Theresa Wobbe · Ingrid Biermann Von Rom nach Amsterdam
Theresa Wobbe Ingrid Biermann
Von Rom nach Amsterdam Die Meta...
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Theresa Wobbe · Ingrid Biermann Von Rom nach Amsterdam
Theresa Wobbe Ingrid Biermann
Von Rom nach Amsterdam Die Metamorphosen des Geschlechts in der Europäischen Union
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15323-0
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen
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Verzeichnis der Abkürzungen
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Einleitung: Gleichberechtigung im supranationalen und globalen Kontext 1 Der historische, supranationale und globale Kontext 2 Theoretische Perspektiven und Argumentationslinien 3 Transformationen des Geschlechts: Ist das Glas halb voll oder halb leer? 4 Der institutionalistische Untersuchungsrahmen 5 Aufbau des Buches
11 13 16 19 21 27
Kapitel 1 Nationalstaat, Geschlecht und supranationale Gleichberechtigungsnormen Einleitung 1.1 Auf den Leib geschrieben: Das moderne Differenzkonzept 1.2 Die De-Institutionalisierung der Differenz 1.3 Gleichheit vor Gericht: Recht und Gleichbehandlung in der Europäischen Union 1.4 (Staats-)Bürgerschaft: Formen nationaler und supranationaler Inklusion 1.5 Zusammenfassung
31 31 33 38 40 45 49
Kapitel 2 Zur Genese des supranationalen Gleichheitsskripts: Lohngleichheit im Kontext des Gemeinsamen Marktes und internationaler Sozialstandards Einleitung 2.1 Das erste supranationale Versuchsfeld: Die Montanunion 2.2 Das Laboratorium der neuen Marktordnung: Der Ausschuss für den Gemeinsamen Markt 2.3 Die internationale Einbettung: Die Stimme der ILO
51 51 54 57 61
5
2.4 Multiple Autorenschaft: Die vertragliche Formulierung der Entgeltgleichheit 2.5 Zusammenfassung
66 73
Kapitel 3 Die Stabilisierung des Geschlechterskripts: Gleichberechtigung im Medium der sozialwissenschaftlichen Expertise und des Rechts Einleitung 3.1 Was bedeutet Lohngleichheit und wie kann sie bestimmt werden? 3.2 Die Deutungskompetenz der Kommission: Der Bericht Sullerot 3.3 Die Rechtsprechung im supranationalen System: Die Zäsur in der Rechtssache Defrenne 3.4 Die Institutionalisierung der Gleichberechtigungsnormen: Die Richtlinien der 1970er Jahre 3.5 Zusammenfassung
77 77 79 87 92 96 102
Kapitel 4 Die Initiierung einer Strukturebene für Gleichberechtigung im Kommissionsbereich und im Europäischen Parlament Einleitung 4.1 Wachstum des Systems: Neukonfiguration, Erweiterung, Vertiefung 4.2 Kommissionsinitiativen zum Aufbau einer Strukturebene für Gleichberechtigung 4.3 Politikerinnen für Gleichberechtigung im Europäischen Parlament 4.4 Zusammenfassung
105 105 107 110 113 123
Kapitel 5 Gleichberechtigung im Sog des Binnenmarktes: Soziale Mindeststandards in der europäischen Wettbewerbsregion Einleitung 5.1 Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt 5.2 Das Sozialprotokoll des Maastricht-Vertrags und die Idee des sozialen Europa 5.3 Die neuen Richtlinien im Binnenmarkt: Mindeststandards und Rahmenvorgaben 5.4 Zusammenfassung
6
127 127 129 135 140 146
Kapitel 6 Die Neuausrichtung von Amsterdam: Neuformatierungen der Geschlechtergleichheit und die Ausweitung des Diskriminierungsverbots Einleitung 6.1 Der Stein des Anstoßes: Quotenregelung als Diskriminierung 6.2 Chancengleichheit auf dem Weg zur Regierungskonferenz 6.3 Frauenrechte im Menschenrechtsdiskurs der UNWeltfrauenkonferenzen 6.4 Die Neuausrichtung der Gleichheitsnormen im Vertrag von Amsterdam 6.5 Zusammenfassung
151 151 153 156 160 165 172
Zusammenfassung und Ausblick
175
Danksagung
187
Anhang: Quellen und Literatur
189
Register
213
7
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1 Tabelle 1 Grafik 1 Grafik 2 Grafik 3 Tabelle 2 Grafik 4 Tabelle 3
Analyseschema der institutionellen Entwicklung supranationaler Geschlechtergleichheit Vertragsverletzungsverfahren gegen die Mitgliedstaaten auf Grundlage der Gleichbehandlungsnormen, 1982-2008. EuGH-Verfahren: Häufigkeit der Bezugnahme auf die verschiedenen Gleichbehandlungsnormen, 1971-2008 EuGH-Entscheidungen: Gleichbehandlung mit Normbezug im Zeitverlauf, 1971-2008 Gleichberechtigungsrichtlinien im Zeitverlauf, 1975-2006 In einzelnen Sozialrichtlinien enthaltene Standards, 1975-2002 Einflussfaktoren auf das supranationale Geschlechterskript Übersicht EG-Richtlinien im Bereich der Geschlechtergleichheit, 1975-2006
27 97 100 101 102 147 178 209
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Verzeichnis der Abkürzungen
ABl. Abs. Art. CEDAW
Amtsblatt der EG Absatz Artikel Übereinkommen der UN zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau EAG Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) EEA Einheitliche Europäische Akte EFTA European Free Trade Association EG Europäische Gemeinschaft(en) EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGV Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EP Europäisches Parlament EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EUV Vertrag über die Gründung der Europäische Union EURATOM Europäische Atomgemeinschaft EurLex Datenbank zum Europarecht EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWL European Women’s Lobby GASP Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik GATT General Agreement on Tariffs and Trade GD Generaldirektion ILO International Labour Organization MRK Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN OECD Organisation for Economic Co-operation and Development OEEC Organisation for European Economic Co-operation PJZS Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Rn Rundnummer RL Richtlinie UN United Nations VO Verordnung
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Einleitung: Gleichberechtigung im supranationalen und globalen Kontext Theresa Wobbe und Ingrid Biermann Diese gänzlich unerwartete Verwandlung Europas – von einem (ziemlich belasteten) geographischen Begriff zu einem Vorbild und Magneten für Menschen und Länder – war ein allmählicher Prozess […]. 1945 hätte niemand Europas Entwicklung vorhergesagt, nicht einmal 1975. Dieses neue Europa war kein gemeinsam ausgearbeitetes Projekt, niemand nahm sich vor, es zu verwirklichen. 1 Tony Judt
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Metamorphosen des Geschlechts in der Europäischen Union. Unser Ausgangspunkt ist, wie trotz der geschlechterpolitischen Stille in den 1950er Jahren die Lohngleichheit für Frauen und Männer verankert werden konnte und welchen Wandel diese Vorgabe seitdem in der EU2 erfahren hat. Als am 25. März 1957 sechs westeuropäische Staaten die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) gründeten, verpflichteten sie sich zum „Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit“ (EWGV Art. 119) im Gemeinsamen Markt.3 Von der Nachkriegszeit bis heute hat dieser Grundsatz verschiedene Umgestaltungen erfahren. Er ist in Verträgen verankert, rechtlich neu interpretiert, sozial differenziert und politisch ausgewei1
Judt 2006: 23. Die Europäische Union (EU) ist die im Vertrag von Maastricht 1992 (EUV) gegründete und durch den Amsterdamer Vertrag (1997) sowie den Vertrag von Nizza (2001) fortentwickelte Klammer zwischen den zwei Europäischen Gemeinschaften (EG und EAG) und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Die EU besteht somit aus supranationalen (Europäische Gemeinschaft, EG) und intergouvernementalen Komponenten, die durch das sog. Kohärenzgebot miteinander verbunden werden. Unter dem Mantel des Maastrichter Vertrages werden die Säulen der supranationalen Integration (EGV) und der intergouvernementalen Kooperation (EUV) miteinander verbunden (vgl. Graig/De Búrca 2008; Haratsch et al. 2006; Streinz 2005). Im Folgenden wird die Bezeichnung „EU“ vorwiegend dann verwendet, wenn dieser Verbund behandelt wird. 3 Die Römischen Verträge umfassen neben dem Vertrag über die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) den Vertrag über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS, auch Montanunion) und über die „Europäische Atomgemeinschaft“ (EAG bzw. Euratom). 2
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tet worden, so dass sich das Verständnis und die Bedeutung von Geschlechtergleichheit gewandelt haben. War zunächst vom gleichen Lohn die Rede, wird diese Vorgabe 20 Jahre später als Chancengleichheit in Bildung und Beruf konkretisiert und inzwischen begründet das Lohngleichheitsprinzip ein „echtes EGMenschenrecht“.4 In den ersten zwei Jahrzehnten wird in der Gemeinschaft geräuschlos und ohne viel Aufsehen an der Umsetzung der Lohngleichheit gearbeitet. In der Mitte der 1970er Jahre setzt der Aufbau eigener Strukturen für Gleichberechtigung innerhalb des supranationalen Systems ein. In der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) wird 1979 Geschlechtergleichheit schon eines der europäischen Wahlkampfthemen.5 Anfang der 1990er Jahre gelangt die Gleichberechtigung in eine zweite Phase und wird zunehmend programmatisch vorangetrieben. Im Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 weisen die Gleichheitsnormen über den Bereich der Beschäftigung hinaus und reichen bis zum Grundrecht des Diskriminierungsverbots.6 Die Gleichstellung firmiert nun prominent unter den Aufgaben der Gemeinschaft, die diese in allen Politikfeldern fördern will. Heute schließt Gleichbehandlung Sanktionen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein, umfasst aber auch Regelungen, die über den Arbeitsmarkt hinausgehen, etwa das Verbot von geschlechtsspezifischen Tarifen bei Krankenkassen oder Lebensversicherungen (vgl. Graig/DeBurcá 2008; Ellis 2005). Auf dem Weg von Rom nach Amsterdam sind Vorgaben verankert worden, die in verschiedener Hinsicht historisch einzigartig sind. An diesen wird deutlich, dass die EU bei der (Geschlechter-)Gleichheit in vielen Bereichen die Regie selbst übernommen hat und dabei den Mitgliedsländern gegenüber erhebliche Autorität besitzt. Unsere Ausgangsfrage ist, wie diese bemerkenswerte Entwicklung zu erklären ist und wie sich die EU zum Motor für die Geschlechterpolitik entwickeln konnte. Wir fragen, unter welchen Voraussetzungen Gleichheit auf der suprana4 Haratsch et al. 1999: 238, Rn. 583. Der Lohngleichheitsgrundsatz nach Art. 141 EG (ex Art. 119) setzt keine Staatsangehörigkeit zu einem Mitgliedstaat oder einen Wohnsitz in einem der Mitgliedstaaten voraus. Eine Schweizer Arbeitnehmerin mit ausschließlichem Wohnsitz in Basel, die tagsüber im deutschen Lörrach arbeitet, kann sich bspw. auf diese Vorgabe berufen. 5 Das EP bleibt für mehr als ein Jahrzehnt die einzige supranationale Organisation mit nennenswertem Frauenanteil. Vgl. Klein 2007: 37ff.; Vallance/Davies 1986; unter dem Gesichtspunkt des Gender Mainstreaming vgl. die Beiträge in Beveridge/Shaw 2002; die ersten beiden Kommissarinnen hat die Kommission unter Jacques Delors 1989-1992 (vgl. Vleuten 2007: 185, Abb. 6.1). 6 Zusätzlich zum Lohngleichheitsgrundsatz aus dem Jahre 1957 sind inzwischen fünf weitere Artikel in den Vertrag von Amsterdam aufgenommen und außerdem 11 geschlechterpolitisch wichtige Richtlinien erlassen worden. Es handelt sich um die Art. 2, Art. 3, Abs. 2, Art. 3, Art. 13, Art. 137, Art. 141 (ex 119) im Vertrag von Amsterdam; vgl. zu den Ambivalenzen und faktischen Auswirkungen Rust 2005.
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tionalen Ebene zum Thema wird, während sich in den Mitgliedstaaten geschlechterpolitische Themen noch im Winterschlaf befinden, wie diese institutionelle Weichenstellung historisch eingebettet und an welchen Vorbildern sie orientiert ist: In welchem Zusammenhang steht die Gleichberechtigung mit dem Projekt des Gemeinsamen Marktes und den institutionellen Vorgaben, die zu dessen Realisierung geschaffen werden? Wir untersuchen in diesem Buch die Erfolgsbedingungen für (Geschlechter-)Gleichheit im Kontext der supranationalen Strukturbildung.
1
Der historische, supranationale und globale Kontext
Auf dem Pfad von Rom nach Amsterdam sind Normen durch eine Rechtsprechung verankert worden, die historisch als neuartig gilt. In zunehmendem Maße werden Gleichheitsansprüche auf einer supranationalen Strukturebene für beide Geschlechter etabliert, die diese auch gegen ihren nationalen (Rechts-)Staat geltend machen können (vgl. Alter 2001; Cichowski 2007; Ellis 1998, 2005). Die herkömmlichen Grundlagen der Sozialintegration bzw. die nationalen Arrangements für Inklusion werden daher aufgebrochen und destabilisiert (vgl. Wobbe 2001). In der Literatur stehen oft die Beschränkungen und Borniertheiten der Gleichheitsnormen im Vordergrund und deren minimalistischer Charakter wird hervorgehoben. Hingewiesen wird auf die ungenügende Berücksichtigung der Verbindung von Familie und Beruf (vgl. Lewis 2006, 1993; Ostner/Lewis 1998), auf das Schattendasein geschlechterpolitisch brisanter Themen wie Gewalt (vgl. Klein 2006; vgl. Fuhrmann 2005) und dass vieles auf dem alten Gleis weiterläuft, weil die nationale Umsetzung dieser Normen zudem auf halbem Wege stecken bleibt (vgl. Ostner 1995). Wir wählen einen anderen Blickwinkel und stellen die supranationalen Normen als ein neu entstehendes Phänomen in den Vordergrund. Aus dieser Sicht ist die Einführung von Geschlechtergleichheit in der EWG alles andere als selbstverständlich. Angesichts einer europäischen Tradition, in der die Geschlechterdifferenz, insbesondere auch auf dem Arbeitsmarkt, eine Chiffre für Ungleichheit war und auch weiterhin ist7, stellt sich die Verankerung von Lohngleichheit nach 1945 keineswegs als zwingend dar, vielmehr ist sie sozial voraussetzungs7 Die Ungleichheit des Lohns stellt nach wie vor ein aktuelles und brisantes Thema in der EU dar; vgl. Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. „Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles.“ KOM (2007) 424 endg.. URL: http://eur-lex.europa. eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0424de01.pdf, letzter Zugriff, 7.6.2008.
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voll. Aus diesem Grund fragen wir nach ihren unwahrscheinlichen Entstehungsbedingungen und untersuchen, wie der Lohngleichheitsstandard historisch eingebettet ist und zunächst ohne frauenpolitische Akteurinnen Eingang in die Römischen Verträge finden konnte. Der 25. März 1957 ist ein historisch kontingentes Datum in der Geschichte der Geschlechtergleichheit. Unter etwas veränderten Bedingungen hätte vieles durchaus anders verlaufen können – und der Zug der Gleichberechtigung ist seit 1957 auch immer wieder, oftmals über längere Zeiträume, angehalten worden. Gleichwohl sind das Gründungsdatum und seine Folgen nicht beliebig. Die Gleichheitsnormen sind während der 1950er Jahre insgesamt in die Strukturverschiebungen eingebettet, die mit dem Zusammenbruch der europäischen und der Re-Organisation der internationalen Ordnung in Verbindung stehen, aus denen neue regionale Verbünde erwachsen. Hierzu zählt in der europäischen Region die EWG, die einen Gemeinsamen Markt anstrebt, für dessen Etablierung eigene Organisationen mit spezifischen institutionellen Vorgaben geschaffen werden. Das neuartige supranationale Geschlechterkonzept, dies ist die erste These des Buches, lässt sich nur mit Blick auf jene Konstellation entschlüsseln, in der es mit der Entstehung der supranationalen Ordnung sowie mit den tief greifenden Verschiebungen verknüpft ist, die während der Nachkriegszeit in einem globalen Kontext zur Herausbildung von Gleichberechtigung führen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden weltweit Prozesse statt, die die nationalstaatlichen Arrangements der Geschlechter relativieren und zu ihrer De-Institutionalisierung beitragen (vgl. Berkovitch 1999a, b; Heintz et al. 2006). In diesen weit verzweigten und komplexen Transformationsprozessen spielt die EU eine bemerkenswerte Rolle. Sie ist „a major catalyst in the generation and extension of national sex equality laws to protect the rights of working women. In short, the Community delivered a ‚shock‘ to national policy systems and helped to create a new policy area at the national level.“ (Mazey 1998: 131)
Die EU stellt somit ein Scharnier bei der weltweiten Verbreitung der Gleichberechtigung dar. Im Binnenverhältnis errichtet sie eine eigene Strukturebene für Gleichheitsnormen, die im Außenverhältnis in ein globales institutionelles Feld eingebunden ist (vgl. Wobbe 2001, 2003a). Aus der Sicht der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie wird diese Außenseite als world polity bezeichnet, als eine übergreifende, globale Bezugsebene, die nach 1945 ausgebaut wird. Zu den Normen und Standards dieser institutionellen Ordnung zählen auch die Gleichberechtigungsnormen. Diese sind Bestandteil des kulturellen Kerns der Weltebene, d.h. sie werden in Organisationen, internationalen rechtlichen Ab-
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kommen und wissenschaftlicher Expertise verankert (vgl. Meyer et al. 2005: 95, 102ff.). Die Einführung der Geschlechtergleichheit in die supranationale Strukturbildung vollzieht sich während der Nachkriegszeit in diesem globalen Erwartungshorizont. Im Binnenverhältnis stellt sich aus historisch-institutionalistischer Sicht die EWG als der Beginn eines neuen Pfades dar (vgl. Pierson/Leibfried 1998). Es erfolgt eine Strukturbildung, die sich unter anderen Bedingungen als der europäische Pfad des Nationalstaats vollzieht und die andere Leitvorstellungen mit sich bringt. Es handelt sich nicht um ein nation-building, in dem die Staatsorganisation mit einer sozialen Bezugseinheit verknüpft wird, die als kulturelle Gemeinschaft vorgestellt wird (vgl. Anderson 2005; Bendix 1964). Mit der EWG wird vielmehr ein Prozess des market-building in Gang gesetzt, also die Kreation einer neuartigen Marktordnung, zu deren Umsetzung die konstituierenden Nationalstaaten ihre Rechte in beschränktem Umfang einer übergreifenden Gemeinschaft übergeben. Neben den vielen feinen Unterschieden zwischen diesen beiden Projekten fällt der ins Auge, dass die EWG-Strukturbildung nicht an die ‚funktionsfähige Fiktion’ (Hahn 1993) der kulturellen Homogenität der Nation gekoppelt ist. Die systembildende Triebkraft liegt nicht in der Herstellung einer kulturellen InnenAußen-Differenz, sondern in der Erzeugung einer wirtschaftlichen Grenzziehung. Mit historisch-institutionalistischen Pfadansätzen (vgl. Thelen 1999, 2003) lässt sich diese Konstruktion einer Marktordnung beschreiben: Diese soll die gleichen Wettbewerbsbedingungen und die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen für sechs Marktsysteme schaffen, die zuvor national abgeschirmt waren und in vieler Hinsicht eigenen Regeln folgten. Die Etablierung derselben Wettbewerbsbedingungen ist ein sozialer Prozess, der wechselseitige Beobachtungen und soziale Dynamiken in Gang bringt, um Vergleichbarkeit herzustellen. Im Gemeinsamen Markt stellen sich die nationalen Maßstäbe für Wettbewerb somit in einem neuen Licht dar. Dies betrifft neben vielen anderen wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen auch die unterschiedlichen nationalen Lohnspannen zwischen Frauen und Männern. Es ist dieser Zusammenhang, in dem die Lohngleichheit zur Sprache kommt. Dass Märkte sozial fundiert sind, gilt seit Max Weber als soziologisches Grundwissen (1972: 42ff; 181ff.), dass sie in soziale und kognitive Strukturierungen eingebettet sind und dass reziproke Effekte zwischen market-making und rule-making bestehen, zählt heute zu den wirtschaftssoziologischen Kernprämissen (vgl. für viele Beckert et al. 2007). In der Europaforschung wird hieran bislang allerdings kaum für die Analyse von Beobachtungsmustern und Vergleichshorizonten angeknüpft. Im Vordergrund stehen im institutionalistischen Kontext
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vor allem organisationssoziologisch orientierte Analysen (vgl. Fligstein/Stone Sweet 2002). In der Literatur findet sich die Lohngleichheit daher oft auf ihre wirtschaftliche Dimension verengt. Dabei wird übersehen, dass dieser Grundsatz in einem Gemeinsamen Markt nationale Vergleichsmaßstäbe in ein anderes Referenzfeld rückt, so dass die Beobachtung von und die Erwartungen an Gleichheit sich verändern. Dieses ist der Rahmen, in den wir Genese und Wandel des supranationalen Gleichheitsskripts stellen. In dieser Koppelung von (Geschlechter-)Gleichheit mit den Kernvorstellungen des Marktes, so lautet die zweite These des Buches, ist daher die spezifische Qualität der supranationalen Gleichberechtigung zu sehen. Wir stellen diese in den Zusammenhang des market-building der EWG, die nach 1945 regional als Teil einer globalen institutionellen Struktur entsteht. Bevor wir den hiermit angesprochenen institutionalistischen Untersuchungsrahmen dieses Buches näher erläutern, geht es im nächsten Schritt um die geschlechtersoziologische Perspektive.
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Theoretische Perspektiven und Argumentationslinien
Gegenstand des empirischen Argumentationsstrangs ist die Analyse der institutionellen Verankerung der Geschlechternormen von 1957 bis 2007. Bis auf die wegweisende Untersuchung von Hoskyns (1996) und die neuere Studie von Vleuten (2007, 2005) werden bislang eher einzelne historische Sequenzen behandelt. Hoskyns und Vleuten untersuchen genuin politikwissenschaftliche Fragestellungen, die den policy circle der EU-Geschlechterpolitik (Hoskyns 1996) bzw. die Präferenzen nationalstaatlicher Akteure und die Delegation ihrer Interessen betreffen (Vleuten 2007). Diese Studien repräsentieren zwei politikwissenschaftliche Forschungsparadigmen. Einmal knüpft Hoskyns an funktionalistische und institutionalistische Prämissen der EU-Forschung an, während Vleuten eine intergouvernementalistisch orientierte Analyse durchführt, in die sie neuere transnationale governance-Ansätze einbezieht. Für die theoretische Orientierung dieses Buch stehen diese Paradigmen nicht im Vordergrund, von Interesse ist vielmehr der supranationale Wandel von Vergesellschaftungsformen, der mit dem heuristischen Raster des Institutionalismus empirisch erschlossen werden soll. Wenn wir den Bogen von den 1950er Jahren bis heute schlagen, interessieren wir uns aus soziologischer Sicht dafür, wie sich die institutionelle Entwicklung in der Zeitdimension vollzieht, um das bewegte Bild der Gleichberechtigung, ihre Konstruktion und ihren Wandel, einzufangen. Die Evolution dieser 16
Normen soll an signifikanten Wendepunkten herausgearbeitet werden, um aufzuzeigen, wie auf der Ebene der Rechtsnormen neuartige Formen der Einbeziehung erfolgen. In geschlechtersoziologischer Hinsicht geht es dabei um den Wandel im Arrangement der Geschlechter (vgl. Goffman 1994), also um die Frage, wie die supranationalen Gleichheitsvorstellungen und ihr Einbeziehungskorrelat im historisch längerfristigen Wandel von Geschlecht und Gleichheit in der (europäischen) Moderne zu verorten sind. Dieser Wandel erstreckt sich von dem um 1800 in einem nationalstaatlichen Rahmen entstehenden Differenzmodell, das die Unvergleichbarkeit der Geschlechter herausstellt (vgl. Honegger 1991; Laqueur 1992), hin zum Gleichberechtigungsmodell, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vergleichbarkeit der Geschlechter zum Maßstab erhebt (vgl. Heintz 2001; Heintz et al. 2006; Wobbe 2003b, 2005a). Die EWG spielt für die Länder der europäischen Region in diesen Transformationsprozessen eine interessante Rolle, die zum einen damit in Verbindung steht, dass Gleichheit und Chancengleichheit für das europäische Projekt konstitutiv sind. Die Integration gründet auf dem „Prinzip der Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Wege des Fortschritts“ (EWGV 1957 Art. 2); der Gemeinsame Markt wird mit dem Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts ausgebaut. Das Beobachtungsschema, das die EWG für die Vergleichbarkeit der Geschlechter in dem Sinne der gleichen Verteilung von Ansprüchen und Ressourcen etabliert, ist hierin eingebettet (vgl. Wobbe/Biermann 2007).8 Die besondere Rolle der EU ist zum anderen darin zu sehen, dass sie für dieses Geschlechterskript9 eine eigene organisatorische und normative Ebene etabliert hat. Gleichberechtigung ist innerhalb des Gemeinschaftsrechts verankert und fällt damit in den Geltungsbereich supranationaler Autorität. Aus diesem Grunde können Unionsbürger diese Normen vor ihren nationalen Gerichten mit dem Ziel einklagen, dass sie im nationalen Kontext verbindlich angewendet werden. Über die rechtliche Verankerung hinaus werden die Gleichheitsvorgaben auch administrativ durch Stellen im Bereich der Europäischen Kommission abgesichert, durch wissenschaftliche Netzwerke legitimiert und im EP als politische Zielvorstellungen thematisiert. 8
Im Unterschied zum nationalstaatlichen Geschlechterkonzept zielt das der EU vor allem auf eine Einbeziehung in den Gemeinsamen Markt, also in das Wirtschaftssystem. Diese grundlegende Differenz zwischen nationaler und supranationaler Inklusion steht im Mittelpunkt der Debatten über die Defizite sozialpolitischer Integration (vgl. Kaufmann 1997: 131ff., 2003b: 317; Leibfried/Pierson 1998; Münch 2000; Scharpf 1996). 9 Mit „Skript“ wollen wir hier anknüpfend an Goffman einen Komplex an Leitvorstellungen und Handlungs‚drehbüchern‘ bezeichnen.
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich in Europa die Errichtung einer supranationalen Ebene für Gleichberechtigung beobachten, die Frauen und Männer prinzipiell als Personen mit gleichen Ansprüchen berücksichtigt. In diesen historisch längerfristigen Prozessen der Umstellung von Differenz auf Gleichberechtigung wird das nationale Geschlechterarrangement entkoppelt und partiell in supranationale Institutionen eingebunden, die die nationalen Ordnungen zunehmend überformen. Diese Entwicklung ist insgesamt durch einen Prozess charakterisiert, „in dem souveräne, hoch entwickelte Nationalstaaten sich in Bestandteile eines qualitativ neuen politischen Systems verwandeln“ (Pierson/Leibfried 1998: 422). Auf das Geschlechterarrangement lässt sich demnach anwenden, was Richard Münch als einen Strukturwandel global kontextualisiert: Indem (nationale) Geltungsgrenzen abgebaut werden und an ihre Stelle neue Formen der Anerkennung von Rechten treten, wird Europa an die Weltgesellschaft herangeführt (vgl. Münch 2000, 2001: 207ff., 269ff.).10 Vor diesem Hintergrund ziehen sich vor allem drei thematische Stränge durch das Buch. Der erste betrifft die Frage, in welchen Bereichen die Geschlechtergleichheit im supranationalen Kontext verankert wird und welche Inklusionsformen damit einhergehen. Dieser Strang bezieht sich auf die Transformation des Geschlechts als kulturelles Deutungsmuster der europäischen Moderne und auf den Wandel des Geschlechterarrangements und der entsprechenden Inklusionsformen. Der zweite Strang betrifft die soziale Qualität des europäischen Systems, das als ein institutionelles Dauerexperiment ohne historisches Vorbild gilt. Inzwischen sind verschiedene Merkmale dieses Systems herausgearbeitet worden, insbesondere die supranationale Form der Rechtsprechung (vgl. für viele Alter 2001) und die Integration als Ergebnis von Institutionenbildung (vgl. Bach 1999, 2005; Lepsius 1995) haben viel Beachtung gefunden. Dieses Buch behandelt am Beispiel der Geschlechtergleichheit die spezifischen Vergesellschaftungsformen des supranationalen Systems (vgl. Frerichs 2008; Wobbe 2008). Aus soziologischer Sicht interessieren somit besonders die Strukturumbildung und die neuen Formen sozialer Berücksichtigung. Der dritte Strang betrifft die Verortung der Gleichheitsnormen in einem globalen institutionellen Feld. Bislang wissen wir soziologisch noch wenig über das Verhältnis von EU und Weltgesellschaft, d.h. wie die supranationale Strukturbildung als interne Differenzierung globaler Eigenstrukturen zu gewichten ist (vgl. Stichweh 2000, 2006; Wobbe 2005a). Welchen Einfluss haben etwa Dis10 Gleichzeitig erhält die EU hiermit gegenüber den Effekten der Globalisierung eine partielle Schutzfunktion (Kaufmann 1997: 134).
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kurse internationaler Organisationen über Frauenarbeit auf die supranationale Ebene genommen? Während die globalen Geschlechternormen bislang vorwiegend über ihre nationalstaatliche Verankerung untersucht werden (vgl. Heintz et al. 2006; Heintz/Schnabel 2006), behandeln wir supranationale Geschlechternormen im globalen Kontext.
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Transformationen des Geschlechts: Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Das moderne Geschlechterarrangement entwickelt sich politisch mit dem Nationalstaat und wird im 20. Jahrhundert durch dessen De-Institutionalisierung verändert. Vor diesem Hintergrund stellt die wohlfahrtsstaatliche Form von (Geschlechter-)Gleichheit ein historisch kontingentes Muster der Einbeziehung dar, das sich in spezifischen Konstellationen herausgebildet hat und in Wandlungsprozesse eingebunden ist, zu denen nach 1945 in der europäischen Region die EWG maßgeblich beiträgt. Das Wohlfahrtsskript stellt somit selbst einen Bestandteil innerhalb der institutionellen Entwicklung des Geschlechts und somit eine historisch kontingente Variante der Inklusion dar. An den Arbeiten von Jane Lewis und Sylvia Walby sollen verschiedenen Sichtweisen hierauf knapp skizziert werden. Lewis behandelt das Geschlechterarrangement im Hinblick auf die Vereinbarung von Familie und Beruf und wählt eine sozialpolitische Perspektive (vgl. Lewis 2006, 1993; Lewis/Ostner 1994). Die von ihr entwickelte Typologie des (männlichen) Ernährermodells (Lewis 1992, 1993)11 gehört in eine breitere feministische Forschungsdiskussion, die das konventionelle Raster sozialpolitischer Regime problematisiert und um die Geschlechterdimension erweitert hat (vgl. für viele Orloff 1993; Misra/King 2005). Diese Studien stehen daher in enger Verbindung zur Diskussion über Bürgerrechte und Inklusionsformen (vgl. Hobson 2005). Für Lewis ist die Kernfrage, inwiefern Frauen als Hausfrauen und/oder Erwerbstätige ins supranationale System einbezogen werden und welche sozialen Rechte ihnen daraus erwachsen. In dieser Sicht stellt sich die Verankerung des 11
Das Ernährermodell wird nach einer starken, moderaten und schwachen Variation unterschieden. Diese Typologie lässt sich auch historisch applizieren. Danach bildet sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunächst ein starkes männliches Ernährer-Modell heraus (vgl. Lewis 1984). Im Laufe des 20. Jahrhunderts, verstärkt nach 1950, lassen sich Variationen feststellen. Im schwachen Doppelverdiener-Modell sind die Frauen ebenso wie die Männer erwerbstätig, beziehen also eigenständig ihre soziale Sicherung, sind allerdings überwiegend für die Kinder- und Haushaltsversorgung zuständig. Als Mischform gilt das moderate Modell, in dem Frauen als Mütter wie auch als Erwerbstätige betrachtet werden (vgl. Lewis 1992).
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Lohngleichheitsprinzips in der EU durchaus als eine Veränderung gegenüber der traditionellen Sozialpolitikentwicklung des 20. Jahrhunderts dar, die die sozialen Sicherungssysteme auf die Beziehung Arbeiter und Markt beschränkte. Auch in den 1970er Jahren seien substanzielle Ergebnisse für Frauen in der EU erzielt worden (vgl. auch Lewis 1993: 23). Betrachte man die Gleichstellungspolitik zusammen mit der Beschäftigungs-, Familien- und Sozialpolitik, bleibe die Orientierung am männlichen Mainstream-Modell aber weiter bestehen, trotz wichtiger Erweiterungen des klassischen Familienmodells in Folge des Amsterdamer Vertrags (Lewis 2006: 424). Für Lewis ist das Glas also ‚halb leer‘, während es für Walby eher ‚halb voll‘ ist. Walby vertritt die Auffassung, dass die Geschlechterforschung aufgrund der Orientierung an den nationalstaatlichen Pfaden die Neuartigkeit der EU und ihre Bedeutung für die Frauenerwerbstätigkeit systematisch unterschätze. Bei der beruflichen Einbeziehung von Frauen spiele die EU eine aktive Rolle (Walby 1999a,b, 2004). Sie trage – wie etwa bei der Aufhebung der Hindernisse für verheiratete Frauen beim Beitritt Irlands – direkt zum Abbau von Barrieren bei und schaffe eigene rechtliche Regulierungen für die Arbeitsmarktbedingungen (Walby 2004: 10f.). Wie die Sanktionsverfahren gegen England in den 1980er Jahren zeigten, als die Thatcher-Administration im Zuge eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Implementierung des Equal Value Amendement Act gezwungen wurde, liege hierin die besondere supranationale Dynamik (Walby 1999b: 70; 2004: 17).12 Vor diesem Hintergrund unterscheidet Walby drei Pfade. In industrialisierten Ländern erfolge die Transformation von häuslichen zu öffentlichen Geschlechterregimen entweder auf (nationalen) sozialdemokratischen oder auf marktorientierten Pfaden. In der EU hingegen entstehe ein dritter Pfad, der die Erwerbsbeteiligung von Frauen durch die Beseitigung von Diskriminierungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt (sowie auch auf dem Arbeitsmarkt selbst) beseitige. Die Perspektiven von Lewis und Walby implizieren verschiedene Integrationsmuster: Für Lewis besteht die Integration im nationalstaatlichen Konzept der Gewährleistung kollektiver Sicherheit (wohlfahrtsstaatlich-distributive Dimension); Walby sieht in der Gewährleistung individueller Rechte (soziale Regulie12
Die von Majone formulierte These des „regulating Europe“ (1993: 284-300, 1996) identifiziert die gesetzliche Regulierung als Kernmerkmal des europäischen Systems. Im Unterschied zur Nationalisierung öffentlicher Aufgaben im 19. und 20. Jahrhundert entspreche diese Regulierung den neuen und komplexen Koordinationsanforderungen (Majone 1996: 10f.). In diesem Zusammenhang spricht Nugent (2003: 325) von einem Nachfrage- und Angebotsverhältnis zwischen der großen Industrie und der Kommission, die durch Richtlinienpolitik eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung von Rahmenbedingungen spielt.
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rung) die Entstehung eines neuen Integrationsmusters. Lewis verwendet das nationalstaatliche Wohlfahrtsmodell als analytischen und normativen Maßstab der EU-Geschlechterpolitik und sieht das entsprechende männliche Ernährermodell weiterhin am Werk. Walby dagegen nimmt die Herausbildung neuer Arrangements wahr und registriert eine Erosion des Ernährerkonzepts. Beide Ansätze liefern also wichtige Elemente zum Verständnis der EU-Geschlechterpolitik, sind aber in ein breiteres Bild einzubetten. Wir nehmen eine Erweiterung vor und stellen die von Lewis und Walby skizzierten Arrangements in den Zusammenhang der historisch längerfristigen Transformationsprozesse des Geschlechts und des Formenwandels gesellschaftlicher Einbeziehung. Seit dem späten 18. Jahrhundert sind die nationalen Geschlechterarrangements in soziale Wandlungsprozesse eingebunden, unter Druck geraten sie zunehmend im späten 20. Jahrhundert durch transnationale und globale Erwartungen. Einen Bestandteil dieses Erwartungshorizonts bilden auch die EU-Gleichberechtigungsnormen. Sie stellen ein neu auftauchendes soziales Phänomen dar, das mit dem bisherigen Wissen über Nation, Geschlecht und Inklusion nicht zu erwarten war und damit auch nicht erklärbar ist. Der Fokus unserer Studie liegt auf den institutionellen Erfolgsbedingungen dieser neuen Normen und auf den gesellschaftlichen Einbeziehungsmustern, mit denen sie im supranationalen System nach 1945 korrelieren.
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Der institutionalistische Untersuchungsrahmen
Bis hierher haben wir die zwei zentralen Annahmen formuliert. Danach sind die Konstruktion und Metamorphose der EU-Gleichberechtigung soziologisch angemessen zu verstehen, wenn sie extern auf ein übergreifendes institutionelles Referenzfeld und intern auf die supranationale Strukturbildung bezogen werden. Die folgenden Überlegungen sollen verdeutlichen, mit welchen Instrumentarien wir diese Annahmen auf einer empirischen Grundlage untersuchen. Wir verwenden in diesem Buch zwei institutionalistische Ansätze, nämlich einmal den makrosoziologischen Ansatz des Neo-Institutionalismus für die globale Rahmung der Gleichberechtigungsnormen und zweitens historisch-institutionalistische Pfadkonzepte, um die Einbettung dieser Vorgaben in den Gemeinsamen Markt sowie ihren Bedeutungswandel zu untersuchen.13 13 Es werden somit zwei spezifische Ansätze aus der insgesamt breiteren sozialwissenschaftlichen Diskussion herausgegriffen. In dieser werden drei Ausprägungen des neueren Institutionalismus unterschieden, nämlich der sog. Rational-Choice-Institutionalismus, der historische Institutionalismus
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Die historisch-institutionalistischen Theorien widmen sich in der Regel der vergleichenden Erforschung nationaler Institutionen und untersuchen die Variabilität nationaler Pfade, wie sie etwa in Verfassungssystemen, Arbeitsmarktregimen oder Bildungsmodellen zum Ausdruck kommen (vgl. Pierson 1998, 2000b; Thelen 1999, 2002). Der makrosoziologische Neo-Institutionalismus beschäftigt sich primär mit der Einbettung dieser nationalen Einheiten in eine übergreifende institutionelle Ordnung. Während im ersten Ansatz die Merkmale nationalstaatlicher Prozesse aus ihren spezifischen Pfaden, also endogen, erklärt werden, wird im zweiten Ansatz ein Ebenenwechsel vorgenommen. Nationale Einheiten werden als Bestandteile einer kulturellen Ordnungsstruktur betrachtet, die sie exogen prägt. Anders als dem Nationalstaat fehlt der EU ein segmentäres Gegenüber, denn bislang kommt sie weltweit nur einmal vor. Doch lässt sich das historische Pfadmodell modifiziert auf die EU anwenden: Im Unterschied zum (nationalen) Querschnitt unterscheiden wir im historischen Längsschnitt zwischen dem nationalstaatlichen Differenzkonzept, das um 1800 entsteht, und dem supranationalen Gleichberechtigungskonzept, das nach 1945 in den Vordergrund rückt (vgl. Abb. 1). Diese Herausbildung ist global gerahmt, insofern die Genese der EWG in einem weiter reichenden institutionellen Feld situiert wird. Konkret geht es darum, die Gründung der EWG im Rahmen übergreifender internationaler Erwartungen zu rekonstruieren und die Verankerung von Geschlechternormen in diesem historisch spezifischen supranationalen Kontext zu erklären. An dieser Stelle sollen einige Prämissen dieser Ansätze dargelegt werden, die für die Untersuchung unserer Fragestellung und den Zuschnitt des Buches von Bedeutung sind. Kernannahmen der world polity-Perspektive Die makrosoziologische Variante des Institutionalismus geht von der Beobachtung aus, dass trotz hochgradiger Ungleichheit und sozialer Differenzierung spezifische globale Strukturähnlichkeiten z.B. in der staatlichen Organisation oder im Bildungssystem bestehen. Die zentrale Prämisse lautet, dass diese Ähnlichkeiten (Isomorphien) durch eine weltweite institutionelle Struktur bewirkt werden, d.h. es existiert ein kultureller Bezugsrahmen für Normen und Standards, der als globale Referenzebene für Akteure, für Individuen, Organisationen und Nationalstaaten fungiert (vgl. Thomas et al. 1987; Meyer 2005a; Hasse/ Krücken 1999; Wobbe 2000). Die Isomorphien werden somit nicht auf die Ag-
und der (neo-institutionalistische) soziologische Institutionalismus (vgl. Hall/Taylor 1996; Thelen 1999).
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gregierung national-struktureller Charakteristika zurückgeführt, sondern auf eine darüber liegende Strukturebene. Anknüpfend an Max Webers Verständnis von Rationalisierung in der europäischen Moderne hat aus der Sicht der world polity im neuzeitlichen Europa eine eigentümliche Rationalitätssteigerung stattgefunden, die über ihren Entstehungskontext hinaus weltweit erfolgreich verbreitet worden ist. Diese Verbreitung hoch rationalisierter, standardisierter und generalisierter Ideen lässt sich am Recht und an der staatlichen Souveränität nachvollziehen (vgl. Meyer et al. 1987). Um zu verstehen, warum der Bezug auf universale Regeln zu strukturähnlichen Ordnungsschemata der world polity führt, ist die kognitive Reformulierung von Webers Rationalisierungsverständnis im makrosoziologischen Institutionalismus wichtig. Moderne Akteure, so wird anknüpfend an Goffman formuliert, verhalten sich nach dem Skript – also den Leitvorstellungen – der weltkulturellen Ordnung und tragen damit zu Strukturäquivalenzen und zur Konvergenz der Weltgesellschaft bei (vgl. Meyer et al. 2005: 95ff.). Diese auf Weltebene institutionalisierte Kultur ist in Interpretationsmodellen und Handlungsprogrammen objektiviert und wird im Sinne ihrer regulativen Struktur daher als world polity bezeichnet. Ihr Ausbau ist nach 1945 an den stark wachsenden internationalen Organisationen und am Bedeutungszuwachs von Menschenrechten (vgl. Boli/Thomas 1997) wie auch von Geschlechternormen (vgl. Heintz et al. 2006; Heintz/Schnabel 2006) wahrzunehmen. Frauen werden in internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen nun zunehmend als Individuen und Trägerinnen von Rechten berücksichtigt. Gemeinsam mit den Werten wie Fortschritt, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit erlangt auch die Gleichberechtigung globale Legitimität und weltweite Resonanz (vgl. Berkovitch 1999a, b; Ramirez 2001, 2003). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) nimmt erstmals das Verbot der Geschlechterdiskriminierung als Norm der Weltgemeinschaft auf und schreibt in Bezug auf Arbeitsrechte fest, „dass jeder, ohne Unterschied, das Recht des gleichen Lohns für gleiche Arbeit hat“ (Art. 23). Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass die „United Nations“ (UN) die geschlechtsspezifische Präzisierung dieses Artikels an die „International Labour Organization“ (ILO) delegieren (vgl. Reanda 1992). Das ILO-Abkommen Nr. 100 sieht den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit von Männern und Frauen vor. Es ist das erste Dokument einer wichtigen Weltorganisation, das nach 1945 die Lohngleichheit kodifiziert. Die Arbeitsgesetzgebung für Frauen ist bis ins frühe 20. Jahrhundert faktisch eine Festschreibung ihres eingeschränkten Status auf dem Arbeitsmarkt.
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Primär wird hiermit die Familienverpflichtung von Frauen garantiert, ihre Erwerbstätigkeit dagegen als nachrangig betrachtet (vgl. Berkovitch 1999a; Lubin/Winslow 1990; Wikander et al. 1995). Nach 1945 werden Frauen in internationalen Vereinbarungen zunehmend als Individuen mit gleichen Rechten im Erwerbsbereich verstanden. So fordert die ILO-Konvention Nr. 100 in Art.1b für die Festlegung der Entgeltsätze ausdrücklich ein Verfahren „ohne Rücksicht auf das Geschlecht“, d.h. die Bewertung soll nach der erbrachten Leistung erfolgen und dem Geschlecht gegenüber indifferent sein.14 Neo-institutionalistisch lässt sich die ILO als Motor für die globale Verbreitung und Standardisierung der Geschlechtergleichheit im ökonomischen Bereich charakterisieren (vgl. Berkovitch 1999a, b). Sie ist demnach ein moderner Akteur, eine „Weltsozialorganisation“ (Maul 2007: 17), die die globale Diffusion von Arbeitsrechten betreibt. In diesem normativen Rahmen verorten wir auch das Lohngleichheitsprinzip der EWG. Der Neo-Institutionalismus betont die legitimatorischen Gesichtspunkte für die globale Verbreitung von Regeln (vgl. Meyer/Rowan 1977; Jepperson 1991), d.h. Organisationen verwenden Skripte, um sich gegenüber ihrer Umwelt Legitimität zu verschaffen. In Anlehnung an Goffmans Idee von der Doppelbödigkeit des Sozialen wird angenommen, dass sich die Handlungen von Akteuren auf verschiedenen Bühnen abspielen. Nationalstaaten und Organisationen verhalten sich oftmals formell nach bestimmten Vorgaben, wenn sie sich z.B. auf der Vorderbühne internationalen Übereinkommen anschließen, ohne diese auf einer tieferen Handlungsebene umsetzen.15 Vor diesem Hintergrund sprechen wir von Gleichberechtigungsskripten, also von Normen und Handlungsprogrammen, nämlich ‚Drehbüchern‘ (scripts), in denen Leitvorstellungen über Geschlechterbeziehungen institutionalisiert sind. Hiermit wird markiert, dass die Verankerung von Gleichberechtigungsnormen vieldeutige Bezüge enthält, nämlich einmal konkrete Vorgaben und Verpflichtungen zur Gleichheit und zudem die symbolische Seite der Legitimationserzeu14 Längsschnittstudien internationaler Konventionen geben Hinweise auf diesen Wandel: Für die Zeit um 1900 ist ein signifikanter Anstieg der Mutterschutzgesetzgebung zu beobachten. Seit den 1950er, verstärkt seit den 1960er Jahren, kumulieren die Gesetzgebungen zur Lohngleichheit (vgl. Berkovitch 1999: 49, 118, Appendix: 179f.). 15 Auf der formalen Ebene lassen sich dann zunehmende Bezüge auf global institutionalisierte Regeln beobachten, während deren faktische Verankerung in vielen Fällen meilenweit von den dargestellten Skripten entfernt sein kann. Ein Beispiel dafür, wie diese Skripte der Selbstbeschreibung verwendet werden, bieten etwa die EU-Hochglanzbroschüren zum Gender Mainstreaming, mit denen sich die EU-Kommission als fortschrittliche Organisation und als Pionierin globaler Geschlechternormen darstellt. Zugleich zeigt sich, dass hiermit Maßstäbe und Interpretationskriterien entstehen, die auch auf einer tiefer liegenden Handlungsebene wirksam werden. Die Anfertigung geschlechterdifferenzierender Statistiken auf der Grundlage des Gender Mainstreaming hat Erwartungen an die Mitgliedsländer adressiert, die wiederum von Experten und sozialen Bewegungen aufgegriffen werden.
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gung, indem die EU sich als Vertreterin eines ultimativ fortschrittlichen Geschlechterskripts darstellt. Die Historisch-institutionalistischen Theorien: Pfade und Kontexte Das Erklärungspotenzial der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie liegt darin, dass sie weltweite Diffusionsprozesse darstellbar macht und die Faktizität einer kulturellen Weltordnung demonstriert. Aus globalen Erwartungen werden freilich nicht automatisch nationale oder supranationale Normen, es sind vielmehr bestimmte historische Konstellationen, in denen diese überhaupt wahrgenommen und aufgriffen werden. Für die Untersuchung der Binnenseite werden daher auch auf Pfadentwicklung gerichtete Konzepte einbezogen (vgl. für viele Thelen 2003). Institutionen werden hier als Festlegung und historisches Vermächtnis früherer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen verstanden, die in die Zukunft hineinwirken. Nach dem Entstehungsereignis erfolgt so etwas wie ein freezing oder eine Kristallisation. Unter diesem Gesichtspunkt ist von routes und später von pathways und Pfadabhängigkeiten die Rede (vgl. Pierson 2000a). Frühere Arbeiten (Lipset/Rokkan 1967) haben Institutionen eher statisch als die gefrorenen Residuen kritischer Ereignisse betrachtet. Die dynamischen Prozesse werden in der jüngeren Forschung betont, die Institutionen über die Zeit erhalten, zu Selbsttransformationen oder auch zu deren Auflösung beitragen (Streek/Thelen 2005). Eingeschlagenen Pfaden ist also nicht per se eine Stabilität zuzusprechen. Dies gilt auch für die EWG. Ihre Gründung resultiert aus historisch kontingenten Bedingungen. Die Zukunft des Gemeinsamen Marktes ist daher zunächst ungewiss und mit ihr auch die Umsetzung der Lohngleichheit. Wie wird dieser einmal eingeschlagene Weg eigentlich verfestigt, wie gewinnt er mit der Zeit an Stabilität? Wir fragen somit nach den Mechanismen, die die Gleichheitsvorgaben auf Dauer stabilisieren und dazu beitragen, dass das Vermächtnis in „lasting legacies“ (Thelen 1999: 390) übersetzt wird. Die Mechanismen, die Institutionen stabilisieren, sind also erklärungsbedürftig und ihre Erforschung kann zutage fördern, wodurch die Institutionalisierung in der Zeitdimension gestützt wird. In der zeitlichen Dimension bedeutet Pfadabhängigkeit daher, dass es in dieser Entwicklung, die zu bestimmten Ergebnissen führt, nicht-lineare Wirkungszusammenhänge, überraschende Koinzidenzen und singuläre Ereignisse, also Gabelungen, geben kann, an denen der einmal eingeschlagene Pfad auch in eine andere Richtung hätte verlaufen können (vgl. Mayntz 2002: 27ff.). James Mahoney (vgl. 2000: 515) unterstreicht daher, dass spezifische Muster einer Konfiguration in der Zeit reproduziert werden, auch wenn die ursprünglichen Bedingungen entfallen sind. Was er unterstellt,
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sind somit keine konstant weiter wirkenden Ursachen (constant causes), vielmehr nimmt er Stabilisierungsfaktoren an, die in der institutionellen Entwicklung hinzukommen und bei der Gründung noch nicht bestanden. Für die folgende Analyse der Gleichberechtigungsnormen kann man sich diese Überlegung mit Hilfe des Konzepts der sog. critical junctures (vgl. Collier/ Collier 1991: 27) klar machen. Dieses besagt, dass der Beginn eines Pfades auf kritische Wendepunkte bzw. Gründungsereignisse zurückgeführt werden kann, also in unserem Fall auf die Umbrüche nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Pfadbeginn reicht allerdings für die Erklärung der institutionellen Entwicklung nicht aus. Daher ist nach seiner Verfestigung zu fragen. Diese erfolgt dadurch, dass die EWG auf einen einzigen Markt mit gleichen Arbeits- und Lebensbedingungen festgelegt wird, und dass hieraus die Idee supranationaler Gleichheit erwächst (vgl. Gerhards 2005a, b; Wobbe/Biermann 2007). Bis hierher wurde dargelegt, dass sich mit dem kritischen Wendepunkt ein signifikanter Wandel ereignet und dass dieser in distinktiver Weise erfolgt. Neuere Pfadkonzepte gehen einen Schritt weiter und erklären, dass zwischen den historischen Ereignissen und dem zeitlich nachgelagerten Ergebnis auch ein Zusammenhang besteht. Bezogen auf die Gleichberechtigung heißt dies, dass zwischen den Gründungsereignissen und den heutigen Geschlechternormen eine kausale Beziehung besteht, die durch konkrete Mechanismen aufgezeigt werden kann. Eine institutionelle Festlegung wird also nicht nur einmal hervorgebracht, sondern muss immer wieder (neu) hergestellt werden (vgl. auch Jepperson 1991; Nedelmann 1995).16 In den folgenden Kapiteln greifen wir die neo-institutionalistischen und die Pfadansätze auf, um Konstruktion und Wandel der Gleichheit einmal zur Seite der Weltgesellschaft und zudem nach innen im supranationalen System zu erklären. Daher beschäftigen wir uns zuerst mit der institutionellen Genese und den spezifischen Rahmenbedingungen des EU-Gleichberechtigungsskripts und fragen dann, wie dieser eingeschlagene Weg eigentlich gestützt wird und sich graduell wandelt.
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Mit dieser Herangehensweise lässt sich auch zeigen, inwieweit die maßgeblichen Attribute institutioneller Vorgänger noch bestehen, also weiterwirken oder durch diesen Pfad abgeschwächt werden (Collier/Collier 1991: 30f.).
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Abbildung 1:
Analyseschema der institutionellen Entwicklung supranationaler Geschlechtergleichheit
Quelle: eigene Darstellung (nach Collier/Collier 1991).
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Aufbau des Buches
Die Studie basiert auf der Auswertung ungedruckter und gedruckter Dokumente, auf Archivalien, auf verschiedenen EU-Dokumenten (primär- und sekundärrechtliche Texte, Entscheidungen, Aktions-Programme, Berichte, Expertisen u.Ä.) und auf Experteninterviews. Für unsere Fragestellung ist die Berücksichtung der gesamten institutionellen Entwicklung erforderlich, um Verengungen zu vermeiden, die zu verzerrten Schlussfolgerungen führen können. Die häufig vertretene Ansicht, der Art. 119 habe die Zeit bis zu den frühen 1970er Jahren gleichsam im Winterschlaf verbracht, kann als solch eine Verengung der Perspektive gelten.17 In diesem Buch geht es also eher um moving pictures als um Momentaufnahmen (vgl. Pierson 2000a). 17
Die Winterschlaf-These wird oftmals mit einer starken Gewichtung der um 1970 entstehenden neuen Frauenbewegung verknüpft: „For nearly 20 years, Article 119 remained dormant as a ‚paper‘ provision of the Treaty of Rome. However, what was significant was its very presence in the Treaty, capable of being exploited as so-called ‚second-wave feminism‘, generated a new interest within the community regarding the availability or feasibility of legal remedies against discrimination in the workplace.“ (Shaw 1996: 283) In diesem Zusammenhang wird auch die Metapher des ungenutzten Potenzials (Pierson 1998: 51) verwendet, der zufolge der Art. 119 erst in den 1970er Jahren ausge-
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Ein Wort zur Sprache: Anders als in vielen sozialwissenschaftlichen Studien verwenden wir im Folgenden die Bezeichnung „EU“ dann, wenn der seit 1992 bestehende Verbund supranationaler und zwischenstaatlicher Säulen thematisiert wird und benutzen die Begriffe „EWG“ oder „EG“, wenn die Gemeinschaften adressiert sind. Da wir in diesem Buch die Frage behandeln, wie sich das Geschlechterskript in und mit der supranationalen Strukturbildung entfaltet, haben die Bezeichnungen, die in den verschiedenen Phasen des Institutionalisierungsprozesses verwendet werden, auch Bedeutung wie etwa an dem Unterschied von „Gemeinsamen Markt“ und „Binnenmarkt“ deutlich wird. Das erste Kapitel führt in die Fragestellung ein und gibt zugleich Einblick in die relevante Literatur. Zunächst wird der institutionelle Wandel des Geschlechts vom nationalen Differenzkonzept zur supranationalen Gleichberechtigung behandelt und an einer Rechtsentscheidung des EuGH konkretisiert. Anschließend werden diese Umbrüche in den Zusammenhang supranationaler Inklusionsmuster gestellt und am Beispiel der (Staats-)Bürgerschaft diskutiert. Das zweite Kapitel widmet sich dem Entstehungskontext des supranationalen Gleichheitsskripts und stellt dieses in den Zusammenhang der Marktkonstruktion und der neuen Erwartungen an Gleichheit, die zunächst an der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS, auch Montanunion) und dann an der Vorbereitung des Gemeinsamen Marktes und den Regierungsverhandlungen für den EWGV rekonstruiert werden. Das dritte Kapitel behandelt die Frage, wie der Art. 119 in einem noch offenen institutionellen Feld zum Leben erweckt und konkretisiert wird. Wir zeigen, wie innerhalb des supranationalen Systems bei der Kommission die Umsetzung der Lohngleichheit auf den Weg gebracht und wie sie als Gleichberechtigung innerhalb des supranationalen Rechts verankert wird. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das vierte Kapitel mit der Frage, wie die Gleichberechtigung mit dem sich weiter ausdifferenzierenden supranationalen System wächst. Mit der administrativen Verstetigung von Stellen und Programmen bei der Kommission und der politischen Absicherung der Gleichberechtigung im EP entstehen weitere Eigenstrukturen für Gleichberechtigung. Auf dieser Grundlage beschäftigen wir uns mit dem ‚Weg nach Amsterdam‘, der durch das Binnenmarktprojekt, die globalen Transformations- und die europäischen Erweiterungsprozesse charakterisiert ist. Im fünften Kapitel wird herausgearbeitet, wie die Gleichberechtigungsnormen im Sog des Binnenmarktprojekts verändert werden. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA, 1986) und dem Maastrichter Vertrag (EUV, 1992) soll durch die gezielte Erzeu-
schöpft worden sei. Dabei entsteht der Eindruck, als sei zwischen 1957 und 1973 nichts Wesentliches geschehen (vgl. Ostner/Lewis 1998: 196; andere Akzente bei Vleuten 2007).
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gung einer europäischen Marktregion die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU verbessert werden. Gleichberechtigungsnormen werden jetzt durch neue Richtlinien als soziale (Mindest-)Standards ausgebaut. Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels steht der Wendepunkt des Amsterdamer Vertrags (1997). Nun wird Gleichberechtigung als Gleichstellung im Gender Mainstreaming zur Querschnittsaufgabe, zugleich erfolgt die Verankerung von Gleichbehandlung als ein allgemeines Diskriminierungsverbot über das Geschlecht hinaus. Wir zeigen, dass diese Neu-Justierung eng mit globalen Vorgaben sowie mit der Restrukturierung des Binnenmarktes verknüpft ist. Abschließend fassen wir unsere Ergebnisse zusammen und bündeln sie unter zwei Gesichtspunkten. Der erste betrifft die Frage die Verschränkung von Geschlecht und anderen Benachteiligungsdimensionen: Kündigt sich in der Politik des Diskriminierungsverbots, die auf Menschenrechten basiert, eine Relativierung von Gleichberechtigungsnormen an? Der zweite betrifft das supranationale Gleichheitsskript insgesamt, nämlich die Koppelung von Marktbildung und neuen Formen der Inklusion. Diese Studie kreist um das Problem, unter welchen Bedingungen sich die supranationale Gleichberechtigung herausbildet und wie sie in einem System, das selbst ständig im Wachstum begriffen ist, ebenfalls wächst und transformiert wird. Wir vertreten die Auffassung, dass seit 50 Jahren eine supranationale Struktur für die Veränderung des Geschlechterarrangements etabliert wird, die zur historisch längerfristigen Umstellung von Differenz auf Gleichheit beiträgt. Dieser Wandel des Geschlechterskripts ist Teil einer supranationalen Umcodierung der Gleichheit in der europäischen Region, die in einem globalen Kontext steht.
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Erstes Kapitel Theresa Wobbe
Nationalstaat, Geschlecht und supranationale Gleichberechtigungsnormen Knowing how we got to where we are helps to clarify where we are. 1 Margaret Somers
Einleitung In der Soziologie wächst die Erkenntnis, dass die Europäische Union (EU) im nationalstaatlichen Begriffshorizont von Gesellschaft und Politik kaum angemessen zu erfassen ist. Die besondere Qualität dieses Systems erschließt sich, wenn die am Nationalstaat gewonnenen Kategorien in eine reflexive Perspektive gerückt werden.2 Dies gilt auch für das Gleichberechtigungskonzept der EU: Es stellt ein kulturelles Deutungsmuster der Geschlechterbeziehungen dar, das sich vom nationalen Arrangement des Geschlechts unterscheidet, welches aus den Umbrüchen zur Moderne in Europa hervorgegangen ist (vgl. Honegger 1991; Laqueur 1992). Seit dem 19. Jahrhundert gilt der Nationalstaat in Europa als institutioneller Garant für individuelle Rechte und stellt die Autorität für die Koppelung von Mitgliedschaft (Staat) und Identität (Nation) dar. Nach 1945 trägt die EWG zur Entflechtung dieser Konstellation von Rechten und Anerkennung bei, indem 1
Somers 1999: 134. Anthony Smith (1983) hat die unreflektierte Verwendung der nationalen Analyseebene als „methodologischen Nationalismus“ bezeichnet. Gemeint ist hiermit die faktische Gleichsetzung von Nationalstaat und Gesellschaft – ein Modus der Weltsicht, der es der Soziologie erschwert, „to distance itself sufficiently from its own basic premises“ (Smith 1983: 26). Die nationale Rahmung der Moderne und der Nationalstaat werden in vielen Untersuchungen nicht systematisch als ein kontingentes Ergebnis von historisch-spezifischen Vergesellschaftungsprozessen konzipiert. Diese – auch territoriale – Limitierung der sozialwissenschaftlichen Vorstellungswelt reduziert den Analysefokus auf die Grenzen des Nationalstaats, ohne der Relevanz des Nationalstaats hinreichend Rechnung zu tragen, und neigt dazu, weitere Bezugsebenen zu unterschätzen (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2002). 2
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supranationale europäische Rechtsnormen zwischen völkerrechtliche und nationale treten (vgl. Ipsen 1972: 1045) und letztere abschleifen oder ersetzen (vgl. Weiler 1991, 1999).3 In diesen Wandlungsprozessen findet historisch eine neuartige Regulierung von Rechten statt, die auch die Bedeutung von Gleichheit verändert. Vorstellungen von Differenz, die für die Formation und Reproduktion des Nationalstaats konstitutiv waren, verlieren ihre Legitimität – so werden die Geschlechterverhältnisse zunehmend am Maßstab der Gleichheit und unter dem Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit verhandelt (vgl. Berkovitch 1999a; Cichowski 2001, 2007; Wobbe 2003a). Diese historisch längerfristigen Umbrüche legen die Frage nahe, wie nationale Arrangements transformiert werden und wodurch sich die supranationalen hiervon unterscheiden. In diesem Kapitel behandeln wir den institutionellen Wandel des Geschlechts und veranschaulichen diesen mit Hilfe historischer Kontrastierungen. Im ersten Schritt gehen wir auf die historische Neuartigkeit und Besonderheit des Differenzkonzepts ein, das um 1800 in Europa mit der nationalstaatlichen Ordnung verankert wird (Kap. 1.1), um anschließend seine De-Institutionalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darzustellen (Kap. 1.2). Spezifische Merkmale des supranationalen Arrangements, das nicht die Differenz, sondern die Gleichheit zum Maßstab erhebt, werden im dritten Schritt skizziert und am Beispiel einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) konkretisiert (Kap. 1.3). Vor diesem Hintergrund demonstrieren wir den Zusammenhang zwischen nationaler und supranationaler Inklusion (Kap. 1.4). Ein Fazit fasst abschließend die wichtigsten Ergebnisse des Kapitels zusammen (Kap. 1.5). Im Folgenden verwenden wir die Begriffe Gleichheit und Differenz in verschiedenen Bedeutungen. Zum einen behandeln wir Gleichheit im Sinne eines normativen universalistischen Postulats, demzufolge alle im gleichen Maß berücksichtigt werden sollen und jede(r) gleich zählt. Der EU-Grundsatz der Gleichbehandlung verweist auf diese gleiche Berücksichtigung aller. Gleichberechtigung meint ein Verständnis von Gleichheit, das darüber hinausgehend auch gleiche Partizipation und Anerkennung anstrebt. Gleiche Ausgangschancen in der Bildung beinhalten somit nicht zwingend gleiche berufliche Zugangschancen. Die Formen ungleicher Verteilung werden daher als Ausdruck fehlender
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Die Analyseebene dieses Buches ist die supranationale Strukturbildung, die zur Gründung der EWG und später der EG und EU geführt hat, deren konstituierende Einheiten die Mitgliedstaaten sind. Die Fragen, die sich im Verhältnis von supranationaler Ebene und nationalstaatlicher Steuerung ergeben, werden nicht behandelt.
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Gleichberechtigung verstanden und die Verletzung von Gleichberechtigung wird als Diskriminierung betrachtet.4 Zum anderen sprechen wir von der Rückseite der Gleichheit, die jede und jeden in ihrer und seiner Individualität berücksichtigt und damit der Differenz Rechnung trägt. Dies ist z.B. der Fall, wenn die EU zur Erleichterung der Berufstätigkeit von Frauen diese durch spezifische, sog. positive Maßnahmen fördert (Art. 141, 4 EGV) oder wenn sie zur Verhinderung gruppenbezogener Benachteiligung Anti-Diskriminierungsmaßnahmen verankert (Art. 13, EGV). Das Verhältnis zwischen diesen Vorstellungen hat sich historisch aufgrund von Konflikten verändert, in denen die Idee der Gleichheit relativiert und kontextualisiert wird. Die moderne Geschichte der Gleichheit startet mit der Spannung zur Differenz und der „Krise der Differenz“ (Baxmann 1989: 11), wie die Französische Revolution zeigt. Im späten 20. Jahrhundert gilt kulturelle Differenz hingegen weltweit als ein Interpretationsrahmen universalistischer Gleichheitsansprüche. So werden Frauenrechte anders als im 19. Jahrhundert nicht mehr als partikularistisch, sondern universalistisch aufgefasst. An den Rechtsansprüchen religiöser, ethnischer und nationaler Minderheiten kann nachvollzogen werden, dass somit nicht (mehr) ausschließlich die Zugehörigkeit zu einem nationalen Kollektiv, sondern personen- und partiell gruppengebundene Rechte die legitime Quelle universalistischer Ansprüche bilden.5 In diesem Buch wird am Beispiel der Gleichberechtigung zum einen untersucht, wie auf der Ebene supranationaler Rechtsnormen die Vergleichshorizonte und Rahmenbedingungen für (Geschlechter-)Gleichheit sowie auch deren Bedeutung verändert werden; zum anderen wird diskutiert, inwieweit dieser Wandel in globale institutionelle Erwartungen eingebettet ist.
1.1 Auf den Leib geschrieben: Das moderne Differenzkonzept Ebenso wie „Nation“ (vgl. Hahn 1993, 2000) erhält auch der Begriff des „Geschlechts“ um 1800 eine neue Bedeutung. Beide Bedeutungsveränderungen erfolgen im Zuge der Herausbildung national- und rechtsstaatlicher Ordnungen und beide sind sie ins kulturelle Programm der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften eingepflanzt. Benedict Anderson (vgl. 2005: 17) verdeutlicht 4 Historisch verweist das Auftauchen des Begriffs Gleichberechtigung auf die Konkretisierung von Gleichheit als Gleichstellung vor dem Gesetz (vgl. Dann 1975: 1038). Di Luzio (2002: 13, 105ff.) zeigt, dass das neuere Gleichberechtigungsparadigma in der Bundesrepublik Deutschland in einem hohen Maß auf Initiativen der EU zurückgeht. 5 Vgl. Koenig 2005a,b; Soysal 1994, 1996, 2001; vgl. für den Gleichheitsdiskurs Menke 2004; Young 1990.
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diese Verknüpfung, wenn er die vorgestellte Gemeinschaft der Nation als kameradschaftlichen Verbund von Gleichen charakterisiert und die männliche Konnotierung moderner Gleichheit im Medium der Brüderlichkeit thematisiert. Zugleich registriert Anderson die kulturelle Selbstverständlichkeit, die Nation und Geschlecht als Kategorien der Zugehörigkeit in der Moderne erlangt haben. In „der modernen Welt“, so Anderson, „kann, sollte und wird jeder eine ‚Nationalität‘ haben, so wie man ein Geschlecht ‚hat‘“ (ebd.: 14). Modernisierungstheoretische Annahmen gehen in der Regel davon aus, dass das Geschlecht ein traditionelles, askriptives Merkmal darstellt, dass unter den Bedingungen der Moderne in steigendem Maß abgeschliffen und durch universale Kategorien ersetzt wird (vgl. Parsons 1972). Für Talcott Parsons werden askriptive Merkmale wie die des Geschlechts oder der Ethnie durch den Status der Gleichheit aller Bürger aufgehoben. Begriffs- und kultursoziologische Studien zeigen allerdings, dass die moderne Bedeutung des Geschlechts selbst das Ergebnis diskursiver Verschiebungen und sozialstruktureller Umbrüche ist, aus denen moderne Gesellschaften in Europa hervorgegangen sind. In diesen Prozessen entsteht das Konzept der Geschlechterdifferenz, das die vormals korporativständische Kategorie der Geschlechter ablöst (vgl. Wunder 1997; Frevert 1995; Wobbe 2005b; Wobbe/Nunner-Winkler 2007). Diese neue Vorstellung kristallisiert sich im Schnittfeld von drei institutionellen Umwelten heraus, nämlich den entstehenden Wissenschaften vom Menschen, der Universität als Ort wissenschaftlicher Disziplinen und der nationalstaatlichen politischen Ordnung (vgl. Honegger 1991: 109ff.). Den Triumph des Differenzkonzepts zeichnet Claudia Honegger en détail nach, indem sie darlegt, wie aus einer einfachen Differenz, nämlich der der Geschlechter, „eine kaum überschaubare Mannigfaltigkeit von Deutungsvarianten“ (ebd.: 3) erzeugt wird und kulturelle sowie natürliche Bestimmungen schließlich eine enge Partnerschaft miteinander eingehen. Diese Verschiebung zur modernen Geschlechtertheorie ist wiederum eingebettet in die epistemologische Wende der Wissenschaft, nämlich die Verwendung der empirisch-vergleichenden Beobachtung und der Erfassung des Ganzen des Menschen. Das Durcheinander zunächst noch ganz verschiedener Entwürfe wird dann erst im späten 18. Jahrhundert in eine Ordnung überführt und durch die Wissenschaft vom Weibe systematisiert (vgl. ebd.: 126ff.). Als die alten Sozial-, Wissens- und Rechtsordnungen aus den Fugen geraten und sich auch den Frauen neue Räume öffnen, kommt im Zuge „endloser MikroKonfrontationen über die Machtfrage im öffentlichen und privaten Bereich“ (Laqueur 1992: 225) das Zwei-Geschlechter-Modell zum Einsatz und erlangt eine wahrhaft gesellschaftspolitische Bedeutung. Bis ins 18. Jahrhundert wurde angenommen, dass die männlichen und weiblichen Körperteile verschiedene
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Ausprägungen eines Körpers sind, die sich graduell, nicht aber substanziell unterscheiden. Daher wurde von einer spiegelbildlichen Ähnlichkeit der Geschlechter ausgegangen (vgl. ebd.: 37). Dieser radikale Dualismus stellt dann eine entscheidende kognitive Umstellung dar. Die Geschlechter werden als zwei radikal unterschiedliche Größen verstanden – im Mittelpunkt steht nicht mehr das Verbindende, sondern das Trennende. Diese „Biologie der Unvergleichlichkeit“, in der das Verhältnis zwischen Frauen und Männern „eines der Unterschiedlichkeit“ (ebd.: 177) ist, das einer Ausdeutung bedarf, wird fortan als Anknüpfungspunkt für die Legitimation von Ungleichheit herangezogen (vgl. Weinbach/Stichweh 2001: 33). Die daraus gewonnenen – oftmals verwegenen – Argumente haben bekanntlich ihre Spuren in staatswissenschaftlichen Abhandlungen (vgl. Frevert 1995) ebenso hinterlassen wie in Fabrikgesetzgebungen (vgl. Canning 1998) oder in der Wissenschaft (vgl. Wobbe 2003b). In der Formationsphase moderner Gesellschaften stellt die Geschlechterdifferenz also ein neues kognitives Schema dar, mit dem Unterschiede zwischen Frauen und Männern etabliert und Objekte – wie berufliche Tätigkeiten, körperliche Organe oder soziale Räume – kulturell mit dieser neuen Bedeutung versehen werden. Diese klassifikatorischen Praktiken lassen sich erst aus den Modernisierungsprozessen europäischer Gesellschaften selbst verständlich machen, die institutionell neuartige Identitäten veranlassen. Im Zuge der teilbereichsspezifischen Differenzierung von Familie, Politik, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft entstehen in diesen Teilsystemen funktionsspezifische Rollen, die zugleich durch die Geschlechterdifferenz überwölbt werden. Zu beobachten ist ein eigentümliches Muster von (funktionaler) Trennung einerseits und Fusion durch die Geschlechtersemantik andererseits. Interessant ist ebenfalls die Vermischung von Nation und Geschlecht. Das im Medium der Nation gestiftete ‚Wir‘ hält die Unterschiede zwischen den Mitgliedern zwar partiell unsichtbar (vgl. Anderson 2005; Hahn 1993, 2000). Doch zugleich ist die geschlechtliche Konnotierung der nationalen Semantik nicht zu übersehen. Repräsentationen des Nationalen leben gewissermaßen von der Verwendung der Geschlechterdifferenz. Als klassisches Beispiel gelten die Feste der Französischen Revolution, die die neue Ordnung im Medium der Geschlechterdifferenz zur Aufführung bringen (vgl. Baxmann 1989: 30ff., 85ff.). Das Klassifikationsschema der Geschlechterdifferenz erweist sich als funktional, um Unsicherheiten beim Aufbau der nationalen Selbstbeschreibung zu überbrücken. Die Verwendung dieser Unterscheidung erhöht die Sichtbarkeit der Bezugseinheit der Nation und verleiht dieser Plausibilität. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung verschafft sich im Begriff der Nation „einen hochplausiblen Ausweg“ für
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die Aktivierung von Identitätsressourcen, „die die Funktionssysteme in ihren Inklusionsformen nicht bieten können“ (Luhmann 1997: 1051). Die symbolische und organisatorische Koppelung von Nation und Geschlecht lässt sich an einer Kerninstitution der Moderne, der Staatsbürgerschaft, skizzieren. Die Staatsanghörigkeit legt die Mitgliedschaft im staatlichen Verband fest, die an die Zugehörigkeit zur Nation gekoppelt ist. Daran anknüpfend erfolgt über die Institution der Staatsbürgerschaft der Zugang zu politischen und sozialen Rechten (vgl. Grawert 1973; Wobbe 1997). Wie Thomas Marshall und Talcott Parsons argumentiert haben, stellt diese Institution einen Mechanismus dar, die den gleichen Status für die Bürgerinnen und Bürger verankert. Die Staatsbürgerschaft gilt daher als ein neuartiges Modell der Sozialintegration, das die verschiedenen Bevölkerungsgruppen eines Staatsterritoriums unabhängig von Stand und Besitz binnenstaatlich zu Gleichen macht (vgl. Marshall 1992; Parsons 1972).6 Mit der Auflösung der alten, ständischen und der Errichtung der modernen Ordnung werden zugleich Kategorien eingeführt, die die Einbeziehung in diesen Rechtszusammenhang auf bestimmte Gruppen beschränken. Diese eigentümliche Mischung von universalistischen Gleichheitsvorstellungen und Kategorien ihrer Einschränkung wird bei Immanuel Kant anschaulich, der die Idee des Bürgers an das Mannsein knüpft. Die für einen Staatsbürger erforderliche Qualität ist an eine ‚natürliche‘ und eine wirtschaftliche Bedingung geknüpft: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in der Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen, (dass es kein Kind, kein Weib sei), die einzige: dass er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe, (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt […].“ (Kant 1985: 143)
Hieran ist sehr schön nachzuvollziehen, wie das Geschlecht als kognitives Schema für die Konditionierung des Staatsbürgers ins Spiel kommt und inwiefern Frauen und Männer konkret berücksichtigt werden.7 Das Frausein ist zwar kein Hindernis für die Einbeziehung in den Staatsverband. Daher sind Frauen als Staatsangehörige auch vom Recht und von kollektiv bindenden politischen Ent6
Auf das damit gesellschaftstheoretisch verbundene Inklusionsverständnis gehen wir am Ende dieses Kapitels ein. 7 Obschon Kant von den individuellen Mitgliedern des Staates spricht, vermischt er diese Kategorie mit der Idee des Bürgers als Hausvater (vgl. Löther 1994: 239f.). Der grundlegende Bruch hierzu findet Mitte des 19. Jahrhunderts statt, als der vor allem in der englischen Frauenbewegung entwickelte Gedanke, Männer und Frauen seien nicht als Familien- und Geschlechtswesen, sondern als Individuen Teil des Staates, zum Tragen kommt (Spree 1994: 302ff.).
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scheidungen betroffen. Doch Kant führt das Frausein als eine natürliche Eigenschaft an, die den Zugang von Frauen als individuelle Träger des Stimmrechts in der Politik prinzipiell blockiert. Bemerkenswerterweise führt Kant eine zweite Qualität, nämlich die wirtschaftliche Unabhängigkeit, an, die auf den ersten Blick geschlechtsindifferent erscheint. Allerdings spielen auch in diese moderne Ideen von persönlicher Freiheit und Selbstverfügung, von individueller Entscheidungsfreiheit und Ungebundenheit hinein, die männlich aufgeladen und folgenreich für die ungleiche und ungleichzeitige Inklusion der Geschlechter gewesen sind.8 Historisch tritt diese Unterscheidung erst in den Vordergrund, als auch für Frauen Partizipationsmöglichkeiten in greifbare Nähe rücken (vgl. Honegger 1991; Laqueur 1992). Mit dem Niedergang der alten Ordnung, als nicht mehr die ständische Zugehörigkeit, sondern die individuelle Berücksichtigung bedeutsam wird, entfallen die sozialstrukturellen Grundlagen für den Ausschluss von Frauen. Nun werden neue Begründungen formuliert, die untermauern sollen, dass Frauen nicht über die erforderlichen Voraussetzungen verfügen, die sie als Staatsbürgerin qualifizieren. Kriterien wie ökonomische oder auch ‚geistige’ Selbstständigkeit werden vielfältig variiert an das Mannsein gekoppelt (vgl. Appelt 1999: 43ff.; Frevert 1995: 61ff.; Honegger 1991: 14). Die Geschlechterdifferenz, so lässt sich zusammenfassen, wird dann virulent, wenn „es um die Konkretisierung der abstrakt gefassten Rolle durch eine geschlechtliche Person geht“ (Weinbach/Stichweh 2001: 45), die je nach Geschlechtszugehörigkeit anders gedacht wird. Diese Idee erhält im 19. Jahrhundert durch die Verknüpfung von Staatsbürgerstatus und Wehrpflicht eine wirkungsvolle institutionelle Gestalt: Staatsbürgerschaft, Nation und Männlichkeit werden institutionell eng miteinander verflochten. Die im Zuge der Nationalstaatsbildung stattfindende Modernisierung der Streitkräfte samt Einführung der Wehrpflicht und des Soldatenberufs erfolgen weitgehend unter Ausschluss der Frauen. Die Verknüpfung symbolisiert politische Partizipation, Zugehörigkeit zur Nation und die Kampfkraft zur Verteidigung ihrer Souveränität (vgl. Seifert 2002).9 Das Militär gilt daher als ein traditionsreiches Beispiel dafür, dass die Arbeitsteilung selbst, nämlich die Zuweisung zu bestimmten Tätigkeiten und Bereichen, als ein sozialer Mechanismus fungiert, der die Geschlechterdifferenz institutionell allererst plausibilisiert. Dieses Arrangement der Geschlechter (vgl.
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Vgl. Frevert (1995: 61ff.); die klassische an der Vertragstheorie gewonnene Kritik ist von Pateman (1988) dargelegt worden (vgl. auch Shaw 1996; Hobson 2005). 9 Gerhards (2005b: 6) verwendet in einem anderen Kontext die Metapher der „nationalstaatlich kasernierten Gleichheitsvorstellung“, die diesem Sachverhalt treffend charakterisiert.
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Goffman 1994) bietet einen Anknüpfungspunkt für den Aufbau sozialer Prozesse und Strukturen und stabilisiert Benachteiligung und Ungleichheit.10 In dieser Sicht ist nicht nur das Faktum der Benachteiligung interessant, sondern auch, „in welchen Arrangements dies geschieht und welche symbolische Bedeutung diesen Arrangements zukommt“ (ebd.: 117). Von Interesse ist also die symbolische Funktion dieser Anordnung für Ungleichheit. So hat etwa die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Soldatenstatus im 19. Jahrhundert Frauen als Bürgerinnen benachteiligt, zugleich wurde hiermit eine Unterscheidung von Wehrhaftigkeit und Schutzbedürftigkeit verankert, die die vom Mann abgeleitete Position der Frau symbolisch legitimierte und Männlichkeit heroisierte.
1.2 Die De-Institutionalisierung der Differenz Das Militär hat sich bis heute als besonders beharrlich bei der Aufrechterhaltung der Differenz erwiesen. In anderen gesellschaftlichen Teilbereichen fallen die Barrieren des Zugangs früher: Dieser Prozess beginnt um 1900 mit dem Zugang zu Bildung und Wissenschaft, mit der Erlangung des Wahlrechts und mit dem partiellen Zugang zu sozialen Rechten, bei denen Frauen allerdings – bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zum Teil noch über die Zuschreibung zum Ehemann berücksichtigt werden (vgl. Bock/Thane 1991; Kaufmann 1997). Die Lockerung des Ausschlusses vollzieht sich historisch wie auch gesellschaftlich ungleichzeitig und diskontinuierlich, so dass die Vorstellungen von Differenz und Gleichheit oftmals koexistieren, sich wechselseitig dementieren, aber auch abschleifen. Anschaulich wird diese Ungleichzeitigkeit daran, dass das Verbot der Geschlechterdiskriminierung nach 1945 zwar den Status einer Menschenrechtsnorm erlangt, dass jedoch die Frauen in den demokratischen, europäischen Wohlfahrtsstaaten erst während der 1960er und 1970er Jahre – oder sogar später wie im Schweizer Fall des kantonalen Wahlrechts – politisch und rechtlich umfassend einbezogen werden (vgl. Lewis 1992; Gerhard 1997). 10 In der Soziologie wird dieses Arrangement in der Regel von der mikrosozialen Seite untersucht, in neueren Studien allerdings auch im Hinblick auf die Verknüpfung von interaktiver und sozialstruktureller bzw. organisationaler Ebene behandelt (vgl. Gildemeister et al. 2003; Heintz et al. 1997, 2004). Wir knüpfen hier vor allem an die institutionalistische Seite Goffmans an, die u.a. auch vom NeoInstitutionalismus aufgegriffen wird (vgl. Meyer/Rowan 1991; Jepperson 1991). Einzelne soziale Situationen sind demnach Teil eines größeren Arrangements, das Goffman als institutionelle Reflexion oder Reflexivität bezeichnet (Goffman 1994: 128ff.). Dabei handelt es sich um Prozesse, die dafür sorgen, dass in der sozialen Organisation von Institutionen – Paarbeziehungen, Familie, Arbeitsmarkt, Religion, Recht, Sport – „die angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die es ja gibt, überhaupt irgendeine Bedeutung“ (ebd.: 128) erhalten. Zugleich reflektiert diese Darstellung der Geschlechter relevante Merkmale der Sozialstruktur (ebd.: 41).
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In diesem Prozess werden die im 19. Jahrhundert verankerten Normen der Geschlechterdifferenz gelockert, d.h. ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit wird instabil und wird durch die Gleichberechtigung überlagert. Goffman (1994: 119) registriert hellsichtig, dass die Ungleichheit der Geschlechter in der Gegenwartsgesellschaft zunehmend weniger durch natürliche Unterschiede legitimiert werden könne. Die Aufrechterhaltung des herkömmlichen Musters der Geschlechterdifferenz erfolge unter zunehmend schwierigeren Bedingungen und werde institutionell nicht mehr durchgehend – wie Bildung, Politik und Recht zeigen – abgestützt und reproduziert. In der aktuellen geschlechtersoziologischen Diskussion wird dieses Phänomen als De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz bezeichnet. Hiermit ist gemeint, dass sich die institutionellen Mechanismen der Reproduktion des Geschlechterverhältnisses umstellen, da die Differenzannahme ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit verliert, also nicht mehr als taken-for-granted gelten kann. Damit ist noch nicht gesagt, dass dem Geschlecht keine soziale Bedeutung mehr zukommt. Vielmehr geht es um die Frage, welche soziale Relevanz die Geschlechterdifferenz in sozialen Situationen und welchen Halt sie in den Strukturen der Gesellschaft hat (vgl. Wobbe 2005a).11 Institutionalistisch ist dann die Frage interessant, wodurch das Geschlecht auf veränderte Weise reproduziert wird (vgl. Heintz 2001; Heintz/Nadai 1998). Die institutionelle Lockerung des Geschlechterarrangements, das aus dem Umbruch zur Moderne hervorgegangen ist, ist im 20. Jahrhundert zu beobachten. In Europa und auch weltweit erhalten Frauen als Individuen Zugang zur Staatsbürgerschaft und zu sozialen Rechten. Ausschlussverfahren aufgrund der Geschlechterdifferenz, so zeigt das Militär, werden nun erklärungsbedürftig, während das Gleichheitsgebot maßgeblich wird. Die traditionelle Sonderstellung des Militärs gegenüber zivilen Bereichen, so betont die Militärforschung, unterliegt in steigendem Maß rechtlich-zivilen Standards: „Today, any significant divergence from wider civilian values and styles of life must be explicitly rationalized to public opinion, with arguments and supporting evidence that will convince a court of law.“ (Dandeker/Segal 1996: 40) Recht und Rechtsprechung spielen bei dieser Umstellung von Differenz auf Gleichheit weltweit eine prominente Rolle. Mary F. Katzenstein spricht in ihrer detailreichen Studie über den feministischen Protest in Kirche und Militär der USA in diesem Zusammenhang von der „rights revolution“ (Katzenstein 1998:
11 Die hiervon ausgehende soziologische Kontroverse dreht sich um die Frage, ob eine De-Institutionalisierung oder weiterhin eine Vergeschlechtlichung sozialer Prozesse und Strukturen zu beobachten ist (vgl. dazu Heintz 2001, insbesondere die Einleitung; Wetterer 2002).
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5).12 Damit meint sie, dass sich die öffentliche Anerkennung der Legitimität von Gleichberechtigung in den 1970er Jahren zunehmend in Gerichtssälen und in der Rechtsprechung Geltung verschafft.13 In historischer Dimension zeige sich ein „shift from assumption of difference […] to the equal treatment approach“ (ebd.: 30). Diese öffentlich anerkannte Aushandlung von Gleichberechtigung reflektiert zwei Entwicklungstrends in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: zum einen die wachsende gesellschaftliche Inklusion von Frauen, insbesondere in Erwerbsarbeit und Bildung, zum anderen den Bedeutungszuwachs von Gerichten, also von der Rechtsprechung im Unterschied zur Gesetzgebung. Beide Entwicklungen begünstigen die Lockerung von Geschlechterarrangements, die auf dem Grundsatz der Differenz beruhen. In diesen weltweiten Prozessen, die national und regional ein vielfältiges und komplexes Bild der Mobilisierung des Rechts und der Legitimität von Gleichberechtigungsskripten zeigen, spielt die EU eine interessante Rolle. Sie errichtet eine institutionelle Struktur, in der die Gleichheit aller im Binnenmarkt den Kern ihrer politischen und rechtlichen Selbstbeschreibung bildet (vgl. Gerhards 2005b). In diesem Kontext wird auch eine neue Referenzebene für Geschlechtergleichheit aufgebaut, die bestehende nationale Grundlagen für die Reproduktion der Geschlechterdifferenz abschleift (vgl. Wobbe 2001). Ein maßgeblicher rechtlicher Akteur dieses Wandels ist der Europäische Gerichtshof (EuGH), an dessen Urteil zur Öffnung der Bundeswehr für Frauen sich im Folgenden einige Merkmale in der Veränderung des Arrangements von Geschlecht und Nationalstaat nachzeichnen lassen (vgl. den nächsten Abschnitt).
1.3 Gleichheit vor Gericht: Recht und Gleichbehandlung in der Europäischen Union Als sich die Elektrotechnikerin Tanja Kreil 1996 für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr bewarb und das Personalamt der Bundeswehr sie mit der Begründung abwies, nach dem Grundgesetz dürften Frauen keinen Dienst mit der Waffe leisten, klagte sie dagegen mit der Begründung, dass die Ablehnung dem EG-Gleichbehandlungsprinzip zuwiderläuft. So schlug Kreil den Weg für eine 12 Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts schien die organisatorische Ähnlichkeit von Militär und Kirche ebenfalls mit einem ähnlichen Rollenverständnis der Frauen in diesen Institutionen zu korrespondieren. Nach 1945 beobachtet Katzenstein dagegen, dass Frauen in der Kirche und im Militär verschiedene Selbstbeschreibungen und Strategien wählen (Katzenstein 1998: 15). 13 In den USA erfolgte 1963 der Equal Pay Act und 1964 der Equal Rights Act, die die Diskriminierung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts verboten (vgl. ebd.: 29).
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europäische Rechtsaushandlung ein. Die Ablehnung ihrer Bewerbung allein aus geschlechtsspezifischen Gründen sei gemeinschaftsrechtswidrig, da sie gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie (76/207/EWG) aus dem Jahre 1976 verstoße, die den gleichen Zugang zu Beruf und Bildung vorsieht.14 Als es nach drei Jahren zur Verhandlung beim EuGH kam, argumentierte die deutsche Regierung, dass Fragen der (nationalen) Verteidigung von der Richtlinie auszuschließen seien, und verwies zudem darauf, dass die Bundeswehr aufgrund der deutschen Geschichte eine besondere Verpflichtung für den Schutz von Frauen im Krieg habe. Dagegen gab das Gericht zu bedenken, dass der Grundsatz nationaler Belange und der der Gleichbehandlung gegeneinander abzuwägen seien und hierbei die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben müsse.15 Das Gericht gab schließlich dem Prinzip der Gleichbehandlung vor den nationalen Belangen Vorzug. Aus dieser Entscheidung, die auf den ersten Blick vielleicht nur ein Randproblem des Arbeitsmarktes betrifft, lassen sich einige wichtige Prinzipien des supranationalen Gleichheitsskripts erschließen. Zunächst ergab sich im Verfahren die Frage, ob die Richtlinie auf die Bundeswehr anzuwenden sei. Hierzu stellte der EuGH fest, dass die Richtlinie für öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse gelte und demnach auch auf die Bundeswehr als Arbeitgeber Anwendung findet (Rn. 14). Als Instanz des staatlichen Gewaltmonopols könne das Militär nicht eine Sonderbehandlung beanspruchen, also von der Gleichbehandlungsrichtlinie ausgeklammert werden. Da das Militär einen Arbeitgeber im öffentlich-rechtlichen Bereich darstelle, sei auch für diesen die Gleichbehandlungsrichtlinie verpflichtend. Nachdem kurze Zeit zuvor der EuGH in einem Grundsatzurteil entschieden hatte, dass Frauen zur Eliteeinheit der „Royal Marines“ keinen Zugang haben, stand nun die bundesdeutsche Ausschlussregelung auf dem Prüfstand.16 Der Art. 2 der Richtlinie sieht zwar Ausnahmeregelungen vor, die vor und nach dem
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Es handelt sich um die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. Art. 3, Abs. 1 lautet: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung […] beinhaltet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand – erfolgen darf.“ 15 Vgl. EuGH Kreil, Rn. 23. 16 Vgl. EuGH v. 26.10.1999, Rs. C-273/97, Angela Sirdar/The Army Board, Secretary of State for Defence, Slg. 1999, I 7403-7445, Rn. 19, Fn. 19. Frau Sirdar, die zuvor als Köchin bei Einheiten der britischen Artillerie gearbeitet hatte, wurde versehentlich eine Stelle bei den „Royal Marines“ angeboten. Der EuGH bestätigte die Vorgabe, dass Personen zum Einsatz in dieser Einheit ständig verwendbar sein müssen und Frauen daher auszuschließen seien. Der erste Fall, bei dem die Gleichbehandlungsrichtlinie in einem Urteil 1991 auf interne Sicherheit angewandt wurde, war: EuGH Johnston.
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Kreil-Urteil Gegenstand verschiedener Verfahren geworden sind.17 Das Gericht vertrat in diesem Verfahren allerdings die Auffassung, dass der Ausschluss der Frauen vom gesamten Berufssektor der Bundeswehr mit insgesamt 300.000 Arbeitsplätzen nicht hinzunehmen ist. Daher verstoße der von der deutschen Regierung vertretene Ausschluss der Frauen vom militärischen Bereich gegen das Gleichbehandlungsgebot im Beruf. Angesichts der historischen Verbindung von Männlichkeit, nationaler Souveränität und Militär, aus der in der europäischen Geschichte traditionell Sonderrechte hervorgegangen sind, reflektiert diese Zurechnung des Militärs zum zivilen Arbeitsmarkt eine Relativierung der rechtlichen Sondergeltung nationaler Streitkräfte. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zwischen zivilen und nicht-zivilen Sektoren verschiebt sich dahingehend, dass militärische Organisationen zunehmend als Arbeitsorganisation an den zivilen Rechtsnormen gemessen werden. Das führt zum zweiten Aspekt, nämlich zur Begründung für den blockierten Zugang von Frauen zum Militär. Die deutsche Regierung vertrat die Auffassung, dass das Verbot des Militärdienstes für Frauen die Funktion habe, diese als Teil der Zivilbevölkerung zu schützen. Die Richter machten dagegen deutlich, dass die Ausklammerung der Frauen aus dem Militär nicht ihren Schutz gewährleiste, die Grenzen zwischen sog. Kombattanten und Nicht-Kombattanten seien im 20. Jahrhundert vielmehr stetig verschoben worden (vgl. hierzu Segal 1999; Seifert 2002). Außerdem rechtfertige die Verpflichtung zum Einsatz von Waffen „für sich allein nicht den Ausschluss von Frauen vom Zugang zu militärischen Verwendungen“ (Rn. 28). Darin sah das Gericht den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, dem zufolge „keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts […] erfolgen darf“ (76/207/EWG, Art. 2). Am 11. Januar 2000 gab der EuGH bekannt, dass die deutschen Verfassungsbestimmungen mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht übereinstimmten und daher geändert werden müssten: „Der vollständige Ausschluss von Frauen vom Dienst mit der Waffe gehört demnach nicht zu den Ungleichbehandlungen, die nach Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie zum Schutz der Frau zulässig sind“ (Rn. 31), und verletze daher europäisches Recht. Aufgrund dieses Urteils nahm der Bundestag eine Verfassungsänderung vor und die Bundeswehr wurde umgehend für Frauen geöffnet. Diese Rechtsentscheidung zeigt, dass für das Militär als Arbeitgeber europäische Gleichberechtigungsnormen gelten, die die symbolische Koppelung von 17 Art. 2, Abs. 3 lautet: „Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche beruflichen Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu jeweils erforderliche Ausbildung, für die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen.“ Wie der Fall Sirdar zeigt, ist dieser Artikel vom EuGH in kurzer Zeitfolge unterschiedlich gedeutet worden. Vgl. EuGH Sirdar.
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Männlichkeit und Nation unter Druck setzen (vgl. Dittmer/Mangold 2005: 65; Wobbe 2003a). Hiermit wird auch die imaginäre Trennung von Militär und Weiblichkeit unterspült, die historisch für das nationalstaatliche Arrangement der Geschlechter konstitutiv war.18 Schließlich verweist diese Entscheidung auf die Einbettung der Gleichberechtigung in den Binnenmarkt, denn die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gilt als Integrationsziel in allen Sektoren dieses Marktes. So räumt der EuGH in der Rechtssache Kreil zwar ein, dass Sicherheits- und Verteidigungsfragen in die nationale Zuständigkeit fallen, dies bedeute allerdings nicht, dass sie außerhalb des Gleichbehandlungsgrundsatzes stünden. Bei der Auslegung komme dem Mitgliedstaat zwar Ermessensspielraum zu, doch sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Ein genereller Ausschluss von Frauen vom Dienst an der Waffe sei unverhältnismäßig. Das Gericht begründet seine Entscheidung ausdrücklich damit, dass die Bundeswehr als Arbeitgeber, also als Teil des (zivilen) Arbeitsmarktes, dem Gleichbehandlungsgrundsatz unterliegt. Diese Auslegung vermittelt einen Eindruck vom Gewicht des Gleichheitsprinzips im europäischen Rechtskontext. Die Richtlinie aus dem Jahre 1976 ist sekundärrechtlicher Ausdruck des im Gemeinschaftsrecht „allgemein geltenden Gleichheitssatzes, der das gesamte Arbeitsleben erfasst und insbesondere den gleichberechtigten Zugang zum Beruf regelt“ (Hühn 2001: 28). Dieses Urteil zeigt, dass der EuGH in seinen Fallentscheidungen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts überwacht und durch die Auslegung die Grenzen des Marktes auslotet und im Lichte eigener Entscheidungen stetig erweitert und reformuliert (vgl. Ellis 1998; Shaw 1996). Zugleich ist das Kreil-Urteil ein instruktives Beispiel dafür, wie die formal getrennten Regelungsbereiche der EU faktisch ineinander greifen und sich durchdringen. Die EU wird oftmals mit dem Bild einer Tempelkonstruktion veranschaulicht und stellt demnach das verbindende Dach über drei Säulen dar. Die Europäischen Gemeinschaften (EG) bilden die klassische Säule, die am weitesten integriert ist. Sie funktioniert nach eigenen Regeln und ihre Aufgaben sind supranational vergemeinschaftet, d.h. die Mitgliedstaaten haben sie mit eigenen Hohheitsrechten ausgestattet. Diese Säule gründet auf den in den Römischen Verträgen zusammengeschlossenen Gemeinschaften19 ergänzt durch die Wirtschafts- und Währungsunion, die ebenfalls in den Bereich der Vergemeinschaftung fallen. Die zweite Säule unter dem Dach der EU besteht aus der Ge18
Zugleich hat das Urteil eine Signalwirkung für die Einbeziehung von Gender-MainstreamingProgrammen in die Streitkräfte bewirkt. Seit dem Kreil-Urteil macht die EU-Gleichstellungspolitik vor Streitkräften als Arbeitgebern nicht mehr Halt (vgl. Dittmer/Mangold 2005: 65). 19 Seit 2002 ist die EGKS aufgelöst, während die EAG weiterbesteht.
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meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die dritte aus der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Diese beiden Säulen bilden eine zwischenstaatliche Kooperation, da die Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen behalten haben. Das Militär gehört in dieser Architektur eigentlich zur zwischenstaatlichen Säule der GASP, wird also vom Gemeinschaftsrecht ausgeklammert. Da die Gleichberechtigungsnormen aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Binnenmarkt unter den supranationalen Regelungsbereich fallen, relativiert dieses Prinzip die nationalen Gesichtspunkte. Der EuGH hat erstmals im Fall Johnston 1986 entschieden, dass Organisationsfragen der Streitkräfte vom Gemeinschaftsrecht erfasst werden können. Auch das hier erläuterte Kreil-Urteil dokumentiert, dass das Militär in den Geltungsbereich des supranationalen Rechts fallen kann. Diese Auslegung ist umstritten und wird als Überdehnung und Überspannung der Rechtsprechungskompetenz des EuGH kritisiert (vgl. Hühn 2001: 18ff.). Zugleich verweist sie auch auf die symbolische Brisanz von Gleichberechtigungsnormen an der Nahtstelle von nationalem und supranationalem Normsystem. Das Urteil gestattet somit einen ersten Einblick in den institutionellen Kontext der europäischen Gleichberechtigungsnormen, in deren Merkmale und Prinzipien. Erstens haben wir gezeigt, dass diese Normen an den Binnenmarkt und an die Leitidee der gleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen gekoppelt sind. Diese Auffassung von Gleichheit ist zweitens im supranationalen Recht verankert, das es Individuen ermöglicht, die Verletzung von europäischen Normen, in diesem Fall des Gleichbehandlungsgrundsatzes, über den Weg der nationalen Gerichte einzuklagen und auf diese Weise zu einer Anpassung nationaler Normen an die europäischen beizutragen. Die Gleichberechtigungsnormen gehören zu den Kernvorstellungen des Gemeinsamen Marktes, die sich von der im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts entstandenen Gleichheitsidee unterscheiden: Sie betreffen Rechtsansprüche und Chancen in einem besonderen Marktsystem, nicht aber in einem nationalstaatlichen Kontext. In der EuGH-Entscheidung zur Bundeswehr wird dieser Gesichtspunkt thematisiert. Das Gericht folgt ausdrücklich nicht dem Argument der Bundesregierung, welche mit dem Hinweis auf die deutsche Geschichte den Ausschluss von Frauen begründen wollte. Das Urteil relativiert vielmehr besondere nationale Erwägungen und dehnt die national begrenzte Idee von Gleichheit auf den Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem europäischen Arbeitsmarkt aus. Der Prozess der europäischen Integration ist also mit erheblichen Folgen für die Vorstellung von Gleichheit verbunden: „Die Idee nationalstaatlich begrenzter Gleichheit wird ausgedehnt und europäisiert, eine nationalstaatlich begrenzte Codierung von Gleichheit wird ersetzt durch eine europäisch begrenzte Idee der
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Gleichheit“ (Gerhards 2005b: 5). Diese versteht alle Bürger der Union als Gleiche (vgl. Beck/Grande 2004: 171; Groeben 1982: 94f.; Wobbe/Biermann 2007). Diese Entwicklung wird in der Forschung durchaus als problematisch betrachtet. So vertritt Lewis (2006: 423) die Ansicht, dass in den letzten 50 Jahren, insbesondere seit den 1980er Jahren (vgl. Kap. 5), die Grenzen zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Nachteil der Frauen verfestigt werden. Zugleich ist allerdings auch deutlich, dass die EU in einem anderen historischen Kontext als der Nationalstaat entstanden ist und „ein Sozialstaat Europa“ daher nie „ein plausibler Entwicklungspfad“ (Pierson/Leibfried 1998: 423) gewesen ist (vgl. Gerhards 2005a: 173ff.). Zur Zeit der Gründung der EWG erfolgt in den Mitgliedstaaten der Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Für den sozialpolitischen Bereich wird die nationale Zuständigkeit ausdrücklich reklamiert und eine entsprechende Arbeitsteilung mit der Gemeinschaft anvisiert (vgl. Küsters 1982). Seitdem und verstärkt in Folge des Vertrags von Maastricht (1992) bildet sich eine deutliche Arbeitsteilung zwischen der nationalen und europäischen Ebene heraus (vgl. Kaufmann 2003b: 317ff.). Hier zeichnet sich bereits ab, dass die EU den nationalstaatlichen Pfad nicht wiederholt, sondern eigene Wege geht, die nicht mehr hinreichend am Vorbild des nationalstaatlichen Modells gemessen werden können (vgl. Münch 2000).
1.4 (Staats-)Bürgerschaft: Formen nationaler und supranationaler Inklusion Wie eingangs erläutert, sind Mitgliedschaft und individuelle Rechte an die Zugehörigkeit zu einer vorgestellten Gemeinschaft (Identität) gekoppelt. In der Soziologie ist diese historische Verknüpfung als strukturelles Merkmal des Nationalstaats herausgearbeitet worden, der kulturelle Zugehörigkeit mit Rechtsansprüchen verknüpft, d.h. nationale Grenzbildung und Identität stehen mit den neuen Aufstiegskanälen im Rechts- und Wohlfahrtsstaat in Verbindung (vgl. Bendix 1964; Rokkan 2000). In der Moderne bedingen sich Identitätsbildung der Person und der Ausbau des Wohlfahrtsstaats wechselseitig (vgl. Luhmann 1981: 25ff.). Wie um 1900 zu sehen ist, erfolgt diese wechselseitige Konstituierung geschlechterspezifisch unterschiedlich. So werden Männer als Individuen berücksichtigt, Frauen dagegen über ihre Familienrolle - eine Koppelung, die nach 1945 gelockert wird. Hierfür ist die Entgeltgleichheit ein plastisches Beispiel, denn nach dieser Vorgabe sind Frauen als Individuen entsprechend ihrer Leistungen, nicht aber nach askriptiven Merkmalen zu entlohnen.
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Die zunehmende Inklusion von Frauen stellt einen Prozess dar, der nicht auf Europa beschränkt ist. Vielmehr setzt nach 1945 eine verstärkte Verankerung von individualrechtlichen Vorgaben in Form von Menschenrechten, von politischen und sozialen Rechten ein (vgl. Koenig 2005b; Ramirez/McEneaney 1997). Yasemin Soysal (vgl. 1994, 1996, 2001) stellt diese Umbrüche in Zusammenhang mit grundlegenden Veränderungen im nationalen Mitgliedschaftsmodell, die sich während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollziehen. Rechtsansprüche fallen nicht mehr mit der Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv und entsprechenden territorialen Grenzen zusammen. Die sozialstrukturelle Grundlage dieses Wandels sieht Soysal in der Restrukturierung der internationalen Arbeitsteilung und den daraus resultierenden Migrationsbewegungen, in der massiven Entkolonialisierung und in neuen globalen Diskursen um Rechte und Identität, in der Universalisierung von Menschenrechten und in der Entstehung von politischen Mehrebenen-Systemen (multi-level polities).20 Soysal (vgl. 1996: 182) bringt diese vier Strukturmerkmale mit der Verfestigung einer weltkulturellen Ordnung, der sog. world polity, in Verbindung. Die EU lässt sich in diesen Analyserahmen als ein prominentes Beispiel für ein soziales System zwischen globaler und nationaler Ebene eintragen. Die Besonderheit der EU zwischen nationaler und globaler Verortung wird oftmals an der Unionsbürgerschaft festgemacht. Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft in den Vertrag von Maastricht (1992) wird eine supranationale Institution geschaffen, die die nationale Gleichheit durch das Prinzip der Gleichheit aller Unionsbürger überwölbt (vgl. Wiener 1998, 2007) und eine Koexistenz von nationaler und supranationaler Mitgliedschaft etabliert (vgl. Wobbe 2000, 2007). Die Unionsbürgerschaft baut auf der nationalen auf, d.h. sie erwächst aus der Staatsangehörigkeit in den Mitgliedsländern, geht aber über diese hinaus, indem sie Rechte verankert, die durch die Autorität der EU verliehen sind und deren Geltung gegenüber dem nationalen Recht durchgesetzt wird. Hieran lassen sich also zwei Gesichtspunkte nachvollziehen, die auch für das Gleichberechtigungsskript aufschlussreich sind. Zum einen kann die Unionsbürgerschaft als ein sog. post-nationales Mitgliedschaftsmodell beschrieben werden. Die nationale Zugehörigkeit ist partiell von dem Zugang zu Rechten entkoppelt, so dass diese nicht (mehr) die einzige Quelle von Rechten darstellt: So wurde im Fall Kreil europäisches gegen nationales Recht durchgesetzt. Noch präziser lässt sich die supranationale Form als fragmentierte (vgl. Wiener 1998: 294ff.) bzw. gestufte (vgl. Stichweh 1998: 545) Bürgerschaft cha20
Hieran schließt sich eine breite, zunächst politikwissenschaftliche Diskussion, über das Regieren im Mehrebenen-System an, die mit Bezug auf die EU Formen der Governance und der Regulierung unter den Bedingungen veränderter Staatlichkeit behandelt (vgl. für viele andere: Jachtenfuchs/ Kohler-Koch 1996: 23, 39; vgl. jetzt für die soziologische Sicht Frerichs 2008).
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rakterisieren, denn Personen werden nur in bestimmter Hinsicht teilbereichsspezifisch berücksichtigt. So bezog sich die Klägerin Kreil in dem erläuterten Verfahren auf Rechtsansprüche innerhalb des Arbeitsmarktes – nicht etwa in der Familie. Der Unterschied zum nationalen Modell lässt sich differenzierungstheoretisch verdeutlichen. Aus dieser Perspektive kann die nationale Mitgliedschaft als Brücke zur politischen und sozialen Inklusion gelten. In der Moderne beruht diese auf politischer Demokratie einerseits und der Universalität des Zugangs zu den Anrechten im Wohlfahrtsstaat (wie Bildung, Medizin, soziale Gewährleistungen) andererseits. Erst über die Staatsangehörigkeit erfolgt die Berücksichtigung im politischen System wie auch der Zugang zum Wohlfahrtsstaat. Aus diesem Grund wird von doppelter Inklusion, nämlich in das politische System und in die Leistungsberechtigung, gesprochen (vgl. ebd.: 544). Diese Einbeziehung stellt ein spezifisches historisches Muster der Inklusion dar. Die doppelte Inklusion und der darin zum Ausdruck kommende Druck zur sog. Vollinklusion (vgl. ebd.: 543) werden nicht noch einmal auf der supranationalen Ebene aufgelegt. Vielmehr werden Personen anknüpfend an ihre nationale Staatsangehörigkeit primär im Hinblick auf den Binnenmarkt, also ins Wirtschaftssystem, einbezogen. Die Weichen hierfür werden bereits im EWGV mit der Freizügigkeitsregelung gestellt. Das darin verankerte Prinzip „umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ (Art. 48, EWG).21 Der Kern dieses Freizügigkeitsprinzips verbietet die Diskriminierung aus Gründen der nationalen Zugehörigkeit. Den Arbeiternehmern und -nehmerinnen steht es frei, ob sie ihren Wohnsitz im Herkunftsland behalten oder im Zielland nehmen, d.h. territoriale und rechtliche Bezüge werden partiell voneinander entkoppelt. Bereits die 3. EWG-VO konkretisiert 1958 dieses Gleichbehandlungsgebot: „Die Personen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats wohnen […], haben die gleichen Pflichten und Rechte aus den die Soziale Sicherheit betreffenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats wie dessen eigene Staatsangehörige.“ (Art. 8)22 Das national formatierte Modell der Inklusion wird mit diesen 21
Diese Regelung nimmt Bezug auf das ILO-Abkommen Nr. 97 über die Wanderarbeiter (1949) insbesondere Art. 6.1. Vgl. hierzu Kap. 2. 22 EWG-VO Nr. 3 vom 28.9.1958 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, ABL Jg. 1958, Art. 8, S. 566/58. Diese Vorgabe knüpft an den Art. 69 des Vertrags über die Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS, 1952) an, in dem erstmals die Angleichung von in- und ausländischen Beschäftigten im Sektor der Montanindustrie verankert wird. Vgl. hierzu Kap. 2.
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Vorgaben aufgebrochen. Die Freizügigkeit, die zu den grundlegenden Freiheitsrechten gehört, die im 19. Jahrhundert in Europa erkämpft wurden, wird nun aus der binnenstaatlichen Beschränkung gelöst, um interne Hindernisse im Gemeinsamen Markt zum Zweck der grenzüberschreitenden Mobilität abzubauen (vgl. Groeben 1982: 94f.). In den 1950er Jahren setzt die Freizügigkeitsregelung somit eine DeInstitutionalisierung des nationalen Mitgliedschaftsmodells in Gang und sie ist der Einführung der Unionsbürgerschaft vorgelagert (vgl. Shaw 1996; Wiener 1998: 61ff.). Das auf der Freizügigkeitsregelung gründende Diskriminierungsverbot stellt einen eigenen supranationalen Inklusionsmodus dar, der in diesem Buch immer wieder zur Sprache kommt. Diese Einbeziehung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Adressierung als Marktteilnehmerinnen wird später durch die Unionsbürgerschaft23 politisch ergänzt und – soweit erforderlich – durch weitere Programme abgestützt. Anders als die nationale Mitgliedschaft bildet die Unionsbürgerschaft keine Brücke zur wohlfahrtsstaatlichen Inklusion, sondern stützt die Einbeziehung in den Markt politisch ab. So gesehen liegt die Annahme nahe, dass nationale und supranationale Inklusionsmodi nicht identisch sind, sich aber wechselseitig ermöglichen und beschränken. Die supranationale Einbeziehung folgt aufgrund der anderen Strukturbildung nicht dem Muster nationalstaatlicher Inklusion. Es vollzieht sich ein Strukturwandel, der das wohlfahrtsstaatliche Modell auf die supranationale Gewährleistung von Zugangschancen umstellt (vgl. Münch 2000: 215). Mit Blick auf die Gleichheitsvorstellungen ist festzuhalten, dass sich die sozialen Verhältnisse in der EU von den bisher geltenden Maßstäben der Gerechtigkeit entfernen, die in einem hohen Maß auf die kulturelle Homogenität im Nationalstaat angewiesen sind. Entsprechend der wirtschaftlichen Primärorientierung des market-building setzt die partielle Öffnung national gerahmter Einbeziehungsmuster bei der grenzüberschreitenden Mobilität von Personen im Gemeinsamen Markt Ende der 1950er Jahre ein. Über die Freizügigkeit hinaus, so zeigt das Kreil-Urteil, werden heute weitgehende Rechte auf Gleichbehandlung im Geschlechterverhältnis geltend gemacht, die strukturell (supranationales Rechtssystem) und normativ (Gleichberechtigung) Unterschiede zum nationalen Modell erkennen lassen. Im Kern bricht dieses Gleichheitsskript die nationalstaatlichen Ideen kultureller Homogenität und die darin eingelagerte Geschlechtersemantik auf, die seit der Französischen Revolution im westlichen Europa verankert wird. Als funktionsfähige Fiktion (vgl. Hahn 1993) stabilisiert die Nation nach außen eine Differenz und intern eine kulturelle Homogenität. Diese 23 Antje Wiener (1998) hat in ihrer Studie überzeugend dargelegt, dass die Genese der EUBürgerschaft mit dem Bedarf für die Abfederung von Identität in Verbindung steht.
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wird im Binnenverhältnis durch die Geschlechtersemantik angereichert und aufgeladen. An der Bundeswehrentscheidung des EuGH lässt sich die Entkoppelung dieses Modells erkennen. Das supranationale Prinzip des gleichberechtigten Zugangs zum Beruf erhält Vorrang vor partikularen kulturellen und historischen Einwänden. Nachdem wir die partielle Entflechtung des nationalen Mitgliedschaftsmodells aus der Perspektive der supranationalen Inklusion dargelegt haben, können wir jetzt die Bezugsebene wechseln und diese Umstellung auch weiter verorten: Mit der besonderen Form der supranationalen Einbeziehungsmuster trägt die EU zur Entflechtung von nationaler Zugehörigkeit und Rechten bei. Diese Relativierung nationaler Strukturen durch supranationale ist selbst wiederum Teil eines umfassenderen Prozesses der Globalisierung. In dieser Sicht werden die Grenzen einer theoretischen Konzeption von Bürgerschaft deutlich, wie wir sie von Marshall und Parsons kennen. Die EU zeigt einmal, dass im politischen und im Rechtssystem Zugehörigkeiten auf verschiedenen Ebenen verankert sind und miteinander interferieren. Sie ermöglichen sich wechselseitig, irritieren sich und regieren gewissermaßen ineinander hinein, so dass die Idee national geschlossener Inklusionsketten zu relativieren wäre. Dem korrespondiert die Frage nach der strukturellen Koppelung von Politik, Recht und Wirtschaft innerhalb der EU. An dem Beispiel der Gleichberechtigungsnormen werden wir in den folgenden Kapiteln diese komplexe Dynamik behandeln, indem Genese und Wandel supranationaler Normen im globalen und supranationalen Kontext untersucht werden.
1.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir gezeigt, dass im Umbruch zur modernen Gesellschaft Nation und Geschlecht als Kategorien kollektiver Identität mit neuer Bedeutung versehen werden; das ständische Geschlechtermodell wird vom modernen Differenzkonzept abgelöst. Am Beispiel der Staatsbürgerschaft wurde dargestellt, dass diese neue Vorstellung mit der Konstituierung des Nationalstaats in Europa verankert wird und dass hiermit zugleich Kategorien eingeführt werden, die die blockierten Chancen der Frauen in Politik und Recht legitimieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese Begründung der Ungleichheit entkräftet. Gleichberechtigung wird zu einem legitimen Maßstab der Geschlechterbeziehungen und reflektiert einen Wandel, den wir als De-Institutionalisierung des Differenzkonzepts charakterisieren. Die EU spielt hierbei eine interessante Rolle, da sie über eigene Inklusionsmodi eine Gleichbehandlung im Markt an49
strebt, also Frauen als Individuen einbezieht und damit binnenstaatliche Vorstellungen von Gleichheit aufbricht. Am Beispiel eines Urteils des EuGH wurden die Mechanismen dargestellt, die dieses Gleichberechtigungsskript im Medium des Rechts vermitteln und vor diesem Hintergrund der institutionelle Unterschied nationaler und ‚europäischer’ Einbeziehung erläutert. Die rechtliche und politische Inklusion in den Nationalund Wohlfahrtsstaat, so haben wir anschließend dargelegt, wiederholt sich nicht nochmals auf der europäischen Ebene. Vielmehr lassen sich fragmentierte bzw. gestufte Inklusionsmodi beschreiben, mit der eine Teil- im Unterschied zu einer Vollinklusion erfolgt. In diesen Kontext ist auch das supranationale Gleichheitsskript zu verorten, in das die Gleichberechtigungsnormen eingebettet sind. Der historisch neuartige Rahmen der Gleichheitsnormen ist mit den nationalen Konzepten von Gesellschaftsbeschreibung nicht angemessen zu erfassen, die auf der kategorialen Differenz der Geschlechter beruhten. Vielmehr werden Vorgaben verankert, die an der Kernvorstellung des Marktes ausgerichtet sind. Die Ergebnisse zeigen somit, dass Inklusion in der EU anderen Strukturbedingungen unterliegt als im (europäischen) Nationalstaat. Sie geben Anlass, nach den Grenzen klassischer Theorien von Inklusion zu fragen und diese systematisch nationalstaatlich-europäisch zu kontextualisieren. Dies betrifft vor allem die über die Staatsbürgerschaft geschlossene funktionssystemspezifische Einbeziehung sowie den normativen Status der Bürgerschaft (vgl. Marshall 1992; Parsons 1972, 1975, 2007). Außerdem weisen die Ergebnisse dieses Kapitels darauf hin, dass die supranationale Gleichberechtigung auch durch globale institutionelle Erwartungen geprägt ist, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts partikularistische Vorstellungen von Recht und Gleichheit unter Druck setzen. Anknüpfend an Münch wurde die Umstellung, in die der historisch längerfristige Wandel des Geschlechts in der europäischen Moderne eingebettet ist, als Europäisierung beschrieben. Die folgenden Fallstudien rekonstruieren diese Umbrüche auf der Ebene der supranationalen Rechtsnormen im Hinblick auf ihre Genese und ihren Bedeutungswandel.
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Zweites Kapitel Theresa Wobbe
Zur Genese des supranationalen Gleichheitsskripts: Lohngleichheit im Kontext des Gemeinsamen Marktes und internationaler Sozialstandards The co-existence of traditional national governments in Europe with institutions of a ‚supranational‘ character […] poses some terminological problems for our subsequent discussion of integration and the development of a political structure and consciousness transcending that of the existing nations. Ernst B. Haas Die Fülle der zu regelnden Fragen ließ sich eben nicht durch die Patentrezepte aus der Verfassungs- und Wirtschaftspraxis der letzten zweihundert Jahre lösen. Hanns Jürgen Küsters 1
Einleitung Dieses Kapitel behandelt die Genese supranationaler Gleichberechtigungsnormen und stellt sie in den Zusammenhang mit den Gründungsvorstellungen der EWG. Zu diesem Zweck wird das in den Römischen Verträgen verankerte Lohngleichheitsprinzip aus dem kulturellen Kontext der neuartigen Idee des Gemeinsamen Marktes rekonstruiert. Diese besteht darin, durch die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen Grundlagen für Wohlstand und sozialen Fortschritt in Europa zu legen. Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes leistet hierzu den entscheidenden Beitrag. Durch die Aufhebung sämtlicher Zoll- und weiterer Handelsbeschränkungen sollen eine freie Handelszone und Zollunion gebildet werden. Hiermit werden historisch gewachsene, nationale Wirtschaftseinheiten zu Bestandteilen eines qualitativ neuen Marktes, in dem dieselben Wettbewerbsbedingungen vorgesehen sind.
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Haas 1958: 9; Küsters 1982: 157.
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Gleiche Wettbewerbsbedingungen setzen Vergleichbarkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialsysteme der sechs Gründungsländer nicht gegeben ist. Als roter Faden zieht sich daher die Frage nach der Vergleichbarkeit durch die Vertragsvorbereitungen, wie diese hergestellt werden kann und in welchem Maße sie überhaupt erforderlich ist. Die Vorbereitung des Gemeinsamen Marktes setzt somit soziale Prozesse der wechselseitigen Beobachtung und soziale Dynamiken in Gang. Fragen zu gleichen Wettbewerbsregeln, zum Abbau von Verzerrungen und zur Harmonisierung entstehen mit dem Aufbau des Marktes und ihre Klärung ist in einem hohen Maße deutungsabhängig. In diesem Kontext verorten wir ebenfalls die Lohngleichheit. Bislang sind die Gleichberechtigungsnormen in dieser Perspektive noch nicht erforscht worden. Hoskyns (1996: 43ff.) hat in ihrer wegweisenden Studie über die EU-Geschlechterpolitik die Entstehung des Art. 119 EWGV erstmals behandelt. Im Mittelpunkt ihrer politikwissenschaftlichen Untersuchung steht nicht die institutionelle Einbettung der Gleichheit in die neue Marktordnung und ihre kognitive Formung. Hoskyns untersucht in einer sozialpolitisch geleiteten Perspektive die Beziehung zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Dimensionen.2 Aus ihrer Sicht ist die Lohngleichheit primär wirtschaftlicher Natur und gewinnt erst durch die neue frauenpolitische Welle in den 1970er Jahren ein soziales Profil (vgl. ebd.: 57). Ausgehend von einem intergouvernementalistischen Ansatz zielt die neuere Studie von Vleuten (2007) erstmals systematisch auf die Präferenzbildung staatlicher und nicht-staatlicher Akteure im Mehrebenen-System. Vleuten fragt, wie der ökonomische Preis der Gleichheit und die politischen Kosten des Prestiges gegeneinander abgewogen werden. Mit ihrer Studie hat sie die Erforschung der EU-Geschlechterpolitik, gerade auch für die Gründungsphase entscheidend erweitert.3 Aufgrund ihres theoretischen Ansatzes liegen die Schwerpunkte bei den staatlichen Interessen (vgl. ebd.: 7ff.). Wir wollen dagegen die institutionalistische Frage beantworten, wie die Thematisierung und Verankerung der Lohngleichheit in den Gemeinsamen Markt eingebettet und mit dessen Ideen verwoben ist. Daher nehmen wir den Entstehungskontext der Entgeltgleichheit in den Blick und stellen sie in den Zusammenhang der Vorstellungen über Gleichheit, aus denen sie hervorgegan2
Die Geschichte dieses Artikels, so unterstreicht Hoskyns, „raises questions, always central to EU development, about the relation of the economic and the social, and about whether it is possible to construct an economic market without a social content“ (Hoskyns 1996: 43). 3 An die von Vleuten erstmals auf breiter Quellengrundlage dokumentierten Vertragsverhandlungen wird in diesem Buch angeknüpft. Da es im Folgenden nicht um die nationalen Präferenzbildungen geht, wird keine Rekonstruktion dieser Interessen vorgenommen. Berücksichtigt werden die Vorbereitungen und Verhandlungen soweit, wie sie für den Hergang des Art. 119 relevant sind.
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gen ist. Zu deren Kern gehört ein Markt, in dem durch den Abbau nationaler Hürden ein einziger gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einheitlichen Wettbewerbsbedingungen entstehen soll. Hiermit vollzieht sich eine interessante Ebenenverschiebung: Zuvor getrennte (nationale) Einheiten werden zunehmend Bestandteile einer darüber liegenden Einheit, in der sich ihre früheren nationalen Unterschiede als Binnendifferenzierung eines einzigen Systems darstellen. In diesem Prozess des market-building werden wechselseitige Beobachtungen und Erwartungen in Gang gesetzt, ohne die die Lohngleichheit kaum zu verstehen ist. Für die Untersuchung dieses Zusammenhangs werden im Folgenden drei Sequenzen der frühen Integrationszeit herangezogen. Die ersten Versuche einer gemeinsamen Marktbildung und Umcodierung (nationaler) Gleichheitsskripte vollziehen sich in der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS, auch Montanunion), an die die EWG organisatorisch und institutionell anknüpft. Daran schließt die 1955 von der Messina-Konferenz eingesetzte zwischenstaatliche Sachverständigengruppe, die sog. Spaak-Kommission, an. Diese entwirft die Grundarchitektur des Gemeinsamen Marktes und beschäftigt sich mit den Fragen der Harmonisierung. In diesem Kontext wird die Entgeltgleichheit zum Thema. In den anschließenden Vertragsverhandlungen der Regierungen, die im Juni 1956 beginnen und im März 1957 mit der Unterzeichnung in Rom abgeschlossen werden, erfolgt dann die vertragliche Formulierung. Dieses Kapitel ist in vier Abschnitten organisiert. Zunächst wird anhand der ersten, sektoralen Vergemeinschaftung der Montanunion Einblick in die Verschiebung von Erwartungs- und Vergleichshorizonten gegeben (Kap. 2.1). Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, unter welchen Gesichtspunkten in der SpaakKommission die Wettbewerbsbedingungen und die Entgeltgleichheit im Gemeinsamen Markt diskutiert werden (Kap. 2.2). Im dritten Schritt werden diese Beratungen in einem institutionellen Feld internationaler Erwartungen verortet und auf die Rolle der ILO für die Formulierung von Sozialstandards bezogen (Kap. 2.3). Wie es im Zuge der Regierungsverhandlungen des Vertrags zur Formulierung der Lohngleichheitsvorgabe kommt, steht viertens im Mittelpunkt (Kap. 2.4). Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse gebündelt dargestellt (Kap. 2.5). In diesem Kapitel wird die kulturelle und soziale Dimension der Lohngleichheit im Kontext der Marktbildung dargestellt. Der Art. 119 EWG wird als Resultat verschiedener sozialer Dynamiken und Interpretationsprozesse betrachtet, die auf dem Weg von Messina nach Rom zur Verankerung institutioneller Vorgaben beitragen.
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2.1 Das erste supranationale Versuchsfeld: Die Montanunion Das 1957 in den Römischen Verträgen verankerte Prinzip der Lohngleichheit markiert historisch einen normativen Wandel der ökonomischen und sozialen Rechte der Geschlechter. Zudem verweist es auf die Umbrüche im Nachkriegseuropa, nämlich auf den langen Schatten des 2. Weltkriegs (vgl. Judt 2006: 25) und die wachsende ökonomische Kooperation, aus denen die EWG hervorgeht. Diese steht im Zeichen der Modernisierung und Wohlstandssteigerung der europäischen Länder, die ihre verwüsteten Nachkriegswirtschaften reorganisieren. Die am 23. Juli 1952 gegründete „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) stellt hierbei den ersten ehrgeizigen Versuch dar, einen einzigen, die nationalen Grenzen überschreitenden Markt zu schaffen.4 Auch wenn man die neo-funktionalistischen Postulate von Ernst B. Haas nicht teilt, bestechen seine luziden Beschreibungen der Montanunion nach wie vor. Für Haas stellte die EGKS einen der seltenen Fälle dar, an dem gleich einer Versuchsanordnung „the decomposition of old nations can be systematically analyzed“ (Haas 1958: xi). Sechs Länder schließen sich zu einer größeren Wirtschaftseinheit zusammen, die zwischenstaatliche Kooperationen überwölbt und sektorale Interdependenzen verdichtet (vgl. ebd.: 63).5 Diese auch als „Montanunion“ bezeichnete Vergemeinschaftung erfasst zunächst zwar nur den Kohleund Stahlsektor, doch sie begründet bereits einen gemeinsamen Markt, in dem protektionistische Hürden abgebaut und ein Wirtschaftsraum mit denselben Wettbewerbsbedingungen errichtet wird. Die Interessen dieser Gemeinschaft vertritt die sog. Hohe Behörde, an die schwerindustrielle Unternehmen der Teilnahmeländer ihre Entscheidungen binden. Die Montanunion mit ihren Kernvorstellungen ist der maßgebliche institutionelle Anknüpfungspunkt für die Entstehung der EWG. So soll die EGKS wie die spätere EWG „zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Hebung der Lebenshaltung“ in den beteiligten Ländern beitragen (Art. 2 EGKS). Die Hohe Behörde, die Vorläuferin der Europäischen Kommission, wird zur entscheidenden dritten Instanz, die unparteiisch gegenüber nationalen Interessen die Gemeinschaft vertreten (Art. 9, EGKS), die Marktentwicklung kontinuierlich untersuchen (Art. 16, 46 EGKS)
4 Die EGKS wird am 18. April 1951 durch den Vertrag von Paris für 50 Jahre gegründet. Sie tritt am 29. Juli 1952 in Kraft und ist am 23. Juli 2002 ausgelaufen; die Regelungsbereiche werden dem EGVertrag zugeordnet. Die Organe der EGKS, der EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft werden am 8. April 1965 in einem Fusionsvertrag in die „Europäischen Gemeinschaften“ zusammengeführt (vgl. Haratsch et al. 2006). 5 Diese Länder sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande.
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und darüber wachen soll, dass die Wettbewerbsbedingungen nicht beeinträchtigt werden (Art. 68 EGKS). Die EGKS macht außerdem den ersten Schritt zur Angleichung von in- und ausländischen Beschäftigten, indem der Abbau von Hindernissen mit der grenzüberschreitenden Mobilität von Personen in der Kohle- und Stahlindustrie verbunden wird. Die in Art. 69 EGKS formulierte Freizügigkeitsregelung bildet den Vorläufer des später kodifizierten Grundsatzes, den wir im ersten Kapitel diskutiert haben. In der Montanunion wird erstmals das Prinzip der Freizügigkeit, das die auf Staatsangehörigkeit gründenden Beschränkungen beseitigen soll, in der europäischen Region verankert. Bei der Umsetzung des Prinzips entstehen Fragen, die die Vergleichbarkeit von Sozialstandards betreffen. An der Debatte um die soziale Absicherung für Beschäftigte in der Montanunion lässt sich dies erläutern. Der „Ausschuss für Sozialfragen“ der Gemeinsamen Versammlung der Montanunion und die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die Freizügigkeitsregelung nicht weitgehend genug umsetzen. Die neuen, in diesem Prinzip formulierten sozialen Ansprüche, wie das Diskriminierungsverbot „bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen zwischen inländischen und eingewanderten Arbeitern“ (Art. 69 EGKS), seien nicht hinreichend verankert. Gedrängt wird auf die Durchführung multilateraler Abkommen zur Sozialversicherung und auf weitere Festlegungen zur Wanderarbeit nach dem Vorbild bereits bestehender internationaler Vereinbarungen (vgl. Haas 1958: 89, 91f.).6 Die Umsetzung sozialpolitischer Forderungen wirft – wie sich zeigt – auch eine Reihe von Definitionsproblemen auf. Diese haben mit der Besonderheit des Montansektors selbst zu tun, der nicht eine Addition nationaler Märkte darstellt, sondern sich als eine Ordnung eigener Art darüber schiebt. Diese Neuartigkeit kommt darin zum Ausdruck, dass mit der Hohen Behörde eine dritte Instanz etabliert wird, um die gemeinschaftlichen Interessen unparteiisch zu vertreten. Diese institutionellen Vorgaben der EGKS – wie auch später die der EWG – erfordern die Beschreibung von sozialen Phänomenen, für die die nationalen Begriffsrahmen nicht ‚passen’. So sind etwa die Berufs- und Arbeitsmarktstatistiken wie auch die Sozialversicherungssysteme Bestandteile nationalstaatlicher Beobachtungsmuster und lassen sich nicht umstandslos auf die Montanunion umrechnen. Dies kann an der Freizügigkeitsregelung veranschaulicht werden. Diese soll auf die Gruppe „anerkannter Kohle- und Stahlfacharbeiter“ Anwendung finden. In den sechs Ländern der Montanunion hat diese Bezeichnung freilich unter6 In die sozialpolitische Debatte sind geschlechterrelevante Fragen wie Familienhilfen, Wohnbauprogramme usw. impliziert (vgl. Haas: 1958: 88ff.).
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schiedliche Bedeutungen, so dass zur Kennzeichnung dieser Gruppe nicht überall dieselben Kategorien verwendet werden. Zum Zweck der Vereinheitlichung sieht der Vertrag daher „eine gemeinsame Begriffsbestimmung für die Fachrichtungen und die Bedingungen der Zuerkennung der Facharbeitereigenschaft“ (Art. 69 EGKS) vor. Konkret geht es darum, neue Kategorien zu bilden, die in allen sechs Ländern vergleichbar sind, um Aussagen über die Beschäftigten im vergemeinschafteten Sektor als Ganzes machen zu können. Die vertraglichen Vorgaben setzen somit Definitionsprozesse in Gang, die zur Konstruktion der sozialen Kategorie „Facharbeiter in der Montanunion“ führen.7 Erkennbar wird dieser Prozess auch auf dem Gebiet der Löhne und Sozialsysteme. So sieht der EGKS-Vertrag zwar Maßnahmen gegen Preis- und Lohndumping vor (Art. 68 EGKS), doch in den frühen 1950er Jahren liegen kaum vergleichende Untersuchungen vor, die den Markt der Montanunion angemessen erfassen. Innerhalb der Stahlindustrie variieren etwa die wöchentlichen Arbeitsstunden von 40 bis 42 in Frankreich bis zu 48 Stunden in Italien, den Niederlanden und Luxemburg; ähnlich verhält es sich mit den jährlich bezahlten Urlaubstagen, wo die Spanne von 12 in Deutschland und Frankreich bis zu 30 in Belgien reicht (vgl. Haas 1958: 376, Tab. 1).8 Bei dem Versuch, die Gesamtgruppe der Stahlarbeiter exakt zu beschreiben und gemeinsame Kategorien für das Lohnsystem zu finden, müssen die Statistiker der Hohen Behörde also zunächst passende Definitionen und Begriffsrahmen erzeugen. Diese bieten die Voraussetzung dafür, dass die Wettbewerbsentwicklung im Montansektor überhaupt untersucht werden kann. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass von Beginn an die Durchführung von Statistiken über die Beschäftigungslage und Analysen der Lohnstruktur auf der Tagesordnung stehen (vgl. Wagenführ 1967). Mit der EGKS entsteht eine sektorale Vergemeinschaftung, die das Modell einer internationalen Kooperation überschreitet. Es handelt sich nicht lediglich um eine Liberalisierung und Öffnung der sechs Montansektoren, es findet vielmehr deren Vergemeinschaftung unter einem gemeinsamen Dach statt. Aus diesem Aufbrechen nationalstaatlicher Geltungsgrenzen erwachsen verschiedene sozial- und wirtschaftspolitische, aber auch kognitive Herausforderungen. Die auf Nationalstaatlichkeit beruhenden Klassifikationsschemata für die Inklusion
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Diese Regelungen enthalten durchgehend die männliche Bezeichnung; vgl. dazu weiter unten. Rolf Wagenführ (1967: 217), der den Statistischen Dienst der Montanunion aufbaut und diesen 1958 mit dem der EWG zusammenführt, vermittelt einen Einblick in diese Situation. Zur Lage in weiteren Ländern Europas vgl. ILO-Report 1956: 33. 8
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von Personen – von der Bevölkerungsstatistik bis zur Sozialversicherung – lassen sich für diese Zwecke nur partiell verwenden.9 Diese wenigen Hinweise deuten bereits an, inwiefern bei der Umsetzung der vertraglichen Vorgaben Unsicherheiten auftreten. So wird verständlich, dass internationale Regelungen in der EGKS eine erhöhte Aufmerksamkeit erhalten und als kognitive und normative Vorbilder beim Gehversuch auf unbekanntem Terrain fungieren. Es ist dieser Kontext, in dem ein Vertreter der Hohen Behörde die Montanunion 1955 als „das erste konkrete Versuchsfeld für die Probleme und die Rückwirkungen“ bezeichnet, „die sich aus der Errichtung eines gemeinsamen Marktes“ ergeben.10 Mit den Vorbereitungen zur EWG entsteht ein noch ambitionierteres Experimentierfeld, das im folgenden Abschnitt behandelt wird.
2.2 Das Laboratorium der neuen Marktordnung: Der Ausschuss für den Gemeinsamen Markt Als sich die Parlamentarische Versammlung der Montanunion am 2. Dezember 1954 für eine Erweiterung der Integration auf die Bereiche Gas, Elektrizität, Atom und Verkehr ausspricht, setzt sie ein wichtiges Signal für neue Integrationsschritte (vgl. Loth 1996: 114).11 Das anschließende Memorandum der Benelux-Länder beinhaltet im Kern bereits die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und außerdem die Empfehlung, eine Expertenkonferenz zur Sondierung verschiedener Integrationsoptionen einzusetzen, bevor die Regierungen Verhandlungen eröffnen.12 Die Regierungskonferenz in Messina verabschiedet dann im Juni 1955 ihre berühmte Abschlusserklärung, die die Einsetzung einer Sachver9
Die Forschung zeigt, dass auch die nationale Erfassung sozial und kognitiv höchst voraussetzungsreich war (vgl. Starr 1987). In dieser Sicht wird die Verknüpfung von statistischer und geschlechtlicher Differenzierung sehr schön deutlich. Die Umstellung von der numerischen Erfassung der Haushalte mit männlichen Vorständen auf Individuen erstreckt sich in und zwischen den entstehenden Nationalstaaten in Europa im 19. und 20. Jahrhundert über längere Zeiträume (vgl. Vanderstraeten 2006). 10 So der Vertreter der Hohen Behörde in einem Erfahrungsbericht der EGKS im Ausschuss für den Gemeinsamen Markt: PA AA, Bd. 61, Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Brüssel, 27.7.1955, MAE/CIG Dok. Nr. 65, Note über die gesamtwirtschaftliche Integration, MAE 106 d/55 mw, S. 1. 11 Vgl. für die verschiedenen Integrationskonzepte in dieser Zeit Knipping 2004: 81; Loth 1996: 105ff. 12 Mit der Idee der Expertenkommission wird auf die verschiedenen gescheiterten Initiativen auf Regierungsebene geantwortet und ein Verfahren vorgeschlagen, das zunächst expertenbasiert die Möglichkeiten des Projekts auslotet sowie Interessen, Bedenken und offene Fragen zusammenführt. Für unterschiedliche Perspektiven auf die komplizierte Verhandlungssituation in den frühen 1950er Jahren vgl. Knipping 2004: 59ff.; Küsters 1982; Loth 1996: 69ff.; Moravcsik 1998: 86ff.
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ständigengruppe für die Prüfung von Integrationsvorschlägen vorsieht. Von heute aus gesehen kann diese Gruppe als die maßgebliche Konstrukteurin der neuen Gemeinschaft gelten. Mit dem Vorsitz der offiziell als „Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz“ bezeichneten Expertengruppe wird der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak betraut. Die konstituierende Sitzung findet am 9. Juli 1955 in Brüssel statt (vgl. Küsters 1982: 145ff.; Knipping 2004: 89ff.; Loth 1996: 119ff.). Die Expertendelegationen bestehen aus Beamten der nationalen Stabs- und Kabinettsbürokratien, Vertretern der Fachressorts, Sachverständigen aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie Vertretern internationaler Organisationen.13 Insgesamt werden neun Ausschüsse eingesetzt, deren Koordination der Lenkungs- bzw. Delegationsleiter-Ausschuss unter Spaak übernimmt. Der vierte Ausschuss für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen ist das im Folgenden interessierende Gremium, das wiederum in zwei weitere Fachausschüsse, nämlich den für Investitionen und für Sozialfragen, untergliedert wird. 14 Die Beratungen, in denen die Grundarchitektur des Gemeinsamen Marktes, dessen Kernvorstellungen Zug um Zug ausgearbeitet werden, sind von Beginn an mit internationalen Sozialstandards und wirtschaftlichen Verregelungen verknüpft. Während der Ausschuss „Gemeinsamer Markt“ die wirtschaftliche Seite der Harmonisierung untersucht, beschäftigt sich der Unterausschuss für Sozialfragen damit, ob diese durch eine Angleichung der Sozialkosten und der Lohnbildung flankiert werden soll. Diese Einbettung in ein breiteres institutionelles Feld steht in direkter Verbindung mit dem Thema der Lohngleichheit. Am 18. Juli 1955 wird der Unterausschuss für Sozialfragen mit der „Erörterung von Massnahmen“, beauftragt, „die auf sozialpolitischem Gebiet zu einer so weitgehenden Harmonisierung führen, dass sie die Errichtung und das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Markts ermöglichen“. Konkret untersucht werden sollen die „schrittweise Vergrößerung der Freizügigkeit im Perso13 Diese illustre Gruppe besteht aus Experten, die bereits in der „Organization for European Economic Cooperation“ (OEEC, später OECD) sowie in der Hohen Behörde der EGKS oder im Europarat tätig (gewesen) sind: PA AA, B 20, Bd. 64, Annex I (vgl. die Interviewliste bei Küsters 1982: 523ff.). 14 Giuseppe Di Nardo übernimmt den Vorsitz für das Gebiet Investitionen und Jacques Doublet, der Generaldirektor für soziale Sicherheit im französischen Arbeitsministerium, den für Sozialfragen. Die Ausschussarbeiten erstrecken sich auf den Zeitraum vom 20. Juli bis 15. Oktober 1955. Seit dem 20. Juli 1955 führt der Ausschuss insgesamt 36, der Unterausschuss zu Investitionen 29 und der zu Sozialfragen 23 Sitzungen durch; vgl. PA AA, B 20, Bd. 64, Bericht des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen, Erster Teil, Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Brüssel, den 17. Oktober 1955, Dok. Nr. 338, MAE/CIG, S. 1. Die Sitzungen finden i.d.R. von Dienstags bis Freitags statt, so dass die Berichte und Sitzungsprotokolle zum Wochenende an die Regierungen gesandt werden (vgl. Küsters 1982: 150, Fn. 39).
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nenverkehr“, „die Harmonisierung der Arten der direkten und indirekten Lohnbildung“.15 Zwei Tage später erfolgt eine Ergänzung, nämlich „einschließlich der Löhne für weibliche Arbeitskräfte“, die allmähliche Angleichung von Arbeitszeit, Urlaubszeit und Arbeitsschutz sowie die Harmonisierung der Sozialversicherungssysteme. Die Untersuchungen sollen zudem gegenüber „internationalen Abkommen und dritten Institutionen“ koordiniert werden.16 Was ist während der Verhandlungen eigentlich mit Harmonisierung gemeint? Dieser Begriff umfasst „die Regeln zur Gewährleistung des Wettbewerbs im gemeinsamen Markt und solche Massnahmen […], welche die schrittweise und reibungslose Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen sicherstellen sollen“.17 Der Begriff bleibt indes unscharf und damit deutungsabhängig: „Da ‚Harmonisierung’ einer der Begriffe ist, dessen genaue Tragweite sich schwer abschätzen lässt, wäre es zweckmäßig Überlegungen anzustellen, in welchem Masse eine solche Harmonisierung der Politik erreicht werden muss“.18 Die Frage, inwiefern Harmonisierung überhaupt festgelegt werden soll, bildet den neuralgischen Punkt. Dieser berührt nicht nur die Souveränität der Staaten, sondern auch das Verständnis von ‚normalen’ Wettbewerbsbedingungen, also grundlegende wirtschaftspolitische Vorstellungen über die Eigendynamik des Marktes. In der Verhandlung über das Gleichgewicht der Zahlungsbilanzen und die Handelspolitik, über Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Verhinderung von Verzerrungen bei Lohnbildung, Sozialkosten und wettbewerbsverfälschender Praktiken (Subventionen, Absprachen, Beihilfen) kommen diese Unterschiede zum Tragen. Führen auch unterschiedliche nationale Lohnregelungen für Frauen und Männer oder verschiedene wöchentliche Arbeitszeiten zu Verzerrungen des Wettbewerbs oder verblassen diese mit der Zeit aufgrund der Mechanismen des Marktes? In Bezug auf die Löhne und Sozialsysteme sieht sich insbesondere Frankreich mit höheren Sozialkosten, Löhnen und Steuern konfrontiert. Die französische Forderung nach Angleichung der Sozialbestimmungen liegt daher seit der Konferenz von Messina auf dem Tisch und betrifft konkret die Arbeits- und bezahlten Urlaubszeiten sowie die Löhne für Frauen und Männer. 19 15 PA AA, B 20, Bd. 61, Ausschuss für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen, Teil I.. Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Brüssel, 18.7.1955, Dok. Nr. 11, MAE 49/d/55jv hr, Unterausschuss für Sozialfragen. 16 Ebd., 20.7.1955, Dok. Nr. 26, Entwurf für eine Richtlinie Nr. 1 an den Ausschuss für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen, S. 3. 17 PA AA, B 20, Bd. 62, 4.8.1955, Dok. Nr. 132, Arbeitsunterlage Harmonisierung, S. 2. 18 Ebd. 19 Der französische Außenminister Pineau fordert mit Verweis auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes die Abstimmung der in den Ländern geltenden Sozialbestimmungen; Spaak kann
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Die Entgeltgleichheit ist bereits in der französischen Verfassung von 1946 verankert und Frankreich weist Mitte der 1950er Jahre unter den Ländern der Montanunion die niedrigste Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern auf.20 So beträgt der Frauenlohn Mitte der 1950er Jahre in Frankreich 86% des Männerlohns und liegt 14% hinter diesem zurück. Demgegenüber betragen die Differenzen zwischen den Frauen- und Männerlöhnen in der Bundesrepublik 37% und in den Niederlanden 42% (Vleuten 2007: 41, Tab. 2.2; vgl. Sullerot 1975: 96). Vor diesem Hintergrund werden in Frankreich Standortnachteile für die eigene Wirtschaft durch das Unterbieten von Löhnen befürchtet. Bei der Öffnung des Marktes könnten Unternehmen in die Länder mit den geringeren Frauenlöhnen abwandern (vgl. Mayer-Tasch 1966: 129; Offen 1991: 152; Sullerot 1975: 97). Aus französischer Sicht gehört die Lohngleichheit daher unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten auf die Agenda (vgl. Caporaso/Jupille 2001: 27; Hoskyns 1996: 14, 197, 207ff.; Küsters 1982: 1981; Pierson 1998: 51f.; Langenfeld 1990: 37).21 Das Interesse Frankreichs an der Harmonisierung gründet indes nicht ausschließlich in den vergleichsweise geringen Lohnspannen. Es steht vor allem auch mit dem französischen Integrationsverständnis in Verbindung, das wirtschaftspolitisch stark protektionistisch und planifikatorisch motiviert ist und der supranationalen Integration gegenüber skeptisch bleibt (vgl. Groeben 1982: 42ff.; Hoskyns 1996: 43ff.).22 Während von französischer Seite Interventionen in die Sozialsysteme und die Wirtschaft gefordert werden, vertreten die anderen Länder, insbesondere Deutschland, vorwiegend wirtschaftsliberale Vorstellungen. Im Ausschuss wird vor der „Harmonisierung um der Harmonisierung willen“23, also vor dirigistischen Eingriffen in die Marktdynamik, gewarnt. Der Begriff Harmonisierung ist den französischen „Vorbindungen“ nicht zustimmen: PA AA, B 20-210, Bd. 27, Entwurf Protokoll der Tagung der Außenminister der Mitgliedstaaten der EGKS am 1. und 2. Juni 1955 in Messina, 2. Sitzung, 2. Juni, S. 26. 20 Der Anteil der Frauen an der arbeitenden Bevölkerung beträgt 1959 in den Mitgliedstaaten der EWG im Durchschnitt ein Drittel, nämlich in Deutschland 36,4%, in Frankreich 33,4%, in Luxemburg 27,5%, in Italien 27,2% und in Belgien 24,8% (vgl. Collins 1975: 84). 21 Die Sorge um nationale Standortnachteile ist bereits aus der EGKS bekannt. Belgien befürchtet z.B. 1955 im Kontext der 45-Stunden-Woche Nachteile für seine Wirtschaft und wird bei der Hohen Behörde vorstellig (vgl. Haas 1958: 91). 22 Andrew Moravcsik hat in seiner Analyse der Regierungsverhandlungen herausgearbeitet, wie eng die Position Frankreichs mit den nationalen handelspolitischen Interessen verknüpft ist (Moravcsik 1998: 143ff.). 23 PA AA, B 20, Bd. 62, 6.8.1955, Dok. Nr. 132, S. 2. Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in der deutschen Delegation das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard (vgl. hierzu Müller-Armack 1971) und das Außenministerium (vgl. Carstens 1971; Groeben 1982) unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der supranationalen Institutionen vertreten.
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somit weiterhin interpretationsabhängig, d.h. wie soll die Marktordnung konkret gestaltet werden und inwiefern sind Harmonisierungsmaßnahmen mit der Selbstregulierung des Marktes zu vereinbaren (vgl. Küsters 1982: 161ff.; Moravcsik 1998: 92, Abb. 2.4).24 Als Thema ist die Lohngleichheit also in die Überlegungen zur wirtschaftlichen und sozialen Harmonisierung eingebettet (vgl. Vleuten 2007: 33ff.). Im neuen Markt sollen dieselben Regeln und Klassifikationen gelten, doch wie lassen sich partikulare nationale Interessen im Medium dieses Marktes umformen? In dieser Konstellation bieten internationale Normen eine kognitive Rahmung. Denn die Arbeiten der Spaak-Kommission finden nicht in einem Vakuum statt, sondern in einem Kontext internationaler Erwartungen. Um diese Dynamik zu verstehen, ist ein Blick auf die internationale Einbettung dieser Verhandlungen und die Verknüpfung der Lohngleichheit mit internationalen Sozialstandards hilfreich.
2.3 Die internationale Einbettung: Die Stimme der ILO In Messina wird zwar kein allgemein akzeptierter Modus für die Beteiligung internationaler Organisationen abgestimmt, doch über die Mitarbeit der Hohen Behörde der EGKS, der Generalsekretariate der OEEC sowie der Vertreter des Europarats und der Europäischen Konferenz der Verkehrsminister besteht Konsens. Die Hohe Behörde erhält aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen einen besonderen Status als beratende Stimme. Für die übrigen Organisationen ist nur eine begrenzte Teilnahme vorgesehen.25 Die Vorbereitungen der EWG finden von Beginn an unter dem Dach internationaler Regelungen statt. Auf dem Gebiet der Freizügigkeit zählen hierzu das bereits erwähnte ILO-Abkommen 97 über die Wanderarbeiter (1949), das den Rahmen für die weitere Umsetzung der Freizügigkeit vorgibt, und außerdem das ILO-Abkommen Nr. 100 über das gleiche Entgelt von Frauen und Männern
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Moravcsik (1998: 88) sieht in den Handelsinteressen der Gründungsländer den entscheidenden Faktor für das Projekt des Gemeinsamen Marktes. Die deutsche Auffassung ist im Spaak-Bericht treffend wiedergegeben: „Es darf nicht versucht werden, die Grundlagen einer Wirtschaft, die sich aus ihren natürlichen Hilfsquellen, dem Grad ihrer Produktivität und dem Umfang der öffentlichen Lasten ergeben, sozusagen von oben herab zu ändern. Die sogenannte Harmonisierung würde sich also teilweise aus der Entwicklung des Marktes selbst, dem Zusammenspiel der Wirtschaftskräfte und den Beziehungen zwischen den Beteiligten ergeben.“ (Spaak-Bericht 1956: 303). 25 Nach Küsters (1982: 148) erfolgt eine klare Trennung zwischen supranationalen und internationalen Organisationen, „vor allem, weil man befürchtete, deren Mitwirkung trage eher zur Verwässerung denn zur Konzentration der Arbeiten bei“.
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(1951), das den maßgeblichen Orientierungsrahmen für die späteren Definitionen der Entgeltgleichheit in Art. 119 EWGV bildet. Zudem stellen der Liberalisierungskodex der OEEC (1949) sowie die von der OEEC und dem GATT anerkannten Grundsätze zur Regelung des Wettbewerbs den verbindlichen Rahmen dar, um die Verfahren für den Abbau von Hindernissen und die Errichtung einer engeren wirtschaftlichen Kooperation festzulegen.26 Der Entwurf des neuen Marktes findet somit nicht in einem konzeptionslosen Feld oder in normativer Obdachlosigkeit statt. Vielmehr erfolgen die Sondierungen der Spaak-Kommission in einer institutionellen Umgebung, in der sie auch international Anerkennung finden müssen und als solche international wahrgenommen werden.27 Die erwähnten Handels- und Wettbewerbsregeln geben ein grobes Schema vor, das die Komplexität des Möglichen einschränkt und aus dem selektiert werden kann. Konkret bedeutet dies, dass nach den GATT-Vorgaben die Optionen Freihandelszone oder Zollunion bestehen, von denen schließlich die zweite Alternative gewählt wird.28 Die Verfahren für den Abbau der Zölle, die Auswahl der Warengruppen und die Einfuhrbeschränkungen werden entlang der internationalen Vorgaben erörtert, die ‚eigene Methode’ und das eigene Tempo werden nach der Idee des Gemeinsamen Marktes festgelegt. Da das Integrationsvorhaben eine einfache Liberalisierung überschreiten soll, übernimmt die Expertenkommission die Vorgaben aus dem internationalen Regelwerk in modifizierter Form und gelangt zu der Empfehlung, „dass der gemeinsame Markt zu bestimmten Punkten strengere Vorschriften verlangen“29 kann. Auch die Entgeltgleichheit stellt nach dem Zweiten Weltkrieg einen internationalen Standard dar und wird von der entstehenden Gemeinschaft als Orientie26 Die „Oganisation for Economic Cooperation in Europe“ (OEEC), Vorläuferorganisation der OECD, wird am 16.4.1948 gegründet. Die darin zusammengeschlossenen Länder verpflichten sich im Liberalisierungskodex, ihren innereuropäischen Warenverkehr zunächst um 60% zu liberalisieren und weiter zu erhöhen. Das „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) wird am 30. 10. 1947 abgeschlossen und dient dem Abbau von Beschränkungen des Welthandels (vgl. GATT, Teil III, 5, vom 30. Oktober 1947, in: Schwartmann 2007). 27 Vgl. PA AA, B 20, Bd. 64, Dok. Nr. 338, Bericht des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen vom 17.10.1956, Erster Teil, S. 5ff; 56, Rn. 87. Auch für die EGKS gilt, dass sie von außen wahrgenommen und anerkannt wurde. So betrachtet der GATT 1953 die EGKS als einen einzigen Markt – nämlich so, „as if the European territories of these states constituted the territory of a single contracting party as concerns coal and steel“ (Haas 1958: 98). 28 Vgl. GATT, Teil III, 5, in: Schwartmann 2007. 29 PA AA, B 20, Bd. 64, Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Brüssel, den 17.10.1955, MAE/CIG, Dok. Nr. 338, Bericht des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen, Erster Teil, S. 56, Rn. 87; vgl. für die Optionen ebd., S. 6ff., insbes. S. 19.
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rungsschema wahrgenommen. Wie bereits in der Einleitung zu diesem Buch erwähnt, profiliert sich die ILO im Laufe des 20. Jahrhunderts als „Weltsozialorganisation“ (Maul 2007: 13), ihre Stimme hat ebenfalls für die Beratungen Gewicht. Zurückgegriffen wird dabei auch auf die bereits bestehenden Kooperationserfahrungen von ILO und Montanunion. 1953 beginnt die EGKS mit der ILO Gespräche über soziale Sicherheitsstandards der Wanderarbeiter und verabredet eine engere Zusammenarbeit (Haas 1958: 91f., 499). Darüber hinaus nimmt die ILO auch direkt zur Entgeltgleichheit Stellung. Auf ihrer ersten europäischen Regionalkonferenz im März 1955 wird eine Expertengruppe zur Klärung dieser Fragen eingesetzt. Sie soll prüfen, inwiefern es notwendig ist, neue Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa durch Maßnahmen zur Angleichung von Sozialstandards abzustützen. Diese Expertise über „Social Aspects of European Economic Co-operation“ (vgl. ILOReport 1956) steht in enger Verbindung mit der Spaak-Kommission.30 Im Vordergrund steht dabei die Frage, „whether international differences in labour costs and especially in social charges do or do not constitute an obstacle to the establishment of free international markets“ (ILO-Report 1956: 1). Unter diesem Gesichtspunkt soll geklärt werden, ob Übergangsregeln für die in besonderer Weise durch die Integration betroffenen Sektoren notwendig sind, ob sich aus engerer wirtschaftlicher Kooperation ein neuer Bedarf an internationaler Expertise ergibt und welche sozialen Probleme aus der internationalen Wanderarbeit resultieren. Für die ILO ergibt sich aus ihren Aufgaben als Sozialorganisation, dass diese engere wirtschaftliche Kooperation in die Ziele der Wohlfahrtsverpflichtung und der sozialen Gerechtigkeit eingebunden ist (vgl. ebd.: 2). Verhandelt wird somit die Themenliste, die auch in der Spaak-Kommission auf der Agenda steht. Die Studie gelangt zudem zu ähnlichen Ergebnissen wie der Bericht des Ausschusses, nämlich „contrary to what is sometimes believed, it is neither necessary nor practicable to eliminate or to reduce substantially international differences in the general level of labour cost per unit of time“ (ILOReport 1956: 61). Internationale Differenzen in der Sozialpolitik verzerren demnach nicht von vornherein den Wettbewerb. Sie seien vielmehr auf ein komplexes Faktorenbündel zurückzuführen und erfüllten zudem spezifische Funktionen für Wettbewerb und Innovation. Global gesehen gelangt die Studie daher zu
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Sie wird während der 1. Europäischen Regionalkonferenz der ILO im März 1955 in Auftrag gegeben. Die Gruppe setzt sich zusammen aus Maurice Beyé (Paris), T.U. Matthew (Birmingham), Helmut Meinhold (Heidelberg), Bertil Ohlin (Stockholm), Pasquale Sarageno (Mailand) und Petrus J. Verdoorn (Rotterdam). Die Gruppensitzungen finden vom 12.-15.9.1955 und vom 6.-13.2.1956 statt, d.h. in dem Zeitraum, in dem Spaak-Bericht durch den Expertenausschuss und anschließend redaktionell vorbereitet wird.
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einer ähnlichen Auffassung über die schrittweise Harmonisierung wie der SpaakBericht. Allerdings seien für bestimmte Lohngebiete soziale Angleichungen wünschenswert. Wenn Verfälschungen aus ungerechtfertigten Lohnunterschieden resultierten, seien Maßnahmen zu erwägen – und diese dürften auch mit den Interessen der Gewerkschaften in Einklang stehen –, um die unterschiedlichen Lohnkosten zugunsten der unteren Lohngruppen abzuschaffen (vgl. ebd.: 62f.). Hierfür wird in der Studie erstens auf Art. 2 des Entwurfs für eine Sozialcharta des Europarats (1955) verwiesen, der gleiches Entgelt für gleiche Arbeit vorsieht sowie einen Mindestlohn, der den Lebenshaltungskosten anzupassen ist.31 Sollten Länder einige dieser Prinzipien anwenden wollen, könne die Annahme eines internationalen Arbeitsübereinkommens ins Auge gefasst werden, dessen Anwendungsbereich auf Europa beschränkt ist. Wir sehen, dass die ILO an den mit der Montanunion begonnenen Beratungen über soziale Mindestnormen in der europäischen Region anknüpft und diese auch auf die Frage des Mindestlohns ausdehnt. Die neuen Kooperationsansätze greift die ILO auch für ein weiteres Gebiet auf. In der Studie wird auf das unterschiedliche Ausmaß hingewiesen, in welchem der Grundsatz der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen in einzelnen Ländern zur Anwendung gelangt und dadurch Verzerrungen des internationalen Wettbewerbs hervorrufe (vgl. ebd.). Als geeignetes Instrument zur Verminderung der bestehenden Lohndifferenzen wird die Umsetzung der ILO-Konvention über die Entgeltgleichheit von Frauen und Männern vorgeschlagen. Das Abkommen ist zu diesem Zeitpunkt zwar von Frankreich (1953) und Belgien (1952) ratifiziert (Deutschland wie auch Italien treten 1956 bei), doch es bleibt in Frankreich ebenso wie in Belgien ohne gesetzgeberische Folgen (vgl. ebd.). Luxemburg und die Niederlande unterzeichnen das Abkommen erst 1967 bzw. 1971.32 Im Bericht wird gefragt, warum eine Ratifikation dieser Konvention in den betreffenden Ländern noch nicht erfolgt sei (vgl. ebd.: 64). Zur Erhellung der dafür verantwortlichen strukturellen und praktischen Schwierigkeiten wird eine Ursachenanalyse vorgeschlagen. Die ILO macht also das Angebot, mit Hilfe ihrer Expertise die Hindernisse bei der Umsetzung zu beseitigen. 31 Es handelt sich um den Entwurf des Sozialausschusses im Europarat, der 1955 der Beratenden Versammlung vorgelegen hat und bis 1961 mehrmals überarbeitet worden ist. Europäische Sozialcharta, Turin, 18. 10. 1961, Art. 4, 3.: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/035.htm (letzter Abruf 27.6.2008). Die Charta ist auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte das Gegenstück zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die den Schutz der bürgerlichen und politischen Grundrechte und Grundfreiheiten gewährleistet (vgl. Schwartmann 2007). 32 Vgl. für die Liste der inzwischen 166 Unterzeichnerländer: http://www.ilo.org/ilolex/cgi-lex/ ratifce.pl?C100 (letzter Abruf 7.7.2008).
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Die Empfehlungen gelangen damit zu einer interessanten Wende: Die soziale Angleichung erscheint aus wirtschaftlichen Gründen zunächst nicht erforderlich. Doch beim zweiten Hinsehen zeigt sich, dass sozial ungerechtfertigte Lohndifferenzen in einigen Sektoren zu Verfälschungen führen und durch die Anwendung internationaler Arbeitsstandards korrigiert werden könnten. Hierzu zählt auch der Regelungsbedarf für die Entgeltgleichheit. Zudem wird in diesem Zusammenhang der Vorschlag unterbreitet, ein neues Abkommen zum Mindestlohn zu erarbeiten. Während die Spaak-Kommission ausschließlich wirtschaftliche Gründe prüft, wird hier ein neuer Gesichtspunkt ins Spiel gebracht, nämlich die sozial ungerechtfertigten Differenzen bei den Lohnkosten, die Verfälschungen des Wettbewerbs hervorrufen. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit spricht sich die Expertise für die Entgeltgleichheit und für Angleichungen auf dem Gebiet des Mindesteinkommens aus. Die ILO unterbreitet also konkrete Vorschläge, wie globale Sozialstandards im Zuge der engeren wirtschaftlichen Kooperation im westlichen Europa umzusetzen wären und nimmt direkt Stellung zu den Integrationsberatungen. Welchen Niederschlag finden diese Vorschläge? Der am 17. Oktober 1955 vorgelegte Bericht der Spaak-Kommission behandelt die Disparitäten, die sich aus „den Systemen zur Finanzierung der sozialen Sicherheit; bestimmten Preisregelungen, sowie, hinsichtlich der Entlohnung der Arbeitnehmer, aus dem jeweiligen Lohnniveau der männlichen und weiblichen Arbeitnehmer, der Bezahlung der Ueberstunden oder des bezahlten Urlaubs“ ergeben.33 Im Allgemeinen seien diese „kein Hindernis für das Arbeiten des gemeinsamen Marktes“.34 Auch die Ausführungen des Unterausschusses für Sozialfragen sind sehr allgemein gehalten. Die „fortschreitende Harmonisierung in den nationalen Bestimmungen auf sozialem Gebiet“ wird zwar als eine Erleichterung bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes angesehen – konkrete Empfehlungen sind jedoch nicht zu erkennen.35 Es werden dagegen einzelne internationale Abkommen für die Harmonisierung von Sozialstandards aufgeführt wie auch die Systeme der sozialen Sicherheit. Unter den insgesamt zehn Konventionen der ILO, die als wichtigste auf 33 PA AA, B 20, Bd. 64, Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Brüssel, 17.10. 1955, MAE/CIG, Dok. Nr. 338, Bericht des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt, für Investitionen und Sozialfragen, Erster Teil, S. 69, Rn. 102. 34 Ebd., S. 64f., Rn. 100. Hiermit wird vor allem die Sicht der deutschen und niederländischen Delegation wie auch von Spaak selbst wiedergegeben, der zufolge Harmonisierungsmaßnahmen auf diesem Gebiet vor der Errichtung des Marktes nicht zu befürworten sind. Frankreich fordert dagegen, den Abbau protektionistischer Hindernisse im Handelsverkehr mit der Verankerung von Maßnahmen der sozialen Harmonisierung zu koppeln und die Lohn- und Urlaubszeitregelungen anzugleichen. 35 Ebd., Zweiter Teil, S. 118, Rn. 166.
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dem Weg zur Angleichung genannt werden, befinden sich einige, die mit den von Frankreich vorgebrachten Harmonisierungswünschen eng in Verbindung stehen, nämlich die Konvention Nr. 52 (bezahlter Urlaub), der bis zu dem Zeitpunkt nur Frankreich beigetreten ist, die Nr. 97 (Wanderarbeiter), Nr. 95 (Lohnschutz), der Deutschland 1959 beitritt, die Nr. 100 (Entgeltgleichheit) sowie die Nr. 102 (Mindestnorm der Sozialen Sicherheit), die zu diesem Zeitpunkt noch keines der sechs Länder unterschrieben hat.36 Unterstrichen wird zudem, dass die Regelung der Freizügigkeit von Personen eng mit den Systemen sozialer Sicherheit und der Harmonisierung verflochten werden soll.37 Aus diesen Empfehlungen wird deutlich, dass die Spaak-Kommission auch auf sozialem Gebiet an internationalen Vorgaben, an den bereits existierenden ILO-Übereinkommen, orientiert ist und diese als Rahmen und Vorbild für die soziale Angleichung verwendet. Nachdem die bisherigen Überlegungen diese Rahmung deutlich gemacht haben, wenden wir uns jetzt der Eröffnung der Regierungsberatungen zu, die auf der Grundlage des sog. Spaak-Bericht die Verträge konkret vorbereiten.
2.4 Multiple Autorenschaft: Die vertragliche Formulierung der Entgeltgleichheit Der am 12. April 1956 den sechs Regierungen vorgelegte Spaak-Bericht enthält bereits die Grundzüge der Römischen Verträge.38 Hier werden Preisregelungen, Systeme der sozialen Sicherheit, Löhne für Frauen und Männer, Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen sowie die Kreditpolitik als Beispiele für Verzerrungsfaktoren angeführt, ohne diese mit konkreten Vorschlägen zu verbinden (vgl. SpaakBericht 1956: 304). Dabei wird die Ansicht vertreten, dass die „natürliche Tendenz zur Harmonisierung der sozialen Systeme und des Lohniveaus […] durch die fortschreitende Errichtung des gemeinsamen Marktes begünstigt werden“ kann (ebd.: 305). Daher wird u.a. eine „schrittweise Harmonisierung“ hinsichtlich „des Prinzips gleicher Löhne für männliche und weibliche Arbeitskräfte“, 36
Vgl. http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/convdisp1.htm (letzter Abruf 27.6.2008). Empfohlen wird zudem die Schaffung einer europäischen Zentralstelle für soziale Sicherheit als ein „gemeinsames Aktionsorgan“: PA AA, B 20, Bd. 64, Dok. Nr. 338, Regierungsausschuss eingesetzt von der Messina-Konferenz, Teil II, S. 122, Rn. 173. Die Harmonisierung der sozialen Sicherheit bezieht sich im Kontext der Freizügigkeit auf bereits vorhandene Entwürfe der EGKS (ebd. S. 119ff.). 38 Nach dem 15. Oktober 1955 bearbeitet Spaak die offen gebliebenen Fragen mit den nationalen Delegationsleitern und zieht für die Abfassung des Berichts zwei Integrationsexperten hinzu, nämlich Pierre Uri, den engsten Mitarbeiter Jean Monnets, und Hans von der Groeben, Staatssekretär im deutschen Außenministerium. 37
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und zwar „zu Beginn des Funktionierens des gemeinsamen Marktes“ (ebd.: 305f.) erwogen. Mit anderen Worten: Regelungen im Bereich der Sozialsysteme sind wünschenswert, werden aber erst nach der Vertragsabschließung spruchreif und ergeben sich im Wesentlichen aus der Marktdynamik selbst. Festzuhalten bleibt: Zum Zeitpunkt des Spaak-Berichts im April 1956 befindet sich die Lohngleichheit gemeinsam mit anderen Forderungen auf der ‚Todo-Liste‘ der sozialen Harmonisierung, allerdings ohne Konkretisierung. Das Blatt wendet sich im Frühsommer beim Eintritt der Außenminister und der Regierungen in die Beratungen. Das erste Signal gibt Frankreich auf der vom 29. bis 30. Mai stattfindenden Außenministerkonferenz in Venedig. Der französische Außenminister Pineau stimmt den Vertragsverhandlungen über eine Wirtschaftsund Atomgemeinschaft zwar grundsätzlich zu, lehnt allerdings eine Festlegung der Frist für den Abschluss der ersten Etappe ab und fordert zugleich die Koppelung von „Zollsenkung“ und die „gleichzeitige Harmonisierung der Soziallasten“, welche „automatisch den Übergang zur zweiten Etappe zur Folge haben würde“.39 Spaak, der sich vom französischen Junktim zunehmend beunruhigt zeigt, besteht dagegen auf einem konkreten Termin für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes.40 Der niederländische Außenminister Jan-Willem Beyen gibt zu bedenken, dass Harmonisierung nicht als „eine Nivellierung der gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen“ verstanden werden dürfe.41 Das Junktim von wirtschaftlicher und sozialer Angleichung stellt bis Anfang November die offizielle französische Position dar. Am Ende der Verhandlungen wird die Lohngleichheit die einzige sozialpolitische Vorgabe aus dem Paket der Soziallasten sein, die das Rennen bis zur vertraglichen Kodifizierung macht. Text im Kontext: Die Verortung des Art. 119 im Vertragsentwurf Nach der Billigung des Spaak-Berichts durch die Regierungen beginnt die Ausarbeitung der Verträge für die Gründung der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) und der „Europäischen Atomgemeinschaft“ (EURATOM). Die Regierungsverhandlungen werden am 26. Juni 1956 in Brüssel eröffnet.42 Der
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PA AA, B 20-210, Bd. 28, MAE 126 d/56 der/aw, Entwurf Protokoll der Konferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten der EGKS, Venedig, den 29. und 30. Mai 1956, S. 5. 40 Ebd.: 17. 41 Ebd.: 14. 42 Nach Küsters (1982: 294) sollen zu Beginn dieser Verhandlungsphase etwa vier Fünftel der Ministerialbeamten der Regierungen gegen das Projekt des Gemeinsamen Marktes eingestellt gewesen sein.
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Lenkungsausschuss unter Spaak koordiniert weiterhin die Vorbereitungen für die einzelnen Fassungen (vgl. Küsters 1982: 276). Nachdem im Juli das französische Parlament den Verhandlungen zugestimmt hat, wächst der Druck von Seiten der französischen Wirtschaftsverbände, die höhere Sozialkosten, Löhne und Steuern befürchten. Ziel der französischen Regierung ist es daher, durch die Angleichung von Sozialbestimmungen eine Kompensation für den Wegfall protektionistischer Maßnahmen zu erreichen (vgl. Küsters 1982: 298ff.). Die Beratungen kommen in eine Krise, als die französische Delegation ihre Zustimmung zum Gemeinsamen Markt an weitere Vorbedingungen knüpft. Sie besteht auf einer differenzierten Untersuchung der indirekten Löhne und geht hinter den bereits erreichten Stand zurück, indem sie „die Untersuchung der spezifischen allgemeinen Verzerrungen über das im Spaak-Bericht erwähnte Maß hinaus“ verlangt.43 Schließlich einigt man sich auf die Einrichtung einer Untergruppe zum „Kostenvergleich“.44 Neben den wirtschaftlichen Interessen und integrationspolitischen Positionen wird auch deutlich, dass über die Lohnkosten kaum Wissen vorhanden ist, geschweige denn ein Instrumentarium für ihre vergleichende Untersuchung. Hier zeichnet sich ein struktureller Unterschied zur Montanunion ab. Die neue Gemeinschaft soll nicht mehr auf einige wenige Sektoren eingeschränkt sein, sondern den gesamten Wirtschafts- und Handelsraum der sechs beteiligten Länder umfassen. Daraus erwächst ein größeres Komplexitätsniveau mit entsprechendem Regelungsbedarf. Dies wird in der Geschlechterperspektive besonders anschaulich. Die in der Montanunion vergemeinschafteten Industrien stellen einen Bereich des geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarktes dar, in dem vorwiegend männliche Arbeitnehmer vertreten sind. Der neu zu schaffende Markt ist dagegen nicht mehr auf einen relativ homogenen Sektor begrenzt, sondern erstreckt sich auf Tätigkeitsfelder von Frauen und Männern, auf die Schwerindustrie ebenso wie auf die Textil- und Elektroindustrie. Während also in der EGKS die faktischen Unterschiede des Gesamtarbeitsmarktes noch relativ gering gehalten werden konnten, ist dies nun nicht mehr möglich. Es werden nicht nur mehr, sondern auch andere Segmente unter dem Gesichtspunkt eines Marktes miteinander verglichen. Dieses ist auch der Hintergrund dafür, dass die Lohngleichheit ein sachlich und symbolisch wichtiges Thema werden kann.
43 PA AA, B 10, 929, Brüsseler Integrationskonferenz/Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt, Mandat für die Untergruppe „Kostenvergleich“, S. 2. 44 Ebd., Bonn, 18. Juli 1956, Kurzbericht.
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Das im September vorgelegte französische Memorandum dokumentiert die nationalen Interessen und enthält zudem erstmals einen Formulierungsvorschlag für die vertragliche Regelung der Lohngleichheit unter Art. 48 des Vertrags: „1. […]. Der Uebergang von der ersten zur zweiten Etappe kann jedoch erst dann erfolgen, wenn die Ziele der ersten Etappe erreicht sind; der Ministerrat müsste durch einstimmigen Beschluss feststellen, dass diese Voraussetzung voll erfüllt ist. 2. Harmonisierung der sozialen Lasten Artikel 48 des Vertragsentwurfs für die Gründung des Gemeinsamen Marktes sollte unter Zugrundelegung folgenden Wortlauts gefasst werden: ‚Die Gleichstellung der Löhne für männliche und weibliche Arbeitskräfte muss zwei Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages durchgeführt sein. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Massnahmen treffen, um vor Ablauf der ersten Etappe der Uebergangsperiode eine Harmonisierung auf folgenden Gebieten herbeizuführen: - Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit, bei deren Ueberschreiten Ueberstundenzuschläge gezahlt werden, sowie Festlegung des Satzes dieser Zuschläge; - Dauer des bezahlten Urlaubs. Während der nachfolgenden Etappen ist die Harmonisierung im Fortschritt der sozialen Systeme und des Lohnniveaus fortschreitend in der Weise zu verwirklichen, dass am Ende der Uebergangsperiode die Gesamtarbeitskosten in den einzelnen Mitgliedstaaten äquivalent sind.’“45
Der Kern dieses Vorschlags zielt unverkennbar auf eine Vetomöglichkeit: Der Übergang von der ersten in die zweite Etappe soll davon abhängig gemacht werden, dass der Ministerrat einstimmig beschließt, ob alle erwähnten Maßnahmen verwirklicht worden sind. Die Lohngleichheit – inhaltlich noch nicht spezifiziert – wird hier bereits an den Übergang zur zweiten Etappe gekoppelt und ist mit der Arbeits- und Urlaubszeit Teil dieses gemeinsamen sozialpolitischen Pakets. Die soziale Harmonisierung stellt keinesfalls die einzige französische Bedingung dar. Weitere Punkte betreffen grundlegende und weit reichende wirtschaftliche Forderungen wie Ausfuhrbeihilfen, Schutzklauseln bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten sowie die Einbeziehung der Kolonien (vgl. Moravscik 1998: 114). Schließlich behält sich Frankreich aufgrund des Krieges in Algerien vor, zeitlichen Aufschub zu beantragen.46 Das Memorandum macht die französische Reserve gegenüber dem Integrationsprojekt deutlich, aber auch die wirtschaftspolitische Schwäche Frankreichs
45 PA AA, B 20-210, Bd. 28, Regierungskonferenz für den Gemeinsamen Markt, Brüssel, 19.9.1956, Ch. Del. 29, Memorandum, S. 2. 46 Ebd.
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und seine Kolonialpolitik, mit der die Realisierung des Marktprojekts verflochten ist.47 Die anderen Regierungsvertreter betrachten den Forderungskatalog als unakzeptabel und deuten ihn als Versuch, das hohe französische Preisniveau durch die Anhebung der Löhne abzufedern, was „von dem französischen Sprecher auch explicite zugestanden“ worden sei.48 Hieran wird die Gefährdung des Integrationsprojekts offenbar. Im Spätsommer zeichnet sich das Erfordernis von Zugeständnissen ab, wenn der Kerngedanke des Spaak-Berichts noch Aussicht auf Erfolg haben soll. Im Auswärtigen Amt wird jetzt ein verhandlungstaktischer Kompromiss erwogen: „Wenn deutscherseits Frankreich gegenüber die Gleichstellung der Löhne für männliche und weibliche Arbeitskräfte bei gleichwertiger Arbeit vorbehaltlich der Zustimmung der deutschen Tarifpartner vorgeschlagen werden könnte, so wird hierin ein geeigneter Kompromiß gesehen.“49
Auch Spaak selbst bemüht sich um Zugeständnisse an Frankreich. Für die Verzerrungen, die aus den Lohnspannen resultieren, schlägt er Mitte Oktober zum Ausgleich Schutzklauseln für die benachteiligten Länder vor (vgl. Küsters 1982: 313). Auf der im Oktober in Paris stattfindenden Außenministerkonferenz drohen die Verhandlungen zu scheitern. In mühseligen Gesprächen rückt Frankreich schließlich von seiner Veto-Option ab und Deutschland signalisiert Kompromissbereitschaft, so dass „eine Minimallösung der sozialen Harmonisierung“ (Müller-Armack 1971: 116) ausgehandelt wird. Der deutsche Außenminister Heinrich von Brentano lässt die Zustimmung seiner Regierung zur Lohngleichheit nach dem ILO-Vorbild erkennen. Vor diesem Hintergrund wird am 21. Oktober folgende Formulierung für die Entgeltgleichheit in den Vertrag aufgenommen:
47 Die folgende von deutscher Seite vertretene Sicht findet mehrheitlich in Brüssel Zugspruch: „Die Harmonisierung der unterschiedlichen sozialen Belastung kann nicht die Voraussetzung, sondern nur das Ergebnis des Gemeinsamen Marktes sein.“ Nach dem Widerspruch aller Länder lasse Frankreich „durchblicken, dass diese Forderung voraussichtlich stark abgeschwächt werde“. PA AA, B 20-210, Bd. 28, Bonn, 12.10.1956, Der Bundesminister des Auswärtigen, Bonn, 3.10.1956, Kabinettsvorlage, S. 5. 48 PA AA, B 20-210, Bd. 28, Bundesminister für Wirtschaft, Bonn, 2.10.1956, Kabinettsvorlage, S. 3. 49 PA AA, B 20-210, Bd. 28, Der Bundesminister des Auswärtigen, Bonn, den 3.10.1956, Kabinettsvorlage, S. 5f.
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„Jede Regierung ergreift alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit des Effektiventgelts weiblicher und männlicher Arbeitskräfte für die gleiche Arbeit und für gleichwertige Leistung innerhalb der ersten Etappe sicherzustellen.“50
Interessant ist an dieser Fassung, dass erstmals die ILO-Vorgabe „equal pay for work of equal value“ berücksichtigt wird, mit der die Lohnfestsetzung aus der Bewertung der Arbeit, nicht aber der Person und deren Geschlechtszugehörigkeit resultieren soll. Doch dies ist noch nicht das letzte Wort bis zur Vertragszeichnung. Am 6. November, zwei Tage nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn und auf dem Höhepunkt der Suez-Krise, erfolgt dann die historische Wende in den Verhandlungen (vgl. Küsters 1982: 328; Loth 1996: 127; Moravscik 1998: 119). Im Rahmen des spektakulären Besuchs des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauers in Paris wird von Karl Carstens und Robert Marjolin der sog. „Formelkompromiss“ (Küsters 1982: 328) zur sozialen Harmonisierung erarbeitet (vgl. Carstens 1993: 207). Dieser legt die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen als ein allgemeines Ziel der Gemeinschaft fest. Die Pointe besteht darin, dass dieses Ziel nun auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erreicht werden soll, nämlich durch die Marktdynamik, durch vertraglich festgelegte Verfahren und durch die Rechtsangleichung.51 Faktisch bedeutet dies, dass Frankreich den Eintritt in den Markt nicht mehr an eine gleichzeitige soziale Harmonisierung koppelt. Der Knoten ist also gelöst. Vor diesem Hintergrund werden auf der Regierungskonferenz am 16. November in Paris die sozialpolitischen Formulierungen abgestimmt, die das Gerüst für das spätere Kapitel über die Sozialvorschriften der Art. 117, 118 und 120 im Vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) bilden. Die im Oktober vereinbarte Fassung der Entgeltgleichheit wird nun nochmals bestätigt, doch es wird „eine Neufassung des letzten Teiles ‚für gleiche Arbeit und gleiche Leistung’ vorbehalten“.52 50 Übersetzung der französischen Fassung: vgl. CM3, MAE 504 f/56, S. 3. Vgl. Küsters 1982: 316; Moravscik 1998: 144. 51 CM3, MAE 522 f/56 gh, Propositions des experts allemands et français. Moravscik bringt den Besuch Adenauers nicht primär mit der Suez-Krise in Zusammenhang, sondern auch mit innenpolitischen Gründen, nämlich den Widerstand des deutschen Wirtschaftsministers gegenüber dem Marktprojekt zu brechen (vgl. Moravscik 1998: 144). 52 CM3, MAE 527 d/57vr, S. 1. (vgl. Vleuten 2007: 46ff.; Küsters 1982: 316; Moravscik 1998: 143ff.). Neben den normativen Bedenken könnten auch Definitionsschwierigkeiten der Grund gewesen sein (vgl. Groeben et al. 1999: 3/1212, Rn. 22). Wir nehmen an, dass beide Gesichtspunkte relevant sind, das Problem der Definition und Vergleichbarkeit verdient es, genauer untersucht zu werden.
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Im Januar schicken die Delegationsleiter den Text zur Redaktionsgruppe mit Bitte um Überarbeitung in Abstimmung mit der ILO-Konvention. Auch hier löst die Gleichwertigkeitsvorgabe Vorbehalte aus bzw. stößt auf Definitionsprobleme, so dass diese Frage im Sachverständigenausschuss geklärt werden soll. Die Endredaktion wird am 14.2.1957 von der Sachverständigengruppe in Übereinstimmung mit der ILO-Konvention beraten. Die Formulierung „für gleiche Arbeit und gleiche Leistung“, die der holländischen und deutschen Präferenz entspricht, wird jetzt ins Französische übersetzt und der gesamte Artikel in Anlehnung an die ILO-Konvention gefasst (vgl. Vleuten 2007: 48).53 Die Gleichwertigkeitsvorgabe ist damit zwischen die Mühlsteine des politischen Hin und Her geraten und zwischen den Sprachen untergegangen. Diese Fassung entspricht dem späteren Vertragstext, aber noch nicht der Nummerierung als Art. 119: „Jeder Mitgliedstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten. Unter „Entgelt“ im Sinne dieses Artikels sind die üblichen Grund- und Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber auf Grund des Dienstleistungsverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar in bar oder Sachleistungen zahlt, a) dass das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit auf Grund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird; b) dass für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist.“54
Die zwei Tage später präsentierte Abschlussformulierung zur Lohngleichheit enthält eine interessante Anlage, die ausdrücklich auf die multiple Autorenschaft dieses Artikels hinweist. Danach entspricht der erste Absatz des Artikels, also die Verpflichtung auf den Gleichheitsgrundsatz beim Lohn, dem Kompromiss der Außenminister; der zweite Absatz mit der Erläuterung des Begriffs Arbeitsentgelt folgt der ILO-Konvention, und die Auslegung des Begriffs Gleichheit geht auf die französischen Formulierung des erzielten Kompromisses zurück.55 Wir finden also auch in den Quellen selbst die Reflexion darauf, dass nationale Interessen, supranationale Gesichtspunkte und globale Erwartungen bei diesem Artikelentwurf am Werke gewesen sind. Die Lohngleichheit wird bis Februar 1957 weiterhin im Vertragsteil unter dem Titel „Wettbewerbsverzerrung“ geführt und entspricht somit der im SpaakBericht (Teil II, Kap. 2, 1) vorgesehenen Systematik. Der Text selbst wird ab 53 54 55
Ebd.: 2. CM3, MAE 562 d/57 ls, S. 1. Ebd.: 2. Vgl. Van Lint 1969.
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jetzt nicht mehr verändert, wohl aber sein Kontext. Die Redaktionsgruppe kürzt den Teil über die Wettbewerbsregeln und verschiebt den Art. 46 in den sozialpolitischen Teil. Die Entgeltvorgabe wandert in die Sozialvorschriften und beginnt in diesem Teil fortan als Art. 119 ihre Geschichte.56 Mit diesem Transfer erfolgt der Import einer starken primärrechtlichen Vorgabe ins Kapitel der schwachen Sozialvorschriften. Hier wird der Art. 119 EWGV fortan eine exponierte Stellung einnehmen, da er im Unterschied zu den anderen Vorgaben mit dem Eintreten der zweiten Phase des Gemeinsamen Marktes unmittelbar anwendbar ist. Für die Umsetzung des EWGV ist zeitlich ein dreistufiger Ablauf vorgesehen (Art. 8, 3 EWGV). Die „erste Stufe“ zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes läuft demnach Ende 1961 aus. Zu diesem Zeitpunkt sollen die sechs Länder bereits die Vorgabe anwenden. Der Eintritt in die sog. zweite Stufe ist an die Bedingung geknüpft, dass die im Vertrag vorgesehenen Ziele der ersten Phase tatsächlich erreicht sind, d.h. die Entgeltgleichheit muss umgesetzt sein. Diese Kodifizierung steht mit verschiedenen Faktoren im Schnittfeld von nationalen Interessen, internationalen Normen und integrationspolitischen Vorstellungen in Verbindung. Zur Sprache kommt sie überhaupt, weil die Vergleichshorizonte sich mit dem Integrationsprojekt verschieben; auf den Weg gebracht wird sie im Medium des Gemeinsamen Marktes.
2.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde die Genese der Lohngleichheit an der Nahtstelle von Montanunion und EWG rekonstruiert. Die Ergebnisse bekräftigen die Annahme, dass dieses Prinzip sozial verortet ist und seine Verankerung auf vielfältige Interpretationsprozesse und kognitive Strukturierungen zurückzuführen ist. Sie verdeutlichen, dass es zu grob wäre, den Art. 119 EWG ausschließlich durch die wirtschaftliche Brille zu betrachten. In diesem Kapitel ist eine andere Geschichte erzählt worden. Die Lohngleichheit, so lautet das erste Ergebnis, gehört nach 1945 in den Zusammenhang der Entstehung neuartiger Vergesellschaftungsformen und Beobachtungsmuster für Gleichheit. Diese Umbrüche wurden zunächst an der Montanunion dargestellt. In diesem ersten Versuchsfeld der neuen Marktbildung 56 Der Art. 101 EWGV ersetzt den gestrichenen Teil über die Wettbewerbsregeln: „Stellt die Kommission fest, dass vorhandene Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten die Wettbewerbsbedingungen auf dem Gemeinsamen Markt verfälschen und dadurch eine Verzerrung hervorrufen, die zu beseitigen ist, so tritt sie mit den betreffenden Mitgliedstaaten in Beratungen ein.“ Vgl. auch die Formulierungen im Spaak-Bericht (1956: 304ff.).
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werden frühere (nationale) Unterschiede anders beobachtet und entsprechende Arrangements von Gleichheit aufgebrochen. So stellt bereits die EGKS die Weichen für die Entflechtung von Territorium und Recht. Wie die Freizügigkeitsregelung zeigt, vollzieht sich in dieser frühen Integrationsphase die „untergründige horizontale Transnationalisierung der Arbeitsmärkte“ (Beck/Grande 2004: 170) in Westeuropa. Mit dem Aufbrechen national begrenzter Gleichheitsideen entstehen veränderte Erwartungsmuster wie auch neue Fragen, für deren Beantwortung es kaum Vorbilder gibt. Abhängig von den partikularen Interessen werden Disparitäten unterschiedlich interpretiert, sie sind dennoch im Medium des Marktes gemeinsam zu klassifizieren. Dieses ist die Bühne, auf der die Lohngleichheit ihren Auftritt hat. In dieser Konstellation, so lautet das zweite Ergebnis, bieten internationale Normen einen kognitiven Rahmen. Als internationale Wirtschafts- und Sozialnormen leisten sie Hilfestellung für die Konzeption des Marktes und die Überbrückung von Unsicherheit. Dass es sich bei der Adaption weniger um automatische Abläufe handelt, wurde an der Entgeltgleichheit rekonstruiert. Als Orientierungsschema wird sie verwendet, doch in der Minimalversion ohne die Gleichwertigkeit.57 Internationale Standards geben darüber hinaus eine normative Orientierung vor, insofern die wissenschaftliche Expertise über die nationalen Präferenzen hinaus mit professioneller und sozialwissenschaftlicher Autorität versehen ist. Als Kandidatin für Kompromisse kann die Entgeltgleichheit schließlich zum Zuge kommen, weil sie als internationaler Standard hinreichend bekannt ist. Somit stellt sie zum einen keine Neuerung dar und zum anderen überwölbt sie die nationalen Partikularismen, ohne dass sie auf der Handlungsebene umgesetzt werden muss.58 So vermag man Frankreich entgegenzukommen, ohne dass binnenstaatlich zusätzliche Legitimationsbeschaffung erforderlich ist. Die vertragliche Verankerung, dieses ist das dritte Ergebnis dieses Kapitels, ist das kontingente Resultat der an kollektiv bindenden Ergebnissen orientierten Verhandlungsdynamik. Die französische Kolonialpolitik und die geopolitische Krise Frankreichs haben hierbei sicherlich Gewicht. Auch das Zeitfenster spielt eine Rolle, denn nach der knappen Zustimmung des französischen Parlaments im
57 Diese Übersetzungsvorgänge stellen kontextspezifische Interpretationen dar und lassen sich als das aktive Aufgreifen internationaler Erwartungen beschreiben. Vgl. für das Konzept des aktiven Aufgreifens die organisationssoziologische Studie von Heike Scheidemann (2008). 58 Vgl. Vleuten (2007: 44ff.), die diese Kalküle auf deutscher und französischer Seite erstmals behandelt.
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Januar und vor den Wahlen in Deutschland war der rasche, pragmatische Abschluss des Vertrags geboten, der um ein Haar gescheitert wäre.59 Für die ILO stellen die Verhandlungen wiederum eine Gelegenheit dar, internationale Erwartungen in das entstehende Vertragswerk der Gemeinschaft einzubringen. Über die Kodifizierung der Entgeltgleichheit erfolgt der erste Transfer internationaler arbeitsrechtlicher Normen zur Gleichbehandlung der Geschlechter auf das europäische Gemeinschaftsrecht.60 Internationale Standards ‚beseitigen‘ allerdings nicht automatisch den männlich dominierten Gleichheitsbegriff. Wie die ILO-Übereinkommen zur Wanderarbeit (97) und zur sozialen Sicherheit (102), aber auch die Freizügigkeitsregelung im EGKS und im EWGV zeigen, ist in der Nachkriegszeit eher eine Vermischung ökonomischer Gleichheitsvorgaben für beide Geschlechter mit dem männlichen Alleinverdienermodell zu erkennen. Betrachten wir die Geschichte des Vertragsartikels unter diesem Gesichtspunkt, wird deutlich, dass dieser aus dem kontingenten Zusammenspiel von nationalen Interessen, integrationspolitischen Vorstellungen und internationalen Normen hervorgeht. Als Thema wird die Lohngleichheit freilich erst in Zusammenhang mit dem Gleichheitsskript des market-building verständlich, das die begrenzte binnenstaatliche Gleichheit auf die Idee der Gleichheit und Vergleichbarkeit im neu entstehenden System ausweitet. Auf diese Weise wird ein sozialer Grundsatz institutionalisiert, der auf historisch lange Kämpfe um Geschlechtergleichheit im 19. Jahrhundert zurückgeht (vgl. Scott 1994; Wikander et al. 1995), die heute keineswegs abgeschlossen sind. Obschon der Art. 119 zunächst eine ‚preiswerte‘ Lösung darstellt, werden hiermit Grundlagen für die Umcodierung von Gleichheit gelegt. Das folgende Kapitel behandelt die Frage, wie dieses ‚Vermächtnis‘ übersetzt wird und welche sozialen Mechanismen dabei am Werke sind.
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Die internationalen politischen, die nationalen wirtschaftlichen und die geschlechterpolitischen Faktoren werden unterschiedlich gewichtet (vgl. Küsters 1982; Hosykns 1996; Knipping 2004; Moravcsic 1998; Vleuten 2007). 60 Hiermit wird die mit der EGKS und dem Europarat bestehende Kooperation der ILO erweitert, womit ein wichtiger Anfang auf dem Weg zur Konvergenz von ILO- und Gemeinschaftsnormen bei der Regulierung sozialer Standards gemacht ist (vgl. Murray 2001).
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Drittes Kapitel Theresa Wobbe und Ingrid Biermann
Die Stabilisierung des Geschlechterskripts: Gleichberechtigung im Medium der sozialwissenschaftlichen Expertise und des Rechts The considerations that underlie the equal pay guarantee in the European Community extend beyond the central concern in the United States of eliminating sex-based discrimination by assuring equal wages for work that is of equal value. In Europe the equal pay guarantee affects intra-Community economic competition. […] As such, the equal pay guarantee in the European Community has a practical urgency that is absent from the debate of the United States. Susan Ephron1
Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich damit, wie der Prämisse der Lohngleichheit nach Inkrafttreten der Verträge Leben eingehaucht wird. Der Vertrag über die Wirtschaftsgemeinschaft gibt mit dem Aufbau des Marktes einen klaren zeitlichen Rahmen vor, die konkreten Schritte müssen noch erfolgen. An der Wende zu den 1960er Jahren ist die Gemeinschaft ein System im Entstehen. Von heute aus gesehen, bietet sich einerseits das Bild eines zügig voranschreitenden Prozesses. Die Etablierung der Zollunion geht schneller als angenommen voran und der Handel zwischen den sechs Ländern steigert sich bereits in einem Zeitraum von vier Jahren um das Doppelte. Es ist jedoch auch zu erkennen, dass die supranationale Struktur noch fragmentiert und begrenzt ist. Dieser Zeitraum der europäischen Systembildung ist durch ebenso grundlegende wie abstrakte Entscheidungen und Festlegungen in einem noch offenen institutionellen Feld charakterisiert. Der Fortgang des Integrationsprojekts, dessen Verlauf wir heute kennen, ist damals durchaus ungewiss. So stellt sich für die Lohngleichheit wie auch für andere vertragliche Vorgaben die Frage, ob sie lediglich law in the books bleiben. 1
Ephron 1986: 197.
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Ihre Umsetzung ist keineswegs erwartbar, sondern prekär, also sozial voraussetzungsreich. Konkret bedeutet dies, dass die Kommission nach den Buchstaben des Vertrags zwar für die Umsetzung der Verpflichtungen zuständig ist, faktisch scheinen die Mitgliedstaaten jedoch zunächst die Herren des Verfahrens zu bleiben. In den ersten 15 Jahren ist die Anwendung der institutionellen Vorgaben – vorsichtig formuliert – problematisch: „At the time there were so many exceptions and tolerated violations of European law, with every state protecting its market and creating advantages for national producers and workers, that there was in fact no Common Market. Violating European law had few consequences.“ (Alter 2001: 212)
Die Kommission muss dagegen ihre Handlungsfähigkeit als Wächterin über die Verwirklichung der Verträge erst noch unter Beweis stellen – so auch der Gerichtshof, der zu dieser Zeit keinesfalls mit der Autorität ausgestattet ist, die inzwischen zu seinem Markenzeichen zählt. Ausgehend vom Analyserahmen der institutionellen Entwicklung (Abb. 1) fragen wir daher, wie der Art. 119 zum Leben erweckt wird, wie seine Umsetzung eigentlich zustande kommt und durch welche Mechanismen er stabilisiert wird. Nachdem im letzten Kapitel die Genese der Lohngleichheitsprämisse dargelegt wurde, interessiert im Folgenden deren Konkretisierung. Die Analyse erfolgt in vier Schritten. Zunächst fragen wir, welche konkreten Schritte die Kommission zur Anwendung der Entgeltgleichheit unternimmt und wie sie diese mit den Ideen des Gemeinsamen Marktes verbindet (Kap. 3.1). Die von Evelyne Sullerot erstellte Expertise, so wird anschließend gezeigt, rückt diese Vorgabe erstmals in den Zusammenhang der defizitären Arbeitsmarktintegration von Frauen und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes (Kap. 3.2). Dann erarbeiten wir an der Rechtsprechung im Fall Defrenne/Sabena die Deutung der Lohngleichheit im supranationalen Recht (Kap. 3.3). Vor diesem Hintergrund werden die drei sog. Gleichbehandlungsrichtlinien der 1970er Jahre daraufhin untersucht, wie sie den Art. 119 übersetzen und das modifizierte Verständnis von (Geschlechter-)Gleichheit verfestigen (Kap. 3.4). Abschließend diskutieren wir die Ergebnisse im Hinblick auf die institutionellen Mechanismen (Kap. 3.5). Aus der Perspektive institutioneller Entwicklung ist die Konkretisierung des Art. 119 alles andere als selbstverständlich. Die sozialen Voraussetzungen hierfür, so zeigt dieses Kapitel, liegen bei der Kommission und dem EuGH, die das Vermächtnis der Römischen Verträge gestalten und damit „flesh on the bones of the Treaty“ (Ellis 1998: vii) bringen. Die Ziele des Gemeinsamen Marktes wer-
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den über institutionelle Mechanismen konkretisiert, die die Lohngleichheit graduell verändern und als Gleichbehandlung verankern.
3.1 Was bedeutet Lohngleichheit und wie kann sie bestimmt werden? Als die EWG 1958 ihre Arbeit aufnimmt, muss die institutionelle Architektur von Gemeinsamen Markt und Kommission organisatorisch allererst errichtet werden. Hierzu gehört zum einen die Binnendifferenzierung der Kommission, also die Etablierung der Generaldirektionen, der Dienste und der Verfahren, und zum anderen die Differenzierung nach außen, also die Zusammenarbeit mit der Hohen Behörde der Montanunion, mit der Atomagentur sowie mit dem Rat, der parlamentarischen Versammlung (später: EP) und dem EuGH. Die Kommission hat das Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten und ist somit für die Anwendung der vertraglichen Verpflichtungen zuständig (Art. 155 EWGV/Art. 211 EGV). In der Montanunion wurde mit der Hohen Behörde eine europäische, über den Mitgliedsländern ‚schwebende‘ Regierung anvisiert, die faktisch mit der Kompetenz eines „Hauptrechtsetzungsorgans“ (Haratsch et al. 2006: 5) ausgestattet war. Diese Idee einer supranationalen Exekutive wird in der EWG erheblich modifiziert. Der Vertrag sieht den Ministerrat ohne Frage als das Exekutivorgan der Gemeinschaft vor, während die Kommission die Aufgabe hat, die Entscheidungen des Rates umzusetzen und für die Einhaltung der Verträge Sorge zu tragen. Interessant ist allerdings, dass die Kommission ein weitgehendes Vorschlagsrecht erhält. Sie hat die Initiativfunktion für die Beschlüsse des Rates sowie für die Politikgestaltung der Gemeinschaft. Dies bedeutet, dass die Informationsbeschaffung, die Heranziehung sachthematischer Expertise und die Vorbereitung von Maßnahmen bei ihr liegen. Zudem ist sie berechtigt, den EuGH in einem Verfahren wegen der Verletzung der Vertragspflichten von Mitgliedstaaten anzurufen (Art. 155 EWGV/Art. 226 EGV). Die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren ist – wie auch heute – in einem hohen Maß von politischen Erwägungen bestimmt. Anders aber als heute hat die Kommission in den 1960er Jahren weder eigene Erfahrungen noch Vorbilder. Angesichts des fehlenden politischen Integrationswillens der Nationalstaaten wird die Einleitung von Verfahren in den frühen Jahren daher als äußerst riskant angesehen. Umgekehrt heißt dies für den EuGH, dass er wenige Anknüpfungspunkte erhält, die es ihm gestatten, Europarecht in Verfahren auszulegen (vgl. Alter 2001: 209).
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Auch die Rechtsabteilung der Kommission verhält sich zunächst zurückhaltend bei der Erzwingung rechtlicher Umsetzungen. Gemieden werden Konflikte, die negativ politisiert werden könnten.2 Die Nationalstaaten können die Entscheidungen des Gerichtshofs also noch ignorieren, ohne mit Nachteilen rechnen zu müssen (vgl. Alter 2001: 190f.).3 Welche Akzente werden bei den ersten Gehversuchen auf diesem dünnen Eis der Integration gesetzt und welche Impulse gehen von der Kommission aus? Im Dezember 1959 findet erstmals auf Einladung der Kommission eine Beratung mit den Vertretern der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände über die Tariflöhne in den sechs Ländern statt (vgl. Bulletin 1/1960: 46). Im Juli 1960 richtet die Kommission ihre Empfehlungen zur Durchführung der Entgeltgleichheit an die Mitgliedsländer und fordert diese angesichts des Übergangs in die zweite Phase zur beschleunigten Anwendung auf (vgl. Bulletin 2/1960: 23). Sie legt den Art. 119 EWG dahingehend aus, dass die Arbeitsplatzbewertung und die Einstufung in Lohngruppen für Frauen und Männer nach gleichen Maßstäben zu erfolgen haben und dass dies auch für die Bewertung von Befähigungen (Diplome, Berufserfahrung usw.) für bestimmte Tätigkeiten gelte. Den Maßstab bilden demnach die formal gleichen Voraussetzungen – ein auf dem Geschlecht gegründeter Unterschied sei nicht zulässig (vgl. Bulletin 6-7/1960: 46ff.).4 Diese Vorgaben gelten für alle privaten und öffentlichen Arbeitsverträge, für die staatliche Genehmigung von Tarifverträgen. Die Adressaten dieser Empfehlung sind somit die Berufsverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie staatliche Behörden (ebd.: 48). Die von Walter Hallstein geleitete Kommission interpretiert den Art. 119 zu diesem Zeitpunkt ähnlich wie die ILO, nämlich als einen Sozialstandard, der zur Veränderung ungerechtfertigter Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern beitragen soll (vgl. Kap. 2.3). Für die Umsetzung der Entgeltgleichheit führt er 2 Allerdings wird der EuGH bei der Erarbeitung einer eigenen (supranationalen) Rechtsdoktrin von Seiten der Kommission unterstützt (vgl. Alter 2001: 188). Auch die Anwälte praktizieren zu dieser Zeit eine breite Auslegung des Rechts (Stein 1981: 25). Das Mandat der Kommission wird von ihrer eigenen Rechtsabteilung so ausgelegt, dass sie lediglich nicht-bindende Empfehlungen formulieren könne, um die Mitgliedsländer an ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erinnern. Erst nach Ablauf der Frist habe die Kommission das Recht, ein Verfahren gegen ein Land einzuleiten (vgl. Vleuten 2007: 54f.). 3 In den ersten zehn Jahren sind insgesamt nur 27 Fälle gegen die Mitgliedsländer verhandelt worden (Alter 2001: 11-14), in den 1980er Jahren explodiert die Zahl der Verfahren (ebd.: Abb. 1.2, S. 15). Diese Dynamik steht mit der Vollendung des Binnenmarktes in Zusammenhang. Zwischen 1985 und 1993 beziehen sich 69 % der Vertragsverletzungsverfahren auf die fehlende Implementation von Richtlinien, die den Markt betreffen. Der Anstieg der Verfahren erfolgt nach der Transformation des supranationalen Normsystems. 4 Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten zu Artikel 119 EWGV des Vertrages (Bulletin 6-7/1960: 47f).
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die gerechte Bewertung von Arbeitsleistungen als Maßstab an. Im Unterschied zur ILO-Konvention klammert Hallstein das gleiche Entgelt für gleichwertige Arbeit allerdings aus dem Anwendungsbereich dieser Vorgabe aus (vgl. Ephron 1986: 199; Van Lint 1969: 397). Die Kommission entwickelt eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Auffassung über die Arbeit von Frauen, vergleicht man diese etwa mit dem Familienbericht der Bundesregierung von 1966.5 Sie nimmt eine Betrachtung der Frauenerwerbsarbeit vor, die deren gängige Abwertung durch den Verweis auf die primäre weibliche Zuständigkeit für Familienaufgaben zurückweist. „Die Kommission“, so heißt es, „ist der Ansicht, dass der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und für Frauen das Geschlecht als Maßstab für die Festsetzung der Löhne ausschließt, während alle sonst gebräuchlichen Merkmale wie die berufliche Befähigung, Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Familienstand weiterhin mitzählen dürfen.“ (Bulletin 6-7/1960: 46)6
Die Festlegung von gesonderten Löhnen auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit wird hiermit delegitimiert. Frauen werden als Erwerbstätige angesehen, die entsprechend ihrer erbrachten Arbeitsleistung zu entlohnen sind. Diese Überlegungen signalisieren einen Bruch mit der Erbschaft des 19. Jahrhunderts, als Frauen in Europa als Sonderfall des Arbeitsmarktes galten und aufgrund von Familienaufgaben nur unter bestimmten Bedingungen Zugang zur Erwerbstätigkeit erhielten. Ihre Leistung wurde geringer geschätzt als die der Männer und der Männerarbeit gegenüber symbolisch abgewertet. Dieses Arrangement befestigte die Idee, dass der Frauenlohn nicht einmal für die Existenzsicherung der Arbeiterin selbst ausreiche, während der Männerlohn die eigenen Reproduktionskosten wie auch die der Familie einschließen sollte (vgl. Scott 1994). Die Sonderbestimmungen, mit denen im 19. Jahrhundert die Arbeiterin als Abweichung vom Normalitätsmodell der idealisierten Mütterlichkeit und Sittlichkeit institutionalisiert wurde, schränkten ihren Status als Marktteilnehmerin
5 Im Familienbericht der Bundesregierung von 1966 bleibt das Verständnis von der primären Familienverpflichtung der Frauen im Kern unberührt. Erst das Bürgerliche Gesetzbuch nimmt 1977 von dem Leitbild der Hausfrauenehe Abschied und verzichtet auf die Vorgabe des Ehemodells. Auf dem Gebiet der Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern wird kein Handlungsbedarf gesehen, eine Kündigung aufgrund des Geschlechts wird sogar als sozial gerechtfertigt angesehen (vgl. LeichtScholten 2000: 52, 54). Die seit 1955 in Deutschland bestehenden sog. Leichtlohngruppen sind erst Anfang der 1990er Jahre durch das Bundesarbeitsgericht für gesetzeswidrig erklärt worden. 6 Diese Position galt auch für die Halbtagsarbeit von Frauen. Der EuGH hat diese Sicht der Bewertung von Frauenarbeit später durch mehrere Urteile bestätigt (vgl. für Beispiele: Streit H. 4/1986: 126-128; Streit H. 3/ 1989: 87-88).
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ein und sie legitimierten ihre geringere Entlohnung. Im Deutungsrahmen des Differenzkonzepts fungierte die Exklusivität der weiblichen Familienrolle als Ausschlussargument für die Erwerbsarbeit von Frauen (vgl. Canning 1998). Die hierauf beruhende Idee des männlichen Familienernährers (vgl. Lewis 1984) wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus ihrer institutionellen Verankerung gelöst. Die EWG trägt hierzu in Westeuropa maßgeblich bei. So erklärt Hallstein die Rechtfertigung geringerer Löhne aufgrund der familiären Aufgaben von Frauen nach dem Modell des Familienernährers als unzulässig: „Die besonderen Schutzmaßnahmen für Frauen sollen dagegen nicht dafür in die Waagschale geworfen werden, dass die wirtschaftliche Gesamtleistung der Frauenarbeit etwa wegen des häufigeren Fernbleibens vom Arbeitsplatz ein geringeres Entgelt rechtfertige.“ (Bulletin 6-7/1960: 46)
Die Zuständigkeit von Frauen für die Familienarbeit und damit verbundene Kosten sollten nicht mehr den Frauen durch eine geringere Entlohnung in Form von besonderen Lohn- und Gehaltsgruppen angerechnet werden.7 Bis in die 1990er Jahre wird sich zeigen, wie heikel gerade dieser Aspekt bleibt, dass die Klassifikations- und Arbeitsplatzbewertungssysteme nur mühselig und nach immer neuen Anläufen zu verändern sind.8 Die Generaldirektion Soziale Angelegenheiten konzentriert sich von Beginn an auf zwei Gesichtspunkte, nämlich einmal auf die Erhebung von Daten, die Aufschluss über die Gesetze und die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Lohngleichheit gestatten, und darauf, ihre Reichweite zu bestimmen (vgl. Bulletin 6/1961: 44). Schnell erweisen sich die von den Regierungen und den Verbänden erhobenen Daten als unzureichend; die Kommission nutzt daher auch die Studien des Statistischen Dienstes der Gemeinschaft. Zudem wird im Einvernehmen mit dem Rat eine Sondergruppe Art. 119 EWG mit Regierungssachverständigen, Sachverständigen für Tarifverträge und Vertretern der Kommission eingerichtet, um die verschiedenen Gesichtspunkte der Anwendung in den Ländern zu untersuchen. Darüber hinaus beginnt die Kommission selbst, die Grundlagen und Methoden für Erhebungen festzulegen, also Kategorien und Beobachtungsmuster
7
Die ausdrückliche Aufwertung der Arbeit von Frauen durch die Anerkennung sowohl ihrer Leistungen im Familienbereich als auch ihrer Erwerbs- und Hausarbeit als „wirtschaftliche Gesamtleistung“ widerspricht der damals (national) noch geltenden Bewertung der Arbeit von Frauen (vgl. Bergmann 1999; Sullerot 1968). 8 Für die Messung von Chancengleichheit in der EU werden daher in den 1990er Jahren die Kategorien differenziert und das Arbeitszeitsystem, die Möglichkeiten zur Kinderbetreuung und Regelungen zur Abwesenheit berücksichtigt (vgl. Plantenga/Hansen 1999).
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für die vergleichende Analyse innerhalb des Marktes zu bilden (vgl. ebd.: 45f.; Bulletin 7/1961: 76; Vleuten 2007: 56ff.). Der dem Rat Ende 1961 vorgelegte Bericht der Arbeitsgruppe stellt einige Fortschritte fest, doch die Länder sind bis zu diesem Zeitpunkt von der Anwendung der Entgeltgleichheit weit entfernt, insbesondere fehlt die rechtliche Umsetzung, nämlich „geeignete Maßnahmen zur Einführung des vor Gericht einklagbaren Rechts auf gleichen Lohn für weibliche Arbeitskräfte“ (Bulletin 12/1961: 49). Die meisten Länder sind bis zum vertraglich festgelegten Zeitpunkt ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. Daher verabschieden die Mitgliedsländer kurz zuvor eine Entschließung, um die Frist bis zum 31.12.1964 zu verlängern (vgl. Bulletin 1/1962: 7ff.). Wie wir später in diesem Kapitel (vgl. 3.3) erläutern werden, stellt diese Fristverschiebung 15 Jahre später in den Augen des EuGH eine unzulässige Vertragsänderung dar. 1962 sind die Aufgaben für die Anwendung klar formuliert: Der Entgeltgrundsatz soll durch die Gerichte geschützt werden und Diskriminierungen bei der Festsetzung der Entgelte (gesetzlicher Mindestlohn, unterschiedliche Mindestlöhne, Zeitlohn- und Akkordsätze, Lohngruppen, Tarifverträge usw.) sind aufzuheben (vgl. Bulletin 1/1962: 9f.). Ausdrücklich erwähnt werden die Kontrollaufgabe der Kommission wie auch ihre Zuständigkeit, eigenständige statistische Erhebungen der Frauen- und Männerlöhne und Einzeluntersuchungen beruflicher Klassifikationssysteme durchzuführen (vgl. ebd.). Doch es bewegt sich wenig. Aus dem Bericht der Kommission sind die Desiderate gut erkennbar, die 1963 bestehen. Die Benelux-Länder verwenden weiterhin Klassifikationsschemata bzw. es werden – wie in Italien – neue nach altem Muster eingeführt. In Deutschland werden Frauen nach wie vor auf dem Arbeitsmarkt in den Lohnskalen am niedrigsten eingestuft; in Frankreich werden die außer- und übertariflichen Löhne noch nicht für die Anwendung des Art. 119 berücksichtigt (vgl. Bulletin 2/1963: 54ff.). Auch die für 1964 vereinbarte Frist lassen die Länder verstreichen, ohne dass von der Kommission oder vom EuGH Sanktionen ins Auge gefasst werden. In diesen Jahren fallen vor allem zwei Aspekte ins Auge. Zum einen sind verlässliche Daten ein heikles Thema, woraus ein Tauziehen zwischen Kommission und Mitgliedsländern folgt. Die Kommission drängt auf die Bereitstellung von Daten, die Mitgliedsländer nutzen wiederum die unübersichtliche Situation für Ausweichargumente, zugleich weigern sie sich, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen (vgl. Vleuten 2007: 56). Schließlich stellen die nationalen Sachverständigen in der Sondergruppe Art. 119 ihre Arbeit ein und die Kommission erhält im Oktober 1964 vom Rat den Auftrag, unter eigener Federführung eine Studie zu erstellen (vgl. ebd.: 62).
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Zum anderen versucht die Kommission in dieser frühen Phase, Stück für Stück eigene Maßstäbe für die Auslegung der Vorgabe zu entwickeln. So lehnt sie rein formale Definitionen ab und besteht auf dem brisanten Punkt der „Beseitigung aller stillschweigenden oder ausdrücklichen Diskriminierungen bei Frauenlöhnen“. Sie verwirft die Sicht, „dass der Grundsatz der Lohngleichheit sich nur auf technisch gleiche Funktionen erstrecken soll“, und fordert den Abbau systematisch unterschiedlicher Maßstäbe für Frauen und Männer sowie die Gewährleistung geeigneter Rechtsinstrumente durch die Nationalstaaten und Berufsverbände (Bulletin 9-10/1965: 38f.).9 Insgesamt sind in den 1960er Jahren keine großen Schritte zu beobachten. Frankreich lässt die alten Forderungen nach sozialer Harmonisierung mehr oder weniger fallen, die Beziehungen zwischen den Mitgliedsländern und der Kommission sind durch Spannungen aufgeladen und enden in der Politik des leeren Stuhls.10 Der Rat tagt zwei Jahre lang nicht in der Zusammensetzung der Arbeits- und Sozialminister und das Parlament ist ungehalten. Bei jeder Fristüberschreitung mahnt das EP die Kommission und konfrontiert diese mit Fällen offensichtlicher Missachtung der Entgeltgleichheit.11 Während der 1960er Jahre gehen vom Parlament kontinuierlich Nadelstiche aus. In seiner Entschließung vom 27.5.1964 fordert es die Kommission auf, „besonders wachsam zu sein und darauf hinzuwirken, dass […] alle Versuche bekämpft werden, die Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit beispielsweise durch eine unterbewertende Klassifizierung als weibliche Arbeit, als sogenannte ‚leichte Arbeit‘, oder durch eine ungenaue Bezeichnung der Funktionen bei der Einstufung der Frauen zu umgehen, […], dass die Frauen einen gesetzlich verbürgten Anspruch auf gleiches Entgelt erhalten, den sie vor Gericht geltend machen können“.12
Das Parlament thematisiert also wie die Kommission vor allem die informellen Praktiken, auf denen die ungleiche Bewertung von Frauen- und Männerarbeit 9 Auf der Basis des Berichts (vgl. Bulletin 9-10/1965) wäre die Einleitung eines Verfahrens gegen die Mitgliedsländer möglich gewesen, doch es wird die Ablehnung durch den Rat befürchtet (vgl. Vleuten 2007: 63). 10 Nachdem Hallstein am 15. März 1965 ein Maßnahmenpaket vorschlägt, in dem er die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik mit einer institutionellen Strukturreform verknüpft, bricht der französische Außenminister am 30. Juni die Gespräche im Rat ab und Frankreich nimmt bis zum 29.1.1966 nicht mehr an den Beratungen teil (vgl. Knipping 2004: 135ff.). 11 Vgl. Schriftliche Anfrage 92, 23.11.1964, Antwort der Kommission, ABl. Nr. 2 vom 12.1.1965, S. 12f.; vgl. auch ABl. Nr. 12 vom 28.1.1965, S. 130, Schriftliche Anfrage 102; ABl. Nr. 26 vom 12.2.1965, S. 426, Schriftliche Anfrage 105. 12 Europäisches Parlament, Entschließung betr. den Stand der Anwendung von Artikel 119 des EWGVertrages am 30. Juni 1963, ABl. Nr. 81 vom 27.5.1964, S. 1260f.
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beruht. 1966 richtet es „als Vertreter der öffentlichen Meinung“ einen dringenden Appell an die Regierenden, an die Parlamente der Mitgliedstaaten, an die Sozialpartner, „bestehende und zukünftige Tarifverträge so abzufassen, dass das gleiche Entgelt für Männer und Frauen nicht nur formell, sondern auch tatsächlich garantiert wird und sich Tätigkeitsmerkmalen oder -beschreibungen in den Betrieben sowie Einzelarbeitsverträgen zu widersetzen, die zu ungleichem Entgelt für Männer und Frauen 13 führen können“.
Das Thema Tarifverträge führt in eine dilemmatische Situation. Der Umsetzung des Artikels steht die staatliche Anerkennung der Tarifautonomie in mehreren Mitgliedstaaten entgegen. Diese sind zwar verpflichtet, den Grundsatz anzuwenden, die vertragliche Bestimmung lässt aber die einzelnen national geltenden Arbeitsverfassungen unberührt. Das Parlament nimmt in den Appell die rechtliche Garantie der Lohngleichheit und die Ratifizierung der ILO-Konvention Nr. 100 auf. Die Kommission solle konkrete Vorschläge unterbreiten, einen jährlichen Bericht erstellen und eine Erhebung über die Voll- und Teilzeitbeschäftigung von Frauen in der EWG durchführen (vgl. ebd.).14 In den ausgehenden 1960er Jahren steuert die Gemeinschaft auf die Endphase der Übergangszeit für den Marktaufbau zu, die schrittweise Errichtung gelangt jetzt in die Endphase und soll zu Beginn der 1970er Jahre abgeschlossen sein. Auch die Lohngleichheit zählt zu den unerledigten Themen, die jetzt noch deutlicher in den Blick rücken, denn „von einem wirklich Gemeinsamen Markt“ (Gesamtbericht 1967: 4) könne noch nicht gesprochen werden. Daher stellt sich zunehmend die Frage, wohin die Reise gehen soll und wie Künftiges zu gestalten ist. Die Kommission unterbreitet dem Rat konzeptionelle Überlegungen, die im ersten „Programm für mittelfristige Wirtschaftspolitik“ (8.2.1967) und in den „Leitlinien für die Arbeiten der Kommission im Bereich der Sozialen Angelegenheiten“ (22.12.1966) ihren Niederschlag finden. In der Gründungsphase der Gemeinschaft baute man auf die Marktkräfte, in den späten 1960er Jahren wächst die Einsicht, dass der soziale Fortschritt mit dem wirtschaftlichen nicht
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Europäisches Parlament, Entschließung betr. die Anwendung von Artikel 119 des EWG-Vertrages, ABl. Nr. 130 vom 19.7.1966, S. 2439-2440. 14 Vgl. auch die Entschließung betr. die Anwendung von Artikel 119 des EWG-Vertrags: ABl. C 55 vom 5.6.1968, S. 7-8.
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Schritt hält, sondern voraussetzungsvoll ist und daher zum Gegenstand politischer Gestaltung gemacht werden sollte.15 Das Wachstum im Gemeinsamen Markt soll durch die Harmonisierung der nationalen Wirtschaftspolitiken verstärkt werden, doch auf dem Weg dahin sind verschiedene Aufgaben zu lösen, zu denen auch die effektive Umsetzung der Lohngleichheit zählt. Dieses ist der institutionelle Zusammenhang, in den wir die verstärkte Thematisierung der Entgeltgleichheit stellen. Die Leitlinien zeigen, wie die Kommission ihre Initiativfunktion in die Hand nimmt. Es bestehe kein Zweifel daran, dass dem Gründungsvertrag „nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Erwägungen zugrunde gelegen haben“ (Leitlinien 1966: 8). Als leitenden Gesichtspunkt habe die Gemeinschaft daher „Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt in eine Gesamtkonzeption“ zu stellen und „als einheitliches Ziel“ zu verfolgen (ebd.). Hiermit meldet die Kommission unüberhörbar ihre sozialpolitischen Gestaltungsansprüche an: „Einerseits verpflichtet dies die Kommission, in fast allen Bereichen der Gemeinschaftspolitik […] den sozialen Fragen Rechnung zu tragen, gibt ihr andererseits aber auch die Möglichkeit, andere Artikel als die spezifisch sozialen als Rechtsgrundlage für ihr Engreifen im sozialen Bereich herauszuziehen.“ (Ebd.: 9)
Man dürfe, „keine zu starken sozialen Disparitäten bestehen“ lassen, die sich negativ auf den Gemeinsamen Markt auswirken; und bei der „Harmonisierung der Sozialordnungen“ solle „ein zufriedenstellender Anfang gemacht“ werden (ebd.). Daher werden auch bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik sozialpolitische Aspekte relevant, nämlich die Erwerbstätigkeit und Berufsausbildung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen, insbesondere Löhne, Arbeitszeit, Arbeitsbeziehungen, soziale Sicherheit und die regionalen Unterschiede. Die hier thematisierten strukturellen Probleme betreffen regional unterschiedliche Beschäftigungsmuster im Gemeinsamen Markt wie auch die unzureichende Einbeziehung und Qualifizierung bestimmter Gruppen des Arbeitsmarktes, nämlich Frauen, Jugendliche, körperlich Behinderte, ältere Arbeitnehmer und Wanderarbeiter.16 Dieser Zusammenhang soll durch Studien erhellt werden: „Hierfür kämen beispielsweise in Frage: die Stellung im Beruf (Arbeiter oder Angestellte), der Ausbildungsstand, das Geschlecht und das Dienstalter des Arbeitnehmers, die 15 „Nach den Fortschritten, die bisher erzielt wurden, ist nunmehr der Versuch berechtigt, die Grundlinien der Gemeinschaftspolitik festzulegen.“ (Gesamtbericht 1967: 19) 16 Diese unzureichend in den Arbeitsmarkt integrierten Gruppen bilden auch in den kommenden Jahrzehnten den Bezugspunkt der von der Kommission initiierten Beschäftigungsstrategien (vgl. Kap. 5 und 6).
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Betriebsgröße, die Regionen usw.“ (Ebd.: 15) Den Leitlinien ist deutlich zu entnehmen, dass sich die Kommission darum bemüht, einen Einblick in die Strukturfaktoren und -muster des Beschäftigungssystems zu erhalten. Dabei bleibt die Entgeltgleichheit nicht mehr länger ein Einzelphänomen, sondern wird in den strukturellen Zusammenhang des Beschäftigungsproblems gerückt. Konkrete Gruppen des Arbeitsmarktes – wie die Frauen – erhalten erhöhte Aufmerksamkeit. Auch im 10. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft sind diese neuen Töne zu vernehmen. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung ständig verbessert werden sollen (vgl. Gesamtbericht 1967: 20). Habe die Gemeinschaft sich bei ihrer Gründung „im Vergleich zur übrigen Welt offenbar in einer Position der Stärke“ befunden, müsse sie jetzt „sowohl der Konkurrenz der technologisch fortgeschritteneren Länder mit bedeutend größerer Innovationsfähigkeit als auch der einiger Länder mit niedrigeren Löhnen begegnen“ (ebd.). Trotz des Erfolgsprojekts Gemeinsamer Markt ist nicht zu übersehen, dass andere Länder aufgeholt haben und die Szenerie sich geändert hat. Als im April 1969 mit dem Ende der Ära de Gaulles die politischen Blockaden gelöst werden und fallen gelassene Themen wie der Beitritt Englands und die Vollendung des Gemeinsamen Marktes aufgenommen werden, ist die Kommission nicht unvorbereitet. In Zusammenhang mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Leitideen soll die Gestaltung der Beschäftigungspolitik in die Hand genommen werden. Die Generaldirektion für Beschäftigung und Arbeit beauftragt die französische Soziologin Evelyne Sullerot damit, einen Bericht über die Hindernisse der Frauenarbeit in der Gemeinschaft zu erstellen.
3.2 Die Deutungskompetenz der Kommission: Der Bericht Sullerot Im EWGV ist gleiches Entgelt für gleiche Arbeit vorgesehen. Doch was ist ‚Entgelt’ und an welchen Kriterien ist die ‚gleiche Arbeit’ eigentlich zu erkennen, woran wird sie in den sechs Mitgliedstaaten gemessen und mit welchen Kategorien lassen sich die Mitgliedstaaten wiederum miteinander vergleichen? Die Verankerung der Lohngleichheit erfordert neue Kategorien, die auch in allen betroffenen Ländern vergleichbar sein sollen, um Aussagen über die Umsetzung der Entgeltgleichheit in der Gemeinschaft als Ganzes machen zu können. Die Kommission initiiert zwar von Beginn an die Sammlung vergleichbarer Informationen zur Lohnentwicklung in den Mitgliedstaaten und dehnt sie über die Schlüsselindustrien Kohlebergbau, Eisen- und Stahlindustrie hinaus auf eine Bandbreite von Erwerbszweigen aus, darunter die Textilindustrie als zentralem 87
Arbeitsmarkt für Frauen (vgl. Hohe Behörde EGKS 1960: 2f.). Durch die über zehnjährige statistische Erhebung der Lohnentwicklung stehen Ende der 1960er Jahre auch einige Daten zur Verfügung, die sich für die Untersuchung verwenden lassen. Doch bis zu diesem Zeitpunkt liegen noch keine Daten vor, die es gestatten, einen Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Lohnzahlung herzustellen. Die Frauenerwerbstätigkeit beschäftigt in den 1960er Jahren nicht nur die EWG. Auch internationale Organisationen ‚entdecken‘ zunehmend Frauen als Entwicklungsressource des sozialen Wandels (vgl. Berkovitch 1999a: 139ff.; vgl. OECD 1975). Zu den frühen Expertinnen auf diesem Gebiet zählt die französische Soziologin Evelyne Sullerot17, bei der die Kommission Anfang 1969 eine Studie zur Erwerbsarbeit der Frauen in Auftrag gibt. Die Mitte 1970 der Kommission überreichten (Sullerot 1970) und 1972 in gekürzter Form veröffentlichten Empfehlungen (Sullerot 1972) liefern erstmals das erforderliche Wissen, nämlich einen Überblick über die Arbeitsmarktsituation von Frauen in der EWG, über die Hindernisse, mit denen Frauen in der (Aus-)Bildung, dem Recht, der Politik und der öffentlichen Kinderversorgung konfrontiert sind. In dem Bericht wird die Umsetzungsverzögerung erstmals systematisch auf die Strukturprobleme des Gemeinsamen Marktes bezogen. Insgesamt führen diese Desiderate Sullerot zufolge zu arbeitsmarktpolitischen Steuerungsdefiziten und machen die EWG zum Nachzügler in der OECD-Welt, sollten keine neuen Weichenstellungen erfolgen. Bereits der Titel der Studie „Die Erwerbstätigkeit der Frauen und ihre Probleme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ deutet darauf hin, dass die Lohngleichheit und die Frauenarbeit vor einem anderen Horizont verhandelt werden als zu Beginn der 1960er Jahre. Wie bereits erläutert, erweist sich der Gemeinsame Markt in den frühen 1960er Jahren rasch als Erfolgsprojekt, das zum wirtschaftlichen Wachstum und zur Vollbeschäftigung führt. Unter den günstigen Bedingungen der konjunkturell belebten Weltwirtschaft entsteht innerhalb von zehn Jahren durch die Aufhebung der Zoll- und Handelsbeschränkungen eine freie Handelszone, so dass das Projekt bald als Erfolg erscheint (vgl. Berend 2007).
17 Ihre 1968 veröffentlichte Studie „Histoire et sociologie du travail féminin“ behandelt die Erwerbssituation von Frauen in den industrialisierten Ländern, insbesondere die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes und die Einstellungen zur Frauenerwerbsarbeit. Diese Studie, die in wenigen Jahren in zehn Sprachen übersetzt wird, zieht auch die Aufmerksamkeit der Europäischen Kommission auf sich. Auch unter Wissenschaftlerinnen beginnen sich erste wenige für die Zusammenstellung entsprechender Daten zu interessieren: “The compilation of this data and its analysis began to create a small group of professional women from a variety of countries who established an expertise on different aspects of the situation of women.” (Hoskyns 1996: 26)
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Zugleich sind allerdings auch verschiedene Strukturdefizite nicht mehr zu übersehen, etwa sektorale Strukturanpassungen, starke regionale Disparitäten in den Beschäftigungsmustern und die unzureichende Integration von Arbeitsmarktgruppen. Diese systemischen Anpassungsprobleme und ihre sozialen Implikationen bilden den Kern für die Aktivierung der Beschäftigungspolitik durch die Kommission und in diesem Zusammenhang ist ebenfalls die in Auftrag gegebene Studie zu sehen. Für unsere Frage nach den Mechanismen der institutionellen Entwicklung bietet diese Untersuchung vor allem zwei interessante Gesichtspunkte. Erstens wird hiermit eine sozialwissenschaftliche Expertise zur Verfügung gestellt, die die erforderliche Übersicht und Transparenz herstellt, d.h. der Arbeitsmarkt wird aus supranationaler Perspektive betrachtet und der Art. 119 wird in den Zusammenhang des Gemeinsamen Marktes gerückt. Hierbei fällt für Sullerot die prekäre Datenlage ins Auge, sie beginnt ihre Bestandsaufnahme mit dem Problem verfügbarer Daten zur Frauenerwerbsarbeit. In ihrer Sicht verweisen die „Verzettelung der Informationsquellen über die Frauen, die Fehlerhaftigkeit der Angaben und die erschreckenden Lücken“ auf die „Unbekümmertheit, mit der das Problem der Eingliederung der Frau lange“ in der EWG angesehen worden sei (Sullerot 1970: 4). Diese unzureichende statistische Erfassung der Erwerbsarbeit reflektiert nach Sullerot somit nicht nur ein simples Informationsdefizit, sondern insgesamt eine unzureichende Aufmerksamkeit für die Frauenarbeit. Sie versucht zunächst, der supranationalen Sicht angemessene Kategorien zu verwenden, „um der europäischen Betrachtung den Vortritt vor den innerstaatlichen Überlegungen zu geben“ (ebd.: 5). Konkret bedeutet dies, dass sie die nationale Erfassung der Daten im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Zeitpunkte und Definitionen (Alter, Lehrling, mithelfende Familienangehörige) problematisiert und die Tücken ihrer Vergleichbarkeit deutlich macht (vgl. ebd.: 7ff.). Zum anderen diskutiert Sullerot die unzureichende Berücksichtigung erwerbstätiger Frauen unter dem Gesichtspunkt der internationalen Konkurrenzfähigkeit des Gemeinsamen Marktes. Während die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika die gesellschaftliche Stellung der Frauen erforschen, „kann Europa auf diesem Gebiet nichts aufweisen, denn es kennt nicht einmal das Gesicht seiner erlebten Wirklichkeit“ (Sullerot 1970: 4). Die unzureichende Erfassung von Personen (Humanressourcen) und Strukturmustern (Modernisierung), also die defizitäre Selbstbeschreibung des Gemeinsamen Marktes, verhindert demnach eine angemessene Selbstverortung im internationalen Rahmen. Dieser Gesichtspunkt trifft auch einen Kern früherer Kommissionsüberlegungen zur verschärften internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EWG: „Wenn die Gemeinschaft dieser Konkurrenz erfolgreich begegnen will, muss sie
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schleunigst eine Reihe von Strukturmaßnahmen durchführen.“ (Gesamtbericht 1967: 20) Sullerot widmet sich ausdrücklich diesen Problemen. Gemessen am OECDMaßstab laufe die EWG Gefahr, die Zeichen der Zeit zu verpassen, wenn sie die Analyse der Frauenerwerbstätigkeit vernachlässige (vgl. Sullerot 1972: 50) und keine Maßnahmen gegen die Qualifizierungsdefizite und die Diskriminierung am Arbeitsplatz entwickle (vgl. ebd.: 35). Die strukturellen Gründe sieht Sullerot in den geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden, die auf besondere Sektoren der Frauenarbeit, auf spezifische Entlohnungsarten für Frauen, auf betriebliche Prämien und Gratifikationen für Männer sowie auf Einstellungen der Arbeitgeber zurückzuführen seien, also auf das komplexe Phänomen der geschlechtsspezifischen Segregation. „Was wird aus Artikel 119?“ (Ebd.: 44) Sullerot empfiehlt die Erweiterung der Lohngleichheit zum Begriff der gleichwertigen Arbeit, den gleichen Zugang zu Bildung, Ausbildung und Beruf sowie die Diversifizierung der Berufsausbildung für Frauen (vgl. ebd.: 49). Zukunft und Bestand der modernen Gesellschaft seien von den Frauen abhängig. Europa werde daher die Integration der Frauen „in die Welt der Arbeit verpassen, wenn es sich nicht darum bemüht, eine gemeinsame Politik auszuarbeiten“ (ebd.: 49).18 Dies wiegt umso schwerer, als Sullerot die strukturellen Umbrüche zusammen mit einem tief greifenden demographischen Wandel und Umbrüchen in den Lebenslaufmustern betrachtet. Der Bericht stellt ein Novum dar. Hiermit wird die Arbeitsmarktintegration der Frauen in den Kontext der Leistungsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes gerückt und die Entgeltgleichheit entsprechend zu einem Bestandteil der gemeinschaftlichen Beschäftigungspolitik. Die Studie eröffnet der Kommission somit ein differenziertes Argumentationsinstrument zum weiteren Vorgehen. Indem sie den Art. 119 mit der Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft verknüpft, wird die Lohngleichheit zum Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik und rückt in den Fokus der Modernisierungsanstrengungen. Diese Anstöße werden von der Kommission aufgegriffen. Mit diesem Bericht werde 1970 erstmals „der Versuch unternommen, die Differenz zwischen den Entgelten für Männer und Frauen mit Zahlen zu belegen“; die Ergebnisse stehen im Mittelpunkt von Erörterungen, „die sowohl methodologischen als auch grundsätzlichen Fragen“ (Bulletin 12/1970: 66) gelten. Dieser Wandel zeichnet sich auch im Bulletin der EWG ab, wo seit 1971 die neue Rubrik „Frauenarbeit und ihre Probleme“ (Bulletin 3/1971: 58) eingeführt wird. 18
Dieses Motiv wird fast 30 Jahre später in der Lissabon-Strategie zur Wettbewerbsfähigkeit der EU aufgegriffen und systematisiert (vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000, S. 9, 11 (Dok. SN100/00); vgl. Mitteilungen der Kommission an den Rat. Entwurf des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts, KOM (2004) 24, hier: 37ff.).
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Auf Einladung der Kommission findet Ende Januar 1971 eine erste Aussprache mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmerverbände über die Frauenarbeit statt, bei dem die Expertise umgehend als Legitimationsgrundlage für das weitere Vorgehen verwendet wird: „Diskussionsgrundlage war ein Sachverständigenbericht, den eine Soziologin im Auftrag der Kommission ausgearbeitet hatte. Ziel […] war die Erarbeitung vergleichbarer Daten für die sechs Staaten, um Klarheit darüber zu schaffen, durch welche Maßnahmen die Einfügung der Frau in das Wirtschaftsleben gefördert werden könnte.“ (Bulletin 3/1971: 58)
Nicht nur der Ton, auch die Zielsetzung hat sich erkennbar geändert. Hier „wurde zum ersten Mal der Versuch unternommen, für die Gemeinschaft über diese Zusammenhänge nachzudenken“ (ebd.). Gegenstand sind jetzt konkrete Maßnahmen zur Förderung der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Anknüpfend an die Empfehlungen Sullerots wird das Themenfeld nun weiter aufgespannt und mit strukturellen Fragen verbunden. Man „beschränkte sich dabei nicht auf die Erwerbstätigkeit, da die Arbeit der Frau nur schwer aus dem größeren Zusammenhang des Frauentums und der Doppelrolle als Berufstätige und Mutter zu lösen ist. Erörtert wurde nicht nur die Struktur der Frauenarbeit und die Berufsausbildung, sondern auch der Mutterschaftsurlaub und die nötigen Sozialeinrichtungen wie Kinderkrippen und Kindergärten.“ (Ebd.)
Aufgegriffen werden somit die Empfehlungen, die später auch in die Richtlinien zur Gleichbehandlung (s.u.) Eingang finden. Bis hierhin ist deutlich geworden, dass die Kommission versucht, die Entgeltgleichheit ins Gespräch zu bringen und Wege für deren Umsetzung zu finden, zunächst noch vorsichtig und dann zunehmend zielgerichteter. Zu Beginn stehen Definitionen der Lohngleichheit und der Zugang zu aussagefähigen Daten im Mittelpunkt. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als die Kommission die Strukturschwächen des Beschäftigungssystems näher betrachtet, werden die Frauen als eine gesellschaftliche Gruppe wahrgenommen, die unzureichend in den Arbeitsmarkt integriert ist. Die Lohngleichheit wird nun im Lichte der Wachstums- und Wettbewerbsmöglichkeiten des Gemeinsamen Marktes reflektiert. Hierfür stellt die Expertise Sullerots eine entscheidende Grundlage zur Verfügung, sie liefert die Argumente für konkrete Maßnahmen auf dem Weg zur Arbeitsmarktintegration. Als nach der Ära de Gaulle mit dem Stufenplan für eine Wirtschafts- und Währungsunion und der ersten Erweiterungsrunde eine Wende eingeleitet wird, profitiert auch die Lohngleichheit von diesem neuen Schwung (vgl. Vleuten
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2007: 69ff.). Die Neujustierung enthält u.a. die Konzipierung der gemeinschaftlichen Politiken, nämlich die Industrie-, Beschäftigungs-, Sozial-, Geschlechterund Umweltpolitik. Im Oktober 1973 legt die Kommission dem Rat ihr sozialpolitisches Aktionsprogramm vor. Am 21. Januar 1974 verabschiedet der Rat seine Entschließung für die erste Richtlinie zur Entgeltgleichheit. Bevor wir uns hiermit beschäftigen, soll zunächst die supranationale Rechtsprechung eingeblendet werden.
3.3 Die Rechtsprechung im supranationalen System: Die Zäsur in der Rechtssache Defrenne Für die weitere Umsetzung der Gleichheitsnorm stützt sich die Kommission neben der sozialwissenschaftlichen Expertise auf erste Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, also auf supranationale Rechtsprechung. Wie im ersten Kapitel angesprochen, erhält die öffentlich anerkannte Aushandlung von Gleichberechtigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt Gewicht. Dies verdankt sich der wachsenden gesellschaftlichen Inklusion von Frauen, insbesondere in Erwerbsarbeit und Bildung, aber auch dem Bedeutungszuwachs der Gerichte und der Rechtsprechung im Unterschied zur Gesetzgebung. Zu diesen Umbrüchen trägt das supranationale Recht in eigener Weise bei. Der EuGH hat die Aufgabe, das supranationale Recht bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern. Die zentrale Funktion des EuGH besteht darin, die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Hierzu zählt einmal das Vertragsverletzungsverfahren, in dem der EuGH über Verstöße der Mitgliedstaaten entscheidet und zur gerichtlichen Durchsetzung der Vorgaben beiträgt. Darüber hinaus sichert das sog. Vorabentscheidungsverfahren (Art. 177 EWGV/234 EGV) die einheitliche Anwendung und Interpretation des Gemeinschaftsrechts. Konkret: Ein in einem mitgliedstaatlichen Gericht anhängiges Verfahren kann unterbrochen und dem EuGH vorgelegt werden, damit dieser die Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts klärt. Wie an der Rechtssache Kreil gezeigt (vgl. Kap. 1.3), wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Ausschluss der Frauen von der Bundeswehr gegen das supranationale Gleichbehandlungsgebot verstößt. Nachdem diese Frage in Luxemburg bejaht worden war, mussten im deutschen Rechtssystem Anpassungen erfolgen. Hieraus wird die Funktion der Vorabentscheidung deutlich, nämlich die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, für die ausschließlich der EuGH zuständig ist. Zugleich wird mit diesem Verfahren der Schutz
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individueller Rechte verankert und der individuelle Zugang zum Gericht gestärkt. Die für diese Verfahren erforderliche Autorität hat das Gericht aber nicht von Anfang an, vielmehr weitet es die Kompetenzen des Gemeinschaftsrechts im Zuge der Integration aus. Der EuGH etabliert sich in den ersten zwei Jahrzehnten als Instanz des Gemeinschaftsrechts. 1963 wird die erste Doktrin der unmittelbaren Geltung etabliert, d.h. jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich direkt auf die in den Verträgen enthaltenen subjektiven Freiheitsrechte berufen; ein Jahr später wird die Doktrin vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts errichtet, wonach gegen EuGH-Entscheidungen keine Berufungsmöglichkeiten bestehen. Mit der Kompetenzerweiterung wird eine Rechtsprechung des EuGH bezeichnet, die auch eine Vertragsänderung zur Folge haben kann (vgl. Alter 2001: 16 ff.; Weiler 1991). In der zweiten Phase der 1970er Jahre haben die Vorlageverfahren zur Gleichberechtigung ihren take-off, die Wende setzt hier mit den Verfahren in der Rechtssache Defrenne/Sabena ein. Der erste Rechtsstreit zur Lohngleichheit geht auf die späten 1960er Jahre zurück, als die belgische Arbeitsrechtlerin Eliane Vogel-Polsky für diese Vorgabe unmittelbare Geltung beansprucht und diese vor dem europäischen Gericht erstmals ‚testen‘ will (vgl. Hoskyns 1996: 60ff.). Unter dem Titel „L’article 119 du Traité du Rome – peut-il etre considéré comme self-executing?“ diskutiert Vogel-Polsky (1967: 233ff.), ob Art. 119 Personen direkte Rechte verleiht, also Rechte, die vor nationalen Gerichten in Anspruch genommen werden können. Diese Sichtweise, die mit Auffassungen des EuGH in anderen Rechtsgebieten übereinstimmt, ist zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf die Lohngleichheit ungeklärt. In dem berühmten Fall geht es konkret um folgende Frage: Frau Defrenne ist seit 1951 bei der staatlichen belgischen Fluggesellschaft Sabena beschäftigt und scheidet 1968 aus dem Dienst aus, da nach dem Arbeitsvertrag das Arbeitsverhältnis weiblichen Personals ohne Kündigung mit Vollendung des 40. Lebensjahres endet. Mit ihrer Klage beansprucht Frau Defrenne Schadensersatz wegen Ungleichbehandlung gegenüber männlichen Kollegen in Bezug auf Arbeitsentgelt, Altersgrenze, Abfindung und Rente. Das belgische Gericht legt den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Dieser entscheidet insgesamt drei Mal über unterschiedliche Rechtsfragen in dieser Sache (vgl. Ellis 2005). In Defrenne I entscheidet der EuGH 1971, dass der Rentenanspruch als Vergütung nicht auf den Art. 119 gegründet werden kann. Die Klägerin, Frau Defrenne, erhält zwar nicht ihr Recht, doch die abschlägige Behandlung zeigt die Lücken in der Gesetzgebung zum Diskriminierungsverbot im Bereich der sozialen Sicherheit. In den ersten Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie geht daher 1973 bereits ein Passus ein, der den Gleichbehandlungsanspruch über den
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unmittelbaren Arbeitslohn hinaus auf den indirekten Lohn bzw. die Versorgungsleistungen ausdehnt.19 Die Wende wird 1976 indes durch die Entscheidung Defrenne II herbeigeführt. Es bestätigt die Auslegung von Vogel-Polsky: „Schon dem Wortlaut von Artikel 119 ist zu entnehmen, dass dieser den Staaten eine Ergebnispflicht auferlegt, die zwingend innerhalb einer bestimmten Frist zu erfüllen war.“20 Das Gericht vertritt also die Ansicht, dass der Lohngrundsatz eine unwiderrufliche Verpflichtung für die Mitgliedstatten darstellt und vor innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht werden kann. Er begründet somit einen individuellen Klageanspruch. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können von nun an allein auf der Grundlage von Art. 119 (heute Art. 141 EGV) vor ‚ihren‘ nationalen Gerichten Klage erheben und diese ist gegebenenfalls im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vorzulegen. Hiermit ist die maßgeblich rechtliche Wende eingeleitet.21 Der EuGH nimmt hier außerdem erstmals zur unmittelbaren Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zwischen Privaten Stellung: „[…] denn da Artikel 119 zwingenden Charakter hat, ist das Verbot von Diskriminierungen zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern nicht nur für öffentliche Behörden verbindlich, sondern es erstreckt sich auch auf alle, die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen.“22
Die Entscheidung stellt unter einem weiteren Gesichtspunkt eine Zäsur für das Gemeinschaftsrecht wie auch für die Gleichberechtigungsnormen dar. In der Entscheidungsbegründung zu Defrenne II unterstreicht der EuGH, dass das Ziel der Integration über die wirtschaftliche Dimension hinaus auch eine soziale beinhaltet. Das Gericht betont, dass die Gemeinschaft „sich ja nicht auf eine Wirtschaftsunion beschränkt, sondern, wie die Präambel des Vertrags hervorhebt, zugleich durch gemeinsames Vorgehen den sozialen Fortschritt sichern und die ständige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der europäischen Völker anstreben soll. […] Aus dieser doppelten, wirtschaftlichen und 19
EuGH Defrenne I, Rn. 13; zum Richtlinienvorschlag: ABl. Nr. C 114 vom 27.12.1973, S. 46-47. EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne/Sabena (Defrenne II), Slg. 1976, Rn. 30/34 (vgl. Pechstein 2007 : 8ff.). Das Urteil schränkt allerdings ein, dass dieser Anspruch aus Art. 119 EWGV nur für den Fall der unmittelbaren, offenen Diskriminierung gelte. Das Gericht fordert eine Ausweitung des Begriffs der Diskriminierung, so dass darunter auch die verdeckten Formen von Benachteiligung, also die mittelbare Diskriminierung fällt (vgl. Kyriazis 1990: 45). 21 Die Kommission verhält sich in diesem Fall zögerlich und will die Geltung auf die horizontale Wirkung beschränken (vgl. Stein 1981: 19f., 24ff.). 22 EuGH Defrenne II, Rn. 38/39. 20
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sozialen Zweckbestimmung folgt, dass der Grundsatz des gleichen Entgelts zu den Grundlagen der Gemeinschaft gehört.“23
Die Geschlechtergleichheit wird nun explizit in einen sozialen Zusammenhang gestellt. Wie im zweiten Kapitel erläutert, hat die Entgeltgleichheit bei der Vertragsvorbereitung keinen sozialpolitischen Charakter und auch die von der ILO vorgebrachten sozialen Argumente werden nicht aufgegriffen. Mit Defrenne II erfolgt ausdrücklich eine soziale Verortung. Jetzt wird die Entgeltgleichheit als Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ausgelegt und zu den Grundlagen der Gemeinschaft gerechnet. Während die sozialwissenschaftliche Expertise die Lohngleichheit in den Strukturkontext des Gemeinsamen Marktes rückt, bezieht die Rechtsprechung sie auf die normativen Grundarchitektur der Gemeinschaft, deren sozialer Charakter durch diese Entscheidung gemeinschaftsrechtlich verankert wird. Hiermit erhält das in Oktober 1973 von der Kommission vorgelegte „Sozialpolitische Aktionsprogramm“ (vgl. Bulletin SB 2/1974), das erstmals Themen wie Beschäftigung, Freizügigkeit, Berufsausbildung und soziale Sicherheit mit der Erwerbssituation von Frauen bündelt, auch die rechtliche Rückendeckung. Der Gemeinsame Markt, darin stimmen EuGH und Kommission überein, ist stärker mit einer sozialen Wertebindung der Gemeinschaft zu koppeln.24 Bis heute gilt Defrenne II als Grundsatzentscheidung für die Auslegung von Art. 119 auch dahingehend, dass die Lohndiskriminierung nur durch eine Anhebung der niedrigeren Löhne und Gehälter beseitigt werden kann; die Auslegung des Vertrags ist ausschließlich Sache des Gerichtshofs (vgl. Groeben et al. 1999: 3/1213, Rn. 23 ff.). In Defrenne III lehnt der EuGH zwar ab, dass Art. 119 über den Lohn hinaus auch die Gleichheit der weiteren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen einschließt. Doch das Gericht gelangt hier zu einer bahnbrechenden Re-Interpretation, indem es über den Artikel hinausgehend ein allgemeines Verbot der Geschlechterdiskriminierung formuliert: 23
EuGH Defrenne II, Rn. 8/11, 12. Das Gericht schlägt in den Entscheidungsgründen einen kritischen Ton gegenüber den Mitgliedstaaten an, die ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllt haben (Rn. 47/48), aber auch gegenüber der Zögerung der Kommission, ihre angekündigte Vertragsverletzungsklage zu verwirklichen (Rn. 49/51). Das Gericht stellt fest, dass die Verlängerung der Frist vom 30.12.1960 eine Vertragsveränderung darstellte, die nur im Wege eines Änderungsverfahrens dem Gemeinschaftsrecht entsprochen hätte (Rn. 56/58). 24 Mit dem Ziel der Vollbeschäftigung befasst sich dieses Programm mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen. Es greift die Vorschläge aus dem Bericht Sullerots auf, kündigt die Etablierung einer Ad-hoc-Gruppe für die Ausarbeitung von Leitlinien, die Einrichtung eines Dokumentationszentrums (S. 26f.) sowie den Ausbau der Statistik und des Systems der Sozialindikatoren (35ff.) an (vgl. auch Gasteyger 1997: 297ff.; Hoskyns 1986; Kyriazis 1990: 40).
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„Der Gerichtshof hat bereits wiederholt festgestellt, dass die Wahrung der Grundrechte des Menschen Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist, deren Erhaltung er zu sichern hat. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu diesen Grundrechten gehört. Die gleiche Auffassung wird übrigens auch in der Europäischen Sozialcharta vom 18. November 1961 und in der Konvention Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1958 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vertreten.“25
Hiermit erfolgt die entscheidende Anreicherung und inhaltliche Veränderung der Lohngleichheit. Das Gericht bekräftigt, dass die Wahrung der Menschenrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft gehört, und, dass das Verbot der Geschlechterdiskriminierung darin eingeschlossen ist. Die Gleichberechtigung der Geschlechter stellt somit seit Defrenne III ein Menschenrecht dar, dessen Wahrung im supranationalen Normsystem verbürgt ist. Die Idee der Geschlechtergleichheit erfährt auf diese Weise einen erstaunlichen Bedeutungswandel, inhaltlich wird sie ausgeweitet, nämlich von der Lohngleichheit auf alle Formen der Geschlechterdiskriminierung in dem Sinne von „fundamental personal human rights which had to be protected within Community law“ (Graig/De Búrca 2008: 844f.).26
3.4 Die Institutionalisierung der Gleichberechtigungsnormen: Die Richtlinien der 1970er Jahre Unzufrieden über den erreichten Stand in Bezug auf die Entgeltgleichheit kündigt die Kommission 1973 die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 EWGV/226 EGV) gegen alle Mitglieder an, die gegen ihre Verpflichtung aus Art. 119 EWGV verstoßen haben. Ferner kündigt sie ein auf Art. 119 basierendes Instrument an, das die Verwirklichung der Entgeltgleichheit auf nationaler Ebene beschleunigen soll. Mit dem ersten Vertragsverletzungsverfahren sollte es noch fast 10 Jahre dauern. Für dieses Zaudern wird die Kommission vom EuGH in Defrenne II kritisch bedacht. Mit ihrer Zögerung fällt die Kommission allerdings insgesamt nicht aus dem Rahmen. Die Anzahl aller Vertragsverletzungsverfahren, die der EuGH in 25
EuGH Defrenne III, Rn. 26/29. Hierbei bezieht der EuGH sich auf die Europäische Sozialcharta (1961) und die ILO Konvention 111 (1958). Ein Jahr später wird das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau am 18.12.1979 verabschiedet. Hier werden erstmals alle Formen der Diskriminierung gegen Frauen als Menschenrecht verboten. Mit „Diskriminierung der Frau“ ist „jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung“ (Art. 1) gemeint.
26
96
den ersten Jahrzehnten von der Kommission erhält, gestatten es, die Verfahren zur Gleichberechtigung einzuordnen: Von 1960-1969 liegen dem Gericht 27 Klagen der Kommission vor, in dem darauf folgenden Jahrzehnt steigen die Fälle auf 70 an, und in den 1980er Jahren erfolgt ein Sprung auf insgesamt 646 Fälle (vgl. Alter 2001: 15). Wie aus der folgenden Tabelle (Tabelle 1) zu entnehmen ist, beginnen die Vertragsverletzungsverfahren zur Gleichberechtigung 1982 gegen Luxemburg und das Vereinigte Königreich und steigen in den 1980er Jahren wie die Verfahren insgesamt an. Somit liegen die Verfahren auf dem Gebiet der Geschlechtergleichheit im Trend der Gesamtverfahren. Tabelle 1: Vertragsverletzungsverfahren gegen die Mitgliedstaaten auf Grundlage der Gleichbehandlungsnormen, 1982-2008. Land
Aus Bel Den Fin Jahr des 2005 1991 1985 --ersten Verfahrens Anzahl 2 der Verfahren
2
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Quelle: eigene Zusammenstellung nach Daten aus EurLex.
Die Kommission zeigt sich entschiedener auf dem Gebiet der Richtlinien. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erfolgt ein Durchbruch geschlechterpolitischer Themen. Rasch hintereinander werden von 1975 bis 1979 drei Richtlinien zur Gleichbehandlung der Geschlechter verabschiedet.27 Im November 1973 übermittelt die Kommission ihren ersten Richtlinienvorschlag zur Entgeltgleichheit an den Rat, der i.W. auf den Empfehlungen von Sullerot beruht.28 In diesem Zusammenhang mahnt sie auch den Nachholbedarf der Mitgliedländer in Sachen Entgeltgleichheit an und baut ihre Legitimität durch die Heranziehung von Expertise aus.29 Die Richtlinien haben den Zweck der „Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken“ (Art. 100 EWGV/Art. 94 EGV)30, sie sichern also die Durchsetzung der Vertragsverpflich27 ABl. L 45 vom 19.2.1975, S. 19-20; ABl. L 39 vom 14.2.1976, S. 39-40; ABl. L 6 vom 10.1.1979, S. 24-25; Cichowski 2007; Ellis 2005. 28 Vgl. Hoskyns 1986: 657; Hoskyns 1996: 100. 29 Vgl. Hoskyns 1986: 656ff.; Sullerot 1975: 104ff. 30 Die Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet, den Inhalt der Richtlinie innerhalb einer bestimmen Frist in nationales Recht umzusetzen (Art. 249 EGV).
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tungen und geben einen einheitlichen Rahmen für deren Umsetzung im Gemeinsamen Markt vor. Innerhalb des institutionalistischen Analyserasters stellen Richtlinien somit einen spezifischen supranationalen Mechanismus zur Konkretisierung und einheitlichen Ausweitung von Normen dar. Diese sog. Gleichbehandlungsrichtlinien sind durch zwei Merkmale charakterisiert. Erstens übersetzen sie die primärrechtliche Vorgabe detailliert in normative Regelungen und gehen dabei erheblich über den Buchstaben von Art. 119 hinaus. Zweitens nehmen sie die durch die ILO (vgl. oben sowie Kap. 2.3) kodifizierten internationalen Vorgaben auf und passen dadurch das Europarecht an internationale Normen an. Da Richtlinien direkt in nationales Recht eingehen, verschafft die Kommission über diesen Weg auch globalen Normen in den Mitgliedstaaten verstärkt Geltung. Die erste Richtlinie zur „Entgeltgleichheit“ (RL 75/117/EWG) auf dem Gebiet der Geschlechtergleichheit wird 1975 vom Rat ratifiziert, es ist zugleich 31 auch die erste im sozialpolitischen Bereich des Gemeinschaftsrechts. Inhaltlich konkretisiert sie die Entgeltgleichheit als Arbeit, „die als gleichwertig anerkannt 32 wird“ und hält die Maßnahmen für die innerstaatliche Umsetzung fest. Hiermit ist die Angleichung des europäischen Rechts an die internationalen Normen der ILO vollzogen. Der Richtlinientext weist überdies deutliche Parallelen zu Art. 2 33 der ILO-Konvention Nr. 100 auf. Als 1975 im „Internationalen Jahr der Frau“ der UN diese Entgeltrichtlinie verabschiedet wird, gehören fast alle Mitgliedstaaten zu den Unterzeichnern der ILO-Konvention Nr. 100, darunter auch die neuen Mitglieder Großbritannien, Irland und Dänemark. Die Richtlinie wäre ohne die Ausweitung des Begriffs der Arbeit auf den der gleichwertigen Arbeit hinter anerkanntes internationales Recht zurückgefallen. Der Standard der ILO-Konvention Nr. 100 findet somit über das europäische Sekundärrecht Eingang in die nationalen Rechtssysteme34 und schafft weitere Anknüpfungsmöglichkeiten für individuelle Klagen beim EuGH (vgl. bis 1995: Blom/Fitzpatrick 1995).
31
Da ihre Erarbeitung vor dem zweiten Defrenne-Urteil erfolgt, muss die Kommission (noch) davon ausgehen, dass der Art. 119 EWGV kein direktes Recht verleiht und die Lücken auf der nationalen Ebene zu schließen sind (vgl. Hoskyns 1996: 85). 32 Vgl. ABl. 45 vom 19.2.1975; vgl. Ellis 2005: 187ff. 33 Vgl. www.ilo.org/ilolex/german/docs/convdisp1.htm (letzter Abruf 22.3.2007); Langenfeld 1990: 52. 34 Auf die Frage, ob sich Art. 119 EWGV und die Richtlinie 75/117/EWG unterscheiden bzw. entgegenstehen, schuf der EuGH Rechtssicherheit. Er ging in seinen Urteilen zu Entgeltfragen aus den 1970er und 1980er Jahren davon aus, dass die Richtlinie 75/117 das in Art. 119 EWGV enthaltene Diskriminierungsverbot konkretisiere (vgl. Winter 1998: 90). Der EuGH bestätigte die Identität von Art. 119 EWGV und der RL 75/117 durch mehrere Urteile.
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Die zweite, 1976 verabschiedete Richtlinie zur „Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu Beschäftigung und Bildung“ (RL 76/207/EWG), soll gleiche Zugangschancen sichern. Mit diesem Wechsel von der Entgeltgleichheit zur Gleichbehandlung erfolgt eine erhebliche Ausweitung. Hiermit werden über Erwerbstätige hinaus auch diejenigen adressiert, die künftig auf den Arbeitsmarkt gelangen, über die Lohnzahlung hinaus betrifft diese Richtlinie die Chancen in der Berufsbildung und im Beruf (vgl. Ellis 2005; Hoskyns 1996: 99ff.). Hiermit wird die Grundlage für Zugangschancen und gleichberechtigte Partizipation geschaffen. Zudem enthält diese Richtlinie eine normative Präzisierung des Gleichbehandlungsanspruchs; die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wird erstmals in das europäische Recht eingeführt und sie sieht Sanktionen für den Fall der Verletzung des Gleichbehandlungsgebots vor (vgl. Pfarr 1986: 22). Die Richtlinie lehnt sich ebenfalls an internationale Normen an, ihr hat das ILO-Übereinkommen Nr. 111 von 1958 als Vorlage gedient.35 Auch die 1979 beschlossene Richtlinie zur „Gleichbehandlung von Frauen und Männern im gesetzlichen System der sozialen Sicherheit“ (RL 79/7/EWG) weitet den Begriff des Arbeitsentgelts über die Erwerbsarbeit aus. Nun lässt sich auch im Fall des Wegfalls der Erwerbsarbeit aufgrund von Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Verrentung ein Entgelt beanspruchen, das Gleichbehandlungsnormen genügen muss. Hier wird ebenfalls eine Vorgabe aus dem ILO-Abkommen Nr. 100 eingeführt, die alle zusätzlichen direkten und indirekten Vergütungen zum Entgelt zählt (vgl. ILO 1966: 901).36 Die Richtlinien der 1970er Jahre und die direkte Geltung des Art. 119 (heute 141 EGV) stellen bis in die Gegenwart einen Meilenstein für die Definition und Umsetzung supranationaler Gleichberechtigung dar. Ihr Gewicht und ihre Reichweite lassen sich durch nähere Betrachtung der EuGH Rechtsentscheidungen verdeutlichen. Erstens ist die Entgeltmaterie bis heute am häufigsten Gegenstand von Verfahren zur Gleichberechtigung am EuGH. Dies zeigt die Anzahl der Fälle, die auf diesen Normgehalt und die Gleichbehandlungsrichtlinien Bezug nehmen. Wie aus Grafik 1 zu entnehmen ist, wird am häufigsten auf diese Lohnvorgabe Bezug genommen und auf die Zugangsrichtlinie RL 76/207, die auch in der Rechtsache Kreil als Referenz diente (vgl. Kap. 1.3). Danach rangieren die Richtlinie zur Sozialen Sicherheit RL 79/7 und die erste Gleichbehandlungsricht35
Vgl. ABl. L 39 vom 14.2.1976; Pfarr/Bertelsmann 1985: 21. Ostner/Lewis (1998) zeigen, wie stark der Widerstand des Rates gegen die Richtlinien ist und sie untersuchen diese und weitere Richtlinien daraufhin, wie sie durch das ‚Nadelöhr‘ der nationalen Systeme gefiltert und abgeschwächt werden; für eine andere institutionentheoretische Perspektive vgl. die Beurteilung der Richtlinien bei Cichowski 2001. 36
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linie zur Anwendung der gleichen Lohnzahlung RL 75/117. In den weiteren, beim EuGH verhandelten Fällen wird auf die späteren acht seit 1986 erlassenen Richtlinien Bezug genommen (vgl. Tabelle 3 Übersicht Richtlinien). Grafik 1:
EuGH-Verfahren: Häufigkeit der Bezugnahme auf die verschiedenen Gleichbehandlungsnormen, 1971-2008 1,16
RL 2000/78
0,29
RL 2000/43 RL 97/81
0,87
RL 97/80
1,16 1,45
RL 96/34
5,52
RL 92/85 0,29
RL 86/613
3,78
RL 86/378
19,77
RL 79/7
25,00
RL 76/207 14,24
RL 75/117
26,45
Art. 119 / 141
0
5
10
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20
25
30
Quelle: eigene Zusammenstellung nach Daten aus EurLex.
Dass die Entgeltmaterie bis heute wirksam ist, geht aus Grafik 2 hervor, in der die Bezugnahme der Entscheidungen des EuGH im Zeitverlauf dargestellt ist. Deutlich wird hier, dass das Entgeltprinzip nicht nur in absoluten Zahlen die häufigste Referenz bildet, sondern dass dies auch bis heute durchgehend der Fall ist. Mit der Entgeltmaterie erzielten Frauen vermutlich auch die meisten Erfolge beim EuGH (vgl. Bertelsmann 1994).
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Grafik 2:
EuGH-Entscheidungen Gleichbehandlung mit Normbezug im Zeitverlauf, 1971-2008
Quelle: eigene Zusammenstellung nach Daten aus EurLex.
Wenn wir diese Ergebnisse auf das Schema zur institutionellen Entwicklung beziehen, lassen sie sich unter zwei Aspekten gewichten. Einmal betrifft dies den Zugang von Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern zu den Gerichten, der durch die Doktrin der direkten Geltung geöffnet wird. Im Bereich der Gleichberechtigung wird dieses Tor zu unmittelbar geltenden Rechten erstmals durch Defrenne II aufgestoßen. Seit dieser Entscheidung bildet die direkte Geltung von Art. 119 (heute 141 EGV) den Reproduktionsmechanismus des 1957 verankerten Lohnprinzips. Durch die direkte Geltung wird die Wiederherstellung des Lohnprinzips im supranationalen Normsystem vermittelt. Darüber hinaus legt der EuGH in diesen Verfahren auch die Vorgaben der Richtlinien aus, d.h. er nimmt Bezug auf Normgehalte, die die Kommission in den Richtlinien formuliert hat. Das supranationale Recht interpretiert und reinterpretiert somit ständig die Deutungen der Gleichberechtigung, die die Kommission als supranationale Administration vorgibt. Die Richtlinienkompetenz der Kommission und ihre Koppelung mit dem supranationalen Recht bezeichnen wir daher als zweiten Mechanismus, der dazu beiträgt, dass Gleichberechtigungsnormen innerhalb des supranationalen Systems wiederhergestellt werden.
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Wenn wir abschließend die Verfahren auf dem Gebiet der Gleichberechtigung zum Gesamtverlauf der Rechtsprechung des EuGH im Zeitraum von 1958 bis zum Beginn der 1990er Jahre in Beziehung setzen, ergibt sich folgendes Bild: Die ersten Verfahren zur Lohngleichheit starten in der Phase, in der die europäische Rechtsprechung insgesamt einen take-off erfährt (vgl. Alter 2001: 15, Abb. 1.2 ; Fligstein/Stone Sweet 2002: Abb. 3). Zudem stellt die erste Gleichbehandlungsrichtlinie überhaupt die erste Sozialrichtlinie dar, die vom Rat erlassen wird (vgl. Falkner 2004). Diese Merkmale deuten darauf hin, dass die Gleichberechtigung in den Gesamtverlauf der supranationalen Rechtsprechung eingebettet ist und gemeinsam mit dieser wächst (vgl. Grafik 3). Grafik 3:
Gleichberechtigungsrichtlinien im Zeitverlauf, 1975-2006
Quelle: eigene Berechnung nach Daten aus EurLex.
3.5 Zusammenfassung Wir haben dieses Kapitel mit der Frage nach der Umsetzung der Lohngleichheit begonnen. Am Ende zeigen die Ergebnisse, auf welche Weise diese erfolgt und wie die Metamorphose dieser Vorgabe zustande kommt. Zunächst sind viele Unschlüssigkeiten, Kompromisse und Verzögerungen mit der frühen institutionellen Entwicklung der Gemeinschaft selbst verknüpft. So haben die Kommissi-
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on und der EuGH die rechtliche und politisch-administrative Autorität noch zu erlangen. Von der Kommission gehen seit 1958 maßgebliche Impulse aus, um festzulegen, was Lohngleichheit bedeutet und was ihr zuwiderläuft, also die Konkretisierung der gleichen Lohnzahlung, sowie die (statistische) Beobachtung des Arbeitsmarktes und die Heranziehung sozialwissenschaftlicher Expertise. Die Kommission kann gleichwohl nicht als Bannerträgerin der Geschlechtergleichheit charakterisiert werden. Ihr Zaudern und ihr Zurückschrecken vor Sanktionen werden vom EuGH kritisch unter die Lupe genommen. Ein zentrales Ergebnis dieses Kapitels ist die Herausarbeitung dieser Interaktionsverdichtung von Kommission und EuGH, die sich ab den 1970er Jahren verstärkt wechselseitig beobachten und sich zunehmend in die Hände arbeiten. Mit der Richtlinienvorbereitung macht die Kommission als Initiatorin für die Neugestaltung von Gleichberechtigungsnormen den wichtigen Schritt, die supranationale Rechtsprechung deutet und re-interpretiert den Art. 119 und schafft damit die Voraussetzungen für die Selbstreferenz im europäischen Recht. Mit dem Fall Defrenne/Sabena wird die Tür zu den nationalen Gerichten geöffnet. Zugleich setzt jetzt eine Deutung des Lohngleichheitsgrundsatzes ein, die für die Gleichberechtigung und für das Gemeinschaftsrecht insgesamt von Bedeutung ist. Die Entgeltgleichheit wird als ein soziales Grundrecht der Gemeinschaft bestimmt, und über den Lohn hinaus wird das Verbot der Geschlechterdiskriminierung als ein Menschenrecht formuliert, das in der Gemeinschaft zu wahren ist. Von 1958 bis in die 1970er Jahre ist somit eine erstaunliche Umgestaltung der Gleichheitsvorgabe zu erkennen. Von einer Vorgabe zur gleichen Lohnzahlung wandelt sie sich zum Gleichbehandlungsgrundsatz, dessen Realisierung an konkreten Maßnahmen und Zielvorgaben gemessen wird. Jetzt wird sie als Beitrag zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes verstanden. Vermittelt wird diese Entwicklung durch die Kompetenzen und Werkzeuge, die vom EuGH und der Kommission ausgebaut werden. Das Vorabentscheidungsverfahren trägt zu einer interessanten Dynamik der Institutionalisierung bei, in der nationale Gerichte und Akteure in das Koordinatensystem des EuGH hineingezogen werden. Die nationalen Gerichte legen dem EuGH – insofern entscheidungserheblich für den jeweiligen Fall – Fragen über die Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts vor. Der EuGH erhält somit die Kernkompetenz der judicial review, d.h. er entscheidet darüber, ob eine Klage in den Bereich des EU-Rechts fällt und wie diese zu interpretieren ist. Das letzte Wort bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht hat der EuGH, der damit die Grenze
103
zwischen dem nationalen und dem supranationalen Recht bestimmt und sie stetig verändert.37 Die Kommission baut ihre Kontroll- und Initiativfunktion aus. Hierfür setzt sie den Hebel bei der sozialwissenschaftlichen Expertise an, die es ihr gestattet, die Lohnvorgabe zu deuten und deren Umsetzung in den Mitgliedländern zu kontrollieren. Wie deutlich wurde, erhält sie dadurch einen Informationsvorsprung und beschafft die erforderliche Legitimation für die Vorbereitung von Richtlinien und Programmen. Bezug nehmend auf die theoretischen Überlegungen zur institutionellen Entwicklung zeigt dieses Kapitel, wie die Lohngleichheit trotz geschlechterpolitischer Stille seit 1959 konkretisiert wird. Ihre Umsetzung wird von Kommission und Gericht vorangebracht, die die Lohngleichheit als Beitrag zum market-building verstehen. Durch Richtlinien und Rechtsentscheidungen erfolgt die Umsetzung des supranationalen Gleichheitsskripts, also die Ausdehnung der Gleichheitsvorgabe von der Gleichwertigkeit bis zur Sozialen Sicherheit. Die in den 1970er Jahren entstehende neue Frauenbewegung (vgl. Hoskyns 1992, 1996; Vleuten 2007) und die veränderte sozialpolitische Großwetterlage begünstigen und verstärken diesen Prozess, der Ende der 1950er Jahre im supranationalen Kontext einsetzt. Gegenüber den Mitgliedstaaten hat dies den Effekt, dass die nationalen Rechtssysteme durch die supranationale Rechtsprechung und die Richtlinien zunehmend überformt werden. Dieser Prozess lässt sich als institutional layering (Thelen 2003: 226) charakterisieren, also als eine graduelle und plurale Form der Strukturbildung. Bestehende Institutionen werden nicht abrupt abgeschafft, sondern durch andere ergänzt und kumulativ verändert.
37 Hierauf zielt Lepsius (1997: 59), wenn er davon spricht, dass die EU-Organe sich von den Nationalstaaten lösen und eine eigene Autorität beanspruchen, die von den Mitgliedsländern nicht mehr reklamiert werden kann. Die Entscheidungsfindung geht auf die supranationalen Rechtsentscheider über, die sich in einem „geschlossenen Handlungskontext“ (ebd.: 40) bewegen.
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Viertes Kapitel Ingrid Biermann und Theresa Wobbe
Die Initiierung einer Strukturebene für Gleichberechtigung im Kommissionsbereich und im Europäischen Parlament In einer Welt des beschleunigten Wandels ist uns jedoch die Zeit bemessen. Europa ist historisch eine Eilsache. Gewiss scheinen einige der angestrebten Ziele in weiter Ferne zu liegen. Ein Grund mehr, sie unverzüglich in Angriff zu nehmen. Je höher der Gipfel, desto früher macht sich die Seilschaft auf den Weg. Bericht-Vedel1
Einleitung In diesem Kapitel steht die administrative und politisch-parlamentarische Absicherung der Gleichberechtigung im Mittelpunkt. Nach der Verabschiedung der ersten Richtlinien (vgl. Kap. 3) initiiert die Kommission 1976 den Aufbau einer administrativen Strukturebene für die Umsetzung der Gleichberechtigung und verbindet diesen Schritt mit der Mobilisierung von Frauen zur Direktwahl des EP. Diese Impulse sind eingebettet in eine dynamische Phase der Gemeinschaft, die mit dem Rücktritt des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle eingeleitet wird. Auf die Tagungsordnung gesetzt wird die Vertiefung zur Wirtschafts-, Währungs- und politischen Union und damit auch die Erweiterung um drei neue Mitgliedsländer, darunter England, dessen Aufnahme lange blockiert war. Drittens erfahren die Gemeinschaftsorgane mit der Gründung des „Europäischen Rates“ (1974) als dem Kern der internationalen Zusammenarbeit und mit der Aufwertung des Parlaments durch die erste Direktwahl (1979) eine Neujustierung. Die Ausweitung der Gleichberechtigung ist eng mit dieser Binnendifferenzierung gekoppelt. 1 Bericht der Ad-hoc-Gruppe für die Prüfung der Frage einer Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments: Bericht Vedel, in: Bulletin 4/1972: 87.
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Vor diesem Hintergrund stellen wir in diesem Kapitel die Verankerung einer Strukturebene für Gleichberechtigung dar, die ein zusätzliches Merkmal der Institutionalisierung bildet, nämlich die Ausdifferenzierung in der supranationalen Verwaltung und der Politik.2 Die institutionelle Genese und die Metamorphose der Lohngleichheit stehen, wie dargelegt, im Zusammenhang mit dem neuartigen Marktsystem. Die Verankerung der drei ersten Gleichberechtigungsrichtlinien stellt hierbei eine Stabilisierung der Gleichheit im Medium des Rechts dar. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie die supranationalen Vorgaben zusätzlich im Medium von Verwaltung, Politik und Beratungsexpertise verankert werden. Konkret geht es darum, wie die Kommission die neu in Schwung gekommene Integration nutzt: In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre errichtet sie in ihrem Organisationskontext erste Verwaltungseinheiten für Geschlechterpolitik und betreibt zugleich die Rekrutierung von Frauenpolitikerinnen für die Direktwahl des Parlaments. Diese Aktivitäten können als Teil eines umfassenderen Prozesses der Neukonfigurierung der Gemeinschaftsorgane und ihres organisatorischen Ausbaus (vgl. Tindemans 1976) betrachtet werden. Nach der Parlamentswahl (1979) entsteht teils parallel und teils in Verbindung mit der Kommission zudem der parlamentarische „Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau“ (1979), der zur treibenden Kraft für die politische Mobilisierung der Gleichstellung während der 1980er Jahre wird. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. Zunächst beleuchten wir den umfassenden Wachstumsprozess des supranationalen Systems, in den die Errichtung einer Strukturebene für Gleichberechtigung eingebettet ist (Kap. 4.1). Anschließend werden die Etablierung infrastruktureller Kerne für die Geschlechterpolitik in der Kommission und die damit verbundene Mobilisierung für die Direktwahl zum EP behandelt (Kap. 4.2). Vor diesem Hintergrund beschäftigen wir uns mit der ersten Kohorte der Europaparlamentarierinnen sowie mit dem „Ad-hocAusschuss für die Rechte der Frau“ des Europäischen Parlaments und gehen anschließend auf damit verbundene Expertennetzwerke ein (Kap. 4.3). Abschließend bündeln wir die Ergebnisse und beziehen sie auf das Konzept institutioneller Entwicklung (Kap. 4.4).
2 Der Aufbau einer administrativen und politischen Strukturebene wird bislang in der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht systematisch als eine Sequenz der institutionellen Entwicklung und als infrastrukturelle Voraussetzung behandelt. Diese Entwicklung wird als Abfolge individueller Interventionen (vgl. Fuhrmann 2005: 157ff.) erzählt bzw. auf Initiativen der Frauenbewegungen zurückgeführt (ebd.: 172). Eine Folge davon ist, dass die in den 1990er Jahren und mit dem Vertrag von Amsterdam einsetzende Dynamik vorwiegend durch die Brille des Gender Mainstreaming und die feministischen Politikkonzepte betrachtet wird, ohne dass den systeminternen Entwicklungen hinreichend Beachtung geschenkt wird (vgl. ebd.: 174ff.; Klein 2006).
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In den 1980er Jahren, so wird im Folgenden argumentiert, findet eine Ausweitung und Konsolidierung der supranationalen Gleichberechtigung statt. Diese wird über die wirtschaftliche und rechtliche Verankerung hinaus auch administrativ und politisch innerhalb des Systems durch Rollen und Programme abgesichert. Sie bildet jetzt auch einen Bestandteil der Kommissionsstruktur und des politischen Programms im Parlament.
4.1 Wachstum des Systems: Neukonfiguration, Erweiterung, Vertiefung Die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft enthalten übereinstimmend die Verpflichtung zur Vorbereitung direkter Wahlen zum EP.3 Die von den nationalen Parlamenten in die Versammlung entsandten Abgeordneten legen 1960 erstmals einen Entwurf für die Durchführung von Direktwahlen vor, auf den der Rat ablehnend reagiert.4 Der Widerstand dagegen resultiert aus einem Unbehagen gegenüber der Schaffung einer unabhängig von den nationalen Parlamenten selbstständig legitimierten Institution (vgl. Müller-Graff 1979: 20). Zudem betrifft er einen heiklen Punkt, nämlich den 1954 gescheiterten Versuch einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“.5 Die Chancen verbessern sich mit der Wende 1969. Die Gipfelkonferenz in Den Haag stellt die Weichen für Reformen. Im Mittelpunkt des Haager Schlusskommuniqués6 stehen die Wirtschaftsunion und die Erweiterung, welche „unbestritten der Urkern“ sind, „aus dem die europäische Einheit sich entwickelt“ (Bulletin 1/1970: 12ff.). Zudem soll auch geprüft werden, „wie in der Perspekti3
Die Gemeinsame Versammlung – die sich seit 1962 selbst als „Europäisches Parlament“ bezeichnet (vgl. Bieber 1984: 267) – ist die Vorläuferin des ab 1979 direkt gewählten Parlaments. Die Umbenennung wird vertraglich aber erst 1986 mit der Verabschiedung der „Einheitlichen Europäischen Akte“ (EEA) abgesichert. 4 Seit Anfang der 1960er Jahre appellieren die Vertreter der Gemeinsamen Versammlung, der Vorläuferin des Europäischen Parlaments, an den Rat, seinen Verpflichtungen aus Art. 138 Abs. 3 EWGV nachzukommen. Er sieht vor, dass der Rat den Mitgliedstaaten die direkte Wahl der europäischen Abgeordneten empfiehlt. Der Rat reagiert aber ablehnend. Die Gemeinsame Versammlung droht schließlich mit einer Untätigkeitsklage gegen den Rat vor dem EuGH. Dies geschieht jedoch vergebens. Nach kurzfristigen Aktivitäten stellte der Rat seine Bemühungen, direkte Wahlen vorzuschlagen, wieder ein (vgl. Müller-Graff 1979: 20). 5 Die EPG beinhaltet die Einrichtung einer europäischen Verfassung und Regierung. Die Ad-hocVersammlung der Montanunion stimmt dem Konzept zu, doch vor allem die belgische und französische Regierung sprechen sich gegen den unter Federführung von Heinrich von Brentano erarbeiteten Entwurf aus (vgl. Knipping 2004: 79ff.; Küsters 1993). 6 Kommuniqué der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften in Den Haag am 1. und 2. Dezember 1969 (Bulletin 1/1970: 12-17).
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ve der Erweiterung am besten Fortschritte auf dem Gebiet der politischen Einigung erzielt werden können“ (ebd.). Angestrebt werden die Vertiefung der Marktintegration und ein umfassender Übergang von der mehr wirtschaftlich ausgerichteten Gemeinschaft zu einer stärker politischen Kooperation (vgl. Knipping 2004: 202ff.). Für die Direktwahl sind zwei Gesichtspunkte relevant. Der erste betrifft die internationale politische Entwicklung. So werfen etwa die Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei, die Ungewissheit über die internationale Rolle der USA sowie die Nahostkrise und das Zypernproblem Fragen nach dem politischen Auftreten der Sechser-Gemeinschaft auf (vgl. Tindemans 1976). Zugleich wächst mit der Vergrößerung der Gemeinschaft um Großbritannien, Dänemark und Irland der Bedarf an politischer Koordination. Der von der Haager Konferenz eingesetzte Davignon-Ausschuss schlägt eine aktivere Rolle der Gemeinschaft in Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik vor. Auf dem Weg zu dieser „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) sollen regelmäßige Konsultationen und Abstimmungen stattfinden. Seit 1970 treffen sich die Außenminister zweimal, seit 1973 viermal jährlich (vgl. Knipping 2004: 196). Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Binnendifferenzierung und das Wachstum des Systems. Mit dem Übergang in die Endphase des Gemeinsamen Marktes wird die künftige Ausgestaltung des Wirtschaftssystems wichtig. Die ursprüngliche Konzeption einer Integration durch die Marktkräfte (vgl. Kap. 2.2) bzw. durch die „Sachlogik“ der wirtschaftlichen Integration (vgl. Hallstein 1973: 21ff.) stößt an Grenzen.7 Rückblickend stellen die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister in der Haager Erklärung fest, dass viele Erfolge erzielt worden sind, die nun dem Stand von Wirtschaft und Technologie angepasst werden müssten (vgl. Bulletin 1/1970). Ihre Absicherung erfordert eine stärkere supranationale Gestaltung und die Anpassung an Modernisierungserfordernisse. Bezogen auf die parlamentarische Ebene ist die Schlusserklärung ausgesprochen sparsam und erschöpft sich in einem einzigen Satz: „Die Frage der direkten Wahl wird weiter vom Ministerrat geprüft.“ (Bulletin 1/1970: 12) Im sog. Vedel-Bericht8 wird die Stärkung des Parlaments ebenfalls im Hinblick auf die Vertiefung bezogen. Die neuen Aufgaben erforderten eine Ausdehnung der Befugnisse des Parlaments (vgl. Bulletin 4/1972). Hier klingt an, dass die Auf7 Wie unsere Untersuchung der Verhandlungen des Gemeinsamen Marktes zeigt, sollten die Anstrengungen zur Harmonisierung von Regeln und Politiken so sparsam wie möglich gehalten werden (vgl. Kap. 2). Es gibt Anzeichen auf Gefährdungen und Rückbildungen wie etwa Ausgleichsabgaben von Mitgliedstaaten zum Schutz der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Produzenten. 8 Bericht der Ad-hoc-Gruppe für die Prüfung der Frage einer Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments (Bericht Vedel, in Bulletin 4/1972: 7-87).
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wertung der parlamentarischen Ebene auch als ein Korrektiv zur Vertiefung in anderen Bereichen gesehen wird. Die Erweiterung „der Gemeinschaftsbefugnisse darf nicht zu einer Schmälerung der parlamentarischen Kompetenzen führen“ (ebd.), vielmehr erfordere diese, „das Blickfeld zu erweitern und sich mit den Änderungen im gesamten institutionellen System der Gemeinschaft zu befassen“ (ebenda: 87). Als Ergänzung zur intergouvernementalistisch orientierten Außenpolitik wird eine Stärkung des Parlaments vorgeschlagen. Die Forderung nach Beteiligungsrechten rückt die Legitimation politischer Entscheidungen in den Vordergrund (vgl. Müller-Graff 1979: 25). Über die organisatorische Form einer außenpolitischen Abstimmung wird auf dem Pariser Gipfel 1974 mit der Gründung des „Europäischen Rates“ entschieden, der sich rasch als höchstes Gemeinschaftsorgan konstituiert. Diese Neuschöpfung führt zu empfindlichen Verschiebungen im organisationalen Geflecht. Konkret heißt dies, dass die Rechte der Kommission und des EuGH durch die faktische Richtlinienkompetenz des „Europäischen Rates“ gemindert werden; geschmälert wird zudem die Durchführungskompetenz der Kommission durch die Aufgabenzuweisung des Rates an den Ministerrat. Der neue „Europäische Rat“ fasst darüber hinaus politische Beschlüsse, die nicht der richterlichen Kontrolle durch den EuGH unterworfen sind (vgl. Knipping 2004: 207f.). Vor diesem Hintergrund erhält die Stärkung des parlamentarischen Kerns durchaus eine kompensatorische Funktion zum „Europäischen Rat“. So unterstreicht der belgische Premierminister Leo Tindemans später mit Blick auf den Europäischen Rat: „Ein Zurückkehren zu Methoden intergouvernementaler Zusammenarbeit bringt keine Lösung für die Probleme Europas. Diese Methoden laufen darauf hinaus, die Macht- und Interessenunterschiede zwischen unseren Staaten zu betonen […]. Deshalb muss der gemeinschaftliche institutionelle Apparat verstärkt werden.“ (Bulletin 1/1976: 32)
Das Parlament könnte zur Stärkung der supranationalen Kompetenzen beitragen. Hier liegt auch der Schnittpunkt mit der Gleichberechtigung, mit ihrer administrativen Verankerung und der Rekrutierung von (Frauen-)Politikerinnen. 1975 fällt innerhalb der Kommission der Entschluss, Direktwahlen erstmals 1979 durchzuführen.9 Diese Entscheidung ermöglicht auch einen Vorstoß in Richtung
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Vgl. dazu Fausta Deshormes, Leiterin des auf Kommissionsinitiative 1976 eingerichteten Fraueninformationsdienstes (vgl. Frauen Europas, Nachtrag zu Nr. 2, 1977: 15). 1976 beschließt der Rat die Akte zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments; vgl. ABl. L 278 vom 8.10.1976.
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einer Etablierung weiterer politischer Substrukturen auf supranationaler Ebene, also die Verankerung europäischer Parteien bzw. Parteienbünde.10
4.2 Kommissionsinitiativen zum Aufbau einer Strukturebene für Gleichberechtigung In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ist die Entstehung einer supranationalen geschlechterpolitischen Infrastruktur zu beobachten. Zum einen werden Verwaltungseinheiten im Kommissionsbereich geschaffen und zum anderen mobilisiert die Kommission gezielt Frauen der Mitgliedsländer zur Wahl. Das 1976 von ihr gegründete und im Kommissionsbereich angesiedelte „Büro für Probleme der Frauenbeschäftigung“ stellt eines der Instrumente hierzu dar. Um die Bedeutung der bürokratisch-administrativen Verankerung der Gleichberechtigung im Kontext der Kommission zu verstehen, sei an die Funktion der Kommission im EU-Geflecht erinnert (vgl. Bach 1992, 2005). Mit dem Vorschlagsrecht im Gesetzgebungsprozess verfügt sie über Kompetenzen, die über die des Rates hinausgehen. Zu ihren Aufgaben gehören die Ausarbeitung von Vorschlägen für Rechtsakte des Rates, der Erlass von Durchführungsmaßnahmen und die Ausführung des Haushaltsplans (vgl. Eichener 2000, 2001). Faktisch zentralisiert sie alle administrativen Funktionen der EU (vgl. Wessels 2002: 336ff.). Aus dem Initiativrecht erwächst der Kommission die Möglichkeit, Themen und Programme zu generieren und somit ein Informationsvorsprung, wie die Beschaffung von Expertise und die entsprechende Einbeziehung neuer gesellschaftlicher Akteure zeigen. Auch für die Verankerung der Gleichberechtigung gilt, dass die wachsenden Kompetenzen der Kommission eng mit der Einbeziehung weiterer gesellschaftlicher Akteure verwoben sind, wie die seit Mitte der 1970er Jahre betriebene Strukturebene für „Frauenfragen“ zeigt. 1976 wird erstmals eine eigene Verwaltungseinheit für Gleichberechtigungsthemen eingerichtet. Das bei der „Generaldirektion Beschäftigung und Soziales“ angesiedelte „Büro für Probleme der Frauenbeschäftigung“ (später: „Referat für Chancengleichheit“) ist federführend für sämtliche Vorschläge der Kommission, die Geschlechterfragen betreffen. Vorrangige Aufgabe des Büros ist die Schaffung gleicher Voraussetzungen für Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt. Es überwacht die Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie und unterstützt die Ausarbeitung weiterer Instrumente (vgl. Hoskyns 1986: 656ff.). 10 Die nationalen Parteien schließen sich erst ab Mitte der 1970er Jahre zu europäischen Parteien zusammen (vgl. Neßler 1997: 35f.).
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Außerdem konzipiert das Büro die Aktionsprogramme für Chancengleichheit, initiiert in den Mitgliedstaaten Aktionen zur Förderung der beruflichen Bildung von Frauen und übernimmt die Rolle eines Koordinators zwischen den Dienststellen der Kommission und den Trägern von geschlechterpolitisch ausgerichteten Maßnahmen in den Mitgliedstaaten (vgl. Heide 1996: 25; vgl. ebenfalls Frauen Europas, Nachtrag zu Nr. 2, 1977: 15f.). Erste Leiterin des Büros ist Jacqueline Nonon.11 Zur Werbung für die Wahlen werden in den Mitgliedstaaten Zusammenkünfte und Informationskampagnen initiiert, die eigens Frauen ansprechen. Den Auftakt einer gezielten Umwerbung von Frauen bildet eine 1976 von der Kommission veranstaltete Zusammenkunft mit 120 Vertreterinnen des politischen und sozialen Lebens aus den neun Mitgliedstaaten. Als Ergebnis wird der „Fraueninformationsdienst“ geschaffen, der – bei der „Generaldirektion Information“ angesiedelt – einen ständigen Informationsaustausch mit Frauenorganisationen aus den Mitgliedstaaten unterhalten und sie über die Ziele der europäischen Integration informieren soll. Dieser Dienst organisiert Kolloquien und Seminare und versendet Informationen über die EWG an Frauenorganisationen in den Mitgliedsländern. Er soll, so die Absicht der Kommission, die für 1979 geplante erste Direktwahl bei Frauen und Frauenorganisationen der Mitgliedstaaten populär machen (vgl. Frauen Europas, Nachtrag zu Nr. 2, 1977: 15). Dass Frauen für Europa gewonnen werden sollen, und zwar als Wählerinnen und als Politikerinnen, geht deutlich aus einem Schreiben der Generaldirektion Information an den Deutschen Frauenrat vom Juni 1977 hervor: „Based on substantial E.C. information, [the Commission] aims at giving the women a better political knowledge of the meaning of the election as well as encouraging 12 them to be active protagonists, both as voters and as candidates.“
Das Interesse von Frauen soll über Themen geweckt werden, für die zu dieser Zeit aufgrund der neuen Frauenbewegung ein günstiges Klima besteht. Dazu gibt der Informationsdienst seit 1976 das Bulletin „Frauen Europas“ heraus, in dem er über die Geschlechterpolitik der Gemeinschaft und deren gleichberechti11
Jacqueline Nonon hat sich mit den Themen Europäisierung, Lobbying sowie mit Frauenfragen beschäftigt. Sie gab Seminare an Universitäten, wie der Boston-University of Massachusetts, ParisUniversite catholique Amherst und University of Massachusetts. Darüber hinaus arbeitete sie als Beraterin der Association Européenne d’Etudes et de Diffusion sur la Recherche, l’Europe et la Société (ASEDIFRES), welche Debatten, Studienreisen und Kolloquien für den Ideenaustausch in Europa organisiert (vgl. Nonon 1998: 87). 12 Commission of the European Communities, DG Information, letter from Renato Ruggiero to the German Women’s Council from June 4th 1977 (Archiv des Deutschen Frauenrates, Korrespondenz 1975-1980).
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gungspolitische Aktivitäten berichtet.13 Das Bulletin bleibt nach der Wahl zum EP bestehen und informiert bis 1991 über Themen wie die Gleichbehandlungsrichtlinien, europäische Fördermaßnahmen, Diskussionen in der Frauenbewegung. Nach 1979 berichtet es auch über die geschlechterpolitische Arbeit des Parlaments. Aus jedem Mitgliedsland arbeitet eine Berichterstatterin zu. Das Bulletin wird europaweit an Frauenorganisationen verschickt (vgl. Previti Allaire 2003: 3). Drei Jahre lang wirbt der Informationsdienst bei Frauen der neun Länder, sich für die 1979 anstehende Direktwahl aufstellen zu lassen. „Frauen wählen Europa“ lautet der Slogan eines Plakats, das die Kommission in einem Wettbewerb entwickeln und europaweit an Frauenorganisationen verschicken lässt.14 An diesen Initiativen wird deutlich, dass die Kommission versucht, gegenüber dem medial vorherrschenden Bild der Brüsseler Bürokratie und der ihr zugerechneten „Butterberge“ und „Milchseen“ (vgl. Gasteyger 1997: 297ff.) Europa ein anderes Gesicht zu geben. Der Slogan „Frauen Europas“ verbindet die Gemeinschaft mit einem (weiblichen) Gesicht und mit einer konkreten personellen Repräsentation. Die großen europäischen Parteienbünde greifen die Vorgaben der Kommission auf. Sie führen einen werte- und zielgruppengeleiteten Wahlkampf durch und werben vor allem bei drei Wählergruppen um Zustimmung, nämlich bei Jugendlichen, bei Arbeitnehmern und bei Frauen. Im Wahlkampf wird der Slogan „Frauen für Europa“ von allen Parteien übernommen.15 1982 wird mit dem „Beratenden Ausschuss für Chancengleichheit“ ein weiterer infrastruktureller Kern im Kommissionsbereich angesiedelt. Rat und Kommission beschließen mit dieser Gründung, die geschlechterpolitischen Maßnahmen mit den nationalen Vertretern der Frauenministerien und Gleichstellungsstellen zu koordinieren. Der Ausschuss ist mit Regierungsvertreterinnen und vertretern (jeweils zwei aus jedem Land) und mit Vertreterinnen und Vertretern aus europäischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen besetzt.16 Als Scharnier zwischen nationaler und supranationaler Ebene (vgl. Vleuten 2007: 111) soll er mit dem in der „Generaldirektion Beschäftigung und Soziales“ angesiedelten „Referat für Chancengleichheit“ verzahnt werden. Zunächst als Informations- und Legitimationsressource für die Kommission konzipiert, geht er in
13 Von 1977 bis 1992 liegt das Management des Fraueninformationsdienstes bei Fausta Deshormes (vgl. Previti Allaire 2003: 3). 14 Darauf sind neun Frauen zu sehen, von denen jede die Flagge eines Mitgliedslandes trägt (abgedruckt im EG-Magazin 1979, H. 3/4: 11). 15 Analog dazu werben sie mit den Slogans „Jugend für Europa“ und „Arbeitnehmer für Europa“ (vgl. Ockenfels 1987: 136f.) 16 Vgl. für den Gründungsbeschluss ABl. L 20 vom 20.1.1982; für die Wissenschaft Vleuten 2007: 112.
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der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu eigenen Initiativen über, um die Politik der Chancengleichheit in den Mitgliedstaaten zu forcieren (vgl. Rees 1998: 60). Mit der Etablierung dieses Ausschusses wird der Geltungsrahmen der Gleichberechtigung in Form von Beratungsexpertise vertieft und legitimiert. Dies dokumentiert sich z.B. in der Genese, Konsolidierung und Ausweitung der seit 1982 in fünfjährigem Abstand aufgelegten „Aktionsprogramme zur Chancengleichheit“ (vgl. Hoskyns 2000; Mazey 1995, 2000; Ostner 2000; Rees 1998).
4.3 Politikerinnen für Gleichberechtigung im Europäischen Parlament Rasch nach der ersten Direktwahl zeigt sich, dass das Europäische Parlament die Rolle eines Verstärkers politischer Themen im supranationalen Organisationsgeflecht übernimmt (vgl. Woyke 1984: 129); dies gilt auch für die Geschlechterpolitik. Die Absicht der Kommission, (Frauen-)Politikerinnen für die Gemeinschaftsebene zu gewinnen, ist, wie im Folgenden gezeigt wird, erfolgreich. Frauen bewerben sich vergleichsweise zahlreich und gelangen auf vordere Listenplätze. Nach der Wahl 1979 stellen sie 16 Prozent der Abgeordneten des EP und nehmen 67 der 410 Sitze ein. Der nationale Durchschnitt in den Mitgliedsländern liegt zu jener Zeit bei 7,6 Prozent (vgl. Hörburger 1988: 18). Es gelingt der Kommission, über diese ersten Direktwahlen für die supranationale Ebene eine neue Gruppe politischen Personals zu rekrutieren, nämlich Frauen als Politikerinnen europäischer Parteien und als europäische Abgeordnete. Die Abgeordneten der „Gemeinsamen Versammlung“ wurden von den nationalen Parlamenten entsandt und waren Mitglieder nationaler Parteien. 1952 gehörte der „Gemeinsamen Versammlung“ eine Abgeordnete aus den Niederlanden an; 1973 waren acht Abgeordnete Frauen (vgl. Lenz 1994: 10). In der Kommission werden erst zehn Jahre später zwei Frauen als Kommissarinnen vertreten sein.17 Wer sind die Politikerinnen, die sich Anfang der 1980er Jahre als erste Generation von Europaparlamentarierinnen für Frauenrechte einsetzen? Über welchen politischen Hintergrund verfügen sie? Fast alle weiblichen Abgeordneten, die 1979 ins Parlament einziehen, sind vorher bereits auf nationaler Ebene in politischen Funktionen tätig gewesen, es handelt sich also um professionell erfahrene Politikerinnen. 36 Prozent von ihnen 17 In der zweiten Delors-Kommission, die ihre Arbeit im Januar 1989 aufnimmt, arbeiten als Kommissarinnen die Französin Christiane Srivener und die Griechin Vasso Papandreou; vgl. Bulletin 12/1988: 14ff.
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gehören Jugend- und Frauenorganisationen ihrer Partei an; 20 Prozent sind Mitglieder in überparteilichen Frauenorganisationen oder in internationalen Frauenorganisationen, darunter die Europäische Frauen-Union.18 Eine kleine Anzahl ist in Gewerkschaften aktiv. Nur wenige sind vor ihrer politischen Tätigkeit im EP in europäischen Kontexten tätig, lediglich fünf Prozent der ersten direkt gewählten Parlamentarierinnen haben vorher in Organisationen der Europäischen Gemeinschaft gearbeitet (vgl. Vallance/Davies 1986: 36ff.).19 Die meisten sind Mitglieder der großen etablierten Parteien. Etwas mehr als die Hälfte der Frauen gehören sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien an. Ein Viertel von ihnen sind Mitglieder konservativer und christlich-demokratischer Parteien; der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa gehört ein Sechstel der weiblichen Abgeordneten an. Der Rest verteilt sich auf kleinere Gruppierungen (vgl. Frauen Europas Nr. 10, 1979). 62 Prozent haben einen akademischen Abschluss, und zwar 24 Prozent als Juristinnen, 10 Prozent als Ökonominnen, 7 Prozent als Politik- und Kunstwissenschaftlerinnen. Welchen Erstberuf hatten die Abgeordneten? Vor ihrer politischen Karriere sind 23 Prozent als Lehrerinnen in Schulen oder als Wissenschaftlerinnen tätig gewesen. 15 Prozent haben journalistisch und 10 Prozent als Anwältinnen gearbeitet; 4 Prozent waren Unternehmerinnen. 71 Prozent der ersten Europaparlamentarierinnen sind verheiratet, gut die Hälfte, d.h. 53 Prozent haben Kinder im (jungen) Erwachsenenalter. Das Durchschnittsalter dieser Frauen beträgt 49 Jahre (vgl. Vallance/Davies 1986: 36ff.). An dem Beispiel von drei Politikerinnen der ersten Kohorte lassen sich diese Daten in Bezug auf deren politische Karriere veranschaulichen. Skizziert wird das politische Engagement von Yvette Roudy (Frankreich), Erste Vorsitzende des „Ad-hoc-Ausschusses für die Rechte der Frau“, von Hanja Waij-Weggen (Niederlande), Generalberichterstatterin des Ausschuss, und von Marlene Lenz (Deutschland), Mitglied im Ausschuss und ab 1984 dessen Vorsitzende in der zweiten Legislaturperiode. Alle drei Politikerinnen sind vor ihrem Einzug ins EP bereits auf nationaler Ebene in parteipolitisch hochrangigen Funktionen tätig. In frauenpolitischen Organisationen haben sie Leitungsfunktionen 18
Die Europäische Frauen-Union (EFU) wurde im Juni 1953 in Salzburg gegründet. Gründerin und erste Präsidentin der EFU war die ÖVP-Abgeordnete Lola Solar. Die EFU war der erste Zusammenschluss weiblicher Abgeordneter des Europaparlaments, der Bundes-, Landes- und Kommunalparlamente und von Frauen des öffentlichen Lebens. Sie gehörten christlich-demokratischen, konservativen und anderen, ähnlich gesinnten Parteien oder ihnen verwandten Organisationen an (vgl. Informationen für die Frau. 7-8, 1976, S. 26f. 19 Für ihr geschlechterpolitisches Engagement auf europäischer Ebene geben sie als Motiv die Durchsetzung von Gesetzen an, die Frauen gerechter behandeln und zur positiven Veränderung der Gesellschaft betragen. Ihr politisches Engagement für Frauenrechte führen sie auch auf eigene Erfahrungen der Benachteiligung zurück (vgl. Vallance/Davies 1986: 36ff.).
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bekleidet. Zwei von ihnen bleiben nach dem Eintritt ins EP 1979 für mehrere Legislaturperioden Europaabgeordnete. Yvette Roudy (geb. 1929), französische Sozialistin, verheiratet.20 Vor ihrem Eintritt in das EP mit 50 Jahren hat Yvette Roudy verschiedene Ämter innerhalb der Sozialistischen Partei Frankreichs inne. Ihre politische Karriere beginnt 1973, als sie Mitglied im leitenden Ausschuss der Sozialistischen Partei wird. Sie wird ebenfalls Generalsekretärin der „Demokratischen Frauenbewegung“ der Sozialisten, deren nationale Sekretärin für die Frauenaktion und nationale Verantwortliche für Fortbildungskurse. 1975 übersetzt sie den feministischen Bestseller „The feminine mystique“ von Betty Friedan ins Französische und verfasst im gleichen Jahr das Buch „La femme en marge“. Dem EP gehört Yvette Roudy von 1979 bis Juni 1981 an. In dieser Zeit ist sie die Vorsitzende des Frauenrechtsausschusses. Anschließend erhält sie in Frankreich unter Präsident Mitterand das Amt der ersten Frauenministerin der Welt. Von der nationalen Politik wechselt sie 1998 nochmals zurück auf die europäische Ebene, nämlich als Vorsitzende des Gleichstellungsausschusses zum Europarat (1998-2000). Hanja Maij-Weggen (geb. 1943), niederländisches Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), verheiratet, zwei Kinder.21 Maij-Weggen absolviert eine Ausbildung als Krankenpflegerin und arbeitet als Dozentin für Krankenfürsorge. Vor ihrem Eintritt ins EP mit 36 Jahren hat sie bereits eine politische Karriere auf nationaler Ebene hinter sich. Innerhalb der christlich-demokratischen Partei der Niederlande übt sie verschiedene Verwaltungsfunktionen aus und ist Mitglied der Hauptverwaltung des „Niederländischen Frauenrats“. Als niederländische Politikerin hat sie in den 1970er Jahren einer Regierungsdelegation bei den Vereinten Nationen angehört, die auch Fragen der Frauenemanzipation und der Verankerung von Frauenrechten behandelt. Dem EP gehört sie von 1979 bis 1989 an, in der ersten Legislaturperiode (1979-1984) ist sie Berichterstatterin des „Ad-hoc-Ausschusses für die Rechte der Frau“, in den letzten drei Jahren ist sie Vorsitzende der EVPFraktion. Anschließend wird sie Ministerin auf nationaler Ebene und kehrt 1994 in das EP zurück, wo sie bis 2004 Abgeordnete ist. Marlene Lenz (geb. 1932), deutsches Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Lenz absolviert eine Ausbildung als Übersetzerin und ist für europäische Institutionen in Paris und Brüssel tätig. Vor ihrem Eintritt ins EP mit 47 Jahren ist sie auf nationaler Ebene politisch aktiv als Bundesgeschäftsführerin der Frauenvereinigung der CDU und Referentin im Büro für Auswärtige Beziehungen der CDU. Von 1968-1973 ist sie Generalsekretärin und ab 1977 Vizepräsidentin der
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Vgl. URL: http://bu.univ-angers.fr/index.php?S_file=archives/fiche.php&ref_archive=11, letzter Zugriff, 1.7.2008. 21 Die Informationen entstammen verschiedenen Quellen: Roudy 1981; URL: http://www.europarl. europa.eu/members/archive/alphaOrder/view.do?language=DE&id=1425, letzter Zugriff, 1.7.2008.
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„Europäischen Frauen-Union“ (EFU). In der zweiten Legislaturperiode des direkt gewählten EP (1984 bis 1987) ist sie die Vorsitzende des Frauenrechtsausschusses. Dem EP gehört sie insgesamt 20 Jahre (1979 bis 1999) an (vgl. Roudy 1981; Dertinger 1993; Lenz 1994).
Die ersten Parlamentarierinnen sind also keine Anfängerinnen mehr. Sie kommen aus dem Inneren von Parteien und Verbänden und aus europapolitischen Organisationen und sind nicht mit dem Kreis der neuen autonomen Frauenbewegung identisch. Dies zeigt, dass die Verbindung zwischen der Frauenbewegung und der Aktivierung der europäischen Geschlechterpolitik nicht so eng war, wie heute angenommen wird. Dies gilt auch für die thematischen Akzente. In der Frauenbewegung finden in den 1970er und 1980er Jahren kaum Kampagnen zum gleichen Lohn und ähnlichen Gleichheitsforderungen statt (Hoskyns 1986: 652). Mit der zweiten Direktwahl 1984 ziehen außerdem Frauen aus ökologisch orientierten und der autonomen Frauenbewegung nahestehenden Parteien ins Parlament ein. Die meisten Parlamentarierinnen kommen aber weiterhin aus dem traditionellen Parteienspektrum. 48 Prozent der weiblichen Abgeordneten sind Politikerinnen des linken Spektrums (Sozialdemokratinnen, Sozialistinnen und Kommunistinnen), 17,3 Prozent Abgeordneten gehören der Europäischen Volkspartei, 6,6 Prozent der ökologisch orientierte Gruppe und 26,6 Prozent den verschiedenen demokratisch-liberalen Zusammenschlüssen an (vgl. Vallance/Davies 1986: 159). Der parlamentarische „Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau“ Die Direktwahl verändert zudem den Charakter des Parlaments und das Verhältnis zu den nationalen Parlamenten. Die Gemeinsame Versammlung hatte in der Montanunion zunächst eine beratende Funktion, nach der Verabschiedung des EWGV wird sie 1957 auf 198 Abgeordnete vergrößert. Die Mitwirkungsrechte bestehen in der Abgabe von Stellungnahmen, die für den Rat aber keine bindende Wirkung haben. Effektive legislative Mitwirkungsbefugnisse hat die Versammlung daher noch nicht (vgl. Mickel 2005: 289ff.). Bis 1979 gehören die Deputierten dem europäischen und dem nationalen Parlament an, danach wird dieses Doppelmandat zusehends aufgelöst, immer weniger Europaparlamentarier sind gleichzeitig Mitglieder ihrer nationalen Parlamente. Die Lösung von den nationalen Parlamenten verstärkt einmal die direkte Bindung zwischen Europaparlamentariern und ‚ihrer‘ nationalen Wählerschaft und lockert zum anderen das Band mit dem nationalen Parlament, worauf dort mit der Gründung von besonderen Europaausschüssen reagiert wird. Die parteipolitisch weiterhin national rekrutierten Abgeordneten des EP können sich aufgrund des neuen Wahlmodus stärker supranational ausrichten; 116
die internationale Zusammensetzung des Parlaments und die multinationale Zusammensetzung der Fraktionen fördern diese Orientierung (vgl. Franklin/Scarrow 1999: 45ff). Es entsteht ein neuartiger Typus politischen Personals mit eigenen Professionalisierungs- und Karrieremustern, die „Europaparlamentarier“ bzw. die „Europaabgeordneten“, die im mehrschichtigen Institutionengeflecht ihre Sachkompetenzen und ihr Profil ausbauen. Europäische parlamentarische Politik wird zum eigenständigen Beruf, mit eigenen Mitgliedschaftsrollen und Laufbahnmustern. Die Umstellung zur Direktwahl verleiht dem Parlament zwar außer dem Haushaltsrecht keine weiteren materiellen Rechte. Doch die Abgeordneten profilieren sich als politische Stimme einer demokratischen Öffentlichkeit, treten als Impulsgeber für politische Themen auf, praktizieren aktiv ihr Anfragerecht und nutzen vor allem den alljährlich mit zu beratenden Haushalt, ein Recht, das ihnen die Beteiligung an kollektiv bindenden Entscheidungen der supranationalen Ebene erlaubt (Knipping 2004: 214f.; Woyke 1984: 117).22 Die Direktwahl hat auch Effekte für die Dynamik zwischen den supranationalen Organisationen. Gemessen an den nationalen Vorbildern verfügt das EP zwar über geringere Machtbefugnisse. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, dass es in einem interessanten Spannungsfeld agiert. Die nationalen Parlamente sind durch die Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition geprägt, also durch die Zweitcodierung politischer Amtsmacht in der Demokratie (vgl. Luhmann 2000: 104). Das nationale Muster dieser stets gleichzeitigen Präsenz von Regierung und Opposition in allen politischen Entscheidungen (vgl. ebd.: 98) wird im Europäischen Parlament nicht einfach wiederholt, sondern abgewandelt. Das multinational zusammengesetzte Parlament steht keiner Regierung nach dem nationalen Muster gegenüber, die sie zu kontrollieren hat; die Fraktionen unterscheiden sich in ihrem Machtgefälle nicht hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zur Regierungs- oder Oppositionsfraktion. Stattdessen stehen sie der Kommission gegenüber, welche partielle Regierungsfunktionen ausübt, sowie dem Rat als dem Exekutivorgan, also zwei Gemeinschaftsorganen, die Teilfunktionen der nationalen Regierungsfunktion ausüben. Diese Binnendifferenzierung des EP lässt andere Solidaritäts- und Konfliktformen erwarten als dies bei nationalen Parlamenten der Fall ist. Für die effektive Arbeit kommt den parlamentarischen Ausschüssen eine verstärkte Bedeutung zu. Hier werden die Arbeit des Parlaments und die Zusammenarbeit mit den Gemeinschaftsorganen vorbereitet und gebündelt. Die 22 Mitwirkungsrechte am Rechtsetzungsverfahren erhält das Parlament erst durch das in der EEA eingeführte Kooperationsverfahren (Art. 6, 7, EEA, Art. 252 EGV).
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Ausschüsse erarbeiten die fachlichen Stellungnahmen zu den verschiedenen Politikfeldern und korrigieren seit der EEA die Vorschläge der Kommission für Richtlinien und Verordnungen. Die EP-Ausschüsse erlangen seitdem einen erheblichen Anteil am legislativen Verfahren und übernehmen partiell die Funktion von Ministern oder von Staatssekretären. Rasch nach der ersten Direktwahl zeichnet sich ab, wie das Parlament die Rolle eines Verstärkers bzw. Multiplikators von politischen Themen übernimmt. Initiativ wird es in den Bereichen Sicherheits-, Entwicklungs-, Agrar- und Sozialpolitik (vgl. Woyke 1984: 129), aber ebenso im Bereich der Geschlechterpolitik. Wenige Monate nach der ersten Direktwahl setzt das EP auf Initiative weiblicher Abgeordneter „verschiedener politischer und geografischer Herkunft“ (Roudy 1981: 9) den „Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau“ ein. Zusätzlich zu den Verwaltungseinheiten der Kommission beschließt somit auch das Parlament einen Kern für Geschlechterpolitik.23 Das Parlament verfügt damit zu dieser Zeit über 17 Parlamentsausschüsse mit jeweils ca. 30 Mitgliedern. Dem Frauenrechtsausschuss gehören 25 Frauen und zehn Männer an (vgl. Vallance/Davies 1986: 30), den Vorsitz hat die französische Sozialistin Yvette Roudy (vgl. Dertinger 1993: 20). Die Aufgabe des Ausschusses besteht zunächst darin, Informationen über die Lage der Frauen in den Mitgliedstaaten zu sammeln und Expertenwissen einzuholen. Der Ausschuss veranstaltet 1980 zusammen mit Vertretern aus dem Kommissionsbereich eine mit über 20 Expertinnen und Experten besetzte Anhörung. Als Ergebnis wird ein umfassendes gemeinschaftliches Aktionsprogramm gefordert, das die Ausweitung der Informationstätigkeit über die Rechte von Frauen im Gemeinschaftsrecht enthalten soll. Aufgegriffen werden die Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinien, nämlich die Förderung der Aus- und Fortbildung junger Frauen und die Harmonisierung der Sozialgesetzgebung in den Mitgliedstaaten (vgl. Frauen Europas Nr. 17, 1980: 3). 1981 legt der Ausschuss die erste Analyse zur Situation von Frauen in Europa vor. Der sog. „Maij-Wegge-Bericht“24 mündet am 11.2.1981 in die erste umfangreiche geschlechterpolitische Entschließung des Parlaments. Sie sieht neben der Erhöhung des Frauenanteils in den Gemeinschaftsorganen die Verbesserung der Erwerbssituation von Frauen vor, die Vereinfachung der Geburtenkontrolle und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Europa.25 23 Vgl. dazu „Entschließung zur Einsetzung eines Ad-hoc-Ausschusses für die Rechte der Frau“, in: ABl. C 289 vom 17.11.1979, S. 56f. 24 Benannt ist dieser Bericht nach der Autorin und niederländischen Europapolitikerin Hanja MaijWegge. 25 Vgl. ABl. C 50 vom 9.3.1981, S. 35.
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Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zum wertgeladenen Thema des Schwangerschaftsabbruchs erhält die Entschließung im Europaparlament nur 173 Ja-Stimmen, 101 Nein-Stimmen und 24 Enthaltungen.26 Der Ausschuss baut seine Kontakte durch die Öffentlichkeit seiner Sitzungen und die Veranstaltung von Treffen mit nationalen Frauenverbänden in fast allen Hauptstädten rasch aus. Die Kooperation mit Organisationen bildet einen ersten Schritt, seiner Arbeit auf nationaler Ebene Bekanntheit und auf politischer Ebene Legitimation zu verschaffen (vgl. Dertinger 1993: 22). Das erste Aktionsprogramm zur Verbesserung der Lage von Frauen, das der Frauenrechtsausschuss mit vorbereitet, wird 1982 verabschiedet.27 Ein Jahr später wird der Ausschuss mit der Aufgabe betraut, dessen Umsetzung in den Mitgliedstaaten zu überwachen. Er erwirbt damit weitere Kompetenzen und Informationen über die Mitgliedstaaten und baut seinen politischen Einfluss im Institutionengeflecht aus. In diesem Zusammenhang eröffnet er auch eine Diskussion über sein Verständnis sog. „positiver Maßnahmen“, d.h. die Förderung von Frauen als benachteiligte Gruppe auf dem Arbeitsmarkt. Diese Debatte hat Rückwirkungen auf die Kommission, die daraufhin zu dieser Thematik ein Mehrebenenkolloquium einberuft. An der Veranstaltung nehmen Mitarbeiter aus den Gemeinschaftsorganen, aus Frauenorganisationen sowie externe Experten teil und erörtern Kommissionsmaßnahmen sog. positiver Diskriminierung, also zur Frauenförderung. Den Bezugsrahmen der Diskussion bilden die in den USA, Kanada und den skandinavischen Ländern geltenden Fördermaßnahmen, die von Expertinnen aus diesen Ländern präsentiert werden. Zu den Expertinnen und engagierten Verfechterinnen positiver Maßnahmen gehört Eliane Vogel-Polsky, die sich als Anwältin bereits in den drei Defrenne-Verfahren vor dem EuGH einen Namen gemacht hat (vgl. Frauen Europas Nr. 32, 1983: 5; vgl. Kap. 3). Anfang 1984 legt der Ad-hoc-Ausschuss dem Rat einen Zwischen- bzw. Kontrollbericht über die Durchführung des Ersten Aktionsprogramms für Chancengleichheit vor. Dieser kritisiert, dass in den Mitgliedstaaten kaum Fortschritte bei der Gleichstellung der Frauen erreicht worden seien. An die Adresse der Kommission wird erneut vorgeschlagen, positive Maßnahmen für Frauen einzuführen. Der Druck auf die Mitgliedstaaten müsse diesbezüglich erhöht werden (vgl. Frauen Europas Nr. 33, 1984: 10). Das Parlament formuliert schließlich 26
Eine engagiert geführte Parlamentsdebatte beweist die Einigkeit aller politischen Parteien über die zu erreichenden Ziele, soweit sie die Gleichberechtigung von Frauen im Erwerbsbereich und im öffentlichen Leben betrifft. In der Frage der Harmonisierung der Abtreibungsgesetzgebung bestehen jedoch erhebliche Differenzen, so dass die EVP-Fraktion in ihrer überwiegenden Mehrheit die Entschließung ablehnt (vgl. Dertinger 1993: 21, 51f.). Der Schwangerschaftsabbruch bleibt zwischen den Fraktionen des Europäischen Parlaments auch in der Folgezeit kontrovers (vgl. Lenz 1994: 4). 27 Vgl. Erstes Aktionsprogramm für Chancengleichheit, in: ABl. C 186 vom 21.7.1982, S. 3f.
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eine Entschließung zur Stellung der Frau, die von der Kommission für das Aktionsprogramm zur Gleichstellung aufgegriffen wird (vgl. KOM (81) 758). Mit der Umwandlung des Ad-hoc-Ausschusses in einen ständigen Parlamentsausschuss für die Rechte der Frau (1984) wird das Thema Gleichberechtigung dauerhaft parlamentarisch abgesichert. Seine durch Parlamentsbeschluss festgelegten Aufgaben umfassen im ersten Jahrzehnt die Definition und Entwicklung der Rechte der Frauen, die Weiterentwicklung der Richtlinien, die Förderung der Beschäftigung von Frauen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit, ferner die Zuständigkeit für die Rolle von Frauen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft sowie die Vorbereitung der Teilnahme an der Weltfrauenkonferenz von Nairobi 1985 (vgl. Lenz 1994: 5). Der Ausschuss arbeitet als Verbindungsglied zwischen dem EP und der Kommission. Kooperationsbeziehungen bestehen insbesondere zur „Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales“ (vgl. Strohbecke 1993: 97ff.). Gegenüber den Mitgliedstaaten nimmt der Ausschuss Evaluierungs- und Monitoringaufgaben wahr und fordert von diesen jährliche Berichte über Fortschritte bei der Verwirklichung von Frauenrechten. Auf diese Weise unterstützt der Ausschuss die Kommission in strittigen Fragen mit den Mitgliedstaaten und trägt zur politischen Programmentwicklung der Gleichberechtigung bei. So treten die Kommission und der EP-Ausschuss in den 1980er Jahren mehrfach mit gemeinsamen Aktionen (z.B. durch die Veranstaltung von Konferenzen mit Vertretern aus der Kommission, aus dem Parlamentausschuss und aus den nationalen Parlamenten) auf, um auf die nationalen Regierungen in geschlechterpolitischen Fragen Einfluss auszuüben (vgl. Frauen Europas Nr. 46, 1986: 10). Hierbei unterstützt der EP-Ausschuss bereits seit Beginn der 1980er Jahre die Ausarbeitung und Durchsetzung der Aktionsprogramme für Chancengleichheit (vgl. Dertinger 1993: 81; Bulletin 1/1982). Expertennetzwerke und Lobbybildung Das bereits 1976 geschaffene „Referat für Chancengleichheit“, die Kommission und das EP stützen sich für die Themenvorbereitung und -evaluierung auf die Expertise wissenschaftlicher Netzwerke, die in diesem Jahrzehnt in Zusammenhang mit den ersten beiden Aktionsprogrammen für Chancengleichheit initiiert werden (vgl. Haller-Block 1996; Heide 1996). Durch die Einsetzung von thematisch ausgerichteten Expertennetzwerken bei der Entwicklung, Evaluierung und Umsetzung geschlechterpolitischer Vorgaben wird die Expertise für Gleichberechtigung über die Mitglieder des Beratenden Ausschusses für Chancengleich-
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heit, die Sozialpartner und die Regierungsexperten hinaus erweitert und die Verflechtung zwischen den verschiedenen Ausschüssen intensiviert. Die Arbeitsbereiche der Expertennetzwerke geben Auskunft über die Schwerpunkte und den damaligen Stand der Gleichberechtigungsnormen. Die wichtigsten Netzwerke sind diejenigen zur Anwendung der Richtlinien der Chancengleichheit (1982), zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt (1983), zur Gleichstellung der Frauen (1986), zur Gleichberechtigung in Rundfunk und Fernsehen (1986), zur Kinderbetreuung (1986) sowie die Arbeitsgruppe zur Gleichberechtigung in Schule und Studium (1986) (vgl. Mazey 1998: 142). Einem Netzwerk gehören jeweils Experten/innen aus jedem Mitgliedsland an. Die Netzwerke übermitteln ihre Ergebnisse an das bei der Kommission eingerichtete Referat für Chancengleichheit (vgl. Frauen Europas Nr. 48, 1986: 6). Mit den Netzwerken erfolgt die infrastrukturelle Verankerung der Gleichberechtigung durch Beratungsexpertise in der Form der Themengenerierung und setzung, Monitoring, Spezialisierung der Expertise und Rückkoppelung an die Ausschüsse bei der Kommission. 1990 wird diese geschlechterpolitische Strukturebene schließlich durch die erste Lobbyorganisation für Frauenrechte auf europäischer Ebene ausgeweitet.28 Wie die Rekrutierung von Frauenpolitikerinnen durch die Wahlen zum EP wird auch die Gründung einer europaweiten Frauenorganisation, der „European Women’s Lobby“ (EWL) 1990 durch den Kommissionsbereich initiiert (vgl. Frauen Europas Nr. 60, 1989: 4). Wiederum ist der bei der Generaldirektion Information angesiedelte „Fraueninformationsdienst“ unter der Leitung von Fausta Deshormes die treibende Kraft, die seit 1982 regelmäßig europäische Frauenforen veranstaltet. Das erste Treffen 1982 soll bereits die Gründung einer europaweiten Frauenorganisation voranbringen. Der Zusammenschluss gestaltet sich jedoch schwieriger als geplant. Feministisch-autonome und partei- und verbandspolitisch verankerte Frauengruppen können keine gemeinsamen Strategien entwickeln und bleiben in der Frage der Kooperation mit den europäischen Institutionen uneins. Die Zusammenkunft führt zunächst nur zu einer Resolution „mit guten Absichten“ (Albertini-Roth 1998: 24). Die Gründungsinitiative wird durch das „Zweite Aktionsprogramm für Chancengleichheit“ von 1986 finanziell abgesichert und 1987 fortgesetzt. An diesem Kolloquium nehmen 80 europäische und nationale Frauenverbände teil (vgl. Frauen Europas Nr. 60, 1989: 4).
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Untersuchungen zu EU-bezogener Verbandsarbeit zeigen, dass in den letzten 40 Jahren eine deutliche Zunahme des EU-Lobbying stattgefunden hat. Gab es 1960 gerade 500 Lobbygruppen auf EUEbene, so waren es 1995 bereits knapp 2000. Ein rapider Anstieg ist in den letzten zehn Jahren erfolgt (vgl. Mazey/Richardson 1993; Teuber 2001).
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Das Kolloquium fordert den Aufbau einer „allen Frauenorganisationen offenen, einflussreichen Struktur, die Druck auf die EG-Institutionen ausüben und somit die Interessen der Frauen besser verteidigen und vertreten kann“ (Frauen Europas Nr. 60, 1989: 4). Die Gründung der „European Women’s Lobby“ erfolgt im September 1990 in London unter der Beteiligung von 70 Frauenorganisationen aus den damals 12 Mitgliedsländern (vgl. Meves 1992: 137f.; Hoskyns 1991). Eine Generalversammlung, die sich aus Repräsentantinnen von Frauenorganisationen der Mitgliedstaaten zusammensetzt, wird als Programm bestimmendes Organ der Lobby eingesetzt. Ihr gehören außerdem Vertreterinnen aus den europäischen Frauenorganisationen an (nach der Spanierin Ana Vale und der Irin Ann Taylor folgte Gertrud Wartenberg vom „Deutschen Frauenring“ im Vorsitz der EWL nach). Zur Generalsekretärin wurde 1990 Barbara Helfferich bestimmt (vgl. Albertini-Roth 1998: 24f.). Im Beratenden Ausschuss hat die EWL mit zwei Sitzen einen Beobachterstatus inne (vgl. Albertini-Roth 1998: 55ff.).29 Obgleich sie als LobbyOrganisation und NRO-Netzwerk fungiert, wird sie ebenfalls den von der Kommission eingesetzten Strukturebenen zugeordnet. 80 Prozent des Etats der EWL werden von der Kommission bereitgestellt (die übrigen 20 Prozent stammen aus Mitgliedsbeiträgen und anderen Quellen, vgl. Berger/Beyer-Grasse 2002: 152). Die Zusammenarbeit der EWL mit dem Rat der Europäischen Union besteht darin, Stellungnahmen zu einzelnen Dossiers an die zuständigen Fachministerien abzugeben. Die wichtigsten Partner der EWL sind gleichwohl die EU-Kommission, deren Generaldirektionen, das „Referat für Chancengleichheit“ als Teil der Generaldirektion V und der „Beratende Ausschuss für Chancengleichheit“. Die Frauenlobby wirkt zudem an allen Kommissionsausschüssen mit, in denen das Thema der Gleichberechtigung behandelt wird (vgl. Helfferich/Kolb 2001). Die EWL erhält einen Beobachterstatus bei der UNO und beim Europarat (Ausschuss für Menschenrechte) sowie zwei konsultative Stimmen im Beratenden Ausschuss für Chancengleichheit bei der Kommission (vgl. Albertini-Roth 1998: 24f.). Hierdurch erfolgen die Vernetzung mit internationalen Organisationen sowie die Integration in die geschlechterpolitische Infrastruktur der Kommission. Der Mitte der 1970er Jahre begonnene Aufbau einer Strukturebene für die politische Umsetzung der Gleichberechtigung findet seinen Abschluss mit der Initiierung einer Lobbyorganisation im Jahre 1990. Seit der ersten Richtlinie zur Gleichberechtigung, also innerhalb von 15 Jahren, hat ein rascher Ausbau der
29 Die Gründungsaktivitäten für die EWL setzten 1987 in London mit 85 Frauenorganisationen aus verschiedenen europäischen Ländern ein (vgl. Hoskyns 1996: Kap. 9; Icken 2002).
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neuen Verwaltungseinheiten bei der Kommission stattgefunden; im neu erstarkten Parlament besteht nun ein Ausschuss für Gleichberechtigungspolitik.
4.4 Zusammenfassung In diesem Kapitel stand die Etablierung administrativer und politischer Strukturen der Gleichberechtigung im Mittelpunkt. Die Kommission bündelt die Expertise im Bereich der Gleichberechtigung, sie stößt die Verzahnung mit den nationalen Verwaltungen und auch Vernetzungen mit dem Parlament an. Ergänzend zur rechtlichen Verankerung werden jetzt Verwaltungseinheiten zur Umsetzung von Gleichheit eingerichtet und parlamentarische Akteure rekrutiert, die diese als politische Zielvorstellung mobilisieren. So ist in den frühen 1980er Jahren die Gleichstellungspolitik „unmistakably on the European Agenda“ (Vleuten 2007: 113). Dieser zügige Ausbau verläuft, wie wir gezeigt haben, durchaus unstetig und ungleichzeitig. An der schweren Geburt der Frauen-Lobby wird deutlich, dass die Initiativen der Kommission nicht sofort mit Erfolg gekrönt sind. Gerade weil die neue autonome Frauenbewegung sich nicht umstandslos den partei- und verbandspolitisch orientieren Frauenpolitikerinnen anschließt, ziehen sich die Gründungsgespräche über Jahre in die Länge. Interessanterweise erfolgt zehn Jahre früher eine andere Neugründung sehr viel rascher, als Parteipolitikerinnen den Parlamentsausschuss für Frauenrechte initiieren, der auf der europäischen Bühne schnell als Impulsgeber für die Gleichstellungspolitik auftritt. Differenzierungstheoretisch lassen sich diese Prozesse als sachthematische Differenzierung von Rollen, Programmen und Themen im politischen Funktionssystem beschreiben. Vormals diffuse Thematisierungen erlangen im Zuge der Aufwertung des Parlaments eine politische Dimension. Die Konsolidierung der ersten Phase der Gleichberechtigung, dies lässt sich zusammenfassend sagen, erfolgt in den frühen 1980er Jahren mit dem Wachstum des supranationalen Systems, also mit seiner Binnendifferenzierung. Die Umsetzung der Gleichberechtigungsnormen wird nun durch den Aufbau administrativer Kompetenz in der Kommission und politisch im Parlament verankert. Geschlechtergleichheit ist damit nicht mehr (nur) eine rechtliche Vorgabe, sondern wird zum Bestandteil der Verwaltungsstruktur und zum Thema politischer Programme. Die Aufwertung des Parlaments ermöglicht die politische Beschaffung von Gleichstellungsthemen und -programmen sowie die Rekrutierung von Frauenpolitikerinnen. Die Expertennetzwerke flankieren und verknüpfen diese Ausweitung.
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Diese Ausweitung ist außerdem im Zusammenhang mit der Umsetzung von Gleichberechtigungsvorgaben selbst zu sehen. Die soziologische Sicht dieses Buches ist, dass Vorgaben nicht (nur) einmal erzeugt werden, sondern immer wieder hergestellt, bestätigt und reproduziert werden müssen, sollen sie sich als stabil erweisen, und sie sind hochgradig wissensbasiert. Auch die Richtlinienumsetzung ist demnach sozial voraussetzungsreich. Konkret: Die administrative Weichenstellung für die ‚Weitergabe‘ an die Nationalstaaten wird durch die Kommission aktiv betrieben. Zumal bei neuen Sachthemen, wie im Fall der Gleichberechtigung, ist die Zusammenarbeit mit den Fachministerien und nationalen Verwaltungen allererst aufzubauen und im Kommissionsbereich zu koordinieren. Es sei in Erinnerung gerufen, dass in den 1970er Jahren das professionelle Wissen rund um Geschlechterdiskriminierung und Gleichberechtigung noch sehr gering ist (vgl. Sullerot 1970, 1972), und zwar nicht nur in der EU, sondern auch in der ILO und der OECD. Der Aufbau einer Expertise innerhalb der Kommission erfolgt somit zur gleichen Zeit wie in den maßgeblichen internationalen Organisationen. Aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Richtlinienumsetzung kann die Kommission, wie im dritten Kapitel am Beispiel von Sullerot erläutert, ein noch in den Anfängen steckendes sozialwissenschaftliches Wissen beschaffen. Die in diesem Kapitel dargelegte Etablierung sachthematischer Kompetenz trägt demnach allererst zur sozialen Konstruktion der Gleichberechtigung als einem (sozial-)wissenschaftlichen und politischen Thema bei. Schließlich weisen die Ergebnisse auf einige Mechanismen institutionellen Wandels hin. Die Errichtung der verschiedenen administrativen und politischen Komponenten sollten nicht nur als eine additive Aneinanderreihung vorgestellt werden. Einmal ist hierbei die Sequenzierung wichtig, also nicht nur die Frage, „of what happens but also of when it happens“ (Pierson 2000a: 251). Erst die Direktwahl zum EP bietet der Kommission den Ansatzpunkt für die Rekrutierung von Politikerinnen. Darüber hinaus wurde am Frauenrechtsausschuss des EP deutlich, dass das Vorhandensein dieses neuen institutionellen Merkmals zur Verfestigung bereits bestehender Merkmale innerhalb des Systems beiträgt. Diese Dynamik lässt sich durch den Mechanismus der Komplementarität erklären, d.h. von einer Erweiterung institutioneller Komponenten gehen Komplementäreffekte für die Verstärkung der Gleichheit aus (Pierson 2000a; Thelen 1999: 392ff.). Konkret macht der Frauenrechtsausschuss Vorschläge zur Frauenförderung, die von der Kommission aufgegriffen und durch die Beratungsnetzwerke ausge-
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arbeitet werden. Das Thema der Gleichberechtigung wird auf diese Weise ständig übersetzt und weiterentwickelt, verfeinert und inhaltlich ausgestaltet.30 Die Gleichberechtigung, so lässt sich nach diesem Kapitel feststellen, wächst mit der Binnendifferenzierung des Systems und erfährt in den 1980er Jahren ihre erste institutionelle Konsolidierung. Im folgenden Kapitel wird gezeigt, wie sie in den Strudel des Binnenmarktes gezogen wird und dadurch eine weitere Metamorphose auf dem Weg nach Amsterdam erfährt.
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Zum Anteil von Frauen in den Ausschüssen und Gremien des EP vgl. Klein (2006: 37ff.).
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Fünftes Kapitel Theresa Wobbe und Ingrid Biermann
Gleichberechtigung im Sog des Binnenmarktes: Soziale Mindeststandards in der europäischen Wettbewerbsregion Wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, dass in dreißig oder vierzig Jahren Europa eine Art politische fliegende Untertasse ist, ein nicht identifizierbares politisches Objekt sein wird, aber doch ein Ganzes, das jedem unserer Länder den Effekt der Dimension bietet, die es im Inneren gestattet zu prosperieren und nach außen seinen Rang zu behaupten. Jacques Delors Die Vorstellung, dass die sozialpolitische Entwicklung der EG an nationalen Arbeitsmarktregimen zu messen ist, war immer schon weit hergeholt. 1 George Ross
Einleitung In diesem Kapitel wird der Beginn der zweiten Phase der europäischen Gleichberechtigungsnormen von der Mitte der 1980er bis zu den frühen 1990er Jahren behandelt. In Zusammenhang damit stehen zwei Meilensteine der europäischen Rechtsentwicklung. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA, 1986) stellt die erste Reform der Gründungsverträge dar und verankert den Binnenmarkt. Mit dem Vertrag von Maastricht (EUV, 1992) wird über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus der große Schritt zu einer politischen Union gemacht, die auf einer gemeinsamen Außenpolitik und gemeinsamen Werten beruht. Welche Bedeutung haben die Vertiefung im Binnenmarkt und die Erweiterung zur Union für die Gleichberechtigungsnormen der 1970er Jahre? In der Forschung wird dieser Zeitraum oft als eine Phase geschlechterpolitischer Stag1 Jacques Delors zur Eröffnung der Regierungskonferenz vom 9.10.1985 zur Vorbereitung der EEA (vgl. Bulletin 2/1982: 8); Ross 1998: 353.
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nation charakterisiert, da zunächst verschiedene wichtige Richtlinienvorschläge vom Rat verhindert und später in modifizierter Form realisiert werden (vgl. Ostner/Lewis 1998; Fuhrmann 2005: 162ff.; anders Vleuten 2007). Nach langem Tauziehen gelangen ab 1992 im Bereich des Mutterschutzes, der Beweislastumkehr bei Diskriminierung, des Elternurlaubs und der Teilzeitarbeit Richtlinien zur Verabschiedung. Bemerkenswerterweise wird die Gleichberechtigung weder in die EEA noch (direkt) in den Maastricht-Vertrag aufgenommen. In einem neuen Zusammenspiel primär- und sekundärrechtlicher Ebenen vollziehen sich indes Umbrüche, die die Gleichbehandlungsrichtlinien der 1970er Jahre ausweiten und verändern. Wir betrachten diesen Zeitraum als den Übergang zu einer neuen Phase des supranationalen Geschlechterkonzepts, welche jetzt nach dem Prinzip der Mindeststandards im Binnenmarkt verankert wird. In diesem Kapitel wird die Rahmung der Geschlechternormen durch die von der Kommission initiierte gemeinschaftliche Sozialpolitik und durch die Ausrichtung auf eine global wettbewerbsfähige Politik der Vollbeschäftigung herausgearbeitet. Die ökonomische Liberalisierung soll sozial mit der Gewährleistung von gleichen Zugangschancen und Grundstandards gekoppelt werden. Ziel ist es, die Strukturschwäche des europäischen Beschäftigungssystems, die u.a. in der geringen Erwerbsquote von Frauen, Jugendlichen und Älteren besteht, nach denselben Mindestvorschriften durch erhöhten und erleichterten Zugang im gesamten Binnenmarkt zu verändern. Diese Verknüpfung des wirtschaftlichen Wachstums mit sozialen Regelungen bezeichnet die Kommission programmatisch als europäisches Sozialmodell (vgl. Weißbuch 1993), mit dem sie ein neues Leitbild einführt (vgl. Platzer 2003, 2005). Auf diese Weise wird auch der Binnenmarkt für die Selbstbeschreibung der EU mit einem distinktiven Merkmal versehen, so dass diese im weltweiten Kontext (wieder-)erkannt und unterschieden werden kann (vgl. Wobbe 2009). Die globale Verortung ist zwar nicht neu. Seit den späten 1960er Jahren drängt die Kommission angesichts der Konkurrenz von Ländern mit „größerer Innovationsfähigkeit“ (Gesamtbericht 1967: 20) auf die Beschleunigung von Strukturmaßnahmen, auch Sullerot rückt die EWG mit ihrer geringen Frauenbeschäftigungsquote in dieses globale Referenzfeld (vgl. Kap. 3.2). Doch in der Welt der 1980er Jahre verändern sich die Vergleichsmaßstäbe. Mit der durchgreifenden Marktöffnung und dem Abbau wirtschaftlicher Restriktionen (vgl. Berend 2007: 192ff.), mit den zunehmenden globalen und regionalen Handelsbeziehungen (vgl. Moravcsik 1998: 318ff.) wandeln sich die Wettbewerbsbedingungen. Der Kreis derjenigen, mit denen die EU sich messen muss, ist größer geworden.
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Aus der globalen Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarktes und seiner sozialen Regulierung wird auch die engere Koppelung der Gleichbehandlung mit dem Strukturproblem des europäischen Arbeitsmarktes verständlich. Neben den Jugendlichen, Älteren, Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern bilden Frauen eine (Human-)Ressource und eine gesellschaftliche Gruppe, deren Inklusion als Beitrag zum Strukturwandel betrachtet wird. Dieses Kapitel ist in vier Teile gegliedert. Zunächst stellen wir die Kernidee der EEA (1986) mit ihren neuen Entscheidungsverfahren dar und zeigen dann, wie die Gleichberechtigungsnormen nur indirekt, nämlich über die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ in das Binnenmarktprojekt eingeflochten werden (Kap. 5.1). In den Vertrag von Maastricht (1992) finden Geschlechternormen ebenfalls keinen direkten Eingang, vielmehr werden sie auf verschlungenen Wegen, nämlich durch das sog. Sozialprotokoll ins Vertragswerk importiert (Kap. 5.2). Auf Grundlage dieser neuen rechtlichen Vorgaben und Entscheidungsverfahren, so wird anschließend gezeigt, werden die seit den 1980er Jahren vom Rat blockierten Richtlinien auf den Weg gebracht (Kap. 5.3). Abschließend bündeln wir die Ergebnisse und diskutieren Inhalt und Reichweite der neuen Vorgaben im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen aus den 1970er Jahren (Kap. 5.4). Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Überlegung, dass in der neuen Phase des market building, also mit der Errichtung des Binnenmarktes, die Gleichberechtigung verstärkt in den Zusammenhang der Strukturschwächen des Beschäftigungssystems gerückt wird.
5.1 Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt Durch die am 17. Februar 1986 von den Mitgliedstaaten beschlossene EEA erfolgt die erste primärrechtliche Änderung der Gründungsverträge. Der 1968 seit dem Eintritt in die Endphase noch nicht vollendete Gemeinsame Markt wird von der neuen Kommission unter dem Präsidenten Jacques Delors2 als Binnenmarktprojekt mit Elan in Angriff genommen. Bereits eine Woche nach seinem Amtsantritt kündigt Delors in seiner Rede vor dem EP den Abbau der Grenzen und die Ausrichtung der Binnenmarktpolitik an. Innerhalb von drei Monaten wird das Weißbuch (1985) zum Binnenmarkt verfasst (vgl. Ross 1995: 30ff.).
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Jacques Delors war von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission und stand drei Kommissionen vor. Sein Name ist mit dem Binnenmarktprojekt und der Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion verknüpft, die im EU-Vertrag verankert wird und die Grundlage für die Einführung einer gemeinsamen Währung bildet.
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Auf die Wende verweist bereits der semantische Wechsel vom Gemeinsamen zum Binnenmarkt. Hiermit wird die Innen-Außen-Unterscheidung in den Vordergrund gerückt und die Verortung des Binnenmarktes im Außenverhältnis betont. So ist das neue Vertragswerk interessanterweise nicht mit dem Namen einer europäischen Stadt benannt, sondern schlicht und einfach nach seinem Zweck, nämlich Einheitlichkeit und Kohärenz. Die englische Bezeichnung als Single Market bringt diese Vereinheitlichung zu einem einzigen Markt und zur Bündelung der Politiken treffend zum Ausdruck. Der in der EEA verankerte Begriff des Binnenmarktes definiert diesen als „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […] gewährleistet ist“ (Art. 13 EEA).3 Alle die „vier Freiheiten“ beeinträchtigenden Hindernisse sollen bis zum 31. Dezember 1992 abgebaut werden.4 Bestehende Beschränkungen der Mobilität werden aufgehoben, um die gemeinschaftliche Wirtschafts-, Währungs- und Außenpolitik zu verankern. Die Stichworte des Binnenmarktprojekts lauten daher Harmonisierung und Standardisierung, Beschleunigung und Effizienzsteigerung der Entscheidungsverfahren – sie sollen einen umfassenden Transformationsprozess in Gang setzen (vgl. Münch 2001: 207ff.). Konkret schlägt sich dies einmal in den Entscheidungs- und Verfahrensreformen nieder. Zur Verwirklichung des Binnenmarktes wird die Einstimmigkeitsregel des Rates geöffnet hin zum sog. qualifizierten Mehrheitsvotum, insbesondere bei der Angleichung aller Rechts- und Verwaltungsvorschriften, „die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes“ (Art. 18 EEA) betreffen. Auf diese Weise wird die Veto-Option aufgebrochen und die Kommission erhält neue Vollmachten bei der Durchführung der Beschlüsse des Rates. Außerdem werden die Befugnisse des EP ausgedehnt und durch das neue legislative Verfahren der sog. Mit-Entscheidung gestärkt. Schließlich wird auf die seit 20 Jahren erfolglos verhandelte vollständige Harmonisierung von Rechtsvorschriften, technischen Standards und Normen verzichtet und stattdessen die wechselseitige Anerkennung zwischen den Mitgliedsländern eingeführt. Zweitens manifestiert sich die Beschleunigung in dem Willen, den Binnenmarkt zügig in einem konkreten Zeitrahmen aufzubauen. Wie bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes sieht die EEA eine schrittweise Verwirklichung vor, und zwar bis zum 31. Dezember 1992. Hierin liegt der Kern des sog. 1992Programms von Delors. Zusätzlich legt die EEA erstmals konkrete Fristen in den 3
Die EEA wird zitiert nach: Bulletin 2/1986. Sie tritt am 1.7.1987 in Kraft. Mit der Festlegung des Zeitziels 1992, das rechtlich nicht bindend ist, sollte ein politisches Signal für die Bürger und die Unternehmen in der EG sowie für die Fachministerien gesetzt werden (vgl. Hrbek/Läufer 1986: 176). 4
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Verfahren zwischen Kommission, Rat und Parlament fest. Gemeinsam mit dem Eintritt in den Binnenmarkt sollen die seit den 1970er Jahren konzipierten Gemeinschaftspolitiken auf dem Gebiet der Außen-, Sozial- und Regionalpolitik, der Forschungs-, Technologie- und Umweltpolitik umgesetzt werden. Der Arbeitsmarkt ist von diesen Neuerungen unterschiedlich betroffen. Die gemeinschaftsweite Angleichung von Rechtsnormen und Standards wird einmal konkret auf Schutzniveaus beim Gesundheitsschutz, bei technischen Sicherheitsnormen, beim Verbraucher- und Umweltschutz sowie im Bereich der Arbeitsumwelt bezogen (Art. 18, 3 EEA; vgl. Hrbek/Läufer 1986: 176). In Form von Mindestvorschriften können diese sozialen Grundstandards mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (Art. 21, 1,2 EEA). Hier wird bereits erkennbar, dass die EEA Vorgaben einführt, die den exklusiven nationalen Anspruch auf die Gestaltung der Sozialpolitik lockern. Andererseits gilt das qualifizierte Mehrheitsvotum für die Rechtsangleichung bei Steuern (Art. 17, 18 EEA) ebenso wenig wie für die Freizügigkeit sowie Arbeitnehmerrechte und -interessen (Art. 18 EEA).5 Da diese Bereiche der Sozialpolitik die Einstimmigkeit erfordern, liegt die Hürde für weitere Gleichbehandlungsrichtlinien hoch – und faktisch werden sie im Rat auch blockiert. Die in den 1980er Jahren von der Kommission und dem EP unterbreiteten Vorschläge für Richtlinien in den Bereichen Teilzeitarbeit (1982), Elternurlaub (1983) und Umkehr der Beweislast in Diskriminierungsfällen (1988) werden vom Rat nicht befürwortet.6 Der Weiterentwicklung der Gleichberechtigungsnormen sind daher zunächst Grenzen gesetzt. Der Widerstand der Mitgliedstaaten gegen die sozialpolitischen Vorstöße der Kommission und des EP mindert auch den Einfluss der Arbeit der „Generaldirektion Beschäftigung und Soziales“ auf die Gestaltung der EEA. Das „Referat für Chancengleichheit“ arbeitet in jener Zeit innerhalb der Kommission relativ isoliert. Geschlechterthemen werden von anderen Abteilungen heruntergespielt (vgl. Hoskyns 1992: 23). Aus den nationalen Frauenorganisationen und Frauenbewegungen kommen zu dieser Zeit ebenfalls kaum Impulse, die auf die Integration von Gleichbehandlungsnormen in den ersten Änderungsvertrag abzielen und die nationalen Regierungen unter politischen Druck setzen.7 5 Mit den Einschränkungen bei der Freizügigkeit bleiben Vorstöße im Bereich einer europäischen Berufs- und Beschäftigungsfreiheit und im Bereich der Absicherung der Rechte von wandernden Arbeitnehmern blockiert. 6 Vgl. für den Vorschlag zur Teilzeitarbeit: ABl. C 62 vom 12.3.1982, S. 7; zu Elternurlaub: ABl. C 333 vom 9.12.1983, S. 6; für den Vorschlag zur Beweislastumkehr: ABl. 1988, C 176 vom 5.7.1988, S. 5. 7 Die Zeitschrift Frauen Europas zitiert 1986 lediglich die Forderung der Union der Europäischen Föderalisten, die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in den Vertragsentwurf zur EEA aufzunehmen. Diese Forderung wird von der griechischen Liga für die Rechte der Frauen in einen
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Auf den ersten Blick erfolgen die Anstrengungen zu einer weiteren Harmonisierung im Binnenmarkt daher ohne eine Ausweitung des Gleichbehandlungsanspruchs. Dabei bleibt es aber nicht. Wie in den 1960er Jahren gehen die Impulse auch jetzt von der Kommission aus, besonders von Delors. Doch jetzt kann die Kommission auf der Grundlage der EEA mit ihren Initiativen bei verschiedenen bereits bestehenden Instrumenten ansetzen (vgl. Hoskyns 1992: 22ff). Delors Idee der Koppelung von ökonomischer Liberalisierung und sozialer Regulierung soll trotz des Widerstandes der Mitgliedstaaten durch verschiedene kleine Schritte erreicht werden. Hierzu zählt einmal der bereits vor der EEA initiierte soziale Dialog mit den Sozialpartnern und darüber hinaus durch die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“, deren Entwurf im Oktober 1989 vorliegt.8 Die Vertreter der Mitgliedsländer lehnen diesen zunächst ab, besonders vehement ist die Kritik von britischer Seite. Delors mobilisiert allerdings gewerkschaftliche Akteure (vgl. Hoskyns 1992: 24). Er will damit zugleich die von seiner Kommission 1985 ins Leben gerufene Politik des sozialen Dialogs voranbringen, durch die die europäischen Dachverbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften stärker in den supranationalen Regulierungsmodus einbezogen werden sollen.9 Die Charta erhält die Zustimmung des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), des EP und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Am 9. Dezember 1989 wird sie auch vom Rat angenommen – mit Ausnahme Großbritanniens. Sie ist rechtlich zwar nicht bindend10, hat aber eine enorme politischsymbolische Funktion (vgl. Ross 1995: 39ff.). Sie soll deutlich machen, dass die meisten Länder ein Signal gegen soziale Ausgrenzung und „social dumping“ setzen und die „soziale Dimension der Gemeinschaft vollauf […] berücksichtigen“ (Präambel) wollen.11 Es handelt sich um eine Absichtserklärung, die den Weg für weitere Konkretisierungen frei machen soll.
mehrseitigen Artikel in einer griechischen Zeitung unterstützt. Frauenpolitikerinnen aus Spanien, Portugal und Irland schließen sich der Forderung an (vgl. Frauen Europas Nr. 44, 1986: 5). 8 Der Entwurf ist abgedruckt in: KOM (89) 471 endg. vom 2.10.1989. 9 1991 wird ein Sozialabkommen geschlossen, das seinen Ausgangspunkt in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer hat. Es räumt den europäischen Dachverbänden der Arbeitgeber und Gewerkschaften im Rahmen des Sozialen Dialogs die Möglichkeit ein, eigenständig Rahmenabkommen auszuhandeln und ist ein Schritt zu einem „quasi-korporatistischen“ Verhandlungssystem (vgl. Falkner 2000). 10 In Zusammenhang mit den Verhandlungen in Folge des gescheiterten Verfassungsvertrags ist 2007 die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ mit Ausnahme von Großbritannien und Polen angenommen worden (vgl. ABl. C 303 vom 14.12.2007, S. 1). Sie unterscheidet sich erheblich von der Gemeinschaftscharta (vgl. Fredmann 2006). 11 Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer wurde am 9. Dezember 1989 vom Rat angenommen. Text zit. nach: Schulte 2001 (Dokumentenanhang).
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Von der Charta profitieren in der Folgezeit auch die Gleichberechtigungsnormen, die über diesen Weg stärker in den Kontext einer europäischen Politik sozialer Grundrechte gerückt werden. Zugleich setzt die Charta ebenfalls ein erstes Signal für die Ausweitung der Gleichbehandlung über das Geschlecht hinaus auf andere gesellschaftliche Gruppen: „Zur Wahrung der Gleichbehandlung ist gegen Diskriminierungen jeglicher Art, insbesondere aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Meinung oder Glauben, vorzugehen.“12 Hiermit wird der Weg zu einem Diskriminierungsverbot geöffnet, das später mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) primärrechtlich abgesichert wird.13 Für die Weiterentwicklung der Gleichberechtigungsnormen in Form von Mindeststandards und Grundrechten ist die Verflechtung von EEA und Charta bedeutsam: Während die EEA die Voraussetzungen für die Beschleunigung der Harmonisierungs- und Standardisierungsmaßnahmen verankert, werden in der Charta Grundrechte festgelegt, so dass „den sozialen Fragen im Zuge der Schaffung des Binnenmarktes die gleiche Bedeutung wie den wirtschaftlichen Fragen zuzumessen ist“ (Präambel). Die Sicht der Kommission, dass eine kohärente Wirtschafts- und Vollbeschäftigungspolitik durch soziale Standards abzustützen ist, findet hiermit also Eingang in die Charta. Die Absicherung erfolgt auf verschiedenen Wegen, ihre Implementierung enthält allein 47 verschiedene Instrumente. Hierfür sind die Geschlechtervorgaben ein instruktives Beispiel.14 Unter Punkt 7 der sozialpolitischen Grundsätze der Charta heißt es: „Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen ist zu gewährleisten. Die Chancengleichheit für Männer und Frauen ist weiter auszubauen. Zu diesem Zweck sind überall dort, wo dies erforderlich ist, die Maßnahmen zu verstärken, mit denen die Verwirklichung der Gleichheit von Männern und Frauen, vor allem im Hinblick auf den Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsentgelt, sozialen Schutz, allgemeine und berufliche Bildung sowie beruflichen Aufstieg, sichergestellt wird. Auch sind die Maßnahmen auszubauen, die es Männern und Frauen ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser miteinander in Einklang zu bringen.“15
Anknüpfend an die Richtlinien der 1970er Jahre werden Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit für Frauen gefordert. Durch den Anspruch auf 12 Sie weist an dieser Stelle auch auf das Recht einer vergleichbaren Behandlung von Arbeitnehmern aus Drittländern hin. Vgl. Begründungserwägung der Charta, abgedruckt in: Schulte 2001 (Dokumentenanhang). 13 Warum die Charta das Diskriminierungsverbot in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ausweitet und wie sich dieser Prozess fortsetzt, wird im nächsten Kapitel im Kontext von europäischen Menschenrechtsgarantien und Arbeitnehmerfreizügigkeit erläutert (vgl. Kap. 6.1). 14 Ein anderes Beispiel sind die Gesundheits- und Umweltnormen. 15 Vgl. Siebenter Abschnitt, Nr. 16 der Charta, abgedruckt in: Schulte 2001 (Dokumentenanhang).
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die optimale Vereinbarung von familiären und beruflichen Aufgaben tangiert der Geltungsbereich der Gleichbehandlung über den Markt hinaus auch die familiäre Arbeitsteilung und wird für die Vereinbarkeit von häuslicher und außerhäuslicher Arbeit somit auf beide Geschlechter ausgeweitet; hier klingen die Ziele der geplanten und vom Rat blockierten Richtlinie zum Elternurlaub an. Im normativen Geflecht der Gemeinschaft wird durch die Gemeinschaftscharta die Ausweitung des Gleichberechtigungsanspruchs legitimiert. Man sollte sich nicht zu sehr davon beeindrucken lassen, dass es sich ‚nur‘ um ein wenig rechtsverbindliches Dokument handelt. Für das Initiativrecht der Kommission bietet der Art. 28 der Charta ausdrücklich den Anknüpfungspunkt für die Implementierung durch das sog. soft law etwa in Aktionsprogrammen.16 Das „Dritte Aktionsprogramm für Chancengleichheit“ (1991-1995) leitet ein neues Verständnis der Chancengleichheit ein. Diese soll nicht länger als eine spezielle politische Maßnahme mit begrenztem Anwendungsbereich betrachtet werden, sondern zum festen Bestandteil der Wirtschafts-, Sozial- und Strukturpolitik der Gemeinschaft werden: „Für eine wirksame Politik der Chancengleichheit für Frauen und Männer bedarf es eines umfassenden und integrierten Konzepts.“ (ABl. C 142 vom 31.5.1991, S. 2; vgl. Rees 1998: 62f.)17 Geschlechtervorgaben werden deutlich enger an das Binnenmarktprojekt gekoppelt. Die Frauen „müssen unter gleichen Bedingungen aus der Vollendung des Binnenmarktes Nutzen ziehen können und die Möglichkeit haben, ihren vollen Beitrag zu dieser Vollendung zu leisten“ (Präambel; ABl. C 142 vom 31.5.1991, S. 1). Auf der Grundlage der Gleichbehandlungsrichtlinien sieht das Maßnahmenbündel dieses Aktionsprogramms Initiativen zur Einschränkung der mittelbaren Diskriminierung, zur Stärkung der Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt (u.a. durch die Ausweitung von Kinderbetreuungsmaßnahmen) und zur Ausweitung der Beteiligung von Frauen in Entscheidungsprozessen vor. Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen und die Veränderung der Geschlechterstereotypen sollen vor allem mit Hilfe der Erweiterung des Diskriminierungsbegriffs um die Dimension der mittelbaren Diskriminierung erreicht werden. Zugleich werden die Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Vereinbar16 Art. 28 lautet: „Der europäische Rat fordert die Kommission auf, so rasch wie möglich die unter ihre Zuständigkeit im Sinne der Verträge fallenden Vorschläge für Rechtsakte vorzulegen, mit denen die zum Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft gehörenden Rechte im Zuge der Verwirklichung des Binnenmarktes effektiv umgesetzt werden.“ 17 Das Aktionsprogramm sieht die Fortführung bestehender und die Einrichtung neuer Expertinnennetzwerke vor. Weitergeführt werden sollen das Netzwerk „Frauen und Arbeitsmarkt“, das Netzwerk zur „Kinderbetreuung“, das Netzwerk „Frauen in örtlichen Beschäftigungsinitiativen“, das vor allem die Effekte des arbeitsmarktpolitischen Programms „New Opportunities for Women“ (NOW) untersuchen soll. Das Aktionsprogramm verpflichtet die Kommission zur Einrichtung des Netzwerks „Women and decision making“ (vgl. Hoskyns 1992: 26).
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keit von Familie und Beruf zum Ausbau von Kindergärten etc. aufgefordert. Das Programm greift über direkte Maßnahmen zur Garantie der Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen nicht nur bei der Kinderbetreuung hinaus, sondern auch durch Initiativen zur Partizipation von Frauen an allen Entscheidungsprozessen (women in decision making). Am Dritten Aktionsprogramm lässt sich also nachvollziehen, dass und wie Vorgaben aus der Gemeinschaftscharta ins soft law einfließen und unterhalb der primär- und sekundärrechtlichen Vorgaben Gleichberechtigungsansprüche ausdehnen und konkretisieren. 1992 wird die Charta zum politischen Stützpfeiler des Sozialprotokolls im EUV. Hierüber werden die Gleichberechtigungsnormen in den Unionsvertrag eingeflochten. Diese neue Verknüpfung von Gleichberechtigung und Binnenmarkt wird im folgenden Abschnitt behandelt.
5.2 Das Sozialprotokoll des Maastricht-Vertrags und die Idee des sozialen Europa Der 1992 in Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union (EUV) erweitert die in Rom gegründete Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union mit einer Wirtschafts- und Währungsunion und mit einem sozialpolitischen Abkommen. Konkret beruht die Union auf der Säule der „Europäischen Gemeinschaft“ (EG), in der die EGKS, EWG, EAG zusammengefasst sind. Ergänzend hierzu und als wesentliche Neuerung wird die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zweite Säule eingeführt. Vor dem Hintergrund der europäischen Umbrüche, des Golfkrieges von 1990/91 und der zugespitzten Lage in Ex-Jugoslawien soll diese die außenpolitische Handlungsfähigkeit stärken und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur schaffen. Eine dritte Säule wird mit der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (ZJI) errichtet. Die Asyl- und Einwanderungspolitik, die Bekämpfung internationaler Kriminalität und die polizeiliche Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit werden jetzt zu Angelegenheiten gemeinsamen Entscheidens. Verknüpft werden die supranationale (1. Säule) und die zwischenstaatlichen (2. und 3. Säule) Bereiche durch die im EUV verankerte Kohärenzvorgabe. Der Maastricht-Vertrag markiert somit einen tiefen Einschnitt: Unter dem Mantel der politischen Union erhält die Wirtschaftsgemeinschaft, die die EU im Kern weiterhin ist, eine politische Identität in der Welt. Sie sichert ihre Außengrenzen und ihren Binnenraum, sie beruht auf gemeinsamen Werten und Grundlagen. Der EUV dokumentiert, wie Konflikte um die Ausweitung supranationaler sozialpolitischer Kompetenzen zu dieser Zeit als Kompromiss gelöst werden. 135
Auf die Gleichbehandlung der Geschlechter wird innerhalb des Vertrages kein Bezug genommen. Diese wird aber zum Gegenstand von zwei dem Vertrag angefügten Dokumenten, nämlich im Protokoll zu Art. 119 EWGV und im Protokoll über die Sozialpolitik (Nr. 14 des Vertrages). Protokolle werden Verträgen hinzugefügt, wenn Vorgaben als Bestandteil des Vertrags selbst nicht durchsetzbar sind, weil der Dissens unter den Beteiligten zu hoch ist. Sie verweisen also auf umstrittene Themen. Die beiden folgenden Protokolle sind ein anschauliches Beispiel für die bereits thematisierte Verschachtelung verschiedener Ebenen und Verfahren, aber auch für die Brisanz der Gleichberechtigungsnormen. Einmal betrifft dies die Sozialpolitik, für die Großbritannien nicht gewonnen werden kann, im anderen Fall geht es um den Preis der Lohngleichheit für die Mitgliedstaaten (vgl. Vleuten 2005, 2007). Das Protokoll zu Art. 119 geht auf eine spektakuläre Rechtsprechung des EuGH vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache Barber zurück.18 Als der EuGH entscheidet, dass aus dem Lohngleichheitsgrundsatz ein gleiches Rentenalter für Frauen und Männer bei den Betriebsrenten abzuleiten ist, wird in den Mitgliedsländern befürchtet, dass dies auch rückwirkend gelten könnte. Für diesen Fall wird in Großbritannien mit Kosten von ca. 40 Milliarden Pfund gerechnet und in Deutschland mit 35 Milliarden Mark. Diese Aussichten sind der Anstoß für die „wahrscheinlich teuerste und intensivste Lobbying-Kampagne […], die man in Brüssel je sah“ (nach Leibfried/Pierson 1998: 62). Schließlich wird dem Maastricht-Vertrag das „Protokoll zu Art. 119 EWGV“, das sog. Barber-Protokoll angefügt, das die rückwirkende Anwendung der Rechtsentscheidung ausschließt (vgl. Ostner/Lewis 1998: 211; Vleuten 2007: 142ff.). Aus diesem Grund gelten erst vom 17. Mai 1990 an, dem Datum der Barber-Entscheidung, Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit als Entgelt im Sinne des Art. 119.19 Neben dieser Rechtsentscheidung ist für die Weiterentwicklung der Gleichberechtigungsnormen zudem das Protokoll über die Sozialpolitik bedeutsam, das dem Unions-Vertrag angefügt ist. Dieses Protokoll soll den Kern der Gemeinschaftscharta von 1989 in das Vertragswerk integrieren.20 Anknüpfend an Art. 2 des EWGV wird über die Förderung der Beschäftigung und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hinaus auch der soziale Schutz, der soziale Dialog sowie „die Bekämpfung von Ausgrenzungen“ verankert (Protokoll, Art. 1). 18
Vgl. EuGH Barber. Vgl. ABl. C 191 vom 29.7.1992, S. 68; Geiger 1995. Anhang 2: 833. 20 Das Sozialprotokoll bezieht den Gleichbehandlungsanspruch nur auf das Geschlecht. Andere Faktoren der Ungleichbehandlung wie Hautfarbe, Rasse, Meinung oder Glauben nimmt der Maastricht Vertrag nicht auf. 19
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Die „Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz“ werden in Art. 2 angeführt. Hierfür sollen Richtlinien mit Mindestvorschriften erlassen werden, die nicht der Einstimmigkeitsregel bedürfen, so dass es nun auch möglich wird, die Blockaden zur Geschlechtergleichheit zu lösen. Art. 4 ermöglicht vertragliche Beziehungen zwischen Kommission und Sozialpartnern im Rahmen des Dialogs. Schließlich sieht Art. 6 die Sicherstellung der Anwendung des Lohngleichheitsgrundsatzes vor, präzisiert den Entgeltbegriff und führt in Abs. 3 erstmals die sog. positive Maßnahmen zur Erleichterung der Berufstätigkeit von Frauen ein.21 Dieses in letzter Minute als Vertragsergänzung vereinbarte Protokoll wird ohne Großbritannien von elf Ländern unterzeichnet und erhält mit der Verabschiedung des Vertrags einen primärrechtlichen Rang. Die supranationale Sozialpolitik ist somit vertraglich basiert. Vor dem Hintergrund der Umbrüche in den osteuropäischen Ländern und verstärkter regionaler Disparitäten im Binnenmarkt kann dieses Abkommen als ein partieller Erfolg zur Begrenzung des „social dumping“ und zur Vermeidung sozialer Exklusion gelten (vgl. Ross 1998). Auch angesichts der widerständigen Haltung Großbritanniens stellt es einen Erfolg dar. Bereits die Sozialcharta von 1989 betrachtete die britische Premierministerin Margaret Thatcher als ein sozialistisches Dokument (vgl. Vleuten 2007: 140). Ihr Nachfolger, John Major, unterstreicht 1993 ohne Umschweife die Standortvorteile, die sich Großbritannien ohne Festlegungen im Sozialbereich verspricht: „Europe can have a social chapter. We shall have employment […]. France can complain as much as it likes. If investors and companies choose to come to Britain rather than pay the costs of socialism in France, let them [the French] call it social 22 dumping. I call it dumping socialism.“
Der Effekt des britischen opt-out ist freilich, dass das unter äußerstem Zeitdruck unterschriebene Protokoll kein verwässertes Dokument darstellt, sondern weitgehend dem ursprünglichen Kommissions-Entwurf entspricht, denn es enthält „a stronger policy than expected“ (Moravcsik 1998: 453). Dieses Protokoll bietet der Kommission die erforderlichen Anknüpfungspunkte, um die lange Zeit in die Schubladen verbannten Gleichbehandlungsrichtlinien nun Zug um Zug umzusetzen.23
21
Vgl. ABl. C 191 vom 29.7.1992, S. 90-93. Vgl. Europe, March 1993, No 5931: 13/14, zit. n. Kliemann 1997: 61. 23 Zunächst gilt es für 11 und dann für 14 Mitgliedsländer. Mit ihrem Beitritt am 1.1.1995 wird das Sozialprotokoll auch für Finnland, Österreich und Schweden verbindlich. Durch den Amsterdamer 22
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Bevor wir die neuen Richtlinien näher betrachten, ist es hilfreich, die in den frühen 1990er Jahren auf Kommissionsebene forcierte Idee der europäischen Sozialpolitik zu erläutern, die die wichtige Rahmung der Richtlinienpolitik darstellt. Die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht nimmt in den Mitgliedsländern mehr Zeit in Anspruch als erwartet. Dass er nicht überall sofort Zustimmung findet, steht auch damit in Verbindung, dass Frauen ihre Interessen unzureichend berücksichtigt sehen. Die Skandinavierinnen, die Anfang der 1990er Jahre bereits einen vergleichsweise hohen Standard der Gleichberechtigung erzielt haben, stehen dem Wirtschaftsprojekt ablehnend gegenüber. Das Referendum zur Annahme des Vertrages in Dänemark scheitert 1992 an den Frauen. Skeptisch ist auch die Haltung der Frauen in Norwegen und Schweden. Der Grund dafür ist die Befürchtung einer europäischen Harmonisierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und infolgedessen eines Abbaus national verankerter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, eine Relativierung des „Skandinavischen Modells“.24 Setzt diese skeptische Haltung der skandinavischen Staaten die EU-Kommission eigentlich unter starken politischen Druck, wie dies in der politikwissenschaftlichen Literatur nahegelegt wird (vgl. für viele Liebert 1998)? Vieles deutet darauf hin, dass an der Fortentwicklung der sozialen Dimension des Binnenmarktes, also der supranationalen Sozialpolitik, weitergearbeitet wird. Nationale Bedenken, also nationale wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen, scheinen dagegen von der Kommission nicht aufgegriffen zu werden.25 Dies dokumentieren das „Grünbuch über die europäische Sozialpolitik“ von 1993 (vgl. KOM (93) 551) und das Weißbuch „Europäische Sozialpolitik – ein zukunftsweisender Weg für die Union“ von 1994 (vgl. KOM (94) 333). Hier
Vertrag wurde das Sozialprotokoll in den EG-Vertrag integriert und gilt seither für alle Mitgliedstaaten einschließlich Großbritanniens, wo 1997 Tony Blair zum Regierungschef wird. 24 Meinungsumfragen zeigen, dass das Misstrauen unter den dänischen Frauen verbreiteter ist als unter den Männern. Am positivsten eingestellt gegenüber der Europäischen Union sind die männlichen Angestellten Dänemarks, die am negativsten eingestellte Gruppe sind im öffentlichen Dienst beschäftigte Frauen. Ähnliche Meinungsunterschiede zwischen den Geschlechtern belegen auch Umfragen in Norwegen und Schweden. Während Frauen in Dänemark, Norwegen und Schweden zu jener Zeit ein Drittel der nationalstaatlichen Parlamentsabgeordneten stellen, liegt der Anteil im Europäischen Parlament bei 19%. In der Kommission sind zu jener Zeit nur zwei von 18 Kommissaren Frauen. In einem zweiten Referendum 1993 wird der Vertrag von Maastricht von den Dänen mit knapper Mehrheit angenommen (vgl. Dahlerup 1993: 27ff.). In Norwegen verhindern Frauen den Beitritt zur Europäischen Union (vgl. Liebert 1998; Meseke 2002: 14). 25 Wir beziehen uns hier auf den Arbeitsmarkt, nicht auf Delors’ Initiativen, das Binnenmarktprojekt durch „state-building“ (vgl. Ross 1995: 39ff.) zu erweitern und die Union durch die Unionsbürgerschaft zu ergänzen (vgl. Wiener 1998: 211ff.).
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nimmt die von der Kommission entwickelte Idee einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik Konturen an. Das 1993 herausgegebene Grünbuch stellt Diagnosen zur Zukunftsfähigkeit der Mitgliedstaaten vor. Der Geburtenrückgang, die Überalterung der Gesellschaft und die Zuwanderung werden als künftige Kernprobleme hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund treten für die Kommission drei sozialpolitische Herausforderungen in den Mittelpunkt, nämlich die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit Europas auf dem Weltmarkt, die Beschäftigungsförderung und der Umbau der Wohlfahrtsstaaten und ihrer Versicherungssysteme (vgl. KOM (93) 551: 2). Der Ausbau der Rechte und Chancen der Frauen wird im Grünbuch deshalb auch nicht nur und nicht primär mit deren Erwerbsbestrebungen oder mit der Erosion der traditionellen Geschlechterrollen begründet, sondern sie werden in den Zusammenhang der Strukturprobleme des Beschäftigungssystems gestellt. Durch die Steigerung der (Frauen-)Erwerbsarbeit sollen auch die unter Druck geratenden Sozialsysteme entlastet werden (vgl. ebd.: 30). Das von der Kommission 1994 herausgegebene Weißbuch stellt dann eine Verbindung zwischen der europäischen Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und der Frauenbeschäftigung her. Es weist darauf hin, dass sich die Frauenerwerbsquote in Europa den internationalen Trends immer noch nicht angepasst hat: „Die im Vergleich zu den USA, Japan und Nicht-EU-Ländern (72%) geringere Erwerbsquote von Frauen (66%) stellt […] eine Barriere für die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit dar.“ (Weißbuch KOM (94) 333: 44)
Die geringe Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt ist demnach, wie bereits bei Sullerot (1970, 1972) erläutert, mit den strukturellen Problemen des europäischen Beschäftigungssystems verknüpft. Ein Kern der supranationalen Sozialpolitik sollte daher der Kommission zufolge darin liegen, die bestehenden nationalen Hindernisse abzubauen. Die Arbeitsmarktintegration der Frauen soll durch Diskriminierungsverbote, Teilzeitregeln und Beschäftigungsanreize (wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder gleiche Aufstiegschancen) forciert werden, um Beschäftigungsschwächen zu bekämpfen. Die Gleichbehandlung der Geschlechter wird damit ausdrücklich zu einem Bestandteil des Binnenmarktes und gilt als Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit Europas (vgl. Weißbuch KOM (94) 333: 44ff.). In den frühen 1990er Jahren nimmt die supranationale Geschlechterpolitik also Konturen an. Wie von Sullerot 1970 empfohlen, wird die Gleichbehandlung zunehmend als Instrument zur Modernisierung des europäischen Beschäftigungssystems betrachtet. Die nach Maastricht von der Kommission lancierten
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Initiativen zielen im Interesse des Binnenmarktes auf die Harmonisierung nationaler Sozialpolitiken ab, sie geben den gemeinschaftlichen Gesichtspunkten den Vorrang, keineswegs den nationalen. Die Zukunftsprobleme des Binnenmarktes – im Inneren der demografische Wandel, nach außen die Weltmarktkonkurrenz – sollen durch eine gemeinschaftliche Wirtschafts- und Strukturpolitik gemeistert werden, die über soziale Mindeststandards abgestützt ist. In den neuen Richtlinien schlägt sich dies in der Gewährleistung von Zugangschancen und Gleichbehandlung nieder.
5.3 Die neuen Richtlinien im Binnenmarkt: Mindeststandards und Rahmenvorgaben Seit der Verabschiedung der EEA unterliegen Schutzrechte wie etwa die Schutzniveaus beim Gesundheitsschutz nicht mehr der Einstimmigkeitsregel. Das Sozialprotokoll des Maastricht-Vertrags gestattet zudem, durch Richtlinien Mindestvorschriften zu erlassen. Diese beiden Bestimmungen bieten die entscheidenden Anknüpfungspunkte zur Wiederaufnahme der ins Stocken geratenen Richtlinienpolitik zur Gleichberechtigung. Der Rat verabschiedet eine Richtlinie im Bereich des Mutterschutzes, die 1990 als Kommissionsvorschlag vorgelegen hat.26 Auch die anderen Richtlinien – in den Bereichen Teilzeitarbeit (1982), Elternurlaub (1983) und Umkehr der Beweislast in Diskriminierungsfällen (1988) – haben einen langen Vorlauf.27 Im Folgenden legen wir das Augenmerk auf das Verständnis von Gleichheit in diesen Richtlinien und diskutieren, inwieweit diese die Grundlagen der 1970er Jahre ergänzen und inwiefern sie darüber hinaus führen. Richtlinienpolitik im Bereich des Mutterschutzes Die Richtlinie über „die Durchführung von Maßnahmen zum Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen“, kurz gefasst die „Richtlinie zum Mutterschutz“ (RL 92/82/EWG), legt EU-weit Mindestanforderungen für nationale Vorschriften fest, darunter eine einheitliche Regelung zum Mutterschaftsurlaub. Ein Blick auf den Hintergrund dieser Norm erleichtert die Einordnung dieser Richtlinie.
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Vgl. für den Vorschlag zur Verbesserung des Mutterschutzes: ABl. C 281 vom 9.11.1990, S. 3. Vgl. für den Vorschlag zur Teilzeitarbeit: ABl. C 62 vom 12.3.1982, S. 7; zu Elternurlaub: ABl. C 333 vom 9.12.1983, S. 6; für den Vorschlag zur Beweislastumkehr: ABl. C 176 vom 5.7.1988, S. 5.
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Die ILO-Konvention Nr. 3 von 1919 über den Schutz berufstätiger Mütter sieht sechs Wochen und eine Stillzeit während der Arbeit vor. Diese als Nr. 103 im Jahre 1952 revidierte Konvention dehnt die Anwendung auf alle Arbeitsbereiche einschließlich Land- und Hauswirtschaft aus. Der Mutterschaftsurlaub wird jetzt auf zwölf Wochen erweitert und die Unterbrechungen und Stillzeiten gelten nicht mehr als Arbeitsunterbrechung, sondern sind als Arbeitszeit zu bezahlen. Die ILO-Empfehlung Nr. 95 betrachtet diese Vorschriften als Mindestnorm, insbesondere hinsichtlich der Dauer des Mutterschaftsurlaubs, und ergänzt den Leistungskatalog. Wie Sullerot zeigt, hat an der Wende zu den 1970er Jahren kein EWG-Mitglied die Konvention Nr. 103 ratifiziert (vgl. Sullerot 1970: 80ff.). Vor diesem Hintergrund ist die Rahmenvorgabe zu sehen, in der die Kommission 1990 Mindestanforderungen an die zwölf Mitgliedsländer formuliert. Alle Länder sollen den Mutterschaftsurlaub bei voller Lohnfortzahlung für 14 Wochen garantieren, der auf den Zeitraum vor und nach der Entbindung aufgeteilt werden kann (Art. 8).28 In den frühen 1990er Jahren gilt diese Länge nur in Deutschland, Griechenland und Luxemburg. Fünf Länder gewähren während des Mutterschaftsurlaubs den vollen Lohn, und zwar Deutschland, Griechenland, Luxemburg sowie die Niederlande und Portugal. In den Niederlanden beträgt der Mutterschaftsurlaub aber nur 12 Wochen und in Portugal 13 Wochen. In den anderen Ländern liegt er darunter; Belgien gewährt ihn für vier Wochen bei 100%igem Lohn (vgl. Frauen Europas Nr. 67, 1990/1991: 3). An dieser Regelung wird die sozialpolitische Heterogenität im Binnenmarkt erkennbar und zudem die Reichweite der Mindestvorschriften ersichtlich. Mit dieser Richtlinie wird erstmals eine europaweite Regelung durchgesetzt, auch in Großbritannien, das der Richtlinie zwar nicht zustimmt (vgl. dazu Ostner/Lewis 1998: 232), sich daran aber binden muss. Denn sie fällt in den Bereich des durch die EEA eingeführten Art. 100a, der für alle Angleichungen, die die Errichtung des Binnenmarktes und sein Funktionieren betreffen, eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zulässt. Den Anspruch zu einer besseren Verbindung von Erwerbsarbeit und Hausarbeit bzw. von Familien- und Berufsleben, wie ihn das 1991 gestartete „Dritte Aktionsprogramm für Chancengleichheit“ fordert, enthält die Richtlinie nicht. Sie behandelt Schwangerschaft und Mutterschaft nicht im Rahmen der Gleichstellung der Geschlechter (vgl. Ostner/Lewis 1998: 202f.). Maßgeblich beeinflusst wird der Kompromiss von der Politik des Kommissionspräsidenten Delors. Sein sozialpolitischer Ansatz orientiert sich am Maßstab des Binnenmarktes,
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Abgedruckt in: Abl. L 348 vom 28.11.1992.
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konkret „am ,kleinsten gemeinsamen Nenner‘ und gemeinsam erzielten Übereinkünften“ (Ostner/Lewis 1998: 201). Aus den Augen zu verlieren ist allerdings nicht, dass diese Richtlinie den in den 1970er Jahren formulierten Gleichbehandlungsgrundsatz erheblich ausdehnt. Sie konkretisiert die Vorschriften zum Schutz der Frauen bei Schwangerschaft und Mutterschaft in Art 2 (3) und sie weitet diese aus, indem sie die Benachteiligung schwangerer Arbeitnehmerinnen insbesondere in Art. 10 und 11 ausdrücklich verbietet (vgl. Nishihara 2002: 89f.). Aus der unterschiedlichen nationalen Anwendung der Richtlinie sollte keinesfalls auf eine mangelnde Effektivität des Gemeinschaftsrechts geschlossen werden. Die Norm gilt für alle Mitgliedstaaten und legt diese auf Mindeststandards fest (vgl. Walby 1999b). Für mehrere Länder wird das Ziel erreicht, die Schutzniveaus anzuheben und die Absenkung von bereits bestehenden Standards 29 zu verhindern. Richtlinie zum Elternurlaub Die „Richtlinie zum Elternurlaub (RL 96/34/EG)“ hatte 1983 bereits als Kommissionsvorschlag30 vorgelegen. Damit sollte der im „Ersten Aktionsprogramm für Chancengleichheit“ (1982-1985) geforderte „Elternurlaub“ bzw. „der Urlaub aus familiären Gründen“ sichergestellt werden. Zusätzlich zur Chancengleichheit, wie sie das Aktionsprogramm fordert, sollte der Vorschlag das „harmonische Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ fördern, das er durch die unterschiedlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten beeinträchtigt sah. Europaweit ist hiermit der Gleichbehandlungsgrundsatz von Frauen und Männern beim Zugang zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und beim beruflichen Aufstieg vorgesehen (vgl. Präambel). Ein weiterer Vorschlag wird 1994 aufgrund des hartnäckigen britischen und teilweise auch deutschen Widerstandes gegen Eingriffe in die nationale Sozialpolitik ebenfalls abgelehnt (vgl. Dienel 1999: 122). Die Kommission beharrt dennoch darauf, eine Elternurlaubsrichtlinie durchzusetzen und wendet das seit der EEA entwickelte Instrument des sozialen Dialogs an, nämlich die sog. Sozialpartnervereinbarung (vgl. Falkner 2004; Platzer 2003). Die Kommission bietet den Europäischen Sozialpartnern31 an, sich unabhängig von ihr zu einigen. Im Dezember 1995 legen diese der Kommission 29
Vgl. ABl. L 348 vom 28.11.1992, S. 1. Vgl. für den Vorschlag: ABl. C 333 vom 9.12.1983, S. 6-8. Es handelt sich um die drei großen europäischen Organisationen der Sozialpartner: Union des Industries de la Communauté européenne (UNICE), European Centre of Enterprises with Public Participation and of Enterprises of General Economic Interest (CEEP) und den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB).
30 31
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eine Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub vor, die unter Bezug auf das Sozialprotokoll des EUV durchgeführt werden soll (vgl. Dienel 1999: 122). Die 1996 verabschiedete Richtlinien zum Elternurlaub bestimmt, dass erwerbstätigen Männern und Frauen ein Recht auf Urlaub im Fall der Geburt eines Kindes zusteht, der mindestens drei Monate umfassen muss. Hat sich der Richtlinienvorschlag aus den 1980er Jahren maßgeblich auf den Anspruch eines harmonischen Funktionierens des Gemeinsamen Marktes gestützt, so argumentiert die angenommene Fassung jetzt zusätzlich mit der „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ (vgl. Präambel). Teil sozialer Rechte sind demnach Maßnahmen, die es Frauen und Männern ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser vereinbaren zu können. Diese Fassung bezieht sich zudem auf „die Familienpolitik“, die „im Rahmen der demografischen Entwicklung, der Überalterung […] und der Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben gesehen werden (muss)“ (vgl. ABl. L 145 vom 19.06.1996). Diese Richtlinie ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert. Die EU tangiert damit erstens die Familienpolitik, d.h. einen klassisch als nicht harmonisierbar geltenden Bereich der Sozialpolitik. Sie zeigt zweitens, dass die Herbeiführung sozialpolitischer Rechtsnormen durch die Einbeziehung der europäischen Sozialpartner ein praktikables Verfahren ist (vgl. Dienel 1999: 117f.). Die Elternurlaubsrichtlinie entzieht schließlich drittens dem traditionellen Verständnis, wonach der Erziehungsurlaub Teil des Mutterschutzes bzw. eine ,Frauensache‘ sei, den rechtlichen Boden32. Hiermit erhält die Vorstellung von Mutter- und Elternpflichten einen anderen Akzent. Die Auffassung, dass diese Richtlinie im Kern weiterhin am männlichen Ernährermodell orientiert ist (vgl. Lewis 2006), berücksichtigt die Brüche nicht hinreichend. Im supranationalen Recht vollzieht sich eine Umdeutung der familiären Arbeitsteilung, so dass die Themen der Familien- und Sozialpolitik in den Sog des Binnenmarktes geraten. Richtlinie zur Umkehr der Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (RL 97/80 EG) Einen weiteren Vorstoß in Richtung auf die supranationale Geschlechterpolitik stellt die Beweislastvorgabe dar. Da einem wirksamen Rechtsschutz bei der Geschlechterdiskriminierung oft nationale Regeln im Wege stehen, hat die Kom32 Es lag 1984 auch noch einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde. Vgl. EuGH v. 12.7.1984, Rs. 184/83, Hofmann/Barmer Ersatzkasse, Slg. 1984, 3047-3088, hier: 3047. Das Landessozialgericht Hamburg hatte Fragen zur Auslegung der RL 76/207 zur Vorabentscheidung beim EuGH vorgelegt, um die Vereinbarkeit des deutschen Mutterschutzgesetzes mit europäischem Recht zu prüfen.
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mission 1988 eine Richtlinie vorgeschlagen, die die Beweislast im Fall einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts umkehrt. Wenn die betroffene Person die erfahrene Benachteiligung glaubhaft machen kann, hat die andere Seite die Beweislast zu tragen, dass keine Diskriminierung vorliegt.33 Der Vorschlag scheitert 1988 und 1993 zwar am Veto Großbritanniens (vgl. Meehan 1993: 200), doch 1996 legt die Kommission nochmals einen Entwurf vor (vgl. Tinhofer 1997: 459). Rückenwind erhält sie nun durch Entscheidungen des EuGH, der den Grundsatz der Beweislastumkehr u.a. im Danfoss-Urteil vom 17.10.1989 anerkennt (vgl. Nishihara 2002: 88). Schließlich wird 1997 unter der Beteiligung Großbritanniens eine gemeinsame Grundlage erreicht (vgl. Tinhofer 1997: 459). Auch diese Richtlinie wird auf das Sozialabkommen des EUV und die „Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ gestützt. Sie sieht vor, dass jede Person, die sich wegen Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für benachteiligt hält, ihre Rechte gerichtlich geltend machen kann (Art. 1). Die Richtlinie schreibt in Art. 3 mit dem Begriff „Beweislast“ vor, dass bei glaubhaft gemachter unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierung dem Beklagten der Beweis obliegt, dass keine Diskriminierung stattgefunden hat. Hiermit wird also bei der Erfahrung der von Ausgrenzung und Benachteiligung Betroffenen angesetzt. Der Schutz vor Diskriminierung wird durch Erleichterung der Beweisführung ausgeweitet und der Gleichheitssatz wird explizit in den Rahmen sozialer Grundrechte gestellt. Die Umkehrung der Beweislast bricht die unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen auf und schafft ein verbindliches Verfahren im Binnenmarkt. Diese Richtlinie präzisiert auch den Anspruch der Gewährleistung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung. Wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften und Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen, liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, es sei denn, die Ungleichbehandlung ist durch sog. sachliche Gründe gerechtfertigt (vgl. ABl. L 14 vom 20.1.1998, S. 6). Damit ist also gemeint, dass Vorschriften nicht ausdrücklich an ein Merkmal anknüpfen, faktisch aber Personen diskriminieren können, die davon betroffen sind. Dies gilt bspw. für Regelungen zur Teilzeitarbeit, wo Frauen überrepräsentiert sind. Hierfür ist die folgende Richtlinie relevant. Richtlinie über die Teilzeitarbeit (RL 97/81 EG) Auch mit dieser Richtlinie wird 1997 ein längerfristiger Prozess abgeschlossen, der ebenfalls bis in die frühen 1980er Jahre reicht (vgl. ABl. C 62 vom 33
Vgl. für den Vorschlag: ABl. C 176 vom 5.7.1988, S. 5.
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12.3.1982, S. 7). Die Kommission wendet hier wieder das bei der Elternurlaubsrichtlinie erprobte Verfahren der Rahmenvereinbarung mit den europäischen Sozialpartnern an. Faktisch hätte sich die Nichtdiskriminierung von Teilzeitkräften auch über die bereits geltenden Normen zur mittelbaren Diskriminierung herstellen lassen. Mit der Richtlinie erhält das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten aber einen eigenen Namen und einen eigenen Regelungsbereich. Auf diese Weise wird die Vorgabe auch stärker in die Aufmerksamkeit des Arbeitsrechts und der Tarifverhandlungen gerückt (vgl. Dieball 1999: 93f.). Hierin kommt die gezielte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt durch Gleichberechtigungsvorgaben am deutlichsten zum Ausdruck. Binnenmarkt und Gleichberechtigung werden in einem Atemzug genannt, so heißt es, dass „Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung und Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern sowie Maßnahmen zur Steigerung der Beschäftigungsintensität und des Wachstums, insbesondere durch flexiblere Organisation der Arbeit, die sowohl den Wünschen des Arbeitnehmers als auch den Erfordernissen des Wettbewerbs gerecht wird, erforderlich [sind]“.34
Diese Richtlinie ist einmal unter dem bereits erläuterten Gesichtspunkt der indirekten, versteckten Diskriminierung aufschlussreich und zum anderen in Bezug auf die flexible Organisation des Beschäftigungssystems, d.h. Teilzeitarbeit wird nicht mehr als ein unvollständiger Status bzw. als eine Abweichung vom (männlichen) Vollzeitmodell betrachtet, vielmehr bildet sie einen wichtigen Baustein zur Beschäftigungssteigerung. Interessant ist zudem der Zeitpunkt dieser Richtlinie. Sie wird erst auf den Weg gebracht, nachdem die Voraussetzungen durch die EEA, die Grundrechtscharta und den Unionsvertrag geschaffen sind. So knüpfen alle vier Richtlinien der 1990er Jahre an die Grundrechtsformulierungen der Gemeinschaftscharta und des Sozialprotokolls an und werden durch die neuen Rahmenvereinbarungen auf den Weg gebracht (vgl. Falkner 2004: 22). Sie sind vom Geist des Binnenmarktprojekts geprägt und werden unter großem Zeitdruck verabschiedet. Konkret bedeutet dies, dass jetzt neue Themen wie die familiäre Arbeitsteilung in den Strudel des Binnenmarktes gezogen werden und dass verschiedene Aspekte der Gleichberechtigung zum Gegenstand strukturpolitischer Erwägun-
34 Allerdings beschränkt sich die Regelung auf die „Beschäftigungsbedingungen“ mit Ausnahme des Arbeitsentgelts und des Bereichs der sozialen Sicherheit. Der Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung gilt für alle Teilzeitkräfte, die in einem Arbeitsverhältnis stehen bzw. einen Arbeitsvertrag haben. Auf die europaweite Festlegung eines Schwellenwertes einer bestimmten Stundenzahl pro Monat/Woche wurde verzichtet (vgl. ABl. L 14 vom 20.1.1998, S. 9; Dieball 1999: 93f.).
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gen werden. Die neue inhaltliche Qualität der Richtlinien erschließt sich, wenn wir sie in den Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot stellen, wie es in der Gemeinschaftscharta formuliert ist. Zur Gewährleistung der Gleichbehandlung im Binnenmarkt richtet sich der Schutz vor Benachteiligung „gegen Diskriminierungen jeglicher Art, insbesondere aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Meinung oder Glauben“ (Präambel). In der Charta wird das Geschlecht als eine Ungleichheitsdimension neben anderen aufgeführt. Hier laufen verschiedene Fäden zusammen. Einmal betrifft dies das erste Diskriminierungsverbot der Gemeinschaft, nämlich die Freizügigkeit der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter (Art. 48, EWGV), die die binnenstaatliche Staatsangehörigkeit aufbricht. Dieses Prinzip stellt den entscheidenden Baustein der Gemeinschaftscharta dar, und es wird darin auch an erster Stelle genannt. Das Freizügigkeitsprinzip, das in der Montanunion zunächst die sog. Facharbeiter eines spezifischen Sektors betrifft, wird hier explizit in Hinblick auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen konkretisiert, d.h. Individuen dürfen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu konkreten Gruppen im Binnenmarkt nicht diskriminiert werden.35 Zugleich wird das bereits bestehende Geschlechterdiskriminierungsverbot in der Charta ausgeweitet. Die in der ersten Gleichbehandlungsrichtlinie noch auf „Entgeltbestandteile und -bedingungen“ (75/117/EWGV, Art. 1) beschränkte Vorgabe wird in Punkt 16 der Charta auf Berufszugang, Ausbildung und familiäre Arbeitsteilung ausgedehnt und in den Kontext des sozialen Schutzes gestellt.
5.4 Zusammenfassung Wir haben in diesem Kapitel gezeigt, dass die Gleichberechtigungsidee in die Dynamik des Binnenmarktes gerät, der auf die Modernisierung des Beschäftigungssystems ausgerichtet ist. Die Richtlinien sind durch neu eingeführte Verfahrensregeln in Folge der EEA und des EUV abgestützt. Die Elternurlaubs- und Teilzeitrichtlinie gehören zu den ersten von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmer35 Das Europäische Parlament führt in den 1980er Jahren erste Debatten über Menschenrechte und Diskriminierungsverbote. 1986 unterzeichnen das Parlament, die Kommission und der Rat gemeinsam die „Erklärung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt aufgrund „rassischer, religiöser, kultureller, sozialer und nationaler Unterschiede [werden] aufs Schärfste verurteilt“. Jede Form der Diskriminierung müsse in der Gemeinschaft unterbunden werden (ABl. C 176 vom 14.7.1986, S. 62; Bulletin 6/1986: 19f.). Seit Anfang der 1980er Jahre setzt sich das Parlament außerdem für das Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung im Binnenmarkt ein (vgl. Verhandlungen des EP Nr. 1-311/71 vom 13.3.1984).
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verbänden auf EU-Ebene verhandelten Richtlinieninhalten. Das Verständnis von Gleichberechtigung und Gleichheitsansprüchen erhält insofern neue Akzente, als die Idee des grundrechtlich gesicherten Verbots der Diskriminierung bereits Konturen annimmt. Diese Verschiebungen sind mit der Kernidee des Binnenmarktes verwoben. Für die Errichtung eines Raumes ohne Binnengrenzen werden die Einbeziehung möglichst vieler, bislang nur partiell berücksichtigter Gruppen und die Gewährleistung ihrer sozialen Grundrechte und Mindeststandards angestrebt. Diese Ergebnisse legen es nahe, die Stagnationsthese (vgl. Fuhrmann 2005: 162ff.; Ostner/Lewis 1998) zu relativieren. So weisen auch die Ergebnisse bei Vleuten (vgl. 2007: 147ff.; 148: Abb. 5.1) auf den Anstieg und die Ausweitung der Vorgaben in den neuen Richtlinien hin. Wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich wird, sind diese allerdings durch ein Puzzle verbindlicher und unverbindlicher Standards wie auch Ausnahmebestimmungen charakterisiert, die besonders bei der Mutterschutz- und Teilzeitrichtlinie stark im Vordergrund stehen. Die mit dem Binnenmarkt eingeführten Verfahren verringern also auch die Verbindlichkeit der Vorgaben, machen sie durchlässiger und führen zunehmend Ausnahmen ein. Tabelle 2: In einzelnen Sozialrichtlinien enthaltene Standards, 1975-2002 Richtlinie Gesundheitsschutz atypische Arbeit (1991) Arbeitsvertrag (1991) Mutterschutz (1992) Arbeitszeit (1993) Jugendarbeitsschutz (1994) Elternurlaub (1996) Teilzeitarbeit (1997)
verbindliche Standards 7
unverbindliche Standards 2
Ausnahmebestimmungen 1
6 14 12 13 7 1
1 2 3 9 11
4 2 14 11 5 4
Quelle: Falkner 2004: 38.
„Entgegen manchen Befürchtungen, dem Binnenmarktprogramm mit seinen Liberalisierungsschritten werde keine soziale Dimension gegenübergestellt“, gibt Falkner zu bedenken, „zeigt sich eine deutlich verstärkte Rechtsetzungstätigkeit
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der EG Sozialpolitik (so stammen 57 Prozent aller bis Ende 1999 beschlossenen EG-Sozialrichtlinien aus den 1990er Jahren)“ (Falkner 2004: 54).36 Rufen wir uns die institutionelle Entwicklung seit den 1950er Jahren in Erinnerung und betrachten die drei ersten Gleichbehandlungsrichtlinien, so lassen sich vor allem drei Aspekte hervorheben. Erstens stellen die Richtlinien der 1970er Jahre den Durchbruch zur Anwendung des gleichen Lohns dar, indem sie diesen erstmals als Gleichbehandlung konkretisieren und den zeitlichen Rahmen festlegen. Über den Lohn hinaus erfolgt also die Umgestaltung zur Gleichbehandlung in Ausbildung und Beruf. Demgegenüber konkretisieren die Richtlinien der 1990er Jahre für weitere Bereiche Mindeststandards und tangieren damit auch herkömmliche Vorstellungen geschlechtlicher Arbeitsteilung. Dies gilt auch für die Teilzeitarbeit, die nun aus dem Abseits einer weiblichen Zuarbeit zu einem regulären Bestandteil des Beschäftigungssystems wird. Der Binnenmarkt gibt hierbei den Impuls zu einem „umfassenden Transformationsprozess, der auch die Wohlfahrtsinstitutionen und die entsprechenden Wohlfahrtskulturen mit ihren Gerechtigkeitsvorstellungen in den Mitgliedstaaten nicht unberührt lässt“ (Münch 2001: 210). Zweitens stehen in den 1990er Jahren neue Verfahren zur Verfügung. Während in den 1970er Jahren die direkte Geltung noch rechtlich erstritten werden musste, kommen jetzt zusätzliche Verfahren als Legitimation hinzu. Auf dem verschlungenen Weg von der EEA zur Gemeinschaftscharta und zum Sozialprotokoll des EUV kommen Verfahren zur Anwendung, die erst in diesem Zeitraum installiert werden. Hieran lässt sich sehr schön zeigen, wie neue Arrangements um bestehende, nicht-veränderbare Elemente herum gebaut werden (Thelen 2003: 213). In Bezug auf die institutionelle Entwicklung deuten die Ergebnisse schließlich drittens auf den Übergang zu einer neuen Phase der Gleichberechtigungsnormen hin. Rechtsträger und Rechtsinhalte werden ausgeweitet auf bislang nicht betroffene Bereiche (familiäre Arbeitsteilung, Diskriminierung im Beruf, gesellschaftliche Partizipation), um den gleichen Zugang und die faire Behand36 Walby gewichtet diese Phase als den Übergang zu einer Geschlechterpolitik, die „social justice and economic efficiency“ (Walby 1999a: 125; 1999b) zusammenführt und als Entstehung eines neuen Pfades. Lewis (2006) betont den Strukturzusammenhang von Binnenmarkt und Neuausrichtung der Familien- und Sozialpolitik, den auch wir für grundlegend halten, aber anders interpretieren. Wo sie die Konstanz des männlichen Ernährermodells betont, unterstreichen wir eher die Dynamik. Erhebe man nationale Arbeitsmarktregulierungen, genauer: die deutschen, zum Vorbild, so lasse sich eigentlich nur Ungemach entdecken (vgl. hierzu Ross 1998: 354). Die bisherige Entwicklungsbilanz des Binnenmarktes bestätigt für die Sozialdimension weder den Alarm eines re-regulierten Kapitalismus noch die Erwartungen des radikalen Abbaus der Sozialstaatlichkeit (vgl. Falkner 2004; Platzer 2003: 235; Ross 1998: 353ff.) Wie die Gleichberechtigungsnormen zeigen, ist das Erreichte sozialpolitisch nicht zu unterschätzen.
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lung der Geschlechter im Binnenmarkt zu gewährleisten. Das ist auch der Kontext, in dem während der 1990er Jahre globale Erwartungen an Grund- und Menschenrechte in der EU erhöhte Legitimität gewinnen. Damit beschäftigen wir uns im nächsten Kapitel weiter.
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Sechstes Kapitel Theresa Wobbe und Ingrid Biermann
Die Neuausrichtung von Amsterdam: Neuformatierungen der Geschlechtergleichheit und die Ausweitung des Diskriminierungsverbots EU law has proved an ideal vehicle for upholding the principle of sex equality, in part at least because of the EU’s undoubted potential for growth. That growth has taken place, and continues to occur, in a number of different ways. Evelyn Ellis 1
Einleitung In diesem Kapitel behandeln wir die neue Qualität der Gleichberechtigungsnormen im Kontext des Amsterdamer Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV 1997). Dieser Vertrag ist die Fortführung des EUV, der ab 1996 eine Revision der bis dahin gesammelten Erfahrungen vorsieht (Art N, Abs. 2). Hiermit sind wir bei der letzten Station unserer Untersuchung angelangt, am Ende eines Prozesses, der sich vom gleichen Lohn bis zu den Prinzipien der Frauen- und Menschenrechte erstreckt. Auf dem Weg von Rom nach Amsterdam wandeln sich die Geschlechternormen – so wie sich auch das supranationale System in dieser Zeitspanne verändert hat. Als die Idee der Lohngleichheit in den 1950er Jahren mit der EWG entsteht, ist diese in die Umbrüche des internationalen Systems und die Polarisierung des Ost-West-Konflikts eingebunden. Am Ende des Jahrhunderts sind die stabilen Umweltverhältnisse dieser Nachkriegsordnung entfallen und die politische Landkarte auf dem europäischen Kontinent wird neu gestaltet. Als Währungsund Wirtschaftsunion erweitert sich die EU auf 25 Mitglieder und mit dieser größten Erweiterung ihrer Geschichte wächst die soziale und kulturelle Komplexität des Binnenmarktes. 1
Ellis 2005: 7.
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Diese Neukonfiguration manifestiert sich rechtlich im Vertragswerk von Amsterdam (1997). Vierzig Jahre nach den Gründungsverträgen erfolgt hiermit erstmals (wieder) eine primärrechtliche Absicherung der Gleichberechtigungsnormen (vgl. Ellis 2005: 119ff.; Graig/De Búrca 2008: 874ff.). Das veränderte Arrangement des Vertrags und seine neue Zählung weisen bereits darauf hin: Der Art. 119 EWGV wird als Art. 141 EGV geführt und wächst auf vier Absätze an. Wenn wir diesen Vertrag aufschlagen, ist die Gleichstellung bereits zu Beginn unter den ersten Artikeln als allgemeine Aufgabe der Gemeinschaft zu entdecken (Art. 2 EGV).2 Die EU etabliert sich hiermit in Europa als Trendsetter des Gender Mainstreaming, welches auf die Geschlechterpolitik als Querschnittsaufgabe zielt. Dieses in Zusammenhang mit der UN-Weltfrauendekade entstandene Konzept wird durch den EGV erstmals in die europäische Region transferiert. Der zweite Meilenstein besteht in der Reformulierung des Art. 119 als Art. 141 (EGV). Die Lohngleichheit wird erweitert auf die Förderung der Gleichstellung und die positiven Maßnahmen zum Abbau der Geschlechterungleichheit. Schließlich wird drittens das Geschlecht zusammen mit weiteren Kategorien, nämlich der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, der Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung unter Diskriminierungsschutz gestellt (Art. 13 EGV). Der Vertrag spezifiziert das Grundrecht auf Diskriminierungsschutz erstmals für verschiedene Benachteiligungsdimensionen und sieht dafür die Konkretisierung von Maßnahmen vor. Für unsere Frage nach der Metamorphose des Geschlechts markiert der Amsterdamer Vertrag einen interessanten Wendepunkt. Gleichberechtigungsnormen werden jetzt in den Rang von Gemeinschaftsaufgaben erhoben und die Geschlechterpolitik wird als umfassendes Politikfeld inthronisiert.3 Zum anderen wird die Gleichbehandlung als Menschenrecht im Binnenmarkt abgesichert, wobei das Geschlecht als ein Benachteiligungsgrund neben anderen steht. Wir fragen im Folgenden, inwiefern diese institutionelle Veränderung durch interne sowie globale Einflüsse bestimmt ist, und ob die Antidiskriminierungsrichtlinien auf eine neue Rahmung der Geschlechtergleichheit verweisen. 2 Gegenüber den Verträgen von 1957 und 1992 werden als Ziele ebenfalls aufgenommen die nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, der soziale Schutz, ein nicht inflationäres Wachstum, Umweltschutz und Lebensqualität (Art. 2 EGV). 3 Das Gender Mainstreaming wird als Ausweitung des Gleichheitsstandards über die Marktorientiertheit hinaus zu einem fundamentalen Recht betrachtet (vgl. Fuhrmann 2005: 169; vgl. Masselot 2007). Andere fassen es als weiter bestehende Orientierung am Markt (vgl. Lewis 2006; Ostner/Lewis 1998: 214) oder problematisieren die ungenügende Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Lebensstile (vgl. Vogel-Polsky 2000: 80f.). Für die unterschiedliche Gewichtung des Gender Mainstreaming (vgl. die Beiträge in Beveridge/Shaw 2002; Beveridge 2007). Das Gender Mainstreaming wird i.d.R. als Politikwechsel gewichtet (vgl. Mazey 2002).
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Das Kapitel ist in vier Teile gegliedert. Zunächst stellen wir eine prominente Rechtsentscheidung des EuGH zur Definition der Gleichbehandlung dar, die einen Stein ins Rollen bringt (Kap. 6.1). Anschließend beschäftigen wir uns mit den Vorschlägen zur Gleichberechtigung und zum Diskriminierungsverbot bei den Vertragsvorbereitungen (Kap. 6.2). Im dritten Schritt wird mit Bezug auf die UN-Weltfrauenkonferenzen nach dem Gewicht globaler Rechtsdiskurse für den Amsterdamer Vertrag gefragt (Kap. 6.3). Dann behandeln wir die Neufassung der Lohngleichheit im Vertragswerk und die danach erlassenen Antidiskriminierungsmaßnahmen (Kap. 6.4). Abschließend diskutieren wir die Ergebnisse und gewichten die Neujustierungen (Kap. 6.5). Im Zuge der Umsetzung der Antidiskriminierungsvorgaben ist ein Zusammenspiel verschiedener Benachteiligungsdimensionen zu beobachten, die nicht mehr fein säuberlich als „bright line distinctions“ (Fredman 2001: 159) voneinander abgeschirmt werden können. Vielmehr sind diese Dimensionen miteinander verschränkt und spielen ineinander hinein. Die Antidiskriminierungsnormen tragen zur Neukonfiguration der Geschlechtergleichheit bei, die im Kontext von individuellen Rechten, Gender Mainstreaming und positiven Maßnahmen verankert wird.
6.1 Der Stein des Anstoßes: Quotenregelung als Diskriminierung Wie beim Maastricht-Vertrag erhält auch im Vorfeld des Amsterdam-Vertrags eine EuGH-Entscheidung große Aufmerksamkeit, nämlich die Entscheidung zur Quotenregelung in der Rechtssache Kalanke (1995).4 Diese betrifft Kernfragen der Gleichberechtigung und löst europaweite Kontroversen aus, die für die Vorbereitungen des neuen Vertrags Gewicht haben. Auf den Prüfstand gestellt werden das Verständnis positiver Maßnahmen und der Begriff der Chancengleichheit im europäischen Recht. Konkreter Anlass ist die Klage eines Beschäftigten der Stadt Bremen, dem bei einer anstehenden Beförderung auf eine leitende Stelle eine Kollegin mit gleicher Qualifikation vorgezogen worden ist. Nach dem Bremer Gleichstellungsgesetz sind Frauen bei gleicher Eignung und Qualifikation für Einstellungen und Beförderungen solange vorzuziehen, bis eine paritätische Besetzung auf allen Ebenen erreicht ist. Die Frage lautet somit, ob Quoten zur Förderung von Frauen eine Diskriminierung gegenüber dem männlichen Kollegen darstellen oder ob es sich um eine positive
4 Vgl. EuGH Kalanke; in der Rechtssache EuGH Marschall fällt die Entscheidung des Gerichts zur Frauenförderung später anders aus.
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Maßnahme zur Förderung einer tatsächlichen Chancengleichheit der Geschlechter im Arbeitsleben handelt. Zu klären ist, ob das Bremer Gesetz gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt und Individuen gegenüber Gruppen benachteiligt (vgl. Ellis 2005: 297ff.). Der EuGH hat hiermit erstmals über sog. Quotenregelungen zu entscheiden und legt damit die Zugangsrichtlinie von 1976 aus, die die Förderung der Chancengleichheit beim Zugang zum sowie im Beruf regelt (Art. 2, 4). Muss, so die zentrale Frage des Verfahrens, das Recht jeder Person, aufgrund ihres Geschlechts nicht diskriminiert zu werden5, gegenüber den Rechten einer benachteiligten Gruppe (hier der Frauen) zurücktreten, um die Diskriminierungen auszugleichen, die diese Gruppe in der Vergangenheit erfahren hat? Das Urteil betrachtet positive Maßnahmen zugunsten von Frauen bzw. zugunsten einer als benachteiligt anerkannten Gruppe als diskriminierend, wenn dadurch eine Person des anderen Geschlechts benachteiligt wird. Der Schlussantrag gelangt im Hinblick auf positive Maßnahmen – die eine bevorzugte Behandlung von Frauen bejahen, die über gleiche Qualifikationen wie männliche Bewerber verfügen – zu folgendem Ergebnis: „Es ist völlig offensichtlich, dass es sich […] um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts handelt. Jede spezifische Maßnahme zugunsten einer minoritären oder jedenfalls schwachen Gruppe steht im Widerspruch zum Gleichheitssatz im formalen Sinn. Es muss also festgestellt werden, ob es trotzdem denkbar ist, dass unter genau umrissenen Umständen und zur Erreichung eines einer sozialpolitischen Entscheidung entsprechenden Ziels, […] Bestimmungen erlassen werden, die im Widerspruch zu diesem Grundsatz stehen und dennoch rechtlich zulässig sind.“ (Schlussantrag: I-3059, Rn. 11,12)
Zu Klärung befasst sich das Gericht mit dem in Art. 2 Abs. 4 in der Richtlinie von 1976 verwendeten Begriff der Chancengleichheit. Nach Auffassung des Gerichts bedeutet „Chancengleichheit“ im Sinn europäischen Rechts „Gleichheit der Ausgangssituation“ und nicht „Gleichheit des Ergebnisses“: „Daß die hier in Rede stehende nationale Regelung nun wirklich nicht die Sicherstellung der Gleichheit der Ausgangssituation bezweckt, halte ich für nur zu offensichtlich. […] Durch diese nationale Regelung wird eine Gleichheit hinsichtlich der Ergebnisse oder vielmehr eine gerechte Verteilung der Arbeitsplätze auf Männer und Frauen in rein numerischer Hinsicht angestrebt. Dies ist weder Sinn noch Zweck des Artikels 2 Absatz 4 der Richtlinie.“ (Schlussantrag: I-3060, Rn. 13)
5 Der Gerichtshof hatte es als Grundrecht in früheren Entscheidungen anerkannt (vgl. ABl. L 39 vom 14.2.1976, S. 40).
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Der Schlussantrag weist darauf hin, dass die nationale Norm im Widerspruch zum Grundsatz der Gleichbehandlung steht, wie ihn das europäische Recht durch die Berufszugangsrichtlinie von 1976 definiert. Hiermit wird bekräftigt, dass Gleichheit ein individuell zu garantierendes Recht darstellt. Die Entscheidung des Gerichtshofs vom 17.10.1995 folgt diesem Vorschlag des Schlussantrags. Diese Vorabentscheidung zieht massive Proteste nach sich, da Fördermaßnahmen jetzt als diskriminierend gelten. Rechtsexpertinnen, Abgeordneten des Europäischen Parlaments und nationale Frauenorganisationen drängen auf eine Klärung des Verständnisses von Gleichbehandlung und von Fördermaßnahmen im anstehenden Vertrag und verweisen hier auch auf die Beschlüsse der Pekinger Weltfrauenkonferenz (vgl. Albertini-Roth 1998; Vleuten 2007: 159ff.). Die Kommission betont, dass das Kalanke-Urteil „Anlaß zu erheblichen Kontroversen in ganz Europa“ gegeben hat (KOM (96) 93: 2) und tritt für eine Stärkung der Chancengleichheit im neuen Vertrag ein. Im März 1996 legt sie einen Vorschlag für eine Änderung der Berufszugangsrichtlinie vor und befürwortet positive Maßnahmen. Als rechtswidrig bezeichnet sie nur „ein völlig starres Quotensystem, das es nicht erlaubt, individuelle Unterschiede zu berücksichtigen. Mitgliedstaaten und Arbeitgeber können sich daher aller anderen Formen positiver Maßnahmen, einschließlich flexibler Quoten, bedienen.“ (KOM (96) 93: 3) Die Argumente sind an der Steigerung der Frauenbeschäftigung ausgerichtet. Die Kommission vertritt die Auffassung, „dass die Verwirklichung der Chancengleichheit für Frauen gemeinsam mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Aufgabe von höchster Bedeutung darstellt“ (ebd.: 2). Die Reaktionen auf die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Kalanke tragen also zur Erhöhung des politischen Drucks auf die Kommission und auf die Regierungskonferenz zur Vorbereitung des Amsterdamer Vertrags bei, den Art. 119 im neuen Vertrag auszuweiten und den Begriff der Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu präzisieren. Der Konflikt um diese Entscheidung hat Folgen für die Regierungskonferenz. Der Frauenrechtsausschuss des EP will sich nicht mit einer Reform der Richtlinie von 1976 zufrieden geben und fordert, „daß sich die Mitgliedstaaten bei den Diskussionen auf der Regierungskonferenz über Reformen der Verträge auch auf eine nennenswerte Ausweitung von Artikel 119 einigen. Dieser sollte die Gleichbehandlung und gleiche Rechte für Männer und Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft abdecken und die Rechtsgrundlage für positive Aktionen bilden.“6
6 Zit. nach: Bericht über die Verwirklichung der Chancengleichheit von Männern und Frauen im öffentlichen Dienst vom 19.9.1996, Ausschuss für die Rechte der Frau, Berichterstatterin: Jessica
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Auch die Kommission fordert anlässlich der Einberufung der Regierungskonferenz den Rat dazu auf, sich mit einer Ausweitung des Lohnprinzips zu befassen. Es sollen Vorgaben in den Vertrag aufgenommen werden, „die insbesondere mit Blick auf die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen über die Garantie des gleichen Entgelts hinaus jede Diskriminierung verbieten und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ausdrücklich verurteilen“ (Bulletin 1-2/1996: 166). Der Fall Kalanke hat somit einen Stein ins Rollen gebracht. Im Vorfeld von Amsterdam steht die Neuausrichtung der Gleichbehandlung auf der Tagesordnung. Für die zur Vorbereitung der Regierungskonferenz eingerichtete sog. Reflexionsgruppe gehören der Gleichbehandlungsanspruch und das Diskriminierungsverbot jetzt zu den europäischen Werten, die für das neue Vertragswerk relevant sind.
6.2 Chancengleichheit auf dem Weg zur Regierungskonferenz Der Vertrag von Maastricht (EUV, Art. N) sieht für 1996 eine Regierungskonferenz der EU-Staaten vor, die einen neuen Vertrag vorverhandeln soll. Die hierzu eingerichtete Reflexionsgruppe soll dem Europäischen Rat zum März 1996 ein Arbeitsprogramm für eine Änderungskonferenz vorlegen. Diese nimmt ihre Arbeit im Juni 1995 auf und setzt sich aus 15 Vertretern der Mitgliedstaaten, einem Vertreter der Kommission und zwei Vertretern des EP zusammen. Außer der französischen Parlamentarierin Elisabeth Guigou gehören ihr ausschließlich Männer an.7 Die Mitte 1995 beginnenden Beratungen der Gruppe fallen in die insgesamt europaskeptische Phase nach Maastricht. Die knappe Mehrheit für den Vertrag in Frankreich und dessen Ablehnung durch die Dänen spricht nicht für Europabegeisterung, zumal in dieser Zeit ca. 20 Millionen Menschen in der EU von Arbeitslosigkeit betroffen sind (vgl. Knipping 2004: 249ff.). Die maßgeblich von den beiden Europaabgeordneten zu Reformen angehaltene Reflexionsgruppe schlägt im Abschlussbericht für den Rat vor, den Gleichberechtigungsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot in den EG-Vertrag aufLarive, PE 217.381/end – A4-0283/96. Sie bezieht sich in ihrer Stellungnahme namentlich auf die Rechtsexpertin Vogel-Polsky. 7 Die Karriere der Sozialistin Guigou (geb. 1946) beginnt im Beraterkreis von Jacques Delors. Nach ihrem Mandat (1994-1997) im EP wird sie Justiz- und dann Arbeitsministerin und bringt in diesen Funktionen die Gleichstellung der Frauen in Frankreich voran. 1976 gründet sie die feministische Lobby Femmes d’Europe, die aus Frauen der EU, der EFTA-Länder und der der EU assoziierten Länder besteht. Den Schwerpunkt bilden Hilfsprojekte zur Bekämpfung von Armut in Europa und der Dritten Welt (vgl. www.assemblee-nationale.fr/12/tribun/fiches_id/1579.asp). (abgerufen am 1.7. 2007).
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zunehmen (vgl. Hennes 1998: 26). Im Passus „Eintreten für europäische Werte“ wird vorgeschlagen: „Viele von uns halten es für wichtig, dass im Vertrag europäische Werte wie die Gleichstellung von Mann und Frau, das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religionszugehörigkeit, sexuellen Neigungen, Alter oder Behinderung klar formuliert und eine ausdrückliche Verurteilung des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit sowie ein Verfahren zur Durchsetzung dieses Grundsatzes aufgenom8 men werden.“ (Bulletin 12/1995: 54)
Es werden drei Aufgabengebiete für die Regierungskonferenz vorgeschlagen, nämlich (1) Europa den Bürgern näher zu bringen, (2) die Stärkung der Handlungsfähigkeit, (3) die Reform der Organe für die Erweiterung. Die Reflexionsgruppe unterstreicht die Absicht, die soziale Integration durch Arbeitsmarktintegration zu fördern und „dass der Vertrag eine eindeutige Verpflichtung der Union zur Erreichung einer auf die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgerichteten wirtschaftlichen und sozialen Integration enthält“ (ebd.: 55). Die Schlussfolgerungen des Ratstreffens von Madrid verweisen auf das Kaleidoskop der neuen Aufgaben im Kontext der Erweiterung, die Mitte der 1990er Jahre mit einer grundlegenden Neuorientierung im Binnen- und Außenverhältnis verknüpft ist. Neben dem detaillierten Szenario zur Einführung des Euro stehen der Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die neue Sicherheitsarchitektur auf der Agenda, die Beschäftigungspolitik hat mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hier ebenfalls ihren Platz, und neben den Beitrittsgesprächen werden außerdem Abkommen über eine neue Mittelmeer-Union, aber auch die Reorganisation der transatlantischen Beziehzungen genannt. Unter dem Kapitel „Bürgernahe Politiken“ behandelt der Rat die Fortsetzung der Förderung der Frauenbeschäftigung sowie die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung in ihren verschiedenen Facetten. Aufschlussreich ist, dass Ausgrenzung und Benachteiligung zudem auch unter dem Kapitel „Justiz und Inneres“ thematisiert werden. Hier wird die Vereinheitlichung der im EUV (Art. 29) bereits vorgesehenen Maßnahmen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit formuliert; konkret wird die Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle angekündigt.9 In dieser Agenda klingt an, dass im Erweiterungsprozess des Binnenmarktes die Diskriminierung verschiedener Gruppen zunehmend als Problem registriert 8
Es handelt sich um den Abschlussbericht der mit der Vorbereitung der Regierungskonferenz beauftragten Reflexionsgruppe an den Präsidenten des Europäischen Rates. 9 Die Schlussfolgerungen werden zitiert nach: Bulletin. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 8, 30.1.1996, S. 63-66.
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wird. Diese veränderte Thematisierung von Grundrechten steht mit den Umwälzungen seit den späten 1980er Jahren in Verbindung, dem radikalen politischen Wandel in Europa und der gleichzeitigen Fragmentierung der internationalen Ordnung. Im März 1996 wird die Regierungskonferenz10 einberufen, die sich über 15 Monate erstreckt und inhaltlich an die drei geringfügig modifizierten Vorschläge der Reflexionsgruppe anknüpft. Unter dem Titel „Mehr Bürgernähe“ soll auch die Einbeziehung von Grundrechten für den neuen Vertrag geprüft werden: „Da die Mitgliedstaaten der Beachtung der Menschenrechte, der demokratischen Werte, der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung verpflichtet sind und da die Union eine Wertegemeinschaft ist, sollte die Regierungskonferenz die Frage prüfen, ob und inwieweit es möglich sein wird, diese Grundrechte zu stärken und ihren Schutz zu verbessern.“11
Insgesamt bewahren Beschäftigung, Wachstum und Arbeitslosigkeit, für die im Rahmen eines Vertrauenspaktes an einer Gesamtstrategie gearbeitet wird, ohne Frage ihre „oberste Priorität“12. So soll auch die Chancengleichheit verwirklicht werden, „um die Spaltung der Arbeitsmärkte zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass Frauen nicht aufgrund des hohen Anteils bei der Teilzeitbeschäftigung von Ausbildungsmaßnahmen zur Verbesserung ihrer künftigen Beschäftigungschancen ausgeschlossen werden.“13 Das Kernthema Arbeitsmarkt ist im Vorfeld von Amsterdam doppelt gerahmt, nämlich einmal durch den globalen Wettbewerb und das Ziel der Beschäftigungssteigerung, zum anderen durch die erhöhte Integrationsanforderung, die im Zuge der Erweiterung auch durch Grundrechte flankiert werden soll (vgl. Bulletin 6/1996). Die Zugangschancen zum und die faire Behandlung auf dem Arbeitsmarkt sind, wie im 5. Kapitel erläutert, bereits im Binnenmarktprojekt thematisiert worden. Hierbei stellt die Grundrechtscharta (1989) den Versuch dar, Wirtschaftswachstum und soziale Absicherung miteinander zu verknüpfen. Aufgrund der Grenzöffnungen und des Zusammenbruchs sozialistischer Regime in Europa erhält die Gewährleistung von Grundrechten nach 1989 schlag10
Auf Regierungskonferenzen werden von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts vereinbart. Regierungskonferenzen haben die EEA, die Veränderungen für die Wirtschafts- und Währungsunion und den Vertrag über die Europäische Union vorbereitet. 11 Bulletin. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung Nr. 35, 7.5.1996, S. 351. 12 Bulletin. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung Nr. 64, 5.8.1996, S. 689. 13 Bulletin. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung Nr. 19, 5.3.1997, S. 193-207. Der Vertragsentwurf vom 12/1996 enthält bereits den Anspruch der Garantie fundamentaler Rechte und der Nichtdiskriminierung.
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artig eine aktuelle Brisanz. Kriminalität, Menschenhandel und Terrorismus, aber auch die Menschenrechtsverletzungen innerhalb der (alten) EU und in den beitrittswilligen Ländern Ost- und Südosteuropas sowie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien konfrontieren mit der Dringlichkeit von Grundrechten. Die Frage ihrer Garantie spitzt sich auch aufgrund der Verfolgung von Minderheiten und Personen mit Behinderung in den zehn mittel- und osteuropäischen Ländern zu. Die Beitrittskriterien sollen ein klares Signal für den Respekt von Menschenrechten geben. So müssen die Beitrittsländer vor der Erlangung der Mitgliedschaft die „institutionelle Stabilität als Garantie für […] die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben“.14 Bemerkenswerterweise formuliert die EU hier ein Kriterium des Minderheitenschutzes für die neuen Mitglieder, das im Gemeinschaftsrecht als Vorgabe noch nicht besteht. Es wird somit eine zusätzliche Vorschrift eingeführt, die noch nicht zum gemeinsamen Bestand der (alten) EU gehört. Zusätzlich zur Erweiterung sind die militärisch organisierten Menschrechtsverletzungen, die Vertreibungen und Massenvergewaltigungen im südöstlichen Europa Mitte der 1990er Jahre für den Menschenrechtsdiskurs bedeutsam. Das Europäische Parlament kritisiert 1994 die „schockierende Ohnmacht des Rates“ angesichts der ethnischen Säuberung im ehemaligen Jugoslawien und ruft diesen zur Bekämpfung von „Vorstellungen über Reinrassigkeit und Artreinheit“ auf. Die Abgeordneten unterstreichen in diesem Kontext den „Kulturwert multiethnischer Gesellschaften“ und sprechen sich gegen die Ideen von politischen Verbänden als ethnisch und religiös weitgehend homogenen Nationalstaaten aus (ABl. C 128 vom 9.5.1994, S. 221). Ein Jahr später macht das Parlament das Ausmaß der Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft durch Völkermord, Wanderungsströme, Zunahme von Fanatismus, Missachtung von Minderheiten sowie der wachsenden Bedeutung von Ausgrenzung zum Thema einer Entschließung (vgl. ABl. C 126 vom 22.5.1995, S. 16). Die Transformations- und Erweiterungsprozesse in Europa verändern die EU. Sie verwandeln einen Marktraum, der in der Nachkriegszeit unter dem Schutz des Ost-West-Konflikts noch abgeschirmt und vergleichsweise übersichtlich war, in einen Zusammenschluss von 25 Ländern mit unterschiedlichen Geschlechter-, Politik-, Rechts- und Religionskulturen (vgl. Gerhards 2005a). Die zunehmende kulturelle Vielfalt, aber auch der große Erweiterungsschritt auf 10 neue Mitglieder, macht die EU vielfältiger, komplexer und komplizierter.
14 Europäischer Rat Kopenhagen, 21.-22-6.1993, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin 6/1993: 13; vgl. Schwellnus 2001.
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Grundrechte erhalten, wie in der Gemeinschaftscharta (1989) verankert, somit eine hohe Aktualität und Dringlichkeit. Bevor wir diese behandeln, wird zunächst der weltweite Frauenrechtsdiskurs skizziert.
6.3 Frauenrechte im Menschenrechtsdiskurs der UNWeltfrauenkonferenzen Im Zuge der Auflösung des Ost-West-Konflikts verändern sich auch die globalen Orientierungshorizonte in Bezug auf Menschenrechte. In den 1990er Jahren werden zwei verschiedene globale Ereignisse zusammengeführt, nämlich einmal die Konferenzen der 1975 begonnenen UN-Weltfrauendekade und die UNWeltkonferenzen zu Menschenrechten (1993). Im Kontext dieser Weltereignisse (vgl. Stichweh 2006) vollzieht sich ein Wandel im Verständnis von Frauenrechten. Diese werden jetzt als Teil der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstanden. Gleichberechtigung von Frauen als prinzipielles Fundament der Demokratie schließt Themen wie Gewalt und Empfängnisverhütung ebenso ein wie die Teilnahme an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen. Diese globalen Frauenrechtsdiskurse gehen zunächst an der EU vorbei. Lediglich das EP nimmt Mitte der 1980er Jahre Bezug auf die Beschlüsse der Weltfrauenkonferenz von Nairobi, um die Gewalt zu thematisieren. In seiner ersten „Entschließung zur Gewalt gegen Frauen“ (1986) fordert das Parlament vom Rat und den Mitgliedstaaten, Gewalt an Frauen als Problem wahrzunehmen. Frauen seien „spezifischen Formen der Gewalt ausgesetzt […], die ihre individuelle Freiheit, Würde, und ihr Recht auf Selbstbestimmung verletzen“ (ABl. C 197 vom 14.7.1986, S. 73ff.). Hierbei wird auch auf das 1979 von der UN verabschiedete Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), die sog. Frauenrechtskonvention, Bezug genommen. Wiederum unter Hinweis auf die „Aktionsstrategien von Nairobi“ verabschiedet das Parlament 1989 eine Entschließung, die sich erstmals ausdrücklich mit der „Ausbeutung von Prostituierten und dem Menschenhandel“ und mit dem „organisierten Frauenhandel“ befasst (ABl. C 120 vom 16.5.1989, S. 352). Doch das Gewaltthema bleibt in der EU vorläufig marginal, selbst auf der Agenda für die Wiener Menschenrechtskonferenz ist es nicht prominent vertreten. Die Entschließung des EP an die EU-Delegation für die Wiener Konferenz führt die Gewalt an Frauen als Menschenrechtsverletzung nicht einmal primär an.15 15
Darin heißt es, „dass geschlechtsbedingte Gewalt gegen Frauen sowohl in der Privatsphäre als auch im öffentlichen Leben die Menschenrechte verletzt und die schwerste Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung darstellt“ (ABl. C 176/154 vom 28.6.1993, Nr. 14).
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Die Wiener UN-Menschenrechtskonferenz Die Wiener UN-Menschenrechtskonferenz, das spektakuläre Weltereignis zu Frauen- und Menschenrechten, bleibt von der EU nahezu unbemerkt. Eines der Kernthemen dieses globalen Forums, die Gewalt an Frauen als Menschenrechtsverletzung, wird durch eine Kampagne transnationaler Frauennetzwerke vorbereitet (vgl. CWGL 1992). Der Erfolg der Kampagne beruht darauf, dass die weltweiten Unterschiede und die Vielfalt von Frauenorganisationen unter dem Brückenthema „Gewalt gegen Frauen“ zusammengeführt werden. Die bis dahin in den Nord-Süd-Konflikt eingebundene, politisch heterogene Frauenbewegung formiert sich nun unter diesem gemeinsamen thematischen Dach. Hiermit verbunden ist ein Paradigmenwechsel im Menschenrechtsverständnis selbst, nämlich ein Wechsel vom Grundbedürfnisansatz, wie er in den achtziger Jahren in der Entwicklungspolitik dominierte, zum Grundrechtsansatz („From basic needs to basic rights“, vgl. Schuler 1995). In diesem Interpretationsrahmen wird die Forderung nach der Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechten entwickelt. Diese Rahmung gestattet es, für Problemlagen, die ausschließlich Frauen betreffen, Rechte zu formulieren, die Frauen als Frauen zustehen, bspw. sexuelle und reproduktive Rechte. Frauenrechte selbst werden hierbei als Rechte mit universalistischer Geltung versehen. Wie ethnische und religiöse Minderheiten sollen auch Frauen – die keine Minderheit sind – ein universalistisches Recht auf Differenz erhalten (vgl. Heintz/Schnabel 2006: 689f.). Das in Nordamerika angesiedelte „Centre for Women’s Global Leadership“ (CWGL)16 etabliert sich in dieser Kampagne als neuer Gravitationskern einer transnationalen Frauenbewegung in Fortsetzung des alten Nord-Süd-Gefälles. Nur wenige Knotenpunkte liegen in Ländern des Südens, keine im (europäischen und nahen) Osten.17 Europäische Frauen-NGOs und auch die EWL spielen nur partiell eine aktive Rolle (vgl. Finke 1998: 31f.). Auf der Gemeinschaftsebene erfolgt keine Vernetzung, die mit anderen Weltregionen verknüpft werden könnte.
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Aus internationalen Frauennetzwerken sind involviert: Florence Butegwa (WILDAF/Zimbabwe) als Schlüsselfigur für die Einbindung afrikanischer Frauenorganisationen, Georgina Ashworth (CHANGE/UK), Maria Suarez Toro (Feminist International Radio Endeavor, FIRE/Costa Rica) sowie Rosanna Carillo vom UNIFEM (vgl. Finke 1998: 28). 17 Den Kern der Vorbereitung der Wiener Menschenrechtskonferenz bilden zwischen 1991 und 1993 vom CWGL organisierte Strategieseminare. An den Seminaren und Kampagnen arbeiten vor allem Frauen aus nordamerikanischen und südlichen Frauenorganisationen mit.
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Die UN-Weltfrauenkonferenz in Peking: Das neue Programm der Kommission Die EU-Beteiligung an der Pekinger Weltfrauenkonferenz 1995 steht im Kontrast zur Wiener Konferenz. Das EP fordert im Vorfeld eine Stärkung von Frauen in internationalen politischen Entscheidungsprozessen und die Anerkennung von Frauen- und Kinderrechten als Menschenrecht. In seiner Entschließung zur vierten Weltfrauenkonferenz fordert es auch die Verankerung der Gleichberechtigung im neuen EUV. Wie die Kommission spricht sich auch das Parlament für die paritätische Beteiligung von Frauen an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen aus und fordert außerdem Quotenregelungen als adäquate Maßnahme (vgl. ABl. C 166 vom 3.7.1995, S. 92). Jetzt bereitet die Kommission systematisch eine Agenda vor. Der Konferenzbeitrag der EU-Delegation wird Mitte 1995 durch eine Mitteilung an den Rat über die „Prioritäten der Europäischen Gemeinschaft für die vierte Weltfrauenkonferenz“ angekündigt. Unter dem Motto „Eine neue Partnerschaft zwischen Frauen und Männern: Ausgewogene Aufgabenteilung und Mitbestimmung“ wird das Kernkonzept des globalen Frauenrechtsdiskurses gebündelt: „Die Menschenrechte von Frauen und Mädchen sind ein unveräußerlicher, untrennbarer und unteilbarer Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte. Sie sind Grundrechte, die auch das Recht auf uneingeschränkte Mitwirkung als gleichberechtigte Partner in allen Lebensbereichen einschließen. […] Eine der schwerwiegendsten Verletzungen der Menschenrechte ist die Gewalt gegen Frauen.“ (KOM (95) 221 endg.: 4)
Außerdem soll der „Aspekt der Gleichberechtigung in alle Politiken und Programme“ (ebd.: 6) integriert werden und als geschlechterpolitische Strategie von der Kommission auf der Pekinger Konferenz präsentiert werden. Die „neue Partnerschaft“ erfordert „die Anerkennung fundamentaler Frauenrechte, die uneingeschränkte und gleichberechtigte Beteiligung der Frauen an Entscheidungsprozessen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit“ (ebd.: 10). Anvisiert wird eine „paritätische Demokratie in allen Bereichen der Entscheidungsfindung“ (ebd.) sowie die Einbindung der Gleichberechtigung in den Kontext von Menschenrechten. Die Kommission beabsichtigt, in Peking als Vorreiterin von Frauenrechten aufzutreten. Die EU müsse unter Beweis stellen, dass sie „in der Frauenförderung weltweit eine wichtige Führungsrolle übernehmen“ (ebd.: 11) wolle. Zwei Jahre nach der Wiener Konferenz hat sich der Wind also gedreht. War die EU dort noch marginal, proklamiert sie nun eine Vorreiterrolle auf der globalen Bühne. Der irische EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Padraig Flynn, vertritt in Peking die Einbindung der Chancengleichheit in alle 162
Politiken und Programme (Gender Mainstreaming), die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen, ihre Rechte im Bereich der Sexualität und ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen als programmatischen Kern der EU-Geschlechterpolitik (vgl. Bulletin 9/1995: 45f.). Im Namen aller Mitgliedsländer nimmt die EU die UN-Schlusserklärung zur Pekinger Konferenz an, die die zentrale Forderung der internationalen Frauenbewegung mit der Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechten zusammenführt.18 In Peking erfährt das Instrument des Gender Mainstreaming selbst wiederum eine programmatische Umdeutung. Entstanden in den 1970er Jahren im Bereich der Entwicklungspolitik, wird dieses nun in den Kontext der Gleichstellung gerückt und als Fundament der Demokratie mit einem universalistischen Gültigkeitsanspruch versehen. Das Abschlussdokument von Peking verpflichtet die Regierungen dazu, die Gleichberechtigung in die Gesamtheit ihrer politischen Konzepte und Maßnahmen einzubinden.19 Mitte der 1990er Jahre macht sich die EU somit auf globaler Ebene erstmals als Verfechterin einer geschlechterpolitischen Agenda bemerkbar und präsentiert sich als Vorreiterin globaler Normen. Die Pekinger Konferenz stellt daher auch eine entscheidende geschlechterpolitische Rahmung für die Vertragsvorbereitungen dar, da sie für die supranationale Gleichberechtigung einen neuen politischen Anknüpfungspunkt bietet. Die Kommission transferiert mit dem Gender Mainstreaming einen Brückenbegriff in die EU, mit dem sie das Geschlechterskript neu arrangiert und ein Kompaktprogramm etabliert. Transfer globaler Geschlechtervorgaben in das supranationale soft law Das direkt nach der Pekinger Konferenz verabschiedete vierte Aktionsprogramm für Chancengleichheit (1996 bis 2000) importiert das Gender Mainstreaming in die supranationale Geschlechteridee. Mit diesem global abgestützten „turn“ (Hoskyns 2000: 51) richtet sich die Kommission geschlechterpolitisch durch ein „building against the past“ (Beveridge 2007: 193) neu aus.20 Nun wird die „Einbeziehung der Dimension der Chancengleichheit von Männern und Frauen bei der Konzeption, Durchführung und Begleitung aller Politiken und Aktionen der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten“ zur Querschnittsaufgabe gemacht und zum Ziel der Geschlechterpolitik erklärt (Art. 2). Dieses wird an dem breiten 18
Als Ergänzung zum bisherigen regierungsorientierten CEDAW-Verfahren soll ein Fakultativprotokoll eingeführt werden, das Individuen und Gruppen ein direktes Beschwerderecht bei der CEDAWKommission einräumt (vgl. Neuhold et al. 2003: 59f.). 19 Vgl. www.un.org/esa/gopher-data/conf/fwcw/off/a--20.en (Resolutions adopted by the conference) (lezter Abruf am 1.7.2007). 20 Vgl. Viertes Aktionsprogramm für Chancengleichheit, in: ABl. L 335 vom 30.12.1995, S. 37.
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Spektrum der Maßnahmen deutlich, die von der Mobilisierung aller Akteure des wirtschaftlichen und sozialen Lebens über die Durchsetzung der Chancengleichheit und der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis zur Verankerung der Gleichstellung reichen (Art. 3). Anfang 1996 werden diese Themen in einer Mitteilung zur „Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche politischen Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft“ zusammengeführt (vgl. KOM (96) 67 endg.). Die Bemühungen zum Ausbau der Chancengleichheit, so unterstreicht die Kommission Anfang 1996, sollen „nicht auf die Durchführung von Sondermaßnahmen für Frauen beschränkt sein, sondern zur Verwirklichung der Gleichberechtigung sollen ausdrücklich sämtliche allgemeinen politischen Konzepte und Maßnahmen“ eingespannt werden (KOM (96) 67 endg.: 2). Im neuen Kompaktprogramm bleibt die Erwerbsarbeit deutlich der Schlüsselbereich, denn „der Zugang zur Beschäftigung ist ein wesentlicher Bestandteil der Emanzipation der Frau, und die Beschäftigungsstruktur sowie die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsentgelt sind deutliche Indikatoren für die […] Fortschritte auf dem Gebiet der Chancengleichheit“ (ebd.: 7). Ab 1997 wendet die Kommission dieses Programm auf ihren eigenen Organisationsbereich an und setzt eine interdirektionale Arbeitsgruppe für Chancengleichheit ein. Gleichzeitig wird eine Arbeitsgruppe aus Vertretern aller Generaldirektionen gegründet, die sog. Gender-Mainstreaming-Beauftragten, die einen Leitfaden zur Bewertung geschlechtsspezifischer Auswirkungen von Maßnahmen verfassen (vgl. Schmidt 2005). Auch das fünfte Aktionsprogramm für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2001-2005) (ABl. L 17 vom 19.1.2001, S. 22), das bereits in die Zeit nach der Vertragsschließung von Amsterdam fällt, stützt sich auf die Pekinger Beschlüsse und die CEDAW. Kombiniert werden soll das Gender-Mainstreaming mit spezifischen Frauenfördermaßnahmen. Die frühere Strategie der Frauenförderung wird zum „dual-track approach“ (Beveridge 2007: 197). Über die alte EU der 15 hinausgehend wird als neuer Aktionsbereich der „Erweiterungsprozess“ einbezogen (Art. 2). Die Ziele des Programms umfassen die „Förderung und Verbreitung der Werte und Verhaltensweisen, die Voraussetzung für die Gleichstellung von Frauen und Männern sind“ (Art. 3). Die Kernthemen der Pekinger Weltfrauenkonferenz, die Frauenrechte als Menschenrechte und das Gender Mainstreaming, werden von der Kommission in das supranationale System übersetzt. Diese Übertragung erfolgt parallel zur Vertragsvorbereitung, bei der sowohl die Gleichbehandlung als auch die Grundrechte (vgl. Kap. 6.2) auf der Agenda stehen.
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6.4 Die Neuausrichtung der Gleichheitsnormen im Vertrag von Amsterdam Die EU-Diskurse über Gleichbehandlung und die globalen Diskurse über Frauenrechte als Menschenrechte werden im Vertrag von Amsterdam zusammengeführt. In dieser zweiten primärrechtlichen Verankerung des Geschlechterskripts nach den Gründungsverträgen von 1957 weisen die Vorgaben über die Beschäftigung hinaus und reichen bis zum Grundrecht des Diskriminierungsverbots. Die Gleichstellung wird nun als eine Aufgabe der Gemeinschaft eingeführt (Art. 2 EGV), die über den Arbeitsmarkt hinaus prinzipiell in allen Politikfeldern (Art. 3, 2 EGV) gefördert werden soll. Der ehemalige Art. 119 wird im EGV ausgeweitet und reformuliert.21 Als Art. 141 bildet diese Vorgabe einen Teil der Sozialvorschriften, in die auch das Sozialprotokoll des EUV eingegangen ist. Ein wichtiges Merkmal dieser Neufassung besteht darin, dass Frauen und Männern jetzt auch für gleichwertige Arbeit gleiches Entgelt zusteht. Damit wird dieses Kriterium nach einer wechselvollen Geschichte ebenfalls zu einem Bestandteil des europäischen Primärrechts.22 Zusätzlich sieht das neue Beschäftigungskapitel am Arbeitsplatz die aktive Förderung der Gleichstellung vor (vgl. Art. 137 EGV/ex Art. 118 EWGV). Ergänzend hierzu werden erstmals positive Maßnahmen in Zusammenhang mit der Lohngleichheit primärrechtlich verankert: „Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung […] hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich der Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Begünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.“ (Art. 141, 4 EGV)
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Anknüpfend an die Grundrechtscharta und das Sozialprotokoll wird der Titel Sozialpolitik reorganisiert, indem die vormals allgemein gehaltenen Formulierungen über die Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen durch die Aufnahme der Sozialvorschriften konkretisiert werden (Art. 136150 EGV). Das neue Beschäftigungskapitel (Art. 125-130, EGV) sieht für ein höheres Beschäftigungsniveau koordinierte Strategien mit Jahresberichten des Rates, Anreizmaßnahmen und beschäftigungspolitischen Leitlinien sowie einen Beschäftigungsausschuss vor. 22 Bei der Vorbereitung des EWG-Vertrags wird dieses Kriterium aus der ILO-Konvention 100 noch nicht übernommen (vgl. Kap. 2), 1975 findet sie über die erste Gleichbehandlungs-Richtlinie (75/117/EWG) Eingang in das Sekundärrecht. Hieran und an die Rechtsprechung des EuGH anknüpfend erfolgt 1997 mit dem EG-Vertrag die Kodifizierung. In der EuGH-Rechtsprechung stellt die Entscheidung in der Rs. 170/84, Bilka-Kaufhaus GmbH/Weber von Hartz auch einen Meilenstein für die Gleichwertigkeit dar.
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In der Kalanke-Entscheidung (vgl. Kap. 6.1) wurde festgestellt, dass das Bremer Gleichstellungsgesetz dem supranationalen Gleichheitsgrundsatz widerspreche, da es Förderungen zugunsten einer bestimmten Gruppe, also der Frauen, rein numerisch vorsehe. Die Kommission (KOM (69) 93:3) vertritt die Auffassung, dass im Gegensatz zu einem starren Quotensystem verschiedene positive Maßnahmen individuelle Unterschiede berücksichtigen können. Der Art. 141 EGV stellt daher eine Neuformatierung der Gleichheitsvorgabe des Entgeltgrundsatzes dar. Zusätzlich zur Lohnzahlung werden nun Maßnahmen zur Gleichbehandlung und zur aktiven Förderung des Abbaus von Benachteiligung primärrechtlich festgeschrieben. Das Gender Mainstreaming erweitert zudem die Gleichstellung auf alle Politikfelder. Schließlich erhält die Geschlechtergleichheit auch als ein Grundrecht auf Nicht-Diskriminierung ein primärrechtliches Fundament23 und wird in den Zusammenhang mit anderen Benachteiligungsgründen gestellt. Der neue Art. 13 EGV sieht Antidiskriminierungsmaßnahmen des Rates auf Vorschlag der Kommission vor, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion bzw. Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Wie die folgende, zügige Umsetzung in Richtlinien zeigt, wird hiermit eine erhebliche Dynamik auch für die Gleichberechtigungsnormen erzeugt. Eine neue Generation der Gleichheitsnormen Die rasche Verabschiedung der ersten zwei Richtlinien im Jahre 2000 steht mit den Menschenrechtsverletzungen in Europa in Verbindung wie auch mit dem Beitritt der zehn neuen Länder.24 Die Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (im Weiteren: RL Rasse/Ethnizität) wird bereits am 29. 6. 2000 verabschiedet (2000/43/EG).25 Die zweite Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rah23 Der Schutz vor geschlechtsbezogener Benachteiligung gilt für den Lohn seit 1957, er wird mit der sog. Zugangsrichtlinie (76/207/EWG) für die Gleichbehandlung erheblich ausgeweitet und seit Defrenne III gilt die Gleichberechtigung der Geschlechter als ein Menschenrecht, dessen Wahrung im supranationalen Normsystem verbürgt ist (vgl. Kap. 3.3). 24 Die für die Erweiterung formulierten Kopenhagener Normen sollen innerhalb des supranationalen Rechts vor dem Beitritt verankert sein (vgl. Nowak 1999: 692; Heidbreder 2004). Die rasche Verankerung der RL 2000/43 und 2000/78 wird zudem auf den politischen Aufstieg Jörg Haiders in Österreich zurückgeführt. 2000 tritt die Haider’sche Freiheitspartei der Regierungskoalition bei. Kommission, Rat und Europäisches Parlament wollen daraufhin ihren Willen zur Bekämpfung jeder Form von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit demonstrieren und beschließen noch im Sommer 2000 die RL 2000/43 und im November die RL 2000/78, die die anderen Diskriminierungsmerkmale aus Art. 13 EGV abdeckt (vgl. Swiebel 2004). 25 Vgl. ABl. L 180 vom 19.7.2000, S. 22-26.
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mens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (im Weiteren RL Beruf) (2000/78/EG)26 soll als Rahmenrichtlinie Ausgrenzungen aufgrund von Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf verhindern bzw. abbauen. Geschützt werden sollen verschiedenen Gruppen des Arbeitsmarktes vor Benachteiligung. Diese Richtlinien beziehen sich direkt auf die 1999 in Helsinki verabschiedeten beschäftigungspolitischen Leitlinien. In der RL Rasse/Ethnizität wird dieser Zusammenhang benannt. Die Richtlinie hat einen Arbeitsmarkt zum Ziel, der „soziale Integration fördert“, um die „Diskriminierungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen“ zu bekämpfen (Art. 8, Präambel).27 Diskriminierung wird als ein Hindernis, als eine Gefährdung für wirtschaftliches Wachstum, soziale Integration und Fairness betrachtet: „Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie die Solidarität.“ (Art. 9)
Benachteiligung stellt sich demnach nicht als Marginalie dar, sondern als untergründige Gefährdung der Kernbereiche der Gemeinschaft. In der RL Rasse/Ethnizität wird anerkannt, dass Rassismus und ethnische Ausgrenzung nicht auf den Arbeitsplatz beschränkt sind und dass sie mit der Begrenzung hierauf auch nicht effektiv bekämpft werden können. Daher sollen die Maßnahmen auch Bildung, Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen abdecken, einschließlich des Wohnraums (Art. 3.3). Dies gilt nicht für die RL Beruf. Diese schafft erstmals einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf (Art. 1). Sie gilt für alle Personen in öffentlichen und 26
Vgl. ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16-22 Der Europäische Rat von Helsinki nimmt 1999 eine Erklärung zur Jahrtausendwende an. Zentrale Beschlüsse des Rates leiten eine neue Phase des Erweiterungsprozesses ein, bereiten die Schaffung effizienter und reformierter Institutionen, eine verstärkte gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Maßnahmen zur Gewährleistung einer wettbewerbsfähigen und beschäftigungswirksamen Wirtschaft vor (vgl. Bulletin 12/1999). Die Teilhabe am wirtschaftlichen Leben wird als Vorbedingung sozialer Eingliederung und als Instrument der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit betrachtet (vgl. KOM (99) 5). 27
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privaten Bereichen mit Bezug auf Erwerbsarbeit, Arbeitsbedingungen und berufliche Ausbildung (vgl. kritisch Fredman 2001). Sie gilt nicht für das Geschlecht. Allerdings wird in der Präambel ausdrücklich auf die Gleichbehandlung der Geschlechter aufmerksam gemacht, zumal „Frauen häufig Opfer mehrfacher Diskriminierung sind“ (Art. 3, Präambel). Diese Richtlinie zielt „angesichts des demografischen Trends“ zwar auf die Erhöhung des Anteils älterer Arbeitnehmerinnen und -nehmer ab (KOM (99) 556 endg.: 3; Erwägungsgründe 8). Doch sie enthält Ausnahmen in Bezug auf die Festsetzung von Altersgrenzen. Erstmals wird auch das Diskriminierungsverbot wegen der Religion geregelt.28 Die unterschiedliche Behandlung wegen der Religionszugehörigkeit ist allerdings erlaubt, wenn es mit Bezug zum Ethos der Religion gerechtfertigt erscheint. Für behinderte Personen wird auf erschwerte Einstiegsbedingungen in den Arbeitsmarkt verwiesen, doch auch in Bezug auf Behinderung und auf sexuelle Orientierung ist die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt. Die Richtlinie zur „Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ (RL 2002/73/EG)29 soll den Art. 141 umsetzen, Anwendungsprobleme der Zugangsrichtlinie von 1976 (76/207/EWG) beheben (vgl. Rust 2003: 75) und vor allem mit den ersten beiden Antidiskriminierungsrichtlinien die Konsistenz herstellen (vgl. Ellis 2005: 211).30 Sie konkretisiert Anhaltspunkte für die Gleichwertigkeit, also dafür, welche Kriterien für die Gleichheit des Arbeitsentgeltes eine Rolle spielen (Abs. 2).31 Zudem wird die „effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben“ anerkannt. Die Bestimmungen aus Art. 141 EGV über positive Maßnahmen werden durch Art. 2 Abs. 8 in die reformierte Zugangsrichtlinie übernommen. Trotz der Kalanke-Entscheidung (vgl. Kap. 6.1) werden die positiven Maßnahmen ohne Änderung in alle Richtlinien eingeführt (vgl. Ellis 2005: 297ff.). Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, die Gleichstel28 Das europäische Recht überlagert damit nationale Bestimmungen, wie sie z.B. das deutsche Grundgesetz enthält. Es sichert der Kirche das Recht zu, Arbeitsverhältnisse an eine Kirchenzugehörigkeit und besondere Loyalitätspflichten zu knüpfen. Andererseits enthält das europäische Recht aber auch Normen, die Religionsgemeinschaften autonome Regelungskompetenzen einräumen. Deshalb werden Rechtsstreitigkeiten im in Verbindung mit der RL 2000/78/EG erwartet (vgl. Dill 2003). 29 Vgl. ABl. L 269 vom 5.10.2002, S. 15-20. 30 Die Änderungsrichtlinie zur RL 76/207/EWG lag bereits 1996 als Vorschlag (vgl. ABl. C 179 vom 22.6.1996, S. 8) vor, wird aber erst infolge des Vertrags von Amsterdam verabschiedet. 31 Nach der Vorschrift bedeutet Gleichheit „das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit“ und „für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz“ (Art. 141 Abs. 2 EGV).
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lung „bei der Formulierung und Umsetzung der Verwaltungsvorschriften, Politiken und Tätigkeiten“ aktiv zu berücksichtigen (Art. 1 1a). Die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die RL 2004/113/EG32, dehnt die zivilrechtlichen Gleichheitsstandards aus. Konkret betrifft dies unterschiedliche Prämien und Leistungen aufgrund des Geschlechts im Versicherungswesen und verwandter Finanzdienstleistungen. Zielgruppen des Diskriminierungsverbots sind Personen, die Güter und Dienstleistungen liefern bzw. erbringen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und die außerhalb des Bereichs des Privat- und Familienlebens und der hier stattfindenden Transaktionen angeboten werden. Das Diskriminierungsverbot gilt für private, freiwillige und von Beschäftigungsverhältnissen unabhängige Versicherungen und Rentensysteme. Insgesamt werden mit diesen Antidiskriminierungsrichtlinien vier entscheidend neue Komponenten eingeführt. (1) Die erste ist die einheitliche Definition der direkten und indirekten Diskriminierung nach dem Vorbild der Gleichbebehandlungsrichtlinie. Die RL Rasse/Ethnizität bestimmt Gleichbehandlung sekundärrechtlich erstmals durch die Abwesenheit direkter und indirekter Diskriminierung.33 Danach liegt „eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind durch Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“ (Art. 2, 2a,b)34
Diese Definition der Diskriminierung erstreckt sich zudem auf unerwünschte Verhaltensweisen und Anweisung zur Diskriminierung und wird für die folgen-
32
ABl. L 373 vom 21.12.2004, S. 37-43, hier: 37. Die Berufszugangsrichtlinie von 1976 (76/207/EWG) bestimmt den Grundsatz der Gleichbehandlung dahingehend, „dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts“ erfolgen darf. Sie klärt nicht, was unter der direkten und indirekten Diskriminierung verstanden werden soll. 34 Die Frage der Vergleichbarkeit stellt ein grundlegendes kategoriales und operationales Problem dieser Bestimmung dar, das hier nicht erörtert werden kann (vgl. Fredman 2001, 2006). 33
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den Richtlinien übernommen.35 Die Vorgaben nehmen eine Verallgemeinerung und Standardisierung der supranationalen Gleichbehandlungsidee vor. Sie stellen Rahmenvorgaben für Gleichbehandlung dar, die alle auf einem gemeinsamen Grundverständnis von Diskriminierung beruhen. (2) Zweitens werden die Vorgaben im Menschenrecht begründet. Der Schutz vor Diskriminierung wird mit Verweis auf internationale Konventionen36 als ein Menschenrecht formuliert. Alle vier Richtlinien nehmen Bezug auf den Art. 6 des Maastricht-Vertrags, also auf die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit als gemeinsames Fundament der EU. Zugleich gehen die supranationalen Normen über die internationalen Rechtsinstrumente hinaus, „weil der einzelne direkt seine Rechte geltend machen kann, wenn die Unterzeichnerstaaten nicht zuvor zusätzliche Umsetzungsmaßnahmen ergriffen haben“ (KOM (99) 566 endg.: 4). (3) Drittens werden die Umkehrung der Beweislast eingeführt, die erstmals mit Bezug auf das Geschlecht verankert wurde (vgl. RL 97/80/EG, Kap. 5.3), sowie die regelmäßige Berichtspflicht. Hiermit wird eine Beweiserleichterung für die Opfer von Diskriminierung abgesichert. Mitgliedsstaaten haben Sanktionen festzulegen, die bei einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot wirksam werden (RL Rasse/Ethnizität, Art. 8).37 (4) Alle Richtlinien erlauben ausdrücklich positive Maßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten Benachteiligung verhindern oder ausgleichen sollen. Zudem verpflichten sie die Mitgliedstaaten zu pro-aktiven Maßnahmen, nämlich zum sozialen Dialog mit den Sozialpartnern zur Umsetzung fairer Bedingungen in der betrieblichen Praxis, in Verträgen, Verhaltenskodizes, in Antidiskriminierungsvereinbarungen sowie zum Dialog mit Nicht-Regierungsorganisationen. Außerdem sind Stellen zur Herstellung der Gleichbehandlung einzurichten, die Opfer unterstützen und Studien durchführen.38 In der RL Rasse/Ethnizität und RL Beruf
35 Rust bemerkt zur RL 2002/73/EG, dass nunmehr die vom Gerichtshof nie erörterte, von Generalanwälten und in der Literatur unterschiedlich bewertete Frage geklärt wird, dass eine unmittelbare Diskriminierung der Rechtfertigung nicht zugänglich ist (vgl. Rust 2003: 75). 36 Dafür stützt sich die Richtlinie auch auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UN, auf die CEDAW, auf den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, die EMRK und das ILO-Abkommen 111. 37 Vgl. ABl. L 180 vom 19.7.2000, S. 22. 38 Auch die Richtlinien 2000/43 und 2000/78 sehen „positive und spezifische Maßnahmen“ zur Förderung der Gleichstellung vor. Sie enthalten im Gegensatz zu Art. 141 EGV bzw. der darauf gestütz-
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sind die Regierungen dazu verpflichtet, auf dem Wege des sozialen Dialogs die Umsetzung zu vertiefen, den Dialog mit Nichtregierungsorganisationen aufzubauen und Stellen einzurichten. Die feinen Unterschiede zwischen den vier Richtlinien sind nicht zu übersehen. Die RL Rasse/Ethnizität gilt für die Bildung, für soziale Vergünstigungen und den Zugang zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen einschließlich des Wohnraums etwa bei der Wohnungssuche (Art. 3). Demgegenüber sind die anderen Richtlinien ausschließlich auf den Markt bezogen, wobei hier der Diskriminierungsschutz wegen des Alters am unteren Ende der Hierarchie steht (vgl. Fredman 2001). Die 2006 erlassene Neufassung der Gleichbehandlungsrichtlinie zur Verwirklichung der Chancengleichheit von Männern und Frauen (RL 2006/54/EG) gehört ebenfalls zur neuen Generation, insofern die vier gemeinsamen Merkmale darin eingehen. Diese Richtlinie hat die Funktion, im Bereich der Geschlechtergleichheit bisherige Vorgaben zusammen zu führen und zu systematisieren sowie deren Lesbarkeit und Verständlichkeit zu verbessern (vgl. Burrows/Robison 2007; Graig/de Búrca 2008: 881f.; Masselot 2007). Die EU, die mit der Erweiterung auf 25 Länder auch ihre Landkarte verändert, ist an einem offenen, nicht diskriminierenden Markt orientiert und konkretisiert die Gleichbehandlung über die Geschlechter hinaus als ein generelles Prinzip der Gemeinschaft. Diese Richtlinien stellen zusätzlich zum Freizügigkeitsprinzip ein Mittel sozialer Inklusion bereit, das über die Nationalität hinaus das Spektrum der Benachteiligung spezifiziert und einen allgemeinen Rahmen für den Diskriminierungsschutz im Binnenmarkt vorgibt. Dem liegt ein Verständnis aktiver und selbstständiger, flexibler und mobiler Personen im Binnenmarkt zugrunde. Vermieden werden sollen die Bildung gesellschaftlicher Randgruppen und die Ausgrenzung älterer Arbeitnehmerinnen und -nehmer. Der Anspruch der Beschäftigungssteigerung, zunächst für die Geschlechter formuliert, wird hiermit auf weitere benachteiligte Gruppen ausgedehnt. An der Wende zum 20. Jahrhundert soll die Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgebaut werden.39 Bezogen auf die Geschlechter wird dieses Ziel an den neuen Vernetzungsprogrammen zur Gewaltbekämpfung konkretisiert. Diese in der Generaldirektion ten RL 2002/73/EG nicht den Begriff der „spezifischen Vergünstigungen“ und werden deshalb in dieser Hinsicht als restriktiver bewertet (vgl. Plötscher 2003). 39 „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden das Fundament der Europäischen Union. Gemeinsame Werte wie Freiheit, Toleranz, Gleichberechtigung, Solidarität und kulturelle Vielfalt verbinden die Bürger der Union. […] Die Europäische Union ist ein bisher einmaliges Unternehmen, für das es kein historisches Vorbild gibt. Nur gemeinsam – durch die Union – können wir und unsere Länder den Herausforderungen von morgen begegnen.“ (Schlussfolgerungen des Rates von Helsinki, 10.-11. Dezember 1999, SN 300/97)
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„Justiz und Inneres“ angesiedelten Programme verzahnen den globalen Frauenund Menschenrechtsdiskurs innerhalb des Erweiterungsprozesses mit Sicherheits- und Kriminalitätsfragen. Das Programm „STOP I“ (1996-2000) soll europaweit Initiativen koordinieren, die für die Bekämpfung des Menschenhandels, der sexuellen Ausbeutung von Kindern und für vermisste Minderjährige zuständig sind.40 Das Programm wird durch „STOP II“ bis 2002 verlängert.41 Die Programme „Daphne I“ (19972003) und „Daphne II“ (2004-2008) unterstützen NGOs und Netzwerke im Kampf gegen Gewalt an Frauen und Kindern.42 Zudem führt die Kommission 1999/2000 eine „Europäische Kampagne zur Sensibilisierung gegen Gewalt an Frauen“ durch.43
6.5 Zusammenfassung Die Ergebnisse des Kapitels weisen darauf hin, dass sich Mitte der 1990er Jahre verschiedene Diskurse zu Gleichberechtigung, Frauen- und Menschenrechten überkreuzen. Der supranationale Diskurs, der durch eine spektakuläre EuGHEntscheidung und die daraufhin einsetzende Mobilisierung für die Neuformulierung der Gleichstellung vertieft wird, betrifft die weitere Verankerung der Gleichberechtigung im Binnenmarkt. Im globalen Diskurs der UN-Weltfrauenkonferenz wird Gleichberechtigung im Kontext von Frauenrechten als universalen (Menschen-)Rechten verhandelt. Damit erhalten spezifische Themen wie Gewalt und reproduktive Rechte einen Ort auf der Vorderbühne der Politik und Gleichberechtigung betrifft nun prinzipiell alle Politikfelder. Die Kommission greift diesen globalen Diskurs erstmals mit der Pekinger UN-Weltfrauenkonferenz auf und übersetzt das neue Brückenkonzept während der Vertragsvorbereitungen in den supranationalen Kontext. Im EGV werden Stränge aus diesen beiden Diskursen zusammengeführt. Dies geschieht zum einen durch die Verpflichtung auf die Gleichstellung und die Einführung des Gender Mainstreaming. Zum anderen wird die Lohngleichheit 40 Vgl. ABl. L 322 vom 12.12.1996. Das Projekt ist mit einem finanziellen Budget von 6,5 Mio. ECU ausgestattet. 41 Vgl. ABl. L 186 vom 7.7.2001. 42 Vgl. für Daphne I: Commission Européenne DG Justice et Affaires Intérieures: The Daphne Initiative (1997-1999), March 2001; European Commission: Commission Final Report to the European Parliament and the Council on The Daphne Programme (2000-2003), March 2004. Von 1997 bis 2003 sind 303 Projekte mit einem Budget von 31 Mio. Euro gefördert worden. Das Budget ist aufgrund der Osterweiterung auf 50 Mio. Euro erhöht worden. Vgl. für Daphne II: http://ec.europa.eu/ justice_home/funding/2004_2007/daphne/funding_daphne_en.htm (letzter Zugriff am 1.7.2008). 43 Vgl. Ebd.
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unter Art. 141 EGV (ex Art. 119 EWG) erheblich präzisiert und ausgeweitet. Über die Lohnzahlung hinaus werden die aktive Förderung der Gleichstellung und der Abbau der Ungleichheit durch positive Maßnahmen verankert. Im Unterschied zur Gründung 40 Jahre zuvor ist in Art. 141 EGV ein reflexives Verständnis komplexer Gleichheit zu erkennen, insofern für die faktische Gleichstellung jetzt gezielte Maßnahmen zu ihrer Realisierung eingebaut werden. Die Neujustierung der Gleichberechtigung steht insgesamt mit den Umbrüchen zur Erweiterung der EU in Verbindung und wird in den Antidiskriminierungsvorgaben (Art. 13 EGV) konkretisiert. Die räumliche Ausweitung der EU bedeutet, dass sie eine größere und komplexere Bevölkerung zu berücksichtigen hat. Ein stetig wachsender Normbestand nimmt Bezug auf eine ständig wachsende Bevölkerung in einem Raum ohne Binnengrenzen, der sich (geo-)politisch zu unterscheiden und wirtschaftlich seine Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis zu stellen hat. Diskriminierung erscheint nun als eine Gefährdung des gesamten Integrationsprojekts, so dass Maßnahmen zur fairen Behandlung im Binnenmarkt vordringlich werden. Maßnahmen gegen soziales Dumping und soziale Ausgrenzung erhalten bereits in den 1980er Jahren Gewicht; der EUV enthält den Bezug auf die Menschenrechte und auf gemeinsame Werte sowie auf den Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit dem anhaltenden Zerfall der geopolitischen (Nachkriegs-)Ordnung gewinnen diese Bezüge eine neue Qualität. Dieses ist die Konstellation, in der mit den Antidiskriminierungsmaßnahmen die Gleichbehandlung als Menschenrechtsgrundsatz verankert wird. Diese Richtlinien brechen das formale Verständnis von Gleichheit auf. Sie berücksichtigen Individuen als Angehörige von Gruppen und schützen die „Würde der Person“ (Art. 2, 3 RL Rasse/Ethnizität), die durch unerwünschtes Verhalten nicht verletzt werden darf. Insofern deuten sich in diesen Richtlinien neue Verknüpfungen von sozialen Grundrechten und Menschenrechten an (vgl. Fredman 2001, 2006). Als Teil des supranationalen Rechts markieren Antidiskriminierungsrichtlinien grundlegende Unterschiede zum internationalen Recht: Sie sind als subjektive Rechte einklagbar. Das Grundrecht der Gleichbehandlung kann im supranationalen Recht gerichtlich erstritten werden und markiert damit einen definitiven Unterschied zum internationalen Recht.44 Im Fall von rassistischer und ethnischer Diskriminierung greift die Gleichbehandlung zusätzlich soweit in das Privatrecht ein, dass z.B. auch Diskriminierung bei der Wohnungssuche untersagt ist.
44
Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Frauenrechten der 1990er Jahre und zur CEDAW können hier nicht behandelt werden (vgl. dazu Heintz/Schnabel 2006).
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Diese Ergebnisse bestätigen die Überlegungen zum Strukturwandel der Sozialintegration durch Europäisierung. Der Markt wird mit einem allgemeinen Diskriminierungsverbot ausgebaut. Chancengleichheit wird zum Ausdruck für Fairness und die Gleichbehandlungsvorgaben brechen traditionell gefestigte (nationale) Vorrechte auf. Die Antidiskriminierungsvorgaben reflektieren somit einen kulturell und sozial heterogenen Binnenmarkt und immer weniger die im nationalstaatlichen Mitgliedschaftsmodell unterstellte kulturelle Homogenität.
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Zusammenfassung und Ausblick Theresa Wobbe und Ingrid Biermann
Die Metamorphosen des Geschlechts In diesem Buch haben wir gezeigt, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zunächst ohne feministische Agenda – ein supranationales Geschlechterskript entsteht. Dieses mit dem market-building der EWG verflochtene Konzept unterscheidet sich von der Gleichheitsidee, die im Zuge des europäischen nationbuilding verankert wird. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert, als die nationale Institutionalisierung des Geschlechts im Medium der Differenz erfolgt, findet nach 1945 eine Umstellung auf Gleichheit statt, die an dem Abbau von Unterschieden im Gemeinsamen Markt ausgerichtet ist. Wir haben herausgearbeitet, dass und wie dieses supranationale Geschlechterskript mit dem neuen Markt entsteht und wächst. I. Am Anfang stand unsere Frage nach der Unwahrscheinlichkeit der Gleichheitsnormen angesichts der geschlechterpolitischen Stille der 1950er Jahre. Die institutionellen Voraussetzungen dieser Normen und ihre Wachstumschancen, dies machen die Ergebnisse der ersten beiden Kapitel deutlich, sind in die supranationale Strukturbildung eingebettet, die mit der Gründung der EWG einsetzt. Mit dieser Marktkonstruktion werden nationale Vergleichsmaßstäbe in ein neues Licht gerückt, so dass sich die Beobachtung von und die Erwartung an Gleichheit verändern. Im Freizügigkeits- wie im Lohngleichheitsprinzip ist diese Gleichheitsvorstellung konkretisiert. Dieser Befund zeigt: Die Entgeltvorgabe wird zwar aufgrund von Wettbewerbsinteressen thematisiert, doch deswegen ist sie keineswegs auf eine wirtschaftliche Dimensionen zu verengen. Sie ist vielmehr durch die neu entstehenden sozialen Erwartungen und kognitiven Schemata geprägt. Die Ergebnisse weisen zweitens darauf hin, dass der Aufbau der übernationalen Marktordnung nach 1945 in einem hohen Maße durch internationale Normen gerahmt ist. Als sich zu Beginn der europäischen Systembildung Fragen stellen, für die es in den Nationalstaaten noch kein Vorbild gibt, bieten globale Vorgaben die maßgebliche Referenzebene. Für die Grundgestalt der neuen Wirt-
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schaftskooperation stellen internationale Handelsvorgaben (GATT, OEEC) und Arbeitsstandards (ILO) das verbindliche Orientierungsschema dar. An diesen Ergebnissen wird ebenfalls deutlich, wie die Heranführung der Weltgesellschaft an regional extrem unterschiedliche Bedingungen (vgl. Luhmann 1997, Bd. 1: 167) konkret erfolgt.1 Die Lohngleichheitsvorgabe der ILO wird nach Maßgabe der entstehenden Wirtschaftsgemeinschaft aufgegriffen, soweit wie diese für die Errichtung des Marktes und die Erzielung der vertraglichen Vereinbarung erforderlich ist, also noch ohne das Kriterium der Lohngleichheit für gleichwertige Arbeit. Globale Sozialstandards tragen demnach als übergreifende kognitive Raster zur Überbrückung von Unsicherheit bei (vgl. Meyer et al. 2005: 113ff.) und brechen durch ihren normativen Gehalt nationale Leitvorstellungen von (Geschlechter-)Gleichheit auf. Vor diesem Hintergrund stellt die Gründung der EWG in den 1950er Jahren ein Scharnier für die Verbreitung globaler Gleichheitsideen dar. Die zweite Frage dieses Buches war, wie die im EWGV einmal getroffene Festlegung eigentlich stabilisiert und inhaltlich verändert wird. Am Beginn des Untersuchungszeitraums ist es ungewiss, ob die zunächst auf die Lohnzahlung beschränkte Vorgabe überhaupt mit Leben erfüllt wird, am Ende dieser Zeitspanne reicht die Geschlechtergleichheit über den Lohn hinaus in alle supranationalen Politikbereiche hinein. Diese Transformation haben wir durch den Filter der institutionellen Entwicklung an signifikanten Wendepunkten untersucht. Der Gang der Analyse zeigte zunächst, wie die Stabilisierung innerhalb des supranationalen Systems vermittelt wird. Hierzu tragen die organisatorischen Kerne mit supranationaler Primärorientierung bei, nämlich die Europäische Kommission mit ihrer politisch-administrativen Zuständigkeit für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes und der EuGH, der rechtlich die Verwirklichung des Vertrages und die Auslegung des Gemeinschaftsrechts überwacht. Von diesen Organisationskernen, so zeigen die Ergebnisse, geht die Triebkraft zur Verfestigung aus.2 Die Umgestaltung der Lohngleichheit wurde außerdem durch spezifische rechtliche und administrative Mechanismen erklärt, nämlich einmal durch die – in diesem Zeitraum erst entstehende – Autorität des supranationalen Rechts, zweitens durch das Initiativrecht der Kommission, das die Heranziehung von
1 Hierbei denkt Luhmann allerdings an die Zweitdifferenzierung des politischen Systems in Territorialstaaten, also an die nationale Ebene; vgl. auch Luhmann 2000: 227. 2 Diese Kerne sind daher auch von Beginn an mit den offenen, im Gründungsvertrag ungeklärten Fragen konfrontiert, wie bspw. mit dem Faktum der Tarifautonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinnenverbände oder mit der Frage der Geltung.
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Expertise, die Vorbereitung von Richtlinien und neuen Verfahren ermöglicht. Legitimation und Innovation liegen also in den Verfahren selbst. Bezug nehmend auf das Analyseraster zur institutionellen Evolution der Gleichheitsnormen (vgl. Abb. 1) kommen wir zu dem Schluss, dass die Absicherung des in Rom eingeschlagenen Weges mit Hilfe dieser Mechanismen ermöglicht wird. Die Stabilisierung steht wiederum mit einer spezifischen zeitlichen Abfolge in Verbindung: Der bahnbrechende ‚Test’ einer feministischen Anwältin in der Rechtssache Defrenne/Sabena und dessen Folgen setzen den EuGH und das Prinzip der direkten Geltung voraus. Die Weitergabe des Lohnstandards an die Mitgliedstaaten ist wiederum auf das spezifische supranationale Mittel der Gemeinschaftsrichtlinie angewiesen. Sequenzierung hat Gewicht, d.h. es handelt sich nicht um eine einfache Aneinanderreihung von Ereignissen. Wie beim Kochen, so zählt auch in institutionellen Prozessen die Abfolge der Zutaten für das Ergebnis (vgl. Thelen 2002: 97). Das zentrale Ergebnis des 3. Kapitels lautet, dass mit der Anwendung der Entgeltvorgabe eine Ausweitung des Gleichheitsanspruchs stattfindet: Zunächst ist dieser Anspruch auf den Lohnbereich beschränkt, dann wird er auf die Chancengleichheit im Beruf ausgeweitet und in den Zusammenhang der Arbeitsmarktintegration von Frauen gestellt. Zusätzlich hierzu initiiert die Kommission eine geschlechterpolitische Struktur auf europäischer Ebene. Wie im 4. Kapitel dargelegt, rekrutiert sie Frauenpolitikerinnen für das EP und etabliert in ihrem eigenen Organisationsbereich die administrative und wissenschaftliche Expertise für Gleichberechtigung. In den frühen 1980er Jahren ist die Gleichberechtigung rechtlich, politischadministrativ und politisch-parlamentarisch auf der supranationalen Ebene etabliert: Der Art. 119 hat direkte Geltung und ist in drei Richtlinien als Gleichbehandlung sekundärrechtlich abgesichert. Das supranationale Gleichheitsskript kann somit als Ergebnis von vier primären Einflussfaktoren (vgl. Grafik 4) gelten: Ausgangspunkt ist die Kernidee des Gemeinsamen Marktes, die in Bezug auf die Geschlechter durch die Lohngleichheit konkretisiert wird und wiederum global eingebettet ist. Ihre Umgestaltung erfolgt in enger politisch-administrativer und rechtlicher Koppelung.
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Grafik 4:
Einflussfaktoren auf das supranationale Geschlechterskript Kernidee Gemeinsamer Markt
Supranationales Recht
Supranationales GeschlechterSkript
Supranationale Politische Administration
Globale Erwartungen
Quelle: eigene Darstellung.
Dieses Konzept wird in den ersten Jahrzehnten unter den Bedingungen der europäischen Nachkriegsordnung verankert. In den 1980er Jahren werden Umbrüche erkennbar, in denen das Marktsystem selbst und auch die Gleichberechtigung grundlegende Veränderungen erfahren. Die Umweltverhältnisse der Ost-WestPolarität, die die Wachstumschancen des Gemeinsamen Marktes ermöglichten, werden destabilisiert. Im Zuge der Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte wird die Gemeinschaft verstärkt mit der wirtschaftlich entscheidenden Frage der globalisierten Welt konfrontiert: Aufholen oder zurückbleiben? Auch die semantische Umstellung vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt (Single Market) verweist auf die Neujustierung der Gemeinschaft, die im Innenverhältnis den Grenzabbau beschleunigt und sich im Außenverhältnis als global wettbewerbsfähige Region verortet, um mitzuhalten und aufzuholen. Im Zuge dieser wirtschaftlichen Restrukturierung treten die regulativen Dimensionen in den Vordergrund. Die Gleichberechtigung gerät, so lautet das Ergebnis des 5. Kapitels, ebenfalls in diesen Sog. Die Richtlinien zielen auf die Gewährleistung sozialer Grundstandards, die wiederum mit neuen Verfahren, zunächst durch die EEA und dann auf der Grundlage des Vertrags von Maastricht eingeführt werden. Das Vertragswerk von Amsterdam verweist auf zwei signifikante Merkmale. Anders als in der Nachkriegszeit erfolgt die primärrechtliche Verankerung der Gleichberechtigung nun nicht mehr in einem geschlechterpolitischen Vakuum. 178
Vielmehr hat sich seit der zweiten Frauenbewegung eine rechtlich-sozialwissenschaftliche Expertise für Geschlechterpolitik in der EU gebildet, aber auch in der nationalen Administration und in globalen Organisationen sowie Netzwerken. In den 1990er Jahren werden weltweite geschlechterpolitische Diskurse mit einer wirkungsvollen Plattform im Rahmen der UN-Weltfrauendekade verknüpft. Zweitens greift die Kommission aus diesen Diskursen das Gender Mainstreaming auf und transferiert dieses als modernisiertes Geschlechterprogramm in den supranationalen Kontext. In dieser Phase der institutionellen Entwicklung findet somit (wieder) eine stärkere Koppelung an globale Vorgaben statt. Während in der Gründungsphase die globalen Erwartungen den Lohnbereich betreffen, erstrecken sie sich jetzt auf alle sozialen Felder. Eine vielfach vertretene These der politikwissenschaftlichen Forschung, dass mit der Einführung des Gender Mainstreaming in den späten 1990er Jahren die ultimative Wende erfolgt, wird von unseren Ergebnissen eher relativiert.3 Hiermit erfolgt zwar ein signifikanter Wechsel des Politikinstruments, dieser ist allerdings im Lichte des supranationalen Geschlechterskripts und der grundrechtlich garantierten Sozial- und Gleichberechtigungsstandards zu gewichten. Auf dem Weg von Rom nach Amsterdam hat sich somit der konzeptuelle Rahmen, in dem Gleichberechtigung verankert wird, verändert und mit diesem auch das Verständnis von Geschlechtergleichheit: 1.
2.
Im Kontext der EWG-Gründung wird Gleichheit unter dem Aspekt der sozialen Harmonisierung unterschiedlicher Frauen- und Männerlöhne im Gemeinsamen Markt thematisiert und durch die ILO-Entgeltvorgabe institutionalisiert, die die herkömmliche Differenzvorgabe lockert. Die ohne Rücksicht auf das Geschlecht vorgeschriebene Lohnzahlung enthält ein formales Verständnis von Gleichheit, demzufolge die Arbeitsleistungen der Geschlechter prinzipiell vergleichbar sind. Diese Norm wird durch die erste Richtliniengeneration der 1970er Jahre konkretisiert und ausgeweitet, indem der Schritt von der gleichen Lohnzahlung zur Gleichbehandlung in Bildung und Beruf gemacht wird. Hiermit vollzieht sich eine Umdeutung von Gleichheit: Die gleichen Ausgangschancen der Geschlechter beinhalten nicht automatisch gleiche Berufschancen, diese müssen erst hergestellt werden. Durch die EuGH-Rechtsprechung findet eine zusätzliche Ausweitung statt, indem das Geschlechterdiskriminierungsverbot über die Lohnzahlung hinaus als ein Menschenrecht definiert wird.
3
Das Instrument des Gender Mainstreaming hat in den letzten zehn Jahren viel Beachtung gefunden und wird oftmals als ein entscheidender Wechsel bewertet (vgl. für viele Mazey 2000; Fuhrmann 2005), für eine skeptische Sicht vgl. Lewis (2006).
179
3.
4.
Im Binnenmarktprojekt wird die Gleichberechtigung verstärkt im Kontext der Strukturschwächen des Beschäftigungssystems verortet. Die Arbeitsmarktintegration von Frauen wird nun als Beitrag zur Verbesserung des Beschäftigungssystems und der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU betrachtet. Zugleich mit dem beschleunigten Abbau der Binnengrenzen sollen auch die Zugangschancen von Voll- sowie Teilzeit arbeitenden Frauen wie auch die Verknüpfung von Beruf und Familie verbessert werden. Die zweite Generation der Richtlinien verankert in den 1990er Jahren soziale Grundstandards und Rahmenvorgaben im Binnenmarkt. Im Kontext des Amsterdamer Vertrags verändert sich der Interpretationsrahmen für Gleichberechtigung nochmals. Nun wird Gleichstellung auch als eine Selbstverpflichtung der EU verstanden. Der Art. 141 (ex Art. 119) stellt nicht (mehr) eine isolierte Norm dar, sondern steht in einem strukturellen Zusammenhang mit der Förderung der Gleichstellung und der Gewährung von Grundrechten und positiven Maßnahmen. Dieser Bestand wird in die dritte Richtliniengeneration aufgenommen und im Kontext der Antidiskriminierungsmaßnahmen neu formatiert.
Das im ersten Teil des Buches herausgearbeitete Geschlechterskript wird durch diese verschiedenen Deutungsrahmen spezifiziert und generalisiert, so dass eine Verfestigung der supranationalen Kernidee, die Orientierung an der Gleichheit im Binnenmarkt, stattfindet. Im Untersuchungszeitraum ist die Koppelung von Gleichberechtigung und Markt enger geworden und der Markt selbst hat sich gewandelt. Wie im 6. Kapitel dargelegt, wächst mit der Erweiterung nicht nur die Anzahl der Bevölkerung in der EU an, auch die kulturelle Heterogenität und die sozialen Scheidelinien innerhalb des Binnenmarktes nehmen zu. Am Ende des Untersuchungszeitraums werden über die Nationalität und das Geschlecht hinaus weitere Benachteiligungsdimensionen im europäischen Gleichheitskonzept berücksichtigt. Soziale und kulturelle Ausgrenzungen werden als eine Bedrohung des Binnenmarktes und eine Gefährdung sozialer Kohäsion betrachtet. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne eines normativen universalistischen Postulats, demzufolge alle im gleichen Maß berücksichtigt werden, wird durch die Antidiskriminierungsrichtlinien erweitert und re-konfiguriert. Diese haben den Zweck, gruppenbezogene Benachteiligungen zu verhindern bzw. abzubauen. In Bezug auf die Geschlechterdimension lassen diese Veränderungen eine eigentümliche Dynamik erkennen. Die Geschlechtergleichheit wird einmal als Gemeinschaftsaufgabe und als Vorbild inthronisiert und zugleich verliert sie in Zusammenhang mit den Antidiskriminierungsrichtlinien ihre exklusive Stellung.
180
Das Greenpaper der Kommission verweist ausdrücklich auf die Modellfunktion der Geschlechtergleichheit für die Antidiskriminierungsrichtlinien: „The Racial Equality and Employment Equality Directives draw inspiration from earlier EEC legislation on equality between women and men. Many of the definitions and legal concepts used in the two Directives have been inspired by gender equality legislation and/or the case law of the European Court of Justice in the field of gender equality.” (COM 2004: 6). Das Geschlechterskript hat eine Vorbildfunktion für die Überbrückung von Unsicherheit bei der Formulierung der Antidiskriminierungsrichtlinien. Zugleich werden im rechtlichen Feld des Diskriminierungsverbots eigendynamische Mechanismen wirksam, die auf die Geschlechternormen zurückwirken: „In turn, the further development of gender equality legislation in the EU has made use of some of the innovations introduced by the Racial Equality and Employment Equality Directives.” (Ebd.) Die Geschlechternormen geraten also in die Dynamik weiterer Normgehalte, die auf diese zurückwirken. Durch die Verallgemeinerung des Diskriminierungsschutzes entsteht ein gemeinsames Referenzfeld für die Richtlinien, wodurch Interferenzen in Gang gesetzt werden. Diese betreffen Fragen danach, welche Gruppenmerkmale für das Kriterium vergleichbarer Situationen der Diskriminierung herangezogen werden: Was wiegt mehr und was zählt weniger? 4 Diese Fragen machen deutlich, dass Personen verschiedenen Gruppen angehören und Benachteiligungsdimensionen daher nicht reinlich voneinander geschieden werden können. Sie weisen zudem darauf hin, dass Markt und Gemeinschaft heute ein komplexes Bezugssystem darstellen, in dem verschiedene Dimensionen der Mitgliedschaft und der Angehörigkeit miteinander koexistieren und unterschiedliche Freiheitsrechte miteinander verschränkt sind.
II. Diese Verschiebungen werden rechtswissenschaftlich als die Herausbildung eines neuen Verständnisses transformativer, sozialer Rechte charakterisiert, die im Bereich des Diskriminierungsschutzes angesiedelt sind und ein unbekanntes 4 Von hier aus könnte ein institutioneller Wandel denkbar sein, der Geschlechtergleichheit mit anderen Normen gleichstellt (vgl. Fredman 2001, 2006; Holzleitner 2005). Theoretisch interessant wird dann die weiter führende Frage, wie eng Rechtsformen, die auf Menschenrechten basieren, an das Projekt des Gemeinsamen Marktes und an die Wettbewerbsfähigkeit der EU gekoppelt werden können. Organisatorisch hat diese Dynamik zunächst in zwei neuen EU-Agenturen Gestalt erhalten, also im Institut für Gleichstellungsfragen und in der Agentur für Grundrechte. Vgl. für das Gleichstellungsinstitut http://ec.europa.eu/employment_social/gender_equality/gender_institute/index_de.html Für die Grundrechteagentur: http://europa.eu/agencies/community_agencies/fra/index_de.htm
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Mischungsverhältnis ökonomischer und sozialer Freiheiten erkennen lassen. Danach vollzieht sich in der EU ein Wandel durch „mainstreaming, positive duties, and other proactive initiatives“ (Fredman 2006: 41; vgl. Burrows/Robison 2007), die über das formale Verständnis der Gleichheit hinausweisen. Soziologisch lässt sich dieser Wandel als Entstehung spezifischer supranationaler Inklusionsformen beschreiben. Wie im 1. Kapitel dargelegt, wird das Freizügigkeitsprinzip mit dem Aufbau des Gemeinsamen Marktes verankert und stellt die erste Konkretisierung der gleichen Berücksichtigung von Personen dar, die als Marktteilnehmerinnen und –teilnehmer rechtlich von supranationalen Normen betroffen sind. Das Grundrecht der Freizügigkeit trägt somit zur Entflechtung von staatlicher Mitgliedschaft, Rechten und nationaler Identität einerseits und zur stärkeren Verzahnung von Marktbildung und supranationalem Recht andererseits bei. Diese enge Koppelung zwischen (Markt-)Wirtschaft und Gemeinschaftsrecht wird durch die EuGH-Rechtsprechung spezifiziert und ausgebaut. Wie an der Kreil-Entscheidung in diesem Buch aufgezeigt, behandelt die supranationale Rechtsprechung Frauen und Männer als Marktteilnehmerinnen und –teilnehmer, die in dieser Hinsicht gleich behandelt werden müssen. Die Art und Weise, wie Personen als Adressaten von Rechten sozial konstruiert werden, wandelt sich im Binnenmarkt: Wer dazu gehört und in welcher Hinsicht (vgl. Bora 2002), wird vorrangig durch die Adressierung in diesem Markt beantwortet. Wir haben gezeigt, dass die Geschlechternormen ein aufschlussreiches Beispiel für diesen Prozess sozialer Konstruktion darstellen. Bis weit ins 20. Jahrhundert fungierte die Geschlechterdifferenz als ein Vorfilter für die Klärung der Frage, wer dazu gehört. Im Zuge des market-building verliert diese Vorsortierung ihre prägende Kraft, vielmehr tritt eine Auffassung in den Vordergrund, die Frauen und Männer gleichermaßen als Teilnehmende und als gleich zu Behandelnde betrachtet. Hiermit erweitert sich die Vorstellung von Gleichheit wie auch der Bereich dessen, in dem Personen gleich berücksichtigt werden (vgl. Menke 2004: 52f.). Als Korrelat zur Marktbildung ist der supranationale Einbeziehungsmodus seit den 1950er Jahren über das Geschlecht hinaus stetig differenziert und ausgeweitet worden und mit diesem auch die Personenauffassung sowie die Gleichheitsorientierung. Wie die Antidiskriminierungsnormen deutlich machen, werden Angehörige von bestimmten Gruppen und kulturellen Identitäten (Ethnizität, Alter, Religion etc.) als Marktteilnehmende gleichermaßen berücksichtigt. Nach dieser Auffassung sind nicht nur Frauen und Männer in Hinsicht auf ihre Marktteilnahme Personen, die gleich behandelt werden sollen und vergleichbar sind, sondern auch Angehörige von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, von ethnischen Gruppen und Minderheiten. Es wird hiermit ausdrücklich aner-
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kannt, dass Unterschiede zwischen kulturellen Gruppen bestehen, dass zwischen diesen aber im Binnenmarkt (und z.T. darüber hinaus) keine ungleiche Behandlung erfolgen darf. Somit werden Angehörige verschiedener Gruppen – wie auch im Geschlechterverhältnis - überhaupt erst zu den möglichen Adressaten der Gleichbehandlung im Binnenmarkt gemacht. Der Diskriminierungsschutz nach Nationalität (Freizügigkeit) und Geschlecht (Lohnzahlung), mit dem die EWG startete, ist im Binnenmarkt also ausgeweitet und konkretisiert worden. Komplementär dazu hat sich die Selbstbeschreibung des supranationalen Systems verändert: Der Binnenmarkt, aber ebenso die EU werden als inklusive soziale Systeme beschrieben, die sich durch kulturelle Diversität und die Bekämpfung rassistischer und ethnischer Ausgrenzung definieren. Im Unterschied zur Gründungsphase des Marktes beschränken sich die Maßnahmen auch nicht mehr auf den Abbau von Hindernissen, sie zielen seit den 1990er Jahren zunehmend auch auf die Intensivierung der sog. Beschäftigungsfähigkeit und der beruflichen Mobilität. Ausgehend von der Geschlechtergleichheit ist das Mainstreaming seit dem Vertrag von Amsterdam in die Bereiche von Beschäftigung und Antidiskriminierung ‚übergesprungen’ und prägt Verfahren, die zur effektiven Einbeziehung verschiedener Arbeitsmarktgruppen und zu deren Partizipation mit grundrechtlicher Absicherung beitragen sollen. Die Instrumente des soft law verweisen darauf, dass diese Differenzierung der Inklusionsmodi mit der Erzeugung neuer Verfahren einhergeht. Insgesamt, so lässt sich zusammenfassend sagen, zeichnet sich eine Neuformatierung von sozialen (Grundrechten) und wirtschaftlicher Effizienz ab. So ist die Gleichbehandlung der Geschlechter eine Sache der Gleichheit und der ökonomischen Effizienz, sie stellt eine notwendige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarktes und für Strategien sozialer Inklusion dar. So setzen die Antidiskriminierungsrichtlinien auf die Gleichheit verschiedener Gruppen, um einen wettbewerbsfähigen Markt zu gewährleisten. Die Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten auf die aktive Gleichstellung verschiedener Gruppen als ein Erfordernis für Wirtschaftswachstum und zum Schutz der Würde der Person. Diese Neuformatierung ist auf supranationaler Ebene Teil einer Entwicklung, die als engere Verzahnung von (Markt-)Wirtschaft und supranationalem Recht beschrieben werden kann. Wie an der EuGH-Rechtsprechung dargelegt, steht das Funktionieren des Marktes für Fragen der Gleichbehandlung im Vordergrund. Aus dieser spezifischen supranationalen Koppelung entstehen ungewohnte Kombinationen wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer (An-)Rechte, die nicht den herkömmlichen bürgerlichen und politischen Rechten entsprechen, sondern auf wirtschaftliche Basisrechte zurückzuführen sind. Demgegenüber
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wird die Koppelung zur Politik gelockert. Kollektiv bindende Normen werden nicht im klassischen Politik- und Gesetzgebungsprozess herbeigeführt, d.h. durch Parlamente und Verfassungen legitimiert. Sie werden partiell durch neue Abstimmungsverfahren und vor allem durch die ‚judicial governance’ (vgl. Frerichs 2008) abgestützt. In Bezug auf das Geschlecht legen diese Ergebnisse daher nicht einen „Abgesang auf den Erwerbsbezug“ (Fuhrmann 2005: 169) nahe. Die Perspektive der Betrachtung ist eher umzudrehen: Die Wachstumsbedingungen der Gleichberechtigung im Spannungsfeld von individuellen Rechten, Grundrechten, Mainstreaming und positiven Maßnahmen sind im Laufe der letzten 50 Jahre zunehmend enger mit der Wettbewerbsfähigkeit des Marktes verflochten worden. Aus diesem Grund bildet das Wettbewerbspotenzial des Marktes nach wie vor den Dreh- und Angelpunkt der EU und der Gleichberechtigungsnormen. Sollte der Markt als zentrifugale Kraft entfallen, sollte sich also der institutionelle Kern der EU von der Orientierung am Markt und an den gleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen entfernen, dürfte dies Folgen für die supranationale Gleichheit wie auch insgesamt für das Geschlechterskript haben. Nur in dem Fall wäre eine Entkoppelung von der Wirtschaft und vom Erwerbsbezug plausibel. Abbrüche, Rückbildungen und Umkehrungen sind in unserem institutionalistischen Analyseraster prinzipiell möglich. Denn nicht-lineare Wirkungszusammenhänge, überraschende Koinzidenzen und singuläre Ereignisse können bewirken, dass der einmal eingeschlagene Pfad in eine andere Richtung verläuft, dass also ‚critical junctures’ erneut relevant werden. Der Grundgedanke dieses Buches ist, dass die supranationale Strukturbildung und das Gleichheitsskript weder unvermeidlich noch selbstverständlich sind. Sie sind vielmehr aus historisch spezifischen Konstellationen und kontingenten Zusammenhängen erwachsen. Der Vorteil dieser Perspektive liegt darin, die komplementäre Herausbildung von Binnenmarkt und supranationaler Inklusionsform in einer historisch längeren Entwicklung vom (europäischen) Nationalstaat zum supranationalen System zu verorten. In dieser langen Dauer betrachten wir die ‚europäische’ Gleichheitsidee als ein historisches Beispiel für die Umstellung von nationalstaatlich vermittelter Differenz auf am Binnenmarkt orientierter Gleichheit. Das Geschlechterskript haben wir als eine spezifische Ausprägung dieser Idee herausgearbeitet. Hierbei wurden die Unterschiede zum nationalen Modell des 19. Jahrhunderts sowie die graduelle Entwicklung innerhalb des supranationalen Systems herausgestellt. Diese Kernidee der Gleichheit kann in einem weiteren Sinne auch als Strukturwandel der Solidarität charakterisiert werden, der im Unterschied zur nationalen Solidarität ein Feld des individuellen Wettbewerbs und des Grundrechtsschutzes öffnet (vgl. Münch 1998, 2000, 2001). Damit einher geht ein Wandel
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von der Umverteilung zum Interessensausgleich, von der Ergebnisgleichheit zur Gewährleistung von Zugangschancen (Münch 2000: 211ff.; Walby 2004). Während Individuen flexibel werden (sollen), um auf die ständige Veränderung des Arbeitsmarktes reagieren zu können, werden die Mitgliedstaaten zur Bereitstellung strategischer Ressourcen wie Bildung, Arbeitsschutz und Kinderversorgung verpflichtet. Der Nationalstaat verschwindet demnach nicht als relevante Inklusionsform, vielmehr erfährt er in Europa auch durch die supranationale Strukturbildung einen Formen- und Funktionswandel. Die EU führt demnach die europäische Region auch an globale Prozesse heran, indem sie nationale Geltungsgrenzen zum supranationalen und globalen Feld der Gerechtigkeit hin öffnet. Europäisierung in dem Sinne eines Strukturwandels lässt sich dann über zwei Bezugsebenen beschreiben: Die Bildung supranationaler Eigenstrukturen findet in einem weltweiten institutionellen Bezugsfeld statt; für deren Aufbau erfolgt eine kontextspezifische Selektion nach Maßgabe des entstehenden Systems, welches herkömmliche nationale Inklusionsformen aufbricht und überlagert.5 Die supranationale Strukturbildung lässt sich also weder auf die Wiederholung noch auf die einfache Eliminierung nationaler Strukturen reduzieren, aber auch nicht auf eine Assimilation an globale Standards. Die world polityPerspektive ist institutionalistisch weiterführend, insofern hiermit die Einbettung der supranationalen institutionellen Struktur in eine darüber hinausreichende globale Rationalitätsstruktur mit beträchtlichen kognitiven Funktionen plausibilisiert werden kann. In Bezug auf die Gewichtung von world polity und EU ist dieser Ansatz allerdings zu erweitern. Aus der world polity Sicht wird das Verhältnis von EU und Weltgesellschaft vorwiegend als eines der Angleichung Europas an die ‚Welt’ charakterisiert (vgl. Meyer 2005b), während aus der zivilisationstheoretischen Sicht der multiplen Moderne (vgl. Eisenstadt 2000) die Differenz betont wird. Auf Grundlage einer historischen Rekonstruktion wurde in diesem Buch am Beispiel der Gleichberechtigung gezeigt, dass die Konvergenzthese die supranationalen Eigenstrukturen unterschätzt und daher zu relativieren wäre. Der institutionalistische Zugang in diesem Buch hat eine plurale Form der Strukturbildung zutage gefördert, die ‚oberhalb’ der Nationalstaaten spezifische Verdichtungen herstellt. Diese werden zwar partiell durch nationale Strukturmerkmale ermöglicht, sie sind gleichwohl aus diesen nicht abzuleiten. So entste5 Es sind vor allem die transnationalen Eliten, die diese Öffnung vorantreiben, wie dies aktuell an der Konstruktion des sog. europäischen Bildungsraums nachzuvollziehen ist. Die Angleichung von Bildungsprozessen und -zertifikaten innerhalb der EU wird gezielt vorangetrieben, wobei globale Bildungsstandards nach kontextspezifischen, europäischen Gesichtspunkten aufgegriffen werden (vgl. Münch 2009).
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hen Inklusionsformen, die die nationalen aufbrechen und beschränken. Dieses market-building stellt zwar eine Sonderform wirtschaftlicher Verknüpfungen innerhalb des globalen Wirtschaftssystems dar, zugleich ist es mit diesem auch von Beginn an verflochten, wie die internationalen Handelsregeln für die wirtschaftliche Kooperation in der Gründungsphase zeigen und worauf die Entwicklung des Binnenmarktes in der globalisierten Wirtschaft nachdrücklich verweist. Zur Untersuchung dieser Form pluraler Strukturbildung sind Mehrebenenanalysen mit historischer Tiefenschärfe weiterführend, um erklären zu können, wie die EU historische Unterschiede transformiert und durch deren Rekombination und Zurückdrängung in der langen Dauer neue Strukturen herausbildet (Stichweh 2000, 2006; Wobbe 2005a). Am Geschlechterskript haben wir die Entstehung des Neuen in einem sich herausbildenden institutionellen Feld rekonstruiert. Mit Hilfe des Pfadmodells wurde gezeigt, dass das Differenzskript, das um 1800 komplementär zur neuen binnenstaatlichen Gleichheitsidee auf den Weg gebracht wird, im Zuge der supranationalen Systembildung de-institutionalisiert wird und in einem weiter reichenden globalen Kontext verortet ist. Deutlich wird hieran, dass das Geschlecht eine Geschichte hat und dass die Historizität der Geschlechterarrangements mit verschiedenen Formen der Strukturbildung verflochten ist. Die EU ist somit nicht nur eine besonders interessante Ebene zur Erforschung der Transformation von Geschlechterarrangements in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch umgekehrt gilt: Die Gleichberechtigung ist ein instruktiver Fall für allgemeine Entwicklungstendenzen der EU und für die Transformation von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit. In dieser Analyse neuer Formen der Vergesellschaftung liegt ein genuines Forschungsfeld der Soziologie.
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Danksagung
Bei der Durchführung des Projekts und der Vorbereitung der Publikation haben uns verschiedene Institutionen und Personen unterstützt. Unser Dank gilt vor allem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die dieses Projekt von 2004 bis 2007 gefördert hat. Wir danken den politischen und rechtlichen Expertinnen und Experten, die uns ihre kostbare Zeit für Interviews zur Verfügung gestellt haben. Die Studie hat ihre empirische Grundlage vor allem in Dokumenten, die oftmals, gerade wenn es um die frühen Jahre geht, nicht leicht zugänglich sind. Daher danken wir Herrn Knud Piening vom Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin) und Herrn Manfred Leutner vom Historischen Archiv des Generalsekretariats des Rates der EU (Brüssel) sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ILO/Archives (Genf), des Europäischen Dokumentationszentrums (EDZ) der Universitätsbibliothek Bielefeld, der Bibliothek des Deutschen Bundestages und der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha. In den letzten Jahren hatten wir Gelegenheit, Teile des Projekts in verschiedenen Zusammenhängen vorzustellen. Wichtige Anregungen haben wir erhalten auf der Klausurtagung des Instituts für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld, im Staatswissenschaftlichen Kolloquium der Universität Erfurt, im Graduiertenkolleg „Märkte und Sozialräume in Europa“ der Universität Bamberg, im soziologischen Kolloquium der Universität Bern, in den Erasmus-Workshops an den Universitäten Wien und Erfurt, auf der Konferenz „Transferring Gender across Europe“ an der Universität Erfurt, auf der Tagung „Europa und Zugehörigkeit“ im Hamburger Institut für Sozialforschung und auf dem Jean-MonnetWorkshop „Anti-Discrimination in Europe“ an der Universität Cagliari. Für Gespräche und fachlichen Rat bei der Durchführung des Projekts, für Kommentare und kritisches Gegenlesen verschiedener Fassungen danken wir Ulla Baumann, Herrmann-Josef Blanke, Bettina Heintz, Catherine Hoskyns, Gerdien Jonker, Claudia Kraft, Wofgang Platzer, Heike Scheidemann, Hannes Tretter, Gerhard Wegner, Antje Wiener, Hanns Jürgen Küsters, Raf Vanderstraeten und Richard Münch. Der besondere Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Erfurt. Ohne Christa Schellhardt, die wieder einmal die Fäden im Sekretariat zusammengehalten hat, wären viele Etappen des Forschungsprojekts und der Buchproduktion nicht so reibungslos erfolgt. Die Hilfskräfte Nino Bautz, Susanne Busch, Tabea Hirsch, Kristin Reichel, Daniela Kaya, Annegret Kestler, Alexander Knoth, Nataliya Kravtsova und Tom Mesterházy haben uns tatkräftig bei den 187
Recherchen unterstützt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Florian Groetsch, Sabine Haas, Marcel Rebenack, Susanne Schirmer und Heidemarie Winkel danken wir für Ihre Hilfe und für ihre wertvollen Kommentare. Theresa Wobbe und Ingrid Biermann, Erfurt, den 7. Juli 2008
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Anhang: Quellen und Literatur
Ungedruckte Quellen Historical Archives of the European Union (CM3) CM3/NEGO-000245, 1956-1957, Conférence intergouvernementale: historique des articles 117 à 120 du traité instituant la CEE: politique sociale. CM3/NEGO-000334, 1956 – 1957, Conférence intergouvernementale: historique des articles 107 à 119 du traité instituant la CEEA (Euratom) : relations extérieures.
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) B 20-210, Bd. 27- 29 Konferenzen zur Vorbereitung der EWG B 20-210, Bd. 45, Schlussbericht B 20-210, Bd. 61-65, Ausschuss für den Gemeinsamen Markt, Investitionen und Sozialfragen, Teil I-V
Archiv des Deutschen Frauenrates Korrespondenz 1975-1980
Amtliche Dokumente und Schriften1 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Reihen L und C Bulletin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Kommission der EWG, Brüssel, 1958-1968 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Kommission der EG, Brüssel, 1969-1993 Bulletin der Europäischen Union, Europäische Kommission, Brüssel/Luxemburg, ab 1994, http://europa.eu/bulletin/de/bullset.htm (ab 1996), letzter Zugriff, 1.7.2008 Bulletin. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin Frauen Europas, Bulletin der Kommission der EG, GD Information, Einzelhefte von 1977 – 1992, Nachträge von 1978 bis 1991 Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Kommission, Brüssel/Luxemburg, 1958-1965/66
1
Amtliche Dokumente und Schriften (wie Richtlinientexte, Kommissionsdokumente, Schlusserklärungen, Berichte aus der Informationsschrift „Frauen Europas“), die in Reihen publiziert sind, werden in der Literaturliste nicht einzeln aufgeführt, sondern hier durch Anführung der Reihe, der sie jeweils entstammen, belegt.
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Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaften, EGKS, EWG, EURATOM, Kommission, Brüssel/Luxemburg, 1967-1982 Grün- und Weißbücher, http://europa.eu/documents/comm/green_papers/index_de.htm, letzter Zugriff, 1.7.2008, http://europa.eu/documents/comm/white_papers/index_de. htm, letzter Zugriff, 1.7.2008 Hohe Behörde der EGKS, 1957: Entwicklung der Löhne in den Industrien der Gemeinschaft, Luxemburg, Bd. 1 Hohe Behörde der EGKS, 1960: Entwicklung des Lohns und der Lohnpolitik in den Industriestaaten der Gemeinschaft 1945-1957, Luxemburg KOM-Dokumente, Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg, http://europa.eu/documents/comm/index_de.htm, letzter Zugriff, 1.7.2008
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Ergänzende Tabelle Tabelle 3: Übersicht EG-Richtlinien im Bereich der Geschlechtergleichheit 1975-2006 Richtlinie
Zielsetzung
Supranationale und internationale Rechtsbezüge
¾ Lohngleichheit bei gleicher und ¾ Art. 119 EWGV RL 75/117/EWG Gleiches Entgelt für Männer und ¾ Sozialpolitisches gleichwertiger Arbeit Aktionsprogramm der Frauen (Konkretisierung von Art. 119 EWG (1974) Amtsblatt L 45 vom 19.2.1975 EWGV) ¾ Gleicher Zugang zu ¾ Art.119 EWGV RL 76/207/EWG Gleichbehandlung von Männern Beschäftigung, beruflicher ¾ Sozialpolitisches Bildung, beruflichem Aufstieg Aktionsprogramm der und Frauen beim Zugang zu EWG (1974) Beschäftigung, Berufsbildung, ¾ Verbot der (un)mittelbaren beim beruflichen Aufstieg und Diskriminierung (insbesondere ¾ RL 75/117/EWG den Arbeitsbedingungen unter Bezugnahme auf Amtsblatt L 39 vom 14.2. 1976 Ehe- und Familienstand) ¾ Gleiche Entlassungsbedingungen
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Supranationale und internationale Rechtsbezüge
Richtlinie
Zielsetzung
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¾ Gleichbehandlung beim indirekten Entgelt ¾ Verbot der (un)mittelbaren Diskriminierung (insbesondere unter Bezugnahme auf Ehe- und Familienstand) ¾ Ergänzung zu RL 79/7 EWG mit Bezug auf unbeständige und selbständige Erwerbstätige in den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit
¾ Art. 119 EWGV ¾ RL 76/207/EWG
¾ Ergänzung zu RL 79/7/EWG mit Bezug auf Selbständige, Angehörige von Selbständigen sowie Beschäftigte in der Landwirtschaft ¾ Mutterschaftsurlaub ¾ Mindestmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit von Schwangeren, Wöchnerinnen, stillenden Müttern am Arbeitsplatz ¾ Ausbau von Maßnahmen zur Vereinbarung von beruflichen und familiären Pflichten ¾ Einführung von Mindestvorschriften für den Elternurlaub
¾ Art. 119 EWGV ¾ RL 75/117/EWG ¾ RL 76/207/EWG
¾ RL 76/207/EWG ¾ RL 79/7/EWG
¾ Art. 118a EWGV ¾ Gemeinschaftscharta soziale Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) ¾ Gemeinschaftscharta soziale Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) ¾ Maastricht Vertrag (Sozialprotokoll) ¾ Sozialpartnerdialog
¾ Beweislast auf Seiten des ¾ Art. 119 EWGV Beklagten ¾ Gemeinschaftscharta ¾ Präzisierung der Begriffe soziale Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) (un)mittelbare Diskriminierung ¾ Maastricht Vertrag (Sozialprotokoll) ¾ Steigerung der Beschäftigungs- ¾ Maastricht Vertrag RL 97/81 EG intensität und WettbewerbsfäRichtlinie zu der von den euro(Sozialprotokoll) higkeit in der EU durch Flexi- ¾ Gemeinschaftscharta päischen Sozialpartnern UNICE, CEEP und EGB geschlossenen bilisierung der Arbeit soziale Grundrechte der Rahmenvereinbarung über Arbeitnehmer (1989) ¾ Vereinbarkeit von Beruf und Teilzeitarbeit ¾ Sozialpartnerdialog Familie/Elternschaft Amtsblatt L 14 vom 20.01.1998 ¾ Förderung der Beschäftigung von Frauen ¾ Gleichberechtigung von Voll- und Teilzeitarbeit
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Richtlinie
Zielsetzung
¾ Aktive Berücksichtigung des RL 2002/73/EG Ziels der Gleichberechtigung Änderung der RL 76/207/EWG von Frauen und Männern durch zur Gleichbehandlung von die Mitgliedstaaten Frauen und Männern beim ¾ Präzisierung des Begriffs Zugang zur Beschäftigung, (un)mittelbare Diskriminierung Berufsbildung, beim beruflichen (u. a. Belästigung, sexuelle Aufstieg und den ArbeitsbedinBelästigung) gungen Amtsblatt L 269 vom 5.10.2002 ¾ Anerkennung positiver Diskriminierung nach Art. 141 (4) EGV ¾ Verbesserung des Zugangs zu RL 2004/113/EG Gleichbehandlung von Männern und der Versorgung mit Gütern und Frauen beim Zugang zu und und Dienstleistungen bei der Versorgung mit Gütern ¾ Gleiche Leistungen im Bereich und Dienstleistungen des Versicherungswesens und verwandter FinanzdienstleisAmtsblatt L 373/vom 21.12.2004 tungen
¾ RL 2006/54/EG Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neu- und Zusammenfassung von RL 75/117/EWG, RL 76/207EWG, ¾ RL 86/378/EWG, RL 97/80/EG) Amtsblatt L 204 vom 26.7.2006 ¾ ¾
Supranationale und internationale Rechtsbezüge ¾ ¾ ¾ ¾
Art. 2, Art. 3, Art. 6 EGV Art. 141 EGV MRK, EMRK, CEDAW Internationales Übereinkommen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung ¾ VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte
¾ Art. 6 EUV, MRK, EMRK, CEDAW ¾ VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte ¾ VN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ¾ RL 2000/43 EGV ¾ Charta der Grundrechte der EU ¾ Art. 141 (3) EGV Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäftigung, zur ¾ Art. 2, Art. 3 (2) EGV Berufsbildung, bei den Arbeits- ¾ Charta der Grundrechte der EU bedingungen einschließlich ¾ Rechtsprechung des Entgelt, in den betrieblichen EuGH Systemen sozialer Sicherheit Berücksichtigung von Maßnahmen positiver Diskriminierung Gleichbehandlung durch Sozialen Dialog Schutz vor (un)mittelbarer Diskriminierung (u.a. sexuelle Belästigung, Entgelt, Arbeitsbedingungen, Interessenvertretung)
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach ABL. i Union des Industries de la Communauté européenne, European Centre of Enterprises with Public Participation and of Enterprises of General Economic Interest, Europäischer Gewerkschaftsbund
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Register
Adenauer, Konrad 71 Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau, s. Europäisches Parlament (EP) 106, 116, 118 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN 23 Amsterdamer Vertrag - Art. 2 12, 152, 163, 165, 211 - Art. 3, 2 165 - Art. 13 12, 33, 152, 166, 173 - Art. 137 12, 165, - Art. 141 12, 33, 94, 99-101, 152, 165f., 168, 170, 173, 180 Antidiskriminierungsrichtlinien, 152, 168f., 173, 180f., 183, s. auch Richtlinien Arbeit - gleiche 23, 64, 71f., 87, 139 - gleichwertige 23, 81, 165, 176 Arbeiterin 81, 129, 131, 146 Arbeitslosigkeit 99, 120, 155-158 Arbeitsmarkt 12f., 20, 23, 38, 41-44, 47, 68, 74, 81, 83, 87-89, 91, 99, 103, 110, 119, 121, 129, 131, 134, 137-139, 145, 158, 165. 167f., 185, s. auch Beschäftigungssystem - Arbeitsmarktintegration 78, 90f., 139, 157, 177, 180 Arbeitsteilung 37, 45f., 134, 143, 145f., 148 Arrangement der Geschlechter, s. auch Geschlechterarrangement Art. 119, s. auch EWGV, Römische Verträge 11f., 27f., , 52f., 62, 67, 71-73, 75, 78, 80, 82-85, 89f., 93-95, 98-101, 103, 136, 152, 155, 165, 173, 177, 180 Barber-Entscheidung 136, 190
Behinderung, 152, 157, 159, 166-168, s. auch RL 2000/78/EG Belgien 54, 56, 60, 64, 141 Beruf (s) 12f., 19, 34, 42, 86, 96, 99, 117, 120, 135, 137, 148, 154, 164f., 167, 177, 179, 180 - ausbildung 41, 86, 90f., 95, 99, 111, 133, 142, 168 - zugang 41, 43, 49, 146, 155, 169 Beschäftigungspolitik 7, 89f., 90, 133, 157 Beschäftigungssystem 87, 91, 128f., 139, 145f., 148 Beweislast(umkehr), s. RL 97/80/EG 128, 131, 140, 143f. Bilka-Entscheidung 165 Bürger/in, Staatsbürger/in 34, 36, 38, 45, 93, 134, 157, 171 Bürgerschaft, (Staats-)Bürgerschaft 28, 36-39, 45f., 48-50 - Unionsbürgerschaft 46, 48, 138 Carstens, Karl 60, 71 Chancengleichheit 12, 17, 86, 113, 121, 133f., 137, 145, 153, 154-156, 158, 162, 164, 171, 174, 177 - Aktionsprogramme für Chancengleichheit 111, 113, 119-121, 134, 141f., 163 - Büro für Probleme der Frauenbeschäftigung 110 - Fraueninformationsdienst 109-111, 121 - Referat für Chancengleichheit 110, 112, 120-122, 131 - Beratender Ausschuss für Chancengleichheit 112, 120, 122 Dänemark 98, 108, 138 Danfoss-Entscheidung 144 Daphne I, II 172
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Defrenne, Gabrielle 93 Defrenne-Entscheidung 78, 92f., 98, 103, 119, 177 - Defrenne I 93f. - Defrenne II 94-96, 101 - Defrenne III 95, 166 de Gaulle, Charles 87, 91, 105 Delors, Jacques 12, 113, 127, 129, 130, 132, 138, 141, 156 Deshormes, Fausta 109, 112, 121 Deutschland 33, 54, 56, 60, 64, 66, 70, 75, 81, 83, 114, 136, 141 Differenz 15, 17f., 29, 32-34, 38-40, 48, 50, 60, 63, 65, 94, 119, 161, 175, 184f. Differenzierung 18, 22, 35, 49, 53, 57, 79, 105f., 108, 117, 123, 125, 176, 183 Differenzkonzept 22, 17, 28, 32-34, 82, 186 Diskriminierung 20, 33, 47, 83f., 90, 133, 143f., 146-148, 153, 156f., 167, 168170, 181 - mittelbare 41f., 94, 99, 144f., 169 - unmittelbare 41f., 94, 99, 134, 144f., 169f. - Belästigung, sexuelle Belästigung 12 - Diskriminierungsverbot 29, 33, 48, 55, 93, 98, 133, 139, 145f., 151, 153, 156, 165168, 170, 173 - Geschlechterdiskriminierung 23, 38, 95, 96, 103, 124, 143f., 154, 157 - Nichtdiskriminierung 145, 158, 166 Direktwahl zum EP 12, 105, 106f., 108f., 111-113, 116-118, 160, 124 Einheitliche Europäische Akte (EEA) 28, 107, 117f., 127, 129, 130-133, 140-142, 145f., 148, 158, 178 Elternurlaub, s. RL 96/34/EG Entgeltgleichheit, RL 75/117/EWG 45, 52f., 60, 62-66, 70f., 73-75, 78, 80, 83f., 86f., 90, 92, 95-99, 103, s. auch Art. 119 Erhard, Ludwig 60 Ernährermodell 19, 21, 143, 148
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Ethnie/Ethnizität, 34, 182, s. auch RL 2000/43/EG Europäische - Atomgemeinschaft (EAG, EURATOM) 11, 43 - Gemeinschaft (en) (EG) 11f., 28, 54, 43, 47, 107, 120, 162 - Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 11, 28, 43, 47, 53-58, 60-64, 66-68, 73-75, 79, 88, 107, 116, 135, 146, s. auch Montanunion - Kommission 12f., 17, 20, 24, 28, 54, 73, 78-98, 101-106, 109, 110-113. 117124, 128-134, 137-139, 141f., 144-46, 155f., 162-164, 166, 172, 176f., 177, 179, 181 - Generaldirektion Beschäftigung und Soziales 110, 112, 131 - Generaldirektion Information 111, 121 - Generaldirektion Justiz und Inneres 171f. - Menschenrechtskonvention (EMRK) 64 - Sozialcharta 64, 96 - Sozialpolitik 128, 131, 136, 138, 148, 165 - Union (EU) 11-14, 16-18, 20-22, 20-29, 31-33, 40, 43, 45f., 48-50, 52, 82, 90, 103f., 110, 121f., 124, 128f., 135, 138140, 143, 147, 149, 151f., 156, 159, 160-165, 170-173, 179-187 - Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 11, 1317, 19, 22, 24-26, 28, 31, 32, 41f., 45, 47, 51, 53-57, 60f., 67, 72f., 79f., 82, 85, 88-90, 98f., 111, 128, 135, 140f., 151, 165f., 168, 169, 173, 175f., 179, 183 Europäischer - Gerichtshof (EuGH) 28, 32, 40, 44, 49f., 78-81, 83, 92-96, 98-103, 107, 109, 119, 136, 143f., 153-155, 165, 172, 174, 176f., 179, 182f. - Ministerrat 69, 79, 108f. - Rat 13, 79, 82-85, 90, 92, 97f., 102, 107, 109, 112, 116f., 119, 122, 128f., 131f.,
134, 140, 146, 156f., 159f., 162, 164, 167 Europäisches Parlament (EP) 12, 17, 28, 79, 84f., 105-107, 112-121, 124f., 129132, 146, 155f., 160, 162, 177 - Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau 106, 116, 118 - Ausschuss für die Rechte der Frau 106, 155 Europaparlamentarier/innen 116f. Europarat 58, 64, 75, 115, 122 European Women’s Lobby (EWL) 121f., 161 Expertise 15, 63-65, 74, 77-79, 89, 91f., 95, 103f., 110, 121, 123f., 175, 179 Expertennetzwerke 106, 120f., 123 Familie 13, 19, 35, 38, 47, 81, 120, 135, 164, 180 Frankreich 54, 56, 59, 60, 64-67, 69-71, 74, 83f., 114f., 156 Frauen - arbeit 19, 81f., 87-91 - bewegung(en) 27, 36, 104, 111f., 115f., 123, 161, 163, 169 - förderung 109, 118-120, 124, 143, 145, 153, 157, 162, 164, 170 - rechte 113f., 121, 123, 160-162, 164f., 195 - rechtsdiskurse, globale 160 Freizügigkeit 48, 182 - Art. 69 EGKS 55, 66, - Art. 48 EWG 58, 95, 146, - Art. 13 EEA 131 - ILO-Abkommen Nr. 97 61 Fremdenfeindlichkeit 146, 156f., 166f., 173 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, s. auch Sozialcharta 129, 132, 134-136, 143-146, 148, 160 Gender Mainstreaming 12, 24, 29, 43, 106, 152f., 163f., 166, 179
Geschlecht 17, 21, 24, 29, 31, 34-36, 39f., 42, 49, 80f., 86, 96, 133, 136, 146, 152, 168, 170, 179, 180, 182, 183f., 186 Geschlechter - arrangement 14, 17-19, 21, 29, 37, 39, 40, 43, 186 - differenz(ierung) 13, 34f., 37, 39f., 182 - gleichheit 12-15, 18, 24, 27, 40, 75, 9598, 103, 123, 137, 151-153, 166, 171, 176, 179, 181, 183 - semantik 35, 48f. - skript 17, 25, 28f., 77, 163, 165, 175, 178-181, 184, 186 - Vergleichbarkeit der Geschlechter 17, 32, 75, Geltung, des Gemeinschaftsrechts 46, 93, 176 - direkt 99, 101, 148, 177 - unmittelbar 93 Gewalt 13, 146, 160-162, 172 Gleichbehandlungsnormen 97, 99f., 131 Gleichheit 12, 14, 17, 19, 24, 26, 28f., 3234, 38-40, 44-46, 50f., 71-75, 78, 84, 95, 106, 123f., 133, 140, 154f., 158, 168, 173, 175f., 179f., 182-184 Gleichheitsskript 16, 29, 41, 48, 50f., 53, 75, 104, 177, 184 Gleichstellung 12, 20, 29, 33, 69f., 106, 119-121, 123, 141, 152, 156f., 163-166, 168, 170, 172f., 180f., 183 - Gleichstellungsinstitut 181 Griechenland 141 Groeben, Hans von der 45, 48, 60, 66, 71, 95, Großbritannien 98, 108, 132, 136-138, 141, 144 Grundrechte - agentur 181 Guigou, Elisabeth 156 Haager Erklärung - Konferenz 104, 108 - Schlusskommuniqué 108 Hallstein, Walter 80-82, 84, 108
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Harmonisierung 52f., 58-61, 64-67, 6971, 84, 86, 108, 118f., 128, 132f., 138, 140, 179 Hofmann-Entscheidung 143 Hohe Behörde 54, 61, 88
Lohn - Frauenlöhne 60, 81f., 84 - Männerlöhne 60, 81, 83, 179 Lohngleichheit, s. Entgeltgleichheit Luxemburg 54, 56, 60, 64, 92, 97, 141
Inklusion 13,17, 19, 21, 29, 32, 37, 40, 45-50, 56, 92, 129, 171, 183 - Formen 18f., 36, 182, 184-186 - Ketten 49 - Modus 48-50, 183 - Muster 28 - Verständnis 36 - Vollinklusion 47, 50 Institution 36, 46, 107 -Institutionalisierung 25, 28, 48, 96, 103, 106, 175 -De-Institutionalisierung 14, 19, 32, 38f., 49 -Mechanismen (auch: inst. Mechanismen) 39, 78f. Institutionalismus 15f., 21-23, 38f., 52, 98, 184f. - historisch-institutionalistisch 15, 21f, 25 - Neo-Institutionalismus, neoinstitutionalistisch 14, 21f., 24-26, 38 International Labour Organization (ILO) 23f., 47, 53, 56, 61, 63-66, 70-72, 75, 80f., 85, 95f., 98f., 124, 141, 165, 170, 176, 179 Italien 54, 56, 60, 64, 83 Irland 20, 98, 108, 132
Maastricht Vertrag, s. Vertrag über die Europäische Union (EUV) Maij-Weggen, Hanja 115 Major, John 137 Marjolin, Robert 71 Markt 17, 20, 26, 43, 48-54, 56-62, 65-68, 70f., 73f., 77, 80, 83, 130, 134, 152, 171, 174-176, 180, 182-184, - Gemeinsamer Markt 13, 17, 25, 28, 44, 51-53, 57f., 61f., 65-67, 69f., 78f., 83, 87-91, 95, 97, 103, 108, 129f., 142f., 176-178, 181f. - Binnenmarkt, Single Market, s. auch EEA 28f., 40, 43f., 47, 80,l 125, 127134, 137-141, 151f., 157f., 171-174, 178, 180, 182-184, 186 - Marktbildung, market-building 15f., 29, 48, 53, 73, 75, 175, 182, 186 - Marktordnung 15, 52, 57, 61, 175 - Marktsystem 15, 44, 106, 178 - Ausschuss für den Gemeinsamen Markt 57-59 Marschall-Entscheidung 153 Menschenrecht (e) 12, 23, 29, 38, 46, 96, 103, 122, 146, 149, 151f., 158-166, 170, 172f., 179, 181 Menschenrechtsverletzungen 159, 166 Messina-Konferenz 53, 57-62, 65f., Minderheit (alle Wortkombinationen) Militär 37-39, 40-44 Montanunion, s. auch EGKS 11, 28, 5357, 60, 63f., 68, 73, 79, 107, 116, 146 Mutterschaftsurlaub, s. RL 92/85/EWG Mutterschutz, s. RL 92/85/EWG
Johnston-Entscheidung 41, 44 Kalanke-Entscheidung 153, 155f., 166, 168 Konstruktion 15f., 21, 26, 28, 43, 52, 56, 124, 175, 182, 185 Kreil-Entscheidung 40-44, 46-48, 92, 99, 182 Lenz, Marlene 113-116, 119f. Lissabon-Strategie 90
216
Nation 15, 21, 31, 33-37, 43, 48f., 56, - nation-building 15, 175
- Nationalstaat 15, 18, 22, 24, 31f., 40, 44f., 48-50, 56f., 80, 84, 124, 159, 175, 184, 185 New Opportunities for Women (NOW) 134 Niederlande 54, 56, 64, 113f., 141 Nonon, Jacqueline 111 Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) 58, 62, 88, 90, 124 Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) 58, 61f. Pariser Gipfel 105, 107, 109 Parlamentsausschuss für die Rechte der Frau, s. auch EP 120 Pfad 13, 14, 16, 18, 21, 24, 26, 44, 148, 184, - abhängigkeit 25 - konzept 21, 26 Pineau, Christian 59, 67 Positive Maßnahmen 33, 119, 137, 154f., 165f., 168, 170, 173 Protokoll zu Art. 119, s. Vertrag über die Europäische Union (EUV) Querschnittsaufgabe 29, 152, 163 Quoten(regelung) 153, 154, 162 Rasse/Rassismus 40, 133, 136, 146, 152, 156f., 166f. 173 s. auch RL 2000/43/EG Recht - international 98 - national 46, 97f. - supranational, europäisch 92, 42, 101 Rechtsprechung 13, 18, 39f., 82, 92f., 95, 102-104, 136, 165, 179f., 182f. Reflexionsgruppe 156-158 Region 14, 17, 19, 29, 55, 64, 152, 178, 185 Religion 38, 152, 157, 159, 182, s. auch RL 2000/78/EG 38
Richtlinien, Antidiskriminierung - RL 2000/43/EG Rasse/Ethnizität 100f., 166f., 169-171, 173, 211 - RL 2000/78/EG Beschäftigung und Beruf 100f., 166-168, 169-171 - RL 2002/73/EG Zugangsgleichheit nach Art. 141 100f., 168, 169-171, 211 - RL 2004/113/EG Versorgung mit Gütern/Dienstleistungen 100f., 169-171, 211 Richtlinien, Gleichbehandlung Geschlechter - RL 75/117/EWG Entgeltgleichheit 98, 100f., 146, 165, 209 - RL 76/207/EWG Zugangsgleichheit 41f., 99-101, 143, 166, 168f., 209 - RL 79/7/EWG Soziale Sicherheit, gesetzliche Systeme 99-101, 210 - RL 86/378/EWG Soziale Sicherheit, betriebliche Systeme 100f., 210 - RL 86/613/EWG Soziale Sicherheit, selbstständige Erwerbsarbeit 100f., 210 - RL 92/85/EWG Mutterschutz 100f., 140-142, 210 - RL 96/34/EG Elternurlaub 100f., 142f., 210 - RL 97/80/EG Beweislastumkehr 100f., 143f., 170, 210 - RL 97/81 EG Teilzeitarbeit 100f., 144f., 210 - RL 2000/43/EG Rasse/Ethnizität, s. oben - RL 2000/78/EG Allg. Rahmen Beschäftigung und Beruf, s. oben - RL 2002/73/EG Zugangsgleichheit nach Art. 141, s. oben - RL 2004/113/EG Versorgung mit Gütern/Dienstleistungen, s. oben - RL 2006/54/EG Chancengleichheit Frauen und Männern (Neufassung) 171, 211 Römische Verträge, s. Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Roudy, Yvette 114f.
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Sexuelle Ausrichtung, 146, 152, 157, 166f. s. auch RL 2000/78/EG Sirdar-Entscheidung 41 Solidarität 117, 167, 171, 184f. Soziale Grundrechte 103, 129, 132f., 143145, 154, 158f., 165, 173, 179f., 183 Soziale Sicherheit 47, 58, 63, 65f.,75, 86, 93, 95, 104, 136, 145, 167 Sozialer Dialog 132, 136f., 142, 170f. Soziales Europa 135f. Sozialpartner 85, 121, 132, 137, 142, 145, 170 Sozialpolitik 20, 45, 63, 128, 131, 136, 138, 140, 142f., 148, 165 Sozialpolitisches Aktionsprogramm 92, 95 Sozialprotokoll des EUV, s. Vertrag über die Europäische Union (EUV) Sozialrichtlinien 102, 147f. Sozialstandards 51, 53, 55, 58, 61-65, 80, 176 Spaak-Kommission 53, 61-66 Spaak, Paul-Henri 58f., 66f. Staatsbürgerschaft 36, 38, 49f., s. auch Bürgerschaft Statistik 24, 56f., 82f., 88, 95, 103 Stop I, II 172 Strukturbildung, supranationale 13, 15, 21, 28, 32, 104, 175, 184-185 Sullerot, Evelyne 87-91, 95, 97, 124, 128, 139, 141 Teilzeitarbeit 128, 131, 140, 145, 147f., s. auch RL 97/81 EG Thatcher, Margaret 20, 137 Tindemans, Leo 106, 109 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) 96, 160, 163f., 170, 173, 211 Ungleichheit 13, 22, 35, 38, 39, 49, 146, 152, 173 UN-Weltfrauenkonferenz 120, 152, 153, 155, 160, 162-164, 172, 179
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Uri, Pierre 66 Vedel-Bericht 105, 108 Vergleichbarkeit 15, 17, 32, 52, 55, 71, 89, 169 Versorgung mit Gütern/Dienstleistungen 169, 171, s. auch RL 2004/113/EG Vertragsverletzungsverfahren 20, 79, 80, 92, 95-97 Vertrag über die Europäische Union (EUV) 11, 28, 127, 135, 158 - Protokoll zu Art. 119 136 - Sozialprotokoll des EUV 129, 135f., 137, 143, 145, 165 Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 17, 28, 47, 71, 73, 75, 79, 87, 92, 96, 136, 146, 176 -Art. 117 71 -Art. 118 71, 165 -Art. 119 11f., 27f., 52f., 62, 67, 72f., 75, 78, 80, 82-103, 136, 152, 155, 165, 173, 177, 180 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), s. Amsterdamer Vertrag Vogel-Polsky, Eliane 93f., 119, 152, 156 Vorabentscheidung 92-94, 103, 143, 155 Vorrang, des Gemeinschaftsrechts 93 Wanderarbeiter/innen 47, 55, 61, 63, 66, 75, 86, 129, 146, s. auch Freizügigkeit Weltanschauung 166f., 182, s. RL 2000/78/EG Weltereignisse 160f. Weltfrauendekade 152, 160, 179 Weltgesellschaft 14, 18, 23, 25f., 176, 185 Weltgesellschaftstheorie 14, 25, Wiener UN-Menschenrechtskonferenz 160f. Wohlfahrtsstaat 19f., 38, 45, 47f., 50, 138f. World polity 14, 22f., 46, 185 Zugangsgleichheit, s. RL 76/207/EWG - nach Art. 141, s. RL 2002/73/EG