suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Die Ausbreitung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung und Ve...
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suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Die Ausbreitung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung wird gegenwärtig dadurch erschwert, dass wir uns noch immer an den Idealen und Konzepten orientieren, die in der Vergangenheit für die Beschreibung und Propagierung der Buch- und Industriekultur entwickelt wurden. Gerade die Erfolge der Epoche haben zu Mystifizierungen geführt. Die Ablösung von den überlebten Glaubenssätzen wird durch eine ökologische Kommunikationstheorie erleichtert. In ihrem Licht erscheinen die Ambivalenzen der einzelnen Medien und die Wechselwirkungen zwischen ihnen als Quelle der historischen Dynamik. Michael Giesecke ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Kultur- und Medientheorie, Mediengeschichte an der Universität Erfurt. Zuletzt erschienen: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (stw ), Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel (stw ) sowie zusammen mit Kornelia Rappe-Giesecke Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung (stw ).
Michael Giesecke Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie Mit einer CD-ROM mit dem Volltext des Buches sowie weiteren Aufsätzen und Materialien
Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. suhrkamp taschenbuch wissenschaft Erste Auflage Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main für den Hypertext (HTML-Format) Michael Giesecke Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Bibliomania GmbH, Frankfurt am Main Druck: Nomos Verlagsgesellschft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt –
Inhalt . Hinweise für die LeserInnen/NutzerInnen . . . . . . . . . . . . . Für ein zeitgemäßes Konzept kultureller Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Krise der postindustriellen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . Die informationstheoretischen Lösungsansätze . . . . . . . . . . Grenzen der informationstheoretischen Vision . . . . . . . . . . Vision D: Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vision D: Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vision D: Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose, Pathologie und Beratungsstrategien . . . . . . . . . . . Die Buchkultur als Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . Nachteile der traditionellen Sicht: Buchkultur als Industriegesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die informationstheoretische Sicht auf die Buchkultur . . . Die Entstehung des neuzeitlichen Wissensbegriffs . . . . . . Der historische Charakter von Informationskonzepten . . Das Wissen der Industriegesellschaft als Spezialfall typographischer Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Tacit knowledge‹ und seine Tradierung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Produktion von Wissen durch Versprachlichung und Vergesellschaftung von Handwerkererfahrung . . . . . . . . . . Die Abwertung persönlicher ›Geheimnisse‹ und die Prämierung öffentlichen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenschutz oder die Verrechtlichung der Beziehung zwischen den Informationen und ihren Produzenten . . . . . Die Grenzen der typographischen Wissensproduktion und der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . Drei Formen des ›Entdeckens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welchen Medien soll man glauben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die multimediale Konstruktion der Neuen Welt . . . . . . . . Reflexion und neue Weltbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die synthetische Welt der Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Kommunikation als standardisierte Informationsverarbeitung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Interkulturelle Kommunikation als interpersonelle Verständigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Kommunikation als Organisationskommunikation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prinzipien einer radikalen ökologischen Mediengeschichte und andere Vorausschaumodelle . . . . . Die drei Grundformen kultureller Prozesse . . . . . . . . . . . . . Konzepte kultureller Trendanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte und andere Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung als Wechsel von Chaos und Ordnung . . . . . Darwin, die Entwicklung artverschiedener Kommunikatoren und die Spiegelungstheorie . . . . . . . . . . Balance und Koevolution als Grundprinzipein der ökologischen Mediengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturgeschichte als Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiegelungen zwischen Mensch und Pflanze . . . . . . . . . . . . Therapeutische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythen und ambivalente Leistungen der Buchkultur . . . Die Notwendigkeit ideologischer Aufladung von technischen Medien und Kommunikatoren . . . . . . . . . . . . Der Buchdruck als Wunschmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gutenberg und die Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elf Mythen der Buchkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewinn und Verlust: Die ambivalenten Leistungen der Buchkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der Informationsgesellschaft von der Buchkultur . . . . . . . . . . Mediengeschichte als Generationenwechsel . . . . . . . . . . . . . Die Dynamik des Epochenwechsels und das sozialpsychologische Dreiphasenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . Sechs abhängige und gegenabhängige Trends . . . . . . . . . . . Von der mono- zur multiperspektivischen Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der perspektivischen Erkenntnistheorie für die Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Auf dem Weg zu einem synästhetischen und multimedialen Kommunikationskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . Visionen auf dem europäischen Weg in die Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Transformation der Industriegesellschaft durch die Informationstechnologien: techno vision . . . . . . . . . . . . . . . Das Primat der Ökonomie: market vision . . . . . . . . . . . . . . Die Krise der neunziger Jahre und die Renaissance alter Werte: human vision und user vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale und technische Netzwerke für Menschen und Gemeinschaften: network vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen soziotechnischer Utopien und ihre Überwindung: mankind vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien für die Zukunft der Gesellschaft: cultural vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Informationsgesellschaft als ökologisches Netzwerk: network vision D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundformen sozialer Steuerung und Vernetzung aus sozialwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht, Geld, Ehre, Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suche nach dem vierten Weg oder Moderation von Netzwerken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mensch als Relais in kulturellen Netzwerken . . . . . . . . Strategien für die Zukunft der Kommunikation: Ökuloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation im Zeitalter der Medienökologie . . . . . . Das Gespräch als Relais, Prozessor und Spiegel kultureller Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft des Gesprächs: dialogue vision . . . . . . . . . . . . Medienpolitik und Kommunikationsmanagement im Zeichen der Dialogkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Hinweise für die LeserInnen/NutzerInnen Das transmediale Projekt Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft – Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie umfasst – den typographischen Text (›Buch‹), – seine Umsetzung in digitale Form (›Mythen.pdf‹), – zusätzliche Informationen und Visualisierungen zum Thema in digitaler Form (›Mythen D‹) und – die Webseite ⬍mythen-der-buchkultur.de⬎. Das Buch kann ohne Zuhilfenahme der digitalen Versionen, die sich auf der beigefügten Mini-CD -Rom befinden, gelesen werden. Die digitalisierte Textfassung (Mythen.pdf ) enthält zusätzlich zur ausgedruckten Fassung farbige Reproduktionen von Quellen und einige ergänzende Faksimiles und Graphiken. Auf diese Ergänzungen wird im Buch mit dem Icon PDF 쩛CD hingewiesen. Wenn die Funktionen des mitgelieferten Acrobat Reader genutzt werden, können die Texte nach frei zu wählenden Schlagworten oder Schlagwortkombinationen durchsucht werden. Auf ein Personen- und Schlagwortregister kann deshalb in der Printversion verzichtet werden. Weiterhin ermöglicht die digitale Version ein Exzerpieren ohne Abschreiben (›copy + paste‹) und damit auch ein einfaches Anlegen von Datenbanken, Kurzfassungen usf. Die Navigation durch den Text wird durch verschiedene Funktionen (Seitenzahleingabe, Thumbnails …) erleichtert. Das digitale Datenarchiv (Mythen D) nutzt verschiedene Formate (html, gifs, flash u. a.). Seine Makrostruktur ist modular. Leitfäden und als Hypertext gestaltete Dateien erleichtern die Navigation. Die Module behandeln die zentralen Themen des Buches: – Kommunikation – Ökologie – Kultur – Geschichte – Kommunikations- und Mediengeschichte – Dialog – Struktur und Dynamik der Buchkultur – Visionen der europäischen Informationsgesellschaft am Anfang des XXI. Jahrhunderts sowie eine Zusammenstellung der – Ergebnisse der Trendforschung (Mythen und Ökuloge).
Sie bieten zum einen Zusammenfassungen und Visualisierungen des Buchtextes, die den elektronischen Medien angemessen sind. Darüber hinaus führen sie die Theorien weiter und enthalten Ergebnisse der Trendforschung, die – wie z.B. die ›Visionen des Dialogs‹ – im Buch nur erwähnt werden. Auf diese Ergänzungen wird im Buch mit dem Icon 3D 쩛CD hingewiesen. Obwohl beide Präsentationsformen, Buch und CD -Rom, separat genutzt werden können, versprechen wir uns von der Rezeption beider Medien Synergieeffekte. Die Buchlektüre kann als Einstieg in die Datenbank, und die Erkundung der Datenbank als Einstieg in den typographischen Text genutzt werden. Das Buch und die Module von ›Mythen D‹ sind Teil des Projekts einer ökologischen Theorie und Geschichte kultureller Kommunikation und ihrer Medien, das online im Internet unter der URL www.kommunikativewelt.de zugänglich gemacht werden soll. Als erster Schritt hierbei wird das auf der CD -Rom enthaltene Datenarchiv (Mythen D) unter der URL www.mythen-der-buchkul tur.de online gestellt. Updates der für die CD -Rom ausgewählten Module werden dann dort ebenfalls erhältlich sein. Feedback der LeserInnen/NutzerInnen per E-Mail kann hierbei berücksichtigt werden und ist ausdrücklich erwünscht. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Medien lässt sich kaum abschätzen, ob sich diese Verzahnung mehrerer Repräsentationsformen (Buch, CD -Rom, Internet) bewährt. Es lohnt sich aber, in dieser Richtung zu experimentieren – zumal wenn es um die Visionen der Informationsgesellschaft geht. Dem Suhrkamp Verlag sei an dieser Stelle dafür gedankt, dass er diesen Versuch mit seinen Ressourcen unterstützt. Ohne den umsichtigen Fleiß von Cornelia Alic und Susann Storz, den Erfindungsgeist von Günter Feske, die Ideen und die Hilfsbereitschaft von Marion Münchow und Christiane Heibach und die vielen Anregungen, die ich anlässlich meiner Vorträge von Verbänden, Parteien, gewerkschaftlichen und kirchlichen Bildungseinrichtungen und anderen Institutionen erhalten habe, wäre mir die Fortsetzung meiner Erkundung der kommunikativen Welt kaum möglich gewesen. Ohne den einsemestrigen Erziehungsurlaub, den mir meine Frau und meine Kinder ermöglichten, wäre sie gewiss nicht zu ihrem vorläufigen Abschluss gekommen.
. Für ein zeitgemäßes Konzept kultureller Kommunikation
Die Krise der postindustriellen Gesellschaft Die Industrienationen haben das sprachliche Wissen in unseren Köpfen und in den Büchern zum einzig glaubwürdigen Spiegel der Umwelt erklärt. Sie erfanden den Buchmarkt als interaktionsarmes Vernetzungsmedium zwischen den Menschen. Sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre Identität fanden die Industrienationen in Europa als Buchkultur. In das Medium ›Buch‹ übersetzte man alle Informationen, die wertvoll genug schienen, an die nachfolgenden Generationen vererbt zu werden. In diesem Medium führte man die Auseinandersetzungen über die Grundwerte der Gesellschaft. Mit seiner Hilfe normierte man die gesellschaftliche Wissensproduktion und überhaupt das soziale Handeln. Ohne dieses Medium keine allgemeine Schulpflicht, keine Aufklärung, keine industrielle Massenproduktion und auch keine Wissenschaft, die nach allgemeinen Wahrheiten sucht. Und umgekehrt: Ohne die Marktwirtschaft und die Industrie hat sich nirgendwo das Phänomen herausgebildet, das wir als Buchkultur beschreiben. Nach fünfhundertjähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht dieses Bündnis augenblicklich in den europäischen Kernlanden. Die postindustriellen Gesellschaften suchen nach einer Kommunikationskultur und Leitmedien, die den geänderten Strukturen besser entsprechen. Hierzu haben Politik und Management auf vielen Ebenen Dialoge begonnen. Zahlreiche Initiativen wurden von den Regierungen angestoßen. So beschloss im Februar die Europäische Kommission die Einsetzung des ›Forums Informationsgesellschaft/Forum Information Society‹. »Ziel war die Schaffung eines neuen maßgeblichen Gremiums, das die Herausforderung der Informationsgesellschaft reflektieren und erörtern und entsprechende Empfehlungen formulieren sollte.« Mittlerweile liegt der Abschlussbericht der Mitglieder dieses Forums mit Leitsätzen und Vorschlägen für eine zu
kunftsorientierte Politik in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft vor. 1 Ähnliche Beraterkreise haben sich die politischen Instanzen überall auf der Welt geschaffen: die Regierungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, in der Bundesrepublik auch einzelne Landesregierungen, und die verschiedenen Gremien der internationalen Staatengemeinschaft. 2 Die Weltgipfelkonferenz von Rio de Janeiro und vor allem auch die Nachfolgekonferenz in Midrand ›Information Society and Development Conference‹, Mai , waren als eine Art Zukunftswerkstatt gedacht, um globale Perspektiven für die Informationsgesellschaft festzulegen. Praktisch durchgängig wird in diesen Konferenzen und Studien davon gesprochen, dass sich unsere Kultur in einer grundlegenden Transformationsphase befindet. Dies drückt sich schon darin aus, dass nicht die Entwicklung der Industriegesellschaft, sondern der Aufbau der Informationsgesellschaft als Ziel formuliert wird. Der Begriff Informationsgesellschaft liefert das gemeinsame Band, die Leitidee für die unterschiedlichen Zukunftswerkstätten. Besonders deutlich sprechen die Memoranden der einschlägigen Kommissionen der Europäischen Union von unserer Gegenwart als der Epoche eines Kulturwechsels, vergleichbar der Renaissance oder dem Übergang von der Gentil- zur Sozialordnung zur Zeit der frühen Hochkulturen. Der schon angesprochene Abschlussbericht des Forums Informationsgesellschaft beispielsweise möchte die Jahrtausendwende zu einer zweiten Renaissance machen. Der tiefere Sinn der Verwendung der Renaissancemetapher liegt gerade in der Orientierung auf eine – historisch frühere – Umbruchssituation von grundlegendem, epochalem Charakter. Nicht die Weiterentwicklung einer bestehenden älteren Ordnung, also des Mittelalters in der frühen Neuzeit oder der Industriekultur in der Gegenwart, wird als Aufgabe definiert, sondern die Wiederherstellung einer Ordnung in einer chaotischen Umbruchsphase. Erneuerung nicht als Weiterentwicklung, sondern als mehr oder weniger vollständige Metamorphose! Die Epoche, deren Ende konstatiert wird, ist die Industriegesellschaft und – insofern die typographische Buchkultur mit der In Erster Jahresbericht des Forums, Brüssel , http://europa.eu.int/ISPO/policy/ isf/documents/rep-/ISF-REPORT-. Vgl. Kap. . Das kulturwissenschaftliche Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen hat die verschiedenen ›Vorausschau-Programme‹ in Japan, Großbritannien und anderen Ländern in seinem ›Magazin‹ (Ausgabe , ) zusammengestellt.
dustrieproduktion und Warenwirtschaft entstanden und verknüpft ist – die Buchkultur. Die Betrachtung der Gesellschaft an der Jahrtausendwende als Ensemble informationsverarbeitender Systeme, eben als Informationsgesellschaft, ist schon eine erste Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Industriegesellschaft. Diese informationstheoretische Perspektive gilt es als eine erste und historisch völlig neue Vision aufzugreifen.
Die informationstheoretischen Lösungsansätze Warum erscheint eine informationstheoretische Sicht auf unsere Gegenwart als unverzichtbar? Wenn wir davon ausgehen, dass die Industriegesellschaft gegenwärtig grundlegende Wandlungen erfährt und der Begriff der Informationsgesellschaft zumindest einige wichtige aktuelle Entwicklungstendenzen in unserer Kultur auf den Punkt bringt, dann ergeben sich neue Maßstäbe zur Beurteilung der Wirtschaft, der internationalen Politik, der betrieblichen Mikroökonomie, der Wissenschaften, von Kunst und Literatur und von praktisch allen anderen Phänomenen. Zunächst einmal fordert uns dieser Leitbegriff auf, uns selbst und unsere Umwelt als ein Netzwerk von informationsverarbeitenden Systemen und die ablaufenden Prozesse als Vorgänge der Informationsverarbeitung zu verstehen. Wie wir noch sehen werden, ist auch die informationstheoretische Beschreibung einseitig. Ihr Vorteil liegt augenblicklich darin, dass sie – eine neue, alternative Sichtweise auf traditionelle Phänomene eröffnet und damit neue Ordnungsstrukturen zeigt, – zeitgemäß ist, weil sich unsere Kultur selbst als Informationsgesellschaft beschreibt, – zukunftsorientiert ist, weil sich viele Probleme offenbar nur durch eine Verbesserung der Informationsverarbeitung lösen lassen. – Außerdem stellt sie eine Metatheorie bereit, die als geeignete Plattform für interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit taugt. Gerade der letzte Vorzug grenzt sie gegenüber den traditionellen Herangehensweisen der Einzelwissenschaften positiv ab. Sowohl in
den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften lassen sich viele Phänomene informationstheoretisch reformulieren. Um diese transdisziplinäre, vergleichende Kraft zu erhalten, darf man die Informationsverarbeitung allerdings nicht psychologisieren, soziologisieren, biologisieren oder in einem anderen einzelwissenschaftlichen Sinne spezifizieren. Wenn etwa ›Kommunikation‹ zum Grundbegriff der Soziologie erklärt und/oder als Antwort auf die Frage Wie ist soziale Ordnung möglich? verstanden wird, so findet ein konzeptioneller Entdifferenzierungsprozess statt. Die entstehenden Kategorien und Ergebnisse lassen sich nicht mehr ohne weiteres bei der Analyse technisierter oder intrapsychischer Informationsverarbeitung verwenden. Wir haben zwar eine andere Sozialtheorie gewonnen, aber uns im gleichen Maße von einer allgemeinen Informationstheorie entfernt. Genau das Gleiche gilt auch für die Psychologie, die ihren Objektbereich nicht auf Phänomene psychischer Informationsverarbeitung zu beschränken braucht. Die Grundbegriffe der Informationstheorie sollten jedenfalls so abstrakt gehalten bleiben, dass sie sich auf physikalische, chemische, neuronale, psychologische und soziale Phänomene anwenden lassen. Erst in diesem Fall wird es auch möglich, strukturelle Ähnlichkeiten, Spiegelungen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Erscheinungsformen der Materie aufzudecken. Solche Wiederholungen machen selbst schon, wie wir noch sehen werden, einen Grundzug der Kommunikation aus. Ein nicht den Einzelwissenschaften entlehntes Konzept von Information und Informationsverarbeitung hat sich auch als erforderlich erwiesen, um ökologische Zusammenhänge und kulturelle Phänomene zu verstehen. Denn was immer Kulturen und Ökosysteme sonst noch sein mögen, sie lassen sich als Verbund unterschiedlicher Arten informationsverarbeitender Systeme verstehen.
Warum eignet sich die Informationstheorie als Basis für historische und gegenwärtige Kulturbeschreibungen? Beginnen wir mit dem wichtigsten Gegenargument. Es lautet, dass abgesehen von unserer Gegenwart niemals eine informationstheoretische Betrachtung für eine Gesellschaft wirklich notwendig war, um ihre Reproduktion sicherzustellen. Entsprechend sind informationstheoretische Modelle niemals zum Kristallisationspunkt für die Selbstbeschreibung älterer Kulturen geworden. Selbst einschlägige Begriffe fehlen in den Sprachen. Leitmotive in den frühen Stufen
der Menschheitsgeschichte waren Nahrungssuche und Fortpflanzung, später Herrschaft und Knechtschaft, Glaube und hierarchische Ordnung, Freiheit und nationale Selbstbestimmung, industrielle Warenproduktion und Wohlstand, wissenschaftliche Aufklärung und technischer Fortschritt. Insofern ist es zwar ›bemerkenswert‹, aber durchaus verständlich, »dass die Modellierung des Informations- und Kommunikationsverhaltens erst lange nach der Modellierung anderer ökonomischer« – und kultureller – »Phänomene einsetzte«, wie A. Picot, R. Reichwald und R. T. Wigand in ihrem ›Lehrbuch zur Unternehmensführung im Informationszeitalter‹ feststellen. 3 »Während Produktionsfaktoren wie Boden, Arbeit und Kapital schon sehr früh beschrieben und deren Bedeutung für ökonomische Handlungen herausgearbeitet worden sind, ist die Auseinandersetzung mit Informations- und Kommunikationsphänomenen vergleichsweise neu« (ebd.). Der Grund dürfte darin liegen, dass die Bedeutung von Information als Produktionsfaktor in früheren Zeiten tatsächlich geringer gewesen ist. Und dies nicht nur auf dem Felde der Ökonomie, wo sich die Kosten der Information und Kommunikation, die zur Vorbereitung, Durchführung und Überwachung von Arbeitsteilung und Tausch erforderlich sind, also die so genannten ›Transaktionskosten‹, in den letzten hundert Jahren mehr als verdoppelt haben und mittlerweile mehr als die Hälfte des erwirtschafteten Einkommens in den Volkswirtschaften der hoch industrialisierten Länder ausmachen. 4 Solange der Kampf ums Überleben im Vordergrund steht, bleibt die Informationsbeschaffung im Hintergrund. In politischen Systemen, die hierarchisch und machtgeordnet funktionieren, spielt die Kommunikation ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Wer die Macht hat, anderen zu befehlen, braucht keinen Dialog. Informationen über den Verbrauch natürlicher Ressourcen und Umweltrisiken werden erst dann orientierungsrelevant, wenn die Menschheit über die Möglichkeit einer alternativen Einflussnahme auf die Umwelt verfügt. Aber diese Tatsachen besagen selbstverständlich nicht, dass Infor Die grenzenlose Unternehmung. Information, Organisation und Management. Wiesbaden 2, S. . Picot/Reichwald/Wigand, a.a. O. , S. f. Vgl. für Nordamerika J. J. Wallis/ D. C. North: Measuring the Transaction Sector in the American Economy. . In: S. L. Engerman/R. E. Gallman (Hg.): Long-term Factor in American Economic Growth. Chicago/London , hier vor allem die Tabelle auf S. .
mation und Kommunikation nicht schon immer ein Teil unserer Kultur gewesen sind. Sie lagen eben nur häufiger unterhalb der gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Wenn wir uns also aus informationstheoretischer Perspektive mit der Kulturgeschichte befassen, so decken wir in den vergangenen Epochen vor allem latente Strukturen und Prozesse auf. 5 Ich sehe in dieser Eröffnung einer alternativen Sichtweise und in der Orientierung auf die Ermittlung unbekannter Ordnungsstrukturen einen ersten Vorzug informationstheoretischer Kulturbeschreibung. Ein zweiter Vorzug ist, dass die informationstheoretische Perspektive auch für diejenigen, die sich mit der Beschreibung der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen befassen, attraktiv ist, eben weil sich unsere Kultur als ›Informationsgesellschaft‹ definiert. Sie ist darüber hinaus auch zukunftsorientiert, weil sich dringende ökologische Probleme der Menschheit nur durch eine Verbesserung der globalen Vernetzung und Informationspolitik ins Bewusstsein rücken und dann auch lösen lassen. Die technischen und wissenschaftlichen Problemlösungsinstrumentarien liegen längst vor.
Zu welchen Grundannahmen führt die informationstheoretische Anamnese? Wenn es richtig ist, dass die Industriegesellschaft an die Grenzen extensiven Wachstums gestoßen ist und dass sich kein wirklich ernstes Zukunftsproblem nach dem seit dem . Jahrhundert bewährten Schema der Industrialisierung und im ausschließlichen Vertrauen auf den freien Markt als Vernetzungsinstanz lösen lässt, dann werden sich auch die Bedeutung der Medien und die Formen der Informationsverarbeitung relativieren, die seit dem . Jahrhundert von dieser Gesellschaft für diese Gesellschaft entwickelt wurden: – Die Prämierung der Augen und der linearen visuellen Informationsgewinnung und -darstellung geht zu Gunsten anderer Sinne und synästhetischer Ausdrucksformen zurück. – Sprachliche und bildhafte Speicher- und Darstellungsformen werden durch nonverbale Ausdrucksmedien ergänzt. – Rationale, logische Informationsverarbeitung erscheint nur noch Anhänger eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses stoßen sich an diesem Vorgehen. Vgl. hierzu auch mein Nachwort zur Taschenbuchausgabe von ›Der Buchdruck in der frühen Neuzeit‹. Frankfurt am Main , S. -, hier S. ff.
als eine Form neben anderen metaphorischen und assoziativen Formen. – Die monomediale, sprachlich oder mathematisch normierte Darstellung von Wissen wird durch multimediale und assoziative Informationsdarstellungen ergänzt. – Anstelle der bloßen Addition individueller menschlicher Erkenntnisleistung treten neue Formen kollektiver Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Wissensproduktion. – Schon jetzt ist deutlich geworden, dass die große kommunikationstheoretische Erfindung der frühen Neuzeit: die Ermöglichung interaktionsfreier sozialer Informationsverarbeitung im nationalen Maßstab, nur für spezifische soziale Ziele und einen bestimmten Entwicklungsstand der Technik Gewinn bringend ist. Zudem haben wir sie mit zahlreichen Nachteilen erkauft. Dringlicher als die weitere Technisierung individueller psychischer Informationsverarbeitungsvorgänge und die technische Simulation leiblichen Verhaltens, wie sie die Industrienationen schon lange betreiben, ist die Erkenntnis der sozialen, arbeitsteiligen, interaktiven Struktur unserer Informationsverarbeitung und deren Optimierung. Eine Aufgabe ist die Gestaltung von kollektiven Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozessen in großen und kleinen Gruppen. Sie erfordert eine stärkere Orientierung an der eigenen Interaktionsgeschichte, dem Geschehen in der Gruppe als Rückgriff auf vorgefertigte Programme und Konventionen. Dies setzt aber permanente Selbstbeobachtung voraus – und zwar nicht als individueller, sondern als kollektiver Prozess. Die Verstärkung selbstreflexiver und selbstregulativer Kommunikation wird zu einem Wesensmerkmal der Informationsgesellschaft. Wir befinden uns jedenfalls augenblicklich an dem Punkt, wo die extensive Nutzung derjenigen Techniken individueller und sozialer Informationsverarbeitung, die für die Buchkultur typisch sind, und vor allem ihre Übertragung auf Bereiche, für die sie gar nicht gedacht waren, zunehmend unsere Ressourcen blockieren. Was wir brauchen, ist neben der technischen eine kulturelle Informatik und die Fähigkeit, die Informationsgesellschaft als eine Phase in der Evolution der Kommunikation zu betrachten, die vor allem durch – Synästhesie, – Multimedialität, – massive multiprozessorale Parallelverarbeitung von Informationen,
– rückkopplungsintensive Interaktion, – dezentrale, flexible, globale Vernetzung, – Selbstorganisation und -kontrolle gekennzeichnet ist. Hierzu fehlen uns gegenwärtig noch gute Begriffe. Zwar wurde über neue Medien und die Veränderungen in der Kommunikation wohl niemals in der Geschichte so aufwendig geforscht und diskutiert, wie dies in den letzten Jahren der Fall gewesen ist, aber die in dieser Diskussion verwendeten Konzepte entstammen im Wesentlichen der Buch- und Industriekultur, wie sie sich in Europa seit der frühen Neuzeit entwickelt hat (vgl. Kap. ). Symptomatisch ist, dass der Gegenstand der Medienwissenschaft noch immer auf die technischen Medien verengt wird. Von der auf die Erforschung der Massenkommunikationsmedien fixierten ›Kommunikationswissenschaft/Publizistik‹, wie sie vor allem in Deutschland die akademische Szene beherrscht, ist kaum Unterstützung bei der Beratung der Informationsgesellschaft zu erwarten, da ihr alle Kategorien zur Erfassung multimedialer Kommunikation und zum Verständnis von komplexen Rückkopplungsphänomenen fehlen. Die psychologische Forschung hat zwar große Fortschritte bei der Modellierung individueller Informationsverarbeitung gemacht. Man kann aber nach den emergenz- und systemtheoretischen Diskussionen der vergangenen Jahre nicht mehr davon ausgehen, dass sich soziale Informationsverarbeitung als eine bloße Addition individueller Informationsverarbeitung modellieren lässt. Die erkenntnistheoretische Diskussion, die in der letzten Zeit vor allem durch den radikalen Konstruktivismus wichtige Impulse erhalten hat, knüpft noch zu stark am visuellen Paradigma an. Es ist nicht zufällig, dass in diesen Ansätzen immer vom Beobachter die Rede ist, wenn es um das Subjekt des Erkenntnisprozesses geht. Andere Formen des Erkenntnisgewinns werden kaum berücksichtigt. Trotz aller Vorzüge hat auch die systemische Orientierung in den Sozialwissenschaften, indem sie die Aufmerksamkeit einseitig auf Ordnungsprozesse, auf Komplexitätsreduktion gelenkt hat, das Verständnis kommunikativer Prozesse häufig erschwert. Es geht in der Kommunikation ja immer sowohl um Strukturbildung als auch um Strukturauflösung und um die Ermöglichung von kreativer Neuordnung. Beschreibungen, die lediglich systematisieren, die Ordnung in den Dingen und Prozessen aufdecken, sind ebenso einseitig wie bloß dekonstruierende, die überall die Auflösung von Ordnung,
Variation, Zufall etc. entdecken. Die Tragik der systemischen, massenmedial orientierten, psychologisierenden und soziologisierenden Theorieschulen liegt darin, dass sie im gleichen Maße, in dem sie zum Verständnis der Buchund Industriekultur beigetragen haben, an den revolutionären Veränderungen in der Informationsgesellschaft unserer Gegenwart vorbeizielen. Sie sind zeitgemäß nur, insofern sie das Alte im Neuen beschreiben. So wie jede kulturelle Epoche ihre eigenen Interaktions-, Produktions- und Kommunikationsformen hervorbringt, so entwickelt sie auch eigene Vorstellungen darüber, was für sie gelungene Verständigung und was informativ ist. Wenn wir tatsächlich an einem Epochenwechsel stehen, dann brauchen wir nicht nur andere Medien und Formen der Informationsverarbeitung, sondern auch zeitgemäße, nicht mehr einseitig an der zu Ende gehenden Epoche der Buchkultur orientierte Modelle von Wahrnehmung, Denken, Präsentation und Verständigung.
Grenzen der informationstheoretischen Vision Gegen die Modellierung unserer Gesellschaft als komplexes informationsverarbeitendes System und damit auch gegen den Begriff der ›Informationsgesellschaft‹ gibt es zahlreiche berechtigte Einwände: Auch alle nachfolgenden Gesellschaftsformationen werden industriemäßig produzieren, durch Machtkämpfe zwischen sozialen Schichten und Gruppen geprägt sein und Geld als allgemeines Tauschmedium einsetzen. Insofern könnte man mit Peter Glotz vom ›beschleunigten digitalen Kapitalismus‹ sprechen. 6 Menschen nehmen nicht nur wahr, denken und verbreiten Informationen, sondern sie arbeiten, essen und gehen soziale Beziehungen ein. Es ist klar, dass die informationstheoretische Perspektive der realen Komplexität unseres Lebens nicht gerecht wird. Aber ohne Vereinfachungen kommt kein Identitätskonzept und keine Vision aus. Reduktionismus ist der Preis jeglicher Perspektive – und im Übrigen auch jeglichen Handelns. Die Frage kann also nur lauten, ob mehr Komplexität als erforderlich reduziert wird und ob die Rich Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. München , hier S. f.
tung der Vereinfachung stimmt. Was die Richtung anlangt, gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: Wir können uns an dem orientieren, was schon lange da ist, zum Beispiel ›Kapitalismus‹; wir können die Veränderung des Gegebenen, zum Beispiel durch die Orientierung auf ›Beschleunigung‹, zur Leitlinie erklären, oder wir fokussieren etwas – vermutlich – Neues. Die Verfechter der informationstheoretischen Perspektive verfolgen den zuletzt genannten Weg, und ich schließe mich ihnen ein Stück weit an. Nur ein Stück weit, weil es meines Erachtens nach der Jahrtausendwende weder notwendig noch zeitgemäß ist, mit einer eindimensionalen, nichtambivalenten Vision zu arbeiten. Bei ausschließlicher Nutzung der informationstheoretischen Perspektive reduzieren wir in der Tat zu viel Komplexität. Wir brauchen vielmehr ein Konzeptnetzwerk, welches es erlaubt, mehrere Visionen oder Perspektiven zugleich wach zu halten und je nach den Zwecken auszubalancieren: Vision D. Dieses ›Sowohl-als-auch‹-Denken muss die Begriffserklärungen auf allen Ebenen leiten. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich das Buch. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Am Ende steht die Vision des Dialogs zwischen verschiedenen Visionen (u. a. Kommunikation D, Kultur D, Ökologie D, Kulturgeschichte D), die Vision von Ökulogen. Einfacher geht es nicht, wenn Widersprüche mitmodelliert anstatt verdrängt werden sollen. Auch die Grundbegriffe ›Kommunikation‹ und ›Information‹ müssen in diesem Sinne aufgebrochen und multiperspektivisch rekonstruiert werden.
Vision D: Kommunikation Dass man mit einem einzigen Konzept von Informationen nicht auskommt, gehört mittlerweile zur Grundüberzeugung von vielen Fachwissenschaftlern. Andererseits ist genauso klar, dass beliebig viele Perspektiven nicht zu intersubjektiv überprüfbaren Modellen führen. Kommunikationsgeschichte gerät zur Aneinanderreihung von Facetten. Nur der Erzähler/Schreiber hält die Episoden zusammen. Und so werden dann in der wissenschaftlichen Diskussion auch nicht Modelle, sondern Personen miteinander verglichen. Der gegenwärtige medienphilosophische ›Diskurs‹ bietet hierfür das beste Beispiel. Bekanntlich befand sich die Sprachwissenschaft zu Beginn des
. Jahrhunderts vor einem ähnlichen Problem. Sie hat sich von den großen Erzählern gelöst, indem sie eine klare Untersuchungszelle entwickelte, das sprachliche Zeichen, und drei grundlegende Parameter, unter denen dieses Zeichen zu sehen ist: – Phonetik und Graphemik, – Syntax und Morphologie, – Semantik und Pragmatik.
Abb. : Dimensionen des sprachlichen Zeichens
Jede Dimension kann für sich behandelt werden, aber die reiche, komplexe Beschreibung sprachlicher Zeichen ergibt sich erst in der Zusammenschau dieser drei Dimensionen. Gesucht werden nun eine vergleichbare Untersuchungszelle für die Kommunikation und vergleichbare klare anschlussfähige Parameter, unter denen dieses Untersuchungsobjekt zu betrachten ist. Beginnen wir mit der Untersuchungszelle, den ›Objekten‹ kommunikationstheoretischer Untersuchung. Der erste Grundbegriff der Kommunikationswissenschaft ist Information. Diese ist nicht ohne ein (Informations- oder Kommunikations-) Medium zu haben. Informationen werden von allen Wissenschaften untersucht, die Spezifik der Kommunikationswissenschaft liegt da
rin, dass sie diese in Beziehung zu Kommunikatoren oder Prozessoren setzt. Medien halten Informationen konstant (speichern, vermitteln), Prozessoren verändern Informationen. Wir brauchen in der Kommunikationswissenschaft also zwei grundsätzlich unterschiedliche Objekte, die immer miteinander verknüpft sind. Hier liegt schon ein erheblicher Unterschied zu anderen Disziplinen. Die Biologie beispielsweise baut ihre Objekte aus gleichartigen »Zellen« auf, die Sprachwissenschaft konzentriert sich auf die ebenfalls homogenen Objekte »sprachliche Zeichen« und behandelt die Sprecher als Umwelt. Die Physik kann ihren Objektbereich aus Atomen aufbauen, jedenfalls konnte sie das lange Zeit. Die Kommunikationswissenschaft hat demgegenüber von Anfang an mit heteronomen, artverschiedenen Grundbausteinen zu tun, und diese Ambivalenz drückt sich ja schon in der Doppelbezeichnung Medien- und Kommunikationswissenschaft aus. Sie kann symbolisch durch die Verwendung eines Rechtecks für die Medien oder Speicher, die Informationen konstant halten, und durch einen Kreis für die Kommunikatoren, Katalysatoren und informationsverarbeitenden Systeme, die Informationen verändern, ausgedrückt werden. Ich plädiere stark dafür, der Versuchung zu widerstehen, zwei Disziplinen (Medien- und Kommunikationswissenschaft) zu schaffen, um der Zirkularität der Basiskategorien auszuweichen. Es macht keinen Sinn, von einer medienlosen Kommunikation oder von Medien ohne Bezug auf Informations- oder Kommunikationssystem zu sprechen. Es handelt sich nicht um unabhängige Variablen, sondern um Pole, die sich nur im wechselseitigen Bezug aufeinander klären lassen. Deshalb ist auch die Relation zwischen diesen beiden Kategorien immer ein Untersuchungsgegenstand. Man kann auch sagen, dass die Untersuchungszelle der Kommunikationswissenschaft eine Relation zwischen den beiden artverschiedenen Objekten Medium/Information und Informationssystem/Kommunikator ist. Unter welchen Perspektiven soll dieses Tripel nun untersucht werden? Mein Vorschlag ist, die folgenden drei Parameter auseinander zu halten: – ein epistemologisch-informationstheoretischer, – ein topologisch-struktureller und – ein ontologisch-spiegelungstheoretischer Parameter. Auf dem epistemologischen Parameter offenbart sich die kommunikative Welt als ein Ensemble von unterschiedlichen Typen von Infor
mationssystemen, die Informationen der Umwelt aufnehmen, verarbeiten und wieder abgeben. In der topologischen Perspektive sehen wir die kommunikative Welt als ein Netzwerk unterschiedlicher Typen von Kommunikatoren, die mal so, mal anders miteinander verknüpft sind. Auf dem ontologischen Parameter sehen wir eine Vielzahl von Medien, die auf unterschiedlichen Ebenen emergieren. Zwischen diesen Medien herrscht mehr oder weniger große Resonanz, das heißt, wir können Wiederholungen von informativen Strukturen, Spiegelungen zwischen ihnen feststellen.
Abb. fasst die Parameter der kommunikativen Welt zusammen.
Wenden wir uns von den Strukturen der kommunikativen Welt ab und zu den dynamischen Prozessen hin, so geben uns die drei Parameter wiederum klare Perspektiven vor. Kommunikation erscheint in der epistemologischen Dimension als Parallelverarbeitung von Informationen durch mehrere Informationssysteme. Dazu müssen diese in irgendeiner Weise verkoppelt sein. Diese Vernetzung von Kommunikatoren wird in der topologischen Dimension beschrieben. Aus der ontologischen Perspektive erscheint Kommunikation als Widerspiegelung zwischen Medien. Der epistemologisch-informationstheoretische Parameter bedarf in unserer Gegenwart kaum mehr einer näheren Erläuterung. An
knüpfend an den Siegeszug der Informatik und der Technisierung der Informationsverarbeitung ist es in unserer Kultur üblich geworden, die unterschiedlichsten Phänomene unter dem Gesichtspunkt der Informationsverarbeitung zu betrachten und zu vergleichen. Einen Sonderfall dieser Informationsverarbeitung, nämlich jener, in dem mindestens zwei unabhängige Prozessoren miteinander verkoppelt werden, kann man Kommunikation nennen. Der andere Ansatz, der diesen Parameter stützt, ist die klassische Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass Informationen das Produkt von Wahrnehmungsvorgängen sind. Dass sich Kommunikation zudem als Vernetzung zwischen Kommunikatoren in Raum und Zeit vollzieht, gehört ebenfalls zu den Gemeinplätzen, auf denen man aufbauen kann. Die Sender/Empfänger-Modelle nutzen dieses Konzept. Viele Mediengeschichten nehmen die Überwindung von Raum und Zeit zwischen den Kommunikatoren als Leitlinie. Fortschritt erscheint dann als zunehmende räumliche Vernetzung und als Beschleunigung des Informationsaustauschs: Globalisierung und Gleichzeitigkeit. (Auf diesen Parameter komme ich in Kap. zurück.) Entschieden weniger akzeptiert wird augenblicklich noch die ontologisch-spiegelungstheoretische Perspektive. Zumal in den Geistesund Sozialwissenschaften herrscht die Tendenz vor, den epistemologischen Parameter zu prämieren und Medien einseitig unter dem Gesichtspunkt ihrer Konstruktion durch Beobachter zu sehen. Dies lenkt von der Materialität der Medien und den unterschiedlichen Typen von informationsverarbeitenden Systemen ab und leistet in der Regel psychologisierenden und soziologisierenden Beschreibungen Vorschub. Der Sinn der Einführung des ontologischen Parameters ist es, die unterschiedlichen Emergenzniveaus auseinander zu halten, auf denen Informationsmedien und damit Informationen emergieren können; zum Beispiel physikalisch-anorganisch, organisch-hormonell, psychisch, sozial. Zweitens geht es darum, im gleichen Sinne auch eine Typologie der Informationssysteme und Kommunikatoren zu erstellen. Informationsverarbeitung und Kommunikation erscheinen als das Produkt des Zusammenwirkens artverschiedener Systeme – so wie auch die Spezifik von Ökosystemen durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Arten von tierischen und pflanzlichen Lebewesen und der unbelebten Natur zustande kommt (Abb. 3D 쩛CD). Es steht ganz außer Frage, dass die Kommunikations- und Me
dienwissenschaften hinsichtlich der Typologie der Medien noch eines Linne´ harren. Aber ohne die Einführung des ontologischen Parameters, so unvollkommen seine verschiedenen Skalierungen auch sein mögen, bleibt die Beschäftigung mit Multimedialität, Synästhesie, massiver Parallelverarbeitung, der Kommunikation zwischen Menschen und Tieren, Pflanzen, Technik und vielem anderem mehr ohne eine theoretische Basis. Die Unterschiede zwischen Mensch, Natur und Technik müssen irgendwo verortet werden, und ich schlage hierfür den ontologischen Parameter vor. Erst nachdem wir den ontologischen Parameter eingeführt haben, lassen sich auch klare Unterschiede zwischen der Rede von sozialer und von kultureller Kommunikation ziehen. Bislang werden diese beiden Begriffe ja häufig synonym gebraucht. Von sozialer Kommunikation sollte aber nur dann die Rede sein, wenn als Kommunikatoren Elemente der wie auch immer definierten sozialen Systeme oder diese selbst in Frage kommen: soziale Schichten, Rollen, Institutionen, Gesellschaften. Ohne die Soziologie, deren Aufgabe die Beschreibung unserer Kultur als soziale Welt ist, hätte auch die Rede von der sozialen Kommunikation keinen sicheren Grund. Damit Phänomene des Alltags wie zum Beispiel der ›Mensch‹ zu einem Element des soziologischen Objektbereiches werden können, müssen sie sozial typisiert werden – etwa im Sinne der Idealtypenlehre von Max Weber. Kommunikation erscheint als ›fait social‹ (Emile Durkheim). Desgleichen kommen als Medien nur ›sozialisierte‹ in Frage. Sie müssen sozialen Sinn, das heißt Sinn für die sozialen Konstrukte besitzen und Funktionen in den sozialen Gefügen erfüllen. Perfekt wird diese Anforderung durch Technik und Sprache realisiert, die als soziale Produkte gelten. Deshalb erscheint dem Sozialwissenschaftler letztlich alle Kommunikation als sprachlich vermittelt. Alle Inhalte des sozialen Gedächtnisses lassen sich verbalisieren. Sinnstiftung und Versprachlichung werden als Synonyme behandelt. 7 Es gibt jedoch in der Phylo- und Ontogenese viele Belege dafür, dass auch nonverbale Medien Verständigung ermöglichen und dass weder das Bewusstsein immer an diesen Prozessen beteiligt sein muss noch irgendeine Form von Bildung oder Dieses Verständnis findet sich auch bei vielen Psychologen und psychoanalytischen Kulturtheoretikern wie zum Beispiel Lacan und J. Derrida. Psychische Strukturen lassen sich durch die Übersetzung in Sprache erkennen und vergleichen.
Bestätigung sozialen Sinns das Ergebnis des kommunikativen Prozesses ist. Die Spezifik kultureller Kommunikation ergibt sich demgegenüber gerade daraus, dass unterschiedliche Typen von Informationssystemen/Kommunikatoren mit unterschiedlichen Typen von Medien verbunden sind. Die Komplexität dieser Kommunikation rührt nicht nur aus der Vielfalt von Prozessoren in quantitativer Hinsicht, sondern auch in qualitativer Hinsicht her: biogene, psychische, soziale, physikalische u. a. Medien- und Systemtypen wirken zusammen. Große Erfahrungen mit der Modellierung von Beziehung zwischen artverschiedenen Objekten hat die Ökologie. Im gewissen Sinne kann man sie sogar als Lehre von diesen Beziehungen definieren. Wenn die Kommunikationswissenschaft den ontologischen Parameter ernst nimmt, wird sie auf Erfahrungen dieses Forschungsparadigmas zurückgreifen können. In dem Maße, in dem sie dies tut, wird sie selbst zu einer ökologischen Kommunikationswissenschaft.
Die Integration der Beschreibungen zu D-Modellen Die Untersuchung der Objekte der kommunikativen Welt: Medien, Informationssysteme und deren Strukturen und Dynamiken unter den drei Perspektiven, führt zu unterschiedlichen Ansichten derselben Phänomene. Werden diese zusammengefügt, entstehen Modelle, die so genannten D-Modelle. Zur Integration der Beschreibung stehen verschiedene hochabstrakte Theorien zur Verfügung. Neben der Ökologie als Lehre von den Beziehungen artverschiedener Systeme und System-UmweltBeziehungen sind dies vor allem die allgemeine Systemtheorie sowie strukturalistische, synergetische und genetische Emergenztheorien. Die Ökologie eignet sich in besonderer Weise zur Modellierung des Zusammenhangs zwischen den drei Parametern, weil sie in der Biologie mittlerweile schon zu einer mehrdimensionalen Supertheorie ausgebaut ist, die zu allen Parametern und ihren Beziehungen Annahmen macht: In der Biosystemtheorie untersucht sie die Informationsverarbeitung als Input-Output-Prozesse; die Synökologie untersucht Vernetzungen als Wechselbeziehung zwischen artverschiedenen Organismen, und schließlich hat sie das Spiegelungskonzept in ihrer Theorie der Koevolution ausformuliert. Trotzdem sind noch viele Fragen nach dem Zusammenhang der
verschiedenen Beschreibungen und der Möglichkeit der Visualisierung offen. Sicher ist, dass die Beschreibungen nicht unabhängig voneinander sind, sondern sich wechselseitig voraussetzen und sich deshalb auch korrigieren können: Nur weil die Kommunikatoren Informationen verarbeiten, sind sie Kommunikatoren. Nur weil die Informationssysteme Informationen von einem Medium beziehungsweise einem Emergenzniveau in/auf ein anderes transformieren, werden sie zu Informationssystemen. Nur weil die Medien sowohl als Umwelt für die Informationssysteme als auch als Mittler zwischen den Kommunikatoren dienen, emergieren sie überhaupt als Informations- und Kommunikationsmedien. Nur wenn wir alle drei Parameter nutzen, können wir jeden einzelnen verstehen und anwenden. Ziel der Modellierung kann deshalb nicht eine Reduktion der drei Dimensionen, wie dies letztlich das Ziel der perspektivischen Konstruktionen ist, sondern nur die Erhaltung der drei Dimensionen sein. Eine Möglichkeit einer solchen Visualisierung ist es, die Beschreibungen zu einem endlosen Band zu verknoten. 8 Abbildung (PDF 쩛CD) mag eine erste, begrenzte Vorstellung eines solchen Modells geben. Weitergehende dreidimensionale dynamische Visualisierung unter Nutzung der Knotenmetapher bieten die Animationen ›Kulturelle Prozesse‹ und ›Kulturgeschichte aus ökologischer Sicht‹ (3D 쩛CD, Modul ), eine räumliche Darstellung des Kommunikationskonzepts die Animation ›Kommunikation aus verschiedenen Perspektiven‹ (3D 쩛CD, Modul ). Auch diese Darstellungen erfolgen selbst wieder von einem Parameter der kommunikativen Welt aus: Man ›sieht‹, konstruiert die Das Bild des endlos verknoteten Bandes verwendet auch Marshall McLuhan. Er nennt es Tetrade und legt es zur Beschreibung historischer Prozesse in vier Schlaufen: Wiedergewinnung, Veralten, Erhöhung und Umkehr. (The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das . Jahrhundert (gemeinsam mit Bruce R. Powers). Paderborn , S. ). Die gestaltpsychologische Herleitung kann ich nicht gut nachvollziehen, umso mehr teile ich seine Intention, damit »einfach ein intuitives Werkzeug« zu schaffen, »das, ähnlich der Denkweise Heraklits, auf Prinzipien des Ausgleichs von Gegensätzen beruht« (ebd., S. ). Knoten und Tetrade zeigen – unter anderem – »die fraktale Struktur von Mediensystemen«, und von anderen Netzwerken (S. ). Sie eignen sich »als das wissenschaftliche Instrument einer zukünftigen Trendforschung« (S. ). Wieso die Emergenz von neuen Strukturen die Verknüpfung von › Bedingungen‹ (S. ) erfordert, verstehe ich nicht. Ich ziehe es vor, den einfachsten Fall der Vernetzung zum Paradigma zu nehmen: Kommunikatoren. Die emergente vierte Struktur ist der Knoten.
Objekte der kommunikativen Welt entweder aus der Perspektive der Informationsverarbeitung, der Vernetzung oder der Spiegelung. Die folgende Abbildung fasst die drei möglichen Beschreibungen der Kultur als Objekt der kommunikativen Welt zusammen. 9 Einen Standpunkt außerhalb der drei Parameter gibt es nicht. Wohl aber kann die Verknüpfung der Beschreibungen durch die Kommunikatoren/Informationssysteme selbst oder aber durch die Wissenschaftler, die dann einen Standpunkt in dieser kommunikativen Welt einnehmen müssen, beobachtet und reflektiert werden.
Vision D: Kultur Wenn man es beratungsmethodisch sieht, habe ich mit dem Ausdruck ›Informationsgesellschaft‹ die Problembeschreibung des – Rat suchenden – Klientensystems übernommen. Aus der Beratung von Personen und Organisationen wissen wir, dass solche Problemformulierungen immer schon ein Teil der Misere sind. Zwar kommt der Berater/die Beraterin nicht umhin, an diese Selbstbeschreibung anzuknüpfen, aber er/sie wird sie doch als Ausdruck der gegenwärtigen und eben als unbefriedigend erlebten Verfassung der Klienten verstehen. 10 Vor jeder genaueren Analyse liegt deshalb die Vermutung nahe, dass der Klient, die Industrie- oder Informationsgesellschaft, seine Selbstbeschreibung ändern muss, um seine Probleme zu lösen. Solange sie sich selbst ausschließlich oder auch nur in erster Linie als ein soziales Gebilde auffasst, stehen die Aussichten für ein anderes Verhältnis gegenüber der belebten und unbelebten Natur und der Technik schlecht. Tatsächlich ist die Industriegesellschaft an der Jahrtausendwende das Produkt von sozialen Normierungsprozessen. Die Zivilisierung des Tieres im Menschen, die Von Dimension rede ich, wenn ich Objekte beschreibe. Welten werden durch Parameter beschrieben. Welten können auch – in der Außenperspektive – als Objekte und Objekte als Welten beschrieben werden. Es gibt keine Objekte ohne Welten und umgekehrt. Beim strikt selbstreferentiellen Theorieaufbau – wie hier in diesem Buch – ist der Betrachter immer ein Objekt in der Welt und sein Standpunkt auf den Parametern zu fixieren. Die Verwendung des Begriffs ›Perspektive‹ lässt es zu, zwischen ›Parametern‹ und ›Dimensionen‹ zu oszillieren beziehungsweise die Entscheidung offen zu halten. Zur Kritik dieses Reflexionsstandes und damit auch des Konzepts der ›Informationsgesellschaft‹ vgl. zum Beispiel Peter Glotz: Die beschleunigte Gesellschaft, Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München .
Abb. : Die drei kommunikationstheoretischen Perspektiven auf Kulturen
Durchsetzung demokratischer Steuerungsprogramme, die Unterwerfung der Naturgewalten unter die Technik und viele ähnliche Sozialisierungsphänomene stehen auf der Erfolgsliste des Projekts ›Gesellschaft‹. Große Hoffnungen setzte man deshalb in Deutschland und anderenorts seit den er Jahren auf die Sozialwissenschaften. Vergleichbar den Nadelbäumen, die, kurz vor ihrem endgültigen Absterben, noch einmal Zapfen im Übermaß heraustreiben, haben diese Wissenschaften seither zahlreiche Zukunftsmodelle und Analysen auf die Büchertische gelegt. ›Überflussgesellschaft‹, ›Freizeitgesellschaft‹, ›Risikogesellschaft‹, ›Fernsehgesellschaft‹ … schließlich die ›Gesellschaft der Gesellschaft‹ von Niklas Luhmann, in der noch einmal der Versuch unternommen wird, möglichst alle Phänomene aus der Perspektive der Soziologie, und nur aus dieser, zu erklären.
Von der Gesellschafts- zur Kulturtheorie Eine Alternative zu einem solchen, in der Tradition der Linearperspektive liegenden eindimensionalen Ansatz ist die mehrdimensionale Kulturanalyse, ›cultural vision‹. Sie hat sich bei mir im Laufe der verschiedenen Anläufe zur Anamnese und Diagnose des Epochenwechsels entwickelt. Die zwei folgenden Kapitel des Buches knüpfen noch stark am Konzept der sozialen Informationsverarbeitung und Kommunikation an. Aber spätestens bei dem Versuch, ›Die Entdeckung der Neuen Welt‹ zu verstehen, erwies sich die Fixierung auf soziale und damit vor allem auch auf sprachliche Medien als Hemmnis. Ich bin dazu übergegangen, die Kommunikationssysteme als Kulturen zu verstehen und diese wiederum als Ökosysteme, die in drei Dimensionen zu beschreiben sind. Diesen Grundgedanken, dass sich menschliche Kulturen wie die von Biologen in Kooperation mit anderen Wissenschaftsdisziplinen beschriebenen ›natürlichen‹ Ökosystemen aus artverschiedenen Elementen zusammensetzen, gilt es festzuhalten. Kulturen unterscheiden sich von Gesellschaften u.a. dadurch, dass sie genau keinen homogenen Objektbereich bilden, sondern ihre Subsysteme auf verschiedenen Niveaus emergieren. Deshalb gibt es auch keine Superperspektive zur Beschreibung von Kulturen. Wir brauchen immer mehrere Ansätze, und wir sind als Beschreiber oder Berater immer (mehr oder weniger integrierter) Teil einer Kultur. Da Kulturen überkomplexe Phänomene sind, gibt es selbstver
Abb. : Kulturen aus ökologischer kommunikationswissenschaftlicher Sicht
ständlich viele solcher Beschreibungsperspektiven. Hier geht es um eine kommunikationstheoretische Beschreibung von Kulturen. Und bei dieser können wir an die drei Parameter anknüpfen, die für den ökologischen Kommunikationsbegriff konstitutiv sind. Kulturen erscheinen dann als – komplexe, selbstbeschreibende informationsverarbeitende Systeme (epistemologisch-informationstheoretischer Parameter), – inhomogene Netzwerke unterschiedlicher Typen von Kommunikatoren/Relais, die sich mal so, mal anders verschalten und dabei Aktivitätszentren und Peripherien schaffen (topologisch-netzwerktheoretischer Ansatz), – Spiegelkabinett von Medien auf gleichen und unterschiedlichen Emergenzniveaus, die durch Katalysatoren miteinander in Resonanz gebracht werden (ontologisch-spiegelungstheoretischer Ansatz). Wie bei dem Kommunikationsmodell ergänzen und korrigieren sich die drei Perspektiven wechselseitig. Sie bauen zirkulär aufeinander auf, und deshalb könnte man die Ergebnisse kommunikationswissenschaftlicher Kulturbeschreibung auch als Knoten darstellen. Zwar ist das globale Ökosystem ohne Zentrum. Es gibt auch keinen Standpunkt außerhalb des Netzwerkes, von dem es wahrgenommen oder beschrieben werden könnte. Aber es gibt auch keine
Beschreibung ohne einen Bezugspunkt. Also wählen wir einen solchen bei jeder Wahrnehmung. Der natürliche Ausgangspunkt für den Menschen ist dieser selbst – in der einen oder anderen Rolle, auf dem einen oder anderen Emergenzniveau. In diesem Sinne ist Anthropozentrismus in den Kulturwissenschaften unvermeidbar, eher schon Ausdruck eines hohen Problembewusstseins und komplexen multidimensionalen Herangehens. Wenn nicht anders vermerkt, ist mit der Rede von den ›Kulturen‹ immer jenes ökologische Netzwerk gemeint, das den Menschen hervorgebracht hat, diesen erhält und von ihm erhalten wird. Diese menschlichen Kulturen kann der Mensch wahrnehmen und mitgestalten. Da wir als Menschen ebenfalls außerordentlich komplexe Ökosysteme sind, können wir viele Ausschnitte der globalen Kultur wahrnehmen und beeinflussen. Die Rede von der menschlichen Kultur meint vor diesem Hintergrund, dass wir zwischen verschiedenen Standpunkten, Emergenzniveaus, Sinnesorganen und Perspektiven bei der Beschreibung wechseln. Ihre Modellierung erweist sich als das Ergebnis komplexer Oszillationsvorgänge. Vgl. die Animation ›Kultur aus verschiedenen Perspektiven‹ (3D 쩛CD, Modul ).
Vision D: Kulturgeschichte Grundsätzlich kann Geschichte als Chronologie, Veränderung und Entwicklung aufgefasst werden. Die meisten Mediengeschichten listen das Erscheinen von Medien im Ablauf der Jahre auf und liefern damit Chroniken. Solche Chroniken erleichtern es, Veränderungen in den medialen und kommunikativen Verhältnissen festzustellen. Legt man die drei Dimensionen von Kultur zu Grunde, dann ergeben sich auch für kulturelle Veränderungen klare Perspektiven. Die verschiedenen Kulturen und historischen Epochen unterscheiden sich aus der epistemologischen Perspektive durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren und Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen und reflexiv verstärken. Obwohl alle menschlichen Kulturen multimedial, multisensuell und massiv parallel verarbeitend angelegt waren und sind, hatten beziehungsweise haben sie niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt. Vielmehr erwiesen und erweisen sich die Dis
proportionen in der Nutzung der Sinne und Medien als wichtiger Motor für alle Veränderungen der menschlichen Kulturen. Zum anderen unterscheiden sich die Kulturen in der topologischen Dimension durch die Vernetzungsformen, die sie bevorzugen und die sie dann auch als »Kommunikation« auszeichnen. In diesem Sinne war es beispielsweise keineswegs selbstverständlich, dass man in der Neuzeit die Bücher als Kommunikationsmedium akzeptierte, obwohl es kaum Rückkopplung zwischen den Autoren und ihren Lesern gab und gibt. Die Kulturepochen unterscheiden sich auch danach, welche Medien sie überhaupt als Kommunikationsmedien akzeptieren. Jede Veränderung im Netzwerk führt zur Verschiebung von Peripherie und Zentrum. Drittens unterscheiden sich die Kulturen in der ontologischen Dimension u. a. durch die Spiegelungen, die sie zwischen den Menschen und der übrigen belebten und unbelebten Natur zulassen und nutzen. Was wird als kulturelles Informationsmedium anerkannt und was nicht? Wie viel Ähnlichkeiten zwischen den Menschen und den anderen Medien und Kommunikatoren wird für notwendig erachtet, um diese zu Elementen der menschlichen Kultur zu machen? Außerdem emergieren in der Natur- und Sozialgeschichte neuartige Medien/Kommunikatoren. Vorhandene Existenzformen können aussterben (vgl. Kapitel ). Zusammengenommen legen die Merkmale in den drei Dimensionen fest, was eine Kultur als Information und als Erkenntnis, als Kommunikation und Kommunikatoren, als kulturelle Medien und als Umwelt definiert. Und diese Definitionen bestimmen als Programme das Handeln und als Selbstbeschreibungen die Identität der spezifischen historischen Kulturen. Von historischen Entwicklungen sollte man nur reden, wenn man eine Skalierung des ontologischen Parameters vornimmt. Man braucht Vorstellungen über die Entstehung kommunikativer und medialer Arten. Auf diesen Gedanken gehe ich in Kapitel ausführlich ein. Bei allen Modellierungen von Geschichte angelangt, muss dem Grundgedanken der Medienökologie und der drei Parameter der kommunikativen Welt Rechnung getragen werden. Der Kerngedanke der ökologischen Mediengeschichte ist deshalb, die Geschichte als dynamische Beziehung nicht nur zwischen artverschiedenen Systemen, sondern auch zwischen artverschiedenen Prozessen zu begreifen.
Voraussetzung einer historischen Medienökologie ist demnach auch eine Typologie von Prozessen – vergleichbar der Typologie von Objekten, die alle beschreibenden Wissenschaften hervorgebracht haben. Synchrone Ökologie mag mit einer Typologie von Medien und Informationssystemen auskommen – und Prozesse dann als Bewegung in und von diesen Systemen begreifen. Diachrone Ökologie muss die Prozesse selbst ins Zentrum rücken, diese und deren Interaktion modellieren. Ich schlage in diesem Sinn vor, drei grundlegende Typen kultureller Prozesse bei diachronen Beschreibungen zu berücksichtigen: Substitution, Akkumulation und Reproduktion. Man könnte sie auch revolutionäre, reformistische und konservative Prozesse nennen (vgl. Abb. ).
Abb. : Grundtypen kulturgeschichtlicher Prozesse
Zwischen den drei Grundformen der Bewegung gibt es in der Praxis fließende Übergänge, zum Beispiel bei dem Umschlag von Quantität (Akkumulation) in Qualität (Substitution). Innovationen (Substitution) erweisen sich häufig als Voraussetzung für Bestandserhaltung (Konservieren/Reproduktion). Andererseits können das Bewahren und Wiederholungszwänge auch eine Ursache für das Zusammenbrechen von Systemen und radikalen Neuanfang (Innovation) sein. Die Dynamik des Wechsels zwischen den kulturellen Epochen kann auf allen drei Parametern ansetzen. Man kann sie
als Veränderung des Fließgleichgewichts, als Eroberung neuer Stufen oder als exponentielle Steigerung von kulturellen Gütern beziehungsweise als Beschleunigung kultureller Prozesse beschreiben. Vollständig werden solche Darstellungen jedenfalls erst, wenn alle drei Parameter als Perspektive genutzt und die Ergebnisse der Beschreibungen miteinander verknüpft werden. Diese kurze Skizze mag ausreichen, um in die Grundgedanken einer ökologischen Geschichte kultureller Kommunikation und ihrer Medien einzuführen. (In den Kapiteln und sowie auf der CD-ROM folgen weitere Erläuterungen.) (3D 쩛CD, Modul , ) Nach der Klärung wichtiger theoretischer Kategorien können wir sehen, welche therapeutischen und diagnostischen Perspektiven sich auf ihrer Grundlage für ein Change Management der postindustriellen Gesellschaft und der Buchkultur ergeben.
Diagnose, Pathologie und Beratungsstrategien Die dreidimensionalen Modelle von Kommunikation und Kultur legen die großen Bereiche fest, in denen Krisen auftreten können: Störung der Informationsverarbeitung, der Vernetzung, der Spiegelung; Störungen im Zusammenwirken der Informationssysteme, in der Vernetzung der Kommunikatoren und im Zusammenwirken der verschiedenen Medientypen. Solche Störungen können auf dem informationstheoretischen Parameter dazu führen, dass bei der Informationsverarbeitung die Balance verloren geht. Die verschiedenen Prozessoren können sich auf keine Sollwerte einigen, nach denen die Abläufe gesteuert werden. Es gibt nicht mehr genügend Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Informationssystemen, die Möglichkeiten der Synchronisation schwinden. Aus netzwerktheoretischer Sicht kann die Oszillation zwischen Senden/Sender und Empfangen/Empfänger zum Erliegen kommen. Die Kommunikationsbeziehungen erstarren, der Informationsfluss wird einseitig. Auf dem ontologisch-spiegelungstheoretischen Parameter kann die Tatsache, dass jedes Medium zugleich Spiegel für und von vielen anderen Medien ist, unterdrückt werden. Der Wechsel zwischen Anpassung/Pacing und Veränderung der Umwelt (Leading) kann gestört sein. Wird dieser ambivalente Charakter der Medien und Spiegelungsverhältnisse ausgeblendet, können ihre Ressourcen nicht gut genutzt werden (Abb. PDF 쩛CD).
In der diachronen, kulturgeschichtlichen Dimension lassen sich aus kommunikationstheoretischer Sicht insbesondere Störungen des Gleichgewichts zwischen den Hauptprozesstypen als Ursache für Krisen angeben. In historischen Epochen, in denen Substitutionsprozesse die Oberhand gewinnen, verlieren die Kulturen ihre Identität. Es können sich keine Traditionen über die Generationengrenzen hinweg bilden. Steht andererseits das Bewahren im Vordergrund der Kulturen, so können diese auf Veränderungen in ihrer Umwelt kaum reagieren, sie sind nicht anpassungsfähig. Man würde hier den Einsatz des dritten Prozesstyps erwarten: Verstärken oder behutsame Veränderung der vorhandenen Strukturen. Aber auch der Akkumulationsparameter hat seine Tücken: Mehr vom Selben kann zum Durchdrehen der Systeme führen. Die Kybernetik beschreibt solche Prozesse als symmetrische Eskalation. Die Aufgabe des kommunikationstheoretischen Betrachters und Beraters sollte es zunächst sein, solche Störungen im Fließgleichgewicht zu bemerken. Jede Beratung, ganz gleich ob es sich um Personen, Organisationen, Gesellschaften oder Kulturen handelt, macht dann Sinn, wenn die Selbstregulationsfähigkeit gestört ist. Üblicherweise können Menschen und soziale Organisationen auftretende Krisen mit ihren Bordmitteln gut lösen. Krisen sind ebenso üblich wie ihre mehr oder weniger schmerzhafte Bewältigung. Erst wenn der Einsatz der üblichen Krisenbewältigungsmechanismen immer wieder misslingt, empfiehlt es sich, jemanden hinzuzuziehen, der in die ablaufenden Prozesse weniger stark integriert ist und der deshalb dem Sog der Wiederholung nicht so leicht erliegt. Generell kann man sagen, dass sich die hier vorgeschlagene kommunikationstheoretische Perspektive gut eignet, Distanz zu schaffen. Es ist ja bislang kaum üblich gewesen, die neuzeitliche Kultur als ein multimediales, Informationen massiv parallel verarbeitendes Ökosystem zu begreifen. Durch die drei Perspektiven erscheinen die Entwicklungsprozesse in einem neuen Licht. Wie immer, wenn das stillschweigende alltägliche Einverständnis in Frage gestellt wird, so muss man auch in diesem Fall von vornherein zwar mit Verständigungsproblemen und einer gewissen Skepsis bei den Klienten rechnen, aber gerade die alternative Sichtweise kann eine Neuorientierung erleichtern. Irritation ist der erste Schritt bei einer Befreiung von erstarrten Vorurteilen und von Wiederholungszwän
gen. Das Konzept der »Wiederholungszwänge« entstammt der psychoanalytischen Krankheitslehre. Sie geht davon aus, dass die gegenwärtigen Strukturen, Programme und Werte das Produkt langfristiger historischer beziehungsweise biographischer Entwicklungen sind. Auch die Krisen haben insofern eine dynamische Dimension. Wenn die Menschen und/oder die Kulturen an Normen und Programmen festhalten, die in einer biographisch beziehungsweise historisch zurückliegenden Epoche entwickelt wurden, um ganz andere Probleme zu bewältigen als jene, die gegenwärtig als drückend empfunden werden, blockieren sie ihr Innovationspotential. Neue Wege können nicht beschritten, kreative Ressourcen nicht genutzt werden, weil die Lebens- und/oder Kulturgeschichte dazu nötigt, alles durch die alte Brille der überkommenen Erkenntnistheorie, der traditionellen Werte usf. zu sehen. Auch der veränderten Umwelt wird mit den erlernten Handlungsmustern und den Werkzeugen zu Leibe gerückt, die für historisch weit zurückliegende Zwecke erfunden wurden. Ich denke, dass diese Diagnose auf unsere Kultur an der Jahrtausendwende in weiten Bereichen zutrifft. Einerseits gibt es revolutionäre Veränderungen in unserer Umwelt, die zu radikalen Anpassungen nötigen, andererseits werden die traditionellen Programme beibehalten. Eine wesentliche Aufgabe dieses Buches wird sein, solche herrschenden Programme der Informationsverarbeitung und Vernetzung zunächst einmal aufzudecken, ihre Ursprünge in der Geschichte zu ermitteln und vor allen Dingen zu zeigen, inwiefern sie damals dem kulturellen System angemessen waren. Denn es ist ja so, dass sich diese Verhaltens- und Erlebensweisen nur deshalb festsetzen konnten, weil sie sich gut bewährt haben. Nun gilt es zu verstehen, inwiefern geänderte Umweltbedingungen und eigene Veränderungen die Leistungsfähigkeit dieser Programme in Frage stellen. Dieser Ansatz erfordert immer eine historische Anamnese. Aus der bloßen Beschreibung der Gegenwart – oder auch der jüngeren Vergangenheit – lassen sich keine Erkenntnisse über die Funktionalität grundsätzlicher kultureller Strukturen, Prozesse, Begriffe etc. gewinnen. Je fundamentaler die Krise, desto größere historische Zeiträume müssen betrachtet werden. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es völlig unterschiedliche Auffassungen über die historische Tiefe gibt, die für solche Anamnesen und Diagnosen erforderlich sind. Wie bei der Beratung von Personen und Institutionen auch, gibt es Schulen,
die sich in ihrer Arbeit ganz auf das Hier und Jetzt konzentrieren oder die sogar nur die pragmatische Gestaltung der Zukunft im Auge haben. Ich halte solche Ansätze nicht für überflüssig, aber für genauso einseitig wie eine ausschließlich auf die weit zurückliegende Vergangenheit abzielende Rekonstruktion. Natürlich muss der IstZustand im Hier und Jetzt erhoben werden, und deshalb gehe ich in dieser Arbeit auf die Memoranden der einschlägigen Kommissionen der Europäischen Union und des ›Forums Informationsgesellschaft‹ ausführlich ein (vgl. Kap. ). Profitiert habe ich auch von den Trendberichten von Matthias Horx, die selten einen längeren Zeitraum als Jahre berücksichtigen. 11 Eine gezielte Erhebung des Ist-Zustandes setzt aber auch historische Kenntnisse voraus, um überhaupt neue von alten Strukturen unterscheiden zu können. Und um die Andersartigkeit vergangener Epochen zu verstehen, muss man Zeitkritik betreiben. Sehr klar hat dies Manuel Castells in seinem monumentalen Werk ›The Rise of the Network Society‹, das wegen seiner Konzentration auf das Hier und Jetzt gewissermaßen den Gegenpol meines Ansatzes repräsentiert, ausgedrückt: »The full understanding of the current technological revolution would require the discussion of the specificity of new information technologies vis-a`-vis their historical ancestors of equally revolutionary character, such as the discovery of printing in China probably in the late seventeenth, and in Europe in the fifteenth century …« 12 Für den Augenblick scheint ein solches ausgewogenes synthetisierendes Beratungsprojekt, so wünschenswert es ist, kaum zu verwirklichen. Was die Analyse der Gegenwart anlangt, muss ich überwiegend auf die Datenerhebungen von anderen vertrauen. Auch der Vergleich der Gegenwart mit den geschichtlichen Vorläufern fällt noch schwer: Historiker und die jüngere Generation der Gegenwartsanalytiker sprechen eine andere Sprache, und, was schwerer wiegt, sie können diese Unterschiede damit rechtfertigen, dass ihre jeweiligen Sprachen mit jenen der untersuchten Systeme im Trendbuch . Düsseldorf, Wien, New York, Moskau ; Trendbuch , . Band . Cambridge/Oxford , S. . Vermutlich ist die historische Tiefe der Anamnese ein gutes Kriterium, um den Leistungsbereich aktueller Analysen der Informationsgesellschaft zu ermitteln. Ein zweites Kriterium wäre, ebenfalls in Analogie zu den modernen Beratungsansätzen, welcher Grad an Selbstreflexion des eigenen Vorgehens für nötig gehalten wird.
Einklang stehen. Während eine Beschreibung unserer Gegenwart als Informationsgesellschaft in vielen Kreisen zu einer selbstverständlichen Übung geworden ist, haben sich die europäischen Nationalstaaten seit der frühen Neuzeit mit ganz anderen Kategorien beschrieben, und auch für das mittelalterliche Europa waren Standes- und Glaubenskriterien wichtiger als multimediale Informationsverarbeitung und globale Vernetzung. Ich werde deshalb im . Kapitel noch einmal eine Beschreibung der Buch- und Industriekultur aus kommunikationstheoretischer Sicht liefern. Dies läuft letztlich auf eine Zusammenfassung meiner Arbeit »Der Buchdruck in der frühen Neuzeit« hinaus. Erst wenn wir die Industriegesellschaft aus dieser radikal veränderten, sich von ihrer bisherigen Selbstbeschreibung als warenproduzierendes Unternehmen emanzipierenden Perspektive beschrieben haben, können wir in einem zweiten Schritt einen Vergleich mit den gegenwärtigen Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation vornehmen. Erst dann wird sich auch entscheiden lassen, welche Entwicklungen neu und zukunftsweisend sind. Ohne diesen Umweg über die informationstheoretische Neubeschreibung der Buch- und Industriekultur sehe ich keine Möglichkeit für zuverlässige Vergleiche.
Widerstände und Therapie Um diesen Umweg einzuschlagen, müssen schon zahlreiche Widerstände überwunden werden. Da die einmal von den Individuen und sozialen Gruppen angeeigneten Selbst- und Umweltkonzepte Teil ihres Systems und ihrer Identität geworden sind, kann eine Abkehr von ihnen nicht ohne Verunsicherungsphasen, Trauerarbeit und viele nostalgische Rückfälle in vergangene Verhaltensformen ablaufen. Diese Abkehr wird umso schwieriger, weil zentrale soziale Institutionen, die unser Leben (noch) bestimmen, mit der typographischen Kommunikationsform und ihren spezifischen Erkenntnisweisen und Theorien entstanden sind. Wer die Ambivalenzen der Buchkultur aufdeckt, rüttelt auch an der Legitimität dieser Institutionen. Man kann nicht die Risiken der Buchkultur aufdecken, ohne beispielsweise die allgemein bildenden Schulen, die wahrheitssuchenden Wissenschaften und Universitäten, unsere rückkopplungsarme parlamentarische Demokratie und manches andere mehr in Frage zu stellen. Latent wird der Zweifel an diesen Institutio
nen, die ohne den Buchdruck so nicht entstanden wären, mit jeder Zeile gesät, die über die Kosten der Buchkultur geschrieben wird. So kann es für diejenigen, die zu diesen Institutionen keine Alternative sehen, keine freie Rezeption der »Mythen der Buchkultur« geben. Einsicht und Veränderungsbereitschaft wird auch erschwert, weil es so scheint, als ob, ist der Veränderungsprozess einmal ins Rollen gekommen, nur wenige Bereiche überhaupt ausgespart bleiben. Natürlich verändern sich Individuen und Gesellschaften beständig, ohne dass dies als dramatisch empfunden wird. Dramatisch wird die Situation für Menschen und Kulturen dann, wenn nicht nach und nach einzelne Teilsysteme, Schichten, Organisationen etc. sich langsam im Takt des Generationenwechsels umorientieren können, sondern wenn solche Veränderungen nahezu das gesamte System mit großer Dynamik ergreifen. Grundlegender kultureller Wandel vollzieht sich als Parallelisierung von Veränderungskurven in zahlreichen Subsystemen. Bislang nebeneinanderher laufende Prozesse kommen in gleichen Takt, ihre Amplituden addieren sich. In einer solchen Situation hängt der Erfolg des Change Managements ganz entscheidend davon ab, wie gut es gelingt, Kontinuitäten zu erkennen und die historischen Leistungen derjenigen Institutionen und Programme ins Gedächtnis zu rufen, die gerade starken Veränderungen ausgesetzt sind. Bewährte Orientierungsgrößen werden zwar ihre angestammte kulturelle Bedeutung nicht mehr behalten, aber dies bedeutet nicht, dass sie allesamt und vollständig verschwinden. Altes wird neben Neuem Bestand haben, aber es wird einen neuen Rang in der Wertehierarchie erhalten. Die Entmystifizierung bislang überbewerteter Leistungen der Buch- und Industriekultur kann hier gute Dienste leisten. Auch das Anknüpfen an Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation, die in älterer Zeit, vor der Entstehung der Buchkultur, wichtige Leistungen erbracht haben und die dann in der Neuzeit in Vergessenheit geraten sind, ist eine weitere Hilfestellung. In diesem Sinn will das Buch eine alternative Perspektive auf die in ihrem Totalitätsanspruch zu Ende gehende Buchkultur eröffnen. Solange wir deren Wertmaßstäbe und Ziele noch beibehalten, können wir eine andere Kultur nicht gestalten. Wer weiter nach möglichst allgemein gültigen, zeit-, personen- und ortsunabhängigen Informationen (Wahrheiten) sucht, wer die globale, simultane, massenhafte, interaktionsfreie Verarbeitung von Informationen anstrebt, wer eine
Prämie auf die Transformation von Informationen in das visuelle und symbolische Medium in Aussicht stellt, wer bei Informationsverarbeitung und Kommunikation im Wesentlichen an psychische Vorgänge und an die Weitergabe von sprachlichen Informationspaketen denkt, der lebt in der Buchkultur und perfektioniert sie. Solange wir in der Technisierung leiblichen Verhaltens und psychischer Prozesse und in der identischen Reproduktion von Waren, Texten, Bildern oder nunmehr auch von Pflanzen, Tieren oder sogar des Menschen den Schlüssel zur Zukunft sehen, bleiben wir Kinder des Industriezeitalters. Sich diese Abhängigkeit trotz aller modernen Vokabeln und der Nutzung der neuesten Medien klar zu machen, fällt offenbar schwer und ist ohne eine systematische historisch vergleichende Reflexion – zumindest für meine Generation – kaum möglich. Die historisch vergleichende Wissenschaft kann helfen, stabile Entwicklungen von Moden zu unterscheiden und insofern größere Planungssicherheit zu geben. Solange wir die enge Bindung unserer Vorstellungen von Information, Informationsverarbeitung, Medien und Kommunikation an die Kulturgeschichte der Neuzeit nicht verstanden haben, können wir andererseits schlecht entscheiden, welche Konzepte und welche Praxis unter den erheblich veränderten gegenwärtigen Ausgangsbedingungen funktional sind. Prozessberatung setzt in Zeiten grundsätzlicher Unternehmensbeziehungsweise Kulturveränderung weiterhin Vertrautheit mit der Dynamik von Strukturzerfall, Chaos und Neuordnung voraus. Dieser Dynamik wird in Kapitel nachgegangen. Change Management und kulturelles Management überhaupt können Struktur- und Systemerhalt nicht als oberstes Ziel nehmen. Es müssen auch das Versagen des Systems in Betracht gezogen und Wege zur Neugründung gezeigt werden. Die Kompetenz, solche Prozesse zu begleiten und Vertrauen zu schaffen, setzt u. a. wohl nicht nur ein theoretisches Verständnis der Dialektik von Konstruktion und Dekonstruktion, sondern auch praktische Erfahrungen mit einem solchen Epochenwechsel voraus. Der kulturelle Epochenwechsel, den ich in dieser Absicht untersucht habe, liegt in der Renaissance. Die Dramatik der Dynamik des Übergangs von der Industrie- zur Informationsgesellschaft lässt sich jedenfalls durch einen Vergleich mit dem Übergang von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen typographischen Kultur relativieren. Dies geschieht an vielen Stellen des Buches und exemplarisch, eingegrenzt auf die Entstehung des neuzeitlichen
Konzepts von »Wissen« in Kapitel . Die Abkehr von etablierten Glaubenssätzen der Buchkultur erfordert Mut und Visionen. Die Entwicklung von Visionen für die postindustrielle Gesellschaft ist eine gemeinsame Aufgabe aller Schichten, Institutionen, Subsysteme und der einzelnen Menschen. Hierzu liegen schon viele Vorschläge vor. Vor allem bedeutet der Versuch der Europäischen Union, die Identität der Mitgliedsländer als »Informationsgesellschaft« neu zu bestimmen, eine wichtige Richtungsentscheidung. Einige der hier entwickelten Visionen werden in Kapitel diskutiert. Zu den Visionen rechne ich auch die in diesem Buch vorgestellten multivalenten und ökologischen Konzepte von Kommunikation, von Medien, von Kultur und von der Geschichte kultureller Kommunikation und ihrer Medien. Die dreidimensionalen Modelle überwinden die zentralperspektivische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Sie dürften die komplexeren Möglichkeiten der neuen Medien besser ausnutzen als die auf Widerspruchsfreiheit angelegten linearen Konzepte. Die Irritationen, die erzeugt werden, wenn wir versuchen, unsere Geschichte aus ungewohnten Perspektiven zu betrachten, lassen sich nicht vermeiden. Sie lassen sich jedoch leichter verarbeiten, wenn neben dem Aufweis von Diskontinuitäten auch an Traditionen angeknüpft werden kann. Im Einklang mit Erfahrungen aus der Begleitung der kindlichen Entwicklung könnte man hier die Nutzung von »Übergangsobjekten« vorschlagen. Ein solches Übergangsobjekt, das man als Vertrauen stiftendes Medium aus einer Entwicklungsphase mit in die nächste hinübernimmt, könnte in der gegenwärtigen kulturellen Umbruchssituation für viele Menschen der Dialog, speziell das Gruppengespräch sein. (Andere Personengruppen werden eher an Formen technisierter Kommunikation denken, die ebenfalls fortbestehen.) Ein wichtiges Ziel dieses Buches besteht darin, die Forderung nach einer Orientierung am Kommunikationsideal von zielgerichteten, selbstreflexiven Gruppengesprächen, wie sie sich zum Beispiel auch in den Kampfbegriffen ›Dialog‹, ›Teamarbeit‹, ›Interaktivität‹, ›Kreativität‹ und ›Multimedialität‹ ausdrücken, als eine logische Konsequenz der Mediengeschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen. Balance, Oszillation und Ambivalenz als Grunderfahrung solcher Gespräche erweisen sich auch als Grundprozesse der ökologischen Kommunikation und der Geschichte einer als Ökosystem verstandenen Kultur. Warum sich das selbstreflexive Gespräch von Angesicht zu Angesicht als ein solches
Übergangsobjekt eignet, werde ich in Kapitel ausführlich darstellen. (Vgl. a. 3D 쩛CD, Modul und .)
Aufbau des Buches Die einzelnen Kapitel dieses Buches entstanden nach und nach im Laufe der vergangenen acht Jahre. Sie widerspiegeln trotz ihrer Überarbeitung für den Druck unterschiedliche Phasen der Theorieentwicklung. In Kapitel und dominiert die informationstheoretische Perspektive. Kulturen erscheinen als soziale Systeme. Kapitel deckt Schwächen der Buchkultur auf und zeigt die Notwendigkeit, diese als ein multimediales Kommunikationssystem zu begreifen. Die Mystifizierungen des Leitmediums und der typographischen Informationsverarbeitung werden sichtbar. Kapitel vollzieht die Wende vom Konzept der sozialen Informationsverarbeitung hin zu einem ökologischen Kultur- und Kommunikationsverständnis. Danach erscheinen die Leistungen der Buchkultur in einem neuen Licht, ihre Grenzen treten klarer hervor (Kap. und ). Kapitel und entwickeln die neuen Visionen einer Dialogkultur als Alternative zum Konzept der interaktionsarmen Buchgesellschaft.
. Die Buchkultur als Informationsgesellschaft Nachteile der traditionellen Sicht: Buchkultur als Industriegesellschaft In Deutschland gibt es keine Tradition, die Kulturgeschichte als eine Geschichte der Informations- und Kommunikationsmedien zu betrachten. Dabei schafft eine solche Perspektive günstige Bedingungen für das Verständnis unserer Gegenwart, weil es viele Wiederholungen in der Informationsgeschichte und strukturelle Ähnlichkeiten bei der Durchsetzung alter und neuer Medien gibt. Da wir ohnehin nur das in der Zukunft mit einiger Gewissheit voraussehen könnten, was eine Spiegelung eines bekannten Musters ist, liegt in einer solchen historischen Besinnung vielleicht die größte Chance für eine verständige Zukunftsgestaltung. Fruchtbar ist ein solcher Rückblick gerade jetzt, weil wir uns erst am Anfang eines neuen Innovationszyklusses befinden. Wir stehen im Augenblick mit der Einführung der elektronischen Rechner, dem Aufbau elektronischer Kommunikationsnetze und anderer neuer Technologien wieder in einer tief greifenden Umgestaltung unserer sozialen Informationsverarbeitung. Da mag ein Blick auf die historischen Entwicklungslinien von den skriptographischen über die typographischen Medien hin zu unserer Gegenwart Anhaltspunkte über den weiteren Gang der Dinge bieten. Um einen solchen Vergleich verschiedener Etappen der Kulturentwicklung durchführen zu können, braucht man ein Analyseinstrumentarium, welches es erlaubt, Gemeinsamkeiten in den historischen Etappen zu erkennen. Die Begriffe, mit denen sich die historischen Gemeinschaften selbst beschrieben haben, betonen ihre jeweilige Spezifik und transportieren ihre Mythen. Natürlich ist es sinnvoll, sich auch um ein Verständnis solcher individuellen Selbstbeschreibungen zu bemühen. Dazu wird man probeweise die Standpunkte und Perspektiven der Menschen und sozialen Gruppen dieser Kultur übernehmen, die Quellensprache benutzen u. Ä. und sich also identifizieren. Um dann allerdings die Distanz zu gewinnen, die für eine Nutzung der Ergebnisse der historischen Betrachtung für die Gegenwart erforderlich ist, muss man die alten Informationstechnolo
gien – wie auch alle anderen Techniken – mit anderen Augen als die Zeitgenossen sehen. Dazu braucht man allgemeine Kategorien, die nicht die Muttermale einer vergangenen Etappe tragen und die nicht durch deren Mythen geprägt werden. Sowenig man beispielsweise den modernen Tourismus mit dem mittelalterlichen Entwurf der Pilgerreise beschreiben kann, so wenig lässt sich etwa die Nutzung eines Computerbildschirms mit dem Konzept des Lesens erfassen – bei diesem Wort werden unweigerlich Erinnerungen an das Buchstabieren von handschriftlichen und gedruckten Texten wach. Und natürlich ist das Eintippen von Informationen in EDV-Anlagen kein Schreiben. Um allerdings überhaupt solche Übertragungen erkennen zu können, muss man die Ursprungssituationen dieser Sprachverwendung aufsuchen. Und dies bedeutet immer: Man muss Kommunikationsgeschichte betreiben. Tut man dies, so zeigt sich, dass die Auswahl der Metaphern einen politischen Sinn besitzt, mindestens eine Marketingstrategie verfolgt. Zum Beispiel setzte man durch die Bezeichnung der Produktion der Druckerzeugnisse als Schreiben und von deren Rezeption als Lesen im . und . Jahrhundert den Mythos in Gang, die damals neuen Medien seien eine kontinuierliche Weiterentwicklung der vorhandenen, auf der Handschrift basierenden Informationstechnologie. Es war nicht mehr als ein werbewirksamer Trick, der der neuzeitlichen Gesellschaft die Angst vor Innovationen mit unabsehbaren Folgen nahm. Faktisch ist das typographische Medium ebenso wenig – oder nur in dem Maße – eine Fortsetzung des skriptographischen, wie die moderne Naturwissenschaft Fortsetzung der mittelalterlichen Theologie ist. Den gleichen Mechanismus der ›Normalisierung‹ gänzlich neuer Dinge und Tätigkeiten können wir gegenwärtig beobachten. Auch auf den elektronischen Medien wird weiterhin ›geschrieben‹, es werden Texte ›verarbeitet‹, und wir ›lesen‹ auf dem Bildschirm, und vermutlich haben wir anachronistische und deshalb beruhigende Assoziationen, wenn wir Wörter wie ›Text‹ und ›Schreiben‹ verwenden. Sucht man gegenwärtig nach einem Begriffsinstrumentarium, mit dem man die Kommunikations- und Mediengeschichte beschreiben – und überhaupt die unterschiedlichen Medienwelten unserer Gegenwart vergleichen – kann, so empfiehlt sich u. a. eine Theorie, die Kommunikation als soziale Informationsverarbeitung
begreift. Sie interessiert, wie Informationen in den verschiedenen Zeiten gewonnen, gespeichert, verarbeitet, reflektiert und dargestellt werden. Soziale Kommunikation erscheint von ihrem Standpunkt aus als ein Spezialfall von Informationsverarbeitung, nicht als soziale Handlung, wie die Soziologen definieren, nicht als Ausdruck psychischer Intentionen, wie die Psychologen modellieren, nicht als Erziehungswerkzeug und was sonst noch für Perspektiven möglich sind. Kommunikation in diesem Sinne verlangt, dass mehrere voneinander unabhängige Informationssysteme (Menschen, psychische Instanzen, soziale oder technische Systeme, Tiere usf.) aus einer gemeinsamen Umwelt ähnliche Informationen gewinnen, sie parallel verarbeiten und sie so darstellen, dass sie wiederum wechselseitig wahrgenommen werden können. Dies verlangt ein Mindestmaß an gemeinsamer Hardware und Software sowie geeignete Vernetzungen mit Feedback-Schleifen. Die Umstellung von einer handlungs- und warentheoretischen Betrachtung unserer Kommunikationsgeschichte und unserer Gegenwart auf eine informationstheoretische fällt uns vor allem deshalb schwer, weil sich die Buchkultur ganz anders verstanden und beschrieben hat. Meine Generation ist noch mit den Mythen der Buchkultur groß geworden, die notwendig waren, um dieser Technologie in der frühen Neuzeit zum Durchbruch zu verhelfen. Eine solche Mythologisierung, Anthropologisierung und Sozialisierung von Technik ist ganz unvermeidbar – und deshalb die Aufforderung nach einer nüchternen Betrachtung von neuen oder alten Medien wenig sinnvoll. Möglich ist allerdings eine Bestandsaufnahme der mehr oder weniger leidenschaftlichen Ideologisierungen. Dies wird in Kapitel ausführlich geschehen. Auf eine generelle Selbstbeschreibungsstrategie von Kulturen, die sich in größerem Umfang technischer Mittel bedienen, muss allerdings schon hier hingewiesen werden, weil ich ihr in diesem Kapitel selbst noch auf weite Strecken folge: Wie viele Medien das Geschehen in einer bestimmten Kultur bestimmen mögen, immer hat in der Vergangenheit diese Kultur in einem Akt der Selbstimplifikation ein bestimmtes Medium prämiert und zur Identitätsstiftung herangezogen. In der europäischen Neuzeit ist dieses Medium der Buchdruck gewesen. Diese Prämierung eines Mediums – und damit auch einer speziellen Form der Informationsverarbeitung und Kommunikation – führt stets zu ei
ner relativen Abwertung anderer Medien und Verständigungsformen. Es entstehen unweigerlich Mythen, ideologische Verklärungen und blinde Flecken in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Solche Überhöhungen haben ihre historische Rechtfertigung, weil sie einmal dazu verholfen haben, dem betreffenden Medium zum Durchbruch zu verhelfen. Unsere neuzeitliche Buchkultur beispielsweise musste das typographische Medium und die kommerzielle, freie Verbreitung der Bücher prämieren, um sich gegenüber den handschriftlichen Kommunikationsmedien und deren mittelalterlichen Verbreitungsformen durchzusetzen. Indem ich die neuzeitliche Kultur als ein typographisches Kommunikationssystem beschreibe, übernehme ich noch einmal, wie in meiner Arbeit über den ›Buchdruck in der frühen Neuzeit‹, sowohl die Technikfixierung als auch die monomediale Selbstbeschreibung des »Buchdruck«-Zeitalters. Wie wir in den weiteren Analysen sehen werden, entgehen mir damit wichtige Strukturen und Prozesse. Auch die typographische Kultur entwickelte sich als ein multimediales Gebilde und die technisierte individuelle Informationsverarbeitung macht keineswegs allein ihre Eigenart aus. Wir wollen aber zunächst zeigen, was man sehen kann, wenn man ein kulturelles System als ein monomediales informationsverarbeitendes System behandelt, das durch das Zusammenwirken von Menschen und einer Schlüsseltechnologie bestimmt wird. Selbst dieses beschränkte Herangehen besitzt schon viele Vorzüge gegenüber anderen Ansätzen. Und es ist im Übrigen auch schon so komplex, dass es sich als Propädeutik für jede komplexere informationstheoretische Herangehensweise bestens eignet. Ich beginne damit, einige Vorzüge dieses Ansatzes herauszustellen, und benutze dabei die Argumentation aus früheren Aufsätzen. 1
Vgl.: Buchwissenschaft als Medien- und Informationswissenschaft. In: Buchhandelsgeschichte (Beilage zum Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Nr. vom ..) /: B -B sowie: Von der skriptographischen zu den typographischen Informationsverarbeitungsprogrammen. In: Horst Brunner/Norbert R. Wolf (Hg.): Wissenschaftsliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Schriften aus SFB , Bd. ). Wiesbaden , S. -.
Kommunikations- oder Wirtschaftsgeschichte? In einem die Perspektiven der Buchwissenschaft skizzierenden programmatischen Aufsatz stellte Robert Darnton vor wenigen Jahren befriedigt fest, dass sich in dieser Disziplin ein Konsens darüber hergestellt habe, ›die Druckerzeugnisse als Elemente von Kommunikationssystemen‹ zu betrachten. 2 Ein solcher Konsens mag hinsichtlich der Absicht bestehen, mit Gewissheit hapert es aber an ihrer Durchführung. Strukturbeschreibungen von Büchern, Bibliotheken und Leserschaft und einfache Relationierungen, wie zum Beispiel in der Rezeptionsforschung jene zwischen dem Buch und seinem Leser oder chronologische Listen über die Entstehung von Gattungen und technische Innovationen beherrschen gegenwärtig die Fachliteratur. Wenn die Buchwissenschaft überhaupt versucht, ihre Gegenstände als ein dynamisches System zu betrachten, dann leiht sie sich ihre Kategorien noch immer in anderen Disziplinen aus. Sie betrachtet die Buchkultur als ein Wirtschaftssystem – eben als Industriegesellschaft – und spricht vor dem Hintergrund ökonomischer und nicht kommunikationswissenschaftlicher Theorien von der ›Produktion, Distribution und Rezeption‹ der Bücher. 3 Der Rückgriff auf die ökonomischen Kategorien dürfte hauptsächlich darauf zurückzuführen sein, dass die gewünschten kommunikations- und medientheoretischen Ansätze als zu wenig ergiebig empfunden werden. Dieser nicht ganz unberechtigten Enttäuschung soll in diesem Buch entgegengearbeitet werden, indem eine kommunikations- und medienpolitische Perspektive auf das Phänomen ›Buchdruck‹ skizziert wird, die ihre Kraft in ausführlichen Fallstudien erwiesen hat. 4 Histoire du Livre. Geschichte des Buchwesens. An Agenda for Comparative History. In: Publishing History (Cambridge) , , S. -, hier S. : »Herbert Göpfert has emphasized the importance of following the entire circuit ›vom Autor zum Leser‹, and a similar principle has inspired the Histoire de l’e´dition franc¸aise; so there seems to be a consensus about the need to study the printed words as part of a system of communication.« »Das Institut für Buchwesen der Johannes Gutenberg-Universität«, so heißt es in einem Informationsblatt, welches dieses Institut gemeinsam mit der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft herausgegeben hat, »beschäftigt sich mit der Produktion, Distribution und Rezeption des Buches in Geschichte und Gegenwart.« Ähnliche Überschriften finden sich aber auch in den deutschen, französischen und englischen buchwissenschaftlichen Handbüchern. Vgl. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt
Beginnen möchte ich jedoch damit, noch einmal auf einige Nachteile des ökonomischen buchwissenschaftlichen Ansatzes einzugehen und die entsprechenden Vorzüge eines informations- und medientheoretischen Ansatzes hervorzuheben. Es steht dabei außer Frage, dass die Betrachtung des Buches als Element in einem wirtschaftlichen Kreislauf und damit sein Vergleich mit anderen Waren seine Berechtigung und seinen Nutzen besitzt. Ja, man kommt, wie noch zu zeigen sein wird, auch bei einem kommunikationsorientierten Ansatz nicht umhin, den Warencharakter der typographischen Produkte zu berücksichtigen. Es ist aber andererseits kein Zufall, dass die Wirtschafts- und die Geistesgeschichte traditionell von strikt getrennten Disziplinen behandelt werden. Dies führt zu der Vermutung, dass es nicht leicht sein wird, von dem Wirtschaftsgut die Brücke zu dem ›Geist‹ zu schlagen, den die Bücher transportieren und befördern. Schon die Zeitgenossen Gutenbergs hatten die neue Technologie als eine Entdeckung gepriesen, die ›neues Denken‹ ermöglicht, die Wissenschaften erneuert, dem Verstand des Einzelnen wie der Nation aufhilft. Und so ist dies bis ins . Jahrhundert geblieben: Der Buchdruck wurde als eine Wendemarke in der Kultur- und Geistesgeschichte erlebt – und diese Feststellung muss man wohl so deuten, dass ihm jenseits aller wirtschaftlichen auch noch eine andere Innovationskraft zugeschrieben wurde (vgl. Kap. ). Um diese zu erfassen, scheinen der Buchwissenschaft, die mit dem ökonomischen Modell arbeitet, die Begriffe zu fehlen. Sie ist mit den Produktionsverfahren, dem Vertriebswesen, der Struktur der Waren, dem Käufer usw. orientiert. Einen Weg zu den ›Inhalten‹ der Bücher, zu den Informationen, weist das ökonomische Paradigma nicht. Denn produktionstechnisch gesehen ist es ganz gleichgültig, was in den Büchern steht, und unter unternehmerischen Gesichtspunkten kommt es nur darauf an, einen Abnehmer zu finden. Das kann offenbar ebenfalls mit den unterschiedlichsten ›Inhalten‹ glücken, sodass auch hier eine kontingente Beziehung vorliegt. Der Rückgriff auf die ›Form-Inhalt‹-Metaphorik, der den Weg von der ökonomischen Analyse zur Geistesgeschichte bahnen soll, drückt mehr Hilflosigkeit als ein Konzept aus. Häufig führt ihre Anwendung zu Widersprüchen und Rätseln. Wieland Schmidt am Main , sowie: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main .
steht eben nicht allein, wenn er in seinem Kommentar zur Faksimile-Ausgabe der Gutenberg-Bibel bemerkt: »Denn für das Eindringen in Buchinhalte, für das Umstellen vom Ohr auf das Auge war es gleichgültig, ob diese Inhalte in der Form von codices manuscripti oder in der Form von codices impressi vermittelt wurden. Der Unterschied dieser beiden Buchgruppen bestand in der Art ihrer Vervielfältigung, nicht im textlichen Inhalt.« 5 Wenn man mit diesem ganz vagen ›Inhalt‹-Begriff arbeitet, dann kann man eigentlich nicht verstehen, warum der Übergang von der skriptographischen, handschriftlichen zur typographischen Informationsspeicherung und Kommunikation in wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen zu einer Renaissance der Geistes- und Kulturgeschichte geführt hat. Wenn man dann trotzdem, wie auch der genannte Autor unter Berufung auf Goethe, darauf besteht, dass neue Kommunikationstechnologien neue Ideen mit sich bringen, dann widerlegt sich die Argumentation selbst oder wird rätselhaft. Es ist eben, wie Neil Postman im Anschluss an Marshall McLuhan formulierte, »naiv, anzunehmen, dass man etwas, das in einem bestimmten Medium zum Ausdruck gebracht wurde, in einem anderen ausdrücken kann, ohne seine Bedeutung, seine Struktur und seinen Wert erheblich zu verändern.« 6 Ein zweiter wichtiger Mangel der ökonomischen Perspektive ist, dass sie die Buchgeschichte aus ihrem Zusammenhang mit der Geschichte anderer Kommunikationsformen, die nicht als kommerzieller Warenaustausch ablaufen oder abliefen, herauslöst. Die Wa Gutenberg-Bibel. Geschichtliche Bücher des Alten Testaments. Mit einem Anhang von Aloys Ruppel und Wieland Schmidt, hrsg. Dortmund , S. . A. C. Klebs äußert sich nicht anders: »Niemand wird wohl behaupten, dass es wesentlich ist, ob ein Gedanke gedruckt oder geschrieben ist, und dass das, was man als Geistesgeschichte unterscheidet, durch die Methode der Aufzeichnung beeinflusst wird.« In: Ders. und K. Sudhoff: Die ersten gedruckten Pestschriften. München , S. . Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main , S. . Am Beispiel der ›Fernsehprediger‹ versucht er nachzuweisen, dass sich die Botschaften bei der Übersetzung in ein anderes Medium, also von der Predigt in die Fernsehpredigt, verändern. Von Billy Graham sei überliefert, dass er meinte »mit einer einzigen Predigt im Fernsehen viele Millionen Menschen mehr zu erreichen, als Christus in seinem ganzen Leben erreicht hat« (ebd., S. ). Postman dazu: »Dahinter steht eine eklatante technologische Naivität. Wenn die Vermittlung nicht die gleiche ist, dann ist höchstwahrscheinlich auch die Botschaft nicht die gleiche« (S. ).
rengesetze beherrschen die natürliche zwischenmenschliche Kommunikation nur ausnahmsweise, sie galten über Jahrtausende nicht für die handschriftliche Informationsverarbeitung und -verbreitung, und sie gelten auch gegenwärtig längst nicht für alle elektronischen Kommunikationsformen.
Die Buchwissenschaft in einer neuen Umwelt Beide Mängel setzen die Buchwissenschaft übrigens gerade in unserer Zeit einem verstärkten Legitimationsdruck aus. Sie führen nämlich dazu, dass sie keinen Beitrag in der Diskussion um die Richtung der Veränderung unseres gegenwärtigen Bewusstseins unter dem Einfluss der neuen elektronischen Medien leisten kann. Es fehlt an Konzepten, die einen Zusammenhang nicht nur zwischen der Handschrift und dem Druck, sondern auch zwischen dem Druck und den neuen elektronischen Medien herstellen können. Eine Buchwissenschaft im ›Computerzeitalter‹ muss – wie ich meine mit Recht – um ihre Glaubwürdigkeit fürchten, wenn sie sich nicht auch zu den Beziehungen äußert, die ihre ureigensten Gegenstände zu dieser neuen Umwelt eingehen. Um diese Beziehungen, die, wie jeder Bibliotheksalltag mit seinen Terminals vor Augen führt, längst eine gestaltete Realität sind, auch theoretisch zu erfassen, sind abstrakte Modelle erforderlich, die sowohl über das Buch als auch über den Computer Aussagen ermöglichen. Diese Einschätzung löst bei vielen Kollegen der Zunft erfahrungsgemäß eine massive Abwehrhaltung aus. 7 Die Forderung nach mehr Sensibilität für die Veränderungen in der Umwelt der Buchkultur und der Buchwissenschaft wird offenbar als Aufruf zu einer Unterwerfung unter sach- und fachfremde Mächte erlebt. Das ist eine verständliche Reaktion von jenen, die mit dem Stand der Dinge zufrieden sind. Es gibt allerdings kein historisches Beispiel dafür, dass ein Segment einer Kultur seine Strukturen und seine Bedeutung innerhalb dieser Kultur bewahren kann, wenn es nicht flexibel auf Veränderungen reagiert, die in seiner Umwelt vor sich gehen. Bewahren erfordert unter solchen Umständen Veränderung. Und wer wollte leugnen, dass sich die Umwelt des Buches gegenwärtig Ein typisches Beispiel ist die Rezension (Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit) von Frans A. Janssen in: Quaerendo /, S. -. Er ›vermag nicht einzusehen, welche Einsicht durch die informationstheoretischen Modelle zu gewinnen‹ ist (S. ).
tief greifend durch die konkurrierenden elektronischen Informationsmedien ändert? Eine vergleichbare Umwälzung der Informationswelt, wie wir sie gegenwärtig erleben, liegt nunmehr Jahre zurück. Deshalb ist es im Übrigen auch trügerisch, die hier vorgetragene Kritik in ein Krisengerede einzuordnen, dem die Buch- und Bibliothekswissenschaft angeblich seit ihren Anfängen ausgesetzt war. Wenn die Zunft nicht reagiert, wird die Umwelt von ihrem Gegenstand Besitz ergreifen und ihn nach eigenen Programmen und Werten als ›Printmedium‹ neu schaffen. Die Buchwissenschaft mag dann im günstigen Fall eine paläotypographische Nische finden. Der gleichen Relativierung ihrer Bedeutung sehen sich selbstverständlich auch die anderen Wissenschaften gegenüber, deren vorzügliche Gegenstände die ausgedruckten Texte sind: die Philologien und die Linguistik. Obwohl nur wenige Autoren die Bedeutung des Buchdrucks für die Sprach- und Kulturgeschichte der frühen Neuzeit in Abrede stellen, sind die Versuche, hier Zusammenhänge deutlich zu machen, bislang wenig überzeugend. Dies liegt m.E. daran, dass weder die Germanistik noch die Romanistik, noch die Sprachwissenschaften bislang ein geeignetes Modell jenes Phänomens entwickelt hat, das wir in der Umgangssprache »Buchdruck« nennen. Man verlässt sich auf alltagsweltliche Gewissheiten, aber da diese vage und überkomplex sind, geben sie dem Forscher keine klare Heuristik für seine Untersuchungen an die Hand. Der Leser bleibt so auf Vermutungen darüber angewiesen, welches Konzept der Autor im Einzelnen im Kopf hat, wenn er vom »Buchdruck« spricht.
Die informationstheoretische Sicht auf die Buchkultur Wie lassen sich die anvisierten Probleme lösen? Mit welchen theoretischen Instrumenten vermögen sich die Philologien und die Buchwissenschaft ihren Platz im Zeitalter der elektronischen Medien zu sichern? Ich plädiere dafür, sie als Teil einer umfassenden Medien- und Informationswissenschaft auszubauen. Deren Konturen lassen sich an dieser Stelle selbstverständlich nur andeuten. Sie wird mit einem mehrdimensionalen Systembegriff arbeiten müssen, der die alten strukturellen Konzepte in Richtung auf dyna
mische, umweltoffene, selbstregulierende und selbstbeschreibende Konzepte überschreitet. Und sie wird Medien- und Informationsbegriffe benutzen, die mehr sind als bloß andere Ausdrücke für ›Werkzeug‹ und ›Wissen‹. Informationsmedien können, kurz gesagt, als Umweltausschnitte aufgefasst werden, die Systeme aufgrund ihrer sensoriellen Ausstattung wahrnehmen und dank ihrer Effektoren erzeugen können. Die Umwelt ist prinzipiell überkomplex, besitzt unendlich viele Merkmale, aus denen die wahrnehmenden Systeme immer auszuwählen gezwungen sind. Diese ausgewählten Merkmale bezeichne ich als ›Informationen‹ (im engeren Sinne). Sie werden von dem (informationsverarbeitenden) System gespeichert, verarbeitet und später auch zur Veränderung seiner Umwelt, das heißt zur Schaffung neuer Informationsmedien, eingesetzt. Dem Menschen stellen die Medien auf diese Weise handlungsleitende und orientierungsrelevante Programme zur Verfügung. Darin besteht ihre ›inhaltliche‹ oder ›geistige‹ Macht für die einzelne Person und für die Gesellschaft. Aufgrund seines hohen Abstraktionsniveaus ist dieser Informations- und Medienbegriff bestens geeignet, auf alle Typen von Medien angewendet zu werden. Gleichzeitig treten aber auch die Unterschiede zwischen den skriptographischen und den typographischen Medien und Informationen mit der erforderlichen Deutlichkeit hervor. Das Manuskript hat andere Merkmale als der Druck, und es wurde auch nach anderen Programmen erzeugt. Die klassische Frage der Buchwissenschaft nach der Herstellung der Manuskripte und nach den Druckverfahren wird als Frage nach der Konstruktion informativer Strukturen wieder aufgenommen; sowohl die ›Materialität‹ der Information als auch der informative Charakter der ›materiellen‹ Medien kommen in den Blick. Neben dem Medien- und Informationsbegriff bedürfen die Buch- und Textwissenschaften auch eines zeitgemäßen Konzepts von ›Kommunikation‹. Auch hier gilt es, mit traditionellen Vorstellungen zu brechen, will man für den Diskurs mit jenen gewappnet sein, die andere Formen der Überlieferung untersuchen. Wie schon angesprochen, verstehe ich unter Kommunikation aus der einen Perspektive einen Spezialfall der Informationsverarbeitung, nämlich jenen, bei dem zwei unabhängige Prozessoren die Information eines Mediums parallel verarbeiten. (Vgl. die Darstellung in Kapitel .) Als Prozessoren in diesem Modell kommen nicht
mehr nur Menschen aus Fleisch und Blut in Frage. Es können auch beliebige technische Automaten sein. Erst mit Kommunikationsund Medienbegriffen dieses Abstraktionsgrades wird es möglich, das Zusammenwirken zwischen den natürlichen und dem mehr oder weniger technisierten Kommunikationsmedium in einem einheitlichen Einsatz zu untersuchen. Nur auf die natürliche zwischenmenschliche Kommunikation und die Lautsprache als Medium ausgerichtete Modelle scheitern schon an der Beschreibung der handschriftlichen Erfahrungstradierung; was sich zwischen den Autoren und Lesern der typographischen Medien abspielt, haben sie nie erhellen können, und auf Phänomene wie die Mensch-Maschine-Kommunikation oder das Mailbox-Verfahren wollen sie gar nicht angewandt werden. Ich habe in meiner Arbeit über den ›Buchdruck in der frühen Neuzeit‹ dieses Konzept der Buchkultur als informationsverarbeitendes System ausführlich dargestellt. 8 Jetzt soll das Modell nur kurz erläutert und die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden, sodass eine Verständigungsbasis für das typographische Zeitalter geschaffen wird und wir eine Ausgangsbasis für den Vergleich zwischen der Buchkultur und ihrer mittelalterlichen Vorläuferin gewinnen. Das folgende Schaubild (Abb. ) gibt einen Überblick über den Informationskreislauf in der typographischen Kultur und über die Elemente des typographischen Informationssystems. Ich werde bei der Erläuterung immer wieder Vergleiche mit Zeiten anstellen, in denen es den Buchdruck noch nicht, wohl aber handschriftliche Formen der Erfahrungstradierung gab. Das Schaubild zeigt auf der rechten Seite das informationsverarbeitende System, auf der linken Seite seine Umwelt, die es als Informations- und als Kommunikationsmedium nutzt. Nur bei einer solchen ökologischen Betrachtungsweise, die das Informationssystem nicht aus den Wechselwirkungen zur Umwelt isoliert, lassen sich die Kreisläufe des kulturellen Lebens befriedigend beschreiben. Wie bei psychischen, technischen oder elektronischen Informa Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main , Kap. ; sowie ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main .
Abb. : Der Informationskreislauf in der typographischen Kultur
tionssystemen können wir auch bei der sozialen Informationsverarbeitung zwischen Sensoren, Speichern, verschiedenen Prozessoren und den dazwischen ablaufenden Transformationsprozessoren unterscheiden. Mensch und Technik wirken Hand in Hand, um den Informationskreislauf in Gang zu halten, bilden soziotechnische Systeme. Man wird im Übrigen kein technisches Informationsmedium verstehen können, wenn man nicht seine Beziehungen zu den
natürlichen Möglichkeiten unserer menschlichen Organe reflektiert. Alle technischen Kapazitäten müssen auf unsere psychophysischen Möglichkeiten, zum Beispiel den Leistungsbereich und die Grenzen unserer Sinne abgestimmt sein. Ein Blick auf die Abbildung zeigt, dass die Autorinnen und Autoren die eine ›Schnittstelle‹ des Systems mit seiner Umwelt bilden. Sie wirken als Sensoren, als Sinnesorgane, indem sie Informationen aus der Umwelt aufnehmen. Um den neuen Medien im alltäglichen Leben zum Durchbruch zu verhelfen, war es erforderlich, ganz neue Formen von Informationen, die zuvor noch nicht handschriftlich oder mündlich tradiert wurden, für die Verbreitung im Druck zu gewinnen. Dazu mussten die Autoren alternative Formen der Wahrnehmung und Informationsdarstellung erproben. Im nächsten Schritt transformieren sie dann ihre Wahrnehmungen in handschriftliche Texte, in Verlagsmanuskripte. Schon hier zeigt sich, dass die typographische Kultur auf die älteren skriptographischen Techniken und Medien angewiesen ist und diese in ihren Aufbau integriert. In keiner älteren handschriftlichen Kultur wurde mehr mit der Hand geschrieben als in der Buchkultur der Neuzeit. Die Manuskriptform ist eine notwendige Bedingung für die weitere typographische Verarbeitung: Die Druckereien und Verlage können im Gegensatz zu den Skriptorien, in denen oftmals viele Schreiber nach Diktat arbeiten, mit mündlich dargebotenen Informationen nichts anfangen. In der Druckwerkstatt transformiert man die Informationen erneut: Seite für Seite setzt man den schriftlichen Text mit bleiernen Lettern, schließt ihn in Formen und bringt ihn dann gemeinsam mit den Papierbögen unter die Presse. Bei jedem Pressvorgang entstehen identische Exemplare. Diese Form von ›Zellteilung‹ hat die Zeitgenossen nicht weniger fasziniert als unsere Zeit die gentechnischen Experimente, die ja auch als ein Ziel haben, Zellen und dann gegebenenfalls ganze Organismen zu kopieren. Überliefert ist etwa, dass kirchliche Würdenträger ausgedruckte liturgische Texte noch einmal von einem Lektor vergleichen ließen, um ihre Identität zu überprüfen. Mehr Bewunderung als die Schrift an und für sich rief bei den einfachen Kulturen, auf die die Missionare im . und . Jahrhundert mit der Bibel in der Hand stießen, die Tatsache hervor, dass diese Texte alle völlig gleich waren. Dies konnte keinen natürlichen Ursprung haben! Informationstheoretisch gesehen, ermöglicht die neue Textvervielfältigungsmaschine die Parallelverarbeitung von Informationen:
Ein und derselbe Text kann aufgrund der Vervielfältigung von vielen Personen zugleich gelesen werden. Die Zeitgenossen haben dieses Phänomen als Beschleunigung des Informationsaustausches erlebt und ebenso sehr begrüßt wie die gestiegene Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendeiner der vielen Texte durch alle Wirren der Zeiten hindurch schon erhalten werde, sodass sie auch noch von ferneren Nachkommen gelesen werden konnten. Schon zum Verstehen dieses Phänomens muss auf das eingeführte Kommunikationskonzept zurückgegriffen werden. Man sah in dem Setzverfahren und der Druckerpresse, also der ›ars imprimendi libros‹, ein Mittel zur Wissensakkumulation und für eine allgemeine Volksaufklärung. Diese Beschreibung des ›truckwerks‹ und ihre Bewertung als Kern der Gutenberg’schen Medienrevolution ist bekannt. Sie ist aber auch einseitig und erschwert ein angemessenes Verständnis des Phänomens. Mir geht es hier darum, die völlig überzogene Bewunderung für das technische Instrument durch den Hinweis auf eine Reihe von weiteren Faktoren zu relativieren, die hinzutreten mussten, um dann erst gemeinsam das Phänomen zu schaffen, das wir als ›Buchkultur‹ bezeichnen. Dies wird auch eine realistische Einschätzung der Bedeutung der elektronischen Technik in unserer Gegenwart befördern. Das neue Setzverfahren und die Druckerpresse eröffnen ja nur die Möglichkeit zur öffentlichen Informationsverarbeitung. Damit es tatsächlich zur massenhaften mehr oder weniger simultanen Nutzung der ausgedruckten Informationen kommen konnte, mussten noch zahlreiche weitere Neuerungen eingeführt werden. Neuerungen gegenüber den Formen, in denen man bislang Informationen gewonnen, gespeichert und weitergegeben hatte. Also sowohl Neuerungen gegenüber der handschriftlichen als auch gegenüber der mündlichen Kommunikation und der individuellen Informationsverarbeitung. Die Druckmaschine und der Vorgang des Druckens der Bücher, also der Kern der technischen Erfindung Gutenbergs, sind nur ein Element beziehungsweise Ereignis in einem komplexen Funktionsgefüge. Um den Siegeszug der neuen Technologie zu ermöglichen, waren folgende weitere Innovationen erforderlich: – Anstatt der institutionellen Bahnen, auf denen man im Mittelalter die Handschriften weitergereicht hatte, nutzte man für die Druckerzeugnisse von Anfang an ein neues kommunikatives Netz: den freien Markt.
– Um den neuen Medien auch im alltäglichen Leben zum Durchbruch zu verhelfen, war es erforderlich, ganz neue Formen von Informationen, die zuvor noch nicht handschriftlich oder mündlich tradiert wurden, für die Verbreitung im Druck zu gewinnen. – Dazu mussten die Autoren – gleichsam als Sensoren des neuen Informationssystems – alternative Formen der Wahrnehmung und der Informationsdarstellung erproben. – Aber auch die Anwender des Buchwissens, die Käufer und Leser, änderten ihr Verhalten in dem Maße, in dem sie in den neuen Informationskreislauf einbezogen wurden. Um das neue Medium überhaupt verstehen und dann auch nutzen zu können, mussten und müssen sie sich an der typographischen ›Software‹, an den speziellen Regeln der Informationsgewinnung, -speicherung und -verarbeitung, orientieren, die für dieses Medium entwickelt wurden. Erst das in diesem weiten Sinne verstandene typographische Informationssystem – und nicht eine technische Erfindung – trat in Konkurrenz zu den älteren skriptographischen und oralen Systemen, zu der mittelalterlichen Kultur.
Technisierung und Kommerzialisierung sozialer Kommunikation Es ist keineswegs ein Zufall, dass die Buchwissenschaft unserer Tage viele ihrer tragenden Begriffe dem Wirtschaftsleben entlehnt hat. Sie stellt sich damit auf eine Tatsache ein, die die typographische Revolution im Europa der frühen Neuzeit von den vorangegangenen Phasen skriptographischer Informationsverbreitung und auch von den Versuchen, in Südostasien den Buchdruck einzuführen, unterscheidet. 9 Schon Johannes Gutenberg betrieb seine Druckerei als ein kommerzielles Gewerbe. Die ausgedruckten Bücher wurden damit zu einer Ware wie jede andere auch. Für sie musste, je länger gedruckt Im Gegensatz zur europäischen Gesellschaft der frühen Neuzeit nutzte man in China, Korea und Japan die alten Kommunikationsbahnen, um die Druckerzeugnisse, die schon seit dem . Jahrhundert teilweise auch mit einzelnen Kupferlettern hergestellt wurden, zu vertreiben. Vgl. T. F. Carter: The invention of printing in China and its spread westward (reviced by L. Carrington Goodrich). New York . Für Korea: Pow-key Sohn: Early Corean Printing. Seoul ; sowie ders.: Printing in China. In: H. Widmann (Hg.): Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-Forschung. Stuttgart , S. - und S. -.
wurde, umso mehr geworben werden. »Freundtlicher lieber Leser«, heißt es zum Beispiel in einer Ausgabe der Wundarznei des Paracelsus, »wende das blat herum / so erfarestu was dies Buechlins inhalt ist / wirdt dich gewißlich solchen grossen Schatz / mit kleinem geldt zuokauffen / nicht gerewen.« 10 Nicht in erster Linie Stand oder Profession, sondern das Geld soll fürderhin der Mechanismus sein, nach dem Informationen verteilt werden. Wer Geld besaß, konnte drucken lassen und die Druckerzeugnisse kaufen. Das Buch wendet sich von daher auch nicht zunächst an den ›Leser‹, sondern, wie es zum Beispiel auf dem Titelblatt der ›Dialektika‹ des Ortolf Fuchsperger heißt, an den ›Koeuffer‹ (Augsburg u. ö.). Wenn man die ausgedruckten Bücher genauso verteilt hätte, wie dies mit den Handschriften im Mittelalter geschehen ist, dann wären die kulturellen Folgen der Gutenberg-Erfindung weit bescheidener ausgefallen. Man bediente sich jedoch für die neuen Produkte in den europäischen Kernlanden einer völlig neuen Vernetzungsform, nämlich des freien Marktes. Diese Entscheidung war keineswegs zwangsläufig, sie knüpfte zwar an ältere Traditionen des Handschriftenhandels und der Kaufmannsbriefe an, aber sie bedeutete vor allem einen radikalen Bruch mit den Formen, in denen man im Mittelalter die Handschriften weitergereicht hatte. Worin unterscheidet sich nun die marktwirtschaftliche Verbreitungsform von jener der Manuskripte im Mittelalter? Auf den allgemeinsten – und deshalb für einzelne Fälle wohl nicht zutreffenden – Nenner gebracht, kann man sagen, dass die Handschriften im christlichen Abendland nicht in öffentlichen (marktwirtschaftlichen) gesellschaftlichen Netzen, sondern entweder in einfachen Interaktionssystemen oder in Institutionen genutzt und weitergegeben wurden. Bis ins . Jahrhundert hinein blieb die Handschrift, um ein anderes Bild zu gebrauchen, ›die Magd der Rede‹: Sie diente der Vorbereitung, Durchstrukturierung und Nachbereitung des mündlichen Vortrags. Die Handschriften fungierten eher als Gedächtnisstütze für den Sprecher denn als ein selbständiges Medium der Interaktion mit anderen. Die institutionellen Netze sind – in der Geschichte und in der Gegenwart – formal hierarchisch aufgebaut, das heißt, es gibt feste Aus dem ›Spittal Buoch‹, welches Adam Bodenstein seiner Ausgabe des ›Opus chirurgicum‹ (Frankfurt am Main ) des Paracelsus beigegeben hat (S. ).
›Dienstwege‹ für die Botschaften und vorab festgelegte Sender, Empfänger und Schaltstellen. Die marktwirtschaftlichen Netze organisieren demgegenüber ihre Maschen – idealerweise – von Tag zu Tag selbst, und zwar nach Prinzipien, die sich nicht von irgendeinem Element und schon gar nicht von außerhalb kontrollieren lassen. Die Unterschiede sollen an zwei Schaubildern demonstriert werden. In den Institutionen, den städtischen und überregionalen Verwaltungen, den Orden und Glaubensgemeinschaften, wurden die schriftlichen Texte gemäß den hierarchischen Strukturen weitergegeben. Abbildung zeigt exemplarisch die Baumstruktur dieser institutionellen Netze. An der Spitze des Netzes stehen die jeweiligen Repräsentanten oder Führer der Institutionen, also in der römischen Kirche der Papst, die Fürsten und Bürgermeister in den Verwaltungen oder die Zunftmeister in den Handwerkerkooperationen. An der Basis finden wir die Priester, die Beamten und Büttel, die Gesellen und Lehrlinge. Sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben quälten sich die Informationen (zum Beispiel Bullen, Petitionen, Memoranden, Kommentare) durch den Instanzenweg. 11 Die Schriften eines Mönchs etwa mussten vom Abt gelesen und gebilligt werden, bis sie einen Ordensoberen erreichen konnten. Und erst wenn sie von jenem approbiert wurden, gelangten sie vielleicht in die Hände des Bischofs usf. Auch diejenigen Werke, die an den Universitäten von den Stationarii vertrieben wurden, mussten zuvor von den universitären Gremien gebilligt sein. Erst was den Segen der oberen Etagen in diesen Institutionen erhalten hatte, konnte dann durch die verschiedenen Verästelungen der Pyramide wieder nach unten verteilt werden. Je höher die Instanz, umso breiter die Basis, der der jeweilige Text bekannt wird. Nur das, was die jeweilige Spitze in speziell dafür eingerichteten Situationen verkündete, galt für alle Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft als ›offen Diese Informationswege sind von zahlreichen Historikern nachgezeichnet. Vgl. zusammenfassend Enno Bünz: »Die Kirche im Dorf lassen …«. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen … Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. von Werner Rösener. Göttingen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte: , S. -).
Abb. : Die Baumstruktur der kommunikativen Netze in den mittelalterlichen Institutionen
bar‹. Deshalb mussten die Schreiber ihre Werke (nacheinander) möglichst (vielen) hoch gestellten Persönlichkeiten ›widmen‹, wenn sie ihre Gedanken weit verbreiten wollten (Abb. PDF 쩛CD). Dieses Prinzip gilt für die schöne Literatur an den Höfen ähnlich wie etwa für die Evangelienharmonien der Mönche. Viele der mit der Bitte um Approbation verbundenen Widmungsschreiben haben sich aus dem Mittelalter erhalten. Wir werden im nächsten Abschnitt auf dieses Konzept von Vergesellschaftung und damit von ›Kommunikation‹ noch einmal ausführlich zurückkommen. Für die Zwecke des Systemvergleichs können wir festhalten: Wer die neuen marktwirtschaftlichen Netze nutzen wollte, war
Abb. : Die Struktur marktwirtschaftlicher Netze
auf Approbationen (Zustimmung zur Veröffentlichung) der Vorgesetzten ebenso wenig wie auf den Instanzenweg angewiesen. Im Prinzip lag es von nun an in der Hand der Autoren – und der Drucker – zu bestimmen, welche Informationen öffentlich werden sollten (vgl. Abb. ). Auch der Kreis derjenigen, die Zugang zu den Druckerzeugnissen bekamen, ließ sich, nachdem einmal die Verbreitung auf dem Markt eingesetzt hatte, kaum mehr kontrollieren. Dies bedeutete natürlich einen Kontrollverlust, der bei den
Zeitgenossen kaum weniger Ängste auslöste als die Vision des gläsernen Menschen in unserer Gegenwart. Während die institutionellen Systeme mehrstufig hierarchisch aufgebaut sind, hat der Markt eine flexible Netzwerkstruktur. Im Zentrum des Buchmarktes stehen nicht einzelne Personen, sondern ein komplexes soziales System, eben das wirtschaftliche Subsystem der Gesellschaft. 12 Man kann sich die hier zirkulierenden ausgedruckten Bücher als einen zentralen Speicher vorstellen, der für jedermann gegen Geld zugänglich ist. Die Personen links und rechts des ›Marktes‹ in Abbildung lassen sich beliebig vertauschen. Nachdem sich diese Vernetzungsform neben den traditionellen Formen etabliert hatte, eröffnen sich auch für die Kommunikation mit den Funktionären der Institutionen Wege, die es vorher nicht gab. Der Mönch Luther kann etwa mit dem Papst über seine Flugschriften in Kontakt treten, ohne dass er die langwierigen Wege der kirchlichen Hierarchie beschreiten muss, wenn er Flugschriften drucken lässt. Der Papst andererseits wendet sich mit seinen gedruckten ›Mahnungen‹ und ›Bullen‹ ebenfalls sehr viel unmittelbarer an die Prediger in seinem Reich, als dies zuvor mit den Mitteln des handschriftlichen Mediums möglich war. Es ist auch diese Abkürzung der Kommunikationsbahnen, die sowohl als Beschleunigung als auch als Vergesellschaftung von Informationen (›in die gemein geben‹) verstanden wird. Eine ähnliche Neubestimmung der kommunikativen Vernetzungswege und der Konzepte von öffentlicher und privater Information erleben wir im Augenblick mit dem Übergang zu den elektronischen Verbreitungsformen im Internet. Der Blick zurück in die Mediengeschichte mag eine Ahnung von dem Ausmaß der zu erwartenden Umstellungen geben: Glaubwürdigkeit und Funktionsweise von etablierten Institutionen stehen ebenso auf dem Prüfstand wie die Vorstellung von Demokratie. Freilich muss man betonen, dass die institutionellen Bahnen mit dem Buchdruck keineswegs verschwanden. Vielmehr ist das beschriebene hierarchische Modell bis auf den heutigen Tag trotz aller Kritik ein Kennzeichen der formellen Kommunikation in Institutionen geblieben. Die Macht und Effektivität dieses Systems zeigt Mehr dazu in Kap. , S. ff. Vgl. neuerdings aus soziologischer Sicht Franz Dröge und Gerd G. Kopper: Der Medien-Prozess. Zur Struktur innerer Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Opladen , hier vor allem S. ff. und S. .
sich nicht zuletzt daran, dass es auch problemlos dazu in der Lage war, gedruckte Kommunikationsmedien, zum Beispiel Gesetzestexte und Formulare, zu inkorporieren.
Von der multimedialen zur monomedialen Kommunikation Die Technisierung, Beschleunigung und Vergesellschaftung der Kommunikation, die Gutenberg angestoßen hat, erfolgte von Anfang an auf Kosten der unmittelbaren Interaktion und damit auch der multimedialen Verständigung. Bedingung des Erfolgs des Druckmediums war gerade, dass es ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht überflüssig machte. Der Buchdruck ist als ein Massenkommunikationsmedium in vielen Hinsichten monomedial und fördert die Fähigkeit der Autoren und Leser einseitig. So sind die meisten typographischen Gattungen für ein stilles ›Selbstlesen‹ und ›Selbstlernen‹ gedacht. Sie sollen unmittelbare Interaktion – der Vorlesung eines Magisters lauschen, einer Dichterlesung oder einer unterhaltsamen Aufführung beiwohnen, einem Experten bei der Arbeit zusehen usw. – ersetzen. Ganz im Gegensatz zu den handschriftlichen Gattungen, die gerade als Unterstützung dieser unmittelbaren Gesprächssituation entworfen sind, wollen sie als ein autonomes Informationsmedium genutzt werden. Schon in dem ersten mit beweglichen Lettern gedruckten deutschen Rechenbuch (Bamberg ) heißt es in diesem Sinne gleich zu Beginn: »Auch ein iglicher in teutschen lesen vnd in ziffren erfaren mag an [ohne] alle vnterweysung von im selbs solichs gelernen.« 13 ›Ohne einigen mündlichen Bericht‹, sollen auch die Rechenbücher von J. Köbel, A. Böschensteyn und C. Schleupner verständlich sein. 14 Adam Riese verfasst sein Rechenbuch für die Jugend ›des ganzen Landes‹ so, dass »auch ein jeder so nur den offen furstandt zu zelen hab/ sich leichtlich ane sunderliche lehrmeister daraus richten« mag. 15 Ohne ›Lehrmeister‹ will auch die Zitat nach Ivo Schneider: Verbreitung und Bedeutung der gedruckten deutschen Rechenbücher des . und . Jahrhunderts. In: Buch und Wissenschaft. Hg. von Eberhard Schmauderer. Düsseldorf , S. (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen Bd. ). Ein im Blockdruckverfahren hergestelltes Rechenbuch erschien schon früher, zwischen und . Vgl.: Das Bamberger Blockbuch. Hg. von Kurt Vogel. München/New York . Nachweise bei Schneider, a. a. O. Riese, A.: Rechenung nach der länge auff den Linihen vnd Feder. Leipzig (J. Bärwaldt) , f. A. r.
›Kunst vnd Lere Buechlin‹ () des Dürerschülers Sebald Behem (vgl. Abb. PDF 쩛CD) genutzt werden. Ähnliche Selbstbeschreibungen finden sich in den ersten gedruckten Vokabularien, Schreibanweisungen und Grammatiken. Der protestantische Prediger und Schulmeister Johannes Kolroß bringt sein ›Handbüchlein recht und wohlschreibens‹ den ›einfältigen und jungen Lehrkindern so weitläufig‹ heraus, dass es »on wytere erklaerung durch sich selbs … moege ergryffen« und verstanden werden. 16 Mit dem gleichen Anspruch tritt auch die erste deutsche Grammatik, jene von Valentin Ickelsamer, auf. Es heißt im Titel ›Teutsche Grammatica, Darauß einer von jm selbs mag lesen lernen‹ (Nürnberg ). Natürlich kann niemand, der nicht schon ein wenig lesen kann, aus einem solchen Buch ›lesen lernen‹. Wohl aber mögen, wie Kolroß ausführt, diejenigen, ›so etlicher maß schreyben und laeszen ergriffen‹ haben, aus diesen Werken entnehmen, »was jnen noch manglet«. 17 Wichtig ist an diesem Argument, dass es den Autoren darum geht, sich Laien – und nicht Experten – verständlich zu machen, und dass diese Verständigung interaktionsfrei und ohne Rückkopplung erfolgen soll. Das ausgedruckte Buch sollte zum einzigen und ausschließlichen Medium der Kommunikation werden. Damit beanspruchten die typographischen Informationssysteme in Europa von Anfang an ganz andere Funktionen als die herkömmlichen Systeme. Die mittelalterlichen und antiken Handschriften dienten entweder der individuellen Gedächtnisentlastung und besaßen dann überhaupt keine kommunikative Funktion, oder aber sie waren in mündliche Kommunikationssysteme eingebaut und fungierten dann mehr oder weniger als Magd der Rede. Das Manuskript in der Hand des Magisters oder Predigers unterstützte seinen Vortrag – und es entstand auch meist während des Zuhörens bei einem mündlichen Vortrag. Die Bibel und die Sagen sind niedergeschriebene Erzählungen, die Dichter an den mittelalterlichen Enchiridion: Das ist/Handbuechlin tütscher Orthographie hachtütsche spraoch artlich ze schryben/vnd laesen … Basel: T. Wolff ,f. D. r. In dem diplomatisch getreuen Abdruck in: Johannes Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichtes. Gotha , neu herausgegeben von Monika Rössing-Hager, Darmstadt , S. . Vgl. auch Miriam Usher Christman: Lay culture, learned culture-books and social change in Strasbourg -. New Haven/London , Bd. , S. . Kolroß: Enchiridion, f. A. r beziehungsweise S. in: J. Müller: Quellenschriften.
Höfen nutzten die Schrift zur Vorbereitung ihrer Auftritte am Hof und zur Gestaltung von Festen. Natürlich haben auch viele Druckmedien eine solche Hilfsfunktion in bi- und multimedialen Systemen und sind das Produkt der Transformation mündlicher, gehörter Erfahrung. Das Neue und Revolutionäre des typographischen Systems ist aber gerade, dass es als ein monomediales und damit auch als ein nur einen Sinn ansprechendes Informations- und Kommunikationssystem ausgebaut wurde. Die wirklich innovativen und typischen typographischen Gattungen sollen unmittelbare Interaktion – der Vorlesung eines Magisters lauschen, einer Dichterlesung oder einer unterhaltsamen Aufführung beiwohnen, einem Experten bei der Arbeit zusehen – ersetzen und interaktionsfreies Lernen ermöglichen.
Neue Software: Die Programmierung der Wahrnehmung von Autoren und Lesern Wenn sich in den ersten vierzig Jahren des Buchdrucks, also bis etwa in die achtziger Jahre des . Jahrhunderts hinein, die typographische Medienrevolution im Wesentlichen noch auf die Einführung der Textverarbeitungs- und Vervielfältigungsmaschine beschränkt hat, man sich in den folgenden Jahrzehnten verstärkt damit beschäftigte, geeignete kommunikative Netze aufzubauen, so ging es in der dritten Phase, die in Deutschland etwa in den dreißiger Jahren des . Jahrhunderts einsetzte, um die Lösung des Software-Problems. Hatte man zuvor im Wesentlichen das gedruckt, was auch schon handschriftlich vorlag, so wurden nun neue Informationen für die vorhandenen Druckereien und für den neuen Markt gewonnen. Das neue und ökonomisch ungemein aufwendige typographische Informationssystem hätte sich niemals gegen die Konkurrenz der vorhandenen und fest etablierten Institutionen der mündlichen und handschriftlichen Erfahrungstradierung durchgesetzt, wenn es nicht tatsächlich mit Lösungen drückender Probleme aufwarten konnte. Wenn in den gedruckten Büchern das Gleiche stünde wie in den Handschriften und sie auch genauso genutzt würden, dann fiele es schwer, zu verstehen, warum man sie so empathisch begrüßte und von ihnen ›Demokratie‹ und ›Aufklärung‹ erwarten konnte. Das Problem, welches die typographische Technik in Verbindung mit den marktwirtschaflichen Netzen zu lösen versprach, war und
ist die interaktionsfreie Weitergabe von Wissen. Aufbauend auf dieser ließen sich dann auch weitere Ziele verwirklichen, vor allem die Strukturierung einer wirklich nationalen, gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Informationsproduktion. Ohne dass irgendjemand eine entsprechende Vision sozialer Kommunikation entworfen hätte, entstanden Bücher zum Selbststudium, das heißt Bücher, die nicht mehr bloß als Hilfsmittel in der multimedialen Face-to-face-Situation genutzt werden wollten. Und dieses Ziel stellte neue Anforderungen an das Medium Buch: Die Texte müssen, wie die Autoren erst einhundert Jahre nach den ersten Druckversuchen explizit formulieren konnten, die Information »an jn selbs anzeygen«. 18 Ausführliche Beschreibungen, vorgreifende Verständnissicherung, die Antizipation und Widerlegung von Einwänden, Plausibilisierungen und Veranschaulichungen werden erforderlich. Die Autoren können, wie Erasmus Reinhold (d.J.) in seinem ›gründlichen und waren Bericht vom Feldmessen‹ (Erfurt ,f. A. v) bemerkt, nur ›hoffen‹, dass ihre Texte »an jhm selbst so deutlich vnd klar« sind, dass sich tatsächlich ›ein jeder‹ ihrer ›mit Nutz‹ bedienen kann. Aber nicht nur die Aufgaben und Selbsttypisierungen der Autoren, sondern auch jene der Rezipienten, der Leser, verändern sich. Sie verstehen sich, wie wir gesehen haben, zunächst als autonome »Anwender des Buchwissens«. Ihr Handeln und Erleben wird durch die Informationen, die sie aus den Büchern gezogen haben, bestimmt. Sie lesen nicht nur »selbst«, sondern sie handeln auch selbst – ohne die Hilfe von Experten. So lauten zumindest die Selbstbeschreibungen der Protagonisten der neuen Informationstechnologie, die die Realität freilich nicht immer treffen. Damit die neuen Medien diese Funktion erfüllen können, reicht es keineswegs aus, die alten Texte mit einigen zusätzlichen Erläuterungen aufzufüllen. Die neuen Netze schaffen vielmehr komplett neue Voraussetzungen für die Verständigung. Man konnte nicht mehr, wie es die Rhetorik seit zweitausend Jahren getan hatte, von Vgl. zum Beispiel den Titel des Lehrwerkes von Grüeßbeutel, J.: »Eyn Besonder fast nützlich stymmen büchlein mit figuren / welche die stymmen [Laute] an jn selbs anzeygen / mit silben vnd namen / In welchem die Gesellen / Eehalten / vnd ander alt leut / auch die kinder / weib vnd mann / bald (als XXIIII stunden auf das minst) leychtlich moegen lernen lesen«. Augsburg (zuerst ). Zur Geschichte dieser Transformation vgl. Brigitte Schlieben-Lange: Traditionen des Sprechens. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz .
dem Grundmodell der institutionalisierten Face-to-face-Kommunikation ausgehen, sondern musste sich auf eine interaktionsfreie, monomediale, gesellschaftliche Kommunikationssituation einrichten. Erforderlich war sowohl ein neues Kommunikationsmodell als auch die Entwicklung von darauf abgestimmten kommunikativen Kompetenzen bei allen Beteiligten. Insbesondere stellte sich die Frage, wie die Parallelverarbeitung der Informationen durch die Autoren und Leser, die ja nun einander unbekannte Personen sind, gesichert werden konnte. Generell ist eine solche gleichartige Wahrnehmung und Transformation von Informationen an zwei Bedingungen geknüpft: ähnliche Strukturen (hardware) bei den Prozessoren und ähnliche Programme (software). Solange wir uns mit Menschen als Autoren und Lesern befassen, ist die strukturelle Ähnlichkeit durch die gemeinsamen Gattungsmerkmale in hohem Maße gegeben. Die Programme werden in der nicht institutionalisierten Face-to-face-Kommunikation ad hoc ausgehandelt – soweit sie nicht für die anstehenden Zwecke ohnehin ausreichend identisch sind. Eine solche Aushandlung kommt für die typographische Kommunikation selbstverständlich nicht in Frage, weil hier die Rückkopplungswege – wenn überhaupt vorhanden – zu lang sind. In den Institutionen andererseits wird jeder Mensch für seine Stelle erzogen. Das rollenspezifische Wissen und Verhalten bildet die Basis der Verständigung. Es kann von allen ›Mitgliedern‹ der Institution abgeschätzt und in Rechnung gestellt werden. Solche gemeinsamen institutionellen Programme können aber ebenfalls nicht für alle typographischen Gattungen vorausgesetzt werden. In der Experte-Laie-Kommunikation existieren sie jedenfalls mit Gewissheit nicht in ausreichendem Umfang. Was also war zu tun? Wie ließen sich die Programme, nach denen die Autoren ihre Informationen gewannen und darstellten, mit jenen der Leser so weit in Einklang bringen, dass die Bücher ›ohne weitere Erklärung‹, also monomedial, benutzt werden konnten? Die gedruckte Bauanleitung für einen Destillationsofen ist zum Beispiel das Resultat von vielfältigen Erfahrungen des Autors. Sie macht für den Leser nur Sinn, wenn sie es ihm ermöglicht, diese Erfahrungen zu wiederholen, umso ebenfalls einen Ofen herstellen zu können. Ein Pflanzenbestimmungsbuch sollte den Leser in die Lage versetzen, in der Natur die Pflanzen »wiederzuerkennen«, die auch der Autor in der Natur gefunden und dann beschrieben hatte. Ein gedruckter Reiseführer erfüllt seine Aufgabe nur, wenn die Le
ser die Städte, Straßen, Denkmäler usw. wiedererkennen können, die die Autoren gesehen und beschrieben haben. Üblicherweise wird in der Fachliteratur nur darauf hingewiesen, dass eine ausreichende Alphabetisierung der Gesellschaft die Grundbedingung für das Funktionieren des typographischen Kreislaufs ist. Wie ein Vergleich mit der elektronischen Informationsverarbeitung vielleicht leichter einsichtig macht, ist dies aber eine verkürzte Sichtweise. Natürlich muss der Computerbenutzer die Buchstaben auf den Tasten lesen können, darüber hinaus ist ein Mindestmaß an Kenntnissen über die Programme erforderlich. Und genauso muss auch der Leser der Bücher die Programme kennen, nach denen der Autor seine Informationen gewonnen und dargestellt hat. Mir scheint, als ob die Lösung dieses Problems – vielleicht kann man, um den Moderni verständlich zu werden, von einem »Softwareproblem« sprechen – die bislang am meisten verkannte Grundbedingung für den Erfolg der Buchdruckerkunst gewesen ist. Da Sensor und Effektor, Autor und Anwender des Buchwissens verschiedene Personen sind, müssen ihre Wahrnehmungsweisen so weit angeglichen werden, dass es zu ähnlichen Identifikationen von Umwelttatsachen kommen kann. Da die Sensoren und Effektoren nicht in einen unmittelbaren Kontakt miteinander kommen, müssen diese Programme sprachlich, und zwar ebenfalls im typographischen Medium, niedergelegt werden. Solange man Beschreibungen nur für sich selbst anfertigte oder sie im äußersten Fall Dritten mündlich erläuterte, bestand kaum Bedarf für eine intersubjektiv nachvollziehbare Reflexion der Vorgänge bei der Informationsgewinnung. Hier liegt der eigentliche Grund für die Ausbreitung der neuzeitlichen Wissenschaften: Die Reflexion von bestimmten Phasen der Informationsverarbeitung ist eine unabdingbare Voraussetzung und damit auch Folge des durch den Buchdruck technisch ermöglichten Kommunikationsmodells. Es reicht nicht mehr aus, Informationen zu sammeln und sie weiterzugeben. Man musste sich auch mit der Art und Weise beschäftigen, wie diese Informationen erworben wurden. Dies zu erkennen bedeutete freilich schon die halbe Lösung des Problems. Und so verwundert es kaum, dass es bis weit ins . Jahrhundert dauerte, bis sich der relativ einfache Grundgedanke, von dem dann die zahlreichen Detaillösungen profitierten, durchsetzte: Man liefere nicht einfach fertiges Wissen, sondern standardisiere die Wahrnehmung, gebe also Hilfe zur Selbsthilfe zum Gewinnen
der Informationen – und teile diese Standards im typographischen Medium mit! Dazu musste die menschliche Wahrnehmung zunächst einmal als eine Handlung aufgefasst werden, die sich tatsächlich willensmäßig programmieren lässt. Schon dies verlangte den Bruch mit Traditionen, die seit Urzeiten galten. Nach dem christlichen Erkenntnismodell, welches das mittelalterliche Europa geprägt hatte, wurde das relevante Wissen weniger von den Menschen konstruiert als vielmehr passiv empfangen. Das Wissen war im Prinzip da, es konnte von dem einzigen Schöpfer, Gott nämlich, den Menschen verkündet werden. Diesem Modell der Informationsverarbeitung, auf das wir gleich noch einmal zurückkommen müssen, konnte jedenfalls nicht gefolgt werden, weil es nur die passive Seite betonte. Auch die multimediale Erkenntnis, wie sie beim praktischen Handeln in der Werkstatt gewonnen wird, ließ sich nicht operationalisieren, weil sie viel zu vielschichtig ablief. Im Prinzip hätte man von jedem einzelnen Sinnesorgan ausgehen können. Bekanntlich haben sich die Menschen in der Renaissance entschieden, die visuelle Wahrnehmung, und nicht, was etwa unter Berufung auf die antike Elementenlehre viel näher gelegen hätte, den Geschmack und die taktilen Sensoren der Hand zum Leitorgan zu machen. Mit der Standardisierung dieses äußeren Sehens – im Gegensatz zum ›Sehen mit dem inneren Auge‹ der christlich-mystischen Tradition – hatten die Maler und Architekten schon lange vor Gutenberg begonnen. Sie brauchten intersubjektiv wiederholbare Verfahren, Gebäude wahrzunehmen und auszumessen, um in arbeitsteiligen Prozessen, wie es beispielsweise der Kirchenbau einer war, die Anstrengungen der verschiedenen Beteiligten zusammenzuführen. Ein und dasselbe sichtbare Phänomen sollte durch verschiedene Personen in der gleichen Weise graphisch dargestellt werden können, und andererseits mussten verschiedene Baumeister nach demselben Plan auch dasselbe Gebäude konstruieren können. Der Komplex von Normierungsregeln, der dies ermöglicht, wird seit alters her ›Perspektive‹ genannt. Wir brauchen uns an dieser Stelle mit den Prinzipien dieses Programms nicht auseinander zu setzen, weil dafür im späteren Verlauf ein eigener Abschnitt reserviert ist (vgl. Kapitel ). Es ermöglicht jedenfalls die Reproduktion visueller Wahrnehmung anfangs aufgrund von Bildern und später auch von sprachlichen Beschreibungen. Wir können aufgrund des Buchwissens Strukturen in unserer Umwelt identifizieren – oder feststellen, dass diese im
Verlauf der Jahrhunderte zerstört worden sind. Die Prinzipien dieses Programms ließen sich auf Standardisierungsprobleme in vielen anderen Bereichen übertragen. Die Gesellschaft erarbeitete idealtypische Vorstellungen über die Standpunkte und Perspektiven, die Einstellungen und das anzunehmende Wissen von Autoren und Lesern. Sie kodifizierte sprachliche Bedeutungszuschreibungen in Wörterbüchern und in der Fachliteratur und gelangte so zu einer hochgradigen Normierung der sozialen Informationsverarbeitung. Allerdings blieb das einzelne Individuum, der ›Leser‹/Autor, der Gegenstand der Programmierung, nicht etwa soziale Kollektive. Soziale Verständigung wurde als Verkettung individuellen Schreibens und Verstehens, also von psychischen Prozessen, konzipiert. (Auf dieses Kommunikationskonzept werden wir auf S. ff. zurückkommen.) Die Bedeutung des perspektivischen Verständigungsprogramms kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bis zum Beginn der Renaissance hat es nur für die auditive Informationsaufnahme und auch da nur für einen kleinen Bereich, nämlich für das Verarbeiten der menschlichen Lautsprache, schon ein ähnliches, Reversibiliät ermöglichendes Programm gegeben: Wir bezeichnen es als Alphabetschrift. Sie zeigt, wie man Laute so in Schrift übersetzen kann, dass andere, die entsprechend »alphabetisiert« sind, nach diesen Schriftzeichen wieder funktional äquivalente Laute produzieren können. Nunmehr werden solche geordneten Transformationen auch für die visuellen Informationen möglich. Erst damit, und nicht etwa schon durch die Einführung der phonetischen Schrift, werden die Bücher zu selbständigen Kommunikationsmedien, und erst von diesem historischen Zeitpunkt an lassen sich akustische und visuelle Informationen in einem Kode, eben in den Standardschriftsprachen und in einem Medium darstellen. So wie heute die Digitalisierung die Bedingung für elektronische Informationsverarbeitung ist, so war die Verschriftlichung die Bedingung der Integration visueller und lautsprachlicher Informationen und damit der typographischen Informationsverarbeitung. 19 Vgl. M. Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Kap. ›Volkssprache‹ und ›Verschriftlichung des Lebens in der frühen Neuzeit‹, Kap. ›Von den multisensoriellen Semantiken des Mittelalters zur visuellen Semantik der Neuzeit‹ sowie Kap. ›Syntax für die Augen‹ und Kap. ›Orthotypographien‹. Frankfurt am Main , S. ff.
Die Neubewertung der Sinne und der Stellung der Autoren Je mehr Wissen die Gesellschaft nach den neuzeitlichen Prinzipien in den gedruckten Büchern gespeichert hat, desto mehr prämiert sie das Auge und wertet andere Sinneserfahrungen ab. Dieser Prozess der Bornierungen der Sinne ist ein Teil des als ›Rationalisierung‹ beschriebenen Entwicklungsschubs der Moderne. »Was ich nicht selbst betrachtet und überprüft habe, das habe ich auch nicht niedergeschrieben«, heißt es in der Epistola, die Georg Agricola dem vielleicht bedeutendsten technischen Werk des . Jahrhunderts, ›De Re Metallica‹ (Basel ), voranstellte. »Ich will aber von Unbekanntem nichts schreiben«, steht ihm der Stammvater der Botanik, Hieronymus Bock, zur Seite (›New Kreütter Buoch‹, Straßburg , f. r), und unbekannt ist diesen Forschern alles, was sie nicht selbst gesehen haben. Zweifel daran, dass ›rechtes‹ oder ›wahres‹ Wissen auf einer nach Prinzipien geregelten visuellen Erfahrung beruht, haben sich in der typographischen Kultur nicht durchsetzen können. Diese erkenntnistheoretische Haltung, die die Drucktechnologie zwar nicht erzeugt, wohl aber treibhausmäßig gefördert hat, unterscheidet sich natürlich dramatisch von jener, die das christliche Mittelalter prägte. Die für zahlreiche Lebensbereiche wichtigste kommunikative Grundsituation der alten Zeit ist die Verkündigungssituation. 20 In den unzähligen Bildern über die Verkündigung Marias hat man festgehalten, wie sich die Gläubigen den Erwerb wahrer Erkenntnis vorstellen (3D 쩛CD, Modul , Tafel ). Sie bekamen ihre Informationen entweder direkt von Gott oder von anderen Menschen, denen ihr Wissen dann aber auch letztlich ›verkündet‹ wurde. Nicht das ›äußere‹ Auge, mit dem die Neuzeit ihr ›wahres Wissen‹ produziert, sondern das Hören auf ›innere‹ Stimmen ermöglicht in der alten Zeit Erkenntnisgewinn. Genau wie Maria ihre Botschaften durch Medien wie Engel, Tauben, Träume oder Zeichen erhält, so auch die anderen Gläubigen. Den Evangelisten, Aposteln und Kirchenvätern raunte die Taube ins ›innere Ohr‹, was sie niederschrieben. Auch der Text, den die Schüler, den Worten ihres Lehrers Gregor folgend, auf ihre Wachstafeln einrit Eine vorzügliche Darstellung dieser Situation – und ihrer historischen Veränderungen – gibt Horst Wenzel in seinem Buch: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München , S. ff.
zen, geht so letztlich auf den einen großen ›Spender‹, nämlich Gott, zurück. Dem mittelalterlichen baumförmigen Kommunikationsnetz entspricht ein ebenso hierarchisch strukturiertes Informationsmodell. Ganz anders die ›Autoren‹ der Neuzeit. Sie fühlen sich nicht mehr als ›Stilum‹ Gottes, und die Leser teilen die neue Einschätzung der Autoren. Die Auflösung der klassischen Selbsttypisierung der Autoren lässt sich recht gut an einer Passage aus dem ›Buch der heiligen Dreifaltigkeit‹ zeigen. In einer Überarbeitung dieser schon fertig gestellten ersten alchimistischen Handschrift in deutscher Sprache aus dem Jahre heißt es: »Also zu emphaen [empfangen] von gote diss buch ich// han [habe] mich sere genug gewert/ aber got hat// mich vonder junckfrauen art darczu ge// halten mit seinem heiligen czwange (/) das// ich muste das buch got(t)tes von ym selber// zu lhen empfaen/ das der wol west [weiß, erfährt] wo// er von gote zu were userkoren (/) der muste// ym des von gotes rechte moht [Macht] weren/ Was// ich thun musz (/) das musz nymant fur mich// thun / Also ist auch bey allen anderen persone(n)/ // Darumb ist es ein synne / was ich bin (/) das ist // anderes nymant / Also ist es bey allen and(ern) // personen / Nymant kan meinen willen thun// dann ich selber.« 21 Zunächst ganz im Einklang mit der mittelalterlichen Tradition, stellt sich der Schreiber als Werkzeug Gottes dar: Die Information, die er in seiner Schrift weitergibt, hat er nicht selbst gewonnen, sondern er schreibt sie göttlicher Eingebung zu. Das erwachende »Autoren«bewusstsein der Neuzeit deutet sich dann in der Schlusspassage an: ›Wille‹ und ›Sinn‹ machen ihn, wie er selbstbewusst trotzig verkündet, zu einem unverwechselbaren Schöpfer geistiger Werke. Erst in den Vorreden der gedruckten Fachprosa des . Jahrhunderts lösen sich diese Zwiespältigkeiten zu Gunsten eines klaren Bekenntnisses zum Ursprung der Informationen in der ›eigenen‹ Wahrnehmung auf.
Cod. Guelf. . Blankenburgf. v. Vgl. zu dieser Schrift W. Ganzenmüller: Das Buch der heiligen Dreifaltigkeit. Archiv für Kulturgeschichte , , S. -, sowie Marielene Putscher: Das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit und seine Bilder in Handschriften des . Jahrhunderts. In: Chr. Meinel (Hg.): Die Alchimie in der europäischen Kultur und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden , S. .
Die Legitimität der typographischen Informationssysteme Mit dem Verschwinden der göttlichen Informationsquelle aus dem Informationskreislauf treten neue Legitimationsprobleme auf. Einerseits braucht man Gott nicht mehr für sein Werk zu danken, andererseits kann man sich auf ihn aber auch nicht mehr in der gewohnten Weise als Urheber der Erkenntnis berufen. Die neuzeitlichen Autoren, die für den Druck schreiben, lösen dieses Problem, indem sie darauf hinweisen, dass ihre Texte dem ›gemein Nutz‹ des ›gemein Mannes‹ oder der ›teutschen Nation‹ dienen. Die Veröffentlichung von Wissen ist legitim, weil der Einzelne als Element des gesellschaftlichen Kommunikationssystems dem Ganzen dienen muss, um dieses und damit auch sich selbst zu erhalten (Abb. PDF 쩛CD). Luther hat die neuen kommunikativen und erkenntnistheoretischen Bedingungen als einer der Ersten in ihrer ganzen Tragweite verstanden und daraus Konsequenzen für die Vermittlung der christlichen Heilsbotschaft gezogen. Seine Lehre weist im Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Medien dem skriptographischen Speicher, sola scriptura, die ausschlaggebende Bedeutung zu. Selbstverständlich meint ›Schrift‹ bei ihm nicht mehr die Manuskripte, sondern die ausgedruckten Texte. Andere Kommunikationsformen wie zum Beispiel die mündliche Beichte oder die Sakramente verlieren demgegenüber im Protestantismus an Bedeutung. Natürlich hat diese Entwicklung Zeit gebraucht, und sie verlief auch nicht ohne Rückschläge. Vor dem Aufkommen des Buchdrucks konnte ja nur ein sehr kleiner Teil des Wissens zu einem Besitz vieler Menschen oder gar einer großen sozialen Gemeinschaft werden. Die in den Rezeptsammlungen, Tage- und Musterbüchern, den Traktaten und den ›Heiligen Schriften‹ gespeicherten Informationen wurden innerhalb der Familie, des Handwerks und der Institutionen weitergegeben, blieben also für die Mehrheit der Bevölkerung ›Arkana‹. »Die Alten«, schreibt der Straßburger Universalgelehrte Otho Brunfels, »haben ihre Bücher für einen großen Schatz und in solchem Wert gehalten, dass sie von niemandem gesehen werden konnten.« Weiter heißt es in seinem ›Contrafayt Kreüterbuoch‹ (Straßburg ): »Es seind auch zuo den selbigen zeyten die kreüter buecher nit gemein gesein/ auch nicht so vil kreüter bekant/ sondern hat ym einer dißes/ ein ander ein anders für die
handt genommen (ar).« In der gedruckten Fachliteratur wird dieses Wissen von verschiedenen Personen und Berufsgruppen nun zunächst veröffentlicht und damit allgemein zugänglich und vergleichbar gemacht. 22 Es kann dann überprüft und schließlich neu geordnet werden. Ohne diese Datensammlung wäre die neuzeitliche beschreibende Naturwissenschaft ganz undenkbar gewesen. Es verwundert nicht, dass anfangs viele die Versprachlichung und Vergesellschaftung der ›Arkana‹ mit Misstrauen betrachteten. So hat etwa der Tübinger Schreibmeister Valentin Boltz »kein zweifel, es wer(e) etliche mißgünstige Kuenstler […] dis mein einfeltige anleitung in die Illuminierunge/ sehr bekuemmern«. Sie meinen, wie er in der Vorrede zu seinem in Frankfurt erschienenen ›Illuminierbuch künstlich alle Farben zu machen und bereiten‹ schreibt, solche Bücher würden die Handwerker um ihre Kunden und somit auch um Lohn und Brot (Narung) bringen. Sie »vermeinen man solt die dinge nicht gemein machen/ zu verkleinerung der Kunst« (S. ). Zu seiner Rechtfertigung führt er die Wachstumsund Fortschrittsargumente an, die für die neuzeitliche Gesellschaft typisch werden: Ziel der schriftstellerischen Tätigkeit ist nicht der Erhalt, sondern die Erweiterung des Wissens. Deswegen reicht es nicht aus, wenn der Einzelne sein Wissen nur seinen Gesellen und Nachfahren weitergibt, er muss es der Allgemeinheit zur öffentlichen Überprüfung ›preisgeben‹. Fehler sollen die Klügeren ›reizen‹, es besser zu machen. Erst in diesem Wettbewerb wächst die Erkenntnis. Nur frei zugängliche, intersubjektiv wahrnehmbare und überprüfbare Informationen gelten fortan als ›wahres‹ Wissen. 23 Ich werde diesen Wandel des ›Wissens‹-Modells gleich noch einmal aus einer anderen Perspektive behandeln (vgl. Kapitel ). Ein Großteil des neuzeitlichen Erkenntisschubes resultiert, wie vor allem Elizabeth L. Eisenstein in vielen Aufsätzen und in ihrem Buch ›The printing press as an agent of change‹. London/New York/Melbourne , herausgearbeitet hat, aus diesem kombinatorischen Gewinn. Was zuvor weit verstreut und nur verschiedenen Spezialisten zugänglich war, lässt sich nun von dem Leser eines einzigen Fachbuches überblicken. Für Andreas Libavius, den Begründer der modernen Chemie, erscheinen »geheim gehaltene« Verfahren und Kenntnisse überhaupt nicht mehr als »Künste«. Vgl. dazu die Vorrede in seiner ›Alchemia‹, Frankfurt am Main , vgl. auch M. Giesecke: Als die alten Medien neu waren – Medienrevolutionen in der Geschichte. In: Rüdiger Weingarten (Hg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher. Frankfurt am Main , S. -, hier f.
Der Vergleich und die Überprüfung des typographisch gespeicherten Wissens ist die Aufgabe von speziellen Prozessoren, die ich ›Kritiker‹ genannt habe (vgl. Abb. ). Mit ihnen entsteht ein interner Regelkreis im typographischen Informationssystem, der diesem erst seine relative Autonomie und Geschlossenheit verleiht: Autoren nehmen aufeinander im typographischen Medium Bezug und vertauschen dabei ihre Rollen. Das System thematisiert sich selbst. Informationen von ›draußen‹ sind ebenso wenig erforderlich wie zusätzliche Medien.
Die typographische Programmierung gesellschaftlichen Handelns Wir haben zuletzt gesehen, wie das typographische Informationssystem neue Formen der Informationsgewinnung hervorgebracht, neue Erkenntnistheorien begründet und neue Legitimationsvorstellungen verbreitet hat. Zum Schluss ist darauf hinzuweisen, dass die typographischen Informationen und Programme nicht nur die individuelle Wahrnehmung, sondern auch das Handeln der Menschen sozialisiert. Das Buchwissen erscheint der Gesellschaft als ein nützliches Programm, nach dem man sich im alltäglichen und institutionellen Handeln richten kann. Je mehr Menschen sich an den gleichen Beschreibungen in den Büchern orientierten, umso mehr wird ihr Handeln und Erleben standardisiert oder, wie es bei manchen Kulturhistorikern heißt: zivilisiert. Bald schon hält man die typographische Information für unverzichtbar, um kulturell akzeptabel handeln zu können. Der typographische Kreislauf schließt sich in dem Augenblick, in dem die Leser ihre Umwelt mit Hilfe des Buchwissens identifizieren und verändern, um dann als Autoren über ›abweichende‹ oder ›neue‹ Erkenntnisse wiederum in Druckwerken zu berichten. Auch diese Erkenntnisse können dann wieder von anderen Personen als Programme zur Gestaltung ihres Lebens genutzt werden. Sobald dieser sich selbst verstärkende Kreislauf etabliert ist, wird das gedruckte Buch zu einem unverzichtbaren Medium der gesellschaftlichen Reproduktion. Damit kann auch die Beschreibung der neuzeitlichen Buchkultur als komplexes und dynamisches System, welches sich gegenüber anderen Kommunikationssystemen abgrenzen muss, in einem ersten Durchgang abgeschlossen werden. Sie mag trotz allen hier un
vermeidlichen Verkürzungen einen Eindruck von der ordnenden Kraft des systemischen informations- und medientheoretischen Ansatzes gegeben haben.
. Die Entstehung des neuzeitlichen Wissensbegriffs1 Der historische Charakter von Informationskonzepten Jede Kultur entwickelt ihre eigenen Vorstellungen darüber, was informativ ist und welche Formen der Speicherung und Verbreitung von Informationen bevorzugt werden sollen. Entsprechend der vorherrschenden Praxis- und Wahrnehmungsformen prämieren die Gesellschaften bestimmte Informationstypen. Schon die sprachliche Benennung sichert manchen Typen soziale Aufmerksamkeit und entzieht andere der Reflexion und öffentlicher Diskussion. Die neuzeitlichen Buchkulturen haben die »eigentliche«, »wahre« Information an das menschliche Bewusstsein gebunden und dem sprachlich-begrifflichen Wissen eine quasi absolutistische Macht über andere, »niedere« Informationsarten zugesprochen. Mit der zunehmenden Technisierung menschlicher Wahrnehmungs-, Informationsverarbeitungs- und -darstellungsleistungen zerbrach dieses Monopol. Der technischen Informatik gelang seit den vierziger Jahren des . Jahrhunderts die differenzierte Konstruktion von Informationskonzepten, die sich von statistischen und naturwissenschaftlichen Regelmäßigkeiten (›thermodynamische Wahrscheinlichkeit‹) herleiten. Sie haben sich in der industriellen Praxis bewährt und auch Eingang in das Alltagsbewusstsein gefunden. Seitdem muss man zwischen technischen und psychischen Informationssystemen und -typen unterscheiden. Wie kaum anders zu erwarten, haben die Anhänger der Buchkultur gegen diesen aufsteigenden neuen Informationsbegriff Front gemacht, um den Herrschaftsanspruch ihres Konzepts von Information als ›Geist‹ zu verteidigen. Die Diskussion um die technische Eroberung des Gehirns (›Elektronenhirn‹) und die ›Macht der Eine erste Fassung dieses Kapitels habe ich auf der Tagung ›Zur Sozialgeschichte des Geheimnisses‹, Bad Homburg, .–. . , vorgetragen. Das Referat erschien unter dem Titel ›Den brauch gemein machen‹. Die typographische Erfassung der Unfreien Künste. In: Aleida und Jan Assmann (Hg.), »Schleier und Schwelle I, Geheimnis und Öffentlichkeit« (Archäologie der literarischen Kommunikation V. ), München , S. -, und ist für dieses Buch erheblich ergänzt und überarbeitet.
Computer‹ sind Ausdruck dieses Kampfes zwischen Klassen von Informationsbegriffen. 2 Noch während dieser Auseinandersetzungen tauchten weitere Informationsklassen auf. Seit der Entschlüsselung der DNS ist klar, dass alle Formen von Leben durch Informationen gesteuert werden, die weder an Bewusstsein noch an eine hochwertige Technik gebunden sind. Molekulare Verkettungen, die sich in chemischen Formeln ausdrücken lassen, informieren die Organismen. Hinzu kommen die in den neuronalen Netzen gespeicherten Informationen, von denen die Hirnforschung behauptet, dass sie andere Qualitäten als jene der biochemischen Botenstoffe besitzen. Keine moderne Managementlehre glaubt mehr, dass sich die Intelligenz eines Unternehmens auf das Wissen der Mitarbeiter reduzieren lässt. Soziale Informationen und menschliches Wissen treten auseinander. Kluge Mitarbeiter garantieren kein intelligentes Unternehmen. Was schließlich damit gemeint ist, wenn man die ›Information‹ neben Arbeit, Kapital und Boden zu einer weiteren Produktivkraft moderner Gesellschaften erklärt, ist zwar kaum ausgelotet, aber mit ziemlicher Sicherheit lässt sich auch dieser Informationstyp nicht auf einen der vorgenannten zurückführen. So ist die Situation gegenwärtig durch das Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Klassen von ›Informationen‹ gekennzeichnet. Viele Autoren nehmen dies zum Anlass, ähnlich wie man zu allen Zeiten über die Rangordnung zwischen den menschlichen Sinnen stritt, nun eine Prioritätenliste für die verschiedenen Informationskonzepte zu erstellen. Ich sehe augenblicklich noch nicht, was man mit einer solchen Hierarchie anfangen soll. Mit hierarchischem Denken allein wird man jedenfalls eine pluralistische Informationsgesellschaft nicht gestalten können. Vorrangig scheint es mir augenblicklich, die verschiedenen Informationskonzepte erst einmal zu sichten und sie – auf dem ontologischen, medientheoretischen Parameter – zu ordnen. Ebenso wichtig dürfte es sein, die historische Genese der gängigen Konzepte von ›Wissen‹, ›Geheimnis‹ u. a. Informationstypen aufzuzeigen. Erst dieses historische Verständnis lässt Aussagen über die Geltungsansprüche dieser Konzepte zu. Mit dieser Absicht beschäftige ich mich mit den Veränderungen Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main .
in den Informationskonzepten in der frühen Neuzeit. Dabei taucht sofort das Problem auf, dass für das mittelalterliche Verständnis individuelle »Geheimnisse« einen wichtigen Bestandteil des kulturellen »Wissens« ausmachten.
Wissen und Geheimnis Wenn man sowohl das Geheimnis als auch das Wissen als Information betrachten will, dann muss man einen Informationsbegriff voraussetzen, der weit allgemeiner ist als jener der Umgangssprache, in der Information und Wissen oftmals übereinstimmen. Indem Informationen als eine Eigenschaft jedes Mediums, sowohl eines technischen als auch eines natürlichen, wie zum Beispiel des Gehirns, betrachtet werden, ist eine abstrakte Kategorie – ein gemeinsames Drittes – gewonnen, die den Vergleich zwischen Phänomenen ermöglicht, die traditionellerweise nur als Gegensätze behandelt werden. 3 ›Arkana‹ und ›Alltagswissen‹, ›Geheimnis‹ und ›Wissen‹ sind nicht mehr nur Kontrapunkte, sondern sie besitzen auch Gemeinsamkeiten, vorab zumindest diejenige, Typen von ›Information‹ zu sein. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Informationstypen ergeben sich aus der Art, in der sie gewonnen, gespeichert, weitergegeben und bewertet werden. Wer etwas über den ›brauch‹ wissen will, muss sich also damit befassen, wie er erworben, in welchen Medien er gespeichert und wem er mitgeteilt wird. Informationstypenbezeichnende Ausdrücke wie ›Wissen‹ oder ›Geheimnis‹ ergeben sich aus der sozialen Reflexion. Die Gesellschaften legen jeweils selbst fest, was sie als ›Wissen‹ betrachten wollen und zu welchen anderen Typen von Information sie dieses in Opposition setzen wollen. Und sie tun dies selbstverständlich zu den verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise. Das ›Geheimnis‹ des Mittelalters ist nicht mehr jenes der Neuzeit – selbst wenn die Kodierungsform, das Wort, über lange Zeiträume hinweg unverändert bleibt. 4 Mehr zu diesem Informations- und Medienbegriff in Kap. meines Buches ›Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien‹. Frankfurt am Main , S. ff. Dieser Feststellung wird im Allgemeinen so wenig widersprochen, wie sie letztlich ernst genommen wird. Sie hat aber zur Konsequenz, dass die gesamte Begrifflich-
Als Triebfeder für die Definition neuer Informationstypen und für die Schaffung neuer Oppositionen zwischen ihnen wirkt oftmals die Einführung neuer Kommunikationsmedien. Sie verändern nämlich immer den Kreis derjenigen, die Zugang zu den Informationen haben. Sie schaffen neue Formen sozialer Differenzierung, ja, man kann soziale Begriffe wie jene der ›Rolle‹ oder ›Schicht‹ mit einem gewissen Recht auch informationstheoretisch definieren: Unterschiedliche Rollen und Schichten differenzieren sich nach den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die sie zu Informationen besitzen. Umgekehrt kann man sagen: Nur wenn Medien neue Kommunikationssysteme und damit auch neue Rollenverteilungen schaffen, sind sie wirklich neu. Diesen Ansatz haben Neil Postman und Joshua Meyrowitz bei ihren Beschreibungen unserer Gegenwartskultur als ›Fernsehgesellschaft‹ verfolgt. Medien stellen für Letzteren »eine bestimmte Art sozialer Umwelt dar, die Menschen auf bestimmte Weise einschließt oder ausschließt, vereint oder trennt«. 5 Da die Printmedien Lesefähigkeiten voraussetzen, die in langjähriger Schulung erst mühsam angeeignet werden müssen, errichten sie eine relativ hohe Barriere zwischen ihren Nutzern und Nichtnutzern, zwischen den Alphabeten und den Analphabeten, den Erwachsenen und Kindern, den Handarbeitern und den Intellektuellen. Letztere haben viele ›Geheimnisse‹ vor den Ersteren. Meyrowitz kommt deshalb zu dem Schluss, dass »das Viktorianische Zeitalter – der Höhepunkt der von den Printmedien beherrschten Kultur – eine Zeit der ›Geheimnisse‹ war«. 6 Und sein amerikanischer Kollege Postman spinnt diesen Faden bei der Betrachtung der Sozialstruktur im Informationszeitalter weiter. Da für den Fernsehkonsum keinerlei erzieherische Voraussetzungen mehr erforderlich seien, verschwänden die seit der frühen Neuzeit durch die Buchkultur aufgerichteten Grenzen zwischen den Erwachsenen und den Kindern. Im Zeitalter der ›elektronischen Medien sei es unmöglich, irgendwelche Geheimnisse zu keit, die sich auf die Informationsverarbeitung bezieht, zum Beispiel auch ›Sehen‹, ›Sprechen‹, ›Wissen‹, selbst als ein Phänomen zu betrachten ist, das es zunächst einmal begriffsgeschichtlich zu erfassen gilt. Man kann diese Ausdrücke nicht sogleich als wissenschaftliche Heuristik einsetzen und zum Beispiel fragen, welches Konzept von ›Sehen‹ im Mittelalter galt. Joshua Meyrowitz: Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft Bd. . Weinheim/Basel , S. . Ders.: Wie Medien unsere Welt verändern. Die Fernsehgesellschaft Bd. . Weinheim/Basel , S. .
bewahren‹. »Ohne Geheimnisse aber kann es so etwas wie eine Kindheit nicht geben.« 7 Dass zahlreiche Wissensmonopole der Erwachsenen zerbröckeln, wird man zugestehen, ebenso dass die neu entstehenden Informationsgemeinschaften andere soziale Grenzen ziehen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob sich absolut gesehen das Verhältnis zwischen Geheimnis und Wissen verändert. Eine solche Chance sah die Aufklärung. Am Anfang des antiken philosophischen Denkens stand eher die Idee, dass sich bei einem glücklichen Verlauf der Dinge Werden und Vergehen, Erkenntnis und Vergessen die Waage halten – und in gewisser Weise erlebt dieser Ansatz eine Renaissance im ökologischen Paradigma der Gegenwart. Die Summe der Informationen, die beliebige Informations- und/ oder Kommunikationssysteme verarbeiten können, ist ebenso wie jene der natürlichen materiellen Ressourcen begrenzt, sie lässt sich nicht beliebig erweitern (vgl. Kap. , S. ff.). Die Aufmerksamkeit jedes Informationssystems – sowohl des einzelnen Menschen als auch der Institutionen und Gesellschaften – ist begrenzt. Sie kann zwar durch technische Mittel absolut erweitert werden, dies vergrößert aber nur die relativen Diskrepanzen. Die Unterschiede zwischen Völkern, die die Schrift besitzen, und solchen, die nicht über sie verfügen, waren geringer als jene zwischen den typographischen und den skriptographischen Kulturen, und Letztere geben uns nur eine müde Vorahnung von den Unterschieden, die sich zwischen Kulturen einstellen werden, die elektronisch vernetzt sind, und jenen, in denen sich weder der Buchdruck noch die Computer und die technischen Netze durchsetzen konnten. Möglich ist deshalb eigentlich nur, die kommunikative Welt umzustrukturieren, Netzwerke mit flexiblen Relais und Informationswegen – zum Beispiel durch die Verwendung technisierter Medien – zu bilden oder die Bedeutung des einen Kommunikationswegs zu Gunsten anderer zurückzudrängen. Der damit einhergehenden Veröffentlichung alter Informationen entspricht die Schaffung neuer Geheimnisse. So mag denn Postman Recht haben, dass die Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern durch die Schaffung neuer Kommunikationssysteme fallen – zugleich jedoch werden neue Gräben aufgerissen: Für viele Kulturgemeinschaften, Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main , S. f.
Gruppen, Industriezweige usf., die nicht über neue Medien verfügen, bleibt vieles, was in der verkabelten Welt vor sich geht, Geheimnis. Sie sind von wichtigen Programmen ausgeschlossen oder kommen erst dann an Informationen, wenn andere sie schon kommerziell, militärisch, politisch o. ä. genutzt haben. Für McLuhans Vision eines globalen Dorfes gibt es keine Belege. Im Gegenteil, die Ausdifferenzierung der Informations- und Vernetzungstechnologie bietet immer neue Chancen für Geheimbündelei. 8 Aber da diese Vorgänge in unserer Gegenwart noch so im Fluss sind, mag man für oder wider solche Thesen reden – jedenfalls solange keine Theorie akzeptiert wird, die den Aufklärungsmythos zu Gunsten zirkulärer und ökologischer Konzepte überwindet. Ich werde deshalb in diesen wie auch in den weiteren Beiträgen in diesem Buch zeigen, wie vollständig die Begriffe von ›Wissen‹ und ›Geheimnis‹ in der Vergangenheit jeweils von den historisch gegebenen Medien und den dadurch ermöglichten Informationsund Kommunikationssystemen abhängen. Als Beispiel habe ich die typographische Erfassung der Unfreien Künste, also die Verschriftlichung, die mittelalterliche handwerkliche Erfassung (›Kunst‹, ›brauch‹) für den Druck und ihre Veröffentlichung in den ›wahrhaftigen Beschreibungen‹ ausgewählt. Die Einführung des Buchdrucks hatte besonders tief greifende Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung und die Konzepte von ›Öffentlichkeit‹ und ›Geheimnis‹.
Vgl. Christiano German: Politische (Irr-)Wege in die globale Informationsgesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beiträge zur Wochenzeitung ›Das Parlament‹. B , , S. -, hier S. : »Die Befürchtungen, dass eine Zwei-Klassen-Informationsgesellschaft entstehen könnte, scheint sich vor allem im so genannten ›globalen Dorf‹ zu bewahrheiten. Auf internationaler Ebene zeigt sich das Gefälle hinsichtlich der Verfügbarkeit über Informations- und Kommunikationssysteme zwischen Reich und Arm mit seinen vielfältigen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Kultur der einbezogenen Länder sogar besonders deutlich. In Ballungsgebieten wie New York und Tokio gibt es nach Angaben der UNESCO mehr Telefonanschlüsse als in ganz Afrika. Über die Hälfte der Weltbevölkerung hat fünf Jahre vor der Jahrtausendwende noch nie in ihrem Leben telefoniert, % ist der Umgang mit einem Taschenrechner fremd, ganz zu schweigen von der Benutzung eines Laptops.«
Das Wissen der Industriegesellschaft als Spezialfall typographischer Informationen Wie schon in Kapitel angesprochen, erforderte die interaktionsfreie Parallelverarbeitung von Informationen, wie sie durch die Verbreitung gedruckter Bücher auf die Tagesordnung gesetzt wurde, eine spezifische Form von Wahrnehmung und die Darstellung von Erfahrungen. Diesen Informationstyp bezeichnet man seither als ›wahres Wissen‹. Informationstheoretisch lässt er sich in aller Kürze in der folgenden Weise charakterisieren: Er wird – von den Menschen mit den Augen nach ausbuchstabierbaren Programmen gewonnen (Visualität; Perspektive, vgl. Kap. ), – in einem standardisierten Symbolsystem kodiert (semantische Information), – typographisch gespeichert (Parallelverarbeitung), – über den Markt öffentlich und monomedial verbreitet, – als Programm für das Handeln und Erleben größerer Menschengruppen genutzt, – gesellschaftlich allen anderen Informationstypen gegenüber bevorzugt. Dieser Informationstyp ist also erst mit der Einführung der typographischen Vervielfältigungstechnik und der Nutzung des freien Marktes als Verbreitungsmedium entstanden und an diesen Prozessor und Vernetzungstyp gebunden. Das ›Wissen‹ ist so gesehen eine Form technisierter Information. Es wird zwar vom Menschen mit seinen natürlichen Organen – mehr oder weniger unterstützt von Werkzeugen – gewonnen und genutzt, aber es bedarf zu seiner Verbreitung komplizierter technischer Instrumente. Es kann weiterhin nur von vergleichsweise riesigen sozialen Systemen geschaffen werden. Diese Eigenart hebt man häufig als den ›gesellschaftlichen Charakter‹ des ›Wissens‹ hervor. Das typographische Informationssystem besteht nämlich im Gegensatz zu den individuellen psychischen Systemen oder zu den Institutionen immer aus sehr vielen Menschen, die als Sensoren, Reflektoren, Medien, Effektoren usf. wirken – und dies nach einem aufeinander abgestimmten Programm. In dem Maße, in dem sich der neue Wissensbegriff im Europa der frühen Neuzeit durchgesetzt hat, entstanden auch neue Gegenbegriffe und verloren ältere Informationstypen ihre Bedeutung.
Dies betrifft zum Beispiel das mittelalterliche Konzept der ›secreti / heimligkeit‹. Die Prämierung eines Informationssystems/Mediums führt nicht nur zur Hervorhebung eines bestimmten Informationstyps, sondern zugleich auch zum moralischen Veralten von vielen anderen und zu einem Umbau in der Wertehierarchie zwischen den verschiedenen Informationstypen. 9 Die Etablierung der neuen Hierarchie setzt eine eigentümliche Dynamik in Gang: Die Gesellschaft beginnt, Informationen, die zuvor in den verschiedensten anderen Medien gespeichert waren, schrittweise in das prämierte Medium zu übersetzen. Dieser Prozess wird von den Autoren in der Neuzeit mit den unterschiedlichsten Begriffen belegt: ›Rationalisierung‹, ›Verweltlichung‹, ›Aufklärung‹, ›Vergesellschaftung‹, ›Demotisierung professioneller Arkana‹ und so weiter. 10 Alle diese Übersetzungsprozesse aus dem Gedächtnis, den Handschriften, den Bildern und anderen Medien in den Druck gingen und gehen nicht ohne Verluste ab. Gerade weil jedes Medium seine Eigenart besitzt, widerspiegelt es sich im anderen nur unvollkommen. Diese Informationsverluste begleiten die typographische Erfassung des Lebens unvermeidlich. Eine umsichtige Analyse historischer Informationsverarbeitung zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie auch diese Verluste in den Blick nimmt. Auch dies kann am Beispiel der Erfassung der ›Unfreien Künste‹, also jener Informationen, die die Handwerker in ihrem leiblichen Verhalten und in ihren Werkzeugen und Werkstätten gespeichert haben, gezeigt werden. Zugleich soll der Versuch unternommen werden, die Konturen dieses uralten, ›brauch‹ und/oder ›kunst‹ genannten Informationstyps zu umreißen.
›Tacit knowledge‹ und seine Tradierung Informationstheoretisch betrachtet setzt sich der Mensch aus sehr vielen verschiedenen Typen von Informationssystemen zusammen. Zwar unterscheiden ihn bestimmte Funktionsweisen und Struktu Giesecke a. a. O., Kap. , S. ff. Zur letzten Begriffsbildung vgl. Utz Maas: Lesen – Schreiben – Schrift. Die Demotisierung eines professionellen Arkanums im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: LiLi (), H. , S. -.
ren des höheren Nervensystems von anderen Lebewesen, aber diese bauen auf einem großen Reichtum einfacherer Formen der Nerventätigkeit auf. Diese steuern nicht nur die innere, organismische Tätigkeit, sondern auch das äußere Verhalten, das gleichgewichtige Gehen etwa, die Fingerfertigkeit, die Wahrnehmungstätigkeit und vieles andere mehr. Für diesen Informationstyp finden sich in der Fachliteratur unterschiedliche Bezeichnungen: ›taktil‹, ›sensomotorisch‹, ›enaktiv‹ oder in der angelsächsischen ›tacit knowledge‹ (Polyani). Auch was die höhere Nerventätigkeit angeht, kann man unterschiedliche Systeme und Speicherformen ausmachen. Für die anstehenden Zwecke mag es ausreichen, zwischen Informationen zu unterscheiden, die versprachlicht sind und in der Umgangssprache als ›bewusst‹ bezeichnet werden, und solchen, die als vorbewusste Erfahrung oder bildhafte Vorstellung in unserem Gedächtnis lagern. 11 Beim menschlichen Handeln wirken diese Informationstypen notwendig zusammen. Der ganze Körper erscheint als ein von unterschiedlichen Programmen gespeister Effektor beziehungsweise aus der Sicht des Gegenübers als Medium der Information über die vielfältigsten körperlichen Systeme. So gesehen ist das kooperative, instrumentelle Handeln das komplexeste Informationssystem, das wir kennen. Die Kommunikation, das heißt die Parallelverarbeitung der Information, erweist sich in diesem Fall als besonders schwierig, weil so viele Medien eingesetzt und entsprechend viele Sensoren aktiviert werden. Die Kooperationspartner müssen ihre Umwelt und sich selbst, zum Beispiel den Rhythmus ihrer Handlungen und die Intensität ihrer Bewegungen, wahrnehmen und die Erfahrungen nach ähnlichen Programmen verarbeiten und die Ergebnisse wieder in Handlungen umsetzen. Die sprachlich übermittelten Informationen machen nur einen kleinen Teil der Umwelt aus. Hören und Sehen dürfen nicht die einzigen Erfahrungsquellen bleiben, eben weil dieses System multimedial und multisensoriell angelegt ist. Wenn man also die handwerklichen ›Künste‹ als Information betrachten will, dann sollte man zunächst herausstreichen, dass es sich hierbei um ein Konglomerat verschiedener Informationstypen Zu den Unterschieden zwischen diesen Informationstypen vgl. Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main , Kap. , S. ff., und Kap. , S. ff.
handelt. Diese Eigenschaft bestimmt auch die Tradierungsform. Während die Künste des Triviums und Quadriviums in der Regel in bimedialen Kommunikationssituationen durch Rede und Schrift weitergegeben werden, brauchen die Handwerke für ihre Selbstreproduktion ein komplexeres Setting. Seine standardisierte Form wird seit alters her ›Lehre‹ genannt. Hier wird ›vorgemacht‹ und ›nachgeahmt‹, ›gezeigt‹ und ›abgeguckt‹, dem anderen die Hand ›geführt‹ und selbst ›geübt‹. Für dieses multimediale Lernen gab es früher überhaupt keine und heute nur in begrenztem Umfang Alternativen. Dies liegt einfach daran, dass sich die handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Informationen nur unter großen Verlusten aus ihren Zusammenhängen lösen und in andere Medien transformieren lassen. Wer etwas über die Künste erfahren wollte, der musste sich zu einem Meister in die Werkstatt begeben oder, wenn er die Macht dazu hatte, diesen herkommen und seine Kunst vorführen lassen. Der Technologietransfer ist unter diesen Umständen immer daran gebunden, dass der Experte in seiner ganzen Leiblichkeit ›transferiert‹ wird oder dass sich die Interessierten zu dem Meister selbst begeben. Als Ulman Stromer wohl in den achtziger Jahren des . Jahrhunderts davon hörte, dass in Norditalien Papiermühlen arbeiteten, die das Zerstampfen von Holz, Lumpen und anderen Rohmaterialien für die Papierherstellung technisierten, konnte er keine genaueren Informationen über diese neue Technologie besorgen. So warb er Franziscus de Marchia und seinen Bruder Marcus sowie Bartholomäus, dessen Knecht, an, die ihm helfen sollten, in Oberdeutschland die Papierfabrikation zu beginnen (Abb. PDF 쩛CD). Zunächst mussten die drei Lombarden ihm ›ihre Treu geben und einen heiligen Eid schwören, dass sie ihm und seinen Erben treu seien‹. 12 Außerdem mussten sie versprechen, dass sie ›in allen deutschen Landen hier diesseits des lombardischen Gebirges (der Alpen) niemand anders Papier machen, denn ihm und seinen Erben‹ (ebd.). In einem Vertrag, den ›Cunradus procurator sub publica manu verhörte und verschrieben hat‹, mussten sich die Handwerker K. Hege; Püchel von mein geslechet und von abenteuer. Leipzig , S. (= Die Chroniken der Fränkischen Städte, Bd. ). Vgl. zur Textgeschichte weiterhin W. E. Vock: Ulman Stromer (-) und sein Buch ›Nachträge zur Hegelschen Ausgabe‹. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg , , S. -.
weiterhin verpflichten, ›niemanden zu lehren, Papier zu machen, auch niemanden Anweisung dazu zu geben, noch Rat noch Hilfe zu liefern‹ oder jemanden zu beeinflussen, dass weitere Handwerker ›von welschen Landen heraufkommen und Papier machen, ohne des Ulman Stromers oder seiner Erben Willen und Wort‹. 13 Es wurden also alle Anstrengungen unternommen, das Wissen über die neue Technologie zu monopolisieren. Auch alle Gehilfen, die Stromer später einstellte, mussten ähnlich eiden. Jörg Tyrman beispielsweise verpflichtete sich »in jaren nacheinander nach datum diser schrift nymant kayn arbeit zu papir tun, dann« Stromer und seinen Erben (a. a. O., S. ). Außerdem musste er sich verpflichten, niemanden über sein in der Papiermühle erworbenes Wissen zu berichten. Erst nach Ablauf der zehn Jahre sollte ihm erlaubt sein, selbst Papier herzustellen. Trotz dieser umfänglichen juristischen Vorkehrungen lief das Geschäft damals nicht wie geplant ab. Die ›Wahlen‹ arbeiteten zu langsam, ›hinderten‹ Stromer ›an seinem Werk, so sie es mochten‹ (ebd., S. ). Vermutlich versuchten sie, ihren Vertrag nachträglich aufzubessern und für jede neue Stampfe und jedes neue Rad zusätzliches Geld zu erpressen oder, wie Stromer ebenfalls klagt, weitere ›Lombarden‹ heranzuholen. Erst nachdem dieser sie in den ›Wasserturm‹ einsperren ließ, waren sie anscheinend zu zügigerem Arbeiten bereit. Eine etwas andere Form des Verkaufs von Informationen wählte Johannes Gutenberg. Gemeinsam mit Andreas Dritzehn, Hans Riffe und Andreas Heilmann bildete er eine kommerzielle ›Aventiure‹, ein befristetes Unternehmen zur Herstellung von ›Heilsspiegeln‹. Seine drei Kompagnons steuerten das Kapital, viele hundert Gulden, sowie teilweise auch ihre Arbeitskraft und Gutenberg das technische Know-how, Wissen über die Metalllegierungen, den Bau von Pressen u. a. bei. Vom erwarteten Gewinn des Unternehmens sollte Gutenberg die Hälfte zufallen. Die Anfertigung der Spiegel war, obwohl man sie anlässlich von Heilsfahrten schon lange überall erwerben konnte, ein Geheimnis geblieben, mit dem sich Guten-
Ebd., S. . Ähnliche Abmachungen teilt M. Frumkin in seinem Aufsatz ›Early History of Patents for Invention‹ (in: Transaction of the Newcomen Society for the Study of the History of Engineering and Technology, Band , -, S. -) mit.
berg größere Geldmengen für sein eigentliches Hauptanliegen, die Entwicklung des Handgießinstruments, beschaffen konnte. 14
›Was du verschwiegen haben wilt / das sag niemandt‹: Das Geheimnis als ›verschwiegene Information‹ Komplexe Kommunikationssysteme entstehen dadurch, dass nicht mehr jeder direkt mit jedem anderen kommunizieren kann, sondern dass die Verknüpfungsmöglichkeiten begrenzt werden. Dadurch wird es für die einzelnen Kommunikationspartner unterschiedlich schwer, sich bestimmte Informationen zu besorgen. Ab einem bestimmten historisch variablen Grad können solche Daten, auf die der Zugriff einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen begrenzt ist, ›Geheimnis‹ genannt werden. 15 Aber diese soziale oder kommunikative Differenzierung und damit die Entstehung von ungleichen Zugriffsmöglichkeiten zu Informationen ist nur die eine Voraussetzung. Die zweite ist das Wissen darüber, dass es solche Ungleichheiten gibt. Die einen müssen wissen, dass es irgendwo andere gibt, die über Informationen verfügen, zu denen sie selbst keinen Zugang haben. 16 Und beide Gruppen müssen sich als zu einem gemeinsamen übergreifenden Kommunikationssystem zugehörig definieren. Geheimnisse können nur in intern in mindestens zwei Subsysteme differenzierten Gemeinschaften auftreten. Solange es sich um leibgebundene, enaktive Informationen, Geschicklichkeit und handwerkliche Erfahrungen handelt, lässt sich der Zugang für andere relativ leicht kontrollieren. Man zeigt oder Weitere Angaben bei Albert Kapr: Johannes Gutenberg, Persönlichkeit und Leistung. München , S. ff. Es macht wenig Sinn, nach einer ›objektiven‹ Definition von ›Geheimnis‹, losgelöst von den Selbstbeschreibungen der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft zu suchen. Wenn etwa Joachim Westerbarkey (Das Geheimnis – Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen ) formuliert: »Bleibt auch nur ein Einziger in Unkenntnis, der etwas nicht wissen soll oder will, das ihn betrifft, so ist das Geheimnis (zumindest ihm gegenüber) gewahrt« (S. ), so lädt er sich mit dieser Definition eine ganz unnötige Last auf. Dass ihm selbst bei seiner Definition nicht ganz wohl ist, drückt sich schon durch die Klammer aus: Oftmals, man denke nur an die politischen Indiskretionen, betrachtet die Gesellschaft das Geheimnis schon dann als gelüftet, wenn nur ein ›Fremder‹ davon weiß. Burkhard Sievers (Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen, Opladen ) spricht beim Vorliegen nur der ersten Bedingung von ›einfacher‹, beim Vorliegen der zweiten von ›reflexiver‹ Geheimhaltung.
sagt sie dem anderen einfach nicht. Heinrich von Pfolsprundt gibt eine in vielen Künsten herrschende Meinung wieder, wenn er in seiner Wundarznei um fordert, dass keine Unbefugten bei der Krankenbehandlung anwesend sein sollen. Dem Chirurgen wird geraten, die Kammertüren während der Operation strikt zu verschließen, damit niemand die Kunst abgucken kann. 17 Die Meister sind aufgefordert, sich ihre Lehrlinge genau auszusuchen, damit ihr Wissen nicht unkontrolliert verbreitet wird. Nur diejenigen, von denen man annehmen kann, dass sie selbst auch einen gehörigen Datenschutz betreiben, weiht man in die Künste ein. 18 Aber es ist nicht nur bei dieser Reglementierung aus individuellen Interessen geblieben. Die verschiedenen Berufsverbände und die weltlichen und kirchlichen Regimente haben immer wieder Gesetze erlassen, die die Weitergabe der Informationen regeln, und das heißt: sie beschränken. Ein gutes Beispiel für solche Beschränkungen bietet die Geschichte der Messkunst. In seinem Lehrbuch ›Von künstlichem Feldmessen‹ weist Jakob Köbel darauf hin, dass schon Columella in seinem Lehrbuch vom Landbau zu seinem Silvio gesagt haben soll, »dass die Kunst des Feldtmessens nicht einem Bawren/ sondern einem Messer und Geometer zuostehe« (Frankfurt am Main, , f. v). Auch das Wissen um die Visierkunst sollte auf einen bestimmten Berufsstand, die vereidigten Visierer, begrenzt bleiben. Diese Haltung änderte sich während des gesamten Mittelalters nicht. Die Städte unterhielten zur »Überwachung des Weinhandels und zur Eintreibung von Zöllen und Steuern ›Visierer‹. Nur diese besaßen Visierruten, die sie ausschließlich ›im Dienst‹ benutzen durften. Jedem anderen Stadtbürger war es bei Strafe verboten, Buch der Wünth-Ertznei von Heinrich von Pfolsprundt, , hg. von H. Haeser/Mitteldorf. Berlin . Vgl. in diesem Sinne etwa den Prolog des Theophilus Presbyter in seinem ›Diversarum artium schedula‹ (hg. von W. Theobald, Berlin ; Technik des Kunsthandwerks im . Jahrhundert) und die Vorreden in den Feuerwerks- und Büchsenmeisterbüchern. In Italien sprachen sich zum Beispiel Brunelleschi (vgl. Frank O. Prager/Gustina Scaglia: Brunelleschi: Studies of this Technology and Inventions, Cambridge, Mass. , S. ff.) und Giorgio Martini (vgl. Ladislav Reti: Francesco di Giorgio Martini’s ›Treatise on Engineering and its Plagiarists‹, in: Technology and Culture , , S. -) dagegen aus, ihr technisches Wissen »zu weit zu verbreiten«.
solche Messruten zu besitzen.« 19 Ebenso streng war es untersagt, die Kunst des Visierens Unbefugte zu lehren. Es wundert deshalb nicht, dass aus dem Mittelalter keine Handschriften zur Visierkunst überliefert sind. 20 Die erste Nachricht über eine schriftlich aufgezeichnete Visierkunst, die uns selbst aber nicht überliefert ist, stammt aus dem Kloster St. Emmeran aus dem Jahre . 21 Am Ende des Jahrhunderts finden wir dann einige Anmerkungen in der schon erwähnten Chronik des Ulman Stromer. 22 Erst in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts werden solche Beschreibungen häufiger. erscheint dann das erste ausführliche gedruckte Visierbüchlein von Matthäus Roritzer. Dort wird die Ungewöhnlichkeit dieser Veröffentlichung am Anfang ausdrücklich herausgestrichen: »Auch hort einer/ was das fysiern ist, dann es ist ein hoche kunst/ die vor jaren vil gelts hat golten vnd wer noch schad/ da man diese kunst so wolfeil geb vnd an tag legen. Doch durch etlicher fysiermeister pet wegen hab ich dzs gedruckt. Das sy dadurch gebreist vnnd gelobt werden von diser kunst wegen.« 23 Die Handwerkskunst war ein Schatz, der sich zu Geld machen ließ – aber eben nur so lange, wie die Informationen nicht ›gar zu gemein‹ wurden. 24 Es war in alter Zeit immer eine Aufgabe des Zusammenschlusses der Handwerker, die Verbreitung der Künste zu beschränken. Man hielt die Zahl der Meister und ihrer Lehrlinge künstlich klein. Wo man die Macht dazu hatte, ließ man das von den Lernwilligen zu zahlende Lehrgeld in astronomische Höhen schnellen und forderte Lehrzeiten von vielen Jahren. In diesem Sinne haben später auch die Stadtregimente interveniert. Besonderen Erfolg hatte man dabei in Nürnberg, wo seit dem Zunftaufstand von keine Zünfte mehr geduldet wurden. Man unterschied hier strikt und erfolgreich drei große Gruppen von Handwerken: »Die gesperrten oder ungewanderten Handwerke, die geschenkten H. Hartmeyer: Der Weinhandel im Gebiet der Hanse im Mittelalter. Jena , S. . Grete Leibowitz: Die Visierkunst im Mittelalter. Heidelberg, phil. Diss., . Menso Folkerts: Die Entwicklung und die Bedeutung der Visierkunst als Beispiel der praktischen Mathematik der frühen Neuzeit. In: Humanismus und Technik , H. , , S. -, hier: . Vgl. die Ausgabe von Hege (s. Anm. ), Abschnitt III, S. ff. Bl. r der Zwölfblatt-Ausgabe. Vgl. die Textausgabe von F. Geldner, Wiesbaden , hier S. . Sevin Hulsius in seiner Vorrede in: ›Tractate der mechanischen Instrumente‹. Frankfurt am Main .
oder gewanderten Handwerke und die Handwerke der freien Künste. Die gesperrten Handwerke durften nur Nürnberger Bürgersöhne als Lehrlinge aufnehmen, den Gesellen war das Wandern verboten, damit die von ihnen ausgeübte Handwerkstechnik nicht anderen Städten und Ländern bekannt würde. Bei den geschenkten Handwerken wurde die Wanderschaft als Voraussetzung zum Meisterrecht vorgeschrieben. Das Handwerk der freien Kunst war nur lose mit dem Handwerk verbunden, es hatte zunächst keine Ordnungen und Gesetze.« 25 Mit großem Aufwand wachte der Nürnberger Rat eifersüchtig darüber, dass die Meister, Knechte und Lehrjungen aus den ungewanderten Handwerken die Stadt nicht verließen. »Außerdem war es den gesperrten Handwerken strengstens untersagt, ihre Werkzeuge nach auswärts abzugeben.« 26 »Wieweit man in der Anordnung von Vorsichtsmaßregeln ging, zeigt ein Vorgang aus dem Jahre . Auf die Beschwerde der Geschworenen und des ganzen Handwerks der Scheibenzieher ließ der Rat den Scheibenzieher Friedrich Schmidt und seine Söhne einen Eid schwören, dass sie dem Nürnberger Scheibenzieher-Handwerk zu Nachteil und Gefahr nichts am Wasser oder auf irgendwelcher Drahtmühle in und außer der Stadt anrichten, viel weniger noch anderer Anleitung, Hilfe und Fürschub gewähren wollten, wodurch das Handwerk noch mehr aus der Stadt komme. Weiter wurde ihm noch besonders eingeschärft, die Werkstatt in seinem Haus an einen abgesonderten Ort zu verlegen, damit die Grobdrahtzieher im Abund Zugehen die Arbeit und das Werkzeug umso weniger absehen und etwas nachmachen lernen könnten« (ebd., ). Noch bis in die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges hinein funktionierte diese Form des Datenschutzes so gut, dass sich daraus politisches Kapital schlagen ließ. Waffen und anderes technisches Rüstzeug lieferte Nürnberg an beide Parteien, aber jeweils nur gegen Geld und das zusätzliche Versprechen, das Nürnberger Territorium bei den Kriegshandlungen auszusparen. Diese Politik war auch deshalb erfolgreich, weil die Waffen oftmals ohne die mit Franz-Michael Ress: Die Nürnberger ›Briefbücher‹ als Quelle zur Geschichte des Handwerks, der eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Bd. , II , Nürnberg , S. -, hier: S. , Anm. . Ernst Mummenhoff: Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit. Köln (Monographien zur deutschen Kulturgeschichte), S. . Vgl. auch M. Heyne: Das altdeutsche Handwerk. Straßburg .
ihrer Funktionsweise vertrauten Büchsenmeister wenig ausrichten konnten. Feuerwerker oder Büchsenmeister mussten jedoch von außerhalb direkt beim Rat der Stadt angefordert werden. Dieser bewilligte diesen personengebundenen Technologietransfer jeweils nach eigenem Gutdünken und mit gehörigen Auflagen. 27 Im Unterschied zu unserer Gegenwart, in der, wie zum Beispiel die Diskussion um die Zukunft der sowjetischen Atomwissenschaftler nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft verdeutlicht, natürlich auch noch Experten ›gekauft‹ werden, um ihr Wissen zu nutzen oder dessen Verbreitung zu verhindern, gab es bis in die Neuzeit hinein für die meisten gesellschaftlichen Bereiche gar keine andere Möglichkeit als eben diesen personengebundenen Technologietransfer. Erst die Herausbildung eines auf interaktionsfreies Selbstlernen abgestellten Fachschrifttums eröffnete hier eine Alternative. Grundbedingung für die Loslösung der Information von den Experten ist im typographischen Zeitalter die Versprachlichung gewesen.
Die Produktion von Wissen durch Versprachlichung und Vergesellschaftung der Handwerkererfahrung »Zum ersten zeiten / erbte jmmer einer nach dem andern diese Kunst«, heißt es im Alchimyspiegel, den Th. August in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts in die deutsche Sprache übersetzte. 28 Das handwerkliche Wissen wurde in der direkten Interaktion und oftmals innerhalb der Familie vom Vater auf den Sohn weitergegeben. 29 Aber schon die ›Altväter‹ haben ihre eigenen Künste reflek Vgl. Ress a. a. O., S. ff. Alchimyspiegel: oder Kurtz Entworfene Practick/der ganzten Chimischen Kunst … Alles in zweyen lustigen Gespraechen verfasset … auß dem Arabischen von Roberto Castrensi in Latein … in unser teutscher Sprach übergesetzt durch Theophilum Caesarem August. Frankfurt am Main (Chr. Egenolf Erben) . Als Verfasser gilt Morienus Romanus. Hier S. v. So schärft eine alchimistische Handschrift aus dem Jahr (›Alchymey teuczsch‹) dem Benutzer ein, »das die Kunst newr [nur] bey unsern Erben und vnsern herscheften zum Leuchtenberg und Halls furbas / beleibe vnd nicht verrer (ferner) kume« solle. Vgl. W. Wattenbach: Alchymey teuczsch. In: Anzeiger für Kunde der Deutschen Vorzeit. Nürnberg , S. -, hier S. . – Vgl. weiter Inge Leipold: Untersuchungen zum Funktionstyp ›Frühe deutschsprachi-
tiert und ›viel Bücher hinter sich gelassen / darin dieselbe (Kunst) ganz und gar eigentlich und ohne allen Betrug und Hinterlist beschrieben‹ wurde (ebd.). Diese Manuskripte besaßen im Wesentlichen eine rezept- und listenartige Struktur. Sie waren jedoch keineswegs, wie der heutige Buchgebrauch vielleicht nahe legen könnte, als Kommunikationsmedium gedacht. Vielmehr registrierten die Schreiber ihre Erfahrungen hier in der Absicht, sich über ihre Tätigkeiten klar zu werden, ihr Gedächtnis zu entlasten und gelungene ›Muster‹ festzuhalten. Nützlich waren diese Dokumente nur für denjenigen, der sie geschrieben hatte. Und so vermerkt denn auch der Alchimyspiegel, dass ›sich noch keiner gefunden‹ habe, der dieselbe Kunst aufgrund der Bücher ›hätt können ins Werk richten und auf die Prob bringen‹ können (a. a. O., f v). Als Grund für die ›Verdunkelung‹ dieser Kunst mutmaßt der Autor, dass die Vorfahren zwar ›rechte‹ Vorstellungen von derselben gehabt, sie jedoch mit Worten, ›die jetzt anders gebraucht und gelehret‹ werden, dargestellt und damit ihr Verständnis ›verdecket‹ und die ›Deutungen‹ erschwert hätten (ebd., f r). Der Verfasser des Alchimyspiegels kann sich auch vorstellen, dass die ›dunkle‹ Darstellungsweise nicht nur aus der Not des Kodesystems geboren und dem mangelnden symbolischen Geschick der Verfasser geschuldet ist, sondern in voller Absicht geschehen ist. 30 Jedenfalls schreibt er, dass der verdeckte Stil »allein der groben ungeschickten Gesellen halben getan wurde«, »damit sie ihre Reden nicht verstehen sollten / sondern allein diejenigen / die für würdig zu solcher hohen Kunst erkennet wurden« (ebd.). Die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit einsetzende Kritik an dem ›verhüllenden Stil‹ bleibt keineswegs auf die Alchimisten beschränkt. Juan Luis Vives stellt ganz allgemein zunächst fest: »Missgönnt haben uns die Alten die Wohltat ihrer Unterweisung, indem sie das, was sie gefunden hatten, uns nicht frei und offen, sondern mit so vielen Hüllen bedeckt, mitgeteilt haben, sodass es leichter wäre, jene Erkenntnisse aus der Natur der Dinge ge Druckprosa‹. In: Deutsche Vierteljahresschrift, H. , , S. -, hier S. . Vgl. zum Problem: Gerhardt Eis: Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten, in: Deutsche Vierteljahresschrift H. , , S. -, sowie ders.: Das sozialethische Verantwortungsgefühl der Alchemisten. In: Ders.: Forschungen zur Fachprosa. Bern/München , S. -.
selbst zu ermitteln als aus deren Büchern.« 31 Bekanntlich führte diese Kritik später tatsächlich zu der von Vives nur als Möglichkeit ins Auge gefassten empirischen Forschung. 32 Er selbst weist dann auf vielen hundert Seiten ausführlich nach, wie in nahezu allen Wissensgebieten die Erfahrungstradierung durch ›Zweideutigkeiten‹ erschwert wurde: »So haben die Rechtskundigen ihre Kunst, welche von Natur aus leicht verständlich ist – es ist auch zum Besten des Menschengeschlechts, dass sie leicht ist –, mit allen möglichen Mitteln verwirrt und aufgewühlt, damit es scheint, dass sie schwierig und trübe und nicht für jeden beliebigen durchdringbar sei. Einige Philosophen haben das, was sie klar hätten sagen können, durch Metaphern und Zweideutigkeiten verdunkelt. Andere suchen mit ängstlicher Genauigkeit nach Steinchen, wo keine sind, und bei der Binse nach dem Knoten, wie man sagt, damit es scheint, dass sie noch tiefer forschen und alles noch gründlicher prüfen. Sie haben nicht nur den Unkundigen ihre eigene Erfahrung missgönnt, sondern den Studierenden und Sachkundigen von derselben Kunst« (ebd., S. ). Unabhängig davon, ob es die Möglichkeit zu einer allgemein verständlichen sprachlichen Darlegung des handwerklichen Wissens gab, bestand doch keine Veranlassung zu einer solchen. Im Gegenteil: Nur die dosierte Weitergabe der Informationen an die Nachfolger im Betrieb sicherte dem Meister Einfluss; die Schriftstücke mussten in diese Politik eingepasst werden. Sie galten in den Handwerkerkreisen, aber nicht nur dort, eher der Altersversorgung und der Sicherung einer Erfahrungstradierung in einem Lebensabschnitt, in dem die Gedächtniskraft oftmals nachließ. In diesem Sinn schildert der Sänger Hugo von Trimberg in seinem ›Renner‹ die Funktion seiner schriftlichen Aufzeichnungen. »Ich hete bi den tagen min / Gesament zwei hundert büechelin / Und selber zwelfiu gemacht / Und hete mir also gedacht, / Swenne ich alt würde, daz ich da mite / Nach der alten lerer site / Min notdurft sölte erwerben: / Nu muoz ich verderben, / Got wölle mich denne fristen / Baz denne in miner kisten / Min büechelin mir ze staten kumen: / Wenne der han ich kleinen frumen, / Sit niemen lernen wil die kunst, / Diu manigem guot, are und gunst / Hat braht vor tusent De Causis corruptarum artium, , zit. nach der von Emilio Hidalgo-Serna herausgegebenen zweisprachigen Ausgabe, München , S. . Vgl. das . Kap. ›Der abgang der erkantnuß‹, in Giesecke , a.a.O., S. ff.
jaren, / Do schuoler dennoch wären / Einveltic, bliuge, kiusche, mezic, / Niht spiler, trinker und frezic, / Und der schuole niht abe giengen, / Biz daz si kunst und zuht geviengen.« 33 Und ebenso bekennt der ›Scherer‹ Hans von Gersdorf, genannt ›Schillhans‹, in seiner Vorrede zu seinem ›Feldbuch der Wundartzney‹ (Straßburg ), dass es sein Vorhaben »allzeit gewesen ist / solich secret kunst stuck .. [seiner] erfarnuß / allein .. [seines] leibs erben vnd liebsten suenen [Söhnen] / als ain wert geachten schatz« vorzubehalten. Allein die Berücksichtigung des ›Gemeinwohls‹ habe ihn dann umgestimmt und ihn zur Veröffentlichung seiner Kunst veranlasst. Mit der Durchsetzung der typographischen Vervielfältigungstechnik und des Marktes als Verbreitungsmedium wurde es üblich, die handschriftlichen rezeptartigen Aufzeichnungen, die biographischen Notizen und Musterbücher zu veröffentlichen. In den Vorreden begründet man dies damit, man wolle der ›gemain guothaet‹ (Schillhans) oder dem ›gemein nutz‹ dienen und – später – den Künsten, den Wissenschaften und dem Vaterland aufhelfen. Wie nicht anders zu erwarten, verlief dieser Veröffentlichungsprozess keineswegs problemlos. Immer wieder beschimpften oder bedrohten Handwerker und Gelehrte, die eher der Tradition verhaftet waren, ihre literarisch besonders rührigen Kollegen. Und diese wiederum rechtfertigten sich in den Vorreden oder Nachworten ihrer Neuauflagen. Typisch ist hier etwa die Argumentation, die Valentin Boltz in seinem ›Illuminierbuch‹ in der Mitte des . Jahrhunderts führt (vgl. Abb. PDF 쩛CD). Manche Autoren ändern ihre Haltung, wie etwa der Begründer der modernen Chemie, Andreas Libavius, erst allmählich. Verglichen sie anfangs das Unterfangen, »den vngelehrten die kunst gemein (zu) machen«, noch damit, »den Sewen die Perlen vor(zu)werffen«, so traten sie später entschieden für solche Veröffentlichungen ein. 34 Hugo von Trimberg: Der Renner, , ff., in der Ausgabe von G. Ehrisman, Bd. II, Tübingen , S. (Ndr. in ›Deutsche Neudrucke, Texte des Mittelalters‹, Berlin ). Der Verfasser des ›Kurtz Handbuechlin vnd experiment vieler Artzneyen‹, Appolinarius (wohl H. Ryff ), Frankfurt am Main (H. Gülfrich) , schreibt in der Vorrede, dass ihm sein nun in dem Buch veröffentlichtes Wissen ›etliche Jar lang Narung‹ gegeben habe. Zitat aus seiner ›Alchimistischen Practic‹, Frankfurt am Main (Joh. Saur) , S. . Vgl. zur Argumentation des Libavius auch Giesecke: Als die alten Medien
Langsam, über einen Zeitraum von über einhundert Jahren, entsteht so ein typographischer Zentralspeicher, zu dem im Prinzip jeder unabhängig von Stand, Beruf, moralischer Einstellung usw. Zugang hat. Nur Außenseiter sehen in diesen typographisch gespeicherten Informationen im . Jahrhundert noch ›Geheimnisse‹. Dies ist, mit genügendem historischen Abstand betrachtet, eine ganz unwahrscheinliche Entwicklung. Handschriftlich gespeicherte Informationen mussten, wie wir im vorigen Kapitel sahen, immer durch spezielle soziale Akte, zum Beispiel durch die Approbation, das Verlesen in institutionellen Kontexten oder den Anschlag an speziell dafür vorgesehenen Orten, vor allem den Kirchen- und Rathaustüren, zu ›öffentlichen‹ Informationen gemacht werden. Die frühe Neuzeit verließ dieses Prinzip und schrieb der typographischen Technik in Verbindung mit dem freien Markt die Leistung zu, Informationen zu vergesellschaften. Besondere soziale Bedingungen oder gar ein mündliches Prozessieren der Informationen war nun nicht mehr erforderlich. Dass einem technischen Vorgang und so abstrakten Vernetzungsmechanismen wie dem Markt die Kraft zur Veröffentlichung zugestanden wurde und wird, bedeutet eine neue Stufe sozialer Normierung. Wie jede soziale Normierung beweist sie ihre Kraft gerade dort, wo sie trotz widerstreitender Fakten aufrechterhalten wird: Selbst wenn kaum jemand die typographischen Informationen zur Kenntnis nimmt, gedruckte Bücher weniger Leser als eine beliebige Sonntagspredigt erreichen, gelten sie als ›öffentlich‹.
Die Abwertung persönlicher ›Geheimnisse‹ und die Prämierung öffentlichen Wissens Ähnlich wie die Schriften der antiken und mittelalterlichen Autoritäten Zug um Zug typographisch erfasst werden, so gelangen auch praktisch alle handschriftlichen Aufzeichnungen, die sich im weitesten Sinne mit den handwerklichen Künsten befassen, im ausgehenden . und beginnenden . Jahrhundert in den Druck. In der Fachliteratur wird immer wieder hervorgehoben, dass diese Büchlein einen ganz anderen Charakter besitzen als die von den Univerneu waren – Medienrevolutionen in der Geschichte: In: R. Weingarten (Hg.): Informationen ohne Kommunikation? Frankfurt am Main , S. -.
sitätsgelehrten verfassten Traktate. 35 Sie enthalten kaum Erklärungen und wenig theoretische Ausführungen, dafür umso mehr einfache Beobachtungen. In den folgenden Jahren prüft man die Aussage der Rezepte, ordnet sie neu zusammen und verbessert sie von Auflage zu Auflage. Vor allem nehmen quantitative Angaben zu. Der italienische Humanist Girolamo Ruscelli (-) gründet eigens eine Vereinigung, die Accademia Segreta, um die verschiedenen Rezepte, die er in den Büchern finden kann, zu prüfen. Er gibt dann in Venedig seine ›Secreti nuovi di mara vigliosa virtu‹ heraus, in denen Rezepte vorgestellt werden, und behauptet, alle diese Rezepte unter Mithilfe der Akademiemitglieder dreimal überprüft zu haben. 36 Dieser Ruf nach intersubjektiver Überprüfung und seine Befolgung führt in der Folge zu einer tief greifenden Transformation der Informationswelt. Informationen, die nicht in dieser Weise überprüft sind, gelten gegen Ende des . Jahrhunderts nicht mehr als ›Wissen‹, ja nicht einmal mehr als ›Kunst‹. So fordert der Begründer der modernen Chemie, Andreas Libavius (ca. -) in seinem immer noch Alchemia genannten Hauptwerk dazu auf, die Künste zu erproben, und er setzt hinzu: »Um sie erproben zu können, müssen sie lange Zeit allgemein bekannt sein. Sie lassen sich folglich nicht zur Kunst rechnen, wenn sie geheim sind.« 37 Vgl. Elizabeth Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change, Bde., Cambridge , hier insbesondere der Abschnitt ›Arkana disclosed‹, S. ff.; Edgar Zilsel: The sociological roots of science. In: American Journal of Sociology, , /, S. -; A. R. Hall: The scholar and the craftman in the scientific revolution. In: Marshall Clagett (Hg.): Critical Problems in the History of Science. Madison , S. -; Stillman Drake: Early science and the printed book: The spread of science beyond the universities. In: Renaissance and Reformation , , S. -; Leonardo Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, Bde., Leipzig -; Klaus Schreiner: Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft – Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation. In: Zeitschrift für historische Forschung, Bd. , Heft , , S. -. Vgl. William Eamon: Arcana disclosed: The advent of printing, the books of secret tradition and the development of experimental science in the th century. In: History of science, , , S. -, hier S. ff. Frankfurt am Main , zit. nach der vom Gmelin Institut für Anorganische Chemie herausgegebenen Übersetzung (Weinheim , S. XIII). Vgl. zur weiteren Argumentation des Libavius und zu ihrer Deutung: Giesecke , a. a. O., S. ff., sowie ders. .
Es mag im Übrigen kein Zufall sein, dass gerade ein Chemiker sich für eine Definition von Wissen einsetzt, die nicht psychologisierend ist, sondern die den sozialen Charakter von Informationsverarbeitung in den Vordergrund stellt. Soweit uns Schriftzeugnisse vorliegen, hat man den Erkenntnisakt immer als individuelle Veranstaltung, als psychischen Vorgang betrachtet. Ausgangs- und Endpunkt war der einzelne Mensch, waren seine Sinnesorgane und seine Verbalisierungsmöglichkeiten. Die antike Elementenlehre legte entsprechend fest, was erkennbar und was okkult ist: Was wir nicht ertasten, sehen, riechen, hören oder schmecken können, das entzieht sich unserer Erkenntnis, muss uns einfach aufgrund der begrenzten Kapazität unserer Sinne Geheimnis bleiben. Die mittelalterliche Theologie knüpfte an diese Vorstellung an und behauptete, dass die Menschen Übersinnliches nach Gottes Willen eben nicht erkennen sollen. Wurden dennoch darüber Aussagen gemacht, so waren sie okkult – oder eben Glaube, wenn sie auf göttliche Offenbarung zurückgeführt werden konnten. 38 Nun waren aber vielfältige chemische Reaktionen – ebenso wie der Magnetismus oder kosmische Wirkungen – in traditionellem Sinne nicht sichtbar. Einfache Erkenntnistheorien eigneten sich deshalb für Chemiker ebenso wenig wie für Physiker, die sich mit der Gravitation oder der Elektrizität beschäftigten und vielem anderem mehr. Je nach dem Entwicklungsstand des Wissenschaftssystems als eines sozialen, zunehmend mit Fernrohr, Uhr, Destillationsapparaten und anderen Medien technisierten Informationssystems wurden deshalb immer neue Definitionen von ›sichtbar‹/ ›erkennbar‹ und ›unerkannt‹ beziehungsweise ›okkult‹ vorgeschlagen. Den Stand zu Beginn des . Jahrhunderts fasst Daniel Sennert in seinen Thirteen Books of Natural Philosophy (London ) treffend zusammen: »Qualities are divided in respect of our knowledge into Manifest and Occult. The manifest are those, which easily evidently and immediately, are known to, and judged by the Senses. So light in Im religiösen Bereich hat sich dieser Sprachgebrauch bis heute erhalten: »Jede Lehre, die sich mit Dingen beschäftigt, die unsere Sinne nicht wahrnehmen können … ist Okkultismus im besten Sinne … Die Basis jeder Lehre vom Okkulten und damit auch jeder Religion ist der Glaube.« Karl R. H. Frick: Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchimistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des . Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit. Graz , S. .
the Stars, and Heaviness and Lightness … But occult or hidden Qualities are those, which are not immediately known to the Sences, but their force is perceived mediately by the Effect, but their power of acting is unknown. So we see the Load-Stone draw the Iron, but that power of drawing is to us hidden and not perceived by the Sences … So we perceive with our senses the evacuation caused by purgative medicaments; but we do not perceive that quality by which the purging medicaments do work that effect. After the same manner, we perceive with our Senses the symptoms which Poysons do stir up in our Bodies; but the qualities whereby they cause the said symptoms we perceive not by the sense. By our Senses … we perceive Heat in the Fire, by means whereof it heats: but it is not so in those operations which are performed by occult qualities. We perceive the Actions but not the qualities whereby they are affected.« 39 Und diesen Ursachen galt es nachzugehen. Sie waren die neuen Geheimnisse, die es zu entdecken galt. Sehen, selbst im neuzeitlichen Sinne des Analysierens und Sezierens (perspicere), reichte hier allein nicht aus. Es mussten experimentelle Settings geschaffen werden. Die Natur sollte durch Bewegung und Veränderung antworten. Dieses Programm formulierte Galileo Galilei besonders deutlich, und er vergaß auch nicht hinzuzufügen, in welcher Sprache die Natur zu antworten hat: in jener der Geometrie und in Zahlen natürlich! Dieser kurze Exkurs mag noch einmal verdeutlichen, dass die Antwort auf die Frage, was die (angeblich natürlichen) Sinne können und was sie nicht bemerken, auf was sie sich richten sollen und auf was nicht, ein beliebter Gegenstand sozialer Aushandlung ist. Eine bloß erkenntnistheoretische – und erst recht eine bloß psychologisch-wahrnehmungstheoretische – Erörterung führt nicht zu einem Verständnis dessen, was die unterschiedlichen Zeiten für Wissen und Geheimnis hielten. Vielmehr muss zusätzlich eine kommunikationstheoretische Perspektive eingenommen werden, eben weil Zitiert nach Keith Hutchison: What happened to occult qualities in the scientific revolution? In: ISIS , Heft , S. -, hier S. . Dieser Aufsatz gibt im Übrigen einen guten Abriss über die Begriffsgeschichte von ›okkult‹. Da allerdings kein (informations- oder kommunikations-)theoretisches Konzept zu Grunde liegt, hat die Darstellung wenig Erklärungskraft. Vgl. im Übrigen Lynn Thorndike: History of Magic and Experimental Science. Bände, London , New York -.
die sozialen Systeme kommunikativ festlegen, was ihre relevante Umwelt ist, welche und wie viele Sensoren sie besitzen und in welcher Art und Weise Informationen dargestellt werden sollen. Und genau diese kommunikative Perspektive hat schon Andreas Libavius eingenommen, indem er die Versprachlichung und Veröffentlichung im Druck zum Kriterium für wahres Wissen machte. Nachdem nun die Veröffentlichung in der Fachprosa als Bedingung wahrer Kunst und Erkenntnis in breiteren Kreisen akzeptiert wurde, entsteht ein Widerspruch zwischen den ›Geheimnissen‹ und dem ›Wissen‹, den die ältere Zeit so nicht kannte. Diese Umwertung schlägt sich nach einer längeren widersprüchlichen Zwischenphase auch in den Gattungsbezeichnungen nieder. Galten die ›Secreta‹, etwa das pseudoaristotelische ›Secretum secretorum‹ oder die Albertus Magnus zugeschriebenen ›Secreta Alberti‹ (Liber aggregationis) im gesamten Mittelalter als Bücher, die besonders wertvolle Informationen tradierten, so meiden nördlich der Alpen die Fachprosaautoren, die ihr Wissen für den Druck sammeln, diese Bezeichnung von Anbeginn an für ihr ›kostbares Wissen‹. 40 Sie sprechen konsequent von ›wahren‹ oder ›wahrhaftigen Beschreibungen‹ oder ›Berichten‹ oder nennen ihre Rezeptsammlungen einfach ›Kunstbüchlein‹. Lediglich in den Übersetzungen ist von ›Heimlichkeiten‹ die Rede. So lautet die von Martin Flach in Straßburg besorgte deutsche Ausgabe des ›Liber aggregationis‹: ›Das buoch der Versamlung oder das buoch der heymlichkeiten Magni Alberti von den tugenden der krüter, vnd edelgestein vnd von etlichen thieren‹. Seine Schrift ›De secretis mulierum et virorum‹ erschien bei Hans Schobser in München unter dem Titel: ›Albertus Magnus. Von heimlichkeit der frawen‹. Aber selbst bei solchen aus wörtlichen Übersetzungen entstandenen Titeln war den Herausgebern bald nicht mehr wohl. Der rührige Frankfurter Verleger Christian Egenolff lässt die ›Heimlichkeiten‹ im Titel seines Druckes der ›Secreta‹ fort und spricht nur von den ›Wunderbar, natürlichen Wirckungen, Eygenschaften … etzlicher Kreuther, Edelgesteyn, Thier‹ (Frankfurt am Main ). Einen völlig anderen Sinn gibt Sigmund Feyerabend kaum zwei Generationen später dem Markenzeichen ›Secreta / Heimlichkeit‹. erscheint die, inhaltlich freilich kaum Nachweise der mittelalterlichen ›secreta‹ bei Lynn Thorndike: History of Magic and Experimental Science, Bd. , New York , S. -.
mehr als ein Werk des Albertus Magnus wiederzuerkennende Studie bei ihm unter dem Titel: ›Albertus Magnus / Daraus man alle Heimligkeit deß Weiblichen geschlechts erkennen kann‹. 41 Hier werden also keine Geheimnisse mehr als solche verkauft, sondern im Gegenteil gerade deren Lüftung oder Aufhebung angekündigt. Dass mit der Lüftung der Geheimnisse an einem Orte die Vorhänge an anderen Orten umso dichter wieder heruntergelassen werden, erweist freilich gerade die Betrachtung der Hebammenbücher. In den meist beigefügten Holzschnitten wird, wie die Abbildung (PDF 쩛CD) exemplarisch zeigt, der Unterleib der Gebärenden verhüllt. Hebamme und/oder Medicus hantieren unter dem Rock oder unter Tüchern, sehen nicht, was sie tun und wie weit der Geburtsvorgang vorangeschritten ist. Genauer gesagt, für die Leser der gedruckten Fachliteratur wird der weibliche Unterleib zur Geheimzone erklärt – in der alltäglichen Geburtshilfe dürften die Beteiligten über diese Bereiche durchaus mit allen erforderlichen Sinnesorganen Informationen gesammelt haben. Was gezeigt wird, hängt von Kommunikationssituationen und den Medien ab. Vermutlich wirkt das monosensuelle Erkenntnisparadigma später allerdings, nach mehr als zweihundert Jahren typographischer Verhüllungsmoral, auch wieder auf die natürlichen Face-to-face-Situationen zurück. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass die rigide Sexualmoral des europäischen Bürgertums im . Jahrhundert auch in der Übernahme von typisch typographischen Regeln in die Alltagspraxis wurzelt. 42 Doch zurück zum Wandel der gesellschaftlichen Definition von ›Geheimnis‹ in der frühen Neuzeit: In Italien bleibt die mittelalterliche Verwendungsweise von ›secret‹ demgegenüber im . Jahrhundert noch länger in Gebrauch, aber zunehmend gleichsam gegen die Überzeugung der Autoren. In den in Venedig als Werk des Alessio Piemontese herausgegebenen, aber wohl von G. Ruscelli gesammelten ›Secreti del reverendo clonno‹, einer ›Opera utile, et nescessaria universalmente a cias Schon ein Jahr zuvor hatte er für J. Rueffs ›Hebammenbuch‹ mit der gleichen Formel geworben, und er verwendet sie auch in der gedruckten ›Kochund Kellermeisterey‹. Auf die »negative Sanktion der Taktilität innerhalb der englischen Kultur« weist beispielsweise Ashley Montagu (Körperkontakt – Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Menschen. Stuttgart 8, hier S. ) immer wieder hin. Wer visuelle Medien prämiert, stuft Taktilität herunter.
cuno‹, bemerkt der Autor, dass, ›wenn die Geheimnisse (secreti) jedermann bekannt seien, sie nicht mehr geheim sondern öffentlich und gemein genannt werden sollten‹. 43 Nun will er aber mit seinem Werk die Informationen gerade öffentlich bekannt machen, und er tut dies in dem Augenblick, in dem er es drucken und verbreiten lässt. Ihn beim Wort genommen, sind seine ›Secreti‹, die der Leser in Händen hält, eigentlich keine ›Secreti‹ mehr. Der Titel und der Inhalt treten auseinander. Die Hinwendung zur Volkssprache erleichtert es den Autoren in Deutschland, diesen Bruch auch sprachlich eindeutig zu markieren.
Die Grenzen der typographischen Erfassung des Handwerks Es wird kaum bestritten, dass die gedruckte Fachprosa und die auf ihr aufbauenden Gelehrtenaktivitäten, wie zum Beispiel die Experimente der italienischen und anderer Akademien, den neuzeitlichen beschreibenden Wissenschaften mächtig vorangeholfen haben. Weit schwieriger freilich ist es, einzuschätzen, welche Bedeutung die ›Bücher zum Selbstlernen‹ für die Handwerke und ihre Reproduktion besessen haben und besitzen. Über die Körperbewegungen, die Handfertigkeiten, die ›Handgriffe‹ erfahren wir in diesen Texten nämlich nahezu nichts. Im Gegenteil, die Autoren weisen nur zu häufig darauf hin, dass diese ›Handgriffe‹ nur in der Praxis und nicht aus Briefen und schon gar nicht aus gedruckten Büchern zu lernen sind. So bedauert der universal interessierte Gelehrte Georg Hartmann in einem Brief an den Herzog Albrecht von Preußen am . März , diesem die ›Tugend des Magneten‹ nicht erklären zu können, obwohl er ›von ganzem Herzen‹ dazu bereit sei. Wenn er dieses Wissen ›nur in Schriften könnte verfassen‹, hätte er es dem Landesherrn zuliebe längst getan, aber »solche Dinge sind viel leich In der von Eamon (, a.a.O., S. ) mitgeteilten, von William Warde übersetzten englischen Fassung (The secrets of the reverende maister Alexis of Piedmont, London ) lautet die Passage: »saying, that if the secretes were known of every man, thei should no more be called secretes, but publike and common.« (Vgl. auch W. Eamon: The Secreti of Alexis Piedmont, , in: Res publica litterarum, , , S. -.) Als ›Secreti‹ erscheinen auch die Werke von Isabella Cortesi (Venedig ) und Leonardo Fioravanti (Venedig ). Die deutsche Ausgabe übersetzt das Werk der Ersteren brav mit ›Verborgene Heimlich Künste und Wunderwerk Frawen Isabella Cortese In der Alchimia, Medicina und Chyrurgia‹ (Hamburg, H. Binder, ). Im Weiteren ist dann aber sogleich wieder von ›Wahrhaftigen Berichten‹ die Rede.
ter zu verständigen, so man solche mit der Handarbeit zeigt, denn mit der Schrift«. 44 Es zeigt sich hier ein Problem von grundsätzlicher Bedeutung. Was in den Büchern beschrieben wird, sind eher die technischen Verstärker des menschlichen Handelns als das leibliche Verhalten selbst. Je mehr die Handwerke technisiert wurden, je mehr technische Werkzeuge oder gar Maschinen das leibliche Verhalten determinierten, umso mehr wurde es möglich, diese Handwerke zu beschreiben. Man ging dann von den von Menschen geschaffenen Werkzeugen aus und rekonstruierte ihre Herstellung und Funktionsweise. Die eigentlichen Handgriffe wurden nur benannt, aber nicht beschrieben. Aus diesem Grunde konnte auch die Geheimhaltungspolitik des Nürnberger Rates noch im . Jahrhundert erfolgreich bleiben, denn aus den vielen schon veröffentlichten Büchsenmeisterbüchern ließ sich nicht so viel Wissen schöpfen, dass der Leser in vertretbarer Zeit ›selbst‹ zu einem Büchsenmeister wurde. So blieb man weiterhin auf die Instruktion beim gemeinsamen Handeln angewiesen. Grundsätzliche Verbesserungen traten hier eigentlich erst im . Jahrhundert zum Beispiel durch das Bemühen der Enzyklopädisten und zahlreicher anderer fleißiger Autoren ein, die sich an die systematische Dokumentation der einzelnen Handwerke machten. 45 Zit. nach Hans Schimank: Mittel und Wege wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher Überlieferung bis zum Aufkommen der ersten wissenschaftlichen Zeitungen. In: Sudhoffs Archiv, Bd. , -, S. -, hier S. . Vgl. ähnliche Äußerungen bei Fabian Frangk: Canzlei und Titelbüchlein, Wittenberg (N. Schirlenz) ,f. d. r.; H. Brunschwig in der Vorrede zu seiner ›Cyrurgi‹, Augsburg (Schönsperger) ; Paracelsus: Von der Bergsucht, . Buch, . Traktat, . Kap.; die Vorrede in das ›Feuerwerksbuch‹ von oder die Vorrede in den ›Bergwerkschatz‹ von Elias Montanus (Frankfurt am Main ). Zu einer ähnlichen Periodisierung kommt auch Bert S. Hall in seiner gründlichen und medientheoretisch hochsensiblen Zusammenfassung ›Der Meister sol auch kennen schreiben und lesen: Writings about Technology ca. – ca. , A. D. and their Cultural Implications. In: Denise Schmandt-Besserat (Hg.): Early Technologies (= Bd. ›Invited Lectures on the Middle East at the University of Texas at Austin‹), Malibu (Undema Press) , S. -, hier S. : »Technology, which had once been nearly the exclusive possession of a particular craft group, was now being displayed and discussed before a wide audience of educated, but unspecialized readers. By , technical information was being transmitted through three main channels: the older, oral medium of the craft group; the manuscript which circulated among interested parties; and the printed work intended for a »semi-popular«, moderately learned, lay public. With
Ihre Werke bilden dann auch die Grundlage für den Unterricht in den Berufs- und Fach(hoch)schulen, in denen – in nennenswertem Umfang erst im Verlauf des . Jahrhunderts – die Nutzung des Buchwissens zur Ausübung des Handwerks institutionalisiert wurde. Freilich bleibt in dieser Literatur die Beschreibung der ›Handgriffe‹ ebenfalls beschränkt. Brauchbare Modelle über diese Wirklichkeitsausschnitte lieferte eigentlich erst – auf der Grundlage einer ganz anderen Informationstechnologie – die Robotonik. Durch den Einsatz taktiler Sensoren, Stichwort ›data glove‹, umgeht man hier die visuelle Informationsgewinnung und Versprachlichung und speichert die Modelle unmittelbar in der Maschinensprache der Computer. Für diese sind übrigens die Informationen der typographischen Fachliteratur noch weitestgehend ein Geheimnis. Sie lassen sich nicht problemlos in das neue Medium transformieren. Dies mag ein erster Hinweis auf die Entstehung neuer Grenzbedingungen für geheime Informationen sein.
Datenschutz oder die Verrechtlichung der Beziehung zwischen den Informationen und ihren Produzenten Solange die Informationen bei den Menschen weitgehend als enaktive Fähigkeiten fest mit ihrem Handeln verkoppelt waren, bestand weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen diesen Medien und den betreffenden Personen extern zu stabilisieren. Man musste eigentlich nur regeln, wer über die Produkte des Handwerkers verfügen kann. Diese Situation änderte sich aber, wie wir aus den Dokumenten des Nürnberger Stadtregiments schon sahen, sobald nur die Werkzeuge eine gewisse Komplexität annahmen. In ihnen sind nämlich immer vielfältige Informationen über den Produktionsprozess gespeichert. Eben aus diesem Grunde musste man Sorge tragen, dass die Werkzeuge nicht aus den Handwerksstuben entfernt oder gar über die Stadtgrenze hinaus getragen wurden. Je komplexer die Werkzeuge wurden, je mehr sich in ihnen komplexe technische Abläufe kristallisierten, desto stärker wurden sie zu einem eigenständigen Informationsmedium, welches sich von minor modifications, this situation persisted until the late eighteenth century and the rise of schools of engineering. Its final transformation came only in the following century with the rise of industrial societies and the beginnings of mass secondary education.«
ihren Betreibern ablöste. Aus der Frühzeit des Buchdrucks ist überliefert, dass Gutenberg die Kernstücke seiner Erfindung, das Handgießinstrument und die Matrizen oder vielleicht auch die Punzen, abends in einem ›schwarzen secklin‹ aus der Werkstatt mit nach Hause nahm. 46 Diese Instrumente hatten ihren Wert darin, dass sie den Neugierigen Auskunft über das Geschehen in der Druckerei zu geben vermochten. Erst nachdem sich also die Erfahrung in einem anderen, externen Speicher vergegenständlicht hatte, wurde das Problem der Relationierung zwischen diesem Speicher und seinem Produzenten relevant. Historisch wurde dieses Problem durch die Entwicklung des Patentrechts gelöst. stellt der Stadtrat von Venedig fest, dass ›in den Mauern dieser Stadt und in ihrer Umgebung zahlreiche Menschen mit herausragenden Geistesgaben wohnen, die in der Lage seien, die verschiedensten technischen Erfindungen zu machen. Wenn sichergestellt sei, dass solche Entdeckungen nicht sofort von anderen angeeignet und genutzt würden, so stiege die Motivation für ihren Einsatz zum Nutzen und Vorteil der Stadt‹. Deshalb erlässt man eine Verordnung, dass Erfindungen, sobald sie zu einer gewissen Reife (reducto a perfection) gebracht sind, beim Stadtrat angemeldet und registriert werden können. In diesem Fall soll jedem anderen als der eingetragenen Person verboten sein, dieselbe oder eine ähnliche Technik ohne Erlaubnis herzustellen oder/und zu verwenden. Dieser Schutz soll auf zehn Jahre gelten. 47 Heinrich Pantaleon: Teutscher Nation Wahrhafften Helden, Bd. , Basel (L. Ostein) , S. . Vgl. Giulio Mandich: Le private industriali veneziane (-). In: Rivista del diretto commerciale, September/Oktober , S. -, hier S. ff.; sowie ders.: »Venetian Patents (-)«, Journal of the Patent Office Society, (), S. -; und »Venetian Origins of Inventor’s Rights«, JPOS, (), S. -; Maximilian Frumkin: »The Origin of Patents, JPOS, (), S. ; ders.: »Early History of Patents for Invention«, Transactions of the Newcomen Society, (-), S. -; und ders.: »Les anciens brevets d’invention«, Archives internationales d’histoire des sciences, N. S. (), S. -. Ludwig Giesecke: Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts. Göttingen (völlig überarbeitete Neuauflage ). Zu den Vorläufern des Urheberrechts vgl. Friedrich Wilhelm: Zur Geschichte des Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des . Jahrhunderts, Bde., München , hier: Bd. , Der Urheber und sein Werk in der Öffentlichkeit. München . Vgl. auch den Abschnitt . ›Zensur und Datenschutz: Der Eingriff des politischen Systems in den Informationskreislauf‹. In: Giesecke , a. a. O., S. ff.
Das Patentrecht stellt auf einer sozialen Ebene eine Beziehung zwischen einem Medium und seinem Produzenten her, die faktisch zerrissen ist. Und diese soziale Rückendeckung war auch eine Notwendigkeit dafür, dass sich Geheimnisträger massenhaft entschließen konnten, ihre Informationen im Druck zu vergesellschaften. Das Privilegienwesen und später das Urheberrecht ermöglichten, dass auch die schon vergesellschaftete Information noch als Eigentum einer einzelnen Person behandelt wird. Sie legen den Urheber fest. So schreibt etwa Adam Lonitzer in seinem Kräuterbuch, dass er die Beschreibungen ›von Bäumen und Kräutern als sein Eigentum‹ betrachte. 48 Während er viele andere Beschreibungen aus älteren Büchern übernommen hat, besteht er in diesem Fall auf seinem Urheberrecht. Die typographische Information ist seit dieser Entwicklung sowohl ein gesellschaftliches wie auch dank der urheberrechtlichen Respezifikation ein privates Eigentum. Wissen, welches sich durch die Darstellung in den gedruckten Büchern von den Personen gelöst hatte, wurde reindividualisiert und der Person als ›Eigentum‹ zugeschrieben. In dieser Doppelfunktion liegt eine Besonderheit des neuzeitlichen Autors. Im Zeitalter der elektronischen Medien erleben wir augenblicklich erneut tief greifende Verschiebungen in der Zugänglichkeit von Informationen und in den Möglichkeiten, sie von dem psychophysischen Apparat des Menschen zu trennen. Wie schon angedeutet, scheint es Computern gegenwärtig immer besser möglich, zum Beispiel Handbewegungen zu simulieren und die entsprechenden Programme unabhängig von Menschen aufzubewahren und weiterzugeben. Die elektronisch gespeicherten Informationen stellen einen neuen Informationstypus dar, der auch die Beziehungen zwischen den bekannten Informationstypen verändert und neue Formen der Geheimhaltung oder, wie es heute heißt, des Datenschutzes hervorbringt. Die Formulierung von Informationen in der Standardsprache, die für das neuzeitliche Wissen eine unabweisbare Bedingung gewesen ist, gehört nicht mehr zu den Kriterien des neuen Informationstyps. Informationen, die nicht maschinenlesbar sind, beginnen nicht nur für den Computer, sondern auch für wachsende Schichten ihrer Benutzer wieder einen geheimnisvolleren Charakter anzu Adam Lonitzer: Kreuterbuch/New zuogericht … auch Distillierens Bereytschafft. Frankfurt am Main (Egenolff Erben) , f. aa , v.
nehmen. Die absolute Spitzenstellung, die der in der Standardsprache formulierte Aussagesatz der beschreibenden Wissenschaft unter den verschiedenen Informationstypen in der Bewertung der modernen, durch die typographischen Medien bestimmten Gesellschaft einnahm, geht verloren. Es beginnt die Digitalisierung von bislang standardsprachlich gespeichertem Wissen. Aber das ist nur der erste Schritt, vergleichbar der typographischen Umsetzung von Rede und Handschrift. Im zweiten Schritt werden zuvor noch nicht sprachlich erfasste Informationen, zum Beispiel leibliche Verhaltensformen, elektronisch simuliert. Wem diese digitalisierten Informationen zuzurechnen sind, ist augenblicklich noch völlig unklar.
. Die Grenzen der typographischen Wissensproduktion und der interkulturellen Kommunikation1 Wie nehmen große soziale Systeme und Kulturen wahr? Wie kommunizieren sie miteinander? Welche Rolle spielen dabei die einzelnen Menschen und die interpersonelle Kommunikation? Dies sind weitgehend offene Fragen, die lange Zeit nicht einmal behandelt wurden. Wie selbstverständlich ging man davon aus, dass entweder sowieso nur die Individuen Informationen gewinnen können, oder aber, dass andernfalls die sozialen und kulturellen Informationssysteme nach dem gleichen Muster wie die Personen funktionieren und sich vernetzen. Es spricht viel dafür, dass dieser Glaube das Verständnis inter- und intrakultureller Kommunikation erschwert. Am Beispiel der Entdeckung der Neuen Welt durch die Alte Welt soll diesen Fragen nachgegangen werden. Dabei beginne ich mit der informationstheoretischen Differenzierung des Konzepts der ›Entdeckung‹ als Spezialfall der Wahrnehmung und der Veränderung von sozialen Informationssystemen.
Drei Formen des ›Entdeckens‹ In den Kommunikations- und Informationswissenschaften unterscheidet man üblicherweise zwischen ›Information‹ und ›Mitteilung‹ oder zwischen dem ›Rauschen‹ und der eigentlichen ›Information‹. Die Umwelt eines beliebigen informationsverarbeitenden Systems enthält unendlich viele ›Merkmale‹ oder Informationen, und deshalb ziehen es viele Theoretiker vor, dieses überkomplexe Umweltangebot als ›Rauschen‹ zu begreifen. ›Informativ‹ wird dieses Rauschen dann, wenn es das informationsverarbeitende System mit seinen internen Programmen vergleicht und dabei Differenzen oder Bestätigungen entdeckt. Man kann diese Entdeckungen dann ›informative Informationen‹ oder eben ›Mitteilungen‹ nennen und drückt damit zugleich aus, dass es sich hierbei um das Produkt von Erste Überlegungen zum Thema habe ich in dem Aufsatz »Die typographische Konstruktion der Neuen Welt«. In: Horst Wenzel, F. Kittler, M. Schneider (Hg.): Gutenberg und die Neue Welt, München , S. -, niedergelegt.
Operationen mindestens zweiter Ordnung handelt. Dabei muss freilich betont werden, dass es einfachere Operationen im Objektbereich der sozialen Kommunikations- und Informationswissenschaften nicht gibt: Jede Informationsgewinnung ist nicht nur Wahrnehmung, sondern sie setzt zugleich auch immer den Vergleich der Reize oder des Rauschens mit den Programmen – und das sind immer schon gespeicherte Informationen – voraus. In der Umgangssprache wird dieser Zusammenhang allerdings oft zerstört, und deshalb ist es sinnvoll, analytisch auch mehrere Formen der Informationsgewinnung oder des ›Entdeckens‹ zu unterscheiden. ›Entdecken1 ‹ kann man die Wahrnehmung und Beschreibung von neuen Umweltausschnitten mit bekannten Programmen nennen. Die Software des informationsverarbeitenden Systems bleibt dabei weitgehend unverändert, und man bemüht sich darum, die Informationsfülle, die man mit diesem Programm aus der Umwelt gewinnen kann, quantitativ zu erweitern. (Akkumulation). Diese Form des Entdeckens führt immer zu einer Bestätigung der etablierten Programme oder, erkenntnistheoretisch gesprochen, der traditionellen Wahrheitsparadigmen. Wenn in der Technik-, Kultur- oder Geistesgeschichte von neuen Entdeckungen gesprochen wird, dann ist das häufig die Begeisterung für eine quantitative Erweiterung – ›mehr vom Selben‹ –, also eine Informationsgewinnung im Sinne von Entdecken1. Wenn Amerigo Vespucci nach seiner Entdeckungsfahrt um etwa schreibt: »Denn von diesen amerikanischen Gebieten (Mittelamerika) wusste man bei unseren Vorfahren nichts, und allen, die davon hören, ist es eine völlige Neuigkeit«, dann ist damit zunächst nur gemeint, dass sich die Umwelt der Menschen in Europa verändert hat. 2 Aber wie wir wissen, blieb diese Entdeckung nicht ohne Auswirkungen auf die europäische Kultur und deren Wahrnehmungsformen. ›Entdecken2 ‹ zeichnet sich dadurch aus, dass das informationsverarbeitende System bei der Wahrnehmung und Beschreibung der Umwelt neue Programme, eine neue Software einsetzt. Dies führt zunächst dazu, dass die Umwelt zumindest teilweise als chaotisch erscheint und sich die Ordnung des herkömmlichen Wissens auf Vgl. den ersten Druck des Briefes an Franziscus de Medici, in dem er von seiner dritten Reise nach Amerika berichtet: ›Americus Vespuccius laurentio petro francisci de medicis Salutem pluriman dicit‹, Paris (F. Baligault/J. Lambert), ca. (Schlettstadt BM, K e), f. a. r.
löst. Selbst wenn man weiterhin die gewohnte Umwelt betrachtet, so wird man dennoch zu alternativen Modellen gelangen, neue ›Nachrichten‹ speichern. In dem Maße, in dem hierin Fortschritte erreicht werden, beginnt die Umstrukturierung des Informationssystems, seiner Vernetzungsform, seiner Speichermedien und die technische Perfektionierung der Sensoren und Effektoren. Voraussetzung und Folge solcher Veränderungen sind bei Menschen und sozialen Gemeinschaften immer das Vergessen – oder die Zerstörung (Substitution) von Teilen der etablierten Paradigmen. Die Gemeinschaft und das Individuum stehen vor der Aufgabe, sowohl sich selbst als auch die Umwelt ›neu‹ zu entdecken. Es ist nun gerade dieser zweite Entdeckungsbegriff, mit dem sich die Medienwissenschaftler spätestens seit McLuhan ausgiebig beschäftigt haben. »Jede Epistemologie ist die Epistemologie einer Phase der Medienentwicklung«, behauptet Neil Postman, und er bemüht sich dann, unsere moderne Gesellschaft als ein soziotechnisches Informationssystem zu beschreiben, dessen Strukturen durch elektronische Hard- und Software, insbesondere durch das Fernsehen bestimmt werden. 3 Gemäß dieser neuen internen Komplexität erhält auch unsere Umwelt neue Reize. Wir gewinnen neue Informationen über die Welt und über uns. Die Entdeckungsfahrten von Kolumbus und von seinen Nachfolgern reizen zu einer informationstheoretischen Betrachtung deshalb ganz besonders, weil hier das Zusammenwirken der beiden Formen des ›Entdeckens‹ außerordentlich gut sichtbar ist. Die Tragik des Christoph Kolumbus liegt zu einem Großteil gerade darin, dass er zumindest in seiner Selbstbeschreibung immer darauf bestanden hat, nur ein Entdecker im Sinne von Entdecken1 gewesen zu sein. Er wollte das Wissen der alten Welt nur gemäß der alten Programme Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main , S. /. Vgl. auch ders.: Thesen zur Medientechnologie. In: Werner D. Fröhlich, R. Zitzlsperger, B. Franzmann (Hg.): Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie. Frankfurt am Main , S. -. Seine . These besagt, »dass jeder Technologie eine Philosophie innewohnt, die darin zum Ausdruck kommt, wie die Technologie die Menschen ihren Verstand gebrauchen lässt, darin, wie sie uns mit unserem Körper umgehen lässt, wie sie die Welt kodiert, darin, welche unserer Sinne sie fördert und welche emotionalen und intellektuellen Neigungen sie verkümmern lässt«. Und er bezieht sich dann ausdrücklich auf McLuhan: »Dies ist die Summe und der eigentliche Kern dessen, was Marshall McLuhan mit seinem Satz sagen wollte: ›Das Medium ist die Botschaft‹ – meiner Meinung nach eine der bedeutsamsten Erkenntnisse dieses Jahrhunderts« (ebd., S. ).
erweitern. Aber da er, wie peripher auch immer, schon zu einem Teil der neuzeitlichen informationsverarbeitenden Systeme geworden war, fungierte er auch als ein (fremdbestimmter) Sensor und Effektor dieses Systems. Neue Epistemologien führen auch gegen den Willen der von ihnen ergriffenen Menschen zu ›neuen‹ Entdeckungen. Als Tragik wird gemeinhin der Widerspruch zwischen dieser faktischen Funktion und ihrem mangelhaften Erleben empfunden. Im Falle des Kolumbus steigert sich diese Tragik durch seine explizite Auflehnung gegen die Anerkennung der neuen Programme und eine Bewertung seiner Leistung entsprechend dem Paradigma von Entdecken2. Seine ganze Mannschaft und er selbst in seinem tiefen Unbewussten ahnen, dass Kuba eine Insel und kein Teil von Japan oder Indien ist. Wenn er sie trotzdem schwören lässt, sie hätten asiatisches Festland betreten, dann dient dies vor allem dem einen Zweck, das alte Programm, das Weltbild der Antike und des Mittelalters, in dem es eben keinen vierten Kontinent Amerika gibt, zu retten. Denn man braucht natürlich nichts beschwören zu lassen, an das man selbst und seine Mitmenschen fest glauben. Das Beispiel Kolumbus macht eindringlich deutlich, wie wichtig eine Unterscheidung zwischen den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern einerseits und deren Reflexion andererseits ist. Kaum mehr bestritten wird, dass neue Medien zu neuen Epistemologien und jene wiederum zu Entdeckung neuer Umwelten führen – wobei es ziemlich gleichgültig ist, an welcher Stelle in diesen Kreislauf eingestiegen wird. Von neuen Weltbildern oder Identitätskonzepten kann man aber wohl erst dann sprechen, wenn diese Entdeckungen und die neuen Informationen noch einmal selektiv behandelt, reflektiert werden. Damit wären wir bei einem ›Entdecken3 ‹, also einem Wahrnehmen und Ordnen von durch Entdecken1 und Entdecken2 gewonnenen Informationen. Hier geht es darum, die Beziehung zwischen der neuen Umwelt und den neuen Selbstbildern neu zu ordnen. Es entstehen neue Weltanschauungen einschließlich neuer Identitätskonzepte der Menschen. Die Stellung des Menschen in der Welt wird neu bestimmt. In diesem Sinne ist etwa der Ausspruch Martin Luthers: »Es ist itzt einander Welt und gehet anders zu«, zu verstehen, mit dem er seine tief greifenden sozialen und ideologischen Reformen begründet. 4 In seiner Schrift ›An die Radtherren‹, Werkausgabe Bd. , , S. /.
Entdecken1
Entdecken2
Entdecken3
Mit bekannten Programmen neue Umweltausschnitte wahrnehmen und beschreiben ⇒ quantitative Erweiterung der Informationen und Modelle (Akkumulation) ⇒ Bestätigung der etablierten Paradigmen Neue Programme bei der Wahrnehmung und Beschreibung der Umwelt einsetzen ⇒ alternative Modelle der Selbst- und Fremdbeschreibung ⇒ Voraussetzung: Vergessen/Verwerfen der etablierten Paradigmen (Substitution) Reflexive Systematisierung der durch Entdecken1 und Entdecken2 akkumulierten und veränderten Wissensbestände und Programme ⇒ Einpassen der veränderten Selbst- und Umweltbeschreibungen in das alte Selbst- und Weltbild (Bewahren) ⇒ Identitätsbestimmung
Abb. : Drei Formen des Entdeckens
Neuere Lerntheorien sprechen bei diesem Typ der Veränderung von einem Lernen dritter und höherer Ordnung, deren Ergebnis die Veränderung von Beziehungen und Grundwerten ist. Man wird im Einzelnen prüfen und sich dabei wohl auch streiten können, an welchen Punkten Kolumbus als Vertreter neuzeitlicher Programme und Erkenntnisweisen aufgetreten ist. Kaum bestreitbar ist allerdings, dass es ihm, anders als Amerigo Vespucci, nicht gelungen ist, sein Verhalten und Erleben nach neuen Paradigmen zu ordnen und zu bewerten. Sein Identitäts- und Weltkonzept folgt den Lehrmeinungen der antiken und mittelalterlichen Autoritäten. Und in dieser Hinsicht tun sich unerwartete Gemeinsamkeiten zwischen der Person Gutenbergs und jener des Genuesen auf: Auch Gutenberg zog die Kraft zu seiner Erfindung aus dem Bestreben, ein Buch zu schaffen, welches in Harmonie und Proportion seiner Gestaltung allen handschriftlichen Werken überlegen ist. Es ging ihm nicht um eine neue Informationstechnologie, sondern um eine Verbesserung des Althergebrachten, nicht um andere Qualitäten, sondern um quantitative Vervollkommnung. Eine Bibel, schöner gesetzt, als sie je ein Schreiber hervorzubringen vermochte, diesem Ziel folgte er fanatisch und nahm dabei auch seinen wirtschaftlichen Ruin in Kauf. 5 Hätte er sich stärker ebenso gefragten, aber Vgl. ausführlicher Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main , S. ff.
weniger voluminösen Textgattungen zugewandt und diese ohne den beständigen Blick auf die kalligraphische Konkurrenz gedruckt, so hätte ihm sein Kompagnon, der Kaufmann Johann Fust, den Geldhahn nicht zudrehen können – wenn denn Gutenberg überhaupt auf einen Teilhaber angewiesen gewesen wäre. So ernteten Fust und der von ihm angestellte Drucker P. Schöffer den Ruhm der Erfindung. Gutenberg musste sich völlig mittellos in das kleine Städtchen Eltville zurückziehen und starb dort, ähnlich vereinsamt wie Kolumbus kaum Jahre später in Spanien. Und ähnlich wie die von Kolumbus entdeckten Länder nach einem anderen, Amerigo Vespucci, benannt wurden, so geriet Gutenberg zeitweise in Vergessenheit. In manchen Chroniken der frühen Neuzeit treten Fust und Schöffer als Erfinder der Druckkunst auf. Sowenig Kolumbus die Westroute nach Indien entdeckte, also Bekanntes besser erreichbar machte, so wenig entdeckte Gutenberg einen Weg zur Vereinfachung handschriftlicher Informationsverarbeitung. Er schuf eine ganz andere, eben die typographische Informationstechnologie, die seitdem in einer Konkurrenz zur handschriftlichen steht.
Welchen Medien soll man glauben? Niemand weiß, wie viele Europäer Amerika vor der Aventiure des Kolumbus entdeckt haben. Dass Seefahrer dorthingelangten und die Kunde auch wieder zurückbringen konnten, ist unbestritten. So berichtet Adam von Bremen in seiner ›Historia ecclesiastica‹ von einem Land, das fern im Westen über dem Meer liegt, von ›Vinland‹. 6 Er brachte diese Information aus Skandinavien, das er in der . Hälfte des . Jahrhunderts im Auftrage des Erzbischofs von Hamburg und Bremen bereiste, mit nach Norddeutschland. Wie er an diese Information kam, ist nicht genau zu ermitteln. Von schriftlichen Aufzeichnungen der frühen Seefahrer des Nordens wissen wir nichts, von solchen zeitgenössischer Chronisten ebenfalls nicht. Im günstigsten Fall wurde die Kunde also als eine ›gemein sag‹ tradiert, vielleicht war sie aber auch nur ein ›Geheimnis‹ von wenigen. Ein solches ›Arcanum‹ blieb die Nachricht in Mitteleuro M. Adami historia ecclesiastica, continens religionis propagatae gesta, Quae a temporibus Caroli Magnis, usque ad Henricum IIII acciderunt …, Leiden (Plantin/Fr. Raphaelengis) , S. .
pa jedenfalls für weitere Jahrhunderte. Der vermutlich ersten schriftlichen Notiz über Nordamerika schenkte man im Fortgang des Mittelalters keine besondere Beachtung, es entwickelten sich keine schriftlichen Tradierungsketten. Erst druckte man die ›Geschichten‹ von Adam von Bremen und machte sie einem größeren Kreis von Interessierten zugänglich. Kolumbus selbst dürfte das Manuskript des Bremers unbekannt geblieben sein. Andererseits war er an Bord eines Handelsschiffs von Lissabon aus nach Island und noch einige Meilen weiter nördlich gesegelt. Es ist, wie die Sekundärliteratur immer wieder vermutet hat, durchaus nicht ausgeschlossen, dass er auf dieser Fahrt die Geschichte von Leif Ericksson erzählt bekam. 7 Aber es gab noch andere Informationen, die im mündlichen Medium über Generationen hinweg tradiert wurden. Ein portugiesischer Bischof, so konnte man es auf der Iberischen Halbinsel auf Straßen und in Schenken hören, sei vor den anrückenden Mauren auf See geflüchtet und zu einer Insel mit sieben Hügeln getrieben. Da sie auf der anderen Seite des Ozeans lag, gab man ihr den Namen ›Anti Ilha‹, ›Antillen‹. Dann sollte es gegenüber Irland noch die Insel der Glückseligen geben, die im irischen Sprachraum ›Brasil‹ genannt wurde. Andere Sagen berichteten gar von einem untergegangenen Kontinent im Nordmeer, von Atlantis. Aus diesen mündlichen Berichten einerseits und älteren Handschriften andererseits stellte man im Mittelalter ›skriptographische‹ Informationsmedien zusammen. Auch auf den ›Karten‹, auf denen die mittelalterlichen Menschen ihr Weltbild zusammenfassten, tauchten die sagenhaften Eilande hier und dort auf, oder sie wurden in den Chroniken erwähnt. Schon Jahrhunderte vor Kolumbus hatten solche Nachrichten andere Seefahrer aus dem Mittelmeer inspiriert, sich auf die Weiten des Atlantiks hinauszuwagen. So gelangte der Genuese Lanzarote Malochelle zu den Kanarischen Inseln. Schon die Phönizier und Griechen und nach ihnen die Römer hatten von diesem Archipel als von der Insel der Seligen gesprochen, aber da sich keine Handelswege festigen konnten, war die Kunde über ihre Lage immer wieder in Vergessenheit geraten. Und dies ist ja ein Kennzeichen aller überwiegend oralen Kulturen: Viele Erkenntnisse geogra Vgl. zum Beispiel S. Fischer Fabian/K.-H. Jürgens: Columbus – Lebensbilder. Bergisch-Gladbach , S. .
phischer, sozialer, botanischer, medizinischer oder anderer Natur gehen über die Generationen immer wieder verloren, werden neu entdeckt und erneut vergessen. Da das Gedächtnis das hauptsächliche Informationsmedium bleibt, führt die physische Vernichtung der ›Wissenden‹ durch Unglücke, Krieg, Epidemien und Ähnliches häufig zum Bruch der Traditionsketten. Die Verschriftlichung dieser mündlichen Informationen seit den Tagen der griechischen und römischen Antike hat solchen Verlusten entgegengewirkt, verhindern konnte sie das ›Vergessen‹ nur allzu oft nicht. Das hängt letztlich damit zusammen, dass in allen alten Kulturen die Manuskripte zu keinem selbständigen Kommunikationsmedium geworden sind. Sie blieben immer auf die Rede und die mündlichen Kommunikationsbahnen als Verbreitungsnetz angewiesen. Wurde dieses zerstört, so mochten die Texte zwar weiterleben, aber sie hatten dann zumeist keinen Interpreten mehr, der aus ihnen handlungsleitende und orientierungsrelevante Informationen zu ziehen vermochte. Trotzdem sind gerade die Schriften dieser ›akademischen‹ Tradition, des Platon, Aristoteles, Plinius und der Kirchenväter, die von den Gelehrten in ihren Schulen später in Klöstern, an Höfen und noch später dann auch an den Universitäten weitergegeben wurden, zu einer ganz wichtigen Informationsquelle für den Genueser Seefahrer geworden. Der akademische, auf die skriptographischen Medien angewiesene Diskurs in dem die Gelehrten immer wieder die antiken und arabischen Autoren diskutierten, sie zu der jüdischchristlichen Tradition in Beziehung setzten und sich um ein einheitliches Weltbild bemühten, strukturierte die Reflexion des Kolumbus. Besonders bedeutsam wurde für ihn die Lektüre der ›Imago Mundi‹ des Pierre d’Ailly, in der sich auch eine spekulative Beschreibung der terrestrischen Geographie findet. Begierig griff er ebenso auf die kartographischen und skriptographischen Berichte über die spätmittelalterlichen Entdeckungsfahrten wie jene des Petrus Vesonte, des Angelino Dulcert oder der Brüder Pizigano zurück. Aus solchen Berichten und vielleicht auch aus den Logbüchern, die in den Seefahrerfamilien weitergegeben wurden, hatte der Florentiner Arzt, Mathematiker, Kosmograph und Astrologe Paolo Toscanelli eine ›Weltkarte‹ zusammengestellt, die einen Seeweg über den Atlantik westwärts nach Indien als eine relativ kurze Expedition erscheinen ließ. Kolumbus hatte in Lissabon von dieser Karte gehört, und sie bestärkte ihn jedenfalls in seiner Idee, dass es
Sinn machte, nicht mehr nur an der afrikanischen Küste entlangzuschippern, sondern sich westwärts auf den Atlantischen Ozean hinauszutrauen. Neben den mündlichen Berichten, den Briefen, den gemalten Karten und den Codices konnte Kolumbus ein zu jener Zeit kaum Jahre altes neues Medium nutzen, ausgedruckte Bücher. Bartholomeo de las Casas berichtet im ersten Band seiner ›Historia de las Indias‹, Kolumbus habe die Beschreibung der Entstehung der Perlen in seinem ›Bordbuch‹ dem ›Catholicon‹ entnommen. 8 Dieses Wörterbuch des P. Balbus druckte Gutenberg in Mainz, und warum sollte nicht ein Exemplar dieser oder einer anderen Auflage den Weg zu Kolumbus gefunden haben? Größeren Erkenntnisfortschritt versprach das neue Medium freilich dem Seefahrer Kolumbus für dessen Zwecke zu jener Zeit noch nicht. Ausgedruckt wurde auf den für Kolumbus interessanten Wissensgebieten in der Inkunabelzeit im Wesentlichen nur das, was auch schon handschriftlich kursierte. Eine ganz bezeichnende Ausnahme verdient freilich der Erwähnung. Auf seiner ersten Amerikafahrt benutzte Kolumbus einen venezianischen Nachdruck (Mariensüß ) der ›Ephemeriden‹ des Regiomontan (Johannes Müller von Königsberg). 9 Diese Tabellen mit den für die Jahre bis vorausberechneten Positionen von Sonne, Mond und fünf Planeten hatte der Gelehrte in Nürnberg noch vor seinem Tod () in den Druck gegeben. Für die Ortsbestimmung auf hoher See waren sie eine wichtige Hilfe und offenbar in ihrer Genauigkeit und Übersichtlichkeit den vorhandenen handschriftlichen Tabellen überlegen. So viele Informationen es in den verschiedenen Medien über das Meer gab, das an die Westküste Europas grenzte, so erfahren wir doch – vielleicht mit Ausnahme der vagen Wikingersagen von ›Vinland‹ – nichts über einen vierten Kontinent. Die sozialen Informationen sprachen nur von dem großen Meer, mehr oder weniger vielen Inseln und einem asiatischen Kontinent. Dass man diesen Kontinent auch über die Westroute erreichen kann, darüber konnte man nur spekulieren. Kolumbus hat sich aber mit Gewissheit nicht De las Casas, Historia de las Indias, Mexiko , Bd. , S. . Vgl. die Randbemerkungen des Kolumbus in dem Exemplar in der ›Bibliotheca Colombina‹ in Sevilla. Näheres bei E. Zinner: Leben und Wirken des Joh. Müller, sowie ders.: Kolumbus und die deutsche Astronomie. In: Forschungen und Fortschritte, H. , , S. f.
nur auf diese Gedankenexperimente beschränkt, obwohl dies die Fachliteratur immer wieder nahe legt. Er besaß nämlich noch weitere Informationsquellen, deren Spezifik allerdings genau darin liegt, dass sie nicht in engerem Sinn sozialer oder technischer Natur sind. Kolumbus verließ sich auf seine eigenen Augen, seine praktischen Erfahrungen als Seefahrer, und er ergänzte diese Erkenntnisse, indem er Kenner des Atlantiks befragte. »Zu einer Zeit«, vermutete schon Alexander von Humboldt auf seiner ›Südamerikanischen Reise‹, »wo die Schifffahrtskunst noch wenig entwickelt war, bot der Golfstrom dem Geiste eines Christoph Kolumbus sichere Anzeichen vom Dasein westwärts gelegener Länder. Zwei Leichname, die nach ihrer Körperlichkeit einem unbekannten Menschenstamme angehörten, wurden gegen Ende des . Jahrhunderts bei den azorischen Inseln ans Land geworfen. Ungefähr um dieselbe Zeit fand Kolumbus’ Schwager, Peter Burrea, Statthalter von Porto Santo, am Strande dieser (Madeira vorgelagerten) Insel mächtige Stücke Bambusrohr, die von der Strömung und den Westwinden angeschwemmt worden waren. Diese Leichname und diese Rohre machten den Genuesischen Seemann aufmerksam; er erriet, dass beide von einem gegen Westen gelegenen Festlande herrühren mussten.« 10 Das Treibgut zeigte ihm darüber hinaus, dass es von diesem unbekannten Land einen Weg wieder zurück zu den Kanarischen Inseln geben musste. Immer wieder machte sich Kolumbus in Richtung Kanarische Inseln und Madeira auf, und er lernte dabei die Gestirne, die Strömungen und die Windrichtung kennen. Kunde vom Atlantik und von den Ländern an seinen westlichen Rändern erhielt er weniger durch von Menschenhand geschaffene Informationsmedien als vielmehr durch seine Betrachtung Voyage aux re´gions equinoxiales du Nouveau Continent, zit. nach A. von Humboldt, Südamerikanische Reise, Berlin , S. . Ähnliches berichtet auch der Nürnberger Geograph und Konstrukteur des ersten Globus, Martin Behaim, der sich zwischen und auf den Azoren aufhielt, seinem Kollegen Hieronymus Münzer. Von Letzterem ist ein Brief vom . Juli an König Johann II. von Portugal aus Nürnberg überliefert, den Behaim vermutlich auf der Rückreise persönlich nach Lissabon überbrachte. In diesem Brief, in dem eine Entdeckungsfahrt westwärts nach Indien vorgeschlagen wird, steht, dass Einheimische von »Rohren« berichten, »welche der Sturm vom Gestade des Ostens [Indiens/ Amerikas] an die Küsten der Habichtinseln (= Azoren) treibt«. Vgl. Werner Schultheiß: Die Entdeckung Amerikas und Nürnberg. In: Jahrbuchf. fränkische Landesforschung H. , , S. -, hier S. Anm. .
der natürlichen Umwelt. 11 Auf diese Umwelt sah er allerdings mit anderen, vielleicht weniger ängstlichen Augen als seine Zeitgenossen und deren Vorgänger. 12 Ganz unabhängig davon, wie intensiv Kolumbus die Handschriften der gelehrten Autoritäten studiert hat, darüber kann man ohnedies nur spekulieren, sein handlungsleitendes Wissen hat er aus anderen Quellen geschöpft. Die alten Weltbilder programmierten die Art und Weise, in der er erklärte, was er fand – sie leiteten ihn jedoch weder über den Ozean noch zurück. Überhaupt fällt, wenn man sich die Informationsquellen des Kolumbus anschaut, zuallererst auf, dass ihm die traditionellen ›Berichte‹, ›Sagen‹ und ›Theorien‹ eher im Wege standen, als dass sie ihm einen Pfad wiesen. Was immer das Kirchenjahr, der Stand der Gestirne oder die vagen Andeutungen der alten Schriften für ein Datum für den Expeditionsbeginn nahe legen mochten, möglich war die Entdeckung Mittelamerikas nur, wenn man den Nordostpassat, der im November/Dezember seine größte Stärke erreicht, ausnutzte. Wenn man andererseits die Informationen über die Wikingerfahrten ernst nahm, dann hätte es eigentlich nahe gelegen, über die Nordroute in das unbekannte Land aufzubrechen und vielleicht mit dem Golfstrom zu den Azoren zurückzukehren. Kolumbus hat sich bekanntlich für die durch die nördlichen Passatwinde vorgezeichnete Route entschieden, und dies war nun mit Sicherheit der Weg, über den die wenigsten verbalen Informationen vorlagen. Dies mag aus informationstheoretischer Sicht eine weitere Lehre aus den Taten des Kolumbus sein: Neues ist nicht ohne den Bruch mit Altem zu haben. Vorhandene, sozial abgesicherte Informationen mussten verworfen oder vergessen werden, damit die Passatroute in die Neue Welt entdeckt werden konnte. Ja, das tragische Scheitern des ›Admirals der Meere‹ nicht als Navigator, wohl aber als Entdecker der ›Neuen Welt‹ im Sinne von ›Entdecken2 ‹ und erst recht im Sinne von ›Entdecken3 ‹ hängt ursächlich damit zusammen, dass Zu weiteren mutmaßlichen Informationsquellen des Kolumbus vgl. Rodolfo Baron Castro: The discovery of America and the geographical and historical integration of the world. In: Journal of World History (Spanish Issue) Bd. (Paris) , S. -, hier S. ff. Aber natürlich gab es noch andere, die den (lusitanischen) Herrschern Expeditionen westwärts vorschlugen. Martin Behaim (vgl. Anm. ) scheint dies am Hofe Johanns II. von Portugal versucht zu haben. – H. Harrisse (The Discovery of North America, Paris/London ) führt ähnliche Vorhaben in der Zeit zwischen und auf (vgl. S. -).
er sich von vielen oralen und skriptographischen Traditionen nicht genügend zu lösen vermochte: Bekanntlich zielten seine Fahrten nach Indien, nach Cathay (China) und nach Cipangu (Japan), Ländern, die seit der Antike bekannt waren, die man auf dem Landweg zu erreichen wusste und von denen man – zumal nach den Reiseberichten Marco Polos – mehr oder weniger ausführliche Nachrichten besaß. ›Wirklich‹ war für Kolumbus, wie wir gleich sehen werden, ganz im Einklang mit den Vorstellungen der oralen Kulturen, was von der Gesellschaft besonders ausgezeichnete Personen für ›wirklich‹ hielten. ›Wirklich‹ waren von daher also nur die bekannten drei Kontinente. Das Festhalten an dem indischen Paradigma trübte dem Genueser zwar nicht den Blick auf die Einzelheiten der karibischen Inselwelt, er konnte das für seine Schiffe geeignete Fahrwasser sehr gut von Untiefen und Riffen unterscheiden, aber er systematisierte seine Informationen nach den alten Wahrheitskonzepten und Programmen. Er fand, im Gegensatz zu Amerigo Vespucci, nicht den richtigen Zeitpunkt, sich von den Lehrmeinungen der Autoritäten zu lösen. Denn sicherlich war es klug, anfangs an diese anzuknüpfen, um die Entdeckungsfahrt von der spanischen Krone überhaupt finanziert zu bekommen. Nach der Landung in Mittel- und – auf der dritten Reise – in Südamerika wäre es klüger gewesen, die Strategie umzustellen und die Länder, wie es Amerigo Vespucci dann vormachte, als ›mundus novus‹, als ›Neue Welt‹, zu betrachten und zu beschreiben. Zu einem solchen Bruch mit der Tradition, in der er groß geworden war, mochte er sich nicht bereit finden. Auch in diesem Punkt gleicht er Johannes Gutenberg, der sich wie die mittelalterlichen Schreiber als ›Stilum‹ Gottes empfand und seine Druckwerke mit der gleichen Andacht schuf wie der mittelalterliche Mönch seine Manuskripte. Ihren Siegeszug nahm die Druckkunst, als sie ihre nationale Aufgabe erkannte, zum Nutzen des Vaterlands und der Nationen eingesetzt wurde. Dieses neue Bezugssystem visierte Gutenberg nicht an. Und auch die für die nachgeborenen Forscher betrübliche Tatsache, dass Gutenberg in seinen Drucken so wenig von seiner Person und von seinen Motiven preisgibt, darf man wohl so interpretieren, dass er von dem Selbstbewusstsein der neuzeitlichen Autoren, die sich als Urheber ihrer Schriften verstanden, noch weit entfernt war. Aber die Zerstörung von alten Mythen und die Schaffung neuer Weltbilder schert sich nicht um die Absichten und Selbstbeschrei
Abb. : Innovationsspirale
bungen der Personen. Die Kulturen benutzen die Menschen als Medien der Zerstörung und Erneuerung. Kolumbus mag es, genauso wie Gutenberg und anfangs auch Luther um die Bestätigung alten Glaubens, bestenfalls um eine Reformation im Sinne der Rückkehr zu alten Prinzipien gegangen sein. Im Prozess der Kulturgeschichte leiteten alle drei Personen einen radikalen Bruch ein und eroberten ein neues Emergenzniveau. Die Abbildung fasst die Spirale des Entdeckens zusammen. Die verschachtelten Innovationsprozesse können von jeder Station ihren Ausgang nehmen.
Die multimediale Konstruktion der Neuen Welt Die Überlegenheit des Christopherus Kolumbus lag gerade in seiner Fähigkeit zu multimedialer Erfahrungsgewinnung und Kommunikation. Er vertraute allen seinen Sinnen und setzte, widersprachen sich die so gewonnenen Informationen, nicht unbedingt auf die bislang prämierten Medien. Desgleichen bediente er sich aller Kommunikationsmedien, um sein Vorhaben nach seiner ersten Reise fortzuführen. Er inszenierte sein Unternehmen vor der und für
die Öffentlichkeit, rührte dazu die Werbetrommel und trug auch während der Abwicklung des Geschäfts Sorge, dass genügend publizierbare Informationen bei seiner Rückkehr bereitlagen. Weit ausführlicher beispielsweise als für seemännische Logbücher üblich verzeichnete er während seiner ersten Reise die Geschehnisse. Zusätzlich scheint er schon an Bord Briefe konzipiert zu haben, die er dann, kaum dass er wieder europäischen Boden unter seinen Füßen hatte, in alle Richtungen verbreiten ließ. Im Einzelnen lassen sich folgende Kommunikationsmedien unterscheiden: . Die ersten Nachrichten über die Neue Welt wurden durch die Teilnehmer der Kolumbusexpedition mündlich überbracht. Paradigmatisch ist hier das Gespräch zwischen Kolumbus und dem portugiesischen König gleich nach seiner (Not-)Landung in Lissabon im Oktober . Aber ebenso haben natürlich auch die Steuerleute über die zurückgelegten Meilen und Kurse, die Offiziere über die Bewaffnung der Eingeborenen und die Mannschaften über die Menschen, Tiere und Pflanzen in den neuen ›Insulen‹ berichtet. Schneller als alle anderen Medien verbreitete sich in diesem mündlichen Medium, durch die ›gemein sag‹ die Nachricht von der Entdeckung Westindiens, schon im Laufe des Jahre traf sie in Deutschland ein. Die durch die Gerüchte geweckte Neugier dürften die Drucker erst zu ihren Veröffentlichungen getrieben haben. Typographischer Bericht und das ›Hören-Sagen‹ sind in diesem wie auch in den meisten anderen Fällen aufeinander bezogen und ergänzen sich. . Praktisch gleichzeitig wurden auch die traditionellen skriptographischen Medien eingesetzt. Dies hing, wie wir schon andeuteten, damit zusammen, dass die Entdeckungsfahrten ein Moment in komplexeren institutionellen Abläufen ausmachten und diese seit alters her skriptographisch gesteuert und dokumentiert wurden. Das Logbuch Kolumbus’ – und jene seiner Nachfolger – bezeugen dies ebenso sehr wie die Rechnungsbücher der Kaufleute/Handelskammern und die Rechenschaftsberichte der Kapitäne. Letztere wurden als Briefe abgefasst und an die verschiedenen Stellen geschickt, die entweder für das abgelaufene Geschäft zuständig waren oder von denen man sich Unterstützung für die nachfolgenden Unternehmungen versprach. Dies waren natürlich vor allem die spanische und die portugiesische Krone, die Casa da Contratacio´ n in Sevilla, die vor allem die
Aufgabe hatte, die nautischen Daten auszuwerten, die Großhandelshäuser und eine Reihe von weiteren Herrscherhäusern. 13 Neben den Archiven in Sevilla weisen dies die Reste der Archive der Fugger und Welser in Augsburg und Nürnberg ergiebig aus. 14 Was immer die biographischen Informationen, die während der Seereisen gesammelt wurden, für subjektive Anlässe gehabt haben mögen, immer waren es auch institutionelle Rechenschaftsberichte. Die Zeichnung der Küstenlinie von Hispaniola, die in den Brief des Kolumbus an Raphael Sanxis übernommen wurde und die Karten seines Kapitäns Juan de la Cosa 15 (um ) leisten einen Beitrag zu dem nautischen (Geheim-)Wissen, welches in Sevilla und an anderen Orten über die Geographie zusammengetragen wurde. Diese Briefe, Tabellen, Karten, Skizzen sowie die zusätzlichen mündlichen Instruktionen, also die uralten bimedialen institutionellen Kommunikationsnetze, reichen zu Beginn des . Jahr Vgl. hierzu die Ausführungen von B. Siegert über ›Die Verortung Amerikas im Nachrichtendispositiv um oder: Die Neue Welt der Casa de la Contratacio´ n‹. In: Horst Wenzel: Gutenberg und die Neue Welt. München , S. . Vgl. zum Beispiel die Sammlung von Briefen von Vespucci, Vasco da Gama und anderen im Archiv der Welser und ihre Übersetzung durch K. Peutinger und Christoph Welser (Abdruck bei B. Greiff im . Jahresbericht des historischen Kreis-Vereins im Regierungsbezirk von Schwaben und Neuburg. Augsburg , S. -). Von Kolumbus fehlen allerdings Nachrichten (vgl. unten, Anm. ). Auch die so genannten ›Fuggerzeitungen‹ aus der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts sind ein Beleg für die Effizienz der institutionellen skriptographischen Netze – selbst wenn sie zunehmend auch auf öffentlich zugängliche typographische Informationen zurückgreifen. Vgl. Johannes Kleinpaul: Die Fuggerzeitungen. Leipzig , und Victor Clarwill: Fuggerzeitungen. Leipzig/München . Die bemerkenswerte, im Stil der Portolankarten verfertigte Karte, bei der die zentrale Rosette nicht mehr im Mittelmeer, sondern auf der Höhe von Grenada inmitten des Atlantik liegt, wird heute im ›Museo Naval‹ in Madrid aufbewahrt. Juan de la Cosa nahm an der zweiten Reise des Kolumbus / und an der Expedition Vespuccis unter der nautischen Leitung von Alonso de Hojeda teil. Die Karte ist abgebildet bei Ivan Kupcik: Alte Karten. Hanau , Abb. . Nachzeichnungen in Konrad Kretschmer: Die historischen Karten zur Entdeckung Amerikas, , neu hg. Frankfurt am Main , Tafel VII. De la Cosa verwendet – und dies passt in das Bild der skriptographischen Erfahrungstradierung – noch zu Beginn der Neuzeit das mittelalterliche kartographische Verfahren seiner Zunft. Vgl. auch den Beitrag von P. Mesenburg: Portolankarten. In: Horst Wenzel (Hg.): Gutenberg und die Neue Welt. München , S. -.
hunderts völlig aus, um die Entdeckungsfahrten voranzutreiben. Sie bleiben die wichtigste Informationsquelle für diejenigen, für die die Neue Welt zu einer relevanten Umwelt wird. 16 . Kaum zwei Monate nach der Rückkehr des Kolumbus, im April , begannen seine Briefe das Medium zu wechseln. Es erschien zunächst sein Brief an Luis de Santangel in einem Druck in spanischer Sprache. 17 Er wurde mehrfach aufgelegt, bald ins Lateinische übersetzt und in Frankreich nachgedruckt. Diese ersten typographischen Informationen sind durchweg journalistische Aufbereitungen der handschriftlichen Berichte – wenn sie sich nicht überhaupt nur auf die bloße Erwähnung der Entdeckung der neuen Insulen wie etwa in der Kölner Chronik von Koelhoff () oder in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ beschränken. 18 Sie lehnen sich dabei in Stil und Layout an Vorbilder aus anderen Bereichen an. Als früheste Vorbilder für die Veröffentlichung solcher Sendschreiben könnte man den so genannten ›Türkenkalender‹ von oder die Flugschriften Anne-Dorothee von den Brincken (Universalkartographie und geographische Schulkenntnisse im Inkunabelzeitalter. In: Bernd Möller/H. Patze/K. Stackmann (Hg.): Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Göttingen , S. -) kommt bei ihrer Sichtung der Inkunabelkarten zu dem Ergebnis, dass die Entdeckungsreisen »nicht den geringsten Niederschlag auf den Frühdruckkarten« (/) fanden. »Vielmehr bieten die handschriftlichen Mappae Mundi des . Jahrhunderts z. T. wesentlich differenzierte, originellere und zutreffendere Leistungen, ob man nun etwa an die Vatikanische Melakarte des Pirrus de Noha von ca. denkt oder an die in Portolantechnik erstellte Rundkarte von Modena von ca. , an die Genuesische Ellipsenkarte von , in der man die legendäre Toscanelli-Karte vermutet hat, die Columbus den Weg nach Amerika wies, an die gesüdete Rundkarte des Fra Mauro aus Venedig von , an die recht fortschrittlichen ptolemäischen Karten des Heinricus Martellus Germanus um oder an die offensichtlich an der Ulmer Frühdruckkarte von orientierte ptolemäische Karte des Johannes Vico von Douai: sie stellen bedeutendere Leistungen dar, als sie die Druckgraphik zu bieten hat … Nur wenige der Frühdruckkarten waren originelle Schöpfungen zu einem bestimmten Werk.« Vgl. auch Anm. . Exemplar in der New York Public Library. Vgl. Erwin Holzer: Die frühesten und wichtigsten Drucke über die Entdeckung und Erforschung Amerikas. In: Philobiblon – Die Zeitschrift der Bücherfreunde, . Jg., Heft , . S. ff. Zur Bibliographie der Kolumbusdrucke vgl. den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, hg. von der Kommission f. d. GW. Leipzig ff. Vgl. Wolfgang Neuber: Verdeckte Theologie. Sebastian Brant und die Südamerikaberichte der Frühzeit. In: Titus Heydenreich (Hg.): Der Umgang mit dem Fremden. Beitr. zur Literatur aus und über Lateinamerika. München , S. .
zur Mainzer Bischofswahl (Diether von Isenburg vs. Adolf von Nassau, /) nennen. Dieser Vergleich macht dann auch gleich die Bedeutung klar, die Kolumbus für die Drucker in Deutschland besaß. Von dem Mainzer Wahlkampf kennen wir mindestens neun typographische Dokumente (aus Mainz), etwa genauso viele Ausgaben erfuhr der (erste) Kolumbusbrief an Luis de Santangel – beziehungsweise an Raphael Sanxis in den lateinischen Druckfassungen – in ganz Europa. 19 Eine Übersetzung dieses Textes ist dann die erste separate Flugschrift, die in deutscher Sprache über die Entdeckung des Kolumbus berichtet. Schon die Überschrift macht deutlich, dass man das Ereignis für wenig außergewöhnlich hielt: »Eyn hübsch lesen von etlichen inszelen, die do in kurtzen zyten funden synd durch den künig von hispania. Und sagt von großen wunderlichen dingen, die in desselben inszelen synd« (Straßburg (B. Kistler) ). Das öffentliche Interesse an Reiseführern innerhalb Europas oder nach dem Heiligen Land war ungleich größer. 20 Vgl. Holzer a.a.O., S. . Auch in den folgenden Jahren gibt es in Europa kaum eine Hand voll Nachdrucke des Briefes. So schreibt Rolf Wilhelm Brednich anlässlich der Ausstellung des Instituts für Zeitungsforschung in Dortmund (. Februar – . April ) in seinem Artikel ›Amerika in den früh-neuzeitlichen Medien. Flugblatt und Newe Zeitung‹ (in: Peter Mesenhöller (Hg.): Mundus novus: Amerika oder die Entdeckung des Bekannten; das Bild der Neuen Welt im Spiegel der Druckmedien vom . bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert. Essen , S. -, hier S. ): »Sieht man die frühen Berichte über die Entdeckung der neuen Territorien im Zusammenhang mit der gesamten übrigen Informationsliteratur der Zeit, so fällt ins Auge, dass die Neue Welt in den Printmedien des frühen . Jahrhunderts keineswegs den ersten Rang einnimmt und auf diesem Weg stets nur spärlich, bis marginale Informationen in das Bewusstsein der Rezipienten gedrungen sein können.« Die geringe Bedeutung der typographischen Berichte über die Neue Welt wird auch deutlich, wenn man sich einmal eine einschlägige Bibliothek des . Jahrhunderts daraufhin anschaut: Der in Brüx im Erzgebirge geborene Johann Dernschwann nahm als Faktor der Fugger in Ungarn seine Arbeit auf und verweilte dort bis zu seinem Tode . Seine Bibliothek in Neusohl enthielt von ihm selbst sehr sorgfältig katalogisierte Werke. Er sammelte vorzugsweise lateinische Texte aus allen Wissensgebieten, aber auch volkssprachliche Ausgaben. In einem einzigen Sammelband (/) konnte er die Literatur über die Neue Welt zusammenfassen, Sebastian Münsters Kartenwerk, Cadamostos Reisebericht, die Berichte von Kolumbus, Vespucci, Piazoni, P. Alonsi und Petrus Matyr. An anderer Stelle (/ ) findet sich dann auch die Ausgabe der Kolumbus-Briefe von Carolus
Diese verhaltene Reaktion auf Kolumbus’ Reisen hängt selbstverständlich damit zusammen, dass diesem selbst die Bedeutung seiner Entdeckung nicht klar war. Er spricht von ›inselen‹, die er entdeckt habe. Solche Inseln waren in der Vergangenheit immer wieder entdeckt worden, und man regte sich über jede neue Pestepidemie jedenfalls mehr auf als über eine weitere Insel. Für den . November verzeichnet eine Nürnberger (handgeschriebene) Chronik stattdessen die »Verbrennung dreier Mönche in der Schweiz« sowie den »Fall eines Mühlsteins oder Meteors in Schwaben«. 21 . Dies ändert sich mit den Berichten des Florentiner Patriziersohns Amerigo Vespucci (-). Er spricht klar und unzweideutig schon nach seiner begonnenen ersten Reise davon, dass er einen vierten Teil der Welt, neben Europa, Asien und Afrika, entdeckt habe, von einem neuen Kontinent oder einer ›neuen welt‹ also. Ein Brief seiner ersten Reise wird wohl erstmals gedruckt und erfährt dann mehrere Auflagen an verschiedenen Orten und in verschiedenen Sprachen. 22 erscheint der stark überarbeiVardus. Unter den vielen geo- und kartographischen Werken entfallen nur wenige auf die Neue Welt (/). Vgl. Jeno Berlasz (Hg.): Die Bibliothek Dernschwann – Bücherinventur eines Humanisten in Ungarn. Szweged . Dr. Istva´n Monok danke ich für den Hinweis. Germ. Nat.-Mus. Hschr. a °. Vgl. Schultheiß, a. a. O. (Anm. ), S. . Diese Feststellung ist zumindest für die oberdeutschen Städte durch Archivstudien gut abgesichert. Die Nürnberger Annalistik erwähnt die Entdeckung nicht. »Auch die Protokolle [Ratsbücher und »Verlässe«] und die Auslaufbücher [»Briefbücher«] des Rates enthalten in den Jahren bis keinen Niederschlag jenes Geschehnisses … Tatsächlich wird auch Kolumbus’ Meerfahrt nicht in einer einzigen Augsburger, Straßburger oder Ulmer Quelle erwähnt.« Schultheiß, a. a. O., S. . Über die genauen Daten dieser Reise herrschte lange Zeit Unklarheit, nicht zuletzt weil einige Drucke seines Briefes (Mundus Novus) das Jahr als Datum der ersten Reise nennen. In diesem Fall hätte er Südamerika tatsächlich früher als Christoph Kolumbus erreicht, der erst auf seiner dritten Reise im heutigen Venezuela an Land ging. Dies hielt schon de las Casas für eine Lüge, und die heutige Forschung nimmt an, dass Vespucci erst gemeinsam mit Alonzo de Hojeda, der auch Kolumbus begleitet hatte, amerikanisches Festland betrat. Zur Bibliographie der Vespuccidrucke und der anderen ›Americana‹ vgl. John Alden (Hg.): European Americana: A Chronological Guide to Works Printed in Europe Relating to the Americas, -. Bd. : -. New York (Readex Books) .
tete und ganz im Stil einer ›newen zeitung‹ aufgemachte Brief auf Deutsch. Das vielleicht in Leipzig gedruckte Blatt beginnt: »Das sind die neuw gefunden menschen oder volcker« und zeigt dann auf einem herrlichen Holzschnitt, wie drei spanische Karavellen einen Kanal zwischen Inseln durchschwimmen und dabei von nur mit Lendenschurz bekleideten Wilden beobachtet werden 23 (Abb. PDF 쩛CD). Auch die Übersetzung der Zusammenfassung seiner verschiedenen Reisen über den Ozean, die so genannten ›Quator navigationes‹, erscheint in einer nun schon Blatt ausmachenden Flugschrift. 24 Die erste Textseite beginnt mit der in großen Lettern gesetzten Überschrift »Vorred vo(n) der nüwen Welt« ( vgl. Abb. PDF 쩛CD). Im Gegensatz zu den Veröffentlichungen des Kolumbus, aus denen nicht klar hervorgeht, an welchem geographischen Ort sich die überseeischen Entdeckungen befinden, gibt Vespucci klare Angaben über ihre Lage. Er räumt auch mit der antiken, aber eben auch noch im Mittelalter tradierten Auffassung auf, jenseits des Äquators, auf der Südhalbkugel, könnten keine Menschen und schon gar keine Hochkulturen leben. Die öffentliche typographische Konstruktion der ›neuen welt‹ beginnt, und zwar eben zunächst in Form ›newer zeytungen‹. Neue Entdeckungen und größere Expeditionen, zum Beispiel von Cortez in Mexiko und von Pizarro in Peru, werden, wenn auch meist nur in ein oder zwei unterschiedlichen Flugschriften, typographisch dokumentiert. Bis erscheinen unter Titeln wie ›Copey etlicher brieff‹ oder ›Newe zeitung‹ freilich kaum mehr als zehn unterschiedliche Drucke in deutscher Sprache. 25 Solange man noch, wie Kolumbus, von ›Insulen‹ sprach, die auf Exemplar in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, QuH (). Faksimile in dem von Harald Jantz und Alexander Haase herausgegebenen Katalog ›Die neue Welt in den Schätzen einer alten europäischen Bibliothek‹, Braunschweig , S. . Diß büchlin saget wie die zwen durchlüchtigsten Herren her Fernandos Künig zu Castilien und her Emanuel Künig zu Portugal haben das weyte mör ersuchet vnnd funden vil insulen, vnnd ein Nüwe welt von wilden nackenden Leüten vormals unbekannt. Straßburg (Grüninger) . Exemplar in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, GX . Auf Bl. A r wird behauptet, die erste Reise habe am . Mai begonnen. Vgl. Emil Ottokar Weller: Die ersten deutschen Zeitungen. Tübingen (= Bd. des Lit. Vereins in Stuttgart), sowie Alden , a. a. O. (vgl. Anm. ).
dem Wege von Europa nach Indien lagen, brauchte sich am Weltbild der Europäer nicht viel zu ändern. Wie schon angesprochen, waren in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Insulen entdeckt, teilweise wiedergefunden, wie die Kanarischen, teilweise neu gefunden wie Madeira, die Azoren oder die Kapverden. Wirkliche Umwälzungen waren erst zu erwarten, wenn man tatsächlich auf einen neuen Kontinent stieß oder mit anderen Gewissheiten der mittelalterlichen Geographie, wie zum Beispiel jener, dass die Südhalbkugel von Menschen unbewohnt war, brach. Dann erst unterschieden sich die Flugschriften der Entdecker von den vielen anderen ›newen zeytungen‹, die über Missgeburten, Blutregen, seltsame Tiere o. a. berichteten. Dann wurde es notwendig, ja unabweisbar, das alte Bild der Erde zu hinterfragen, die neuen Nachrichten mit den alten Axiomen zu vergleichen und sich schließlich für ein Modell zu entscheiden. Vespucci war sich von Anbeginn klar darüber, dass seine Entdeckungen im Widerspruch zu jenen der antiken Gelehrten, der Kirchenväter und auch der meisten mittelalterlichen Gelehrten standen. Natürlich wusste er, dass Augustinus es für »schlechterdings unglaublich« hielt, »wenn man von Antipoden, Gegenfüßlern, also Menschen, die auf der entgegengesetzten Seite der Erde wandeln«, spricht. 26 »Wo die Sonne aufgeht, wenn sie bei uns untergeht, also unseren Füßen gegenüber« (ebd.), war aber der Florentiner Aristokratensohn eigenfüßig gewandelt, ohne dass er hinabgefallen oder ihm auch nur das Blut in den Kopf gestiegen wäre. Und so schreibt er denn an Lorenzo di Piero Francesco de Medici, dass »unsere Vorfahren« von den von ihm bereisten Ländern nichts kannten. Seine Informationen seien allen Europäern »völlig neu«, und er fährt fort: »Und allerdings überschreitet dies die Kenntnis unserer Alten, denn die Mehrheit von ihnen sagt, jenseits des Äquators und Richtung Süden gebe es keinen Kontinent (›Continentem‹), sondern nur ein so großes Meer, dass sie es Atlantik nannten. Und wenn einige zustimmten, dort gebe es einen Kontinent, so vermeinten sie mit vielen Gründen, dass es eine bewohnbare Erde sei.« 27 De civitate Dei, zit. nach der Übersetzung von Wilhelm Thimme: Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat. München 2, Bd. , S. . Nach der ältesten Druckausgabe des Briefes ›Albericus Vespuccius laurentio petro francisci de medicis Salutem plurimam dicit‹, Paris (F. Baligault/J. Lambert), ca. (Schlettstadt BM, K e), f. a r ; zit. nach der Übersetzung in Klaus A. Vogels vorzüglicher Darstellung ›Amerigo Vespucci und die Humanisten in
Er lässt sich in dieser Sache auf überhaupt keine Diskussionen mehr ein, führt unter Bruch mit der gelehrten Disputiertradition keinerlei widerstreitende Lehrmeinungen anderer Autoritäten an, sondern beruft sich einzig und allein auf seine Wahrnehmung: »Aber dass diese ihre Meinung falsch und der Wahrheit vollständig entgegengesetzt ist, hat diese meine letzte Reise offenbart, denn ich habe in jenen südlichen Gebieten einen Kontinent gefunden, der mit Völkern und Tieren dichter besiedelt ist als unser Europa oder Asien oder Afrika und noch dazu mit milder Luft und anmutiger als jede andere Gegend, die uns bekannt ist« (a. a. O., S. ). Die Alten kannten mit anderen Worten nur den unangenehmeren und weniger besiedelten Teil unserer Erde. Es wird nach der Jahrhundertwende publikumswirksam, sich über die alten Wahrheitskriterien und Weltbilder lustig zu machen. Auf dem theologischen Feld gab es da schon eine längere Tradition, die ältere Medizin und das botanische Wissen der Alten hatte man im . Jahrhundert ebenfalls schon verspottet, nun also waren die geographischen Axiome dran; die mechanischen Künste, die Musik u. a. sollten unmittelbar folgen.
Reflexion und neue Weltbilder Am schmerzhaftesten muss der Abschied von den alten Gewissheiten naturgemäß denjenigen gefallen sein, die für ihre Tradierung ausgebildet und bezahlt wurden, den ›gelerten‹. Der junge Rudolf Agricola steht mit seinen Zweifeln unter seinen Kollegen gewiss nicht allein. klagt er seinem früheren Lehrer Joachim Vadian in einem Brief, dass es ihm schwer falle, sich »von unseren höchsten Gelehrten, nämlich den Kirchenvätern, loszusagen«. 28 ›Besonders schwer‹ falle es ihm aber, »dem Plinius und den anderen benannten zu misstrauen«, ›am unangenehmsten‹ jedoch sei es ihm, »auf dem Grunde festzusitzen und nicht zu wissen, welcher Seite ich folgen soll« (ebd.). Der angesehene St. Galler Mediziner und Gelehrte antwortet zwei Monate später: »In summa […]: dass es Antipoden gibt, soll Wien‹ in: Pirckheimer-Jahrbuch , Bd. : Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa, hg. v. Stephan Füssel, Nürnberg , S. -, hier S. f. St. Füssel danke ich für den Hinweis und die Überlassung der Literatur. Den Brief und die Anwort Vadians ließ Agricola bei J. Singrenius in Wien drucken. Zit. nach Vogel (vgl. Anm. ), S. .
Dir so selbstverständlich sein wie Deine Finger und Zehen. In dieser Sache sollst Du denen trauen, die sich in neuerer Zeit um die Erkenntnis von Lage und Ausdehnung der Erde gekümmert haben.« 29 Das neue Wahrheitsideal, welches auf den intersubjektiv überprüfbaren visuellen Informationen ruht, ließ sich auch in den Kreisen der so genannten Humanisten nicht mehr ignorieren. Aber man konnte wenigstens versuchen, es in das alte Paradigma einzuordnen und damit eine Legitimation für die weitere Beschäftigung mit den alten Büchern zu schaffen. Vadian gelingt dieses Kunststück, indem er als Begründung auf die ›Kosmographie‹ des Ptolemaeus verweist, also wieder einen Gewährsmann aus der gelehrten Tradition anführt, der schon vor vielen Jahren geschrieben hat, dass »bei der Überlieferung der Gestalt der Erde den neueren Berichten immer mehr [zu] glauben [ist] als irgendwelcher von den alten, denn wegen des Wandels der Dinge ist es diesen gegeben, dasjenige sichtbar zu machen, was den Früheren unbekannt war oder was von weit reichender Erfahrung erfasst wurde« (ebd.). Ob Vadian im Ernst meinte, dass seit den Zeiten des Ptolemaeus neue Kontinente entstanden sind und es die Menschen gelernt haben, auch als ›Antipoden‹ zu wandeln? 30 Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigte man sich in manchen Studierstuben, veröffentlichte Schritte zur Stützung alter Lehrmeinungen, zur Rechtfertigung neuer, zur Versöhnung beider Ebenfalls in dem Wiener Druck; zit. nach Vogel (vgl. Anm. ), S. . Vogel kommentiert die ›Feststellung‹ Vadians, dass »bei der Darstellung der Erdgestalt den Neueren mehr zu trauen sei als den Alten« so, als ob damit ein neuzeitliches wissenschaftliches Prinzip formuliert worden wäre, welches ›in den folgenden zwei Jahrhunderten alle einschlägigen Disziplinen eroberte‹ (ebd. (vgl. Anm. ), S. ). Damit folgt er aber bloß dem legitimatorischen humanistischen Holzweg: Für die neuzeitliche Wissenschaft ist es völlig gleichgültig, wann irgendjemand eine Beobachtung gemacht hat. Wichtig ist nur, dass die Information nach den Regeln des neuen visuellen Paradigmas erfolgte und dass sie von parallelen Beobachtungen zu beliebigen Zeitpunkten nicht falsifiziert wurde. Ebendeshalb kann man übrigens auch ›älteren‹ Beobachtern vertrauen, selbst wenn zeitlich nach ihnen andere Beobachter zu anderen Ergebnissen gekommen sind. So gesehen erweist Vadian (u. a.) seinen Altvorderen mit seiner Rechtfertigungsstrategie, ›sie stünden ohne Ansehen ihrer Leistung immer im letzten Glied‹, eher einen Bärendienst. Dass andererseits die Beobachtungserfahrung im . Jahrhundert jene der Älteren auf den meisten Gebieten überstieg, war bei den volkssprachlichen Autoren schon damals Allgemeingut. Vogels Hinweis auf entsprechende Äußerungen Perraults aus dem Jahre ist da eher irritierend.
in multimedialen (oralen) Kommunikationssystemen
in typographischen Kommunikationssystemen
Wahrheit an standardisierte Wahrnehmung, typographische Beschreibung und intersubjektive Überprüfbarkeit gebunden an Personen und an personale bzw. institutionalisierte Tradierungsketten gebunden
Wirklichkeit Synästhetische Informationen, kollektive (rituelle) Erlebnisse
visuelle Informationen, die von jedermann wahrgenommen werden können
Abb. : ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ in oralen und typographischen Kulturen
usf. 31 Ganz gleich wie die Behandlung im Einzelnen ausfiel, in jedem Fall lieferten die Veröffentlichungen einen Beitrag zur ›Normalisierung‹ der typographischen Informationen und ein weiteres wichtiges Argument dafür, dass die Programme der Informationsgewinnung, -systematisierung und -tradierung, die im Mittelalter und in der Antike, also in den bimedialen, oral-skriptographischen Informationssystemen, herrschten, antiquiert sind und abgelöst gehören: Die antiken Autoren und die Kirchenväter haben sich über die Geographie der Erde getäuscht. Sie hatten, so ist man nun gewiss, ein falsches Erdbild; genauso, wie sie sich über die Naturkunde – so etwa der Tenor von Hermalaus Barbarus und Nikolaus Leonicensus 32 –, die Medizin (Paracelsus), den Bergbau und die Technik (G. Agricola), die Botanik und Pharmazie (Brunfels, Bock etc.), die Grammatik und die Leistungsmöglichkeiten der Volkssprache (Ickelsamer) und vieles andere mehr getäuscht hatten. Je mehr Informationen über die Neue Welt den Gelehrten durch Schrift und Druck zugingen, umso stärker zerbrachen die alten Wahrheits- und Wirklichkeitsvorstellungen. An ihre Stelle traten die neuzeitlichen Paradigmen der wahrhaftigen perspektivischen Beschreibung (vgl. Abb. ). Vgl. neben den Nachweisen bei Vogel auch Dieter Wuttke: Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte -, ebenfalls im ›Pirckheimer-Jahrbuch ‹ (vgl. Anm. ), S. -, hier insbes. ff. Nicolaus Leonicensus: De Plinii et aliorum in medicina erroribus, Ferrara (Laurentius [de Rubeis] de Valentia et Andreas [de Grassis] de Castronuovo), . Dez. , Ex.: Göttingen SUB, an: Auct. cl. lat. IV Inc. (Titelblatt fehlt). Zum
Insofern diese ihre Anwendbarkeit als Programme für das praktische Handeln, zum Beispiel jenes der Kapitäne der Überseeflotten, erwiesen, stärkten sie das neue Paradigma. 33 Und zugleich schwächten sie das Ansehen und die alte Lehrtradition der Universitäten. Diese trugen an der Wende zum . Jahrhundert wenig Innovatives bei. Sie konservierten vielmehr die Erkenntnis-, Darstellungs- und Kommunikationstheorien des Mittelalters. 34 Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie auf die veränderte Umwelt mit Umstrukturierungen reagierten – aber diese Verzögerung kennen wir ja aus unserer Gegenwart. Damals lieferten gut ausgebildete Abenteurer wie Martin Beheim und Amerigo Vespucci entscheidende Anstöße für die Umorientierung – und natürlich das typographische Informationsmedium. 35
Die Systematisierung der geographischen Informationen Vespuccis Briefe unterscheiden sich von den Kolumbusbriefen nicht nur dadurch, dass Ersterer in ihnen die Überlebensmöglichkeiten auf der Südhalbkugel und die Existenz eines vierten Kontinents herausstreicht. Er verdankt seine größere Glaubwürdigkeit, die sich ja nicht zuletzt in den sehr viel zahlreicheren Nachdrucken seiner Schriften und den vielfältigen literarischen Kommentaren ausPlinius-Streit: Lynn Thorndike. A History of Magic and Experimental Science, Bd. , New York , S. -. Hermalaus Barbarus, Castigationes Plinianae, Rom (Eucharius Argenteus), . Nov. ; ders.: Castigationes Plinianae secundae. Emendatio in Pomponium Melam. Vgl. zum Beispiel die ›Arte de navegar‹ des Pedro de Medina (Valladolid ), ein Handbuch für die Amerikafahrer, oder die von Richard Eden ins Englische übersetzte ›Arte de navegar‹ von Martin Cortes. Nachweise über die Entwicklung der Navigationskunst bei E. G. Taylor: The Haven-Finding Art (New York ). »In the th century, universities were conservative institutions, whether or not they still are today. This job was to preserve learning, examine it critically, and impart it; not to seek or create new knowledge, or at least not primarily.« So fasst Stillman Drake seine langjährigen Studien zusammen. (Early Science and the Printed Books: The Spread of Science Beyond the Universities. In: Renaissance and Reformation, Bd. VI, , , S. -, hier S. .) »In saying that the age-old university monopoly on science was broken in the sixteenth century, as a direct result of printed books, I do not mean that science passed out of the universities and into the hands of other men. Rather, there were now two streams of scientific thought where before there had been one.« Drake , a.a.O. (vgl. Anm. ). Auf Dauer blieb das Wissenschaftsverständnis der alten Universitäten freilich auf der Strecke!
drückt, auch nicht nur der Tatsache, dass er aus einer begüterten Florentiner Familie stammte, die den Medicis seit langen Jahren diente, in diplomatischer Mission durch Europa gereist, mit bekannten Gelehrten, zum Beispiel auch mit Reuchlin, gut bekannt war und insoweit dem ›Aufsteiger‹ Kolumbus viel Reputation voraushatte, nein, er verdankt seine medienhistorische Sonderstellung vor allem der Tatsache, dass man sich aus seinen Schriften ein genaues Bild von der geographischen Lage dieser ›neuen Welt‹ machen konnte. Die entsprechenden Angaben in den von Kolumbus im Druck verbreiteten Texten waren ausgesprochen vage. Man erfährt, dass er von Cadiz aus Tage in das ›mare Indicum‹, das indische Meer, gesegelt sei. 36 Dann hätte er den Äquator überqueren und in eine Welt kommen müssen, »in der«, wie zur gleichen Zeit Hartmann Schedel in seinem ›Liber chronicarum‹ (Nürnberg (A. Koberger) , f. v) zu berichten wusste, wenn man »nach Osten blickte, der Schatten nach rechts und nach Süden fiel«. Davon aber erzählt der Kolumbusbrief nichts, stattdessen wird von einer Inselgruppe gesprochen, die man auf Grad nördlicher Breite gefunden habe. In dem Epigramm, welches der Bischof von Monte Palusium für die Druckausgabe beisteuerte, war dann sogar von einem Land ›weit im Osten‹ die Rede, das Kolumbus entdeckt habe (ebd. f. Ee r.). Wo lagen die ›neu gefundenen Inseln‹ denn nun: im Osten oder im Westen, im Süden oder im Norden? Für den Leser in Deutschland war es nicht leicht, sich einen Reim auf diese Angaben zu machen. Er erhielt erst zehn Jahre später präzise Angaben über die Lage der Länder, die man jenseits des Ozeans betreten hatte, und zwar eben durch die Berichte Vespuccis. Von daher verwundert es nicht, dass diese Nachrichten allein im deutschen Sprachraum achtzehnmal, davon vierzehnmal in deutscher Sprache im Druck herausgegeben wurden. 37 Erst jetzt begann man, die neuen Informationen in ein Modell der Erdgeographie einzupassen. Die aus verschiedenen Quellen eingehenden Angaben wurden gesammelt und zu einem ›Bild‹ verdichtet. Dabei bediente man sich der in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr verfeinerten genormten kartographischen Projektionen, einer Vogelperspektive aus einer weit ent In der von J. Bergmann von Olpe (Basel ) besorgten Ausgabe (vgl. Alden (Anm. , Nr. / auf f. dd r.). Vgl. Alden (Anm. ), S. ff.
fernten Umlaufbahn um die Erde. Wahrhaftig oder glaubwürdig ist im typographischen Kommunikationssystem nicht der ›Augenzeuge‹ der oralen Kultur, jener leibhaftig Anwesende, der unbewehrten Auges die Szene überblickt. Der glaubwürdige Beobachter und wahre Beschreiber der Neuzeit ist überhaupt kein Mensch aus Fleisch und Blut. Er ist ein ideales Konstrukt, seine Informationsgewinnung und -darstellung ein abstraktes, technisches Verfahren, ein Modell oder eben, wie es die Kartographen zutreffend nennen, eine Projektion. Die wahre Beschreibung der Erde, eine richtige Darstellung der Kontinente erhält man nur, wenn man sich in eine Umlaufbahn um die Erde begibt – und zusätzlich noch die Relation zwischen dieser, damals natürlich von niemandem real einzunehmenden Position aus, und der Erde reflektiert. Niemand konnte die Erde als den Globus sehen, den Martin Beheim schuf – und ebenso wenig waren die neuen Landkarten Resultate des Augenscheins. Der Augenzeuge in jenem natürlichen Sinne oraler Kulturen spielt in den typographischen Kommunikationssystemen nur eine untergeordnete Rolle. Seine Renaissance ist erst eine Folge der neuen Medien, vor allem des Fernsehens. Live-TV knüpft nicht an den Beobachter des Buchdrucks, sondern an den Augenzeugen der Face-to-face-Kulturen an. Deshalb empfinden die Vertreter der Buchkultur jenes so genannte Reality-TV als fremd. Typische Beispiele für diese systematisierende Beschäftigung mit den freilich noch zumeist in skriptographischer Form eintreffenden Nachrichten finden wir in dem kleinen lothringischen Städtchen Die´. Dort trafen sich verschiedene Gelehrte, unter ihnen der auch als Poet bekannt gewordene Matthias Ringman und der Kartograph Martin Waldseemüller. gab Ersterer einen lateinisch verfassten Auszug aus den Briefen des Vespucci unter dem Titel »De ora Antarctica per regem Portugallie Pridem Inventa« bei M. Hupfuff in Straßburg heraus. Im folgenden Jahr besorgte er eine deutsche Übersetzung: ›Von den nüwen Insulen und landen so yetz kürtzlich erfunden synt durch den Künig von Portugal‹, ebenfalls in der Offizin von Hupfuff. Aber man beschränkte sich in diesem Kreis nicht auf eine Herausgeber- und Übersetzertätigkeit, sondern kommentierte und diskutierte die Konsequenzen der Nachrichten für das Kartenbild der Welt. 38 Obwohl vermutlich schon fertig Vgl. Miriam Usher Chrisman: Lay culture, learned culture. Books and social Change in Strasbourg -. New Haven/London , S. f.
gestellt, erschien das Ergebnis dieser Überlegungen, eine ›Tabula terre nove‹, erst in der von Waldseemüller edierten Straßburger Ptolemaeus-Ausgabe. Es ist dies die erste gedruckte Karte, auf der der neue Kontinent nicht nur am Rande erwähnt, sondern in der ihm breiter Raum, wenn auch vorerst noch als ›terra incognita‹, eingeräumt wird. Als Entdecker dieses Kontinents nennt der Druck Kolumbus. Aber die Diskussionen hatten noch ein weiteres, vielleicht ebenso wichtiges Produkt. Man stellte nämlich Überlegungen darüber an, wie diese ›unbekannten Länder‹ denn nun fürderhin zu bezeichnen seien. Der Markenname, auf den man sich schließlich einigte, lautete ›America‹. Und diesen Namen propagierten Waldseemüller und sein Lothringer Kollege Matthias Ringman schon in ihre ›Cosmographiae introductio‹. 39 Als Begründung führen sie in diesem Druck an, das Land solle nach seinem Entdecker ›Americo Vespucci‹ genannt werden. Da Waldseemüller andererseits eindeutig Kolumbus als den Entdecker kannte, müssen bei der Namensgebung (noch) andere Aspekte eine Rolle gespielt haben. Vermutlich stimulierten den Poeten Ringman allerlei Wortspiele mit den in den Berichten genannten Ortsnamen (Maraka, Marika, Maracaibo und andere) zu der Namensgebung. 40 In jedem Fall erwies sich der kreierte Markenname auf dem öffentlichen Meinungsmarkt als durchsetzungsfähig. Zur gleichen Zeit, in der die ›Neue Welt‹ ihren Namen und ihre kartographische Form erhielt, bemühte man sich auch um ihre sprachliche, typographische Beschreibung. stellte Jobst Ruchamer unter dem Titel ›New unbekanthe landte‹ vorhandene Berichte zusammen und wertete insbesondere die erste Reise des ›Aloysis Cosmographiae introductio cum quibusdam geometriae ac astronomiae principiis ed eam rem necessariis. In super quatuor Americi Vespucci navigationes. Saint-Die´ (G. und N. Lud). (Vgl. Exemplar in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, QuH (). Faksimile der Seite mit dem Vorschlag, die Neuentdeckungen ›America‹ zu nennen, in dem von Harald Jantz und Alexander Haase herausgegebenen Katalog ›Die neue Welt in den Schätzen einer alten europäischen Bibliothek‹, Braunschweig , Fig. , S. .) Vgl. H. Jantz in seinem Beitrag ›Die neue Welt‹ in den Schätzen einer alten europäischen Bibliothek‹ im Ausstellungskatalog (vgl. Anm. ): »Kurz gesagt: Die Namensfindung für die Neue Welt war ein Stück humanistischer Sprachspielerei von weit komplizierterem Charakter, als man bisher bemerkt hat …«, S. .
Cadamosto‹ aus. 41 In Kapiteln reformuliert er die bisherigen Beobachtungen über das Land, die Menschen, seine Flora und Fauna und seine Reichtümer. Die in den nächsten Jahren immer wieder aufgelegten Reiseberichte werden, insbesondere in Deutschland, durch Holzschnitte von zum Teil hoher künstlerischer Qualität ergänzt 42 (Abb. PDF 쩛CD). Die nächste Stufe der typographischen Erfassung ›Amerikas‹ bildet im deutschsprachigen Raum der Reisebericht Hans Stadens, den er, nach jahrelanger Gefangenschaft in Brasilien zurückgekehrt, in Marburg in den Druck gibt (vgl. Abb. PDF 쩛CD). Sprachliche und ikonische Beschreibungen gehen in dem Werk, so gut es in dieser Zeit möglich war, Hand in Hand. Die Holzschnitte werden allgemein als ethnographische Dokumente geschätzt. »Mehr als dieser Abbildungen schildern nicht bloß die Eingeborenen selbst in ihrem Alltags- und Kultleben, sondern häufig in besonderen Darstellungen – die Details ihre Gebrauchsgegenstände und Kleidung, und zwar mit beachtlicher Genauigkeit und Authentizität, wie eine Ausstellung in Brasilien vor einigen Jahren schlagend bewies, wo man vergrößerte Fotografien von Stadens Abbildungen den entsprechenden Geräten aus jener Region gegenüberstellte.« 43 Ihm folgen dann Thomas Harriot, Jacob Le Moine und viele andere Autoren aus allen europäischen Ländern. Am Ende des Jahrhunderts wird der Frankfurter Verleger Dietrich de Bry diese Berichte sammeln, neu illustrieren und übersetzen lassen und sie dann in mehreren prunkvollen Sammelbänden herausgeben. Ziel dieser Schriften ist, wie Thomas Harriot herausstellt, denjenigen, »so der sachen und gelegenheit der Landschaft« in der Neuen Welt »kein gründliche bericht haben«, einen solchen zukommen zu lassen. 44 Sie sollen »sehen koennen«, wie es dort aus Newe vnbekannthe landte vnd ein newe weldte in kurtz vorganger zeythe erfunden. Nürnberg (G. Stucks) . Der venezianische Edelmann Luigi da Cada Mosto fuhr im Dienste von Heinrich dem Seefahrer die afrikanische Küste bis zum heutigen Gambia und sichtete vielleicht die Kapverdischen Inseln. Vgl. zu den Illustrationen Hugh Honnors: The New Golden Land: European Images of America from the Discoveries to the Present Time. New York . Jantz, a. a. O. (siehe Anm. ). »Wunderbarliche/doch Wahrhafftige Erklaerung/Von der Gelegenheit vnd Sitten der Wilden in Virginia«, zit. nach der Ausgabe von De Bry, Frankfurt am Main , S. . Der in Oxford ausgebildete Mathematiker Thomas Harriot, der von Sir Walter Raleigh zur nautischen Vorbereitung seiner Übersee-Expeditionen
sieht, und »in gemein verstehen/wie es mit dieser landschafft beschaffen sey« (ebd.). Nur dann würden sie im Übrigen einsehen können, warum die Herrscher so viel Geld für die Entdeckungsreisen ausgeben! Diese Literatur ordnet sich in die Vielzahl von ›wahrhaftigen Beschreibungen‹ der eigenen und fremder Länder ein, die seit Bernhard von Breydenbachs Bericht seiner Reise ins Heilige Land geschrieben wurden. 45 Die Entdeckung der Neuen Welt führt hier nicht zu neuen Gattungen oder Beschreibungsprinzipien. Man beschreibt die Neue Welt mit den gleichen Mitteln wie die Alte Welt – eher noch etwas nachlässiger, weil die Überprüfungsmöglichkeiten geringer veranschlagt werden. Da alles »neu« gesehen und beschrieben werden muss, bildet die Neue Welt keinen besonders ausgezeichneten Umweltausschnitt. Gleichzeitig mit den Reisebeschreibungen findet auch eine Einordnung der verschiedensten Informationstypen über die Neue Welt in die anderen Gattungen statt: In den Syphilistraktaten, die dem Aufbau der damals schon vierzig Jahre alten Pestbücher folgen können, wird zum Beispiel durch Ulrich Hutten auch auf die Chinarinde, das ›Holz Guaico‹, aus Südamerika hingewiesen. 46 Tabernaemontanus beschreibt in seinem ›Neuw Kreutterbuch‹ die Süßkartoffel und das Süßholz (Frankfurt am Main -). Die Karangeheuert wurde, wäre übrigens ein anderes Beispiel für die Systematisierung praktischen seemännischen Wissens im ausgehenden . Jahrhundert. Während der Reisebericht gedruckt wurde, blieben seine ca. Seiten zählenden handschriftlichen Aufzeichnungen über Navigation, Kartographie und Seemannschaft unveröffentlicht – aber eben keineswegs ungenutzt. Neben Raleigh haben ihn viele Kapitäne aufgesucht und seine Dienste in Anspruch genommen – wie die Aufzeichnungen ausweisen. Vgl. John W. Shirley (Hg.): Thomas Harriot. Renaissance Scientist. Oxford , sowie ders.: Science and Navigation in Renaissance England. In: J. W. Shirley/F. David Hoenigen (Hg.): Sciene and the arts in the Renaissance. London, Toronto , S. - (mit Kopien zahlreicher handschriftlicher Notizen Harriots). Peregrinationes in Terram Sanctam. Mainz (Reuwich/P. Schöffer) ; im gleichen Jahr in der gleichen Druckerei auch in deutscher Sprache erschienen. Von der wunderbarlichen Artzney des Holtz Guaiacum. Straßburg (J. Grüninger) . Es handelt sich hierbei um die Übersetzung der im gleichen Jahr erschienenen lateinischen Fassung durch Th. Murner. , u.ö. erscheinen Nachdrucke. gibt Lorenz Fries einen Bericht, wie man ›alte scheden … mit dem holtz Guaico heilen soll‹ (Straßburg (Grüninger)), heraus, der ebenfalls mehrfach aufgelegt wird. Der erste deutschsprachige Bericht über die ›Franzosenkrankheit‹ von J. Grünpeck erschien in Augsburg bei J. Schaur und wurde sofort mehrmals an verschiedenen Orten nachgedruckt.
toffel behandelt ausführlich auch Kaspar Bauhin (Phytopinax seu enumeratio plantarum ab Herbariis nostro seculo descriptarum, Basel (S. Heinrichpeter) ). In anderen Ländern erscheinen Beschreibungen der Kakaopflanze und des Kaffees. Bis die Botanik Amerikas mit der gleichen Genauigkeit beschrieben wird wie die europäische, dauert es aber noch mehr als hundert Jahre. Maria Sibylla Merians Kupferstiche über Schmetterlinge und andere Insekten in Surinam, ein bis heute kaum übertroffenes Meisterwerk jener Gattung, erschien beispielsweise erst .
Die synthetische Welt der Bücher Für die Masse der Europäer wurden die gedruckten Bücher und Karten zu ergiebigen Informationsmedien über die Neue Welt. In diesem Medium konstruierte man ein symbolisches, sprachliches und ikonographisches Modell der Neuen Welt. Ganz falsch wäre es, obwohl die Kritiker der neuen elektronischen Medien eine solche Sichtweise oftmals vorgeben, zu meinen, erst durch das Fernsehen oder gar den Computer seien ›künstliche Welten‹ geschaffen worden. Künstliche Welten waren auch schon die Karten, auf denen sich die Finger der Seefahrer und ihrer Auftraggeber bewegten, wenn sie in der frühen Neuzeit die Reisen über den Atlantik planten. Symbolische Modelle fertigten Kolumbus, Vespucci, Staden u. a. an, indem sie ›wahrhaftige Berichte‹ von den neuen Kontinenten im Druck veröffentlichten. Immer bündeln diese Medien Informationen, die nach hoch selektiven Prinzipien zusammengetragen und in künstlichen Speichern dargestellt wurden und werden. ›Die Karte ist nicht das Territorium‹, fasst G. Bateson die Unterschiede zwischen den Medien zusammen. 47 Sie ist, genauso wie die sprachliche Beschreibung, eine von vielen Modellen dieses Territoriums. Wenn ein solches Modell nicht in unserem psychischen Apparat, in unserem Gedächtnis entsteht, sondern technisch gespeichert wird, dann kann man mit gutem Recht von einem ›synthetischen Modell‹ oder, wie es in der Sprache des . Jahrhunderts heißt, von ›künstlichen Beschreibungen‹ sprechen. Beschreibungen liefern uns schon immer und nach der Einführung Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main , S. ff., f., f.
des Buchdrucks mit besonderer Macht synthetische Umwelten. Im Grunde bildet jedes Informationssystem seine eigene Informationswelt, die Computer deshalb eine andere als das Typographeum, das Skriptorium eine andere als das psychische System des einzelnen Menschen. Die Auffassungen darüber, welche Informationswelt – oder welche Informationsmedien – als selbstverständlich und natürlich gilt, haben sich in der Geschichte im Zuge der technischen Entwicklung immer wieder geändert. Die gegenwärtig beliebte Gegenüberstellung zwischen der natürlichen Welt der Faceto-face-Kommunikation beziehungsweise der Face-to-nature-Erkenntnissituation und (!) der Bücher einerseits und der synthetischen Welt des Fernsehens und der Computer andererseits ist ziemlich willkürlich und vermutlich eine historisch vorübergehende Erscheinung. Der Eindruck der ›Natürlichkeit der Buchwirklichkeit‹ konnte in den letzten Jahren wohl nur entstehen, weil die Konstruktionsprinzipien dieser Wirklichkeit den Europäern so selbstverständlich geworden sind, dass sie ihnen nicht mehr auffallen. 48 Diese ›Betriebsblindheit‹, die die frühe Neuzeit noch nicht besaß, erschwert gegenwärtig die Verständigung über den Buchdruck und die von diesem geschaffene Informationswelt ganz außerordentlich. Die medien- und informationstheoretische Brille vermag dieser Alterskurzsichtigkeit entgegenzuwirken. Nutzt man sie, so erscheint das umgangssprachlich als ›Buchdruck‹ bezeichnete Phänomen als ein technisiertes und sozial standardisiertes komplexes Informationssystem. Es lässt sich nicht mehr, einem platten Materialismus folgend, auf den Setzkasten und die Druckerpresse reduzieren. Vielmehr erkennt man, dass dieses, wie jedes andere Informationssystem über Wahrnehmungsorgane verfügt, die – mit den Augen der Autoren – Informationen gewinnen, über Prozessoren, die diese Informationen in Bilder und Texte transformieren, und über technisierte Systeme, die sie vervielfältigen. Das typographische Informationssystem besitzt einen riesigen Speicher – die Summe der gedruckten Bücher – und ein für Informationen welthistorisch völ Vgl. Kap. , S. ff., sowie Giesecke: Als die alten Medien neu waren. Medienrevolutionen in der Geschichte. In: Rüdiger Weingarten (Hg.): Informationen ohne Kommunikation? Frankfurt am Main , S. -, sowie ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Kap. , ›Natürliche‹ und ›Künstliche‹ Sprachen, Frankfurt am Main , S. ff.
lig neues Verteilungsnetz, den freien Markt. Effektiv werden die typographischen Informationen, wenn sie der Leser als Programm für sein eigenes Handeln und/oder Erleben nutzt, er sich also programmieren lässt. Diese Programme, die, wenn sie denn tatsächlich eine Parallelverarbeitung der Informationen zwischen dem Autor (Sensor) und dem Leser (Effektor) ermöglichen sollen, von beiden Prozessoren gleichermaßen als Richtschnur benutzt werden müssen, hat man bislang viel zu wenig als tragendes Element des Buchdrucks erkannt. Dabei sind sie gleichsam die Software, die die gesamte Technik, die psychischen Anstrengungen der einzelnen Menschen und die sozialen Institutionen, zum Beispiel den Buchhandel, in Gang setzen und halten. Blickt man genauer hin, so zeigen sich freilich verschiedene Typen typographischer Informationen und Programme. Ich werde mich im Folgenden darauf beschränken, die Konturen eines Teilprogramms in der gebotenen Kürze zu zeichnen, welches für das Verständnis der typographischen Konstruktion der Neuen Welt von besonderer Bedeutung ist. Die Autoren des . Jahrhunderts nannten dieses Programm ›wahre‹ oder ›rechte Beschreibung‹ oder ›wahrhaftige Berichte‹. Die meisten im vorigen Absatz erwähnten Dokumente ordnen sich selbst in diese Gattung ein und gehorchen auch mehr oder weniger gekonnt dem gattungskonstitutiven Programm. 49 Vgl. etwa die Titel der von de Brys zusammengestellten Reisebeschreibungen: »Wunderbarliche/doch Wahrhafftige Erklaerung/Von der Gelegenheit vnd Sitten der Wilden in Virginia« (Th. Harriot ); »Wahrhaftige Abconterfaytung der/Wilden in America/so daselbst erstlichen lebendiger/weise abgerissen/von Jacob le Moyne« (); »Der ander Theil/der Newlich erfundenen Landtschafft Americae … in Floridam … Mit Beschreibung und lebendiger Contrafactur/dieser Prouinthe/Gestalt/Sitten vnd Gebraeuch der Wilden/Durch Jacob le Moyne … der alle selbst gesehen …« (); »Brasilia durch Johann Staden von Homberg auß Hessen/auß eigener Erfahrung in Teutsch beschrieben.« (); »Schiffart in Brasilien in America, darinn deß Antonis Reyß/auch viel frembder Thier vnd Gewaechs/den vnsern gantz vnbekandt/beschreiben werden: Durch Johannem Lerium Burgundum; selbsten verrichtet und beschrieben« (); »Von der neuwen Welt. oder Neuwe vnd gruendtliche Historien/von dem Nidergaengischen Indien … Durch Hieronymum Bentzo vonn Meyland/welcher . Jar dasselbig Land durchwandert/affs fleissigst beschrieben vnd an Tag geben« (, mehrere Teile).
Interkulturelle Kommunikation als standardisierte Informationsverarbeitung? Damit die gedruckten Reiseberichte dem Menschen in Europa nützlich werden konnten, mussten sie glaubwürdige Informationen erhalten, die nötigenfalls überprüft werden konnten. Die ausführlichen nautischen Angaben, die Karten und die Beschreibungen der Küstenansichten zum Beispiel, machten nur Sinn, wenn sie von Dritten als Wegweiser bei ihren eigenen Reisen benutzt werden konnten. Dies war möglich, wenn die Texte und Abbildungen das Handeln und Wahrnehmen der Reisenden und der Autoren aneinander anglichen. Zumeist freilich unausgesprochen enthält jede typographische Beschreibung den Vorsatz: Wenn du (Leser) die von mir gewählten Standpunkte und Perspektiven einnimmst, dann wirst du auch das sehen, was ich gesehen habe! Wenn sie gut gemacht sind, erzeugen die typographischen Informationen beim Leser eine Vorstellung/ein Modell von der Umwelt, die/das es ihnen ermöglicht, bestimmte Umweltausschnitte wiederzuerkennen. Das Modell dient als gemeinsames Programm zur Orientierung in und über die Umwelt. Kommt es nicht zu solchen Wiederholungen der Erfahrungsgewinnung, weil sich der Leser nicht auf die Reise begibt, so bleibt die Beschreibung zumindest als ein latentes Programm bestehen: Wenn der Leser sich aufmachen würde, dann sähe er das, was ihm der Autor ›beschrieb‹. Dies ist zumindest die Idealisierung, die zu massenhaftem Kauf der Berichte über die Neue Welt trieb. Nun ist es eine Binsenweisheit, dass die Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Temperamente und des Wechsels der Wahrnehmungskontexte ihre Umwelt jeweils unterschiedlich sehen und deshalb je eigene Erfahrungen sammeln. Aus diesem Grunde hielt man sprachliche Beschreibungen die längste Zeit der Menschheitsgeschichte für ziemlich fruchtlose Angelegenheiten. 50 Dienlicher schien es, wenn jeder die Umwelt selbst aufsuchte, über die er Informationen haben wollte. Hilfestellung mochten dabei Experten gewähren, die ihm diese nunmehr sichtbare Umwelt zeigend gliederten und die Segmente dann benannten. Gemeinsame Program Vgl. Michael Giesecke: War die Weitergabe von morphologischem Wissen in Schrift und Bild ein Kommunikationsziel für Plinius Secundus? In: LiLi, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. , Jg. , Dezember , S. -.
me über Handlungen und Umweltkonturen stellten sich nur in der ›Demonstratio ad oculos‹ und in der unmittelbaren Kooperation her. Kulturen, in denen solche Vorstellungen vorherrschten, strebten keine präzise kollektive Modellbildung über Umwelten außerhalb des Gesichtskreises der Mehrheit ihrer Mitglieder an. Ihre Vorstellungen konvergierten in Sagen, Mythen, Erzählungen u. Ä., die sich entweder im Hier und Jetzt bewährten oder aber keiner Überprüfung ausgesetzt werden konnten und sollten. Erst im Europa der frühen Neuzeit setzte man sich hinsichtlich der Modellbildung neue Ziele, strebte ›objektive‹ Beschreibungen an und schuf mit dem typographischen Informationssystem dann schließlich auch die Möglichkeit für eine interaktionsfreie Parallelverarbeitung von Informationen. Die Bedeutung der vielfältigen ›wahrhaftigen Berichte‹ von der Neuen Welt liegt weniger in den einzelnen Nachrichten als vielmehr in der Tatsache, dass es überhaupt zu Informationsmedien gekommen ist, die mit dem Anspruch auftraten, ›richtige‹ oder ›wahre‹ Modelle zu liefern. Niemals hat es, soweit ich sehe, eine kollektive und interaktionsfreie Konstruktion einer so fernen Umwelt mit dem Anspruch der Überprüfbarkeit gegeben. Hunderte von Autoren sammelten unabhängig voneinander Informationen über die Natur, die Menschen und Kulturen jenseits des Ozeans und traten zueinander und zu zigtausenden von Lesern in Beziehung, die ihnen ganz unbekannt waren und blieben. Trotz der Einsamkeit der Sensoren/Autoren und des Fehlens des unmittelbaren Gesprächs ergänzten sich die Berichte, und es entstand mit der Zeit ein immer differenzierteres Bild über Land und Leute. Natürlich waren manche Angaben fehlerhaft und viele Beschreibungen wenig nützlich, aber – und das ist das Wesentliche – sie ließen sich verbessern. Die Bedingung der Möglichkeit einer Korrektur war und ist ein hohes Maß an Wiederholbarkeit der Erfahrungen, und so bestätigt eigentlich auch der Nachweis von Fehlern die Möglichkeit ›wahrhaftiger typographischer Modelle‹. Selbstverständlich besaßen auch ältere Kulturen ihre Modelle von fernen Ländern, die Antike etwa vom sagenhaften Land ›Punt‹, von Indien und von China. Aber sie waren kaum kollektiv und jedenfalls nicht von so vielen Menschen geschaffen, dass sie als eine Leistung der Gesellschaft betrachtet wurden, sie konnten nicht simultan und frei rezipiert werden und boten für potentielle Reiselus
tige nur dann eine glaubwürdige Planungsgrundlage, wenn diese die Gewährsleute gut kannten. Kurz, die Informationen besaßen alle Nachteile (und Vorzüge) der oralen, bestenfalls durch skriptographische Medien unterstützten Kulturen. Was hatte in der frühen Neuzeit den Wandel hin zum Glauben an wahrhaftige Beschreibungen und an das Gelingen einer monomedialen, interaktionsfreien Kommunikation ermöglicht? Ganz allgemein gesprochen, liegen die Ursachen in einer Steigerung derjenigen Faktoren, die für jegliche Parallelverarbeitung von Informationen verantwortlich sind: soziale Standardisierung und Technisierung. Schaut man sich die Faktoren im Einzelnen an, so fällt zunächst auf der Ebene der Standardisierung der Siegeszug einer neuen Wahrnehmungstheorie auf. Diese Theorie wird seit dem Spätmittelalter ›Perspektive‹ genannt. Sie unterscheidet sich von ihren Vorgängern zunächst dadurch, dass sie so weit operationalisiert sprachlich beschrieben werden konnte, dass sie ohne langjährige und (unbewusste) Habitualisierungsprozesse zu intersubjektiv validen Ergebnissen führte. Sie konnte zum Leitprogramm für die Mehrzahl jener, die Bücher im Druck veröffentlichen und gedruckte Bücher lesen wollten, werden, weil sich der Reduktionismus der Perspektive und die Ansprüche, die die typographische Kommunikationsgemeinschaft an den Abstraktionsgrad der Texte stellt, prächtig ergänzen (vgl. Kap. ). Die Perspektivlehre garantiert jene hohe Allgemeinheit der Beschreibungen, die das Publikum der Drucke erwartete. Die Aussagen sollen an möglichst vielen Orten zu allen Zeiten und für möglichst alle Personen gelten. Diese Abstraktionsanforderungen ergeben sich aus der im Vergleich zu allen bisherigen Kommunikationssystemen ungleich größeren Ausdehnung der typographischen Kommunikationsgemeinschaft. Je geringer der Geltungsbereich der Aussagen war, umso weniger attraktiv musste ihre Verbreitung im typographischen Medium erscheinen. Kaum jemand interessierte sich für die Beschreibung einzelner Exemplare, etwa von Pflanzen, Haushaltsgegenständen oder Tieren. Gefordert waren Artmodelle. Informationen, die nur für eine einzelne Person zugeschnitten waren, tradierte man besser weiterhin in Briefform. Die kommunikationstheoretische Schlussfolgerung, die schon die Zeitgenossen aus dem perspektivischen Programm zogen, lautete: Wenn sich verschiedene Menschen bei ihrer Informationsgewinnung und Modellbildung strikt von den eben angeführten Axiomen
leiten lassen, dann werden sie gleiche Informationen gewinnen – darüber hinaus freilich auch andere, die divergieren. Kommt es zu ungleichen Bildern/Modellen, dann hat man gegen die Axiome verstoßen, die Beschreibung ist falsch. Parallelverarbeitung von Informationen oder: Kommunikation erfordert im typographischen Kontext jedoch ›richtige‹ Beschreibungen. Aus dieser Einschätzung ergibt sich der Ruf nach ›wahren‹ Veröffentlichungen, dem dann, wie die Titelblätter im . Jahrhundert zu Genüge ausweisen, mit Eifer gefolgt wird. 51 Zugegeben, das perspektivische Erkenntnismodell klingt bislang noch recht speziell, ist es doch nur auf die ›Formen‹ der Umwelt anwendbar und führt es doch zunächst nur zu ikonischen Abbildungen. Trotzdem setzte es sich in weiten, wenn nicht in allen Bereichen der typographischen Informationsgewinnung als Eingangsbedingung durch. Nur die so gewonnenen Daten können bald mit dem Anspruch auftreten, ›Wissen‹ zu vermitteln. 52 Auf ihnen bauen die höherstufigen Verarbeitungsprozesse, allen voran die Versprachlichung und mit ihr die Argumentationen und die Theoriebildung, auf. ›Versprachlicht‹ werden – mit anderen Worten – von diesem Zeitpunkt an nicht mehr irgendwelche naturwüchsigen Wahrnehmungen, sondern die diszipliniert gewonnene visuelle Information. 53 Zusätzlich bemüht man sich auch, die semantische Kodierung in der gleichen Weise zu standardisieren, wie dies beim Wahrnehmungsprozess gelang. Der Sinn der deshalb so genannten ›Gemein-‹ Vgl. zum Beispiel Johann With (John White): Wahrhafftige Contrafacturen/Vnd Gebraeuch der Innwohner der/jenigen Landtschafft in America/welche Virginia ist genennet/… Alles auff das allerfleissigst erkundigt/vnd auff das artlichst Abcontrafeyt von Johann With/welcher der Vrsach halben in diese Landschaft/im Jahr , ist geschickt worden: Vnd hernach in Kupffer/gestochen/Vnd erstlich in Truck verfertigt durch Theodorum de Bry. Frankfurt am Main (M. Becker) , sowie die in Anm. aufgeführten Titel. Diese Auffassung vertreten Kultur- und Medientheoretiker schon seit Jahren. Vgl. zum Beispiel Lewis Mumford: Technic and Civilization. New York , S. f.; Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf/Wien , S. f. u. ö.; Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main , S. , S. u. ö. Die Prinzipien der Versprachlichung verfolge ich genauer in: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main , Kap. , ›Sinnenwandel und Sprachwandel‹, und Kap. , ›Syntax für die Augen – Die Entstehung der Sprache der neuzeitlichen Wissenschaften‹, S. ff.
oder ›Standardsprache‹ liegt gerade darin, ein Werkzeug mit dem gleichen Operationalisierungsgrad zur Verfügung zu stellen, wie es in der Perspektivlehre vorliegt, umso auch die Transformation vom Bild zum Wort falsifizierbar machen zu können. Die Kodifizierung des Lexikons und der Syntax, die in den folgenden Jahrhunderten durch die von den Sprachwissenschaftlern erarbeiteten Lexika und Grammatiken vorangetrieben wird, hat auf diesem Gebiet zu großen Erfolgen geführt. Auch hier funktioniert das Prinzip freilich nur dann, wenn alle Beteiligten auch tatsächlich bereit sind, sich auf die einmal vorgeschlagenen Programme einzulassen, ihre Wahrnehmung und ihre Verbalisierung extern programmieren zu lassen. Sicherlich kann man sich darüber streiten, bis zu welchem Grade diese Normierungsversuche vom praktischen Erfolg gekrönt waren und sind. Als handlungsleitendes und orientierungsrelevantes Ideal haben sie sich jedenfalls durchgesetzt, wie nicht zuletzt die Tatsache belegt, dass wir nichts Anstößiges mehr dabei finden, wenn literarische Gattungen den Anspruch auf ›wahre Beschreibungen‹ erheben. Im Gegenteil, ein Leben ohne das Informationsmedium ›Fachliteratur‹ scheint uns gegenwärtig kaum noch vorstellbar. Dabei hat sich diese Gattung erst im . Jahrhundert in der uns vertrauten Form durchgesetzt, und die Beschreibungen der ›Neuen Welt‹ trugen einen bescheidenen Teil zu ihrer Erfolgsgeschichte bei.
Interkulturelle Kommunikation als interpersonelle Verständigung? Schon die Zeitgenossen des Kolumbus wunderten sich darüber, mit welchem geringen Aufwand die Eroberung Mittelamerikas durch eine Hand voll Abenteurer gelang. Die Historiker der vergangenen Jahrhunderte trugen eine Reihe von vorzugsweise politischen und ökonomischen Gründen zusammen. Unlängst hat nun Tzvetan Todorov dieser Argumentationsreihe noch einen Grund hinzugefügt, auf den im Kontext einer informationstheoretischen Betrachtung einzugehen ist. Am Beispiel des Spaniers H. Cortez entwickelt er die These, dass die europäischen Eroberer zu einem Verstehen der ›anderen‹ Kultur fähig waren, den Indianern demgegenüber ein entsprechendes Verständnis der Alten Welt und ihrer Gesandten abging. »Dieser außergewöhnliche Erfolg« der Einverleibung der indianischen Kulturen, das heißt der Kolonisierung, »ist u.a. einem
spezifischen Merkmal der abendländischen Zivilisation zu verdanken«, schreibt Todorov, »das man lange Zeit für ein Merkmal des Menschen schlechthin gehalten hatte, bis dann sein häufiges Auftreten bei den Abendländern zum Beweis für ihre naturgegebene Superiorität wurde: Es ist paradoxerweise die Fähigkeit der Europäer, die Anderen zu verstehen.« 54 Um sich gründlich mit dieser These auseinander zu setzen, sollte man zunächst den ›Verstehens-Begriff‹ und das darauf aufbauende Konzept der Kommunikation als Verständigung zwischen Personen und Kulturen kritisch beleuchten. Kommunikation erscheint als das Ergebnis wechselseitigen Verstehens, des Verstehens der Gegenüber. 55 Diese ›Reziprozitätsherstellung‹ erfolgt als intersubjektive Wiederholung oder Simulation der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse des anderen Menschen. Die Verständigungssicherung erfolgt durch probeweises Einnehmen der Standpunkte und Perspektiven des jeweils anderen Individuums. Die Ergebnisse werden mitgeteilt und sollen, falls sie nicht zutreffen, sofort korrigiert werden. Dies setzt intensive Rückkopplungsprozesse voraus. Dieses Kommunikationskonzept ist eindeutig aus der Reflexion interpersoneller Kommunikation entstanden. Der paradigmatische Fall ist das Zweiergespräch face-to-face zwischen einander bekannten Personen. Typischerweise haben die Vertreter dieses Modells, wie etwa Alfred Schütz und Jürgen Habermas, nur diese Situation als »wirkliche« Kommunikation begriffen. Massenkommunikation oder institutionelle Gespräche galten ihnen als nicht verständigungsorientiert. Es bleibt dem Forscher angesichts der unübersehbaren Unterschiede zwischen den Kommunikationsformen kaum etwas anderes übrig, als überall Verständigungsdefizite festzustellen, wenn er mit dem Paradefall der unmittelbaren Interaktion als Vergleichsmaßstab an die Phänomene von Massenkommunikation, Gruppengesprächen, institutioneller Kommunikation etc. herangeht. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, nur ein einziges kommunikatives Programm anzunehmen. Das Kommunikationskonzept, welches für die neuzeitliche gesellschaftliche Kommunikation entworfen wurde, lautet ganz anders: Niemand stellt sich hier auf Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt am Main (Franz. ), S. . Vgl. auch S. . Vgl. Giesecke/Rappe-Giesecke: ›Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung – die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft‹. Frankfurt am Main , S. ff.
den Standpunkt eines konkreten Anderen. Vielmehr werden solche Standpunkte explizit als abstrakte Größen konstruiert: als Rollenstandpunkte. Der Kommunikationspartner wird zu einem sozialen Idealtyp, im abstraktesten Fall zum generalisierten Anderen. Verständigung wird erreicht, nicht indem man sich in konkrete Gegenüber versetzt, sondern indem man sich auf diese ›dritten‹ Standpunkte begibt und nach sozial ausgearbeiteten Normen handelt. Kommunikatives Handeln der Autoren und Leser in der Neuzeit ist hochgradig normiertes Rollenhandeln. Die Kommunikation klappt nicht, wenn die überindividuellen Normen missachtet werden. Dies ist das glatte Gegenteil der Gelingensbedingung des Verständigungsmodells der interpersonellen Kommunikation. Während dort immer wieder ad hoc ausgehandelt wird, haben wir hier feste Preise, an die sich die Parteien halten, um zum Geschäftsabschluss zu kommen. Ebendeshalb kommt es auf allen Gebieten zu Standardisierungsprozessen. Den normierten Positionen und Programmen entspricht das Geld als abstraktes Tauschäquivalent. Hat man sich aus der Zwangsjacke eines einzigen Kommunikationsbegriffs befreit, dann ergibt sich zugleich die Möglichkeit und die Notwendigkeit, zu überprüfen, mit welchem Kommunikationsmodell man welches Phänomen beschreiben soll. Wie kommunizieren größere soziale Gruppen, Unternehmen, Staaten oder Kulturen miteinander? Soll man sie sich als Person vorstellen, die nach dem Reziprozitätsmodell Standpunkte- und Perspektiventausch vornehmen? Wenn ja, gibt es Asymmetrien, die ein gleichgewichtiges Aushandeln stören und die eine Perspektive bevorzugen? Oder funktioniert die Kommunikation nach geordneten Programmen, wie in Organisationen? Oder werden zur Verständigungssicherung abstrakte Positionen Dritter benötigt, wie in der technisierten Kommunikation innerhalb von Gesellschaften? Diese Fragen können einerseits deskriptiv beantwortet werden: Man vergleicht beispielsweise, wie die Kulturen ihre Kommunikation in verschiedenen Perioden organisiert haben – und welche Modelle sie dabei selbst zu Grunde legen. Andererseits können sie aber auch normativ gewendet werden: Welche Form von Kommunikation zwischen Staaten und Kulturen halten wir für wünschenswert? Bei Todorov werden beide Aspekte unglücklich miteinander verknüpft. Er scheint das Reziprozitätsmodell für die ideale Verständigungsform für Kulturen zu halten. Deshalb nutzt er es bei seiner Datenerhebung und -auswertung –
und kommt zum Schluss, dass die Kulturen nicht gut miteinander kommunizieren. Wenn aber das Reziprozitätsmodell der interpersonellen Kommunikation nicht oder doch nur sehr begrenzt auf Gesellschaften/ Kulturen angewendet werden kann, dann macht es wenig Sinn, aus dem »Nichtverstehen« anderer Kulturen einen Vorwurf abzuleiten. Wie soll man sich etwa ›Probeidentifikationen‹ der einen Kultur mit der anderen vorstellen? In der zwischenmenschlichen Verständigung ist diese völlig unproblematisch. Wir müssen wohl damit rechnen, dass Verstehen und Kommunikation auf der Ebene von Personen und psychischen Systemen anders funktioniert als auf der Ebene von sozialen Systemen und von Kulturen. Es wäre auch reduktionistisch, gesellschaftliche Informationsverarbeitung ausschließlich als Addition individueller Leistungen zu begreifen. Psychologisierung und Individualisierung dürften bei Kulturbeschreibungen ebenso in die Irre führen wie das Soziologisieren, das von Karl Marx bis Niklas Luhmann betrieben wurde. Die in diesem Buch verwendeten allgemeinen Kommunikationsbegriffe ermöglichen eine weniger rigide und wertende Beschreibung. Konzentrieren wir uns auf den informationstheoretischen Parameter, so können wir zunächst nach den Möglichkeiten einer parallelen Verarbeitung von Informationen in und zwischen den Kulturen auf dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent fragen. Rekonstruiert man das Zusammentreffen der Alten und der Neuen Welt mit diesen Instrumenten, so kann man Todorov dahingehend zustimmen, dass die Europäer tatsächlich die Möglichkeit besaßen, untereinander über die Neue Welt schnell, effektiv und interaktionsfrei zu kommunizieren. Diese Möglichkeit besaßen die präkolumbianischen Einwohner Mittelamerikas nicht, und sie haben diese Fähigkeit auch im . Jahrhundert nicht erworben. Diese Unterschiede sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Bewohner der Neuen Welt weder das Bedürfnis noch die technischen Möglichkeiten zu einer interaktionsfreien Massenkommunikation entwickelten. Das Fehlen dieser Kommunikationsform machte es selbstverständlich auch unmöglich, dass diese Kultur in einem gesellschaftlichen Maßstab Informationen über Europa sammeln konnte. Und diese grundlegende Asymmetrie wirkte sich auf alle weiteren und anderen Formen der Verständigung aus. Sie verringerte auch die Möglichkeiten des Perspektiventauschs drastisch. Inter
kulturelle Kommunikation ist mit dem interaktionsfreien Kommunikationsmodell des Buchdruckzeitalters nicht möglich gewesen. Die gedruckten Bücher sind nicht zu einem Kommunikationsmedium zwischen der amerikanischen und der europäischen Kultur in der frühen Neuzeit geworden. Dies gelang frühestens im . Jahrhundert, als in zunehmendem Maße in Nordamerika eine Kultur entstand, die der europäischen ähnlich war. So konnte Verständigung durch die Übernahme von Perspektiven der anderen Kultur in einen quasi symbiotisch-adaptiven Prozess erreicht werden. Bis dahin dienten die Bücher den Europäern ausschließlich als Informationsmedium über die überseeischen Kulturen. In dieser Funktion unterschieden sie sich nicht von der Fachliteratur, die über die einheimische Natur und Gesellschaft informierte. Als potentielle Leser hatten Kolumbus, Cortez, Staden, Le Meune, Lerius und all die anderen immer Europäer im Blick, und sie idealisierten ihre Adressaten kaum anders, als es die Autoren von Fachbüchern über europäische Städte, Pflanzen, Krankheiten usw. taten. Ebenso wenig unterschied sich die Haltung, die die Autoren bei der Informationsgewinnung in der Neuen Welt einnahmen von jener ihrer Kollegen in der Alten Welt. Die typographische Verständigung über die ›unbekannten Lande‹ war überhaupt nur möglich, wenn die Autoren generalisierte Standpunkte einnahmen, die ihre europäischen Leser und Kollegen teilten. Dies konnten zunächst gar keine anderen Positionen sein als die heute zumeist pejorativ konnotierten ›eurozentrischen‹. Die Bedingung der Möglichkeit der typographischen Kommunikation über die Neue Welt war im . Jahrhundert die Einnahme eines den daheim Gebliebenen vertrauten Standpunktes. 56 Und auch die heute ebenfalls viel geschmähte Perspektive des außen stehenden Betrachters entspricht den Möglichkeiten des typographischen Kommunikationssystems und respektiert seine Grenzen. Für ›glaubwürdig‹ gehalten und damit akzeptiert wurden in diesem System schon in jener Zeit nur ›wahre‹ Informationen, die nach den im vorigen Abschnitt skizzierten Prinzipien gewonnen und dargestellt waren. Wer Leser finden In diesem Sinne argumentiert auch Werner Wolf: »Der häufig beklagte Ethnozentrismus, die Bewertung der fremden Kultur aus dem ›eigenen‹, erscheint daher für den ersten Kontakt mit dem oder den Fremden unvermeidlich.« In: ›Das sind die neugefundenen Menschen oder Völker‹: Europäische Indianerbilder des .–. Jahrhunderts zwischen Entwurf und Projektion, in: Mesenhöller (Hg.) , S. -, hier S. .
und anschlussfähig kommunizieren wollte, der musste sich auf die sichtbaren Informationen beschränken und der ›äußerlichen‹ Gestalt das Hauptaugenmerk schenken. Natürlich weiß Hans Staden, ›dass der Inhalt‹ seines ›Büchleins‹ vielen fremd erscheinen wird und dass es deshalb schwierig sein wird, bei den Lesern in der Heimat anzukommen. 57 Der mittelalterlichen Tradition folgend, nennt er in seinem Werk auch noch eine Reihe von ›Autoritäten‹, die seine Worte bezeugen könnten. Aber wie sollte sich der ›neue Leser‹, der ›gemein mann‹, mit diesen verständigen? Viel wesentlicher wurde ein ganz anderes Argument, dass er sich nämlich strikt nach den neuen Verfahren der Informationsgewinnung gerichtet hat und seine Behauptungen so von jedem anderen nachprüfbar werden. Und so weist er dann in der Schlussrede darauf hin, dass ›er nicht der Erste ist und auch nicht der Letzte bleiben werde‹, der solche ›Schifffahrten‹ unternimmt (ebd.). Die typographische Konstruktion der Neuen Welt ist eine kollektive Leistung, die verschiedenen Autoren bauen aufeinander auf und falsifizieren ihre Aussagen gegebenenfalls. Die Frage, ob sich Amerika leichter als etwa die Bäder bei Karlsbad, die dortigen Handwerke leichter als die hiesigen beschreiben ließen, ist nicht leicht zu beantworten. Die Fachliteratur weist immer auf die ›Fremdheit‹ hin, die es durch Vergleiche mit dem Geläufigen zu überwinden galt. 58 Das ist gewiss ein Problem, andererseits verlangt das Beschreiben für ein disperses Laienpublikum immer, dass man die Selbstverständlichkeiten in Unwahrscheinlichkeiten auflöst. Die Dinge und Handlungen mussten auch in der Alten Welt neu gesehen werden, nämlich nach den perspektivischen Programmen, um dann zu Beschreibungen zu gelangen, die eben auch für jene verständlich waren und sind, die von diesen Dingen und Handlungen zuvor nichts wussten. Wenig ist für einen Laien unverständlicher als die Erläuterungen, die ein Experte von seinem Brasilia durch Johann Staden … auß eigener Erfahrung in Teutsch beschrieben. Frankfurt am Main (de Bry) , S. . ›Die ersten Berichterstatter‹, schreibt Birgit Scharlau, »erschließen sich das Fremde – wie könnte es anders sein – über die Kategorien des schon Bekannten.« (Dies. u. Mark Münzel: Qellqay – Mündliche Kultur und Schrifttraditionen bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt am Main/New York , S. ). Sie fährt dann fort: »Die Dinge und Verhältnisse der Neuen Welt werden dabei nur insoweit registriert, als sie den vertrauten Dingen der Alten Welt ähneln oder sich von ihnen unterscheiden.« Welche anderen Informationen könnten denn außerdem registriert werden?
selbstgewissen Standpunkt aus gibt. So gesehen mag es für Staden und seine Kollegen einfacher gewesen sein, aus den ›unbekannten landen‹ zu berichten. Er begann immer aus der Laienperspektive, brauchte sich von alten Konzepten und Selbstverständlichkeiten nicht zu lösen und konnte dann schrittweise eine konsistente Welt aufbauen. Wen wundert es da, dass immer Objekte aus Europa als Vergleichsmaßstab herangezogen wurden? »Hier, wie auch in den übrigen Teilen der Insel«, schreibt Kolumbus am .. auf seiner ersten Reise in sein Bordbuch, »sind die Bäume frisch und dicht nebeneinander, das Gras so grün wie im Monat April in Andalusien.« Cortez sagt vom ›Marktplatz von Tenochtitlan‹, dass er ›ringsum von Säulengängen umgeben und weitaus größer als der von Salamanca‹ ist. 59 Bernardo Diaz findet sich beim Anblick der Stadt Mexiko an die Schilderungen aus dem Ritterroman ›Amadis‹ erinnert. Wenn diese Formen der Kombination unterschiedlicher Informationstypen als eine ›Kolonisierung‹ empfunden werden, dann dürfte jede Form des ›Verstehens‹ ein solcher Übergriff sein. Historisch erwiesen ist jedenfalls, dass nur diejenigen Beschreibungen, die von dem distanzierten europäischen Standpunkt nach den perspektivischen Prinzipien geschaffen wurden, im typographischen Informationsmedium Erfolg hatten. Diejenigen Autoren, die sich, wie ungelenk und widersprüchlich auch immer, bemühten, die Standpunkte und Perspektiven der Indianer zu übernehmen, werden zumeist erst gar nicht gedruckt. Ein recht bekanntes Beispiel hierfür ist Bernardino de Sahagu´ n (-), der sich in quasi ethnomethodologischer Einstellung bemühte, die Kultur der mexikanischen Indianer von innen her zu verstehen. Er lebte unter ihnen, lernte ihre Sprache und ihre Mythen, und als er sich dann an sein eigentliches Ziel machte, die Geschichte dieser Menschen aufzuzeichnen, schien ihm kein anderes Verfahren angemessen, als deren Erzählungen in ihrer Sprache, dem Nahuatl, und mit von ihnen selbst gemalten Bildern zu dokumentieren. 60 Zuletzt hat er sich dann doch entschieden, eine Übersetzung anzufügen (vgl. Vgl. zu diesen und weiteren Beispielen Todorov , a. a. O., S. f., sowie Scharlau , a. a. O., S. f. Die Verwendung solcher umgangssprachlicher Vergleiche geht in dem Maße zurück, in dem sich Fachdisziplinen mit standardisierten Vergleichsobjekten herausbilden. Todorov , Zur Lebensgeschichte vgl. a. a. O., S. ff.
Abb. ). Gedruckt wurde seine ›Historia general de las cosas de Nueva Espan˜ a‹ erst am Ende des . Jahrhunderts. Nicht viel anders erging es Diego Duran (ca. -) mit seiner zwischen und geschriebenen ›Historia de las indias de Nueva Espan˜ a e Islas de la tierra firme‹. Auch dieser Autor, der das ›Verstehen‹ der präkolumbianischen Kulturen für eine Voraussetzung ihrer Beschreibung hielt, wurde erst in Mexiko gedruckt. Beide Autoren beginnen erst jetzt zur Modellbildung über die Neue Welt herangezogen zu werden. Schließlich sei als Letzter Diego de Landa (-) erwähnt, der als Bischof die Missionierung Yukatans so toll trieb, dass selbst die spanische Inquisition ihn abberufen musste. »Derselbe, der die kostbaren Dokumente der Maya Zivilisation vernichtete, begann wenig später, Zeugenaussagen von eben jenen eingeborenen Priestern und von einem unterworfenen Kaziken einzuholen, um auf dieser Grundlage und gestützt auf seine eigenen Erinnerungen und Erlebnisse«, die er im Laufe seines etwa -jährigen Aufenthalts in Mittelamerika sammelte, »das Buch zu verfassen, das die ›ausführlichste Schrift über das Leben der Ureinwohner Yukatans‹ ist, ›die der Periode nach der Konquista entstammt‹, wie Charles Gallenkamp, der Koordinator der ersten großen und vollständigen Ausstellung über die Maya-Zivilisation (Albuquerque-Museum ) schreibt.« 61 Diese ›Relacio´ n de las cosas de Yukatan‹ () wurde vom Autor niemals veröffentlicht, das Original ist verschollen. entdeckte ein französischer Priester in der Madrider Bibliotheca de la Academia de Historia in einem Sammelband eine unvollständige Abschrift der ›Relacio´ n‹ – was immerhin belegt, dass das Werk gelesen und für tradierungswert befunden wurde. , also ungefähr Jahre nach der Niederschrift, veröffentlichte Abbe´ Ch. E. Brasseur de Bourbourg diese Abschrift mitsamt einer französischen Übersetzung. erschien eine englische Ausgabe, und in den fünfziger Jahren wurde der Text eine ganz wichtige Grundlage bei der vollständigen Entzifferung der Maya-Schrift. Die deutsche Übersetzung erschien erst , nachdem sechs Jahre früher auch Teile ins Italienische übersetzt wurden.
Carlos Rinco´ n in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Diego de Landa. Bericht aus Yukata´n. Leipzig , S. -, hier S. .
Abb. : Zweisprachige Beschreibung der ›Federarbeiter und ihrer Werkzeuge‹ aus Bernardino de Sahagu´ ns ›Historia general de las cosas de Nueva Espan˜ a‹, abgeschlossen (Codex Florentinus, Biblioteca Medica Laurenziana)
Interkulturelle Kommunikation als Organisationskommunikation? Warum nutzte Europa die Werke von de Sahagu´ n, de Landa und Duran nicht – und wenn sich in Europa keine Druckerei fand, warum bediente man sich nicht derjenigen in Mexiko? 62 Im Falle von Sahagu´ n scheinen die Gründe auf den ersten Blick klar. Die spanischen Institutionen, die die Entdeckung Mittelamerikas lenken, haben keinerlei Interesse an einer Veröffentlichung ihrer Informationen. Wie Birgit Scharlau es im Titel ihres Aufsatzes ›Beschreiben und Beherrschen. Die Informationspolitik der spanischen Krone im . und . Jahrhundert‹ schon sehr deutlich ausdrückte, ist für sie die skriptographische Erfassung der Neuen Welt ein Medium seiner verwaltungsmäßigen Beherrschung. 63 Mit großem Fleiß ließ sie überall und von vielen ihrer Angestellten Berichte verfassen, man entwickelte Fragebögen und sammelte die eingehenden Informationen in verschiedenen Archiven. Im Sinne einer solchen aktenmäßigen Erfassung der Neuen Welt hat auch Bruder Bernardino de Sahagu´ n gehandelt. Wie er schreibt, ist er »auf Geheiß des sehr ehrwürdigen Vaters, Fray Francisco Toral, Provinzial dieser Provinz des heiligen Evangeliums und später Bischof von Kampeche und Yukatan« tätig geworden und hat »Zwölf Bücher der Dinge Gottes, oder besser gesagt der Götzenverehrung der Menschen und der Natur dieses Landes Neu-Spanien aufgeschrieben«. 64 Spätestens seit , zu einem Zeitpunkt also, wo der monumentale Charakter seines Werkes seinem Auftraggeber
erlaubte der spanische Vizekönig in Mexiko die Einrichtung der vermutlich überhaupt ersten Druckerei in der Neuen Welt. Der Verleger Kromberger, der eine größere Niederlassung in Sevilla besaß, schickte Juan Pablo über das Meer. Dieser druckte, hauptsächlich im Auftrag der Kirche, Werke für die Missionierung der Indianer und Verwaltungsschriften. Etwa Werke aus dieser und einer weiteren, eröffneten Offizin sind aus dem . Jahrhundert bekannt. Vgl. Lucien Fe`bvre/Henry Jean Martin: L’a´pparition du livre, Paris , S. f. In: Karl-Heinz Kohl (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Berlin , S. -. Aus dem Prolog seiner Chronik, hier zitiert nach der Ausgabe von Claus Litterscheid: Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagu´ n. Mit einem Vorwort von Juan Rulfo. Übersetzung von Leonard Schultze Jena, Eduard Seler und Sabine Dedenbach-Salasa-Sa´enz. Frankfurt am Main 2, S. .
deutlich sein musste, begann man seine Arbeit zu boykottieren. Die Inquisitionsbeamten des Vatikans und der ›Indienrat‹ in Madrid hatten entschieden, alle Schriften in der Indianersprache zu verbieten, um damit auch gleichzeitig die Quellen für ketzerisches Gedankengut zu zerstören. Kurz darauf forderte man ihn zur Abgabe aller fertig gestellten Manuskripte auf und untersagte ihm die Fortsetzung seiner Forschung. Verbittert schreibt er am Ende seines Prologs: »Würde man mir die erforderliche Hilfe geben, wäre alles in einem Jahr oder etwas mehr fertig. Und es ist sicher, dass, wenn es fertig wird, es ein Schatz wäre, um viele Dinge zu wissen, die würdig sind, bekannt zu sein, und um diese Sprache [das Nahuatl], mit all ihren Geheimnissen, mit Leichtigkeit kennen zu lernen. Und es wäre von großem Wert im Alten und im Neuen Spanien« (a.a. O., S. ). An diesen Wert glaubten nur wenige. So ist es schließlich nur glücklichen Umständen zu verdanken, dass eine Fassung seines Werkes, vermutlich über den Zensor der Inquisition in Neu-Spanien, den Franziskaner Rodrigo de Seqera, nach Spanien und schließlich in die Medici-Bibliothek in Florenz gelangte. Wieso aber konnten sich die kirchlichen und staatlichen Institutionen mit ihren Interessen so entschieden durchsetzen? Zensur verlangt letztlich immer auch das Einverständnis der Zensierten, in diesem Falle eben der Öffentlichkeit in Europa. Zumal in Deutschland war bekanntlich zur gleichen Zeit das Bedürfnis der Bevölkerung nach Informationen über viele Bereiche so stark, dass die Zensurdekrete praktisch folgenlos blieben. Wenn die Öffentlichkeit tatsächlich ein Interesse daran gehabt hätte, zu wissen, wie die Indianer in Mittelamerika leben und was sie denken, dann hätte sich gewiss jemand gefunden, der die großen ethnographischen Beschreibungen ins Deutsche übersetzt und im Druck herausgegeben hätte. Aber genau dies passiert eben erst im . Jahrhundert. – Wie man überhaupt feststellen kann, dass erst in den letzten Jahren ein umfassendes Bild der Neuen Welt aus den gedruckten Büchern zu gewinnen ist. 65 So kommt etwa Hartwig Gebhart bei seiner Durchsicht der deutschen Illustrierten des . Jahrhunderts zu der Schlussfolgerung, dass »die Bewohner der Alten Welt, wenn sie Illustriertenleser waren, von etwa der Mitte des Jahrhunderts an, an einer Kulturentwicklung jenseits des Atlantiks teilhaben [konnten], die sich auch als Zukunftsentwurf für Europa verstehen ließ«. In: P. Mesenhöller (Hg.), a. a. O., , S. -, hier S. (vgl. Anm. ).
Bemerkenswert lange begnügte man sich in Europa damit, statt der Erfahrungsberichte der in Amerika Lebenden die Reisebeschreibungen von europäischen Touristen zu drucken. Warum fanden die Beschreibungen von Harriot und de Lery – um nur zwei schon erwähnte Beispiele zu nehmen – so schnell den Weg in den Druck und in verschiedene europäische Länder, obwohl sie doch im Grunde nicht viel mehr sind, als der Bericht einer vergleichsweise kurzen Visite. 66 De Landas Werk fußt demgegenüber auf jahrelangen Beobachtungen, genauen Zeichnungen und Notizen, zahllosen Interviews, wechselseitigem Abgleichen der Nachrichten unterschiedlicher Informanten usf. Man kommt um den Eindruck wohl nicht herum, dass die Selektionskriterien des typographischen Kommunikationssystems nicht immer die ausführlichsten, im heutigen Sinne besten Beschreibungen zumindest der Neuen Welt bevorzugten. Und dies trifft ja auch auf Harriot zu. Verglichen mit seinen unveröffentlichten handschriftlichen Aufzeichnungen, nimmt sich seine Beschreibung von Virginia eher wie eine journalistische Gelegenheitsarbeit aus. Dieser Hinweis auf den weiteren Ausbau handschriftlicher Informationsverarbeitung, die zweifellos die erst durch den Buchdruck geschaffenen textlinguistischen und standardsprachlichen Instrumente ausgiebig nutzt, mag notwendig sein. Was auch immer für wissenschafts- und kulturhistorische Gründe in Anschlag zu bringen sind, für die Mediengeschichte gilt es, die Tatsache festzuhalten, dass neben der typographischen eben auch eine mündliche und eine handschriftliche Erfassung der Neuen Welt bei den verschiedenen Berufsund Personengruppen vor sich ging. Das Bild der Neuen Welt in der Alten Welt setzt sich aus dem typographisch konstruierten und aus weiteren Bildern zusammen. 67 Dies hängt einfach damit zusam Zu Harriot vgl. Anm. . Eine kommentierte Ausgabe von de Lery veranstaltete Jean Claude Morisot: Jean de Lery: Histoire d’un voyage fait en la terre de Brasil. Genf . Außerdem Claude Le´vi-Strauss: Eine Idylle bei den Indianern. Über Jean de Lery. In: Karl-Heinz Kohl (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Berlin . Angela Enders (Die Legende von der ›Neuen Welt‹. Montaigne und die ›Literature ge´ographique‹ des . Jahrhunderts. Tübingen ) arbeitet heraus, inwiefern de Lery die verschiedenen europäischen Wertmaßstäbe seiner Beschreibung zu Grunde legt, welche Scheu er hat, auch nur zeitweise die Perspektiven der ›Sauvage‹, die keinesfalls als ›Bon sauvage‹ erlebt werden, zu übernehmen. Zum gleichen Ergebnis ist auch Brednich (a. a. O., vgl. Anm. , S. /) gekommen: »Die Amerikabilder in den Köpfen der Menschen speisten sich
men, dass die europäische Kultur der Neuzeit eine multimediale Kultur geblieben ist – trotz aller Prämierung des ausgedruckten Wissens. Ganz falsch wäre es, die ideologischen Selbstbeschreibungen der Buchkultur zu übernehmen, die nur bestimmte Medien für informativ erklärt. Wenn der Kulturhistoriker Lewis Mumford etwa erklärt »Existieren heißt [in der neuzeitlichen Kultur]: im Druck existieren«, so betreibt er Arbeit am Mythos. Luhmann hat zwar Recht, wenn er schreibt, dass nur das für eine Gesellschaft wirklich ist, worüber sie Informationen besitzt und kommuniziert. 68 Aber es gibt so viele Kommunikationsformen und Informationsmedien, dass gar nicht so leicht zu entscheiden ist, worüber eine Gesellschaft kommuniziert. Reine Legitimationsbeschaffung wäre es, wenn man Kommunikation an die Standardsprache und womöglich noch die technisierten Massenmedien binden würde. Aber damit ist die Frage, warum man die Beschreibungen von de Sahagu´ n, de Landa u. a. nicht druckte, selbstverständlich nicht beantwortet. Erschwert wird die Antwort noch dadurch, dass die beiden genannten Autoren auf den ersten Blick absolute Gegensätze im Herangehen an die fremde Kultur verkörpern. Der Herausgeber von Diego de Landas ›Bericht aus Yucata´n‹, Carlos Rinco´ n, betont, dass die Haltung des Inquisitors im Gegensatz zu jener Bernard de Sahagu´ ns »nichts mit jener ›theoretischen Neugierde‹ zu tun hat, wie sie Blumenberg zufolge den Beginn der Neuzeit kennzeichnete.« 69 De Landa wird vorgeworfen, er bleibe ganz außen stehender Betrachter, benutze konsequent spanischeuropäische Maßstäbe und instrumentalisiere seine Befragungen der Eingeborenen für die Zwecke der Missionierung. Ich vermute etwas ganz anderes: Wenn er tatsächlich dieser Prototyp eines modernen Natur- und Kulturforschers gewesen wäre, hätte er weni-
gleichermaßen aus medialer Vermittlung wie aus oraler Tradition. Über die Medien der frühen Neuzeit ist uns eine Quelle der Genese kollektiver Amerikavorstellungen zugänglich, mit der Suche nach den anderen, oral vermittelten Bilden kann jeder bei sich selbst beginnen, denn wir tragen sie zweifellos noch immer mit uns herum.« Ich habe freilich am Beispiel von Kolumbus versucht, genauer zu ermitteln, welche nonverbalen Informationsmedien die Amerikafahrer nutzen mussten, um überhaupt ihr Ziel zu erreichen. Zum Beispiel ›Ökologische Kommunikation‹. Opladen , S. f. Carlos Rinco´ n, a. a. O. (vgl. Anm. ), S. /.
ger Schwierigkeiten mit seinen Kirchenoberen und mit den Vertretern der Druckmedien bekommen. Er produzierte Informationen über die Programme einer Kultur, die weder für die wirtschaftliche noch für die militärische Expansion notwendig waren. Und er produzierte sie mit Methoden, die dem objektiven Beobachtungsparadigma der neuzeitlichen Wissenschaft vielfach entgegenstanden. Sahagu´ n und im Prinzip auch de Landa betrieben letztlich, wie unvollkommen und unbewusst auch immer, eine Form kommunikativer Sozialforschung: Sie gingen auf die Azteken/Aztekinnen zu, redeten mit ihnen, arbeiteten teilweise mit ihnen, mischten sich in ihre Kultur ein und betrachteten die Veränderung. Letzteres dürfte oft eine brutale Form von Krisenexperimenten gewesen sein. Um die Sprache dieser Menschen – und damit auch ihre Weltsicht, Klassifikationsweisen, Wertvorstellungen etc. – zu lernen, mussten sie einen Standpunkt- und Perspektivenwechsel vornehmen. Sie bauten intensive Sozialbeziehungen zu ihren Informanten auf, bei Sahagu´ n vermutlich häufiger durch Liebe, bei de Landa häufiger durch Hass geprägt – aber in beiden Fällen eben nicht distanziert. Die Sekundärliteratur, die de Landa als distanzierten, kalten Europäer schildert, übersieht seine negative emotionale Abhängigkeit von der mittelamerikanischen Kultur. Gerade seine brutalen Exzesse und seine Inkonsequenz – mal werden die Schriften verbrannt, mal gesammelt und behütet – macht doch seine Verstrickung in dieses Land, dem er die letzten Jahre seines Lebens gewidmet hat, überdeutlich. Kaum eine Seite in seinem Bericht, die nicht affektive Daten enthält. Er leidet »entsetzlich«, wenn er über die blutigen Riten der Männerbünde spricht, und bewundert den »Stolz« und die »wunderbare Sittsamkeit« der Frauen. Lange und offenbar vergeblich versucht er zu ergründen, warum die Yukateken »Gedankensünden« nicht beichten, obwohl sie durchaus ein Schuldbewusstsein besitzen. Nein, emotionslos ist seine Neugierde ebenso wenig wie jene Sahagu´ ns. Und dem ›Nutzen einer Nation‹ oder dem ›Fortschritt des Wissens‹ wollen beide wohl nicht in erster Linie dienen. Sie wollen ihre Gesprächspartner verstehen – nicht um des Verstehens willen, sondern um sie zu überzeugen. Und sie wollen von ihren eigenen Werten, ihrem Glaubensbekenntnis eben, überzeugen und nicht von der Marktwirtschaft und dem technischen Fortschritt. Ein solches Verständnis der Werte einer Kultur ist aber für Koloni
sation nicht erforderlich. Autos, Coca-Cola, Videos etc. setzen sich argumentationslos bis heute in allen möglichen Kulturen durch. So gesehen indiziert der ausgebliebene Druck wichtiger ›Berichte‹, dass europäischerseits eben kein großes Interesse an einer genaueren Kenntnis dieser Kulturen bestand, diese Kulturen also nicht als Kommunikationspartner – im Sinne des Konzepts der interpersonellen Reziprozitätsherstellung – typisiert wurden, über dessen Perspektiven man dann hätte Genaueres in Erfahrung bringen müssen. Es herrscht eher eine interaktionsfreie denn eine kommunikative Beziehung zwischen den Kulturen. Für einen Dialog gab es europäischerseits keinerlei Veranlassung, da man seine Zwecke leichter durch außerkommunikative Mittel: Gewalt und ökonomische Überlegenheit erreichen konnte. Aber hier muss man die verschiedenen Emergenzniveaus des Sozialen unterscheiden. Die Beispiele von Sahagu´ n und Duran zeigen auch, dass in der frühen Neuzeit die Möglichkeit bestand, dass einzelne Personen aus verschiedenen Kulturen in unmittelbarer Interaktion es lernen konnten, zumindest manche Umweltinformationen gleichsinnig zu verarbeiten, zu kommunizieren. Auf der Ebene der Gesellschaftssysteme, der Kulturen, bestand eine solche Möglichkeit aber anscheinend nicht – und es bleibt die Frage, ob sich dieser Zustand in der Gegenwart geändert hat. Ein tieferer Grund für die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Kulturen dürfte darin liegen, dass die Möglichkeiten zu der erforderlichen sozialen Selbstreflexion fehlen. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht wird die zeitweise Übernahme der Perspektiven des Anderen möglich, wenn die Beteiligten ihren eigenen Standpunkt und den des Anderen auseinander halten können. Dies setzt (individuelle) Selbstreflexion voraus. Man muss wissen, dass man nicht der Andere ist, obwohl man sich im Verständigungsprozess streckenweise mit ihm identifiziert. Ist das Identitätsbewusstsein zu gering, etwa bei manchen psychischen Erkrankungen, verschwimmen die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen. Als Gegenaktion wird vielfach jede Fremdidentifikation unterlassen, rigide abgegrenzt und egozentrisch erlebt und gehandelt. Bei größeren sozialen Systemen ist die Ausbildung einer Identität eine Aufgabe sozialer Selbstreflexion. Sind diese sozialen Selbstbeschreibungen nicht sicher genug, so wird jeder Kontakt mit anderen Kulturen zu einem Risiko. Wer die eigenen und die fremden Werte nicht mehr auseinander halten kann, verlässt die angestamm
te soziale Gemeinschaft – zumindest in deren Augen. Das Sozialsystem bekommt Grenzerhaltungsprobleme, auf die es üblicherweise durch eine Betonung eigener Normen – und damit durch eine Verringerung der Bereitschaft zur Übernahme fremder Sehweise reagiert. Während man sein individuelles Selbstbewusstsein haben kann, ohne sich über seine Ausprägung im Einzelnen Rechenschaft ablegen zu müssen, spricht viel dafür, dass latente soziale Identitätskonzepte für einen interkulturellen Verständigungsprozess nicht ausreichen. Sie müssen vielmehr reflexiv verstärkt werden. Die Gesellschaft muss ihre Konzepte ausformulieren, in Ritualen und Symbolen vergegenständlichen und darüber reden. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist nicht ein starkes, sondern ein schwaches Nationalbewusstsein ein Risiko für das internationale Zusammenleben. Es liegt auf der Hand, dass die sich gerade erst ausbildenden europäischen Nationalstaaten für ein Gespräch mit den amerikanischen und anderen fremden Kulturen in diesem Sinne nicht gerüstet waren. Selbst die Orden hatten Angst, dass ihre Missionare ›verkaffern‹, wenn sie sich zu intensiv mit den Lebensgewohnheiten derjenigen auseinander setzten, die sie missionieren sollten. Letztlich war es diese Angst bei den Oberen in Spanien, die Sahagu´ n und de Landa die Fertigstellung ihrer Studien erschwerte.
Die Durchsetzung der Astronavigation als Wahrnehmungskatastrophe Die Durchsetzung der standardisierten Programme der Wahrnehmung, Informationsdarstellung und Vernetzung in Europa erforderte brutale Zwangsmaßnahmen (von denen weniger ›zivilisierte‹ Kulturen bis heute verschont blieben). Die Gleichschaltung der Kommunikationspartner erforderte nicht nur eine Normierung ihres Handelns und ihrer Selbstbeschreibung, sondern auch eine Reduktion ihrer vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Mit politischer und physischer Gewalt verdrängte man individuelle synästhetische Erkenntnisformen zu Gunsten des genormten Sehens. Sahagu´ n und Duran waren sehr frühe Opfer des Visualisierungszwanges. Die Geschichte der typographischen Massenkommunikation ist nicht nur eine Geschichte der Befreiung, sondern auch eine solche
der Unterdrückung, der Versklavung der Sinne, der Prämierung von Eindimensionalität. Die Technisierung der Astronavigation bis hin zum GPS hat schließlich zum Verlust der anderen Navigationsinstrumente geführt, die für die Seefahrer des Entdeckerzeitalters noch orientierungsrelevant waren: Färbung des Wassers, Salzgehalt und Geschmack, Muster der Wellenbewegung/Dünung, Temperaturen, geringfügige Strömungsunterschiede, Schwebstoffe, Windgeräusche und feine Unterschiede der Windrichtung. Emotional ungemein eindringlich hat Michel Serres die Unterdrückung dieser Erfahrungsform und ihre Ersetzung durch die neuzeitliche wissenschaftliche Kartographie, Astronomie und Navigationskunde mit Hilfe von Gesetzen, Polizei und anderen Kontrollmechanismen beschrieben. »Warum ist Vernunft allein nicht genug, warum verbündet sie sich mit der Macht, um sich durchzusetzen?«, fragt er. Dass es der neuzeitlichen Wissenschaft gelingt, das Unsichtbare sichtbar zu machen, gehört zu den Grundgewissheiten unserer Kultur. Aber sie ist auch ein Unternehmen, welches Erkenntnisse verschüttet und Sehende blendet. »Wie kommt es, dass sie umgekehrt das Sichtbare unsichtbar macht? Dieser moirierte, stabile Körper [des Meeres], der sich verändert wie eine Almwiese im Sommer, dieser wiedererkennbare und durchmischte Raum, sie verschwinden«. 70 Das Sichtbare verschwand im Unsichtbaren. So konnten die Kartenhersteller behaupten, glauben machen und sich rühmen, Amerika entdeckt zu haben, während Hunderte von Fischern, den Spuren des Moire´s folgend, dort gewesen waren und kein Aufhebens in der Geschichte davon machten. Der Triumph des geschriebenen Wortes führte zu einer Wahrnehmungskatastrophe. Das Zeitalter der Wissenschaft brachte neue Bilderstürmer auf der Ebene der Sinne hervor und zerstörte von Grund auf ein Wissen, das dem Wahrgenommenen sehr nahe war. »Bilderstürmer der Sinne« ist allerdings wohl kein guter Vergleich. Die neuzeitliche visuelle Erkenntnisweise ist durchaus sinnlich. Es »stürmt« eher eine bestimmte visuelle Erkenntnisform gegen die anderen – und es gewinnt dabei auf Dauer nur deshalb eine einzige Erkenntnisform, weil sie mit sozialer Gewalt unterstützt wird.
Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main 2, S. f. (Les cinq sens. Philosophie des corps me´le´s , Paris ).
Eine Katastrophe bringt die Neuzeit und das gedruckte – weniger das geschriebene! – Wort durchaus nicht für jegliche Wahrnehmung, sondern nur für deren synästhetisches Zusammenwirken. 71
Wer Belege dafür braucht, dass das geschriebene Wort durchaus nicht »von den Spuren des Moire´s« wegführt, lese die Manuskripte der iberischen Piloten des Entdeckungszeitalters. Niemals verlassen sie sich allein auf die Astronavigation. Sätze wie »die Bucht ist erreicht, wenn das Fahrwasser kupferfarbig erscheint«, findet man zuhauf. Und so ist es in den Handschriften bis ins . Jahrhundert geblieben. Vgl. Hans Schomburg: Iberische Steuermannskunst im Entdeckungszeitalter. In: Wolfgang Köberer (Hg.): Das rechte Fundament der Seefahrt. Deutsche Beiträge zur Geschichte der Navigation. Hamburg , S. -, hier S. mit Bezug auf das ›Livro de marinharia‹ des Joa´o de Lisboa aus dem . Viertel des . Jahrhunderts.
. Die Prinzipien einer radikalen ökologischen Mediengeschichte und andere Vorausschaumodelle Die drei Grundformen kultureller Prozesse Unsere Annahmen über die Geschichte und Zukunft basieren letztlich auf den Grundannahmen, die wir über kulturelle, kommunikative und andere Prozesse machen. Solche Annahmen bestimmen unsere Hoffnungen und Befürchtungen, wenn wir uns im Alltag mit Zukunftsfragen befassen. Sie bleiben dort meist unbewusst. Von den Wissenschaften wird erwartet, dass sie ihre Annahmen und die hinter ihnen stehenden, weiteren und tieferen Begründungen reflektieren und klarlegen. Dies kann bei einigermaßen komplexen Phänomenen immer nur teilweise gelingen, aber jeder Versuch setzt einen Anfang, auf den nachfolgende Reflexionen aufbauen können. 1 Dem monokausalen Denken oder/und dem monotheistischen Glauben entspricht die Suche nach einem einzigen allgemeinen Prozessmodell, aus dem sich alle weiteren Prozesse ableiten lassen. Dieses Ideal dürfte selbst schon Ausdruck einer historischen Epoche und damit einer speziellen Konstellation zwischen den Erkenntnisund Kommunikationsmedien sein. Schon für ein zeitgemäßes Verständnis kommunikativer Abläufe eignet es sich nicht. Deshalb habe ich ein mehrdimensionales Kommunikationskonzept (Kommunikation D) vorgeschlagen: Kommunikation als Informationsverarbeitung, Vernetzung zwischen Kommunikatoren und Spiegelung zwischen Medien. Kulturelle Prozesse werden ebenfalls mehrfach zu beschreiben sein. Und dies nicht nur in dem gängigen Sinne, dass man sie als Addition im Prinzip gleichartiger Veränderungsprozesse, zum Beispiel Technisierung der Wirtschaft, des Handels, der Freizeit, auffasst. Wenn dem Gebot multikausaler Erklärung gefolgt werden soll, dann dürfen die Grundannahmen der Beschreibungen nicht aufeinander reduzierbar sein. Wir brauchen unterschiedliche Modellvorstellungen über kulturelle Prozesse. Ich habe in diesem Sinne im Kapitel drei Prozesstypen angenommen: Substitution (Ver Auch diese Hoffnung beruht schon auf einer Grundannahme über die Geschichte, nämlich jener von Entwicklung als Akkumulationsprozess.
nichten und Ersetzen), Akkumulation (Verstärken oder Vermindern) und Reproduktion (Bewahren und Wiederholen). (Vgl. Abbildung in Kapitel .) Alle drei Perspektiven werden in der Geschichtsschreibung schon so lange benutzt, wie wir sie überhaupt zurückverfolgen können. Allerdings variiert die Intensität der Nutzung (und Reflexion) der einzelnen Parameter in den Kulturen und Zeiten gewaltig. Geschichte als Prozess radikalen Umsturzes und einer damit einhergehenden Erneuerung wird in der hinduistischen Kulturanschauung zum Beispiel durch den Gott Schiwa repräsentiert. Sein Gegenspieler Wischnu steht für das Prinzip der zirkulären Wiederholung und der Erhaltung. Akzelerationsgedanken spielen in den asiatischen Hochkulturen eine geringere Rolle. Desto mehr bestimmen sie das Denken und Handeln in Europa in der Neuzeit. Sie beginnt nicht zufällig mit vielen Reformationen, setzt sich in Beschleunigungs- und Akkumulationsprozessen fort und steht nun an den Grenzen vielfältiger Wachstumskurven in vielen Bereichen. Geschichte wird als Veränderungsprozess und dieser im Sinne der Steigerung oder Minderung eines Parameters in Abhängigkeit von der Zeit erlebt. Die gleiche Geschichte lässt sich aber auch als Bewahrung von Strukturen und Werten auffassen. Zwar soll Kapital akkumuliert werden, der Wohlstand wachsen – aber eben unter Wahrung des Privateigentums. Dessen Substitution wird nicht als ein ›Mehr vom Selben‹, sondern als Revolution, als Sprung auf eine andere historische Stufe verstanden. In funktionierenden Demokratien, so könnte man meinen, müssten alle drei Parameter durch Parteien vertreten sein: Revolutionäre, Reformer und Konservative. Die Umsetzung des parlamentarischen Dialogs führte dann zu einer Geschichte, in der alle drei Parameter zur Geltung kommen – in welchem Verhältnis auch immer. Diese kulturspezifische Interpretation der drei Parameter fasst Abbildung zusammen. Neben der getrennten Beschreibung von kulturellen Prozessen unter den drei Perspektiven kann in einem weiteren Schritt auch deren Zusammenwirken untersucht werden. Tun wir dies, so werden wir dabei wiederum Prozessmodelle nutzen, nämlich solche über das ›Zusammenwirken‹. Dies können – bei einem strikt selbstreferentiellen Vorgehen – die gleichen Modelle sein, die schon für die Beschreibung der kulturellen Phänomene genutzt wurden (Sub
Abb. : Kulturspezifische Interpretation der drei Grundtypen kultureller Prozesse
stitution, Akkumulation, Reproduktion). Es können aber auch ganz andere Prozessvorstellungen sein. In Abbildung wird das Konzept des Fließgleichgewichts, also eine Prozessvorstellung aus der ökologischen Biosystemtheorie, genutzt, um das Zusammenwirken der kulturellen Prozesse zu beschreiben. Wir betreiben in diesem Fall Kulturökologie, liefern eine ökologische Interpretation kultureller Prozesse. Allerdings bleibt diese noch einseitig, solange wir nur einen einzelnen ökologischen Prozesstyp berücksichtigen. Sobald wir kulturelle Prozesse aus kommunikations- oder medientheoretischer Sicht beschreiben, müssen wir eine komplexe Matrix abarbeiten, die die drei kommunikativen mit den drei kulturellen Prozesstypen verknüpft (vgl. Abb. in Kap. ). Es gibt radikale Innovationsprozesse, quantitative Veränderungen und die Notwendigkeit zur Reproduktion auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung und der Informationssysteme, der kommunikativen Vernetzung und der Kommunikatoren, der Emergenz von Medien und der Formen von Spiegelungen. Wir können also Substitutionen von Informationssystemen und das Erstehen neuer Epistemologien und
Programme feststellen. In gleicher Weise müssen wir fragen, welche Typen von Vernetzungswegen zerstört werden und welche neu entstehen. Ebenso ist nach der Emergenz neuer Medien zu fragen und danach zu suchen, ob sich neue Formen der Spiegelung herausgebildet haben. Unter der Perspektive der Akkumulation suchen wir nach Optimierungen der Wahrnehmung, Speicherung, Reflexion und Darstellung von Informationen. Wir können Zu- und Abnahmen von Vernetzungswegen und Beschleunigungen auf den Vernetzungswegen feststellen. Wir sehen eine Akkumulation der Medien und deren stärkere Technisierung sowie die zunehmende Normierung von Spiegelungsmöglichkeiten. Schließlich fragen wir, wie es gelingt, über die Generationengrenzen hinweg die Informationsverarbeitung, die Vernetzungsformen und Medien aufrechtzuerhalten. Wir suchen nach den bewahrenden Kräften im Kommunikationsgeschehen. Die Kommunikations- und Mediengeschichte erscheint als das Produkt des Zusammenwirkens dieser Dynamiken. Die Beschreibungsergebnisse aus den verschiedenen Perspektiven können sich ergänzen und wechselseitig korrigieren. In der empirischen Arbeit werden es einmal die Medien, ein andermal die Vernetzungsformen und ein drittes Mal epistemologische Programme sein, die dem Betrachter auffallen. 2 Hier wird er in die Analyse einsteigen – und häufig standen diese Phänomene auch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen. Im nächsten beziehungsweise übernächsten Schritt werden dann die anderen Parameter thematisiert, um ein vollständigeres, die Komplexität des Kommunikationskonzepts erhaltendes Bild zu gewinnen. Eine Prozesstypologie brauchen wir aber nicht nur, um unsere Geschichtsrekonstruktionen über die Sphäre bloßer Intuition und In dieser Weise haben wir in Kapitel die frühe Kulturgeschichte des Buchdrucks auf dem informationstheoretischen und dem netzwerktheoretischen Parameter untersucht. Der Verdrängungswettbewerb zwischen unterschiedlichen Informationstypen hat uns im . Kapitel beschäftigt. Die komplizierte Balance zwischen radikalen Innovationsprozessen, Stagnation und quantitativem Wachstum in der gesellschaftlichen Informationsverarbeitung stand im Zentrum der Analysen im . Mit dem ontologischen, spiegelungstheoretischen Parameter der Kultur haben wir uns in Kapitel auseinander gesetzt und dabei die Prinzipien des Konzepts der Kulturgeschichte als balancieren zwischen extremen Werten erklärt. Diese Gewinn- und Verlustrechnung haben wir im letzten Kapitel auch für die anderen Parameter fortgesetzt.
freier Assoziation herauszuheben und ihre Prinzipien intersubjektiv überprüfbar zu machen. Wir brauchen sie auch für Prognosen über die Zukunft.
Konzepte kultureller Trendanalysen Welche Möglichkeiten haben wir aus kommunikationstheoretischer Sicht, Prognosen über die Zukunft unserer Kultur in radikalen Umbruchsphasen zu machen? Wenn wir die drei Typen kultureller Prozesse zu Grunde legen, dann erscheint die Zukunft als – Wiederholung der Vergangenheit (Reproduktion), – Optimierung gegenwärtiger Strukturen und Steigerung aktueller Entwicklungstendenzen (Akkumulation) und als – Zerstörung von Vorhandenem und Emergenz von Neuem (Substitution). Immer haben wir es bei geschichtlichen Prozessen mit dem Zusammenspiel aller drei Prozesstypen zu tun. Die Spezifik der zukünftigen Geschichte kultureller Kommunikation wird also in der besonderen Form der Balance liegen, die wir zwischen diesen Typen herstellen. Für die Erforschung des ersten Parameters brauchen wir die Erfahrung der Historiker, für die des zweiten das Wissen der Statistiker und für die des dritten den Mut und die Kreativität von Erfindern und Visionären. Die ökologische Integration erfordert den Dialog zwischen allen drei Parteien und Methoden – und die Berücksichtigung der Prozessmodelle der Ökologie: Balance, Oszillation und Emergenz. Die Analyse der Gegenwart wird ebenfalls von den Parametern des D-Modells gelenkt: Sie erscheint als Phase einer zyklischen Entwicklung, zum Beispiel als Wiedergeburt, als Abschnitt auf einer exponentiellen Entwicklungskurve oder als eine Stufe in der Emergenz von Medien und Kommunikatoren. Die Vergangenheit wird entweder als Spiegelbild der Gegenwart, ihrer linearen Vorgeschichte oder aber als Ballast für Gegenwart und Zukunft gesehen, den es abzuwerfen gilt. Die verschiedenen Grundannahmen einer Trendforschung, die auf dem dreidimensionalen Kulturkonzept aufbaut, sind in Abbildung zusammengesellt. (Auf die drei letzten Spalten wird in Kapitel und ausführlicher eingegangen.)
Typ
Maximen
Vergangenheit als
Gegenwart als
Zukunft als
Reproduktion
Alles kommt wieder!
Spiegelbild der Gegenwart (und Zukunft)
Abschnitt eines zyklischen Prozesses
Wiederholung der Vergangenheit, Reproduktion und Konservierung
Akkumulation
Mehr vom Selben!
Vorgeschichte der Gegenwart
Abschnitt einer Veränderungskurve
Steigerung der Gegenwart, Fortschreibung von Veränderungsprozessen; Lösung von Gegenwartsfragen durch Extrapolation und Akkumulation
Substitution
Weg mit!
Ballast für Gegenwart und Zukunft, den es abzuwerfen gilt.
Neue Emergenzstufe
Zerstörung von Vergangenheit und Gegenwart und Emergenz von Neuem Substitution und Innovation
Balance
Sowohl als auch!
Phase im Kurvenmodell, Kybernetischen
ökologische Balance zwischen den drei geschichtlichen Prozesstypen
Abb. : Grundannahmen kulturgeschichtlicher Trendforschung
Die Grundannahmen über die Geschichte kultureller Kommunikation geben auch den Rahmen für die Vorausschau und die therapeutischen Eingriffsmöglichkeiten ab. Gehen wir vom Reproduktionsparameter aus, so erscheint der Rückblick auf die GutenbergGalaxy als ein Schlüssel zum Verständnis des Entwicklungsgangs der Informationsgesellschaft. Wir vergleichen die Einführung der neuen Medien mit der Ausbreitung des Buchdrucks und/oder der Technisierung der individuellen Informationsverarbeitung durch die Schrift in Verbindung mit der Schaffung von rückkopplungsarmen Massenkommunikationsschauplätzen in der Antike. Wir
Glaubenssätze
Möglichkeiten der Vorausschau
Voraussetzungen (empirisch und theoretisch)
Therapeutische Strategie/ Change Management
Die Einführung der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien wiederholt den Entwicklungsgang der typographischen.
Vergleich von Entwicklungszyklen, Generationen, Erkennen der Wiederholungen
Systematische Beschreibung des Reproduktionszyklus des Systems.
Veränderung als Gebot des Erhalts des globalen Ökosystems. Nur wer sich ändert, kann seine Identität (bei veränderter Umwelt) erhalten!
Die Schwächen der Buchkultur sind die Chancen der Informationsgesellschaft: Technovision
Hochrechnen von Veränderungsprozessen; statistische Wahrscheinlichkeiten; Problemlösetechniken, Vervollständigung von vorhandenen Systemen
Genaue DatenerheEntmystifizierung der bung über den Ist-Zu- Vorgeschichte stand, Problembeschreibungen, Erkennen der Wachstumsprozesse und Wegräumen der Blockaden
Wir befinden uns in einer radikalen Umbruchssituation und können die Strukturen und Dynamiken der Informationsgesellschaft nicht voraussehen.
Durchbrechen des Wiederholungszwanges: Reproduktion und Optimierungen sind keine Innovation Zukunftskonferenzen Falsifikationsansatz Gegenabhängigkeit
Kenntnis von Vergangenheit und Gegenwart, Entmystifizierung und neue Mythen/Visionen, Mut und Kreativität
Übergangsobjekte bereitstellen: Gruppengespräch
D-Modell, Klärung der gegenwärtigen Phase im Kurven(Chaos-OrdnungChaos) und Stufenmodell des Generationswechsels
Dialog
beschreiben die Strukturen und Dynamiken der Vernetzung und Informationsverarbeitung in den verschiedenen Epochen und suchen nach Parallelen zwischen den Systemen und Reproduktionszyklen. Dieses Programm habe ich im »Buchdruck in der frühen Neuzeit« und auch in diesem Buch vielfach zur Leitschnur gemacht. Dabei sind in der Tat erstaunliche Parallelen ans Licht gekommen (3D 쩛CD, Modul , Reproduktionsmodelle). Die Konsolidierung der Buchkultur gibt ein gutes Beispiel für Entwicklungen ab, die sich mit dem Akkumulationskonzept beschreiben lassen: Ersetzung von hochgradigen normierten menschlichen Wahrnehmungs- und Darstellungsleistungen durch techni
sche Prozesse und Apparaturen, Verbreiterung der sozialen Basis, Beschleunigung sowohl der Produktion als auch der Distribution usf. Noch immer die meisten Vorausschauversuche der traditionellen Wissenschaften knüpfen an dieses Konzept an. Man untersucht Entwicklungen in den vergangenen fünf, zehn, zwanzig Jahren, entdeckt charakteristische Kurven und extrapoliert sie. Erwartet und positiv prämiert wird insbesondere exponentielles Wachstum. Eine zweite Variante dieses Ansatzes besteht darin, die Zukunft als Löser von Problemen der Gegenwart zu betrachten.
Innovation und Substitution Ein völlig anderes Herangehen wird erforderlich, wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Kultur in einer revolutionären Umbruchssituation befindet. Das wirklich Neue lässt sich nicht voraussehen. Hier liegt auch eine Grenze des Expertentums. Dieses setzt die Erkenntnis der Probleme, der Lösungswege und natürlich eine ungleiche Verteilung dieses Wissens in der Gesellschaft (Laien) voraus. Im Hinblick auf diejenigen Bereiche der Zukunft, die keine Fortschreibung oder Wiederholung des Bekannten sind, gibt es dieses Wissen nicht. Bezogen auf diese Prozesse stimmt die Aussage, dass niemand gegenwärtig die Strukturen und Dynamiken der Informationsgesellschaft voraussagen kann. Aber auch bei Erkundungen auf diesen Parameter lassen sich neben assoziativen und kreativen Verfahren im Stil des Brainstorming wissenschaftliche Methoden anwenden. Wenn nämlich die Informationsgesellschaft tatsächlich ein »vollkommen anderes« kulturelles System hervorbringt, wie dies die Meinung vieler ist, dann wird sie die konstitutiven Strukturen und Dynamiken der Industriekultur nicht beibehalten – oder ihnen zumindest andere Funktionen zuweisen. Wir können also bei vielen Trends und Reformen, die sich als ein Mehr vom Selben oder als ein Wiederholungsprozess verstehen lassen, sagen, dass hier eben nicht die innovativen Potentiale einer neuen Kommunikationskultur zum Tragen kommen. Das Neue muss vielmehr das Andere sein. Eine grundlegende Schwierigkeit dieses falsifizierenden Ansatzes liegt darin, dass wir die Vorgeschichte und Gegenwart unserer Kommunikationskultur gut kennen müssen. Auch aus diesem Grunde sind die bislang bevorzugten relativ kurzfristigen Anamnesen, wie zum Beispiel Expertenbefragungen mit der Delphi-Technik, verschiedene Formen des Brainstorming mit Repräsentanten
aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Marktanalysen und Szenariotechniken nicht optimal für umfassende Vorausschauanalysen. Mindestens müssen sie durch längerfristige historische Datenerhebungen ergänzt werden. Epochale Änderungen verlangen epochale Perspektiven. Wenn es nicht um die Veränderung eines vorhandenen Systems, sondern um die Emergenz neuer Ordnungsstrukturen geht, müssen wir unser Arsenal von Vorstellungen über historische Prozesse erweitern.
Geschichte und andere Prozesse Jeder Versuch, Prozessvorstellungen unter Oberbegriffe zu ordnen, schafft Hierarchien, gibt Anweisungen, welche Typen bei empirischen Untersuchungen zu bevorzugen sind. Ich gehe davon aus, dass für die verschiedenen Untersuchungsziele unterschiedliche Hierarchien sinnvoll sind – und dass deshalb möglichst wenig Rangordnungen festgelegt werden sollten. Oder anders: Die Beziehung zwischen den verschiedenen Prozesstypen soll flexibel bleiben. Dies kann durch einen modularen Theorieaufbau gelingen. Ich habe in diesem Sinne verschiedene Prozesstheorien unterschieden. Sie sind in Abbildung zusammengefasst. Der Vorzug dieses Ansatzes liegt darin, bislang miteinander irgendwie verquickte Prozessvorstellungen erst einmal zu isolieren, um sie dann nach Prinzipien wieder zusammenzuführen. Ob die Unterscheidungen und ihre Zuordnung zu den Phänomenen ›Kultur‹, ›Kommunikation‹, ›Ökologie‹ usf. im Einzelfall fruchtbar sind, muss sich zeigen. Durch den Kasten ›Andere Prozesstypen‹ soll angedeutet werden, dass weitere Prozesstheorien sinnvoll sind und das Modell nicht vollständig ist. Je nach den Untersuchungszielen lassen sich diese Theorien miteinander kombinieren und liefern dann komplexe Heuristiken. Es ist klar, dass aus kommunikationstheoretischer Sicht die Vorstellung über die drei grundlegenden Dimensionen kommunikativer Prozesse immer zu berücksichtigen sind. Ebenso nutzen wir bei kommunikationsgeschichtlichen Analysen und Prognosen immer Konzepte über ›historische‹ Bewegungen, Abläufe, Prozesse. Die vorgeschlagene Dreiteilung befriedigt gewiss nicht alle Interessen. Ich verstehe als Vorlage für die Selbsterkundung der Prozessvorstellungen, die wir bei der Lektüre dieses Bu
Abb. : Allgemeine Prozesstheorien
ches und überhaupt bei der Typisierung historischer Prozesse zu Grunde legen. Insoweit geht es nicht um Kohärenz und Vollständigkeit. Im Übrigen sollten wir generell die Anzahl der Programme erhöhen, mit denen wir historische Prozesse wahrnehmen und gestalten. Ich plädiere auch auf diesem Feld für Flexibilität, Programmwechsel und damit für die Nutzung unterschiedlicher Modelle historischer Entwicklung. Nur eine eingeschränkte Anzahl von – akkumulativen – Abläufen lässt sich mit den augenblicklich bevorzugten Konzepten von Systementwicklung und linearer Optimierung gut erfassen. Die Dreiteilung der historischen Prozesse orientiert sich an Komplexitätskriterien. Die einfachste Form, historische Prozesse zu ordnen, ist die Chronologie. In der abendländischen Geschichtsschreibung wird das Jahr als Maßeinheit dieser Zeitachse gewählt. Beliebige Ereignisse lassen sich durch die Zuordnung zu dieser Zeitachse, zu den Jahreszahlen, historisch einordnen. Das Ergebnis sind zum Beispiel Medienchroniken, Auflistungen von »Erfindungen« von
Medien, die unter dem Gesichtspunkt eines linearen Zeitmaßes geordnet werden. Eine solche Prozessvorstellung ermöglicht kaum Vorausschau, aber sie liefert eine notwendige Datenbasis. Wenn im Alltag nicht nur von ›Prozessen‹, sondern von ›Veränderungen‹ die Rede ist, so stehen schon komplexere Annahmen im Hintergrund. Um Veränderungen beobachten zu können, brauchen wir mindestens zwei Ereignisse und einen Maßstab, mit dem wir diese vergleichen. Solche Vergleichsmaßstäbe können aus den verschiedensten Gebieten genommen werden: Anzahl der Sitzplätze im Amphitheater, ausgebaute Wege oder schiffbare Flüsse, Geschwindigkeit, mit der Nachrichten befördert werden können etc. Einer der mindestens zwei Parameter bei diesem Herangehen ist immer der Zeitparameter. Aus der Sicht des in dieser Arbeit vorgestellten Kommunikationsmodells kommen für die Untersuchung von Veränderungsprozessen die drei Parameter: Informationssysteme und Informationsverarbeitung, Kommunikatoren und Vernetzungswege sowie die Spiegelungsverhältnisse zwischen Menschen und Medien in Frage. Wenn im Alltag zwischen ›Veränderung‹ und ›Entwicklung‹ unterschieden wird, dann stehen dahinter neben der bloßen Feststellung von Unterschieden Bewertungsprozesse. In diesem Sinne kann man von Entwicklung reden, wenn in mehrdimensionalen Veränderungsprozessen eine Hierarchie zwischen den Parametern festgelegt wird. Dies kann auch wieder mit Werten und weltanschaulichen Modellen begründet werden. Es entstehen Perfektionsvorstellungen, mit deren Hilfe Veränderungsprozesse bewertet werden. Eines der bekanntesten Perfektionsmodelle, das selbst schon kaum mehr einer Legitimation bedarf, ist gegenwärtig die Beschwörung der Multimedialität: Je mehr Vernetzungsmedien zwischen den Kommunikatoren existieren, desto besser. Entwicklung bemisst sich vor diesem Hintergrund nach der Zunahme von Kommunikationsmedien, die parallel genutzt werden können. Es ist wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass solche Perfektionsmodelle und Bewertungen nicht nur von den Wissenschaftlern vorgenommen werden, sondern dass sie auch zu den selbstverständlichen Vorgängen im Alltag einer jeden Kultur gehören. Werte und Ideologien dienen dazu, kulturelles Handeln zu synchronisieren. Nur diejenigen Parameter der Welt, die besonders ausgezeichnet werden, regen Technisierungsprozesse an. Die allgemeine Typologie historischer Prozesse lässt sich wie folgt zusammenfassen:
– Ereignisketten (Chronologien) sind Relationierungen von mehr als zwei Ereignissen unter einem polaren zeitlichen Parameter (zum Beispiel vorher, jetzt, nachher). – Veränderungen sind Prozesse, die in Beziehung zu mindestens zwei Parametern ausgedrückt werden. Ein Parameter, der Basisparameter, ist immer die Zeit. – Entwicklungen sind Veränderungen, bei denen eine Hierarchie zwischen den Parametern festgelegt ist. Diese Festlegung kann selbst- oder fremdreferentiell erfolgen. Sie setzt aber immer informationsverarbeitende, bewertende Systeme voraus. – Geschichte ist das Zusammenwirken von allen Bewegungs-, Veränderungs- und Entwicklungsformen, ein Prozesskonglomerat. Sie ist grundsätzlich überkomplex, das heißt, sie lässt sich sowohl als Ereignis als auch als Veränderung und als Entwicklung begreifen. Kulturgeschichte ist dann das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser historischen Prozesse mit reproduktiven, akkumulativen und substituierenden Prozessen. Von den zahlreichen erwähnten Veränderungs- und Entwicklungsmodellen sollen zwei etwas genauer beschrieben werden, weil sie für die Anamnese und Diagnose der Kommunikationsgeschichte in dieser Arbeit Orientierungsfunktionen besitzen: das synergetische Modell des Wechsels von Chaos und Ordnung sowie das ökologische Prozessmodell, das selbst eine Kombination von Koevolution und Gleichgewichtskonzepten ist. In Kapitel wird dann das Phasenmodell des Generationenwechsels (Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit, Autonomie) erläutert und auf die Mediengeschichte angewendet. Der nächste Abschnitt führt in Veränderungskonzepte ein, die für die Anamnese und Diagnose der Kommunikationsgeschichte in dieser Arbeit Orientierungsfunktion besitzen: Veränderungskurven von Chaos und Ordnung.
Veränderung als Wechsel von Chaos und Ordnung Das Kurvenmodell entsteht, wenn man zwei gängige Veränderungskonzepte, nämlich jenes der Struktur- beziehungsweise Systembildung und jenes der Struktur- beziehungsweise Systemauflösung, miteinander verknüpft. Wie schon angesprochen, besteht in unserer Gegenwart eine breite Tendenz, kulturelle Veränderungsprozesse als
Abb. : Veränderung als Systementwicklung und -auflösung
Systembildungsprozesse zu betrachten und zu gestalten. Die komplementäre Konzeption, die sozial weit weniger positiv konnotiert wird, ist jene der Systemauflösung. Zahlreiche Zukunftsprognosen beruhen entweder auf dem einen oder auf dem anderen Konzept. Verbindet man diese beiden Konzepte zu einem zyklischen Modell, so entsteht die Vorstellung von historischen Abläufen als einem beständigen Auf und Ab zwischen Chaos und Ordnung beziehungsweise Systemzerfall und Systementwicklung. Abbildung fasst dieses Verständnis in einem einfachen Schema zusammen. Dieses vor allem in der Synergetik verwendete Grundverständnis physikalischer, biogener, sozialer u.a. Prozesse wird von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen. 3 In der Darwin’schen Evolutionslehre etwa wird nach dem Stadium der Variation eine Phase der Auswahl und Regelung angenommen, in der sich Organismen und Arten stabilisieren. Erneute Variation vergrößert dann wieder die Selektionsmöglichkeiten. Auch sozialen Systemen wird ein ähnlicher Zyklus der Erneuerung zugeschrieben. So unterscheidet Ed Schein in seinem Modell der Vgl. Hermann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Stuttgart u. ö.; sowie ders. (Hg.): Chaos and Order in Nature. Berlin/Heidelberg ; vgl. auch Jürgen Kritz: Chaos und Struktur, Systemtheorie, Bd. . München .
Organisationsentwicklung (OE) bei Unternehmen etwa zwischen der Gründungsphase (Formation), einer zweiten Reifungsphase, in der sich Strukturen stabilisieren und schließlich einer Niedergangsphase, die entweder in der Auflösung des Unternehmens oder in einer Neuordnung mündet. 4 Legt man die kommunikative Vernetzungstheorie zu Grunde, so lassen sich die in diesen Ansätzen beschriebenen Prozesse – und das Kurvenmodell – einmal als Reduktion von Vernetzungs- und Selektionsoptionen (Komplexitätsreduktion, Auswahl und Regelung) verstehen. Zum anderen vergrößert die Struktur- und Systemauflösung die Auswahl von Vernetzungsalternativen (Komplexitätssteigerung, Variation). Die unerreichbaren Pole der Y-Achse in dem Kurvenmodell der Abbildung sind einerseits vollständig geschlossene Systeme und andererseits Netzwerke, in denen alles mit allem verbunden ist und keine Selektionsbeschränkungen bestehen. Wann Strukturarmut/Variationsreichtum als Chaos beziehungsweise Strukturbildung als Ordnung definiert wird, entscheidet der Beobachter. (Das heißt, die Lage der Q/T-Achse kann verschoben werden.) Bei informationsverarbeitenden Phänomenen, die sich wie soziale Systeme, Menschen und Kulturen selbst beobachten, findet immer auch eine Bestimmung des Verlaufs der eigenen Entwicklung statt. Die Selbstwahrnehmung beeinflusst den Kurvenverlauf. Dieser Aspekt wird durch Selbstorganisationskonzepte betont und herausgearbeitet. 5 Jede konkrete Beschreibung, auch Selbstbeschreibung und jede Beschreibungstheorie kann aus der Veränderungskurve mehr oder weniger große Abschnitte auswählen und sie zu einem ausschließlichen Beschreibungsgegenstand machen. Bei langlebigen Phänomenen ist eine solche Sequenzierung des Zyklus kaum zu vermeiden. Entsprechend entstehen Aufstiegs- oder Niedergangstheorien, System- oder Chaostheorien – je nachdem mit welcher Phase einer Veränderung sich die Theoretiker beschäftigen. Wenn beispielsweise Betriebe und Unternehmen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten oder den Gesichtspunkten des Managements untersucht werden, dann stehen Strukturbildung und der E. H. Schein: Unternehmenskultur: Ein Handbuch für Führungskräfte. Frankfurt am Main . Gilbert J. B. Probst: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg .
Systemerhalt im Vordergrund. Auch die Techniksoziologie sieht historische Prozesse vorwiegend unter dem Aspekt von Innovation, Selektion und Institutionalisierung. 6 Mit der chaotischen Gründungsphase beginnt man sich erst langsam unter dem Stichwort »Existenzgründung« zu befassen, und das Sterben von Unternehmen wird ebenfalls erst jüngst durch Schulen wie die OT (Organizational Transformation) zu einem ernsthaften Analyse- und Beratungsgegenstand. 7 Andererseits hat es kulturgeschichtliche Niedergangstheoretiker, meist bar der Fähigkeit, dem Chaos etwas Positives abzugewinnen, immer wieder gegeben. 8 Eine gezielte Beschäftigung mit dem Chaos-Quadranten ist Naturwissenschaftlern wie zum Beispiel Benoit B. Mandelbrot 9, Edward A. Feigenbaum oder Hermann Haken leichter gefallen als Sozial- und Kulturwissenschaftlern. Insgesamt kann man besonders in den Human- und Kulturwissenschaften ein deutliches Defizit im Bereich der Strukturauflösungs- und Chaostheorien – und damit einhergehend in den einschlägigen empirischen Analysen – feststellen. Das Versagen der Sozialwissenschaften angesichts des Zerfalls des sozialistischen Herrschaftssystems – kaum jemand hat ihn vorausgesehen, niemand den Ablauf modellieren können – ist ein Beispiel. Ein Weiteres wäre die Hilflosigkeit der Humanwissenschaften gegenüber Tod und Sterbehilfe; ein Drittes die Unternehmensberatung, die erst langsam Auflösungs- und radikalen Umstrukturierungsprozessen etwas Positives abgewinnen kann. Ein viertes Beispiel ist das Ringen um ein Verständnis der gegenwärtigen Transformationsphase der postindustriellen Gesellschaft. Hier werden zwar große Anstrengungen zum Aufbau einer neuen Infrastruktur (Stichwort: Verkabelung, PC für jeden Schüler) unternommen, aber man klärt nicht Vgl. zum Beispiel Werner Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive. Opladen , hier insbesondere S. ff. Vgl. Jürgen Ebeling: Organisationstransformation. In: Agogik Nr. , , S. f., oder Linda S. Ackermann: Development, Transition or Transformation. The Question of Change in Organizations. In: O. T. – Practioner Nr. , , S. -. Vgl. auch Kornelia Rappe-Giesecke gemeinsam mit Michael Giesecke: Werden und Vergehen von Organisationen. Die Begleitung der Auflösung von Organisationen als Aufgabe der Supervision. In: Supervision /, S. -. Dies.: Lernen, Zwang und Niedergang in der Organisationsentwicklung. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung /, S. -. Vgl. Reinhart Koselleck und Paul Widmer (Hg.): Niedergang. Stuttgart . Die fraktale Geometrie der Natur. Basel, Boston , zuerst .
mit vergleichbarem Eifer, in welchen Schritten welche vorhandenen Netze und Medien aufgelöst beziehungsweise abgeschafft werden sollen. Die in diesem Abschnitt vorgeschlagene Abbildung historischer Prozesse auf Parameter zwingt dazu, sich grundsätzlich über beide Pole Klarheit zu verschaffen. Wer zum Beispiel Technisierung als Veränderungsparameter nennt, muss auch sagen, was der Gegenpol ist, zum Beispiel Rückbau von Technik, und er kann historische Prozesse als Balancieren zwischen diesen beiden Polen verstehen. Wendet man das Kurvenmodell auf die Geschichte kultureller Kommunikation und ihrer Medien an, so ist klar, dass viele Parameter beziehungsweise Kurven zu berücksichtigen sind. Man kann sich die Kulturgeschichte als eine Ansammlung von Veränderungskurven vorstellen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Grundlegender kultureller Wandel vollzieht sich als Parallelisierung von Veränderungen auf mehreren Parametern. Bislang nebeneinander herlaufende Prozesse kommen in den gleichen Takt, ihre Amplituden addieren sich. Dabei kann es zu Resonanzkatastrophen kommen, die Netzwerke zum Einsturz bringen. Die Annäherung der Frequenz von verschiedenen Prozessen, die zuvor nach je eigenem Rhythmus abliefen, wird häufig als »Beschleunigung« erlebt. Generell kann man sagen, dass die Dämpfung der Kurven sowohl in Richtung auf Chaos als auch in Richtung auf Ordnung durch die interferierenden Kurven anderer Prozesse erreicht wird. Beispielsweise überlagern sich die Veränderungskurven der typographischen und der skriptographischen Vernetzungsformen. Die Strukturbildung des einen Phänomens schränkt die Strukturbildung des anderen ein und lenkt sie in eine bestimmte Richtung. Die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Kurven kann zum Beispiel als kommunikativer Prozess durch die Spiegelungsund Koevolutionstheorie beschrieben werden. (Weitere Erläuterungen zum Kurvenmodell und zu anderen Veränderungs- und Entwicklungskonzepten finden sich auf der CD-ROM 3D 쩛CD, Modul .) Die Beschäftigung mit Konzepten von Strukturzerfall und dem Wechsel zwischen Chaos und Ordnung erweitert unsere prognostischen Möglichkeiten in der chaotischen Transformationsperiode, die wir gegenwärtig auf verschiedenen Parametern erleben. In Übergangsphasen brauchen wir nicht in erster Linie Systemtheorien, sondern Vorstellungen von Strukturzerfall, von kreativer Unordnung und die Fähigkeit, die Auflösung von Bindungen und die Erhöhung
von Optionen als eine normale Durchgangsphase zu akzeptieren. Dies fällt umso leichter, je mehr sich mit den Veränderungsprozessen Perfektionsvorstellungen verbinden. Der Wechsel von Ordnung1 über Chaos zu (neuer) Ordnung2 erscheint dann als Entwicklungsprozess. Ordnung2 wird in irgendeiner Form gegenüber der Ordnung1 prämiert. Im Alltag fällt es schwer, Veränderung nicht sogleich zu bewerten und also überhaupt Veränderungs- und Entwicklungsprozesse auseinander zu halten.
Darwin, die Entwicklung artverschiedener Kommunikatoren und die Spiegelungstheorie Ein Modell, welches es ermöglicht, Entwicklungsprozesse mit substitutiven Anteilen zu beschreiben, ist das emergenztheoretische Stufenmodell, wie es beispielsweise der Evolutionstheorie von Charles Darwin zu Grunde liegt. Immer wenn wir von revolutionären Umgestaltungen, der Schaffung völlig neuer Systeme o. a. Substitutionsvorgängen sprechen, unterscheiden wir zwischen Typen, Systemarten und Emergenzniveaus. Man kann zwar Ereignisketten und Veränderungsprozesse ohne Typologien beschreiben, nicht aber Entwicklungsprozesse mit substitutiven Anteilen. Zur Klärung dieser – und anderer Phänomene – habe ich im ersten Kapitel den ontologischen Parameter eingeführt. Er dient dazu, unterschiedliche Typen von Medien, Prozessoren, Kommunikatoren usf. in den Objektbereich der Kommunikationswissenschaft einzuführen. 10 Als Kommunikatoren kommen neben Menschen auch Pflanzen, Tiere, Technik, soziale Systeme, transzendentale Wesen und anderes in Frage. Diese Typologie ermöglicht es dann erst, zwischen gleichartigen und artverschiedenen Kommunikatoren zu unterscheiden und multimediale Phänomene zu untersuchen. Die historische Kommunikationswissenschaft kann ohne eine Unterscheidung zwischen artverschiedenen und artgleichen Medien bestenfalls Chroniken und Statistiken schreiben – zu den Phänomenen der Medienentwicklung oder der Intermedialität trägt sie nichts bei. In früheren Arbeiten habe ich den ontologischen Parameter als ›typologischen‹ bezeichnet (vgl. »Die Untersuchung institutioneller Kommunikation«, Opladen ). Die Begriffswahl hängt davon ab, auf welchem Standpunkt man sich in der kommunikativen Welt stellt. Aus epistemologischer Perspektive wird man die Emergenzniveaus ›typisierend‹ erfassen.
Ernst Haeckel (-) hat die Idee einer Wissenschaft von den dynamischen Wechselbeziehungen zwischen artverschiedenen Systemen als Erster zu einer Disziplin entwickelt. Er nannte sie »Ökologie«. Sie hat sich unterdessen ausdifferenziert. Biologen nennen die Erforschung des Zusammenwirkens artverschiedener Organismen »Synökologie«. Die Wissenschaft von dem einzelnen Organismus und der ihn umgebenden unbelebten Umwelt (Biotop) wird als »Autökologie« bezeichnet. Die Beziehung zwischen Gruppen gleichartiger Organismen und deren Umwelt untersucht die so genannte »Demökologie«. Allen Richtungen aber ist gemeinsam, dass es um Beziehungen zwischen Phänomenen geht, die auf unterschiedlichem Emergenzniveau liegen. Oder anders ausgedrückt: Alle Richtungen der Ökologie benötigen eine Typologie der Lebewesen und der unbelebten Natur. Sie unterscheiden sich dadurch, welche Typen sie zueinander in Beziehung setzen. Die Typologie mag anfänglich in den Naturwissenschaften, zum Beispiel bei Carl von Linne´, nur aus dem Bedürfnis nach einer übersichtlichen Ordnung entstanden sein. Man hat sie aber bald auch im Sinne einer historischen Emergenztheorie interpretiert. Die Arten »entstehen«, sie sind nicht, wie das Weltbild des Alten Testaments behauptet, von Anbeginn vorhanden. Die neu entstehenden Individuen, Kollektive, Gattungen und Arten bauen auf den jeweils vorhandenen auf, auch wenn sie ihre Existenz dem Aussterben der Vorläufer verdanken. Spätestens seit Darwin gibt es also eine Art von emergenztheoretischem Stufenmodell (3D 쩛CD, Modul ). Es ist nach den vorhergegangenen Ausführungen über das Konzept der Entwicklung klar, dass solche Typologien oder Ontologien Hierarchien stiften. Jedenfalls sobald wir den Menschen hier einordnen. Und die Kommunikationswissenschaft muss dies natürlich tun. Wird der Mensch zur Technik und zu anderen natürlichen und sozialen Medien in Beziehung gesetzt, verliert er seine Ausnahmestellung und wird zu einem Evolutionsprodukt neben anderen. Schon dies, die schlichte Feststellung, dass der Mensch ein Medium und ein informationsverarbeitendes System neben anderen, seine sozialen und technischen Vernetzungen ein Kommunikationskanal neben anderen, seine Sprache und sein Bewusstsein ein Spiegelungs- und Speichermedium neben anderen ist, besitzt für die hiesige Mainstream-Kommunikationswissenschaft ein übermächtiges Kränkungspotential. Charles Darwin in der Kommunikationswissenschaft nachzuvollziehen erfordert aber genau dies und noch
etwas mehr: Gefordert ist ein Kommunikationskonzept, welches nicht ausschließlich auf den Menschen fixiert ist. In einem weiteren Schritt wird zu bestimmen sein, welche Stellung die menschlichen Kommunikatoren, Medien und Netzwerke in dem kulturellen Ökosystem einnehmen sollen. Das sind Wertfragen, die augenblicklich erfreulich intensiv im Rahmen der Ethikphilosophie diskutiert werden. 11
Kommunikation als Spiegelungsprozess Die europäischen Industrienationen haben in den letzten Jahrhunderten ihr Verständnis von Kommunikation immer stärker eingegrenzt. Schließlich gilt als solche nur noch die zwischenmenschliche Verständigung mit Hilfe einer gesprochenen oder geschriebenen Standardsprache. Verständigung wird als eine Leistung unseres Bewusstseins begriffen. Die meisten Kommunikations- und Mediengeschichten soziologisieren oder psychologisieren ihre Gegenstände. Es kommen im Wesentlichen nur Menschen als Kommunikatoren in Frage, und diese werden weitgehend auf die höheren Bewusstseinsschichten reduziert. Sie sehen, versprachlichen die gewonnenen Informationen, geben sie in Laut- oder Schriftsprache weiter, und die Empfänger können aufgrund der Ähnlichkeit sprachlicher und anderer sozialer Programme die Informationen reproduzieren. Soziale Kommunikation und Informationsverarbeitung erscheint als eine Addition der psychischen Informationsverarbeitung der einzelnen Menschen. Dieses Konzept bewegt sich auf einer, höchstens auf zwei Ebenen in der kommunikativen Welt. Es unterschätzt den multimedialen Charakter unserer Kultur, es unterschätzt die Bedeutung nonverbaler Informations- und Kommunikationsmedien und intuitiver Verarbeitungsformen, und auf der anderen Seite überschätzt es die Möglichkeiten des vernünftigen Gesprächs. Menschen drücken sich im Handeln und in der Auswahl ihrer Arbeitsgegenstände aus. Und dieser Ausdruck ist informativ für diejenigen, mit denen wir zusammenkommen. In diesem Sinn sind Vgl. hierzu und zum Folgenden Dietmar von der Pfordten: Ökologische Ethik. Reinbek ; ders.: Eine Ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Lebewesen. In: »Spektrum der Umweltethik«, Hg. von Konrad Ott und Martin Gorke, Marburg , S. -.
Handlungen, Arbeitsgegenstände, Werkzeuge usf. Medien der Verständigung, und ohne ihre Deutung ist die Kooperation in vielen Situationen überhaupt nicht möglich. Es gibt keine unmittelbare Kommunikation im Sinne einer medienlosen Verständigung. Immer müssen wir Medien Bedeutung zuschreiben, sie als Ausdrucksmittel der Kommunikationspartner begreifen. Und immer sind diese Deutungen nur Hypothesen – mit allerdings unterschiedlichem Wahrscheinlichkeitsgrad. Insofern unterscheidet sich unser Sprechen und Schreiben nicht von unseren anderen Verhaltensmöglichkeiten, die Sprache nicht von anderen Werkzeugen und die besprochene Umwelt nicht von einer in anderer Form fokussierten Umgebung. Unsere Überzeugung, dass unser Gegenüber unsere Worte verstanden hat, beruht zunächst nur auf gutem Glauben. Wir können weder sein Bewusstsein noch sonst irgendein Organ ›unmittelbar‹ beeinflussen. Immer muss unser Gegenüber selber wahrnehmen und gemäß seinen eigenen Programmen verarbeiten. Wir sind auf seine ›äußere‹ Reaktion angewiesen, um auf sein Verstehen zu schließen. Insofern unterscheidet sich unser Verstehen der Äußerungen unserer Mitmenschen im Prinzip nicht vom Verstehen der Natur. Hier wie dort verstehen wir unser Verhalten als Reiz, haben unsere Hypothesen über die Reaktionen und sind zufrieden, wenn unsere Annahmen erfüllt werden – oder doch zumindest überhaupt eine Resonanz da ist. Resonanz oder Wechselwirkung ist das Mindeste was aus kommunikationstheoretischer Sicht erforderlich ist, um von einer kommunikativen Beziehung zu reden. Und das Ergebnis einer solchen Beeinflussung ist immer die Schaffung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Wir imitieren das Verhalten unserer Mitmenschen, um zu lernen. Wir hoffen, dass unsere Beschreibungen im Mitmenschen ähnliche Vorstellungen hervorrufen, wie wir sie selbst entwickelt haben. Genau um diesen Prozess der Schaffung von Gemeinsamkeiten und Resonanz zu begreifen, habe ich vorgeschlagen, Kommunikation (u. a.) als einen Spiegelungsprozess zu begreifen, an dem ganz unterschiedliche Arten von Medien und Kommunikatoren beteiligt sein können. Mit einem einfachen Konzept sozialer Kommunikation, wie es gegenwärtig meist in Gebrauch ist, können wir die Beziehungen zwischen artverschiedenen Medien und Kommunikatoren nicht fassen. Das Spiegelungskonzept ermöglicht es, auch Gemeinsam
keiten zwischen den artverschiedenen Kommunikatoren zu erkennen. Bislang wurde hier zu stark auf Differenz abgestellt. Man hat die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kommunikationsmedien und Kommunikatoren (Mensch, Pflanze, Technik, Tiere usf.) dramatisiert. Und im zweiten Schritt haben die Sozial-, Kommunikations- und Medienwissenschaftler einige wenige Medien und Prozesse prämiert und mit dem Prädikat ›kommunikativ‹ ausgezeichnet. Ich halte dies für einen verhängnisvollen Reduktionismus, nämlich für den Versuch, die Vielfalt von Informationstypen und Medien, die Menschen und Kulturen nutzen, auf einige wenige herunterzukürzen. Es ist eine Form von psychosozialem Medienimperialismus, der letztlich im Darwin-Komplex wurzelt. Man mag den Menschen nicht in die Entwicklungsgeschichte der Medien einordnen.
Balance und Koevolution als Grundprinzipien der ökologischen Mediengeschichte Die Gegenkonzepte lauten: Medienökologie und kulturelle Kommunikation. Ihre Spezifik besteht in der Nachfolge von Haeckel zum einen darin, unterschiedliche Typen von Informationssystemen/ Kommunikatoren mit unterschiedlichen Typen von Medien in Beziehung zu setzen. Um diese unterschiedlichen Typen oder Emergenzniveaus zu modellieren, ist die Annahme eines ontologischen Parameters beziehungsweise des Emergierens als Prozesstyp erforderlich. Für die Kultur und Kommunikationsgeschichte sind aber noch zwei weitere Grundprinzipien der Ökologie von überragender Bedeutung, die Lehre vom Fließgleichgewicht (Balancieren) in den Ökosystemen (kybernetische Biosystemtheorie) und die Koevolutionslehre. Eine Grundbewegung in jeder Koevolution ist das Oszillieren.
Kybernetische Biosystemtheorie Man kann die Biosystemtheorie als ein Balancemodell auffassen. Die Bewegungen in und von Ökosystemen zeichnen sich durch ein flexibles Gleichgewicht aus. Zwar kann zu einem beliebigen Zeit
punkt ein Element stärker wachsen, aber seine Gegenspieler werden nach der Überwindung einer kritischen Grenze das Ruder wieder herumreißen. Sie mögen dann ihrerseits, wie das Jäger-Beute-Modell annimmt, die Gegner für eine gewisse Zeit dominieren, bis auch sie wieder zurückgedrängt werden. Nur wenn die unabweisbaren Schwankungen innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen bleiben, kommt es zur Bildung von Systemen. Dieser Balancegedanke liegt auch allen anderen kybernetischen Steuerungs- und Regelungsmodellen zu Grunde. Nur weil die Werte um einen Sollwert schwanken, besteht Regelungsbedarf – und nur solange dieser existiert, gibt es auch den kybernetischen Kreislauf. Historische Entwicklungen und Veränderungen erscheinen vor diesem Hintergrund als das Resultat gleichartiger und gegenläufiger Prozesse. Dieses Denken erfordert grundsätzlich, nicht nur eine Bewegungsrichtung im Auge zu haben. Soziales Handeln, Kommunikation, technische Entwicklung, Veränderungen in der Wirtschaft und in der Natur erscheinen als Balanceakte auf dem Normseil mit Neigungen mal nach der einen mal nach der anderen Seite. Wer über das Hochseil balanciert, kann sich nicht steif in der Mitte halten. Ohne die Annahme von Sollwerten und idealen Abläufen kommt die Lehre vom Fließgleichgewicht nicht aus. Ohne Normalformerwartungen keine soziale Kommunikation. Für den Kultur- und Medientheoretiker ist es wichtig, die Seiten/ Pole und die Soll- und Normwerte genau zu bestimmen, zwischen denen beliebige Prozesse balancieren. 12 Die Kunst besteht darin, aus den unüberschaubar vielen Parametern und Oppositionen solche herauszusuchen, die empirisch aussagekräftig und für die theoretische Fragestellung fruchtbar sind. Von Kulturhistorikern in dieser Hinsicht häufig genutzte Parameter führt Abbildung aus. Das Modell des Balancierens geht jedoch nicht ausschließlich von bipolaren Relationen aus. Im Prinzip ist es möglich, beliebig viele Parameter mit Balanceakten zu verknüpfen. Kulturen sind Netzwerke. Und nur weil es so vielfältige Vernetzungsformen gibt, kann nach massiven Ausschlägen nach der einen oder anderen Seite Ich habe diese Sollwerte in der sozialen Kommunikation ›Normalformerwartungen‹ genannt. Vgl.: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation. Opladen , sowie (gemeinsam mit K. Rappe-Giesecke): Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Frankfurt am Main , S. ff., ff. Dort finden sich auch Beschreibungen von Normalformen verschiedener kommunikativer Prozesstypen.
Abb. : Parameter kultureller Veränderung
wieder zu einem (flexiblen) Gleichgewicht zurückgefunden werden. Das Gleichgewichtsdenken der Ökologie beruht letztlich auf der Annahme von begrenzten Ressourcen. Die Kulturökologie geht davon aus, dass die Ressourcen der menschlichen Kultur, seien es nun Informationen, Technik, soziale Aufmerksamkeit, Bodenschätze oder andere, grundsätzlich knapp und begrenzt sind. Dies eben bedeutet, dass jedes Wachstum eines Subsystems Möglichkeiten eines anderen einschränkt. Das Wachstum von X dämpft die Wachs
tumskurve von Y. Und wegen dieses Dämpfungsfaktors wachsen beispielsweise die Bäume nicht in den Himmel. Gewinn und Verlust halten sich in der Gesamtschau die Waage, sind nur zwei Seiten desselben Vorgangs. Selbst wenn man das radikale Gleichgewichtsmodell ablehnt, braucht das nicht zu heißen, dass die ökologische Perspektive überflüssig ist. Sie fördert das Verständnis für die zirkulären Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Faktoren der Ökosysteme und bietet insofern auch eine gute Grundlage für Technikfolgenabschätzung. Sie hält uns nämlich an, bei jeder technischen Errungenschaft auch nach den negativen Auswirkungen auf andere Prozesse zu fragen.
Koevolution Anpassungskonzepte haben das Denken der Biologen vor und nach Darwin bestimmt: Anpassung der Lebewesen an die Umwelt, Veränderung der Umwelt (als Anpassung an die veränderten Lebewesen), erneute Adaption der Lebewesen usf. Aus dieser Beschäftigung mit Austauschprozessen zwischen System und Umwelt und zwischen den Lebewesen ist schließlich das Koevolutionsmodell entstanden. Der Grundgedanke ist auch hier, dass die Untersuchungszelle der Evolution nicht das Individuum, sondern die Interaktion zwischen dem Individuum und anderen ist. Beide Pole der Interaktion müssen sich ergänzen, sich in »passender Weise« verändern. In ökologischen Netzwerken erfordert diese Komplementarität immer auch Oszillation, den Tausch von Rollen und Funktionen. Mal wird der Jäger zur Beute, mal die Beute zum Jäger. Aus kommunikationstheoretischer Sicht sind natürlich nicht alle Beziehungen gleich interessant. Sie untersucht vor allem die Koevolution zwischen – unterschiedlichen Kommunikatoren, – Medien und Informationssystemen (zum Beispiel Sensoren) und zwischen – unterschiedlichen Medien, – Teilsystemen/Elementen der Informationssysteme/Kommunikatoren und Medien. Die Koevolution zwischen Kommunikatoren kann man im Anschluss an Humberto Maturana als »Kopplung« bezeichnen. Dieser Ausdruck meint letztlich nichts anderes als Spiegelung oder Resonanz. Es geht hier um die Frage, wie durch Wechselwirkungen
strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den Medien, Interaktionspartnern oder Kommunikatoren entstehen. Jedes Gespräch lässt sich beispielsweise mikroskopisch als die Koevolution der Speichermedien der Gesprächspartner interpretieren. Zur Beschreibung dieses Prozesses gibt es auch aus anderen Disziplinen Vorschläge. Am bekanntesten ist das Konzept der Schule des »Neurolinguistischen Programmierens« (NLP) geworden. Es unterscheidet in der Beziehung zwischen den Kommunikatoren Phasen des »Pacing«: Anpassen an den Kommunikationspartner, »Leading«: Initiative ergreifen und führen, und schließlich den »Rapport«. Davon ist zu sprechen, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg die Partner im Einklang schwingen und sich beim Pacing und Leading abwechseln. Dieser Wechsel, der in niederer oder höherer Frequenz erfolgen kann, ist eine Form der Oszillation. Koevolution, Kopplung, Pacing und Leading, alle diese Konzepte präzisieren das Kommunikationsmodell der Spiegelung. Der Gedanke einer Koevolution zwischen den Sinnen und den Kommunikatoren/Informationssystemen überhaupt einerseits und den Medien andererseits durchzieht schon die entstandene Schrift von J. G. Herder, »Vom Erkennen und Empfinden der zwei Hauptkräfte der menschlichen Seele«. Er betont dort zunächst, dass »jeder Sinn seine Welt entziffert und schon einen Weiser vor sich hat, die Art der Entzifferung zu lernen«. Andererseits entwickeln sich die Sinne der menschlichen Gattung in Abhängigkeit von der relevanten Umwelt. Die Sinne und Informationsmedien sind aufeinander bezogen. Erst alle Sinne zusammengenommen haben evolutionsgeschichtlich den Menschen dazu befähigt, eine so dominante Rolle in den natürlichen Ökosystemen einzunehmen. Dieser Prozess der Koevolutionsgeschichte ist unabschließbar, sowohl in der Phylo- als auch in der Ontogenese. In der menschlichen Interaktion verlangt etwa die Ausbildung und Dressur der Artikulationsorgane und -bewegungen auch eine Verfeinerung des Hörens und des Gehörs. Das Schreiben kann sich in den kulturellen Ökosystemen nur durchsetzen, wenn auch die visuellen Organe und die visuellen Diskriminierungsfähigkeiten entwickelt werden. Diese an sich nicht sonderlich aufregenden Gedanken müssten für die Kommunikationswissenschaft die Konsequenz haben, die Geschichte der Speicher- und Verbreitungsmedien grundsätzlich im Zusammenhang mit der Geschichte der Informationssysteme zu betreiben, Medien- und Sinnenwandel als zwei Seiten eines Prozesses zu be
greifen. 13 Rezeptionsforschung ohne Ermittlung der Darstellungsformen bleibt auf halbem Wege stehen. Da man aus kommunikationstheoretischer Sicht alle informationsverarbeitenden Systeme auch als Medien betrachten kann (Medien und Prozessoren oszillieren), ist auch mit Spiegelungs- oder Koevolutionsprozessen zwischen Medien zu rechnen. Die Entwicklung des Tanzes als Ausdrucksmedium beispielsweise wird durch die Nutzung der anderen Ausdrucksmedien: Sprache, Bilder, Musik usf. gefördert und/oder begrenzt. Chemische und technische Verfahren lassen sich als (eher kurzfristige) Koevolutionsprozesse interpretieren. Aus der Perspektive der Koevolution und der Ökologie überhaupt gibt es keine dramatischen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Typen von Kommunikationsmedien und den Kommunikatoren (Mensch, Pflanze, Technik, Tiere usw.). Dies eröffnet neue Perspektiven nicht nur für die Zusammenarbeit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, sondern eben auch für eine Betrachtung der Kommunikations- und Mediengeschichte. Die diagnostische Kraft dieses Ansatzes soll nun am Beispiel des Verhältnisses zwischen den Menschen und pflanzlichen Kommunikatoren und Medien ausgelotet werden. 14 Gleichzeitig führe ich den Gedanken der Kommunikation als Spiegelungsprozess weiter aus.
Kulturgeschichte als Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik In der sozialwissenschaftlichen Kommunikations- und Mediengeschichtsschreibung erscheint die Kulturgeschichte als Veränderung von sozialen Faktoren. Meist lässt sich diese Veränderung als Wachstumsprozess begreifen. Die Zahl der sozialen Kommunikatoren und der sozial produzierten, technischen Medien steigt unaufhaltsam. Das ökologische Modell der Kultur- und Mediengeschichte versteht sich hierzu als Alternative. Die Berücksichtigung des Prinzips Ich habe dieses Konzept in dem Buch »Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel« (Frankfurt am Main 2) angewendet. Die folgenden Überlegungen gehen auf einen Vortrag auf der Jahrestagung der deutschen gartenbauwissenschaftlichen Gesellschaft in Dresden zurück.
der Knappheit der Ressourcen und des Bestrebens von Ökosystemen, zu einem Fließgleichgewicht zu gelangen, führt zu der folgenden heuristischen Grundannahme: Wenn die Komplexität des menschlichen kulturellen Ökosystems im geschichtlichen Verlauf konstant bleiben soll, andererseits aber die Zahl der Menschen und der technischen Medien beständig – zumindest während der vergangenen zehntausend Jahre – gewachsen ist, dann muss es anfangs andere Kommunikatoren und Medien gegeben haben. Deren Bedeutung müsste im gleichen Maße abgenommen haben, wie jene der sozialen Faktoren und Artefakte zugenommen hat. Um diesen Gedanken gut zu verstehen, reicht es allerdings nicht aus, sich nur auf den ontologisch-spiegelungstheoretischen Parameter zu stützen. Vielmehr müssen wir Kulturen auch aus informationstheoretischer (oder kybernetischer) Perspektive als selbstbeschreibende Systeme auffassen. Diese Notwendigkeit bestätigt nur ein weiteres Mal den zirkulären Zusammenhang der drei Parameter.
Kulturen als selbstbeschreibende Systeme Alle menschlichen Kulturen und deren Subsysteme (Schichten, Institutionen, Gruppen …) bestimmen selbst, wer Mitglied dieser Kommunikationsgemeinschaft ist, was als Medium genutzt werden kann, was informativ ist, wann Kommunikation gelingt und wann nicht. Die Menschen akzeptieren als Kommunikationspartner nur Phänomene, in denen sie ausreichende Gemeinsamkeiten mit sich selbst entdecken. Oder anders ausgedrückt: Die Phänomene, mit denen strukturelle, funktionale, genetische, morphologische oder andere Gemeinsamkeiten entdeckt werden, gehören zur menschlichen Kultur. Die anderen werden zur ferneren Umwelt, mit denen kein wechselseitiger Austausch, keine Kommunikation gepflegt wird. Welche Gemeinsamkeiten die Menschen zwischen sich und den Pflanzen, Steinen, Tieren, Werkzeugen, transzendentalen Wesen usf. entdecken, hängt von ihren Identitätskonzepten ab. Diese entstehen als Ergebnis des Zusammenspiels von Selbst- und Umweltwahrnehmung. Dass Menschen und Kulturen ihre Umwelt beobachten und beschreiben, braucht kaum betont zu werden. Eher wird in der Industriegesellschaft die Bedeutung der Selbstwahrnehmung unterschätzt. Dabei dient sie ebenso als Kriterium bei der
Suche nach Kommunikationspartnern. Selbstbeobachtung und -beschreibung sind nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine beständige Notwendigkeit jeglicher Kommunikation. Was immer also in Gesprächen und in der gesellschaftlichen Kommunikation passiert, über welche Themen wer auch immer handelt, immer werden die Beteiligten Annahmen über sich selbst, die übrigen (möglichen) Kommunikationspartner, den Ablauf der Kommunikation, die zulässigen Kommunikationsmedien und natürlich auch über die Umwelten, die nicht zum System gehören, machen. Nur weil diese Selbstbeschreibung gelegentlich in verbaler oder nonverbaler Form geäußert wird, kann der außen stehende Beobachter – auch der Historiker – überhaupt auf Kommunikation schließen beziehungsweise Kommunikationsgeschichte nachzeichnen. Menschliche kulturelle Kommunikationssysteme sind nicht nur Systeme, die Informationen über die Umwelt verarbeiten, sie sind zugleich auch selbstbeschreibende Systeme. Erst die Oszillation zwischen beiden Aktivitäten macht ihre Spezifik aus. 15 Für die Kommunikationswissenschaft müssten diese Überlegungen zur Folge haben, dass neben den traditionellen Verfahren der Umweltbeobachtung auch solche der Selbstbeobachtung entwickelt werden. Weiterhin gehören auch selbstreferentielle Komponenten zum Theorieaufbau. Um wieder den Vergleich zur Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften zu ziehen: Es geht darum, die Relativitätstheorie nachzuvollziehen, Konsequenzen aus der Heisenberg’schen ›Unschärferelation‹ zu ziehen. Der kommunikationswissenschaftliche Beobachter muss es lernen, sich auch als Element des von ihm beobachteten Systems zu begreifen – und zu verhalten. 16 Und er muss es, zumal bei historischen Analysen, lernen, die untersuchten Phänomene als selbstbeschreibende Systeme zu modellieren. Eine Aufgabe der Kommunikationsgeschichtsschreibung besteht Aus diesem Grunde ist es auch unglücklich, wenn N. Luhmann seine Sozialtheorie als eine Theorie selbstreferentieller Systeme entwickelt. Soziale Systeme müssen sowohl Umwelt- als auch Selbstwahrnehmung betreiben. Die Prämierung der Selbstwahrnehmung entspricht eher dem Bedürfnis der selbstreflexiven Sozialwissenschaft als dem Selbstbild der Gesellschaft. Diese selbstreferentielle Methodologie haben wir bei der Untersuchung von Beratungskommunikation entwickelt. Vgl. insbesondere Kapitel in M. Giesecke/ K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Frankfurt am Main .
vor diesem Hintergrund darin, durch die Zeiten zu verfolgen, was die einzelnen sozialen Gemeinschaften jeweils als Kommunikation, als Kommunikator und als Medium kultureller Verständigung anerkannt haben und welche Kriterien sie für den Erfolg dieser Verständigung entwickelt haben (3D 쩛CD, Modul ). Dabei werden nicht nur artfremde Phänomene, sondern auch andere Menschen aus- beziehungsweise eingegrenzt. Die Person, die von der Kirche exkommuniziert wurde, gehörte nicht mehr zur Christengemeinschaft. Weiterhin unterscheiden sich die Kulturen in der Geschichte danach, ob und in welchem Maß sie verstorbene und ungeborene Menschen als Teil ihrer Kommunikationsgemeinschaft behandeln. Hier stehen wir gegenwärtig offenbar in einer Umbruchssituation. Die Diskussion um die ›Nachhaltigkeit‹ unseres wirtschaftlichen Handelns zeigt, dass sich die Tendenz verstärkt, die Zeitdimension unserer Kommunikationsgemeinschaft in die Zukunft auszudehnen (vgl. Kap. ). Kommen wir vor diesem Hintergrund zur Frage zurück, welche anderen Elemente neben dem Menschen das kulturelle System in älterer Zeit als Kommunikator, Prozessor, Vernetzungs- und Informationsmedium genutzt haben könnte! Betrachten wir die Zeugnisse der frühen Kulturen von den steinzeitlichen Anfängen über die Hochkulturen an Euphrat und Tigris, Indus und Nil bis zum abendländischen Mittelalter, so fällt die Antwort leicht. Die natürlichen Räume, Landmarken, Flüsse, Steine, Gebirge; abiotische Faktoren wie regelmäßige Winde, der Regen, die Jahreszeiten; Pflanzen, Tiere und Geister bilden über die längste Zeit gemeinsam mit den lebenden und toten Menschen die kulturelle Kommunikationsgemeinschaft. In diese Gemeinschaft nahmen die Menschen nur solche Phänomene auf, in denen sie ausreichende Gemeinsamkeiten mit sich selbst entdeckten. Anthropologen und Ethnologen sind solche Gemeinsamkeiten in den so genannten »einfachen Kulturen« schon immer aufgefallen, und sie haben diese als Anthropomorphismus oder Animismus beschrieben: Pflanzen, Tiere und abiotische Faktoren werden vermenschlicht, unter Umständen auch beseelt, so ist ihre These. 17 Man kann es natürlich auch umgekehrt sehen: Der Mensch wird botanisiert, Eine sehr schöne Fallstudie über die ›Beseelung‹ von Bäumen bei den Nyamaropa in Ost-Zimbabwe hat Alois Mandondo veröffentlicht. (Trees and spaces as emotional and norm laden components of local ecosystems in Nyamaropa land,
vertiert … Er betrachtet sich jedenfalls als Teil der Vegetation, sieht sein Wachsen, Reifen und Sterben als Teil des Naturkreislaufs und betont damit die Gemeinsamkeit zwischen sich und der nichtmenschlichen, nicht-sozialen Umwelt.
Spiegelungen zwischen Mensch und Pflanze In den archaischen Gesellschaften der Sammler und Jäger und dann der Ackerbauer waren zum Beispiel Pflanzen unverzichtbare Bestandteile der kulturellen Kommunikationsgemeinschaft. Man redete mit ihnen, sprach ihnen menschliche Fähigkeiten zu, machte sie zum Ausdrucksmedium göttlichen Willens und vergottete sie selbst. Zugleich nutzten die Menschen Pflanzen und Samen in Opferhandlungen von sich aus als ein Medium der Kommunikation mit der Natur und mit transzendentalen Mächten. 18 Die mehr oder weniger reichliche Ernte zeigt ihnen, ob das Gespräch mit den Naturgewalten erfolgreich war oder nicht. Wenn im Alten Testament beispielsweise behauptet wird, der gläubige Mensch »ist wie der Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hinstreckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte« (Jeremia ,, vgl. auch Ps. ,, Ps. ,); dann werden natürlich nicht nur dem Baum Sensibilität und menschliche Gefühle zugesprochen, sondern der Mensch wird als dürstendes Wesen, welches sich – wie der Baum – zum Wasser hinzieht, dargestellt. Baum und Mensch spiegeln sich ineinander, und wenn nur genügend entsprechende Vergleiche angestellt werden, kann bald niemand mehr entscheiden, was Gegenstand und was Abbild, wo die auslösende Geräuschquelle und wo das resonante Echo ist. Dass eine solche Widerspiegelungskonzeption tatsächNyanda District, Zimbabwe. In: Agriculture and Human Values (Dordrecht), Bd. , Nr. , Dez. , S. -. Kaum eine »Kulturpflanze«, kaum ein verbreiteter Baum, der nicht zum Beispiel in den großen indischen Epen beschrieben wird. In diesen Erzählungen wird ihre Entstehung und ihre Bedeutung für Menschen und Götter erläutert. Die Pflanzen werden in das Ökosystem »eingebaut«. Vgl. Maneka Gandhi: Brahmas Haar. Die Mythologie der indischen Pflanzenwelt. Frankfurt am Main (zuerst Kalkutta ).
lich in älteren Kulturen angenommen wurde und dass deshalb auch keine Rede davon sein kann, die Natur sei lediglich als Vergleichsgröße, als konventionelles Symbol gebraucht worden, dafür gibt es bis ins Spätmittelalter hinein viele Belege. Berthold von Regensburg etwa betont in seiner Predigt ›Von dem Wagen‹, dass die Menschen von den Bäumen deshalb lernen können, weil diese den Menschen ähnlich sind und weil andererseits die Menschen viele Ähnlichkeiten mit den Bäumen haben: »Daˆ müget ir gar vil an lernen guoter dinge, wan die böume gelıˆchent den liuten und de die liute die böumen.« 19 Die Bäume gleichen also den Leuten und die Leute den Bäumen. Es gibt eine Widerspiegelung oder Reziprozität zwischen den beiden Polen des Vergleichs – und weil es diese Wechselseitigkeit gibt, deshalb können Menschen und Bäume miteinander reden oder, wie es Bernhard von Clairvaux, auf den Berthold in einer anderen Predigt Bezug nimmt, ausdrückte: ›Sie lernen von einander.‹ 20 Für den außen stehenden Betrachter zeigen sich Widerspiegelungsverhältnisse als strukturelle, genetische, funktionale, dynamische oder andere Ähnlichkeit. Mindestvoraussetzung für das »Gespräch« mit der Natur ist beispielsweise, dass sie auch wahrnehmen kann: »Augen« und »Ohren« besitzt. Entsprechende Darstellungen finden sich in mittelalterlichen Handschriften (vgl. Abb. PDF 쩛CD). Informative Strukturen, Prozesse usw. wiederholen sich in den Medien oder bei den Gesprächspartnern. Die Frage, wie viele und welche Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede zwischen Mensch und Pflanze erkannt werden, hängt von den Maßstäben ab, mit denen beschrieben und verglichen wird. Über diese Maßstäbe sind wir dank der intensiven Nutzung und Perfektionierung der Schrift in Griechenland seit ca. dem . vorchristlichen Jahrhundert ganz gut unterrichtet. Es zeigt sich, dass vor allem die von Aristoteles beschriebene Lehre von den Urqualitäten: kalt, warm, trocken und feucht, aus deren Kombination die Elemente entstehen, das Vergleichen und Entdecken von Gemein Berthold von Regensburg, Predigt XI in: Vollständige Ausgabe seiner deutschen Predigten mit einer Einleitung und Anmerkungen von Franz Pfeiffer und Joseph Strobe, neu herausgegeben von Kurt Ruh, Bd. , Berlin , S. -, hier S. . Vgl. auch Horst Wenzel: Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München , S. ff. Epistola CVI, Sp. (P.L. CLXXXII).
Elemente und ihre Qualitäten
Erde kalt/trocken
Luft feucht/warm
Wasser kalt/feucht
Feuer trocken/warm
Gestirne
Mond Fixsterne
Jupiter Venus
Saturn Merkur
Mars Sonne
Jahreszeiten
Herbst
Frühling
Winter
Sommer
Soma, Körperorgane und -säfte
Milz Galle
Blut Herz
Hirn
Leber gelbe Galle
Psychische Qualitäten
Melancholiker
Sanguiniker
Phlegmatiker Choleriker
Evangelisten
Lukas
Johannes
Matthäus
Markus
Pflanzen z. B.
Alraune
Weintrauben
Melone
Porree
Abb. : Die Elementenlehre als Maßstab zur Entdeckung von Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Menschen21
samkeiten zwischen der Natur und den Menschen begünstigt hat. Hippokrates und Galen wendeten diese Lehre auf den Körper und die Pflanzen an. Die medizinischen Traktate und Kräuterbücher nutzen das Schema bis weit ins . Jahrhundert hinein. 22 Selbst christliche Figuren und Symbole ließen sich mit diesem Maßstab einordnen (vgl. Abb. ). Natürlich gab es weitere Prinzipien, nach denen Vergleiche zwischen Menschen und Pflanzen angestellt wurden, vor allem natürlich morphologische, die im Gegensatz zur Elementenlehre, die gustatorischen und kinästhetischen Sinne bevorzugt ansprachen, auf die Augen angewiesen sind. Zu wenig beachtet wird häufig der ambivalente Charakter des Vergleichens: Es schafft sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Die Beteiligten und der Betrachter haben prinzipiell die Möglichkeit, entweder den Aspekt der Identifizierung, also das Feststellen von Gemeinsamkeiten oder jenen der Abgrenzung, also der Feststellung von Unterschieden zu betonen. Nach dem ›Tacuinum Sanitatis‹ aus der Bibl. Casanatense, Rom. Ms. , um (?), vgl. die kommentierte Ausgabe von Luisa Cogliati Arano, München . Vgl. die Zusammenstellung von Hans Biedermann: Medicina Magica. Metaphysische Heilmethoden in spätantiken und mittelalterlichen Handschriften, Graz (Akad. Druck- u. Verlagsanstalt) 3.
Und diese Möglichkeit haben die Kulturen im Laufe der Geschichte auch im Hinblick auf die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Pflanzen genutzt: Es spricht alles dafür, dass man bis zum Beginn der Neuzeit vor allem die Gemeinsamkeiten betont hat.
Das Verhältnis Mensch : Pflanze – ein zerbrochener Spiegel? In verschiedenen Schüben, begünstigt zunächst durch die wachsende Bedeutung von Viehzucht und Tieren, dann durch Technisierung, monotheistische Religionen usf. hat sich die Akzeptanz von Pflanzen als Kommunikationspartner und -medium in Europa drastisch verringert. Kulturhistoriker beschreiben diese Zurückdrängung als Zivilisation, Entmystifizierung, Säkularisierung, Aufklärung u. Ä. Den letzten, nachhaltigsten Anstoß zur Ausgrenzung von Pflanzen erleben wir seit der frühen Neuzeit. Während die Christen bis zur Glaubensspaltung Pflanzen als ein Medium göttlicher Verkündigung allgemein akzeptierten, hat der Protestantismus mit seiner strikten Reduktion der göttlichen Informationsmedien auf die Heilige Schrift (Sola scriptura) auch auf diesem Felde ein monomediales, ausschließlich auf den Menschen bezogenes Kommunikationskonzept durchgesetzt. 23 Dies ging nicht Schlag auf Schlag, sondern wir können in den Flugschriften noch im . und teilweise bis in das . Jahrhundert hinein feststellen, wie stark vor allem pflanzliche Abnormitäten als (Wunder-)Zeichen bewertet wurden, die Gott zur Kommunikation mit den Menschen nutzte. Mit der so genannten »Entzauberung« der Pflanzen und Tiere, ging und geht gleichzeitig in den Industriegesellschaften Europas eine Verzauberung der Technik einher. Deutlich wird dies an der Schlüsseltechnologie der Buchkultur, dem Buchdruck, zu zeigen sein (vgl. Kap. ). Sie wird mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit vermenschlicht, ihr wird die Fähigkeit, Wissen zu speichern und zu vermitteln, aufklärend zu wirken, Demokratie zu schaffen, schon seit den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts zugeschrie Vgl. zum Beispiel Gerhard Ebeling: »›Sola scriptura‹ und das Problem der Tradition« sowie ›Worthafte und sakramentale Exisitenz‹ und ›Erwägungen zum Sakramentsverständnis‹, in: Ders.: Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen. Göttingen , S. -, -, -.
ben. Dieser Prozess setzt sich in unserer Zeit mit anderen Techniken fort. Mit der Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung in den fünfziger Jahren des . Jahrhunderts werden an den Maschinen nicht nur Ähnlichkeiten mit den psychischen Speicherleistungen, sondern auch mit der menschlichen Gehirntätigkeit erkannt. Das ›Elektronengehirn‹ kann denken. Dieser Vergleich ging vielen allerdings zu weit, und es sind in der Zwischenzeit eine Reihe von Beiträgen erschienen, die belegen wollen, »warum Computer nicht denken« können. 24 Man kann demnach die Entwicklung wie folgt zusammenfassen: Der Ausgrenzung der Pflanzen als Kommunikationspartner und -medium entspricht auf der anderen Seite die Einbeziehung der Technik in die menschlichen Kommunikationssysteme und ihre zunehmende Sozialisierung und Psychologisierung. Dieses Verdrängungsverhältnis, dass also die kulturelle Bedeutung der technischen Medien und Kommunikatoren nur auf Kosten der anderen, pflanzlichen erreicht werden kann, hat letztlich zu den Problemen im Verhältnis Mensch – Natur – Technik geführt, die wir gegenwärtig als Gefährdung unseres Ökosystems erleben und beschreiben. 25 Wenngleich, so viel ich sehe, noch viel Forscherfleiß notwendig ist, um diesen Beziehungen konsequent nachzugehen, so ist doch vermutlich die folgende, in Abbildung illustrierte Entwicklungshypothese recht wahrscheinlich: 26
Vgl. Neil Postman: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft. Frankfurt am Main . J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main . Diese Probleme werden auf zahlreichen Veranstaltungen thematisiert. Vom . bis . Juli etwa fand in Sydney ein großes internationales Symposium zum Thema ›Towards a New Millennium of People-Plant-Relationships‹ statt, dessen zentrales Anliegen es war, ›Perspektiven für eine radikale Veränderung des Verhältnisses zwischen den Pflanzen und unserer Kultur aufzuzeigen. Ich nehme dabei eine eurozentristische Sichtweise ein. Würde man asiatische Entwicklungslinien berücksichtigen, sähe dies natürlich anders aus. Ebenso kommt man zu anderen Ergebnissen, wenn man Kulturen untersucht, die die typischen Stadien der Demokratisierung, Industrialisierung und Aufklärung nicht durchschritten haben.
Abb.: Pflanzen und Technik als Spiegel des Menschen in der Kulturgeschichte
Kulturgeschichte Kulturen haben also die Möglichkeit, in der Beziehung Mensch : Pflanze die Gemeinsamkeiten oder aber die Unterschiede zu betonen. In der Vor- und Frühgeschichte hat man die Gemeinsamkeiten hervorgehoben. Mit der zunehmenden Verstädterung, Industrialisierung, Demokratisierung, also im Prozess der Zivilisation, sind einerseits die Unterschiede zu den Pflanzen und andererseits die Spiegelungen in der Technik stärker betont. 27 Dies hat unterstützt, dass das Verhältnis Mensch–Natur–Technik aus dem Gleichgewicht geraten ist, jedenfalls die Balance gestört ist. Zwar akzeptiert man allgemein, dass die Technik eine Verlängerung oder Ersetzung menschlicher Organe ist und scheut sich nicht, technische Instrumente als Kommunikationsmedien zu behandeln, aber auf der anderen Seite spricht man Pflanzen und anderen natürlichen Phänomenen vergleichbare Funktionen ab. Ähnliches gilt auch für die Beziehung Mensch : Tier. Allerdings sind hier schon in der . Hälfte des . Jahrhunderts Wiederannäherungen zu beobachten, vor allem ausgelöst durch Charles Robert Darwins Veröffentlichung »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese oder das Erhaltenbleiben der begünstigten Rassen im Ringen um die Existenz« (), vgl. weiter D. von der Pfordten
Therapeutische Perspektiven Welche Prognosen für die Zukunft lassen sich aus diesen Ideen ableiten? Wenn wir das Balancekonzept ernst nehmen, dann wird man davon ausgehen können, dass die Prämierung sozialer und (höherer) psychischer Informationsmedien, Kommunikatoren und Kommunikationskonzepte in Zukunft stärker gedämpft wird. Ob die Extremwerte sowohl dieser Entwicklungskurve als auch jene der Abwertung der abiotischen Faktoren heute schon erreicht sind, weiß natürlich niemand. Hundert Jahre sind für die menschliche Kulturgeschichte keine bemerkenswert lange Zeitspanne. Aber im Sinne einer Bewegung hin zu einer gleichgewichtigen Nutzung sowohl der menschlichen als auch der technischen und der belebten und unbelebten natürlichen Medien und Kommunikatoren, läge nunmehr die Betonung auf den Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen und der übrigen Natur. Hier müssen rückkopplungsintensive Vernetzungen und die Reflexion von Spiegelungsphänomenen gefördert werden. Von der ›Wiederentdeckung des Körpers‹ über die Esoterik bis hin zum Konzept der Nachhaltigkeit weisen viele aktuelle Bewegungen in diese Richtung. Zweitens müssen wir im Verhältnis zu den Medien von einem Entweder-oder zu einem Sowohl-als-auch kommen. Man kann nicht im Verhältnis zu den Pflanzen einseitig auf Differenz und im Verhältnis zur Technik einseitig auf Gemeinsamkeit setzen, sondern es geht darum, im Verhältnis zu beiden Medien die Spannung zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten zu ertragen. Wir müssen es lernen, die Paradoxie einerseits: Menschen sind wie Pflanzen/Pflanzen sind wie Menschen andererseits: Menschen sind ganz anders als Pflanzen/Pflanzen sind ganz anders als Menschen und: Nur weil Menschen und Pflanzen zugleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede haben, können und müssen sie zueinander in Wechselwirkung treten zu akzeptieren. (): Der moralische und rechtliche Status von Tieren. In Ökologische Ethik und Rechtstheorie, hg. von J. Nida-Rümelin und D. von der Pfordten, BadenBaden. Rodd, R.: Biology, ethics and animals. Oxford, New York .
Die Zeit dafür, das Verhältnis zu den nichtmenschlichen Kommunikatoren und Medien zu überdenken, scheint gegenwärtig günstig. Drei Faktoren nähren diese Hoffnung: . Unsere Kultur ändert gegenwärtig ihre Selbstbeschreibung und damit auch die Maßstäbe ihrer Umweltbetrachtung. Dies drückt sich besonders deutlich in der Tendenz aus, sich selbst nicht mehr zuerst als Industrie-, sondern als Informationsgesellschaft zu beschreiben. Je stärker Technik, Mensch und Natur unter dem Gesichtspunkt der Informationsverarbeitung gesehen werden, desto größer werden auch wieder die Chancen, Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Pflanzen zu entdecken. 28 Pflanzen haben genauso wie Menschen Sensoren, verarbeiten Signale und senden solche. Zugleich ermöglicht es dieses Paradigma aber auch, Unterschiede zu erkennen. Pflanzen haben beispielsweise kein höheres Nervensystem, senden Töne/Schwingungen in anderen Frequenzbereichen als der Mensch, speichern ihre Informationen nicht symbolisch-sprachlich usf. Sobald wir die Mensch-Pflanze-Beziehung als eine kommunikative – und nicht bloß als eine ökonomische oder eine distanzierte einseitige Wahrnehmungsbeziehung, wie sie die modernen Naturwissenschaften aufbauen – begreifen, fällt es auch leichter, den paradoxen Zusammenhang zwischen den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu begreifen: Kommunikation setzt bei den Kommunikationspartnern ja immer auch sowohl gemeinsame Wahrnehmungserfahrungen, gemeinsame Programme, Sprachen als auch unterschiedliche Erfahrung, abweichende Bewertungen voraus. Ansonsten bestände keine Notwendigkeit zum Gespräch. In jedem Augenblick also sowohl Identität als auch Differenzen – ohne diese Paradoxie keine Kommunikation. Und diese Paradoxie immer wieder zu gestalten gehört zu den wichtigsten kommunikativen Schlüsselqualifikationen für die Informationsgesellschaft. . Die soziologisierende Sichtweise des Menschen als sprachbegabtes, Vgl. in diesem Sinne auch Charles A. Lewis: The evolutionary Importance of people-plant relationships. In: Joel Flagler/Raymond P. Poincelot (Hg.): PeoplePlant Relationships – Setting Research Priorities. New York/London/Norwood (Food Products Press) , S. -, und Stephen Kaplan: Environmental Preference in a Knowledge-seeking, Knowledge-using Organism. In: J. H. Barkow, L. Cosmides, J. Tooby (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and Generation of Culture. Oxford.
aufgeklärtes, bewusstes, Werkzeug gebrauchendes Wesen, also der Aspekt der Ausgrenzung des Menschen aus der Natur, der Betonung seiner Unterschiede, verliert gegenwärtig in den Industrienationen die ideologische Prämierung, die sie seit gut zweihundert Jahren besessen hat. Es treten wieder stärker die gemeinsamen biogenen Strukturen und Prozesse zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen in der öffentlichen Diskussion in den Vordergrund. Biologie und andere Wissenschaften leisten hier einen wichtigen Beitrag. Darwin und Freud werden allgemein akzeptiert. Über den weitaus längsten Zeitraum der Phylogenese des Menschen bestand seine Umwelt für den Menschen vor allem aus Pflanzen, Tieren und wenigen, meist sehr wenigen anderen Menschen. Technik und komplexe soziale Institutionen sind erst ein evolutionäres Spätprodukt unserer Gattung. Es ist aus diesem Grunde sehr wahrscheinlich, dass die Mehrheit der inneren Strukturen und natürlich auch unsere Psychodynamik die Auseinandersetzung mit der nichttechnisierten und nichtsozialisierten Umwelt spiegelt. In der Fachliteratur wird immer wieder auf diese vorrationale, körperliche, ›enaktive‹ Vor- oder besser Hauptgeschichte unseres Verhältnisses zu den Pflanzen hingewiesen. Die Gründe für die spezifische Wirksamkeit gartentherapeutischer Arbeit sieht man beispielsweise gerade darin, dass hier »tiefere« psychische Schichten erreicht werden und so Einfluss auf vorbewusste Prozesse genommen werden kann. 29 . Unabhängig davon, was Kulturen prämieren, erlauben, normalisieren etc., haben die einzelnen Menschen, ja auch jede Berufs Charles A. Lewis: Green Nature, Human Nature. The Meaning of Plants in our Lives, Chicago . Lewis spricht von unseren unbedingten Reflexen (Innate Responses) auf die Natur: »We might consider our emotional responses to nature settings as the psychic equivalent of body knowledge, something which helped us survive at a time passed, but to which we continue to respond today. Is there an ancient meaning in our love for the blazing display of fall colour, the fresh bloom of plants and the trees in the spring? Perhaps these emotional responses, too, played an important role in our survival and, like body knowledge, were locked in our genes.« Ders.: The evolutionary importance of people-plant relationships, S. (vgl. Anm. ). Lewis knüpft an die Erkenntnis dieser Zusammenhänge die folgenden Erwartungen für die Zukunft: »Understanding these ancient responses and satisfying them helps to bring our two selves – ancient and contemporary – into harmony and reduce the stress resulting from denial of basic intuitive needs« (S. ).
gruppe, jede Schicht usf. immer die Möglichkeit, selbst andere Schwerpunkte hinsichtlich der Vergleichsmaßstäbe zu setzen. Deshalb gibt es in allen Kulturen und auch in unserer Gegenwart hier und heute Menschen, die stärker auf Gemeinsamkeit, andere, die stärker auf Differenz, und wieder andere, die eher auf ein Sowohl-als-auch abheben. Eine Aufwertung der jeweils alternativen Sehweisen, Werte usf. fördert insgesamt ein Sowohl-als-auch-Denken in der Gesellschaft. Und genau dieses balancierende Denken gilt es zu entwickeln. Die bisherige Arbeitsteilung zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften muss dazu revidiert werden. Die Natur- und Ingenieurwissenschaften sehen ihre Gegenstände nicht als kulturelle Kommunikationsmedien beziehungsweise als in vielen Hinsichten menschenähnliche Kommunikatoren. Sie ersparen es sich damit, den Rückkopplungs- und Spiegelungsverhältnissen systematisch nachzugehen und sich selbst und ihre Untersuchungsobjekte als ein abhängiges Element in einem kulturellen Kommunikationssystem zu begreifen. Die Sozialwissenschaftler andererseits können sich auf die Beschreibung der Wechselverhältnisse zwischen den Menschen als sozialen, sprach- und vernunftbegabten Wesen konzentrieren. Sie können dann die vielfältigen Wechselwirkungen mit den anderen nichtsozialen, also biogenen, technischen, klimatischen, physikalischen und anderen Faktoren vernachlässigen. Ich sage nicht, dass diese Betonung der Unterschiede zwischen Pflanzen und Menschen, zwischen sprachlichen und nonverbalen Medien und zwischen den verschiedenen Reaktions- und Wechselwirkungsmustern absichtsvoll geschieht. Es geht nicht um Schuldzuweisung. Es geht natürlich auch nicht darum, die vorhandenen Unterschiede zwischen den verschiedenen Medien und Kommunikatoren zu leugnen. Natürlich besitzen Pflanzen keine Psyche, produzieren keine Technik und bewegen sich anders als die Menschen. Es geht mir vielmehr darum, eine alternative Perspektive auf unsere Kultur zu entwerfen, die es erzwingt, das Zusammenwirken zwischen sozialen, technischen und natürlichen Medien mitzureflektieren und zu gestalten. Es geht um die Vision einer ökologischen Kommunikationskultur als Ergänzung und Alternative zur Vision der Naturbeherrschung durch die technisierte Unterbrechung der Rückkopplungs- oder Spiegelungsbeziehungen zwischen Mensch und Natur.
. Mythen und ambivalente Leistungen der Buchkultur 1 Die Notwendigkeit ideologischer Aufladung von technischen Medien und Kommunikatoren Kommunikation, Wahrnehmung, Denken und andere Formen der Informationsverarbeitung hat man seit dem Mittelalter eher als Hilfsmittel zweiten Grades zur Erreichung individueller oder sozialer Ziele denn als Selbstzweck betrachtet: Man redet mit anderen, um sie zu überzeugen, zu belehren, zu lernen etc.; man denkt nach, um Probleme zu lösen. Wahrnehmung und Informationsverarbeitung erscheinen als ein Vehikel der Umweltveränderung, das selbst nur allzu oft unbemerkt bleibt. Erst seit einigen Jahrzehnten kam es hier zu tief greifenden Veränderungen: Wie schon im ersten Kapitel ausgeführt, begann man im Alltag und in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen die unterschiedlichsten Prozesse als Informationsverarbeitung zu betrachten. Zugleich wurden der Besitz und die Verbreitung von Informationen zu einem manifesten Ziel sozialen Handelns. Der ›informierte Bürger‹ erscheint als Ideal in der politischen und ökonomischen Werbung. Ob er jemals seine Informationen in Handlungen umsetzen kann und welcher soziale oder individuelle Nutzen dabei entspringt, war auf einmal nicht mehr so wichtig. Seit Mitte der neunziger Jahre scheint sich das Blatt in Europa allerdings zu wenden. Schon das enorme Wachstum der elektronisch gespeicherten Informationen lässt den Ruf nach zuverlässigen Auswahlkriterien laut werden. Und diese Kriterien können letztlich nicht wieder kommunikativer Natur sein. Der Kreislauf der Informationsverarbeitung braucht externe Interdependenzunterbrecher. In diesem Sinne fordern Politiker dazu auf, die Informationsverarbeitung und -verbreitung stärker zu legitimieren und sie durch Als Vorlagen zu diesem Kapitel dienten Rundfunkbeiträge und Vorträge, die ich auf Einladung von Berufsverbänden, Parteien und gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen gehalten habe. Vgl. vor allem: »Freut euch über die Ambivalenz der Buchkultur!« Ein aufmunterndes Grußwort an die Typografen in der Zwischenzeit der neuen Medien. In: Forum Typografie (Hg.): Zehn Jahre Forum Typographie. Bericht des . Bundestreffens. Köln , Mainz , S. -.
Werte zu regulieren. 2 Der Nutzen zumal elektronischer Medien für die Gemeinschaft und für den einzelnen Menschen soll klarer benannt werden. Dahinter steht u. a. die Beobachtung, dass der Nutzen der Informationstechnologien immer wieder hinter den Erwartungen zurückbleibt. Der Markt für eine Informationstechnologie, deren Ziel bloß die Verbesserung von Informationsverarbeitung und Kommunikation ist, erweist sich als begrenzt. Wie andere Technik auch brauchen die Kommunikationsmedien die Begeisterung der Menschen, wenn sie sich im Alltag der Gesellschaft durchsetzen sollen. Aus informationstheoretischer Sicht ergibt sich die Notwendigkeit solcher Ideologisierung aus der Tatsache, dass sich alle Informations- und Kommunikationssysteme selbst beobachten und beschreiben. Sie brauchen ein Bild von sich selbst, von ihrer Umwelt und von ihren wechselnden Beziehungen zu derselben. Insofern wir Gesellschaften und Kulturen als Kommunikationssysteme betrachten, müssen wir uns auch mit deren Selbstkonzepten beschäftigen. Diese sind historisch entstanden und lenken, wie die aufgehäufte Erfahrung der einzelnen Menschen, die Kulturentwicklung. Hierbei wird jede Kultur von so zahlreichen Werten und Programmen gesteuert, dass sie um Akte der Selbstsimplifikation nicht umhinkommt. Sie thematisiert manche Werte und drängt andere damit in den Hintergrund von öffentlichem und individuellem Bewusstsein. Diesen Vorgang kann man Sozialisation, Normierung, Strukturbildung oder eben auch Ideologisierung nennen. Jedenfalls findet er unvermeidlich statt. Er schafft soziale Strukturen und führt zu Unterschieden zwischen den einzelnen Kulturen auf unserem Globus. Es ist wichtig zu betonen, dass keineswegs alle Beschreibungen sprachlich und bewusst erfolgen – ebenso wenig wie der Mensch nur durch bewusste Programme seine Identität festigt. Es gibt latente und thematisierte, ritualisierte und sprachlich-begrifflich beschriebene Handlungen. Es scheint aber so, dass kein Mensch und keine Kultur umhinkommen, einzelne Ergebnisse der Selbstwahrnehmung auch explizit zu thematisieren. Solche Thematisierungen kann man dann Selbstreflexion nennen. Auch Mythen sind Produkte solcher selbstreflexiver Akte. Sie lie Vgl. zu den entsprechenden Bestrebungen in der Europäischen Union das Kap. , S. ff.
fern die Legitimation für die Vereinfachungen, die wir bei unseren Selbst- und Umweltbeschreibungen vornehmen. Sie machen plausibel, warum beispielsweise das eine Medium wichtiger als das andere, der eine Wissenstyp wertvoller als sein Gegenteil ist. Sie erzählen, was in den unendlich zirkulären kulturellen Prozessen als Anfang und was als Ende zu gelten hat. Sie machen der Gesellschaft einsichtig, wie Paradoxien und Ambivalenzen aufzulösen sind, und ermöglichen so Handeln. Als Akte reflexiver Selbstsimplifikation sind Mythen unverzichtbar. Vielleicht ist deshalb auch der Ausdruck »Entmystifizierung« missleitend. Da die Mythenbildung für die individuelle und kulturelle Identitätsbildung unvermeidlich ist, führt jede Entmystifizierung zu neuen Mythen. Es kann also nur darum gehen, zeitgemäße Mythen zu finden, solche zu verdrängen, die sich als Blockaden für die Zukunftsgestaltung erweisen. Generell kann man wohl nur davor warnen, zu wenig Mythen zu haben, eben weil dies zu viel Komplexität reduziert. »Ungefährlich hingegen sind die Polymythen«, schrieb Odo Marquard , »wer polymythisch – durch Leben und Erzählen – an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach überkreuz; wer monomythisch durch Leben und Erzählen nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muss, hat diese Freiheit nicht; er ist ganz und gar – sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung – mit Haut und Haar von ihr besessen.« 3 Eine rein informationstheoretische Kulturbeschreibung liefe im Sinne Marquards auf einen Monomythos hinaus. Weder in der frühen Neuzeit noch in der Gegenwart lassen sich die Menschen mit einer ausschließlichen Orientierung auf kommunikative Ziele für neue Medien und Kommunikationsformen begeistern. Sie brauchen auch interaktive, kooperative und andere Visionen. Dies war eine zentrale Frage bei der Durchsetzung des Buchdrucks – und wird es auch bei der Durchsetzung der neuen elektronischen Medien sein: Welchen Nutzen für die soziale Gemeinschaft, für die vielfältigen sozialen Gruppen und schließlich für den einzelnen Menschen haben diese Medien und die neuen Formen der Informationsverarbeitung? Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart, , S. -, hier S. .
Wenn ich von der ideologischen Aufladung von Kommunikation und von technischen Medien spreche, dann meine ich auch diese interaktiven und kooperativen Bedeutungszuschreibungen. Erst solche Sinnbildungsprozesse machen aus Natur und Technik kulturelle Medien. Dabei kommen dann die Benutzer und die Anwendungsbereiche der Technologien ins Blickfeld (user vision). Je mehr Wünsche nicht nur der Informationsverarbeitung, sondern auch auf dem Gebiet zwischenmenschlicher Beziehung und im Arbeitsleben eine neue Technologie zu befriedigen verspricht, desto größer sind ihre Chancen, sich im Konkurrenzkampf mit den vorhandenen Technologien durchzusetzen. Und ohne einen solchen Verdrängungswettbewerb geht es nicht. Es gibt keine bloße Addition von neuen Technologien – und schon gar nicht von Kommunikationstechnologien –, sondern immer verläuft die Einführung neuer Medien auf Kosten der etablierten alten. 4 Einen Ausdruck findet dieser Konkurrenzkampf eben auch in der Verschiebung gesellschaftlicher Wertmaßstäbe. Die »Sinn«-Krise der neunziger Jahre lässt sich vor diesem Hintergrund als die Suche nach geeigneten Bedeutungszuschreibungen für die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien verstehen. Die alten, für den Buchdruck geschaffenen Leitbilder: Wahrheit, Öffentlichkeit, Allgemeingültigkeit, Linearität, Rationalität usf. geben der Nutzung der neuen Medien keinen (neuen) Sinn. Der Buchdruck ist, wie ich an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen habe, ein Paradebeispiel nicht nur für die Prämierung einer Informationstechnologie, sondern auch für deren Verherrlichung als Kooperations- und Interaktionsmedium. 5 Ich fasse die wichtigsten Projektionen, die den Buchdruck erst zu einem Kooperationsund Interaktionsmedium und damit zu einem kulturellen Instrument werden ließen, noch einmal in aller Kürze zusammen: Dies wird u. a. für die Aufgaben sensibilisieren, die in dieser Hinsicht noch von der Informationsgesellschaft zu bewältigen sind. In den Worten von Neil Postman, der diese These in seinen Büchern ausführlich geprüft hat: »Die Medien konkurrieren miteinander … Technologischer Wandel vollzieht sich nicht additiv, sondern ökologisch.« In: Sieben Thesen zur Medientechnologie. In: W. D. Fröhlich, R. Zitzelsperger, B. Franzmann (Hg.): Die verstellte Welt, Beiträge zur Medienökologie. Frankfurt am Main , S. -. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main /, Abschnitt ., ., . und: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Frankfurt am Main , S. ff.
Der Buchdruck als Wunschmaschine Weder das Schwarzpulver noch die hochseetüchtigen Schiffe, die bei den Entdeckungsfahrten benutzt werden, noch die zahlreichen anderen Erfindungen, die die Entwicklung manufakturieller Produktion ermöglichen, haben die Zeitgenossen so ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wie den Buchdruck. An diese Technologie knüpften sich die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen, sie wurde für die Entwicklung sozialer Utopien und zur Neukonturierung sozialer Identitäten genutzt. »Dies ist die Kunst der Künste, die Wissenschaft der Wissenschaften«, lobt der Karthäusermönch Werner Rolevinck in seiner ›Chronik‹ die Druckkunst: »Dank der Schnelligkeit, mit der sie gehandhabt wird, ist sie ein begehrenswerter Schatz an Weisheit und Wissen, nach dem sich alle Menschen aus natürlichem Trieb sehnen, der gewissermaßen aus tiefem, finsterem Versteck hervorspringt und diese Welt, die im Argen liegt, gleichermaßen bereichert und erleuchtet. Die ungeheure Menge von Büchern, die einst in Athen oder Paris und an anderen gelehrten Stätten oder in geistigen Bibliotheken nur ganz wenigen Gelehrten offenstand, breitet sich dank dieser Kunst nun überall aus, in jedem Stamm und Volk, in jeder Nation und Sprache, sodass wir jenes Wort wahrhaftig erfüllt sehen, das im ersten Kapitel der ›Sprüche‹ geschrieben steht: ›Die Weisheit predigt draußen und lässt ihre Stimme auf den Straßen erschallen.‹« 6 Erasmus von Rotterdam sieht in der Nutzung der typographischen Medien eine Möglichkeit, den kriegerischen Wettkampf zwischen den Völkern zu beenden, oder genauer gesagt, ihn auf die Ebene des neuen Mediums zu heben: »Oh möcht es doch allen in gleicher Weise Herzenssache sein, mit den Italienern in diesen Wettstreit [um die schönste Form der Druckgestaltung] einzutreten, einen Wettstreit, der ihnen nicht schadet, aber allen Nutzen bringt und der für uns [Deutsche] viel ruhmvoller ist, als wenn wir gegen sie wie die Barbaren mit Steinen und Eisen kämpfen wollten. Ist bei solch kriegerischer Auseinandersetzung der Sieger der Schreckliche, der Besiegte der vom größten Unglück Heimgesuchte, so ist in dem anderen Falle von Wettstreit [in Form der Ver Fasciculus temporum, Straßburg , zitiert nach der Übersetzung von Hans Widmann aus seiner für dieses Thema nützlichen Dokumentation: Der deutsche Buchhandel in Urkunde und Quellen, Hamburg , Bd. , S. /.
öffentlichung von Wissen in gedruckten Büchern] der Überlegene der größere Wohltäter, während der Unterlegene den Kampfplatz als ein Geförderter verlässt.« 7 Überall in Europa äußerte man die Hoffnung, dass die ›ars nova imprimendi libros‹ zur Volksaufklärung beitragen möge, die menschliche Erkenntnis heben, ›magnum lumen‹, große Erleuchtung, bringen werde. Und diese Begeisterung setzte sich auch in der Folgezeit kontinuierlich fort. Der Buchdruck gilt als Aufklärungsmaschine, und Gutenberg stellt man in Abbildungen auf Denkmäler als ersten Aufklärer dar (vgl. Abb. ). Gutenbergs Erfindung wird als Wasserscheide zwischen den Epochen gewertet; mit ihr geht das Mittelalter und beginnt die neue Zeit. Sie erscheint schon den Zeitgenossen als eine Kraft, die neue soziale Netze schafft, die das Miteinander der Menschen und der größeren sozialen Gruppen verändert. Aber mehr noch: Sie verändert auch die Vorstellung darüber, was für die Menschen informativ ist. Wie wir in den vorigen Abschnitten sahen, verlieren die mittelalterlichen Ideale der Weisheit und Kunstfertigkeit an Bedeutung. Information, die noch etwas gelten will, muss im typographischen Medium niedergelegt werden. Nur so kann dann eine neue Technologie, eine neue Jurisprudenz, eine neue Medizin und eine neue Astronomie entstehen. Und diese neuen Wissenschaften kann sich der bekannte Astronom Johannes Kepler etwa, schon am Ende des . Jahrhunderts nur als eine Folge der typographischen Kommunikationstechnologie vorstellen. 8 Was sich die Menschen im . Jahrhundert von der neuen Erfindung versprachen, das sehen die Autoren des . und . Jahrhunderts erfüllt. Ob freilich der Verfasser der ›Kölnischen Chronik‹ um , als er von der ›unaussprechlichen Seligkeit‹ schrieb, die ›aus dieser Kunst für den Glauben entspringt und entsprungen ist‹, schon die protestantische Reformation meinte? Wohl kaum. Die Glaubensspaltung gehört eher zu den Phänomenen, die man heute als ›unbeabsichtigte Folgen einer technischen Innovation‹ bezeich Aus dem Geleitwort der von Johannes Nauclerus verfassten, in Tübingen bei Thomas Anselm gedruckten Weltchronik (Memorabilium omnium gentium chronici komentarii, Volumen .). Zitiert nach der deutschen Übersetzung von H. Widmann: Vom Nutzen und Nachteil der Erfindung des Buchdrucks – aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders. (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft Nr. ) Mainz , S. . De stella nova. Frankfurt am Main/Prag . In: J. Kepler: Gesammelte Werke, Bd. , München , S. .
Abb. : Das Gutenbergdenkmal in Straßburg – mit der Inschrift: ›Et la lumie`re fut‹ (Kupferstich)
net. Beabsichtigt war von der Papstkirche nur eine Standardisierung der religiösen Texte und eine Beschleunigung der Verwaltung und Propaganda – indem man zum Beispiel Ablassbriefe nicht mehr schrieb, sondern ausdruckte. Andererseits ist es natürlich richtig, dass Luther das Typographeum besonders empathisch als ›das letzte und zugleich größte Geschenk Gottes‹ begrüßte. 9 Der Unterschied zwischen den beiden religiösen Parteien liegt in der Art und Weise, in der sie die neuen Medien in die vorhandene Informationsgesellschaft einbauen wollen. Luther als der geniale Propagandist der neuen Technik macht die gedruckte Schrift bedingungslos zum alleinigen Kriterium des ›rechten‹ Glaubens: ›allein die Schrift‹ (sola scriptura) – und das meint natürlich die gedruckte Bibel – enthält nach protestantischem Verständnis die göttliche Wahrheit. 10 Erhard Lauch: Luthers bleibende Grüße an den Buchdrucker. In: Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft, Heft , , S. -. Zur Einführung und mit weiteren Literaturhinweisen H. Widmann: Divino Quodam Numine. Der Buchdruck als Gottesgeschenk. In: Festschrift für Karl Hermann Schelkle. Düsseldorf , S. -. Eine Fülle von Material bietet auch das Standardwerk von A. Bertholet: Die Macht der Schrift in Glaube und Aberglaube. (Abhandlung der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-historische Klasse, Jg. , Bd. ) Berlin . Vgl. auch Elizabeth L. Eisenstein: Advent of Printing and the Protestant Revolt, in: Robert M. Kingdon, (Hg.): Transition and Revolution. Problems and Issues of European Renaissance and Reformation History. Minneapolis , S. -. Vgl. zum Beispiel seine geschriebene Einleitung zur ›Assertio omnium articulorum M. Lutheri per Bullam Leonis X. novissinam damnatorum‹. Es heißt dort u. a.: Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare, nec eam meo spiritu aut ullorum hominum interpretari, sed per se ipsam et suo spiritu intelligi volo (WA , S. -, hier S. ). Diese Orientierung findet sich in der Konkordienformel von (Vgl.: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen , S. f.) wieder, und sie bestimmt die Politik der Amtskirche. Luther selbst hat sich freilich an vielen Stellen auch anders geäußert und insbesondere immer wieder – wenn er sich nicht gerade gegen die Verkündigungslehre der Papstkirche wandte – betont, dass sich der Heilige Geist, die Botschaft Gottes an die Gläubigen, nicht in Schriftform übermittelt: Dieszen geyst kann man nu yn keyne buchstaben fassen, lessit sich nit schreyben mit tindten ynn steynn noch bucher, wie das gesetz sich fassen lessit, sondern wirt nur ynn das hertz geschrieben, und ist ein lebendige schrifft [!] des heyligen geysts on alle mittell (WA , S. ). Es wäre lohnend, Luthers Position in den verschiedenen Lebensphasen konsequent medientheoretisch zu rekonstruieren. Vgl. als Einstieg: Walter Bauer-Wabnegg/Hans Helmut Hiebel: Das ›sola sancta scriptura‹ und die Mittel der Schrift. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Martin Luther. München , S. - (Text + Kritik), sowie Gerhard Ebeling: »›Sola scriptura‹ und das Problem der Tradition« und ›Worthafte und sakramentale Existenz‹ und ›Erwä-
Die Papstkirche verfolgt demgegenüber eher ein multimediales Konzept, in dem der Buchdruck in die alten, durch die mündliche Kommunikation geprägten Strukturen eingefügt werden soll. So halten die Altgläubigen an den herkömmlichen Verkündigungsmedien fest: Gott gibt sich nicht nur in der Schrift, sondern weiterhin auch durch die mündliche Traditionslinie der Päpste und durch Wunderzeichen und Sakramente zu erkennen. Auch vor der allgemeinen Zugänglichkeit der ›Heiligen Schrift‹, die der Buchdruck und die marktwirtschaftlichen Verteilungsformen ermöglichen, schreckte man in Rom zunächst zurück. Aber die neue Technologie ließ sich im Fortgang des . Jahrhunderts kaum mehr fesseln. Stück für Stück lotete man ihre Möglichkeiten aus und verwirklichte sie – auch gegen jahrhundertealte informationspolitische Grundüberzeugungen. Was technisch machbar war, wurde realisiert, was kommerziellen Gewinn versprach, wurde gedruckt. Dabei haben sich die Wünsche und Hoffnungen, die sich an dieses Medium knüpften, über Jahrhunderte hinweg beinahe unverändert erhalten. Als die Dampfdruckpresse von Friedrich Koenig, die erste wirkliche bedeutende Verbesserung der Drucktechnologie seit Gutenberg, im Verlag der Londoner Times in der Nacht zum . November erstmalig kommerziell eingesetzt wurde, vervielfältigte sie auch einen Leitartikel, in dem diese Neuerung dem Lesepublikum mit folgenden Worten kommentiert wurde: »Unsere heutige Zeitung führt dem Publikum das praktische Resultat der größten Verbesserung vor, welche die Buchdruckerkunst seit ihrer Erfindung erfahren hat. Der Leser dieses Satzes hält jetzt einen von vielen tausend Abdrücken der ›Times‹ in der Hand, die in der verflossenen Nacht vermittels eines mechanischen Apparates hergestellt worden sind. Ein Maschinentyp, von dem man fast glauben könnte, er besitze eigene innere Lebenskraft, ist erfunden und eingeführt worden, der nicht nur den Menschen von aller schweren Arbeit beim Drucken befreit, sondern auch alle menschlichen Fähigkeiten hinsichtlich einer raschen und zuverlässigen Arbeitsweise weit übertrifft.« 11 gungen zum Sakramentsverständnis‹ in: Ders.: Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen. Göttingen , S. -, , -. Zitiert nach der Übersetzung von Hans-Jürgen Wolf. Schwarze Kunst: Eine illustrierte Geschichte der Druckverfahren. Dornstadt , S. .
In der Tat beschleunigte die Umstellung von den Druckplatten auf die rotierenden Druckzylinder das Druckverfahren erheblich, verbilligte dadurch die Zeitungen und führte zu einer rasanten Steigerung der Auflagen der Tageszeitungen. Nur wenig später konnte Koenig seine Maschine nochmals verbessern, sodass sich nun in einem Arbeitsgang beide Seiten der Papierbögen, Schön- und Widerdruckseite bedrucken ließen. Eine solche Zweitouren-Komplettdruckmaschine ersetzte, technisierte mehr als Drucker. Andererseits kurbelte sie Zeitungs-, Buch- und Akzidenzdruck für alle gesellschaftlichen Schichten in solchem Umfang an, dass allenthalben neue Druckereien entstanden und sich so die Zahl der in der Druckindustrie Beschäftigten auf Dauer europaweit erhöhte. Die Begeisterung der Zeitgenossen kannte wieder keine Grenzen. In der ›Literary Gazette‹ lesen wir in der Ausgabe vom . Januar über die ›Komplett-Maschine‹: »Sie repräsentiert eine hochbedeutende Verbesserung in der Buchdruckerkunst, und ihre Erfindung macht unserem Zeitalter Ehre und gibt zugleich Zeugnis von den Fortschritten der mechanischen Künste in unserem Land. … Die Maschine scheint der Gipfelpunkt der menschlichen Erfindungsgabe zu sein, und wenn wir jemals irgendeinen Gegenstand dieser Art der öffentlichen Bewunderung wert erachtet haben, so ist es dieser wunderbare Apparat.« 12
Medienkritische Stimmen Wir haben uns bislang nur mit den Bewunderern des Buchdrucks beschäftigt. Wie sah es mit Gegenstimmen aus? Gab es denn keine konservativen Warner? – Im Gegensatz zu anderen Medienrevolutionen auffällig wenige. Die Einführung der Alphabetschrift in Kleinasien und in Griechenland blieb bekanntlich jahrhundertelang umstritten. Was die einen als Vorzug der Schrift ansahen, die Entlastung des psychischen Informationsverarbeitungssystems durch einen externen Speicher, bedeutete für andere den Niedergang der spezifisch menschlichen, der natürlichen Gedächtnisleistungen. So warnte Sokrates in dem Dialog ›Phaidros‹ von Platon: »Denn diese Erfindung [der Schrift] wird den Seelen der Lernenden viel mehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrau Ebd., S. f.
en auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.« 13 Diese Passage wird mit Recht so viel zitiert, weil sie eben nicht nur die Meinung irgendeiner Person wiedergibt, sondern Platon verwendet sie schon als rhetorischen Gemeinplatz für eine Position in der Argumentation für und wider die Schrift als Kommunikations- und Informationsmedium. Es ist deshalb auch gleichgültig, ob Sokrates tatsächlich so argumentierte. Selbst die Befürworter der Alphabetisierung waren mit den Gegenargumenten bestens vertraut und konnten nicht sagen, sie hätten von den Gefahren – zum Beispiel des Wandels des Weisheitsideals – nichts gewusst. Die Vorbehalte gegen handschriftliche Wissenstradierung und auf der anderen Seite die Pflege oraler Traditionen haben in weiten Teilen Asiens und in vielen Teilen Europas lange angehalten – so lange, dass der Islam zum Beispiel keine Schwierigkeit hatte, die mündliche Überlieferungsform (›isnad‹) der schriftlichen vorzuziehen. Es hat immer zeitgleich mit alphabetisierten und teilalphabetisierten Kulturen nichtliterate Gesellschaften gegeben – und ein Verschwinden von Schriftkulturen. Das Schreiben und die entsprechenden Kodesysteme (Schriften) sind über mehr als Jahre in einzelnen Kulturen immer wieder verloren gegangen und vergessen worden. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die altägyptische Hieroglyphenschrift, die man mehr als Jahre lang nicht entziffern konnte. Die Schriften der mittelamerikanischen Hochkulturen sind andere Beispiele. Vergleichbar grundsätzliche Kritik und nachhaltige Vorbehalte von Schichten und ganzen Gesellschaften hat es gegen den Buchdruck in Mitteleuropa nicht gegeben. 14 Dem imperialen Anspruch der typographischen Informationsverarbeitung und marktwirt Platon, Sämtliche Werke, Bd. , nach der Ausgabe von Otto/Grassi/Plamböck, Hamburg , S. . Dies sehen manche Kollegen anders. Ich finde ihre Belege nicht überzeugend. Vgl. Jan Dirk Müller: Der Körper des Buchs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main , S. -, hier vor allem S. , und seine Rezension meines Buches ›Der Buchdruck in der frühen Neuzeit‹, in: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit., Bd. , H. , , S. -, hier S. f.
schaftlichen Informationsverbreitung haben sich in der Neuzeit praktisch alle Gesellschaftssysteme gebeugt. Im Gegensatz zu den klassischen Schrifttechnologien, die sich auf Segmentale und in Schichten begrenzen ließen, erhebt die Buchkultur einen globalen Anspruch. Zweifel an der Fähigkeit der neuen Technologie, Informationen zu speichern, zu verbreiten und leichter zugänglich zu machen, äußert nicht einmal die katholische Kirche. In dem Zensuredikt des Erzbischofs von Mainz, Berthold von Henneberg, vom . März ist von der ›göttlichen Kunst des Druckens‹ die Rede, und man sorgt sich lediglich darum, »dass gewisse Menschen, verführt durch die Gier nach eitlem Ruhm oder Geld, diese Kunst missbrauchen und dass das, was den Menschen zur Kultivierung des Lebens geschenkt wurde, auf die Bahn des Verderbens und der Verfälschung gelenkt wird«. 15 Lediglich einer unkontrollierten Transformation des skriptographisch gespeicherten Wissens in die neuen typographischen Medien soll ein Riegel vorgeschoben werden. Außerdem spricht man sich hier und an anderen Orten (zum Beispiel in der Bulle Leo X. ) für eine Kontrolle des Zugangs zu den neuen Medien aus. Es scheint zumindest in Deutschland keine relevante gesellschaftliche Institution gegeben zu haben, die sich prinzipiell gegen die Einführung der typographischen Textverarbeitung gewandt hat. Natürlich wurde die Veröffentlichung von handwerklichem Wissen, welches über Jahrhunderte hinweg nur vom Vater auf den Sohn beziehungsweise vom Meister auf den Gesellen weitergegeben wurde, von den Berufsverbänden misstrauisch betrachtet. Einerseits konnten neue handwerkliche Technologien auf diese Art und Weise leichter angeeignet werden, andererseits musste man befürchten, dass auch ›Laien‹, Menschen, die nie in einem bestimmten Beruf ausgebildet wurden, Zugang zu diesem Wissen erlangten und dann durch seine Anwendung in ›Do-it-yourself-Manier‹ den Handwerkern Arbeit wegnahmen. Wenn etwa Moritz Breunle in einer Ausgabe seines ›Kurz Fomular und Kanzleibüchleins‹ (Augsburg) mit ›losen Leuten‹ und Zitiert nach Hans Widmann: Vom Nutzen und Nachteil der Erfindung des Buchdrucks – aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders. Mainz (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft Nr. ). Anhang Nr. , hier S. . Im Anhang Nr. die Bulle Leos X., Inter solicitudines, vom . Mai . Vgl. weiter Franz Falk, Die Druckkunst im Dienste der Kirche, zunächst in Deutschland bis zum Jahr . Köln .
›Lumpen‹ hart ins Gericht geht, die sein Buch ›vernichten‹ wollen, so ist dies gewiss nicht ohne Ursache geschrieben. Auch andere Autoren berichten davon, dass unliebsame Veröffentlichungen aufgekauft und vernichtet wurden. Alle diese Formen von Medienboykott und Maschinenstürmerei haben die Etablierung des neuen Informations- und Kommunikationssystems nicht aufhalten können. Die eigentliche Diskussion drehte sich um die Frage, wie man es verhindern konnte, dass bestimmte Informationen ›nicht gar zu gemein‹ gemacht wurden. Man schränkt also wie etwa der Bergpfarrer Johann Mathesius das ›Lob des Buchdrucks‹ dadurch ein, dass man darauf hinweist, dass ›böse ketzerische Schand- und Lästerbücher gedruckt‹ werden. 16 Die ungeschminkte Darstellung der Volksmeinung gilt denen, die noch fest in die feudalen hierarchischen Strukturen eingebunden sind, als ein Übel, das es auszumerzen gilt. Den Druck von Liebesliedern und derben Schwänken nimmt man als Anzeichen für eine Verwilderung der Sitten – obwohl er doch kaum mehr ist als eine Bestandsaufnahme, schwarz auf weiß, dessen, was im Volke schon seit Jahrhunderten gesungen, geredet und gedacht wurde. Aber es ist eben nicht gleichgültig, in welchem Medium etwas – und sei es noch so ähnlich – gesagt wird. 17 Um der Veröffentlichung unliebsamer Informationen entgegenzuwirken, forderte man politische Maßnahmen wie die Einführung der Zensur, den Autornachweis auf den Titelblättern der Drucke und klare Verantwortlichkeiten für die Druckerzeugnisse. Aber dies war natürlich keine grundsätzliche Kritik an dem Medium, sondern nur der Ruf nach kosmetischen Retuschen. Ausländern und Weitgereisten ist dabei von Anfang an eine gewisse Ängstlichkeit bei den Deutschen aufgefallen: L. Hulsius ›weiß‹ in seiner Vorrede zu seiner Darstellung der ›Mechanischen Instrumente‹ (Frankfurt am Main ), dass er ›bei etlichen, fürnehmlich bei denen, so etwa dieser Kunst erfahren sind, keinen Danck verdienen werde‹, weil er diese Kunst in ›teutscher Sprache‹ beschrieben hat. Diesen Kritikern gibt er zur Antwort, »dass man diese Kunst nicht allein in lateinischer, sondern auch in niederländischer, englischer, französischer, hispanischer und italienischer Sprache beschrieben findet. So nun der gemeine Mann, der dieser Spra Sarepta oder die Bergpostill. Nürnberg , Bl. v. Vgl. Kapitel , S. ff.
chen erfahren, solches lesen, praktizieren und ins Werk richten mag, warum sollte man es dem gemeinen Mann in Teutschlandt verhalten? Eben alß wann die Teutschen darzu unbequem, und nicht capaces oder düchtig wären, solches zu verstehen und zu begreifen, da ich doch mit That befunden, dass unter allen obgemeldten Nationen, so ich zimlich practiciert, keine gefunden, die sich mehr auf Kunst legt, und derselben nachtrachtet, als eben die Teutsche Nation, fürnehmlich was große Herren und die von Adel sind« (ebd., S. /). Die grundlegende Tatsache, dass dem Gewinn, den die ›göttliche Kunst‹ einerseits verspricht, auf der anderen Seite immer auch Verluste gegenüberstehen, tritt demgegenüber nicht ins öffentliche Bewusstsein. Dabei werden durch die neue Kunst ja nicht nur die guten, sondern auch die missliebigen Schriften, nicht nur die genehmen, sondern auch die unangenehmen Informationen ›auf wunderbare Weise vervielfältigt‹ und in Windeseile verbreitet. Mit dem Kunstgriff, das eine zum rechten Brauch, das andere zum Missbrauch zu erklären, entledigte man sich dieses Problems. Indirekt und kaum artikuliert drückte sich immerhin bei manchen ein gewisses Unbehagen an der so ›gewaltigen Kunst‹ aus. Wenn Guillaume Fichet beispielsweise davon spricht, dass »der Buchdruck sich wie ein Trojanisches Pferd (equus trojanus) von Deutschland ausgebreitet« habe, so meint man einen gewissen Vorbehalt des Franzosen zu spüren. 18 Es handelt sich bei diesem Pferd ja um ein Kriegsinstrument, das Sieger und Besiegte schuf, früher Griechen und Trojaner und nunmehr Deutsche und – wen alles auf der anderen Seite? Aber solche Ambivalenzen werden nicht weiter verfolgt, und die kritischen Stimmen bleiben im Chor der Lobreden auf den Buchdruck kaum hörbar. Man sollte diesen Befund im Hinterkopf behalten, wenn man auf die aktuelle medienpolitische Situation blickt. Kritiker der neuen Medien können auf dem öffentlichen Meinungsmarkt kaum mehr auf Resonanz hoffen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich Kritiker der Medien, die sie beargwöhnen, bedienen müssen. So war es schon für Luther keine schwierige Aufgabe, seinen Kontrahenten, den altgläubigen Mönch Thomas Murner, lächerlich Vgl. seinen Brief an Robert Gaguin, abgedruckt in: Gasparinus Barzizius: Orthographia. Paris , Bl. v r. Vgl. Pierre Champion: Les plus anciens monuments de la typographie Parisienne. Recueil de Facsimile´s Paris , S. ff. Text, Faksimile und Kommentar in Giesecke , S. ff. und Abb. .
zu machen, als dieser ihm in einer gedruckten Flugschrift vorwarf, seine Glaubensartikel nicht erst im Kollegium zu disputieren, sondern sie sogleich in den Druck zu geben. 19 Auch jener hatte seine Erwiderung ohne Approbation gedruckt.
Die Abwertung der alten Medien Noch eine weitere Erfahrung der frühen Neuzeit lässt sich unschwer auf die Gegenwart übertragen: Die Propaganda für die neuen Medien beschränkt sich nicht auf die sachliche Schilderung der Vorzüge, nicht einmal auf eine Übertreibung ihrer Leistungen, sondern sie setzt die alten Medien herab. Selbst wenn dies nicht Absicht der Protagonisten der neuen Medien sein sollte, so kann man doch feststellen, dass in dem Maße, in dem das neue Produkt zur Projektionsfläche der Wünsche der Menschen wird, die alten Medien an Prestige verlieren. Von Manuskripten, die seit Jahrhunderten mit Mitteln der skriptographischen Technologie gespeichert und tradiert wurden, hieß es auf einmal, dass sie ›in dem Grab der Unwissenheit lange Zeit verborgen gelegen‹ hätten und dass sie erst durch den Buchdruck ›erweckt‹, ›an das Licht gebracht‹ worden seien. 20 Kann man die Abwertung traditioneller Informationstechnik noch deutlicher ausdrücken, als es Nikodemus Frischlin damals tat: »O Götter, wieso bewundern wir noch Kadmos, der als Erster die Buchstaben nach Griechenland gebracht haben soll?« 21 Wer ist dieser Schrifterfinder schon gegen Johannes Gutenberg? Kein Wort darüber, dass ›zu dieser Zeit‹, im . Jahrhundert, gewiss mehr mit der Hand geschrieben wurde als in allen Zeiten zuvor; das Lob des Schreibens demnach mit größter Berechtigung hätte am lautesten gesungen werden können. Aber genau das gleiche Phänomen der Abwertung der alten Medien können wir auch gegenwärtig beobachten. Der Aufstieg der elektronischen Medien wird als das Ende der Buchkultur erlebt – obwohl niemals mehr Bücher gedruckt und vielleicht auch gelesen wurden als gerade heute. ›Ein christliche und brüderliche Ermanung‹. Straßburg , sowie ›Von Doctor Martinus Luters Lehre‹, . Beide Schriften sind abgedruckt bei W. PfeifferBelli: Th. Murner – Kleine Prosaschriften, . Teil, Berlin/Leipzig , vgl. hier S. ff. beziehungsweise S. ff. Sebastian Franck: Chronica. Straßburg , Fol. v.- r. Operum poeticorum Nicodemi Frischlini pars scenica. Straßburg , S. .
Gutenberg und die Deutschen Wenngleich sich kein europäisches Land enthalten konnte, die typographische Form sozialer Informationsverarbeitung als universellen Problemlöser zu preisen, so gab es doch in Deutschland besondere Hoffnungen. Weil man Gutenberg als ›Deutschen‹ betrachten konnte, ließ sich seine Erfindung auch zur Stützung der nationalen Identität heranziehen. Diese im Vergleich zu anderen europäischen Ländern engere Bindung an den Buchdruck mag eine Ursache dafür sein, dass Deutschland in der Gegenwart nicht gerade zu den Nationen zählt, die eine Vorreiterrolle bei der Einführung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien spielt. Ihm fällt der Abschied nach den vielen Hoffnungen, die in das Medium gesetzt wurden, sichtlich schwerer als anderen Nationen, vor allem natürlich jenen, die, wie etwa die USA, ohnedies eine viel kürzere Erfahrung mit diesem Medium besitzen. Da in vielen Ländern der Welt die Buchkultur, wenn überhaupt, dann von Anfang an im Zusammenwirken mit dem modernen Massenkommunikationsmittel Radio und Film eingeführt wurde, ist der zu leistende kulturelle Umbau und die im Zuge der Durchsetzung der neuen interaktiven Medien zu leistende Trauerarbeit auf dem Globus ganz ungleich verteilt. Ein herausragendes Beispiel für die außerordentliche Verherrlichung der Werte der Buchkultur in Deutschland sind die seit regelmäßig stattfindenden Gutenbergfeiern. Nehmen wir als Beispiel das Jahr , also die vierhundertste Wiederkehr der Erfindung des Buchdrucks. Allein in Leipzig feierten bis zu Bürger und Zugereiste drei Tage lang auf den Straßen, in den Häusern, in Kirchen, Ratsstuben und Festzelten (Abb. PDF 쩛CD). Am Morgen des Johannes-Tages, dem . Juni , bevor sich der Festzug unter dem Geläut der Glocken der Stadt in Bewegung setzen sollte, traf man sich zunächst in der hohen Halle der Thomaskirche. Dort stimmte der Leipziger Superintendent und Professor der Theologie Christian Gottlob Leberecht Grossmann die Teilnehmer in einer leidenschaftlichen Predigt auf das Ereignis ein: »Und so ist [es] weder das eigentümliche Standesinteresse der hochachtbaren Genossenschaft [der Buchdrucker], welche der Kunst ihr Dasein verdankt, noch der Zuwachs an Nationalruhm, den jene Erfindung zuwege gebracht hat, selbst nicht das ausgezeichnete
Glück unserer Stadt, der auserwählte Sammelplatz ihrer Genossen, der Mittelpunkt des Verkehrs zu sein, den sie ins Leben gerufen, nicht das ist die eigentliche Quelle der Begeisterung, mit welcher Gutenbergs Gedächtnis hier und allerorten gefeiert wird; sondern der unermessliche Gewinn für das Allgemeine, für die höchsten Güter und Interessen der Menschheit, für Religion und Sittlichkeit, für Kunst und Wissenschaft, für Jugendunterricht und Volksbildung, für Licht und Recht, für Völkergemeinschaft und Weltverkehr, dieser mit Gutenbergs Namen verknüpfte Gewinn umgibt unser Fest mit dem reichen Glanz der höchsten Verklärung, und heiligt die Oper der Anbetung und Dankbarkeit, die diesem weltgeschichtlichen Tag gebühren.« 22 Aber es ging den Festkomitees in Leipzig und in den weiteren Städten des deutschen Reiches, die an diesem Tag zum Dank an eine Informationstechnologie aufriefen, nicht nur um die schon geernteten Früchte: »Ein freies Volk feiert seine Feste nicht für Vergangenes, das vergangen ist, sondern das lebendig fortlebt in der Gegenwart«, wird der Verleger Raimund Härtel wenige Stunden später den zwei- bis dreitausend Menschen zurufen, die sich auf dem Marktplatz in Leipzig versammelt haben. 23 Der Buchdruck ist für die Festredner unlösbar nicht nur mit der Aufklärung, dem Weltverkehr und dem Aufstieg des Protestantismus verbunden, sondern vor allem mit der Demokratie und Gedankenfreiheit. In diesem Medium artikuliert sich die ›öffentliche Meinung‹, und diese gilt als Unterpfand gegen die Willkür der Obrigkeit. Deshalb müssen sich die Drucktechnologie und der Buchhandel frei von allen äußeren politischen Zwangsmaßnahmen entfalten. Dies war natürlich eine deutliche Adresse an die Herrscher in den Kleinstaaten, die noch immer die Zensur mit der Rücksicht auf das Gemeinwohl begründeten. Heinrich Brockhaus wurde später beim Festmahl in der eigens zu diesem Zwecke errichteten Fest Christian Gottlob Leberecht Grossmann: Predigt zur . Saecularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst am Johannistage in der Thomaskirche zu Leipzig gehalten. Leipzig . Zitiert nach Paul Raabe: Gutenbergfeiern . Zu den Feiern in Leipzig und Braunschweig. In: Ders. (Hg.): Gutenberg – Jahre Buchdruck in Europa (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. ), Weinheim , S. -, hier . Vgl. auch die ›Beschreibung der Feier des Gutenbergfestes zu Leipzig am ., . und . Juni ‹, hg. von E. V. Dietrich, Leipzig .
Abb. : Der Buchdruck als Befreier der Sklaven. Schautafel zur Vorbereitung der . Säkularfeier. Aus: Journal für Buchdruckerkunst, Schriftgießerei und verwandte Fächer. Jahrgang . Braunschweig , Nr. .
halle in seinem Toast vor den zweitausend geladenen Gästen noch deutlicher: »Ich will nicht an dieser Stelle ein Bild des traurigen Zustandes entwerfen, in welchem die Presse in mehreren Teilen von Deutschland sich befindet; aber einige Hoffnungen lassen Sie mich hier aussprechen. Deutschland wird einst eine gesetzliche Pressefreiheit erhalten, und ist dazu berechtigt, darf sie erwarten … laut und dringend verlangt sie die öffentliche Meinung, der auf die Dauer keine irdische Macht zu widersprechen vermag.« 24 Man nutzte also das Jubiläum der Technik für politische Forderungen, das Bürgertum sah seine eigenen wirtschaftlichen Interessen auf das engste mit dem bedingungslosen Einsatz der vorhandenen Technik und mit dem freien Handel mit den gedruckten Meinungen verknüpft. Der Buchdruck brauchte aber nicht nur eine freie, liberale Verfassung, um sich zu entfalten, er wurde auch als ein »Befreier« angesehen, der, zumal in den Ländern der Dritten Welt und in Amerika, die Herrschenden so beeinflussen konnte, dass sie bereit waren, ihren Sklaven die Fesseln zu lösen (vgl. Abb. ). Zitiert nach Raabe, a. a. O., , S. f.
Ausführlich informierte man in Leipzig in Vorträgen und auf Ausstellungen am folgenden Tag über den letzten Stand der Drucktechnik. Am Nachmittag des . Juni führten mehr als fünfhundert Musiker den eigens für diesen Anlass von Felix Mendelssohn-Bartholdy komponierten ›Lobgesang auf die Buchdruckerkunst‹ auf. Eine ›Theaterschau‹ von ›Erfindung der Buchdruckerkunst an bis auf unsere Zeit; bestehend in Stücken und Szenen aus den Werken der vorzüglichsten deutschen Dichter‹ rundete im Stadttheater am nächsten Vormittag das Programm ab. Am Mittag begann dann das Volksfest auf dem Festplatz. Erst spät in der Nacht klang das Spektakel mit einem Brillantfeuerwerk und einem Fackelumzug aus. Man hatte die Gutenberg-Feiern als »ein Fest der gereiften Menschheit, ein Fest der Erinnerung an die edelsten Bande, welche allmählig alle Völker der Erde verknüpfen« angekündigt. 25 Aber sie war auch und vor allem ein nationales Fest der Deutschen. In der ›Aufforderung zur . Säcularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst‹, die am . Juni in Braunschweig und Wolfenbüttel verteilt wurde, heißt es: »Mit Stolz gedenke der Deutsche der hohen weltgeschichtlichen Bestimmung der germanischen Völker, die sie berief, die christliche, die allgemein menschliche Bildung klar und klarer zu erfassen, und sie nicht nur über Europa, sondern weit über die Weltmeere in die entlegensten Zonen zu verbreiten. Mit Stolz gedenke er des Erfinders der Buchdruckerkunst, Johannes zum guten Berg, der, selbst ein Deutscher, der Erreichung jener hohen Bestimmung des deutschen Volkes ein neues Werkzeug schuf, der nicht bloß grübelnd ein neues Kunstgeräth zu ersinnen sich mühte, sondern der mit Bewußtsein dem Geiste Schwingen verlieh, sich über die Schranken des Raumes und der Zeit zu erheben« (ebd.).
Das Medium verliert die Botschaft Für einen solchen Stolz auf das Vaterland gab es einhundert Jahre später zur . Säkularfeier Gutenbergs kaum mehr Grund. Die für den . Juni bis . Oktober geplante Reichs-Gutenberg-Feier auf dem Olympiagelände von Berlin fiel den Kriegsanstrengungen »Aufforderung zur . Säcularfeier der Buchdruckerkunst, am . Juni «. Braunschweig und Wolfenbüttel, . Juni , abgedruckt bei Raabe , a. a. O., S. .
zum Opfer. Die nationalsozialistische Staatsführung setzte andere Prioritäten – auch in der Kultur- und Medienpolitik. Zum zentralen Propagandainstrument der NSDAP wurde der Rundfunk, nur die Opposition im Untergrund wusste die Flugblätter und Zeitungen noch einmal als das beste verfügbare Instrument im Kampf um die Meinungen der Menschen zu nutzen. Für die modernen Industrienationen eignet sich das gedruckte Buch zunehmend weniger als identitätsstiftendes Totem. Es beginnt, seine magische Kraft an die Bildschirme, Chips und Disketten zu verlieren. Selbst der zurückgezogene Bibliophile weiß oder fühlt zumindest, dass mittlerweile die elektronischen Medien die Umwelt und unser Miteinander mindestens ebenso prägen wie die typographischen. Von ihnen verspricht man sich die Sanierung maroder Institutionen, die Ausweitung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, die Bewältigung der Datenberge und der frisch erzeugten Informationsprobleme. Die Typographie hat ihren Platz unter den Top Ten der Wunscherfüller in den Industrienationen verloren. Wir sind Zeuge der Verschiebung der Projektionen weg von diesem und hin zu den elektronischen Medien, und wir betreiben diesen Favoritensturz selbst aktiv. Erstaunlicherweise geht die zunehmende Nutzung und Wertschätzung der neuen Medien bislang allerdings nicht mit einer entsprechend deutlichen Kritik am Buchdruck einher. Wird er kommentiert, dann noch immer meist in der gewohnten positiven Form.
Die Mythen der Buchkultur als Stolpersteine auf dem Weg in die Informationsgesellschaft Diese Tendenz, das Vermächtnis Gutenbergs unangetastet zu lassen, erweist sich zunehmend als Stolperstein auf dem Weg in die Informationsgesellschaft. Nicht nur für Industrieunternehmen, sondern auch für die europäischen Kulturen gilt: Die Erfolge von gestern sind die Ursachen für das Scheitern in der Gegenwart. Die Erfolge von gestern, die auf der Gutenberg-Erfindung beruhen, das sind Alphabetisierung, Aufklärung und Verwissenschaftlichung des Lebens, die Manufakturisierung und Vergesellschaftung der Wissensproduktion, die Schaffung funktionierender Kommunikationssysteme im nationalen, gesellschaftlichen Maßstab. Diese Erfolge erschweren die Gestaltung der postindustriellen Gesellschaft, weil sie Vernetzungswege, Formen der Informationsgewin
nung und -verarbeitung feststellen und sie durch die Mythen vor Veränderung schützen. So können mögliche und funktionale andere Formen der Zusammenarbeit nicht ohne weiteres ausprobiert werden. Es ist, als ob die Schaltwege eingefroren wären und die Relais festsäßen. Das dürfte auch ein Grund sein, warum sich Europa in vielen Bereichen schwerer als Amerika und viele asiatische Länder tut, die Chancen der elektronischen Medien auszuloten. In diesen Ländern wurde der Buchdruck praktisch erst Jahre später eingeführt und niemals in der flächendeckenden Intensität. Die elektronischen Medien: Telegraph, Rundfunk, Film, Fernsehen und später dann die Computer traten vergleichsweise früher in Konkurrenz und haben es nicht zugelassen, dass die Konzepte der Buchkultur den Alleinvertretungsanspruch durchsetzen konnten, den sie in Zentraleuropa besitzen. Zumal das Geburtsland von Gutenberg, das seine Erfindungen besonders gründlich nutzte und von deren Segnungen besonders stark profitierte, mag sich auf rückkopplungsintensive und damit riskantere Kommunikationsformen nur ungern einlassen. Gerade für Deutschland ist es an der Zeit, der Begeisterung für das Informations- und Kommunikationsmedium den Ökocheck an die Seite zu stellen: Es geht darum, die typographischen Formen der Wissensproduktion und Verbreitung in den Gesamtzusammenhang der übrigen kulturellen Medien einzuordnen. Zu sehen, wer die Beute ist, wenn der Buchdruck der Jäger ist, zu prüfen, inwiefern er Wirt und Parasit ist. Gemäß der Grundüberzeugung, dass die Stärken eines Mediums zugleich deren Schwächen ausmachen, muss nach fünfhundert Jahren Jubelfeiern auch nach den Verlusten gesucht werden. Dies ist vor allem deshalb im Augenblick vordringlich, weil wir in der Gefahr stehen, wieder ein neues Leitmedium zu unserer kulturellen Identitätsbestimmung zu küren. Es geht darum, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und nicht wieder ein einzelnes Medium – und sei es auch so komplex wie die digitale Datenverarbeitung und das Internet – zur Wunschmaschine zu erklären. Die Vision kann nicht in einem einzelnen Medium, sondern sie muss im ökologischen Zusammenwirken vieler Medien gesucht werden. Der an und für sich banalen Selbstverständlichkeit, dass alle Kulturen auf dem Zusammenwirken der Sinne und Medien aufbauen und insofern multimedial sind, muss endlich auch auf der Ebene der Kulturpolitik Rechnung getragen werden. Wir können es uns nicht länger leisten, die Komplexität unserer Kultur so zu reduzieren, dass
wir ein katalysatorisches Medium pars pro toto zum Namensgeber erklären. Statt ›Buchkultur‹ nun ›digitale Kultur‹, das wäre kulturgeschichtlich nichts wirklich Neues, sondern nur Mehr-vom-selben. Die Feier eines einzelnen Mediums, seien es nun die Bücher oder die Bildschirme, hat nach der Jahrtausendwende nichts Visionäres.
Elf Mythen der Buchkultur Eine alternative ökologische Kultur- und Gesellschaftspolitik erfordert auch eine Neubewertung vertrauter Informations- und Kommunikationsideale, neue Mythen. Und diese werden sich in dem Maße sozial durchsetzen lassen, in dem die Andersartigkeit der elektronischen Medien erlebt wird. Die neuen elektronischen Drogen neutralisieren die Wirkung der alten Drogen – und blockieren zugleich andere Sinne und Schlussfolgerungen. So mögen wir langsam erkennen, dass weder die ›Buchkultur/literacy‹ noch das ›Schreiben‹ und ›Lesen‹ jene Monolithe sind, als die sie in den letzten zweihundert Jahren erlebt wurden. Zu klären bleibt freilich, wieso es der europäischen Buchkultur gelungen ist, die ihr innewohnende Zwiespältigkeit so perfekt zu verdrängen? Sie hat sich dazu einer Reihe von Mythen und Mystifikationen bedient. 26 Wirkungsmächtig waren vor allem die folgenden: Zusammengenommen bilden diese Ideologien die große Erzählung von der Buchkultur. Sie geben der neuzeitlichen Industriegesellschaft ihren eigentlichen Sinn. Wer die Buchkultur heute ehren und ihre Leistungen weitertragen will, muss sie zunächst einmal entmystifizieren, die Aufmerksamkeit statt auf ihre allbekannten Leistungen auf deren Grenzen lenken. Gerade an den Schwachstellen werden sich gute Kooperationsmöglichkeiten zwischen alten und neuen Medien finden lassen. Dieser Aufgabe widmen sich die nächsten Abschnitte. Zuerst Vielleicht kann man Mystifikationen und Mythen dahingehend unterscheiden, dass Erstere gleichsam die Räume sind, aus denen das Mythengebäude aufgebaut wird. Jedenfalls spreche ich von Mystifikationen oder Mystifizierungen, wenn solche vereinfachenden Begründungen noch nicht mit anderen zusammengefasst und zu einer konsistenten Erzählung strukturiert sind. In der Regel ist dann auch die kulturelle Akzeptanz geringer.
1. Der Mythos der zwei Kulturen: Typographische Medien, Programme, Vernetzungen usf. haben sich getrennt von der Industriegesellschaft entwickelt und lassen sich auch getrennt von ihr beschreiben. 2. Der Mythos eines einheitlichen Ursprungs von Schrift- und typographischer Buchkultur: Es ist gleichgültig, ob Informationen mit skriptographischen oder mit typographischen Medien verarbeitet werden. 3. Die Mystifikation der Erziehung und Bildung durch Bücher: Kulturnationen entstehen durch die Gleichschaltung der Köpfe mithilfe gedruckter Bücher. 4. Die Mystifikation der sichtbaren Welt: Die äußere visuell wahrnehmbare Umwelt ist die einzige, wahre Wirklichkeit. 5. Die Mystifikation der synthetischen Buchwelt: Typographische, standardsprachliche Beschreibungen sind natürlicher als elektronische Simulationen. 6. Die Mystifikation rationaler, sprachlicher Informationsverarbeitung: Logisches Denken, Vernunft … ist für Kulturen wertvoller als emotionale Intelligenz, Kunst … 7. Die Mystifikation des Gedächtnisses: nur noch Speicher und kein Medium des Vergessens. 8. Der Mythos des Autors: Jedes Buch hat (nur) einen Schöpfer. 9. Der Mystifikation der Technik als universellem Problemlöser: Kultureller Fortschritt vollzieht sich als Technisierung. 10. Die Mystifikation der Geschichte: Sie vollzieht sich als Akkumulationsprozess, nicht als Wiederholung und als Vernichtung. 11. Die Mystifikation der Buchkultur als monomediales System: Kulturelle Meinungsbildung ist das Werk von Massenmedien.
Abb. : Mythen und Mystifikationen der Buchkultur
und vor allem muss man die typographischen Medien und Programme in den Zusammenhang der Industriegesellschaft stellen.
Der Mythos der zwei Kulturen oder die merkwürdige Verschonung des Buchdrucks vor der Kritik an der Industriekultur Es ist schon merkwürdig, wie wenig bislang die Buchkultur in die allgemeine Kritik etablierter Werte der Industriekultur einbezogen wird. Dabei fiel der Aufstieg der typographischen Medien mit der kolonialen Ausdehnung Europas, der Einführung der Marktwirtschaft, der industriemäßigen Ausbeutung der Natur und der Ersetzung des göttlichen Schöpfers durch den aufgeklärten Menschen zusammen.
Dieser Zusammenhang ist alles andere als Zufall: Die typographischen Medien haben sich nie in die institutionellen Bahnen zwingen lassen, in denen die Handschriften im Mittelalter kursierten. Sie sind imperiale Medien, brauchen riesige kommunikative Netze und ermöglichen sie zugleich. Auf den freien Markt als Verbreitungsmechanismus angewiesen, fördern sie seine Entfaltung. Zugleich ist die typographische Informationsproduktion in den Setzereien und Druckereien der historische Prototyp standardisierter gewerbsmäßiger Massenproduktion. Mit ihr beginnen die metallurgischen Präzisionsmaschinen ihren Aufstieg. Die Autoren der gedruckten Bücher verstehen sich als Urheber und eigenständige Schöpfer ihrer Informationswaren, und sie drängen damit ›Gott‹, im christlichen Abendland bis dahin die Quelle aller Weisheit, aus dem irdischen Informationskreislauf. Sie nehmen seinen Platz ein und machen sich damit zum Herrscher über das Informationsgut – genauso wie sie sich im Industriezeitalter zum Ausbeuter der übrigen Naturgüter aufgeschwungen haben. Die Erfahrungen der Ahnen, die Weisheit des Alters, die inneren Stimmen und die göttlichen Zeichen – alles unterliegt nun der Interpretationsmacht der jeweils letzten Generation. Während nun die Kritik an den politischen Kolonialreichen, der kapitalistischen Marktwirtschaft und ihren ökologischen Auswirkungen, an dem »Gotteskomplex« (H. E. Richter) des neuzeitlichen Menschen und an den Anmaßungen seiner Vernunft eine ganz unübersehbare Tradition in unserer Gegenwart besitzt, bleibt die typographische Buch- und Lesekultur von vergleichbaren Angriffen merkwürdigerweise ganz verschont. Wie im Märchen wird die Mutter ›Neuzeit‹ in eine böse Schwiegermutter mit den Attributen ›Kolonialismus‹ und ›Kapitalismus‹ und ›Verlust von Demut und Sinnlichkeit‹ einerseits und in eine Wärme und Geborgenheit spendende gute Mutter, die sich unter anderem durch die Merkmale ›Buchkultur‹ und ›Alphabetisierung‹ auszeichnet, aufgespalten. Dabei handelt es sich, wie der gute Märchenerzähler und das sensible Kind bei den alten Märchen durchaus empfinden, um ein und dieselbe Person. Die typographische Informationsverarbeitung und Kommunikation ist Voraussetzung und Folge der ungläubigen neuzeitlichen Industriegesellschaft. Akzeptiert man – wenigstens probeweise einmal – die These vom inneren Zusammenhang zwischen den typographischen Medien und der neuzeitlichen Industrie, Wissenschaft, Ökonomie und dem
aufgeklärten Menschenbild, so beginnt das Staunen über die Aufspaltung des Phänomens und die positive Besetzung der Lesekultur, die angeblich vor allem Demokratie und Mündigkeit, Individualität und Allgemeinbildung hervorgebracht hat. Die gleichen Personen, die im politischen Kontext für Basisdemokratie und multikulturelle Gesellschaft plädieren, die eine ökologische Alternative zur Industriekultur fordern, die der Kopflastigkeit durch Bioenergetik, Joggen, kosmologische Meditationen und anderes entgegenarbeiten, die also tragende Säulen der neuzeitlichen Kultur in Frage stellen, bestehen zugleich emphatisch auf den Idealen der Lesekultur. Ein Grund für diese Abspaltung dürfte darin liegen, dass sich die europäischen Industrienationen in der Neuzeit so weit differenziert haben, dass schließlich jegliches Gefühl für das Zusammenwirken der Teile, zum Beispiel von Wirtschaft und Kunst, von Natur- und Geisteswissenschaften, verloren gegangen ist. Das gegenwärtige Bemühen, Mensch und Technik und beide mit der Natur zu versöhnen, kann man nur verstehen, wenn man sich diese Größen als voneinander getrennt vorstellt. Natur, Mensch und Technik bestehen aber weithin aus denselben Stoffen und haben nie aufgehört, sich in Koevolution zu entwickeln. Deshalb ist es auch schon missverständlich, sich die Aufgabe der Integration dieser Teile zu stellen. Diese gibt es. Wir wollen augenblicklich aber allem Anschein nach eine andere. Diese Innovation erzeugt auf der anderen Seite Ängste. So wie man in der frühen Neuzeit die Angst vor dem Neuen dadurch bannte, dass man es als Wiedergeburt der Antike ausgab, so möchte man jetzt die Buchkultur in die neue Zeit hinüberretten. Die Hierarchisierung der Medien, die Auszeichnung von Geist und Wissen ist ein Vermächtnis Gutenbergs. Buch und Geist werden zusammengedacht und beide als Kultur prämiert. Deshalb gelten die Geisteswissenschaftler noch immer als geborene Kulturwissenschaftler. Kultur, das sollen die Werte, Überzeugungen, das Wissen und die Routinen, die unser Handeln lenken, sein, und diese lassen sich im typographischen Medium darstellen und verbreiten. So wird es zur eigentlichen Kulturmaschine. Um die schematische Gegenüberstellung von Körper und Geist, von Natur und Technik, von Buchkultur und Industriegesellschaft, von Gespräch und Arbeit aufzulösen, brauchen wir einen Kulturbegriff, der die Pole mit einschließt. Er muss es ermöglichen, die Widersprüche zu behandeln, und es erschweren, sich ihrer durch Ausgrenzung der einen oder anderen Seite zu entledigen. Das Feiern
von Gutenberg und dem Buchdruck ist jedenfalls Ausdruck der Prämierung eines Mediums. Es schafft Hierarchien. Bislang hat sich noch jede Hochkultur in der Geschichte ein Leitmedium gewählt. Am Anfang einer Kultur, die sich als Schriftkultur versteht, steht ebendeshalb das Wort und nicht zum Beispiel der Tanz. Und indem sie ein einzelnes Medium zu ihrem Totem erklärt, werden die anderen abgewertet und ausgegrenzt. Schriftgelehrte erhalten Macht und Prestige, ihnen wird der Tanz untersagt, und zugleich dürfen sie bestimmen, welche Bewegungen erlaubt sind und welche nicht. Die europäischen Kulturen haben ihre Identität seit etwa , die eine etwas früher, die andere etwas später, die eine intensiver, die andere weniger konsequent an das typographische Medium gebunden. Neue Religiosität, Aufklärung und Demokratie, Industrialisierung, alles wird durch dieses Medium angestoßen, beschleunigt und zur Perfektion gebracht. Alle Bereiche des Lebens wurden seither verschriftet und sollen durch das Buchwissen gesteuert werden. Der alternative Mythos lautet: dezentrale Vernetzung, hierarchiefreies Nebeneinander von unterschiedlichen Medien und Kommunikationsformen.
Der Mythos einer einheitlichen ›Schriftkultur‹ (›literacy‹) Wer wie Neil Postman den Untergang der Lesekultur im Amüsement der Fernsehgesellschaft befürchtet, der meint mit dieser Kultur nur einen ganz kleinen Sektor des typographischen Informationssystems. 27 Er hat die gedruckte Fachprosa und Belletristik sowie gelegentlich auch später entstandene Kurz- und Mischformen wie die Zeitungen und Zeitschriften im Auge. Dies sind zweifellos die zentralen Gattungen, die dem Buchdruck in Europa seit der frühen Neuzeit zum Durchbruch verhalfen. Von vornherein hat man sie in der Absicht geschaffen, eine interaktionsfreie Kommunikation zu ermöglichen. Es sind Informationsmedien zum ›Selber‹Lesen. Aber einmal ganz davon abgesehen, dass diese Gattungen natür Vgl. ders.: Wir amüsieren uns zu Tode (Frankfurt am Main ) oder ›Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft‹ (Frankfurt am Main ). Den gleichen eingeschränkten Blick auf die Vielfalt der typographischen Medien finden wir auch bei dem anderen bekannten Kritiker der ›Fernseh-Gesellschaft‹, Joshua Meyrowitz (Die Fernsehgesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim ).
lich nur einen begrenzten Teil der uns umgebenden typographischen Medien ausmachen – Fahrpläne, Beschriftungen an Verpackungen, Werbung und Benutzerhinweise an Automaten, Formulare und Plakate besitzen ganz andere Funktionen und Strukturen –, haben diese Gattungen auch nur eine sehr kurze Geschichte. Gerade sie vollenden durchaus nicht die ›Schriftkultur‹, deren erste Blüte mit der Einführung der Alphabetschrift in den antiken Hochkulturen gefeiert wird. Merkwürdigerweise wird aber, immer wenn es um die Gegenüberstellung der Fernsehkultur und der Buchkultur geht, die typographische Kultur mit der vorangehenden, durch die Handschriften geprägten Kultur in einen Bottich geworfen. Wer heute die Buchkultur bewahren und das Lesen fördern will, der sieht sich als Hüter einer mehrtausendjährigen Tradition und entsprechend ehrwürdiger Werte. Das ist ein Irrtum: Die Lesekultur, um die im Zeitalter der elektronischen Medien gebangt wird, ist ein technisch und sozial außerordentlich voraussetzungsvolles, nämlich an den Buchdruck, die freie Warenwirtschaft, unwahrscheinliche Wahrnehmungstheorien und viele andere Programme gebundenes Phänomen. 28 Es hat in den europäischen Kernlanden eine kaum -jährige, an deren Rändern eine wesentlich kürzere und in manchen sozialen Schichten und in den meisten Teilen der Erde praktisch gar keine Tradition. Es handelt sich also um ein Gebilde von sehr begrenzter Dauer und sozialer sowie geographischer Reichweite – wenn wir historische Maßstäbe anlegen. Den Zeitgenossen Gutenbergs und den ihnen bis ins . Jahrhundert nachfolgenden Generationen kam es im Gegensatz zu den prominenten ›literacy‹-Forschern unserer Gegenwart keineswegs in den Sinn, die handschriftliche Informationsverarbeitung mit der typographischen zu einer einheitlichen ›Lesekultur‹ oder ›Buchkultur‹ zu verschmelzen. Im Gegenteil: Bedingung der Durchsetzung des neuen Mediums war gerade seine völlige Andersartigkeit. Nur weil die gedruckten Bücher den geschriebenen ›nicht zu vergleichen‹ waren, deshalb zogen sie die vorhin erwähnten sozialen Projektionen auf sich. So schreibt der Rothenburger Schulmeister Valentin Ickelsamer Dies wird ausführlich in M. Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main , begründet.
zu Beginn der dreißiger Jahre des . Jahrhunderts in dem ersten Werk, welches mit dem Anspruch einer ›Teutschen Grammatik‹ auftritt, über das Lesen: »Die Lust und der Nutzen dieser Kunst ist so groß, dass es eigentlich ein Wunder ist, wie wenige Leute es heute können und lernen. Denn was will man einer solchen Kunst vergleichen, durch die man alles in der Welt erfahren, wissen und ewig merken und behalten kann und mit der man anderen, wie fern diese auch von uns sind, alles zu wissen geben kann, ohne persönlich bei ihnen zu sein und ohne es ihnen mündlich anzuzeigen? Ich schweige über viele andere Nutzbarkeiten, die allen Ständen in allen Lebenslagen hieraus folgen, sodass man mit Recht sagen kann, dass auf das Lesen niemand verzichten kann.« 29 In diesem von mir dem heutigen Sprachgebrauch angepassten Zitat geht es nicht um das alle medialen Unterschiede verwischende Phantasma ›Lesen‹ der gegenwärtigen Diskussion, hier geht es um die Nutzung des typographischen Speichers. Was in der frühen Neuzeit die Menschen begeisterte, das waren die Möglichkeiten, die sich mit der druckschriftlichen Kommunikation und mit den marktwirtschaftlichen Verbreitungsformen verbanden. ›Lust und Nutz‹ handschriftlicher Texte waren lange bekannt, und man hatte jahrtausendelang Schriftzeichen in Stein gemeißelt, jahrhundertelang Briefe geschrieben, Reden aufgezeichnet, sich Notizen gemacht, ohne zu der Auffassung gekommen zu sein, dass diese Fähigkeiten unverzichtbar sind. Erstaunlich und kaum erklärlich wäre die Hochschätzung des Lesens, wenn der Zeit das Bild der handschriftlichen Wissenstradierung vorgeschwebt hätte. Diese stellte aber keineswegs in Aussicht, dass man mit ihr ›alles in der Welt‹ erfahren kann, und schon gar nicht war es einem jeden möglich, sich in diese Kommunikationsbahnen einzuschalten und so einer interaktionsfreien Wissensaneignung teilhaftig zu werden. Diese Perspektive eröffnete sich in der Tat erst im . Jahrhundert, das Buch gedruckt und zur Ware wurde. Erst jetzt wird das ›Schreiben‹ zu einem Synonym für ›veröffentlichen‹, ›kommunizieren‹, ›in Kontakt mit der Welt treten‹. Im Übrigen wurde die skriptographische Kunst, das Schreiben und Lesen der Handschriften keineswegs so außerordentlich prä Eine teutsche Grammatica, nicht vor vermutlich in Nürnberg gedruckt. Bl. A r. Faksimile in H. Fechner: Vier seltene Schriften des . Jahrhunderts. Berlin .
miert wie später die Produktion und Rezeption der typographischen Medien. In der Fachliteratur wird denn auch immer wieder auf die Kritik dieses Mediums in alter Zeit hingewiesen. Man erwähnt die Kritik am ›Überhandnehmen der Bücher‹ im Alten Testament und weist auf die kritische Einstellung des Sokrates zur Schrift hin, die Platon in seinen ›Phaidros‹ überliefert. Schriftgelehrte standen nicht sonderlich hoch im Kurs in diesen Gesellschaften, und dabei ist es bekanntlich auch im abendländischen Mittelalter geblieben. Wer herrschte, der bedurfte dieser Kunst nicht, und wer sie betrieb, der klagte über sie: ›Wenig Kunst und Bücher viel, das ist der Narren Freudenspiel‹. Narren und Verwaltungsbeamte mochten sich in den Handschriften verlieren – dem Ideal der Eliten entsprach dieses Medium nicht. Die Produktion und Rezeption der gedruckten Bücher hat zumindest in den deutschsprachigen Ländern, von Außenseitern einmal abgesehen, eine solche Bewertung niemals erfahren. Man übernahm zwar die Kritik am Lesen aus den alten Handschriften, aber man wendete sie nicht generell auf das neue Medium an: Kritisiert wurden nur die ›falschen‹ Inhalte bei der Lektüre. Diese Unterschiede zwischen den skriptographischen und den typographischen Medien sind zu wesentlich, als dass man epochenübergreifend von ›dem Buch‹ und ›dem Lesen‹ sprechen sollte. Dies geschieht allerdings in der gegenwärtigen Mediendiskussion beständig. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie so wenig historisch fundiert ist, dass sie es versäumt, der Lebensgeschichte ihrer Grundbegriffe nachzugehen. Eine historisch fundierte medienpolitische Diskussion hätte die Chance zu erkennen, wie jung jenes Konstrukt ›Buchkultur/Literacy‹ noch ist. Eine solche Einsicht setzt allerdings neben dem Blick zurück auch eine selbstkritische Reflexion der eigenen Kategorien und vor allem ihrer Genese voraus. Die Wörter ›Buch‹, ›Lesen‹, ›Schreiben‹ und ›Schrift‹ haben sich als Hindernis für kulturgeschichtliche Betrachtungen erwiesen. Ziehen wir zum besseren Verständnis noch einmal einen Vergleich aus einem ganz anderen Bereich heran: der Wirtschaft. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den japanischen Trawlern, die die Meere mit mehr als Kilometer langen und über Meter tiefen Netzen durchpflügen, und den Kariben, die, bis zu den Hüften im Wasser watend, sich mit bloßen Händen auf einen
vorbeiziehenden Fisch stürzen: Beide »fischen«. Insoweit ist es auch stimmig, von »lesenden« Sumerern, Inkas, Griechen und mittelalterlichen Mönchen zu sprechen. So alt wie der Fischfang ist dann auch die Lesekultur – so alt wie die Angel oder das Netz die Buchkultur, um die es hier geht. Das Beispiel klingt drastisch, aber wer hätte solche Ableitungen nicht schon vorgeführt bekommen? Wörter und Etymologie stiften hier verwirrende Gemeinsamkeiten. Ganz gleich wie man zu den Ableitungen im Übrigen steht, so zeigen sie doch vor allem eines: Unhistorische Abstraktionen lassen sich leicht anstellen, wenn man die Medien außer Acht lässt. Sobald man sich andererseits die Medien der sozialen Tätigkeit, seien es jene der Kooperation oder jene der Information, genauer anschaut, beginnen sich diese in deutlich abgegrenzte Epochen zu untergliedern. Das Lesen gedruckter Bücher im Europa der Neuzeit setzt sich dann von der mittelalterlichen Evangelienlektüre ähnlich klar ab wie die Fischzüge der japanischen Trawler vom Hobbyangeln.
Die skriptographischen Medien als Magd der Rede Andererseits zeigen sich Ähnlichkeiten, auf die keinerlei sprachliche Gemeinsamkeiten hinweisen. Die gekerbten Tonscherben Babylons und die Botenstäbe, die Birkenrindentexte der Kiewer Rus, die vielen Rezepte und Listen auf Papyros, Pergament und Papier aus älterer Zeit kann man zweifellos als ›skriptographische‹ Medien bezeichnen, aber sie unterscheiden sich von den gedruckten Büchern stärker als jene von einer Fernsehsendung. Erstere fungieren nämlich gar nicht als autonome Kommunikationsmedien, sondern dienen als Gedächtnisstütze der ›Schreiber‹, während die typographischen Medien von Anfang an nicht nur für den Autor, sondern auch für die von ihm verschiedenen Leser gedacht sind – genau wie sich die Fernsehsendungen an Personen richten, die von ihren Produzenten verschieden und ihnen unbekannt sind. Noch in den antiken und mittelalterlichen Kulturen fungierten die schriftlichen Medien in ihrer übergroßen Mehrheit als Magd der Rede. 30 Sie bereiteten den mündlichen Vortrag vor, halfen ihn strukturieren oder entstanden als Aufzeichnung desselben. Als Vermittlungsin Vgl. auch Konrad Ehlich: Writing Ancillary to Telling. In: Journal of Pragmatics (), S. -.
stanz zwischen den Personen trat die Rede, nicht der schriftliche Text auf. Selbst wenn in diesen älteren Kulturen die skriptographischen Medien dann und wann eine kommunikative Funktion erfüllten, so darf man die quantitativen Proportionen nicht außer Acht lassen. Eine Kultur, in der Einzelne schreiben können, unterscheidet sich von Kulturen, in denen viele Gedrucktes lesen, stärker als von einer solchen, in der niemand lesen und schreiben kann – wenn es denn eine solche Kultur jemals gegeben hat. Es spricht ja nichts dafür, dass in der Menschwerdung die Verständigung mit Lauten vor jener mit sichtbaren Zeichen erfolgte. Die Gesellschaften, in denen die skriptographischen Medien als Magd der Rede dienen und in denen sie ebendeshalb eher von Spezialisten genutzt werden, bleiben logischerweise auf das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, den mündlichen Vortrag und die Massenansprache als gemeinschaftsbildendes Instrument angewiesen. Die europäischen Nationalstaaten nutzten demgegenüber die typographischen Medien als gemeinschaftsstiftende Kraft, und sie grenzten sich durch den eigentümlichen typographischen Code, die Nationalsprachen, voneinander ab.
Die Vielfalt des Schreibens und Lesens Aber auch was den Aspekt der Produktion und Rezeption »schriftlicher Texte« anbelangt, so zeigen sich, wenn man medientheoretisch differenziert, erhebliche Unterschiede. Die Einheit des Phänomens, die mit ›Schreiben‹ und ›Lesen‹ bezeichnet wird, bricht auf. Das mittelalterliche Schreiben und Lesen beispielsweise beansprucht die menschlichen Wahrnehmungsorgane und Effektoren in ganz anderer Weise, als dies nach Einführung des Buchdrucks in der Neuzeit der Fall ist. Das Schreiben erfolgte damals als ein Malen mit der Feder, als ein taktiler Rhythmus. Passend dazu gestaltet sich das Lesen als eine Nachahmung der eigenen oder der imaginierten fremden Handbewegung mit den Augen und den kinästhetischen Sensoren. Die Bedeutung der Taktilität wird durch das Mitartikulieren beim Schreiben und Lesen noch verstärkt. Verständigung erscheint als ein Resonanzphänomen in den Körper der Schreiber/ Leser – nicht bloß in ihren Großhirnen. Der Buchdruck übersetzt nun keineswegs die Handbewegung des Schreibers in ein technisches Medium. Wer für den Druck
schreibt, weiß, dass der spätere Leser nicht einmal die Spur seiner Handbewegung zu Gesicht bekommt. Folgerichtig konstruiert jener auch nicht mehr irgendwelche Bewegungen – schon gar nicht jene des Setzers –, sondern er starrt auf die unbeweglichen Formen der Buchstaben in den ausgedruckten Texten; ebendeshalb wird die sorgfältige Auswahl der Schrifttypen so wichtig, und deshalb werden auch die Kalligraphen in der frühen Neuzeit noch einmal besonders nachgefragt. Erst das typographische Schriftbild, und nicht schon das Manuskript ist eine Abstraktion von der leiblichen Bewegung, und erst diese eröffnet den Zugang zu einer allgemeinen strukturalistischen Betrachtung der Buchstaben: als eine reine, hinge»setzte« Form. Erst jetzt erscheinen das Schreiben und der schriftliche Sprachgebrauch in Analogie zur Tätigkeit des Setzers als ein Hinzufügen, Weglassen, Umstellen, Austauschen von Buchstaben. Und so verknüpft sich denn der Mythos der Schriftkultur mit dem Mythos der Sprache als einem Zeichensystem. Beides sind Kinder des typographischen Zeitalters. Man denkt sich die Sprache als einen Setzkasten, in dem die Buchstaben wie die Lettern liegen.
Die Vielfalt der Programme und Kodes Aber selbstverständlich bleibt auch der Kode, dessen sich die mittelalterlichen Skriptorien einerseits und die neuzeitlichen Druckereien andererseits bedienen, nicht identisch. Auch hier stiftet der Ausdruck ›Schriftsprache‹, der gewöhnlich auf beide Informationssysteme angewendet wird, Gemeinsamkeiten, die bei einer genaueren Analyse wieder zerbrechen. Er ist die Zauberformel, mit der Denker wie Walter Ong, Eric A. Havelock, Jack Goody, Roger Chartier oder Jacques Derrida die Unterschiede zwischen den verschiedenen »lesbaren Medien« verwischen und der gegenwärtigen Buchkultur zugleich die Aura einer mehrtausendjährigen Tradition verschaffen. 31 Spätestens seit der Einführung des phönizischen Alphabets sollen Formen der Informationsaufnahme, -speicherung und -weitergabe entstanden E. A. Havelock: Preface to Plato. Cambridge, MA (vgl. auch ders.: Schriftlichkeit: Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim ); W. J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen ; J. Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation der Gesellschaft. Frankfurt am Main ; J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main .
sein, die bis in unsere Gegenwart als ›Schreiben‹ und ›Lesen‹, deren Kode als ›Schrift‹ oder als ›Schriftsprache‹ und deren Speicher als Bücher bezeichnet werden. Ich will ja nicht leugnen, dass es für bestimmte Zwecke einen Sinn macht, solche universellen Kategorien zu konstruieren, aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass dieser Kode so unterschiedlich ausgeprägt ist wie die Informationssysteme und Medien, in denen man ihn historisch antreffen kann. Was wissen wir über die Programme, nach denen die Lagerverwalter im Zweistromland ihre Tonscheiben kerbten, Cäsar seinen Griffel in die Wachstafel eingrub, Hieronimus den Federkiel über Pergament kratzen ließ, die mittelalterlichen Baumeister ihre Bauhüttenbücher ›malten‹, Shakespeare seine Sonetten aufs Papier brachte, die Werbegraphiker heute ihre Schilder zeichnen, die Journalisten ihre Manuskripte tippen, die Wissenschaftler ihren Computer traktieren usf., wenn wir sagen, sie alle benutzen die ›Schrift‹? Ermöglichen jene - Zeichen – am Anfang waren es weniger, dann mehr und nun wieder viel weniger – und die Regeln ihrer angemessenen Verknüpfung tatsächlich allein die Parallelverarbeitung von Informationen zwischen diesen Personen und ihren Zeitgenossen? Nein, es geht nicht nur um die Schrift, sondern es geht ebenso um die sozialen Normen, nach denen man diesen ›Zeichen‹ Bedeutungen zuschreibt. Und man kann ihnen nur Bedeutungen zuschreiben, wenn man sie zu Medien werden lässt, soziale Bedeutung nur, wenn man sie zu Medien innerhalb sozialer Kommunikationssysteme macht. Wer diese kommunikativen Institutionen, in die Schrift immer eingebettet ist, nicht kennt, für den werden die Zeichen noch nicht einmal zur Kritzelei. 32 Unter den Bedingungen eines dispersen Massenpublikums müssen die Texte anders gestaltet werden als im privaten Briefwechsel, bei einem begrenzten Fachpublikum oder gar bei Aufzeichnungen allein zur Entlastung des persönlichen Gedächtnisses. Je unterschiedlicher die Informationen Vgl. Georg Elwert: Die gesellschaftliche Einbettung von Schriftgebrauch. In: D. Baecker, J. Markowitz, H. Stichweh, H. Tyrell, H. Willke (Hg.) (): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum . Geburtstag, Frankfurt am Main, S. . Georg Elwert und Michael Giesecke (): Technologische Entwicklung, Schriftkultur und Schriftsprache als technologisches System, in: B. Lutz (Hg.) (): Technologie und gesellschaftliche Entwicklung. Frankfurt am Main, S. -.
sind, die verbreitet werden sollen, je mehr die Anwender und Anwendungssituationen differieren, umso größer werden die Ansprüche nicht nur an die Allgemeinheit der Wahrnehmungs- und Textprogramme, sondern auch an die Standardisierungskraft der Kodes. Die für den Buchdruck verwendeten Standardsprachen sind weit stärker normiert und kodifiziert als ältere Sprachen, und entsprechend aufwendig wird auch die Alphabetisierung. Diese Sprachen lassen sich nicht mehr in der gleichen Zeit lernen wie einfache Verschriftungssysteme zum privaten Gebrauch. Die psychologische und soziale Komplexität der mittelalterlichen Schreibsprachen war um ein Vielfaches geringer als jene der späteren Standardsprache. Ebendeshalb wird die Einrichtung von öffentlichen Schulen, in denen über Jahre hinweg die Fähigkeiten vermittelt werden, die für die Nutzung der typographischen Medien als Informationsquelle erforderlich sind, unabweisbar. Es geht dabei natürlich nicht nur um das Lernen der Buchstaben, sondern um den Erwerb der Fähigkeit, Informationen nach streng standardisierten Prinzipien zu gewinnen, aufzubereiten und zu entschlüsseln. Typographische »Texte« wie zum Beispiel Beschreibungen und Zeitungsberichte haben ihre feste Ordnung, die man kennen muss, um sie zu produzieren und zu nutzen. Der Einübung in diese Ordnung, die Parallelverarbeitung von Informationen erst ermöglicht, dient der so genannte ›weiterführende Lese- und Schreibunterricht‹ in den Schulen. Es handelt sich hierbei wohlgemerkt um Programme, die man nur deshalb ins Leben rief, um ein reibungsloses Funktionieren des typographischen Informationskreislaufs zu garantieren. Außerhalb dieses Systems haben die Programme keine besondere Berechtigung. Diesen funktionalen Bezug gilt es gegenüber den unhistorischen Gemeinplätzen ›Schriftkultur‹ und ›Schriftsprache‹ im Auge zu behalten.
Die Sackgasse der enthistorisierten Leseförderung Die hier vorgeschlagenen medientheoretischen und historischen Differenzierungen besitzen unmittelbaren Nutzen für die zukünftige Medienpolitik. Es steht nämlich nun keineswegs mehr die Aufgabe an, die ›Buchkultur‹ mit den Neuen Medien zu versöhnen. Das scheint mir in Anbetracht der ideologischen Aufladung des Modells und seiner wabernden Konturen in der Tat unmöglich. Vielmehr stellt die neue Perspektive an uns die Anforderung, eine Vielzahl
von ganz unterschiedlichen skriptographischen und typographischen Informations- und Kommunikationssystemen zu verknüpfen. Es werden also nach der Auflösung der Monolithe ›Buchkultur‹, ›Schreiben‹ und ›Lesen‹ eine große Anzahl unterschiedlicher Verknüpfungen erforderlich und möglich: für die Kodizes andere als für die ›schöne Literatur‹, für den Trivialroman andere als für die Schulbücher, für die Zeitungen und Illustrierten andere als für die Fachliteratur, und in dieser Gattung wird es ebenfalls zu Ausdifferenzierungen kommen. Kurzum: Diejenigen, die sich im Zeitalter der elektronischen Medien der Förderung der ›Buchkultur‹ und des ›Lesens‹ verschreiben wollen, was mir aus ökologischen Gründen der Erhaltung der Medienvielfalt als ein ganz notwendiges Unterfangen erscheint, sollten sich zunächst um eine zeitgemäße, von neurotischen Vereinseitigungen der Vergangenheit befreite Sichtweise auf ihr Schutzobjekt bemühen. Eine solche alternative Perspektive wird nicht ohne eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der Buchkultur und vor allem ihrer Selbstbeschreibung zu gewinnen sein. Solange diese Aufarbeitung aussteht, bleibt die ›Leseforschung‹ und ›Leseförderung‹, auch wenn sie durch Medienkonzerne großzügig gesponsert wird, eine Arbeit am Mythos einer vergangenen Epoche.
Die Mystifikation literarischer Bildung Eng mit dem Mythos der ›Schriftkultur‹ hängt die Idee zusammen, die Eliten der Nation müssten durch die Schrift gebildet werden. Letztlich steht im Hintergrund der Debatten um die Armut an Vorbildern in unserer Kultur eine Krise des traditionellen Elitebegriffs. Im Wandel der Zeiten haben die Kulturen so viele verschiedene Vorstellungen darüber entwickelt, welches Verhalten und welches Erleben, welche Technik und welche Kommunikationsformen für die Führungsgeschichten erforderlich sind, dass es schon bald verwunderlich ist, wie lange sich der Kanon in Zentraleuropa hält. Die großen griechischen Erzählungen und Tragödien entstanden ohne die Hilfe der Schrift, auch in der Blütezeit der Antike konnte man eher durch Sport und freie Rede soziale Anerkennung erlangen denn durch die Schrift. Dass zum Herrschen Buchgelehrsamkeit notwendig sei, ist überhaupt erst eine Überzeugung der Neuzeit. Zu einer elementaren Kulturtätigkeit sind das Lesen und Schreiben
eigentlich erst durch Luther erklärt – und bis seine Visionen Wirklichkeit wurden, dauerte es bekanntlich noch eine lange Zeit. Und dann war es mal die lateinische, mal die französische und schließlich die (deutsche) Muttersprache – mit jüngst zunehmender Konkurrenz durch die englische Sprache –, deren Erlernung man für unabweisbar für höhere Bildung erachtete. Als im Kaiserreich der Deutsch-Aufsatz zur Eintrittskarte in die höhere Beamtenlaufbahn gemacht wurde, hielten dies viele (humanistisch gebildete) Konservative für den Anfang des Endes wahrer Bildung. An der Notwendigkeit, ›gestochen‹ schön zu schreiben, um Ordnung in die Gedankenwelt der Schüler zu bekommen, zweifelten an der Wende zu unserem Jahrhundert nur wenige. Die Vorstellungen darüber, was die Menschen bildet, und die dazugehörigen Theorien sind nicht weniger der Mode unterworfen als andere Bereiche unseres Lebens. Aber nun gibt es seit mehr als zweihundert Jahren im deutschsprachigen Raum die Schul- und Bildungspflicht, die der große evangelische Medientheoretiker und -praktiker herbeisehnte. Sie vollzieht sich an und mit gedruckten Lehrbüchern, und das Schreiben nach den Regeln der verordneten Grammatik, wie ›für den Druck‹, einsam, in sich konsistent, ohne weitere Erläuterungen verständlich ist ein Hauptlernziel. Diese Form der Bildung an, für und mit den typographischen Medien hat die Wissensproduktion enorm vorangetrieben und ihr einen gesellschaftlichen Charakter verliehen, von dem frühere Kulturen nichts ahnten. Dieses Verdienst kann überhaupt nicht angezweifelt werden, aber die Durchsetzung dieses Bildungsideals besitzt auch gewaltige Nachteile. Die Gleichschaltung der Hände und der Muskelbewegungen in den Manufakturen und Fabriken einerseits und des Sprechens und Denkens in den Bildungsmanufakturen und Wissensfabriken andererseits liefen in Europa parallel. Die Gleichschaltung der Köpfe ist die konsequente Verwirklichung des Verständigungsmodells des typographischen Zeitalters. Diese lautet: Wechselseitiges Verstehen wird durch Angleichung der Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Darstellungsprogramme erreicht. Verständigung setzt eine gemeinsame Wissensbasis und ähnliche Denkprozesse voraus. Und diese Gemeinsamkeiten sollen vorab in den allgemein bildenden Schulen erzeugt und abgeprüft werden. Dasselbe Buch in der Hand jedes Schülers einer Klasse, dasselbe Buch in den gleichen Klassen möglichst aller Schulen. Vielfältige Normierungsprozesse: Kodifizierung der Sprache,
Kanonisierung des Wissens, Linearisierung des Denkens, Geometrisierung der visuellen Wahrnehmung usf. ermöglichen erst eine gleichsinnige Deutung der Texte durch Personen, die sich weder kennen noch die Möglichkeit zur Rückfrage haben. Diese Zurichtung der Menschen in den Schulen und andernorts gehört zur Buchkultur. Selbstverständlich hat sie eine schöpferische Seite und ermöglicht vielen, ihre Individualität zu entwickeln und kreativ tätig zu werden. Aber es ist eben ein ambivalentes Programm. Die Schwarmbildung wird durch typographische Programmierung erreicht. Das Vervielfältigungsprinzip dient der Gleichschaltung der unterschiedlichen individuellen Formen der Informationsverarbeitung. Dass diese Form der Bildung kein verlässliches Mittel gegen die Barbarei ist, wissen wir aus der jüngeren Vergangenheit. Gründe hierfür stellen sich ein, wenn man unter der ökologischen Perspektive die Ambivalenzen und Risiken des Buchdrucks untersucht. Die bildungs- und kulturpolitische Diskussion in den letzten Jahren zeigt, wie mit einer gehörigen Zeitverschiebung der ›ElitenBildungs-Kanon‹ wechselt. Die interaktionsfreie, einsame Produktion monomedialer logischer ›Texte‹ ist ein Qualitätsideal, dessen Bedeutung sich auf Dauer ebenso relativieren wird wie die der gedruckten Bücher als Verständigungsmedium in einer multimedialen Welt. Solange dies noch nicht geschehen ist, wird man allenthalben in unserer Kultur Zerfall und Auflösung sehen und neue Erlebensund Verhaltensweisen ausgrenzen müssen. Es gibt jedoch keinen Grund, Werte, die (nur) in einem Teil Europas in den letzten fünfhundert Jahren das Miteinander derjenigen Schichten regulierten, die durch gedruckte Bücher gebildet wurden, für alle Zeiten zum Gradmesser zu machen. Dies ist weder pluralistisch noch demokratisch. Es fördert weder den Dialog zwischen den Generationen noch jenen zwischen den Kulturen, sondern dient bestenfalls der Sicherung von Pfründen einiger weniger Gruppen. Das Angebot an Kommunikationsmedien und die Möglichkeiten individueller und sozialer Informationsverarbeitung haben sich erweitert, und damit vergrößert sich für den einzelnen Menschen auch die Chance, diejenigen Medien auszuwählen, die seiner persönlichen Neigung am förderlichsten sind. Monomediale und monosensuale Bildungsideale kann sich unsere Gesellschaft nicht mehr erlauben, wenn sie die Ressourcen der Menschen nutzen und fördern will. Der Trend geht eindeutig in Richtung auf eine multimediale und
allseitige Entwicklung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten. Dafür spricht im Übrigen auch, dass sich die Beherrschung elektronischer Medien als Statussymbol der Eliten nicht in der Weise eignet, wie ehemals jene der typographischen Medien. Natürlich wird sie zunehmend notwendig, aber sie allein empfindet man nicht als ausreichend.
Die Mystifikation der sichtbaren äußeren Welt Viele Medienkritiker unserer Gegenwart finden es ›merkwürdig‹ und bestürzend, dass eine ›zweite Wirklichkeit im Entstehen begriffen ist‹, nämlich jene der Fernsehbilder und der Computersimulationen. 33 Weit absurder scheint mir die Tatsache, dass es die typographische Kultur in Europa über Jahrhunderte hinweg verstanden hat, eine einzige Informationswelt als ausschließliche ›Wirklichkeit‹ herauszustellen und alle anderen Welten als subjektive Modelle abzuwerten. Eine solche Hierarchisierung der Umwelt hat es in der Menschheitsgeschichte zuvor, soweit wir wissen, niemals gegeben, und es besteht überhaupt keine Veranlassung, ihrer Erosion nachzutrauern. Kein Christ des Mittelalters zweifelte an der Wirklichkeit Gottes und seiner Boten. Natürlich sah noch Luther ›leibhaftige Teufel‹. Die psychische und vor allem die leibliche Innenwelt galt und gilt wieder allen mystischen Schulen als genauso wirklich wie die äußere Umwelt. In den so genannten ›einfachen‹ oder ›animistischen‹ Kulturen sind die toten und belebten Umweltgegenstände wie die Bäume und Tiere genauso wahrhaftige Kommunikationspartner wie die Artgenossen, ihre Botschaften werden gehört oder gerochen oder mit anderen Sinnesorganen wahrgenommen (vgl. Kap. ). Um was geht es also, wenn die Informationswelten der neuen Medien gegen irgendwelche anderen Wirklichkeiten ausgespielt werden? Genau genommen sind für beliebige Kulturen jeweils nur bestimmte Typen von Informationen wirklich – andere werden entweder gar nicht erst wahrgenommen oder aber als Illusion, Traum, Phantasie, Teufelswerk oder was auch immer abgetan. Wenn bei Oskar Negt: Keinen Augenblick mehr alleingelassen. Medien-Wirklichkeit und Erfahrungsverlust. In: Weiterbildung + Medien, Heft , , S. -, hier S. .
spielsweise die Tibetaner (u. a.) ›Chakren‹, Kraftlinien in unserem Körper, spüren und wir nicht, dann sagt das etwas über die Verschiedenheit der relevanten Umwelt in zwei Kulturen aus. Wenn die Kenntnis der Chakren für wichtiger gehalten wird als die Unterscheidung zwischen Venen und Arterien, so sagt dies etwas über die Hierarchie in der Bewertung der Sinnesorgane und der Programme der Informationsverarbeitung aus: Chakren kann man im Gegensatz zu den Venen nicht im europäisch-neuzeitlichen Sinne sehen. Sie lassen sich nicht fotografieren. Die Augen und die Außenwelt werden also – in diesem Falle – geringer geschätzt als die entsprechenden somatischen Sensoren und die leibliche Innenwelt. Es mag zu den Hoch-Zeiten des Eurozentrismus und der kolonialen Expansion akzeptabel gewesen sein, die Wirklichkeit der Chakren zu leugnen, aber heute? Wir werden auf Dauer nicht umhinkommen, von mehreren Wirklichkeiten auszugehen, und natürlich sind es nicht nur zwei. Je nach den beteiligten Sinnesorganen, Medien und Programmen kennt die Menschheit seit alters her viele Wirklichkeiten. Nur der imperialistische und monosensuelle und monomediale Anspruch der Buchkultur hat diese Tatsache verdrängt.
Die Mystifikation der synthetischen Buchwelt Diejenigen, die den elektronischen Aufbau einer zweiten Wirklichkeit beklagen, gehen freilich noch von einer weiteren falschen Prämisse aus. Sie unterscheiden zwischen einer natürlichen und der künstlichen Wirklichkeit und geben der Ersteren den Vorzug: Die Welt des Fernsehens und der Computerbildschirme und -ausdrucke erscheint ihnen als künstlich, eine andere, deren Bild wir uns mit unseren leiblichen psychischen Organen machen, bewerten sie als natürlich und angemessen. Aber diese Gegenüberstellung ist kaum weniger phantastisch als die Rede von der einen Wirklichkeit oder die Annahme einer medienlosen Verständigung (vgl. Kap. , S. ff.). Um dies zu verstehen, sollte man sich zunächst klar machen, dass es ja nicht um die Künstlichkeit der Dinge, sondern um jene der Informationen geht: Niemand wird bestreiten, dass Fernseher und Computer von Menschen gemachte technische Dinge sind – aber das gilt für die Straßen, Häuser, Autos und vieles andere mehr auch, und insofern ist alle Zivilisation eine soziale und mehr oder
weniger technische Konstruktion im Gegensatz zur natürlichen Evolution – so weit diese überhaupt noch unter Ausschluss des Menschen gedacht werden kann. Nicht dieser Unterschied ist also gemeint, sondern ein anderer: In den neuen Medien sollen Informationen gespeichert liegen, die irgendwie als weniger natürlich empfunden werden als jene, mit denen wir es bislang zu tun hatten. Nun ist es zweifellos richtig, dass die neuen Informationssysteme in allen ihren Elementen (Sensoren, Speichern, Prozessoren und Effektoren) technisiert sind und dass das Ausmaß der Freisetzung sozialer und psychischer Prozessoren aus diesen Systemen alles vorher Gekannte in den Schatten stellt. Aber andererseits bleiben auch diese elektronischen Systeme Elemente im kulturellen Ökosystem, sie arbeiten nach sozialen Programmen, sie sind auf die menschlichen Möglichkeiten abgestimmt und auf die Mitarbeit des Menschen angewiesen. Sie sind ein Teil der kulturellen Netze und stehen mit anderen Medien in vielfältigen Resonanzbeziehungen. Dass diese neuen Informationssysteme als so fremd und andersartig erlebt werden, liegt vor allem daran, dass man den Grad der Künstlichkeit der bisherigen Informations- und Kommunikationssysteme so erfolgreich verdrängt hat. Und hierbei leisten wiederum die Verklärungen der Buchkultur ihren Beitrag. Ja, es gehört zu den erstaunlichsten Leistungen der modernen Bibliophilen, dass sie es am Ende des typographischen Zeitalters geschafft haben, die Künstlichkeit des Buchwissens nahezu gänzlich in Vergessenheit geraten zu lassen! Wieso aber sollte die typographische Information weniger künstlich sein als die elektronische? Sie können doch dem riesigen und anonymen Publikum nur deshalb zugemutet werden, weil sie nach hochartifiziellen, vielfach sozial genormten Verfahren gewonnen, dargestellt und auch rezipiert werden. Ohne viele Jahre schulischer Dressur kann sich niemand an die typographischen Informationssysteme anschließen. Die Speichermedien, die ausgedruckten Bücher sind das Produkt komplizierter technischer Verfahren. Der Kode, die nationale Standardsprache und die Zahlen sind ebenfalls nicht wie ein unbeschnittener Baum herangewachsen. 34 Nein, die typographische Konstruktion unserer Umwelt in den gedruckten Büchern ist eine soziale Veranstaltung, die in allen Phasen auf technische Prozessoren und Speichermedien angewiesen ist. Vgl. dazu Kap. ›Natürliche‹ und ›künstliche Sprachen‹. In: M. Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Frankfurt am Main , S. ff.
Und natürlich ist auch der Roman über das Leben der Madame Bovary oder die Beschreibung einer Eisenbahnfahrt nicht deren Leben beziehungsweise die Eisenbahnfahrt selbst. ›Die Karte ist nicht das Territorium‹, wie G. Bateson nicht müde wurde zu betonen – die Beschreibung ist nicht das Beschriebene und das Gefilmte oder sonstwie elektronisch erzeugte Haus ist nicht das Haus selbst. 35 Insofern schafft jede Informationsverarbeitung eine andere Wirklichkeit, transformiert die Informationen von einem Emergenzniveau auf das andere. Und wenn man Informationsverarbeitung in diesem Sinne als Transformation von Merkmalen des einen in das andere Speicher- oder Trägermedium versteht, von den physikalischen Gegenständen unserer Umgebung beispielsweise in neuronale Erregungsmuster oder in chemische Reaktionen auf den Filmstreifen, dann gibt es keine Veranlassung, den Endpunkt dieser Transformation dem Anfangspunkt vorzuziehen. Das erste Medium enthält andere Informationen als das zweite, nicht mehr und nicht weniger. Und selbstverständlich kann man jedes Medium, also auch die elektronischen Modelle wiederum zum Ausgangspunkt von Informationstransformationen machen, und in diesem Fall erscheinen sie als das erste und die Ergebnisse dann als das zweite ›Medium‹. Die Unterscheidungen zwischen den Medien oder den Wirklichkeiten sind relativ und umkehrbar. Wir selbst können als Betrachter die beiden Medien vergleichen und strukturelle Ähnlichkeiten feststellen. Dies bringt uns dazu, von »Übersetzungen« oder von »ähnlichen« Informationen zu sprechen. Informationen ohne Medien gibt es nicht, und deshalb sind alle Kulturen Medienkulturen. Das Schlagwort von der ›Mediengesellschaft‹ ist Arbeit an einem rückwärts gewandten Mythos, wenn damit gemeint ist, die gegenwärtige Gesellschaft beruhe auf Medien und die vorhergehenden nicht. Auch das leibliche Verhalten ist ein Medium für die Umwelt. Die stark wertende Kraft erhält der Mythos der ›Natürlichkeit‹ durch die weitere, selten ausgesprochene Überzeugung, die leiblichen Sensoren und Medien seien gegenüber den technischen in jeder Hinsicht primär. Unsere Augen und unser Denken sind ebenso wie technische Werkzeuge kulturelle Medien. Statt immer neue Hierarchien zwischen ihnen vorzuschlagen, sollten wir ihr Zusammenwirken gestalten. G. Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main , S. ff., ff., f.
Die Mystifikation rationaler, sprachlicher Informationsverarbeitung Wie wir vorhin sahen, hat sich der Buchdruck u. a. deshalb so schnell durchsetzen können, weil er als Aufklärungsmaschine und diese wiederum als Vehikel des kulturellen Fortschritts erlebt wurde. Die Zurückführung der Natur auf mathematische, geometrische, logische Strukturen und die Versprachlichung, genauer: die Verschriftung des Lebens galten vom . bis zum . Jahrhundert als ein Hauptweg, die europäischen Kulturen von anderen abzuheben. Noch der programmatische Imperativ des Psychologen und Arztes Sigmund Freud ›Wo Es ist, soll Ich werden!‹ fordert zur Transformation von Informationen des einen Speichers (Es) in einen anderen (Ich) auf. Dahinter steckt die Vorstellung eines hierarchischen Verhältnisses der verschiedenen Informationstypen oder -speicher: Der Ich-Speicher, also das versprachlichte ›bewusste‹ Wissen, ist mehr wert als die affektiven Informationen – und Letzteren deshalb übergeordnet. Solche Prämierungen von Kommunikations- und Informationstypen sind offenbar unvermeidlich. Sie sind häufig funktional, wenn bei der Informationsverarbeitung entschieden werden muss, was wichtig, was weniger wichtig und was gar nicht wichtig ist. Im Hinblick auf konkrete Aufgaben gliedert sich das Informationsangebot in Relevanzstufen. Mehr sollte jedoch mit solchen Prämierungen von Informationen im Stile sozialer oder psychischer Aufklärung nicht gemeint sein. Für andere Aufgaben gelten andere Entscheidungsprämissen. ›Wo Ich ist, soll Es werden‹ ist – für bestimmte Aufgaben – eine ebenso sinnvolle Forderung, und sie wird ja auch beständig beherzigt: Ein Großteil der Sozialisation erfolgt, indem soziale Normen (Über-Ich) zunächst in bewussten individuellen Willen übersetzt werden – um dann durch ›Übung‹ in ›Fleisch und Blut‹ überzugehen. Wir wären nicht lebensfähig, wenn unsere Reaktionen, vom Radfahren über die Prüfung des Essens bis zur Partnerwahl, nur bewusst abliefen. Es ginge schon allein viel zu langsam. Die Automatisierung bewusster Programme bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil aller individuellen und sozialen Evolution. 36 Ausführlich beschäftigen sich damit die Wirtschaftswissenschaftler H. Takeuchi und I. Nonaka in ihrem Buch ›Die Organisation des Wissens‹. Frankfurt am
Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen sollte sein, jeweils die Aufgaben zu nennen, die zu der vorgeschlagenen Prämierung des einen oder des anderen Informations- oder Kommunikationstypen führen. Passiert dies nicht, wird der prämierte Informationstyp mystifiziert – und seiner unheilvollen Nutzung in ungeeigneten Kontexten Tür und Tor geöffnet. Die Hierarchisierung der verschiedenen Seinsformen von Materie und Information mit den bewussten psychischen Leistungen in der Spitzenstellung hat natürlich die Durchsetzung der Buchkultur erleichtert. Geraten diese Zweckbestimmung und die Legitimationsfunktion der ›Aufklärung‹ aus dem Blick, beginnt die mystische Verklärung.
Die Mystifikation des Gedächtnisses Eng mit der einseitigen Preisung von Schriftsprache und rationalen Formen der Informationsverarbeitung hängt die schon angesprochene Mystifizierung des Gedächtnisses zusammen. Während noch im Mittelalter der memoria ganz selbstverständlich die Funktion sowohl des Behaltens als auch des Vergessens zugeschrieben wurde, sieht die Buchkultur nur noch die Speicherfunktion. Sie hielt das Vergessen für einen Mangel und wollte diesem durch die Verbreitung von Informationen im Druck abhelfen. Prämiert wurde das Gedächtnis, und nicht das Vergessen. Und diese Verkürzung hat auch die Computer- und Fernsehkultur übernommen. Aber dies dürfte eine historisch vorübergehende Erscheinung sein. Aller Beschleunigung der Rechnerkapazitäten zum Trotz wachsen die unverarbeiteten Informationsberge weiter. Die Zeiträume, in denen der Speicher voll ist, verkürzen sich. Dies liegt vor allem daran, dass die Rechner kein intelligentes Konzept für die neben dem Behalten zweite wichtige Grundfunktion des Gehirns besitzen, nämlich für das Vergessen. Unbegrenztes Behalten von Informationen ist sowohl für die Individuen als auch für die Kultur ein Verhängnis. Deshalb wird das Lernen von Vergessen zu einer Schlüsselqualifikation der postindustriellen Gesellschaft. (Dazu mehr auf Seite ff.) Main (hier S. ), mit den verschiedenen Transformationsprozessen zwischen sozialem und individuellem, latentem und manifestem Wissen.
Die Mystifikation der Autoren als alleinige Schöpfer Damit unsere Gegenwart die typographische Informationsverarbeitung und ihre verschiedenen Medien als selbstverständlich und ›natürlich‹ empfinden kann, musste man viele Einsichten ausblenden, die für andere Kulturen zum Selbstverständlichen gehörten, und zahlreiche ideologische Verklärungen vornehmen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Prozess das Konstrukt des ›Autors‹. Wenn man sich einmal auf einen allgemeineren historischen Standpunkt stellt, dann erscheint das Konzept des neuzeitlichen Autors als höchst unwahrscheinlich. Diejenigen, die sich ihm in älterer Zeit annäherten, blieben Außenseiter, die leicht der Gotteslästerung oder jedenfalls persönlicher Hybris verdächtigt werden konnten. Dies hängt damit zusammen, dass die Erzählung von Autoren ein Ursprungs- und Schöpfungsmythos ist. Die älteren Kulturen betrachteten den Menschen als ein Element in einer langen Tradierungskette. Das christliche Mittelalter etwa ging davon aus, dass die Äußerungen des Menschen letztlich auf göttliche Eingebungen zurückzuführen sind. Es gab, wenn man das neuzeitliche Konzept überhaupt anwenden will, nur den einen ›Autor‹, Gott, und dieser bediente sich der Menschen – sowie der Natur und übernatürlicher Wesen wie der Engel – als Medien. Nachdem sich bei den Menschen die Idee, Gott gleich zu sein, durchgesetzt hatte, nahmen sie auch dessen Schöpferposition ein, betrachteten sich als ›Urheber‹, ›Erfinder‹ oder eben als ›Autoren‹. Durchsetzen konnte sich dieses Konzept vor allem deshalb, weil es sich als praktisch für die typographische Informationsverarbeitung und Kommunikation erwies. Es ist sinnvoll, denjenigen zu benennen, der Informationen in das typographische Informationssystem eingibt und der es damit allgemein zugänglich macht. Man hat dann eine Adresse für dieses Informationspaket und kann es entsprechend ordnen und wieder abrufen. Genauso wie man bei der Textverarbeitung mit dem Computer gezwungen ist, seine Dateien zu benennen, so war die Gesellschaft in der frühen Neuzeit gezwungen, ihre typographischen Informationen zu benennen, um sie wiederzufinden und sie anderen gegenüber zu identifizieren. 37 Mehr als eine Adresse in den kommunikativen Netzwerken meinen die Namen auf den Titelseiten der gedruckten Bücher in der Giesecke , a. a. O., S. ff.
frühen Neuzeit zunächst nicht. Geschaffen wurden diese Texte natürlich nicht nur von den Personen, deren Name auf den Titelseiten ausgedruckt wird. Vielmehr nutzen diese die Informationen, die ihnen von anderen Menschen zugetragen werden, die sie in anderen Büchern gelesen haben und die sie selbst unter der mehr oder weniger großen Mithilfe anderer gewonnen haben. Im Einzelnen lässt sich nicht genau entscheiden, welche Informationen woher stammen; auch die Buchautoren fungieren als Transmissionsglied in einer langen kommunikativen Kette. Natürlich ist es praktisch, Schnitte zu machen und zu sagen: Dies habe ich und kein anderer geschrieben – aber es ist gut zu wissen, dass dies eine Simplifikation ist. Genauso wie jede kausale Erklärung willkürlich einzelne Bögen aus dem Gesamtzusammenhang der Verknüpfung der Erscheinungen herauslöst und etwas zum Anfang beziehungsweise zur Ursache und das andere zur Folge beziehungsweise zur Wirkung erklärt, so setzt auch jede Autornennung willkürlich einen Verursacher und vernachlässigt andere mögliche. Die Autorisierung ist kein frevelhaftes Vorgehen, sondern im Gegenteil eine sehr praktische Normierung. Zu kritisieren ist aber ihre Mystifizierung, der Glaube, es handle sich dabei um etwas anderes als um eine Form der Komplexitätsreduktion, die sich für die gesellschaftliche Informationsverarbeitung unter den Bedingungen der Marktwirtschaft als nützlich erwiesen hat. Verständlich wird die soziale Verallgemeinerung dieser Mystifizierung, wenn man verfolgt, wie sie von der Gesellschaft zu den verschiedensten Zwecken instrumentalisiert wurde. So hat beispielsweise das Rechtssystem die Idee des Autors sehr schnell aufgegriffen und ihn zum Zurechnungspunkt für Verantwortung gemacht. Unabhängig davon, wer irgendetwas denkt und propagiert, derjenige, dessen Name als Urheber auf den typographischen Texten steht, ist für den Inhalt verantwortlich. Er wird zur Rechenschaft gezogen – weil man der anderen Verursacher nicht habhaft werden kann. Und aus der Perspektive des Wirtschaftssystems wird der Autor zum Eigentümer. Er verfügt über die Information, wie andere Eigentümer über andere Typen von Waren verfügen. Er kann sie verkaufen und wird für seine Produkte bezahlt. Man sieht, wie die Isolierung und Prämierung des Individuums in den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen mit synergetischen Effekten betrieben wird. Die neuen elektronischen Vernetzungs- und Speichermedien, allen voran das Internet, brauchen andere Klassifikationsprinzipien
für die Information. Mit dem Autorkonzept wird sich hier auf Dauer nicht arbeiten lassen. Der Versuch personaler Zurechnung von Daten schränkt die Möglichkeiten vernetzten Arbeitens ganz unnötig ein. Neben die personale Zurechnung wird die Zurechnung zu sozialen und kollektiven Systemen treten. Die ›Adresse‹ kann entweder die Projektgruppe oder das Projekt, sein Produkt oder Thema oder beides sein. Digitale Informationen werden eher kollektive Schöpfer haben – dies häufig schon aus rein technischen Notwendigkeiten. Kollektive Informationsverarbeitungsprozesse, wie sie für Projektgruppen schon konstitutiv sind, werden wieder stärker das Bewusstsein für die prinzipiell anfangs- und endlose kommunikativen Vorgänge schärfen. 38 Sie dürften darüber hinaus auch die starke Asymmetrie zurückdrängen, die für die Massenkommunikation des Buchdruckzeitalters typisch ist: Auf der einen Seite ein Autor – oder wenige klar identifizierbare Personen – und auf der anderen Seite das ›disperse Publikum‹, eine Masse, die mehr oder weniger stark, je nach den Gattungen, sozial typisiert wird. Auf der einen Seite aktive Informationsproduktion, auf der anderen Seite Lesen/ Zuhören/Zusehen und reproduktive Akte. Die prinzipielle Gleichheit, die für Kommunikatoren in vielen mündlichen Gesprächssituationen möglich ist, weicht in der Buchkultur einer Betonung der Unterschiede. Dies geht gelegentlich so weit, dass kommunikative Chancengleichheit als sozialromantische Idealisierung abgetan wird. Auch auf diesem Felde werden wir uns daran gewöhnen, dass je nach den Zwecken und den dafür geeigneten Medien ganz unterschiedliche Abstufungen zwischen den Polen ›Gleichheit‹ und ›Asymmetrie‹ funktional für die Lösung kommunikativer Aufgaben sind. Vermutlich wird in Zukunft der ›User‹ stärkere Bedeutung für die Mythenbildung gewinnen als der ›Autor‹. Es ist ja auffällig, dass wir zwar einen Begriff für die Nutzer, eben ›User‹, der neuen Medien, nicht aber für die Produzenten der Daten haben. In der Buchkultur lagen die Verhältnisse eher umgekehrt. Das Komplement zum ›Schreiber‹ ist der ›Leser‹, zum ›Verleger‹ der ›Käufer‹, und zum ›Autor‹? Wenn wir die Durchsetzung des Urheberrechts nach der Erfin Vgl. in diesem Sinne Christiane Heibach: Literatur im Internet. Theorie und Praxis einer kooperativen Ästhetik. Berlin , S. ff. Sie gibt dort eine Übersicht über verschiedene Typen ›partizipativer‹ Formen der Informationsgewinnung und -darstellung.
dung des Buchdrucks um ca. mit der heutigen Entwicklung vergleichen, dann sollten wir in bis Jahren eine den elektronischen Medien angepasste juristische Form haben. Ich glaube allerdings, dass es langsamer gehen wird als in der Renaissance. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Computer als Kinder der Marktwirtschaft vor allem in den Vereinigten Staaten groß geworden sind. Dies entspräche der Erfindung des Buchdrucks in Spanien und seiner Funktionalisierung für Feudalismus und Inquisition. Stattdessen traf er bekanntlich im deutschsprachigen Raum auf eine starke ideologische Bewegung, die gerade die etablierten Verkehrsund Wirtschaftsformen in Frage stellte. Es ist dieses Bündnis mit der Reformation, das die Durchsetzung alternativer Verteilungsmechanismen damals so stark beschleunigte. Und es ist das Bündnis zwischen den Neuen Medien und den alten Produktions- und Verteilungsformen, welches ihre Entwicklung so behindert.
Der Mythos der Technisierung Zu den verhängnisvollsten Mythen unserer Gegenwart gehört die Vorstellung, unsere kulturelle Evolution beruhe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu praktisch Prozent auf technischem Fortschritt. Ihre Überzeugungskraft gewinnt die Annahme aus der Tatsache, dass die Technik in den letzten Jahrhunderten unbestreitbar ein wesentlicher, in vielen Bereichen sogar der wichtigste Katalysator gesellschaftlicher Veränderung gewesen ist. Gerade die Drucktechnologie hat viel zur Mystifizierung des technischen Fortschritts beigetragen. Wie stark die Maschinisierung der Arbeit, die Elektrifizierung des Verkehrs, die hochtechnisierte Gestaltung der Umwelt, des Wohnens, der Freizeit, die Gerätemedizin, die Automatisierung von Verwaltung und Dienstleistung usf. unsere soziale Umwelt verändert haben, ist ausgiebig beschrieben worden und von jedermann erfahrbar. 39 Ebenso offensichtlich dürfte sein, dass diese Innovationen auch Krieg und Zerstörung gebracht haben und die Ursache für zahlreiche Missstände sind, unter denen wir gegenwärtig leiden. Die Modernisierung unserer Umwelt hat sich aber nie ausschließlich durch technische Medien vollzogen. Es gab und gibt tief Vgl. – durchaus technologiekritisch – Daniel Goeudevert: »Wie ein Vogel im Aquarium. Aus dem Leben eines Managers«. Berlin .
greifende Veränderungen, die auf neue Formen der Arbeitsteilung, Umstrukturierungen von Interaktionsbeziehungen sowie Neudefinitionen sozialer Beziehungen und sozialer Prozesse beruhen: die Perfektionierung der Trennung von Person und Rolle, die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Kooperation einschließlich der Gewaltenteilung, die Einführung des formalen Rechts und des Prinzips der Legitimation durch Verfahren, neue soziale und kommunikative Kooperationsformen wie Ehe und Nation, das Gewaltmonopol des Staates und andere Konfliktregulierungsmechanismen. 40 Eine relativ neue ›Sozial-Technologie‹ ist auch die Entwicklung von Institutionen sozialer und individueller Selbstreflexion in Therapie und Beratung. Natürlich haben auch diese sozialen Errungenschaften ihre Kehrseiten, aber es ist schon merkwürdig, wie wenig sie überhaupt thematisiert werden. Mit Blick auf die Geschichte muss betont werden, dass der Glaube an ›Wunschmaschinen‹ zwar immer einmal wieder auftauchte, aber andernorts nicht zu einer solchen bestimmenden Macht wurde wie in den Industrienationen der Neuzeit. In vielen vorindustriellen Kulturen verstand man ›Technik‹ eher als Spiel, als Ausstattung der Freizeitparks der Oberschicht denn als einen ernsthaften kulturellen Faktor. Ein schönes Beispiel liefern hier die pneumatischen und hydraulischen Maschinen des Heron von Alexandria. Ausgeklügelte Instrumente, die doch zumeist nur dazu dienten, auf Festen zu erstaunen und zu belustigen. So drängt sich die Frage auf, ob die neuzeitliche Prämierung von Technik eine historisch vorübergehende Phase sein könnte? Diejenigen, die etwa von den ›Grenzen des Wachstums‹ oder von der ›ökologischen Bedrohung‹ sprechen, haben schon Zweifel daran, dass sich die gegenwärtigen Aufgaben nach dem klassischen Muster der Technisierung lösen lassen. Weder das Problem des Bevölkerungswachstums noch das der Arbeitslosigkeit, noch das der sozialen Ungleichheiten im globalen und nationalen Maßstab rufen in jener Weise nach technischen Lösungen, wie dies in vergangenen Jahrhunderten bei der Energie- und Rohstoffbeschaffung, der Beschleunigung der Erzeugung und des Transports von Waren und Nachrichten usw. der Fall gewesen ist. »Viele der frühen Werke von Niklas Luhmann arbeiten gerade diese sozialen Errungenschaften heraus: ›Legitimation durch Verfahren‹, ›Liebe als Passion‹, ›Zweckbegriff und Systemrationalität‹ sowie seine Beiträge zur Evolution sozialer Differenzierung.
Man kann also festhalten, dass sich die Modernisierung unserer Welt niemals ausschließlich durch technische Medien vollzogen hat und dass die Wahrscheinlichkeit, dass diese in der Zukunft die herausragende Bedeutung, die sie in der jüngeren Vergangenheit besessen haben, beibehalten werden, eher gering ist. Sie werden auf vielen Gebieten wichtig bleiben, aber sie versagen gegenwärtig auch auf vielen Feldern als Problemlöser. Dieser technikgeschichtliche Exkurs ist wichtig, wenn man aus kommunikationstheoretischer Perspektive über die Zukunft der Informationsgesellschaft mitdiskutieren will. Er kann nämlich die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass auch die Modernisierung von Informationsverarbeitung und Kommunikation nicht bloß durch Technisierung erreicht wurde. Die gegenteilige Überzeugung bestimmt merkwürdigerweise das Denken und die Vorschläge der meisten ›Medientheoretiker‹. So folgert etwa Norbert Bolz, nachdem er die Verschmelzung von Computer und Telekommunikation als Ist-Zustand diagnostiziert hat: »Die wichtigste intellektuelle Gestaltungsaufgabe der Zukunft ist deshalb das Design integrierter Datenprozesse. Die Gesellschaft erweist sich immer nachdrücklicher als autonome Kommunikationsmaschine, die zwar auf den Menschen und auf ihr Bewusstsein angewiesen ist, aber nicht auf sie zurückgeführt werden kann. Sprache ist nicht mehr das Haus unseres Seins – es ist aus Algorithmen erbaut. Es wäre deshalb ein romantisches Missverständnis, die Kodes und Relais der neuen Kommunikationsverhältnisse als Behelfe zwischenmenschlicher Mitteilung zu deuten.« 41 Als was auch immer man sie deutet, der, der sie deutet, ist ein Mensch, und alle Telekommunikation und Computer müssen an dessen leibliche Sinne anknüpfen. Technik, Menschen, soziale Systeme befinden sich in Koevolution. Nichts lässt sich im kulturellen Ökosystem autonom ›designen‹. Dass die Sprache an Bedeutung verliert und maschinelle Kodes im Gegenzug wichtiger werden, kann man nur unterstreichen, aber wieso ist die Gestaltung der (technischen) Datenprozesse die wichtigste Zukunftsaufgabe? Wieder wird die Hoffnung auf technische Integration gesetzt. Eine ökologische Perspektive wird das Span Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München , S. .
nungsverhältnis zwischen den verschiedenen Typen von Kodes, zwischen elektronischer und psychischer Informationsverarbeitung in den Mittelpunkt rücken und nicht versuchen, die eine Seite auszuschalten – sei es durch Ranglisten oder Werturteile nach dem Muster ›realistisch : romantisch‹. Es gibt, um dies nochmals zu unterstreichen, keine Veranlassung, bei der ›Modernisierung der Informationsverarbeitung‹ nur an die Optimierung technischer Informationssysteme und -netze zu denken. Ebenso gut könnte die Verbesserung der Informationsverarbeitung mit den leiblichen Medien in den Blick kommen. Dass dies nicht geschieht, liegt an der neuzeitlichen Mystifizierung des technischen Fortschritts und des Individuums. Eine weitere Frage könnte lauten: Soll die Automatisierung der (individuellen) Informationsverarbeitung oder die Effektivierung der sozialen Kommunikation im Mittelpunkt der Medienpolitik stehen? Sollen wir die Lösung nahezu ausschließlich in Maschinen suchen oder trauen wir uns zu, die soziale Arbeitsteilung auch auf dem Felde der Informationsverarbeitung zu verändern und zu optimieren. Bislang sind Veränderungen der Sozialorganisation eher nachgeordnete und häufig ungeplante Effekte der Implementation von Technik. Nutzen wir die leiblichen Ressourcen der Individuen und die der Teamarbeit, des Sozialmanagements überhaupt aus? Die Option für Technisierung würde zweifellos an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie als Antwort auf eine solche Entscheidungsalternative gefällt würde. Solange man sich die Informationsgesellschaft nur als Rechner und die Menschen als ›Schaltmomente im Medienverbund‹ (Bolz) vorstellen kann, besitzen wir kaum Entscheidungsfreiheit. Die technizistische Verengung kultureller Evolution kann gesellschaftlich gewollt sein. Sie ist dies aber nur dann, wenn sie das Ergebnis eines sozialen Entscheidungsprogramms ist. Und das braucht Alternativen, um in Gang zu kommen. Die Rede vom Jahrhundert des Gruppengesprächs eröffnet eine solche Alternative (vgl. Kap. ). Im Vordergrund steht dann die Frage, wie die soziale Informationsverarbeitung und Kommunikation optimiert und an die Erfordernisse von Gegenwart und absehbarer Zukunft angepasst werden kann.
Die Mystifikation der Geschichte als Akkumulationsprozess Es gehört zu den generellen Glaubenssätzen der Neuzeit, dass die Geschichte ein stetiger Wachstumsprozess ist, der sich von einem Anfang zu einem Ende in ferner Zukunft hin bewegt. Auf diesem Weg schreitet die Menschheit fort, wie sich der Leser Wort für Wort, Zeile für Zeile und Seite für Seite durch das Buch bewegt. Das Typographeum unterstützt diesen Fortschritt, indem es kontinuierlich Informationen sammelt und speichert. Die Bücher erscheinen als ein Wissensspeicher, und die Kenntnis der Menschen nimmt in dem Maße zu, in dem Buch auf Buch gestapelt wird. Vergessen scheint im Zeitalter des Buchdrucks nicht mehr möglich zu sein. Tritt es ein, dann ist es eine Sünde, wie das Wegwerfen von Brot. Die protestantische Ethik hatte überhaupt nur deshalb eine Verbreitungschance, weil sie als eine Aufforderung zu Mehrung und Optimierung des Vorhandenen zum Funktionsprinzip der Industriekultur ›passt‹. Wohlgemerkt: Es geht um Reformation, das Steigern und Beschleunigen von Prozessen, nicht um Umsturz und Zerstörung. Akkumulation wird als stetiger, linearer Prozess, nicht als chaotisches Oszillieren gedacht. In dem Maße, in dem sich das lineare Fortschrittskonzept durchsetzt, wird der den älteren Kulturen ganz vertraute Gedanke, dass sich Geschichte zyklisch wiederholt wie die Reproduktion der Arten in der Natur, obsolet. Unerschütterlich setzt sich der Glaube fest, man würde aus Fehlern lernen und also dieselben nicht wiederholen. Es mag ja sein, dass die Jugend für das einzelne Individuum nicht wiederkehrt, aber für die Gattung Mensch? Was auf den ersten Blick so aussieht, als würde es uns alle Angst für die Zukunft nehmen können, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine grausame Vorstellung: Wenn es denn tatsächlich keine Wiederholungen in der Geschichte gibt, wie sollen wir dann wissen, wie es in Zukunft weitergeht? Welche Möglichkeiten haben wir zum Beispiel für eine Technikfolgenabschätzung, wenn wir doch davon ausgehen müssen, dass alle bislang gemachten Erfahrungen nutzlos sind, weil die Verhältnisse in der Zukunft doch andere sein werden, unsere angestammten Programme also nicht mehr passen? Sowenig sich die Idee bestätigt hat, dass die typographische Erfassung der Informationen ein Heilmittel gegen das Vergessen ist, so wenig hat sich auch das antizyklische Geschichtsdogma bewahr
heitet. Die typographischen Kulturen haben zahllose Informationen ›vergessen‹, die sich nicht in das typographische Medium überführen ließen, zum Beispiel weil sie sich nicht in Sprache oder Holzschnitte übersetzen ließen. Und natürlich gibt es auch Wiederholungen im Stadion der Geschichte. Einige haben wir ja auch schon angesprochen (vgl. Kap. ). Selbstverständlich wiederholen sich nur allgemeine Strukturen und nicht jedes Detail – aber das ist ja bei den Reproduktionen im Tier- und Pflanzenreich nicht anders als bei den kulturellen Phänomenen. Das Konzept der Wiederholung als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist in therapeutischen Schulen natürlich bestens bekannt. Für die Sozial- und Begriffsgeschichte hat Reinhart Koselleck diesen Gedanken in verschiedenen Arbeiten sehr viel genauer entwickelt, als dies hier möglich ist. 42 Interessanterweise kommt Koselleck hinsichtlich der Französischen Revolution zu einer anderen Gewichtung als ich hinsichtlich des Buchdrucks in der frühen Neuzeit. Er schreibt: »Geschichte ist nicht nur einmalig, sie wiederholt sich auch … wenn die (Französische) Revolution so neu und einmalig gewesen ist, wie viele Zeitgenossen von ihr versicherten, dann hätte sie sich in keiner Weise voraussagen lassen. Was absolut neu ist, ist nicht vorhersehbar. Wurde sie aber vorhergesehen, dann müssen in ihr Vorgänge ans Licht der Geschichte getreten sein, die aus der vergangenen Geschichte ableitbar und hochrechenbar waren. Genau dies ist nun der Fall gewesen.« 43 Die wesentlichen Veränderungen, die das Typographeum im . Jahrhundert in der mitteleuropäischen Kultur ablöste, wurden von den Zeitgenossen des skriptographischen Zeitalters nicht vorausgesehen. Bei dieser Medienrevolution wiederholte sich nicht etwas, das sich in anderem Gewand – etwa als die Cromwell’schen Aktionen in England – gerade erst ereignet hatte. Das Neue an der Französischen Revolution, das Koselleck dann auch identifiziert, die ›ungeheure Beschleunigung‹ des ›politischen Prozesses‹ (ebd., S. /), kennt die frühe Neuzeit ebenfalls, aber die Vgl. zum Beispiel: Erfahrungswandel und Methodenwechsel – eine historischanthropologische Skizze. In: Christian Meier und Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methode. München , S. -, wieder abgedruckt in: Hans Erich Bödeker/ E. Hinrichs (Hg.): Alteuropa – Ancien re´gime – frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Stuttgart , S. -, sowie ders.: Wie neu ist die Neuzeit? Rede anlässlich der . Verleihung des Preises des Historischen Kollegs am . . , abgedruckt in: Schriften des Historischen Kollegs, Bd. , hg. von der Stiftung Historisches Kolleg. München , S. -. Ebd., S. /.
informationstechnische Innovation des Buchdrucks besaß darüber hinaus vielfältige andere, von niemandem auch nur erahnte Auswirkungen: Markt als Interaktionsmedium/Mechanisierung sozialer Vernetzung, Nationenbildung, demokratische Öffentlichkeit als politischer Macht- und Regulationsfaktor, monomediale Religion und Glaubensspaltung, Entwicklung der beschreibenden Wissenschaften, Entlastung der Individuen von sozialer Interaktion und damit Entwicklung neuer Formen des Individualismus und vieles andere mehr. Was die kommunikative Seite der Kultur anlangt, liegt der bedeutende historische Einschnitt, die ›Sattelzeit‹, nicht im ., sondern im . und . Jahrhundert. Richtig ist freilich, dass es erst das . Jahrhundert vermochte, diese Auswirkungen der Medienrevolution für sich in befriedigender Weise ›aufzuklären‹. Richtig ist auch, dass es viele kulturelle Bereiche gibt, zum Beispiel die Literatur und die experimentellen Naturwissenschaften, die ihren ›Sattel‹ tatsächlich erst in jener späteren Zeit fanden. Und noch ein weiterer Mythos sollte korrigiert werden: Nützliche Daten für eine »Technikfolgenabschätzung« ließen sich nicht nur aus der Analyse der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft gewinnen. Auch dieser Haltung liegt das antizyklische und monokausale Dogma zu Grunde. Letztlich legitimiert es auch die Routineform der Zukunftsforschung, nämlich der Extrapolation der Gegenwart: So, wie es heute, in diesem Monat oder in diesem Jahr gelaufen ist, wird es sich schon fortsetzen. Und so Unrecht haben die Zukunftsforscher ja auch gar nicht. Man darf bei den wirklich bedeutenden Veränderungen mit der Analyse nur nicht am heutigen Tag beginnen, sondern muss weiter, manchmal sehr weit, in die Vergangenheit zurückblicken – und man sollte sich auf eine große Vielfalt möglicher Wiederholungen einrichten. Denkt man sich die Geschichte nicht nur als einen positiven oder negativen Wachstumsprozess, sondern als einen solchen, der sich gelegentlich auch in Kreisbahnen bewegt, so gewinnen auch schon lange zurückliegende Wegstrecken an Attraktivität. »Zeit, so empfinden wir heute« mit Norbert Bolz wieder, »ist kein Pfeil, der in eine bessere Zukunft weist, sondern eine seltsame Schleife, in der Gleiches wiederkehrt.« 44 Andererseits besteht die Geschichte nicht nur aus Wiederholung. N. Bolz: Komplexität und Trendmagie, München , S. .
Sie macht auch Sprünge auf neue Stufen, vernichtet Traditionen und schafft Neues. Unsere Möglichkeiten, ihr bei vollständigen Metamorphosen zu folgen, sind äußerst beschränkt. Wir müssen uns somit auch auf Entwicklungen einrichten, die für uns ein unvorhersehbares Wagnis bedeuten, in denen sich das Neue (noch) nicht als eine Wiederholung des Alten herausstellt. Wenn sich also tatsächlich die neuen Medien ähnlich wie der Buchdruck damals als Katalysatoren eines epochalen sozialen Wandels erweisen sollten, dann wird das Neue im Durchbrechen des Wiederholungszwangs und damit in dem heute Unerwarteten liegen. Wenn es demgegenüber nur um die Lösung bekannter Probleme mit neuen Mitteln ginge, dann blieben die neuen Probleme die alten. Tiefer greifen Veränderungen erst dann, wenn sich die Probleme nicht mehr wiederholen, wir unsere lieb gewordenen Bedürfnisse ändern. Die Ahnung von solchen Veränderungen motiviert zur Planung, zur Technikfolgenabschätzung, und sie erzeugt zugleich Ängste. Zusammengefasst: Die dominante Geschichtskonzeption der Buchund Industriekultur ist mystifizierend, weil sie von den drei Hauptparametern der Kulturgeschichte: Umsturz und Erneuerung, Wiederholung und Bewahrung, Akkumulation und Besserung von Vorhandenem nur den letzten gelten lässt. Von dieser Einseitigkeit muss sich natürlich auch die Mediengeschichtsschreibung frei machen, die einen Beitrag zur Beratung der Informationsgesellschaft leisten will.
Die Mystifikation der Buchkultur als monomediales Kommunikationssystem Letztlich ist schon die übliche Rede von ›der Buchkultur‹ eine Arbeit am Mythos. Alle Kulturen sind, ganz gleich in welchem Maße sie technische Medien und Prozessoren nutzen, multimedial. Die Begeisterung für die vielfältigen Leistungen des Buchdrucks bei der kulturellen Entwicklung der neuzeitlichen Industriekulturen hat die Aufmerksamkeit von den übrigen Kommunikationsformen und Informationstechniken abgezogen. Untergliedert man die Medienwirklichkeit, wie wir dies im Abschnitt ›Die multimediale Konstruktion der Neuen Welt oder die Grenzen des monomedialen Kommunikationskonzepts‹ getan haben, genauer und unterscheidet zwischen den vielfältigen Formen der Informationsmedien und Kommunikationssysteme, dann kommt man kaum umhin zu ent
decken, in welcher Weise sie unaufhebbar aneinander gekoppelt sind, um sich in ihren Wirkungen zu entfalten und zu steigern. Neben dem unhistorischen und ›schrift‹-zentrierten Herangehen ist die isolierende Betrachtung der Medien sicherlich die nächst fruchtlose Perspektive. Um das Zusammenwirken der Medien andererseits zu verstehen, muss man ihre Stärken und Schwächen, ihre Zwiespältigkeit erkennen. In ökologischen Kommunikationssystemen – und jede Kultur ist ein solches multimediales Gebilde – vermögen die einen Systeme die Nachteile der anderen zu kompensieren, die Schwächen des einen Informationsmediums können durch die Stärken eines anderen Typs ausgeglichen werden. So gesehen sind Untersuchungen, die sich auf ein einzelnes Medium, zum Beispiel auf die gedruckten Bücher oder das Fernsehen, konzentrieren, eigentlich schon vom Ansatz her wenig ergiebig. 45 Weil in jeder Kultur viele Medien zusammenwirken, kann man nur in einem Akt manchmal offenbar notwendiger Selbstimplifikation von einer ›Buch‹- oder ›Fernsehkultur‹ sprechen. Den Forschern und den Medienpolitikern und -praktikern darf diese ideologische Selbstbeschreibung jedoch nicht den Blick auf das ganzheitliche Zusammenwirken der Medien im Informationskreislauf trüben. Bei so inspiriertem Herangehen wird sich freilich herausstellen, dass die Bedeutung der typographischen Medien für unsere Kultur in ihren positiven Auswirkungen maßlos über- und in ihren negativen maßlos unterschätzt wird. Ihr geht es damit letztlich nicht anders als vielen weiteren typisch neuzeitlichen Phänomenen, wie zum Beispiel der Wissenschaft, der Industrieproduk Diese Ansicht steht freilich in diametralem Gegensatz zur Praxis der publizistischen ›Kommunikationswissenschaft‹. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die so denominierten Lehrstühle auf die technisierte Kommunikation ausgerichtet, und hierbei stehen die Bild- und Printmedien eindeutig im Vordergrund. Verbale Kommunikation wird gelegentlich von Mikrosoziologen, nonverbale von Psychologen, und institutionelle Kommunikation in Nebenfächern einschlägiger berufsqualifizierender Studiengänge (Lehrer, Juristen, Betriebswirtschaftler, Therapeuten …) gelehrt. Dann gibt es eine Reihe von philosophischen, germanistischen und anderen Einzelkämpfern, sowie viel versprechende Ansätze auch und vor allem bei jenen, die sich um eine elektronische Simulation von Intelligenz und Gesprächen bemühen. Aber ein eigenes Institut, von einem eigenen Fachbereich ganz zu schweigen, scheint die Beschäftigung mit der nicht-technisierten sozialen Informationsverarbeitung und den Gesprächen von Angesicht zu Angesicht nicht wert zu sein.
tion, dem Auto und vielen mehr. Dem Reduktionismus in der Kulturbetrachtung entspricht die Unterschätzung der Synästhesie und der multimedialen Verarbeitungs- und Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Auch er ist ein Ökosystem. Der Mensch als informationsverarbeitendes System nimmt seine Umwelt multisensoriell wahr, nutzt zahlreiche Verarbeitungsformen, und er kommuniziert auch multimedial. Diese Tatsache gilt es gegenüber der eindimensionalen Beschreibung des Menschen im Buchzeitalter im Hinterkopf zu behalten. Unsere Kultur, die in den letzten zweihundert Jahren auf die Sprache und die visuell erfahrbare Wirklichkeit, den Verstand und die ebenfalls mit den Augen zu lesenden Bücher wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt hat, wird sich langsam wieder anderen Sinnen und Medien zuwenden. Sie wird dabei erkennen, dass die Medienvielfalt für unsere Kultur ebenso wichtig ist wie die Erhaltung der Vielfalt der natürlichen biogenen Arten. Und sie wird erkennen, dass alle technischen Medien nur als Elemente in kulturellen Ökosystemen funktionieren und deshalb auf leibliche und soziale Medien angewiesen bleiben. Die paradoxe Konsequenz wird es sein, dass sich die Bedeutung eines sich ebenfalls ganzheitlich erlebenden und sich multimedial ausdrückenden Menschen verstärkt. Der bloß sehende, nur denkende, alles sprachlich abspeichernde und sich ausschließlich redend oder schreibend verständigende Mensch ist eine Mystifikation.
Gewinn und Verlust: Die ambivalenten Leistungen der Buchkultur Mythen überzeugen nur, wenn sie reale Erfahrungen der Menschen aufgreifen. Und auch die Mythen der Buchkultur tun dies. Sie sind nicht falsch in dem Sinne, dass sie allen Erfahrungen widersprechen. Ihre Schwäche – und ihre Stärke – liegt vielmehr in ihrer Einseitigkeit. Sie versperren den Blick auf andere, ebenfalls wichtige Seiten der Dinge, auf andere Töne, Bewegungen usf. Ebendeshalb eignen sie sich als Parole für soziale Kampagnen – und verlieren ihre Bedeutung mit dem Ende derselben. Im Zuge der Durchsetzung neuer Technologien kann man auf solche Mythologisierungen, wie wir sahen, nicht verzichten. Deshalb erscheint auch die Aufforderung nach einer emotionslosen, »richtigen« Betrachtung
von neuen und alten Medien als wenig sinnvoll. Möglich ist allerdings eine Bestandsaufnahme der mehr oder weniger leidenschaftlichen Ideologisierungen. Möglich ist weiterhin unter bestimmten historischen Umständen eine ambivalente Beschreibung der Medien. Hierzu müssen mehrere Standpunkte bei der Behandlung eingenommen werden. Dies gelingt, wie schon Marshall McLuhan vermutete, in technologischen Innovationsphasen selten, weil »jede von Menschen erfundene Technik das Vermögen hat, das menschliche Bewusstsein während der ersten Zeit ihrer Einbeziehung zu betäuben«. 46 Entweder die Gesellschaft lässt sich von den Versprechungen der neuen Technologien blenden, macht die wenigen Warner lächerlich und führt sie dann rasch durch – oder aber, sie hebt ihre Nachteile hervor und führt sie dann nicht in die Kultur ein. Die technische Kultur der Neuzeit verdankt sich u. a. der unbemerkten Überzeugung, dass die Ambivalenzen der Medien und Technologien in der öffentlichen Diskussion unterdrückt werden müssen. Wie von selbst vollzog sich in Anbetracht technischer Errungenschaften in den Industrienationen eine mechanische Aufspaltung der Meinungen in der öffentlichen Diskussion. Es gab nur ein Entweder-oder, und man vergaß nur zu leicht, dass die Stärken aller neuen Medien zugleich auch ihre Schwächen sind. Es hat den Anschein, als ob in unserer unmittelbaren Gegenwart das Gefühl für den inneren Zusammenhang von ›Chancen und Risiken‹ der Technisierung gewachsen ist. Jedenfalls wird in den Diskussionen von Experten über die Neuen Medien dieser wechselseitige Zusammenhang immer deutlicher hervorgehoben – wie in Kapitel noch ausführlicher gezeigt wird. Im Falle des Buchdrucks erleichtert die mit der Einführung der Neuen Medien eingetretene Distanz die Übernahme von anderen und mehr Perspektiven, als dies den Festrednern der vergangenen Jahrhunderte möglich war. Sie eröffnet vor allem erst die Möglichkeit, die Buchkultur überhaupt als informationsverarbeitendes System zu beschreiben. Damit können wir als Betrachter, die ansonsten noch mit den Mythen der Buchkultur groß geworden sind, ein Beschreibungsmodell nutzen, welches sich von der Selbstbeschreibung des Buchzeitalters unter Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf/Wien (zuerst Toronto ), S. f., ff., , , u. ö.
scheidet. Wir sind nicht mehr Erzähler und Protagonisten der Mythen der Buchkultur. Das Gegenteil mythologisierender sind also ambivalente oder besser: multivalente Beschreibungen – und diese sind auch das Ziel der medienwissenschaftlichen Analysen in diesem Buch. 47 Je gewaltiger die Versprechungen eines Mediums sind, desto gewaltiger fallen seine Zerstörungen auf anderen Feldern aus. »Je größer die Faszinationskraft einer Technologie, desto größer auch ihre negativen Konsequenzen.« 48 Die Bedingung größerer Speicherung eines Informationstyps ist beispielsweise bislang noch immer das Vergessen eines anderen gewesen. Die technische Erweiterung jedes menschlichen Organs führt zu einer Spezialisierung und Vereinseitigung – und zugleich zu einer relativen Unterforderung und Entlastung anderer Organe. Die Ausdifferenzierung verbaler Informationsverarbeitung schwächt ihren Zusammenhang mit der Interaktion und der Kooperation. Handarbeit und Kopfarbeit treten weiter auseinander. Aus diesem Gesichtswinkel lässt sich Kulturentwicklung generell als ein Balancieren zwischen Extremen verstehen, zwischen Sozialisierung und Individualisierung, interaktionsintensiver und interaktionsarmer Kommunikation, mono- und multimedialer Informationsverarbeitung, einseitiger und wechselseitiger Widerspiegelung, verbaler und nonverbaler Verständigung, Hand- und Kopfarbeit usw. Ökologische Kulturbeschreibungen lenken ihre Aufmerksamkeit gerade auf diese Spannungsverhältnisse und die Art und Weise, wie ein gegebenes kulturelles Ökosystem seine Balance findet. In dieser Absicht bin ich bei der Beschreibung der Mythen der Buchkultur immer auch schon auf die verdrängten Anteile eingegangen. Leistungen und Grenzen der Buchkultur sollen nun noch einmal in ihrem Bedingungszusammenhang zusammengefasst werden. Da die Verdrängung solcher Ambivalenzen in der Vergangenheit die notwendige Begleitmusik von Technisierung gewesen ist, stören gute Medienanalysen meist die öffentliche Meinung, schwimmen quer zum Mainstream. Dafür dürfte der m. E. bedeutendste Medientheoretiker dieses Jahrhunderts, Marshall McLuhan das beste Beispiel sein. Seine Versuche, vor bald Jahren die Ambivalenzen der Buchkultur der Öffentlichkeit nahe zu bringen, muss man wohl als gescheitert betrachten. N. Postman: Sieben Thesen zur Medienökologie … , a. a. O., S. / und weiter: »Jedem Vorteil, den eine neue Technologie mit sich bringt, steht immer ein Nachteil gegenüber« ().
Die Tabelle Abb. a stellt ambivalente Leistungen der Buchkultur zunächst in einer allgemeinen alltagsweltlichen Perspektive zusammen. prämiert und entwickelt
Die Buchkultur vernachlässigt
• Individuum, Institution, Staat/ Nation • Bewusstsein, sprachliches Wissen • Hierarchische Arbeitsorganisation • Konsequenz und Rationalität • Ordnung • Legitimation durch allgemeingültige Verfahren • Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf das Individuum und die Nation
• Gruppe, Team, Weltgesellschaft • Affekte, Intuition • Interaktive Netzwerke, Rückkopplung, Projektorganisation • Redundanz und Sowohl-alsauch-Denken • Chaos • Funktionale Ad-hoc-Lösungen • Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf die Menschheit und Umwelt (Globalisierung)
Abb. a: Ambivalente Leistungen der Buchkultur
Wenn wir uns auf die informations- und medientheoretische Perspektive konzentrieren, ergibt sich die nachfolgende Aufstellung (Abb. b) über die Auswirkungen des Buchdrucks: Die einzige Form der Informationsgewinnung, die das Buchdruckzeitalter treibhausmäßig gefördert hat, ist die visuelle. Sowohl Leser als auch Autoren konzentrieren sich in den typographischen Gattungen auf nur einen Sinn, nämlich die Augen, und auf wenige Programme der Erfahrungsgewinnung, um dann später eine Parallelverarbeitung der Information zu ermöglichen. Das typographische Informationssystem ist nicht nur monomedial, sondern auch monosensual. Es gehört zu den unbezweifelbaren Verdiensten des Buchdrucks, dass er unsere visuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten in alle Richtungen entfaltet sowie die zu Grunde liegenden Programme kodifiziert und sozial normiert hat. Der Großteil des Unterrichts in unseren allgemein bildenden Schulen besteht noch immer darin, den Kindern perspektivisches Sehen, geometrische Beschreibungen, die Umsetzung von visuellen Bildern in Worte sowie symbolische Fähigkeiten usf. beizubringen. Auf der anderen Seite hat diese Wertschätzung der Augen zu einer Abwertung der übrigen Sinne geführt. Es sind Disproportionen entstanden. Die Industriekultur der Neuzeit hat so nur wenige Ressourcen menschlicher In
Die typographische Kommunikationstechnologie entwickelt, technisiert, sozialisiert • Visuelle Erfahrung über die Umwelt • Sprachliche und bildhafte Speicher- und Darstellungsformen • Rationale, logische Informationsverarbeitung • Zusammenwirken von Lautsprache, Schrift und Bild • Individuelle Selbsterfahrung • Monomediale, sprachlich oder mathematisch normierte Darstellung von Wissen • Interaktionsfreie Kommunikation • Individualisierung des Lernens • Manufakturmäßig und bürokratisch organisierte intersubjektive Informationsverarbeitung • Monomediale hierarchische Vernetzung mit einseitigem Informationsfluss
vernachlässigt • Andere Sinne, Introspektion, Körpererfahrung • Nonverbale Ausdrucksmedien • Affektive und zirkuläre Informationsverarbeitung • Synästhetisches Zusammenwirken der verschiedenen Sinne, Verarbeitungsformen und Ausdrucksmedien • Soziale Selbstreflexion • Multimediale und assoziative Informationsdarstellung • Unmittelbare Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, Interaktivität • Kooperative Wissensschöpfung • Gruppengespräche, Teamarbeit, selbstorganisierte Informationsverarbeitung • Dezentrale Vernetzung mit unmittelbaren Rückkopplungsmöglichkeiten
Abb. b: Auswirkungen des Buchdrucks
formationsverarbeitung und Kommunikation genutzt. Nach der großartigen Synthese von Rede und visuellen Medien (Schrift und Bild) durch die skriptographischen und dann viel umfassender und radikaler durch die typographischen Medien standen eher Spezialisierung und Technisierung einiger weniger Formen der Wahrnehmung, der Verarbeitung und des Ausdrucks von Informationen im Vordergrund. Viele Errungenschaften älterer, so genannter mündlicher oder oraler Kulturen sind verloren gegangen. In dieser Form lassen sich eigentlich allen Stärken, die man dem Buchdruck zuschreibt, auch Schwächen gegenüberstellen. Dem Gewinn an Selbstbestimmung, den der Buchdruck, wie auch Neil Postman betont, den Lesern bringt, steht auf der anderen
Seite ein Verlust an unmittelbarer Interaktion gegenüber. 49 Man kann in aller Ruhe ›selbst urteilen‹, aber das meint eben auch, dass man sich während dieser Zeit vor dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht und vor den Einwänden anderer schützt. Die Individualisierung des Lernens hat die Vergesellschaftung privaten Wissens, die eine Hauptleistung des Buchdrucks ist, zur Voraussetzung und zur Folge. Die gedruckten Bücher fördern die schöpferische Entfaltung des Einzelnen, gerade weil sie ihn von den Zwängen der unmittelbaren Interaktion entlasten, sie ermöglichen die genaue Analyse der sichtbaren Welt, gerade weil sie lehren, andere Umweltinformationen zu ignorieren. Gewinn und Verlust bedingen einander. Der Buchdruck konnte einen Beitrag zur Bildung größerer, nationaler Kommunikationssysteme nur leisten, weil er das Gespräch von Angesicht zu Angesicht von vielen Aufgaben, zum Beispiel auch von jener der Wissenstradierung in der Generationenfolge, entlastete. Zugleich wertete er die mündlichen Kommunikationsformen ab. Noch heute gelten die »mündlichen« Zensuren in Schule und Hochschule weniger als jene der schriftlichen Arbeiten. Unser Bildungssystem fördert kaum die Teamarbeit, gruppendynamische Fähigkeiten und Erkenntnisse oder die verschiedenen Formen des Feedbacks in sozialen Interaktionen. Solche Fähigkeiten sind zum Schreiben und Verstehen der Bücher nicht erforderlich! Sie werden i. d. R. individuell verfasst und einsam gelesen. Und auch was die letzte Etappe der Informationsverarbeitung angeht, den Ausdruck oder die Darstellung der Information, so sind die Stärken des Buchdrucks zugleich seine Schwächen. Er ist auf sprachliche Texte, noch dazu in hochgradig normierter Form spezialisiert. Die Neuzeit hat dieses Darstellungsmedium in einem für andere Kulturen kaum mehr nachvollziehbaren Grade prämiert. Die schon bei der Erziehung zum Buchdruck in den Schulen gelernte Regel: »Was du nicht in einem standardsprachlichen, vollständigen Satz sagen kannst, das gilt hier nichts!« hat die manifesten Strukturen unserer Kultur geprägt. Selbst die viel gelobte Aufklärungsfunktion des Buchdrucks hat ihre Kehrseite. Zwar befördert diese Technologie das sprachlich-begriffliche logische Denken, aber sie lässt andere, zum Beispiel gefühlsmäßige Formen der Informa Dies ist eine Kernthese seines Buches ›Das Verschwinden der Kindheit‹ (Frankfurt am Main ).
tionsverarbeitung und andere Ausdrucksmedien verkümmern. Mit Büchern können wir gezielt nur das ausdrücken, was wir in unsere modernen Standardsprachen übersetzen können. Auch hier liegen Verlust und Gewinn nahe beieinander: Wir verfügen als Menschen über eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Prozessoren, die Informationen verarbeiten können. Das Bewusstsein, zumal das sprachliche, macht nur einen Teil aus. Es gibt nicht nur die Vernunft, sondern auch die Phantasie, nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl, nicht nur die linke, sondern auch die rechte Hirnhälfte, nicht nur das Großhirn, sondern auch das Kleinhirn und manch andere Zentren der Nerventätigkeit. Abbildung zeigt einige gängige Vorstellungen über die beiden gegensätzlichen Pole, zwischen denen sich unsere psychische Informationsverarbeitung abspielt. 50 Das Buchzeitalter hat eindeutig die linke Hemisphäre entwickelt – und darüber eben die rechte Hemisphäre vernachlässigt, vielfach auch denunziert. Selten wurden diese beiden Bereiche als gleichberechtigt betrachtet. Meistens ging es darum, das Gefühl der Kontrolle, also der Macht des Verstandes zu unterstellen. Als Sigmund Freud versuchte, die Bedeutung des Unbewussten wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, stieß er auf den erbitterten Widerstand des Bürgertums, das mit den Büchern gebildet wurde. Erst einhundert Jahre später wird ein Buch, das »die Emotionen in den Mittelpunkt der für das Leben notwendigen Fähigkeiten« stellt, weltweit zum Bestseller, Daniel Golemans ›Emotionale Intelligenz‹. 51 Eine ähnlich vereinseitigende Wirkung hatte das Bücherschreiben und Lesen auch auf das Gedächtnis. Anfangs ging die abendländische Kultur – wie vorhin schon ausgeführt – davon aus, dass unser Gehirn und speziell das Gedächtnis (Memoria) zwei Aufgaben zu erfüllen habe: Wahrgenommenes für späteres Handeln aufzubereiten und zu behalten auf der einen Seite, Erfahrungen zu Es geht hier nicht darum, den Stand neurophysiologischer Erkenntnisse und Vermutungen zu referieren. Sie sagen uns bislang kaum mehr, als dass unsere Großhirnrinde aus praktisch unzählbar vielen Nervenzellen mit jedenfalls unvorstellbar vielen Verbindungen aufgebaut ist. Sie kann erklären, wie Informationen an den Synapsen zweier Nervenzellen weitergegeben werden usf., aber sie ist noch weit davon entfernt, Phänomene wie ›Freude‹, ›Trauer‹, analytisches und synthetisches Denken, deren Existenz sie im Übrigen nicht bestreitet, zu operationalisieren. München , hier S. . Zuerst engl.: Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ. New York .
Autor
linke Hemisphäre
rechte Hemisphäre
Bacon
Argument
Erfahrung
Blackburn
Intellektuell
Gefühlsmäßig
Brunner
Rational
Metaphorisch (bildhaft)
De Bono
Vertikales Denken
Laterales Denken
Deikmann
Aktiv
Empfänglich
Freud
Bewusst (Sekundärprozess)
Unbewusst (Primärprozess)
Goldstein
Abstrakt
Konkret
Guildford
Konvergent
Divergent
I Ging
Maskulin, Yang/Licht/Zeit/ Himmel
Feminin, Yin/Dunkel/Raum/ Erde/
Jung
Denken, Beobachtung
Fühlen, Intuition
Koestler
Blick nach außen
Blick nach innen
Kubie
Bewusstes Verarbeiten
Unbewusstes Verarbeiten
Laing
Das falsche Selbst
Das wahre Selbst
Le´vi-Strauss
Positiv
Mythisch
Levy, Sperry
Analytisch
Gestalt
Luria
Sequentiell
Gleichzeitig
Oppenheimer
Zeit, Historie
Ewigkeit, Zeitlosigkeit
Ornstein
Analytisch
Holistisch
Pribam
Digital
Analog
Schopenhauer
Objektiv
Subjektiv
Semmes
Fokussiert
Diffus
Taylor
Konvergent
Divergent
Wells
Hierarchisch
Heterarchisch
Wertheimer
Produktives Denken
Blindes Denken
Wilder
Numerisch
Geometrisch
andere Quellen Tag/Verbal/Öffentliches Selbst/Wörtliche Bedeutung
Nacht/Räumlich/Privates Selbst/Gleichnishafte Bedeutung
nach: H. Fuchs/W. U. Graichen: Bessere Lernmethoden, München , S.
Abb. : Die beiden Arten des Bewusstseins
vergessen und damit die Psyche zu entlasten auf der anderen Seite. Beides sollte sich seit der Antike – und vermutlich schon seit den frühesten Kulturstufen der Menschheit – die Waage halten. Nur die Götter sahen alles und behielten es auch. Die Menschen werden davon entlastet. Ja es war, ebenso wie die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, ein Fluch, wenn einem Menschen die Last ewigen Behaltens aufgebürdet wurde. Er geriet damit in die Rolle eines Halbgottes, war als Mensch überfordert. Die christliche Bitte um Vergebung wurde auch als eine Bitte, vergessen zu dürfen, erlebt. So geht es in der Beichte immer um beides, um das Vergeben und das Vergessen. Das Vergessen wird als eine Gnade erlebt, alles behalten zu müssen ist eine Strafe, die nur zu oft in den Wahnsinn treibt. Spätestens seit der Renaissance hat man in Europa diese Waage zwischen Erinnern und Vergessen einseitig belastet: Ewiges Behalten wurde prämiert, das Speichern von Informationen erlebte man ebenso wie die Akkumulation von Kapital und Waren als Verdienst. ›Was kann man dieser Kunst vergleichen, durch die man alles in der Welt auf ewig behalten und merken kann?‹, wurde der Buchdruck – von V. Ickelsamer – gelobt. 52 Zunehmend weniger fürchtete man sich vor der ›Flut der Bücher‹, wie dies aus den Zeiten des weisen Salomon bezeugt ist. Prämiert wird seitdem das Anhäufen von Informationen, das Vergessen gilt als Verschwendung, ebenso wie das nicht auf weitere Kapitalakkumulation angelegte Ausgeben einmal erworbenen Geldes. Vergesslichkeit erscheint als Krankheit, und da sie im Alter immer häufiger wird, können die alten Menschen auch keine guten Ratgeber, keine Weisen mehr sein. Seither ist das Gefühl für den Zusammenhang von Vergessen und Behalten und die Wertschätzung nicht des einen oder des anderen, sondern der Balance zwischen ihnen gestört. Wie nun allerdings die öffentlichen Diskussionen über die verschiedenen Formen der ›Vergangenheitsbewältigung‹ zumal in Deutschland zeigen, sind wir auch im Hinblick auf dieses Erbe der Buchkultur an einem Wendepunkt angelangt. Die Kampagne gegen das Vergessen, die aus Anlass der . Wiederkehr des . Mai in den Medien mit prominenter Beteiligung und großer Heftigkeit geführt wurde, erschien den Protagonisten ja gerade deshalb Eine teutsche Grammatica, nicht vor , vermutlich in Nürnberg gedruckt. Bl. A r/v. Faksimile in H. Fechner: Vier seltene Schriften des . Jahrhunderts. Berlin . Von mir dem hochdeutschen Sprachgebrauch angepasst.
erforderlich, weil das Vergessen als Form der Verarbeitung von Geschichte wieder zugenommen hat. Zweifel am Sinn der kognitiven ›Aufarbeitung‹ der vielen Geschichten sind auch nach der deutschen Wiedervereinigung häufiger geäußert worden. Und letztlich ist die Forderung, nicht zu vergessen, sinnlos, weil ihr die Menschen genauso wenig folgen können wie jener, irgendetwas zu vergessen. Und spätestens an diesem Punkt wird deutlich, warum sich unsere aufgeklärte Kultur so schwer tut, ein positives Verhältnis zum Vergessen zu gewinnen. Während wir noch mit einigem Recht meinen Kontrolle darüber zu haben, was wir lernen und behalten, so entzieht sich das Vergessen in viel größerem Maße unserer Planung. Vergessen ist kein bewusster Akt. Es geschieht in uns und an uns, ist Ausdruck unbewusster psychischer Vorgänge. Insofern kann das Vergessen als ein Kontrollverlust erlebt werden. Und wer gern Herr in seinem psychischen Haus sein möchte, für den ist dieser Gedanke eine Gefährdung. Gegenwärtig führen freilich eher die gespeicherten Datenberge und die technisch produzierte Informationsflut zu einem Kontrollverlust. Dies mag die Einsicht in positive Bedeutung von Vergessen demnächst erleichtern. Eigentlich sollten wir jedoch darauf nicht warten müssen, sondern reif sein, (wieder) in Paradoxien denken zu können. Das lineare Denken ist ja nur die Elementarschule für unsere Informationsverarbeitung. Und so sollten wir auch in der Lage sein, den paradoxen Zusammenhang zwischen Behalten und Vergessen zu begreifen: Wer Wachsamkeit haben will, muss die Möglichkeit zum Schlaf geben, die Müdigkeit schätzen können. Ununterbrochene Wachsamkeit führt zu Halluzinationen. So sollten gerade jene, die irgendwo besondere Aufmerksamkeit erzeugen wollen, Gelegenheit zur Ruhe geben. Sie müssen sich paradoxerweise mehr als mit der Aufmerksamkeit mit dem Gegenteil beschäftigen. Wirkliche Herausforderungen lassen sich niemals durch einseitige Anstrengungen, sondern nur durch immer wieder erneutes Loslassen, Entspannen und durch Umwege erreichen. 53 Speziell der Buchdruck in Verbindung mit den marktwirtschaftlichen Verbreitungsnetzen scheint der Todfeind jeder ambivalenten Denkungsart zu sein. Die Kaum ein Ereignis in den letzten Jahren veranschaulicht dies krasser als die ›Wiedervereinigung‹: Sie ist nicht zu dem Zeitpunkt gekommen, wo sie am meisten gefordert wurde, sondern praktisch nebenher und von den meisten völlig unerwartet.
in den so genannten ›einfachen Kulturen‹ weit verbreitete und noch Aristoteles zugeschriebene Erkenntnis, dass die ›Geburt eines Dinges die Zerstörung eines anderen mit sich bringt‹, war jedenfalls bis zur Wende des . Jahrhunderts noch eine allgemein verbreitete Ansicht. Die Verharmlosung des Zerstörungsaspekts technischer (und anderer) Innovationen, das Vergessen der Einsicht, dass kein Eingriff in ein einigermaßen komplexes System nur eine Wirkung und keine Rückwirkung zeitigt, besitzt demgegenüber eine kurze Geschichte – und sie beginnt genau in der frühen Neuzeit. Schwunghafte Mechanisierung scheint auf die Unterstellung angewiesen zu sein, dass eine Ursache nur eine Wirkung hat. Und das Typographeum, die Buchdruckerwerkstatt, ist der Beginn der industriemäßigen Mechanisierung, der Manufaktur.
Die Chancen der Entmystifizierung und ökologischen Denkens Manches spricht dafür, dass erst dann, wenn das Verständnis für zirkuläre Zusammenhänge gewachsen – und hier muss man wohl betonen: wieder gewachsen ist, eine Aussicht auf eine aufgeklärte Diskussion über das besteht, was bislang noch weitgehend nach einem neurotisch erstarrten Entweder-oder-Muster abläuft: Technische Innovation. Diese Einsicht wird in der gegenwärtigen Technikdiskussion und speziell auch von Medientheoretikern selten ausreichend berücksichtigt. Für Friedrich Kittler und Norbert Bolz etwa sind alle neuzeitlichen Kommunikations- und Informationstechnologien ein Produkt der Rüstungsindustrie. 54 Sie stellen sich damit in die Tradition des antiken Bekenntnisses: ›Der Krieg ist der Vater aller Dinge.‹ 55 Dafür werden Belege zuhauf gefunden und klug in Beziehung gesetzt. Aber dies ist ja nur die eine Seite, quasi das Negativ der Jubelkommentare. Wenn der Krieg, das heißt der Abbruch von Beziehungen und die aggressive Schaffung von Distanz, tatsächlich der Vater aller Dinge ist, dann ist die Liebe, das Bedürfnis nach »Wie ein Palimpsest ist der Geschichte des modernen Krieges die Geschichte der Neuen Medien eingeschrieben«, heißt es bei N. Bolz (Am Ende der GutenbergGalaxis. München , S. ), und weiter: »Der Krieg ist der Vater aller Medien«, S. . Vgl. Fr. Kittler: Aufschreibesysteme -, München 2; Grammophon, Film, Typewriter, Berlin ; ders. und M. Schneider/S. Weber (Hg.): Diskursanalysen . Medien. Opladen .
Nähe und Bewahrung, die Mutter aller Prozesse. Jeder Beleg für das Zerreißen von Netzen lässt sich auch als Beginn oder Beitrag zum Knüpfen neuer Netze begreifen. Und nicht immer geben die laut geäußerten Motive einzelner Menschen verlässliche Auskunft über die sozialen Bedeutungen, die einem Medium von der Gesellschaft zugeschrieben werden. Das Verständnis für die Ambivalenz der Medien und der Informationsverarbeitungsprozesse zu wecken ist an und für sich schon ein wichtiges, fruchtbares Ergebnis einer medienhistorischen Betrachtensweise. Wenn die Augen für die Ambivalenz der Buchkultur einmal geöffnet sind, dann wird sich auch die Bedeutung anderer, neuer Medien relativieren. Auch diese werden sich als weniger monolithisch erweisen, als sie sich unserem rationalisierenden Blick gegenwärtig noch darstellen: Wer weiß, wie das ›gute‹ Lesen das sinnliche Erfahren der Wirklichkeit schon immer einseitig programmiert hat, der wird für platte Kategorisierungen wie das ›böse Fernsehen‹ oder die ›phantasielähmenden Computerspiele‹ weniger Verständnis aufbringen. Die Stärken einer bestimmten Informationstechnologie bestehen ebenso wenig wie jene der Menschen darin, dass sie keine Schwächen besitzen, sondern darin, dass sie diese Schwächen kennen und in Rechnung stellen. Gerade die Schwächen machen Kooperation erforderlich und erweisen sich als Kopplungsstelle für den Kontakt zwischen den natürlichen und den vielen technisierten Kommunikations- und Informationssystemen. Die Aufdeckung der mystifizierenden Selbstbeschreibungen, von einseitigen Prämierungen, Reduktionismus, Oszillationsunterdrückung und willkürlicher Linearisierung von Kreisläufen hat aber noch weitere Vorteile. Wenn wir die Risiken kultureller Medien und Programme kennen, werden wir sie zumindest streuen, nicht alles auf eine Karte setzen. Die Kehrseite der Prämierung des typographischen Verständigungsmodells ist die Unterdrückung anderer Konzepte von Verständigung, die auf anderen Kommunikationsformen und Medien aufbauen. Verständigung ist nicht nur durch die prospektive Angleichung der Programme der Kommunikationspartner zu erreichen, sondern auch durch Aushandlungsprozesse, ad hoc, themenbezogen, wie sie in Gesprächen, face to face, üblich sind. Gemeinsamkeiten werden hier nur zwischen den anwesenden Kommunikationspartnern und so weit hergestellt, wie sie für die anstehenden Zwecke unerlässlich sind. Ansonsten geht man davon aus, dass schon ausreichende Gemeinsamkeiten vorhanden sind.
Dies ist eine Form von intellektueller Just-in-time-Produktion – und damit das Gegenteil der Vorratswirtschaft der Buchkultur. Sie ist entschieden flexibler, verträgt viele Wahrheiten und verkraftet mehr Widersprüche als das Kommunikationskonzept der Buchkultur. In diesem Sinne empfiehlt es sich für eine zukunftsorientierte Kulturpolitik, den Idealen der typographischen Kommunikation jene des Gesprächs an die Seite zu stellen (vgl. Kap. ). Das wäre ein weiterer Schritt in Richtung auf eine ökologische Kommunikationskultur. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Hierarchie zwischen den Medien und Kommunikationsformen festlegt. Sie setzt keine Prämie für die Übersetzung der verschiedenen taktilen, visuellen, akustischen, olfaktorischen, emotionalen und anderen Informationen in ein einziges Medium aus, wie dies die Buchkultur mit ihrer Auszeichnung von Sprache und Bewusstsein getan hat. Vielmehr geht es um die Gestaltung des Zusammenwirkens der unterschiedlichen Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten. Und dieses Zusammenwirken kann nur dann in einer Kultur frei erprobt werden, wenn zwischen den Kommunikations- und Informationsmedien Gleichberechtigung herrscht. Monomythen und die Suche nach einer einzigen Antwort auf die Frage »Wie ist Erkenntnis/Kommunikation möglich?« vertragen sich mit diesem Ansatz nicht. Der Begriff »Multivision« erhält hier einen überraschenden, neuen Sinn. So wie auf dem kommunikativen Feld multimediale Vernetzungen anstehen, so auf dem kulturpolitischen Feld die Integration verschiedener kultureller Visionen. Die reflexive Verstärkung der Bedeutung des Gesprächs – und dann natürlich auch seine verstärkte Nutzung bei der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben – wäre natürlich nur ein Schritt. Daneben gibt es weitere vernachlässigte Informations- und Kommunikationsmedien, zum Beispiel den Tanz, der als Körpermedium etwa in den Hindukulturen in der Vergangenheit viel zur kulturellen Identitätsstiftung beigetragen hat.
. Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der Informationsgesellschaft von der Buchkultur Mediengeschichte als Generationenwechsel Die gegenwärtigen Verschiebungen im System der kulturellen Informationsverarbeitung bieten nicht nur die Chance für eine Entmystifizierung der Buchkultur. Aus den historischen Entwicklungslinien von den skriptographischen über die typographischen hin zu den elektronischen Medien ergeben sich auch Möglichkeiten für eine vergleichende und damit distanzierte Betrachtung der gegenwärtigen Medienrevolution. Die beschränkte Sensibilität gegenüber den Leistungen des Buchdrucks, die wir bei den Zeitgenossen und Nachfolgern Gutenbergs festgestellt haben, gilt natürlich auch für unsere Beziehung zur mikroelektronischen Kommunikationstechnologie und den gegenwärtigen kulturellen Innovationen. Sie lässt sich erweitern, indem man den Entwicklungsgang der alten mit jenen der neuen Medien vergleicht. Dieses Grundprinzip kommunikationsgeschichtlicher Betrachtung haben wir schon im . Kapitel angewendet, indem wir den Buchdruck als informationsverarbeitendes und -verbreitendes System mit der handschriftlichen Erfahrungstradierung verglichen haben. Es geht nun darum, das zu Grunde liegende Modell genauer zu reflektieren und es systematisch für Trendanalysen zu nutzen. In diesem Sinn erläutere ich im nächsten Abschnitt das sozialpsychologische Phasenmodell des Generationenwechsels. Ich beschreibe mit seiner Hilfe die Mediengeschichte in den letzten einhundert Jahren als Ablöseprozess der ›jungen‹, elektronischen von den alten, typographischen Medien – und nehme damit einen medientheoretischen Standpunkt ein. Dabei identifiziere ich abhängige und gegenabhängige Trends und stelle Hypothesen über zukünftige ›reife‹ Entwicklungen auf. Darüber hinaus geht es jedoch weiterhin darum, die verschiedenen Perspektiven, die bislang für die Beschreibung kultureller Kommunikation und ihrer Medien dargestellt wurden, miteinander zu verzahnen. Nach dem Modell der Kulturgeschichte als Balance zwischen substitutiven, akkumulativen und reproduktiven Prozessen lassen sich abhängige Trends als Steigerung vorhandener Strukturen und als Wiederholungen verstehen. Gegenabhängige Trends vollzie
hen sich häufig als Zerstörung und Innovation. Autonomie werden die neuen Medien in der Informationsgesellschaft erst erreichen, wenn sich eine Balance zwischen alten und neuen Strukturen eingependelt hat. Multimediale Interdependenz kann jedoch nur ein langfristiges strategisches Ziel sein. Alles spricht dafür, dass wir gegenwärtig zwischen abhängigen und gegenabhängigen Trends hinund herschwanken.
Die Dynamik des Epochenwechsels und das sozialpsychologische Dreiphasenmodell Kulturelle Epochen, kommunikative Paradigmen und Informationstechnologie lassen sich in der diachronen Perspektive als Generationen auffassen. Die Phasen bei der Ablösung alter durch neue Kommunikationstechnologien unterscheiden sich nicht vom üblichen Generationenwechsel in unserer Kultur. Neue Programme knüpfen an ältere an. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern sie haben Eltern. Von diesen Eltern sind sie anfangs noch in hohem Maße abhängig. Später empfinden sie diese Abhängigkeit als beengend und revoltieren dagegen; wenn alles gut läuft, werden sie irgendwann zu ihrer eigenen Identität finden und sich autonom, ohne ständig Rücksicht auf diese Herkunft nehmen zu müssen, entwickeln. Sie können frei zwischen alten und neuen Werten oszillieren. Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie sind die Phasen, die man für die menschliche Sozialisation und für die Entwicklung von Kleingruppen beobachtet hat und die sich auch in dem Entwicklungsgang von technischen Medien und Technologie finden lassen. Psychologen haben ihre Beobachtungen – mit variierten Bezeichnungen – in einem dreistufigen Modell zusammengefasst. 1 Es dient Warren G. Bennis (Entwicklungsmuster in T-Gruppen. In: Leland P. Bradford, Jack R. Gibb, Kenneth D. Benne (Hg.): Das gruppendynamische Training, Stuttgart , S. -) unterscheidet für Arbeitsgruppen die Phase der Dependenz mit den ›Subphasen‹ ›Flucht‹, ›Kontradependenz‹/Gegenabhängigkeit und ›Lösung‹ und die Phase der Interdependenz mit den Subphasen ›Harmonie‹, ›Entzauberung‹, ›Konsensbildung‹ (vgl. Tabelle , S. , und Tabelle , S. /). Der Entwicklungsprozess führt also von der Abhängigkeit über verschiedene Zwischenstufen zur Unabhängigkeit. Strukturell ähnlich ist auch das Konzept von W. R. Bion angelegt, das mit den Parametern ›Kampf, Flucht und Paarbildung‹ arbeitet
dazu, radikale Ablöseprozesse zwischen den Generationen, zwischen Bezugspersonen, zwischen Gruppenleitern und Gruppenmitgliedern usf. zu beschreiben. Es handelt sich also um ein Phasenmodell für Innovationen, an dessen Ende ein neues System, Medium, Phänomen … steht. Wir können die Erfahrungen, die in der menschlichen Sozialisation und bei der Beobachtung von Gruppenprozessen gemacht wurden, für das Verständnis technologischer und kommunikativer Innovation nutzen. Skriptographische, typographische und elektronische Kommunikationssysteme lassen sich in diesem Sinne als unterschiedliche Generationen begreifen, die sich in verschiedenen Zeiten nacheinander entwickelten und nun ihre Konflikte austragen und eine geeignete Form des Miteinander finden müssen. Wie groß ihre Unterschiede im Einzelnen auch sein mögen, die jüngeren Technologien haben ihre Identität in Abgrenzung zu der vorgefundenen der älteren Medien entwickeln müssen. Und diese Abgrenzung und Vergleichung ist auch für die älteren Medien nicht ohne Auswirkungen geblieben. Als medienhistorisches Gesetz ist dieser – koevolutionäre – Zusammenhang seit McLuhan immer wieder formuliert worden, letzthin von Hans Magnus Enzensberger: »Jedes neue Medium orientiert sich zunächst an einem älteren, bevor es seine eigenen Möglichkeiten entdeckt und gewissermaßen zu sich selber kommt.« 2 Es ist wie bei der Erziehung von Kindern: Wenn man wissen will, wie sie sich in der Phase der Ablösung von ihren Eltern verhalten, dann sollte man zunächst die Normen der Eltern besser verstehen. Leicht stellen sich danach die Hypothesen über alternative Verhaltensweisen ein. Welche im Einzelnen im konkreten Fall gewählt werden, lässt sich dann allerdings nur im Vergleich der Entwicklung beider Systeme, Eltern und Kinder (Geschwister), herausarbeiten – und auch dann nicht mit Sicherheit. Außerdem funktioniert dieses Modell nur, wenn es tatsächlich (Erfahrungen in Gruppen, . Auflage Stuttgart ). Kurz, prägnant und noch immer aktuell beantwortet Peter Kutter die Frage ›Gibt es typische Verläufe in der psychoanalytischen Gruppentherapie?‹ im gleichnamigen Überblick in der Zeitschrift ›Gruppentherapie und Gruppendynamik‹, , Bd. , S. -. Hans Magnus Enzensberger: Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt am Main , S. -, hier S. ; Neil Postman: Sieben Thesen zur Medientechnologie. In: W. D. Fröhlich, R. Zitzelsperger, B. Franzmann (Hg.): Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie. Frankfurt am Main , S. -.
zu einer Ablösung zwischen Eltern und Kindern kommt und Letztere eine eigene, neue Identität entwickeln. Bleiben die elterlichen Normen weiter bestimmend, hat man es mit identischen Reproduktionen zu tun und braucht dann keinerlei hellseherische Gaben, um die zukünftige Entwicklung zu skizzieren. Bestenfalls sind Extrapolation, quantitative Verstärkungen einzelner Verhaltensweisen zu erwarten. Auf das Verhältnis zwischen den alten, typographischen und den neuen, elektronischen Medien angewendet bedeutet dies: Wenn sich die neuen Medien tatsächlich von den älteren ablösen, dann werden sie durch eine – für alle, die sich mit den Normen der Eltern identifizieren, schwer erträgliche – Phase der Gegenabhängigkeit gehen. Mit dem Ausdruck Gegenabhängigkeit soll deutlich gemacht werden, dass auch der Protest, wenn er das glatte Gegenteil der vorgefundenen Leitbilder behauptet, Abhängigkeit bedeutet. Kein Pol dieser Opposition lässt sich ohne den anderen verstehen, und deswegen sind die beiden Seiten auch unauflöslich aneinander gekettet. Um das eine zu erklären, muss man sich vom anderen abgrenzen. Beide Seiten brauchen einander. Diese Protestphase wird umso heftiger ausfallen, je stärker sich die Identitätskonzepte der Eltern- und der Kindertechnologie unterscheiden. Sie wäre kaum merklich, wenn die elektronische Informationstechnologie die Programme des Buchzeitalters bloß in anderer Gestalt kopieren würde. Oder aus anderer Perspektive: Solange die Eltern – das im Geiste der Buchkultur erzogene Publikum – sich noch mit ungetrübtem Wohlgefallen über die Erfolge des Kindes freuen und sehen, wie diesem vieles leichter fällt als ihnen, so lange ist anzunehmen, dass sich die elektronischen Zöglinge noch in der Phase der Abhängigkeit befinden. Das innige Verstehen lässt auf ähnliche Normen des Verhaltens und Erlebens schließen. Eine Ablösung hat nicht stattgefunden, und es bleibt vorläufig unklar, ob sie überhaupt je gelingen wird. Manches spricht dafür, dass es günstiger ist, die Ablösung als eine längerfristige Phase zu gestalten. Nur dann ist die Zeit für ein geduldiges Ausprobieren alternativer Entwürfe gegeben. Verläuft sie zu eruptiv, besteht die Gefahr, dass vieles an überkommenen Normen und Techniken über Bord geworfen wird, was durchaus, auch im Sinne neuer Wertvorstellungen, zu nutzen gewesen wäre. Um diese zu prüfen, ist ein Dialog zwischen den Generationen nützlich – und dieser benötigt Zeit, reflexive Phasen ohne Agieren. Je nachdem, wie gründlich alternative Entwürfe in der zweiten
Phase ausprobiert, deren Ergebnisse gegen das Vorgefundene abgewogen und im Gespräch zwischen den Generationen erläutert und bewertet werden, erfolgt auch der Übergang zur dritten Phase mehr oder weniger leicht. Die Hauptaufgabe der dritten Phase des gruppendynamischen Entwicklungsmodells ist die kritische Integration der älteren und neueren Programme. Vielleicht ist es sinnvoll, die dritte Phase im Sinne gruppendynamischer Entwicklungsmodelle in die Sequenzen des – Norming (Selbstreflexion und Stabilisierung der Strukturen) – Performing (produktive Beschäftigung mit Umweltproblemen) – Informing (Kooperation mit der Umwelt) zu unterteilen. 3 Je stärker man davon überzeugt ist, dass sich die Umweltbedingungen verändern, desto mehr wird man von der neuen Generation der Menschen und Technik alternative Konzepte und die Ablehnung traditioneller Normen erwarten. Bloße Reproduktion der Werte und Programme führt dann eben nicht mehr zu einem ähnlich erfolgreichen Handeln wie bei den Elterngenerationen, sondern zum Versagen an den neuen Aufgaben.
Ablösungsphasen der elektronischen Medien Wenn man das eben skizzierte gruppendynamische Entwicklungsmodell auf unsere Gegenwart und die Durchsetzung der neuen Medien anwendet, dann befinden wir uns gegenwärtig im Übergang von der Phase der Abhängigkeit zu jener der Gegenabhängigkeit von der Buchkultur. Man kann die Entwicklungen der neuen Medien in den ersten zwanzig bis dreißig Jahren als ein Fortschreiben der Programme der Buchkultur mit dem Ziel ihrer beständigen Verbesserung verstehen. In der ersten Phase werden die herkömmlichen Problemstellungen übernommen, und man versucht, die alten Aufgaben besser zu lösen, als dies mit den traditionellen Medien und Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation möglich war. Die Devise lautet: Mehr vom Selben, aber schneller und billiger! (Phase der Abhängigkeit.) Vorgeschaltet sind die beiden Phasen ›forming‹ (der Gruppe) und ›storming‹ (Konflikt um Macht und Normen).
Die sozial schon hochgradig normierten Wahrnehmungs-, Sprachspeicherungs-, Rechen- und Darstellungsprozesse werden elektrifiziert. Dies gilt zum Beispiel für die Umsetzungen perspektivischen Sehens und entsprechender Bilder in Film und Fernsehen. Es gilt auch für die Rechenmaschinen, die logische Operationen mit denjenigen Symbolen ausführen, die wir aus der Buchkultur kennen: Schrift und Zahlzeichen. Und es gilt weiterhin für die elektronischen Versionen von Büchern oder Katalogen in CD-ROM , die verschiedenen Textverarbeitungsprogramme und überhaupt diejenige Software, die traditionelle soziale Tätigkeiten, vor allem professionelles und institutionalisiertes Handeln, modelliert. Als Näherungsregel kann gelten: Alle elektronisch gespeicherten Informationen, die sich problemlos in typographische Produkte umsetzen lassen (und umgekehrt), gehören noch der typographischen Ära an. In der sich jetzt abzeichnenden zweiten Phase der Gegenabhängigkeit werden sich die Software-Ingenieure und die Benutzer nicht mehr von dem Totem der Buchkultur dirigieren lassen: Lineares Denken, Sprache, wahre Umweltdarstellungen und andere mystifizierte Werte verlieren ihren Glanz. Stattdessen werden Gegenmächte aufgebaut und die bislang unterdrückten Pole des ambivalenten Systems thematisiert. Man kann auch sagen: Es geht weniger um die Vervollkommnung von Bewährtem als vielmehr um Offenlegen und dann Ausgleichen der Schwächen der vorhandenen Technologie und Programme. Die weiterzuentwickelnden Stärken sowie die Schwächen der Buchkultur haben wir im vorigen Kapitel diskutiert und in zwei Tabellen (Abb. a und b) zusammengestellt. Wir können jetzt wieder daran anknüpfen. Die vernachlässigten Bereiche der Buchkultur kennzeichnen den Entwicklungsraum der Informationsgesellschaft. Aus der Perspektive der Informationsgesellschaft betrachtet, erscheint die Optimierung und Technisierung der Leistungen der Buchkultur als Phase der Abhängigkeit. In der nachfolgenden Phase der Gegenabhängigkeit findet die Aufwertung bislang vernachlässigter Bereiche der Informationsverarbeitung und Kommunikation statt. Das strategische Ziel für die Phase der Autonomie, auf das ich gleich noch zu sprechen komme, muss es sein, die Errungenschaften der vorhergehenden Phasen auf einem neuen Niveau auszubalancieren. Abbildung fasst die Entwicklungsphasen nach dem Dreistufenmodell zusammen.
Phasen
Entwicklungsrichtung der Neuen Medien
Beispiele
Abhän- Die Informationsgesellschaft als Vollengigkeit der der Versprechen der Buchkultur; Perfektionierung der typographischen Informations- und Kommunikationstechnologie auf elektronischer Basis: Mehr vom Selben, aber schneller und billiger!
Von der typographischen zur digitalen Textspeicherung und -verarbeitung
Gegenabhängigkeit
Die Schwächen der typographischen Medien und die Erfolge der neuen Medien treten ins Bewusstsein. Man sucht und findet alternative Lösungen für alte, aber bislang unbeantwortete Fragen. Betonung der Andersartigkeit der neuen Informationssysteme.
Von der Visualität zur Taktilität; von den sprachlichen Informationen zu den Affekten; vom linearen zum interaktiven Denken; von der ›wahren‹ Beschreibung zur ›virtual reality‹
Autonomie
Erkennen und Entwickeln der spezifischen Leistungspotentiale elektronischer Informationsverarbeitung und -vernetzung; Ökologische Integration der alten und neuen Systeme, die synergetische Effekte freisetzt
Abb. : Entwicklungsphasen der neuen Medien nach dem Dreistufenmodell des Generationenwechsels
Durch den Vergleich mit den Leistungen der Buchkultur wird sichtbar, wo die neuen Informationssysteme andersartige Problemlösungen anbieten und damit schrittweise ihre eigene Identität finden, ihre spezifischen Ressourcen zur Geltung zu bringen. Typische Kennzeichen sind hier zum einen das Abgehen vom visuellen Paradigma, von sprachlichen Eingabe-, Verarbeitungs- und Ausgabemechanismen, also die elektronische Modellierung von Taktilität im Sinne McLuhans. Natürlich hat dieser Vorgang seine Anfänge in der Modellierung von sichtbaren Prozessen in Film und Fernsehen – aber er lässt sich nicht darauf begrenzen. Die vielfältigen ›Roboter‹ im Industriealltag, in der Medizin und andernorts, die sich häufig sprachfrei lenken lassen, zeigen die alternativen Strukturen und Funktionen der neuen Informationssysteme. Roboter beispielsweise lassen sich auch sinnvoll steuern, indem man selbst die vom Roboter gewünschten Handlungen ausführt, kinästhetische
Sensoren dieser Eigenbewegungen aufzeichnen lässt und dann deren Impulse der Maschine als Handlungsprogramm übermittelt. Hierbei wird unser Bewusstsein vollständig umgangen. Was hier parallele Handlungen und Informationsverarbeitung ermöglicht, sind keineswegs mehr sprachliche Informationen, und niemand wird den Kode des vermittelnden Mediums mehr Schrift nennen mögen. Nur weil die neuen Medien weder auf Schrift noch auf die visuelle Wahrnehmung, noch auf lineare, logische Prozesse beim Benutzer angewiesen sind, können sie eine neue Epoche einläuten. Zusammengefasst lautet das Credo der Phase der Gegenabhängigkeit: Über den Buchdruck hinausgehende, bleibende Bedeutung werden die elektronischen Medien dort erlangen, wo sie völlig andersartige Informationssysteme aufbauen: nicht an der visuellen Wahrnehmung und am Bewusstsein anknüpfen oder rationales Denken substituieren, keinen ›sprachlichen‹ Speicher benutzen und auch keine sprachliche Darstellungsform wählen. 4 Ebenso bedeutsam sind die Wandlungen auf dem Felde sozialer Vernetzung, wo zunächst die interaktionsfreie monomediale verbale und/oder visuelle Informationsübertragung des Buchdrucks perfektioniert wurde. Die zweite Phase ist hier (drittens) durch den Aufbau interaktiver Systeme mit praktisch zeitgleicher Rückkopplungsmöglichkeit gekennzeichnet. Erst jetzt kann soziale Informationsverarbeitung nicht mehr nur nacheinander oder wie bei der Fließbandproduktion im uniformen Gleichtakt, sondern als wirkliche Teamarbeit erfolgen, in der die Reaktionen der Beteiligten von anderen unmittelbar korrigiert werden können. In Zukunft geht es um die Gestaltung von multimedialen und technisierten Formen nicht von individueller, sondern von sozialer und kultureller Informationsverarbeitung. Dies setzt massive Parallelverarbeitung und völlig andere Vernetzungsformen voraus, als sie uns mit dem Hierarchiemodell geläufig sind. Dies gilt auch auf dem Gebiet der Vernetzung: Solange die elektronischen Medien die interaktionsfreie monomediale Massenkommunikation zum Maßstab erheben, können sie sich nur mäßig profilieren. Diese Überlegungen führen zu einer weiteren Regel der Mediengeschichte: Die Bedingung wirklich tief greifender kultureller Umwäl Vgl. Giesecke: Geschichten, Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung. In: Manfred Faßler: Alle möglichen Welten. München , S. -.
zungen durch Medien ist immer auch deren Andersartigkeit. Nur weil die gedruckten Bücher ganz anders als die handgeschriebenen waren, deshalb zogen sie soziale Begeisterung auf sich und wurden durchgesetzt. Und genauso wird es auch bei den neuen Medien sein. Solange ihre Leistungen jene des Buchzeitalters imitieren, veralten sie rasch. Die elektronischen Medien werden die Vernetzungsformen der Buchkultur erlangen, wo sie das überkommene Paradigma der interaktionsfreien, monomedialen Massenkommunikation verlassen und die elektronischen Möglichkeiten nutzen, um möglichst direkte Rückkopplungsmechanismen, multimediale Informationsübertragung und die flexible Steuerung der Adressatenauswahl zu erreichen, dann hinter sich lassen.
Ausblick auf die dritte Phase Damit über bloße Veränderungen hinaus eine andere Stufe kultureller Entwicklung erreicht wird, muss es zu einer Koexistenz älterer und neuerer Medien und kommunikativer Kooperationsformen kommen. Nachdem über lange historische Zeiträume kultureller Fortschritt vor allem durch Ausdifferenzierung, Technisierung individueller menschlicher Leistungen und Versprachlichung (Rationalisierung) von Informationen erreicht wurde, haben wir nun die Chance, andere Prinzipien zu nutzen. Statt eines Entweder-oderDenkens werden wir stärker ein Sowohl-als-auch-Denken brauchen, um die verschiedenen Formen von Informationsverarbeitung und Medien zu verknüpfen. Die Fähigkeit zu zweckabhängigem Programmwechsel, zur Oszillation und zur Balance wird zu einer kulturellen Schlüsselqualifikation. Es geht zum einen um die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien, die sowohl das Unbewusste als auch rationale Instanzen nutzen und ansprechen, die verbale mit nonverbalen Medien verknüpfen. Als Vorbild eignen sich hierfür weder die bekannten technischen Informationssysteme noch der einzelne Mensch als multimediales System (vgl. die Spalte ›Autonomie‹ in Abb. ). Zum anderen geht es um die Integration sowohl technisierter (›skriptographischer‹, ›typographischer‹, ›elektronischer‹) wie auch psychischer, als auch biogener und sozialer Informationssysteme.
Abb. : Trends der Informationsgesellschaft in den Phasen von Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie
Abhängigkeit
Spiegelung • technischen und begrifflich-sprachliund chen Medien und Spiegelungsformen Medien
• leibliche Medien
• Ausweitung der Informationsmedien auf alle Elemente des kulturellen Ökosystems, Reintegration der Natur als Spiegel
• interaktionsfreier (Massen)Kommuni- • unmittelbarer Kommunikation von • Aufbau und Moderierung mehrdimensionaler kation Angesicht zu Angesicht 씮 GruppenNetzwerke artverschiedener Kommunikatoren • von historischen Netzen und Marktgespräch • Balance zwischen den verschiedenen Vernetzungsprinzipien, einseitiger Informations• dezentralen Vernetzungsformen (Netzformen und -programmen fluss (traditionelle Massenmedien) werken) mit unmittelbaren Rückkop• Ökologische Gestaltung multimedialer Kommuplungsmöglichkeiten; Selbstorganisation nikationssysteme
• Integration von Selbst- und Fremdbeobachtung • Übergang zu neuen Formen kultureller Informationsverarbeitung
Vernetzung
• (selbstorganisierte) Gruppen- und Teamarbeit, organizational learning • sozialer Selbstreflexion
• allseitige Entwicklung der verschiedenen inneren und äußeren Sinne • Aktivierung aller menschlichen Speicherungssysteme (motorisch, ikonisch, verbal) • sowohl-als-auch, Programmwechsel zwischen affektiven, kognitiven u. a. Formen • Nutzung der individuellen Selbsterfahrung zur Gruppenreflexion und umgekehrt • Funktionale Auswahl aus den verschiedenen Darstellungsmedien und ihren Verknüpfungsmöglichkeiten
Autonomie (strategisches Ziel)
• sozialer Informationsverarbeitung als (manufaktur- oder industriemäßiger) Addition individueller psychischer Leistungen • von Umweltdaten in allgemein zugängliche elektronische Speicher
Aufwertung von • anderen Sinnen, Introspektion, Körpererfahrung • nonverbalen Ausdrucksmedien • assoziativer, affektiver, zirkulärer Informationsverarbeitung • sozialer Selbstreflexion, Gruppendynamik • multimedialer, assoziativer, anarchischer Informationsdarstellung 씮 kreatives Design
Gegenabhängigkeit
soziale Informationsverarbeitung
Optimierung und Technisierung Indivi• visueller und sprachlicher Informatioduelle Innen über die Umwelt formations- • audiovisueller Speicher- und Darstelverarbeilungsformen tung • logischer Informationsverarbeitung • individueller Selbsterfahrung • monomedialer, sprachlich oder mathematisch hochgradig normierter Darstellung von Wissen
Phasen Parameter
Wir brauchen eine Vision darüber, wie diese Systeme zusammenarbeiten sollen – und dabei wird sich auch die Rolle der Neuen Medien klären. 5 Vor uns haben wir unsere Kultur als ein Netzwerk verschiedener informationsverarbeitender Systeme, die nach einer neuen Ordnung streben. Wir können, da wir nun einmal Teil dieser Kultur sind, keinen außen stehenden Standpunkt einnehmen. Je nachdem aber, mit welchem System wir uns identifizieren, werden wir unterschiedliche Strukturierungstendenzen, mehr oder weniger Chaos feststellen und dann auch unterschiedliche Ordnungsvorstellungen entwickeln. Einen einzigen richtigen Punkt wird es nach dem Zusammenbruch der Zentralperspektive als allgemein gültiges erkenntnistheoretisches Prinzip ebenso wenig geben wie eine einzige Wahrnehmungsweise. Dies widerspräche dem multimedialen Aufbau der Kultur. Wir können uns also weder auf den Standpunkt der Buchkultur stellen und deren mechanische Hard- und die mechanisierte Software und die interaktionsfreie Informationsdistribution als Modell nehmen, noch können wir das Modell der elektronischen Massenkommunikation zum alleinigen Vorbild erklären. In der vorstehenden Tabelle (Abb. ) sind die Trends der Informationsgesellschaft in den drei Phasen für die drei Parameter des Kommunikationsbegriffs zusammengestellt. Die letzte Spalte, ›Autonomie‹, kann nur erschlossen werden. Dabei greife ich auf den Vergleich mit der Entstehung der Buchkultur und auf die Vision – oder das Perfektionsmodell – der Medienökologie und der synästhetischen Informationsverarbeitung zurück.
Sechs abhängige und gegenabhängige Trends Ich liefere in essayistischer Form einige – in Abbildung schon angekündigte – Beispiele für den Übergang von der Phase der Abhängigkeit der Informationsgesellschaft von der Buchkultur in jene der Gegenabhängigkeit. Dies ist die Phase, in der wir uns an der Jahrtausendwende in Europa befinden. Kaum ein Buch jüngeren Datums über Betriebswirtschaft und Unternehmensführung in unserer Gegenwart versäumt es, die Notwendigkeit der wechselseitigen Abstimmung von Informationstechnologie und sozialen Leitungs- und Arbeitsstrukturen hervorzuheben. Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Arnold Picot/ Ralf Reichwald/Rolf Wigand: Die grenzenlose Unternehmung. Wiesbaden , S. .
Zugleich nutze ich den Rückblick auf den Generationswechsel von der skriptographischen zur typographischen Kultur, um Vergleiche zu ziehen und Wiederholungen im historischen Prozess aufzudecken. Diese Wiederholungen erleichtern Prognosen.
Von der typographischen zur digitalen Textspeicherung und Verarbeitung Der Buchdruck kam in verschiedenen europäischen Ländern am Ende des . Jahrhunderts in eine Absatzkrise. Die Informationen, die bislang typographisch erfasst worden waren, sprachen zu wenige an. Man hatte sich zu lange damit begnügt, bloß diejenigen Texte zu drucken, die zuvor schon handschriftlich zirkulierten. Gewiss, für viele Experten, die schon immer Umgang mit schriftlichen Medien hatten, brachten diese Bücher Vorteile, aber attraktiv für den Mann/die Frau auf der Straße waren sie kaum. Unumkehrbar etablierten sich die typographischen Medien in der frühneuzeitlichen Gesellschaft erst in dem Maße, in dem tatsächlich auch neue Informationen speziell für die Verbreitung im Druck an jedermann in der ›deutschen‹ und in anderen Nationen gewonnen wurden. Dies ging nicht ohne eine Revolte gegen den Kanon ab. Was diese Aufgabe, ich habe sie das ›Software-Problem‹ genannt, anlangt, so lassen sich Parallelen zur gegenwärtigen Medienrevolution unschwer ziehen: Zunächst nutzte man die elektronische Datenverarbeitung zur Technisierung traditioneller Tätigkeiten in klar umgrenzten traditionellen Institutionen. 6 Frühe Beispiele sind hier die Auszählung und Ordnung von Daten, zum Beispiel von Wählerstimmen schon durch die Hollerithmaschinen (Lochkartensystem): »sorting, searching, bitmapping«. 7 Das Computerfieber ist nun in dem Maße gewachsen, in dem die Technik nicht nur in den Institutionen, sondern darüber hinaus auch in den privaten Haushalten Einzug gehalten hat. Ein wichtiger Motor für diese Rolf Oberliesen (Information, Daten und Signale. Geschichte technischer Informationsverarbeitung. Reinbek ) zeigt anschaulich, wie in der ersten Phase der ›Datenverarbeitung mit Lochkarten‹ zunächst ›Büro und Verwaltung‹ automatisiert wurden (S. ff.). Vgl. zur Modellierung dieser algorithmischen Informationsverarbeitung Frieder Nake: Von Batch Processing zu Direct Manipulation: ein Umbruch im Umgang mit Computern. In: Gerd Hurrle/Franz-Josef Jelich (Hg.): Vom Buchdruck in den Cyberspace? Marburg . S. -, hier S. ff.
Entwicklung sind beispielsweise die Computerspiele. Im Großen und Ganzen bleibt es jedoch um eine geeignete Software für die Homecomputer noch eher mager bestellt. Zumeist gießt man den alten Informationswein aus den traditionellen typographischen Gefäßen in die neuen, zugegeben häufig praktischeren digitalisierten Schläuche. Erforderlich für eine Ausweitung wären freilich andere Weinsorten und eine zusätzliche Ernte. Der Primeur, der in der frühen Neuzeit den Druckwerken Eingang in die Häuser verschaffte, hieß ›Fachliteratur für das Laienpublikum‹, gemeinnützige Do-it-yourself-Bücher. Dieser Informationstyp trat in Konkurrenz zu dem Gespräch mit dem Experten, und die Buchlektüre vermochte das mühsame einsame Lernen nach dem Versuch-Irrtum-Prinzip, wie wir am Beispiel von Plinius sahen, überflüssig zu machen. Um diese Software zu entwickeln, waren damals völlig neue Erkenntnis- und Kommunikationstheorien erforderlich: die zentralperspektivische Modellierung visueller Wahrnehmung der äußeren Umwelt, Standarddruckschriftsprachen und graphische Darstellungsverfahren sowie das Konzept interaktionsfreier, zeit- und raumverschobener Kommunikation, also die Vorstellung, Information wie Waren zu speichern und weiterzugeben. Eine vergleichbare Umorientierung in den Wahrnehmungsgewohnheiten – von den Kommunikationsidealen ganz zu schweigen – hat es im Informationszeitalter bislang nicht gegeben. Die in den elektronischen Maschinen pulsierenden Informationen wurden lange Zeit noch ganz nach den Kriterien des Buchwissens gewonnen und sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Übersetzungen aus traditionellen Speichern. Die ersten Generationen der Software-Ingenieure haben an den visuellen Sensoren des typographischen Paradigmas und an den dort entwickelten Erkenntnistheorien und Methoden unbeirrt festgehalten. So wie das Fernsehen nur eine Technisierung von jahrhundertealten perspektivischen Sehgewohnheiten ist, so waren auch die ersten ›Rechenprogramme‹ nur Technisierungen von längst bekannten kognitiven Programmen. Die Arbeit der ersten modernen Programmierer stand unter der braven Maxime: ›Mehr vom Selben – aber schneller und genauer!‹
Mut zum neuen Denken Genauso, wie erst im . Jahrhundert, nachdem schon mehr als fünfzig Jahre mit beweglichen Lettern gedruckt wurde, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und die Stammväter der Ingenieurwissenschaften wie Georg Agricola, der Botanik, wie Otto Brunfels und Konrad Geßner, oder der Chemie, wie Andreas Libavius und andere, die Prinzipien einer neuzeitlichen Software entwickelten und radikal mit dem mittelalterlichen Primat der auditiven Informationen und der inneren Stimme brachen und stattdessen auf die eigenen Augen und die logischen Schlussfolgerungen setzten, genauso hat es auch in der Gegenwart Jahrzehnte gebraucht, bis sich die Computertechnologie von ihren typographischen und anderen Vorbildern zu lösen beginnt. Dürer und Leonardo da Vinci waren nach den Maßstäben ihrer Zeit ungebildet, konnten kaum Latein und lehnten so ziemlich alle ldeale der alten Ordnung ab: Leonardo, ein homosexueller Gotteslästerer, verschrieb sich mit Leib und Seele der ›curiositas‹, der teuflischen Neugier also, ließ sich nächtens frische Leichen bringen, um sie zu sezieren – ein Tun, bei dem sich jeder gläubige Christ je nach Mentalität ängstlich oder empört abwandte. Und Dürers Arbeitsprinzip, ohne das die moderne Fachliteratur gar nicht denkbar wäre, lautete: Zerlegen der natürlichen Dinge bis in künstliche kleine Teile, ausmessen dieser Teile und modellhaftes Zusammensetzen derselben nach den eigenen, menschlichen Harmonievorstellungen – genau dieses Zerreißen der gottgewollten Einheiten hatten die Kirchengewaltigen noch im . Jahrhundert als sündhafte Verblendung gegeißelt. Die Veränderung der Natur nach den menschlichen, in den Büchern entwickelten Plänen empfand man als Aufbau einer künstlichen Gegenwelt zur natürlichen Schöpfung. Die Konstruktionsleistungen der Ingenieure erschienen den Gläubigen als ein Konkurrieren mit dem göttlichen Schöpfer. Ohne das Brechen von jahrhundertealten Tabus wäre die Aufrichtung des neuen Totems nicht möglich gewesen. Neues Denken erfordert mehr Mut als Intelligenz. Und diesen Mut zur Revolte, zur Demontage der mit den alten Medien verbundenen Sehweisen und sozialen Normen brachten breitere soziale Gruppen erst im . Jahrhundert auf. Es hat ganz den Anschein, als ob sich die Umorientierung in der Gegenwart auch nicht schneller vollzieht.
Immerhin beginnen sich die Strukturen eines Sinnenwandels, eines ›Neuen Denkens‹ und alternative Formen der Zusammenarbeit und Verständigung abzuzeichnen.
Von der distanzierten Umweltwahrnehmung zur Selbsterfahrung Kritik am Zwang, immer mehr Informationen über die sichtbare Welt zu sammeln und diese zur einzigen Wirklichkeit zu erklären, gibt es schon länger. Auffällig ist in dieser Hinsicht, dass die Tabuverletzer, Trendbrecher und Innovatoren zunächst weniger vor dem Computer und noch weniger auf den Informatikstühlen saßen als vielmehr in ganz anderen, eher technikfeindlichen Räumen: in der gefühlsbetonten Frauenbewegung, bei den Yogis, den Anhängern fernöstlicher Meditation und des New Age, in den alternativen Landkommunen, aber auch im systemischen Management und bei so manchen radikalen Kritikern unseres Wissenschaftssystems. 8 Dies mag ein Hinweis mehr für die These sein, dass Technisierung längst nicht mehr die reichste Quelle der Modernisierung in unserer Gesellschaft ist. Gemeinsam ist diesen Umdenkern, dass sie nach der Devise ›Mehr unmittelbare Selbst- als distanzierte Fremderfahrung!‹ handeln. Sie wollen der Erkundung ihrer Innenwelt und ihrer unmittelbaren Umgebung, dem Riechen und Schmecken, dem Sichbewegen, Tasten, der Selbstorganisation und dem Selber-Ausprobieren, der Mündlichkeit und dem unmittelbaren Gespräch wieder mehr Prestige und Boden in unserer Gesellschaft verschaffen. Und warum sollte es nicht auch in unserem Wirtschafts- und Informationsleben Grenzen für das Wachstum einzelner Produkte geben, jenseits deren jede weitere Steigerung der Produktion mehr Kosten als Nutzen nach sich zieht? Anstatt weiter nach einem eindimensionalen wissenschaftlichen Plan Informationen über die sichtbare Welt zu sammeln und sie dann in künstlichen Speichern zentral aufzuhäufen, mag die Einbeziehung der unmittelbaren Selbsterfahrung jedes Einzelnen neue und dezentrale Perspektiven für die Gestaltung kultureller Prozesse eröffnen. Viele Probleme unserer Gegenwart werden sich jedenfalls nur dann lösen lassen, wenn wir es lernen, nicht Vgl. zum Beispiel Fritjof Capra: Das neue Denken – Die Entstehung eines ganzheitlichen Weltbildes im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik. Bern/München/Wien .
mehr nur auf die Außenwelt zu schauen, sondern die Selbstbeobachtung, und zwar sowohl in der Form individueller Introspektion als auch in der Form sozialer Selbstreflexion, als Erkenntnisinstrument zu nutzen. Die Verknüpfung von Selbst- und Umwelterkundung ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Aufklärung unserer Gegenwart. 9 Die Computertechnologie fördert diesen Trend indirekt. Voraussetzung für viele ›intelligente‹ Programme ist die gründliche Reflexion sozialer und psychischer Informationsverarbeitungsprozesse. Daneben mehren sich in der Gegenwart die Indizien dafür, dass die Zeit, in der die Visualität und das darauf aufbauende Beschreiben unangefochten die erste Geige spielte, zu Ende geht. Zumindest in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen kündigt sich ein Wandel der Leitsensoren an.
Von der Visualität zur Taktilität So verlassen die fortgeschrittenen Zweige der Naturwissenschaft, ohne es vielleicht immer deutlich zu merken, das visuelle Paradigma und die darauf aufbauenden Falsifikationskriterien. Wenn sich die Physiker etwa nächtelang damit beschäftigen, die Stromimpulse ihrer Tunnel-›Mikroskop‹ nur noch genannten Maschine auf dem Monitor so zu strukturieren und zu färben, dass vor den Augen der ›Betrachter‹ ein ›Bild‹ der abgetasteten Gegenstände entsteht, dann karikieren sie damit den Anspruch des Sehens in der Neuzeit mehr, als dass sie ihn einlösen. In Wahrheit kommen hier elektronische Sensoren zum Einsatz, die, will man sie mit den menschlichen Sinnesorganen vergleichen, mehr dem Tastsinn, der ›Taktilität‹ (McLuhan), als den Augen ähneln. Jedenfalls besitzen die elektronischen Informationen eine völlig andere Qualität als jene mit den Augen gewonnenen der klassischen beschreibenden Naturwissenschaft. Diese Entwicklungstendenz zeigt sich auch in der Robotronik und in den Laboratorien, in denen die virtuellen Räume konstruiert werden. Wer sich etwa mit dem ›data-glove‹, dem Datenhandschuh, und einem Helm mit Minicomputer durch den ›cyber space‹ bewegt, der hat die Rolle des aparten Betrachters in einer immer Wie dies erfolgen kann, zeigt ausführlich das Buch: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft von M. Giesecke und Kornelia Rappe-Giesecke, Frankfurt am Main .
auf gleiche Distanz gehaltenen Umwelt, wie dies für die perspektivischen Konstruktionen unserer Umwelt typisch ist, verlassen. Hier wird der Computer tatsächlich nicht nur zu einem Verstärker des Sehens oder Hörens, sondern zu einer Art ›zweiter Haut‹. 10 So unauffällig wie möglich passt man ihn dem Körper an und sensibilisiert ihn für jede Hand- und Kopfdrehung. Er reagiert auf taktile Inputs. Der Mensch bewegt sich in dieser Konstellation nicht mehr in einer mit seinen natürlichen Augen wahrnehmbaren Welt, sondern in elektronisch produzierten synthetischen Räumen. Ihr Aufbau geht im Wesentlichen auf sensomotorische Impulse zurück. Je mehr taktile Daten nun in diesen und in anderen Mensch-Maschine-Informationssystemen gesammelt werden, umso mehr verlieren die visuellen Daten ihre Bedeutung für die Reproduktion unserer Kultur. Sie könnten damit das gleiche Schicksal erleiden wie die handwerkliche Geschicklichkeit und das Gedächtnis der Stammesund Familienältesten, deren ehemalige hohe Wertschätzung in der wissenschaftsgläubigen typographischen Kultur verloren ging. Auf die Frage, welcher Sensor bei den elektronischen Medien die Rolle einnimmt, die die Visualität für die typographischen Medien gespielt hat, scheint demnach im Augenblick die nahe liegende Antwort zu lauten: die Taktilität. Welche Sensibilität hier freilich im Einzelnen gemeint ist, lässt sich noch kaum abschätzen. Mit Sicherheit wird der neue Begriff der Taktilität ein anderer sein als jener, den wir mit dem ›Tastsinn‹ zu verbinden gewohnt sind – ebenso wie der Begriff des ›Sehens‹ nach der Entwicklung der zentralperspektivischen Theorie in der Renaissance einen anderen Inhalt erhalten hat als in den Jahrtausenden zuvor. Zentraler Bestandteil des Konzepts der Taktilität wird jedenfalls die Sensibilität für elektromagnetische Wellen sein. Hier liegt eine der aufregendsten Schnittstellen zwischen der Maschine und ihrer Umwelt, darunter eben auch dem Menschen. Je erfolgreicher die Arbeit an den Gehirnstrom-Interfaces – und deren Biosensoren – verläuft, desto mehr beschleunigt sich die Herunterstufung des Gesichtssinns – und auch der auf diesen aufbauenden Kommunikationsmedien (Abb. PDF 쩛CD). Die Interaktion zwischen dem Menschen und seiner Technik wird dann nicht mehr auf die äußere, ›hör-‹ oder ›sichtbare‹ Spra Hans Schmidt: Elektronische Scheinwelt. In: Bild der Wissenschaft, Heft , , S. -, hier: S. .
che, auf Bilder, auf gedruckte oder geschriebene Texte angewiesen sein, sondern zwischen den Computern und den verschiedenen elektrischen Signalen des Körpers könnte ein direkter elektronischer Wandler, zum Beispiel ›Biomuse‹, als Mittler zwischen den Schnittstellen genutzt werden. 11 Diese Verknüpfung von künstlichen mit menschlichen neuronalen Strukturen stellte eine völlig andere Form kommunikativer Netze dar, als wir sie bislang aus der zwischenmenschlichen Kommunikation samt all ihrer technischen Verstärker wie Post, Markt oder Telegraphie kennen. Es wäre der Übergang von den sichtbaren Kommunikationsmedien zu solchen, die sich nur mit den ›inneren Augen‹, um noch einmal ein altes Konzept heranzuziehen, wahrnehmen lassen. Die Notwendigkeit, Informationen in der Standardsprache zu kodieren, um sie zu speichern und weiterzugeben, ginge für zahlreiche Interaktionen und Verrichtungen verloren.
Vom begrifflichen zum metaphorischen Denken und Darstellen Die Folgen blieben aber zweifellos nicht auf den Wahrnehmungsapparat und die Medien beschränkt, sondern sie träfen auch alle Formen der Informationsverarbeitung, einschließlich unseres Denkens. Die Möglichkeit sprachunabhängiger Kooperation entwertet das logische Denken und unseren an Sprache gebundenen Prozessor, das Bewusstsein. Das Hinzutreten einer neuen Möglichkeit mindert immer den Status eines ehemaligen Monopolisten. Und da der Gegenspieler des Bewusstseins seit geraumer Zeit das ›Unbewusste‹ oder von alters her das ›Affekte‹ ist, wird dieses wohl von dem Verlust an Ansehen profitieren, das das Bewusstsein gegenwärtig erfährt. 12 Dafür gibt es auf praktisch allen Gebieten mehr als genug Indizien. Gehirnphysiologen vermuten schon längst, dass unsere höhere Nerventätigkeit von geringerer Komplexität ist als jene niederer Gehirnregionen. Je komplizierter das Denken, desto leichter Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Möglichkeiten und zum Aufbau dieser Interface-Technik Hugh S. Lusted/R. Benjamin Knapp: ›Computersteuerung mit Nervenimpulsen‹. In: Spektrum der Wissenschaft, Dez. , S. -. Dass bislang solche Vernetzungen doch wieder vorzugsweise zur Erzeugung sprachlicher Texte/Befehle und Bilder genutzt werden, ist nur ein zusätzliches Indiz für die Sprachzentrierung unserer Kultur. ›Bewusstsein‹ und ›Unbewusstes‹ sind natürlich ziemlich grobe Etiketten für komplexe Systeme und Prozesse.
lässt es sich technisch substituieren. Wenn selbst der beste Schachspieler gegen einen Computer verliert, dann eignet sich das strategische Denken kaum mehr als Vorbild. Ähnliche Umwertungen hört man auch aus Wirtschaft und Management. Logistische Probleme, die früher von guten Führungskräften zu meistern waren, lassen sich an das Gespann Rechner plus Sachbearbeiter delegieren. Was berechenbar ist, braucht keine spezielle Leitungskompetenz. Und die unberechenbaren Entscheidungen, die auf Intuition und Daten gründen, die nicht in den Bilanzen stehen, scheinen kaum der Sprache zu bedürfen. Edward de Bono hat in seiner flapsigen Art aus seiner Beratung von Führungskräften die folgende Schlussfolgerung gezogen: »Das wahrscheinlich bedeutendste Hindernis für den Fortschritt ist die Sprache. Es ist sogar möglich, dass uns überhaupt jeder weitere Fortschritt verwehrt ist, weil wir die äußerste Grenze der Sprache erreicht haben.« 13 In der Tat, was die sprachliche Beschreibung unserer Welt und ihre kausale Analyse angeht, gelangen wir immer öfter an Grenzen. Hier sind die Ressourcen weitgehend ausgeschöpft. Ganz anders sieht es im Bereich unserer anderen Sinnesorgane und Darstellungsmedien aus. Viel weniger haben wir uns in den vergangenen Jahrhunderten mit gefühlsmäßigen Entscheidungen und unseren Fähigkeiten beschäftigt, die Komplexität unserer Umwelt durch das Einbeziehen von affektiven Informationen und metaphorischen Vergleichen zu reduzieren. Typisch für den Übergang von der ersten Phase der Einführung der elektronischen Medien als bloße Verstärkung traditioneller Programme zur zweiten Phase der Abgrenzung von ihnen ist die Reaktion derjenigen Beobachter der elektronischen Medien, die wie etwa Joshua Meyrowitz oder Neil Postman noch einen festen Standpunkt in der alten Buchkultur haben. Wenn sie das ›Verschwinden der Kindheit‹ und den ›Abstieg der Fernsehkultur ins Amüsement‹ beklagen, dann sehen sie die Leistungen der neuen Medien eher in einer Verstärkung nonverbaler, unbewusster Formen der Informationsverarbeitung. Die Geschwindigkeit und vieles andere mehr machen die neuen Medien in der Tat zu einem Medium für das Unbewusste und Affektive: Der Verstand ist viel zu langsam, um sie wahrzunehmen und zu verarbeiten. Videoclips wirken nicht mehr über das Sehen, Der Klügere gibt nicht nach. Düsseldorf/Wien , S. .
sondern über die Vibrations. Techno-Musik kann man schwerlich genießen, wenn man sie in dem traditionellen Sinne ›hört‹. Wer sie mag, geht mit, lässt sich, seinen Körper, im Takt bewegen. Dies ist auch genau das, was McLuhan gemeint hat, als er von der Taktilität der neuen Medien sprach. Diese Informationen können mehr als Erschütterung gefühlt denn als sequentiell gegliederte Bilder wahrgenommen werden. Das, was zum Beispiel Neil Postman an der Fernsehkultur kritisiert, dass sie so wenig diskursiv, so irrational ist, das eben macht ihre eigentliche Qualität aus. 14 Sie entlastet das Bewusstsein, das in der Buchkultur sowieso überstrapaziert wurde. Aber genau diese Einsicht schmerzt. Sie ruft nach einem neuen Menschenbild. Sie wirft die traditionelle Wertehierarchie über den Haufen, für die der Verstand ganz oben und der tierische Instinkt ganz unten stand. Und nun wird von den Trendbrechern, wie von Milton H. Erickson, typischerweise wieder kein Techniker oder Programmierer der neuen Medien, gefordert, »dem Unbewussten die Möglichkeit zu geben, Problemlösungen zu erarbeiten, ohne das Bewusstsein einbeziehen zu müssen«. 15 Das Vertrauen in die Vernunft ist dahin – aber zugleich eben auch schon eine Alternative genannt: Besinnung auf ältere Formen der Informationsverarbeitung, Affekte, Triebe, Unbewusstes. Mit dieser Orientierung geht der Therapeut und Experte für Face-to-face-Kommunikation weit über das hinaus, was Kenner der Computerkultur üblicherweise anzubieten haben. Sie übernehmen zumeist das Menschenbild der Aufklärung, das im Verstand, im intentionalen, zweckrationalen Handeln und im Werkzeuggebrauch die differentia specifica sah. Und da die höhere Nerventätigkeit und das vernünftige Handeln tatsächlich nicht sonderlich komplex sind, werden sie sich in weiten Bereichen technisch substituieren lassen. Dieser Gedankengang führt zur Vision der ›Freisetzung‹ des Menschen. In diesem Sinne schreibt etwa Norbert Bolz: »In der technischen Wirklichkeit der neuen Medien ist der Mensch nicht mehr Herr der Daten, sondern wird selbst in Rückkopplungsschleifen eingebaut.« 16 »An den schon heute klar erkennbaren Endpunkt« der computergestützten Modellierung unseres Zentralnervensystems wird die Datenverarbeitung ohne Menschen Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main u. ö. Nach Werner Scholz: Taoismus und Hypnose. Der Weg Milton Ericksons. Augsburg . Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München , S. .
stehen« (ebd., S. ). Dies lasse sich »als große Verschonung erfahren«, schreibt er, »als Befreiung von der philosophischen Zumutung der Freiheit« (S. ). ›Verschont‹ wird schwerlich »der« Mensch, sondern nur derjenige, der sich selbst auf das Menschenbild der späten Neuzeit reduziert. Für Menschen, die wie eine triviale Maschine arbeiten, bleibt tatsächlich zunehmend weniger Raum in den hoch technisierten Informations- und Kommunikationssystemen. Für Menschen, die sich ihres unnachahmlich multisensuellen Charakters und ihrer affektiven Analysefähigkeit klar sind, stellen die neuen Medien keine Bedrohung, sondern eher eine Chance zur Entlastung von einfachen Formen der Kommunikations- und Informationsverarbeitung dar. Auch in diesem Fall zeigt sich wieder, dass die Selbstbeschreibung letztlich entscheidet, welche Umwelt als Bedrohung – und welche als ›Gottesgeschenk‹ empfunden wird. Wenn nun in unserer Gegenwart zunehmend davon ausgegangen wird, dass die Durchsetzung der neuen Medien nicht mehr aufzuhalten ist, dann können wir mit der gleichen Sicherheit annehmen, dass sich die Definitionsmerkmale des Menschlichen und damit auch die Grenzen zwischen Humanem und Inhumanem verschieben werden. 17 Darüber hinaus wird sich aber auch das Verständnis davon ändern, was dem – sich nun anders definierenden – Menschen ein gutes Werkzeug, eine technische Hilfe ist. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Technik muss neu strukturiert werden. In dem Maße, in dem Rationalität zu einem Wesensmerkmal der Technik wird, braucht der Mensch andere Unterscheidungsmerkmale. Dies ist ein Grund für den Aufschwung von Konzepten wie ›Intuitiv‹, ›Kreativ‹, ›Spontan‹ oder ›Emotional‹. Je wichtiger solche Merkmale werden, desto mehr wird auch von der Technik gefordert, dass sie intuitiv bedienbar und selbstlernend ist. Um anschlussfähig zu bleiben, spiegelt die Technik diejenigen Strukturen und Prozesse, die die Menschen in ihrer Identitätsbeschreibung hervorheben. Keineswegs lässt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Technik einseitig als bloße Prägung der Menschen verstehen. Die Technik wird sich folglich nicht minder als die Menschen verändern. Vor allem aber wird die Kopplung zwischen Mensch und Technik noch intensiver. Indiz dafür sind die vielen Tagungen und Buchveröffentlichungen zur Ethik im Informationszeitalter.
Technische Informationssysteme, die an affektive Informationen anschließen sollen, können nicht autonom sein. Will man die affektiven Potentiale ausnutzen, muss man von vornherein unvollkommene Technologien entwickeln, solche, die auf den Menschen als Kooperationspartner/Prozessor/Sensor usf. angewiesen sind. Die paradoxe Konsequenz vermehrter Anwendung intelligenter Computer kann also sein, dass sie die Bedeutung eines sich ganzheitlich erlebenden, seine intuitiven und nonverbalen Prozessoren nutzenden und sich multimedial ausdrückenden Menschen stärkt. Der ›Logiker‹ erscheint deutlicher als bisher in seiner Einseitigkeit. Dies mag eine tiefere Ursache für anti-intellektuelle Tendenzen in der gegenwärtigen Medienwelt sein (vgl. Abb. PDF 쩛CD). Aber selbst die Projekte, die die rationale Intelligenz der späten Neuzeit modellieren wollen, stecken noch in den Kinderschuhen. Wenn die Einführung der neuen Medien in ähnlich langwierigen und komplizierten Bahnen verläuft wie diejenige des Buchdrucks, wofür manches spricht, dann wird es noch bis zum Jahr , dem sechshundertsten Geburtstag der Gutenbergerfindung und dem hundertsten des ersten frei programmierbaren Rechners von Konrad Zuse, dauern, bis die neuen Medien diesen Kinderschuhen entwachsen sind. 18 Dass es heute nicht schneller geht als in der frühen Neuzeit, liegt auch daran, dass der Mut der Menschen nicht größer geworden ist – und dies mag alles in allem auch ein Vorteil sein. Schwieriger, als neue Patente zu verwirklichen, bleibt die Veränderung der Identitätskonzepte von Menschen und Gemeinschaften. Selbstverständlich hat auch die Orientierung auf das Nonverbale, Affektive und Taktile ihre Kehrseite. Auch sie ist aus informationstheoretischer Sicht einseitig und fördert monomediale Kommunikation. Und insofern haben Kritiker wie Neil Postman durchaus Recht. Es geht nicht darum, die Verdienste der Aufklärung und der Buchkultur zu leugnen. Die Erziehung des Verstandes, die kontrollierte Wahrnehmung, der vernünftige Diskurs, all dies sind ungemein wichtige Errungenschaften unserer Kultur. Würfe man sie McLuhan (ders. und Bruce R. Powes: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das . Jahrhundert. Paderborn , S. ) war da etwas optimistischer: »Spätestens im Jahre werden die Vereinigten Staaten eine deutliche psychologische Verschiebung aus ihrer Abhängigkeit von der visuellen, einheitlichen, homogenen Denkweise linkshemisphärischer Art zu einer multifacettierten, konfigurativen Mentalität vollziehen, die wir als audio-taktiles, rechtshemisphärisches Denken zu fassen versucht haben« (S. ).
über Bord, wäre alle Orientierung auf das Gefühl und auf Überkomplexität schwerlich ein Fortschritt. Es geht nicht um irgendeine Wiederholung oder Wiedereinführung und vor allem nicht um die Glorifizierung des Menschen als Instinktwesen. Es geht auch nicht um eine Bevorzugung individueller subjektiver gegenüber sozialen Normen und kollektiven Standards. Gefühl ohne Verstand ist nicht besser als Verstand ohne Gefühl, Individualismus nicht weniger schädlich als Kollektivismus. Die Frage lautet viel eher: Wie kann der Verstand durch das Gefühl ergänzt, das Gefühl andererseits am Verstand überprüft werden? Das sehen mittlerweile auch die Topmanager in der Industrie so. Der einstige Kronprinz von Ex-VW-Chef Carl Hahn, Daniel Goeudevert, bemerkt in seinem biographischen Bericht ›Wie ein Vogel im Aquarium. Aus dem Leben eines Managers‹ (Berlin ): »Ich plädiere für Intuition im Management, und vielleicht kann ich den Querdenker auch so definieren: ein Querdenker ist, wer seine Intuition nicht zu zügeln sucht, sondern sich davon führen lässt, indem er immer auch dem ganzen weiten Umfeld und dessen Reaktionen Rechnung trägt. Bedenken wir, dass das Zeitalter des Rationalismus nicht mehr als dreihundert Jahre jung ist. In diesem Zeitraum hat die Wissenschaft ungeheure Fortschritte gemacht – und uns ebenso ungeheure Exzesse beschert: In der Technologie, beim Konsum, in unserem Verhältnis zum Geld, bei der Konzentration von Macht in den Händen weniger etc. Wollen wir in ein Gleichgewicht zurückfinden, dann muss der Intuition auch bei Führungskräften zu ihrem Recht verholfen werden – auch wenn dies vielen auf der Vorstandsetage bestenfalls ein verächtliches Lächeln entlocken wird.« 19
Vom linearen zum neuen spiegelnden Denken Das Denken, das den Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglicht hat, ist linear und monokausal. Und da die typographische Technik der Prototyp der Produktionstechnik des Industriezeitalters ist, hat diese Form der Analyse und Synthese die Neuzeit geprägt. Der Logik der Hardware – also der ›Techno-Logie‹ des Zusammenwirkens der Werkzeuge, Werkstoffe, Maschinen etc. – entspricht die Zitiert nach dem Vorabdruck in der ›Wirtschaftswoche‹, Nr. vom . . , S. .
Logik der Erfinder und der Benutzer. Hard- und Software besitzen strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten. Obwohl es im Prinzip gleichgültig sein dürfte, an welchem Beispiel man diese These erläutert, bieten sich im Kontext dieses Buches natürlich Gutenberg und sein Druckverfahren an. Worin besteht seine Erfinderleistung in technischer Sicht? Bekannt waren verschiedene Stempeldruckverfahren, die alle nach einem ähnlichen Muster ablaufen: aufwendiges Schneiden beziehungsweise Stechen einer Form, Einfärben der Form, Abdruck dieser Form in Ton, auf Stoff, Pergament oder Papier. Die Leistung dieses Verfahrens liegt in der Vervielfältigung. Der Holzstock zum Beispiel kann hundertfach eingesetzt werden, um Drucke auf Papier zu erzeugen. Eine Standardisierung der einzelnen Formen ließ sich andererseits auf diesem Weg nicht erreichen. Jede Form, zum Beispiel jeder Buchstabe, hing weiterhin von der Handfertigkeit des Formschneiders ab, und jeder Abdruck zeigte deshalb die gleichen Unregelmäßigkeiten wie handgeschriebene Texte. Um diesen Nachteil auszugleichen, musste Gutenberg den Druckvorgang mehrfach auf sich selbst anwenden: Zunächst entwirft ein begabter Schreibkünstler ein vollständiges Alphabet mit allen Zusatzzeichen. Dieser Entwurf, der praktischerweise auf Pergament oder Fettpapier ausgeführt wird, wird dann auf den Rohling einer Patrize gelegt und abgepaust. Ein Graveur hebt die Formen aus dem Metall heraus, und es entsteht eine Patrize. Diese wird in weiches Metall eingeschlagen, umso zu einer Gießform, der so genannten Matrize, zu gelangen. Erst in diese Gießform füllt man die heiße Bleilegierung, um Lettern zu erhalten. Die Lettern fügt man zu Schriftzeilen und diese schließlich zu Seiten zusammen, färbt sie ein und druckt sie aus. Die technische Grundidee Gutenbergs ist die mehrfache Spiegelung informativer Muster, ein ziemlich umwegiges Verfahren, wie bei jeder guten Technik. Der technische Erfolg dieses Spiegelungsprozesses hängt von der Minimierung der Rückkopplungseffekte ab. Durch die Auswahl geeigneter Relationierungsverfahren und Stoffe, vor allem härterer und weicherer Metalllegierungen, wird die Beeinflussung des Graviermessers durch die Patrize, der Patrize durch die Matrize, der Matrize durch die Letter, der Letter durch das gedruckte Papier – und des Papiers durch den Leser – so weit gesenkt, dass sie für den Menschen und seine Zwecke nicht mehr ins Gewicht fällt. Würde dieses Prinzip nur an einer Station unter
brochen, etwa die Patrize beim Einschlagen in die Matrize verformt, so stürzte die Vervielfältigungspyramide zusammen. Im ökonomischen Sinn lohnt sich dieses Prinzip nur dann, wenn aus einem Schriftmuster gleich mehrere Patrizen, aus einer Patrize viele Matrizen, aus einer Matrize wiederum viele Lettern und aus einer Letter wiederum viele Drucke hergestellt werden. Dies bedeutet, dass ein Schriftkünstler viele Stempelschneider, ein Stempelschneider zahlreiche Gießereien, eine Gießerei viele Druckereien und jede Druckerei eben viele Leser beliefern kann. Gutenbergs Genie liegt in diesem Punkt in seiner Sturheit. Viermal wiederholt er einen im Prinzip gleichen Vorgang, um sein Ziel zu erreichen. Und mit der gleichen Sturheit vollzieht sich die Industrialisierung in Europa seit der frühen Neuzeit. Es werden Formen (unter Nutzung anderer Formen) gefertigt und geeignete Pressen bereitgestellt, um massenhaft Produkte mit völlig gleichen Proportionen herzustellen. Anfangs eignete sich nur Metall für diese mehrfachen Umformungsprozesse, und deshalb beginnt mit dem Buchdruck auch die Verdrängung des Holzes, des bis dahin wichtigsten Baustoffes für Maschinen. Auf Dauer passte sich unser europäisches Denken, beileibe nicht nur jenes der Techniker, diesem Produktionsprozess an. Ziel sowohl des mechanischen Handelns als auch des linearen und kausalen Denkens muss die Verringerung beziehungsweise die Ausblendung von Rückkopplungseffekten sein. Im technischen Prozess sollen nur bei den Werkstücken Verformungen erreicht werden, die Werkzeuge an sich selbst keine Wirkungen erfahren. Denken, das diesem mechanischen Prinzip entspricht, verläuft monokausal. Es ist nicht interaktiv, und es will Interaktion in voneinander unabhängige Prozesse auflösen. Es vernachlässigt die Tatsache, dass natürlich auch das Werkstück auf die Form zurückwirkt – und diese überhaupt nur geschaffen werden kann, wenn die Eigenschaften des Werkstücks berücksichtigt werden. Da wir alle beständig mit Werkzeugen umgehen, prägt ihre (vermeintlich) einseitige Wirkungsweise unsere Weltanschauung. Immer wieder, so überzeugen wir uns, sehen wir erfolgreiche Prozesse, die ohne Rückwirkung ablaufen, und wenn Letztere auftritt, dann wird die Handlung als Misserfolg erlebt. So erscheinen uns lineare und monokausale Vorgänge als Normalfall und Ideal. An und für sich ist gegen die absichtsvolle Minimierung der Wechselwirkung und gegen kausales Denken nichts einzuwenden:
Sobald wir beim Werkzeuggebrauch tatsächlich Wechselwirkung bemerken, taugt das Werkzeug wenig. Der abgebrochene Hammerstiel oder das schartige Messer zeigen uns zu viele Spuren des Arbeitsgegenstandes. Verhängnisvoll wird das Prinzip aber, wenn wir den unaufhebbar ambivalenten Charakter des Werkzeuggebrauchs und andere Techniken ignorieren: Selbst fachkundig geführtes, gutes Werkzeug verändert sich im Gebrauch, spiegelt den Arbeitsgegenstand. Zu noch schädlicheren Wirkungen führt es, wenn das monokausale Prinzip bedenkenlos auf alle möglichen Vorgänge in uns und in unserer Umwelt ›übertragen‹ wird. Es geht eben häufig gar nicht um die Minimierung der Wechselwirkung, sondern viel eher um die Schaffung von Rückkopplungsmöglichkeiten. Und dies wird ja auch zunehmend erkannt und vor allem bei der Gestaltung von ›Schnittstellen‹ moderner Rechner berücksichtigt. Das Stichwort lautet hier ›interaktiv‹. Das angestrebte Produkt: Texte, Waren o. Ä., soll im ›Dialog‹ zwischen der Maschine und den Menschen geschaffen werden. Je mehr in diesem Sinne interaktive Technik entwickelt wurde, umso stärker wird sich unser traditioneller Begriff von Technik als Verstärker intentionalen Handelns auflösen. Um solche fehlerfreundlichen interaktiven Prozesse zu gestalten, eignet sich das mechanistische Weltbild nicht. Wir benötigen, wie es Fritjof Capra schon im Titel eines Buches formulierte, ›Neues Denken‹. Mittlerweile haben Autoren aus den verschiedensten Bereichen die Konturen dieses neuen Weltbildes vorgezeichnet und es mit Begriffen wie: systemisch, vernetzt, ganzheitlich, kybernetisch, konstruktivistisch u. a. benannt. 20 Ihre Grundannahmen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: – Unsere Umwelt ist überkomplex; wir können sie nur unvollkommen erkennen und die Wirkungen unseres Handelns nur in geringem Umfang abschätzen (riskantes Raten statt sicheres Wissen). – Die Welt ist ein Netzwerk, auf dem sich Informationen in alle Richtungen ausbreiten. – Es gibt keine Wirkung ohne Rückwirkung: Interaktivität statt Linearität. Vgl. etwa S. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Bd. . Frankfurt am Main ; Bd. . Frankfurt am Main ; Gilbert J. B. Probst: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg . Das systemische Denken muss freilich durch ökologische Modelle ergänzt werden.
– Technik und auch logisches (rationales) Denken ist zweckgerichtete Minimierung von Wechselwirkung (Selbstsimplifikation). – Prozesse haben keinen Anfang und kein Ende, aber wir können sie interpunktieren, unterbrechen und linearisieren. – Ambivalenzen, Zirkularitäten und Paradoxien bestimmen die Dynamik unserer Umwelt. – Vollständige Beschreibungen sind deshalb zirkuläre, paradoxe und ambivalente Beschreibungen (statt ›Entweder-oder‹-Denken 씮 ›Sowohl-als-auch‹-Denken). Zu berücksichtigen ist bei solchen Zusammenstellungen eine weitere Grundannahme des systemisch-kybernetischen Denkens, dass nämlich die Axiome nicht beweisbar sind. Grundannahmen liefern Wertmaßstäbe für soziale Gemeinschaften, damit diese ihr Erleben und Handeln abstimmen können. Sie lassen sich nur mit dem Blick auf Ziele rechtfertigen – und durch den Vergleich mit den Strukturen der avancierten Technik, also der Hardware, als ›passend‹ und ›zeitgemäß‹ begründen. Zeitgemäß ist das rekursive Denken, weil alle einigermaßen komplexen Automaten selbstkontrollierende ›Maschinen‹ sind. Sie müssen in Rückkopplungsschleifen Anfangsund Endzustände wieder und wieder vergleichen – und dabei den Endzustand immer schon als Programm ihres Funktionierens nutzen. Prozesse stabilisieren sich durch rekursive Programme und Prozessreflexion. »An die Stelle der linearen Rationalität der Gutenberg-Galaxis tritt heute«, so fasst Norbert Bolz die Meinung vieler Beobachter der neuen Medien zusammen, »ein Denken in Konfigurationen … Rekursion ersetzt die Kausalität, Pattern recognition ersetzt die Klassifikation … Menschen sind heute nicht mehr Werkzeugbenutzer, sondern Schaltmomente im Medienverbund.« 21 In der letzten Schlussfolgerung drückt sich freilich wieder das ›alte‹ Entwederoder-Denken der Mechaniker aus: Natürlich bleiben die Menschen weiter Werkzeugbenutzer und deshalb tritt das rekursive Denken auch zunächst bloß als eine weitere Möglichkeit zum zweckrationalen hinzu. Aber andererseits erhalten das alte Denken und der Mensch, der nun sowohl Schaltstelle in informationsverarbeitenden Systemen als auch zweckrationaler Ingenieur sein kann, eine völlig neue Funktion, eine andere Selbstbeschreibung als in der Buchkul ›Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse‹. München , S. und S. . Vgl. auch S. ff.
tur. Zweckrationalität ist ›am Ende der Gutenberg-Galaxis‹ nicht mehr die gleiche wie zuvor. Aber, und in diesem Punkt scheinen mir die konstruierenden und dekonstruierenden Philosophen der Postmoderne von der neuen Technologie tatsächlich narkotisiert, auch das Prinzip der Interaktivität oder der rekursiven Selbststeuerung ist nicht völlig neu oder gar erst durch die Computertechnologie geschaffen. Jedes Gespräch von Angesicht zu Angesicht erfolgt nach diesen Prinzipien. Immer müssen wir in der sozialen Interaktion das, was wir erreichen wollen, voraussetzen. Keine Mammutjagd wäre erfolgreich verlaufen, wenn sich die Menschen nicht als ›Schaltmomente im Medienverbund‹ verhalten hätten. Richtig ist, dass wir uns heute nicht mehr damit begnügen können, uns ›interaktiv‹ zu verhalten, wir müssen uns auch explizit so beschreiben, um unsere soziotechnischen Systeme zu stabilisieren. Die neuen Medien verbessern unsere Möglichkeiten zur Beobachtung, zum Verstehen und zum Gestalten rekursiver Zusammenhänge – und sie erzwingen zugleich entsprechende Beschreibungen und Normierungen unseres Sozialverhaltens. Wer den Buchdruck durch den Computer, das mechanische durch das interaktive Denken »ersetzt«, bleibt im alten linearen Paradigma des Entweder-oder: Er vertauscht die eine Letter aus dem Setzkasten durch eine andere in der Hoffnung, nunmehr die richtige Schreibweise getroffen zu haben. Das ist ein ganz sinnvolles Verhalten, aber eben keines, was neues Denken erfordert. Auch aus diesem Grund eignen sich die neuen Medien bislang nicht als Maßstab für die Entwicklung eines Kommunikationsmodells für das Informationszeitalter. Solange wir eine Maschine durch eine andere ersetzen, die Schwerindustrie durch die Informationstechnologie, folgen wir den ausgetretenen Pfaden neuzeitlichen Fortschritts: vom Kohleofen über den Gasherd zur sprachgesteuerten Mikrowelle, von den Äolsharfen und den Flötenuhren über die Schellackplatte zur CD : bessere Lösungen der alten Probleme durch neue Technik. Neues Denken beginnt dort, wo wir uns überhaupt nicht mehr vorstellen können, dass sich unsere Visionen durch Austausch von Technik oder bloße Technisierung individueller menschlicher Leistungen verwirklichen lassen. Wir brauchen keine ›Wunschmaschinen‹ mehr. Unsere Welt steht voll damit, und es häufen sich die Alpträume, in denen es um nichts anderes als um deren Entsorgung geht. Hollywood hat dies schon vor Jahren intuitiv erfasst: ›Im Krieg der Sterne‹ siegt der Yogi.
Mit anderen Worten, wenn alles technisiert ist, sind qualitative Vorteile nur durch Programmwechsel zu erreichen: Meditation, Selbstbeobachtung und -beherrschung, Einsatz von Glauben und Telepathie.
Von den ›wahren Beschreibungen‹ zur ›virtual reality‹ Vergleicht man die Entwicklungsphasen der neuen Informationstechnologie noch einmal mit jener der typographischen Medien, so können wir erwarten, dass sich die Informationsgesellschaft demnächst intensiver mit der Frage beschäftigen wird, was sie eigentlich – außer sich selbst – herstellen will. Welche Produkte soll die elektronische Informationstechnologie liefern – und welche Software, welche Theorien und Programme sind für deren Erzeugung erforderlich? Bekanntlich hat der Buchdruck sowohl die ›wahren Beschreibungen‹ der neuzeitlichen Wissenschaften als auch neue Formen fiktionaler Erzählungen hervorgebracht. Er hat uns ein Bild unserer Umwelt geliefert, das durch Naturgesetze bestimmt ist, die wir als Betrachter und mit Hilfe von Experimenten erkennen können. So wie es objektive Beschreibungen gibt, so gibt es auch eine wahre Wirklichkeit. Letztlich ist die Erfassung dieser Wirklichkeit Voraussetzung und Ziel aller typographischen Informationsverarbeitung. Wenn sich die Idee nicht durchgesetzt hätte, dass unsere Umwelt in dieser Weise erkennbar ist und sich allgemein gültig – für alle Orte, für jedermann und zu allen Zeiten – beschreiben lässt, dann wäre es nicht zu den wissenschaftlichen Fachbüchern, den literarischen Utopien und aufklärerischen Schriften, den Zeitungen, den Fotos, den Dokumentarfilmen usf. gekommen. Uns erscheinen die erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Voraussetzungen dieses Weltbildes heute ganz selbstverständlich. Aber sie waren weder in älterer Zeit in Europa noch an anderen Orten der Welt, an denen man keine auf den Buchdruck, der Warenwirtschaft und der perspektivischen Erkenntnistheorie aufbauende Kommunikationsformen besaß. Die Diskussion darüber, was ins Internet gehört und was nicht, hat gerade erst begonnen. Man kritisiert eingespeiste Anleitungen zum Waffenbau, Pornographie, Sektenpropaganda u. Ä. ebenso, wie sich das . Jahrhundert gegen den Druck von umstürzlerischer Propaganda oder von ›derben Schwänken‹ aussprach. Aber das sind
Nebenkriegsschauplätze. Im Kern geht es um die Alternative zum Wissenskanon und zu dem Wirklichkeitskonzept der Buchkultur. Wir verfügen gegenwärtig noch nicht einmal über eine Produktvorstellung, die ähnlich konkret ist wie jene der ›wahren Beschreibung‹, die für die typographische Informationstechnologie schon zu Beginn des . Jahrhunderts, also etwa Jahre nach der Einführung der Druckerpresse entwickelt wurde. Die aus der Abhängigkeit zur Buchkultur heraus vorgeschlagenen Textverarbeitungsprogramme perpetuieren im Wesentlichen die Darstellungsformen des typographischen Mediums. Wer die Textformen der Buchkultur ›dekonstruieren‹ und/oder sie in ›Hypertexte‹ übersetzen will, bleibt an diese gebunden. Jedes informationsverarbeitende System erzeugt nicht nur Produkte wie Verhalten, sprachliche Äußerungen, Texte, Computerausdrucke usf., sondern es erzeugt auch immer ein Bild von der Umwelt und eine Metatheorie über sein eigenes Verhältnis zu dieser Umwelt – und es tut dies natürlich in Abhängigkeit von den eigenen strukturellen Möglichkeiten. So wie der Mensch schon aufgrund seiner spezifischen sensorischen Ausstattung eine andere relevante Umwelt besitzt als die Schmetterlinge oder Bienen, so hat auch eine Informationstechnologie wie der Buchdruck eine andere Umwelt als die elektronischen Medien. Mit der Veränderung der Selbstbeschreibung der Industriegesellschaft hin zur Informationsgesellschaft muss auch eine Veränderung des Konzepts der Umwelt und eine neue Sicht des Verhältnisses zwischen den beiden einhergehen. Die Konturen der Umweltkonzepte sind bislang weit vager als jene der Informationsgesellschaft. Die natürliche Umwelt der Industriegesellschaft setzte sich aus Rohstoffen zusammen, die man in Güter oder Maschinen verwandeln konnte. Man beschrieb sie mit den Kategorien der Naturwissenschaften. Was sich in diesen nicht ausdrücken ließ oder noch nicht erkundet war, blieb geheimnisvoll, terra incognita. Diese Umwelt beginnt sich aufzulösen. Sie wird Teil des kulturellen Ökosystems. Die Sprache der Geometrie und der Mathematik wird vermutlich nicht mehr ausreichen, die ökologischen Welten zu modellieren. Vielleicht kann man die Phase der Gegenabhängigkeit mit dem Aufstieg des Konzepts der ›virtual reality‹ zusammenfallen lassen. Bislang bleibt es an den Realitätsbegriff der Buchkultur gebunden, aber es löst ihn in vielerlei Hinsichten auf, virtualisiert ihn. Vor
allem wird die Selektivität und Konstruktivität unserer Umweltwahrnehmung und damit die vielfältigen Möglichkeiten der Umweltkonstruktion bewusst. Aber aus diesen zaghaften Formen des Protests lassen sich bislang kaum die Konturen einer den elektronischen Medien adäquaten Erkenntnistheorie und eines neuen Verständnisses der Umwelt herauslesen. Wenn sich die Innovationen im gleichen Zeitrahmen wie in der frühen Neuzeit abspielen, dann werden wir noch etwa Jahre warten müssen. erschien die ›Unterweisung der Messung‹ von Albrecht Dürer, die die neuzeitliche Erkenntnistheorie für das breite Publikum auf den Punkt brachte. Zehn Jahre später haben dann die so genannten ›Stammväter‹ der Botanik, die für die typographische Technologie prototypischen Beschreibungen geliefert. Die ersten Indizien über die Entwicklungsrichtung konnte man damals und kann man heute wieder in den experimentellen Arbeiten der Künstler finden. Installationen, Hyperfiction, Netzästhetik, Performance, Videoclips treten neben die klassischen Ausdrucksformen von Bild, Text und Film. Spielerisch lotet man die Möglichkeiten der neuen Medien aus und denkt und gestaltet dabei vermutlich manches, was für die Produktions- und Erkenntnisweise der entwickelten Informationsgesellschaft einmal typisch werden wird. Es scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch zu früh, einigermaßen begründete Prognosen über die weiteren Perspektiven der elektronischen Informationsverarbeitung aufzustellen. Wichtiger dürfte es ohnedies sein, die Vision der Informationsgesellschaft als einer multisensuellen, polyzentrischen und multimedialen Kultur voranzutreiben. Die neuen Medien machen hier ja nur ein Element aus. ›Mixed reality‹ lautet das Gegenkonzept zu den monomedialen Repräsentationen – seien es nun typographische Beschreibungen oder elektronische Simulationen. Einen Hauptgrund für die noch große Abhängigkeit von den Paradigmen der Buchkultur sehe ich aus kommunikationstheoretischer Sicht darin, dass wir bislang noch im Wesentlichen an der Erkenntnis- und Kommunikationstheorie festhalten müssen, die seit der Renaissance entwickelt wurde, eben weil noch keine neue in Sicht ist. Und natürlich beantworten die traditionellen Wahrnehmungs- und Vernetzungsmodelle diejenigen Fragen, die sich aus der typographischen Informations- und Kommunikationstechnologie ergaben. Sie sind für diese Technologie passend, aber auf andere Medien nur begrenzt anwendbar. Im Augenblick übertragen wir
noch zumeist Werte und Konzepte, die einer vergangenen Entwicklungsphase entstammen. Ein solcher Anachronismus dürfte unvermeidlich sein. Aber es ist nun eine kritische Reflexion der Werte und Theorien angesagt. Vor allem ist dabei zu klären, inwiefern sie genetisch mit älterer Informations- und Vernetzungstechnik zusammenhängen. In Bezug auf welche Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation sind die vorhandenen Programme, Werte, Theorien etc. funktional? Erst wenn man auf diese Weise ihren Leistungsbereich erkundet hat, lassen sich Hypothesen darüber begründen, wofür sie in Zukunft funktional/angemessen sein werden. Deshalb soll in den folgenden Abschnitten genauer nachgezeichnet werden, inwiefern unsere gängige Epistemologie durch die Erfordernisse der typographischen Informationsverarbeitung und Vernetzung geprägt wurde. Für eine ökologische Gestaltung der Informationsgesellschaft, für eine Integration der verschiedenen Medien brauchen wir eine andere, synästhetische und multimediale Erkenntnis- und Kommunikationstheorie.
Von der mono- zur multiperspektivischen Erkenntnistheorie Die reflexiven und praktischen Grundlagen für die interaktionsfreie soziale Informationsverarbeitung in den Industrieländern der Neuzeit hat die zentralperspektivische Wahrnehmungs- und Darstellungstheorie gelegt. Wann immer von Erkenntnistheorie in Wissenschaft und Philosophie in der Neuzeit die Rede ist, so geschieht dies als Erläuterung oder als Abgrenzung von dem Modell des Sehens und der zeichnerischen und sprachlichen Darstellung dieses Typs visueller Erfahrung. Man greift also viel zu kurz, wenn man das zentralperspektivische Programm lediglich als ein ästhetisches Prinzip begreift und seine Bedeutung auf den künstlerischen Bereich beschränkt. Mag die Perspektivlehre im Spätmittelalter nur das mehr oder weniger geheime Sonderwissen einiger Kunsthandwerker gewesen sein, am Ende des Industriezeitalters lernt jedes Kind ihre geometrischen Grundlagen und wendet ihre Prinzipien bei der Verständigung über die Umwelt an. Sie bildet die erkenntnistheoretische Grundlage unserer neuzeitlichen Wissenschaft und Technik. Sie hat über Jahrhunderte jedoch auch das alltägliche Denken in den Industrienationen bestimmt und tut dies noch immer.
Wenn aber das von Medienwissenschaftlern wie McLuhan und Neil Postman formulierte und in diesem Buch bestätigte Gesetz, dass jeder Informationstechnologie auch eine Erkenntnistheorie entspricht, zutrifft, so muss gerade das ungebrochene Fortleben des alten Paradigmas erstaunen. 22 Zu erwarten wäre, dass mit der Relativierung der Bedeutung der Buchkultur durch die neuen elektronischen Medien auch ähnlich dramatische Umstellungen unserer Konzepte von Wahrnehmung, Wahrheit, richtigen Darstellungen usf. einhergehen, dass wir zu anderen Antworten auf die Frage: Was sollen wir erkennen? kommen als unsere Vorfahren. Natürlich hängt die Tatsache, dass wir in unseren Werten, Erkenntnistheorien, den Zielen der Bildungs- und Wissenschaftsinstitute noch keine der gegenwärtigen technischen Umwälzungen entsprechende Veränderungen feststellen können, mit den Mythen der Buchkultur zusammen, die eben auch eine Mystifizierung der visuellen Wahrnehmung beinhalten (vgl. S. ff.). Oder genauer: Gerade die Wissenschaftstheorie hat zu dieser Mystifizierung wichtige Beiträge geleistet. Nachdem mehr als vierhundert Jahre lang alle relevanten Erkenntnistheorien, alle Mechanisierung und Automation in den Industrieländern ihren Ausgangspunkt vom – perspektivisch verstandenen – Sehen genommen haben, schrieb eine anerkannte Studienstiftung für das Jahr einen Forschungswettbewerb zum Thema ›Erleben wir den Beginn eines visuellen Zeitalters?‹ aus. 23 Die Frage kommt reichlich spät. Die von den Initiatoren beabsichtigte Zukunftserkundung hätte sie im deutschsprachigen Raum vor ca. fünfhundert Jahren ermöglicht. Nun hat die visuelle Zeitenwende längst stattgefunden. Die jetzige Generation wendet sich anderen Sinnen und Medien zu. Aber über deren Arbeitsweisen und über ihre be- und entlastenden Wirkungen auf den Menschen besitzen wir kaum Modelle. Ein Ziel dieses Abschnitts ist es, die sich abzeichnende Gestalt postperspektivischer Erkenntnis- und Medientheorien festzuhalten. Welches Erkenntnis- und Kommunikationsideal kann die diffusen Erwartungen aufnehmen und konturieren, die sich mit dem Mode N. Postman (Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main ) schreibt: »Jede Epistemologie ist die Epistemologie einer Phase der Medienentwicklung« (S. /). Es handelt sich um den ›Deutschen Studienpreis‹ der Körber-Stiftung (Hamburg), der mit mehr als ,- DM dotiert ist und sich an ›Studierende aller Fakultäten und Hochschulen‹ wendet.
wort unserer Zeit ›Multimedialität‹ verknüpfen? Welche Programme brauchen wir als Menschen und als Gesellschaft, um die uns umgebende multimediale Informationsflut so zu ordnen, dass wir weiterhin in einer gemeinsamen Welt leben und miteinander im Gespräch bleiben? Zukunftsweisende Antworten verlangen auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Erkenntnisphilosophie. Deshalb beginne ich mit einer Zusammenfassung der zentralperspektivischen Erkenntnistheorie. 24 Perspektive meint ein Programm visueller Informationsverarbeitung, an dem viele Generationen und Kulturen mitgearbeitet haben. In der frühneuzeitlichen Ausarbeitung gibt dieses Programm eine Anleitung für alle Phasen der Informationsverarbeitung von der Wahrnehmung über die Speicherung und Interpretation der Informationen bis hin zu ihrer Darstellung in Bild und Wort. Mit seiner technischen Umsetzung sind auch wir in der Gegenwart noch immer befasst.
Prinzipien der perspektivischen Erkenntnistheorie Wenn man die historischen Leistungen der zentralperspektivischen Programme verstehen will, muss man herausarbeiten, wie stark sie sich von den erkenntnistheoretischen Grundhaltungen absetzen, die das Leben in den überwiegend oralen Kulturen bis zum späten Mittelalter prägten. Welches sind die hauptsächlichen Kennzeichen des perspektivischen Modells und inwiefern unterscheidet es sich von seinen Vorläufern? Ich fasse die Antwort in sechs Thesen zusammen, die ich jeweils kurz erläutere. . Die visuelle Wahrnehmung ist mit der Durchsetzung der Perspektive seit der Renaissance der Prototyp der Informationsgewinnung. Neben den zahlreichen Bemerkungen zu diesem Thema an anderen Stellen dieses Buches sei auf meine ausführlichen Darstellungen in: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation – Perspektiven einer systemischen Methodik und Methodologie. Opladen , S. -, sowie in: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. -, verwiesen. Vgl. weiter: David Lindberg: Theories of vision from Alkindi to Kepler. Chicago ; Kim Veltman: Studies on Leonardo da Vinci, Bd. , Linear perspective and the visual dimensions of science and art. München ; Lawrence Wright: Perspective in Perspective. London/Boston/ Melbourne/Henley ; Ge´rard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. München .
Natürlich ist das Auge immer in der Menschheitsgeschichte ein wesentliches Erkenntnisorgan gewesen, aber es hatte für die Reproduktion der Kultur zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedeutung. Für alle oralen Kulturen, und auch das europäische Mittelalter blieb trotz aller Nutzung der Handschrift eine orale Kultur, ist der wichtigste Transmissionsriemen für das kulturelle Wissen das akustische Medium. 25 Das Buch fungiert nur als Magd der Rede. Es unterstützt diese bei der Weitergabe des Wissens von einer Generation auf die nächste. Mit dem Beginn der Neuzeit werden die Sinne nicht von einzelnen Autoren, sondern von der sozialen Gemeinschaft neu hierarchisiert. Es kommt zur Abwertung akustischer, taktiler, olfaktorischer und gustatorischer Welten zu Gunsten des ›Sehsinnes‹. 26 Die symbolische Vergegenwärtigung der Umwelt in Bildern und Texten beruht auf visuellen Erfahrungen. Die entstehenden Nationalsprachen stellen von einer oralen auf die visuelle Semantik und Grammatik um. Nicht mehr die Einheiten der gesprochenen Sprache, sondern der formale Aussagesatz mit Subjekt, Prädikat und Objekt, dessen Wahrheit durch den Augenschein überprüft werden kann, bestimmen die symbolischen Darstellungen. 27 Von der Theorie akustischer Erkenntnisse unterscheidet sich die visuelle in vielerlei Hinsicht. Am wichtigsten mag sein, dass die paradigmatische Situation akustischer Informationsgewinnung das Hören der Stimme eines anderen Menschen, also eine interaktive Situation ist, während bei der visuellen Informationsge Über die Dominanz der akustischen Medien in schriftlosen Kulturen vgl. zum Beispiel E. Carpenter, V. Varley, R. Flaherty: Eskimo’s Explorations. Toronto , sowie Walter J. Ong: ›Die Psychodynamik der Oralität‹. In: ders.: Oralität und Literalität. Wiesbaden , S. -. Allerdings überbewerten Ong, Havelock und viele andere Schriftforscher die kulturellen Auswirkungen der Einführung des Alphabets. Die Handschrift hat in keiner Kultur die visuellen Medien zum bevorzugten Instrument sozialer Informationsverarbeitung gemacht. Vgl. auch M. Giesecke: Der Buchdruck und die Neuen Medien. In: agenda, Heft , , S. -. Über die Welten, die im Mittelalter durch die verschiedenen Sinne geschaffen wurden, schreibt von einem ähnlichen theoretischen Ansatz aus Horst Wenzel in ›Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter‹. München , hier vor allem Kap. III. Dieser Umbau der Sinne und seine Konsequenzen für die Sprache ist in meinem Buch ›Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft‹. Frankfurt am Main , 2, detailliert beschrieben.
winnung die Vorstellung eines einzelnen Individuums, welches die Natur betrachtet, bestimmend wird. Der Interaktionsaspekt einschließlich des passiven Zuhörens geht in der visuellen Erkenntnistheorie verloren. Verloren geht auch der Zusammenhang der visuellen Erkenntnis mit den anderen Erkenntnisformen. Die perspektivische Theorie reißt das Sehen aus dem Gesamtzusammenhang der Sinne und des Körpers heraus. 28 Sie will nur eine monosensorielle Theorie sein. . ›Perspicere‹ ist eine durch gedankliche Modelle angeleitete (bewusste) und in kleine Schritte zerlegbare Handlung. Die perspektivische Theorie ist eine Handlungstheorie. Sie macht das Sehen zu einer aktiven Beschäftigung. Oder genauer gesagt, nur dasjenige Sehen, das nach reflektierten Programmen abläuft und auf die Formen in der Umwelt abzielt, ist das neue Sehen. Entsprechend unterscheidet Leonardo zwischen vedere und speculare, und Giovanno Paolo Lomazzo (-) führt aus: ›Vedere bedeutet die unbewusste, gedankenlose, sinnlich dumpfe und ungenaue Wahrnehmung des Gesichtssinns, und speculare die scharfe, bewusst volle, sinnlich-geistige und verständige Schau des Bildners und denkenden Menschen.‹ 29 Dieses scharfe Sehen bringt die Erkenntnisse in einen Gegensatz zur Kontemplation. 30 Das genaue Gegenteil der planmäßigen Aktivität beim perspektivischen Sehen ist die Auffassung eines passiven Erkenntnisorgans, auf das die Botschaften der Umwelt treffen, wie eben die Laute an das menschliche Ohr dringen. Hier ist der Mensch nicht voll gespannter Aktivität, sondern er wartet gelassen auf die Botschaften, die, so oder anders, jedenfalls Die Unterdrückung der übrigen Sinne und die Körperfeindlichkeit in der neuzeitlichen Kultur ist von verschiedenen Autoren aus ganz unterschiedlichen Anlässen hervorgehoben und auch mit der Perspektivlehre in Beziehung gebracht worden. Vgl. zum Beispiel Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek ; Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main ; Hugo Kükelhaus/Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne. Ein ›Erfahrungsfeld‹ zur Bewegung und Besinnung. Frankfurt am Main . Zitiert nach Heinrich Ludwig (Hg.): Leonardo da Vinci. Das Buch von der Malerei – nach dem Codex Vaticanus. Bände. Wien , hier: Band , S. . Bei Hieronymus Rodler: »Eyn schön nützlich büchlin und unterweisung der kunst des Messens« (Simmern ) heißt es dazu »Perspectiua die kunst/nimbt iren ursprung aus dem gesicht/dann Perspicere/heyßt vff teutsch/durchsehen/ oder heftig sehen/wann diese kunst perspectiua/muß erstlich mit den dieffsten gedanken […] ergründt werden« (A v).
unabhängig von seinem Willen eintreffen. Dieser Typus eines Hörers hat es nicht in der Hand, die Erkenntnis zu steuern – er kann sich den Eindrücken nur verschließen, eben nicht hinhören. Dieses demütigende Warten erlebt die Neuzeit als Ohnmacht. Und ohne Macht über sich und die Umwelt will sie keinesfalls sein. Die oralen Kulturen früherer Zeiten hatten dagegen keinerlei Furcht, in dieser Weise auf Botschaften und Eindrücke zu warten, sich zu versenken, bis äußere oder innere Stimmen hörbar wurden. Die Bitte um göttliche Zeichen, die in vielen Gebeten ausgesprochen wird, ist nur ein Beispiel. Passivität als optimale Erkenntnishaltung, dies kommt den aufgeklärten Europäern der Neuzeit mystisch vor. Und diese Abwertung eines gelassenen Erkenntnisstils prägt auch noch unsere unmittelbare Gegenwart und ist die Ursache für so manche Kulturkritik. Immer noch wird die Musik der modernen Unterhaltungsindustrie als ›Berieselung‹ empfunden, die Passivität des Fernsehkonsumenten beklagt. Die neuen Medien erscheinen als Instrument, das die Wahrnehmungsaktivität der Menschen erschlaffen lässt. Demgegenüber wird das Lesen der Druckerzeugnisse als Fitnesstraining für die Sinne gepriesen. Mir kommt es hier gar nicht darauf an, die Argumente zu bewerten. Ich will darauf hinaus, dass diese Bewertung klar angebbare historische Wurzeln hat, nämlich in der perspektivischen Erkenntnistheorie der Neuzeit. Mit diesem Ideal werden die neuen Erfahrungen verglichen – und abgewertet. Paradox mag erscheinen, dass gerade die technische Verwirklichung der Ideale der aktiven Erfahrungsgewinnung und Darstellung zur konträren Wahrnehmungshaltung geführt hat. . Das zentralperspektivische Sehen ist ein Spezialfall visueller Informationsverarbeitung. Die Perspektivlehre stellt uns keineswegs eine umfassende Theorie der Informationsgewinnung zur Verfügung. Sie sagt uns nichts über Farben und farbiges Licht, nichts über das atmosphärische Medium, welches zwischen dem Betrachter und seinem Gegenstand liegt, und sie behandelt die Bewegung nur als Abfolge von Standbildern, nicht als solche. Leonardo waren diese Grenzen bewusst, und er hat deshalb verschiedene Anmerkungen zur Farbund Verschleierungsperspektive gemacht. Aber diese Aussagen sind niemals zu einer überprüfbaren Theorie ausgearbeitet worden. Nur das morphologische Sehen, die Reduktion der Umwelt auf
Umrisslinien, wird durch die Perspektivlehre modelliert. Die wichtigsten modelltheoretischen Annahmen dieser ›Kunst des Augenmessens‹ seien hier noch einmal kurz zusammengefasst 31 : a) Das Auge sieht durch geradlinige Sehstrahlen, es tastet die Umweltobjekte punktförmig ab. b) Das Sinnesorgan stellt man sich als eine Camera obscura oder als ein Zimmer mit einem Fenster vor, durch das ein Betrachter (als Sensor der Netzhaut) hinausschaut. 32 c) Das Abbild auf der Rückseite der Camera obscura beziehungsweise die Umrisszeichnung auf der Glasscheibe stellt man sich als eine zweidimensionale Projektion von Lichtpunkten unterschiedlicher Helligkeit vor. So werden ›alle Fälle der Perspektive verständlich mittels der fünf Grundbegriffe der Mathematik, nämlich: Punkt, Linie, Winkel, Oberfläche und Körper‹, wie es Leonardo zusammenfasst. 33 Andere Formen des Sehens gelten als unexakt, malerisch, jedenfalls als ungeeignet für eine exakte Erfahrungsgewinnung. . Perspektivische Informationsgewinnung lässt sich, wie andere Handlungen auch, technisieren. Der Grundgedanke der Renaissancekünstler, der aus diesen Spekulationen über die psychische Informationsverarbeitung erst einen reproduzierbaren technischen Vorgang werden ließ, war es, die Projektionsfläche aus der Camera obscura beziehungsweise aus dem psychischen Apparat hinaus zu verlagern in den Raum zwischen dem Auge und dem anvisierten Gegenstand. Geometrisch betrachtet, erfordert dies nur eine einfache punktsymmetrische Drehung. Praktisch materialisiert – oder technisiert – hat sich diese Idee in den ›Vetro tralucente‹ von Leon Baptista Alberti oder in anderen durchsichtigen Projektionsflächen, die der Betrachter zwischen sich und das Objekt schiebt und auf denen er dann die Umrisse der Gegenstände einträgt. Mit diesem Kunst H. Rodler übersetzt ›perspectiua‹ im Titel seines schon genannten Werkes (vgl. Anm. ) mit ›Kunst des Augenmeß‹ und an anderer Stelle betont er: »die kunst des messens/malens vnd was darauß volgen mag (zuo Latein Perspectiua genant)« (A v). Das ›Messen‹ wird an das Sehen gebunden – und das Sehen wird zu einem Abmessen. Vgl. zum Gedanken und zu den Belegen Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main , S. ff. Codex Atlanticus r. Übersetzung bei Theodor Lücke (Hg.): Leonardo da Vinci. Tagebücher und Aufzeichnungen. München , S. .
griff wurde das Modell auch für andere sichtbar und damit überprüfbar. Zugleich bedeutete er natürlich auch eine erhebliche Technisierung der Informationsgewinnung, die bislang in dieser Form ebenfalls unbekannt war. Die technischen Hilfsmittel (Richtscheid, Glasrahmen [Vetro tralucente], Camera obscura u.a.) ermöglichten und erforderten, dass der Mensch, wie Dürer dies besonders eindringlich in seinem Holzschnitt über die perspektivische Konstruktion einer Laute in seinem Lehrbuch ›Unterweisung der Messung‹ gezeigt hat, neben den Wahrnehmungsvorgang tritt. 34 Seine Leistungen sind auf wenige formale Handlungen reduziert. Ebendiese Selektivität und Normierung hat später die vollständige technische Reproduktion der visuellen Wahrnehmung in Form von Fotoapparaten und Filmkameras erleichtert. 35 Eine unbeabsichtigte Folge dieses Herangehens an das Wahrnehmungsphänomen ist die Vernachlässigung von Rückkopplungseffekten. Die Zeit steht während des gesamten Wahrnehmungsvorgangs still, weder die beobachteten Ob In seiner Erläuterung des Holzschnitts in dem in Nürnberg erschienenen Buch heißt es: »Pist du in einem sal so schlag ein grosse nadel […] in ein wand/ vnd setz das für ein aug« (Q v). Leonardo da Vinci hat die Abstraktion vom natürlichen Auge häufig durch den Vergleich der perspektivischen Informationsverarbeitung mit einem Spiegel deutlich gemacht. So empfiehlt er dem Maler: »er soll sich verhalten gleich einem Spiegel« (nach Guiseppe Zamboni (Hg.): Leonardo da Vinci: Philosophische Tagebücher. Hamburg , S. ). Allerdings befriedigt ihn dieser Vergleich nicht ganz, weil die aktive selektive Tätigkeit des Malers unberücksichtigt bleibt: »Der Maler, der mit Übung und Augenmaß, aber ohne Verstand malt, ist wie der Spiegel, der alle Dinge gegenüber wiedergibt, ohne sie zu kennen« (nach Theodor Lücke (Hg.): Leonardo da Vinci. Tagebücher und Aufzeichnungen. Leipzig , S. ). Nicht zufällig nennt Josef Nice´phore Nie`pce seine Abhandlung über die von ihm durchgeführten ersten fotografischen Experimente: ›Über Heliographie. Oder: Ein Mittel, das Bild in der Camera obscura, durch die Aktion des Lichtes automatisch zu fixieren‹. Martin Burckhardt (Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt am Main/New York ) belegt seine Behauptung, dass »nicht bloß im ästhetischen, [sondern] auch in einem wesentlich technischen Sinne die Fotografie nichts Neues bedeutet«, ausführlich (S. ). »Genau genommen, ist die Camera obscura, in der sich diese mechanische Seite niederschlägt, nichts als die Hypostase des räumlichen Bildes: Die Verkörperung jenes zentralperspektivischen Regelsystems, das den Raum als einen wesentlich geometrischen begreift, in dem eine jegliche Erscheinung in ein zweidimensionales Double übersetzt werden kann. Womit, lange bevor die Fotografie sich anschickt, das fotografische Bild pointilistisch aufzurastern, die Welt im Grunde schon auf den Punkt gebracht ist« (ebd.).
jekte noch der Beobachter verändern sich, so unterstellt jedenfalls das perspektivische Paradigma. Und wo die Zeitdimension ausgeschaltet wird, da findet auch keine Rückkopplung statt. . Wahrnehmungs- und Bildrelationen lassen sich in Zahlencodes und damit in andere Medien transformieren. Das außerordentlich selektive Herangehen an den visuellen Wahrnehmungsvorgang hat es immerhin ermöglicht, diesen so weit zu operationalisieren, dass sich die wesentlichen Handlungen und Ergebnisse in geometrische Regeln fassen lassen. Und insoweit sich geometrische Relationen wiederum in algebraische Gleichungen übersetzen lassen, können wir die perspektivische Informationsverarbeitung quantifizieren. Diese Quantifizierung erleichtert die Transformation visueller Informationen in andere Medien. Hiervon profitiert und zeugt die gesamte neuzeitliche beschreibende Fachliteratur. . Perspektivische Erfahrungsgewinnung ist sozial normiert und damit intersubjektiv überprüfbar und wiederholbar. Insofern dem perspektivischen Wahrnehmungs- und Konstruktionsvorgang klare, ausformulierte Regeln zu Grunde liegen, lassen sich seine Ergebnisse dichotomisch bewerten: Entweder die Abbildungen entsprechen den Regeln, dann sind sie wahr, oder sie entsprechen ihnen nicht, und dann ist die Beschreibung falsch. Damit wird die Wahrheit der Informationsverarbeitung, wohl das erste Mal überhaupt in der Geschichte in dieser Konsequenz, an die Einhaltung eines bestimmten formalisierten Verfahrens gebunden. Nachdem dieses Verfahren als eine soziale Norm von der Gemeinschaft akzeptiert wurde, kann dann auch die entsprechende individuelle Wahrnehmung als eine soziale Leistung verstanden werden. Bei materiellen Handlungen war dieser Sozialisierungseffekt, der eintritt, wenn man sich an sozial ausgearbeitete Normen hält, lange bekannt. Für Wahrnehmungsleistungen muss dies eine weitgehend neue Erfahrung gewesen sein. Es lohnt sich deshalb, genauer darauf einzugehen. Gesellschaftliche Akkumulation von Erfahrung, wie sie das Programm der neuzeitlichen Wissenschaft fördert und ermöglicht, setzt voraus, dass die individuellen Erfahrungen aneinander anschließen, einander bestätigen oder falsifizieren können. Hiermit verlassen wir die Informationsverarbeitung als eine individuelle psychische Leistung und betreten das Terrain sozialer Informationsverarbeitung, der Kommunikation.
Die Bedeutung der perspektivischen Erkenntnistheorie für die Kommunikation Die perspektivische Sicht auf die Welt hat nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch die Art und Weise, wie wir uns mit unseren Mitmenschen verständigen, verändert. Sie hat das Modell von Kommunikation als sozialer Informationsverarbeitung prämiert und mit einem präzisen Sinn gefüllt. Um diese Leistung zu verstehen, ist es erforderlich, zwischen Informationsverarbeitung und Kommunikation genauer zu unterscheiden, als dies im Alltag und in der Fachliteratur oftmals der Fall ist. Weit verbreitet ist gegenwärtig die Auffassung von Paul Watzlawick, man könne nicht nicht kommunizieren. Auf die Untersuchung sozialer Kommunikation hat dieses Axiom keinerlei förderlichen Einfluss gehabt. Ich halte es für entschieden fruchtbarer, davon auszugehen, dass soziale Kommunikation eine von zahlreichen Voraussetzungen abhängige, höchst unwahrscheinliche Angelegenheit ist und dass es deshalb notwendig ist, jeweils im Einzelnen empirisch festzustellen, welche situativen Voraussetzungen, Ablauferwartungen und Umweltbedingungen erfüllt sein müssen, damit die Verständigung klappt. Wann Kommunikation erfolgreich ist, können nur die Beteiligten selbst entscheiden. Nicht widersprechen will ich der Behauptung, dass wir als psychische und soziale Systeme beständig wahrnehmen, Informationen verarbeiten und uns verhalten. Man kann nicht nicht Informationen verarbeiten. Aber so wie jegliche andere Form von Kooperation gelernt sein will, so will auch das kooperative Bearbeiten von Informationen gelernt sein. Und alle zwischenmenschliche Kommunikation ist soziale Informationsverarbeitung. Sie wird erforderlich, wenn bei mindestens einem Beteiligten die individuelle Erfahrung und/oder Informationsverarbeitung an Grenzen gelangt ist, die er allein nicht mehr überschreiten kann. Ich behaupte nun, dass es die perspektivische Theorie seit dem ausgehenden Mittelalter vermocht hat, bis dato unwahrscheinliche Formen sozialer Kommunikation zu ermöglichen. Sie ist also nicht nur ein Modell psychischer Wahrnehmung, sondern sie ermöglicht spezielle Formen sozialer Informationsverarbeitung. Gerade deshalb ist es nicht ausreichend, diese Theorie bloß mit psychologischen Kategorien zu erfassen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, löst die Zentralperspektive das Problem der interaktionsfreien Verständigung
über unsere sichtbare Umwelt. Sie ermöglicht es Dritten, Erfahrung zu wiederholen, die unbekannte Betrachter irgendwann gewonnen haben. Sie erreicht dies durch eine radikale Normierung – und damit Entsubjektivierung – des Erkenntnisprozesses. Was es auch immer sonst noch für Ursachen für die beschleunigte Modernisierung in Europa in der Neuzeit gegeben hat, eine Grundvoraussetzung war die Vergesellschaftung der Informationsverarbeitung. Man hätte die materielle Produktion weder in der Weise teilen und technisieren noch sie über Manufakturen und anonyme Märkte wieder zusammenführen können, wenn dieser Arbeitsteilung bei den materiellen Produkten nicht auch eine Sozialisierung und Technisierung der Informationsproduktion und der Kommunikation entsprochen hätte. Beides muss – wie Hard- und Software – Hand in Hand gehen. Diesen informationstheoretischen Wurzeln unserer modernen Industriegesellschaft hat die Wissenschaft viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei gewann aus den verschiedensten kulturellen Gründen, die uns hier nicht zu interessieren brauchen, schon im . Jahrhundert die Frage, wie man individuelle Wahrnehmung verallgemeinern, individuelles Wissen nicht nur einem leiblichen Gegenüber, sondern vielen, auch unbekannten Menschen zur Verfügung stellen kann, große Bedeutung. Und die Maler und Architekten, die sich mit perspektivischen Konstruktionen befassten, lieferten hier die besten Antworten. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder erwähntes Beispiel ist die Architekturmalerei Brunelleschis (-), vor allem die Schilderung seiner perspektivischen Darstellung der Kirche von San Giovanni in Florenz durch seinen Biographen Antonio di Tuccio Manetti. 36 Was immer diese relativ kleine Bildtafel mit der Ansicht von San Giovanni für Funktionen erfüllen mochte, eine ist es, visuelle Informationsverarbeitung zu kopieren. Sie ist sein Medium, Standpunkt und Perspektive von anderen Menschen zu programmieren. Der Besucher, der mit Brunelleschis Bild der Kirche durch Florenz streift, wird diese Kirche wiedererkennen. Er wird jenen Platz ›innerhalb der Mitteltür von Santa Maria del Fiore‹ finden, von Antonio Manetti: Vita di Filippo Brunelleschi. Ed. Critica di Domenico de Robertes. Milano . Vgl. zum Beispiel David C. Lindberg: Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler. Chicago/London , S. ff.
dem aus auch Brunelleschi seine Informationen gesammelt hat. 37 Er wird seine Wahrnehmung mit dem Bild vergleichen können und dort jeden einzelnen Sims nach richtig und falsch beurteilen können. Das heißt, er wird entscheiden können, ob das Bild den Regeln der zentralperspektivischen Projektion folgt oder nicht. Und wenn er dann die übrigen Programmpunkte beherzigt, die Konturen von San Giovanni mit seinen Sehstrahlen Punkt für Punkt abtastet, einäugig und ohne seinen Kopf zu verrücken, dann wird er das Gleiche sehen wie Brunelleschi. Dies ist natürlich eine Idealisierung. Er wird zugleich auch mehr und weniger als seine Vorgänger sehen. Aber es gibt einen Überschneidungsbereich, der offenbar ausreicht, damit Interaktionspartner in der üblichen Vagheit davon überzeugt sein können, dass sie das Gleiche sehen. -prozentige Sicherheit hinsichtlich intersubjektiver Übereinstimmung lässt sich in keinem Medium erreichen – man könnte sie auch gar nicht überprüfen. Wenn also Anhänger der experimentalpsychologischen Perspektiveforschung, wie zum Beispiel Ernst Gombrich, nachweisen, dass es nicht nur eine Bedeutungszuschreibung zu den Bildern gibt, perspektivische Konstruktion nicht ›eindeutig‹ die Referenzobjekte determinieren, so haben sie natürlich Recht. 38 Dies gilt aber für alle Kommunikationsmedien, beispielsweise auch für diesen Text, und deshalb wäre es lohnender, sich mit der Frage zu beschäftigen, wieso eine Verständigung über die Umwelt doch immer wieder gelingt. Sie gelingt, weil Eine gründliche und kritische Darstellung von Brunelleschis perspektivischer Konstruktion und seinen Experimenten, auf die ich gleich noch eingehen werde, gibt Renzo Beltrame in seinem Aufsatz: Gli esperimenti prospettici del Brunelleschi. In: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Serie VIII , Bd. , , S. -. Beltrame äußert sich skeptisch, dass Brunelleschi tatsächlich von der bei seinem Biographen genannten Position aus seine Abbildung geschaffen hat. Aber allein seine seitenlangen Berechnungen, sein Vergleich von Grundriss und Aufriss etc. belegen, wie stark eine solche perspektivische Konstruktion auch späteren Generationen noch Standpunkte anweisen kann. Auf S. gibt der Autor eine Abschrift der ›Vita di Filippo di Ser Brunellesco‹, die Manetti zugeschrieben wird, aus der Biblioteca Nazionale di Firenze (Codex II , ii , r ff.). Vgl. etwa E. Gombrich: Mirror and Map: Theories of pictorial Representation. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Biological Science. Bd. , Nr. , , S. -: »The procedure is not reversible, the information imparted by a perspectival representation does not uniquely determine the object represented«, S. sowie S. : »Not one but an infinite number of related configurations would result in the same image.«
wir dem Menschen ähnliche Organe für die Informationsverarbeitung besitzen und weil wir ähnliche Programme verwenden. 39 Diese können völlig unbewusste Gewohnheitsregeln – oder aber auch klar ausformulierte Normen sein, die wir mit anderen teilen. Und Letzteres ist bei der Perspektivlehre der Fall. Nicht das Bild allein, wohl aber das Bild plus die Regeln der zentralperspektivischen Informationsverarbeitung ermöglichen eine Parallelverarbeitung der sichtbaren Umwelt durch verschiedene Menschen. Dies ist eine ziemlich unwahrscheinliche Leistung, die frühere Zeiten so nicht für möglich hielten. So verwundert es denn auch nicht, dass Brunelleschi das Ergebnis seiner Wahrnehmung und Darstellung so unglaublich erschien, dass er für die intersubjektive Überprüfung ein spezielles Experiment vorschlug – und dass dieses bis auf den heutigen Tag immer wieder zitiert wird: Der Betrachter solle durch ein Loch durch die Rückwand seines Bildes von San Giovanni auf die Kirche selbst blicken und dann im Wechsel immer wieder einen Spiegel hochheben, sodass mal das Spiegelbild seiner Darstellung und mal wieder die Kirche selbst für den Betrachter sichtbar werden. Wenn man seinem Biographen Antonio di Tuccio Manetti glaubt, dann wurde dieses Experiment sogar erfolgreich durchgeführt: »Und ich habe es in Händen gehalten und mehrere Male zu meiner Zeit gesehen und kann dafür Zeugnis ablegen …« 40 Oft wird dieses Experiment zitiert, um die Fähigkeit der Zentralperspektive zu demonstrieren, unsere Wahrnehmung zu verwirren,
Der in der Fachliteratur ausgetragene Streit, ob die Perspektivlehre die Neurophysiologie unserer optischen Wahrnehmung imitiert oder ob sie bloß eine soziale Konvention, eine ›symbolische Form‹, sei, ist aus medientheoretischer Sicht überflüssig. Was unseren leiblichen Möglichkeiten nicht angemessen und nicht auf sie abgestimmt ist, können wir nicht erkennen – und schon gar nicht als Kommunikationsmedium nutzen. Soziale Programme und Institutionen spiegeln psychische Programme und Organe – und dies tut die Perspektivlehre auch. Zitiert nach der deutschen Übersetzung der Passage in Thomas Cramer: Über Perspektive in den Texten des . Jahrhunderts – oder: wann beginnt in der Literatur die Neuzeit. In: Thomas Cramer (Hg.): Wege in die Neuzeit, S. , hier S. . Das Experiment hat unlängst Giovanni Degli Innocenti zu rekonstruieren versucht. Vgl. ders. und Pier Luigi Bandini: Per una piu´ corretta metodologia delle restituzione prospettiva: proposte e verifiche. In: Marisa Dalai-Emiliani (Hg.): La Prospettiva Rinascimentale … Bd. . Florenz .
Illusionen zu erzeugen. 41 Aber dies ist nur die gauklerische Seite dieses Phänomens, die sich dann über die barocke Belustigung an den Effekten der Camera obscura, die ›laufenden Bilder‹ auf den Jahrmärkten bis hin zu unseren Videospielen fortsetzt. Bedeutsamer ist die Tatsache, dass Manetti, indem er dieses Experiment durchführt, die Wahrnehmung einer anderen Person, die auch schon verstorben sein kann, nachvollzieht. Er vergleicht ja letztlich seine psychische Repräsentation der Kirche mit der malerischen Darstellung, die Brunelleschi von seiner Wahrnehmung der Kirche gegeben hat – und stellt hierbei Ähnlichkeiten fest. Frappierend ist – für eine Zeit, in der es im Unterschied zu unserer Gegenwart keine Foto-, Film-, Video- oder Computerreproduktionen gab – die gleichsinnige Klassifikation der Umwelt durch unterschiedliche Menschen. Als Brunelleschi an der Stelle stand, wo jetzt Manetti steht, sah er die Kirche genauso wie dieser. Und alle anderen Menschen, die diesen ›idealen‹ Standpunkt, der von dem Bild mitkommuniziert wird, einnehmen, werden die Kirche wieder ähnlich sehen. Was ist dies für ein Gemeinschaftserlebnis – und nicht bloß ein Erlebnis, sondern eine Gewissheit, die sich experimentell bestätigen lässt?!
Kommunikation als soziale Informationsverarbeitung im Zeitalter der Zentralperspektive Von nun an wird die exakte Reproduktion bestimmter Phasen individueller Informationsverarbeitung durch anonyme Dritte möglich. Das ausgehende Mittelalter legt, so gesehen, nicht nur die Grundlagen für die Massenproduktion von materiellen Gütern, sondern auch für jene von Informationen. So wie sich ab dem . Jahrhundert Bücher identisch reproduzieren lassen, so erscheinen schon zuvor visuelle Wahrnehmungen als reproduzierbar. 42 Aber nicht nur das. Die Reproduzierbarkeit der Erfahrungsge Joscijka Gabriele Abels (Erkenntnis der Bilder. Die Perspektive in der Kunst der Renaissance. Frankfurt am Main/New York ) spricht von dem »Verwirrspiel der Wahrnehmung«, das sich »durch den Wechsel von der realen Ansicht des Bauwerks zu seiner widergespiegelten, konstruierten Abbildung ergibt« (S. ). Die Reproduktion der Tätigkeit, eben des Sehens, geht der Reproduktion der Produkte, zum Beispiel durch die verschiedenen Druckverfahren, voraus. Die Reproduktionstechniken werden ausführlich dargestellt bei Hans Scheurer: Zur Kultur- und Mediengeschichte der Fotografie. Die Industrialisierung des Blicks. Köln .
winnung erweist sich auch als Bedingung ihrer Verbesserung und sozialen Akkumulation. Erst wenn B umstandslos auf den Erfahrungen von A aufbauen kann, lässt sich mit der Zeit das Wissensbauwerk aufstocken. Mit der Nutzung der zentralperspektivischen Programme wird die Beschreibung der Umwelt zu einer kontrollierten sozialen Konstruktion. Falls sich in der Zwischenzeit irgendetwas an dem Aufbau von San Giovanni geändert hat oder falls Brunelleschi eine Zinne übersah, so kann sie Manetti in das Bild einfügen. Die Abbildungen lassen sich verbessern, und wenn man dabei streng nach der Lehre verfährt, so erübrigt es sich, beim Erstbeschreiber nachzufragen, Erlaubnis einzuholen. Interaktion wird durch die Orientierung an einer Norm, nämlich jener der perspektivischen Wahrnehmung und Darstellung, ersetzt. Soziologen nennen das heute ›Legitimation durch Verfahren‹. 43 Die Sammlung von Informationen über die Umwelt wird in der Neuzeit also zu einer durch klare Standards geleiteten sozialen Veranstaltung. Ihre Ergebnisse, die Beschreibungen der Welt, sind keine individuellen Leistungen, auch nicht bloße Additionen derselben, sondern das Produkt tatsächlicher gesellschaftlicher Kooperation. Die Kooperierenden können unterschiedlichen sozialen Schichten, Professionen und Generationen angehören. Sie brauchen sich nicht zu kennen. Um diese Form von gesellschaftlicher Zusammenarbeit zu erreichen, müssen die Ergebnisse der psychischen Informationsverarbeitung, wie es damals hieß, ›gemein‹ gemacht, mit anderen geteilt werden. 44 Von nun an lässt sich Kommunikation nicht bloß als gleichzeitige, sondern auch als zeitlich versetzte Parallelverarbeitung von Informationen, als Reproduktion von Wissen begreifen. Und es ist genau dieses Kommunikationsmodell, welches man für den Aufbau der anonymen Massenkommunikation brauchte, zu der Buchdruck und die freie Warenwirtschaft im . Jahrhundert die technischen und ökonomischen Voraussetzungen schufen. 45 Zu beantworten war die Frage: Wie ist Verständigung über die Umwelt zwischen Vgl. zum Beispiel das gleichnamige Buch von Niklas Luhmann, zuerst Neuwied/ Berlin . Als Motivationsverstärker für diese ›Veröffentlichung‹ dient, zumindest in Deutschland, die Idee der ›Nation‹. Dies ist in kurzen Zügen meine Argumentation in meiner Arbeit über den Buchdruck in der frühen Neuzeit.
einem Autor und seinen vielen Lesern nur mit Hilfe von ausgedruckten Büchern, ohne die Möglichkeit schneller Rückkopplung und direkter Interaktion, möglich? Die durch die zentralperspektivische Theorie vorgegebene Antwort lautet: Sie ist möglich, wenn wir unter Kommunikation nicht mehr und nicht weniger verstehen wollen als die Wiederholung der Informationsverarbeitung des Autors durch den Leser. Wir müssen dann dafür sorgen, dass die zu Grunde liegenden perspektivischen Programme (und die Programme der standardsprachlichen Textproduktion) in allgemein bildenden Schulen allen Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft vermittelt werden und dass im Übrigen jeder Autor die Programme in seinen Büchern klarlegt, die über das gesellschaftlich Normierte hinausgehen. Sobald sich diese Form typographischer Kommunikation eingespielt hatte, entstand der Mythos, man könne die Informationen wie Waren, eben wie ausgedruckte Bücher, an andere weitergeben. Kommunikation erscheint in Analogie zum Warentausch als Informationsaustausch.
Der Verlust der zentralen Perspektive Aus vielerlei Gründen wird dieser Standpunkt zunehmend anachronistisch. Den bildenden Künstlern und den Kunstwissenschaftlern sage ich damit nichts Neues. Schon im . Jahrhundert erschien den Künstlern die Zentralperspektive als zu statisch. Sobald man sich im Rhythmus der Zeit bewegte, entschwand der Fixpunkt. Der junge Joseph Mallord William Turner ließ sich auf einer stürmischen Überfahrt von Dover nach Calais am Mast seines Schiffes festbinden, um der Bewegung des Schiffes folgend die beständige Veränderung des Horizontes beobachten zu können. oder machte er als fast -Jähriger noch einmal ein ähnliches Experiment, streckte seinen Kopf aus dem Abteilfenster des Zuges, genau neun Minuten lang, und ließ Landschaft, Wind und Wolken an sich vorbeiziehen. 46 Nichts stimmt in dem entstehenden Gemälde Die Vielzahl von derartigen ›Experimenten‹ von Künstlern lässt Kunsthistoriker über die Authentizität streiten und ihre Verfestigung zu einem Topos vermuten. Dass die Erfahrung von Standpunkt- und Perspektivenwechsel mit immer größerer Geschwindigkeit von immer mehr Menschen gemacht – und damit zu einem Gemeinplatz – werden konnte, steht außer Frage. Unterschiedlich ist natürlich die Verarbeitung dieser Erfahrung. Vgl. Monika Wagner: Wirklichkeitserfahrung
›Regen, Dampf und Geschwindigkeit – The Great Western Railway‹ mit den zentralperspektivischen Prinzipien überein, und die Konturen der Umwelt interessieren den Künstler nicht mehr. Sie sind in Dunst und Geschwindigkeit aufgelöst. 47 Auch wer Ambivalenz und Vielschichtigkeit in seinen Portraits ausdrücken will, für den ist die Zentralperspektive zu monomanisch und diktatorisch. Sie erfasst Komplexität immer nur nacheinander, zunächst von der einen Seite und dann von der anderen, zunächst in diesem Augenblick und dann in einem späteren, aber niemals zugleich. Sie kennt keine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Botschaften, löst Ambivalenzen auf. Selbstverständlich ist das Schicksal perspektivischer Darstellungen in der Malerei nur ein, freilich sehr zeitiges Beispiel für den Bedeutungsverlust der zentralen Perspektive. Nicht nur was die Entwicklung der Perspektive, sondern auch was ihre Überwindung angeht, kommt der Kunst also eine Sonderrolle zu. Die Frage: »Was kommt nach der Perspektive?« besitzt hier eine lange Tradition. In anderen Bereichen der Gesellschaft, in denen das perspektivische Erkenntnisideal nicht minder einflussreich ist, beginnt die Diskussion um dessen Grenzen gerade erst, wenn überhaupt!
Auf dem Weg zu einem synästhetischen und multimedialen Kommunikationskonzept Die Perspektive ist für die Neuzeit zur wichtigsten Form der Weltanschauung geworden, weil sie lange Zeit die einzige Form der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung gewesen ist, die sich technisch substituieren ließ. Paradoxerweise hat diese ihre Haupteigenschaft auch zu ihrem Bedeutungsverlust geführt. Jetzt, wo diese Form der Wahrnehmung und Darstellung beliebig künstlich eingesetzt werden kann, wendet sich die Kultur anderen Aufgaben zu. und Bilderfindung. William Turner. In: Dies. (Hg.): Moderne Kunst . Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. Reinbek o. J., S. -, hier S. f. Diese Auflösungserscheinung beschreibt Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung (Frankfurt am Main/ New York ) mit großer Tiefe und Detailkenntnis (vgl. hier vor allem Kap. , S. ff.). Kurzfassung unter dem Titel ›Horizont und Perspektive‹ in Hermann Glaser/R. Lindemann: Von der Moderne der Renaissance. Cadolzburg , S. -.
Der ›Körper‹ als Inbegriff der Sinnenvielfalt wird neu entdeckt. 48 Es entstehen andere Konzepte von Informationsverarbeitung und von Kommunikation. Wichtiger als die Reproduktion von Erfahrungen, wie sie das perspektivische Kommunikationsmodell ermöglicht, erscheint vielen kreatives Denken. Dieses ist aber gerade nicht dadurch zu erreichen, dass man bekannte Standpunkte und Perspektiven wiederholt. Und noch eine weitere Umorientierung fällt auf, gerade wenn man sich an der Kunstgeschichte orientiert. Die Impressionisten hatten sich noch darum bemüht, jene kritischen Bereiche der Umweltwahrnehmung zu erkunden, die der orthodoxen Perspektivlehre zu problematisch erschienen: Farbe, Oberflächenstrukturen unter extremen Lichtverhältnissen, von gleißendem Sonnenlicht bis zum Schatten und zur Finsternis. Hier lösen sich die Umrisslinien auf, die Farben der Dinge unterliegen den stärksten Schwankungen. Das heißt in Form und Farbe verschwimmt die sichtbare Umwelt, Entfernungen lassen sich kaum mehr schätzen, die Proportionen verändern sich in Dunst, Geflimmer oder Dunkel. Aber immerhin: Selbst wenn nicht mehr die Gestalt der Dinge, nicht mal mehr deren Farbigkeit, sondern jene des Schattens und des Lichts interessiert, so geht es doch um das, was man mit den eigenen Augen sieht. Und genau diese Orientierung der Perspektiv-Künstler übernehmen viele anschließende Kunstbewegungen nicht mehr. Sie visualisieren Begriffe wie die Symbolisten, Gefühle wie die Expressionisten, schaffen metaphysische, surreale Räume, konstruieren Gedankengebilde usf. Es geht um die bildhafte Darstellung von Ideen, nicht um jene der ›wahrhaftigen‹ Umwelt des perspektivischen Paradigmas. Ohne diese nun schon hundertjährige Bewegung wäre die Computersoftware ›Aldus Freehand‹ schwerlich möglich. ›Ideen werden Wirklichkeit‹, wirbt Macintosh für sein Zeichenprogramm. Die neue graphische Software, das Darstellungsprogramm der elektronischen Zeit, braucht sowohl die klassischen Perspektivprogramme »Doch genau das, was als Stärke der neuzeitlichen Sinnesorganisation angesehen wird: Die unbeeinträchtigte Genauigkeit des Sehens, ist längst zur hauptsächlichen Schwäche geworden … Fotografie, Film, Fernsehen, Video sind – bei aller eigenen Bedeutung – auch Stationen eines noch unabgeschlossenen Niedergangs der visuellen Kultur. Zivilisation als Transformation des Körpers ins Geistige war und ist nämlich auf der anderen Seite der Abstraktion vom Körper« (Dietmar Kamper, Christoph Wulf: Blickwende. Die Sinne des Körpers im Konkurs der Geschichte. In: Dies. (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main , S. -, hier S. ).
als auch die Konzepte ihrer Nachfolger in der Kunst. ›Kreatives‹ Visualisieren verlässt das geometrische Korsett. Es orientiert sich nicht mehr an der sichtbaren Umwelt und an dem Ideal ›zeitloser‹ Wahrnehmung. Dieser Wandel mag durch die Gegenüberstellung zweier typischer Darstellungen des Menschen veranschaulicht werden: der typographischen Konstruktion aus der Übersetzung von Vitruvs ›Zehn Büchern über die Architektur‹ durch Walter Ryff () (Abb. PDF 쩛CD) mit jener der Macintosh-Software ›Aldus Freehand‹. Der janusköpfige, ambivalente, dynamische Mensch auf der Verpackung des ›Zeichen-Programms‹ für den Macintosh (Abb. PDF 쩛CD) tanzt auf einer Buchseite und dem Linienraster herum, das die statische Figur von Ryff überhaupt nur aufrecht hält. Das Raster des Holzschnitts ist gleichsam das Fenster, durch das die Menschen, die für die Bücher in den vergangenen Jahrhunderten Informationen sammelten, ihre Welt sehen mussten, um interaktionsfreie Kommunikation und Kooperation zu ermöglichen. Das Computerprogramm der Gegenwart entlastet schon jetzt von der Notwendigkeit, die verschiedenen perspektivischen Wahrnehmungs- und Darstellungsverfahren beherrschen zu müssen. Wer die Software besitzt, besitzt auch das Basisprogramm und kann sich deshalb anderen Aufgaben zuwenden. Mehr als um die Abbildung der Wirklichkeit geht es heute um deren kreative Veränderung. »Ideen werden Wirklichkeit.« Dies ist eine andere Akzentsetzung als jene, die die typographischen Aufklärer vorgenommen haben. Ihnen ging es um die ›wahrhaftige Abkonterfeytung‹, also um die naturalistische Darstellung dessen, was man draußen in der Umwelt sehen kann. Die sichtbare Umwelt sollte zum Modell werden. 49 Am Ausgang des Buchdruckzeitalters hat sich das Interesse von der Modellierung der sichtbaren Welt in Bildern und sprachlichen und mathematischen Beschreibungen hin zur Visualisierung von Ideen und Metaphern verschoben. Aber dies ist nur eine Veränderung. Daneben können wir in unserer Gegenwart den offenbar unaufhaltsamen Aufstieg eines Gegenkonzepts zu jenem der zentralperspektivischen Informationsverarbeitung beobachten. Dieses Gegenkonzept trägt die Bezeichnung Und die ›Kunst‹ der Einwirkung auf die Umwelt ist die ›Mechanik‹, ihr Erklärungsprinzip liefert die Mathematik.
Multimedialität. Genau diesen Begriff erklärte Ende die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres. Die Gegenwart sieht in der Multimedialität eine Entwicklungsmöglichkeit, genauso wie man in der Perspektive zunächst, etwa bei Cennini, Brunelleschi und Piero de la Francesca, ein Mittel zur Entwicklung der Malerei und Architektur sah, dann bei Leonardo da Vinci einen Hebel zur Vergrößerung des Wissens überhaupt und später in Deutschland bei Albrecht Dürer und dann bei Walter Ryff eine Chance für die Entwicklung einer gemeinsamen nationalen Kultur und eines Staatswesens. 50 Gemeinsam ist beiden Konzepten die lange Vorgeschichte. Ebenso wie genaues Sehen und Abzeichnen der Natur nicht erst im ausgehenden Mittelalter und schon gar nicht von irgendeiner bestimmten Person erfunden wurde, gab es natürlich auch Multimedialität schon vor . Es bedurfte aber einer durch Reflexion vorbereiteten sozialen Normierung perspektivischen ebenso wie multimedialen Erlebens und vor allem einer weitgehenden Technisierung dieser Prozesse, um sie zu Identitätsmarkierern werden zu lassen. Im Hinblick auf die Multimedialität scheinen diese Voraussetzungen ungefähr dann erfüllt zu sein, wenn sie als Produkt elektronischer Medien erklärt werden kann. Genau dies geschieht augenblicklich. So schreibt Professor Jürgen Wilke, Dozent für Publizistik, in seinem Aufsatz: ›Multimedia. Strukturwandel durch neue Kommunikationstechnologien‹: »Die Möglichkeiten der multimedialen Verschmelzung gründen – wie stets in der Geschichte menschlicher Kommunikation – in technischen Voraussetzungen. Entsprechende Innovationen haben die Kommunikation immer wieder beschleunigt, erweitert, vielseitiger und effektiver gemacht.« 51 Vergessen ist, dass die Multisensualität und der multimediale Ausdruck der Erfahrungen zu den angeborenen Wesensmerkmalen eines jeden Menschen gehören – und alle bisherigen multimedialen Installationen nur einen Bruchteil seiner Sinnenvielfalt und Integrationsleistungen erreichen. Aber es geht bei diesen Konzepten eben weniger um die Reflexion menschlicher Fähigkeiten als vielmehr um die Entwicklung technisierter Formen sozialer Informationsver Vgl. die Vorrede von Walter Ryff zu seiner Vitruvverdeutschung (Nürnberg ) und vor allem seine Erläuterung »Der Architectür fürnembsten … Mathematischen vnd Mechanischen Kuenst eigentlicher bericht«. Nürnberg /. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung ›Das Parlament‹, B , , S. -, hier S. .
arbeitung. Und genau das war auch bei der Entwicklung der Zentralperspektive der Fall. In vielerlei Hinsicht handelt es sich bei diesen Begriffen um semantische Oppositionen. Multimedialität und Multisensualität sind Gegensatzbegriffe zu D-Darstellungen und zur Zentralperspektive. 52 Letztere ist immer monomedial gewesen, hat sich nur auf die visuelle Informationsverarbeitung konzentriert. Die elektronische Multimedialität setzt zwar die Technisierung des Gesichtssinns voraus. Darüber hinaus berücksichtigt sie aber eben auch andere Sinne. Bislang vor allem das Hören und zunehmend auch taktile Reize. Dem Niedergang der zentralen Perspektive entspricht der Aufstieg von Konzepten wie Synästhesie und Multimedialität.
Die Perspektive als Stolperstein Die kommunikationspolitische Frage, die damit auf die Tagesordnung drängt, lautet: Welche Erkenntnistheorie und welcher Kommunikationsbegriff ist für die multimediale Kommunikation geeignet? Mit den herkömmlichen Wahrnehmungstheorien werden wir nicht auskommen, weil bislang noch alle Medien in der Geschichte ihre eigenen Erkenntnis- und Darstellungstheorien hervorgebracht haben. Dies ist ein medientheoretisches Gesetz, das schon häufiger formuliert wurde. 53 Vorauszusehen ist weiterhin, dass uns ein Begriff von ›Kommunikation‹ als (interaktionsfreier) Weitergabe von Wissen nicht ausreichen wird. Da das perspektivische Programm interaktionsfreies Kommunizieren ermöglichen soll, besitzt es kein Modell der Interaktion. 54 Es Andere Zeiten hatten, wie schon angedeutet, andere Gegensatzbegriffe. Für Eugene Delacroix – und später W. Turner und die Impressionisten – war das farbige Licht und vielleicht mehr noch der farbige Schatten der Gegensatz. Zeichnung vs. malerische Formauflösung, Jean Auguste Dominique Ingres vs. Delacroix, weiße Lichtstrahlen (Isaac Newton) vs. farbiges, nicht spaltbares Sonnenlicht (Johann Wolfgang von Goethe) etc. Vgl. zusammenfassend Neil Postman: Sieben Thesen zur Medientechnologie. In: W. D. Fröhlich/R. Zitzelsperger/B. Franzmann (Hg.): Die verstellte Welt. Frankfurt am Main , S. -. Die dritte These lautet: »Jede Technologie begünstigt eine bestimmte eigene Weltsicht« (S. ). Das wird von vielen Autoren bemerkt. Vgl. zum Beispiel John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek , S. : »Nach der Konvention der Perspektive gibt es keine wechselseitige, visuelle Beziehung.«
fasst den Widerspiegelungsprozess nicht als wechselseitigen, sondern nur als einfachen Abbildungsvorgang auf. Da es als lineare Handlungstheorie entwickelt wurde, fehlt ihm ein Konzept von Zirkularität und von Rückkopplung. Verständigung ist nur so weit möglich, als die Beteiligten das abstrakt vorgegebene Relevanzsystem und den Standpunkt des Betrachters akzeptieren. Akzeptiert das Gegenüber nicht, so scheitert dieses ziemlich diktatorische Konzept. Da es nur die visuelle Erfahrungsgewinnung anleitet, eignet es sich nicht für die menschliche Rede und andere Kommunikationsmedien. Jedes Gespräch von Angesicht zu Angesicht verlangt jedoch beides, Zuhören und Hinhören, Eingehen auf den anderen und Einbringen eigener Argumente, beständigen Wechsel zwischen Senden und Empfangen, Aktivität und Passivität, Lauschen und Hinhören, Paraphrasieren und aktives Gestalten des Gesprächs. Das perspektivische Programm liefert, so kann man zusammenfassen, keine Antwort auf die aktuellen Fragen der – multisensoriellen Wahrnehmung, – affektiven Informationsverarbeitung, – multimedialen Speicherung und Darstellung, – rückkopplungsintensiven Informationsverarbeitung und Kommunikation. Will man das Problem der ›Visualisierung‹ – und anderer multimedialer Präsentation – von nicht bloß zentralperspektivisch gesehener Umwelt, sondern von unterschiedlichen Informationstypen lösen, so wird man den Künstlern einen weit größeren Raum zugestehen müssen, als dies augenblicklich der Fall ist. Diese ›Profession‹ besitzt weit mehr Erfahrungen in der Wahrnehmung, Analyse und in dem Ausdruck nichtsprachlicher und nicht durch ›perspicere‹ gewonnener Information als etwa Ingenieure und Wissenschaftler. Besondere Bedeutung kommt natürlich jenen Künstlern zu, die sich nicht eng an die Sprache und das typographische Medium gebunden haben. Die Rolle der ›Literaten‹, die von der Prämierung der Buchkultur profitiert haben, wird sich verringern. Will man das Problem der multimedialen Kommunikation behandeln, so bietet es sich viel eher an, das natürliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht und nicht irgendwelche interaktionsfreie technisierte Kommunikation zum Ausgangspunkt der Forschung und Modellbildung zu machen. 55 Nur diese Kommunikation ver Ich korrigiere damit auch missverständliche Aussagen in meiner Arbeit über den Buchdruck in der frühen Neuzeit. Es mag zwar genetisch so sein, dass die
lief und verläuft immer multisensoriell und multimedial. Andererseits wissen wir aus dem Alltag und aus wissenschaftlichen Mikroanalysen, dass diese Allseitigkeit immer wieder, je nach den anstehenden kooperativen Zielen, eingeschränkt wird. Wir nutzen manche Sinne und Medien latent und nur einzelne bewusst. Und genauso verfahren wir auch in der sozialen Informationsverarbeitung. Dieses Verhältnis zwischen latenten und manifesten beziehungsweise bewussten und unbewussten Prozessen der Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung gilt es beim Übergang zur Phase der Autonomie neu zu gestalten. Dies setzt aber voraus, dass zunächst der Auswahlbereich der Sinne und Informationstypen ausgeweitet wird. Genau diesen Prozess erleben wir gegenwärtig in der gegenabhängigen Phase, zum Beispiel mit der Aufwertung taktiler Informationen und der leiblichen Ausdrucksmedien. Von dieser Orientierung ist die aktuelle erkenntnistheoretische Diskussion in den Sozialwissenschaften allerdings meist noch weit entfernt. Sie optimieren eher die Gewohnheiten der Buchkultur und überlassen die gegenabhängigen Vorstöße den Esoterikern. Selbst ›moderne‹ Erkenntnistheorien wie der Konstruktivismus orientieren sich am monomedialen perspektivischen und nicht am multimedialen Ansatz.
Die konstruktivistische Mystifizierung des Blicks Den vorläufig höchsten Gipfel der Mystifizierung des Blicks haben die konstruktivistischen Erkenntnis- und Kommunikationstheorien erklommen. Was einmal in Palo Alto als Ergebnis bescheidener empirischer Analysen therapeutischer Face-to-face-Kommunikation formuliert wurde, weitete sich nach und nach zu einer allgemeinen Theorie mit universellem Geltungsanspruch aus. 56 Die Bedeutung des Blickkontakts für die zwischenmenschliche Kommunikation informationstheoretische Sichtweise auf unsere Kultur erst durch die Technisierung der Informationsverarbeitung festen Boden gewonnen hat. Insofern ist es auch richtig, die Sprache der Computertechnologie zum Verständnis der alten Medien zu nutzen. Andererseits ist natürlich der Mensch und die nichttechnisierte Kommunikation immer schon ein informationsverarbeitendes System gewesen und als solches – in anderen Worten freilich – auch beschrieben worden. Siehe für unseren Bereich zum Beispiel Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Frankfurt am Main .
und die Entwicklung der Individuen steht außer Zweifel. Natürlich gibt es Kommunikationssysteme, die auf der visuellen Wahrnehmung des Anderen und auf der Wahrnehmung, dass man wahrgenommen wurde, aufbaut, aber weder steht man in allen Situationen unabänderlich mit dem Anderen in Kontakt, wenn man gesehen hat, dass man gesehen wurde, noch muss in jeder Face-to-faceKommunikation der Augenkontakt Katalysator und Medium der Systembildung sein. Diese Überbewertung der Augen ist für die Buchkultur typisch. Ohne das Sehen/Lesen kann sie sich nicht entwickeln. Im Alltag treten wir beständig zu anderen Menschen in Kontakt, ohne dass sich unsere Blicke ›kreuzen‹. Hätte man damals in Kalifornien weniger gesprächs- und gestalttherapeutische und mehr psychoanalytisch orientierte Therapien, in denen Therapeut und Patient bekanntlich keinen Augenkontakt haben, untersucht, so hätte sich die Bedeutung des Blickkontakts von vornherein relativiert und wären andere Fragen bedeutsam geworden. So zum Beispiel: Welche Signale zeigen Therapeut und Klient, dass sie miteinander in Kontakt stehen, wenn sie sich nicht anblicken und noch nicht einmal miteinander reden? Mittlerweile kommt keine moderne Beratungs- und Therapieschule ohne Konzepte oder, um es in der Sprache des Neurolinguistischen Programmierens zu sagen, ohne Formate des nichtvisuellen Pacings und Leadings mehr aus. Mit der Überbewertung der visuellen Wahrnehmung ist von Anfang an auch eine Überbewertung des Individuums als psychisches System einhergegangen. Weder das Erleben des einen noch jenes des Anderen kann über soziale Kommunikation oder Nicht-Kommunikation entscheiden – und erst recht natürlich nicht der außen stehende Beobachter. Soziale Kommunikation setzt soziale Definitionen voraus – und es kann sein, dass die Begegnung von Individuen und der Blickkontakt als Bedingung von Kommunikation definiert wird. Es kann aber eben auch sein, dass die Beteiligten im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen andere Kriterien bevorzugen. Wenn uns interessiert, wie psychische Systeme eine soziale Begegnung oder auch die Lektüre eines Buches verarbeiten, so ist das eines, wenn wir wissen wollen, nach welchen Programmen soziale Kommunikationssysteme arbeiten, haben wir ganz andere Fragen zu beantworten. Allaussagen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften über den Zusammenhang von Psychischem und Sozialem scheitern nach meiner Erfahrung an der tatsächlichen Viel
falt empirischer Relationierungsmöglichkeiten. Sätze wie »Keine Kommunikation ohne Bewusstsein« – oder die gegenteilige Behauptung – errichten im Alltag wie in der Wissenschaft unnötige Denkverbote. 57 Sie sind entweder trivial oder falsch. Es gibt soziale Kommunikation, die auf Bewusstsein setzt, und solche, die dies nicht tut. Dies können Kommunikationen sein, die unbewusste, affektive Instanzen als Selektionszentren prämieren, oder aber solche, die gerade das psychische System eines oder mehrerer Beteiligten entlasten wollen, wie dies in hierarchiebetonten Institutionen und vor allem in der militärischen Befehlskommunikation der Fall ist. Man tut so, als ob das Bewusstsein übersprungen und seine Zensurmöglichkeiten ausgeschaltet werden können. Dies nennt man ›Gehorchen‹, eine zweifellos sozial ausgearbeitete und prämierte Form der Kooperation und Kommunikation. Auch die Frage, ob und inwieweit Bewusstsein gefühlt oder andere psychische Instanzen an der sozialen Kommunikation beteiligt werden, ist sozial normiert. Die Mystifizierung des Blicks findet im Konstruktivismus aber auch in Gestalt des ›Beobachters‹ statt. Besonders prämiert wird bekanntlich der Beobachter zweiter Ordnung. Dies ist beispielsweise der Wissenschaftler, der sich fragt, aufgrund welcher Unterscheidungen die beobachteten Personen im Alltag handeln. Hier ist nie an den tastenden, mit den Händen experimentierenden Wissenschaftler, nicht einmal an den zuhörenden Forscher gedacht, sondern Sinn machen diese Formulierungen nur dann, wenn wir uns den Forscher vorstellen, der seine Umwelt mit den Augen fixiert. Hier wird die Erkenntnistheorie ver»gaffert«. Aber es ist nicht nur die einseitige Bevorzugung des Sehens als Erkenntnisquelle, die diktatorische, gänzlich unpluralistische Tendenzen offenbart. Es ist auch die Prämierung einer bestimmten Ebene, eben der Beobachtung der Beobachtung, die zu einer willkürlichen Hierarchie führt. Wenn es, wie Siegfried J. Schmidt feststellt, in der Konsequenz des Konstruktivismus liegt, dass der Wissenschaftler »also ›empirisch‹ von der traditionellen Referenz auf ›die Realität‹ und den Beobachter erster Ordnung umgepolt werden kann auf Kognition und methodisch kontrollierte Beobachtung zweiter Ordnung«, dann wird damit nur eine Prämierung eines sehr traditionellen erkenntnistheoretischen Standpunktes vorgenom N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main , S. .
men. 58 So wie Dürer als Beobachter zweiter Ordnung sich dafür interessierte, wie der Maler seine Umwelt sieht – und ebendies ist der Gegenstand seiner Perspektivlehre –, so soll auch der Wissenschaftler sich mit seinen erkenntnisleitenden Kategorien beschäftigen. Aber dies ist natürlich nur ein möglicher Standpunkt. Er tritt gleichfalls als Beobachter erster Ordnung auf, und es ist auch zu fordern, dass er als Beobachter dritter Ordnung auftritt und sich beispielsweise fragt, was denn die von ihm gewählten Kategorien mit ihm selbst, als psychischem, wissenschaftlichem, informationsverarbeitendem, biologischem oder anderem System zu tun haben. Und auch diese Perspektive lässt sich natürlich wieder beobachten, und die dabei gewonnenen Ergebnisse können für manche Zwecke größere Bedeutung haben als die Ergebnisse der Beobachtung zweiter Ordnung. Statt dass man sich also bemüht, eine Hierarchie zwischen den Beobachtungen auf den verschiedenen Ebenen herzustellen, scheint es mir sinnvoll, je nach den anstehenden Erkenntniszwecken einen Perspektiven- und Standpunktwechsel zu fordern. Manchmal sind Beobachtungen notwendig, dann wiederum Beobachtung von Beobachtungen, dann die Beobachtung von Beobachtungen zweiten Grades usf. Aber damit ist es noch nicht getan. Wie wir in unserem Buch ›Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung‹ gezeigt haben, kommt es darauf an, die verschiedenen Formen der Selbst- und Umweltbeobachtung so zu nutzen, dass sie sich wechselseitig korrigieren und erhellen können. Dabei sind oftmals Beobachtungen vierter und fünfter Ordnung erforderlich (vgl. ebd., S. ff.). Ebenso wenig, wie wir eine Wissenschaftstheorie brauchen, die, wie dies in der Vergangenheit der Fall war, zu Gunsten der Umwelterkenntnis von der Selbsterkenntnis ablenkte, brauchen wir Methodologien und Methoden, die zu Gunsten kategorialer oder anderer Selbstreflexion von der Umwelterkenntnis ablenken. So wie jede Theorie der Welt auch etwas über das Erkennen des sozialen, psychischen oder biogenen Systems aussagt, so sagt auch jede Erkenntnistheorie etwas über die Umwelt aus. Und der Konstruktivis S. J. Schmidt: Konstruktivismus in der Medienforschung: Konzepte, Kritiken, Konsequenzen. Nachbemerkung in dem Band von K. Merten, S. J. Schmidt, S. Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opladen , S. -, hier S. . Soziale Selbstreflexion, wie sie in der Kommunikativen Sozialforschung notwendig betrieben wird, kommt mit Beobachtungen zweiter Ordnung typischerweise nicht aus.
mus sagt mindestens, dass diese Umwelt aus lauter einander beobachtenden Beobachtern besteht. Dies gerade dürfte die Ursache für seine überraschend große Akzeptanz in den Massenmedien der Gegenwart sein: Er bestätigt die Prämierung der visuellen Wirklichkeitskonstruktion, den Voyeurismus und den perspektivischen Zentralismus der Buchkultur. Für die Wissenschaft hat er noch den angenehmen Nebeneffekt, dass er sie zu einer Beobachtung zweiter Ordnung erklärt und diese damit in eine superiore Position bringt. 59 Kurzum, der Konstruktivismus ist in seiner Grundstruktur abhängig von der Buchkultur – aber er beobachtet diese Abhängigkeit selbst nicht.
Das neue Denken als Chance für rückkopplungsintensive Kommunikation Die Funktionsmechanismen der Industriegesellschaft und der Buchkultur erschweren nicht nur die Entwicklung einer multimedialen Erkenntnistheorie, sie haben bislang auch alle Ansätze einer Kommunikationstheorie rasch verkümmern lassen. Mit dem rationalen linearen Denken lassen sich viele Seiten der interaktionsfreien gesellschaftlichen Verarbeitung von sprachlichen Informationen ganz gut verstehen. Aber wir scheitern mit diesem Denkansatz schon, wenn wir die zwischenmenschliche Verständigung von Angesicht zu Angesicht beschreiben wollen. Das alte, durch die Mythen der Buchkultur und die Erfolge der Industrialisierung geprägte Denken trägt auch an dieses Phänomen Vorurteile heran, die es uns bislang unmöglich gemacht haben, seine besonderen Qualitäten zu erfassen. Diese Besonderheiten liegen vor allem in dem sequentiellen, beständiges Feedback ermöglichenden Aufbau und in der Multimedialität des Gesprächs, die es erlauben, Unvollständigkeiten in dem einen Medium durch die Konsultation des anderen zu korrigieren. Mit diesen Merkmalen von Kommunikation hat sich weder die Rhetorik noch die Sprachwissenschaft oder die Massenkommunikationsforschung beschäftigt. »Wissenschaft operiert prinzipiell auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung« (S. J. Schmidt , S. ). Das stimmt weder empirisch, noch ist es eine sinnvolle Maxime. »Operiere als Wissenschaftler auf mehreren Ebenen – und versuche sie auseinander zu halten und in Beziehung zu setzen« – das schiene mir die lohnendere Maxime.
Über Kommunikation erfahren wir aus der Rhetorik zum Beispiel nur ex negativo: Indem uns gesagt wird, wie wir uns der Wechselwirkung mit dem Zuhörer entziehen können, wie wir uns gegen seine Einflüsse wappnen können, erfahren wir unter der Hand natürlich auch etwas über die Mechanismen von Beeinflussung. Und bei diesem verkürzten Herangehen ist es bis in die Gegenwart geblieben: Kommunikation als Gebrauch des Werkzeugs ›Sprache‹, um den Adressaten zielgerichtet zu beeinflussen. Beschäftigt hat man sich später nur mehr mit dem Schreiben als mit dem Reden. Die Kommunikationswissenschaft, die in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, hat ebenfalls nur das Medium gewechselt, nicht aber ihren Objektbereich neu begründet. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr der Versammlungsredner und nicht mehr der Schreiber von Briefen und Büchern, sondern der Journalist oder wer immer ein Publikum über die typographischen und elektronischen Medien »anspricht«. Weil dieses Publikum eine ›Masse‹ ist, vielschichtig und kaum überschaubar, deshalb scheint seine Rückmeldung nur statistisch und in sehr abstrakten Kategorien fassbar: Meinungsumfragen, Einschaltquoten, verkaufte Exemplare von Zeitschriften und Büchern. Kommunikativer Erfolg zeigt sich bestenfalls rein quantitativ in der Summe der erreichten Hörer/Leser oder aber überhaupt nur als ökonomischer Erfolg in einem anderen, dem Wirtschaftssystem. Je mehr Käufer die Printmedien finden, je höher die Werbezeiten und die Einschaltquoten (Gebührenanteil), desto zufriedener sind die Sender mit ihrer Sendung. Aber hier braucht man keine Kommunikationstheorien, sondern ökonomische Modelle. Man vergleicht das Gespräch mit dem Warenverkehr in der freien Marktwirtschaft. Dies bedeutet zwar eine Modifikation des Modells der Kommunikation als zweckgerichtetes Handeln, aber noch nicht die Schaffung eines eigenständigen Kommunikationsmodells. Im Grunde braucht man den Begriff der Kommunikation nicht und den des Gesprächs oder der Verständigung schon gar nicht. Er lässt sich in Bilder von zielorientiertem Handeln, von linearen Prozessen, Ursachen und Wirkungen etc. auflösen. Solange dies aber noch möglich erscheint, sollte man konsequent jene ›alten‹ Bilder und Begriffe nutzen und nicht von Kommunikation reden. Eine wirkliche Wende setzt erst dann ein, wenn ein eigenständiges Bild von Kommunikation aufgehängt werden kann, das selbst als Vergleichsmaßstab bei der Behandlung von ganz anderen Vor
gängen, etwa beim technischen Handeln, in der Ökonomie oder Politik herangezogen wird. Davon sind wir noch weit entfernt. An das Gespräch traut sich die Wissenschaft nur zögernd heran. Meines Erachtens liegt dies daran, dass Verständigung letztlich immer auch als zirkulärer, paradoxer Prozess verstanden werden muss, der alle Beteiligten verändert. Der Gesprächspartner A bleibt nicht A während der Unterhaltung und B nicht B. Zeit ist wichtig, einseitige Wirkungen gibt es nicht. Und so ist es auch kein Zufall, dass ›Kommunikation‹ erst von dem Augenblick an Bedeutung gewinnt, in dem sich unser ganzes Denken wegbewegt von linearen, logischen und monokausalen Idealen. Diese Umorientierung hängt zum einen mit einer neuen Stufe der Technisierung unserer Umwelt zusammen. Seit es nicht mehr nur, und nicht in erster Linie, um die Technisierung von Kraft und Fingerfertigkeiten (Handeln!), sondern um die Vernetzung und die Automatisierung von Steuerungs- und Regelungsvorgängen geht, wächst die Sensibilität für den Nutzen zirkulärer Strukturen. In diesem Bereich kommt man mit mechanischem Denken nicht weit. Das neue Denken hat sich bei der Reflexion informationsverarbeitender Prozesse formiert, und es vergleicht die Erscheinungen unserer Umwelt mit datenverarbeitenden Systemen. Dabei fällt dann bald auf, in welchem starken Maße auch unser menschlicher Alltag von Prozessen der Informationsgewinnung, -verarbeitung und der Kommunikation geprägt ist. Wohlgemerkt: Die elektronischen Medien ermöglichen uns lediglich, das zu erkennen, was wir immer – auch – schon gewesen sind, informationsverarbeitende Systeme. Sie machen uns nicht dazu, sondern verstärken bestenfalls entsprechende Seiten. Wir brauchen die Natur, die anderen Menschen, unsere Tagebücher, Kunst und eben auch Technik, um uns selbst zu erkennen. So gesehen erweitert jede neue Technologie unsere Möglichkeiten der Selbstbeschreibung. Und durch andere Selbstbeschreibungen und in der Anpassung an die neuen Medien verändern wir uns – und können wichtige Strukturen unserer Identität erhalten. Zum anderen hängt diese Umorientierung mit der Abnahme hierarchischer machtgeordneter sozialer Strukturen zusammen. Wo Gesellschaftsstrukturen auf Befehl und Gehorsam, sklavischer Abhängigkeit, Lebensverhältnissen, diktatorischer Macht etc. aufgebaut sind, da wirkt das Wort von der Spitze der Hierarchie linear
und kausal auf die Untergebenen. Da sind die Sozialbeziehungen ebenso einfach und folgerichtig wie technische Prozesse. Soldaten befiehlt man, Leibeigenen und Sklaven auch, ebenso den Lohnabhängigen usf. Wo Macht ist, braucht die Spitze der Hierarchie kaum verbale Kommunikation – und die Unterlegenen auch eher Waffen als Worte. Wo Hunger und Mangel herrschen, muss Essen und das materiell Notwendige herbeigeschafft werden. Dieser Aufgabe ordnen sich die Wahrnehmung, das Denken und natürlich auch die Rede unter. Kommunikation bleibt der Diener der Jagd, des Krieges, des Handelns, der Arbeit usf. Sie lenkt weniger, als dass sie selbst gesteuert wird. Sie wird als eine Sozialtechnologie verstanden, deren Sinn es gerade ist, Wechselwirkungen so weit als möglich auszuschalten. Bestenfalls wird ein punktuelles Feedback in Form zum Beispiel von Wahlen gestattet. Je mehr solche hierarchischen Sozialsysteme in Verruf geraten sind, je mehr sie demokratisch umgestaltet werden, umso häufiger werden gleichrangige Sozialbeziehungen, die auf wechselseitigen Respekt und Gleichwertigkeit bauen. Und in diesen Systemen mit flachen Hierarchien wird Wechselwirkung und Interaktion möglich und auch ausdrücklich gewünscht. Dass einseitige hierarchische Sozialsysteme zunehmend kritisch bewertet werden, liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich so schwer steuern lassen. Selbststeuerung ist einfacher als Fremdsteuerung. Diese Einsicht wächst bezeichnenderweise dort treibhausmäßig, wo Steuerungs- und Regelungsaufgaben zu einem Hauptproblem sozialen Miteinanders werden. So ist es denn kein Wunder, dass der Ruf nach Interaktion, Wechselwirkung und also Kommunikation in den Unternehmen und Verwaltungen der modernen Industrienationen besonders laut zu hören ist. Im Gefolge der elektronischen Vernetzung kehren sich im Informationszeitalter die Verhältnisse um: Kriege werden herbeigeredet, wirtschaftlicher Erfolg hängt von der Kommunikation ab und Macht setzt Verfügung über Kommunikationsmedien voraus. Das Gespräch wird zur Produktivkraft, Konsumtion von Werbebotschaften abhängig usf. Auch was das gesellschaftliche Feld angeht, erweitern sich also die Steuerungsprobleme, was wiederum die Ablösung von altem Denken fördert.
. Visionen auf dem europäischen Weg in die Informationsgesellschaft Die dritte Phase des Generationenwechsels, die Lösung von den traditionellen Funktionsbestimmungen und Legitimationsformen, kann kurz nach der Jahrtausendwende noch nicht beobachtet werden. Wir und die folgenden Generationen müssen sie gestalten. Dazu brauchen wir Visionen. Solche Visionen gab und gibt es zahlreiche. Im Kontext dieses Buches brauchen uns nur jene zu interessieren, die sich auf Informationsverarbeitung, Vernetzung und Medien beziehen. Aber auch auf diesem schon eingeschränkten Felde steht mehr zur Auswahl, als sich einigermaßen systematisch behandeln lässt. Generell ist damit zu rechnen, dass uns im Augenblick längst nicht alles auffällt, was sich einmal als visionär erweisen könnte. Wenn sich die postindustrielle Kultur gefestigt hat und man von ihrer Höhe zurückblickt, dann werden sich in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart Vorboten für eingetretene Veränderungen ausmachen lassen, die wir momentan gar nicht als solche erkennen können. Dieser Grenze soll dadurch Rechnung getragen werden, dass nur diejenigen Konzepte berücksichtigt werden, die unsere Zeit selbst als Vision deklariert hat. Ich werde mich also nicht, wie dies in der medienkritischen Literatur üblich ist, auf einzelne Personen konzentrieren, die ihre Gedanken in mehr oder weniger folgenlosen Büchern niedergelegt haben. Stattdessen wende ich mich Programmen zu, die entweder unmittelbar aus der politischen Praxis kommen oder die als Beratungsgrundlage für politische Entscheidungen dienten. Es geht mir nicht um Visionen von Einzelnen, sondern um jene von sozialen Gruppen, Institutionen, politischen Parteien usf. Ich konzentriere mich dabei auf Europa und hier auf dessen übernationale Organe, vor allem auf die Gremien der Europäischen Union (EU ). Es mag sein, dass diese Manifeste weniger spektakulär klingen als die Essays von Medienphilosophen. Umso nachhaltiger haben sie die Infrastruktur in Zentraleuropa beeinflusst. Diese Selektionskriterien und die begrenzte Datenbasis haben eine Reihe von Nachteilen. Sie führen zu einer Konzentration auf die gesellschaftliche Kommunikation und auf die herrschenden Ideologien, also zum Beispiel auf die weit verbreitete Idee von der Technik als Katalysator des kulturellen Wandels. Man könnte auch bei Vi
sionen über andere Kommunikationsformen ansetzen und einen Einstieg in den Innovationszyklus wählen, der nicht von den technischen Medien ausgeht. Diesen alternativen Zugang habe ich gemeinsam mit Kornelia Rappe-Giesecke in dem Buch »Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung« gewählt, in dem wir die Ausbreitung der therapeutischen Diskurse in unserer Gesellschaft beschrieben haben. Vermutlich wird sich die Entdeckung und professionelle Nutzung von Spiegelungsphänomenen als Medien der Selbst- und Umwelterkenntnis in Gesprächen als eine ebenso umwälzende Neuerung herausstellen wie die elektronischen Formen der Datenverarbeitung. Und auch mit dieser »Sozialtechnologie« haben sich gesellschaftliche Visionen verknüpft. Man kann die Anfänge bei Carl Rogers oder Kurt Lewin nachlesen und würde dann in ganz andere Diskurse geraten. In vielen Bereichen des Weiterbildungssektors sind deren Visionen längst Realität geworden. Diesem alternativen Ansatz soll in Kapitel nachgegangen werden.
Die Transformation der Industriegesellschaft durch die Informationstechnologien: techno vision Im Prinzip hatten sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Industrienationen durch die Automatisierung der Produktion, die Elektrifizierung der Massenkommunikation und durch die technische Simulation menschlicher Kommunikationsleistung schon so weit verändert, dass neue Identitätskonzepte erforderlich wurden. Aber offenbar war die Gesellschaft für eine radikale Änderung der Selbstbeschreibung noch nicht bereit. Die Ideologien, die die Massen in den Zweiten Weltkrieg trieben, wärmten alte Mythen auf. Im Nachkriegseuropa ging es um Wiederaufbau – sowohl der Schwerindustrie als auch der demokratischen Organisation der Gesellschaft. Radikaler Neuanfang war nicht angesagt. »Keine Experimente!« lauteten die Losungen der Sieger der Parlamentswahlen in Deutschland. Vorschläge für eine Neubewertung der kommunikativen und informativen Bedürfnisse der Gesellschaft kamen jedoch von einzelnen Personen. Vor allem von solchen, die selbst großen Anteil an der Entwicklung neuer Technologien besaßen. Schon in seiner Zeit ein gewisses Aufsehen erlangte Norbert Wiener. fasste er die Schlussfolgerungen aus seinen Umweltbeobachtungen in einer Vi
sion über die Gesellschaftsentwicklung zusammen: »Wenn das . und das frühe . Jahrhundert das Zeitalter der Uhren war, und das späte . und . Jahrhundert das Zeitalter der Dampfmaschinen, so ist die gegenwärtige Zeit das Zeitalter der Kommunikation und der Regelung.« 1 Er sprach von einer ›modernen‹ oder ›zweiten‹ Revolution und war sich schon damals im Klaren, dass sie tief greifende Auswirkungen sowohl auf den Menschen als auch auf die Gesellschaft haben würde. So wie die ›erste industrielle Revolution die Entwertung des menschlichen Armes durch die Konkurrenz der Maschinerie war‹, so werde die zweite Revolution ›das menschliche Gehirn entwerten‹: »Stellt man sich jedoch die zweite Revolution als abgeschlossen vor, so wird das durchschnittliche menschliche Wesen mit mittelmäßigen oder noch geringen Kenntnissen nichts zu ›verkaufen‹ haben, was für irgendjemanden das Geld wert wäre.« Und er zögert nicht, daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen: »Die Antwort ist natürlich, dass wir eine Gesellschaft haben müssen, die auf menschliche Werte gegründet ist, und nicht auf Kaufen und Verkaufen« (ebd., S. ). Mit anderen Worten: Das kybernetische Zeitalter lässt sich nicht nach den marktwirtschaftlichen Prinzipien regulieren, die die Durchsetzung der (ersten) industriellen Revolution ermöglichten. Mit solchen sozialen Auswirkungen der neuen Technologien mochte sich die Öffentlichkeit in den Industrienationen lange Zeit nicht beschäftigen. Erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begannen die Gesellschaften in West und Ost die beiden traditionellen Konzepte der Industriegesellschaft: Marktwirtschaft und sozialistische Planwirtschaft, einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Als Antwort auf wirtschaftliche Rezession, offensichtliche Steuerungsprobleme in beiden politischen Systemen, Verknappung der Ressourcen, Umweltzerstörung usf. entwickelten sich alternative Visionen für die Gesellschaft. Eine Gruppe solcher neuen Selbstbeschreibungen knüpfte an die Gedanken von Norbert Wiener und die nunmehr überall zu beobachtende Tatsache an, dass eine qualitativ neue Stufe ›automatischer Technik‹ entstanden war, die zunehmend neue Formen der Arbeitsteilung und -steuerung erforderte. Insbesondere wissen »Cybernetics or control and communication in the animal and the machine«, , zitiert nach der deutschen Ausgabe: Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschinen. Reinbek (zuerst ), S. .
schaftliche Informationen – und damit eine höhere Bildung – seien nunmehr für die gesellschaftliche Reproduktion von ausschlaggebender Bedeutung. In den sozialistischen Staaten diskutierte man diese Vision unter dem Begriff wissenschaftlich-technische Revolution. 2 In den westlichen Industrienationen gab es lange Zeit keine Leitkategorie. Im Vordergrund stand zunächst die Beschäftigung mit den Auswirkungen der Automatisierung auf den Menschen beziehungsweise auf das Menschenbild. Auch hier konnte wieder an Norbert Wieners zukunftsweisende Schrift ›The Human Use of Human Beings‹, zu Deutsch: ›Mensch und Menschenmaschine‹ (Frankfurt am Main/Berlin ), angeknüpft werden. In den siebziger Jahren wurde zum Beispiel in der Taschenbuchreihe ›Modelle für eine neue Welt‹, die Robert Jungk und Hans-Joseph Mundt herausgaben, zahlreiche Werke veröffentlicht, die sich mit diesem Thema befassten. 3 In Büchern wie dem ›Atomstaat‹ von Robert Jungk oder in K. Steinbuchs ›Die informierte Gesellschaft‹ (Stuttgart ) lotete man dann in Westdeutschland die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der verschiedenen neuen Technologien aus. Der Begriff Informationsgesellschaft soll erstmals von Tadeo Umesao in Japan verwendet worden sein. 4 »In seiner vorgelegten Studie ›Joho Sangyo Ron‹ (›Über Informationsindustrien‹) postulierte er, dass die ›ektodermalen Industrien‹ (Information, Kommunikation, Bildung) für die Transformation der Industriegesell Mit diesem Konzept setzten sich die einschlägigen Parteitage in den siebziger und achtziger Jahren auseinander. Über die wissenschaftliche Diskussion vgl. etwa die von einem russischen Autorenkollektiv ausgegebene Zusammenstellung: Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution. Eine historische Untersuchung. Berlin (zuerst Moskau ); oder: ›Wissenschaft als Produktivkraft. Der Prozess der Umwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft‹. Berlin (Unser Weltbild, Bd. ). Zuerst herausgegeben von der Akademie der Wissenschaft der UdSSR, Moskau . Vor allem in der DDR hatte in der Spätphase der Ära Ulbricht eine systemtheoretische und kybernetische Reformulierung der Gesellschaftstheorie (›Entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus‹) eingesetzt, die bislang kaum ernsthaft gewürdigt wurde. Vgl. zum Beispiel Robert Jungk und Hans-Joseph Mundt (Hg.): Menschen wie Maschinen. Menschen, die lesen, lernen und sprechen, die spielen, planen und steuern. Maschinen mit Kraft, mit Armen, mit Persönlichkeit und Intelligenz. Die perfekte Maschine. Frankfurt am Main (Englische Erstausgabe, London ). K. Steinbuch: Automat und Mensch. Berlin/Heidelberg/New York . ›Joho Shaki‹. Vgl. Christiano German: Anschluss an das ›globale Dorf‹? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. , . April , S. .
schaft ebenso zentral seien, wie die ›mesodermalen Industrien‹ (Transport, Schwerindustrie) für den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.« 5 Hintergrund dieses Ansatzes war natürlich die Beobachtung, dass der ›informationsindustrielle Sektor‹ gegenüber den traditionellen Industrien und der Landwirtschaft in den Industrienationen an Bedeutung zunahm. Der Politikwissenschaftler Karl Deutsch schlug später vor, diejenigen Nationen, in denen mehr als die Hälfte der Berufstätigen in überwiegend informationsorientierten Berufen tätig ist und in denen die Wertschöpfung aus diesen Beschäftigungen mehr als die Hälfte des Bruttosozialproduktes ausmacht, als ›Informationsgesellschaft‹ zu bezeichnen. 6 Während sich diese ökonomisch-statistischen Ansätze eher auf quantitative Verschiebungen stützten, versuchte Daniel Bell in den siebziger Jahren mit seinem Konzept der ›nachindustriellen Gesellschaft‹ grundlegende Veränderungen zu modellieren. 7 Er schließt direkt an die Ideen der wissenschaftlich-technischen Revolution an und äußert die Vermutung, dass theoretisches Wissen zur Leitlinie sozialer Organisation werde und im Vordergrund der postindustriellen Gesellschaft die Gewinnung und Verwertung von Information stehe. Die Produktion materieller Güter – und damit auch die Handarbeit verlöre demgegenüber an Bedeutung. Von hier aus führt ein direkter Weg zu den Berichten des ›Club of Rome‹, in denen das Ende der Arbeitsgesellschaft und die Grenzen des Wachstums der industriellen Produktion vorausgesagt werden. Spätestens von diesem Zeitpunkt an erscheint ›Information‹ als eine wirtschaftliche Ressource, als Voraussetzung und Ergebnis jeglicher gesellschaftlicher Reproduktion. Vor dem Hintergrund dieser Überle So Martin Löffelholz und Klaus Dieter Altmeppen in ihrem Aufsatz ›Kommunikation in der Informationsgesellschaft (in: K. Mertens/S. J. Schmidt, S. Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen , S. -, hier S. ), in dem sie die verschiedenen Konzepte, die hinter dem Begriff der Informationsgesellschaft im Laufe der Zeit standen, darstellen und diskutieren. Zu dem japanischen Ansatz vgl. weiter Youishi Ito: Information Society Studies today. In: M. Schenk/J. Donnerstag (Hg.): Medienökonomie. Einführung in die Informations- und Mediensysteme. München , S. -. Vgl. Karl Deutsch: Soziale und politische Aspekte der Informationsgesellschaft. In: Phillip Sonntag (Hg.): Die Zukunft der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main , S. -. Daniel Bell: Welcome to the post-industrial society. In: Physics today , Heft , S. -; ders.: Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt am Main/ New York .
gungen prognostizierte man eine Konvergenz der Entwicklungen in den markt- und planwirtschaftlichen Gesellschaften. Welche politischen Motive auch immer hinter diesem Konzept der Annäherung der Systeme stand, in jedem Fall hat es die Idee der globalen Vernetzung und des ›globalen Dorfes‹ unterstützt, die der weltweit bekannteste Medientheoretiker der siebziger und achtziger Jahre, Marshall McLuhan, begründete. Ein anderer wichtiger Gedanke, der in der Diskussion um die Veränderungen der Industriegesellschaft schon immer eine Rolle spielte, wird erst von James R. Benninger in seinem Buch ›The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society‹ (Cambridge ) zusammengefasst und in seinen Konsequenzen ausgeleuchtet: Die zunehmende Arbeitsteilung und Industrialisierung, die Notwendigkeit globaler Märkte, die Erhöhung der Zirkulationsgeschwindigkeit der Waren haben auch zu einem zunehmenden Bedarf an Kontrolltechnologien geführt. Ökonomie und Politik bedürfen einer neuen Informationstechnologie, um Entscheidungsbildung und Warenaustausch steuern und kontrollieren zu können. Es sei deshalb ein System von anonymen ›Massenrückkopplungstechnologien‹ entstanden. »Kontrollverlust« dürfte auch die Grunderfahrung derjenigen gewesen sein, die sich Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in Frankreich, Italien und vor allem in der Bundesrepublik politischen Protesten gegen Einschränkungen demokratischer Rechte (Notstandsgesetze, Klassenjustiz, Ordinarienuniversität …) und gegen den Einfluss der Massenmedien zusammenfanden. Die Kritik an der »Bewusstseinsindustrie«, wie sie Hans Magnus Enzensberger zusammenfasste, wurde zum Katalysator für politische Veränderungen. 8 Information soll, ähnlich wie Freiheit, Nahrung und Arbeit, zu einem Grundrecht werden, welches der Staat zu schützen hat. »Manipulation« (ein Kampfbegriff der frühen Studentenbewegung) von Informationen wird zu einem Verbrechen, vergleichbar dem Vergiften von Wasser oder der Freiheitsberaubung. Oftmals wird sie für heimtückischer und gefährlicher gehalten, weil sie nicht nur auf den Bereich der Produktion beschränkt ist, sondern auch das Freizeitverhalten und die kulturellen Bedürf Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten : Bewusstseins-Industrie. . Auflage Frankfurt am Main (Auflagenhöhe : ); Einzelheiten : Poesie und Politik. Frankfurt am Main .
nisse des Menschen beeinträchtigt. Die »Fernsehgesellschaft« verdrängt auf dem Freizeitsektor traditionelle Formen der Unterhaltung, die für weniger manipulativ gehalten werden. 9 Grundannahmen über die Transformation der Industriegesellschaft – Zu den klassischen ökonomischen Sektoren tritt die Informations- und/ oder Bewusstseinsindustrie als Wachstumsbranche hinzu. – Dienstleistungs- und Transaktions-/Kommunikationssektoren stärken ihren Anteil am Bruttosozialprodukt auf Kosten des produzierenden Gewerbes und der Landwirtschaft. – Informationen und Informationstechnologien werden zur Voraussetzung von Produktion und Reproduktion in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft. Deshalb erhalten auch die Massenmedien eine besondere Bedeutung. – Technisierte zeit- und raumüberwindende Rückkopplungsformen werden erforderlich, um die modernen Gesellschaften unter Kontrolle zu halten: Politik, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Bildung … lassen sich nur noch mit Unterstützung anonymer elektronischer Kommunikationstechnologien steuern.
Abb. : Grundannahmen über die Transformation der Industriegesellschaft
Die Fixierung auf Maschinen und auf die dazugehörige technische Infrastruktur macht die Abhängigkeit der erwähnten Konzepte der ›Informationsgesellschaft‹ von dem Weltbild und dem Selbstverständnis der Industriegesellschaft vergangener Jahrhunderte deutlich. Weiterhin wird die Technisierung der Arbeit als Motor des Fortschritts betrachtet, die Vernetzung der Produktionsstätten bleibt eine Hauptaufgabe des Staates. Die Ausbildung konzentriert sich ganz darauf, die Anpassung der Menschen an die Erfordernisse der neuen Technik zu gewährleisten. Weiterhin werden die technisierten Formen der Kommunikation und Informationsverarbeitung kulturell prämiert. Allerdings verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Buch und den sprachlichen Beschreibungen und Erzählungen sehr langsam, aber seit den neunziger Jahren merklich auf die elektronischen Medien und die digitalisierten Simulationen und Programme. Die Abgrenzung gegenüber der Industriekultur erfolgt noch weitgehend durch einfache Ersetzung einzelner Elemente des be Vgl. Joshua Meyrowitz: Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft. Bd. I und II. Weinheim/Basel .
kannten Gebäudes: Statt der Produktion von materiellen Gütern steht nun jene von Informationen im Vordergrund, und entsprechend werden auch andere Ressourcen wichtig. Der Verkehr verlagert sich beispielsweise – so jedenfalls die Vision – von Straße und Schiene auf elektrische, vielleicht auch biochemische Leitungen. Die Ware der Zukunft heißt Information. Telearbeit statt Fabrikarbeit. Solange der gesellschaftliche Veränderungsprozess als Systemvergleich nach der Formel: Anstatt X nunmehr das ganz andere Y beschrieben wird, bleiben wir an die Metatheorien der Industriegesellschaft, der Warenwirtschaft und der Buchkultur gebunden. 10 Die Fokussierung auf den Austausch der Elemente verhindert die Orientierung auf die Entdeckung neuer Zusammenhänge, ganz andere Systeme und Kulturen. Es bleibt der typische Blick des Mechanikers, der defekte Teile austauscht, um das System zu erhalten – oder es äußerstenfalls zu optimieren. Selbst wenn dieser radikal gegen einzelne Teile oder Mechanismen redet, so stellt er doch die Maschine als Ganzes nicht in Frage. Diese Form von techno vision wird schon länger kritisiert. Am schonungslosesten hat wahrscheinlich Neil Postman die Technik und Technologisierung in den achtziger und neunziger Jahren aufs Korn genommen. Davon handelt sein Buch ›Das Technopol – die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft‹. 11 In viele Richtungen lotet er aus, was es bedeutet, wenn ›die Idee des menschlichen Fortschritts, wie sie Bacon formulierte, durch die Idee des technischen Fortschritts verdrängt‹ wird (S. ). Mit dem Begriff Technopol möchte er einen bestimmten Kulturzustand und zugleich eine Geisteshaltung erfassen, die ›in der Vergöttlichung der Technologie besteht‹. Zusammengefasst bedeutet dies, »dass die Kultur ihre Beglaubigung in der Technologie sucht, dass sie ihre Befriedigung aus der Technologie gewinnt und sich ihre Befehle von der Technologie erteilen lässt« (S. ). Er vermutet, Dies gilt auch für die »Bewusstseins-Industrie«-Analysen von Enzensberger, wenn sie beispielsweise zu folgenden Aussagen kommen: »hergestellt und unter die Leute gebracht werden nicht Güter, sondern Meinungen, Urteile und Vorurteile, Bewusstseins-Inhalte aller Art« (S. ). »Gepfändet wird nicht mehr bloß Arbeitskraft, sondern die Fähigkeit, zu urteilen und sich zu entscheiden«, S. . Einzelheiten . Frankfurt am Main . Zuerst als ›Technopoly‹ in New York erschienen. Deutsche Ausgabe im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
dass jene Menschen am besten mit dem Technopol zurechtkommen, »die sich gewiss sind, dass der technische Fortschritt die größte Errungenschaft der Menschheit und das Instrument darstellt, mit dem sich alle unsere elementaren Probleme lösen lassen« (S. ). Die maßgebliche, unvergleichliche, nahezu perfekte Maschine des Technopols ist der Computer. »Die wesentliche Botschaft des Computers auf der Ebene der Sinnbilder besagt, dass wir (Menschen) Maschinen sind – immerhin denkende Maschinen, aber dennoch Maschinen« (S. ). Dem Bild der Informationsgesellschaft als Technopol entspricht also das Bild des Menschen als ›Prozessor zur Verarbeitung von Informationen‹. Neben dieser Kritik an der Vision kann man natürlich auch darauf hinweisen, dass die Konzepte eine ungenaue Zustandsbeschreibung liefern. Dies tun unter anderen M. Löffelholz und K. D. Altmeppen: »Einerseits wird die Informatisierung als Teil industriegesellschaftlicher Konzepte analysiert (Informatisierung als weitere Industrialisierung), andererseits als deren Überwindung (Informatisierung statt Industrialisierung)« (a.a.O., S. ). Man kann hinzufügen, dass sich hierin eben die üblichen Stufen der Entwicklung niederschlagen: zum einen die Steigerung und Weiterentwicklung des Vorhandenen in der Phase der Abhängigkeit, zum anderen die alternativen Entgegensetzungen in der Phase der Gegenabhängigkeit. Niemand wird die Existenz neuer Industriezweige und neuer Kommunikationsformen leugnen. Aber andererseits werden global in den traditionellen Industrien mehr Güter erzeugt als je zuvor. Die herkömmlichen Transportformen bewältigen mehr Güter als in den Zeiten vor der Informatisierung der Gesellschaft usf. Und viele Erwartungen, die sich mit dem Einsatz neuer Informationstechnologien in Unternehmen und Gesellschaften verknüpft haben, wurden enttäuscht. 12 Genau auf diese Zusammenhänge haben ja auch in der Vergangenheit viele Kritiker des Konzepts der ›Information Economy‹ hingewiesen. 13 Man kann die gegenwärtigen Gesell »In den vergangenen Jahren sind von vielen europäischen Unternehmen umfangreiche Investitionen in neue Technologien vorgenommen worden. Während dieses Zeitraums ging jedoch die starke Verbreitung von Technologie über weite Strecken nicht mit Produktivitätsgewinnen einher …« Abschlussbericht der ›Gruppe hochrangiger Experten‹, S. . Vgl. zum Beispiel Herbert Kubicek: Die so genannte Informationsgesellschaft. Neue Informations- und Kommunikationstechniken als Instrument konservativer Gesellschaftsveränderung. In: Elmar Altvater/M. Baethge u. a.: Arbeit . Über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Hamburg . S. -; Klaus Theo
schaften also auch als heißlaufende Industriegesellschaft, als Arbeitsgesellschaft, als Klassengesellschaft usf., kurz: mit denjenigen Kategorien beschreiben, die wir aus der Vergangenheit kennen. »Wer in der gegenwärtigen Gesellschaft die industrialisierte Arbeit sucht und die Maschinentechnologie als Instrument kapitalistischer Ökonomie konzipiert, wird weiterhin fündig werden. Er wird den Computer einfach als Maschine zur Enteignung geistiger Arbeit ansehen und die Informatisierung nur als eine dritte Phase der industriellen Revolution erklären wollen. Wer die gegenwärtigen Technologien der Informatik und die Veränderung von Arbeit, Wissen und Kommunikation nur mit den überkommenen Konzepten instrumenteller Mechanisierung und industrieller Rationalisierung zu fassen sucht, der muss«, so wäre kritisch einzuwenden, allerdings »damit rechnen, dass ihm grundlegende Veränderungen nicht mehr auffallen, und dass er die Folgeprobleme kaum angemessen begreifen kann.« 14 In der Tat, es ist nicht anzunehmen, dass Konzepte, die teilweise schon als Problemlöser in der Vergangenheit scheiterten, den Anforderungen der Zukunft genügen. Vielleicht noch tiefer an die Wurzel der techno vision gräbt sich Jack Neirynck in seinem Buch ›Der göttliche Ingenieur‹ (Sindelfingen ). Mit Blick auf die Kulturgeschichte stellt er fest, dass sich nach jedem durch die Technik katalysierten Innovationszyklus die Menschheit vergrößert und weiter ausgebreitet hat. Die höhere Lebenserwartung und das Bevölkerungswachstum machen anschließend immer neue technische Erfindungen erforderlich, wobei der Zeitrahmen und die Ressourcen immer enger werden. Die Idee, dass sich diese Innovationsspirale beliebig weiterdrehen ließe, bezeichnet er als »technische Illusion«. Von dieser Illusion und damit auch von den einseitigen Fixierungen an die Metatheorien der Industriegesellschaft: Primat der Ökonomie und der Technik als Fortschrittsmotor, hat sich auch die Schröder/Ulrich Eckert/P. Georgieff/Dirk Michael Harmsen: Die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zur Informationsgesellschaft? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft , , S. -. Werner Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive. Forschungsstandpunkt, Theorieansätze. Fallbeispiele – ein Überblick. Opladen , S. . Das Nebeneinander von alten und neuen, elektronisch technisierten Informationsund Computersystemen und traditionellen Formen betont derselbe Autor schon in seinem Artikel ›Computerwelten – Alltagswelten. Von der Kontrastierung zur Variation eines Themas. In: Ders. (Hg.): Computerwelten – Alltagswelten. Opladen , S. -, hier vor allem S. .
Politik in der europäischen Union gelöst. Dieser Emanzipationsprozess machte in den neunziger Jahren rasante Fortschritte und erreicht nunmehr auch die Mythen, die die Buchkultur über die individuelle und soziale Informationsverarbeitung entwickelt hat. Möglicherweise ist die techno vision noch bis an die Jahrtausendwende die Basisvision der Gesellschaft geblieben. Aber sie hat seit den siebziger Jahren Konkurrenten bekommen, die schneller wachsen. Vieles, was Kulturkritiker Anfang der neunziger Jahre einwendeten, was Techniksoziologen kritisch anmerkten und politische Gruppen einforderten, gilt nunmehr als unstrittig. Die alternativen Visionen sollen nun am Beispiel von Positionspapieren der Europäischen Union nachgezeichnet werden. Gang und Ergebnis der politischen Willensbildung sind hier vorzüglich dokumentiert. Eine Liste wichtiger Veröffentlichungen der Europäischen Kommission zum Thema Informationsgesellschaft ist auf der CD-ROM zusammengestellt (Abb. PDF 쩛CD). Im Hypertext finden sich auch Zusammenfassungen und Exzerpte einschlägiger Dokumente und Beschlüsse (3D 쩛CD, Modul ).
Antworten der Europäischen Union auf die Herausforderung der Informationsgesellschaft Wohl niemals in der Geschichte ist die Einführung einer Technologie von Politikern, Unternehmern, Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit so intensiv diskutiert worden wie jene der neuen Medien gegenwärtig. Die Datensammlungen und -auswertung zur Fernsehkultur, zur künstlichen Intelligenz, zur ›Wunschmaschine‹ Computer, zum Internet und Intranet u. Ä. füllen Bibliotheken. Die Gesellschaft beobachtet sich in dieser Umbruchsphase selbst, und sie tut dies meines Erachtens zumindest in Europa weit gründlicher, als jemals eine Technologie des Industriezeitalters reflektiert wurde. Es gibt nationale, überregionale und internationale Konferenzen, man kommt dabei nicht nur zu gemeinsamen technischen Normen, sondern diskutiert intensiv die Auswirkungen auf so unterschiedliche Bereiche wie Gesundheit, Arbeit, Bildung, Demokratie usf. Es ist dabei in den neunziger Jahren in den verschiedenen Gremien der Europäischen Union üblich geworden, die Ambivalenzen der technologischen Innovationen systematisch zu berücksichtigen (vgl. die ›Liste der Veröffentlichungen‹ der EU , Abb. ). Ganz im
Sinne der auch von diesem Buch unterstützten These, dass die Stärken einer Technologie zugleich deren Schwächen sind, rief etwa das von der Europäischen Union eingerichtete ›Forum Informationsgesellschaft‹ dazu auf, »den Menschen die Risiken und Chancen der Informationsgesellschaft bewusst zu machen und sie in eine Diskussion darüber einzubeziehen, wie den Herausforderungen zu begegnen ist« (vgl. die Dokumente Abb. ). Aber diese Einsicht steht erst am Ende einer längeren, durch viele Enttäuschungen geprägten Politik. Die Anfangsphasen werden noch weitgehend von den Visionen des Industriezeitalters: techno vision und market vision geprägt. So standen in den siebziger und achtziger Jahren die Förderung und Entwicklung von Spitzentechnologien im Vordergrund der Politik der Europäischen Gemeinschaft. Die FTE-Rahmenprogramme (Forschung und Technologische Entwicklung) der Europäischen Gemeinschaft hatten das Ziel, der europäischen Wirtschaft und Wissenschaft den Anschluss an den amerikanischen beziehungsweise japanischen Standard zu ermöglichen oder zu erhalten. Die Technikförderung zielte in dieser ersten Phase auf eine Kompensation von Nachteilen im globalen Wettbewerb der Spitzentechnologien ab. 15 Die zu Grunde liegende Philosophie wurde in verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder betont: »Die rasche Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien in unser berufliches und privates Leben transformiert unsere Gesellschaft in die ›Informationsgesellschaft‹« (S. ). Entsprechend wurde die Aufgabe der Politik darin gesehen, diesen Transformationsprozess zu beschleunigen, indem sie Investitionen in einschlägige Technikforschungen und die wirtschaftliche Implementierung der Forschungsergebnisse förderte.
Das Primat der Ökonomie: market vision Die mäßigen Erfolge in der einzel- und zwischenstaatlichen Technologieförderung offenbarten sehr bald die Grenzen der traditionellen Subventionspolitik. Die Idee von der Technik als Katalysator gesellschaftlichen Wandels verlor gerade bei denen, die über verläss Vgl. zu diesem Phasenmodell der Politik der Europäischen Gemeinschaft die ›Einleitung‹ in den Abschlussbericht der ›Gruppe hochrangiger Experten‹ vom April .
liche Zahlen über den finanziellen Input und den wirtschaftlichen Output verfügten, an Anhängern. Rückblickend resümieren die Experten: »Trotz einer Reihe langfristiger Maßnahmen zur Förderung der Forschung während der achtziger Jahre war eine Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu verzeichnen, die im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen (FuE) am stärksten unterstützt wurden.« 16 Jene Stimmen, die die Aufmerksamkeit von der Technik, der Wissenschaft und dem einzelnen Unternehmen hin auf das wirtschaftliche Makrosystem lenken wollten, gewannen größere Resonanz. In dieser Situation begann die Europäische Union spezielle Einrichtungen zu schaffen, deren Aufgabe die Reflexion der Entwicklung der Informationsgesellschaft und die Formulierung von Perspektiven war. Angestoßen durch den unter Vorsitz von Martin Bangemann von einer Gruppe von Industriellen und Fachleuten verfassten (Bangemann-)Report über ›Europa und die globale Informationsgesellschaft‹ beschloss man auf dem Gipfeltreffen von Korfu im Juni die Einrichtung eines eigenen Rates ›Informationsgesellschaft‹. ›Die Bedeutung und die Komplexität der durch die neue Informationsgesellschaft aufgeworfenen Fragen‹, so lautete die Begründung, rechtfertige ›die Schaffung einer ständigen Koordinierungseinrichtung‹ mit dem Ziel, ›ein koordiniertes Vorgehen im Ministerrat sicherzustellen‹. Die Kommission der Europäischen Union setzte die Ergebnisse des Gipfeltreffens (Korfu Conclusions) in einen Aktionsplan um, der am . Juli mit dem Titel ›Europas Weg in die Informationsgesellschaft‹ verabschiedet wurde. Auf seiner ersten Sitzung im September entwickelte der neu eingerichtete Rat eine Reihe von Vorstellungen, um die Durchsetzung technischer Innovationen zu beschleunigen. Der Aktionsplan bildete auch die Grundlage für das Auftreten auf dem G-Ministertreffen in Brüssel im Februar und auf der speziell zu diesen Fragen eingerichteten Nachfolgekonferenz ›Information Society and Development Conference‹ in Midrand/Südafrika vom . bis . Mai . Die Grundpositionen fasst das Dokument ›The European Information Society in Action‹ in mehreren Schaukästen zusammen, von denen die wichtigsten hier wiedergegeben werden (Abb. ). Aus dem Abschlussbericht der ›Gruppe hochrangiger Experten‹: ›Eine europäische Informationsgesellschaft für alle‹. April , S. .
What exactly is the Information Society? 앫 Basic network (physical network + basic functions) 앫 Generic Services (e-mail, data base access, interactive video) 앫 Applications (telework, telemedicine, telebanking, etc.) Giving the Markets a Helping Hand 앫 Opening up the markets to competition 앫 Establishing a clear regulatory framework 앫 Research funding 앫 Regional development 앫 Assessing the social impacts 앫 Building public awareness 앫 Bringing businesses together Towards a Single European Market for Telecommunications 앫 Liberalisation of areas under monopoly 앫 Harmonisation 앫 Application of competition rules Getting the Balance Right The information infrastructure is only a means to the information society, not an end in itself. The European Union is anxious to prevent the creation of a two-tier society in which only part of the population has access to the new technology (and therefore to valuable information resources), is comfortable using it and can fully enjoy its benefits.
Abb. : Die informationspolitischen Ziele der Europäischen Gemeinschaft: The European Information Society in Action ()
Die Definition der Informationsgesellschaft beruht weiterhin auf der techno vision. Aber sie bedarf zu ihrer Durchsetzung marktwirtschaftlicher Regulatorien. Diese Einsicht (market vision) hatte der Bangemann-Report einleitend wie folgt zusammengefasst: »This report urges the European Union to put its faith in market mechanisms as the motive power to carry us into the Information Age.« Die sozialen und technologischen Umwälzungen werden von den Autoren als ›market driven revolution‹ erlebt, und entsprechend zielen ihre politischen Vorschläge auf eine Optimierung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Liberalisierung des Telekommunikationssektors, Deregulierung und Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes, gezielte Förderung der Unternehmen zur Entwicklung marktreifer Produkte und Dienstleistungen.
Wie immer man diese Orientierung politisch wertet, aus informationstheoretischer Sicht bedeutet sie eine Hinwendung zum Problem der Vernetzung. Mit Blick auf die typographische Revolution im ./. Jahrhundert war diese Umorientierung zu erwarten. Nachdem damals die neue Informationstechnologie in Form der Druckereien an vielen Orten Europas fest etabliert war, musste die Frage entschieden werden, wie diese Druckereien untereinander und mit den Autoren und Lesern vernetzt werden. Die Antwort lautete damals in den meisten Ländern: durch den freien Markt. Wo andere Antworten bevorzugt wurden, stagnierte die neue Technologie. Woher der Optimismus in unserer Gegenwart stammt, dass die elektronischen Informationsverarbeitungssysteme ebenfalls über den Markt untereinander und mit den Klienten verknüpft werden können, ist schwer verständlich. Eine neue Kommunikationstechnologie, die mit den alten Vernetzungsmechanismen arbeitet, kann nicht sonderlich tief in die Kultur eingreifen. Wenn eine Zukunftstechnologie so hoch subventioniert werden muss wie die Informationstechnologie gegenwärtig, dann verdankt sie ihre Genese jedenfalls nicht der freien Marktwirtschaft. Im . Rahmenplan waren allein für ›Telematics‹, ›Communication Technologies‹ und ›Information Technologies‹ ca. Millionen Ecu (für den Zeitraum von vier Jahren) vorgesehen. Der . Rahmenplan (-) mit einem Gesamtvolumen von Millionen Euro sichert Projekten zur ›user-friendly information society‹ mit Millionen Euro den größten Anteil. Der gerade vorgelegte Vorschlag der Europäischen Kommission für den nächsten Rahmenplan (. Framework Programm) veranschlagt für den Zeitraum von bis Millionen Euro (plus weitere Millionen für Euratom) insgesamt, darunter Millionen für Informationstechnologien, aber noch größere Ausgaben für wissenschaftliche Vorausschauprojekte ( Millionen), Human resources ( Millionen) und andere strukturelle Maßnahmen ( Millionen) (wysiwyg:///http://www.cordis.lu/rtd/ fp-legal/budget.htm). Niemals in der Geschichte wurde so viel in ›Zukunfts‹technologien investiert. Verglichen mit den Investitionen, die notwendig waren, um die Druckkunst, die Dampfmaschine, Film oder Radio in Gang zu bringen, ist dies ein Quantensprung. Zweitens betont schon der Bangemann-Report, dass für die Steuerung der neuen Medien völlig andere Prinzipien erforderlich
sein werden, als jene, die vor der ›Information Revolution‹ galten. 17 Wenn denn schon die Informationsproduktion in völlig neuen Bahnen verläuft, warum sollte man sich dann mit den alten Vernetzungsbahnen und -prinzipien einrichten? Gerade auf dem Gebiet der technischen Vernetzung (Telekommunikation, ISDN, Internet) vollziehen sich in den neunziger Jahren grundsätzliche Wandlungen. Drittens spricht gegen die market vision die faktische Entwicklung in den achtziger und neunziger Jahren. Trotz der Liberalisierung und Deregulierung des Telekommunikationssektors, Privatisierungen und europaweiten Standardisierungen blieben der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung, die positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und eine deutliche Steigerung der Akzeptanz der neuen Medien in weiten Kreisen der Bevölkerung aus. Eine deutliche Verbesserung des Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorts Europa im globalen Wettbewerb wurde nicht erreicht.
Die Krise der neunziger Jahre und die Renaissance alter Werte: human vision und user vision Das Fazit sowohl des Grünbuchs als auch der Gruppe hochrangiger Experten und des Forums Informationsgesellschaft ist einhellig: Technologieförderung und Deregulierung haben bislang kaum positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht verstärken sich die Asymmetrien zwischen strukturschwachen Regionen und benachteiligten sozialen Gruppen einerseits und den Zentren sowie den die neue Technologie nutzenden sozialen Gruppen andererseits erheblich. Innerhalb der Bevölkerung in der Europäischen Union schwindet in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre der Glaube, dass die neuen Technologien eine positive Auswirkung auf die soziale Entwicklung nehmen. Im Zwischenbericht wird resümiert: »So gern wir beruhigende Antworten auf alle diese Besorgnisse geben würden – wir können es nicht. Zwar sind wir davon überzeugt, dass die Informationsgesellschaft zu mehr Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Lebensqualität »The Group is convinced that technological progress and the evolution of the market mean that Europe must make a break from policies based on principals which belong to a time before the event of the information revolution.«
führen kann – jedoch werden diese Folgen nicht sofort und, wenn wir diesen Prozess nicht sorgsam steuern, vielleicht sogar überhaupt nicht eintreten.« Die Frage lautete, wer kann oder soll in welche Richtung steuern? Sicher schien, dass der Markt allein diese Funktion nicht ausfüllen kann. ›Liberalisierung‹ setzt Standards voraus! – hieß hier die Erkenntnis. »Sollte es nicht gelingen, sich auf ein Bündel gemeinsamer Mindeststandards für die Sozialpolitik zu einigen, wird dies unweigerlich zur Aushöhlung der sozialstaatlichen Systeme in Europa führen«, wurde befürchtet. Offen blieb, wer diese Standards festlegen soll. Überlässt man es den klassischen politischen Systemen, so »könnte es in Zukunft verschiedene Modelle der Informationsgesellschaft geben, so wie es heute verschiedene Modelle der Industriegesellschaft gibt«, vermutete die Gruppe hochrangiger Experten in ihrem Abschlussbericht. »Sie werden sich wahrscheinlich nach dem Maß unterscheiden, in dem die soziale Ausgrenzung benachteiligter Familien und diesen neuen Chancen eröffnet werden« (S. ). Für die Europäische Union, die sich in den einschlägigen Verträgen auf Grundwerte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Solidarität, Zusammenhalt aller Gruppen der Gemeinschaft geeinigt hat, gelten andere Rahmenbedingungen als für andere politische Gemeinschaften auf dem Globus. ›Die‹ globale Informationsgesellschaft gerät unter einen Differenzierungsdruck. Auch für die Informationsgesellschaft gibt es Alternativen, die Diskussion um die Werte und Ziele ist neu eröffnet. »Am Ende unseres Jahrhunderts stellt sich eine immer größere Verunsicherung ein … dem Fortschritt gegenüber steht die Angst, die in gewisser Weise an die Diskrepanz zwischen Fortschritt und kollektivem Bewusstsein erinnert, wie sie bereits an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance existierte«, so fasst das Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung, Lehren und Lernen – Auf dem Wege zur kognitiven Gesellschaft (S. ) die Stimmung zusammen. Die Grenzen der market vision haben freilich viele bereits zu Beginn der neunziger Jahre gesehen, und so gingen auch schon in den ›Aktionsplan‹ alternative Orientierungen ein. Der Plan betont, dass die neuen Technologien kein Selbstzweck sein dürfen, sondern zum Nutzen der Menschen angewendet werden sollen (vgl. Abb. ). Die Frage lautet: Welcher soziale Sinn soll mit den neuen Medien verbunden werden? So wie das ausgehende
. Jahrhundert damit begann, den Nutzen des Buchdrucks für den einzelnen Menschen, für die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme und für die Nationen als Ganzes auszuloten, so muss auch die gegenwärtige Informationsgesellschaft einen Sinn in den verschiedenen Technologien und Vernetzungsformen finden. Weder ›fun‹ noch ›Rationalisierung‹ dürften hier ausreichen.
Im Mittelpunkt der Mensch: human vision Dieses Bemühen um eine Deutung der Informations- und Kommunikationstechnologien als Medien sozialer Bedürfnisbefriedigung hat sich in der Folge in verschiedenen Veröffentlichungen der Europäischen Union niedergeschlagen. Einen wichtigen Markstein bildet hier das veröffentlichte Grünbuch der Kommission über das ›Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft: Im Vordergrund der Mensch‹. Hier wird schon im Titel die Orientierung nicht auf die Technik, nicht auf den Markt, sondern in ganz alteuropäischer Weise auf ›den Menschen‹ festgeschrieben. Die Denkschrift beginnt mit der Feststellung: »In der Informationsgesellschaft sollte es um Menschen gehen; sie sollte für die Menschen und von den Menschen genutzt werden, um die der Information innewohnenden Kräfte freizusetzen, und nicht, um ein Ungleichgewicht zwischen den Informationsreichen und Informationsarmen zu schaffen« (S. ). Diese Orientierung schließt an das Renaissanceideal ›Im Mittelpunkt steht der Mensch und die Wahrung seiner Würde‹ an. 18 Gegen diese Orientierung auf den Menschen ist schwerlich zu argumentieren, aber sie muss präzisiert werden. Die Orientierung auf die universellen Möglichkeiten des Menschen in der Renaissance hat es nicht verhindert, dass er in der neuzeitlichen Wahrnehmungstheorie auf ein einäugiges, gefühlloses, interaktionsgestörtes, beständig redendes Monster, einen leicht technisch zu ersetzenden Apparat, reduziert wurde – von seinen Funktionalisierungen in Politik und Arbeitsleben ganz zu schweigen. Die Frage ist nun, welche Reduktionen die Informationsgesellschaft vornimmt. Eine ausführlichere Darstellung der Ergebnisse der Selbstreflexion der Informationsgesellschaft findet sich in dem eben schon Vgl. zum Beispiel die ›Oratio de hominis dignitate‹ des Gianfresco Pico della Mirandola.
erwähnten Grünbuch ›Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft‹. Es beginnt mit der Feststellung: »Derzeit erleben wir eine Epoche des technologischen Umbruchs, der durch die Entwicklung und zunehmende Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT ) hervorgerufen wird. Dieser Prozess ist anders und verläuft schneller als alles, was die Menschheit bisher gesehen hat. Ihm wohnt ein ungeheures Potential inne, das zu größerem Reichtum, höherem Lebensstandard und besseren Dienstleistungen führen kann.« Das größte Problem sieht das Grünbuch darin, dass Vorteile und Kosten der neuen Technologie ›ungleichmäßig auf die verschiedenen Teile der Europäischen Union und auf ihre Bürger verteilt sind‹. Es fasst die ›Besorgnisse‹ in zwei Fragen zusammen: »Werden diese Technologien nicht Arbeitsplätze eher vernichten als schaffen? Werden sich die Menschen die veränderte Arbeitsweise zu Eigen machen können?« und »Wird die Kluft zwischen industrialisierten und weniger entwickelten Gebieten, zwischen jung und alt, zwischen Wissenden und Unwissenden durch die Komplexität und die Kosten der neuen Technologien nicht noch vertieft?« »Um diese Besorgnisse zu entkräften, brauchen wir öffentliche Strategien«, so fährt das Grünbuch fort, »mit deren Hilfe wir die Früchte des technologischen Fortschritts ernten können und die einen fairen Zugang zur Informationsgesellschaft und eine angemessene Nutzung des Wohlstandspotentials gewährleisten« (ebd., S. ). In ähnlicher Weise setzt sich auch das eingerichtete ›Forum Information Society‹ kritisch mit den Orientierungen des Aktionsplans und des Bangemann-Reports auseinander. So betont das Themenpapier, dass die Liberalisierung der Märkte, die ja als ein Hauptinstrument der Förderung der Informationsgesellschaft angesehen wurde, zwar eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer geeigneten Infrastruktur darstellt. »The European approach goes beyond the implementation of the regulatory framework or the creation of an information infrastructure in a technological and economic sense. The concept of ›information society‹ expresses the European Union’s desire to look at the whole picture. We are anxious to prevent the creation of a two-tier society in which only part of the population have access to the new technology (and therefore to valuable information re
sources), is comfortable using it and can fully enjoy its benefits.« 19 Als Ziel des ›Information Society Forum‹ war angepeilt, alle Gruppen, die an der Entwicklung der Informationsgesellschaft interessiert sind, in die Diskussion über ihre weitere Entwicklung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft einzubeziehen. Das Themenpapier, aus dem eben zitiert wurde, versteht sich als ein ›starting point for discussion on the kinds of issues that could be examined‹. Die einzelnen Themen sollen die Arbeit von Diskussionsgruppen vorbereiten. Sie beginnen mit einer Trendbeschreibung. Im Anschluss folgt eine kurze Analyse, sowohl der positiven als auch der negativen Auswirkungen dieser Trends. Am Ende werden jeweils Fragen und/oder Diskussionspunkte vorgeschlagen. Ein Ergebnis der Arbeit des Forums war die klare Formulierung einer neuen Vision, nämlich die Orientierung auf die Bedürfnisse der Bevölkerung als Nutzer der neuen Medien (vgl. Abb. : Vorrang für den Menschen, Sechs Vorschläge des Information Society Forum () PDF 쩛CD).
User vision In dem ersten Jahresbericht des ›Forums Informationsgesellschaft‹ wird die Vision in folgender Empfehlung an die Europäische Kommission zusammengefasst: »Es sollten Forschungsprojekte, Pilotprojekte und öffentliche Informationskampagnen mit folgenden Zielen in Gang gebracht werden: – das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die sozialen Folgen des Wandels sensibilisieren, wobei die Aufmerksamkeit gleichermaßen auf Risiken und Chancen zu lenken ist; – zu prüfen, wie die Informationstechnik bürgernah gestaltet werden kann, und ihre weitere Ausbreitung zu fördern und insbesondere – zu untersuchen, wie die Möglichkeit der Informationsgesellschaft auch behinderten Menschen [benachteiligten Personen] in gleicher Weise zugänglich gemacht werden können« (Kapitel ). Die Gründe für diese Umorientierung wurden von der Arbeitsgruppe (Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung) des Infor (Theme paper, introduction , S. ) Die vollständigen Texte standen auf dem ISPO -Webserver unter folgender URL zur Verfügung: http://www.Ispo.cec.be/ infoforum/pub.html; vgl. die Exzerpte auf der CD-ROM.
mation Society Forum formuliert: »Die Entwicklung der Informationsgesellschaft wird effektiv von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz abhängen. Es fehlt ein geschlossener konzeptioneller Rahmen, der die quantitative und qualitative Bewertung des Phänomens erleichtern, Hindernisse identifizieren und die Formulierung von politischen Empfehlungen vereinfachen würde« (aus der Zusammenfassung im . Jahresbericht des Forums , S. ). Zur Lösung dieser Aufgaben richtete man sechs Arbeitsgruppen ein, die sich jeweils auf bestimmte Anwendungsperspektiven konzentrieren sollten: – Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung, – soziale und demokratische Grundwerte in der »virtuellen Gemeinschaft«, – Einfluss auf öffentliche Verwaltungen, – Bildung und Lernen in der Informationsgesellschaft, – kulturelle Dimension und die Zukunft der Medien, – nachhaltige Entwicklung, Technik und Infrastruktur. Als Ergebnis der Diskussionen um diesen ›people centered approach‹ forderte man: – Die Menschen müssen zum Gebrauch der neuen Technologien besser ausgebildet werden; – die Gesellschaft muss sich als Lerngesellschaft begreifen, die lebenslange Bildung organisiert; 20 – die Menschen sollen frühzeitig in die Entwicklung von Programmen und Infrastrukturen einbezogen werden; – die neuen Medien sollen genutzt werden, um die Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen; – die Informationspolitik, die Kriterien für die Projektforschung usf. der Europäischen Union sollen transparenter werden. In diesem Sinne fordert das Grünbuch, dass »die Art und Weise, »Europa benötigt eine gründliche Überprüfung der allgemeinen und beruflichen Bildung, die nicht hinter der Revolution bei den Informations- und Kommunikationstechnologien zurückbleibt …« (S. ). Es geht jedoch nicht nur um lebenslanges Lernen bei den Menschen, auch die Unternehmen sollen zu lernenden Organisationen werden und schließlich ebenso die Informationsgesellschaft als Ganzes. Dies wird in dem Grünbuch ›Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft‹ durch den Begriff der ›Kognitiven Gesellschaft‹ ausgedrückt (vgl. ebd., S. ). In verschiedenen Facetten wird die These: Die Gesellschaft der Zukunft wird also eine kognitive Gesellschaft sein, in dem ›Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung – Lehren und Lernen – auf dem Wege zur kognitiven Gesellschaft‹ ausgeführt.
in der wir diese Gesellschaft entwickeln, die Ideen und Werte widerspiegeln muss, die die Europäische Union geformt haben. Um die Unterstützung der Bürger zu erhalten, sollten diese Ideen und Werte transparent und mit sozialer Gerechtigkeit verbunden sein« (, S. ). Ausdrücklich fordert die Kommission die Bürger auf, »eine Reihe gemeinsamer Grundsätze für den Aufbau der Informationsgesellschaft zu formulieren« (ebd.). Als Ziel wird die ›Schaffung einer benutzerfreundlichen Informationsgesellschaft‹ explizit ebenfalls im Grünbuch ›Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft‹ (S. ) formuliert. 21 »Die Politiken müssen stärker auf einer Stimulierung des Zugangs und der Benutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ausgerichtet sein« (S. ).
Der Umgang mit Ambivalenzen und Paradoxien als Aufgabe der Politik Was immer man inhaltlich von den Ergebnissen der Arbeit des Forums Informationsgesellschaft hält, als Diskussionsforum beschritt es neue Wege der Beratung. Im Verlauf der neunziger Jahre war die Bereitschaft zu einer systematischen Berücksichtigung der Ambivalenzen technologischer Entwicklungen stark gewachsen. Wenn noch bis in die siebziger Jahre hinein, wie das Beispiel der Nukleartechnologie zeigt, das Für und Wider auf verschiedene Parteien und Interessengruppen verteilt war, so bemühte man sich in den neunziger Jahren Steuerungsinstanzen zu etablieren, die von der Ambivalenz der Technologie ausgingen und in der Repräsentanten der verschiedenen Interessengruppen/Perspektiven vertreten waren. 22 Dieses Ziel stand freilich schon im Hintergrund, als der . Rahmenplan formuliert wurde. Bangemann fasste dessen Aufgaben in seiner Rede ›Information society – Progress on the Commission and G Action-Plan‹ (London, . . ) zusammen: »The emphasis today, is on the development and demonstration of applications. Technology research and development that puts the user first. How to apply technology to the needs of citizens, businesses and institutions.« Die Mitglieder des Forums wurden von der Kommission ernannt, zur Hälfte auf Vorschlag der Mitgliedsstaaten und zur Hälfte nach eigener Wahl der Kommission. Berücksichtigt wurden Vertreter aus fünf Hauptbereichen. – Nutzer der neuen Techniken: Industrie (Banken, Einzelhandel, Schifffahrt usw.), öffentliche Verwaltungen, Verbrauchergruppen, kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) und freie Berufe;
Ein solches Steuerungsinstrument war die von der Europäischen Kommission im Mai berufene Gruppe hochrangiger Experten. In dieser dem Referat ›Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheiten‹ zuarbeitenden Gruppe sind von vornherein die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt. 23 Unter dem Titel ›Eine europäische Informationsgesellschaft für alle‹ stellte sie im Januar einen Zwischenbericht und im April einen Abschlussbericht über die ›sozialen und gesellschaftlichen Aspekte der Informationsgesellschaft‹ vor, in dem die Zwiespältigkeit des Veränderungsprozesses in beispielhafter Weise offen gelegt wird. Grundkonsens herrscht darüber, dass technische und soziale Systeme als gleichermaßen selbstregulative wie auch umweltgesteuerte Systeme zu behandeln sind. Es ist eine Paradoxie, die kaum leichter zu akzeptieren sein dürfte als jene, mit der Martin Luther die Stellung des Menschen in der sich gerade entwickelnden funktional differenzierten Gesellschaft zu Beginn des . Jahrhunderts formulierte. Er beginnt bekanntlich seine Schrift ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹ () mit der Feststellung: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Diese in anderen Worten ja schon im Neuen Testament formulierte Paradoxie (. Korinther , Römer ) gilt es auch auf die Informationsgesellschaft und andere soziale und technische Systeme anzuwenden. Sie sind gleichermaßen selbstregulierende wie auch umweltdeterminierte Systeme. Die alleinige Betonung des selbstregulativen Aspekts von sozialen Systemen – Soziale Gruppen: Akademiker, Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften, Jugendgruppen und Vertreter aus Städten und sonstigen Gebietskörperschaften; – Informations- und Diensteanbieter: Verlage und Autoren, Film- und Fernsehproduzenten, Rundfunkanstalten, Software-Produzenten und Anbieter von Informationsdiensten; – Netzwerkbetreiber: Betreiber von erdgebundener Telekommunikation, Kabelfernsehen, Mobilfunk und Satellitenfunk; – Institutionen: Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen. »Von höchster Bedeutung ist die Einbeziehung von Zielgruppen, freien Trägern und Nicht-Regierungsorganisationen in die Gestaltung, Entwicklung und Umsetzung der Technologien.« Abschlussbericht der ›Gruppe hochrangiger Experten‹, S. , Empfehlung a.
(Freiheit), die im Gefolge der modernen Systemtheorie die wissenschaftliche Diskussion in vielen Disziplinen bestimmt, wirkt sich auf gesellschaftspolitischem Felde besonders verhängnisvoll aus. Die biologischen Konzepte selbsterzeugender (autopoietischer) Systeme, die Rede von ›geschlossenen‹ Sozialsystemen leistet deterministischen Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung breiten Vorschub. Im Hinblick auf die market vision, also auf das Vertrauen, die Selbstheilungskräfte des Marktes reichten für eine Durchsetzung einer (humanen) Informationsgesellschaft aus, ist dieser Zusammenhang zwischen der selbstreferentiellen Systemtheorie und der Politik offensichtlich. Aber er gilt genauso für die techno vision. Sie geht ja bekanntlich davon aus, dass die Technologien sich so oder so durchsetzen werden und wir bestenfalls die Möglichkeit haben, das Tempo des Wandels zu steuern. Dabei sei jede Verzögerung ausgesprochen kostspielig. Je schneller man neuer Technologie zum Durchbruch verhelfe, desto geringer seien die sozialen Härten und desto rascher kämen die positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, im kulturellen Leben usf. zum Tragen. Gerade diesen Gedanken hat die Gruppe hochrangiger Experten schon in dem Zwischenbericht als ›technologischen Determinismus‹ kritisiert. Im Abschlussbericht betont die Gruppe erneut, »dass es im Zusammenhang mit einer künftigen europäischen Informationsgesellschaft zahlreiche sozialpolitische Herausforderungen gibt …, die über die vereinfachende Vorstellung einer schnellen Anpassung an eine von der ›externen‹ Macht des technologischen Wandels bestimmten Zukunft hinausgehen, in der die Menschen keinen Einfluss und keine Möglichkeit der Mitwirkung haben« (S. ). Wie immer man sich die Informationsgesellschaft letztlich vorstellt, sie ist offen für eine Umwelt, die von mehr Faktoren geprägt ist als bloß der Technik und der Marktwirtschaft. Ebendeshalb »können sich politische Maßnahmen nicht auf die wirtschaftliche Integration des technologischen Wandels beschränken, sondern müssen alle Aspekte einer umfassenden Sozialintegration einschließen« (ebd.). Es gelte die Zwiespältigkeit auszubalancieren: Einerseits vollständig technologieabhängig, andererseits völlig frei von jeglichem technologischen Determinismus. Von diesem Ansatz scheint der Weg zu einer ökologischen und kulturtheoretischen Konzeption der Informationsgesellschaft nicht mehr weit. Zwar steht das soziologische Gesellschaftskonzept noch im Zentrum, aber die ›Umwelt‹ erlangt immer größere Bedeutung.
Soziale und technische Netzwerke für Menschen und Gemeinschaften: network vision Seit der Mitte der neunziger Jahre ist die Diskussion um die Informationsgesellschaft in zahlreichen Gremien der Europäischen Union in eine vierte Phase getreten. Sie wird von folgenden Grundannahmen beherrscht: – Ernüchterung bezüglich der traditionellen marktwirtschaftlichen und technologischen Steuerungsmechanismen, – Suche nach neuen Formen der Vernetzung zwischen alten und neuen gesellschaftlichen Subsystemen, zwischen Menschen und Gemeinschaften, – Suche nach alternativen Visionen und Werten, – Initiierung eines selbstreflexiven gesellschaftlichen Dialogs zur Lösung der Aufgaben. Die Erkenntnis, »dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ein vollkommen anderes System von Parametern für potentielle Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten verkörpern«, wie dies die Gruppe hochrangiger Experten in ihrem Abschlussbericht formuliert hat, setzte sich allmählich durch. Weder die Hoffnung auf Selbstregulation noch jene auf die traditionellen dirigistischen Regulationsmechanismen bestimmen die Diskussion. Weder Wirtschaftsförderung allein noch technologische Entwicklung können in dieser Phase die Richtung angeben. Erforderlich sind neue Leitbilder auf allen Feldern in Wirtschaft, Politik, dem Rechtssystem der Kultur, dem Gesundheitswesen usf. Denn auf allen diesen Feldern geraten die herkömmlichen Wertvorstellungen, Theorien und Lenkungsmechanismen unter Druck. Dies hängt mit dem Umbau des funktional differenzierten Gesellschaftssystems zusammen. Immer wieder wird betont, dass Kommunikation und soziale Wissensschöpfung als neues Subsystem zu den traditionellen: Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft, Gesundheit u.a., hinzutreten. Es ist die Rede davon, dass die Information neben Arbeit, Boden und Kapital zu einem wichtigen Produktionsfaktor wird. Aber es gibt keine bloße Addition von weiteren Teilsystemen. Immer ändert sich durch das Hinzutreten neuer Teilbereiche das Gesamtsystem. Dies wird schlagend schon daran deutlich, dass die Prämierung des Wirtschaftssystems und der Technik als Entwicklungsfaktor, die für die Industriegesellschaft konstitutiv war, in die
ser Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. 24 Wir stehen also vor Vernetzungsproblemen, der Aufgabe, die Beziehung zwischen diesen einzelnen Subsystemen neu zu ordnen. Wenn wir die funktionale Gleichwertigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche akzeptieren, dann wird dies weit reichende Folgen für gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse haben. 25 Dezentrale Entscheidungs- und Vernetzungswege werden größere Bedeutung erlangen. Hierarchien dürfen nicht auf Dauer gestellt werden. Die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft selbst als ›Informationsgesellschaft‹ beschreibt, zeigt allerdings schon wieder eine neue Prämierung. Sie differenziert hiermit eine Perspektive auf ihre Strukturen und Prozesse heraus, die frühere Gesellschaften in dieser Form nicht institutionalisieren wollten. Und unter diesem Gesichtspunkt sozialer Informationsverarbeitung und Kommunikation eröffnen sich auch ganz neue Perspektiven auf traditionelle Prozesse und Systemstrukturen. 26 Um in diesem Stadium der Entwicklung eines strategischen Zukunftsbildes voranzukommen, fordert die Gruppe hochrangiger Experten die Unternehmen, Verwaltung, Interessenverbände usf. auf, wichtige Entscheidungen im ›sozialen Dialog‹ einvernehmlich zwischen den beteiligten Parteien zu treffen: »Wir sind der Überzeugung, dass die sich herausbildende Informationsgesellschaft vor al Im Grünbuch ›Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft‹ heißt es: »Die Wachstumsrate für Produktivität und Bruttoinlandsprodukte ging zurück, obwohl immer mehr Informations- und Kommunikationstechnologien eingeführt wurden …« Vgl. Helmut Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation. Weinheim/München . Dies wollen Löffelholz/Altmeppen möglicherweise auch ausdrücken, wenn sie schreiben: »Die Informationsgesellschaft kann insofern als Mediengesellschaft konzeptualisiert werden, in der Organisation und Komponenten selbstorganisierender Systeme sowie soziale Systeme untereinander zunehmend über Informationsangebote gekoppelt werden, die von eigenständigen Medienteilsystemen produziert und distribuiert werden. Das Mediensystem operiert dabei mit wachsender Autonomisierung von anderen gesellschaftlichen Subsystemen selbstreferentiell: Politik, Ökonomie und alle übrigen Gruppen und Organisationen müssen die ›Spielregeln der Mediengesellschaft‹ akzeptieren, wollen sie gesellschaftlich – das heißt dann: medial – erfolgreich sein« (a. a. O., S. ). Das ›Mediensystem‹ sollte man sich allerdings nicht als System elektronischer Massenmedien vorstellen. Es geht um die Ausdifferenzierung nicht von Technik, sondern von gesellschaftlichen Subsystemen!
lem durch die volle Einbeziehung der Beschäftigten gekennzeichnet sein sollte, und nicht ihre bloße Vertretung […] Wir betrachten den sozialen Dialog nicht als Kostenfaktor, der auf die Unternehmen zurückfällt. Vielmehr ist er als Bestandteil der Erarbeitung von Konzeptionen für den technischen und organisatorischen Wandel zu betrachten, deren Ziel sowohl die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als auch die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen ist.« 27 Die Notwendigkeit des Gesprächs bezieht sich natürlich nicht nur auf den Mikrokosmos der Unternehmen, sondern genauso auf den Makrokosmos der Europäischen Union. Und hier wird auch schon ein grundsätzlicher Wandel im politischen Willensbildungsprozess angesprochen: Das Prinzip der ›Vertretung‹, wie es für alle repräsentativen Demokratien und Verfassungen typisch ist, soll modifiziert werden. Es geht um die unmittelbare Einbeziehung der Betroffenen. Es sollen Formen sozialer Entscheidungsprozesse geschaffen werden, die nicht mehr mittelbar wie die traditionelle Massenkommunikation ablaufen, sondern direkt, wie eben das unmittelbare Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Die Möglichkeiten, die die neuen Medien im Hinblick auf die Dezentralisierung nicht nur der Industriearbeit, sondern auch der politischen Entscheidungsprozesse bieten, müssen genutzt werden, wenn die Ressourcen der Informationstechnologie tatsächlich ausgeschöpft werden sollen. 28 Es liegt auf der Hand, dass eine solche durch die elektronische Vernetzung gegebene Möglichkeit der Beteiligung der unterschiedlichen Interessengruppen nicht bloß ein zusätzliches Instrumentarium zu den herkömmlichen politischen Institutionen sein wird. Es wird die Verfassung der repräsentativen Demokratie grundlegend verändern. Dieses Beispiel mag auch verdeutlichen, dass die Rede von der ›Integration der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie‹ in die politischen und sozialen Systeme mit Vorsicht zu genießen ist. Sie verniedlicht das Problem insoweit, als sie suggeriert, die sozialen Systeme, in die diese Technologien zu integrieren sind, Abschnitt ›Wandel als Verhandlungsgegenstand‹. »Geographische Gemeinschaften werden eine wirksamere interne Kommunikation betreiben können, als sie seit den Bürgerversammlungen im alten Griechenland je möglich war. Gleichzeitig entstehen im Internet bereits neue virtuelle Gemeinschaften, deren Mitglieder durch eine Vielzahl gemeinsamer Interessen verbunden sind.« . Jahresbericht des Forums Informationsgesellschaft, Kapitel , S. .
seien bereits vorhanden. Es geht aber weniger um die Integration neuer technischer Netzwerke in alte soziale Systeme als vielmehr um den Aufbau neuer Formen soziotechnischer Systeme – so jedenfalls das Credo der network vision. Es ist von daher nicht überraschend, dass in den neunziger Jahren immer neue Visionen von Gesellschaften entwickelt werden: Kognitionsgesellschaft, lernende Gesellschaft, Wissensgesellschaft, Risikogesellschaft, reflexive Gesellschaft usf. Auffällig ist dabei, dass die Beschreibung dieser Konstrukte kaum mehr auf etablierte Theoriegebäude zurückgreifen kann. Während in den ersten beiden Phasen der techno und der market vision die Programme für den Weg in die Informationsgesellschaft noch mit den Vokabularien der Industriegesellschaft geschrieben werden konnten, macht sich seit Mitte der neunziger Jahre das Fehlen eines den neuen Phänomenen angemessenen theoretischen Konzepts deutlich bemerkbar. Symptomatisch ist hier der Abschlussbericht der Gruppe hochrangiger Experten. Die neuen Konzepte wie ›kognitive Gesellschaft‹ oder ›Lerngesellschaft‹, die propagiert werden, um die als wichtig empfundenen Perspektiven zu betonen, werden durch ad hoc gebildete Unterscheidungen abgegrenzt. Dies ist den Verfassern der verschiedenen Memoranden durchaus bewusst, und sie betonen deshalb unisono und beständig die Notwendigkeit einschlägiger Forschungen, vor allem eben auch zu allgemeinen theoretischen Problemen. Heute lässt sich sagen, dass eine Hauptursache für die Orientierungsprobleme in der jahrzehntelangen Soziologisierung und Psychologisierung (›Kognitive Gesellschaft‹!) der Gesellschafts- und Kommunikationskonzepte zu suchen ist. Wie schon in der Einleitung in diesem Buch angemerkt, fehlt bislang ein übergreifendes Konzept, welches gerade das Zusammenwirken von Mensch, Gesellschaft, Markt, Technik und Natur modellieren kann. Aus der Perspektive des Subsystems ›Gesellschaft‹ lässt sich, so jedenfalls meine Schlussfolgerung aus den hier referierten Diskussionen, keine Vision mit Integrationskraft ableiten. Typisch für die Situation am Ende des Jahrhunderts dürfte weiterhin gewesen sein, dass die technische Informationsinfrastruktur, also das ›System von Einrichtung zur Übertragung und Verbreitung von Informationen für alle Arten von Anwendungen, einschließlich Hardware, Software, Computer und Programmen für die Netzwerke- und Dienstverwaltung‹, schon in einem erheblichen Umfang vorhanden und deren weitere Entwicklung jedenfalls in hohem
Maße absehbar war. Man hatte technische Netzwerke ›für Menschen und ihre Gemeinschaften‹ geschaffen. Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das Internet. Das ›networking‹ kann jedoch weder auf ein rein soziales noch auf ein technisches Problem verkürzt werden. Es reicht nicht, elektrische Leitungen und Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Wie die Maschinen müssen auch die technischen Netze ›kultiviert‹, zu einem Teil des kulturellen Systems gemacht werden. Entsprechend wird etwa im ersten Jahresbericht des Forums Informationsgesellschaft betont, dass die weitere Entwicklung der Informationskultur »weniger durch eine fehlende [technische] Infrastruktur« behindert wird als vielmehr durch das ›Fehlen zugkräftiger Anlaufdienste‹ und einen ›Mangel an Anwendungen‹ (S. ). Es sollen Informationen gewonnen und verbreitet werden, die für die Bevölkerung nützlich sind. Die »mangelnde Berücksichtigung von Verbraucherbedürfnissen« wird auch auf diesem Felde »als wichtigster Faktor« für das »Scheitern innovativen Handelns identifiziert. 29 Insbesondere ›bürgernahe Dienste und Produkte‹ sind noch nicht verfügbar. ›Private Investoren‹ halten sich zurück, solange sie nicht von einer entsprechenden Nachfrage überzeugt sind. Die öffentlichen Verwaltungen haben sich nur zögernd angepasst, und schließlich sind auch die ›rechtlichen Rahmenbedingungen zur Förderung und Erleichterung der neuen Techniken noch unvollständig‹. In dieser Situation wird vorgeschlagen, zunächst einmal den Kreis der Anwender der neuen Medien zu erweitern. Dazu ist nicht nur eine entsprechende Qualifikation, sondern eben auch die Entwicklung und Einführung von neuen benutzerfreundlichen ›elektronischen Diensten‹ erforderlich. Insbesondere Non-profit-Organisationen und die öffentlichen Verwaltungen können hier eine Pionierfunktion wahrnehmen. Es dürfte letztlich gleichgültig sein, wo in den Innovationskreislauf eingestiegen wird. Man kann (vorhandene) soziale Netze technisieren oder technische Netze bereitstellen und dann um Nutzer werben und sehen, zu was sie gut sein können. Praktisch werden beide Prozesse parallel ablaufen. Wichtig ist, dass sie auch gleichgewichtig gefördert werden. Lange Zeit hatte man in der öffentlichen Diskussion zu wenig beachtet, dass die gesellschaftlichen Netzwerke grundsätzlich multi Abschlussbericht der ›Gruppe hochrangiger Experten‹, S. .
medial funktionieren. Zu einseitig konzentrierte man sich auf die Breitbandverkabelung und vernachlässigte die nicht technisierten Kommunikationsformen. Erst »wenn wir mit Kollegen über ein Netzwerk arbeiten, lernen und kommunizieren, sind wir«, so resümierte noch das Forum Informationsgesellschaft, »in der Informationsgesellschaft angekommen«. Die technischen Netzwerke sind natürlich eine Voraussetzung, aber sie werden sich erst dann ›breit‹ nutzen lassen, wenn sie auch als Medien in Gesprächen dienen. Nicht nur der einzelne Nutzer, sondern auch soziale Gruppen werden den Bildschirm als informative Umwelt brauchen. Aber selbst diese Perspektive greift noch zu kurz. Völlig richtig diagnostiziert die Gruppe hochrangiger Experten in ihrem Abschlussbericht, dass »in der Informationsgesellschaft die Bedeutung des persönlichen Gesprächs eher zu- als abnehmen« werde (S. ). Die technisierten Kommunikationsformen, die elektronischen Multimediaschnittstellen standen und stehen zwar noch immer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. »Paradoxerweise hat sich jedoch die Bedeutung der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation, die die physische Nähe erfordert, in der Arbeitswelt nicht notwendigerweise verringert, eher im Gegenteil. Die moderne Managementtheorie weist darauf hin, wie wichtig die zwischenmenschlichen Kontakte sind, und die Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten führt zu einem noch größeren Bedarf an direkter Kommunikation« (Gruppe hochrangiger Experten, Abschlussbericht, S. ). Klare Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen vermochte die Politik der EU am Ende des Jahrhunderts noch nicht zu ziehen. Sie verharrte in der Vision der Aufklärung ›Wissen ist Macht‹ und wendete sich wieder stärker Bildungsfragen zu. Und sie baute weiterhin auf dem Menschen- und Gesellschaftsbild auf, wie es die Buchkultur entwickelt hat. Im Grunde bleibt sie mit ihrer Orientierung an sozialen Netzwerken und soziotechnischen Systemen noch hinter der Vision der Nation zurück, die am Beginn der Buchkultur im deutschsprachigen Raum in der frühen Neuzeit stand. ›Nation‹ ist ein kulturelles Konzept. Es schließt soziale Gemeinschaften ein, aber geht über diese in Richtung auf die ökologische Integration anderer Dimensionen hinaus. ›Nation‹ meint immer auch geographischen Raum, ethnische Zugehörigkeit, Sprachgemeinschaft und vieles andere mehr. Diesen ökologischen Grundzug hat die nationalsozialistische Propaganda bekanntlich hervorgehoben: Blut (Rasse), Boden und eine soziale Gemeinschaft, die sich in diesem spezi
ellen Fall durch den Schwur auf einen Führer zusammenschließt. Nicht die politische Umsetzung dieses Konzepts, sondern die Umsetzung einer einseitigen Interpretation des kulturökologischen Ansatzes hat die Orientierung an den Nationen in Verruf gebracht. Die soziologisierenden Gesellschaftskonzepte, die gerade in Deutschland nach dem Kriege als Ersatz für nationale Werte ins Spiel gebracht wurden, bleiben blutarm und erdfern. Sie können deshalb weniger Energien freisetzen und bieten für die Menschen weniger Identifikationsmöglichkeiten. Wer möchte schon zum Nutzen der ›Risikogesellschaft‹ individuelle Einschränkungen hinnehmen? Die regionalen und globalen Informationsgesellschaften bilden bislang eine zu dünne Haut. Ein Konzept mit einer Kraft, die jener des ›nutz der nation‹ (gemeinnutz) vergleichbar ist, dürfte erst in den letzten Jahren in Gestalt der ›mankind‹ vision aufgetaucht sein. Solange allerdings ein gemeiner Nutzen zum Beispiel des Internets nicht in Sicht ist, wird es kaum gelingen, dieses zu einem öffentlichen Wissensspeicher auszubauen. Es bleibt vorteilhafter, die Informationen gegen Geld andernorts zu tauschen. Nur eine Veränderung des Wertesystems, vergleichbar jenem des Aufkommens des ›nutz der nation‹ und der Abwertung privaten, nichtöffentlichen Wissens im . Jahrhundert, wird neue Netzwerke schaffen. Die ›open source‹-Bewegung, die Software über das Internet frei zugänglich machen will, setzt in dieser Hinsicht Maßstäbe. Kulturökologische Visionen werden auch stärker an vorneuzeitliche biologische Konzepte von Mensch und Gesellschaft anknüpfen und geographische Aspekte berücksichtigen. Kulturelle Identitätskonzepte müssen jedenfalls multimedial angelegt sein und artverschiedene Kommunikatoren berücksichtigen.
Die Grenzen soziotechnischer Utopien und ihre Überwindung: mankind vision Die Studien des Club of Rome haben die biogenen Perspektiven auf die kulturellen Prozesse wieder salonfähig gemacht. Als Grundaufgabe politischen Handelns nennen und begründen sie: . Erhalt des Lebens auf der Erde und der Artenvielfalt, . Erhalt der Menschheit unter der Bedingung raschen Bevölkerungswachstums.
Dies setzt . Ressourcenschonung und die Berücksichtigung des Prinzips der Nachhaltigkeit voraus. Nur wenn alle drei Ziele konsequent verfolgt werden, scheint jedes einzelne erreichbar. 30 Das ›Überleben der Menschheit‹ bedeutet eine weltgeschichtlich neue Legitimationsformel, einen radikalen Wertewandel. Aus informationstheoretischer Sicht sind Werte ja nichts anderes als eine Rangfolge für die Auswahl, Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Sie ermöglichen Entscheidungen darüber, welche Sinne und welche Umwelten relevant sind, was behalten und was vergessen werden soll und was zuerst und was später zu verarbeiten ist. Man kann die oberste Schicht solcher Werte, die das prinzipielle Zusammenwirken des Ökosystems steuern sollen, ›Sinn‹ nennen. ›Sinn‹ und ›Werte‹ sind eine Art von Information, und es wäre ganz töricht, diese geringer zu schätzen als andere Arten, zum Beispiel als ›Wissenschaft‹. Am Anfang der Menschheitsgeschichte dürfte die individuelle Selbsterhaltung und die Erhaltung der Familie, des Clans an der Spitze der Wertehierarchie gestanden haben. Dann wurde der Sinn des kulturellen Handelns in der Erhaltung und Ausbreitung von Glaubensgemeinschaften oder anderen sozialen Organisationen gesehen. Erst in der Neuzeit trat zu diesen beiden Sinnkonzepten auch der ›nutz der nation‹. Niemals wäre, wie wir im Kapitel gesehen haben, die typographische Sammlung von Informationen im gesellschaftlichen Maße in Gang gekommen, wenn man nicht sehr viele Menschen davon überzeugt hätte, dass es auch sinnvoll ist, sein Wissen nicht nur für sich, für seine Familie oder für seine Organisation zu behalten, sondern es in die ›gemein‹ zu geben. In der Folge traten als Legitimationsformel für Handeln und Informationsverarbeitung der Nutzen oder der ›Sieg‹ von Schichten und sozialen Klassen hinzu, was bekanntlich die Triebkraft für die großen sozialen Bewegungen des . und frühen . Jahrhunderts lieferte. Mit den Studien des Club of Rome – und anderer – hat sich das Sinngefüge von dem einzelnen Menschen oder von Menschengrup Vgl. Aurelio Peccei, Die Grenzen des Wachstums, , Eduard Pestel, Mihajlo Mesarovic: Mankind at the Turning Point. ; sowie die Berichte auf der Konferenz ›Toward a Global Vision of Human Problems‹. Tokio .
pen auf die gesamte Menschheit verschoben. Dies bedeutet auch, dass nicht mehr die Verbesserung der Lebensbedingungen, Antrieb der Industrialisierung und der techno vision, im Vordergrund stehen. Auch der Maßstab für die Einschätzung von ›Verbesserungen‹, von Fortschritt, kann jetzt nicht mehr die Erleichterung für den einzelnen Menschen oder kleinere soziale Segmente sein. Vielmehr wird vorgeschlagen, die Menschheit als ein vielzelliges Lebewesen zu betrachten und dann die verschiedenen technischen und sozialen Innovationen daraufhin zu befragen, welchen Beitrag sie zum Zusammenwirken, zur Kommunikation der vielen menschlichen Zellen leisten. Diesen Gedanken hat Professor Dr. F. J. Rademacher in die Diskussion der Gruppe hochrangiger Experten eingebracht und in zahlreichen Aufsätzen ausgearbeitet. »Wenn man die Menschheit als Lebewesen sieht, die Struktur der Menschheit als Körper, dann sind wir im Moment Zeuge eines gewaltigen Evolutionsschrittes der Menschheit«, schreibt er, »indem dieser Körper gerade sein Nervensystem ausbildet. Dies wird die Art, wie Menschen sich selbst organisieren, dramatisch verändern, und nicht zuletzt direkt auf die politischen Prozesse – und damit auf die zentralen Regelmechanismen unserer Gesellschaft – durchschlagen.« 31 Die gegenwärtigen Anstrengungen zu einer technischen Vernetzung (Daten-Superhighway) sollten seiner Meinung nach vor diesem Hintergrund unterstützt werden, weil sie »letztlich zu einer leistungsfähigen bidirektionalen Kommunikationsmöglichkeit zwischen beliebigen Menschen und Menschengruppen sowie zu niedrigen Transaktions- und Organisationskosten führen und auf diese Weise für die Menschheit so etwas wie ein globales Nervensystem etablieren« (ebd.). So wie sich jede Pflanze und jedes Tier aus Zellen zusammensetzt, aber nicht aus deren Struktur, nicht einmal aus den Strukturen von Subsystemen wie Organen erklärt werden kann, so ist auch die Menschheit ein Lebewesen, das sich zwar aus Menschen und Menschengruppen als Zellen aufbaut, das aber seine eigene Vernetzungsstruktur und seine eigene Umwelt – und damit auch andere Risiken als die Zellen – besitzt. Wie die Ameisenstaaten, wo das Dieser Aufsatz lautet: Chancen und Risiken von Innovationen am Beispiel der Automatisierung von Kognitionsleistungen, Vortrag auf der Festveranstaltung » Jahre österreichisches Forschungsinstitut für artificial intelligence«. Wien , http://www.faw.uni-ulm.de/deutsch/literatur/rademacher/wien ai.html, Seite , dort auch weitere Literaturangaben!
gesamte Volk eine größere Intelligenz als das einzelne Insekt besitzt, so scheint sich auch die menschliche Gemeinschaft in den letzten Jahrhunderten dahingehend entwickelt zu haben, dass sie als Gemeinschaft dem einzelnen Menschen an Fähigkeiten und Wissen überlegen ist. Andererseits spricht vieles dagegen, dass sie sich augenblicklich schon als Gesamtheit begreifen und als Gesamtheit handeln kann. Die Selbstreflexionsfähigkeit beispielsweise scheint bei Individuen und sozialen Organisationen entschieden besser ausgeprägt zu sein als bei dem Supersystem »Menschheit«. Die Diskussion darüber, wie die Informationsverarbeitung der Menschheit zu organisieren ist, hat jedenfalls gerade erst begonnen. Dass das Internet hier wesentliche Ressourcen liefert, wird man kaum bestreiten können. Mit der Orientierung auf »Leben« und »Überleben« hat die Biologie an Bedeutung gewonnen und die Soziologie im gleichen Maße als Wertegeber an Bedeutung verloren. »Zelle«, »Leben« und »Arterhaltung« sind Zentralbegriffe der Biologie, nicht der Soziologie, jedenfalls nicht jener, die die Diskussionen in den letzten Jahren bestimmte. »Leben« taucht in Niklas Luhmanns Hauptwerk »Gesellschaft der Gesellschaft« weder als Schlagwort noch als Kapitel auf. Seine Gesellschaft lebt nicht in einem biologischen Sinne, und er wird ironisch, wenn er denn einmal über diese Kategorie nachdenkt: »Wer sich für Menschen als lebende Population (im Kampf mit Mücken, Löwen, Bakterien usw.) interessiert, muss demographische Orientierungen wählen. Von einer Evolution des Sozialsystems Gesellschaft kann man dagegen nur sprechen, wenn man nicht an ein lebendes, sondern an ein kommunizierendes System denkt, das in jeder seiner Operationen Sinn reproduziert, Wissen voraussetzt, aus eigenem Gedächtnis schöpft, kulturelle Formen benutzt.« 32 Welche Motive dazu getrieben haben, Kommunikation und Leben einander gegenüberzustellen, dürfte nicht leicht zu klären sein. Umso klarer sind die Folgen für die Gesellschaftstheorie: Sie steigt damit aus dem Diskurs über die Lösung der zentralen Probleme unserer Kultur aus. Die Beschäftigung mit den komplexen Folgen des menschlichen Handelns für die Natur in den Studien des Club of Rome stärkte sowohl systemische als auch ökologische Denkweisen. Die kritische Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. . Teilband, Frankfurt am Main , S. .
Auseinandersetzung mit den Fortschrittsmythen und die Einsicht in die »Grenzen« des Wachstums, die Endlichkeit der materiellen Ressourcen beförderte ambivalentes Denken (Gewinn-VerlustRechnungen). Die Suche nach Balance, nach Gleichgewicht wurde zu einer Zentralkategorie nicht nur in der Forschung, sondern auch in den politischen Diskursen. Wer die Balance stört, muss sich legitimieren. Da jede Technisierung in das Fließgleichgewicht eingreift, muss jeder neu zu bauende Autobahnkilometer gerechtfertigt werden. Und dies kann nicht mehr durch den Rekurs auf Fortschritt im Sinne der techno vision erfolgen. Die techno vision ist mit anderen Worten selbst legitimationsbedürftig geworden. Mit der Forderung nach »Nachhaltigkeit« wird die Zeit und insbesondere die Zukunft zu einem relevanten politischen Faktor. Nach der Definition von Lester Brown, dem Direktor des Worldwatch Institute in Washington, sind solche nachhaltigen (sustainable) »Lösungen« jene, die es der Menschheit gestatten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne die Aussichten zukünftiger Generationen zu vermindern. 33 Es geht um die Erweiterung unseres Horizonts von der Ein- auf die Mehrgenerationenperspektive. Als tragbar werden nur noch diejenigen technischen Projekte angesehen, die auch für die nachfolgenden Generationen Vorteile bringen. Geburtenkontrolle wird zur Angelegenheit der Menschheit – und damit ein Stück weit der Verantwortung der einzelnen Menschen entzogen. Die Ungeborenen werden damit zum Teil unserer heutigen Kultur gemacht. 34 Es ist in der Tat nicht anzunehmen, dass diese grundsätzliche Erweiterung unserer kulturellen Kommunikationsgemeinschaft weniger dramatisch verläuft als der Ausschluss der Toten. Die Berücksichtigung der Chancen zukünftiger Generationen erhöht den Bedarf an sozialer Selbstreflexion und rückkopplungsintensiven Sozialformen. Wir eröffnen folgenden Generationen dann einen größeren Handlungsspielraum, wenn unsere eigenen Handlungen reversibel sind und/oder die Reversibilität in der Natur durch Technik unterstützt wird. Bislang haben wir es in der kulturgeschichtlichen Dieses Ziel wird freilich durch das Wort »Nachhaltigkeit« denkbar schlecht ausgedrückt: Es sollen gerade solche Lösungen vermieden werden, die nachhaltig wirken, etwa die Aufmerksamkeit und die Ressourcen der nachfolgenden Generationen auf Jahrhunderte binden, wie dies beispielsweise die Atomtechnologie tut. Dies dürfte ein tieferer, von den Protagonisten allerdings kaum bemerkter Grund für das Wiederaufflammen der Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche sein.
Abb. : Visionen der europäischen Informationsgesellschaft (IG)
Die Asymmetrien, zu deren Ausgleich Technik und Markt in der Nachkriegszeit gepriesen wurden (soziale Ungleichheiten, Nachteile der EU im globalen Wettbewerb, Arbeitslosigkeit u. a.), haben sich innerhalb der EU und global verstärkt. Es gibt keine zuverlässigen Strategien für die weitere Gestaltung der europäischen Informationsgesellschaft (IG) mehr. Soziale Aspekte der IG und die Suche nach alternativen Inhalten und Werten treten in den Vordergrund. Die Politik beschränkt sich darauf, Rahmenbedingungen für Entwicklung und Wirtschaft zu setzen.
Orientierung auf die Bedürfnisse der Menschen anstatt auf die Möglichkeiten der Technik und des Wettbewerbs ⇒ Technik und Markt als Hilfsmittel der besseren Bedürfnisbefriedigung der Verbraucher
Krise der er Jahre
user vision human vision
Schutz von Ressourcen, Verbrauchern, Informationen/ Urhebern, Frauen, Behinderten … Mehr Transparenz, bessere Ausbildung und Information der Bürger
Vertrauen auf die Selbstregulationskraft des Marktes, Deregulierung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Prämierung des wirtschaftlichen Subsystems der Gesellschaft, Ausbau der technischen Netze
Freier Markt, Unternehmerinitiative und Wettbewerb als Motor und als Steuerungsmechanismus der Gesellschaft ⇒ Verbesserung der Lebensbedingungen durch Selbstorganisation und Bereitstellung technischer Rahmenbedingungen
Politische Strategien Subvention von (technischer) Forschung und Wissenschaft; Bereitstellung der Infrastruktur für Wachstumsindustrien; Entwicklungshilfe als Technologieexport
market vision technical network vision
Visionen
Technik und Technologieentwicklung als Motor der Umwandlung der Industriegesellschaft. ⇒ Verbesserung der Lebensbedingungen durch Entlastung von Arbeit
techno vision
Folgen
Wachsende Bedeutung des non-Profit-Bereichs, ›Information‹ wird zur Produktivkraft und Zentralkategorie der Politik, Bedarf an Mediation wächst
Glaubwürdigkeitskrise der traditionellen politischen Parteien, Etablierung alternativer ökologischer Bewegungen
Zunahme der Ungleichgewichte in der technischen und sozialen Entwicklung in und zwischen den Ländern; Zusammenbruch von Wohlfahrtsstaat und Staatssozialismus
Verknappung natürlicher Ressourcen, Verstädterung; Öffnen der Schere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
cultural vision dialogue vision Ökuloge
Sicherung des Überlebens der Menschheit angesichts von Bevölkerungsexplosion, Verknappung wichtiger Ressourcen und negativer Folgen der Industrialisierung ⇒ Recycling und Nachhaltigkeit
mankind vision ecological vision
Ökologischer Umbau der Industriegesellschaften, globale Initiativen zur Wiederherstellung ökologischer Gleichgewichte im Biosystem, Delegation von Verantwortung an überstaatliche Einrichtungen, Förderung von life sciences
Verbesserung der Vernetzung von Menschen, Gemeinschaften und Staaten ⇒ globale Dialoge, Hilfe zur Selbsthilfe Qualifizierung der Menschen zum Dialog; Datensuperhighway- und Multimediaförderung
Politische Strategien
Die Informationsgesellschaft als Kultur betrachten und diese als komplexe Informationssysteme (›information society‹), dialogische Netzwerke und multimediale Ökosysteme gestalten ⇒ Ökuloge, Aufhebung der kommunikativen Monokulturen
Ausbalancieren von Ungleichgewichten im Verhältnis Mensch/GesellschaftNatur-Technik; Förderung des Dialogs, synästhetischer Informationsverarbeitung, dezentraler Vernetzungsstrukturen und multimedialer, modularer Wissensdarstellung ⇒ Oszillation, balancing, focussing
Folgen
Prestigeverlust von Technik und Wachstumsvisionen, Soziologie und Sozialpolitik; Etablierung ökologischer und ethischer Perspektiven; zukünftige Generationen werden Teil der Gesellschaft
Legitimationsprobleme für Formen »repräsentativer« Politik; Internet als Voraussetzung, Autonomieverlust von Staaten und staatlichen Einrichtungen ›Kommunikation‹ (als Vernetzung) wird zur Schlüsselkategorie und -qualifikation
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik müssen sich durch ihren Beitrag zur Erhaltung/Besserung des kulturellen Ökosystems legitimieren; Entmystifizierung der Werte der Buchund Industriekultur ⇒ Relativierung monosensueller Informationsgewinnung und monomedialer Speicherung, linearer Informationsverarbeitung, hierarchischer und interaktionsarmer Vernetzung
Ausblick auf die Vision der Informationsgesellschaft als ökologischer Dialogkultur:
Engere soziale und technische Vernetzung von Menschen und Gemeinschaften ⇒ bessere Vernetzung und Kommunikation als universeller Problemlöser
social network vision
Visionen
Perspektive als Verdienst angesehen, »erworbene Eigenschaften« zu vererben. Wir wissen aber aus der Biologie, dass die Differenzierung zwischen Lernen und genetischer Vererbung genau den Sinn macht, nachfolgende Generationen nicht mit den Erfahrungen der Eltern zu belasten. Wenn sie deren Handlungsmuster übernehmen, werden sie zu starr, um auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren. Sie wären weniger flexibel als ihre Eltern. Und genau um die Erhaltung dieser Flexibilität geht es in der Diskussion um die Nachhaltigkeit. »Es geht«, so J. Rademacher, »darum, die Telematik-Infrastrukturen weltweit geeignet so zu etablieren, dass eine preiswerte und gleichberechtigte Einbeziehung von Menschen rund um den Globus in die zukünftige Informationsgesellschaft ermöglicht und gleichzeitig eine signifikante Dematerialisierung (das heißt eine Erzeugung von Lebensqualitäten bei geringerem spezifischen Energieund Ressourcenverbrauch) erreicht wird.« Das Wirtschaften muss sich »weg von physischen Bewegungen und hoher Energie- und Ressourcennutzung hin zu dematerialisierten Lösungen verlagern«. 35 Hier wird schon deutlich, wie mit Bezug auf die neue Sinndimension der Einsatz der Informationstechnologie völlig neu, ohne Rückgriff auf die Formel von der Erleichterung der Mühsal der Arbeit begründet werden kann. Selbstverständlich bezieht sich das Prinzip der Nachhaltigkeit nicht nur auf die Regenerationsfähigkeit der Menschheit, sondern auch auf jene der übrigen Natur. Die Menschheit muss als Ökosystem in ihrer Wechselwirkung mit ihrem Biotop betrachtet werden. Einen Versuch in diese Richtung stellt beispielsweise das Konzept der »Gaia« dar, das die Erde als einen angepassten Organismus auffasst, der sich in Koevolution mit anderen Elementen des Sonnensystems befindet. Einen weiteren, alternativen Ansatz verfolgt das kommunikationstheoretische Kulturmodell (cultural vision). Bevor dieses Konzept im nächsten Kapitel ausgeführt wird, sollen die Visionen der europäischen Informationsgesellschaft des ausgehenden . Jahrhunderts noch einmal in einer Tabelle (Abb. ) zusammengefasst werden. Die Reihenfolge der Visionen widerspiegelt die Mainstreamdiskussion in der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise in der Die Informationsgesellschaft: Langfristige Potentiale für eine nachhaltige Entwicklung und die Zukunft der Arbeit, , http://www.Faw.uni-ulm.de/ deutsch/literatur/rademacher/info ges.html.
Europäischen Union. Es gab und gibt in den einzelnen Phasen immer auch Stimmen für die anderen Visionen. Die network vision hat als Vision der technischen Vernetzung eine ununterbrochene Tradition, quasi als Unterabteilung der techno vision. User vision und social network vision haben sich im engen Zusammenhang herausgebildet: Erst die Orientierung auf die Netze hat einerseits die Notwendigkeit von sozialen Netzwerken als Selbsthilfeinstrument vor Augen geführt. Andererseits orientiert sich die social network vision an sozialen Rollen, Gruppen, Schichten als Kommunikatoren. Wichtiger als ein natürlich möglicher Streit um die chronologische Hierarchie sollte die Identifizierung der einzelnen Visionen sein. Sie werden als Module, die es zu gewahren gilt, auch für die Zukunft Bedeutung haben. Allerdings müssen dazu theoretische Rahmen und neue Mythen geschaffen werden. Die in diesem Kapitel analysierten Dokumente der Europäischen Union liefern hierfür Anregungen und Daten. Die als Ergebnis der historischen Trendforschung vorgeschlagene cultural vision geht über die Empfehlungen der Experten hinaus.
. Strategien für die Zukunft: cultural vision Zu welchen Ergebnissen hat die Anamnese und Diagnose der Buchkultur und der postindustriellen Gesellschaft bis zur Jahrtausendwende geführt? Zunächst erweist sich die Vision der Informationsgesellschaft, also die Betrachtung der vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften als komplexe informationsverarbeitende Systeme als sinnvoll (info vision). Die Trends gehen hier zu einer Verstärkung der multisensoriellen, massiv parallelen und selbstflexiven Informationsverarbeitung. Dies wird in den Diskussionen der vergangenen Jahre auch durch Begriffe wie ›Wissensgesellschaft‹, ›cognitive society‹, ›Lerngesellschaft‹ u. a. ausgedrückt. Zweitens zeigte der Aufschwung des Konzepts der network society, dass sich die Weltgesellschaft besser als moderiertes Netzwerk denn als System begreifen lässt (network vision). Drittens scheiterten alle Versuche, die (europäische) Informationsgesellschaft einseitig entweder als technisches oder als soziales, durch den Markt zusammengehaltenes System zu gestalten. Die Lösungssuche geht in Richtung ökologischer Konzepte (eco vision). Um diese drei konzeptionellen Trends zusammenzuführen, bietet sich das schon im ersten Kapitel vorgestellte kommunikationstheoretische Kulturmodell an. Es ist einerseits das Ergebnis der vielfältigen Trendforschungen, andererseits hat es in diesem Buch als Vorlage für die Datenerhebung und -auswertung gedient, aber es eignet sich eben auch als normatives Konzept, als cultural vision. Was immer Kulturen sonst noch sein mögen, sie sollen auch als kommunikative Phänomene betrachtet werden. Kulturen als Kommunikationssysteme zu verstehen, schon dies ist eine Vision. Sie kann präzisiert werden, indem man die kommunikativen Ideale nennt. Als Orientierung empfiehlt sich die stärkere Berücksichtigung synästhetischer, massiv parallelverarbeitender und selbstreflexiver Informationsprozesse. In topologischer Hinsicht verdienen multimediale Vernetzungen zwischen artverschiedenen Kommunikatoren und dialogische Steuerungsformen mehr Aufmerksamkeit. Das Zusammenwirken zwischen rückkopplungsintensiven und interaktionsarmen Kommunikationsformen wird zu einer Zukunftsaufgabe. In der ontologischen spiegelungstheoretischen Dimension geht es darum, die soziologisierende und psychologisierende Sicht
Abb. : Strategische Akzente der cultural vision
weise zu verlassen und Menschen, soziale Systeme, Natur und Technik gleichermaßen als Medium und als Katalysator kultureller Veränderungsprozesse einzusetzen. Die Abb. fasst die wichtigsten stragegischen Akzente der cultural vision auf kommunikative Phänomene zusammen. Es wird in diesem Kapitel darum gehen, die gegenwärtigen und zukünftigen Informationsgesellschaften vom topologisch-netzwerktheoretischen Parameter aus als Netzwerke natürlicher, technischer und sozialer Informationssysteme/Relais und Vernetzungsmedien zu verstehen. Dabei ist klar, dass diese Beschreibungsperspektive nur einen Aspekt betont. Kommunikation lässt sich nicht nur – monomythisch – als Vernetzung begreifen. Sie verläuft auch als Koevolution, das heißt als Spiegelung zwischen Medien und Kommunikatoren. Und sie führt zu kollektiver Informationsverarbeitung. Diese polymythische Vision von Kommunikation, eben Kommunikation D, gibt klare Anweisungen für den Aufbau einer kulturellen corporate identity der Informationsgesellschaft: als informationsverarbeitendes System, als multimediales Netzwerk und als Ökosystem artverschiedener Medien und Kommunikatoren, die sich in Koevolution befinden. Die Vision einer ökologischen Kommunikationskultur sollte als Instrument betrachtet werden, die bekannten und neuen Formen
der Vernetzung der Kommunikatoren/Medien und der Informations- und Materialverarbeitung in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Dabei wird im Ergebnis ein anderes kulturelles Ökosystem emergieren, als wir es aus Geschichte und Gegenwart kennen. Die kommunikationstheoretische Kulturvision kann auch Verkrustungen in ökologischen natur- und sozialwissenschaftlichen Analysen aufbrechen. So legte die traditionelle ökologische Bewegung ihren Focus auf die Bewahrung der Natur – nicht auf jene der sozialen Systeme, der technischen Errungenschaften und nicht auf den Menschen als soziales und durch Technik geschaffenes Wesen. Die traditionelle Kulturtheorie konzentrierte sich demgegenüber eindeutig auf den Menschen als soziales Wesen. Die Natur- und Technikwissenschaften andererseits messen die Leistungen der Kulturen an ihrem Vermögen, die Natur geplant zu transformieren. Es kommt für die Zukunft darauf an, alle drei Perspektiven in einen Dialog zu bringen. Das Konzept der cultural vision sieht die Kultur als inhomogenes Netzwerk artverschiedener Elemente, darunter sowohl jene, die im Zentrum der ökologischen Bewegung standen, als auch der Menschen und ihrer Technik.
Die Informationsgesellschaft als ökologisches Netzwerk: network vision D Die Weltgesellschaft der gegenwärtigen Epoche kann nicht zureichend als System, auch nicht als kommunikatives Supersystem beschrieben werden. Das Systemdenken entfaltet seine Stärke, wo es um Strukturbildungsprozesse geht und die Grenzen zwischen Phänomenen und ihrer Umwelt betont werden sollen. Kulturelle Prozesse lassen sich aber sowohl als Strukturbildung als auch als Strukturauflösung verstehen. Gerade in radikalen Umbruchsphasen brauchen wir Chaospiloten eher als Ordnungshüter. Und gerade Kommunikation lebt vom Wechsel zwischen Vernetzung und Trennung von Kommunikatoren. Die Vorstellung, dass jedes Knüpfen einer neuen Verbindung, auch jede Systembildung, zugleich die Auflösung einer anderen bedeutet, wird durch die network vision besser ausgedrückt als durch systemtheoretische Konzepte. 1 Vgl. M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Werden und Vergehen von Organisationen – Die Begleitung der Auflösung von Organisationen als Aufgabe der Supervision. Januar . In: Supervision, Heft /, S. -, Münster (Votum).
Vom rechnenden Raum zu den ökologischen Netzwerken Als einer der ersten hat Konrad Zuse, der Erbauer der ersten frei programmierbaren Rechenmaschine, vorgeschlagen, die Welt als ein Netzwerk, einen ›rechnenden Raum‹ zu betrachten. Jedes Medium und jeder Prozessor hat hier Relaisfunktion. Ein Relais stellt Schaltkreise her, indem es jeweils andere unterbricht: »Relaisrechner enthalten Relaisketten. Stößt man ein Relais an, so pflanzt sich dieser Impuls durch die ganze Kette fort«. 2 Durch den Vergleich mit dem Relaisrechner wird der dynamische und flexible Netzwerkcharakter der Weltgesellschaft anschaulich. Ähnlich wie bei dem Vergleich mit den neuronalen Netzen wird deutlich, dass dieses Netzwerk beständig zwischen Chaos und neuer Ordnung wechselt, keine permanenten, starren Systeme zulässt. Oder anders: Systeme sind nur Übergänge. Sie lassen sich sowohl als Chaos als auch als Ordnung verstehen. Kulturen und Gesellschaften als Netzwerke zu betrachten, hat eine lange Tradition. »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen«, schrieb Karl Marx in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie« in den Jahren /. 3 Das Wichtige an der Gesellschaft sind also dem Ökonomen, dem Soziologen und vielen Politikern nicht die Individuen, sondern die Beziehungen zwischen ihnen oder anders ausgedrückt: Die Elemente des Gesellschaftssystems sind Relationen. Diese Modellierung hat zur Emanzipation der Gesellschaftstheorie von der Psychologie, die sich auf die Bedürfnisse, Motive usw. der Individuen richtet, beigetragen. Konsequent hat die soziologische Systemtheorie den Relationierungsgedanken fortgesponnen. Die Gesellschaften erscheinen, spätestens seit Talcott Parsons als soziale Systeme. Die verschiedenen Theorieansätze unterscheiden sich danach, was als Knoten oder Pol dieser systemischen Relationierung auftaucht: Wiederum soziale Relationen, soziale Handlungen, Menschen, Kommunikationen? Wie auch immer hier die Entscheidung ausgefallen ist, als Elemente wurden letztlich nur gleichartige, homogene Objekte akzeptiert. Die Spezifik kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung ergibt sich jedoch dadurch, dass unter Der Computer – Mein Lebenswerk. Berlin/Heidelberg/New York u.a. , S. . Nachdruck: Frankfurt am Main/Wien , S. .
schiedliche Typen von Informationssystemen mit unterschiedlichen Typen von Medien verbunden werden. Gerade um diesen inhomogenen Charakter sowohl der Relation als auch der relationierten Elemente auszudrücken, habe ich im ersten Kapitel das Konzept der Kultur als Netzwerk eingeführt. Der Aufschwung der Netzwerkmetapher hängt unmittelbar mit der Computerentwicklung und der Erforschung der Arbeitsweise unseres Gehirns zusammen. Wie schon Konrad Zuse formulierte, funktionieren die Rechner wie ein Relais, können einen Input entweder weiterleiten oder nicht beziehungsweise zwischen zwei Wegen hin- und herschalten. Sie sind also offen nur für einen Informationstyp, elektrische Schwingungen. Alle anderen Umweltereignisse: stoßen, rufen, anblicken usw. bemerken sie nicht. In diesem Sinne muss man die Grundzellen technischer Informationsverarbeitung als monosensuell, monomedial und monoeffektiv bezeichnen. Sie sind auf einen Input- und einen Outputtyp spezialisiert. Komplexere informationsverarbeitende Systeme (Relaisrechner) entstehen dann, wenn mehrere solcher Zellen miteinander vernetzt werden. Dabei wird häufig, etwa von den Vertretern der Theorie ›Neuronaler Netze‹, betont, dass die spezifische Leistung solcher mehrzelligen Informationssysteme ausschließlich durch die Netztopologie, also durch die Art und Weise, wie die einzelnen Knoten untereinander in Beziehung stehen, bestimmt wird. 4 Die Vorstellung relativ einfacher informationsverarbeitender »Zellen«, die sich erst durch Vernetzung komplizieren, findet eine Entsprechung in neurologischen und biologischen Modellen. Bekanntlich stellt(e) man sich auch das Gehirn als zusammengesetzt aus verschiedenen, kaum differenzierten Nervenzellen und Vernetzungsmedien, Synapsen, vor. Und auch diese Neuronen sind monosensuell: Sie reagieren auf positiv oder negativ geladene Ionen, also auf die Ladung chemischer Elemente, vor allem von Natrium. Vermutlich hat die biologische Vorstellung von der Entwicklung des Lebens von den Ein- zu den Vielzellern solche Modelle inspiriert. Rückhalt findet sie allerdings auch durch den Blick auf die soziale Kommunikation, die sich Soziologen ja ebenfalls als Vernetzung gleichartiger Elemente vorstellen. Die Idee, dass die Zellen solcher sozialer Kommunikationssysteme ebenfalls monosensuell Ulrich Schade: Konnektionismus. Zur Modellierung der Sprachproduktion. Opladen , S. ff.
arbeiten, hat die Buchkultur mit ihrer Prämierung von Sprache und Visualität enorm gefördert. Durch den Vergleich mit dem Computer wird der dynamische und flexible Netzwerkcharakter von Kulturen und der Weltgesellschaft anschaulich. Ähnlich wie bei dem Vergleich mit den neuronalen Netzen zeigt sich, dass dieses Netzwerk beständig zwischen Chaos und neuer Ordnung wechselt, keine permanenten, starren Systeme zulässt. Andererseits unterschätzt der Vergleich mit dem Makrocomputer ebenso wie jener mit den neuronalen Netzen die Komplexität. Die Spezifik menschlicher und kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung ergibt sich gerade dadurch, dass unterschiedliche Typen von Informationssystemen (Prozessoren) mit unterschiedlichen Typen von Medien verbunden sind. Die Vorstellungen über den ›rechnenden Raum‹ gingen demgegenüber von gleichartigen Elementen und der Homomorphie von Schaltkreisen aus. Auch die Hirnforschung beginnt erst in den letzten Jahren, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Hirnzellen und Synapsen zu betonen. Kulturen und Menschen sind jedenfalls multiprozessoral und multimedial, und zwar besteht die Vielheit nicht bloß in quantitativer Hinsicht (Mehr-vom-Selben), sondern auch in qualitativer Hinsicht: Artverschiedene Kommunikatoren und Informationssysteme wirken zusammen. Wir müssen neben einer bloß strukturellen und quantitativen Komplexität auch eine weitere, ontologische Dimension in Betracht ziehen: Typendifferenzierung der Elemente und ihrer Verbindungen. Multimediale Informationssysteme und kulturelle Netzwerke sind notwendig mehrzellig, aber darüber hinaus unterscheiden sie sich durch eine besondere Form interner Differenzierung von den monomedialen Kommunikationssystemen. Sie müssen mindestens über zwei unterschiedliche Typen von Sensoren und Effektoren verfügen. Nur deshalb können sie nicht nur gleichartige, sondern auch unterschiedliche Medien nutzen, unterschiedliche Informationsarten verarbeiten. Die Kommunikatoren/Schaltstellen stehen, um noch einmal die Raummetapher zu verwenden, nicht nur in Kontakt mit anderen Kommunikatoren auf dem gleichen Stockwerk, sondern sie stellen auch Beziehungen zu Informationssystemen auf den anderen Etagen her. Die Klärung dieser »Stockwerke«, des ontologischen Parameters, ist eine wichtige Aufgabe bei der Beschreibung beliebiger kultureller Netzwerke. Die Informationsgesellschaft, die sich nachhaltig organisieren
will, muss sich als Netzwerk artverschiedener Subsysteme, als Ökosystem begreifen. Die Relativierung der soziologisierenden Perspektive auf unsere Gesellschaft ist eine unverzichtbare therapeutische Intervention.
Technische und soziale Maschen im kulturellen Netzwerk Die zweite Vision, die in den Diskussionen des letzten Jahrzehnts zurückgebaut wurde, ist jene der technischen Vernetzungsmedien. Was immer mit dem globalen Dorf gemeint sein mag, es baut sich nicht allein auf dem Internet auf. 5 Wir sind nicht nur durch Kabel, sondern auch durch andere Medien verbunden. Das ›globale Dorf‹ bedarf unterschiedlicher Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsmedien, wenn es zusammenhalten und funktionieren soll. Die Vision eines einzelnen, wenn auch ›breiten‹ Kanals, durch den Informationen fließen, die durch digitale Umsetzung aus ganz unterschiedlichen Medien entstanden sind, entspricht letztlich eher dem monomedialen Weltbild der typographischen Kultur. Diese hatte sich von Anbeginn an zum Ziel gesetzt, die Informationen aus den zahlreichen vorhandenen schriftlichen, zeichnerischen, mündlichen, gestischen, handlungsmäßigen Medien in das eine des gedruckten Buches zu übersetzen. Sie wollte alle Informationen, ganz gleich mit welchen menschlichen Sinnen sie zu gewinnen sind, in eine Standardschriftsprache übertragen. Sie konnte sich den Autor als eine Art Trichter vorstellen, der die Breite des Informationsangebots zwar mit allen Sinnen aufnahm, sie aber dann so weit auf das Format von ›Sätzen‹ reduzierte, dass sie durch diesen sprachlichen Engpass in die Bücher fließen konnten. Wie wir gesehen haben, ließ sich dieses Ziel nur teilweise verwirklichen. Es verdient nicht, erneut in die Diskussion geworfen zu werden. Die bloße Substitution von Buch und Standardsprache durch den binären Code der Maschinensprache der Computer wird schwerlich zur Verwirklichung derjenigen Wünsche beitragen, die die Menschen gegenwärtig mit der multimedialen Vision verknüpfen. Wenn Multimedialität im Informationszeitalter mehr heißen soll als eine Steigerung von Monomedialität, dann wird die Infor Die Visionen, die der amerikanische Medientheoretiker Neil Postman unter dem Titel »Technopoly« veröffentlichte, sind im Kern gerade deshalb so verblüffend rasch veraltet, weil er die Rechenmaschine und die technischen Vernetzungsformen als Paradigma wählte.
mationsgesellschaft neben der Verkabelung noch weitere Typen von Vernetzung brauchen, auch im Sinne der Vernetzung multimedial werden. So wie das Handgießinstrument, der Setzkasten und die Druckerpresse zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für die Entstehung der Buchkultur bildeten, so genügen auch die Rechner nicht als Basis der Informationsgesellschaft. Und das Internet liefert als technische Infrastruktur nur ein dürres Mediengerüst, vergleichbar vielleicht den Straßen, Fuhrwerken, Buchlagern … in der frühen Neuzeit. Wir sind im Augenblick dabei, auch das Bild von den Maschen des kulturellen Netzes der Informationsgesellschaft zu enttechnisieren. Als weitere Medien empfehlen sich alle Formen von sozialen Systemen und die Menschen in ihren unterschiedlichen Rollen. In der betriebswirtschaftlichen Literatur werden diese »nicht-technischen Formen der Vernetzung« schon gemeinsam mit den »technischen Formen« behandelt. Als Zukunftsqualifikation wird von den Mitarbeitern »das Agieren in Netzwerken, und zwar sowohl in technischen als auch in nicht-technischen Netzwerken« gefordert. 6 Um die kulturellen Netzwerke zu beschreiben, braucht man sowohl eine Vorstellung von den Vernetzungsmedien als auch von den Relais oder Kommunikatoren. Wie vielgestaltig diese Knoten auch immer ausfallen mögen, unter kommunikationstheoretischer Perspektive müssen sie selbst wiederum eine Struktur und Dynamik besitzen, die netzähnlich ist, wenn eine optimale Funktionsweise des Gesamtsystems gewährleistet werden soll. Der Mikrokosmos der Knoten kann dann als Spiegel des Makrokosmos der Netze dienen – und umgekehrt. Die Schwachstelle der marktwirtschaftlichen organisierten Buch- und Industriekultur, die darin liegt, dass es eine Spannung zwischen den zentralistischen innerbetrieblichen Strukturen und den dezentralen selbstregulativen Strukturen des Marktes gab und gibt, sollte nicht reproduziert werden. Die Idee, sowohl die Relais als Netzwerke als auch die Vernetzungsmedien als Relais zu betrachten und zu organisieren, bildet einen Grundpfeiler Picot/Reichwald/Wigand, S. . Die nicht-technischen Netzwerke werden nach Modellen der Arbeitsorganisation und der Kommunikation differenziert. So »lassen sich Organisationen als Netzwerke von Konversationen interpretieren« (ebd., S. ). Der Unternehmenserfolg hängt nicht in erster Linie vom Niveau der technischen Vernetzung oder von der Arbeitsorganisation, sondern von der Vernetzung dieser beiden Vernetzungstypen ab (ebd., S. ).
der kulturellen Netzwerk-Vision. 7 Sie lässt sich nur in die Praxis überführen, wenn die einzelnen Elemente einen homomorphen, eben netzwerkähnlichen Charakter bekommen.
Parameter kommunikativer Netzwerke Wenn wir bei der Rede von den Netzen nicht mehr ein zweidimensionales Gebilde – Fischernetze oder die Längen- und Breitengrade auf den Landkarten – im Hinterkopf haben, sondern an mehrdimensionale Räume, eben Netzwerke, denken, dann müssen wir auch Angaben zu diesen Parametern machen. Aus kommunikationstheoretischer Sicht bieten sich hier vorab die drei Parameter der kommunikativen Welt an. Man kann die Netzwerke und ihre Elemente als informationsverarbeitende Systeme (Makrorechner) verstehen und dann nach den Steuerungsprogrammen fragen. Zweitens muss auf dem topologisch-netzwerktheoretischen Parameter nach den spezifischen Vernetzungsformen der Kommunikatoren/Relais gesucht werden. Und drittens dient der ontologische Parameter der Klärung der Etagen des Netzwerkes: Auf welchen verschiedenen Niveaus emergieren die Vernetzungsmedien und Relais? Je nachdem, welches Emergenzniveau wir hier in den Vordergrund stellen, erhalten wir andere Ausschnitte aus dem Netzwerk der kommunikativen Welt. Für die Beschreibung kultureller Kommunikation und kultureller Netzwerke sind grundsätzlich drei Ebenen zu berücksichtigten: Technik, Natur und Gesellschaft. Selbstverständlich lassen diese Etagen sich weiter in Räume beziehungsweise Typen untergliedern. Die Informationsgesellschaft der Zukunft ist weder ein Technopark noch ein Biosphärenreservat, noch ein soziales Supersystem im Sinne der ›Weltgesellschaft‹. Ihre Komplexität und ihre Risiken ergeben sich gerade aus der Vernetzung von hochorganisierten Formen sozialer und technischer Medien/Relais mit den natürlichen Ressourcen. Eine zeitgemäße network vision ist multidimensional und berücksichtigt neben der informationstheoretischen auch die ökologische, emergenztheoretische Dimension. Abbildung fasst Letztlich fußt sie auf dem spiegelungstheoretischen Ansatz. Alles spiegelt sich in allen Teilen – und in den Teilen des Makrokosmos.
Abb. : Parameter kultureller Netzwerke und mögliche Skalierungen
die Parameter kultureller Netzwerke zusammen und zeigt einige Möglichkeiten ihrer Skalierung. Die Frage, ob es Grundstrukturen der Vernetzung (in der topologischen Dimension) gibt, die sowohl für soziale als auch für technische, neuronale und andere Medien gelten, muss augenblicklich wohl noch unbeantwortet bleiben. In den Handbüchern der technischen Informatik der Nachrichtentechnik werden durchgängig die drei Typen des kettenförmigen Netzes, des kreisförmigen Netzes und des stern- oder baumförmigen hierarchischen Netzes (sowie deren Kombination) unterschieden. Unsere Kenntnisse über die Vernetzungs- und Steuerungsformen von kulturellen Netzwerken sind jedenfalls bescheiden. Es bleibt deshalb kaum anderes übrig, als in anderen Bereichen nach Vorschlägen zu suchen. Als Vorbilder eignen sich hier die Klassifikationen, die Sozialwissenschaftler zur Beschreibung von sozialen Strukturen entwickelt haben.
Grundformen sozialer Steuerung und Vernetzung aus sozialwissenschaftlicher Sicht Bei ihrem Versuch, die unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Differenzierung aus historischer Perspektive und kulturvergleichend zu beschreiben, sind die großen systemtheoretischen Soziologen T. Parsons und N. Luhmann auf drei Hauptformen gestoßen: segmentäre, stratifizierte und funktional differenzierte Gesellschaften. Segmentäre Gesellschaften bestehen aus relativ autonomen gleichartigen Gruppen (Familien, Clans), die lose miteinander verbunden sind. Stratifizierte Gesellschaften sind wie Bürokratien hierarchisch organisiert. Sie bestehen aus ungleichen Teilen: Schichten oder Klassen. Moderne Gesellschaften gliedern sich nach Aufgaben in Subsysteme. Beide Theoretiker haben diese Dreiteilung auch historisch-evolutionär interpretiert: Zuerst tauchen in der Geschichte segmentäre Gesellschaften, dann geschichtete Hochkulturen, dann die funktional differenzierten modernen Gesellschaften auf. Dabei wird davon ausgegangen, dass die jeweils älteren sozialen Koordinationsformen neben den jüngeren bestehen bleiben. Moderne Gesellschaften sind insofern komplexer als ältere, als sie Segmente und Schichten voraussetzen (vgl. Abb. PDF 쩛CD). Diese Dreiteilung besitzt im Augenblick aktuelle Bedeutung, weil sie als Interpretationsfolie für die verschiedenen Versuche dienen kann, die Weltgesellschaft zu ordnen. Gängig ist augenblicklich noch die Vorstellung der Weltgesellschaft als eine Vernetzung von vielen gleichartigen Staaten. Wir haben es nicht mit einer einzigen, sondern mit vielen Gesellschaften zu tun, deren Autonomie einschließlich ihrer territorialen Grenzen zu respektieren ist. Ausdruck dieses Konzepts war der »Völkerbund« und sind die »Vereinten Nationen«. In beiden Fällen muss die prinzipielle Gleichheit der Elemente, also der verbündeten Staaten, anerkannt und praktisch verwirklicht werden (segmentäre Differenzierung). Andererseits haben sich übernationale Organisationsformen, zum Beispiel die UNESCO oder Greenpeace, herausgebildet, die die Interessen von privilegierten oder benachteiligten Schichten, von Frauen, von Kindern, von Tierarten usf. vertreten wollen (stratifikatorische Differenzierung). Zugleich haben sich überregionale Organisationen, insbesondere die Europäische Union, intern funktional differenziert, Ministerien oder Arbeitsgruppen für bestimmte Aufgabengebiete eingerichtet, Organe geschaffen, die sich um Naturschutz,
Fischerei usf. kümmern sollen. Um das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen sozialen Organisationsformen bei der Gestaltung der globalen Informationsgesellschaft drehen sich seit Jahren die politischen Diskussionen. Die Meinungen gehen schon darin auseinander, ob man überhaupt von der globalen Informationsgesellschaft im Singular sprechen kann, oder ob man von einer Vielzahl unterschiedlicher Informationsgesellschaften reden sollte. Mit der Betonung verschiedener Modelle von Informationsgesellschaften geht eben auch der Anspruch eines selbstständigen Entwicklungsganges und einer relativen Autonomie einher: Die europäische Informationsgesellschaft setzt andere Akzente als die amerikanische, die südostasiatische usf. Eine mögliche Gegenposition wäre es, die globale Informationsgesellschaft als ein funktional differenziertes soziales Supersystem zu begreifen. Sie wäre dann in struktureller Analogie zu den modernen Industriegesellschaften aufzubauen. McLuhans Vision von der Informationsgesellschaft als »globalem Dorf« steht hierzu im diametralen Gegensatz. Er prämiert den segmentären Vernetzungsmechanismus der Stammeskulturen: Verkettungen von dyadischen Face-to-face-Gesprächen. Die Dörfer werden als relativ autonome Einheiten betrachtet, deren Bedeutung im kulturellen Netzwerk wechseln kann. Die Fokussierung ist kommunikationspolitisch sinnvoll, weil sie ein Gegengewicht zur gegenwärtig dominanten gesellschaftlichen Organisationsform setzt. Bekanntlich stützt sich McLuhans Vision auf die neuen Medien und vor allem auf die elektronischen Vernetzungsmöglichkeiten. Hier ist Vorsicht angebracht, weil sich das Internet prinzipiell für alle Nutzungsformen eignet. Neu ist vielleicht, dass dezentrale, segmentäre Vernetzungsformen technisch simuliert werden können. Damit erreicht diese Kommunikationsform ein Emergenzniveau, das sie zuvor in der Kulturgeschichte zumindest in diesem Umfang nie besessen hat. Die Steuerungsprogramme sind neben den Vernetzungsformen und dem Emergenzniveau der Medien und Kommunikatoren (ontologische Dimension) der dritte Parameter von kulturellen Netzwerken. Wie immer in der epistemologisch-informationstheoretischen Dimension geht es auch in diesem Fall darum, die Phänomene als Informationssysteme zu betrachten und nach den Programmen zu suchen, die den Informationsfluss steuern. Im Hinblick auf die Informationsgesellschaft hat diese Suche bislang noch nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Es herrscht keine Ei
nigkeit über die Steuerungsmechanismen, die man bevorzugen und die man vermeiden soll. Die öffentliche Diskussion widerspiegelt die Dramatik und Dringlichkeit dieser Frage bislang nur ganz unzulänglich. Betrachten wir zunächst, welche Steuerungsformen die sozialwissenschaftliche Gesellschaftstheorie auseinander hält.
Hierarchie, Markt und andere Steuerungsformen Traditionellerweise hat man nur zwischen dem Markt oder der Wahldemokratie einerseits und der Hierarchie im Sinne einer bürokratischen, organisierten Steuerungsform andererseits unterschieden. Als neue Begriffe tauchten dann spätestens in den er Jahren gehäuft Konzepte wie ›Verhandlung‹, einvernehmliche Vertragsgestaltung, Solidarität, autonome Netzwerke oder ›Policy-Netzwerke‹ auf. Das nebenstehende Schema (Abb. ), das ich aus Helmut Willke: Systemtheorie III: Steuerungstheorie, Stuttgart , S. , entnommen und um einige Positionen ergänzt habe, fasst die bemerkenswert ähnlichen Vorstellungen der letzten Jahrzehnte zu den gesellschaftlichen Steuerungsmodellen zusammen. Das hierarchische Steuerungsmodell haben wir am Beispiel der mittelalterlichen institutionellen (skriptographischen) Netzwerke in Kapitel schon behandelt. Es setzt auf »Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-Down-Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen« (Willke , a. a. O., S. ). Wird das hierarchische Prinzip auf die Steuerung von Gesellschaften angewendet, entstehen Diktaturen oder/und die so genannten ›Planwirtschaften‹. Das Gegenteil dieses wirtschaftlichen Modells ist die freie Marktwirtschaft: »Der Markt lässt sich demgegenüber als ein abstraktes, soziales Steuerungssystem betrachten, das den Vorzug hat, ohne zentrale Regelungen auszukommen, um im Sinne maximaler Gleichheit und Gerechtigkeit allen Menschen – ohne Ansehen der Person – Gelegenheit zu Interaktion und Teilhabe zu geben.« 8 Ähnlich H. Gerd Wiendieck: Teildisziplinen der Wirtschaftspsychologie in: WISTH , , S. -, hier S. .
Autor
Haupt-
formen
dritte Form
vierte Form
Dahl, Lindblom 1953
Hierarchie
Markt
Verhandlung
Polyarchie
Williamson 1975
Hierarchie
Markt
Williamson 1985
Hierarchie
Markt
relationaler Vertrag
Lindblom 1977
Politik (Staat)
Markt
Überredung
Ouchi 1980
Hierarchie
Markt
Clan (Solidarität)
Kaufmann 1983
Hierarchie
Markt
Solidarität
OVe 1984
Staat
Markt
Solidarität
Streek, Schmit- Staat ter, 1985
Markt
Solidarität (community)
Hegner 1986
Hierarchie
Markt
Solidarität
Traxler, Vobruba 1987
Zwang
Tausch
Solidarität
Scharpf 1993
Hierarchie
Markt
Verhandlungssysteme
Mayntz 1993
Hierarchie
Markt
Policy-Netzwerke
Nonaka/Takeuchi 1995
Bürokratie Hierarchie
Partizipation
Hypertextorganisation
Willke 1998
Hierarchie
Demokratie
Netzwerke
Luhmann
Organisierte Sozialsysteme
Gesellschaften
Einfache Sozialsysteme
Castells 1996
organization
market
Network enterprise/society
Verbände (associations)
(Willke mit Ergänzungen von mir, M.G.)
Abb. : Vorschläge für die Unterscheidung der Steuerungsformen von Gesellschaften
Willke: »Der Markt lässt sich verstehen als ›demokratisches‹ Modell eines Güteraustausches (› Mark = Stimme‹), der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip ›Eine Person, eine Stimme‹ (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie lässt sich verstehen als Markt für politische Herrschaft, strukturiert nach dem Prinzip ›Eine Person, eine Stimme‹ (bei der Bildung politischer
Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren ›politische Unternehmer‹ um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter)« (ebd., S. ). Markt und Demokratie sind sich in ihren selbstorganisierenden, dezentralen, reversiblen Entscheidungsprinzipien und in der »formalen Gleichheit der Entscheider/Nachfrager/Konsumenten/Wähler ähnlich«. Zugleich sind beide Formen charakterisiert durch »Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Markt-Machtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt« (Willke, ebd., S. ). Wir können also zunächst zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen der Steuerung komplexer Systeme unterscheiden, einmal durch externe Vorgaben und zum anderen durch eine Selbstregulation der Elemente des Systems. In der Praxis sind beide Regelungstypen miteinander verknüpft, aber eben häufig in unterschiedlichen Proportionen. Dies kann von den Systemen selbst bemerkt und in der Selbstbeschreibung ausgedrückt werden. Liegt der Schwerpunkt auf Außensteuerung, auf Anweisungen, auf sozialer Standardisierung individuellen Verhaltens, so definiert sich das gesteuerte System als ›fremdbestimmt‹. Dies kann als angenehmer Schutzraum oder als Bevormundung, zum Beispiel als ›Kommandowirtschaft‹, erlebt werden. Liegt der Schwerpunkt auf der eigenverantwortlichen Lösung von Problemen der Aktivierung der Systemelemente, so haben wir es mit selbstregulativen Systemen zu tun. Die Normen in selbstregulativen Systemen können nur durch soziale Selbstreflexion im Nachhinein ermittelt werden, eben weil sie nicht durch Dritte artikuliert und von außen herangetragen sind. Entscheidungen fallen in selbstregulativen Systemen mal hier, mal dort, also nicht zentral immer wieder an der gleichen Stelle und nach den gleichen Ablaufmustern. Für überwiegend fremdgesteuerte Systeme ist ein rhetorisches Kommunikationsverständnis typisch: Kommunikation erscheint als planmäßige Einwirkung des Sprechers auf den Gesprächspartner. Dessen Reaktionen werden danach bewertet, ob sie den Intentionen des Sprechers entgegenkommen oder diese stören. Je stärker er sich fremdbestimmen lässt, desto erfolgreicher die Kommunikation. Der gesamte Kommunikationsprozess erscheint als zweckrationales
Handeln. Definieren sich soziale Systeme schwerpunktmäßig als selbstregulativ, so wird die Kommunikation zu einer Systemleistung, zu der die Individuen nur Beiträge leisten können und deren Ausgang sie weder allein bestimmen können noch wollen. Kommunikation verliert den Charakter der Einbahnstraße, wird mehrgleisig, dialogisch, ein komplexer Rückkopplungsprozess, dessen Ergebnis erst im Nachhinein reflexiv festgestellt werden kann. Wie die neben Markt und Hierarchie vorgeschlagenen Steuerungsformen genau zu verstehen sind, darüber gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion noch erhebliche Unklarheiten. Es wird auch die Position vertreten, dass es solche weiteren Formen gar nicht gibt und es sich bei der Suche nach dem ›dritten Weg‹ letztlich immer um eine Kombination von Mechanismen des Marktes und der Bürokratie handele. Diese Frage ist für die politische Diskussion über die Zukunft der Informationsgesellschaft durchaus von praktischer Bedeutung. Letztlich geht es nämlich darum, ob man mit den bekannten marktwirtschaftlichen und bürokratischen Prinzipien – beziehungsweise mit deren Kombination – auskommt oder ob gänzlich neue Formen politischer Steuerung gebraucht werden. Manuel Castells nennt sein Buch über die Informationsgesellschaft typischerweise ›The Rise of Network Society‹ (Cambridge/Oxford ). Die Informationsgesellschaft erscheint ihm als Netzwerkgesellschaft und diese wiederum als eine ›new organizational form‹, genauso neu nämlich wie die elektronischen Informationstechnologien (ebd., S. ). Diese Idee wird von Nonaka/Takeuchi () ebenfalls verfolgt, indem sie als zeitgemäße Organisationsform für die Betriebe ›Hypertextorganisation‹ vorschlagen. Die soziale Organisation soll den Mehrebenen-Verlinkungen von elektronischen Texten angeglichen werden. Über die genauen Steuerungsformen der Netzwerkorganisation gibt es zwischen den verschiedenen Autoren augenblicklich noch keinen Konsens. Eine weit verbreitete Konzeption ist es, Netzwerke als mehr oder weniger moderierte ›Verhandlungssysteme‹ zu konzipieren. In ihrem Aufsatz »Modernisierung und die Logik von interorganisatorischen Netzwerken« 9 fasst Renate Mayntz die Spezifik von Verhandlungssystemen in diesem Sinne wie folgt zusammen: »Verhandlungssysteme werden stabilisiert, wenn es Regeln gibt, die bei der In: Journal für Sozialforschung , Heft , S. -, hier S. f.
Definition annehmbarer Kompromisse behilflich sein können … Diese Regeln mögen sich an einem fairen Austausch orientieren, an Reziprozität oder an einer gerechten Verteilung von Kosten und Nutzen einer gemeinsamen Entscheidung (oder einer bestimmten Problemlösung); in jedem Fall verlangen sie grundsätzlich jedem Teilnehmer eine freiwillige Beschränkung seiner Handlungsfreiheit ab, indem er die möglicherweise divergierenden Interessen anderer Teilnehmer sowie die Auswirkungen der jeweils eigenen Handlungen auf sie berücksichtigt … Aber noch mehr ist im Spiel. Dort, wo eine begrenzte Zahl kooperativer Akteure in einem bestimmten Bereich – einem Politiksektor, einem Wirtschaftszweig, einem technologischen Gebiet – sich stillschweigend auf die Einhaltung von Regeln geeinigt haben, welche die Reichweite für willkürliche und egoistische Handlungen begrenzen, kann sich ein Muster von gegenseitig akzeptierten organisatorischen Identitäten, Kompetenzen und Interessensphären entwickeln.« Abbildung fasst Merkmale zusammen, die in der Literatur immer wieder für funktionierende Netzwerke und/oder Verhandlungssysteme genannt werden 10 (3D 쩛CD, Modul , social network-vision). Die Aufzählung legt den Verdacht nahe, dass die Suche nach der dritten Form im Bereich der ›Netzwerke‹ wenig erfolgreich verlaufen ist. Am ehesten wird der Begriff im Sinne von ›guter Kooperation‹ oder ›Kommunikation‹ gebraucht. Dieser visionäre Charakter drückt sich mit schöner Klarheit in einem Beitrag zum Komplexitätsmanagement aus. »Soziale Netzwerke beschreiben einen qualitativ neuen Interaktionstypus, der sich von den bekannten Typen marktförmiger Transaktionen beziehungsweise hierarchischer Koordination deutlich abgrenzen lässt. Vernetzung meint die vertrauensvolle Kooperation sozialer Akteure, die zwar autonome Interessen verfolgen, jedoch ihre Handlungen mit denen anderer Akteure derart koppeln, dass der Erfolg ihrer Strategien vom Erfolg ihrer Partner (und damit vom Funktionieren ihrer Kooperationsbeziehung) abhängt.« 11 Einen grundsätzlich anderen und für die ersten Schritte aus Eine klare Trennung zwischen ›System‹ und ›Netzwerk‹ vollziehen die wenigsten Autoren. Johannes Weyer: Kooperation als Strategie des Komplexitätsmanagements. In: H. W. Ahlemeyer/Roswita Königswieser: Komplexität managen: Strategien, Konzepte und Fallbeispiele. Frankfurt am Main , S. -, hier S. .
– Gleichrangige Partner, – Freiwillige Beschränkung der Handlungsfreiheit der Akteure (Selbstbindung der Beteiligten), – Polyzentrisch, – Wechselseitig abhängig, dichte Kommunikation und Interaktion, – Autonome Interessen verfolgend, jedoch die Aktivitäten, mit denen der Akteure derart koppeln, dass der Erfolg der eigenen Strategien von dem Erfolg des Partners abhängt. – Selbstregulierend, d. h. die Partner halten sich an Regeln, die sie selbst entwickelt haben, z. B. ›fairer Tausch‹. – Die Aufgaben werden parallel/simultan angegangen. – Redundanz von Informationen, – Lernen und Umsetzen von neuen Einsichten wird gefördert (lernende Organisation). – Klare Zurechnungen von Verantwortung. – Bestens für nicht-repetitive Aufgaben, für neue Problemlösungen geeignet. – Zurückstellen kurzfristiger egoistischer Interessen zu Gunsten längerfristiger Ziele und dauerhafter Beziehungen, – Hohe Transaktionskosten, – Formulierung von Mindestformen gemeinsamer Identität, – Selbstreflexion, – Vertrauen, – Längerfristige Perspektiven, – Toleranz für Ambivalenzen und Ungleichgewichte.
Abb. : Merkmale von Verhandlungssystemen und Netzwerken
sichtsreicheren Weg haben diejenigen Soziologen eingeschlagen, die sich mit den Steuerungsproblemen in einfachen, dyadischen Sozialoder Interaktionssystemen befasst haben.
Interaktionssysteme Niklas Luhmann hat in seinen frühen Arbeiten darauf bestanden, dass sich Soziologie nicht auf Gesellschaftstheorie reduzieren lässt. Und er schlug vor, grundsätzlich drei Typen von sozialen Systemen und damit auch von sozialer Steuerung auseinander zu halten: organisierte Sozialsysteme, Gesellschaften und einfache Interaktionssysteme. Was die Spezifik der organisierten Sozialsysteme anlangt, so treffen sich seine Beschreibungen mit denen der Bürokratie- und Organisationssoziologen. Das Dreierschema der gesellschaftlichen Differenzierung habe ich schon genannt. Bleibt als drittes Konzept
noch jenes der einfachen Sozial- oder Interaktionssysteme, mit dem sich Luhmann später kaum noch beschäftigt hat. In dem in der Zeitschrift für Soziologie erstmals erschienenen Aufsatz ›Einfache Sozialsysteme‹ schildert er diese als Face-to-face-Situationen, in denen sich zwei Personen gegenüberstehen (Anwesenheit), miteinander sprechen, sich wahrnehmen und wechselseitig wahrnehmen, dass sie sich wahrnehmen. Struktur erhalten die einfachen Sozialsysteme durch die Orientierung an der eigenen Systemgeschichte. In der Intention ähnliche Modellierungsversuche kennen wir aus dem Symbolischen Interaktionismus und den wissenssoziologischen Arbeiten von Alfred Schütz. 12 Weitere Ideen steuerte Jürgen Habermas mit seinem Konzept des verständigungsorientierten kommunikativen Handelns und der idealen Sprechsituation bei. Außerdem haben die Konversationsanalyse und die Dialogforschung in vielen empirischen Einzelanalysen Programme der Gesprächssteuerung herausgearbeitet. 13 Aus kommunikationstheoretischer Sicht zeichnen sich die einfachen Interaktionssysteme durch eine sehr kleinräumige Prozesssteuerung, hohe Rückkopplungsintensität, einen hohen Grad an Selbstorganisation und natürlich Multimedialität aus. Wenn Organisationen durch Macht und rollenspezifische Vorschriften, der Markt durch Geld und allgemeine Normen gesteuert werden, so die Interaktionssysteme durch Reziprozitätsmaximen und die (Selbst-)Reflexion der eigenen Strukturen und Dynamiken. Es gelten die Regeln von Turn-taking-Systemen: Wenn einer spricht, hört der andere zu (und umgekehrt)! Und: Sprechen und Zuhören wechseln einander ab, das heißt, auch Sprecher und Zuhörer wechseln ab. Es gibt also keine festen Rollen, die Personen oszillieren zwischen ihren zwei Funktionen. Das Sprechen des Einen wirkt als Reiz für den Anderen. Deshalb lässt sich die Verkettung der Redebeiträge nach dem Reiz-Reaktion-Verstärkungsmuster verstehen. Krisen tauchen üblicherweise dann auf, wenn die Schematisierung der Interaktion misslingt, bei gleichzeitigem Sprechen oder bei gleichzeitigem Zuhören (Schweigen). Krisen, Wider Vgl. G. Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main ; Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze. Band : Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag , Band : Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag . Für eine zusammenfassende Darstellung vgl. M. Giesecke, K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft. Frankfurt am Main , S. ff. und ff.
sprüche, Korrekturwünsche sollen möglichst umgehend manifestiert werden. Einfache Interaktionssysteme sind außerordentlich robust, was den Umgang mit Abweichungen angeht. Sie sind fehlerfreundlich und bevorzugen das Ausprobieren anstatt längerer Planung. Abbildung fasst wichtige Strukturen und Programme von Interaktionssystemen am Beispiel interpersoneller Kommunikation zusammen (Abb. PDF 쩛CD). Die Parallelen zu den Merkmalen der Verhandlungssysteme (Abb. ) liegen auf der Hand. In der Richtung der Vernetzungsund Steuerungsideale unterscheiden sich die Ansätze nicht. Kritik an dem Dreierschema der Steuerung ist von denjenigen Wirtschaftswissenschaftlern gekommen, die Unternehmen und Gesellschaft eher unter informationstheoretischen Aspekten sehen. Kommunikatives oder kulturelles Management, wie es etwa von der systemischen St. Gallener Managementschule, von Peter Senge (Die fünfte Disziplin), von J. Nonaka und H. Takeuchi (Die Organisation des Wissens) oder von den schon häufiger zitierten Picot/ Reichwald/Wigand (Die grenzenlose Unternehmung) propagiert wird, geht davon aus, dass die Hauptsteuerungsformen jeweils funktional für bestimmte Formen sozialer Kooperation, für bestimmte Aufgabentypen sind – und dass deshalb in allen einigermaßen komplexen sozialen Systemen alle drei Typen vorhanden sein müssen. Spannend wird hier dann die Frage, wie die hierarchischen, marktwirtschaftlichen und interaktiven Teilsysteme miteinander verknüpft werden können. Und in diesem Zusammenhang tauchen dann Begriffe wie Modularisierung, virtuelle Unternehmen, Netzwerkunternehmen u. Ä. auf, die auch zur Beschreibung von vier Formen herangezogen werden.
Macht, Geld, Ehre, Reziprozität Was immer kommunikative Systeme sonst noch sein mögen, sie funktionieren auch als Tauschsysteme. Geben und Nehmen, Sprechen und Zuhören, Feedback, Interaktion und Rückkopplungsschleifen, alle diese Begriffe signalisieren, dass die Informationen nicht einseitig fließen. Die drei eben besprochenen Typen sozialer Vernetzung und Steuerung unterscheiden sich auch danach, was gegeben und was genommen wird. Eine ›Gabe‹ ist immer Information, was aber ist
die andere? Und in welchen Proportionen wird ausgetauscht? Oder ökonomisch ausgedrückt: Wie soll der Wert von Informationen bestimmt werden? Diese Frage bleibt bislang für viele Bereiche der postindustriellen Gesellschaft unbeantwortet. Vor allem geht es um den Steuerungsmechanismus in den globalen technisierten Netzen: Wie soll der Wert von digitalen Informationen, die in den elektronischen Netzen zirkulieren, bestimmt und in was soll er ausgedrückt werden? Bekanntlich ist das allgemeine Äquivalent materieller Produktion im marktwirtschaftlichen System das Geld. Sowohl die Produktionskosten als auch der auf dem Markt – nach den Regeln von Angebot und Nachfrage – erzielte Preis lassen sich im Geld quantifizieren. Beide Wertermittlungsverfahren scheinen jedoch in weiten Bereichen der psychischen und sozialen Informationsverarbeitung zu versagen. Wissensproduktion wird, zum Beispiel von der Gruppe hochrangiger Experten, als eine immaterielle Tätigkeit bezeichnet, bei der sich ›ein Wert im herkömmlichen Sinne schwer schätzen lässt‹ (S. ). Materielle Güter scheinen sich grundsätzlich besser quantitativ erfassen, in Preisen ausdrücken zu lassen als die verschiedenen Formen von Informationen: Fähigkeiten, Kreativität, explizites und implizites Wissen, gedruckte Nachrichten, Werte, Computerdaten, Software. Insbesondere die psychische Informationsverarbeitung lässt sich kaum nach dem ökonomischen Modell bilanzieren: Wie viel Ressourcen wurden gebraucht, wie viel Arbeitszeit investiert, um eine bestimmte Fähigkeit herauszubilden, einen kreativen Gedanken zu entwickeln usf.? Das implizite Wissen, also diejenigen Programme, die der Besitzer selbst nicht bewusst ausbuchstabieren kann, scheint grundsätzlich nicht erfassbar. Zwar kann es beliebig reflektiert werden, aber es entsteht im gleichen Augenblick wiederum implizites Wissen. Gerade wenn es richtig ist, dass eine ›Wertverschiebung‹ von ›kodifizierbarem Wissen‹ hin zu intuitivem, ›implizitem Wissen‹ für die sich herausbildende Informationsgesellschaft typisch ist, darf man eine weitere Verschärfung des Bilanzierungskonflikts hochrangiger Experten annehmen (ebd., S. ). »Die Informationsgesellschaft«, so formuliert die Gruppe, »lässt Zweifel an den für einen Großteil unserer Wirtschaftstätigkeit angewandten materiell ausgerichteten Buchführungssystemen und der zunehmend blinden Abhängigkeit der Politik von sich an der Industrie orientierenden wirtschaftlichen Indikatoren aufkommen, die immer mehr an Zuverlässigkeit verlieren«
(ebd.). Die »Wirtschaftstätigkeit konzentriert sich zunehmend in immateriellen, z. T. gar nicht sichtbaren globalen Datentransaktionen, von denen nur ein bestimmter Prozentsatz nachweisbar ist und letztendlich in materielle Güter und Dienstleistungen entfließt« (S. ). Eine praktische Folge hiervon ist, dass die traditionellen Besteuerungssysteme nicht mehr greifen. Der Staat kann an den Werten der Informationsproduktion nicht mehr anteilig beteiligt werden. Das Steueraufkommen sinkt trotz Produktivitätszuwachs gerade dann, wenn Unternehmen in die Softwareproduktion und den informationellen Dienstleistungssektor investieren. Wenn Informationen nicht nach dem Prinzip Ware gegen Geld über den Markt, sondern nach anderen Prinzipien durch das Internet verteilt werden, dann kann es nicht zur gewohnten Preisbildung kommen. Der Wert der Informationen drückt sich nicht monetär aus. Es wäre jedoch falsch, hierin ein neues Problem zu sehen. Vor der Frage, wie der Wert von Informationen auszudrücken ist, haben alle anderen Kulturen in der Geschichte ebenfalls gestanden. Und sie haben darauf immer spezifische Antworten gefunden. Um von diesen historischen Erfahrungen zu lernen, muss man freilich die verschiedenen Typen von Informationsverarbeitung auseinander halten. Wie immer wieder betont, lassen sich Informationen nicht unabhängig von dem informationsverarbeitenden System, also von den verschiedenen psychischen, sozialen, soziotechnischen und anderen Systemen bestimmen. Die frühen, acephalen Stammenskulturen kann man sich am ehesten als Netzwerk einfacher Interaktionssysteme vorstellen. In Gesellschaften, in denen Ware gegen Ware getauscht wird, gilt das Prinzip des Gabentausches auch für das Gespräch von Angesicht zu Angesicht: Gibst du mir nützliche Informationen, so gebe ich dir auch nützliche Informationen. Was nützlich ist, wird in den Gesprächssystemen immer wieder neu ausgehandelt und/oder in den kulturellen Normen der sozialen Gemeinschaft gespeichert. Diese Form der Reziprozitätsherstellung, die nicht über ein abstraktes Drittes vermittelt zu sein braucht, hat sich für viele verbale Kommunikationssysteme im Alltag bis in unsere Gegenwart hinein erhalten. Es wird als Prinzip der Gegenseitigkeit schon den Kindern beigebracht, und es dient als Orientierungsrahmen für die Diagnose von Kommunikationsstörungen in Ehe und Familie. 14 Vgl. das Prinzip des ›Kontenausgleichs‹ in der Ehetherapie bei Jörg Willi: Die Zweierbeziehung, Reinbek .
Sobald zentralistische Hochkulturen entstanden, in denen Güter gehortet werden konnten, waren bekanntlich Schrift und Zahl als Verwaltungsinstrumente erforderlich. In Schriftkulturen werden die verschrifteten Informationen gegen Einfluss ausgetauscht. Mit ihrer Alphabetisierung erwerben die Schriftgelehrten oder Verwaltungsbeamten zugleich institutionelle Macht und häufig gesellschaftlichen Einfluss. Ihre Rolle im Verteilungsnetz der schriftlichen Informationen spezifiziert ihren Rang. Dies gilt für die weltlichen Verwaltungsbeamten ebenso wie für die Priester in religiösen Subsystemen. Wer Unterschriften leisten, Stempel führen darf, hat Macht über die Antragsteller – und kann sich für deren wohlwollende Ausübung bezahlen, ›schmieren‹ lassen. Dies ist eine Konsequenz aller Bürokratie. Es bedeutete von daher einen gewaltigen Einschnitt, als mit Beginn der typographischen Informationsproduktion Buchwissen nun nicht mehr im Tausch gegen institutionelle Macht weitergegeben wurde. Wie ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe, hat es in der frühen Neuzeit bald drei Generationen gebraucht, bis sich die Gesellschaft damit abfinden konnte, dass die Weitergabe von Buchwissen nur vergleichsweise geringe Gegenwerte brachte. 15 Kalkulationsgrundlage sind zunächst die Kosten der Buchherstellung und des -vertriebs, ziemlich unabhängig von den Inhalten. Je nach der Auflagenhöhe, die am Markt verkauft werden kann, erhält der Autor sein Honorar – und der Verleger seinen Gewinn. Selten stand und steht die für die Manuskriptherstellung aufgewendete Zeit in einem guten Verhältnis zum Honorar. Jedenfalls verdienen Handwerker, Mediziner, Techniker, Politiker u. a. mit ihrer materiellen Arbeit eher ihren Lebensunterhalt als mit der Ausbuchstabierung ihres professionellen Wissens in Druckschriften. Entsprechend galt das Bücherschreiben, das heißt die typographische Informationsproduktion, als eine brotlose Kunst. Dass sie überhaupt so massenhaft und erfolgreich betrieben wurde, liegt zum einen an ganz anderen Gegenwerten, die sich jedenfalls bis in unser Jahrhundert hinein überhaupt nicht in Geld ausdrücken ließen: Gemeiner Nutzen, Ehre der Nation, Ehre für den Autor, fachliche Reputation, Erhöhung des gesellschaftlichen (dichterischen, wissenschaftlichen u. a.) Vgl. Giesecke: Volkssprache und Verschriftlichung des Lebens in der Frühen Neuzeit. In: Ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Frankfurt am Main , S. -, sowie ders.: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main , S. ff.
Ansehens der Person. Ohne die Herausbildung entsprechender Ehrvorstellungen und ihrer beständigen gesellschaftlichen Prämierung hätte sich die neuzeitliche Buchkultur niemals entwickelt. Praktisch alle gesellschaftlichen Subsysteme mussten sich daran beteiligen, den Büchern und ihren Produzenten ›Ehre‹ zu verleihen: Die Religion durch die Erhebung von Schrift und Druck zum alleinigen (oder zumindest: privilegierten) Verkündigungsmedium, das Rechtssystem durch die Umstellung auf die Schrift als Beweismittel und Kodifizierungsinstanz, die Wirtschaft durch Einführung der doppelten Buchführung, das Bildungssystem durch die Umstellung auf sprachliches Wissen als Hauptbildungsgut. Damit avancierten die Lehrbücher zum wichtigsten Instruktionsmedium. Die Wissenschaften stellten sich bekanntlich in ihren Erkenntniszielen und -medien ebenfalls in der Weise um, dass am Ende das Verfassen von Büchern zum Ausweis akademischer Qualifikation (Dissertation, Habilitation) wurde. Erst sekundär zahlen sich solche ›Bücher‹ auch in Geld aus, wenn sie nämlich als Eingangsvoraussetzung für bestimmte Berufe akzeptiert werden. Die in den Qualifikationswerken verbreiteten Informationen werden demgegenüber nicht direkt bezahlt – und schon gar nicht durch die Leser. Diese Tatsache bestätigt natürlich das Bild unserer Kultur als Netzwerk unterschiedlicher, aber miteinander verbundener Systeme. Die Investition in den typographischen Markt lohnt sich, weil er mit anderen Kommunikationssystemen verknüpft ist. Wer durch Bücher bekannt ist, mag auch in Gesprächen Vorteile haben. Wir haben also in den modernen Nationen hinsichtlich der sozialen Informationsverarbeitung mindestens drei getrennte Wertsysteme: Reziprozitätsnormen (Naturaltausch) im alltäglichen Gespräch, institutionelle Macht und Status in den schriftgebundenen Verwaltungsdiskursen und Geld und gesellschaftliches Ansehen (Ehre) in den typographischen Informationssystemen. Hinzugetreten sind seit Ende des vergangenen Jahrhunderts die elektronischen Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Sie haben bekanntlich die Preise für einzelne Typen von Informationen in Höhen getrieben, die für das Buchzeitalter völlig undenkbar waren. Und die Zeitungen und Illustrierten, die ohne die elektronischen Medien nicht produzierbar wären, haben sich diesem Trend angeschlossen. Für viele Personen und Berufsgruppen ist die Produktion massenmedialer Information zu einem einträglichen Tauschgeschäft: Informationsware gegen Geld geworden. Gleichzeitig hat
die Bedeutung von Ehre abgenommen. Eine Bedingung hierfür dürfte sein, dass die Präsenz in den Massenmedien den Marktwert der Personen und Produkte, den Rang in Institutionen und die Ressourcen im alltäglichen Gespräch erheblich steigert. Entsprechend ist man bereit, für diese Prämien nicht nur unmittelbar nichts zu bekommen, sondern auch noch dafür zu bezahlen. Dies eben geschieht in der Werbung, deren Finanzmittel für das Betriebssystem der modernen Massenmedien unverzichtbar sind: Publicity gegen Geld. Die neuen elektronischen Medien beginnen aber nun unübersehbar das kapitalistische Tauschprinzip auszuhöhlen. Um die Gründe hierfür zu verstehen, muss man sich noch einmal die Grundstruktur des typographischen Informationskreislaufs klarmachen. Das Prinzip ›Informationsware gegen Geld‹ funktioniert nur so lange, wie die öffentliche Kommunikation einseitig, als Simplexbetrieb, abläuft. 16 Die Redakteure liefern nur Informationen und erhalten nur Geld. Die Zuschauer/Hörer/Leser bezahlen ihre Gebühr und erhalten nur Informationen – geben also selbst keine Informationen an den Sender/die Redaktionen usf. zurück. Das Feedback für die Autoren in der typographischen Informationsgemeinschaft besteht entweder in Geld oder in Ehre/Publicity oder in beidem. Sie erhalten jedenfalls keine Informationen zurück. Feedback erfolgt in einem anderen Medium und Kommunikationssystem. Wird die Massenkommunikation interaktiv, ist also Duplexbetrieb ohne Medientypwechsel möglich, dann kann dieser Schematismus auf Dauer so nicht mehr funktionieren. Die spannende Gegenwartsfrage lautet, welche Gegenleistungen haben diejenigen zu erwarten, die Informationen ins Internet abgeben? Nach welchem Tauschmechanismus soll das Geben und Nehmen von elektronischen Informationen abgewickelt werden? Wenn das Internet als kulturelles Netzwerk ausgestaltet wird, dann muss eine eindimensionale Antwort vermieden werden. Alle drei Steuerungsmechanismen sollten als Optionen offen stehen und je nach den Funktionen genutzt werden. Dieses strategische Ziel erfordert allerdings kurzfristig einen Abbau von Subventionen für marktwirtschaftliche Steuerungsmedien »The McLuhan Galaxy was a world of one-way communication, not of interaction«, fasst Manuel Castells diese Spezifik der Buchkultur zusammen. Sie »erlaubte den Nutzern kein wirkliches Feedback, es sei denn in der ganz primitiven Form der Marktreaktion« (The Rise of the Network Society. Cambridge/Oxford , S. ).
und deren Verlagerung auf die Medien des ›einfachen‹ Informationstausches. Diese Umorientierung wird durch den technischen Aufbau des World Wide Web erleichtert. Er ermöglicht seine Gestaltung als Tauschbörse von Informationen. Der Tauschmechanismus wird sich dann eher an den Reziprozitätsidealen der mündlichen Kommunikationssysteme als an jenem der schriftgestützten institutionellen Netze und der monomedialen typographischen und elektronischen Massenkommunikation orientieren. Auf Dauer kann das Netz in diesem Funktionalbereich allerdings kein Selbstbedienungsladen ohne Kasse sein. Wer nichts beiträgt, dem werden Verbindungen und Informationen verschlossen bleiben – oder er muss tatsächlich andere Äquivalente bieten. Dieses Prinzip gilt jetzt schon in einzelnen virtuellen Unternehmen und in manchen betrieblichen Intranets. 17 Der tiefere Grund für die Orientierung an den Steuerungsmechanismen der einfachen Interaktionssysteme liegt aus medientheoretischer Sicht letztlich genau darin, dass für die Rückkopplung in den elektronischen Netzen nicht zwangsweise ein anderes Medium gewählt werden muss. Es hätte für den Buchmarkt keinen Sinn gemacht, vom Leser als ›Bezahlung‹ ein Buch zu verlangen. Sollten sich die auf den neuen elektronischen Medien basierenden sozialen Informationssysteme stärker an den Regeln der Faceto-face-Kommunikation orientieren, so wird dies die Bedeutung des Gesprächs in vielerlei Hinsicht erhöhen: als Normgeber, als Modellfall, als prämierte Tauschform usf. Für die Gestaltung des Internets wären dann Spezialisten des Gesprächs eher geeignet als diejenigen, die über Erfahrung in machtgeordneten Institutionen, in der Wirtschaft oder in den traditionellen Massenkommunikationsmedien gesammelt haben. Andere Steuerungsmechanismen verlangen andere Experten. Dieser Aspekt wurde freilich in der Politik, zum Beispiel bei der Zusammensetzung der einschlägigen Kommissionen in der Europäischen Union, noch viel zu wenig berücksichtigt. Die ›echte‹ Interaktion mit der wechselseitigen Orientierung der Kommunikatoren aneinander und dem sequenzweisen Rollentausch ist natürlich ein idealtypisches Modell. Es lebt von der Annahme, dass die Interaktionsbeteiligten sich jeweils nur an dem Vgl. zum Beispiel Helmut Willke: Systemtheorie III. Steuerungstheorie. Stuttgart , S. ff.
anderen beziehungsweise an dessen Handeln und/oder Erleben orientieren. 18 Aber selbstverständlich orientieren sie sich auch an ihren eigenen (psychischen) Plänen und an den Normen derjenigen größeren Sozialsysteme, in die sie eingebettet sind: Institutionen, Gruppen, Gesellschaftssysteme. Obwohl bedeutende Soziologen wie etwa Alfred Schütz und Talcott Parsons die dyadische Face-to-face-Interaktion als Urzelle und Prototyp sozialer Interaktion betrachtet haben, wiesen sie auf diesen Sachverhalt immer wieder hin: ›A dyade always presupposes a culture shared in a wider system‹, schrieb Parsons in seinem Artikel ›Social Interaction‹. 19 Mit jedem einfachen Sozialsystem interferieren die kulturellen Normen, andererseits braucht jede Institution und auch jedes Gesellschaftssystem einfache Sozialsysteme als relevante Umwelt. Genau um dieses Ineinanderwirken der verschiedenen sozialen, psychischen und anderen Steuerungsformen zu beschreiben, empfiehlt sich das Bild der mehrdimensionalen Netzwerke. Kulturen emergieren als Netzwerke unterschiedlicher Systemtypen, die wiederum mit den Steuerungsmechanismen dieser Systeme verknüpft werden.
Suche nach dem vierten Weg oder Moderation von Netzwerken? Die Nüchternheit, mit der in der Managementliteratur über den Einsatz der drei Hauptsteuerungsformen diskutiert wird, sucht man in der großen Politik, wenn es um die Frage nach der Gestaltung der postindustriellen Gesellschaft geht, noch meist vergeblich. Es dominiert eindeutig ein Entweder-oder-Denken, die Suche nach Im Gegensatz zu den soziologischen Interaktionsmodellen sieht das idealtypische Modell dyadischer Interaktion von E. E. Jones und H. B. Gerard ›Foundations of Social Psychology‹. New York , vor, dass sich A und B sowohl aneinander als auch an ihren je eigenen (psychischen) Programmen orientieren. Ist dieser Fall gegeben, sprechen sie von ›wechselseitiger Kontingenz‹. Die anderen Typen entstehen, wenn von dieser Vollform in die eine oder andere Richtung abgewichen wird. Bei der so genannten ›Pseudokontingenz‹ etwa sind die Reaktionen der Interaktionspartner jeweils ausschließlich durch die eigenen psychischen Programme geprägt. Vgl. auch Ursula Piontkowski: Psychologie der Interaktion. München , S. ff. In: International Enzyclopedia of Social Sciences. Hg. von D. Shils, Band , New York , S. -, hier S. .
einer richtigen Form anstatt nach Formen ihres Zusammenwirkens. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Kulturen bislang programmatische Komplexität in Bezug auf Steuerungsfragen kaum ausgehalten haben. Sie haben immer dazu tendiert, ein einzelnes Programm zum Identitätsmarkierer zu machen, und diese Vereinfachungen spiegeln sich im politischen Gespräch wider. Die Steuerung durch einfache Interaktionssysteme erscheint dann als »Vetternwirtschaft«, machtgeordnete hierarchische Steuerungsformen werden als Diktatur oder als »sozialistische Planwirtschaft« bezeichnet, und die kapitalistische Warenwirtschaft kann als Demokratie gelobt werden. Sobald man genau hinblickt, sieht man, dass die verschiedenen Gesellschaftsformationen oder Kulturen immer schon das Integrationsprodukt mindestens der drei genannten Hauptvernetzungs- und Steuerungsformen sind. Auch in den bürokratischen Planwirtschaften gibt es Marktmechanismen, in den freien Marktwirtschaften bürokratische Planungen und in beiden überlagern Freundschaften und Familienbeziehungen die formalen hierarchischen Beziehungen ebenso wie die Regeln des freien Austauschs von Waren und Dienstleistungen. Selbst die auf Reziprozität aufgebauten archaischen Stammeskulturen kannten formale Organisationsformen, zum Beispiel in Gestalt von Regelsystemen für Heiraten (Verwandtschaftssysteme) sowie Märkten als zentralen Verteilungsmechanismen. Zumindest im Intergruppenkontakt, also in den Beziehungen zwischen den Stämmen, wurden (und werden noch) Güter nach abstrakten Tauschwertprinzipen gehandelt. Rudimentäre Marktformen dürften ebenso alt sein wie rudimentäre Formen der Trennung von Person und Rolle. Und an der historischen Allgegenwart von einfachen Interaktionssystemen mit ihrer Steuerung durch Selbstreflexion und Reziprozitätsprinzipien zweifelt wohl niemand. Der Hinweis auf den integrativen Charakter der Kultur mag deshalb auf den ersten Blick für eine überflüssige Selbstverständlichkeit gehalten werden. Der zweite Blick könnte dann allerdings zeigen, dass es bislang noch keine Kultur geschafft hat, alle drei Steuerungsformen mit gleichem Respekt zu behandeln und nicht die Durchsetzung des einen Typs, sondern die Balance zwischen allen dreien zum Ziel kulturellen Handelns zu nehmen. Abbildung stellt die Hauptvernetzungsformen noch einmal in Form des endlos verknoteten Bandes dar. Die Spezifik der einzelnen Kultur ergibt sich in dieser (topologischen) Dimension aus dem Verhältnis, in dem die drei Hauptver
Abb. : Vernetzungsformen in Kulturen
netzungsformen stehen. Welche Form wird bevorzugt, technisiert, subventioniert, zur Selbstbeschreibung herangezogen? Wie wirken sich Ungleichgewichte aus? Nach und nach und in unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten haben die Kulturen alle drei Prinzipien ausdifferenziert, sie bis in die Extreme einseitig entwickelt und gesteigert. Man kann sich dies bildlich vorstellen, indem man die Schleifen des kulturellen Bandes bei der jeweils prämierten Vernetzungsform expandiert. Die ausgetrockneten anderen Schleifen verdrängte man aus dem öffentlichen Bewusstsein. Was anfänglich als diffuses Neben- und Miteinander in nicht aufzulösender Programmvielfalt ablief, wurde in der Kulturgeschichte separiert. Dies gibt uns heute überhaupt erst die Möglichkeit, die verschiedenen Typen zu erkennen – andererseits stehen wir aber auch vor der Aufgabe, die nur aufgrund ihrer ideologischen Aufladung überhaupt identifizierbaren Teile wieder zu integrieren. Und für diese Integration gibt es keinen fertigen Plan. Dies u. a. schon deshalb nicht, weil auch die
Integration der verschiedenen Programme nur aus der bornierten Perspektive einer Schleife des kulturellen Knotens erfolgen kann. Wenn es keinen vierten Steuerungstyp gibt, dann hat auch der Beobachter kein alternatives Relevanzsystem zur Verfügung. Sicherlich kann er seine Perspektiven wechseln, aber auch dann erfolgt die Beschreibung wieder einseitig, entweder aus der Perspektive des Marktes, der Bürokratie oder des reziproken Gabentausches. Nur im zeitlichen Nacheinander können diese unterschiedlichen Sichtweisen synthetisiert, kunstvoll vereinigt werden. Dies sähe natürlich anders aus, wenn wir einen vierten Kulturtyp mit eigenen Vernetzungsformen und -programmen annehmen würden. Ich glaube nicht, dass wir weitere Typen brauchen. Und ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, »Netzwerke« zu einem solchen weiteren Typ zu erklären. Letztlich würde dies nur die Option eröffnen, wieder, wie immer in der Geschichte, einen Typ zu privilegieren. Ich denke, dass in kulturellen Netzwerken alle drei Steuerungsmechanismen gebraucht werden und dass sie genau der Raum sind, in dem ausgehandelt, bestimmt oder gewählt werden muss, wer oder was als Medium und wer oder was als Kommunikator fungiert und in welcher Form die Kommunikatoren miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Netzwerke können und müssen moderiert werden – und dabei nutzt man die drei beschriebenen Programme. Diese Orientierung an Balance anstatt an alternativen Haltepunkten wird auch gestützt, wenn wir die Kulturen in der ontologischen Dimension als Ökosysteme artverschiedener Medien und Kommunikatoren betrachten. Hier werden die drei Schleifen dann durch die Medien Technik, Natur und Gesellschaft gebildet. Selbstverständlich lassen sich auch diese Typen beliebig weiter differenzieren, aber man sollte sie nicht wegdifferenzieren, sodass man am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Wir haben hier drei Pole, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und immer wieder in ein Fließgleichgewicht gebracht werden müssen. Dies geschieht durch den Menschen und die Kulturen. Fassen wir zusammen: Netzwerke lassen sich nach diesem Verständnis am ehesten als Paradoxie formulieren: Sie sind keine vierte Form, sondern integrieren die drei Hauptformen. Indem sie diese allerdings integrieren, entsteht eine neue, vierte Form. Diese vierte Form hat nur Bestand und eine eigene Identität, wenn sie dazu beiträgt, die drei Haupt
formen zu erhalten, sie in eine Balance zu bringen. Dabei kann sie nur die Steuerungsprogramme dieser Formen nutzen, darf sie jedoch nicht einseitig nutzen. Andernfalls simplifizieren sich die Kulturen auf das Niveau eines Typs. Dieser versklavt die anderen, drückt ihnen so stark sein eigenes Muster auf, dass sie ihre eigene Dynamik nicht mehr ins kulturelle Spiel bringen können. Aus dem Netzwerk wird ein flaches Netz. Mit anderen Worten: Netzwerke sind eine vierte Form, und sie sind es nicht. Wer mit dieser Paradoxie nicht umgehen mag, sollte den Begriff meiden. Er wird die Netzwerke letztlich doch nur entweder als hierarchische Organisation oder als Markt oder als Kopplung von Interaktionen begreifen. Die Kunst, Kulturen, Menschen, Ökosysteme und anderes als Netzwerke zu denken, verlangt aber gerade keine grundsätzliche Entscheidung zu Gunsten eines Typs zu treffen, sondern diese Entscheidung offen zu halten, sodass sie im konkreten empirischen Fall mal so, mal anders ausfallen kann. Diese Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Vernetzungsformen, Medien, Formen der Informationsverarbeitung etc. zu schweben, gehört zu den zentralen Schlüsselqualifikationen der Post-Gutenberg-Kulturen. Es ist eine genuin kulturelle Qualifikation, die nur kommunikativ realisiert werden kann. 20 Um diese Fähigkeiten ausbilden und nutzen zu können, müssen geeignete strukturelle Voraussetzungen geschaffen werden. Wenn wir nicht mehr nach vierten Wegen suchen, dann wird es zur kulturpolitischen Hauptaufgabe, Kommunikationsformen zu unterstützen, die Balancieren und Oszillieren erleichtern. Damit diese Kommunikationsformen ihre Rolle als Relais im kulturellen Netzwerk erfüllen können, sollten sie die eben genannten Bedingungen erfüllen: die Fähigkeit, unterschiedliche Informationstypen beziehungsweise Medien gleichzeitig zu verarbeiten (Multimedialität, Synästhesie, Parallelverarbeitung). Sie sollten genügend komplex aufgebaut sein, um als Spiegel der Kultur zu fungieren. Es sollte ein Programmwechsel zwischen den Hauptformen kommunikativer Vernetzung (Interaktion, Hierarchie, dezentrale Selbstorganisation) möglich sein. Schließlich sollten die Relais in der Lage sein, ihre Aufgaben selbstreflexiv zu steuern. Diese Anfor Sie wird nicht nur auf der Ebene der Gesellschaften, sondern auch in den Betrieben und Organisationen gebraucht – wenn diese sich denn, wie dies in zahlreichen Managementschulen üblich geworden ist, als kommunikative Netzwerke verstehen wollen.
derungen werden gegenwärtig weder von technisierten noch von hochgradig sozial normierten Kommunikationssystemen, sondern am ehesten durch Menschen, die sich als ökologische Kommunikationssysteme verstehen und verhalten, sowie in der interpersonellen Kommunikation, die nicht institutionell funktionalisiert ist, erfüllt. Menschen und Gespräche bieten sich als Knoten in ökologischen Netzwerken, wie gleich zu zeigen sein wird, in vielerlei Hinsichten an.
Der Mensch als Relais in kulturellen Netzwerken Aus ökologischer Sicht sind wir Menschen das Produkt der Interaktion von natürlichen biogenen, technischen und sozialen Faktoren. Wir haben uns in Koevolution mit unseren Werkzeugen, den Pflanzen, dem Klima und den Mitmenschen entwickelt. Der Umgang mit Pflanzen verändert unseren Körper und unsere Psyche. Andererseits bedeutet jede Kultivierung der Natur deren Zurichtung auf unsere Sinne, Verdauungsorgane, Verhaltensmöglichkeiten usf. Die kultivierten Pflanzen spiegeln uns Menschen wider – wie wir unsere natürliche und soziale Umgebung. Wir funktionieren nach sozialen Normen, genetischen Informationen und technischen Programmen. Ob wir wollen oder nicht, in praktisch all unserem Handeln und Erleben dienen wir als Relais in kulturellen Netzwerken. Diese Erkenntnis spiegelt sich in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wider, die sich mit dem Menschen befassen: Er kann als physikalisches, psychisches, biogenes (medizinisches), neuronales und soziales System beschrieben werden. Zwischen diesen Beschreibungsebenen gibt es keine Hierarchie. Alle sind gleich wichtig, wenn der Mensch funktionieren soll. Während sich die Einzelwissenschaften mit ihren speziellen Sichtweisen begnügen können, müssen die Kultur- und Kommunikationswissenschaften gerade das Zusammenwirken dieser Faktoren untersuchen. Dies dürfte eine Aufgabe für viele Generationen bleiben. Immerhin lassen sich die Rahmenbedingungen eines solchen Untersuchungsdesigns, einer kommunikativen human vision, aufzählen. Aus informationstheoretischer Sicht erscheinen die Menschen ebenso wie die Kulturen als Ökosysteme, das heißt als Vernetzungen von
artverschiedenen informationsverarbeitenden Systemen. Theoretisch scheint es sinnvoll, als ihre Grundbausteine jeweils nur monomediale beziehungsweise monosensuelle Informations- und Kommunikationssysteme anzunehmen. Diese Zellen würden dann über einen Typ von Sensor, Speicher und Effektor verfügen. Alle komplexeren Systeme entstünden durch Verknüpfung solcher einfachen Systemtypen zu Ökosystemen. Selbst wenn wir den Menschen nur auf einem Emergenzniveau, als psychisches System betrachten, so können wir feststellen, dass er über mehrere Sinne verfügt, mehrere Möglichkeiten besitzt, Informationen zu speichern, mehrere Instanzen, sie zu verarbeiten und sie zu bewerten. Schließlich kann er sie auch in vielfältiger Form darstellen. Der Mensch ist also schon in psychischer Hinsicht ein komplexes, intern differenziertes, massiv parallel verarbeitendes Supersystem. Das Gleiche gilt auch für die neuronalen, sozialen und anderen Emergenzebenen. Informationstheoretisch betrachtet, entspricht das Verhalten des Menschen der Aktivität von Effektoren. Dieses Verhalten kann durch künstliche, technische Hilfsmittel verstärkt und verändert werden. Kommunikationstheoretisch betrachtet dient sein leibliches Verhalten als unhintergehbares – aber beliebig reduzierbares – Kommunikationsmedium. Es gibt nicht nur keine medienlose Verständigung, für den Menschen gibt es auch keine Kommunikation ohne den Einsatz seines Körpers. Bekanntlich zeichnen viele Autoren die Kulturgeschichte als Geschichte der Ergänzung der leiblichen durch technische Medien. Aber selbst die technisiertesten Formen digitaler Medien lassen sich nur in Verbindung mit dem einfachen leiblichen Verhalten und Erleben des Menschen nutzen. In diesem Sinne gibt es keine ›reine‹ technisierte Kommunikation. Wer von medienvermittelter Kommunikation redet und dabei an die technisierten Formen der Massenkommunikation denkt, spart damit nicht nur weite Bereiche der menschlichen Kommunikation aus, er simplifiziert auch die technisierte Kommunikation. Die technischen Medien und die technisierte Kommunikation sind nur in Koevolution mit den leiblichen Medien und der leiblichen Kommunikation zu haben. Das Konzept der kulturellen Kommunikation dient gerade dazu, das Zusammenwirken der verschiedenen leiblichen und der unterschiedlichen Typen von technischen und sozialen Informationsund Kommunikationsmedien zu erkunden. Es fordert die Kulturpo
litik auf, den Körper als Kommunikationsmedium ernst zu nehmen und seine Beziehung zu den anderen Medien zu klären. Medienerziehung, die sich nur auf technische Medien konzentriert, ist wie die Verkehrserziehung, die nur das Autofahren lehrt. Medienkonzepte, die technisierte Kommunikation und Medien als paradigmatische Situation nehmen, gleichen Verkehrskonzepten, die nur motorisierte Verkehrsteilnehmer und Straßen kennen. Sie planen ohne Fußgänger und vor allem ohne eine Abstimmung zwischen den Fußwegen und Fahrbahnen. Sie haben kein Konzept von Verkehrsberuhigung, keine Vorstellungen von Zebrastreifen, Unterführungen und von Kreuzungen der verschiedenen Verkehrsmittel und -wege. Ihr Idealbild ist die fußgängerfreie Autobahn. Fußgänger und Radfahrer erscheinen als untermotorisierte, behinderte Kraftfahrer. Sie können nur negativ als Mängelwesen erfasst werden. Davor mag die Vision des Menschen als informationsverarbeitendes Ökosystem schützen!
Sinne, Medien, Welten Das Verhalten des einen kann dem anderen Menschen als Informationsmedium dienen – wie die übrige belebte und unbelebte Natur auch. Dazu muss er wahrnehmen und Sensoren einsetzen, die auf das Informationsmedium, sei es nun ein Verhalten, ein Bild oder ein Text, abgestimmt sind. Die moderne Verhaltensforschung nennt unsere Sinnesorgane deshalb auch eine ›Gestalt gewordene Theorie über jene Elemente unserer Umwelt, die für das Überleben der Art relevant sind‹ (Konrad Lorenz). Wenn unsere Sinne ein Produkt der Interaktion mit der Umwelt sind, dann ist bei deren weiterer Veränderung eine Erweiterung der Sinne und eine andere Vernetzung zwischen ihnen nicht ausgeschlossen. Vielleicht hindert uns schon jetzt die Theorie der fünf Sinne, weitere Erfahrungsmöglichkeiten, über die wir verfügen, zu erkennen und zu nutzen. 21 Andererseits ist natürlich klar, dass für ein beliebiges informationsverarbeitendes System nur das zu einem Medium werden kann, was es aufgrund der Charakteristik seiner Sensoren erkennen kann. »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, könnten wir das Licht erbli Schon G. E. Lessing plädierte in einer kurzen Abhandlung dafür, »dass mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können«. Sämtliche Schriften. Band , . Die gleichnamige Schrift soll um entstanden sein.
cken?«, fasste J. W. von Goethe diese seine Grundüberzeugung zusammen. Hier gibt es also einen zirkulären Zusammenhang. Da wir über verschiedene Sinne verfügen, leben wir zugleich in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Unsere äußere Umwelt ist auch deshalb komplex, weil sie in diesem Sinne aus verschiedenen Wirklichkeiten besteht. Dies ist nun keineswegs eine Erkenntnis des radikalen Konstruktivismus. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts schrieb der englische Nationalökonom Adam Smith in seinem Aufsatz ›On the External Senses‹: »Die Gegenstände des Auges und die Gegenstände des Tastsinns konstituieren zwei Welten, die sich in keiner Weise gleichen, obwohl sie wechselseitig sehr bedeutende Beziehungen (correspondance) und Verbindungen unterhalten.« 22 Die Umwelt kann also von uns weder monosensuell noch zentral von einem neuronalen oder psychischen Zentrum aus erkannt und ihre Komplexität auch nicht monomedial gespeichert und dargestellt werden. Unsere innere Welt ist aus artverschiedenen Medien aufgebaut, um die artverschiedenen Umwelten, die durch artverschiedene Sensoren erkannt werden, zu speichern. Aufgrund dieser vielfältigen Sensoren, Medien, Prozessoren, Effektoren muss der Mensch (intern) als Kommunikationssystem, und zwar als massiv parallel verarbeitendes Kommunikationssystem betrachtet werden. Eindrücke und Ausdruck sind das Ergebnis des interaktiven Zusammenwirkens vieler Zentren und des Aufbaus innerer kommunikativer Netze. Liefert ein Sinn zu wenig oder unklare Informationen, so treten andere Sinne als Korrektiv auf. 23 Wenn der Anblick nicht ausreicht, kann man die Dinge in die Hand nehmen, um sie zu begreifen. Ähnliche Substitutions- und Ergänzungsverhältnisse gelten für die inneren Verarbeitungszentren und die Darstellung: Was nicht verstanden ist, kann gefühlsmäßig entschieden werden; gelingt eine Darstellung nicht in der Rede, kann zur Zeichnung Zuflucht genommen werden. Krankheiten, Unwahrheiten, Verwirrungen, Interaktionsstörun In: W. P. D. Wightman/J. C. Bryce (Hg.): Adam Smith’ ›Essays on Philosophical Subjects‹. Oxford , S. , zitiert nach Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München , S. . »Jeder unserer Sinne übt diejenige Tätigkeit aus, zu der ihn die Natur bestimmt hat. Sie helfen sich gegenseitig, um unserer Seele, durch die Hände der Erfahrung, alle diejenigen Fähigkeiten zu übermitteln, die unser Wesen ausmachen.« Voltaire, Ele´ments de la Philosophie de Newton. e`me partie, in: Œuvre Comple`te. Paris , Bd. , S. .
gen entstehen, wenn der Programmwechsel zwischen den verschiedenen Sinnen und Medien nicht in Gang gesetzt werden kann. Dies kann vielfältige physiologische, psychische, soziale und andere Gründe haben. Weil der Mensch in dem hier abgeleiteten Sinne als multimediales Netzwerk artverschiedener Kommunikatoren verstanden werden kann, deshalb eignet er sich vorzüglich als Schaltstelle in den kulturellen Netzwerken. In seinem Mikrokosmos spiegelt sich der kulturelle Makrokosmos wider. In welchem Umfang dies gelingt, hängt davon ab, wie weit die synästhetischen Ressourcen genutzt werden. 24 Wer die Informationsgesellschaft als Netzwerk von Mensch und Gemeinschaft gestalten will, wer den ökologischen Zusammenhang zwischen der Gesellschaft, der Natur und der Technik akzeptiert, wer Kommunikation und Information zu Produktivkräften der postindustriellen Gesellschaft erklärt, der braucht eine ähnlich komplexe ökologische und kommunikative Vision des Menschen. Er sollte ihn nicht auf ein ›einfaches‹ informationsverarbeitendes System, einen bloßen Schalter im Medienverbund reduzieren. Eine solche Selbstsimplifikation sollte als Möglichkeit erhalten bleiben, aber nicht als Vision gesetzt werden. Heraus aus unserem gegenwärtigen Alltag und hinein in eine Vision treten wir, wenn wir versuchen, die menschliche Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und -darstellung als einen multisensuellen, dezentralen, parallelen, rückgekoppelten, selbstreflexiven Prozess zu gestalten. Es gibt keinen Grund, einen Sinn oder einen Prozessor oder ein Medium aufgrund besonderer informationsverarbeitender Qualitäten zu bevorzugen. Erst ihr Zusammenwirken hat den Menschen seine evolutionäre Nische und seinen evolutionären Vorteil gebracht. Nur insgesamt sichern sie die menschliche Gattung. Eine solche Formulierung wird kaum Widerspruch ernten, desto mehr die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind: Keine generelle Prämierung von sprachlicher vor metaphorischer Informationsverarbeitung, kein Lob von Konsequenz und Vernunft, ohne zugleich die Vorzüge von Flexibilität und Gefühl herauszustreichen, keine Bevorzugung der vita activa vor der vita contemplativa, keine Kon »Multimediale Arbeitsformen erhöhen die Anforderung an die ›koordinierte Nutzung von Augen und anderen Sinnesorganen, psychofeinmotorische Funktionen von Händen und Armen und stellen dabei hohe Anforderungen an das menschliche Gehirn, was neue Formen von Stress erzeugt« (S. ). Gruppe hochrangiger Experten, Abschlussbericht.
zentration auf die Schulung von sequentiellem logischen Handeln und Denken usf. Einen Kranz von Schlussfolgerungen hat Hans Peter Dreitzel in seinem Buch »Emotionales Gewahrsein« zusammengebunden, indem er zuallererst dazu auffordert, die innerliche Komplexität überhaupt zu bemerken. Ähnlich wie die Gesellschaften zur Selbstreflexion ansetzen, um die neuen technischen und sozialen Herausforderungen zu bewältigen, so muss auch das Selbstreflexionspotential des einzelnen Menschen genutzt werden. »Es geht also um eine Verfeinerung unseres sinnlichen und emotionalen Sensoriums durch mehr Gewahrsam … Wenn der Zivilisationsprozess Affektkontrolle erfordert und durchsetzt, so bedarf es zu deren Ergänzung und Verflüssigung dieser Kultivierung der Gefühle und Empfindungen, eben der Entwicklung von reflexiver Sinnlichkeit.« 25 Die Kultivierung der Gefühle wird es den Menschen ermöglichen, andere Umweltausschnitte zu spiegeln. Die Resonanzbeziehungen zwischen ihm und der Natur werden sich verändern, es werden gleichsam neue Schaltkreise eingerichtet. 26 Einige dieser gegenabhängigen Trends habe ich in Kapitel beschrieben. Aus der Kulturgeschichte wissen wir natürlich, dass niemals alle Sinne und Medien von Menschen und Kulturen gleichmäßig berücksichtigt wurden. Vielmehr erwiesen sich die Disproportionen in der Nutzung der Sinne und Medien als wichtigster Motor für alle kulturellen und vermutlich auch für die meisten individuellen Veränderungen. Unübersehbar hat man aber bislang die Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Sinne, Prozessoren, Darstellungsmöglichkeiten prämiert und sie technisch verstärkt. Erziehung und Bildung zielen auf eine Auflösung von Synästhesien, auf eine klare Separierung der Sinneskanäle und Medien ab. »Im disziplinierten, getrennten Gebrauch der Sinne beweist sich der moderne Mensch seine Vernunft: Nur wer die fünf Sinne auseinander hält, hat seine fünf Sinne beisammen.« 27 An der Isolierung und Abwertung der Vielfalt der Sinne und Medien haben sich schon viele Emotionales Gewahrsein – psychologische und gesellschaftliche Perspektiven in der Gestalttherapie. München , S. . »Wer mit Gewahrsein isst, schmeckt mehr und braucht weniger. Wer Bäume wirklich liebt, dem kann ein Waldbrand ein Stück der eigenen Seele verbrennen.« Dreitzel, a. a. O., S. . Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München , S. . Diese kritische Position findet sich in vielen neueren Arbeiten der Kulturanthropologie, vgl. zum Beispiel Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main .
Gelehrte der Romantik gerieben. Aber es ist eben etwas anderes, ob man die Einheit der Sinne vor ihrer maximalen Ausdifferenzierung oder danach fordert. Heute geht es um die Integration von Abgesonderten mit einer eigenen Identität. Und so wie in der Küche die Suppe geschmackvoller wird, wenn ihre Zutaten nacheinander unter Berücksichtigung der ganz unterschiedlichen Garzeiten zueinander gefügt werden, so ist auch das Gespräch feiner, wenn im Zusammenwirken der Medien ihre jeweiligen Eigenheiten noch gewahrt bleiben. Das aber setzt die Kenntnis dieser Eigenheiten voraus, und in diesem Punkt hat uns die Separierung der Sinne vorangebracht. Gegenwärtig besitzen wir die technischen und sozialen Voraussetzungen zu einer grundlegenden Umorientierung, weg von der Isolierung, hin zu einer Integration der verschiedenen Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation. Natürlich gibt es auch hierfür historische Beispiele. Die Bedeutung der Verwendung von phonetischen Schriftsystemen liegt, um ein wichtiges frühes Integrationsbeispiel zu nennen, darin, dass hiermit zwei durch die kulturelle Entwicklung schon ausdifferenzierte und damit auch voneinander getrennte Erlebens- und Verhaltensformen, Sehen und Schreiben beziehungsweise Hören und Artikulieren, wieder näher zusammengeführt werden. Es ist ein Akt der Integration, wie er dann erst wieder durch die typographische Informationstechnologie im . Jahrhundert wiederholt wurde. Wer den Menschen für die Informationsgesellschaft ›fit‹ machen will, muss auf eine allseitige Entwicklung seiner Sinne setzen und ihn befähigen, sie in einem ökologischen Gleichgewicht zu halten. 28 Erst dann wird er auch zu einer ökologischen Kommunikation mit seiner Mitwelt in der Lage sein. Auf diesen Zusammenhang haben Babara Mettler-von Meibom und Matthias Donath mit Nachdruck hingewiesen: »Der Mensch kommuniziert ökologisch, wenn seine Kommunikation den Naturhaushalt und seine eigene innere Mitwelt nachhaltig fördert. Die ökologische Kommunikation hat also zwei Dimensionen, eine innere und eine äußere und »Was uns erschöpft, ist die durch Gleichförmigkeit erzogene Nicht-Inanspruchnahme der Vielfalt unserer körperlichen und sinnenhaften Fähigkeiten und Kräfte. Was uns erfrischt und aufbaut, ist deren Inanspruchnahme …« Hugo Kükelhaus/Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne. Ein ›Erfahrungsfeld‹ zur Bewegung und Besinnung. Frankfurt am Main , S. .
zwischen beiden kann sich durchaus ein Spannungsfeld auftun.« 29 Wenn wir einmal vergleichen, wie viel Zeit in den allgemein bildenden Schulen darauf verwendet wird, die Umwelt zu erkunden, und wie wenig Zeit der individuellen und sozialen Selbstwahrnehmung zugebilligt wird, dann ist klar, dass schon hier ein Ungleichgewicht vorliegt, dessen Beseitigung ein dringendes Ziel zeitgemäßer Kulturpolitik sein sollte. Zu den Schlüsselqualifikationen in der postindustriellen Gesellschaft gehören nicht nur die Fähigkeiten zur Kontaktaufnahme mit anderen Kommunikatoren, sondern auch mit den unterschiedlichen inneren psychischen und körperlichen Instanzen. Medienerziehung in diesem Sinne erfordert selbstreflexive Lernformen. Diese werden zunächst zur Klärung der höchst individuellen Formen kommunikativen Verhaltens, Erlebens und Mediengebrauchs führen. Sie sind individuen- und fallbezogen und führen zur subjektiven Erkenntnis der subjektiven Möglichkeiten. Dass schulische und universitäre Bildung auch auf diesem selbstreflexiven Weg und nicht nur auf jenem der Standardisierung der individuellen Informationsverarbeitung und -darstellung erfolgen kann, ist für jene, die in der Industrie- und Buchkultur fest verwurzelt sind, praktisch unvorstellbar. Erst wenn wir auch diesen nicht intersubjektiv überprüfbaren, nicht generalisierbaren Wissensformen den gleichen Rang einräumen wie den standardisierten Modellierungen über unsere sichtbare Umwelt, verlassen wir die Persönlichkeitsmythen der Buchkultur und gewinnen die Freiheit, Mythen zu schaffen, die den multimedialen Netzwerken unserer Zeit angepasst sind.
Dies.: Kommunikationsökologie: Systematische und historische Aspekte (Kommunikationsökologie Band ). Münster , S. . Vgl. auch S. .
. Strategien für die Zukunft der Kommunikation: Ökuloge Kommunikation im Zeitalter der Medienökologie Wenn wir die Informationsgesellschaft als Kultur und diese als Netzwerk artverschiedener Kommunikatoren und Medien gestalten wollen, welche Formen der Kommunikation sollten wir dann fördern? Solche Kommunikationsformen, die synästhetische Informationsverarbeitung sowie den Aufbau multimedialer kultureller Netzwerke begünstigen und gleichzeitig ökologischen Prinzipien folgen, lautet das Ergebnis der langfristigen Trendforschung. Flexible Netzwerke und ökologische Steuerung erfordern eine Steigerung der Rückkopplungsmöglichkeiten. Diese dürfte nur über eine grundlegende Änderung der herkömmlichen Kommunikationsideale zu erreichen sein. Neben die Leitvision der interaktionsarmen Massenkommunikation, wie sie die Buch- und Industriekultur propagiert hat, tritt das Gespräch als Paradebeispiel rückkopplungsintensiver Interaktionssysteme. Dem multisensuellen, massiv parallel verarbeitenden Charakter des Menschen entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das unmittelbare Gespräch beim gemeinsamen Handeln zweier oder mehrerer Personen (face-to-face) multimedial und interaktiv ausgelegt. Sprechen, Mimik, Gestik, Handeln und anderes leibliches Verhalten dienen als Kommunikationsmedium. Gespräche eignen sich deshalb, ähnlich wie die Menschen, als Relais in ökologischen Netzwerken. Sie spiegeln mikroskopisch die Struktur und Dynamik multimedialer Kommunikationssysteme. Da jede Kultur auch eine Gesprächskultur ist, wird genauer zu bestimmen sein, welche Formen des Gesprächs nach der Jahrtausendwende zeitgemäß sind. Eine wichtige Rolle dürfte dabei der Dialog spielen. In vielen gesellschaftlichen Bereichen tritt gegenwärtig neben die cultural vision die dynamische Vision des Dialogs (dialogue vision). Um die verschiedenen Facetten dieser kommunikativen Vision auf den Punkt zu bringen, spreche ich vom Ökulog. Der Begriff ist ein Kunstprodukt, das sich aus den Komponenten Ökologie, Kultur und Dialog zusammensetzt. Die kommunikativen Prozesse der zu
künftigen Informationsgesellschaft sollten ökulogisch gestaltet werden. Der Grundgedanke der ökologischen Geschichtskonzeption, dass nämlich ›Geschichte‹ aus dem Zusammenwirken artverschiedener Prozesstypen entsteht, kann auch auf die synchrone Perspektive übertragen und für die Vorausschau genutzt werden.
Ökuloge als Vernetzungen artverschiedener Kommunikationsformen Die Kommunikationskultur der postindustriellen Gesellschaft emergiert als Interaktionsprodukt grundverschiedener Vernetzungsformen: der interaktionsarmen, mehr oder weniger technisierten Massenkommunikation, der hierarchisch geordneten Organisationskommunikation und der rückkopplungsintensiven Interaktionssysteme, in denen sich zwei Personen von Angesicht zu Angesicht verständigen (Abb. ). Die ökologische Vision von Kulturen betont die Notwendigkeit, diese verschiedenen Kommunikationsformen auszubalancieren. Sie lehnt die dauerhafte Festlegung von Hierarchien zwischen ihnen ab und geht davon aus, dass gerade aus der Unterdrückung von Wechselwirkungen zwischen ihnen Krisen resultieren. Von einer Kommunikationskultur soll nicht schon dann gesprochen werden, wenn die Kommunikation als wesentlicher Steuerungsmechanismus von Kulturen akzeptiert wird. Vielmehr wird die Eigenart eines kommunikativen und ökologischen Kulturbegriffs gerade darin gesehen, dass Kulturen als emergentes Produkt der Kommunikation von artverschiedenen Kommunikationssystemen aufgefasst werden. Das in diesem Buch vorgeschlagene Kommunikationsmodell (Kommunikation D) macht drei Leistungen der verschiedenen Kommunikationsformen verständlich: Sie dienen der kulturellen Informationsverarbeitung und -steuerung, vernetzen die kulturellen Subsysteme/Kommunikatoren und fungieren als Spiegel- und Informationsspeicher für die Kulturen und ihre einzelnen Abteilungen. Ungleichgewichte im Ausbau der kommunikativen Hauptformen führen also immer auch zu Vereinseitigungen der Informationsverarbeitung und der Vernetzung sowie zu Einschränkungen der Vielfalt der Speichermedien und Resonanzformen. Solche Einschränkungen der prinzipiell möglichen allseitigen Nutzung der Sensoren, Kommunikationsmedien, Kommunikatoren, Wissensfor
Abb. : Die Informationsgesellschaft als emergentes Produkt der Interaktion von drei Vernetzungsformen
men machen die Spezifik jeder einzelnen kulturellen Epoche aus (vgl. Kapitel und ). In Phasen des Epochenwechsels behindern die alten Schwerpunktsetzungen die Ausbildung der neuen Ordnung. Die Anamnese und Diagnose der Buchkultur und der entstehenden Informationsgesellschaft ergab eine Prämierung der interaktionsarmen Massenkommunikationsformen für die gesellschaftliche Informationsverarbeitung und Vernetzung sowie eine Bevorzugung der hierarchischen Organisationskommunikation in den wirtschaftlichen, juristischen, politischen u. a. Subsystemen. Das Hauptaugenmerk der Industriegesellschaft lag in kommunikationstheoretischer Hinsicht darauf, die interaktionsfreie Informationsverarbeitung zu optimieren und zu technisieren. Dies erforderte eine Reduktion unserer synästhetischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen in Richtung auf einen linearen, möglichst einkanaligen Informationsfluss. Sowohl die Technisierung als auch die soziale Normierung der Informationsverarbeitung in den Bürokratien hat bislang zu einer Vereinseitigung unserer Fähigkeiten und zum Auseinanderreißen der Sinne geführt. Mit der Spezialisierung der Kommunikationsformen und der technischen Ausdifferenzierung
der Medien ging ein Verlust des Gefühls für die rechten Proportionen zwischen den kommunikativen Hauptformen einher. Die Erkenntnis dieser Disproportionen scheint mir gegenwärtig der wesentliche Antrieb für Veränderungen zu sein. Ähnlich wie die Gelehrten in der Renaissance das ausgehende Mittelalter als eine Zeit kritisierten, in der die Harmonie verloren gegangen ist, so wird auch jetzt der Ruf nach einer Aufhebung der kommunikativen Monokulturen laut.
Das Gespräch als Relais, Prozessor und Spiegel kultureller Kommunikation Die therapeutische Schlussfolgerung, die aus der medienhistorischen Betrachtung folgt, ist klar: Wenn die Informationsgesellschaft in dieser Hinsicht eine radikale Wende vollziehen will, wird sie ihr Hauptaugenmerk auf die Optimierung der interaktionsintensiven Kommunikation von Angesicht zu Angesicht lenken. Die neuen technischen Medien ermöglichen erstmals in der Weltgeschichte eine zumindest teilweise Technisierung dieser Kommunikationsformen unter Beibehaltung ihrer Spezifik: Rückkopplungsintensität, Multimedialität, Simultanität. Je mehr sich unsere Gesellschaft mit den Anforderungen des nächsten Jahrhunderts auseinander setzt, desto mehr wird sie nach einer oder wahrscheinlich nach mehreren Erkenntnis- und Kommunikationstheorien suchen müssen, die nicht bloß zum Verständnis monomedialer und hierarchischer, sondern eben auch von multimedialer und interaktiver Informationsverarbeitung beitragen. Und sie wird im nächsten Schritt das Zusammenwirken der unterschiedlichen Steuerungsformen, das heute unter dem Stichwort ›Trans- oder Intermedialität‹ diskutiert wird, ins Zentrum ihrer informationstheoretischen Aufmerksamkeit rücken. Solange die Struktur und Dynamik der Informationsgesellschaft noch so diffus bleibt, wird dies ohne eine Beschäftigung mit dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen mehreren Menschen bei gemeinsamer Kooperation als dem bislang komplexesten Fall einer multimedialen und rückkopplungsintensiven Vernetzung schwerlich gelingen. Diese Kommunikationsform lässt noch immer bei weitem die vielfältigsten Formen von Informationsverarbeitung und -darstellung zu. Und sie scheint auch auf absehbare Zeit die einzige Instanz zu sein, die die erforder
liche Komplexität besitzt, um die verschiedenen Typen von Informationen, die für die menschliche Kultur wichtig sind, wieder zusammenzuführen. 1 Gerade in dem Maße, in dem durch die Technisierung monomediale Informations- und Kommunikationssysteme entstanden sind, wuchs die Bedeutung des Gesprächs als Integrationsinstanz. Die für die Zukunft der Informationsgesellschaft unter dem Vernetzungsaspekt entscheidende Frage: Was kommt nach und zusätzlich zu Markt und Hierarchie?, wird vor allem auch durch den Hinweis auf Interaktionssysteme zu beantworten sein. Insofern ist die Orientierung auf das Gruppengespräch eine gute therapeutische Strategie, die Informationsgesellschaft aus der Abhängigkeit von der Buchkultur zu führen. In der gegenwärtig in den Kommunikations-, Kultur- und Medienwissenschaften vorherrschende Konzentration auf die Untersuchung und Modellierung technischer Massenmedien sehe ich demgegenüber eine Hauptursache für die Stagnation der Medientheorie. Die monomediale, technisierte und interaktionsfreie Kommunikation, die Grundlage des typographischen Zeitalters und noch immer der gängigen Kommunikationstheorien ist, liefert kein Paradigma für unsere Zeit, in der es um die Gestaltung des Zusammenwirkens verschiedener Medien und eine Verbesserung der Rückkopplung geht.
Das Gespräch als Medium der Selbstreflexion von Kulturen und Menschen Die Legitimationsgrundlage für Kommunikationsmodelle, die sich am Sender-Empfänger-Modell orientieren, schwindet im gleichen Maße, in dem die industrielle Massenproduktion und die Maschinenorganisation der Industrieunternehmen an Bedeutung verliert. Man kann den Aufschwung des Gesprächs als Medium der kulturellen Synthesis auch als andere Seite des Umbaus der Industriegesellschaft und der Verknappung der Arbeit betrachten. Alle Statistiken über die Entwicklung der Wirtschaft in den Industrienationen Praktisch wird dieser Tatsache in der Unternehmensführung und in der großen und kleinen Politik Rechnung getragen. Vgl. zum Beispiel mit weiteren Literaturhinweisen Arnold Picot/Ralf Reichwald/Rolf T. Wigand: Die grenzenlose Unternehmung. Wiesbaden , oder die Dialogprojekte in den Vereinigten Staaten http://lerning.mit.edu). In der Theorie hat eine Umorientierung noch nicht stattgefunden.
zeigen einen Rückgang der Beschäftigung in der materiellen Produktion sowie eine Zunahme des Dienstleistungsbereichs. Viele Dienstleistungen erfolgen in erster Linie in Form von Gesprächen von Angesicht zu Angesicht als Vor- und Durchstrukturierungen von Transaktionen, als Verkaufsgespräche, Abstimmungen im Management, medizinische Anamnese, kommunikative Begleitung von Verwaltungsakten, Konzeptentwicklung für Werbung oder die Planung von Produkten usf. Und ein tendenziell wachsender Teil dieser Dienstleistungen orientiert sich überhaupt nicht mehr an der materiellen Produktion. Die in der Sozialarbeit, der Therapie, vielen juristischen und anderen Beratungen geführten Gespräche lassen sich nicht mehr als Vor- oder Nachbereitung instrumentellen Handelns definieren. Sie sind keine Hilfsmittel der technischen Verformung der Natur zu sozialen Zwecken. Wenn sie sich noch immer an die Logik zweckrationalen Handelns anlehnen, den Klienten als Objekt rhetorischer Bearbeitung definieren, dann ist dies zumeist dysfunktional und jedenfalls eine unbewusste Übertragung von Programmen, die aus ganz anderen Kontexten stammen. Das Gespräch der Zukunft wird so wenig als Hilfsmittel der Arbeit – im Sinne zielgerichteter Transformation der natürlichen Umwelt – geführt werden, wie sich das gedruckte Buch als Magd der Rede in der Industriekultur nutzen ließ. Sein Ziel wird die Schöpfung von kollektivem Wissen und von Programmen sein, die wir für die Steuerung der menschlichen Kultur brauchen. Es wird dabei autonomer und selbstreflexiver. Die Menschheit befindet sich in dieser Hinsicht in einem Zustand vergleichbar jenem des Übergangs von den Ein- zu den Mehrzellern. Sie muss ein spezialisiertes Zentralnervensystem herausbilden, das eine langfristige Steuerung unserer Kultur, unabhängig von den mitlaufenden Verdauungsprozessen und zufälligen Umweltreizen, ermöglicht. 2 Dies eben setzt Informationssysteme voraus, in deren Mittelpunkt nicht die Steuerung von Verhalten, sondern die Steuerung von Steuerung, die Reflexion von Informationsverarbeitungsprozessen steht. 3 Vgl. in diesem Sinne Franz J. Rademacher: Der Weg in die Informationsgesellschaft: Analyse einer politischen Herausforderung (S. ). Mit Bezug auf E. Mayr: Growth of biological thought. Cambridge ; www.faw.uni-ulm.de/deutsch/ publikationen/rademacher/information.html). Vor diesem Hintergrund hat die Zunahme der Unterhaltungsmedien, angefangen von der Literatur über Film, Fernsehen und Rundfunk mit dem veränderten Selbstreflexionsbedürfnis in der Geschichte zu tun. Wir müssen uns offenbar immer stärker mit den Programmen auseinander setzen, nach denen wir unser
Dass sich Gespräche als Medien der Selbstreflexion von Menschen eignen, ist seit alters her bekannt. Die Professionalisierung dieser Funktion in Therapie und Beratung lässt sich seit gut einhundert Jahren beobachten – und sie ist keine weniger imposante kulturelle Leistung als die gesellschaftliche Etablierung von Funk und Fernsehen. 4 Dass Gespräche auch als Medium der Reflexion von sozialen Systemen, zunächst von Gruppen, dienen können, wissen wir seit den gruppendynamischen Experimenten in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit etwa dreißig Jahren werden sie im Rahmen von Organisationsentwicklungsmaßnahmen auch zur Reflexion von Betrieben und Institutionen eingesetzt. Nunmehr scheint die Zeit gekommen, sie auch als ein Medium zur Reflexion kultureller Prozesse zu institutionalisieren. Auf die entsprechenden ›Dialog‹-Projekte werden wir gleich eingehen. Die Gespräche, die als Steuerungs- und Vernetzungsinstanz für die Informationsgesellschaft geeignet sind, werden sich grundlegend von den Gesprächen unterscheiden, die die Industriegesellschaft ganz im Einklang mit ihrem monokausalen Selbstverständnis entwickelt hat. In dem Maße, in dem Selbstregulationsprozesse in Technik und Gesellschaft als wichtig erkannt wurden, in dem in vielen Funktionalbereichen von einer direktiven zu dezentraler Steuerung übergegangen wurde, entstand ein neues Verständnis sowohl von ›Führung/Management‹ als auch von ›Gespräch‹. Es geht darum, Steuerungsmechanismen und Gesprächsformen für unsere Gesellschaft, ihre Institutionen und Gruppen zu entwickeln, die nicht auf Gleichschaltung hinauslaufen und nach dem Entwederoder-Prinzip ablaufen, sondern die die Unabhängigkeit der Gesprächspartner respektieren und ihnen damit die Freiheit zur Entfaltung ihrer Ressourcen lassen. Die Konturen dieses Gesprächs werden gegenwärtig typischerLeben gestalten. Die von den meisten Medienkritikern unserer Gegenwart bemängelte Zunahme von ›synthetischen‹ oder ›virtuellen‹ Welten erscheint aus dieser Perspektive in einem anderen, wärmeren Licht: Diese Modelle sind in der Tat u. a. auch Beiträge zur Rekonstruktion der Programme unseres sozialen und psychischen Lebens. Während nun die typographischen Medien ihr größtes Verdienst in der individuellen, psychischen Selbstreflexion besitzen – man liest allein –, hatte der Film schon die Potenzen zu einem kollektiven Reflexionsvorgang, zu einem Gruppenereignis. Vgl. zu dieser Geschichte M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Frankfurt am Main , S. ff.
weise dort besonders intensiv diskutiert, wo es um die Steuerungsprobleme geht, vor denen die Betriebe in der Informationsgesellschaft stehen: in der Managementliteratur. 5 In dem ›Theme paper‹ des ›Forum Information Society‹ wird der Zusammenhang zwischen der Informationsgesellschaft und den neuen Leitungsstrukturen wie folgt zusammengefasst: »Unter dem Druck des globalen Wettbewerbs und im Gefolge der Durchsetzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ändern sich die Unternehmensformen und die Beschäftigungsstrukturen. Re-engineering, Verschlankung, Dezentralisierung, Verflachung der Hierarchien, Profitcenter, total quality management, Teilzeitbeschäftigung und Telearbeit sind gleichermaßen Ausdruck eines unabweisbaren Anpassungsprozesses an eine neue Umwelt – jene der postindustriellen Informationsgesellschaft.« 6 Dieser Anpassungsdruck beschränkt sich nicht auf die Unternehmen, sondern er erfasst auch die Kulturen. Und er führt dazu, dass sich die Bedeutung selbstreflexiver Formen sozialer Informationsverarbeitung und interaktiver kommunikativer Vernetzungsformen erhöht. 7 Auf einige Besonderheiten dieser neuen Form des Gesprächs soll nun eingegangen werden.
Die Literatur zum kommunikativen Management hat sich in den er und er Jahren explosionsartig ausgedehnt. Ein Ausgangspunkt ist gewiss das St. Galler Management-Modell (vgl. H. Ulrich/W. Krieg: Das St. Galler Management-Modell. Bern ) gewesen. Es wurde systemtheoretisch und kybernetisch beständig weiterentwickelt. (Vgl. vor allem Gilbert J. B. Probst: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg ; P. Gomez/G. J. B. Probst: Vernetztes Denken im Management. Bern ; H. Ulrich/G. J. B. Probst (Hg.): Selforganization and management of social systems. Heidelberg u. a. ); Roswita Königswieser/Christian Lutz (Hg.): Systemisch-evolutionäres Management. Wien u. ö. Theme Pap. Doc. Theme : The Impact on Organizations and the Way we Work. »Paradoxerweise hat sich jedoch die Bedeutung der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation, die die physische Nähe erfordert, in der Arbeitswelt nicht notwendigerweise verringert, eher im Gegenteil. Die moderne Managementtheorie weist darauf hin, wie wichtig die zwischenmenschlichen Kontakte sind, und die Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten führt zu einem noch größerem Bedarf an direkter Kommunikation.« Gruppe hochrangiger Experten, Abschlussbericht, S. .
Vom Zweier- zum Gruppengespräch Wenn in den letzten einhundert Jahren vom ›Gespräch‹ die Rede war, dann stellte sich das Bild der Interaktion von zwei Personen von Angesicht zu Angesicht ein. Als Prototyp gilt jene Gesprächssituation, die von jeglicher Arbeit, allen instrumentellen Handlungen entlastet ist. Man tauscht seine Gedanken mit Worten in geordneter Wechselrede aus. Erfolgreich verlief das Gespräch, wenn die beteiligten Personen mindestens verstanden haben, was der andere mit seinen Beiträgen meint. Dies gelingt angeblich im Alltag am besten, wenn die beiden Gesprächspartner einen ähnlichen Status besitzen und ähnliche Zwecke verfolgen. Letztlich steht hinter diesem Verständnis von Gespräch das Modell einfacher Interaktionssysteme (vgl. weiter oben Abb. ). Kommunikation erscheint als wechselseitiges Verstehen zweier psychischer Systeme nach dem Mechanismus des Turn-taking-Modells. 8 Dieses Modell finden wir am Beginn der abendländischen Philosophie in den von Platon überlieferten Dialogen des Sokrates. Eine transzendentale Überhöhung findet es im christlichen Gebet als Zwiesprache zwischen Mensch und Gott. Diese Form des Gesprächs bestimmt das Theater und nimmt auch in der Literatur der Neuzeit breiten Raum ein. Noch wenn gegenwärtig eine Alternative zu den einseitigen Kommunikationsformen der Massenmedien gesucht wird, taucht immer wieder diese Form des ›Dialogs‹ als Vorbild auf. Vilem Flusser etwa bezeichnet diesen Typus der Face-to-face-Kommunikation als besonders ›wertvolle Kommunikationsart‹. 9 Konstitutiv erscheint ihm die Rückkopplungsmöglichkeit, die Unabhängigkeit der Gesprächspartner voneinander und die ›Absichtslosigkeit des Dialogs‹. Diese Charakteristika bringen den Dialog in Gegensatz zu den Diskursen der Institutionen, die ›zielführend‹ sind und auf die Überzeugung beziehungsweise Unterwerfung des anderen als Bedingung ihres Erfolgs hinauslaufen. Die Rückkopplung unterscheidet den Dialog von den Monologen der Massenmedien. Obwohl diese Form des ›dialogischen‹ Gesprächs natürlich in Vgl. Giesecke/Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung , S. -. In: Polemik oder Dialog. Vom unterentwickelten Leben. In: Ders.: Der FlusserReader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim , S. -, hier S. . Vgl. auch ebd., S. und .
unserem Alltag vielfach vorkommt und immer für zahlreiche Zwecke seine Bedeutung behalten wird, eignet es sich m. E. nicht als Vorbild für das Informationszeitalter. Es reduziert zu viel Komplexität, erscheint mir eher als die Minimal- denn als die Optimalform multimedialer sozialer Informationsverarbeitung. Das Gespräch, das zur Steuerung der Informationsgesellschaft mit all ihren technischen Medien und den vielen Subsystemen und Sinnwelten notwendig ist, muss die Grenzen einfacher Interaktion überschreiten und als Gruppengespräch geführt werden. Diese Idee ist nicht neu. Vor allem Kurt Lewin hat in den vierziger Jahren das Gruppengespräch als Möglichkeit der Lösung sozialer Konflikte und des Erkenntnisgewinns propagiert. 10 Die auf seinen Gedanken und auf jenen von Jakob L. Moreno fußende gruppendynamische Bewegung hat in den letzten vierzig Jahren große Erfahrungen über die Funktionsweise von Gruppengesprächen gesammelt und zahlreiche Instrumente ihrer Organisation und Selbstorganisation beschrieben. 11 Komplexe Mehrpersonengespräche lassen sich nicht mehr zureichend als Interaktionssysteme begreifen. Zwar nutzen sie das System der binären Schematisierung der Rollen (Sprecher/Hörer) und der Aktivitäten (sprechen/zuhören) als grundlegendes Steuerungsprogramm, aber daneben wird das Gruppengeschehen von den Beteiligten auch als ein Marktplatz für ihre Meinungen angesehen und dann wieder zeitweise straff hierarchisch organisiert. Wenn ich hier von dem Gespräch in der Informationsgesellschaft rede, dann meine ich ein komplexes Ökosystem, in dem die drei Hauptsteuerungsprogramme genutzt werden. Nur wenn dies der Fall ist, kann das Gespräch zu einem Mikrokosmos des Makrokosmos Kultur werden. Und nur wenn sich die Kultur und/oder andere Organisationen in dem Gruppengespräch spiegeln, kann dieses zu einem Medium der Selbstreflexion von Kulturen beziehungsweise Organisationen werden. Wir halten also fest: Das Gruppengespräch kann nicht zureichend als einfaches Interaktionssystem beschrieben werden, sondern es funktioniert auch nach Marktmechanismen und bedient sich hierarchischer Steuerungsformen. Vgl. zum Beispiel Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte – Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik (hg. von Gertrud Weiß Lewin). Bad Nauheim //, zuerst New York . Vgl. zum Beispiel J. Levy Moreno: Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften (hg. von Jonathan Fox). Köln , zuerst New York .
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass jede Prämierung eines bestimmten Gesprächstyps Einfluss auf die kommunikative Systembildung in der Informationsgesellschaft nimmt. Wie Prämierungen auf anderen Gebieten auch sind sie ein politisches Steuerungsinstrument. Die Interessen, die hinter solchen Führungsstrategien stehen, sollten deutlich artikuliert werden. Ich bevorzuge das Gruppengespräch zunächst einmal, um es aus seiner historischen Diskriminierung gegenüber dem Zweiergespräch zu befreien. Es haben sich in den Industrienationen der Neuzeit Disproportionen im Einsatz und in der Wertschätzung von Zweier- und Gruppengespräch entwickelt, die es auszugleichen gilt. Außerdem steht die Gruppe in der Mitte zwischen der Gesellschaft und der Massenkommunikation einerseits und dem Individuum und Zweiergespräch andererseits. Sie kann deshalb zwischen den beiden Extremen: maximale Öffentlichkeit und Sozialität einerseits, Individualität und soziale Intimität andererseits vermitteln. Sie kann die Extreme in Kontakt bringen, weil sie jedem Einzelnen sowohl die Möglichkeit lässt, sich zurückzuziehen, sich zu individuieren, als auch soziales Engagement erlaubt. Die Notwendigkeit von Arbeitsgruppengesprächen für die Entwicklung moderner Wirtschaftsunternehmen wird in der Managementliteratur in der letzten Zeit häufig betont, und sie ist auch aus empirischen Analysen, wie beispielsweise der eindrucksvollen Studie von Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, ableitbar. 12 »Wissensschaffung im Unternehmen ist also nicht möglich ohne Einzelinitiative und Interaktion innerhalb einer Gruppe«, resümieren die Autoren. »Auf Gruppenebene kann sich Wissen durch Dialog, Diskussion, Erfahrungsaustausch und Beobachtung verstärken oder herauskristallisieren« (ebd., S. ). Während die Stärken herkömmlicher bürokratischer Kommunikationsformen eher in der Akkumulation und Systematisierung von Wissen (»Kombination«) sowie in der Weiterverarbeitung von ausgearbeiteten Kenntnissen (»Internalisierung«) gesehen werden, können in den Gruppengesprächen implizite Informationen kreativ ausgenutzt (»Sozialisation«) und neue Modelle geschaffen und verbreitet (»Externalisierung«) werden (ebd., S. f.). Letztlich führt nur die »Synthese beider Ansätze« zu einer »soliden Grundlage für die Wissensschaffung« in Unter Die Organisation des Wissens: Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt am Main (engl. ).
nehmen und natürlich auch in anderen größeren Organisationen (a. a. O.). Die Duplizierung des Wissens eines Gesprächspartners bei den anderen bleibt natürlich auch ein Kooperationsziel, und man wird diesen Gesprächstyp brauchen, solange sich Gesellschaften reproduzieren wollen. Aber es ist kaum notwendig, die Aufmerksamkeit auf diese Gesprächsform zu lenken, weil sie in der Buchkultur bis zur Perfektion entwickelt und offenbar in mehr Bereichen als erforderlich eingesetzt wurde und wird. Eine weitere Vorstellung, die für das Gespräch in der Industriekultur üblich war und die besser nicht als Programm mit in das Informationszeitalter hinübergenommen werden sollte, ist jene der Entkoppelung des Gesprächs aus den sozialen Handlungszusammenhängen. Alle Kommunikation braucht eine Aufgabe und jegliche soziale Kommunikation erfüllt Funktionen entweder für die beteiligten Personen oder für andere soziale Systeme. Das Gespräch im Informationszeitalter wird sich dadurch auszeichnen, dass es diese Funktionen selbstreflexiv erkennt und klar benennt. Die weitere Strukturierung wird im hohen Maße von den unterschiedlichen Kooperationszielen abhängen. Das Gespräch, dessen Ziel die Koordination des instrumentellen Handelns einer Montagegruppe ist, muss ebenso gefördert werden wie Teambesprechungen, in denen es um Entscheidungsprozesse geht oder ein Brainstorming zur Ideensammlung in welcher Institution auch immer. Wie das Gespräch als ›themenzentrierte Interaktion‹ zu gestalten ist, dazu hat Ruth Cohn beispielsweise eine Reihe von Vorschlägen gemacht. 13 Neben der Vernachlässigung der funktionalen Einbettungen und des Themenbezugs ist die nächst auffällige Idealisierung des Gesprächs, die es zu überwinden gilt, die Vernachlässigung des Beziehungsaspekts. Jedes Gespräch erfordert die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Sozialbeziehung, die Regulation von Nähe und Distanz. Themenbezug und Beziehungsklärung müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. 14 Je nach den Kontexten wird sich dabei die Waage mal nach der einen, mal nach der anderen Seite neigen. Vgl. Ruth Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart . Wie die Vertreter der ›themenzentrierten Interaktion‹ noch hinzufügen würden, müssen auch die Interessen der beteiligten Individuen mit in den Balanceakt einbezogen werden.
Rein formal gesehen verlangt die Berücksichtigung des Interaktionsaspekts Zeit, mehr Zeit, als die rein aufgabenbezogene Schwundform des Gesprächs benötigt. Die Berücksichtigung des Interaktionsaspekts führt darüber hinaus zu der Einsicht, dass nicht jeder mit jedem beziehungsweise jede mit jeder/jedem sprechen kann und dass ganz allgemein die Bildung von größeren Gesprächssystemen ein längeres ›warming up‹ benötigt, um überhaupt mit der thematischen Arbeit beginnen zu können. Das ideale Gespräch, wie es die Buchkultur propagierte, konnte praktisch voraussetzungslos zu jeder Zeit ad hoc beginnen. Die Gesprächsteilnehmer brauchten sich nicht kennen zu lernen, es war keine gemeinsame Geschichte erforderlich. Natürlich weiß jeder aus Erfahrung, dass genau diese Annahme immer wieder zum Scheitern von Kommunikationssystemen führt. Gruppengespräche besitzen eine historische Dimension, und man kann sie nur in seltenen Fällen ungestraft vernachlässigen. Die immer wieder geforderte ›Gleichheit‹ der Gesprächspartner muss, wenn sie denn überhaupt nötig ist, zumeist erst hergestellt werden. Und sie wird immer nur in Bezug auf bestimmte Themen/Aufgaben hergestellt. Wenn wir Visionen über die soziale Informationsverarbeitung entwickeln wollen, dann empfiehlt es sich, von der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation auszugehen. Die Rahmenbedingungen eines erfolgreichen Gesprächs müssen in dem Gespräch in aller Regel zunächst einmal hergestellt werden. Die sorgfältige Planung des Settings von Gesprächen verlangt spezielle kommunikative Kompetenzen, die bislang kaum als allgemeine kulturelle Schlüsselqualifikationen vermittelt werden. Genau dies wird aber nötig werden. Information und Kommunikation werden nicht nur auf dem elektronischen Emergenzniveau zu einer Produktivkraft, sondern ebenso in den Face-to-face-Kommunikationen. Soll diese Ressource genutzt werden, muss das entsprechende Qualifikationsniveau angehoben werden. In vielfältiger Form haben sich diese neuen Erfordernisse in den ›Grundprinzipien der allgemeinen und beruflichen Bildung‹ niedergeschlagen, die von der Kommission der Europäischen Union in den letzten Jahren formuliert wurde. 15 Allenthalben wird die Notwendigkeit des Lernens des Lernens, des Beobachtens des Be Vgl. zum Beispiel das »Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung: Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft«.
obachtens und ähnlicher reflexiver Prozesse gefordert. Und natürlich wird auch hier die Entwicklung von Teamfähigkeit – und dazu gehört zentral die Fähigkeit zum Gruppengespräch – in den Vordergrund gestellt.
Gespräche als Sinnesorgane von Kulturen Dem multisensuellen, massiv parallel verarbeitenden Charakter des Menschen entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das unmittelbare Gespräch multimedial und interaktiv angelegt. Sprechen, Mimik, Gestik, Handeln u. a. leibliches Verhalten dienen gemeinsam als Informationsmedium. Das Gruppengespräch kann mehr Informationstypen gewinnen und aufbereiten, als dies einerseits technischen Systemen und andererseits den individuellen psychischen Systemen möglich ist. Schon zu Beginn der sechziger Jahre hatte Michael Polanyi auf die Rolle des ›tacit knowledge‹ für die Reproduktion der Kultur hingewiesen und festgestellt, dass unser »Körper das grundlegende Instrument ist, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnisse von der äußeren Welt gewinnen«. 16 Viele unserer Fähigkeiten und Fertigkeiten können wir überhaupt nicht in Worte fassen und nur durch Vormachen und Nachmachen, also durch Einsatz unseres Körpers als Kommunikationsmedium weitergeben. In einer viel gelesenen Studie wies David J. Teece Anfang der achtziger Jahre darauf hin, dass der Erfolg großer, internationaler Konzerne in hohem Maße davon abhängt, ob es ihnen gelingt, das in den verschiedenen Abteilungen vorhandene taktile Know-how weiterzugeben. Als einzige Form, die sich hierfür als möglich erwies, schildert er Face-to-face-Kontakte, insbesondere die Gruppenarbeit. »Wissen, das eine hohe taktile Komponente enthält, lässt sich nur äußerst schwierig ohne engen persönlichen Kontakt und Vor- und Nachmachen weitergeben.« 17 Nach weiteren ausgedehnten empirischen Untersuchungen erschien dann das Buch »The knowledge-creating Company« von Ikujiro Nonaka/Hirotaka Takeuchi, in dem das Management von implizitem Wissen zu einem Hauptfaktor zeitgemäßen Managements erklärt wird. Das Fazit dieses Bestsellers ist, »das westliche Manager Ders.: Implizites Wissen. Frankfurt am Main (zuerst New York ), S. . Ders.: The Market for Know-how and the Efficient International Transfer of Technology. In: The Annals of the American academy of Political and Social Science , Nov. , S. -, hier S. (Übersetzung von mir, M. G.).
loskommen müssen von ihrem bisherigen Verständnis, man könne Wissen ausschließlich mit Hilfe von Handbüchern oder Vorträgen erwerben und weitergeben« (ebd., S. ). Weiterhin wird die Reduktion auf das Hören und Sehen als einzige Erfahrungsquelle als Ursache von Steuerungsproblemen in der Wirtschaft nachgewiesen. Es geht jedoch hier nicht nur um das Wissen, das wir uns über unseren Körper aneignen und das wir ›enactiv‹ gespeichert haben. Auch die emotionalen Informationen, die in minimal strukturierten Gruppen in freischwebender Aufmerksamkeit gewonnen, latent gespeichert und affektiv bewertet werden, gehören zu jenen Informationstypen, die für unsere Kultur wichtig sind und deren Nutzung an das Gespräch gebunden ist. Die gruppendynamische Erzeugung und Bewertung von Informationen besitzt eine ganz andere Qualität als die individuelle Erhebung und Reflexion affektiver Daten. Dem Einzelnen fällt es nicht immer leicht, eine Distanz zu seinen seelischen Vorgängen aufzubauen, viele Ereignisse bleiben seinem Bewusstsein unzugänglich, sein Gefühl kann ihn trügen. Deshalb bedarf er der Hilfe von anderen im Gespräch. Mögliche Kooperation setzt im Miteinander dort ein, wo der andere durch mein Verhalten etwas über meine seelischen Vorgänge und Informationen erfährt, das mir selbst nicht klar ist, das aber für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben wichtig ist – und umgekehrt. Gruppengespräche bieten häufig sehr viel bessere Voraussetzungen, unbewusste Informationen zu entschlüsseln und Affekte zu kontrollieren, als die noch immer bevorzugten Zweiergespräche. Natürlich bestimmen auch hier die Interaktionsdynamik und die blinden Flecken der Individuen die Arbeit. Ambivalenzen kann man nicht abstellen. Man kann sie jedoch bemerken und ihre unterschiedlichen Auswirkungen in Rechnung stellen. Meist bleibt allerdings die individuelle Selbstreflexion auch im Nachhinein blind gegenüber vielen ›Kehrseiten‹ unseres Handelns. Auch die Umweltbeobachtung stößt rasch an Grenzen. Die Chancen zu sozialer Selbstreflexion steigen in größeren – nicht zu großen – Gruppen. Hier sind genügend Ressourcen vorhanden, um abwechselnd einzelne Gruppenmitglieder zur Beobachtung des Gruppenprozesses und der emotionalen Vorgänge freizustellen. Konflikte können auf verschiedene Personen aufgeteilt und damit differenziert werden. Die einseitigen Herangehensweisen der verschiedenen Individuen können sich wechselseitig korrigieren. Da sich unbewusste Erfah
rungen nur zum geringeren Teil und dann auch nur sehr verschlüsselt sprachlich mitteilen, bietet gerade die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht die besten Voraussetzungen für die Kooperation. Es geht aber nicht nur um die Verarbeitung affektiver Daten. Gruppengespräche eigenen sich auch zu einer Integration affektiver und rationaler Informationen und damit zu einer kollektiven Nutzung der vielseitigen individuellen Ressourcen. Selbstverständlich eignet sich dazu nicht jede Form des Gesprächs. Erforderlich ist vielmehr eine solche Form, in der Ungewissheiten und Ambivalenzen akzeptiert werden und in der das Gefühl ebenso wie der Verstand als Argument zählen. Es geht nicht um das Gespräch als Kampfplatz, auf dem man sich mit rhetorischen Waffen Duelle liefert. Es geht um Gespräche, die Raum lassen, damit sich die Komplexität der menschlichen Informationsverarbeitung entfalten kann. Dies setzt zum einen eine starke selbstreflexive Komponente und zum anderen einen Programmwechsel zwischen zielorientierter Arbeit und minimalstrukturierten Phasen voraus. Wie ein solcher Wechsel der Programme psychischer und sozialer Informationsverarbeitung ausschauen kann, haben wir an anderer Stelle am Beispiel eines bestimmten Typs des Gruppengesprächs, der Supervision, ausführlich gezeigt. 18 Ein zeitgemäßes Konzept des Gruppengesprächs wird dieses also nicht bloß als ein Orchester zielgerichteten individuellen Handelns behandeln. Chaos, strukturierte Phasen und verschiedene Formen sozialer Selbstreflexion und verschiedene Phasen sozialer Selbstreflexion werden sich ablösen. Damit dies funktionieren kann, wird die beständige gemeinsame Beobachtung dieses Programmwechsels zu einer unverzichtbaren Aufgabe. Das Gruppengespräch als Vernetzungsinstanz der Informationsgesellschaft erfordert einen wachsenden Anteil sozialer Selbstreflexion. Die kritische Sichtung der Programme, nach denen wir gerade handeln und erleben, wird zur Grundlage der Selbststeuerung. 19 M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von Selbsterfahrung distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft. Frankfurt am Main . Diesen wachsenden Bedarf an ›institutionalisierter Dauerreflexion‹ hat Helmut Schelski schon in einzelnen Bereichen der Gesellschaft bemerkt. Vgl. ders.: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? In: Zeitschrift für evangelische Ethik, Heft , , S. -.
Je besser wir solche Programme kennen und je mehr wir selbst zur Verfügung haben, desto größere Möglichkeiten, unsere Umwelt zu erleben, und desto größere Handlungsalternativen besitzen wir in unserer alltäglichen und professionellen Kommunikation.
Die Integration der Medienvielfalt durch das Gespräch Was die Kombination der verbalen, nonverbalen, natürlichen und technisierten Medien angeht, tappt unsere Kultur im Dunkeln. Die Buch- und Industriekultur hat sich im Wesentlichen darauf verlassen, dass der einzelne Mensch die Vielfalt der Informationstypen schon integrieren werde. Entsprechend fungierten bislang praktisch allein psychische Systeme als Boten zwischen den Stockwerken der mehr oder weniger technisierten Informationsmedien. Sie transformierten die Töne in die Schrift, die Schrift in die Bilder, die Bilder in Handlungen usf. Dies bleibt zweifellos auch weiterhin eine Aufgabe der Individuen. Je mehr allerdings durch die soziale Differenzierung und die Technisierung monomedialer Informationsspeicher entstanden sind, desto gewaltiger wurde auch der Bedarf an Übersetzungen von einem ins andere Medium. Von diesen Übersetzungstätigkeiten müssen die Individuen in immer stärkerem Umfang entlastet werden, wenn die Informationsgesellschaft als Ganzes noch funktionsfähig bleiben soll. Die klassischen Formen, in denen diese Entlastung in der Geschichte ablief, waren Institutionalisierung und Technisierung der Informationsverarbeitung. Im gesellschaftlichen Maßstab dienten lange Zeit vor allem die in der Schriftsprache kodierten und in den Massenmedien transportierten Informationen als Integrationsinstanz. Wie sich die verschiedenen Gebrauchswerte im Geld als abstraktem Medium ausdrücken lassen, so übersetzte man die Vielfalt der Informationstypen in Standardsprachen und technische Speicher. Die Respezifikation dieser Informationen lag wieder bei den Individuen. Für viele verknüpft sich mit den neuen elektronischen Medien die Fantasie, nach diesem Muster fortfahren zu können. Statt in die sprachlichen Medien sollen nun die digitalen Medien den Generalnenner für die kulturellen Informationen liefern. Dies ist sicherlich ein möglicher Weg. Aber es spricht nichts dagegen, daneben auch soziale Kommunikationssysteme zu institutionalisieren, die die verschiedenen Informationen auf ihrem je spezifischen
Emergenzniveau erhalten. Diese Kommunikationssysteme werden in ihrer überwiegenden Mehrheit einen gesprächsförmigen Charakter haben. Wir können also in Zukunft neben den technischen Transformationsmaschinen und den psychischen und neuronalen Systemen der Menschen verstärkt auch mit sozialen Interaktionssystemen als multimediale Übersetzungsinstanz rechnen.
Technische Medien als Umwelt von Gesprächen Die technischen Informations- und Kommunikationsmedien der Buch- und Industriekultur, Zeitungen, Bücher, Radio und Fernsehen sowie die Personalcomputer wenden sich praktisch ausschließlich an den einzelnen Menschen. Sie programmieren individuelles Handeln und Erleben, vermitteln dem einzelnen Menschen Wissen – oder unterhalten ihn. Sollen soziale Kollektive angesprochen werden, etwa die Bewohner einer Stadt über Veränderungen des Bebauungsplanes unterrichtet werden, so geht das mit den Mitteln des Buchdrucks, zum Beispiel mit Zeitungen, nur, indem möglichst alle Anwohner einzeln angesprochen werden. Das Kollektiv erscheint als Summe der Individuen. Dass dies in der Geschichte immer mal wieder als Mangel empfunden wurde, zeigen die Arbeiterbildungsvereine im . Jahrhundert, die literarischen Salons, Lesezirkel, Betriebs- und Bauernkollektive nach der russischen Oktoberrevolution usf. In diesen Gruppen versuchte man, sich Texte sozial und in Gruppenarbeit anzueignen. Aber der Ausnahmecharakter dieser Bewegungen bestätigt nur die Regel – und zeigt im Übrigen die entgegenstehenden Schwierigkeiten. Soziale Wirkung entfaltet der Buchdruck über die Normierung der psychischen Systeme. Insofern stärkt er eben auch die Vorstellung, die Gesellschaft bestehe (bloß) aus Individuen. Ein Konzept kollektiver Informationsverarbeitung hat die Neuzeit im Grunde nicht entwickelt. Die Erziehung der Individuen in den Schulen erfolgt deshalb als Normierung ihrer Wahrnehmung und ihres Wissens – unter ausgiebiger Nutzung der Bücher. Unter den Stichwörtern ›Kreativität‹, ›Teamarbeit‹, ›Selbstverantwortung‹ werden solche Praktiken zunehmend kritisiert. Gleichzeitig erleben wir multimediale Inszenierungen, Rockkonzerte, Ausstellungen in Museen, vielfältige Events von Unterneh
men und Verbänden, die eher auf soziale Gruppen denn auf das einzelne Individuum ausgerichtet sind. Sie müssen simultan von vielen erlebt werden, und ihre Wirkung stellt sich erst durch die gruppendynamischen Rückkopplungseffekte ein. Bekanntlich wurde nun gerade die Beobachtung, dass sich viele elektronische Medien, auch schon Rundfunk und Film, nicht an das Individuum im Sinne des einsamen Lesers der Buchkultur wenden, von ihren frühen Kritikern als Ablehnungsgrund genannt. Sie ›vermassen‹ die Menschen, wie vor allem Vertreter der so genannten Frankfurter Schule (Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse) nicht müde wurden zu monieren. Selbst die faschistische Mobilisierung der Bevölkerung musste als Beleg für die Gefahr herhalten, die angeblich in die Kultur einbricht, sobald die Medien nicht mehr einzeln am Schreibtisch wahrgenommen werden können. Eine solche Verblendung durch die Mythen der Buchkultur können wir uns nicht länger leisten. Es geht darum, auch die Chancen zu qualitativ neuen Möglichkeiten der Gestaltung der sozialen Informationsverarbeitung zu sehen, die sich durch die elektronischen Medien eröffnen. Selbst die Bücher werden zunehmend nicht nur für das einsame Lesen zu Hause, sondern als Arbeitsunterlage für Gruppengespräche konzipiert. Und die elektronischen Medien können viele ihrer Möglichkeiten erst dann zur Geltung bringen, wenn sie direkt an soziale Systeme, Gruppen, Teams usf. anschließen. Über komplexe Bildschirminformationen lassen sie sich als Input für Gesprächssysteme unterschiedlicher Größe nutzen. 20 Erst in den Gesprächen wird ihre Komplexität reduziert, und erst nach dieser Form unmittelbarer sozialer Informationsverarbeitung können sie das Handeln und das Leben der Individuen beeinflussen. Das Gespräch bricht die überkomplexe elektronische Informationswelt auf die Möglichkeiten und Zwecke der Individuen herunter. Individuelle Lernerfolge und Bewusstseinveränderung ergeben sich aus der Reflexion sozialen Lernens beziehungsweise Respezifikation von Gruppenerlebnissen. Ich fasse zusammen: Das überkomplexe Informationsangebot vieler neuer Medien und die Anforderung an Medienintegration und synästhetischer Informa Nebenbei bemerkt, dürfte sich die Idee, den Computerbildschirm in etwa in der Größe eines aufgeschlagenen Buches zu halten, nur in den Köpfen derjenigen einstellen, die in der Buchkultur groß geworden sind.
tionsverarbeitung überfordern nicht nur den Typus des Benutzers, den die Buchkultur entwickelt hat, sondern sie ermöglichen auch einen neuen Benutzertyp: soziale statt psychische Systeme. Diese Möglichkeit erfordert einerseits, dass die technischen Medien stärker als informative Umwelt für die Gruppenarbeit konzipiert werden. Betrachtet man sie als eine Art ›Halbprodukt‹, die in einem weiteren komplexen Informationsverarbeitungs- oder Sinnstiftungsprozess nachbehandelt werden müssen, eröffnet sich die Chance, die individualisierende Ausrichtung des Buchdruckzeitalters zu überschreiten. Andererseits können die Formen direkter sozialer Informationsverarbeitung im Gespräch verbessert und auf die neue Lernumgebung abgestimmt werden. Im Ergebnis dient das Gruppengespräch als Relais zwischen Menschen, Organisationen und technischen sowie natürlichen Kommunikatoren.
Strukturen von Gesprächen und die Vielfalt der Gesprächstypen Damit das Gespräch als Spiegel von Kulturen, als Medium der Selbstreflexion von Menschen und Gemeinschaften, als Steuerungsmechanismus und Relais in kulturellen Netzwerken als Synthese von Interaktionen, Markt und Organisation, als Sinnesorgan von Kulturen und als Mittler zwischen Menschen, technischen Medien, Organisationen und Kulturen dienen kann, müssen bestimmte Rahmenbedingungen hergestellt werden: Es sollten sich mehr als zwei Personen beteiligen (Gruppengespräch), die sich face-to-face gegenüberstehen oder -sitzen. Dies ermöglicht multisensuelle Informationsverarbeitung und multimediale Kommunikation. Eine formale Hierarchie würde die freie Balance zwischen den drei Steuerungsmechanismen erschweren. Asymmetrien werden im Verlauf des Gesprächs durch die Aufgaben/Themen entstehen. Idealerweise wechseln die Rollen im Verlaufe des Gesprächs. In diesen Rahmenbedingungen gibt es Maximen (Steuerungsprogramme) für den Gesprächsablauf: Die binäre Schematisierung der Aktivitäten und das Turn-taking-System aus der Interaktion sollte zunächst als Basis genommen werden. Entsprechend ist Selbst- und Fremdauswahl von Sprechern möglich. Die Selbstreflexion der Interaktionsgeschichte und die Verbalisierung von deren Ergebnissen (Metakommunikation) dient immer wieder der Herstellung von Gemeinsamkeiten und der Bewältigung von Krisen. Auf dieser Basis können andere Ordnungsprinzipien für das Ge
spräch phasenweise in Kraft gesetzt werden. Grundsätzliches Ziel der Gruppengespräche ist die gemeinsame Lösung von Aufgaben der Informationsverarbeitung, die jeder Einzelne allein nicht bewältigen kann. Hieraus folgen die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit und der Respekt vor dem Kommunikationspartner. Die Rahmenbedingungen (Setting) und die Steuerungsprogramme werden präziser, sobald wir genauer wissen, um welche Themen und Aufgaben es in den Gesprächen geht. Zur Lösung von immer wiederkehrenden Aufgaben sozialer Informationsverarbeitung und Vernetzung haben sich in der Geschichte bestimmte Typen kommunikativer Kooperationsformen herausgebildet. Vielfach gehören sie zum professionellen Sonderwissen einzelner Berufsgruppen. Daneben gibt es aber in der Industrie- und Buchkultur auch eine begrenzte Anzahl von Gesprächsqualifikationen, die alle mündigen Bürger mehr oder weniger gut beherrschen. Die allgemein bildenden Schulen organisierte man nicht zuletzt auch, um genau diese Basisprogramme für die Kooperation bei der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -darstellung kulturell zu vererben. Die wichtigsten Formen solch elementarer Kooperationsformen sind das Argumentieren, Beschreiben und Erzählen. 21 Die folgende Tabelle (Abb. ) zeigt, welche Aufgaben diese Formen jeweils lösen und welche Berufe an ihrer Ausarbeitung besonderen Anteil hatten. Die letzte Reihe der Tabelle zeigt die Umrisse einer neuen Form des Gruppengesprächs, das sich offenbar im Gleichklang mit der Informationsgesellschaft entwickelt. Mit dem Dialog wollen wir uns im nächsten Abschnitt befassen. Er nutzt die bekannten kommunikativen Errungenschaften, indem er, je nach den anstehenden Aufgaben oder zu bewältigenden Krisen, mal das eine, mal das andere Programm anwendet – und dabei latent immer die nichtgenutzten weiteren Möglichkeiten wach hält.
Giesecke/Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Frankfurt am Main , S. ff.
Abb. : Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle Ausdifferenzierung
Rollen
viele, aber selbstreflexive Klärung
Kollektive Reflexion von Grundannahmen, Strukturen und Medien von Kulturen
Dialog
Verlangsamung der Oszillation, Emergenz neuen kollektiven Wissens, Verflüssigung von Standpunkten und Perspektiven
Entlastung des Erzähegalitär lers; Identifikation mit (Mensch) dem Erleben des Gegenüber, emotionale Reziprozität
Kollektives Verarbeiten autobiographischer Erfahrungen/Teilen von emotionalen Erfahrungen
Erzählen
Experte: Experte
Ausgleichen des Kompe- Experte: tenzdefizits Laie (asymmetrisch)
Erfolgskriterium
Überzeugen
Parallelverarbeitung in der Umweltwahrnehmung, Wiedererkennen
Ziel
Argumentieren Verändern von Bewertungen/Perspektiven
Beschreiben/ Instruktion
Kooperationsformen
Instruktion/ Fachbuch, Schule, Wissenschaft
prof. Ausdifferenzierung
synästhetisch, Kombination verschiedener Programme der Selbstund Umweltwahrnehmung
Interkulturelles Management, Mediation
Empathie; Selbstwahrneh- Therapie, ›schöne‹ mung der psychischen/ve- Literatur getativen Innenwelt
Reflexion vorhandener In- Gericht, Parlament formationen aus verschie- (Kirche) denen Quellen
Betrachten (visuell) der physikalischen Umwelt (äußere Sinne)
Informationsgewinnung
Die Zukunft des Gesprächs: dialogue vision Der Dialog gilt gegenwärtig als eine »der Erfolg versprechendsten Methoden, eine erstarrte, verkrustete Gesellschaft und deren Institutionen wieder in Bewegung zu bringen«. 22 Nachdem viele Hoffnungen, die sich an die Einführung elektronischer Rechner und technischer Netze knüpften, wie Seifenblasen zerplatzt sind, kommt die Vision des Dialogs gerade recht. Er empfiehlt sich als Übergangsobjekt auf dem Weg in eine unbekannte, jedenfalls riskante Zukunft (3D 쩛CD, Modul ). Wie die Übergangsobjekte in den Ablösephasen der kindlichen Entwicklung, so sollten kulturelle Übergangsobjekte einerseits bekannt und bewährt sein, zugleich aber sollten sie auch Wege in die Zukunft weisen und dorthin mitgenommen werden können. Wir kennen die Gruppengespräche und viele Elemente des Dialogs aus unserem Alltag, wir wissen, dass die Gespräche von Angesicht zu Angesicht auch für die Zukunft so wichtig wie die natürlichen Ressourcen bleiben werden. Und wir erkennen im langfristigen Entwicklungsgang unserer Kultur eine Logik, zumindest die Tendenz einer wachsenden Bedeutung rückkopplungsintensiver multimedialer Kommunikationsformen. Das dialogische Gespräch erfüllt alle im Augenblick absehbaren Voraussetzungen für ein zentrales Kommunikationsmedium der zukünftigen Informationskultur. An der Bedeutung des Gesprächs als Ursituation der kulturellen Synthesis waren schwerlich jemals Zweifel angebracht. Und so kennen wir aus der Philosophie und Politik aus praktisch allen Epochen Loblieder auf den zwischenmenschlichen Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Wenn der Eindruck allerdings nicht trügt, dann langt es an der Jahrtausendwende nicht, diese alten Lieder weiter zu singen. Zumindest einige Formen des Gesprächs verlangen nach einer Professionalisierung und nach gezielter gesellschaftlicher Förderung, wie sie bislang eher den technischen Formen der Informationsverarbeitung (Schreiben, Lesen, Rechnen) vorbehalten waren. Es geht nicht um die Bedeutung des Gesprächs, sondern um eine andere Stufe seiner kulturellen Notwendigkeit. Es geht um eine grundlegende Verschiebung in der Gewichtung der kulturellen Kommu So Farah Lenser und Heiner Benking: Gesprächskulturen und runde Tische, vgl. http://www.ceptualinstitute.com/genre/benking/dialogue-culture.htm und http: //newciv.org/cob/members/voicetext.htm. Von diesen Adressen aus mag der Spaziergang in die Welt des netzgestützten Dialogs beginnen.
nikationsformen. Die Zeit für Erfindungen, für professionelle Programme auf dem Gebiet der dialogischen Informationsverarbeitung in Gruppen scheint überreif. Für die aktuelle Notwendigkeit solcher Erfindungen haben Praktiker und Theoretiker in den letzten Jahren verschiedene Begründungen geliefert. Anthony Giddens sieht aus vielerlei Gründen ein Ende der ›Kriegergesellschaft‹ und ihrer Streitkultur und hofft an deren Stelle auf eine neue Gesprächskultur. ›Gelassenheit‹ statt Kampf um die eigenen Überzeugungen, Ermittlung von Gemeinsamkeiten, die dem Überleben der Menschheit helfen, statt diskursiver Klärung der Diffe´rence a` la Lyotard. Dahinter stehen die Ernüchterung über die Leistungen der Aufklärung, das Misstrauen gegenüber der Macht von Sprache und Vernunft. 23 Vor allem aber geht es um die Ausdehnung des ›Wir‹, um die Suche nach Wegen, die mankind vision zu verwirklichen. 24
Ziele des Dialogs David Bohm, einer der Väter der modernen Dialogbewegung, stellt genau diesen Aspekt, ›etwas Gemeinsames zu schaffen‹ beziehungsweise zu erkennen in den Vordergrund seiner Arbeit. Dialoge erscheinen als Medium, um das ›Gemeinsame der Menschheit‹ hervorzuheben, zu optimieren und zur Richtschnur zu machen. So wie die Betriebe eine corporate identity benötigen, wenn sie ihre dezentralen Einheiten als autonome selbstorganisierte Elemente behandeln wollen, so braucht auch die Menschheit Klarheit über ihre grundlegenden Werte, um Kohäsion in das Handeln und Erleben ihrer Glieder zu bringen. 25 Werte, mit denen sich Menschen und Gemeinschaften identifizieren können, lassen sich nicht konstruieren. Sie sind Akzentuierungen der immer schon vorhandenen Grundüberzeugungen. Diese Hervorhebung erfolgt als Aufdeckung der Geheimnisse des anderen und von uns selbst. Befragt nach seinen Erfolgsgeheimnissen, fällt dem Bestsellerautor Michael Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main , S. . Hierzu empfiehlt etwa auch Richard Rorty in seinen verschiedenen Werken (Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main ; Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt am Main ) das ›Gespräch‹. Ziel des Dialogs ist es, ›etwas Gemeinsames zu schaffen‹, schreibt David Bohm in: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion (hg. von Lee Nichol). Stuttgart (zuerst London/New York ), S. .
Crichton (›Jurassic Parc‹, ›Enthüllung‹) ein nicht ganz ungewöhnlicher Traum ein: »Ich träume sehr oft davon, in den Kopf anderer Menschen zu schlüpfen – und umgekehrt. Zwei Minuten, um zu erleben, was der andere denkt und fühlt.« 26 Diesen Traum zu verwirklichen, dazu dienen Dialoge. Wir verständigen uns, indem wir Annahmen über die Standpunkte und Perspektiven unserer Gegenüber machen und dann im Verlauf des Gesprächs diese Annahmen überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Unsere Gesprächspartner werden, so sind wir sicher, ähnlich verfahren. Dieses Konzept von Verständigung hat der Symbolische Interaktionismus sozialwissenschaftlich ausgelotet. 27 Alfred Schütz beschrieb in mehreren schönen Aufsätzen die Vielzahl von Idealisierungen, die wir vornehmen müssen, weil wir niemals sicher wissen können, was der andere meint und denkt. 28 Bei dieser Erkenntnis verharrte die sozialwissenschaftliche Gesprächsforschung mehr als fünfzig Jahre lang. Dann kamen, wie bei allen wirklich grundstürzenden Bewegungen, zugleich an verschiedenen Orten der Erde ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Gruppen auf die Idee, die bislang nur theoretisch formulierten Prinzipien interpersoneller Verständigung in eine praktische Methode umzusetzen. Gespräche sollten von vornherein so geführt werden, dass die Idealisierungen nicht mehr nur individuell und insgeheim vorgenommen werden, sondern sie sollten jeweils veröffentlicht und dann gemeinschaftlich erkundet und vor allem überprüft werden. Was immer das Thema der Unterhaltung, des Streits, der Diskussion auch sei, die Aufmerksamkeit soll, so der normative Imperativ, auf die Annahmen gelenkt werden, die den Beiträgen, Argumenten, Meinungen usf. zu Grunde liegen. Damit hatte die Schwangerschaft einer Kommunikations- und Beratungstechnik begonnen, die nunmehr unter dem Namen ›Dialog‹ das Licht der Welt erblickt. Es handelt sich hier Interview in: »Die Zeit«, Nr. , . März , S. . Bei Harold Garfinkel wird dies ›Anspruch auf Unterstellung von Sinnübereinstimmung‹ genannt: »Der Sprecher erwartet, der andere werde seinen Bemerkungen den vom Sprecher intendierten Sinn zuschreiben, und gerade dadurch erlaube der andere ihm, dem Sprecher, die Annahme, dass beide wüssten, worüber der Sprecher gerade spreche – und zwar ohne dass irgendeine Überprüfung erforderlich sei. (Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek , S. .) Ders.: Gesammelte Aufsätze: Bd. , Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Bd. , Studien zu soziologischen Theorie. Den Haag beziehungsweise .
um eine Kommunikationstechnologie ohne Technik. 29 In der Praxis des Dialogs zeigt es sich bald, dass hinter den relativ leicht zu formulierenden ersten Gründen für bestimmte Argumente und Meinungen weitere Idealisierungen stehen. Der Erkundungsprozess scheint zunächst unabschließbar, aber wenn sich Dialoggruppen über einen längeren Zeitraum treffen und dabei die Themen eingegrenzt bleiben, dann stabilisieren sich nach und nach doch Grundannahmen heraus, die als eine Art Makroerwartung Personen und das Geschehen steuern. Den Praktikern des Dialogs ging es, unnötig zu sagen, nicht um die Verifizierung sozialwissenschaftlicher Theorien und anfangs auch nicht um die Professionalisierung einer bestimmten Form kollektiver, selbstreflexiver Informationsverarbeitung in Gruppen. Sie wollten und wollen das soziale Miteinander verbessern. Hierzu haben sich, unter anderem motiviert durch das G-Treffen und die Nachfolgekonferenz in Midrand, viele Dialoginitiativen gebildet, die auch Plattformen im Internet unterhalten. 30 Eine Grundidee hinter diesen ethischen und gesellschaftspolitischen Dialogkonzepten formulierte Crichton in dem oben schon erwähnten Interview folgendermaßen: »Wenn man in der Haut des Anderen steckt, dann tut man sich das, was man den Anderen zufügen wollte, selbst an.« Kriegsparteien, die in die Köpfe der Gegner schlüpfen können, haben nicht nur keine Geheimnisse mehr voreinander, sie werden auch beim Anderen auf Grundannahmen stoßen, die ihre eigenen sind. Die Differenzen, die möglicherweise Anlass zum Ausbruch der Feindlichkeiten gewesen sein mögen, verschwinden. Es wird klar, dass man auch in diesem Fall im Anderen nur Teile seiner selbst bekämpft, die im Augenblick des Ausbruchs des Streites nicht akzeptiert werden konnten. 31 Da die Menschheit das erste Mal in Hier müsste noch einmal zu dem Konzept der ›Sozialtechnologie‹ zurückgekehrt werden, das als Kampfbegriff in den siebziger Jahren eingeführt wurde. Vgl. Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt am Main . Damals hat man nur die negative Seite der ›Sozialtechnologie‹ herausgearbeitet. Es käme nun darauf an, auch die positiven Seiten der Professionalisierung und technisierter sozialer Interaktion zu würdigen. Am ehesten erhält man einen Einblick, wenn man ›Dialogue‹ als Suchbegriff eingibt. Der Dialog gehört deshalb auch zu einem wichtigen Instrument der ›praktischen‹ Friedensforschung. Vgl. zum Beispiel Amos Elon: Nachrichten aus Jerusalem. Frankfurt am Main (Die Makler des Friedens); Johan Galtung: Demokratie:
ihrer Geschichte die Möglichkeit besitzt, sich selbst sehr rasch in einem Krieg auszurotten, bekommen auch die Anstrengungen zu einer friedlichen Beilegung von Konflikten eine neue historische Qualität. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass Gespräche gesellschaftliche Wirkung entfalten können, ist, dass sie wirklich als Mikrokosmos der Gesellschaft funktionieren. Ein wichtiger Vorläufer des Dialogkonzeptes in diesem Sinne ist Friedlich Daniel Ernst Schleiermacher (-). In vielen Arbeiten hat er die Bedeutung des Gesprächs zur Vergesellschaftung der Individuen, insbesondere zum Durchqueren der Distanz auseinander liegender Standpunkte betont. Seit etwa empfahl er, das ›gesellige Gespräch‹ als Modell für Kultur und Gesellschaft überhaupt zu nehmen. 32 Man kann aber in unserer Gegenwart nicht mehr dabei stehen bleiben, das Gruppengespräch als Mikrokosmos des Makrokosmos Kultur zu postulieren. Vielmehr zeigt sich die neue Qualität des Dialogkonzepts gerade darin, dass das Setting von Gesprächen konsequent so gestaltet wird, dass es tatsächlich die Kulturen größerer Gruppen, Schichten oder Gesellschaften spiegeln kann. »In der Theorie der ›Mikrokultur‹ wird die These aufgestellt«, schreibt David Bohm, »dass in einer Gruppe von zwanzig und mehr Personen ein repräsentativer Querschnitt einer Gesamtkultur zu finden sein kann, was eine Aufladung mit multiplen Sichtweisen und Wertesystemen ermöglicht.« 33 War es bei Schleiermacher und anderen Vertretern der Romantik noch eher die Kleingruppe, so experimentiert man zweihundert Jahre später mit Großgruppen von fünfzig, ja bis zu fünfhundert Personen. Die Komplexität von Kulturen, schon jene von Großbetrieben, erweist sich letztlich doch als größer, als man in der Geschichte lange Zeit annahm. Ein repräsentativer Querschnitt der Positionen und Meinungen verlangt nach der Einrichtung von Großgruppen. Dialoge als Spiegel von Organisationskulturen zu institutionalisieren, das gehört mittlerweile auch zum Handwerkszeug kommunikativen Managements und der modernen OrganisationsentwickDialog für einen Konsens, Debatte um eine Mehrheit oder beides? In: Die Demokratie überdenken. Festschrift für Wilfried Röhrich. Berlin . Vgl. Wolfgang Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim , sowie Rudolf Odebrecht: Friedrich Schleiermachers Dialektik. Leipzig . Der Dialog. Stuttgart , S. , vgl. auch S. .
lung. In diesem Bereich, in der Orientierung der Unternehmen auf die Anforderungen der Informationsgesellschaft, liegen weitere Ursachen für die wachsende Bedeutung des dialogförmigen Gesprächs. Aus diesem Bereich stammen auch die bei weitem meisten Vorschläge für eine Professionalisierung des Dialogs. 34 Aus der Sicht des Managements werden Dialoge überall dort verstärkt notwendig, wo aufgrund von Arbeitsteilung und der Verminderung unmittelbarer persönlicher Kontakte durch die technischen Kommunikationsmedien die soziale Kohäsionskraft nachlässt. 35 Während zahlreiche Funktionen durch die direktiven und auch technisierten Kommunikationsformen gut zu erfüllen sind, müssen zur Klärung von gemeinsamen Zielen und Grundsätzen und zur Bewältigung von Interaktionskrisen unmittelbare interpersonelle Netzwerke eingerichtet werden. Aus der Sicht der Berater werden folgende Leistungen des Dialogs für Unternehmen hervorgehoben: In Dialoggruppen können sich Unternehmen zu lernenden Organisationen entwickeln. Dialoge eignen sich als Instrument, um ›die inhärente, selbstorganisierte, Vgl. Chris Argyris: Wissen in Aktion. Eine Fallstudie zur lernenden Organisation. Stuttgart ; Peter M. Senge: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart ; Chris Argyris und Donald A. Schön: Organizational Learnig II. Reading/Menlo Park/New York (dt. Stuttgart ); William N. Isaacs: Dialog. Kollektives Denken und Organisationslernen. In: Gerhard Fatzer (Hg.): Organisationsentwicklung und Supervision. Köln , S. - (zuerst Ort ); ders.: Der Dialog. In: Peter M. Senge/A. Kleiner/B. Smith u. a.: Das Fieldbook zur fünften Disziplin. Stuttgart , S. - (zuerst ); Edgar H. Schein: Über Dialog, Kultur und Organisationslernen. In: G. Fatzer (Hg.): Organisationsentwicklung und Supervision. Köln , S. -; sowie http://learning.mit.edu/ und http://uia.org/dialo gue/webdial.htm und http://weg.mit.edu./athena.mit.edu/org/s/sloan/www/; Harrison Owen: Expanding Our Now. The Story of Open Space Technology. San Francisco (dt. Stuttgart ); ders.: Open Space Technology. A User’s Guide. San Francisco (dt. Stuttgart ). »Wie empirische Untersuchungen über den Einfluss von Telemedien auf Führungsprozesse zeigen, kann bisher keine technische Kommunikationsform die für die Motivation und Vertrauensbildung wichtige Face-to-face-Kommunikation ersetzen. Während die Nutzung von Telekommunikationsmedien zur Kommunikation zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern relativ gut geeignet ist, um die Aufgaben- und Zielorientierung von Gruppen (Lokomotion) zu unterstützen, erweisen sich computergestützte Kommunikationsformen wie E-Mail in empirischen Untersuchungen bislang als weniger geeignet, um soziale Beziehungen zwischen Gruppenmitgliedern und Führungskräften (Kohäsion) zu fördern.« Picot/Reichwald/Wigand, S. f.
kollektive Intelligenz von Gruppen zu nutzen‹. 36 Zugleich mit der Veränderung von Organisationen eröffnet der Dialog auch die Möglichkeit, ›für einen wichtigen Umbruch in der Art und Weise, wie Menschen sich selbst wahrnehmen‹ (ebd.). Drittens verspricht er einen alternativen Ansatz, um neben der Ebene der Organisation und der Individuen auch auf der Ebene der Gruppe neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die Erfahrungen der dialogischen Organisationsentwicklung haben auch gezeigt, ›dass die Auflösung von ehemals festen Grenzen und das Reframing von alten Problemen für den Einzelnen zunächst als bedrohlich und destabilisierend‹ erlebt wird. ›Denn wenn Menschen ihre fundamentalen Glaubenssätze und Annahmen zu hinterfragen beginnen und alte Handlungsmuster erkennen, ergeben sich daraus nicht zugleich neue Sicherheiten‹ (ebd.). Die im Umfeld der Dialogprojekte am MIT (Boston) in den Vereinigten Staaten gesammelten Erfahrungen erhärten die Hypothese, dass die Dialoge gegenwärtig der vielversprechendste Beitrag zur Lösung des Problems der Schaffung von kollektivem Wissen auf verschiedenen Ebenen/in verschiedenen Medien ist. Eine Hauptleistung liegt darin, den Beteiligten die unterschiedlichen Annahmen/Programme wechselseitig nachvollziehbar zu machen – ohne dabei diese Unterschiede zu minimieren. Die Vision ist, dass im Prozess des Austauschs neue Einsichten emergieren, die sich nicht auf die sprachlichen Beiträge der Beteiligten reduzieren lassen. Es ist ein Konzept, welches Verständigung nicht durch Rekurs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern durch die Respektierung andersartiger Nenner anstrebt. Dies dürfte ohne eine gemeinsame Akzeptanz der ökologischen Grundeinsicht, dass erst das Zusammenwirken artverschiedener Faktoren überlebensfähige Systeme schafft, kaum gelingen. Insofern bestärkt jeder Dialog die Vision von Kulturen als ökologischen Netzwerken artverschiedener Kommunikatoren. 37 Vgl. William Isaacs im Gespräch mit J. F. Hartkemeyer. In: M. J. F. Hartkemeyer/L. Freeman Dhority: Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs. Stuttgart , S. . Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Vertreter des Dialogkonzeptes auch in ökologischen Bewegungen mitarbeiten. Einen guten Überblick hierüber vermittelt der Band von M. J. F. Hartkemeyer und L. Freeman Dhority: Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs (Stuttgart ), in dem zahlreiche Interviews mit Vertretern der ökologischen Bewegung abgedruckt sind.
Im Gegensatz zu den Bestrebungen in den siebziger und achtziger Jahren, den im Zuge der Globalisierung fragmentierten großen Unternehmen durch eine monolithische corporate identity stabilisierende Korsettstangen einzuziehen, geht es der dialogischen Beratung um Identitätsbestimmungen, die produktive Widersprüche ›in der Schwebe halten‹. Generell unterscheidet sich in dieser Hinsicht die Dialogbewegung gewaltig von den in der Literatur häufig genannten Vorläufern, den griechischen Diskursphilosophen und der Tradition des religiösen Gesprächs. Die Sucher nach Wahrheit und die Verkünder von Glaubensgewissheiten führen die Gespräche in der Überzeugung, dass es eine Wahrheit gibt und dass es gut sei, wenn alle Beteiligten am Ende zu dieser finden würden. Dialogbegleiter verstehen sich nicht als Verkünder von Wahrheiten. Im ersten Schritt ermöglichen sie es, dass die Unterschiede zwischen den Teilnehmern als Bedingung jeder Kommunikation und jedes Ökosystems wach gerufen werden. Gemeinsamkeiten stellen sich im Fortgang von selbst her, sie emergieren. Nur die ›Durchsetzung‹ von Konsens, die Überzeugungsarbeit Einzelner kann die Emergenz von Gemeinsamkeiten verhindern – und sie tut dies bekanntlich alle Tage. Am radikalsten hat sich David Bohm vom rhetorischen Kommunikationsideal, das die abendländische Kultur nun schon seit zweieinhalbtausend Jahren begleitet, abgewandt. »Bei einem Dialog versucht niemand zu gewinnen. Wenn einer gewinnt, gewinnen alle.« 38 Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, dass »niemand auf Dauer an seinen eigenen Vorstellungen festhält oder sie sonstwie verteidigt« (ebd., S. ). Und weiter: »Es macht keinen Sinn, überredet oder überzeugt zu werden. Dies ist weder kohärent noch rational. Wenn jemand Recht hat, muss er andere nicht überzeugen. Wenn jemand andere überreden muss, ist die Sache wahrscheinlich irgendwie zweifelhaft« (ebd., S. ). Bei dieser Radikalität erscheint der Einsatz von Dialogen in Unternehmen zur Erreichung bestimmter Ziele schon kaum mehr möglich. Bohm will den Dialog auf die ›Aufdeckung des absolut Notwendigen‹ beschränken (S. ). Dies setzt »ernsthaftes und kein strategisches Verhalten voraus«. Und dann: »Wenn man seine Meinung verteidigt, ist man nicht ernsthaft« (ebd.,
Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen (hg. von Lee Nichol). Stuttgart , S. /, zuerst London/New York .
Abb. : Ziele und Leistungen des Dialogs
S. ). Man sei dies deshalb nicht, weil man das Gegenüber mit seinen andersartigen Grundanschauungen nicht ernst nimmt. Für die Entwicklung des Dialogs im Rahmen von Organisationsentwicklungsmaßnahmen hatte der ethische Rigorismus von Bohm mindestens die positive Funktion, Berater und Klienten auf grundsätzliche Annahmen, Annahmen, die hinter den Annahmen stehen, festzulegen. In welchem Maße es in der Praxis des Managements, der Organisationsentwicklung und der Großgruppenveranstaltungen in Politik und Kultur gelungen ist, den Dialog tatsächlich zu einem Element der Reflexion von Kulturen zu nutzen, mag hier offen bleiben. Sicher ist aber, dass der Dialog nur dann einen spezifischen Leistungsbereich neben den zahlreichen anderen selbstreflexiven Gesprächsformen finden kann, wenn ihm genau dies gelingt: Er muss als Spiegel von Kulturen, als Instrument kollektiver Reflexion, kollektiver Normen und als Vernetzungsmedium zwischen den Menschen und den Kulturen funktionieren (vgl. Abb. ).
Der Dialog und andere Gesprächsformen Der Dialog grenzt sich von Lehrgesprächen und argumentativen Diskursen dadurch ab, dass er seinen Schwerpunkt auf die Selbstreflexion legt. Dadurch besitzt er von vornherein große Ähnlichkeiten mit therapeutischen Zweier- und Gruppengesprächen, Sensitivity trainings und den vielen weiteren Formen individueller und kollektiver Selbsterfahrung, die in den letzten Jahrzehnten ausprobiert wurden. Im Gegensatz zu den klassischen Formen der Therapie (Psychoanalyse, Gestalt- und Gesprächstherapie) und den Selbsterfahrungsgruppen geht es jedoch nicht um die Aufdeckung psychischer Strukturen, um die Selbsterkenntnis der Person als biographisch gewordenes einzigartiges Individuum. Es dreht sich auch nicht in erster Linie um die Erkenntnis von sozialen Beziehungen, seien es nun Zweierbeziehungen wie in der Einzeltherapie oder Gruppenstrukturen wie in den Gruppentherapien. Selbst die großen visionären Experimentatoren mit Gruppen, Kurt Lewin und Jacob Levy Moreno, haben ihre Gruppen als soziale Systeme betrachtet. Sie nutzten die Gruppengespräche, um die Rolle der Individuen in sozialen Systemen zu klären. Im Rahmen von Organisationsentwicklungsmaßnahmen dienten die Gruppenexperimente als Spiegel der sozialen Einrichtungen, und sie ermöglichten insofern eine soziale Reflexion sozialer Strukturen. Die spezifische Leistung des Dialogs liegt demgegenüber meines Erachtens darin, dass er sich nicht auf die Erkundung psychischer und/oder sozialer Systeme, sondern von kulturellen Netzwerken konzentriert. Insbesondere muss von artverschiedenen Kommunikatoren beziehungsweise Programmen ausgegangen und das Fließgleichgewicht zwischen ihnen respektiert werden. Die vergleichsweise einfachen Konzepte psychischer und sozialer Systeme müssen hierzu durch Modelle multimedialer kommunikativer Ökosysteme ersetzt werden. Selbstwahrnehmung der beteiligten Individuen und/oder Rollen, Professionen etc. erscheint dann nur als ein Medium der Selbstwahrnehmung von Kulturen, seien dies nun Unternehmen, Verbände, Schichten, Staaten, Regionen usf. Diese Orientierung auf Synästhesie und das Zusammenwirken artverschiedener Informationsmedien bringt den Dialog in größere Nähe zu den Gesprächskreisen, die der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint Ende der er und Anfang der er Jahre in London ins Leben rief. 39 Die Training-cum-research-Gruppen
dienten der Erkundung des Verhältnisses zwischen psychischen, körperlichen und sozialen Strukturen. Sowohl der Mensch als auch die ärztliche Sprechstunde wurden, ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen, als ökologische Netzwerke verstanden. Und dieses ›ganzheitliche‹ Verständnis hat die psychosomatisch orientierte Medizin bis heute gepflegt. 40 Der Baum des Dialogs wird also von vielen Wurzeln und dem Laub vieler Zweige genährt (vgl. Abb. ). Auch hinsichtlich der Methoden und Grundhaltungen, die für den Dialog empfohlen werden (und die auf der CD-ROM im Modul ausführlicher dargestellt werden), gibt es Vorbilder und einschlägige Erfahrungen. Alle vier Grundhaltungen, die als Voraussetzung und Ziel der Beteiligung am Dialog benannt werden, haben eine prominente Tradition in der Geschichte der therapeutischen Methodenlehre: Voicing als ›Fähigkeit, die eigene (innere) Stimme in den Raum zu bringen‹, entspricht der Grundregel der freien Assoziation in der psychoanalytischen Kur. 41 Listening (Fähigkeit des Zuhörens) und respecting (ernsthaft mit andersartigen Meinungen/ Die Struktur der ›Trainig-cum-research-Gruppen‹ und deren Auswirkung auf die Medizin. In: Jahrbuch der Psychoanalyse , , S. -; ders.: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart (engl. ). Zu den Grundannahmen: Kornelia Rappe-Giesecke: Supervision. Gruppen- und Teamsupervision in Theorie und Praxis. Berlin 2; dies.: Gruppensupervision und Balintgruppenarbeit. In: Harald Pühl (Hg.): Handbuch der Supervision . Berlin , S. -; dies.: Vorwärts zu den Wurzeln – Balint-Gruppenarbeit aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: balint-Journal, Zeitschrift der Deutschen Balint-Gesellschaft, März , S. -. Nebenbei bemerkt ist der ›Kultur‹-Begriff, wie er von prominenten amerikanischen Vertretern des Dialogue-Projektes propagiert wird, entschieden monomedialer und bei weitem weniger ökologisch als das Menschenbild in der psychosomatisch orientierten Medizin. Zwar fordert beispielsweise Edgar H. Schein (Unternehmenskultur: Ein Handbuch für Führungskräfte. Frankfurt am Main/New York ) dazu auf, »Kulturen auf verschiedenen Ebenen zu analysieren« (S. ). Aber seine Bestimmung dieser Ebenen bleibt ›graduell‹ und letztlich soziologisierend. »Der Begriff ›Ebene‹ bezieht sich dabei auf den Grad der Sichtbarkeit [sic!] eines kulturellen Phänomens für den Beobachter« (ebd.). Es geht um die Manifestationsebenen oder Schichten von (sozialem) Wissen, die »von den ohne weiteres sichtbaren, spürbaren und offenkundigen Erscheinungsformen bis hin zu den tief verwurzelten, unbewussten Grundprämissen, die ich als Essenz der Kultur definiere«, reichen (ebd.). Die radikale Unterschiedlichkeit der verschiedenen Informationstypen wird hier noch zu wenig gewürdigt. Zu den vier Dialogkompetenzen vgl. Mechthild Beucke-Galm: Über die Bedeutung von Dialog in der lernenden Organisation ›Schule‹. In: Dies./Gerhard Fatzer/Rosemarie Ruthrecht (Hg.): Schulentwicklung als Organisationsentwicklung.
Abb. : Wurzeln des Dialogs
Partnern umgehen) gehören zu den Grundprinzipien der klientenzentrierten Gesprächsführung. 42 Suspending als Fähigkeit, die Gedanken in der Schwebe zu halten, zwischen Beobachten und Bewerten zu unterscheiden, die ausgelösten Affekte zu beobachten und diese nicht zu agieren, gehört zum Rüstzeug aller Therapeuten und Trainer, die zur individuellen und/oder kollektiven Selbstreflexion anleiten wollen (vgl. Abb. ). Köln , S. -, hier f., sowie dies.: Über die Bedeutung von Dialog in einer ›lernenden Organisation‹. In: OrganisationsEntwicklung, Heft , , S. -. Vgl. Carl R. Rogers: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. München . Die Grundeinstellungen des Beraters lauten hier: Einfühlendes Verstehen, positive Wertschätzung und Echtheit.
Abb. : Die vier Dialogkompetenzen: voicing – listening – respecting – suspending
Die Spezifik des Dialogs wird sich darin zeigen, mit wie vielen Sinnen und mit wie vielen Medien hier die Selbstreflexion betrieben beziehungsweise deren Ergebnisse manifestiert werden. Ohne den Einsatz kreativer Medien: Bilder malen, Skulpturen stellen, Raumsoziogramme, Beziehungsbrett, Tücher, Steine etc. als Symbole für Teilnehmer/Rollen/Redebeiträge usf. kann das Gespräch seine multimedialen Ressourcen nicht entwickeln. Es bleibt Austausch von Worten und insoweit in der Tradition der Buchkultur, die bekanntlich eine Prämie auf die Übersetzung jeglicher Information in das sprachliche Medium ausgesetzt hat. Das Gespräch als Zelle einer ökologischen Kommunikationskultur (cultural vision) nutzt die Gesamtheit der leiblichen Ausdrucksmedien. Es enthält sich jeglicher Hierarchisierung zwischen den psychischen, leiblichen, sozialen und anderen Informationstypen. Es weiß, dass zugleich viele Programme die Kommunikation steuern und dass nur wenige davon thematisiert werden können. Es nutzt den Wechsel zwischen verschiedenen Programmen, je nachdem, welche kommunikativen Ziele gerade anstehen. Und schließlich wachsen die Dialoge nicht wie unbeschnittene Bäume im kulturellen Urwald. Sie werden gezielt geplant, die Teilnehmer müssen ausgesucht und die verschiedenen Dimensionen des Settings (Dauer der Gesprächsrunde, Häufigkeit des Treffens, Räumlichkeiten, Klärung der Rollen etc.) müssen klug vorab festgelegt werden, um den Ablauf zu strukturieren.
Die Freiheit zu einer solchen Zusammensetzung von Gesprächsrunden, zu einer Wahl zwischen unterschiedlichen kommunikativen Kooperationsformen sowie die erforderlichen Zeitreserven sind kulturelle Errungenschaften. Obwohl es über den Wandel der mündlichen Kommunikationsformen in der Geschichte kaum Untersuchungen gibt, spricht nach meinen Erfahrungen nichts dafür, dass irgendeine Kultur jemals zuvor die Chance zu der skizzierten Form kollektiver und selbstreflexiver interpersoneller Informationsverarbeitung besessen hat. 43
Dialog und Gespräch in älteren Kulturen Die Orientierung auf das (Gruppen-)Gespräch als Vernetzungsund Informationsverarbeitungsinstanz der Zukunft bedeutet keine nostalgische Rückbesinnung auf frühere Kulturstufen der Menschheit. Die Bedingung für das Zusammenwirken selbstreflexiver und themenzentrierter kommunikativer Kooperationsformen im Dialog ist gerade deren Ausdifferenzierung in der Geschichte gewesen. Es geht nicht um die Wiederherstellung diffusen ganzheitlichen Erlebens und Handelns in der sozialen ›Ursituation‹, sondern um eine gesteuerte Abstimmung verschiedener kommunikativer Programme. Diese haben sich teilweise erst im Zuge von langwierigen Professionalisierungsprozessen aus dem alltäglichen Gesprächsverhalten herausgelöst. Prototypisch kann man dies an den therapeutischen Gesprächsformen sehen, die ja erst nach jahrzehntelangem Ausprobieren, nach teilnehmenden und distanzierten Beobachtungen, nach individuellen und kollektiven Reflexionsphasen lehr- und lernbar wurden. Um ihre Strukturen zu beschreiben, waren spezielle, quasi versuchsähnliche Settings notwendig. Und sie gleichen selbst auch hochartifiziellen Laborsituationen. Wie durch die Organisation des Gesprächsraums und einige wenige Maximen in der Einzeltherapie bestimmte Faktoren, zum Beispiel die Möglichkeit zur Regression, gefördert und andere praktisch ausgeschaltet werden, das zeugt von einer kommunikativen Kunstlehre. Was in dieser Die Untersuchung der Veränderungen der mündlichen Formen von Informationsverarbeitung in der Geschichte wäre eine Aufgabe für Kommunikationsund Kulturwissenschaftler, für die es sich lohnte, Forschungsgelder auszugeben. Dabei würde allerdings sehr schnell deutlich werden, dass den Kommunikationsund Medienwissenschaftlern, die auf die Analyse technisierter einseitiger Massenkommunikation spezialisiert sind, hierzu die geeigneten Kategorien fehlen.
Situation an Erkenntnissen zu gewinnen ist, wäre in alltäglichen Situationen niemals möglich gewesen. Diese Gesprächsformen sind nicht weniger artifiziell und leistungsstark als Mikroskope und andere technische Sensoren. Und so wenig die Mikroskope von Anfang an und in allen Kulturen verbreitet waren, so wenig ist dies der Dialog. Das Gespräch in den archaischen – und selbst in späteren, technisierten – Kulturen hatte andere Funktionen und entsprechend auch andere Strukturen und Dynamiken als die Gespräche, die in der Informationsgesellschaft möglich und notwendig sind. Eine kurze Betrachtung der Gespräche in archaischen, oft als ›oral‹ bezeichneten Kulturen mag dies verdeutlichen. Das Gespräch in den archaischen, oralen Kulturen war beziehungsweise ist mit vielen Funktionen für die jeweilige Ortsgesellschaft belastet. Es unterscheidet sich darin von den Dialogen, die wir in unserer modernen multimedialen Kultur führen können. Wenn ausschließlich das leibliche Verhalten als Kommunikationsmedium eingesetzt wird, dann muss es notwendig auch viele derjenigen Leistungen erfüllen, die wir in unserer Gesellschaft den technischen Kommunikationsmedien anvertrauen. Um seine gesamtgesellschaftliche Funktion zu erfüllen, musste das Gespräch in den einfachen Kulturen normiert werden – und zwar in einer Weise, die durchaus jener Standardisierung ähnelt, die wir gegenwärtig bei allen Formen der technisierten Kommunikation beobachten. Diese Form der Normierung wird in der historischen und ethnographischen Literatur meist ›Ritualisierung‹ genannt. Tanz, Mimik, Gestik, Gesang und die lautsprachlichen Äußerungen sind ritualisiert. Das heißt, sobald bestimmte soziale Situationen identifiziert sind, werden die Beteiligten zu Akteuren mit einem bestimmten Rollenrepertoire, und die Interaktion folgt einem historisch ausgearbeiteten und sozial kontrollierten Schema. Man sagt nicht irgendetwas, sondern das, was die ritualisierte Interaktion erforderte und man typisiert sich auch nicht nach freiem Willen und tauscht je nach Lust und Laune die Rollen, sondern man nimmt jene Positionen ein, die man aufgrund seines Alters, seines Geschlechts und bestimmter, ebenfalls durch Riten (zum Beispiel durch Initiationen) bekräftigter Funktionen in der betreffenden Kultur zugewiesen bekommen hat. Diese hochgradige Normierung gilt auch für alle Formen der sozialen Informationsverarbeitung.
Das Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer Aussage ist die Person mit ihrer Stellung innerhalb der Stammesorganisation. Es gibt keine personenunabhängigen Wahrheiten. Insbesondere das Alter (und Geschlecht) der Person und die durch Riten vollzogenen Statuspassagen (Länge ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe) sind hier von Bedeutung. Diese Personen kontrollieren (im Auftrag des Stammes), welches Wissen an wen weitergegeben werden darf. Es darf nicht zu vielen weitergegeben werden. In der Regel werden Novizen herangezogen, damit das Wissen des Stammes nicht verloren geht, vor allem das Wissen um die latenten Strukturen und Regeln. Wird Wissen überhaupt nach außen hin an andere Stämme veröffentlicht, fehlen oft die wesentlichen Teile. 44 Ein solches Verhalten ist vernünftig – solange es keine anderen Möglichkeiten gibt, kulturelles Wissen zu bewahren und als Regulativ für das soziale Miteinander zu nutzen. Wenn die Lieder, die den Rhythmus des Arbeitens koordinieren und/oder Mythen tradieren, nicht mehr gesungen würden, wenn alle Glieder des arbeitenden Kollektivs es verlernt hätten, ihr Handeln aufeinander abzustimmen, so bedeutete dies in einer schriftlosen und nicht mit Tonaufzeichnungsgeräten ausgestatteten Kultur, dass wichtige Informationen für die nächste Generation verloren gegangen wären. Die Generation, die den Rhythmus des Gesangs eigentlich nicht mehr braucht, um ihre Aufgaben zu erfüllen, hätte zwar in diesem Fall mehr Freiheit zum Beispiel für Gespräche gewonnen, aber die nachfolgende Generation wäre der kulturellen Errungenschaft des Gesangs als Mittel der Arbeitsorganisation verlustig gegangen. Sie müsste es im günstigsten Fall neu erfinden – im ungünstigsten Fall würde sich dabei das Mehrprodukt so weit verringern, dass Einzelne verhungerten. Um dieses Risiko zu meiden, wird das Singen zum Ritual, welches auch dann vollzogen wird, wenn es im konkreten Fall für die Beteiligten gar nicht mehr notwendig ist. Und die Ritualisierung entzieht den Interaktionsbeteiligten auch die Möglichkeit, Gespräche entsprechend der individuellen Bedürfnisse zu gestalten. Soziologisch betrachtet tendiert alles menschliche Verhalten in einfachen Kulturen dazu, sozial organisiert zu werden. Rituelle In Vgl. Georg Elwert: Kulturbegriffe und Entwicklungspolitik. In: Ders., J. Jensen, Ivan R. Kortt: Kulturen und Innovation. Berlin , S. -, hier S. .
teraktion vollzieht sich in organisierten Sozialsystemen. Einfache Sozialsysteme, die der Befriedigung der psychischen Bedürfnisse der beteiligten Personen dienen und in denen der Gang der Interaktionen und die dabei einzunehmenden Rollen jeweils ad hoc ausgehandelt werden, nehmen in den nicht technisierten Kulturen einen ungleich geringeren Raum ein – jedenfalls solange kein Überfluss herrscht. So betrachtet, ist es ganz einseitig, die Entwicklung unserer modernen Gesellschaft nur als einen Prozess zunehmender Institutionalisierung und Bürokratisierung zu begreifen: Die viel zu wenig als solche betrachtete Kehrseite ist die Entritualisierung der so genannten Alltagskommunikation, die relative Zunahme einfacher Sozialsysteme auf Kosten der organisierten. Kommunikationstheoretisch betrachtet gewinnt das Gespräch, so wie wir es heute kennen, an Raum. Die Technisierung entlastet die sozialen Systeme von gesellschaftlich notwendiger Informationsverarbeitung, -speicherung und -weitergabe. Der Sozialkontakt braucht nicht immer sogleich Funktionen als Teil eines gesellschaftlichen Kommunikationsnetzes wahrzunehmen; die Gespräche brauchen nicht immer zur Lösung von übergeordneten Aufgaben gesellschaftlicher Informationsverarbeitung genutzt zu werden, und die psychischen Systeme der Menschen brauchen nicht mehr als ausschließliches Gedächtnis der Gesellschaft in Anspruch genommen zu werden. Dies alles ermöglicht es, vermehrt soziale Kommunikationssysteme einzurichten, die eben nicht für andere, sondern für die psychischen Systeme der Beteiligten Leistungen erbringen. (Die Soziologen bezeichnen ebensolche Kommunikationssysteme als einfache Sozialsysteme.) Gesellschaftliche und private Kommunikation differenzieren sich aus. – Mit allen bekannten Nachteilen der Zunahme von eigennützigem Denken und dem Verlust an Bindungskraft staatlicher Normen. 45 Die Entritualisierung der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bedeutet nicht, dass nun die Verständigung einfacher würde. Wenn die Gesprächspartner die Möglichkeit haben, die Regeln der Kommunikation selbst festzulegen und sie Zug für Zug im Gespräch so auszuhandeln, wie sie für die Befriedigung der Bedürfnisse der Beteiligten am günstigsten sind, so verlangt dies von ihnen Kreativität und selbstreflexive Aufmerksamkeit. Natürlich gibt es M. Giesecke/G. Elwert: Technologische Entwicklung. Schriftkultur und Schriftsprache als technologisches System. In: B. Lutz (Hg.): Technik und sozialer Wandel. Frankfurt am Main/New York , S. -.
auch für diese Aushandlungsprozesse Normen – aber sie wirken eben nicht über so lange Zeiträume, so weiträumig wie jene Ordnungsstrukturen, die für die ritualisierte Kommunikation beziehungsweise für die organisierten Sozialsysteme typisch sind. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen programmgesteuert und nichtprogrammgesteuert oder normiert und nichtnormiert, sondern es geht um unterschiedliche Typen von Programmen oder Normen. Vor allem geht es darum, Kommunikationssysteme zu institutionalisieren, in denen nach dem Sowohl-als-auch-Prinzip mehrere Programme zugleich genutzt werden. Es geht um die Nutzung der Möglichkeiten der Parallelverarbeitung, um die Verstärkung der Flexibilität von Gesprächssystemen, indem man ihnen die Möglichkeit eröffnet, je nach den anstehenden Aufgaben beziehungsweise zur Bewältigung von Krisen mal das eine und mal das andere Programm zu nutzen. 46
Medienpolitik und Kommunikationsmanagement im Zeichen der Dialogkultur Kommunikatives Management orientiert sich grundsätzlich an den drei Parametern des Kommunikationsmodells: Es wird die individuelle und kollektive Informationsverarbeitung organisieren. Dies wird gemeinhin als Wissensmanagement (informing) beschrieben. Es wird Netze aufbauen, kommunikative Bindungen gestalten und abbrechen (networking). Und es wird die Kommunikation als Spiegelungsprozess verstehen und deshalb aus ihrer Reflexion Erkenntnisse über die Umwelt gewinnen (mirroring). Zur bewussten Gestaltung von Spiegelungsprozessen können die Erfahrungen im therapeutischen Feld genutzt werden. Nur Programmwechsel zwischen diesen verschiedenen Funktionen sichern eine ausgewogene ökologische Kommunikationsführung (balancing). Andererseits müssen wir bei der Moderation von Kommunikation im Maßstab von Gesellschaften, Organisationen oder in den alltäglichen Zweiergesprächen beständig Prioritäten set In der Sprache der Computertechnologie geht es um Multi-Tasking (paralleler Ablauf mehrerer Programme), Multi-User-Betrieb (parallel arbeitende Anwender an einem Computer) sowie Unterstützung von Multi-Prozessing (Betrieb mehrerer Prozessoren in einem Rechner). Und genau diese Fähigkeiten werden von den Servern der nächsten Generation erwartet.
zen (focusing). Abbildung fasst diese Aufgaben des Kommunikationsmanagements zusammen.
Abb. : Management im Zeitalter der Medienökologie
Politik und Management, die die cultural vision ernst nehmen, stehen (unter anderem) vor folgender Paradoxie: Einerseits sollte zwischen den verschiedenen Arten von Kommunikationsformen, Medien, Vernetzungsstrukturen etc. ein ökologisches Gleichgewicht herrschen, um die Ressourcen aller Subsysteme optimal zu nutzen. Nur die Synästhesien, die kommunikative Artenvielfalt, Programmwechsel etc. sichern das Überleben der verschiedenen Ökosysteme. Andererseits wissen wir, dass es ein ausbalanciertes Zusammenwirken bestenfalls als Durchlaufpunkt geben kann – und dass es kein Ziel ist, das man auf Dauer stellen sollte. Gerade die Störungen in den Regelkreisen halten ihre Dynamik in Gang. Nur Disproportionen verhindern Totenstille. Folgen die kulturpolitischen Eingriffe der ersten Maxime, sind sie darauf angelegt, Blockaden in den Regelkreisen wegzuräumen. Ziel ist es, – die Beziehungen zwischen den artverschiedenen Medien, Kommunikatoren, Prozessoren in der Balance zu halten, – die Selbstregulationsfähigkeit zum Beispiel durch Selbstreflexion und Programmvielfalt zu fördern und
– in der evolutionären Perspektive auf den Erhalt der Vielfalt der Kommunikationsformen und Medienarten zu achten (Artenschutz, Nachhaltigkeit). Aber das Entstörungsmanagement kann nur eine Strategie sein. Im Sinne des zweiten Satzes der Paradoxie kommt der Kultur- und Medienpolitik die Aufgabe zu, Blockaden zu setzen und Ungleichgewichte zu fördern, um beispielsweise neue Medien und Kommunikationsformen einzuführen. Dies verlangt Wertentscheidungen. Voraussetzungen dafür sollten eine gute Diagnose der Verhältnisse und eine oder mehrere Visionen über die gewünschten Bewegungen im kulturellen Netzwerk sein. Was wir nach den Perioden der verschiedenen Entweder-oder-Visionen brauchen, sind Konzepte, die Alternativen stehen lassen können. Die Integrationskraft des Dialogansatzes erweist sich nicht zuletzt durch seine Fähigkeit, die verschiedenen Visionen in eine Interaktion zu bringen, die nicht mit der Unterwerfung eines Partners endet.
Buchkultur und Dialogkultur Wenn wir das Gespräch im skizzierten dialogischen Sinne verstehen, dann ist die Rede vom Jahrhundert des Gesprächs eine zeitgemäße medienpolitische Schwerpunktsetzung. Gerade im Bereich sozialer Informationsverarbeitung von Angesicht zu Angesicht, im Gruppengespräch, besitzt unsere Kultur große Defizite, aber auf der anderen Seite eben auch große Chancen. Auf diese Form der untechnisierten Zusammenarbeit hat weder die Buchkultur noch die Informationsgesellschaft in statu nascendi viel Aufmerksamkeit verwendet. Hier liegen also große ungenutzte Ressourcen. Selbstreflexive und multimediale Trainingsformen wie Coaching, Supervison, Sensitivity trainings werden in nahezu allen Bereichen unserer Kultur vermehrt nachgefragt. Diese Form der Weiterbildung hat sich nachgerade zu einem zweiten Bildungssystem neben unseren Schulen und Universitäten entwickelt. Es wird eine dringliche Aufgabe der Kultur – und vor allem der Bildungspolitik sein, das öffentliche Bildungssystem an die Standards anzupassen, die viele privatwirtschaftliche Qualifizierungsprogramme schon seit Jahren bestimmen. Training professioneller Kommunikation, Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstmanagement, Moderation und Visualisierung, kreatives Schreiben und Gestalten, Teamarbeit und die Möglichkeiten der Konfliktbewältigung, so oder
ähnlich lauten die Titel von Weiterbildungskursen, die in großen Konzernen oft mehr als ein Drittel der Fortbildungsangebote ausmachen. An den Schulen und Universitäten lehrt und lernt man demgegenüber die vielfältigen Fähigkeiten und Einstellungen, die erforderlich sind, um in Gruppen zu arbeiten und die Ressourcen des Einzelnen zur Geltung zu bringen, bestenfalls nebenbei. Weder individuelle noch soziale Selbsterfahrungen gelten als kulturelle Schlüsselqualifikationen. Man wartet, bis sich die Probleme krankhaft zugespitzt haben, um Selbstreflexion dann als Krisenmanagement zu legitimieren. Es ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum interpersonelle Informationsverarbeitung unkomplizierter und einfacher zu lernen sein sollte als die technische Informationsverarbeitung. Diese Diskriminierung lässt sich nur als Erbe der Buchkultur, als Festhalten an den kommunikativen Mythen einer vergangenen Zeit verstehen. Hier wie in so vielen anderen Bereichen erweist sich die Fortschreibung der Ideale der sprachfixierten interaktionsfreien Massenkommunikation als Blockade. Abbildung stellt die Glaubenssätze über Wissen und Kommunikation, die die Buchund Industriekultur entwickelt hat, jenen gegenüber, die die ökologische Kommunikationskultur und den Dialog tragen. Die Einführung des Dialogkonzepts und anderer selbstreflexiver und rückkopplungsintensiver Kommunikationsformen ordnet sich in die große gesellschaftliche Aufgabe unserer Gegenwart ein, ein zeitgemäßes Konzept von Informationsverarbeitung, von gesellschaftlicher Vernetzung und von Information und Wissen zu finden. Wir müssen klären, welche Kommunikation wir als Kultur prämieren wollen. Und hier muss die Hierarchie zwischen vorhandenen technischen und natürlichen Medien und Kommunikationsformen neu bestimmt werden. Gerade auch die Orientierung auf Multimedialität lässt die Face-to-face-Kommunikation in einem neuen Licht erscheinen. Zweifellos sind alle Formen technisierter, multimedialer Informationsverarbeitung bislang nur ein hagerer Sonderfall derjenigen Möglichkeiten, die das Gespräch von Angesicht zu Angesicht unter Nutzung aller leiblichen Medien bietet. Nach Epochen der einseitigen Förderung der Technik als kultureller Problemlöser und von marktwirtschaftlichen und hierarchischen Vernetzungsformen verlangt die kulturökologische Waage nach Gegengewichten im Medium des Dialogs. Dies bedeutet kein Absehen von Technik, sondern die Orientierung der Technik auf das dialogi
Buch- und Industriekultur
Dialogkultur
Wissen wird individuell geschaffen und durch seine Verbreitung in Wort, Schrift und Bild sozialisiert. Die Wissensschöpfung wird dem einzelnen Autoren zugerechnet. Erkenntnissubjekt (Autor) und Rezipient sind psychische Systeme oder Summationen von psychischen Systemen. Angestrebt werden personen-, zeit- und raumunabhängige Wahrheiten. Die Verständigung erfolgt durch Absehen von den eigenen Standpunkten/Programmen und durch die Übernahme von vorab von Institutionen/der Gesellschaft standardisierten Rollenstandpunkten: Generalisierte Andere, allgemeine Normen der Wahrnehmung, Sprachverwendung … Ziel ist die Gleichschaltung der Informationsverarbeitung.
Wissen wird interaktiv geschaffen. Wissen erscheint als Leistung von Gruppen. Erkenntnissubjekt und Adressat werden zunehmend kulturelle Systeme.
Fremdorganisation. Orientierung auf die Umwelt und Umweltbeschreibung.
Orientierung auf Augen und Ohren, Verstand und Sprache. Monomediale Darstellungen werden wegen ihrer Widerspruchsfreiheit bevorzugt. Leibliche Medien unterdrückt. Schweigen wird als eine Störung der Kommunikation, als NichtKommunikation gewertet.
Angestrebt wird die Klärung subjektiver Wahrheiten, individueller Glaubenssätze und Theorien von Kulturen und Menschen. Verständigung erfolgt durch Selbstreflexion und Artikulation der eigenen Standpunkte und Programme sowie durch Vertrauen auf soziale Strukturen und den Gruppenprozess. Differenzen werden in Rechnung gestellt und akzeptiert. Ziel ist die Klärung der Leistungen und Schwächen der verschiedenen Programme der Informationsverarbeitung. Selbstorganisation. Selbstbeschreibung wird ein Medium zur Umweltwahrnehmung, Umweltwahrnehmung ein Medium der Selbstreflexion. Gefühl und Affekt werden als Erkenntnisorgan akzeptiert; Parallelverarbeitung und multimediale Darstellung von Informationen werden bevorzugt Nonverbale Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil jeglicher Kommunikation. Schweigen gilt als ein Ausdruck für Respekt und für das In-der-SchwebeHalten von Meinungen.
Abb. : Glaubenssätze über Kommunikation in der Industrie- und Dialogkultur
sche Gespräch, die Organisation der Informationsgesellschaft als ein Netz, in dem relevante Schaltstellen als Interaktionssysteme gestaltet sind. Das Buch wird in der Dialogkultur seine Bedeutung als Entlastungsmedium finden: Wer sich von der interaktiven Überlastung zurückziehen will oder wer Aufgaben ohne Interaktion besser lösen kann, greift zum Buch. Das bedeutet eine grundsätzliche Verschiebung im Funktionsgefüge der Medien. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gesellschaft über kurz oder lang das Buch überhaupt nicht mehr als Kommunikationsmedium, sondern nur noch als Informationsmedium definiert. Dies tut seiner Bedeutung keinen Abbruch – aber es gibt ihm völlig andere Funktionen. Gerade weil es richtig ist, dass unsere Demokratie von der Medienvielfalt lebt und diese einen freien Zugang zu möglichst vielen Informationsmedien verlangt, sollte man sich generell für einen Medienpluralismus einsetzen. Der Reichtum unserer Kultur gründet auch auf der Artenvielfalt unserer Medien. Je mehr unterschiedliche Informationsmöglichkeiten und je mehr unterschiedliche Möglichkeiten der Informationsverarbeitung wir zur Verfügung haben, umso flexiblere kulturelle Gefüge lassen sich errichten. Unsere Kultur, die in den letzten Jahrhunderten auf die Sprache und die visuell erfahrbare Wirklichkeit, den Verstand und die ebenfalls mit den Augen zu lesenden Bücher gestarrt hat, besitzt nun die Chance, sich wieder anderen Sinnen und Medien zuzuwenden. Will sie diese Chance nutzen, so bedarf es außerordentlicher Anstrengungen in allen Bereichen der Politik, um dem Dialog einen Schutzraum für die ersten Lebensjahrzehnte zu verschaffen. Eine Begleiterscheinung dieser Unterstützung mag dann sein, dass andere Kommunikationsformen kritisiert und abgewertet werden. So unvermeidlich dies im Evolutionsprozess sein dürfte, so wenig darf jedoch vergessen werden, dass es hier nur um eine Verschiebung der Gewichte zwischen den vielen Formen kommunikativer Spiegelung, Informationsverarbeitung und Vernetzung gehen kann. Es wäre aus ökologischer und vielen anderen Hinsichten falsch und insgesamt kein Fortschritt, wenn die Einführung rückkopplungsintensiver, multimedialer, selbstregulativer, dialogischer Kommunikationsformen als Krieg gegen andere bewährte Formen kultureller Informationsverarbeitung inszeniert würde. Aus diesem Grund werden nachfolgende Generationen gewiss stärker über das Zusammenwirken zwischen dem Dialog und anderen Kommunika
tionsformen nachdenken müssen. Dazu fehlen augenblicklich noch die Grundlagen. Ein Sinn dieses Buches liegt darin, die Forderung nach einer Orientierung auf den Dialog als eine logische Konsequenz der Mediengeschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen.
Verzeichnis der Abbildungen Kapitel Abb. : Dimensionen des sprachlichen Zeichens Abb. : Parameter der kommunikativen Welt Abb. : Zusammenwirken artverschiedener Systeme/ Skalierungsmöglichkeiten des ontologischen Parameters (PDF 쩛CD) Abb. : Die Integration der drei Beschreibungsdimensionen: D-Modelle als endlos verknotetes Band (PDF 쩛CD) Abb. : Die drei kommunikationstheoretischen Perspektiven auf Kulturen Abb. : Kulturen aus ökologischer kommunikationswissenschaftlicher Sicht Abb. : Grundtypen kulturgeschichtlicher Prozesse Abb. : Dynamik kommunikativer Prozesse aus ökologischer Sicht (PDF 쩛CD) Kapitel Abb. : Schaubild: Überblick über den Informationskreislauf in der typographischen Kultur Abb. : Hierarchische Netze: Baumstruktur der kommunikativen Netze in den mittelalterlichen Institutionen Abb. : Approbation – Johannes von Soest überreicht Kurfürst Philipp sein Werk (PDF 쩛CD) Abb. : Die Struktur marktwirtschaftlicher Netze Abb. : Bücher für ein interaktionsfreies Lernen: »Das Kunstbüchlein« von Sebald Beheim (PDF 쩛CD) Abb. : Die Rechtfertigung typographischer Veröffentlichung: »Epigramma« aus »New Kreuterbuch« von Otho Brunfels (PDF 쩛CD) Kapitel Abb. : Geheimnisse der Papierherstellung; Ulmar Stromer. Püchel von mein geslecht und von abentewer (PDF 쩛CD) Abb. : Widerstände gegen die Veröffentlichung handwerklicher Kunst: Vorrede des ›Illuminierbuch/kuenstlich alle Farben zumachen …‹ von Valentin Boltz (PDF 쩛CD) Abb. : Die Aufhebung der Heimlichkeit und neue Verhüllungen. Holzschnitt aus Jakob Rueffs »Hebammen Buch« (PDF 쩛CD) Kapitel Abb. : Drei Formen des Entdeckens Abb. : Spirale des Entdeckens: Innovationsspirale Abb. : Die Entdeckung neuer Menschen oder Völker, Einblattdruck von A. Vespuccis Reisebericht (PDF 쩛CD)
Abb. : Die typographische Einführung der Rede von der ›Neuen Welt‹: Titelblatt einer Flugschrift von A. Vespucci (PDF 쩛CD) Abb. : ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ in oralen und typographischen Kulturen Abb. : Die Beschreibung der Haartracht und der Rasiermesser im . Buch von Hans Stades ›Warhaftige Historia vnd beschreibung eyner Landtschafft der Wilden … in der Newenwelt America‹ (PDF 쩛CD) Abb. : Zweisprachige Beschreibung der ›Federarbeiter und ihrer Werkzeuge‹ aus Bernardino de Sahagu´ ns ›Historia general de las cosas de Nueva Espana‹ Kapitel Abb. : Kulturspezifische Interpretation der drei Grundtypen kultureller Prozesse Abb. : Grundannahmen kulturgeschichtlicher Trendforschung Abb. : Allgemeine Prozesstheorien Abb. : Veränderung als Systementwicklung und -auflösung Abb. : Parameter kultureller Veränderung Abb. : Die Natur hat Augen und Ohren, München Cgm , Bl. r (PDF 쩛CD) Abb. : Die Elementenlehre als Maßstab zur Entdeckung von Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Menschen Abb. : Pflanzen und Technik als Spiegel des Menschen in der Kulturgeschichte Kapitel Abb. : Das Gutenbergdenkmal in Straßburg – mit der Inschrift: ›Et la lumie`re fut‹ (Kupferstich) Abb. : Festhalle zur . Säkularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst am ., . und . . zu Leipzig errichtet. Zeitgenössische Zink-Gravur (PDF 쩛CD) Abb. : Der Buchdruck als Befreier der Sklaven. Schautafel zur Vorbereitung der . Säkularfeier. Aus: Journal für Buchdruckerkunst, Schriftgießerei und verwandte Fächer Abb. : Mythen und Mystifikation der Buchkultur (PDF 쩛CD) Abb. a: Ambivalente Leistungen der Buchkultur Abb. b: Auswirkungen des Buchdrucks Abb. : Die beiden Arten des Bewusstseins Kapitel Abb. : Entwicklungsphasen der neuen Medien nach dem Dreistufenmodell des Generationswechsels Abb. : Trends der Informationsgesellschaft in den Phasen von Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie
Abb. : Aufbau von Mensch-Maschine-Interface auf bioelektronischer Basis ›Biomuse‹ nach Lusted/Knapp (PDF 쩛CD) Abb. : Anti-Intellektualismus als gegenabhängiger Trend (PDF 쩛CD) Abb. : Das typographische Bild des Menschen. Aus W. Ryff: Der Architektur fürnehmsten notwendigsten angehörigen mathematischen und mechanischen Künste eigentlicher Bericht (PDF 쩛CD) Abb. : Das elektronische Bild des Menschen: Cover des Computerprogramms ›Aldus Freehand‹ (PDF 쩛CD) Kapitel Abb. : Grundannahmen über die Transformation der Industriegesellschaft Abb. : Dokumente von Organen der Europäischen Union (EU) und angeschlossenen Gremien (PDF 쩛CD) Abb. : Die informationspolitischen Ziele der Europäischen Gemeinschaft: The European Information Society in Action Abb. : Vorrang für den Menschen: Sechs Vorschläge des Forum Informationsgesellschaft (Juni ) (PDF 쩛CD) Abb. : Visionen der Europäischen Informationsgesellschaft (IG) Kapitel Abb. : Strategische Akzente der cultural vision Abb. : Parameter kultureller Netzwerke und mögliche Skalierungen Abb. : Haupttypen gesellschaftlicher Vernetzung in der Geschichte (PDF 쩛CD) Abb. : Vorschläge für die Unterscheidung der Steuerungsformen von Gesellschaften Abb. : Merkmale von Verhandlungssystemen und Netzwerken Abb. : Strukturen und Programme von Interaktionssystemen am Beispiel interpersoneller Kommunikation (PDF 쩛CD) Abb. : Vernetzungsformen in Kulturen in Form des endlos verknoteten Bandes Kapitel Abb. : Die Informationsgesellschaft als emergentes Produkt der Interaktion von drei Vernetzungsformen Abb. : Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle Ausdifferenzierung Abb. : Ziele und Leistungen des Dialogs Abb. : Wurzeln des Dialogs Abb. : Die vier Dialogkompetenzen: voicing – listening – respecting – suspending Abb. : Management im Zeitalter der Medienökologie Abb. : Glaubenssätze über Kommunikation in der Industrie- und Dialogkultur
Drei Formen des Entdeckens
Entdecken1
Mit bekannten Programmen neue Umweltausschnitte wahrnehmen und beschreiben Ö quantitative Erweiterung der Informationen und Modelle (Akkumulation) Ö Bestätigung der etablierten Paradigmen
Entdecken2
Neue Programme bei der Wahrnehmung und Beschreibung der Umwelt einsetzen Ö alternative Modelle der Selbst- und Fremdbeschreibung Ö Voraussetzung: Vergessen/Verwerfen der etablierten Paradigmen (Substitution)
Entdecken3
Reflexive Systematisierung der durch Entdecken1 und Entdecken2 akkumulierten und veränderten Wissensbestände und Programme Ö Einpassen der veränderten Selbst- und Umweltbeschreibungen in das alte Selbst- und Weltbild (Bewahren) Ö Identitätsbestimmung
'Wahrheit' und 'Wirklichkeit' in oralen und typographischen Kulturen
Wahrheit an Personen und an perin multimedialen (oralen) Kommunikationssystemen sonale bzw. institutionalisierte Tradierungsketten gebunden in typographischen Kommunikationssystemen
an standardisierte Wahrnehmung, typographische Beschreibung und intersubjektive Überprüfbarkeit gebunden
Wirklichkeit Synästhetische Informationen, kollektive (rituelle) Erlebnisse
visuelle Informationen, die von jedermann wahrgenommen werden können
Typ Maximen
Reproduktion Alles kommt wieder!
Zukunft als ...
Glaubenssätze
Möglichkeiten der Vorausschau
Voraussetzungen (empirisch und theoretisch)
Substitution
Balance
Mehr vom Selben!
Weg mit!
Vorgeschichte der Gegenwart
Ballast für Gegenwart und Zukunft, den es abzuwerfen gilt
Abschnitt eines zyklischen Prozesses
Abschnitt einer Veränderungskurve
Neue Emergenzstufe
Phase im Kurvenmodell
Wiederholung der Vergangenheit, Reproduktion und Konservierung
Steigerung der Gegenwart, Fortschreibung von Veränderungsprozessen; Lösung von Gegenwartsfragen durch Extrapolation und Akkumulation
Zerstörung von Vergangenheit und Gegenwart und Emergenz von Neuem; Substitution und Innovation
Ökologische Balance zwischen den 3 geschichtlichen Prozesstypen
Vergangenheit als ... Spiegelbild der Gegenwart (und Zukunft) Gegenwart als ...
Akkumulation
Die Einführung der digitalen InformationsDie Schwächen der Buchkultur sind die und Kommunikations- technologien Chancen der Informationsgesellschaft: wiederholt den Entwicklungsgang der Technovision typographischen.
Sowohl als Auch!
Wir befinden uns in einer radikalen Umbruchssituation und können die Strukturen und Dynamiken der Informationsgesellschaft nicht voraussehen.
Vergleich von Entwicklungszyklen, Generationen; Erkennen der Wiederholungen
Hochrechnen von Veränderungsprozessen; statistische Wahrscheinlichkeiten; Problemlösetechniken, Vervollständigung von vorhandenen Systemen
Durchbrechen des Wiederholungszwanges: Reproduktion und Optimierungen sind keine Innovation. Zukunftskonferenzen, Falsifikationsansatz _ Gegenabhängigkeit
Systematische Beschreibung des Reproduktionszyklus des Systems
Genaue Datenerhebung über den Ist-Zustand, Problembeschreibungen; Erkennen der Wachstumsprozesse und Wegräumen der Blockaden
Kenntnis von Vergangenheit und Gegenwart; Entmystifizierung und neue Mythen/Visionen; Mut und Kreativität
3D-Modell. Klärung der gegenwärtigen Phase im Kurven(Chaos-Ordnung-Chaos) und Stufenmodell des Generationswechsels
Entmystifizierung der Vorgeschichte
Übergangsobjekte bereitstellen: Gruppengespräch
Dialog
Veränderung als Gebot des Erhalts des Therapeutische globalen Ökosystems. Nur wer sich Strategie/ ändert, kann seine Identität Changemanagement (bei veränderter Umwelt) erhalten!
Allgemeine Prozesstheorien Information
Ökologie
Transformieren Relationieren einfaches Spiegeln/ Mimesis, Pacing
Kommunikation (synchron)
InfoVerarbeitung Vernetzung Spiegelung
Balancieren Oszillieren Emergieren
Prozesstheorien Prozesstypen Geschichte
Kultur
Chronologie Veränderung Entwicklung
Substitution Akkumulation Reproduktion Andere Prozesstypen in anderen Objektbereichen von Natur und Gesellschaft
Die Elementenlehre als Maßstab zur Entdeckung von Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Menschen
i
Elemente und ihre Qualitäten
Erde kalt/trocken
Luft feucht/warm
Wasser kalt/feucht
Feuer trocken/warm
Gestirne
Mond Fixsterne
Jupiter Venus
Saturn Merkur
Mars Sonne
Jahreszeiten
Herbst
Frühling
Winter
Sommer
Soma, Körperorgane und -säfte
Milz Galle
Blut Herz
Hirn
Leber gelbe Galle
Psychische Qualitäten
Melancholiker
Sanguiniker
Phlegmatiker
Choleriker
Evangelisten
Lukas
Johannes
Matthäus
Markus
Pflanzen, z. B.i
Alraune
Weintrauben
Melone
Porree
nach dem 'Tacuinum Sanitatis' aus der Bibl. Casanatense, Rom. Ms. 4182, um 1400 (?), vgl. die kommentierte Ausgabe von Luisa Cogliati Arano, München 1976
Mythen und Mystifikationen der Buchkultur 1.
Der Mythos der zwei Kulturen: Typographische Medien, Programme, Vernetzungen usf. haben sich betrennt von der Industriegesellschaft entwickelt und lassen sich auch getrennt von ihr beschreiben.
2.
Der Mythos eines einheitlichen Ursprungs von Schrift- und typographischer Buchkultur: Es ist gleichgültig, ob Informationen mit skriptographischen oder mit typographischen Medien verarbeitet werden.
3.
Die Mystifikation der Erziehung und Bildung durch Bücher: Kulturnationen entstehen durch die Gleichschaltung der Köpfe mithilfe gedruckter Bücher.
4.
Die Mystifikation der sichtbaren Welt: Die äußere visuell wahrnehmbare Umwelt ist die einzige, wahre Wirklichkeit.
5.
Die Mystifikation der synthetischen Buchwelt: Typographische, standardsprachliche Beschreibungen sind natürlicher als elektronische Simulationen.
6.
Die Mystifikation rationaler, sprachlicher Informationsverarbeitung: Logisches Denken, Vernunft ... ist für Kulturen wertvoller als emotionale Intelligenz, Kunst ...
7.
Die Mystifikation des Gedächtnisses: nur noch Speicher und kein Medium des Vergessens.
8.
Der Mythos des Autors: Jedes buch hat (nur) einen Schöpfer
9.
Der Mystifikation der Technik als universellem Problemlöser: Kultureller Fortschritt vollzieht sich als Technisierung.
10.
Die Mystifikation der Geschichte: Sie vollzieht sich als Akkumulationsprozess, nicht als Wiederholung und als Vernichtung.
11.
Die Mystifikation der Buchkultur als monomediales System: Kulturelle Meinungsbildung ist das Werk von Massenmedien.
Ambivalente Leistungen der Buchkultur Die Buchkultur prämiert und entwickelt ...
• • •
Individuum, Institution, Staat/Nation
vernachlässigt ...
Gruppe, Team, Weltgesellschaft
Hierarchische Arbeitsorganisation
• • •
•
Konsequenz und Rationalität
•
Redundanz und Sowohl-Als-AuchDenken
• •
Ordnung
• •
Chaos
•
Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf das Individuum und die Nation
•
Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf die Menschheit und Umwelt (Globalisierung)
Bewusstsein, sprachliches Wissen
Legitimation durch allgemeingültige Verfahren
Affekte, Intuition Interaktive Netzwerke, Rückkopplung, Projektorganisation
Funktionale ad hoc-Lösungen
Auswirkungen des Buchdrucks Die typographische Kommunikationstechnologie entwickelt, technisiert, sozialisiert ...
vernachlässigt ...
•
Visuelle Erfahrung über die Umwelt
•
Andere Sinne, Introspektion, Körpererfahrung
•
Sprachliche und bildhafte Speicherund Darstellungsformen
•
Nonverbale Ausdrucksmedien
•
Rationale, logische Informationsverarbeitung
•
Affektive und zirkuläre Informationsverarbeitung
•
Zusammenwirken von Lautsprache, Schrift und Bild
•
Synästhetisches Zusammenwirken der verschiedenen Sinne, Verarbeitungs- formen und Ausdrucksmedien
• •
Individuelle Selbsterfahrung
• •
Soziale Selbstreflexion
•
Interaktionsfreie Kommunikation
•
Unmittelbare Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, Interaktivität
• •
Individualisierung des Lernens
• •
Kooperative Wissensschöpfung
•
Monomediale hierarchische Vernetzung mit einseitigem Informationsfluss
•
Dezentrale Vernetzung mit unmittelbaren Rückkopplungsmöglichkeiten
Monomediale, sprachlich oder Multimediale und assoziative mathematisch normierte Darstellung Informationsdarstellung von Wissen ___________________________________________
Manufakturmäßig und bürokratisch organisierte intersubjektive Informationsverarbeitung
Gruppengespräche, Teamarbeit, selbstorganisierte Informationsverarbeitung
Die beiden Arten des Bewusstseins Autor Bacon Blackburn Brunner De Bono Deikmann Freud Goldstein Guildford I Ging
Jung Koestler Kubie Laing Levi-Strauss Levy, Sperry Luria Oppenheimer Ornstein Pribam Schopenhauer Semmes Taylor Wells Wertheimer Wilder andere Quellen
linke Hemisphäre Argument Intellektuell Rational Vertikales Denken Aktiv Bewusst (Sekundärprozess) Abstrakt Konvergent Maskulin, Yang Licht Zeit Himmel Denken, Beobachtung Blick nach außen Bewusstes Verarbeiten Das falsche Selbst Positiv Analytisch Sequentiell Zeit, Historie Analytisch Digital Objektiv Fokussiert Konvergent Hierarchisch Produktives Denken Numerisch Tag Verbal Öffentliches Selbst Wörtliche Bedeutung
rechte Hemisphäre Erfahrung Gefühlsmäßig Metaphorisch (bildhaft) Laterales Denken Empfänglich Unbewusst (Primärprozess) Konkret Divergent Feminin, Yin Dunkel Raum Erde Fühlen, Intuition Blick nach innen Unbewusstes Verarbeiten Das wahre Selbst Mythisch Gestalt Gleichzeitig Ewigkeit, Zeitlosigkeit Holistisch Analog Subjektiv Diffus Divergent Heterarchisch Blindes Denken Geometrisch Nacht Räumlich Privates Selbst Gleichnishafte Bedeutung
nach: H. Fuchs/W. U. Graichen: Bessere Lernmethoden, München 1990, S. 34
Entwicklungsphasen der neuen Medien nach dem Dreistufenmodell des Generationenwechsels
Phasen
Abhängigkeit
Entwicklungsrichtung der Neuen Medien Die Informationsgesellschaft als Vollender der Versprechen der Buchkultur; Perfektionierung der typographischen Informations- und Kommunikationstechnologie auf elektronischer Basis: Mehr vom Selben, aber schneller und billiger!
Die Schwächen der typographischen Medien und die Erfolge der neuen Medien treten ins Bewusstsein. Man sucht und findet alternative Lösungen Gegenabhängigkeit für alte, aber bislang unbeantwortete Fragen. Betonung der Andersartigkeit der neuen Informationssysteme.
Autonomie
Erkennen und Entwickeln der spezifischen Leistungspotentiale elektronischer Informationsverarbeitung und –vernetzung; Ökologische Integration der alten und neuen Systeme, die synergetische Effekte freisetzt
Beispiele
Von der typographischen zur digitalen Textspeicherung und –verarbeitung
Von der Visualität zur Taktilität; von den sprachlichen Informationen zu den Affekten; vom linearen zum interaktiven Denken; von der ‚wahren’ Beschreibung zur ‚virtual reality’
Phasen/ Parameter
Abhängigkeit
Gegenabhängigkeit
Autonomie
Optimierung und Technisierung ...
Aufwertung von ...
Strategisches Ziel ...
anderen Sinnen, Introspektion, Körpererfahrung nonverbalen Ausdrucksmedien assoziativer, affektiver, zirkulärer Informationsverarbeitung sozialer Selbstreflexion, Gruppendynamik multimedialer, assoziativer, anarchischer Informationsdarstellung => kreatives Design
allseitige Entwicklung der verschiedenen inneren und äußeren Sinne Aktivierung aller menschlichen Speicherungssysteme (motorisch, ikonisch, verbal) sowohl-als-auch, Programmwechsel zwischen affektiven, kognitiven u.a. Formen Nutzung der individuellen Selbsterfahrung zur Gruppenreflexion und umgekehrt funktionale Auswahl aus den verschiedenen Darstellungsmedien und ihren Verknüpfungsmöglichkeiten
Individuelle Informationsverarbeitung
visueller und sprachlicher Informationen über die Umwelt audiovisueller Speicher- und Darstellungsformen logischer Informationsverarbeitung individueller Selbsterfahrung monomedialer, sprachlich oder mathematisch hochgradig normierter Darstellung von Wissen
Soziale Informationsverarbeitung
sozialer Informationsverarbeitung als (manufaktur- oder industriemäßiger) (selbstorganisierter) Gruppenund Teamarbeit (organizational Addition individueller psychischer Leistungen learning) von Umweltdaten in allgemein sozialer Selbstreflexion zugängliche elektronische Speicher
Integration von Selbst- und Fremdbeobachtung Übergang zu neuen Formen kultureller Informationsverarbeitung
interaktionsfreier (Massen-) Kommunikation von historischen Netzen und Marktprinzipien eines einseitigen Informationsflusses (traditionelle Massenmedien)
Aufbau und Moderierung mehrdimensionaler Netzwerke artverschiedener Kommunikatoren Balance zwischen den verschiedenen Vernetzungsformen und -programmen ökologische Gestaltung multimedialer Kommunikationssysteme
Vernetzung
von technischen und begrifflichSpiegelung und sprachlichen Medien und Medien Spiegelungsformen
unmittelbarer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht => Gruppengespräch dezentralen Vernetzungsformen (Netzwerken) mit unmittelbaren Rückkopplungsmöglichkeiten Selbstorganisation
leiblichen Medien
Ausweitung der Informationsmedien auf alle Elemente des kulturellen Ökosystems Reintegration der Natur als Spiegel
Komponenten des Biomuse-Systems Benutzer Eine Person, die das System zur Konvertierung bioelektrischer Impulse in Computerbefehle verwendet, muss ein speziell entwickeltes Arm- oder Kopfband tragen, dessen Elektroden auf der Haut messbare Spannungen abnehmen,die durch Muskelanspannung oder Augenbewegung hervorgerufen werden.
Verstärker Die schwachen Signale müssen zunächst um etwa das Zehntausendfache verstärkt werden, wobei aber schwaches Rauschen um denselben Faktor erhöht würde. Deshalb nutzt man in solchen Fällen einen Differenzverstärker, der nur den Unterschied der Messsignale zweier Punkte vergrößert. Weil das Rauschen im Allgemeinen an beiden Orten gleich ist, lässt es sich durch Differenzbildung minimieren.
Analog-Digital-Wandler Die verstärkten Spannungen werden nun in eine für Computer verständliche Form übersetzt. Dazu misst sie ein Analog-Digital-Wandler in diskreten Zeitintervallen und digitalisiert die einzelnen Werte. Sofern das Abtasten schnell genug - hier bis zu viertausend Mal pro Sekunde geschieht, repräsentieren die diskreten Werte das analoge Signal entsprechend genau.
Digitaler Signalprozessor Ein solcher Chip ähnelt in vieler Hinsicht der zentralen Prozessoreinheit von Personalcomputern, führt jedoch bestimmte numerische Operationen effektiver und schneller aus. Hier dient er dazu, wichtige Charakteristika des binären Signal herauszufiltern und bestimmte Muster darin zu erkennen. Daraus schließt er, welche Muskelfasern das Originalsignal erzeugen.
Optische Isolierung Die Elektroden auf der Haut könnten einen elektrischen Schock hervorrufen, wären sie direkt mit einer Spannungsquelle wie dem Computer verbunden. Zur Isolierung wird die Signalleitung über eine kurze Distanz optisch geführt.
Personalcomputer Auf dessen Bildschirm werden die nun bearbeiteten Signale dargestellt. Je nach dem durch Augenbewegung oder Muskelanspannung erzeugten Signal steuert er entweder einen anderen Computer oder ein elektronisches Gerät an. Der Computer ermöglicht zudem eine leichte Systemkontrolle.
Anti-Intellektualismus als gegenabhängiger Trend Interview von Birgit Pointner mit Eva Kreisky anlässlich des Erscheinens ihres Buches: Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmodern. Wien 2000 Birgit Pointner: „Zlatko aus dem Big Brother-Container wurde prominent, weil er Shakespeare für einen Filmemacher hielt. Wie kommt es zu dieser Popularität des explizit NichtIntellektuellen?“ Eva Kreisky: „Es gab historische Phasen, in denen es attraktiv war, sich wie ein Intellektueller zu verhalten. Jetzt leben wir in der Gegenperiode, man will nicht mit Intellektuellen identifiziert werden. Es geht nicht darum, Dinge zu wissen oder Positionen zu beziehen. Dieser Anti-Intellektualismus, wie er auch in vielen Populärmedien vermittelt wird, drückt eine Veränderung des Denkens aus. Das ist eine Form der Anpassung im Rahmen der bestehenden Verhältnisse.“ aus: Österreichische Buchmesse magazin, 2001, S. 23
Grundannahmen über die Transformation der Industriegesellschaft Zu den klassischen ökonomischen Sektoren tritt die Informationsund/oder Bewusstseinsindustrie als Wachstumsbranche hinzu. Dienstleistungs- und Transaktions-/Kommunikationssektoren stärken ihren Anteil am Bruttosozialprodukt auf Kosten des produzierenden Gewerbes und der Landwirtschaft. Informationen und Informationstechnologien werden zur Voraussetzung von Produktion und Reproduktion in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft. Deshalb erhalten auch die Massenmedien eine besondere Bedeutung. Technisierte zeit– und raumüberwindende Rückkopplungsformen werden erforderlich, um die modernen Gesellschaften unter Kontrolle zu halten: Politik, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Bildung ... lassen sich nur noch mit Unterstützung anonymer elektronischer Kommunikationstechnologien steuern.
Dokumente von Organen der Europäischen Union (EU) und angeschlossenen Gremien
Bangemann, Martin: Eine neue Weltordnung für globale Kommunikation. Rede auf der Tagung der Internationalen Fernmelde-Union, Genf, 08.09.1997 Bangemann, Martin: Europa und die globale Informationsgesellschaft. Empfehlungen für den Europäischen Rat, Mai 1994, CD-84-94-290-C (Bangemann-Bericht) Benedetti, Carlo de: Speech at the G 7 Information Society Conference, Brüssel 25./26.2.1995 Bonfield, P.: Speech at the G 7 Information Society Conference, Brüssel 25./26.2.1995
Gruppe hochrangiger Experten: Eine europäische Informationsgesellschaft für alle. Erste Überlegungen der Gruppe hochrangiger Experten. Zwischenbericht, Jan. 1996, V/131/96-DE (Engl.: High-level expert group on the social and societal aspects of the Information Society. Building the European Information Society for us all: firstreflections. Interim Report, January 1996) Eine europäische Informationsgesellschaft für alle. Abschlussbericht der Gruppe hochrangiger Experten, April 1997 (Luc Soete), CE-V/8-97-001-DE-C (Engl.: Buildingan Information Socity for us all. Final policy report of the high-level expert group,April 1997)
Europäische Kommission: Europäische Kommission: White Paper on Growth, Competitiveness and Employment: The Challenges and Ways forward into the 21st Century. COM (93) 700 final (Jacques Delors) (Deutsch: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung - Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Weißbuch, Beilage 6/93 zum Bulletin der Europäischen Gemeinschaften. Luxemburg (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften) 1993) Europäische Kommission: Europe's Way to the information society - an Action Plan. Communication from the Commission to the Council and the European Parliament and to the Economic and Social Committee and theCommittee of Regitions, 19.7.1994, COM (1994) 347 final (Korfu Conclusion) (Deutsch: Europas Weg zur Informationsgesellschaft - Ein Aktionsplan. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, 19.7.1994, KOM (94) 347 endg.) Europäische Kommission: The Consultation on the Green Paper on the Liberalisation of Telecommunication Infrastructure and Cable Television Networks. Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat, 3.5.1995, COM (95) 158 Europäische Kommission: Towards the Information Society. Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on a Methodology for the Implementation of Information Society Applications. Proposal for a European Parliament and Council decision on a series of guidelines for trans-European telecommunications network, 31.5.1995, KOM (95) 224 (Deutsch: Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine Methodik zur Realisierung der Anwendungen der Informationsgesellschaft, 31.5.1995, KOM (95) 224 endg.) Europäische Kommission: Interconnection in Telecommunications. Proposal for a European Parliament and Council Directive on Interconnection in Telecommunications Ensuring Universal
Service and Interoperability through Application of the Principles of Open Network Provision (ONP), 19.7.1995, KOM (95) 379 Europäische Kommission: Normung und die globale Informationsgesellschaft: der europäische Ansatz. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament, 24.7.1996, KOM (96) 359 endg. (Engl.: Communication from the Commission to the Council and theParliament on "Standardization and the Global Information Society: The European Approach". 24.7.1995, COM (96) 359) Europäische Kommission: Regulatory Transparency in the Internal Market for Information Society Services. Unofficial Text. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss, 24.7.1996 (Deutsch: Die gesetzgeberische Transparenz im Binnenmarkt für die Dienste der Informationsgesellschaft. Mitteilung der Kommission an den Rat, dasEuropäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss, 30.8.1996, KOM (96) 392 endg.) Europäische Kommission: Grünbuch „Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft: Im Vordergrund der Mensch“, 24.7.1996,KOM (96) 389 endg. (Engl.: Green Paper: Livingand Working in the Information Society: People first, 22.7.1996, COM (96) 389 final) Kolloquium zum „Grünbuch: Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft“/“People First“, Dublin 30.09.-01.10.1996 Europäische Kommission: Die Informationsgesellschaft: Von Korfu bis Dublin–Neue Prioritäten. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, 24.7.1996, KOM (96) 395 endg. (Engl.: Communication of the Commission to the Council, the European Parliament, the Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on "The Information Society: From Corfu to Dublin. The new emerging priorities", 24.7.1996, COM (96) 396 final) Europäische Kommission: Die Bedeutung der Informationsgesellschaft für die Politik der Europäischen Union–Vorbereitung auf die nächsten Schritte. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament 1996 (Engl.: Communication to the Council, the European Parliament, the Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on "The Implications of the Information Society for European Union Policies -Preparing the Next Steps", 24.7.1996, COM (96) 395 final) Europäische Kommission: Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein Mehrjahresprogramm der Gemeinschaft zur Förderung der Informationsgesellschaft in Europa, 12.12.1996, KOM (96) 592 endg. Europäische Kommission: Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen. Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, 3.12.1997, COM 97 (623) (Engl.: GreenPaper on the Convergence of the Telecommunications, Media and Information Technology Sectors, and the Implications for Regulation. Towards an Information Society Approach, 3.12.1997, COM (97) 623) Entscheidungdes Rates vom 30. März 1998 über ein Mehrjahresprogramm der Gemeinschaft zur Förderung der Informationsgesellschaft in Europa (Informationsgesellschaft) (Promoting the Information Society - PROMISE). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L107/10, 7.4.1998 (Engl.: CouncilDecision of 30 March 1998 adopting a multiannual Community programme to stimulate theestablishment of the Information Society in Europe (98/253/EC)) Europäische Kommission: 5thRDT Framework-Programme 1998-2002 Europäische Kommission: Green Paper on Public Sector Information: a Key Ressource for Europe. Januar 1999, COM (98) 585 final
(Deutsch: Informationen des öffentlichen Sektors – Eine Schlüsselressource für Europa. Grünbuch über die Informationen des öffentlichen Sektors in der Informationsgesellschaft, KOM (98) 585 endg.)
Forum Information Society: Forum „Information Society“: Networks for People and their Communities. Making the Most of the Information Society in the European Union. First Annual Report to the European Commission from the Information Society Forum, Juni 1996 (Deutsch: Netzwerke für Menschen und Gemeinschaften. Die Informationsgesellschaft zum Vorteil der Europäischen Union nutzen. Erster Jahresbericht des Forums für die Informationsgesellschaft an die Europäische Kommssion, Juni 1996, ISBN 92-827-7805-3) Forum „Information Society“: Theme Paper (Deutsch: Themenpapier, Internetdiskussion und Symposium, Bonn, Juli 1997) Forum “Information Society”: Ein Europäischer Weg in die Informationsgesellschaft. Bericht 1999. (Engl.: A European Way for the Information Society. 3rd Annual Report, 1999)
Dokumente von Organen der Europäischen Union (EU) und angeschlossenen Gremien
Die informationspolitischen Ziele der Europäischen Gemeinschaft: The European Information Society in Action (1994) What exactly is the Information Society? → Basic network (physical network + basic funtions) → Generic Services (e-mail, data base access, interactive video) → Applications (telework, telemedicine, telebanking, etc.)
Giving the Markets a Helping Hand ☛ ☛ ☛ ☛ ☛ ☛ ☛
Opening up the markets to competition Establishing a clear regulatory framework Research funding Regional development Assessing the social impacts Building public awareness Bringing businesses together
Towards a Single European Market for Telecommunications Liberalisation of areas under monopoly Harmonisaton Application of competition rules Getting the Balance Right The information infrastructure is only a means to the information society, not an end in itself. The European Union is anxious to prevent the creation of a two-tier society in which only part of the population has access to the new technology (and therefore to valuable information resources), is comfortable using it and can fully enjoy is benefits.
Vorrang für den Menschen. Sechs Vorschläge des Forum Informationsgesellschaft Juni (1996) Das Forum ist der festen Überzeugung, dass die Souveränität in der Informationsgesellschaft bei den Menschen liegen muss – ihre Präferenzen müssen über Ziele und Anwendungen der neuen Techniken bestimmen. Daraus folgt, dass wir die Menschen dazu befähigen müssen, Herren und nicht Knechte der neuen Technik zu sein. Das Forum möchte diesen Imperativ mit den Chancen verknüpfen, welche die neuen Techniken für eine Stärkung der Unionsbürgerschaft bedeuten. Die Informationsgesellschaft wirft neue Fragen zu Bürgerrechten und demokratischen Werten auf; wir möchten sie auf einer gemeinsamen europäischen Basis gelöst sehen. Das Ergebnis unserer Überlegungen lässt sich um sechs Vorschläge gruppieren: Der Umwälzungsprozess hat so an Dynamik gewonnen, dass die Menschen nur Schritt halten können, wenn die Informationsgesellschaft zur „lebenslangen Lerngesellschaft“ wird. Um unsere Wettbewerbsposition zu erhalten und auszubauen, müssen wir unsere Kenntnisse und Fähigkeiten ständig den wechselnden Anforderungen unsere Arbeitsplätze anpassen, wo auch immer dieser sich befinden mag. Fähigkeiten und Talente werden aber auch bessere Entfaltungsmöglichkeiten vorfinden, da die Lerngesellschaft noch nie dagewesene Gelegenheiten zur persönlichen Entwicklung und Erfüllung bieten wird. Niemand sollte von der Informationsgesellschaft ausgeschlossen werden: wir dürfen nicht zulassen, dass in Europa oder anderswo eine Klasse von Informationen „nicht habenden“ und „nicht wollenden“ entsteht. Die Staaten sollten sich für die elektronische Bereitstellung von öffentlichen Diensten und damit eine breit angelegte Verbesserung der Lebensqualität ihrer Bürger engagieren. Unsere Demokratien sehen sich neue Chancen und Risiken gegenüber: wir können sie mit neuem Leben erfüllen, wenn wir die Menschen in die politische Willensbildung einbeziehen und ihnen einen besseren Einblick in das Handeln von Regierungen gewähren. Oder wir lassen zu, dass sich die Informationsgesellschaft zur „Schnüffelgesellschaft“ mit Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte entwickelt – wenn wir nicht dafür sorgen, dass Grundrechte wie das Recht auf Privatsphäre und auf Schutz vor Einmischung von außen gewahrt bleiben. Es sollten wesentlich mehr Anstrengungen darauf verwandt werden, den Menschen die Risiken und Chancen der Informationsgesellschaft bewusst zu machen und sie in eine Diskussion darüber einzubeziehen, wie den Herausforderungen zu begegnen ist. Die Informationsgesellschaft könnte die Geburtsstätte einer Zweiten Renaissance werden, einer neuen Blütezeit von Kreativität, wissenschaftlichen Entdeckungen, kultureller Entwicklung und Weiterentwicklung des Gemeinwesens.
Europäische Union techno vision
Visionen
Technik und Technologieentwicklung als Motor der Umwandlung der Industriegesellschaft
ð Verbesserung der Lebensbedingungen durch Entlastung von Arbeit
Politische Strategien
Folgen
Subvention von (technischer) Forschung und Wissenschaft; Bereitstellung der Infrastruktur für Wachstumsindustrien; Entwicklungshilfe als Technologieexport
Verknappung natürlicher Ressourcen, Verstädterung; Öffnen der Schere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
Vertrauen auf die Selbstregulationskraft des Marktes, Deregulierung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Prämierung des wirtschaftlichen Subsystems der Gesellschaft, Ausbau der technischen Netze
Zunahme der Ungleichgewichte in der technischen und sozialen Entwicklung in und zwischen den Ländern; Zusammenbruch von Wohlfahrtsstaat und Staatssozialismus
market vision
Freier Markt, Unternehmerinitiative und Wettbewerb als Motor und als Steuerungsmechanismus der Gesellschaft
technical network vision
ð Verbesserung der Lebensbedingungen
Krise der 90er Jahre
Die Asymmetrien, zu deren Ausgleich Technik und Markt in der Nachkriegszeit gepriesen wurden (soziale Ungleichheiten, Nachteile der EU im globalen Wett- bewerb, Arbeitslosigkeit u.a.), haben sich innerhalb der EU und global verstärkt. Es gibt keine zuverlässigen Strategien für die weitere Gestaltung der europäischen Informationsgesellschaft (IG) mehr. Soziale Aspekte der IG und die Suche nach alternativen Inhalten und Werten treten in den Vordergrund. Die Politik beschränkt sich darauf, Rahmenbedingungen für Entwicklung und Wirtschaft zu setzen.
user vision
Orientierung auf die Bedürfnisse der Menschen anstatt auf die Möglichkeiten der Technik und des Wettbewerbs
human vision
ð Technik und Markt als Hilfsmittel der
durch Selbstorganisation und Bereitstellung technischer Rahmenbedingungen
besseren Bedürfnisbefriedigung der Verbraucher
Schutz von Ressourcen, Verbrauchern, Informationen/ Urhebern, Frauen, Behinderten ... Mehr Transparenz, bessere Ausbildung und Information der Bürger
Glaubwürdigkeitskrise der traditionellen politischen Parteien, Etablierung alternativer ökologischer Bewegungen
Wachsende Bedeutung des nonProfit-Bereichs, ‚Information’ wird zur Produktivkraft und Zentralkategorie der Politik, Bedarf an Mediation wächst
social network vision
Engere soziale und technische Vernetzung von Menschen und Gemeinschaften
ð bessere Vernetzung und Kommunikation als universeller Problemlöser
mankind vision
ecological vision
Sicherung des Überlebens der Menschheit angesichts von Bevölkerungsexplosion, Verknappung wichtiger Ressourcen und negativer Folgen der Industrialisierung
ð Recycling und Nachhaltigkeit
Verbesserung der Vernetzung von Menschen, Gemeinschaften und Staaten
Legitimationsprobleme für Formen „repräsentativer“ Politik; Internet als Autonomieverlust ð globale Dialoge, Hilfe zur Selbsthilfe; Voraussetzung, von Staaten und staatlichen Qualifizierung der Menschen zum Dialog; Einrichtungen; ‚Kommunikation’ Datensuperhighway- und (als Vernetzung) wird zur Multimediaförderung Schlüsselkategorie und qualifikation
Ökologischer Umbau der Industriegesellschaften, globale Initiativen zur Wiederherstellung ökologischer Gleichgewichte im Biosystem, Delegation von Verantwortung an überstaatliche Einrichtungen, Förderung von life sciences
Prestigeverlust von Technik und Wachstumsvisionen, Soziologie und Sozialpolitik; Etablierung ökologischer und ethischer Perspektiven; zukünftige Generationen werden Teil der Gesellschaft
Ausblick auf die Vision der Informationsgesellschaft als ökologische Dialogkultur: cultural vision
dialogue vision
Die Informationsgesellschaft als Kultur betrachten und diese als - komplexe Informationssysteme ('information society'), - dialogische Netzwerke - und multimediale Ökosysteme gestalten
ð Ökuloge, Ökuloge
Aufhebung der kommunikativen Monokulturen
Ausbalancieren von Ungleichgewichten im Verhältnis Mensch/Gesellschaft-NaturTechnik; Förderung des Dialogs, synästhetischer Informationsverarbeitung, dezentraler Vernetzungsstrukturen und multimedialer, modularer Wissensdarstellung
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik müssen sich durch ihren Beitrag zur Erhaltung/Besserung des kulturellen Ökosystems legitimieren; Entmystifizierung der Werte der Buch- und Industriekultur
ð Oszillation, balancing, focussing
ð Relativierung monosensueller Informationsgewinnung und monomedialer Speicherung, linearer Informationsverarbeitung, hierarchischer und interaktionsarmer Vernetzung
Haupttypen gesellschaftlicher Vernetzung in der Geschichte
Gentile Kulturen
Multimediale, interaktive face-to-face Vernetzung; segmentäre Systembildung
Hochkulturen
Schriftbeherrschung, hierarchische/bürokratische Vernetzung: Gliederung in Schichten
Industriekultur
Buchdruck; marktwirtschaftliche Vernetzung; funktionale Differenzierung und nationale Segmente; monomediale Erkenntnistheorie; Sprach- und Vernunftsprämierung
Elektronische Medien; dezentrale
Informationsgesellschaft Vernetzung, Globalisierung; Integration monomedialer Informationssysteme
Vorschläge für die Unterscheidung der Steuerungsformen von Gesellschaften Autor Dahl, Lindblom 1953 Williamson 1975 Williamson 1985 Lindblom 1977 Ouchi 1980 Kaufmann 1983 Offe 1984 Streek Schmitter 1985 Hegner 1986 Traxler, Vobruba 1987 Scharpf 1993 Mayntz 1993 Nonaka/Ta-keuchi 1995 Willke 1998 Luhmann Castells 1996
Haupt-
formen
dritte Form
Hierarchie
Markt
Hierarchie
Markt
Hierarchie
Markt
relationaler Vertrag
Politik (Staat) Hierarchie
Markt
Überredung
Markt
Clan (Solidarität)
Hierarchie
Markt
Solidarität
Staat
Markt
Solidarität
Staat
Markt
Solidarität (community)
Hierarchie
Markt
Solidarität
Zwang
Tausch
Solidarität
Hierarchie
Markt
Hierarchie
Markt
Verhandlungssysteme Policy-Netzwerke
Bürokratie Hierarchie Hierarchie
Partizipation
Organisierte Sozialsysteme organization
Gesellschaften
(Willke mit Ergänzungen von mir, M.G.)
Demokratie
market
Verhandlung
Hypertextorganisation Netzwerke Einfache Sozialsysteme Network enterprise/society
vierte Form Polyarchie
Verbände (associations)
Merkmale von Verhandlungssystemen und Netzwerken
Gleichrangige Partner, Freiwillige Beschränkung der Handlungsfreiheit der Akteure (Selbstbindung der Beteiligten), Polyzentrisch, Wechselseitig abhängig, dichte Kommunikation und Interaktion, Autonome Interessen verfolgend, jedoch die Aktivitäten, mit denen der Akteure derart koppeln, dass der Erfolg der eigenen Strategien von dem Erfolg des Partners abhängt. Selbstregulierend, d. h. die Partner halten sich an Regeln, die sie selbst entwickelt haben, z. B. 'fairer Tausch'. Die Aufgaben werden parallel/simultan angegangen. Redundanz von Informationen, Lernen und Umsetzen von neuen Einsichten wird gefördert (lernende Organisation). Klare Zurechnungen von Verantwortung. Bestens für nicht-repetitive Aufgaben, für neue Problemlösungen geeignet. Zurückstellen kurzfristiger egoistischer Interessen zugunsten längerfristiger Ziele und dauerhafter Beziehungen, Hohe Transaktionskosten, Formulierung von Mindestformen gemeinsamer Identität, Selbstreflexion, Vertrauen, Längerfristige Perspektiven, Toleranz für Ambivalenzen und Ungleichgewichte.
Strukturen und Programme von Interaktionssystemen am Beispiel interpersoneller Kommunikation Rahmenbedingungen (Setting): Zwei psychische Systeme (Personen) als Prozessoren (Elemente) Binär schematisierte Rollen: Sprecher und Hörer Zu jedem Zeitpunkt nehmen die Beteiligten unterschiedliche, komplementäre Rollen ein. Aber im zeitlichen Nacheinander nehmen die Beteiligten alle Positionen ein (symmetrische Beziehungen) Körper als Kommunikationsmedium face-to-face Beziehung Selbstorganisation, keine äußeren Normen ideale Sprechsituation Interaktionssysteme sind nicht in Subsysteme differenziert. Jede Differenzierung führt zu einem neuen System. (Eben deshalb nennt man sie 'einfache Sozial-' oder 'Gesprächssysteme'.) Ziel/Funktion: Koordination der psychischen Informationsverarbeitung, Parallelisierung von Wahrnehmung, Denken, Handeln wechselseitiges Verstehen der Personen und von deren Aussagen über die Welt Für den Ablauf: Binäre Schematisierung der Aktivitäten: Wenn einer spricht, hört der andre zu (und umgekehrt)! Sequentialität: Die Abfolge der Aktivitäten und Positionen wird durch den turntaking-Mechanismus geregelt: Selbst- und Fremdauswahl; Sprechen und Zuhören wechseln einander ab, d. h. auch: Sprecher (Zuhörer) wechseln ab. Wechselseitige Beeinflussung: Die Informationen des einen Gesprächspartners steuern die Aktivitäten des anderen - und umgekehrt. Die Verkettung der Redebeiträge erfolgt nach dem Muster Reiz Reaktion Verstärkung. D. h. eigenes Verhalten wird dem Gegenüber als Reaktion zugeschrieben und gleichzeitig als Reiz bewertet. Die Interaktionsgeschichte bestimmt den weiteren Ablauf der Kommunikation Kontenausgleich: Wechselseitigkeit setzt auch Abwechseln im Pacing und Leading voraus: mal lässt sich A mehr beeinflussen, mal führt B und bringt sich stärker ein. Parallelität: Wahrnehmung (Zuhören), Informationsverarbeitung, Ausdruck (Sprechen) und soziale Selbstreflexion erfolgen gleichzeitig. Die Rezeptionssignale, also das Verhalten während des Erlebens, dienen der Prozessteuerung. Es wird aber i.d.R. nicht thematisiert und deshalb nicht als 'turn' behandelt. Feedback: Widersprüche, Zustimmung, Ablehnung etc. werden möglich unmittelbar manifestiert. Krisen tauchen auf, wenn die Schematisierung der Interaktion misslingt: Z gleichzeitiges Sprechen Z gleichzeitiges Zuhören Schweigen Interaktionssysteme sind fehlerfreundlich besitzen , aber keine ausdifferenzierten Strategien der Krisenbewältigung Explizite Selbstthematisierungen (Selbstreflexion) führen zu neuen Gesprächsthemen.
Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle Ausdifferenzierung
Kooperationsformen
Beschreiben
Ziel
Erfolgskriterium
Rollen
Informationsgewinnung
prof. Ausdifferenzierung
Parallelverarbeitung in
Ausgleichen des
Experte: Laie
Betrachten (visuell) der
Instruktion/Fachbuch,
der
Kompetenzdefizits
(asymmetrisch)
physikalischen Umwelt
Schule , Wissenschaft
(äußere Sinne)
Umweltwahrnehmung, Wiedererkennen Verändern von
Argumentieren
Überzeugen
Experte: Experte Reflexion vorhandener
Bewertungen/
Informationen aus
Perspektiven
verschiedenen Quellen
Kollektives Verarbeiten Entlastung des Erzählers; egalitär (Mensch) Empathie; Erzählen
autobiographischer
Identifikation mit dem
Selbstwahrnehmung der
Erfahrungen/Teilen
Erleben des Gegenüber,
psychischen/vegetativen
von emotionalen
emotionale Reziprozität
Innenwelt
Gericht, Parlament (Kirche)
Therapie, 'schöne' Literatur
Erfahrungen
Dialog
Integration
Verlangsamung der
viele, aber
synästhetisch,
Interkulturelles
verschiedener
Oszillation, Emergenz
selbstreflexive
Kombination
Management,
Informationsebenen
neuen kollektiven
Klärung
verschiedener
Mediation
und Kommunikations-
Wissens, Verflüssigung
systeme
von Standpunkten und Perspektiven
Programme
Glaubenssätze über Kommunikation in der Industrie- und Dialogkultur Buch- und Industriekultur
Dialogkultur
Wissen wird individuell geschaffen und durch Wissen wird interaktiv geschaffen. seine Verbreitung in Wort, Schrift und Bild sozialisiert. Die Wissensschöpfung wird dem einzelnen Autoren zugerechnet.
Wissen erscheint als Leistung von Gruppen.
Erkenntnissubjekt (Autor) und Rezipient sind psychische Systeme oder Summationen von psychischen Systemen.
Erkenntnissubjekt und Adressat werden zunehmend kulturelle Systeme.
Angestrebt werden personen-, zeit- und raumunabhängige Wahrheiten.
Angestrebt wird die Klärung subjektiver Wahrheiten, individueller Glaubenssätze und Theorien von Kulturen und Menschen.
Verständigung erfolgt durch Absehen von den eigenen Standpunkten/Programmen und durch die Übernahme von vorab von Institutionen/der Gesellschaft standardisierten Rollenstandpunkten: Generalisierte andere, allgemeine Normen der Wahrnehmung, Sprachverwendung ...
Verständigung erfolgt durch Selbstreflexion und Artikulation der eigenen Standpunkte und Programme sowie durch Vertrauen auf soziale Strukturen und den Gruppenprozess. Differenzen werden in Rechnung gestellt und akzeptiert.
Ziel ist die Gleichschaltung der Informationsverarbeitung.
Ziel ist die Klärung der Leistungen und Schwächen der verschiedenen Programme der Informationsverarbeitung.
Fremdorganisation. Orientierung auf die Umwelt und Umweltbeschreibung.
Selbstorganisation. Selbstbeschreibung wird ein Medium zur Umweltwahrnehmung - Umweltwahrnehmung ein Medium der Selbstreflexion.
Orientierung auf Augen und Ohren, Verstand und Sprache.
Gefühl und Affekt werden als Erkenntnisorgan akzeptiert.
Monomediale Darstellungen werden wegen ihrer Widerspruchsfreiheit bevorzugt.
Parallelverarbeitung und multimediale Darstellung von Informationen werden bevorzugt.
Leibliche Medien werden unterdrückt.
Nonverbale Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil jeglicher Kommunikation.
Schweigen wird als eine Störung der Kommunikation, als Nicht-Kommunikation gewertet.
Schweigen gilt als ein Ausdruck für Respekt und für das In-der-Schwebe-halten von Meinungen.