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Der Autor Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und München. Lektor, Regieassistent, Bühnenbildner und Dramaturg. Seit 1977 freier Autor.
Klappentext Die Schauspielerin Karola Amendt macht mit ihrem verschuldeten TourneeTheater in Frankfurt Station, wo sie vor Jahren auf der Bühne Triumphe feierte. Bei dieser Reise in die Vergangenheit trifft sie wieder mit ihrem früheren Geliebten, dem verheirateten Banker Norbert Harzendorf, zusammen. Doch auf die gemeinsame Liebesnacht folgt für Karola ein böses Erwachen: Sie findet Harzendorf, der in undurchsichtige Geldwäschegeschäfte verstrickt ist, erschossen vor. Ehe sie flieht, nimmt sie allerdings noch einen Koffer mit vier Millionen Mark Schwarzgeld mit. Kommissar Brinkmann, immer noch ein glühender Verehrer Karolas, ermittelt mit seinem Assistenten Wegener in diesem Mordfall. Als auch noch Herzendorfs Frau Brigitte mit der gleichen Waffe getötet wird und die schöne Schauspielerin wieder am Tatort ist, scheint es unausweichlich, daß Brinkmanns Jugendschwarm ein Doppelmörder ist. Der Ermittler mit der Fliege verläßt sich auch in diesem Fall neben handfesten Indizien wieder einmal auf seine »Nase«, die ihn schon manches Mal zum wahren Täter geführt hat. Der Kommissar alter Schule bevorzugt korrektes und sachliches Vorgehen, während seine Assistenten manchmal etwas unüberlegt vorpreschen. Dies beeinträchtigt jedoch nicht ihr freundschaftlich-kollegiales Verhältnis und Brinkmann kommentiert dies mit seiner charmant-ironischen Art.
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Peter Scheibler
Verspekuliert Roman
WELTBILD Originalausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn) © 1992 und 1999 by Peter Scheibler Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: „Tatort-Kommissar“ Brinkmann (Karl-Heinz von Hassel), HR Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
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I Seit einer halben Stunde harrte Kommissar Brinkmann nun schon in der Schlange der Kunstbeflissenen aus, die vor der Theaterkasse warteten. Sie alle hofften darauf, doch noch eine Eintrittskarte zu erwischen, obwohl ein Schild am Kassenfenster mit grellroten Buchstaben darauf hinwies, daß die Vorstellung ausverkauft war. Aber nicht jeder, der einen der knapp vierhundert Plätze, die das Theater faßte, reserviert oder abonniert hatte, würde sein Vorrecht nutzen können; und wenn nur fünf von hundert wegen einer plötzlichen Erkrankung, eines überraschenden Besuchs, einer unverhofften Verkehrsstörung oder sonst einem jener unvorhersehbaren Ereignisse, die das Leben spannend und abwechslungsreich, wenn auch nicht immer angenehm gestalten, verhindert wären, würden, wie Brinkmann im Geist kurz überschlagen hatte, zwanzig Plätze für die Wartenden abfallen. Brinkmann stand als siebter in der Schlange und rechnete sich gute Chancen aus, eine der bestellten, aber nicht abgeholten Karten zu ergattern. Noch eine Viertelstunde, und er würde wissen, ob die Warterei sich gelohnt hatte. Brinkmann war seit einer Ewigkeit nicht mehr im Theater gewesen, und wenn er heute nicht mal davor zurückschreckte, sich die Beine in den Bauch zu stehen, um Einlaß zu finden, hatte das etwas mit Karola Amendt zu tun und damit, daß er unlängst fünfzig geworden war. In diesem Alter beginnt man, selten noch und nicht so verbiestert, wie es zwanzig Jahre später der Fall sein wird, darüber nachzudenken, ob das, was man im Leben angestrebt hat, mit dem, was man erreicht hat, übereinstimmt. Die Frage Was wäre, wenn? drängte sich ihm immer öfter auf, meistens im Zusammenhang mit der Erinnerung an jene heimtückischen Ereignisse, die als verpaßte Gelegenheiten den Lebenslauf durchziehen. Augenblicke, in denen es möglich gewesen wäre, einen völlig neuen Weg einzuschlagen und zu anderen Zielen aufzubrechen. Für Brinkmann war Karola Amendt eine solche verpaßte Gelegenheit. Er hatte gerade sein Jurastudium aufgenommen (das er wenige Semester später wieder aufgab, um bei der Kripo anzufangen), als Karola, blutjung und gerade von der Schauspielschule kommend, in Frankfurt Furore machte. Nicht hier, an diesem kleinen Theater, son5
dern an den Städtischen Bühnen, wo sie im Laufe der Jahre all die Rollen spielte, von denen die meisten jungen Schauspielerinnen nur träumen konnten. Brinkmann hatte sie als Iphigenie gesehen und als Gretchen, als Eve im Zerbrochenen Krug und als Laura in der Glasmenagerie, als Käthchen von Heilbronn, als Hermia im Sommernachtstraum, als Polly in der Dreigroschenoper und als heilige Johanna von Shaw; außerdem in zahllosen kleineren Rollen. Kein Stück, in dem Karola Amendt mitspielte, hatte er ausgelassen, und das nicht nur, weil er damals ein ausgesprochener Theaternarr war, sondern weil er sich schlicht und einfach bis über beide Ohren in sie verliebt hatte. Brinkmann hatte ihr Blumen in die Garderobe geschickt, zufällige Begegnungen herbeigeführt, sie mit glühenden Verehrerbriefen überhäuft und sich schließlich eine Einladung zu einer Premierenfeier verschafft. In dieser ungezwungenen Atmosphäre wollte er sich zu erkennen geben und sie mit Charme, Witz und Verstand für sich gewinnen. Als er dann vor ihr stand, brachte er außer ein paar gestammelten Floskeln kein vernünftiges Wort über die Lippen. Sie mußte ihn für einen Idioten halten, und er wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Seine Begeisterung für das Theater flaute ab, und als er dann gerüchteweise erfuhr, daß Karola eine Liaison mit einem verheirateten Mann hatte, verrauchte auch seine Schwärmerei für sie. Tief in seinem Inneren aber saß ein Stachel, und der fing erst Jahre später an zu wirken. Brinkmann hatte sich längst für die Kommissarslaufbahn entschieden und bereits die ersten Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung errungen, als er sich auf einmal einredete, bei Karola viel zu früh die Waffen gestreckt zu haben. Mit etwas mehr Ausdauer hätte er sie für sich gewinnen können, und sie hätte ihn bestimmt motiviert, sein Studium zu beenden und Karriere zu machen. Er, der Staranwalt, und sie, der Bühnenstar, wären zum allseits bewunderten Traumpaar aufgestiegen. Aber er hatte die Gelegenheit verpaßt und mußte sich mit Kriminellen herumschlagen und dafür sorgen, daß Recht und Ordnung die nötige Beachtung fanden. Karola war zu dieser Zeit einem Engagement nach München gefolgt, dann einem weiteren nach Berlin. Überall hatte sie Triumphe gefeiert und dabei übersehen, daß sie längst aus dem Fach der jugendlichen Liebhaberin herausgewachsen war. Der Wechsel in ein anderes Rollenfach mißlang, und plötzlich war sie nicht mehr ge6
fragt. Zwar kamen noch Angebote vom Fernsehen, aber die hatte sie eher als eine Beleidigung empfunden. Ihre Zeit, das ahnte sie, würde erst wieder kommen, wenn sie reif für die großen Charakterrollen wäre, und sie wollte sich bis dahin auf keinen Fall durch minderwertige Rollen oder Fehlbesetzungen verschleißen lassen. Um die Zeit zu überbrücken, hatte sie ein Tourneetheater gegründet, für das sie nicht nur ihre künstlerischen, sondern auch ihre organisatorischen Talente entfaltete. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie ihm zu einem hohen Bekanntheitsgrad und damit zum Erfolg verholfen. Mit diesem Tourneetheater gastierte sie nun schon seit ein paar Tagen in Frankfurt und brachte das Stück Der Kammersänger von Frank Wedekind zur Aufführung. Darin präsentierte sie in der Titelrolle Anton Potthoff, den aus Film und Fernsehen bestens bekannten und wegen seiner Allüren in der Branche allgemein gefürchteten Star. Brinkmann war nicht wegen des Stars gekommen, sondern weil er einer Zeitungsnotiz entnommen hatte, daß Karola heute wegen der Unpäßlichkeit der eigentlichen Darstellerin einspringen und die kleine, stumme Rolle der Klavierlehrerin übernehmen würde. Wenigstens wollte er sich die Möglichkeit nicht entgehen lassen, seine verpaßte Gelegenheit aus der Ferne zu besichtigen. Aus diesen Gedanken wurde er durch eine plötzliche Unruhe vor ihm in der Reihe aufgeschreckt. Als Ursache dafür machte er sogleich einen Mann aus, der an die Kasse getreten war, obwohl er allem Anschein nach nicht zu denen gehörte, die eine reservierte Eintrittskarte abholen wollten. Die Leute, die sich schon so lange geduldet hatten, witterten einen, der sich vordrängeln wollte, und das Gemurre verstärkte sich. Dem Kommissar kam der Mann irgendwie bekannt vor. Als er sich jetzt umdrehte und die aufgebrachten Leute mit einer fast demütigen Geste beruhigte, wußte Brinkmann, wen er vor sich hatte, nämlich Herrn Kümmel, den Gerichtsvollzieher. Mit ihm hatte er gelegentlich zu tun gehabt, als es galt, Zeugen oder Delinquenten Gerichtsdokumente offiziell zuzustellen. Seine eigentliche Tätigkeit bestand allerdings darin, Geld bei Schuldnern einzutreiben und Sachwerte zu pfänden, wenn man ihm mit Geld nicht dienen konnte. Brinkmann schloß aus seiner Anwesenheit sofort, daß vermutlich einer der unbekannteren Schauspieler, die die Tournee begleiteten, in Zahlungsschwierigkeiten geraten war. 7
Aber da irrte er sich. Was er nicht mitbekommen konnte, war, daß Herr Kümmel die Kassiererin jetzt mit seiner leisen, fast flüsternden und immer um Diskretion bemühten Stimme, die er sich im Laufe langer Berufsjahre angewöhnt hatte, fragte, wo er Karola Amendt antreffen und wie er am besten zu ihr gelangen könnte. Karola hielt sich hinter der Bühne auf. Für sie, die sich für alles verantwortlich fühlte, was hier geschah, waren die Minuten vor dem Beginn einer Vorstellung die schlimmsten. Daran konnte auch die langjährige Routine, über die sie inzwischen verfügte, nichts ändern. Erst wenn der Vorhang sich gehoben hatte und der erste Satz gesprochen war, kam sie zur Ruhe und konnte wieder frei durchatmen. »Die Darsteller für den ersten Akt bitte zur Bühne«, tönte die Stimme des Inspizienten jetzt durch den Lautsprecher. »Die Vorstellung beginnt in sieben Minuten.« Der erste, der fertig geschminkt aus seiner Garderobe kam, war Anton Potthoff. Er wirkte souverän, war gutgelaunt und schon ganz erpicht darauf, vor sein Publikum zu treten. Der Begriff Lampenfieber war ein Fremdwort für ihn. Darum beneidete Karola ihn, denn sie litt schrecklich darunter und würde auch heute wieder damit zu kämpfen haben, obwohl die Rolle, die sie übernehmen mußte, winzig war und obendrein auch noch stumm. Daran mochte sie jetzt aber noch gar nicht denken, denn sie kam erst später dran, im siebten Aufzug. Sie lächelte Potthoff an, der schon auf dem Weg zur Bühne war, jetzt aber innehielt und zurücklächelte. »Hallo, liebe Karola«, sagte er in einem Tonfall, der nicht ganz echt klang, »ich wollte dich nur erinnern… wieder erinnern, daß meine Gage fällig ist. Überfällig!« »Die zweite Rate«, bestätigte Karola nickend, »ich weiß.« »Bar auf die Hand, wenn ich bitten darf«, ergänzte Potthoff, »wie wir es verabredet hatten.« »Morgen, ganz bestimmt«, versicherte sie ihm und fügte noch ein aufmunterndes »Toi, toi, toi« hinzu. »Das wünsche ich dir auch«, erwiderte Potthoff und setzte seinen Weg zur Bühne fort. »Die Darsteller auf die Bühne, bitte«, tönte es wieder aus dem Lautsprecher. »Die Vorstellung beginnt in vier Minuten.« Karola blieb noch einen Augenblick gedankenverloren stehen, drehte sich dann um und erschrak zu Tode. Vor ihr stand ein wild8
fremder Mann, dessen Gesicht aus einer einzigen Kummerfalte zu bestehen schien. Er streifte sie mit einem unsteten Blick, als wolle er sich jetzt schon für das, was noch kommen würde, entschuldigen. »Frau Amendt?« fragte er mit leiser, fast flüsternder Stimme. »Wer sind Sie?!« herrschte ihn Karola, die ihren Schrecken schnell überwunden hatte, an. Fremde hatten vor der Vorstellung nichts hinter der Bühne zu suchen, das brachte nur Unglück! »Mein Name ist Kümmel«, stellte der Mann sich mit einer leichten Verbeugung vor und fügte bekümmert hinzu: »Gerichtsvollzieher. Ich habe hier einen Zahlungsbefehl über einhundertzwanzigtausenddreihundertfünfzig Mark.« Er öffnete umständlich seine abgewetzte Aktentasche, holte das Dokument hervor und reichte es Karola. »Hier der Zahlungsbefehl. Können Sie zahlen?« Karola hatte es die Sprache verschlagen. Sie schaute auf das Dokument, ohne auch nur ein Wort entziffern zu können, und schüttelte den Kopf. »Sie können also nicht zahlen?« hakte Kümmel nach und zog ein weiteres Dokument hervor. »Für diesen Fall habe ich vorsorglich einen Pfändungsbeschluß mitgebracht.« Er gab Karola auch dieses Blatt, und sie konnte damit so wenig anfangen wie mit dem ersten. »Ich muß pfänden«, erklärte Kümmel. »Die Tageseinnahmen finde ich unten an der Abendkasse, oder?« Karola schüttelte erst den Kopf und nickte dann; offensichtlich hatte sie ihre Fassung noch nicht zurückgewonnen. »Wenn Sie bitte mitkommen möchten«, forderte Kümmel sie jetzt leise, aber bestimmt auf, und fügte erklärend hinzu: »Wegen der Quittung nachher.« Er ging zur Treppe voraus, und sie folgte ihm gottergeben. Brinkmann konnte es einfach nicht fassen! Die sechs Leute vor ihm hatten sämtliche übriggebliebene Karten abgeräumt und waren mit ihren im Foyer wartenden Begleitern überglücklich in Richtung Zuschauerraum entschwunden. Als er an den Schalter herangetreten war, hatte die Kassiererin mit einem bedauernden Achselzucken das kleine Glasfenster vor seiner Nase zugeschlagen. Die Schlange hinter ihm löste sich langsam auf und die Leute verließen das Theater, nicht ohne ihren Unmut wenigstens halblaut geäußert zu haben.
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Brinkmann, der für sich in Anspruch nahm, der eigentliche Pechvogel zu sein, weil er sich schon im Besitz der letzten Karte gewähnt hatte, blieb noch einen Augenblick unentschlossen stehen und beobachtete, wie die Kassiererin den Abschluß machte und ihre Sachen zusammenpackte. Plötzlich stutzte er. Die Tür, die von hinten in den kleinen Kassenraum führte, war geöffnet worden, und im Rahmen erschien eine Frau. Brinkmann erkannte Karola auf den ersten Blick, obwohl mehr als zwanzig Jahre vergangen waren, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ihr Gesicht hatte ihn damals am meisten fasziniert, weil ihre großen, dunklen Augen, ihre kleine, gerade Nase und ihr energischer, aber dennoch weich gezeichneter Mund in einem Verhältnis zueinander und zu den Wangen, dem Kinn und der Stirn standen, das seinen Vorstellungen von Schönheit nahezu dekkungsgleich entsprach. Natürlich hatten ihre Züge den jugendlichen Schmelz verloren, aber durch die Spuren, die das Leben hinterlassen hatte, war Karola interessanter und, wie Brinkmann fand, fast noch attraktiver geworden. Er hatte einen Blick von ihr aufgefangen, einen kurzen, gleichgültigen Blick, in dem nicht das geringste Zeichen eines Wiedererkennens aufgeblitzt war. Brinkmann verdrängte die aufkommende Enttäuschung, indem er sich eingestand, daß er für sie geschwärmt hatte, und nicht umgekehrt, und daß er keinen wie auch immer gearteten Eindruck auf sie hinterlassen haben dürfte. Karola gab der Kassiererin jetzt eine Anweisung, die Brinkmann nicht verstehen konnte, woraufhin die Kassiererin Karola die Abendkasse überreichte. Bevor die Kassiererin dann den Vorhang hinter dem Fenster zuzog, konnte Brinkmann noch sehen, wie Karola die Abendkasse an den hinter ihr auftauchenden Herrn Kümmel weitergab. Nun hatte Brinkmann wenigstens einen kurzen Blick auf seine verpaßte Gelegenheit werfen können, aber der hatte ausgereicht, ihn wieder in ihren Bann zu ziehen. Erneut setzten die Überlegungen ein, die um die Frage Was wäre, wenn? kreisten. Brinkmann fühlte sich auf einmal ausgeschlossen und er bedauerte zutiefst, nicht Teil des Lebens dieser faszinierenden Frau geworden zu sein. »Ach was!« dachte er dann und schüttelte den Kopf, als könne er damit diese irrationalen Gedanken verscheuchen, von denen er wußte, daß sie ihn bestenfalls in Depressionen stürzen würden. Von Haus aus war er letztendlich ein Realist, sonst wäre er nicht Kriminalbeamter gewor10
den, und der Realist in ihm meldete sich nun energisch zu Wort und sagte ihm sehr deutlich, daß Karola jenseits aller Faszination, die sie auf ihn ausübte, momentan ganz offensichtlich in erheblichen Schwierigkeiten steckte. Als er sich dann klarmachte, daß ihn diese Schwierigkeiten überhaupt nichts angingen, öffnete sich die Tür neben der Kasse, und Herr Kümmel wurde sichtbar. Er bewegte sich rückwärts durch die Tür und ließ Karola dabei nicht aus den Augen. »Bis morgen dann«, sagte er leise, aber doch laut genug, daß Brinkmann ihn verstehen konnte, »morgen um die gleiche Zeit.« »Wieso morgen?« wollte Karola wissen. »Ich komme so lange, bis ich mein Geld zusammenhabe«, gab Kümmel sanft flüsternd zurück. »Morgen, übermorgen, alle Tage. Das liegt allein an Ihnen.« Herr Kümmel trat schnell einen Schritt zurück, um nicht von der Tür getroffen zu werden, die Karola schwungvoll ins Schloß warf. Er zog die Schultern hoch, verstärkte den Griff, mit dem er seine Aktentasche hielt, drehte sich um und blieb wie angewurzelt stehen, als er Brinkmann bemerkte. »Nanu, Herr Brinkmann!« stieß er erstaunt hervor und ließ erkennen, daß er durchaus in der Lage war, auch lautere Töne von sich zu geben. »Sind Sie dienstlich hier? Wollen Sie auch zu Frau Amendt?« »Da müßte sie ja einen Mord begangen haben«, gab Brinkmann zu bedenken, blinzelte Herrn Kümmel verschwörerisch zu und senkte die Stimme. »Ist Ihnen vielleicht etwas zu Ohren gekommen?« Brinkmann schmunzelte, und daran erkannte Herr Kümmel, daß der Kommissar sich über ihn lustig machte. »Immer gut drauf?« fragte er säuerlich zurück. »Na klar!« erwiderte Brinkmann und lachte auf. Dann wurde er wieder ernst. »Darf ich fragen, was Sie von Frau Amendt wollten?« »Sie dürfen mich alles fragen«, gab Herr Kümmel süffisant zurück, »solange Sie keine Antworten von mir erwarten. Unsereiner hat nämlich auch sein Dienstgeheimnis.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt auf den Ausgang zu. Brinkmann schloß sich ihm an, hielt ihm die Tür auf und ließ ihm den Vortritt. »Danke«, murmelte Herr Kümmel und fügte versöhnlich hinzu: »Einen schönen Abend noch.« 11
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Kümmel«, gab Brinkmann zurück. »Und passen Sie gut auf das Geld auf!« Herr Kümmel blieb stehen und blickte Brinkmann treuherzig an. »Welches Geld?« fragte er eine Spur zu naiv. »Ich schätze mal, es waren um die fünftausend Mark, die Sie eben bei Frau Amendt gepfändet haben«, sagte Brinkmann obenhin. Als er sah, wie Herr Kümmel Anstalten machte, sich aufzuplustern, fuhr er schnell fort: »Ihr Dienstgeheimnis, ich weiß.« »So ist es«, bestätigte Herr Kümmel, dem der Wind aus den Segeln genommen war. Dann grinste er unvermittelt und sagte mit seiner leisen, um Diskretion bemühten Stimme: »Eins muß man Ihnen lassen, Herr Kommissar, Sie schätzen spitzenmäßig.«
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II Karola Amendts Auftritt im siebten Aufzug hatte bei den Zuschauern eine völlig überraschende Reaktion ausgelöst. Sie erhielt frenetischen Beifall auf offener Bühne, und wenn sie nach ihrem Abgang noch einmal zurückkehrt wäre, um sich dafür zu bedanken, wären standing ovations bestimmt nicht ausgeblieben. Wahrscheinlich waren viele Fans von früher in der Vorstellung gewesen, die mit ihrem Applaus an jene Zeiten erinnern wollten, zu denen sie als unbestrittener Star am Frankfurter Theaterhimmel glänzte. Karola, die gerade jetzt für jeden Zuspruch dankbar war, hatte sich geschmeichelt gefühlt, konnte sich aber dennoch nicht so richtig freuen. Schließlich hatte sie Anton Potthoff, ohne es zu wollen, die Show gestohlen, und sie wußte, daß er dergleichen nur sehr schwer ertragen konnte. Um ihn nicht noch mehr zu verärgern, hatte sie das Ende der Vorstellung nicht abgewartet und den Schlußapplaus ihm überlassen. Denn ohne sein Wohlwollen würde sie schwerlich aus der Sackgasse herausfinden, in die sie unverhofft geraten war. Karola war still und heimlich aus dem Theater gegangen und schnurstracks in ihr Hotel geeilt, wo sie eine der schlimmsten Nächte ihres Lebens verbrachte. Erst konnte sie vor Sorge um ihre Zukunft keinen Schlaf finden, und als sie dann doch erschöpft wegsackte, wurde sie von Alpträumen geplagt, in denen ein Monster mit zerfurchtem Gesicht und flüsternder Stimme von ihr verlangte, den Applaus eines Millionenpublikums in klingende Münze zu verwandeln. Sie wußte nicht, wie sie das anstellen sollte, weil sie gleichzeitig glitschige Kröten aus abgewetzten Aktentaschen befreien mußte. Obendrein waren die Kröten hungrig und gierten nach Nahrung. Weil die Tiere nichts anderes zu sich nehmen wollten, mußte sie sie mit Geldscheinen füttern. Karola war schweißgebadet aufgewacht, hatte kalt geduscht, bis das Wasser auf ihrer Haut zu brennen begann. Dann war sie, ohne gefrühstückt zu haben, ins Theater zurückgekehrt, um Soll und Haben aufzulisten in der Hoffnung, auf diese Weise einen Ausweg zu finden.
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Karola saß in dem Büro, das die Theaterleitung ihr für die Dauer ihres Gastspiels zur Verfügung gestellt hatte, als Anton Potthoff mit einem bühnenreifen Auftritt erschien. »Einen wunderschönen, guten Morgen!« wünschte er und küßte Karola die Hand. »Wir haben dich gestern abend vermißt.« »Tut mir leid«, brachte Karola mit einem gequälten Lächeln hervor. »Macht doch nichts«, beschwichtigte Potthoff sie. »Rate, wie viele Vorhänge wir hatten.« Karola sah ihn fragend an. »Fünfzehn«, erklärte Potthoff stolz. »Gratuliere«, sagte Karola froh darüber, daß er die Ovationen, die ihr gegolten hatten, nicht erwähnte. Potthoff verbeugte sich dankend. »Wir könnten glatt noch eine Woche in Frankfurt bleiben«, verkündete er, »und ich garantiere dir, es wird immer ausverkauft sein.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, pflichtete Karola ihm bei, »aber es geht nicht. Wir könnten aber noch eine Woche Frankfurt dranhängen, wenn die Tournee vorbei ist.« Potthoff zog die Schultern hoch. Er wollte sich nicht festlegen, zumal er die Termine nicht im Kopf hatte, die nach dieser Tournee anstanden. »Es freut mich jedenfalls«, meinte er ausweichend, »daß du solchen Erfolg hast.« »Es ist dein Erfolg«, gab Karola lächelnd zurück. Sie wußte, daß Potthoff eine derartige Schmeichelei von ihr erwartete. »Ich meine, vom Finanziellen her«, präzisierte Potthoffund zeigte damit, daß er anderes im Sinn hatte. »Apropos, guck mal, was ich mitgebracht habe.« Er legte eine kleine, fein gearbeitete Ledertasche vor Karola auf den Schreibtisch. »Was soll ich damit?« fragte Karola erstaunt. »Da sollst du all die schönen Scheinchen reintun«, erklärte Potthoff. »Meine Gage. Die zweite Rate. Wie verabredet.« Karola war ernst geworden. Sie mußte an die hungrigen Kröten aus ihrem Alptraum denken. »Schau mal«, brachte sie ein wenig verlegen hervor, »es ist doch eigentlich blöd: ich gehe zur Bank und hebe Geld ab, gebe es dir, und du trägst es zur Bank zurück. Deshalb habe ich hier etwas vorbereitet…« Sie holte einen Verrechnungsscheck hervor und schob ihn über den Schreibtisch in Potthoffs Reichweite. 14
Potthoff sah Karola befremdet an, nahm dann den Scheck fast widerwillig in die Hand und warf einen Blick darauf. »Der Betrag ist in Ordnung«, brummte er vor sich hin. »Fünfzigtausend. Aber es ist gegen meine Prinzipien. Wir hatten etwas anderes verabredet.« Karola warf ihm bittend einen Kleinmädchenblick zu, und Potthoff tat, nachdem er sich noch eine Weile geziert hatte, als habe der ihn zum Schmelzen gebracht. »Gut«, sagte er und lächelte generös, »aber nur, weil ich Prinzipienreiter abscheulich finde.« Er steckte den Scheck in die Ledertasche und verschloß sie sorgfältig. Karola sah ihn dankbar an. In dem Moment kam Gaby Schuster, die junge und hübsche Darstellerin der Miss Isabel Coeurne, in das Büro gestürmt. Grußlos baute sie sich vor Karola auf. »Das ist wirklich das Letzte!« fuhr sie sie an und knallte ihr einen Verrechnungsscheck auf den Schreibtisch. »Ungedeckt!« Erschrocken nahm Karola den Scheck in die Hand und betrachtete ihn genau. »Das muß ein Irrtum sein«, stammelte sie wider besseres Wissen. Gaby lachte verächtlich auf und schüttelte den Kopf, während Potthoff seinen Scheck wieder aus der Ledertasche zog und ihn mit versteinerter Miene neben den anderen auf den Schreibtisch legte. »Unter diesen Umständen bleibe ich lieber bei meinen Prinzipien«, meinte er kühl. Karola stand auf und wandte sich ab, um ihre Verzweiflung vor den anderen zu verbergen. Weit her war es aber nicht mit ihrer Beherrschung, denn sie fing gleich darauf an, hemmungslos zu schluchzen. Gaby und Potthoff sahen sich ratlos an. Dann faßte Potthoff sich ein Herz, ging zu Karola, legte ihr den Arm behutsam um die Schultern und versuchte, sie mit einem klangvollen »Na, na, na!« zu beruhigen. Offenbar hatte er nicht den richtigen Ton getroffen, denn Karola befreite sich mit einer heftigen Bewegung aus seiner Umarmung. »Ich bin am Ende!« stieß sie hervor. »Fix und fertig! Aus!« Potthoff sah sie verblüfft an. Langsam schien ihm ein Licht aufzugehen. »Bist du pleite?« »Ja.« Potthoff schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er trocken. »Bei einer so erfolgreichen Tournee geht man nicht pleite. Das ist völlig unmöglich.« 15
»Du hast ja keine Ahnung«, hielt Karola ihm vor. »Es geht außerdem gar nicht um unsere Tournee. Du hast sicher schon von dem Musical Swap gehört?« »Das sie gerade in London spielen?« Potthoff nickte. »Ich habe die deutschen Rechte erworben«, fuhr Karola fort. »Für ein Schweinegeld, aber ich wollte sie unbedingt haben. Das war noch okay. Aber dann ist mir ein schwerer Fehler unterlaufen: Ich habe mein ganzes Geld in eine angeblich todsichere Sache investiert, und seitdem zahle ich drauf. Sie pfänden mir jetzt schon die Tageseinnahmen.« Potthoff schlug sich mit einer theatralischen Geste die Hände vor das Gesicht. »Das ist nicht wahr!« rief er aus. »So etwas passiert den Kollegen, aber nicht mir! Ich habe doch deine Bankgarantien gesehen, bevor ich den Vertrag unterzeichnete.« »Damals war ja auch noch alles in Ordnung«, rechtfertigte Karola sich. Potthoff sah sie vernichtend an und dachte angestrengt nach. »Ich breche ab!« entschied er dann. »Schluß, aus! Ich laß mich doch nicht zum Hampelmann machen.« Bevor Karola etwas erwidern konnte, mischte Gaby sich ein. »Mir wäre es auch ganz lieb, wenn wir aufhören«, lispelte sie, »Ich hätte da nämlich ein Fernsehangebot aus München, und…« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber Potthoff, der es unmöglich fand, daß dieses junge Ding ihm in die Quere kam, warf ihr einen derart strengen Blick zu, daß sie es lieber bleiben ließ. »Wenn du abbrichst«, ließ Karola sich vernehmen, »nimmst du mir die letzte Chance, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.« Potthoff verdrehte die Augen. »Hättest du mir nicht früher irgendwie einen Tip geben können? Ich habe auch meine Verpflichtungen. Ich brauche das Geld, es ist längst verplant.« Karola sah ihn schuldbewußt an und zuckte hilflos mit den Schultern. »Natürlich würde ich am liebsten weiterspielen«, fuhr Potthoff fort. »Aber da muß von dir schon ein bißchen mehr kommen, als ein Achselzucken, verdammt noch mal!« »Ich weiß doch auch nicht, was ich machen soll!« gab Karola zurück. 16
»Geld auftreiben! Was sonst? Da wird dir doch irgendwas einfallen.« Karola seufzte auf. »Ich denke die ganze Zeit an nichts anderes. Was ich schon alles versucht habe…« Sie schüttelte resigniert den Kopf, hielt dann aber plötzlich inne. »Es gibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit«, sagte sie mehr zu sich selbst, »aber die ist so vage…« Sie unterbrach sich wieder und meinte dann entschieden: »Nein, das ist lächerlich.« »Was ist lächerlich?« hakte Potthoff nach. »Nun sag schon!« »Ach, ich habe mal einen hier in Frankfurt gekannt«, brachte Karola zögernd vor, »der war Filialleiter von irgendeiner Bank.« »Wie gut hast du den gekannt?« Karola hätte sich diese Frage am liebsten verbeten, aber sie war im Augenblick nicht in der Position, sich dies leisten zu können. »Gut genug«, gab sie schnippisch zurück. »Also ruf ihn an«, forderte Potthoff sie auf. Karola nickte unentschlossen. »Später.« »Nein, jetzt, in meiner Gegenwart!«, verlangte Potthoff. »Du willst doch, daß ich heute abend auf die Bühne gehe?« Karola warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. Es war unglaublich, wie er mit ihr umsprang! Und das auch noch in Anwesenheit dieser jungen Schauspielerin, deren dämliches Grinsen sie nicht mehr lange ertragen würde. Für den Augenblick blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und so wandte sie sich ab, kramte das Telefonbuch hervor und suchte die Nummer der Bankfiliale heraus, deren Name ihr zum Glück wieder eingefallen war. Dann nahm sie den Telefonhörer auf, wählte die Nummer und wartete. »Guten Tag, hier ist Karola Amendt«, sagte sie, nachdem die Verbindung zustande gekommen war, mit betont forscher Stimme. »Ich möchte bitte Herrn Harzendorf sprechen.« Sie lauschte auf das, was ihr erwidert wurde. »Ja, danke, ich warte«, meinte sie dann und sah zu Potthoff hin. »Er arbeitet jetzt in der Hauptstelle«, raunte sie ihm zu, nachdem sie die Telefonmuschel mit der Hand bedeckt hatte. »Klingt nicht schlecht«, gab Potthoff zurück und nickte anerkennend. Karola nahm die Hand wieder von der Muschel und konzentrierte sich auf das Gespräch. Offenbar war sie jetzt mit der Hauptstelle 17
verbunden. »Ja, Herrn Harzendorf bitte«, flötete sie in den Apparat und wartete die Antwort ab. »Das würde ich ihm gern selbst sagen«, bemerkte sie und hörte sich an, was ihr Gesprächspartner entgegnete. »Und wie lange dauert die Vorstandssitzung?« wollte sie schließlich wissen. Potthoff spitzte die Ohren. »Klingt immer besser«, murmelte er vor sich hin, während Karola das Gespräch beendete und den Hörer wieder auflegte. »Ich erwische ihn kurz vor Mittag in der Hauptstelle«, verkündete sie zuversichtlich. »Wunderbar«, tönte Potthoff. »Dann treffen wir uns um achtzehn Uhr dreißig im Zuschauerraum zu einer Betriebsversammlung. Sie informieren die Kollegen«, forderte er Gaby auf, die zwar nickte, aber nicht sonderlich begeistert zu sein schien, »und du, Karola, erzählst uns dann, was du bei diesem Bankfritzen erreicht hast, damit wir entscheiden können, ob wir weitermachen, oder nicht.« Karola, die schon gedacht hatte, die Oberhand zurückgewonnen zu haben, paßte dieser Befehlston ganz und gar nicht, und sie runzelte verärgert die Brauen. Ehe sie ihren Unmut aber in Worte fassen konnte, setzte Potthoff noch eins drauf. »Bevor du losmarschierst, liebe Karola«, riet er ihr mit einem schalkhaften Grinsen, das er für unwiderstehlich hielt, »geh noch geschwind rauf in die Maske und laß dich ein bißchen herrichten. So, wie du jetzt aussiehst, gibt dir keiner einen Kredit.«
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III Es geschah eigentlich äußerst selten, daß Norbert Harzendorf die Geduld verlor, aber heute war so ein Tag, an dem es durchaus dazu kommen könnte. Den ganzen Vormittag über hatten die Herren Gerber und Zirn vom Vorstand der Bank mit ihm, der für das Kreditwesen verantwortlich zeichnete, all jene Kredite unter die Lupe genommen, die auch nur von fern die Möglichkeit in sich bargen, irgendwann einmal notleidend zu werden. Grund für diese Maßnahme war der Bericht der internen Revision, der seit kurzem vorlag. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit von Kontrollen mißbilligte Harzendorf die Art und Weise, in der sie von Gerber und Zirn praktiziert wurden. In seinen Augen war das nichts anderes als kleinkarierte Nörgelei. Harzendorf hatte das Bankgeschäft von der Pike auf gelernt und als einer der wenigen Nichtstudierten den Sprung in den Vorstand geschafft, wenn auch nur als stellvertretendes Mitglied. Er verfügte bei der Kreditvergabe über ein untrügliches Gespür, das ihn bisher nur selten im Stich gelassen hatte, und das zuverlässiger war als all die vielen Papiere, mit denen die Kunden ihre Kreditwürdigkeit zu untermauern suchten. Nicht alle hatten Vertrauen in seine unkonventionellen Methoden, und Gerber und Zirn, die im übrigen beide promovierte Volkswirte waren, schon gar nicht. Zum Abschluß der kleinen Konferenz hatten sie sich einen Fall vorgenommen, bei dem Harzendorf zwei Kunden mit unterschiedlichen Interessenlagen zusammengespannt hatte. Der eine hatte ein kleines, aussichtsreiches Unternehmen gegründet und konnte für die dringend benötigten Kredite keine Sicherheiten vorweisen. Der andere, ein ziemlich windiger Bauunternehmer namens Fuhrmann, galt als solvent, war aber in nicht ganz saubere Geschäfte verwickelt, was offiziell allerdings nicht bekannt war. Um das Risiko der Bank zu minimieren, hatte Harzendorf den Fuhrmann überredet, eine Ausfallbürgschaft für den jungen Unternehmer zu stellen und ihm unter der Hand Hilfe bei Geschäften zugesagt, die etwas außerhalb der Legalität lagen. Gerber und Zirn hatten kein Verständnis für die Kreditvergabe an den jungen Unternehmer, hielten Fuhrmann dagegen aber für schutzbedürftig. 19
»Ich möchte nicht ausschließen, daß uns noch erheblicher Ärger ins Haus steht«, gab Gerber zu bedenken. »Deshalb will ich jetzt klipp und klar wissen, ob Herrn Fuhrmann bewußt war, welches Risiko er eingehen würde.« Harzendorf hatte zu der Besprechung seinen Kollegen Ernst Bickel mitgebracht, einen ehrgeizigen, wenn auch nicht sonderlich inspirierten Banker, der allgemein als seine rechte Hand galt. Sie hatten verabredet, daß Bickel das Wort ergreifen würde, sollte die Sprache auf Fuhrmann kommen. Deshalb hielt Harzendorf sich jetzt zurück und sah Bickel an, aber der reagierte einfach nicht. »Bitte, Herr Harzendorf!« drängte Gerber ungehalten. »Bei dem Kunden handelt es sich um einen Bauunternehmer, der ganz allgemein die Bedeutung einer Bürgschaft kennen muß«, brachte Harzendorf vor. »In diesem speziellen Fall haben Sie ihn aber nicht auf das Risiko hingewiesen?« hakte Herr Zirn jetzt nach. Bevor Harzendorf antworten konnte, kam ein dezidiertes »Nein!« von Herrn Bickel. Harzendorf warf ihm einen strafenden Blick zu und wandte sich dann an Herrn Zirn. »Der Kunde wollte das Risiko gar nicht wahrhaben«, erklärte er. »Er interessierte sich ausschließlich für die hohe Rendite, die ihm in kürzester Zeit winken würde.« Gerber und Zirn wechselten einen bedeutungsvollen Blick, bevor Gerber dann wieder das Wort ergriff. »Trotzdem bleibt der fatale Eindruck bestehen, lieber Harzendorf, daß Sie bei der Kreditvergabe zu großzügig waren und dann das Risiko auf Herrn Fuhrmann abgewälzt haben.« Bickel nickte demonstrativ, was ihm erneut einen bösen Blick von Harzendorf eintrug. »Hat Fuhrmann sich in irgendeiner Weise beschwert?« fragte Harzendorf, dem die Sache langsam zu dumm wurde. »Nein«, gab Herr Zirn zu. »Das hätte mich auch sehr gewundert«, brauste Harzendorf auf. Die Stimmung war gereizt und drohte zu eskalieren, weshalb Herr Gerber die Besprechung schnell zum Abschluß brachte. »Gut, meine Herren«, beeilte er sich zu sagen, »das war’s dann für heute. Ich danke Ihnen.«
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Den Weg von der Vorstandsetage zu ihren Büros legten Harzendorf und Bickel zunächst schweigend zurück. Dann wandte sich Harzendorf, der nachhaltig verärgert zu sein schien, an Bickel. »Was ist eigentlich in Sie gefahren, Herr Bickel?« wollte er von dem gut zehn Jahre jüngeren Kollegen wissen. »Wieso?« gab Bickel zurück und spielte den Ahnungslosen. »Sie sind mir in den Rücken gefallen«, sagte Harzendorf ihm auf den Kopf zu. »Das war mies und illoyal.« Bickel sah ihn lauernd von der Seite an. »Wenn ich wirklich illoyal wäre«, brachte er dann hervor, und ein drohender Unterton war nicht zu überhören, »könnten Sie was erleben, Herr Harzendorf.« Harzendorf warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Sie haben merkwürdige Ansichten, mein Lieber«, gab er zurück, »darüber wollte ich schon lange mal mit Ihnen reden.« Das waren harmlose, leicht dahingesagte Worte, aber sie waren als Drohung gemeint und auch so verstanden worden. Gleich darauf erreichten die beiden ihr gemeinsames Vorzimmer. Harzendorf betrat es als erster, ohne sich weiter um Bickel zu kümmern. Im Vorzimmer wartete Karola. Sie sah umwerfend aus. Die Maskenbildnerin hatte ganze Arbeit geleistet. Als Harzendorf in das Vorzimmer kam, erhob sie sich von ihrem Stuhl. Harzendorf blieb stehen und starrte sie an, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. »Karola?« stammelte er ungläubig. Karola lächelte zufrieden. Immerhin hatte er sie erkannt und wußte ihren Namen noch. »Hallo«, gab sie zurück und ihr Lächeln verstärkte sich. Mit dem Harzendorf, der ihr in Erinnerung geblieben war, hatte der Mann, der jetzt vor ihr stand, nur wenig zu tun. Aber er war ein gutaussehender Mann in den besten Jahren (Karola fiel wieder ein, daß er fünfzehn Jahre älter war als sie), der offensichtlich etwas für seinen Körper tat. Vielleicht trieb er ein wenig Sport, um sich fit zu halten und die Folgen seiner sitzenden Tätigkeit zu bekämpfen. Geblieben war in jedem Fall seine sympathische Ausstrahlung, die damals wie heute bewirkte, daß Karola sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Bickel, der den Raum nach Harzendorf betreten hatte, warf Frau Lütt, der Vorzimmerdame, einen fragenden Blick zu. Aber sie zog 21
kaum merklich die Schultern hoch, womit sie wohl ausdrücken wollte, daß sie auch nicht wußte, was diese Begegnung zu bedeuten hatte und um wen es sich bei dieser ebenso attraktiven wie extravaganten Dame handelte. Harzendorf hatte Karola spontan zum Essen eingeladen und sie in das bankeigene Kasino geführt, zu dem nur Beschäftigte vom leitenden Angestellten aufwärts Zutritt hatten. Die Atmosphäre war äußerst gediegen, Unterhaltungen wurden durchweg in gedämpfter Stimmlage geführt. Besucher mitzubringen schien üblich zu sein, aber eine Besucherin wie Karola Amendt dürfte hier die Ausnahme sein, und so war sie schnell zum Ziel neugieriger, wenn auch verstohlener Blicke geworden. Selbst den Herren Gerber und Zirn, die nicht weit entfernt mit zwei anderen Herren an einem Tisch saßen, gab sie Anlaß zu kaum kaschiertem Getuschel. Karola und Harzendorf ließen sich davon nicht stören. Sie hatten Augen und Ohren nur füreinander und schwelgten zunächst einmal in Erinnerungen. »Nicht schwindeln, mein Lieber!« wies Karola Harzendorf nekkisch zurecht. »Du hast dich dann nicht mehr gerührt, und du hast dich verleugnen lassen. Deine Frau hatte irgendwie was spitzgekriegt. War es nicht so?« Harzendorf zog die Schultern hoch und bestätigte auf diese Weise ihre Vermutung, ohne sich festzulegen. Karola mußte unwillkürlich auflachen. »Warum sind Männer so schrecklich feige?« stellte sie in den Raum, aber auch darauf wollte Harzendorf keine konkrete Antwort geben. »Wie hieß sie doch?« setzte Karola ihr Verhör fort. »Brigitte. Stimmt’s?« Harzendorf nickte. »Bist du noch mit ihr verheiratet?« »Ja.« »Ist sie glücklich?« »Das mußt du sie fragen.« Karola lachte unterdrückt auf und schüttelte den Kopf. »Das tue ich bestimmt nicht«, versicherte sie ihm. Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie schaute ihm tief in die Augen. »Es war schön mit dir, Norbert«, sagte sie versonnen. Sie wollte spontan über den Tisch nach seiner Hand greifen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Harzendorf, der sich ganz offensichtlich über ihr Bekenntnis 22
freute, wagte es nicht, seine Gefühle in dieser Umgebung zu zeigen. Er sah sich unauffällig um. »Es war keine gute Idee, hierher zu gehen«, bemerkte er leise. Karola warf einen offenen Blick in die Runde und lächelte Herrn Gerber zu, der sie die ganze Zeit über verstohlen beobachtet hatte. »Das habe ich mir auch schon gedacht«, pflichtete sie ihm bei. Dann räusperte sie sich und schenkte Harzendorf ein liebevolles und zugleich spöttisches Lächeln. »Andererseits bin ich auch nicht gekommen, um mit dir zu flirten«, gab sie zu. »Leider«, seufzte Harzendorf und ging auf ihren Ton ein. »Aber das Geschäftliche hat Zeit bis nach dem Essen.« Karola nickte lächelnd. Dann erschien der Ober, um abzuräumen und das Dessert zu servieren. Gleich nachdem sie in sein Büro zurückgekehrt waren, hatte Karola Harzendorf eine Zusammenstellung der Papiere überreicht, von denen sie dachte, daß sie für die Gewährung eines Kredits nützlich sein könnten. Harzendorf hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, um diese Papiere in Augenschein zu nehmen, während Karola ans Fenster getreten war und nun die Aussicht bewunderte, die man von hier aus auf Frankfurt hatte. »Ich könnte hier nicht arbeiten«, stellte sie fest. »Ich würde den ganzen Tag nur rausgucken. Oder gewöhnt man sich an diese phantastische Aussicht?« Harzendorf sah zu ihr hin. Ihre Frage hatte er nicht verstanden oder wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen. Er wirkte auf einmal sachlich und korrekt, um ihr zu zeigen, daß er durchaus in der Lage war, Geschäftliches und Privates voneinander zu trennen. »Könntest du diese Musical-Rechte weiterverkaufen?« wollte er von ihr wissen. Karola runzelte die Brauen und nickte vage. »Da wäre ich aber echt bescheuert«, schränkte sie die stumme Bejahung seiner Frage ein. »Nur theoretisch: wäre das denkbar?« »Es gibt genug Interessenten.« »Und die würden mehr bieten, als du gezahlt hast?« »Müßten sie wohl. Theoretisch.« Harzendorf nickte und machte sich Notizen. Plötzlich klopfte es an der Tür und Bickel platzte in das Büro, ohne ein »Herein!« abgewartet zu haben. Harzendorf sah ihn unwillig an. 23
»Entschuldigung«, brachte Bickel hervor. »Herr Bansemer ist gerade bei mir. Ich brauche da noch Ihre Unterschrift.« Er legte einen dünnen Schnellhefter vor Harzendorf auf den Schreibtisch, schlug ihn auf und deutete zu der Stelle hin, wo er unterschreiben sollte. »Augenblick bitte!« raunzte Harzendorf und begann die Unterlagen pingelig genau zu studieren. Bickel verdrehte die Augen. Dann sah er zu Karola hin und lächelte sie an, wie man das zu tun pflegt, wenn man eine stillschweigende Übereinstimmung in der Einschätzung eines Dritten voraussetzt. Der Blick, den Karola zurückwarf, machte deutlich, daß sie ihm diese Übereinstimmung verweigerte, woraufhin Bickel anfing, sie unverhohlen und dreist zu mustern, sie mit Blicken gewissermaßen abzutasten und auszuziehen. Der gewünschte Effekt blieb aus; Karola, die als Schauspielerin an solche Blicke gewohnt war, ließ sich nicht einschüchtern, was wiederum Bickel zu frustrieren schien. Aber es sollte noch schlimmer für ihn kommen. »Sagen Sie, Herr Bickel«, fuhr Harzendorf ihn an, »haben Sie wirklich gedacht, ich würde das unterschreiben? Da ist ja nichts fertig!« Er schleuderte Bickel den Schnellhefter über den Schreibtisch zu. »Und wegen so was stören Sie eine wichtige Besprechung?« Die Situation an sich war schon peinlich genug; geradezu demütigend wurde sie für Bickel, als Karola ihn schadenfroh mit einem vernichtenden Blick bedachte. Dieser Blick hatte schon auf der Bühne seine Wirkung nie verfehlt, jetzt tat er es erst recht nicht. »Was soll ich dem Bansemer jetzt sagen?« erkundigte Bickel sich kleinlaut. »Weiß ich doch nicht!« wies Harzendorf ihn zurecht. »Haben Sie so wenig Phantasie?« Mit einer unmißverständlichen Geste bedeutete er ihm dann, das Büro zu verlassen. Während Bickel noch auf dem Weg zur Tür war, wandte Harzendorf sich an Karola. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er höflich und fügte so laut, daß Bickel es verstehen mußte, hinzu: »Ein Kreuz ist das manchmal.« Karola lächelte ihm in voller Übereinstimmung zu, und das bekam Bickel aus den Augenwinkeln heraus noch mit, bevor er das Büro verließ. Harzendorf schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um sich zu konzentrieren. »Hast du den Vertrag mit den Engländern deiner Bank übergeben?« nahm er den Faden dann wieder auf. 24
»Warum sollte ich?« fragte sie erstaunt zurück. »Als Sicherheitsleistung«, erklärte Harzendorf, der unwillkürlich über ihre Naivität lächeln mußte. Karola schüttelte den Kopf. »Na, Gott sein Dank!« entfuhr es Harzendorf. »Den Vertrag brauche ich nämlich. Hast du ihn griffbereit?« Karola nickte. »Aber ich habe ihn jetzt nicht dabei.« »Das macht nichts«, meinte Harzendorf und legte eine kurze Pause ein, um nachzudenken. »Und nun zu deinen glorreichen Spekulationsgeschäften«, fuhr er dann fort. »Gibt es da Unterlagen?« Karola nickte. Als sie etwas sagen wollte, klopfte es erneut an der Tür. »Was ist denn jetzt schon wieder?« rief Harzendorf unwirsch. Die Tür ging auf, und Frau Lütt steckte ihren Kopf durch den Türspalt. »Herr Fuhrmann wartet draußen«, raunte sie Harzendorf zu. »Er hat einen Termin.« Den letzten Satz hatte sie mit einem vorwurfsvollen Blick in Richtung Karola begleitet und das Wort Er betont, um zu demonstrieren, daß sie mit der unangemeldeten Besucherin, die sämtliche Termine durcheinanderbrachte, alles andere als einverstanden war. Harzendorf schaute auf seine Uhr. »Sekunde noch«, gab er zurück. »Bieten Sie ihm etwas an. Ich glaube, er mag Cognac.« Frau Lütt zog sich zurück, und Harzendorf wandte sich wieder Karola zu. »Tut mir leid«, bedauerte er. »Das wird heute wohl nichts mehr.« Er seufzte auf und tat dann so, als sei ihm spontan ein glänzender Gedanke gekommen. »Wie wäre es, wenn du heute abend zu mir kommst?« schlug er ihr vor. »Du bringst deine Unterlagen mit, und wir gehen alles in Ruhe durch.« Karola lächelte ihn herausfordernd an. »Was sagt Brigitte dazu?« »Die ist gar nicht da«, erwiderte Harzendorf schnell. »Die ganze Woche nicht.« »Norbert, Norbert«, drohte Karola ihm neckisch. Mit einem breiten Grinsen gab Harzendorf zu erkennen, daß er durchaus Hintergedanken hegte. Karola nahm sich Zeit für ihre Antwort und setzte dann ein verführerisches Lächeln auf. »Es kann aber etwas später werden«, sagte sie obenhin. »Hauptsache, du kommst«, flötete Harzendorf glücklich. Er war inzwischen aufgestanden und zu ihr gegangen. Jetzt begleitete er sie 25
zur Tür. Dort angekommen, versuchte er sie zu küssen. Karola entzog sich ihm geschickt und ohne erkennen zu lassen, daß eine Absicht dahintersteckte. Sie öffnete die Tür. Draußen wartete Herr Fuhrmann schon ungeduldig. Den Cognac, den Frau Lütt ihm eingeschenkt hatte, kippte er im Stehen. Karola, die sehr gut wußte, wie man sich einen effektvollen Abgang verschafft, schritt mit graziösen Körperbewegungen und einem so unnachahmlichen Augenaufschlag an ihm vorbei, daß er nicht umhin konnte, ihr bewundernd nachzuschauen. Er gönnte sich allerdings nur einen kurzen Blick, dann drückte er Frau Lütt den leeren Cognacschwenker in die Hand und stürmte zu Harzendorf in das Büro. »Na endlich!« rief er aus und gab Harzendorf die Hand. Harzendorf zog die Tür hinter ihm ins Schloß, während Fuhrmann zielstrebig die Besucherecke ansteuerte und den Diplomatenkoffer, den er mit sich führte, auf dem Tisch abstellte. Mit einer ungeduldigen Geste winkte er Harzendorf zu sich und öffnete den Koffer. Er war randvoll mit Geldbündeln gefüllt. »So, da ist das Geld«, verkündete Fuhrmann stolz. »Vier Millionen Mark. Zählen Sie bitte nach.« Harzendorf war nahe daran, die Fassung zu verlieren. »Sind Sie wahnsinnig?!« herrschte er ihn an. Fuhrmann konnte sich diese heftige Reaktion nicht erklären. »Sie haben selbst gesagt: Bringen Sie mir das Geld«, versuchte er sich zu rechtfertigen. »Oder etwa nicht?« »Aber doch nicht in die Bank!« brauste Harzendorf auf. »Los, machen Sie den Koffer zu! Wenn jemand reinkommt…« Er sah sich besorgt zur Tür um, während Fuhrmann der Aufforderung widerstrebend nachkam. »Sie sollten mir das Geld bringen, das ist schon richtig«, erklärte Harzendorf, der sich langsam wieder beruhigte. »Aber zu mir nach Hause. Verstehen Sie?« »Sagen Sie mal, was ist das eigentlich für ein Ton?« konterte Fuhrmann. Ihm schien auf einmal zu dämmern, daß Harzendorf ihn wie einen Idioten behandelte. »Den Ton müssen Sie schon mir überlassen«, wies Harzendorf ihn zurecht. »Sie wollen schließlich etwas von mir.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, gab Fuhrmann in einem Tonfall zurück, der Harzendorf aufhorchen ließ. Die beiden Männer maßen sich sekundenlang mit Blicken. »Tut mir leid«, lenkte Harzendorf 26
schließlich ein. »Ich bin heute etwas gereizt. Das muß am Wetter liegen.« Fuhrmann grinste zufrieden. Harzendorf hatte ihm das Gefühl vermittelt, in diesem kleinen Kampf obsiegt zu haben. Er nahm den Koffer wieder an sich. »Paßt es Ihnen heute abend?« erkundigte er sich herablassend und fügte, nachdem Harzendorf zögernd genickt hatte, noch hinzu: »Es kann aber ein bißchen später werden.« »Macht nichts«, versicherte Harzendorf ihm. »Ich bin den ganzen Abend zu Hause.« Dann begleitete er Fuhrmann zur Tür und trat, nachdem er endlich wieder allein in seinem Büro war, an das Fenster und schaute nachdenklich hinaus. Die phantastische Aussicht, von der Karola so geschwärmt hatte, schien keinen Eindruck auf ihn zu machen. Ein Geräusch ließ ihn plötzlich herumfahren. Bickel hatte sich leise in das Büro geschlichen. »Mußten Sie mich vor der Dame so übel runterputzen?« verlangte er zu wissen. Harzendorf musterte ihn von oben herab und zog es vor, ihm nicht zu antworten. »Eine attraktive Frau«, fuhr Bickel fort und grinste anzüglich. »War sie geschäftlich hier?« Normalerweise hätte er ihn spätestens jetzt des Zimmers verwiesen, aber Harzendorf zog es vor, Bickel seine Überlegenheit spüren zu lassen. »Es paßt offenbar nicht in Ihr Weltbild«, dozierte er, »daß auch eine attraktive Frau gelegentlich in Geldnöte geraten kann.« »Na, da war sie bei Ihnen wenigstens an der richtigen Adresse«, spottete Bickel. Harzendorf fixierte ihn, bis es ihm unangenehm wurde und er seinem Blick auswich. »Ich möchte fair sein, Bickel, damit es Sie nicht unerwartet trifft«, sagte er dann betont beiläufig und legte eine Pause ein. Wie vorauszusehen war, erweckte er mit diesen Worten Bickels Aufmerksamkeit. Mit Genugtuung beobachtete er, wie Bickel mit jeder Sekunde, die er verstreichen ließ, ohne etwas zu sagen, immer unruhiger und unsicherer wurde. Als er sich sicher war, den Bogen bis zum Anschlag gespannt zu haben, schoß er seinen Pfeil ab. »Ich habe beschlossen, mich von Ihnen zu trennen, Herr Bickel. Mit allen Konsequenzen.« Er hatte mit Nachdruck, aber frei von Emotionen gesprochen. Bickel war aschfahl geworden und schien nicht glauben zu wollen, was er soeben vernommen hatte. 27
IV Karola konnte sich nicht erinnern, vom Lampenfieber schon einmal so heimtückisch geplagt worden zu sein wie vor der sogenannten Betriebsversammlung, die nach hitzigem Verlauf ein völlig unerwartetes Ende gefunden hatte. Jetzt, da sie das Schlimmste hinter sich hatte und entspannt in ihrem Auto durch den milden Sommerabend hinaus in den Taunus nach Kronberg fuhr, wo Harzendorf, wie er ihr beim Essen im Kasino stolz erzählt hatte, ein Häuschen im Grünen sein eigen nannte, konnte sie schon wieder lachen. Und das tat sie auch, zumindest still in sich hinein, als sie die Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ. Als sie pünktlich um halb sieben im Theater aufgetaucht war, saßen die anderen bereits vollzählig im Zuschauerraum. Die anderen, das waren zum einen das Ensemble, das aus acht Schauspielern bestand, darunter drei Damen, zum anderen das Bühnenpersonal, nämlich der Inspizient, der Bühnenmeister, der Beleuchter und ein Tontechniker sowie die Maskenbildnerin und die Garderobiere. Sogar der Fahrer des Tournee-Lasters war erschienen. Fünfzehn Menschen also, die von ihr abhängig waren und ihr Mißgeschick ausbaden mußten, falls es ihr nicht gelang, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Dummerweise hatte sie den Weg über die Bühne genommen, und die Versammelten, die um ihre Existenz fürchteten und entsprechend gereizt waren, hatten sie mit einem höhnischen Applaus begrüßt. Das hatte sie so verwirrt, daß sie die Worte durcheinanderbrachte, die sie sich mühsam zurechtgelegt hatte, um die Leute zu beruhigen. Potthoff, der jede Ansammlung ab zwei Personen für sein Publikum hielt, schwang sich zum Wortführer auf, wollte Daten und Fakten genannt wissen und sie möglichst schwarz auf weiß sehen. Dabei sonnte er sich in dem Beifall, den er von den anderen erhielt und spielte geschickt darüber hinweg, daß er es war, der mit einem Abbruch der Tournee den einzigen Ausweg verbarrikadieren würde. Den Stimmungsumschwung hatte dann Martha Finke eingeleitet, die Darstellerin der Helene Marowa, die sich im Stück Abend für Abend auf offener Bühne erschießen mußte. Ihr mißfiel es, wie Potthoff sich vor versammelter Mannschaft produzierte, und das um so mehr, als er es nicht lassen konnte, ihr auf der Bühne regelmäßig 28
die Pointen zu vermasseln. Als sie das jetzt in einem Nebensatz ansprach, kam das einem Stich ins Wespennest gleich. Auf einmal brachen alle Animositäten auf, die sich im Verlauf der Tournee angestaut hatten. Der eigentliche Grund für das Zusammentreffen war schnell vergessen. Jeder stritt mit jedem, und das um so heftiger, je läppischer der Anlaß war, und der ließ sich in fast jedem Fall auf verletzte Eitelkeit zurückführen. Eine Wette stand plötzlich im Raum: Potthoff hatte damit geprahlt, mehr Szenenapplaus einzuheimsen als alle anderen zusammen. Max Hanke, der Darsteller des Professor Dühring, hatte dagegengehalten, und die beiden Damen von Maske und Garderobe hatten angeboten, bei den nächsten Vorstellungen akribisch eine Strichliste zu führen, um den Sieger zu ermitteln. Es ging jetzt nicht mehr um den schnöden Mammon, sondern um die Ehre, und die Frage, ob Potthoff weiter auftreten würde oder nicht, war vom Tisch. Natürlich konnte Potthoff es nicht lassen, sich noch einmal vor den anderen aufzuspielen und Karola dringend zu ermahnen, die fälligen Gagen so bald wie möglich auszuzahlen. Karola, die froh darüber war, die erste Hürde so glimpflich genommen zu haben, versicherte, daß sie noch heute bei einem Treffen mit dem zu Beginn der Veranstaltung erwähnten Banker die Voraussetzungen dafür schaffen würde. Man ließ sie ziehen, und als sie wenig später an der Kasse vorbei auf den Ausgang zueilte, kam ihr mit den ersten Theaterbesuchern Herr Kümmel entgegen. »Sie sind ein bißchen früh heute«, rief sie ihm aufgekratzt zu. »Besser als zu spät«, gab er mit leiser Stimme zurück und ließ ein meckerndes Lachen folgen, das er sofort wieder unterdrückte. Bei dem Gedanken an diese Begegnung mußte Karola unwillkürlich den Kopf schütteln. Hoffentlich war sie diesen Quälgeist, der sie bis in ihre Träume verfolgte, bald los! Sie schaltete das Autoradio ein. Es erklangen Schlagermelodien aus den siebziger Jahren, die sie an ihre große Zeit in Frankfurt erinnerten – und an ihre Affäre mit Norbert Harzendorf. Auf einmal wurde ihr bewußt, daß sie sich auf das Treffen mit ihm richtig freute, und sie spürte ein Kribbeln im Bauch wie schon lange nicht mehr. Schlagermelodien aus den siebziger Jahren waren auch bei Harzendorf zu hören – als musikalische Untermalung eines kleinen Imbis29
ses, mit dem er Karola überrascht hatte. Nach Dienstschluß war er noch bei einem Delikatessenhändler in der Frankfurter Freßgasse vorbeigegangen und hatte sich eine Platte mit auserlesenen Leckereien zusammenstellen lassen, die jetzt den Mittelpunkt eines Arrangements bildete, das er liebevoll mit Blumen, Kerzen und Gläsern auf dem Couchtisch gestaltet hatte. Karola betrachtete die Mühe, die er sich gegeben hatte, als stummes Kompliment und war gerührt. Harzendorf schenkte den Bordeaux ein, den er rechtzeitig dekantiert hatte, nahm die Gläser, reichte Karola das eine und prostete ihr zu. »Auf dich, deine Schönheit und auf deine Rettung«, sagte er und sah ihr tief in die Augen, als sie die Gläser klingen ließen. Sie tranken einen Schluck, und als sie die Gläser abstellten, war die Schnulze Schmetterlinge können nicht weinen zu hören. »Unser Lied«, sagte Harzendorf verträumt. Karola mußte unwillkürlich auflachen. Für ein bißchen Kitsch war sie immer zu haben, aber was Harzendorf jetzt aufführte, war entschieden zuviel. »Unser Lied?« fragte sie und sah ihn spöttisch an. »Als wir uns kennenlernten…«, wollte er erklären, aber Karola unterbrach ihn sofort. »Ja, erzähle«, forderte sie ihn auf, »wie war das?« Harzendorf sah sie irritiert an. »Jedenfalls wurde dieses Lied gespielt«, brachte er, unsicher geworden, hervor. Karola lachte erneut auf und schüttelte den Kopf. »Ich will dir sagen, wie das war. Ich kam in deine Filiale am Dornbusch mit einem Scheck, der nicht gedeckt war. Du hattest mich am Abend zuvor auf der Bühne gesehen und wolltest mir imponieren. Ich sehe es noch vor mir, wie du das arme Mädchen am Schalter zur Schnecke gemacht hast: Selbstverständlich lösen wir einen Scheck ein, den Frau Amendt uns vorlegt. Haben Sie Frau Amendt denn nicht erkannt? Karola Amendt.« Sie hatte versucht, Harzendorfs Stimme nachzuahmen, und das war ihr so komisch geraten, daß Harzendorf lachen mußte. »Es war das erste Mal«, fuhr Karola fort, »daß ich einen Vorteil durch meine öffentlichen Auftritte hatte. Das fand ich so toll, daß ich deine Einladung in dieses obskure Café gegenüber annahm.« »Und dort spielten sie dieses Lied«, fiel Harzendorf ihr ins Wort. »Du gibst nicht so schnell auf, was?« fragte sie und sah ihn amüsiert an. 30
»Nein«, gab er lächelnd zurück, und als wolle er den Beweis dafür gleich antreten, näherte er sich ihr, zog sie an sich und küßte sie. Ganz zärtlich und spielerisch, und Karola, die seine Berührungen genoß, erwiderte den Kuß. Als sein Kuß dann leidenschaftlicher und drängender wurde, endete das schnulzige Lied. Es war das letzte auf der Schallplatte, die Harzendorf aufgelegt hatte, und statt in die Ausgangsposition zurückzukehren, blieb der Tonarm liegen und verursachte ein unangenehm kratzendes Geräusch, wie geschaffen, zärtliche Gefühle zu unterdrücken. Harzendorf löste sich von Karola und ging zum Plattenspieler, um den Defekt zu beheben. Als er zur Couch zurückkehrte, hatte Karola sich über die Delikatessen hergemacht und steckte sich gerade ein Canapé mit geräucherten Austern in den Mund. »Wollen wir nicht erst das Geschäftliche erledigen?« fragte sie, nachdem sie den Bissen runtergeschluckt hatte, und präsentierte ihm eine hellgrüne Mappe, die die erforderlichen Unterlagen enthielt. Harzendorf seufzte ergeben auf. Die Stimmung war fürs erste sowieso im Eimer, und da wäre es nicht schlecht, jetzt zu tun, was getan werden mußte, damit man später den Kopf frei hatte, wenn es darum ging, seinen Gefühlen und seinen Trieben nachzugeben. Er schlug die Mappe auf und fing an, die Unterlagen zu studieren, während sich Karola weiterhin den Delikatessen widmete. Einen besonders leckeren Happen mit Roastbeef und hausgemachter Remoulade schob sie Harzendorf in den Mund und versiegelte seine Lippen anschließend mit einem Kuß, den er als Anzahlung für spätere Genüsse verstehen sollte. Diese Zeremonie wiederholte sie noch mit einer pikant gewürzten Garnele, die von Avocadocreme umgeben auf einem Chicoreeblatt placiert war und mit einem GorgonzolaSandwich. Als er letzteres zwischen den Zähnen hatte, war Harzendorf mit der Durchsicht der Unterlagen bereits fertig. »Dein Anlageberater ist eine Pfeife«, meinte er noch kauend und fuhr fort, nachdem er runtergeschluckt hatte: »Zu solch riskanten Spekulationen verleitet man einen Kunden seriöserweise nicht. Die Kurse werden erst noch mal in den Keller gehen. Aber da ist eine Fusion möglich, und die Japaner pokern auch mit. Kann sein, daß du doch noch mit Gewinn rauskommst.« Karola sah ihn freudig überrascht an. 31
»Wenn du dich entschließt«, fuhr Harzendorf fort, »zu meiner Bank zu wechseln, würde ich dein Effektenpaket und die Musical-Rechte als Sicherheit für einen Kredit akzeptieren. Wieviel brauchst du denn?« Karola runzelte die Stirn und zog unschlüssig die Schultern hoch. »Nicht kleckern«, ermunterte Harzendorf sie, »klotzen!« Karola nickte, traute sich aber nicht, eine Zahl auszusprechen. »Ich würde sagen, anderthalb Millionen«, half Harzendorf ihr. Sie sah ihn mit großen, erstaunten Augen an. Harzendorf lachte auf. »Du mußt die alten Kredite ablösen«, erklärte er, »dann die laufenden Verbindlichkeiten… Und das Musical im nächsten Jahr… das muß gut vorbereitet werden, sonst ist es Essig mit dem Gewinn, und den brauchst du, um den Kredit zurückzuzahlen.« Karola ließ sich Zeit, über seine Worte nachzudenken. »Ich habe Angst«, sagte sie dann und seufzte auf, »daß mich das alles irgendwann einmal erdrückt.« »Schlimmer, als es jetzt schon ist, kann es gar nicht werden«, gab Harzendorf zu bedenken. »Ja, das stimmt«, pflichtete sie ihm bei und lehnte sich an ihn. »Und du willst mir das Geld wirklich beschaffen?« Harzendorf grinste breit. »Ich hab’ nun mal ein Faible für eine gewisse Karola Amendt«, sagte er, und das hörte sich wie eine Rechtfertigung an. Karola fiel ihm um den Hals und küßte ihn, und diesmal wäre es ein langer, leidenschaftlicher Kuß geworden, wenn es nicht in dem Moment an der Haustür geläutet hätte. Harzendorf schreckte hoch, beruhigte sich aber gleich wieder. »Das wird Fuhrmann sein«, sagte er mehr zu sich selbst, »den hatte ich ganz vergessen.« Er erhob sich und lächelte Karola bedauernd zu. »Entschuldige, ich bin gleich wieder da.« Karola nickte und sah ihm versonnen nach, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann schaute sie sich ein wenig um, nippte an ihrem Glas und angelte sich noch einen der Leckerbissen, den sie genußvoll auf der Zunge zergehen ließ. Sie war mit sich und der Welt zufrieden und lehnte sich entspannt zurück. Draußen begrüßte Harzendorf seinen Besucher, aber die Stimmen drangen nur als ein unverständliches Gemurmel zu Karola. Plötzlich 32
ging im Nebenzimmer das Licht an, und der Schein fiel durch die sperrangelweit offenstehende Tür ins Wohnzimmer. »Hier entlang, bitte«, ließ sich Harzendorfs Stimme vernehmen. »Stellen Sie den Koffer irgendwo ab.« Die Tür wurde von drüben bis auf einen Spaltbreit angelehnt. »Ich würde Ihnen gern etwas anbieten«, hörte Karola Harzendorf sagen, »aber wir haben heute eine kleine Feier, meine Frau und ich. Hochzeitstag.« Karola lächelte amüsiert, erhob sich und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. »Ich halte Sie nicht lange auf«, gab der Besucher zurück, und Karola vernahm das Geräusch, das entsteht, wenn Schnappschlösser geöffnet werden. Sie erreichte die Tür, die in Harzendorfs Arbeitszimmer führte, linste durch den Spalt – und hielt die Luft an. Ihr Blick war auf den randvoll mit sauber gebündelten Geldscheinen gefüllten Diplomatenkoffer gefallen. »Wenn Sie jetzt bitte nachzählen wollen«, forderte der Besucher, den Karola nicht sehen konnte, Harzendorf auf, »es müßten genau vier Millionen Mark sein.« Karola drohte schwindlig zu werden, und sie mußte sich am Türrahmen festhalten. »Wozu?« setzte Harzendorf das Gespräch fort. »Sie kriegen sowieso keine Quittung. Entweder Sie vertrauen mir, oder wir lassen das Ganze.« Es entstand eine kurze Pause, in der der Besucher seine Zustimmung stumm gegeben haben mußte, denn Karola hörte ihn gleich darauf fragen: »Was geschieht jetzt mit dem Geld?« »Ich bringe es morgen nach Liechtenstein.« »Und wann kann ich wieder darüber verfügen?« »Das wird noch eine Weile dauern. Erst mal muß es ein bißchen rumwandern, von einer Firma zur anderen. Bis es sauber ist.« »Und das funktioniert? Ich meine, hundertprozentig, ohne daß man die Herkunft zurückverfolgen kann?« »Lieber Herr Fuhrmann«, sagte Harzendorf mit einem Auflachen, »ich mach’ das ja nicht zum ersten Mal.« Als er dann fortfuhr, wurde seine Stimme schneidend. »Und das sage ich Ihnen: wenn das Geld wieder auf Ihrem Konto ist, sind wir quitt. Sie werden dann nicht 33
mehr lamentieren, ich hätte Sie mit irgendeiner Bürgschaft reingelegt.« »Das habe ich nie behauptet!« »Wirklich nicht? Na, egal. Hauptsache, Sie haben mich jetzt verstanden.« »Ja.« »Gut, dann bringe ich Sie nun zur Tür.« »Augenblick noch.« Karola sah, wie der Koffer zugeklappt wurde und zog sich vorsichtig von der Tür zurück. »Wollen Sie den Koffer einfach so liegen lassen?« wunderte sich der Besucher. »Den wird schon keiner klauen«, gab Harzendorf zurück. »Entschuldigen Sie, aber meine Frau wartet nicht gern.« Wieder lächelte Karola amüsiert. »Wenn es Sie beruhigt, lege ich ihn nachher in meinen Tresor«, hörte sie Harzendorf noch sagen, aber die Erwiderung »Ja, das wäre mir lieb«, war kaum noch zu verstehen. Offenbar waren die beiden dabei, aus dem Zimmer zu gehen. Karola huschte geschwind zur Couch zurück, und als sie sich wieder gesetzt hatte, hörte sie, wie die Haustür ins Schloß fiel. Fuhrmann hatte ein ungutes Gefühl, als er die Villa verließ. Er hätte sich mit eigenen Augen davon überzeugen sollen, daß Harzendorf den Koffer mit dem vielen Geld auch wirklich in seinen Tresor legte. Es wurmte ihn, daß er sich von Harzendorf, diesem arroganten Kotzbrocken, derart hatte überfahren lassen. Aber er beschloß, den Ärger herunterzuschlucken. Solange er von ihm abhängig war, würde er nach seiner Musik tanzen müssen. Vielleicht kam der Tag ja noch, an dem er Harzendorf aufspielen durfte. Fuhrmann hatte den Vorgarten durchquert, war auf die Straße getreten und ging jetzt auf seinen Wagen zu, als eine dunkle Gestalt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, ihm den Weg verstellte. »Können Sie nicht lesen?!« herrschte der Angreifer ihn an und deutete zu einem Schild hin, dessen Aufschrift Ausfahrt freihalten! im Schein der Straßenbeleuchtung gut zu lesen war. Bei dem Angreifer handelte es sich um Herrn Pohl, einen ansonsten friedfertigen Menschen und unmittelbaren Nachbarn von Harzendorf, vor dessen Aus-
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fahrt Fuhrmann seinen Wagen geparkt hatte, so daß er nicht in seine Garage fahren konnte. »Ach, gehen Sie! Die paar Minuten…« gab Fuhrmann gereizt zurück, denn der Schreck war ihm mächtig in die Knochen gefahren. »Paar Minuten?« regte Pohl sich auf. »Eine geschlagene Viertelstunde warte ich jetzt schon! Gerade wollte ich die Polizei rufen.« »Die hätte Ihnen was gehustet«, höhnte Fuhrmann und machte eine Bewegung, die Pohl gründlich mißverstand. »Sie, ich schlage zurück!« warnte er und warf sich in Kampfpositur. »Lecken Sie mich doch!« stieß Fuhrmann hervor, dem es langsam zu bunt wurde. Er stieg schnell in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr mit kreischenden Reifen davon. Pohl schickte ihm eine drohende Geste nach, schien aber ganz froh zu sein, daß es nicht zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen war. Als er zu seinem Wagen ging, um ihn in die Garage zu fahren, fiel ihm auf, daß mehrere Autos auf der Straße abgestellt waren, die nicht hierher gehörten. Und dann entdeckte er den Porsche von Frau Harzendorf, der weiter hinten parkte und wunderte sich. Warum hatte sie ihn nicht, wie sonst immer, in die Garage gefahren? Pohl zuckte mit den Schultern. Was ging es ihn an? Sollten die Leute doch treiben, was sie wollten! Hauptsache, sie ließen ihn in Ruhe und verstellten ihm nicht die Ausfahrt. Karola hatte erwartet, daß Harzendorf zu ihr zurückkehren würde, sobald er seinen Besucher verabschiedet hätte, aber er mußte wohl erst noch etwas erledigen, denn sie hörte ihn in seinem Arbeitszimmer herumkramen. Dann erschien er in der Tür und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Komm, ich muß dir was zeigen«, raunte er ihr zu. Karola tat überrascht. Sie stand auf und ging zu ihm, und er führte sie in sein Arbeitszimmer zu dem Tisch, auf dem der Diplomatenkoffer lag. Er ließ erst das eine Schloß aufschnappen und dann das andere, bevor er den Deckel langsam aufklappte. Dabei wandte er kein Auge von ihr, denn er war gespannt darauf, zu sehen, wie sie reagieren würde. Erstaunen, Überraschung oder Verblüffung darzustellen, war eine der Spezialitäten von Karola, die ja wußte, welcher Anblick sie erwartete. Spontan entschied sie sich für die immer wirkungsvolle 35
Variante, bei der sie geräuschvoll die Luft einsog, den Atem stocken ließ und die Augen weit aufriß. Sie hatte ein wenig übertrieben, aber das war Harzendorf nicht aufgefallen. Er freute sich wie ein kleiner Junge, dem ein Streich gelungen war. »Vier Millionen Mark«, protzte er. »Damit wärst du saniert.« Karola atmete wieder aus und räusperte sich. »Was ist das für Geld?« wollte sie wissen. »Pechschwarzes«, erklärte Harzendorf grinsend. »Das hat der ehrenwerte Herr Fuhrmann am Fiskus vorbei eingestrichen. Ich schätze, er hat noch mehr davon. Das Dumme ist nur: er kann nichts damit anfangen. Wenn man ihm nämlich auf die Schliche kommt, ist er dran. Wegen Steuerhinterziehung. Ich könnte das Geld unterschlagen, und er würde sich nicht trauen, mich anzuzeigen.« »Dann tu’s doch!« forderte Karola ihn auf und sah ihn lauernd an. »Ist das dein Ernst?« fragte Harzendorf leicht befremdet. »Nein, keine Angst«, gab sie mit einem spitzbübischen Grinsen zurück. »Was machst du mit dem Geld?« »Ich wasche es, bis es wieder blütenrein ist«, bekannte Harzendorf. »Auf so was läßt du dich ein?« wunderte sich Karola. »Ohne diesen kleinen Service geht Fuhrmann pleite«, meinte Harzendorf obenhin, »und das bedeutet Verluste für die Bank.« »Und da hört die Moral auf«, ergänzte Karola spöttisch grinsend. »So ist es«, gab Harzendorf zurück. Dann klappte er den Deckel wieder zu, ließ die beiden Schlösser einschnappen und stellte den Koffer zwischen Schreibtisch und Wand ab, so daß man ihn nicht auf den ersten Blick sehen konnte. Karola hatte ihn nachdenklich beobachtet. »Und wenn jemand kommt«, fragte sie mit besorgt klingender Stimme, »um das Geld zu klauen?« »Dann brenne ich ihm eins über«, erwiderte Harzendorf und zog mit einem grimmigen Lachen eine Schreibtischschublade auf. Er stutzte, weil er nicht gleich sah, was er vorzufinden glaubte, und fing an zu kramen. »Suchst du was?« wollte Karola wissen. »Meine Pistole«, antwortete Harzendorf. »Du hast eine Pistole?« Harzendorf nickte und stöberte auch noch in anderen Schubladen herum, aber vergebens. »Komisch. Wo hab’ ich sie jetzt nur wieder 36
hingetan?« Er dachte angestrengt nach. »Wahrscheinlich liegt sie in meinem Schreibtisch in der Bank«, gab er sich selbst zur Antwort. »Ist ja auch egal. Komm, setzen wir uns wieder.« Er führte Karola ins Wohnzimmer zurück und zog die Tür zum Arbeitszimmer ins Schloß. Karola setzte sich wieder auf die Couch, streckte die Beine aus, hob die Arme in die Höhe, faltete die Hände, legte sie an den Hinterkopf, bog den Oberkörper zurück und machte ein Hohlkreuz. In dieser Stellung verharrte sie und blinzelte zu Harzendorf hinüber, der Wein nachgegossen hatte und sie jetzt fasziniert anstarrte. Offenbar war ihre harmlose Lockerungsübung die Ursache seines anzüglichen Blicks, und Karola mußte sich eingestehen, daß das, was sie veranstaltet hatte, um sich zu entspannen, durchaus geeignet war, bei ihm das Gegenteil zu bewirken. Ganz nebenbei brachten ihre Verrenkungen nämlich auch ihre körperlichen Vorzüge zur Geltung und konnten als lasziv empfunden werden. Augenblicklich krümmte sie den Rücken wieder, schlug die Beine übereinander, ließ die Arme sinken, legte die Hände brav übereinander in den Schoß und senkte züchtig die Blicke. »Bravo!« rief Harzendorf leise aus und applaudierte ihr zu dieser Privatvorstellung. Er nahm die Gläser, reichte ihr das mit den Lippenstiftspuren und prostete ihr zu. »Wo waren wir doch gleich stehen geblieben?« fragte er scherzhaft. »Ich glaube, das Geschäftliche hatten wir erledigt.« Karola nickte belustigt und sah ihn herausfordernd an. Er nahm ihr das Glas aus der Hand, stellte es zusammen mit seinem auf dem Couchtisch ab und rückte näher an sie heran. Erst betrachtete er nur ihr Gesicht und sah ihr verliebt in die Augen. Dann stupste er zärtlich mit seiner Nase gegen ihre, berührte ihre Wange mit seiner, streifte wie zufällig mit seinen Lippen ihre, und zögerte den Kuß, den sie beide ersehnten, so lange heraus, bis sie es kaum noch ertragen konnten. Dann fielen sie übereinander her, ihr Mund suchte seinen und seiner ihren, sie preßten ihre Lippen aufeinander, ihre Zungen berührten sich, erst vorsichtig tastend, dann immer fordernder. Jeder nahm den Geschmack des anderen wahr und genoß ihn wie eine kostbare, fremde Frucht. Als Karola dann spürte, wie seine Hände abwärts wanderten, ihre Brüste berührten und an ihrer Bluse nestelten, um freizulegen, was sich so angenehm anfühlte, schwand der 37
Taumel der Lust, der sie erfaßt hatte, auf einmal dahin. Das lief auf eine schnelle Nummer hinaus, die hastig vorbereitet, ebenso hastig vollzogen werden würde. Sie hatte den schalen Nachgeschmack, der sich unweigerlich einstellen mußte, schon auf der Zunge. Harzendorf nahm den Wechsel ihrer Stimmung sofort wahr, und es sprach für sein Einfühlungsvermögen, daß er auch den Grund dafür zumindest erahnte. »Nicht so schnell«, flüsterte er und tat, als sei sie es gewesen, die ihn bedrängt hatte, »wir haben doch alle Zeit der Welt.« Karola lächelte still in sich hinein und genoß die behutsamen, zärtlichen Berührungen, mit denen Harzendorf das Vorspiel erneut eröffnete. »Komm…«, flüsterte er ihr dann ins Ohr, nachdem er ihr eine ganze Weile bewiesen hatte, daß er bereit war, auf ihre Wünsche und Vorstellungen einzugehen. Er erhob sich, reichte ihr beide Hände, zog sie zu sich hoch, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Karola spürte seine Erregung, von der sie sich selbst erregen ließ. Wieder suchten ihre Lippen sich, und nach einem langen, leidenschaftlichen Kuß lösten sie sich voneinander, lächelten sich verliebt an und gingen eng umschlungen über die leicht gewundene Treppe hinauf zu der Empore, von der aus man das Schlafzimmer erreichen konnte. Wieder stellte sich bei Karola Ernüchterung ein, und der Auslöser war diesmal ihr Widerwille, Harzendorfs eheliches Schlafzimmer zum Schauplatz außerehelicher Ekstasen zu machen. Doch er konnte sie beruhigen: Brigitte und er hatten getrennte Schlafzimmer, zwischen denen, gewissermaßen als Puffer, nur das gemeinsame Badezimmer lag. Er führte sie in sein Schlafzimmer, und Karola spürte sofort, daß sie sich hier wohl fühlen würde. Gerührt stellte sie an den Knickfalten der Bettwäsche fest, daß Harzendorf sogar daran gedacht hatte, das Bett frisch zu beziehen. Harzendorf fing sogleich an, sich auszuziehen, und er schien von ihr zu erwarten, daß sie seinem Beispiel folgen würde. Aber für Karola, die auf der Bühne alles, einschließlich ihrer Seele, entblößte, war der private Akt des Entkleidens ein intimer Vorgang, bei dem sie keine Zuschauer duldete, und so zog sie sich erst einmal in das Badezimmer zurück. Was ihr zuerst auffiel, war eine Unzahl von Tiegeln und Flakons. Brigitte schien viel Zeit für den Erhalt ihrer Schönheit aufzuwenden, und Spiegel überall an den Wänden, die so angebracht waren, daß 38
man sich mehrfach und von allen Seiten in voller Größe betrachten konnte, sagten ihr, daß sie auch eitel sein mußte. Und sie nahm die Pille, wie Karola feststellte, als sie einen Blick in das kleine Schränkchen warf, das neben einer Unmenge von Mitteln gegen alle möglichen Wehwehchen einen Halbjahresvorrat des Ovulationshemmers enthielt. Getrennte Schlafzimmer waren in diesem Fall also kein Hinweis auf eingeschlafene sexuelle Aktivitäten. Oder hatte Brigitte einen Geliebten und zahlte ihrem Mann die Seitensprünge mit gleicher Münze heim? Kontakte mit wechselnden Partnern waren also nicht auszuschließen, und Karola hoffte, daß Harzendorf auch in dieser Hinsicht Vorsorge getroffen hatte. Karola zog sich rasch aus und legte die Kleidungsstücke auf einen Hocker. Dann nahm sie ihren Schmuck ab, Ohrringe, Halskette und Armband aus tiefblauem Lapislazuli, und legte ihn auf die Ablage vor dem Spiegel über dem Waschbecken. Sie überlegte kurz, ob sie noch duschen sollte, aber das hatte sie bereits im Hotel getan, bevor sie zur Betriebsversammlung aufgebrochen war; außerdem war der Duft, den ein Körper verströmte, für sie nichts Unangenehmes, sondern Teil eines Menschen, und wenn man den nicht riechen konnte, sollte man sowieso die Finger von ihm lassen. Als Karola dann zur Tür ging, entdeckte sie, daß ihre Bewegung von den Spiegeln auf unterschiedliche Weise reflektiert wurde. Sie blieb unwillkürlich stehen und betrachtete ihren Körper, der mehrfach und von allen Seiten widergespiegelt wurde. Sie hatte das, was man ganz allgemein als eine gute Figur bezeichnete und sah für Anfang vierzig noch recht appetitlich aus. Ihre Haut war glatt und leicht gebräunt, und kleine Fettpölsterchen hatten sich nur dort gebildet, wo sie hingehörten, um ihre weiblichen Formen abzurunden. An ihrem Busen, der fest war wie eh und je, störten sie nur die etwas groß geratenen Brustwarzen, kleinere wären ihr lieber gewesen, aber man konnte schließlich nicht alles haben. Karola riß sich los von ihrem Anblick, öffnete die Tür und trat in den Rahmen. Sie konnte die bewundernden Blicke, mit denen Harzendorf über ihren nackten Körper strich, förmlich spüren, und ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Harzendorf lag zugedeckt in dem breiten Bett, und als er jetzt die Decke zurückschlug und lächelnd die Arme nach ihr ausstreckte, sah sie, daß er schon 39
sehnsüchtig auf sie gewartet haben mußte – und daß er die erhoffte Vorsorge getroffen hatte. Karola kroch zu ihm ins Bett, streckte sich neben ihm aus und sie begannen sanft und vorsichtig, ihre Körper gegenseitig mit den Händen zu erkunden; sie streichelten und küßten sich und wurden allmählich immer leidenschaftlicher und heftiger. Auch Körper scheinen so etwas wie eine Erinnerung zu haben, denn Karola wußte plötzlich, ohne darüber nachgedacht zu haben, welche Berührungen und Bewegungen Harzendorfs Lust noch steigern konnten, und auch er erfüllte ihre Wünsche, noch bevor sie sie hätte aussprechen können. Sie kamen schließlich fast gleichzeitig zum Höhepunkt, und als Harzendorf sie auch dann noch zärtlich liebkoste, fing sie an, sich ernsthafte Gedanken darüber zu machen, wie sie diesen Mann, der ein Glücksfall für sie zu sein schien, fest und dauerhaft an sich binden könnte. Weit kam sie damit allerdings nicht, denn sie fiel gleich darauf angenehm erschöpft in einen tiefen Schlaf. Ein Geräusch riß sie später, und sie hätte nicht sagen können, ob Stunden oder nur Minuten verstrichen waren, aus einem chaotischen Traum, mit dem ihr Unterbewußtsein auf die Katastrophen der letzten Zeit reagiert hatte. Benommen setzte sie sich auf und versuchte sich an den Traum zu erinnern, den sie mit dem Geräusch in Verbindung brachte, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie sah sich um, und es dauerte eine ganze Weile, bis ihr wieder einfiel, wo sie sich befand. Und als sie dann feststellte, daß das Bett neben ihr leer war, wurde ihr schlagartig klar, daß etwas nicht stimmte und das Geräusch mit ihrem Traum nichts zu tun hatte. Es mußte von einem Schuß herrühren, der irgendwo im Haus abgefeuert worden war! Karola unterdrückte die aufkommende Panik, sprang aus dem Bett, hastete ins Bad, schlüpfte in ihre Kleidung und machte sich leise und vorsichtig auf den Weg nach unten. Auf der Empore blieb sie stehen und lauschte. Es war nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter und schlich durch die Räume, ohne auch nur eine Spur ihres Geliebten zu entdecken. Als sie den Flur erreichte und an dem offenen Treppenhaus vorbeikam, das in den Keller führte, sah sie, daß unten das Licht brannte. Sie blieb unschlüssig stehen, kämpfte mit sich, überwand schließlich ihre Angst und ging langsam, Stufe für Stufe nehmend, die Treppe hinun40
ter. Eine der Kellertüren stand halb offen, und aus dem Raum, in den sie führte, drang ein Lichtschein. Karola ging weiter, und als sie die Tür erreicht hatte und in den Raum sehen konnte, blieb sie wie angewurzelt stehen und unterdrückte einen entsetzten Aufschrei indem sie sich in die zur Faust geballte Hand biß. Diesmal war alles echt und spontan, weder der Aufschrei noch die Geste stammten aus dem Repertoire ihrer Darstellungskunst, denn vor ihr in dem Raum, der fast zur Gänze von einem altmodisch anmutenden, wuchtigen Tresor ausgefüllt war, lag Norbert Harzendorf halb aufgerichtet und mit dem Rücken gegen den Tresor gelehnt. Er hatte einen weißen Morgenmantel an, in der Herzgegend war ein Einschuß zu erkennen, und aus dem Loch war Blut getreten, das den Stoff kreisförmig rot gefärbt hatte. Seine Augen waren starr, sein Mund klaffte weit auf: kein Zweifel, Norbert Harzendorf war mausetot. Karola wurde von einem dunklen Grauen erfaßt, das gleich darauf von panischer Angst abgelöst wurde. Vielleicht war der Mörder ja noch im Haus? Vielleicht wartete er irgendwo auf sie, um auch ihrem Leben ein Ende zu setzen? Sie mußte hier raus, mußte Hilfe rufen, die Polizei verständigen! Sie stürzte nach oben, ins Arbeitszimmer, zum Telefon, und als sie den Hörer abnahm, um die Notrufnummer zu wählen, fiel ihr Blick auf den Diplomatenkoffer. Mit einem Schlag wurde ihr klar, daß sie nicht nur den Geliebten verloren hatte, sondern mit ihm auch jegliche Hoffnung, einen Weg aus ihrer finanziellen Misere zu finden. Andererseits lagen da vier Millionen Mark, sie mußte nur zugreifen. »Damit wärst du saniert«, hatte Harzendorf gesagt, und sie hatte auch seine Worte noch im Ohr, mit denen er ihr erklärt hatte, daß man dieses Geld unterschlagen könnte, ohne befürchten zu müssen, dafür belangt zu werden. Langsam legte sie den Hörer wieder auf, starrte den Diplomatenkoffer eine Weile an, bis sie sich schließlich einen Ruck gab, den Koffer am Griff packte und sah, daß sie aus dem Haus kam. An Einzelheiten ihres überstürzten Aufbruchs konnte sie sich später nicht mehr erinnern. Sie kam erst wieder zu klaren Gedanken, als sie längst in ihrem Auto saß und in Richtung Frankfurt fuhr. Daß sie von einem anderen Wagen verfolgt wurde, hatte sie ebensowenig mitbekommen, wie den Umstand, daß der Verfolger sie schon nach weni41
gen Kilometern durch eine Verkettung lächerlicher Zufälle aus den Augen verloren hatte. Ihre Gedanken überstürzten sich, erste Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte, tauchten auf, und dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie die hellgrüne Mappe mit ihren Unterlagen bei Harzendorf liegen gelassen hatte. Sie bremste ab, um zu wenden, sah dann aber ein, daß es keinen Sinn hatte, zurückzukehren. Erstens würde sie gar nicht in das Haus kommen, und zweitens wäre das sowieso viel zu riskant. Sie fuhr weiter und hoffte, daß ihre Mappe keine allzu große Rolle bei den polizeilichen Ermittlungen spielen würde. Bevor Karola Frankfurt erreichte, hielt sie noch einmal an und entnahm dem Koffer einige der Geldbündel, um mit ihnen die dringendsten Schulden zu begleichen. Den Koffer mit dem restlichen Geld verwahrte sie später in einem Schließfach im Hauptbahnhof. Dann suchte sie ihr Hotel auf, und als sie schließlich in ihrem Zimmer war, wurde ihr erst richtig bewußt, was geschehen war, und sie fing hemmungslos zu weinen an.
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V Paula Mehler war eine robuste, leicht korpulente Frau von Mitte fünfzig, die mit beiden Beinen im Leben stand und meistens gutgelaunt war, auch wenn das Schicksal es nicht immer gut mit ihr gemeint hatte, worüber sie allerdings nicht gern sprach. Sie hatte ihren Mann, einen Chemiearbeiter, vor fünf Jahren verloren; er war an Krebs gestorben, und obwohl man die Krankheit, die zu seinem Tod führte, als Berufskrankheit anerkannt hatte, war die Rente, die man ihr zubilligte, zu niedrig, um ihr ein Leben zu ermöglichen, in dem sie sich ihren Frohsinn bewahren konnte. Sie hatte sich also nach einem Nebenerwerb umgesehen, und da sie von Beruf Hausfrau war (jedenfalls war dies die Bezeichnung, die sie auf amtlichen Formularen zu verwenden hatte) und sonst nichts gelernt hatte, war ihr nichts anderes übriggeblieben, als in den Stellenanzeigen unter der Rubrik Aufwartungen nachzuschauen. So war sie vor ungefähr vier Jahren mit den Harzendorfs in Kontakt gekommen, deren Kronberger Haus sie seither in Schuß hielt, zweimal die Woche und immer am Vormittag. Die Arbeit war angenehm, niemand redete ihr drein. Die Bezahlung war anständig und erfolgte immer prompt, und man erstattete ihr sogar die Fahrtkosten, denn sie lebte im Frankfurter Stadtteil Höchst, wo ihr die günstige Werkswohnung ihres Mannes geblieben war, und brauchte eine gute halbe Stunde, um mit ihrem kleinen Auto nach Kronberg zu gelangen. Heute war sie etwas spät dran, weil sie wegen einer Nachbarin, der sie versprochen hatte, sie zu dem großen Möbelmarkt nach Hofheim mitzunehmen, einen Umweg machen mußte und außerdem noch in einen Verkehrsstau geraten war. Aber das war weiter nicht schlimm, denn sie konnte sich nicht nur die Arbeit selbst einteilen, sondern auch die Zeit, und wenn sie einmal etwas später kam, würde sie eben etwas länger bleiben müssen. »Hallo, ist jemand daha?!« rief sie, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie das Haus der Harzendorfs betrat. Es geschah nur sehr selten, daß ihr eine Antwort zuteil wurde, und die blieb auch heute wieder aus. Herr Harzendorf war sicher längst zur Arbeit aufgebrochen, und Frau Harzendorf war verreist, wohin und wie lange, wußte der Teufel, und ihr sagte man ja sowieso nichts. 43
Frau Mehler zog ihren Arbeitskittel an, eine geblümte Scheußlichkeit, die sie für acht Mark das Stück im Ausverkauf erstanden hatte, und in der man, weil sie aus reiner Baumwolle war, nicht so schwitzte, weshalb sie vorsichtshalber gleich zehn von dieser Sorte erworben hatte. Sie ging ins Wohnzimmer, um die Fenster in Augenschein zu nehmen, die zu putzen sie sich für heute vorgenommen hatte. Dabei fiel ihr Blick auf den Couchtisch mit den niedergebrannten Kerzen, den welkenden Rosen und den Gläsern mit Weinresten, von denen das eine Anhaftungen von Lippenstift aufwies. Die bis auf ein angetrocknetes Sandwich kahlgefressene Platte stammte wohl aus einem Frankfurter Delikatessengeschäft, vor dem sie auch schon gestanden hatte, um die Auslagen zu betrachten, die sie sich nicht leisten konnte und wollte, weil die Häppchen und belegten Brote, die sie ihrem Freund Hermann, einem verwitweten Frührentner aus ihrer Nachbarschaft, vorsetzte, viel leckerer waren als diese überkandidelten Gaumenkitzler es je sein könnten – dies alles sagte ihr, daß Herr Harzendorf mal wieder Damenbesuch gehabt haben mußte. Sie wollte gar nicht daran denken, wie es oben im Schlafzimmer aussehen mochte. Frau Mehler schüttelte den Kopf. Sie konnte Herrn Harzendorf nicht verstehen. Da hatte er eine bildschöne und um einiges jüngere Frau zu Hause und mußte es trotzdem mit jeder treiben, die auch nur von ferne bereit war, ihn ranzulassen. Aber so waren die Männer nun mal bis auf ihren eigenen, verstorbenen natürlich, der bestimmt nie fremdgegangen war, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens auch nur annähernd so attraktiv war wie Frau Harzendorf. Schönheit war eben doch keine Garantie für Glück, dachte sie, die fest daran glaubte, daß es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gab, und glücklich war sie mit ihrem Mann gewesen, das konnte ihr niemand mehr nehmen. Die Fenster würden warten müssen, denn Frau Mehler beschloß, erst einmal die Spuren dieser Orgie zu beseitigen. Sie räumte auf und wusch ab, und um die Krümel zu entfernen, die den Boden um den Couchtisch herum verunreinigten, machte sie sich auf, den Staubsauger aus dem Keller zu holen. Dort brannte Licht, wahrscheinlich schon die ganze Nacht über: na, die hatten’s ja! Frau Mehler ging zur Tür, tastete von außen nach dem Lichtschalter und hatte ihn schon gedrückt, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten am Boden wahrnahm, der dort nichts zu 44
suchen hatte. Sie schaltet das Licht wieder ein, um nachzusehen. »Mein Gott!« entfuhr es ihr, als sie Harzendorfs ansichtig wurde, der sie mit erloschenen Augen anstarrte, und sie bereute augenblicklich die bösen Gedanken, die sie sich gerade noch über ihn gemacht hatte. Äußerlich blieb sie ganz ruhig, aber ihr Herz fing an wie rasend zu pochen. Das war unfaßbar, das durfte nicht wahr sein, von solchen Dingen las man in der Zeitung, die passierten einem doch nicht selbst! Aber was half es? Ihre Gedanken würden diese grauenhafte Bluttat nicht ungeschehen machen. Obwohl ihr Herz nicht aufhörte wie verrückt zu hämmern, behielt Frau Mehler einen klaren Kopf. Sie ging nach oben ans Telefon, wählte die Notrufnummer und meldete den Vorfall in knappen Worten. Dann ging sie in die Küche und leerte fast eine ganze Flasche mit Mineralwasser. Nicht weil sie Durst hatte, sondern weil dies ein altes Hausmittel war, um das Herzklopfen zu dämpfen. Es wirkte auch dieses Mal. Frau Mehler überlegte dann, ob sie mit ihrer Arbeit fortfahren sollte, aber sie fand es pietätlos, hier oben herumzufuhrwerken, solange unten im Keller eine Leiche lag. Sie setzte sich an den Küchentisch, stützte die Ellbogen auf, vergrub ihr Gesicht in beide Hände und rief sich die zahlreichen Gelegenheiten in Erinnerung, bei denen sie Herrn Harzendorf als einen freundlichen und zuvorkommenden Menschen erlebt hatte. Derart in Gedanken versunken, hatte sie eine ganze Weile so dagesessen, bis sich endlich etwas tat. Zuerst erschienen zwei ganz normale Streifenbeamte, die sie nach einem flüchtigen Blick auf die Leiche ermahnten, nichts anzurühren. Kurz darauf tauchten die Leute von der Frankfurter Kripo auf: zwei Damen und drei Herren von der Spurensicherung, die sich sogleich an die Arbeit machten. Sie verteilten kleine mit Zahlen versehene Schilder und markierten damit Stellen, die sie für wichtig hielten, außerdem sicherten sie Fingerabdrücke, maßen Abstände und schossen Fotos von der Leiche aus allen Perspektiven. Sie gingen dabei ruhig und geschäftsmäßig vor: für sie war dies eine ganz alltägliche Arbeit. Routine bewies auch der Gerichtsmediziner, der sich wenig später eingefunden und ohne zu zögern mit der Untersuchung der Leiche begonnen hatte. Und auch die beiden graugekleideten Männer, die den Zinksarg nach unten gebracht und im Kellerflur abgestellt hatten, warteten so gelassen auf ihren weiteren Einsatz, als 45
gelte es, ein unbrauchbar gewordenes Möbelstück abzuholen. Es hätte nur noch gefehlt, daß sie Brote ausgepackt und eine Frühstückspause eingelegt hätten. Kommissar Brinkmann erschien mit seinem Assistenten Wegener als letzter am Tatort. Das war keine Nachlässigkeit und auch kein Zufall, sondern Teil seiner Routine. Er ließ den Spezialisten gern einen kleinen Vorsprung, damit sie ihm schon mit Fakten aufwarten konnten, wenn er in Aktion trat. Ganz nebenbei verminderte diese Methode die Gefahr, der er in seinen Anfangsjahren oft erlegen war, aufgrund von ersten Eindrücken voreilige Schlüsse zu ziehen. »Tag, Herr Brinkmann«, wurde der Kommissar von einem der beiden Streifenbeamten begrüßt, der aufpaßte, daß kein Unbefugter ins Haus kam. »Der Tote liegt unten im Keller, die Spurensicherung arbeitet schon, und der Doktor ist auch da.« Er führte Brinkmann und Wegener nach unten und setzte dabei seinen Bericht fort. »Der Tote ist der Besitzer des Hauses hier, Norbert Harzendorf, ein Bankmensch. Gemeldet wurde das Verbrechen von Frau Mehler, der Haushälterin.« Brinkmann nickte. Sie erreichten den Kellerraum mit dem Tresor, wo Doktor Oertel, der Gerichtsmediziner, noch dabei war, die Leiche zu untersuchen. Brinkmann betrachtete die Leiche und die Örtlichkeit. »Können Sie schon was sagen?« erkundigte er sich bei dem Arzt, den er vorher mit einem Nicken begrüßt hatte. »Zur Todesursache?« fragte Oertel zurück und zog die Schultern hoch. »Vermutlich ein Schuß ins Herz. Das muß aber schon ein paar Stunden her sein.« »Wie lange?« wollte Brinkmann wissen. »Na ja«, meinte Oertel zögerlich, »ungefähr acht bis zehn Stunden, schätze ich mal. Aber da wird Ihnen die Obduktion Genaueres sagen.« »Acht bis zehn Stunden«, wiederholte Brinkmann. »Dann ist es so gegen Mitternacht passiert?« Oertel nickte. »Und er liegt noch so, wie er gefunden wurde?« erkundigte sich Brinkmann. »Ja«, mischte der Streifenbeamte sich ein. »Alles noch unverändert.« »Was ist mit dem Tresor?« fuhr Brinkmann fort. 46
»Der war zu. Verschlossen.« »Einen Schlüssel haben Sie nicht gefunden?« »Nein.« »Meines Wissens«, meldete Wegener sich grinsend zu Wort, »braucht man keinen Schlüssel für ein Zahlenschloß«, und heimste sich damit einen ungehaltenen Blick seines Chefs ein. »Wo ist die Haushälterin?« wechselte Brinkmann das Thema und wandte sich wieder dem Streifenbeamten zu. »In der Küche, nehme ich an«, gab der zurück. Brinkmann nickte und schickte sich an, den Raum zu verlassen, als er von Doktor Oertel aufgehalten wurde. »Dürfen wir die Leiche abtransportieren?« wollte er wissen. »Sie dürfen«, gab Brinkmann gnädig zurück und ging nach oben, wo er auf Frau Mehler stieß, die immer noch in der Küche saß und ihren trübsinnigen Gedanken nachhing. Sie hob den Blick und sah ihn abwartend an. »Mein Name ist Brinkmann«, stellte er sich vor. »Guten Tag, Frau Mehler. Sie kümmern sich hier um den Haushalt, aber Sie wohnen nicht hier?« »Nein«, erwiderte sie, »ich komme aus Frankfurt. Genauer gesagt aus Höchst.« Brinkmann nickte. »Und Sie haben die… em… Herrn Harzendorf gefunden?« Frau Mehlers Gesicht verdüsterte sich, und sie senkte den Kopf. »Wie war das?« fuhr Brinkmann fort. »Können Sie das mal kurz schildern?« Frau Mehler nahm sich zusammen und räusperte sich. »Eigentlich komme ich ja nur dienstags und freitags«, fing sie stokkend an zu erzählen. »Aber wo der Herr Harzendorf doch grad allein ist…« Sie hielt inne, weil sie fürchtete, geschwätzig zu werden. »Allein?« hakte Brinkmann interessiert nach. »Seine Frau ist verreist«, fuhr Frau Mehler fort, »noch die ganze Woche, und da fällt halt mehr Arbeit für mich an.« »Wann haben Sie heute das Haus betreten?« »So um neun.« »Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen?« »Nein. Es war ruhig wie immer. Ich habe gedacht, der Herr Harzendorf ist längst im Büro.« 47
»Und dann haben Sie ihn gefunden?« »Nein. Erst habe ich aufgeräumt und den Abwasch gemacht, und wie ich dann den Staubsauger aus dem Keller holen will, brennt da noch Licht. Ich bin dann noch ein Stückchen weiter, und dann hab’ ich’s gesehen.« »Ist Ihnen dort etwas aufgefallen? War irgendwas anders als sonst?« Frau Mehler dachte angestrengt nach und schüttelte dann den Kopf. »Nur das Licht im Keller«, brachte sie zaghaft hervor. »Wie kann man Frau Harzendorf erreichen?« Frau Mehler zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung, wo die wieder steckt«, sagte sie spitz, und das ließ Brinkmann aufhorchen. »Ach, ist sie öfter fort?« »Öfter?« wiederholte Frau Mehler, unsicher geworden. Sie wollte nicht zuviel sagen und schränkte ihre Aussage ein: »Manchmal…« »Sagen Sie mal, Frau Mehler, wie lange arbeiten Sie schon hier bei Harzendorfs?« »Jetzt werden es bald vier Jahre.« »Das ist ja eine lange Zeit. Da merkt man doch… da fällt einem doch mal was auf… Ich meine: Wie war denn die Ehe der Harzendorfs?« Frau Mehler verschloß sich sofort. Schmutzige Wäsche würde sie nicht waschen, dafür war sie nicht zu haben! »Gut«, meinte sie, weil eine Antwort von ihr erwartet wurde. »Man kann ja nicht reingucken, aber ich denke, sie war gut.« »Und Sie haben niemals Unstimmigkeiten bemerkt in letzter Zeit? Oder gar Streit?« »Ich habe nur meine Arbeit gemacht«, wies sie ihn zurecht, und Brinkmann wechselte das Thema. »Gibt es Angehörige, die man verständigen müßte? Kinder?« »Nein, Kinder haben die nicht.« Brinkmann meinte, einen vorwurfsvollen Unterton vernommen zu haben und wollte nachhaken, aber das Telefon, das nebenan schon zu wiederholten Malen geläutet hatte, schien ihn nervös zu machen. »Geht denn keiner ran?« rief er hinüber, und als ihm klar wurde, daß niemand drüben war, der hätte rangehen können, nahm er selbst ab. »Ja bitte?« meldete er sich streng und erfuhr, daß Herr Bickel, ein Mitarbeiter der Bank, sich nach dem Verbleib von Herrn Harzendorf 48
erkundigen wollte. Da es verfrüht und unklug wäre, den Mord bekanntzugeben, und schon gar irgendwelchen Dritten am Telefon, stellte Brinkmann sich als Arzt vor. »Tut mir leid, Herr Bickel«, sagte er kurz angebunden, »aber rechnen Sie in den nächsten Tagen mal nicht mit Ihrem Chef.« Und die Frage nach Frau Harzendorf beantwortete er mit einem lakonischen »Ist nicht da«, bevor er den Hörer wieder auflegte. Bickel war heute schon etwas früher ins Büro gekommen, um einen Bericht vorzubereiten, den der Vorstand kurzfristig angefordert hatte. Es fehlten ihm noch Aufstellungen, die Harzendorf in seinem Büro unter Verschluß hielt, und um die zu holen, war er zu Frau Lütt ins Vorzimmer gegangen. »Ist Herr Harzendorf immer noch nicht da?« erkundigte er sich und blickte, als Frau Lütt den Kopf schüttelte, demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Dann rufe ich jetzt bei ihm zu Hause an.« »Das mag er doch nicht«, gab Frau Lütt zu bedenken. Sie war wie immer darauf bedacht, ihren Chef abzuschirmen. »Ach was! Er könnte sich ja auch mal rühren, wenn er später kommt«, regte Bickel sich auf. »Irgendwas hat er gestern noch gesagt«, brachte Frau Lütt zur Verteidigung ihres Chefs vor, »aber ich habe es nicht richtig mitgekriegt.« »Trotzdem«, beharrte Bickel, nahm entschlossen den Hörer von Frau Lütts Telefon auf, hielt inne und sah sie fragend an. »Wissen Sie die Nummer auswendig?« Frau Lütt warf ihm einen abschätzigen Blick zu und wählte lässig die Nummer. Bickel wartete ungeduldig auf das Zustandekommen der Verbindung. »Na komm schon!« murmelte er leise und zählte stumm mit, wie oft er es läuten lassen mußte. Beim zehnten Mal hatte es geknackt, und er hatte schon gedacht, Harzendorf am Apparat zu haben, aber es war ein Arzt gewesen, der etwas von einer schweren Erkrankung Harzendorfs hatte verlauten lassen. Bickel legte den Hörer jetzt auf und starrte nachdenklich, und vielleicht auch etwas verwirrt, vor sich hin. »Was ist denn los?« fuhr Frau Lütt ihn an. Bickel faßte sich wieder. »Herr Harzendorf ist krank«, sagte er. »Es scheint etwas Ernstes zu sein.« 49
Frau Lütt sah ihn erschrocken an und wollte offenbar mehr wissen, aber Bickel schüttelte den Kopf; mehr wußte er auch nicht. »Das ist jetzt aber blöd!« entfuhr es ihm, nachdem er eine Weile vor sich hin gegrübelt hatte. »Ich muß den Bericht für den Vorstand machen, und die Unterlagen liegen bei Herrn Harzendorf im Schreibtisch.« »Dann müssen Sie warten, bis er wieder da ist«, erklärte Frau Lütt. »Der Bericht muß noch heute raus«, entgegnete Bickel, und tat dann, als sei ihm eine Erleuchtung gekommen: »Sie haben doch einen Schlüssel.« Als Frau Lütt ihn undurchsichtig ansah und vage den Kopf schüttelte, insistierte er: »Natürlich haben Sie einen!« »Aber den darf ich nicht rausgeben«, sagte sie mit Nachdruck, »und an den Schreibtisch von Herrn Harzendorf lasse ich niemanden ran!« »Gut, dann eben nicht«, gab Bickel scheinbar nach. »Schließlich ist es nicht mein Problem, wenn Harzendorf Ärger kriegt.« Er wandte sich ab und ging auf die Tür zu. Frau Lütt focht einen schweren Kampf mit sich selbst aus, aber die Möglichkeit, daß der Chef durch ihre Weigerung in Schwierigkeiten geraten könnte, ließ sie ihre Skrupel vergessen. Sie öffnete eine ihrer Schreibtischschubladen, entnahm ihr einen Sicherheitsschlüssel und hielt ihn in die Höhe. »Hier!« rief sie und bewirkte damit, daß Bickel zufrieden grinsend zu ihr zurückkehrte und ihr den Schlüssel aus der Hand nahm. »Ich möchte die nächste Zeit nicht gestört werden«, sagte er barsch und verschwand in Harzendorfs Büro. Frau Lütt warf ihm einen zweifelnden Blick nach. Sie schien ein ungutes Gefühl zu haben. Und wenn sie mitbekommen hätte, wie Bickel das Büro seines Vorgesetzten mit raumgreifenden Gesten und triumphierenden Blicken gewissermaßen in Besitz nahm, ans Fenster trat und die herrliche Aussicht genoß, um dann den Schreibtisch aufzuschließen und mit einer gründlichen Bestandsaufnahme zu beginnen, hätte sie Anlaß gehabt, sich ernsthafte Gedanken zu machen. Da er von Frau Mehler erfahren hatte, was er zunächst wissen wollte, hatte Brinkmann sich ein wenig im Haus umgesehen und Wegener dabei zugeschaut, wie er die Leute von der Spurensicherung mit lästigen Fragen nervte. Dann war er zur Kellertreppe gegangen, von 50
deren Aufgang aus er jetzt beobachtete, wie die beiden graugekleideten Männer mit gleichgültiger Miene und professionellen Griffen den Zinksarg nach oben wuchteten. Dabei kippten sie ihn mal auf die eine, mal auf die andere Seite und brachten ihn auch mal in extreme Schräglage. Er war froh, daß der Sarg aus Zink und nicht aus Glas war, denn der Anblick der Leiche, die den Bewegungen unweigerlich folgen mußte, wäre grausig gewesen. Als der Sarg oben angekommen war und die Männer ihn absetzten, um einen Moment zu verschnaufen, betrat eine äußerst attraktive, sehr gepflegt wirkende Dame von Anfang vierzig das Haus. Es war Brigitte, die Ehefrau von Harzendorf, und sie war alarmiert, denn die Polizeifahrzeuge, der Leichenwagen und die Absperrungen, auf die sie draußen bei ihrer Ankunft gestoßen war, hatten ihr signalisiert, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. »Nein!« brachte sie tonlos hervor, als sie den Sarg sah, und drohte ohnmächtig zu werden. Brinkmann sprang zu ihr und stützte sie, und als er erkannte, daß sie nicht zusammenbrechen würde, ließ er sie wieder los und sah sie mitfühlend an. »Frau Harzendorf?« fragte er leise. Brigitte nickte. »Mein Name ist Brinkmann«, stellte er sich vor. »Kriminalpolizei.« »Ich verstehe nicht«, stammelte Brigitte Harzendorf, »was ist denn passiert? Mein Gott.« »Kommen Sie«, forderte Brinkmann sie mit sanfter Stimme auf und führte sie vorbei an der Küchentür, in der Frau Mehler stand, die ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, ins Wohnzimmer, in dem Wegener sich bereits aufhielt. Brigitte blieb stehen und sah Brinkmann angsterfüllt an. »Frau Harzendorf, es tut mit sehr leid«, begann Brinkmann, dem solche Eröffnungen äußerst unangenehm waren. »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.« »Mein Mann?« hauchte Brigitte Harzendorf und stieß, als Brinkmann nickte, fassungslos hervor: »Oh nein!« »Ihr Mann ist tot«, bestätigte Brinkmann. »Er wurde erschossen. Gestern. Gegen Mitternacht. Aus nächster Nähe.« Frau Harzendorf wandte sich ab und ging wie in Trance zur Terrassentür. Sie schaute stumm hinaus und mußte mit ansehen, wie draußen der Zinksarg durch den Vorgarten getragen und gleich darauf in den Leichenwagen geschoben wurde. 51
Brinkmann war ratlos. Jedes Wort, jede Geste wäre jetzt falsch, und als er Wegeners Blick auffing, der ihn aufzufordern schien, etwas zu unternehmen, runzelte er ungehalten die Brauen. Draußen wurden die Türen des Leichenwagens geschlossen, und als er wenig später abfuhr, hatte Brigitte Harzendorf ihre Fassung zurückgewonnen. Sie drehte sich zu Brinkmann um und sah ihn fragend an. »Ich nehme an«, sagte sie ruhig und gefaßt, »Sie wollen mir ein paar Fragen stellen.« Brinkmann nickte, aber er war so erstaunt über diese unerwartete Eröffnung, daß es eine Weile dauerte, bis er seine erste Frage formulieren konnte, und die war, wie er sich eingestehen mußte, nicht gerade die intelligenteste. »Haben Sie eine Ahnung«, wollte er nämlich wissen, »wer das getan haben könnte?« Frau Harzendorf zuckte nur mit den Schultern, während Wegener es nicht lassen konnte, die Augen zu verdrehen. Aber er war rücksichtsvoll genug, es so zu tun, daß Brigitte es nicht mitbekommen konnte. »Ihr Mann muß seinen Mörder gekannt haben«, fuhr Brinkmann unbeirrt fort. »Es gibt keine Spuren, die auf ein gewaltsames Eindringen schließen lassen.« »Seinen Mörder?« fragte Brigitte Harzendorf zurück. »Kann es nicht auch eine Frau gewesen sein?« Brinkmann sah sie aufmerksam an. »Denken Sie an eine bestimmte Person?« »Nein, nur so«, gab Brigitte Harzendorf vage zurück. »Natürlich kann es auch eine Frau gewesen sein«, räumte Brinkmann ein, um sich dann ganz allgemein zu erkundigen: »Hatte Ihr Mann Feinde?« »Es wäre ein Wunder, wenn er keine hätte, in seiner Position«, erwiderte sie, »Aber da müssen Sie sich in der Bank erkundigen.« »Hat er keine Andeutungen gemacht in dieser Richtung?« »Wir haben kaum über seine Arbeit gesprochen.« »Warum nicht?« »Mein Mann sprach wenig über die Bankgeschäfte. Und da habe ich auch nicht viel gefragt.« Brinkmann nickte wider sein besseres Wissen. Er hatte kein Verständnis für diese Auffassung. Da lebten die Leute miteinander, waren jahrelang verheiratet, teilten Tisch und Bett, aber über das, was 52
sie am meisten beschäftigte, den Beruf nämlich, wurde nicht gesprochen. Wenn er jemals heiraten sollte, dann nur eine Frau, die sich für seinen Beruf interessieren würde. Und als er sich bewußt wurde, wie chauvinistisch dieser Anspruch war, fügte er in Gedanken hinzu, daß er sich natürlich auch für ihren Beruf interessieren müßte. »Wollen Sie sonst noch etwas von mir wissen?« erkundigte sich Frau Harzendorf. Brinkmann schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Nein«, sagte er spontan und korrigierte sich sofort: »Oder doch. Sie waren verreist?« »Ja«, bestätigte sie nach einem kurzen Zögern. »Man hat Sie erst Ende der Woche zurückerwartet«, hielt Brinkmann ihr vor. »So?« fragte sie erstaunt und sah ihn lauernd an. »Sie haben mir eine Menge Arbeit erspart«, räumte Brinkmann ein und lächelte sie an. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich Sie suchen müssen«, erklärte er, und Brigitte Harzendorfs Züge entspannten sich wieder. Brinkmann und Wegener verabschiedeten sich und trafen draußen auf die Leute von der Spurensicherung, die ihre Arbeit beendet und ihre Sachen zusammengepackt hatten, und auf Doktor Oertel, für den es hier nichts mehr zu tun gab, und der die Obduktion der Leiche so schnell wie möglich in Angriff nehmen wollte. Sie versprachen Brinkmann, ihre Berichte baldmöglichst bei ihm abzuliefern, und verschwanden schnell und unauffällig. Auch darin schienen sie Routine zu haben. Als Brinkmann und Wegener ihren Dienstwagen erreicht hatten, und Brinkmann gerade daran dachte, daß man auch die Nachbarn um sachdienliche Hinweise bitten müssen würde, eine Aufgabe, die er Wegener überlassen wollte, eilte Herr Pohl mit wichtigem Gehabe herbei. »Gell, da ist ein Mord passiert?« wollte er neugierig wissen. »Wie kommen Sie darauf?« fragte Brinkmann zurück. »Ei, weil ich den Mörder gesehen habe«, brachte Herr Pohl im Brustton der Überzeugung hervor. »Was Sie nicht sagen!« staunte Brinkmann, und in seiner Stimme lag ein leicht spöttischer Unterton, aber den schien Herr Pohl nicht mitbekommen zu haben. 53
»Ja«, bestätigte er eifrig und deutete zu seiner Garageneinfahrt hin. »Da hat er gestanden. Ich meine, sein Wagen stand da. Und hat mir die Einfahrt versperrt. Und frech geworden ist er dann auch noch, der Fahrer von dem Wagen.« Er hatte sich in Rage geredet. »Moment«, unterbrach Brinkmann ihn, plötzlich hellhörig geworden. »Schön langsam. Erst einmal: Wie heißen Sie?« »Pohl, Karl Pohl«, antwortete er. »Ich wohne hier nebenan.« »Brinkmann, Kriminalpolizei«, stellte der Kommissar sich vor und deutete zu Wegener hin. »Mein Kollege, Herr Wegener.« »Angenehm«, sagte Pohl mit einer leichten Verbeugung. »Also, Herr Pohl«, begann Brinkmann, »da stand ein Auto vor Ihrer Einfahrt. Wann war das?« »Gestern nacht.« »Und der Fahrer von dem Auto war bei Herrn Harzendorf?« »Sag’ ich doch.« »Woher wissen Sie das?« ›»Ei, weil ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, wie er aus dem Haus gekommen ist.« »Wissen Sie die genaue Uhrzeit?« »Nein, tut mir leid. Es war jedenfalls nach zehn.« »Würden Sie den Mann wiedererkennen?« »Ja, ich glaube schon.« Brinkmann sah ihn nachdenklich an. »Sie haben sich nicht zufällig die Autonummer gemerkt?« Herrn Pohls Miene hellte sich auf. »Gemerkt nicht«, sagte er mit einem pfiffigen Grinsen, »aber aufgeschrieben habe ich sie mir. Es war jedenfalls eine Frankfurter Nummer.« Er fing an, zu suchen. Erst in seinen Taschen, dann in seinem Auto, bis er kleinlaut zugeben mußte, den Zettel verlegt, wenn nicht gar versehentlich weggeworfen zu haben. Brinkmann ermahnte ihn, sich unverzüglich zu melden, sollte der Zettel doch noch auftauchen, was Pohl beflissen zu tun versprach. »Sie, da fällt mir noch was ein«, brachte er dann unvermittelt hervor und kehrte zu seinem wichtigtuerischen Gehabe zurück, indem er innehielt und erst mal eine bedeutungsvolle Pause einlegte. »Ja?« ermunterte Brinkmann ihn fortzufahren.
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»Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat«, schränkte Pohl schließlich zögernd ein, »aber letzte Nacht standen hier eine Menge Autos herum, die nicht hierhergehören.« »Eine Menge?« fragte Brinkmann zurück. »Wieviel ist das?« Herr Pohl dachte kurz nach. »Also, mindestens drei«, präzisierte er. Dabei hatte er den Porsche von Frau Harzendorf nicht mitgezählt, denn der gehörte schließlich hierher. »Drei Autos«, faßte Brinkmann zusammen. »Und die hatten alle etwas mit den Harzendorfs zu tun?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, gab Herr Pohl zu, dem jetzt plötzlich auffiel, daß er auf seine erste Frage, nämlich die nach dem Mord, noch keine richtige Antwort erhalten hatte. »Es stimmt also«, startete er einen erneuten Versuch, »es ist ein Mord geschehen?« »Ja«, sagte Brinkmann betont sachlich. »Herr Harzendorf ist erschossen worden.« »Aber das ist ja furchtbar!« stieß Pohl erschrocken hervor, obwohl der Kommissar ihm nur bestätigte, was er längst geahnt hatte. Die Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten, dafür würde Herr Pohl, so wie Brinkmann ihn einschätzte, schon sorgen. Brinkmann beschloß, mit der Befragung der Nachbarn gleich zu beginnen, bevor die Gerüchteküche brodeln und die Einschätzungen oder Beobachtungen der Leute beeinflussen konnte. Die Befragung brachte keine konkreten Hinweise. Die Nachbarn waren allesamt distinguierte Leute, die ihre Ruhe haben wollten und sich nicht dafür interessierten, was die anderen taten oder ließen. Herr Pohl schien da die Ausnahme zu sein. Da man hier keine Kontakte untereinander pflegte, begründete sich die gegenseitige Einschätzung auf den Beruf, das äußere Erscheinungsbild und auf Wohlstandssymbole, weshalb das Urteil, das man über die Harzendorfs abgab, auch überaus günstig ausfiel. Die von Herrn Pohl erwähnten, nicht hierhergehörenden Autos waren niemandem aufgefallen, aber es schien durchaus möglich zu sein, daß sie zu dem einen oder anderen Besucher des einen oder anderen Nachbarn gehörten. Obwohl es schon fünf Jahre her war, daß ihr Mann gestorben war, konnte Frau Mehler sich noch gut an ihre Gefühle von damals erinnern, an die schreckliche Leere, die sie empfunden, die unendliche Traurigkeit, die sie gelähmt hatte, und an die bittere Erkenntnis, die 55
sich erst nach und nach einstellen wollte, daß sie einen unwiederbringlichen Verlust erlitten hatte. Deshalb wußte sie, was Frau Harzendorf jetzt durchmachen mußte. Als sie aber versuchte, sie mit gutgemeinten, mitfühlenden Worten zu trösten, stieß sie auf schroffe Ablehnung. Brigitte Harzendorf verbat sich jedes Mitleid; sie wollte allein sein und setzte Frau Mehler gewissermaßen vor die Tür, allerdings nicht ohne ihr vorher den Lohn ausgezahlt zu haben, obwohl sie ihre Arbeit noch nicht beendet hatte. Frau Mehler war nur für einen kurzen Augenblick eingeschnappt, dann sagte sie sich, daß es wohl doch einen Unterschied ausmachen mußte, ob man seinen Mann vorhersehbar durch eine heimtückische Krankheit oder plötzlich und unerwartet durch eine Gewalttat verlor. Als sie endlich allein war, lief Brigitte Harzendorf erst einmal ziellos durch das Haus und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Dann führte sie einige Telefonate, verständigte erst den Vorstand der Bank und anschließend Frau Lütt vom gewaltsamen Tod ihres Mannes. Schließlich ließ sie sich mit Bickel verbinden. »Rate, wo ich gerade sitze«, forderte er sie aufgekratzt auf, bevor sie noch zu Wort kommen konnte, und lieferte die Lösung gleich selbst: »Am Schreibtisch deines lieben Gatten.« Die Nachricht, daß der in der vergangenen Nacht ermordet worden war, löste bei Bickel weder Überraschung noch Betroffenheit aus, allenfalls eine leichte Irritation. »Du erwartest hoffentlich nicht, daß ich dir kondoliere?« fragte er kühl. Als sie ihm eröffnete, daß sie ihn unbedingt sehen und mit ihm reden müßte, schlug er ihr ein Treffen in seiner Wohnung vor, und sie akzeptierte diesen Vorschlag nach einigem Zögern. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, platzte Herr Gerber, das Vorstandsmitglied der Bank, in das Büro. »Haben Sie schon gehört?« schnarrte er. »Frau Harzendorf hat mich gerade verständigt.« Bickel, der sich erhoben hatte, nickte und setzte ein bekümmertes Gesicht auf. »Ich habe eben mit ihr gesprochen«, sagte er und machte eine vage Geste in Richtung Telefon. »Schreckliche Sache«, fuhr Gerber fort. »Eine Frauengeschichte, was meinen Sie? Na ja, de mortuis, Sie wissen schon. Aber was anderes. Sie übernehmen Harzendorfs Bereich. Zunächst kommissarisch. Sie schaffen das doch?« 56
Bickel nickte beflissen und gab sich bescheiden, aber es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, seine Genugtuung nicht offen zu zeigen.
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VI Das Licht von Kerzen hatte auf Karola von Kindesbeinen an eine merkwürdige Faszination ausgeübt, und auch die allererste Erinnerung, die sie sich bewahrt hatte, kreiste um ein Kerzenlicht, das plötzlich aufflammend, unerklärliche Gefühle der Furcht in solche des Glücks verwandelt hatte. Ihre Mutter, der sie diese Erinnerung einmal in allen Einzelheiten geschildert hatte, glaubte darin einen Vorfall zu erkennen, der sich ereignet hatte, als Karola noch keine drei Jahre alt war, und der auch ihr, allerdings aus der völlig anderen Sicht einer Erwachsenen, haften geblieben war: Sie hatte ihr von einem schweren Unwetter erzählt, das mit Blitz und Donner, Hagel und Regen und einem Sturm, der Orkanstärke erreichte, über das Dorf hinweggefegt war, in dem sie damals bei einer Landkommune Unterschlupf gefunden hatten. Das Unwetter hatte eine riesige Pappel wie ein Streichholz umgeknickt und auf ihr Haus geworfen und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte. Der Strom war ausgefallen, und es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis man Kerze und Streichhölzer hervorgekramt hatte. Und als das Licht dann aufflammte, war es, als ob der ruhige Schein der Kerze dem Toben draußen trotzen würde, und alle waren auf einmal von einem nie gekannten Glücksgefühl erfüllt. Karola hatte als Kind lange geglaubt, Kerzenlichter seien Lebewesen, und sich nicht getraut, sie auszupusten, wie sie auch Fliegen, Spinnen und sonstigem Getier nie etwas zuleide tun konnte. Später, als sie schon zur Schule ging, hatte sie eines Weihnachtens so lange, ohne die Augen zu schließen, in die Lichter des Christbaums geschaut, daß sie nachher noch stundenlang deren Abbild sehen konnte, sobald sie die Lider schloß. Daran hatte Karola plötzlich denken müssen, als sie nach den fürchterlichen Ereignissen auf ihrem Hotelbett lag, denn jedesmal, wenn sie die Lider schloß, erschien vor ihrem geistigen Auge das Bild ihres ermordeten Geliebten, das sich in ihre Netzhaut eingebrannt hatte wie einst die Lichter des Weihnachtsbaums. Und jedesmal, wenn dieses grausige Bild auftauchte, reagierte ihr Körper mit einer Erinnerung an die Gefühle, die ihr Geliebter wenige Augenblicke vor seinem Tod in ihr geweckt hatte. Sie ahnte, daß diese Verbindung von höchster Lust und tödlichem Grauen, von Eros und 58
Thanatos, ihre Liebes- und Lebensfähigkeit zerstören würde, wenn sie sich nicht so schnell wie möglich einem Therapeuten anvertrauen würde. Anvertrauen war das Stichwort für weitere Gedanken. Sie hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen, dem sie ihr Herz ausschütten und der sie trösten könnte. Sie war nur auf sich gestellt und mußte allein fertig werden mit ihren Ängsten und Nöten, mit ihrer Verzweiflung und dem Bewußtsein, alles falsch gemacht zu haben. Das Chaos in ihrem Kopf hinderte sie daran, Bilanz zu ziehen und Schritte für die Zukunft zu planen. Ein tiefer, traumloser Schlaf, der sie alles vergessen ließ, könnte helfen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Aber wie sollte der sich einstellen, wenn jedesmal, wenn sie die Augen schloß, das Bild des Geliebten erschien, wie er, halb gegen den Tresor gelehnt, sie mit erloschenen Augen anstarrte, während das Blut den weißen Morgenmantel rot färbte? Völlig unverhofft hatte ihr erschöpfter Körper dann doch noch über ihren aufgewühlten Geist gesiegt, und sie war kurz vor Morgengrauen weggesackt und in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem sie wenige Stunden später tatsächlich gestärkt erwachte. Zwar waren ihr die schrecklichen Ereignisse in allen Einzelheiten sofort wieder gegenwärtig, aber sie wirkten auf einmal nicht mehr so dumpf bedrohlich und lösten auch keine Selbstvorwürfe mehr aus. Sie mußte sehen, daß sie ihre grüne Mappe zurückbekam, die den Musical-Vertrag und die anderen für sie unentbehrlichen Schriftstükke enthielt, und sie mußte ihre dringendsten Schulden begleichen, um die Tournee nicht länger zu gefährden. Sie ging unter die Dusche und benötigte anschließend etwas mehr Zeit als sonst, sich herzurichten, weil es galt, die Spuren, die das Erlebte in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, mit allerlei kosmetischen Tricks, über die sie als Schauspielerin in ausreichendem Maß verfügte, so gut es ging zu tilgen. Während sie vor dem Spiegel saß, dachte sie an das Geld, das in dem Schließfach im Hauptbahnhof erst einmal sicher aufgehoben war, und sie hatte keinerlei Skrupel mehr, es an sich genommen zu haben. Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, daß sie sogar ein Anrecht auf dieses Geld hatte. Es war der Steuer hinterzogen worden, gehörte also eigentlich dem Staat, der wiederum die Theater in Deutschland mit Unsummen subventionierte. Allerdings nicht alle. Sie zum Beispiel 59
hatte noch nie auch nur einen Heller aus dem großen Topf erhalten, obwohl sie, vielleicht mehr noch als die vornehmlich begünstigten öffentlichen Theater, Kultur unter die Leute brachte. Deshalb durfte sie das Geld jetzt als einen staatlichen Zuschuß betrachten, und sie schwor sich, es so zu verwenden, als sei es ihr offiziell zugeteilt worden, und über jeden ausgegebenen Pfennig Rechenschaft abzugeben. Aber sie mußte auf der Hut sein! Auch wenn er sich der Polizei nicht anvertrauen konnte, würde Fuhrmann den Verlust des Geldes nicht so ohne weiteres hinnehmen und Nachforschungen auf eigene Faust anstellen. Sie mußte unter allen Umständen vermeiden, daß er auf eine Spur traf, die zu ihr führte, zumal sie ihn nicht kannte und nicht einschätzen konnte, wie gefährlich er war. Bevor Karola aufbrach, um Anton Potthoff die überfällige Rate seiner Gage als eine Geste der Versöhnung persönlich ins Hotel zu bringen, schaltete sie das Radio ein und hörte sich die Nachrichten des Lokalsenders an. Aber man brachte keine Meldung über den Mord in Kronberg. Vielleicht war die Leiche noch nicht entdeckt worden, dachte Karola, und sofort tauchte vor ihrem geistigen Auge der schreckliche Anblick wieder auf, diesmal gelang es ihr jedoch, ihn gleich wieder zu verdrängen. Potthoff war nicht in seinem Hotel, das, wie er sich vertraglich ausbedungen hatte, immer eine Kategorie besser sein mußte als das der übrigen Darsteller, und das mindestens zwei Kategorien besser war als das von Karola, die, als sie die Zimmer gebucht hatte, ans Sparen denken mußte. Man gab ihr den Wink, daß Potthoff eine Autogrammstunde in einem Kaufhaus abhielt, und Karola fuhr schnell in die Stadt, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. An einem nicht zu kleinen Tisch, der wie maßgefertigt zu seinen Proportionen paßte und sicher nicht von ungefähr just dort plaziert worden war, wo die Abteilungen Damenunterkleidung und Kosmetik aufeinandertrafen, saß Anton Potthoff. Er war umringt von einer großen Menge meist weiblicher Fans jeglichen Alters. Er schäkerte und tändelte, daß es eine Freude war, und gebärdete sich ansonsten so geckenhaft, daß Karola, die die Szene aus der Ferne beobachtete, es fast bedauerte, daß er nicht auch noch ein Rad schlagen konnte wie ein Pfau. Potthoff schrieb Widmungen und setzte sein Auto60
gramm auf vorbereitete Porträtkarten und auf alles, was man ihm sonst noch vorlegte. Karola sah, wie eine junge Frau ihm einen entzückenden BH präsentierte, den sie gerade nebenan erworben hatte, und ihm einen Textilstift aufdrängte, mit dem er sich unter dem Gelächter der Umstehenden auch dort verewigte. Karola besorgte sich eine Briefkarte, auf die sie mit großen, gut leserlichen Buchstaben die Worte Du läßt aber auch gar nichts aus! schrieb, und mischte sich unter die Menge. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie nach einigem Gerangel und Geschubse und unter Einsatz ihrer Ellbogen, bis zu ihm vordringen und ihm die Karte auf den Tisch legen konnte. Karola hoffte inständig, daß er nicht blind unterschreiben würde, aber gerade das tat er zunächst. Dann stutzte er, und zwar wohl deshalb, weil er plötzlich einen Text vor sich hatte, den er auch ohne Brille lesen konnte, die aufzusetzen er viel zu eitel war. Er las und sah hoch – und Karola direkt in die spöttisch aufblitzenden Augen. Karola hätte sonst was dafür gegeben, wenn einer ihr einen Fotoapparat gereicht hätte, mit dem sie das dümmliche Erstaunen in seinem Gesicht hätte festhalten können. Sie wandte sich ab und zog sich zurück. »Warte!« rief Potthoff, der sich halb erhoben hatte, ihr nach, aber dessen hätte es nicht bedurft, denn gerade das wollte sie ohnehin tun. Bei der Rolltreppe, wo es etwas ruhiger zuging, blieb sie stehen und beobachtete, wie Potthoff, der sich inzwischen ganz erhoben hatte, auf seine Armbanduhr blickte und dann mit der Direktrice tuschelte, die mit einem stereotypen Lächeln die ganze Zeit über hinter ihm gestanden hatte. Jetzt überreichte sie ihm diskret ein Kuvert, das er ebenso diskret in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Im Stehen gab er noch ein paar Autogramme, zog sich dabei geschickt zurück und schüttelte auf dem Weg zu Karola noch zwei hartnäckige Fans ab. »Schlecht siehst du aus«, sagte er Karola auf den Kopf zu, als sie auf der Rolltreppe nach unten fuhren. Wie alle Schauspieler besaß auch er die Gabe, durch die Schminke hindurchschauen und das wahre Gesicht erkennen zu können, ganz besonders, wenn es sich um das eines Kollegen oder einer Kollegin handelte. Außerdem glaubte er, sich einen solchen Seitenhieb schuldig zu sein, nachdem Karola ihn bei diesem künstlerisch nicht unbedingt wertvollen Auftritt er61
wischt hatte. »Da muß ich gar nicht erst fragen, wie es steht«, fügte er noch hinzu. »Jedenfalls besser, als ich aussehe«, gab Karola zurück und hielt sich ansonsten bedeckt. Auf dem Weg zu ihrem Auto erkundigte sich Karola dann nach dem Stand der ersten Auszählung und wollte wissen, wer gestern in der Vorstellung den meisten Szenenapplaus erhalten hatte: er oder die anderen zusammen? »Ach, weißt du«, wich Potthoff aus, »ich war gestern gar nicht gut disponiert, und wir hatten ein ausgesprochen lustloses Publikum. Die haben kaum eine meiner Pointen kapiert. Außerdem wird man Lola und Edith noch einmal erklären müssen, was eine Strichliste ist und wie sie geführt wird.« Karola nickte. Sie hatte verstanden. Potthoff war auf dem Wege, seine Wette zu verlieren. Sie grinste ihn breit an. Jetzt waren sie erst mal quitt. »Nicht, daß du da was falsch verstehst«, kam Potthoff noch einmal auf seinen Auftritt im Kaufhaus zurück, als sie wenig später in Karolas Wagen durch die Stadt fuhren. »Ich habe das vor allem gemacht, um Reklame für deine Tournee zu machen.« »Wo wir sowieso immer ausverkauft sind?« fragte Karola spitz. »Ja eben«, tönte Potthoff. »Von nichts kommt nichts.« Und er fügte, um Karola nicht die Gelegenheit zu geben, auf seine hohlen Worte zu reagieren, schnell hinzu: »Wo fahren wir eigentlich hin?« »Wohin du willst«, gab Karola zurück. »Soll ich dich zum Hotel bringen?« »Ja«, erwiderte Potthoff. »Aber vorher noch zu deiner Bank. Du weißt schon.« Um die Sache ein wenig spannender zu machen, setzte Karola ein betrübtes Gesicht auf. Potthoff runzelte verärgert die Brauen. »Schieß los!« forderte er sie auf. »Für originelle Ausreden habe ich was übrig. Aber streng dich ein bißchen an.« Karola tat, als würde sie nachdenken. »Handschuhfach«, sagte sie dann scheinbar völlig zusammenhanglos. »Wie bitte?« wunderte Potthoff sich. »Öffnen!« befahl sie und deutete zum Handschuhfach hin.
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Potthoff öffnete es und entdeckte ein dickes Kuvert. »Für mich?« fragte er überrascht und nahm es in die Hand, nachdem Karola genickt hatte. »Wenn du bitte nachzählen würdest«, ermunterte sie ihn. Potthoff riß das Kuvert auf und zählte die Geldscheine. »Fünfzigtausend«, brachte er dann hervor. »Stimmt genau. Alle Achtung!« »Da liegt auch eine Quittung«, verkündete sie. »Wenn ich dich um ein Autogramm bitten dürfte?« Potthoff ging großzügig über diese Anspielung hinweg und setzte seinen Namenszug unter die Quittung. Gleich darauf hielt Karola vor seinem Hotel an. Potthoff steckte das Kuvert schnell in seine Jackentasche. »Häng es bitte nicht an die große Glocke«, bat Karola ihn, als er aussteigen wollte. »Die anderen müssen nämlich noch ein bißchen auf ihr Geld warten.« Potthoff nickte und blinzelte ihr verschwörerisch zu. Er war es gewohnt, bevorzugt behandelt zu werden, und ihre Worte zeigten ihm einmal mehr, wie bedeutend er doch war. Gleich nach der Befragung der Nachbarn in Kronberg hatten Brinkmann und Wegener die Rückfahrt nach Frankfurt angetreten. Weil die Schnellstraße meistens verstopft war, und er keine Lust hatte, sich im Stau von den Abgasen der Autos vergiften zu lassen, hatte Brinkmann den Umweg durch den Taunus über Oberursel gewählt, und das Stadtgebiet von Frankfurt bei Heddernheim erreicht. Den Umweg hatte er nicht nur der besseren Luft wegen in Kauf genommen, sondern auch wegen einer Heddernheimer Wirtschaft, in der es, jedenfalls für seine Begriffe, die besten Kasseler Rippchen weit und breit gab, und wo man den Handkäs mit Musik so delikat zubereitete wie nirgends sonst. Bei dem Gedanken daran war ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen, und lange bevor sie Heddernheim erreichten, hatte er sich schon Gedanken darüber gemacht, was er sich bestellen sollte: den Handkäs oder die Rippchen? Einmal hatte er in einem Anfall von Heißhunger beides genommen, vorweg den Handkäs und danach die Rippchen, aber das war kaum zu schaffen gewesen und hatte ihm ein lang anhaltendes Völlegefühl beschert und anschließend Blähungen, obwohl der Koch mit Kümmel nicht gespart hatte. 63
Als sie dann in der Wirtschaft saßen, entschied er sich für die Rippchen, während Wegener, der in letzter Zeit mit vegetarischer Kost herumexperimentierte, den Handkäs nahm, mit viel Musik, wie er extra anordnete. Unter Musik waren Zwiebelringe zu verstehen, und Essig und Öl in ausgewogener Mischung, womit der intensiv duftende Käse aus Rohmilch belegt und übergossen wurde. Dazu bestellten sie ein kleines Bier, obwohl Apfelwein besser gepaßt hätte, aber der war hier, wie Brinkmann wußte, nicht so gut, den trank er lieber im Schüppchen, einer Wirtschaft in Sachsenhausen am anderen Ufer des Mains. Während sie auf das Essen warteten, sah Wegener sich um. Das Lokal war gut besucht, hauptsächlich Arbeiter und kleine Angestellte verkehrten hier, und eine Tafel zeigte an, daß zwei verschiedene Kantinenessen angeboten wurden. Offenbar gab es ein Arrangement zwischen dem Wirt und den umliegenden Firmen, die keine eigene Kantine hatten. Wegener stellte fest, daß sein Chef mit seinem Pepitaanzug, der Weste und der auffälligen Fliege unter dem Kinn nicht so recht hierher passen wollte. Als er sah, daß Brinkmann ihn mit prüfenden Blicken bedachte, fühlte er sich ertappt. »Wo kriegen Sie Ihre Fliegen eigentlich immer her?« plapperte er los, um nur irgend etwas zu sagen, womit er seine Gedanken nicht verriet. »Die gibt’s im Fachhandel«, erklärte Brinkmann mit ernster Miene und griff sich an den Kragen, um seine Fliege zurechtzurücken. »Ach so«, gab Wegener sich zufrieden. »Für Anglerbedarf«, ergänzte Brinkmann und grinste, um seinem jungen Kollegen zu zeigen, daß er ihn auf den Arm genommen hatte. »Danke«, sagte Wegener ebenfalls grinsend. »Ich will mir nämlich auch so ein Ding zulegen.« »Bleiben Sie mal lieber bei Ihrem Schlips«, gab Brinkmann etwas barsch zurück. »Ist das ein Befehl?« wollte Wegener wissen. »Ein guter Rat«, erwiderte Brinkmann. Dann wurde das Essen gebracht, und die beiden waren für eine Weile beschäftigt. Wer kaut, kann schlecht reden, dafür aber um so besser nachdenken. Wegener dachte mit langen Blicken auf den Teller seines Chefs, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, die Rippchen zu bestellen. Ihm fiel wieder ein, daß er nach dem Genuß 64
roher Zwiebeln stundenlang aufstoßen mußte, während Brinkmann darüber nachgrübelte, warum er das Gefühl nicht los wurde, bei den Ermittlungen im Hause Harzendorf etwas Wichtiges unterlassen zu haben. »Der Tresor!« stieß er plötzlich hervor, obwohl er den Mund gerade voll hatte. Wegener sah ihn verständnislos an. »Ich habe vergessen, Frau Harzendorf nach der Zahlenkombination zu fragen«, fuhr er fort, nachdem er den Bissen runtergeschluckt hatte. »Los, essen Sie auf! Wir müssen nach Kronberg zurück!« Das behagte Wegener nun gar nicht. Rohe Zwiebeln an sich waren schon ein Problem, aber hastig heruntergeschlungen, konnten sie schnell zur Katastrophe werden. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, gab er zu bedenken. »Entweder sie kennt die Kombination, oder sie kennt sie nicht.« »Sie sind manchmal von einer umwerfenden Intelligenz«, stellte Brinkmann fest. »Oder wollen Sie mich verarschen?« »Überhaupt nicht!« versicherte Wegener. »Angenommen, sie kennt die Zahlen. Würden Sie den Tresor dann öffnen? Ohne die Experten?« Brinkmann sah ihn nachdenklich an. »Nein, da haben Sie recht«, gab er zu. Dann hellten sich seine Züge plötzlich auf, denn er hatte die Schwachstelle in Wegeners Schlußfolgerung entdeckt. »Aber Frau Harzendorf könnte ihn öffnen«, trumpfte er auf, »und mögliche Beweismittel verschwinden lassen. Noch wissen wir schließlich nichts und müssen an alles denken.« »Ja, das ist richtig«, gab Wegener zu und tat bescheiden. »Deshalb habe ich den Tresor auch versiegeln lassen.« Jetzt wäre eigentlich ein dickes Lob fällig gewesen, aber Brinkmann nickte nur zerstreut. »Dann können wir ja in Ruhe weiteressen«, meinte er gelassen und schob sich den nächsten Bissen in den Mund. Als es dann ans Zahlen ging, und die übliche Frage getrennt oder zusammen? gestellt wurde, entschied Brinkmann sich für letzteres, bevor Wegener auch nur dem Mund auftun konnte. So spendabel hatte Brinkmann sich noch nie gezeigt. Wegener folgerte daraus, daß Brinkmann damit das Dankeschön nachholen wollte, das vorher ausgeblieben war, und bedankte sich seinerseits überschwenglich für die Einladung. 65
Da das Ergebnis der Obduktion und der Bericht der Spurensicherung, von denen Brinkmann sich konkrete Hinweise erhoffte, die ihm die Richtung für weitere Ermittlungen weisen würden, erst für den nächsten Vormittag zu erwarten waren, und dann auch nur in vorläufiger Form, entschloß er sich, zusammen mit Wegener zunächst einmal die Bank aufzusuchen, die das Wirkungsfeld des Mordopfers gewesen war. Eine geschlagene Stunde hatten sie damit verbracht, mit freundlichen und durchaus willigen Menschen zu verhandeln, die sich im entscheidenden Punkt dann aber für nicht kompetent erklärten, und sie weiterleiteten zum nächsten kompetenten Menschen, der ihnen Rede und Antwort stand, bis auch er passen mußte. Auf diese Weise hatten sie immerhin Gelegenheit, die Pyramide der Bankhierarchie kennenzulernen. Als sie endlich an der Spitze angelangt waren, stießen sie auf die Herren Doktoren Gerber und Zirn vom Vorstand der Bank, die sich in Sachen Betroffenheit gegenseitig übertrumpften. »Ich bin entsetzt«, bekannte Gerber. »Ich kann das gar nicht verstehen.« »Ich bin zutiefst betroffen«, setzte Zirn noch eins drauf. »Auch meine Vorstandskollegen, die ich natürlich sofort informiert habe. Wir alle sind zutiefst betroffen.« »Es ist nicht zu fassen«, riß Gerber das Heft wieder an sich, »gestern vormittag hatten wir noch eine Vorstandssitzung. Und dann habe ich ihn im Kasino gesehen, zusammen mit dieser auffallenden Schönheit.« Er schüttelte ergriffen den Kopf und sah Zirn an. »Sie haben sie auch gesehen.« Zirn nickte bestätigend. »In der Tat, eine auffallende Schönheit«, echote er. »Wer war die Dame?« mischte Brinkmann sich ein. Gerber und Zirn blickten sich an und zogen die Schultern hoch. »Keine Ahnung«, bekannte Zirn. »Vielleicht kann Herr Bickel Ihnen mehr sagen. Er ist ein enger Mitarbeiter von Herrn Harzendorf. Er wird Ihnen jede Frage beantworten.« »Wo bleibt er denn?« stieß Gerber ungeduldig hervor, und verschwand für einen Augenblick nach nebenan, wo man ihn mit der Vorzimmerdame tuscheln hörte. »Tut mir leid«, bedauerte er, als er zurückkehrte, »Herr Bickel hat das Haus schon verlassen. Aber von morgen an steht er ganz zu Ihrer Verfügung. Sie dürfen sich direkt an 66
ihn wenden, er sitzt zwei Etagen tiefer, und die Sekretärin heißt Lütt.« Damit waren Brinkmann und Wegener entlassen, und da es für sie für heute nichts mehr zu tun gab, beschlossen sie, von der Bank aus direkt den Feierabend anzutreten. Kurz vor Vorstellungsbeginn wartete Karola draußen vor dem Theatereingang auf Herrn Kümmel. Sie wollte ihn abfangen, bevor er das Theater betreten konnte, nicht nur, weil die Auftritte dieser jämmerlichen Gestalt die Theaterbesucher irritierten, sondern weil sie ihm heute auch eine größere Summe übergeben wollte, und dabei brauchte sie keine Zeugen. Kümmel war erkältet, hatte Schnupfen und mußte, als er sich Karola näherte, ohne sie zu erkennen, heftig niesen. Karola sah, wie er sich mit der bloßen Hand über die Nase fuhr und sie anschließend an seiner Jacke abwischte. Ebendiese Hand streckt er ihr hin, nachdem sie sich ihm in den Weg gestellt hatte, um sie zu begrüßen. Angeekelt wandte sie sich ab und trat ein paar Schritte zur Seite. Kümmel folgte ihr. Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Rest seiner Forderungen in drei ungleichen Raten abzutragen, aber jetzt hatte sie auf einmal das dringende Bedürfnis, diesen Kerl ein für allemal loszuwerden. »Wieviel müssen Sie bei mir noch eintreiben?« erkundigte sie sich. »Insgesamt?« fragte Kümmel, dessen flüsternde Stimme heute, bedingt durch die vom Schnupfen verstopfte Nase, etwas weinerlich klang. »Warten Sie…« Er zog den Zahlungsbefehl aus seiner abgewetzten Aktentasche hervor und studierte ihn im Schein der Außenbeleuchtung. »Genau einhundertachttausendzweihundertundzehn Mark und fünfzig Pfennige«, nuschelte er. »Nehmen Sie auch Bargeld?« wollte Karola wissen. »Bargeld ist mir am liebsten«, näselte Kümmel, der dachte, Karola würde sich über ihn lustig machen. »Da hüpft mein Herz vor Freude.« Karola holte aus ihrer Tasche ein Geldbündel hervor, das sie Kümmel in die Hand drückte. »Hundert, warten Sie…« Sie gab ihm weitere Scheine. »Achttausend. Zweihundert. Zehn. Und fünfzig Pfennige.« Den Rest hatte sie aus ihrem Portemonnaie genommen. Kümmel war total perplex. Er blickte sich ängstlich um, ob auch niemand die Szene beobachtet hatte. 67
»Los, zählen Sie nach!« forderte Karola ihn auf. »Können wir nicht in Ihr Büro gehen?« erkundigte Kümmel sich fast flehentlich, was seine leise Stimme noch eine Spur weinerlicher erscheinen ließ. »Ich hab’s eilig«, beschied sie ihn knapp und schüttelte genervt den Kopf. Kümmel seufzte auf und zählte die Scheine durch, und zur Sicherheit tat er dies noch ein zweites Mal, bevor er das Geld in seiner Aktentasche verschwinden ließ. »Ja, stimmt«, bestätigte er nikkend. »Dann bekomme ich jetzt eine Quittung von Ihnen«, erinnerte Karola ihn gereizt. »Ach so, ja«, beeilte er sich zu sagen und schrieb umständlich eine Quittung aus, die er Karola reichte. »Danke«, sagte Karola spitz. »Auf Wiedersehen!« brachte Kümmel nasal flüsternd hervor und streckte ihr die Hand hin. »Lieber nicht«, gab Karola zurück und wandte sich ab. Es war nicht ganz klar, ob sie damit das Wiedersehen meinte, oder ob sich ihre Worte auf den angebotenen Händedruck bezogen. Kümmel stand da wie ein begossener Pudel und sah ihr nach, bis sie, ohne sich noch einmal umgesehen zu haben, im Theater verschwunden war. »Künstler!« dachte er und zuckte verächtlich die Schultern. Aber immerhin: sie hatte gezahlt! Und das war für Kümmel die Hauptsache. Er klemmte seine Aktentasche unter den linken Arm, preßte sie fest an sich und nahm auch noch die rechte Hand zu Hilfe, um sie gegen eine etwaige Entwendung zu sichern. Das aber zwang ihm eine verkrampfte Haltung auf, und als er sich dann in Bewegung setzte, wurde er vollends zu einer komischen Figur, die die Blicke der ihm entgegenkommenden Theaterbesucher magisch anzog, und das eine oder andere mitleidige Lächeln hervorrief. Zum Glück waren es nur ein paar Schritte bis zur Straße, und Kümmel schwang sich in ein Taxi, mit dem ein älteres Ehepaar, das offenbar ins Theater wollte, gerade angekommen war. Die Summe, die er bei sich führte, rechtfertigte diese Ausgabe, deren Erstattung er, unter Verwendung der entsprechenden Formblätter, beantragen konnte. Als Bickel Brigitte Harzendorf zur Begrüßung in die Arme nahm, war ihr Körper nicht wie sonst weich und anschmiegsam, sondern 68
steif und abwehrend, und als er sie, wie immer, auf den Mund küssen wollte, traf er nur ihre Wange, weil sie den Kopf, kurz bevor ihre Lippen sich berührten, zur Seite gedreht hatte. Auch wenn Bickel dieses Verhalten nicht gefiel, mußte er sich eingestehen, daß es, nach allem, was Brigitte heute durchgemacht haben mußte, verständlich war. »Warum, um alles in der Welt, bist du nicht bei deiner Schwester geblieben?« fragte er sie, als er sie in sein Wohnzimmer führte. »Weil wir uns verkracht haben«, gab Brigitte zurück. »Restlos und für alle Zeiten. Das ist vielleicht eine blöde Gans!« »Aber jetzt hast du kein Alibi«, gab Bickel zu bedenken. »Wieso?« Brigitte sah ihn amüsiert und zugleich erstaunt an. »Ich war bei dir. Die ganze Nacht. Außerdem brauche ich kein Alibi.« »Hast du eine Ahnung!« brachte Bickel hervor. »Wenn die von der Kripo erst mal auf Touren kommen, wollen sie bestimmt eins von dir haben. Und ich kann dein Alibi leider nicht bestätigen. Ich bin erst lange nach Mitternacht gekommen.« Brigitte sah ihn lauernd an. »Was ist eigentlich mit deinem Alibi?« wollte sie dann wissen. »Da mach dir mal keine Sorgen«, erwiderte Bickel und lachte auf. Dann trat er auf sie zu, nahm ihren Kopf zwischen die Hände, berührte ihre Nasenspitze mit seiner und drückte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. »Hoffentlich klärt die Polizei den Mord schnell auf«, raunte er ihr zu, »damit wir endlich an uns denken können.« Brigitte löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück und holte Atem, um zu einer Erklärung anzusetzen. Aber Bickel kam ihr zuvor. »Das habe ich dir noch gar nicht gesagt«, verkündete er mit einem gewissen Stolz, »Gerber hat mich zum Nachfolger ernannt.« Brigitte zeigte keinerlei Reaktion und sah ihn nur mit ernster Miene an. »Was ist?« wunderte er sich. »Du freust dich ja gar nicht.« »Damit das klar ist«, brachte sie kühl hervor und betonte jedes Wort, »bei mir wirst du nicht Harzendorfs Nachfolger.« Bickel sah sie verständnislos an und lachte nervös auf. »Jetzt redest du aber Unsinn«, stammelte er, »Wir haben doch nur auf diesen Moment gewartet.« »Du vielleicht«, gab Brigitte trocken zurück. 69
Bickel war fassungslos. »Aber du liebst mich doch«, beschwor er sie. Brigitte verneinte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Kopfes. »Mich hat an unserer Beziehung nur gereizt«, ließ sie sich mit leiser, aber nachdrücklicher Stimme vernehmen, »Harzendorf mit einem Mann zu hintergehen, der ihm nicht das Wasser reichen konnte. Intellektuell, meine ich. Dieser Reiz ist jetzt vorbei.« Bickel schüttelte den Kopf. Er schien nicht glauben zu wollen, was er soeben gehört hatte. »Das meinst du nicht im Ernst, Brigitte«, drang er in sie. »Du bist noch ein bißchen verwirrt, das ist auch ganz verständlich.« »Wenn hier einer verwirrt ist, dann bist du es!« entgegnete sie und ihre Stimme wurde lauter. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde von einer Abhängigkeit in die nächste purzeln? Ich habe ganz andere Pläne. Du kommst darin allerdings nicht vor.« Bickel dämmerte es langsam, daß sie meinte, was sie sagte, und fühlte sich gedemütigt. »Hoffentlich sind deine Pläne nicht allzu kostspielig«, preßte er hervor, und die Mischung aus Spott und Verbitterung, die Brigitte aus seiner Stimme herauszuhören vermeinte, ließ sie aufhorchen. Bickel genoß ihre Verwirrung und ließ noch einige Sekunden verstreichen, bevor er seinen Trumpf ausspielte. »Du wirst dich wundern«, kündigte er nicht ohne Häme an, »was Harzendorf dir hinterlassen wird. Nur Schulden und Ärger.« »Du spinnst ja!« brachte sie heftig hervor. »Wenn alle seine Machenschaften aufkommen«, erläuterte Bickel, der die Oberhand langsam zurückgewann, »wirst du nicht mal das Haus halten können.« Brigitte war sehr nachdenklich geworden und biß sich nervös auf die Unterlippe. »Wenn jemand noch was retten kann«, spielte Bickel seine Überlegenheit aus, »dann bin ich es.« Und er fügte, als er Brigittes fragenden Blick auf sich gerichtet sah, selbstbewußt hinzu: »Und ich stelle die Bedingungen.«
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VII Brinkmann und Wegener nahmen tags darauf ihre Arbeit dort wieder auf, wo sie sie gestern am späten Nachmittag, beendet hatten, nämlich in der Bank. Im Vorzimmer von Harzendorfs Büro trafen sie auf Frau Lütt, die schwarz gekleidet war, rotgeweinte Augen hatte und den Eindruck erweckte, die eigentliche Leidtragende zu sein. »Frau Lütt?« sprach Brinkmann sie an und fuhr, nachdem sie genickt hatte, fort: »Brinkmann, Kriminalpolizei. Wir haben vorhin miteinander telefoniert.« »Herr Bickel ist gleich frei«, sagte Frau Lütt mit schwacher Stimme. »Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.« Sie deutete zu zwei Stühlen hin, die in der Nähe ihres Schreibtischs standen. Brinkmann bedankte sich und deutete mit einer Kopfbewegung zu Wegener hin, den vorzustellen er vergessen hatte. »Mein Kollege, Herr Wegener«, holte er das Versäumnis jetzt nach. Wegener und Frau Lütt nickten sich kurz zu. Wegener setzte sich, während Brinkmann bei Frau Lütt stehenblieb und sie mitleidsvoll ansah. »Der Tod von Herrn Harzendorf ist Ihnen wohl sehr nahegegangen«, begann er, um eine erste Befragung einzuleiten. Statt zu antworten, brach Frau Lütt in Tränen aus. Wegener verdrehte die Augen, während Brinkmann ratlos dreinblickte. »Entschuldigung«, murmelte er und griff nach seinem Taschentuch, aber Frau Lütt hatte ihr eigenes schon in der Hand, mit dem sie sich ausgiebig die Augen abtupfte. Sie schluchzte noch einmal kurz auf, dann hatte sie sich wieder in der Hand und sah Brinkmann abwartend an. Der suchte im Geist nach einer Formulierung, die ihre Tränendrüsen nicht gleich wieder mobilisieren würde. Als ihm endlich eingefallen war, wie er beginnen könnte, drangen aus dem Büro nebenan die Stimmen zweier Männer zu ihnen hinüber, die auf eine heftige Auseinandersetzung schließen ließen. Bickel hatte Herrn Fuhrmann zu Besuch, und die beiden waren in der Tat ziemlich erregt. »Nein, Herr Fuhrmann!« beharrte Bickel gerade mit erhobener Stimme. »Sie haben die Ausfallbürgschaft für die Blumauer-Betriebe unterzeichnet und die Provision kassiert. Oder etwa nicht?« 71
»Aber das war doch nur für Ihre bankinterne Revision!« gab Herr Fuhrmann mit ebenfalls erhobener Stimme zurück. »Eine Pro-formaSicherheit ohne jedes Risiko. Das hat Herr Harzendorf mir ausdrücklich versichert.« »Herrn Harzendorf können wir ja nicht mehr fragen«, meinte Bikkel mit einem leicht spöttischen Unterton. »Blumauer ist pleite, und wir sind gezwungen, unsere Sicherheiten zu verwerten. Zweieinhalb Millionen. Sie haben bis Ende des Monats Zeit, dann werden wir die Zwangsvollstreckung einleiten.« »Wollen Sie mich fertigmachen!?« fing Fuhrmann an zu brüllen. »Aber Herr Fuhrmann!« wies Bickel ihn zurecht. »Nehmen Sie sich doch zusammen!« »Herr Harzendorf und ich«, erklärte Fuhrmann, nachdem er sich halbwegs wieder beruhigt hatte, »wir hatten ein Arrangement getroffen…« »Das interessiert mich nicht«, unterbrach Bickel ihn mit schneidender Stimme. Fuhrmann sah ihn wutentbrannt an. »Wissen Sie, was Sie mich können?« fuhr er ihn zornig an. »Nein«, gab Bickel zurück. »Das sage ich Ihnen auch besser nicht!« stieß Fuhrmann hervor und sprang auf. »Sie hören von mir!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Büro, durchquerte das Vorzimmer und verschwand durch die Tür, die er hinter sich zuknallte. Frau Lütt hatte sich erschrocken erhoben, Brinkmann und Wegener sahen sich verblüfft an und Bickel trat, als sei nichts geschehen, in den Türrahmen und wandte sich konziliant lächelnd seinen beiden Besuchern zu. »Kommen Sie, meine Herren«, forderte er sie auf. Brinkmann und Wegener gingen zu ihm, man stellte sich vor, Bikkel führte sie zu der Besucherecke und man nahm Platz. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« erkundigte sich Bickel. »Kaffee vielleicht?« »Nein danke«, beschied ihn Brinkmann und Wegener schloß sich dem mit einem Kopfschütteln an. Brinkmann sah sich aufmerksam in dem Büro um. »Die Einrichtung läßt manchmal Rückschlüsse auf den Bewohner zu«, erklärte er, als er Bickels unwilligen Blick aufgefangen hatte. »Aber so funktional wird Herr Harzendorf wohl kaum gewesen sein?« 72
»Nein«, sagte Bickel und lachte trocken auf. »Bei uns mischen die Psychologen mit. Die Einrichtung wird auf die Position des Benutzers abgestimmt.« »Welche Position hatte Herr Harzendorf?« wurde Brinkmann konkret. »Ganz global: Kreditvergabe und Geldtransfer«, antwortete Bickel knapp. Brinkmann nickte verstehend. »Wenn ich also einen Kredit gebraucht hätte…«, hub er an und wurde sogleich von Bickel mit einem mitleidigen Lächeln unterbrochen. »Großkredite, Herr Kommissar. Für Handel und Industrie.« »Ja, verstehe«, quittierte er diese Worte, die er als eine Zurechtweisung empfinden mußte, etwas säuerlich, während Wegener beflissen lächelnd meinte: »Da kämen wir wohl nicht zum Zuge.« »Nein«, bestätigte Bickel knapp und sah wieder zu Brinkmann hin, der schon die nächste Frage auf der Zunge hatte: »Was war Harzendorf für ein Mensch?« »Privat?« fragte Bickel nach. »Sie hatten privaten Umgang mit ihm?« wunderte Brinkmann sich. »Nein«, beeilte sich Bickel zu antworten. »Ich kann ihnen nur sagen, wie er als Kollege war, als Vorgesetzter, meine ich natürlich.« Er hielt inne und dachte eine kurze Weile nach. »Kompetent, korrekt«, fuhr er dann fort, »manchmal etwas ungeduldig, wenn es nicht so lief, wie er dachte.« »Sie haben gern mit ihm zusammengearbeitet?« erkundigte Brinkmann sich dann. »Ja, natürlich«, erwiderte Bickel. Brinkmann grübelte einen Augenblick lang vor sich hin. »Ich könnte mir denken«, fuhr er dann fort, »daß es bei diesem Kreditgeschäft viel Ärger gibt.« »Aber nein!« widersprach Bickel ihm schnell. »Und der Herr vorhin?« erinnerte Brinkmann ihn. »Das hat aber stark nach Ärger geklungen.« »Ach, wissen Sie«, wiegelte Bickel ab, »es läuft halt manchmal nicht so, wie die Kunden sich das vorstellen.« »Eben, das meine ich«, insistierte Brinkmann. »Und dann gibt es Ärger. Da macht man sich schnell Feinde. Hatte Harzendorf Feinde?« 73
»Feinde ist vielleicht ein bißchen hoch gegriffen«, gab Bickel zu bedenken. Er wollte sich offensichtlich nicht festlegen lassen. »Angenommen, es geht jemand pleite, weil er keinen Kredit bekommen hat«, ließ Brinkmann nicht locker. »Oder weil der Kredit zu hoch war oder nicht verlängert wurde. Der Mann ist jedenfalls ruiniert. Würde dieser Mann Herrn Harzendorf nicht als Feind betrachten?« »Wenn Sie das so sehen…«, räumte Bickel ein und verstummte gleich darauf wieder. »Ich sehe das so«, bestätigte Brinkmann etwas schroff. »Und solche Fälle interessieren mich. Wie lange brauchen Sie, um die wichtigsten aus den vergangenen fünf Jahren aufzulisten?« »Dazu bin ich nicht befugt«, mauerte Bickel. »Dann lassen Sie sich mal schnell befugen!« herrschte Brinkmann ihn an. »Sonst schicke ich Ihnen nämlich unsere Jungs vorbei mitsamt der richterlichen Anordnung. Die sind kompetent und korrekt und manchmal etwas ungeduldig, wenn es nicht so läuft, wie sie denken.« Brinkmann stand auf und grinste Bickel an. Wegener erhob sich ebenfalls. In dem Blick, den er Brinkmann zuwarf, lag so etwas wie Anerkennung. Es schien ihm zu gefallen, wie sein Vorgesetzter mit dem aalglatten Banker umsprang. Bickel war von Haus aus kein souveräner Mensch, aber er hatte in den zahlreichen Kursen und Schulungen, zu denen man ihn im Verlauf seines bisherigen Berufslebens geschickt hatte, gelernt, wie man sich verhalten mußte, um souverän zu wirken. In diese Trickkiste griff er auch jetzt wieder, als es galt, die beiden lästigen Kriminalbeamten zu verabschieden, und zumindest bei Wegener hatte er damit auch Erfolg, denn der kam sich bei so großer, mit Gesten und Floskeln zur Schau gestellter Überlegenheit wie ein kleiner Schuljunge vor. Brinkmann konnte er damit allerdings nicht imponieren, denn der hatte selbst unzählige Kurse und Schulungen mitgemacht, von denen einige darauf abgezielt hatten, diese Tricks durchschaubar werden zu lassen. Aber es amüsierte ihn, zu beobachten, wie Bickel in Stiefel zu schlüpfen versuchte, die mindestens drei Nummern zu groß für ihn waren. Es amüsierte ihn so sehr, daß er fast vergessen hätte, nach der Dame zu fragen, mit der Harzendorf vor zwei Tagen im Kasino gespeist, und die einen so nachhaltigen Eindruck auf die 74
beiden Vorstandsmitglieder Gerber und Zirn gemacht hatte. Frau Lütt gab vor, sich nur vage an sie zu erinnern, und Brinkmann schloß aus ihren spitzen Äußerungen, daß da so etwas wie Eifersucht einer Sekretärin auf alles Weibliche, das sich dem Chef näherte, mit im Spiel war. Auch Bickel hielt sich bedeckt und räumte nur eine flüchtige Begegnung und eine ebensolche Erinnerung ein. Beide kannten die Dame nicht, hatten sie nie zuvor gesehen, und wußten auch nicht zu sagen, welche Rolle sie für Harzendorf gespielt hatte. Als Brinkmann sie dann um eine Beschreibung der Dame bat, konnten sie jedoch erstaunlich präzise Angaben machen, Angaben, die vor Brinkmanns geistigem Auge nach und nach ein Bild entstehen ließen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem aufwies, das er von Karola Amendt im Kopf hatte. Weit davon entfernt, einen Zusammenhang auch nur zu ahnen, hielt Brinkmann fest, daß man nach einer Frau suchen mußte, die Karola Amendt ähnelte und die sich vielleicht als eine wichtige Zeugin erweisen könnte. Als Brinkmann und Wegener wenig später im Präsidium auftauchten, konnten Doktor Oertel, der Gerichtsmediziner und Hoppe, der Leiter der Spurensicherung schon mit einem ersten, allerdings noch vorläufigen Bericht aufwarten. »Glatter Herzdurchschuß«, äußerte Oertel sich zunächst zur Todesursache. »Der Mann war auf der Stelle tot. Der Schuß wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Das Projektil ist an der fünften Rippe steckengeblieben.« »Kaliber 6,35«, ergänzte Hoppe und sah Brinkmann bedeutungsvoll an. »Vielleicht interessiert Sie das: unsere routinemäßige Nachfrage hat ergeben, daß Harzendorf einen Waffenschein besaß und daß eine Pistole vom Kaliber 6,35 auf ihn zugelassen war.« »Und ob mich das interessiert!« stieß Brinkmann hervor und war plötzlich wie elektrisiert. Endlich tat sich was! Endlich kamen die Fakten, die nach und nach Licht in das Dunkel bringen würden! »Der Untersuchung des Mageninhalts zufolge«, fuhr Oertel fort, »hatte der Mann eine Henkersmahlzeit, die sich sehen lassen kann. Von Austern bis Ziegenkäse ist alles vorhanden, was der Delikatessenmarkt zu bieten hat, wenn auch nur in jeweils sehr geringen Dosen. Und noch etwas…« Er legte eine kleine Pause ein, um die Auf-
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merksamkeit zu steigern. »Der Mann hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr.« »Dazu kann ich auch etwas sagen«, meldete sich Hoppe. »Wir haben in seinem Schlafzimmer zwei frisch benutzte Kondome gefunden.« Brinkmann nickte bedächtig. Er mußte an die Dame denken, die an dem Tag, an dem Harzendorf zu Tode kam, in seiner Begleitung gesehen worden war, und die man ihm so plastisch geschildert hatte. Sie zu finden schien immer dringlicher zu werden. »Harzendorf hat also eine wahre Orgie gefeiert, bevor er erschossen wurde«, faßte er zusammen und wandte sich Hoppe zu. »Gibt es Hinweise auf die Frau?« »Ihren Personalausweis hat sie nicht liegengelassen, wenn Sie das meinen«, erwiderte Hoppe grinsend. »Das einzige, was wir gefunden haben, sind Fingerabdrücke, und davon jede Menge. Die müssen aber erst noch ausgewertet werden. Am besten, wir machen es so: Sie finden die Frau, und wir sagen ihnen aufgrund der Fingerabdrücke, ob sie im Haus war.« »Guter Vorschlag«, kommentierte Brinkmann und ging auf Hoppes Ton ein. »Sonst noch was?« Hoppe schüttelte den Kopf, aber Oertel gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte. »Den Todeszeitpunkt muß ich korrigieren«, gab er bekannt. »Der liegt vermutlich deutlich vor Mitternacht.« »Festlegen wollen Sie sich nicht?« hakte Brinkmann nach. »Kann ich nicht. Noch nicht«, gab Oertel zu. »Gehen wir vorläufig davon aus, daß der Tod in der Nacht des vierzehnten zwischen zehn Uhr und Mitternacht eingetreten ist.« »Wann bekomme ich das endgültige Ergebnis?« wollte Brinkmann wissen. »Sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind«, erwiderte Oertel. »Ach ja«, meldete sich Hoppe noch einmal zu Wort, »wir haben einige Sachen aus dem Haus mitgenommen. Eine Aufstellung lasse ich Ihnen da.« Er übergab Brinkmann ein Papier, das dieser seinem Kollegen Wegener weiterreichte.
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Karola hatte den Abend zuvor im Theater verbracht. Das Ensemble hatte sie gebeten, eine zusätzliche Strichliste über den Szenenapplaus zu führen, nachdem Potthoff die Ergebnisse von Lola und Edith, den Damen von Maske und Kostüm, nicht anerkennen wollte. Die Auszählung nach der Vorstellung hatte dann einen knappen Vorsprung für Potthoff gebracht, und zwar auf allen drei Strichlisten. Darüber hatte Potthoff sich so gefreut, daß er die ganze Belegschaft spontan zu einem Umtrunk ins Schüppchen einlud, die derzeit beliebteste Apfelweinkneipe in Sachsenhausen. Karola war nicht mitgegangen, sie hatte einiges an Schlaf nachzuholen, außerdem war ihr nicht nach feiern zumute. Sie war schnurstracks in ihr Hotel gegangen. Das Lokalradio hatte in den Spätnachrichten eine kurze Meldung über den Mord in Kronberg gebracht, der nur zu entnehmen war, daß die Polizei noch im dunkeln tappte. Für eine Sensationsmeldung gab der Fall offenbar zuwenig her. Karola war ins Bett gefallen, hatte aber, obwohl sie völlig erschöpft und ausgelaugt war, lange keinen Schlaf finden können. Sie hatte gehofft, daß das schreckliche Bild ihres ermordet hingestreckten Geliebten langsam verblassen würde, aber es hatte nichts an Schärfe verloren und tauchte auf, sobald sie die Augen schloß. Trotzdem war sie dann irgendwann eingeschlafen, und als sie am Morgen ziemlich früh wieder aufwachte, war ihr kein Alptraum in Erinnerung, und sie fühlte sich wesentlich besser als am Morgen zuvor. Nach dem Frühstück hatte sie den Diplomatenkoffer aus dem Schließfach im Hauptbahnhof geholt, war nach Eschersheim gefahren, einem Vorort im Norden von Frankfurt, und hatte bei einer Bank ein Fach gemietet, in dem sie den Koffer deponierte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie sich auch wieder mit Bargeld versorgt, das ihr die nächste Zeit über die Runden helfen würde. Danach hatte sie einen Blick in die Nachtausgabe geworfen, das lokale Boulevardblatt, und einen kurzen Bericht über den Mord in Kronberg gefunden. Auch hier war zu lesen, daß die Polizei über keinerlei Anhaltspunkte verfügte, was Motiv oder Täter betraf, und in einem Nebensatz wurde die Ehefrau des Ermordeten zitiert, die auch völlig ahnungslos war. Brigitte war also zurückgekehrt! Und die Polizei dürfte ihre Zelte in Kronberg auch längst abgebrochen haben. 77
Karola beschloß, nach Kronberg zu fahren, um nach ihrer grünen Mappe zu fragen. Es beunruhigte sie, daß sie über den Verbleib des Vertrags und der anderen wichtigen Unterlagen im unklaren war. Der Aufenthalt in Frankfurt war in wenigen Tagen zu Ende, und danach würde sie keine Zeit mehr haben, sich darum zu kümmern. Trotzdem plagten sie Skrupel, und sie war zweimal nahe daran, die Sache abzubrechen. Und dann erreichte sie einen Punkt, an dem sie nicht mehr umkehren konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihr Tun war zwanghaft geworden, und sie hatte den Eindruck, sich selbst dabei zusehen zu können, wie sie Schritt vor Schritt setzte, bis sie vor der Haustür stand und auf den Klingelknopf drückte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Tür sich öffnete und Brigitte sichtbar wurde. Sie schien sich gestört zu fühlen und sah Karola unwillig an. Dann erkannte sie sie, und war maßlos erstaunt. »Sie?« stieß sie ärgerlich hervor. »Was wollen Sie?« »Darf ich reinkommen?« bat Karola, und Brigitte gab nach kurzem Zögern die Tür frei. »Bitte…« Karola betrat das Haus und unterdrückte die widerstrebenden Gefühle, die sie auf einmal bewegten. Sie wirkte befangen und wußte offensichtlich nicht so recht, wie sie beginnen sollte. Als sie Anstalten machte, etwas zu sagen, kam Brigitte ihr zuvor. »Kommen Sie ja nicht auf die Idee«, fuhr sie sie an, »mir zu kondolieren!« Karola seufzte auf. »Hören Sie, Brigitte«, versicherte sie ihr, »das mit Norbert und mir, das ist doch schon seit Jahren vorbei.« »Und nachher wurde es nur noch ab und zu aufgefrischt«, ergänzte Brigitte schnippisch. »Können wir nicht vernünftig miteinander reden?« schlug Karola vor. »Bitte«, gab Brigitte nach. »Also, was wollen Sie?« »Norbert wollte mir einen Kredit verschaffen«, erklärte Karola zögernd. »Ich habe ihm Unterlagen gebracht, und die müssen noch auf seinem Schreibtisch liegen.« »Sie waren hier im Haus?« brachte Brigitte fassungslos hervor. »Wann? In der Mordnacht?« »Nein!« Karola schüttelte schnell den Kopf. »Ich hab’ sie ihm in die Bank gebracht, und er wollte sie mit nach Hause nehmen. Verträge und Effekten, sie stecken in einer hellgrünen Mappe.« 78
Brigitte sah sie durchdringend an, und Karola wich ihrem Blick aus. »Dann schauen wir doch mal«, meinte Brigitte schließlich und ging voraus in das Arbeitszimmer. Karola folgte ihr und sah sich fieberhaft um. »Vielleicht hat er sie auch gar nicht mit nach Hause genommen«, gab Brigitte süffisant zu bedenken. »Doch.« »Wissen Sie das so genau?« »Er hat es mir versprochen.« »Die Polizei hat ein paar Sachen mitgenommen«, fiel Brigitte wieder ein. »Vielleicht sind Ihre Unterlagen dabei.« Karola sah sie groß an und nickte. »Sollten Sie sie doch noch finden, rufen Sie mich bitte im Hotel an. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Nummer auf.« Sie nahm einen Zettel und notierte die Nummer. Brigitte musterte sie dabei nachdenklich. Karola gab ihr den Zettel und sie steckte ihn ein, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. »Warten Sie bitte einen Augenblick«, forderte Brigitte sie dann auf. »Mir ist noch was eingefallen.« Sie entfernte sich, und Karola vernahm, wie sie nach oben ging. Karola sah sich unschlüssig um, trat dann in die Tür, die ins Wohnzimmer führte und starrte zu der Couch hin. Trauer überkam sie und eine große Leere machte sich in ihr breit. »Ich glaube, das gehört Ihnen«, ließ Brigitte sich plötzlich vernehmen. Karola, die sie nicht hatte zurückkommen hören, drehte sich zu ihr um. Brigitte hatte die Ohrringe, die Halskette und das Armband aus tiefblauem Lapislazuli in der Hand und hielt ihr die Schmuckstücke hin. Karola, die noch ganz in Gedanken versunken war, nickte und nahm sie entgegen. Dann erst durchfuhr es sie wie ein Blitz. Sie hatte den Schmuck völlig vergessen, und jetzt hatte sie sich verraten! Brigitte wußte jetzt, daß sie in der Mordnacht im Haus gewesen war, sie hatte es von Anfang an gewußt! Die beiden Frauen sahen sich an, keine wußte, wie es weitergehen sollte, aber es war Brigitte, die schließlich die Oberhand behielt. »Vielleicht sollten Sie der Polizei erzählen, wie der Schmuck dorthin gekommen ist, wo ich ihn gefunden habe?« sagte sie obenhin. »Aber bitte, das ist Ihre Angelegenheit. Ich will Ihnen da nicht dreinreden.« 79
Karola war wie gelähmt. Sie wußte nicht, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte. Ein Klingeln an der Haustür schreckte sie aus ihrer Erstarrung auf. Sie folgte Brigitte, die zur Haustür ging, um zu öffnen. Draußen stand Herr Fuhrmann. Karola nickte Brigitte kurz zu und ging aus dem Haus, ohne Fuhrmann anzusehen. Fuhrmann war irritiert. Die Frau war ihm bekannt vorgekommen, aber er konnte sich nicht erinnern, woher. Er unterdrückte diese Gedanken, ging zu Brigitte und reichte ihr die Hand. »Mein aufrichtiges Beileid«, murmelte er. »Danke.« Brigitte ließ ihn eintreten und schloß die Tür hinter ihm. »Schrecklich«, brachte Fuhrmann ergriffen hervor, »ich kann es noch gar nicht fassen. Ihr Mann war für mich ja fast wie ein Freund.« Die Worte hatten falsch geklungen, Brigitte sah ihn kühl an. »Weshalb sind Sie gekommen?« wollte sie wissen. »Es ist mir äußerst unangenehm«, druckste Fuhrmann herum, »aber Sie werden mich sicher verstehen. Ich hatte Ihrem Mann einen kleinen Koffer mit… mit sehr persönlichen Unterlagen anvertraut. Vielleicht haben Sie das mitbekommen?« Brigitte runzelte die Stirn, was Fuhrmann als Bestätigung mißdeutete. »Den hätte ich jetzt gern wieder.« Brigitte sah ihn verständnislos an. »Meinen Koffer«, präzisiert er. »Er hatte ihn in seinem Arbeitszimmer abgestellt.« Brigitte zog die Schultern hoch und führte Fuhrmann ins Arbeitszimmer. Fuhrmann sah sich um. »Ich sehe keinen Koffer«, meinte Brigitte. »Hier war auch keiner, das wäre mir doch aufgefallen.« »Dann wird er im Tresor liegen«, vermutete Fuhrmann, und war irgendwie erleichtert. »Ja natürlich, im Tresor! Wenn Sie bitte nachschauen würden. Es ist sehr wichtig für mich.« Brigitte schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kenne die Zahlenkombination nicht«, bedauerte sie. »Und selbst wenn ich sie wüßte, könnte ich nicht ran. Die Polizei hat den Tresor nämlich versiegelt.« Fuhrmann sah sie betroffen an. Das würde die Sache für ihn erheblich erschweren. Das Geld war zwar in Sicherheit, aber er würde sich etwas einfallen lassen müssen, um plausibel nachzuweisen, daß es ihm gehörte und gleichzeitig verschleiern, woher es stammte. »Ich möchte, daß Sie mir etwas versprechen«, forderte er sie auf. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn der Tresor geöffnet wird.« 80
Brigitte nickte. »Ja, versprochen«, versicherte sie ihm. »Ich geh’ dann wieder«, verkündete Fuhrmann und fügte, als sie die Haustür erreicht hatten und Brigitte die Tür öffnete, hinzu: »Und wenn sie irgendwie Hilfe brauchen, jederzeit, wie gesagt, jederzeit…« Fuhrmann wollte das Haus verlassen, aber vor der Tür standen auf einmal Brinkmann und Wegener. Fuhrmann zögerte nur eine Sekunde lang. Dann nickte er den beiden Männern knapp zu und verschwand. »Wer war das?« fragte Brinkmann, nachdem er und Wegener das Haus betreten und Brigitte begrüßt hatten. »Herr Fuhrmann«, antwortete sie knapp. »Kann es sein, daß ich ihn vorhin in der Bank gesehen habe?« wollte Brinkmann wissen. »Schon möglich«, bestätigte Brigitte Harzendorf. »Er war ein Kunde meines Mannes.« »Was wollte er?« setzte Brinkmann schnell nach. Brigitte bedachte ihn mit einem ungehaltenen Blick, der ihm zeigen sollte, daß ihn das eigentlich gar nichts anging. »Er ist auch ein Freund des Hauses«, sagte sie dann von oben herab. »Er hat mir kondoliert. Und was wollen Sie?« Brinkmann steckte die Zurechtweisung locker weg. »Ihr Mann besaß eine Pistole«, stellte er fest. »Ja und?« gab Brigitte Harzendorf zurück. »Wissen Sie, wo er sie aufbewahrt hat?« »In seinem Schreibtisch.« »Darf ich sie bitte sehen?« »Kommen Sie!« Frau Harzendorf führte die beiden Kriminalbeamten in das Arbeitszimmer, trat an den Schreibtisch heran, öffnete die Schublade, in der sie die Waffe wähnte, und stutzte. Dann kramte sie mit zunehmender Hektik überall herum, um sich schließlich mit einer bedauernden Geste wieder Brinkmann zuzuwenden. »Das habe ich mir fast gedacht«, brachte Brinkmann nachdenklich hervor. »Ihr Mann ist möglicherweise mit seiner eigenen Pistole erschossen worden«, fügte er hinzu, und quetschte Brigitte Harzendorf dann nach allen Regeln der Kunst aus, um von ihr Hinweise zu erhalten, wer alles Gelegenheit gehabt haben könnte, die Pistole an sich zu bringen. Sie gab sich ahnungslos, und es war Wegener, der 81
schließlich auf die wahrscheinlichste Möglichkeit kam. Harzendorf mußte sich gegen seinen späteren Mörder mit der Pistole verteidigt haben, die Waffe war ihm entrissen und dann auf ihn selbst gerichtet worden. Vielleicht war der Mörder noch im Besitz der Pistole, vielleicht hatte er sich ihrer längst entledigt. Eine Suche nach der Waffe wäre jedenfalls sinnlos, aber falls sie auftauchen würde, wäre sie ein wichtiges Beweismittel, mit dem sich der Mörder überführen lassen könnte. All diese Überlegungen der Kriminalbeamten waren aber nur eine Umschreibung der Tatsache, daß man in punkto Tatwaffe auf der Stelle trat. Brinkmann kam dann auf die Idee, daß Harzendorf möglicherweise nicht sich verteidigen wollte, sondern einen Gegenstand, den herauszugeben man ihn zwingen wollte, und das brachte ihn auf den Tresor, vor dem der Mord geschehen war. Es zeigte sich, daß Brigitte Harzendorf weder die Kombination für das Zahlenschloß kannte noch vom Inhalt des Tresors etwas wußte, und so entschied Brinkmann, daß der Tresor gewaltsam geöffnet werden müßte, und er versicherte ihr, daß sie den Termin dafür rechtzeitig erfahren würde. Den heikelsten Punkt sprach Brinkmann zuletzt an, und klärte Brigitte Harzendorf so behutsam es ihm nur möglich war darüber auf, daß ihr Mann vor seinem gewaltsamen Tod einen vergnüglichen Abend verbracht haben mußte, inklusive Damenbegleitung. Zu seiner Überraschung blieb sie ruhig und gefaßt, und auf seine Frage, ob ihr Mann eine Geliebte hatte, antwortete sie ihm, daß es durchaus auch zwei oder drei gewesen sein konnten; für die Frauengeschichten ihres Mannes habe sie sich nicht interessiert, und sie seien für sie auch nie zum Problem geworden. Brinkmann erinnerte sie daran, daß sie es war, die bei ihrer ersten Begegnung die Möglichkeit angedeutet hatte, daß auch eine Frau als Täterin in Frage käme, aber Brigitte Harzendorf tat das ab, das sei nur so dahingesagt gewesen. Ansonsten bestand sie darauf, keine Ahnung zu haben, um wen es sich bei der letzten Besucherin ihres Mannes gehandelt haben könnte. Als Brinkmann und Wegener aus dem Haus kamen und frustriert über das Gespräch mit Frau Harzendorf, das so gut wie nichts gebracht hatte, was ihnen weiterhelfen könnte, zu ihrem Dienstwagen gingen, kam Herr Pohl wild gestikulierend vom Nachbargrundstück her auf sie zugelaufen. 82
»Das ist jetzt aber ein Zufall!« rief er aus. »Gerade wollte ich Sie anrufen.« »Haben Sie die Autonummer gefunden?« wollte Brinkmann wissen. »Nein, viel besser«, trumpfte Pohl auf. »Ich habe den Kerl von neulich gesehen!« »Wo?« wunderte Brinkmann sich. »Und wann?« »Vor ein paar Minuten ist er aus dem Haus von den Harzendorfs gekommen«, gab Pohl zurück. »Meinen Sie den Mann«, hakte Brinkmann nach, »der das Haus verlassen hat, als wir gerade dort eintrafen?« »Sie hab’ ich gar nicht kommen sehen«, räumte Pohl ein. »Ich hab’ nur gesehen, wie der Kerl auf sein Auto zugelaufen ist. Und da hab’ ich mir schnell die Nummer notiert.« Er reichte Brinkmann den Zettel. Brinkmann sah Wegener bedeutungsvoll an. »Fuhrmann«, sagte er leise. »Fuhrmann in der Bank, Fuhrmann bei Frau Harzendorf und Fuhrmann zur Tatzeit am Tatort.« Sie bedankten sich bei Herrn Pohl, stiegen in den Dienstwagen ein und fuhren schnell davon. Sie hatten jetzt einen Tatverdächtigen, und das beflügelte sie. Brinkmann nahm diesmal die Schnellstraße, die gar nicht so befahren war, wie immer behauptet wurde, und raste, ohne sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten, in Richtung Frankfurt. Je mehr er sich der Stadt aber näherte, desto langsamer wurde er. Jetzt durfte nichts überstürzt werden! Jetzt galt es, Informationen zu sammeln und Fuhrmann einzukreisen, bevor man losschlagen würde. Karola war äußerst beunruhigt, als sie nach Frankfurt zurückfuhr. Statt besser wurden die Dinge immer schlimmer. Ihre Mappe mit den wichtigen Unterlagen war verschwunden. Gut, die könnte bei der Polizei gelandet sein. Und sie enthielt nichts, was darauf hinwies, wie sie in Harzendorfs Haus gelangt war, und auch nichts, was sie, Karola, belasten könnte. Was ihr aber zu schaffen machte, war Brigittes Verhalten. Sie wußte, daß Karola an dem Abend, an dem er ermordet wurde, bei Harzendorf gewesen war. Und sie hatte durchblicken lassen, daß sie der Polizei davon nichts sagen würde. Warum tat sie das? Weil sie mehr 83
wußte? Weil sie vielleicht sogar in das Mordkomplott verstrickt war? Oder weil sie Karola in eine Falle locken wollte? Angst stieg plötzlich in Karola auf. Angst davor, in ein Spiel eingebunden zu werden, dessen Regeln sie nicht kannte und von dem sie nur ahnte, daß es tödlich ausgehen könnte. Sie hatte sich vorgenommen, zum Polizeipräsidium zu fahren, um nach ihrer hellgrünen Mappe zu fragen, aber jetzt beschloß sie, sich rückhaltlos der Polizei anzuvertrauen, ungeachtet aller Folgen, die sich daraus für sie ergeben könnten. Im Präsidium erfuhr sie, daß Kommissar Brinkmann, der für den Fall zuständig war, im Augenblick nicht im Hause weilte, aber jeden Moment zurückerwartet wurde. Karola setzte sich auf die abgewetzte, hölzerne Bank, die vor dem Kommissariat auf dem Korridor stand, und wartete. Der in Aussicht gestellte Moment dehnte und dehnte sich und gab Karola Zeit, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, und sich vor allem die Folgen ihres Geständnisses auszumalen. Die Tournee würde platzen, sie wäre ruiniert, und es könnte Jahre dauern, bis sie sich wieder bekrabbeln würde. Dazu kamen sicher auch noch strafrechtliche Folgen, die sie nicht absehen konnte, weil sie nicht wußte, gegen welche Paragraphen sie möglicherweise verstoßen hatte. Vielleicht hatte sie ja nach all dem Pech auch einmal Glück, und konnte sich irgendwie durch dieses Schlamassel lavieren und ungeschoren davonkommen? Karola kam zu dem Schluß, sich nicht von vornherein auf eine bestimmte Strategie festzulegen, sondern deren Wahl der spontanen Eingebung zu überlassen, wenn sie diesem Kommissar Auge in Auge gegenüberstehen würde. Auf diesen Moment mußte sie nicht mehr lange warten. Brinkmann hatte das Präsidium bereits betreten, und zunächst einmal seinen Assistenten mit dem Auftrag zu Hoppe geschickt, ihn über Harzendorfs verschwundene Pistole zu informieren, damit er eine entsprechende Suchmeldung an alle Polizeidienststellen herausgeben konnte. Außerdem ließ er ihn bitten, die Öffnung des Tresors im Hause Harzendorf in die Wege zu leiten. Er selbst hatte sich erst noch einen Espresso in der Kantine genehmigt und sich dann zu seinem Kommissariat aufgemacht, wo er in Ruhe die Berichte von Oertel und Hoppe studieren wollte, die hoffentlich inzwischen in schriftlicher Form vorliegen würden. 84
Die Dame, die in anmutiger Haltung auf der Bank vor seinem Büro saß, sah er schon von weitem. Wenige Schritte später erkannte er sie, und zwar an der unnachahmlichen Bewegung, mit der sie, offenbar in Gedanken an eine Zwiesprache mit einem imaginären Gegenüber, den Kopf in eine leichte Schräglage brachte und dabei das Kinn ein wenig vorstreckte. Er trat zu ihr, und als er vor ihr stehenblieb, hob sie langsam den Blick und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen fragend an. Brinkmann hätte nie geglaubt, daß es ihn in seinem Alter noch einmal so erwischen könnte! Sein Herz machte erst einen Sprung, fing dann wie rasend an zu schlagen, kam aus den Rhythmus, als würde es stolpern, um dann langsam zu einer Gangart zurückzukehren, die gerade noch im Toleranzbereich liegen dürfte: kein Anlaß zur Beunruhigung, beim letzten Check-up war alles in Ordnung gewesen, insbesondere Herz und Kreislauf. Die Erinnerung an seine Verliebtheit vor vielen, vielen Jahren gaukelte ihm jetzt Gefühle vor, die ihn, zumindest vorübergehend, blind und taub machten für die Erfahrung, daß verpaßte Gelegenheiten nie wiederkehrten. »Karola!« sagte er in einem Ton, in dem Erstaunen, Liebe, Verehrung und Trauer mitschwangen. Karola erhob sich langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie war irritiert, vielleicht auch etwas befremdet. Wer war dieser seltsame Mann mit dem Bürstenschnauzer, der Kurzhaarfrisur, den leicht abstehenden Ohren, dem traurigen, aber wachen und in jedem Fall vielsagenden Blick? Sie hatte ihn nie in ihrem Leben gesehen. »Kennen wir uns?« fragte sie in einem Ton, der Distanz schaffen sollte. »Entschuldigen Sie, Frau Amendt«, bat Brinkmann. Zu spät war ihm bewußt geworden, daß er sie beim Vornamen genannt hatte, wie er es in seinen Tagträumen bei den vielen stummen Gesprächen mit ihr immer getan hatte. »Ich war einer Ihrer glühendsten Verehrer«, erklärte er mit einem verlegenen Lächeln, und zählte, um ihr verständlich zu machen, was er meinte, einige ihrer Rollen auf: »Iphigenie, Polly, Eve, Laura, Hermia, Johanna, Gretchen.« Karolas Züge entspannten sich. Diese Worte sagten ihr einmal mehr, daß man sie in Frankfurt nicht vergessen hatte, und darüber freute sie sich. Sie lächelte Brinkmann dankbar an. »Darf ich fragen, wer Sie sind?« 85
»Brinkmann, Kriminalpolizei«, stellte er sich etwas förmlich, aber ebenfalls lächelnd, vor. Karola machte erstaunte Augen. Das also war dieser Kommissar, auf den sie die ganze Zeit gewartet hatte! Und die Begegnung, die über ihr weiteres Verhalten entscheiden sollte, hatte längst stattgefunden, ohne daß sie sich dessen bewußt gewesen war! Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer. Selbstverständlich würde sie weiterkämpfen und versuchen, heil aus dieser Geschichte wieder herauszukommen. Sie konnte doch unmöglich diesem reizenden Mann, der sich an ihre Triumphe erinnerte und noch heute für sie zu schwärmen schien, gestehen, daß sie in den Mordfall, den er zu untersuchen hatte, verwickelt war und außerdem ein Millionenvermögen geklaut hatte, von dessen Existenz er vermutlich noch gar nichts wußte. »Wenn das mal kein Zufall ist!« meinte sie, immer noch lächelnd. »Ich wollte gerade zu Ihnen.« »Dann kommen Sie«, lud Brinkmann sie ein, und hielt ihr höflich die Tür zu seinem Büro auf. Er bot ihr den bequemeren der beiden Stühle an, die für Besucher vorgesehen waren, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich erst, nachdem sie Platz genommen hatte. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er zuvorkommend. »Sie bearbeiten doch den Fall Harzendorf?« erkundigte sich Karola. »Ja«, bestätigte Brinkmann. »Wollen Sie uns einen sachdienlichen Hinweis geben?« »Nein, damit kann ich leider nicht dienen«, bedauerte Karola. »Es geht um folgendes: Ich hatte geschäftlich mit Herrn Harzendorf zu tun.« Brinkmann sah sie aufmerksam an. Langsam dämmerte ihm, daß die Dame, für die die beiden Vorstandsmenschen so geschwärmt, und die Bickel und Frau Lütt so genau beschrieben hatten, nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit Karola hatte, sondern daß es sich tatsächlich um Karola handelte. Und als er überlegte, ob sie dann auch als Harzendorfs letzte Besucherin in Frage käme, fuhr ihm ein leichter Stich durchs Herz. Verwirrt stellte er fest, daß sich da wohl gerade so etwas wie Eifersucht gerührt haben mußte. Er nickte jetzt, als ob er von dieser geschäftlichen Verbindung bereits gewußt hätte, und ergänzte: »Wegen eines Kredits.« Karola sah ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das?« 86
»Ich weiß es nicht«, gab er zurück. »Ich habe es nur vermutet. Wer in Zahlungsschwierigkeiten steckt, benötigt gewöhnlich Kredite.« »Hat sich das also schon rumgesprochen?« brachte sie betroffen hervor. »Nein«, beruhigte Brinkmann sie. »Das habe ich zufällig mitbekommen, als ich neulich im Theater eine Eintrittskarte ergattern wollte. Da tauchte plötzlich dieser gräßliche Herr Kümmel auf. Und da habe ich mir so meine Gedanken gemacht.« Karola nickte. Sie würde aufpassen müssen! Sie war im Begriff gewesen, Brinkmann zu unterschätzen. Der hatte einen scharfen Verstand, auch wenn er sich harmlos gab. »Haben Sie denn eine Karte bekommen?« erkundigte sie sich lächelnd. »Leider nein«, gab Brinkmann zurück. »Sie sind ja immer ausverkauft.« »Ich kann Ihnen aber gerne einen Stuhl in den Zuschauerraum stellen lassen«, bot sie ihm an. »Sie müssen nur anrufen.« »Danke«, strahlte er glücklich. »Vielleicht komme ich noch darauf zurück. Sie hatten also mit Herrn Harzendorf wegen eines Kredits verhandelt?« »Ja. Ich habe ihm Unterlagen gegeben, die er mit nach Hause nehmen wollte.« »Wann war das?« »Am vierzehnten. Gegen Mittag.« Brinkmann nickte, als könne er dies bestätigen. »Sie haben mit Herrn Harzendorf im Kasino der Bank gespeist«, stellte er fest und fuhr, als er Karolas verwunderten Blick auffing, fort: »Bei den Herren vom Vorstand haben Sie einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Sie schwärmen noch heute von Ihnen.« Karola erinnerte sich an die bewundernden Blicke, die man ihr im Kasino verstohlen zugeworfen hatte, und mußte unwillkürlich lächeln. Dann wurde sie plötzlich ernst. Der Kommissar schien eine ganze Menge mehr zu wissen, als sie vermutet hatte, und das Gespräch artete langsam zu einem Verhör aus. »Ich hätte die Unterlagen gern zurück«, verkündete sie, um das Heft wieder in die Hand zu nehmen. »Sie steckten in einer hellgrünen Mappe.« »Ach so, Sie glauben, wir haben sie mitgenommen?« »Frau Harzendorf hat diese Möglichkeit jedenfalls nicht ausgeschlossen.« 87
»Sie haben mit ihr gesprochen?« »Ja.« »Am Telefon?« »Nein, ich war bei ihr in Kronberg.« »Sie waren nicht zufällig auch am vierzehnten in Kronberg?« erkundigte Brinkmann sich betont beiläufig. »So gegen Abend?« »Nein«, gab Karola zurück und tat, als sei diese Frage unverständlich für sie, und ansonsten völlig abwegig. Brinkmann schien erleichtert zu ein. »Herr Harzendorf hatte nämlich vor seinem gewaltsamen Ende noch Besuch«, erläuterte er. »Damenbesuch. Und diese Dame suchen wir. Sie ist eine wichtige Zeugin.« Wußte der Kommissar, daß sie diese Dame war? Wollte er ihr eine goldene Brücke bauen? Für einen Sekundenbruchteil dachte sie, daß es das beste wäre, dieses Angebot anzunehmen, aber dann entschied sie sich, das Spiel fortzusetzen. »Tut mir leid, da müssen Sie wohl weitersuchen«, bedauerte sie. »Apropos: meine Unterlagen…« »Ja natürlich, Ihre Unterlagen«, nahm Brinkmann den Faden auf, griff zum Telefon und wählte eine Nummer, deren Kürze auf eine hausinterne Verbindung schließen ließ. »Sagen Sie mal, Herr Hoppe«, sprach er dann in den Hörer, »Sie haben doch aus dem Hause Harzendorf ein paar Geschäftsakten mitgenommen. War da vielleicht eine hellgrüne…« Er unterbrach sich, um den Hörer nach einem »Aha, danke«, wieder aufzulegen und sich an Karola zu wenden. »Die Geschäftsunterlagen haben wir gleich an die Bank weitergeleitet. Am besten, Sie fragen dort mal nach.« »Ja«, sagte Karola und erhob sich. »Und vielen Dank für Ihre Mühe.« »Nicht der Rede wert«, gab Brinkmann zurück und stand ebenfalls auf. »Ich drücke Ihnen beide Daumen«, versicherte er, als er sie dann zur Tür geleitete. Auf ihren verständnislosen Blick hin ergänzte er schnell: »Damit Sie Ihre Finanzen wieder in den Griff kriegen.« »Danke«, sagte sie lächelnd. »Und rufen Sie mich an, wenn Sie in die Vorstellung wollen. Wir sind nur noch ein paar Tage in Frankfurt.« »Mache ich«, versicherte Brinkmann, und schloß die Tür hinter ihr. Er blieb, die Hand noch auf der Klinke, nachdenklich stehen. Sein Erstgeborenenrecht würde er hergeben, wenn er den Rest seines Le88
bens an der Seite dieser faszinierenden Frau verbringen dürfte. Dann fiel ihm ein, wie pathetisch und künstlich dieser Gedanke war, besonders da er das jüngste von drei Geschwistern war, und sie das Erbe ihrer bereits vor Jahren verstorbenen Eltern längst unter sich aufgeteilt hatten. Vollends zurück in die Realität brachte ihn Wegener, der in das Büro gestürmt kam, ihm dabei fast die Tür gegen den Kopf geknallt hätte, und aufgeregt herausplatzte, er sei im Treppenhaus gerade einer Dame begegnet, auf die die Beschreibung dieses Bankmenschen und seiner Sekretärin haargenau zutreffe. Er habe sie nur deswegen nicht aufgehalten, weil er sich seiner Sache nicht restlos sicher war und fürchtete, sich lächerlich zu machen. Ob er ihr vorsichtshalber nacheilen und sie um ihre Personalien bitten solle? Brinkmann beruhigte ihn, die Dame sei gerade bei ihm gewesen, und forderte ihn auf, den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, zu Hoppe ins Labor zu bringen. An der Lehne, die zu berühren er sich hüten sollte, müßten sich ihre Fingerabdrücke befinden. Hoppe möge doch bitte nachprüfen, ob er solche Fingerabdrücke auch im Hause Harzendorf sichergestellt hatte. Als Wegener mit dem Stuhl in der Hand abgezogen war, trat Brinkmann ans Fenster und starrte zum Hof hinunter, auf dem anund abfahrende Polizeifahrzeuge für einen regen Betrieb sorgten. Er hatte ein äußerst ungutes Gefühl und kam sich wie ein Verräter vor. Aber was sollte er machen? Er war nicht nur ein Gefühlsmensch, sondern auch und vor allem ein pflichtbewußter Kriminalbeamter, und daß bei ihm im Zweifelsfall die Pflicht absolute Priorität hatte, mußte er jetzt einmal mehr erfahren. Dennoch hoffte er inständig, daß sein Verdacht sich als haltlos erweisen würde. Unmittelbar nach dem Besuch der beiden Kriminalbeamten hatte Bickel sich in die Vorstandsetage aufgemacht, um sich von Gerber und Zirn die Befugnis erteilen zu lassen, der Polizei Auskunft über einige kritische Fälle zu geben, bei denen es zu Ärger mit Kunden gekommen war. Man hatte ihm dringend geraten, äußerst umsichtig vorzugehen und die fraglichen Kunden in jedem Fall vorher zu informieren, damit sie sich auf die Situation einstellen könnten. Er solle sich vor allem Zeit lassen, ohne allerdings den Eindruck einer bewußten Verzögerung zu erwecken, vielleicht würde sich inzwi89
schen ja alles aufklären, ohne daß es der peinlichen Denunziation von Kunden bedurfte. Bickel hatte sich gleich daran gemacht, entsprechende Fälle herauszusuchen, wobei er sich, um an Harzendorfs Ruhm ein wenig zu kratzen, besonders auf solche konzentrierte, bei denen sein verblichener Vorgesetzter einen Fehler gemacht oder eine schlechte Figur abgegeben und dadurch selbst Ärger provoziert hatte. Damit war er auch am späten Nachmittag noch befaßt, als Frau Lütt ihm mit geheimnisvollem Gehabe meldete, eine Frau Amendt, die den dringenden Wunsch geäußert habe, ihn zu sprechen, warte draußen im Vorzimmer. Bickel stand auf und ging zur Tür, und als er Karola sah, erkannte er sofort jene Dame wieder, vor deren Augen Harzendorf ihn, gewissermaßen als eine seiner letzten Amtshandlungen in diesem Leben, gedemütigt hatte. Er erinnerte sich auch deutlich daran, wie bereitwillig sie sich an diesem Spiel beteiligt hatte. Bickel ließ sich weder sein Erstaunen, noch seine Ressentiments anmerken, als er sie einzutreten bat, ihr einen Platz anbot und sich nach ihren Wünschen erkundigte. An eine hellgrüne Mappe glaubte er sich zu entsinnen, und er suchte umständlich nach ihr, obwohl er genau wußte, wo sie lag, um sich ein wenig zu rächen und diese Frau Amendt auf die Folter zu spannen. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er, daß ihm dies gelang und sie immer unruhiger wurde. Als sie kurz davor war, die Geduld zu verlieren, zog er die Mappe hervor. »So, da haben wir sie ja!« rief er triumphierend aus und reichte ihr die Mappe mit einem gewinnenden Lächeln. Auch diese Geste hatte man ihm auf einem der Kurse beigebracht, und sie sollte ihm jetzt helfen, eine Überlegenheit zu demonstrieren, über die er eigentlich gar nicht verfügte. Unter anderen Voraussetzungen hätte Karola Amendt einen wie Bickel jetzt erst einmal mit spöttischen Gedanken bedacht und im Geiste zerpflückt, aber alle ihre Sinne richteten sich auf die wiedererhaltene Mappe. Sie öffnete sie gleich, um sich von der Vollständigkeit des Inhalts zu überzeugen. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich Sie so schnell hier in diesem Büro wiedersehen würde«, bekannte Bickel, und als Karola Amendt, die die Überprüfung beendet hatte, nicht auf seine Worte einging, fragte er schnell: »Alles vollständig?« 90
»Ja, vielen Dank«, gab Karola Amendt knapp zurück und wollte sich erheben. »Behalten Sie doch bitte Platz«, forderte Bickel sie auf und erreichte damit, daß sie tatsächlich sitzen blieb und ihn fragend anblickte. »Soviel ich weiß, haben Sie mit Herrn Harzendorf wegen eines Kredits verhandelt«, ließ er verlauten und fuhr, als sie vage nickte, fort: »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir als seinem Nachfolger dasselbe Vertrauen schenken würden.« »Sehr liebenswürdig«, erwiderte sie und stand auf. »Vielleicht komme ich darauf zurück. Nochmals vielen Dank.« Sie nickte ihm zu und ging raschen Schritts zur Tür. Bickel mußte sich beeilen, um die Tür vor ihr zu erreichen, damit er sie ihr aufhalten konnte. Als Karola Amendt auch das Vorzimmer durchquert hatte und schließlich verschwunden war, wandte Frau Lütt sich an Bickel. »Eine sehr eindrucksvolle Frau«, sagte sie und schien damit im nachhinein den Umgang ihres verstorbenen Chefs zu billigen, »nicht wahr?« »Ja, sehr eindrucksvoll«, bestätigte Bickel nachdenklich. »Aber den Kredit braucht sie offenbar nicht mehr.« Als Karola die Bank durch das pompöse Foyer verließ und zu ihrem Auto ging, das sie verbotenerweise auf dem den leitenden Angestellten vorbehaltenen Parkplatz abgestellt hatte, beschlich sie einen bangen Augenblick lang das Gefühl, beobachtet zu werden. Mit unauffälligen Blicken tastete sie die Umgebung ab, aber es war nichts zu sehen, was dieses Gefühl hätte rechtfertigen können. Sie stieg in ihr Auto, fuhr unbehelligt los und steuerte das Parkhaus an der Konstabler Wache an, von wo aus sie kurz vor Geschäftsschluß noch einen kleinen Bummel über die Zeil anzutreten gedachte. Karola war erleichtert darüber, daß sie ihre Unterlagen zurückerhalten hatte. Ihre Pechsträhne war offenbar abgerissen, und die Dinge schienen sich langsam wieder zu normalisieren. Und die Begegnung mit diesem putzigen Kommissar, die sie für einen Moment irritiert hatte, betrachtete sie im nachhinein als eine durchaus angenehme Abwechslung. Der Kommissar wußte nur, was auch andere wußten, und er würde als ein alter Fan von ihr sicher nicht auf die Idee kommen, ihr den Besuch in Kronberg nachweisen zu wollen. Wie Gerber und Zirn, setzte auch sie auf Zeit, und hoffte, daß der Mord aufge91
klärt war, bevor man doch noch durch irgendeinen dummen Zufall auf sie stoßen würde. Zu schaffen machte ihr einzig Brigitte, deren merkwürdiges Verhalten sie sich nicht erklären konnte. Als sie jetzt wieder darüber nachdachte, ging ihr plötzlich auf, daß Brigitte ihr den Schmuck, mit dem sich ihr Besuch in Kronberg hätte beweisen lassen, zurückgegeben hatte, so daß jetzt im Zweifelsfall nur noch Aussage gegen Aussage stehen würde. Diese Erkenntnis steigerte ihre Erleichterung und machte sie fast froh. Karola stellte ihr Auto auf einem der Frauenparkplätze in der Nähe des Ausgangs ab. Beim Hinausgehen ertappte sie sich dabei, daß sie die Überwachungskameras, in deren Objektive hinein sie sonst gerne Grimassen schnitt, zum ersten Mal als eine durchaus nützliche und der Sicherheit dienende Einrichtung ansah. Daß sie dann plötzlich wieder das Gefühl beschlich beobachtet zu werden, konnte mit diesen Kameras nichts zu tun haben, denn da war sie längst draußen und außerhalb deren Reichweite. Wieder konnte sie sich davon überzeugen, daß es nicht den geringsten Grund dafür gab, und sie beeilte sich, die Zeil zu erreichen und sich unter die zahllosen Passanten zu mischen. Karola liebte es und konnte Stunden damit verbringen, von Schaufenster zu Schaufenster zu schlendern und die Auslagen zu betrachten, wobei es ihr gar nicht so sehr darum ging, was dort präsentiert wurde, sondern vor allem auch, wie dies geschah. Bei solchen Gelegenheiten ließ sie sich auch gern einmal dazu verführen, etwas zu kaufen, was sich später als nutzlos erwies. Sie hatte schon lange keinen Schaufensterbummel mehr gemacht, weil ihr das Geld fehlte, sich den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen, und sie es als frustrierend empfand, nur zu schauen, ohne kaufen zu können. Heute hatte sie Geld, und sie war wild entschlossen, sich eine Freude zu machen, wenn sie auch noch nicht wußte, womit. Etwas zum Anziehen könnte es sein, Schuhe vielleicht oder ein Seidenschal, Schmuck oder eine von diesen kleinen, modischen, nicht zu teuren Uhren oder doch ein Buch? Sie war für alles offen, würde sich vom Anblick inspirieren lassen und spontan entscheiden, wie sie es auch bei anderen Gelegenheiten zu tun pflegte. Gerade hatte sie in der Auslage eines exklusiven Hutladens ein Gedicht von einem Hut entdeckt und rang nun mit sich, das sündhaft teure Stück zu erwerben, aber die Vernunft siegte diesmal oder vielmehr die Einsicht, daß Hüte ihr nun 92
mal nicht standen. Auch dieser würde nur ungenutzt irgendwo verstauben, wie die nicht wenigen, die ihr Eigentum geworden waren, als Vernunft und Einsicht gerade einmal einen schwachen Moment hatten. Sie wandte sich ab und schlenderte ein paar Schritte weiter, als sie plötzlich dicht hinter sich eine heisere, offenbar verstellte männliche Stimme vernahm. »Drehen Sie sich nicht um! Gehen Sie unauffällig weiter! Ich habe eine Pistole in der Hand und drücke ab, wenn Sie irgendwelche Dummheiten machen! Haben Sie verstanden?« Karola war der Schreck in die Glieder gefahren. Ihre Knie fingen an zu zittern, und sie war wie betäubt. Trotzdem tat sie, wie ihr geheißen wurde, und hoffte, daß der Mann ihre wackeligen Schritte als unauffällig anerkennen würde. Das mußte ein Verrückter sein, dachte sie, und ihre Angst wuchs mit jedem Schritt. Er könnte sie abknallen und wäre längst über alle Berge, bevor sie noch zusammengebrochen wäre und jemand es bemerkt hätte, der seine Verfolgung aufnehmen könnte. Die Sicherheit, in der sie sich unter den vielen Menschen gewiegt hatte, war trügerisch und ihr wurde mit einem Mal klar, daß es für sie so bald überhaupt keine Sicherheit mehr geben würde. »Wo ist das Geld?« ließ die Stimme sich jetzt wieder vernehmen. Karola hatte nicht den geringsten Zweifel, welches Geld er meinte. Trotzdem nahm sie allen Mut zusammen und spielte die Ahnungslose. »Ich glaube, Sie verwechseln mich«, brachte sie einigermaßen verständlich hervor. »Sie sind Karola Amendt«, krächzte die heisere Stimme. »Sie waren am vierzehnten in Kronberg bei Herrn Harzendorf und haben eine Menge Geld mitgehen lassen. Was Sie sonst noch angestellt haben, interessiert mich nicht.« Der Mann würde sie nicht erschießen! Er wollte an das Geld, und ohne sie hätte er keine Chance. Diese Erkenntnis gab Karola so viel Mut, daß sie mit halbwegs fester Stimme erwidern konnte: »Bis auf den Namen stimmt nichts. Haben Sie mein Bild vielleicht in der Zeitung gesehen?« »Ich will nur das Geld«, beharrte der Mann. »Wenn Sie es nicht freiwillig rausrücken, kenne ich Methoden, über die Sie sich wundern werden.« Karola schwieg dazu, ging weiter und wartete darauf, daß er noch etwas sagen würde. »Sind sie noch da?« fragte sie schließlich und 93
erhielt keine Antwort. Sie blieb unverhofft mitten im nächsten Schritt stehen, und wenn er noch hinter ihr gewesen wäre, hätte er jetzt auf sie auflaufen müssen. Da dies nicht geschah, drehte sie sich blitzschnell um. Sie sah jede Menge Menschen, aber keinen, der wegrannte oder sich sonst irgendwie auffällig verhielt. Damit würde er sich auch nur verraten, schoß es Karola durch den Kopf. Vielleicht stand er irgendwo in der Nähe und weidete sich an ihrer Unsicherheit? Er würde jedenfalls nicht locker lassen, das war Karola klar, und sie hatte plötzlich Angst vor den Überraschungen, die noch auf sie warteten. Der Mann hatte sie in Kronberg gesehen, und die Erkenntnis, daß es sich um Harzendorfs Mörder handeln mußte, traf sie wie ein Schlag. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Vorbei war es mit dem Schaufensterbummel, heute würde sie bestimmt nichts mehr kaufen, und das hätte sie ohnehin nicht gekonnt, denn es war Zeit für den Ladenschluß und überall machte man die Pforten dicht. Nachdem die erste Auszählung zugunsten des Ensembles ausgegangen war und die zweite Potthoff vorne gesehen hatte, würde die heutige Vorstellung die Entscheidung bringen: wer an diesem Abend den meisten Szenenapplaus erhielt, hatte die Wette gewonnen. Als Mitglied der Jury, zu dem Potthoff sie eigenmächtig ernannt hatte, konnte Karola nicht umhin, auch diesen Abend wieder im Theater zu verbringen, obwohl sie innerlich erregt und von der Ahnung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe erfüllt war. Im Grunde war sie aber froh über diese Ablenkung und konzentrierte sich ganz darauf, festzuhalten, wer in welcher Szene den Applaus für sich einheimste. Der sechste Auftritt stand unmittelbar bevor, in dem Potthoff, alias Gerardo, sich komisch und in selbstgefälliger Weise über die Nachstellungen der Frauen zu beklagen hatte, ein, was den Applaus betraf, gemachtes Spiel für Potthoff. Gerade trat er, einer Anweisung des Regisseurs folgend, an das Piano heran und schlug eine Terz an, als plötzlich das Licht ausging und es stockdunkel wurde. Erst war es mucksmäuschenstill, und die Zuschauer, die wohl dachten, dies gehöre zum Stück, hielten gespannt den Atem an. Als sie dann aber die Rufe, Flüche und Fragen, was eigentlich los sei, hörten, mit denen das Chaos oben auf der Bühne seinen Anfang nahm, drohte auch im 94
Zuschauerraum Panik auszubrechen. Die Notbeleuchtung flackerte auf, und das schwache, diffuse Licht beruhigte die Leute ein wenig. Karola betrat die Bühne und ging vor zur Rampe. Sie richtete, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, den Strahl einer Taschenlampe auf ihr Gesicht, was ihr ein gespenstisches Aussehen verlieh. »Ruhe bitte!« rief sie mit fester Stimme. »Meine Damen, meine Herren, ich bitte um Ruhe!« Tatsächlich wurde es etwas ruhiger im Zuschauerraum, weil man hören wollte, was dies alles zu bedeuten hatte. »Wir haben eine kleine Panne«, erklärte Karola, »aber die wird bald behoben sein. Nehmen Sie bitte Ihre Plätze wieder ein und haben Sie einen Augenblick Geduld. Danke.« Sie machte eine graziöse Verbeugung und trat schnell wieder ab, um zu dem Beleuchter zu eilen. Einige Zuschauer murrten, andere klatschten höhnisch, aber man kam ihrer Aufforderung zögernd nach. Was sollte man auch anderes tun? »Kleine Panne!« fuhr der Beleuchter sie an. »Sie sind gut! Und schnell wird es auch nicht gehen.« »Woran liegt es denn?« erkundigte sich Karola beunruhigt. »Wenn ich das wüßte!« gab der Beleuchter zurück. »Bei mir ist alles in Ordnung. Es ist nur kein Saft da.« »Frau Amendt? Frau Amendt!« ließ sich jetzt die Stimme des Inspizienten vernehmen. »Was ist denn?« fragte sie ungeduldig. »Telefon für Sie.« »Doch nicht jetzt!« »Es ist dringend!« Karola seufzte auf und folgte dem Inspizienten zum Telefon »Ja?« meldete sie sich unwillig. Doch als sie die heisere Stimme vernahm, erstarrte sie. »Jetzt werden Sie die Leute wohl heimschicken müssen«, krächzte es aus der Hörmuschel. »Und das Eintrittsgeld müssen Sie auch zurückerstatten. Eigentlich schade um das schöne Geld. Wenn es Sie interessiert, habe ich noch mehr solcher Überraschungen auf Lager.« »Wer sind Sie?« hauchte sie tonlos.
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»Das wissen Sie doch«, ließ sich die Stimme vernehmen. »Ich bin der, dem Sie den Koffer mit den vier Millionen Mark übergeben werden. Ich melde mich wieder.« Es knackte in der Leitung. Der Mann hatte aufgelegt. Karola war wie gelähmt. Der Kerl wollte sie langsam zermürben! Und sie ahnte, daß ihm das auch gelingen würde.
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VIII Nachdem er die Überprüfung von Karolas Fingerabdrücken in die Wege geleitet hatte, war es Brinkmann unmöglich gewesen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er konnte ansetzen, wo er wollte, immer endeten seine Gedanken bei Karola. So ließ er denn die Berichte von Oertel und Hoppe, die tatsächlich in schriftlicher Form vorlagen, ungelesen liegen, verschob auch die weiteren Ermittlungen in Sachen Fuhrmann auf den nächsten Tag und trat die Flucht in den Feierabend an. Und daß die etwas überstürzt wirkte, hatte vielleicht auch damit zu tun, daß Brinkmann sich die Illusion, Karola sei unschuldig und in keiner Weise in den Fall verstrickt, noch ein wenig erhalten wollte. Zu Hause hatte er dann stundenlang im Keller und auf dem Dachboden gestöbert, bis er endlich den Karton gefunden hatte, in dem er die Programmhefte und Theaterzettel, die Kritiken und sonstigen Veröffentlichungen über Karola aufbewahrt hatte. Dieser Karton enthielt auch ihr Foto mit dem Autogramm, das er, wie er sich besann, nicht selbst von ihr erbeten hatte, sondern das über einen Umweg, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, zu ihm gelangt war. Dieses Bild in Händen, und das frische Bild von ihr im Kopf, wurde er sich bewußt, daß zwanzig gelebte Jahre in ihrem Gesicht größere Veränderungen bewirkt hatten, als ihm zunächst aufgefallen war. Er versuchte sich vorzustellen, wie es einem mit ihm ergehen mochte, der ihn über einen so langen Zeitraum nicht gesehen hatte, und ihm plötzlich gegenübertreten würde. Er legte das Bild zur Seite, blätterte in den Programmheften und betrachtete die dort abgedruckten Fotos von Schauspielern, die entweder längst gestorben und vergessen oder gealtert waren und mit ihrer Präsenz das Andenken an ihre frühere, größere Zeit selbst austilgten. In Brinkmann, der gehofft hatte, von diesen Erinnerungsstücken auf fröhlichere Gedanken gebracht zu werden, machte sich ein Gefühl der Resignation breit, das seinen Tiefpunkt erreichte, als er schließlich auf einen Ausschnitt aus der Nachtausgabe stieß, einem heute noch existierenden Boulevardblatt. Ein grobkörniges Zeitungsfoto zeigte Karola in Begleitung eines Herren, und die Unterschrift 97
besagte, daß es sich um Karola Amendt handelte und um Norbert Harzendorf, den neuen Mann an ihrer Seite. Der Name Harzendorf war rot unterstrichen; das hatte er wohl getan, aber er mußte die Sache so total verdrängt haben, daß ihm nichts davon in Erinnerung geblieben war. Er konnte nur vermuten, daß Harzendorf der verheiratete Mann war, um dessentwillen er, Brinkmann, seinerzeit die Bemühungen um die junge Schauspielerin aufgegeben hatte. Mit gutem Grund: Wurde nicht damals sogar gemunkelt, Harzendorf wolle sich wegen Karola von seiner jungen Frau Brigitte scheiden lassen? Tatsache war jedenfalls, daß Harzendorf für Karola nicht irgendein x-beliebiger Banker war, der ihr einen Kredit verschaffen sollte, sondern ihr verflossener Liebhaber, und in diesem Licht besehen, stellte sich die Sache schon ganz anders dar. Bei jeder anderen Ermittlung hätte Brinkmann sich über eine solche Entdeckung wie wahnsinnig gefreut und der weiteren Entwicklung entgegengefiebert, jetzt aber machte sie ihn nur unendlich traurig. Hastig, fast wütend, stopfte er die Sachen in den Karton zurück, den er griffbereit im Flur auf die Ablage stellte. Er wollte ihn bei nächster Gelegenheit zum Altpapier geben. Brinkmann gehörte nicht zu denen, die sich durch Ärger oder Sorgen am Einschlafen hindern ließen. Gelegentlich machte sogar er die Erfahrung, daß Ärger, einmal überschlafen, am nächsten Tag schon ganz anders aussah. So auch jetzt. Als er nämlich früh am Morgen aufwachte, stellte er fest, daß seine Wut auf Karola verflogen war und Platz gemacht hatte für die Einsicht, daß er sich wie ein verschmähter Liebhaber benahm. Auch wenn Karola Harzendorf besser gekannt hatte, als sie zugeben wollte, mußte das noch lange nicht bedeuten, daß sie etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Auch für sie galt die Unschuldsvermutung, die besagt, daß niemand als schuldig angesehen werden darf, bevor er nicht rechtskräftig verurteilt worden ist. Um Karola insgeheim Abbitte zu tun, beschloß Brinkmann, zunächst einmal in Sachen Fuhrmann weiterzuermitteln, und das fiel ihm um so leichter, als dies eine viel brisantere Spur zu sein schien. Ohne zuvor sein Büro aufgesucht zu haben, fuhr er direkt zu Herrn Bickel in die Bank.
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Bickel gab sich äußerst zurückhaltend. Fast beleidigt bedeutete er dem Kommissar, daß er ihm schon etwas mehr Zeit lassen müsse, wenn er seriöse und fundierte Ergebnisse von ihm erwarte, außerdem habe er als kommissarischer Leiter des Kreditwesens auch noch andere Dinge im Kopf und auch zu erledigen. Als er dann erfuhr, daß es jetzt nur um Herrn Fuhrmann ging, war er plötzlich wie ausgewechselt, zeigte sich konziliant und kooperativ und gab Dinge preis, die eigentlich dem verschärften Bankgeheimnis unterlagen, und nach denen zu fragen sich Brinkmann ohne die Rückendeckung einer richterlichen Anordnung nicht getraut hätte. Er schloß daraus einmal, daß Fuhrmann von seiten der Bank zum Abschuß freigegeben war, und zum andern, daß so etwas wie ehrendes Angedenken für Bickel ein Fremdwort sein mußte. Fuhrmann, so stellte sich die Sache dem Kommissar dar, mußte von Harzendorf regelrecht abgezockt und durch eine Ausfallbürgschaft, die die Bank von ihrer Regreßpflicht freistellte, in den Ruin getrieben worden sein. Ein Mordmotiv war das allemal. Brinkmann war dankbar für diese Informationen, und Bickel war froh, daß er den Kommissar abgespeist und Zeit gewonnen hatte, wie ihm von den Herren vom Vorstand geraten worden war. »Ach ja«, sagte Bickel beim Abschied dann noch, »ich weiß jetzt, wer die Dame ist, nach der Sie sich gestern erkundigt haben.« Er legte eine Kunstpause ein, um Brinkmanns Aufmerksamkeit zu steigern. »Ich auch«, gab Brinkmann breit grinsend zurück. »Karola Amendt. Ich habe sie zu Ihnen geschickt. Konnten Sie ihr behilflich sein? Ich meine, war ihre hellgrüne Mappe bei Ihnen?« »Ja«, erwiderte Bickel, der enttäuscht zu sein schien, daß Brinkmann ihm die Schau gestohlen hatte. »Die grüne Mappe war bei mir.« »Und sonst?« hakte Brinkmann flapsig nach. »Konnten Sie ihr auch mit einem Kredit helfen?« »Nein«, antwortete Bickel. »Ich habe ihr zwar einen angeboten, aber sie scheint keinen Kredit mehr zu benötigen.« Jetzt war es an Brinkmann, sich zu wundern, aber er tat dies, ohne es Bickel merken zu lassen.
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Auf der Fahrt zum Präsidium wollte Brinkmann sich eigentlich eine Taktik für die Begegnung mit Fuhrmann zurechtlegen und gedanklich verschiedene Möglichkeiten durchspielen, um herauszufinden, welche Fakten er wie und wann einsetzen müßte, um mit ihnen den größten Effekt zu erzielen, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu Karola ab. Hatte sie wirklich keinen Kredit mehr nötig? Oder hatte sie Bickel das nur gesagt, um ihn loszuwerden? Das wäre für Brinkmann zwar nachvollziehbar, aber wäre es auch logisch? Würde jemand, der in Zahlungsschwierigkeiten steckte, ein Kreditangebot ablehnen, nur weil ihm der Vermittler unsympathisch war? Steckte Karola überhaupt noch in Zahlungsschwierigkeiten? Diese Frage würde Herr Kümmel ihm beantworten können. Er würde ihn anrufen, sobald er das Präsidium erreicht hätte. Aber Kümmel würde ihm telefonisch keine Auskunft erteilen, sagte er sich dann, um bei der nächsten Ampel nach links abzubiegen und den Gerichtskomplex anzusteuern, in dem sich Kümmels Büro befand. Brinkmann hatte auf sein Klopfen hin zwar eine Tonfolge vernommen, die sich bei großzügiger Auslegung als ein »Herein!« deuten ließ, konnte aber, als er das Büro des Gerichtsvollziehers betrat, zunächst keine Spur von Kümmel entdecken. Brinkmann sah sich um und entdeckte ein merkwürdiges Gebilde, das sich erst bei genauerem Hinsehen als Herr Kümmel erwies. Vor einem niedrigen Aktenwagen sitzend, den Kopf über eine Schüssel gebeugt und sich mit einem großen, graugelbkarierten Handtuch bedeckend, nahm er ein Kopfdampfbad, von dem wohl auch der Geruch nach Kamille ausströmte, den Brinkmann seit seinem Eintreten in der Nase hatte. Eine weitere Folge von Tönen konnte Brinkmann erst bei der Wiederholung zu der Aufforderung »Bitte warten Sie, die zehn Minuten sind gleich um«, zusammenfügen. Sekunden später schlug Kümmel das Tuch zurück und entblößte sein rotfleckiges, aufgedunsenes, schweißtriefendes Gesicht. »Schnupfen«, erklärte er näselnd. »Tag, Herr Brinkmann, ich gebe Ihnen lieber nicht die Hand, wenn Sie gestatten.« »Ich gestatte«, gab Brinkmann zurück. So viel Feingefühl hätte er von Kümmel nicht erwartet, und er dankte es ihm durch Mitgefühl: »Sie hat es ja ganz schön erwischt, mein Lieber.«
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»Das können Sie aber laut sagen, Herr Brinkmann«, flüsterte Kümmel heiser und trocknete sich das Gesicht ab. »Dabei ist es kein richtiger Schnupfen, sondern eine Allergie.« »Gegen was sind Sie denn allergisch?« »Wenn ich das wüßte!« »Vielleicht gegen Geld?« »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, näselte Kümmel heiser. »Dann wäre das ja eine Berufskrankheit.« Er hielt inne und sah Brinkmann versonnen an. »Woran denken Sie jetzt?« drang Brinkmann in ihn. »Darf ich raten? Frühpensionierung?« »Ganz falsch!« erwiderte Kümmel. »Ich frage mich, was Sie so früh am Morgen von mir wollen.« Und er fügte nach einem grotesken, meckernden Lachen hinzu: »Kümmel am Morgen, das reimt sich doch nur auf Sorgen.« Brinkmann mußte grinsen. Kümmel war zwar ein fürchterlicher Mensch, aber irgendwie hatte er Humor. »Ich muß mit Ihnen über Frau Amendt reden«, erklärte er und ergänzte, um den schon wieder stirnrunzelnden Kümmel zu beschwichtigen, schnell: »Ich weiß, Ihr Dienstgeheimnis. Aber ich kann Sie beruhigen: ich bin dienstlich hier, und Frau Amendt interessiert mich rein dienstlich.« »So, ist sie jetzt Ihre Kundin?« »Wenn Sie es so bezeichnen wollen…« »Ja, will ich. Mach’ ich immer so. Meine Kundin ist Frau Amendt jedenfalls nicht mehr.« »Ach, warum denn nicht?« »Weil sie alles bezahlt hat.« »Alles? Wieviel war das?« »Einhundertachttausendzweihundertzehn Mark und fünfzig Pfennige, wenn ich das noch richtig im Kopf habe.« Brinkmann sah ihn verblüfft an. »Und das hat sie bezahlt?« »Ja, vorgestern abend«, bestätigte Kümmel. »Bar und auf einen Ruck.« Kümmel hatte nicht sagen können, wie sie plötzlich zu so viel Geld gekommen war, und es interessierte ihn auch nicht. Für ihn war nur wichtig, daß sie gezahlt hatte, und er diesen Vorgang abschließen konnte, denn nur die abgeschlossenen Vorgänge fanden Eingang in die hausinterne Statistik und brachten dem Bearbeiter die Punkte, die 101
entscheidend waren für die dienstliche Beurteilung und eine mögliche Beförderung. Schließlich hatte Kümmel die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, wenigstens eine der beiden ihm verbliebenen Sprossen auf der Karriereleiter zu erklimmen. Die Herkunft des Geldes beschäftigte Brinkmann auch noch, als er sich endgültig auf den Weg zum Präsidium machte, und er kam zu dem Schluß, daß sich dieses Problem allein durch Nachdenken nicht lösen ließ. Er müßte mit Karola sprechen. Daß dies immer dringlicher wurde und es möglicherweise um mehr als nur eine Unterhaltung gehen würde, sagte ihm dann eine Notiz von Hoppe, die er auf seinem Schreibtisch entdeckte, kaum daß er sein Büro betreten hatte: Bingo! stand da zu lesen, Sie haben die Frau! Eine Karola Amendt, dachte Brinkmann bei sich, konnte man nicht wie jeden normalen Sterblichen verhören und vielleicht sogar verhaften. Ihm war diese Vorstellung jedenfalls zuwider. Das mußte stilvoll geschehen! Und so griff er zum Hörer, rief im Theater an und erhielt die Telefonnummer von Karolas Hotel. »Da haben Sie aber Glück gehabt«, sagte Karola, nachdem er sich gemeldet hatte. »In fünf Minuten wäre ich weg gewesen.« »Sie wollen Frankfurt schon verlassen?« erkundigte Brinkmann sich beunruhigt. »Nein«, erwiderte Karola und lachte auf. »Erst morgen. Heute haben wir ja noch eine Vorstellung. Die letzte in Frankfurt. Das wäre auch Ihre letzte Chance, die Aufführung zu sehen.« Brinkmann gestand ihr, daß genau dies der Grund seines Anrufs war, und sie versprach, einen Stuhl für ihn in den Zuschauerraum stellen zu lassen. Als er sie dann zu einem Glas Wein nach der Vorstellung einlud, damit man ein wenig über die alten Zeiten plaudern könnte, sagte sie, ohne zu zögern, zu. Hätte er eine solche Einladung doch nur schon vor zwanzig Jahren ausgesprochen! Dann würde sie jetzt vielleicht nicht in diesem Schlamassel stecken, und er nicht in dieser Zwickmühle. Aber was half es? Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Kaum hatte er den Hörer wieder aufgelegt, kam Wegener in das Büro gestürzt. Brinkmann, der ihm die Frage vom Gesicht ablesen konnte, die ihm auf der Zunge lag, kam ihm zuvor: »Wo stecken Sie
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denn?« raunzte er ihn an, und Wegener blieb vor Empörung die Spucke weg. »Kommen Sie«, forderte Brinkmann ihn dann auf, »wir haben zu tun!« Und als sie sich auf den Weg zu ihrem Dienstwagen machten, erklärte er Wegener, der angenommen hatte, man werde sich erst einmal diese Frau Amendt vornehmen, auf die er schon neugierig war, daß und warum die Befragung von Herrn Fuhrmann Priorität hatte. Fuhrmanns Bauunternehmen, dessen Gegenstand die Planung und Durchführung jeglicher Bauvorhaben und der Handel mit Baustoffen aller Art war, hatte seinen Sitz in Heddernheim, bei Handkäs mit Musik, wie Brinkmann sofort assoziiert hatte, als er auf die Adresse gestoßen war. Fuhrmann hatte sich aus kleinen Anfängen emporgearbeitet. Seine Entwicklung spiegelte sich auch in den Gebäuden wider, die über das weitläufige, mit Baumaterialien vollgestellte Gelände zerstreut waren und jeweils als Sitz der Verwaltung und der Planung gedient hatten, bevor sie dem nächstgrößeren gewichen waren. Mit einer Baracke, die heute als Lager für Kleinmaterialien genutzt wurde, hatte es wohl angefangen, mit einem einstöckigen Zweckbau, in dem jetzt das Bauholz aufbewahrt wurde, war es weitergegangen, um mit einem auch architektonisch ansprechenden, zweistöckigen Gebäude einen vorläufigen Abschluß zu finden. Brinkmann dachte, als er aus dem Dienstwagen gestiegen war und seine Blicke über das Gelände schweifen ließ, daß dies, so wie die Dinge lagen, auch das Endstadium bleiben würde. Dann stellte er plötzlich fest, daß er neben einem alten VW Käfer geparkt hatte, Baujahr 65, mit ungeteiltem, kleinen Rückfenster und Stoffschiebedach, und sein Herz schlug höher. So einen hatte er auch mal besessen, als er studiert und sich noch Hoffnungen gemacht hatte, Karola Amendt erobern zu können, und seiner war ebenso lindgrün gewesen wie dieser hier. Er beugte sich zu dem Nummernschild herab und überzeugte sich davon, daß das Fahrzeug zugelassen und die TÜV-Marke fast neu war. Die Dinger waren wohl nicht kaputt zu kriegen, dachte er wehmütig. Dann fing er den amüsierten Blick auf, mit dem Wegener sein Treiben beobachtet hatte. »So einen hab’ ich auch mal gehabt«, glaubte er sich rechtfertigen zu müssen. 103
»Vielleicht ist er es«, gab Wegener zu bedenken, aber Brinkmann schüttelte den Kopf. Als die Tage seines Käfers abgelaufen waren, hatte er ihn persönlich zum Schredder gebracht und die Verwandlung des Gefährts in einen metallenen Kubus miterlebt, was ihm wie eine Beerdigung in der Erinnerung haften geblieben war. Brinkmann und Wegener betraten das Hauptgebäude und erreichten ein Büro, in dem drei junge Frauen hinter einer Theke an ihren Schreibtischen saßen. Sie waren damit beschäftigt, den Leuten vor dem Tresen, Kraftfahrern, Polieren und Zimmerleuten, Aufträge zu erteilen oder Wünsche von ihnen entgegenzunehmen, und zwischendurch das Telefon zu bedienen, das pausenlos klingelte. Mitten in dieser Hektik fand Brinkmann dann eine Gelegenheit, nach Fuhrmann zu fragen, und erhielt eine Antwort, die so knapp und vage war, daß die beiden Kriminalbeamten sich erst einmal verliefen, als sie sich auf die Suche machten. In dem Büro, in dem sie Fuhrmann wähnten, stießen sie auf einen jungen Mann, der vor einem Zeichengerät stand und an einer Bauzeichnung arbeitete. »Brinkmann, Kriminalpolizei«, stellte sich der Kommissar vor. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Herrn Fuhrmann finde?« Der junge Mann hatte auf das Wort Kriminalpolizei mit einem nervösen Zucken seines linken Auges reagiert, sich aber sofort wieder beruhigt, nachdem er Brinkmanns Frage vernommen hatte. »Genau einen Stock höher«, antwortete er höflich und fügte hilfsbereit hinzu. »Warten Sie, ich bringe Sie zu ihm.« Er schraubte seinen Stift zusammen und legte ihn sorgfältig auf die Ablage, bevor er den beiden Kriminalbeamten voraus aus dem Zimmer ging. Brinkmann und Wegener folgten ihm durch den Flur und über die Treppe nach oben. Brinkmann, dem das nervöse Zucken nicht entgangen war und sich überlegte, was der junge Mann wohl auf dem Kerbholz haben mochte, erkundigte sich unterwegs nach seinem Namen. »Paul Völlart«, gab der Angesprochene zurück. »Ich bin Bauzeichner und kümmere mich ein bißchen um die Planung.« »Als Festangestellter?« wollte Brinkmann wissen, und er fügte, nachdem Völlart genickt hatte, hinzu: »Da haben Sie aber Glück gehabt.« Er hatte gehört, daß Bauzeichner oft nur projektbezogen beschäftigt und stundenweise bezahlt wurden, was er als pure Ausbeutung empfunden hatte. 104
»Wieso Glück?« ließ Völlart sich vernehmen. »Naja«, erläuterte Brinkmann, »ein bißchen Sicherheit ist doch immer gut, oder?« »Sicherheit?« höhnte Völlart und lachte auf. »In diesem Saftladen? Der Alte macht es doch nicht mehr lange.« Brinkmann sah ihn überrascht an. Fuhrmanns Situation hatte sich also bereits bis zu den Angestellten rumgesprochen! Mehr wollte Völlart offenbar aber nicht sagen, denn er ignorierte Brinkmanns Blick und führte die beiden Kriminalbeamten schnurstracks zu Fuhrmanns Büro, das er, ohne angeklopft zu haben, öffnete. »Besuch für dich, Papa!« rief er Fuhrmann zu, der hinter seinem Schreibtisch saß, sich jetzt schnell erhob und zur Tür ging. »Herr Fuhrmann?« sprach Brinkmann ihn an. »Wir sind uns schon zweimal begegnet. Vielleicht erinnern Sie sich? Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen. Brinkmann, Kriminalpolizei. Mein Kollege, Herr Wegener.« Fuhrmann sah die beiden unwillig an. »Und? Was wollen Sie?« »Wir sind von der Mordkommission«, setzte Brinkmann an, um gleich darauf wieder innezuhalten. »Ihr Sohn?« erkundigte er sich dann mit einem Blick auf Völlart. »Mein Stiefsohn«, korrigierte Fuhrmann. Das hörte sich wie eine Ohrfeige an, und Völlart schien auch tatsächlich zusammenzuzukken. Der hatte nichts auf dem Kerbholz, schoß es Brinkmann durch den Kopf, der war einfach nur eingeschüchtert, und es war nicht schwer zu erraten, durch wen. »Du kannst wieder gehen!« herrschte Fuhrmann seinen Stiefsohn an, ließ die beiden Kriminalbeamten eintreten, und schloß die Tür hinter ihnen. Es war sicher nicht das erste Mal, daß Völlart von Fuhrmann vor Dritten auf ähnliche Weise behandelt worden war, aber statt, wie zu erwarten wäre, wütend oder zumindest erbost zu sein, schickte Völlart seinem Stiefvater einen höhnischen, fast triumphierenden Blick nach und blieb, seinen Befehl mißachtend, im Vorzimmer, um an der Tür zu lauschen. Fuhrmann war zu seinem Schreibtisch zurückgegangen und hatte sich gesetzt, bevor er den Kriminalbeamten mit einer nachlässigen Geste zu den beiden Stühlen, die vor dem Schreibtisch standen, Platz angeboten hatte. Brinkmann und Wegener zogen es vor, stehenzubleiben. 105
»Mordkommission?« warf Fuhrmann ihnen knapp hin. »Um was geht es?« »Das können Sie sich doch denken«, gab Brinkmann zurück. »Um den Mord an Herrn Harzendorf.« »Schießen Sie los!« forderte Fuhrmann ihn auf. »Herr Fuhrmann«, eröffnete Brinkmann seine Befragung, »nach meinen Informationen sind Sie einer von denen… ich will mich mal vorsichtig ausdrücken… die Grund hätten, auf Herrn Harzendorf sauer zu sein.« »Das haben Sie von Bickel!« brauste Fuhrmann auf. »Geben Sie es zu! Diese Ratte! Will sich profilieren, indem er mich über den Tisch zieht!« »Herr Harzendorf ist auch nicht gerade zimperlich mit Ihnen umgesprungen«, gab Brinkmann zu bedenken. »Harzendorf wußte wenigstens, wo es langgeht«, brachte Fuhrmann trotzig hervor. »Ein Jammer, daß es ihn erwischt hat!« »Sie haben sich bestimmt schon Gedanken gemacht«, fuhr Brinkmann fort, »wer als Täter in Frage kommt?« »Ich? Nein!« gab Fuhrmann zurück und tat, als halte er diese Frage für abwegig. »Wo waren Sie zur Tatzeit?« hakte Brinkmann nach. »Am vierzehnten, von zehn bis Mitternacht?« »Sie wollen ein Alibi von mir?« entrüstete sich Fuhrmann. »Reine Routine«, beschied ihn Brinkmann mit einem feinen Lächeln. Fuhrmann knurrte vor sich hin, schnappte sich seinen Terminkalender und fing an zu blättern. »Um neunzehn Uhr hatte ich eine Besprechung mit Reichard«, teilte er dann mit. »Das ist ein Architekt.« »Und danach?« »Kennen Sie Reichard?« »Nein.« »Dann wissen Sie auch nicht, wie das mit dem ist. Die Besprechungen ziehen sich endlos hin.« »War das am vierzehnten auch so?« »Das ist immer so.« »Wie lange hat es konkret gedauert?« »Was weiß ich? Bis in die Puppen. Und danach haben wir noch gebechert. Ich war erst gegen zwei Uhr morgens wieder zu Hause.« 106
Brinkmann warf Wegener einen bedeutungsvollen Blick zu. »Jetzt haben wir ihn!« schien dieser Blick zu sagen. Und Wegener nickte seinem Chef kaum merklich zu. »Dann schnapp ihn dir doch!« schien dieses Nicken zu bedeuten. Brinkmann grinste still in sich hinein, wandte sich wieder an Fuhrmann und blickte ihn durchdringend an, bis er unruhig wurde und nervös mit den Augen zu blinzeln begann. »Wie erklären Sie es sich dann, lieber Herr Fuhrmann«, wollte er wissen, »daß sie von einem zuverlässigen Zeugen gesehen worden sind? In Kronberg. Am vierzehnten. Nach zweiundzwanzig Uhr.« Mit Fuhrmanns brummiger Selbstsicherheit war es auf einmal dahin, er war ratlos und wirkte wie die Maus in der Falle. »Sie sind vorläufig festgenommen«, eröffnete Brinkmann ihm. »Alles, was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« »Ich will meinen Anwalt sprechen«, verlangte Fuhrmann kleinlaut. »Bitte«, gestand Brinkmann ihm zu und deutete zum Telefon hin. »Sagen Sie ihm, er soll gleich ins Präsidium kommen.« Fuhrmann hatte versprochen, keine Schwierigkeiten zu machen, und deshalb verzichtete Brinkmann darauf, ihm die Handschellen anzulegen, die Wegener schon diensteifrig gezückt hatte. Vorbei an Völlart, der sich noch im Vorzimmer aufhielt und seinen Stiefvater schadenfroh angrinste, führten Brinkmann und Wegener Fuhrmann zu ihrem Dienstwagen. Wegener übernahm das Steuer, während Brinkmann sich zu Fuhrmann in den Fond setzte. Vielleicht könnte er ja während der Fahrt noch etwas aus ihm herauskitzeln. Aber Fuhrmann schwieg beharrlich. Im Präsidium wartete der Anwalt bereits auf Fuhrmann und zog sich gleich zu einer ersten Besprechung mit seinem Mandanten in das für solche Zwecke vorgesehene Zimmer zurück. Brinkmann beorderte einen Justizwachtmeister zu sich, der die Bewachung Fuhrmanns nach Verlassen des Besprechungszimmers übernehmen sollte, und begab sich mit Wegener in sein Büro zurück. Sie mußten nicht lange warten, als es an der Tür klopfte und der Anwalt erschien. »Mein Mandant möchte eine Aussage machen«, eröffnete er dem Kommissar und winkte Fuhrmann ins Zimmer, der von dem Justizwachtmeister begleitet wurde. Brinkmann verabschiedete letzteren 107
mit einer Geste, die dieser nur zu gut kannte und die bedeutete, daß er draußen warten sollte. »Bitte, nehmen Sie doch Platz«, forderte er Fuhrmann und dessen Anwalt auf, und als er sah, wie Fuhrmann sich auf den Stuhl setzte, auf dem tags zuvor Karola Platz genommen hatte, dachte er kurz daran, daß die Sache nicht schlecht für Karola stand, auch wenn sie noch nicht ganz aus dem Schneider war. Wegener zückte seinen Block und machte sich bereit, das Protokoll zu übernehmen, während Brinkmann erwartungsvoll zu Fuhrmann hinsah. Fuhrmann räusperte sich und begann, nachdem der Anwalt ihm noch einmal aufmunternd zugenickt hatte, mit seiner Aussage. »Ich war am vierzehnten Abends in Kronberg«, gab er zu. »Aha«, ließ Brinkmann sich vernehmen. »Bei Harzendorf?« »Ja.« »Wann genau?« »Um kurz vor zehn. Wir hatten etwas zu besprechen. Geschäftlich.« »So spät?« »Ja.« »Um was ging es?« »Es ging darum«, erwiderte Fuhrmann zögernd und legte eine kleine Pause ein, um dann schnell fortzufahren: »daß ich Herrn Harzendorf einen Koffer mit vier Millionen Mark in bar übergab.« Brinkmann war verblüfft. »Ach, kommen Sie!« stieß er ungläubig hervor. »Doch«, beharrte Fuhrmann. »Ich habe sogar einen Zeugen. Frau Harzendorf war im Nebenzimmer, sie kann das sicher bestätigen.« »Frau Harzendorf war gar nicht…« platzte Brinkmann heraus und unterbrach sich sofort. »Haben Sie sie gesehen?« fragte er an Stelle dessen, was er eigentlich sagen wollte. »Nein«, gab Fuhrmann zu. »Aber Harzendorf hat es mir gesagt. Die beiden feierten ihren Hochzeitstag. Deshalb habe ich mich auch gleich wieder verabschiedet.« Brinkmann sah ihn durchdringend an und schüttelte den Kopf. Er glaubte ihm kein einziges Wort. »Woher hatten Sie das Geld? Ich denke, Sie sind so gut wie pleite?«
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Fuhrmann schwieg, und der Anwalt mischte sich ein. »Es handelt sich um unversteuerte Einnahmen«, erklärte er, vornehm den Tatbestand der Steuerhinterziehung umschreibend. »Schwarzgeld«, stellte Wegener lapidar fest. »Nehmen Sie bitte zu Protokoll«, forderte der Anwalt ihn auf, »daß mein Mandant die Steuerverkürzung freiwillig und aus eigenen Stükken zugegeben hat.« »Und was sollte Harzendorf mit dem Geld?« meldete Brinkmann sich wieder zu Wort. »Können Sie sich das nicht denken?« schmunzelte der Anwalt, der Brinkmann soviel Naivität nicht abnehmen wollte. »Nein«, gab Brinkmann zurück und ließ offen, ob er tatsächlich so naiv war oder nur so tat. »Harzendorf sollte es über Umwege auf mein Konto bringen«, erklärte Fuhrmann, »damit die Verluste ausgeglichen werden, die er mir anderweitig verursacht hat.« »Wäre es nicht einfacher gewesen, Sie hätten das Geld selbst eingezahlt?« hakte Brinkmann nach, und brachte den Anwalt damit fast zur Verzweiflung. »Da hätte er das Geld auch gleich beim Finanzamt abliefern können«, stöhnte er. »Man nennt den Vorgang Geldwäsche.« »Was Sie nicht sagen?!« blaffte Brinkmann zurück und wandte sich wieder Fuhrmann zu. »Wo ist das Geld jetzt?« Fuhrmann zog die Schultern hoch und breitete die Arme aus. »Der Koffer ist verschwunden«, verkündete er. »Frau Harzendorf hat ihn nicht mehr gesehen. Ich hoffe, er liegt im Tresor.« Brinkmann sah schnell zu Wegener hin. »Was ist mit dem Tresor? Wann ist Hoppe soweit?« »Jederzeit«, gab Wegener zurück. »Gut«, meinte Brinkmann. Er lehnte sich zurück, blickte zur Zimmerdecke hinauf und fixierte nachdenklich einen bestimmten Punkt in der linken Ecke. Dann sah er Fuhrmann an. »Ich werde Ihre Angaben nachprüfen, Herr Fuhrmann«, versicherte er ihm. »Solange muß ich Sie allerdings hierbehalten.« »Haben Sie einen Haftbefehl?« mischte der Anwalt sich sofort ein. »Den brauche ich erst ab morgen«, gab Brinkmann zurück, und nach einem Blick auf seine Armbanduhr setzte er hinzu: »Elf Uhr. Bis dahin dürfte die Sache geklärt sein.« 109
Dann ließ er den Justizwachtmeister von Wegener wieder ins Zimmer holen, gab ihm den Auftrag, Fuhrmann ab- und der erkennungsdienstlichen Untersuchung zuzuführen, und verabschiedete sich von dem Anwalt, der seinem Mandanten nacheilte, um ihm zu erklären, daß alles Rechtens sei und nichts mit einer Bananenrepublik zu tun habe, wie Fuhrmann lauthals verkündet hatte, als er aus dem Zimmer geführt wurde. Brinkmann blieb noch einen Augenblick an seinem Schreibtisch sitzen und stützte den Kopf gedankenvoll in die Hände. Karola, der er eben noch gute Karten zugestanden hatte, steckte tiefer in der Tinte denn je. Es ging also um vier Millionen Mark, und Brinkmann glaubte nicht eine Sekunde daran, daß er das Geld im Tresor finden würde. Das gab doch ganz offensichtlich Karola bereits aus! Mit Erleichterung stellte er fest, daß sie wenigstens nicht die Besucherin zu sein schien, die mit Harzendorf ins Bett gegangen war – und kam sich ausgesprochen albern vor. Sie hatte in ihrem Leben sicher mit vielen Männern geschlafen, und da sollte ihn die Frage, ob an diesem einen Abend auch mit Harzendorf oder nicht, eigentlich nicht bekümmern. Und was war mit Frau Harzendorf? Warum hatte sie behauptet, nicht zu Hause gewesen zu sein? Nun, das alles würde sich bald herausstellen, dachte Brinkmann und hatte es auf einmal sehr eilig, nach Kronberg aufzubrechen. Wegener, der Hoppe und die Tresor-Experten informiert hatte und auch Brigitte Harzendorf telefonisch auf ihr Kommen vorbereitet hatte, schloß sich ihm an. Ein Techniker des Theaters und der Beleuchter, der die Tournee begleitete, zeigten Karola die Stelle, an der das Hauptkabel der zentralen Stromversorgung gekappt worden war. »Das ist eindeutig Sabotage«, erklärte der Techniker. »Wer das getan hat, muß die Baupläne kennen, sonst hätte er nicht wissen können, wie die Kabel verlaufen. Wollen Sie Anzeige erstatten?« »Weiß ich nicht«, gab Karola unschlüssig zurück. »Würde ich an Ihrer Stelle aber machen«, riet der Techniker. »Schon allein wegen der Schadensersatzansprüche.« »Ach was«, tat Karola die Sache ab, »heute ist sowieso unser letzter Tag in Frankfurt.« Karola kehrte ins Büro zurück, wo sie die Abschlußarbeiten erledigte, Statistiken führte, Aufstellungen kontrollierte und dergleichen 110
mehr. Sie hatte die Zuschauer gestern nach Hause schicken müssen. Viele, aber zum Glück nicht alle hatten von dem Angebot Gebrauch gemacht und sich das Eintrittsgeld zurückerstatten lassen. Potthoff hatte sich mächtig aufgeregt, obwohl der Vorfall keine Auswirkung auf seine Gage haben würde, denn die war fest vereinbart, und er hatte einen Vertrag ausgehandelt, der ihn frei von sämtlichen Risiken stellte. Sein Ärger galt der Tatsache, daß die Wette nicht entschieden werden konnte, denn er war felsenfest davon überzeugt, daß er gewonnen hätte, so, wie das Stück bis zu dem Blackout für ihn gelaufen war. Nun würde alles an der letzten Vorstellung hängen, denn die Wette war auf das Frankfurter Gastspiel begrenzt. Karola hatte Angst vor der nächsten Überraschung, denn die würde, der Logik dieses Verrückten folgend, eine Steigerung bedeuten. Sie überlegte gerade, womit sich ein totaler Stromausfall steigern ließ, als das Telefon läutete. Die heisere Stimme kannte sie nun ja schon, und obwohl sie den Anruf erwartet hatte, erschrak sie fast zu Tode, als sie sie jetzt wieder vernahm. »Heute machen wir eine kleine Spritztour«, ließ sich die Stimme vernehmen. »In genau drei Minuten halte ich vor dem Theater. Sie stehen dann schon da und steigen sofort ein. Es ist ein alter Käfer, Sie können ihn nicht übersehen. Und machen Sie keine Dummheiten.« Es knackte, und die Verbindung war unterbrochen. Karola war vor Angst blaß geworden. Sie sollte sich in die Gewalt dieses Verrückten begeben! Ihre Gedanken überstürzten sich, aber es fiel ihr nichts ein, womit sie die Gefahr abwenden könnte. Sie fügte sich in das Unabänderliche, gab sich einen Ruck und stand auf. Sie würde ihn sehen und ihm in die Augen schauen können. Das gab ihr den Mut, den sie brauchte, um nach unten zu gehen. Sie mußte sich beeilen, um die Frist einzuhalten, die er ihr gesetzt hatte. Der lindgrüne VW Käfer kam auf sie zugerast, kaum daß sie das Theater verlassen hatte. Er bremste scharf ab, und die Beifahrertür sprang auf. Karola stieg ein, und der Wagen fuhr weiter, noch bevor Karola die Tür richtig zugezogen hatte. Sie kauerte sich auf den Beifahrersitz, hielt die Augen geschlossen und wagte es nicht, den Kopf nach links zu drehen und ihrem Peiniger ins Angesicht zu sehen. »Sie zittern ja«, hörte sie plötzlich eine warme, besorgte Stimme, die nur ganz vage an jene heisere erinnerte, die sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Das tut mir leid«, fuhr die Stimme fort. 111
»Ich habe Sie für eine starke, selbstbewußte Frau gehalten und deshalb vielleicht ein bißchen übertrieben.« Karola öffnete die Augen und drehte sich zu ihm um. Der junge Mann, der neben ihr saß, entsprach in keiner Weise dem Bild, das sie sich in ihrer Angst von ihm gemacht hatte. Unter normalen Umständen würde sie ihn in die Kategorie gutaussehender junger Mann einreihen, obwohl er kein glattes, gefälliges Gesicht hatte, sondern eins, in das sich Falten zu graben begannen, die darauf schließen ließen, daß er es in seinem Leben nicht immer leicht gehabt hatte. »Wer sind Sie?« fragte sie ihn erstaunt. »Paul Völlart«, stellte er sich vor, »aber der Name wird Ihnen nichts sagen.« »Nein«, gab sie zu. »Ich wollte auch gar nicht Ihren Namen wissen. Ich wollte wissen, warum Sie mir das alles angetan haben. Ich wäre fast gestorben vor Angst.« »Ich mußte etwas unternehmen«, erklärte er, »um an das Geld zu kommen, das Sie mir gestohlen hatten.« »Das müssen Sie mir etwas genauer erklären«, forderte sie ihn auf. Völlart nickte. Dann fuhr er fast eine Stunde lang durch Frankfurt, und sie kamen durch bekanntere Viertel und durch Gegenden, die Karola nie zuvor gesehen hatte. Und die ganze Zeit über redete und redete er, kam vom Hundertsten ins Tausendste, und so erfuhr Karola seine Geschichte. Völlart stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter. Sein Vater, der früh gestorben war, hatte das Bauunternehmen gegründet. Nach seinem Tod war Fuhrmann aufgetaucht und hatte sich sozusagen ins gemachte Nest gesetzt, als er Völlarts Mutter heiratete und die Firma übernahm. Fuhrmann hatte ihn um seinen Anteil an der Firma gebracht und ihn auch ansonsten benachteiligt. So durfte er zum Beispiel nicht Architektur studieren, wie er es vorgehabt hatte, weil für das Studium angeblich kein Geld vorhanden war, und mußte Bauzeichner werden. Den Job in der Firma hatte er dann angenommen, um die Augen offenzuhalten und auf seine Stunde zu warten. Und die war kürzlich gekommen, als er die Geschichte mit dem Schwarzgeld entdeckte, das Fuhrmann von dem Banker waschen lassen wollte. Er hatte alles genau ausspioniert und war Fuhrmann gefolgt. »Sie waren also in Kronberg?« hakte Karola nach. 112
»Ja«, bestätigte Völlart. »Ich bin Fuhrmann nachgefahren. Ich wußte, was er vorhatte und ich wollte ihm das Geld irgendwie abluchsen. Ihm oder Harzendorf.« »Und wer sagt mir«, bohrte Karola weiter, »daß Sie Harzendorf nicht umgebracht haben?« »Wo soll denn da ein Motiv sein?« gab er zu bedenken. »Ich habe ihn genauso wenig umgebracht, wie Sie es getan haben.« Karola sagte nichts darauf, sondern starrte eine Weile durch die Windschutzscheibe zu den Häuserzeilen hin, an denen sie gerade vorbeifuhren. »Ich will Ihnen noch etwas sagen«, fuhr Völlart dann fort. »Es gibt andere, die sind auch hinter dem Geld her. Leute, die nicht mit Ihnen teilen wollen. Und sie sind Ihnen ziemlich nah auf den Fersen.« »Sie wollen mit mir teilen?« fragte sie überrascht. »Sie kriegen einen Finderlohn.« »Wieviel?« »Zehn Prozent sind üblich. Aber ich lasse mich nicht lumpen. Sagen wir eine Million?« Eine Million wäre auch nicht schlecht, dachte Karola, damit würde sie über die Runden kommen. Sie wäre den Ärger und die Angst los, und im Zweifelsfall könnte sie immer behaupten, sie habe Völlart die ganzen vier Millionen gegeben. Nachweisen ließ sich da nichts. »Ich will darüber nachdenken«, beschied sie ihn. »Aber nicht zu lange«, warnte er sie. »Fürchten Sie nicht«, gab sie dann zu bedenken, »daß die Leute, die mir angeblich so nah auf den Fersen sind, auf Sie umschwenken, wenn ich Ihnen das Geld gebe?« »Bis die das spitzkriegen, bin ich längst über alle Berge«, gab Völlart lachend zurück. »Ich haue ab, sobald ich das Geld habe. Nach Buenos Aires.« Karola musterte ihn eine Weile von der Seite. »Wann geht der nächste Flieger?« »Morgen. Neun Uhr dreißig.« »Dann kommen Sie heute abend ins Theater. Nach der Vorstellung. Nehmen Sie den hinteren Bühneneingang. In der Star-Garderobe werde ich einen kleinen Koffer für Sie hinterlegen. Und jetzt lassen Sie mich bitte aussteigen.« 113
Völlart hielt bei der nächsten Gelegenheit an. »Danke«, sagte er leise, als Karola den Schlag öffnete. »Viel Glück«, wünschte sie ihm, als sie ausgestiegen war und sich noch einmal zu ihm hinabbeugte. »Ihnen auch«, gab er zurück, bevor Karola die Beifahrertür zuschlug. Dann legte er den Gang ein, gab Gas und fuhr los. Karola nahm sich ein Taxi und fuhr zu der Bankfiliale nach Eschersheim. Eine Angestellte führte sie in den Schließfachraum. Die Angestellte hatte den einen der beiden Schlüssel, die benötigt wurden, um das Schließfach zu öffnen, und Karola den anderen. Beide Schlüssel wurden in die Schlösser gesteckt und umgedreht. Das Schließfach ging auf. Karola holte den Diplomatenkoffer hervor und begab sich damit in die abgeschlossene Kabine, wo sie ihren Anteil des Geldes abzählte und in einer Tüte aus festem Packpapier verstaute. Sorgfältig schloß sie den Koffer wieder, wickelte die Tüte zusammen und verließ die Kabine, vor der die Bankangestellte auf sie gewartet hatte. Zusammen gingen sie zu dem offenstehenden Schließfach, in das Karola die Tüte legte. Sie drückte die Tür zu, und die Angestellte schloß sie mit den beiden Schlüsseln ab, die in den Schlössern verblieben waren. Den einen Schlüssel gab sie Karola zurück. »Kann ich den Schlüssel auch bei Ihnen deponieren?« erkundigte sie sich dann. »Selbstverständlich«, gab die Angestellte zurück. »Wenden Sie sich an meinen Kollegen am Schalter drei. Am besten, Sie machen das mit einem Codewort, aber das wird Ihnen der Kollege erklären.« Das tat er dann auch. Karola entschied sich für Kronberg als Codewort. Dann verstärkte sie den Griff, mit dem sie den Diplomatenkoffer hielt, und verließ die Bank. Draußen wartete das Taxi mit laufendem Motor. Sie stieg in den Fond und lehnte sich zurück. Sie mußte lächeln. Neben ihr auf dem Rücksitz lagen drei Millionen Mark, und keiner ahnte etwas davon. Das Geld würde nicht mehr lange in ihrem Besitz sein, und darüber war sie im Grunde sogar froh. Sie bat den Fahrer, sie zum Theater zu bringen, und er fuhr unverzüglich los. Das Polizeiaufgebot vor dem Haus der Harzendorfs konnte der Aufmerksamkeit von Herrn Pohl gar nicht entgehen; immerhin handelte 114
es sich um drei Fahrzeuge: die Dienstwagen von Brinkmann und Hoppe und den Werkstattwagen der Experten, die den Tresor öffnen sollten. Pohl erwischte Brinkmann, bevor er das Gartentor erreichte und das Grundstück der Harzendorfs betreten konnte. »Na, haben Sie den Mörder?« fragte er neugierig. »Sieht ganz so aus«, gab Brinkmann zurück. »Sie waren eine große Hilfe, Herr Pohl.« »Warten Sie!« hielt er den Kommissar auf, der sich seinen Leuten anschließen wollte. »War da nicht eine Belohnung ausgesetzt? Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen?« »Keine Ahnung«, erwiderte Brinkmann. »Aber ich werde mich erkundigen.« Wieder machte er Anstalten, durch das Gartentor zu gehen, und wieder wurde er von Pohl daran gehindert. »Mir ist da noch was eingefallen«, brachte er wichtigtuerisch vor und legte eine Pause ein, um die Aufmerksamkeit des Kommissars zu fesseln. »Ja?« ermunterte Brinkmann ihn weiterzureden. Der Mann schien in Sachen Belohnung ganz sichergehen zu wollen. »Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat«, fuhr Pohl fort, »aber ich habe den Porsche von Frau Harzendorf an dem Abend gesehen.« Brinkmann sah ihn überrascht an. »Am vierzehnten?« wollte er wissen und fügte, nachdem Pohl genickt hatte, noch hinzu: »Wann genau?« Pohl mußte nicht lange nachdenken. »Jedenfalls nach zehn, als der Mörder gerade weggefahren war. Können Sie damit was anfangen?« Und ob er damit etwas anfangen konnte! Das war immerhin die Bestätigung von Fuhrmanns Aussage! Aber das würde er dem Herrn Pohl bestimmt nicht auf die Nase binden. »Mal sehen«, sagte er obenhin, nickte ihm zu und folgte seinen Leuten zum Haus der Harzendorfs, wo Brigitte Harzendorf, die schon auf sie gewartet hatte, ihnen sofort öffnete. Frau Harzendorf zu verhören und sie mit Fuhrmanns Aussage zu konfrontieren, würde erst dann sinnvoll sein, wenn die Sache mit dem Geldkoffer geklärt war. Brinkmann beschloß also, die Öffnung des Tresors abzuwarten, und begab sich mit allen anderen hinunter in den Keller. Die Kreidestriche, mit denen man die Lage des Toten am Boden und am Tresor markiert hatte, waren noch zu sehen und zogen wie ein Magnet die Blicke immer wieder auf sich, bis die Experten, 115
die noch damit beschäftigt waren, ihre Werkzeuge und Geräte in den Keller zu schleppen, mit ihrer Arbeit begannen und die Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Brinkmann ging selbst jedes technische Verständnis ab. Er zählte zu jener Spezies, der man nachsagte, zwei linke Hände zu besitzen. Dafür konnte er denen stundenlang und mit wachsender Begeisterung zusehen, die es verstanden, mit dem geschickten Einsatz von Werkzeugen und Geräten, wahre, wenn auch alltägliche Wunder zu bewirken, zum Beispiel, daß Autos wieder fuhren, Licht wieder brannte, der Fernseher wieder lief oder etwas neu entstand, ein Anzug etwa, ein Möbelstück oder ein Haus. Auch jetzt beobachtete er fasziniert, wie die Experten Bohrer, Schweißbrenner und all die anderen Spezialwerkzeuge, deren Bezeichnung er nicht einmal kannte, mit sicherem Griff exakt dort einsetzten, wo sie die meiste Wirkung zeigten und den nächsten Schritt ermöglichten. Die knappe Stunde, die benötigt wurde, um den Tresor zu öffnen, war im Nu verflogen. Der Tresor enthielt eine kleine Münzsammlung, ein Kuvert mit zehntausend Mark in gebrauchten Scheinen, einen Ordner mit persönlichen Unterlagen, ein Dossier über Kunden und Kollegen der Bank und ein paar Kleinigkeiten, die eigentlich nicht in einen Tresor gehörten, wie etwa eine Sammlung von Tabakspfeifen, für die Harzendorf wohl keinen besseren Platz gefunden hatte. Von Fuhrmanns Diplomatenkoffer war jedenfalls keine Spur zu sehen, aber das konnte Brinkmann nicht überraschen, denn er hatte nichts anderes erwartet. »Können Sie sich denken, wo die vier Millionen abgeblieben sind?« wandte Brinkmann sich an Frau Harzendorf. »Vier Millionen was?« fragte sie erstaunt zurück. »Tun Sie doch nicht so!« fuhr Brinkmann sie an. »Sie wissen genau, um was es geht.« Und um ihr auf die Sprünge zu helfen, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Fuhrmann hatte einen Diplomatenkoffer mit vier Millionen Mark bei Ihrem Mann deponiert.« »Mir hat Fuhrmann aber gesagt«, entgegnete sie, »es handle sich lediglich um sehr persönliche Unterlagen.« »Ach, hören Sie doch auf!« blaffte Brinkmann sie an. Es war jetzt an der Zeit, eine andere Gangart einzulegen! Er ließ sie stehen, gab Wegener ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging mit ihm nach oben zum Arbeitszimmer. Hier verharrte er eine Weile und betrachtete 116
nachdenklich die Räumlichkeiten. Dann öffnete er die Tür zum Wohnzimmer. »Gehen Sie mal rüber«, forderte er Wegener auf, »und setzen Sie sich auf die Couch.« Zögernd kam Wegener der Aufforderung nach, und als er sich gesetzt hatte, lehnte Brinkmann die Tür an. Dann nahm er unterschiedliche Positionen im Arbeitszimmer ein, ging in die Hocke und reckte sich, und versuchte, aus verschiedenen Perspektiven durch den Türspalt zu sehen. Brigitte Harzendorf erschien in der Tür, die vom Flur her in das Arbeitszimmer führte, und beobachtete ihn verwundert. Als Brinkmann sie bemerkte, nahm er schnell wieder seine normale Haltung an. »Hier hat also die Geldübergabe stattgefunden«, stellte er fest. »Welche Geldübergabe?« fragte Brigitte, die partout darauf zu bestehen schien, von dem Geld nichts zu wissen. »Die vier Millionen Mark!« erinnerte Brinkmann sie. »Ich habe Ihnen schon gesagt«, entgegnete sie kühl, »daß ich davon nichts weiß.« Brinkmann schüttelte ungehalten den Kopf. »Wegener!« rief er dann nach nebenan, »kommen Sie doch mal!« Wegener tauchte unverzüglich in der Verbindungstür auf. »Haben Sie uns verstehen können?« wollte Brinkmann von ihm wissen. »Ja«, antwortete Wegener, »jedes Wort.« »Dann müssen Sie die Geldübergabe auch mitbekommen haben«, wandte Brinkmann sich wieder an Brigitte. »Ich war in Trier«, sagte sie und lächelte nachsichtig. »Bei meiner Schwester.« »Nein, Frau Harzendorf!« widersprach Brinkmann ihr heftig. »Sie waren hier, das heißt, Sie saßen nebenan und feierten mit Ihrem Mann Ihren Hochzeitstag.« Brigitte sah ihn mit gerunzelten Brauen an und schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen, aber Brinkmann ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und da schneit Ihnen Fuhrmann ins Haus«, sprach er weiter, »mit einem Koffer voll Geld. Vier Millionen Mark. Geld, von dem niemand etwas weiß oder wissen darf. Vogelfreies Geld sozusagen, das Sie sich einfangen wollten. Aber Ihr Mann wollte nicht mitspielen. 117
Als er es zum Tresor brachte, kam es zu einem Streit, und sie haben ihn erschossen. Mit seiner eigenen Pistole. Dann haben Sie das Haus verlassen, das Geld irgendwo versteckt und sind vielleicht die Nacht ziellos herumgefahren, um am nächsten Vormittag wieder aufzutauchen, als sie sicher sein konnten, daß man die Leiche gefunden hatte.« Brigitte Harzendorf hatte ihn ausreden lassen, ihn dabei mit einem amüsierten Lächeln gemustert und immer wieder den Kopf geschüttelt. »Was sagten Sie?« fragte sie jetzt spöttisch, »Hochzeitstag?« »Der vierzehnte ist Ihr Hochzeitstag«, stellte Brinkmann unbeirrt fest. »Wir haben im Dezember geheiratet«, korrigierte Brigitte ihn, »am sechsten. Nikolaustag.« Brinkmann war irritiert. »Fuhrmann sagt aber, Ihr Mann hätte…«, wollte er sich rechtfertigen, aber Brigitte Harzendorf schnitt ihm das Wort ab. »Nein, alles falsch! Falsch wie Ihre ganze Theorie.« Brinkmann tat, als sei er mit seinem Latein am Ende, aber er hatte ja noch einen Trumpf im Ärmel, und den würde er ausspielen, wenn er sie in offenkundige Widersprüche verwickelt hätte. »Sie waren also bei Ihrer Schwester?« erkundigte er sich harmlos und stellte sich, als würde er klein beigeben. »Ja. In Trier.« »Bis zum fünfzehnten, als wir uns hier begegnet sind?« »Ja.« »Wie heißt Ihre Schwester?« »Ursula Fürst.« »Und wo wohnt sie in Trier?« »Lessingstraße 7. Wozu brauchen Sie das?« »Ich muß Ihr Alibi überprüfen. Wenn Sie mir die Telefonnummer Ihrer Schwester geben, kann ich das gleich hier erledigen.« Brinkmann sah sie abwartend an. Brigitte Harzendorf schien fieberhaft nach einer Ausrede zu suchen. »Ich will Sie nicht verleiten, die Unwahrheit zu sagen«, fuhr er dann fort, »deshalb sollten Sie wissen, daß es einen Zeugen gibt, der behauptet, Sie seien in der Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten hier im Haus gewesen.« Das war der Trumpf, und er hatte gestochen! Brinkmann konnte förmlich sehen, wie das innerliche Gerüst, das Frau Harzendorf sich gegeben hatte, zusammenstürzte. Sie wandte sich ab und ging ins Wohnzim118
mer, wo sie sich auf die Couch setzte und ratlos vor sich hinstarrte. Brinkmann und Wegener folgten ihr, setzten sich ihr gegenüber in die Sessel und sahen sie abwartend an. »Ich war bei meiner Schwester«, begann Brigitte schließlich, »aber ich bin schon am vierzehnten abgereist. Gegen Abend. Nach einem Riesenkrach. Als ich nach Hause kam, sah ich, wie mein Mann mit dieser Schauspielerin rumturtelte, mit der er früher mal ein Verhältnis hatte.« »Karola Amendt?« unterbrach Brinkmann sie. »Sie kennen sie?« fragte Brigitte Harzendorf erstaunt. Brinkmann nickte nur. Da hatte er die Bestätigung! Es war also tatsächlich Harzendorf gewesen, der ihn indirekt dazu gebracht hatte, seine Bemühungen um Karola aufzugeben, und wie die Dinge im Augenblick lagen, sollte er ihm eigentlich im nachhinein und postum dankbar dafür sein. »Entschuldigen Sie, fahren Sie bitte fort. Frau Amendt war also bei Ihrem Mann?« »Ja«, nahm Frau Harzendorf den Faden wieder auf. »Sie hatten mich nicht bemerkt, und da bin ich still und heimlich wieder fortgegangen. Noch einen Krach hätte ich nicht verkraftet.« Brinkmann sah sie eine Weile nachdenklich an. »Warum haben Sie mir das nicht gestern erzählt, als ich Sie nach der letzten Besucherin Ihres Gatten fragte?« »Weil Sie mich gestern noch nicht verdächtigt hatten, eine Raubmörderin zu sein«, gab sie gelassen zurück. »Machen Sie das immer so«, wollte Brinkmann wissen, »und sagen die Wahrheit erst, wenn Ihnen das Wasser bis zum Hals steht?« Brigitte Harzendorf zuckte nur mit den Schultern. Brinkmann sah sie eindringlich an. »Oder ist das noch nicht die volle Wahrheit? Warum haben Sie Frau Amendt gedeckt?« »Ich habe sie nicht gedeckt«, erwiderte sie, »ich wollte mich nur nicht einmischen.« »Nicht einmischen!« empörte Brinkmann sich. »Was gibt es denn noch alles, in das Sie sich nicht einmischen wollen?« Brigitte Harzendorf preßte die Lippen aufeinander und schüttelte kaum merklich den Kopf. Brinkmann gab auf. Von ihr würde er nichts mehr erfahren. Was sollte sie ihm noch groß sagen können? Ihm war klargeworden, daß er nicht länger die Augen vor der Tatsa119
che verschließen konnte, daß Karola nun die Hauptverdächtige war. Es gab eigentlich keine vernünftigen Zweifel mehr an ihrer Täterschaft. Und das Verbrechen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, war eines der niederträchtigsten: Raubmord! Er sollte die Zelte hier abbrechen und sie unverzüglich verhaften! Vorher müßte er die Befragung von Frau Harzendorf allerdings noch zum Abschluß bringen. »Sie sind also still und heimlich wieder fortgegangen?« knüpfte er dort an, wo er sie unterbrochen hatte. »Ja«, erwiderte sie kurz angebunden. »Wo haben Sie die Nacht dann verbracht?« hakte Brinkmann nach. »In der Wohnung von Ernst Bickel«, gab Frau Harzendorf nach kurzem Zögern zu. »Bickel?« fragte Brinkmann verblüfft zurück. »Der von der Bank?« »Ja«, antwortete sie schlicht. »Sie werden es ja doch herausfinden: Bickel ist mein Liebhaber.« »Sie haben ein Verhältnis mit Herrn Bickel?« vergewisserte sich Brinkmann, und daran, wie er das erste und das letzte Wort betonte, ließ sich unschwer erkennen, wie überrascht er war. Er hatte sie für eine Frau von Format gehalten, und da ließ sie sich mit einem solchen Schnösel ein! Aber vielleicht unterschätzte er ihn ja auch? Und außerdem: Was ging es ihn an? »Herr Bickel wird Ihre Aussage bestätigen?« erkundigte er sich in sachlichem Ton. »Fragen Sie ihn doch selbst«, gab Brigitte Harzendorf zurück. Brinkmann nickte. Das würde er wohl tun müssen, rein routinemäßig. Aber das hatte Zeit. Jetzt war erst einmal Karola Amendt an der Reihe! Brigitte Harzendorf hatte gewartet, bis die Leute von der Kripo abgezogen waren, und sich dann auf den Weg zu Bickels Wohnung gemacht. Sie wollte die Affäre mit ihm ein für allemal beenden und ihre persönliche Habe aus der Wohnung holen, bevor Bickel von der Arbeit nach Hause kam, denn sie hatte nicht die geringste Lust, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen und sich seine Drohungen und Schmeicheleien anzuhören, mit denen er dachte, sie in Schach halten zu können. Die Worte des Kommissars, mit denen er nachgefragt hatte, ob sie ein Verhältnis mit Bickel habe, klangen ihr noch im Ohr. Es war 120
nicht zu überhören gewesen, daß sich sein Erstaunen nicht auf das Verhältnis an sich bezogen hatte, sondern auf Bickel, den er ganz offensichtlich für unter ihrem Niveau hielt. Das war zwar auch ihre Meinung, aber trotzdem hatte es ihr einen Stich versetzt, als ein unbeteiligter Dritter wie der Kommissar, der schon von Berufs wegen Menschenkenntnis besaß, sie ihr mit seiner verblüfften Frage bestätigt hatte. Ganz so einfach war die Sache aber nicht, und sie wollte Bickel nicht unrecht tun. Anfangs hatte er lange, ausdauernd und sehr charmant mit originellen Einfällen um sie geworben und ihren Verdacht bald zerstreut, er würde mit seinen Aufmerksamkeiten lediglich das Ziel verfolgen, gut Wetter bei seinem Chef zu machen. Im Bett hatte Bickel sich als eine stürmische Variante erwiesen, als wahres Kontrastprogramm zu ihrem eher behäbigen, dafür aber zärtlicheren und ausdauernderen Mann. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie dahinter gekommen war, daß es Bickel vor allem darauf ankam, seine eigene Lust zu befriedigen, und es für ihn zweitrangig war, ob auch sie dieses Ziel erreichte. Aber da war ihr auch schon klargeworden, daß Bickel, von Ehrgeiz zerfressen, ihren Mann ausbooten wollte, und zwar auf ganzer Linie, geschäftlich wie privat. Und als ihre Beziehung dann auch von ihrer Seite frei von Gefühlen war, und sie eigentlich hätte Schluß machen sollen, hatte sie sie als eine Art Gegengewicht zu den Affären ihres Mannes aufrechterhalten. Vor einiger Zeit hatte Brigitte aber damit begonnen, sich um ihre eigene Zukunft zu sorgen. Was würde geschehen, wenn Bickel, dem sie alles zutraute, ihren Mann vernichtet hätte? Würde er sie als eine Art Beute für sich beanspruchen oder das Interesse an ihr nach seinem Sieg verlieren? Und wie würde sie sich verhalten? Würde sie dem Sieger folgen oder ihrem Mann in den Ruin? Sie war sich da nicht ganz sicher gewesen, und auch das hatte sie beunruhigt. Inzwischen mußte sie sich nicht mehr entscheiden. Die Ereignisse hatten für sie entschieden, und herausgekommen war, daß Bickel sie als eine Trophäe betrachtete, ohne die er seinen Triumph nicht würde genießen können. Bickel war ihr natürlich sofort in den Sinn gekommen, als sie von der Ermordung ihres Mannes erfuhr, aber sie hatte keine Beweise, die einen solchen Verdacht rechtfertigen könnten. Auch die schemenhafte Erinnerung an einen BMW, wie auch 121
Bickel ihn fuhr, der ihr an jenem Abend in rascher Fahrt entgegengekommen war, als sie nach ihrer überstürzten Flucht aus dem Haus, in dem ihr Mann gerade sein tête-à-tête mit dieser Schauspielerin zelebrierte, in die Hauptstraße eingebogen war, reichte dafür nicht aus. Vielleicht würde der Kommissar Klarheit in die Sache bringen, denn bei der Überprüfung ihres Alibis müßte er sich unweigerlich auch mit dem von Bickel beschäftigen, und wenn an dem etwas nicht astrein war, würde er es bestimmt herausfinden. Aber das konnte dauern, denn noch schien er Fuhrmann zu verdächtigen und würde sich danach auf Karola konzentrieren. Brigitte fiel ein, daß sie sich schleunigst mit Karola, die sie aus reiner Bosheit, und um sie zu verunsichern, gedeckt hatte, in Verbindung setzen mußte, bevor der Kommissar sie in die Mangel nehmen konnte. Karola würde das, wie der Kommissar so schön formuliert hatte, vogelfreie Geld mit ihr teilen müssen, und sie könnte ein neues Leben beginnen, das frei von allen Abhängigkeiten wäre. Diese Gedanken hatten sie begleitet, während sie durch die Wohnung zog und ihre Habseligkeiten einsammelte. Gerade war sie damit fertig geworden und wollte die Wohnung schon verlassen, als plötzlich Bickel auftauchte. Ohne ein Gespür für die Stimmung anderer wandte er sich an Brigitte, deren Anwesenheit in seiner Wohnung er für selbstverständlich hielt, und forderte sie auf, so schnell wie möglich einen Erbschein zu beantragen und ihm eine Vollmacht zu erteilen, damit er alles Erforderliche in die Wege leiten könnte, um wenigstens einen Teil von Harzendorfs Hinterlassenschaft zu retten. Einen Erbschein, mutmaßte Brigitte, würde man ihr so bald nicht erteilen. Sie wäre nämlich erbunfähig, wenn sie ihren Mann erschossen hätte. »Aber du hast ihn nicht erschossen!« stieß Bickel im Brustton der Überzeugung hervor. »Woher willst du das so genau wissen?« fragte sie ihn spöttisch. Bickel schwieg und schüttelte nur den Kopf. Brigitte hatte den Eindruck, er würde seinen spontanen Ausruf schon bereuen. »Der Kommissar ist davon jedenfalls nicht so überzeugt«, fuhr sie fort. »Er hätte mich vorhin fast schon verhaftet. Jetzt hängt alles davon ab, ob du mir ein stichhaltiges Alibi geben kannst.«
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Bickels Augen flackerten unruhig hin und her. »Ich habe dir schon einmal gesagt«, stieß er ungehalten hervor, »daß ich dir erst für die Zeit nach Mitternacht ein Alibi geben kann.« »Wo warst du vor Mitternacht?« fragte sie eindringlich. »Ich war im Büro«, erwiderte Bickel, »um mit dem Bericht für den Vorstand zu beginnen. Dein Mann hat ja immer alles Unangenehme auf mich abgewälzt.« »Das ist ja ein fabelhaftes Alibi!« höhnte Brigitte. »Nach zwanzig Uhr kann man das Bankgebäude nur noch mit einem Passierschein verlassen«, erklärte Bickel in einem Ton, den man Kindern gegenüber gelegentlich anschlägt, wenn sie einen einfachen Sachverhalt nicht begreifen wollen. »Der Pförtner stempelt ihn ab und behält das Original.« Er zog seine Brieftasche hervor, öffnete sie und entnahm ihr, ohne hinzuschauen, einen Zettel, den er ihr mit einem Blick reichte, der besagen sollte, wie traurig er es fand, daß sie ihn, aus Mangel an Vertrauen, nötigte, diesen Beweis vorzulegen. »Das hier ist der Durchschlag. Links stehen Datum und Uhrzeit.« Brigitte ließ sich von seinen Worten nicht davon abhalten, das Papier genau zu studieren. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Das ist ja das Datum von heute!« rief sie mehr erschrocken denn verwundert aus, weil ihr mit einem Schlag die Zusammenhänge klargeworden waren. »Eine Fälschung…«, stammelte sie und sah Bickel durchdringend an. »Zeig her!« herrschte er sie an und riß ihr den Zettel brutal aus der Hand. Alles, was Bickel in ihren Augen liebenswürdig gemacht und sie veranlaßt hatte, zunächst auf seinen Flirt und dann auch auf mehr einzugehen, war auf einmal verschwunden. Vor ihr stand einer, der über Leichen ging, und der sich jetzt in die Enge gedrängt sah. »Du warst es«, sagte sie und war auf einmal ganz ruhig geworden. »Du hast meinen Mann ermordet.« Brinkmann hatte es dann doch nicht übers Herz gebracht, Karola noch vor der letzten Vorstellung in Frankfurt festzunehmen: eine noble Geste, wie er sich ein wenig selbstgefällig sagte, die er aber, nachdem sie sich kurze Zeit später als tödliche Nachlässigkeit erwiesen hatte, bitter bereuen sollte.
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Eine knappe Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung beobachtete Karola durch das Loch im Vorhang, wie der Zuschauerraum sich langsam zu füllen begann. Sie entdeckte Brinkmann, der gerade vom Foyer her durch den Eingang kam und dann zur Seite trat, um die anderen Gäste vorbeizulassen. Als sie sah, wie er sich unsicher umschaute, mußte sie grinsen. Der Kommissar würde sich noch ein wenig gedulden müssen, denn der Saaldiener hatte die Anweisung, den Stuhl erst unmittelbar bevor sich der Vorhang heben würde, hereinzutragen, wie es im Übrigen auch die feuerpolizeilichen Vorschriften vorsahen, und ihn in Höhe der mittleren Zuschauerreihe auf dem Seitengang zu plazieren. Karola hatte es sich nicht nehmen lassen, eigenhändig einen Louis-Philippe-Armlehnstuhl aus dem Fundus des Theaters auszuwählen, von dem sie dachte, daß er der Körpergröße des Kommissars entsprach und ihm eine bequeme Sitzmöglichkeit bieten würde. Als sie an das bevorstehende Treffen mit ihm dachte, hatte sie auf einmal ein mulmiges Gefühl, denn der Kommissar hatte die Einladung in einem merkwürdig verbissenen Ton ausgesprochen. Aber vielleicht hatte sich das am Telefon auch nur so angehört. Irgendwie freute sie sich darauf, die alten Zeiten mal wieder auferstehen zu lassen, und sie war neugierig darauf, zu erfahren, wie sie sich aus der Sicht ihres früheren Fans darstellten. Karola trat vom Vorhang zurück und überließ das mit Leder eingefaßte und mit einer kleinen Klappe versehene Loch Gaby Schuster. Schon die ganze Zeit hatte sie ungeduldig gedrängelt, um einen Blick in den Zuschauerraum werfen zu können, denn sie hatte erfahren, daß ein bekannter Fernsehregisseur wegen der Besetzung einer größeren Rolle in seinem nächsten Film eigens ihretwillen in die Vorstellung kommen wollte. Karola eilte in ihr Büro, holte den Diplomatenkoffer hervor, den sie in einem Schrank versteckt hatte, und nahm ihn mit nach oben zur Stargarderobe, wo sie auf einen vor Spielfreude nur so sprühenden Anton Potthoff traf. Martha Finke hatte ihm soeben als Vertreterin des Ensembles und vor allem seines Wettgegners Max Hanke, mitgeteilt, daß man ihn freiwillig zum Sieger der Wette erklärt hatte, und ihm den Tausendmarkschein, um den es gegangen war, verpackt in ein dezentes Kuvert, gleich feierlich übergeben. Die Wette hatte bisher nur Unglück gebracht, und da Schauspieler abergläubische Leute sind, hatte man beschlossen, auf sie zu verzichten, um die letz124
te Vorstellung nicht zu gefährden. Karola war froh über diese Entwicklung, enthob sie sie doch der lästigen Verpflichtung, diese alberne Strichliste führen zu müssen. Als aus dem Lautsprecher jetzt die Stimme des Inspizienten dröhnte, der die Schauspieler auf die Bühne rief, und Potthoff den Theaterdolch, mit dem er die ganze Zeit gespielt hatte, auf den Schminktisch legte und sich von seinem Stuhl erhob, machte Karola ihn auf den Diplomatenkoffer aufmerksam, indem sie ihn kurz ein wenig in die Höhe hielt. »Darf ich den bei dir abstellen?« erkundigte sie sich beiläufig. Potthoff nickte und deutete zu einer kleinen Nische hin, die von einem Vorhang halb bedeckt war. »Der wird nach der Vorstellung abgeholt. Von einem Herrn Völlart. Nur, daß du Bescheid weißt, falls ich nicht da sein sollte.« Dann trat sie nah an Potthoff heran. »Toi, toi, toi!« spuckte sie ihm über die Schulter. Potthoff nickte nur. Bedanken durfte man sich nicht, das brachte nur Unglück. Auch er war nicht frei von Aberglauben. Mit dem dritten Läuten, dem letzten Signal für die Zuschauer, sich auf ihre Plätze zu begeben, hatte der Saaldiener den schweren, etwas pompös wirkenden Armlehnstuhl hereingeschleppt und Brinkmann, der immer noch am Eingang stand und schon befürchtet hatte, vergessen worden zu sein, ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen. Brinkmann mußte noch einen Augenblick warten, bis der Stuhl an der richtigen Stelle stand und er endlich Platz nehmen konnte. Er rückte sich zurecht und stellte fest, daß der Stuhl angenehm und bequem war. Dann stützte er die Arme auf, schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und sah hoch. Erst jetzt bemerkte er die vielen neugierigen Blicke, mit denen er gemustert wurde und nahm wahr, daß man über ihn tuschelte. Das irritierte ihn, machte ihn verlegen und ließ den Wunsch in ihm aufkommen, ganz woanders zu sein, nur nicht hier. Die Leute hatten vorher schon den bekannten Fernsehregisseur entdeckt und festgestellt, daß er weniger Haare auf dem Kopf hatte und auch viel beleibter war, als die Fotos in den Gazetten immer hatten vermuten lassen. Das hier mußte jedoch ein ganz besonders prominentes Exemplar der Bewunderungswürdigen sein, wenn man extra für ihn einen so feudalen Sessel bereitstellte. Der Ministerpräsident konnte es nicht sein, den kannte man. Vielleicht war es der neue Intendant vom Fernsehen? Aber wann sah man schon einen 125
Fernsehintendanten ins Theater gehen? Es mußte der neue Coach von Eintracht Frankfurt sein! Fußballtrainer bemühten sich ja neuerdings um ein vornehmes Erscheinungsbild. Oder war es doch einer vom Hochadel? War da nicht neulich einer in der Zeitung abgebildet gewesen, der genauso einen Schnauzbart hatte wie der dort? Zu Brinkmanns großer Erleichterung wurde das Licht im Zuschauerraum langsam dunkler, und als der Vorhang endlich aufging, hatte auch der letzte der Neugierigen seinen Blick von ihm ab- und dem Geschehen auf der Bühne zugewandt. Gespielt wurde Der Kammersänger, ein Stück in einem Akt und zehn Auftritten von Frank Wedekind, in dem der sich als Kunst gerierende Kulturrummel und der Star-Betrieb satirisch auf die Schippe genommen werden. Obwohl es aus dem Jahr 1899 stammte, hatte es an Aktualität nicht verloren. Brinkmann ließ sich fesseln von dem Stück und den Darstellern und vergaß streckenweise sogar den eigentlichen Anlaß seines Besuchs. Er applaudierte oft, und der Beifall galt meistens Anton Potthoff, der, wie Brinkmann fand, die anderen mehr oder weniger an die Wand spielte, und bei dem es sich, wie ihm irgendwann während der Aufführung durch den Kopf schoß, um einen ziemlich unerträglichen Zeitgenossen handeln dürfte, wenn er sich im Leben so aufführte, wie auf der Bühne. Er nahm sich vor, Karola später danach zu fragen. Daß Gaby Schuster heute besonders exaltiert spielte und gelegentlich gegen alle Logik besonders die Zuschauer bediente, die vorne rechts saßen, da sich unter ihnen auch der Fernsehregisseur befand, bekam Brinkmann nicht mit, weil ihm der Vergleich mit anderen Vorstellungen fehlte. Als das Stück im neunten Auftritt mit der Auseinandersetzung zwischen dem Kammersänger Gerardo alias Anton Potthoff und seiner Geliebten Helene Marowa, die auch heute wieder glänzend von Martha Finke dargestellt wurde, seinem Höhepunkt zustrebte, und Martha nach ihrem Muff griff, aus dem sie den Revolver ziehen wollte, um sich wie jeden Abend auf offener Bühne zu erschießen, fiel deutlich vernehmbar ein Schuß. Einige Zuschauer lachten, weil sie eine Panne vermuteten, aber Brinkmann war alarmiert. Und da er die Verwirrung auf der Bühne bemerkte und sah, wie die Schauspieler erschrocken ihre Blicke in die Richtung lenkten, aus der der Schuß gekommen war, sprang er auf, eilte nach vorne, hechtete mit einem Satz auf die Rampe, lief quer über die Bühne und verschwand 126
hinter den Kulissen. Die Maxime The show must go on! im Kopf, nahm Potthoff geistesgegenwärtig und als ob nichts geschehen wäre, den Faden wieder auf und spielte weiter. Die anderen folgten seinem Beispiel, um wenigstens diese letzte Vorstellung in Frankfurt zu einem würdigen Ende zu bringen. Brinkmann hatte inzwischen den Flur erreicht, von dem die Garderoben abgingen, und sah sich um. Die Tür zur Star-Garderobe stand weit offen, und Brinkmann erreichte sie mit einem Satz. Er blieb wie angewurzelt stehen. Mitten im Raum stand Karola. Sie war völlig außer sich und einem hysterischen Zusammenbruch sehr nahe. In der Hand hielt sie eine Pistole. Vor ihr am Boden lag Brigitte Harzendorf. Ihre Augen waren weit geöffnet, der Einschuß in der Herzgegend war deutlich sichtbar. Es konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß sie tot war. »Ich war es nicht«, flüsterte Karola atemlos und wie von Sinnen. Brinkmann ging zu ihr, nahm ihr vorsichtig die Pistole aus der Hand und steckte sie in einen jener Plastikbeutel, die er immer bei sich hatte, um etwaige Beweisstücke zu sichern. »Ich muß Sie festnehmen, Frau Amendt«, eröffnete er ihr, »das ist Ihnen doch klar?« Karola war wie in Trance. Sie schüttelte den Kopf, aber das bezog sich sicher nicht auf Brinkmanns Frage. Von der Bühne her war Applaus zu hören, der immer wieder aufbrandete und von Bravo-Rufen durchzogen war. Brinkmann ging zum Telefon und wählte schnell eine Nummer. »Brinkmann hier«, sprach er in die Muschel. »Kommt doch mal schnell rüber zum Theater. Mit großer Besetzung. Ich warte hier.« Dann zog er einen Stuhl heran, schob ihn an Karolas Kniekehle und nötigte sie mit sanftem Druck, sich zu setzen. Willenlos ließ sie das geschehen und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Draußen verebbte der Applaus und hörte schließlich ganz auf. Wenig später erschien Potthoff in der Tür und blieb sprachlos stehen. Karola erwachte aus ihrer Apathie und richtete ihren Blick auf ihn. »Warum bist du nicht auf der Bühne?« fragte sie tonlos und als ob sie aus einer völlig anderen Welt käme.
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»Das Spiel ist aus«, erwiderte Potthoff und fügte, als er sich bewußt wurde, wie mißverständlich seine Worte klangen, hastig hinzu: »Ich meine, die Vorstellung ist zu Ende.« Als Paul Völlart in seinem Käfer am Hintereingang des Theaters vorfuhr, fielen ihm gleich die Polizeifahrzeuge auf. Beunruhigt parkte er seinen Wagen in sicherer Entfernung und beschloß, erst einmal abzuwarten. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sich endlich etwas tat, und eine Stunde ist eine sehr lange Zeit für einen, der sämtliche Zelte hinter sich abgebrochen hat, in eine neue Zukunft aufbrechen will und plötzlich alles wieder in Frage gestellt sieht. Die Unsicherheit wuchs noch, als Völlart gegen Ende dieser Stunde sah, wie Karola Amendt abgeführt wurde und man wenig später einen Zinksarg diskret aus dem Theater brachte und in einen bereitstehenden Leichenwagen schob. Es verging noch eine weitere Viertelstunde, bis auch das letzte der Polizeifahrzeuge verschwunden war, und selbst dann stieg Völlart noch nicht aus seinem Käfer aus, sondern blieb sitzen und versuchte, die Risiken abzuwägen, die er eingehen mußte, um seinen Traum zu verwirklichen. Aber waren die drei Millionen nicht jedes Risiko wert? Völlart gab sich einen Ruck und stieg aus. Er huschte zum Bühneneingang hinüber, gelangte durch die Tür zum Treppenhaus und eilte die steilen Stiegen hinauf, bis es nicht mehr weiter ging und er den Flur erreichte, der zu den Garderoben führte. Er mußte nicht lange suchen, um die Star-Garderobe zu finden. Die Tür stand offen, und aus dem Raum drangen gedämpfte Stimmen. Das Ensemble hatte sich um Potthoff versammelt, und man versuchte an dem Ort, an dem sich vor kurzem ein schreckliches, unbegreifliches Verbrechen abgespielt hatte, die Betroffenheit gesprächsweise abzubauen. Als Völlart in der Tür erschien, wurde es still, und alle sahen zu ihm hin. »Ja bitte?« brummte Potthoff ihn ungnädig an. »Ich wollte meinen Koffer…«, begann Völlart und hielt gleich wieder inne, weil sein Blick auf die Stelle gefallen war, an der die Tote gelegen hatte. Sie war mit Kreidestrichen markiert, und die Leute im Zimmer hatten sie ehrfurchtsvoll frei gelassen. »Herr Völlart?« fragte Potthoff, sich an Karolas Auftrag erinnernd. Völlart nickte. 128
»Ich weiß nicht, ob die Polizei…«, murmelte Potthoff und sah suchend zu der Nische hin. »Doch, da steht er ja!« rief er aus. »Hinter dem Vorhang.« Völlart nickte abermals, bahnte sich einen Weg durch die dichtgedrängt im Zimmer stehenden Leute bis zu der Nische hin, holte den kleinen Koffer hervor, packte ihn fest am Griff und trat den Rückzug an. »Danke«, sagte er, als er an Potthoff vorbeikam, und sah zu, daß er aus der Garderobe kam.
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IX Karola hatte ihre Festnahme und ihre anschließende Verwandlung in einen Untersuchungshäftling in einem Zustand innerer Betäubung erlebt. Es war ihr vorgekommen, als stünde sie neben sich und beobachte eine völlig fremde Person. Man hatte ihr Fragen gestellt, und sie hatte geantwortet, aber sie wußte später nicht mehr zu sagen, was sie gefragt worden war und was sie geantwortet hatte. Erst als sie in ihrer Zelle auf dem harten Bett lag, dem ganz fein die widerlichen Körperdünste ihrer zahllosen Vorgängerinnen entströmten, und sie in das Dunkel des Raums starrte, der nicht völlig dunkel war, weil ein matter Schein von draußen durch das kleine, vergitterte Fenster fiel, kam sie langsam wieder zu sich. Und mit der Erinnerung kehrten die Bilder zurück, die, sobald sie die Augen schloß, auftauchten, und ihr in unbarmherziger Deutlichkeit nicht nur ihren ermordeten Geliebten zeigten, wie er mit erstarrten Augen vor dem Tresor lag, sondern jetzt auch seine Frau, wie sie mit maßlosem Erstaunen im Gesicht tödlich getroffen zusammenbrach. Karola zermarterte sich das Hirn, um die vielen Eindrücke, die ihr wirr durch den Kopf zuckten, zu ordnen und in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Es dauerte Stunden bis sie die Ereignisse, die zu ihrer Festnahme führten, wie einen Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen konnte. Nachdem sie Potthoff mit einem Toi, toi, toi! auf die Bühne geschickt hatte, war sie noch in seiner Garderobe geblieben. Sie hatte sich an den Schminktisch gesetzt und lange in den Spiegel geschaut. Erinnerungen an alte Zeiten waren auf einmal wach geworden, und sie hatte die Erregung gespürt, von der sie immer ergriffen wurde, wenn der Zeitpunkt ihres Auftritts nahte. Sie mußte an Harzendorf denken, der sich manchmal vor ihrem Auftritt in ihre Garderobe geschlichen hatte, und den sie dann im Spiegel erblickte, wenn er plötzlich hinter sie getreten war, um sie zärtlich auf die Schulter zu küssen. Die Erinnerung an Harzendorf hatte sie aus ihrem Tagtraum gerissen. Sie war schnell aufgestanden, hatte die Garderobe verlassen und war auf Zehenspitzen hinter die Bühne geschlichen, auf der die Vorstellung in vollem Gange war. Eine Weile hatte sie den Worten gelauscht, die dort gewechselt wurden und die sie schon so oft gehört 130
hatte, daß sie sie im Schlaf hätte nachbeten können. Unwillkürlich hatte sie gähnen müssen. Sie war müde. Müde und ausgelaugt von den Aufregungen der letzten Tage. Und der Abend würde noch lang werden. Man wollte die letzte Vorstellung feiern, und da war auch noch das Treffen mit diesem Kommissar. Karola beschloß, beides miteinander zu verbinden und ihren früheren Fan zu der Feier der Theaterleute einzuladen. Dann war ihr die Chaiselongue in Potthoffs Garderobe eingefallen. Plötzlich übte diese bequeme Liege eine magische Anziehungskraft auf sie aus, sie war zurückgegangen, um sich ein wenig zu hinzulegen und war auf der Stelle eingeschlafen. Ein Geräusch hatte sie hochfahren lassen, sie hatte sich aufgesetzt, und als sie ihre Benommenheit abgeschüttelt hatte, sah sie Brigitte Harzendorf mitten im Raum stehen. »Mit mir haben Sie wohl nicht gerechnet?« hatte Brigitte süffisant lächelnd gefragt. »Was wollen Sie?« hatte Karola erstaunt zurückgefragt. »Das Geld.« »Welches Geld?« Karola hatte sich zwingen müssen, ihren Impuls, zur Nische hinzuschauen, zu unterdrücken. »Machen Sie keine Faxen!« hatte Brigitte noch gesagt und war drohend auf sie zugekommen. Ein undefinierbares Geräusch an der Tür hatte Brigitte dann veranlaßt, sich umzudrehen. Da Brigitte ihr den Blick zur Tür verstellt hatte, konnte Karola nicht sehen, was dort vor sich ging. Sie hörte Brigitte nur entsetzt »Nein!« schreien, und dann war der Schuß gefallen. Mit einer grotesken Drehung war Brigitte zu Boden gestürzt, und noch während sie stürzte, hatte Karola das Erstaunen in ihrem Gesicht bemerkt, das sie im Gedächtnis behalten sollte. Dann hatte Brigitte vor ihr am Boden gelegen, mit brechenden Augen, und Blut war in einem feinen Strahl aus ihrem Mundwinkel geronnen. Karola war schlagartig von einer tödlichen Angst befallen worden. Der nächste Schuß würde ihr gelten! Sie hatte zur Tür gesehen, um ihrem Henker in die Augen zu blicken, aber da stand niemand mehr. Dafür war eine Pistole über den Boden auf sie zu geschlittert, und als sie vor Karolas Füßen liegengeblieben war, hatte sie sie instinktiv aufgenommen, um sie voller Angst und Entsetzen zu betrachten. Dann war jemand gekommen und hatte ihr die Waffe aus der Hand genommen, und sie hatte »Ich war es nicht« gestammelt, bevor sie 131
den Kommissar erkannt hatte, der ihr kürzlich noch gestanden hatte, einer ihrer glühendsten Verehrer gewesen zu sein. Nachdem Brinkmann Karola der Justiz überstellt hatte, war er nach Hause gefahren. Er hatte sich fest vorgenommen, keine Emotionen an sich herankommen zu lassen, um bei klarem Verstand den Text zu formulieren, mit dem er ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst einleiten wollte. Ihm war nämlich klargeworden, daß er gegen einige elementare Grundregeln der Kriminalistik verstoßen hatte. Er hätte den Fall in dem Moment abgeben müssen, in dem er sich bewußt geworden war, daß er wegen Befangenheit zu keiner objektiven Wertung der Fakten mehr fähig war. Er hatte den Moment nicht nur nutzlos verstreichen lassen, sondern auch danach noch einen schweren Fehler gemacht, als er, statt sofort zuzugreifen, Karolas längst fällige Festnahme aus ganz persönlichen, privaten Gründen aufgeschoben und damit einen weiteren Mord ermöglicht hatte. Im Verfassen von Selbstanzeigen war Brinkmann völlig unerfahren, er hatte dergleichen vorher noch nie gemacht. Je länger er über die zutreffendsten Formulierungen nachdachte, desto fadenscheiniger wurde ihm das ganze Unternehmen. Als er dann gegen Morgen noch einmal durchlas, was er zu Papier gebracht hatte, kam er zu dem Schluß, daß ein anderer an seiner Stelle, der nicht befangen gewesen wäre, kaum anders gehandelt haben würde als er. So entschied er sich, die Sache durchzustehen und seine Ermittlungen zum Abschluß zu bringen. Als er das Blatt zusammenknüllte und in den Papierkorb warf, dachte er noch, daß es auch für jugendliche Schwärmerei so etwas wie eine Verjährungsfrist geben müßte, und die dürfte deutlich unter zwanzig Jahren liegen! Paul Völlart hatte noch in der Nacht das Geld in einen Rucksack umgepackt, der auch die anderen wenigen Dinge enthielt, mit denen er in Südamerika ein neues Leben beginnen wollte. Drei Millionen Mark waren, rein vom Volumen der Geldscheine her, gar nicht soviel, er hatte sich da immer falsche Vorstellungen gemacht. Früh am Morgen war er dann in seinem Käfer zum Flughafen gefahren. Wer reist, läßt immer etwas zurück, das ihn wehmütig stimmt. Für Völlart war dies das Fahrzeug, das er gehegt und gepflegt hatte wie seinen Augapfel, und das er jetzt seinem Schicksal überlassen mußte. Um 132
ihm die bestmögliche Chance zu geben, stellte er es unmittelbar beim Eingang im absoluten Halteverbot ab. Von dort würde es binnen kürzestem abgeschleppt werden und käme immerhin in polizeilichen Gewahrsam. Vielleicht würde es später auf irgendeiner Versteigerung einen Liebhaber finden, der ihm dieselbe Aufmerksamkeit widmete, die er ihm über Jahre hinweg geschenkt hatte. Nach einem letzten Blick verschwand er im Flughafengebäude und erwischte an dem Schalter mit einigem Glück ein stand-by-ticket für den Flug um neun Uhr dreißig nach Buenos Aires. Den Rucksack würde er als Handgepäck mit in die Kabine nehmen. Er setzte sich in einen der bequemen Sessel in der Abfertigungshalle und wartete auf das Check-in, das in einer knappen halben Stunde beginnen würde. Hoppe hatte eine Nachtschicht eingelegt und konnte Brinkmann, der zu ihm ins Labor gekommen war, kaum daß er das Präsidium betreten hatte, bereits die ersten wichtigen Ergebnisse vorlegen. Die Pistole, die Brinkmann Karola aus der Hand genommen hatte, war auf Harzendorf zugelassen. Es handelte sich um die Tatwaffe, mit der sowohl Brigitte als auch Norbert Harzendorf durch einen Schuß ins Herz ermordet wurden. An der Waffe hafteten, abgesehen von einer geringfügigen Wischspur, die wohl von Brinkmann herrührte, ausschließlich die Fingerabdrücke von Karola Amendt. Brinkmann war äußerst zufrieden. Damit ließe sich bei dem bevorstehenden Verhör etwas anfangen. Er hoffte inständig, daß Karola klug genug sein würde, ein Geständnis abzulegen, denn nur dadurch würde sie später ihre Richter milde stimmen und die Höchststrafe vermeiden können. Eine Durchsuchung von Karolas Hotelzimmer und ihres Büros im Theater, die auch noch in der Nacht durchgeführt worden war, hatte keinerlei Ergebnisse gebracht, insbesondere keinen Hinweis auf den Verbleib der vier Millionen Mark, aber den würde Brinkmann ihr, wie er zuversichtlich dachte, in einem verschärften Verhör schon noch entlocken. Bevor er sich daranmachte, ließ er erst noch Herrn Fuhrmann zu sich ins Büro kommen, um ihm zu eröffnen, daß er keinen Haftbefehl gegen ihn beantragen werde; er könne also als freier Mann das Präsidium wieder verlassen, habe sich aber jederzeit für weitere Befragungen zur Verfügung zu halten. Wie das Verhör dann begann, war das Flugzeug mit Paul Völlart an Bord bereits in der Luft und kreiste kurz über Frankfurt. Es ist sogar 133
durchaus möglich, daß Karola Amendt und ihr Anwalt, Doktor Diehl, auf der einen und Brinkmann und Wegener auf der anderen Seite des Tisches das Geräusch dieses Flugzeugs einen Augenblick lang im Ohr hatten, als Brinkmann sich mit strenger Miene, um zu zeigen, daß es jetzt kein Pardon mehr geben würde, an Karola wandte. »Fangen wir mit dem Mord an Brigitte Harzendorf an«, eröffnete er das Verhör. »Schildern Sie das doch mal aus Ihrer Sicht.« »Könnten Sie das vielleicht etwas neutraler formulieren«, fuhr Doktor Diehl sofort dazwischen. »Die Unschuldsvermutung gilt auch für meine Mandantin.« »Wir sind hier nicht vor Gericht!« brauste Brinkmann auf und wandte sich wieder Karola zu. »Wollen Sie eine Aussage machen, oder nicht?« Die Stimmung war gereizt, das war nach dieser Eröffnung klar, und sie sollte auch nicht besser werden, als Karola ihre Schilderung der Ereignisse beendet hatte. »Und der große Unbekannte war weg?« stieß Brinkmann sarkastisch hervor. »Klingt nicht sehr wahrscheinlich, was Sie da sagen.« »Wer die Wahrscheinlichkeit sucht«, gab Doktor Diehl zu bedenken, »wird die Wahrheit nicht finden.« Brinkmann überging diesen Spruch. »An der Pistole waren ausschließlich Ihre Fingerabdrücke«, hielt er Karola vor. »Das hätte Sie eigentlich stutzig machen müssen«, mischte Doktor Diehl sich wieder ein. »Ich fürchte, Herr Brinkmann«, fuhr er dann bedächtig fort, »Sie haben ganz schlechte Karten. Kein Untersuchungsrichter der Welt wird Ihnen einen Haftbefehl ausstellen.« »Warten Sie es ab«, gab Brinkmann zurück und schwenkte dann auf die Vorgänge in Kronberg um. Karola berichtete offen und ohne sich zu schonen, wie sie in die Geschehnisse dort in der Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten verstrickt war. Zu dem Mord an Harzendorf konnte sie nichts sagen, außer daß sie ihn nicht begangen hatte, aber sie gab unumwunden zu, Fuhrmanns Schwarzgeld mitgenommen zu haben. »Wo ist das Geld jetzt?« wollte Brinkmann wissen. »Ich habe es Paul Völlart übergeben«, entgegnete Karola. »Paul Völlart?« fragte Brinkmann erstaunt. »Dem Stiefsohn von Fuhrmann?« 134
»Ja«, antwortete Karola knapp. »Völlart hat mich davon überzeugt, daß das Geld eigentlich ihm gehört.« »Und da haben Sie ihm die vier Millionen Mark gegeben?« brachte Brinkmann ungläubig hervor. »Nicht ganz«, gab Karola verschämt zu. »Ich habe vorher ein bißchen was für mich abgezwackt.« »Ein bißchen was?« fuhr Brinkmann sie an. »Allein an Kümmel haben Sie mehr als hunderttausend Mark gezahlt!« »Meine Mandantin«, mischte Doktor Diehl sich wieder ein, »wird eine genaue Aufstellung vorlegen und auch Vorschläge unterbreiten, wie sie das Geld zurückzahlen wird. Allerdings erst, wenn feststeht, an wen. Dieser Völlart ist übrigens der Entlastungszeuge meiner Mandantin. Er war auch in Kronberg.« »Das wird sich alles herausstellen«, brummte Brinkmann, der sich irgendwie überfahren fühlte. »Den knöpfe ich mir vor! Der soll nur nicht denken, daß er das Geld behalten kann!« »Ich fürchte, da kommen Sie zu spät«, eröffnete Karola ihm mit einem bezaubernden Lächeln. »Völlart ist längst in der Luft, und wenn er landet, wird er sich irgendwo in Südamerika befinden.« Brinkmann dachte spontan an Interpol, Auslieferungsverfahren und diplomatische Interventionen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Wegen lumpiger vier Millionen würde niemand auch nur den Finger krümmen. Aber Völlart sollte sich vorsehen! Der wäre das Geld schnell wieder los, wenn jemand da drüben Wind davon bekäme! Aber diesen Rat konnte er ihm leider nicht mehr geben. Und dann fiel ihm der VW Käfer ein, den er bei Fuhrmann gesehen hatte, und der vermutlich Völlart gehörte. Was er mit dem wohl gemacht hatte? Brinkmann nahm sich vor, dieser Frage bei nächster Gelegenheit einmal nachzugehen. Es dann kam so, wie Doktor Diehl es vorhergesagt hatte. Der Untersuchungsrichter lehnte es ab, einen Haftbefehl gegen Karola Amendt ergehen zu lassen, und die Worte, mit denen er diese Ablehnung begründete, waren alles andere als schmeichelhaft für Brinkmann. Sie gipfelten in der Frage, die der Untersuchungsrichter allerdings leise und hinter vorgehaltener Hand stellte, und nachdem er Brinkmann beiseite genommen hatte, ob er vielleicht persönliche Ressentiments gegen Frau Amendt hege. Er habe da eine gewisse Vorein135
genommenheit zu erkennen gemeint. Was als Rüge gedacht war und Brinkmann in jedem anderen Fall auch so verstanden hätte, war für ihn jetzt Anlaß zur Beruhigung. Er hatte seine Pflichten nicht verletzt, sich nicht der Begünstigung schuldig gemacht und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen sich selbst war endgültig vom Tisch! Karola durfte das Büro des Untersuchungsrichters als freie Bürgerin verlassen. Auf dem Flur nickte sie Brinkmann noch kurz zu, und er nickte ebenso zurück. Aber keiner von beiden kam auf die Idee, die geplatzte Verabredung nachholen zu wollen. Brinkmann und Wegener gingen zum Kommissariat zurück, um den Fall Harzendorf noch einmal neu zu überdenken. Nachdem die bisherigen Verdächtigen, die sich so bequem und fast von selbst angeboten hatten, nicht mehr in Frage kamen, sollte man vielleicht zunächst einmal jene Bankkunden unter die Lupe nehmen, die von Harzendorf am meisten geschädigt worden waren. Da Harzendorf sich auf dem Gebiet der Geldwäsche offenbar gut ausgekannt hatte, war möglicherweise sogar an ganz andere Dimensionen zu denken. Hatte er seine Dienste vielleicht auch dem Drogenhandel angeboten? Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hatte Norbert Harzendorfs Mörder auch Brigitte Harzendorf umgebracht. Vielleicht, weil sie den Mörder beobachtet hatte? Aber Harzendorf war ja noch am Leben, als sie das Haus überstürzt verlassen hatte. Stimmte das auch? Brinkmann hatte ihr Alibi noch nicht überprüft. Das würde er schleunigst nachholen müssen. Und selbst wenn Bickel es bestätigte, war das auch eine Garantie dafür, daß es stimmte? Plötzlich mußte er daran denken, daß er Bickel bisher nur als Informanten und Zeugen angesehen hatte. Als Geliebter von Frau Harzendorf sollte er aber eher zum engeren Kreis der Verdächtigen gezählt werden. Wußte Herr Harzendorf von diesem Verhältnis? Und wenn ja: wie hatte er dazu gestanden? Es gab noch eine ganze Reihe von Fragen, die dringend geklärt werden mußten, aber Brinkmann, der unbedingt vermeiden wollte, sich noch einmal zu verrennen, schob alle Gedanken an Bikkel beiseite. Statt dessen nahm er sich den Ordner vor, in dem er die spärlichen Unterlagen zum Fall Harzendorf gesammelt hatte, und studierte aufmerksam Seite für Seite, in der Hoffnung, daß er irgendwo auf einen Punkt stoßen würde, der ihm die Erleuchtung 136
brachte. Als er die Aufstellung der Akten überflog, die Hoppe bei seinem ersten Besuch im Hause Harzendorf konfisziert hatte, und die später an die Bank zurückgeben worden waren, stutzte Brinkmann. Irgend etwas war da nicht in Ordnung! Er ging die Liste noch einmal durch, aber erst beim dritten Mal entdeckte er, was ihn gestört hatte: Karolas grüne Mappe war nicht aufgeführt! »Wenn sie nicht auf der Liste steht«, erklärte Wegener, dem er diesen Sachverhalt geschildert hatte, kategorisch, »dann war sie auch nicht bei den Sachen, die wir mitgenommen haben!« »Wie kommt Bickel dann an die Mappe?« stellte Brinkmann in den Raum. »Er hat mir selbst gesagt, daß er sie Frau Amendt zurückgegeben hat.« »Und Frau Amendt hat ausgesagt«, ergänzte Wegener, »daß sie sie dem Harzendorf am vierzehnten in seinem Haus übergeben hat.« Brinkmann und Wegener sahen sich alarmiert an. »Denken Sie jetzt auch, was ich denke?« wollte Brinkmann von seinem Assistenten wissen. Wegener nickte. »Los, kommen Sie!« forderte Brinkmann ihn auf, und die beiden Kriminalbeamten stürzten aus dem Präsidium. Ihre Eile wäre nicht nötig gewesen. Bickel hatte sein Büro in der Bank bereits verlassen, und bei ihm in der Wohnung reagierte niemand auf das stürmische Klingeln der Kriminalbeamten. Brinkmann überlegte kurz, ob man die Tür eintreten sollte, unterließ es dann aber. Gewalt war eigentlich nicht seine Sache, er war mehr für die vornehme Art. Man würde später noch einmal vorbeischauen und ihn spätestens morgen in der Bank erwischen. Die Zeit konnte man nutzen, um Karola Amendt noch einmal wegen der Mappe zu befragen. Heute war sie sicher noch in Frankfurt, aber wer wußte, wo sie morgen sein würde? Vielleicht hatte Bickel bei der Rückgäbe noch irgendeine Äußerung gemacht, die man jetzt gegen ihn verwenden könnte. Karola hatte nach ihrer Freilassung erst einmal das Hotel aufgesucht, um ihrem dringenden Bedürfnis, zu duschen und sich etwas anderes anzuziehen, nachzukommen. Der Portier verhielt sich äußerst reserviert. Die Durchsuchungsaktion der vergangenen Nacht hatte großes Aufsehen erregt, einige der Gäste hatten sich gestört gefühlt. Außerdem hatte die Nachtausgabe über ihre Verhaftung berichtet, mit Bild 137
und auf der Titelseite, wenn auch nicht als Schlagzeile. Dort hatte man Karola schon als Doppelmörderin gesehen. Ihr Zimmer war anderweitig vergeben worden, ihre Sachen hatte man beiseite gestellt und der Portier war sichtlich bemüht, sie loszuwerden, auch wenn ihre Anwesenheit eher dafür sprach, daß sie keine Doppelmörderin war. Nur ihre Drohung, jetzt und auf der Stelle einen Riesenskandal zu machen, konnte ihn schließlich bewegen, ihr ein neues Zimmer zuzuteilen. Nachdem sie ausgiebig geduscht, sich hergerichtet und etwas Hübsches angezogen hatte, war sie hinüber zum Theater gelaufen, wo sie erledigen wollte, wozu sie wegen ihrer Verhaftung nicht mehr gekommen war, nämlich Schreibkram, Abschlußaufstellungen und Überweisungen fälliger Rechnungen. Die zu begleichen würde ihr nicht schwerfallen, verfügte sie jetzt doch über ein kleines Polster. Unwillkürlich mußte sie grinsen, als sie daran dachte, daß es ihr tatsächlich gelungen war, ihren Finderlohn zu retten. Das Codewort Kronberg würde ihr in der nächsten Zeit über manche Durststrecke hinweghelfen, sollte sie denn auftreten. Das Theater war heute geschlossen, erst morgen würde ein anderes Tourneeunternehmen mit den Vorbereitungen eines neuen Gastspiels beginnen, aber sie hatte ja einen Schlüssel. Den mußte sie dann gar nicht benutzen, denn der hintere Bühneneingang war unverschlossen, was Karola weiter nicht wunderte. Vielleicht hatte ein Techniker auf der Bühne noch etwas zu erledigen oder die Putzkolonne war zugange. Ihr Büro hatte man gründlich durchstöbert, und Karola war zunächst einmal damit beschäftigt, ihre Unterlagen zu ordnen, bevor sie mit ihrem eigentlichen Vorhaben beginnen konnte. Und das ging ihr dann doch nicht so leicht von der Hand, weil ständig die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf auftauchten, die sie an das furchtbare Erlebnis der vergangenen Nacht erinnerten. Langsam, aber sicher setzte sich der Gedanke in ihrem Hirn fest, daß sie sich nicht auf ihre Arbeit würde konzentrieren können, bevor sie den Ort dieser grausigen Tat, die Star-Garderobe, nicht noch einmal gesehen hätte. Sie stand auf, stieg die Treppe hinauf, durchquerte das Foyer und betrat den Zuschauerraum. Es war mucksmäuschenstill an diesem Ort, der sonst vom Gemurmel des Publikums, von Raunen, Lachen und Applaus erfüllt war, und der Anblick der leeren Zuschauerreihen 138
wirkte irgendwie beklemmend auf Karola. Sie lief über den Seitengang nach vorne, trat durch die kleine Tür, die zur Bühne führte, und blieb, dort angekommen, erst einmal stehen. Die Bühne war leer, man hatte die Dekoration des Kammersängers längst abgebaut, und jetzt war sie wahrscheinlich bereits auf dem Weg nach Köln, wo übermorgen die Gastspielreise fortgesetzt werden würde. Mitten auf der leeren Bühne vor dem verwaisten Zuschauerraum stehend, erinnerte Karola sich daran, daß sie vor ihrem allerersten Auftritt ähnlich dagestanden war, als sie versuchte, ihrer Panik vor dem Publikum, das den Raum bald füllen würde, Herr zu werden, und ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch, das von den Garderoben her zu ihr drang und das ihr vielleicht nur deshalb auffiel, weil die Stille um sie herum so vollkommen war. Das Geräusch konnte von allem Möglichen herrühren, jedes Haus hat seine eigenen Stimmen, und so maß sie ihm keine weitere Bedeutung bei. Daß dies ein Fehler war, wurde ihr schlagartig bewußt, als sie die Tür zur Star-Garderobe öffnete und unvermittelt vor Bickel stand, der nicht weniger überrascht war als sie. »Ich denke, Sie sitzen im Gefängnis!« stieß er hervor. Karola sagte nichts darauf und sah ihn nur mit großen Augen an. Das Bild tauchte vor ihr auf, wie Harzendorf mit Bickel in ihrer Gegenwart umgesprungen war, und blitzartig kam ihr die Erkenntnis, daß Bickel Harzendorfs Mörder war. Seine unerklärliche Anwesenheit hatte nichts anderes zu bedeuten, als daß er der große Unbekannte war, von dem der Kommissar so spöttisch gesprochen hatte, und daß er auch Brigitte ermordet hatte. Vielleicht hatte er bei der Ausübung der Tat etwas verloren, wonach er jetzt suchte, oder es stimmte vielleicht doch, daß es den Mörder an den Ort seiner Tat zurückzieht. Aber das war für Karola unwichtig, sie dachte fieberhaft nur daran, wie sie lebend aus dieser Geschichte herauskommen könnte. »Sie denken, ich habe Harzendorf umgebracht«, sagte Bickel ihr mit leiser, gefährlich klingender Stimme auf den Kopf zu, »und Brigitte auch.« Karola schüttelte ängstlich den Kopf. »Lügen Sie doch nicht!« herrschte Bickel sie an. Es schien ihm eine Genugtuung zu sein, Karola, die ihn bisher immer nur von oben herab behandelt hatte, derart verängstigt vor sich stehen zu sehen. 139
»Ja, ich habe sie erschossen«, brachte Bickel hervor, und in seiner Stimme schwang so etwas wie Stolz mit, »alle beide!« Karola war wie gelähmt. Sie wußte, daß ihr Leben nicht mehr viel wert war, nachdem er ihr den Mord gestanden hatte, daß er auch sie umbringen würde, aber sie war unfähig, zu fliehen. »Warum?« hauchte sie nur. »Kommen Sie!« forderte Bickel sie auf, packte sie beim Arm und führte sie zu der Chaiselongue, wo er ihr einen leichten Stoß gab, der sie aus der Balance brachte und dazu führte, daß sie sich setzen mußte. Bickel baute sich vor ihr auf und weidete sich eine Weile an ihrer Angst. »Weil ich ihn gehaßt habe«, fing er dann unvermittelt an zu reden. »Oder vielmehr: weil er mich all die Jahre gedemütigt hat. Er brauchte mich, um sich überlegen zu fühlen. Ich war sein Blitzableiter.« »Und das haben Sie so lange ertragen?« fragte Karola, die ihn in ein Gespräch verwickeln wollte. Vielleicht war das ihre letzte Chance, doch noch einen Ausweg zu finden. »Ich hatte ja seine Frau«, erwiderte Bickel und fuhr, als er ihren verständnislosen Blick auffing, fort: »Ach, das können Sie ja nicht wissen, ich hatte ein Verhältnis mit Brigitte.« Dann war er es also, für den Brigitte all die vielen Mittel eingesetzt hatte, die ihr in Harzendorfs Badezimmer aufgefallen waren, und sie wunderte sich über Brigittes Wahl: eine Frau wie sie hätte doch ganz andere Chancen gehabt! »Sie glauben mir nicht?« fragte Bickel unwillig. »Eine Frau wie Brigitte trauen Sie mir wohl nicht zu?« »Doch!« beeilte Karola sich zu sagen, und um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fuhr sie schnell fort: »Gab es einen konkreten Anlaß für… für Ihre Tat?« »Ja«, bestätigte Bickel, »Harzendorf wollte mich feuern.« »Hat er ihnen das eröffnet, nachdem ich weg war?« wollte Karola wissen. »Unmittelbar darauf«, gab Bickel zurück. »Ich hatte sogar den Eindruck, Ihr Besuch hätte ihn dazu gebracht«, fügte er vorwurfsvoll hinzu. »Und warum mußte Brigitte sterben?« fragte Karola schnell, um von sich abzulenken. 140
»Sie hat auch nur mit mir gespielt«, brachte Bickel bitter hervor. Dann änderte sich auf einmal sein Gesichtsausdruck, und er fing an, Karola zu mustern. Seine Blicke waren ihr ausgesprochen unangenehm, und sein Stimmungsumschwung schien ihr nichts Gutes zu bedeuten. »Ich habe Sie in Kronberg gesehen«, sagte er dann mit einem anzüglichen Grinsen und hielt inne, als er sah, wie Karola verlegen wurde. »Ich war in Brigittes Schlafzimmer und bin ins Bad gegangen, nachdem Sie es verlassen hatten. Sie hätten die Tür hinter sich schließen sollen.« Bei dem letzten Satz hatte er so etwas wie Entrüstung mitschwingen lassen und sein Grinsen noch vertieft. Er setzte sich neben Karola auf die Chaiselongue und legte ihr, als sie von ihm abrücken wollte, die Hand auf den Schenkel. »Gut, daß Sie es nicht getan haben«, nahm er den Faden dann wieder auf, »was ich da gesehen habe, hat mir nämlich sehr gefallen. Und wenn ich jetzt wieder daran denke, kriege ich direkt Appetit.« Er fing an, an ihrer Bluse zu nesteln. Nein! dachte Karola, nicht auch das noch! Lieber wollte sie gleich sterben! Brinkmann, der ja wußte, in welchem Hotel Karola abgestiegen war, wollte sich dort nach ihrem Verbleib erkundigen. Als der Portier sich weigerte, ihm eine Auskunft zu erteilen, zog er seine Dienstmarke, um so seiner Frage Nachdruck zu verleihen. Der Portier, dem das erneute Erscheinen der Kriminalpolizei nichts anderes zu bedeuten schien, als daß er nun doch eine Doppelmörderin in seinem Haus beherbergte, ließ alle Contenance vergessen und brach in wüste Beschimpfungen aus. Immerhin konnte Brinkmann diesem Wortschwall entnehmen, daß Karola sich vermutlich im Theater aufhielt. Brinkmann und Wegener betraten das Theater ebenfalls durch den hinteren Bühneneingang. Im Büro war niemand, aber eine Handtasche auf einem Stuhl, in die Brinkmann einen kurzen Blick warf, sagte ihm, daß Karola sich im Theater aufhalten mußte. Ab und zu unterdrückt rufend, gingen sie durch das Gebäude und nahmen denselben Weg, den Karola zuvor gegangen hatte. Auch sie hörten ein Geräusch, als sie auf der leeren Bühne standen, und auch diesmal kam es von den Garderoben her. Von einer dunklen Ahnung gepackt, eilte Brinkmann zur Star-Garderobe und riß die Tür auf. 141
Zwei Menschen sah er dort, beide halbnackt, in wilder Ekstase miteinander auf der Chaiselongue ringend. In einem von beiden erkannte er Karola. Die Situation war eindeutig! »Pardon!« murmelte Brinkmann und zog die Tür wieder zu. Es war nicht zu fassen! Kaum aus der Haft entlassen, hatte sie nichts anderes im Kopf, als es mit dem Nächstbesten zu treiben! Dem Nächstbesten? Moment, den kannte er doch! Brinkmann riß die Tür wieder auf. Richtig, es war Bickel! Und die Situation, die er als eine eindeutige eingestuft hatte, erwies sich als eine äußerst gefährliche! Bickel hatte nämlich plötzlich ein Messer in der Hand, das er Karola an die Kehle setzte. »Einen Schritt weiter«, brüllte er Brinkmann an, »und sie ist tot!« Es herrschte pures Entsetzen in dem Raum, und Brinkmann wagte es nicht, sich zu rühren. Karola, die durch Brinkmanns Erscheinen mit knapper Not einer Vergewaltigung entgangen war, konnte als erste einen halbwegs vernünftigen Gedanken fassen. »Wo hat der das Messer auf einmal her?« fragte sie sich. Und auf einmal wußte Karola, daß es sich um das Theatermesser handeln mußte, das sie jüngst auf dem Schminktisch gesehen hatte, und fing lauthals zu lachen an. »Jetzt dreht sie total durch«, dachte Brinkmann fassungslos und sah schon das Blut aus ihrer durchtrennten Kehle quellen. Aber das Messer hatte keine Schneide, und das wußte Bickel auch. Deshalb gab er Karola einen mächtigen Stoß, der sie in Brinkmanns Arme warf, so daß der Kommissar erst einmal außer Gefecht gesetzt war, und trat die Flucht durch die Tür an. Aber da stand Wegener, der sich die Chance einer lobenden Erwähnung in dem späteren Bericht nicht entgehen lassen wollte. Mit ein paar Tricks, die er auf der Polizeischule beim Angriffs- und Verteidigungstraining gelernt hatte, machte er Bickel kampfunfähig und legte ihm auch gleich die Handschellen an. Nachdem eine höhere Gewalt sie ihm in die Arme geworfen hatte, hielt Brinkmann Karola noch einige Augenblicke lang beschützend fest und dachte, daß ihm der Geruch, der ihren Haaren entströmte, eine Mischung aus Shampoo und Parfüm, äußerst angenehm war, während sie sich dachte, daß die Schultern dieses Kommissars wie geschaffen zum Anlehnen waren. Brinkmann überließ es Wegener, Bickel mit Hilfe rasch herbeibeorderter Polizeibeamten abführen zu lassen. Er blieb noch ein bißchen im Theater und wartete, bis Karola sich wieder einigermaßen 142
hergerichtet hatte. Sie nahmen dann zusammen den Haupteingang, um das Theater zu verlassen. »Da vorne kenne ich eine kleine Kneipe«, meinte Brinkmann ganz beiläufig im Hinausgehen. »Beim Häuschen heißt sie, da kann man auch Antiquitäten kaufen. Oder ist es umgekehrt? Ein Antiquitätenladen, in dem man auch was trinken kann? Na, egal… Ich meine: Wollen wir da noch ein Glas Wein zusammen trinken?« Er sah sie unsicher an und war auf eine Ausflucht, wenn nicht gar auf eine Abfuhr gefaßt. Sein Blick erinnerte an den eines Dackels, der auf einen verbotenen Sessel gesprungen war, in der Hoffnung, diesmal sitzen bleiben zu dürfen. »Und über vergangene Zeiten reden?« ergänzte Karola und ließ das bezaubernde Lachen hören, das Brinkmann von früher noch im Ohr hatte. Besonders hinreißend hatte er es gefunden, als sie es bei der Darstellung der Laura in der Glasmenagerie zum Einsatz gebracht hatte. »Warum nicht?« gab er aufgekratzt zurück. »Ja, warum eigentlich nicht?« sagte sie und nahm seinen Arm.
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