeben habe – rote Haare und so. Schließlich warst du doch dabei. Du hättest ihn doch sehen können.“ 26
„Hab ich aber nicht“, hielt er ihr entgegen. „Aber du mußt doch einsehen, daß ich die Polizei nicht anrufen und zugeben kann, daß ich in deiner Wohnung war – oder? Dich dagegen hält nichts davon ab. Kannst du es nicht mir zuliebe tun?“ „Nein.“ „Was hast du denn?“ rief sie. „Glaubst du mir denn nicht?“ „Natürlich glaube ich dir. Aber ich kann unmöglich bei der Polizei anrufen und behaupten, ich habe etwas gesehen, was ich gar nicht gesehen habe.“ Sylvia flehte und argumentierte; er blieb hart. Dabei war sie so überzeugt gewesen, ihn umstimmen zu können. So zog sie sich in verletztem Schweigen an. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihm von ihrem anonymen Brief zu erzählen; bei seiner verständnislosen Haltung aber brachte sie es nicht über sich. In den nächsten Wochen passierte nichts Neues, was ihrer beider Verhältnis anging. Sie trafen sich wie immer zweimal in der Woche, und obwohl sie die „JanuarAffäre“, wie sie es nannten, so gut wie nie erwähnten, kam es viel öfter wegen Nichtigkeiten zu Streitereien zwischen ihnen. Schließlich wurde eines Nachts wieder ein Mädchen in der Nähe überfallen, und beiden wurde schlagartig klar, daß die vergangenen Wochen praktisch nichts anderes als eine Wartezeit auf eben diesen neuen Vorfall gewesen waren. Sylvia weinte, als sie am nächsten Morgen das Bild des Mädchens in der Zeitung sah. Die Kleine war siebzehn und sah Julie etwas ähnlich. Sylvia ging zum Telefon und rief Terence, an, noch ehe er zur Arbeit ging. „Da hast du’s nun“, sagte sie wütend. „Das Mädchen könnte im Sterben liegen, was du mit einem Telefongespräch hättest verhindern können.“ „Nun mach mal halblang“, entgegnete er erbost. „Versuch jetzt nicht, mir die Schuld zuzuschieben. Sylvia, du 27
benimmst dich wie ein verwöhntes Kind. Ich hab den verflixten Kerl doch nicht gesehen, sondern du!“ „Aber ich kann doch nicht anrufen“, rief sie. „Das hast du doch selbst zugegeben. Und wieso kannst du mich ein verwöhntes Kind nennen, wenn ich doch nur an diese armen Mädchen denke. Wenn ich so selbstsüchtig und verwöhnt wäre, würde ich die Sache längst vergessen haben.“ „Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. Aber du mußt einsehen, daß ich der Polizei keinen Haufen Lügen auftischen kann.“ „Das sind doch keine Lügen“, beharrte sie eigensinnig. „Es ist die Wahrheit. Was macht es schon, wer von uns beiden aus dem Fenster gesehen hat?“ „Das haben wir schon …zigmal erörtert“, entgegnete er müde. „Und was wäre, wenn ich wirklich angerufen hätte? Wenn ich gesagt hätte: ‚Haltet nach einem rothaarigen Mann Ausschau!‘ Glaubst du, das hätte was genützt? Daß ich nicht lache!“ „Es wäre ein Hinweis gewesen. Vielleicht gerade das, was ihnen noch gefehlt hätte.“ „Kaum anzunehmen.“ „Wenn das Mädchen stirbt – wirst du dann anrufen?“ fragte sie. „Ich habe der Polizei nichts mitzuteilen“, entgegnete er und legte auf. Aber als er in seinem Büro war, konnte er sich nicht konzentrieren. Er liebte Sylvia – mehr noch als zu Beginn ihrer Freundschaft; er hoffte immer noch, daß sie vielleicht einmal heiraten könnten, und diese häufigen Streitereien mit ihr belasteten ihn stark. Außerdem war er längst nicht mehr so positiv in seiner Haltung, wie er im Gespräch mit ihr vorgab. Vielleicht war ihre Information tatsächlich wichtig. Vielleicht beobachtete die Polizei bereits mehrere Verdächtige und konnte sich nicht für einen entscheiden. Wenn das mit dem roten Haar bekannt wäre … Wie wär’s, wenn er anriefe und sag28
te: „Ich habe Grund, anzunehmen, daß der gesuchte Mann rothaarig, jung und von mittlerer Größe ist.“ Aber würde man es dabei belassen? Wohl kaum. Sie würden wissen wollen, welche Rotschattierung; er würde zeigen müssen – wie Sylvia es getan hatte –, wie er das Haar in einer Tolle aus der Stirn gebürstet trug. Und zu behaupten, der Mann habe sich verstohlen bewegt, genügte nicht. Nein, nein, es gehörte schon ein Augenzeuge dazu, und Sylvia war nicht in der Lage, sich zu melden. Punktum. Zur Lunchzeit brachte Terence es nicht fertig, wie sonst in die Kantine zu gehen, so setzte er sich mit einem Becher Kaffee und einem frischen Päckchen Zigaretten ans Fenster und sah hinaus. Unten auf der Straße riefen die Zeitungsjungen die Schlagzeilen der ersten Abendausgaben aus, aber soweit er verstehen konnte, wurde nicht erwähnt, daß man den Mann verhaftet habe. Abends rief Sylvia wieder an und sagte, daß sie in seine Wohnung kommen werde. Voller Nervosität wartete er auf sie. „Hast du die Zeitung schon gelesen?“ waren ihre ersten Worte, mit denen sie ihn überfiel. „Es heißt, dem Mädchen geht es sehr schlecht.“ „Sie wird’s schon überstehen“, gab er zurück. Sylvia sah ihn mißbilligend an. „Ich finde, die Sache ist zu ernst, um flapsige Bemerkungen zu machen.“ Sie redete weiter, drängte, wollte ihn überzeugen, aber er hörte schon längst nicht mehr zu. Es war, als sammle er alle seine Kräfte, wie ein Pferd kurz vor dem Sprung. „Na schön“, unterbrach er sie mitten im Satz. „Wie ist die Nummer?“ Sie war völlig überrascht. „Soll das heißen, daß du die Polizei anrufen willst?“ fragte sie. „Ja. Wie ist die Nummer?“ wiederholte er ungeduldig. Sie sah vor Überraschung beinahe etwas dümmlich aus, fand er. 29
„Ich weiß sie nicht auswendig“, sagte sie nervös. „Aber sie wird ja wohl im Telefonbuch stehen. Willst du gleich anrufen?“ Terence antwortete nicht; er hatte schon das Telefonbuch aufgeschlagen. Dann lief er mit dem Buch, den Finger auf der gesuchten Nummer, zum Apparat. Sie sprang von der Couch auf und legte ihm die Hand auf den Arm. „Willst du jetzt auf der Stelle anrufen?“ rief sie. „Warum nicht?“ entgegnete er und wählte bereits. „Aber du mußt dir doch erst überlegen, was du sagen willst.“ Sie konnte am anderen Ende der Leitung das Rufzeichen hören, und auf einmal wurde sie von Panik ergriffen. „Warte!“ schrie sie; aber es war zu spät, es meldete sich jemand, und dann nannte Terence schon Namen und Adresse und sein Anliegen. Sylvia schloß kurz die Augen. Jetzt war es geschehen. Gleich darauf legte Terence den Hörer nieder und wandte sich ihr zu. „Sie schicken sofort jemand herüber“, sagte er. „Vom Revier auf der High Street? Um Gottes willen, dann werden sie ja bald hier sein. Ich muß sofort los.“ Sie griff nach Mantel und Handtasche. „Warum denn diese Eile? Du brauchst doch nicht davonzulaufen, Sylvia. Warte einfach im Schlafzimmer, lange werden sie ja nicht bleiben.“ „Mich im Schlafzimmer verstecken, wenn die Polizei nebenan ist?“ fragte sie entsetzt. „Und wenn ich plötzlich niesen muß?“ Terence lachte, aber Sylvia meinte es ernst; sie hatte schon die Tür geöffnet. „Hoffentlich begegne ich ihnen nicht auf der Treppe“, jammerte sie. „Ruf mich morgen an und erzähl mir, wie es verlaufen ist.“ Damit war sie hinaus. Er ging ins Wohnzimmer zurück und sah ihr aus dem Fenster nach, wie sie über den Platz eilte. Er stand immer 30
noch am Fenster, als wenige Minuten später aus der entgegengesetzten Richtung ein Streifenwagen angefahren kam und unten vor dem Haus hielt. Zwei Männer saßen vorne, einer hinten. Terence beobachtete, wie der vom vorderen Beifahrersitz ausstieg und den hinteren Schlag öffnete. Ein Mann in Zivil stieg aus. Terence spürte, wie eine gewisse Erregung in ihm aufstieg: Ein höherer Polizeibeamter würde sich anhören, was er zu sagen hatte; sie hatten seinen Anruf also ernst genommen. Die beiden Männer betraten das Haus, und gleich darauf hörte Terence ihre Schritte auf der Treppe. Nach kurzem Zögern ging er zur Tür und öffnete ihnen. „Ich habe ihren Wagen kommen sehen“, erklärte er. Die beiden waren höchst korrekt. Der ältere stellte sich als Inspektor Quirke vor und sah sich in der kleinen Wohnung um. „Hübsch haben Sie es hier“, bemerkte er beinahe bewundernd. „Wohnen Sie allein hier?“ Die simple Frage brachte Terence aus dem Gleichgewicht. Unwillkürlich sah er sich nach Spuren von Sylvias Gegenwart um. Er hatte das bestimmte und peinliche Gefühl, gleich zu Beginn der Unterredung in die Defensive gedrängt zu sein. Der Inspektor kam nach ein paar allgemeinen Bemerkungen gleich zur Sache. „Also, Mr. Lambert“, begann er, „Sie haben beobachtet, wie in der Nacht von Dienstag, dem 16. Januar, unten auf Ihrer Straße ein Mädchen überfallen wurde. Stimmt das?“ Da war es schon soweit; jetzt kam die große Lüge. Hatte er sie erst einmal ausgesprochen, würde ihm der Rest nicht mehr so schwerfallen. „Ja“, sagte er, „das stimmt.“ „Sie haben also aus dem Fenster gesehen?“ erkundigte sich der Inspektor und wanderte auf das Fenster zu. „Ja.“ „Und dabei haben Sie das Mädchen bemerkt?“ 31
„Das ist richtig“, sagte Terence. „Hatten Sie Licht an und die Vorhänge zurückgezogen?“ „Nein, kein Licht.“ „Sie standen also im Dunkeln und sahen hinaus?“ „Ganz so war es nicht“, sagte Terence und begann zu schwitzen. „Ich war schon im Bett und bin nur mal kurz aufgestanden. Ganz zufällig habe ich dabei den Vorhang beiseite gezogen und einen Blick hinausgeworfen. Dabei hab ich den Mann und das Mädchen gesehen.“ „Hat etwas Sie veranlaßt, hinauszusehen? Zum Beispiel das Geräusch von eiligen Schritten oder hat das Mädchen vielleicht geschrien?“ „Nein, ich habe nichts gehört.“ „Sie haben also rein zufällig, ohne besonderen Anlaß, hinausgeschaut?“ „Das hab ich doch gesagt – es war reiner Zufall!“ (Ruhig jetzt. Verdammt noch mal, warum hatte Sylvia eigentlich hinausgesehen? Da mußte doch ein Geräusch gewesen sein: Er hätte sie fragen sollen.) „Ich möchte nur die Situation klarstellen, Sir. Und wenn Sie uns jetzt mitteilen würden, was Sie nun genau beobachtet haben.“ Terence begann vorsichtig zu sprechen; zum erstenmal ging ihm auf, in welchen Fallstricken er sich verfangen konnte. Er hatte die Sache zu sehr überstürzt, er hätte sich von Sylvia richtig informieren lassen sollen, mit ihr über die Details gehen sollen. „Das Mädchen lief auf der anderen Seite des Platzes vorbei“, sagte er. „Kannten Sie sie?“ erkundigte sich der Inspektor. „Nein, natürlich nicht“, entgegnete Terence nervös. „Ich hab sie noch nie zuvor gesehen.“ „Weiter.“ Terence stellte bei sich fest, daß er sich kaum noch an ihr Äußeres erinnern konnte, obwohl sie noch dagewesen war, als er auf die Straße schaute. Aber er erinnerte sich, 32
wie Sylvia sie beschrieben hatte, und diese Beschreibung gab er jetzt an den Polizeibeamten weiter. „Sie war jung und blond“, zählte er auf. „Sie hatte einen orangefarbenen Minirock an und hohe Stiefel.“ „In welche Richtung ging sie?“ „Von links nach rechts. Während ich sie beobachtete etwa von dort bis dort“, sagte Terence und deutete mit der Hand hinaus. „Und wo war das Mädchen, als Sie den Mann zum erstenmal bemerkten?“ (Vorsicht jetzt!) „Ungefähr da! Dann sah ich, wie der Mann ihr nachkam.“ „Rannte er?“ (Was hatte Sylvia noch gesagt?) „Er schlich ihr nach, aber sehr schnell.“ „Hatten Sie die Vorstellung, daß er das Mädchen verfolgte?“ „Zuerst nicht. Ich hielt den Mann anfänglich für einen Sportler, der seinen Trainingslauf machte. Er hatte ja auch Turnschuhe und einen Trainingsanzug an.“ „Turnschuhe?“ „Aus weißem Stoff mit Gummisohlen. Der Anzug war dunkel, vielleicht schwarz, das war bei dem Licht schwer zu erkennen.“ „Bitte weiter, Sir.“ „Er holte das Mädchen ein, und anstatt es zu überholen, wie ich erwartet hatte, stürzte er sich auf es und packte es am Hals.“ „Und was haben Sie getan, Sir?“ „Getan?“ „Haben Sie an das Fenster geklopft? Gerufen?“ „Ich glaube ja; ich weiß es nicht mehr genau“, sagte Terence, der sich in der Eile nicht so schnell entscheiden konnte, welche Antwort für ihn die ungefährlichste war. „Es ist alles so schnell geschehen. Alles war ganz normal, und dann das! Auf jeden Fall hat das Mädchen geschrien, 33
und dann kamen auch schon von überallher Leute herbeigerannt.“ „Sie haben uns aber nicht angerufen, ich meine, gleich nachdem es passiert war.“ „Ich dachte, das würde jemand von den Leuten besorgen, die bei dem Mädchen standen. Hat denn niemand angerufen?“ „Wenn ja, wird es vermerkt worden sein“, sagte der Inspektor. „Ich frag mich, ob überhaupt jemand den Mann gesehen hat“, sagte Terence. Und als der Inspektor nichts darauf entgegnete, mußte er seine Frage gezwungenermaßen selber beantworten. „Wahrscheinlich nicht. Als das Mädchen schrie, machte er, daß er davonkam.“ „Haben Sie sonst noch etwas hinzuzufügen?“ fragte der Inspektor. „Ich glaube nicht.“ „Noch etwas zu der Beschreibung des Mannes?“ „Er war jung, würde ich sagen, ziemlich dünn, mittlere Größe und so etwa meine Figur. Auf jeden Fall kleiner als Sie, Inspektor, und der Sergeant hier. Aber von seinen Bewegungen her zu urteilen ganz kräftig.“ „Sonst noch etwas?“ (Verdammt, er tat, als wüßte er, daß Terence etwas verschwieg!) „Nun“, sagte er zögernd, „ich hatte in dem Moment die Vorstellung, daß er rothaarig sei.“ „In dem Moment? Haben Sie Ihre Ansicht geändert?“ „Das nicht. Aber der Vorfall liegt Wochen zurück; ich bin mir nicht mehr so sicher, das ist alles.“ „Aber Sie glauben immer noch, daß er rote Haare hatte?“ „Das ist richtig, das glaube ich jetzt noch.“ „Vielen Dank, Sir“, sagte der Inspektor. „Sergeant Jessup wird Ihre Aussage niederschreiben, wenn er wieder im Revier ist. Vielleicht würden Sie in den nächsten Tagen einmal vorbeikommen und sie unterschreiben.“ Terence hatte das Gefühl, daß er ganz gut weggekom34
men war. Er ging noch einmal alles durch, was er gesagt hatte, und schließlich blieb nur etwas zurück, das ihm Kopfschmerzen verursachte. Warum hatte er nur das mit dem roten Haar gesagt! Das wirkte irgendwie konstruiert. Außerdem wußte er genau, daß Sylvia sich erst Tage nach dem Vorfall auf die Farbe festgelegt hatte, als sie sich so verzweifelt einzureden versucht hatte, daß sie den Mann genau gesehen hatte, deutlich genug, um ihn identifizieren zu können. Versuchsweise baute sich Terence für zwanzig Minuten am Fenster auf und blickte hinaus. Es war ein Abend, ganz ähnlich wie der Abend damals, dunkel und kalt, und die gleiche Straßenbeleuchtung. Er sah siebzehn Personen vorbeigehen, alle dick vermummt wegen des Wetters, und er hätte sich bei keiner einzigen auf die Haarfarbe festlegen mögen. Trotzdem ging er am nächsten Tag auf der Polizeiwache vorbei und unterschrieb seine Aussage, einschließlich des roten Haars. Nachdem er soweit gegangen war, konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Nachdem Terence die Polizei benachrichtigt und seine Aussage gemacht hatte, wurde das Leben wieder so normal wie immer, ganz als habe jemand einen Schalter betätigt. Selbst das Mädchen, das noch im Krankenhaus lag, war außer Gefahr. Sylvia floß über vor Erleichterung und Dankbarkeit und war so charmant wie eh und je. Und da ihre Familie auch nicht mehr unter ihrer geheimen Spannung zu leiden hatte, kehrte diese zu ihrer fröhlichen Arglosigkeit zurück, so daß Sylvia es sogar riskierte, in der darauffolgenden Woche drei Abende außer Haus zu verbringen. Am Mittwoch hatte Terence seine Aussage unterzeichnet. Am Samstag der anschließenden Woche sollte Edgar im Rahmen eines kaufmännischen Fortbildungskurses einen Vortrag an einer Wochenendschule halten. Es hatte ihm geschmeichelt, daß man ihn darum gebeten hatte, 35
und er hatte den Vortrag gewissenhaft vorbereitet und ausgearbeitet. Nachdem das erledigt war, konnte er sich direkt auf das Wochenende freuen. Der Kursus fand in einem geräumigen Haus irgendwo inmitten einer herrlichen Landschaft statt. Edgar sollte mit dem Zug dorthin fahren, würde aber am Bahnhof abgeholt und rechtzeitig zum Lunch zu seinem Bestimmungsort gebracht werden. Nach seiner Rede, die für vierzehn Uhr dreißig angesetzt war, sollte eine Diskussion folgen, dann würde man gemeinsam mit den Studenten Tee trinken. Am Nachmittag stand ein Besuch einer berühmten Ruine auf dem Programm, und abends würde dann ein offizielles Festessen mit geladenen Gästen folgen. Ein Eilzug würde ihn gegen Mitternacht wieder in die Stadt zurückbringen. Sylvia freute sich mit ihm. Sie holte seinen Abendanzug hervor und gab ihn in die Reinigung. Am Freitagnachmittag legte sie ihn zusammen und packte ihn in den Koffer, als ihre Töchter ins Zimmer kamen und sie daran erinnerten, daß sie beide am Samstag zu einem Hockeyturnier unterwegs seien. Sofort beschloß sie, den ihr so unerwartet geschenkten freien Tag mit Terence zu verbringen – egal, welches Risiko sie dabei einging. Ihre letzte Begegnung mit ihm außer Haus hatte mit einem Streit geendet, und außerdem waren sie von Julies Freundin und deren Mutter gesehen worden, aber daran mochte Sylvia jetzt nicht denken. Sie fühlte sich glücklich und unbelastet und irgendwie unbesiegbar. Die Tatsache, daß die Polizei jetzt über den Mann mit den roten Haaren informiert und nichts darauf geschehen war, bestärkte Sylvia in der Überzeugung, daß sie ihren Kuchen behalten und trotzdem aufessen könne. Sie hatten gestanden, sie hatten ihr Gewissen erleichtert, ohne daß es unangenehme Folgen gehabt hatte. Daß in Wirklichkeit Terence derjenige gewesen war, der gestanden hatte, war ein Moment, das Sylvia leicht beiseite schieben konnte. Im Gegenteil, im Verlauf des Tages hatte sie 36
mehr und mehr das Gefühl, etwas Verdienstvolles getan zu haben, etwas, das eine Belohnung verdiente, und die Aussicht, einen ganzen langen Tag mit Terence außerhalb der Stadt verbringen zu können, war ein Geschenk des Himmels. Eine bessere Art, das Ende aller ihrer Sorgen feiern zu können, gab es nicht. So beeilte sie sich, Terence anzurufen und ihm ihren Plan mitzuteilen. Es war ein schöner Abend, voraussichtlich würde der nächste Tag ebenso schön sein. Terence war höchst erfreut, mit Sylvia an der Seite durch die Landschaft zu fahren und die ersten Anzeichen des Frühlings zu genießen. Er hatte seinen Wagen damals verkauft, als er Sylvia kennengelernt hatte und sich bewußt geworden war, daß sie ihre meiste Zeit in seiner Wohnung verbringen würden; jetzt mietete er einen schicken kleinen Wagen, lud ihn mit Decken, Kissen, einem Kofferradio, einer Taschenlampe, Konfekt und Landkarten voll und packte dann noch eine silberne Taschenflasche Brandy ein. Es war angenehm, wieder einmal am Steuer sitzen zu können, wenn der Wagen und die Frau neben ihm auch sozusagen nur für einen Tag geliehen waren. Am Samstagmorgen stand er früh auf, wusch und rasierte sich sorgfältig, frühstückte und setzte sich dann rauchend hin, um auf ihren Anruf zu warten. Bei den Mansons hatten die Mädchen gleich nach dem Frühstück das Haus verlassen. Nachdem Edgar ebenfalls expediert war, rief Sylvia bei Terence an, um ihm zu sagen, daß sie sich jetzt auf den Weg mache. Dann lief sie nach oben, um ihren Wildledermantel und Pelzhut zu holen. Sie band das hübscheste Halstuch um, dann rannte sie zur Ecke, an der Terence sie abholen sollte. Sosehr sie sich auch beeilt hatte, er war noch vor ihr dort. Sie stieg fröhlich – wie ein junges Mädchen – in den kleinen Sportwagen; dann ging es in westlicher Richtung aus der Stadt hinaus. Beide waren in glänzender Stimmung und voller Hoffnung. Und ihre Hoffnungen wurden nicht ent37
täuscht. Es schien einer dieser seltenen Tage zu werden, an denen alles gut geht. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und die Straßen waren nicht überfüllt. Als sich ihr Hunger meldete, fanden sie das entzückendste Gasthaus. Neben einem offenen Kaminfeuer verzehrten sie einen herrlichen Hasenrücken, danach ein Stück Obsttorte mit dicker Schlagsahne. Anschließend fuhren sie über eine Landstraße, deren hohe Böschung voller Primeln stand. Terence holte Decken und Kissen hervor, damit beladen zogen sie ein Stück in den Wald hinein, suchten sich ein trockenes Plätzchen, wo sie sich in die Arme sanken. Danach, als ihre Leidenschaft verebbt war, sah Sylvia in den Himmel hinauf und erblickte über Terences Kopf ein Rotkehlchen, das auf einem trockenen Zweig saß und sich deutlich gegen das Blau des Himmels abzeichnete. Sie lächelte verträumt zu ihm hinauf. Julie und Marion wollten um sechs wieder zu Hause sein, aber Sylvia überredete Terence trotzdem, auf ihrem Rückweg in die Stadt noch irgendwo zum Tee anzuhalten. „Es macht nichts, wenn ich nicht da bin“, meinte sie. „An so einem schönen Tag könnte ich ja im Park spazierengehen.“ Und das erzählte sie den beiden auch, als sie spät, aber strahlend nach Hause kam, und die beiden Mädchen dachten nicht daran, an der Wahrheit ihrer Worte zu zweifeln. Terence war Buchhalter, genau wie Edgar, etwas, das Sylvia erheiternd fand. Daß ausgerechnet die beiden Männer in ihrem Leben die gleiche Ausgangsbasis hatten und doch etwas so Unterschiedliches daraus gemacht hatten. Edgar war gleich nach seiner Abschlußprüfung in eine Firma eingetreten, hatte sich mit eiserner Disziplin in Abendkursen weitergebildet, weitere Examen bestanden und war jetzt Prokurist mit der Aussicht auf einen der besten leitenden Posten. Terence dagegen hatte alles viel 38
spielerischer angefangen. Nach seiner Entlassung aus der Army hatte er eine Zeitlang als Buchhalter gearbeitet, dann aber eine Reihe sehr viel amüsanterer, Jobs übernommen, zu denen ein Kopf für Zahlen und eine gute Kenntnis im Steuerrecht gehörten. Er hatte eine PopGruppe gemanagt, war mit einem Fernsehteam im Ausland gewesen, hatte sich mit einem begabten, aber hitzköpfigen Geschäftsmann zusammengetan, der dann Bankrott gemacht und Selbstmord begangen hatte, und war jetzt dabei, die Finanzlage einer kleineren Firma, die Damenhandschuhe herstellte, auszubügeln. Mit ihm verglichen wirkte Edgars langsamer, aber stetiger Werdegang äußerst zahm. Aber Sylvia war einsichtig genug, zu sehen, daß Terence sich auf Risiken einlassen konnte, während Edgar, mit keinem Geld im Hintergrund, an Frau und Kinder zu denken hatte. Terences privates Einkommen bestand aus ein paar hundert Pfund pro Jahr – was für Sylvia einen Teil seines Charmes ausmachte. In ihrem sonstigen Bekanntenkreis hatte niemand Vermögen und dementsprechend ein privates Einkommen, und sie stellte sich vor, daß er sich in sehr viel eleganteren Kreisen bewegte als den ihren und daß er in eine andere, vornehmere Welt gehörte. Terence hatte das Geld von seinem Vater geerbt, einem ehemaligen Offizier in Indien, der bei Terences Geburt schon fünfundfünfzig Jahre alt und pensioniert war, und der mit dreiundsiebzig Jahren bei einem Reitunfall ums Leben kam und alles, was er hatte, seinem Sohn hinterließ. Terence war in zweifacher Hinsicht unabhängig. Da war sein monatliches, wenn auch kleines, privates Einkommen, und außerdem hatte er keine familiären Verpflichtungen. Er war einmal kurz verheiratet gewesen, aber seine Frau hatte ihn drei Jahre später mit einem Klarinettisten aus einer Band in Birmingham wieder verlassen. Nachdem er monatelang nichts mehr von ihr hörte, hatte er sich scheiden lassen. 39
Trotz seiner Unabhängigkeit und der Gleichgültigkeit, was seine Zukunft anging, nahm Terence jeden seiner verschiedenen Jobs ernst, und darum war es auch typisch für ihn, daß er am Sonntag, dem Tag nach seinem Ausflug mit Sylvia, zu Hause blieb und sich mit den Abrechnungen der Handschuhfirma beschäftigte. Die Arbeit fesselte ihn regelrecht, und als er um zwei merkte, daß er noch kein Lunch zu sich genommen hatte, machte er sich eine Kanne Kaffee und ein paar Sandwiches und arbeitete weiter. Als das Telefon um halb sechs läutete, nahm er geistesabwesend den Hörer ab, so sehr war er immer noch mit seinen Papieren beschäftigt – aber die Stimme am anderen Ende der Leitung riß ihn jäh in die Wirklichkeit zurück. „Detective Nicholson“, meldete sich die Stimme. „Spreche ich mit Mr. Lambert?“ „Am Apparat“, sagte Terence und merkte, wie seine Stimme plötzlich einen wachsamen Ton angenommen hatte. „Mr. Lambert, der Inspektor wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie heute abend an einer Identifizierungsparade teilnehmen würden.“ „Heute abend? Wir haben doch Sonntag!“ protestierte Terence und hätte sich in derselben Sekunde ohrfeigen können, so etwas Dummes gesagt zu haben. „Für uns gibt es keine Sonntage“, sagte der Detective. Terence riß sich zusammen. „Eine Identifizierungsparade“, sagte er forsch. „Wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Affäre vom letzten Monat?“ „Das nehme ich an, Sir.“ Die Stimme des Detective klang neutral. „Und wann, bitte?“ „Um neunzehn Uhr, Sir.“ Nur Polizisten pflegten diese Anrede dauernd zu gebrauchen, mußte Terence irritiert denken. „Also um 40
sieben auf dem Revier“, sagte er laut. „Schön, ich werde dasein.“ Damit legte er auf und zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Soweit er über eine solche Aktion informiert war, würde man mehrere Leute in einer Reihe aufbauen, die er sich betrachten und aus der er eventuell den Mann, den er gesehen hatte, herausfinden sollte. Dabei war er doch gar nicht in der Lage, jemanden wiederzuerkennen. Aber hingehen mußte er. Na schön, er würde sich die Leute anschauen und dann mit Gewißheit behaupten, daß er keinen von ihnen seines Wissens nach je gesehen hätte. Und das würde auf jeden Fall der Wahrheit entsprechen. Es würde nicht länger als fünf Minuten dauern, dann würde er den Kopf schütteln, und damit war Schluß. Nachdem er alles genau durchgedacht hatte, fühlte Terence sich erleichtert, obwohl eine gewisse Nervosität blieb, und anstatt sich weiter mit seiner Arbeit zu beschäftigen, briet er sich Eier und Speck. Als er gegessen und wieder aufgeräumt hatte, war es halb sieben. Er rasierte sich noch schnell, dann machte er sich auf den Weg zur Polizeistation. Der Mann hinter dem Tisch war offensichtlich von seiner Ankunft orientiert. Er kam herum und geleitete Terence zu einem dahintergelegenen Raum. Allgemeines Händeschütteln und freundliche Begrüßung. Terence wurde beinahe wie ein Kollege behandelt, zumindest wie jemand, der gegen den gleichen Feind kämpfte. Als man ihm mitteilte, was von ihm erwartet wurde, empfand er ein echtes Bedauern darüber, daß er sie enttäuschen mußte. „Sind die Leute bereit?“ erkundigte sich der Inspektor. „Das sind sie, Sir“, entgegnete der Sergeant. Sie überquerten im Gänsemarsch einen kleinen Hof – Terence in der Mitte. Vor einer Ziegelwand, von starken Scheinwerfern beschienen, stand etwa ein Dutzend Männer, alle in dunklen Hosen und weißen Hemden. Terence 41
blieb überrascht stehen. Er war auf etwas Derartiges vorbereitet gewesen, aber der Anblick dieser schweigenden Männer, die alle in einer Reihe aufgebaut waren, vermittelte ihm ein höchst überraschendes Gefühl peinlichsten Betretenseins. Es nützte auch nichts, als er sich vorhielt, daß alle bis auf einen oder vielleicht sogar wirklich alle ganz normale Bürger wie er waren, die sich der Polizei zur Verfügung gestellt hatten. Wie sie da nebeneinander standen, sahen sie irgendwie finster und feindlich aus. „Ganz recht, Sir, lassen Sie sich nur Zeit“, sagte der Inspektor hinter ihm. So genötigt, begann Terence langsam an der Reihe entlangzugehen, die Polizeibeamten so dicht hinter ihm her, daß er ihren Atem an seinem Ohr spürte. Er fühlte sich unwirklich, wie ein Schauspieler; trotzdem betrachtete er sorgfältig jedes Gesicht, als ob er erwartete, eines wiederzuerkennen. Die zwölf Männer starrten ausdruckslos an ihm vorbei, anonym und nicht einzuordnen. Polizisten, Postbeamte, Lehrer – wer konnte das sagen? Jetzt kam er zu einem Mann mit rötlichem Haar und Sommersprossen. War dies der Verdächtige, den seine Haarfarbe hierhergeführt hatte? Aber sein Haar war kurz geschnitten, und der Mann war breit und untersetzt. Der würde sich nie in einer Art bewegen, die Sylvia als „geschmeidiges Schleichen“ bezeichnet hatte. Mit gutem Gewissen wanderte Terence weiter. Die nächsten waren anders – braune Haare, blonde Haare, überdurchschnittlich groß und dünn, zu alt –, erleichtert und zuversichtlich marschierte Terence auf das Ende der Reihe zu. Dann gelangte er zum elften Mann: blaßblaue Augen auf der Höhe seiner eigenen, jung und schlank, mit einem roten Schopf, der hoch aus der von keinen Falten durchzogenen Stirn sprang. Terence spürte ein seltsames Vibrieren in allen seinen Nerven. Hier wurde er plötzlich mit der Möglichkeit konfrontiert, die er immer von sich geschoben hatte, daß Sylvias Mann in Fleisch und Blut zum 42
Leben erwacht war. Im selben Moment ging ihm noch etwas auf, nämlich daß er den jungen Mann schon einmal gesehen hatte, sogar schon öfter gesehen hatte, obwohl er im Moment nicht sagen konnte, wo. Mechanisch ging er weiter, betrachtete den letzten Mann in der Reihe und ließ sich dann ein paar Schritte beiseite führen. „Nun?“ fragte der Inspektor. Ihm blieb keine Zeit, sich eine neue Taktik auszudenken. Terence schüttelte schnell und beinahe instinktiv den Kopf. „Nein“, sagte er, und seine Stimme klang ihm unerwartet laut und klar in den Ohren. „Tut mir leid, Inspektor.“ Ein Zucken lief über das Gesicht von Inspektor Quirke – Enttäuschung? Ärger? –, aber seine Stimme blieb so gleichmütig wie zuvor. „Möchten Sie sich die Männer vielleicht noch einmal ansehen?“ „Ich glaube, das ist nicht nötig“, sagte Terence und wollte sich schon abwenden, aber der Inspektor beharrte auf seiner Bitte. „Es dauert ja nur ein paar Minuten“, sagte er, und Terence wanderte widerstrebend noch einmal an der Reihe entlang, wobei er sich den Anschein gab, jeden Mann genau zu betrachten – nur den elften mit dem blassen Gesicht und den roten Haaren überging er beinahe hastig. Wieder schüttelte er den Kopf, und diesmal mußten sie ihn gehen lassen. Diese unglaubliche Wendung der Ereignisse hatte Terence ganz durcheinandergebracht. Auf der Straße vor dem Polizeirevier gestand er sich ein, daß er nie an Sylvias rothaarigen Verbrecher geglaubt hatte; jetzt plötzlich einem Mann gegenüberzustehen, der so haargenau ihrer Beschreibung entsprach, war ein Erlebnis, das ihn seiner Fassung beraubt hatte. Dazu kam, daß er den Mann von irgendwoher kannte. War dieser Mann, der ihm so bekannt vorkam und den Sylvia mit beängstigender Genauigkeit beschrieben hatte, der Verdächtige, 43
den er hätte herauspicken sollen? Terence weigerte sich, diese bedrückende Möglichkeit in Betracht zu ziehen – es war zuviel; er klammerte sich an den Gedanken, daß hier ein zufälliges Zusammentreffen vorliegen müsse. Schließlich gab es viele Leute, die sich ähnlich sahen, besonders Leute mit roten Haaren; es mußte Tausende von rothaarigen jungen Männern geben, die dünn und blaß waren. Ob die Polizisten wohl gemerkt hatten, daß er beim Anblick dieses Mannes irgendwie anders reagiert hatte, überlegte Terence. Andererseits war es ja wohl verständlich, daß er jeden Rothaarigen genauer betrachtet haben würde. Auf jeden Fall konnte man ihm, Terence, nichts anhaben. Er hatte sich absolut neutral verhalten, hatte den Verdacht weder auf diesen Mann gelenkt noch ihn davon befreit – also genau die Haltung eingenommen, die ihm übrigblieb. Nachdem er diese Frage, zumindest vorübergehend, zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, kehrten seine Gedanken zögernd und beinahe widerwillig zu dem anderen phantastischen Aspekt der Angelegenheit zurück, nämlich der Tatsache, daß er den Mann kannte. Er wußte, daß er ihn verhältnismäßig oft gesehen hatte; das Gesicht war ihm vertraut, nur auf den Namen wollte er nicht kommen. Er überlegte, wo er ihn getroffen hatte, wo er hingehörte. In einem Büro war es nicht, auch nicht in einem Laden. War er vielleicht ein Zeitungsverkäufer, ein Busschaffner, ein Taxifahrer? Er war überzeugt, daß er ihn in seiner gewohnten Umgebung sofort wiedererkennen würde. War er der Postbote seines Bezirks, ein Barkeeper eines nahe gelegenen Pubs, vielleicht ein Kellner? Irgend so was mußte es sein, dessen war sich Terence ganz sicher. Während er sich den Kopf über die Identität des Mannes zerbrach, war er inzwischen beinahe bei seiner Wohnung angelangt. Er wartete an einer Straßenecke, um ein Taxi vorbeizulassen: In dem Moment – möglich, daß die 44
Auspuffgase als eine Art Katalysator gewirkt hatten – stand klar das Bild des Mannes in einem ölverschmierten Mechanikeroverall vor seinen Augen. „Henderson“, sagte er laut und schnippte mit den Fingern. Mit der Sekunde, da er sich an den Namen erinnert hatte, wußte er, daß kein Irrtum möglich war. Es war der junge Henderson aus der Garage in der High Street, Hendersons Garage, der Sohn des Inhabers. Terence hatte mit Vater und Sohn zu tun gehabt, als er noch einen Wagen besaß. Er versuchte, sich an Einzelheiten über den jungen Mann zu erinnern; viel mehr, als daß er ein stiller, beinahe mürrischer Junge gewesen war, brachte er aber nicht zustande. Terence stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, dabei hatte er das Gefühl, als seien Stunden vergangen, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war. Er schenkte sich einen Drink ein, dann setzte er sich hin und überlegte, ob er etwas unternehmen müsse und was. Nach einer Weile fiel ihm ein, daß Hendersons Garage sowohl nachts wie sonntags geöffnet war, und gleichzeitig fühlte er den Drang, auf der Stelle hinüberzugehen und sich zu vergewissern, daß alles dort seinen normalen Gang ging und Vater und Sohn bei ihrer Arbeit waren. Draußen regnete es, und er schlug seinen Kragen hoch, als er über die verlassene Straße in Richtung High Street trottete. Schon von weitem konnte er die helle Neonschrift über dem Eingang erkennen und das Schild, auf dem „Geöffnet“ stand. Als er dann davorstand, war kein Mensch zu erblicken; nur hinter einer Glastür im Büro brannte das Licht. Terence stand auf der anderen Straßenseite, betrachtete die schimmernden Zapfsäulen der Tankstelle und die geschlossene Tür der Werkstatt. Ein Wagen fuhr vorbei, dann ein nächster, aber keiner bog in die Auffahrt ein. Terence wußte nicht, was er unternehmen sollte – ohne Wagen hatte er keinen Vorwand, jemand bei diesem Regen herauszuholen. Und da man ihn dort 45
kannte, konnte er nicht behaupten, sich verlaufen zu haben. Schließlich beschloß er, unbefriedigt und bis auf die Knochen durchfroren, wieder nach Hause zu gehen. Am nächsten Morgen wachte er mit einem Schnupfen auf, und es war ihm selber peinlich, wenn er daran zurückdachte, wie und wann er ihn sich geholt hatte. Seine seltsame Unternehmung vom Vorabend erschien ihm jetzt wie ein böser Traum, und er konnte sich kaum vorstellen, wie er etwas so Törichtes hatte tun können. Er redete sich ein, die Identifizierungsparade müsse ihn nervös gemacht haben; dazugekommen war dieser Zufall, wie er es jetzt nannte, mit dem Mann mit den roten Haaren. Er rief im Büro an und sagte, er würde nicht kommen. Er hatte vor, mit seinem Schnupfen im Bett zu bleiben und weiter an den Firmenabrechnungen zu arbeiten, aber obwohl er es sich mit ein paar zusätzlichen Kissen bequem gemacht hatte, wollte ihm die Arbeit nicht von der Hand gehen. Schließlich stieß er den ganzen Papierstapel fort, daß die Blätter in wildem Durcheinander auf den Boden fielen, und kroch bedrückt unter die Decke. Am liebsten hätte er Sylvia sofort angerufen, mußte sich aber erst darüber klarwerden, wieviel er ihr erzählen sollte. Sylvia hatte inzwischen einen friedlichen Sonntag mit ihrer Familie verbracht. Sie war mehr denn je überzeugt, daß ihre Liaison mit Terence sich günstig auf jeden auswirkte, mit dem sie in Kontakt kam. Seinetwegen war sie eine bessere Frau und Mutter geworden; sie war glücklich, ausgeglichen und guter Laune, was positiv auf ihre ganze Familie abfärbte. An diesem speziellen Sonntag hatte sie den Mädchen das Frühstück ans Bett getragen und den gesamten Vormittag mit der Zubereitung eines Festtagsbratens verbracht. Für Edgar hatte sie seinen Lieblingsnachtisch zubereitet, einen Zitronenpudding. Als Antwort auf ihre Ferienstimmung hatte Edgar die Sherry-Karaffe und 46
zwei Gläser in die Küche gebracht, und da hatten sie gemütlich zusammen am Tisch gesessen, sich unterhalten, über die Mädchen, den Garten und ihre Urlaubspläne. Am Nachmittag hatte Sylvia die Zeitung gelesen, während sich Edgar mit verschiedenen liegengebliebenen Aufgaben im Haus beschäftigte. Die Mädchen erboten sich, den Tee zu machen, und so saßen sie alle um den Kamin, aßen getoastete Sandwiches, die Marions Spezialität waren, und gefüllte Eier, Julies Stolz. Die Kinder so fröhlich zu sehen, war eine Freude für Sylvia. Sie und Edgar hatten nämlich gerade am Morgen darüber gesprochen, daß Julie in letzter Zeit etwas schweigsam geworden war. Sie mußte plötzlich denken, daß ihr häusliches Leben ohne die Stunden mit Terence eigentlich sehr langweilig sein müsse, so aber, als Kontrast zu ihren Heimlichkeiten, war es ausgesprochen angenehm. Eine Welle von Zufriedenheit überflutete sie. Es war ein wunderbares Wochenende gewesen, und am nächsten Tag würde Terence sie anrufen. Es wurde aber Abend, ehe er sich meldete, und das war etwas peinlich, da Julie an den Apparat gegangen war. Sie kam zurück und sagte mit einem seltsam prüfenden Blick: „Ein Mann für dich, Mutter. Seinen Namen hat er nicht genannt.“ Sylvia wußte sofort, daß es sich um Terence handeln mußte. Das Telefon stand in der Halle, und obwohl sie die Wohnzimmertür zumachte, ehe sie den Hörer aufhob, war sie sich der drei Personen im Nebenraum peinlich bewußt. Terences ersten Worten zuvorkommend, bat sie ihn, einen Moment zu warten, dann lief sie nach oben zum Zweitapparat, nahm dort den Hörer ab, ging wieder hinunter und legte unten auf. Erst dann wagte sie offen zu reden. „Was war denn?“ erkundigte sich Terence, als sie sich endlich wieder meldete. „Ich hab das Gespräch nach oben gelegt, da können 47
wir ungestörter sprechen. Das ist dir doch recht, nicht wahr?“ „Ich glaub schon“, entgegnete er. „Terence“, sagte sie vorwurfsvoll, „du bist ja erkältet! Hast du dir das am Samstag geholt?“ „Samstag?“ wiederholte er. Es ärgerte sie etwas, daß er gar nicht zu verstehen schien. „Du weißt schon, bei unserem – äh – Ausflug ins Grüne.“ „Natürlich hab ich mich dabei nicht erkältet“, gab er beinahe feindlich zurück. Sylvia beschloß, es auf die leichte Schulter zu nehmen. „Wie solltest du auch, wo ich dich so gut gewärmt habe!“ „Ich bin gestern abend bis auf die Haut naß geworden“, sagte er, ohne auf ihren neckenden Ton einzugehen. „Bist du in den Ententeich gefallen?“ fragte sie. „Du scheinst heute deinen humorvollen Tag zu haben“, sagte Terence. „Und du scheinst dir heute besonders leid zu tun“, erwiderte sie verärgert. Dann nahm sie sich zusammen; sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen. „Wie ist das denn gekommen?“ fragte sie und bemühte sich, anteilnehmend zu klingen. Sie war sicher, daß er eine Sekunde zögerte. Dann sagte er: „Ach, ich war in der High Street und fand kein Taxi für den Heimweg. Und wenn du dich erinnerst, hat es wie aus Kübeln gegossen.“ „Sonntag abend ist doch nichts los auf der High Street“, sagte Sylvia neugierig. „Da hast du recht. Sehe ich dich morgen?“ In diesem Augenblick wurde unten eine Tür geöffnet. „Ich bin um acht bei dir“, sagte Sylvia schnell. Dann legte sie leise den Hörer auf und schlüpfte in ihr Schlafzimmer. Als Marion eine Minute später hereinschaute, hatte Sylvia eine Schublade aufgezogen. 48
„Ach, da bist du“, sagte ihre Tochter. „Was suchst du denn?“ „Einen Unterrock, den ich stopfen wollte.“ „Wer war das denn eben?“ „Du meinst am Telefon? Ach, nur jemand aus dem Club, der fragen wollte, ob ich wüßte, wo der Schlüssel zum Schrank mit den Requisiten ist.“ Das unangenehmste an einem Verhältnis waren die peinlichen kleinen Lügen, die man immer erfinden mußte. „Hast du?“ fragte Marion. „Hab ich was?“ „Na, gewußt, wo der Schlüssel ist.“ „Nein“, antwortete Sylvia kurz. Irgendwo war eine Grenze, was die Schwindeleien anging. Sie fand ihren zerrissenen Unterrock, holte ihr Nähzeug nach unten, und dann saßen sie alle vier einträchtig vor dem Fernsehapparat; aber Sylvias Hochstimmung war vorbei. Marion anzulügen war ihr gräßlich gewesen, und schuld daran war Terence – was mußte er auch zu einer so unpassenden Zeit anrufen! Dabei vergaß sie ganz, welche Vorwürfe sie ihm einige Wochenenden zuvor gemacht hatte, weil er nicht angerufen hatte. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihn veranlaßt haben könnte, bei diesem Wetter ins Freie zu gehen; es wollte ihr aber kein einleuchtender Grund einfallen. Pubs und Zeitungsstände gab es in seiner näheren Umgebung zur Genüge, und wenn er im Kino gewesen wäre, hätte er es bestimmt gesagt. Es war eine irritierende Mystifikation. Unterdessen ärgerte sich Terence über sich selbst. Er hatte vorgehabt, ihr von der Identifizierungsparade zu berichten, im Plauderton, als sei es eine amüsante Erfahrung gewesen, ohne dabei den rothaarigen Mann zu erwähnen, sondern nur wie nebenbei zu bemerken, daß ein Mechaniker aus seiner früheren Autowerkstatt unter den Männern gewesen sei. Dann hatte er ihr seinen Ausflug in die High Street beschreiben wollen, worauf 49
sie dann beide sehr herzlich gelacht haben würden. Aber ihr etwas alberner Ton am Apparat hatte ihn gestört. Alles war schiefgegangen, und als sie ihn auf den Kopf zu gefragt hatte, was er dort zu suchen gehabt habe, hatte er ihre Frage ungeschickt übergangen. Jetzt bezweifelte er, ob er ihr die Sache überhaupt noch auf die lässige Art mitteilen könnte, die dazu unbedingt nötig war. Denn beim geringsten Anzeichen von Besorgnis würde sie den Kopf verlieren, darauf bestehen, irgendwelche überstürzten Maßnahmen zu ergreifen, Gewißheiten sehen, wo er vage Möglichkeiten erblickte. Es war alles höchst kompliziert, und Terence spürte, wie er sich immer unrettbarer in dem Gespinst verstrickte, das seine Bewegungsfreiheit lähmte und ihm den klaren Blick nahm. Sylvia hatte keine Ahnung von der Identifizierungsparade, aber sie fühlte, daß etwas geschehen war, was Terence nervös gemacht hatte. Und das wieder machte sie nervös. Und jetzt, wo ihre gute Laune verflogen war, fand sie noch weitere Gründe, sich Sorgen zu machen. Immer wieder beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem anonymen Brief, den sie geschrieben hatte, und mit der Tatsache, daß sie damals von Julies Freundin gesehen worden war, obwohl sie die Erinnerung krampfhaft von sich zu schieben versuchte. Am nächsten Abend jedoch verbot sie sich strikt alle störenden Gedanken; um acht Uhr stand sie mit einer Tüte Weintrauben, drei Zitronen und einer Frauenzeitschrift vor Terences Tür. Erleichtert spielte Terence die Rolle des Kranken, was beide als willkommene Erklärung für seine Übelgelauntheit vom Vortag akzeptierten. Sylvia machte ihm eine heiße Zitronenlimonade, die sie mit Whiskey anreicherte, und trank selber die Hälfte davon mit – weil sie so gut roch und Vorbeugen ebensogut wie Heilen war. Sie ließ Terence ein heißes Bad ein, und während er badete, bezog sie sein Bett frisch und 50
fand auch noch ein zweites Kissen, das sie hinter seinen Rücken stecken wollte. Sie überredete ihn, sich wieder hinzulegen, und wollte selbstverständlich nichts davon wissen, zu ihm zu kriechen – dazu sei er viel zu angegriffen. Angesichts all ihrer Fürsorge ergab sich keine Gelegenheit zu einem ernsthaften Gespräch. Trotzdem – als Terence wieder im Bett lag und sie sich zu ihm gesetzt hatte und sich daranmachte, einen seiner Socken zu stopfen, was sie noch nie zuvor getan hatte, fühlte er sich verpflichtet, ihr von seinem sonntäglichen Tun zu berichten, zumindest in der abgewandelten Form, die er sich unterdessen zurechtgelegt hatte. Die Geschichte beinhaltete, daß er sich mit einem Bekannten in einem Pub verabredet hatte, dann gemerkt hatte, daß er aus Versehen den Namen eines Pubs in der High Street genannt und sich schließlich zu Fuß dahin aufgemacht hatte – nur um festzustellen, daß der andere es aufgegeben hatte, zu warten, und ihm schließlich nichts anderes mehr übriggeblieben war, als bei dem strömenden Regen ebenfalls wieder zu Fuß nach Hause zurückzukehren. Terence war sehr stolz auf seine Story. Sylvia hörte sie sich an, lächelte und nickte dazu und glaubte kein einziges Wort davon. Hinter ihrer glatten Stirn überschlugen sich die Gedanken. Für sie gab es nur eine Erklärung: Terence war mit einer Frau zusammengewesen, hatte sie wahrscheinlich in dem Pub getroffen und dann nach Hause begleitet. Gemeinsam waren die beiden Arm in Arm durch den Regen gegangen, um dann in einem warmen Bett Zuflucht vor der Einsamkeit der sonntäglichen Straßen zu suchen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er sich anschließend widerstrebend von ihr getrennt und zu Fuß und durch den Regen in seine kalte Wohnung zurückgekehrt war und Sylvia schließlich erst am folgenden Abend und nur aus Pflichtgefühl angerufen hatte. Sylvias Gedanken und Gefühle befanden sich in einem wilden Aufruhr, gleich51
zeitig war sie von einer kühlen Wachsamkeit erfüllt, ähnlich wie ein Boxer im Training am Vorabend eines wichtigen Kampfes, den er zu gewinnen hofft, bei dem er aber nichts riskieren will. Sie verbarg ihre Gefühle vor Terence, machte ihm sein Abendessen zurecht, ehe sie sich verabschiedete, und versprach, am Freitag wiederzukommen. Sie kam, wie versprochen, am späten Nachmittag, während ihre Familie sie bei einer älteren Cousine ihrer Mutter beim Tee vermutete. Terence hatte sich beinahe wieder ganz erholt. Er hatte die Geschehnisse vom vergangenen Sonntag resolut in den Hintergrund seiner Gedanken verbannt. Warum Sylvia damit belasten? Es war eine Routineangelegenheit gewesen, mehr nicht. Er hatte nicht die geringste Lust, mit Sylvia noch einmal darüber zu sprechen. Alles, was er wollte, war, Sylvia so ausgiebig wie möglich in die Arme zu schließen. Sylvia hatte ihrerseits beschlossen, die Rivalin auszustechen. Sie hatte in der Zwischenzeit viel über sie nachgedacht und war zu dem Resultat gekommen, daß es sich um eine Frau ohne familiäre Bindungen handeln müsse, die kommen und gehen und auch Sonntag mittags zu einem Drink in den Pub gehen könne, ohne sich um die Mittagessensvorbereitung zu kümmern. Die einen Mann jederzeit bei sich empfangen, wie ihn auch besuchen könne, ohne irgend jemand Lügen erzählen zu müssen. Daß sich jemand einer solchen Freiheit erfreuen konnte, ließ Sylvia vor Neid erblassen. Männer hatten solche Freiheiten natürlich, auch Terence war frei, zu gehen und zu kommen, wann es ihm beliebte, aber aus irgendeinem Grund hatte sich Sylvia eingebildet, daß es allen anderen Frauen wie ihr gehen müsse, daß sie von Verantwortung und Konventionen gehemmt seien. Daß es noch alleinlebende Frauen in der Welt gab, hatte sie ganz vergessen. Und Ehe und Mutterschaft waren allein ihre Bürde. 52
Und mit diesen Gedanken kam die Erkenntnis, daß Terence genügend Zeit und Gelegenheit hatte, gleichzeitig mehrere Liebschaften zu pflegen, während sie unter der Belastung von Haus und Familie kaum eine schaffte. Gewöhnlich konnte sie zwei Abende in der Woche für ihn erübrigen – womit ihm fünf freie Abende blieben, Lunchzeiten, Wochenenden und späte Nachmittage gar nicht eingerechnet. Oder umgerechnet zehn Stunden wöchentlich mit ihr gegen einhundertachtundfünfzig ohne sie. Außerdem waren es meistens nicht einmal ganze zehn Stunden. Mit anderen Worten: Er konnte die Affäre mit ihr mit der linken Hand abmachen und es kaum bemerken. Zu ihrem eigenen Erstaunen wurde Sylvia seit Montag von Eifersucht verzehrt. Das war gleichzeitig demütigend und überraschend. Sie hatte sich bis jetzt eingebildet, daß sie ihre Gefühle für ihn fest unter Kontrolle hatte; daß sie die Zeit mit ihm genoß, ihn aber, wenn es sein müßte, mit einem Lächeln aufgeben könnte – so war es ein echter Schock für sie, wie heftig sie reagierte, als sich ein mögliches Ende ihrer Beziehungen abzeichnete. Haßgefühle gegen die andere, die Unbekannte, stiegen in ihr auf. Terence gehörte ihr, und sie würde nicht zulassen, daß eine Fremde ihn ihr wegschnappte. Als sie an diesem Abend zu ihm in seine Wohnung ging, geschah es mit der Absicht, die andere auszustechen. Terences Stimmung ähnelte der ihren. Er hatte sich das Hirn zermartert, er war krank gewesen, jetzt wollte er das alles vergessen und sich ganz seiner Geliebten widmen. Als sie sich liebten, geschah es mit einer nie zuvor erlebten Wildheit. Trotzdem spürte jeder hinterher bei dem anderen eine gewisse Zurückhaltung. Es war, als ob die Geheimnisse, die sie voreinander hatten, eine unsichtbare Barriere bildeten, kaum greifbar, aber doch bedrohlich, wie die ersten Nebelwehen, die sich später so verdichten würden, 53
daß sie nichts mehr von der vertrauten Umgebung übriglassen würden. „Ich störe Sie hoffentlich nicht, Sir.“ Es war Samstag nachmittag, und Inspektor Quirke stand vor der Tür. „Anscheinend muß ich Sie immer am Wochenende belästigen.“ „Ist etwas geschehen?“ fragte Terence. In seine Spannung mischte sich die Hoffnung, daß der Inspektor gute Nachrichten brachte. Der Inspektor schüttelte den Kopf. „Leider nicht, obwohl das andererseits zu begrüßen ist, wenn man bedenkt, was geschehen könnte.“ „Sie meinen, ein neuer Überfall?“ „Möglich wär’s doch, oder?“ „Wollen Sie mich wieder zu einer Identifizierungsparade abholen?“ „Das hätte wohl wenig Zweck, meinen Sie nicht, Mr. Lambert?“ Der Inspektor warf ihm einen wissenden Blick zu. Terence wußte, daß er bluffen sollte, daß er den Inspektor fragen müßte, wie er das meine, aber er fürchtete, daß er die Dinge damit auf die Spitze treiben würde, und im Augenblick wollte er um alles in der Welt ein offenes Gespräch vermeiden, zumindest bis er etwas klarer sah. Als der Inspektor merkte, daß Terence zu keiner Äußerung bereit war, hüstelte er und schlug vor, ob man nicht einen Augenblick hineingehen solle. „Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Sir, aber wir unterhalten uns wohl lieber drinnen.“ Im Wohnzimmer ließ er sich mit einem erleichterten Seufzer auf das Sofa fallen. „Das tut gut“, sagte er. „Nicht nur die Leute von der Streife müssen mal ihre Füße ausruhen.“ „Kann ich verstehen“, murmelte Terence. „Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?“ 54
„Nicht jetzt“, lehnte der Inspektor höflich ab, aber Terence hörte einen gewissen Vorwurf heraus, daß er die Natur dieses Besuchs mißverstanden habe. Polizeibeamte im Dienst pflegen nicht zu trinken. Er selber hätte dringend etwas zur Nervenberuhigung gebraucht. So bot er dem Inspektor seine Zigaretten an, aber dieser schüttelte den Kopf. „Ich hab mir das Rauchen vor fünf Jahren abgewöhnt.“ Unter normalen Umständen hätte Terence die Worte zum Anlaß einer harmlosen Bemerkung genommen, aber jetzt wollte ihm einfach nichts einfallen. In Gegenwart des Inspektors wollte kein banales Gespräch aufkommen. Als ob dieser das gleiche Gefühl hatte, bemühte er sich gar nicht erst um ein paar verbindliche Worte und kam gleich auf sein Anliegen zu sprechen. „Ich möchte aufrichtig mit Ihnen sein, Mr. Lambert“, sagte er und sah Terence mit einem so offenen Blick an, daß dieser noch mehr auf der Hut war. „Wir kommen einfach nicht weiter in unserer Sache.“ „Das tut mir leid“, entgegnete Terence und sagte damit die Wahrheit. Es tat ihm wirklich leid. Er hätte nichts sehnlicher gewünscht als ein schnelles Ende dieses Alptraums. „Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte“, fuhr der Inspektor fort. „Jedenfalls nichts Positives. Keins der Mädchen hat das Gesicht ihres Angreifers gesehen. Jedesmal schlich er hinter ihnen her, und dann – bäng! Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen, Mr. Lambert. Sie haben es ja selber beobachtet. Um ehrlich zu sein, sind Sie der einzige verläßliche Zeuge, und das ist auch der Grund meines Kommens.“ „Aber der Überfall, den ich gesehen habe, war kaum der Rede wert. Der Mann hat sie kaum angefaßt, da hat sie schon geschrien, und er ist davongelaufen.“ „Immerhin nehmen wir doch an, daß es sich um den gesuchten Mann handelt. Und darum möchte ich noch 55
einmal mit Ihnen Ihre Aussage durchgehen. Das heißt, wenn es Ihnen recht ist.“ Unter dem kalten Blick des Inspektors konnte Terence nur versichern: „Aber natürlich. Ich helfe, so gut ich kann.“ „Sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir“, sagte der Inspektor – mit unnötigem Überschwang in der Stimme, fand Terence. Dann stellte er seine Fragen, sie gingen Terences Aussage von vorn bis hinten durch, bis die wenigen positiven Punkte, die sie enthielt, direkt fadenscheinig aussahen. Terence wünschte, er verstünde mehr von Polizeimethoden. War dieses wiederholte Befragen Routine? Oder zweifelte man an seinen Worten? Als er dem Blick des Inspektors begegnete, hatte Terence das starke Gefühl, als wisse der Mann, daß er, Terence, log. Außerdem hörte sich seine Geschichte, je öfter er sie wiederholte, auch in den eigenen Ohren immer weniger überzeugend an. Er hatte im dunklen Zimmer im Bett gelegen, war zufällig gerade in dem Moment ans Fenster gegangen, als unten ein Mädchen überfallen wurde, er hatte weder geschrien noch war er ihr zu Hilfe gekommen, noch hatte er die Polizei benachrichtigt. Wochenlang hatte er gar nichts unternommen, dann war er endlich zur Polizei gegangen und hatte ausgesagt, daß dieser Mann, den er nur einmal, und zwar nachts und aus größerer Entfernung, gesehen hatte, rote Haare gehabt und weiße Turnschuhe getragen habe. Nein, so ging es nicht. Er hatte beinahe das Gefühl, sich bei dem Inspektor für diese kümmerliche Auskunft entschuldigen zu müssen. Aber dann bewegte sich die Wippe wieder nach oben. Vielleicht zweifelte der Inspektor gar nicht an seinen Worten? Vielleicht hörte sich seine Geschichte für das Ohr eines Polizeibeamten gar nicht so unwahrscheinlich an? Vielleicht benahmen sich Zeugen immer so, wie er sich benahm? Er wußte es nicht. 56
Als das Interview beendet war und er den Inspektor zur Tür geleitete, wiederholte er noch zweimal, wie sehr er bedauere, ihm nicht weiterhelfen zu können, und hätte es beinahe ein drittes Mal gesagt, wenn er sich nicht rechtzeitig gebremst hätte. Der Inspektor schien den Fall aber von der gutmütigphilosophischen Seite zu nehmen. „So ist es eben im Leben“, sagte er. „Wir müssen auf unser Glück hoffen – und eines Tages passiert’s dann. In der Zwischenzeit können wir nur die Augen offen halten. Also, auf Wiedersehen, Mr. Lambert.“ Hoffentlich nicht, dachte Terence, als er die Tür hinter ihm zumachte. Er war nervös und niedergeschlagen. Wenn der Inspektor aufrichtig gewesen war, verliefen die polizeilichen Nachforschungen mehr als unbefriedigend. Nichts ließ hoffen, daß der Mörder identifiziert und gestellt werden würde, und bis das nicht geschehen war, kam er, Terence, nicht zur Ruhe und zu einem normalen Leben. Er schenkte sich den Drink ein, den er sich in der Gegenwart des Inspektors versagt hatte, und setzte sich hin, um noch einmal über alles nachzudenken. Er tappte völlig im dunkeln. Er wußte nicht, was die Polizei alles wußte, was man dort dachte und welche Wege man verfolgte. Andererseits, wenn er sich’s genau überlegte, hatte er eine Karte in der Hand, von deren Vorhandensein die Polizei nichts ahnte. Das gab ihm die Möglichkeit, auf eigene Faust nachzuforschen, die Chance, selber die Wahrheit aufzudecken, ehe alles zu Bruch ging. Er wußte, daß der Mann in der Identifizierungsparade genau der Beschreibung entsprach, die Sylvia von dem Verbrecher gegeben hatte, und er wußte auch, wo dieser Mann wohnte. Letzteres wußte die Polizei ebenfalls, aber sie konnten sich nur an Terences Beschreibung halten, und er hatte den Mann in der Reihe nicht genannt. Und da die Polizei seine Gründe nicht kannte, mußte die Tatsache, daß er ihn nicht herausgepickt hat57
te, eventuelle Verdachtsmomente, die man vielleicht gehabt hatte, zerstreut und möglicherweise verhindert haben, daß man sich näher mit dem Betreffenden befaßte. Terence dagegen wußte nur allzu gut, daß jeder Grund vorlag, ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Er wußte auch, wer er war und wo er arbeitete – es dürfte ihm also nicht schwerfallen, einige Tatsachen zusammenzutragen, die ihn entweder stärker belasteten oder aber völlig freisprachen. Die ganze vergangene Woche lang hatte Terence vermieden, über den rothaarigen Henderson nachzudenken. Die Erinnerung an die Identifizierungsparade belastete ihn, der Gedanke, wie er im Regen vor der Garage gestanden hatte, war ihm peinlich. Beide Vorfälle hatte er in den Hintergrund seines Bewußtseins verbannt. Aber jetzt wurde ihm Hendersons Bild beinahe gewaltsam aufgezwungen, und es schien beinahe so, als habe es in der Zwischenzeit an Klarheit und Ausdruck gewonnen. Es beiseite zu schieben war ausgeschlossen; in der Tat stellte Terence den heftigen Wunsch bei sich fest, mehr über diesen Mann herauszufinden. Und plötzlich kam ihm ein verrückter Gedanke: Er rief seine Wagenvermietung an und forderte für den Abend ein Auto an. Als er es kurz darauf abholte, entdeckte er, daß man ihm denselben Wagen gegeben hatte, wie damals, als er mit Sylvia aufs Land gefahren war. Ihm ging die gewisse Ironie, die darin lag, nicht einmal auf – so versessen war er auf seinen Plan. Dabei war dieser Plan höchst simpel: Er wollte stracks zu Hendersons Garage fahren und unter dem Vorwand, tanken zu müssen, Informationen über den Sohn des Besitzers sammeln, der dort als Mechaniker arbeitete. Er mußte aber zu seinem äußersten Mißvergnügen feststellen, daß der Mietwagen bis obenhin vollgetankt war, als er ihn übernahm. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als plan- und ziellos durch die Gegend zu fahren, über Landstraßen und Feldwege, im 58
Kreis herum und wieder zurück, aber das Benzin wollte und wollte nicht weniger werden. Schließlich kaufte er Meilen von zu Hause entfernt in einem Geschäft für Gartenzubehör einen Schlauch, hackte ungeschickt ein Stück davon ab und schaffte es schließlich, das Benzin abzusaugen und in einen Gully abfließen zu lassen. Kinder, die in der Nähe spielten, sahen interessiert zu. „Das ist Benzin, nicht wahr?“ fragte eines der Kinder. „Jemand hat mir Zucker in den Tank getan“, behauptete Terence großartig. Er ging um das Fahrzeug herum und sah auf die Nadel der Benzinuhr. Er bekam einen fürchterlichen Schreck, dann fiel ihm aber ein, daß sie bei abgestelltem Motor nichts anzeigte. Er drehte den Zündschlüssel herum, und die Nadel stieg langsam in die Höhe. Die Kinder beobachteten ihn gespannt, wie er den Tankverschluß zuschraubte. „Glauben Sie, daß er starten wird, Mister?“ erkundigte sich ein Junge. Terence nickte und warf die Tür zu. Der Wagen machte einen Sprung vorwärts, und als Terence in den Rückspiegel schaute, sah er, wie die Kinder ihm nachstarrten. Er mußte sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß er nichts Gesetzwidriges getan hatte, weder jetzt noch früher. Er blickte auf seine Uhr: Halb sechs. Diese blöde Geschichte mit dem Benzin hatte ihn zwei Stunden gekostet, und er befand sich etwa zwölf oder fünfzehn Meilen von der Garage entfernt. Der abendliche Stoßverkehr hatte mittlerweile eingesetzt; alle Ausfallstraßen waren mit heimkehrenden Wagen besetzt, während die entgegengesetzten Fahrbahnen von Fahrzeugen verstopft waren, die sich außerhalb der Stadt befunden hatten und jetzt zurückkehrten. Die endlos lange Autoschlange kroch voran, hielt an, wartete und bewegte sich weiter. Hoffnungslos eingekeilt beobachtete Terence gleichzeitig die Uhr und den Benzinmesser. Er fluchte leise. Allmählich ließ die Begeisterung über seinen schönen Plan nach. 59
Wie sollte er in der kurzen Zeit des Auftankens etwas Wissenswertes über Henderson herausfinden? (Er mußte den Vornamen des Burschen herauskriegen, das war wichtig!) Die Polizei hatte es da leichter, dachte er von Bitterkeit erfüllt. Sie brauchten nur irgendwo anzuklopfen und ihre Fragen zu stellen: „Wo sind Sie in der Nacht vom 16. Januar gewesen? Besitzen Sie einen schwarzen Trainingsanzug? Tragen Sie weiße Turnschuhe dazu?“ Sie konnten die Familie und die Bekannten des Mannes ausfragen: „Haben Sie kürzlich eine Änderung in seinem Verhalten bemerkt? Ist er nachts öfter unterwegs gewesen? Ist er früher schon mal in Schwierigkeiten gekommen?“ Auf alle diese Fragen hätte Terence gern die Antwort gewußt. Schließlich gelang es ihm, die Hauptstraße zu verlassen und in eine Querstraße zur High Street einzubiegen. Gerade als er vor der Garage vorfuhr, leuchtete das Licht am Armaturenbrett auf, das anzeigte, daß der Tank praktisch leer war. Ein Tankwart kam auf ihn zu, den Terence noch nie gesehen hatte. „Bitte vollfüllen“, sagte er, aber dann fiel ihm ein, daß er den Wagen bald wieder zurückgeben würde. „Moment, drei Gallonen tun’s auch.“ Die Sache kostete ihn bereits genug. Als das Benzin eingefüllt war, ließ er Wasser und Öl kontrollieren, dann den Reifendruck – immer in der Hoffnung, daß Henderson auftauchen möge. Als Terence schließlich zahlte, sagte er auf gut Glück: „Arbeitet dieser rothaarige junge Mann eigentlich immer noch hier?“ Der Tankwart gab Terence das Wechselgeld heraus. „Sie meinen Chris?“ fragte er dann. „Chris?“ „Ja, Chris Henderson.“ „Den Namen kenne ich nicht“, sagte Terence. „Hen60
derson – so heißt doch der Inhaber, oder? Dann wäre er also der Sohn. Hat er denn rote Haare?“ „Das kann man wohl sagen“, erwiderte der Mann. „Dann werde ich den wohl meinen. Ist er hier? Ich hätte ihn gern mal gesprochen.“ „Er wird in der Werkstatt sein. Gehen Sie durch und rufen Sie ihn. Dann wird er sich schon melden.“ Terence fuhr seinen Wagen zur Seite, stieg aus und ging auf die Werkstatt zu. Dort schien alles leer. Ein Wagen stand mit geöffneter Kühlerhaube da, und Terence steuerte darauf zu. „Suchen Sie etwas?“ sagte eine Stimme so dicht hinter ihm, daß er zusammenzuckte. Er drehte sich um und stand dem Mann gegenüber, den er suchte. Henderson trug einen Overall, sein rotes Haar und das Gesicht waren ölverschmutzt. „Ja“, sagte Terence und bemühte sich um einen sachlichen Ton. „Mein Name ist Lambert. Ich habe vor einiger Zeit meinen Wagen hier gehabt, eine kleine Reparatur und alle vier Räder auswechseln lassen.“ „Was für ein Wagen war es, bitte?“ „Ein Morris 1100“, sagte Terence. „Dunkelgrün.“ Bis jetzt hatte er sich an die Wahrheit gehalten, nun mußte er improvisieren. „Ich hab ihn kurz darauf verkauft, und heute früh ruft mich der neue Besitzer an und sagt, es wäre kein Wagenheber dabei. Wäre es möglich, daß der hiergeblieben ist?“ „Ich verstehe nicht …“ „Er könnte doch vielleicht vergessen worden sein, als Sie an dem Wagen gearbeitet haben.“ „Wir haben keinen Wagenheber gefunden“, sagte Henderson. Vorsicht jetzt, ein Fehler könnte ihn verstimmen! „Ich frage ja auch nur. Sehen Sie, ich habe den Wagenheber nicht benutzt, seit das Fahrzeug hier zur Reparatur war, und drei Wochen später hab ich es verkauft und natür61
lich angenommen, der Wagenheber sei beim Werkzeug. Wäre es nicht möglich, daß Sie ihn beim Reifenwechsel genommen haben?“ „Das wäre möglich, obwohl wir gewöhnlich unsere eigenen benutzen.“ „Und Sie können sich natürlich nicht erinnern, welchen Sie in meinem Fall genommen haben. Na ja, dann hilft’s wohl nicht, er ist weg.“ Terence hatte eigentlich erwartet, daß Chris Henderson sich mit einem Achselzucken entfernen würde; zu seiner Überraschung schien er die Angelegenheit weiter verfolgen zu wollen. Henderson rieb sich das Kinn und dachte offenbar angestrengt nach. „Wann genau haben Sie den Wagen hergebracht?“ fragte er nach einer Weile. „Mitte Januar“, sagte Terence schnell. „Ich glaube, es war ein Dienstag. Ja, stimmt, Dienstag, der 16. Januar.“ Aus einem Augenwinkel betrachtete er das Gesicht des anderen. War das ein Flackern in den blassen Augen oder bildete er es sich nur ein? Er beschloß, etwas weiter nachzubohren. „Ja, jetzt fällt mir ein, Sie sagten noch, Sie würden bis spät in die Nacht hinein arbeiten und ich könnte den Wagen am nächsten Morgen haben; als ich aber dann anrief, sagten Sie, er würde erst am Nachmittag fertig sein.“ „So?“ sagte der Automechaniker. „Ich kann mich zwar nicht an den Fall erinnern …“ „Es wird Ihnen sicher was dazwischengekommen sein.“ Terence unterbrach sich, aber der andere zeigte keine Reaktion. Terence spürte, wie ihn das Jagdfieber packte, und konnte sich eine weitere testende Frage nicht verkneifen. „Sie arbeiten wohl oft bis in die Nacht hinein, oder?“ „Ziemlich oft.“ „Muß unheimlich sein, sich so mutterseelenallein in der Werkstatt zu befinden.“ Diesmal antwortete Henderson nicht, und Terence wußte, daß er zu weit gegan62
gen war. „Also, wenn sich mein Wagenheber zufällig anfinden sollte, können Sie mich ja anrufen. Mein Name ist Lambert.“ Terence schrieb Namen und Telefonnummer auf und gab Henderson den Zettel. „Sind Sie nicht Henderson, der Sohn des Inhabers?“ Chris Henderson nickte, dann sagte er plötzlich: „Der Mann hat den Wagenheber bestimmt selber verbummelt und versucht jetzt, es Ihnen in die Schuhe zu schieben.“ „Das wäre möglich“, gab Terence zu – erleichtert, daß sich der junge Henderson anscheinend nur für den verschwundenen Wagenheber interessierte; erleichtert und etwas enttäuscht zugleich, weil seine so geschickt gestellten Fragen verpufft waren. Als er wieder im Auto saß, überlegte er sich, ob er nun etwas erreicht hatte oder nicht. Seine Fragen hatten keine dramatische Reaktion hervorgerufen, aber er war beinahe sicher, daß der andere bei der Erwähnung des Datums irgendwie hellhörig geworden war. Dann fiel ihm plötzlich die Identifizierungsparade ein. Schuldig oder unschuldig – Chris Henderson mußte bestimmt gewußt haben, zu welchem Zweck die Parade dienen sollte. Terences Herz begann etwas schneller zu klopfen. Ein zweiter, noch weniger angenehmer Gedanke stellte sich ein: Er, Terence, hatte Henderson erkannt – folglich mußte Henderson ihn ebenfalls erkannt haben, wenn nicht schon am Abend der Identifizierungsparade, dann bestimmt jetzt. Er würde kaum das Gesicht eines Menschen vergessen haben, der ihn vor wenigen Tagen genau inspiziert hatte. Mit der Erwähnung des Datums hatte Terence also wahrscheinlich mehr verraten, als er erreicht hatte. Woraus sich eine weitere Frage ergab: Würde nicht ein Unschuldiger, der nichts zu verbergen hatte, die Parade erwähnt haben, oder zumindest die Tatsache, daß er Terence dort gesehen hatte? Henderson hatte kein Wort darüber fallenlassen. Trotzdem, als Terence weiter 63
darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß es falsch wäre, zuviel aus dem Schweigen des anderen herauslesen zu wollen. Chris Henderson war von Natur aus schweigsam. Terence seufzte; Detektiv spielen erwies sich als verflucht schwierig. Trotzdem hatte er einstweilen nicht die Absicht, es aufzugeben. Nachdem er eine Weile in seinem Wagen gesessen und sich den Kopf zerbrochen hatte, fiel ihm ein neuer Gesichtspunkt ein, dem er nachgehen konnte. Er stieg aus, ging zur Vorderseite der Garage herum, wo er den vollen Namen des Besitzers lesen konnte. T. K. HENDERSON. Terence merkte sich die Initialen, dann fuhr er zur nächst gelegenen Telefonzelle. Aus irgendeinem Grund bildete er sich ein, daß Chris Henderson unverheiratet war und bei seinen Eltern lebte. Im Telefonbuch fand er tatsächlich einen T. K. Henderson, der auch nicht allzu weit entfernt von der Garage, das heißt im gleichen Stadtteil, wohnte. Auf dem Stadtplan suchte Terence nach der Straße und fuhr dorthin, ohne sich genau darüber klar zu sein, was er dort zu finden hoffte. Sie stellte sich als ruhige, baumbestandene Seitenstraße heraus. Die Doppelhäuser hatten alle einen kleinen Vorgarten mit einer Hecke und einem Gartentor. Nummer dreiundzwanzig unterschied sich in nichts von den Nachbarhäusern. Es war weder übermäßig verwahrlost noch übermäßig gut gepflegt; weder der Anstrich noch der Garten, noch die Eingangstür, die drei einzigen Unterscheidungsmomente aller Vorstadthäuser, zeigten eine Besonderheit. Jetzt, zu dieser abendlichen Stunde, waren alle Vorhänge zugezogen, und nichts deutete auf ein Zeichen von Leben hin. Das traf für alle Häuser zu. Wahrscheinlich saßen die Besitzer alle vor dem Fernsehapparat, dachte Terence. Nachdem er sich mit der Szene vertraut gemacht hatte, ließ Terence den Motor wieder an und fuhr langsam am Haus vorbei. Ein Stück 64
weiter unten wendete er den Wagen und parkte an der gegenüberliegenden Straßenseite. Er wollte warten, bis Henderson nach Hause kam, immer vorausgesetzt, daß er tatsächlich dort wohnte. Er machte sich auf eine längere Wartezeit gefaßt, aber schon nach einer halben Stunde bog ein Wagen in die Straße und hielt vor der Nummer dreiundzwanzig. Terence konnte erkennen, daß jemand ausstieg, anscheinend die Wagentür abschloß, dann die Gartentür öffnete, die Stufen zum Haus hinauflief und in der Haustür verschwand. Auch jetzt ging nirgends ein Licht an. Terence war überzeugt, daß es Chris Henderson gewesen war; von nun an würde er die drahtige Gestalt immer wiedererkennen, auch bei Nacht und aus größerer Entfernung. Es war jetzt zweiundzwanzig Uhr vierzig, und Terence hatte versprochen, den Wagen um elf wieder zurückzubringen. Er fuhr an. Er wußte jetzt den Vornamen des jungen Henderson und seine Adresse, außerdem war ein Zucken über das Gesicht des jungen Mannes gelaufen, als er, Terence, das Datum erwähnt hatte. Dazu kam, daß er mit keinem Wort die Identifizierungsparade erwähnt hatte. Alles zusammen kein überwältigendes Ergebnis für die Anstrengung eines ganzen Abends, trotzdem schmeichelte Terence sich, überhaupt soviel herausgebracht zu haben. Für jemand ohne offiziellen Status schon allerhand. Als Terence seine Wohnungstür aufschloß, schrillte das Telefon. Er warf einen schnellen Blick auf die Uhr, als er den Hörer abnahm. Obwohl es schon halb zwölf war, war es Sylvia, die am Apparat war. „Ich hatte deinen Anruf erwartet“, sagte sie, kaum daß er sich gemeldet hatte. Ihre Stimme klang gleichzeitig aggressiv und weinerlich. Terence mußte sich Mühe geben, um freundlich zu bleiben. Sylvias Vorwürfe, überhaupt die ganze Sylvia, 65
waren nicht immer vernünftig – trotzdem entschuldigte er sich, dann erkundigte er sich nervös, wo denn Edgar sei. „Er duscht gerade“, beruhigte Sylvia ihn. „Warum konntest du denn nicht anrufen?“ „Weil ich nirgends in der Nähe eines Telefons war. Wenn du es genau wissen willst: Ich bin mit dem Wagen durch die ganze Stadt gefahren.“ „Gefahren?“ „Mit einem Firmenwagen“, improvisierte er schnell. „Ich mußte ein paar Leute aufsuchen, die uns Geld schulden.“ „Am Samstagabend!“ Er merkte, daß sie ihm nicht glaubte, was er ihr nicht einmal verübeln konnte. „Ich wollte sie zu Hause antreffen“, erklärte er. „Aber lassen wir das jetzt. Besteht die Möglichkeit, daß ich dich noch vor Montag sehen kann?“ „Du meinst Dienstag“, verbesserte sie ihn. „Ich hab dir doch gesagt, daß ich am Montag zum Elternabend in die Schule der Kinder muß.“ Ihr Ton besagte deutlich, daß er sich daran hätte erinnern müssen. „Kannst du das nicht sausen lassen?“ bat er und hoffte, ihr mit seiner Ungeduld zu schmeicheln. „Eine Mutter mehr oder weniger fällt doch gar nicht auf, und du hättest eine wunderschöne Ausrede für zu Hause.“ „Kommt nicht in Frage, da muß ich hin. Auf jeden Fall.“ „Das mußt du natürlich selber entscheiden“, sagte er, um sie zu beruhigen. Ein Krach mit Sylvia war das letzte, was ihm jetzt noch gefehlt hätte. „Also dann am Dienstag. Du kommst zu mir, nicht wahr?“ „Wenn du Wert darauf legst.“ Was sollte das? „Natürlich lege ich Wert darauf. Am liebsten hätte ich dich jeden Abend bei mir.“ „Mich oder eine andere Frau?“ erkundigte sich Sylvia. 66
„Aber Schatz!“ protestierte er. Warum kam der verflixte Edgar nicht aus dem Bad und machte diesem peinlichen Gespräch ein Ende? „Was soll die Frage?“ „Solange du jemand hast, mit dem du ins Bett steigen kannst, kommt es dir gar nicht so darauf an, wer es ist – oder?“ „Darling, wie kannst du so was sagen!“ Terence versuchte seine Stimme vorwurfsvoll klingen zu lassen. Er fand es reichlich ungerecht von Sylvia, ihm mit so was zu kommen – schließlich hatte er ihr in den vergangenen Monaten mehr als genügend Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. „Du weißt doch, daß niemand neben dir existiert. Ich hab dir oft genug gesagt, was ich für dich empfinde.“ „Soll das heißen, du liebst mich? Warum kannst du das nicht aussprechen?“ „Das habe ich doch oft genug getan.“ „Dann beweise es mir, indem du mir sagst, was du wirklich heute abend getrieben hast.“ „Ich habe es dir gesagt: Ich habe Schulden für meine Firma eingetrieben.“ Sylvia gab einen Laut von sich, aus dem deutlich hervorging, daß sie ihm nicht glaubte, was wiederum ihn genauso kränkte, als ob er die Wahrheit gesagt hätte. Verdammt – warum zweifelte sie an seinen Worten? Es war eine völlig glaubhafte Story, die er ihr aufgetischt hatte. Glücklicherweise hörte Sylvia in diesem Moment ihren Mann aus dem Bad kommen, sie beendete das Gespräch, in dem sie versprach – oder drohte –, am Dienstagabend um acht zu ihm zu kommen. Als er auflegte, war sein erster Gedanke, daß ihm auf die Art zwei Tage und Abende verblieben, an denen er Chris Henderson nachspionieren konnte, ohne von Sylvia gestört zu werden. Dann ging ihm die Bedeutung dieses Gedankens auf, und er war ehrlich erschrocken. Bis zu diesem Moment war ihm nicht klar gewesen, ob er sich 67
weiter um Henderson kümmern sollte. Jetzt auf einmal war er von einer fast unerträglichen Ungeduld erfüllt; allein der Gedanke, daß er nicht wußte, was Chris Henderson im Augenblick machte, war kaum zu ertragen. Am nächsten Morgen, sofort nach einem frugalen Frühstück, zog er mit Stadtplan und dem Verzeichnis aller öffentlichen Verkehrsmittel los. Jellicoe Road, wo die Hendersons wohnten, lag dicht an einer Bus-Linie; mit dreimaligem Umsteigen und einem kurzen Fußmarsch müßte er dorthin gelangen. Es stellte sich dann aber heraus, daß Züge und Busse sonntags sehr viel seltener fuhren, und Terence benötigte volle anderthalb Stunden, bis er in der Jellicoe Road stand. Jetzt war die Straße etwas belebter als am Vorabend – Leute kauften Sonntagszeitungen, führten ihre Hunde spazieren und schoben Kinderwagen vor sich her. Nur im HendersonHaus regte sich nichts. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen, und die Tür war geschlossen. Terence wartete ein paar Minuten auf der anderen Straßenseite, dann ging er zum Zeitungskiosk an der Ecke und kaufte sich einen Observer. Die Zeitung als Deckung benutzend, ging er zurück und am Haus vorbei. Wahrscheinlich saß die ganze Familie in der rückwärtig gelegenen Küche beim Frühstück – Vater, Mutter und Chris. Terence überlegte flüchtig, ob noch andere Mitglieder dazugehörten. Vorstellen konnte er es sich nicht. Überhaupt fiel es ihm schwer, sich die Eltern vorzustellen, so sehr war seine ganze Aufmerksamkeit auf den Sohn konzentriert. Nur – was sollte er jetzt tun, um sein Warten nicht zu auffällig werden zu lassen? Bänke, auf die er sich hätte setzen können, gab es nicht. Aber er konnte einfach stehenbleiben und gar nichts tun. Auf der Straße standen mehrere Leute herum, warteten auf ihren Hund, warteten, daß die Pubs geöffnet wurden, warteten, daß etwas passierte. Terence stellte sich an die Stelle, wo er am Vorabend 68
seinen Wagen geparkt hatte, und schlug die Zeitung auf. Eine halbe Stunde verstrich, dann geschah alles auf einmal. Die Tür der Hendersons ging auf, Chris rannte die Stufen hinunter, sprang in seinen Wagen und war schon um die Ecke, bis Terence seine Überraschung abgeschüttelt hatte. Aber wenigstens konnte er nun ungehindert umherschlendern, ohne zu riskieren, erkannt zu werden. Der alte Henderson kannte ihn zwar flüchtig, aber das machte nichts. Terence war überzeugt, daß der Sohn nichts von ihrer Begegnung in der Garage erwähnt haben würde. Das schmale Gesicht und das ganze Benehmen des jungen Mannes ließen vermuten, daß er nicht sehr gesprächig war. Terence marschierte jetzt offen an dem Haus der Hendersons vorbei und drehte sogar den Kopf danach – es war nichts zu sehen, aber wenigstens hatte er es sich einmal gründlich angesehen. Er bog um die Ecke und kam zu einer Schule – bestimmt die Schule, die Chris Henderson besucht hatte. Terence notierte den Namen der Schule, den der Leiterin und schließlich noch für alle Fälle den Namen des Hausmeisters. Es dürfte keine zehn Jahre her sein, daß Chris die Schule verlassen hatte – irgend jemand würde sich sicher noch an ihn erinnern. An der nächsten Straßenecke sah Terence auf seine Uhr. Die Pubs würden jetzt geöffnet haben, und ein Glas Bier war jetzt gerade das Richtige. Ein Blick die Straße hinunter zeigte ihm zwei Lokale in erreichbarer Nähe, The White Swan und The Feathers. Er entschied sich als erstes für The Feathers, da es kleiner und gemütlicher aussah, und zum erstenmal an diesem Vormittag hatte er Glück. Er hatte kaum seinen ersten Schluck getrunken, als sich die Tür öffnete und der alte Henderson hereinkam. Er wurde schon erwartet: zwei Männer rückten an ihrem Tisch zur Seite und hatten schon einen Drink für ihn bestellt. Terence beobachtete die drei eine Weile, dann ent69
schied er sich für den direkten Angriff. Das Glas in der Hand ging er zu dem Tisch hinüber. „Mr. Henderson, wenn ich mich nicht irre?“ sagte er. Der eine hatte gerade eine Geschichte erzählt; er unterbrach sich und sah auf. Alle drei Männer sahen ihn an – nicht besonders einladend, aber Terence behielt sein munteres Lächeln bei. Henderson setzte sein Glas auf den Tisch. „Ja, das bin ich“, sagte er. „Sie sind doch der Inhaber der Garage auf der High Street, nicht wahr?“ „Das stimmt.“ „Ich hab meinen Wagen oft dort gehabt.“ „Ach so. Mr. Lambert, ja?“ „Sie erinnern sich also?“ sagte Terence erleichtert. Das machte die Dinge sehr viel einfacher. „Hatten Sie nicht einen grünen Elfhundert?“ „Ja, dunkelgrün.“ Pause. „Kommen Sie öfter hierher?“ erkundigte sich Henderson zögernd. „Ich war zufällig gerade in der Nähe.“ Terence wartete auf eine Gegenbemerkung, als die aber ausblieb, fuhr er fort: „Darf ich mich ein bißchen zu Ihnen setzen?“ Die Männer rutschten etwas zur Seite, und er zwängte sich auf den schmalen, freigewordenen Platz. „Allein trinken macht keinen Spaß“, sagte er und stellte fest, daß er schwitzte. Detektive oder Spione mußten zweifellos ein dickes Fell haben. Die drei Männer kümmerten sich kaum um ihn. Der eine beendete seine Geschichte, dann sprach man über die Fußballergebnisse des Vortags und lokale Ereignisse. Terence blieb beharrlich sitzen, warf ab und zu eine unverfängliche Bemerkung ein und bemühte sich, keine Ungeduld zu zeigen; aber die Zeit verrann, und schließlich beugte er sich vor und unterbrach ungeschickt die Unterhaltung. 70
„Ich habe mich neulich mit Ihrem Sohn unterhalten“, sagte er, sich an Henderson wendend. Die drei Männer schwiegen und sahen Terence an. „Ach, wirklich“, sagte Henderson. „Ja, in der Werkstatt.“ Henderson brummte nur, aber einer der beiden anderen sagte: „In der Werkstatt? Das muß Chris gewesen sein.“ „Haben Sie denn noch mehr Söhne?“ erkundigte sich Terence. Hier war die Gelegenheit, mehr über die Familie herauszufinden. Henderson schüttelte beinahe verächtlich den Kopf, immer noch ohne ein Wort zu sagen. „Er hat noch ’ne Tochter“, sagte der hilfreiche Freund. „Sicher verheiratet“, bemerkte Terence. Henderson nahm die Zigarette aus dem Mund. „Ja, verheiratet.“ Dann steckte er sie wieder betont zwischen die Lippen. Am liebsten hätte Terence das Gespräch weiterverfolgt; der Gedanke, mehr über die Familie zu erfahren, war beinahe schon eine Manie bei ihm geworden – doch er merkte, daß er Henderson damit nur aufgebracht hätte. So bestellte er eine Runde, lehnte sich zurück und beschloß, Hendersons Aufbruch abzuwarten. Das Lokal war jetzt voll, man hatte die Türen wegen der Sonne geschlossen, und Terence litt unter der Hitze, dem Krach, dem Gedränge und dem Bierdunst. Aber langsam brachen die ersten Gäste auf. Es war Sonntag, und das Essen wartete zu Hause. An ihrem Tisch verabschiedete sich einer der Männer, und bald darauf stand auch Henderson auf, nickte kurz und ließ Terence mit dem dritten zurück, der vorhin über die Familie Henderson Auskunft gegeben hatte. Terences Rechnung schien aufzugehen. Er bestellte dem Mann noch ein Bier und rückte näher. „Kommen Sie schon lange hierher?“ erkundigte er sich. „An die dreißig Jahre.“ 71
„So lange?“ sagte Terence ehrlich überrascht. Du liebe Güte, er hatte ganz vergessen, wie manche Leute lebten. „Und Ihre beiden Freunde? Sind das auch so alte Stammgäste?“ „Henderson und der andere? Also ich komme am längsten her, aber Tom Henderson auch schon sehr lange. Der andere ist ziemlich neu in der Gegend.“ Was Terence dahingehend interpretierte, daß der andere erst seine zehn Jährchen herkam. Aber er vermied es, sich weiter über dieses Thema auszulassen, es führte zu weit von seinem eigenen Thema weg. „Dann müssen Sie und Henderson mittlerweile ja alte Freunde sein.“ „So kann man’s nennen.“ „Kennen Sie auch Chris?“ „Den jungen Henderson?“ „Ja. Chris Henderson. Der in der Garage arbeitet.“ (Gott möge ihm Geduld verleihen!) „Seit wann arbeitet er denn dort?“ „In der Garage? Mal überlegen … Er hat gleich nach der Schule dort angefangen, und die Schule hat er zusammen mit meinem Willy verlassen. Das müßte jetzt sechs Jahre her sein.“ „Wie alt ist er denn?“ „Chris? Ein- oder zweiundzwanzig.“ Terence hätte ihn etwas älter eingeschätzt. „Verheiratet?“ „Nein.“ „Aber er hat sicher schon eine feste Freundin.“ „Nicht daß ich wüßte.“ „Manche jungen Leute interessieren sich nicht für Mädchen“, sagte Terence und hoffte, eine aufschlußreiche Antwort darauf zu erhalten; sie war aber enttäuschend allgemein. „Manche interessieren sich mehr für Fußball“, sagte sein Gesprächspartner uninteressiert. „Oder Hunderennen“, setzte er hinzu. 72
„Denken Sie dabei an Chris Henderson?“ „Das nicht. Ich habe ganz allgemein gesprochen.“ Er begann sich den Mantel zuzuknöpfen und seinen Schal umzubinden. Terence war enttäuscht. Er hatte so gut wie nichts herausgefunden. Vielleicht hatte er die Sache falsch angepackt. Vielleicht hätte er dem Mann ganz offen ein oder zwei Pfund für Auskünfte über die Hendersons bieten sollen. Aber dazu war es jetzt zu spät, denn von der Theke her ertönte laut der Ruf: „Sperrstunde!“ Langsam begann sich das Lokal zu leeren. Draußen auf der Straße zögerte Terence immer noch, schließlich wanderte er planlos durch die verlassenen Straßen. Es war kalt und ungemütlich, und er wußte selber nicht, worauf er wartete. Nach einer Weile gab er auf und fuhr nach Hause. Dort angekommen, ärgerte er sich, daß er die Flinte so schnell ins Korn geworfen hatte. Er verbrachte eine unruhige Nacht und entschloß sich in den frühen Morgenstunden, Chris Henderson den ganzen Tag über zu beschatten. Sehr früh verließ er die Wohnung, um bei Hendersons Ankunft bereits bei der Garage zu sein. Erst als er auf seinem Weg zur High Street in der Untergrundbahn saß, kamen ihm zum erstenmal Bedenken. Was war, wenn Chris gar nicht dort erschien? Er mußte daran denken, wie Chris am Vortag in seinen Wagen gestiegen und abgebraust war – vielleicht war er ja zur Arbeit gefahren, die Garage war schließlich den Sonntag über geöffnet. Und Samstag hatte er auf alle Fälle gearbeitet; damit war es glatt möglich, daß er den Montag freinehmen würde. Niedergeschlagen stellte Terence fest, daß er sich mittlerweile so stark in die Sache verrannt hatte, daß er einen Fehlschlag nicht achselzuckend hinnehmen konnte. So wartete er beinahe fieberhaft auf Hendersons Erscheinen, und als dieser glücklich um kurz nach acht 73
auftauchte, würde ihm ganz schwach vor Erleichterung. Er wartete, bis Chris in der Werkstatt verschwunden war, dann machte er sich zu einer nahe gelegenen Telefonzelle auf. Er hatte vorgehabt, sein Nichterscheinen mit einer kleinen Lüge zu erklären, aber während er die Nummer wählte, kam es ihm zu albern vor, sich wie ein Schüler zu benehmen, der einen Tag blaumachen will. Als auf der anderen Seite der Leitung abgenommen wurde, sagte er nur kurz, er würde an diesem Tag nicht kommen und legte auf. Es war Viertel nach neun. Zwölf Stunden später beschloß er, es gut sein zu lassen, und ging nach Hause. Was er in den langen Stunden herausgebracht hatte, war praktisch gleich Null. Henderson hatte den ganzen Tag über gearbeitet und war nicht einmal zum Lunch fortgegangen. Ein Lehrling hatte aus einem nahe liegenden Café Sandwiches und Kuchen geholt, was die Mechaniker wahrscheinlich während ihrer Arbeit verzehrt hatten. Um sechs waren Chris und sein Vater erschienen und in Chris’ Wagen gestiegen. Chris hatte sich ans Steuer gesetzt, und dann waren sie fortgefahren. Da Terence genügend Zeit gehabt hatte, sich auszudenken, was er tun würde, wenn eben dieses passierte, lief er schnell die Straße hinunter und nahm einen Bus, der ihn zur Jellicoe Street brachte. Als er dort ankam, stand der Wagen auf der Straße und im Haus waren wieder alle Vorhänge zugezogen. Zwei Stunden wartete Terence, und als in der Zeit immer noch nichts passierte, ging er nach Hause. Am gleichen Tag, zwischen zwölf und eins, als Terence aus einer Papiertüte sein mitgebrachtes Lunch verzehrte, saß Sylvia – auch beim Lunch – in ihrer sonnigen Küche. Das ihre bestand aus zwei Scheiben Roggenbrot, einer Tomate, einem hartgekochten Ei und einer Tasse ungesüßtem Tee. Sylvia lebte ständig diät, war im Begriff, es zu tun, oder hatte gerade eine Diätkur hinter sich. Sie war zwar immer noch schlank, hatte aber stets das Beispiel 74
ihrer Mutter vor Augen. In Sylvias Kindertagen war ihre Mutter schlank, ja fast mager gewesen; aber dann, mit Beginn der vierziger Jahre, hatte sie plötzlich Gewicht zugelegt, und Sylvia, die immer an eine schlanke Mutter gewöhnt war, mußte sich nun mit dem Gedanken vertraut machen, eine dicke zu haben. Dazu kam, daß ihre Mutter keine Lehre aus ihrer veränderten Erscheinung zog. Sie kleidete sich im gleichen Stil und aß, was sie immer gegessen hatte, was Sylvia zu dem Schluß brachte, daß der Mensch, wenn er die mittleren Jahre erreicht, nicht mehr die Energie aufbringt, noch etwas an seinen Lebensgewohnheiten zu ändern. Sie war also entschlossen, nicht in die gleiche Falle zu laufen, und achtete auf Kalorien, ehe es nötig wurde, und kleidete sich mit einer schlichten Eleganz, während sie ohne weiteres noch jugendlichere Modelle hätte tragen können. Edgar war mit der Wahl einverstanden, ihre Garderobe war damenhaft und kleidsam. Auch Terence hatte nichts daran auszusetzen. Der Kontrast zwischen ihrer äußeren Erscheinung und der Art, wie sie sich gab, wenn er mit ihr allein war, amüsierte ihn. Und wenn er sie so kühl und vornehm neben sich hergehen sah, dachte er stets mit geheimem Vergnügen daran, wie zügellos sie in der Liebe sein konnte. Außerdem verlieh ihr der diskrete Chic einen Hauch von Reichtum, was ihn ebenfalls freute. Den gleichen Geschmack entwickelte Sylvia, wenn es an die Zubereitung und das Servieren von Speisen ging. An diesem speziellen Tag hatte sie Tomate und Ei auf einer Platte aus Spode-Geschirr angerichtet und eine handgestickte Decke mit passender Serviette aufgelegt. Trotzdem konnte Sylvia ihrem Lunch keinen Geschmack abgewinnen und schob ihren Teller schon nach wenigen Bissen beiseite. Sie gestand sich selber ein, daß sie eifersüchtig war, und das verletzte ihren Stolz. Früher, und damit meinte sie vor ihrer Ehe, waren es immer die 75
Männer gewesen, die eifersüchtig gewesen waren, und Sylvia hatte wenig Verständnis für ihre zur Schau getragenen Leiden und ihr unwürdiges Benehmen gehabt. Jetzt war sie diejenige, die litt, und sie spürte es in ihren Knochen, daß sie es glatt fertigbrächte, sich ebenso albern aufzuführen. Die Erkenntnis, daß sie weder ihre Gefühle noch ihre Taten unter Kontrolle hatte, war erschreckend. Ihr war, als sei ein tröstlicher Nebel fortgewischt und unter ihren Füßen eine fremde, beängstigende Landschaft aufgetaucht. Und ausgerechnet jetzt, wo sie sich zum erstenmal in ihrem Leben unsicher und verloren vorkam, hatte sie niemand, an den sie sich wenden konnte – denn Terence, der sie hätte trösten können, war ja die Ursache ihres Unglücks. Ihr letztes Telefongespräch, das sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, war kurz, gehetzt und unbefriedigend gewesen. Sie hatten sich zwar für den Dienstag abend verabredet, aber bis dahin waren es noch dreißig Stunden, und plötzlich beschloß Sylvia, daß sie nicht schafsgeduldig die Zeit abwarten würde. So stand sie auf und tat etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte: Sie rief Terence in seinem Büro an. Er war nicht da. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte, er habe Bescheid gesagt, daß er nicht kommen werde. Die Sprecherin hörte sich irgendwie beleidigt an, und Sylvia überlegte kurz, wer sie gekränkt haben mochte – Terence, durch seinen früheren Anruf, oder sie, mit ihrem jetzigen. Sie legte auf und überlegte, was sie tun sollte. Eines war sicher: sie würde nicht aufgeben und gar nichts tun. Es mußte etwas geschehen, und in weniger als einer Minute hatte sie den Entschluß gefaßt, gleich auf der Stelle in Terences Wohnung zu gehen. Sie räumte noch schnell in der Küche auf und zog sich um. Gerade als sie das Haus verlassen wollte, klingelte das Telefon. Sie hastete ins Zimmer zurück und riß den Hörer von der Gabel. Es war aber nur Edgar. Es ge76
lang ihr nicht, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen, aber anscheinend bemerkte er nichts davon. „Ich dachte, ich erinnere dich besser an morgen abend, falls du’s vergessen haben solltest“, sagte er. „Was vergessen?“ „Daß wir zu den Frobishers zum Essen gehen wollten.“ „Ach, herrje!“ „Dann hast du’s also vergessen?“ „Vollkommen!“ „Dann hätte ich dich wohl früher erinnern sollen.“ „Das ist nicht deine Schuld. Ich hab’s aufgeschrieben, bloß vergessen, auf den Kalender zu sehen.“ Sofort beschäftigten sich Sylvias Gedanken mit der Möglichkeit, ob sich die übersehene Verabredung zu einem Vorteil kehren ließe. Zumindest genügte die Tatsache, daß sie den Dienstagabend nicht wie geplant mit ihm in seiner Wohnung verbringen konnte, zur Ausrede, jetzt bei ihm vorbeizugehen. Warum sie glaubte, eine Ausrede nötig zu haben, darüber dachte sie nicht weiter nach; sie verabschiedete sich ziemlich abrupt von Edgar und machte sich stehenden Fußes auf den Weg zu Terence. Als sie in der Nähe der Wohnung den Bus verließ, war es noch nicht einmal halb zwei. Wenn er zu Hause war, konnten sie den ganzen Nachmittag miteinander verbringen. Die Aussicht ließ ihr Herz schneller schlagen, und so war sie doppelt enttäuscht, als niemand auf ihr Klopfen antwortete. Sie lauschte an der Tür; nichts regte sich drinnen. Sie klopfte ein zweites Mal, lauter, und dann suchte sie widerstrebend in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, den Terence ihr vor Monaten gegeben hatte und den sie bisher nie benutzt hatte. Als sie die Tür aufschloß, empfand sie gleichzeitig ein Schuldgefühl und ein Gefühl der Erniedrigung; das war nicht mehr die reizende junge Frau, die einen Besuch abstattet. Und da sie in ihren Augen jetzt zu einer Ehebrecherin und ihrem Geliebten hörigen Frau herabgesunken war, benutzte sie die 77
Gelegenheit, in der Wohnung eben dieses Geliebten zu spionieren. Viel war nicht zu entdecken, kaum etwas, das sie nicht schon früher gesehen hatte, aber es war ernüchternd, wie schäbig und durchschnittlich alles im Licht des frühen winterlichen Nachmittags aussah. Sie hatte die Wohnung bisher noch nie bei Tageslicht betreten, und zum erstenmal ging ihr auf, was vorgezogene Gardinen, abgeschirmte Lampen und leise Radiomusik zu einer Atmosphäre beitragen können. Jetzt waren sämtliche Möbel mit einer Staubschicht bedeckt, das Bett war nicht gemacht, das Kaffeegeschirr stand noch auf dem Tisch, und überall lagen verstreute Garderobestücke herum. Am liebsten hätte Sylvia aufgeräumt, abgewaschen und das Bett gemacht, Staub gewischt, die Heizung angestellt und die Lampen angezündet, um das Grau des Wintertags zu vertreiben, aber das wäre sicher falsch gewesen. Er könnte es auslegen, als wolle sie von seiner Behausung Besitz ergreifen. So setzte sie sich aufs Sofa und wartete, angespannt wie eine Feder. Nach einer halben Stunde stand sie auf und machte sich eine Tasse Kaffee. Nach einer weiteren halben Stunde stellte sie den Fernsehapparat an und versuchte, das Programm zu verfolgen. Aber alles, was sie sah, waren flackernde Schatten, und von dem Gesagten verstand sie nichts, da sie ständig auf das Geräusch von Terences Schritten lauschte. Aber er kam nicht. Länger als bis fünf konnte sie nicht bleiben, selbst das war beinahe zu spät und würde sie zwingen, den Mädchen etwas vorzulügen. Sie trug Tasse und Untertasse in die Küche, um beides abzuwaschen, und während sie am Spülbecken stand, sprang draußen vor dem Fenster eine Katze auf das Sims und mauzte zutraulich, um eingelassen zu werden. Sylvia sah die Katze durch die Scheibe an und überlegte, ob sie wohl öfters käme. Sie wirkte sehr zahm; es war sogar möglich, daß sie Terence gehörte, obwohl er nie etwas von einer Katze erwähnt hatte. Auf einmal erschien ihr das Tier symbolhaft 78
für den Teil von Terences Leben, der ihr verborgen war, und sie zog schnell die Vorhänge zu. Schließlich wurde es bereits dunkel, redete sie sich ein. Im Wohnzimmer suchte sie nach einem Stück Papier und einem Bleistift und schrieb ein paar Zeilen auf, daß sie ihn am späten Abend noch anrufen werde. Aber dann überlegte sie es sich anders; die ewigen Telefongespräche machten sie allmählich krank. Es war Tage her, daß sie ihn zum letztenmal gesehen hatte, also zerriß sie den Zettel wieder und hinterließ die Nachricht, daß sie noch einmal vorbeikommen werde, wenn der Elternabend vorbei war. Es war heller Wahnsinn, und sie wußte es auch, trotzdem ließ sie den Zettel auf dem Tisch liegen und ging schnell hinaus, ehe sie ihren Entschluß wieder bereute. Edgar hatte eigentlich vorgehabt, sie zu dem Elternabend zu begleiten, aber sie redete es ihm aus, mit der Begründung, daß es sich um eine reine Routinesache handle – „… schließlich bereiten uns die Mädchen keinen Kummer, und es gibt nichts Spezielles mit den Lehrern zu besprechen.“ Edgar ließ sich überreden, zögerte seine endgültige Entscheidung aber bis zur letzten Minute hinaus, so daß Sylvia erst aufatmen konnte, als sie sich auf den Weg zur Schule machte. Nervös hörte sie sich die Begrüßungsworte der Schulleiterin an, und sie sprang als erste auf, als die anwesenden Eltern aufgefordert wurden, sich in die jeweiligen Klassenzimmer ihrer Kinder zu begeben. Sie hatte vor, Marions Lehrerin so schnell wie möglich zu sprechen, und es gelang ihr auch, die erste in der aufgebauten Reihe der Väter und Mütter zu sein. Die Besprechung verlief befriedigend, freundlich und sachlich. Marion arbeitete fleißig, nahm an sämtlichen gemeinsamen Klassenunternehmungen teil und dürfte höchstens etwas mehr Zeit auf ihre Hausaufgaben verwenden, 79
die nicht immer mit großer Sorgfalt gemacht waren; aber das war eine geringfügige Angelegenheit. Ansonsten war nichts an ihr auszusetzen. Sylvia bedankte sich gebührend bei der Lehrerin und eilte durch den Korridor zu Julies Klassenzimmer. Dort standen die Eltern bereits in einer längeren Schlange an. Voller Ungeduld baute sie sich am Ende auf, versuchte diejenigen, die sich gerade mit der Lehrerin unterhielten, zu hypnotisieren, daß sie sich beeilen möchten, und mißgönnte ihnen jede Minute ihres Gesprächs, was die Leute aber nicht davon abhielt, sich des längeren über ihre Kinder auszulassen. Als Sylvia endlich an die Reihe kam, war es Viertel vor zehn. Während sie ihren Platz einnahm, stellte sie schnell einen Zeitplan auf. Zwanzig Minuten brauchte sie, um zu Terences Wohnung zu gelangen, eine halbe Stunde, um von dort nach Hause zu kommen, später als halb zwölf durfte das nicht sein, wo der Elternabend ihr einziges Alibi war – damit blieb eine knappe Stunde für Terence, die Zeit des Gesprächs mit Julies Lehrerin gar nicht eingerechnet. Sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie überhaupt auf diese Unterredung gewartet hatte, aber sie wußte gleichzeitig, daß ihr gar nichts anderes übriggeblieben war – schließlich konnte sie Julie gegenüber nicht zugeben, daß sie nicht mit ihrer Lehrerin gesprochen hatte. Und behaupten, sie habe sich mit ihr unterhalten, ging ebensowenig. Aber jedenfalls konnte sie es kurz machen. Miß Clifton hatte aber anscheinend nicht vor, sich kurz zu fassen. „Oh, Mrs. Manson“, begrüßte sie sie. „Ich bin froh, daß Sie gekommen sind.“ Sylvia lächelte und widerstand der Versuchung, einen Blick auf die Uhr zu werfen. „Wir freuen uns immer, uns mit den Eltern zu unterhalten, selbstverständlich auch außerhalb der offiziellen Abende.“ Hier machte sie eine Pause und suchte in einem Stapel vor ihr liegender Notizen. Jetzt wagte Sylvia, auf die Uhr zu sehen. Zehn vor. Miß Clifton hatte jetzt den 80
Bogen gefunden, den sie gesucht hatte, und legte ihn vor sich auf den Tisch. „Wir hatten eigentlich früher mit Ihrem Besuch gerechnet, Mrs. Manson.“ Nur mit Mühe konnte Sylvia ihre Gedanken von Terence lösen und sich zwingen, zuzuhören. „Wie meinen Sie das?“ fragte sie unsicher. „Warum hätte ich früher bei Ihnen vorbeikommen sollen?“ Ihr offensichtliches Nicht-Begreifen stürzte Miß Clifton in Verlegenheit. Sie drehte einen Bleistift zwischen den Fingern und setzte ein zweites Mal an: „Wir alle hier kennen Julie als liebes, braves Mädchen. Leider hat sie sich in den letzten Wochen ziemlich verändert …“ Großer Gott, was war das? Sylvia wußte, daß sie sich zusammenreißen mußte, aber sie war sich gleichzeitig bewußt, daß die Minuten verrannen. „Wollen Sie damit sagen, daß sie jetzt kein liebes, braves Mädchen mehr ist?“ Allzu große Direktheit lag Miß Clifton nicht. „Soweit würde ich nicht mit der Behauptung gehen“, sagte sie zögernd. „Schließlich machen viele Mädchen schwierige Phasen durch und fangen sich dann wieder. Das wird bei Julie bestimmt auch der Fall sein. Nur im Augenblick ist sie wirklich schwierig. Um ehrlich zu sein, Mrs. Manson, wir machen uns Sorgen.“ „Sorgen? Ja, aber …“ Sylvia sah sich um, ob man ihre Unterhaltung mitverfolgen könne, aber die wenigen noch wartenden Eltern unterhielten sich mit leiser Stimme. Sie wandte sich wieder an Miß Clifton: „Das ist wohl unnötig“, sagte sie kalt. „Ich bedaure, Mrs. Manson, wir halten es nicht für unnötig.“ „Aber Julie hat nie die geringsten Schwierigkeiten gemacht; sie geht gern zur Schule und hat immer die besten Noten nach Hause gebracht.“ „Das wissen wir, Mrs. Manson, und darum sind wir doppelt bestürzt über die Änderung in ihrem Betragen.“ 81
„Warum haben Sie uns denn nicht benachrichtigt?“ „Das hätten wir getan, wenn Sie heute nicht gekommen wären, Mrs. Manson. Aber wie ich schon zu Anfang sagte, hatten wir eigentlich erwartet, daß Sie sich mit uns in Verbindung setzen würden.“ „Warum sollte ich denn?“ rief Sylvia. „Ich ahnte doch nicht, daß etwas nicht in Ordnung ist.“ „Nun, Julie hat zum Beispiel im ganzen vergangenen Monat keine Hausaufgaben gemacht. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß sie nicht arbeitet? Wo die Versetzungen vor der Tür stehen?“ „Julie geht abends immer in ihr Zimmer hinauf.“, sagte Sylvia. „Mein Mann und ich haben angenommen, daß sie dort arbeitet.“ „Das hat sie leider nicht“, sagte Miß Clifton. „Außerdem hat sich gerade erst heute nachmittag herausgestellt, daß sie bei zwei verschiedenen Gelegenheiten geschwänzt hat.“ „Und wann bitte?“ Miß Clifton sah auf den vor ihr liegenden beschriebenen Bogen. „Am Donnerstag letzter Woche hat sie die beiden letzten Stunden versäumt, und am vergangenen Dienstag den gesamten Nachmittagsunterricht.“ „Und das haben Sie heute erst bemerkt?“ sagte Sylvia vorwurfsvoll. „Es gehört zu unserem Programm, der sechsten Klasse möglichst viel Bewegungsfreiheit zu lassen“, entgegnete Miß Clifton frostig. „Das ist natürlich alles sehr bedauerlich“, sagte Sylvia nicht minder kalt. „Mein Mann und ich werden uns Julie morgen früh einmal vornehmen.“ Sie machte Miene, sich zu erheben, aber Miß Clifton hielt sie mit einer Handbewegung zurück. „Das ist noch nicht alles“, sagte sie. „Ich habe hier eine Zusammenfassung der letzten Wochenbeurteilungen.“ Aber Sylvia überhörte absichtlich die darin enthaltene 82
Bitte, noch etwas zu bleiben. „Ich glaube, das ist jetzt nicht der Ort und die Zeit, um die Sache in allen Einzelheiten durchzugehen, Miß Clifton. Wenn wir mit Julie gesprochen haben, werde ich Miß Webster anrufen und einen Termin mit ihr ausmachen.“ Miß Webster war die Schulleiterin. Miß Clifton erhob sich ebenfalls. „Ich hätte Ihnen gern die Beurteilungen erklärt“, begann sie noch einmal, aber Sylvia fiel ihr ins Wort. „Wir sollten besser später darüber sprechen.“ „Wie Sie meinen. Guten Abend, Mrs. Manson.“ Miß Clifton setzte sich wieder und winkte der nächsten wartenden Mutter zu. Als Sylvia die Eingangstür der Schule erreicht hatte, war sie in einen Laufschritt verfallen. Es war Viertel nach zehn. „Sie haben’s aber eilig, nach Hause zu kommen“, rief ihr jemand nach, den sie kannte. Sie lächelte mechanisch, verlangsamte ihren Schritt, bis sie außer Sichtweite war und setzte sich dann wieder in Trab. Im Taxi merkte sie, daß sie zitterte. Was war mit Julie los? Sie wußte, daß sie die Sache falsch angepackt hatte. Sie hatte Miß Clifton gegen sich aufgebracht und der Bedeutsamkeit der Angelegenheit nicht genügend Rechnung getragen. Sie hätte so lange bleiben müssen, bis Miß Clifton mit ihren Ausführungen fertig war, dann hätte sie sofort nach Hause gehen und mit Edgar sprechen sollen. Aber was tat sie? Sie hastete zu einem heimlichen Treff mit ihrem Liebhaber. Sie schämte sich über sich selber, dachte aber nicht daran, den Fahrer zu bitten, umzukehren und sie nach Hause zu bringen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Terence zu sehen, und wenn es für weniger als eine halbe Stunde sein sollte. Doch als Terence ihr öffnete, berichtete sie ihm sofort von ihrer Sorge wegen Julie. Er war etwas verwirrt. Ihren Zettel hatte er mit gemischten Gefühlen gelesen. Natürlich war er glücklich, sie zu sehen – sie war immer noch 83
seine wunderbare Geliebte –, aber er war sich peinlich bewußt, wie wenig passend die Verabredung war, so spät abends, so gehetzt … Außerdem hatte er damit gerechnet, bis zum nächsten Abend Zeit zu haben, um sich genau zu überlegen, was und wieviel er Sylvia von seinen jüngsten Unternehmungen erzählen sollte, sich jetzt früher entscheiden zu müssen, störte ihn. Er war seiner Sache selber noch nicht sicher, und nun kam Sylvia mit ihrer Geschichte von Wochenberichten und Schuleschwänzen. Zu Anfang hörte er ihr geduldig zu, weil er spürte, daß sie echt besorgt war, dann wurde er schließlich nervös. „Komm, laß das Thema jetzt“, bat er. „Wir haben doch nur ein paar Minuten. Reden wir nicht die ganze Zeit von Julie und ihren Schwierigkeiten.“ „Wie kannst du nur so herzlos sein“, brauste sie auf. „Bitte, du kennst sie nicht, aber schließlich ist Julie meine Tochter, und ich habe mir eingebildet, du würdest an unseren Sorgen Anteil nehmen.“ Terence legte den Arm um sie. „Tu ich ja, Darling“, sagte er und tätschelte sie beruhigend. „Das tut mir alles furchtbar leid, aber du kannst mir doch keine Vorwürfe machen, daß ich auch etwas an mich denke. Du kannst ihr morgen Stunden und Stunden widmen, für mich bleiben aber nur ein paar jämmerliche Minuten.“ Sylvia stieß seinen Arm beiseite und setzte sich aufrecht. „Das ist doch Unsinn“, sagte sie. „Du scheinst nicht zu begreifen, um was es geht. Das Schlimme bei dir ist, daß du eifersüchtig bist, Terence. Du mißgönnst meinen Töchtern meine Zuneigung.“ „Jedenfalls interessierst du dich mehr für ihr Wohlergehen als für meins“, gab Terence zurück und wußte im gleichen Augenblick, daß er sich absurd benahm. Sylvia sah ihn auch prompt leicht empört an. „Du hast gut reden“, begann sie. „Du kannst ganz allein an dich denken.“ „Ich denke an dich“, fiel er ihr ins Wort, aber sie über84
hörte seine Bemerkung und erging sich in einer leidenschaftlichen Aufzählung der Unterschiede zwischen seinem ungebundenen Junggesellenleben im Vergleich zu dem ihren, das voller Haushalts- und Ehepflichten war. „Du kannst dir einen Tag freinehmen, wenn du Lust hast, wie heute zum Beispiel“, rief sie. „Wo warst du übrigens? Bist du in der Stadt herumflaniert?“ „Willst du wirklich wissen, wo ich war?“ fragte er gekränkt zurück. „Bitte – ich habe deinen verfluchten rothaarigen Mörder beschattet, das habe ich getan.“ Sylvia war wie vor den Kopf geschlagen; sie starrte ihn mit weit aufgerissen Augen an. „Was hast du gemacht?“ fragte sie mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war. Terence bedauerte bereits, daß er sich zu dieser Auskunft hatte hinreißen lassen. „Etwas in der Art jedenfalls“, sagte er und bemühte sich, die Worte gleichgültig klingen zu lassen. „Ich hab einen jungen Mann gesehen, der deiner Beschreibung entsprach, und da bin ich ihm eine Zeitlang nachgegangen.“ „Ich begreife gar nichts mehr“, sagte sie. „Heißt das, du hast irgendeinen rothaarigen Mann gesehen und hast ihn verfolgt, auf die Chance hin, daß es der gewesen sein könnte, den ich gesehen habe?“ „Ganz so auch wieder nicht“, gab er zu. Er fühlte sich höchst ungemütlich. „Der Mann, um den es sich handelt, benahm sich irgendwie komisch, fand ich. Er hatte einen schleichenden Gang, genau wie du es von deinem Mann beschrieben hast. Und da er auch noch rote Haare hatte, dachte ich, ich sollte besser herausfinden, was er vorhatte.“ „Wann war das denn?“ „Wann? Oh, heute morgen.“ „Um wieviel Uhr?“ „Herr Jesses, ich weiß nicht. Um elf, vielleicht.“ „Dann ist das also nicht der Grund, warum du nicht zur Arbeit gegangen bist?“ 85
„Natürlich nicht. Ich hab mich unwohl gefühlt, darum bin ich nicht hin. Zufrieden?“ „Nein“, entgegnete Sylvia. „Für mich hört sich das alles reichlich seltsam an. Wie lange, sagst du, hast du den Mann verfolgt?“ „Den ganzen Tag. Seit elf Uhr.“ „Du bist verrückt. Und herausgefunden hast du sicher auch nichts – oder?“ „Viel nicht.“ „Da siehst du’s!“ „Was hast du eigentlich?“ fragte er ärgerlich. „Glaubst du mir vielleicht nicht?“ „Ich glaube kein Wort von dem allen“, sagte sie. „Und wenn ich’s täte, müßte ich dich für völlig übergeschnappt halten. Warum mußt du bloß diese alte Geschichte wieder aufwärmen, wo ich gerade dabei bin, sie zu vergessen?“ Terence war ehrlich gekränkt. „Ich hab sie jedenfalls nicht vergessen“, gab er verdrossen zurück. „Du warst es doch, der diese armen Mädchen so leid getan haben. Und jetzt willst du nichts mehr von der Sache wissen und verlangst von mir, daß ich mich auch nicht mehr darum kümmere. Vielleicht erinnerst du dich daran, daß sie den Burschen immer noch nicht gefaßt haben.“ „Dann gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, daß du ihn auch morgen den ganzen Tag lang wieder beschatten willst?“ bemerkte sie sarkastisch. „Vielleicht tue ich es ja“, gab er zurück. Sie starrte ihn mit gerunzelter Stirn an; es war ihm offensichtlich ernst damit. „Zuzutrauen wäre es dir“, sagte sie langsam. Und als er nicht antwortete, drängte sie: „Terence, versprich mir, diesen Unsinn zu unterlassen. Du mußt es mir versprechen!“ „Wieso eigentlich?“ erkundigte er sich. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, dabei fiel ihr Blick zufällig auf die Uhr. „Ich muß los“, rief sie 86
entsetzt und raffte Handtasche, Mantel und Handschuhe an sich. „Es ist schon nach elf, ich muß fliegen!“ Er begleitete sie zur Tür und hinunter auf die Straße. Als sie endlich ein Taxi fanden und er sie hineinverfrachtet hatte, merkte er, daß sie mit den Tränen kämpfte und ihr Gesicht über dem Pelzkragen blaß und versorgt aussah. Plötzlich hatte er das Gefühl, als ob sich eine schwere Last auf ihn lege. Wo sollte das nur hinführen? Wie richtig hatten sie bei Beginn ihrer Beziehung gehandelt, indem sie die Tür zur Außenwelt abgeschlossen hatten. Seitdem sie die künstlich von ihnen aufgerichtete Mauer eingerissen hatten, hatte es nichts wie Schwierigkeiten gegeben. Auf einmal wünschte er sehnsüchtig, sich zurückziehen zu können, und als er dem Taxi nachsah, schwor sich Terence, sich nicht weiter um den jungen Mann aus der Garage zu kümmern. Dieser Entschluß half ihm, endlich wieder ungestört zu schlafen. Es war, als ob er damit einen Talisman gegen weitere Katastrophen gefunden hatte, und so vermied er es auch am nächsten Morgen, noch länger an den jungen Henderson zu denken. Er ging früher als sonst in sein Büro und beschäftigte sich mit den Akten, die sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten. Als Sylvia nach Hause kam, war Edgar noch wach und wartete auf sie. Sofort führte sie die Sache mit Julie als Grund für ihr spätes Heimkommen an. Sie behauptete, Miß Clifton habe sie gebeten, zu bleiben, um mit ihr über Julies Benehmen zu reden, und von Edgars Fragen in die Enge getrieben, verstieg sie sich zu der Behauptung, die Unterredung habe so lange gedauert, daß sie den letzten Bus verpaßt habe und Ewigkeiten auf ein Taxi habe warten müssen. Ihr war völlig bewußt, wie riskant eine derartige Lüge war, und sie versuchte sie zu überspielen, indem sie sich ausführlich und zusammenhanglos über Julies Untaten erging. Edgars erstes Erschrecken ging in schlechte Laune 87
über, die er an ihr ausließ. „Du hättest den Wagen nehmen sollen“, polterte er los. „Das hab ich dir schon hundertmal gepredigt. Statt dessen karriolst du in den Straßen herum und wartest Stunden auf Busse und Taxis. Du bist ja närrisch!“ „Ich kann nachts nicht fahren“, hielt sie ihm entgegen. „Ach, Blödsinn“, schrie er. „Nichts wie Einbildung.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist nach Mitternacht, und auf der Einladung hat gestanden, die Sache würde bis zehn dauern.“ „Das sagen sie immer, aber es wird jedesmal später. Übrigens – hast du mir gar nicht zugehört? Wir sollten uns über Julie unterhalten, nicht über mich.“ „Das stimmt“, gab er etwas ruhiger geworden zu. „Julie – was ist eigentlich los mit ihr?“ „Das weiß ich auch nicht“, sagte Sylvia und hob hilflos die Schultern. „Ich kann nur wiederholen, was man mir gesagt hat. Sie macht keine Schularbeiten, sie beteiligt sich nicht am Unterricht, sie ist schwierig, unverschämt oder muffig, und zweimal hat sie den Unterricht geschwänzt. Stell dir vor, Julie schwänzt die Schule!“ Edgar sah auf einmal alt und müde aus, und Sylvia, die ihn beobachtete, spürte eine echte Wut auf Julie in sich aufsteigen – warum mußte das Kind Edgar aufregen und das Familienleben stören –, aber gleichzeitig war sie zutiefst bedrückt, weil Julie anscheinend selber Kummer hatte. „Ich kann es einfach nicht glauben“, sagte Edgar mit sorgenvoller Miene. „Ich kann es mir nicht vorstellen, daß Julie so etwas tun soll.“ „Ich hab’s zuerst auch nicht glauben wollen. Aber ich fürchte, wir kommen nicht darum herum: Es stimmt.“ Sie sprachen noch eine lange Zeit darüber, bis in den frühen Morgen, und vor dem Frühstück nahmen sie sich Julie vor, im Eßzimmer, wo sie frühmorgens immer noch auf dem Klavier übte. Aber Julie lief davon, hinauf 88
in ihr Zimmer und warf die Tür zu und reagierte nicht, als man sie rief. Dieses Benehmen bewies in aller Deutlichkeit, daß alles, was Sylvia in der Schule gehört hatte, den Tatsachen entsprach. Julie hatte sich gegen die Schule gewandt und wandte sich augenscheinlich jetzt auch gegen ihre Eltern. Marion tauchte erschrocken und halb verschlafen in ihrer Zimmertür auf, und Edgar stürzte sich jetzt auf sie, nahm sie ins Kreuzverhör, bis Marion schluchzend zugab, daß Julie öfters – „Öfters!“ rief Sylvia – nicht zur Schule gegangen sei. Sie sagte, Julie hätte ihr das Versprechen abgenommen, niemand davon zu erzählen, und sie wiederholte beharrlich, sie habe keine Ahnung, wohin Julie gegangen sei – Julie habe ihr nichts davon gesagt. Edgar war skeptisch, aber Sylvia glaubte ihr. Auch die Lehrerin hatte Julies Heimlichkeit erwähnt. Obwohl niemand Hunger hatte, machte Sylvia das Frühstück zurecht, und alle drei setzten sich an den Tisch; aber es half nichts. In ihrer Familie hatte es nie Szenen oder Streitigkeiten gegeben, und so brachte keiner es fertig, zu tun, als sei nichts passiert. Der Gedanke an Julie, die feindlich und mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt oben in ihrem Zimmer saß, bedrückte sie alle über die Maßen, und Sylvia machte wiederholte Male Anstalten, zu ihr hinauf zu gehen, hielt sich dann aber doch zurück oder wurde von den anderen zurückgehalten. Man kam schließlich überein, später, wenn Julie sich beruhigt und Vernunft angenommen hatte, die Sache in aller Freundschaft mit ihr zu bereden. Aber während sie noch am Tisch saßen und vorgaben, etwas zu essen, hörten sie die Haustür zufallen. Sie liefen alle in die Halle, aber Julie war schon fort und um die Ecke gebogen, als sie die Gartenpforte erreicht hatten. Edgar holte den Wagen aus der Garage und fuhr zum Bahnhof; von dort durch die umliegenden Straßen, aber von Julie war nichts zu erblicken. Als er zum Haus zurückkehrte, 89
kam Sylvia ihm an die Tür entgegengelaufen und berichtete, daß Julie ihre Schuluniform zerknüllt auf dem Boden ihres Zimmers zurückgelassen hatte und offenbar in ihrem orangefarbenen Hosenanzug fortgegangen war. Ein hastiges Durchsuchen des Schranks ergab, daß sie weder irgendwelche Kleider noch einen Koffer mitgenommen hatte, auch kein Nachtzeug, und da Julie ihres Wissens nach kaum einen Penny besaß, klammerten sie sich an die Hoffnung, daß das Mädchen abends zurückkommen werde. Der Tag wollte kein Ende nehmen, er war ein fortwährender Alptraum. Edgar ging nicht ins Büro, und auch Marion wäre am liebsten zu Hause geblieben, wenn man es gestattet hätte, aber Edgar und Sylvia überredeten sie, zur Schule zu gehen. Nachdem Marion fort war, konnten sie ihre künstliche Munterkeit aufgeben. Jetzt erst wurden sie von Panik gepackt. Edgar setzte sich wieder in den Wagen und suchte zwei Stunden lang alle Orte und Gegenden ab, wo Julie möglicherweise sein konnte – aber er fand sie nicht; er hatte im übrigen keine Ahnung von den Dingen, die sie sonst trieb. Sylvia blieb in der Nähe des Telefons. Sie saß in der Halle, als Edgar das Haus verließ, und sie saß immer noch da, als er endlich wieder zurück war. „Ich werde die Polizei anrufen“, verkündete sie, als er die Halle betrat, aber er bedeutete ihr niedergeschlagen, daß Julie dafür noch nicht lange genug fort sei. „Sie werden dich nur auslachen, wenn sie hören, daß Julie noch keine vier Stunden weg ist.“ „Obwohl sie erst sechzehn ist?“ „Sechzehn? Mit sechzehn ist man heutzutage erwachsen. Da brauchst du nur die Zeitungen aufzuschlagen.“ „Die Zeitungen sind voll von Geschichten über sechzehnjährige Mädchen, die in Schwierigkeiten geraten sind – wenn du das meinst.“ Aber Sylvia mußte sich eingestehen, daß Edgar recht hatte – es war zwecklos, die 90
Polizei jetzt schon zu alarmieren; doch wenn Julie bis neun Uhr abends nicht zurück sein sollte, würde sie es tun, das schwor sie sich. Zwölf Stunden Abwesenheit waren mehr als genug. Aber zum Schluß tauchte Julie kurz nach sechs auf, kaum später, als wenn sie in der Schule gewesen wäre. Als Antwort auf die besorgten Fragen ihrer Eltern erwiderte sie nur kurz, sie sei in der Stadt gewesen. „Aber du hast doch gar kein Geld bei dir gehabt“, rief Sylvia. „Ich bin gelaufen.“ „Und Essen? Dein Lunch?“ „Ich war nicht hungrig“, sagte Julie, vermied es aber, ihre Mutter dabei anzusehen, und Sylvia mußte plötzlich denken, daß das Mädchen sich wahrscheinlich von einem Autofahrer hatte in die Stadt mitnehmen und von ihm eine Mahlzeit hatte spendieren lassen. Das taten Mädchen heutzutage, wußte Sylvia, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, woher ihre hübsche, sanfte Julie den Mut dazu genommen haben sollte. Aber wenigstens war sie wieder zu Hause und schien auch zu beabsichtigen zu bleiben, jedenfalls erwähnte sie nicht das Gegenteil. Julie zog ihren Mantel aus, warf sich auf das Sofa vor dem Fernsehapparat, fauchte Marion an, überhörte Edgars Vorwürfe, aber irgendwie hatte sich ihre Stimmung seit dem Morgen verändert. Sie wirkte angespannt, und Sylvia entschied sehr richtig, daß man das Mädchen besser zufrieden ließe. Jetzt auf einer Aussprache zu bestehen, könnte nur etwas verderben. Außerdem blieb keine Zeit für eine längere Auseinandersetzung, wenn sie ihre Abendeinladung einhalten wollten. Sylvia war gerade drauf und dran gewesen, anzurufen und abzusagen, als Julie das Haus betrat, und da sie nun wieder wohlbehalten zu Hause war, lag kein Grund vor, ihre Pläne zu ändern; außerdem, was hätten sie als Entschuldigung vorbringen sollen? Alles in allem 91
erschien es ihr einfacher, der Einladung Folge zu leisten. Und als sie und Julie einen Moment allein im Zimmer waren, machte das Mädchen eine Bemerkung, die es Sylvia angeraten erscheinen ließ, Edgar für den Abend aus Julies Nähe und aus dem Haus zu bekommen. Mit einem vielsagenden Blick hatte Julie nämlich bemerkt: „Eigentlich merkwürdig, daß ausgerechnet du dich über so eine Kleinigkeit wie unerlaubtes Fernbleiben erregen kannst, Mutter.“ „Was willst du damit sagen?“ hatte Sylvia scharf zurückgefragt, und Julies Antwort hatte gelautet: „Das weißt du selber wohl am besten. Ich bin nicht die einzige in der Familie, die etwas Verbotenes tut.“ In dem Augenblick waren Marion und Edgar ins Zimmer gekommen. Sylvia wußte sehr wohl, daß sie die Sache sofort im Keim ersticken, Julie die Stirn bieten und zum Rückzug zwingen sollte. So sicher, wie sie auftrat, konnte sie kaum sein, wahrscheinlich wartete sie nur darauf, daß Sylvia ihre Anschuldigung zurückwies, aber in Gegenwart der anderen verließ sie der Mut, und ihr einziger Gedanke war, Edgar sicher aus dem Haus zu schaffen, fort aus der Gefahrenzone, bis sie die Sache mit Julie bereinigen konnte … Darum bemerkte sie prompt, daß es höchste Zeit zum Aufbruch sei. Edgar war überrascht und erleichtert zugleich. Er hatte auch das Gefühl, daß sie gehen sollten, hatte aber mehr oder weniger erwartet, daß Sylvia zu Hause bleiben wollte – und nun drängte sie ihn sogar, sich zu beeilen und umzuziehen. Sie hatte recht, es war bereits kurz vor sieben. So zogen sie sich schnell um und saßen kurz darauf im Wagen und kamen schließlich nur eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit bei ihren Bekannten an. Die Dinnerparty war langweilig, wie es Sylvia auch nicht anders erwartet hatte. Die Gastgeber waren nette, aber uninteressante Leute, die pflichtgemäß auf jede 92
Einladung mit einer Gegeneinladung reagierten, ohne große Rücksicht darauf, ob die Gäste auch zusammen paßten. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Schulfragen, au pair-Mädchen und Ferien an der Costa Brava. Sylvia litt Qualen, und so früh es der Anstand erlaubte, gab sie Edgar einen Wink, und sie verabschiedeten sich. Auf dem Heimweg unterhielten sie sich über Gäste und Gastgeber, und langsam stieg ihre Stimmung wieder an. Sie lachten sogar zusammen, und Edgar stellte das Autoradio an, um die Nachrichten zu hören. Eine der ersten Meldungen war, daß wieder ein Mädchen in einer ruhigen Vorstadtstraße ermordet worden war. Sylvia wandte sich Edgar zu und trommelte mit der Faust auf seinen linken Arm. „Das hätte Julie sein können!“ rief sie. „Begreifst du, daß es Julie hätte passieren können?“ Dann brach sie in einen Tränenstrom aus. Auch Terence hörte in seiner Wohnung die Nachricht. Er war erst kurz zuvor nach Hause gekommen. Er hatte nach einem geschäftigen und sonst ereignislosen Arbeitstag vorgehabt, den Bus nach Hause zu nehmen, hatte dann aber im Flur vor seinem Büro den Lift hinunter zur Tiefgarage genommen, sich vom Portier einen Wagenschlüssel geben lassen und war mit einem Firmenwagen zu Hendersons Garage gefahren, wo er von kurz vor halb sieben bis Viertel vor acht gewartet hatte. Schließlich war Chris Henderson erschienen, in einer Lammfelljacke und frisch geputzten Schuhen und einer Zigarette zwischen den Lippen. Er war in Richtung Norden gefahren, und Terence war ihm gefolgt, in gewisser Entfernung, so daß er gelegentlich von einer Ampel aufgehalten wurde. Fluchend hatte er gewartet, das Tempo danach beschleunigt, und schließlich hatte er den Wagen irgendwo in der Nähe einer öffentlichen Badeanstalt aus den Augen verloren. Er war dann eine gute halbe Stunde lang vergeblich in den Straßen umhergekreuzt, 93
schließlich hatte er es aufgegeben und war zu seinem Bürohaus zurückgekehrt. Müde und schlechtgelaunt hatte er schließlich ein Taxi nach Hause genommen. Dort hatte er sich einen Drink gemixt und Radio gehört. Gerade als er abschalten wollte, kamen die Nachrichten, so beschloß er, sie sich noch anzuhören. Als dritte Meldung brachte man den Mord an dem Mädchen, der keine Viertelmeile von der Stelle entfernt stattgefunden hatte, wo Terence den Wagen von Chris aus den Augen verloren hatte. Terence saß wie erstarrt da; die Hand, die gerade das Glas zum Mund führen wollte, auf halbem Wege festgefroren. Dann erwachte er wieder zum Leben, verließ stehenden Fußes und ohne Mantel die Wohnung und marschierte zum Polizeirevier. Dort berichtete er, was er über Chris Henderson wußte.
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2. TEIL
Auf dem Revier lief alles so reibungslos ab, als ob es geprobt worden sei. Terence war beinahe überzeugt, daß er denselben diensthabenden Constable vor sich hatte wie damals bei der Identifizierungsparade, der jetzt wieder um seinen Tisch herum kam und Terence – wie damals – in das hintere Zimmer geleitete. Und er war auch gar nicht überrascht, daß Inspektor Quirke hinter seinem Schreibtisch saß, als ob er ihn erwartet habe. Alles erschien irgendwie unausweichlich: Der Inspektor hörte sich aufmerksam und gelassen an, was Terence zu sagen hatte, was dieser äußerst beruhigend fand. Ähnlich mußte es sein, wenn man zur Beichte ging, um sich dann hinterher auf dem Heimweg entspannt und beinahe glücklich zu fühlen, als ob man eine Last von den Schultern gewälzt habe. Am nächsten Morgen kaufte er sich in aller Frühe sämtliche Zeitungen, die er gleich auf der Straße überflog. Alle brachten die Nachricht von dem neuen Mord, von Chris Henderson wurde nichts erwähnt. Terence hatte es auch nicht anders erwartet, dazu war es viel zu früh, aber trotzdem fühlte er eine gelinde Enttäuschung nach der Nervenanspannung der vergangenen Nacht. Als er in seine Wohnung zurückkam, läutete das Telefon. Es war Sylvia, die halb hysterisch vor Aufregung war. Sie überfiel ihn mit einem Redeschwall, in dem es um den Mord ging und um Julie – als ob da ein Zusammenhang bestände. Terence versuchte besorgt, ihren Worten zu folgen, 95
konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. Er war sich peinlich der Tatsache bewußt, daß es noch vor acht war und Edgar und die Mädchen noch im Haus sein mußten. Von wo rief Sylvia um Gottes willen an? Schließlich gelang es ihm, sie zu unterbrechen. „Ist Julie was passiert?“ fragte er. „Ermordet worden ist sie nicht – wenn du das meinst.“ „Und sie ist nicht einmal überfallen worden?“ „Nicht einmal!“ Terence packte den Hörer fester. „Sylvia“, sagte er langsam und betont, „was ist denn mit Julie gewesen? Was ist passiert?“ „Sie war fortgelaufen“, sagte Sylvia. „Sie war gestern den ganzen Tag weg, und wir wußten nicht, wo.“ „Und wo ist sie jetzt?“ Terence hielt den Atem an, während er auf Sylvias Antwort wartete. „Hier“, entgegnete Sylvia und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gott sei Dank“, sagte er. „Gott sei Dank, daß sie in Sicherheit ist.“ „Das ist sie“, sagte Sylvia. „Aber sie hätte ebensogut ermordet werden können, genau wie das andere arme Mädchen. Der Mann ist ein gefährlicher Irrer, Terence. Ich hätte zur Polizei gehen sollen. Wenn ich es getan hätte, wäre das arme Mädchen noch am Leben. Du hättest mich zwingen müssen.“ „Und wie hätte ich das anstellen sollen?“ rief Terence, aber sie fiel ihm ins Wort: „Ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht; ich hab kein Auge zugetan, und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Ich ruf nur an, um dir Bescheid zu sagen. Ich werde noch heute früh zur Polizei gehen und eine Beschreibung des Mannes abgeben.“ „Das ist nicht mehr nötig“, sagte er. „Ich war schon da.“ „Auf der Polizei?“ rief sie erstaunt. „Wieso? Da bist du doch vor Wochen gewesen, und deine Beschreibung war 96
ja offensichtlich nicht ausreichend. Nein, nein, ich muß schon selber hin und sagen, was ich gesehen habe.“ „Moment“, unterbrach er sie. „Du verstehst nicht richtig. Ich bin gestern abend noch mal dagewesen.“ „Und was hast du gesagt?“ „Daß ich den rothaarigen Mann gestern wiedergesehen hätte, und zwar ganz in der Nähe der Stelle, wo das Mädchen ermordet wurde.“ „Aber wie konntest du? Hast du ihn denn wieder verfolgt, obwohl du versprochen hattest, es nicht zu tun?“ „Ich hab nichts dergleichen versprochen“, entgegnete er verärgert. „Und es war sehr günstig, daß ich ihm nachgegangen bin.“ „Aber du hast nicht verhindert, daß er das Mädchen ermordet hat.“ Sein Zorn verrauchte. „Das nicht“, gab er zu. „Aber vielleicht habe ich jetzt verhindert, daß er noch weitere umbringt.“ „Die Polizei muß ihn aber erst mal haben“, sagte Sylvia. „Vorausgesetzt, daß der Mann, den du verfolgt hast, wirklich der Mörder ist. Du hast ja wohl nicht gesehen, wie er das Mädchen angegriffen hat, wie kannst du da so sicher sein?“ „Herr des Himmels, Sylvia“, brachte er irritiert heraus. „Ich hab ja auch bei der Polizei nicht behauptet, ich sei ganz sicher. Ich hab nur gesagt, daß ich Chris Henderson gestern abend gesehen habe und daß er es war, der das Mädchen im Januar überfallen hat.“ Am anderen Ende der Leitung blieb alles still; schließlich fragte Sylvia: „Wen hast du gesehen?“ und ihm ging auf, wie wenig sie überhaupt wußte. „Ich hab jetzt keine Zeit, dir alles auseinanderzusetzen“, sagte er schnell. „Ich hab seinen Namen herausgefunden. Zufällig kenne ich ihn flüchtig.“ „Aber selbst wenn du ihn gestern abend gesehen hast, hast du ihn im Januar nicht gesehen – oder?“ 97
„Das nicht, aber du hast ihn gesehen.“ „Aber ich kenne ihn doch nicht“, gab sie zu bedenken, „woher soll ich wissen, daß es sich um denselben Mann handelt? Und jetzt hast du der Polizei gesagt, du hättest ihn gesehen! Da hast du uns in einen schönen Schlamassel gebracht.“ „Wieso denn ‚uns‘?“ Verdammt, wo blieb denn nur ihre Familie? „Das kann aber noch kommen, wo du so eigenmächtig gehandelt hast. Warum hast du mir bloß nicht gesagt, daß du ihn kennst? Was geht hier eigentlich vor?“ Terence hätte sie am liebsten gepackt und geschüttelt oder den Hörer auf die Gabel geknallt, aber er beherrschte sich. „Hör zu, Sylvia“, sagte er. „Ich erklär dir alles, wenn wir uns sehen. Ehrenwort. Und was die Sache mit der Polizei angeht, so blieb mir keine andere Wahl. Du hast mich ja selber so lange bedrängt, bis ich hinging, hast du das vergessen?“ Sylvia begann zu weinen. „Jetzt habe ich also die Schuld, wenn was passiert“, schluchzte sie. Terence fühlte sich hilflos und verärgert zugleich. „Laß doch, Sylvia. Es wird schon alles werden. Wein nicht, sonst hört dich nur jemand.“ „Die Tür ist zu.“ Also rief sie tatsächlich von zu Hause aus an! „Sylvia“, bat er, „wir machen jetzt besser Schluß. Reg dich nicht auf, es wird schon alles gut werden.“ „Ich sterbe, wenn was herauskommt“, jammerte sie. Als Terence endlich den Hörer auflegte, zitterte er vor innerer Erregung. Nie hätte er gedacht, daß Sylvia so ein Nervenbündel sein könnte. Sie war immer so fröhlich, ja beinahe unvernünftig leichtsinnig gewesen, was eine Entdeckung ihres Verhältnisses anging. Terence zündete sich eine Zigarette an und versuchte, über seine eigenen Gefühle Klarheit zu gewinnen. Normalerweise hätte er jede Situation begrüßt, die einen Bruch zwischen Sylvia 98
und ihrem Mann herbeigeführt hätte – was sehr gut demnächst passieren könnte, wenn Sylvia sich nicht besser zusammennahm. Aber auf einmal war alles so verworren! Er und sie mußten wirklich einmal offen miteinander reden, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Im gleichen Augenblick ging ihm auf, daß er versäumt hatte, ein nächstes Treffen mit ihr zu verabreden. Etwas, das bisher noch nie dagewesen war. Sylvia machte die gleiche Feststellung, nachdem sie aufgelegt hatte, aber in ihrer gedrückten Stimmung nahm dieses Versäumnis eine finstere Bedeutung an. Auf einmal konnte sie es nicht über sich bringen, den ersten Schritt zu tun. Terence hatte sich so irritiert und ungeduldig angehört, daß sie überzeugt war, daß er sie für längere Zeit nicht sehen wollte, wenn überhaupt noch einmal, und unter diesen Umständen würde sie bestimmt nicht anrufen. Sie ließ sich in dem kalten Schlafzimmer auf der Bettkante nieder und malte sich aus, wie ihre Freundschaft langsam dahinsiechte, nur weil keiner den Mut fand, mit dem anderen zu sprechen. Die Zeit verging, und auf einmal erinnerte sie sich an Mann und Töchter. Sie war unter dem Vorwand im Bett geblieben, sie habe scheußliche Kopfschmerzen, was nach den Vorkommnissen des vergangenen Tages kein Wunder gewesen wäre, aber jetzt dünkte ihr das beharrliche Schweigen unten wie ein böses Vorzeichen. Wenn jemand an die Tür gekommen wäre und gelauscht hätte? Oder schlimmer noch, das Gespräch von unten mitgehört hätte? Bei dem Gedanken wurde es ihr ganz kalt, und auf einmal verspürte sie den verzweifelten Wunsch, es herauszufinden, um jeden Preis. Sie sprang aus dem Bett, zog sich hastig den Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und rannte zur Tür. Mit klopfendem Herzen riß sie sie auf: Nichts! Niemand vor der Tür, niemand auf der Treppe oder unten in der Halle. Die Tür zum Eßzimmer war zu. Sie ging hinunter, öffnete sie 99
und fand alle drei am Eßtisch sitzen. Bei ihrem Anblick stand Edgar auf. „Geht’s dir besser?“ erkundigte sich Marion. Sie nickte, zwang sich zu dem üblichen Lächeln und nahm am Frühstückstisch Platz. Edgar schenkte ihr Kaffee ein. Während sie einen Schluck trank, beobachtete sie die drei Gesichter: Edgar sah müde aus, Julie so blaß, daß Marion im Vergleich zu ihr direkt rosig wirkte; aber was die drei dachten oder ob sie eine Ahnung hatten, was sie, Sylvia, getan hatte, konnte sie nicht entscheiden. Ihre Gesichter waren ebenso undurchdringlich wie die von Indianern. Auf einmal fühlte sich Sylvia beinahe beängstigend isoliert. Sie glaubte sich von ihrer Familie ausgestoßen und ihrem Liebhaber verlassen. Zu ihrer Überraschung rief Terence am Nachmittag an. Sein Drang, sich jemand mitzuteilen, war so stark geworden, daß er den morgendlichen Verdruß vergessen oder zumindest bagatellisiert hatte. Sie und er waren wie zwei Komplicen, die nun miteinander offen reden konnten. Außerdem hatte Terence vor, Sylvia mitzunehmen, damit sie sich Chris Henderson aus der Entfernung ansehen konnte. Er begriff sich nicht, warum er nicht schon früher auf den Gedanken gekommen war: Sylvia war die einzige, die bestätigen konnte, daß Chris Henderson tatsächlich der Mann war, den sie aus dem Fenster heraus gesehen hatte, und wenn sie das tat, konnte er endlich aufatmen, vor allem würde er dann ohne Gewissensbisse beschwören, daß Chris Henderson der Mann war, der das Mädchen überfallen hatte, selbst wenn es vor Gericht wäre. Mit ihrer geheimen Rückendeckung würde er sich nicht einmal schuldig fühlen, wenn Chris Henderson auf Grund seiner Aussage verhaftet und sogar verurteilt würde. Von dieser Hoffnung getrieben, rief er bei Sylvia an und mußte erst kostbare Minuten vergeuden, indem er ihr erklärte, wer Chris Henderson war und wieso er ihn kannte. Aber Sylvia, die sich ärgerte, 100
daß er ihr nicht schon früher davon erzählt hatte, wurde dickköpfig. Er verlangte also von ihr, daß sie noch am selben Nachmittag zu der Garage fuhr und wartete, bis Chris Henderson um sechs herauskam … Unmöglich! Wußte er denn nicht, daß sie sich um diese Zeit nie frei machen konnte? Aber Terence hatte plötzlich das Gefühl, es keine Nacht länger aushalten zu können, bis er Gewißheit hatte; er bestürmte sie so nachdrücklich, daß sie schließlich widerstrebend einwilligte, ihn um Viertel vor sechs an der Bushaltestelle bei der Garage zu treffen. Als sie auflegte, hatte sie keine Ahnung, was sie ihrer Familie als Entschuldigungsgrund erzählen sollte, doch zum Schluß stellte es sich als leichter heraus, als sie gedacht hatte. Es war verkaufsoffener Nachmittag, und als die Mädchen gegen fünf nach Hause kamen, bemerkte sie nur kurz, sie müsse noch ein paar Einkäufe machen, und verließ das Haus. Sie nahm ein Taxi bis zur Bushaltestelle und mußte eine Zeitlang warten, bis Terence ankam. Er selbst hatte den Bus genommen. Er hatte eigentlich erwartet, sie in heller Aufregung und trostbedürftig vorzufinden, statt dessen wirkte sie völlig gelassen und sah womöglich noch eleganter aus als sonst. Sie begrüßte ihn kühl; offensichtlich sollte er für seine Geheimniskrämerei bestraft werden. Als sie dann aber nebeneinander hergingen, taute sie etwas auf und meinte, daß er müde aussähe. Diese Bemerkung dünkte ihm ein guter Ansatzpunkt. „Ich mache mir ehrlich Sorgen, Sylvia“, sagte er. „Ich hab kaum geschlafen und werde keine Ruhe kriegen, bis du dir den Mann angesehen hast. War es schwer, von zu Hause fortzukommen?“ „Es ging“, antwortete sie. „Ist das die Garage da drüben?“ Sie bauten sich auf der anderen Straßenseite auf, im Schutz einer Telefonzelle, und wenige Minuten später kamen die ersten Angestellten heraus. Terence kannte 101
sie mittlerweile alle vom Ansehen und überraschte sich dabei, wie er überlegte, ob der eine oder andere wohl heimlich seinen Benzintank an der Tankstelle auffüllte … Sofort rief er sich zur Ordnung. Er mußte scharf aufpassen; Chris Henderson war immer in wenigen Schritten bei seinem Wagen und brauste los. Wenn Sylvia den Moment verpaßte, war die Chance des Abends vertan. So starrte er so konzentriert auf den Ausgang, daß er Sylvia sogar mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort abschnitt, als sie gerade etwas sagen wollte. Sie fühlte, wie gespannt er war, und blieb schweigend und aufmerksam neben ihm stehen. Gerade als ihre Augen vor Anstrengung zu tränen begannen, stieß Terence sie an. „Da ist er“, flüsterte er. „Da, er kommt gerade aus dem Tor.“ „Wo?“ fragte sie nervös. „Welcher ist es?“ „Der da im braunen Jackett, er geht gerade auf seinen Wagen zu.“ Ein schmales, blasses Gesicht, ein Schimmer von rotem Haar, ein allgemeiner Eindruck eines eiligen jungen Mannes – dann war er fort. Sylvia starrte dem Wagen nach, der jetzt die Straße hinunterbrauste, und konnte es kaum glauben, daß der Augenblick so schnell vorüber sein sollte. „Nun?“ drängte Terence ungeduldig. „Was sagst du?“ „Ich weiß nicht“, brachte sie heraus. „Es ging alles so schnell, ich hab ihn ja nur ganz flüchtig gesehen.“ „Ist er es?“ beharrte er. „Aber Sylvia, du mußt es doch wissen. Er ist es, nicht wahr?“ Sie war verwirrt. „Es ist so lange her, und ich hab den Mann damals doch nur ganz kurz gesehen. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, Terence.“ Mit der Enttäuschung überflutete ihn eine Welle von Panik. „Aber Sylvia, du wirst dich doch sicher noch an ihn erinnern können“, flehte er beinah. „Du mußt doch sagen können, ob es derselbe Mann ist oder nicht.“ 102
Aber sein Drängen bewirkte nur das Gegenteil. „Es ist zwecklos, Terence“ sagte sie. „Ich kann es nicht beschwören.“ „Aber vielleicht werde ich es tun müssen“, rief er aufgebracht. „Begreifst du denn nicht, daß ich es möglicherweise im wahrsten Sinne des Wortes vor Gericht beschwören muß?“ „Das wäre doch Meineid“, flüsterte sie und legte unwillkürlich die Hand auf den Mund. „Wenn du vor Gericht beschwörst, daß du diesen Mann im Januar gesehen hast, dann wäre es ein Meineid.“ „Das weiß ich auch“, entgegnete er verzweifelt. „Und darum hab ich mich anfänglich auch so gegen die Sache gewehrt.“ Sie sah ihn an, und ihre Augen waren dunkel vor Ratlosigkeit. „O Terence, warum mußte uns das nur geschehen!“ Im Verlauf dieses und auch des nächsten Abends versuchte sich Terence fünfzigmal einzureden, daß wahrscheinlich nichts in der ganzen Sache unternommen werden würde, daß Henderson weder verhaftet, geschweige denn verurteilt werden würde. Schließlich, so argumentierte er mit sich selbst, würde die Polizei mehr Beweismaterial benötigen, als allein seine Aussage. Fünfzigmal kam er zu diesem beruhigenden Schluß, und fünfzigmal wanderten seine Gedanken wieder zu der Identifizierungsparade zurück, und seine Hoffnung fiel wieder in sich zusammen. Wenn die Polizei eine Veranlassung gehabt hatte – die nichts mit allem, was er, Terence, wußte oder beitragen konnte, zu tun hatte –, Chris Henderson mit in der Reihe aufzustellen, wenn er sogar der Mann gewesen war, den sie zu identifizieren gehofft hatte, dann würde seine Aussage alles sein, was noch fehlte, um einen Haftbefehl gegen Chris Henderson zu rechtfertigen. So wartete er den ganzen Tag, hörte sich jede Nachrichtensendung an und kaufte sich jede neue Ausgabe 103
der Tageszeitung – immer in der Furcht, von der vollzogenen Verhaftung zu hören. Um zehn Uhr abends, als sich noch immer nichts ergeben hatte, rief er schließlich bei der Polizei an und fragte, ob man schon etwas unternommen habe. Die Auskunft war unverbindlich: Man „verfolge mehrere Spuren“, man „hoffe, bald mehr zu wissen“, und so weiter. In seiner Not klammerte sich Terence an die Formulierung „mehrere Spuren“. Er redete sich ein, daß die Polizei bestimmt Hunderte von Hinweisen habe, und selbst wenn eine Verhaftung stattfinden würde, es nicht unbedingt Chris Henderson sein müsse. Mit Hilfe dieser Überlegungen und einiger Whiskeys dazu ging er schließlich etwas getröstet ins Bett. Am nächsten Vormittag verhaftete die Polizei Chris Henderson unter der Anklage des Mordes, begangen an der Krankenschwester Toni Edwardes. Es war das Mädchen, das man Anfang der Woche gefunden hatte. Sylvia sah die Nachricht sofort, als sie die Zeitung in die Hand nahm. Es war die Schlagzeile des Tages. Mit sinkendem Herzen erkannte sie, daß sich die Mordserie zu einer cause celebre entwickelt hatte, ein Verbrechen, von dem die Leute noch lange reden würden, ähnlich wie von Jack the Ripper oder Christie. Und genau wie ihre Gerichtsverhandlung würde auch die von Chris Henderson mitverfolgt, diskutiert und später in Buchform veröffentlicht werden. Terences Aussage würde gedruckt, wiederholt und analysiert werden. Jetzt erst ging es Sylvia auf – als sie sehnsuchtsvoll an ihre heiteren und unbelasteten Tage zurückdachte –, mit welch unvorstellbarem Leichtsinn sie sich auf diesen äußerst gefährlichen Kurs eingelassen hatten. Es war geradezu kindisch von ihnen gewesen, sich einzubilden, daß sie mit ihren Schwindeleien durchkommen und das System betrügen könnten. Während sie auf die Balkenüberschrift starrte, wurde es ihr heiß und kalt; zum Glück war sie es nicht, die bald vor Gericht aussagen mußte! Das wäre das 104
Ende gewesen. Und plötzlich entdeckte sie in sich selbst die eiserne Entschlossenheit, nichts mehr mit der ganzen Affäre zu tun haben zu wollen. Sie würde sich auf keinen Fall da hineinziehen lassen. Und um gleich den ersten Schritt ihres Rückzuges zu tun, zerknüllte sie die Zeitung und verbrannte sie zusammen mit einigem Hausratsmüll in der Verbrennungsanlage im Garten. Terences Reaktion sah ganz anders aus. Ihm stockte der Atem, als er die Nachricht las, aber als er den ersten Schock überwunden hatte, überkam ihn eine seltsame Ruhe, eine Ruhe, wie er sie seit jener Januarnacht nicht mehr gekannt hatte. Was er und Sylvia sich als die ungünstigste Entwicklung ausgemalt hatten, war nun eingetreten: Chris Henderson war verhaftet worden, teilweise auf Grund der von Terence gegebenen Information; er würde vor Gericht gestellt werden, und Terence würde eben diese (halb richtige) Information unter Eid wiederholen müssen. So war die Lage, und da jetzt nichts mehr daran zu ändern war, stellte Terence bei sich fest, daß er sie akzeptierte und bereits seine nächsten Schritte plante. Als erste Tat schnitt er die Nachricht von Hendersons Verhaftung aus und legte sie sorgfältig fort. Sein Instinkt riet ihm, ein Dossier über den Fall anzulegen, jede kleinste Information zu sammeln und aufzuheben. Der Vorhang hatte sich gehoben, und jetzt würde das Drama bis zum Ende durchgespielt werden. Was Terence nicht hatte voraussehen können, war die Tatsache, daß sich der Prolog des Dramas über eine so lange Zeit hinziehen würde, Henderson wurde dreimal in die Untersuchungshaft zurückgeschickt, und mehrere Wochen lang geschah offenbar gar nichts. Terence, der sich mit der Handhabung des Gesetzes nicht auskannte, konnte Sylvia diese Verzögerung nicht ausreichend erklären. Sie wurde wütend und schließlich immer nervöser, als es ihr aufging, daß sich die Sache, und damit ihre seelische Belastung, noch über Monate hinziehen würde. 105
„Willst du behaupten“, fragte sie ungläubig, „daß die Sache zuerst vor dem Vernehmungsrichter verhandelt wird? Ich meine, ehe es zur Gerichtsverhandlung kommt? Und du dementsprechend zweimal aussagen mußt?“ „Wenn sie darauf bestehen, ja.“ „Werden sie darauf bestehen?“ „Wahrscheinlich, nehme ich an.“ „Und wie wirst du davon erfahren?“ „Man wird mir eine Vorladung schicken.“ „Und der mußt du Folge leisten?“ „Sylvia, wir haben das doch schon hundertmal durchgekaut. Ja, einer Vorladung muß man Folge leisten. Auf Fernbleiben steht Gefängnis.“ „Auf Meineid auch.“ „Herr des Himmels, Sylvia, kannst du denn über gar nichts anderes reden?“ Die Unterhaltung fand in Terences Wohnung statt. Es war endlich wärmer geworden, die Abende waren länger hell, und die beiden saßen sich an Terences Teetisch am offenen Fenster gegenüber, beim Tee. Der Tee war Sylvias Idee gewesen. Der Gedanke war ihr ganz plötzlich gekommen, als sie auf dem Weg zu ihm im Bus saß. Sie war an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und hatte ein Päckchen ihrer Lieblingssorte und eine Teekanne gekauft – Terence pflegte sich mit einem, ins Glas gehängten Teebeutel zu begnügen –, und mit diesen hausfraulichen Einkäufen war sie bei ihm erschienen. Um das Thema zu wechseln, erkundigte sie sich, ob ihm der Tee schmecke. „Es geht“, gab er zurück. Ihr Gesicht wurde lang. „Das klingt nicht sehr begeistert.“ „Du weißt, daß ich lieber Kaffee trinke“, entgegnete er ungeduldig. „Manchmal trinkst du auch Tee.“ „Hör zu, wenn du vorhast, den ganzen Abend über Tee 106
zu trinken, dann hättest du auch gleich zu Hause bleiben und dich mit deinem eigenen Teepott vor den Fernseher pflanzen können.“ „Entschuldige“, sagte sie und stand auf, um die Tassen wegzuräumen. „Sei doch nicht so albern“, rief er und sprang ebenfalls auf und verstellte ihr den Weg in die Küche. „Laß mich durch“, sagte sie und versuchte ihn fortzuschieben. Er rührte sich nicht, und schließlich fiel ihr eine Tasse aus der Hand und zerbrach. Sie versöhnten sich wieder, natürlich, wischten den verschütteten Tee vom Boden und sammelten die Scherben auf. Sie gingen sogar ins Bett und verabredeten hinterher, sich Ende der Woche wieder zu treffen, obwohl beide wußten, daß sie sich wieder zanken würden. Das war jetzt die Art, wie ihre Begegnungen verliefen. Einer von beiden würde wegen einer Kleinigkeit in die Luft gehen, dann folgt die Versöhnung und danach das Bett. Ihre Vereinigung hatte etwas Verzweifeltes angenommen; sie klammerten sich aneinander wie zwei verängstigte Kinder, die beieinander Trost suchten. Alle Fröhlichkeit, beinahe sogar das Glück, war aus ihrer Beziehung verschwunden, nur die Leidenschaft blieb. Sie stritten sich, aber sie waren enger verbunden als je zuvor, und vor allem brauchten sie sich notwendiger, wenn auch auf verschiedene Art. Sylvia drängte es, Terence regelmäßig zu treffen, um sich einreden zu können, daß nichts passiert sei, daß Terence immer noch da sei und sie immer noch begehre. Vielleicht würde sich überhaupt nichts ändern müssen. Terence seinerseits wollte so viel mit Sylvia zusammen sein, wie es irgend möglich war, weil sie über alles orientiert war und wußte, daß er nichts Böses tat. So kam es, daß sie sich manchmal sogar dreimal in der Woche sahen. Sylvia gab sich nach wie vor die erdenklichste Mühe, Edgar und Marion zu täuschen – es wäre ihr schrecklich 107
gewesen, wenn einer der beiden die Wahrheit geahnt hätte. Bei Julie hingegen suchte sie kaum noch Entschuldigungen für ihr häufiges Fernsein, ihre heimlichen Telefongespräche, ihre Geistesabwesenheit. Wenn sie Erklärungen abgab, dann waren sie flüchtig und wenig überzeugend. Weder sie, noch Julie sagten ein offenes Wort, aber es herrschte eine schweigende Übereinkunft zwischen ihnen. Julie hatte sich wieder gefangen; sie hatte alles Rebellische abgelegt und war wieder das brave Mädchen geworden, gehorsam, wenn auch nicht unbedingt glücklich. Sie redete von nichts anderem, als daß sie im Juli mit der Schule fertig sein würde, und bis dahin fehlten nur noch einige Wochen. Studieren wollte sie jetzt nicht mehr; sie war rastlos und Stimmungen unterworfen und sprach davon, das Haus zu verlassen, ohne daß sie bestimmte Pläne gehabt hätte. Normalerweise hätte sich Sylvia ihretwegen Sorgen gemacht, aber wenn Edgar seinen eigenen Sorgen gelegentlich Ausdruck gab, entgegnete sie nur obenhin: „Warum soll sie nicht für ein, zwei Jahre als au pair-Mädchen nach Frankreich oder Deutschland gehen? Das machen heutzutage viele Mädchen, ehe sie sich für einen Beruf entscheiden.“ Edgar hatte sie fassungslos angesehen, als sie das gesagt hatte. „Ja, würdest du sie denn gehen lassen?“ „Wenn sie Lust dazu hat …“ „Diesen Sommer schon? Sie ist doch viel zu jung, um allein durch Europa zu ziehen.“ „Mit siebzehn ist man gar nicht mehr so jung. Und schließlich soll sie ja bei einer Familie leben und nicht durch Europa ziehen.“ „Aber du hast sie doch nicht mal in ein Internat geben wollen.“ „Edgar, das war etwas ganz anderes. Damals war sie noch ein Kind, und außerdem wollte sie zu Hause bleiben, aber jetzt ist sie beinahe erwachsen, und du hörst 108
doch oft genug, daß sie weg will. Ich versuche nur, etwas zu finden, was sie befriedigt und glücklich macht, und als au pair-Mädchen hat sie die beste Gelegenheit, Land und Sprache kennenzulernen. Sprachen sind heutzutage sehr wichtig, wie du zugeben mußt.“ „Ich muß überhaupt nichts zugeben“, entgegnete er verärgert. „Sylvia, ich begreife dich nicht, daß du Julie gehen lassen willst. Sie kann in die scheußlichste Klemme geraten.“ „Sei doch nicht lächerlich, Edgar. Natürlich muß man sich ganz genau vorher erkundigen, wohin man sie schickt. Das ist doch selbstverständlich.“ „Und wie willst du das anfangen?“ Sylvia hatte die au pair-Arbeit aus einer Laune heraus erwähnt, aber wo sie nun davon gesprochen hatte, wurde ihr klar, daß sie die beste Lösung für das Problem Julie war. Und Edgars Skepsis stachelte sie nur an. So entgegnete sie nur: „Es gibt genügend Agenturen, die in der Times annoncieren.“ Am nächsten Tag ging sie schon morgens los und kam mit einer Liste von Adressen nach Hause. Es schien, als ob es in jedem europäischen Land Familien gab, die bereit waren, ein englisches Mädchen bei sich aufzunehmen. Sylvia setzte sich sofort daran, sortierte die heraus, die auf den ersten Blick als nicht passend erschienen, und entschied sich schließlich für ein Angebot aus Athen. „Athen“, wiederholte Edgar, als sie ihm abends davon erzählte. „Laß mich mal sehen.“ Er nahm die Liste und überflog sie schnell. „Warum nicht Frankreich oder Deutschland? Wenigstens hat sie schon Vorkenntnisse in den Sprachen.“ „Dann lernt sie eben noch eine dazu.“ „Griechisch?“ sagte er. „Modernes Griechisch? Was kann sie schon damit anfangen?“ „Das kann man nie wissen“, meinte Sylvia. „Manchmal ist es vorteilhafter, eine ausgefallene Sprache zu 109
können. Französisch und Deutsch spricht doch jeder zweite. Warum noch seine Zeit auf diese Sprachen verwenden?“ „Hier wird etwas in Brüssel angeboten und das da in Holland. Dann könnte sie wenigstens mal übers Wochenende nach Hause kommen.“ „Die Familie in Holland hat sechs Kinder“, sagte Sylvia. „Da schuftet sie sich ja tot. Und außerdem soll sie gar nicht übers Wochenende nach Hause kommen, auf die Art lebt sie sich nie dort ein.“ „Ich hab ja auch nicht jedes Wochenende gemeint“, erwiderte Edgar gereizt. „Und wie will sie von Athen nach Hause kommen? Nie?“ „Der Job gilt für ein Jahr“, sagte Sylvia. „Sicher wird man ihr nach einem halben Jahr etwas Urlaub geben. Sie könnte dann zu Weihnachten herkommen.“ „Und dir würde es nichts ausmachen, Julie für ein ganzes Jahr in Griechenland zu wissen?“ fragte Edgar. „Wenn sie Freude daran hat … Ich werde morgen mit ihr reden.“ Als Sylvia nach dem Frühstück mit Julie sprach, wollte diese erst ihre übliche reservierte Haltung ihrer Mutter gegenüber beibehalten, aber dann fand sie die Sache doch zu interessant. Die Vorstellung, ein Jahr lang im Ausland leben zu dürfen, war unwiderstehlich; so stimmte sie allem zu und wollte nur wissen, wie bald sie nach Athen abreisen könne. Mutter und Tochter vergaßen ihre gewesenen Unstimmigkeiten und schwelgten miteinander in Vorstellungen über südliche Länder – Trauben, Feigen, Sonne, Strände, Inseln, Ruinen, Wein und Fischfang –, und als Edgar abends heimkam, stellte er zu seinem Ärger fest, daß alles bereits verabredet war. Er versuchte aufzutrumpfen, Julie die Unsinnigkeit des Unterfangens vor Augen zu halten, aber er kam nicht gegen die vereinte Front der beiden an. Schließlich willigte er ein, und von da ab entwickelte sich alles in größ110
ter Eile. In drei Wochen war Schulschluß, und die griechische Familie wollte Julie so schnell wie möglich bei sich haben. Einen knappen Monat später saß die ganze Familie im Auto, um Julie zum Flughafen zu bringen. Julie weinte, Marion weinte, Edgar war nervös und sorgenvoll. Nur Sylvia war heiter und gelassen. Sie kümmerte sich um das Gepäck, kaufte Zeitschriften und redete allen aufmunternd zu, bis Julies Maschine aufgerufen wurde. Die drei Zurückgebliebenen gingen in den Aussichtsturm, von wo sie zur angegebenen Zeit zusahen, wie eine Trident über die Asphaltbahn rollte und sich schließlich in den Himmel erhob. In diesem Moment spürte Sylvia einen scharfen Trennungsschmerz, das beinahe körperlich wahrnehmbare Gefühl, etwas verloren zu haben, aber schon wenige Minuten später fing sie sich wieder. Sie war eine ihr feindlich eingestellte Mitwisserin losgeworden, die nun Marion und Edgar nichts mehr erzählen konnte. Zu Sylvias großer Überraschung zeigte sich Terence beinahe ebenso besorgt über Julies Abreise wie Edgar. „Sie ist schon weg?“ fragte er verblüfft. „Wer sind die Leute eigentlich, bei denen sie wohnen soll?“ „Edgar und ich haben sehr genaue Erkundigungen eingezogen“, entgegnete sie kühl. „Und wenn wir befriedigt sind, dürftest du es auch sein. Außerdem, was bedeutet Julie dir schon?“ „Sie ist deine Tochter, und damit ist wohl klar, daß sie mir etwas bedeutet. Warum mußte sie bloß so weit fortgehen? Sorgst du dich denn gar nicht, wenn du daran denkst, daß sie da unten so ganz auf sich allein gestellt ist?“ „Natürlich sorge ich mich“, sagte Sylvia, deren Stimmung plötzlich umgeschlagen war. „Ich sorg mich sogar halb zu Tode. Aber weißt du auch, warum ich sie habe gehen lassen? Unseretwegen. Sie hatte was erraten, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie den anderen 111
gegenüber etwas davon erwähnt haben würde. Natürlich hätte ich alles ableugnen können, Beweise hatte sie nicht, aber es wäre doch höchst unerfreulich geworden. Als sich dann die Sache mit Griechenland bot, war ich darum gar nicht so traurig.“ „Die Sache hat sich nicht geboten, du hast wohl von Anfang an darauf zugesteuert, oder?“ „Ich weiß gar nicht, was du hast“, sagte Sylvia. „Du mußt doch zugeben, daß es peinlich hätte werden können.“ „Für mich nicht“, entgegnete Terence. „Mir ist es Wurst, ob sie über uns Bescheid weiß. Du warst immer für Geheimhaltung, und nun hast du deine eigene Tochter weggeschickt, um sie länger aufrechterhalten zu können.“ „Aber Julie wollte doch gehen!“ rief Sylvia. „Na klar doch“, entgegnete er ironisch. Am Abend vor der Verhandlung vor dem Vernehmungsrichter ging Sylvia zu Terence, um „ihn aufzumuntern“, wie sie es nannte. „Du wirst doch morgen kommen?“ fragte er. „Ich brauche deine moralische Unterstützung.“ Bisher hatte er sie noch nie darum gebeten, weil er Angst hatte, wie sie darauf reagieren mochte. Sie ließ sich auch Zeit mit der Antwort, legte den Kopf zur Seite und strich mit dem Zeigefinger über seinen Handrücken. „Schatz“, sagte sie schließlich, „wärst du sehr böse, wenn ich nicht käme?“ Sie wagte einen schnellen Blick auf sein Gesicht und fuhr hastig fort: „Ich weiß, daß du es von mir erwartest, aber ist es wirklich zweckvoll? Du sagst doch selbst, daß alles seine Richtigkeit hat, wozu brauchst du also meine moralische Unterstützung?“ „Es würde mir aber Freude machen“, sagte er. Er sprach so gelassen, wie er konnte, aber der flehende Ton 112
in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Es würde mir dann so vorkommen, als ob wir beide unsere Aussage machten. Ich wäre nur der Sprecher, der für uns beide spricht.“ „Was wird man dich denn fragen?“ erkundigte sie sich besorgt. „Du meintest doch selber, daß es hauptsächlich darum gehen wird, wann genau du ihn in der Fortescue Street gesehen hast. Da war ich doch nicht dabei. Wieso kannst du dann für uns beide sprechen?“ „Sylvia, ich wäre überhaupt nicht in der Fortescue Street gewesen, wenn du mir nicht erzählt hättest, was du in jener Nacht beobachtet hast. Es hängt doch alles zusammen. Das meine ich, wenn ich von unserer gemeinsamen Aussage spreche.“ „Es weiß niemand von meiner Existenz“, beharrte sie eigensinnig. „Und ich möchte darum lieber nicht erscheinen.“ Sie argumentierten weiter, aber Sylvia blieb fest. Sie blieb zu Hause und verfolgte die Verhandlung in den Zeitungen. Terence wurde erst am zweiten Tag aufgerufen, und als Sylvia von seinem Auftritt las, war sie erstaunt, wie kurz und einfach alles abgelaufen war. Ja, er sei in der fraglichen Nacht in der Fortescue Street gewesen. Ja, er habe den Angeklagten dort gesehen. Ja, er habe ihn erkannt. Und das war praktisch schon alles. Sylvia konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Terence die Wichtigkeit seiner Rolle weit übertrieben habe. Wenn sie gewußt hätte, wie undramatisch alles verlaufen würde, hätte sie sich gar nicht so für ihn aufzuregen brauchen. Was besagten diese drei harmlosen Sätze schon? Eine halbe Stunde lang spürte sie sogar etwas wie Enttäuschung, aber dann ging ihr auf, daß es besser für sie beide war, und als sie ihn am Abend anrief, war sie überglücklich. Sie bestand darauf, bei ihm vorbeizukommen und zu feiern, und redete, als ob die ganze Angelegenheit bereits 113
vorbei und die Vorvernehmung, zumindest was Terence anging, nur eine lästige Formalität gewesen sei. Er hatte in aller Öffentlichkeit ausgesagt, man hatte ihm geglaubt, und nun brauchte er nur noch einmal, vor einem ganz ähnlichen Forum, die gleiche Geschichte zu erzählen, und man würde ihm ebenfalls glauben. Das war alles. Terence hörte sich alles mit wachsender Verwunderung an. Er versuchte ihr den Unterschied klarzumachen, was es hieß, in einer polizeilichen Vorvernehmung auszusagen oder als Zeuge bei einer Gerichtsverhandlung; er malte ihr aus, was alles passieren könne, wenn man ihn ins Kreuzverhör nahm. Aber Sylvia wollte nichts davon hören und nannte ihn einen Schwarzseher. „Ach, Terence“, lachte sie. „Du bist ja lächerlich. Du machst dir Sorgen um nichts.“ Terence war wie vor den Kopf gestoßen. Sylvia war keine dumme Frau, aber jetzt benahm sie sich so, und ihre Weigerung, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, wurde ihm in den darauffolgenden Wochen noch eine zusätzliche Belastung. Denn sie wollte nicht zulassen, daß er niedergeschlagen oder sogar nur ernst oder ruhig war. Sobald er in Schweigen versank, munterte sie ihn auf und versuchte, seine Ängste lachend zu überspielen. Er nahm an, daß sie ihm damit helfen wollte, das Resultat war aber, daß er nun niemand mehr hatte, mit dem er sich aussprechen konnte. Als das Datum für die Gerichtsverhandlung feststand, Ende September, bemerkte Sylvia fröhlich, daß sie auf die Art ja noch ungestört in Urlaub fahren könnten. Damit meinte sie natürlich nicht sie beide zusammen. Die Mansons hatten sich schon vor Monaten für zwei Wochen in einem guten Hotel an der See angemeldet; sie mußten nur das Zimmer für Julie zurückgeben. Aber Edgar und Sylvia und Marion fuhren wie geplant hin. Da auch die Handschuhfirma über die Ferien schloß, und Sylvia nicht in der Stadt war, sah Terence keine Veran114
lassung, in der Stadt zu bleiben. Ganz spontan ging er eines Morgens in ein Reisebüro und buchte für eine Gesellschaftsreise, die Ende der Woche begann. Sie führte in Gegenden, von denen er noch nie gehört hatte, aber etwas anderes hatte er so kurzfristig nicht bekommen können. Wie sich dann herausstellte, war sie angenehmer, als er gedacht hatte; es hatte etwas Beruhigendes, von Ort zu Ort transportiert zu werden, gesagt zu bekommen, wo man essen, schlafen oder eine Pause einlegen sollte. Seit seinem siebten Lebensjahr – damals war er ins Internat gekommen – hatte sich niemand mehr so ausgiebig um ihn gekümmert. Er verzehrte riesige Portionen, schlief, kaum daß er im Bett lag, und sonnte sich so oft, wie es die Gelegenheit erlaubte. Und wenn er sich zu Beginn der Reise wie ein Genesender gefühlt hatte, ging es ihm nach Ende der ersten Woche schon entschieden besser. Die zweite Woche verbrachte er hauptsächlich mit einer jüngeren Mitreisenden. Für sie wie für ihn war es eine reine Ferienangelegenheit, nett, so lange es dauerte, aber ohne Zukunftsaussichten. An Sylvia schrieb er nicht. Sie hatten es für ratsamer gehalten, und er bedauerte es auch nicht. Aber kaum war er wieder in London, gehörte die Reise bereits der Vergangenheit an, als kurzes, sonniges Zwischenspiel. Noch Jahre später konnte er sich kaum vorstellen, daß er jemals diese ausgefallenen Gegenden gesehen haben sollte. So verging der August. Als sie sich im September wiedersahen, überraschte ihn Sylvia mit der Ankündigung, daß sie sich die Gerichtsverhandlung anhören würde. „Aber warum?“ fragte er. „Das letzte Mal warst du doch so strikt dagegen.“ „Da wußte ich ja auch noch nicht, wie harmlos die Sache sein würde. Jetzt brauche ich ja keine Angst mehr zu haben.“ 115
„Für dich lag nie ein Grund vor, Angst haben zu müssen.“ „Ich hatte deinetwegen Angst“, versicherte sie ihm. „Und das hast du jetzt nicht mehr?“ „Warum auch?“ lachte sie. „Was kann dir schon passieren?“ So gern Terence sie bei der polizeilichen Vernehmung dabei gehabt hätte, so störend empfand er die Vorstellung, daß sie miterleben sollte, wenn er bei der Gerichtsverhandlung seine Aussage machte – aber das konnte er ihr kaum klarmachen. Mit steigender Nervosität hörte er sich an, wie sie Vermutungen anstellte, wer alles da sein könne und was sie anziehen solle. „Man könnte meinen, wir gingen zu einer verdammten Party“, war er einmal ärgerlich herausgeplatzt, und sie hatte dem nicht widersprochen. Sie gab sogar freimütig zu, daß sie das Ganze als angenehme Abwechslung betrachte. „Das ist ja krankhaft“, sagte er verdrießlich. „Du bist ganz so wie diese Weiber damals, die sich mit ihrem Strickzeug neben der Guillotine aufgepflanzt haben.“ „Erlaube mal!“ hatte sie gekränkt erwidert. „Ich könnte es nicht mit anhören, wenn jemand zum Tode verurteilt würde. Aber das gibt’s ja nicht mehr heutzutage. Und außerdem hast du selbst gesagt, daß ich sozusagen mitbeteiligt bin. Warum soll ich also nicht hingehen?“ „Dagegen habe ich ja auch nichts einzuwenden“, sagte er. „Aber anscheinend machst du dir gar keine Vorstellung, was da auf mich zukommt. Es wird bestimmt nicht angenehm für dich sein, wenn du miterlebst, wie man mich in die Zange nimmt.“ „Du wirst’s schon machen“, sagte sie zuversichtlich. „Wart’s nur ab.“ Die Gerichtsverhandlung begann am letzten Dienstag im September, unter so großer Anteilnahme der Öffentlichkeit, daß Sylvia bei Morgengrauen aufstehen mußte, 116
um sich für einen Sitzplatz anzustellen. Sie hatte Edgar gesagt, was sie vorhatte, schließlich konnte er ihr kein anderes Motiv als allgemeine Neugier unterstellen. Er hatte dann auch prompt ganz ähnliche Einwände wie Terence gehabt. Sylvia war gekränkt. „Es ist überhaupt nichts Krankhaftes daran, wenn man sich für einen Fall dieser Art interessiert“, sagte sie. „Das Gegenteil wäre unnatürlich. Ich weiß gar nicht, warum jeder an mir herumzunörgeln hat, bloß weil ich dahin möchte.“ Edgar hob die Augenbrauen. „Jeder?“ fragte er. „Wer denn noch?“ „Ach, ein paar Damen aus meinem Club“, sagte Sylvia schnell. „Und die Zeitungen mißbilligen es ja auch, wenn Frauen zu derartigen Gerichtsverhandlungen gehen.“ „Ich stimme ganz mit ihnen überein“, sagte Edgar steif, aber Sylvia ließ sich nicht umstimmen. Sie zuckte die Achseln und stellte den Wecker auf fünf Uhr morgens. Marion war höchst erstaunt, daß etwas Sylvia zu so früher Stunde aus den Federn brachte. Sie kam im Morgenrock in die Küche herunter und setzte sich zu Sylvia, die gerade frühstückte, und es kam zu einem flüchtigen Gespräch über den Fall. Sylvia mußte sich Mühe geben, nicht zuviel von ihrem Wissen zu verraten, aber da Marion völlig arglos war, merkte sie nichts und verlor auch bald das Interesse an dem Gespräch. Sylvia fuhr mit dem Wagen in die Stadt, fand einen Parkplatz und ging zum Gerichtsgebäude hinüber, wo zu ihrer Überraschung schon eine lange Schlange wartete. Die nächsten Stunden verbrachte sie in der Ungewißheit, ob sie überhaupt noch mit eingelassen werden würde; als sich aber die Türen öffneten, wurde sie mit der anstürmenden Menge mit hineingerissen und fand sich schließlich auf einer der Bänke im Gerichtsraum wieder. Nachdem sich die erste Erregung gelegt hatte, verlief der erste Tag der Verhandlung eher etwas lang117
weilig. Verfahrenspraktiken wurden festgesetzt, Anwälte argumentierten, Polizeibeamte und Ärzte äußerten sich zu Fragen aus ihrem Fachbereich. Es gab auch gewisse Höhepunkte, als zum Beispiel die Kleider des toten Mädchens gezeigt wurden und der ältliche Vater sie identifizierte, aber nichts wirklich Dramatisches. Während die Verhandlung langsam ihren Fortgang nahm, entdeckte Sylvia, daß sie mehr und mehr von der Geschichte gefesselt wurde, die vor ihren Augen abrollte. Einzelheiten, die ihr vorher als völlig unbedeutend erschienen waren, erwiesen sich als wichtige Glieder in der Beweiskette, und gegen Ende des Tages war sie regelrecht gepackt. Sylvia hatte gehofft, Terence vielleicht anschließend vor dem Gebäude zu treffen, es war aber nichts von ihm zu sehen; so rief sie ihn später am Abend an. Er war aber kurz angebunden und hatte offenbar keine Lust, sich länger mit ihr über das Thema zu unterhalten. Er sagte, alles, was er über die Verhandlung wisse, stamme aus den Zeitungen, gab aber schließlich zu, daß er damit rechne, am nächsten Tag als Zeuge vernommen zu werden. Trotzdem war es ein gelinder Schock für sie, als sie hörte, wie sein Name aufgerufen wurde. „Terence Hugh Maudesley Lambert!“ Als er den Raum betrat, sah er irgendwie schmächtig und unbedeutend aus, und auf einmal spürte sie eine Art Beschützerinstinkt, etwas, das sie noch nie zuvor in seiner Gegenwart empfunden hatte. Sie rückte auf ihrem Sitz nach vorn, doch als er die ersten Fragen beantwortete, geschah es mit klarer und zuversichtlicher Stimme, so daß Sylvia sich wieder entspannte und seine Ausführungen mit dem gleichen Interesse verfolgte, als ob es sich um einen Fremden handelte. Die ersten Fragen waren Routine, die Antworten daher leicht. Der Staatsanwalt brachte sie schnell hinter sich, dann nahm er das Tempo zurück. Er forderte Terence auf, zu beschreiben, wie und 118
wann er Chris Henderson in der Mordnacht auf der Fortescue Street gesehen habe. Obwohl es sich um eine wichtige Frage handelte, konnte Terence klar darüber Auskunft geben. Fragen und Antworten folgten forsch und sachlich aufeinander; die Richter hörten ruhig zu. Die anknüpfende Frage, die zum nächsten Punkt überführen sollte, wurde so unauffällig gestellt, daß Sylvia sich ihrer Bedeutung nicht einmal bewußt wurde, obwohl sie darauf vorbereitet gewesen war. „Sie sagen, Sie haben Mr. Henderson wiedererkannt, weil er in der Garage arbeitet, in welche Sie Ihren Wagen zu bringen pflegten“, begann der Staatsanwalt. „Haben Sie ihn auch anderswo mal getroffen, ich meine nicht auf der Fortescue Street?“ „Ich bin ihm gelegentlich begegnet“, sagte Terence. Sylvia hörte die mitschwingende Wachsamkeit in seiner Stimme und wurde sich der Gefährlichkeit der sich anbahnenden Richtung bewußt. „Wo, zum Beispiel?“ „In der Jellicoe Street.“ „Also der Straße, wo die Hendersons wohnen. Haben Sie den Angeklagten auch noch anderswo gesehen?“ Sylvia hielt den Atem an. Jetzt war der Moment gekommen, da Terence den versammelten Gerichtshof, die argwöhnischen Anwälte, die geschäftigen Schreiber und den schweigenden Richter anlügen mußte. Alle seit Wochen beharrlich aufrechterhaltene Zuversichtlichkeit fiel von ihr ab, und auf einmal war sie so nervös und verängstigt wie ganz zu Anfang. Doch Terence wirkte ungerührt, obwohl immer noch auf der Hut, und seine Antwort kam genauso ruhig wie die vorherigen. „Ich hab ihn am Birdwood Square gesehen. Im Januar.“ „Sie wohnen am Birdwood Square. An welchem Tag im Januar?“ „Am sechzehnten.“ „Um wieviel Uhr?“ 119
„Abends. Gegen Viertel vor elf.“ „Können Sie sich erinnern, was Mr. Henderson tat, als Sie ihn sahen?“ Bei dieser Frage ging eine Bewegung durch die Zuhörerschaft, dann folgte eine kurze, geflüsterte Unterhaltung zwischen dem Staatsanwalt und dem Richter, anschließend wurde Terence gebeten, sich zu äußern. „Ich hatte aus meinem Fenster gesehen …“ begann er. „Und Ihr Fenster geht auf den Platz hinaus?“ warf der Staatsanwalt ein. „Ja, man kann von dort den Platz übersehen. Ja, und da habe ich gegenüber einen Mann und ein Mädchen gehen sehen.“ „Miteinander?“ „Nein, der Mann befand sich hinter ihr. Und gerade als ich hinaussah, sprang er sie an.“ „Sie meinen, er hat sie angefallen?“ „Ja, er hat sie angefallen.“ „Und was passierte dann?“ „Das Mädchen schrie, und der Mann lief davon.“ „Und der Mann, der das Mädchen überfallen hat …“ „War Chris Henderson“, beendete Terence mit fester Stimme den Satz. „Den Sie aus der Garage her kannten?“ „Ganz richtig.“ „Der auch der gleiche Mann war, den Sie am Abend des 18. Mai auf der Fortescue Street gesehen haben?“ „Ja.“ „Und Sie sind ganz sicher, daß Sie den Angeklagten beide Male erkannt haben?“ „Ja“, wiederholte Terence. „Es war der Angeklagte.“ „Vielen Dank, Mr. Lambert“, sagte der Staatsanwalt und nahm schwungvoll auf seiner Bank Platz. Theoretisch kannte Terence den Verlauf einer Gerichtsverhandlung und war eigentlich darauf vorbereitet, jetzt ins Kreuzverhör genommen zu werden; da sich 120
der Staatsanwalt aber mit einer derartigen Bravour, die irgendwie abschließend wirkte, niedergelassen hatte, machte Terence Anstalten, den Zeugenstand zu verlassen, und mußte erst darauf aufmerksam gemacht werden, daß ihm jetzt der Verteidiger des Angeklagten seine Fragen stellen würde. Der Verteidiger war ein kleiner Mann, und seine ersten Sätze klangen mild und beinahe beiläufig. „Beginnen wir mit der angeblichen Begegnung in der Fortescue Street, denn was dort geschehen ist, ist Hauptthema unseres Hierseins. Mr. Lambert, Sie sagen, Sie haben den Angeklagten am Abend des 18. Mai dort beobachtet?“ „Das stimmt.“ „Sie gingen zu Fuß durch die Straße und bemerkten den Mann?“ „Nein, ich war in einem Wagen.“ „Sie fuhren im Wagen und sahen den Mann über die Straße gehen?“ „Er befand sich ebenfalls in einem Auto.“ Der Anwalt sah offensichtlich erstaunt hoch. „Sie saßen also beide im Auto. In einem fahrenden oder geparkten Wagen?“ „Wir fuhren beide durch die Straße.“ „Lassen Sie mich klarstellen, Mr. Lambert: Sie fuhren durch die Fortescue Street und glaubten, den Angeklagten in einem vorüberfahrenden Fahrzeug zu erkennen.“ „Ich habe ihn deutlich erkannt, nur hat der Wagen mich nicht überholt, sondern wir fuhren beide in die gleiche Richtung. Ich folgte seinem Fahrzeug.“ „Sie befanden sich also hinter ihm. Hat er sich dabei einmal umgedreht?“ „Ich glaube nicht.“ „Und es war um neun Uhr abends?“ „So in etwa.“ „Wollen Sie dem Gericht erzählen, daß Sie nachts 121
durch eine Straße fuhren, vor sich einen Wagen hatten und nur den Hinterkopf des Fahrers sahen, und allein auf Grund dieser Beobachtung Monate später vor Gericht zu beschwören bereit sind, daß es sich um den Angeklagten gehandelt hat?“ „Ich habe den Angeklagten erkannt“, sagte Terence. Seine Worte hörten sich irgendwie eigensinnig an, und Sylvia warf einen Blick zur Geschworenenbank, um festzustellen, ob man ihm glaubte, aber die Gesichter der Leute waren völlig ausdruckslos. „Natürlich“, fuhr der Verteidiger fort, und seine ruhige Stimme hatte jetzt etwas Unheilvolles, „haben Sie eine gewisse Erfahrung darin, Leute unter schwierigen Umständen zu identifizieren, nicht wahr?“ Und als Terence schwieg, drängte er: „Ist das nicht so, Mr. Lambert?“ „Ich weiß nicht, was Sie damit meinen“, sagte Terence. „Das wissen Sie nicht, Mr. Lambert? Dann wollen wir doch noch einmal wiederholen, was Sie dem Gericht erzählt haben.“ Er unterbrach sich und blätterte in dem vor ihm liegenden Papierstapel. „Hier hab ich’s. Sie standen in der Nacht des 16. Januar am Fenster Ihrer Wohnung am Birdwood Square und sahen von dort, wie ein Mann ein Mädchen überfiel. Ist das richtig?“ „Ja.“ „An welchem Fenster?“ „Meinem Schlafzimmerfenster.“ „Sie standen also am Fenster, und da tauchten auf einmal der Mann und das Mädchen auf.“ „Nein, als ich hinaussah, waren sie bereits sichtbar.“ „Oh, sie waren bereits sichtbar. Der Mann am einen Ende der Straße und das Mädchen am anderen?“ „Nein, als ich die beiden sah, war der Mann bereits hinter ihr, und gleich darauf sprang er sie an.“ „Sie haben also zufällig beobachtet, wie der Mann das Mädchen überfallen hat. Was taten Sie dann?“ 122
„Ich rief hinunter.“ „Sie liefen nicht auf die Straße?“ „Nein.“ „Und der Mann, was tat der?“ „Er rannte davon.“ „Nachdem Sie hinausgerufen hatten?“ „Ja. Es ist praktisch alles zur gleichen Zeit passiert.“ „So, so. Sie meinen also, Sie sahen die beiden Personen, der Mann überfiel das Mädchen, Sie riefen hinunter, und der Mann rannte davon, und das ist alles zur gleichen Zeit passiert? Wollen Sie das damit ausdrücken?“ Terence zögerte merklich, und Sylvia sog den Atem ein. Hier bahnte sich Gefahr an. „Nicht wörtlich zur gleichen Zeit natürlich.“ „Aber sehr schnell aufeinanderfolgend?“ „Alles geschah sehr schnell, ja.“ „Wie schnell? Was schätzen Sie? Fünf Sekunden?“ „Schon etwas länger.“ „Zehn Sekunden? Zwanzig?“ „Es müssen schon mehr gewesen sein.“ „Müssen?“ „Die Zeit erschien mir nicht sehr lang, aber sie muß schon länger gewesen sein, schließlich ist ja viel passiert.“ „Es kann viel innerhalb von zwanzig Sekunden geschehen. Aber einigen wir uns auf die Formulierung, daß Sie den Mann einen flüchtigen Augenblick lang gesehen haben. Haben Sie die Polizei benachrichtigt?“ „Nicht an diesem Abend.“ „Sie haben Ihre berühmte Beschreibung also nicht am gleichen Abend abgegeben?“ „Nein.“ „Wann haben Sie es denn getan?“ „Ich kann mich nicht an das genaue Datum erinnern“, entgegnete Terence und hoffte damit, der Beantwortung ausweichen zu können. Sylvia wußte es, der Verteidiger wußte es ebenfalls. Und dieser wartete, bis Terence 123
schließlich zugab: „Es war irgendwann im März. Nachdem ein weiteres Mädchen überfallen worden war.“ „März, also etwa sechs Wochen später – oder könnte es länger gewesen sein?“ Er wartete, bis Terence das bestätigt hatte, dann drang er weiter in ihn: „Nach zwei Monaten gingen Sie also zur Polizei und gaben eine detaillierte Personenbeschreibung von einem Mann ab, den Sie nur einige Sekunden lang gesehen haben? Und wieder Wochen darauf sind Sie zu beschwören bereit, daß ein Mann, den Sie nur von hinten in einem fahrenden Auto gesehen haben, mit dem, den Sie der Polizei beschrieben haben, identisch ist?“ Terence antwortete nicht darauf, und Sylvia ballte unwillkürlich die Hände und fragte sich, wieso die Polizei zuließ, daß Terence dieser Demütigung ausgesetzt wurde. Denn ohne die fehlenden Verbindungsglieder hörte sich seine Geschichte einfach lächerlich an. Sie wollte ihm zurufen, alles von Anfang an zu erzählen, aber das ging natürlich nicht, außerdem war der Verteidiger noch nicht mit ihm fertig. Er sprach jetzt wieder. Großer Gott, was wollte er noch von Terence? „Mr. Lambert“, sagte er, „wie weit, würden Sie schätzen, ist die Entfernung von Ihrem Schlafzimmerfenster bis zur anderen Seite des Platzes?“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Würde es Sie wundern, wenn ich Ihnen sagte, daß es etwa 43 Yards sind?“ „Das hört sich richtig an.“ „Das wäre die Entfernung von Ihrem Fenster zu einem direkt gegenüberliegenden Punkt. Nun haben Sie aber gesagt, der angebliche Überfall habe dort stattgefunden, wo die Melton Street auf den Platz einmündet. Eingeweihte wissen, daß Birdwood Square ein langgestrecktes Viereck bildet. Ziemlich schmal und lang – würden Sie darin mit mir übereinstimmen?“ „Doch, das stimmt.“ 124
„Womit sich die Entfernung von Ihrem Fenster bis zur Ecke Melton Street natürlich vergrößert?“ „Natürlich.“ „Würden Sie akzeptieren, daß sie doppelt so groß sein kann?“ „Sie werden es wohl ausgemessen haben“, sagte Terence. „Wir haben es ausgemessen, Mr. Lambert, und festgestellt, daß sie 92 Yards beträgt. Aber fahren wir fort: Die Nacht des 16. Januar war eine Winternacht. Eine klare Winternacht, Mr. Lambert?“ „Nicht besonders klar.“ „Eher feucht und neblig?“ „Geregnet hat es nicht, es war frostig.“ „Und diesig?“ „Etwas neblig mag es gewesen sein.“ „Auf jeden Fall war die Sicht nicht sonderlich gut?“ „Dort stehen Straßenlampen“, sagte Terence, und Sylvia erinnerte sich, daß alle Lampen einen milchigen Lichtkegel auf das Pflaster geworfen hatten. Es war in der Tat neblig gewesen. „Vielen Dank“, sagte der Anwalt. „Auf die Lampen wollte ich gerade zu sprechen kommen. Auf der Ihnen gegenüberliegenden Platzseite stehen drei Lampen, ist das richtig?“ „Ja, drei auf jeder Seite. Der Platz ist gut beleuchtet.“ „Ebensogut wie die High Street?“ „Das nicht.“ „So gut wie der Gerichtssaal hier?“ „Natürlich nicht.“ Der Verteidiger drehte sich so schnell zum Richtertisch um, daß seine Robe ins Schwingen geriet; Sylvia, Terence und die meisten der Zuhörer wandten unwillkürlich den Kopf. „Euer Ehren“, sagte der Verteidiger, „mit Ihrer Erlaubnis möchte ich gern ein kleines Experiment veranstalten.“ Der Richter beugte sich vor. „Ist es denn relevant?“ fragte er. 125
„Ich glaube ja, Euer Ehren.“ „Dann haben Sie die Erlaubnis.“ „Danke, Euer Ehren.“ Der Verteidiger hatte sich Terence wieder zugewandt. „Mr. Lambert, hier in meiner Hand halte ich einen Gegenstand.“ Er hob demonstrativ den Arm über den Kopf, die Handfläche nach außen gekehrt; den Gegenstand zwischen der Daumenmuskulatur und dem kleinen Finger einklemmend, spreizte er die Finger. „Mr. Lambert, würden Sie mir freundlicherweise sagen, was ich hier in der Hand halte?“ Sylvia mußte sich von ihrem Platz aus anstrengen, um zu erkennen, daß es sich um ein kleines rotes Notizbuch handelte. Sie wartete fieberhaft, was Terence sagen würde. Aber Terence schwieg, während jeder im Raum den Atem anhielt. „Nun, Mr. Lambert“, sagte der Anwalt etwa eine halbe Minute später, „was ist es? Ein Taschentuch? Eine Mütze? Ein Damenschuh?“ Nervöses Gelächter wurde hörbar, aber Terence sagte immer noch nichts, und einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte Sylvia, das Büchlein enthielte ein schreckliches Geheimnis, aber dann ging ihr auf, daß die Erklärung viel simpler war – Terence konnte nicht erkennen, was der Verteidiger in die Höhe hielt, obwohl er sich vorbeugte und mit verzweifelter Anstrengung hinstarrte. Jetzt lächelte der Anwalt. Er wußte, er hatte gewonnen. „Darf ich um Ihre Antwort bitten“, sagte er. „Handelt es sich vielleicht um eine rote Perücke?“ „Ich kann es nicht erkennen“, sagte Terence schließlich. „Sie wissen also nicht, was ich hier in der Hand halte, obwohl die Entfernung nur sieben Yards beträgt und wir uns in einem hellerleuchteten Raum befinden. Wann haben Sie zum letztenmal Ihre Augen untersuchen lassen, Mr. Lambert?“ „Vor einigen Jahren.“ 126
„Und hat man Ihnen damals vielleicht mitgeteilt, daß Sie kurzsichtig sind, Mr. Lambert?“ „Ja.“ „Und eine Brille verschrieben?“ „Ja.“ „Haben Sie in der Nacht des 16. Januar die Brille aufgehabt?“ „Nein. Ich trage sie nur zur Arbeit, und natürlich zum Autofahren.“ „Aber Sie sind tatsächlich außerordentlich kurzsichtig?“ „So stark auch wieder nicht.“ „Mr. Lambert, wir wollen keine Haarspalterei betreiben. Würden Sie wenigstens zugeben, daß ein Mensch, der aus der Entfernung von einigen Yards einen Gegenstand nicht erkennen kann, als ziemlich kurzsichtig bezeichnet werden muß?“ „Wahrscheinlich.“ „Und wahrscheinlich auch nicht in der Lage sein kann, an einem dunklen und nebligen Abend eine Person zu identifizieren, die sich über 90 Yards von ihm entfernt befindet?“ Während des wiederholt laut vorgebrachten Einspruchs des Staatsanwalts wurde Terence aus seinem Zeugenstand entlassen. Sylvia sah ihm nach, verwirrt und besorgt. Es folgten eine kurze Besprechung und geflüsterte Bemerkungen zwischen der Zuhörerschaft. Sylvia hatte das unbehagliche Gefühl, daß jeder im Gerichtsraum besser begriffen hatte, was passiert war, als sie. Sie wäre am liebsten hinausgelaufen, um Terence draußen abzufangen, wagte aber plötzlich nicht, durch ihr Aufstehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, so blieb sie dort, bis sich das Gericht erhob. Aber Terence hatte kein Verständnis für ihre Beweggründe. Als sie ihn am Abend anrief, erklärte er ge127
kränkt, sie habe doch ahnen müssen, wie dringend er sie habe sprechen wollen. „Ich wollte wissen, wie du meinen Auftritt gefunden hast.“ „Du warst recht gut“, gab sie zurück, aber ihre Worte klangen wenig überzeugend. Er fühlte sich auch nicht durch sie getröstet, und nach einer Weile hatte keiner mehr etwas zu sagen. Sie schwiegen beide. „Es wird schon alles gut werden“, war das Höchste, was sie ihm anbieten konnte. Es wurde aber alles schlechter. Die Verhandlung dauerte für den Rest der Woche an, und am Schluß zogen sich die Geschworenen für nicht ganz zwei Stunden zurück, ehe sie Chris Henderson freisprachen – der die Verhandlung als freier Mann verließ. „Man kann dir doch keinen Vorwurf machen – oder?“ sagte Sylvia am Abend zu ihm, als sie bei ihm in seiner Wohnung war. „Vorwurf, weswegen?“ fragte er zurück. „Weil er frei ausgegangen ist. Deine Zeugenaussage hätte nicht viel an der Sache geändert.“ „Hätte sie doch. Sie haben sich darauf verlassen. Wenn sie angekommen wäre, hätte sie gezeigt, daß Henderson schon Wochen früher versucht hat, ein Mädchen umzulegen.“ „Aber in der Fortescue Street hast du ihn gesehen. Der Teil stimmte jedenfalls.“ „Na und? Ist es verboten, auf der Fortescue herumzuspazieren? Schließlich war ich selber auch dort. Und Henderson hat ja zugegeben, dort gewesen zu sein. Alles, was ich gesagt habe, war einzig und allein, daß ich ihn irgendwo gesehen habe, wo er zugegebenermaßen tatsächlich gewesen ist.“ „Daß du da warst, daran ist nichts auszusetzen. Du hast ja noch nie ein Mädchen auf der Straße überfallen.“ „In den Augen der Polizei hat Chris Henderson auch 128
nichts dergleichen getan. Womit wir wieder am Ausgangspunkt angelangt sind. Man hat ihn als nicht schuldig befunden, und wir müssen uns mit der Möglichkeit vertraut machen, daß er tatsächlich unschuldig ist. Schließlich habe ich ihn an dem Abend ja nicht aus dem Fenster heraus gesehen. Dieser verflixte Verteidiger hat mich zwar in der Luft zerrissen, aber damit ist nur ans Tageslicht gekommen, was von Anfang an wahr gewesen ist – nämlich daß ich niemanden identifizieren konnte, den ich nie gesehen habe.“ . „Aber ich habe ihn gesehen“, beharrte Sylvia, „und ich habe ausgezeichnete Augen.“ „Wo du gerade davon sprichst“, sagte Terence langsam, „fällt mir ein, daß du doch weitsichtig bist, oder? Du hast immer Busnummern und Straßennamen mit Leichtigkeit entziffern können. Hast du denn erkannt, was er in der Hand hatte?“ „Ohne Schwierigkeit.“ „Wenn du also im Zeugenstand gewesen wärst, hätte er dich nicht lächerlich machen können.“ „Das würde er wahrscheinlich gar nicht erst probiert haben“, meinte Sylvia. „Bei dir ist er gar kein Risiko eingegangen, du kneifst oft die Augen zusammen, wenn du irgend etwas erkennen willst. Oh, Moment mal. Wo bewahrst du deine Brille auf?“ „Normalerweise in meiner Schreibtischschublade im Büro.“ Er unterbrach sich, und sie sahen sich an. „Ausgeschlossen, das hätte man nicht zugelassen. Im Büro würde ihn niemand zwischen meinen Sachen haben herumstöbern lassen.“ „O Terence“, sagte sie plötzlich. „Ich habe Angst. Wenn er nun jemand bestochen hätte?“ „Denken wir nicht mehr daran“, erwiderte er. „Es ist alles vorbei, und wir können nichts mehr daran ändern. Vergessen wir’s, er hat es nicht getan, Punktum.“ „Aber wenn er’s getan hat, kann er es wieder und wie129
der tun“, sagte Sylvia. „Ehrlich, ich bin überzeugt, daß er es war.“ „Sag das bloß nicht so laut“, mahnte er sie. „Du hast keine Beweise für deine Behauptung.“ „Hab ich aber“, rief sie ärgerlich. „Du vergißt, daß ich ihn gesehen habe!“ „Du hast selber gesagt, du wärst deiner Sache nicht sicher. Ich habe dich damals in der Garage gefragt, ich habe dich geradezu angefleht, dich definitiv zu äußern, so oder so, aber du warst dir deiner Sache nicht sicher.“ „Jetzt bin ich es aber.“ „Wieso? Vor einigen Monaten konntest du dich nicht entscheiden, wieso willst du es jetzt so positiv wissen?“ „Weiß ich nicht, es ist aber so.“ Und bei dieser Behauptung blieb sie, und nichts, was Terence vorbrachte, konnte sie umstimmen. Als Sylvia endlich gegangen war, dachte Terence noch einmal in aller Ruhe über die Dinge nach. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Der Satz „Ein Mensch kann nicht zweimal für dasselbe Verbrechen vor Gericht gebracht werden“ schoß ihm durch den Kopf, und er überlegte sich, was die Worte in der Praxis bedeuteten. Auf Henderson bezogen konnten sie nur meinen, daß man ihn für den Mord in der Fortescue Street nie mehr zur Verantwortung ziehen konnte. Aber es waren noch andere Mädchen überfallen und umgebracht worden. Hatte die Polizei genügend Anhaltspunkte, um Henderson in Verbindung mit den anderen Verbrechen zu verhaften? Wohl kaum, sonst hätte man sie benutzt, als es sich abzuzeichnen begann, daß der Verteidiger seinen Mandanten herauspauken würde. Ob sie Henderson jetzt wohl beschatten würden, um ihm möglicherweise nachzuweisen, daß er etwas mit den anderen Verbrechen zu tun hatte oder, schlimmer noch, ihn zu fassen, während er wieder ein Mädchen überfiel? Aber vielleicht gaben sie sich auch achselzuckend mit dem Urteil zufrieden … 130
Doch das wollte nicht in Terences Kopf. Schön, sie hatten ihre Hoffnung in seine Zeugenaussage gesetzt, und er hatte versagt – aber sicher gab es noch weitere Verdachtsmomente. Etwas mußte sie doch veranlaßt haben, Henderson bei der Identifizierungsparade aufzustellen. Terences Behauptung, er habe einen rothaarigen Mann gesehen, konnte allein nicht als Grund dafür ausreichen. Es mußte noch etwas anderes auf ihn gedeutet haben … Aber dann fand Terence auch dafür eine Erklärung: Bis auf einen der zwölf mußten alle anderen der Männer ziemlich wahllos herausgegriffen worden sein – warum also nicht auch Henderson? Die Garage befand sich nicht weit vom Polizeirevier entfernt, und bestimmt kannte einer der Polizisten den rothaarigen Mechaniker, den man bei der Parade mit aufstellen konnte. Und sofort meldete sich ein weiterer unbehaglicher Gedanke: Zu Beginn seiner Freundschaft mit Sylvia, als er noch seinen Wagen besaß, hatte er bestimmt mehr als einmal dort getankt. Wenn sich Sylvia jetzt einbildete, Henderson wiederzuerkennen, konnte es ebensogut sein, daß sie sich an sein Gesicht von diesen flüchtigen Begegnungen her erinnerte. Die Gedanken schossen wie Fledermäuse in seinem Kopf herum, bis er völlig erschöpft war und schließlich auf die Straße ging, um sich die kühle Nachtluft um die Ohren wehen zu lassen. Als er wieder zurückkam, läutete das Telefon. Er nahm den Hörer ab und stellte mit einer gewissen Resignation fest, daß es Sylvia war. „Wo warst du bloß, Terence?“ überfiel sie ihn. „Ich versuche seit einer halben Stunde dich anzurufen.“ Er mußte sich Mühe geben, ruhig zu antworten. „Was gibt’s denn?“ fragte er. „Ist was passiert?“ „Das nicht, ich mache mir nur solche Sorgen, daß ich einfach anrufen mußte. Terence, du wirst doch keine 131
Schwierigkeiten bekommen wegen dieser Angelegenheit?“ „Schwierigkeiten?“ wiederholte er. Trotz aller Anstrengung hatte seine Stimme einen irritierten Ton. Sie merkte es und fuhr beinahe schüchtern fort: „Wegen deiner Zeugenaussage. Du hast schließlich die Unwahrheit gesagt.“ „Das haben wir beide doch von Anfang an gewußt, nicht wahr?“ „Das schon, aber jetzt hat man dir bewiesen, daß es nicht wahr sein konnte, was du behauptet hast.“ Und da er nichts dazu sagte, brachte sie zögernd heraus: „Meinst du, daß das irgendwelche Folgen für dich haben kann?“ „Folgen? Weil ich mich geirrt habe? Das ist ja lächerlich!“ „Es war aber kein Irrtum“, beharrte sie. „Ich meine, es hat sich nicht so angehört, nachdem man dir bewiesen hat, daß du ihn gar nicht richtig sehen konntest.“ „Herr des Himmels“, fuhr er sie an. „Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“ Aber sofort taten ihm seine Worte leid. Er holte tief Luft und fuhr ruhiger fort: „Man wird annehmen, ich habe die Umrisse des Mannes gesehen und mir den Rest dazu phantasiert. Eine falsche Identifizierung kommt schließlich häufig vor.“ „Trotzdem werden sie auf der Polizei wütend sein.“ „Na, begeistert sind sie sicher nicht“, gab er zu. „Ich werde in nächster Zeit aufpassen müssen, nicht bei rotem Licht über die Straße zu gehen, sonst bin ich dran.“ Aber Sylvia ging nicht auf den Scherz ein. „Terence“, sagte sie, und er merkte, daß sie jetzt zu dem eigentlichen Grund ihres Anrufs kam. „Du wirst meinen Namen bestimmt herauslassen, egal, was passiert, ja?“ Er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: „Also sorgst du dich in Wirklichkeit um dich selbst – nicht um mich?“ „Natürlich sorge ich mich um dich“, entgegnete sie 132
etwas zu schnell. „Es wäre mir furchtbar, wenn dir etwas geschehen sollte.“ „Aber es wäre dir noch furchtbarer, wenn du hineingezogen würdest.“ „Das ist gemein“, sagte sie. „Es ist doch ganz natürlich, daß ich an diese Dinge denke.“ „Wahrscheinlich“, gab er zu, da er sich nicht mit ihr streiten wollte, aber etwas ernüchtert fühlte er sich trotzdem. Terence kannte die Mitbewohner seines Hauses zwar vom Sehen, aber nicht ihre Namen. So wußte er auch, daß direkt unter ihm eine sympathische Frau in mittleren Jahren wohnte; allein, darum hatte er sie immer für eine Witwe gehalten. Er hatte sie stets gegrüßt, wenn er ihr in der Halle begegnete, aber nie ein Wort mit ihr gewechselt. So war es eine Überraschung für ihn, als sie ihn etwa eine Woche nach der Gerichtsverhandlung auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung ansprach. „Mr. Lambert, hätten Sie wohl einen Augenblick Zeit?“ Er hatte schon den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, jetzt wandte er sich wieder um und sah sie an. „Selbstverständlich“, sagte er etwas zu herzlich, um die Peinlichkeit zu überbrücken, daß er ihren Namen nicht kannte. Woher wußte sie seinen? „Ich war mir nicht ganz klar, ob ich überhaupt etwas davon erwähnen sollte“, begann sie. „Aber ich meine, Sie haben ein Recht, Bescheid zu wissen.“ Wovon sprach sie bloß? Er sah sie mit höflichaufmerksamem Gesichtsausdruck an, aber die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, so daß er ihre ersten Worte überhörte. „Zuerst konnte ich mich nicht daran erinnern“, sagte sie gerade. „Es war so lange her, aber ich habe die Leute gesehen, die um das Mädchen herumstanden, und am folgenden Tag hat mir Mrs. Mullins vom Eckladen er133
zählt, was los gewesen war, und dann wußte ich’s natürlich.“ Mrs. Mullins vom Eckladen, dachte er aufgebracht. Als ob man auf dem Dorf wohnte! „Wer hat das alles wieder aufgewärmt?“ fragte er. „Die Polizei“, antwortete sie, erstaunt, daß er es nicht wußte. Und in derselben Sekunde ging ihm auf, daß er sich die Antwort eigentlich hätte denken können, es war die einzig mögliche Erklärung. „Soll das heißen, daß die Polizei sich heute mit Ihnen unterhalten hat?“ „Gestern.“ „Und hat man gesagt, warum – nach so langer Zeit?“ „Nein, aber ich nehme an, es hat sich etwas Neues ergeben“, entgegnete sie vage. „Wie ich schon sagte, haben sie mich gefragt, ob ich Sie an dem betreffenden Abend gesehen habe.“ „Mich gesehen?“ Er versuchte ein ungläubiges Lachen. „Zuerst dachte ich, ich hätte Sie nicht gesehen. Zu Hause waren Sie, das wußte die Polizei ja durch Ihre Aussage bei der Gerichtsverhandlung –“ sein Name und die Adresse hatten in allen Zeitungen gestanden; also daher kannte sie ihn! – „und ich sagte, in so einem Mietshaus achtet man nicht sehr auf die Mitbewohner, aber dann fiel mir ein, daß ich Sie habe nach Hause kommen sehen. Ich passe abends nämlich immer auf, wer die Treppe hinaufkommt, ich bin etwas ängstlich.“ Er warf einen Blick auf ihre Wohnungstür. Genau wie die seine hatte sie einen Glaseinsatz. „Und was haben Sie den Polizeibeamten gesagt?“ „Das, was ich Ihnen eben gesagt habe. Daß ich Sie gesehen habe, als Sie ins Haus zurückkamen.“ „Daß Sie sich daran erinnern“, wunderte er sich. „Ich könnte selber überhaupt nicht sagen, ob ich an dem Abend noch mal fort gewesen bin.“ „Tatsächlich?“ Ihr Ton war schwer zu deuten. „Aber 134
daß Sie den Abend zu Hause verbracht haben, wissen Sie ja noch, weil Sie ja miterlebt haben, wie man das Mädchen überfallen hat.“ Sie hatte offensichtlich die Gerichtsverhandlung in der Zeitung verfolgt und glaubte seiner Aussage. Aber ging ihr denn nicht auf, daß man ihn praktisch als Lügner hingestellt hatte, oder zumindest, daß er sich geirrt hatte? War sie so dumm oder stand sie auf seiner Seite? Das mußte er herausfinden. „Und Sie sagen, ich bin später noch aus dem Haus gegangen?“ Er hoffte, daß er seiner Stimme den richtigen Klang fröhlicher Gleichgültigkeit gegeben hatte. „Oh, Sie sind ausgegangen“, versicherte sie ihm. „Als Mrs. Mullins mir am nächsten Tag von dem Mädchen erzählte, glaubte ich zuerst, ich hätte Sie in der Nacht drüben bei all den Leuten stehen sehen; aber bei der Gerichtsverhandlung haben Sie gesagt, Sie hätten das Mädchen gar nicht aus der Nähe zu Gesicht bekommen, und dann fiel mir ein, daß ich Sie später gesehen habe, nachdem sich die Aufregung schon gelegt hatte.“ „Dann werde ich wohl noch ein bißchen Luft geschnappt haben.“ „So etwas Ähnliches, nehme ich an.“ Es war dunkel auf dem Treppenabsatz, und Terence konnte die Perlohrringe der Frau schimmern sehen, aber ihr Gesicht lag im Schatten. Doch der gewisse reservierte Ton in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. Auf einmal wurde ihm mulmig. Wie hellhörig waren wohl die Wohnungen im Haus? Ihr Schlafzimmer mußte unter dem seinen liegen, und ihre Fenster waren nur einige Meter voneinander getrennt. Sylvia und er hatten sich immer auf die Anonymität der Großstadt verlassen – mit Recht? Dann fiel ihm ein, daß sie gesagt hatte, sie habe ihn zurückkommen hören. Hieß das, daß sie auch bemerkt hatte, wann er gegangen war? Wenn ja, mußte sie ihn zusammen mit Sylvia gesehen haben, und diese Erkenntnis erschien ihm auf einmal wie eine 135
Garantie. Die durch Zeugen belegte Anwesenheit Sylvias dünkte ihn plötzlich eine Art Schutz gegen etwas, das er sich selber gegenüber nicht eingestehen mochte. Er mußte wissen, ob er sich auf diesen Schutz verlassen konnte. „Haben Sie auch gesehen, wie ich das Haus verlassen habe?“ fragte er so beiläufig, wie es ihm gelang. Sofort zerstörte sie seine Hoffnung. „Das nicht. Ich hab nur gesehen, wie Sie wiederkamen. Das muß kurz nach elf gewesen sein.“ Er spürte, wie sie ihn beobachtete, als ob die Zeit wichtig sei, was sie natürlich auch war. Jetzt sah es so aus, als könne er nur beweisen, daß er den Abend zu Hause verbracht hatte, indem er Sylvia mit in die Sache hineinzog. Die Frau wußte nur, daß er nach elf nach Hause gekommen war. Das Mädchen war um halb elf auf dem Platz überfallen worden. Das andere, das man erst nach Mitternacht entdeckt hatte, war irgendwann zwischen zehn vor elf, als es die U-BahnStation verlassen hatte, und dieser Zeit ermordet worden. Wenn Terence zunächst ein ungutes Gefühl im Magen gehabt hatte, bekam er es jetzt mit der Angst zu tun. Die Frau – er mußte irgendwoher ihren Namen herausfinden – redete immer noch. „Ich bin so froh, daß ich Ihnen davon erzählen konnte“, sagte sie. „Schon gut“, entgegnete er mechanisch. „Damit wird sich die Sache dann wohl erübrigt haben.“ „Das nehme ich auch an“, sagte sie und suchte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel. „Guten Abend, Mr. Lambert.“ Den ganzen Abend über dachte er über die Unterhaltung nach, konnte aber zu keiner Entscheidung kommen. Sylvia würde erst am nächsten Tag bei ihm vorbeikommen, und er konnte es kaum erwarten, ihr davon zu erzählen, daß die Polizei heimliche Nachforschungen anstellte; erst einmal, weil er die Sache mit irgend je136
mand besprechen mußte und sie schließlich seine einzige Vertraute war, und dann aus dem leicht boshaften Wunsch heraus, ihre selbstzufriedene Sicherheit zu stören. Als sie aber am nächsten Tag kam, war sie so fröhlich, so unbelastet, wie sie seit Monaten nicht mehr gewesen war, daß er es nicht übers Herz brachte, ihre gehobene Stimmung zu trüben; er ließ sich im Gegenteil selber davon mitreißen. Die strahlende und glückliche Sylvia hatte etwas Unwiderstehliches, eine Tatsache, die er beinahe schon vergessen hatte. Und anstatt ihr von dem Vorfall zu erzählen, tat er alles, damit sie nicht auf den Gedanken kam, daß etwas nicht in Ordnung sei. An diesem Abend schien sie alle ihre Sorgen und Befürchtungen begraben zu haben. Sie hatte Ängste ausgestanden, daß seine falsche Aussage ein Nachspiel für ihn haben oder daß sie vielleicht selber in den Fall verwickelt werden könnte, doch eine Woche ohne neue Vorkommnisse hatte ausgereicht, sie zu beruhigen. Jetzt war sie überzeugt, daß alles vorbei sei. „Zum Schluß hat sich alles zum Besten gewendet“, versicherte sie ihm. „Stell dir vor, der Mann wäre auf deine Aussage hin verurteilt worden; wäre das nicht schrecklich gewesen? So haben wir unser möglichstes getan, und es hat niemand zum Schaden gereicht. Rückblickend brauchen wir uns also keinerlei Vorwürfe zu machen.“ Terence hatte erwartet, daß Sylvia die Erinnerung an die Gerichtsverhandlung ebenso wie er am liebsten verdrängen würde, er mußte aber feststellen, daß sie dauernd darauf zurückkam, sich über Nebensächlichkeiten aufhielt, wie zum Beispiel die Hüte der weiblichen Geschworenen oder die Art, wie der Richter mehrmals gehustet hatte. Und während er ihr zuhörte, ging ihm auf, daß diese Episode einmal zu dem Aufregendsten gehören würde, was sie in ihrem Leben erlebt hatte – die 137
Zeit, da sie in einen berüchtigten Mordfall verwickelt war und miterlebt hatte, wie ihr Liebhaber vor Gericht aussagte. Terence fragte sich, ob er je selber in der Lage sein würde, alles von einem so simplen und romantischen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er erkundigte sich nach Julie. Sylvia sagte kurz, daß das Mädchen jetzt kein Heimweh mehr habe und es ihr besser in Griechenland gefiele, wo es jetzt nicht mehr so heiß sei. Dann fragte er, was Sylvia in der Zwischenzeit getan habe, seitdem er sie das letzte Mal gesehen habe. „Ach, nur ein bißchen eingekauft“, entgegnete sie vage. Das hörte sich befriedigend harmlos an. „Keine Parties oder Verabredungen?“ bohrte er ein wenig nach. „Höchstens, wenn du ein Lunch in der Stadt mit einer ehemaligen Schulfreundin eine Verabredung nennen willst. Bist du eifersüchtig?“ Er beschloß, auf ihren leichten Ton einzugehen. „Schulfreundinnen sind erlaubt. Habt ihr zu Hause keine Gäste gehabt?“ „Haben wir jemals Gäste?“ „Zu Besuch ist auch niemand gekommen?“ „Keine Menschenseele. Es sei denn, du willst den Polizisten von gestern dazurechnen.“ „Einen Polizisten?“ Er fühlte sich sofort ernüchtert. „Was hat er denn gewollt?“ Sie spürte seine Gespanntheit und sagte: „Ähnlich war mir auch zumute, als ich die Tür aufmachte und ihn da stehen sah.“ „Und was hat er gewollt?“ „Nichts Besonderes. Es war was mit dem Wagen, Edgar hat mit ihm gesprochen, darum weiß ich es nicht näher.“ Terence fühlte sich noch immer nicht beruhigt, sagte sich aber, daß es lächerlich sei. Selbst wenn ein Polizist den Mansons zur gleichen Zeit irgendwelche Fragen 138
stellen sollte, in der sich ein Kollege von ihm in Terences Nachbarschaft umhörte, konnte das immer noch ein Zufall sein. Am nächsten Tag begegnete Terence der ihm nun bekannten Mitbewohnerin zum zweitenmal. Er hatte sich den Namen auf ihrem Briefkasten angesehen. Miß Eves, also doch keine Witwe. „Oh, Mr. Lambert“, begrüßte sie ihn. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, gab er zurück und wollte schon weitergehen; aber sie sah ihn so erwartungsvoll an, daß er sich erweichen ließ. „So früh schon auf?“ bemerkte er. „Oh, normalerweise sogar noch früher; ich bin heute spät dran.“ „Dann möchte ich Sie lieber nicht aufhalten“, sagte er. Er hatte sich nicht getäuscht, sie hatte auf ihn gewartet. Er wollte weitergehen, aber sie hielt ihn zurück. „Mr. Lambert, erinnern Sie sich, worüber wir neulich gesprochen haben? Die Leute waren schon wieder da.“ „Die Polizei hat Sie noch einmal ausgefragt?“ Sie errötete, weil er die Dinge so direkt beim Namen nannte, und sah sich ängstlich um; es war aber niemand in der Nähe. „Nicht mich“, sagte sie, und Terence konnte nicht ganz entscheiden, ob der Ton in ihrer Stimme einen Vorwurf oder ein Bedauern ausdrücken sollte. „Sie waren bei Mrs. Mullins. Sie sagt, die Leute hätten einen Haufen Fragen gehabt.“ „Sicher was das Mädchen angeht“, meinte er. „Das auch, aber hauptsächlich über die Bewohner dieses Viertels. Mrs. Mullins sagt, viel hätte sie ihnen nicht erzählen können, da die Leute sehr zurückgezogen leben. Dann wollten sie wissen, ob Mrs. Mullins jemand hier in diesem Haus kennen würde, Sie kennt mich und hat auch meinen Namen genannt; das fanden die Leute sehr interessant. Es geht nämlich um folgendes: Sie haben doch gesagt, Sie hätten, als Sie den Überfall bemerk139
ten, hinuntergerufen. Nun hat ein Mann ausgesagt, er hätte eine Frau aus dieser Richtung rufen hören. Offenbar muß außer Ihnen noch jemand den Vorfall beobachtet haben, eine Frau, und diese Frau wollen sie jetzt finden. Ich kann mir nicht vorstellen, wer das gewesen sein könnte. Hier im Haus wohnt keine Frau, deren Fenster auf den Platz gehen. Oder wissen Sie jemand?“ „Es muß ja nicht von hier gekommen sein.“ „Der Mann hat es aber mit Bestimmtheit behauptet. Eigentlich komisch, daß die Frau sich nicht gemeldet hat, finden Sie nicht?“ „Warum hätte sie es tun sollen, falls es diese Frau überhaupt gibt? Dem Mädchen ist ja nichts weiter passiert.“ „Das schon, aber es hat doch viel Wirbel darum gegeben.“ „Der kam erst später. Wahrscheinlich hat die Frau die Sache längst vergessen.“ „Ich würde das nicht vergessen haben“, sagte Miß Eves. „Ein Mädchen, das praktisch unter meinem Fenster ermordet wird? Daran würde ich bis ans Ende meiner Tage denken.“ Drei Tage später erschienen Inspektor Quirke und sein Sergeant bei Terence. Terence hatte das Gefühl, sich für sein Versagen bei der Gerichtsverhandlung entschuldigen zu müssen. „Ein gerissener Verteidiger, Mr. Lambert“, sagte der Inspektor. „Daran sind wir gewöhnt.“ „Ich bleibe trotzdem dabei, der Mann war rothaarig“, sagte Terence, aber sobald er die Worte ausgesprochen hatte, tat es ihm schon wieder leid. Er hätte das Thema gar nicht anrühren sollen. Aber der Inspektor hatte bereits wie ein Terrier angebissen. „Dann sind Sie nach wie vor der Meinung, daß es Henderson war, den Sie gesehen haben?“ „Da bin ich überzeugt.“ 140
„Tja, dann müssen wir eben abwarten, bis wir ihn auf frischer Tat ertappen.“ „Heißt das, daß Sie ihn beschatten lassen werden?“ „Das kommt darauf an“, sagte der Inspektor, ohne aber näher zu erklären, was er genau damit meinte. „In der Zwischenzeit müssen wir nach weiteren Anhaltspunkten fahnden. Was neue Fragen an Sie heißt.“ „Macht nichts“, sagte Terence. „Schießen Sie los.“ „Zuerst möchte ich noch etwas klarstellen: Sie kennen Henderson, weil er in der Garage arbeitet, in die Sie Ihren Wagen zu bringen pflegten. Ist das richtig? Wann war das etwa zum erstenmal?“ „Vor etwa drei Jahren, vielleicht etwas darüber.“ „Und Sie haben Ihren Wagen um Weihnachten herum verkauft?“ „Ja, zwei Wochen vor dem Fest.“ „Sie waren also über zwei Jahre lang Kunde bei der Garage. Und haben Henderson die ganze Zeit lang gekannt?“ „Zumindest flüchtig. Daß ich ihn überhaupt kannte, lag daran, daß er meistens an meinem Wagen gearbeitet hat.“ „Wie oft ist das ungefähr gewesen?“ „Du liebe Güte, keine Ahnung.“ Und als der Inspektor ihn nach wie vor erwartungsvoll ansah, sagte er: „Achtoder neunmal, würde ich sagen.“ „Und Sie haben sich dabei jedesmal mit ihm unterhalten?“ „Wir haben ein paar Worte gewechselt. Er ist nicht sehr gesprächig.“ „Fassen wir zusammen: Sie haben Henderson mehrmals gesehen und gesprochen. Wieso haben Sie ihn eigentlich nicht erkannt, als er das Mädchen überfiel?“ „Na hören Sie“, entgegnete Terence etwas entrüstet. „Es war dunkel, er befand sich auf der anderen Seite des Platzes, außerdem hatte ich ihn seit Monaten nicht mehr 141
zu Gesicht bekommen – wie hätte ich ihn da identifizieren sollen?“ „Aber genau das haben Sie doch getan. Sie haben ihn identifiziert.“ „Aber nicht gleich. Erst nachdem ich ihn einige Male wiedergesehen habe. Dann erst ging mir auf, daß er der Mann gewesen sein mußte, den ich aus dem Fenster beobachtet hatte. Und auf der Fortescue Street habe ich ihn ganz klar erkannt, da gab’s gar keinen Irrtum.“ „Sie sagten: dann ging mir auf … War das vielleicht bei der Identifizierungsparade?“ „Ich war ziemlich überzeugt, als ich ihn da sah.“ „Aber Sie haben nichts davon erwähnt.“ „Es war ein ziemlicher Schock für mich, daß es jemand sein sollte, den ich kannte.“ „Also warteten Sie, bis noch ein Mädchen ermordet wurde“, sagte der Inspektor. Obwohl es eine sachliche Feststellung war und auch die Stimme des Inspektors keine Gefühlsregung verriet, errötete Terence. „Sie können sicher sein, daß ich mir das gleiche mehr als einmal vorgehalten habe.“ Darauf entgegnete der Inspektor nichts; er war dabei, einige Papiere aus einem Schnellhefter zu nehmen. „Vergleichen wir einmal die Daten“, sagte er liebenswürdig. „Ich hab hier einige festgehalten, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich erinnern könnten, was Sie an den betreffenden Tagen gemacht haben. Zunächst einmal den 16. Januar und dann den 18. Mai. Was Sie an diesen Tagen gemacht haben, wissen wir. Wie steht es aber zum Beispiel mit dem 17. Oktober?“ „Dem 17. Oktober? Letztes Jahr …? Ich habe keinen Schimmer.“ „Und dem 3. Dezember?“ „Hören Sie, das liegt zehn Monate zurück. Sie können doch kaum erwarten, daß ich Ihnen aus dem Handgelenk sagen kann, was ich an dem Tag gemacht habe.“ 142
„Führen Sie ein Tagebuch, Mr. Lambert? Oder einen Terminkalender?“ „Ich habe im Büro einen Kalender, auf den ich manchmal geschäftliche Verabredungen eintrage. Oder wann ich zum Zahnarzt bestellt bin.“ „Sagt Ihnen der 3. März etwas?“ Terence zögerte. „Habe ich mich an dem Tag nicht zum erstenmal mit Ihnen in Verbindung gesetzt?“ fragte er, obwohl er sehr genau wußte, daß es der 4. März gewesen war. Das au pair-Mädchen war am Abend des 3. März überfallen worden, und er hatte sich sofort am darauffolgenden Tag an die Polizei gewandt. Aber er wollte dem Inspektor nicht eingestehen, wie genau er alles noch in Erinnerung hatte. „Ich weiß wirklich nicht genau …“ murmelte er. Am 16. Januar war ein Mädchen überfallen und ein anderes ermordet worden, am 3. März hätte der Unhold beinahe das au pair-Mädchen erwischt, und am 18. Mai wurde die Schwester auf der Fortescue Street umgebracht. Terence nahm an, daß an den beiden anderen genannten Daten etwas Ähnliches passiert sein mußte, aber er zog es vor, Inspektor Quirke nicht danach zu fragen; er durfte nicht zuviel Interesse zeigen. Als er wieder allein war, holte er sich die alten Zeitungen aus dem Schrank. Am nächsten Morgen suchte er im Zeitungsarchiv der Bibliothek nach – in beiden Fällen aber ohne Erfolg. Die Daten lagen zu lange zurück. Aber er war nach wie vor überzeugt, daß an beiden Tagen, beziehungsweise Abenden, ein Überfall stattgefunden hatte. Und damit ergab sich ein neues, beängstigendes Rätsel. Soweit er informiert war, wußte man von acht früheren Überfällen. Warum hatte ihn der Inspektor ausgerechnet nach diesen drei Daten gefragt? Nach allem – das hätte eine reine Routineangelegenheit sein können, aber diese spezielle Auswahl … Als er am nächsten Morgen von seinem Besuch in der 143
Bibliothek im Büro ankam, lag ein Zettel auf seinem Tisch, daß der Manager ihn zu sprechen wünsche. Das war nicht ungewöhnlich. Terence griff also nach seinen Büchern, bereit, dem Manager wieder einmal auseinanderzusetzen, daß die Verkaufsziffern der Fabrik nicht hoch genug seien. Als er aber in sein Büro kam, saß dieser nicht wie sonst über seine Akten gebeugt, sondern stand am Fenster und sah hinaus. Er begrüßte Terence mit einem Kopfnicken. „Sie wollten mich sprechen?“ sagte Terence und stellte den Stapel seiner Rechnungsbücher auf dem Schreibtisch ab. Der Manager zögerte, schien dann aber einen Entschluß zu fassen. „Das stimmt“, sagte er betont forsch, um sein anfängliches Zaudern zu überspielen. „Ich wollte Ihnen mitteilen, daß die Polizei bei mir gewesen ist.“ Terence wußte, daß er Erstaunen zeigen sollte, Interesse, aber ohne persönliches Betroffensein. Aber er brachte es nicht fertig. Ihm war ganz schlecht geworden. „Die Polizei?“ fragte er, und das war alles, was er herausbrachte. „Zwei Männer. Ein Detective-Inspektor und ein Sergeant. Der Inspektor sagte, er wäre auch schon bei Ihnen gewesen. Sein Name ist Quirke.“ „Das ist richtig. Er war schon bei mir.“ „Dann wissen Sie also, um was es geht?“ „Ja.“ Terences Stimme klang gepreßt und ihm selber fremd in den Ohren. Er räusperte sich und zwang sich zu sagen: „Es handelt sich um den Mordfall, zu dem ich ausgesagt habe.“ „Der Mann ist freigesprochen worden“, sagte der Manager. „Ich hatte gedacht, damit wäre Ihre Rolle beendet.“ „Ich wünschte, es wäre an dem. Aber jetzt haben sie ihre Nachforschungen wieder aufgenommen. Was wollten sie denn von Ihnen wissen?“ 144
„Als erstes, was Sie in der Nacht, als das Mädchen ermordet wurde, geschäftlich in der Gegend zu tun hatten.“ Terence begriff nicht sofort. Er sah den Manager etwas verwirrt an, der den Blick äußerst forschend erwiderte. Dann dämmerte es ihm, daß sich da etwas anbahnte, etwas Bedrohliches … Als Terence nicht antwortete, berichtete der Manager weiter: „Wie der Inspektor sagte, haben Sie der Polizei mitgeteilt, daß Sie in jener Nacht geschäftlich in der Gegend zu tun gehabt hätten. Ich sagte, das wäre mir vollkommen neu.“ Terence fühlte, wie er blaß wurde. Alles, was Moralisten jemals über den Wert der Wahrheit gesagt hatten, erwies sich jetzt als richtig. Ganz zu Anfang, bei seiner ersten Vernehmung, hatte er seine Gegenwart in der Fortescue Street mit Geschäften erklärt – sie hatten nicht einmal danach gefragt, er hatte die Auskunft freiwillig erteilt, in der Hoffnung, seine Story überzeugender klingen zu lassen. Damals war niemand darauf eingegangen, auch bei Gericht hatte keiner weiter nachgefragt, aber sie mußten es notiert haben, und seine Lüge hatte die ganze Zeit in den Akten geschlummert, darin verborgen und auf die Stunde wartend, wo man sie herausholen und analysieren würde … Terence merkte, daß der Manager ihn angespannt betrachtete und auf seine Antwort wartete. Er feuchtete sich die Lippen an. „Das muß ein Irrtum sein“, sagte er. „Jemand muß mich mißverstanden haben.“ „Das hatte ich auch gedacht“, gestand der Manager, „aber dann sagte man mir, die Auskunft stamme von Ihnen selber, und Sie hätten das Protokoll unterschrieben. Worauf ich den Leuten wiederholte, daß ich von keiner geschäftlichen Verpflichtung wisse, die Sie zu dieser nächtlichen Stunde in diesen Teil der Stadt geführt haben könne.“ „Moment mal“, sagte Terence, „doch, da war was. Mir 145
fällt gerade ein, daß wir damals die Debitorenkonten überprüften. Ja, richtig, und ich hatte es unternommen, ein paar der Leute selbst aufzusuchen. Das könnte es gewesen sein.“ „Was für Debitorenkonten?“ „Einige Ladenbesitzer, die mit Ihrer Zahlung ausstanden. Ein paar der Läden liegen in dieser Gegend.“ „Welche denn?“ „Mein Gott, wie soll ich das jetzt noch wissen? Ich hatte mir damals Namen und Adressen herausgesucht, aber das liegt Monate zurück.“ „Und Sie wollen mir einreden, daß Sie abends bei den Leuten vorbeigegangen sind?“ „Nicht vorbeigegangen. Ich hatte mir ihre Schaufenster ansehen wollen, was sie für Ware führten und so, ehe ich auf Zahlung drängte.“ „Noch etwas“, fuhr der Manager fort „Wieso kamen Sie dazu, einen Firmenwagen für Ihre Ausflüge zu benutzen?“ „Das ist ja wohl mein gutes Recht – oder?“ „Nicht für nächtliche Exkursionen und nicht, ohne sich vorher ins Fahrtenbuch einzutragen. Das dürfte Ihnen ja wohl bekannt sein.“ „Wie soll ich dann Ihre Rechnungen eintreiben, wollen Sie mir das vielleicht erklären?“ entgegnete Terence heftig. „Diese Märchen können Sie der Polizei erzählen, aber nicht mir. Und ich wünsche nicht, daß der Name meiner Firma in Ihre Privatangelegenheit hineingezogen wird, haben Sie mich verstanden?“ „Sie können sich Ihre verdammte Firma an den Hut stecken“, fauchte Terence. „Das ist nun der Dank für all die unbezahlten Überstunden, die ich gemacht habe, um Ihre Firma vor dem Bankrott zu retten.“ „Lassen wir die Firma aus dem Spiel. Jedenfalls haben wir die Polizei bisher noch nie im Haus gehabt.“ 146
„Das ist reiner Dusel, wenn man bedenkt, wie sie geführt worden ist.“ „Wollen Sie die Zusammenarbeit mit uns aufgeben, Lambert?“ „Soll das ein Rausschmiß sein?“ Die Worte hallten von den Wänden des kleinen Raums wider, beide Männer standen unbeweglich, als lauschten sie dem Echo nach. Dann ließ bei beiden die Spannung nach, und beide waren verwirrt und gleichzeitig etwas beschämt. Der Manager faßte sich als erster. „Reden wir im Moment nicht davon. Man soll nichts überstürzen.“ Terence zögerte, dann raffte er seine Papiere zusammen. Er stellte fest, daß seine Hände zitterten. „Dann gehe ich jetzt wieder in mein Büro“, sagte er und ging mit gesenktem Kopf aus der Tür. Wieder in seinem Arbeitszimmer warf er sich in seinen Sessel, zündete sich eine Zigarette an und drückte sie nach ein paar Zügen wieder aus. Er stützte den Kopf in die Hände und fühlte, wie ihn eine Woge von Panik überlief. Es hatte keinen Zweck mehr, den Kopf in den Sand zu stecken. Die Polizei verdächtigte ihn des Mordes. Es war lächerlich, grotesk; er sollte die Sache mit einem Achselzucken abtun können, stellte aber fest, daß die Tatsache, als Mörder angesehen zu werden, einen lähmenden Effekt hatte. Er kam sich vor wie ein hypnotisiertes Kaninchen – eine demütigende Situation. Er suchte selber nach einer Erklärung. Vielleicht, wenn er sich der Bedeutung eines Meineids nicht so stark bewußt gewesen wäre, hätte er den Verdacht überzeugender von sich weisen können. Aber weil er nun schon einmal gelogen hatte, mußte er dabei bleiben. Und während er dasaß, den Kopf in den Händen vergraben, von seinen Gedanken erdrückt und noch aufgewühlt durch die Szene mit dem Manager – denn der Alte war bisher immer sehr gütig zu ihm gewesen –, kam ihm auf einmal die Erleuchtung, und wie alle Erleuchtungen schien sie sich geradezu von selbst anzubieten. 147
Sylvia würde seine Rettung sein! Er setzte sich gerade und ging mit steigender Erregung sämtliche Punkte durch. Sylvia konnte ihm ein hieb- und stichfestes Alibi geben, zumindest was den ersten Mord anging, sie würde ferner alle Widersprüche aufklären, die dazu geführt hatten, daß man ihn verdächtigte – die Sache mit der Identifizierung und warum er sich nicht früher gemeldet hatte und so weiter. Wenn das erst einmal geklärt war, konnte er auch gestehen, was ihn in jener fatalen Nacht in die Fortescue Street geführt und wieso er Henderson in dem Wagen erkannt hatte. Das allein schon würde seine Unschuld beweisen; doch da war noch mehr. In der Märznacht, als das Mädchen überfallen worden war, war Sylvia bei ihm gewesen; sie hatte ihn am nächsten Morgen angerufen und ihm davon erzählt. Im Mai, als die Krankenschwester ermordet wurde, waren sie zwar nicht zusammen gewesen, aber mit etwas Glück würde sich herausstellen, daß sie an den anderen kritischen Daten in seiner Wohnung gewesen waren. Aber das alles wären rein zusätzliche Entlastungspunkte, die er nicht einmal nötig hatte. Wenn Sylvia erst einmal ihre Aussage betreffs des Abends vom 16. Januar gemacht haben würde, war er aus dem Schneider. Was seine Person anging, war er damit aus der Affäre heraus. Die Polizei würde kein weiteres Interesse an ihm haben, und jetzt, nachdem Henderson angeklagt und freigesprochen worden war, waren er wie auch Sylvia als Zeugen uninteressant geworden. Jetzt konnte sie gefahrlos die Wahrheit sagen, jetzt riskierte sie nicht mehr, ihre Aussage vor Gericht wiederholen zu müssen – Hendersons Verhandlung war abgeschlossen und erledigt. Sylvia würde sich nur einmal privat mit dem Inspektor unterhalten müssen, und der ganze Alpdruck würde sich verflüchtigen. Er versuchte, Sylvia sofort anzurufen, er probierte es in Abständen den ganzen Nachmittag über, aber es 148
meldete sich niemand. Er überlegte, was sie wohl tun mochte – einkaufen, einen Besuch machen, eine Matinee ansehen … Alles, was er sich ausmalte, erschien ihm unendlich trivial; daß sie sich mit solchen alltäglichen Dingen beschäftigen sollte, während er sie so dringend zu sprechen suchte, war unglaublich. Zu Hause legte er nicht einmal Hut und Mantel ab, sondern steuerte sofort auf den Telefonapparat zu. Diesmal meldete sie sich. Aber Marion war unten, und Edgar konnte jede Minute von der Arbeit zurückkommen, so war es kein Wunder, daß sie nervös und unaufmerksam war. Sie brauchte eine Minute, bis sie begriff, daß Terence sie unbedingt noch an diesem Abend sprechen wollte. Nach einigem Zögern willigte sie ein – es wurde aber neun, bis sie endlich erschien, obwohl sie sich für acht verabredet hatten. Sie kam; schlecht gelaunt und abgejagt, aber er ließ ihr keine Zeit, sich zu beklagen. Er hatte schon nach ihr Ausschau gehalten, hatte sie unten an der Haustür erwartet, eilte mit ihr die Treppe hinauf und redete die ganze Zeit auf sie ein – was er sich ausgedacht hatte und was sie tun sollte. Alles ging viel zu schnell, und Sylvia verstand überhaupt nichts. Vor allem konnte sie nicht darüber hinwegkommen, daß die Polizei noch einmal bei ihm erschienen war. „Nach der Verhandlung?“ fragte sie entsetzt. „Sie haben noch weitere Fragen an dich gehabt?“ „Das erzählte ich dir ja die ganze Zeit“, gab Terence ungeduldig zurück. „Aber der Hauptpunkt ist: Es macht nichts weiter aus.“ „Es macht nichts weiter aus? Erlaube mal! Begreifst du nicht, daß man dich wahrscheinlich wegen Meineids rankriegen wird?“ Unter den gegebenen Umständen wirkte ihr Einwand so komisch, daß Terence lachen mußte. Die Sorge, eines Meineids überführt zu werden, war nebensächlich ge149
worden. „Es geht denen nicht um Meineid, sondern um Mord“, erklärte er. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. „Das weiß ich“, sagte sie. „Aber wenn sie dich noch einmal aufgesucht haben, hat es sich ja wohl um deine Aussage vor Gericht gehandelt.“ „Irrtum“, sägte er. „Sie sind gekommen, weil sie glauben, daß ich für die Morde verantwortlich bin.“ Selbst Sylvia gegenüber wagte er nicht, das Wort „Mörder“ auszusprechen. Aber sie teilte seine Skrupel nicht. „Soll das heißen, daß sie dich für den Mörder halten?“ Die brutale Art, wie sie das Wort aussprach, bewies, daß es für sie keine Realität besaß. „Es ist verrückt, klar“, gab er entschuldigend zu, „aber ich verstehe schon, wie sie auf die Idee gekommen sind. Eine Anhäufung von Nebensächlichkeiten kann schließlich zu einer falschen Auslegung führen. Beängstigend, aber leicht richtigzustellen.“ Er wollte ihr voller Eifer erklären, was sie für ihn tun könne, aber sie fiel ihm ins Wort. „Du mußt verrückt sein“, lachte sie etwas ungläubig. „Auf so eine Idee würde doch kein Mensch kommen! Du ein Mörder? Vielleicht sonst noch was?“ „Aber sie bilden es sich wirklich ein“, sagte er rauh, ungeduldig und bestrebt, von diesem elementaren Punkt auf die Lösung überzugehen. „Und jetzt wird es nötig, meine Unschuld zu beweisen, damit sie von mir ablassen.“ Wieder unterbrach sie ihn, aber diesmal lachte sie nicht. „Terence, du hast den Verstand verloren. Das kann nicht dein Ernst sein.“ „Verdammt noch mal!“ fuhr er hoch. „Ich versuche doch, dir die ganze Zeit zu erklären, daß sie Material gegen mich zusammentragen, und bald ist es soweit, daß es für eine Anklage reicht. Sie sind mit einem Staub150
kamm durch alle meine Aussagen gegangen, sie haben die Nachbarn ausgefragt und sind bei meinem Chef gewesen. Gestern abend verlangten sie von mir für sämtliche Nächte, in denen ein Mädchen überfallen oder ermordet wurde, ein Alibi. Sie sind nicht einmal besonders taktvoll vorgegangen. Nein, nein, man hat mich wirklich in Verdacht.“ Sylvia starrte ihn an. „Das ist ja entsetzlich!“ brachte sie heraus. „Das ist ja ganz entsetzlich!“ Er runzelte die Stirn; er hatte jetzt keine Zeit, sich mit einem unnützen Panikausbruch von ihr zu beschäftigen. „Warum läßt du mich nicht endlich einmal ausreden“, beklagte er sich. „Ich versuche die ganze Zeit schon, dir zu erklären, daß alles in Ordnung kommt. Man verdächtigt mich, weil ich bei Gericht nicht die Wahrheit gesagt habe. Bitte, vielleicht auch aus anderen Gründen, aber das nur sekundär. Sie bilden sich ein, ich habe gelogen, weil ich etwas zu verbergen habe.“ „Aber du hast doch selber gesagt, man würde glauben, du hättest dich geirrt“, entgegnete sie furchtsam. „Das ist jetzt unwichtig, was ich gesagt habe. Wichtig ist, daß, ich vor Gericht nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, weil ich tatsächlich etwas zu verbergen hatte, aber nicht das, was sie annehmen. Jetzt brauche ich ihnen nur zu erklären, was ich wirklich verschwiegen habe, und damit werde ich für sie uninteressant.“ „Ich verstehe nicht … was willst du ihnen denn sagen?“ „Die Wahrheit natürlich, und es wäre besser, wenn sie von dir käme.“ „Die Wahrheit? Du meinst über uns?“ „Daß du in jener Nacht hier gewesen bist und Henderson gesehen hast.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob es Henderson gewesen ist“, beharrte sie eigensinnig. Er wedelte mit der Hand. „Na, diesen Mann dann eben. Das ist doch nicht schwierig, oder? Du brauchst 151
nur zu sagen, daß du hier warst und aus dem Fenster gesehen und alles beobachtet hast.“ „Nein“, sagte sie und kroch auf ihrer Couchecke zusammen wie ein Tier, das Gefahr wittert. „Das bringe ich nicht fertig.“ „Aber Sylvia“, redete er auf sie ein. „Wer kriegt das schon zu hören? Nur ein paar Polizeibeamte.“ „Nur!“ „Was ist schon dabei?“ fuhr er fort. „Du warst in meiner Wohnung – na und? Es war ja nicht spät, gerade kurz nach zehn. Wir können immer noch behaupten, wir hätten Tee getrunken und Platten angehört.“ „Oder uns deine Briefmarkensammlung angesehen“, sagte sie aufgebracht. „Die sind doch nicht blöde. Die wissen doch ganz genau, wenn die Sache wirklich so harmlos gewesen wäre, dann hätten wir von Anfang an die Wahrheit gesagt.“ „Wir können ja behaupten, wir hätten Angst gehabt, daß dein Mann die Sache in den falschen Hals kriegen könnte“, schlug Terence vor. „Daß du vor dem Aufsehen zurückgescheut hättest. Es ist für niemand angenehm, vor Gericht in den Zeugenstand gerufen zu werden.“ „Du möchtest also, daß ich zur Polizei gehe.“ „Es bleibt uns nichts anderes übrig.“ „Das tue ich aber nicht.“ „Aber Sylvia …“ Er versuchte, geduldig zu bleiben. „Warum denn nicht? Hast du Angst, die Leute zu schockieren, oder was ist es?“ „Sei nicht lächerlich“, sagte sie. „Die Polizei ist mir schnuppe. Was die denken, interessiert mich nicht die Bohne.“ Das ärgerte ihn. „Ach, wirklich!“ rief er aus. „Na, mich interessiert es aber sehr. Geht dir denn nicht auf, daß gerade die Tatsache, daß sie etwas Falsches von mir denken, für die ganze Misere verantwortlich ist?“ „Du mußt mir nicht jedes Wort im Mund herumdre152
hen“, beklagte sie sich. „Du redest mir die ganze Zeit ein, ich solle mich nicht darum kümmern, was die von mir denken, und wenn ich schließlich sage, daß es mir egal ist, dann fällst du über mich her.“ Er schwieg eine Minute lang, er mußte sich zur Ruhe mahnen, ehe er fortfuhr. „Entschuldige“, sagte er schließlich. „Es war ein bißchen zuviel für mich, diese Sorgen, und wie die Polizei mich in den letzten Tagen in die Zange genommen hat …“ „In die Zange genommen! Du übertreibst mal wieder wie üblich.“ „In die Zange genommen“, wiederholte er fest. „Mich gejagt und gehetzt hat. Und erst heute nachmittag ist mir aufgegangen, wie ich dem allem ein Ende bereiten kann. Ich hab verflucht lange gebraucht, bis mir aufgegangen ist, daß ich ein hieb- und stichfestes Alibi habe. Das zeigt, wie durchgedreht ich bin.“ „Du willst sagen, daß du ein Alibi hast?“ „Das weißt du wohl am besten.“ „Ich meine, du verlangst, daß ich es dir ausstelle?“ „Du sollst mir kein Alibi ausstellen“, entgegnete er ärgerlich. „Du bist mein Alibi. Wir waren zusammen, wenn du dich daran erinnern möchtest.“ „Terence“, begann sie in einem so kalten und entschlossenen Ton, daß ihn der Mut verließ, „wir sind gleich zu Anfang übereingekommen, daß ich nie zugeben kann, daß ich an diesem Abend bei dir gewesen bin. Aus dem Grund haben wir all die Schwierigkeiten auf uns genommen, damit du die Zeugenaussage machen kannst. Und jetzt, nach dieser ganzen Zeit, nachdem du vor zwei verschiedenen Richtern geschworen hast, daß du alles mit eigenen Augen mitangesehen hast, jetzt verlangst du, daß ich vortrete und behaupte, in Wirklichkeit sei ich diejenige gewesen, die alles gesehen hat. Und wie stehe ich dann da – willst du mir das erklären? Mein Ruf wird in der Luft zerrissen wer153
den, ich werde als Lügnerin, Feigling und Ehebrecherin gebrandmarkt werden.“ Einen flüchtigen Augenblick lang war Terence versucht zurückzufragen: Und bist du das nicht auch, Darling? Um die Sache sozusagen ins Scherzhafte zu ziehen. Aber sofort verwarf er den Gedanken wieder. Neckische Bemerkungen würden Sylvia nicht veranlassen, ihre Meinung zu ändern. So sagte er statt dessen so sanft er konnte: „Sylvia, wir können ja zusammen hingehen; wir können sagen, wir hätten den Mann beide gesehen – damit entfällt der Vorwurf des Meineids. Wir sagen, wir hätten nebeneinander am Fenster gestanden, und brauchen ja nicht darauf zu beharren, daß es Henderson gewesen wäre. Du hättest die roten Haare bemerkt, dich aber gescheut, mit deinem Wissen zur Polizei zu gehen. Wir sagen, wir hätten beide nicht in den Fall verwickelt werden wollen, als wir dann aber gemerkt hätten, wie wichtig unsere Aussage werden könne, hätten wir uns verabredet, daß ich hingehen sollte. Das werden sie uns bestimmt abnehmen, verlaß dich darauf. Es hört sich verständlich an und stimmt ja auch beinahe. Und was die anderen Daten angeht, nach denen sie mich gefragt haben, könnten wir ja sagen, daß wir die Abende zusammen verbracht hätten – an einigen warst du tatsächlich hier, und was macht es schon aus, wenn wir sagen, du wärst auch an den anderen Abenden bei mir gewesen.“ „Das würde ich nie tun!“ sagte Sylvia und starrte ihn an. „Ich kann doch nicht behaupten, ich würde seit über einem Jahr zu dir in die Wohnung kommen!“ „Und warum nicht? Was ist der Unterschied, ob du seit einem Monat oder seit zwanzig Monaten herkommst?“ „Wir hatten uns doch geeinigt, daß ich zu einer Tasse Kaffee zu dir heraufgekommen sei. Das nehmen sie mir doch nie ab, wenn ich gleichzeitig zugebe, daß ich dich seit so langer Zeit regelmäßig besuche.“ 154
Er versuchte zu lachen. „Warum denn? Alte Freunde, die sich bei einer Tasse Kaffee unterhalten. Ist doch ganz natürlich, oder?“ „Sei nicht idiotisch“, entgegnete sie kalt. „Ein für allemal, Terence, ich werde nicht zur Polizei gehen. Ist das klar? Ich kann es einfach nicht.“ „Willst nicht, meinst du wohl.“ „Bitte, dann will ich es eben nicht. Ich habe von Anfang an klargemacht, daß es nicht in Frage kommt, darum verstehe ich nicht, warum du das Thema jetzt wieder aufwärmst. Vor allem, wo du doch selbst zugegeben hast, daß ich nichts von Wichtigkeit sagen könnte.“ „Die Dinge haben sich aber jetzt geändert“, drängte er. „Siehst du das denn nicht? Jetzt geht es um mich. Mich sollst du mit deiner Aussage retten.“ „Damit du deine kostbare Haut retten kannst, soll ich zugeben, daß wir ein Verhältnis haben?“ „Doch nur vor ein paar Polizeibeamten, Sylvia“, bat er eindringlich. „Auch das ist jetzt ganz anders. Vor der Gerichtsverhandlung hättest du es in aller Öffentlichkeit zugeben müssen. Das war einer der Hauptgründe, warum ich einsah, daß du im Hintergrund bleiben müßtest. Es wäre wirklich peinlich gewesen.“ „Es wäre entsetzlich gewesen“, verbesserte sie ihn mit Nachdruck. „Ganz so entsetzlich nun auch wieder nicht“, sagte er ruhig, in dem Bestreben, sie zu einer etwas weniger gefühlsbetonten Haltung zu bewegen. „Ich habe mich unserer Beziehung nie geschämt, und meinetwegen hätte alles in die Öffentlichkeit kommen dürfen, mir hätte es nichts ausgemacht.“ „Weil du nichts zu verlieren hattest“, hielt sie ihm entgegen. „Das stimmt“, entgegnete er, offensichtlich um Fairneß bemüht. „Für dich war die Situation schwieriger, darum habe ich deine Entscheidung auch akzeptiert. 155
Aber jetzt sehen die Dinge anders aus. Jetzt bin ich in Gefahr, während du vollkommen sicher bist. Du kannst zur Polizei gehen, ohne das geringste Risiko.“ „Das redest du mir ein, weil es dir gut in den Streifen paßt.“ „Bitte, was riskierst du schon dabei? Sag mir’s.“ „Was ist, zum Beispiel, wenn sich die Polizei bei Edgar erkundigt, wo ich an all diesen betreffenden Abenden gewesen bin?“ „Warum sollten sie das tun?“ fragte Terence zurück, konnte sich aber eines gewissen Gefühls der Unsicherheit nicht erwehren. Wenn sie ihn, Terence, tatsächlich dieser scheußlichen Verbrechen verdächtigen, würden sie bestimmt jedes Alibi nachprüfen, das er anbot. Es war gut denkbar, daß sie bei Edgar nachfragten. Aber er drängte den Gedanken zurück, sobald er ihn gedacht hatte. Er mußte Sylvia von der Notwendigkeit überzeugen, daß sie nichts zu befürchten hatte, wenn sie mit ihrem Wissen zur Polizei ging, und das konnte er nur, wenn er selbst keinen Zweifel an der Gefahrlosigkeit hatte. „Hör zu“, sagte er eifrig, „warum sollen sie an deiner Aussage zweifeln? Verdammt, du sagst doch nur die reine Wahrheit!“ „Im Gegensatz zu dir“, entgegnete sie kalt, „Du hast uns mit deiner Lügerei in die schönsten Schwierigkeiten gebracht.“ „Ich hab getan, was ich konnte“, erwiderte er gekränkt. „Ich hab mich ziemlich genau an die Wahrheit gehalten.“ „Du siehst ja, wohin uns diese ‚Genauigkeit‘ geführt hat!“ „Mußt du immer weiter darauf herumhacken!“ fuhr er sie an. Er spürte eine beginnende Panik. Die Dinge entglitten ihm immer mehr, ausgerechnet jetzt, wo er sie fest in der Hand halten sollte. Seine Besorgnis mit aller Willenskraft beherrschend, redete er weiter beschwichtigend auf Sylvia ein, aber ohne Erfolg. Sie wurde immer 156
nervöser und eigensinniger und weigerte sich schlichtweg, etwas mit der Polizei zu tun haben zu wollen. Schließlich wurde sie völlig hysterisch, so daß er es mit der Angst zu tun bekam und, um sie zu beschwichtigen, ihr hoch und heilig versprach, ihren Namen unter keinen Umständen zu nennen. Sofort wurde sie ruhiger und meinte, daß er die Dinge sicher zu schwarz sehe. „Bisher hat doch niemand wirklich ausgesprochen, daß man dich verdächtigt“, sagte sie. „Ist doch verständlich, daß sie ihre Nachforschungen wieder aufnehmen; sie können die Sache doch nicht einfach auf sich beruhen lassen. Stell dir vor, was die Presse dazu sagen würde! Bestimmt bist du nicht der einzige, den sie in der letzten Woche wieder vernommen haben, und ich würde sonst was wetten, daß keiner der anderen auf den Gedanken gekommen ist, daß man ihn für den Mörder hält. Du tust das nur, weil du ein schlechtes Gewissen hast, wegen der falschen Zeugenaussage vor Gericht.“ Terence hörte ihr mit gemischten Gefühlen zu; einerseits ärgerte er sich über ihren bevormundenden Ton, andererseits hoffte er, daß sie recht haben möge. Was sie sagte, hörte sich plausibel an – vielleicht bildete er sich wirklich nur etwas ein. Er beschloß, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen und einen kühlen Kopf zu behalten, und als sie lächelnd bat: „Komm, reden wir jetzt von was anderem“, lächelte er zurück und ging auf ihren Vorschlag ein. Nachdem sie ihn verlassen hatte, versuchte er diese optimistische Einstellung beizubehalten, was ihm zu seiner Überraschung beinahe gelang. Er machte sich eine Tasse Kakao, fütterte die Katze, duschte, hörte die Spätnachrichten an, ohne sich einer erneuten Aufwallung von Panik hinzugeben. Auch den ganzen nächsten Tag hindurch hielt seine Ruhe an, und abends kamen ihm seine Ängste der letzten vierundzwanzig Stunden beinahe un157
wirklich vor, als ob er aus einem Alpdruck erwacht sei, um festzustellen, daß die Dinge, die ihn erschreckt hatten, in Wirklichkeit gar nie passiert seien. Um so grausamer traf ihn der Schlag, als er beim Nachhausekommen den Inspektor vor seiner Wohnungstür wartend antraf. Trotz aller Vernunftsgründe war seine erste Reaktion: Er ist hier, um dich zu verhaften! Und als der Inspektor entschuldigend lächelte und ein paar höfliche Worte sagte, versuchte er angespannt, den tieferen Sinn dieser Worte zu erfassen. Dann dämmerte es ihm langsam, daß der Inspektor tatsächlich meinte, was er sagte, nämlich daß es sich nur noch um ein paar weitere Fragen handelte, und er fühlte sich gleichzeitig beschämt und erleichtert – es war demütigend, seine Nerven nicht besser unter Kontrolle zu haben. „Sie kommen gerade aus dem Büro?“ fragte der Inspektor. „Haben Sie einen Blick auf den Kalender geworfen?“ „Ich hab leider nichts gefunden“, gestand Terence. Er gab nur sehr ungern zu, daß er darüber orientiert war, daß sich die Polizei in seiner Firma umgehört hatte. „Ich habe aber darüber nachgedacht“, fuhr er fort – wie er hoffte, in einem offenen Ton, der seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit ausdrücken sollte –, „und jetzt bin ich ziemlich sicher, daß ich die betreffenden Abende im Mai wie auch im März zu Hause gewesen bin.“ „Damit meinen Sie hier in dieser Wohnung?“ fragte der Inspektor, und als Terence nickte, bemerkte er: „Sie gehen wohl nicht viel aus, was?“ „Nicht während der Woche.“ „Dann unterscheiden Sie sich angenehm von den anderen jungen Leuten heutzutage“, sagte der Inspektor gefühlvoll, und Terence überlegte sofort, ob diese Bemerkung persönliche Hintergründe haben mochte. Vielleicht hatte er ja heranwachsende Söhne? Sie konnte sich aber auch auf dienstliche Erfahrungen beziehen – 158
junge Leute, die sich zu allen Tages- und Nachtstunden herumtrieben, in Schwierigkeiten gerieten, die die Polizei dann wieder bereinigen durfte. Die kurze Unterhaltung hatte auf dem Treppenabsatz stattgefunden. Terence schloß jetzt hastig die Tür auf und trat zurück, aber der Inspektor bat ihn mit einer Handbewegung, als erster hineinzugehen, als ob er damit ausdrücken wolle, daß er nicht als Gast gekommen sei. „Wohnen Sie allein hier?“ erkundigte sich der Inspektor, als sie beide im Wohnzimmer standen. „Das habe ich Ihnen doch schon gesagt“, gab Terence etwas unnötig laut zurück. „Sie haben mir die gleiche Frage schon einmal gestellt, und ich habe geantwortet: Ja, ich wohne allein hier. Ist das verboten?“ „Aber nein doch“, sagte der Inspektor beschwichtigend. „Und ich habe auch nicht vergessen, was Sie damals gesagt haben. Aber es hätte doch sein können, daß Sie inzwischen einen Untermieter zu sich genommen haben.“ „Habe ich nicht“, sagte Terence. Als der Inspektor nichts darauf erwiderte, entstand ein etwas peinliches Schweigen, und Terence bedauerte schon, so brüsk geantwortet zu haben, vor allem, da ihm auf einmal eine Möglichkeit vorschwebte, wie er die Frage des Inspektors zu seinen Gunsten drehen konnte. „Entschuldigen Sie“, sagte er darum. „Aber setzen wir uns doch.“ Als sie Platz genommen hatten und Terence sich eine Zigarette angezündet hatte, überlegte er, wie er seine Bemerkung günstiger formulieren konnte. Dazu mußte erst einmal eine gelöste Atmosphäre geschaffen werden, in die er seine Worte dann geschickt einfließen lassen konnte. „Daß ich hier allein wohne, heißt aber nicht unbedingt, daß ich immer allein bin“, begann Terence gesprächsweise. „Ich habe öfters Gäste hier.“ „Verwandte?“ schlug der Inspektor vor. Terence warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, aber das Gesicht des Polizeibeamten war eine undurchdring159
liche Maske. „Ich habe wenige Verwandte. Ich sprach eigentlich von Freunden.“ „Dann haben Sie sicherlich häufig Logierbesuch von außerhalb“, meinte der Inspektor. „Wo Sie so zentral gelegen wohnen.“ Jetzt war Terence überzeugt, daß der Inspektor absichtlich nicht verstehen wollte, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf seinen Ton einzugehen. „Das habe ich eigentlich auch nicht gemeint“, gab er zu. „Vielleicht gestehe ich Ihnen lieber, daß es sich um gelegentlichen Damenbesuch handelt.“ „Dann wohl eine feste Freundin?“ Terences Gedanken flogen zu Sylvia. Wenn er sein ihr gegebenes Versprechen brechen wollte, dann war jetzt die Zeit dazu. Aber schon schüttelte er den Kopf. „Keine Spur“, hörte er sich sagen. „Irgendwelche Mädchen, verstehen Sie.“ „Mädchen, die Sie bei Parties oder in Pubs kennengelernt haben?“ „So in etwa. Ja.“ „Und hatten Sie eines von diesen Mädchen an den uns interessierenden Daten bei sich?“ „Das ist es ja gerade“, gestand Terence. „Ich kann mich nicht daran erinnern.“ „Kein Tagebuch?“ erkundigte sich der Inspektor lächelnd. Terence lachte. „Jedenfalls keines dieser Art. Zu kompromittierend.“ „Und in jener besagten Nacht im Januar? War da jemand bei Ihnen?“ Mit Anstrengung behielt Terence seinen munteren Gesichtsausdruck bei, während er in aller Eile überlegte, was er darauf antworten solle. Wie so oft hatte er nicht weit genug vorausgedacht. Es war gefährlich, sich zu genau festzulegen. Er mußte die Frage offenlassen. „Auch das kann ich leider nicht mit Bestimmtheit be160
antworten“, sagte er reuevoll. „Ich weiß es nicht mehr genau.“ Der Inspektor hob die Brauen. „Das wissen Sie nicht mehr? Sie haben den Überfall beobachtet und können sich nicht mehr daran erinnern, ob Sie mit jemand darüber gesprochen haben?“ „Tut mir wirklich leid“, sagte Terence. „Ich weiß es wirklich nicht mehr.“ Das hörte sich keineswegs überzeugend an. Unter den gegebenen Umständen würde er sich unbedingt daran erinnern müssen. Aber der Inspektor schien seine Aussage hinzunehmen. „Wenn Ihnen der Name der jungen Dame einfallen sollte, werden Sie ihn uns sicherlich mitteilen. Es könnte sehr nützlich sein.“ „Gewiß“, versprach Terence. „Wenn mir einfällt, wie sie sich genannt hat.“ Das hatte er als Witz gemeint, etwas angeberischerweise, aber der Inspektor schien es nicht so aufzufassen. „Wie sie sich genannt hat?“ wiederholte er, ohne zu lächeln. „Soll das heißen, daß Sie vielleicht ihren richtigen Namen nicht kennen?“ „Wer kann sich nach einem Jahr schon noch an Namen erinnern“, sagte Terence etwas lahm. „Aber damals haben Sie den Namen der jungen Dame sicherlich gekannt, oder?“ „Aber sicher doch, wieso auch nicht“, sagte Terence. „So sicher ist das gar nicht“, gab der Inspektor zurück. „Manche von den jungen Mädchen legen sich irgendwelche phantastischen Namen zu – die fesche Lola oder die schwarze Trixie.“ Terence starrte ihn an. Dann ging ihm die Bedeutung dieser Namen auf. „Ja, glauben Sie vielleicht, ich würde irgendwelche Prostituierte mit heraufnehmen?“ „So hatte ich jedenfalls Ihre Bemerkung verstanden, Sir.“ „Mann, ich hole mir meine Mädchen doch nicht von der Straße weg.“ 161
„Nun, Sie haben jedenfalls selber erwähnt, daß Sie sie manchmal in irgendwelchen Pubs kennengelernt haben. Wie steht es denn mit Cafés oder ähnlichem?“ Terence zögerte. Tatsächlich hatte er Sylvia in einem Tearoom kennengelernt. Sie war allein gewesen, und er hatte gefragt, ob er an ihrem Tisch Platz nehmen dürfe. „Jedenfalls nicht auf die Art, wie Sie meinen“, sagte er schließlich. „Sie pflegen also nicht Frauen auf der Straße anzusprechen?“ „Natürlich nicht“, begann Terence hitzig. Er fing an zu schwitzen, als ihm aufging, welch eine Vorstellung er dem Inspektor von sich vermittelt hatte: Ein alleinlebender Mann, geschieden und nicht mehr ganz jung, der nachts auf den Straßen herumstreicht, um sich irgendwelche Frauen aufzulesen, die er mit in seine Wohnung nehmen kann … Angenommen, solch ein Mann sprach ein Mädchen an, das ihn auslachte oder mit der Polizei drohte – würde er nicht wütend werden und den Kopf verlieren? Oder aber so ein Mann hatte die billigen, leichten Mädchen über und sehnte sich nach jungem, unverdorbenem Fleisch; aber nette Mädchen schenkten ihm keinen Blick, und so sammelte sich ein Haß gegen sie in ihm auf, er wollte sie zerstören, vernichten … Terence riß sich zusammen. Das war ja krankhaft, was er sich da zusammenreimte. Sein ungeschickter Versuch, anzudeuten, daß er vielleicht jemand bei sich gehabt und damit ein Alibi habe, ohne Sylvia direkt mit hineinzuziehen, hatte zur Folge gehabt, daß man ihm jetzt noch andere Motive für die Morde zutraute. Er mußte sich gewaltsam daran erinnern, daß er erst vierunddreißig Jahre alt war, ein angenehmes Äußeres hatte und – was das Sexuelle anging – ein befriedigendes, wenn auch etwas unkonventionelles Leben führte und dementsprechend kein Grund vorlag, zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen. 162
Er wollte sich eine Zigarette anzünden, merkte dann aber, daß seine Finger zitterten, und steckte das Päckchen wieder in seine Jackentasche zurück, ohne eine herauszunehmen. Der Inspektor mußte doch sehen, daß er ein ganz normaler Mann war, also kein Psychopath oder sonstwie abwegig Veranlagter. Wenn er es nicht sah, dann lag es ganz allein an ihm, Terence, weil er selber flüchtige Liebschaften angedeutet hatte – aber schließlich wäre selbst das nichts Ungewöhnliches für einen Junggesellen seines Alters. Auf einmal hatte er das schwindelerregende Gefühl, daß seine Lebensanschauungen und die des Inspektors gefährlich unterschiedlich waren, wobei der Inspektor gleichzeitig puritanischer und zynischer dachte. Der Inspektor hielt den Kopf über sein Notizbuch gebeugt, aber Terence ließ sich nicht täuschen. Er wußte, daß er genau beobachtet und jedes Zeichen einer Erregung seinerseits vermerkt wurde. Jetzt wandte Inspektor Quirke eine Seite um. „Wann wurden Sie geschieden, Mr. Lambert?“ Eine Minute lang konnte sich Terence nicht an das Datum erinnern, dann riß er sich zusammen. „Vor zehn Jahren“, stammelte er zu seiner eigenen Überraschung, denn gottlob gab es bei der Scheidung nichts, was man jetzt gegen ihn auslegen konnte. „Meine Frau ist mir davongelaufen“, erklärte er. „Sie hat einen Zettel auf dem Kaminsims hinterlassen, auf dem stand, daß sie mit Fred nach Birmingham gehen würde.“ „Fred?“ „Ihr Freund. Er spielte in einer Band.“ „Und jetzt leben die beiden in Birmingham?“ „Nicht mehr. Ich hörte, daß sie nach Kanada gegangen sind.“ „Haben sie geheiratet?“ „Ich glaube ja.“ „Und der neue Name Ihrer Frau?“ 163
„Williams. Aber warum fragen Sie das alles? Was hat meine Verflossene damit zu tun? Ich hab seit Jahren nicht mehr an sie gedacht.“ „Nur eine gewisse Kontrolle, Sir“, erklärte der Inspektor. „Der Sergeant hat Sie in den Akten als ledig vermerkt; ich meinte mich aber zu erinnern, daß Sie etwas von einer Scheidung gesagt hatten.“ Hatte er das? Unwahrscheinlich, aber genau wußte Terence es nicht mehr. Auf jeden Fall beschloß er, zum Angriff vorzugehen, obwohl etwas in seinem Gehirn ihm zuflüsterte, daß er sich wie eine in die Enge getriebene Ratte benehme. „Hören Sie, Inspektor“, begann er. „Wollen Sie es mir jetzt heimzahlen, weil dieser verdammte Anwalt mir vor Gericht jedes Wort im Mund herumgedreht hat, daß keiner mehr ein Wort von dem glaubte, was ich gesagt habe?“ „Wir können nicht beurteilen, ob jemand Ihnen geglaubt hat oder nicht“, entgegnete der Inspektor. „Allein was die Geschworenen glauben, das zählt.“ „Und die haben ihn freigesprochen“, sagte Terence heftig. „Und das heißt ja wohl, daß sie mir nicht abgenommen haben, was ich gesagt habe, und aus dem Grund schnüffeln Sie hier herum, fragen die Nachbarn über mich aus und kommen sogar in meine Firma. Sie wollen mir heimzahlen, daß ich Sie im Stich gelassen habe.“ Der Inspektor schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. „Es mag vielleicht so aussehen“, gab er friedfertig zu, „besonders für jemand, der nicht mit unseren Methoden vertraut ist. In Wirklichkeit handelt es sich allein darum, daß der Fall wieder aufgegriffen wird und wir jede Information noch einmal überprüfen, angefangen bei der Bezeichnung ‚ledig‘ hinter Ihrem Namen.“ „Eine geschiedene Person ist juristisch ledig“, behauptete Terence. „Juristisch vielleicht, aber für uns besteht ein Unterschied zwischen niemals verheiratet gewesen, verwitwet 164
oder geschieden. Aber ich bin nicht hergekommen, um Ihnen darüber einen Vortrag zu halten.“ „Warum sind Sie denn hergekommen?“ fragte Terence absichtlich unhöflich. „Hab ich das vergessen oder haben Sie bisher nichts davon erwähnt?“ Der Inspektor sah ihn an. „Hauptsächlich, um Sie nach Ihrem Kalender zu fragen.“ Nachdem der Inspektor gegangen war, versuchte sich Terence jedes Wort der Unterhaltung ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie, um Himmels willen, waren sie auf das Thema Scheidung gekommen? Dann erinnerte er sich, daß die scheinbar nebensächliche Frage des Inspektors, ob er allein lebe, dazu geführt hatte. War es Zufall gewesen oder hatte der Inspektor seine Reaktion vorausgesehen? Er hatte die Frage gestellt, obwohl er die Antwort wußte. Nichts geschah zufällig. Es war eine beängstigende Erfahrung, von einem Profi interviewt zu werden. Wie versprochen hatte er dem Inspektor nichts von Sylvia mitgeteilt, aber jetzt war er gar nicht mehr so überzeugt, daß er das Geheimnis auf ewig bei sich behalten konnte. „Wir müssen es ihm sagen“, teilte er Sylvia am nächsten Abend mit. „Er wird es sowieso herausfinden, und dann macht es einen besseren Eindruck, wenn wir ihm zuvorkommen.“ „Wieso wird er es herausfinden?“ verlangte sie zu wissen. „Du hast gestern die Nerven verloren, das war’s.“ Ihr Gesicht war dicht vor dem seinen, herausfordernd, und Terence stellte plötzlich fest, daß sie härter und um Jahre älter aussah. Gleichzeitig schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sie wohl nie seine Geliebte geworden wäre, wenn sie ihm am Tag ihres Kennenlernens diesen Gesichtsausdruck gezeigt hätte. Aber sofort schämte er sich, denn schließlich war es nicht Sylvias Schuld, wenn die niederdrückenden Umstände sie hatten altern lassen, und so beeilte er sich, sozusagen als 165
Reueakt, ihr zuzustimmen, daß er die Dinge wahrscheinlich zu schwarzsehe und es sicher nicht notwendig werden müsse, dem Inspektor irgend etwas zu erzählen. „Wahrscheinlich kriege ich ihn nie mehr zu sehen“, sagte er hoffnungsvoll lächelnd, aber Sylvia gab das Lächeln nicht zurück. Obwohl sie Terences Befürchtungen weit von sich gewiesen hatte, konnte sie sich selbst nicht überzeugen, daß sie nun alles überstanden hätten. Sylvia war völlig mit den Nerven herunter. Alles schien auf einmal schiefzugehen. Marions Zensuren ließen sehr zu wünschen übrig, und sie betonte dauernd, daß sie keinen Fuß mehr in die Schule setzen würde, wenn sie erst einmal sechzehn war. Julie schrieb tränenreiche Briefe nach Hause und bat um die Erlaubnis, schon nach sechs Monaten anstatt des vereinbarten ganzen Jahres wieder nach England heimkehren zu dürfen. Zu Weihnachten würde sie auf jeden Fall kommen, und Sylvia wagte gar nicht daran zu denken. Es würde zu höchst unerfreulichen Auseinandersetzungen kommen und möglicherweise auch zu Anschuldigungen. Nachts lag sie schlaflos in ihrem Bett und versuchte sich Gründe auszudenken, wie sie Julie fernhalten konnte; und wenn dann am nächsten Morgen wieder ein todunglücklicher Brief des Kindes da war, schlug sie sich mit Reue- und Schuldgefühlen herum. Edgar war eine weitere Sorge. Er fühlte sich nicht wohl. Er klagte oft über migräneähnliche Kopfschmerzen, und obwohl ihm der Arzt Tabletten verschrieben hatte, die, wenn rechtzeitig eingenommen, den Schmerz völlig vertrieben, war Edgar gereizt und depressiv, etwas, das Sylvia sonst nie bei ihm gekannt hatte. Wahrscheinlich sorgte er sich über das Vorhandensein dieser Kopfschmerzen, und seine Sorge steckte Sylvia an. Trotz allen Vernunftsgründen schwebten ihr Bilder von einem Gehirntumor oder Schlaganfall vor, einer frühzeitigen Arbeitsunfähigkeit Edgars oder sogar die Möglichkeit 166
seines Todes. Und vor der Witwenschaft hatte sie gräßliche Angst. Sie hatte zu viele Frauen ihres Alters als Witwen erlebt, unter der Einsamkeit, dem Verlust der sozialen Position und der finanziellen Notlage leidend. Dabei spielte die Überlegung, daß sie Terence heiraten könne, falls Edgar „etwas passierte“, so gut wie gar keine Rolle. Natürlich hatte sie flüchtig darüber nachgedacht, die Möglichkeit aber gleich wieder verworfen. Für sie verkörperte Terence den Inbegriff von Junggesellentum, Freiheit und Fröhlichkeit und einer gewissen Verantwortungslosigkeit – was gleichzeitig einen Reiz, aber auch eine Einschränkung in sich barg. So konnte sie sich Terence nicht als Ehemann vorstellen. Nein, ihr Ehemann war Edgar, und er war krank, was sie mit einer bohrenden Sorge erfüllte. Aber das schlimmste, was in der Zwischenzeit passiert war, war die Tatsache, daß die Frau von Edgars Bruder plötzlich ihren Mann, also eben diesen Bruder, verlassen hatte. Der Bruder war einige Jahre älter als Edgar, beide Eheleute waren in den Fünfzigern, mit drei erwachsenen Kindern, die selber schon wieder Kinder hatten. Seit dreißig Jahren hatten sie ein gutbürgerliches Leben geführt; Sylvia und Edgar sahen die beiden mehrmals im Jahr, dann unterhielten sich die Männer über geschäftliche Dinge und ihren Garten, während die Frauen Kochrezepte austauschten und sich ihre Einkäufe zeigten. Sylvia selber stammte aus einer lebhaften Familie, in der es zu lautstarken Familienszenen kam, aber man sich seine Zuneigung offen zeigte. Edgar hatte vor Jahren einmal bemerkt, daß die Glanvilles sich entweder stritten oder abküßten – was etwas ganz Normales für Sylvia war. Darum hatte sie die Mansons sehr wegen ihrer Höflichkeit und Zurückhaltung bewundert, bloß hatte sie diesem friedlichen Familienleben nie ganz getraut. Immer hatte sie auf eine Explosion gewartet oder auch nur auf einen Streit, aber nichts der Art war 167
gekommen. Die Mansons fuhren fort, sich mit gleichbleibender Höflichkeit zu behandeln, was Sylvia beinahe bedrückend fand. Doch dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß sich die beiden nur so perfekt benahmen, weil sie nicht tief genug füreinander empfanden. Ihre Ansichten und Gefühle waren korrekt, kontrolliert und lauwarm. Das traf im Grunde auch auf Edgar zu. Vor Jahren schon hatte sich Sylvia mit der Erkenntnis abgefunden, daß sie zwar einen musterhaften Ehemann hatte, dem es aber an Leidenschaft fehlte. Es kam nie vor, daß er seine Haltung verlor, aber ebensowenig war es ihm gegeben, einmal spontan seine Zuneigung zu zeigen. „Er tut sogar noch die Schuhspanner in die Schuhe, ehe er zu mir ins Bett kommt“, hatte sie nach einigen Monaten ihres Ehelebens mit ihm einmal ihrer Schwester anvertraut. Diese Schwester, deren Ehemann stets verschuldet war und kurz vor dem Bankrott stand, hielt ihr dann auch vor Augen, daß sie dafür aber an Edgar einen grundsoliden Mann habe, und obwohl Sylvia völlig mit ihr übereinstimmte, blieb Edgars Zurückhaltung ein ständiger Dorn in ihrem Fleisch – bis zu der Zeit, da sie Terence kennenlernte; dann wurde gerade diese Eigenschaft zu einer Sicherheitsgarantie. Aber ob Dorn oder Sicherheitsgarantie, Sylvia hatte längst gelernt, Edgars Charakter als unabänderlich hinzunehmen, und sie hätte jeden Eid darauf geleistet, daß sie seine Reaktionen zu jeder Situation voraussagen könnte. So war sie auch immer der Meinung gewesen, daß, sollte es jemals zu einem Drama kommen, dieses nur von ihrer Familie ausgehen würde. Ihre Familie hatte genügend an Aufregungen beigesteuert: der tatsächlich einmal erfolgte Bankrott ihres Schwagers, etliche in die Brüche gegangene Verlobungen, eine unglückliche Liebesgeschichte einer Nichte von ihr und ein Cousin, der 168
öfter als nötig mit der Verkehrspolizei zu tun hatte. Alles im Grunde belanglose Dinge, die zusammengenommen aber eine Reihe von Krisen ausgelöst und bei Sylvia das geheime Schuldbewußtsein hinterlassen hatten, daß ihre Familie sehr viel schlechter wegkam, wenn man sie mit der seinen verglich – die ein fortgesetzt ungetrübtes Leben führte. Bis dann Edgars Bruder Arnold eines Nachts bei ihnen erschien und ihnen mitteilte, daß ihn seine Frau vor drei Wochen verlassen habe, und zwar für immer. Dabei war nicht einmal ein anderer Mann im Spiel. Sie hatte sich einfach eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem südlichen Vorort gemietet und einen Job in der Stadtbücherei angenommen. Dies alles berichtete Arnold in seiner üblichen zurückhaltenden Art; nur die Tatsache seines überraschenden und nächtlichen Besuchs verriet das Ausmaß seines Betroffenseins. Er wies auch sofort Sylvias ehrliche Worte des Mitgefühls mit einem steifen: „Was vorbei ist, ist vorbei“ zurück. Er ist und bleibt ein trockener Stock, dachte Sylvia aufgebracht. Trotzdem versuchte sie es noch einmal. Als Arnold nach den zwei Whiskeys, die Edgar ihm aufgenötigt hatte, aufstand und erklärte, er müsse jetzt gehen, stand ihr das dunkle Haus vor Augen, in das er nun allein zurückkehren würde, und sie sagte impulsiv: „Bleib doch die Nacht bei uns.“ „Danke, Sylvia“, gab er zurück. „Das ist sehr lieb von dir, aber ich muß jetzt gehen. Ich habe noch Dinge zu erledigen.“ Die Milchflasche vor der Tür, der Thermostat, die Aktentasche für den Dienstantritt, dachte Sylvia unwillkürlich. Manchen Leuten war eben nicht zu helfen. Edgar begleitete seinen Bruder zur Tür, während Sylvia im Wohnzimmer aufräumte, die Gläser forttrug und die Kissen aufschüttelte. Als sie Edgar zurückkommen 169
hörte, sagte sie, ohne sich umzusehen: „Armer Kerl. Daß ihm so etwas passieren mußte. Es ist hart für ihn.“ „Es ist unerträglich!“ Das kam so laut heraus, daß Sylvia sich erschrocken umwandte. Er war blaß und hatte tiefe Ränder um die Augen. Sylvia merkte, daß er halb außer sich vor Zorn war und spürte einen angenehmen, erregenden Kitzel. „Dieses verdammte Weibsstück!“ schimpfte er. „Nach zweiunddreißig Ehejahren einfach davonzulaufen, nachdem er sich die Finger wund geschuftet hat, um sie und die Kinder zu ernähren. Davonzulaufen, wenn es ihr in den Kram paßt, und ihn einfach zurückzulassen!“ Die Bitterkeit der Erkenntnis schien ihn zu ersticken. Sprachlos hieb er die rechte Faust in die linke Handfläche. Obwohl Sylvia spürte, daß Gefahr in der Luft lag, mußte sie ihre Schwägerin verteidigen. „Wir haben ihre Seite der Geschichte noch nicht gehört“, sagte sie in vernünftigem Ton. „Sie muß schließlich irgendwelche Gründe gehabt haben.“ Er wischte ihre Worte beiseite, beinahe wörtlich, mit einer Handbewegung, wie man eine Fliege verscheucht. „Gründe!“ fuhr er hoch. „Was für Gründe könnte sie schon haben? Sie hatte alles, was sie sich wünschen konnte. Sieh dir nur das Haus der beiden an. Von allem das Beste, einen eigenen Wagen, keine finanziellen Schwierigkeiten. Mein Gott, die Frau ist vierundfünfzig! Und rennt davon wie ein verdammter Teenager – es ist nicht zu fassen!“ „Das will ich doch gerade damit sagen“, beharrte Sylvia. „Um all das aufzugeben, muß sie doch schwerwiegende Gründe gehabt haben.“ „Sie ist verrückt“, sagte Edgar kalt. „Und ich hab Arnold klipp und klar gesagt, wie er sich verhalten muß.“ „Und wie soll er sich verhalten?“ „Morgen zu seinem Anwalt gehen und sofort die Scheidung einreichen.“ 170
„Scheidung?“ wiederholte Sylvia fassungslos. „Aber sie ist doch erst seit drei Wochen fort. Ist das nicht zu früh, um gleich von Scheidung zu sprechen?“ „Er soll froh sein, sie loszuwerden“, sagte Edgar. „Eine Frau, die so etwas fertigbringt, nach mehr als dreißig Ehejahren … Nein, nein, jetzt muß er handeln, und zwar schnell, ehe sie es sich anders überlegt.“ „Du findest nicht, daß er sie wieder aufnehmen soll, wenn sie es möchte?“ „Wieder aufnehmen? Er wäre doch verrückt, so etwas zu tun.“ „Du glaubst wirklich, daß Arnold ihr nach so langen Ehejahren keine Chance gibt?“ Ein Schatten flog über Edgars Gesicht. „Wirklich, Sylvia“, sagte er kalt, „ich verstehe dich nicht. Du redest, als sei das Ganze nur ein Spiel. Wenn man etwas kaputtgeschlagen hat, kann man es nicht einfach wieder kitten.“ „Umgekehrt – du redest, als ob es sich um ein Spiel handelt“, rief Sylvia. „Ein Fehler, und man ist ’raus – wie beim Kricket. Aber im Leben geht das nicht so. Im Leben muß man die Stücke wieder aufsammeln, oder wenn du willst, den Ball, und weitermachen. Denn das Leben geht auch weiter.“ „Das Leben geht weiter, aber nicht unbedingt die Ehe“, sagte Edgar und streifte sie mit einem so feindlichen Blick, daß sie den Atem anhielt; auf einmal ging ihr auf, was das Thema für sie beinhaltete.. Ihr erster entsetzter Gedanke war: Er weiß über Terence und mich Bescheid, den sie aber dann sofort in: Er fürchtet oder ahnt vielleicht, daß da irgend jemand ist, verbesserte. Und sie begriff, daß seine heftige Reaktion auf die eben gehörte Neuigkeit eine unbewußte Warnung für sie war. Wenn er seiner Sache sicher ist, wenn er einen Beweis in der Hand hält, läßt er sich von mir scheiden, sagte sich Sylvia. Diese Erkenntnis erschütterte sie zutiefst; 171
jetzt erst ging ihr auf, daß sie in Wirklichkeit nie an eine solche Möglichkeit gedacht hatte. Sie hatte zwar oft genug zu Terence gesagt: „Ich setze meine Ehe aufs Spiel. Wenn Edgar dahinterkommt, läßt er sich scheiden“, und hatte dabei immer das Gefühl gehabt, ihre ehrliche Meinung zu sagen – dabei mußte sie aber im Unterbewußtsein die Überzeugung gehabt haben, daß Edgar sich nie zu einem so extremen Schritt würde hinreißen lassen. Jetzt erkannte sie mit eisiger Klarheit, daß Edgar sie kaltlächelnd des Ehebruchs bezichtigen würde und sie außerdem noch riskierte, das Sorgerecht für die Kinder genommen zu bekommen. Was vor wenigen Minuten noch eine Ungeheuerlichkeit gewesen war, war jetzt eine sehr reale Möglichkeit. „Margaret hat sich natürlich sehr falsch verhalten“, beeilte sie sich zu sagen; es war ein von Panik diktierter Rückzug, bei dem sie sich hinter der Front konventioneller Ehen anderer Leute verschanzte, dabei konnte sie nicht einmal entscheiden, ob Edgar ihren abrupten Frontwechsel wahrgenommen hatte. Ohne auf ihre Unterstützung einzugehen, fuhr er fort, seine Schwägerin und mit ihr alle anderen treulosen Ehefrauen bis spät nach Mitternacht zu verdammen. Er war schon lange eingeschlafen – er lag auf dem Rücken, und sein gleichmäßiger Atem hörte sich in Sylvias Ohren unversöhnlich und rechthaberisch an –, als sie noch immer angstvoll und erstaunt an die Risiken zurückdachte, die sie seit zwei Jahren auf sich genommen hatte. Wie leichtsinnig sie gewesen war, so unbekümmert alles das aufs Spiel zu setzen, was ihr als das Wichtigste erschien. Für was eigentlich? Für etwas, das sie, zurückdenkend, als ein abendliches Vergnügen abtun konnte? Selbst wenn sie an die hundert Male mit Terence zusammen gewesen war – was bedeuteten diese hundert Abende, verglichen mit einem langen Leben? Sich so leichtsinnig zu benehmen, war nur möglich ge172
wesen, weil sie nie an ein wirkliches Risiko geglaubt hatte. Sie war überzeugt gewesen, daß Edgar nie dahinterkommen würde, aber jetzt wußte sie, daß sie sich immer in dem tröstlichen Gedanken gewiegt hatte, daß nichts wirklich Schlimmes passieren würde, wenn er es tatsächlich einmal entdeckte. Wäre es dann doch einmal dazu gekommen, so hatte sie sich eingebildet, würde er gekränkt und wütend gewesen sein, es würde zu peinlichen Szenen gekommen sein, natürlich nur unter vier Augen, und danach hätte man weitergemacht wie immer, ohne daß jemand je von ihrem Seitensprung erfahren haben würde. Das hatte sie geglaubt, aber jetzt war diese Zuversicht erschüttert. Wie sie so im Dunkeln in ihrem Bett lag, mußte sie sich eingestehen, wie naiv sie gewesen war. Mit Gottes Hilfe – und der ihrer Schwägerin! – war sie sich der Gefahr rechtzeitig bewußt geworden. Und wo sie nun um Haaresbreite der Katastrophe entronnen war, durfte sie sich niemals wieder der Gefahr eines Entdecktwerdens aussetzen. Erschüttert und eingeschüchtert gelobte sie sich, Terence nie wiederzusehen, vielleicht höchstens noch einmal, in einer Bar oder einem Restaurant, um ihm alles zu erklären und von ihm Abschied zu nehmen. Ihre Augen füllten sich mit gefühlvollen Tränen, als sie an die Trennung von ihm dachte. Es gelang Terence, weiter gegen seine Niedergeschlagenheit anzukämpfen, aber schon wenige Tage später war der Inspektor wieder da, und diesmal hatte sich seine Haltung verändert. Jetzt gab es keine kleinen Scherze mehr. An diesem Abend kam der Inspektor sofort auf sein Thema zu sprechen. „Wir haben Grund zu der Annahme“, begann er in einem Ton, der ebenso steif-offiziell war wie seine Worte, „daß Sie sich am 17. Oktober letzten Jahres in der Nähe von Mill’s Pond befunden haben.“ 173
Terence sah ihn an. „Mill’s Pond?“ wiederholte er. „Wo soll das sein?“ „Dann waren Sie also nicht dort?“ „Wie soll ich wissen, ob ich dort gewesen bin, wenn ich keine Ahnung habe, wo Mill’s Pond liegt! Und außerdem – wer kann sich schon erinnern, wo er vor knapp einem Jahr gewesen ist? Sie sagten Oktober, nicht wahr? Damals hatte ich noch meinen Wagen und bin viel umhergefahren; es ist also möglich, daß ich durch Mill’s Pond gekommen bin, wo immer das auch sein mag.“ „Mill’s Pond liegt nicht weit von hier“, bemerkte der Inspektor. „Ein paar Meilen weiter nördlich. An der BusLinie nach Burton.“ „Ach so, Mill’s Pond !“ „Das habe ich ja gesagt, Sir.“ „Das ist ja eine Straße und kein Teich.“ „Ich hab auch nicht behauptet, daß es ein Teich sei.“ „Ist das nicht die Straße, wo das Mädchen gefunden wurde?“ Terences Stimme wurde leiser. „Es hat sich jemand bei uns gemeldet, der Sie dort gesehen hat. Was haben Sie dazu zu sagen?“ „Wieso? Was erwarten Sie, daß ich dazu sage? Außerdem – wer hat mich dort gesehen?“ „Waren Sie dort, Sir?“ „Nein. Natürlich nicht. Soweit ich weiß, bin ich nie dort gewesen. Ich kenne den Teil der Stadt überhaupt nicht. Ich hab dort nie etwas zu tun gehabt.“ Er mußte sich zwingen, nicht weiterzusprechen. Zuviel Protest war gefährlich. „Aha“, sagte der Inspektor und verabschiedete sich kurz danach. Terence wußte, daß man ihn einzukreisen begann. Er fühlte sich bedroht, eingeengt, und das bedrückendste von allem war, daß irgendeine gesichtslose Person zur Polizei gegangen war und behauptet hatte, ihn an diesem nebligen Abend vor einem Jahr dort gesehen haben 174
zu wollen. Wer konnte eine solche falsche Zeugenaussage machen? Log dieser Jemand oder handelte es sich nur um einen Irrtum? Die ganze Nacht lag Terence im Bett und hatte das Gefühl, von eiskalten Federn erstickt zu werden. Es war beinahe eine körperliche Wahrnehmung, und schließlich hielt er es nicht länger im Bett aus. Er warf die Decke beiseite, richtete sich auf und knipste das Licht an. So erleuchtet, sah der Raum wie immer aus, hatte aber nichts Tröstliches, im Gegenteil, das Alltägliche seiner Umgebung wirkte irgendwie finster. Wenn das, was ihm jetzt geschah, in einer fremden, exotischen Umgebung passiert wäre, wäre es erträglicher gewesen. Wie es jetzt aber aussah, hatte das Böse sein eigenes Heim erreicht. Er war in die Enge getrieben, nirgends gab es Sicherheit für ihn. Er zündete sich eine Zigarette an und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. In der Küche zog er die Blenden herunter, ehe er Licht machte, ertappte sich aber trotzdem dabei, wie er über die Schulter zurückschaute. Er hielt sein Glas unter die Wasserleitung, ohne abzuwarten, bis das Wasser richtig kalt lief. Es war dann auch lauwarm und schmeckte metallisch, trotzdem überwand er sich, es herunterzustürzen, beinahe wie ein Willensakt, eine Bestätigung seiner Selbstkontrolle, und dann zwang er sich, das Glas wieder auszuspülen, es abzutrocknen und wegzustellen. Als er den Schrank zumachte, hatte er auf einmal das Gefühl, neben sich selbst zu stehen und sich mit den Augen eines Fremden zu betrachten. Die ganze Situation war einfach absurd; er mußte sich frei machen und wieder wie ein normaler Mensch leben. Aber als er ins Bett zurückkehrte, konnte er immer noch nicht einschlafen. Am nächsten Tag versuchte er, Sylvia anzurufen. Er probierte es den ganzen Tag über, ohne daß sie an den Apparat kam, schließlich läutete er um sieben Uhr abends noch einmal durch. 175
„Ja? Wer ist da?“ meldete sie sich, und ihre Stimme klang angespannt, als erwarte sie eine schlechte Neuigkeit oder einen unwillkommenen Anrufer. „Ich bin’s, Sylvia. Terence.“ „Wieso rufst du um diese Zeit an?“ fragte sie in einem ärgerlichen Flüsterton. „Bist du wahnsinnig geworden?“ „Ich habe dich früher nicht erreichen können. Wann sehen wir uns wieder? Es ist jetzt beinahe eine Woche her.“ „Ich kann dich jetzt nicht sehen“, entgegnete sie hastig. „Ich kann dich nie wieder sehen. Begreifst du das nicht?“ „Sylvia!“ „Es ist vorbei“, zischte sie mit einer von Panik getriebenen Brutalität. Und dann unnatürlich laut und deutlich: „Tut mir leid, Sie haben eine falsche Nummer gewählt.“ Danach klickte es in der Leitung. Terence war wie vor den Kopf geschlagen. Sofort wählte er ihre Nummer noch einmal und noch weitere zehnmal innerhalb der nächsten Stunde, nur um immer das. Besetztzeichen zu hören. Es schien so, als habe sie den Hörer neben die Gabel gelegt. Am nächsten Morgen rief er wieder an, diesmal wartete er aber bis nach neun, damit Edgar und Marion auch das Haus verlassen hatten, aber sobald sie seine Stimme hörte, legte sie wortlos auf, und als er wieder durchwählte, hatte sie wieder den Hörer abgenommen. Der Gedanke, mit ihr sprechen zu müssen, wurde eine fixe Idee. In seinem aufgewühlten Geisteszustand bildete er sich ein, daß sie gemeinsam einen Ausweg finden würden, aber nur in ihrer beider Zusammenarbeit. Er ging auf die Straße und nahm sich ein Taxi, um zu ihr zu fahren. Ein paar Häuser vor dem ihren bat er den Fahrer, anzuhalten, und entdeckte, daß er kein Geld bei sich hatte. So mußte er einen Scheck für die lächerliche 176
Summe ausschreiben, und stellte später fest, daß er kein Trinkgeld hinzugefügt hatte. Sylvia erschrak sichtlich, als sie Terence auf der Straße auf sich zukommen sah. Sie hatte offensichtlich nicht die Absicht, mit ihm zu sprechen, wagte es andererseits aber nicht, zum Haus zurückzulaufen und die Tür hinter sich zuzuwerfen. So blieb sie stehen – jede Sekunde zur Flucht bereit. „Du hast dich nicht am Telefon gemeldet“, sagte er, als er auf Hörweite an sie herangekommen war – und hätte sich in derselben Sekunde ohrfeigen können, weil er den Satz in diesem entschuldigenden Ton hervorgebracht hatte. „Du hättest nicht herkommen dürfen“, sagte sie. „Man wird dich sehen. Die Nachbarn …“ „Na und? Du wirst doch ein paar Worte mit einem Bekannten wechseln dürfen, oder nicht?“ „Du bist mit einem Taxi gekommen. Man hat dich vielleicht ankommen sehen.“ „Ich bin nicht bis vor dein Haus gefahren. Und selbst wenn – was soll das alles? Wir sind ja wohl über den Punkt hinaus, wo diese Dinge ins Gewicht fallen.“ „Du vielleicht. Ich nicht.“ „Sei nicht lächerlich“, sagte er. „Herr des Himmels, wir haben schlimmere Sorgen, als uns darum zu kümmern, was die Nachbarn von uns denken.“ „Was für Sorgen?“ fragte sie eigensinnig, aber er ging darüber hinweg und berichtete ihr, was er sich ausgedacht hatte. „Wir müssen klaren Tisch machen“, sagte er. „Wir müssen unser Verhältnis zugeben, erzählen, daß du es warst, die den Überfall beobachtet hat – na ja, und alles andere. Ich bin lange genug mit einem dicken Kopf herumgelaufen, und ich sehe nicht ein, warum das so weitergehen soll, wenn wir alles erklären können. Du gibst mir ein Alibi für die betreffende Nacht 177
und mit etwas Glück auch noch für weitere Nächte oder Abende.“ „Was für Abende?“ „Na, solche, an denen Mädchen überfallen worden sind“, entgegnete er ungeduldig. „Soll das heißen, daß man glaubt, du hättest die Mädchen überfallen – und sogar ermordet?“ „Das hab ich dir doch schon neulich erklärt! Darum ist ja alles so beängstigend geworden. Aber nur keine Panik. Wenn wir nicht den Kopf verlieren, kriegen wir alles wieder hin.“ „Eine Gerichtsverhandlung ist eine teure Angelegenheit“, sagte sie. „Ich hab neulich mal gelesen, daß sie Tausende von Pfunden kostet. Ohne deine Aussage wäre der junge Mann nie verhaftet, geschweige denn vor Gericht gestellt worden.“ „Aber er ist schuldig!“ rief er. „Das weißt du selber ganz genau. Hast du nicht selbst gesagt, er sei der Mann, den du gesehen hättest? Hast du nicht behauptet, du seist deiner Sache absolut sicher?“ „Das liegt alles so lange zurück“, sagte sie. „Da kann man sich leicht irren.“ „Damals hast du aber etwas anderes gesagt.“ „Pst!“ machte sie und warf einen Blick in die Runde. „Gehen wir ein bißchen die Straße hinunter.“ Er fiel neben ihr in Schritt. „Das wirst du doch tun, ja?“ drängte er. „Du wirst zur Polizei gehen – ruf meinetwegen an, oder schreib ihnen, wenn dir das lieber ist. Du brauchst nur zu sagen, daß du bei mir warst und den Mann gesehen hast.“ Sie blieb stehen und sah ihn an. „Terence“, sagte sie. „Ich habe dir oft genug gesagt, daß ich nie im Leben vor der Polizei zugeben werde, daß du und ich … Ausgeschlossen.“ „Sylvia!“ „Du hast das gewußt“, sagte sie mit einer so ruhigen 178
Endgültigkeit, daß ihm der Atem stockte. „Ich hab es von Anfang an gesagt, und ich habe meine Meinung nicht geändert.“ „Aber Sylvia“, flehte er und mußte sich beinahe in Trab setzen, weil sie so schnell ging. „Sylvia, daraus erwächst dir doch keinerlei Gefahr. Henderson ist freigesprochen – er kann nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. Es wird also kein neues Verfahren geben, bei dem du aussagen mußt.“ „Nein“, sagte sie. „Nein, nein, nein.“ Er hatte das Gefühl, aufsteigende Hysterie in ihrer Stimme zu hören, und jetzt rannte sie beinahe, um von ihm wegzukommen. „Warte“, brüllte er. „Wenn du es ihnen nicht sagst, dann werde ich es tun. Ich werde auf der Stelle hingehen und alles beichten.“ Sie blieb stehen und sah sich zu ihm um. „Wenn du das tust, werde ich alles abstreiten. Ich werde ihnen sagen, daß du heute morgen zu mir gekommen seist – was ja auch stimmt –, um mich zu überreden, dir zuliebe irgendwelche Lügen zu erzählen. Ich werde schon jemand finden, der mir für den betreffenden Abend im Januar ein Alibi gibt – Madge Stevens tut es bestimmt, die wird sagen, ich sei bei ihr gewesen. Das hat sie schon ein paarmal gemacht, wenn ich bei dir gewesen bin. Und wie stehst du dann da?“ Sie hatte ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln um den Mund, und auf einmal haßte er sie. „Du verdammtes Miststück“, fauchte er. „Verfluchtes Weibsbild!“ „Wieso kommt die Polizei eigentlich auf den Gedanken, du hättest etwas mit den Morden zu tun? Vielleicht gibt es ja Dinge, von denen ich nichts weiß. Also, leb wohl, und laß dich nie wieder hier sehen.“ Sie hatte beinahe die Ecke erreicht. Dort lag der Bahnhof, und in der Ferne kam bereits der Zug. In zwei Minuten würde sie fort sein. Der Abstand zwischen ih179
nen wurde größer. Mit einem Sprung setzte er hinter ihr her und packte sie an der Schulter. Unter seinen Fingern fühlte er Stoff und Knochen. „Sylvia!“ schrie er. Ihre Augen blitzten ihn an. „Du tust mir weh, laß mich los!“ „Sylvia, du mußt mir helfen. Siehst du das nicht ein? Du mußt ihnen die Wahrheit sagen.“ „Nie“, beharrte sie. „Wie kannst du nur so selbstsüchtig sein?“ „Selbstsüchtig? Du bist selbstsüchtig – ein Monstrum an Selbstsüchtigkeit.“ „Da kommt der Zug“, rief sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. „Laß mich los!“ Er fühlte, wie sie von ihm wegstrebte, packte fester zu und glitt mit der Hand aufwärts, von ihrer Schulter auf ihren Hals zu. Auf einmal sah er Angst in ihren Augen aufleuchten und spürte plötzlich, wie ihn eine Woge des Machtbewußtseins durchlief. Ihr Atem kam jetzt in keuchenden Stößen. „Hilfe!“ kreischte sie. „Hilfe!“ Er drückte ihren Hals zusammen, um ihr Schreien nicht mehr hören zu müssen. Von Ferne hörte er herbeieilende Schritte, eine Pfeife schrillte, dann wurde er von rauhen Händen zurückgerissen, so heftig, daß er fiel. Durch einen sich verdichtenden Nebel hörte er sie sagen: „Dieser Mann hat mich gerade überfallen. Er hat mich von hinten angesprungen!“
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Svatopluk Zlámaný Kacenburger Sommer Zwei Kriminalerzählungen, DIE-Reihe 1. Auflage, etwa 227 Seiten, etwa 2,- Mark aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer
Leseprobe Jarolím kannte Zdeněk Boucký seit der gemeinsamen Schulzeit auf dem Gymnasium. Boucký war nach dem Abitur zur Polizei gegangen, inzwischen hatte er es zum Leiter der Kripo im Kreis Podhradí gebracht. Karol Jarolím hatte Jura studiert, für die Kriminalistik entschied er sich erst nach dem Wehrdienst. Weil sie alte Freunde waren, überlegten sie nicht lange, wer die größere Autorität besaß – Boucký hatte schon einen Stern mehr und bekleidete einen ansehnlichen Posten, Jarolím war als promovierter Jurist gleich bei der Prager Zentrale eingestellt worden. Schweigend beschlossen sie also, daß sie einander respektieren würden. Boucký, dessen Aufgaben in dem ruhigen Landkreis nicht besonders bunt und reich waren, blickte achtungsvoll auf Jarolím, der ein Bein gebrochen hatte, und wagte nicht einmal zu fragen, wie das passiert war. Prag ist eben Prag, dachte er, dort geht es lebhafter zu, vielleicht etwas zu lebhaft. Und Jarolím schwieg darüber – er war froh, daß ihm der Arzt erlaubt hatte, aus Prag wegzufahren und eine Kur in Podhradí zu machen, wo er im Parterre eines kleinen Hotels wohnte und nicht fünf Stockwerke in seine Wohnung steigen mußte. Jarolím verbrachte mehrere Abende mit Boucký. Bald merkte er, daß Boucký ein erfahrener Praktiker war, der seinen Kreis genau kannte. Dem Mann in der Provinz wiederum imponierte der Überblick, den Jarolím bei der Prager Zentrale gewonnen hatte. Boucký sagte nicht laut,
daß er nur nichtige Fälle hatte, gegen einfältige Diebe und kurzsichtige Betrüger ermittelte, und auch Jarolím verhehlte, daß es ihm kaum besser erging. In Podhradí gab es einfach keine anderen Straftaten, und dem Anfänger wurden in Prag keine größeren Fälle anvertraut. Bei dem provinziell geruhsamen Leben hatte Boucký jedoch nicht sein fachliches Wissen vergessen. Er betrachtete den erschossenen Burggrafen vorsichtig von allen Seiten und rief vom Balkon aus einen Wachtmeister herbei, der am anderen Turm stand. „Wieviel Mann hast du hier?“ fragte Jarolím. „Drei“, antwortete Boucký. „Einer ist im Streifenwagen geblieben, zwei habe ich in den Park geschickt, damit sich beim Schießen niemand dorthin verirrt.“ Boucký befahl dem Wachtmeister, niemanden an den Tatort zu lassen, und eilte zum Streifenwagen. Aus dem Park kamen schon die beiden Polizisten gelaufen. Sie mußten sich durch eine Menschenmenge zwängen. Viele Leute verließen in unsinniger Panik die Terrasse und den Park, als befürchteten sie, ebenfalls ermordet zu werden, während sich andere auf der Zugbrücke drängten und unbedingt auf den Schloßhof, am liebsten auf den Turm zu dem Toten wollten. Die Henkersknechte bewiesen beachtliche Geistesgegenwart, indem sie sich unterhakten und eine Kette bildeten. Es gelang ihnen auf diese Weise, dem Ansturm standzuhalten. „Niemand darf ’rein!“ schrie Boucký und übertrug mit einer energischen Handbewegung dem ersten Polizisten das Kommando über die freiwilligen Helfer in scharlachroten Uniformen. „Und auch niemand ’raus!“ rief er über die Schulter dem verwirrten Häuflein aus Lakaien, Bogenschützen, Fechtern und Musikern zu. Auf einer Steinbank am Tor saß der Narr, das Gesicht kalkweiß. Jarolím vermutete, daß sich der Mann gerade übergeben hatte und daß sich dasselbe wiederholen könnte. Der Regisseur des Festes und Hauptorganisator
des Kacenburger Sommers, der pensionierte Gymnasialprofessor Urban, beugte sich über den Narren und redete beruhigend auf ihn ein. Während die Zuschauer flohen oder möglichst viel sehen wollten, wirkten die Darsteller in ihrer starren Haltung, als spielten sie „Dornröschen“ und wären gerade von der bösen Fee in hundertjährigen Schlaf versetzt worden. Selbst der so unermüdliche Fotograf Dufek, der Leiter der Genossenschaft Fotex, stand still da, und es fiel ihm nicht ein, die vielleicht sehenswertesten Szenen aufzunehmen, die er je in Kacenburg vor die Linse bekam. Im Streifenwagen griff Boucký nach dem Telefon. Die Verbindung kam sofort zustande, doch mit dem Ergebnis war er nicht sehr zufrieden. Die Zentrale versprach ihm zwar, sofort alle freien Leute zu schicken, und die Besatzungen der drei Streifenwagen, die auf den Landstraßen des Kreises Podhradí patrouillierten, würden alle notwendigen Spezialisten aufsuchen und zum Tatort bringen, aber man würde diese Spezialisten erst lange und mühsam in Gärten, Gaststätten, Badeanstalten und Wäldern aufspüren müssen. „Hätte ich nicht lieber das Tor schließen sollen?“ fragte Boucký unschlüssig, als er aus dem Wagen stieg und zum Parkausgang blickte, aus dem sich ein lauter Besucherstrom wälzte. „Das darfst du nicht mal“, antwortete Jarolím. „Es gibt einen Paragraphen gegen Freiheitsberaubung.“ „Einen Paragraphen!“ erwiderte Boucký abschätzig. „Was würdest du denn tun?“ „Darf ich?“ fragte Jarolím. „Du bist hier der Herr.“ „Was meinst du?“ Jarolím stieg in den Wagen und schaltete den Lautsprecher ein. Er wartete einen Moment, bis sich der Apparat erwärmt hatte, und nahm das Mikrofon vom Armaturenbrett. „Bürger“, erschallte seine Stimme aus dem Lautspre-
cher auf dem Wagendach. „Sie haben keinen Grund zur Panik, gehen Sie in Ruhe heim, Ihnen droht keine Gefahr. Wir bitten aber alle, die sachdienliche Hinweise zur verübten Tat geben können, zu unserem Wagen zu kommen. Das ist Ihre gesetzliche Pflicht.“ Boucký stand am Auto und gebärdete sich skeptisch. Aus dem Strom löste sich tatsächlich kein einziger Zeuge, alle sahen sich nur nach dem Streifenwagen um und drängten sich verwirrt durchs Tor. „Komm …“, sagte Boucký nach wenigen Minuten. Jarolím gab seinen Mißerfolg zu und kehrte mit Boucký zurück ins Schloß. Auf der Galerie wartete der Arzt. „Brauchen Sie mich noch?“ begrüßte er Boucký. „Ich kann nicht mehr helfen, der Tod ist sofort eingetreten.“ „Ich hätte nie geglaubt“, sagte Boucký auf der Schwelle, „daß man jemanden mit einem Pfeil töten kann. Korsa war doch ziemlich dick angezogen.“ „Stimmt“, meinte der Arzt, „aber sehen Sie, wie eng sein Wams ist oder wie das heißt. Hätte er einen losen Mantel getragen, wäre der Pfeil gebremst worden.“ Jarolím nutzte gleich die Kenntnisse, die er in der erzwungenen Freizeit erworben hatte, und erklärte: „Irgendwo habe ich gelesen, daß im Mittelalter ein Bogenschütze aus hundert Metern Entfernung einen Ritter aus dem Sattel werfen konnte, indem er ihm die Beine durchbohrte.“ „Holen Sie die Bogenschützen“, wandte sich Boucký an den dritten Wachtmeister, der ihm wie eine Ordonnanz gefolgt war, „bringen Sie die Männer hier irgendwo unter, und bleiben Sie bei ihnen, damit sie untereinander nicht viel reden. Und der Regisseur soll herkommen, Professor Urban.“ Jarolím sah sich inzwischen um. „Ist dir etwas aufgefallen?“ fragte Boucký. „Mir brummt schon der Schädel“, bekannte Jarolím.
„Man konnte ihn von dort unten treffen. Am ehesten vom Standpunkt des dritten, vierten, sechsten und siebenten Schützen.“ Er zeigte auf den leeren Platz vor dem Schloß. Von der Stelle, wo Korsa in dem verhängnisvollen Augenblick gestanden hatte, waren vier der neun weißen Kreise gut sichtbar. „Außerdem aus dem Schloßhof und den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite.“ „Dort war niemand“, wandte Boucký ein. „Sicher kannst du das leicht beweisen“, erwiderte Jarolím grinsend. „Und dann von dort!“ Er deutete auf die Galerie über dem Tor, die zum Prinzessinnenturm führte. „Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, daß der Mörder über die Köpfe der Zuschauer hinweg aus dem Park geschossen hat.“ „Sieh mal, wie er daliegt“, sagte Boucký. „Leider wissen wir nicht, wie er gefallen ist.“ „Den Pfeil hätte jemand sehen müssen.“ „Bestimmt? Alle haben nur auf das Wettschießen geachtet.“ „Das glaube ich nicht.“ „Ich will dir nichts einreden“, sagte Jarolím lächelnd, „übrigens beneide ich dich nicht.“ „Du machst mit!“ erwiderte Boucký sofort. „Du hast genug gefaulenzt!“ „Ich bin nicht von hier“, wehrte Jarolím ab, obwohl er ungeduldig auf Bouckýs Aufforderung gewartet hatte. „Abgemacht!“ erklärte Boucký im Befehlston und deutete damit an, daß er immerhin ein Sternchen mehr hatte. „Wir setzen uns dort ’rein.“ Die Tür von Korsas Büro war nicht verschlossen. Jarolím nahm eine Rolle Packpapier aus dem Schrank und breitete einen Bogen auf dem Schreibtisch aus. „Wollen wir uns vorläufig hier einrichten?“ „Fingerabdrücke? Du denkst, der Mörder …“ „Vorsicht kann nie schaden.“ Sie setzten sich, und Boucký schlug den Notizblock
auf, den er aus dem Streifenwagen mitgenommen hatte. „Wieviel Verdächtige haben wir?“ „Wie Sand am Meer. Zuerst neun Bogenschützen.“ Boucký schrieb an den Rand einer leeren Seite die Zahlen eins bis neun und fuhr fort: „Dann sechzehn Fechter, acht Posaunisten, die Prinzessin, den Narren, den Regisseur, außerdem den Maskenbildner, und hier haben sich auch der Fotograf, die Henkersknechte und ein Dutzend Lakaien herumgetrieben. Noch jemand?“ „Das reicht vorläufig“, sagte Jarolím. „Wer ist eigentlich dieser Narr?“ „Der Lackierer Benedikt. Eifriger Laienschauspieler, Sonntagsmaler, Vorsitzender des Anglerverbands, achtundvierzig oder fünfzig Jahre, verheiratet, zwei Kinder, nicht vorbestraft. Zufrieden?“ „Ist er Bogenschütze?“ „Sogar ein erstaunlich guter“, bestätigte Boucký. „Die Bogenschützen kenne ich alle. Benedikt kommt nicht in Betracht.“ „Warum?“ „Hast du seine Pfeile gesehen? Sie waren gestreift, damit sie nicht mit den Treffern der Wettkämpfer verwechselt werden konnten.“ „Ein Pfeil mehr hätte ihm gereicht.“ „Er hatte doch nicht den geringsten Grund …“ „Du mußt das wissen, du bist von hier“, sagte Jarolím feixend. Auf den Arkaden erklangen Schritte. Der Wachtmeister brachte Professor Urban. Boucký deutete auf einen freien Stuhl. „Setzen Sie sich, Herr Professor. Irgendwo müssen wir anfangen, deshalb beginnen wir mit den Bogenschützen. Nennen Sie uns die Männer in der Reihenfolge, in der sie auf den Platz kamen.“ „Bitte sehr“, sagte Urban seufzend. „Die Eins war Herr Vyskočil, Alois Vyskočil, aber ihn haben wir nur der Voll-
ständigkeit halber genommen. Der Mann in der Hussitentracht, erinnern Sie sich?“ „Was bedeutet der Vollständigkeit halber?“ fragte Jarolím. „In Podhradí gibt es nur sieben Bogenschützen einschließlich Herrn Benedikt. Damit es besser aussah, einfach aus Gründen der Regie, haben wir drei Männer dazugenommen.“ „Was ist dieser Vyskočil?“ „Von Beruf? Taxifahrer. Herr Korsa selber hat ihn gebeten, bei uns mitzumachen.“ „Gut. Die Zwei?“ „Der Gascogner Kadett, Antonín Mach, Einkäufer in der Textilfabrik. Ein richtiger Bogenschütze. Die Drei …“ Urban blickte zu Boucký auf, ob die Antwort ausreiche, und fuhr dann fort: „Der Postillion …“ „Einer von den besten Schützen“, bemerkte Jarolím. „Überhaupt der beste“, berichtigte ihn Urban. „Kamil Bouček, Erdkundelehrer in der Grundschule. Die Vier hatte Jiří Král, ein Fotograf von Fotex, aber er war nur eingesprungen, mit ihm haben wir vorher gar nicht gerechnet.“ „Der Leutnant, nicht wahr“, meinte Boucký. „Warum nicht gerechnet?“ „Ich habe ihn wortwörtlich im letzten Moment anstelle von Herrn Berger geholt, František Berger“, wandte er sich erklärend an Jarolím, „Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof. Er hat mir erst heute früh gesagt, daß er außerplanmäßig Dienst hat.“ „Král hat vorher nie geschossen?“ „Nein. Er hat vormittags im Park geübt, weil er sich nicht vor der ganzen Stadt gar zu lächerlich machen wollte.“ Jarolím achtete darauf, daß sein Nicken gleichgültig aussah. „Der fünfte“, berichtete Urban weiter, „der Mann in
der österreichischen Beamtenuniform, war Milan Suchý, ein Elektromechaniker, ein richtiger Bogenschütze. Der sechste, der als Teufel ging, war Lubomír Veverka, ein Bulldozerfahrer, er war auch nur zusätzlich da. Die Sieben, der Admiral, war der Buchhändler Václav Kulhavý, er ist ein richtiger Bogenschütze. Der Mann im Badeanzug, der den Flügel abgeschossen hat, war mein Kollege Professor Ceněk Pazderka, Sport- und Mathematiklehrer, der Trainer unserer Bogenschützen. Die Neun, den Diplomaten, kennen Sie sicher“, sagte er zu Jarolím, „er ist der Direktor des Hotels, in dem Sie wohnen. Ludvík Kubata.“ „Ich habe ihn nicht erkannt“, gestand Jarolím. „Gute Arbeit von Herrn Wetengel“, sagte Urban lächelnd. „Herr Wetengel war Friseur, jetzt ist er Rentner, aber er macht bei uns den Maskenbildner. Wie Sie sehen, erfolgreich.“ Drei und vier, sechs und sieben, überlegte Jarolím. Der Gymnasialprofessor Bouček und der Fotograf Král, dann der Bulldozerfahrer Veverka und der Buchhändler Kulhavý. Boućek und Kulhavý sind Bogenschützen. Den günstigsten Platz hatten der Hotelchef Kubata, der Sportlehrer Pazderka und Bouček.