Major Aebi - eine bürgerlich distinguierte Erscheinung - lebt an der Seite seiner vermögenden Gattin das ein wenig lang...
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Major Aebi - eine bürgerlich distinguierte Erscheinung - lebt an der Seite seiner vermögenden Gattin das ein wenig langweilige und mitunter gelangweilte Leben derer, denen es anscheinend an nichts mangelt. Eine Villa in Locarno Monti mit Blick auf den Lago Maggiore bildet den äußeren Rahmen für ein Dasein im anspruchsvollen Müßiggang. Doch nach dem plötzlichen Tod seiner Frau befindet sich der Major als alleiniger Erbe in der beglückenden Situation, die ungewohnte Freiheit und völlige finanzielle Ungebundenheit für seine geheimen Wünsche nutzbar zu machen. Als er - in treuer Befolgung des ehelichen Rituals - wie jedes Jahr zu den Wiener Festwochen fährt, beginnt mit einer zielstrebigen Eroberung im Hotel Sacher seine erotische Odyssee. Ein erster Etappensieg auf dem erotischen Feldzug, zu dem der Major sich fortan berufen fühlt: Denn »kann ein Mensch leben, ohne sich für den nächsten Tag etwas Schönes, Neues und Interessantes zu wünschen?« So nehmen die fortschreitenden Übertretungen des Majors ihren ungehemmten Lauf, bis sie die Grenze des Anstands überschreiten und den Major wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Gefängnis bringen. Dort scheibt er dann das opus magnum seiner Obsessionen - eben diesen Roman. Unter der funkelnden erotischen Oberfläche der Erzählung verbirgt sich ein philosophischer Text, in dem ironisch über den Zusammenhang von Leben und Schreiben, von Krankheit und Gesellschaft reflektiert wird. Gianluigi Melega, 1935 in Mailand geboren, lebt und arbeitet als Journalist und freier Autor in Rom. Seine journalistische Tätigkeit hat ihn auf ausgedehnte Reisen nach China, Chile, Finnland, Griechenland und Prag geführt. Ein Jahr hat Melega in New York gelebt. Bekannt geworden ist er durch seine Reiseerzählungen und seine Lyrik.
Unsere Adresse im Internet: www.fischer-tb.de
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Gianluigi Melega
Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi Roman Aus dem Italienischen von Moritz Hottinger Non Profit Scan by:
Wesir der Nacht Dieses E-Book liegt im Originallayout vor, ist also uneingeschränkt „zitierfähig“.
Fischer Taschenbuch Verlag 3
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, April 2000 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung von Ammann Verlag 6k Co., Zürich © Giangiacomo Feltrinelli Editore, Mailand 1996 Für die deutsche Ausgabe: © Ammann Verlag & Co., Zürich 1997 Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-14274-1
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PROLOG Eine Äußerung Cesare Garboiis — Zufällige Begegnung mit dem Major Aebi bei »Paolino« in Locarno — Das Porträt von Le'onor Fini und ein unveröffentlichtes Manuskript - Eine betrübliche Nachricht
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ein Freund Cesare Garboli, ein vorzüglicher und gründlicher Erforscher der Literatur (irgendwie etwas anderes als ein Literaturkritiker), behauptet — nachdem er ein Leben damit zugebracht hat, sich mit den Texten und Biographien von Erzählern und Lyrikern herumzuschlagen —, daß man zu schreiben anfange, »weil man krank ist«. Ich sehe ihn noch vor mir, es ist ein paar Jahre her, wäh rend einer Unterhaltung im Garten seines Elternhauses in Vado di Camaiore, eines steinfarbenen Baues mit den Ausmaßen des neunzehnten Jahrhunderts, heutzutage nicht mehr vorstellbar; es war ein strahlender Sommertag, der Garten grün, hell und kühl, der Himmel blau, und Cesare reckte plötzlich beide Arme gen Himmel und rief: »Man schreibt, weil man krank ist!« Ich hatte ihn auf der Durchreise besucht und wollte ihn dazu bringen, über Bücher zu sprechen, am besten über die Bücher, die ich schrieb, ihm nach Möglichkeit etwas Lobendes darüber entlocken, und ich hatte das Gespräch auf Umwegen begonnen: über die moderne Literatur im allgemeinen, über die jungen Autoren, über das Warum des Schreibens... Warum schreibt man? Ich hatte bereits angefangen, selbst eine Antwort zu formulieren, und während ich redete, sah ich, wie sich Cesare, nachdem er die Frage in seinem Gehirn registriert
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hatte, gleichsam in sich verkroch, sich ganz konzentrierte, um zu einem bündigen und unanfechtbaren Schluß zu kommen; inzwischen redete ich weiter, und mitten in einem etwas konfusen Gedankengang verfiel ich darauf zu sagen: »Im Grunde schreibt man vielleicht nur des Geldes wegen...« »Man schreibt, weil man krank ist!« rief Cesare daraufhin aus, die Arme gegen den blauen Himmel gereckt und das alte Haus in seinem Rücken. Wenn ich jedoch jetzt schreibe... Ein paar Jahre später hatte ich eines jener Erlebnisse, die Mensehen auf den Gedanken bringen können, sie hatten schon einmal gelebt, wenn auch unter anderen, so doch auf seltsame, gefühlsmäßige Weise ähnlichen Umständen — wie in manchen Träumen. Es war an einem Abend Mitte August im bereits schattenerfüllten Garten einer schmucklosen alten Villa in Locarno. Die Villa war ein dreiteiliger Bau, rechteckig, der Mittelteil von einem spitzen Giebel überragt, unter dem sich eine Mansarde befand, die früher einmal ein Dachboden gewesen sein mußte. Die Villa war von einem matten Rosa, das im Dunkel des Abends, von den schwachen Lichtern einiger Gartenlaternen nur wenig erhellt, grauviolett wirkte, und erinnerte in der von der Tageszeit verwischten Form und Farbe an das Haus von Cesare. Durch eine zufällige Verkettung von Umständen, auf die ich noch kommen werde, unterhielt ich mich mit dem Besitzer der Villa, den ich erst wenige Stunden zuvor kennengelernt hatte. Wir saßen in zwei Korbsesseln und betrachteten über die Balustrade hinweg, die die Terrasse der Villa zur Seeseite hin abschloß, die im Widerschein des Wassers zitternden Lichter von Magadino und Ronco und, ganz hinten auf der rechten Seite, die gedrängteren von Cannobio.
Wir sprachen leise, mit langen Unterbrechungen. »Man schreibt, weil man krank ist«, sagte mein Gesprächspartner plötzlich, und ich hatte das mysteriöse Gefühl, als durchzucke mich ein jäh aufblitzender Gedanke, als erlebte ich mit der Unmittelbarkeit eines elektrischen Schlags den Tag, die Worte und die Wahrheit der Worte Cesares wieder. Waren es zwei oder drei Leben, die in diesem Moment aufeinandertrafen? Zum Glück war es dunkel. So konnte ich weiter schweigen, ohne den inneren Schauder zu verraten, der mich überfallen hatte — sicherlich kaum erklärbar für jemanden, der überzeugt war, etwas Einfaches oder für jeden, der so dachte wie er, geradezu Banales gesagt zu haben. Als ob es um eine Frage des Geschmacks ginge. Aber nun, wie es zu alldem gekommen war: Ich befand mich anläßlich des Filmfestivals in Locarno, das dort alljährlich im August stattfindet. Ich hatte mich auf einen Aperitif zu »Paolino« gesetzt, in das Cafe gegenüber dem Kursaal, und um mir zu dieser Stunde, in der fast alle Tische besetzt waren und die Kellner Schwierigkeiten hatten, zwischen ihnen durchzukommen, Platz zu schaffen, hatte ein älterer Herr, der allein an dem Tischchen neben dem saß, zu dem ich wollte, höflich seinen Stuhl verrückt, um mich vorbeizulassen. Ich hatte ihm gedankt und danach mit ihm ein paar Worte gewechselt, über die vielen Menschen, die sich in diesen Tagen in Locarno drängten, und über die Tatsache, daß nach einem heftigen Gewitter am späten Vormittag nun alles wieder im Freien saß, so daß die Piazza geradezu überfüllt wirkte. Themen, wie man sieht, so recht geeignet für eine Unterhaltung zwischen Unbekannten im Kaffeehaus. Wenig später, als auch ich gehen wollte und mich anschickte zu bezahlen, ließ eine Geste meines Nachbarn Verdruß und Verlegenheit erkennen.
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»Cameriere!« rief er, »ich habe meine Brieftasche zu Hause vergessen. Ich bin Major Aebi, und der Chef kennt mich. Morgen früh komme ich vorbei und begleiche die Rechnung.« Der Kellner, ein unbeholfener junger Kerl, gehörte offensichtlich zu den Hilfskräften, Grenzpendler oder Ausländer, die man im Sommer anheuert, um den Touristenstrom zu bewältigen. Das rote Gesicht, die breiten Hände mit den klobigen Fingern, die weiße, über der Brust spannende Jacke mit den zu kurzen Ärmeln ließen deutlich den Aushilfskellner erkennen, der es nicht gewohnt ist, selbständig kleine geschäftliche Probleme zu lösen wie jenes, das sich ihm hier unvermutet stellte. »Holen Sie mir den Chef«, sagte mein Nachbar, als er die Verlegenheit des Kellners bemerkte. Nun mischte ich mich ein. »Lassen Sie mich das erledigen«, sagte ich. »Sie können sich ja ein anderes Mal revanchieren.« Es gab einen schnellen, wiederholten Austausch von Anerbieten und Weigerung, schließlich machte ich kurzen Prozeß und bezahlte. Wir schlugen beide den Weg in Richtung See ein, doch gleich nach den ersten Schritten blieb der Herr stehen, um sich vorzustellen. »Ich heiße Matthias Aebi«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Ich bin pensionierter Major der Armee und lebe hier in Locarno, wie Sie gehört haben, im oberen Teil der Stadt, in der Nähe der Kirche SS.Trinità.« Ich stellte mich meinerseits vor und sagte, daß ich aus Rom käme. »Sind Sie wegen des Festivals hier»« Für gewöhnlich versuche ich, so wenig wie möglich über mich und das, was ich mache, zu reden. Diesmal jedoch, ich weiß nicht warum, reagierte ich anders. »Ich mache zwar Ferien, aber ich habe Locarno auch aus
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Arbeitsgründen gewählt«, sagte ich. »Ich bin Schriftsteller. Einen meiner Romane habe ich in Locarno angesiedelt, und ich muß noch ein paar konkrete Einzelheiten des Schauplatzes überprüfen, ein Wohnhaus, ein großes Warenhaus...« Es schien mir, als sei mein neuer Bekannter plötzlich äußerst aufmerksam geworden. Er informierte sich, ob ich allein unterwegs sei. Als ich bejahte, bestand er darauf, daß ich bei ihm zu Abend äße. »Auch ich bin allein. Und ich kann Ihnen ein typisches Bürgerhaus von Locarno zeigen«, sagte er mit einem freundliehen Lächeln. »Einmal habe auch ich versucht, es zu beschreiben, aber mittendrin ließ ich es dann sein...« Und daraufhin sagte er einen Satz, auf den ich mir im Augenblick keinen Reim zu machen wußte: »Sie haben noch nie von mir gehört, nicht wahr;« Erstaunt verneinte ich. Wir nahmen die Drahtseilbahn, die zur Wallfahrtskirche Madonna dell Sasso führt. In der Abenddämmerung wirkten die Berggipfel um uns herum — der Pizzo Leone, der Ghiridone — wie Kulissen aus Licht und Schatten: Während die Kabine der Bergbahn höherfuhr, wurden die Stadt unten, der See, die umliegenden Dorfer immer mehr zu zauberhaften fernen Reflexen, jedes Licht, das anging, schuf um sich herum eine größere Dunkelheit. Das Haus des Majors Aebi war die große alte Villa, die ich bereits beschrieben habe. Als wir ankamen, nahm eine alte Haushälterin ohne Verwunderung zur Kenntnis, daß sie für zwei decken müsse anstatt für den Major allein. Silberbesteck, gestärkte Damastservietten, elegantes Geschirr aus Limoges. Wir speisten an einem Tisch vor einer offenen Glastür, die auf den Garten hinausging. Von der nächstliegenden Wand musterte uns aufmerksam das Bildnis einer Leopardenfrau, das ich schon einmal als Reproduktion ge-
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sehen zu haben glaubte, nachdem der Major mir erklärt hatte, daß es von Léonor Fini sei. Es hinterließ einen zwiespältiggen und verwirrenden Eindruck: Der gefleckte Körper dehnte sich gewunden gegen den Hintergrund der Komposition, das menschliche, zu Dreiviertel geneigte Gesicht schien fragend auf die Betrachter gerichtet. »Das ist ein Porträt meiner Frau Verbena«, sagte der Hausherr. »Als sie dreißig war, war Leonor Fini eine Freundin von ihr; sie hat uns zwei/ oder dreimal hier besucht, und eines Tages kam uns dieses Bild ins Haus. Was halten Sie davon?« Ich erging mich in ein paar allgemeinen Bemerkungen, aber meinem Gastgeber war daran gelegen, meine Aufmerksamkeit auf ein Detail zu lenken, das mir auf den ersten, oberflächlichen Blick entgangen war. »Sehen Sie, daß der Leopard ein Tierchen zwischen seinen Pranken hält! Es ist ein kleines Kaninchen. Wenn wir nachher aufstehen, schauen Sie es sich aus der Nähe an: Das Gesichtchen hat menschliche Züge, und wenn Sie mich zu der Zeit, als das Werk entstand, gekannt hätten, hätten Sie sicher eine starke Ähnlichkeit zwischen dem Kaninchen und mir feststellen können: genau das gleiche Gesicht...« Ich bemerkte, daß es nicht gerade freundlich von der Künstlerin gewesen sei, ein so metaphorisch indiskretes Porträt zu schenken. »Im Gegenteil«, erwiderte mein Gesprächspartner, »gerade durch das, was es sagen wollte, hat dieses Bild indirekt mein ganzes Leben beeinflußt: in einer Richtung, solange meine Frau lebte, und als sie nicht mehr da war, in einer anderen. Doch immer, indem es mich zwang, mich selbst zu fragen: Warum ein Kaninchen? Was konnte eine Künstlerin dazu gebracht haben, mich als Kaninchen zu sehen, als eine kleine, verängstigte Beute in den Klauen meiner Frau; War es vielleicht Verbena selbst, die ihr das suggeriert hatte? Und nach-
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dem sie nicht mehr da war: Würde ich für all die anderen weiterhin ein Kaninchen sein?« Die Unterhaltung hatte eine unerwartet persönliche Wendung genommen. Ich fühlte mich unbehaglich, war aber, ich gestehe es, auch neugierig geworden. Fast als bemerke er meinen inneren Zustand, fing mein Gastgeber an, mir Fragen über meine Arbeit zu stellen, über die beiden Romane, die ich in letzter Zeit veröffentlicht hatte, über meine Gewohnheiten als Schriftsteller: beispielsweise, ob ich völlig aus der Phantasie heraus arbeite oder mich darauf beschränke, die Realität oberflächlich zu überdecken? Wir hatten uns, zu Kaffee und Schnaps, auf die Terrasse im Garten begeben. Ich mußte zugeben, daß es dem Major Aebi dafür, daß wir uns erst so kurz kannten, gelungen war, ein eigentümliches Gefühl von Verbindung zwischen uns herzustellen, als ob wir schon lange miteinander verkehrten, als ob die Gesprächspausen dazu dienten, statt Informationen Nachrichten zwischen uns beiden zu vermitteln, über uns beide... »Auch ich habe einmal einen Roman geschrieben«, sagte er. »Ich habe längere Zeit im Gefängnis verbracht, und irgendwann fing ich dann an zu schreiben. Zwei Jahre, ehe ich in die Freiheit zurückkehrte, habe ich den Roman beendet, das war vor fünf Jahren.« »Viele gute Bücher wurden im Gefängnis geschrieben«, sagte ich, gleichsam um ihn zum Weiterreden zu bewegen. Und er, im Dunkeln: »Man schreibt, weil man krank ist.« Ich schwieg lange, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schwirrten, und ich erinnerte mich daran, wie das Gespräch mit Garboli weitergegangen war, an die Diskussion über die Beziehung zwischen Schreiben und Veröffentlichen, über das Geld, den Erfolg, die Träume vom Ruhm und was es mit dem Ruhm auf sich habe... »Ja«, sagte er, auf eine Frage von mir antwortend, »ich habe
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auch versucht, ihn zu veröffentlichen: Aber nachdem ich von ein paar Verlegern Absagen bekommen hatte, dachte ich, daß es mich nicht mehr interessiere, ihn gedruckt und in den Schaufenstern zu sehen. In einfachen Worten: Ich war geheilt. Und dann, ich kam aus dem Gefängnis. Mit meinem Namen als Autor hätte dieses Buch nie so gelesen werden können, wie ich es beabsichtigte. Und überhaupt, wozu hätte es gedient; Aber muß die Literatur zu etwas dienen ?« Zu einer gewissen Stunde des Abends, nach Wein und Schnaps, wenn mit beginnender Schläfrigkeit und Müdigkeit die Unterhaltung weniger lebhaft wird, unter dem Eindruck, oberflächlich, mit nachlassenden intellektuellen Fähigkeiten etwas zu gewichtige Fragen anzugehen (»Muß die Literatur zu etwas dienen?«), kommt man schließlich soweit, unüberlegten Impulsen von Höflichkeit nachzugeben. »Wenn Sie eine Kopie Ihres Manuskriptes hätten, würde ich es gern lesen«, sagte ich. »Warum?« fragte der Major Aebi. »Ich würde gern das Buch von jemandem lesen, der geschrieben hat, weil er sich für krank hielt, und sich, nachdem er geschrieben hat, für geheilt hält. Das ist doch so in Ihrem Fall, wenn ich recht verstanden habe?« »Ja«, sagte der Major. Er erhob sich und kam kurz darauf mit einer grünen Pappschachtel zurück. »Hier. Nehmen Sie.« Er zögerte einen Moment. »Beeilen Sie sich nicht damit. Lesen Sie es, wenn Sie Zeit haben, und machen Sie sich nicht die Mühe, es mir zurückzugeben. Ich habe noch mehr Kopien.« Das Leben steckt voller Überraschungen. Als ich an jenem Abend ins Hotel kam, fand ich eine Nachricht vor, in der ich gebeten wurde, sofort nach Rom zurückzukehren, da meine Tochter einen Autounfall gehabt habe. In der Aufregung und Sorge der folgenden Wochen legte ich die grüne Schachtel beiseite, und danach brach ich zu einer langen Arbeitsreise rund
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um die Welt auf, so daß ich erst ein Jahr, nachdem ich sie erhalten hatte, die Zeit fand, sie zu öffnen. Auch die Lektüre hielt Überraschungen bereit. Das Buch war ein autobiographischer Roman in der dritten Person. Der Major Aebi schrieb über eine Figur, die »der Major Aebi« hieß. War vielleicht auch das ein Charakteristikum der Literatur als Therapie? Ich möchte Ihnen nicht schildern, welchen Eindruck ich hatte, als ich mit dem Roman am Ende war. Ich will nur soviel sagen, daß ich am nächsten Tag den ersten Zug von Rom nach Mailand nahm und von dort nach Locarno. Es war drei Uhr nachmittags, als ich ankam. »Via delle Vigne«, sagte ich zum Taxifahrer, in der Überzeugung, daß ich die Villa wiedererkennen würde, auch wenn ich die Hausnummer nicht mehr wußte. Die Villa war da, mattes Rosa, halbgeschlossene braune Fensterläden, das Grün des Gartens über der Mauer aus grauem Beola/Stein. Ich läutete an der Glocke, die alte Haushälterin, die uns im vorigen August das Abendessen serviert hatte, kam, um zu öffnen. »Der Major Aebi ist vor zwei Monaten verstorben«, erwiderte sie in ihrem schwerfälligen Tessiner Tonfall auf meine Frage. »Für alle Auskünfte, die Sie wünschen, wenden Sie sich bitte an den Ragioniere Facchinetti«, fügte sie hinzu und nannte eine Adresse. Ich glaubte bereits zu wissen, welche Art von Mensch dieser Ragioniere Facchinetti war, und ich empfand nicht den geringsten Wunsch, mit ihm zu reden. Ich ging hinunter, um bei »Paolino« einen Aperitif zu trinken, und beschloß im seiben Moment, daß ich am nächsten Morgen zurückfahren und daß ich das Buch des Major Aebi veröffentlichen würde. Nicht allem als eine Art nachträglicher Gefälligkeit.
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1 Im Schnellzug Bregenz—Wien — Verbena Aebis Krankheit — Eine Flasche sehr alten Cognacs, die nie geöffnet wurde — Eine eheliche Feriengewohnheit, die der Witwer beibehält
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er Schnellzug Bregenz—Wien hatte plötzlich angehalten, auf freiem Feld. Der Major Aebi schaute auf die Uhr. Es war zwanzig nach drei. Da der Zug zwanzig Minuten später am Wiener Westbahnhof ankommen sollte, rechnete sich der Major aus, daß sie nur noch etwa zehn Kilometer vom Bestimmungsort entfernt sein konnten. Er schaute aus dem Fenster und streckte gleichzeitig die Beine von sich, wie eine Katze, die sich räkelt. Er befand sich allein in dem Abteil erster Klasse und machte es sich ein wenig unziemlich, fast liegend, auf der Bank bequem, wie er es sicher nicht getan hätte, wenn irgendein anderer Reisender dabeigewesen wäre. Vor dem Zugfenster erstreckte sich ein langer Kartoffelacker, an seinem Ende, wo vor ein paar Tagen eine Egge gefahren sein mußte, von einem braunen Streifen durchschnitten. Hinter dem Streifen zog eine dichte, grüne Pappelreihe eine weite Kurve, wahrscheinlich dem Lauf eines unsichtbaren Flusses folgend, vielleicht sogar der Donau. Über allem lag ein hellblauer, ruhiger und nur ein klein wenig dunstiger Himmel, der die Hitze des Tages und der Jahreszeit unterstrich. Langsam richtete der Major Aebi seinen Blick wieder auf das gelbe Leder, den karminroten Samt und die mit weißem Leinen überzogenen Kopfpolster des Abteils und atmete tief durch die Nase, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er schloß
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die Augen bei dem leichten Geruch nach Rauch, und ohne daß er es wollte, verzog sich sein Mund zu einem kleinen Lächeln, melancholisch, aber nicht traurig. Der Major Aebi dachte daran, daß er, ein mäßiger Raueher leichter Zigaretten, über zwanzig Jahre lang zu Beginn des Sommers in den Schnellzug nach Wien gestiegen war, aber nun zum ersten Mal in einem Raucherabteil reisen konnte. Seine Frau Verbena vertrug das Rauchen in geschlossenen Räumen nicht, und der Major Aebi hatte sich immer darein gefügt, die acht Stunden Fahrt in Nichtraucherabteilen zu verbringen und auf das Rauchen zu verzichten. Natürlich hätte er sich im Gang eine Zigarette anzünden können oder im Speisewagen, aber aus einem Übermaß an Rücksicht seiner Frau gegenüber hatte er es vorgezogen, das nicht zu tun, um sie glauben zu lassen, daß ihm dieses kleine Opfer in Wirklichkeit gar nichts ausmache. »Wenn wir häufiger verreisten«, hatte er drei- oder viermal in all diesen Jahren zu seiner Frau gesagt, »käme ich vielleicht von dem Laster des Rauchens los.« »Aber ein Laster ist doch kein Laster, wenn es einem gelingt, es unter Kontrolle zu halten«, hatte seine Frau jedesmal bemerkt, mehr im Ton eines allgemeinen Urteils als einer direkten Antwort. Für Verbena Aebi, geborene Schneider, bildete die Geste des Gatten eine wichtige Komponente in einem Gesamtgefüge, dessen Hauptmerkmal offensichtlich in einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Menschen, Verhaltensweisen, Institutionen und Vermögen bestand. Der Wohlstand! dachte der Major Aebi und schaute wieder aus dem Fenster. Seine Ehe hatte genau fünfundzwanzig Jahre gedauert, und wenn er in diesem Augenblick der FahrtUnterbrechung, gleichsam einer winzigen und zufälligen symbolischen Aufhebung der Zeit, versuchte, deren Wesen auf einen Nenner zu bringen, so konnte man genau den Wohl-
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stand als Schlüssel benutzen, um ihr Leben zu zweit, seines und Verbenas, zu deuten. Der Major atmete wiederum tief, wobei er mit dem Geruchssinn der feinen Spur der Raucher folgte, die ihm in dem Abteil vorausgegangen waren, und er amüsierte sich bei dem Gedanken, daß jetzt er es war, der beschloß, nicht zu rauchen. Er verspürte keinerlei Anreiz dazu. Wer weiß, wie Verbena diese merkwürdige Neuheit kommentiert hätte, wenn sie bei ihm gewesen wäre. Verbena Aebi war im vorigen Winter gestorben, hinweggerafft von einer seltenen Form von Leukämie, mit dreiundfünfzig Jahren, nachdem sie sich wenige Monate vorher noch einer blühenden Gesundheit zu erfreuen schien. Der Major Aebi erinnerte sich nicht, sie vor ihren letzten zwei Lebensmonaten je krank im Bett gesehen zu haben: Und auch unter jenen beschwerlichen Umständen hatte Verbena, vielleicht weil ihr die Krankheit die Lebenskraft rasch entzog, ohne sie jedoch physisch leiden zu lassen, zunächst nur ein wenig müde gewirkt, dann blasser und müder, schließlich von der Krankheit geradezu erdrückt — wie von einer zu schweren Decke, unter der sie die Augen geschlossen halten mußte vor Anstrengung weitere zuleben. Aber sie hatte nie geklagt. Nie hatte man sie stöhnen gehört. Vierzehn Tage vor ihrem Tod, als sie sich selbst bereits eine wesentlich unheilvollere Prognose gestellt hatte als die, welche die Ärzte ihr mit gekünstelt unschlüssiger und weltmännischer Miene mitteilten (und sie war sich vollkommen im klaren darüber, daß der Ton und die verwendeten unwissenschaftlichen Termini lediglich eine akzeptable Verschleierung einer brutalen Realität sein sollten), wollte sie den Gatten neben sich wissen, um sich von ihm zu verabschieden, solange die Krankheit
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ihr noch nicht die Freude an der ehelichen Zuneigung und an der Ordnung in den Beziehungen mit dem, der an ihrer Seite lebte, rauben würde. Es war in der verfrüht hereinbrechenden Dämmerung und Dunkelheit eines Dezembernachmittags. Seit sie bettlägerig war, hatte ihr Mann es sich zur Gewohnheit gemacht, sich gegen vier Uhr neben sie zu setzen und ihr zwei oder drei völlig verschiedene Dinge vorzulesen: die Besprechung eines Konzertes, eine Spalte über Gartenarbeiten, eine Seite Literatur, für gewöhnlich deutscher oder österreichischer, manchmal aber auch französischer. Danach brachte der Hausdiener, Rupert, den Tee, und nachdem der Major Aebi seiner Frau geholfen hatte, sich, das aufgeschüttelte und gegen den Kopfteil des Bettes gelehnte Kissen im Rücken, aufzusetzen, trank er mit ihr zusammen den Tee und kommentierte dabei die Qualität der dazu servierten Gebäckstückchen oder andere Belanglosigkeiten ihrer Alltagsexistenz, die Verbenas Krankheit für beide so eingeengt hatte. An jenem Tag hatte ihr der Major Aebi aus einem alten und vergilbten Lesebuch aus seiner Schulzeit ein HesseGedicht vorgelesen: Ich habe meine Kerze ausgelöscht; Zum offenen Fenster strömt die Nacht herein, Umarmt mich sanft und läßt mich ihren Freund Und ihren Bruder sein. Wir beide sind am selben Heimweh krank; Wir senden ahnungsvolle Träume aus Und reden flüsternd von der alten Zeit In unsres Vaters Haus.
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Im unbestimmten Licht der Dämmerung, als der Diener bereits Tassen, Gebäck und Teekanne auf einem Tischchen neben dem Bett abgestellt und sich danach zurückgezogen hatte, hielt Verbena den Gatten, der sich gerade um das Einschenken kümmern wollte, mit einer Handbewegung davon ab. »Matthias, ich möchte dir sagen, daß du immer sehr lieb zu mir warst und daß ich dir dafür sehr dankbar bin«, sagte sie. Erst in diesem Moment, als er sie vor Überraschung aufmerksamer ansah, bemerkte der Major Aebi, daß die Augen seiner Frau voller Tränen standen. Sie weinte nicht, aber irgend etwas Feuchtes schimmerte ungewohnt zwischen ihren Wimpern. »Ich frage mich manchmal, ob ich dich gezwungen habe, anders zu leben, als du es gewollt hättest: Wenn das so ist, dann bitte ich dich um Verzeihung.« Das waren Worte, die von seiner Frau zu hören sich der Major Aebi nie hätte vorstellen können. In diesem Moment wurde er sich schlagartig über die Schwere der Krankheit klar, an der sie litt. »Ich verstehe nicht, was dir plötzlich in den Sinn kommt«, log er und heuchelte sogar eine gewisse harmlose Barschheit, wie man sie Kindern gegenüber an den Tag legt, damit sie mit ihrem Geflenne aufhören. »Wenn ich an unsere Ehe denke, so kann ich keinen Moment von Krise, von Unzufriedenheit entdecken. Und sobald du wieder gesund bist, feiern wir deine Genesung und reisen wieder herum und leben so wie all die Jahre bisher. Aber bestimmten Launen von dir, das ist wahr, werde ich mich von jetzt an nicht mehr unterwerfen.« Er machte eine Pause, um ein Beispiel zu finden, das klar erkennen lasse, was er meinte. »Und wenn wir unseren nächsten Hochzeitstag in den >Drei Husaren< feiern, stoßen wir mit dem Cognac vom Jahrgang '12 an!«
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Wie jedes gestandene Ehepaar hatten auch der Major Aebi und seine Frau einige gemeinsame Erinnerungen, die hin und wieder heraufbeschworen wurden, um tatsächliche Situationen oder verbale Auseinandersetzungen zu charakterisieren, die im Leben der Eheleute symbolisch geworden waren. Als sie, anläßlich ihres fünften Hochzeitstags, zum ersten Mal in den »Drei Husaren« gespeist hatten, hatte Verbena Aebi ihren vom größeren Teil zweier Flaschen Beaune du Chateau ein wenig euphorisch gewordenen Gatten daran gehindert, eine Flasche Cognac öffnen zu lassen, die als das Juwel des Weinkellers galt. Der Sommelier hatte auf die wie beiläufig gestellte Frage des Major Aebi, welches die edelste Flasche Cognac sei, die man haben könne, dieses einmalige Exemplar mit einem Lächeln beschrieben. Und eben dieses hochmütige kleine Lächeln, das sich wie eine Maske über die geröteten und welken Wangen des Sommeliers gelegt hatte, hatte den Major in Rage gebracht: Wenige Gesten reizen einen, der ehemals arm war und es dann zu Reichtum gebracht hat, so sehr wie diejenigen, die erkennen lassen, daß seine Zahlungsfähigkeit in Zweifel gezogen wird. Der Major Aebi hatte sich eben angeschickt, diesem albernen lächelnden Frack zu befehlen, auf der Stelle besagte Flasche öffnen zu lassen, als seine Frau ihn zurückhielt, sogar ziemlich energisch, wie man es bei jemandem macht, den man zerstreut auf einen Abgrund zusteuern sieht. »Matthias, ich bitte dich, laß uns keine Dummheiten machen!« hatte Verbena gesagt und gleichzeitig mit einer entschlossenen Handbewegung dem Sommelier abgewinkt. Der Major Aebi, damals noch Oberleutnant bei der Artillerie der Schweizer Armee, hatte dem Sommelier, der sich fragend an ihn gewandt hatte, mit einem Kopfnicken und einem resignierten Anheben der Augenbrauen den Verzicht bestätigt.
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Es war eine der ganz wenigen Episoden ihres Ehelebens gewesen, erinnerte sich der Major Aebi jetzt, während der Schnellzug sich wieder in Bewegung setzte, in denen seine Frau ihn indirekt an die Herkunft ihres gemeinsamen WohlStands erinnert hatte. Verbena Schneider war das einzige Kind des Eigentümers einer Kette von Schweizer Supermärkten und Kaufhäusern und hatte dessen Vermögen drei Jahre nach ihrer Verheiratung mit dem Oberleutnant Aebi geerbt, als der Vater, bereits Witwer, in dem großen, einfachen Landhaus, das er sich in Leysin hatte bauen lassen, von einem Schlaganfall niedergestreckt worden war. Wolfgang Schneider war Hobbywinzer gewesen, und das Haus wurde von einer Reihe abfallender Terrassen mit RebStöcken beherrscht, aus denen man einen strohgelben, moussierenden Fendant gewann, auf den er noch stolzer gewesen war als auf seine Supermärkte. Er war an einem Sonntagnachmittag vor den mächtigen Fässern des Weinkellers zusammengebrochen, und der Verwalter hatte ihn, bereits steif, erst am nächsten Morgen gefunden, als aus der Geschäftszentrale bestürzte Anrufe wegen der ungewohnten Abwesenheit des Chefs eingegangen waren. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Verbena Aebi zwar die Unternehmen als Inhaberin übernommen, doch wollte sie ihren Mann als Bevollmächtigten für die vielen Verwaltungsaufgaben an ihrer Seite haben. Der Oberleutnant Aebi hatte akzeptiert, aber seiner Frau auch erklärt, daß er seine Militärlaufbahn nicht aufgeben wolle, die ihm, in einem Land wie der Schweiz, seinem Temperament besonders zu entsprechen schien. »Matthias, ich weiß, daß ich dich gebeten habe, auf deine Karriere zu verzichten«, hatte ihm Verbena bei jenem Gespräch in der Dämmerung gesagt, das ihm aus irgendeinem
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Grund jetzt wieder einfiel. »Ehe ich sterbe, mochte ich, daß du mir sagst, daß du mir verzeihst.« Aus diesen Worten war dem Major Aebi, wie zuvor schon aus den stummen Tränen, deutlich geworden, daß die Krankheit seiner Frau inzwischen das Endstadium erreicht haben mußte, in dem nicht nur die Körperzellen, sondern auch die Psyche des Patienten in Mitleidenschaft gezogen wird. Er hatte ein Gefühl aus Kummer, Mitleid und Widerwillen zugleich empfunden. Es war ihm nicht gelungen, eine glaubwürdige Lüge zu erfinden. »Du hast mir viel im Tausch dafür gegeben«, hatte er gemurmelt und dabei ihre Hand genommen. Es war eine nüchterne und praktische Bemerkung, wie sie viele in ihrem Leben zu zweit ausgetauscht hatten. Auch die Kranke hatte deren Aufrichtigkeit gespürt und begriffen. »Das stimmt«, hatte sie gesagt. Dann war eine Pause entstanden. »Aber ich mag nicht denken, daß du dir vorstellen könntest, dein Leben wäre ohne mich anders verlaufen, vielleicht abenteuerlicher, aufregender.« »Aber nein, was sagst du denn da?« hatte der Gatte erwidert. »Und auch die Karriere... im Höchstfall wäre ich Oberst geworden.« Unter Ausnutzung sämtlicher Regel- und zusätzlich erbetener Sonderurlaube und indem er seine ganze Freizeit für das Unternehmen opferte, war es Matthias Aebi gelungen, seine Militärkarrierere bis zur Erreichung des frühestmöglichen Pensionsalters weiterzuführen. Und fünf Jahre vor dem Tod seiner Frau, als er den Antrag auf Pensionierung stellen konnte, hatte er es erreicht, vorzeitig in den Ruhestand geschickt zu werden. »Wir hätten unser Leben nicht genießen können, wie wir es getan haben«, hatte er zu seiner Frau gesagt und ihr dabei liebevoll die Hand gedrückt. »Sag, daß du mir verzeihst«, hatte sie ihn bedrängt. »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte«, hatte er, mit
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einem unbehaglichen Zögern, darauf erwidert, »aber angenommen, es wäre so — und weil es dir Freude macht —, so verzeihe ich dir von ganzem Herzen, und ich danke dir.« Der Schnellzug bewegte sich jetzt zwischen den Häusern von Penzing wie eine zahme Schlange zwischen vertrauten Mäandern. Der Major Aebi stellte fest, daß der unerwartete Aufenthalt von vorhin keine Verspätung zur Folge haben würde, und er lächelte vor sich hin, als er daran dachte, daß er seine Frau, wenn sie jetzt dabei wäre, wegen des Vorfalls beruhigen müßte. Verbena haßte Pannen, Verspätungen, die Unzuverlässigkeit der öffentlichen Verkehrsmittel, und bestimmt hätte sie wegen einer nicht fahrplanmäßigen Ankunft gleich weitere Scherereien vorausgesehen. Allein in seinem Abteil, ertappte sich der Major Aebi zu seiner eigenen Überraschung dabei, wie er mit lauter Stimme seine Frau nachahmte: »Ich habe dem Herrn Hofer gesagt, daß ich ihn noch vor vier Uhr aus Wien anrufen würde!« Herr Hofer war der Direktor des Kaufhauses in Zürich, sechs Stockwerke in Bahnhofsnähe, das gewaltigste der ganzen Kette. Der Major Aebi lächelte über die Szene, die er sich eben vorgestellt hatte, und da er seine Beine nicht noch weiter ausstrecken konnte, als er es schon getan hatte, zog er sie zurück, richtete sich kerzengerade in seinem Sitz auf und dachte daran, daß er nun bald in Wien ankäme. Noch bis vor kurzem war er unentschlossen gewesen, ob er die Gewohnheit der Wienreise, die ihm und seiner Frau bis vor einem Jahr beinahe als eine Verpflichtung erschienen war, beibehalten sollte. Sieben Tage in dieser Stadt, gerade zum Beginn der sommerlichen Konzert- und am Ende der Opernsaison, zwei oder drei Opernaufführungen und zwei oder drei Konzerte im Musikverein oder einen Abend in der Volksoper oder im Burgtheater. Verbena pflegte die Daten lange im voraus fest-
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zulegen und bestellte die Karten manchmal sogar schon im Jahr zuvor, und der Major Aebi war immer ein wenig amüsiert und zugleich erfreut, wenn ihm seine Frau am Vorabend der Reise ein Heftchen überreichte, in dem alle Veranstaltungstermine für ihre Woche verzeichnet waren. Im Lauf der Jahre hatte es der Major Aebi, wie um sich zu revanchieren, seinerseits übernommen, sich um ihre gastronomischen Termine zu kümmern. Sie stiegen immer im Hotel Sacher ab. Mit dem Heftchen in der Hand und unter Berücksichtigung einiger Notizen, die er sich jedes Mal machte, wenn er auf irgendeinen Tip für Feinschmecker stieß, erledigte der Major die Vorbestellungen in diversen Lokalen, wobei er jedoch als Fixpunkten an einem Besuch in den »Drei Husaren« und, am ersten Abend, an einem Essen im Restaurant des Sacher festhielt. Ansonsten liebte er es, seiner Frau die kleinen Entdeckungen zweiter Hand, die er seinen Lektüren verdankte, vorzuführen: ein in irgendeinem neu herausgekommenen Bändchen zitiertes Wienerwald-Beisel, in dem die zum gekochten Fleisch gereichten Soßen einem Kenner besonders innovativ vorgekommen waren, oder ein neues Cafe im Ersten Bezirk, in dem irgendein chilenischer oder slawischer Emigrant eine neue Art lanciert hatte, geräucherte Forellen zu präsentieren. In diesem Jahr hatte der Major Aebi kurz nach Ostern einen an seine Frau adressierten Einschreibebrief erhalten, in dem die Agentur Lindhammer Tours die Vorbestellungen für die diesjährigen Wien-Ferien im Juni bestätigte und gleichzeitig mitteilte, man habe, wie üblich, ihre Kreditkarte mit der Gesamtsumme belastet. Der Major hatte eine Weile gedankenversunken den Brief und die Coupons der Vorbestellungen betrachtet. Der Blick von der Terrasse, auf der er zum Frühstücken saß, ging auf die grünen Wipfel der Bäume und auf ein paar rote Dächer weiter
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unten, gegen den See zu. Es war ein Frühlingstag, frisch und mit einem von leichten weißen Wolken durchzogenen Himmel. In dem Bewußtsein, eine alltägliche Geste zu vollführen, wie ein vertrautes Spiel zwischen ihnen, hatte der Major nach oben, zum Himmel und zu den Wolken, geblickt und gesagt: »Willst du, daß wir diese Reise machen?« Und dann hatte er, mit einem ganz leisen Lächeln, noch hinzugefügt: »Aber diesmal wirst du mich nicht bremsen können.« Der Himmel und die Wolken hatten nicht geantwortet.
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2 Im Restaurant des Sacher — Die Indiskretion des Oberkellners Der nackte Rücken einer schönen Frau weckt Erinnerungen — Erster Auftritt der Kellnerin Trudi — Das Silbertäschchen und eine unvermutete Bemerkung von Verbena Aebi
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m Restaurant des Sacher waren an diesem Abend nur zwei Tische belegt. Zwei japanische Touristenpaare kommentierten mit unverständlichen Lautfolgen die Gerichte, die ihnen ein Kellner servierte, und tranken große Gläser Mineralwasser dazu; und ein Paar um die vierzig, er im Abendanzug, sie mit einem schwarz-goldenen Fransenschal um die Schultern, kommentierte seinerseits, ohne es sich anmerken zu lassen, das Verhalten und die Auswahl der Japaner. »Ins Restaurant des Sacher kommt man nicht, um sich angeregt zu unterhalten«, dachte der Major Aebi, nachdem man ihn zu einem für eine Person gedeckten Tisch geführt hatte, und wartete, daß man ihm den bestellten Wein bringe. Es war eine Bemerkung, die er einmal mit leiser Stimme seiner Frau gegenüber geäußert hatte, und sie hatten es gleichzeitig genossen und darüber gelächelt, wie jemand, der sich aus freien Stücken einer Zeremonie unterwirft, die für das, was sie bedeuten soll, eigentlich zu kompliziert ist. »Aber man muß zugeben, daß es hin und wieder Spaß macht, hier zu sein«, hatte Verbena geantwortet. »Schon wenn ich die Uniform der Kellner betrachte, so traditionsbewußt in ihrem Aussehen, daß sie wie die Stallmeister eines königlichen Hofes wirken, dann empfinde ich sogleich einen Hauch von
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Vergnügen, ich spüre, daß ich in Wien bin, zu Ferien, zu etwas, das sich von unserem gewöhnlichen Leben unterscheiddet«, hatte sie dann noch als unerwartete Erklärung angefügt, der zuzustimmen sich der Major beeilt hatte. Es war so selten gewesen, daß Verbena sich dazu verleiten ließ, ein ästhetisches Vergnügen zu erkennen zu geben! Der Major, der beabsichtigte, ein Fischgericht auszuwählen, hatte einen Tiroler Gewürztraminer bestellt, dessen fruchtiger Geschmack ihm schon im voraus auf der Zunge lag, eine Wahl, die, ohne daß er sich dessen bewußt war, den Zustand von ungewohnter und zeitweise geradezu prickelnder Leichtigkeit verriet, der immer mehr von ihm Besitz ergriff, seit er in Bregenz ins Raucherabteil eingestiegen war. Der Sommelier kam und zeigte ihm die Flasche. In diesem Augenblick gesellte sich der Oberkellner dazu. »Herzlich willkommen, Herr Major«, sagte der Oberkellner. Da er die Aebis viele Jahre lang bei ihren Aufenthalten im Hotel bedient hatte, fühlte er sich verpflichtet, etwas Konversation zu treiben, wie mit den anderen Stammkunden. Der Major dankte mit einem Kopfnicken, beugte sich vor, um das Etikett zu studieren, und bedeutete danach dem Sommelier, die Flasche zu öffnen. »Kommt die gnädige Frau heute abend nicht herunter?« erkundigte sich der Oberkellner, während der Sommelier den Gewürztraminer entkorkte und einen Schluck in das dünnwandige Weinglas vor dem Major goß. »Nein«, sagte der Major, ergriff mit zwei Fingern den Stiel des Glases, ließ den Wein langsam kreisen und schnupperte sein Bouquet. »Die gnädige Frau wird überhaupt nicht mehr kommen. Sie ist im letzten Winter gestorben.« Er hatte diese Worte ausgesprochen, ohne den Gesprächspartner dabei anzusehen. Gleich darauf nahm er einen Schluck Wein.
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»In Ordnung«, sagte er zum Sommelier, mit einem so verschlossenen und konzentrierten Gesichtsausdruck, daß weder der Sommelier noch der Oberkellner wußten, ob er in diesem Moment an seine verstorbene Frau dachte oder an die mehr als zufriedenstellende Qualität des Weines, den er sich bestellt hatte. »Oh, das tut mir aber leid. Mein aufrichtiges Beileid, Herr Major«, sagte der Oberkellner. Und nachdem ihm nachträglich die Peinlichkeit seiner Neugier klargeworden war, beeilte er sich, das Thema zu wechseln. »Lassen Sie mich wissen, ob Sie diesen Tisch behalten wollen, wenn Sie wieder hier speisen, oder lieber einen anderen wünschen.« Und damit wollte er gehen und den Service delegieren. Doch der Major hob die Hand, um ihn aufzuhalten. »Ach, hören Sie, Herr Ober: Arbeitet bei Ihnen noch dieses blonde Mädchen, ich glaube, es hieß Trudi, das uns ein paarmal bedient hat?« »Ja, natürlich, Herr Major. Aber zur Zeit hat sie Tagdienst. Sie werden sie morgen früh im Frühstücksraum antreffen.« »Ah, gut. Ich muß ihr nämlich etwas von meiner Frau übergeben«, erklärte der Major. »Morgen früh treffen Sie sie ganz bestimmt«, wiederholte der Oberkellner, und froh, die durch seine unvorsichtige Frage ausgelöste peinliche Situation für überwunden halten zu können, verbeugte er sich und machte auf dem Absatz kehrt. Den Rest des Abends verbrachte der Major Aebi in einem Zustand leichter und neugieriger Unruhe, als befände er sich zum erstenmal an einem unbekannten Ort, in einem Milieu, das ihm zwar von den Gegenständen und der Architektur her vertraut war, in dem ihm die Menschen aber einer Rasse oder einem Stamm anzugehören schienen, dessen Sprache, Gewohnheiten und Gedanken sich gänzlich von den seinen unterschieden.
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Das Fehlen der Gesellschaft seiner Frau und des Gesprächs mit ihr, mochte es auch auf das Wesentliche und Notwendige beschränkt gewesen sein, bewirkte, daß seine Aufmerksamkeit immer wieder auf irgendwelche unbedeutende Einzelheiten gelenkt wurde, die seine Gedanken, ungefiltert, in immer neuen Verkettungen abschweifen ließen. Die Dame des Paares im Saal hatte ihren Schal abgelegt. Damit stellte sie das Oberteil eines schwarzen Kleides, das nur von zwei schmalen Trägern gehalten wurde, zur Schau sowie ein aufreizendes Dekollete. Der Major Aebi erinnerte sich, wie eines Abends, ausgerechnet in Bregenz, nach einer Opernaufführung auf der Seebühne, er, Verbena, Herr Hofer und die Filialleiterin von Konstanz über die Garderobe einer anderen Zuschauerin diskutiert hatten, deren Abendkleid den ganzen Rücken, fast bis zur Höhe des Kreuzbeins, freiließ. Herr Hofer und Frau Grunwald hatten kritische Kommentare von sich gegeben, begleitet von kleinen Zungenschnalzern, »tz, tz«, um vor der Inhaberin des Unternehmens, für das sie, noch dazu in verantwortungsvoller Position, arbeiteten, ihre unerschütterliche und untadelige Wohlanständigkeit zu demonstrieren. Aber Verbena Aebi, erinnerte sich der Major, hatte fast ostentativ eine entgegengesetzte Meinung vertreten. »Wenn man einen so schönen Rücken hat wie den hier, warum soll man ihn dann nicht herzeigen? Schließlich sucht jede Frau, den anderen mit dem zu gefallen, was sie als Bestes anzubieten hat - und jeder Mann auch«, hatte sie erklärt. »Und wenn der Mann den Vorteil hat, zu wählen, so hat die Frau den, sich zu verkaufen.« Aus irgendeinem unerforschlichen Grund hatte diese Bemerkung seiner Frau sexuell erregend auf den Major gewirkt. Es war, als habe Verbena ihn unabsichtlich oder mit einer ihr
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bis zu diesem Moment selbst unbewußten Arglist an einer erogenen Stelle berührt. Während der Major Aebi jetzt die schönen Schultern der jungen Frau betrachtete, die sich leise mit ihrem Begleiter unterhielt, lächelte er im Geist bei der Erinnerung: Damals, als sich ein anderer schöner weiblicher Rücken vor seinen Augen bewegt hatte, hatten die Worte und die Ansichten seiner Frau eine Erektion bei ihm hervorgerufen. Dann war natürlich sofort alles wieder wie vorher gewesen. Der Major Aebi hatte nie an erotischem Kitzel gelitten, solange seine Frau bei ihm war. In ihrer Ehe hatte es eine erste Phase von vernünftiger Leidenschaft gegeben, dann eine zweite, lange Phase, in der die körperliche Beziehung für gewohnlich den Abschluß eines Abends bildete, an dem er etwas zuviel getrunken hatte, und schließlich eine dritte Phase, während der letzten fünf oder sechs Jahre, nach einem kleinen chirurgischen Eingriff, dem sich Verbena hatte unterziehen müssen, in der ihre körperlichen Beziehungen sehr selten geworden waren und fast nur einen Akt gegenseitiger Gefälligkeit und Wohlerzogenheit bildeten. In dieser letzten Periode hatte sich zwischen dem Major Aebi und seiner Frau dem Anschein nach nichts geändert, außer der Tatsache, daß Verbena sich hin und wieder und vor allem, wenn sie allein waren, zu Kommentaren und Bemerkkungen von einer gewissen Schlüpfrigkeit hinreißen ließ, nicht so sehr was die Worte, sondern was die Phantasie betraf. Der Major war darüber um so überraschter, als seine Frau in ihrem Verhalten nach wie vor Wert darauf legte, die untadelige, wohlhabende Schweizer Dame darzustellen, als die sie allen erschien. Im vorigen Jahr, als die Krankheit, die sie heimsuchen sollte, sich noch nicht bemerkbar gemacht hatte, war es gerade im Sacher zu einer solchen Siuation gekommen, in Zusam-
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menhang mit der Kellnerin Trudi, derselben, nach der sich der Major jetzt beim Oberkellner erkundigt hatte. Nachdem sie zu Abend gespeist und festgestellt hatten, daß bei der sommerlichen Temperatur ein Aufenthalt auf der Hotelterrasse angenehmer wäre, hatten der Major Aebi und seine Frau gebeten, ihnen den Kaffee und einen Likör draußen zu servieren, auf der Seite des Gebäudes, die in der Philharmonikerstraße der eleganten Rückfront der Staatsoper gegenüberliegt. Es war Trudi gekommen, um sie zu bedienen. Sie war ein Mädchen von etwa fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren, von robustem Körperbau, mit festen Wangen und strammen Waden. Sie benutzte keinerlei Kosmetik und trug ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten, der, nach Bäuerinnenart, über dem Nacken gerollt und festgesteckt war. Sie ging mit leicht gespreizten Beinen, und die schwarze Kittelschürze, die Uniform der Kellnerinnen des Sacher, spannte in der Taille und unterstrich so die Festigkeit der Hüften, über die sich der schillernde Seidenstoff schmiegte. Verbena hatte ihr Abendtäschchen aus Silber und Straß auf der Serviette abgelegt. Als die Kellnerin den Kaffee serviert und Milchkännchen und Zuckerdose in die Tischmitte gerückt hatte, hatte Verbena den Arm nach der Milch ausgestreckt und dabei unachtsam das Täschchen zu Boden fallen lassen. Es war unter dem — unbesetzten — Nebentisch gelandet. Automatisch hatte die Kellnerin Trudi ihr Tablett auf einer freien Fläche abgestellt und sich gebückt, um das Täschchen aufzuheben: Aber da sie es nicht ohne weiteres mit der Hand greifen konnte, war sie schließlich in die Hocke gegangen, um mit dem Arm weiter zu reichen. In dieser Haltung, während sie sich vorbeugte, um das Täschchen zu fassen, hatte Trudi die Beine gespreizt und unwillkürlich die Schürze nach oben geschoben. Und in der
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Dämmerung des Sommerabends hatten der Major Aebi und seine Frau gesehen, wie sich die kräftigen Beinmuskeln der Kellnerin unter dem durchsichtigen schwarzen Gewebe der Strumpfe spannten, wie Schenkel und Waden einander berührten, sie sahen die vom Boden abgehobenen Fersen, die KnieScheiben, fast weiß durch die Spannung, der sie das dünne Gewebe aussetzten, das sie weniger verhüllte als plastisch hervortreten ließ, und einen fließenden dunklen Schatten in der Beckenmitte der hockenden Kellnenn. Keiner der beiden hatte wirklich etwas gesehen. Sie hatten sich lediglich, und nur für einen kurzen Moment, beide etwas vorgestellt. Trudi, die sofort wieder aufgestanden war, hatte einen Augenblick lang verweilt, um das glitzernde Täschchen, das sie in der Hand hielt, mit fast animalischer Befriedigung zu betrachten, wie ein Jagdhund, der seinem Herrn eine erlegte Beute bringt. »Was für ein schönes Täschchen!« hatte sie gleich darauf gesagt, während sie es zurückgab. Und aus welchem Grund auch immer, hatte sie dabei gelacht und sich die Schürze über den Hüften glattgestrichen. »Danke«, hatte Verbena gesagt. »Das war sehr freundlich von Ihnen.« Trudi hatte den Kopf geschüttelt, sich umgedreht und war hineingegangen. Und während sie sich entfernte, hatten der Major Aebi und seine Frau ihren Rücken betrachtet, ihre Hüften und die kräftigen Beine. Jeder der beiden wußte, daß auch der andere es gesehen hatte, selbst wenn man überhaupt nichts Genaues hatte sehen können — außer jenem beweglichen dunklen Schatten, wie ein Laubzweig im Nachtwind. Der Major Aebi hatte seinen Kaffee getrunken. »Diese Kellnerin ist eine Hure: Die hätte mein Täschchen am liebsten selber behalten«, hatte Frau Aebi gesagt, während sie Milch und Zucker mit dem Kaffeelöffel verrührte.
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»Ich bin sicher, mit fünftausend Schilling holst du sie dir ins Bett.« Der Major Aebi war verblüfft gewesen, auch wenn ihn die gesellschaftlichen und ehelichen Gewohnheiten daran hinderten, es zu zeigen. Aber daß der Vorfall irgendeine Form von psychischer Erregung bei seiner Frau ausgelöst hatte, bestätigte ihm die Tatsache, daß Verbena ihn kurz darauf im Zimmer 307, das sie sich für gewöhnlich reservieren ließen, veranlaßt hatte, seiner ehelichen Pflicht nachzukommen. Es war das letzte Mal gewesen, daß sie miteinander geschlafen hatten. Der Major Aebi bat darum, ihm den Kaffee auf der Terrasse zu servieren. Er blieb eine halbe Stunde lang sitzen und ließ zu, daß die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, sich keinerlei Logik fügen mußten. Voller Neugier betrachtete er die roten Schuhe einer Frau, die, bei zwei Begleitern eingehängt, plaudernd vorbeiging. Dann zog er sich zum Schlafen zurück. Er wohnte, wie immer, im Zimmer 307. Auf dem Nachttisch, neben der abgelegten Armbanduhr, lag das Täschchen aus Silber und Straß, das der Major, in weiser Voraussicht, von zu Hause mitgenommen hatte.
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3 Frühstück im Sacher — Der Major Aebi spielt auf ein spezielles Legat seiner verstorbenen Gattin an — Trudi kauert sich vor der Minibar nieder — Ein gelber Umschlag mit zehntausend Schilling
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as Frühstück für die Gäste des Sacher wird in einem langen, schmalen Raum gereicht, in dessen Mitte eine Tafel steht, an der man sich selbst bedient. Der einzige Unterschied zu ähnlichen Büffets anderer Hotels besteht darin, daß auf der obersten Platte eines Tafelaufsatzes, auf dem verschiedene Brotsorten, Kuchen und Gebäck ausliegen, kleine Sachertorten-Stückchen angeboten werden, zu Ehren der Geburtsstätte dieser Schokoladentorte. Der Major Aebi, ausgeruht, frisch rasiert und fröhlich bereit zu tun, was er sich vorgenommen hatte, kam kurz nach acht herunter. Er sah sofort die Kellnerin Trudi, die neben einer jungen Kollegin an der Tür zum Frühstücksraum stand. Wenn die Gäste herunterkamen, begleitete sie eine der beiden zu einem freien Tisch, und sobald sie sich erkundigt hatte, ob die Herrschaften Tee oder Kaffee wünschten, ließ sie sich die Zimmernummer geben und ging dann in die Küche, um das Gewünschte zu holen. Es war Trudi, die ihm vorausging. »Ich bin allein«, sagte der Major und sah sie fest an. Trudi gab keinerlei Anzeichen von sich, aus denen zu schließen gewesen wäre, ob sie ihn erkannte, und geleitete ihn zu einem Tisch neben der Fensterfront, die auf die Philharmonikerstraße hinausgeht.
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»Ich mochte Tee«, sagte der Major noch und starrte sie wieder an. »Ihre Zimmernummer;« fragte Trudi. Sie hatte eine kehlige Stimme. Der Major ließ seinen Blick entschlossen über den Körper der Kellnerin schweifen, bis zu den Füßen hinunter. Trudi trug ockerfarbene Stoffsandalen mit niederem Absatz, die bis über die Knöchel gingen und die Fersen sowie vorne die Zehen freiließen. In Mittel' und Nordeuropa sind solche Schuhe bei Frauen, die in Lokalen bedienen oder sonst bei der Arbeit viel stehen müssen, durchaus üblich. Fersen und Zehen waren von billigen schwarzen Strümpfen verhüllt. »Sicherlich Strumpfhose«, dachte der Major und hob den Blick. »307«, sagte er. Die Kellnerin sah ihn ihrerseits fragend an, dann machte sie schweigend kehrt und ging, um den bestellten Tee zu bringen. Der Major Aebi beobachtete jeden in Bewegung befindlichen Teil ihres Körpers, bis sie an der Tür war, und stellte mit Zufriedenheit fest, daß dieser Körper nach einem Jahr, wenn möglich, noch enger von der glänzenden schwarzen Schürze umspannt schien, so daß die Formen deutlich hervortraten. Die Kellnerin schien etwas Ungewohntes in ihrem Rücken gespürt zu haben. Als sie an der Tür war, zögerte sie und drehte sich um. Mit einem stumpfen Ausdruck, unterstrichen durch den verblüfften und trägen Blick, den sie langsam nach hinten wandern ließ, schaute Trudi zum Major hin, als ob sie irgend etwas, das man ihr nur unzulänglich angedeutet hatte, zu begreifen suche. Ihre unerwartete Geste überraschte den Major. Ihrer beider Blicke kreuzten sich, und Trudi erhaschte, sozusagen in flagranti, den Ausdruck sinnlicher Gefräßigkeit, mit der er ihren Rücken und die Beine fixierte. Als sie mit der Teekanne zurückkam, starrte er ihr ungeniert ins Gesicht.
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»Sie erinnern sich nicht an mich, Trudi?« fragte er. Die Frau erwiderte seinen Blick mit der gleichen Hartnäckigkeit, schwerfällig, noch unsicher, was der Mann von ihr wollte. »Voriges Jahr, mit meiner Frau, da haben Sie uns abends den Kaffee serviert, erinnern Sie sich;« sagte er und setzte ein betont freundschaftliches Lächeln auf. Das klare und volle Bäuerinnengesicht hellte sich auf: Die Erinnerung befreite sie von der Angst vor möglichen unangenehmen Entdeckungen, was die Beziehungen zu dem Gast betraf. Dieses Sich-Kreuzen von Blicken, diese ungewohnten Empfindungen und Zweifel wurden jetzt für sie wieder zu etwas Normalem: Sie erinnerte sich an die Frau, die nun nicht dabei war, eine etwas steife Person mit einem schönen Armband aus Massivgold und der Angewohnheit, zum Kaffee einen Drambuie zu bestellen. »Meine Frau ist vor sechs Monaten gestorben«, fuhr der Major fort, »und ehe sie starb, hat sie mich gebeten, Ihnen, sobald ich wieder nach Wien käme, etwas mitzubringen, das Ihnen gefallen zu haben schien — zur Erinnerung.« Die Kellnerin wurde wieder von einer argwöhnischen Unsicherheit erfaßt. Die letzten Worte des Gastes hatten in ihr erneut den Eindruck hervorgerufen, daß es mit diesem Mann eine besondere Bewandtnis habe. Der Blick, den sie zuvor überraschend erhascht hatte, brachte sie auf den Gedanken, daß das etwas mit ihrem Unterleib zu tun haben könnte. Sie fühlte, wie sich ihr Geschlecht zusammenzog. Sie brachte kein Wort heraus. »Wenn Sie, sobald Sie hier fertig sind, zu mir aufs Zimmer kommen können, gebe ich es Ihnen.« Der Major zeigte ihr noch einmal den Schlüssel mit der deutlich sichtbaren Nummer 307 darauf. Er wollte nicht, daß es Zweifel gebe. Sie musterte ihn wiederum, einen Hauch von materieller
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Gier in den nach wie vor mißtrauischen und unsicheren Zügen. Dann lächelte sie, als gäbe sie auf: Alles in allem mußte etwas zu gewinnen sein, ohne zu großes Risiko. Der Gedanke, daß sie irgendein Geschenk bekäme, verlieh ihrem Gesicht einen Ausdruck von gewinnsüchtiger Dankbarkeit. Du mußt wirklich eine Hure sein, durchfuhr es den von der Neuartigkeit und Kühnheit seines eigenen Spiels faszinierten Major. »Hier bin ich um elf Uhr fertig«, sagte die Kellnerin Trudi. »Ich werde erst danach kommen können.« »Ausgezeichnet«, meinte der Major. »Ich erwarte Sie.« Nach dem Frühstück verließ er das Hotel, besorgte sich Zeitungen und setzte sich dann in ein Straßencafe am Graben, um sie zu lesen und die Zeit bis zum Rendezvous totzuschlagen. Es war ein klarer und frischer Morgen, die Leute bewegten sich ohne Hektik, und es lag etwas Strahlendes in der Luft. Dem Major gelang es nicht, sich auf das zu konzentrieren, was er las, und die Kleider der Frauen erschienen ihm nur wie bunte Farbtupfer in Bewegung. Nach einer Weile beschloß er, lieber ins Hotel zurückzugehen und dort auf das Treffen zu warten. Als er wieder in seinem Zimmer war und sich auch da die Zeit vertreiben mußte, fing er an, eine Reihe überflüssiger Dinge zu tun: Er ordnete seine Toilettesachen im Badezimmer um, schnitt einen Zeitungsartikel über eine Versteigerung von Bildern des neunzehnten Jahrhunderts aus, rief den Portier an und bat ihn um einen Veranstaltungskalender für diese Woche in Wien. Kurz nach elf Uhr war ein diskretes Klopfen an der Tür zu vernehmen, und Trudi trat ein. Wie der Major Aebi es gehofft hatte, war sie noch in der vorgeschriebenen Sacher-Uniform. Der Major empfand ein leichtes Gefühl von Benommenheit, berauschend bei dem Gedanken an das, was er vorhatte. »Im vergangenen Jahr«, sagte er zu ihr, wobei er sich erhob,
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ohne sich ihr zu nähern und ohne sie auf einem der beiden Sessei Platz nehmen zu lassen, zwischen denen er stand, »im vergangenen Jahr haben Sie das Abendtäschchen aufgehoben, das meiner Frau hinuntergefallen war, und es ihr zurückgegeben; aber erst, nachdem Sie es bewundert hatten.« Der Major nahm das Täschchen vom Nachttisch und drehte es in seinen Händen. Jetzt hatte die Kellnerin Trudi etwas Präzises, auf das sie ihre Aufmerksamkeit richten konnte. Sie betrachtete das Täschchen und erkannte es sofort wieder. Es hatte ihr tatsächlich sehr gut gefallen. Die doppelte Empfindung — Erneuerung eines vergangenen Vergnügens und Dankbarkeit dem gegenüber, der sich an dieses Vergnügen erinnert und ihm Rechnung getragen hatte — löste ihr die Glieder: Sie bewegte die Beine, um das Gewicht des Körpers zu verlagern, neigte Kopf und Hals nach vorn und gab der verführerischen Anziehungskraft nach, die der glitzernde Gegenstand mit dem Funkeln der Straßsteine und der Eleganz seiner Form auf sie ausübte. Der Major beobachtete, wie sie sich bewegte, froh, es in ihrer momentanen Abgelenktheit ungestört tun zu können. Sobald sie nicht auf der Hut war, nahmen ihre Bewegungen etwas von einer animalischen Sinnlichkeit an, und dem Major lief das Wasser im Mund zusammen wie einem Feinschmecker beim Anblick eines Leckerbissens. Der Major spielte wiederum mit dem Täschchen. Es war wie ein silberner Fisch im beweglichen Netz seiner Finger. Wirklich ein wunderschöner Köder. Seine Frau Verbena hatte nicht im Traum daran gedacht, das Täschchen der Wiener Kellnerin, die sie als »Hure« bezeichnet hatte, zu hinterlassen, und der Major Aebi empfand in diesem Moment die schurkische Erregung dessen, der im Begriff ist, etwas Verbotenes zu tun, und sich — wenigstens beinahe — sicher fühlt, straflos davonzukommen.
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»Meine Frau sagte mir, es mache ihr Freude, sich vorzustellen, daß das Täschchen, wenn sie einmal nicht mehr da wäre, einer anderen Frau gehöre, einem schönen jungen Mädchen, dem es sehr gefallen zu haben schien. Hier ist es, nehmen Sie es«, sagte der Major Aebi. Er streckte ihr das Täschchen hin, und als die Kellnerin Trudi es voll Freude und voll Überraschung genommen hatte, ließ er sich auf einen der beiden Sessel fallen. Nun war es das Madchen, das dastand und verwirrt den funkelnden Gegenstand in den Händen drehte. Im Sessel sitzend, mit der Haltung des reichen Händlers, der sich auf dem Viehmarkt eine Kuh aussucht, sagte der Major Aebi nun das, was er zu sagen sich ausgedacht hatte: »Wollen Sie aus der Minibar hinter Ihnen eine Flasche Sekt holen, damit wir auf die Erfüllung meines Auftrags anstoßen? So hat meine Frau es von mir verlangt«, fügte er hinzu, um ihrem überraschten Zögern zu begegnen. Die Minibar befand sich in der unteren Hälfte eines dunklen Holzmöbels, das im oberen Teil einen Fernseher barg. Die Kellnerin Trudi brauchte immer ein wenig Zeit, wenn man etwas Ungewöhnliches von ihr verlangte, und so war es auch in diesem Fall. Schließlich ging sie in die Knie und öffnete die Tür der Minibar. Der Major Aebi sank unmerklich tiefer in den Sessel, um besser sehen zu können. Er hatte die Halbliterflasche Sekt, mit der die Minibar ausgerüstet war, vorsorglich ganz nach hinten gestellt, hinter alle anderen Flaschen. Um sie zu holen, mußte sich Trudi noch weiter nach vorn beugen, Flaschen verschieben, den Arm ausstrecken. In der gebückten Haltung hatte sie ihr rechtes Knie und einen Teil des rechten Oberschenkels entblößt. Tief in seinem Sessel versunken, stierte der Major Aebi mit geradezu unsinnigem Verlangen auf den schwarzbestrumpften Teil dieses sich
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bewegenden Körpers, mit der Gier eines Kannibalen. Am liebsten hätte er seine Zahne in diese angespannten und durch den Strumpf hervorgehobenen Muskeln geschlagen. Er dachte an alles, was es da noch an Schwarzem geben mochte. Er schluckte. Als die Kellnerin mit der Flasche in der Hand wieder aufstand, erhob sich auch der Major. Er öffnete die Flasche und goß den Inhalt in zwei Gläser. »Prosit!« sagte er, die Kellnerin fixierend. »Prosit!« erwiderte sie lachend, das Täschchen in der Hand haltend. Nach dem ersten Schluck spornte sie der Major an: »Alles. Ganz austrinken!« Sie lachte wieder, und beide leerten die Gläser. Der Major Aebi spürte, wie ihm die Erregung den Magen zusammenpreßte. Die Kellnerin Trudi, lachend, sinnlich und den Köder fest in der Hand, erschien ihm wie ein wunderschönes Stück Wild, das ihm ein guter Treiber genau vor den Lauf gebracht hatte. »Meine Frau hat mir noch einen anderen Auftrag erteilt«, setzte der Major an. »Damals, an jenem Abend, hatte sie bemerkt, daß ich Sie, Trudi, voller Bewunderung ansah. Genauso wie Sie das Täschchen. Sie stellte mir eine boshafte Frage, und als ich zugab, daß es mir große Freude machen würde, mit Ihnen, Trudi, zu schlafen, Sie im Bett zu haben, wollte sie wissen, was mir an Ihnen so besonders gefallen hätte. Ich sagte, daß Sie sehr sinnlich sein müßten, daß Sie schon im Blick etwas sehr Sinnliches hätten, vom Körper ganz zu schweigen.« Das Gesicht der Kellnerin hatte schlagartig wieder einen ernsten, dumpfen Ausdruck angenommen, und der Blick, den der Major als so sinnlich beschrieben hatte, war bei seinen Worten erneut wirr und unruhig geworden und verriet die Schwierigkeit der Gedankengänge, die sie in Windeseile bewältigen mußte.
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Der Major Aebi ließ sich wieder in den Sessel sinken. Für den Fall, daß das, was zu verlangen er im Begriff stand, nicht erfüllt würde, wollte er sich in der Position dessen befinden, der jedwede Erwiderung, und sei es ein ins Gesicht geschleudertes Abendtäschchen, passiv hinnehmen kann, ohne reagieren zu müssen. »Nachdem sie mir das Täschchen für Sie gegeben hatte«, fing der Major wieder an, »sagte meine Frau auf dem Totenbett, sie wolle auch mir ein besonderes Geschenk machen. Sie hatte einen großen Briefumschlag vorbereitet. Den hier«, und er streckte die Hand aus, um nach einem gelben Kuvert zu langen, das auf einem Tischchen lag. »Darin war eine schöne Fotografie von ihr«, und er zog sie heraus, nur ein Porträt, in Schwarzweiß, mit einem breiten cremefarbenen Rand. Die Kellnerin Trudi erkannte die Frau auf dem Foto, auch wenn Verbena auf dem Bild glatter, weniger von den Jahren gezeichnet erschien. »Diese Fotografie«, wiederholte der Major Aebi, »und diese zehntausend Schilling. Meine Frau war witzig. Ich mußte ihr versprechen, daß ich Ihnen zehntausend Schilling geben würde, wenn Sie, Trudi, mit mir ms Bett gingen; und wenn Sie sich weigerten, sollte ich Ihnen erlauben, das Foto in Stücke zu reißen und darauf zu spucken. Sie sagte, dies sei ein besonderes Geschenk, das sie mir zum Andenken hinterlassen wolle.« Der Major Aebi schwieg und fragte sich ängstlich, was Trudi wohl antworten würde. Er hob die Hand, in der er, gut sichtbar, zwei Banknoten zu je fünftausend Schilling hielt, so nebeneinander gelegt, daß man auch deutlich sah, daß es zwei waren. Mit der anderen Hand legte er Fotografie und Umschlag auf das Tischchen zurück. Die Kellnerin starrte auf das Geld. Sie war unsicher, ob das Ganze nicht ein Spiel sei. Schließlich kam sie zu dem
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Schluß, daß es sich um ein ernsthaftes Angebot handeln müsse und sie tatsächlich zwischen den beiden Möglichkeiten zu wählen habe. Langsam und allmählich wich ihre angespannte und finstere Miene einem erfreuten, vulgären Ausdruck, und das Lächeln, das sich auf ihren Lippen zeigte, schien ihre runden, von blondem Flaum bedeckten Wangen aufzublähen. Schließlich ließ die Lust auf das Geld ihre Augen in einem durchtriebenen, raubtierhaften und gierigen Licht aufleuchten. Sie streckte die Hand aus, um die Geldscheine zu nehmen. Der Major Aebi hatte sich vorgesehen. Ohne brüske Bewegungen zog er seine Hand zurück und ging zum Du über. »Komm näher«, sagte er. Und als sie einen Schritt nach vorn gemacht hatte: »Zieh die Schürze etwas hoch.« Mit kaum unterdrücktem Grinsen folgte ihm Trudi und entblößte ihre Beine fast bis zur Leiste. Natürlich trug sie eine billige Strumpfhose mit verstärktem Hosenteil. »Komm noch näher«, sagte der Major Aebi mit einer trokkenen Stimme, die er nicht genau unter Kontrolle zu halten vermochte, und als sie noch näher trat, legte er eine Hand auf die Innenseite ihres rechten Oberschenkels, an die Stelle, die Trudi zuvor enthüllt hatte, als sie sich vor der Minibar bückte. »Jetzt das Geld«, sagte sie und hielt mit den Beinen, mit den zusammengezogenen kräftigen Muskeln, seine Hand zwischen den Schenkeln fest, um sie daran zu hindern, weiter nach oben zu wandern, ehe er das Versprochene gezahlt hatte. Sie beugte sich so weit zu ihm vor, daß sie ihm den Stoff über ihrem Busen und den Busen selbst ins Gesicht drückte, und nahm ihm die zehntausend Schilling aus der inzwischen erschlafften Hand. »Wer weiß, was ihr im Bett getrieben habt, du und deine Frau«, erklärte sie mit kehliger Stimme, jetzt ebenfalls zum Du übergehend. »Ihr müßt wirklich zwei Schweine gewesen sein.« Hure! Hure! dachte der Major jubelnd und gratulierte im
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Geiste der verstorbenen Verbena zu ihrer hellsichtigen Intuition, die in gewisser Hinsicht der Ursprung seines gegenwärtigen unverhofften Vergnügens war. Er tauchte sein Gesicht in Trudis weichen und vollen Busen und atmete tief durch die Nase ein: Auch ihr Geruch sollte dazu beitragen, ihn zu betäuben. Sein angeschwollenes und steifes Glied verursachte ihm ein hinderliches Gefühl im Schritt der Hose. Er drückte mit der Hand Trudis Schenkel, den er nie losgelassen hatte, und zog sie an sich. Er fühlte, glücklich, das Knie, das die Frau aus freien Stücken provozierend in seiner Leistenhöhle aufund abbewegte.
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4 Herr Hofer erklärt dem Major Aebi, daß er Milliardär geworden sei — Gedanken beim Mittagessen — Eine nicht zustande gekommene ménage á trois am Lido von Venedig — Die Suche nach Österreichischen Schilling
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err Hofer hatte den Major Aebi am Tag nach der Beerdigung von dessen Frau um eine Unterredung gebeten. »Ich möchte Ihnen genaue Rechenschaft über die geschäftliche und die Vermögenssituation ablegen«, hatte er gesagt. Herr Hofer hatte in Anbetracht der besonderen Position des Major Aebi, den schon der Schwiegervater in den Verwaltungsrat geholt und dessen Gattin immer gezeigt hatte, daß sie ihn als Primus inter pares betrachtete, stets ein äußerst ehrerbietiges Verhalten an den Tag gelegt. Die Aebis hatten keine Kinder. Der Major würde daher den gesamten Besitz seiner Frau erben. Deswegen hatte Herr Hofer mit ihm sprechen wollen. Praktisch war der Major Aebi bereits sein neuer Arbeitgeber, und Herrn Hofer lag daran, ihm neben seinen konkreten finanziellen und organisatorischen Kompetenzen unverzüglich auch seine Treue und Korrektheit zu demonstrieren. »Ich werde zu Ihnen ins Büro kommen«, hatte der Major Aebi auf Herrn Hofers Anfrage geantwortet. Beide waren sich darüber im klaren, daß es sich um eine Frage der Zweckmäßigkeit handelte. Das Gespräch dauerte etwa zwei Stunden, und der Major Aebi setzte ihm ein Ende, indem er vorgab, mit jemandem zum
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Mittagessen verabredet zu sein. Als seine Frau noch lebte, hatten sie bei derartigen Gelegenheiten immer mit Herrn Hofer und dem einen oder anderen leitenden Angestellten im kleinen Repräsentationssaal der Firma gespeist und sich vom »Kleinen Rheinfall«, einem ausgezeichneten Restaurant gegenüber dem Firmengebäude, das Essen servieren lassen. Der Major Aebi hatte das Gefühl, ein bißchen allein sein zu müssen. Es war Dezember, und über Zürich und Umgbung lag eine dünne Schicht von nassem Schnee. Er beabsichtigte, noch am selben Tag nach Locarno zurückzufahren, wo die Wahrscheinlichkeit größer war, einen weniger bleiernen Himmel und weniger schmutziggraue Straßen vorzufinden. Er wählte ein diskretes Restaurant im Zentrum, und während er langsam aß, versuchte er, um sich ganz darüber klarzuwerden, zu rekapitulieren, was ihm Herr Hofer gesagt hatte. Die Quintessenz: Er war jetzt steinreich. Viel reicher, als er es sich vorgestellt hatte. Nicht daß Verbena ihm jemals etwas verborgen hätte. Der Major Aebi hatte immer gewußt, daß er der Gatte einer Frau mit beträchtlichem Vermögen war, vor allem nach dem Tod seines Schwiegervaters. Aber von seinem Wesen her und aus einer Art von höflicher Zurückhaltung auch ihr gegenüber hatte er es immer vermieden, genauen Aufschluß zu erbitten und sich über die verschiedenen Vermögensposten informieren zu lassen. Weder er noch seine Frau hatten einen Hang zur Extravaganz. Viele Jahre lang hatte jeder von ihnen seine persönliehen Ausgaben von den eigenen Konten bestritten. Da sich um das übrige — ihre Häuser, die Flugtickets, die Versicherungen, die Kreditkarten — die Unternehmensverwaltung kümmerte, hatte der Major Aebi immer wesentlich mehr Geld zur Verfügung gehabt, als er brauchte. In manchen Wochen hatte er lediglich so viel ausgegeben, wie nötig war, um ein Buch zu kaufen oder die Flasche Wein eines besonderen Jahrgangs
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zu erstehen, die seine Aufmerksamkeit im Schaufenster einer Weinhandlung auf sich gelenkt hatte. Für seine persönlichen Bedürfnisse reichten sein Sold und später die Offizierspension sowie die Aufwandsentschädigung als Verwaltungsratsmitglied, die ihm regelmäßig auf sein Konto überwiesen wurden, bei weitem aus. Was ihm Herr Hofer mitgeteilt hatte, hatte ihn überrascht, auch wenn er bemüht gewesen war, es nicht zu zeigen. Er wollte nicht, daß Herr Hofer den Eindruck gewönne, besser als er, Aebi, über sein Vermögen und über die privaten Beziehungen zwischen ihm und seiner Frau Bescheid zu wissen, wenn auch von einem rein buchhalterischen Standpunkt aus. So hatte er aufmerksam zugehört und ganz wenig gesprochen, wahrend Herr Hofer mit ihm die Liste sämtlicher Vermögensposten durchging und dabei die Unterlagen für jeden davon aus einer Anzahl grünlicher Mappen zog, die er auf seinem Schreibtisch vorbereitet hatte. In der letzten dünnen Mappe war auf etwa zehn ordentlich von einem Computer geschriebenen Seiten die gesamte Situation zusammengefaßt: all das, worüber, nach Ansicht von Herrn Hofer, der Major Aebi als rechtmäßiger Inhaber verfügen könne, sobald Verbenas Testament eröffnet würde, was bald der Fall wäre. Wahrend er im Restaurant an seinem Essen kaute, fragte sich der Major Aebi an jenem Tag, was ein alleinstehender Mann, nicht mehr jung und Milliardär, in Zukunft machen solle. Er spürte vage, daß sich sein Leben ändern würde, aber er wußte noch nicht, wie und wodurch. Bis jetzt hatte er auf ruhige Weise alles gehabt. Verbena war die Gefährtin seines Lebens und der alltäglichen Erfahrungen gewesen, und der Major Aebi machte ihr nachträglich das Kompliment, daß sie es gewesen war, die für die angenehmen Überraschungen, die intelligenten und anregenden Initiativen, die verschiedenen Vergnügungen in ihrem gemeinsamen Leben gesorgt hatte.
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Vielleicht, überlegte der Major Aebi, habe ich deshalb nie ernsthaft andere Frauen begehrt. Und er dachte, ohne zu einem Schluß zu kommen, über die Tatsache nach, daß es immer Verbena gewesen war, die ihm, wenn dieses Thema zwischen ihnen berührt wurde, provozierend entsprechende Möglichkeiten vorschlug, als ob es sich um ein Spiel handle, dessen Leitung ihr zustünde. Der Major erinnerte sich, wie er und seine Frau einmal in den Ferien am Lido von Venedig zwei Frauen - eine davon mit tadelloser Figur und aufreizendem Busen — beobachtet hatten, die neben ihnen im Schatten des Sonnenzelts der Nachbarkabine Küsse und heftige Liebkosungen austauschten. Verbena war auch bei dieser Gelegenheit sein Ausdruck von besonderer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Als sich die beiden Frauen getrennt hatten und die schönere allein hinter dem Sonnenzelt zurückgeblieben war, hatte Verbena ihn leise gefragt: »Würde dir eine ménage á trois mit einer Lesbierin gefallen!« »Warum nicht?« hatte er geantwortet, ohne sogleich genau zu begreifen, welchen Part ihm seine Frau dabei zudachte, als antworte er bei einem Gesellschaftsspiel. Aber Verbena hatte ihn noch mehr überrascht, als sie aufstand und unter irgendeinem Vorwand ein Gespräch mit der schönen unbekannten Nachbarin anfing. »Was habt ihr euch denn erzählt!« hatte er danach gefragt. »Sie heißt Gerda Svensen und ist Schauspielerin. Wir haben uns für die Zeit des Filmfestivals in Locarno verabredet«, hatte Verbena geantwortet und ihn dabei fragend angesehen. »Sie ist Norwegerin.« Doch soviel er wußte, war es nie zu diesem späteren Treffen gekommen. Was hatte Verbena vorgehabt? fragte sich jetzt der Major Aebi. Auch sie schien alles vom Leben bekommen zu haben. Mit Sicherheit zumindest in materieller Hinsicht. Aber kann
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ein menschliches Wesen überhaupt leben, ohne sich irgend etwas zu wünschen, was es nicht hat? Während er in Gedanken den Zucker im Kaffee umrührte, erinnerte sich der Major Aebi an das Gefühl von Verachtung, das seine Frau einmal in einem ihrer gemeinsamen Gespräche nach einem Abendessen mit Freunden zum Ausdruck gebracht hatte: Verbena hatte gesagt, sie habe sich bei der hohlen Unterhaltung bei Tisch gelangweilt: »Leute, die nur über das Essen oder über Restaurants reden können oder darüber, wie tüchtig der eine oder der andere Yachtkoch ist.« »Aber Betta Lemieux hat doch über die Neuerungen in ihrem Garten gesprochen und wie Farah Diba ihr geraten habe, die Krankheit ihrer Rosen zu kurieren: Und du hast ausgesehen, als würde dich das interessieren!« hatte sie der Major Aebi an jenem Abend sanft getadelt, um das Gespräch nicht unhöflieh zu unterbrechen. »Das sind Leute, die sich nichts Stimulierendes ausdenken können ...« Seine Frau hatte gezögert, um nach einem Wort zu suchen, das genauer ausdrückte, was sie sagen wollte: »... nichts, was ihr Leben verbessern würde. Welchen Sinn hat es zu leben, wenn man im nächsten Tag nicht eine Gelegenheit sieht, etwas Neues, Schönes, Interessantes zu unternehmen?« Aber, fragte sich jetzt der Major Aebi, was könnte interessant sein für jemanden, der materiell bereits alles hat? Und war das nicht ein Zustand, den eine wachsende Anzahl von Männern und Frauen in den reichen Ländern inzwischen erreicht hatte? War eine Gesellschaft im Zustand satter Zufriedenheit vielleicht dazu bestimmt, in animalische Langeweile zu verfallen; Der Major Aebi hatte es vorgezogen, allein zu Mittag zu essen, eben um anzufangen, über die neue Situation nachzudenken, in der er sich nun befand. Hatte ihm vielleicht etwas gefehlt bis zum gestrigen Tag? Daß er jetzt selbst, und nicht
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über seine Frau, mehr als reich war, änderte das etwas? Wenn er einen Wunsch nennen sollte, was würde er haben wollen? In den sechs Monaten, die auf jenes einsame Mittagsmahl in Zürich folgten, war der Major Aebi des öfteren wieder zu diesen Gedanken zurückgekehrt. Aber die Förmlichkeiten der Vermögensübertragung, die Sorge, sich den neuen Aufgaben, die auf ihn zukamen, gewachsen zu zeigen, die obligatorischen Besuche fast aller Aktivitätszentren, die die Grundlage seines erworbenen Vermögens bildeten - die Weinberge in Italien, die kleine Kosmetikfabrik in Valencia, die Fruchtsaftabfüllanlagen in Österreich und Jugoslawien, die diversen Kaufhausniederlassungen —, hatten ihn teilweise abgelenkt und beschäftigt. »Wie die Engländer sagen, I want to touch bases«, hatte Herr Hofer erklärt, als er ihm im Januar die Reise- und Inspektionspläne vortrug. Er hatte ihn auch ermutigt und ihn, den Neuling, zu seiner aktiven Teilnahme an der Verwaltung des Vermögens beglückwünscht. Der Major Aebi hatte alles in Ordnung und perfekt funktionierend vorgefunden: Und nun war er es, der Herrn Hofer gratulierte, daß alles so war, wie es sein sollte. Genau an dem Tag, an dem er seine Inspektionstour beendet hatte, waren ihm die von seiner Frau vorbestellten Buchungen für die Wienreise ins Haus geflattert. Allein in dem großen Haus in Locarno, wo die Haushälterin, der Diener und der Gärtner für einen reibungslosen Ablauf des täglichen Lebens sorgten, hatte der Major Aebi an jenem Abend beschlossen, daß er nach Wien fahren und nach der Kellnerin Trudi suchen wolle. Zu den Vorbereitungen, die ihn vor allem psychisch (Verbena hätte in diesem Fall vielleicht die Bezeichnung »stimulierend« akzeptiert) beanspruchten, gehörte die Suche nach ein paar Fünftausend-Schilling-Scheinen, die er sich persönlich
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am Wechselschalter einer Bank besorgte, in der man ihn nicht kannte, und in einem Fotogeschäft die Bestellung von einem Abzug 25 x 30 des Fotos, das seine Frau für den Paß und er für die schlichte Todesanzeige an Lieferanten und Kunden verwendet hatte, wie es ihm von Herrn Hofer geraten worden war.
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5 Unruhige Rückkehr nach Locarno — Wieviel muß man anlegen, damit eine Frau bereit ist, ihre Bekannten merken zu lassen, daß man sie kaufen kann? — »Sag Herr Major Aebi zu mir« — Frau Grunwald will sich verändern und erhält ein unvorhergesehenes Angebot
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ei seiner Rückkehr aus Wien beschloß der Major Aebi, sich ein paar Tage in Locarno auszuruhen. In seinem Kopf wirbelten die Erinnerungen an seine Woche mit der Kellnerin Trudi wie in einem Strudel herum. Äußerlich war alles wie vorher. Aber der Major hatte das Gefühl, eine begeisternde Erfahrung gemacht zu haben, und wenn er sich vorstellte, bei vielen anderen und ganz verschiedenen Gelegenheiten ähnliche Empfindungen erleben zu können, wollte er genau überlegen, wie und wann er sich in neue Abenteuer wagen würde, die den Geschmack des Unbekannten und Verbotenen trugen. Er kam sich vor wie ein Forscher angesichts der Landkarte eines nur dürftig skizzierten Kontinents, über dem geschrieben steht: »Hic sunt leones.« Ihn verlangte nach diesen Raubtieren. Nachdem der Diener Rupert das Körbchen mit dem Toast vor ihn hingestellt hatte, murmelte er zu Leonor Finis Bild seiner Frau hin, als säße Verbena in Fleisch und Blut mit ihm am Frühstückstisch: »Es muß wirklich stimulierend sein, wie du gesagt hast.« Die Erfahrungen mit der Kellnerin Trudi, die er in der Erinnerung am meisten auskostete, waren der Abend in der Oper, als er ihr unter dem kurzen Abendkleid, das er ihr ge-
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schenkt hatte, mit der Hand zwischen die Schenkel gefahren war, ohne sich um den entrüsteten Blick einer Platznachbarin zu kümmern (ja, es war vor allem die Entdeckung der eigenen Nonchalance oder Überlegenheit, die ihn vor Lust zittern ließ), und das Spiel ohne Worte (dafür aber von besonders lebhafter Mimik) zwischen der Kellnerin und ihren Arbeitskollegen vom Sacher, als sie am letzten Abend seines Aufenthalts in Wien zusammen im Restaurant des Hotels gespeist hatten. Für die Annahme der Einladung hatte die Kellnerin Trudi 20000 Schilling gefordert (das Hinterher natürlich inklusive), aber der Major Aebi dachte, daß dieses Schauspiel inneren Bebens sehr wohl die Preisdifferenz wert sei. Wieviel muß man anlegen, damit eine Frau zum erstenmal bereit ist, ihre Bekannten merken zu lassen, daß man sie kaufen kann? hatte sich der Major an jenem Abend gefragt, während er wartete, bis Trudi hereinkam, in einer Aufmachung und mit Schmuck behängt, wie ihre Arbeitskollegen sie noch nie gesehen hatten. »Die anderen Kellnerinnen haben mir Komplimente gemacht, und ich habe begriffen, daß sie mich beneiden«, hatte sie ihm später, nach einem kurzen Abstecher zur Toilette, am Tisch erzählt, »aber ich bin sicher, daß die Männer es mich büßen lassen.« Da er es insgeheim bedauerte, mit Trudi nicht auch in den »Drei Husaren« diniert zu haben, hatte er sich bei dem Sommelier des Sacher nach dem ältesten Cognac im Keller erkundigt. Nachdem ihm die Karte der Weine und Spirituosen vorgelegt worden war, hatte er eine unverschämt teure Flasche entkorken lassen und durch einen Wink bedeutet, daß ein kräftiges Quantum in Trudis Schwenker gegossen werden sollte. Der Sommelier hatte den Auftrag mit ostentativer Kühle ausgeführt, so als sähe er Trudi und den Major zum erstenmal.
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Nach einer kleinen Weile hatte der Major ihn, sei es aus Großmut oder weil er ihn provozieren wollte, aufgefordert, selbst einen Schluck von diesem kostbaren Nektar zu versuchen: Daraufhin hatte der Sommelier für einen Augenblick vergessen, wen er da bedienen mußte, und den Cognac gekostet, mit zusammengedrückten und nach vorn geschobenen Lippen, um das Bouquet und den Nachgeschmack dieser unwiederbringlichen Flasche auch sichtbar erkennen zu lassen. In jener Nacht hatte sich Trudi ihm dann vollkommen hingegeben, wie eine Sklavin, und sämtliche Formen sexuellen Verkehrs akzeptiert, die der Major haben wollte, auch solche, denen sie sich in den ersten Tagen verweigert hatte. Der Major dachte, daß es diese kleine konkrete Zurschaustellung der enormen Größe seines Reichtums gewesen sein mußte, die Trudis letzten Widerstand gebrochen hatte: Das Gefühl, an der mit einem Berg von Gold verbundenen Allmacht teilzuhaben, und sei es auch nur indirekt, kann zu einem unwiderstehlichen Aphrodisiakum werden. »Wie soll ich zu dir sagen»« hatte ihn Trudi nach jenem ersten Vormittag im Zimmer gefragt. »Matthias? Liebling? Major?« »Sag Herr Major Aebi zu mir«, hatte er geantwortet. Während die Kellnerin Trudi an diesem letzten Abend jede Vergewaltigung ihres Körpers hinnahm, die er ihr zuerst in Worten als Wunsch beschrieb, und sich völlig einer Art von Berauschtheit hingab, von der er zu glauben geneigt war, sie könne jedes Gefühl von Schuld oder Ungehörigkeit tilgen, antwortete sie auf seine stets neuen Ansprüche regelmäßig mit »Jawohl, Herr Major Aebi« und überließ ihm ihren Körper, als gehöre er nicht mehr ihr. Als hätte sie ihn vermietet. Nur einmal hatte sie mittendrin zu ihm gesagt: »So tust du mir weh, Herr Major Aebi, aber mach mich trotzdem fertig«, und ihm dadurch einen mit einem kräftigen Schuß Sadismus
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gewürzten Genuß verschafft. Danach hatte sie alles über sich ergehen lassen, manchmal mit einem Stöhnen, von dem man nicht wußte, ob es aus Schmerz oder Lust ausgestoßen wurde. Schwindelig vor Raserei hatte der Major wie wild ihre schwarzbestrumpften Fersen geküßt, sie gebeten, ihm die Knie fest aufs Gesicht zu drücken, war ihr mit der Zunge über die Fußsohlen gefahren. Sie war plötzlich sehr müde geworden. Mit einer letzten lustvollen Aufwallung in dieser mit klingenden Schillingen gekauften Vortäuschung von Allmacht hatte der Major, ehe er selbst in Schlaf fiel, sie brutal aus ihrer zunehmenden Lethargie gerüttelt, sie plötzlich, ohne einen bestimmten Grund, angeschrien: »Los, arbeite, du Hure!« — und dabei war es zwei Uhr nachts. Sie hatte sich wie ein Tier bewegt und schwerfällig auf ihn gewälzt, sich mit der rechten Wange auf seiner Leiste niedergelassen, in der anstößigsten und heruntergekommensten Haltung, die kostbare Unterwäsche, die er sie hatte kaufen lassen, zerknittert und vom Leib gerissen. In seinem schönen Haus in Locarno erinnerte sich nun der Major Aebi voller Erregung, daß es dennoch Trudi gewesen war, die in jener Nacht als letzte gesprochen hatte. »Gute Nacht, Herr Major Aebi, du Schwein, Schwein, Schwein«, hatte sie leise zu ihm gesagt und war ihm dabei mit der Zunge ins Ohr gefahren, und der Ton ihrer Stimme war heiserer denn je aus ihrer Kehle gekommen, wahrend er, völlig erledigt, mit offenem Mund schnarchend, in einen schweren und schmutzigen Schlaf sank. Jetzt, nachdem er wieder in Locarno war, gelang es dem Major Aebi trotz aller Anstrengung nicht, in seiner Phantasie für die unmittelbare Zukunft etwas gleichermaßen Erregendes ausfindig zu machen, irgendein konkretes Ziel anzupeilen. Dabei, sagte er sich, haben mich diese Erregungen alles in allem nicht mehr als hunderttausend Schilling gekostet, einen
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jetzt verschwindenden Bruchteil meines Vermögens! Trotzdem, nicht einmal wenn er sich vorstellte, zehnmal soviel zu bieten, gelang es dem Major Aebi, in Gedanken irgend etwas zu planen, das seinem erotischen Österreichfeldzug gleichgekommen wäre. In den folgenden Tagen versuchte er sich mit seinen alten Gewohnheiten zufriedenzugeben: frühmorgens ein energischer Spaziergang am See entlang, danach die Lektüre der Zeitungen, ein paar Stunden für Geschäftliches oder Korrespondenz, am Spätnachmittag oder Abend irgend etwas Kulturelles, ein Buch, ein Film oder ein Vortrag. Er entdeckte jedoch, daß er immer öfter an sein Leben wie an ein neues Rätsel dachte, zu dem er den Schlüssel noch nicht gefunden hatte. Es wurde ihm nun deutlich, daß die Ehe mit Verbena auf einer Ebene gelebt worden war, die keine engen Freundschaften mit anderen zuließ. Seit er Witwer geworden war, ertappte sich der Major Aebi oft dabei, daß er laut mit sich selbst redete. »Im übrigen, mit wem sollte ich reden;« fragte er sich eines Morgens, als er nach einem ausgiebigen Spaziergang am See entlang auf einer Bank vor dem Landungssteg von Brissago saß und auf das Schiff wartete, das ihn in die Stadt zurückbringen sollte. »Vielleicht mit dem Herrn Hofer; Oder mit dem Professor Silvestri?« Silvestri war sein Philosophielehrer gewesen in den Jahren, in denen die Eltern des Major Aebi (er war das einzige Kind) in Bellinzona gewohnt hatten. Der Professor war jetzt fast achtzig Jahre alt und lebte seit seiner Pensionierung in Locarno. So hatten ihn der Major Aebi und seine Frau hin und wieder zum Mittagessen eingeladen und in zwei Stunden mühsamer Unterhaltung das ganze Repertoire an gemeinsamen, längst verblaßten und von der Zeit kristallisierten Schulerinnerungen erschöpft. Konnte ihm ein alter Philosophielehrer dabei helfen
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zu verstehen, was in dieser neuen, unvorhergesehenen Phase seines Lebens mit ihm vorging? Es war ein unerwartetes Ereignis, das dem Schicksal des Major Aebi erneut eine andere Wendung gab. Wie immer in solchen Fällen hätte der Lauf der Geschehnisse ohnehin dafür gesorgt, daß etwas passierte. Das Rad der Dinge und der Menschen bleibt nie stehen, und daher ist es nicht verwunderlich, daß es so kam. Trotzdem, es hätte auch anders kommen können... Die vier- oder fünfmal, die er und Verbena mit Herrn Hofer und Frau Grunwald außerhalb der Geschäftsstunden zusammengekommen waren, hatte es für den Major Aebi festgestanden, daß zwischen den beiden eine intime Beziehung bestand. Herr Hofer war offiziell Junggeselle und Frau Grunwald geschieden, mit zwei bereits halbwüchsigen Kindern. Und Verbena hatte ihm einmal gesagt, daß die beiden, obwohl sie nicht zusammenwohnten, »miteinander lebten«. Eines Abends bei einer Unterhaltung, als man zufällig auf eventuelle Ferien in der Türkei zu reden gekommen war, hatte Frau Grunwald von einer kurzen Kreuzfahrt im Kaik zwischen Marmans und Antalya erzählt und dabei von »wir« gesprochen, in Anspielung auf sich und Herrn Hofer. Der Major Aebi interessierte sich nicht für den Tratsch über die Beziehungen von Leuten, mit denen er zusammenkam, und da er sich ohne allzu große Phantasie vorstellen konnte, daß Herr Hofer und Frau Grunwald miteinander ins Bett gingen, hatte er sich nie die Mühe gemacht festzustellen, in welchem Verhältnis die beiden effektiv zueinander standen. Offiziell war Hofer der Generaldirektor des Unternehmens und sie die Leiterin des Supermarktes in Konstanz, und das genügte ihm. Ein paar Tage nach seiner Rückkehr aus Wien wurde der Major Aebi bei einem der Telefongespräche, die er täglich mit Herrn Hofer führte, darüber informiert, daß Frau Grunwald
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am folgenden Mittwoch nach Locarno komme und ihn um eine Unterredung bitte. »Wissen Sie, worüber sie mit mir sprechen will?« fragte der Major. »Ja«, erwiderte Herr Hofer. »Wie Ihnen ja bekannt ist, geht der Ragioniere Facchinetti im nächsten September in Pension, und da brauchen wir einen neuen Leiter für die Filiale in Locarno. Frau Grunwald möchte Sie bitten, sie von Konstanz nach Locarno zu versetzen und dort zur Filialleiterin zu ernennen.« »Und wie denken Sie darüber?« fragte der Major mit leichtem Zögern. »Ich denke, da Frau Grunwald es will, wäre es wohl eine gute Wahl. In Konstanz hat sie sich sehr bewährt, und ich glaube, daß sie das in Locarno ebenso tun wird — und das ist eine unserer größten Filialen. Es wird leichter sein, in Konstanz einen Ersatz zu finden.« Die Antwort klang völlig frei von persönlichen und privaten Erwägungen. Der Major Aebi enthielt sich eines Kommentars. Am folgenden Mittwoch, um drei Uhr nachmittags, kam Frau Grunwald, wie vereinbart, in die Villa »auf eine Tasse Kaffee«. Sie war eine Frau um die fünfunddreißig, mittelgroß und vollschlank. Sie hatte ein gutsitzendes lila Kostüm an, dunkle Strümpfe und Schuhe aus dem gleichen glänzenden schwarzen Leder wie ihre Aktentasche. Als Schmuck trug sie eine Perlenkette um den Hals und Perlenohrringe. Sie wirkte wie die lebendige Verkörperung der untadeligen Angestellten. Nachdem sie ihren Kaffee in kleinen Schlucken getrunken hatte, äußerte Frau Grunwald ihre Bitte, und nach ein paar höflichen, überflüssigen Fragen erklärte sich der Major Aebi einverstanden, jedoch unter der Voraussetzung, daß auch Herr Hofer seine Einwilligung dazu gebe.
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»Oh, ich bin sicher, daß Herr Hofer damit einverstanden ist«, sagte Frau Grunwald in einem Ton, der auf eindeutige und direkte Informationen schließen ließ. Und nachdem sie nun auch von dem Major Aebi die erwünschte Zustimmung erhalten hatte, lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, wobei sie diesen kleinen Akt von Ungezwungenheit dadurch kompensierte, daß sie rasch an ihrem Rocksaum zog, um ihre ein wenig entblößten Knie wieder zu bedecken. Diese Geste automatischer Wohlanständigkeit löste beim Major Aebi einen kindlichen Impuls zur Provokation aus — als flüstere ein kleiner, plötzlich in seinem Unterbewußtsein aufgetauchter Junge ihm ein, wie er eine nicht ganz anständige Lust befriedigen könne, nämlich die, durchs Schlüsselloch dabei zuzuschauen, wie sich eine Frau im Bad auszieht. »Aber Locarno ist weiter weg von Zürich als Konstanz«, sagte er und sah Frau Grunwald direkt in die Augen. »Der Herr Hofer wird darüber nicht erfreut sein.« Es war das erste Mal, daß Frau Grunwald vom Major Aebi eine, und sei es auch nur indirekte, Bemerkung über ihr Privatleben hörte. Sie rutschte ein wenig in ihrem Sessel, dann entschied sie, daß sie ihm ebensogut reinen Wein einschenken könne. »Herr Hofer hat beschlossen, sich zu verheiraten«, erklärte sie freimütig. »Mit einem einundzwanzigjährigen Mädchen, das Verkäuferin im Supermarkt war«, fügte sie hinzu und schaute dabei drein, als gäbe sie etwas nicht ganz Schickliches preis. »Herr Hofer und ich haben uns seit vielen Jahren gekannt. Besser eine neue Stadt, um wieder allein zu leben. Und ehrlich gesagt, im Grunde habe ich gar nichts dagegen.« »Geben Sie acht, denn das Alleinleben kann Überraschungen bieten, die man sich nicht vorstellt«, meinte der Major Aebi. Die unterschwellige Herausforderung an das Leben, die in ihren Worten lag, klang ihm wie eine — diesmal nicht kind-
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liche — Aufforderung zum Spiel. Er fing an zu reden und empfand wieder das wunderbare Schwindelgefühl wie damals, als er Trudi die zehntausend Schilling angeboten hatte. Die Worte strömten fast von selbst aus ihm heraus, berauschend, erregend, er hörte sie wie von jemand anderem gesprochen und spürte, daß sie ihm entweder eine indignierte Antwort zuziehen oder die Tür zu einem geheimen Paradies öffnen konnten. Das Leben, das Leben erschien ihm faszinierend unvorhersehbar, bereit, in zwei gegensätzlichen Exzessen zu explodieren, in Situationen, so unerwartet, daß sie phantastisch oder absurd erscheinen konnten... »Wenn man wieder allein lebt, entdeckt man zum Beispiel die Sexualität neu«, fuhr er fort. »Die Möglichkeit, mit jemandem ins Bett zu gehen, mit dem man das nie gemacht hat, neue Empfindungen zu spüren, Irrtümer zu vermeiden, unerwartete Dinge zu tun, die anderen vielleicht schrecklich oder abscheulich vorkommen, die aber eine Lust auslösen, die einem die Besinnung raubt...« Frau Grunwald sah ihn plötzlich mit fasziniertem Staunen an, als hätte sie ein Naturschauspiel vor Augen, aber ein völlig überraschendes, eine Schlange, die plötzlich aus ihrer Starre erwacht war und sich hypnotisch vor ihren Augen wand. »... man entdeckt die wahnsinnige Lust der Übertretung, bis an die Grenzen der eigenen Straflosigkeit: Also jetzt könnte ich zum Beispiel dazu übergehen, Sie zu duzen, ich könnte zu dir sagen: Nimm die Beine etwas auseinander, ja, nimm die Beine etwas auseinander, nicht viel, so wie vorher, nur ein ganz klein wenig, ja, los, probier's, tu, was ich dir sage, damit auch du diese neue Art von Erregung spürst, los! Tu wirklich, was ich dir sage, ich mache keine Witze, probier's! Stell dir vor, es wäre ein Einstellungstest, um zu sehen, wie du auf eine ungewohnte Situation reagierst. Nimm sie leicht, nur ein klein wenig auseinander, öffne die Knie...«
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Frau Grunwald öffnete die Knie. »...ja, genau so, siehst du? Das hätte früher nicht geschehen können, ohne daß andere davon betroffen gewesen wären, das Alleinsein erlaubt das, jetzt sind wir beide allein, wir brauchen auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, wir können tun, was wir wollen, was uns plötzlich reizt, wir können uns auf etwas einlassen, was wir noch nie gemacht haben, uns gehenlassen, ich könnte meine Hand ausstrecken und deine Knie berühren, aber noch will ich nicht, es liegt etwas Faszinierendes und Herrliches im langsamen, aber stetigen Zugehen auf das, was man noch nie gemacht hat, was man noch nie mit jemandem zu machen gewagt hat...« Der Major Aebi redete mit rhythmischer und fast singender Stimme, als ob er zum Priester eines nur ihm allein bekannten Ritus geworden wäre, eines Initiationsritus für das Geschöpf, das vor ihm saß; sein Bewußtsein war von einem Nebel der Betäubung umhüllt, sein Glied steif und schwer, und ihn beherrschte nur noch die Lust, zu übertreten, zu übertreten und andere bei Übertretungen zu beobachten. Frau Grunwald hatte unmerklich die Schwelle zur Übertretung überschritten. »... nimm die Beine noch ein wenig auseinander, Liebes, nimm sie noch ein wenig auseinander...« Frau Grunwald gehorchte, ohne etwas zu sagen. Ihre Lippen hatten sich geöffnet. Trotzdem fühlte sie, wie ihr der Atem stockte. Der Major Aebi schob eine Hand zwischen ihre Knie, kostete mit dem Tastsinn die glatte und feste Oberfläche aus Nylon, fuhr den Schenkel etwas hinauf und drückte ihn. Ihre distinguierte und untadelige Haltung zerbröckelte vor seinen Augen, je fester seine Finger drückten. Das trieb das Gefühl der Betäubung, das der Major empfand, bis an die Grenze des Erträglichen. Er fühlte sich verzehrt vor Begierde. Er wollte noch weiter gehen. Ich werde dich unsägliche Schweinereien
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machen lassen, dachte er. Die Intensität dieser auf eigene und fremde Übertretung gerichteten geistigen Konzentration ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er spürte eine zerstörerische Spannung im Leib. Er drückte fester, noch fester, die Hand wie eine Kralle. Frau Grunwald spürte, wie sich die Fingernägel in ihr Fleisch bohrten, und stöhnte auf. Der Major Aebi drückte noch fester. Frau Grunwald schloß die Augen und bog den Kopf nach hinten. »Ich werde dich unsägliche Schweinereien machen lassen«, flüsterte ihr der Major Aebi mit ganz leiser und entschlossener Stimme ins Ohr. Bei der Kellnerin Trudi hatte er begriffen, daß das Aussprechen der eigenen Gedanken, vor allem wenn es dabei um Handlungen und nie zuvor empfundene Wahrnehmungen ging, die Lust vergrößerte. Sätze oder auch melodramatische Wörter wie beispielsweise »unsäglich« gaben ihm den Eindruck, die eigene innere Welt, die eigene Persönlichkeit auszuweiten. Übertretung und Macht sind Synonyme. Der Major Aebi sah Frau Grunwald an und dachte: »Ich will sie sehen, wie sie mir zuhört, wie sie mir zuhören muß«, und er blickte sie an, während er unerbittlich ihren Schenkel drückte. Doch sie, die Lippen halb geöffnet, die Lider zitternd über die Pupillen gesenkt, brachte es nicht fertig, die Augen offenzuhalten für das, was sie hätte sehen sollen.
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6 »My trade is words« und die ungesunde Neugier — Eine Regel Ingmar Bergmans - Die »fortschreitenden Übertretungen« - Beunruhigung vor dem Spiegel — War der Major Aebi krank ?
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rinnerst du dich, lieber Leser, wie diese Geschichte anfing? »Man schreibt, weil man krank ist!« hatte mein Freund Cesare behauptet: Und es war die unerwartete Wiederholung dieses Satzes durch den Major Aebi, die mein Interesse an diesem mir damals unbekannten Roman weckte, dessen Niederschrift den Major nach eigener Aussage geheilt hatte. Ich dagegen war, auch wenn ich nicht offen darauf bestand, weil es mir insgeheim doch als eine eingeengte und auch ein wenig primitive Motivation erschien, davon überzeugt, daß man schreibe, um Geld zu verdienen. Andererseits: Da ich von Beruf Schriftsteller bin, kann ich seit Jahren nicht umhin, einen konkreten Zusammenhang zwischen dieser Tätigkeit und meinem Lebensunterhalt zu sehen. Bei einer Reise auf die Insel Nantucket habe ich in einem Souvenirladen eine kleine Holzscheibe gefunden, auf dem der Satz stand: »My trade is words« — Mein Geschäft sind die Wörter. Ich weiß nicht, wie sie ausgerechnet unter den Krimskrams jenes Ladens geraten war, aber die Kieselsteine der Erfahrung lassen sich im Geröll jedes Flusses finden. Jetzt halte ich diese Scheibe hier in meinen Händen, und vielleicht hat es irgendeine geheime Bedeutung, daß ich sie als eine Art Briefbeschwerer verwende, damit die Brise, die durchs Fenster hereindringt, die Blätter von Major Aebis Roman nicht auf den Boden weht.
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Als ich an jenem Abend in Locarno beschloß, den Roman des Major Aebi selbst zu veröffentlichen, geschah das, ich verhehle es nicht, vor allem deshalb, weil ich überzeugt war, daß ein großer Verkaufserfolg daraus würde. Warum; kann mich der Leser mit Recht fragen. Nun, ich hatte die Geschichte zu Ende gelesen, wußte also, wie sie ausgeht, und war daher überzeugt, daß ein solches Buch, diese höchst persönlichen Affären, dieser autobiographische Roman mit seinen naiv schamlosen, erotischen Szenen, dessen Protagonist denselben Namen trägt wie der Autor auf dem Umschlag, und nicht zuletzt der Name als solcher, der wegen ebenjener Affären tatsächlich in die Akten der Schweizer Gerichte eingegangen war, eine ungesunde Neugier des Publikums erregen würde. Und die wiederum würde den Verkaufserfolg bestimmen. Ja, lieber Leser, der du das Buch gekauft hast: eine ungesunde Neugier. Auf welches fragwürdige Gefühl stieße man häufiger in der Psychologie des modernen Menschen, der pausenlos von Kommunikationsmitteln bombardiert wird, die, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die Konkurrenz auszuschalten, zu jedem Mittel greifen, das seine Neugier reizen kann? Und ist der Anreiz nicht um so größer, je »ungesünder« der Auslöser ist? Als ich noch recht jung war, galten meine literarischen Vorlieben den Giganten der Weltliteratur, und deswegen verwechselte ich auch manchmal das Gigantische mit Größe: Mir gefielen der Don Quichotte, aber auch Thomas Wolfe, mir gefielen Á la recherche, aber auch Dos Passos. Erst nach und nach veränderte sich mein Geschmack (und ich überlasse anderen die Entscheidung, ob zum Besseren oder zum Schlechteren): Denn besser als die großen Romanciers gefielen mir nun die Erzähler, jene, die in der Lage waren, eine Geschichte zu berichten, indem sie sich als Könner der Struk-
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tur der Erzählung bedienten, die fähig waren, das Interesse des Lesers wachzuhalten, indem sie souverän das Karussell der Gefühle, Personen, Ereignisse in Gang hielten, der immer gleichen Wörter, mit denen sie beschrieben wurden ... »My trade is words.« So begannen mir Somerset Maugham und Joseph Roth zu gefallen, der Scott Fitzgerald des Großen Gatsby und der grandiose J. D. Salinger des For Esmè, with Love and Squalor: Es war die Erzählstruktur, die mich faszinierte. Und unter den vielen Kieselsteinen der Erfahrung, die auch ich, wie jeder von uns, sammelte, war einer, den ich mir im Geiste vor Augen hielt, wenn ich mich ans Schreiben machte, ein Ausspruch von Ingmar Bergman: »Das Publikum will auch unterhalten sein.« Er muß das gesagt haben, nachdem er Das Lächeln einer Sommernacht oder Das siebente Siegel gedreht hatte, ich weiß nicht welchen dieser beiden so unterschiedlichen Filme. Aber ich will auch gar nicht wissen, ob sich die Bemerkung nun auf den einen oder den anderen bezog. Für mich als Schriftsteller besitzt sie Allgemeingültigkeit. Ich erwähne das alles, um zu erklären, aus welcher Grundeinstellung heraus ich beschlossen hatte, das Manuskript des Matthias Aebi zu veröffentlichen. Ich war überzeugt, daß es sich um einen seltenen Fall von qualifizierter Erzählprosa handle, von ungewöhnlicher Struktur und gleichzeitig von starker populärer Attraktivität. Ungesund? Vielleicht, aber deswegen nicht weniger wirksam. Im Gegenteil. In Erinnerung an die Gespräche mit Garboli, mit dem Major Aebi selbst und mit Kollegen aus der Verlagswelt hatte ich mir vorgenommen, die Veröffentlichung des Romans mit einem Vorwort zu versehen, in dem es genau um einige jener grundsätzlichen »Warums« der Literatur gehen sollte. Damit, dachte ich, wurde ich mir auf ehrliche Weise die Hälfte der
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Autorenrechte an einem Buch verdienen, dessen Erfolg so gut wie sicher war. Ich war daher auch bereit, das Thema auszuweiten. Stimmt es vielleicht nicht, daß viele große Autoren weder schreiben, weil sie krank sind, noch um des Geldes willen, sondern weil sie vom Ruhm träumen? Und stimmt es vielleicht nicht, daß wieder andere, meist weniger begabte, schreiben, »um zu zeigen, daß auch sie schreiben können«? Ich fing also an, ein paar Gedanken zum Thema zu Papier zu bringen, ohne ihnen schon eine endgültige Form zu geben: Als ob es sich nur um Notizen handle, auf die ich zurückgreifen würde, wenn der ganze Plan wirklich ausgereift wäre und ich das, was ich sagen wollte, von all dem Unpräzisen und Unfertigen, das meinen ersten Entwürfen eigen ist, gereinigt niederschreiben könnte. Aber ich blieb immer unzufrieden: Die Fotografie dessen, was ich sagen wollte, erschien mir immer unscharf. Unwillkürlich fing ich von neuem an, in dem Roman des Major Aebi zu lesen, und plötzlich stellte ich etwas Überraschendes fest: Je mehr ich wieder davon las, je mehr ich zwischen den Zeilen nach der letzten Bedeutung sowohl des literarischen Werks als auch der realen Existenz, die dahinterstand, suchte, desto mehr entglitt mir diese Bedeutung. Es war, als wolle sich der Sinn dieses geschriebenen und gelebten Lebens, das sich durch Zufall mit dem meinen verflochten hatte, jeder genaueren Untersuchung entziehen. Ich suchte nach einem Splitter von Allgemeingültigkeit in der Geschichte des Matthias Aebi, und je mehr ich mich abmühte, desto mehr war ich gezwungen, mich geschlagen zurückzuziehen. Intellektuell gesehen, mit leeren Händen. Statt dessen begann sich nun bei der erneuten Lektüre des Romans ein zweites Gefühl in mir breitzumachen, ganz besonders bei den Kapiteln, in denen der Autor das beschrieb,
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was er im Schlußwort bei seinem Prozeß, in dem er um FreiSpruch bat, als »fortschreitende Übertretungen« bezeichnet hatte. Es war das zunächst beunruhigende, durch Zuhilfenahme der Logik dann aber akzeptabler werdende Gefühl, die Denkweise des Majors immer besser zu begreifen und daher immer mehr zu teilen. Es kam der Tag, an dem ich den Mut fand, mit einem ungläubigen Schauder vor dem Spiegel laut zu denken, daß ich mich, in gewisser Hinsicht, mit dem Major Aebi identifizieren könne. Die ersten Symptome in dieser Richtung waren mir aufgefallen, als ich konstatierte, daß auch ich einige der erotischen Vorlieben des Matthias Aebi teilte. Vielleicht könntest auch du, lieber Leser, eine solche seltsame Erregung empfunden haben: zum Beispiel, indem du erkannt hast, daß auch du gern eine schöne Unbekannte (oder, besser noch: eine distinguierte Bekannte) dazu brächtest, sich deinen zügellosesten sexuellen Wünschen als Sklavin zu unterwerfen, und zwar nur angesichts einer außergewöhnlichen Geldsumme, die für dich nicht das mindeste Opfer bedeutet. Oder vielleicht bist auch du, so wie ich, zusammengefahren, als du zum erstenmal gelesen hast, wie es den Major danach verlangte, die mit einem billigen schwarzen Strumpf verhüllte Ferse einer Hotelkellnenn zu küssen, sich an sie zu verlieren, sich mit den Lippen daran zu berauschen... Ja, als ich anfing, dieses emotional inzwischen für mich fast phosphoreszierende Manuskript wieder und wieder zu lesen, entdeckte ich jedesmal mehr die geheimen Motive, derentwegen es in meinen Eingeweiden ein so tiefes und beunruhigendes Echo ausgelöst hatte. Und es kam der Tag, an dem ich in Erwägung der literaischen und menschlichen Parabel, die endgültig auf diesen
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Seiten fixiert war wie ein Verdikt, das im Jenseits für immer das Signum und den Sinn des Lebens eines jeden von uns festlegt, begann, mich über die Worte des Majors und über mich selbst zu befragen — und darüber, ob auch ich, wie er, krank sei. Es war ein Spätsommerabend in Rom. Von der Dachterrasse des Hauses aus betrachtete ich selbstvergessen den Himmel über dem Gianicolo, der in der untergehenden Sonne wie durchsichtig geworden war. Schwalben zogen in diesem vergoldeten Blauviolett lautlos große Bogen. Es herrschte eine intensive, lichte Stille. Ich fühlte mein Herz schlagen, und in diesem Augenblick innerer, ängstlicher Einsamkeit erschienen mir meine Zweifel plötzlich wie ein Symptom, ein zwar kleines, aber unmißverständliches Symptom einer obskuren Krankheit, von der ich vielleicht befallen war, ohne daß ich es bis jetzt gemerkt hatte. War der Major Aebi krank gewesen? Und hatte er geschrieben, weil er krank war! Und hatte ihn das Schreiben geheilt? Konnte es sein, fragte ich mich mit dem Zögern dessen, der sich nicht laut eine Antwort zu geben wagt, die er fürchtet, konnte es sein, daß ich selbst diese Geschichte veröffentlichen wollte, um eine Form von Erleichterung zu finden, eine Therapie und eine Kur für eine bisher latente Krankheit, die sich in mir eingenistet hatte? Ich verharrte lange reglos, fast als hoffte ich, daß mir aus diesem Augenblick von Friede und Schönheit, in dem sich der Abend kristallisiert zu haben schien, eine tröstende, beruhigende Antwort käme (»Nein, du bist nicht wie der Major Aebi: Du bist nicht krank«). Doch das Leben verharrt nie unbeweglich. Wir alle rollen weiter, dem Dunkel zu, oder schreiten in der Erinnerung zurück, überzeugt davon, mit der Erinnerung an das Glück die
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Gegenwart und die Zukunft, die uns quälen, wegschieben zu können. Das Abendlicht war erloschen. Ich ging in mein Arbeitszimmer hinunter, zündete eine Lampe an und nahm wieder den Roman des Majors zur Hand.
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7 Frau Grunwald in Locarno — Erotische Energie der Wohlanständigkeit - Ein Katalog von Stellungen - Den Major Aebi erregt die Idee, eine fleißige Studentin zu verderben
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rei Monate nach jenem Nachmittag mit Helena Grunwald hatte sich das, was man als die psychologische, gefühlsmäßige und sinnliche Disposition sowohl des Major Aebi als auch seiner neuen Sexpartnerin bezeichnen könnte, verändert und stand bereits im Begriff, sich ein zweites Mal zu verändern. In diesem Zeitraum war es dem Major Aebi gelungen, Frau Grunwald ein so intensives erotisches Empfinden zu vermitteln, wie sie es nie bei sich vermutet hätte, ja von dessen Existenz sie gar nichts geahnt hatte. Wie Wachs unter den Fingern eines Bildhauers, der dabei ist, eine Figur zu schaffen, von der er erst eine vage Vorstellung hat, und der das Wachs streichelt und biegt, dreht und formt, um den physischen und psychischen Ausdruck des Modells, das sich ihm ständig zu entziehen scheint, endlich festzuhalten, so hatte sich Frau Grunwald immer mehr den Wünschen des Major Aebi gefügt, zuerst mit Staunen, dann in blindem und neugierigem Gehorsam und schließlich in einer glücklichen, befreiten emotionalen Teilnahme. Wie gefiel es ihr zuletzt, sich jedesmal ein Stück weiter zu wagen! Bevor Frau Grunwald gekommen war, hatte der Major Aebi nur sehr selten den Supermarkt von Locarno aufgesucht. Der Ragioniere Facchinetti, der ihn seit über zwanzig Jahren
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leitete, war auch von Verbena für einen der langweiligsten Menschen der Welt gehalten worden, und ihre Kontakte hatten sich auf die halbjährlichen Verwaltungsratssitzungen beschränkt, an denen auch Facchinetti teilnahm. Im übrigen hatte seine Geschäftsführung nie Probleme gemacht, und so waren die Besitzer, obwohl sie in derselben Stadt wohnten, fast nie in den Supermarkt gekommen, der zudem etwas abseits des Zentrums lag. Das Büro des Filialleiters war ein kleiner Raum rechts vom Haupteingang, von der Frischobsttheke durch eine Art Vorzimmer mit Glaswänden getrennt, von dem aus man einen Blick auf die Reihen der Kassiererinnen am Ausgang und die dem Eingang am nächsten gelegenen Produkte haben konnte: die Teigwaren, die Tiefkühlkost und die Toilettenartikel. Im Büro gab es außer dem Schreibtisch einen Tisch mit Glasplatte, zwei schwarze Ledersessel und eine Wand mit metallenen Büroschränken, aus denen man eine Stützplatte für einen Computer herausziehen konnte, an dem jeden Nachmittag eine müde aussehende Halbtagssekretärin vier Stunden lang die Korrespondenz und die anderen lokalen geschäftlichen Dinge erledigte. Die Buchhaltung und die allgemeine Verwaltung wurden direkt von Zürich aus geführt. An der Wand hinter dem Schreibtisch hatte jahrelang als einziger Bildschmuck in der Mitte eine große, schwarzgerahmte Fotografie von Wolfgang Schneider, dem Firmengründer, gehangen. Nun hatte der Ragioniere Facchinetti, in den letzten Monaten seiner Tätigkeit, eine in Größe und Rahmen identische Fotografie der Tochter Verbena daneben gehängt, wobei er sich für die Vergrößerung desselben Negativs bedient hatte wie der Major Aebi für das nach Wien mitgebrachte Foto. Da ihn jedoch die so entstandene Asymmetrie störte, hatte der Ragioniere Facchinetti eine Luftaufnahme des Super-
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markts in Auftrag gegeben und die Bilder nun so angeordnet, daß das Foto des anonymen Gebäudes zwischen den beiden verstorbenen Eigentümern hing. Als der Major Aebi diese Neuerung sah, schrak er unwillkürlich zusammen, sagte aber nichts. Sie scheint den Platz für mein Foto freizuhalten, dachte er beim Anblick der ebenfalls schwarzgerahmten Supermarktansicht. Die drei Bilder erinnerten ihn an die Reihe der Präsidentenporträts der Helvetischen Konföderation, die in einem Korridor des Bundeshauses in Bern hangen, und er fragte sich, ob ein solches Foto einmal das einzige sein würde, was später an ihn erinnere. Mit einem abgeklärten, ernsten und nur für ihn erkennbaren ironischen Lächeln beobachtete ihn Verbena aus dem zweidimensionalen Fenster ihres schwarzen Rahmens. Hinter dem Rücken des Ragioniere Facchinetti zwinkerte ihr der Major Aebi zu. Das Foto von Wolfgang Schneider machte dagegen keinerlei Eindruck auf ihn. In den drei Monaten zwischen der Entscheidung, den Supermarkt Frau Grunwald anzuvertrauen, und der tatsächlichen Geschäftsübergabe hatte der Major Aebi mit Helena Grunwald eine einzigartige Periode kalter und systematischer Erotik erprobt, die ihm einen ebenso systematischen Lustgewinn verschafft hatte, als ob das Vergnügen dann bestünde, sämtliche Seiten eines imaginären Ausschweifungskatalogs in die Praxis umzusetzen und sich dabei mehr um die Vollständigkeit als um die Emotionen zu kümmern. Das äußere Erscheinungsbild der Frau Grunwald war gekennzeichnet von der Normalität. Sie hatte ein ovales Gesicht, volle Wangen, kastanienbraunes, in einem Knoten zusammengefaßtes Haar. Von mittlerer Statur, mit Beinen, deren Fesseln zwar nicht gerade schlank, aber auch nicht plump wirkten, und mit einem sich unter den Jacken ihrer Kostüme (die so etwas wie ihre Uniform waren) deutlich abzeichnenden Busen,
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ließ Frau Grunwald eher aus einem Gesamteindruck als aus Details erkennen, daß sie auf die vierzig zuging. Und es war diese Aura von bürgerlicher Normalität, die der Major Aebi mit seiner erotischen Phantasie wie Wachs zu modellieren begonnen hatte. Was ihn am meisten erregte, ihm eine Art permanenter mentaler Erektion verschaffte — für ihn die notwendige Voraussetzung, um zum physischen Orgasmus zu kommen —, war der, im übrigen richtige, Eindruck, daß Frau Grunwald jedesmal, wenn sie von ihm zu einem neuen Sexspiel verführt wurde, ein schwindelerregendes Gefühl von Verbotenem empfand: von etwas, das zwar nicht vom Gesetz verboten war, doch von der Gesamtheit an Traditionen, Erziehung, Vorurteilen, Heuchelei, Sprichwörtern, Redensarten und gesundem Menschenverstand, kurz von all dem, was das Wesen, den Geist des Bürgertums ausmacht. Die Frau Grunwald, dachte der Major Aebi, wenn er sie zum Beispiel auf dem Sims eines offenen, auf den Garten des Hauses, zur Seite der Weinberge hin gehenden Fensters, wo man sie bei ihrem Tun überraschen konnte, nach hinten beugte und sie mit einem Vibrator bearbeitete, pausenlos, bis zum Orgasmus — die Frau Grunwald bewegt sich, als begehe sie eine Sünde. Er belauerte sie, wie sie die Augen zusammenkniff, und beäugte das Geflecht von Fältchen, das ihm in diesem Moment eine besondere Form anzunehmen schien, er beobachtete das nervöse Klopfen der an den Schenkeln anliegenden Finger, das wiederholte Schlucken, die starke Rötung unterhalb der Ohren... Und dann der Schrei, der ihr entfuhr, ein Schrei, den sie so gut wie möglich zurückzuhalten suchte, der aber schließlich unbezwingbar mit einer solchen gutturalen Gewalt aus ihr herausfuhr, daß sogar das Elsternpaar, das in einem Lorbeerbaum des Gartens nistete, davonflog. Dieser Schrei,
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der zu brüllen schien: Sollen sie mich doch sehen! Sollen sie mir doch zuschauen! Das ist mir völlig egal! egal! egal! — dieser Schrei war für den Major Aebi der konkrete, mit seinen Sinnen wahrgenommene Beweis der Übertretung: Es ging nicht um eine Sünde gegen die katholische Moral, auch wenn sich Frau Grunwald als zufällig und statistisch dem Katholizismus angehörend bezeichnete, es ging um eine Sünde gegen ein symbolisches Bild von bürgerlicher Wohlanständigkeit. Es war, als risse man sich selbst in Stücke und empfände dabei die wilde, hemmungslose Lust eines Orgasmus. Wie gesagt, in den drei Monaten seit ihrer ersten erotischen Begegnung hatte der Major Aebi mit Frau Grunwald einen ganzen Katalog von Stellungen und Situationen des SexualVerkehrs ausprobiert. Doch je größer die Wollust, mit der sich Frau Grunwald an den übertretenden Experimenten, die ihr der Major vorschlug, beteiligte (und in ihr wuchs auch die Freude am Gehorsam, das Gefühl, sich jeder Ausschweifung hingeben zu dürfen, weil andere die Verantwortung dafür trugen), desto mehr nahm für den Major zwangsläufig das Gefühl von sündiger oder sadistischer Übertretung ab, das ihm aus dem keuchenden Atem, der ihrem Orgasmus vorausging, und dem befreienden Schrei, der ihn begleitete, erwuchs. In den ersten Tagen hatten diese übertretenden erotischen Spiele nur in trauter Zweisamkeit stattgefunden. Eines Nachmittags jedoch, nachdem sie, vom Diener Rupert bedient, zusammen zu Mittag gegessen hatten, verlangte der Major von Frau Grunwald, ihm im Garten, wo sie soeben den Kaffee getrunken hatten, sein Glied zu saugen. Ein anderes Mal befahl er ihr, sich zwischen die Zwergpalmen, die die Geleise der Drahtseilbahn zur Wallfahrtskirche Madonna del Sasso flankieren, niederzukauern und zu urinieren, während er, lässig auf einer Bank ausgestreckt, sie genüßlich beobachtete, in der Hoffnung, daß die Ankunft der nächsten Bahn, mit ihren
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Fahrgästen an den Fenstern, Frau Grunwald in einen panischen Zustand von Verlegenheit und Scham versetzen werde. Gleich zu Anfang hatte er von ihr verlangt, nur noch winzige dreieckige schwarze Slips zu tragen, kaum mehr als ein Cache-sexe, oder aber überhaupt keine. Und wenn sie zu ihm käme oder mit ihm ausginge, immer nur schwarze Strümpfe mit Naht aus glänzendem und durchsichtigem Nylon anzuziehen, ja keine Strumpfhosen! Damit er, sobald ihn die Lust ankam, nur die würdevolle Hülle des Rocks zu überwinden brauchte und sich ohne weitere Hindernisse ihrer sofort bedienen konnte — von vorn oder von hinten. Zum Beispiel machte es dem Major einen besonderen Spaß, sich in einen großen Gartensessel mit gerader Lehne zu setzen, Frau Grunwald auf seinen Schoß zu ziehen und sie von hinten aufzuspießen, wobei sein Gesicht völlig unbewegt und indifferent blieb. Wenn jemand käme, könnte der darum herumdrapierte Rock als mögliche, wenn auch bei genauerem Hinsehen wenig glaubwürdige Tarnung dienen. »Man nennt das Liebkosung«, sagte er bei einem der ersten Male leise zu ihr, denn er erinnerte sich, das in einem Buch mit dem Titel Das ABC des Sex gelesen zu haben. Sein Glied steckte völlig reglos in ihrem dicken, pochenden Rektum. Diese Reglosigkeit ließ Frau Grunwald vor Lust und Angst fast die Sinne verlieren, während sie beim Major auf beinahe unerträgliche Weise den Spasmus von Phantasien und mentalen wollüstigen Empfindungen verschärfte, denen er sich, mit vor Konzentration versteinerten Muskeln, in einer Ekstase der Benommenheit hingab. Als er ejakulierte, war es, als ob sein Kopf explodierte. An dem Tag, an dem feststand, daß sie die Nachfolgerin des Ragioniere Facchinetti würde, hatte sich Frau Grunwald ein hübsches Appartement in Ascona gemietet, an einer der ersten Kurven der Straße, die zum Monte Veritá hinaufführt.
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Die Wohnung hatte eine Terrasse mit Blick auf den See. Unterhalb davon befand sich der rückwärtige Garten des etwas tiefer gelegenen Nachbarhauses. Eines Tages besuchte sie der Major. Sie setzten sich in zwei Liegestühle auf die Terrasse. Vor ihnen stand ein Tischchen, auf dem Frau Grunwald eine Karaffe mit Limonade, gegen die Hitze des Tages, und zwei Gläser gestellt hatte. Sie blickten auf den See und tranken Limonade. Plötzlich bemerkte der Major an einem Fenster des Nachbarhauses ein junges Mädchen, sichtlich eine Studentin. Sie saß an einem Schreibtisch, auf dem ein paar Bücher lagen und ein Lexikon, das sie ab und zu konsultierte. Wahrscheinlich war sie mit einer Übersetzung beschäftigt. Sie mochte achtzehn oder zwanzig Jahre alt sein. Im Halbdunkel des Zimmers konnte man nur erkennen, daß ihr Haar dunkelblond und ihr längliches, schmales Gesicht ungeschminkt war. Aber was die Aufmerksamkeit des Majors erregte, war die Tatsache, daß das Mädchen von der Weite eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Frau Verbena hatte. Dem Major Aebi schien es, daß das Tischchen Frau Grunwald daran hindere, die Studentin zu sehen, und er selbst konnte, wenn er sich ein wenig schräg zu dem Fenster des Mädchens setzte, so tun, als habe er ihre Anwesenheit nicht bemerkt. Er zog seine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie sich auf die Nase. »Leg die Beine auf den Tisch, ich möchte dich berühren«, sagte er dann zu Frau Grunwald. Sie war mittlerweile an solche Befehle gewöhnt (ja sie hätte sich gewundert, wenn sie ausgeblieben wären; so beharrlich und unersättlich war der Major in seinen erotischen Spielen geworden, daß sie inzwischen jede Zusammenkunft dazu verwendeten), und sie streckte völlig natürlich die Beine aus, wie es ihr gesagt worden war. Sie hatte nicht bemerkt, daß es jemanden gab, der sie beobachten konnte.
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»Heb den Rock hoch, mach die Beine breit und masturbiere«, sagte wiederum der Major. Mit Befriedigung stellte er fest, daß Frau Grunwald, der er seinen Besuch angekündigt hatte, bereits so gekleidet war, wie er es mochte, ohne daß er erst darum bitten mußte. Durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille warf er einen raschen Blick auf die Studentin: Sie hatte noch nichts bemerkt, schlug weiter im Lexikon nach und notierte sich Wörter auf einem Schreibblock. Auch der Major hob nun die Beine und legte sie auf einen Metallstuhl neben sich, wobei er sich ausrechnete, daß das Mädchen auf diese Weise von Frau Grunwald die untere Hälfte, ihn und was er sich zu tun anschickte aber in Gänze sehen könne. Er war bereits sehr erregt und versuchte es nicht erkennen zu lassen, vor allem seine Stimme unter Kontrolle zu halten, die in solchen Augenblicken der Benommenheit leicht ein wennig gequetscht und zu Falsettönen neigend herauskam. Er wartete zwei oder drei Minuten. Frau Grunwald sollte sich erst in ebensolche Erregung bringen, damit sie nicht zögerte, wenn er von ihr das verlangte, was der Anblick der Studentin seiner Phantasie eingegeben hatte. Inzwischen streichelte er ihre Beine, während sie, die Hand auf ihrer Scham langsam, wie ein kleines, grasendes Kaninchen, in Bewegung, sich schmachtend in den Liegestuhl kuschelte, die Beine höher streckte, den Kopf auf eine Seite legte, die Augen schloß, die Lippen zusammenkniff und die Nasenflügel weitete in der Unregelmäßigkeit ihres Atmens... Der Major öffnete seine Hose. »Nimm ihn in die Hand«, sagte er, »und mach weiter.« Wie eine Schlafwandlerin streckte Frau Grunwald den Arm in die gewünschte Richtung und massierte kräftig seinen Penis. Geschlossene Faust und Vorhaut bildeten so etwas wie eine
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monströse, fleischfarbene Blume gegen den blauen Leinenstoff der Sommerhose des Majors. In ihrem Liegestuhl der Verwirrung eigener Lust hingegeben, erschien ihr die Realität ihres Tuns wie eine magische Phantasie, neu und berauschend. Sie fühlte, wie von dem steifen, dicken Glied des Major Aebi ein elektrisches Gefühl erotischer Spannung auf sie überging, von der Hand zum Arm, zum Gehirn, zum anderen Arm, zur anderen Hand. Frau Grunwald dachte nur, daß es wundervoll sei, mein Gott, ist das erregend, ist das wundervoll, ist das wundervoll, und sie bewegte die beiden Hände unterschiedlich in Rhythmus und Bewegung, mit der Natürlichkeit und Virtuosität einer begabten Pianistin. Sie war völlig besessen von einer inneren Musik, und nur der folgte sie. Auch der Major Aebi ließ sich von einem seiner emotionalen Dämonen fortreißen, doch es war, als habe dieser eine doppelte Natur. Auf der einen Seite trieb ihn die kräftige, zum Kolben gewordene Faust der Frau Grunwald erbarmungslos zu einer raschen, heftigen Ejakulation; auf der anderen wollte sein Gehirn damit den Anblick der Studentin verbinden, wenn sie bemerkte, was hier vor sich ging. Während er die Lippen öffnete, um tief einzuatmen und auch dadurch das Crescendo der Lust zu verlangsamen, zu verlängern, warf der Major Aebi einen erneuten Blick auf das Fenster des Nachbarhauses. Er war froh, daß er die Sonnenbrille trug. Dieser Blick war ein letzter blitzartiger Reflex von außen, so wie man von einem dahinbrausenden Zug aus zwischen einem schwarzen Tunnel und dem nächsten für einen Augenblick die Landschaft sieht, begleitet vom Keuchen der Lokomotive. Die Studentin hatte sie bemerkt. Das mußte gerade erst passiert sein. Sie saß noch mit halboffenem Mund vor Staunen und Verlegenheit da. »Sie weiß nicht, was sie tun soll!« jubelte der Major Aebi innerlich. »Noch nie hat sie etwas Derartiges gesehen!« Wenn
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er sich nicht vorgenommen hätte, sie nicht offen anzusehen, hätte er es jetzt, jede Vorsicht außer acht lassend, vielleicht getan. Aber dann würde sich die Studentin womöglich zu einer entrüsteten Reaktion verpflichtet fühlen, und alles fände sofort ein banales Ende: ein zugeschlagenes Fenster und vielleicht sogar ein Anruf bei der Polizei. So beobachtete er verstohlen und im Schutz der dunklen Brillengläser das Mädchen, wobei er so tat, als befände er sich mit Frau Grunwald völlig allein, und bebend vor Freude an der Perversion weidete er sich an dem wechselnden Gesichtsausdruck des Mädchens. Und dabei sagte er sich immer wieder, daß er es sei, der mit seinem gewagten und obszönen Verhalten dieses Geschöpf verderbe. Auf das Erschrecken folgt das ungläubige Staunen; darauf die Neugier; darauf der Voyeurismus; darauf die Ironie; dann das Akzeptieren der ungewohnten passiven Rolle; dann ein Lächeln der Komplizenschaft und schließlich der Gedanke, eines Tages auch so etwas tun zu können... »Ich habe sie verdorben! Ich habe auch sie verdorben!« dachte der Major Aebi in einem Anfall von Egotismus und Lust, und er ejakulierte hemmungslos. Ein paar Augenblicke später, als sich Frau Grunwald, unbekümmert um alles, was um sie herum vorging, aufbäumte, um ihrerseits zum Orgasmus zu kommen, nahm sich der Major die Sonnenbrille ab und wandte das erschöpfte Gesicht entschlossen dem Fenster zu. Das Mädchen kreuzte seinen Blick und hielt ihm ein paar sehr lange Sekunden stand. Dann brach sie, sich die Hand vor den Mund haltend, in Lachen aus. Auch der Major Aebi lächelte nun. Geräuschlos und ohne daß Frau Grunwald, die nun wie von einem Meeressturm gerüttelt mit geschlossenen Augen dalag, es merkte, bewegte er ein wenig die Hand und winkte der Studentin einen freundschaftlichen Gruß zu.
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8 Gedanken während der Behandlung durch einen afghanischen Masseur — Der Anruf von Gerda Svensen — Der Major Aebi bestellt Trudi her, und der Diener Rupert fliegt auf die Malediven
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er Major Aebi blieb nach den erotischen Sessionen nicht gern lange bei Frau Grunwald. Er hatte bereits die fünfzig überschritten und fühlte sich jedesmal ein wenig erschöpft, wenn er der Sexualität gefrönt hatte. Dann war es ihm am liebsten, sich einen langen Schlaf zu gönnen, ein warmes Bad zu nehmen, sich einer Massage zu unterziehen, etwas Leichtes und Gehaltvolles zu sich zu nehmen und, wenn die Zeit dafür gekommen war, zu Bett zu gehen. Daher konzentrierte der Major Aebi nach den ersten Malen, in denen er dieses Ritual der physischen Erholung den unvorhersehbaren Impulsen der Neuheit geopfert hatte, seine Begegnungen mit Frau Grunwald schließlich auf den frühen Nachmittag, trank vorher nur Mineralwasser und beschloß das Mittagessen mit einem doppelten Espresso mit Sahne. Vor allem irritierte es ihn, wenn er nach einem Abend voll erfindungsreichem und zermürbendem Sex weiterhin mit je mandem das Bett teilen mußte, und daher war er, ohne es ihr zu sagen, sehr froh, daß Frau Grunwald ihm gleich zu Anfang zu verstehen gegeben hatte, daß sie ihrerseits zum Schlafen lieber in ihr gemietetes Appartement zurückkehre (beziehungsweise dort bleibe), als die Nacht bei ihm in der Villa zu verbringen. Die wenigen Male, in denen das doch der Fall gewesen war,
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verfrachtete der Major, nachdem er sich im ehelichen Schlafzimmer, das immer noch so aussah, wie es Verbena zurückgelassen hatte, stundenlang mit ihr herumgewälzt, wie wild in jeder ihrer Körperöffnungen herumgestöbert hatte, Frau Grunwald unter dem Vorwand, daß ihre wahren Beziehungen dem Personal verborgen bleiben sollten, ins Gästezimmer. In Wirklichkeit wollte er nur für den Rest der Nacht allein schlafen. Im übrigen wußten die Angestellten sehr wohl, was sie aus dem Zustand der Decken und Laken am nächsten Morgen zu schließen hatten. Der Tod seiner Frau hatte die Gelegenheiten, bei denen der Major mit irgend jemandem die Gedanken und Überlegungen, die ihm durch den Kopf gingen, diskutieren konnte, fast auf Null reduziert. Trotzdem kam es ihm nicht so vor, als sei er jetzt ein Eigenbrötler, auch wenn er de facto zu einem geworden war. Mit der Zunahme seiner erotischen Treffs nahm er jedoch immer häufiger die Dienste eines afghanischen Masseurs in Anspruch, eines Kriegsflüchtlings; und da der Masseur keine einem Europäer verständliche Sprache richtig beherrschte, ließ er den Major auf der Liege eine Stunde lang mit seinen Gedanken allein, während er sich damit beschäftigte, sämtliche Teile seines Körpers, mit Ausnahme der bereits von Frau Grunwald anderweitig bearbeiteten, durchzuwalken. Die Episode mit der Studentin am Fenster hatte in dem Major Aebi einen völlig neuen Fluß von Überlegungen in Gang gesetzt, und während er sich am nächsten Tag der gewissenhaften Massage des Afghanen überließ, fragte er sich: Wieso habe ich ein besonderes Vergnügen dabei empfunden, mich von dem Mädchen beobachten zu lassen? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Major es für ausgemacht gehalten, daß er ein normaler heterosexueller Bürger sei, seit einiger Zeit zwar auf der Suche nach stärkeren Erregungen, aber alles in allem doch ein Durchschnittsmann, durchschnitt-
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lieh heimgesucht von der Lust auf fortschreitende Übertretungen, so wie er sich das beim großen Teil der anderen Männer auch vorstellte. Wurde das nicht durch den starken Absatz von Pornoheften bestätigt? Durch die Ausbreitung der Prostitution? Durch den Pornotourismus nach Bangkok, von den Zeitschriften so aufreizend für den zulässigen Pornogeschmack der Leser dokumentiert? Und was er seinen neuen Gefährtinnen abverlangte, was war das alles in allem anderes als ein bißchen materialisierte Pornographie in einer normalen Zweierbeziehung? Aber mit der Studentin... Exhibitionist, schloß der Major, während der Afghane ihm mit den Handkanten die Schultern klopfte. Exhibitionist. Vielleicht bin ich auch ein Exhibitionist — na und? Muß eine Form der Perversion, die man erst in etwas vorgerücktem Alter entdeckt, schon als Krankheit definiert werden? Der Major dachte nein, aber er war sich nicht völlig sicher. Als er im Geist noch einmal die visuellen Erinnerungen an jenen Nachmittag wie viele einzelne Photogramme durchging, tauchte, wie auf der Couch des Psychoanalytikers, ein weiteres Detail aus seinem Unterbewußtsein auf: das Gefühl einer Ähnlichkeit mit Verbena, das dieses Mädchen auf den ersten Blick in ihm geweckt hatte. In dieser neuen erotischen Unruhe, die der Entschluß, sich zur Schau zu stellen, in ihm ausgelöst hatte, lag sicher auch eine Komponente, die mit diesem Gefühl zu tun hatte. Übertretung unter Verbenas Augen, wenn auch nur in der Einbildüng, das war etwas, das ihn noch mehr erregte. Dieses späte und unerwartete Aufflammen erotischer Aktivität war das einzig wirklich Neue in der Alltagsexistenz des Major Aebi, und es ist daher natürlich, daß er ihm in den Stunden der Einsamkeit, wenn er am See entlangspazierte oder sich träge den Massagen des Afghanen überließ, mehr Auf-
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merksamkeit widmete als der Sorge für sein vor kurzem erworbenes Vermögen. Ein paar Tage nach der Sache mit der Studentin, als er gerade über den ersten Zweifeln an seiner Normalität brütete, die ihm ebendiese Episode suggeriert hatte, erhielt der Major Aebi einen Anruf. Es war die Stimme einer Frau, die nach Verbena verlangte. »Mit wem spreche ich;« fragte der Major zurück. »Ich bin Gerda Svensen«, erwiderte die Frau. »Frau Aebi und ich haben uns vor ein paar Jahren in Venedig kennengelernt. Ich komme in einer Woche nach Locarno, weil man mich gebeten hat, in der Jury des Filmfestivals mitzuarbeiten, und es würde mich freuen, sie wiederzusehen.« Wie ein Blitz schoß dem Major die Erinnerung an die unverfrorenen Umarmungen und Küsse zweier Frauen hinter dem Sonnenzelt am Lido von Venedig durch den Kopf und an Verbenas unerwarteten Entschluß, hinüberzugehen und sich mit einer von ihnen in ein Gespräch einzulassen. Mit einem Schlag hörte er wieder die Stimme seiner Frau, die ihn fragte: »Würde dir eine menage á trois gefallen?« Und alles, was ihm zu sagen einfiel, wurde von dieser Erinnerung überlagert wie von einem Parfüm, dessen fernem Zauber man nicht widerstehen kann. »Verbena ist nicht da«, sagte der Major. »In welchem Hotel steigen Sie ab?« »Man hat mir ein Zimmer im Grand Hotel reserviert. Tagsüber werde ich mit dem Festival zu tun haben, aber sicher ließe sich eine Möglichkeit finden, einen gemeinsamen Abend zu verbringen.« Der Major, der sich genau bewußt war, daß er nicht die Wahrheit sagte, und der gerade deswegen ein masochistisches Gefühl von Unbehagen und Vergnügen zugleich empfand, ließ ihr nicht die Zeit, weiter nach Verbena zu fragen.
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»Aber warum wohnen Sie nicht bei uns! Wir haben ein wunderschönes Gästezimmer, und es wird hier sicher angenehmer sein als im Hotel«, sagte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, gab er ihr die Adresse. Auch Gerda Svensen stellte keine Fragen. Wie viele Libertins, gleich, ob homosexuell oder nicht, war sie es gewohnt, die Präliminarien der Liebesabenteuer hinter sich zu bringen, indem sie so tat, als schließe sie eventuelle Hindernisse von vornherein aus. Als sich die Möglichkeit eines Treffens abzeichnete, dachte sie, daß sie sich jetzt um nichts anderes zu kümmern habe als um die erste Phase, nämlich zusammenzukommen. Wie ein Jäger bei der Treibjagd: sich dem Ziel auf Schußweite nähern und erst dann danach fragen, ob die Beute überhaupt begehrenswert und disponibel sei. Das Fräulein Svensen hatte noch nicht jene Lebensphase erreicht, in der jeder von uns bestrebt ist, eigene, in irgendwelcher Hinsicht fragwürdige Verhaltensweisen durch Theorien zu veredeln. Sie handelte aus Instinkt, und aus Instinkt sagte sie auch dieses Mal ja. Sie erinnerte sich mit unbefriedigter Lust an die flüchtige Begegnung am Lido von Venedig und an den verwirrenden Ausdruck der Frau, die sich ihr vorgestellt hatte. Es kam ihr gar nicht der Gedanke, daß es diese Frau, deren provokanten Ausdruck unausgelebter Sinnlichkeit sie sich vor dem Anruf wieder vor Augen geführt hatte, womöglich nicht mehr geben könnte. Nach Beendigung des Telefonats begann der Major Aebi sämtliche Möglichkeiten durchzugehen, die der bevorstehende Besuch der Schauspielerin eröffnen könnte. In Augenblicken wie diesem spaltete sich das Denken des Majors: Auf der einen Seite fingen die Vorbereitungen, die Erfindungen, die Pläne für eine neue Folge seines Abstiegs in die Libertinage einander zu jagen an, wie rotierende Punkte, überwacht von einem men-
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talen Radargerät, das ihre organisatorische Folge ordnete; auf der anderen standen die zufriedenen und unbeschwerten Überlegungen dessen, der sich jedesmal neu als fähigen Protagonisten immer gewagterer sexueller Unternehmungen entdeckte. Intuitiv hatte der Major daran gedacht, der Svensen Frau Grunwald als unmittelbar verfügbare erotische Spielgefährtin zu offerieren. Da er sie inzwischen darauf abgerichtet hatte, ihm zu gehorchen (»jawohl, abgerichtet«, sagte er mit einem Lächeln zu sich selbst, als dächte er an einen Hund), wußte der Major, daß von ihrer Seite keine Einwände zu erwarten waren. Im Gegenteil. Jene Explosion von Sinnlichkeit, die Frau Grunwald mit sich gerissen hatte, würde ihr sicherlich auch selbständige Initiativen und Verhaltensweisen eingeben, von denen sich der Major Aebi unvorhergesehene Freuden versprach. Doch wahrend er weiter darüber phantasierte, was aus den Tagen mit diesem Gast im Haus alles werden könnte, kam dem Major der Gedanke, daß sich die Skala der aufregenden Situationen womöglich noch vergrößern ließe, wenn er den beiden Frauen eine weitere Gespielin beigäbe, jemanden wie die Kellnerin Trudi... Ja, warum eigentlich nicht die Trudi? Vergnügt, fast zufällig auf diese Möglichkeit gekommen zu sein, verlor der Major keine Zeit, sondern rief noch am selben Abend Trudi an und bat sie, für etwa zehn Tage nach Locarno zu kommen, »zu mir nach Hause«, wie er präzisierte, »zu den gleichen Bedingungen wie in Wien«. Trudi nahm die Einladung sofort an, sagte allerdings, sie müsse am nächsten Tag erst noch im Sacher fragen, glaube aber nicht, daß es Schwierigkeiten gebe. »Es sind noch zwei andere Freundinnen von mir da«, sagte der Major, der sichergehen wollte. »Wirst du auch mit denen nett sein?« Trudi lachte. »Was heißt das in Schweizer Franken?«
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»Also komm, sobald du kannst. Laß mich wissen, wann du ankommst, und bring deine Arbeitskluft mit: Ich glaube, die werden wir brauchen können«, sagte der Major mit schutkischem Vergnügen, und er kam sich gewandt und amüsant vor. Am liebsten hatte er Trudi gleich jetzt dagehabt, niedergekauert neben dem Sofa, von dem aus er telefonierte. Er hatte eine Erektion. Er lächelte, als er sein sperriges Glied in der Hose spürte. Trudi traf drei Tage vor Gerda Svensen ein. Nachdem er sicher war, daß sie kommen wurde, hatte der Major Aebi den Diener Rupert gerufen und ihm gesagt, daß in der nächsten Woche zwei Gäste ins Haus kämen, eine Schauspielerin und ihr Mädchen. Wenn er wolle, könne er einen Monat Urlaub nehmen, das Mädchen würde dann in seinem Zimmer schlafen. Es war ein etwas durchsichtiger Vorwand, um Rupert in diesen Tagen nicht im Haus zu haben, und der Diener begriff sofort, daß der Major ihn einfach lossein wollte. Er teilte ihm mit, daß er auch schon am nächsten Tag abreisen könne, und nachdem er das Einverständnis des Majors dazu erhalten hatte, ging er sofort zur Köchin, um das Ereignis zu kommentieren. »Er bringt dir zwei Huren ins Haus«, sagte er, bemüht, so etwas wie sittliche Entrüstung zu zeigen, während er nur Neid empfand. Dann kalkulierte er, daß er mit dem Extraferiengeld auch für zehn Tage auf die Malediven fliegen könnte. Er hatte an der Hauswand der Pizzena vor dem Bahnhof ein Plakat gesehen, auf dem sie angepriesen wurden, mit einem nackten, von goldenem Sand überstäubten Mädchen am Meeresstrand. Abends kamen immer die ausländischen Prostituierten, aus Nigeria oder aus Osteuropa, wie in einer Prozession dorthin, um den Zuhältern, die im Nachtclub neben der Pizzeria auf sie warteten, ihren Verdienst abzuliefern. Rupert fand es schön,
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an einem der Tischchen im Freien ein Bier zu trinken und die Prostituierten vorbeidefilieren zu sehen. Es freute ihn, das Schauspiel gratis genießen zu können, als handle es sich dabei um eine Art Striptease. Lüstern betrachtete er die baumwollenen Miniröcke, die beim Gehen an den Hinterbacken klebten, so daß sich die Schlüpfer abzeichneten. Er betrachtete die roten, silikongeschwellten Lippen der Frauen und stellte sich vor, sein Glied würde von kräftigen und weichen Schleimhäuten gepreßt. Zwischen einem Mädchen und dem nächsten schlürfte er an seinem Bier, und wenn sich seinem Blick gerade einmal kein Ziel bot, richtete er ihn mit Vorliebe auf das Plakat von den Malediven. Es waren die Worte des Majors gewesen, die ihm dieses Plakat wieder in Erinnerung gerufen hatten. »Amüsier du dich mit den beiden Huren, und ich werde schon einen Weg finden, mich auch zu amüsieren«, sagte er noch zu der Köchin und eröffnete ihr gleichzeitig, daß er am nächsten Sonntag mit einer Chartermaschine auf die Malediven zu fliegen gedenke. Nachdem sie vom Diener Rupert gehört hatte, worauf sie sich gefaßt machen mußte, wunderte sich die Köchin drei Tage später nicht über Trudis Benehmen. Trudi war am Nachmittag aus Wien eingetroffen, und nachdem sie sich in Ruperts Zimmer eingerichtet hatte, kam sie, aufgemacht, als wäre sie im Begriff, ihren Dienst im Sacher anzutreten, heraus und präsentierte sich, unter Umgehung der Küche, direkt dem Major im Salon. Selbst ohne horchen zu wollen, hätte die Köchin unzweideutige Geräusche und Laute aus dem Salon vernommen, in dem sich zu zeigen sie sich freilich hütete. Trudi kam eine Stunde später zu ihr in die Küche, erhitzt und ein wenig in Unordnung, aber ganz in ihrem Element. Sie sprach nur Deutsch und die Köchin nur Tessiner Dialekt. Nach ein paar mißglückten Verständigungsversuchen richtete
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Trudi, ganz ohne zu reden, ein Tablett mit zwei Teetassen, Keksen und zwei Stücken Kuchen her und ging wieder hinaus. Aus der Anzahl der Tassen schloß die Köchin korrekt auf die hierarchische und gesellschaftliche Stellung der Neuangekommenen. Und als sie Trudi beim Verlassen der Küche nachschaute, bemerkte sie auch, daß eine lange Laufmasche den schwarzen Strumpf von der Ferse bis unter den Kittel durchzog, mit einem brutalen Riß quer über die Wade.
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9 Literarische Theorien des Major Aebi — Der Schriftsteller und seine »Wahrheit« - Professor Silvestri — Eine Episode aus der Jugend des Major Aebi und ihre Konsequenzen
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ch bin sicher, daß das, was ich geschrieben habe, ein Verkaufserfolg würde, wenn man es veröffentlichte«, hatte Matthias Aebi bei unserer ersten und zugleich letzten Begegnung zu mir gesagt, als er sich anschickte, mir das Manuskript zu geben, damit ich es läse. »Aber ich denke, es müßte anonym oder unter einem falschen Namen zirkulieren, vielleicht unter einem Pseudonym, das vermuten ließe, es handle sich um den Erstlingsroman eines Autors oder einer Autorin.« Die These des Majors war, daß das Publikum von heute großen Wert auf die »Wahrheit« der Figur des Autors lege und sie gern mit der Freiheit und dem Reichtum an Einbildungskraft ausstatte, die dem Durchschnittsleser in seinem Alltag normalerweise versagt bleiben. Sei nicht, führte der Major an, Dino Buzzati von seinen Journalistenkollegen »Cretinetti« genannt worden, weil es ihnen unfaßbar erschien, daß ein so begabter Schriftsteller bei der »Domenica del Corriere« arbeitete wie sie? Mich als Schriftsteller machte die Tatsache neugierig, daß ein Mensch wie der Major Aebi, dem in seinem eigenen Leben offensichtlich jede Frage der Literatur fernstand, so eigentümliche und festgelegte Ansichten über eine Welt hatte, die ich genau zu kennen glaubte: den Literaturbetrieb. Wir alle, die wir damit zu tun haben, erklären es für ausgemacht, daß es kein
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sicheres Rezept für den Erfolg gebe (wie viele Illusionen und wie viele Desillusionen umgeben diesen Phönix in der Literatur!), und daher drängte ich ihn, mir seine Gedanken dazu näher zu erläutern. »Nehmen wir einen durchschnittlichen Leser, der seine dreißig oder vierzig Franken für einen Roman bezahlt hat, von dem er hat reden hören. Und nehmen wir an, daß das Thema des Buches nicht Science-fiction oder die Antike oder irgendein anderes eindeutig seiner unmittelbaren Erfahrung nicht zugängliches Sujet ist. Gehen wir vielmehr davon aus, daß die erzählten Begebenheiten wie eine Geschichte von heute erscheinnen, die der Autor vielleicht sogar selbst erlebt hat, die eine Wurzel, einen Stempel von Wahrheit besitzt: Der Leser will sich seinerseits vorstellen können, daß der Autor genau so ist, wie er sich einen Autor vorstellt, und er erwartet, daß die Beziehung zwischen dem Autor und der Geschichte und zwisehen dem Autor und ihm, dem Leser, nicht falsch oder widersprüchlich wirkt... Kurz, wenn der Autor vorgibt, ihm eine >wahre Geschichte< zu erzählen, muß auch der Autor >wahr< sein: Autor und Wahrheit müssen Synonyme sein. Was für einen besseren Autor gäbe es also als einen Anonymus oder einen Schriftsteller, der erst anfängt und von dem man wenig oder nichts weiß, oder aber einen, der bereits tot ist und den sich der Leser vorstellen kann, wie er will; Glauben Sie denn, daß die Histoire d'O genauso erfolgreich gewesen wäre, wenn sie einen Verfasser mit Vor- und Nachnamen gehabt hätte? Und meinen Sie nicht, daß damit auch der Erfolg umfangreicherer Biographien von weniger bedeutenden Leuten des zeitgenössischen Lebens zusammenhängt?« Auch wenn mich die These des Majors nicht völlig überzeugte, so regte sie doch zu interessanten Betrachtungen an, vor allem jemanden wie mich, der sich seit jeher mit den zahllosen »Warums« der Literatur beschäftigt hat: Warum schreibt man?
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Warum wird ein Manuskript von einem Verleger angenommen? Warum werden von einem Buch wenige und von einem anderen viele Exemplare verkauft ? Warum setzt sich ein Autor nach einem ersten Erfolg oder einem ersten Mißerfolg erneut dem leeren Blatt aus?... Ich hatte ein seltenes Exemplar dieser Fauna vor mir: Einer, der nicht Schriftsteller war, sich vielmehr bisher ganz anderen Interessen und Beschäftigungen gewidmet hatte, hatte seinen ersten Roman geschrieben und gab jetzt eine eigentümliche Theorie über das literarische Gewerbe von sich... Ich war vor allem auf den Teil seiner Theorie neugierig, der, wenn man es so nennen kann, die »Wahrheit« eines Autors betraf. »Ich möchte damit auch sagen, daß sich der Leser eines Romans vorstellen will, er habe ein genuines Produkt erworben, das Werk eines >wahren< Schriftstellers, und keines von irgend jemandem, der eigentlich nicht an seine schriftstellerischen Fähigkeiten glaubt, da er den größten Teil seiner Zeit in einem anderen Beruf zubringt: als Journalist, Psychologe, Arzt oder Lehrer«, erwiderte der Major auf meine Bitte nach Erklärungen. »Der Romanautor, der ein Buch mit Vor- und Nachnamen zeichnet, ist gehalten, auch im eigenen Alltagsleben Schriftsteller zu sein, der Leser muß indirekt erfahren, daß der Autor vom Romanschreiben lebt und somit Romane schreibt, um leben zu können; vielleicht hungert er, aber er ist unfähig, etwas anderes zu tun, als Romane zu schreiben. Wenn ich Verleger wäre, so wäre ich zum Beispiel darauf bedacht, in den Kurzbiographien der Autoren auf dem Schutzumschlag nur das Allernötigste von ihrem Leben zu erwähnen.« Ungefähr zu diesem Zeitpunkt des Abends war es gewesen, daß mein Gesprächspartner, immer noch angestachelt von meinen Fragen, die Antwort gemurmelt hatte, die wie
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ein Stromstoß in mein Nervensystem gedrungen war: »Man schreibt, weil man krank ist.« Und ich, der ich es ein Jahr später noch nicht einmal fertigbrachte, die Einleitung zu seinem Buch zu schreiben... Ich fing an zu glauben, daß ich vielleich selbst krank und es mir nur noch nicht gelungen sei, die Arznei ausfindig zu machen, die mich heilen könnte. Wie ihr seht, war ich dabei, fast ohne es zu merken, in die Denkweise des Majors und meines Freundes Garboli zu verfallen. Denn wenn die Dinge so lägen, wie ich behauptet hatte, wäre es dann nicht normal gewesen, die Feder zu nehmen und zu schreiben, für Geld zu schreiben, soundso viel pro Seite, soundso viele Seiten pro Tag und so weiter! Ich versuchte, Vergleiche mit Büchern anzustellen, die ich früher geschrieben hatte — ein Manneepos, einen historischen Roman aus der Welt der Hethiter -, und ich fragte mich: Warum den Major Aebi und seine Geschichte nicht wie irgendein beliebiges Thema behandeln, das, mit Geschick präsentiert, ein Bestseller werden konnte? Ich will mich nicht allzulang damit aufhalten, lieber Leser, der du deine dreißig oder vierzig Franken hingeblättert hast und daher mit Recht verlangen kannst, daß man dir deine Zeit nicht stiehlt. Außerdem weiß ich ja, wie es ausging. Ich kam jedenfalls zu der Überzeugung, daß, wenn der Major Aebi krank gewesen war und durch das Schreiben »geheilt wurde«, auch ich von einer ähnlichen Krankheit wie der seinen befallen sein und mich daher dem Schreiben widmen mußte, um gehellt zu werden. Ich hatte mir eine dicke Mappe mit Zeitungsausschnitten über den Prozeß beschafft, in dem der Major verurteilt worden war, aber ich merkte, daß mir dieses Material, zusätzlich zum Manuskript des Romans, nicht genügte. Ich mußte mehr über den Major erfahren, ihn besser kennenlernen.
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(Um mich selbst besser kennenzulernen; Eine lästige Frage, die mir immer wieder in den Sinn kam.) Daher faßte ich einen Entschluß und schwor mir, ihn um jeden Preis auszuführen: Ich wollte die Männer und Frauen aufsuchen, die mit dem Major Aebi im Jahr nach dem Tod seiner Frau Kontakt gehabt hatten, und aus ihren Zeugnissen soviel wie möglich über die Psyche und das Verhalten des Majors in Erfahrung bringen. In gewisser Hinsicht würde ich dem Major erneut eine Art Prozeß machen. Und diesmal wäre ich der Richter, der danach den Text eines neuen Urteils abfaßte. Ich holte ziemlich weit aus und fing mit dem Professor Silvestri an. Er war, wie ihr euch vielleicht erinnert, der Philosophielehrer von Matthias Aebi am Gymnasium gewesen, und der Major und seine Frau hatten ihn, wie aus dem Roman zu erfahren, hin und wieder zum Essen eingeladen. Im Manuskript war er vom Autor mit wenigen Worten als ein alter Pensionär abgetan worden, mit dem man höchstens über weit zurückliegende und belanglose Schulerinnerungen plaudern konnte, aber mit dem über die einfachen und schreckliehen Fragen des Lebens und des Todes zu diskutieren, wie es der Philosophie eigentlich obläge, sich nicht lohnte. Ich dachte, daß der Major bei dem Professor Silvestn womöglich Fragen dieser Art angeschnitten hatte, aber von den Antworten — vielleicht weil sie nicht mit den verblendenden Neuheiten seines Lebens in Einklang standen oder vielmehr Kritik an ihnen übten — enttäuscht war und daher, nachdem er sich nach dem Tod seiner Frau auf den hypnotisierenden Weg der »fortschreitenden Übertretungen« begeben hatte, keinen Wert mehr auf diesen achtzigjährigen Mahner legte, der ihn an eine ruhige, vielleicht scheinheilige, jedenfalls aber von »Übertretungen« freie, altmodisch bürgerliche Lebensweise erinnern mußte, an die der Schweiz seines Vaters, des Vaters von Verbena, des Ragioniere Facchinetti...
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Professor Silvestn lebte in einem Häuschen zwischen Locarno und Tenero, unweit der Stelle, wo sich die Maggia zwisehen zwei Pappelreihen und grünem Schilfdickicht in den See ergießt. Ich hatte ihn über das Telefonbuch ausfindig gemacht und mich ihm als ein Freund des Majors vorgestellt, den der Verstorbene mit einer delikaten testamentarischen Aufgabe betraut habe. Er empfing mich in einem kleinen Garten, der auf einer Seite von einem Mäuerchen aus Bruchsteinen und auf der zum See hin liegenden von einem Eisengeländer begrenzt war, von dem aus sechs Steinstufen in einen kleinen Nutzgarten mit rechteckigen Beeten und Obstbäumen (Apfel und Pflaumen) hinunterführten. Das Ganze wirkte wie die Quintessenz helvetischer ländlicher Geordnetheit. »Ich hoffe, daß Sie nicht noch weitere ungesunde Neugier wecken wollen«, sagte der Professor zu mir, nachdem ich ihm erklärt hatte, weshalb ich zu ihm gekommen sei. Und erst nach langem Zögern war er schließlich, kopfschüttelnd und mit zusammengepreßten Lippen, bereit, das Gespräch fortzusetzen. Er litt an einem leichten Parkinson und versuchte das Zittern der Hände durch das Spielen mit einem Bleistift zu verbergen. »Sie müssen verstehen, daß es für alle, die die Aebis kannten, eine widerliche und schockierende Geschichte war«, sagte er. »Niemand hätte je gedacht, daß sich ein Mensch wie der Major so benehmen könnte und sich danach beim Prozeß auch noch so verteidigen würde, wie er es getan hat.« Ich fragte ihn, ob der Major ihm jemals etwas anvertraut habe, das, nach allem, was vorgefallen war, für die Nachwelt in irgendeiner Weise über dessen psychologische Impulse Aufschluß geben könnte. Auch ich sei auf der Suche nach einer »Wahrheit«, die sich mir jedoch entziehe.
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»Natürlich habe ich mir in den Tagen des Prozesses selbst diese Frage gestellt«, sagte er mit erneutem Kopfschütteln, wie um zu demonstrieren, an welch befremdliche und abstoßende Begebenheit er sich erinnere. »Sehen Sie, ich kannte die Eltern von Matthias sehr gut. Die Familie seines Vaters stammte aus dem Oberen Engadin, seine Mutter kam aus Bellinzona. Bei ihnen zu Hause herrschte kein Luxus, aber es waren auch keine armen Leute. Matthias ist gut erzogen worden, sicherlich mit Strenge, aber nicht ohne Liebe. Daher hat mich besonders betroffen gemacht, was er beim Prozeß über seine Eltern geäußert hat.« Ich konnte mich nicht erinnern, etwas darüber in den Zeitungsberichten gelesen zu haben, und sagte es ihm. »Es war, als der Gerichtspräsident am Ende der Verhandlung, ehe er ihm das Schlußwort erteilte, sagte, er wolle ihm noch ein paar Fragen stellen; und er fragte ihn, ob er denn nie an die strafrechtlichen Folgen seiner Taten gedacht habe und an den Schaden, den er seinen Opfern zufügte«, erklärte der Professor. »Aebi antwortete, daß er, um dem Gericht sein Handeln begreiflich zu machen, auf eine Episode aus seiner Jugend zu sprechen kommen müsse. Er sei der Sohn rückschrittlicher, bigotter und nach jedem modernen Maßstab geistig zurückgebliebener oder sogar schwachsinniger Eltern. Die Episode, auf die er sich bezog, hatte sich ereignet, als er zwölf oder dreizehn war. Die Mutter hatte ihn eines Tages dabei überrascht, wie er sich vor einer pornographischen Postkarte, dem Foto aus einem Pariser Bordell zu Anfang des Jahrhunderts, selbst befriedigte. Die Mutter hatte die Postkarte zerrissen und ihm gesagt, wenn er das noch einmal tue, würde er blind.« Professor Silvestri machte eine lange Pause, als suche er sorgfältig nach Worten, die nicht verrieten, was er dachte. »Der Major sagte, er habe zwar schon damals zu wissen geglaubt, daß das nicht stimmen könne, denn ein Freund von
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ihm, der seit Jahren onanierte und dabei pornographische Fotos betrachtete, habe vorzüglich gesehen. Aber die mütterliche Autorität, die sich dieses Wissen anmaßte, und die panische Angst vor der Erblindung als Strafe für den Ungehorsam seien für seine damalige psychische Entwicklungsstufe zu stark gewesen. Mit dieser Szene und der ebenso abgeschmackten wie verlogenen Drohung habe ihm, behauptete er, seine Mutter in den Jahren der Pubertät und darüber hinaus jede Entwicklung zu einer normalen, gesunden Sexualität verbaut. Schließlich schämte er sich nicht, im Gerichtssaal, vor dem Publikum und den Geschworenen, zu erzählen, daß er seit jenem Tag nur ejakulieren könne, wenn er bei dem Akt Bordellbilder assoziiere und sich vorstelle, das mütterliche Gebot zu übertreten. An jenem Tag, sagte er, sei in ihm die Faszination der Übertretung aufgekeimt, und erst nach dem Tod seiner Frau habe er begriffen, daß er sich deswegen nicht mehr schuldig fühlen, nicht mehr rechtfertigen müsse. Er müsse es nur erklären.« Ich, der ich das Manuskript gelesen hatte, brachte die von Professor Silvestn erzählte Episode sofort mit einer früheren, sehr bezeichnenden in Zusammenhang, die der Major, in seinen Erinnerungen forschend, aufgeschrieben hatte. Doch ich wollte meinen Gesprächspartner nicht unterbrechen, der von all dem, an das er sich selbst erinnerte, innerlich aufgewühlt und erregt schien. »Sie haben mir erzählt, daß Sie die Berichte über den Prozeß gesammelt hätten«, fuhr er schließlich fort. »Ich weiß nicht, ob die Journalisten gewagt haben, das zu veröffentlichen, was der Major im Gerichtssaal gesagt hat: Er behauptete, er habe jahrelang nur zum Orgasmus kommen können, wenn er ein Foto seiner Mutter angesehen und sie sich als Prostituierte in einem Bordell zu Beginn des Jahrhunderts vorgestellt habe. Und nach dem Tod seiner Frau hätten ihm diese Phantasien irgendwann einmal nicht mehr genügt.«
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Wie in einem Spiegelkabinett wurde das Bild des Majors zurückgeworfen: jenes, das Professor Silvestn beschrieb, jenes, das ich mir bei der Begegnung mit dem Major selbst gemacht hatte, jenes, das so brutal geständig aus seinem Manuskript hervorging, und schließlich auch noch jenes, das von außen in den Prozeßberichten festgelegt wurde. Die Umrisse deckten sich nicht, aber in jedem von ihnen war ein gemeinsamer Kern. Ich spürte, daß die dunkle Anziehungskraft, die die Geschichte des Major Aebi auf mich ausübte, genau in diesem Kern lag und daß ich den durchdringen oder in mich aufnehmen müsse, um die Einleitung zu einem Buch schreiben zu können, die ansonsten lediglich ein soundsovielter Beitrag zur sexuellen Pathologie wäre. Was für eine Beziehung bestand zwischen dem Anschauen und Sich-anschauen-Lassen im Augenblick der verbotenen Lust, fragte ich mich. Doch ich mußte die Suche nach einer Antwort zurückstellen: Professor Silvestn war jetzt wie jemand, der eine Last loswerden mußte, die er lange in seiner Brust vergraben hatte. Er wollte mir demonstrieren, welchem Prozeß verwerflicher Mutation der Major Aebi in seinen Augen erlegen war, aber er machte den Eindruck, als gelinge es ihm nur mit Mühe, ein Beispiel zu finden, das nicht unsittlich war und das er mir daher erzählen konnte. »Nach seiner Freilassung traf ich ihn zufällig eines Tages auf einem kleinen Platz im Zentrum, der Piazzetta delle Corporazioni. Er schlug mir vor, ein Bier mit ihm zu trinken, an einem der Cafe-Tischchen, und in meiner Verblüffung gelang es mir nicht, abzulehnen, wie ich es vielleicht hätte tun sollen. Es war mir peinlich, mich ihm gegenüber so zu benehmen, als ob nichts geschehen wäre, aber ich war nicht fähig, es ihm zu sagen. So saßen wir vielleicht eine Viertelstunde beisammen... Und wissen Sie, worüber er die ganze Zeit mit mir gesprochen
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hat? Über die Tatsache, daß es in den Tessiner Buchhandlung gen nicht einmal eine Geschichte des Kantons Tessin gibt. Es gebe Broschüren für Touristen, Beschreibungen der NaturSchönheiten, gastronomische Hinweise, aber Geschichte ... nichts! >Das kommt daher, daß wir ein Land ohne Helden sind<, sagte er. >Sehen Sie sich doch nur die Straßennamen hier an: Via delle Scuole, Via della Posta, Piazza Grande, sogar Via delle Aziende... Wir haben keine Helden, Wissenschaftler, Künstler, nach denen wir sie benennen könnten !< Und es hatte den Anschein, als sehe er es als eine persönliche Beleidigung an, von einem Schwurgericht ohne Helden und ohne Geschichte verurteilt worden zu sein! Das, was er getan hatte, schien er völlig vergessen zu haben!« Der Professor schwieg, um über die ihm unerklärliche Veränderung eines Menschen nachzugrübeln. »Die Person, die beim Prozeß am meisten zu bereuen schien, was vorgefallen war, war Frau Grunwald«, berichtete er schließlich weiter. »Haben Sie mit ihr gesprochen? Ich weiß nicht, ob es je möglich ist, in das Geheimnis einer Seele vorzudringen, und der Major Aebi schien mir wie versteinert in seiner Absonderung von der menschlichen Gemeinschaft, zumindest soweit sie ihm im Gerichtssaal und draußen gegenüberstand. Aber vielleicht kann die Frau Grunwald besser als jeder andere für Sie rekonstruieren, was den Major Aebi zu einem Kriminellen gemacht hat, der sich keinen Deut um die elementarsten Regeln einer zivilisierten Gesellschaft scherte. Ich hatte den Eindruck, als sei sie durch diesen Sturz in die Niedertracht wachgerüttelt worden, auch wenn sie seine Komplizin war. Es sei denn, es handelte sich um eine Inszenierung, um die Geschworenen milde zu stimmen. Wenn es darum geht, sich für die eigenen Handlungen zu verantworten, gibt es kein menschliches Wesen, das bereit wäre, sich in aller Wahrheit darzustellen.«
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Das war das Vorletzte, was ich ihn sagen hörte. »Die Wahrheit ist zu ironisch für einen Bürger«, fügte er noch hinzu, als er sich, nachdem er aufgestanden war, von mir verabschiedete.
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Gerda Svensen wundert sich über den Empfang — Ein Aperitif im Salon - Frau Grunwald begleitet Gerda zum Händewaschen — Rollenverteilung bei den erotischen Spielen
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on der Woche, die Gerda Svensen in seinem Haus verbrachte, erinnerte sich der Major Aebi unter emotionalen Gesichtspunkten an eine klare Gliederung in zwei Tempi: die ersten sechsunddreißig Stunden und die weiteren fünf Tage. Am Abend ihrer Ankunft wurde die Schauspielerin vom Major mit Frau Grunwald, Trudi und, sozusagen außerhalb des Spielfelds, der Köchin erwartet. Nach der ersten Verwunderung darüber, daß ihr der Major den Tod seiner Frau verschwiegen hatte, genügte es Gerda Svensen, das Benehmen Trudis zu beobachten, die schon von dem bißchen Theaterspielen, das von ihr verlangt wurde, überfordert war, um zu begreifen, daß alles, was sich hier ereignete, nicht zufällig geschah. Von Berufs wegen war sie daran gewöhnt, die Arbeit der Regisseure auch nach der Vorbereitung des Sets zu beurteilen, und als sie sich umsah, spürte sie bereits in dem schönen Gästezimmer, in das man sie gebracht hatte, die Hand einer Regie, die ihr, wenngleich anonym, eine starke Botschaft zukommen lassen wollte, so stark, daß es im ersten Moment schwierig war, sie zu entschlüsseln. Zum Beispiel: Auf dem Toilettentisch stand in einer hohen lila Vase ein Strauß stark duftender Tuberosen, und auf dem Nachtkästchen befanden sich in einem breiten Krug ein Dut-
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zend üppiger, schon ein wenig welker Päonien, die mit ihrem fleischfarbenen Rosa und den nach unten geneigten Stengeln an die erschlafften, vom Laster gezeichneten und abgestumpften Körper von Liebenden reifen Alters erinnerten. Sie spürte, daß sie in eine unbekannte Welt geraten war, die sie dennoch auf irgendeine dunkle Weise als vertraut empfand. Es war, als würde ihr die Erinnerung an das zweideutige Benehmen der Dame, die sie am Lido kennengelernt hatte und von der etwas auch in diesem Zimmer geblieben sein mußte, durch diese zu süßen und exotischen Blumendüfte ins Gedächtnis zurückgerufen... Gerda Svensen stellte ihre Antennen hoch, um die Signale aufzufangen, von denen sie spürte, daß sie dasein mußten, auch wenn sie für den Moment nur als einzelne Akkorde erfaßbar waren, ohne die ganze musikalische Phrase. Als sie das Badeschränkchen öffnete, um ihre Cremedöschen und Parfümflakons unterzubringen, entdeckte sie auf der obersten Ablage ein viereckiges braunes Fläschchen, das ihr Herz für einen Moment schneller schlagen ließ: vor Freude und zugleich vor Hoffnung. Sie nahm es heraus und überprüfte das Etikett. Sie kannte es genau. Es waren Tropfen, für die als Aphrodisiakum geworben wurde und die in Deutschland und Nordeuropa großen Absatz fanden. Eine ihrer Geliebten hatte ihr vor der Reise in einen gemeinsamen Urlaub auf der Insel Sylt eine Großpackung davon geschenkt, doch nach ein paar Versuchen hatten sie dann mit Vergnügen festgestellt, daß sie diese Tropfen gar nicht benötigten. »Du bringst mich auch ohne Aphrodisiakum um den Verstand«, hatte die Freundin geschrien, während sie sich unter Gerdas Küssen wand. Und angestachelt durch diese Worte, hatte Gerda ihre Küsse und Liebkosungen verdoppelt. Den Namen auf dem Fläschchen aber hatte sie nie vergessen. Und doch, dachte sie, daß jemand dieses Produkt genau
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hier hingestellt hatte, müsse etwas zu bedeuten haben. Nachdenklich holte sie aus dem Koffer einen violetten Stoffbeutel, den sie seit langer Zeit immer auf Reisen mitnahm. Er enthielt einen Vibrator in der Form und Farbe des männlichen Glieds, der an einen elastischen schwarzen Stoffgürtel montiert war, einen langen Draht mit dicken Bernsteinperlen, ein Paar Handfesseln, einen schwarzen, metallbeschlagenen Lederhandschuh - kurz ein paar nützliche Gegenstände, um die Phantasie zufälliger Liebespartnerinnen anzustacheln, die sich zunächst vielleicht von der Neuheit und Entschiedenheit ihrer Methoden einschüchtern ließen. Gerda stellte den Beutel auf die Ablage neben das Aphrodisiakum, denn sie war fest davon überzeugt, daß derjenige, der das Fläschchen dort hingestellt hatte, den Beutel öffnen und inspizieren und damit die gegenseitige, spezielle Bekanntschaft erleichtern würde. Dann ging sie in den Salon hinunter, wo der Major sie erwartete, um, wie er gesagt hatte, »vor dem Essen noch einen Schluck zusammen zu trinken«. Bei ihrem Eintritt saß der Major Aebi lächelnd auf dem Sofa vor dem Kamin, auf einem Sessel daneben Frau Grunwald in aschgrauem Kostüm, die Knie eng beisammen: ein Inbild bürgerlicher Sittsamkeit. Später, in einer Pause zwischen den rasenden erotischen Spielen der folgenden Tage, sollte sie dann den beiden erzählen: »Als ich Gerda in den Salon herunterkommen sah, habe ich gespürt, wie Matthias heiß war, ich habe mir seinen dick werdenden Penis in der Hose vorgestellt und sofort Lust bekommen, ihn in den Mund zu nehmen, leerzusaugen, ihn mir reinzustecken. Wenn ich mich zurückgehalten habe, dann nur aus Angst, ihm nicht zu gehorchen, alles zu verderben und auf die Hoffnung verzichten zu müssen, später noch ganz andere Emotionen zu erleben.« Einem oberflächlichen Besucher wäre die Szene völlig normal erschienen. Der Major hatte Frau Grunwald eingeschärft,
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ein fast übertrieben anständiges Benehmen an den Tag zu legen, bis er ihr den Befehl zu eventuellen »Übertretungen« erteilen würde, und sie war ängstlich darauf bedacht, dieser besonderen Form von Hingabe nachzukommen, nämlich genau das zu tun, was der Major von ihr verlangte und, ohne es zu zeigen, die eigene Begierde hintanzustellen, in der Erwartung, später durch die Teilnahme an zügellosen und zermürbenden Spielen dafür entschädigt zu werden. Und der momentane Verzicht entzündete ihre Phantasie für das Danach. Als sie aufstand, rieb Frau Grunwald ihre schwarzbestrumpften Beine unterm Rock fest aneinander und rief damit jenes Rascheln von Nylon hervor, von dem der Major ihr gesagt hatte, daß es ihn aufrege, und bei der angespannten Vorstellung, was passieren könne, wurde sie fast ohnmächtig. Noch einmal scheuerte sie entschlossen ihre Schenkel aneinander: »Los, mach schon!« sagte sie in Gedanken zum Major, dessen Ohren sehr aufmerksam geworden sein mußten. Als sie Gerda die Hand drückte, spürte sie ihre Vulva zittern wie ein lebendiges Wesen, und sie öffnete leicht die Beine, als wolle sie ihm Luft verschaffen (denn wie es der Major von ihr verlangt hatte, trug sie keinen Slip). Und mit der freien Hand strich sie sich gesittet den Kostümrock über einer Hinterbacke glatt. Der Major servierte die Aperitifs, und Gerda verlangte einen Scotch mit Eis. Während er ihr den Rücken zukehrte, warf die Schauspielerin einen langen Blick auf Frau Grunwald, die ihn mit einem starren Lächeln ebensolang erwiderte. Dann entdeckte Gerda Svensen Verbenas Bild an der Wand neben dem Eßtisch und ging hin, um es genauer zu betrachten. Sofort bemerkte sie das Kaninchen. »Aber Major, das sind ja Sie!« rief sie überrascht und in einem Ton mondäner Koketterie. Auch sie hatte eine rauhe Stimme, die die Kehllaute mit Natürlichkeit hervorhob. Wieter in die Betrachtung des Bildes vertieft, erkundigte sie sich
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nach den näheren Umständen seiner Entstehung. Dann drehte sie sich um und sagte lachend zum Major: »Diese Pranken mit den großen Krallen müssen Ihnen ja ziemlich zugesetzt haben, oder irre ich mich?« »Ein Mann genießt es, von bestimmten Raubtieren zerfleischt zu werden«, antwortete der Major, der sofort auf das Spiel einging, und mit fingierter Natürlichkeit (er hatte inzwischen begriffen, wie die Dinge laufen würden) legte er eine Hand auf Frau Grunwalds Knie, fuhr, den Rock etwas beiseite schiebend, ihren Oberschenkel hoch und drückte ihn fest, ohne sie dabei anzusehen; Frau Grunwald lächelte indessen weiterhin starr der Schauspielerin zu. Gerda Svensen beobachtete die beiden und zog ihre naheliegenden Schlüsse. »Helena war eine Freundin von Verbena«, sagte nun der Major, der sich inzwischen damit amüsierte, die verschiedenen Formen einer Annäherung auszuprobieren, so wie sich ein Maler von der Idee stimuliert fühlen kann, mit unterschiedlichen Techniken zu experimentieren. »Wir haben gemeinsame Ferien verbracht, und Helena war mit uns in Venedig, als Sie Verbena kennenlernten. Wenn wir nicht alle am nächsten Tag abgereist wären, hätten wir uns sicher schon damals angefreundet. Sie waren in Begleitung einer Freundin da, nicht wahr?« Gerda Svensen lächelte. Die künstliche Ungezwungenheit des Majors, die durch den Zangengriff seiner Hand auf dem bestrumpften Oberschenkel der Frau Grunwald dementiert wurde, die unnatürliche und versteinerte Haltung der Grunwald, wie die eines Vorstehhundes, der nur auf das Kommando seines jagenden Herrn wartet, um sich auf die Beute zu stürzen, die ganze von der Schauspielerin inzwischen als Inszenierung begriffene Szene entlockten ihr einen Ausdruck maliziöser Ungläubigkeit, der auf den Major wie eine Ampel wirkte, die von Gelb auf Grün schaltet. In diesem Augenblick trat Trudi ein, die mit klingenden
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Franken dazu gebracht worden war, die Rolle des lasziven Dienstmädchens zu spielen. Mit schleppender Stimme und einem durch die gesenkten Lider schmachtend wirkenden Blick (was ihrer Meinung nach zur Darstellung von Lüsternheit gehörte) verkündete sie, daß das Essen serviert sei. »Das ist Trudi«, sagte der Major Aebi und zog sie an sich, wobei er sie mit einem Arm um Taille und Hintern faßte und damit zwang, Becken und Brust der Svensen zuzudrehen — als wolle er der Schauspielerin zeigen, daß das Haus ihr noch eine weitere Attraktion zu bieten habe. »Helena, zeig Gerda, wo sie sich die Hände waschen kann, wenn sie möchte«, sagte der Major nun, löste die Hand von Frau Grunwalds Schenkel und schubste sie in die Höhe, wirklich so, als wolle er den Hund auf die Beute loslassen. Alle wußten genau, daß Gerda, die eben erst heruntergekommen war, bestimmt kein Bedürfnis hatte, ins Bad zu gehen. Trudi gurgelte ein Lachen und scheuerte ihren Hintern am Arm des Majors. Doch Frau Grunwald, folgsam, wie man es von ihr verlangte, trat mit einem Satz auf die Schauspielerin zu und streckte ihr die Hand hin, als wolle sie ihr aus dem Sessel helfen. Gerda Svensen ergriff sie instinktiv. »Komm«, sagte daraufhin die Grunwald und führte sie, ohne ihre Hand loszulassen, ins Bad. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, drängte sie sich mit ihrem Körper an Gerda und sah ihr in die Augen: »Wie schön du bist«, sagte sie. Die Svensen lachte, nahm Helenas Gesicht zwischen die Hände und küßte sie auf den Mund; ihre Zunge drängte sich zwischen die Zähne, gegen den Gaumen, soweit sie reichte. Frau Grunwald spreizte die Beine, um sich besser im Gleichgewicht zu halten, zog die Schauspielerin noch stärker an sich und fing an, ihren Körper abzutasten, wo immer sie mit den Händen hinkam — Hüften, Brust, Bauch, Achseln —, ohne daran gehindert zu werden, es sei denn vor Vergnügen.
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An diesem Abend und den folgenden Tagen erlebte die ruhige bürgerliche Villa im oberen Teil Locarnos, wie sich das Quartett in den extravagantesten erotischen Verschlingungen austobte, die unter vier Personen überhaupt vorstellbar sind. Auf dem Teppich vor dem Porträt von Leonor Fini, im Schlafzimmer des Majors, in dem Teil des Gartens, in dem man — und das bedeutete einen zusätzlichen Nervenkitzel — gewärtig sein mußte, von den Villen um die Wallfahrtskirche der Madonna del Sasso aus mit einem Fernglas entdeckt zu werden. Eines Nachmittags wollte der Major sogar, daß ihn die drei Frauen zum Büro von Frau Grunwald im Supermarkt begleiteten und daß Trudi und Gerda dabei ganz kurze Röcke trugen, die bei der kleinsten lässigen Bewegung das weiße Fleisch über dem schwarzen Saum der Strümpfe sichtbar machten. Trudi, die sich inzwischen in ihrer Nuttenrolle ganz natürlich und glücklich fühlte, noch dazu in einer Stadt, wo sie keiner kannte, verfiel zuweilen in ein freches Gelächter und strich dem Major über die Leiste — jedesmal, wenn ihr der Moment gekommen zu sein schien, sich und die anderen daran zu erinnern, daß man auch mit dem Major spielen könne, wenn er schon mit ihnen sein Spiel treiben wollte. Auf der gleichen Ebene mit einer berühmten Schauspielerin und einer Filialleiterin zu stehen, erschien ihr als eine Form gesellschaftlichen Aufstiegs. Es versetzte sie in Hochstimmung und drängte sie zu Gesten von ausgelassener, hitziger Vulgartät, die sie auf die anderen zu übertragen suchte, und es machte ihr großen Spaß, die beiden Frauen und den Major zu immer schmutzigeren Zügellosigkeiten anzustacheln — je gewagter, desto reizvoller für sie. Ihr gefiel das erotische Spiel im Dreck. Was die Rollen der einzelnen betraf, so hatte das Quartett sie sich fast wie selbstverständlich in den ersten gemeinsamen Stunden zugeteilt, als ob von dieser Übereinkunft eine ganze
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Reihe praktischer Erleichterungen für die Erotikkomödie, in der sie miteinander wetteiferten, abhing. Gerda hatte sich mit der Rolle des Ehrengastes identifiziert, der zufällig und für eine kurze, von vornherein begrenzte Zeit in einen orgiastischen Wirbelsturm geraten ist, was ihr zwar keineswegs mißfiel, sie jedoch vor allem wegen der lesbischen Erfahrungen anzog, die ein Teil davon waren. Nicht, daß sie sich den Beziehungen mit dem Major ganz verweigert hätte, aber in erster Linie genoß sie es, wie der Mann auf Touren kam, wenn er ihr zusah, wie sie es mit Trudi oder Frau Grunwald trieb, und wie es dann eine von denen war, die ihn, am besten durch Masturbieren oder Saugen, zum Erguß brachte, so daß sie das Austreten der Spermatropfen aus dem Penis beobachten und in diesem Moment einen symbolischen Akt physischer Herrschaft über ihn, den Mann, ausüben konnte: ihm, zum Beispiel, einen bestrumpften Fuß aufs Gesicht setzen und langsam, aber entschlossen drücken und drücken, als ob das Austreten des männlichen Samens eine Huldigung an die von ihr ausgeübte Macht darstelle: die Macht der Frau. Helena Grunwald benahm sich wie die Frau des Hauses, nachgiebig dem Major gegenüber in der Art einer Assistentin an der Seite eines Genies, verständnisvoll und mit den Gewohnheiten des Hauses vertrauter als die beiden anderen Frauen, die sie wie Freundinnen auf der Durchreise behandelte, die ihr in der gemeinsam erlebten Situation nicht den Vorrang streitig machen konnten. Schließlich würden die beiden nach einer Woche abreisen, und dann bliebe sie wieder allein mit dem Major, um sich neue Experimente auszudenken, noch gewagtere Übertretungen... Frau Grunwald spürte, daß sie gegenüber Trudi den Vorteil ihrer sozialen Stellung und gegenüber Gerda den ihrer sexuellen Vorlieben besaß. So betrieb sie das Aufheizen der
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Sinne mit einer fast professionellen Intensität und inneren Beteiligung, denn sie fühlte, daß sie für den Major ein unvergleichliches erotisches Werkzeug war. Und sie hatte bemerkt, daß sie, je auffälliger sie Schamlosigkeit im Verhalten mit herkömmlicher Wohlanständigkeit in Kleidung und Gesichtsausdruck verband, ganz zu schweigen von der gehorsamen Disponibilität allen seinen Anordnungen gegenüber, desto mehr dem Major zu Erregung und Genuß verhalf. So legte sie Trudi und Gerda gegenüber ein nach außen hm nüchternes und pedantisches, fast militärisches Verhalten an den Tag, obwohl sie sich sogar auf noch extremere Bordellpraktiken einließ als die beiden anderen: ein Verhalten, das umgekehrt wieder in Gerda ein wollüstiges Kribbeln hervorrief. Sie genoß es leidenschaftlich, Frau Grunwald bei den Schultern zu packen, bäuchlings auf ein Bett oder Sofa zu werfen, ihr den Rock über die kräftigen, muskulösen Beine hochzuschieben, um das Gesicht zwischen ihre Hinterbacken zu tauchen und mit Zunge und Küssen dem Lauf der festen Falten des Fleisches zu folgen. In diesen Momenten beobachtete sie der Major aus der Nähe und versuchte dabei mit zwei Knöcheln seiner zur Faust geballten Hand in Trudi einzudringen oder die Kellnenn zwischen seinen Beinen auf die Knie zu zwingen, ihren Nacken zu umklammern und ihren Mund auf seinen Pems zu drükken, um das wenige Sperma, das ihm nach den ersten, furiosen Orgien dieser Woche geblieben war, hineinzupressen. In einem solchen Augenblick war es — während die bis eben von dem verbissenen Ringen all dieser in sich verknäuelten Begehren glühende Luft des Salons sich in der Auslöschung der Begehren wie von selbst abzukühlen schien —, in einem solchen Augenblick war es, daß der Major Aebi, den Kopf über die Sofalehne hängend und umgeben von zerschlagenen, zuckenden menschlichen Ruinen, nach einer langen
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Pause die Augen hob, von unten nach oben Verbenas Blick auf dem Bild begegnete — und während er darauf starrte, durchzuckte ihn zum ersten Mal die Wahrnehmung eines eigenen Rollenwechsels.
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11 Der Major Aebi schreibt seine eigene Geschichte auf — Beim Anhören von Grieg — Die Fotografie von fünf Expräsidenten — Einige Fälle von Übertretung - Die Modenschau der kleinen Mädchen
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as für einen Sinn sollte das Buch, das ich schreibe, denn haben«, sagte der Major Aebi laut zu sich selbst, »wenn ich nicht versuchte, wenigstens dann zu erklären, was die Geschworenen im Prozeß zu begreifen sich geweigert haben: nämlich daß das, was ich getan habe, lebensnotwendig war, daß das, was das Gesetz und das Urteil als eine Reihe schwerer Straftaten definierten, für mich in dieser Lebensepoche meinen einzigen Daseinsgrund bedeutete! Was bliebe von mir übrig, wenn ich nicht der >Kriminelle< gewesen wäre, der ich war? Wenn ich nicht mein Leben und das anderer Menschen in die unbekannte, erregende und verwirrende Welt der fortschreitenden Übertretungen geführt hätte?« Der Major hatte beschlossen, seine Geschichte aufzuschreiben, nachdem er schon über ein Jahr im Kantonalgefängnis La Stampa, etwas außerhalb von Lugano, einsaß. Er war einer der wenigen Häftlinge mit einer Langzeitstrafe, und wie fast alle diese Insassen genoß er zwei zweifelhafte Privilegien: das einer Einzelzelle im Nordflügel mit Blick auf die Baumwipfel hinter der Gefängnismauer und das häufiger Gespräche mit dem Direktor der Strafanstalt Dr. David Muggia, einem Kriminologen. Mit achtunddreißig Jahren war Dr. Muggia dabei, seine Erfahrungen im La Stampa dazu zu verwenden, Material zur
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Psychologie von Straftätern zu sammeln, die wegen Sexualdelikten verurteilt worden waren. Seit Jahren schon arbeitete er an der Zusammenstellung einer Kasuistik, nach deren Veröffentlichung er sich eine Privatdozentur erhoffte. Dr. Muggia hielt den Fall Aebi für einen der interessantesten, die ihm je untergekommen waren, und er ließ keinen Tag vergehen, ohne sich ein wenig mit dem Major zu unterhalten und danach die Gesprächssplitter, die ihm signifikant erschienen waren, auf bestimmten gelben Karteikarten festzuhalten, welche den Grundstock für seine Materialsammlung bildeten. Dem Major Aebi war es nicht schwergefallen, sich an die Gefängnisordnung zu gewöhnen. Im Gegenteil. In den ersten Monaten seiner Haft hatte er die unnatürliche Halbisolation, in der er sich im La Stampa befand, nach den tumultuösen Prozeßtagen und der mitleidlosen und bestürzenden publizistischen Ausschlachtung seiner erotischen Übertretungen geradezu als idealen Zustand genossen, um darüber nachzudenken, was ihm geschehen war (oder was er hatte geschehen lassen), und zu versuchen, der äußeren Folge von Ereignissen einen tieferen Sinn zuzuschreiben als den einer Skandalchronik. In der eintönigen und erzwungenen Ruhe des Gefängnisses, mit den von festen Zeiten und regelmäßig wiederkehrenden Geräuschen bestimmten Tagen, so belanglos im Vergleich zu den unvorhersehbaren Ereignissen, die mit der Freiheit, der Laune und dem Reichtum einhergehen können, hatte der Major angefangen, über sich und seine Gefährtinnen in der Ausschweifung nachzudenken — als nützliches Training, um seinen Geist beweglich zu halten. Erinnert ihr euch an die Schachnovelle von Stefan Zweig? Mit dem Gefangenen, der, um die Tortur der Isolationshaft auszuhalten, Schachpartien aus dem Gedächtnis spielt? Genauso studierte, ohne es recht zu merken, der Major Aebi, dem es nichts ausmachte, den größten Teil des Tages allein zu sein,
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die Folge der Manöver seiner Übertretungen, um sich selbst einen erträglichen Rahmen für den Zustand gesellschaftlichen Abstiegs und verlorener Freiheit zu schaffen, in den geraten zu sein er nicht leugnen konnte. Manchmal, gleichsam in einem Versuch der Selbstaufspaltung, stellte ein Teil seiner Person dem anderen die rhetorische Frage, ob es nicht angebracht sei, allmählich Gewissensbisse oder zumindest Scham oder Abscheu hinsichtlich einer möglichen Amoralität in seinem Verhalten zu empfinden. »Hast du dir auf moralischer Ebene immer noch nichts vorzuwerfen?« fragte eine Hälfte des Majors die andere. »Nein, nicht, daß ich wüßte«, lautete die unbefriedigende, weil unsichere Antwort. Der Major Aebi hatte es unschwer erreicht, in der Zelle einen Plattenspieler haben und mit Kopfhörer benutzen zu dürfen. So legte er sich nun viele Nachmittage, zwischen dem Spaziergang auf dem betonierten Hof, den drei magere Blumenbeete auch nicht fröhlicher machen konnten, und dem Zeitpunkt des Abendessens, aufs Bett, um (völlig isoliert — und auch das verlieh ihm ein Gefühl besonders intensiven Engagements, wie bei der Alleinbesteigung eines Berges) Opern oder klassische Musikstücke zu hören, an die er sich aus früheren Jahren, als Verbena noch am Leben war, erinnerte. So rief ihm eines Tages die Erinnerung an ein Konzert in Stresa, in dem er mit Verbena gewesen war, genau den Moment wieder ins Gedächtnis zurück, in dem er begonnen hatte, an die eigene Vergangenheit als an die eines Menschen zu denken, der auf dem Weg der erotischen Übertretung besser wird und nicht sich selbst degradiert: gerade das, was seinen Mitbürgern, die ihn verurteilt hatten, klarzumachen ihm nicht ge lungen war. Es war jener Moment gewesen, in dem er in einer ungewöhnlichen Lage, den Kopf nach hinten über die Sofalehne hängend, das Glied ausgepreßt von Trudis frenetischen Kie-
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fern, Gerda und Helena vor ihm auf dem Teppich miteinander verschlungen in einem unziemlichen Tableau aus Speichelnassen Vulven, von animalischem Sekret bedeckten Vibratoren, Hinterbacken, Kniescheiben, Fußsohlen mit den für ihn heruntergerissenen schwarzen Fetzen, dem Blick der Leopardenfrau begegnet war. Wie ein Blitz war ihm ein Gedanke durch den vom wilden Orgasmus noch ganz benommenen Sinn gefahren: »Du kannst nicht leugnen, Verbena, daß es das ist, worauf ich mich absolut am besten verstehe im Leben«, hatte er, die Lippen tonlos bewegend, zu dem Bild gesagt, während Trudis Kopf erschöpft zwischen seinen Knien baumelte und die beiden anderen Frauen kreischend und verbissen aneinander herummachten, was ihn immer noch erregte, wenigstens mental, als abstrakte Vorstellung von Erotik, da er sexuell völlig erschlafft, von Trudi vernichtet war. Für einen Augenblick hatte er beobachtet, wie Frau Grunwalds Muskeln an den Schenkeln und Waden wie gemeißelt hervortraten und unter dem Nylon zuckten, hart und angespannt durch die Wirkung von Gerdas Küssen, und dann hatte er seinen Blick wieder dem Bild zugewandt. So von unten nach oben konnte er sich nicht in dem Kaninchen zwischen den Pranken erkennen. »Schade, daß du nicht auch hier bist«, sagte er zu dem Gemälde, diesmal die Worte murmelnd. Und während er wie durch einen Nebel diese metaphorische Darstellung einer inzwischen abgeschlossenen und fernen Phase seiner Existenz betrachtete, hatte er plötzlich das siegreiche und zugleich melancholische Gefühl, daß er sich zum Besseren verändert habe, es aber nicht mehr mit der teilen könne, an deren Bestätigung ihm am meisten gelegen war. Entweder ich komme soweit, mich selbst für diese Karikatur aus der kriminellen Irrenanstalt zu halten, wie sie vom Staatsanwalt in seiner Anklage den Geschworenen gezeichnet
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und wortwörtlich ins Urteil übernommen wurde, oder ich muß erklären, warum all das, was passiert ist, für mich etwas anderes war, sagte sich der Major Aebi in seiner einsamen Zelle, die Kopfhörer über den Ohren, die ihm das a-moll-Konzert von Grieg übertrugen, gleich nachdem ihm das Bild seiner Condition humaine wieder vor Augen getreten war. Den letzten Anstoß, ein Buch über sich zu schreiben, gleich einem Notar, der einen Sachverhalt bescheinigt, gaben, wie der Major in einem der letzten Kapitel erwähnt, eine Fotografie in einer Zeitschrift und die Lektüre zweier Bücher, die er in der Gefängnisbibliothek gefunden hatte. Die Fotografie zeigte fünf ehemalige Präsidenten der Vereinigten Staaten mit ihren Gattinnen, versammelt anläßlich der Einweihung einer Bibliothek, die nach einem von ihnen benannt war. Diese ehemals mächtigen, ja fast schon allmächtigen Männer, die in den Jahren ihrer Regierung die Welt in Schutt und Asche hätten legen können oder Hunderttausende von Mitbürgern in den Tod schicken oder eine noch größere Anzahl Kinder von Feinden zu Waisen machen, Wälder vernichten, Meere vergiften, den Himmel und selbst den Weltraum für immer verschmutzen — diese Männer wirkten auf dem Foto gealtert und wehrlos, mit einem unsicheren und durch die Runzeln fast leer gewordenen Lächeln, das ihr Bild so anders machte als in den Tagen ihrer Macht. Was konnte diese Fotografie besagen» fragte sich der Major Aebi, als er sie betrachtete. Warum lächelten die fünf darüber, daß sie beisammen waren? Was glaubten sie geleistet zu haben, das sie miteinander verband, so daß es die Mühe lohnte, sich auf diese Weise verewigen zu lassen: wie Überlebende irgendeiner Katastrophe, wie aus irgendeinem schrecklichen Unglück Gerettete? Dachten sie denn nie an die Folgen ihres Handelns — sei es nun politisch zu rechtfertigen oder nicht — für Millionen von Menschen?
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Der Major bedauerte, daß er nicht einige der für ihn erregendsten Momente seiner erotischen Erfahrungen fotografisch festgehalten hatte. Trudi lachend und im Rausch der Vulgarität, während sie ihm, auf dem im Garten ausgebreiteten Damasttischtuch, rittlings aufs Gesicht stieg und so den Blick auf Frau Grunwald verwehrte, die ihrerseits auf allen vieren vor seinem erigierten Penis kauerte, während Gerda im Begriff war, sie von hinten mit einem um ihre Leisten gegürteten Vibrator zu vergewaltigen. Genau die Szene, die eine Nachbarin beim Prozeß beschrieben hatte: als eine widerliche und schamlose Orgie in aller Öffentlichkeit! Und dabei war es doch nur, dachte der Major, eine phantasievolle, vergnügliche gegenseitige Gewährung verbotener Genüsse! Wer würde nicht eine Fotografie dieser Szene dem Bildnis der fünf Präsidenten, mit all dem Blut, den Kämpfen, dem menschlichen Elend, das es in Erinnerung ruft, vorziehen? Erfaßt vom Strudel seiner Reflexionen, kam der Major so weit, daß er schließlich auch noch in der Erinnerung fortschreitende Übertretungen beging. Gemessen an jenen fünf, sagte er sich, war da nicht selbst der in seinem Gedächtnis haftengebliebene Ausdruck des kleinen vierzehnjährigen Lehrmädchens besser, das Frau Grunwald als Nutte hatte schminken und herrichten lassen, ehe sie es zu ihm ins Büro brachte, wo es dann erführe, ob es nach einer Probezeit definitiv angestellt würde oder nicht:... Ein ordinärer, gieriger und mehr als bereitwilliger Ausdruck, auf kindliche und dunkle Weise wissend, was von ihr verlangt und als Gegenleistung, nur als Gegenleistung, gegeben würde (»Wenn du tust, was er will, dann schenkt er dir auf der Stelle zehntausend Franken!« hatte ihr Frau Grunwald auf der Schwelle zum Büro zugeflüstert, wie er es ihr befohlen hatte), ein Ausdruck von sichtlich verkommener Freude, der eines jungen Dings aus üblem Milieu, bereit, es dem Alten zu geben, schon erfahren in sexuellen Din-
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gen und begierig zu beweisen, daß es seinen alteren Schwestern in nichts nachstehe, mit diesen hohen, spitzen Absätzen, diesem leicht zu öffnenden Miniröckchen und diesen nie zuvor getragenen Strumpfhaltern, die von Frau Grunwald mit den dazugehörigen Ratschlägen geliefert worden waren. Oder jener Nachmittag am Lido, als Gerda den Jungen des Blumenhändlers, nicht alter als dreizehn Jahre, dabei ertappt hatte, wie er in einem Pornoheft blätterte. (Wie hatte das den Major damals an ein bestimmtes früheres Ereignis erinnert! Und wie hatte er diesen kleinen Burschen beneidet!) Unverzüglich hatte Gerda, die Tatsache ausnutzend, daß der Strand menschenleer zu sein schien, Trudi und Helena angestachelt, dem Jungen ihre Brüste und Beine zu zeigen, sich von ihm betasten zu lassen, und ihm dabei im Stehen kräftig das Glied gerieben, bis er in einem langen, gebogenen Strahl ejakulierte; dann hatte sie ihm große Komplimente gemacht, mit ironischen Vergleichen hinsichtlich der Kapazitäten des Majors bei solchen Unternehmungen, und der Junge war selig gewesen, nicht wissend, wie ihm geschah. »Und wenn sich die Weltgeschichte aus so vielen einzeln nen, individuellen Geschichten zusammensetzt«, sagte sich der Major in den Stunden der Einsamkeit ohne Musik, »warum soll ich dann nicht aussprechen, wie ungerecht man mich behandelt hat, wie ich mißverstanden wurde, vorher und nachher!« Und er hatte nicht den Eindruck, daß er sich selbst bemitleide. Tatsächlich verglich der Major seine Taten mit denen der ehemaligen Präsidenten und gelangte immer mehr zu der Überzeugung, mit Sicherheit der Gesellschaft oder anderen Menschen gegenüber weniger schuldig zu sein als diese. Wenn die unausweichlichen und ohne Zweifel ungeheuren Verbrechen, die sie begangen haben mußten, zur Ausführung des von ihnen bekleideten Amtes gehörten, warum konnte man sie
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dann nicht dafür verurteilen, daß sie nach diesem Amt gestrebt hatten? Muß es nicht einen Unterschied machen, ob der, der beschließt, über das Leben der anderen Menschen zu bestimmen, dies als Henker, als heiliger Franziskus oder als Marquis de Sade tun will? Und wenn er auch nach den Maßstäben der Gesellschaft, die ihn und nicht die anderen verurteilte, ein vom rechten Weg Abgewichener war, ein Abweichender, wie ihn der Dr. Muggia, sein Gefängnisdirektor, fast gutmütig nannte, ist der Abweichende unbedingt selbst schuld? fragte sich der Major. Ist es gerecht, daß er nur deswegen eingesperrt wird, weil er, anstatt Leiden und Tod über die Menschen zu bringen, lediglich andere dazu verführt hat, aus Lust, des Geldes wegen oder aus einem Hang zur Vulgarität mit ihm abzuweichen? Die zwei Bücher aus der Gefängnisbibliothek, die den Major Aebi endgültig dazu brachten, seine Geschichte zu erzählen, waren Silbermond und Kupfermünze sowie eine originelle literarische Anthologie, eine der jüngsten Erwerbungen, in der sich für jeden der dreihundertsechsundsechzig Tage des Jahres ein Stück aus einem Roman fand, in dem der jeweilige Tag eine Rolle spielt. Wenn er sich mit dem Protagonisten des Romans von Somerset Maugham verglich, fand sich der Major Aebi (wohl mit ein wenig zu großer Nachsicht sich selbst gegenüber) von jenem Zynismus, jener Verantwortungslosigkeit und jenem Egoismus frei, die dem Romanhelden zum Schluß aufgrund des künstlerischen Rangs seiner Werke vergeben werden. Voll Selbstmitleid fragte sich der Major: Habe ich vielleicht meine Frau verlassen; Habe ich vielleicht meinen Angehörigen das Leben schwergemacht; Habe ich jemanden zum Weinen gebracht; War ich weniger fähig, ästhetisches Vergnügen zu schaffen, oder war ich egoistisch in seinem Genuß? Habe ich nicht alle, die mich bei meinen Übertretungen begleiteten, mit
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Geld überhäuft und ihnen damit zu anderen Vergnügungen verholfen? Bei jeder Antwort, die er sich gab, wuchs in dem Major Aebi der Impuls, wie ein Dreyfus auf der Teufelsinsel die Feder in die Hand zu nehmen. Und tatsächlich war es zunächst seine Absicht zu erzählen, wie diese Episoden, die man beim Prozeß als Verbrechen angeführt hatte, in Wirklichkeit Momente von Fröhlichkeit und einer vielleicht etwas unfeinen und ordinären Ausgelassenheit gewesen waren, aber bestimmt nicht diese gemeinen, sittenverderbenden Erfindungen, die ihn, wenn man den Staatsanwalt hörte, unter die abscheulichsten und verruchtesten Verbrecher einreihte, die man je gesehen habe — ein Mann, den man für lange Zeit von jedem Kontakt mit der Gesellschaft fernhalten müsse. Der Major versuchte sich zum Beispiel dann, die kleine Modenschau für Mädchenunterwäsche zu beschreiben, die zu organisieren er Frau Grunwald veranlaßt hatte. Auf eine unter der Adresse und dem Firmenzeichen des Supermarkts im Corriere del Ticino veröffentlichte Annonce: »Gesucht werden Mädchen zwischen 11 und 14 für Jugendmodenschau« waren mindestens fünfzig kleine Mädchen zu ihm ins Büro gekommen, viele davon in Begleitung ihrer Mütter, die in manchen Fällen scheinheilig die »Reife« des Töchterchens priesen (offensichtlich um ihm zu verstehen zu geben, daß nicht nur von den sichtbaren Brustknospen oder der Rundung der Hüften die Rede sei...) und sie so schnell wie möglich an den Meistbietenden verkaufen zu wollen schienen. Er hatte unter den augenscheinlich kecksten sechs ausgewählt, wobei er darauf achtete, daß sie zu denen gehörten, die in Begleitung erschienen waren: Auf diese Weise war es ihm, nachdem er sich ohne Schwierigkeit mit den Müttern geeinigt hatte, möglich gewesen, für ganz wenig Geld eine besonders hinterhältige Intimität in den drei Kabinen zu schaffen, in de-
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nen er, mit Hilfe von Frau Grunwald und der kupplerischsten Mutter, so tat, als probiere er auf den unreifen Körpern der Madchen Unterhemden, Schlüpfer und Strümpfe an, die für sich allein schon fähig waren, verbotene Lüste zu wecken. »Da schaut, wie ihr ihn mir zugerichtet habt«, hatte Frau Grunwald bereits am ersten Tag mit gespieltem Vorwurf in der Stimme zu der Mutter, auf deren Anwesenheit man als Garantie der Korrektheit für die anderen bestand, und zu dem provokantesten der Mädchen gesagt. Dabei deutete sie auf die Leistengegend des Majors und ließ durchblicken, wie erregt er sei. »Jetzt muß ich wieder zusehen, wie ich ihn beruhige«, sagte sie und drängte sich an ihn, wobei sich ihr Rock öffnete und die Oberschenkel sehen ließ. »Es sei denn, daß ihr mir zur Hand gehen wollt, was ihm bestimmt gefallen würde, das weiß ich... Übrigens, ich muß kurz hinaus, um nachzusehen, ob die Badeanzüge eingetroffen sind: Du, komm her, probier noch mal diese drei Bodies an, und Sie (zur Mutter gesagt) stellen sich hier neben den Major, um den beiden behilflich zu sein...« Während er schrieb, wurde sich der Gefangene Aebi klar, daß es ihm nicht oder höchstens nur ganz vergröbert gelingen könne, diese wechselnden Abstufungen von Empfindungen, erotischen Gesten und Genüssen zu beschreiben, von denen ihm vor allem der Effekt paradiesischer Betäubung in Erinnerung geblieben war, den sie ihm vermittelt hatten. Er wäre gern fähig gewesen, das alles auf dem Papier nachzuerschaffen, um wenigstens ein paar Lesern den Zauber vermitteln zu können, vielleicht zwei oder drei der Geschworenen, die ihn verurteilt hatten, oder irgend jemandem aus dem Publikum, aus dem Schreie der Entrüstung gegen ihn laut geworden waren, oder wenigstens einigen der so einmütig empörten Leser der Prozeßberichte... Der Häftling Aebi war nicht damit zufrieden, wie er seine
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Geschichte zu Papier brachte. Es kam ihm vor, als habe er sich einem Verteidiger anvertraut, der über die diversen Gesetze, auf Grund derer er eingesperrt worden war, ihre Fallstricke, ihre Schlupflöcher nicht genügend Bescheid wußte.
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Gespräche mit Dr. Muggia — Theorie des Major Aebi über Ausbruchssehnsüchte der Bürger — Locarno als Mikrokosmos — Dr. Muggia hält nichts von autobiographischen Aufzeichnungen
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em Major Aebi behagten die Gespräche mit Dr. Muggia überhaupt nicht. Er hatte den Eindruck, daß der Gefängnisdirektor unter der gewohnten Patina von Scheinheiligkeit, die inzwischen alle an den Tag legten, mit ihm spreche, nicht um ihm in seiner Situation als Häftling, ganz zu schweigen von der des Schriftstellers, zu helfen, sondern um irgendwelche obskuren akademischen Vorteile für seinen Traktat über die wegen Sexualdelikten verurteilten Straftäter daraus zu ziehen, an dem er herumschusterte. Andererseits halfen diese Gespräche dem Major, einige Aspekte seines Verhaltens, auf die er in der Autobiographie besonders einzugehen gedachte, schärfer zu sehen. Dr. Muggia hatte eine Art zu denken (noch ehe er etwas sagte), die man als insinuierend bezeichnen konnte. Er insinuierte Hypothesen, Gesichtspunkte. Wenn im Gespräch eine Pause eintrat, gelang es dem Gefängnisdirektor immer, es wieder in Gang zu bringen, indem er seinem Gefangenen mögliche Interpretationen von Fakten suggerierte und den Major somit zwang, eindeutig dazu Stellung zu nehmen, pro oder contra, als ob es sich darum handle, auf einem umfassenden persönlichen Fragebogen eine neue Rubrik zu beantworten. Die beiden loteten sich in gewisser Hinsicht gegenseitig aus, und gleichzeitig benutzte einer den anderen, um zu ver-
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suchen, einen unbekannten Kontinent zu umreißen und zu begreifen, für jeden anders und doch gleich: für den Major die eigene innere Welt, für den Gefangnisdirektor die innere Welt des Sexualtäters, aufgefaßt als Kategorie der Menschheit. Es bestand also zwischen den beiden gleichzeitig ein Gefühl der Kooperation wie der Rivalität. Sie sprachen miteinander, doch in irgendeiner Weise empfanden sie sich als Feinde, auf entgegengesetzten Ufern. Da der Major Aebi ausgerechnet aus einer Bemerkung von Dr. Muggia seine Einstellung zu dem Buch, an dem er schrieb, entscheidend veränderte, mag es interessant sein, an dieser Stelle wiederzugeben, was mir Dr. Muggia erzählte, als ich ihn nach dem Tod des Majors in seinem Büro im LaStampa-Gefängnis aufsuchte. »Vergessen Sie nicht, daß ich Kriminologe bin«, sagte er im Lauf der Unterhaltung. »Objektiv gesprochen: Wenn ich das Verhalten einer Person beobachte, so kann ich nicht umhin, meine besondere Aufmerksamkeit darauf zu richten, in welcher Beziehung sein Handeln zu seinem Verbrechen steht. Wenn der Verbrecher in bezug auf die große Mehrheit der Gesellschaft ein Abweichender ist, erscheint mir alles, was er tut, als Ausdruck dieses aus dem Gleichgewicht geratenen Verhaltnisses. Die Tatsache also, und das darf Ihnen nicht paradox erscheinen, daß der Major Aebi (der für mich immer der Häftling Aebi war, von einem Gericht wegen schwerer sexueller Delikte verurteilt) anfing, ein Buch über sich und seine strafbaren Handlungen zu schreiben, war für mich eine neue Form von Verbrechen. Ein unblutiges vielleicht, aber ein Verbrechen. Der Schriftsteller Aebi war ein krimineller Erotomane in flagranti, der von mir beim Akt des Begehens, bei der Ausführung einer sexuellen Straftat beobachtet wurde. Und verfallen Sie nicht in den Irrtum zu glauben, daß ich
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dabei lediglich an ein pornographisches Buch dächte, und das nur im Hinblick auf Zensur, Bußgelder, Anzeigen oder strafrechtliche Verurteilung«, fuhr Dr. Muggia fort. »Die erste Fassung war tatsächlich wenig mehr als ein Katalog völlig ungeschminkter pornographischer Beschreibungen mit einem Hang zur exhibitionistischen oder sadomasochistischen Übersteigerung (das Fixiertsein des Häftlings auf das >Fortschreitende< seiner Übertretungen!), doch für die Endfassung galt das nicht. Natürlich gibt es auch darin Passagen mit expliziten sexuellen Szenen und Termini, die viele Leser als widerwärtig oder schockierend empfinden werden, doch das ist es nicht, weshalb ich meine, daß das Manuskript, von dem mir der Major eine Kopie schenkte, per se die Materialisation eines Verbrechens darstellt. Kurz, daß es ein corpus delicti ist. Nein, es ist die Tätigkeit des Schreibens selbst, die ich in diesem Fall unter Anklage stelle. Ich denke so, weil der Häftling Aebi in der Absicht zur Feder griff, die Moralstruktur der Gesellschaft zu verletzen, zu der er gehörte und die ihn verurteilt hatte. Indem er das eigene Verhalten rechtfertigte, ja zum Modell existentieller Sublimierung erhob, beabsichtigte Aebi, von der Position einer extremen Minderheit aus die große Mehrheit zu kriminalisieren, nicht weil sie ihn verurteilt hatte, sondern weil sie nicht bereit war, so zu leben wie er. Luzifer hat sich dem Schöpfer gegenüber nicht anders verhalten.« Ähnlich wie der Major fand ich Dr. Muggias Art, zu denken und zu reden, irritierend. Vor allem störten mich gewisse Ausrutscher in einen professionellen Jargon, der mir etwas aufgesetzt, angelesen vorkam, und diese tartüffhafte Art und Weise, sich auf der Siegerseite zu fühlen, auf der Seite der »anständigen« Menschen. Aber seine Beziehung zum Major und zu dem Manuskript, mit dem ich mich beschäftigte, war zu wichtig für mich, als daß ich nicht versucht hätte, mehr darüber zu erfahren.
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»Besitzen Sie auch eine Kopie der ersten Fassung?« fragte ich ihn. »Nein«, sagte er, »aber ich habe sie gelesen. Ja, es waren meine Kommentare, die den Major veranlaßten, mit dem Buch noch einmal neu anzufangen. Es handelte sich nur um die ersten drei oder vier Kapitel, etwa dreißig Seiten, die er dann zerrissen hat.« »Aber was haben Sie ihm denn gesagt?« »Es war an dem Tag, an dem wir begonnen hatten, über das Buch Silbermond und Kupfermünze zu diskutieren, das der Major in der Gefängnisbibliothek gefunden hatte und von dem er beeindruckt war. Er sagte mir, daß er es interessant finde, festzustellen, wie alle Menschen sich nach etwas sehnten, das sie nicht haben; schon allein vom geographischen Gesichtspunkt aus: wie alle sich irgendwie danach sehnten, anderswohin zu gehen, sich von dem Ort, an dem sie lebten, zu entfernen, wo immer er auch sei! Und daß sie sich, vielleicht aus Mangel an Phantasie, doch fast immer nur ein wenig zu entfernen suchten, nicht allzuweit weg von Vertrautem. Die reichen Mailänder nach Lugano oder Monte Carlo, die Deutschen in die griechische oder italienische Sonne, die Franzosen auf die Inseln Polynesiens, soweit sie französisch sind. Nach Ansicht des Majors verbarg sich hinter dieser Neigung weniger der Wunsch, mit der Gesellschaft, der man angehörte, zu brechen, als der, als Fremde in einem Milieu zu leben, in dem die gesellschaftlichen Bindungen auf ein Minimum reduziert sind. Das Geld kann sehr viel bewirken: Ein reicher Deutscher, der kein Griechisch spricht, kann zum Beispiel jahrelang auf einer griechischen Insel leben und nur die allernotwendigsten Kontakte mit den Inselbewohnern haben. Wenn er sich emotional selbst genügt, kann er gesellschaftlich völlig beziehungslos leben, bis zu seinem Tod.« Der Major hatte Dr. Muggia gegenüber auch behauptet,
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daß Locarno einen Mikrokosmos verkörpere, in dem man diese besonderen Muster menschlichen Verhaltens beobachten könne, so wie man in einem Labor unter dem Mikroskop die Keime untersuche, die eine Krankheit in einem Organismus erzeugt und in Umlauf setzt. In Locarno lebten viele ältere Deutsche, Skandinavier und Italiener, Pensionäre oder Rentner, die, verschreckt vom Fiskus oder dem politischen Durcheinander ihrer Länder, sich nichts anderes mehr wünschten als ein Leben ohne Aufregungen, bestehend aus Spaziergängen, Gartenarbeit, kulinarischen Entdeckungen, Golf, Fischen, Fernsehen: ein Gleichmaß der Tage, garantiert durch die helvetische Ordnung, die man entweder tödlich langweilig finden könne oder die einem zur zweiten Natur werde: das Leben als einen Weg begreifen, auf dem man sich fortwährend und privilegiert den Turbulenzen und dem Wettkampf der Gesellschaft, in der man bis jetzt gelebt hat, entziehen kann. »Meine Übertretungen waren meine Form von Flucht aus einer Gesellschaft, in der ich alles hatte und haben konnte«, hatte der Major Aebi zu Dr. Muggia gesagt. »Was hätte ich, in Locarno lebend, anderes tun können, um mich in meinem Alter und mit der Riesenmenge Geld, die ich besaß, lebendig zu fühlen; Um für etwas kämpfen oder etwas erobern zu können, was ich noch nicht gehabt hätte ?« Der zweifelnde Ausdruck des Direktors hatte ihn veranlaßt, noch weiter zu gehen. »Ich meine etwas, das ein wirkliches Vergnügen verschafft, ein Gefühl der Herausforderung, eine vitale Empfindung: das Gefühl, ein unbekanntes Land zu betreten, wo sich gefährliche, aufregende und in gewisser Weise exotische Situationen ergeben konnten, fern von der bürgerlichen Welt um mich herum. Genau wie jene, die der Held des Romans von Somerset Maugham in Tahiti gesucht hatte - oder wie Gauguin
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selbst, wenn er denn das Vorbild zu der Figur war. Also, für mich waren das die erotischen Phantasien, zu deren Realisierung ich meine Partnerinnen (der Staatsanwalt zog es vor, von meinen >Opfern< zu reden) verführt habe — gegen Geld oder weil ihnen die Ausschweifung Spaß machte, weil sie neugierig waren oder eine perverse Naivität vortäuschten. Diese konkreten Phantasien, diese geschändeten Öffnungen, diese Münder voll Speichel, diese raschelnde Unterwäsche, diese Waden, diese Fersen, dieser Haarflaum, dieser Schweiß, diese zitternden Zungen, diese geweiteten Hinterbacken, diese sich einkrallenden Finger, dieses Stöhnen...« Der Major machte sich, ohne es merken zu lassen, einen Spaß daraus, bei seinen Beschreibungen besonders dick aufzutragen, hin und wieder ein wenig boshaft ordinäre, anstößige Ausdrücke zu verwenden. Er war überzeugt, Dr. Muggia damit eine kleine Tortur zu bereiten, und beobachtete ihn verstohlen, um die Wirkung auf seinem Gesicht abzulesen, so wie es ihm früher manchmal gefallen hatte, Frau Grunwald in seltsamen Anflügen von Wahrhaftigkeit erröten zu sehen. Vielleicht war Dr. Muggia auch deshalb zu der Überzeugung gelangt, daß der Major ein Delinquent sei, der nichts bereue und den nur das Gefängnis davon zurückhalte, seine Taten zu wiederholen. Und da er das Buch für eine kaum weniger skandalöse Form der psychischen Realität hielt, die er unterschwellig in ihren Gesprächen zu spüren glaubte, hatte er den Major Aebi definitiv in die Kategorie der unverbesserlichen Kriminellen eingestuft, bei denen sich auch hinter der scheinbar unschuldigsten Geste verbrecherische Energie verbergen kann. Der Major Aebi hielt sich inzwischen, wahrscheinlich nicht zu Unrecht, für eine Art Erotikexperten, und eine der Überzeugungen, die er aus seinen einschlägigen Erfahrungen gewonnen hatte, war, daß jeder Mensch in irgendeinem Win-
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kel seiner Psyche eine oder mehrere erotische Präferenzen hat, die, wenn sie aktiviert werden, seine Phantasie entzünden und ihn leichter zum Genuß und zum Orgasmus führen. Welches waren die Präferenzen des Dr. Muggia, fragte sich der Major Aebi, und wie ein Experte der Spionageabwehr, der einen gefangenen, feindlich gesonnenen Agenten des Gegners mit aller Raffinesse aushorcht, um ihm die gegen ihn zu verwendenden Informationen zu entlocken, erzählte der Major völlig frei erfundene Anekdoten über seine »fortschreitenden Übertretungen«, nur um herauszufinden, wo die erotische Achillesferse des Gefängnisdirektors saß, und ihm klarzumachen, daß der Unterschied zwischen ihnen beiden gar nicht so gravierend sei. »Einmal näherten wir — Gerda, Trudi, Frau Grunwald und ich — uns einer Gruppe schwarzer amerikanischer Studenten«, log der Major Aebi, »und wir überredeten drei von ihnen, zwei Mädchen und einen Burschen, mit in die Villa zu kommen. Alle drei waren von stattlicher Figur, groß und vor allem breit. Bei den Mädchen beeindruckten besonders die jungen Gesichter mit der frischen Haut der Zwanzigjährigen über diesen gewaltigen Massen von schwarzem Fleisch, die breiten Schultern, die üppigen Brüste, die riesigen Bäuche, die Beine wie Säulen. Ich lag bereits unter ihnen, halb erdrückt und rasend vor Begierde«, spann der Major seine Lügengeschichten weiter und beobachtete dabei heimlich den Direktor, »das Gesicht in die Möse der einen, die mich mit ihren Schenkeln umklammert hielt, vergraben, so daß ich die Augen schließen mußte, während mir die andere langsam und gründlich den Penis aussaugte, ihn geradezu verschlang mit ihren prallen, weichen und gleichzeitig zupackenden Lippen...« Ich habe nie herausgefunden, ob der Major Aebi in diesen Gesprächen schließlich das Ziel erreichte, das er sich gesteckt
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hatte, nämlich zu beweisen, daß alle Menschen, wären sie in seiner Lage — ungebunden und reich - gewesen, mehr oder weniger genauso gehandelt hätten wie er oder noch schlimmer und daß daher das Urteil, das gegen ihn ergangen war, nichts anderes sei als eine Offenbarung jener neidischen Scheinheiligkeit, wie man sie häufig in der kleinbürgerlichen Welt finde, die sich an die äußeren Formen klammert, um ihre Unfähigkeit im sexuellen Genuß zu verbergen, dem sie sich, wenn sie dürfte, hemmungslos überließe. »Es hegt immer ein großer Teil Dichtung in den autobiographischen Schriften«, bemerkte Dr. Muggia, nachdem er mir von seinen Gesprächen mit dem Major berichtet hatte. »Aus Scham, aus Nachsicht, aus Perversion oder aus Selbstmitleid weicht der Erzähler immer wieder erkennbar von der Realität ab, die er, wie er behauptet, wahrheitsgetreu darstellen möchte. Beim Major Aebi war das jedoch anders: Der Übergang vom Leben ins Schreiben war vollständig. Zuerst hatte er seine Phantasien ausgelebt. Im Gefängnis brachte er sie dann zu Papier. Aus diesem Grund sagte ich ihm eines Tages, es erscheine mir unnütz, daß er schreibe. Es gebe keine Erfindung, es gebe nichts Schöpferisches darin. Alles, was er sich einbilde, schöpferisch zu schaffen, habe er bereits gelebt, der Roman sei eine überflüssige Doublette. Der Major Aebi war wirklich ein interessanter Fall, aber aus dem eben genannten Grund blieb er in meinen Augen weiterhin nur ein gefährlicher Verbrecher.« Aus meiner Miene schien der Direktor herauszulesen, daß er mich mit der Beschreibung, die er von seinem inzwischen verstorbenen Studienobjekt gab, noch nicht überzeugt hatte. »Matthias Aebi«, fuhr Dr. Muggia daher fort, »war fähig, sogar vor den gewitztesten Ermittlern seine wahre Natur zu verbergen. Diese war von einer merkwürdigen Form von Perversion geprägt: eine in sich verbogene Starrköpfigkeit, mit der
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er es fertigbrachte, auch noch die offenkundigste Lüge als zulässige individualistische Verbohrtheit durchgehen zu lassen. Wir haben vorher davon gesprochen, daß eines der Bücher, die ihn in der Gefängnisbibliothek interessierten, diese Sammlung von Daten in der Literatur war, die ein äußerst geduldiger Herausgeber zusammengestellt hat: dreihundertsechsundsechzig Passagen aus verschiedenen Büchern, in denen es jeweils um einen bestimmten Tag des Jahres geht. Nun, bei unseren Gesprächen hatte mir Matthias Aebi zu verstehen gegeben, daß es ihm, unerklärlicherweise, außerordentlich gefallen würde, der Nachwelt durch ein Plätzchen in dieser Sammlung in Erinnerung zu bleiben. Eine echte, kleine, unerklärliche fixe Idee. Er kam mehrmals darauf zurück, als ob es ihn ärgere, keine Möglichkeit zu finden, das zu erreichen. Dann ließ er das Thema fallen. Aber als er mir den ersten Entwurf seines Romans brachte, den, den er später zerriß, forderte er mich mit einem schiefen und sarkastischen Grinsen auf, die Anfangsworte zu lesen. Wissen Sie, wie das erste Kapitel begann; >Der Prozeß gegen Matthias Aebi wegen seiner fortschreitenden Übertretungen begann am festgesetzten Tag, dem 31. September 19 ... Die Gerichtsberichterstattung vom 1. Oktober widmete dem Ereignis breiten Raum.. .< Erkennen Sie den ausgemachten Trick? Wie ein Taschenspieler, dem es nicht gelingt, ein lebendiges Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, und der das Kaninchen daher tötet und es triumphierend den Zuschauern hinhält. Bemerken Sie nicht, daß sich hinter dieser scheinbar harmlosen List, sich sogar den Kalender dienstbar zu machen, die Persönlichkeit eines Mannes verbirgt, der zu allem bereit ist, nur um sein eigenes Ego zu befriedigen?« »Und doch hat der Major Aebi zum Schluß darauf verzichtet, sein Manuskript zu veröffentlichen«, bemerkte ich. »Wieso, nach Ihrer Ansicht?«
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Auch für Dr. Muggia war die Auskunft, die zu referieren er sich anschickte, zu einfach, um überzeugend zu sein. Doch er gab sie trotzdem, sozusagen mit dem Pflichtgefühl des Berichterstatters. »Als er nach seiner Freilassung eines Tages wegen irgendwelcher bürokratischer Formalitäten in die Haftanstalt kam, fragte ich ihn, was aus seinem Buch geworden sei. Er antwortete mir, er habe darauf verzichtet, es zu veröffentlichen, weil er nach all dem, was ich ihm gesagt hätte, keine Lust mehr habe, sich noch einmal zu sehen, so wie man keine Lust habe, sich einen alten Film noch einmal anzusehen. Ja, seine genauen Worte waren: >Um es mit einem dummen Sprichwort zu sagen: Man lebt nur einmal, nicht wahr, Herr Direktor? Und man kann sich auch nur einmal entdecken. Sie waren es, der mich das hat begreifen lassen.. .<«
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13 Frau Grunwald kritisiert die Presse — Sind die Schweizer ein Stamm? — Die erste Fassung des unveröffentlichten Manuskripts — Frau Grunwald überläßt sich der Emotion der Erinnerungen
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ie wissen genau, wie unmöglich, ja geradezu unnatürlich es ist, die menschliche Seele in einem einzigen Bild festhalten zu wollen, gültig für jeden unterschiedlichen Augenblick oder für das ganze Leben«, sagte Frau Grunwald zu mir und ließ sich auf einem hohen Büro-Ledersessel nieder, hinter dem Schreibtisch ihres Arbeitszimmers, in dem sie mich empfing. Sie sprach mit dem entschiedenen und resignierten Ton eines Menschen, der nicht umhinkommt, noch einmal (und zwar bei Null anfangend) einen äußerst komplexen Sachverhalt darzustellen, den er besser kennt als der Gesprächspartner. Ich saß in einem Lehnstuhl dem Schreibtisch gegenüber, in einer etwas tieferen Position. Ich fragte mich, ob Frau Grunwald dieses physisch-räumliche Verhältnis absichtlich arrangiert habe, dem auch jemand, der von Psychologie völlig unbeleckt war, eine gewisse Bedeutung zuschreiben mußte. Man begriff sofort, daß sie nicht die Absicht hatte, sich irgend etwas anlasten zu lassen, und wenn sie sich mit Einwänden oder gegensätzlichen Meinungen konfrontiert sähe, würde sie von dieser äußerlichen Position der Überlegenheit profitieren, um ohne Zögern alles abzuschmettern. »Der Prozeß gegen Matthias hatte, unter vielem anderem, zur Folge, daß sich die allgemeine, morbide Aufmerksamkeit auf die erotische Seite der Straftaten konzentrierte, die von
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Matthias und, wenn auch in geringerem Maße, von mir begangen worden sind. Es war unmöglich, vor Gericht der öffentlichen Meinung und den Geschworenen verständlich zu machen, wie und warum Menschen wie Matthias und ich soweit hatten kommen können. Wohlgemerkt, ich spreche nicht so, um Entschuldigungen vorzubringen oder Fakten zu leugnen, deren man mich bezichtigt hat. Ich will nur sagen, daß die morbide Bosheit der Journalisten, die Konzentration der Fernsehberichterstattung auf die heikelsten Stellen, die Rhetorik der moralisierenden, durchweg von Sexphobie geprägten Tiraden im Endeffekt dazu führten, daß sowohl die tatsächliche Schuld von Matthias und, in geringerem Maße, die meine wie auch die Motive unseres Verhaltens verzerrt wurden: Motive, die, ohne daß ich sie als edel bezeichnen möchte, die Folgerung aus einer Reihe von Überlegungen philosophischer Natur waren, gebündelt in der Frage, die sich jeder von uns früher oder später stellt: Warum lebt man?« Ich richtete mich ruckartig auf, da ich glaubte, ich hätte falsch verstanden oder sie hätte sich versprochen: »Sie wollen sagen: Warum schreibt man?« fragte ich und hob den Finger, wie um sie auf einen Lapsus aufmerksam zu machen. Frau Grunwald lachte über meine Unterbrechung, und dieses Lachen, die ironische Vertrautheit mit dem Thema, die darin lag, das überraschend Ungekünstelte, das es erkennen ließ, machten sie mir mit einem Schlag sympathisch. »Nein, nein, das hat sich Matthias erst im Gefängnis gefragt, als er sich entschloß, den Roman zu schreiben, den er dann, als er geschrieben war, nicht mehr veröffentlichen wollte. Zuvor, in der Zeit der fortschreitenden Übertretungen, lautete die Frage, die er sich stellte: Warum lebt man?« Frau Grunwald war wieder nach Zürich gezogen. Vom Fenster ihres Arbeitszimmers aus ließ die ungewöhnliche Di-
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stanz zu den gegenüberliegenden Hausdächern ahnen, daß unten die Limmat floß. Auf einem Dach zur Rechten trug ein großes Gitter die pompöse Reklame einer Versicherungsgesellschaft, alles in Großbuchstaben, dazu bestimmt, abends in rotem Neonlicht zu erstrahlen. »Ich sehe, daß auch Sie der Vorstellung anhängen, Matthias und ich seien zwei arme Erotomanen aus der Provinz gewesen«, setzte Frau Grunwald mit einem resignierten und nachsichtigen Lächeln das Gespräch fort. »Aber dem war keineswegs so. Wir Schweizer machen den Ausländern, auch den uns unmittelbar benachbarten, oft den Eindruck, Angehörige eines jener isolierten Stämme zu sein, die Jahrhunderte hindurch Inzucht betreiben: ein wenig dumpf, geistig implodiert, nicht fähig, sich ungezwungen zwischen den Lianen der Kulturwälder der modernen Welt zu bewegen. Aber so ist es nicht, und wenn es nicht ein wenig lächerlich klänge, würde ich Sie daran erinnern, daß wir zum selben Stamm gehören wie Klee und Dürrenmatt, Pestalozzi und Böcklin und auch Rousseau und Calvin!... Kurz und gut, wir verstehen zu denken! Räumen Sie dem armen Matthias wenigstens soviel postumen Kredit ein, wie Sie ihn, da bin ich sicher, dem Marquis de Sade gewähren würden, wenn Sie unbedingt einen erotischen Bezugsrahmen für die Gedanken des Majors brauchen.« »Nichts lieber als das, Frau Grunwald«, beeilte ich mich zu sagen, »genau deshalb habe ich Sie ja aufgesucht. Mir kommt es vor, als schneide das Manuskript des Majors eine Reihe von Themen an, ohne sie gänzlich auszuführen, die mich außerordentlich interessieren. Es handelt sich um Gedanken, emotionale Entwicklungen, deren Ergebnis zu kennen ich das Bedürfnis spüre... Aber ich sehe, daß Sie genau verstehen, was ich sagen will ... Darf ich Sie übrigens fragen, ob Sie das Manuskript des Majors gelesen haben?« »Ja«, erwiderte Frau Grunwald, »Matthias hat es mir zum
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Lesen gegeben, aber erst, nachdem es von den Verlagen, an die er es geschickt hatte, abgelehnt worden war, das heißt, als er selbst zu dem Schluß gekommen war, daß es keinen Sinn mehr habe, es zu veröffentlichen.« »Und was für einen Eindruck hat es auf Sie gemacht?« »Den einer sehr blassen Fotografie von dem, was wir wirklich erlebt haben«, antwortete Frau Grunwald mit Bestimmtheit. »Eine Art von stofflicher, prosaischer Zusammenfassung dessen, was ein aufwühlendes existentielles Erdbeben war: eine Kinderbettdecke aus harmlosen Worten, unter der man höchstens die Wölbungen und Vertiefungen ahnen konnte, die philosophischen und gefühlsmäßigen Abgründe und Höhenflüge, in die wir geraten waren, benommen und atemlos, mit schrecklichen Ängsten und unvorstellbaren, auch intellektuellen Genüssen, ach!... Wie könnte ich Ihnen vermitteln, welche Empfindung der lange Blick und das noch längere Schweigen zwischen uns, Matthias und mir, auslöste, als ich nach der letzten Seite die Augen zu ihm hob?« Ehrlich gesagt, ich war mehr als verwundert. Die Person, die zu mir sprach, war sicher nicht die Frau, die ich mir nach dem Manuskript oder den Prozeßberichten vorgestellt hatte. Gleich an der Wohnungstür hatte ich sie sofort erkannt: an ihrer Art, sich zu kleiden, an dem seitlich glatt zurückgestrichenen Haar, an der Aura von bürgerlicher Ordentlichkeit, die als Ziel seiner bilderstürmerischen Erotomanie hervorzuheben der Major Aebi bemüht gewesen war. Doch als Frau Grunwald angefangen hatte zu reden, war es, als ob ein anderer Mensch als der, den ich mir vorgestellt hatte, in diesen vom Major in allen seinen sexuellen Funktionen so schamlos beschriebenen Körper gefahren wäre (und je minutiöser die Beschreibungen ausfielen, desto skandalöser konnten sie erscheinen). »In einem ersten Moment«, fuhr Frau Grunwald fort, »hatte
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mich die Lektüre des Manuskripts enttäuscht. Soll das alles sein? dachte ich. Alles, was wir gemacht haben, all die Genüsse, die wir entdeckt haben? Und danach das gemeine An-denPranger-gestellt-Werden beim Prozeß, der Verlust jeglicher Privacy, die ganze Wut fremder Menschen, die uns ihre verzerrtesten Phobien entgegenschleuderten, diese Erschütterung des Herzens, diese Zerstörung der Freundschaften, der Gewohnheiten, des Bildes, das man von sich selbst hat, all diese Gegenproben auf die Gefühle, die Werte, die erreichten und verfehlten Ziele, all das ... ließ sich das zusammenfassen in den grauen und banalen Beschreibungen kleiner Orgien mit oder ohne Minderjährige, im phantasielosen Spiel des StripPoker, gerade deswegen ausgewählt, weil dabei jede Phantasie überflüssig ist, oder in der fingierten Versteigerung eines Damenschlüpfers? Kurz, ließ sich das alles auf eine konkrete Serie alberner und vulgarisierter Aktionen reduzieren, auf, für sich genommen, miese Handlungen, auf Straftaten meinetwegen — wo es für uns doch so war, als hätten wir mit unserem Tun den Schlüssel zu unserer Unsterblichkeit gefunden?« Frau Grunwald sah mich an, als wolle sie sich vergewissern, einen Gesprächspartner vor sich zu haben, der in der Lage war, das zu begreifen, was zu ihrer Erbitterung — nach so langer Zeit, ja einem Leben — nicht verstanden worden war: Genauer gesagt, es verbitterte sie, daß weder Matthias noch sie selbst fähig gewesen waren, es zu erklären. Nicht zu rechtfertigen: zu erklären. Vielleicht hatte sie seit langem nicht mehr so mit jemandem gesprochen. Die gesellschaftliche Ächtung kann weniger leicht zu durchbrechen sein als eine Gefängnisisolierung. Und es ist dann selten, daß man sich gerade denen des eigenen Stamms völlig eröffnen kann, vor allem nach einer rechtskräftigen Verurteilung. Ich aber kam wie ein Forscher von einem anderen Kontinent.
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»Dann, bei späteren Lektüren, nach dem Tod von Matthias, gewann das Manuskript für mich einen neuen Wert. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Matthias schon vor dem Tod seiner Frau gekannt habe, als wir beide gewissermaßen verheiratet waren, ich mit Herrn Hofer und er mit Verbena. An den Abenden zu viert, zwei- oder dreimal im Jahr, hatte ich einen Matthias kennengelernt, so glatt wie die Oberfläche eines Sees, ohne das leiseste Kräuseln, und doch ahnte man unbekannte, beschwichtigte Untiefen, zu deren Erkundung das erschütterungsfreie Privatleben freilich nicht ermutigte. Herr Hofer kannte dieses Privatleben etwas besser als ich, schon weil er auch die Buchhaltung für die Chefs führte, und wenn er mir gegenüber bestimmte Einzelheiten erwähnte, beispielsweise die Bewegungen auf dem privaten Bankkonto von Matthias, bestärkte er mich in meinem Eindruck: Die Alltagsexistenz des Major Aebi war ein Wunder an Ausgeglichenheit, ohne Erschütterungen. Er schien über die Tage, die Monate, die Jahre zu gleiten wie auf einer Eisfläche. Betrachtete man seine kleinen Ausgaben, die geringen Abbuchungen, die er für sich und seine Frau vornahm, den ruhigen Fleiß, mit dem er an den Sitzungen des Verwaltungsrats teilnahm, so war es, als beobachte man die Geometrie der parallelen Linien, die die Kufen der Schlittschuhläufer auf dem Eis hinterlassen, als einzige, flüchtige Spur ihres Vorübergleitens.« Für einen Augenblick schoß es mir durch den Kopf, wie recht Professor Silvestri gehabt hatte, als er mir riet, Helena Grunwald aufzusuchen. Sie war tatsächlich nicht bloß eine »hörige Komplizin« des Majors gewesen, wie die Berichterstatter aus Trägheit jedesmal wiederholt hatten, wenn es darum gegangen war, über sie zu schreiben. Was sie sagte, half mir nicht nur, das, was der Major getan und dann beschrieben hatte, besser zu verstehen: Es half mir auch, das, was ich tat
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— mit dem Manuskript des Majors und mit meinem Leben —, von einem anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. »Nach Verbenas Tod«, fuhr Frau Grunwald fort, »machte Matthias drei, wie er es nannte, schweflichte Erfahrungen durch. Locarno ist eine Stadt von verschwommenen Blautönen, ruhigen Bankkonten, mikroskopischen Emotionen. Es war der perfekte Ort für die Art von Leben, das Matthias und Verbena zusammen führten, solange Verbena da war. Vielleicht ist es nur die Trägheit der Gewohnheiten, daß man sich schließlich der Trägheit der Gefühle überläßt... Aber danach! Glauben Sie mir, das, was Matthias danach bewegte, war etwas Glühendes! Er brannte innerlich, ohne sich dessen ganz bewußt zu sein — und um ihn herum diese Stadt auf in den See gerammten Pfählen, die Gesichter des Supermarkts, der Aperitif auf der Piazza bei >Paolino<, die Abrechnungen über die Einnahmen, die ihm der Ragioniere Facchinetti am liebsten jeden Tag persönlich vorgelegt hätte... kurz, das immerwährende Nichts! Matthias jedoch durchlebte eine ungeheuere Erfahrung, die emotional und psychisch in keinerlei Verhältnis zu der Welt stand, die ihn umgab. Er war wie ein Gulliver, der plötzich erwacht und sich in seiner ganzen Größe in einer Stadt von Liliputanern findet. Wenn ich sage, >ohne sich dessen bewußt zu sein<, dann wiederhole ich etwas, was Matthias mir später, in der Zeit des Prozesses, gesagt hat, als wir für uns versuchten, die logische Abfolge dessen, was geschehen war, zu rekonstruieren. Er war sich zum Beispiel erst später >bewußt geworden< welche Wirkung es auf seine psychische Verfassung gehabt hatte, mit einem Schlag Witwer und zugleich sehr reich zu sein. Dem Anschein nach hatte sich nichts geändert. Verbena war in den letzten Jahren mehr eine Gefährtin seiner Tage für ihn gewesen als eine Ehefrau oder gar eine Geliebte. Aber die bürgerlichen Konventionen hatten das Ehepaar weiter so leben lassen,
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als ob sie einander auch noch körperlich liebten, so wie die kümmerliche Außenseite eines innen völlig von Termiten zerfressenen Holzbalkens darüber hinwegtäuscht, daß das Dach keine wirkliche Stütze mehr hat...« Auch meinem Eindruck nach, sagte ich, sei dies die traumatische Erfahrung gewesen, die alles übrige zum Einsturz gebracht habe: Genauso, wie wenn man unvorsichtig gegen den termitenzerfressenen Balken stößt und der unter dem einstürzenden Teil des Daches zu einer Staubwolke zerfällt... »Im Manuskript geht der Major exakt von da aus«, redete ich mich angesichts der Entdeckung, daß mein Eindruck als Leser mit der Erfahrung einer Protagonistin und Vertrauten wie Frau Grunwald übereinstimmte, in Eifer. »Wenn er seine Reise im Zug nach Wien beschreibt und die Vorbereitung des Treffens mit Trudi..., wenn er die Wahrscheinlichkeit einkalkuliert, von Verbenas Foto einen so perversen Gebrauch zu machen, und sich gleichzeitig benimmt wie immer, im Sacher, an der Theaterkasse der Staatsoper, als ob Verbena dabei wäre, um ihre gemeinsame Wien-Woche zu genießen...« Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr begann ich zu sehen, wie sich die Schere öffnete zwischen dem, was identisch geblieben zu sein schien, und dem, was auf dem Grunde dieses Herzens, das nun ein Fraß der Würmer war, eine Verwandlung von fast vergleichbarer biologischer Bedeutung erfahren haben mußte. »Die zweite auflodernde Erfahrung für Matthias«, fing Frau Grunwald wieder an, »war nicht so sehr die Feststellung, daß er die seinen Impulsen verfügbarste und zugleich auf die heftigste Weise >übertretende< Sexualität in Reichweite hatte: die Kellnerin aus dem Sacher, die Freundinnen der Frau, die Angestellten, auch wenn sie dem Anschein nach unzugänglich waren (wie oft hat er zu mir gesagt, daß ich ihm am besten von allen gefiele, eben weil ich auch noch die Leiterin eines
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großen Supermarktes sei — daß er ihm gehöre, spiele dabei keine Rolle —, ein doppeltes Symbol anständiger Rangordnung im Schweizer Kommerz!), die kleinen verdorbenen Mädchen, die immer jünger werden ... nein, es war mehr die plötzliche Erkenntnis, daß dieses Gemisch aus Sex und Geld, Perversion und Sünde, Angst vor Skandalen und schweigendem Austausch von Verdammungsflüchen mit denen, die nach und nach ganz oder teilweise Kenntnis von seinen fortschreitenden Übertretungen erhielten, daß es gerade das sei, was ihm am besten im Leben gelinge! >Andere weihen sich der Kunst, häufen Geld an, folgen humanitären oder mystischen Berufungen, widmen sich der Küche, der Schlemmerei, dem Wein, oder sie gehen in die Politik<, sagte er zu mir. >Ich habe begriffen, daß ich mein Bestes gebe und die höchste Befriedigung erfahre, wenn ich vor einem Metzgerburschen deinen Schenkel drücke oder dich zwinge, mich auf einer Bank an der Anlegestelle zu saugen, wo jemand uns sehen könnte, oder wenn ich dir befehle, einem minderjährigen Mädchen, das eine Lehrstelle haben möchte, vor mir den Rock hochzuheben, weil ich weiß, daß du ihr bereits gesagt hast, was sie darunter tragen soll, und sie vielleicht ahnt oder auch nicht, daß du und ich uns einig sind.. .<« Während sie diese heiße und einzigartige Phase heraufbeschwor, die von ihr als Instrument der Sexualität unter der absoluten Herrschaft des Majors gelebt worden war, hatte sich Frau Grunwald verändert. Überwältigt von der Fülle unausgesprochener Erinnerungen, brachte sie die Worte nur mühsam heraus. Die Lider senkten sich fast zwangsläufig, um die Augen vor der Gegenwart zu verschließen und sie weit einer betäubenden inneren Vision von erregenden und unwiederholbaren vergangenen Erfahrungen zu öffnen. Es waren Erinnerungen an Straflosigkeit, an Genuß, fast an Allmacht...
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Frau Grunwald preßte die Unterlippe zwischen die Zähne. Ich hatte den Eindruck, als habe sie eine Hand auf ihren Schoß gelegt, während sie sich mit der anderen, den Ellbogen auf die Schreibtischplatte gestützt, ständig übers Kinn strich. Der Schreibtisch hinderte mich daran zu sehen, ob sie masturbierte. Ich bemerkte, daß sie nichts tat, um mir ihre Erregung begreiflich zu machen. Ich konnte nur ihr Gesicht betrachten und der Phantasie freien Lauf lassen. Plötzlich erstrahlte das große Reklameschild der Versicherungsgesellschaft in einem grellen roten Licht, das in das Halbdunkel des Arbeitszimmers fiel. Frau Grunwald fuhr zusammen, als ob ihr die Luft wegbliebe. Ich stellte mir ihre Hand zwischen ihren Schenkeln vor, unruhig und behend wie ein lebendiges kleines Tier.
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14 Die
dritte
zerknittertes
»schweflichte« Heftchen
—
Erfahrung
des
Verbotene
Kinderspiele
Major
Aebi in
— einem
Ein
arg
Flücht-
lingslager — Über Kopulation und Rache
D
ie dritte »schweflichte« Erfahrung des Major Aebi (um das kuriose Adjektiv zu verwenden, das Frau Grunwald im Zusammenhang mit den Erleuchtungsmomenten ihres Mentors für eine Saison gebraucht hatte) verdient eine etwas tiefergehende Behandlung. Tatsächlich geht sie, im Unterschied zu den beiden anderen, auf eine frühe Episode im Leben des Majors zurück, die zu den »fortschreitenden Übertretungen« seines reifen Alters etwa in dem Verhältnis stand wie, um es drastisch zu sagen, eine Knollenwurzel, eine Karotte oder ein Fenchel zu dem leuchtend grünen Büschel, das oben herauswächst. Es war etwas, das dem Major Aebi in den ersten Tagen der Woche zu viert — Matthias, Trudi, Helena und Gerda — aufgegangen sein mußte und dem er dann in seinem Manuskript ein Kapitel mit der Überschrift Die Quadratur des Kreises widmete. Frau Grunwald, mit der er später des öfteren auf dieses Thema zurückkam, berichtete mir ihrerseits einige bezeichnende Details, die der Major ausgelassen hatte. Es erschien mir daher notwendig, diese Seiten zu bearbeiten, um der Erzählung eine gewisse Einheitlichkeit zu geben. Da sich jedoch die Episode und die Verbindung zu dem, was ein halbes Jahrhundert später passierte, bereits im Manuskript fanden, wollte ich,
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daß sich das Ganze so läse, als ob es vom Major geschrieben wäre; meine Leser sollten lediglich auf die erzählerischen Nahtstellen aufmerksam werden, die zwar vorhanden, aber, wie ich hoffe, kaum sichtbar sind. Der Major Aebi hatte das Erlebnis der Quadratur des Kreises — und mit dieser die menschlichen Grenzen überschreitenden Erfahrung das Gefühl, sich von nun an den bizarrsten Formen der Sexualität hingeben zu können — an dem Tag, an dem ihm plötzlich wieder das erste pornographische Heftchen einfiel, das ihm in die Finger geraten war. Aebi war damals knapp zehn Jahre alt gewesen. Er konnte diese Erfahrung, die seither in seinem Unterbewußtsein geschlummert hatte und nun im Verlauf eines Abends voller sexueller Exzesse mit der Klarheit eines Photogramms auf einem erleuchteten Bildschirm wiederaufgetaucht war, genau datieren, denn er hatte sie 1944 in Celerina gemacht, während des Zweiten Weltkriegs. Nach der Gründung der Republik von Salò in Norditalien hatten viele italienische Juden und Antifaschisten mit ihren Familien in der Schweiz Zuflucht gesucht. Sei es aus eingefleischtem nationalem Egoismus, sei es um den Nazis keinen Anlaß zur Vergeltung zu geben oder um einen noch größeren Flüchtlingsstrom zu verhindern, jedenfalls hatten die Schweizer einen großen Teil der Flüchtlinge in den verschiedenen Kantonen in Lagern interniert. Eines dieser Lager war in Celerina im Kanton Graubünden eingerichtet worden, und die Mutter des Major Aebi hatte sich bereit erklärt, ein Jahr lang als Elementarlehrerin für die Kinder der Internierten zu arbeiten. Eine Tante von ihm war die Direktorin der örtlichen Grund- und Mittelschule und hatte Aebis Mutter in dem großen Gebirgshaus, in dem sie allein lebte, Unterkunft geboten. Die Mutter und der kleine Matthias zogen also dorthin,
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und der Vater Aebi kam jeden Samstagnachmittag mit dem Autobus, der von Bellinzona nach Sankt Moritz hinauffuhr. Für die internierten Kinder war ein besonderer Kurs eingerichtet worden. Jeden Morgen holte sie ein Militärlastwagen vom Lager ab und brachte sie zur Schule. Nach der MittagsSpeisung und der Aufgabenzeit am Nachmittag fuhren sie dann punkt 16.30 Uhr wieder ins Lager zurück. Matthias Aebi genoß als Neffe der Direktorin und Sohn der Lehrerin winzige Vorrechte, die ihm in der Welt der Kinder eine eigene, gelegentlich sehr beneidenswerte Position verschafften. Dies im besonderen Maße in den Augen seiner italienischen Altersgenossen, für die die Stunden, die sie in der Schule verbrachten, auch eine Zeit relativer Unbeschwertheit waren, verglichen mit dem Gewirr von Vorschriften und Verboten, die das Leben im Lager regelten. Zu der Gruppe von etwa zwanzig Kindern unterschiedlichen Alters, die jeden Tag folgsam und ordentlich dem Lastwagen entstiegen (es ist seltsam, wie unter solchen Umständen auch die Kinder automatisch auf eine ihrem Alter gemäße Ausgelassenheit verzichten: als ob sie bereits gelernt hätten, daß in jedem Land die Emigranten oder die politisch Verfolgten weniger Rechte haben als die anderen), gehörten auch zwei Mailänder, Bruder und Schwester, dreizehn und neun Jahre alt. Sie hießen Leopoldo und Miriam Steiner, waren Juden ursprünglich österreichischer Herkunft, blond und schrecklich wohlerzogen. Leopoldo spielte gut Geige, und Matthias' Mutter dachte, daß der Junge in der freien Stunde, ehe der Lastwagen die Kinder aus dem Lager wieder abholte, unter der Anleitung einer ihrer Kolleginnen, die ebenfalls Geige spielte, üben und Matthias mit seiner kleinen Halbvioline, die er zu Weihnachten bekommen hatte, davon profitieren könnte. Auf diese Weise würden sie und ihr Mann herausfinden, ob Matthias
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musikalisch so begabt sei, wie sie hoffte. Sie ahnte zwar, daß das nicht der Fall war (und in der Tat zeigte sich das auch nach kurzer Zeit), aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Die Lehrerin kam an drei Tagen in der Woche. An den anderen drei Tagen nahmen Leopoldo und Matthias ihre Instrumente und gingen, während ihre Kameraden auf dem Sportplatz neben der Schule Fußball spielten, auf eine kleine, dem Wald zugewandte Terrasse, um zu üben, was ihnen die Lehrerin aufgegeben hatte. Leopoldo besaß ein paar Notenhefte, die ihm seine Mutter in geblümtes Papier eingebunden hatte. Eines Tages glitten ihm diese Hefte aus der Hand, und aus einem der am Boden liegenden fielen ein paar zerknitterte, bedruckte Blätter heraus, die nichts anderes waren als Reste eines pornographischen Heftchens, von dem man den Umschlag abgerissen hatte. Der Druck und die Verbreitung pornographischer Publikationen waren zu jener Zeit in der Schweiz strafbar, und daher haftete allen derartigen Druckerzeugnissen, die heimlich in Umlauf waren, etwas von Untergrund und illegaler Presse an, sie waren gleichsam von einer Patina des Verbotenen und des von gierigen Fingern Zerfledderten überzogen, das sie auf Anhieb kenntlich machte. Und natürlich zirkulierte eine bestimmte Anzahl davon in den Schulen. Matthias jedoch hatte bis dahin noch nie etwas Derartiges gesehen. Das wußte Leopoldo aber nicht, und da er fürchtete, Matthias bei dieser Übertretung nicht als Komplizen gewinnen zu können, wenn er nichts zu sehen bekäme, beeilte er sich, es ihm zu zeigen, unter der Bedingung, daß er niemandem ein Wort davon verraten dürfe. Matthias schwor es, und als er sich nach so vielen Jahren an die Szene erinnerte, stellte er fest, daß er in seinem ganzen späteren Leben nie mehr ein so ausgefeilt formuliertes und feier-
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liches Versprechen abgegeben hatte wie das, das Leopoldo ihn hatte wiederholen lassen. In dem Heftchen, genauer gesagt auf den wenigen Seiten, die davon übriggeblieben waren, fanden sich auch vier oder fünf Fotos. Aber nur eines davon hatte ihn beeindruckt, vielleicht weil es das einzige war, bei dem er sich als Kind vorstellen konnte, was die Frau und der Mann, die darauf zu sehen waren, miteinander machten. Die Frau war ein blutjunges Zimmermädchen mit einem fast kindlichen Gesicht, das rittlings über einem alten Mann mit weißem Backenbart kauerte, der seinerseits in einem bürgerlichen Salon auf dem Teppich lag. Das Mädchen trug schwarze Strümpfe, befestigt an einem Mieder, das ihm die Taille über die Maßen einschnürte, und die nackten, üppigen runden Hinterbacken schwebten wenige Zentimeter vor den Augen, der Nase und dem Bart des Alten, der sie mit einem karikierten Ausdruck tierischer Gier betrachtete und sich dabei mit der Zunge die Lippen leckte. Der kleine Matthias dachte zuerst, die Szene zeige das Mädchen, das sich lachend zu dem Alten umgewandt hatte, wie es sein Geschäft ihm ins Gesicht verrichte. Dann dachte er, daß es sich vielleicht um irgendeinen verbotenen Scherz handle. Denn daß es etwas Verbotenes war, daran bestand kein Zweifel, das ging schon aus Leopoldos Verhalten hervor. Schließlich ließ ihn Leopoldo den Text lesen, den er schon fast auswendig kannte, und Matthias merkte, daß es anscheinend nicht ums Kacken ging, sondern um etwas Ähnliches, ohne daß er jedoch genau begriff, worum. In den folgenden Tagen festigte die verbotene und geheime Lektüre das Band zwischen den beiden Jungen, trotz des Altersunterschieds, und trieb den Dreizehnjährigen dazu, von dem Kleineren eine weitere Übertretung zu verlangen, von der
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er, auf Ehrenwort, zu niemandem etwas sagen dürfe: ihn zu masturbieren. Dem zerlesenen Heftchen nach empfanden Jungen und Männer, denen irgendwer den Zipfel rieb, ein paradiesisches Vergnügen, wie eine andere Fotografie zeigte, auf der dasselbe junge Zimmermädchen besagte Handlung laut Bildunterschrift »an dem Enkel des Hausherrn, Gianmarco« vornahm. Und tatsächlich schien ein Junge in knielangen Hosen (damals typisch für das Alter zwischen Kind und Jugendlichem) und vom untadeligen Aussehen eines kleinen wohlerzogenen Bürgers wie verzückt durch die Tatsache, daß die Frau, an der durch eine unziemliche Körperbewegung, da, wo die Schenkel zusammenliefen, ein schwarzes Haarbüschel zu sehen war, mit beiden Händen seinen Penis und die Hoden ergriffen hatte. Mit diesem eigentümlichen Andachtsbuch hatte Leopoldo Matthias an eine Stelle im Wald geführt, wo er sich vor Überraschungen sicher glaubte, und sich von ihm masturbieren lassen, wobei er versprach, ihm das gleiche Vergnügen zu bereiten. Doch als er zu dem seinen gekommen war (zu einer gewissen Überraschung von Matthias, dessen Finger davon besudelt waren), hatte er dem Kleineren erklärt, daß er, eben weil er kleiner sei, noch nichts davon hätte, und es sei daher unnütz, es auszuprobieren. Als er jedoch die Enttäuschung von Matthias sah und fürchtete, das Gefühl, betrogen worden zu sein, könnte diesen dazu bringen, das Geheimnis zu verraten, hatte sich Leopoldo einen neuen Köder für ihn ausgedacht: Er versprach ihm, daß er statt dessen seine kleine Schwester Miriam berühren dürfe. Kinder können hartnäckige und unerbittliche Schuldeneintreiber und -bezahler sein. Als Matthias eines Sonntags einen Besuch im Lager machte, wurde er von Leopoldo in eine Werkzeugbaracke geführt, in der Miriam schon auf sie wartete, und unter dem Vorwand, Verstecken zu spielen, beglich
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Leopoldo seine Schulden: Hinter einem Holzstoß brachte er seine Schwester dazu, den Rock hochzuheben und ihren Schlüpfer von Matthias betasten zu lassen, den er gleichzeitig antrieb, schnell zu machen, bevor jemand hereinkäme. Matthias hatte es getan, und für den Rest seines Lebens trug er, unlösbar miteinander verbunden, die dunkle, stechende Lust in sich, eine, weshalb auch immer, verbotene Handlung »der Großen« auszuführen, während irgend jemand ihn dabei beobachtete, und die Angst, von irgend jemand anderem entdeckt zu werden, der ihn deswegen bestrafen würde. Er hatte, noch aufgewühlt, Miriam nachgesehen, die als erste aus der Baracke ging, das Säckchen Tonmurmeln in der Hand, das Leopoldo ihr, nachdem es durch irgendeinen Trick in seine Hände gefallen war, zum Ausgleich für ihre Bereitwilligkeit zurückgegeben hatte. Auch das eine Form von Bezahlung. Es ist nun an der Zeit, lieber Leser, daß ich dir etwas verrate, was vielleicht auch dir hilft, eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage zu finden, die über verschiedene Anläufe zu diesem Buch geführt hat: Warum schreibt man? Oder, wie sich die Frage auch stellte: Schreibt man, weil man krank ist? Es war nämlich genau an der Stelle der Lektüre des Manuskripts, daß ich plötzlich eine Art Verpflichtung fühlte, diese Hinterlassenschaft des Major Aebi zu veröffentlichen. Auch ich war als kleiner Junge von meinen Eltern gezwungen worden, zwei Jahre lang Geige zu lernen, bis sie merkten, daß ich auf diesem Gebiet keinerlei Begabung hatte. Auch ich hatte weit zurückliegende Rechnungen zu begleichen, Soll und Haben. Und den Text des Majors zu bearbeiten schien mir ein angenehmerer Weg zu sein, als das Problem direkt anzugehen, wenn auch ich mein doppeltes Spiel zwischen Schein und Sein ausgleichen wollte. In seinem Bericht fährt der Major Aebi fort zu erzählen, wie er in jenem frühen Alter ineinander verflochtene kind-
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liche Entdeckungen und Gefühle erlebte, sexuelle Triebe und sinnliche Wahrnehmungen: Leopoldos Geigenkasten war mit schwarzer Seide ausgeschlagen, glänzend fürs Auge und glatt, wenn man sie berührte... der Modergeruch der Werkzeugbaracke und des Holzstoßes kehrten jedesmal berauschend wieder, wenn er auf dem Teppich lag und zu Trudi sagte, sie solle sich ihm aufs Gesicht setzen ... Und die Schar kleiner Mädchen, die er mit Frau Grunwalds Hilfe Schlüpfer und Hemdchen anziehen ließ, um sie ihnen, unter dem Vorwand einer Kindermodenschau, am Körper zurechtzustreichen, ließ ihn mit unvergleichlicher Spannung wieder jene Mischung aus Lust und Angst empfinden, die so durchbohrend war, daß sie ihn hatte wünschen lassen, er möge entdeckt und ein für allemal bestraft werden — so wie jedes Geschöpf auf dem Höhepunkt sexueller Erregung den Orgasmus herbeisehnt, auch wenn es weiß, daß damit dieser Paroxysmus von Genuß (schon zu lang ausgedehnt, als daß er noch weiter aufrechterhalten werden könnte) zu Ende ist. Und auch der Kasten meiner Halbvioline war innen mit raschelnder, sich glatt anfühlender schwarzer Seide ausgeschlagen... In einem jener Fragebogen, die sich zur Unterhaltung des Lesers manchmal in Zeitschriften finden und den ich im Wartezimmer eines Arztes entdeckt hatte, lautete eine Frage: Welchen Beruf würden Sie gern ausüben, wenn Sie noch einmal die Wahl hätten? Und ich, auf dessen Personalausweis »Journalist« steht (was ich für weniger anmaßend halte als »Schriftsteller«), antwortete im Geiste: »Psychoanalytiker.« Man weiß, daß jeder, der Psychoanalytiker werden will, sich selbst einer Analyse unterziehen muß. Bitte, lieber Leser, folge mir bei einem logischen Sprung und frage dich, ob ich mir, wenn ich nicht auf den Major Aebi und sein Buch gestoßen wäre, etwa eine solche Figur hätte ausdenken können,
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einen Doppelgänger, um ihm alle Fehler des Dorian Gray anzulasten? War die Beschäftigung mit dem Buch des Major Aebi für mich nicht eine Form von Selbstanalyse? Verstehst du jetzt, warum mir in jenem Moment die Vorstellung unerträglich schien, daß dieses Manuskript und mit ihm die individuelle, doppelte und universale Geschichte, die es illustrierte, unveröffentlicht bleiben sollte? Man schreibt, weil man krank ist, und man wird geheilt. Aber auch durch das Lesen kann man geheilt werden: Matthias Aebi, ich, du ... Wenn das einmal geschehen ist, legt sich, wie nach einem mentalen Orgasmus, eine ruhige Farbe über die Seele. Man kann wieder unbeschwert denken, man kann sich wieder mit etwas anderem als einer früheren oder gegenwärtigen Obsession befassen. Ist das nicht der Friede der Genesung? Auf der Rückseite eines der Blätter dieses Kapitels hatte der Major Aebi später ein paar Zeilen von Hand dazugeschrieben, die ihm offensichtlich beim Wiederlesen des Manuskripts eingefallen waren, die er aber nicht für wichtig genug gehalten hatte, um sie mit der Maschine in den Text einzufügen, nicht einmal als Fußnote. Ehrlich gesagt, ließen sie sich auch schwer in die Erzählung einfügen; ich will sie aber dennoch wiedergeben, weil ich meine, daß sie einen Gemütszustand aufzeigen, der nicht unbezeichnend ist für den, den wir in diesem Fall »den Kriminellen Aebi« nennen können: den anständigen Bürger, der in reifem Alter den Genuß der »Übertretungen« entdeckt hatte, unter den Augen einer strengen Dame... »Ich glaube, daß bei jedem Koitus, abgesehen von dem, der den Verlust der Jungfräulichkeit bedeutet«, hatte der Major geschrieben, »auch eine psychologische Komponente mitspielt, die hinsichtlich der späteren Verkettungen der Handlungen, seien es die aus Liebe oder die der bloßen sexuellen Vereinigung, für gewöhnlich vernachlässigt wird: die Rache. Bei jedem männlichen oder weiblichen Orgasmus rächt
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man sich ein wenig: für erlittenes Leid, für Traumata, die man wehrlos hinnehmen mußte, für Verbote, die als absurde Ungerechtigkeit erlebt wurden, für heimliche oder zurückgehaltene Tränen in jedem Alter. Man rächt sich für die älteren Schulkameraden, man rächt sich für die strengen Aufpasserinnen. Man rächt sich für die Priester, man rächt sich für die größeren Schwestern. Aber vor allem rächt man sich für die eigene Mutter oder den eigenen Vater, die es uns nicht zugestanden haben, an einem weit zurückliegenden Tag gemäß unseren Instinkten die ungezügelte Freude jener ersten, überbordenden sexuellen Befriedigung zu finden, die nur sie uns hätten ermöglichen können. Das hätte uns vielleicht für unser ganzes Leben unglücklich gemacht, da es nie wieder etwas Gleichwertiges hätte geben können. Aber was ist besser: für immer unglücklich zu sein oder sich für immer unerfüllt und rachgierig zu fühlen?« Ich schloß die Augen, und diese Worte gewannen für mich den fernen, zögernden Ton einer Kindergeige.
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15 Ein Irrtum der heterosexuellen Männer in bezug auf Lesbierinnen — Seltsames Treiben während einer Filmvorführung auf der Piazza Grande — Die goldene Kegel — Gerdas Theorien über das Glück
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erda war Lesbierin, und der Major Aebi verblieb relativ lange in dem für viele heterosexuelle Männer typischen Irrtum zu glauben, Lesbierinnen könnten, wenn sie durch die Umstände dazu gebracht oder sogar gezwungen würden, auch mit Männern Beziehungen zu haben, trotz allem Genuß empfinden. Und in bestimmten Fällen könnten sie die männlicheren Bezeigungen von Männlichkeit sogar dazu bringen, ihr Wesen und ihre sexuellen Präferenzen zu ändern. Ein Irrtum, der den Männern das Vergnügen und die Illusion beschert, sie in etwas einzuweihen, was sie als Perversion empfinden mußten. In der Woche, die die Schauspielerin in Locarno blieb (sie kam dann im September noch einmal für einen weiteren Monat der Exzesse), hatte der Major bei ihren erotischen Experimenten zu viert den Eindruck gewonnen, daß Gerda an ihren Unternehmungen genausoviel Gefallen fand wie Trudi und Frau Grunwald. Vor allem schien sie sich bei den Übertretungen an öffentlichen Orten zu amüsieren, wie damals, als sie ihn im relativen Dunkel eines Augustabends, während der Vorführung eines langweiligen iranischen Films, masturbierte. »Gefällt dir diese Szene?« fragte sie ihn mit leisem Lachen und bearbeitete seinen Penis mit kräftigen, kurzen Bewegungen. Der Major Aebi fand es lustig, daß sie auf den Gedan-
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ken verfiel, der Anblick einer persischen Grundschule irgendwo in der Wüste könne ihn erregen, und gab ihr lachend zurück: »Ja, weit mehr als ein Striptease.« Aber dann mußte er doch schlucken. Sie saßen am Ende einer Reihe, auf der Seite der Arkaden, zwischen Trudi und Frau Grunwald, die sie etwas abschirmten, und Gerda kommentierte: »Ihr Schweizer seid unbezahlbar!« Als er endlich ejakulierte, drückte der Major mit der Hand fest das Bein von Frau Grunwald, die mit wachsender Erregung und gleichzeitig mit Furcht von der Seite her Gerdas Tun verfolgt hatte, und da sie nicht verhindern konnte, daß die erste Empfindung das Übergewicht über die zweite bekam, beugte sie sich, als sie am Druck der Finger des Majors merkte, was passierte, plötzlich zu ihm hinüber, legte ihre gewölbte Hand über die Gerdas, steckte sich das zuckende Ding in den Mund und saugte blitzschnell das herausquellende Sperma. Es war ein ganz kurzer Moment, der höchstens zwei oder drei Zuschauer in der Reihe unmittelbar hinter ihnen etwas stutzig machte, doch Frau Grunwald setzte sich mit einem elastischen Schwung so rasch wieder zurück, daß sie jeden Verdacht zerstreuen konnte: Sie hatte sich lediglich gebückt, um mit einiger Schwierigkeit etwas aufzuheben, das ihr hinuntergefallen war. Später, in der Villa, erzählte Gerda — während sie Frau Grunwald auf den Hals küßte und ihr ohne Unterlaß über Bauch und Leisten strich —, was für hinreißende Emotionen sie bei diesem frechen und gewagten Unternehmen empfunden habe. Sie sei sich wieder vorgekommen wie mit fünfzehn, als sie und eine gleichaltrige Freundin einmal in der Kirche masturbiert hätten und dabei aufpassen mußten, sich nicht von den alten Betschwestern erwischen zu lassen. Frau Grunwald, inzwischen völlig zermürbt von dem Ver-
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langen nach irgendeiner Form von Sex, erwiderte ihre Küsse mit der Schüchternheit und Unerfahrenheit einer Anfängerin. Gerda lächelte sie an und drückte ihre Leisten, um sie zu ermutigen. »Die Kirchenstühle hatten den gleichen unbequemen Holzsitz wie die auf der Piazza Grande«, fuhr sie lachend, zum Major gewandt, fort. »Als ich anfing, dich zu reiben, hat mich mein Hinterteil daran erinnert, daß ich etwas so Freches tat wie vor vielen Jahren in der Kirche von Narwik.« Kurz darauf waren alle vier wieder miteinander in Aktion. Der Major Aebi, selbst mit der Wiederentdeckung seiner ersten sexuellen Erfahrungen im Zusammenhang mit denen des reifen Alters beschäftigt, verfiel, wenn er in den Pausen solcher Sturmangriffe derartige Erinnerungen an die Jugendstreiche seiner Sexgespielinnen hörte, auf den Gedanken, man könne, um die unvermeidliche Erschöpfung der Wiederholungen zu überwinden, vielleicht dadurch zu einer neuen, vielversprechenden Form von Erregung kommen, daß man heutige Jugendliche in die Übertretungen mit einbeziehe. Ihn faszinierte dabei vor allem der Gedanke, gegen Bezahlung in den frühen erotischen Erinnerungsschatz irgendeiner zukünftigen schönen Frau einzudringen: ihr weniger physisch als erotisch die Jungfernschaft zu rauben, um für immer einen Platz in ihrer Phantasie zu beanspruchen. Sich gleichsam an seinen eigenen Phantasien hochschaukelnd, stellte sich der Major vor, wie sich die heute Fünfzehnjährige später bei jedem Liebesakt mit einem heimlichen, nostalgischen Beben an den ersten, wenn auch nur oberflächlichen Kontakt mit seinem, für sie vielleicht überdimensionalen, Penis erinnern würde. So wie er sich jetzt noch an Miriams Schlüpfer erinnerte, an den Moosgeruch und an die schwarze, glatte Seide des Geigenkastens. Gerda gefiel dem Major Aebi auch wegen einer gewissen
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Aura von Bildung, Kosmopolitismus, die sie umgab. Nicht daß sie professoral oder akademisch gewesen wäre, aber neben Trudi oder Frau Grunwald, deren Vorzüge in den Augen des Majors woanders lagen, war Gerda zu ungewöhnlichen Beobachtungen fähig, zu literarischen Anspielungen, zu Vergleichen mit Filmszenen oder mit erotischen Erfahrungen, die den derzeitigen Erosgefährtinnen — und manchmal sogar dem Major selbst - unbekannt waren. Was aber dem Major vor allem bei Gerda gefiel, war (wie bei einem bestimmten Gericht ein Geschmack nach orientalischen Gewürzen) anfangs der für ihn ungewohnte Hautgout der Homosexualität und nach den ersten Tagen dann die Entdeckung, daß diese sich in Bisexualität umwandeln und daß dieser neue Zustand, die Bisexualität, auch der seine werden konnte... Dieser Zustand, so verschieden von der festgelegten Heterosexualität, schien es zu erlauben, der Realität mit anderen Reaktionen und Beobachtungen als den üblichen zu begegnen. Ihm fiel wieder eine weit zurückliegende Familienepisode ein: Sein Vater und seine Mutter, die entrüstet einen Zeitungsbericht kommentierten, in dem davon die Rede war, daß ein Rechtsanwalt (der daraufhin aus der Anwaltskammer ausgeschlossen wurde) mehrmals an der Sodomisierung seiner Frau durch einen jungen Bauern teilgenommen hatte — mit dem vergnügten Einverständnis von allen dreien. Der Major schaute Gerda zu, wie sie den Vibrator und die dicke Bernsteinkugelkette handhabte, und versuchte sich vorzustellen, wie und mit was für Ausdrücken seine Eltern dieses Treiben kommentiert hätten — Ausdrücke, die er erst jetzt genau zu interpretieren verstand. Bei Gerda, dachte er, habe ich immer den Eindruck, etwas über mich zu erfahren oder zu entdecken, was ich noch nicht wußte. In den ersten Tagen ihres Beisammenseins organisierte
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Gerda ihre Verpflichtungen als Mitglied der Festival-Jury so, daß sie nach sechs Uhr abends frei war. Es machte ihr Spaß, sich als Mann anzuziehen, und wenn dann alle vier im unbestimmten Licht der Nacht die Villa verließen, konnte man sie für zwei Paare halten, die sich einen vergnügten Abend machen wollten, im Freiluftkino auf der Piazza Grande oder auf den Bänken am Seeufer. Gerda schien sich unterschiedslos mit jeder der zwei Frauen wohlzufühlen. Beide hatten einen vollen Busen und kräftige Hüften, und die Schauspielerin genoß es, ihr Gesicht daran zu reiben oder die feuchten Höhlungen zu küssen, die sich ihr boten, wenn sie mit gierig verkrampften Fingern unter den Röcken wühlte, die ihr der Major überlassen hatte. In solchen Augenblicken empfand der Major Aebi ein Gefühl von Großmut, wie ein antiker römischer Gastgeber, der Freunden gewährt, seine Genüsse paritätisch mit ihm zu teilen. Wenn sie in der Villa blieben, half Gerda sich mit Gegenständen, die ihr vertraut waren, die aber die anderen noch nie »in Aktion« gesehen hatten. Mit Behutsamkeit verwendete sie eine kleine Peitsche, nur für die Scham der beiden anderen. Lachend schlug sie einmal damit sachte auf den erigierten Penis des Majors, der, als er sich von dem Leder gestreift fühlte und dazu die Worte hörte: »Runter mit dem Kopf, Wahnsinniger!«, sofort den Drang verspürte, in die nächste Öffnung, Vagina oder Mund, einzudringen und zu ejakulieren. »Würde es dir keinen Spaß machen, ihn in den Hintern zu kriegen«, fragte der Major Gerda eines Abends, verlockt von dem Gedanken, daß ihm etwas gelingen könnte, was bei den anderen beiden so leicht war, bei Gerda aber mühsam zu sein schien (und als er noch meinte, Lesbierinnen könnten auch mit Männern Genuß empfinden). »Nur, wenn du die goldene Regel akzeptierst«, erwiderte ihm Gerda mit belustigt herausfordernder Miene.
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Matthias verstand nicht. »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu«, erklärte sie ihm und schwenkte dabei eines ihrer Lustwerkzeuge, einen elektrischen Latexvibrator, mit dem sie, ihrer Behauptung nach, jeder normalen Frau mehr Genuß verschaffe, als es ein Mann auf natürlichem Wege zustande bringe. »Und warum nicht;« sagte der Major darauf: Von einer Frau mit einem Plastikding anal vergewaltigt zu werden, schoß ihm durch den Kopf, könnte ihm wahrscheinlich völlig neue erotische Empfindungen bescheren, die ihm nicht möglich erschienen, würde der gleiche Akt von einem jungen Bauernburschen an ihm vorgenommen, wie ihn der wenig ehrenhafte Rechtsanwalt engagiert hatte... Was würden seine Eltern dazu sagen? So kam es, daß sich, mit einer auf Flammenrädern rotierenden Phantasie, die den Phantomen der lesbischen weiblichen Psyche in ständiger, frenetischer Verwandlung nachjagte, der Major Aebi — das Gesicht zwischen Trudis Beine getaucht (während Frau Grunwald mit konzentriertem und bestürztem Ausdruck das Geschehen beobachtete, das ihr wie ein außergewöhnliches Naturphänomen erschien, etwas wie ein Meeresbeben oder ein Nordlicht) — von Gerda auf dem Teppich im Salon besteigen ließ, unter dem ironischen Blick der Leopardenfrau. Gerda hatte den Vibrator und den After ihres ungewöhnlichen Partners eingeschmiert, und dieses erste Mal empfand der Major das Ganze als merkwürdig, aber nicht unangenehm, schlimmstenfalls etwas ermüdend. Gerda, die beschlossen hatte, zunächst nur das zu tun, was sie später dem Major bei ihr erlauben würde, bewegte sich auf seinem vornüber geneigten Körper mit langen und regelmäßigen Stößen, wobei sie das Unmögliche wollte, nämlich die elektrischen Bewegung
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gen des Vibrators, die die zunehmende Erregung eines lebenden Penis nachahmen sollten, über die mechanischen Grenzen des Geräts hinauszutreiben. Und da sie das nicht konnte, beschleunigte sie ihre eigenen Bewegungen, begleitet von Stöhnen und einzelnen Lauten, die zwischen Erschöpfung und Lust lagen. Sie wäre irgendwann ermüdet, hätte sie nicht plötzlich Frau Grunwald entdeckt, die, von voyeuristischer Passion mitgerissen, neben ihnen heftig zu onanieren anfing: ein Anblick, der in der Vorstellung der Schauspielerin sofort an die Stelle dessen trat, was sich ihren Stößen als Ziel darbot, und ihr unbewußt das Motiv lieferte, ihre Raserei weiterzutreiben, bis zu dem Moment, in dem Frau Grunwald sich im Orgasmus mit einem spitzen Schrei, gleich dem eines verletzten Vogels, in den nächsten Sessel fallen ließ. Diesen Schrei wahrzunehmen und zu spüren, wie jener unerbittliche Kolben in seinen Eingeweiden erlahmte, verschmolz für den Major zu einem einzigen Gefühl, und jedesmal, wenn er von diesem Tag an — sei es, daß er Gerda von hinten bestieg oder diese sonderbare Erfahrung mit anderen Frauen machte — spürte, wie sein Samen hochstieg und sich in den weichen, dunklen Stollen ergoß, glaubte der Major, wieder diesen fernen spitzen Schrei zu hören, einen Schrei der Befreiung gegen die Verbote des Eros. »Weißt du, was mir an dir gefällt, Matthias?« fragte Gerda, als sie mit dem Major und den anderen beiden wieder einmal in den unerläßlichen Pausen ihrer zermürbenden Marathonunternehmungen zu den elementaren Gewohnheiten des Alltags zurückkehrte (sich im Garten sonnen, eine Tasse Tee trinken, die Nachrichten aus den Zeitungen kommentieren). »Deine Bereitschaft, ein gleichzeitig aktiver wie passiver Erotomane zu sein.« Nach Gerdas Ansicht war das bei Männern selten anzutreffen. Das habe sie bei ihren lesbischen Erfahrungen bestätigt
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gefunden, denn fast alle ihre Partnerinnen hätten ihr nach einer leidenschaftlichen Begegnung gestanden, am schönsten sei für sie der Rollenwechsel gewesen, den die homosexuelle Beziehhung biete. Für den Major lag dagegen noch ein besonderer Anreiz darin, indirekt von der Bekanntheit und Beliebtheit zu profitieren, die Gerda unter den Filmleuten genoß. Als Mitglied der Festival-Jury kam die Schauspielerin unschwer an Eintrittskarten und Einladungen, und so fanden sich oft alle vier im Kino oder bei irgendeinem Empfang, der von Sponsoren oder einer Produktionsfirma gegeben wurde. Bei diesen Gelegenheiten wurde Gerda von den Anwesenden erkannt und hofiert — und alle waren über ihre sexuellen Neigungen informiert. Die Frauen wußten, daß sie von ihr begehrt wurden, und die Männer, daß sie sich bei ihr einschmeicheln konnten, wenn sie ihr eine bereitwillige junge Schauspielerin zuschoben. Es waren die Jahre, in denen Gerda in fast allen Filmen von Ingmar Bergman mitwirkte, und allein um auf irgendeine Weise in den Bannkreis des schwedischen Regisseurs zu gelangen, waren Bewunderer, Schauspieler, Schauspielerinnen und Produzenten bereit, sich Gerda auf die vielfältigsten und undenkbarsten Weisen erbötig zu zeigen. Der Major Aebi stürzte sich in das Karussell mondäner, oberflächlicher und geschwätziger Begegnungen, das im wesentlichen das Leben der Filmleute auszumachen schien (auch wenn sich alle, sobald er eine derartige Bemerkung fallen ließ, beeilten, ihm zu widersprechen und zu beteuern, daß man, im Gegenteil, beim Film sehr hart arbeite, selbst wenn es nicht so aussehe, und daß dieser Ringelreihen von Begegnungen nur dazu diene, Arbeitsprojekte reifen zu lassen...); und ihn faszinierte diese Art von »Unisex/Beziehungen«, in denen sich Gerda so brillant hervortat. »Merkwürdig, als ich verheiratet war, hätte ich nie gedacht,
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daß das Leben so amüsant sein kann«, sagte der Major Aebi eines Nachmittags zu Gerda, als sie auf Luftmatratzen im Garten, am Rand des Swimmingpools, in der Sonne lagen. Sie unterhielten sich gerade über die witzige, vielsprachige Konversation der Leute, mit denen sie am Abend zuvor gegessen hatten. »Warst du mit deiner Frau glücklich ?« fragte Gerda. Der Major dachte eine Weile nach, um zu zeigen, daß er die Frage ernst nahm und eine wohlerwogene Antwort geben wollte. »Ja«, sagte er schließlich, »ich war glücklich. Wir waren glücklich. Aber jetzt vielleicht, wenn Verbena durch Zauber zurückkäme und wir wieder so leben würden wie vorher, jetzt wäre ich es vielleicht nicht mehr.« »Lieber Matthias, du machst wirklich einen Fehler«, erwiderte Gerda. »Das Glück ist immer ein Zustand der Gegenwart, nie der Vergangenheit oder der Zukunft. Man kann nicht in der Vergangenheit glücklich sein, und man kann nicht planen, in Zukunft glücklich zu sein, unter der Voraussetzung, daß irgend etwas geschieht. Das Glück ist immer nur Gegenwart.« Dieser Satz kam dem Major Aebi oft wieder in den Sinn, als er im La Stampa-Gefängnis anfing, über sein Schicksal als wegen sexueller Straftaten Verurteilter nachzudenken, und vor allem, als er versuchte, diesen Gedanken die Form eines geschriebenen Bekenntnisses zu geben. Lag seine Motivation zum Schreiben darin, einem vergangenen Glück nachzujagen? Oder war es ein Versuch zu zeigen, wie sich das Glück in Reichweite eines jeden befinden kann, der bereit ist, den kollektiven und individuellen Gesellschaftsvertrag, der alle in einer bestimmten Epoche, in einer bestimmten Gesellschaft bindet, aufs Spiel zu setzen? Fern von den Flammen jenes Sommers, deren Asche je-
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doch im Winter von La Stampa immer noch warm war, sah der Major Aebi noch einmal, welchen Anteil Gerda daran gehabt hatte: Sie hatte die Rolle gespielt, die in einer ZirkusVorführung einem bestimmten Jongleur, Zauberkünstler oder Artisten zukommen kann, der zwei oder drei Kunststücke beherrscht, die sonst niemand dem Publikum zu bieten in der Lage ist: so daß das Spektakel ohne sie nicht vollständig wäre — aber nur, wenn man es mit anderen Spektakeln vergleicht, in denen es sie nicht gibt. »Jene Zeit des Eros«, schrieb der Major, »wäre nicht vollständig gewesen ohne die homosexuelle Gerda. Auch wegen der Unterhaltungen mit ihr.«
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16 Der Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft — Einwände des Rationiere Facchinetti gegen das Vermächtnis des Major Aebi an UNICEF — Der Genfer Richter — Ekelerregende Entdeckung unter einem römischen Palazzo
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rinnert ihr euch, wie Der gute Soldat beginnt!? »Das ist die traurigste aller Geschichten...« Nun, das hier war das schwierigste aller Kapitel in der Geschichte des Major Aebi. Oder zumindest war es das für mich, als ich es in Angriff nehmen mußte. Auch wenn ich, mit dem Wissen danach, zugeben muß, daß ich — so wie das Morgenlicht erst nach der finstersten Stunde der Nacht kommt — ohne diese Phase meiner Nachforschungen nicht das empfunden hätte, was ich am Schluß meiner Reise durch die ganze Geschichte empfand. Als der Major Aebi in der dritten Person seine Version der Fakten niederschrieb, hatte er versucht, eine distanzierte, fast anekdotenhafte Darstellung seines Verhaltens nach dem Tod seiner Frau Verbena zu geben. Aber ein wenig von Natur aus und ein wenig aus dem notorischen Bedürfnis, die literarische Technik mit ihren Erfindungen, ihren Auslassungen und ihren Ausschmückungen nicht über die dokumentarischen Ansprüche, die sein Geist stellte, siegen zu lassen, hatte er es vorgezogen, eher der chronologischen Ordnung der Ereignisse zu folgen, als sie nach den verschiedenen Phasen der vielfältigen psychologischen Entwicklung — seiner und der seiner Gefährtinnen — zu ordnen, die mit den »fortschreitenden Übertretungen« einhergingen.
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Ich befand mich in einer gänzlich anderen Situation. Obwohl ich konstatieren mußte, daß ich mich weit mehr als vorhergesehen mit der Figur des Majors identifiziert hatte, war dennoch nicht ich es, der all diese Straftaten verübt hatte. Und wenn es mir auch nicht schwerfiel, dieses Abstürzen in die Übertretung zu verstehen und schließlich so zu schreiben, als ob es auch mein eigenes wäre, so war doch nicht ich es, der sich Auge in Auge mit der schroffen Reaktion der Gesellschaft, der ich angehörte, konfrontiert sah und sich damit abfinden mußte, sieben Jahre seines Lebens — eine Zeit, die sehr lang erscheint, wenn man die fünfzig überschritten hat — in einer Zelle im La-Stampa-Gefängnis zuzubringen. Der Leser, der bis zu dieser Stelle des Buches gelangt ist, wird bereits bemerkt haben, daß ich mich weniger als der Major um die dokumentarischen Anspüche seiner Geschichte kümmerte; und daß ich, wenn ich diese seltsamen Recherchen in dem Entschluß unternahm, Matthias Aebi in gewisser Hinsicht noch einmal eine Art von Prozeß zu machen, so als ob auch ich der Angeklagte wäre, mich deswegen dennoch nicht verpflichtet fühlte, mich wie ein Angeklagter den Riten der Schweizer Prozeßordnung zu unterwerfen. So kann ich auch gleich gestehen, daß ich, obwohl ich viele Personen befragt und angehört habe, die Resultate dieser Begegnungen schließlich nicht zusammenfaßte, indem ich das bei den Gesprächen Mitstenographierte wiedergab, sondern indem ich auf dem Papier die Personen (oder sollte ich sagen: Figuren?) und Ereignisse wie in einer modernen Tragödie anordnete, in der Opfer und Peiniger, fast ohne es zu merken, ständig ihre Rollen tauschen, aufgrund des Lasters, von dem alle befallen sind, die in den hochentwickelten, reichen Gesellschaften leben: immer und an erster Stelle ihrem Egoismus zu frönen. Keine Gesellschaft versteht es, so egoistisch zu sein wie jene
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bürgerliche, die man als die westliche zu definieren gewohnt ist. Und innerhalb dieser wiederum scheint die bürgerliche Gesellschaft der Schweiz geradezu den Modellfall darzustellen, mit den auf die Spitze getriebenen Tugenden und Lastern sämtlicher verschiedener nationaler Varianten des Bürgertums. Der verbreitete materielle Wohlstand der großen Mehrheit verkleidet das, was in Wirklichkeit die erbitterte Verteidigung eines privilegierten Inseldaseins im Vergleich zur übrigen Welt ist, als demokratische Entscheidung. Und die diversen individuellen Egoismen, die einer den anderen stützen wie viele keilförmige Steine in einem Rundbogen, finden in einer nationalen Egoismustradition den Schlußstein, das theoretische Fundament ihrer Rechtmäßigkeit. »Ich bin ein Schweizer Bürger, und wer nicht ist wie ich, ist gegen die Schweiz«, lautet das ideelle Motto, das über diesem Bogen steht. Doch man könnte auch jeden nationalen Bezug weglassen, einfach «Gesellschaft« statt »Schweiz« schreiben, und die Maxime besäße über alle Grenzen hinaus Geltung. Wie du siehst, lieber Leser, war ich vor lauter Bemühen, mich in die Figur des Major Aebi hineinzudenken, schließlich so weit gekommen, daß ich mir sowohl die Position eines Geächteten in dieser Gesellschaft zu eigen machte als auch die Argumente zu seiner Verteidigung, die der Major in den Monaten vor dem Prozeß erarbeitet und dann in seiner Schlußrede vorgetragen hatte, mit dem Effekt, daß die Feindseligkeit, die sich ihm gegenüber zusammengebraut hatte, geradezu explodierte — so wie ein Funke das Gas, das sich durch irgendeine undichte Leitung in einer Wohnung ausgebreitet hat, zur Explosion bringt. Um für meine Rekonstruktion der ganzen Geschichte ein exemplarisches Beweisstück aus dem, wie soll ich sagen, kontrollierten Anbau im Ursprungsgebiet dieser Gesellschaft aufzutreiben, die nach der Vernichtung des Majors gierte, so wie
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man zu anderen Zeiten die Ketzer und Hexen auf dem Scheiterhaufen sehen wollte, zwang ich mich, die Zeugenaussage des Ragioniere Facchinetti einzuholen. Ich wußte, daß das für mich eine sicherlich unangenehme Erfahrung würde. Aber inzwischen war ich gespalten: Je mehr ich mich zur Unparteilichkeit des soziologischen Rechercheurs zwang, desto mehr fand ich mich psychologisch auf der Seite von Matthias Aebi wieder. Nun gut, ich an der Stelle des Major Aebi wäre vielleicht vor den schamlosesten und strafrechtlich schwerwiegendsten »Übertretungen« zurückgescheut, überlegte ich bei mir selbst. Mit den kleinen Mädchen hätte ich es vielleicht nicht gewagt... Aber in allen anderen Fällen?... Und auch mit den weniger unreifen Minderjährigen, den schon erfahreneren?... Kurz und gut: Der Major kam mir nicht als ein »Monstrum« vor, weder der menschlichen Gesellschaft noch der italienischen oder schweizerischen. Genau das Gegenteil dessen, was der Ragioniere Facchinetti dachte, unfreiwilliger, aber vehementer Wortführer aller Wohlanständigkeit, all der tugendhaften und scheinheiligen Makellosigkeit, die vorgibt, nicht die Fassade, sondern die Essenz dieser Gesellschaft zu sein. Da es weder bei den Aebis noch bei den Schneiders direkte Erben gab, hatte der Major in seinem Testament verfügt, daß die Aktien der Handels- und Immobilienfirmen, die einen großen Teil seines Vermögens bildeten, unter den Angestellten der Firmengruppe aufgeteilt werden sollten; das Barvermögen, das auf der Bank lag, sowie der Erlös aus einer Versteigerung der Villa in Locarno und ihres gesamten Inventars sollte dagegen an UNICEF gehen, jenen Zweig der Vereinten Nationen, der sich um Kinder in Not kümmert. Aus einer verschrobenen Laune heraus, von der ich mir vorstellen kann, daß sie vielleicht einem auf größtmögliche Effizienz bedachten kaschierten Vergeltungswunsch entsprang,
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hatte der Major als Testamentsvollstrecker für die Versteigerung der Villa und des Inventars den Ragioniere Facchinetti ernannt. Dieser war so in die Lage geraten, seine mißgünstige Entrüstung über den Major unterdrücken zu müssen, um nicht eine moralische Verpflichtung gegenüber UNICEF zu versäumen, der nachzukommen er sich aus Anmaßung für geeigneter hielt als irgendeinen sonst. Ich gestehe, daß mir angesichts der schäbigen Wut, mit der der Ragioniere zu mir über den Major sprach, der Gedanke kam, der Verstorbene hätte vielleicht besser daran getan, sein ganzes Hab und Gut an seine erotischen Partnerinnen zu verteilen... Doch ich will nicht vorgreifen. Für die Versteigerung der Villa und der darin enthaltenen beweglichen Güter hatte der Ragioniere Facchinetti einen Katalog vorbereiten und dazu eine minutiöse Bestandsaufnahme vornehmen müssen. In das Verzeichnis hätten, im Sinne des Gesetzes, auch Peitschen und Lendenschurz, Strapsgürtel und Vibratoren, Salben und Riemen gehört, die die diversen Gefährtinnen der Übertretungen nach und nach zu einer reichen »Erotica«-Sammlung zusammengetragen hatten, welche zwei Kommoden des Gästezimmers füllte. Der Ragioniere Facchinetti hatte beim Gerichtspräsidenten von Locarno inoffiziell angefragt, ob man diese peinliche Sammlung verbrecherischer Werkzeuge nicht als verschollen ausgeben und damit aus den Zeitungsüberschriften und der geifernden Volksphantasie heraushalten könne. Doch der Richter, ein Genfer, der dazu neigte, wenn immer es möglich war, die Ironie in der richterlichen Tätigkeit erkennbar werden zu lassen, hatte ihn davor gewarnt und dabei einen noch strengeren Ton als nötig angeschlagen. Und sich innerlich über die hilflose Wut des anderen amüsiert. Indem ich mich als italienischer Journalist vorstellte, der den Auftrag habe, über die Versteigerung zu berichten, konnte
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ich eine Zusammenkunft mit dem Ragioniere Facchinetti vereinbaren und war legitimiert, ihm fast alle Fragen über den Major Aebi zu stellen, die ich stellen wollte. Und damit derjenige, der jetzt die Geschichte des Majors liest, dessen Double oder vielleicht auch sich selbst als »Dritten« erkennen und die Fragen, die ich dem Ragioniere Facchinetti stellte, leichter entschlüsseln kann, verrate ich sofort, was das eigentliche Thema war, über das ich ihn zum Reden bringen wollte. Es war die Feststellung, die auch Frau Grunwald geäußert hatte, daß die Gesellschaft keinerlei anomales Glück dulden kann, wenn derjenige, der es für sich entdeckt, sich auch noch das Recht anmaßt, es für die anderen als ebenso erreichbar darzustellen, wenn sie nur seinem Beispiel folgten. Die Suche nach Glück, ein primärer Impuls jedes menschlichen Wesens, ist ein von der bestehenden Ordnung kontrolliertes Gebiet. Für den, der irgendeine Macht innehat, sei sie gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer oder politischer Art, ist die Entscheidung, wie man das Glück zu suchen habe, unerläßliches Prärogativ zur Erhaltung seines Primats. Es ist ein universales Gesetz, das kein »Untertan« übertreten darf, eben weil die Ausübung der Macht dadurch unterhöhlt würde. Ein Mann, der sich wie der Major Aebi verhält, wird daher zum gefährlichsten aller Revolutionäre. Ein Revolutionär in der Schweiz! »Ich habe im Corriere del Ticino gelesen, daß Sie den Auftrag, diese Versteigerung vorzubereiten, zunächst nicht übernehmen wollten«, sagte ich, etwas weit ausholend, zum Ragioniere Facchinetti. »Wieso haben Sie sich dann doch anders besonnen?« Wie jede bedeutende Persönlichkeit einer religiösen Sekte oder eines Geheimbundes, die einen möglichen neuen Adepten zu prüfen hat, musterte mich der Ragioniere mit völlig unverhohlenem Mißtrauen. In was für eine teuflische Falle will
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mich dieser Spürhund locken, schien seine Miene zu fragen. Doch schließlich schien er offensichtlich zu dem Schluß zu kommen, daß nichts dabei sein könne, wenn er diese Frage beantworte. »Wenn ich das Amt des Testamentsvollstreckers für die Hinterlassenschaft an UNICEF ausgeschlagen hätte, wäre viel Zeit verlorengegangen, ohne daß jemand einen Vorteil davon gehabt hätte. Ich kannte die Villa gut, hier in Locarno wußte ich über die Sachverständigen Bescheid, kurz, alles war viel einfacher«, sagte er. »Aber natürlich, wenn ich gekonnt hätte, wäre ich dieser Geschichte gern aus dem Weg gegangen.« Er sah mir fest ins Gesicht. »Das, was Matthias Aebi getan hat, war ekelerregend, und jeder Tag, den ich wegen der Bestandsaufnahme in diesem Haus zugebracht habe, hat meinen Ekel vergrößert.« »Aber Sie kannten den Major ja schon lange. Haben Sie denn nichts Seltsames bemerkt, ehe man ihn verhaftet hat!« »Doch, ich fing an, irgendeinen Verdacht zu schöpfen, als in der Zeit, in der ich noch Filialleiter war, er und Helena Grunwald zusammen in den Supermarkt kamen, sich im Büro einschlossen und bestimmte Verkäuferinnen hintereinander hereinriefen, um ihnen merkwürdige persönliche Fragen zu stellen. Zwei oder drei Mädchen sagten mir, sie verstünden nicht, was die wollten, er lache immer wieder, sie sitze mit übergeschlagenen Beinen da, die Schenkel frei, und frage sie nach ihren Freunden und was sie zusammen trieben und ob sie Freundinnen in ihrem Alter hätten, die sich zusätzlich etwas verdienen wollten... Später erzählte mir eines der Mädchen, daß eine siebzehnjährige Freundin mit ihrer Schwester in die Villa gegangen sei, und der Major habe jeder von ihnen tausend Franken gezahlt, damit sie sich von zwei Frauen berühren ließen, während die Grunwald zuschaute! Und daß der Major sie später noch ein-
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mal in den Supermarkt holte und sich von einer von ihnen unterm Schreibtisch mit dem Mund bearbeiten ließ, während er mit mir redete! Von der Villa haben sie Dinge erzählt, die ich überhaupt nicht verstand.« Und hier ging der Ragioniere Facchinetti, fast als wolle er am Major erotische Rache nehmen, von der Entrüstung zur schlüpfrigen Ausdrucksweise eines verhinderten Pornophilen über, nur allzu bereit, etwas verbal zu verurteilen, von dem er sich im Grunde angezogen fühlte, um auf diese Weise von etwas reden zu können, was ihm gefiel, ohne daß er es zugeben durfte. »Erst bei der Bestandsaufnahme, glaube ich, aber ich bin mir nicht sicher, habe ich begriffen, was sie in diesem Bordell getrieben haben! Und er war auch noch einer, der sich den Arsch ficken ließ! Finden Sie es vielleicht normal, wenn sich einer einen Bernsteinrosenkranz hineinstecken läßt?« Und dabei grinste er und sah mir mit zusammengekniffenen Augen ins Gesicht. »Zuchthaus hätten sie ihm geben müssen! Ihm und den Frauen, den alten und den jungen! Nicht bloß sieben Jahre! Denn im Gefängnis kriegst du bestimmte kleine Dienste gratis verabreicht! Und dann daherkommen und erklären, er habe niemanden zu etwas gezwungen, er habe niemandem etwas Böses angetan! Schwein und Arschficker!« Und er lachte mit entblößten Zähnen. Dieses unflätige Wort, das er normalerweise nicht gebraucht hätte, auszusprechen und zu wiederholen, bereitete ihm eine besondere Befriedigung. Der Ragioniere Facchinetti gehörte zu dem Typ von Menschen, die mit Genuß im verborgenen Becken der eigenen Vulgarität fischen und sich einbilden, das wäre ihnen gestattet, wenn sie damit die vermeintliche Vulgarität anderer beschreiben müßten. Mich überkam ein Gefühl von Ekel, und zugleich lief mir ein Schauder über den Rücken, als stülpe sich eine glitschige und monströse, riesige Schleimhaut über mich. Dieses Gefühl
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wurde durch eine fast traumbildhafte, unterschwellige Verbindung zwischen der Situation, in der ich mich befand, und der Erinnerung an einen Schock, den ich ein paar Jahre zuvor erlebt hatte, hervorgerufen. Es war in der Zeit, in der ich in Rom in einem alten Palazzo aus dem 17. Jahrhundert wohnte, zwischen dem Campo dei Fiori und dem Tiber. Eines Vormittags begegnete ich unter dem Haustor einem Mitbewohner. Er war Bauingenieur, und an diesem Morgen zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von belustigter Bestürzung. Er hatte soeben etwas Verblüffendes erlebt, und obwohl er sonst zurückhaltend und schweigsam war, mußte er jetzt einfach mit jemandem darüber reden. Ich war der erste mögliche Gesprächspartner, dem er begegnete. »Etwas Unglaubliches!« sagte er zu mir, mit aufgerissenen Augen und betont munterem Blick, als wolle er sich selbst einen Schrecken austreiben, dessen er sich schämte. »Die Leute hier vom Laden nebenan haben mich geholt, weil bei ihnen ein unerträglicher Gestank aus dem Keller kam. Über eine Treppe hinter dem Laden kann man in die Kellerräume des Palazzos hinuntersteigen. Wie Sie wissen, sind sie leer und nicht zu verwenden, schon weil die andere Treppe, die wir benutzen mußten, vor langer Zeit zugemauert wurde. Wir sind also mit Fackeln hinuntergestiegen, und es hat tatsächlich entsetzlich gestunken. Als wir uns umsahen, haben wir eine weitere kleine Treppe entdeckt, die zu einem zweiten Stockwerk, unter dem der Keller, führt, von dessen Existenz wir gar nichts wußten. Und wir sind noch tiefer hinuntergestiegen. Also, dort unten liegen die alten römischen Kloaken, offene Stollen, in denen die schmutzigen Abwasser des Viertels fließen, wahrscheinlich zur Cloaca maxima, die nicht weit weg ist. Im Lauf der Zeit aber verstopfen sich die Rinnen, und die Brühe läuft über und bildet kleine unterirdische Seen, die fürchterlich stinken. Ich bin zum erstenmal vor einem solchen
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See gestanden, und ich muß sagen, es hat mich umgeworfen. Auch weil man mir erzählt hat, daß es für diese Kanäle so gut wie keine Wartung gibt. Man wird auch den anderen Zugang zumauern müssen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir nicht vorgestellt«, sagte er noch, »daß wir nach außen hin ein normales Leben führen, ohne zu ahnen, daß wir es auf einem See von Scheiße tun.« Mehr noch als die Worte meines Hausgenossen hatten sein Gesichtsausdruck und die von ihm beschriebene Szene einen Anfall von Ekel und Grausen bei mir ausgelöst — und aus irgendeinem dunklen psychologischen Zusammenhang wurde genau diese Erinnerung plötzlich in mir wach, ausgelöst durch die Haltung und die Worte des Ragioniere Facchinetti. Für ihn war die Welt ein See von Scheiße, alles, mit dem er in Berührung kam oder was er beschrieb, Männer und Frauen, Gesten und Gedanken, es war Scheiße, und er würde seine Überzeugung auch jedem weitergeben, der, aus Höflichkeit oder Passivität, sitzen bliebe, um mit ihm Betrachtungen über das Leben auszutauschen. Ich hatte dazu keinerlei Lust. Diese Borniertheit, diese Engstirnigkeit, diese Sucht nach gesellschaftlicher Vergeltung, diese mangelnde Bereitschaft, auch nur den Versuch zu machen, die Gründe des Majors zu verstehen, all das schien mir zu blinden, unterirdischen Geschöpfen zu passen, die sich nur in einer stinkenden Atmosphäre bewegen, nur in einer Welt aus Verwesung wälzen können. Angewidert zog ich mich zurück. Was mich betraf, so hatte ich vom Ragioniere Facchinetti genug erfahren. Ich mußte wieder hinaus ins Freie, die Sonne und die Landschaft wiedersehen. Wer weiß, warum der Major ausgerechnet ihn dazu ausersehen hatte, seine Geschichte nach dem Tod wieder aufzuwühlen?
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17 Reise durch Vorarlberg — Ein imaginärer Dekodifikator – Familienzwist im Haus eines Eisenbahners — Die Kellnerin Trudi kehrt als wohlhabender Gast ins Sacher zurück
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as Schaukeln des Zuges und die Stille des frühen Nachmittags legten sich auf die Lider. Aber es war keine Schläfrigkeit, im Gegenteil. Ich war allein in dem Erste-Klasse-Abteil des Schnellzugs Bregenz—Wien. Auf den Knien hielt ich eine dicke Mappe mit dem Roman des Majors und meinen Notizen. Neben mir lag der Versteigerungskatalog der Villa, mit dem Bild der Leopardenfrau von Léonor Fini auf dem Umschlag. Vor dem Fenster zogen die gleichmäßigen Weinberge Vorarlbergs vorbei, die sauber gestutzten Apfelbaumreihen, die Dörfer, jeweils erkennbar an einem spitzen Kirchturm, mit ihren kurzen und menschenleeren Gassen. Die heiße Julisonne zeichnete lange und breite Schatten, und in der Klarheit der Luft und der Landschaft fiel die, dem Augenschein nach, fast völlige Abwesenheit von Männern und Frauen noch deutlicher auf. Es mußte sie zwar geben, und natürlich gab es sie, aber sie hatten sich in ihre Häuser verkrochen, in den Erholung spendenden Schatten der Räume hinter den angelehnten Fensterläden, und sicherlich schrieben sie es der Sommerhitze zu, daß sie diese für sie ungewohnte läßliche Sünde einer fast aufgezwungenen Siesta begingen. Im Leben eines jeden Menschen kommt der Tag, an dem er, körperlich oder im Geiste, zu einer Reise aufbricht. Der eine
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irrt zu Pferd herum auf der Suche nach dem Gral, und der andere begibt sich, weniger phantasievoll, auf die Suche nach sich selbst. Während ich mit halbgeschlossenen Lidern die Vorarlberger Landschaft betrachtete, ohne sie wirklich zu sehen, bekam ich das Gefühl, zur selben Zeit zwei ganz verschiedene Reisen zu unternehmen. Bei der ersten war ich auf dem Weg von Bregenz nach Wien, um mit der Kellnenn Trudi über ihre Beziehungen zum Major Aebi zu sprechen. Bei der zweiten wurde ich mir bewußt, daß ich im Begriff war, ein Unternehmen abzuschließen, das vor vielen Monaten in einem Garten von Locarno begonnen hatte, als ich mich bereit erklärte, das Manuskript des Majors zu lesen, woraus nach und nach ein Forschen über die menschliche Seele geworden war, über den Sinn des Lebens, über die Armseligkeiten und die Hoffnungen der Condition humaine, über die frustrierende Suche des Menschen nach Unsterblichkeit. Die Bewegung des Zuges regte meine Gedanken zu Abweichungen und Umwegen an, ähnlich denen, die die Natur vor dem Fenster meinem Blick bot: Wie ein Hügel einen Fluß sanft zu einer Biegung zwang, zwischen den Bäumen, die ihn dem Blick entzogen, bis eine andere Erhebung ihn wieder auf uns zudrängte, so tauchten in meinem Bewußtsein Empfindungen und Betrachtungen auf, die mich ganz in die Nähe dessen zu führen schienen, nach dem ich seit Monaten gesucht hatte. Zum Beispiel: die Endlichkeit der Zeit. Im Verlauf von sieben Stunden würde ich in Wien ankommen. Im Verlauf von fünf Tagen würde ich Trudis Version der Geschichte des Majors erfahren haben. Im Verlauf von ein paar Wochen hätte ich meinen Teil des Buches geschrieben, und nach ein paar Monaten läge es gedruckt in den Buchhandlungen. Und nach einer bestimmten Anzahl von Jahren wäre mein Leben, so wie demnächst die Reise nach Wien, zu Ende.
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Konnte ich also denken, daß das Leben eine Krankheit sei, jedenfalls dazu bestimmt, mit dem Tod zu enden? Konnte man eine verlorene Wette in einen neuen Einsatz verwandeln? Der Major Aebi, schien mir, hatte es verweigert, sich einem diagnostischen Urteilsspruch zu unterwerfen, den der größte Teil der Menschen mit der halsstarrigen Suche nach einer Unsterblichkeit unterlaufen möchte, die, selbst wenn sie möglich wäre, unnütz ist. Welchen Sinn hat es, daß die Lebenden sich an Dante oder Washington, den Doktor Schweitzer oder Konfuzius erinnern? Oder daß der von der Schönheit der Sinfonia concertante K 364 hingerissene Hörer für sich den Genius Mozarts heraufbeschwört? Der Major Aebi hatte, das begriff ich in diesem Augenblick im Zug, die eintönige und geordnete österreichische Landschaft vor Augen, die mich daran erinnerte, daß die Endlichkeit der Zeit mit verschiedenen Maßstäben gemessen wird, je nachdem, ob es sich um einen Menschen, einen Fluß oder den Himmel handelt — der Major Aebi hatte zweimal das Handtuch geworfen, entschlossen, die unmögliche Herausforderung, die die Condition humaine allen auferlegt, nicht zu akzeptieren. Das erste Mal, als er sich klargemacht hatte, daß er, wie er es auch drehte und wendete, nicht zu wirklicher Befriedigung gelangen konnte außer durch »Übertretungen« im erotischen Genuß, die jedoch zugleich »fortschreitend« sein mußten. Das zweite Mal, als er angesichts der Tatsache, daß sein Manuskript aus bloßen Gründen der Zweckmäßigkeit von den Verlegern abgelehnt wurde, beschlossen hatte, dessen Veröffentlichung gar nicht mehr zu versuchen. Er würde unverstanden bleiben. Aber was machte das schon? Wenn man schreibt, weil man krank ist, wie er und Garboli behaupteten, dann war der Augenblick der Heilung genau durch den EntSchluß gekennzeichnet, nicht auf einer Veröffentlichung zu beharren.
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Doch die zweite Schlußfolgerung, zu der ich bei dieser meiner letzten Reise auf der Suche nach Zeugen der Geschichte des Majors gelangte, war, daß man krank ist, solange man lebt. Das Leben selbst ist die Krankheit. Und jeder sucht, so gut er kann, mit der Feststellung seiner Unheilbarkeit, die ihm früher oder später aufgeht, fertig zu werden. Man schreibt nicht, weil man krank ist — nein, man lebt, und daher ist man krank. Und indem man schreibt, vertreibt man sich die Zeit bis zum Ende. Als ich diese Schlußfolgerung für mich selbst aussprach, hatte ich zum erstenmal das Gefühl, das Rätsel der Figur des Majors endlich verstanden zu haben; vielmehr ihm erst jetzt, wo er nicht mehr da war, in einem gewissen Sinn geholfen zu haben, seiner eigenen Figur klare Umrisse zu verleihen. So als hätte einem Bildhauer eine vage und faszinierende Gestalt vor Augen gestanden, die noch in einem Marmorblock schlummerte, und ich hätte das Werk ausgeführt und es endgültig aus seinem steinernen Gefängnis befreit. Es war, als ob sich in mir unversehens eine Landschaft geöffnet hätte, hundertmal leuchtender als die doch auch grüne und sanfte, die der Zug durchfuhr. Ich war zutiefst betroffen von der Schärfe der Wahrnehmung meiner Beziehung zum Major, und ich fühlte sie fast wie einen körperlichen Schmerz, als ob eine lange Nadel mir das Herz durchstäche. Es gibt Vorrichtungen fürs Telefon, die, um die Vertraulichkeit des Gesprächs zu wahren, die Laute, die aus dem Mund des Sprechenden kommen, verzerren. Eine parallele Vorrichtung am anderen Ende der Leitung funktioniert genau umgekehrt und macht dem Hörer die ankommenden Laute wieder verständlich. Mir kam es vor, als hätte mir ein imaginärer Dekodifikator plötzlich die Rätsel, die Geheimnisse, die halben oder verschütteten Wahrheiten nicht nur des Lebens des Majors, son-
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dern auch meines eigenen verständlich gemacht. Ich war wie der Major Aebi, und wir beide waren wie alle anderen menschlichen Wesen. Wenn es einen Unterschied gab, aber den konnten wir als Angehörige einer Generation nicht messen, dann lag er in der Gewißheit, zu der wir beide, der Major und ich, mit gegenseitiger Hilfe gelangt waren: daß das Leben eine unheilbare Krankheit ist, dazu bestimmt, mit dem Tod zu enden, und daß das Streben nach Unsterblichkeit auf dem Weg der Kunst, der Politik, der Religion, der Tugend ein Placebo für Geister ist, die sich von der Realität zu sehr haben einschüchtern lassen, um ihr ins Gesicht zu sehen. Diese Erkenntnis löste in mir eine verblüffende Fröhlichkeit aus, etwas, das mir, nach einer ersten angstvollen Beklemmung, das Herz so weitete, daß ich beinahe gezwungen war, nach jemandem zu suchen, mit dem ich diese Emotion teilen könnte. Im selben Augenblick kam der Schaffner ins Abteil, um die Fahrkarte zu kontrollieren. Ich versuchte, ihn aufzuhalten, und bat um Auskünfte. Wie die Eisenbahner in der ganzen Welt reagierte er mit großer Präzision, Korrektheit und Höflichkeit. Seine Mütze saß ganz exakt auf dem Kopf. Mir gefiel es, wie er in seinem Fahrplan blätterte, um Ankunftszeiten und Anschlüsse zu vergleichen, um die ich ihn (zum Vorwand) gebeten hatte, mir gefielen seine Uniformjacke, die Druckbuchstaben, mit denen er Stationen und Ziffern auf einen Zettel schrieb, den ich ihm gegeben hatte. »Wie lange Zeit sind Sie schon bei der Eisenbahn?« fragte ich ihn. Und während ich das Wort »Zeit« aussprach, spürte ich eine bestürzende innere Resonanz. Die Zeit war das Leben. Sie war die Radiographie unserer Leben. Der österreichische Schaffner sagte mir, ohne lang darüber nachzudenken, für welche Anzahl von Jahren sich sein Leben mit dem der österreichischen Eisenbahn verschmolzen hatte.
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»Achtzehn Jahre.« »Es ist das erstemal, daß ich von Bregenz nach Wien reise«, sagte ich, »und doch kommt es mir vor, als hätte ich es schon früher getan, auch zu anderen Jahreszeiten als im Sommer.« »So etwas habe ich auch schon von anderen Fahrgästen gehört«, meinte der Schaffner. »Das ist eine Landschaft, die wahrscheinlich an andere Länder erinnert: an die Schweiz, an Deutschland, sogar an Italien. Sie sind Italiener, nicht wahr!« Ich zögerte einen Augenblick. »Wenn ich Ihnen sagen würde, als was ich mich fühle, würden Sie lachen.« Aber gleich darauf, ohne mich um diese mögliche Konsequenz, die ich selber nahegelegt hatte, zu kümmern, fuhr ich fort: »Ich fühle mich genau halb wie ein Italiener und halb wie ein pensionierter Offizier der Schweizer Armee, geboren in Bellinzona, Vater aus dem Engadin und Mutter aus Bellinzona, Witwer, sehr reich, wegen sexueller Straftaten eingesperrt und seit ein paar Jahren, nach Verbüßung der Strafe, wieder auf freiem Fuß.« Der Schaffner lächelte. »Kurios«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.« Er wandte sich zum Gehen, doch in diesem Moment fiel sein Blick auf den Versteigerungskatalog. Der Eisenbahner mußte eine Reproduktion des Bildes von Leonor Fini in einer Zeitung gesehen haben, als Illustration bei der Berichterstattung über den Fall Aebi, oder auch in irgendeinem Fernsehprogramm, jedenfalls erkannte er es sofort, möglicherweise durch meine Worte auf die Spur gebracht. »Versteigerung Aebi zu Gunsten von UNICEF«, stand auf dem Titelblatt, und während sich der Schaffner hinunterbeugte, um es zu lesen, schien er sich an alles zu erinnern. Wie aus den Worten des Ragioniere Facchinetti zu entnehmen gewesen war, hatte die Versteigerung im Vorfeld Klatsch
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und Polemiken ausgelöst. Durch die Entscheidung des Gerichts war der Testamentsvollstrecker gezwungen gewesen, auch die vom Major und seinen Partnerinnen zur Anstachelung der erotischen Phantasie benutzten Gegenstände in die Versteigerungsmasse zu geben: die metallbeschlagenen Korsetts, die Kette mit den Bernsteinkugeln, die Stiefelchen mit Pfennigabsätzen, die besondere Unterwäsche für die »Übertretungen«. Und das war bei einer Versteigerung zum Wohl von Kindern angesichts der Gründe für die Verurteilung des Majors einigen Kommentatoren, die Matthias Aebi auch nach seinem Tod noch mit ihren Pfeilen treffen wollten, anstößig erschienen, wie wohltätig die Absichten des Testaments auch immer sein mochten. Das Gemälde der Fini, um das sich zwei Sammler gestritten hatten, war dann bei der Versteigerung für über 70000 Franken weggegangen, und auch darüber hatten die Zeitungen geschrieben, um ihre Berichte endlich mit anderen Bildern zu illustrieren als dem Porträt des Verstorbenen oder dem »Orgienhaus«, der inzwischen verlassenen Villa in der Via delle Vigne. »Das ist doch diese Geschichte von dem Major Aebi, nicht wahr?« sagte der Schaffner, mit dem Kopf auf den Katalog deutend. »Ja«, erwiderte ich. »Sie kennen sie?« »Meine Frau hat wegen der Geschichte den Verlobten ihrer Tochter hinausgeworfen«, erklärte er. »Wir hatten an dem Abend einen schrecklichen Familienkrach. Der Alois hat behauptet, daß der Major alles in allem nichts Böses getan habe. Das sei alles bloß Neid von denen, die über ihn herziehen. Neid wegen seines Gelds und weil er sich mit dem Geld alle Weiber hat kaufen können, die er wollte.« »Und Ihre Frau war damit nicht einverstanden?« »Nein. Sie hat sich geärgert, weil sie gesehen hat, daß ich
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und ihre Tochter, eine Tochter aus erster Ehe, uns nicht ganz sicher waren. Wir fanden, daß der Junge nicht völlig Unrecht hatte. Plötzlich hat sie gesagt: >Und wenn ihr das Geld von dem Aebi gehabt hättet, hättet ihr euch dann auch so aufgeführt? Ich habe den Kopf geschüttelt, ihre Tochter hat losgelacht und der Bursche frech ja gesagt. Da hat meine Frau ihn wütend rausgeworfen, und ihre Tochter ist ihm halb verärgert und halb belustigt nachgegangen. Als ihre Mutter sie zurückrufen wollte, hat sie lachend gesagt: >Bei dem Geld, das der hat.. .< Ich bin der Meinung, wenn einer so viel, aber wirklich so viel Geld hat, dann ist er kein Mensch mehr wie die andern. Man kann keine Vergleiche anstellen. Zum Beispiel: ein Bußgeld zahlen, was für eine Strafe ist das schon für so einen?« Ein Zugschaffner denkt eben immer an die Bußgelder der Fahrgäste, die ohne Billett reisen. Das sind für ihn die exemplarischen Übertretungen. »Naja«, sagte ich, »der Major Aebi ist immerhin zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das war keine Kleinigkeit.« »Mir würde das nichts ausmachen, wenn ich seine Milliarden hätte«, meinte der Schaffner. »Nur hätte ich sie anders verwendet. Der Aebi muß krank gewesen sein. Auch beim Prozeß hat man kaum verstanden, was er sagen wollte.« Ich klopfte mit den Fingern auf die Mappe, die ich auf den Knien hielt. »Da drin ist ein Buch, das der Major geschrieben hat, um zu erklären, was er getan hat und warum. Würden Sie ein solches Buch lesen wollen;« Der Eisenbahner grinste. »Wenn viele Fotos drin wären«, sagte er. »Wie allen Männern gefallen mir die Schweinereien.« Dann, ernsthafter: »Mich würde interessieren, wie er den Frauen sofort klargemacht hat, was er von ihnen wollte, wenn es sich um komische Sachen gehandelt hat. Und wie er ihnen
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das Geld gegeben hat ... Der Alois hat gesagt, wenn man schon die erotischen Phantasien bestraft, dann ist das krank. Und meine Frau hat ihn angeschrien, daß er selber krank ist, wenn er sich solche Schweinereien ausdenkt.« »Und was meinen Sie?« »Daß ich und meine Frau normale Menschen sind. Bei uns kommen solche Dinge nicht vor, und wenn sie vorkommen würden, würden wir vielleicht anders reagieren. Aber wir reden ganz gern darüber, alle zwei.« Er blickte aus dem Fenster. »Man denkt immer an das, was man einmal zurückläßt. Der Aebi ist jetzt tot. Was für einen Sinn hat es für ihn, daß er ein Buch mit seiner Geschichte zurückgelassen hat? Das Leben hat er genossen, und jetzt wäre es für ihn besser, wenn er vergessen würde«, und er deutete auf den Katalog, »als daß er durch seine Geschichte als Kaninchen in Erinnerung bleibt, das es mit den kleinen Mädchen getrieben hat.« Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Hatte der Major Aebi nicht sein Buch geschrieben, um genau den entgegengesetzten Zweck zu erreichen; Und ich, wie sollte ich mich entscheiden, um keinen Verrat an ihm zu üben? Wieder einmal stieß ich zu meinem Leidwesen auf eine Wahrheit, mit der ich mich in den Jahren, in denen ich mein Brot noch als Journalist verdiente, schon oft hatte abfinden müssen: Von ein und demselben Ereignis, von ein und demselben Menschen haben alle, die sozusagen vom Rand des Spielfelds aus zuschauen, unterschiedliche Eindrücke, so viele sie auch sein mögen. Und da sich keiner mit dem Original deckt, verbinden sich all diese mehr oder weniger »falschen« Eindrücke mit den meist noch falscheren Schlüssen, die jeweils daraus gezogen werden, zu einem allgemeinen Gewebe von Halbwahrheiten, das dann zur »historischen« Wahrheit der in Frage stehenden Geschichte und ihrer Protagonisten wird. »Gute Reise«, wiederholte der Schaffner, und diesmal ging
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er sofort hinaus, ohne zu merken, zu welcher Erkenntnis er mir verholfen hatte. Ich bin ein großer Freund von Kreuzworträtseln und Schachproblemen. Jeder, der diese harmlose, aber unwiderstehliche Leidenschaft mit mir teilt, weiß, daß sich in beiden Fällen nach einer Phase des Knobelns und Herumprobierens die Lösung plötzlich wie von selbst ergibt. Wie ein Licht taucht das bis dahin vergeblich gesuchte Wort auf, wie von selbst entwickeln sich die Züge der Figuren bis zum unanfechtbaren Schachmatt. Nach den vielen Tagen, den Wochen und Monaten, die ich mit dem Manuskript, das ich auf den Knien hielt, verbracht hatte und den direkten Zeugnissen, den Prozeßberichten, selbst den Gegenständen, die das Leben dieses Mannes ausgemacht hatten, nachgegangen war, hatten die Worte des Eisenbahners und die Art und Weise, mit der er die in seinem Kopf stattgefundene Verschmelzung zwischen dem verstorbenen Menschen, dem kriminellen Wüstling der Berichterstattung und dessen Porträt als »Kaninchen«, vor langer Zeit aus der Inspiration einer Künstlerin entstanden, ausdrückte, auf mich die Wirkung eines »Sesam öffne dich« für das psychologische Kreuzworträtsel, in dem sich das Leben des Major Aebi mit dem meinen gekreuzt hat. Ich blieb lange mit geschlossenen Augen sitzen, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Zusammen mit den Überlegungen, die ich seit meiner Abfahrt von Bregenz angestellt hatte, war ich von dieser Erkenntnis wie geblendet. Mich überfiel das beklemmende Gefühl, alles verstanden zu haben. Es war, man verzeihe das Oxymoron, eine freudige Beklemmung. Meine persönliche Fahrt auf der Suche nach einem Gral, von dessen Existenz ich zu Beginn gar nichts gewußt hatte, war fast am Ende. Ja, dachte ich, ein jeder von uns reist durch die Zeit, die ihm zum Leben gegeben ist, auf der Suche
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nach etwas, das er nicht hat. Das ist die Krankheit von uns allen, bei jedem gleich und doch verschieden, täuschend und verschieden bis zum Schluß, der freilich für alle der gleiche ist: das Ende und das Nichts. Die Mappe auf den Knien, die das Manuskript des Majors, die von mir gesammelten Zeugnisse und meine Notizen enthielt, dachte ich lange nach über diese Kette von Einsichten, verblüffend wie ein Spiegellabyrinth. Das Beklemmende war die definitive Wahrnehmung, daß, soviel jeder von uns auch unternehmen und tun, sich abstrampeln, schreiben, Verbrechen oder gute Taten begehen mag, von all seinem Handeln weniger als ein Kräuseln auf dem Wasser übrigbleibt: Und nur ein Tor kann sich darum sorgen, was nach seinem Tod aus seinem Namen wird. Ruhm und Schande sind religiöse Illusionen, mit denen wir uns selbst betrügen, in der Hoffnung, weiterzuexistieren, auch wenn wir offensichtlich nicht mehr existieren. Was kann es Hesse bedeuten, daß wir ein Gedicht von ihm auswendig können, oder dem Admiral Nelson, daß er in einem Stück Stein oben auf einer Säule am Trafalgar Square gezeigt wird? Die einzige wichtige Empfindung ist die des lebendigen Touristen aus Nebraska, der voll Freude und Neugier die Farben, die Formen, die Bewegungen der Leute und den Flug der Tauben beobachtet, in deren Mitte sich dieser reglose Stein befindet. Meine Freude kam aus der Feststellung, daß nur unsere alltäglichen Handlungen all die möglichen Empfindungen, deren wir als menschliche Wesen fähig sind, völlig in sich schließen können: Freude, Schmerz, Enttäuschung, Überraschung, Ekstase... die gesamte Skala! Ich war geheilt! Was immer meine Krankheit oder die Unruhe, die mich gequält hatte, gewesen sein mochte, jetzt fühlte ich nichts mehr davon, weder im Körper noch im Geist. Ich
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konnte nicht behaupten, daß das Verdienst dieser unerwarteten Leichtigkeit des Bewußtseins meiner Beschäftigung mit dem Buch des Major Aebi zu verdanken sei oder der Tatsache, daß ich die Mäander seiner Geschichte im Leben und bei den Lebenden aller Tage verfolgt hatte. Tatsache war jedoch, daß ich nun nicht mehr das Bedürfnis verspürte, ein Vorwort zu schreiben oder das Manuskript des Majors zu veröffentlichen samt den Krusten meines eigenen Lebens, die sich darauf gebildet hatten. Als ich endlich diesen Zustand gedankenvoller Reglosigkeit von mir abschüttelte, bemerkte ich, daß der Zug bereits durch die Wiener Peripherie fuhr, zwischen den Häusern von Penzing. Mich erfaßte ein Gefühl von belustigter und todesnaher Bedenklichkeit, als ob ich mich selbst mit anmutigen Bewegungen am Rand eines Abgrunds tanzen sähe. Ja, auch Garboli würde ich sagen, daß man alles noch einmal erleben kann: denken, schreiben, geheilt werden — unter einer Bedingung: daß man am Leben ist. Für den nächsten Tag war ich mit Trudi verabredet. Der Major Aebi hatte nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis Trudi eine beträchtliche Geldsumme vermacht, eine Entscheidung, die es der ersten Gefährtin seiner erotischen Experimente erlaubte, das Sacher zu verlassen und zu leben, wie es ihr gefiel. Sie war in ihren Heimatort zurückgekehrt, und dort hatte ich sie telefonisch ausfindig gemacht. Ich hatte ihr von meinen Nachforschungen erzählt, und wir vereinbarten, uns auf der Terrasse des Sacher zu treffen, das Trudi in ihrer neuen Eigenschaft als wohlhabender Gast hin und wieder gern aufsuchte. Wir trafen uns, wie ausgemacht, um zwölf Uhr mittags. Ich hatte als Erkennungszeichen den Katalog mit der Leopardenfrau auf den Tisch gelegt. Der Fall erforderte es vielleicht, sagte ich, mich selbst bemogelnd, daß dieser ferne Blick bereit
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sei, sich auch auf den letzten Akt der Reihe menschlicher Verkettungen zu richten, die aus der Vergangenheit bis hierher reichte. Aber wäre es wirklich der letzte?... Wir stellten uns gegenseitig mit einem Händedruck vor, und nachdem ich zwei Aperitifs bestellt hatte, sahen wir uns ins Gesicht, mit der Redepause, die üblicherweise nach dem Austausch von Höflichkeiten den Beginn der Geschäftsverhandlungen bezeichnet. Ich hatte mich vorbereitet. Ich zog eine Banknote zu 5000 Schilling aus der Tasche, dann noch eine, rollte sie zwischen den Fingern und zeigte sie Trudi, ohne daß es mir gelungen wäre, einen ironischen und amüsierten Ausdruck zu unterdrücken. In der Philharmonikerstraße spazierten die Leute wie auf den Fotografien von vor hundert Jahren. Über uns schien der Himmel reglos zu leuchten, blau und gleichmäßig seit undenklicher Zeit. Er würde auf ewig so leuchten, auch noch nach uns, wie er es getan hatte, nachdem Verbena Aebi und ihr Major verschwunden waren. Die Leopardenfrau und das Kaninchen beobachteten uns von unten herauf, inzwischen auch sie eingeschlossen in ihre für immer beendete Geschichte. Trudi betrachtete das Geld zwischen meinen Fingern und lachte aus vollem Hals, munter, vulgär und faszinierend wie das Leben. »Jawohl, Herr Major«, sagte sie und lachte noch einmal schallend. Das war ein Lachen, dachte ich, dazu bestimmt, mindestens bis zur Nacht anzudauern.
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EPILOG Eine schwindelerregende Kette — Theorie über den Loskauf von der Erbsünde — Der Homer-Komplex und unvermittelte Gedanken über die Akrobatik eines Turmspringers — Der Acheron
»... et convenerunt in unum.« Ja, lieber Leser, der Kreis schließt sich. Sagen wir schlicht und einfach, daß für alle, für jeden auf seine Weise, der Moment der Quadratur des Kreises kommt. Am Ende der Reise, sei es die beiläufige eines geschriebenen Textes, sei es die existentielle unserer einzelnen Leben, sei es die allgemeine und metaphorische, die jede Generation von Lebewesen auf der Erde unternimmt, wird der Beweis dafür von einer Hand zur anderen weitergereicht, mit einem Gefühl von bewundernder und ängstlicher Entfremdung, wenn man den Blick nur ein wenig über die Schulter der Jahre hebt, um die schwindelerregende und ungreifbare Kette von Menschen und Geschichten, von Erfahrenem und Aufgeschriebenem zu betrachten, all dessen, was uns in der Zeit vorausgegangen ist und von dem wir, von Reise zu Reise, herkommen. Die Reduktion auf eine kosmische Einheit... Wir, so winzig, so unbedeutend, so zufällig... so sterblich... Viele Jahre lang habe ich die Verbindungen zwischen den Büchern, die ich schrieb, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und dem dunklen See der Erfahrungen, Erinnerungen und Phantasien wahrnehmen können, aus dem sie auf irgendeine Weise auftauchten, in den stillen, dunklen und einsamen Stunden, die der Morgendämmerung vorausgehen.
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Das waren die Momente, mich entschlossener dem glanzlosen Spiegel zu stellen, den jeder in sich trägt und den uns der Lärm und die Hektik des Alltags (als Alibi) für gewöhnlich verdrängen und in irgendeiner Schublade des Bewußtseins verstecken lassen. Und es ist viel von einer verdrängten Wahrheit in dem, was man sich vor der Morgendämmerung ausdenkt, in diesen wenigen Stunden, in denen wir auch physiologisch den Träumen noch nahe sind! »... et convenerunt in unum.« Und genau in einer solchen zu Ende gehenden Nacht bin ich mir bewußt geworden, daß ich die Geschichte des Major Aebi aufgegriffen und für dich, für mich, für andere beschrieben habe, so wie man das akrobatische Kunststück eines Turmspringers aus großer Höhe beschreiben könnte, der nur eine ganz kurze Zeit benötigt, um eine schwierige, geschmeidige und elegante Drehung in der Luft zu vollführen, ehe er sich in die tiefen Fluten stürzt, die ihn erwarten, wie sie uns alle erwarten: die Fluten des Acheron. In einem solchen akrobatischen Akt hatte sich jene menschliche Figur mit den Zügen eines guten Schweizer Bürgers, Protagonist eines skandalösen juristischen Falls, von der Plattform der Zeit gestürzt, und in ihrer Drehung in der Luft, ehe sie für immer verschwand, war sie mir ähnlicher und ähnlicher geworden. Und in diesem letzten Augenblick, der dem Eintauchen ins Wasser vorausging, war ich, vielleicht durch ein flüchtiges Aufblitzen des kosmischen Spiegels, den dieses Wasser sehr wohl darstellen konnte — in diesem Augenblick, vergleichbar einer letzten weißen Seite, auf der sich der arabeskenhafte, schwarze, unruhige und bedeutsame Schriftzug eines Abschieds findet —, in diesem Augenblick war ich in der Lage zu begreifen, daß nicht nur der Major Aebi, nicht nur ich, sondern auch du und du und du, Leser, hoffnungslos zusam-
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mengepreßt waren in der riesigen Gußform eines durch die Zeiten hin gemeinsamen Schicksals. Ja, alle konnten wir uns als auf irgendeiner hypothetischen Anklagebank sitzend betrachten, unsererseits schuldig der einmaligen oder vielfachen, verborgenen oder öffentlichen, unterdrückten oder ausgelebten »Übertretungen«. Kriege oder Schändungen, Feigheiten oder Messerstechereien, der Spiegel warf sie uns ins Bewußtsein zurück, wenn wir nur die Unerschrockenheit besaßen, in ihn zu schauen, und das Herz, den Anblick zu ertragen. Schuldig also... aber wie soll man sich von einem Schuldgefühl befreien, wenn es an der Wahrnehmung der Schuld fehlt? Ist diese Unempfindlichkeit die eigentliche Krankheit, von der man genesen muß und durch das Schreiben genesen kann? Unbeweglich nahm ich es in dieser Stunde vor Tag hin, daß das, was sich wie Tentakeln ausstreckte, blind und ohne bestimmtes Ziel herantaumelte, nicht die Gedanken waren, sondern die amorphen Gebilde, die diesen vorausgehen und ihnen, wenn sie sich präzisieren, Gestalt verleihen. Hamlet behauptet, es sei das Bewußtsein, das feige mache, uns alle. Ich will eine Variation versuchen: Es ist das Bewußtsein, das uns lax macht. Doch die Laxheit ist ein Zustand der Unempfindhchkeit gegenüber der Leidenschaft, der Unruhe, der Frustration, der Ohnmacht, ein Zustand, nach dem man sich wohl sehnen kann, wenn man Jahre unter so anderen Umständen gelebt hat! Die Laxheit kann eine wohltuende Form von Schlaf mit offenen Augen sein, die es erlaubt zu vegetieren, ohne zu leiden! Oder aber ein beliebiges Vergnügen zu suchen und mit ihm herumzuspielen (auch ein »fortschreitend übertretendes«!), ohne dabei Schuldgefühl oder Unzufriedenheit zu empfinden. Aufgewühlt von der Stille und der Dunkelheit, gingen
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meine Gedanken wieder zurück zu dem Abend in Locarno, als mir der Major Aebi von seinem Buch erzählt hatte und wie er dann später beschlossen habe, es nicht zu veröffentlichen. Weder in seinem Verhalten noch in seinen Worten hatte sich irgendeine Spur von jenen erst gelebten und dann beschriebenen sexbesessenen Monaten gefunden, auch nicht von der gesellschaftlichen Lynchjustiz, die ihn doch schwer getroffen haben mußte, oder von der Zeit im Gefängnis, die ihn so viele Jahre seiner Freiheit und Behaglichkeit beraubt hatte. Konnte es sich damals um jene Form von offensichtlicher Laxheit gehandelt haben, um jenen Zustand, den sich jedes Lebewesen als Erholung von den Kuren des Lebens erhofft? Und das um so mehr, je intensiver es gelebt hat? Wie lange lassen sich Drangsal und Schmerz solcher Tage ertragen, von denen Hamlet spricht, ohne zu wünschen, daß man ihnen entkommt, nicht, indem man zum Dolch greift, sondern in dem man sich daranmacht, sein eigenes Buch zu schreiben — wie eine Wegzehrung für einen langen Schlaf? Wie eine Unternehmung, zu der man sich anschickt, ohne daß ihr Ausgang vorhersehbar wäre, weckt die Nacht Fragen. Ich fragte mich, welche Erinnerungen, welche Leiden, welche Ambitionen einen Blinden dazu gebracht haben konnten, den Trojanischen Krieg oder die Irrfahrten des Odysseus so zu besingen, daß sich das begrenzte Es eines Menschen in einen universalen Schatz an Gefühlen und Impulsen, an Träumen und Kunst verwandelte, fähig, durch die Jahrhunderte, durch die Sprachen und Gesellschaften hindurch weitergegeben zu werden. War das (oder die Bibel oder die Upanischaden oder die Sagas), fragte ich mich, eine erste kollektive Weise, von der Erbsünde zu genesen, die im Akt der Geburt jedes menschliche Wesen befällt, gleich unter welchem Himmel es auf die Welt kommt und nicht lange genug bleibt, um auf all die gro-
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ßen und kleinen Fragen, die die Sterne und die Spiegel in ihm aufwerfen, eine Antwort finden zu können; Wir waren vom Homer-Komplex befallen, sagte ich mir. Weniger direkt als der Odipus- oder der Narziß-Komplex oder die vielen anderen seelischen Gespenster, mit denen uns hundert Jahre Psychoanalyse vertraut gemacht haben, vermittelte uns der Homer-Komplex den Glauben, wir könnten endlich über das geschriebene Wort jeden absoluten Wert erreichen. Die Unsterblichkeit, die Wahrheit, die Sicherheit, die Vollständigkeit, der Sinn des Lebens, all das lag im geschriebenen Wort... Der Major Aebi, überrollt von einer Serie von Handlungen und Ereignissen, die er selbst in Gang gesetzt hatte, ohne daß er sie danach noch zu beherrschen vermochte, hatte sich schließlich damit abgefunden, die Chronik seiner Taten niederzuschreiben, wie in einer ungewöhnlichen Art von Testament. Aber ich durfte glauben, im Vergleich zu ihm noch einen Schritt weiter gekommen zu sein, einen Bruchteil mehr geschafft zu haben bei dieser unaufhörlichen Staffette. Die eigene, geschriebene Geschichte war dem Major zugefallen, wie der Apfel auf das Haupt des schlummernden Newton fiel. Doch ich war es gewesen, der in seiner Geschichte (oder müßte ich an dieser Stelle sagen: auch in meiner?) das Äquivalent zum Universalgesetz der Schwerkraft geahnt hatte: den Homer-Komplex. Es ist das Gefühl, das jeder Schriftsteller kennt: den Schöpfungsakt zu wiederholen, wie ein hypothetischer Allmächtiger die Dinge aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen. Dieses Allmachtsgefühl ist es, das alles, was man schreibt, zu etwas Neuem und Erlaubtem macht, ohne daß damit irgendein Gefühl von Schuld verbunden wäre. Schreiben wird in erster Linie zu etwas, das einen selbst adelt — und das, was man denkt, wünscht, tut und beweist.
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Ist nicht selbst Gottes Schöpfung voll von unverständlichen und ungerechtfertigten Defekten, dem zufälligen Leid, den offenkundigen Ungerechtigkeiten, der undurchschaubaren Ratio? Schreiben wiederholt für jeden, der sich damit abgibt, den Schöpfungsakt. Die Zeit, die, wie Auden gesagt hat, dem Mut, der Unschuld, der Schönheit gegenüber gleichgültig ist, »bewundert die Sprache und verzeiht jedem, der sie durch das Mittel der Sprache existieren läßt«. Der Major Aebi hatte geschrieben, ohne zu denken. Wie eine vom Nebel der Divination umhüllte Prophetin der Antike hatte er die Worte seiner Geschichte verworren aneinandergereiht, in dem Gefühl, daß ihm das zu innerem Frieden verhelfen würde, wenn auch dem Anschein nach ohne greifbares Motiv. Aber diese Tatsachen und sein Bericht über diese Tatsachen und meine Rekonstruktion dieser seiner Geschichte erschienen mir jetzt wie einer jener geologischen Prozesse, in denen im Lauf von Jahrtausenden ein Stalaktit um einen Zentimeter wächst oder das Meer einen Streifen Strand verschlingt. Ganz im Banne des Homer-Komplexes, der im Tageslicht jedes Zögern ausgelöscht hatte, rief ich: Durch jedes Buch entwickelt sich die menschliche Gesellschaft ein bißchen weiter. Die Geschichte des Major Aebi, seiner Frauen, seiner Straftaten, seiner »fortschreitenden Übertretungen«, die er im Buch als natürliche Triebe hinzustellen versucht hatte oder sogar als das letzte Ziel aller menschlichen Wesen, selbst der besterzogenen unter den Schweizer Bürgern (wobei ich unter »Erziehung« das Werk von naturwidriger Unterdrückung dieser Triebe verstehe, wie sie die Gesellschaft der Lehrer, Priester, Philosophen, Politiker auf ihre Schützlinge von Kindheit an ausübte), war in meinen Augen die soundsovielte wiedererstandene Version der Geschichte des Odysseus, Metapher des Mannes, der das Unbekannte, das ihn umgibt, erforscht.
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Es gibt Meere und es gibt Herzen, die voller Geheimnisse sind, betörend wie der melodiöse Gesang, mit dem uns zuweilen eine unsichtbare Nachtigall aus einem nächtlichen Dickicht beschenkt. Irgendeine ferne Muse hatte den Major Aebi, im Gefängnis und bereits an der Grenze seines Lebens, dazu veranlaßt, Geschehnisse, die er kannte, aber deren ganzen universalen Sinn er höchstens undeutlich ahnte, in Worte zu fassen. Das Leben ist ungerecht, und in seiner zufälligen Ungerechtigkeit kann es den einen unmotiviert jene herrlichen Geschenke machen, die es den anderen verwehrt hat, obwohl sie jahrelang verbissen danach suchten. Als die Kellnerin Trudi mit ihrer sinnlichen, rauhen Stimme lachend zu mir sagte: »Jawohl, Herr Major!«, erkannte ich das Aufstrahlen einer langen, heiteren, süßen universalen Nacht, die mich erwartete. Odysseus segelte einen Meter neben mir, dem ewigen Acheron zu. Finis
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