Oliver Schwedes (Hrsg.) Verkehrspolitik
Perspektiven der Gesellschaft Herausgegeben von Bernhard Frevel
Politik und ...
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Oliver Schwedes (Hrsg.) Verkehrspolitik
Perspektiven der Gesellschaft Herausgegeben von Bernhard Frevel
Politik und Gesellschaft sind seit längerem einem raschen und tiefgreifenden Wandel unterworfen. In der Buchreihe "Perspektiven der Gesellschaft" werden die Herausforderungen dieses Wandels und die Hauptprobleme der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung analysiert. Ziel der Reihe ist es, die komplexen Zusammenhänge dieser Probleme in lesbarer und verständlicher Form einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Oliver Schwedes (Hrsg.)
Verkehrspolitik Eine interdisziplinäre Einführung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-18043-4
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................................. 9 I.
Zur politischen Wissenschaft des Verkehrs
Oliver Schwedes Statt einer Einleitung .......................................................................................... 13 II. Verkehrsdimensionen Stephan Rammler Verkehr und Gesellschaft – Verkehrspolitik als Mobilitätsdesign...................... 37 Sebastian Bamberg Mensch und Verkehr – Plädoyer für eine empirisch gestützte Verkehrspolitik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage............................. 57 Udo Becker Verkehr und Umwelt – Zu den übergeordneten Zielen von Verkehrspolitik und der Rolle von Umweltaspekten.................................................................... 77 Heike Link Verkehr und Wirtschaft – Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrs.... 91 Christian Holz-Rau Verkehr und Verkehrswissenschaft – Verkehrspolitische Herausforderungen aus Sicht der Verkehrswissenschaft .................................. 115
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Inhaltsverzeichnis
III. Zentrale Themenfelder Michael Hascher Verkehrspolitik in der historischen Rückschau ................................................ 143 Nils C. Bandelow, Stefan Kundolf Verkehrspolitische Entscheidungen aus Sicht der Politikwissenschaft ............ 161 Stephan Daubitz Mobilität und Armut – Die soziale Frage im Verkehr ...................................... 181 Claus J. Tully, Dirk Baier Mobilitätssozialisation ...................................................................................... 195 Regine Gerike Das Phänomen Stau .......................................................................................... 213 Tina Gehlert Verkehrssicherheit ............................................................................................ 233 Martin Schiefelbusch Kundenrechte und Kundendienst im öffentlichen Verkehr............................... 253 Tilman Bracher Stadtverkehr...................................................................................................... 275 Thomas W. Zängler Freizeitmobilität und Freizeitverkehr ............................................................... 297 Katrin Dziekan Öffentlicher Verkehr......................................................................................... 317 Gert Schmidt Automobil und Automobilismus ...................................................................... 341 Jutta Deffner Fuß- und Radverkehr – Flexibel, modern und postfossil.................................. 361
Inhaltsverzeichnis
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IV. Ausblicke Ingo Kollosche Verkehrspolitik und Zukunftsforschung – Zur Symbiose von Verkehrsplanung und Szenariotechnik ............................................................. 391 Rudolf Petersen Mobilität für morgen......................................................................................... 411 Autorinnen und Autoren ................................................................................... 431
Vorwort
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Vorwort Vorwort
Der vorliegende Band wurde als Einführung in das Themenfeld Verkehrspolitik der Reihe Perspektiven der Gesellschaft konzipiert und ist insbesondere für die Lehre gedacht. Die Besonderheit der Verkehrspolitik besteht darin, dass sie mit dem Querschnitts-Thema Verkehr in viele andere gesellschaftliche Themenfelder hineinragt und umgekehrt auch von diesen beeinflusst wird. Dem entsprechend versammelt dieser Band Expertinnen und Experten unterschiedlichster Disziplinen, die sich jeweils verschiedenen Dimensionen des Verkehrsthemas widmen. Das Ziel ist es, das komplexe Wirkungsgefüge Verkehr vorzustellen und ein Gefühl für die Möglichkeiten und Grenzen verkehrspolitischer Gestaltung zu vermitteln. Die wissenschaftliche Verkehrspolitik ist eine Domäne der Wirtschaftswissenschaften. Bisher fehlte eine Einführung in das Politikfeld Verkehr, die einen interdisziplinären Ansatz verfolgt und auch von Fachfremden und Studierenden benachbarter Disziplinen ohne großes Vorwissen genutzt werden konnte. Der Band bietet erstmals eine allgemeinverständliche Einführung in die wissenschaftliche Verkehrspolitik, die fächerübergreifend angelegt ist und insbesondere ein Angebot für Studierende darstellt. Um sowohl den wissenschaftlichen wie auch den didaktischen Ansprüchen zu genügen, wurden alle Beiträge von einer neunköpfigen Redaktionsgruppe gelesen und gemeinsam diskutiert, die aus wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestand. Sie haben mich in vielen Sitzungen bei der Begutachtung der Artikel unterstützt und ohne ihre Hilfe wären wertvolle Hinweise nicht zur Sprache gekommen. Ich bedanke mich bei: Stephan Daubitz, Dr. Katrin Dziekan, Melanie Herget, Veronique Kraffel, Benjamin Tiedtke, Verena Tschirner, Anika Vogel und Steffen Wenzel. Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die dieses Buchprojekt trotz vielfältiger anderer Verpflichtungen tatkräftig unterstützt haben. Hervorzuheben ist die große Bereitschaft, mit der sie ihre Texte im Zuge eines ausführlichen Reviewverfahrens so verfasst haben, dass sie der angestrebten Verbindung von wissenschaftlichen und didaktischen Anforderungen entsprechen. Schließlich gilt mein besonderer Dank der Leiterin des Fachgebiets Integrierte Verkehrsplanung, Frau Prof. Christine Ahrend, die den nötigen Freiraum zur Verfügung gestellt hat, um dieses Projekt zu realisieren.
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Vorwort
Ich hoffe, der Sammelband ermöglicht einen hilfreichen Einstieg in das Themenfeld Verkehrspolitik, der von vielen Interessierten genutzt wird und einige vielleicht sogar zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Themenfeld anregt. Oktober 2010, Oliver Schwedes
I.
Zur politischen Wissenschaft des Verkehrs
I. Zur politischen Wissenschaft des Verkehrs
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Statt einer Einleitung
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Statt einer Einleitung Oliver Schwedes
Wir alle sind seit Kindesbeinen verkehrlich unterwegs. Zunächst zu Fuß, dann zumeist mit dem Fahrrad, später möglicherweise mit dem ersten motorisierten Zweirad. Daneben nutzen wir immer wieder die ganze Palette des öffentlichen Verkehrs, angefangen mit dem (Schul-)Bus, der Straßen-, S- und U-Bahn bis zur Eisenbahn. Mit Erwerb des Führerscheins erweitern wir zumeist unseren potentiellen Fuhrpark um das Automobil. Und schließlich machen wir immer früher erste Erfahrungen mit dem Flugzeug. Für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ist das Flugzeug schon heute ein häufig genutztes Gefährt unter anderen. Kurz, nahezu alle Verkehrsmittel sind uns mehr oder weniger vertraut, die meisten Menschen verstehen sich deshalb als Verkehrsprofis. Vor diesem Hintergrund hat es der Verkehrswissenschaftler schwer, denn mit der Verkehrspolitik verhält es sich so ähnlich wie mit dem Wetter: Es gibt eine Differenz zwischen der gefühlten und der tatsächlich gemessenen Temperatur. Für die Menschen zählt die gefühlte Kompetenz, danach richten sie ihr Verhalten aus. In Bürgerversammlungen, in denen verkehrspolitische Fragen wie eine innerstädtische Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h oder die Einführung der Parkraumbewirtschaftung diskutiert werden, gilt der Verkehrswissenschaftler nicht viel. Schließlich wissen es alle Beteiligten aus eigener Anschauung immer besser, sind sie doch täglich im Verkehr unterwegs. Es gibt daher kaum ein Politikfeld, das so emotional aufgeladen ist, weil seine Wahrnehmung bis heute vor allem durch persönliche Erfahrung geprägt wird. Womöglich erklärt sich damit, warum auch in kaum einem anderen Politikfeld die öffentliche Debatte so wenig wissenschaftlich fundiert ist wie in der Verkehrspolitik. Während in anderen Themenbereichen – wie etwa der Gesundheits- oder Energiepolitik – die Bürger sich zu Experten weitergebildet haben, überwiegt in verkehrspolitischen Debatten, das aus persönlicher Betroffenheit gespeiste Bauchgefühl.1 In der Gesundheitspolitik gibt es eine jahrzehntelange Debatte über den Menschen im Rahmen der sog. Apparatemedizin, die, bei allen 1
Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, prophezeite jüngst den „Anfang einer vernünftigen Verkehrspolitik in Deutschland“. Anlass war der kompetente Bürgerprotest gegen das Hauptbahnhofprojekt Stuttgart 21. Ob diese Einschätzung begründet war, muss sich freilich erst noch erweisen.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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weiterhin bestehenden Missständen, zu tiefgreifenden Reformen geführt hat. In der Energiepolitik gibt es eine ebenso lange Kontroverse über die Atomkraft und alternative Verfahren der Energiegewinnung, die, auch wenn der Ausstieg aus der Atomkraft jüngst noch einmal zur Disposition gestellt wurde, zu einem massiven Ausbau erneuerbarer Energien geführt hat. Ähnlich wirkungsmächtige Debatten hat es in der Verkehrspolitik bis heute nicht gegeben, hier dominiert das „business as usual“. Es wundert daher nicht, wenn die Europäische Kommission bilanzierend feststellt, dass sich die Verkehrsentwicklung in Europa noch nicht auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad befindet (vgl. KOM 2009: 3). Es scheint sich also um ein besonderes Politikfeld zu handeln, das sich insbesondere durch eine tiefgreifende Diskrepanz von verkehrspolitischem Anspruch und realer Verkehrsentwicklung auszeichnet. Darauf soll im Folgenden genauer eingegangen werden, bevor in den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes die verschiedenen Dimensionen des komplexen Politikfelds vorgestellt werden. Der einführende Beitrag will den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich die einzelnen Beiträge mit ihren jeweiligen Themenschwerpunkten bewegen. Er soll ein Gefühl für die Möglichkeiten und Grenzen verkehrspolitischer Gestaltungskraft vermitteln und Ansätze aufzeigen, wohin sich die Verkehrspolitik zukünftig entwickeln muss, um sich als ein „normales“ Politikfeld mit entsprechender Wirkungsmacht zu etablieren. Zur Wissenschaft vom Verkehr Während das Politikfeld Verkehr schon durch die alltägliche Beteiligung der Bürger einen speziellen Charakterzug erhält, zeichnet sich auch die wissenschaftliche Disziplin im engeren Sinne durch einige Besonderheiten aus. Die Verkehrswissenschaft im Allgemeinen wie auch die wissenschaftliche Disziplin Verkehrspolitik im Besonderen sind bis heute als Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaften organisiert. Das erklärt sich historisch aus der immensen Bedeutung des Verkehrs im Zuge der Industrialisierung im 19. Jh. Der Motor für die damals einsetzende Wirtschaftsdynamik mit bis dahin ungekannten Wachstumsraten war für alle offensichtlich der Verkehr.2 Die rasant wachsende Arbeitsteilung führte insbesondere zu einer räumlichen Ausdifferenzierung über immer größere Distanzen. Hatte man zuvor alles Notwendige selbst (unter einem Dach, oder doch zumindest in enger Nachbarschaft) produziert, setzte nun eine immer stärkere Spezialisierung ein. Wurde zunächst die Herstellung einzelner 2
Während die durchschnittliche Wachstumsrate vor dem 19. Jh. jahrhundertelang bei höchstens 0,2 % lag, verzehnfachte sie sich zwischen 1820 und 1998 auf etwa 2,2 % pro Jahr (vgl. Maddison 2001).
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Produkte an besondere Produzenten übertragen, die sich räumlich konzentrierten und deren Produkte über immer größere Entfernungen zu den Kunden transportiert werden mussten, sind heute ganze Produktionsprozesse in einzelne Abschnitte zerlegt. So wird ein Auto heute zwar noch an einem Ort zusammengebaut, aber die Produktion der einzelnen Komponenten ist oftmals über die ganze Welt verteilt. Die Integration der Automobilfertigung an einem bestimmten Ort erfordert ein großes Maß an logistischer Kompetenz und ist mit einem entsprechend hohen Verkehrsaufkommen verbunden. In diesem Kontext beschäftigt sich die Verkehrswissenschaft traditionell vor allem mit der Frage, wie sich die Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung zueinander verhalten. Das zentrale Erkenntnisinteresse besteht darin, herauszufinden, wie das Verkehrswesen gestaltet sein muss, damit es zu einem dynamischen Wirtschaftswachstum beiträgt. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei bis heute den harten Infrastrukturmaßnahmen. Aber auch den spezifischen verkehrspolitischen Rahmenbedingungen, die eine reibungslose Verkehrsentwicklung im Sinne eines positiven Wirtschaftswachstums gewährleisten sollen. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst konsequent, dass die Lehrstühle für Verkehrspolitik im deutschsprachigen Raum sämtlich in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt und von Ökonomen besetzt sind. Es ist allerdings überraschend, dass sich die Verkehrsforschung und mit ihr die wissenschaftliche Disziplin der Verkehrspolitik, im Gegensatz zu anderen Wissenschaftsdisziplinen, bis heute vergleichsweise wenig ausdifferenziert hat. So war auch die Stadtforschung, um nur ein Beispiel zu nennen, anfangs von einer ökonomischen Perspektive geprägt, wenn sie nach der wirtschaftlichen Bedeutung von Siedlungs- und Stadtentwicklung gefragt und ihre wechselseitige Beeinflussung untersucht hat. Dementsprechend spielt die Stadtökonomie innerhalb der Stadtforschung bis heute eine prominente Rolle, aber darüber hinaus haben sich mittlerweile weitere Wissenschaftsdisziplinen etabliert, wie die Stadtsoziologie, die geographische Stadtforschung, die Stadtökologie, die Stadtkulturforschung oder die Stadt- bzw. Kommunalpolitik. Demgegenüber beschränkt sich die Verkehrswissenschaft auf die sporadische Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen, vor allem der Psychologie. Auch die Geographen haben versucht, in den Verkehrswissenschaften Fuß zu fassen. Gleichwohl hat sich bis heute keine eigenständige Verkehrsgeographie etabliert, die mehr ist als eine Hilfsdisziplin der ökonomischen Verkehrswissenschaft. Auch die Verkehrssoziologie ist, trotz vielfältiger Bemühungen, keine anerkannte Größe innerhalb der Verkehrswissenschaft. Das gleiche gilt schließlich auch für die Verkehrspolitik, wenn wir berücksichtigen, dass sie nach wie vor eine Domäne der Ökonomen ist und kaum von Politikwissenschaftlern behandelt wird. Man kann es aber auch umdrehen und selbstkritisch feststellen,
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Oliver Schwedes
dass die Politikwissenschaft die Verkehrspolitik noch nicht als ein eigenständiges Politikfeld für sich entdeckt hat (vgl. Sager/Kaufmann 2002). Spätestens hier stellt sich dann freilich die Frage, welchen Mehrwert andere Disziplinen für die Verkehrswissenschaft erbringen. Besteht der Grund dafür, dass die anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bisher kaum Anschluss an die Verkehrswissenschaften gefunden haben, womöglich darin, dass sie nichts zu sagen haben, was über das hinausgeht, was die Wirtschaftswissenschaften sowieso schon wissen? Im Folgenden soll diese Frage zumindest für die Politikwissenschaft beantwortet werden. Aber auch ohne die möglichen Beiträge aller genannten Disziplinen für die Verkehrswissenschaft vorzustellen, kann festgestellt werden, dass Disziplinen wie die Umweltwissenschaften oder die Soziologie, wichtige Hinweise liefern können, die von den Wirtschaftswissenschaften allein, aufgrund der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems, weder erbracht werden können noch sollten. Denn im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung, die bekanntlich auf den drei Säulen der Ökonomie, dem Sozialen und der Ökologie fußt, erfüllt die Wirtschaftswissenschaft nur im Fall der Ökonomie eine tragende Rolle. Anders gesagt: Wenn wir den allenthalben formulierten Anspruch einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung ernst nehmen, dann ist die Wirtschaftswissenschaft allein mit den damit verbundenen Herausforderungen wahrscheinlich überfordert. Womit aber beschäftigt sich nun die Politikwissenschaft und worin besteht ihr besonderer Beitrag für die Verkehrswissenschaft bzw. die wissenschaftliche Disziplin der Verkehrspolitik im Vergleich zu den Wirtschaftswissenschaften? Zur politischen Wissenschaft vom Verkehr Zunächst ist festzustellen, es gibt nicht die Politikwissenschaft, vielmehr gibt es ganz unterschiedliche Zugänge zur Politik. Dabei hängt das spezifische Erkenntnisinteresse von dem jeweils zugrundeliegenden theoretischen Politikverständnis ab. Anhand der verkehrspolitischen Zielvorgabe einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung, lassen sich die unterschiedlichen politikwissenschaftlichen Ansätze demonstrieren. Indem wir das Konzept einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung zur Richtschnur verkehrspolitischer Handlungen machen, verfolgen wir einen normativen Politikbegriff, der sich auf ein an inhaltlichen Werten orientiertes Handeln bezieht und auf die Herstellung und Erhaltung einer „guten Ordnung“ gerichtet ist, in unserem Fall ein nachhaltiges Verkehrswesen. Dieses wird mithin als Wert an sich gesetzt, den es zu verfolgen gilt, ohne danach zu fragen, wie das unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen möglich ist.
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Nun hat sich schnell gezeigt, dass eine nachhaltige Verkehrsentwicklung von den meisten Menschen als Wert an sich verinnerlicht wurde, die Vorstellungen darüber, wie dies verwirklicht werden soll, jedoch stark davon abhängt, wie die Menschen den Wert einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung für sich definieren. So birgt allein die Unterscheidung zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Interessen großes Konfliktpotenzial, das zu Kontroversen über die richtigen Maßnahmen Anlass gibt. Hier setzt der pragmatische Politikbegriff an, indem er die Macht- und Herrschaftsverhältnisse beleuchtet, die bei der Aushandlung einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung wirksam werden. Während im Falle des pragmatischen Politikbegriffs den Akteuren mit ihren unterschiedlichen Machtressourcen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, setzt der politökonomische Politikbegriff einen anderen Akzent. Sein Fokus liegt auf der Betrachtung der Wechselwirkung zwischen Politik und Ökonomie. Untersucht werden sowohl die politischen Folgen wirtschaftlichen Handels wie auch die wirtschaftlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen. Auf die enge Beziehung zwischen Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung wurde schon eingegangen, der zufolge Verkehrspolitik als eine abgeleitete Größe erscheint, die sich nach den jeweiligen ökonomischen Erfordernissen richtet, während die sozialen und ökologischen Herausforderungen allenfalls nachrangig behandelt werden. Schließlich lässt sich das Politikfeld Verkehr mit einem systemtheoretischen Politikbegriff als ein relativ autarkes Sub-System begreifen, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, an denen dann alle Gesellschaftsmitglieder ihr Handeln ausrichten müssen. Das Ziel besteht darin, Steuerungsleistungen zu erbringen, die die gesellschaftliche Integration gewährleisten. Das verkehrspolitische Konzept einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung erscheint vor diesem Hintergrund als eine Kompromissformel, die im Zuge eines kommunikativen Aushandlungsprozesses entsprechend der für die gesamtgesellschaftliche Integration erforderliche, verkehrspolitische Steuerung ausgelegt wird. Das kann dann einmal zu Gunsten des Wirtschaftswachstums, ein anderes Mal im Sinne des sozialen Ausgleichs und wieder ein anderes Mal zum Vorteil der Umwelt ausfallen. Lässt man die verschiedenen Politikbegriffe Revue passieren, wird bald deutlich, dass sie sich nicht zwingend widersprechen. Natürlich ist das normative verkehrspolitische Konzept einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung handlungsleitend und kann zum Ausgangspunkt politikwissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden. Deshalb muss man nicht die machtvollen Partikularinteressen aus den Augen verlieren, die das gemeinsame Ziel immer wieder konterkarieren. Das dabei Wirtschaftsinteressen eine besonders prominente Rolle spielen, ist gerade im Politikfeld Verkehr evident. Schließlich müssen hier, wie in anderen Politikfeldern auch, für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen bindende Entscheidungen getroffen werden, die das reibungslose Funktionieren moderner
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kapitalistischer Gesellschaften gewährleisten. Es erscheint daher nicht sinnvoll, sich auf die eine oder andere theoretische Seite zu schlagen. Stattdessen soll in diesem Sammelband dem Leser überlassen bleiben, unter welchem Blickwinkel er die einzelnen Beiträge betrachtet und damit, welches Bild vom Politikfeld Verkehr sich am Ende einstellt. Unabhängig von den verschiedenen theoretisch begründeten Akzentsetzungen, die jeweils zu einem unterschiedlichen Politikverständnis führen, hat sich die Politikwissenschaft jedoch auf die Unterscheidung von drei Dimensionen des Politischen geeinigt, die zum Untersuchungsgegenstand politikwissenschaftlicher Analysen gemacht werden können. Das sind zum einen die Formen (polity) innerhalb derer Politik stattfindet. Dazu zählen rechtliche Regelwerke ebenso wie die staatlichen Institutionen, angefangen von der rechtlichen Verfassung über das Parlament bis zu den Gerichten, um nur einige zu nennen. Die politischen Formen eines demokratisch verfassten, föderal strukturierten Rechtsstaats, wie z.B. Deutschland, legen von vornherein bestimmte Spielregeln fest, die politische Entscheidungsprozesse beeinflussen und den politischen Handlungsspielraum einschränken. Durch die Analyse der politischen Formen und ein Verständnis ihrer Funktionsweise, lassen sich mithin politische Ergebnisse erklären. Am Beispiel des Bundesverkehrsministeriums (BVM)3 lässt sich dies veranschaulichen. Das BVM war ursprünglich institutionell hochgradig fragmentiert, indem sich seine Organisationsstruktur entsprechend der einzelnen Verkehrsträger bzw. Verkehrsmittel gliederte. Zwischen den Mitarbeitern der einzelnen Abteilungen, die jeweils ihr Verkehrsmittel vertraten, gab es kaum Austausch, vielmehr handelte es sich um unterschiedliche Kulturen, die innerhalb derselben Institution um Einfluss kämpften. Diese institutionelle Eigenheit wurde in dem Moment zum Problem, als Anfang der 1970er Jahre das politische Ziel formuliert wurde, eine ganzheitliche, abgestimmte Verkehrspolitik zu praktizieren. Die einzelnen Abteilungen innerhalb des Ministeriums sollten enger zusammenarbeiten, um zu einer integrierten Verkehrspolitik zu gelangen, von der man sich umfangreiche Effizienzgewinne versprach. Die politikwissenschaftliche Analyse hat jedoch gezeigt, dass sich die politische Form, in diesem Fall die Institution BVM, als so widerständig erwies und das politische Ziel innerhalb dieser Einrichtung weitgehend folgenlos verhallte. Kurz, eine integrierte Verkehrspolitik konnte nicht durch eine fragmentierte Institution umgesetzt werden. Dieses institutionelle Problem des BVM besteht im Kern bis heute fort. Das Beispiel sollte zeigen, wie die Analyse der politischen Form Rückschlüsse auf die Gründe für den Erfolg bzw. Misserfolg bestimmter politischer Programmatiken ermöglicht. Mit den Inhalten (policy), die durch die Politik durchgesetzt werden, ist aber auch schon die zweite Dimension des Politischen 3
Heute Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (BMVBS).
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angesprochen. Politikinhalte berücksichtigen immer bestimmte Werte und Ziele und sie berühren immer gesellschaftliche Interessen. Anhand der nachhaltigen Verkehrsentwicklung, die von der Politik als inhaltliche Zielvorgabe formuliert wurde und beansprucht, ökonomische, soziale und ökologische Anforderungen gleichermaßen zu berücksichtigen, ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Werte und Ziele einer solchen politischen Programmatik und die davon betroffenen gesellschaftlichen Akteure mit ihren spezifischen Interessen nicht immer übereinstimmen. Vielmehr offenbaren sich zumeist tiefgreifende Konfliktlinien, etwa zwischen den Wirtschaftsvertretern, die sich für ein Verkehrswachstum im Sinne einer prosperierenden Wirtschaftsentwicklung aussprechen und den Umweltverbänden, die sich gegen einen Ausbau des Verkehrssystems wenden, um einer wachsenden Umweltbelastung zu begegnen. Oder die Umweltverbände geraten mit der Forderung nach Kostenwahrheit im Verkehr, die zwangsläufig zu einer Verteuerung von Mobilität führen würde, auf den Widerstand der Sozialverbände, die damit die besondere Benachteiligung unterer Einkommensgruppen verbinden. Die Analyse von Politikinhalten und ihre kontroverse Verhandlung eröffnen weitere Einsichten in das Wesen des Politischen. Verkehrspolitische Programmatiken haben mithin nicht nur mit der institutionellen Verfasstheit des politischen Systems zu kämpfen, wie am Beispiel des Bundesverkehrsministeriums gezeigt wurde, sondern auch mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessenslagen. Die sich daran anschließenden konflikthaften Prozesse (politics) zwischen den jeweiligen Interessensvertretern bilden schließlich die dritte Dimension des Politischen. Dabei geht es um die Frage, wie sich die Aushandlungsprozesse gestalten, wobei grundsätzlich zwei Konfliktlösungsmechanismen unterschieden werden – Macht und Konsens. Während sich politische Machtausübung durch die einseitige Anwendung von Zwangsmaßnahmen auszeichnet, strebt die Konsensbildung die Zustimmung aller Konfliktparteien an. Man könnte meinen, dass in konkurrenzdemokratisch verfassten politischen Systemen die Konsensbildung den vorherrschenden Pfad der Konfliktlösung darstellt, der zumeist in einem Kompromiss mündet. Demgegenüber scheinen Machtverhältnisse, die auf der einseitigen Ausübung von Zwang fußen, nicht mehr zu existieren. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Chance, den eigenen Willen gegenüber anderen widerstrebenden Interessen durchzusetzen, so die klassische Machtdefinition von Max Weber, auch in demokratischen Gesellschaftsordnungen von den jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen abhängt, die wiederum auch in Demokratien unterschiedlich großzügig verteilt sind. So verfügt der Allgemeine Deutsche Automobil Club (ADAC), der sich als Interessensvertreter der Autofahrer/innen versteht, über nahezu unbegrenzte ökonomische Ressourcen, während demgegenüber der Verkehrsclub
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Deutschland (VCD), der sich für eine nachhaltige Verkehrsmittelwahl einsetzt, über vergleichsweise bescheidene Mittel verfügt. Dies ist nur ein Beispiel für eine Vielzahl von Machtgefällen im Politikfeld Verkehr, die sich in der Summe in der verkehrspolitischen Agenda widerspiegeln. Insofern ist es auch in Demokratien von Interesse, jene Macht- und Herrschaftsmechanismen zu untersuchen, die dazu führen, dass sich bestimmte verkehrspolitische Interessen besser durchsetzen als andere. Allerdings haben sich mit dem Wandel der Herrschaftsformen von ehedem autoritären zu demokratischen Gesellschaftsverfassungen auch die Formen der Machtausübung gewandelt. Statt des direkten und offenen Zwangs haben die US-amerikanischen Soziologen Peter Barach und Morton S. Baratz (1977) ein „zweites Gesicht der Macht“ entdeckt. Sie konnten zeigen, dass machtvolle Akteure die politische Agenda in ihrem Sinne beeinflussen, indem sie bestimmte, ihnen unliebsame Themen systematisch aus dem politischen Entscheidungsprozess heraushalten. Ein Beispiel könnte die Problematisierung des Zusammenhangs von Wirtschaftsund Verkehrswachstum sein. Zwar gab es seit 1972 mit der Veröffentlichung des berühmten Berichts an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ immer wieder vereinzelte Stimmen, die auf diesen Zusammenhang und seine negativen Effekte wie die Umweltzerstörung und die Begrenztheit fossiler Ressourcen hingewiesen haben, gleichwohl blieb es bei einem marginalisierten Diskurs. Erst in jüngster Zeit hat es das Thema der Problematisierung grenzenlosen Wachstums mit dem Klimadiskurs und der Debatte um den „Peak-Oil“ auf die politische Agenda geschafft, wobei noch nicht klar ist, welche politischen Konsequenzen daraus gezogen werden. Gerade die aktuelle verkehrspolitische Diskussion zeigt gut, wie die unterschiedlichen Akteure im Politikfeld Verkehr ihre spezifischen Interessen artikulieren, um das politische Agenda-Setting in ihrem Sinne zu beeinflussen. Indem z.B. der Elektroverkehr als die Lösung aller verkehrspolitischen Probleme beworben wird, bemühen sich mächtige Akteure, wie die Automobilindustrie und die Energieunternehmen, um die erneute Dethematisierung einer kritischen Wachstumsdiskussion. Neben den erwähnten institutionell verfassten ‚Stakeholdern‘, die ihre eigenen Interessen oder diejenigen der von ihnen vertretenen Klientel verfolgen, ist in demokratischen Gesellschaften die Bevölkerung als eigenständiger Akteur zu berücksichtigen. Die Bevölkerung stellt für die Politik insofern eine besondere Herausforderung dar, als sie hochgradig heterogen zusammengesetzt ist, womit eine klare politische Ansprache erschwert wird. Darüber hinaus sieht sie sich mit Menschen konfrontiert, von denen sich jeder Einzelne im Verkehr ausgesprochen widersprüchlich verhält, mehr noch, gemessen an den eigenen Ansprüchen ist nicht selten ein geradezu irrationales Verhalten zu konstatieren. Das Beispiel jener Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Kita oder Schule bringen, verdeutlicht das exemplarisch. Am Anfang steht die Angst um die Sicherheit der
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Kinder, die ein Verhalten motiviert, dass sich zum Wohl der Kinder den kritisierten Verhältnissen anpasst. Das Ergebnis ist in doppelter Hinsicht paradox: Erstens trägt das eigene Verkehrsverhalten zu eben jener Situation bei, die eingangs problematisiert wurde. Zweitens verhindern die Bring-Dienste, dass die Kinder lernen sich selbstständig und sicher im Verkehr zu bewegen. Ihre sozialisierte Inkompetenz, dient den Eltern dann wieder als Argument für die vermeintlich sicheren Bring-Dienste mit dem Auto.4 Während am Anfang die berechtigte Sorge der Eltern steht, ihre Kinder in Anbetracht der bestehenden Verkehrslage sicher zu transportieren, resultiert das eigene Verhalten am Ende in einer verschärften Ausgangssituation. Dieser Zirkelschluss kann nur politisch durchbrochen werden. Sei es durch verkehrspolitische Maßnahmen im Sinne einer kindgerechten Gestaltung des Verkehrssystems, sei es durch politische Aufklärung bzw. Erziehung, sowohl der Eltern wie auch der Kinder. Bei der Analyse der Politikprozesse muss es der politischen Wissenschaft vom Verkehr mithin auch darum gehen, diese individuellen Paradoxien zu berücksichtigen, um die verkehrspolitischen Entscheidungsprozesse angemessen bewerten zu können. Tabelle 1: Dimensionen des Politikbegriffs
Quelle: In Anlehnung an Böhret et al. (1988: 7) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle drei Dimensionen des Politikbegriffs – Form, Inhalt und Prozess – wichtige Einsichten darüber vermitteln, wie 4
Demgegenüber zeigen empirische Studien, dass die Sicherheitsrisiken hier keinesfalls geringer sind als bei denjenigen, die mit dem Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen.
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politische Entscheidungen zustande kommen. Es hängt allerdings von der Wahl des oben skizzierten theoretischen Bezugsrahmens ab, wie die drei Politikdimensionen ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Auch wenn es zweifellos richtig ist, dass politische Formen, wie etwa das Bundesverkehrsministerium, die Handlungsmöglichkeiten der Menschen innerhalb dieser Institution maßgeblich bestimmen, ist damit noch nicht geklärt, inwiefern die formalen politischen Strukturen ihrerseits womöglich Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind. Demnach wäre zu untersuchen, ob bestimmte Akteure im Politikfeld Verkehr von den bestehenden Verhältnissen profitieren und möglicherweise kein Interesse daran haben, die politische Macht des BVM durch eine institutionelle Reform zu stärken, die darauf zielt, Partikularinteressen zugunsten einer integrierten Politikstrategie zurückzudrängen. Schließlich wäre in diesem Zusammenhang zu prüfen, wie sich die politischen Entscheidungsprozesse gestalten, mit deren Hilfe machtvolle Interessensgruppen, vermittelt über politische Institutionen, Einfluss auf die Formulierung politischer Inhalte nehmen. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die eingangs gestellte Frage nach dem besonderen Beitrag und Mehrwert der Politikwissenschaften für die Verkehrswissenschaft bzw. die wissenschaftliche Disziplin der Verkehrspolitik beantworten? Wenn als allgemeine Richtschnur verkehrspolitischen Handelns eine nachhaltige Verkehrsentwicklung vorgegeben wird, die in gleichem Maße die ökonomischen, sozialen und die ökologischen Folgen ihres Handelns reflektiert, ist davon auszugehen, dass die Wirtschaftswissenschaft das erste Themenfeld professionell bearbeiten kann. Demgegenüber sind die sozialen und ökologischen Konsequenzen verkehrspolitischer Maßnahmen von anderen sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen verkehrswissenschaftlicher Untersuchungen zu ermitteln. Die Aufgabe der Politikwissenschaft besteht darin, die politischen Voraussetzungen zu bestimmen, die eine Umsetzung nachhaltiger Verkehrspolitik möglich machen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den im Rahmen einer Nachhaltigkeitsstrategie zwangsläufig auftretenden Interessenskonflikten, wobei darauf zu achten ist, dass im Kontext einer verkehrspolitischen Entwicklungsstrategie jede Interessensgruppe ihre spezifischen Anforderungen in gleichem Maße geltend machen kann, so wie es das Nachhaltigkeitskonzept vorsieht. Verkehrspolitik wird heute von Ökonomen in der Regel unter dem Gesichtspunkt praktiziert, wie die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen gestaltet sein müssen, um eine reibungslose Verkehrsentwicklung zu gewährleisten, die wiederum als notwendige Voraussetzung für eine positive Wirtschaftsentwicklung betrachtet wird. Demgegenüber besteht die Aufgabe der Politikwissenschaften darin, die Erreichung der von Seiten der Politik formulierten Ziele zu überprüfen und gegebenenfalls auf vorliegende Restriktionen aufmerksam zu machen, die der Umsetzung einer nachhaltigen Verkehrspolitik entgegen stehen.
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Eine so verstandene kritische Politikwissenschaft kann die politisch Verantwortlichen über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer politischen Handlungsfähigkeit aufklären. Es ist dann Aufgabe der Politiker/innen, die politischen Verhältnisse nach Möglichkeit so zu verändern, dass sie das politische Ziel einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung besser unterstützen. Der Beitrag der Politikwissenschaft im Rahmen einer wissenschaftlichen Verkehrspolitik ist mithin der eines Korrektivs. Ihr Mehrwert besteht in der Aufklärung über die spezifischen Verhältnisse im Politikfeld Verkehr, die wiederum zur Durchsetzung einer nachhaltigen Verkehrspolitik genutzt werden können. Wodurch aber zeichnet sich eine nachhaltige Verkehrsentwicklung aus? Zum Konzept einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung Wenn es um Verkehrspolitik geht, fällt fast zeitgleich der Begriff der Nachhaltigkeit. Eine nachhaltige Verkehrspolitik scheint mittlerweile ein unstrittiger Anspruch zu sein, hinter den niemand, der sich mit Verkehrspolitik beschäftigt, zurückfallen darf. Wer heute öffentlich behaupten würde, er verfolge eine nichtnachhaltige Verkehrspolitik, der wäre politisch kaum noch tragbar. Das allein ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber den 1980er Jahren, als der Begriff durch die 1983 gegründete Brundtland Kommission geprägt wurde und sich erst langsam zu etablieren begann (vgl. Grober 2010). Gleichwohl sind die Auffassungen darüber, wodurch sich eine nachhaltige Verkehrspolitik auszeichnet und woran eine nachhaltige Verkehrsentwicklung zu erkennen ist, keinesfalls einhellig. Vielmehr erhält man den Eindruck, dass sich hinter dem weitreichenden gesellschaftlichen Konsens nachhaltiger Verkehrspolitik eine ‚Hidden Agenda‘ verbirgt, wo Intentionen unterschiedlicher politischer Akteure wirksam werden. Um die Differenz zwischen dem gesellschaftlichen Konsens einer nachhaltigen Verkehrspolitik und den immer wieder auflebenden Auseinandersetzungen darüber, was konkret darunter zu verstehen ist, zu begreifen, ist es hilfreich, sich das Konzept der Nachhaltigkeit noch einmal zu vergegenwärtigen. Das Nachhaltigkeitskonzept setzt sich aus drei Strategien zusammen: Effizienzstrategie, Konsistenzstrategie und Suffizienzstrategie (vgl. Tremmel 2004). Die Effizienzstrategie zielt im Kern auf eine Entkopplung von Wirtschaftsleistung und Umweltverbrauch. Angestrebt werden insbesondere technologische Innovationen, die zu einem ressourcenschonenderen Umgang beitragen (Ökoeffizienz). Ein Beispiel sind die Erfolge der Automobilindustrie bei der Motorenentwicklung, die zu einem immer geringeren Benzinverbrauch geführt haben. Demgegenüber verfolgt die Konsistenzstrategie das weitergehende Ziel, natürliche Ressourcen nicht nur einmalig zu „verbrauchen“ sondern zu „gebrauchen“ und immer wieder neu zu
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nutzen (Ökoeffektivität). Die natürlichen Ressourcen sollen neuen Formen der Kreislaufwirtschaft zugeführt werden, die sich an natürlichen Stoffkreisläufen orientieren, in denen die fertigen Produkte nicht als Abfall ausgeschieden, sondern wieder in die ursprünglichen Rohstoffe zerlegt und erneut in den Produktionskreislauf eingespeist werden. So besteht etwa der VW Golf mittlerweile aus rund 40% recycelten Materialien. Mit der Suffizienzstrategie schließlich wird eine Verhaltensänderung der Menschen angestrebt. Bezogen auf das Thema Verkehr wird dementsprechend ein ressourcenschonendes Verkehrsverhalten angestrebt, wobei insbesondere die Verkehrsmittelwahl thematisiert wird. Das bekannteste Beispiel ist die durch vielfältige Kampagnen beworbene verkehrspolitische Aufforderung, vom Auto zum öffentlichen Verkehr zu wechseln. In dem ursprünglichen Nachhaltigkeitskonzept kam allen drei Strategien die gleiche Bedeutung zu. Erst durch ihre Verbindung und die Bündelung der spezifischen Wirkungen versprach man sich eine nachhaltige Entwicklung. Mittlerweile ist jedoch festzustellen, dass in der Verkehrspolitik die Effizienzstrategie bei weitem den größten Stellenwert einnimmt. Das drückt sich aktuell im 3. Verkehrsforschungsprogramm der Bundesregierung aus, das den bezeichnenden Titel „Mobilität und Verkehrstechnologien“ trägt.5 Mit Blick auf die Ergebnisse im Verkehrssektor stellt sich die einseitige Fixierung auf die Effizienzstrategie allerdings als problematisch dar. Anders als in der Industrie oder den privaten Haushalten, wo Effizienzgewinne zu einer Stagnation oder gar Reduktion der CO2-Emissionen geführt haben, ist der Verkehrssektor heute der einzige Sektor, in dem die CO2-Emissionen weiter steigen. Hier werden die durch technologische Innovationen erzeugten Effizienzgewinne, wie etwa die Entwicklung sparsamer Motoren, teilweise durch sog. „Rebound Effekte“ wieder aufgezehrt. Dabei handelt es sich um Reaktionen der Nutzer auf Effizienzgewinne, die im Ergebnis der ursprünglichen Intention entgegenwirken. So kann z.B. ein geringerer Benzinverbrauch bewirken, dass die eingesparten Kosten dazu verwendet werden, mehr Kilometer zurückzulegen, oder es wird in PS-stärkere Motoren investiert, wodurch in beiden Fällen die Einsparungen beim Benzinverbrauch kompensiert werden. Noch entscheidender aber ist, dass die Effizienzgewinne durch das fortschreitende Wirtschafts- und damit einhergehende Verkehrswachstum konterkariert werden. Die alles entscheidende Frage lautet mithin, ob eine Entkopplung von Wirtschafts- und Verkehrswachstum möglich ist. Die Beispiele zeigen, dass eine nachhaltige Verkehrsentwicklung, gemessen an den CO2-Emissionen, allein durch Effizienzgewinne nicht erreicht wird. Das spricht nun nicht gegen die Effizienzstrategie, die zweifellos einen festen Bestandteil innerhalb des Nachhaltigkeitskonzepts bilden muss. Allerdings sind 5
Vgl. http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Service/publikationen,did=242834.html (Zugriff, 11.10.2010)
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damit die Grenzen der Effizienzstrategie markiert. Das gilt auch für die Konsistenzstrategie, die fraglos ein großes Potential birgt, um einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung näher zu kommen. Es ist heute jedoch nicht abzusehen, dass der Mensch, nachdem er sich Jahrtausende lang mühsam aus dem Stoffwechsel mit der Natur herausgearbeitet hat, Willens und in der Lage ist, sich wieder vollständig in den Naturkreislauf einzufügen. Der besondere Charme sowohl der Effizienz- wie der Konsistenzstrategie liegt in der beiden Strategien zugrunde liegenden Annahme, dass der Mensch zu einer nachhaltigen Entwicklung gelangen kann, ohne sein (Konsum-)Verhalten zu verändern (vgl. Rogall 2004). Entsprechend vehement wenden sich die Vertreter/innen der Effizienz- wie der Konsistenzstrategie oftmals gegen diejenigen, die sich im Sinne der Suffizienzstrategie für eine Verhaltensänderung aussprechen. Die Suffizienzstrategie wurde als Verzichtsstrategie diskreditiert und ist heute weitgehend marginalisiert. Tatsächlich stellen ihre Vertreter/innen in Frage, ob die weltweite Realisierung des westlichen Lebensstils möglich ist und wir uns vorstellen können, statt mit heute weltweit rund eine Milliarde Pkw zukünftig auch mit zwei oder drei Milliarden Pkw zu leben. Sie argumentieren, dass eine nachhaltige Entwicklung ohne Verhaltensänderung, die im Ergebnis zu einer Reduktion des Verkehrsaufkommens beiträgt, nicht möglich ist (vgl. Scherhorn 2008). Abgesehen davon, ob tatsächlich eine Verkehrsreduktion notwendig ist, um im globalen Maßstab zu einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung zu gelangen, zeigt das Beispiel des Wechsels vom Auto zum öffentlichen Verkehr, dass eine Verhaltensänderung im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung nicht in jedem Fall mit Mobilitätseinbußen verbunden ist. Die kurze Vorstellung des Nachhaltigkeitskonzepts mit seinen drei Strategien sollte einen Eindruck von der komplexen Gemengelage unterschiedlicher Akteursgruppen vermitteln, die zwar alle dasselbe Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verfolgen, aber zum Teil heftig um den richtigen Weg bzw. Ansatz streiten. Dabei geht es einerseits um die mit den drei Nachhaltigkeitsstrategien beschriebenen unterschiedlichen wissenschaftlichen Überzeugungen, welchem Ansatz für das Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung die größere Bedeutung zukommt. Andererseits versammeln sich hinter den Wissenschaftsvertreterinnen und -vertretern der jeweiligen Nachhaltigkeitsstrategie aber auch gesellschaftliche Akteure mit ganz handfesten Interessen. Indem die Effizienz- und die Konsistenzstrategie auf ihre jeweils spezifische Weise einen Fortschrittsglauben begründen, der sich aus einem fortgesetzten Wirtschaftswachstum und darüber zu finanzierenden technologischen Innovationen speist, sehen sich dort all jene gesellschaftlichen Akteure repräsentiert, die als fester Bestandteil einer technologisch getrieben Wachstumsökonomie fungieren bzw. davon profitieren. Das gilt insbesondere für den größten Teil der Bevölkerung, die mit der Effizienzund der Konsistenzstrategie das Versprechen verbindet, den einmal erreichten
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Lebensstandard ohne tiefgreifende Verhaltensänderungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung fortsetzen zu können. Aus dieser Sichtweise verbinden sich Wirtschafts- und Verkehrswachstum zur notwendigen Grundlage einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie. Demgegenüber repräsentiert die Suffizienzstrategie die relativ kleine Gruppe derjenigen, die davon überzeugt sind, dass es eines tiefgreifenden Strukturwandels bedarf, um zu einer umfassenden Form nachhaltiger Vergesellschaftung zu gelangen. Dieser Strukturwandel müsse notwendigerweise sowohl die Wirtschafts- wie auch die Lebensweise der Menschen in modernen kapitalistischen Gesellschaften berühren. Damit offenbart die genauere Betrachtung des vermeintlich durch einen weitreichenden gesellschaftlichen Konsens getragenen Nachhaltigkeitskonzepts ein politisches Konfliktfeld, das erahnen lässt, warum die systematische Umsetzung so schleppend voranschreitet. Hier setzt das Leitbild einer integrierten Verkehrspolitik an, das auf eine kohärente verkehrspolitische Strategie gerichtet ist. Zum Leitbild einer integrierten Verkehrspolitik Nachdem mit der nachhaltigen Verkehrsentwicklung das allgemein akzeptierte verkehrspolitische Ziel beschrieben wurde, handelt es sich bei dem Leitbild der integrierten Verkehrspolitik, um das Instrument, von dem weithin angenommen wird, dass es eine nachhaltige Verkehrsentwicklung befördert. Die Idee einer integrierten Verkehrspolitik entstand Anfang der 1970er Jahre, als der Wunsch aufkam, die einzelnen Verkehrsträger stärker im Sinne einer verkehrspolitischen Gesamtstrategie aufeinander zu beziehen. Es sollte vor allem die einseitige Entwicklung des motorisierten Individualverkehrs zugunsten des Schienenverkehrs korrigiert werden. Insgesamt ging es darum, durch eine abgestimmte Verzahnung der Verkehrsträger ihre spezifischen Vorteile zu bündeln und die Nachteile auszuschließen. Damals zeigte sich, dass das Verkehrsministerium aufgrund der schon erwähnten fragmentierten Organisationsstruktur nicht in der Lage war, eine solche Koordinationsleistung, die eine enge Absprache zwischen den Verkehrsträgern erforderte, durchzuführen. Vielmehr verfolgten die Vertreter der einzelnen Abteilungen ihre verkehrsträgerspezifischen Interessen, die sich nicht in eine verkehrspolitische Gesamtstrategie fügten. Daher entschied man sich für die Gründung einer Grundsatzkommission, welche die verschiedenen, voneinander abweichenden Einzelinteressen einfangen und in einer abgestimmten Strategie zusammenführen sollte, um auf diese Weise zu einer politischen Integration beizutragen. Neben dieser politischen wurde auch eine technische Integration angestrebt, indem z.B. neue, schienengeführte Kabinensysteme entwickelt wurden. Die
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Gefährte bestanden aus kleinen Einheiten, die individuelle Ziele ansteuern konnten und sich damit an den Vorzügen des Automobils orientierten. Während die Kabinensysteme von der Schiene aus gedacht waren, setzt das sog. Carsharing beim Auto an. Die Idee des Autoteilens überträgt das Prinzip der kollektiven Nutzung auf das Automobil und verbindet damit die Vorteile des Kollektiv- und des Individualverkehrs. Der dritte Integrationspfad im Rahmen einer integrierten Verkehrspolitik ist die soziale Integration. Sie zielt darauf, möglichst alle von verkehrspolitischen Entscheidungen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen einzubeziehen und am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Im Ergebnis sollen die widerstreitenden Interessensgruppen einen für die Beteiligten tragbaren Kompromiss aushandeln. Während es sich bei der politischen, der technischen und auch der sozialen Integration um relativ etablierte verkehrspolitische Themen handelt, erfährt die ökologische Integration erst in jüngerer Zeit wachsende Aufmerksamkeit. Demnach sollen bei verkehrspolitischen Entscheidungen systematisch die Konsequenzen für die Umwelt berücksichtigt werden. Die Umwelt tritt gleichsam als neuer Akteur auf die verkehrspolitische Agenda, dem bestimmte Rechte zugebilligt werden, die in Konkurrenz zu den Rechten anderer Akteure treten.6 Vertreten durch Anwälte sitzt die Umwelt demzufolge als gleichberechtigter Interessensvertreter mit am Verhandlungstisch und nicht mehr nur als Anhängsel relativ schwacher Umweltverbände mit entsprechend bescheidener Vetomacht. Im Gegensatz zur politischen, technischen, sozialen, und ökologischen Integration, die jeweils Formen der Kooperation anstreben, liegt der fünfte Integrationsmodus, die ökonomische bzw. Marktintegration, quer dazu. Da das Prinzip der über den Markt vermittelten ökonomischen Integration auf dem Wettbewerb und der Konkurrenz der Marktteilnehmer beruht, wird es auch als negative Integration bezeichnet. Demnach konkurrieren die Verkehrsträger miteinander um Marktanteile. Das heißt, der Einsatz von bestimmten Verkehrsträgern richtet sich nach einem strikten Kosten-Nutzen-Kalkül und dem daraus resultierenden Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Die in diesem Zusammenhang zu beantwortende entscheidende Frage, wie die durch den Verkehr erzeugten Kosten bzw. Nutzen berechnet werden können, ist jedoch bis heute heftig umstritten. In diesem Zusammenhang gerät in jüngster Zeit wieder einmal das Bruttoinlandsprodukt als Maß für gesellschaftlichen Wohlstand in die Kritik, da es allein den an Geldwerten quantitativ zu messenden Mehrwert wirtschaftlicher Tätigkeiten erfasst, ohne et-
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In Anlehnung an den Katalog der Menschenrechte, fordern einige Juristen mittlerweile auch für die Natur verfassungsrechtlich gesicherte Grundrechte, die gegenüber widerstreitenden Interessensgruppen vor Gericht eingeklagt werden können.
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waige Folgekosten zu berücksichtigen, wie beispielsweise Umweltzerstörungen.7 So schlägt ein Stau positiv zu Buche, da die Autofahrer Sprit verbrauchen, und auch ein Verkehrsunfall mit Verletzten trägt nach der heutigen Berechnungsmethode zum Wirtschaftswachstum bei und mehrt damit den gesellschaftlichen Wohlstand, indem eine Reihe gut ausgebildeter Arbeitskräfte davon profitieren und durch ihre Löhne zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beitragen.8 Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit sich die beiden gegensätzlichen Funktionslogiken der Kooperation und der Konkurrenz miteinander vereinbaren lassen. Zwar wurde mit der Erfindung des Kunstbegriffs Cooptition, der sich zusammensetzt aus den englischen Begriffen ‚Cooperation‘ und ‚Competition‘, der Eindruck erweckt, die beiden Prinzipien ließen sich problemlos miteinander verbinden (vgl. Beckmann/Baum 2001). Demgegenüber zeigt sich in der konkreten Bestandsaufnahme, dass das Leitbild einer integrierten Verkehrspolitik gerade an der Frage der Vereinbarkeit von Kooperation und Konkurrenz bis heute immer wieder scheitert (vgl. Schöller-Schwedes 2010). So mündet die über den Markt vermittelte Integration des Verkehrssystems bei weitem nicht immer in einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung. Vielmehr provoziert das Konkurrenzprinzip im Verkehrssektor die Verfolgung betriebswirtschaftlicher Partikularinteressen, ohne die gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen zu berücksichtigen. Die Restrukturierung der Postlogistik nach der Privatisierung in den 1990er Jahren macht das deutlich. Waren die Postverteilerzentren des Staatsunternehmens in der Regel mit einem Schienenanschluss versehen, baute das Privatunternehmen bundesweit neue Verteilerzentren auf der grünen Wiese, die heute nur noch mit dem Lkw anzufahren sind. Aus Unternehmenssicht ergeben sich daraus umfangreiche Effizienzgewinne bzw. Kosteneinsparungen, da der Verkehr auf der Straße unschlagbar günstig ist und die Transaktionskosten beim Umladen von der Schiene auf den Lkw entfallen. Demgegenüber werden die im Vergleich zum Schienenverkehr höheren Folgekosten des Lkw-Verkehrs, die sich z.B. aus den höheren Umweltbelastungen durch den Straßenverkehr ergeben, in der Unternehmenskalkulation nicht berücksichtigt. Sie werden ausgelagert und als sog. externalisierte Kosten von der Allgemeinheit bezahlt. Die Verkehrspolitik sieht sich vor der Herausforderung, die marktgetriebene negative Integration und die dadurch verursachten externalisierten Kosten durch politische Maßnahmen wieder einzufangen. Da auf die Unternehmenspolitik der privati7 8
Die wissenschaftliche Debatte über die Berechnung des gesellschaftlichen Wohlstands ist so alt wie das nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Bruttoinlandsprodukt und wird seitdem äußerst kontrovers diskutiert (vgl. Steurer 2002: 307-325). Anfang 2011 hat die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ ihre Arbeit aufgenommen, um einen besseren Wachstumsindikator zur Berechnung des gesellschaftlichen Wohlstands zu suchen.
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sierten Post nur noch indirekt Einfluss genommen werden kann, versucht die Politik durch ordnungspolitische Rahmensetzungen die Unternehmen zu bewegen, die von ihnen produzierten und ausgelagerten Kosten in ihre Unternehmenskalkulation mit einzubeziehen, sprich zu internalisieren. Wenn wir uns nun vergegenwärtigen, dass mit dem Leitbild einer integrierten Verkehrspolitik der Anspruch verbunden ist, alle fünf genannten Integrationspfade – den politischen, den technischen, den sozialen, den ökologischen und den ökonomischen – gleichzeitig zu beschreiten und in einer verkehrspolitischen Gesamtstrategie münden zu lassen, dann wird der ambitionierte Charakter dieses Ansatzes deutlich. Verschiedene politische Ressorts, wie z.B. das für Stadtentwicklung oder Umwelt, sollen demnach systematisch mit dem Ressort Verkehr zusammenarbeiten, um im Vorfeld gemeinsam zu klären, welche Konsequenzen bestimmte verkehrspolitische Entscheidungen für die Stadt- und Siedlungsentwicklung haben würden und welche Umwelteffekte damit möglicherweise verbunden sind. Aber auch umgekehrt sollen die durch eine bestimmte Stadt- und Raumplanung provozierte Verkehrsentwicklung und die damit verbundenen Umwelteinflüsse berücksichtigt werden. Das Ziel besteht darin, das wechselseitige Bedingungsgefüge zwischen den politischen Ressorts im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung zu nutzen. Deshalb hatte man 1998 das Verkehrsministerium mit dem Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zusammengelegt zu dem heutigen Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (BMVBS). Abgesehen davon, dass auf Bundesebene der formalen noch keine reale Integration gefolgt ist und das bis heute in sich fragmentierte Verkehrsministerium weitgehend unvermittelt neben dem für Bau- und Stadtentwicklung steht, hat sich das Prinzip der politischen Integration auch auf den anderen politischen Ebenen von Land und Kommune noch wenig etabliert. Die technische Integration wiederum würde die Kooperation zwischen den Entwicklern, Produzenten und Betreibern der verschiedenen Verkehrsträger erfordern. Demnach müsste schon die universitäre Ingenieursausbildung besser aufeinander abgestimmt werden, um eine dauerhafte Zusammenarbeit der verkehrsmittelspezifisch orientierten Fachgebiete vorzubereiten, die bis heute weitgehend nebeneinander her existieren. Das gleiche gilt für die Produzenten, die ihre technischen Standards aufeinander abstimmen müssten, um eine reibungslose Kommunikation zwischen den Verkehrsträgern bzw. -mitteln zu gewährleisten. Auch die Betreiber müssten ihre Modelle kompatibel gestalten, damit die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern und -mitteln sich nicht als Hürden erweisen. Beispielsweise würde der öffentliche Verkehr an Attraktivität gewinnen, wenn man sich innerhalb eines Systems und zwischen verschiedenen Betreibersystemen problemlos bewegen könnte, ohne komplizierte Preiszonen und wechselnde Tarifsysteme berücksichtigen zu müssen.
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Auch die soziale Integration, mit der das Ziel verfolgt wird, die von verkehrspolitischen Entscheidungen betroffen Akteure in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen, macht neue Formen der Kooperation notwendig. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass verkehrspolitische Entscheidungen und daraus resultierende Planungen immer schwerer gegen widerstreitende Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure durchzusetzen sind. Während sich die politisch Verantwortlichen in der Vergangenheit darauf verlassen konnten, dass verkehrliche Großprojekte, wie etwa eine Stadtautobahn, durch eine zentral gefällte Entscheidung von oben nach unten weitergereicht und schließlich umgesetzt wurden, muss heute mit organisiertem Protest aus den unterschiedlichsten Richtungen gerechnet werden. Indem die verschiedenen Interessensvertreter an runden Tischen zusammengeführt werden, erhofft man sich zum einen, das potentielle Konfliktpotential schon im Vorfeld durch gemeinsam erarbeitete Kompromissformeln einzugrenzen. Zum anderen soll diese Art der sozialen Integration dazu beitragen, dass alle Interessen in einem offenen Entscheidungsprozess berücksichtigt werden und sich später auch in den realisierten Maßnahmen wiederfinden. Im Falle der Stadtautobahn fänden sich Bürgerinnen und Bürger, die zukünftig entlang der Autobahn wohnen und ein entsprechend geringes Interesse an ihrer Realisierung haben neben denen, die auf eine schnellere Verbindung hoffen und weit genug entfernt wohnen, um von den negativen Effekten nicht berührt zu werden. Weiterhin fänden sich Wirtschaftsvertreter, die sich Wettbewerbsvorteile durch eine bessere Verkehrsverbindung versprechen und andere, die neue Konkurrenten befürchten. Schließlich fänden sich politische Repräsentanten auf Landesebene ein, die auf die finanzielle Unterstützung des Bundes setzen und Lokalpolitiker, die ihre Klientel vor Ort gegen den Autobahnbau mobilisieren. Weitere Kooperationen erfordert schließlich auch die ökologische Integration. So wird immer öfter die Frage ökologischer Gerechtigkeit thematisiert. Ist es etwa sozial gerecht, wenn eine ökologisch motivierte verkehrspolitische Maßnahme wie die City Maut dazu führt, dass untere Einkommensschichten in ihrem Verkehrsverhalten eingeschränkt werden, da sie sich die Anfahrt mit dem Auto nicht mehr leisten können? Hier zeigen sich ein weiteres Mal die in der politischen Wirklichkeit auftretenden engen Wechselbeziehungen zwischen den genannten Themenfeldern, die von einer integrierten Verkehrspolitik abgewägt und einer kollektiv bindenden Entscheidung zugeführt werden müssen. Die vier geschilderten, auf Kooperation basierenden Integrationsstrategien erfordern umfangreiche politische Koordinationsmaßnahmen. Es gibt die Auffassung, die Verkehrspolitik sei mit diesen Anforderungen, die das Leitbild der integrierten Verkehrspolitik an sie richtet, heillos überfordert. Die staatlichen Instanzen seien nicht mehr in der Lage, die komplexen Verhältnisse in hochgra-
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dig ausdifferenzierten modernen Gesellschaften zu überblicken, geschweige denn gezielt zu gestalten.9 Hier setzen die Vertreter/innen der ökonomischen Integrationsstrategie an, die den Markt mit seiner über den Wettbewerb vermittelten negativen Integration als das effektivste Koordinationsmedium begreifen. Demnach lenkt die „invisible hand“ (Adam Smith) das Geschick jedes einzelnen Marktteilnehmers zum Wohle aller. Demgegenüber wird staatliche bzw. politische Einflussnahme, die über das Setzen rechtlicher Rahmenbedingungen für eine reibungslose Marktregulierung hinausgeht, weitgehend abgelehnt. Mit dem Widerspruch zwischen Kooperation versus Konkurrenz bzw. politischer versus marktvermittelter Integration, durchzieht das Leitbild der integrierten Verkehrspolitik eine tiefe Konfliktlinie. Abbildung 1: Die fünf Integrationsstrategien einer integrierten Verkehrspolitik
Quelle: Eigene Darstellung Die politische Wissenschaft vom Verkehr muss bezüglich des Leitbilds einer integrierten Verkehrspolitik drei Fragen beantworten. Erstens muss geklärt werden, ob es sich um ein realistisches Leitbild handelt. Da es bisher allenfalls in Ansätzen praktiziert wurde, können wir bis heute nicht einmal sagen, ob sich im Falle seiner Umsetzung die mit dem Leitbild verbundenen Hoffnungen einer 9
Für einen Überblick über die kontroverse Theoriedebatte vgl. Schimank (2005).
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nachhaltigen Verkehrsentwicklung tatsächlich einstellen würden. Daraufhin wäre dann zweitens zu untersuchen, unter welchen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen die Realisierung des Leitbilds einer integrierten Verkehrspolitik überhaupt denkbar ist. Wir haben gesehen, dass es sich dabei um eine weitreichende, alle gesellschaftlichen Teilbereiche umfassenden Aufgabe handelt, die nicht weniger als eine gesellschaftliche Transformation erfordert. Wenn jene gesellschaftlichen Voraussetzungen umrissen wurden, die notwendig sind, um das Leitbild umzusetzen, dann stellt sich schließlich drittens die Frage, ob wir bereit sind, die mit den weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen verbundenen Konsequenzen zu tragen. Kurz, das Leitbild einer integrierten Verkehrspolitik und mit ihm das Konzept einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung, steht und fällt mit der Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, in modernen kapitalistischen Gesellschaften ihr Leben zu verändern (vgl. Luks 2010). Fazit Ja, wir alle sind Verkehrsprofis, da wir uns tagtäglich auf die unterschiedlichste Weise im Verkehr bewegen. Gleichwohl hat die Einführung in das Politikfeld Verkehr gezeigt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Alltagsverstand der Menschen und einem wissenschaftlichen Verständnis von Verkehrspolitik. Die Wissenschaft zeichnet sich im Gegensatz zum Alltagsverstand durch begriffliche Trennschärfe aus. Wenn der Alltagsverstand feststellt, die Bevölkerung sei gegen eine bestimmte verkehrspolitische Maßnahme, dann besteht die Aufgabe der politischen Verkehrswissenschaft darin, diese pauschale Aussage zu präzisieren. Sie hat darauf hinzuweisen, dass es die Bevölkerung nicht gibt, sondern eine Vielzahl von Interessensgruppen, die sich dem besagten verkehrspolitischen Thema gegenüber keinesfalls einheitlich verhalten. Die politische Verkehrswissenschaft sollte über die komplexen Akteurskonstellationen im Politikfeld Verkehr aufklären, um jene Transparenz herzustellen, die für eine öffentliche Debatte über verkehrspolitische Maßnahmen notwendig ist. Während die reale Verkehrspolitik, also die Politiker, die Aufgabe haben, kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen, zielt die wissenschaftliche Verkehrspolitik darauf, jene Bedingungen zu reflektieren, welche die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen überhaupt erst ermöglichen. In den hierarchisch strukturierten und zentralistisch organisierten Gesellschaften der Vergangenheit haben sich die verkehrspolitischen Entscheidungsprozesse anders dargestellt als in den hochgradig differenzierten modernen Gesellschaften der Gegenwart. Während früher der Staat seine politischen Programme zumeist ungestört von oben nach unten durchreichen konnte, ohne auf ernsthaften Wider-
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stand zu stoßen, trifft er heute auf eine vielgestaltige Zivilgesellschaft, die sich neben dem Staat und der Wirtschaft etabliert hat, und der heute eine wachsende politische Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang wird daher auch von einem Übergang von einer staatszentrierten Regierungsform (Government), die auf dem Prinzip des ‚Command and Control‘ basierte, zu einer auf Kommunikation und Partizipation fußenden Herrschaftsform (Governance) gesprochen, wobei die Debatte darüber, was eigentlich genau unter dem neuen Phänomen der Governance zu verstehen ist, noch anhält. Dieser Wandel ist für die Verkehrspolitik von besonderer Bedeutung, gilt sie doch traditionell als ein originäres Feld der Staatstätigkeit. Die politische Wissenschaft vom Verkehr hat mithin die Aufgabe, die daraus resultierenden neuen Figurationen sozialer Machtverhältnisse zu bestimmen, um ein Verständnis über das Zustandekommen verkehrspolitischer Entscheidungsprozesse unter den neuen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen herzustellen. Die nachfolgenden Artikel bilden eine Einführung in das Politikfeld Verkehr, wobei der Verkehr zum einen in Bezug gesetzt wird zu zentralen Dimensionen wie der Gesellschaft, dem Mensch, der Umwelt, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Zum anderen werden wichtige verkehrspolitische Themenfelder wie die Verkehrssicherheit, die Verkehrssozialisation oder der öffentliche Verkehr behandelt. Die Themen werden von Expertinnen und Experten unter dem Gesichtspunkt ihrer verkehrspolitischen Relevanz bearbeitet, wobei es sich in den wenigsten Fällen um Vertreter/innen der politikwissenschaftlichen Disziplin handelt. Der Einführungsband bildet die Grundlage für ein verkehrspolitisches Vorverständnis, von dem aus sich Interessierte aufmachen können, um die noch unerforschten Tiefen des Politikfelds Verkehr auszuloten. Quellen Böhret, Carl/Werner Jann/Eva Kronenwett (1988): Innenpolitik und Politische Theorie. Opladen. Grober, Ulrich (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München. KOM (2009): Eine nachhaltige Zukunft für den Verkehr. Wege zu einem integrierten, technologieorientierten und nutzerfreundlichen System. Brüssel. Luks, Fred (2010): Endlich im Endlichen. Oder: Warum die Rettung der Welt Ironie und Großzügigkeit erfordert. Marburg. Maddison, Angus (2001): The World Economy: A Millennial Perspective. OECD. Paris. Rogall, Holger (2004): Ökonomie der Nachhaltigkeit. Handlungsfelder für Politik und Wirtschaft. Wiesbaden. Sager, Fritz/Vincent Kaufmann (2002). Introduction: The Stake of Transport Policy in Social Science Research. German Policy Studies, Vol. 2, S. 1-7.
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Schimank, Uwe (2005): Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Wiesbaden. Schöller-Schwedes, Oliver (2010): The failure of integrated transport policy in Germany: a historical perspective. In: Journal of Transport Geography, Volume 18, Issue 1, pp. 85-96. Scherhorn, Gerhard (2008): Über Effizienz hinaus. In: Susanne Hartard/Axel Schaffer/ Jürgen Giegrich (Hrsg.): Ressourceneffizienz im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte. Baden-Baden, S. 21-30. Steurer, Reinhard (2002): Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik, Berlin. Tremmel, Jörg (2004): Nachhaltigkeit als politische und analytische Kategorie. Der deutsche Diskurs um nachhaltige Entwicklung im Spiegel der Interessen der Akteure. München.
Weiterführende Literatur Schöller, Oliver/Weert Canzler/Andreas Knie (2007): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden. Vigar, Geoff (2002): The Politics of Mobility. Transport, the environment and public policy. London/New York. UN-Habitat (2009): Global Report on Human Settlements: Planning Sustainable Cities. London.
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II. Verkehrsdimensionen
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Verkehr und Gesellschaft Verkehrspolitik als Mobilitätsdesign Stephan Rammler Einführung „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“. So die 11. Feuerbachthese von Marx. In meinem Studium war sie nicht mehr populär. Meinen Studenten ist sie durchweg unbekannt, aber es ergeben sich daraus wieder spannende, in die Gesellschaftstheorie einführende Diskussionen. Auch dieser Text soll eine Einführung sein. Ich will einen Einblick in die sozialwissenschaftliche Reflexion über räumliche Mobilität geben und verdeutlichen, dass die Gestaltung von Mobilität wichtig, möglich und im tiefsten Grunde Gesellschaftspolitik ist. Hier kommt mit Marx mein Ausgangsgedanke ins Spiel: Es wurde genug interpretiert. Wir wissen genug über Mobilität. Aber es fehlt die Übersetzung dieses Wissens in Handlung. Es fehlen Bilder der Zukunft, die wir uns erschaffen wollen und der Glaube daran, dass diese Aufgabe zu bewältigen ist. Mobilität ist nicht alles, aber ohne Mobilität ist alles nichts, um einen weiteren Zitaten-Hut aus der Tasche zu ziehen. Deswegen steht die Neuerfindung der Mobilität im Zentrum zukunftsfähiger Gesellschaftspolitik. Das wäre nun Thema für ein ganzes Buch und ein unstrittiges ist es auch nicht. Mein Raum ist begrenzt. Ich werde also zuspitzen. Pointierte Aussagen bleiben dabei nicht aus und fordern zu Widerspruch, Diskussion und damit hoffentlich weiterem Nachdenken auf. 1
Die Mobilität der modernen Gesellschaft
Wir wissen genug über Mobilität! Ich bin geneigt, diese Aussage nicht weiter zu kommentieren und gleich zum entscheidenden Punkt zu kommen: Wie Mobilität gestaltbar wird. Doch gilt es zu diesem Zweck zunächst einige Einsichten der verkehrssoziologischen Forschung zur Kenntnis zu nehmen, um bei allem Gestaltungsdrang nicht an der falschen Stelle anzusetzen. Die folgenden Gedanken erscheinen mir als die zentralen Botschaften. Mobilität und Moderne sind für sich wechselseitig konstitutiv, wie die Seiten einer Medaille. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Man kann dieses Verhältnis als „Wahlverwandtschaft zwischen moderner Gesellschaftsentwicklung und Mobilitätswachstum“ bezeichnen. Gemeint ist die gegenseitige DurchO. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Stephan Rammler
dringung und Beförderung bei der Entstehung und Ausbreitung der modernen Gesellschaft und der stetigen Steigerung von Mobilitätschancen und Mobilitätsanforderungen sowie ihre Umsetzung in eine dynamisch steigende Verkehrsleistung. Die immer weitergehende soziale Differenzierung und ökonomische Arbeitsteilung erzeugt Verkehr, der die raumzeitliche Integration der sich ausdifferenzierenden Handlungs- und Wirtschaftssphären ermöglicht. Umgekehrt sind es der Verkehr und die durch ihn eingeräumten Mobilitätschancen, die weitere Ausdifferenzierungen und damit gesellschaftliche Modernisierung und Arbeitsteilung erst ermöglichen. Dieser Zusammenhang gilt für Personen- wie Güterverkehr gleichermaßen. Zugespitzt ist Verkehr also das, was die moderne Welt zusammenhält und zugleich auseinander treibt (vgl. Rammler 2001, 2003). Das Auto spielt eine besondere Rolle als raumzeitliche Integrationsmaschine der immer weiter voranschreitender Individualisierungs-, Flexibilisierungs- und Pluralisierungsprozesse. Je stärker die Vereinzelung, zeitliche Entzerrung und Enttaktung von Raum-Zeit-Pfaden fortschreitet, desto mehr wird das Maß der Ermöglichung von Autonomie und Flexibilität auch für die Verkehrsmittelwahl zu einem zentralen Entscheidungskriterium. Anders formuliert: Je mehr „Selbstbeweglichkeit“ ein Verkehrsmittel ermöglicht, desto attraktiver wird es für den Nutzer. Dies ist neben Wohlstandswachstum, Freizeitzuwachs und den symbolischexpressiven Aspekten der Identitätsstiftung, Distinktion und Sozialintegration der wesentliche Grund für den Erfolg des Autos. Als Folge dieser Wechselwirkung von Modernisierung und Motorisierung entstanden autoaffine Raum- und Zeitstrukturen, in denen die Verwirklichung der Freiheits- und Wohlstandsversprechen moderner Gesellschaften immer enger an die Nutzung des Autos und dessen infrastrukturelle und institutionelle Voraussetzungen gekoppelt wurden. Es geht dabei nicht nur um die Ausweitung (auto-) mobiler Freiheiten, sondern vor allem um die Ausprägung gesamtkultureller Abhängigkeiten von der (Auto-)Mobilität, eben um die Automobilität als Gesellschaftsmodell. In einer Gesellschaft, in der Raum- und Zeitstrukturen, sowie die Vielfalt von Lebensstilen und Sinnorientierungen sich seit Jahrzehnten auf Grundlage automobiler Funktionalität entwickelt haben, ist dieses Gerät system-konstituierend geworden. Dieses sozio-kulturelle System der Automobilität wird nun immer weiter „vererbt“: als Strukturiertheit der materiellen und institutionellen Handlungskontexte, als Zurichtung und Imprägnierung der automobilbezogenen subjektiven Handlungskonzepte, Leitbilder, Lebensstile und Gewohnheiten. Diese Kopplung der Struktur- und Handlungsdimension des Mobilitätsverhaltens ist die Erklärung für die enorme Stabilität der Automobilität (vgl. Rammler 2003). Man kann sagen: Wir leben in einer „gemachten“ Welt. In Auseinandersetzung mit seiner inneren und äußeren Natur hat der Mensch seine Umwelt geprägt und festgeschrieben. Jeder verbaute Stein, Meter Asphalt, jede Tonne Schienenstahl, jeder Hafen, Flugplatz, Bahnhof, jede Produktionsanlage und Siedlung wer-
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den damit zum Datum zukünftiger Entwicklung. Der Verkehrsökonom Voigt (1953: 199ff) prägte den Begriff der „Anteludialeffekte“ für die Gestaltungswirkungen von Verkehrsmitteln, die durch Festlegungen hervorgerufen wurden, „die seinerzeit vielleicht berechtigt gewesen sein mögen, sich aber seitdem bei möglicher oder tatsächlicher Verbesserung der Verkehrswertigkeit als Fessel oder Gegenkraft gegen die Tendenz der Entwicklung der Grundstruktur auswirken“. Ein Verkehrssystem, das einmal existiert, kann also nicht ohne weiteres wieder beseitigt werden. Gleiches gilt für die mentalen Dispositionen des modernen Menschen. Jede Handlung, jeder Gedanke, jede stetig erregende Emotion trägt zur Ausprägung mentaler Muster bei und diese werden umso stabiler und resistenter gegen Veränderungsbemühungen, je häufiger sie getätigt, gedacht und empfunden und je mehr Generation in ihrem Sinne sozialisiert wurden. Handlungen werden zu Gewohnheiten und Gewohnheiten zu Institutionen, die beharrungsmächtiger sein können als stählerne Infrastrukturen. So haben die Anfänge große Macht über die Zukunft. Das gilt immer und überall, auch für Veränderungen der Mobilitätskultur. Meist haben sich die Verkehrswissenschaften mit den sichtbaren Strukturen beschäftigt: Die Ingenieure als Gegenstand ihrer Gestaltungsbemühungen, die Ökonomen als Gegenstand ihrer Berechnungen, die Verkehrspolitikforschung als Gegenstand ihrer Steuerungsüberlegungen. Erst die Sozialwissenschaften haben begonnen – die Konzepte von Struktur, Habitus und Routine im theoretischen Gepäck – mentale Prägungen und Dispositionen in ihre Erklärung der modernen Mobilitätskultur einzubeziehen (vgl. Franke 2001). Wer nun also Verkehrspolitik betreiben will, wird sich mit der folgenreichen Tatsache konfrontiert sehen, dass wir nicht nur im Käfig unserer materiellen Infrastrukturen, sondern auch unserer sozialen Institutionen und subjektiven Gewohnheiten leben. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass nach Jahren verkehrs- und sozialwissenschaftlicher Forschung die Verkehrsgenesefrage hinreichend beantwortet erscheint. Als folgerichtiger Schritt ergäbe sich nun die Konzentration auf die Frage der Gestaltung einer nachhaltigen Mobilitätsentwicklung. Doch sei erneut gefragt, ob wir alles wissen, um Mobilität gestalten zu können. Denn: Wir können Mobilität historisch herleiten und erklären, warum ihre Entwicklung unter ceteris paribus Bedingungen einem stabilen Entwicklungspfad folgen wird, doch haben wir Probleme beim Blick in die Zukunft. Nie war Zukunft weniger transparent. Das liegt neben prinzipiellen Grenzen der Zukunftsanalyse daran, dass sich die Zukunft, in die wir hineingehen, höchst kontingent darstellt. Sie ist schwerer zu fassen, als Zukunft noch vor ein oder zwei Jahrzehnten zu erfassen war. In dieser Situation könnten die bisherigen Erklärungskonzepte zur Mobilität schnell genau deswegen unbrauchbar werden, weil der sie wechselwirksam bestimmende gesellschaftliche Referenzrahmen, ihr „wahlverwandtschaftliches“ Gegenüber, sich erschöpft und selbst überlebt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall eintritt, wird von Tag zu Tag größer. Nachfolgend werden im Sinne
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dieser Annahme die wichtigsten Entwicklungen beschrieben, die den Zukunftsraum der Mobilität bestimmen könnten. 2
Das Ende der Mobilität wie wir sie kennen1
Für den Soziologen Claessens (1959: 23) ist „Verkehr ein Spiegelbild der Gesellschaft“. Er wird bestimmt werden durch das vielfältige Zusammenwirken ökologischer, ökonomischer und sozialer Prozesse, das einen nicht annähernd begriffenen kulturellen Transformationsprozess vorantreibt. In dieser Hinsicht besteht durchaus noch Interpretationsbedarf im Marxschen Sinne. Einige Aspekte lassen sich hier dennoch schon benennen:
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Der Mobilitätsbedarf wächst, die weltweite Pkw-Flotte wird sich bis 2030 fast verdoppeln. Damit könnten sich Verbrauch und Emissionen bis 2050 mehr als verdoppeln (IEA 2007). Forscher sagen voraus, dass wir uns auf das schlimmste Szenario des Klimawandels zu bewegen, wenn sich diese Trends fortsetzten. Dennoch könnte angesichts dieses Problems der Sinn für die Dringlichkeit einer weitaus gefährlicheren Entwicklung verloren gehen: Die Endlichkeit fossiler Ressourcen sollte deswegen das Hauptthema in der gegenwärtigen Mobilitätsdiskussion sein, weil sie kurz- und mittelfristig ein ungleich größeres Krisenpotential aufweist, als der Klimawandel. Gleichwohl beides eng verknüpft ist, ist die Energieversorgung die Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts. Sie anzugehen bedeutet den Schlüssel zu vielen anderen Probleme anzupacken und überhaupt handlungsfähig zu bleiben, auch in der Klimafrage. 2007 wurden 58 Prozent des weltweiten Erdölbedarfs vom Transportbereich erzeugt. Damit ist dieser Sektor und besonders der Straßentransport Triebkraft intensiver Konkurrenz um Erdöl. Kriege werden heute auch darum geführt, den Transportsektor als Lebensmotor unserer Gesellschaften am Leben zu halten.2 Diese fossile Mobilität mit ihren ökologischen und geopolitischen Folgen befördert das Risiko globaler Destabilisierungen ungeheuren Ausmaßes. Damit stellt die ressourcensparende Gestaltung von Mobilität auch im Bereich der Abwehr der sicherheitspolitischen Gefahren der Erdölabhängigkeit eine zentrale Stellschraube dar. Der größere Anteil der Weltbevölkerung lebt in urbanen Regionen. Auch das kommende Bevölkerungswachstum konzentriert sich in den StadtregioVgl. das Buch von Leggewie und Welzer (2009) „Das Ende der Welt wie wir sie kannten“. Konservativ geschätzt hat die USA zwischen 1991 bis 2003 allein für die Aufrechterhaltung militärischer Präsenz in der Golfregion 600 Milliarden Dollar aufgewendet. Die unmittelbaren Kosten der beiden Golfkriege sind nicht berücksichtigt.
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nen. Städte sind Modernisierungslaboratorien, sind Forum und Medium moderner Lebensweise, gigantische Räderwerke ineinander greifender Systeme zur Regulierung von Wohnen, Arbeiten, Konsum und Mobilität. Das heißt, dass die Zukunft der Mobilität in der Stadt der Zukunft entschieden wird (vgl. Schöller-Schwedes/Rammler 2008). Nicht unterschätzen sollten wir den maroden Zustand der urbanen Versorgungsinfrastrukturen. Sie müssen modernisiert werden. Auch wird Kapital benötigt, um neue Infrastrukturen für die regenerative Energie aufzubauen. Die Bevölkerung altert auch. Nutzerspezifische Antworten darauf werden im Bereich des „Universal Design“, also der altersgruppenübergreifenden Gestaltung von Mobilitätssystemen zu suchen sein. Demographischer Wandel bringt zudem die Veränderung der Siedlungsmuster mit sich, was die Frage der Finanzierbarkeit von öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen verschärft. Das Zwischenfazit können wir auf eine einfache Formel bringen: Immer mehr Menschen, die immer älter werden, leben auf immer engeren Raum, verbrauchen immer mehr Rohstoffe und erzeugen dabei immer mehr Emissionen. Während die Überbeanspruchung die ökologischen Systeme der Erde in den Bereich irreversibler Schäden bringt, werden durch Ressourcenkonkurrenz und Entnivellierung sozialer Lagen durch ungleiche Reichtumsverteilung und ungleiche Verteilung von Lebensrisiken, die Grenzen der geopolitischen und kulturellen Tragfähigkeit erreicht. Damit entsteht eine so rasante Transformationsdynamik, dass die Welt schlicht empirisch betrachtet in absehbarer Zeit nicht mehr so sein wird, wie wir sie kennen. Wir befinden uns mit anderen Worten im Übergang zur Weltüberlebensgesellschaft. Die Weltrisikogesellschaft ist nach Ulrich Beck durch von dieser Gesellschaft selbst produzierte Risiken definiert. In Überschreitung dieser Definition würde ich die Weltüberlebensgesellschaft durch den Akt der finalen Zuspitzung der reflexiven Modernisierungsfolgen auf die Überlebensfrage der Menschheit definieren. Der Übergang findet statt, wenn Risiken in konkrete Gefahren umschlagen, wie es gerade der Fall ist. In dieser Situation müssten wir in vielerlei Hinsicht die Systemfrage radikal stellen und ab sofort alle unsere Handlungen an einem Zukunftsfähigkeits-Apriori (Rammler 2010) ausrichten. Es geht davon aus, dass der Systemwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaftsform machbar ist und dass sich jede weitere Entwicklung an diesem obersten Ziel auszurichten hat. Es basiert auf der Annahme von sozialer Lernfähigkeit, konzertierten Handelns, rechtzeitiger Verfügbarkeit von Technologie und der Voraussetzung, dass die „Schalterpunkte“ irreversibler ökosystemischer Veränderungen nicht hinter uns liegen. Diese selbst gewählte und zielgerichtete kulturelle Transformation ist das Gegenteil der potentiell chaotischen Transformationsdynamik, die sich im Falle von Nicht-Handeln einstellen würde. Sie hat die Erzeugung eines gewünschten Zustands zum Ziel. Und genau das ist
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nach Herbert Simon die umfassende Definition von Design: Es geht um das Design einer neuen globalen Kultur des Überlebens, um ein Design, das die Moderne überwindet, um Weltdesign als Überlebensdesign hin zu einer nachmodernen, wie auch immer dann zu benennenden Epoche. 3
Mobilitätspolitik als Weltdesign
Angesichts dieser Lage gleichen unsere politischen Konzepte eher Wartungsmaßnahmen auf der Titanic als der Kursänderung, die uns am Eisberg vorbeibringt. Das gilt auch für die Mobilitätspolitik. Die technologisch brillante aber konzeptionell fantasielose Mobilitätsindustrie ist mit der Entwicklung völlig neuer Mobilitätskonzepte gefordert, sieht sich aber in der Pfadabhängigkeit unserer Mobilitätskultur ebenso gefangen wie die Verkehrspolitik und die Verkehrswissenschaften. Wir sollten aufräumen mit der Lebenslüge der kritischen Mobilitätsdiskurse, wir könnten innerhalb des geltenden Entwicklungspfades etwas substantiell ändern. Alle Optimierungs- und Lenkungs-, Verflüssigungs- und Verlagerungskonzepte für den Verkehr kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass wir gänzlich auf dem falschen Pfad sind, solange wir uns innerhalb des geltenden Gesellschaftsmodells bewegen. Dazu einige mobilitätspolitische Leitgedanken.
Mobilitätspolitik ist Gesellschaftspolitik: Die Gestaltung von Mobilität war implizit immer schon Gesellschaftspolitik und wurde manchmal auch explizit so gedacht. Dieses Denken ist in der Verkehrspolitik heute nicht existent. So wie Mobilitätsforschung forschungskonzeptionell als das Auswerfen eines Senkbleis in die Tiefenstruktur der modernen Gesellschaft zum Ausloten der Verfasstheit der Moderne verstanden werden kann, kann Mobilitätspolitik gestaltungskonzeptionell als Instrument zur Veränderung dieser Verfasstheit gelten. So kann Mobilitätspolitik heute als paradigmatischer Angriffspunkt einer gesamtkulturellen transformativen Praxis begriffen werden. Gelingt der Umbau in diesem intermediären Bedürfnisfeld, so gelingt er in allen anderen auch. Mobilitätspolitik ist ein Dreh- und Angelpunkt der kulturellen Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft: Dieser Stellenwert ergibt sich theoretisch aus der Kopplung und wechselwirksamen Beeinflussbarkeit von Moderne und Mobilität. Er ergibt sich empirisch aus der Quellenproblematik der Mobilität, aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Erdöl die Haupttriebkraft geopolitischer Verwerfungsprozesse zu sein und damit zugleich auch einen der wichtigsten Angriffspunkte für den Gesamtumbau der fossilen Energiekultur darzustellen.
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Die Neuerfindung der Mobilität ist mit der Beharrungskraft unserer Welt konfrontiert: Bislang wollen wir Mobilität zukunftsfähig machen, indem wir an Schrauben drehen, während es darauf ankommt, die gesamte Mobilitätsmaschine neu zu konstruieren. Die inkrementelle Logik der bisherigen Verkehrs- und Unternehmenspolitik ist verständlich angesichts der Tatsache, dass die Herausforderungen des Zukunftsraums der Mobilitätspolitik mit dem Beharrungsmoment ihres Herkunftsraums, eben des Kulturmodells der Mobilitätsmaschine konfrontiert sind. Politiken zur Erweiterung von Möglichkeitsräumen sind prinzipiell einfacher zu legitimieren und umzusetzen als Politiken die bei den Betroffenen auf etablierte Erwartungsniveaus und Abhängigkeitsstrukturen treffen. Angesichts dieser Lage verbieten sich alle „naiven“ Verhaltensappelle. Entscheidend ist die Frage, wie es gelingen kann, der Freiheit und Selbstbeweglichkeit versprechenden Erzählung moderner Mobilität ein neues, verheißungsvolles Narrativ entgegenzusetzen und zur Grundlage konsistenter und attraktiver Planungs- und Politikvisionen zukunftsfähiger Mobilität zu machen. Die Macht unserer Phantasie geht der Mobilitätspolitik voraus: Viel mehr als inkrementelle, unsystematische und machtpolitisch motivierte Politiken brauchen wir bei der Gestaltung von Mobilität Impulse für die Macht unserer Phantasie. Uns fehlen Bilder, positive Visionen und Geschichten einer neuen Mobilitätskultur. Es fehlt die innere Landkarte eines Kontinents zu dem wir uns hingezogen fühlen, weil seine Versprechen attraktiver sind als das Erleben der Gegenwart. So ein inneres Bild wie es in den „Amerikafahrern des Kopfes“ (Burckhart 1997: 158) lebendig war, bevor sie aufbrachen, um in der neuen Welt ein besseres Leben zu finden. Erst die Sogwirkung dieser leitenden, Kräfte bündelnden und motivierenden Bilder und Erzählungen der funktionierenden Wirklichkeit einer besseren Welt werden helfen, den „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) – im Sinne eines übergreifenden Konsenses und einer gesellschaftsweiten Innovationsmentalität – entstehen zu lassen, den wir brauchen um uns auf tiefe Veränderungen einzulassen und die entsprechenden Politiken mit zu tragen. Die Schwierigkeiten von Wandel beginnen an der Grenze der Vorstellbarkeit. Sie beginnen bei der Notwendigkeit das Neue zu denken und sich aus Gewohnheiten zunächst mental zu befreien. Erst diesem Schritt werden veränderte Handlungsweisen folgen können. Eine solche „narrative Mobilitätspolitik“ kann nicht Aufgabe einzelner Visionäre sein, sondern muss einer kollektiven, dezentralen und vernetzten Innovationslogik entspringen, die es zu organisieren und über neue Kanäle in politische Prozesse und öffentliche Debatten einzuspeisen gilt.
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Zukunftsfähige Mobilitätspolitik muss Schwerpunkte setzen: Aus der Betrachtung des Zukunftsraums der Mobilität ergeben sich Hinweise, welche Gestaltungsfelder im Vordergrund stehen und welche Gestaltungsstrategien zum Einsatz kommen sollten. Beurteilungskriterien sind die erwartbare Geschwindigkeit und Größenordnung ökologischer und sozialer Entlastungseffekte, die gesamtsystemische Innovationsstärke, Reichweite und Tiefgängigkeit und schließlich die kulturelle Prägekraft, also der Beitrag zur Neuerfindung unserer modernen Zivilisation. Die klassischen Systematisierungen von verkehrspolitischen Handlungsfeldern, Strategien und Maßnahmen sind damit zwar nicht obsolet, werden aber aus einer anderen Innovationslogik heraus bewertet: Der bislang teilsystemischen – auf technische Trägersysteme, organisatorische Verlaufssteuerung und -optimierung ausgerichteten – inkrementellen Innovationslogik wird das Ideal einer auch gesamtgesellschaftlich ambitionierten Mobilitätspolitik entgegengesetzt. Dem paradigmatischen Charakter der Mobilität entsprechend muss dieser Ansatz systematisch und in disziplinärer Offenheit danach fragen, welche Veränderungen in anderen Gestaltungsfeldern angestoßen werden müssten, um zu Veränderungen in der Mobilitätspraxis zu kommen. Andererseits ist zu fragen, welche Veränderungen der Mobilitätspraxis im inkubatorischen Sinne wiederum zu nachhaltigen Veränderungen in anderen Teilsystemen führen könnten.
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Leitstrategien zukunftsfähiger Mobilitätspolitik
Klassische Konzepte ökologischer Verkehrspolitik sind die drei V: Vermeidung, Verlagerung, Verbesserung. Diese griffige Formulierung hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Doch möchte ich im Sinne der oben geforderten Innovationslogik hier die Begriffe der Produkt-, Nutzungs-, Systeminnovationen der Mobilität als Leitstrategien einer zukunftsfähigen Mobilitätsgestaltung einführen. Sie ermöglichen eine differenzierte und zugleich vernetzte Argumentation mit Blick auf die synergetische Entwicklung und Umsetzung konkreter Handlungsstrategien und Maßnahmen. Man kann sagen, dass die drei V eine abstrakte Zielmatrix zukunftsfähiger Mobilitätsgestaltung bieten. Der Innovationstrias einer idealerweise eng aufeinander abgestimmten Gestaltung von Produkten, Abläufen und Systemen realisiert diese Matrix mit Blick auf definierte Handlungsebenen, Akteure und Zielparameter wie Nutzerfreundlichkeit, Universal Design, Verringerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs, der Umwelt-, Gesundheits- und Sozialverträglichkeit etc.
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4.1 Produktinnovation der Mobilität Produktinnovation setzt bei einzelnen Verkehrsmitteln bzw. Verkehrsträgern an. Dabei wird die Funktionalität für die Abwicklung von Verkehrsabläufen eingesetzter Geräte oder Gerätesystem ggf. nicht verändert, sondern nur die Produktausprägung modifiziert um eines oder mehrere der oben genannten Ziele zu realisieren. Produktinnovationen sollten während des Planungs- und Produktionsprozesses ansetzen, etwa bei der Frage einer an Wiederverwertbarkeit von Komponenten orientierten Gestaltung, sie optimieren den Gebrauchsprozess und sollten eine sinnvolle Nachnutzung von Beginn an mit in den Blick nehmen (z.B. Zweit- und Drittverwertung). Die inkrementelle Effizienzsteigerung des Verbrennungsmotors gehört ebenso zu dieser Strategie wie die Entwicklung neuer Antriebskonzepte für alle Verkehrsträger (E-Auto, H2-Auto, Transrapid) bis hin zu ganz neuen technologischen Konzepten (Segway, Rail-Cab). Produktinnovationen basieren meist auf technischen Inventionen. Andererseits kann die Innovationsleistung auf die Kombination vorhandener Technologien, auf einen neuen Standard (Größe, Gewicht) oder eine neue Nutzungsform hin ausgerichtet werden. Produktinnovationen sollten immer auf die Erhöhung der Produkteffizienz zielen, also die Erfüllung einer Funktion mit geringerem Ressourceneinsatz bzw. die Darstellung erweiterter Produktfunktion bei gleich bleibendem, im Idealfalle verringertem Ressourcenaufwand. Sie können auch völlig neue Funktionen ermöglichen, die entweder neue Bedürfnisse generieren oder ein gegebenes Bedürfnis auf veränderte oder neue Art und Weise befriedigen. 4.2 Nutzungsinnovation der Mobilität Nutzungsinnovationen setzen beim Betrieb von Verkehrsmitteln an. Es geht hier darum, wie gegebene Bedürfnisse der Mobilität befriedigt werden können, ohne dafür neue Produkte einzusetzen bzw. wie sie durch einen anderen Einsatz der gegebenen Produkte bzw. der Gestaltung ihrer Nutzungsrahmenbedingungen befriedigt werden. Der Innovationsimpuls bezieht sich hier also mindestens auf die (Neu-) Organisation von Handlungsabläufen mit gegebenen Produkten in einem gegebenen Umfeld. Dieses kann mit oder ohne korrespondierende Produktinnovationen stattfinden. Die große politikpragmatische Bedeutung von Nutzungsinnovationen resultiert aus der oben beschriebenen Situation, dass die Welt sich als rigides sozio-technisches System entwickelt hat. Die Dingwelt ist so fest in Stahl und Beton gegossen wie die Menschwelt sich in beharrlichen Nutzungs- und Verhaltensroutinen fixiert hat. Eine Veränderung in Richtung der Zielkriterien der Nachhaltigkeit muss sich mit dieser Grundbedingung arrangieren. Meist ist weder Geld noch politischer Wille vorhanden, die notwendig wären, den Schritt zu groß ange-
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legten Produkt- oder Systemkonversionen zu machen. Im Gegenteil liegt die Lösung wohl oft in der Perspektive der sehr viel effizienteren Nutzung von Produkten und Infrastrukturen. Diese Strategie zeichnet sich durch eine geringe technologische Eingriffstiefe aus. Es ist eine Strategie des klugen sozialen Umgangs mit der aktuell jeweils vorgefundenen Welt, deren Potentiale in allen Bedürfnisfeldern bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Klassische Nutzungsinnovationen sind „Sharing-Konzepte“ unterschiedlichster Ausprägung und Reichweite. Allgemein gesprochen hat das Teilen von Verkehrsmitteln das Ziel, eine möglichst umfassende Bedürfnisbefriedigung mit einem möglichst geringen Aufwand an Ressourcen zu realisieren. Beispiele sind Erhöhung der direkten Auslastung im Privatbesitz befindlicher Fahrzeuge durch intelligente Mitfahrkonzepte (Car-Pooling, „elektronischer Daumen“), oder die Steigerung der Betriebszeit von Fahrzeugen in Flottenkonzepten (Car-Sharing, Autovermietung, Call-a-Bike) die über die Lösung vom Privatbesitz und den wirtschaftlichen Betrieb von Fahrzeugen theoretisch die Stückzahl betriebener (oder für den Betrieb vorgehaltener) Fahrzeuge minimieren und auf diese Weise ressourceneffizient arbeiten. Ein aktuelles Beispiel zur Verdeutlichung des Zusammenspiels von Produktund Nutzungsinnovationen: Die Elektromobilität wie sie heute überwiegend diskutiert wird – nämlich schlicht als kurzschlüssiges „Conversion Design“ etablierter Produktauslegungen der Automobilität – basiert zum Teil auf einer klassischen Produktinnovation, bewegt sich aber bereits in den Grenzbereich zur Nutzungsinnovation hinein, da Elektroautos (neben anderen modifizierten Funktionsausprägungen wie z.B. in der Tank- und Fahrsituation) auch in Zukunft einer prinzipiellen Reichweitenbeschränkung unterliegen werden (und damit eine Abkehr vom gängigen etablierten Produktleitbild darstellen), die als Datum einer veränderten Nutzungsweise betrachtet werden müssen. Das heißt in der Produktinnovation Elektroauto ist bereits eine Nutzungsinnovation eingebaut, da der potentielle Nutzer mit der Herausforderung konfrontiert ist, sich auf eine limitierte Reichweite der Fahrzeuge einzustellen. Die in der Produktgestalt verkörperte spezifische Handlungsauforderung wird in diesem Falle gleich mitgestaltet und es werden entsprechende Lösungen für die Reichweitenbeschränkung mitgeliefert. Diese können z.B. sein: Gemischte Fahrzeugpoolkonzepte, in denen gegen Mitgliedschaft eines E-Auto-Nutzers die Möglichkeit besteht, bei langen Distanzen das Fahrzeug gegen ein Verbrennerauto mit großer Reichweite einzutauschen. Ein anderes Beispiel wären integrierte Mobilitätsdienstleistungskonzepte unter Einbezug aller Verkehrsträger: Hier wird der E-Auto-Nutzer für lange Strecken auf schienengebundenen Verkehr zurückgreifen können. Buchungs-, Abrechnungs- und Dispositionssysteme würden in diesem Falle gleich mit entworfen. Wirklich innovative Nutzungsformen der urbanen Elektromobilität können auf diesen intermodalen Mobilitätsdienstleistungen basieren, die „Selbstbeweglichkeit“ durch eine stärkere Verknüpfung von Individual- und Kollektivverkehrsträgern ermöglichen. Die rasanten
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Entwicklungssprünge in den Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen hier völlig neue Verknüpfungsszenarien im Sinne umfassender Systeminnovationen der Mobilität. 4.3 Systeminnovation der Mobilität Die Strategie der Systeminnovationen der Mobilität verknüpft Produkt- und Nutzungsinnovationen und setzt dabei meist umfängliche Umbaumaßnahmen und Investitionen in den urbanen und infrastrukturellen Kontexten der Mobilität voraus. Systeminnovationen haben eine neue integrierte Gesamtarchitektur postfossiler Energieversorgungs-, Informations- und Verkehrsinfrastrukturen zum Ziel. Unter Ansatz des Kriterienkataloges zukunftsfähiger Mobilitätsgestaltung ist es die Strategie mit den größten ökologischen und sozialen Entlastungseffekten, der größten gesamtsystemischen Innovationsstärke, Reichweite, Tiefgängigkeit und kulturellen Prägekraft. Es ist aber auch die Strategie mit der geringsten erwartbaren Umsetzungsgeschwindigkeit. 5
Leitsektoren zukunftsfähiger Mobilitätspolitik
Verknüpft man die Analyse des Herkunfts- und des Zukunftsraums der Mobilität, so lassen sich drei Leitsektoren zukunftsfähiger Mobilitätspolitik ausmachen in denen neue Gestaltungsleitbilder als kombinierte Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen Raum greifen sollten. Sie anzugehen bedeutet, alle wichtigen umwelt-, klima- und energiepolitischen Herausforderungen zugleich, zügig und hinreichend zu adressieren, die Hebelpunkte also an der richtigen Stelle anzusetzen und wichtige Synergien auch im Hinblick auf einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Transformation zu erzeugen. Die vorgenommene Systematisierung ist eine analytische und idealtypische. Tatsächlich überschneiden sich die Leitsektoren ebenso wie die anzuwendenden Gestaltungsstrategien. 5.1 Energiekonversion in der Mobilität Der zentrale Ansatzpunkt ist die Umstellung in der energetischen Basis der Mobilität vom herrschenden fossilen Betriebsmodus zu einem nachfossilen, regenerativen Betriebsmodus. Die Energiekonversion der Mobilität ist der wichtigste Leitsektor insofern hier aufgrund der zentralen Rolle der fossilen Energie das größte ökologische und geopolitische Entlastungsmoment zu erwarten ist. Hinzu kommt, dass angesichts der beschriebenen Anteludialeffekte der Mobilität ein
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Austausch der energetischen Basis im Betrieb der Verkehrsträger ungleich weniger konfliktreich sein wird, als die – mittel- und langfristig gleichwohl nicht vermeidbare – Restrukturierung der baulich-infrastrukturellen, organisatorischbetriebswirtschaftlichen und mentalen Dispositionen der modernen Mobilität. Bislang werden unterschiedliche Innovationspfade für unterschiedliche Verkehrsträger und Verkehrsarten diskutiert. Letztlich laufen alle Wege darauf hinaus, regenerative Primärenergie in Form mobiler Energieträger als Strom, Wasserstoff oder Biotreibstoffen der zweiten Generation zum Antrieb von Fahrzeugen zu nutzen. Meiner Ansicht nach werden wir in Zukunft eine Mischung dieser mobilen Energieträger in den unterschiedlichen Verkehrsarten und Nutzungskontexten der Mobilität einsetzen. Im Bereich der urbanen und stadtnahen Mobilität scheint allerdings der Einsatz von Elektrizität für den Personen- wie den Gütertransport sehr nahe zu liegen. Hier kann an vorhandene Versorgungsinfrastrukturen und etablierte Nutzungsformen, wie dem elektrischen Betrieb der öffentlichen Verkehrsträger, angeschlossen werden. Nicht zweckmäßig ist der Einsatz von Elektrizität für den nicht-urbanen und nicht schienengebundenen Gütertransport auf Strasse, Wasser und zu Luft und den in seiner Bedeutung oft unterschätzten Transportbedarf in der landwirtschaftlichen Produktion. Hier ist der Einsatz von Biokraftstoffen oder von Wasserstoff für die Energieversorgung des noch verbleibenden Verkehrsaufwandes zu etablieren, der nach einer grundlegenden Restrukturierung der Güterlogistik nicht weiter vermeidbar oder zu verlagern ist. 5.2 Elektromobilität als Systeminnovation: Die Verknüpfung von Mikromobilität und öffentlichen Transport als Grundpfeiler der urbanen Mobilität Im Zentrum unserer mobilen Lebensweise steht das Auto. Mit Blick auf den Beitrag der Automobilität zum Ressourcenverbrauch und zur Klimaerwärmung und die ökonomische und gesellschaftliche Bedeutung der Automobil- und Mineralölbranche ist die Modernisierung der Automobilität und ihrer energiesystemischen, verkehrsinfrastrukturellen und sozialen Funktionsräume heute einer der Dreh- und Angelpunkte ökologischer Industriepolitik in modernen Gesellschaften. Gelingt die Transformation hier, so gelingt sie auch in allen anderen Bedürfnisfeldern und Wirtschaftbereichen. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass die klassische, uns bekannte Automobilität heute im doppelten Sinne – als kulturelles Modell der Massenmotorisierung und als technologischer Entwicklungspfad – am Ende ist, ja sein muss, wenn wir die Kriterien der Zukunftsfähigkeit anlegen: Die uns so vertraute Automobilität, also der Privatbesitz eines Fahrzeuges mit Verbrennungsmotor, hinreichender Lade- und Transportkapazität, moderaten Kosten und einer großen Reichweite ist in keiner Weise global
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verallgemeinerungsfähig, selbst wenn wir irgendwann bei einer Effizienz von 1L pro 100km landen könnten. Ebenso wenig verallgemeinerungsfähig ist das Elektroauto, wenn es dem Verbrennungs-Pkw im Sinne des „Conversion Design“ funktional äquivalent nachzueifern versucht. Wenn wir die Lage der Dinge wirklich ernst nehmen führt der einzige Weg zu einer dauerhaft nachhaltigen Mobilität nur über die Ent-Individualisierung der Privat-Mobilität und der Güterlogistik auf Basis einer mittelfristig vollkommen regenerativen Energiebasis, der massiven Aufwertung der kollektiven Verkehrsträger und des Umbaus unserer Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen. Automobilität bedeutet ins deutsche übersetzt schlicht Selbstbeweglichkeit. Für uns moderne Menschen ist Selbstbeweglichkeit bislang als massenhaft verfügbarer Privat-Pkw auf fossiler energetischer Basis codiert und wie beschrieben in unsere Siedlungs-, Wirtschafts- und Produktionsinfrastrukturen tief eingeschrieben. Die Funktion der Selbstbeweglichkeit könnte aber auch anders realisiert sein. Eben nicht als technologisches Einzelartefakt sondern als Output des reibungslosen Zusammenspiels von Komponenten eines Systems. Statt mich in einem Artefakt durch eine Welt zu bewegen um von A nach B zu kommen, werde ich also im Sinne dieser Designphilosophie durch ein System in der Welt bewegt, um von A nach B zu kommen. Die Automobilität der Zukunft ist in diesem Sinne also tatsächlich eine weitgehend „autofreie Zukunft“. Sie ist selbstbewegliche Mobilität von Menschen und Gütern auf Grundlage der Ent-Individualisierung des städtischen Verkehrs auf der Basis eines modernen, hoch entwickelten Kollektivverkehrs und Verknüpfung mit innovativen Nutzungsstrategien für das was man Mikromobilität nennen könnte, also individuelle Verkehrsträger unterhalb des Niveaus des heutigen Fahrzeugleitbildes (Pumas, Segways, E-Leichtfahrzeuge, E-Fahrräder, E-Mobile, Fahrräder, etc.). Besonders in den Metropolenregionen Südostasiens wird eine zukunftsfähige ökonomische und soziale Entwicklung ohne das belastbare Rückgrat eines hocheffizienten und leistungsfähigen Massenverkehrs nicht möglich sein. Denn gerade hier erscheint die Etablierung einer automobilen Monokultur – selbst auf der Nullemissionsbasis von Elektrofahrzeugen – aus Gründen der massiven Raumkonkurrenz nicht zielführend, die Kombination von Individual- und Kollektivverkehr hingegen als ausgesprochen sinnvoll. Diese Dichteproblematik ist in den meisten Regionen der nachholenden Modernisierung entscheidend. Der Einstieg in die Entwicklung von integrierten Mobilitätssystemen, die im Rahmen aufeinander abgestimmter Produkt-, Dienstleistungs- und Systeminnovationen die Verknüpfung von elektrischem Individual- und Kollektivverkehr vorsehen, könnte beispielsweise für die europäische Mobilitätsindustrie vor dem Hintergrund des Entstehens dieser enormen Märkte in den globalen Metropolenregionen sehr sinnvoll sein. Die Metropolen Asiens werden sich angesichts der beschriebenen Entwicklungen und Ausgangsvoraussetzungen ihrer weiteren Mobilitätsentwicklung zu Keimzellen der Elektromobilität als Systeminnovation
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entwickeln. Zusammenfassend ist die Zukunft der urbanen Mobilität bestimmt durch wenige, bei nüchterner Betrachtung recht schlicht anmutende Entwicklungsanforderungen:
Die Rückkehr oder den Ausbau des Kollektivverkehrs als individualisierten Massentransport; die Elektrifizierung aller Transportwege auf Basis einer letztlich regenerativen Energieerzeugung; Mikromobilität: das Weiterbestehen autonomer und flexibler Individualverkehrsmittel auf Basis der Elektromobilität im Zusammenspiel mit Dienstleistungs- und Nutzungsinnovationen.
So wie das Automobil mit Verbrennungsmotor heute unbestreitbar als Symbol der fossilen industriellen Moderne verstanden wird, könnte die Elektromobilität in Zukunft als Sinnbild eines zivilisationsgeschichtlichen Paradigmenwechsels und eines längst überfälligen strukturellen Wandels in der Automobil-, Mineralöl- und Energiebranche gelten. Aus dieser Blickrichtung können wir die Elektrifizierung des Bedürfnisfeldes Mobilität als eine Art trojanisches Pferd der grundsätzlichen nachfossilen Rekultivierung der Erde, des Umbaus der fossilen zur solaren Kultur und der Dekarbonisierung der Energieflüsse des gesellschaftlichen Organismus betrachten. 5.3 Systeminnovation des Güterverkehrs Haben sie einmal überlegt, welche enorme Logistikmaschine sie in Bewegung setzen, wenn sie im Internet ein Buch oder ein anderes Gebrauchsgut bestellen? Haben sie schon einmal darüber nachgedacht, welche Transportgeschichte ein Nahrungsmittel hinter sich hat, wenn sie es im Supermarkt kaufen können? Mit der Güter- und Konsumwelt ist es wie mit der Windows-Benutzeroberfläche auf unserem Heimcomputer: Hinter den Icons verbergen sich eilfertige und hocheffiziente, dabei aber auch enorm energie- und ressourcenintensive Prozessorganisationen, deren Funktionsweise uns nicht bekannt und oft genug auch nicht interessant für uns ist. Dabei würde die moderne Welt ohne Güterlogistik nicht im Geringsten funktionieren. Wie wir Menschen zu den Orten und Einrichtungen kommen, an denen wir Dinge zu erledigen haben steht meistens im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, weniger aber die Frage, wie transportintensiv die Dinge entstehen und wie sie zu uns kommen bzw. zu den Orten, von denen wir sie dann „über die letzte Meile“ zu uns nach Hause holen oder bringen lassen. Wenn über Verkehrspolitik diskutiert wird, steht meist der Personenverkehr im Mittelpunkt, an dem sich immer wieder viele Emotionen entzünden. Der Güterverkehr ist
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demgegenüber ein ungeliebtes Kind der mobilitätspolitischen Diskussionen, allerdings sehr zu Unrecht. Anders gesagt: Als Ressourcenverbraucher, Treibhausgasproduzent und Minderungsfaktor urbaner Lebensqualität durch ein immer kleinteiligeres und höheres Transportaufkommen ist der Güterverkehr – also der weltweite Transport von Rohstoffen, Halbgütern und konsumfertigen Endprodukten – aus Sicht des mobilitätspolitischen Zukunftsfähigkeits-Apriori einer der zentralen Leitsektoren, denn er wird den Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung heute in keiner Weise gerecht und lässt überdies eine äußerst dynamische Entwicklung erkennen. Dies unterstreicht auch das aktuelle Fazit des Umweltbundesamtes im Mai 2010. Es macht darauf aufmerksam, dass sich der Trend bis 2025 noch deutlich verstärken könnte. So geht eine Prognose des Verkehrsministeriums davon aus, dass der Verkehrsaufwand im Güterverkehr 2025 gegenüber 2008 um 43 Prozent ansteigen könnte. Das die urbane Lebensqualität jedoch am stärksten tangierende Branchensegment der Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP) ist durch ein besonders dynamisches Wachstum gekennzeichnet. Zwar wird mit einer Abschwächung des Wachstums gerechnet, aber insbesondere das E-Commerce-Geschäft stellt weiter einen starken Wachstumstreiber dar. Der Güterstruktureffekt – hin zu hochwertigen, eilbedürftigen und vor allem in geringen Sendungsgrößen anfallenden Gütern – scheint ungebrochen. Die mobilitätspolitische Antwort auf diese Herausforderungen ist auf drei Ebenen – mit jeweils abnehmender Eingriffstiefe – zu suchen. Erstens und ganz grundsätzlich müssen wir die Frage nach der Genese von Gütertransporten stellen. Hier stellt sich die Frage nach der Raumüberwindungslast unserer Ernährungsweise ebenso wie die nach der Notwendigkeit sofortiger Bedürfnisbefriedigung (z.B. die KEP-Dienste betreffend). Letztlich ist die Verkehrsgenesefrage unmittelbar mit den extrem arbeitsteiligen und global nach komparativen Kostenvorteilen in den Rohstoff- und Arbeitsmärkten suchenden Wirtschafts- und Produktionsstrukturen verknüpft und somit der Verfasstheit unseres Wachstumsmodells. Ebenso spielt die nicht vorhandene Kostenwahrheit im transportierenden Gewerbe eine große Rolle: Niedrige Treibstoffpreise haben die Entstehung eines global ausgreifenden Systems der Arbeitsteilung erst ermöglicht. Ohne die energetischen Dumpingpreise der fossilen Epoche wären weder die Globalisierungsprozesse unserer Tage möglich gewesen noch die Entwicklung einer im Kern nicht zukunftsfähigen Produktions- und Zirkulationsbranche, die Produktions- und Konsumptionsstandorte auf aus ökologischer Sicht gänzlich unsinnige Weise miteinander verknüpft, die ohne die billigen fossilen Ressourcen eben niemals miteinander in Beziehung getreten wären. Die Verkehrsgenesefrage wandelt sich im Lichte des Zukunftsfähigkeits-Aprioris in letzter Konsequenz zur Verkehrsvermeidungfrage und ist eng und ursprünglich mit der Frage unseres Lebens- und Konsumstils verknüpft, d.h. eine Lösung liegt außerhalb der genuinen mobilitätspolitischen Gestaltungskompetenz, muss aber dennoch aus dieser Perspektive
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heraus thematisiert werden. Antworten werden sich dementsprechend auch nur im großen Zusammenhang der zu führenden gesellschaftspolitischen Debatte über die Reichweiten und Grenzen unseres Wirtschafts- und Konsummodells insgesamt finden lassen. Regionalisierte Produktions- und Nachfragemuster, jahreszeitliche Angemessenheit von Konsumgewohnheiten, Vorausschau, Planung und Geduld bei den individuellen Konsumentscheidungen und Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit der Produkteigenschaften sind einige Antworten, die sich unmittelbar auch in verringerten Verkehrsaufwänden und Verkehrsleistungen niederschlagen werden und letztlich auch einem Transportstruktureffekt hin zu langsamer, systemischer und damit weniger energie- und flächenverbrauchend operierenden Güterverkehrskonzepten entgegen kommen. Damit ist die zweite, im engeren Sinne mobilitätspolitische Handlungsoption angesprochen: Die Verlagerung von Transporten weg von der Strasse und Flugzeug hin zu schienengebundenen Verkehrsträgern und zum Wassertransport. Hier sind insbesondere die Potentiale der Transporte auf den Binnenwasserstraßen noch völlig unausgeschöpft. Verlagerung setzt außerdem eine radikal verbesserte Vernetzung der Transportmodi voraus. Der kombinierte Verkehr ist ein lange und vielfältig diskutiertes Konzept, wurde gleichwohl in der Realität niemals ernsthaft umgesetzt und erprobt. Die Gründe liegen in den oben beschriebenen Kostenrelationen und der Stabilität von Konsumstilen, die eine funktional äquivalente Angebotsqualität zu den vergleichsweise schnellen und flexiblen Straßengütertransporten verlangen. Auch die Tatsache, dass verkehrspolitische Weichenstellungen und Infrastrukturinvestitionen zugunsten des kombinierten Verkehrs nicht stattgefunden haben kann nicht darüber hinweg täuschen, dass funktionale Äquivalenz zum heutigen Transportmodell im Hinblick auf Schnelligkeit, Flexibilität etc. wohl aus prinzipiellen Gründen nicht in letzter Konsequenz wird erreicht werden können. Sollte man diese Auffassung nicht teilen, so wäre mindestens zu bedenken, dass der Versuch einer funktional äquivalenten Darstellung des Transportbedarfes im Rahmen einer umfassenden Systeminnovation immer noch einen enormen Ressourcenaufwand bedeuten würde, der im Vergleich zum Status Quo zwar deutlich minimiert aber in keiner Weise zukunftsfähig wäre. Die dritte mobilitätspolitische Option liegt bei der Steigerung der Nutzungseffizienz der gegebenen Transportträger durch bessere logistische Disposition, im Einsatz regenerativer Treibstoffe und schließlich in der Steigerung der direkten Energieeffizienz der eingesetzten Antriebssysteme. Hier reicht die Spannweite der zukünftig zu führenden Diskussion vom Einsatz von Elektroleichttransportern für die „letzte Meile“ in urbanen Ballungsräumen über die Option des Einsatzes von Biokraftstoffen der zweiten Generation im LkwTransport bis hin zu visionären Konzepten wie „Sky Sails“ für die Verringerung des Energieverbrauchs der Überseetransportes durch Windkraft.
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Insgesamt liegt eine Antwort auf die Herausforderungen in der zukunftsfähigen Gestaltung des Güterverkehrs also – wie im Personenverkehr auch – in der Vielfalt, der Synergie und einer dem Nutzungskontext angemessenen Adaption und klugen Vernetzung von organisatorischen und technologischen Optionen. 6
Fazit
Wenn man mich zum Abschluss um Zuspitzung und Gewichtung des bislang Gesagten bitten würde, würde ich die folgenden Gedanken betonen:
Wir sind am Ende des Kulturmodells der Massenmotorisierung. Das muss für die fossile Technologie nicht weiter begründet werden. Es gilt aber auch für die Elektromobilität. Soll Elektromobilität als Leitbild der Massenmotorisierung fortgeführt werden, so ist das eine Innovation in der Sackgasse (vgl. auch den Beitrag von Petersen in diesem Band). Die Elektrifizierung der Mobilität auf Basis regenerativer Energieerzeugung wird in Zukunft nur als Systeminnovation zukunftsfähig sein, als Synergie elektrisch betriebener Kollektiv- und Individualverkehrsmittel, bei der massenhafter Besitz von Motorfahrzeugen durch massenhaften Zugang zu geschäftsmäßig betriebenen Mobilitätsdienstleistungen ersetzt wird. Wir brauchen die Umkehrung der mobilitätspolitischen Innovationspyramide. Das erfordert erneuerte Denk- und Handlungsweisen in der Mobilitätspolitik. Bislang wird umweltorientierte Verkehrspolitik vor allem als Produktinnovation betrieben. Es geht aber darum, das gesamte Innovationsgeschehen vom Gesamtsystem her zu denken und sich über die Ableitung von innovativen Nutzungs- und Geschäftsmodellen erst am Ende der Frage der Produktinnovation zu nähern. Wir brauchen eine Modernisierungsoffensive für die kollektiven Verkehrsträger. Das Rückgrat der globalen Mobilität werden leistungsfähige und robuste Kollektivverkehrsträger sein. In einem Gestaltungsszenario wie vorangehend beschrieben, dienen sie als modernes Basissystem innovativer und durchaus noch individualisierbarer Nutzungsformen und Geschäftsmodelle der Mobilität. In einem Zwangsszenario, wie es aufgrund der beschriebenen Tendenzen nicht unwahrscheinlich ist, dienen sie der Grundabsicherung des gesellschaftlichen Mobilitätsbedarfs. Wir könnten schnell in Zeiten gehen, denen der ohne kollektive Verkehrsträger gar nichts mehr läuft – im Personen- wie im Güterverkehr. Das wäre dann in vielerlei Hinsicht eine ganz andere Welt mit noch ganz anderen Schwierigkeiten, Mobilität wird auch darin benötigt. Im Sinne von Vorsorge und Risikoabsicherung kann Verkehrspolitik heute gut
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begründet zur Entscheidung kommen, massive investitionspolitische Umschichtungen vom motorisierten Personen- und Gütertransport zum Kollektivverkehr vorzunehmen. Um es zuzuspitzen: Der VDA wirbt heute mit dem Slogan, jeden siebten Arbeitsplatz in Deutschland zu vertreten. Es könnten Zeiten kommen, in denen sogar jeder zweite Arbeitsplatz in Deutschland direkt und indirekt durch ein funktionierendes Kollektivverkehrssystem garantiert wird (vgl. den Beitrag von Dziekan in diesem Band). Wirklich zukunftsfähige Mobilität ist nur vermiedene Mobilität. Die Anwendung der in diesem Aufsatz entwickelten Innovationstrias ist ein Beitrag zur Erneuerung der Mobilitätspolitik. Allein ich bin mir nicht sicher ob deren Wirkeffekte ausreichend sind, um zu einer wirklich zukunftsfähigen Mobilität zu gelangen. Die entscheidenden Antworten werden auf die Frage der Verkehrsgenese gegeben werden müssen, die – wie anhand des Güterverkehrs illustriert – genuin eine Frage nach unserem Lebensstil ist und sich damit außerhalb des engeren mobilitätspolitischen Handlungsbereichs bewegt. Um noch einmal zuzuspitzen: Alle Optimierungs- und Lenkungs-, Verflüssigungs- und Verlagerungskonzepte für den Verkehr kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass wir möglicherweise gänzlich auf dem falschen Pfad sind, solange wir uns innerhalb des geltenden Gesellschaftsmodells bewegen.
So ist Mobilitätspolitik am Ende immer auch eine Frage der Gesellschaftspolitik und das Eingangszitat erscheint als Ausgangszitat erst recht als gültig: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“. Quellen Burckhart, Martin (1997): Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt am Main, New York. Franke, Sassa (2001): Car Sharing: Vom Ökoprojekt zur Dienstleistung. Berlin. Internationale Energie-Agentur (IEA) (2007): World Energy Outlook 2007. Paris Leggewie, Claus/Harald Welzer (2009): Das Ende der Welt wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt am Main. Rammler, Stephan (2001): Mobilität in der Moderne – Geschichte und Theorie der Verkehrssoziologie. Berlin. Rammler, Stephan (2003): „So unvermeidlich wie die Käuzchen in Athen“ – Anmerkungen zur Soziologie des Automobils. IVP-Schriften. Technische Universität Berlin, Institut für Land- und Seeverkehr, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung. Berlin. Rammler, Stephan (2010): Das Ende der Moderne zwischen Apokalypse und Utopie. Gedanken zur kulturellen Transformation in der Weltüberlebensgesellschaft. In: Lerchenfeld, Magazin der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, Nr. 05/2010, S. 19-24.
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Schöller-Schwedes, Oliver/Stephan Rammler (2008): Mobile Cities. Dynamiken weltweiter Stadt- und Verkehrsentwicklung. Münster. Voigt, Fritz (1953): Verkehr und Industrialisierung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Nr. 109, S. 193-239.
Weiterführende Literatur Burkart, Günter (1994): Individuelle Mobilität und soziale Integration. In: Soziale Welt 45, S. 216-240. Flink, James J. (1988): The Automobile Age. Cambridge/Mass. Kuhm, Klaus (1997): Moderne und Asphalt. Die Automobilisierung als Prozeß technologischer Integration und sozialer Vernetzung. Pfaffenweiler. Sachs, Wolfgang (1984): Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick auf die Geschichte unserer Wünsche. Reinbek. Heine, Hartwig/Rüdiger Mautz/Wolf Rosenbaum (2001): Mobilität im Alltag. Warum wir nicht vom Auto lassen. Frankfurt/New York.
Mensch und Verkehr Plädoyer für eine empirisch gestützte Verkehrspolitik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage Sebastian Bamberg Einführung Ziel staatlicher Verkehrspolitik ist es, durch vorausschauende Planung die Verkehrsinfrastruktur zu schaffen, welche für die gewünschte ökonomische, soziale und ökologische Weiterentwicklung einer Gesellschaft als notwendig erachtet wird. Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Ziel ist Verkehrssicherheit, d.h. das Aufstellen und Durchsetzen von Regeln, die für eine sichere Nutzung von Verkehrswegen sorgen sollen. Braucht die Verkehrspolitik zur Erreichung dieser beiden Ziele verhaltenswissenschaftliche Expertise? Solange sich Verkehrspolitik auf die Fortschreibung aktueller Trends beschränkt, vermutlich nicht. Immer dann aber, wenn sie auf die Veränderung von Verhaltenstrends abzielt, muss sich die Verkehrspolitik intensiv mit den Faktoren/ Prozessen beschäftigen, die das Verhalten von Gruppen und Individuen beeinflussen. Der Bereich Verkehrssicherheit ist ein gutes Beispiel dafür (vgl. auch den Beitrag von Gehlert in diesem Band). Hier ist die Notwendigkeit für eine Beteiligung der Verhaltenswissenschaften selbstevident: Mit Technik allein kann Verkehrssicherheit nicht hergestellt werden. Verkehrssicherheit entsteht immer aus der systemischen Wechselwirkung von Fahrtechnik und individuellem bzw. kollektivem Verhalten. So kann auch ein hoher sicherheitstechnischer Standard nur begrenzt das Unfallrisiko verringern, das aus der Unkenntnis von bzw. dem bewussten Verstoß gegen Verkehrsregeln, riskantem Fahrstil, mangelnder Fahrkompetenz oder dem Fahren unter Drogeneinfluss resultiert. Immer wenn es um die Veränderung menschlicher Entscheidungen und Verhaltensweisen geht, braucht die Verkehrspolitik also Annahmen über Faktoren/ Prozesse, auf denen diese Entscheidungen/Verhaltensweisen beruhen; mit anderen Worten sie braucht eine Verhaltenstheorie. Diese Theorie kann implizit sein, d.h. auf subjektiven Lebenserfahrungen beruhen, oder verhaltenswissenschaftlich basiert sein. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden auf welchen verhaltenswissenschaftlichen Annahmen die aktuelle Verkehrspolitik basiert.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Sebastian Bamberg
Rational Choice als dominante Verhaltenstheorie der Verkehrspolitik
Wenn Verkehrspolitiker/innen oder Verkehrsplaner/innen verhaltenswissenschaftlich argumentieren, fällt auf, wie stark sie sich immer noch an dem ökonomischen Modell des Rationalen Entscheiders (vgl. z.B. Gorr 1997) orientieren. Kern dieses Modells ist die Annahme, dass rationale Entscheider Egoisten sind, d.h. ausschließlich das tun, was ihnen persönlich nützt. Aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht ist das ökonomische Rationalitätskonzept problematisch, weil es die Form eines Entscheidungsprozesses mit dem Entscheidungsergebnis verwechselt. Im Kern ist Rationalität lediglich ein formales Prinzip: das bewusste, möglichst quantifizierte Abwägen der Wahrscheinlichkeit von Handlungskonsequenzen. Die Bewertung dieser Konsequenzen liegt jedoch außerhalb des formalen Rationalitätskonzeptes. Ist es irrational, wenn ich nach langem sorgfältigem Abwägen eine Entscheidung treffe, die nicht meinen Nutzen, sondern den der Gruppe maximiert? Die meisten von uns erwarten genau das von einer ‚rationalen‘ Verkehrspolitik. Die Maximierung des individuellen Eigennutzes an sich ist also nicht rational, sondern reflektiert ein hinter dem Bewertungsprozess von Handlungskonsequenzen stehendes psychologisches Motiv. Inzwischen belegen tausende von spieltheoretischen Experimenten nicht nur, wie nachteilig es oft ist, sich von dem Motiv ‚Eigennutz‘ leiten zu lassen, sondern auch, dass hinter diesem Motiv vor allem eine Emotion steht: die Angst, ausgenutzt zu werden. Zweites prägendes Merkmal des ökonomischen rationalen Entscheiders ist Asozialität: Das Rationalitätskonzept geht davon aus, dass Menschen bei dem Versuch, ihren Eigennutz zu maximieren, nicht die sozialen Erwartungen/ Bedürfnisse anderer berücksichtigen, wenn der Verstoß gegen diese Erwartungen nicht massiv sanktioniert wird. Diese Vorstellung beruht nicht nur auf einer verkürzten Konzeption von sozialem Einfluss als externem Zwang, sondern ist auch empirisch unhaltbar. Unzählige Experimente (vgl. z.B. Gialdini 2001) belegen nicht nur unsere extreme Sensibilität für soziale Informationen, sondern auch den hohen adaptiven Wert, den, besonders in neuen Situationen, dass sich Orientieren an sozialen Erwartungen hat. In solchen Situationen ist das genaue Beobachten, was andere tun, eine sehr erfolgreiche Strategie: In einer komplexen, immer mehrdeutigen Welt sind wir auf soziale Validierung der Realität angewiesen, d.h. die Urteile von Menschen, die wir als glaub- und vertrauenswürdig einschätzen. Worauf stützen wir unsere Bewertung der Vor- und Nachteile verschiedener Handlungskonsequenzen? Oft nicht auf eigene Erfahrungen, sondern auf die Meinungen/ Erfahrungen von Familienangehörigen und Freunden. Experimente der Behavioral Economics liefern starke Belege dafür, dass wir entwicklungsgeschichtlich als soziale Wesen angelegt sind: Selbst in experimentellen Settings, die das Maximieren des individuellen Eigennutzes nahelegen, orientieren sich
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Menschen offensichtlich automatisch an sozialen Normen wie Erwidern von Gefallen (Reziprozität) und Fairness (vgl. Fehr/Fischbacher 2004). Die dritte Annahme, auf der das Modell des Rationalen Entscheiders beruht, ist die der vollständigen Informiertheit, d.h. es wird davon ausgegangen, dass der Entscheider vollständig über die mit unterschiedlichen Handlungsalternativen verbundenen Konsequenzen informiert ist. Auch diese Annahme ist empirisch unhaltbar. Die bewusste Suche nach und die tiefe Verarbeitung von Informationen benötigt Zeit und kognitiven Aufwand. Beides sind knappe Ressourcen, die wir auf wenige, für uns persönlich wichtige Entscheidungen konzentrieren müssen. Bei weniger wichtigen, alltäglichen Entscheidungen greifen wir deshalb auf kognitiven Aufwand und Zeit sparende Heuristiken wie z.B. ‚Mach das, was sich schon oft bewährt hat‘ oder ‚Entscheide dich so, wie es die meisten anderen tun‘ zurück. Wenn schon viele Ökonomen nicht mehr an das Modell des Rationalen Entscheiders glauben, warum hält es sich dann so hartnäckig in der Verkehrspolitik bzw. Verkehrsplanung? Ich sehe dafür zwei Gründe: Verkehrsplaner interessieren sich nicht für die genaue Vorhersage individuellen Verhaltens, sondern für die Prognose von Entwicklungstrends auf Aggregatniveau. Deshalb suchen Verkehrsplaner nach sparsamen, leicht operationalisierbaren Verhaltensmodellen, die sich gut in solche Prognosemodelle integrieren lassen. Mit der Konzentration auf nur drei Parameter (Zeit-, Geld- und Komfortkosten) liefert das Modell des Rationalen Entscheiders solch ein sparsames Modell. Der Verkehrspolitik wiederum kommt entgegen, dass das Modell des Rationalen Entscheiders eine Strategie der Verhaltensveränderung nahelegt, die sich gut mit klassischen verkehrspolitischen Instrumenten verbinden lässt: Durch steuer-, ordnungs- und infrastrukturpolitische Maßnahmen lässt sich unerwünschtes Verhalten über höhere Zeit- und Geldkosten bestrafen bzw. erwünschtes Verhalten über niedrigere Zeit- und Geldkosten belohnen. 2
Der sozial-ökologische Ansatz in der verhaltenswissenschaftlichen Interventionsforschung
In ihrer behavioristischen Phase hat sich die Verhaltenswissenschaft intensiv mit Verhaltensveränderung durch Belohnung und Bestrafung beschäftigt. Aufgrund der dabei gesammelten Erfahrungen wird inzwischen die Effektivität bzw. praktische Relevanz dieser beiden Konzepte eher skeptisch gesehen. Natürlich motiviert Belohnung dazu, das belohnte Verhalten auszuführen. Im Kontext Verhaltensveränderung schränken jedoch mindestens drei Probleme die Effektivität von Belohnung ein: Durch materielle Anreize erzeugte Veränderungen sind oft nicht nachhaltig. Menschen reagieren auf extern gesetzte Anreize, ohne ihre grundsätzlichen Einstellungen zu dem in Frage stehenden Verhalten zu ändern. Wenn
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die Anreize wegfallen, kehren sie deshalb oft zu ihren alten Verhaltensmustern zurück. Zudem ist Verhaltensveränderung über Belohnung in der Regel sehr teuer: Die Verschiebungen in dem Anreizsystem müssen schon recht deutlich sein, um als persönlich relevant wahrgenommen zu werden. Das dritte Problem besteht darin, dass externe Belohnung offensichtlich die eigene intrinsische Motivation ein problematisches Verhalten zu verändern unterminiert. Wenn man Menschen für eine erwünschte Handlung belohnt, entwickeln sie die Haltung, in pro-sozialem Verhalten ein Gut zu sehen, dass man ihnen abkaufen muss. Bestrafung bzw. die Androhung von Strafen ist ein wirksamer Weg Verhalten zu verändern. Leider hat aber auch Bestrafen einen Haken. Es erzeugt bei Menschen Widerstand: Bestrafte fühlen sich in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, unfair behandelt und suchen nach Wegen, wie sie sich dagegen wehren können. Zur Durchsetzung von Bestrafungen müssen deshalb teure Kontroll- und Sanktionssysteme installiert werden. Auf der politischen Ebene entsteht dadurch oft ein Akzeptanzproblem, was die Wiederwahlchancen der politisch Verantwortlichen gefährden kann. Aus diesem Grund tut sich die Politik sehr schwer, wirksame Bestrafungen zu implementieren. Verhaltenswissenschaftlich basierte Interventionskonzepte verzichten nicht auf belohnende und bestrafende Interventionselemente. Sie betten diese Elemente aber in eine umfassende Strategie ein, in deren Mittelpunkt die Schaffung eines freiwilligen, intrinsisch motivierten Veränderungswunsches steht. Ohne hier detaillierter auf die verhaltenswissenschaftlichen Befunde einzugehen (vgl. Bamberg/ Möser 2007) stellt Abbildung 1 die meta-analytisch zusammengefassten Befunde aus 57 Studien dar, die in unterschiedlichen Bereichen die psychologischen Determinanten umweltfreundlicher Verhaltensweisen untersucht haben. Über alle 57 Studien gesehen hat im Durchschnitt die persönliche Norm, d.h. das Gefühl sich persönlich zu umweltschonendem Verhalten verpflichtet zu fühlen, einen gleich starken Einfluss auf die Verhaltensabsicht wie die den persönlichen Nutzen widerspiegelnde Einstellung bzw. die Kosten reflektierende wahrgenommene Verhaltenskontrolle. Offensichtlich spiegelt die Absicht, ein Verhalten auszuführen, nicht nur wieder, ob eine Person damit positive Konsequenzen verbindet (Einstellung) bzw. sich dessen Ausführung zutraut (Verhaltenskontrolle), sondern auch, ob sie die Ausführung des Verhaltens mit ihren persönlichen Standards/ Normen vereinbaren kann. Ferner belegen die metaanalytischen Befunde wie stark Einstellung, Verhaltenskontrolle und persönliche Norm ihrerseits sozial determiniert sind: das gesellschaftlich vermittelte ökologische Problembewusstsein, die daraus abgeleitete eigene Verantwortung und affektive Reaktion sowie die wahrgenommenen Erwartungen wichtiger Bezugspersonen beeinflussen die Einstellung und wahrgenommene Verhaltenskontrolle einer Person bzw. aktivieren deren persönliche Norm.
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Abbildung 1:
Psychologische Determinanten umweltschonender Verhaltensweisen (Meta-Analyse von 57 Einzelstudien)
R2 = .11 Kontrolle R 2 = .20 Problem Bewusstsein
.30
.19
Soziale Norm .18
.43 .34
Perzipierte Verantwortung R2 = .18
R2 = .52
Einstellung .23 .13
.15 .20
.31 .15
R2 = .31
.32
.44
.26
.27
.29
Intention
R2 = .29 .54
Verhalten
.19 Schuldgefühle R2 = .57
.27
.30
.25
.29 Persönliche Norm R 2 = .58
Quelle: Bamberg/Möser (2007) Zusammenfassend belegen diese empirischen Befunde, dass individuelles Wissen, Einstellungen, und Verhaltensweisen stark durch die institutionellen Strukturen, kulturellen Kräfte und sozialen Beziehungen innerhalb einer Gruppe geprägt werden. In der verhaltenswissenschaftlichen Interventionsforschung hat diese Erkenntnis dazu geführt, dass Interventionsprogramme zunehmend aus einer sozialökologischen Perspektive entwickelt werden: Ohne die Berücksichtigung des strukturellen und sozio-kulturellen Kontextes in dem ein Individuum eingebettet ist, können die Ursachen individuellen Verhaltens nicht verstanden und auch nicht erfolgreich verändert werden. Diese Position wird durch die inzwischen deutlichen empirischen Belege (vgl. z.B. DiClemente et al. 2005) gestützt, dass der Effekt erfolgreicher individuumsorientierter Interventionen schnell verpufft, wenn die durch sie erzeugte individuelle Veränderungsmotivation keine soziale und strukturelle Unterstützung/ Verstärkung erhält. Aus diesem Grund sind sozial-ökokologisch angelegte Interventionsprogramme immer Mehrebeneninterventionen: Neben Interventionen auf der individuellen und interpersonalen Ebene beinhalten sie immer auch strukturelle und kontextbezogene Interventionselemente, die auf systemische (Politik und Institutionen) und soziale Vorbilder, Familie, Vereine/ Organisationen) Veränderungen fokussieren. Trotz der Betonung struktureller und sozial-normativer Faktoren steht aber weiterhin das Individuum als aktiv sein Verhalten und seine Umwelt verändernder Agent im Mittelpunkt des sozial-ökologischen Interventionsansatzes. Dieser Ansatz betont aber die Interdependenz von Person und Umwelt, d.h.
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wie Individuen/ soziale Gruppen den ökologischen Kontext, in dem sie handeln, wahrnehmen, bewältigen und aktiv verändern. Bei der theoretischen Konzeptualisierung dieser Interaktionen beziehen sich viele Forscher/innen auf die Arbeiten von Bronfenbrenner (1979, 1989). Bronfenbrenner geht davon aus, dass sich soziale Systeme als Interaktion mehrerer hierarchisch geschachtelter Systeme (Mikro-, Meso-, Makro-, Exo- und Chronosysteme) beschreiben lassen (siehe Abbildung 2). Abbildung 2:
Das sozial-ökologische Modell nach Bronfenbrenner
Quelle: Bronfenbrenners (1993) Die Mikrosysteme umfassen die Beziehungen eines Menschen zu anderen Menschen oder zu Gruppen, also beispielsweise die Beziehung in der Familie, Schule, am Arbeitsplatz etc.. Aus der Interaktion verschiedener Mikrosysteme entsteht das Mesosystem. Es umfasst die Summe der Mikrosysteme und die Beziehung zwischen ihnen. Ein Beispiel für eine mesosystemische Interaktion ist das Zusammenspiel zwischen Kindertagesstätte und Elternhaus. Ein Exosystem ist ein Beziehungsgeflecht, dem die Person nicht direkt angehört, so dass sie nur einen beschränkten oder gar keinen Einfluss auf dessen Entscheidungen hat. Dennoch haben die Exosysteme mitunter erheblichen Einfluss, da ihm Bezugspersonen der Person angehören. Ein solches Exosystem ist
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zum Beispiel die Arbeitsstelle der Mutter eines Kindes. Die geringen Einflussmöglichkeiten bei gleichzeitig hoher Wirkung werden etwa am Beispiel der Interaktion zwischen Lehrern und Eltern bei der Schulwahl am Ende der Primarstufe deutlich. Chronosysteme umfassen die zeitliche Dimension der Entwicklung, z.B. die markanten Zeitpunkte in der Entwicklung, und deren biografische Abfolge. Bronfenbrenner unterscheidet zwischen „normativen“ Chronosystemen (wie dem Schuleintritt oder der Aufnahme der Berufstätigkeit) und „non-normativen“ (etwa schwere Krankheit von Angehörigen oder Lotteriegewinn). Das Makrosystem ist die Gesamtheit aller Beziehungen in einer Gesellschaft, damit auch der Normen, Werte, Konventionen, Traditionen, der kodifizierten und ungeschriebenen Gesetze, Vorschriften und Ideologien. Bronfenbrenner geht davon aus, dass die auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Systeme sowohl direkte wie indireke Effekte auf das Individuum haben (z.B. haben Komponenten der Mesoebene direkte Effekte auf das Individuum, Komponenten der Exoebene sowohl indirekte – durch die Mesoebene – wie direkte Effekte auf das Individuum etc.). 3
Die Logik des sozial-ökologischen Interventionsansatzes: Ein Beispiel aus der Verkehrssicherheitsforschung
Ich möchte jetzt anhand eines praktischen verkehrspolitischen Problems die Logik des sozial-ökologischen Interventionsansatzes verdeutlichen. Ich benutze dazu ein Problem aus dem Bereich Verkehrssicherheit, weil hier zurzeit die empirische Forschungslage besser ist als im Mobilitätsbereich. Die Logik des sozial-ökologischen Ansatzes lässt sich aber ohne Probleme auf den Mobilitätsbereich übertragen. Seit Jahren finden deutsche wie internationale Unfallstatistiken, dass 18- bis 24-Jährige Verkehrsteilnehmer das mit Abstand höchste Unfallrisiko im Straßenverkehr haben. Im Jahr 2008 verunglückten in Deutschland insgesamt 81.442 junge Männer und Frauen dieser Altersgruppe im Straßenverkehr, davon 887 tödlich. Obwohl auch in der Gruppe der 18-24 Jährigen die Zahl der Verkehrstoten von 1991-2008 um 40% zurückgegangen ist, ist deren Risiko im Straßenverkehr getötet zu werden, weiterhin so hoch wie in keiner anderen Altersgruppe: 2008 wurden je 1 Mio. junge Erwachsene 130 im Straßenverkehr getötet. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit 54 Getöteten je 1 Mio. Einwohner ist damit das unfallbedingte Todesrisiko dieser Altersgruppe mehr als doppelt so hoch. Die statistischen Analysen ergeben folgendes Bild des ‚typischen‘ PkwUnfalls mit Personenschäden bzw. Toten in den junge Erwachsene am häufigsten verwickelt sind: Unfall eines männlichen Fahranfängers durch Verlust der Kon-
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trolle über das Fahrzeug, der sich auf einer Freizeitfahrt mit Freunden unter Alkoholeinfluss bei hoher Geschwindigkeit am Wochenende in der Nacht ereignet. Das hohe Unfallrisiko junger Erwachsener hängt also nicht von einer, sondern von einer ganzen Reihe verschiedener Verhaltensweisen ab. Die häufigste Ursache von Pkw-Unfällen junger Fahrer/innen sind: zu schnelles Fahren, nicht Einhalten eines ausreichend großen Abstands zu vorausfahrenden Fahrzeugen, nicht Beachten der Vorfahrt-/ Vorrangsregeln, falsches Abbiegen und Überholen, die falsche Straßenseite benutzen und Fahren eines Pkws unter Drogeneinfluss. Schlafmangel scheint in dieser Altersgruppe ein weiterer wichtiger Risikofaktor zu sein. Ferner sind junge Fahrer/innen häufiger durch Interaktionen mit Mitfahrern sowie andere Aktivitäten (Telefonieren, Musikhören oder Essen/Trinken/Rauchen) abgelenkt und begehen dann – verstärkt durch fehlende Kompetenz/Erfahrung – Fahrfehler. Entsprechend vielfältig und komplex sind dann auch die Faktoren, die einen Einfluss auf das Ausführen dieser Verhaltensweisen haben. Shope (2006) fasst die empirisch belegten Risikofaktoren unter folgenden sechs Oberkategorien zusammen (vgl. dazu auch den Beitrag von Gehlert in diesem Band): Fahrkompetenz – besonders bei Fahranfängern/innen ist mangelnde Fahrpraxis die zentrale Ursache für deren hohes Unfallrisiko; entwicklungsbezogene Faktoren – bei jungen Erwachsenen fällt der Erwerb der Fahrerlaubnis in eine Zeit, in der sie sich noch körperlich, kognitiv und psycho-sozial entwickeln; Persönlichkeit – Besonders die Tendenz, riskant zu fahren, hängt eng mit Persönlichkeitsfaktoren wie hohen Sensation-Seeking, Feindseligkeits- und Aggression zusammen; demographische Faktoren – jüngere, männliche Fahranfänger haben ein höheres Unfallrisiko; wahrgenommene Umwelt und Fahrbedingungen. 4
Multiple Interventionen in multiplen Settings – Ein sozial-ökologischer Ansatz zur Reduktion des Unfallrisikos junger Fahrer/innen
Für den Bereich Unfallprävention bei jungen Erwachsenen belegen die diskutierten Risikofaktoren, wie sinnvoll es ist, sich bei der Interventionsentwicklung an einem sozial-ökologischen Mehrebenenansatz zu orientieren. Typisch für diesen Ansatz ist das simultane Implementieren von systematisch aufeinander bezogenenen Interventionselementen auf unterschiedlichen ökologischen Ebenen. So kann riskantes Fahrverhalten direkt durch die Einführung neuer Verkehrsgesetze beeinflusst werden (Makroebene). Solche Verkehrsregeln machen aber nur Sinn, wenn sie vor Ort von der Polizei überwacht und konsequent durchgesetzt werden (Exoebene): Junge Fahrer/innen müssen eine hohe Wahrscheinlichkeit wahrnehmen, bei regelwidrigem Fahren ‚erwischt‘ und bestraft zu werden. Gleichzeitig ist die konsequente und schnelle Ahndung von Regelverstößen durch Verkehrsbehörden und Gerichte wichtig (Exosystem). Lokale Medien (Exosystem)
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können regelmäßig über Regelverstöße berichten, diese klar missbilligen und über die Konsequenzen für die Täter/innen hinweisen. Eltern (Mikrosystem) sind ein anderer möglicher Interventionsansatz. Sie können klare Erwartungen an das Fahrverhalten der Kinder kommunizieren, sie anfänglich bei Fahrten begleiten sowie deren Fahrverhalten beobachten. Ferner können Eltern Regeln vereinbaren, unter welchen Bedingungen ihre Kinder selbst fahren dürfen und das Einhalten dieser Regeln belohnen bzw. bestrafen. Eltern können auch darauf achten, dass ihre Kinder mit verkehrssicheren Fahrzeugen unterwegs sind. Fahrkompetenz: ADAC, Versicherungen oder die Polizei (Exosystem) können Fahranfängern/innen Möglichkeiten anbieten, in einem sicheren Umfeld ihre Fahrkompetenz zu testen und weiterzuentwickeln. Auch das Konzept ‚begleitetes Fahren ab 17‘ beruht auf der Einsicht, dass bei Fahranfängern/innen die Begleitung und Unterstützung durch erfahrene Fahrer/innen eine Möglichkeit ist, deren praktische Fahrkompetenz zu erhöhen. Entwicklungsbezogene/Persönlichkeitsfaktoren: Individuelle, entwicklungsbezogene Faktoren lassen sich vermutlich nicht direkt beeinflussen. Es ist aber wichtig, diese Aspekte bei der Entwicklung von Interventionen systematisch mit zu reflektieren. Da Eltern am besten die Persönlichkeit und emotionale/psycho-soziale Reife ihrer Kinder einschätzen können, können Interventionen entwickelt werden, die Eltern motivieren, diese Faktoren stärker bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, das Kind beim Erwerb des Führerscheins zu unterstützen bzw. wie intensiv sie in der Anfangsphase dessen Fahren überwachen und reglementieren. Demographische Faktoren lassen sich ebenfalls kaum direkt beeinflussen. Sie sind jedoch wichtig, um Hoch-Risiko-Gruppen zu identifizieren, die dann Zielgruppen von Interventionen sind. Wenn es um riskantes Fahren sowie um Disko-Unfälle geht, scheinen männliche, schon berufstätige (besonders in den Bereichen Metallverarbeitung und Bau) junge Erwachsene eine solche HochRisiko-Gruppe darzustellen. Wahrgenommene Erwartungen der sozialen Umwelt: Direkt durch Interventionen beeinflussen lassen sich hingegen die mit Fahrverhalten verbundenen Wahrnehmungen junger Erwachsener. Diese Wahrnehmungen werden durch verschiedene Mikrosysteme wie Familie, Peers, Schulklasse, Betrieb oder Vereine geprägt, mit denen junge Erwachsene interagieren. Die Zusammensetzung und Interaktion dieser Mikrosysteme bildet nach Bronfenbrenner das Mesosystem. Idealerweise sollen also junge Erwachsene wahrnehmen, dass dieses Mesosystem konsistente Erwartungen an ihr Fahrverhalten kommuniziert. So kann das Mikrosystem Familie nicht nur klare normative Erwartungen kommunizieren, sondern Eltern und ältere Geschwister sind mit eigenem Verhalten auch wichtige ‚Rollenvorbilder‘. Ferner können Interventionen versuchen, im Mikrosystem Peers Personen zu motivieren in ihren sozialen Netzen die Ablehnung riskanter Fahrstile deutlich zu kommunizieren. Auch von jungen Erwachsenen
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respektierte Organisationen können auf Gemeindeebene entsprechende Botschaften kommunizieren. 5
Auswahl wirksamer Interventionselemente – die Rolle empirischer Evidenz
Auf jeder ‚ökologischen‘ Ebene sind viele potenzielle Interventionsansätze vorstellbar. Da jedoch die Konzeption und Implementation von Interventionen immer Zeit und Geld kostet, sollten diese knappen Ressourcen in Maßnahmen investiert werden, deren Wirksamkeit ausreichend belegt ist. Wie wählt man auf den unterschiedlichen ökologischen Ebenen wirksame Interventionselemente aus? In der verhaltenswissenschaftlichen Evaluationsforschung gibt es inzwischen weitgehende Übereinkunft darüber, wie eine belastbare Grundlage für die Auswahl von Interventionselementen aussehen sollte: Die statistische Synthese (Meta-Analyse) handwerklich gut durchgeführter experimenteller und quasiexperimenteller Evaluationsstudien. Im angelsächsischen Raum liegen für den Bereich ‚Unfallprävention bei jungen Fahrer/innen‘ inzwischen eine ganze Reihe solcher Meta-Analysen vor. 5.1 Effektivität gesetzlicher und polizeilicher Maßnahmen Gesetze und Verordnungen sind prototypische Beispiele für verkehrspolitische Interventionen auf Ebene des Makrosystems. Ähnlich wie in Europa haben auch US-Bundesstaaten und Kommunen Gesetze und Verordnungen eingeführt, die den Verkauf und öffentlichen Konsum von Alkohol an ein Mindestalter (21 Jahre) binden. Eine weitere gesetzliche Maßnahme ist das Festlegen erlaubter Blutalkoholwerte, die bei jungen Fahrer/innen noch einmal deutlich restriktiver ausfallen. In einer 2001 veröffentlichten Meta-Analyse fassen Shults, Elder, Sleet et al. die Befunde aus 76 Studien mit ausreichender methodischer Qualität zusammen, in denen die Effekte gesetzlicher/ polizeilicher Maßnahmen zur Reduktion des Fahrens unter Drogeneinfluss evaluiert werden. Hintergrund der MetaAnalyse ist das in Abbildung 3 dargestellte theoretische Wirkungsmodell. Danach soll die Wirkung gesetzlicher Interventionen auf den folgenden drei unabhängigen psychologischen Mechanismen beruhen: Zum einen sollen sie das wahrgenommene Risiko erhöhen, beim Fahren unter Drogeneinfluss entdeckt und bestraft zu werden. Weiter sollen sie die Zugänglichkeit und damit den Konsum von Alkohol in besonders riskanten Settings (z.B. Disko) bzw. durch HochRisikogruppen (junge Fahrer/innen) verringern. Ferner sollen sie zur Schaffung
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sozialer Normen beitragen, die auf eine Ächtung des Fahrens unter Drogeneinfluss abzielen. Abbildung 3:
Wirkungsmodell für gesetzliche Interventionen (Shults et al. 2001)
Quelle: Shults et al. (2001) 5.1.1 Regulierung des erlaubten Alkoholkonsums In der Studie von Shults et al. (2001) werden die Befunde aus 25 Studien dargestellt, in denen der generelle Effekt neu eingeführter strengerer Promilleobergrenzen (Blutalkoholkonzentration unter 0.08 g/dL) auf die Anzahl von Unfällen mit getöteten Personen evaluiert wurde. Im Durchschnitt (Median) berichten die Studien eine Reduktion der Unfälle unter Alkoholeinfluss mit Todesfällen um 7%. 5.1.2 Einführung von Altersgrenzen für den Kauf und öffentlichen Konsum von Alkohol Shults et al. (2001) fassen die Befunde von 49 Studien zusammen, die anhand von statistischen Zeitreihen den Einfluss von Gesetzen zur Altersbeschränkung für den Kauf und öffentlichen Konsum von alkoholischen Getränken untersuchen. Die Effektmessung beruht auf Daten über Unfälle mit Toten und Verletzten an denen alkoholisierte junge Fahranfänger beteiligt waren. Danach steigen in der entsprechenden Altersgruppe bei Herabsetzen des Mindestalters diese
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Unfälle im Durchschnitt um 10% an, während sie bei Heraufsetzen der Altersgrenze um 16% abfallen. 5.1.3 Polizeikontrollen Polizeikontrollen sind ein Beispiel für, auf der Ebene des Exo-Systems ansetzende, Interventionen. In den USA gibt es zwei Formen solcher Polizeikontrollen: Im Rahmen von Random Breath Testing (RBT) Checkpoints wird die Alkoholblutkonzentration aller gestoppten Fahrer/innen mit Atemtestgeräten überprüft. In anderen Bundesstaaten sind jedoch lediglich Selective Breath Testing (SBT) Checkpoints erlaubt: Nur wenn die Polizei berechtigte Gründe hat, anzunehmen, dass mehr Alkohol als erlaubt konsumiert wurde, darf sie diese Annahme mit Atemtestgeräten überprüfen. Um ihren Abschreckungseffekt zu erhöhen, werden solche Polizeikontrollen häufig im Vorfeld über die Medien angekündigt. Shults et al. (2001) fanden 21 Studien, in denen die Wirkung von polizeilichen Alkoholkontrollen auf die generellen Unfallzahlen untersucht werden. Dennoch liegen die Durchschnittseffekte bei -18% (SBT) bzw. -20% (RBT). 5.2 Massenmediale Kampagnen Massenmediale Kampagnen sind ein weiteres Beispiel für, auf der Makro-Ebene ansetzende, Interventionen. Für die USA fasst die Meta-Analyse von Elder, Shults, Sleet et al. (2004) Evaluationsbefunde zu den Effekten massenmedialer Kampagnen auf das Fahren junger Erwachsener unter Drogeneinfluss zusammen. Abbildung 4 stellt die theoretischen Annahmen dar, auf denen nach Elder et al. (2004) die meisten massenmedialen Kampagnen beruhen. Typischerweise zielen massenmediale Kampagnen zum einen darauf ab, das Wissen um sowie die Furcht vor den juristischen Konsequenzen zu erhöhen, die entstehen, wenn man von der Polizei beim Fahren unter Drogeneinfluss ‚erwischt‘ wird. Zum anderen versuchen sie soziale Normen zu schaffen, die Fahren unter Drogeneinfluss als unverantwortlich und gefährlich missbilligen. Weiter zielen die Kampagnen darauf ab, durch drastische Botschaften die Konsequenzen zu verdeutlichen, die das Verursachen eines Unfalls unter Drogeneinfluss für die eigene persönliche und berufliche Zukunft haben kann. Ein weiteres Merkmal wirksamer massenmedialer Kampagnen scheinen ausreichende Ressourcen für die Produktion professioneller Kampagnen sowie die Kontrolle über die Platzierung der Botschaften zu sein. Ferner scheinen Kampagnen wirksamer zu sein, die auf der Grundlage von systematischer Marktforschung und pre-getesteter Botschaften implementiert werden.
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Abbildung 4:
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Wirkungsmodell für massenmediale Kampagnen (Elder et al. 2004)
Quelle: Elder et al. (2004) Insgesamt fanden Elder et al. (2004) 11 methodisch akzeptable Evaluationsstudien. Über alle Studien und Unfalltypen liegt nach Durchführung einer massenmedialen Kampagne der durchschnittliche Rückgang (Median) von Unfällen bei 13%. Für Unfälle mit Verletzten liegt der Rückgang bei 10%. 5.3 Schulbasierte Interventionsprogramme Schulbasierte Interventionsprogramme sind ein prototypisches Beispiel für, auf der Ebene eines Mikrosystems ansetzende, Interventionen. Eine von Elder, Nichols, Shults et al. (2005) erstellte Meta-Analyse fasst die in Evaluationsstudien gefundenen Effekte schulbasierter Interventionsprogramme auf das Fahren junger Fahrer/innen unter Drogeneinfluss zusammen. Bei den meisten der evaluierten schulbasierten Interventionsprogramme handelt es sich um Adaptationen erfolgreich evaluierter Drogenpräventionsprogramme. Abbildung 5 stellt die Annahmen dar, auf denen nach Elder et al. (2005) diese Programme basieren. Danach besteht das Ziel schulbasierter Interventionsprogramme darin, die Einstellung zu bzw. die wahrgenommene soziale Akzeptanz des Fahrens unter Alkoholeinfluss zu verändern. Typischerweise kombinieren schulbasierte Interventionsprogramme dazu folgende Elemente: Wissensvermittlung (über Wirkung von Drogen, Konsequenzen von Fahren unter Drogeneinfluss, Wirkung von Peer-Druck und medialen Vorbildern), Training von sogenannten ‚Refusal Skills‘ (Peer-Druck zu antizipieren und zu widerstehen), Training allgemeiner kognitiver Skills (Selbstverpflichtung, rationale Entscheidung und Unterstützung durch Peers suchen) und Vermittlung sozialer Normen, die Fahren unter Drogen-
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einfluss als gefährlich und unverantwortlich ächten. Dabei ist die Form wichtig, wie schulbasierte Programme durchgeführt werden: Die Wirkung ist umso stärker, je höher die aktive Mitarbeit der Programmteilnehmer/innen ist. Abbildung 5:
Wirkungsmodell schulbasierter Interventionsprogramme
Quelle: Elder et al. (2005) Elder, Nichols, Shults et al. (2005) identi¿zierten 7 Studien, in denen die Effekte von 11 schulbasierten Interventionen evaluiert wurden. Die meisten Studien verwendeten zur Evaluation ein Vergleichsgruppen-Vorher-Nachher-Design. Die Stichprobengrößen der Studien variieren von 60 bis mehr als 4.600 Schülern (Median = 853). Die Programmdauer variiert von einer einstündigen Interventionseinheit bis zu 13 einstündigen Interventionseinheiten (Median = 5 einstündige Einheiten). Die Nachhermessung erfolgte 1-84 Monate (Median = 7 Monate) nach Programmende. Die Mehrzahl der Studien verwenden selbstberichtetes Fahren unter Drogeneinfluss sowie eine Kombination von eigenem Fahren unter Drogeneinfluss und dem Mitfahren bei einem Fahrer unter Drogeneinfluss als abhängige Variable. Die durchschnittliche Effektstärke (Median) beträgt 0.10 Standardabweichungen.
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5.4 Interventionen zur Erhöhung des elterlichen Involvements In den letzten Jahren ist zunehmend ein weiteres Mikrosystem – die Familien – in den Fokus der Unfallpräventionsforschung gerückt. Studien belegen den starken Einfluss der Eltern – als Vermittler von Fahrkompetenz und angemessenem Fahrverhalten – auf das Fahrverhalten junger Erwachsener. In den USA sind aus diesem Grund verhaltenswissenschaftlich basierte Programme zur Erhöhung des elterlichen Involvements entwickelt worden. Ein Beispiel dafür ist das ‚Checkpoint Program‘. Es basiert auf einem persuasiven Kommunikationsansatz, der auf die Veränderung elterlicher Einstellungen zu den Risiken des Fahrens von Fahranfängern, sowie die Kommunikation sozialer Erwartungen bezüglich der Pflicht von Eltern abzielt, die Autonutzung ihrer Kinder zu überwachen, zu regeln und das Einhalten dieser Regeln zu überwachen. Zentrales Element ist das Abschließen eines Eltern-Kind Vertrags über die Regeln der Pkw-Nutzung im 1. Jahr sowie das Aushandeln von Konsequenzen, wenn die Regeln nicht eingehalten werden. Im Rahmen eines experimentellen Designs haben Simons-Morton, Hartos, Leaf et al. (2005) die Wirksamkeit des Checkpoint Programs evaluiert. An der Studie nahmen 3.700 Fahranfänger/innen teil, die per Zufall der Treatment oder Kontrollgruppe zugewiesen wurden. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe berichteten 3 bzw. 6 Monate nach Führerscheinerwerb in der Treatmentgruppe sowohl Eltern wie Kinder das Setzen von mehr Regeln. Ferner berichteten die Kinder weniger schwere Verkehrsregelverletzungen. 6
Wer soll der Träger sozial-ökologisch angelegter Interventionsprogramme sein?
Wer soll der Träger komplexer Interventionsprogramme mit vielfältigen Zugängen in multiplen Settings sein? Die verhaltenswissenschaftlich basierte Interventionsforschung setzt dazu immer stärker auf den Ansatz gemeindebasierter Konzepte („community based programs“). Typische Merkmale solcher gemeindebasierten Interventionsprogramme sind: Fokus ist nicht das Individuum, sondern die Gemeinde: Die Gemeinde wird als zentraler Bezugspunkt der sozialen Identität von Menschen gesehen. Weil sie sich mit ihrer Gemeinde identifizieren, sollen Menschen auch eher bereit sein, an von ihrer Gemeinde initiierten und getragenen Programmen teilzunehmen. Partizipation möglichst vieler Gemeindemitglieder: Partizipation wird als eine zentrale Vorbedingung für individuelles ‚Empowerment‘ gesehen: Menschen entwickeln Selbstvertrauen und Kompetenzen, indem sie selbst ihre Probleme/ Bedürfnisse definieren und entsprechende Handlungsprioritäten setzen. Die Chancen für Veränderungen sind danach am größten, wenn ein Programm da ansetzt,
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wo sich die Menschen momentan befinden und sich dabei systematisch auf die Einschätzung von Gemeindemitgliedern bezieht, was für ihre Gemeinde wichtig ist. Gleichzeitig ermöglicht Partizipation von Gemeindemitgliedern die Berücksichtigung lokaler Werte und Einstellungen bei der Programmplanung und erleichtert den Zugang zu lokalen Meinungsführern und Ressourcen. Intersektorale Zusammenarbeit. Ein weiteres Merkmal gemeindebasierter Programme ist die intersektorale Zusammenarbeit in Form von lokalen Foren. Ein wichtiger Grund für intersektorale Zusammenarbeit ist die Streuung verhaltenswirksamer Einflussfaktoren über unterschiedliche Lebensbereiche. Ein Veränderungsakteur alleine kann diese verschiedenen Lebensbereiche nicht abdecken. Zugleich erhöht die Beteiligung vieler Akteure die Übersetzung der Programminhalte in die lokale Kultur. Weil die Beteiligung vieler Akteure die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich ein Programm an den ‚wahren‘ Bedürfnissen einer Gemeinde orientiert, kann intersektorale Zusammenarbeit sich auch positiv auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit eines Programms auswirken. Ferner wird davon ausgegangen, dass intersektorale Zusammenarbeit zu einer besseren Koordination von Programmelementen und damit der effizienteren Nutzung lokaler Ressourcen führt. 7
Lokale Verkehrssicherheitsnetzwerke in NRW – Beispiel für einen gemeindebasierten Interventionsansatz in Deutschland
Gemeindebasierte Interventionsprogramme wurden bisher vor allem in den USA im Unfallsicherheits-, Gesundheits-, Kriminalitäts- und Bildungsbereich implementiert. In Deutschland bin ich aber im Bereich Verkehrssicherheit auf eine politische Initiative gestoßen, die – bewusst oder unbewusst – zentrale Elemente des gemeindebasierten Interventionsansatzes aufnimmt: Das 2004 von der nordrheinwestfälischen Landesregierung verabschiedete Verkehrssicherheitsprogramm. Ziel dieses Programms ist die Halbierung von Verkehrsunfällen – insbesondere solcher mit Personenschäden und Toten. In unserem Kontext interessant ist die Strategie, mit der dieses Ziel erreicht werden soll: Es setzt vor allem auf die aktive Mitarbeit der zivilgesellschaftlichen Institutionen und Bürger/innen vor Ort. Zur Aktivierung dieser Mitarbeit hat die Landesregierung in allen Regierungsbezirken Koordinierungsstellen eingerichtet, deren Aufgabe es ist, die Bildung lokaler Verkehrssicherheitsnetzwerke zu initiieren und deren Vernetzung und Erfahrungsaustausch zu organisieren. Die eigentliche Verkehrssicherheitsarbeit soll lokal in den Städten und Gemeinden stattfinden, sich dabei aber auf die für den Zeitraum bis 2015 vorgegebenen Themenbereiche „Der Mensch“, „Verkehrsmittelwahl“, „Infrastruktur“, „Technik“ und „Rettungswesen“ beziehen.
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Hinter dieser Strategie stehen die – für den gemeindebasierten Interventionsansatz typischen – Annahmen, dass die Akteure vor Ort nicht nur die lokalen Problemlagen besser einschätzen und darauf abgestimmte, wirksamere Maßnahmenkataloge entwickeln können, sondern dass sie bei der Realisierung dieser Maßnahmen die vor Ort zur Verfügung stehenden Ressourcen effizienter nutzen. Ferner erhofft man sich durch die Bündelung lokaler Aktivitäten Synergieeffekte, durch die sich die Wirkung von Aktivitäten der bisher isoliert arbeitenden Einzelakteure erhöht. Motoren der lokalen Verkehrssicherheitsarbeit sollen nicht nur die Stadt-, Gemeinde- bzw. Kreisverwaltungen und die Polizei sein, sondern alle zivilgesellschaftlichen Institutionen wie Verkehrswacht und Verkehrsunternehmen, Schulen, Kinderinteressenverbände, örtliche Unternehmen, Krankenkassen, Vereine und Verbände sowie interessierte Einzelpersonen. Im Regierungsbezirk Detmold haben sich bisher in 15 Kommunen lokale Verkehrssicherheitsnetzwerke gegründet. Dazu gehört auch die größte Stadt des Regierungsbezirks, Bielefeld, in der sich 2007 das Bielefelder Netzwerk für Verkehrssicherheit (BI-NETT) gegründet hat. Zu den insgesamt 25 Netzwerkpartnern von BI-NETT gehören Organisationen wie der ADAC, der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club, Arbeiterwohlfahrt, Bielefelder Verkehrsbetriebe, Bürgerbüro Verkehrssicherheit, DEKRA, Fahrlehrerverband, Stadtelternrat, TÜVNord, Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, Verband der Zweiradhändler, Verkehrsclub Deutschland sowie die Verkehrswacht. Unterstützt wird die Arbeit von BI-NETT durch die Stadtverwaltung, die Polizei und die Universität. Als Arbeitsschwerpunkte hat sich BI-NETT die Bereiche Unfallprävention, Verdeutlichung von Verkehrsregeln, Sensibilisierung für die Gefahren im Straßenverkehr, Erreichen von bestimmten Zielgruppen sowie Öffentlichkeits- und Medienarbeit gesetzt. In 2008 war die Schwerpunktkampagne "Radfahren aber sicher", 2009 "Seniorinnen und Senioren im Straßenverkehr" (zu den Einzelprojekten siehe www.bi-nett.de). Fortlaufende Aktivitäten des Netzwerks sind die Verkehrserziehung in Grundschulen und im Rahmen von Ferienspielen sowie kontinuierliche Aktionen zur Förderung der Nutzung von Kindersitzen im Pkw, von verkehrssicheren Fahrrädern und das Tragen von Fahrradhelmen. BI-NETT selbst bewertet seine zweijährige Arbeit als erfolgreich und stützt sich dabei auf eine Studie der Universität Bielefeld, wonach sich Radfahrer in Bielefeld umsichtiger im Straßenverkehr bewegen und seltener verunglücken. Fünf Prozent weniger Unfälle insgesamt und ein Rückgang der Unfälle mit Personenschäden in den letzten zwei Jahren werden ebenfalls als Beleg für eine erfolgreiche Arbeit gesehen.
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Fazit Mein Beitrag begann mit der Frage: Braucht die Verkehrspolitik verhaltenswissenschaftliche Expertise? Meine These lautete, dass sie darauf verzichten kann, wenn es darum geht, aktuelle Trends planerisch in die Zukunft zu verlängern. Wenn Verkehrspolitik aber bestehende Trends verändern will, wenn sie Organisationen, Gruppen und Individuen dazu motivieren will, ihr Verhalten zu verändern, muss sie an den Faktoren/ Prozessen ansetzen, die deren Entscheidungen und Verhalten beeinflussen. Dazu braucht sie eine Verhaltenstheorie. Meiner Einschätzung nach beruhen die meisten verkehrspolitischen Strategieentscheidungen auf technischen, ökonomischen und juristischen Abschätzungen aber nicht auf einer systematischen Analyse der hinter einer Strategie stehenden verhaltenswissenschaftlichen Annahmen. Wenn überhaupt, orientieren sich die politischen Entscheider an dem veralteten und verkürzten Konzept des Rationalen Entscheiders. Aus meiner Sicht würde es der Qualität verkehrspolitischer Entscheidungen nicht schaden, wenn sie schon bei der Strategieentscheidung aktuelles verhaltenswissenschaftliches Wissen einbeziehen würde. Die Verhaltenswissenschaften bieten nicht nur leistungsfähige Theorien zur Erklärung individuellen und kollektiven Verhaltens, sondern auch leistungsfähige Instrumente zur Einschätzung der Verhaltenswirksamkeit von Interventionen. Quellen Bamberg, Sebastian/Guido Möser (2007): Twenty years after Hines, Hungerford, and Tomera: A new meta-analysis of psycho-social determinants of proenvironmental behaviour. In: Journal of Environmental Psychology, 27, 14-25. Bronfenbrenner, Urie (1993): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt/M. Cialdini, Robert B. (2001). Influence: Science and practice (4th ed.). Boston. DiClemente, R. J./L.F. Salazar/R.A. Crosby (2007): Review of STD/HIV Preventive Interventions for Adolescents: Sustaining Effects Using an Ecological Approach. In: Journal of Pediatric Psychology, 32, 888–906. Elder, R. W./J.L. Nichols/R.A. Shults/D.A. Sleet/L.C. Barrios/R. Compton (2005): Effectiveness of School-Based Programs for Reducing Drinking and Driving and Riding with Drinking Drivers. In: American Journal of Preventive Medicine, 28, 288-297. Elder, R.W./R.A. Shults/D.A. Sleet/J.L. Nichols/R.S. Thompson/W. Rajab (2004): Effectiveness of Mass Media Campaigns for Reducing Drinking and Driving and Alcohol-Involved Crashes – A Systematic Review. In: American Journal of Preventive Medicine, 27, 57– 65. Fehr, Ernst/Urs Fischbacher (2004). Social norms and human cooperation. In: Trends in Cognitive Sciences, 8, 185-190. Gorr, Harald (1997): Die Logik der individuellen Verkehrsmittelwahl. Gießen.
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Nilsen, Per (2006): The theory of community based health and safety programs: a critical examination. In: Injury Prevention, 12, 140–145. Shop, Jean T. (2006): Influences on youthful driving behavior and their potential for guiding interventions to reduce crashes. In: Injury Prevention, 12 (Suppl I), i9–i14. Shults, R. A./R.W. Elder/D.A. Sleet/J.L. Nichols/M.O. Alao/V.G. Carande-Kulis/S. Zaza/D.M. Sosin/R.S. Thompson (2001): Reviews of Evidence Regarding Interventions to Reduce Alcohol-Impaired Driving. In: American Journal of Preventive Medicine, 21, 66-88.
Weiterführende Literatur Bronfenbrenner, Urie (1993): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt/M. Cialdini, Robert B. (2001). Influence: Science and practice (4th ed.). Boston.
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Verkehr und Umwelt Zu den übergeordneten Zielen von Verkehrspolitik und der Rolle von Umweltaspekten Udo Becker Einführung „Verkehr“, „Mobilität“, Ortsveränderungen und Bewegungen sind konstituierte Bestandteile menschlichen Handelns: Sie stehen ganz allgemein für „Leben“, und ohne diese ist Leben unmöglich. Daher sind der Nutzen und die Vorteile von Ortsveränderungen bzw. von „Verkehr“ unbestritten. Auch der Nutzen von „Essen und Trinken“ ist groß und unbestritten, und ohne sie ist Leben schwer möglich. Verkehrspolitik hat also zunächst die Aufgabe, diejenigen „Ortsveränderungen von Personen oder Gütern“ zu ermöglichen, die das Leben der Menschen erfordert und die es lebenswert machen. Untersucht man, wie die Menschen in verschiedenen Städten, Kulturen und Jahrhunderten diese Ortsveränderungen organisierten, dann zeigt sich überall und übereinstimmend (vgl. Becker et al. 2009):
Im Durchschnitt legen die Menschen aller Zeiten und Länder etwa drei Wege täglich zurück. Dieser Mittelwert ist überraschend stabil: Menschen verlassen ihre Wohnungstür, um im Durchschnitt zwei andere (Ziel-) Türen täglich zur Befriedigung ihrer Ortsveränderungsbedürfnisse zu betreten, bevor sie wieder heimkehren. Im Durchschnitt benötigen die Menschen ungefähr eine Stunde täglich für alle ihre Mobilitätsbedürfnisse (60-70 Minuten, je nach Abgrenzungen). Auch dieser Mittelwert ist überraschend stabil. Obwohl dies sicher kein physikalisches Gesetz ist, wird es als „Gesetz vom konstanten Reisezeitbudget“ bezeichnet.
Sowohl die Anzahl der Wege als auch die dafür benötigten Reisezeiten sind im Mittel fast überall gleich. Der wesentliche Unterschied besteht in den Entfernungen für diese drei Wege: Die dabei zurückgelegten Entfernungen sind in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten fast überall deutlich angestiegen. Menschen legen heute bei Weitem größere Entfernungen für ihre drei Wege zurück als früher. Abbildung 1 zeigt beispielhaft die Zunahme der Verkehrsleistung (gemessen in Personenkilometern [Pkm]) in der Bundesrepublik DeutschO. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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land seit 1950; bei leicht gestiegener Bevölkerung ist eine Verzehnfachung der gefahrenen Kilometer (!) zu beobachten (vgl. Abb. 1). Abbildung 1:
Verkehrsleistung im Personenverkehr, Bundesrepublik Deutschland Personenverkehr - Verkehrsleistung (Quelle: Verkehr in Zahlen)
1200
Verkehrsleistung [Mrd. Pkm]
1000
800
600
Eisenbahnen
400
Öffentl. Straßenpersonenverkehr Luftverkehr Motorisierter Individualverkehr Verkehr insgesamt
200
0 1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
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Quelle: DIW (2009) Das Ergebnis ist offensichtlich: Wir haben heute sicher ähnliche Bedürfnisse wie die Menschen früher, aber für die dazu nötigen Ortsveränderungen müssen (oder wollen?) wir heute viel weiter fahren als früher. Offensichtlich hat sich auch die räumliche Struktur unserer Fahrziele verändert. Wenn es also Ziel von Verkehrspolitik gewesen wäre, dass alle Menschen weiter fahren, dann wäre eine solche Verkehrspolitik erfolgreich zu nennen. Tatsächlich formuliert der deutsche Bundesverkehrswegeplan1 grundsätzlich, einen extern vorgegebenen ständigen Anstieg der gefahrenen Personen- bzw. zurückgelegten Tonnen-Kilometer ermögli-
1
Für eine Aufstellung aller relevanten Dokumente siehe etwa die Internetseite des Ministeriums unter http://www.bmvbs.de/dokumente/-,302.14805/Artikel/dokument.htm (relevant ist dort insbesondere die sog. „Gesamtwirtschaftliche Bewertungsmethodik“) (Stand vom 10.2.2010)
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chen zu wollen2. Dass aber ein solches Wachstumsziel auch außerhalb des zuständigen Fachministeriums von allen geteilt würde, erscheint eher unwahrscheinlich. Was kann Ziel der Verkehrspolitik sein? Aber worin besteht nun das primäre, fundamentale Ziel von Verkehrspolitik? Geht es um Staufreiheit, um Geschwindigkeit oder um Parkplätze? Sind Fußgängerzonen ein „Ziel“? Oder ist eine Verlagerung auf den Öffentlichen Verkehr „das Ziel“? Oder ist es gar die Senkung der Verletzten- bzw. Getötetenzahlen? Alle diese sicherlich erstrebenswerten Partikularziele haben sicherlich ihre Berechtigung, aber als Oberziel, als Grundaufgabe taugen Sie nicht:
Der wichtigste, bei weitem entscheidende Nutzen von Verkehr wird in der Bundesverkehrswegeplanung in der „Senkung der Reisezeiten“ gesehen. Wenn Reisezeitsenkung aber das Oberziel überhaupt wäre, dann würde jeder wohl nach einer Sekunde Fahrzeit seine Reise beenden (oder gar nicht beginnen): Die garantiert minimale Reisezeit wäre somit schließlich erreicht. Wenn die Verlagerung auf den ÖV, also auf Bus und Bahn, das Hauptziel wäre, dann würde man natürlich niemals andere Verkehrsträger ausbauen. Ginge es als Oberziel um minimale Unfallzahlen, dann könnte man (ebenso wie für Lärm und Abgas) einfach allen Verkehr verbieten.
Unschwer ist es zu erkennen, dass diese Partikularziele wenig sinnvoll sind. Warum bewegen wir uns aber dann, warum müssen wir uns bewegen, was ist das Oberziel von Verkehrspolitik? Oben wurde auf die berühmten „drei Wege“ je Einwohner und Tag verwiesen, und zweifellos steht vor jeder Ortsveränderung ein „Bedürfnis“ einer Person nach Teilhabe, Gütern oder Dienstleistungen. Ausgangspunkt aller Überlegungen sind also die menschlichen Bedürfnisse (engl. „needs“), etwa nach Nahrung, Schutz, Kontakt, Arbeit usw. Kein Mensch fährt selbst oder lässt Güter transportieren, wenn damit nicht die Befriedigung von Bedürfnissen verbunden ist. Manche Bedürfnisse lassen sich nun ohne Bewegung vor Ort befriedigen, andere aber nicht: Und damit beginnt „Verkehr“. Jene Bedürfnisse, die sich in Wünschen oder Notwendigkeiten nach Ortsveränderungen niederschlagen, bezeichnen wir im folgenden als Mobilitätsbedürfnisse, und sie stellen die Ursache und das 2
Siehe dazu auch die vom zuständigen Ministerium erarbeiten Prognosen, die die Grundlage aller weiteren Arbeiten bilden: http://www.bmvbs.de/dokumente/-,302.1021595/Artikel/dokument.htm bzw. auch die Langfassung unter http://daten.clearingstelle-verkehr.de/220/ (Stand vom 10.2.2010)
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Hauptziel jeder Ortsveränderung dar. Die folgende Abbildung 2 beschreibt die Grundstruktur der Abläufe zur Entstehung von „Mobilität“ und „Verkehr“ (vgl. Becker et al. 2008a): Abbildung 2:
Grundstruktur der Abläufe zur Entstehung von „Mobilität“ und „Verkehr“ Nicht zuhause möglich:
Infrastruktur: (Um-) Welt
Bedürfnisse
Persönliche Entscheidung
WOFÜR? Mobilitätsbefriedigung! Bedürfnisse
WIE? Mit Verkehr! Instrumente
Quelle: Becker et al. (2008a) Am Ausgangspunkt der Struktur in Abbildung 2 stehen Menschen mit ihren Bedürfnissen (engl. „needs“, Dreieck links oben).3 Für bestimmte Bedürfnisse muss man sich bewegen (etwa wenn ein privater Einkaufsweg erforderlich ist, oder zumindest der Pizzaservice muss sich bewegen). Damit entsteht eine Nachfrage nach Verkehr. Wie diese Nachfrage realisiert werden wird, hängt von der Umwelt (im weitesten Sinne) ab: Welche Instrumente stehen zur Wahl, welche Fahrziele gibt es, welche Realisierungsoptionen sind verfügbar? Jede Nachfrage braucht zu ihrer Umsetzung ein vorhandenes Angebot an Infrastrukturen und Diensten der realen Verkehrswelt (s. Abbildung 2, rechts oben). Die zentrale Entscheidung der einzelnen Person, ob bzw. wohin wie gefahren wird, hängt vor
3
Das gilt übertragen natürlich auch für Unternehmen, die „Güterverkehr“ nachfragen: denn alle Rohstoffe, Halbprodukte und Fertiggüter werden ja nur bewegt, weil letztlich irgendwo wieder ein menschliches Bedürfnis für diese Maschine, Nahrung oder Dienstleistung steht.
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allem auch vom vorhandenen Angebot ab. Man kann z. B. nicht mit dem Bus zum Einkaufen fahren, wenn es keine Bushaltestelle dort gibt. An dieser Stelle greift eine grundsätzliche Wechselwirkung: Verkehrspolitik und Verkehrsplanung orientieren sich an den vorhandenen Bedürfnissen, verändern aber durch die eigenen Planungen exakt die Entscheidungen der Menschen. Diese Rückkopplung, die traditionell in der Verkehrsplanung kaum beachtet wird, ist langfristig und entscheidend: Jetzt greifen die Ergebnisse der Verkehrsplanung als Angebote in Art und Umfang der Nachfrage ein und beeinflussen und verändern diese. „Wer Straßen baut ...“ ist also nicht allein für den dann entstehenden Verkehr verantwortlich, aber durch immer attraktivere Verkehrsstrukturen sorgt die Politik natürlich dafür, dass genau diese Verhaltensweisen attraktiver werden, vorteilhafter werden – und von den Menschen genutzt werden. „Wer Straßen baut ...“ sollte also zumindest wissen und berücksichtigen, dass er damit die gefahrenen Kilometer für die drei Wege, den Lärm, den Kraftstoffverbrauch und die Abgasemissionen erhöhen wird. Erst dann, im Wechselspiel von Mobilitätsbedürfnissen und Verkehrsangebot, wird schließlich die individuelle Entscheidung über eine einzelne Fahrt bzw. einen Weg getroffen (Ellipse in Abbildung 2): Eine Person oder ein Gut bewegt sich von A nach B. Jetzt können Planer und Politiker zählen, messen, Mobilität erfassen und die Bedürfnisse, die im Hintergrund der Ortsveränderung stehen, einordnen. Bewegung ist nie ohne Bedürfnis denkbar (noch nicht einmal der Spaziergang, dort geht es um das Wohlbefinden oder um das Bewegungsgefühl), immer steht ein Bedürfnis im Hintergrund. Dieses Bedürfnis wäre ohne Verkehrsinfrastrukturen nie umsetzbar; es benötigt zu seiner Realisierung Verkehrsmittel, Verkehrsregeln, Verkehrswege und vieles mehr. Ohne das Instrument Verkehr kann es somit zu keiner Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse kommen. Jeder reale Ortsveränderung liegen also immer und untrennbar zwei Aspekte zugrunde:
Zum einen ihr individuelles Mobilitätsbedürfnis, es soll z. B. Nahrung gekauft werden oder man will ins Kino: die Ursache. Zum anderen benötigt sie ein Verkehrsmittel, Verkehrswege und Verkehrsinfrastrukturen, denn ohne diese bewegt sich nichts: die Instrumente.
Damit kann man definieren: Mobilität bezeichnet alle Aspekte, die mit den Bedürfnissen der Bewegungen zusammenhängen, und steht damit für die Bedürfnisseite. Verkehr bezeichnet alle Aspekte, die die Umsetzung dieser Bedürfnisse betreffen, und steht damit für die Instrumentenseite. Kurzgefasst: Verkehr ist das Instrument, das Mobilität ermöglicht. Ohne das Instrument Verkehr kann es keine Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen geben.
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Wollen wir viel Verkehr oder viel Mobilität? Im praktischen politischen Tagesgeschäft werden die Begriffe Mobilität und Verkehr häufig synonym verwendet. Die oben abgeleitete grundsätzliche Trennung zwischen Mobilität (dem Bedürfnis) und Verkehr (dem Instrument) ist aber entscheidend, um Fragen der praktischen Verkehrspolitik analysieren zu können. Zum einen wäre eine Verkehrspolitik denkbar, die viel Mobilität mit wenig Verkehr in einer vielfältigen, multifunktionalen Stadt der kurzen Wege ermöglicht; dann wären viele Bedürfnisse mit wenig Geld, wenig Fahrzeugen, wenig Lärm, wenig Fläche und wenig Abgas befriedigbar. Zum zweiten wäre aber auch eine Verkehrspolitik durchsetzbar, die wenig Mobilität mit viel Verkehr in einer dispersen, autoorientierten Stadtregion erlaubt; dann wäre für jedes einzelne Bedürfnis ein weiter Weg, mit einem eigenen Fahrzeug, mit vergleichsweise viel Energie, Fläche, Abgas und hohen Kosten notwendig. Formuliert man, wie oben, als Oberziel für Verkehrspolitik „Mobilitätsbefriedigung“ (vgl. Becker/Rau 2004), dann ergibt sich, dass der dazu notwendige Einsatz des Instrumentes Verkehr (und damit der Aufwand an Verkehrswegen, Verkehrsmitteln, Energie und Verkehrsorganisation) möglichst minimal gehalten werden sollte. Dieser Ansatz erlaubt dann auch wieder die Einbeziehung der obigen Partikularziele: Selbstverständlich soll der insgesamt notwendige Verkehr möglichst wenig Geld kosten, er soll möglichst wenig Zeit erfordern, er soll möglichst wenig Unfälle verursachen, wenig Umweltschäden erzeugen, wenig Energie und Fläche verbrauchen und wenig Abfall, Lärm und Abgase erzeugen. Damit aber ergibt sich als Randbedingung die Minimierung des insgesamt einzusetzenden Verkehrs. Unter Effizienz versteht man ökonomisch, dass ein definiertes Ziel mit möglichst geringem Mitteleinsatz erreicht werden soll. Würde ein bestimmtes Ziel (ein bestimmtes Mobilitätsniveau) mit möglichst wenig Ressourcen und Kosten aller Art erreicht, dann wäre das zum einen volkswirtschaftlich effizient, zum zweiten aber auch ökologisch optimal und zum dritten sozial ausgewogen, denn dann würde niemand ausgeschlossen. Wäre das Ziel aller Verkehrspolitik die Sicherstellung von Mobilität, dann würden davon alle profitieren können, weil große Effizienzgewinne erschließbar wären. Die Frage „Viel Mobilität oder viel Verkehr?“ lässt sich also so beantworten, dass selbstverständlich ein bestimmtes – politisch auszudiskutierendes – Niveau an Mobilität für verschiedene Bevölkerungsgruppen und Regionen sicherzustellen ist, dies aber dann mit dem minimalen dafür notwendigen Verkehr. Jetzt zeigt sich auch die Perversion des Ansatzes, ein möglichst hohes Wachstum der Tonnenkilometer oder der Personenkilometer als Oberziel vorzugeben und daran den Verkehr auszurichten. Ein solcher Ansatz läuft exakt in die falsche Richtung. Stattdessen wäre es geboten, das bestimmte und politisch festzulegen-
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de Mobilitätsniveau effizient, also mit minimalem Verkehr sicherzustellen (Becker et al. 2008b). Die Maxime müsste dann „Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse mit möglichst wenig Verkehr“ lauten. Folgt daraus ein Grundrecht auf freie Mobilität und freie Autofahrt? Ein Beleg für die Vermischung der Begriffe und Ansätze ist die Debatte um ein sogenanntes „Grundrecht auf freie Mobilität“, die in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder auftaucht. „Freie Fahrt für freie Bürger“ war viele Jahre lang von Interessengruppen als Ziel von Verkehrspolitik formuliert worden. Diese Priorität der Forderung nach Staufreiheit und freier Fahrt (i. a. im eigenen Pkw) wurde z. B. in der „Rechtszeitschrift des ADAC“ Deutsches Autorecht (DAR) unter dem Titel „Mobilität: Vom Grundbedürfnis zum Grundrecht?“ beschrieben; demnach wäre der freien Fahrt der Status eines Grundrechts einzuräumen (vgl. Ronellenfitsch 1992). Folgerichtig hätte der Staat die Pflicht, jedem ein Recht auf Mobilität – hier ausgedrückt als Recht auf freie Fahrt mit dem Pkw – zuzugestehen und dieses gewährleisten zu müssen. Nach der obigen Begriffsklärung wäre dies ein Grundrecht dazu, die zweifellos vorhandenen und nirgendwo bestrittenen Mobilitätsbedürfnisse mit einem ganz bestimmten Instrument (eben dem privaten Auto) zu befriedigen. Diese Verknüpfung von Ziel und dazu bereitzustellendem Instrument ist allerdings nicht haltbar. Mobilität steht für Bedürfnisse, Verkehr beschreibt die dazu nötige Umsetzung. Ein Grundrecht, bestimmte Bedürfnisse (Arztbesuch, Lebensmitteleinkauf, Berufstätigkeit ...) abdecken zu können, mag diskutierbar sein. Ein Grundrecht, dieses aber mit einem ganz bestimmten Instrument (Pkw mit freier Autofahrt) verbinden zu können, ist nicht nachvollziehbar. Unstrittig muss von der Gesellschaft gewährleistet werden, dass Menschen z. B. essen und trinken können. Daraus abzuleiten, dass die Gesellschaft allen ohne jegliche Begrenzung bestimmte, individuell besonders gewünschte, Instrumente (etwa Kuchen als Speise oder Bier als Getränk) in kostenloser und unbegrenzter Menge („freie Fahrt“) zur Verfügung stellen muss, ist nicht nachvollziehbar. Zudem hätte eine solche Fokussierung auf private Pkw gesellschaftlich intolerable Folgen. Beim privaten Pkw handelt es sich zumindest im Stadtverkehr um die derzeit lauteste, emissionsintensivste, klimaschädlichste, unfallträchtigste und ressourcenverzehrendste Variante, Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen. Dass der Staat exakt das individuell bequemste, aber ineffizienteste und umweltbelastendste Instrument fördern solle, ist zwar aus individueller Interessenvertretung verständlich, gesellschaftlich aber inakzeptabel. Die beschriebene Forderung ist zudem auch aus systemdynamischer Sicht zu verwerfen, denn würde die Gesellschaft ständig freie Fahrt für alle Pkw si-
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cherstellen, dann würden diese Fahrten generell attraktiver. In Marktwirtschaften führt das zu direkten weiteren Nachfrageerhöhungen und damit zu noch mehr Verkehr. Ein Staat, der den Stau beseitigen wollte, in dem er den Verkehr durch Investitionen flüssiger macht, würde direkt dafür sorgen, dass neuer Stau auf höherem Niveau und an anderer Stelle entsteht, womit abermals Geld in den Stauabbau investiert werden müsste. Dieser Regelkreis könnte noch mehrfach durchlaufen werden, am Ende würden die Autofahrenden zwangsläufig wiederum im Stau landen, aber zu deutlich höheren gesellschaftlichen Kosten und Steuern. Der Ansatz nützt also dynamisch nicht einmal den Autofahrenden selbst (vgl. Becker et al. 2009). Letztlich wirft die obige Forderung zudem eklatante Gerechtigkeitsmängel auf. Die heutigen Rahmenbedingungen und Verkehrspreise spiegeln die Tatsache wider, dass vor allem Stärkere und Reichere überdurchschnittlich viel mit dem eigenen Auto unterwegs sein können – und gleichzeitig oftmals im Grünen wohnen. Auf ihrem Weg zur Arbeit fahren sie aber auf den Ausfallstraßen überproportional oft an den Wohnungen ärmerer Bevölkerungsschichten vorbei, die selbst über kein Auto verfügen (können), aber von Lärm, Abgas und Flächeninanspruchnahme direkt betroffen sind und somit die Lasten der freien Pkw-Fahrt mittragen. Ein „Grundrecht auf automobile, staufreie Mobilität“ würde de facto zu einer direkten Subvention reicherer Bevölkerungsschichten durch schwächere, ärmere, weniger viel fahrende Bevölkerungsschichten führen – und würde diese Bevölkerungsgruppe schweren gesundheitlichen Folgen aussetzen (Partikelemissionen, Lärmbelastung, Abgas), die dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit widersprechen. Aus gesellschaftlicher und verkehrsplanerischer Sicht kann die Postulierung oder Verfolgung eines „Grundrechts auf staufreies Autofahren“ nur als abwegig bezeichnet werden. Die verkehrspolitische Relevanz von Umweltaspekte Welche Rolle spielt nun die Umwelt in diesem Bild? Wie fügt sie sich in die formulierten Zielsetzungen ein? Es gibt eine Vielzahl von Arbeiten und Texten, in denen die vielfältigen negativen Wirkungen des Verkehrs auf die Umwelt beschrieben werden. Es kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, diese vielen Umweltbelastungen zu wiederholen oder zu erläutern: Hierzu wäre (mindestens ein) weiterer Text notwendig. Verwiesen sei stattdessen auf das Sondergutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen „Umwelt und Straßenverkehr: Hohe Mobilität – Umweltverträglicher Verkehr“ aus 2005 oder die Publikation „Grundwissen Verkehrsökologie“ aus 2009. Wir alle wissen oder ahnen, dass die Energieverbräuche für Verkehr,
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die Flächeninanspruchnahmen des Verkehrs, die Abgas- und Lärmemissionen, der Rohstoffverbrauch, die Restmüllmengen, die Klimaschädigungen, die Unfallzahlen, die Trennwirkungen, die Biodiversitätseffekte und viele andere Folgen des weltweiten Verkehrs ein akzeptables Maß längst überschritten haben. Alle diese „Schadensberichte“ wurden auch von uns allen zur Kenntnis genommen, sie hatten aber wenig Wirkung, denn die allgemeine Auffassung war, dass das eben der Preis sei, den man – leider – für unsere Mobilität zahlen müsse. Weniger würde eben einfach nicht gehen, wenn wir mobil bleiben wollen. In der allgemeinen Wahrnehmung wurde ein Gegensatz zwischen den Ortsveränderungsbedürfnissen der Menschen und „dem Schutz der Umwelt“ konstruiert und akzeptiert: Entweder garantieren wir Wachstum und Wohlstand und Bedürfnisbefriedigung und freie Ziel- und Verkehrsmittelwahl, dann leidet aber unumgänglicherweise die Umwelt, oder aber die Umwelt wird rigoros geschützt, dann muss dazu leider der Verkehr beschränkt oder teilweise sogar verboten werden. Eine solche Zuspitzung auf ein reines „Entweder-Oder“ dient aber selten einer echten Problemlösung und ist – wie gezeigt wird – auch sachlich nicht haltbar. Unstrittig dürfte zunächst sein, dass die vom Verkehr ausgehenden Belastungen auf die Umwelt in verschiedenen Bereichen zu hoch sind, wie etwa die folgenden Beispiele zeigen:
Gesetzlich sind Lärmminderungen und Lärmaktionspläne in praktisch allen europäischen Städten vorgeschrieben (man denke etwa an die nationale Umsetzung der Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, oder an die 16. VO zum BImSchG, usw.) Ähnliches gilt für Luftreinhaltegrenzwerte: An den verkehrlich hochbelasteten Strecken der europäischen Großstädte werden die Grenzwerte für Feinstaub (i. a. PM10, zukünftig aber auch PM2,5 bzw. PM0,1 und Stickoxide (NOx, vor allem auch NO2) praktisch flächendeckend überschritten (siehe Richtlinie 2008/50/EG vom 21. Mai 2008 und die nationale Umsetzung) sowie die Messergebnisse der Luftqualitätsmessnetze). Die weltweite Klimaschutzdebatte erzwingt einen drastischen Rückgang der CO2-Emissionen. In den Industrieländern sind seit 1990 CO2-Emissionsreduktionen in allen volkswirtschaftlichen Sektoren zu beobachten; lediglich im Verkehrsbereich steigen die CO2-Emissionen weltweit kontinuierlich und signifikant an. Der Flächenverbrauch durch Verkehrswege (bzw. Siedlungsbau) hat sich trotz klarer politischer Vorgaben (etwa im 30 ha-Ziel der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie) nicht wirklich auch nur in die Nähe dieses Partikularziels bewegen können. Derzeit werden, so die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes für 2005 bis 2008, bei zurückgehender Bevölkerung
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104 Hektar Flächen täglich dafür in Anspruch genommen (das sind rechnerisch Tag für Tag etwa 149 Fußballplätze, siehe die Internet Seite von destatis unter http://www.statistik-portal.de). Wie können diese Umweltschutzziele in die Verkehrspolitik integriert werden, ohne fundamentalen Widerstand auszulösen? Wie kann es gelingen, auch hier den Trend umzukehren und die Un-Nachhaltigkeit4 des Verkehrs möglichst kontinuierlich zu reduzieren? Wiederum liegt der Schlüssel dazu in der obigen Trennung von Mobilität und Verkehr. Nach der üblich gewordenen Definition für nachhaltige Entwicklung aus der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (der BrundtlandKommission) geht es bei nachhaltiger Entwicklung um einen Prozess, die „den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“5.
Auffällig ist, dass insbesondere in dieser Definition der Schwerpunkt wiederholt auf den Bedürfnissen der Menschen liegt. Die Brundtland-Kommission und ihre Definition fordern, sowohl die heutige als auch zukünftige Generationen zu berücksichtigen. Dabei geht es nicht um einen bestimmten Endzustand, sondern um einen ständigen Prozess: Es muss Ziel alles politischen Handelns sein, die Welt immer weniger unnachhaltig zu gestalten (vgl. Becker/Elsel 1999). Damit lassen sich beide Themenkomplexe zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen: Als Oberziel der Verkehrspolitik war die Sicherung der Mobilitätsbedürfnisse verstanden worden. Dies fordert auch das Verständnis von Nachhaltiger Entwicklung, in dem es ebenso um die Sicherstellung der Bedürfnisse der lebenden Generation ging. Es war sodann aus Effizienzgründen der Einsatz des dazu minimal möglichen Verkehrs gefordert worden, und exakt dies fordert auch die obige Definition Nachhaltiger Entwicklung: Wenn man nämlich viele Chancen und Optionen für künftige Generationen erhalten will, dann muss man Umwelt erhalten und schonen, dann sind die heutigen Verbräuche an Energie, Fläche, Luft, Klima, Ressourcen usw. zu minimieren (damit mehr für künftige Generationen übrig bleibt) (vgl. Carlowitz 1713), was direkt zur Minimierung des heute notwendigen Verkehrs führt. 4 5
Das Wort „Nachhaltigkeit“ als Zustand ist insofern irreführend, als man nicht ständig mehr und mehr Nachhaltigkeit erzeugen kann: nachhaltiger als nachhaltig ist unmöglich. Wichtig und sinnvoll ist es allerdings, die Un-Nachhaltigkeit ständig zu reduzieren (vgl. Carlowitz 1713). siehe die RIO-Dokumente der Vereinten Nationen bzw. Hauff (1987).
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Am Beispiel „Klimaschutz“ bzw. „Reduktion der CO2-Emissionen“ lassen sich diese Prinzipien verdeutlichen: Seit der Industrialisierung belasten vor allem die Industrieländer, zunehmend aber auch Schwellen- und Entwicklungsländer die Atmosphäre der Erde mit den Emissionen der Klimagase. Traditionell kostet diese Verschmutzung der Erdatmosphäre nichts: Und weil es kostenlos ist, obwohl Schäden und Kosten dadurch entstehen, wird tendenziell zu viel emittiert. Nun zeigen sich aber Klimaschäden: es ist Konsens, dass der Planet Erde klimatechnisch „heißen Zeiten“ entgegengeht. Heute ist natürlich völlig offen, wie sich diese Situation weiterentwickelt. Verschiedene Szenarien sind vorstellbar: Zwischen einem koordinierten, völkerrechtlich verbindlichen, gemeinsamen Vorgehen bis hin zu einem Vorgehen mit kriegerischen Auseinandersetzungen um fossile Energie ist alles denkbar. Langfristig lässt sich aber schon jetzt konstatieren, dass am Ende dieses Pfades eine Gleichverteilung der knappen Ressourcen stehen sollte: Sowohl fossile Energie als auch die Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre für Klimagase sind beschränkt. Knappe Ressourcen kann man fair nur verteilen, indem zunächst jedem Menschen ein gleich großes Kontingent zugesprochen wird. Dass aber bedeutet, dass für die nächsten Jahrzehnte die Gesamtmenge etwa der CO2-Emissionen auf der Erde auf insgesamt 7 bis 9 Milliarden Tonnen CO2 jährlich zu begrenzen und längerfristig sogar auf (praktisch) Null zu reduzieren ist. Diese Obergrenze beschreibt nach derzeitigem Wissensstand die Tragekapazität der Erde. Bezieht man diese geschätzte zulässige Emissionsmenge auf die Einwohner der Erde (7 bis 9 Milliarden Menschen, je nach Prognosehorizont), so ergaben sich jährlich maximal zulässige CO2-Emissionen um eine Tonne je Einwohner. Bundeskanzlerin Angela Merkel präferiert derzeit eine klimapolitische Kopfpauschale von weltweit zwei Tonnen Kohlendioxidemissionen jährlich; um auf der sicheren Seite zu bleiben wird im folgenden von einer Tonne CO2 je Mensch und Jahr ausgegangen. Dieses Kontingent lässt sich über das Verhältnis der molaren Massen (CO2 44 / C 12) physikalisch zwingend in Kohlenstoff umrechnen: 1 Tonne CO2 ergibt ca. 273 kg C (1000 * 12 / 44). Bei einem Kohlenstoffgehalt von ca. 86 % ergeben sich damit etwa 380 Liter Diesel oder 430 Liter Benzin im Jahr, und zwar für alle (!) Verwendungsbereiche, vom Heizen bis zur Nahrung und zum Verkehr. Das wäre etwas mehr als ein Liter fossiler Kraftstoffe für jeden Menschen auf der Erde pro Tag (vgl. WBGU 2009). Wie Gesellschaften und Einwohner langfristig diese Energiemenge auf die verschiedenen Bedürfnisfelder verteilen werden, muss derzeit offen bleiben. Zu vermuten ist, dass für Nahrung eine gewisse Priorität gilt. Photovoltaik, Passivhäuser, Effizienzsteigerungen und alle anderen technischen Ansätze werden sicherlich große Potentiale erschließen, aber dennoch bleibt es zwingend notwendig, die absoluten Verkehrsleistungen der Einwohner zu reduzieren. Wenn
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vielleicht je Einwohner und Jahr noch etwa 100 Liter fossiler Kraftstoff zur Verfügung stehen, dann dürften Fahrrad-, Bus-, Straßenbahn- und Fußgängerverkehre sicherlich ihren Anteil steigern können, während für Langstreckenflüge bzw. Langstreckenfahrten Rückgänge zu erwarten sein dürften. Dieser Rückgang der Personen- oder Tonnenkilometer dürfte allerdings kein Verlust an Lebensqualität sein, eher im Gegenteil: Der Abschied von unserem ständigen „Mehr-ist-immerbesser“-Wachstums-Konsummodell dürfte wohl auch im Verkehr zu einem bedürfnisgerechteren, glücklicheren Umfeld führen: mit weniger Lärm und Abgas, weniger Geld und Fahrzeit, geringeren Steuern, geringeren Umweltschäden, niedrigeren Krankenkassenbeiträgen und Lohnnebenkosten, usw. Deshalb wird die Hauptaufgabe jeder zukunftsfähigen Verkehrspolitik darin liegen, den Fokus weg von den Fahrzeugen, Autobahnen und Instrumenten und hin zu den Bedürfnissen und zur Mobilität zu lenken. Warum wird nicht das zuständige Ministerium in Mobilitätsministerium (nach obiger Definition) umbenannt und als erstes ein Messverfahren für die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung der Menschen nach Kommune und Personengruppe eingeführt? Dann würde offensichtlich, dass manche Personen große Problem haben, zum Einkauf, Arzt, Apotheker usw. zu kommen – und dass dort die Probleme liegen und nicht bei zu wenig Straßen. Würde man diese Mobilitätsdefizite kennen, dann könnten auch die gesamten Aufwände für Verkehr gesenkt werden: Und mehr Mobilität mit weniger Verkehr würde möglich. Fazit Die politische Umsetzung dieses Programms ist nicht leicht. Ein Land, das diesen Weg geht, kann sich aber dadurch Vorteile gegenüber anderen Ländern erarbeiten, und es kann seinen Bürgerinnen und Bürgern klare Vorteile bieten. Niemand erwartet etwa, dass der Ölpreis langfristig auf dem heutigen Niveau verbleibt. Also wird das Land gewinnen, das seinen Einwohnern auch unter veränderten Rahmenbedingungen noch Mobilität ermöglicht. Wer attraktive Öffentliche Verkehrssysteme und alltagsgeeignete Radwegenetze sowie multifunktionale Nahbereiche für Fußgänger besitzt, kann auf höhere Kraftstoffpreise reagieren. In einer Kommune, in der alle für jeden Weg immer nur den Pkw nutzen können, kann man mit den verfügbaren Optionen die höheren Preise leider nicht umgehen – und dort kommt es dann zu Mobilitätseinschränkungen! Eine „Weiter-so“ – Politik ist also der direkte Weg in die Sackgasse, und alle wissen das eigentlich auch heute schon.
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Quellen Becker, Udo/Juliane Böhmer/Regine Gerike/ et al. (2008a): How to Define and Measure Access and Need Satisfaction in Transport – Papers from the ESF-Exploratory Workshop, Dresden; DIVU – Heft 7. Dresden. Becker, Udo/Torsten Belter/Regine Gerike et al. (2008b): Perspektiven der deutschen Verkehrsplanung – Dokumentation eines Expertenworkshops am 15.11.2007; UBATexte Nr. 45. Dessau. Becker, Udo/Elke Elsel (1999): Mobilität. In: Breuel, B. (Hrsg.): Agenda 21, Vision: Nachhaltige Entwicklung, S. 200-208. Frankfurt M./New York. Becker, Udo/Regine Gerike/Matthias Winter et al. (2009): Grundwissen Verkehrsökologie, DIVU – Heft 8. Dresden. Becker, Udo/Andreas Rau (2004): Neue Ziele für Verkehrsplanungen. In: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung, Kapitel 3.2.10.3, Konzepte einer nachhaltigen Verkehrsplanung. Heidelberg. Carlowitz, Hannß Carl, von (1713): Sylvicultura oeconomica oder Haußwirtschaftliche Nachricht und naturgemäße Anweisung zur wilden Baum-Zucht. Leipzig (Reprint: TU Bergakademie Freiberg, Universitätsbibliothek, Nr. 135, Freiberg 2000). DIW – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2009): Verkehr in Zahlen, div. Jahrgänge, hrsg. v. BMVBS. Berlin. Hauff, Volker (Hrsg.) (1987); Unsere gemeinsame Zukunft – Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven. Ronellenfitsch, Michael (1992): Mobilität: Vom Grundbedürfnis zum Grundrecht? In: Deutsches Autorecht, Nr. 9, S. 321-325. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (2009): Kassensturz für den Weltklimavertrag – der Budgetansatz. Berlin.
Weiterführende Literatur Petersen, Rudolf/Karl Otto Schallaböck (1995): Mobilität für morgen, Chancen einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik. Berlin et al. SRU – Sachverständigenrat für Umweltfragen (2005): Umwelt und Straßenverkehr. Hohe Mobilität – Umweltverträglicher Verkehr. Berlin.
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Verkehr und Wirtschaft Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrs Heike Link Einführung Die Mobilität von Personen und Gütern ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsweise und das Wachstum einer arbeitsteiligen, räumlich differenzierten Volkswirtschaft. So verbindet der Güterverkehr in einer arbeitsteiligen Wirtschaft die Stufen der Produktion bis hin zum Endverbrauch und garantiert so die Versorgungssicherheit und Verfügbarkeit von Gütern. Für die Teilhabe am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben (Erreichbarkeit von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, von sozialen Einrichtungen, aber auch von Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten) ist die Gewährleistung der individuellen Mobilität von Personen Voraussetzung. Bis in die jüngste Vergangenheit war infolgedessen ein kräftiges Wachstum der Verkehrsleistung im Personen- und Güterverkehr zu verzeichnen. Auch eine historische Betrachtung belegt die Bedeutung des Verkehrs, insbesondere der Verfügbarkeit von Verkehrswegen, für die Entwicklung von Volkswirtschaften. So wurden die Entscheidungen für die Gründung von Ansiedlungen bis in die Neuzeit hinein insbesondere unter dem Aspekt des Zugangs zu schiffbaren Flüssen und/oder Seehandelswegen getroffen. Die Entwicklung des industriellen Zeitalters ist ohne die raumüberwindende Wirkung des Eisenbahnbaus nicht vorstellbar. Die Entwicklung und massenweise Verbreitung des Automobils hatte entscheidende Wirkungen nicht nur für die individuelle Mobilität, sondern auch für die Entwicklung unserer heutigen Logistik-Systeme. Ähnliches gilt für die individuelle Mobilität und für bestimmte zeitsensible Gütergruppen auch im Hinblick auf den Luftverkehr. Auch wenn die Bedeutung des Verkehrs als wichtiges Bindeglied zwischen Produktions- und Absatzmärkten und als Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unstrittig sein dürfte, existiert eine z. T. kontrovers geführte Diskussion darüber, ob und in welchem Umfang Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu nationalem und/oder regionalem Wirtschaftswachstum und Produktivität beitragen. Die Beantwortung dieser Frage ist von hoher wirtschaftspolitischer Relevanz, da ein erheblicher Teil des volkswirtschaftlichen Anlagevermögens in der Verkehrsinfrastruktur gebunden ist und die Ausgaben für Ausbau und Erhaltung überwiegend von der öffentlichen Hand getragen werden. Dem positiven Beitrag des Verkehrs zur wirtschaftlichen Entwicklung stehen die negativen Wirkungen unserer modernen Mobilität wie Umweltbelastung, O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lärm und Unfälle sowie Effizienzverluste aufgrund von Stau-, Überlastungsund Knappheitsphänomenen gegenüber. Ein Aufsatz zur wirtschaftlichen Bedeutung des Verkehrs wäre daher ohne eine Betrachtung der externen Kosten des Verkehrs unvollständig. Dieser Beitrag widmet sich zunächst in Abschnitt 2 anhand der üblichen Kennziffern der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) der Stellung des Verkehrssektors in der Volkswirtschaft. Abschnitt 3 geht im Anschluss daran der Frage nach, ob und in welchem Umfang Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu wirtschaftlichem Wachstum und Produktivität beitragen. Die externen Kosten des Verkehrs werden in Abschnitt 4 behandelt. Abschnitt 5 fasst die wesentlichen Aussagen dieses Beitrages zusammen. 1
Überblick über ausgewählte wirtschaftliche Kennziffern des Verkehrs
Die wirtschaftliche Stellung des Verkehrssektors lässt sich zunächst wie für jeden Wirtschaftszweig anhand der üblichen Kennziffern der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) wie z. B. dem Anteil an den Beschäftigten der Volkswirtschaft und dem Anteil am Bruttoinlandsprodukt definieren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass über die VGR nur eine unvollständige Erfassung aller mit dem Verkehr verbundenen Effekte möglich ist. So sind beispielsweise Nutzengewinne durch Zeiteinsparungen im Freizeitverkehr, aber auch Teile der mit Unfällen und Umweltschäden verbundenen externen Kosten nicht im BIP enthalten. Abbildung 1 zeigt zum einen die Entwicklung des Anteils des Verkehrssektors (Landverkehr, Schifffahrt, Luftfahrt sowie Hilfs- und Nebentätigkeiten für den Verkehr) an der Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche zu jeweiligen Preisen. Er lag in Westdeutschland von 1950 bis 1990 zwischen 5,6% und 3,5% mit fallender Tendenz. In der ersten Dekade nach der Wiedervereinigung setzte sich der fallende Trend zunächst fort, insbesondere seit der Jahrtausendwende ist jedoch ein neuerlicher Anstieg auf 4% im Jahre 2008 zu konstatieren. Abbildung 1 zeigt zudem, dass der Verkehrssektor ein wichtiger Arbeitgeber ist: So entfielen im Zeitraum von 1950 bis 1990 auf die direkt in den Verkehrsbereichen beschäftigten Erwerbstätigen zwischen 4,5% und 3,7% aller in der westdeutschen Wirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer; im wiedervereinigten Deutschland lag dieser Anteil im Zeitraum von 1991 bis 2008 zwischen 4% und 4,4%. Im Verkehrssektor war im Jahre 2008 ein Brutto-Anlagevermögen von rund 920 Mrd. Euro gebunden, davon entfielen auf die Verkehrsinfrastruktur mehr als 760 Mrd. Euro. Der Anteil des Brutto-Anlagevermögens des Verkehrssektors am Anlagevermögen aller Wirtschaftsbereiche Westdeutschlands schwankte im Zeitraum von 1950 bis 1990 zwischen 14,5% und 10,1% und lag nach der Wiedervereinigung von 1991 bis 2008 zwischen 8,3% und 7,8% (Abbildung 1). Dieser rück-
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läufige Anteil ist der Tatsache geschuldet, dass im gleichen Zeitraum der Anteil der Anlageinvestitionen des Verkehrs an den gesamten Investitionen aller Wirtschaftsbereiche von 13,8% im Jahre 1950 auf 6,6% im Jahre 2008 gesunken ist. Abbildung 1: 16 14 12 10 8 6 4 2 0
Anteil des Verkehrssektors (%) an wirtschaftlichen Kenngrößen von 1950-2008 Anteil Verkehr an Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche Anteil Verkehr an Erwerbstätigen aller Wirtschaftsbereiche Anteil Verkehr am Brutto‐ Anlagevermögen aller Wirtschaftsbereiche
Quelle: Verkehr in Zahlen (BMVBS / DIW), mehrere Jahrgänge Abbildung 2:
Stellung der Ausgaben für Verkehr im Bundeshaushalt 2009
Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Finanzplan des Bundes 2008 bis 2012.
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Abbildung 2 zeigt die Bedeutung der staatlichen Ausgaben für den Verkehr im Kontext der gesamten öffentlichen Ausgaben. So stellte der Verkehrshaushalt im Jahre 2009 nach dem Schuldendienst, dem Haushalt für Arbeit und Soziales sowie dem Verteidigungshaushalt mit 25,6 Mrd. Euro und einem Anteil von knapp 9% einen der größten Einzeletats des Bundeshaushalts. 2
Der Zusammenhang zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum
In der wirtschafts- und regionalpolitischen Diskussion wird oft gefordert, Wachstumsschwäche durch öffentliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu beseitigen. Während es unstrittig ist, dass eine qualitativ und quantitativ leistungsfähige und in gutem Zustand unterhaltene Verkehrsinfrastruktur eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren einer arbeitsteilig organisierten Volkswirtschaft darstellt, ist in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung die Kausalitätsbeziehung zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum und der quantitative Beitrag der Verkehrsinfrastruktur zur wirtschaftlichen Entwicklung nicht eindeutig geklärt. Die folgenden Abschnitte beschäftigen sich daher mit den vorhandenen Erklärungsansätzen, ihren quantitativen Ergebnissen sowie ihren Stärken und Schwächen. Die Lakshmanan und Andersson 2002 entnommene Abbildung 3 stellt die von Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur induzierten ökonomischen Effekte dar. Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur führen über verbesserte Transportbedingungen (Zeit- und Kostenersparnisse, höhere Zuverlässigkeit etc.) zur besseren Erreichbarkeit der Märkte, was wiederum positive Wirkungen auf das Angebot von Arbeitskräften hat und zur Zunahme von Ex- und Importen der betrachteten Region/Volkswirtschaft führt. Erreichbarkeitsverbesserungen tragen gleichzeitig zu Agglomerationseffekten bei und fördern Innovationsschübe durch die Intensivierung der Informationsflüsse und des Technologietransfers. Die dadurch ermöglichte Produktionsausweitung und der induzierte Strukturwandel münden letztlich in wirtschaftliche Wachstumseffekte in Form von steigender Produktivität und BIP. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Erreichbarkeitsverbesserungen verschiedene Wirkungen haben können. So können beispielsweise Arbeitskräfte in andere Regionen einpendeln, und von der Ansiedlung von Unternehmen aufgrund der verbesserten Transportbedingungen profitieren auch andere Regionen als die Region, in der die Verbesserung der Infrastruktur erfolgte. Zudem ist anzumerken, dass Unternehmensansiedlungen erst aufgrund des Zusammenwirkens vieler Standortfaktoren erfolgen und nicht allein durch eine verbesserte Verkehrsanbindung ausgelöst werden. Schließlich
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sei noch darauf hingewiesen, dass beispielsweise Effekte des Freizeitverkehrs nur teilweise in den in Abbildung 3 dargestellten Wirkungen enthalten sind. Abbildung 3:
Wirkungsmechanismen des Zusammenhangs zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum1
Quelle: Lakshmanan und Andersson (2002) Insgesamt wird deutlich, dass die Wirkungen von Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sehr komplex sind und mit einem einzigen Erklärungsansatz kaum quantifizierbar sein dürften. Grundsätzlich lassen sich die Wirkungen zunächst grob in makro- und mikroökonomische Wirkungen unterteilen. Dementsprechend existieren makroökonomische Modellansätze, oft auch als outputorientierte Ansätze bezeichnet, und mikroökonomische Erklärungsansätze, oft als ressourcenorientierte Ansätze bezeichnet. Seit den 1990er Jahren liefert außerdem die sogenannte „neue ökonomische Geographie“ (new economic geography)
1
Erläuterung der Abkürzungen: TFP= Totale Faktorproduktivität; BIP= Bruttoinlandsprodukt.
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einen Erklärungsbeitrag zur Messung der räumlichen und regionalökonomischen Effekte von Verkehrsinfrastruktur. 2.1 Makroökonomische Effekte – outputorientierte Erklärungsansätze Die makroökonomische Sicht beschäftigt sich mit der Wirkung von verbesserter Verkehrsinfrastruktur auf das Wirtschaftswachstum und auf die Steigerung der Produktivität, sowie daraus abgeleitet mit den Wirkungen auf Beschäftigung und nicht zuletzt auf die Steuereinnahmen des Staates. Dabei ist unter Wirtschaftswachstum die quantitative Veränderung des volkswirtschaftlichen Outputs, typischerweise gemessen als Brutto-Inlandsprodukt BIP, zu verstehen. Neben dem Niveaueffekt auf das BIP kann die Erschließung eines Landes oder einer Region mit neuer Verkehrsinfrastruktur auch eine qualitative, transformative Wirkung auf die Wirtschaft haben. Insbesondere in Volkswirtschaften mit bislang ungenügender Verkehrsinfrastruktur (z. B. in Entwicklungsländern) steht ein solcher qualitativer oder transformativer Effekt im Vordergrund, indem Verkehr schneller, zuverlässiger und preiswerter wird bzw. indem neue Verkehrsdienstleistungen ermöglicht werden, so dass Produzenten und Konsumenten Zugang zu neuen, räumlich differenzierten Märkten erhalten. Zur Illustration dieses Effekts wird neben dem Beispiel der Entwicklungsländer insbesondere die Entwicklung der US-amerikanischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert durch die Erschließung des Landes und Ausdehnung der wirtschaftlichen Aktivitäten nach Westen im Zuge des Eisenbahnbaus herangezogen. Ein anderes Beispiel stellt der nach der deutschen Wiedervereinigung konstatierte Nachholbedarf der Infrastruktur in Ostdeutschland dar, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Verkehrswege (vernachlässigte Unterhaltung, nicht zeitgemäße Bauweisen und -standards mit Konsequenzen auf die Kapazität) und im Hinblick auf fehlende Ost-WestVerbindungen. Hingegen stehen bei Ländern mit bereits gut ausgebauter Verkehrsinfrastruktur wie z. B. den meisten westeuropäischen Ländern die Wirkungen von Verkehrsinfrastruktur auf Wirtschaftswachstum und Produktivität im Vordergrund. Der makroökonomische Ansatz analysiert den Zusammenhang zwischen der Inputgröße Verkehrsinfrastruktur und der Outputgröße Wirtschaftswachstum. Die in Abbildung 3 dargestellten Wirkungsketten zwischen Input- und Outputgröße werden dabei nicht explizit betrachtet, sondern bilden eine Black Box.
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Abbildung 4:
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Wirkungen von Verkehrsinfrastruktur auf Kosten und Produktionsoutput
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur erhöhen die Effizienz und reduzieren die Preise der Inputfaktoren für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, zum einen, indem die Kosten für Arbeitskräfte und Material sinken, zum anderen, indem durch die erhöhte Kapazität der Verkehrsinfrastruktur die Quantität und Qualität der darauf erbrachten Verkehrsdienstleistungen erhöht werden können. Abbildung 4 veranschaulicht die Idee des makroökonomischen Erklärungsansatzes. Die Kurve der (Grenz-)kosten GK1 in Abhängigkeit von der produzierten Outputmenge Q1 verläuft bei unzureichender Infrastrukturausstattung höher als im Falle einer verbesserten Infrastrukturausstattung (Kurve GK2), so dass bei gegebenem Marktpreis p die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur zwei Wirkungen hat: i) einen Kostenreduzierungseffekt, indem die Kosten für die Produktion der ursprünglichen Outputmenge Q1 im Umfang der grau hinterlegten Fläche abcd sinken, ii) einen Mengenexpansionseffekt, da die Output-Menge um die Fläche bce auf Q2 ausgedehnt werden kann. Die Messung dieser beiden Effekte ist Gegenstand zahlreicher Studien in den USA, Japan, Deutschland und anderen Ländern, die besonders in den 1990er Jahren „Hochkonjunktur“ hatten. Der zugrunde liegende Untersuchungsansatz besteht in der Ex-Post-Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Inputfaktor Verkehrsinfrastruktur und dem volkswirtschaftlichen Output, gemessen als BIP, Einkommen oder Beschäftigung, mittels ökonometrischer Methoden. Der Vorteil
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dieses Herangehens besteht, sofern die Schätzergebnisse statistisch signifikant sind, in der empirischen Absicherung der Aussagen; die hauptsächliche Schwäche ist die ungeklärte Kausalitätsrichtung. Die Mehrheit der Studien basiert auf der Schätzung von Produktions- und Kostenfunktionen2. Aus diesem Grund konzentriert sich die folgende Darstellung schwerpunktmäßig auf die Anwendung von Produktions- und Kostenfunktionen auf die in diesem Beitrag zu behandelnde Frage des Zusammenhangs zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum. Der Abschnitt schließt mit einer kritischen Würdigung dieses Erklärungsansatzes. Eine positive Wirkung von Verkehrsinfrastruktur auf den wirtschaftlichen Output ist dann gegeben, wenn in der Produktionsfunktion Y = f (X, PK)
(1)
mit Y: Aggregierter Output der Volkswirtschaft X: Vektor der privaten Produktionsfaktoren (z. B. Arbeit, Kapital, Material, Energie) PK: Vektor des Kapitalbestandes der Verkehrsinfrastruktur der funktionale Zusammenhang zwischen einer Erhöhung des Outputs Y und einer Erhöhung des öffentlichen Infrastrukturkapitals PK positiv ist. Die gängige Messgröße für diesen Zusammenhang ist die sogenannte Output-Elastizität der Verkehrsinfrastruktur, definiert als
H
wY wPK wPK wY
(2)
Diese Elastizität drückt aus, um wie viel Prozent der Output Y steigt, wenn sich das in der Verkehrsinfrastruktur gebundene Kapital um 1% erhöht. Unter Anwendung des Dualitätstheorems3 können die Parameter der Produktionsfunktion (1) auch über die zugehörige Kostenfunktion C = f (Y, P, PK)
2 3
(3)
Alternative Ansätze umfassen z.B. Wachstumsmodelle und Quasi-Produktionsfunktionen, die mit sogenannten Potenzialfaktoren arbeiten. Ein guter Überblick hierzu findet sich in Bertenrath et al. 2006. Das Dualitätstheorem besagt, dass eine Produktionstechnologie sowohl durch eine Produktionsfunktion als auch durch die zugehörige Kostenfunktion äquivalent dargestellt werden kann, sofern beide Funktionen bestimmte Regularitätsbedingungen erfüllen.
99
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geschätzt werden, wobei C die Gesamtkosten zur Produktion des volkswirtschaftlichen Outputs Y, P der Vektor der Preise für die privaten Inputfaktoren (Arbeit, Kapital, Material, Energie) und PK die öffentliche Infrastruktur repräsentieren. Eine solche Kostenfunktion wird simultan mit den Gleichungen für die i Faktorinput-Mengen si
si
wC wpi
(4)
geschätzt.4 Die aus einem solchen Gleichungssystem abgeleitete Kostenelastizität stellt die prozentuale Reduktion der Produktionskosten bei einem Anstieg des in der Verkehrsinfrastruktur gebundenen Kapitals um 1% dar. In den meisten Studien wird aufgrund der besseren Datenverfügbarkeit der Produktionsfunktionsansatz zugrunde gelegt, indem aus empirischen Daten des Produktionsoutputs BIP, der Inputfaktoren Arbeitsvolumen, Material und privatem Kapital sowie des Infrastrukturkapitals eine Produktionsfunktion geschätzt und hieraus entsprechend Gleichung (2) die Output-Elastizität abgeleitet wird. Außerdem können über die Ableitung der geschätzten Funktionsgleichung nach den Inputfaktoren Aussagen zur Substituierbarkeit bzw. Komplementarität der privaten Inputfaktoren und der Verkehrsinfrastruktur getroffen werden. Für die Schätzung wird entweder auf Zeitreihendaten über die Produktions- und Infrastrukturentwicklung zurückgegriffen, oder es werden Querschnittsdaten (in regionaler Gliederung) verwendet, die zumeist für mehrere Jahre „gepoolt“ werden. Auffällig ist, dass auf Zeitreihendaten basierende Untersuchungen relativ hohe Output-Elastizitäten von z. T. über 0,5 ergaben (vgl. die Bertenrath et al. 2006 entnommene Tabelle 1). Eine ebenfalls sehr hohe Output-Elastizität von 0,39 ermittelte Aschauer in seiner vieldiskutierten Studie zu den Wachstumswirkungen von Infrastrukturkapital (Aschauer 1989). Darauf folgende Untersuchungen gelangten jedoch zu dem Ergebnis, dass die Aschauer-Studie den Einfluss der Verkehrsinfrastruktur überschätzt und insbesondere die Möglichkeit einer umgekehrten Kausalität zwischen Infrastruktur und Wachstum nicht auszuschließen ist. Spätere Studien mit verfeinerten Ansätzen kommen zu erheblich geringeren Output-Elastizitäten in einer Spanne von 0,04 bis maximal 0,2 (Tabelle 2), sie weisen jedoch eine beträchtliche Streuung sowohl hinsichtlich der
4
Gleichung (4) basiert auf der Anwendung des sogenannten Lemmas von Shepard (1970).
100
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Ergebnisse als auch im Hinblick auf die Kausalitätsrichtung des Zusammenhangs zwischen Verkehrsinfrastruktur und Produktivität auf.5 Tabelle 1: Geschätzte Output-Elastizitäten des BIP in Bezug auf Infrastrukturinvestitionen, basierend auf Zeitreihenanalysen Land
Output-Elastizitäten
USA
0,29-0,64
Niederlande
0,48
Japan
0,15-0,39
Deutschland
0,53-0,68
Kanada
0,63-0,77
Belgien
0,54-0,57
Australien
0,34-0,7
Quellen: Bertenrath et al. 2006, dort angegebene Quellen: Johansson et al. 1996, Goddwin 2001.
Quelle: Bertenrath et al. 2006 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die in Tabelle 2 zusammengefassten Studien zum einen im Hinblick auf den zugrunde gelegten Funktionstyp für die Produktionsfunktion unterscheiden. Zum anderen differieren sie hinsichtlich der untersuchten Infrastruktur (Straßen, Schienenwege, gesamte öffentliche Infrastruktur einschließlich Telekommunikation, Wasser etc.), der Variablen zur Quantifizierung der Ausstattung mit Infrastruktur (Kapital versus physische Messgrößen der Infrastrukturausstattung) und der Output-Größen (BIP, z. T. auch Einkommen). Sie unterscheiden sich des Weiteren hinsichtlich der verwendeten Daten (reine Querschnittsdaten für ein Stichjahr, Querschnittsdaten für mehrere Jahre, Zeitreihendaten) und ihres Aggregationsniveaus (Anzahl und Art der untersuchten räumlichen Einheiten).
5
Die Spannbreite der geschätzten Kostenelastizitäten reicht von -0,04 bis -0,07 für die USA bis hin zu einer Spanne von -0,01 bis -0,47 für Indien (vgl. Nadiri-Mamaneus 1996, Elhance and Lakshmanan 1988, Keeler and Ying 1988).
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Tabelle 2: Ergebnisse makroökonomischer Studien zu den Output-Elastizitäten öffentlicher Infrastruktur Studie
Land
Aschauer 1989
USA
Ratner 1983
USA
Toen-Gout und Jongeling 1993 Baffes und Shah 1993 Westerhout und van Sinderen 1993 Toen-Gout und van Sinderen 1993 Mera 1973
Niederlande
Costa et al. 1987
USA, regional (28 Bundesstaaten) USA, regional
Munnell 1990 Eisner 1991
Niederlande Niederlande Niederlande Japan, regional
Jones et al. 1993
USA, regional (48 Bundesstaaten) USA, regional (48 Bundesstaaten) USA, regional
Garcia-Mila und McGuire 1998 Eberts 1986
USA, regional (48 Bundesstaaten) Agglomeration
Deno 1988
Agglomeration
Duffy-Deno und Eberts 1989 Andersson et al. 1990 Johansson 1993, Johansson und Karlson 1994
Agglomeration
Deno 1998
Agglomeration
McGuire 1992
70 Agglomerationen 280 bzw. 284 Agglomerationen
Art der Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur Verkehrsinfrastruktur Öffentliche Infrastruktur Öffentliche Infrastruktur bzw. Autobahnen Straßenbauinvestitionen Straßenbauinvestitionen Fahrleistung Fernstraßen Autobahn-Kapital
Output-Größe BIP
OutputElastizität 0,39
BIP
0,05-0,06
BIP
0,48
BIP
0,01-0,16
BIP
0,1
BIP
0,1
Regionales BIP
0,35
Regionales BIP
0,2
Regionales BIP
0,15 bzw. 0,06
Regionales BIP
0,05-0,07
Regionales BIP
0,24
Regionales BIP
0,09-0,14
Regionales BIP
0,04
Öffentliche Infrastruktur Autobahnen und Brücken Öffentliche Infrastruktur Straßen, Eisenbahnen, Flughäfen Kapital Straßen und ÖPNV, Erreichbarkeit Straßen
Wertschöpfung der Industrie Wertschöpfung der Industrie Örtl. Volkseinkommen
0,03
Straßenbauinvestitionen
BIP Industrie
0,31-0,57 0,08
Örtl. Volkseinkommen Örtliche Wertschöpfung der Industrie
0,12-0,18 (Straßen) 0,18-0,2 (ÖPNV) 0,2-0,27 (Erreichbarkeit Straße) 0,31
Quellen: Lakshmanan und Anderson 2002, Bertenrath et al. 2006, dort ausführliche Quellenangaben für die hier aufgeführten Studien.
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Trotz der z. T. beträchtlichen Streuung der Ergebnisse stimmen die Studien darin überein, dass ein schwach positiver Zusammenhang zwischen der Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Verkehrsinfrastruktur und dem wirtschaftlichen Output existiert. Der quantifizierte Einfluss der Verkehrsinfrastruktur sinkt jedoch bei abnehmender Größe der betrachteten räumlichen Einheit (Staat, Region, Ballungsraum). Der makroökonomische Ansatz ist mit zahlreichen Problemen behaftet, die bei der Interpretation der hier dargestellten Größenordnungen für die Elastizitäten und bei der Ableitung wirtschaftspolitischer Schlussfolgerungen zu beachten sind. Diese Probleme sollen im Folgenden etwas ausführlicher beleuchtet werden. Ein grundsätzliches Problem des makroökonomischen Erklärungsansatzes besteht darin, dass die Kausalität zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum keineswegs eindeutig ist, sondern vielmehr von einer wechselseitigen Anhängigkeit auszugehen sein dürfte. So erfordert einerseits eine wachsende Wirtschaft Verbesserungen der Infrastrukturausstattung und zieht entsprechende Investitionen nach sich, andererseits wird durch Investitionen in die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in der Folge das Wirtschaftswachstum stimuliert. Des Weiteren stellt sich das Problem der zeitlichen Verzögerung zwischen Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und einer Beschleunigung des Wirtschaftswachstums. Ein weiteres Problem besteht im Aggregationsniveau des Ansatzes. So hängen die einzelnen Industriezweige in unterschiedlichem Maße von Verkehrsdienstleistungen ab, so dass globale Schätzungen des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstum und Verkehrsinfrastruktur nur bedingt informativ sind und eigentlich disaggregierte Studien nach Industriezweigen und nach den verschiedenen Formen von Verkehrsinfrastruktur erforderlich sind6. Zudem hängen die ökonomischen Wirkungen von Investitionen aufgrund des Netzcharakters von Verkehrsinfrastruktur davon ab, wo im Netz derartige Maßnahmen stattfinden7. Der makroökonomische Erklärungsansatz kann außerdem keine Aussagen zu den regionalen Auswirkungen treffen, da der ökonomische Output auf der Ebene von Regionen oder Bundesländern/Bundesstaaten gemessen wird, die Verkehrsdienstleistung als notwendiger Input für die Produktion aber auf Infrastrukturen erbracht wird, die unter Umständen in einer anderen regionalen Einheit erstellt wurde. Die komplexen Wirkungen auf die Faktormärkte8 im Kontext mit der Standortwahl, der Bildung von Agglomerationen und den daraus resultierenden regionalwirtschaftlichen 6 7 8
Nadiri und Mamaneus (1996) ist eine solche Studie mit disaggregiertem Ansatz. Einige Studien verwenden deshalb die Erreichbarkeit von bestimmten Infrastrukturen, z. B. von wichtigen Exporthäfen, Flughäfen oder anderen Umschlagplätzen als Variable in der Produktionsfunktion. Ein Beispiel hierfür ist Johansson 1993. Faktormärkte sind Märkte, auf denen die Produktionsfaktoren, d. h. Boden (Natürliche Ressourcen), Arbeit und Kapital gehandelt werden.
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Wirkungen können mit dem aggregierten makroökonomischen Ansatz nicht erklärt werden. Dies betrifft auch die Frage, welcher Zusammenhang zwischen dem Erhaltungszustand der Infrastruktur und dem Wirtschaftswachstum besteht9. Die Darstellung des makroökonomischen Ansatzes in diesem Abschnitt zeigt, dass die makroökonomische Sicht nützliche Ergebnisse zur ökonomischen Bedeutung des Verkehrs, insbesondere der Verkehrsinfrastruktur liefert, andererseits jedoch, wie jeder Erklärungsansatz, an Grenzen stößt. Die makroökonomische Sicht ist deshalb durch weitere Instrumentarien zu ergänzen, dies geschieht im folgenden Abschnitt 2.2. 2.2 Mikroökonomische Effekte – ressourcenorientierte Erklärungsansätze Der mikroökonomische Ansatz, oft auch als ressourcenorientierter Ansatz bezeichnet, untersucht die Frage, welche Wirkung eine verbesserte Ausstattung mit Verkehrsinfrastruktur auf die Einsparung von Ressourcen, z.B. Reisezeiten, Kraftstoffkosten, Unfall- und Umweltkosten, hat. Während der in Abschnitt 2.1 behandelte makroökonomische Ansatz aus der Ex-Post-Perspektive den statistischen Zusammenhang zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum analysiert und die diesem Zusammenhang zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen ausblendet, zielt der mikroökonomische Ansatz gerade auf die Erklärung dieser Wirkungsketten. Auf der mikroökonomischen Ebene haben Infrastrukturmaßnahmen zwei Wirkungsrichtungen: Zum einen sinken die Transportkosten aufgrund kürzerer Transportdistanzen infolge von Verbesserungen des Verkehrsnetzes (z.B. durch neue Straßen- oder Schienenverbindungen), zum anderen führen Infrastrukturmaßnahmen zum Abbau von Engpässen, der Reduzierung von Stau und dadurch zu kürzeren Reisezeiten. Hierbei ist allerdings das Phänomen des induzierten Verkehrs zu berücksichtigen, d.h. des Verkehrs, der durch das zusätzliche Infrastrukturangebot generiert wird. Dieser führt dazu, dass ein Teil der durch das zusätzliche Infrastrukturangebot erreichten Reisezeitverkürzungen aufgrund von höherer Verkehrsdichte und evtl. neu auftretenden Stauphänomenen kompensiert wird.
9
Hierzu liegt bislang nur die Studie von Kaleitzidakis und Kalyvitis 2002 vor, die einen parabelförmigen Effekt der Erhaltungsausgaben auf das wirtschaftliche Wachstum feststellte.
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Abbildung 5:
Konsumentenrente bei Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur
Das klassische Instrument der Verkehrsökonomie zur Bewertung dieser mikroökonomischen Effekte ist die Kosten-Nutzen-Analyse. Abbildung 5 zeigt das grundsätzliche Herangehen einer Kosten-Nutzen-Analyse an die Bewertung einer Infrastrukturmaßnahme. Die Nachfragekurve D gibt an, wie viele Fahrten in Abhängigkeit vom Preis p unternommen werden würden;10 ihr Schnittpunkt mit der Angebotsfunktion für die Verkehrsinfrastruktur S bestimmt die Anzahl der tatsächlich unternommenen Fahrten Q. Aus dem Verlauf der Nachfragefunktion wird deutlich, dass die Verkehrsnutzer auch oberhalb des Marktpreises p eine Zahlungsbereitschaft für weitere Fahrten haben, diese Fahrten jedoch aufgrund der Kapazitätsbeschränkung durch die Angebotsfunktion S nicht realisieren können. Durch Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur verschiebt sich die Angebotsfunktion nach unten11, so dass die Anzahl der realisierten Fahrten nunmehr auf Q’ steigt. Der aus dieser Angebotsverbesserung resultierende Nutzen besteht aus zwei Effekten: i) Zum einen aus der Kostenreduktion für die Menge an Fahrten, die vor der Infrastrukturverbesserung realisiert wurden (Fläche A); dies ist die zusätzliche Konsumentenrente des Stammverkehrs, die den Einsparungen an Reisezeit und Fahrkosten entspricht; ii) Zum anderen aus dem Nutzen der zusätzlich möglichen Fahrten (Fläche B); dies ist die Konsumentenrente des induzierten Neuverkehrs12. Die auf diese Weise für das Gesamtsystem ermittel10 11 12
Der Preis p repräsentiert die Kosten der Fahrt für den Verkehrsnutzer und beinhaltet in der Kosten-Nutzen-Analyse neben den monetären Kosten auch die Zeitkosten. So kann die einzelne Fahrt zu niedrigeren Kosten unternommen werden, z. B. zu niedrigeren Zeitkosten aufgrund von Reisezeitverkürzungen. Da die Berechnung der Konsumentenrente des induzierten Neuverkehrs bei einer stetigen Nachfragefunktion aufwändig sein kann, ist es üblich, die Konsumentenrente KR als Fläche des Dreiecks B durch die sogenannte „rule of half“ KR = ½(p-p’)(Q+Q’) zu approximieren.
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ten Nutzen sind den durch die Infrastrukturmaßnahme entstehenden Kosten gegenüberzustellen. Das hier skizzierte Grundprinzip ist durch die Einbeziehung der mit der Infrastrukturmaßnahme verbundenen positiven und negativen externen Effekte sowie durch die Wirkungen auf die Staukosten zu modifizieren. Diese Modifikationen sollen jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein, der interessierte Leser sei auf Lakshmanan und Andersson 2002 verwiesen. Im Folgenden sollen vielmehr solche mikroökonomischen Effekte behandelt werden, die im Rahmen der hier skizzierten konventionellen Kosten-Nutzen-Analyse nicht erfasst werden. Hierzu zählen die Reduktion von Logistik-Kosten, die Wirkungen auf die Standortwahl und Standortkonzentration sowie die insbesondere im Rahmen der sogenannten neuen ökonomischen Geographie behandelten Agglomerationseffekte. 2.2.1 Logistik-Effekte Infrastrukturinvestitionen führen im Güterverkehr zu kürzeren Transportzeiten und – im Falle von Lückenschlüssen oder Neubauten – zu kürzeren Wegen. Infolge der dadurch sinkenden Transportkosten können die Unternehmen weitere Kostenarten wie Lagerkosten, Zins- und Versicherungskosten reduzieren. Dieser Effekt setzt an der Entscheidung der Produzenten über die optimale Lagergröße und damit über die Größe und Häufigkeit der von ihnen benötigten Zulieferungen an. Er berührt den Trade-off zwischen Bereitstellungs- und Transportkosten auf der einen Seite und den Lagerhaltungskosten auf der anderen Seite. Umgekehrt gilt dies auch für die Entscheidung hinsichtlich der Auslieferung der produzierten Güter. In Abbildung 6 sind die Beschaffungs- und Transportkosten P+T sowie die Lagerhaltungskosten C in Abhängigkeit von der Liefermenge B dargestellt. Die Beschaffungskosten P sind dann minimal, wenn eine große Liefermenge geordert wird, da die Transaktionskosten zur Abwicklung der Lieferung dann nur einmalig anfallen. Die Transportkosten T sind in diesem Fall aufgrund der Mengendegression ebenfalls am niedrigsten. Die Lagerkosten C sind hingegen dann minimal, wenn die Zulieferungen in kleinen Losgrößen mit größerer Häufigkeit erfolgen, eine Kostenreduktion, die unter den Begriffen „Just-in-Time Lieferungen“ und „rollende Lager“ bekannt ist. Diese gegenläufigen Entwicklungen der einzelnen Kostenbestandteile in Abhängigkeit von der Liefergröße drücken sich im Verlauf der Kurve der gesamten Logistikkosten TLC als Summe von P+T und C aus. Die optimale Liefergröße wird durch das Minimum der Logistikkosten TLC bestimmt. Eine Reduzierung der Transportkosten aufgrund von Infrastrukturinvestitionen führt zu einem niedrigeren Verlauf und einer veränderten Krümmung der Kurve
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P+T und damit zu einem nach links verschobenen Minimum von TLC’, d.h. zu einer geringeren Liefermenge B’. Dies heißt in der Konsequenz, dass sinkende Transportkosten zu kleineren Losgrößen für den Transport und zur Reduktion der Lagergröße bei den Produzenten führen (Just-in-time Effekt) und damit zu reduzierten Logistikkosten (Lagerkosten, Versicherungs- und Zinskosten). Dies gilt auch in umgekehrter Richtung für die Händler, die ihrerseits die Lagerhaltungskosten senken wollen und auf Just-in-time Lieferungen setzen. Abbildung 6:
Wirkungen von verbesserter Verkehrsinfrastruktur auf die Logistik-Kosten
Quelle: Lakshmanan und Andersson 2002 Die Wirkung von Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur auf die LogistikKosten ist bislang nur in wenigen Studien untersucht worden, so dass kaum belastbare quantitative Angaben vorliegen. Im Rahmen einer amerikanischen Studie (Hickling, Lewis und Brod 1995) wurden Interviews mit verschiedenen Branchenvertretern geführt, um letztlich eine Elastizität der Logistikkosten hinsichtlich der Transportzeit abzuleiten. Diese Elastizität gibt an, um wieviel Prozent die Logistik-Kosten sinken, wenn sich die Transportzeit der Güter um 1% reduziert. Bei der Bewertung und Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Stichprobenumfang dieser Studie sehr klein war. Zudem basieren sie auf Einschätzungen der Befragten, d.h. sind nicht aus beobachteten Entwicklungen abgeleitet, sondern haben einen eher spekulativen Charakter. Dennoch ist insbesondere die Variation der Elastizität zwischen den Branchen von Interesse: Sie reicht von 0,055 im Lebensmittel-Einzelhandel bis
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hin zu 0,548 bei medizinischen und chirurgischen Instrumenten, d.h. die Vertreter der letztgenannten Branche schätzten ein, dass eine 1%ige Reduktion der Transportzeit zu einer Reduktion der Logistikkosten von 0,548% führen würden. Dieses Ergebnis widerspricht allerdings der vorherrschenden Meinung, dass die Transportkosten bei sehr hochwertigen Gütern nur eine geringe Rolle spielen, und müsste von daher durch weitere Studien belegt werden. In einer anderen amerikanischen Studie wurde, basierend auf Daten des Census Bureau (Census Bureaus‘ Longitudinal Research Database), mit ökonometrischen Methoden untersucht, welcher Zusammenhang zwischen Highway-Investitionen einerseits und der Höhe der Lagerbestände andererseits existiert (Shirley und Winston 2001). Diese Studie ergab, dass die Höhe der Lagerbestände bei zunehmenden Ausgaben für die Highways fällt, wobei allerdings die marginalen LagerReduktionen pro Dollar Highway-Ausgaben im Zeitverlauf sanken. 2.2.2 Größenvorteile durch Konsolidierung von Produktionsstandorten Ein weiterer, in konventionellen Kosten-Nutzen-Analysen nicht erfasster Effekt betrifft die Möglichkeit von Unternehmen, aufgrund von Verbesserungen der Infrastruktur (neue Straßenverbindungen mit besseren Anschlüssen an Güterumschlagplätze oder verbesserte Anschlüsse an das Schienennetz) ihre Produktionsstätten auf weniger Standorte zu konzentrieren und so Transportkosten einzusparen. Während dies zu Produktivitätssteigerungen des betroffenen Unternehmens führt, ist aus aggregierter gesamtwirtschaftlicher Sicht zu berücksichtigen, dass ein Teil der so induzierten Produktivitätseffekte bei den Unternehmen nicht als zusätzlich durch die Verbesserung von Verkehrsinfrastruktur induzierter Effekt zu bewerten ist, da durch die Standortverlagerungen Einkommen am neuen Standort zu Lasten des alten Standorts generiert wird, also gesamtwirtschaftlich eine Kompensation gegeben ist. Davon zu unterscheiden sind „echte“, durch die verbesserte Verkehrsinfrastruktur induzierte Produktivitätseffekte, die dann eintreten, wenn ein Unternehmen dadurch seine Produktion an weniger Standorten bündeln kann, um so Größenvorteile13 (Economies of scale) zu realisieren. Dies ist ein wesentlicher Erklärungsansatz der Theorie der industriellen Standortwahl (Theory of industrial location), die den Trade-off zwischen den Transportkosten einerseits und Größenvorteilen in der Produktion andererseits in den Mittelpunkt stellt. So kann ein Unternehmen einerseits durch die Bündelung der Produktion
13
Durch die Konzentration der Produktion an weniger Standorten können die vorhandenen Maschinen und Ausrüstungen besser ausgenutzt werden und mit den vorhandenen Arbeitskräften die gleiche (oder eine höhere) Outputmenge produziert werden.
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an einem (oder wenigen) Standort Größenvorteile erzielen14. Da es aber andererseits eine große Anzahl regionaler Märkte beliefern muss, kann die Verteilung der Produktion auf mehrere Standorte in der Nähe der jeweiligen, zu beliefernden Regionen die Transportkosten senken. Die Entscheidung des Unternehmens besteht darin, die Anzahl und Lage seiner Teilunternehmen derart zu optimieren, dass Kosteneinsparungen durch Größenvorteile in der Produktion die dadurch höheren Transportkosten übersteigen und so zu minimalen Gesamtkosten für das Unternehmen als Ganzes führen. 2.2.3 Standortwahl und Agglomerationsvorteile Neben der in Abschnitt 2.2.2 diskutierten Erzielung von Größenvorteilen durch die Konzentration auf weniger Produktionsstandorte bewirken Erreichbarkeitsverbesserungen weitere Produktivitätseffekte infolge der dadurch ermöglichten Veränderungen der Standortwahl. Diese Produktivitätseffekte können auf der einen Seite durch die Ansiedlung von Firmen in Agglomerationen realisiert werden, was z. B. den Vorteil der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und der Verflechtung von Firmen innerhalb der Agglomeration hat (sogenannte agglomeration economies). Derartige Agglomerationsvorteile sind zu den positiven externen Effekten zu zählen und umfassen
Urbanisation economies: Zugang zu gut ausgebauter öffentlicher Infrastruktur innerhalb von Ballungsräumen, Juxtaposition economies: Kosteneinsparungen bei Zulieferung/Bezug von Zwischenprodukten innerhalb der Produktionskette Localisation economies: Spillovers von Wissen und Qualifikationen zwischen Unternehmen der gleichen Branche innerhalb des Ballungsraums.
Zu beachten ist dabei jedoch, dass die ökonomischen Vorteile der Ansiedlung in Agglomerationen ab einem bestimmten Niveau des Zuzugs von Firmen und dem damit induzierten Verkehr durch die Zunahme von Stauphänomenen und den damit verbundenen Staukosten wieder aufgehoben werden (vgl. zum Phänomen Stau den Beitrag von Gerike in diesem Band). Auf der anderen Seite treten Produktivitätseffekte auch durch die Ansiedlung von Firmen in der Peripherie auf, so z. B. um Kostenvorteile bei den Grunderwerbs- und/oder Mietkosten zu erzielen. In diesem Fall existiert bei der 14
Ein Beispiel für derartige Kosteneinsparungen gibt Hickling 1994 für einen Hersteller medizinischer Erzeugnisse, der nach Konsolidierung seiner Produktionsstandorte von 16 auf 6 eine Einsparung der Logistik-Kosten um 19% erzielte.
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Standortentscheidung ein Trade-off zwischen längeren Transportwegen und niedrigeren Grundstückskosten. Wie auch im Falle der Größenvorteile durch Standortkonzentration (Abschnitt 2.2.2) ist zu berücksichtigen, dass es sich aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nur dann um einen produktivitätssteigernden Effekt verbesserter Verkehrsinfrastruktur handelt, wenn es sich bei den hier beschriebenen Standortentscheidungen nicht um die Verlagerung identischer Produktionsaktivitäten von einem Standort zu einem anderen handelt. Die hier kurz skizzierten Agglomerationsund Dispersionseffekte sind Gegenstand der neuen ökonomischen Geographie und sollen hier nicht im Detail behandelt werden, der interessierte Leser sei z. B. auf Krugman 1993 verwiesen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in diesem Kapitel beschriebenen mikroökonomischen Produktivitätseffekte darauf beruhen, dass Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur zu niedrigeren Transportkosten führen und damit in der Folge weitere Kostensenkungen ermöglichen. Dies betrifft die Logistik-Kosten (insbesondere Reduzierung der mit der Lagerhaltung verbundenen Kosten), die Produktionskosten aufgrund von Größenvorteilen und agglomeration economies, sowie die Landkosten. Der mikroökonomische Ansatz kann damit den in Abschnitt 2.1 beschriebenen makroökonomischen Zusammenhang zwischen Infrastrukturausstattung, Produktivität und Wirtschaftswachstum in seiner Wirkungskette und seinen Teileffekten beschreiben und untersetzen. Allerdings ist mit dem mikroökonomischen Ansatz keine vollständige Quantifizierung der Effekte auf die Gesamtwirtschaft möglich, und es sind bislang nur wenige empirische Studien insbesondere zu den in den Abschnitten 2.2.1 bis 2.2.3 beschriebenen Effekten verfügbar. 3
Negative Folgewirkungen des Verkehrs und externe Kosten
Unsere moderne Mobilität ist in zunehmendem Maße mit negativen Folgewirkungen auf die Umwelt, mit Lärm, Unfällen und Stauproblemen verbunden, die hohe Kosten verursachen. Ein Beitrag zur wirtschaftlichen Bedeutung des Verkehrs wäre daher [unvollständig] ohne einen Überblick zu den externen Kosten des Verkehrs. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die methodischen Probleme bei der Quantifizierung der externen Kosten des Verkehrs und ein Vergleich der vorliegenden Schätzungen zu ihrer Höhe einen eigenen Aufsatz füllen würden und von daher in diesem Beitrag nur überblicksartig dargestellt werden können. Externe Effekte sind definiert als die Folgen von unvollständigen Produktions- und Nutzenfunktionen, die in ihren Funktionsargumenten nicht die Gesamtheit der genutzten Ressourcen bzw. gestifteten Nutzen enthalten. Von externen
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Kosten spricht man, wenn ein Wirtschaftssubjekt einen Teil der von ihm verursachten Kosten nicht selbst trägt, sondern auf Dritte (andere Wirtschaftssubjekte, Gesellschaft) abwälzt. Externe Nutzen sind dadurch charakterisiert, dass ein Teil des Nutzens, den eine Aktivität generiert, unentgeltlich in Anspruch genommen wird. Externe Kosten des Verkehrs entstehen durch den Bau und die Vorhaltung der Verkehrsinfrastruktur einerseits und durch den Betrieb der Verkehrsmittel andererseits. Zur ersten Kategorie zählen insbesondere
die negativen Wirkungen der Bodenversiegelung auf Flora und Fauna, Trennwirkungen von Infrastruktur (Zerschneidung von Flächen und Siedlungen und damit Entwertungen von Grundstücken), Landverbrauch, soweit er nicht bereits durch die Opportunitätskosten beim Erwerb bewertet wurde.
Des Weiteren sind in Abhängigkeit davon, inwieweit eine Gesamtbetrachtung über den Lebenszyklus der Infrastruktur durchgeführt werden soll, auch in der Bauphase von Verkehrsinfrastruktur sowie bei der Erhaltung der Anlagen Umweltwirkungen zu berücksichtigen, so z.B. CO2-Emissionen. Zu den externen Kosten des Betriebs von Verkehrsmitteln gehören Schadstoffemissionen (NOx, CO, HC, Partikel und Staub), CO2 Emissionen mit Wirkungen auf die Erderwärmung, Lärmemissionen, Unfälle und Unfallfolgekosten, Schäden durch Erschütterungen, Wasser- und Bodenverschmutzung. Die Quantifizierung der verursachten Schäden, ihre Zuordnung zu den einzelnen Verkehrsträgern und die monetäre Bewertung der mit diesen Effekten einhergehenden Kosten ist kompliziert, da es für die meisten Effekte keine Märkte und damit keine Marktpreise gibt. Mögliche Bewertungsverfahren umfassen den Schadenskostenansatz, bei dem der eingetretene Schaden ermittelt und monetarisiert wird, und den Vermeidungskostenansatz, bei dem die Kosten zur Vermeidung des Schadens herangezogen werden. Darüber hinaus kommen Verfahren zur Bildung hypothetischer Märkte und Marktpreise, z.B. durch Befragungen zur Zahlungsbereitschaft für die Reduktion bzw. Vermeidung von Schäden, zum Einsatz.
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Tabelle 3: Unfall- und Umweltkosten des Verkehrs 1998 Kostenkategorie
Straßenverkehr
Schienenverkehr
Luftverkehr
Unfälle
72511
664
211
Interne Kosten
57919
581
176
Externe Kosten
14592
83
35
Umweltkosten
19472
1444
945
Schadstoffemissionen
8411
220
162
Klimaschäden durch CO2
3849
152
434
Lärm
6245
1031
278
Schäden an Natur u. Landschaft, Boden- u. Wasserverschmutzung
967
41
71
Externe Unfall- und Umweltkosten
34064
1527
980
Quellen: UNITE; Deliverable 5 (Link et al. 2002) Seit den 1990er Jahren sind zahlreiche Studien zu den externen Kosten des Verkehrs erstellt worden. In Anbetracht der erheblichen methodischen Probleme verwundert es nicht, dass die Spannbreite der Ergebnisse beträchtlich ist. Tabelle 3 zeigt ausgewählte Ergebnisse des von der EU geförderten Projektes UNITE zu den Unfall- und Umweltkosten des Verkehrs für Deutschland. Die Tabelle enthält auch, gesondert ausgewiesen, den Teil der Unfallkosten, der von den Verkehrsteilnehmern selbst getragen bzw. über Versicherungen abgegolten wird, einschließlich eines aus einer Meta-Studie abgeleiteten Wertes für menschliches Leid, Kummer und Schmerz. Dieser letztgenannte Wert wird unter dem Aspekt, ob man solche Kategorien überhaupt ökonomisch bewerten kann, kontrovers diskutiert. Auf diese Diskussion soll hier nicht eingegangen werden. Die Aufnahme der Schätzung in Tabelle 3 soll vielmehr verdeutlichen, in welch hohem Umfang Verkehrsunfälle Kosten verursachen. Betrachtet man die Summe der externen Umwelt- und Unfallkosten, so wird die überragende Rolle des Straßenverkehrs mehr als deutlich. Mit dieser Betrachtung der externen Kosten schließt sich der Kreis der in diesem Beitrag diskutierten wirtschaftlichen Aspekte des Verkehrs, nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass bei der Bewertung der positiven Effekte von Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur die dadurch induzierten externen Kosten zu berücksichtigen sind, so wie dies in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen erfolgt.
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Fazit Ohne die Mobilität von Personen und Gütern ist eine moderne arbeitsteilige Volkswirtschaft nicht denkbar. Die Bedeutung des Verkehrssektors zeigt sich zum einen in den üblichen volkswirtschaftlichen Kennziffern wie z. B. dem Anteil des Verkehrssektors an den Beschäftigten, den Investitionen, dem Anlagevermögen und an der Bruttowertschöpfung der Wirtschaftsbereiche. Zum anderen führt die besondere Stellung des Verkehrs als Bindeglied zwischen den Produktionsstufen und den Faktor- und Absatzmärkten in der wirtschafts- und regionalpolitischen Diskussion immer wieder zur Forderung, Wirtschaftswachstum durch staatliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur anzukurbeln. Während die grundsätzliche Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für das Funktionieren einer Volkswirtschaft unstrittig ist, zeigen die in diesem Beitrag diskutierten makroökonomischen Erklärungsansätze, dass in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung der quantitative Beitrag von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen zum Wirtschaftswachstum zunächst überschätzt wurde. Es ist aber festzuhalten, dass ein (schwach) positiver Zusammenhang zwischen der Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Verkehrsinfrastruktur und wirtschaftlichem Output existiert, wobei allerdings bei der Ableitung wirtschaftspolitischer Schlussfolgerungen insbesondere die ungeklärte Kausalitätsbeziehung zwischen Verkehrsinfrastruktur und Wirtschaftswachstum zu beachten ist. Auf der mikroökonomischen Ebene haben Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur Produktivitätseffekte, die auf niedrigeren Transportkosten infolge von Infrastrukturmaßnahmen und den dadurch möglichen Einsparungen bei anderen Kostenarten basieren. Dies umfasst die Logistik-Kosten (insbesondere Wirkungen auf die Lagerhaltungskosten), die Produktionskosten aufgrund von Größenvorteilen und agglomeration economies sowie die Landkosten. Allerdings sind aggregierte gesamtwirtschaftliche Produktivitätseffekte mit derartigen mikroökonomischen Erklärungsansätzen nicht quantifizierbar. Den zweifellos positiven Wirkungen des Verkehrs stehen die negativen Folgewirkungen des Verkehrs (Umweltschäden, Lärm, Unfälle, Stau) gegenüber, die sich in den externen Kosten des Verkehrs niederschlagen und bei der Bewertung der positiven Effekte von Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu berücksichtigen sind.
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Quellen Aschauer, D. A. (1989): Is Public Expenditure Productive? In: Journal of Monetary Economics, Vol. 23, pp. 177-200. Elhance, A.p./T. R. Lakshmanan (1988): Infrastructure-Production System Dynamics in National and Regional Systems; An Econometric Study of the Indian Economy. In: Regional Science and Urban Economics, 18, pp. 513-531. Hickling Corporation (1994): Measuring the Relationship between Freight Transportation and Industry Productivity. National Cooperative Research Program, Transportation Research Board, Washington D.C. Hickling, Lewis/Brod Inc. (1995): Measuring the Relationship between Freight Transportation and Industry Productivity. Final report, NCHRP 2-17(4), Transportation Research Board, National Research Council, Washington D.C. Johansson, B. (1993): Infrastructure, Accessibility and Economic Growth. In: International Journal of Transport Economics XX,2, pp. 131-156. Keeler, T. E./J. S. Ying (1988): Measuring the Benefits of a Large Public Investment; The Case of the U.S. Federal Aid Highway System. In: Journal of Public Economics, Vol 36, pp. 69-85. Krugman, Paul (1993): On the Relationship between Trade Theory and Location Theory. In: Review of International Economics (I) 2, pp. 110-122. McKinnon, Alan C./Allan Woodburn (1996): Logistical Restructuring and Road Freight Traffic Growth: An Empirical Assessment. In: Transportation, 23, pp. 141-161. Nadiri, Ishaq/T. P. Mamuneas (1996): Constitution of Highway Capital to Industry and National Productivity Groups. Report prepared for FHWA, Office of Policy Development. Shepard, R. W. (1970): Theory of Cost and Production Functions, Princeton, Princeton University Press.
Weiterführende Literatur Bertenrath, Roman/Michael Thöne/Christoph Walther (2006): Wachstumswirksamkeit von Verkehrsinvestitionen in Deutschland. FiFo-Berichte Nr. 7, Köln. Kalyvitis, S./P. Kalaitidakis (2002): Financing “New” Investment and/or Maintenance in Public Capital for Long-run Growth? The Canadian Experience. Athens University of Economics and Business, Athen. Lakshmanan, T. R./William P. Anderson (2002): Transportation Infrastructure, Freight Services Sector and Economic Growth. White Paper prepared for the U.S. Department of Transportation Federal Highway Administration, Boston. Link, Heike/Louise Helen Stewart/Claus Doll/Peter Bickel/Stephan Schmid/Rainer Friedrich/Roland Krüger/Bert Droste-Franke/Wolfgang Krewitz (2002): The Pilot Account for Germany, Annex 1 to Deliverable 5 des UNITE (Unification of Accounts and Marginal Costs for Transport Efficiency) Projektes, gefördert durch die EU im Rahmen des Fifth Framework Programme, Berlin.
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Shirley, Chad/Clifford Winston (2001): An Econometric Model of the Effects of Highway Infrastructure Investment on Inventory Behavior, Project Status Report to FHWA, Washington.
Verkehr und Verkehrswissenschaft
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Verkehr und Verkehrswissenschaft Verkehrspolitische Herausforderungen aus Sicht der Verkehrswissenschaft
Christian Holz-Rau Einführung Der Verkehrssektor war aufgrund hoher Mittelbindung, langer Nutzungsdauer der Infrastruktur und externer Effekte einer der ersten Bereiche, der zum Gegenstand öffentlicher Planung wurde. Mit fortschreitender Motorisierung beschreibt Mäcke im Jahr 1964 die Aufgabe der Verkehrsplanung dann im Wesentlichen als eine Dimensionierungsaufgabe des Straßennetzes (vgl. Mäcke 1964). Gestützt auf eine geeignete Methodik sollten das Aufkommen des Kraftfahrzeugverkehrs prognostiziert und die Straßeninfrastruktur daraufhin dimensioniert werden. Über die Bewältigung des zunehmenden Kfz-Verkehrs durch Infrastrukturausbau bestand weitgehender gesellschaftlicher Konsens. Der Generalverkehrsplan als meist kommunales Instrument umfasste im Wesentlichen Prognoserechnungen und Vorschläge für den Ausbau der Straßennetze. Experten (kaum Expertinnen) erarbeiteten die „richtige Lösung“. Die politische Beschlussfassung dieser Pläne erfolgte in der Regel mit breiter Zustimmung. Dieses Planungsverständnis wurde aus späterer Sicht als Anpassungsplanung (Anpassung der Infrastruktur an den prognostizierten Bedarf) bezeichnet. Mit dem immer wieder stärker als erwartet zunehmenden Kfz-Verkehr und seinen deutlicher werdenden negativen Folgen vor allem für die städtische Lebensqualität mehrten sich in den 1970er Jahren die kritischen Stimmen. Gefordert wurden eine stärkere Berücksichtigung von Schutzinteressen und – anders als im Verständnis der Anpassungsplanung – die Einflussnahme auf die Entwicklung des Verkehrs selbst. Der Konsens über den Infrastrukturausbau ging in den 1970er Jahren wohl unwiederbringlich verloren, auch wenn die Infrastrukturplanungen des Bundes und der meisten Länder im Grundsatz nach wie vor dem Schema von Prognose und Ausbau folgten und folgen. Seit den 1980er Jahren werden unter dem Begriff der Verkehrsentwicklungsplanung, eng mit dem Begriff einer integrierten Verkehrsplanung verbunden, eine gemeinsame Betrachtung aller Verkehrsträger, also auch des Fuß- und Radverkehrs, und die übergreifende Betrachtung von Stadtentwicklung, Umwelt
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und Verkehr verstanden.1 Im Begriff der Verkehrsentwicklungsplanung kommt dabei auch der Anspruch zum Ausdruck, den Verkehr zielgerichtet beeinflussen, entwickeln zu wollen. Damit steigerte sich die Komplexität der fachwissenschaftlichen Bearbeitung – von der status-quo-Prognose der Entwicklungen eines Teilsektors (PkwVerkehr) und der Dimensionierung der Infrastruktur hin zur zielgerichteten Entwicklung des Gesamtsystems, in dem Schutzinteressen von Mensch und Umwelt eine immer größere Rolle spielen. Im Sinne der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit lassen sich diese Entwicklungsziele für den Verkehrsbereich etwa wie folgt formulieren: Soziale Dimension Erreichbarkeit und damit Aktivitätsmöglichkeiten auch für sozial Schwächere und für Mobilitätsbeeinträchtigte sichern oder verbessern, Verkehrssicherheit erhöhen, gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Verkehr und ungleiche Verteilung von Belastungswirkungen vermeiden Ökonomische Dimension Funktionsfähigkeit des Planungsraumes sichern, z.B. wirtschaftlichen Austausch ermöglichen, städtische Lagen aufwerten… Verkehrssektor zur Förderung der Volkswirtschaft entwickeln, Verkehrsangebote auch für zukünftige Generationen finanzierbar gestalten und vorhandene Infrastrukturen erhalten, einseitige Abhängigkeiten von einem Verkehrssystem (z. B. wegen peak oil) vermeiden. Ökologische Dimension Energieverbrauch und Schadstoffbelastungen reduzieren Anteil fossiler Energieträger senken Inanspruchnahme zusätzlicher Flächen vermeiden Unzerschnittene Landschaften erhalten
1
So zum Beispiel im Runderlass des Ministeriums für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr (MSWV) Nordrhein-Westfalen: „Grundsätze zur besseren Integration von Stadterneuerung und Verkehr“. Düsseldorf 1988, dem in einzelnen Kommunen bereits eine innovative Praxis vorausging.
Verkehr und Verkehrswissenschaft
Abbildung 1:
Integrierte Planung – ein Überblick
Quelle: Eigene Darstellung
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Dieses mehrdimensionale Zielsystem weist zahlreiche Interessen- und Zielkonflikte auf. So ist die Diskussion über Verkehrskonzepte auf allen räumlichen Ebenen Gegenstand politischer Konflikte, obwohl sich die grundsätzlichen verkehrspolitischen Zielformulierungen der Parteiprogramme kaum voneinander unterscheiden. Die folgenden Ausführungen erläutern zunächst aus Sicht des Verfassers den Begriff einer integrierten Verkehrsplanung und veranschaulichen diese anhand dreier Leitsätze. Einige empirische Befunde dienen als Abgrenzung zu einer „wohlmeinenden“, aber nicht empirisch basierten Planung. Die anschließenden exemplarischen Bausteine einer integrierten Planung von Raum und Verkehr verdeutlichen ohne Anspruch auf Vollständigkeit das Maßnahmenspektrum. Die Schlussbemerkungen fokussieren dann einige Konfliktfelder. Integrierte Verkehrsplanung Rückblickend wurden in den Begriff „Integrierte Verkehrsplanung“ seit den 1970er Jahren immer mehr Ebenen, Strategien sowie Handlungs- und Politikfelder eingebunden, die in Abbildung 1 gezeigt und in den folgenden Abschnitten genauer erläutert werden. Ebenen der Integration Integrierte Verkehrsplanung erfordert ein komplexes Verständnis der Verkehrsentwicklung und darauf gestützt vielfältige Ebenen der Kooperation:
Die „Verkehrsintegration“ als Basis betrachtet alle Verkehrsmittel und Verkehrsarten gemeinsam. Die Grundlage bildet die Erkenntnis, dass vor allem städtische Verkehrssysteme nur dann funktionsfähig bleiben, wenn sich die Verkehrsbelastung verteilt. Ergänzend wurde immer deutlicher, dass wesentliche Impulse der Verkehrsentwicklung aus dem Güter- und Wirtschaftsverkehr stammen. Unter „sektoraler Integration“ wird die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachdisziplinen, also eine interdisziplinäre Raum- und Verkehrsplanung verstanden. Sie begründet sich aus einem komplexen Ursachen- und Folgenverständnis der Verkehrsentwicklung, nach dem die räumliche Entwicklung sowohl die Verkehrsentwicklung prägt, als auch von ihr geprägt wird. Die „vertikale Integration“ kennzeichnet die bei vielen Aufgaben notwendige Kooperation zwischen den über- und untergeordneten Planungsebenen,
Verkehr und Verkehrswissenschaft
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die „horizontale Integration“ bezeichnet die Kooperation zwischen benachbarten räumlichen Einheiten. Insbesondere die Zunahme regionaler Verkehrsverflechtungen erfordert eine Integration der kommunalen und regionalen Betrachtung sowie die Einbeziehung der Bundesebene, da dieser expandierende Regionalverkehr in der Regel die Bundesfernstraßen nutzt. Als „Integration der Akteursebenen“ ist die Einbindung der politischen Ebene ebenso wie der Betroffenen außerhalb des Planungsbereichs zu verstehen. Hier steht in einem zunehmend konfliktträchtigen Bereich die erfolgreiche Umsetzung von Konzepten im Vordergrund, die nach einer besseren Vermittlung, aber auch nach einer gemeinsamen Lösungssuche verlangt.
Strategische Ziele Diese Schritte der Integration sind mit strategischen Zielen verbunden:
Im Gegensatz zur auf die Bewältigung der Kfz-Verkehrsmengen und auf die Beschleunigung des Kraftfahrzeugverkehrs fokussierten sektoralen KfzVerkehrsplanung bezieht eine integrierte Verkehrsplanung die anderen Verkehrsarten ebenso wie weitere Verträglichkeitsaspekte (Lärm, Stadtraumqualität…) in die Betrachtung ein. Die verträgliche Abwicklung des Verkehrs bildet den ersten und bisher auch erfolgreichsten strategischen Ansatz einer integrierten Verkehrsplanung und Verkehrspolitik. Im Gegensatz zur an der Bewältigung des zunehmenden Kraftfahrzeugverkehrs orientierten sektoralen Kfz-Verkehrsplanung geht eine integrierte Verkehrsplanung von einer teilweisen Konkurrenz zwischen den Verkehrsarten aus und bemüht sich im zweiten strategischen Ansatz, der Verkehrsverlagerung, um höhere Anteile am Verkehrsaufkommen für den Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs (MIV). In einigen Räumen oder auf spezifischen Relationen gelingt eine solche Verlagerung. In der vor allem regionalen und überregionalen Gesamtbetrachtung sind jedoch die Kapazitäten der MIV-Netze kontinuierlich erweitert worden. Der MIV hat hier zu Lasten verträglicherer Verkehrsmittel an Bedeutung gewonnen. Damit verbunden ist die Ausdehnung der Aktionsräume als zentralem Trend. Die steigende Motorisierung und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur haben die durchschnittliche Geschwindigkeit im Personenverkehr immer weiter erhöht. Bei im Durchschnitt etwa konstanten Zeitaufwendungen für Ortsveränderungen werden größere Entfernungen zurückgelegt. Die Strategie der Verkehrsvermeidung, bemüht sich um eine Reduzierung der zunehmenden und vor allem mit dem MIV bewältigten Distanzen. Hier zeigt die Gesamtbetrach-
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tung keine Trendumkehr. Entsprechende Anzeichen im Personenverkehr sind eher auf demografische und ökonomische Ursachen zurückzuführen als auf entsprechende Interventionen (vgl. Chlond et al. 2002). Die zunehmende private Motorisierung wurde lange Zeit als Garant für höhere Mobilität und Erreichbarkeit gesehen. Aber auch die Kritik einer „erzwungenen Mobilität“ und den Einschränkungen der Erreichbarkeit, die Menschen ohne eigenen Pkw erfahren, reicht bis in die 1970er Jahre zurück. Die Entwicklung von Raum und Verkehr der letzten Jahrzehnte ist eine Entwicklung von Raum und Autoverkehr. Für diejenigen, die über ein Auto verfügen, bedeutet dies hohe Mobilität und gute Erreichbarkeit. Für diejenigen dagegen, die kein Auto (mehr) besitzen oder nicht (mehr) Auto fahren können, kann dies zu Einschränkungen der Erreichbarkeit und Aktivitätsmöglichkeiten führen. Daraus folgt in den letzten Jahren eine verstärkte Diskussion über Fragen sozialer Exklusion, die sich teilweise in verstärkten Anforderungen an den ÖPNV zur Sicherung von Erreichbarkeiten niederschlagen (vgl. den Beitrag von Daubitz in diesem Band). Entsprechend bildet (nicht nur) vor dem Hintergrund des demografischen Wandels die Sicherung von Erreichbarkeit die vierte strategische Ebene einer integrierten Verkehrsplanung.
Trotz aller gegenteiligen Bemühungen dominieren Tendenzen der Dispersion weiterhin die räumliche Entwicklung, und auch in Bestandsgebieten weiten sich die Aktionsräume weiter aus. Umgekehrt betrachtet ermöglichen große Teile des raumstrukturellen Bestandes einen Alltag mit einer stärkeren Orientierung am Nahraum und deutlich weniger Autoverkehr. Eine entsprechende Neuorientierung der individuellen Handlungsmuster im Verkehr (Fahrweise, Aktionsräume und Verkehrsmittelnutzung) im Bestand anzuregen, ist eine der zentralen Aufgaben einer integrierten Verkehrsplanung und Verkehrspolitik. Handlungs- und Politikfelder Die Verkehrsstrukturen in einer Region oder einer Stadt (zurückgelegte Distanzen, Verkehrsmittelnutzung, Verkehrsunfälle…) hängen auch von den Politikund Planungsansätzen ab, die dort verfolgt werden. Es gibt eine Vielzahl einander ergänzender Handlungs- und Politikfelder, die erst gemeinsam einen integrierten Handlungsansatz bilden.
Die Infrastrukturplanung hat lange Zeit die Verkehrsplanung dominiert. Auch heute spielen Infrastrukturentscheidungen auf allen räumlichen Ebenen eine wesentliche Rolle. Dabei sollte allerdings die Bestandserhaltung
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und Qualifizierung des Bestandes gegenüber Neu- und Ausbaumaßnahmen bevorzugt werden. Neben der Verkehrsinfrastruktur sind andere Bereiche der Stadt- und Regionalentwicklung von zentraler Bedeutung. Standortplanungen sollten im Hinblick auf die bestehenden Netzstrukturen und deren Kapazitäten durchgeführt werden. Dabei spielen Nutzungsmischung und verträgliche Nutzungsnachbarschaften eine ebenso wichtige Rolle wie Dichte und städtebauliche Qualitäten. Technische Konzepte sind in vielen Bereichen wesentlicher Bestandteil der Verkehrsinfrastruktur und ermöglichen die „Kommunikation“ zwischen Infrastruktur, Fahrzeug sowie den Verkehrsteilnehmern. Ein besonderes Augenmerk gilt hier der Kompatibilität dieser häufig privatwirtschaftlichen Angebote mit planerischen und politischen Zielen, vor allem mit dem Bemühen um eine verträglichere Abwicklung des Verkehrs oder um eine Beschleunigung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Gleichermaßen gehören zu den technischen Konzepten Verbesserungen der Fahrzeuge hinsichtlich Sparsamkeit, Sicherheit und Emissionen. Auch Regelungen in „verkehrsfernen Bereichen“ bilden einen wichtigen Rahmen für die Standort- und Verkehrsstrukturen, zum Beispiel die Zumutbarkeitsregeln der Arbeitsmarktpolitik oder der Wohnungsbauförderung. Derartige Regelungen sollten auch auf ihre Verkehrswirksamkeit hin überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Die Verteilung öffentlicher Mittel zum Beispiel auf die Verkehrsträger, auf den Neu- und Ausbau oder auf den Bestand der Infrastruktur spielt eine wichtige Rolle für die Qualität der Verkehrsangebote. Gleichzeitig beeinflussen die Nutzerkosten von der Mineralölsteuer bis zur kommunalen Parkraumbewirtschaftung die Verkehrsnachfrage. Städtische und regionale Strukturen einschließlich der Verkehrsinfrastruktur bilden einen wichtigen Rahmen der Verkehrsnachfrage. Sie formulieren den Handlungsspielraum, der im Alltag bleibt. Organisatorische Konzepte von der betrieblichen Optimierung des ÖPNV-Angebots bis hin zum betrieblichen Mobilitätsmanagement ergänzen oder füllen diesen Rahmen mit teils erheblichen Auswirkungen auf die Verkehrsnachfrage. Das alltägliche Verkehrshandeln ist geprägt durch das individuelle und subjektive Bild der Stadtstruktur und der Verkehrsbedingungen (vgl. den Beitrag von Bamberg in diesem Band). Information und Bewusstseinsbildung, z.B. Informationen über Standortbedingungen und die Diskussion von Standortansprüchen, Informationen über die Verkehrsangebote und die Verkehrsauswirkungen, können die Strukturen der Verkehrsnachfrage ebenfalls beeinflussen.
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Christian Holz-Rau
Überlegungen zu einer integrierten Verkehrsplanung erfolgen aus einem spezifischen Blickwinkel auf die sozialen, ökonomischen und ökologischen Aufgaben einer nachhaltigen Entwicklung. Gesucht ist ein planerisch und politisch umfassender Ansatz, in dem der Verkehr nur eine von zahlreichen Facetten darstellt. Eine integrierte Planung bedeutet damit, je nach Problemstellung die richtigen Kooperationspartner zu finden, Kooperationsebenen zu bilden und Kooperationsverfahren zu entwickeln. In einer hoch vernetzten Gesellschaft können lokale oder sektorale Probleme nicht mit lokalen oder sektoralen Konzepten gelöst werden. Demografischer Wandel, Klimaproblematik sowie das Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Räumen machen die Aufgabe für Politik und Planung immer komplexer. Leitsätze einer integrierten Verkehrsplanung Im Rahmen des Projekts „Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung“ wurden drei Leitsätze formuliert, um zentrale Aspekte einer nachhaltigen Raum- und Verkehrsplanung für Öffentlichkeit und Politik zu veranschaulichen (vgl. BMVBW 2005). (1) Erreichbarkeit und Sicherheit sind wichtiger als hohe Geschwindigkeit. Verkehr ist Mittel zum Zweck. Personenverkehr leitet sich aus den alltagsnotwendigen Aktivitäten ab, aus der Notwendigkeit einzukaufen, zu arbeiten, zu lernen etc. Eine integrierte Verkehrsplanung sollte die Erreichbarkeit der entsprechenden Geschäfte, Arbeitsplätze, Schulen, ärztlichen Versorgung etc. gewährleisten. Dabei hängt die Erreichbarkeit von der Verteilung der Gelegenheiten im Raum, den Verkehrsangeboten, den individuellen Verkehrskompetenzen und von ihrer jeweiligen Passung ab. Sicherheit, Zuverlässigkeit und barrierefreie Verkehrsangebote sind wesentliche Grundlagen der Erreichbarkeit. (2) Hohe Qualität des Bestandes ist wichtiger als Neu- und Ausbau. Die Verkehrsinfrastruktur erfordert erhebliche Mittel für den Unterhalt und für den Betrieb. Jeder Neu- und Ausbau führt zu Folgekosten. Die hierfür erforderlichen Mittel stehen weder auf der Ebene der Kommunen, noch von Bund und Ländern zur Verfügung.2 Die erforderlichen Instandhaltungskosten werden weiter zunehmen und müssen zukünftig, unabhängig von der Art der Infrastrukturfinanzierung, auf immer weniger Schultern verteilt werden. Da die Bestandsnetze in der Regel eine höhere Verkehrsbedeutung haben als die nach wie vor geplanten Neu- und Aus2
Befragung kommunaler Verkehrsplaner in deutschen Gemeinden ab 25.000 Einwohnern (409 Gemeinden), Vollerhebung mit einem Rücklauf von gut 30% (vgl. Holz-Rau/Jansen 2006).
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baumaßnahmen ergibt sich ein eindeutiger Vorrang für die Instandhaltung. Neuund Ausbauvorhaben sollten nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn die Bestandserhaltung vollständig, unter Umständen auch durch eine Reduzierung der Bestandsnetze, gesichert ist. Der zurzeit fortgesetzte Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, egal ob Schiene oder Straße, erinnert dagegen bildlich gesprochen an einen Eigenheimbesitzer, der schon immer einen Wintergarten haben wollte und dafür ein undichtes Dach in Kauf nimmt. (3) Nachhaltigkeit erfordert Konsequenz und Konsistenz. Nach wie vor erhöhen zahlreiche Infrastrukturerweiterungen vor allem für den Fernverkehr die Raumdurchlässigkeit, häufig als paralleler Ausbau von Schiene und Straße, oder führen Standortplanungen zu weiteren Verkehrsabhängigkeiten. Derartige Entscheidungen der öffentlichen Hand fördern verkehrsaufwändige, MIV-orientierte Standortentscheidungen von privaten Haushalten, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Vor allem besteht ein Widerspruch zwischen den Bemühungen in zahlreichen Gemeinden zur Reduzierung des MIV durch Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung und den Ausbauplänen von Verkehrswegen für den Fernverkehr durch Bund und Länder, die alle in den Gemeinden beginnen und enden. Dabei sind es gerade die regionalen und überregionalen Verkehrsverflechtungen, die aufgrund der größeren Entfernungen in besonderem Maße zu den klimawirksamen Emissionen beitragen. Nachhaltigkeit im Verkehr heißt auch, mit den in Deutschland hervorragend ausgebauten (allerdings immer schlechter instandgehaltenen) Verkehrsangeboten auszukommen. Nachhaltige Entwicklung und eine fossil basierte Zunahme der zurückgelegten Distanzen sind nicht vereinbar. Ein Umschwenken allein durch neue Technik bleibt eine Illusion. Nur ein integriertes, ein interdisziplinäres Planungs- und Politikverständnis kann hierzu Wege weisen, ohne dass dies bereits eine Erfolgsgarantie wäre. Von zentraler Bedeutung wird die Suche nach Kompromissen, die nicht auf einer Leugnung, sondern auf einer offenen Diskussion von Ziel- und Interessenkonflikten ohne deren politische Instrumentalisierung beruhen. Raum und Verkehr integriert planen Die Hoheit in Fragen der kommunalen Entwicklung liegt überwiegend bei den Kommunen. Hinsichtlich der besonders leistungsfähigen Verkehrsnetze, die im Rahmen der regionalen Entwicklung eine verkehrsinduzierende Wirkung entfalten (können), liegen die Kompetenzen dagegen auf räumlich höherer Ebene, in der Regel auf der Ebene von Bund und Ländern. Der Schienenpersonennahver-
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Christian Holz-Rau
kehr (SPNV) ist seit der Regionalisierung meist auf regionaler Ebene verankert. Ob diese Zuständigkeitsregelungen in jedem Fall die Günstigsten sind, wird je nach Perspektive unterschiedlich beantwortet:
Verkehrserzeugende Standortentwicklungen werden aus übergemeindlicher Perspektive häufig als kommunale Kirchturmpolitik kritisiert. Man sollte dabei aber nicht übersehen, dass Kommunen hierin häufig ihre einzige Entwicklungsperspektive sehen und dass auf übergeordneter Ebene regionale und überregionale Kapazitäten vor allem der Straßennetze entwickelt wurden, in die sich viele kritisierte Standortentwicklungen durchaus logisch einpassen. Es kann nicht gelingen, die Verkehrsinfrastruktur (auf Bundesund Landesebene) zu erweitern und gleichzeitig die hierdurch ermöglichten und aus Nachfragesicht attraktiven Siedlungsentwicklungen auf kommunaler Ebene zu verhindern. Verkehrsbelastungen vor allem in kleineren Kommunen sind erheblich durch regionale und überregionale Verkehrsbeziehungen geprägt. Für überörtliche Straßen wird den Kommunen auch auf ihrem Gemeindegebiet meist nur ein geringes Mitwirkungsrecht zugestanden. Vorstellungen einer verträglicheren Abwicklung des Verkehrs als Möglichkeit zur Verbesserung der Wohn-, Einkaufs- und Aufenthaltssituation in zentralen Ortslagen lassen sich an solchen Straßen nur schwer oder gar nicht durchsetzen. Eine regionale Zuständigkeit für den SPNV auf Basis kommunaler Kooperationen bildet ein in vielen Regionen bereits langjährig erfolgreiches Modell. In vielen Regionen konnte seitdem der SPNV deutlich verbessert werden. An diese positiven Erfahrungen regionaler Kooperation können und sollten andere Planungsfelder anknüpfen.
Unterschiedliche Zuständigkeiten sind immer mit Konflikten verbunden. Sie unterstreichen die Notwendigkeit zu vertrauensvoller Kooperation. Erfolge regionaler Kooperationen zum Beispiel in den Bereichen der Ver- und Entsorgung oder des ÖPNV können als Vorbilder dienen. Doch eine regionale ÖPNV-Politik ist wichtig, aber nicht genug (vgl. FGSV 2006). Die Frage, die es vorrangig zu beantworten gilt, lautet also nicht: „Wie sollen politische und planerische Zuständigkeiten geregelt werden?“, sondern: „Wie lässt sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gestalten?“ Eine solche vertrauensvolle Kooperation beschränkt sich nicht auf die räumlichen Ebenen und Nachbarschaften, sondern bezieht sich auch auf unterschiedliche Disziplinen, auf die Einbindung von Politik, Bürgerschaft und weiterer Akteure. Hierzu werden drei Aspekte exemplarisch herausgehoben: Die Wechselwirkungen von Raumstrukturen und Verkehr, die Themen Barrierefreiheit und Erreichbarkeitssicherung sowie Finanzierbarkeit des Verkehrsangebots.
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Zentrale Tendenzen der Raumentwicklung Die regionale Entwicklung der letzten Jahrzehnte lässt sich vorrangig durch die Stichworte Entdichtung, Entmischung und Dispersion beschreiben: Entdichtung Steigende Wohnflächen und eine Zunahme der für gewerbliche Nutzungen in Anspruch genommen Flächen kennzeichnen einen wichtigen Aspekt der Raumentwicklung. Teilweise sind die steigenden Flächenansprüche demografisch bedingt (ältere Einpersonenhaushalte auf größeren Wohnflächen aus der Familienphase), teilweise wohlstandsbedingt und im gewerblichen Bereich durch spezifische Produktions- und Distributionsstrukturen verursacht. Dabei dehnt sich nicht nur die Fläche der Städte aus. Teilweise wandern die entsprechenden Nutzungen aus der Stadt an die Ränder von Gemeinden im Umland. Höhere Flächenansprüche lassen sich nur in regionalem Maßstab realisieren und drücken sich nicht zuletzt in der Zersiedlung des Umlandes der Kernstädte aus. Die Distanzen innerhalb der Siedlungsfläche werden größer und die Verflechtungen zwischen den Städten und Umlandgemeinden gewinnen an Bedeutung. Zu Fuß lassen sich immer weniger Wege bewältigen. Auch für den ÖPNV sind geringere Dichten wegen des geringeren Nachfragepotenzials je Haltestelleneinzugsbereich nachteilig. Je geringer die Dichte umso höher ist die Abhängigkeit vom Pkw. Umgekehrt trägt auch der Pkw selbst zur Entdichtung bei, durch seine eigenen Flächenansprüche und durch seine Auswirkungen auf die Siedlungsentwicklung. Entmischung Die Unverträglichkeit von Nutzungen gab einen wesentlichen Anstoß zu spezifischen Nutzungszuweisungen für Flächen (Wohn- und Gewerbegebiete). Dabei werden auch verträgliche Nutzungen getrennt; ursprünglich verträgliche Nutzungen lassen sich aufgrund von ökonomisch bedingten Maßstabssprüngen immer schwerer in Wohngebiete integrieren. In einer solchen Konkurrenzsituation ziehen sich auch etablierte Nutzungen, vor allem der Einzelhandel, aus den integrierten Lagen der Bestandsgebiete zurück bzw. lassen sich in Neubaugebieten in der planerisch gewünschten Kleinteiligkeit nicht mehr ansiedeln. So setzt sich in für Mischnutzung vorgesehenen Gebieten gegenüber der ursprünglichen Planung häufig eine einzelne Nutzung durch. Dies betrifft in Randlagen eher die Wohnnutzung, in zentralen Lagen eher Dienstleistungen und Büros.
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Die Trennung der Funktionen führt zu längeren Distanzen. Gerade im Hinblick auf Wohnen und Einkaufen ist dies für Personen ohne Pkw oder Menschen mit Mobilitätseinschränkungen als Erreichbarkeitsdefizit besonders dann spürbar, wenn entsprechende Mobilitätseinschränkungen neu auftreten, wenn der Pkw abgeschafft werden muss oder das bisher nahe gelegene Geschäft schließt. Bei anderen Aktivitäten, zum Beispiel im Beruf, wird diese Verkehrsabhängigkeit in Pkw-orientierten Lebensphasen meist als Selbstverständlichkeit akzeptiert oder, eher selten, durch Entscheidungen für entsprechende Lagen, zum Beispiel in der Nähe des Arbeitsplatzes, kompensiert. Dispersion Gerade die regionale Siedlungsentwicklung orientiert sich an den Verkehrsnetzen. Gewerbestandorte siedeln sich bevorzugt an Knoten hochrangiger Straßen an. Auch die Nachfrage nach Wohnbauflächen stützt sich auf die weitgehend ubiquitäre Verfügbarkeit des Straßennetzes. Ein geringwertiges ÖPNV-Angebot wird häufig nicht als wesentlicher Standortnachteil für das Wohnen erkannt. Das Bodenpreisgefälle von den Achsen in die Achsenzwischenräume zieht viele Wohnungsoder Grundstückssuchende an Standorte mit schlechter ÖPNV-Bedienung und häufig mit Defiziten in anderen Bereichen der Infrastruktur. Auch hier ist die Verkehrsabhängigkeit, meist MIV-Abhängigkeit, für viele selbstverständlich. Dies führt verbunden mit Aktivitätsgelegenheiten in den Zentren zu radialen Verflechtungen ohne attraktives ÖPNV-Angebot sowie verbunden mit Aktivitätsgelegenheiten an anderen Standorten im Umland, selbst wenn diese an den Achsen liegen, zu dispersen Verflechtungen, für die ebenfalls kein attraktiver ÖPNV zur Verfügung steht. Integrierte Planung und ihre Grenzen Die hier beschriebenen Prozesse sind vielfältig und häufig durch die Instrumente klassischer Planung schwer zu beeinflussen. Ihnen liegt aber eine Vielzahl bewusster Entscheidungen zugrunde: Planungsentscheidungen der öffentlichen Hand, privater Haushalte und von Unternehmen:
Jeder realisierten Standortentscheidung und jeder Veränderung der Verkehrsnetze liegt in Deutschland eine politische Entscheidung zum Bau oder zur Bebaubarkeit zugrunde. Jede private Standortentscheidung erfolgt im Rahmen der gegebenen Standort- und Kostenstrukturen und bildet eine vermutlich nicht immer dauerhaft
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vernünftige, aber bewusste Entscheidung für einen verkehrssparsamen oder verkehrsaufwändigen Standort, für einen Standort mit oder ohne ÖPNV. Jede unternehmerische Standortentscheidung erfolgt im gleichen Rahmen nach den Kalkülen des jeweiligen Unternehmens in Abwägung der erkannten Vor- und Nachteile.
Aufgrund lokal und sektoral unterschiedlicher Zielsysteme und Kräfteverhältnisse drücken sich diese teils öffentlichen, teils privaten Entscheidungen bei insgesamt geringen Raumwiderständen (vor allem Zeit und Kosten) in verkehrsabhängigen und verkehrsaufwändigen Entwicklungen aus. Infrastruktur gestalten – Barrierefreiheit integriert planen Einer der zentralen Aspekte des Leitsatzes „Erreichbarkeit ist wichtiger als hohe Geschwindigkeit“ ist das Thema Barrierefreiheit. Für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ist eine barrierefreie Gestaltung der Umwelt eine wichtige, teilweise eine unverzichtbare Voraussetzung selbstständiger Alltagsbewältigung. Entsprechend ist Barrierefreiheit der Städte, Dörfer und Regionen eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben für die Planung und Politik. Dieses Beispiel soll verdeutlichen: Auch für eine Aufgabe wie die Barrierefreiheit, die auf den ersten Blick als sektorale Detailplanung erscheinen mag, sind die Prinzipien einer integrierten (Verkehrs-)Planung relevant. Barrierefreiheit als regionale Aufgabe Die Grundlagen barrierefreier Gestaltung sind in Hinweisen und Normen niedergelegt (vgl. HSV 2006). Ihre fachgerechte Anwendung erfordert eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Thematik. Dies kann als eine zusätzliche Aufgabe in den kommunalen Verwaltungen nur schwer geleistet werden. Barrierefreiheit kann daher einen Anknüpfungspunkt für regionale Kooperationen bilden. Die kooperierenden Kommunen profitieren von dem für alle Kooperationspartner verfügbaren Sachverstand. Auch viele in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen sind über ihre Stadt hinaus unterwegs. Dabei werden sie bisweilen mit unterschiedlichen Realisierungsvarianten von Barrierefreiheit konfrontiert, selbst wenn diese regelkonform sind (was häufig nicht der Fall ist und manchmal auch nicht der Fall sein kann). Da vertraute Lösungen die Nutzbarkeit erleichtern, ist Barrierefreiheit in Form regional einheitlicher Standards auch für die in ihrer Mobilität eingeschränkten Personen vorteilhaft.
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Barrierefreiheit in regionaler Kooperation verbindet und verdeutlicht: Kooperationen können Vorteile für die Bevölkerung genauso wie für die öffentliche Hand schaffen. Barrierefreiheit als interdisziplinäre Aufgabe Die barrierefreie Umgestaltung der Verkehrsnetze ist eine langfristige Aufgabe. Dabei wird es nicht genügen, eine allmähliche Umsetzung im Zuge von ohnehin anfallenden Erneuerungsarbeiten in den Verkehrsnetzen vorzunehmen. Dies ist zwar grundsätzlich sinnvoll, führt aber erst nach sehr langer Frist zu einem zusammenhängenden Netz. Vielmehr sind grundsätzliche Netzüberlegungen, wie auch bei anderen verkehrsplanerischen Aufgaben, voranzustellen. Ein barrierefreies Grundnetz mit entsprechender Priorität in der Realisierung sollte dazu gemeinsam mit anderen Disziplinen definiert werden. Die wichtigsten Kooperationspartner stammen hier aus dem Sozial- und Gesundheitswesen, sollten aber auch die Betroffenen selbst oder deren Vertreter einbeziehen. Die Festlegung eines solchen (Grund-)Netzes wirkt sich dann auf andere Bereiche der (Verkehrs-)Planung aus, zum Beispiel:
Ein solches (Grund-)Netz als Einstieg stellt nicht nur die barrierefreie Erreichbarkeit der wichtigsten Ziele sicher, sondern dient umgekehrt auch bei Standortentscheidungen, beispielsweise für Einrichtungen des betreuten Wohnens, als räumlicher Orientierungsrahmen. Für dieses (Grund-)Netz werden hohe Standards für den Zustand des Bestandes, insbesondere der Gehwege formuliert. Diese müssen verlässlich eingehalten werden, damit sie angstfrei benutzt werden können und Stürze vermieden werden. Das (Grund-)Netz Barrierefreiheit erschließt wichtige Haltepunkte des ÖPNV. Diese Haltepunkte sind vorrangig barrierefrei umzugestalten. In der Regel sollten die Geschwindigkeiten im Innerortsbereich entlang dieses Grundnetzes Tempo 30 nicht überschreiten, da die Verkehrsteilnahme mobilitätseingeschränkter Personen in der Regel mit längeren Reaktionszeiten oder langsameren Bewegungsabläufen und größerer Verletzlichkeit verbunden ist. Die Anwendung der Regelwerke zur Barrierefreiheit kann einen deutlichen Eingriff in die Straßenraumgestaltung darstellen. Dies kann insbesondere in denkmalgeschützten Bereichen zu Konflikten führen. In diesen Fällen sollten Vorschläge, die den Ansprüchen von Denkmalschutz und Stadtgestaltung entsprechen, gemeinsam entwickelt werden.
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Barrierefreiheit als verkehrsträgerübergreifende Aufgabe Barrierefreiheit betrifft den gesamten Weg. Eine Barriere auf dem Weg zum Bus macht die barrierefreie Gestaltung des Bussystems wertlos. Ein barrierefreies ÖPNV-Angebot setzt also barrierefreie Zu- und Abgangswege ebenso voraus wie die barrierefreie Gestaltung der Fahrzeuge, Haltestellen, Umsteigepunkte oder Park&Ride-Anlagen. Konfliktträchtig ist insbesondere die Gestaltung von Straßenräumen mit geringen Breiten. Die Mindestmaße einer barrierefreien Gestaltung, die es beispielsweise zulassen, dass sich ein Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen begegnen können, werden in den Bestandsnetzen häufig unterschritten. Eine Verbreiterung der Gehwege kann dann die Reduzierung der Flächen für den fließenden oder ruhenden Kraftfahrzeugverkehr erfordern und sollte vor Ansprüchen des fließenden Verkehrs in der Regel Vorrang haben. In der Praxis sind häufig unterschiedliche Personen mit den hier tangierten Themen befasst, teilweise sogar unterschiedliche Institutionen (zum Beispiel Kommune und Land bei einer Landesstraße). Obwohl sich diese Aspekte auf den Verkehrsbereich beschränken, sind auch diese Kooperationen nicht konfliktfrei. Die Relevanz des Themas Barrierefreiheit kann daher den Einstieg in innovative Konzepte erleichtern. Barrierefreiheit und Beteiligung Barrierefreiheit ist konfliktträchtig. Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen stellen unterschiedliche Ansprüche an die Ausgestaltung. Der Entscheidung für eine schrittweise Realisierung eines beschränkten Grundnetzes steht im Widerspruch zur Forderung nach einer unbehinderten Mobilität in der gesamten Region. Die Beteiligung Betroffener oder ihrer Vertreter ist eine Chance, die entsprechenden Ansprüche besser kennen zu lernen, aber auch ein Verständnis für die begrenzte Realisierbarkeit zu erreichen. Finanzierbarkeit der Verkehrsangebote Das erreichte Niveau der Staatsverschuldung engt den Gestaltungsspielraum der öffentlichen Hand erheblich ein. Geplante Ausbauvorhaben der Verkehrsinfrastruktur sind unterfinanziert, Zuschüsse für den öffentlichen Verkehr werden gekürzt. Insbesondere fehlen die für Instandhaltung und Unterhaltung der Verkehrsinfrastruktur erforderlichen Mittel. Im Bereich der Infrastruktur sind bereits erhebliche „Schattenschulden“ in Form unterlassener Instandhaltungsmaßnah-
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men angehäuft. Diese unterlassenen Unterhaltungsmaßnahmen führen dann nach einem härteren Winter wie 2009/2010 zu offenkundigen Straßenschäden. Die eigentliche Ursache hierfür liegt jedoch nicht im Wetter, sondern in den bereits vorgeschädigten Straßen. Gleichzeitig führt jeder Neu- und Ausbau zu weiteren Folgekosten – über die entsprechende Neuverschuldung, über die anschließenden Betriebs- und Instandhaltungskosten. Die hierfür erforderlichen Mittel stehen weder auf Ebene der Kommunen noch bei Bund und Ländern zur Verfügung. Nach einer Kommunalumfrage aus dem Jahr 2004 in den Verkehrsplanungsabteilungen deutscher Städte über 25.000 Einwohnern, fällt es den Städten aufgrund von Fördermodalitäten tendenziell leichter, Neu- und Ausbaumaßnahmen zu finanzieren, als die Instandhaltung der vorhandenen Infrastruktur zu sichern (vgl. Tabelle 1).3 Dabei betonen die Befragten aus den kommunalen Fachverwaltungen überwiegend, dass die vorrangige Planungsaufgabe in der Bestandserhaltung liegt, und wünschen entsprechend, Fördermittel für die Erhaltung einsetzen zu können. Dies gilt im Übrigen auch für Städte, die noch mit einem Bevölkerungszuwachs rechnen. Nichts spricht dafür, dass sich die Lage seit 2004 entspannt haben könnte. Tabelle 1: Bedeutung von Bestandserhaltung sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nach Lage und Größe der Gemeinde (Angaben von Beschäftigten in den kommunalen Fachverwaltungen) neue Länder
25 bis 30.000 EW
35 bis 60.000 EW
über 60.000 EW
gesamt
alte Länder
Bestandserhaltung vorrangig
66%
69%
54%
58%
62%
78%
beides gleichrangig
27%
25%
33%
33%
31%
16%
Neu- und Ausbau vorrangig
8%
6%
13%
9%
7%
7%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
132
108
24
45
42
45
Gesamt gültige Angaben
Quelle: Holz-Rau/Jansen 2006
3
Im Rahmen eines Studienprojektes führten Studierende der Raumplanung an der TU-Dortmund eine Umfrage zur Finanzsituation von Kommunen im Verkehrsbereich durch (409 Kommunen ab 25.000 Einwohnern, Vollerhebung mit einem Rücklauf von gut 30%). Auswertungsergebnisse dieser Erhebung in Verbindung mit Ergebnissen des Forschungsprojektes „Nachhaltige Raumund Verkehrsentwicklung“ im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen finden sich in Holz-Rau/Jansen (2006).
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Lösen sich die meisten Probleme nicht von selbst? Bevor man höhere Ansprüche an eine kommunale und regionale (Verkehrs-)Planung und Politik formuliert, sollte man zunächst prüfen, ob sich die kommunalen und regionalen Verkehrsprobleme nicht von selbst lösen. Drei zurzeit immer wieder ausgeführte Gründe könnten dafür sprechen und werden daher empirisch überprüft. These 1 Durch den demografischen Wandel, vor allem durch sinkende Einwohnerzahlen gehören die hohen Wachstumsraten im Verkehrsbereich der Vergangenheit an (vgl. Chlond et al. 2002). Eine strategische Verkehrsplanung wird daher nicht mehr benötigt. Auch in Räumen mit sinkenden Einwohnerzahlen werden sich die Verkehrsbelastungen nicht nennenswert reduzieren. Allein eine deutliche Abnahme der Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr durch eine höhere Motorisierung der zukünftigen Älteren sowie durch sinkende Schülerzahlen ist in derartigen Räumen wahrscheinlich. Zudem stellen sich neue Planungsaufgaben, die deshalb so schwierig sind, weil das bisherige Planungsverständnis immer wachstumsorientiert war. Fragen der Erhaltung, aber auch des Rückbaus von Stadtteilen und Dörfern einschließlich der Verkehrsinfrastruktur, die Definition und Aufrechterhaltung von Mindestangeboten des öffentlichen Verkehrs, barrierefreie Gestaltung der vorhandenen Verkehrsangebote oder die Anpassung an neue Umweltstandards sind Aufgaben für eine strategische Planung auch und teilweise gerade in schrumpfenden Räumen. These 2 Das ausgereifte Umland entkoppelt sich von der Kernstadt. Im Umland bilden sich selbstständige Kerne. Dies führt zu einem Rückgang der regionalen Verkehrsverflechtungen und trägt zu einer verkehrssparsameren Entwicklung in den Regionen, vor allem in den hoch verdichteten Räumen, bei. Große Bedeutung für die regionalen Verflechtungen besitzt der Berufsverkehr. Eine Abkopplung des Umlandes von den Kernstädten sollte sich also in abnehmenden Ein- und Auspendlerzahlen zeigen. Betrachtet man dazu die zwanzig größten deutschen Städte ergänzt um die nächsten fünf größten Städte der neuen Bundesländer zeigt sich jedoch das Gegenteil (vgl. Abb. 2).
In allen Städten nehmen von 1999 bis 2007 sowohl die Einpendlerraten (Anteil der einpendelnden Erwerbstätigen an den Arbeitsplätzen in den Städten) als auch die Auspendlerraten (Anteil der auspendelnden Erwerbstätigen an den in den Städten lebenden Erwerbstätigen) zu. Damit nimmt um-
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Christian Holz-Rau
gekehrt die Anzahl der Binnenpendler (Wohn- und Arbeitsort in der gleichen Stadt) durchgängig ab. Die regionalen Verflechtungen der Städte in den neuen Bundesländern (einschließlich Berlin) sowie der altindustrialisierten Städte in NordrheinWestfalen sind dabei stärker gestiegen als die der übrigen Großstädte in den alten Ländern (Länge der Pfeile). Die altindustrialisierten Städte in Nordrhein-Westfalen sind durch hohe Auspendler- bei eher geringen Einpendlerraten gekennzeichnet. Sie weisen eine für die Größe geringe Arbeitsmarktzentralität auf. In der Stadt Duisburg halten sich Ein- und Auspendler sogar die Waage. Bei den übrigen Großstädten der alten Bundesländer sind die Einpendlerraten deutlich höher als die Auspendlerraten. Sie weisen eine hohe Arbeitsmarktzentralität auf.4 Die Zunahme der Verflechtungen zwischen 1999 und 2007 ist etwas geringer als in den anderen Großstädten und betrifft vor allem die Auspendlerrate. Die meisten Großstädte der neuen Bundesländer weisen ähnliche regionale Verflechtungsgrade im Berufsverkehr auf wie die Städte in den alten Ländern.
Anstelle einer verkehrsreduzierenden Abkopplung des Umlandes von der Kernstadt steigt die Bedeutung des Umlandes als Arbeitsmarkt für die Großstadtbevölkerung. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung der Kernstadt für die Bevölkerung des Umlandes weiter zu.5 Dieser Befund stellt nicht in Frage, dass eine partielle Entkopplung zwischen den Kernstädten und ihrem Umland eine sinnvolle raumplanerische Zielsetzung wäre. Sie stellt sich aber unter den bisherigen Entwicklungsbedingungen offenkundig nicht ein. Vielmehr arbeiten inzwischen etwa ein Viertel der Erwerbstätigen, die in den größten deutschen Städten leben, außerhalb.
4
5
Bei den geringen Verflechtungsraten Hamburgs und Bremens, aber auch Berlins ist zu beachten, dass diese Stadtstaaten eine vergleichsweise große Fläche besitzen. Dies wirkt sich reduzierend auf das Pendeln über die Gemeindegrenzen aus. Die Entwicklungstrends sind hiervon nicht betroffen. Eine geringfügige Abnahme der Einpendlerzahlen ist nur für Hannover und Halle bei einem erheblichen Arbeitsplatzabbau in der Kernstadt zu beobachten. Die Einpendlerrate steigt auch dort und die Auspendlerrate ebenfalls.
Verkehr und Verkehrswissenschaft
Abbildung 2:
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Entwicklung der Berufspendlerraten deutscher Großstädte
Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung nach den Berufspendlermatrizen der Bundesanstalt für Arbeit für die Jahre 1999 und 2007 These 3 Periphere Lagen sind für ein Leben im Alter bei potenziell eingeschränkter Mobilität (von der Gehbehinderung bis zur Aufgabe des Autofahrens) ungeeignete Wohnstandorte. Ältere Menschen ziehen daher zurück in die Städte (vgl. z.B. Föbker 2007). Alltagserschwernisse werden von den Betroffenen durch Umzüge gelöst.
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Christian Holz-Rau
Dies lässt sich anhand der von den Bundesländern geführten Wanderungsstatistiken untersuchen. Bezogen auf die 23 kreisfreien Städte NordrheinWestfalens, in denen 2006 insgesamt 7,4 Mio. Menschen lebten, sind die Entwicklungen differenziert. Nach Wanderungsverlusten von 1997 bis 2000 verzeichnen die kreisfreien Städte seit 2001 in der Summe Wanderungsgewinne. Dazu tragen insbesondere die Städte Aachen, Bonn, Düsseldorf und Köln bei. Andere Städte verzeichnen nach wie vor Einwohnerverluste. Am stärksten betroffen sind die Städte Duisburg, Gelsenkirchen, Hagen und Wuppertal. Die insgesamt positiven Wanderungssalden resultieren aus der zentrenorientierten Bildungs- und Arbeitsplatzwanderung der Altersgruppen 18 bis 24 sowie 25 bis 29 Jahre bei tendenziell geringeren Randwanderungsraten vor allem zwischen 30 und 50 Jahren, also während der klassischen Familienphase. Von einer (Rück-) Wanderung älterer Menschen in die Kernstädte kann dagegen gerade nicht gesprochen werden. In den Altersgruppen ab 50 Jahren sind die Wanderungssalden im Betrachtungszeitraum in allen Städten vielmehr durchgängig negativ. Auch hier stellt der empirische Befund nicht in Frage, dass eine Rückwanderung älterer Menschen aus planerischer Sicht wünschenswert erscheinen mag. Aber auch dies ist zumindest über die Gemeindegrenzen der Großstädte Nordrhein-Westfalens hinweg (noch) nicht zu beobachten (vgl. Tabelle 2). Diese Debatte sollte aber ohnehin nicht allein unter dem Stichwort Reurbanisierung mit Blick auf die Großstädte geführt werden. Umzüge auch innerhalb kleinerer Gemeinden vom Rand oder aus den Ortsteilen in zentralere Bereiche dürften in den meisten Fällen bereits genügen, um (erwartete) Alltagserschwernisse für ältere Menschen mit (erwarteten) Mobilitätseinschränkungen zu verringern. Ob die deutschen Großstädte vor dem Hintergrund der klimatischen Veränderungen mit den zu erwartenden Hitzeperioden und den damit gerade dort verbundenen Hitzestaus die bestgeeigneten Wohnorte für ältere Menschen sein werden, scheint ohnehin fraglich. Ähnliches gilt auch vor dem Hintergrund einer allgemein höheren Ängstlichkeit, stärkerer Bedürfnisse nach Ruhe und Übersichtlichkeit vieler älterer Menschen, insbesondere wenn diese mit dem Leben in Großstädten nicht (mehr) vertraut sind. Die quantitative Überprüfung der Thesen zur Entkopplung von Stadt und Umland sowie der Rückwanderung älterer Menschen lässt sich zu folgender Schlussfolgerung verdichten: Der optimistische Glaube an die eigenen Wünsche ersetzt nicht die empirische Überprüfung entsprechender Annahmen. Dies gilt in gleichem Maße für die Überprüfung von Entwicklungslinien aus anderen Bereichen wie für die Kontrolle von Vermutungen über die Wirkungen von Interventionen im Verkehrsbereich. In der Regel fehlen Ex-Post-Evaluationen und als Beleg der Wirksamkeit dienen dann (wenn überhaupt) Ex-Ante-Schätzungen, also Wirkungsvermutungen.
135
Verkehr und Verkehrswissenschaft
Tabelle 2: Wanderungssalden der kreisfreien Städte Nordrhein-Westfalens nach Altersgruppen Wanderungssaldo nach Altersgruppen 1996-2006 (Anzahl) 18 bis 25 bis 30 bis 50 bis unter 18 Insgesamt unter 25 unter 30 unter 50 unter 65 Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
65 Jahre und mehr
Aachen
11.233
-4.204
29.597
875
-13.788
-592
-655
Bielefeld
4.775
-379
14.856
1.835
-6.568
-1.691
-3.278
Bochum
-738
-1.865
13.517
2.685
-9.236
-2.593
-3.246
Bonn
19.986
-185
19.121
9.328
-4.586
-2.418
-1.274
Bottrop
1.757
1.029
-51
435
679
-204
-131
Dortmund
5.281
649
18.588
2.573
-7.600
-2.968
-5.961
Düsseldorf
20.003
-6.967
24.242
23.345
-6.314
-6.313
-7.990
Duisburg
-20.613
-4.196
6.199
-24
-10.803
-4.472
-7.317
Essen
-3.226
-2.283
12.625
5.138
-9.221
-4.424
-5.061
Gelsenkirchen
-12.135
-1.261
1.917
-1.101
-6.460
-1.954
-3.276
Hagen
-11.026
-452
610
-1.042
-4.321
-2.089
-3.732
Hamm
914
892
1.210
274
-11
-350
-1.101
Herne
-2.905
295
1.259
-412
-1.685
-833
-1.529
Köln
21.482
-17.183
55.962
32.549
-26.522
-12.691
-10.633
Krefeld
-7.720
-740
1.227
-1.203
-3.479
-1.428
-2.097
Leverkusen Mönchengladbach Mülheim an der Ruhr Münster
1.546
1.089
1.560
455
558
-1.168
-948
-864
11
4.393
-537
-3.717
-328
-686
1.674
517
1.343
639
543
-568
-800
2.801
-2.480
25.615
-3.196
-14.252
-790
-2.096
Oberhausen
1.518
2.052
1.793
681
-653
-748
-1.607
Remscheid
-4.372
-158
62
-497
-1.143
-1.226
-1.410
Solingen
1.487
869
1.398
273
170
-787
-436
Wuppertal
-13.023
-1.818
5.943
-510
-3.938
-3.806
17.835
-36.768
242.986
72.563
-8.894 137.303
-54.573
-69.070
1.621
-3.343
22.090
6.597
-12.482
-4.961
-6.279
11.803
-2.717
25.090
6.693
-8.097
-3.135
-6.031
Summe 1996-2006 Durchschnitt 1996-2006 2006
Quelle: Eigene Berechnungen nach Österreich (2008). Wanderungssalden beziehen sich auf alle Wanderungsvorgänge der Städte, also in der Abwanderung wie in der Zuwanderung auf die Verflechtungen mit dem Umland und über die Regionsgrenzen hinaus.
136
Christian Holz-Rau
Schlussbemerkung Soziale Interaktionen, Planungsdiskussionen eingeschlossen, neigen häufig dazu, Zielkonflikte und unangenehme Entscheidungen nur zurückhaltend zu thematisieren oder „verbal zu integrieren“, sprich zu verschleiern, oder Wunsch ungeprüft mit Wirklichkeit zu verwechseln. Gerade Ersteres liegt bei einem sich als „integriert“ verstehenden Planungsverständnis besonders nahe. Daher soll in dieser Schlussbemerkung die Konfliktträchtigkeit notwendiger verkehrspolitischer Entscheidungen skizziert werden:
Ein Ausbau der Infrastruktur (Straße und Schiene) kann bestehende Verkehrsprobleme nicht dauerhaft lösen. Insbesondere stehen Erweiterungen der Verkehrskapazitäten in der Regel im Widerspruch zur Strategie der Verkehrsvermeidung und unterlaufen so die Bemühungen und die Umsetzung einer abgestimmten Entwicklung von Raum und Verkehr. Ein Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ist in der Regel nicht finanzierbar. Vielmehr sind im Infrastrukturbestand bereits erhebliche Schattenschulden angehäuft, die bei einem weiteren Unterlassen von Instandhaltungsmaßnahmen zu immer höheren Sanierungskosten führen. Hierzu sollte die abgeschlossene Sanierung oder der Rückbau einer Fahrbahn den Stellenwert bekommen, der früher dem Durchschneiden des roten Bandes beigemessen wurde. Die Instandhaltung der Verkehrsinfrastruktur sollte mit Umgestaltungen verbunden werden, die Barrierefreiheit schaffen und den nichtmotorisierten Verkehr unterstützen. Dabei sollten auch an höherrangigen Straßen die Flächenansprüche des nichtmotorisierten Verkehrs mehr als eine bloße Aufteilung der Restflächen darstellen. Ein finanzierbares (Grund-)Netz Barrierefreiheit bedeutet auch, dass weite Bereiche unserer Regionen, Städte und Gemeinden auf längere Frist nicht barrierefrei gestaltet werden. Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, werden dort nicht oder nur unter sehr schwierigen Bedingungen selbstständig am öffentlichen Leben teilhaben können. Dies wird in besonderem Maße periphere und ländliche Räume betreffen. Ergänzend stellt sich die Frage, inwieweit sich die baulich barrierefreie Umgestaltung der Infrastruktur ersetzen lässt durch eine bessere Technik auf der Nachfragerseite – zum Beispiel Treppen steigende Rollstühle oder sensorgestützte Orientierungssysteme für Sehbehinderte. Auf Landes- und Bundesebene dominiert nach wie vor die Ausbauplanung. Die Auswirkungen einer verkehrsinduzierenden Verkehrsplanung und -politik, die auf regionaler und überregionaler Ebene die Raumdurchlässig-
Verkehr und Verkehrswissenschaft
137
keit reduziert, können nicht durch kommunale Verkehrs- und Stadtentwicklungspolitik kompensiert werden. Untersuchungen zum Verkehrsverhalten lassen einen modalen Wechsel zwischen dem motorisierten Individualverkehr und Wegen zu Fuß und mit dem Rad einfacher erscheinen als zwischen dem Auto und Bus oder Bahn (vgl. zum öffentlichen Verkehr den Beitrag von Dziekan in diesem Band). Die von vielen Kommunen (in allen Größenklassen) inzwischen praktizierte Förderung des Radverkehrs erscheint ein viel versprechender Ansatz, der um die verstärkte Berücksichtigung von Interessen des Fußverkehrs ergänzt werden sollte. Verkehrsplanung und -politik müssen ihre Ziele zunächst konkretisieren und dann die Zielerreichung überprüfen. Dies umfasst Fragen der Prozessgestaltung, der Umsetzung und Nichtumsetzung von Maßnahmen sowie deren Wirkungen. Planung und Politik müssen sich einer Wirkungskontrolle unterziehen, die in Deutschland bisher nicht verankert ist, um die weitere Verkehrsentwicklung nicht von den Wünschen, sondern von den Fakten her beurteilen zu können. Dies erfordert auch eine Abkehr von einer symbolischen Verkehrspolitik, wie zum Beispiel die Forderung nach einer Million Elektro-Kraftfahrzeugen auf deutschen Straßen im Jahr 2020. Eine Förderung derartiger Fahrzeuge mag als langfristige Wirtschaftsförderung Sinn machen. Sie wird aber auf mittlere Frist im Vergleich zu den kurzfristiger realisierbaren Potenzialen sparsamerer Verbrennungsmotoren keine nennenswerte Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs bewirken können (2% des Kfz-Bestandes, Einsatz der Elektrofahrzeuge eher im Kurzstreckenverkehr und als Ersatz für kleinere Fahrzeuge, hoher Anteil fossiler Energie an der Stromproduktion). Gleichzeitig bleibt der Umgang mit derartig komplexen Systemen ein Umgang mit Ungewissheit. Diese Ungewissheit kann durch die Entwicklung einer „Evaluationskultur“ in Maßen reduziert werden, wird aber bei komplexeren Handlungsprogrammen immer bestehen bleiben. Das bedeutet zweierlei: Handlungsansätze, deren Wirkungen relativ verlässlich abgeschätzt werden können, sollten Vorrang vor Interventionen haben, deren Wirkungen mehr erhofft und erahnt sind und wenn überhaupt nur über komplexe Wirkungsketten entstehen. Gleichzeitig erfordert dies ein kontinuierliches Monitoring anhand vereinbarter Zielindikatoren und angestrebter Niveaus auch in Zwischenschritten, um abweichende Entwicklungen erkennen und weitere Interventionen rechtzeitig ergreifen zu können.
Planung und Politik müssen die Unmöglichkeit konfliktfreier Entscheidungen bei konfliktträchtigen Problemen akzeptieren. Auch eine integrierte Planung kann derartige Konflikte nicht lösen, sondern nur mit dem Blick über den Teller-
138
Christian Holz-Rau
rand konfliktträchtige Entscheidungen besser vorbereiten (vgl. die Einleitung von Schwedes in diesem Band). Eine sozial gerechte, ökonomisch leistungsfähige und ökologisch verträgliche Verkehrsentwicklung ist eine konfliktträchtige Aufgabe, die weit über den engeren Verkehrsbereich hinausgeht. Ein wesentlicher Baustein einer integrierten Planung auf regionaler Ebene ist die enge Kooperation der Verkehrsplanung mit der Stadt- und Regionalplanung sowie die enge Kooperation kommunaler und regionaler Institutionen. Dazu bedarf es keiner neuen Zuständigkeiten, auch wenn diese bei der einen oder anderen Frage hilfreich sein können. Notwendig sind vielmehr die Bereitschaft und das Vertrauen in die regionale Kooperation sowie die Bereitschaft und Kompetenz zu interdisziplinärer Kooperation und zu Kompromissen. Je nach lokaler und regionaler Situation lässt sich mit kleineren Schritten beginnen, in manchen Regionen auch mit größeren Schritten fortsetzen. Auf der Ebene des Bundes und der Länder ist dagegen ein viel größerer Schritt gefordert: der konsequente Abschied von einer sektoralen Anpassungsplanung und dem Ausbau der überregionalen Verkehrsnetze für eine weiterhin erwartete Zunahme der Verkehrsbelastungen. Quellen BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (Hrsg.) (2005): Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung – Beispiele und Handlungsempfehlungen. In: Schriftenreihe direkt, Heft 60/2005. (FOPSNr.: 73.314/2001, BMVBW 2005). Chlond, Bastian/Wilko Manz/Dirk Zumkeller (2002): Stagnation der Verkehrsnachfrage – Sättigung oder Episode? Internationales Verkehrswesen 54 (9) 2002, S. 396-400. FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.) (2006): Hinweise zu regionalen Siedlungs- und Verkehrskonzepten. Köln. Föbker, Stefanie et al. (2007): Zuzug, Fortzug, Umzug – die Stadtregion Bonn in Bewegung. In: Raumforschung und Raumordnung, Heft 3/2007, 65. Jg., S. 195-212. Holz-Rau, Christian/Ute Jansen (2006): Verkehrsinfrastruktur fördern – Möglichkeiten und Bedarf. In: der städtetag 03/2006, S. 25-30. Holz-Rau, Christian/Birgit Kasper/Steffi Schubert (2009): Die Mobilität Älterer verbessern – mit dem PatenTicket. Empfehlungsmarketing für die Generation 60+ erfolgreich getestet. In: Der Nahverkehr, Heft 1/2/2009, S. 29-33. HSV – Hessische Straßen- und Verkehrsverwaltung (Hrsg.) (2006): Leitfaden – Unbehinderte Mobilität. Heft 54.12/2006. Mäcke, Paul A. (1964): Das Prognoseverfahren in der Straßenverkehrsplanung, Berlin. Oesterreich, Daniela (2008): Wohnstandortmobilität älterer Menschen. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Fakultät Raumplanung, TU-Dortmund.
Verkehr und Verkehrswissenschaft
139
Weiterführende Literatur BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (Hrsg.) (2005): Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung – Beispiele und Handlungsempfehlungen. In: Schriftenreihe direkt, Heft 60/2005. (FOPSNr.: 73.314/2001, BMVBW 2005). BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.) (2009): Urbane Mobilität – Verkehrsforschung des Bundes für die kommunale Praxis. In: Schriftenreihe direkt, Heft 65/2009. Kutter, Eckhard (2005): Entwicklung innovativer Verkehrsstrategien für die mobile Gesellschaft. Berlin.
III.
Zentrale Themenfelder
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau
143
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau Michael Hascher Einführung Verkehrspolitik ist, schon sprachlich gesehen, eine besondere Form der Politik. Während eine Diskussion des Politikbegriffs hier sicher fehl am Platz wäre, macht es durchaus Sinn, sich zu Beginn des vorliegenden Beitrags Gedanken über den Verkehrsbegriff und die verschiedenen Dimensionen der Verkehrspolitik zu machen. Hinsichtlich der Politik genügt es indes, sich in Erinnerung zu rufen, dass es dabei im weitesten Sinne immer um Angelegenheiten der Bürger (polites) geht, wobei die Formen, wie Fragen zu deren Angelegenheiten werden, sehr unterschiedlich sein können. „Verkehr“ an sich wird am einfachsten als die Ortsveränderung (oder auch Raumüberwindung) von Personen, Gütern und Nachrichten definiert, wobei in der Praxis der Nachrichtenverkehr fast immer Sache einer gesonderten Post- oder Kommunikationspolitik war. Im Folgenden sollen wichtige Aspekte der Geschichte der Verkehrspolitik aus verschiedenen Perspektiven herausgearbeitet werden. Diese beziehen sich zunächst auf Handlungsfelder und Akteure (Kapitel 2), dann auf Phasen der Geschichte der Verkehrspolitik (Kapitel 3) und greifen schließlich einige Themen innerhalb der Handlungsfelder noch einmal im Längsschnitt heraus (Kapitel 4). Dieser Zugriff scheint mir am besten geeignet, Studierende der Politikwissenschaft oder anderen Interessierte außerhalb der verkehrshistorischen Forschung auf wesentliche Aspekte hinzuweisen, deren Wurzeln oder Parallelen in der Geschichte heute relevant sind. Die Kenntnis ihrer Entstehungsbedingungen trägt zum besseren Verständnis der heutigen Situation im Verkehrswesen ebenso bei wie Wissen über ähnliche Entwicklungen in der Geschichte bei aktuellen Fragen der Verkehrspolitik anregend sein können. Dabei ergänzen solche historischen Vergleiche die Vergleiche mit der Situation anderer Länder, gegenüber denen sie den Vorteil haben, dass die geographischen und mehr oder weniger auch die kulturellen Rahmenbedingungen nicht „neutralisiert“ werden müssen.1
1
Die am Ende zitierten, umfangreicheren Werke können zur vertieften Einführung dienen, im Beitrag zitiere ich in erster Linie Literatur, die auf benachbarte historische Forschungsfelder hinweist.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
144 1
Michael Hascher
Handlungsfelder und Akteure der Verkehrspolitik in der Geschichte
Die auf den Verkehr ausgerichteten Handlungen lassen sich unterscheiden in Maßnahmen, die Verkehrswege betreffen, in solche, die Verkehrsmittel betreffen und schließlich solche, die die Nutzung von Wegen und/oder Mitteln beziehungsweise die Organisation des Verkehrs schlechthin betreffen. Damit sind schon wichtige Bereiche der Verkehrspolitik angeschnitten. Noch genauer lassen sich – im Hinblick auf historische Beispiele – diese Handlungsfelder zur Regelung der „Angelegenheit“ Verkehr mit den Begriffen der Infrastruktur-, Ordnungs- und Technologiepolitik des Verkehrs beschreiben: Bei der Infrastrukturpolitik geht es um den Bau oder die Instandhaltung von Anlagen, die die genannten Ortsveränderungen erleichtern, oder aber – zumindest auf bestimmten Strecken – erschweren! Zu den hiervon betroffenen Objekten gehören Straßen, Brücken, Tunnels, Eisenbahnstrecken und vieles mehr, aber eben auch bauliche Sperreinrichtungen wie Zoll- oder Mautstationen, Hindernisse zur Abgrenzung von Fußgängerzonen oder ähnliches. Auf die Verkehrsteilnehmer ausgerichtet ist die Ordnungspolitik des Verkehrs im weitesten Sinne, die hier einschließlich der Steuer- und Tarifpolitik und ähnlicher Gebiete verstanden wird. Hier geht es zum einen um Verkehrsregeln, also die Frage, wie die Verkehrswege genutzt werden dürfen. Zum anderen gibt es Regeln für die Frage, wer die Wege überhaupt nutzen darf. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO). Schließlich gibt es eine Art Technologiepolitik des Verkehrs, die sowohl Verkehrsmittel als auch Verkehrswege betreffen kann. In diesem Zusammenhang gibt es sicher ein Spannungsfeld zwischen Entwicklungen, die im Sinne der Bürger bewusst eine Veränderung herbeiführen wollten und unintendierten Effekten, die gleichwohl die Verkehrstechnik umwälzten. So stand am Anfang der Automobilentwicklung nicht die Veränderung des gesamten Verkehrswesens im Zentrum der Überlegungen der Akteure, sondern nur ein Freizeitgeräts mit eingeschränktem Nutzerkreis. Einige Jahrzehnte später förderte und forderte die Verkehrspolitik hingegen bewusst die Einführung des Sicherheitsgurtes im Auto, um die hohe Zahl an Unfalltoten zu senken. Im Übrigen war diesem Anliegen erst dann ein Erfolg beschieden, als das Nichtanlegen des Gurtes mit einer Geldbuße bestraft wurde. Beim Nachdenken über die Akteure der Verkehrspolitik denken die meisten zuerst an die öffentlichen Institutionen auf verschiedenen Ebenen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Verkehrsministerien, die es in Deutschland seit 1904 auf Länderebene (Bayern) und seit 1919 auf Reichs- bzw. Bundesebene gibt. Dies ist insofern verständlich, als hier das Kriterium, dass das Handeln Angelegenheiten der Bürger betreffen soll, am deutlichsten erfüllt wird. Selbstverständlich sind
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau
145
diese Institutionen aber nicht die einzigen Akteure, sondern die Bürger vertreten ihre Anliegen in ganz unterschiedlicher Weise selbst. Als im engeren Sinn „politisch“ ist hier auf die verschiedenen Formen organisierter Gruppen zu verweisen, in denen Bürger auf parlamentarischem und außerparlamentarischem Wege an politischen Entscheidungsprozessen zu partizipieren versuchen. Denkt man hier zunächst an Parteien, so fällt bei näherer Betrachtung der historischen Verkehrspolitik auf, dass im Unterschied zu anderen Politikfeldern sich die Interessen oft nicht hier, sondern in anderen Organisationen bündeln und die Grenzen zwischen den verkehrspolitischen Lagern quer durch die Parteien verlaufen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Motorisierungspolitik in der frühen Bundesrepublik, in der im konservativen Lager Verkehrsminister Seebohm (Deutsche Partei/CDU) seinen stärksten Gegenspieler im Parlament mit Ernst Müller-Hermann (CDU) in den eigenen Reihen fand. Wichtiger als die Parteien waren beispielsweise für die bundesdeutsche Verkehrsgeschichte Vereinigungen der Verkehrswirtschaft wie der Speditionsverband, der Bundesverband der Automobilindustrie (BDA), der Autofahrerverein ADAC oder aber Organisationen aus dem Bereich des Umwelt-, Landschafts- oder Naturschutzes beziehungsweise bahnnahe Initiativen. Manche dieser Organisationen entstanden oder erhielten ihren wichtigsten Zulauf durch Bürger, die als Anwohner von der Verkehrsentwicklung respektive verkehrspolitischen Entscheidungen betroffen waren. Diese Art der Betroffenheit ist durch die Vielzahl von Initiativen der letzten 30 Jahre, die Umgehungsstraßen fordern oder ablehnen, geläufig. Auch die historische Dimension des Protestes gegen Staubplage und rücksichtslose Autofahrer einschließlich gewaltsamer Auseinandersetzungen ist relativ bekannt. Nicht vergessen werden sollte dabei aber eine Art von Einbeziehung von Anliegern, die sich eher selten in aktenkundigen Protesten äußert: Bis ins 19. Jahrhundert gab es eine lange Tradition, die Anlieger zum Unterhalt der Straßen heranzuziehen. Insgesamt kann die Vielzahl von Akteuren der Verkehrspolitik dadurch strukturiert werden, dass die einen sich als Verkehrsteilnehmer organisieren, die anderen als Anlieger, weitere als Steuerzahler und einige im Rahmen anderer politischer Beweggründe. Schließlich dürfen auch die Institutionen nicht vergessen werden, die nicht aus politischen, sondern aus ökonomischen Gründen entstanden sind: Anbieter von Verkehrsdienstleistungen wie Mautstraßenbetreiber, Taxifahrer, Busunternehmen und nicht zuletzt Bahngesellschaften brachten in manche Debatte der Verkehrsgeschichte ein nicht zu unterschätzendes politisches Gewicht ein. Gleiches gilt für Anbieter von Verkehrsmitteln, Teilen oder Hilfsmitteln wie die Automobil-, Automobilzulieferer oder Mineralölindustrie oder die organisierte Kohlewirtschaft. Zuletzt sei noch daran erinnert, dass Bürger durch nicht intendiert politisches Handeln das Verkehrsbild wesentlich verändern können.
146
Michael Hascher
Häufige historische Prozesse in der Verkehrspolitik sind denn neben Verstaatlichung und Privatisierung oder Anwohnerbeschwerden auch „Abstimmungen mit den Füßen“. Die im Eifer der zeitgenössischen politischen Debatte zuweilen implizit unterstellte Annahme, die Realität des Verkehrswesens der Gegenwart sei allein auf politische Entscheidungen der Vergangenheit zurückzuführen, ist aus historischer Sicht nicht haltbar. So ist hinsichtlich der Motorisierung des Straßenverkehrs als dem am stärksten umstrittenen Prozess durch die Forschungen der vergangenen Jahre deutlich gemacht worden, dass es neben den unbestrittenen, die Nutzung des Autos im Sinne des Pkw fördernden Maßnahmen durchaus auch eine Politik „gegen den Lkw“ gab, die allerdings aus verschiedenen Gründen keinen Erfolg hatte. Dies ist zugleich ein gutes Beispiel für Effekte auf den Verkehr, die aus Prozessen in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft resultieren. So hatten strukturelle Entwicklungen der Produktion, die zu kleineren Transportchargen führten (sog. Güterstruktureffekt) oder der Strukturwandel von der Kohle zum Öl weit reichende Auswirkungen auf das Verkehrswesen. Klassische Bereiche verkehrspolitischer Diskussionen drehen sich beispielsweise um die Frage, inwieweit der Verkehr eine Staatsangelegenheit ist, wie auf neue technische Entwicklungen reagiert werden soll (sei es mit technologiepolitischen oder im Hinblick auf Kooperation oder Konkurrenz mit einem ordnungspolitischen Ansatz) oder wie mit den erwarteten oder befürchteten Folgewirkungen umzugehen ist. 2
Phasen der Geschichte der deutschen Verkehrspolitik
Im Rückblick lassen sich in der Geschichte der deutschen Verkehrspolitik sechs Hauptphasen erkennen: (1) Die wesentlichen Wurzeln der heutigen Verkehrspolitik beginnen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Hier taucht – eng verbunden mit dem Aufkommen neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel (Eisenbahn, Telegraf) – im Deutschen erstmals der Begriff „Verkehr“ in seiner heutigen Bedeutung auf. Parallel entstehen wichtige Institutionen wie Eisenbahngesellschaften, Ausbildungseinrichtungen und Verwaltungsstrukturen, die im Prinzip (d.h. mit einigen Veränderungen) noch heute entscheidende Akteure der Verkehrspolitik sind. (2) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bilden sich paradigmatische Grundlagen des verkehrspolitischen Diskurses heraus. Anlass sind Diskussionen um die Verstaatlichung der Eisenbahnen. In diesem Zusammenhang entsteht das Paradigma der „Gemeinwirtschaftlichkeit“ der Eisenbahn, das die deutsche Verkehrspolitik bis in die 1980er Jahre prägt.
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau
147
(3) Um 1900 beginnt sich auch das Institutionengefüge zu verdichten und generell die Akteurskonstellationen zu verändern. Diese Entwicklung mündet zum einen in der Gründung des Reichsverkehrsministeriums 1919, zum anderen werden aber schon hier die auch innerhalb der Staatsverwaltung zu findenden Gräben zwischen den Verkehrsträgern erkennbar. Den politisch-gesellschaftlichen Rahmen bildet das Kaiserreich, wobei vor allem dessen Charakter als intervenierender Vorsorgestaat mit einer starken Rolle der organisierten Interessen (vor allem der Landwirtschaft und der Industrie sowie die dominierende Rolle des Militärs) relevant sind. (4) Die Verkehrspolitik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich ist so facettenreich wie widersprüchlich. Letztlich knüpfen aber fast alle Entwicklungen in der Zeit nach 1945 an Aspekte dieser Zeit an. Die interessante privatwirtschaftliche Struktur, den die 1920 geschaffene Reichsbahn zwischen 1924 und 1937 als „Deutsche Reichsbahngesellschaft“ (DRG) hatte, war mit den Reparationsverpflichtungen des Reichs verknüpft und stand im Widerspruch zu den umfassenden Regelungsansprüchen der Verkehrspolitik. Als die Nationalsozialisten das erfolgreiche Unternehmen 1937 wieder verstaatlichten, fanden sie daher die Zustimmung etablierter Eisenbahnrechtler. Das Phänomen der Konkurrenz der Verkehrsträger kam während der Weimarer Republik erst richtig zur Entfaltung und stieß heftige Debatten an. Die nationalsozialistische Verkehrspolitik trat zwar mit dem Anspruch an, die Verkehrspolitik und das Verkehrswesen zu modernisieren, die historische Forschung konnte jedoch zeigen, dass hinter dem Schein der Modernisierung vielfach die Realität der widersprüchlichen, verkehrsträgerorientierten Einzelentscheidungen weiterexistierte: So setzte das Regime nicht, wie man vielleicht aus heutiger Sicht erwarten würde, auf eine „Transportmodernisierung“ durch den Lkw, sondern führte zumindest bis 1938 die Politik der Behinderung des neuen Verkehrsmittels Lkw durch Konzessionierung, Kontingentierung und verschiedene Vorschriften fort. Die Autobahn hatte, abgesehen von einem phänomenalen Publikumserfolg, in der Realität des Verkehrs nur vergleichsweise geringe Effekte. (5) Zwischen 1949 und 1990 folgte die Verkehrspolitik beider deutscher Staaten zwar einerseits dem generellen Trend der zunehmenden Trennung von DDR und Bundesrepublik, andererseits hielten sich aber bemerkenswert zahlreiche Gemeinsamkeiten (vgl. Baar/Petzina 1999). Zu diesen gehörte die mehr oder weniger gescheiterte Politik gegen den Lkw, bei der in beiden Systemen die gleichen Mittel wie etwa Transportverbote erwogen, jedoch nur in der DDR durchgesetzt wurden. Unbenommen davon, dass die DDR 1990 im Güterverkehr ganz klar noch ein „Eisenbahnland“ war, hatte sie trotz aller Hemmnisse den Aufstieg des Lkws als Transportmittel auch nicht verhindern können. Hinsichtlich der Pkw-Motorisierung sind die Unterschiede zwischen der automobilisierungsfreundlichen bundesdeutschen und der zunächst offenen, am Ende immer
148
Michael Hascher
noch tendenziell automobilisierungsfeindlichen Politik der DDR relativ bekannt: Während im Westen Deutschlands die Motorisierung des individuellen Straßenverkehrs ideologisch überhöht wurde („Freie Fahrt für freie Bürger“), passte im sozialistischen Osten der Personentransport im Kollektiv besser zur Ideologie. Dementsprechend wurde der öffentliche Verkehr gefördert. Die dennoch bestehende Nachfrage nach Autos konnte dagegen in der Regel nicht bedient werden, was teils am fehlenden politischen Willen, teils aber auch an Problemen mit Technologie und Fertigung lag. Trotz allem hatte die DDR in den 1980er Jahren einen ähnlichen Motorisierungsgrad erreicht wie andere westliche Industrieländer (vgl. Tabelle). Tabelle 1: Motorisierungsgrad (Einwohner pro Pkw) Jahr
USA
GB
F
D /DDR
BRD
1907
608
840
981
3824
-
1915
77
400
450
2100
-
1925
12
80
90
400
-
1935
5
38
30
90
-
1945
4
32
41
231
-
1950
4
21
31
DDR: 242
97
1955
3
13
13
153
31
1965
3
8
5
26
12
1975
2
4
4
9
4
1985
2
3
3
4
2
Quelle: Schmucki (2001: 60) Weniger bekannt ist ein anderer, die Verkehrspolitik der Bundesrepublik besonders prägender Aspekt: Die verschiedenen Ebenen der Verwaltung (Bund, Länder, Kommunen) spielen hier eine viel größere Rolle als in der – zumindest vom Anspruch her – zentral gelenkten DDR oder anderen Ländern. (6) Seit den 1980er Jahren unterliegt die Verkehrspolitik einem grundlegenden Wandel, der durch den Zusammenbruch der DDR noch verstärkt wurde: Die entscheidenden Schlagworte sind Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland die Verkehrspolitik mehr oder weniger stark am Wohl der Staatsbahn orientiert und sich dabei auf die Idee der Gemeinwirtschaftlichkeit des Verkehrswesens gestützt. Ab Mitte der 1960er Jahre erodierten dieses Paradigma und in der Europäischen Gemeinschaft fiel eine Grundsatzentscheidung nach der anderen zugunsten einer
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau
149
liberalisierten Wirtschaft, die keine Ausnahmebereiche mehr kannte. Nachdem in den 1980ern andere Länder wie Großbritannien voran gingen, fing die Bundesrepublik auch an, zunächst die Regulierung im Straßengüterverkehr zu lockern und dann ab 1989 Schritte zur Reorganisierung der Bundesbahn zu einer Aktiengesellschaft zu unternehmen, die hauptsächlich nach der Wiedervereinigung umgesetzt wurden. Abbildung 1: Phasen der Entwicklung der Verkehrspolitik in Deutschland
Quelle: Eigene Darstellung 3
Längsschnitte: Themen der Verkehrspolitikgeschichte
Einige Themen wurden in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand der Verkehrspolitik und verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. 3.1 Technischer Wandel Zu den augenfälligsten Aspekten gehört der Wandel des Verkehrswesens durch das Auftreten neuer Verkehrsmittel. Schon häufig wurde dies mit griffigen Titeln
150
Michael Hascher
wie „Einbaum, Dampflok, Düsenklipper“ zum Leitthema populärer verkehrshistorischer Gesamtdarstellungen gemacht.2 Gegenstand wissenschaftlicher Analyse sind hier die Innovationen und Fragen, wie die nach ihrem Zustande kommen, fördernden Faktoren und ähnlichem. Das öffentliche Interesse an Antworten in diesem spannenden Feld ist gerechtfertigt, gleichwohl kann die historische Innovationsforschung nicht alle Erwartungen befriedigen. Insbesondere taugt sie nicht (wie die historische Wissenschaften allgemein) für aktuelle Handlungsanweisungen. Anhand zahlreicher Beispiele kann immerhin der Blick für Gefahrstellen geschärft werden, an denen sozusagen „schon einmal etwas schief ging“. Oft genug werden aber auf derzeitigem Forschungsstand bei der näheren Betrachtung eines scheinbar geeigneten Vergleichsfalls mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. So sind manche noch nicht völlig abgeschlossene Innovationsprozesse wie die seit Jahrzehnten ebenso angekündigte wie totgesagte Einführung von Magnetschwebebahnen schlicht nicht geeignet, als Basis historischer Argumentationen zu dienen. Bei anderen Beispielen können „Erfolg“ oder „Scheitern“ einer Innovation klarer benannt werden, so bei der Kohlestaub- oder der Turbinenlokomotive, dem Wankelmotor als Negativ- oder der Eisenbahn, dem Auto, dem Flugzeug, der Pipeline oder dem Container als Positivbeispiele.3 Eine weitere Frage ist im Hinblick auf den Gegenstand des vorliegenden Bandes, inwieweit überhaupt öffentliche Politik eine Rolle spielte beziehungsweise ab welchem Moment sie das tat und ob es sich dabei im Verständnis der Akteure um Verkehrspolitik handelte. Die Einführung der Eisenbahn, also eines sich auf stählernen Schienen bewegenden Fahrzeugen basierenden, weite Teile des Landes erfassenden Transportsystems, ist sicherlich eine der deutlichsten Erfolge in der Innovationsgeschichte des Verkehrs. Wichtige Erfolgsfaktoren waren dass die englischen Pioniere wie William Hedley und andere im Prinzip bekannte Elemente kombinierten und die Nachfrage dafür bereits vorhanden war. Um 1800 waren Schienenwege aus Eisen oder Stahl im Bergbau seit langem bekannt, gleiches galt seit einigen Jahren für Dampfmaschinen. Gerade durch deren immer weitere Verbreitung zur Entwässerung von Bergwerken und in der Textilindustrie stieg die Nachfrage nach Kohle unablässig. Als es schließlich bei Bergbauunternehmen beschäftigten Technikern gelang, eine Dampfmaschine zuverlässig mit einem 2
3
Das genannte Werk (Rehbein et al. 1969): „Einbaum, Dampflok, Düsenklipper: Streifzug durch das deutsche Verkehrswesen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, war das erste populäre Buch, das unter Leitung der Professorin für Verkehrsgeschichte, Elfriede Rehbein, an der Hochschule für Verkehrswesen Dresden entstand. Nach 1990 wurde dieser bislang einzige und während seines Bestehens sehr produktive Lehrstuhl für Verkehrsgeschichte in mehreren Schritten leider geschlossen. Eine gute Einführung in die Innovationsgeschichte ist Reinhold Bauer (2006): Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel. Frankfurt/Main.
Verkehrspolitik in der historischen Rückschau
151
Schienenfahrzeug zu kombinieren, war ihnen das Interesse der Branche gewiss. Das Interesse breiterer Kreise folgte bald und mit der Anlage erster Bahnen für den der Öffentlichkeit zugänglichen Verkehr von Personen und Gütern (Liverpool-Manchester 1829) überschritt die Eisenbahn auch die Grenze vom speziellen betrieblichen Transport zum allgemeinen Verkehr. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Politik im Sinne der offiziell mit öffentlichen Angelegenheiten befassten Institutionen kaum mit der neuen Transporttechnologie in Berührung gekommen. Dies änderte sich bald, vor allem in der Form, dass sich Bürger zu Eisenbahnkomitees zusammentaten, um für ihre Stadt oder ihr Gebiet einen Eisenbahnanschluss zu erwirken. Bald engagierten sich dann auch die ersten Staaten in Form einer Staatsbahn (Braunschweig; Baden 1838). Auf die Basisinnovation hatte dies jedoch keinen Einfluss mehr. Ähnlich gelagert war die Basisinnovation „des Autos“, also des im Individualverkehr eingesetzten motorisierten Straßenfahrzeugs mit mehr als zwei Rädern. Auch hier kombinierten die Pioniere, vor allem Carl Benz, bekannte Elemente, konkret den gasbetriebenen Verbrennungsmotor und ein aus dem Fahrradbau entlehntes Fahrgestell. Gleichfalls lag die Herausforderung im Finden geeigneter Detaillösungen wie bei Benz insbesondere des Vergasers, der aus dem Schwerbenzin brauchbares Gas machte. Wesentlicher Unterschied zur Eisenbahn war das Fehlen eines Marktes: Während um 1814, als mit Puffing Billy die erste brauchbare Dampflok fuhr, alle Bergwerke unter der Nachfrage ächzten und dankbar um jede Rationalisierungsmöglichkeit waren, interessierte sich zunächst niemand für die Benzinkutsche des Carl Benz oder die Gefährte der anderen Automobilpioniere. Das änderte sich bald mit dem Motorsport und der sich rapide entwickelnden soziokulturellen Bedeutung des Autos. Staatliche Hilfestellungen setzten vor dem Ersten Weltkrieg auch ein, waren jedoch am Durchbruch der Basisinnovation nicht beteiligt. Die Entstehung der Luftfahrt zum regulären Verkehrssystem hingegen wäre ohne intensives staatliches Engagement kaum denkbar gewesen. Dass die Luftfahrt ein förderungswürdiger Bereich sei, war der Grundkonsens sowohl aller wissenschaftlichen Aktivitäten staatlicher Institutionen auf diesem Gebiet als auch der Verwaltung des neuen Verkehrszweigs. Noch Ende des 20. Jahrhunderts lag die Existenz der meisten Fluggesellschaften weltweit damit begründet, dass sie nationale Märkte an den Weltverkehr anschließen sollte und eine eigene Fluggesellschaft, die weltweit „Flagge zeigte“, zu einem Nationalstaat gewissermaßen „einfach dazu gehörte“. So investierten in Deutschland Reich, Länder und zum Teil auch Städte in Forschungsgesellschaften wie die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL), unterhielten das Staatsunternehmen Deutsche Lufthansa und gestalteten die – im Dritten Reich im Reichsluftfahrtministerium sogar eigenständige – Verwaltung des Luftverkehrs als diesen im wesentlichen
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fördernde, nicht einschränkende Institution (im Gegensatz etwa zu den Behörden für den Straßengüterverkehr). Im 20. Jahrhundert war – nach verschiedenen Verstaatlichungen nicht nur in Deutschland – auch das Eisenbahnwesen wesentlich durch staatliches Handeln oder supranationale Organisationen geprägt. Diese erwiesen sich nicht immer als effizient. So wurde der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr durch die nationalstaatlichen Insellösungen, die beispielsweise bei der automatischen Kupplung, der Elektrifizierung der Eisenbahn oder der Zugsicherung gefunden wurden, eher behindert als gefördert. Hier und noch stärker bei der Entwicklung von spurgeführten Hochgeschwindigkeitssystemen (Züge und Schwebebahnen wie Aérotrain oder Transrapid) zeigte sich auch, dass in der verkehrsbezogenen Technologiepolitik die Interessen der Industrie- und Wirtschaftsförderung die der Verkehrspolitik überwogen. Dass der französische TGV 1981 zehn Jahre früher in den Regelbetrieb ging als der deutsche ICE wurde daher in der öffentlichen Debatte hauptsächlich im Hinblick auf die Exportchancen bedauert. Dass es, während sich die Bedingungen für den grenzüberschreitenden Straßenverkehr laufend verbesserten, noch Jahre dauerte, bis auch für den grenzüberschreitenden Schienenverkehr taugliche Varianten der Hochgeschwindigkeitszüge entwickelt waren, blieb relativ unbeachtet. Weitgehend ohne staatliches Engagement beziehungsweise an dessen Tätigkeit vorbei, veränderten die Innovationen Pipelines und Container nachhaltig den Güterverkehr in Europa. Die Rohrleitungen für Öl und Gas waren in den USA sowie einigen Erdölfördergebieten schon seit dem 19. Jahrhundert in Gebrauch. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachfrage nach Erdöl in Europa stieg, waren sie auch für Europa attraktiv. Während in Italien und Frankreich staatliche Firmen und Institutionen den Aufbau eines Rohrleitungsnetzes förderten, überließ in der Bundesrepublik das hier federführende liberale Wirtschaftsministerium die Initiative den Mineralölkonzernen und Chemieunternehmen. Diese errichteten ab den späten 1950er Jahren eine Reihe von Rohrleitungen, die im Rohöltransport einen erheblichen Marktanteil eroberten. Die heute das Bild des Containerverkehrs bestimmenden Behälter orientieren sich an amerikanischen Maßen (die Größe von Containerschiffen wird nach TEU – Twenty feet Equivalent Unit gemessen). Sie wurden von amerikanischen Firmen in den europäischen Markt eingeführt und verdrängten Behälter, die unter Beteiligung zahlreicher staatsgeförderter Institutionen (Studiengesellschaft für Behälterverkehr u.ä.) seit den 1930er Jahren vor allem von europäische Eisenbahnen entwickelt und verwendet worden waren.
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3.2 Konkurrenz und Kooperation – der „Kampf der Systeme“ Die Verkehrspolitik ist von dem häufig von den staatlichen Akteuren gepflegten, letztlich technokratischen Ideal der Kooperation der Verkehrsträger und der Realität ihrer Konkurrenz geprägt. Diese Konkurrenz bestand oft auch zwischen staatlichen Länderbahnen, zwischen Ministerien oder innerhalb von Ministerien. Die Beschäftigung der historischen bzw. sozialwissenschaftlichen Verkehrsforschung mit den zahlreichen Phänomenen der Konkurrenz folgt einer Vielzahl von Erklärungsansätzen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier auf das klassisch marxistische Interessenmodell, das Verständnis der Eisenbahn als großtechnisches System im Sinne von Thomas P. Hughes, auf verschiedene Netzwerktheorien oder anthropologisch inspirierte Erklärungen der Abteilungskonkurrenz innerhalb des Bundesverkehrsministeriums verwiesen.4 Zu den wichtigsten Phänomenen der Konkurrenz der Verkehrsträger gehört eine gewisse Lagerbildung, die sich in der Wissenschaft wie in der Verwaltung fortsetzt und sich bei öffentlichen Debatten im Widerstreit von Experten und Gegenexperten äußert. So standen Eisenbahnwissenschaftler meist ebenso auf der Seite des Bahnunternehmens wie die beaufsichtigende Bahnabteilung des Ministeriums, während die Wasserbauingenieure und die Wasserbauabteilung zur Binnenschifffahrt hielten. Die Entwicklung der Konkurrenz der Verkehrsträger lässt sich skizzenhaft in folgende Phasen einteilen:
Im 19. Jahrhundert verdrängte die Eisenbahn zunächst den Personenverkehr auf Wasserstraßen, den Straßenfernverkehr und auch große Teile des Güterverkehrs auf Wasserstraßen. Insgesamt stieg allerdings der Verkehr an, wodurch auch das lokale Straßenverkehrsgewerbe im Umfeld der Bahnhöfe profitierte und dieser Verkehr wuchs. Durch die Monopolstellung erwirtschafteten die Eisenbahnen hohe Profite, die um die Jahrhundertwende auch zum Bau von – für sich nicht profitablen – Nebenbahnen und ähnlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen genutzt wurden. Ende des 19. Jahrhunderts setzte quasi die Binnenschifffahrt zum Gegenschlag an: Es entstanden Pläne für zahlreiche Wasserstraßen, die für neue, größere Einheiten ausgelegt waren und das neue Leitbild der „Großschifffahrt“ konstituierten. Dabei stieg die zugrunde gelegte Größe zwischen dem 1899 eröffneten Dortmund-Ems-Kanal und dem 1914 eröffneten RheinHerne-Kanal von 600t (Nutzlast der Schiffe) auf 1200t an. Die Umsetzung der Pläne wurde in den 1920er Jahren Gegenstand politischer Debatten und zog sich letztlich bis zur Eröffnung des Rhein-Main-Donau-Kanals (1992) hin.
4
Zu den anthropologischen Ansätzen, vgl. Dienel (2005).
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Zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg entwickelten auch die am motorisierten Straßenverkehr interessierten Kreise Pläne, die auf eine Erneuerung des technischen Systems Straße hinaus liefen. Abgesehen von den technologischen Varianten (Decken aus Beton, Asphalt, Pflastersteinen) gab es dabei zwei Lager: Den einen genügte die Anlage spezieller Autostraßen als Rennbahnen oder an für den Freizeitverkehr geeigneten Stellen (wie etwa an der AVUS in Berlin, die idealtypisch die Rennbahnfunktion mit der Verbindung von der Stadt zum Grunewald verband). Die anderen wollten eine Verbesserung des gesamten Straßennetzes. Während vor dem Ersten Weltkrieg die Bahn sich durch ihre Konkurrenten auf Straße und Wasserstraße noch kaum bedroht sah, wurden diese in den 1920er Jahren, als die Bahn große Teile der Reparationen erwirtschaften sollte, mehr und mehr als Problem betrachtet. Als dazu die Wirtschaftskrise kam, reagierte die Politik 1931 mit der Regulierung des Straßengüter- und Busverkehrs. Wie erwähnt folgten in diesem Bereich im Dritten Reich teils noch weiter gehende Einschränkungen, während die Wasserstraßenprojekte fortgeführt wurden. Der mit einer wachsenden Zahl von gemeinwirtschaftlichen Auflagen belasteten Bahn drohte also, auf der einen Seite die geringwertigen Massengüter, für die sie technologisch so gut geeignet war, an die Binnenschifffahrt zu verlieren, während auf der anderen Seite die hochwertigen Güter sowie wichtige Kunden des Personenfernverkehrs auf die Straße umstiegen. Mit dem Anstieg des Luftverkehrs sowie dem Auftauchen von Pipelines nach dem Krieg wurde dieses Problem noch verstärkt. Mit den Mitteln der Regulierung ließ es sich allerdings auch nicht lösen: Trotz der Pflicht zu Konzessionierung, Kontigentierung, Preisbindung an die Bahntarife, teils noch schlechter Straßen und anderen Widrigkeiten stieg der Straßengüterverkehr an. Die guten Teile des Straßennetzes, die billigen Benzinpreise und andere Faktoren (günstigere Gewerbegebiete „auf der grünen Wiese“ etc.) förderten diesen Trend. Nachdem sich auch die paradigmatischen Grundlagen und die Rahmenbedingungen einer verstärkt in die Europäische Gemeinschaft eingebundenen Verkehrspolitik verändert hatten, gab die deutsche Verkehrspolitik letztlich ab den 1980er Jahren schrittweise der Versuch auf, mittels Regulierung den Verkehr zu „ordnen“ und gab dem Liberalisierungsdruck nach. Gleichwohl werden auch weiterhin fast alle verkehrspolitischen Fragen in der Öffentlichkeit unter der Perspektive betrachtet, welchem Verkehrssystem sie nutzen. Dabei konnten – ebenfalls seit den 1980er Jahren – Bahn und Binnenschifffahrt unter umweltpolitischen Gesichtspunkten (Emissionen, Ressourcenverbrauch) politische Unterstützung gewinnen.
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3.3 Energiewirtschaftliche Rahmenbedingungen Verkehrspolitik steht stets in enger Wechselbeziehung zur Energiepolitik oder vielmehr zu energiewirtschaftlichen Entwicklungen. Dabei waren in der Geschichte zwei Wandlungsprozesse von grundlegender Bedeutung: Der Aufstieg der Kohle zum Leitenergieträger und ihre Ablösung durch das Öl. Gerade im Hinblick auf das viel diskutierte Ende des Ölzeitalters sind diese Umbrüche von besonderem Interesse. Während die Industrielle Revolution in vielen Regionen zunächst auf der Wasserkraft basierte, wäre die durch die Eisenbahn ausgelöste Verkehrsrevolution ohne Kohle (d.h. mit Holz) nicht denkbar gewesen. Zwar versuchte in den „revierfernen“ Regionen Süddeutschlands die Politik aus volkswirtschaftlichen Überlegungen, Alternativen zu fördern und die Menge zu importierender Kohle auf verschiedenen Wegen zu begrenzen, Bezugspunkt war von den 1850er bis in die 1950er Jahre aber immer die Kohle. Brennstoffe wie Torf oder Holz galten nur als notdürftiger Ersatz und die Bedeutung der Elektrizität wurde durch den Begriff der „Weißen Kohle“ unterstrichen. Noch 1950 machte die Verbrennung von Steinkohle und Braunkohle ca. 90 Prozent am Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik aus. Kohle beheizte die Kessel der industriellen und öffentlichen Kraftwerke, der Dampflokomotiven und Dampfschiffe sowie die Räume der Wohnhäuser. Kohle war der Grundstoff der deutschen chemischen Industrie und zugleich eines der wichtigsten Transportgüter überhaupt. 1950 hatten Kohletransporte einen Anteil von 34,5 Prozent am gesamten binnenländischen Verkehr, die Menge erreichte, absolut gesehen 1957 (148,1 Millionen Tonnen) ihren Höhepunkt. Der Anteil am Binnenverkehr sank bis 1990 auf 9,6 Prozent. Damit war Kohle zwar nicht mehr die wichtigste Hauptgütergruppe (dies war sie zuletzt 1964), blieb aber die zweitwichtigste. Die Eisenbahn transportierte dabei stets etwa 70–80 Prozent, die Binnenschifffahrt etwa 20–30 Prozent.5 Die Kohlekrise 1957 und die Ölkrise 1973 markieren in etwa den Anfangsund Endpunkt des energiewirtschaftlichen Strukturwandels, in der Erdöl scheinbar allgemein verfügbar wurde und der Kohle als dem bislang dominanten Energieträger immer mehr Anteile auf den Märkten abnahm. Die Auswirkungen dieses säkularen Prozesses auf das Verkehrswesen lassen sich aus historischer Perspektive als der Übergang von einer durch Kohle und Eisenbahn zu einer durch Ölprodukte und Automobil geprägten Wirtschaft beschreiben.6 Schon davor war Öl als die Ausgangssubstanz für Treibstoffe und Schmieröle stets ein politisches Thema. Da es in Deutschland nur geringe Vorkommen 5 6
Für die Zahlen vgl. die langen Zeitreihen in: Bundesministerium für Verkehr (1991). Sehr auf diesen Aspekt fixiert ist der marxistische Autor Winfried Wolf (1986), an dessen immer noch lesenswertem Buch sich viele Verkehrshistoriker abgearbeitet haben.
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an Erdöl gibt, muss der überwiegende Teil des hier verbrauchten Erdöls eingeführt werden. Um die dadurch entstehenden Abhängigkeiten zu verringern, hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Rohstoff Erdöl zu ersetzen oder zu strecken. So verordnete der Staat ab 1930 die Beimischung von Spiritus. Er subventionierte sowohl die Benzinsynthese aus Kohle als auch "Holz-Tankstellen" für Fahrzeuge mit Holzvergaser. Während der Ölkrise 1973 gab es an vier Sonntagen im Herbst Fahrverbote. Zudem sind Tempolimits neben anderem auch ein Mittel zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs. 3.4 Gesellschaftlich-kulturelle Rahmenbedingungen Verkehrspolitik hat es jedoch nicht nur mit wirtschaftlichen Interessen und harten ökonomischen Fakten zu tun. Vielmehr sind andere Faktoren von großer Bedeutung. Diese werden zwar meist von anderen Politikfeldern beeinflusst, ihre Auswirkungen auf das Verkehrswesen sind dabei aber nur selten intendiert. Die zwei wichtigsten Beispiele hierfür sind die Freizeitgeräte Fahrrad und Auto als Motor der Technologieentwicklung und die Wechselwirkung zwischen Dezentralisierungsideen und automobiler Gesellschaft. Wie beschrieben hatte im Vergleich zur Dampflokomotive bei Erfindung des Automobils kaum ein Markt für solche Geräte bestanden. Was es aber gab, war eine Gruppe innerhalb der wohlhabenden Oberschicht, die im Unterschied zu ihren Standesgenossen ein Faible für Technik und neue Fortbewegungsmittel hatten. Bis 1890 hatten Vertreter dieser Gruppe das Laufrad, das Hoch- und das Niederrad und die Rollschuhe in solchem Umfang genutzt, dass dabei sogar spezielle Rollschuhbahnen, Radfahrhallen und ähnliches gebaut worden waren. In den 1890er Jahren wurde das Auto zum „Spielzeug“ dieser Gruppe, wenig später für manche auch das Flugzeug. Das Fahrrad hatte um diese Zeit schon den ersten Schritt zum Verkehrsmittel und gewöhnlichen Alltagsgegenstand gemacht. Das Auto folgte ihm später, während die Rollschuhe, Kleinflugzeuge und andere weiter hauptsächlich in der Freizeit genutzt wurden oder spezielle Anwendungsbereiche (Militär, Luftbilddienste etc.) fanden.7 Die neuen technischen Möglichkeiten wie Pferde- und elektrische Straßenbahn oder Stadtschnellbahnen ermöglichten den Städten im 19. und 20. Jahrhundert ein bislang ungekanntes Wachstum. Mit Hilfe der Verkehrsmittel war es beispielsweise möglich, die Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten zu erhöhen, da diese immer noch in vertretbarer Zeit zu bewältigen waren. Dennoch blieben zunächst vergleichsweise kompakte (Arbeiter- und andere) Siedlungen 7
Sehr anregend hierzu sind beispielsweise Ausstellung und Führer des Deutschen Museums Verkehrszentrum, vgl. Gundler/Hladky (2009).
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der Standard, denn sie waren auch mit Massenverkehrsmitteln zu erschließen. Die wachsenden Städte hatten aber auch verschiedene, vor allem soziale Probleme, weshalb aus verschiedenen Gründen etwa ab der Wende zum 20. Jahrhundert als Gegenbild zur Realität der zunehmenden Ballung die Dezentralisierung gefordert wurde. Verbunden war dies teils mit der Furcht vor revolutionären Umtrieben, teils mit agrarromantischen und stadtfeindlichen Ideen, die in oft ideologisch überhöhten Vorstellungen zum Eigenheim mit Garten kulminierten. Mit dem motorisierten Individualverkehr, vor allem mit dem Auto, konnten diese Vorstellungen ideal umgesetzt werden. Die Entwicklung großer, hauptsächlich aus Eigenheimen bestehenden suburbs setzte in den USA bereits in der Zwischenkriegszeit, in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Da die Politik über verschiedene steuerliche Anreize den Eigenheimbau und das Pendeln förderte, entstanden Siedlungen, in denen ein Leben ohne Auto nur schwer vorstellbar war. Ohne dass dies die Intention der Wohnungsbaupolitik war, zementierte sie so Strukturen der automobilen Gesellschaft.8 Zu den kulturellen Rahmenbedingungen der Verkehrspolitik gehört schließlich auch die öffentliche Streitkultur mit der Tätigkeit von Bürgerbewegungen und dem Streit der Experten. Hier pflegt die Generation der 1968er gerne das Bild, das erst mit den neuen sozialen Bewegungen solche Debatten einen relevanten Faktor in der Verkehrspolitik dargestellt hätten. Unbenommen der neuen Qualität, die diese Bewegungen in der Tat hatten, muss dem aber aus Sicht der Geschichtswissenschaft entgegengehalten werden, dass das grundsätzliche Phänomen der Auseinandersetzung organisierter Bürger jenseits staatlicher Institutionen über verkehrspolitische Fragen älter ist: Selbst wenn es sich oft um Honoratiorendiskurse handelte, waren die Eisenbahnkomitees des 19. Jahrhunderts, die Heimatschutzvereine des frühen 20. Jahrhunderts, die Autobahninitiativen der 1930er Jahre oder die Naturschutzbewegungen der 1950er und 1960er Jahre durchaus ernstzunehmende Faktoren in der verkehrspolitischen Debatte.9 Fazit Die genannten Aspekte wurden in der verkehrshistorischen Forschung der letzten Jahre besonders beachtet. Selbstverständlich haben aber alle Aspekte der Verkehrspolitik eine historische Dimension, zu der es zum Teil auch bereits Untersuchungen gibt. Generell lohnt sich der Blick in die Geschichte für die Politikwissenschaft ebenso wie es für die Geschichtswissenschaft ratsam ist, sich 8 9
Eine gute Einführung in dieses Themenfeld ist Harlander (2001). Zu den Bewegungen vgl. Uekötter (2007)
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immer wieder über die aktuellen Fragestellungen der Politikwissenschaft zu informieren. Bezogen auf die hier vorgestellten Aspekte und die aktuellen verkehrspolitischen Entwicklungen und Diskussionen lassen sich aus der Betrachtung der Verkehrsgeschichte folgende Schlußfolgerungen ziehen: Mit Blick auf die herannahende Verknappung der Erdölreserven (Peak Oil) als eine entscheidende Rahmenbedingung der Verkehrspolitik muss zunächst festgestellt werden, dass hierzu historische Parallelen fehlen. Die Umwälzung des Verkehrs im 19. und 20. Jahrhundert wäre ohne Rückgriff auf fossile Brennstoffe so nicht denkbar gewesen. Diese war im Verkehr aber keine Reaktion auf Knappheiten. Auf die prinzipiell seit Jahrzehnten bekannte, aber in der Form dennoch historisch neue Situation dauerhaft knapper Treibstoffe für Fahrzeugantriebe trifft eine Gesellschaft, die sich sehr an die Verwendung von Ölprodukten generell und speziell an eine Mobilität gewöhnt hat, deren Kosten ein mehr oder weniger zu vernachlässigender Faktor waren. Gleichfalls besteht in dieser Gesellschaft die historisch gewachsene Erwartung, dass die Öffentliche Hand eine gute Infrastruktur und ein ausreichendes Angebot öffentlicher Verkehrsdienstleistungen bereitstellt. Diesen Erwartungen wird die Politik nur zu einem geringen Teil gerecht werden können. Es ist absehbar, dass die öffentlichen Haushalte in den kommenden Jahren kaum große Spielräume zulassen. Zum Umgang damit sind wiederum historische Vergleiche möglich. Generell muss dabei berücksichtigt werden, dass historische Erfahrungen in der Regel mehr dazu geeignet sind, von bestimmten Maßnahmen eher abzuraten als dazu, solche zu empfehlen. Richtige Handlungsanleitungen sind von der Geschichtswissenschaft ohnehin nicht zu erwarten. Wovor aber im Rahmen dessen gewarnt werden kann, ist zu großer Optimismus hinsichtlich der Gestaltbarkeit des Verkehrswesens. Während Verkehrswege ohne weiteres aus- und umgebaut und neue Verkehrsmittel gefördert oder beschafft werden können, erwiesen sich die Verkehrsteilnehmer, die eben den eigentlichen Verkehr ausmachen, in der Vergangenheit gegenüber den Ideen der (politischen oder technischen) Planer oft als außerordentlich resistent: Sie transportierten ihre Güter eben doch mit dem Lkw, schnallten sich beim Autofahren nicht an, verluden kaum Güter auf die umweltfreundlichen Schiffe in den neuen Kanälen, nutzten nur wenig die „rollende Landstraße“ oder kauften sich lieber einen Geländewagen als ein Dreiliterauto. Bei allen ernsten Bemühungen um methodische Verbesserungen bleiben die Prognosen, die bei langfristigen Fragestellungen wie im Verkehr so wichtig sind, ein Schwachpunkt. Eine andere historische Erfahrung betrifft das „Momentum“ von Großprojekten: Hier zeigte sich, dass unter bestimmten Bedingungen Projekte wie etwa der
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Rhein-Main-Donau-Kanal mit der Zeit im übertragenen Sinne eine derartige Massenträgheit entwickelten, dass sie letztlich auch ihr Ziel erreichten. So konnte die Verkehrspolitik in den 1980ern, als das ursprünglich zentrale Thema der Kohleversorgung Bayerns kaum noch Bedeutung hatte, fast nicht mehr anders, als dem eigentlich hinterfragten Bau der letzten Kilometer des Kanals zuzustimmen. Bezogen auf die Bereiche der Verkehrspolitik kann die Ordnungspolitik einerseits auf den Erfolg der Gurtkampagne im Bereich der Verkehrssicherheit stolz sein und andererseits aus der historischen Erfahrung mit dem Scheitern der Regulierung ähnliche Ansinnen von sich weisen. Die Technologiepolitik des Verkehrs ist heute kaum mehr existent. Hier wäre an der einen oder anderen Stelle durchaus die Warnung angebracht, dass „Insellösungen“, die durch eine nationale Industriepolitik etwa im Bereich der Zugsicherung oder neuerdings der elektronischen Maut zustande kamen, aus verkehrspolitischer Sicht Hemmnisse darstellen. Wenn solche geschaffen werden, dann sollte es wenigstens bewusst geschehen bzw. hingenommen werden. Schließlich ist die Infrastrukturpolitik weiterhin der Bereich der Verkehrspolitik (und nicht nur der), in dem staatliches Engagement am meisten akzeptiert und auch erwartet wird. Im Hinblick auf die Finanzlage wird die Möglichkeit nichtstaatlicher Infrastrukturfinanzierung in Zukunft wohl stärker erwogen werden. Während in anderen Ländern schon seit Jahren beispielsweise Mautstraßen üblich sind, werden diese in Deutschland immer noch skeptisch betrachtet. Dennoch unterscheidet sich die heutige Situation wesentlich von der in den 1920er Jahren, als bei ähnlich schwierigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen aus grundsätzlichen Erwägungen den privaten Autobahnprojekten (v.a. KölnBonn, Hansestädte-Frankfurt-Basel) die Erhebung von Maut untersagt wurde. Quellen Baar, Lothar/Dietmar Petzina (Hrsg.) (1999): Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990: Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich. Berlin. Bauer, Reinhold (2006): Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel. Frankfurt/Main. Bundesministerium für Verkehr (Hrsg.) (1991): Verkehr in Zahlen. Berlin. Dienel, Hans-Liudger (2005): Konkurrenz und Kooperation von Verkehrssystemen, in: Bettina Gundler/Michael Hascher/Helmuth Trischler (Hrsg.): Unterwegs und mobil. Verkehrswelten im Museum. Frankfurt M., S. 111–129. Gundler, Bettina/Sylvia Hladky (Hrsg.) (2009): Deutsches Museum, Verkehrszentrum ein Führer durch die Ausstellungen. München. Harlander, Tilman (Hrsg.) (2001): Villa und Eigenheim – suburbaner Städtebau in Deutschland. Stuttgart.
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Rehbein, Elfriede et al. (1969): Einbaum, Dampflok, Düsenklipper: Streifzug durch das deutsche Verkehrswesen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Leipzig Schmucki, Barbara (2001): Der Traum vom Verkehrsfluss: städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich. Frankfurt M./New York. Uekötter, Frank (2007): Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München. Wolf, Winfried (1986): Eisenbahn und Autowahn. Hamburg.
Weiterführende Literatur Kopper, Christopher (2002): Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert. München. Merki, Christoph Maria (2008): Verkehrsgeschichte und Mobilität. Stuttgart. Sieferle, Rolf Peter (2008): Transportgeschichte. Münster. Schiedt, Hans-Ulrich/Laurent Tissot/Christoph Maria Merki/Rainer C. Schwinges (2010): Verkehrsgeschichte – Historie des Transports. Zürich. Schöller, Oliver/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.) (2007): Handbuch Verkehrspolitik. Berlin.
Verkehrspolitische Entscheidungen aus Sicht der Politikwissenschaft
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Verkehrspolitische Entscheidungen aus Sicht der Politikwissenschaft Nils C. Bandelow, Stefan Kundolf Einführung Politische Entscheidungsprozesse werden nicht nur in den Medien, sondern auch in der Politikwissenschaft oft als rationale Problembearbeitungen interpretiert (vgl. Jann/Wegrich 2009). Die Politikproduktion in modernen Demokratien weicht aber in vielfacher Hinsicht von einer solchen Vorstellung ab. So ist bereits die Identifikation von Problemen davon abhängig, welche Ziele verfolgt werden. Diese Ziele sind nicht nur unterschiedlich, sondern häufig sogar gegensätzlich. Verkehrspolitik ist somit eng mit den jeweiligen Machtverhältnissen verbunden. In der Bundesrepublik ist vor allem die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung für die Machtverhältnisse relevant, die konkreten verkehrspolitischen Entscheidungen und deren Auswirkungen sind jedoch von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig, die bisher nur teilweise bekannt sind. Dennoch lassen politikwissenschaftliche Modelle es zumindest zu, diese Faktoren zu identifizieren, um die wahrscheinlichen verkehrspolitischen Problemwahrnehmungen und möglichen Szenarien für verkehrspolitische Handlungsoptionen zu identifizieren. Um diese Frage nach den bisher wenig thematisierten Mechanismen der Verkehrspolitik zu beantworten, werden im Folgenden zunächst die Besonderheiten des Politikfelds Verkehr vorgestellt. Anschließend soll eine politikwissenschaftliche Perspektive entwickelt werden, die diesen Besonderheiten gerecht wird und für das wissenschaftlich schwierige Unterfangen eines Ausblicks auf zukünftige Entscheidungen geeignet erscheint. Danach erfolgt ausgehend von dieser Perspektive zunächst eine Analyse der aktuellen verkehrspolitischen Problemwahrnehmungen. Der nächste Abschnitt stellt mögliche Lösungen vor. Der fünfte Abschnitt behandelt die denkbaren Entwicklungen unter den derzeit gegebenen Machtverhältnissen in Deutschland. Abschließend wird auf die Rolle einzelner Akteure und auf alternative idealtypische Szenarien eingegangen. 1
Spezifika der Verkehrspolitik
Nur wenige Themen der Verkehrspolitik erreichen die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Selbst in der Politikwissenschaft wird das Feld nur von wenigen O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autoren systematisch beachtet (vgl. von Beyme 2007). Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand Verkehr waren bisher vor allem durch eine volkswirtschaftliche Perspektive geprägt. Ein Wandel erfolgte erst mit aufkommenden Fragen zu den ökologischen Folgen von Mobilität und Verkehr und in etwas abgeschwächter Form auch mit der Frage nach sozialen Auswirkungen von Privatisierungsprozessen im Verkehrssektor. Ein Grund für die geringe Beachtung der Verkehrspolitik liegt darin, dass nur wenige Verkehrsthemen im Zentrum des deutschen Parteienwettbewerbs stehen. Mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen basieren die zentralen ideologischen Grundlagen der deutschen Parteien auf gesellschaftlichen Konflikten, für die verkehrspolitische Entscheidungen nur indirekt relevant sind. Dies gilt etwa für den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der für alle Parteien eine zentrale Rolle spielt. Die ursprüngliche Gründung der SPD und die heutige Perspektive der Linkspartei sind primär von diesem Konflikt geprägt. Daraus lassen sich zwar verkehrspolitische Ziele ableiten – etwa die Gewährleistung von Mobilität auch für untere Einkommens- und Vermögensgruppen. Andere Politikfelder (z. B. Sozial- und Wirtschaftspolitik) stehen aber noch direkter im Blickfeld dieser Konfliktlinie. Dies gilt ähnlich auch für Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie, die für (ehemalige) Regionalparteien (etwa die CSU und früher die PDS) von zentraler Bedeutung sind. Die Konfliktlinie zwischen Staat und Kirche, die sich in den Grundlagen der Unionsparteien wiederfindet, erlaubt nicht einmal eine direkte Ableitung verkehrspolitischer Ziele. Mehr als in parteipolitischen Gegensätzen manifestieren sich Konflikte im Verkehrssektor in Auseinandersetzungen zwischen den verkehrspolitischen Experten aller Parteien auf der einen Seite und politischen Generalisten auf der anderen Seite. Aufgrund der geringen Bedeutung der Verkehrspolitik für den Parteienwettbewerb werden die allgemein wahrgenommenen Probleme nicht entsprechend vorstrukturiert. Die technisch orientierte Verkehrspolitik ist weit weniger durch starke ideologiebasierte Präferenzen geprägt als beispielsweise die Arbeitsmarkt- oder Familienpolitik. Vielmehr werden in diesem Sektor politische Probleme und Entscheidungswege durch wissenschaftliche Gutachten bzw. empirische Analysen strukturiert. Zwar besteht nach wie vor der Glaube daran, dass wissenschaftliche Expertise dazu beiträgt, rationale, objektive Präferenzen bei den politischen Akteuren zu bilden, um ein Problem eindeutig definieren und seine Lösung adäquat erarbeiten zu können, doch die bloße Vielzahl von Expertisen lässt diesen Effekt unwahrscheinlich werden. So haben sich unterschiedliche Perspektiven etabliert, die unter anderem an den Akteuren aus den verschiedenen Verkehrsträgern orientiert sind. Ein wesentliches Problem der Verkehrspolitik besteht darin, dass die unterschiedlichen Expertennetzwerke nicht durchgängig vernetzt sind und daher weniger zur Problemlösung als zur Vertiefung von Konflikten beitragen (vgl. Bandelow 2007).
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Verkehrspolitische Fragen sind in besonderer Weise mit wirtschaftlichen, finanzpolitischen, umweltpolitischen und/oder sozialpolitischen Themen verknüpft. Infrastrukturplanungen, die einen großen Umfang verkehrspolitischer Ressourcen binden, werden zunehmend diesen zentralen Fragen ausgesetzt. Bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes werden finanzielle Möglichkeiten, wirtschaftlicher Nutzen, ökologische Ziele oder Verträglichkeit von Projekten abgewogen. Soziale Aspekte, wie die Auswirkungen neuer Straßen- oder Zugtrassen und Ausbaumaßnahmen von Flughäfen, haben zudem auf die Lebensqualität und die Mobilitätsstruktur der Bürger großen Einfluss und sind wichtige Faktoren für die Gestaltung von Infrastruktur geworden. Dieses Konglomerat an abzuwägenden Anforderungen führt dazu, dass unterschiedliche Fachressorts in enger Abstimmung an verkehrspolitischen Entscheidungen beteiligt sind. Neben dem Verkehrsressort sind dies vor allem Umwelt, Finanzen, Wirtschaft, Soziales/Arbeit und Familie. Zudem spielen Gerichte in der deutschen Verkehrspolitik eine wichtige Rolle. Vor allem Großprojekte der Verkehrsinfrastruktur erfordern rechtliche Abwägungen zwischen den Betreiber- und Nutzerinteressen einerseits und denen der Anwohner andererseits, die häufig negativ von externen Effekten betroffen sind. Dies gilt etwa für den Bau und Ausbau von Flughäfen, wie sich in den 1980er Jahren bei der Startbahn West und aktuell beim Konflikt um eine Startbahn Nord in Frankfurt am Main beobachten lässt. Das Ergebnis ist eine Form der Gewaltenteilung auf einer Ebene (horizontale Gewaltenteilung), bei der sich Entscheidungen nur schwer durchsetzen lassen. Das Netzwerk der an verkehrspolitischen Entscheidungen beteiligten Akteuren wird zusätzlich dadurch erweitert, dass Verkehrspolitik in besonderer Weise auch von vertikaler Gewaltenteilung betroffen ist. In der Bundesrepublik Deutschland sind sowohl Bund als auch Länder und Kommunen an Entscheidungen in diesem Feld beteiligt. Auch die direkten und insbesondere indirekten Kompetenzen der EU sind hier bedeutsam. Über das Umweltrecht, das Binnenmarktrecht oder Wettbewerbsentscheidungen hat die EU nicht nur zu Blockaden deutscher Entscheidungen geführt, sondern diese teilweise auch wesentlich mit initiiert (vgl. Lehmkuhl 2006). Analog zur unterschiedlichen Reichweite politischer Programme verändert sich auch die Akteurskonstellation, je nachdem welche politischen Ebenen beteiligt sind. So spielt bei transnationalen Entscheidungen oder bei der Regelung von verkehrsträgerspezifischen Dienstleistungen die EU als Koordinatorin des europäischen Marktes eine besonders bedeutende Rolle. Auch die Bundesländer sind vor allem bei Entscheidungen zu Infrastrukturmaßnahmen eingebunden. In Fällen der Bereitstellung von öffentlichen Verkehrsleistungen sind die Kommunen und Länder durch finanzielle Austauschprozesse eng mit dem Bund verflochten.
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Analytische Perspektive
In der Politikwissenschaft wird häufig angenommen, das Verhalten politischer Akteure (z. B. von Parteipolitikern) ließe sich auf Machtgewinn und Machterhalt reduzieren (vgl. Weber 1980). Nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich ist das Konzept der Machtmaximierung ein besonders problematisches Ziel, da Macht letztlich ein Nullsummenspiel ist – einzelne Akteure gewinnen Macht (etwa in Form von Wählerstimmen oder Regierungsbeteiligungen) – nur dadurch, dass andere Akteure Macht verlieren. Inhaltliche „Herausforderungen“ für einzelne Politikfelder lassen sich aus einer solchen Perspektive nicht ableiten – es sei denn, diese sind unmittelbar mit den Machtinteressen ausgewählter Akteure verbunden. Dennoch spielt Macht als zentrales Medium der Politik auch für die Verkehrspolitik eine zentrale Rolle. In öffentlichen politischen Debatten geben die Akteure inhaltliche Ziele vor. Diese bestehen in der Verkehrspolitik oft in unklaren und konsensfähigen Konzepten wie „Nachhaltigkeit“ oder „Umsetzung integrierter Konzepte der Verkehrspolitik“ (vgl. Schöller 2007). Darauf aufbauend existieren viele konkrete politische Lösungen – sowohl in allgemeiner Form als auch zur Lösung ganz konkreter Herausforderungen. Viele theoretische Ansätze der Politikwissenschaft erreichen ihre analytische Klarheit dadurch, dass sie radikale Annahmen voraussetzen. Sie nehmen etwa zweckrationales Verhalten von Akteuren an, das sich unabhängig von individuellen Normen erwarten lassen würde. Oder sie fokussieren auf die Auswirkungen gegebener politischer Strukturen. Andere Ansätze konzentrieren sich auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Informationen für die Politik. Derartige Perspektiven erlauben zwar klare Hypothesen, werden aber der besonders komplexen Situation der Verkehrspolitik wenig gerecht. Als besonders geeignet scheint dagegen eine Perspektive, die unter anderem auf Grundlage langjähriger Analysen der (US-amerikanischen) Verkehrspolitik entwickelt worden ist. Es handelt sich dabei um den Multiple Streams Ansatz (MSA) von John W. Kingdon (2003). Der MSA bricht mit vielen sonst üblichen Annahmen. Er setzt keinen direkten Zusammenhang zwischen politischen Problemen und Entscheidungsfindungsprozessen voraus. Vielmehr wird Politik aus einer organisationstheoretischen Perspektive betrachtet (vgl. Rüb 2009). Das heißt konkret, dass nicht das analytisch separierte Verhalten einzelner Akteure, sondern die gleichzeitig stattfindenden Prozesse in der Gesamtorganisation „Politik“ beobachtet werden. Einzelne Personen tragen gegebenenfalls gleichzeitig zu mehreren Prozessen bei und können diese unter bestimmten Bedingungen auch zusammenbringen. Dennoch spielen situative Bedingungen jenseits der prognostizierbaren Ziele einzelner Akteure eine zentrale Rolle für die Politik.
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Grundlegend für das Verständnis des Ansatzes ist somit ein Denken in Strömen (vgl. Grafik 1). Obwohl Regeln existieren, entfalten sich Kompetenzen und die Wahrnehmung von Verantwortlichkeiten im Handeln von Personen. Entsprechend der Fluktuation von Akteuren verändern sich oftmals auch die für Entscheidungen zu Grunde liegenden Prämissen. Darüber hinaus geht der Ansatz davon aus, dass die Präferenzen von Akteuren entgegen spieltheoretischer Perspektiven unklar sind. Entscheidungsprozesse werden durch Mehrdeutigkeit und Unsicherheiten geprägt, da die Informationen für eine Präferenzbildung oftmals nicht vorhanden sind. Zudem ist es aufgrund der Überschneidungen vieler Themen den politischen Entscheidern nicht möglich, unter dem dauerhaften politischen Zeitdruck stabile Präferenzen zu entwickeln. In großen Organisationen finden sich unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen auf Themen, so dass Mehrdeutigkeiten zu einzelnen Sachverhalten entstehen und die Organisation als System keine einheitliche Strategie entwickeln kann. Das „Temporal Sorting“ (vgl. Zahariadis 2003) ist eine entsprechende Strategie, um in einer Umgebung multipler Ereignisse und Anforderungen zu einer bestimmten Zeit ein Thema besonders herauszustellen. Sachrationale Entscheidungen treten dabei zurück, es dominiert die Frage nach der Terminierung von Themen (Agenda Setting) und die Reihung von Prioritäten. Aufgrund der komplexen Wirkungszusammenhänge politischer Entscheidungen gibt es eine Doppel- und Mehrdeutigkeit politischen Handelns. Dabei gilt: Jedes Phänomen ist unterschiedlich interpretierbar und entsprechend unterschiedlich werden Probleme definiert. So kann beispielsweise das Phänomen des wachsenden Verkehrs als ein Wachstum des Wirtschaftsverkehrs und damit steigender Wirtschaftsleistung interpretiert werden. Das politische Problem in dieser Betrachtung wäre, wie die Nachfrage an Mobilität gesättigt werden kann. Das Phänomen kann aber auch als umweltpolitisches Problem wahrgenommen werden. Politisches Handeln hätte dann das Problem zu lösen, indem es negative Auswirkungen des Verkehrs minimiert. Diese schematische Darstellung ist weiter ausdifferenzierbar, verdeutlicht aber bereits, dass ein Problem an sich mehrdeutig sein kann und aus ihm folgende Lösungen die Ambiguität noch verstärken.
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Der Multiple-Streams-Ansatz als Grundlage zum Verständnis der Verkehrspolitik
Quelle: eigene Darstellung nach Kingdon 1995 und Rüb 2007 Der Ansatz lässt sich trotz seiner Verwurzelung in dem pluralistischen Präsidentialismus der USA auch auf die deutsche Verkehrspolitik übertragen. In vielen anderen Politikfeldern steht einer Mehrdeutigkeit von Problemen in Deutschland ein relativ starker Interpretationsrahmen in Form der Parteien zur Verfügung, die Probleme und Lösungen bereits für sich konkretisieren. Dies gilt für die Verkehrspolitik nur in stark eingeschränkter Form, da Verkehrspolitik im Parteienwettbewerb eine geringe Rolle spielt. Die komplexen Wirkungszusammenhänge zwischen Verkehrs-, Klima-, Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik sind so vielseitig, dass sowohl Problem- als auch Lösungsansätze sehr oft mehrdeutig und unklar bleiben. Beispiele sind die Debatten um die Wirkungszusammenhänge und die Intensität klimatischer Veränderungen durch den Verkehr und um die Bewertung externer Kosten verschiedener Verkehrsträger. Hier gab und gibt es immer wieder Studien, die den bisherigen Ergebnissen vollständig entgegenstehen. Im Zusammenhang mit dem hohen Verflechtungsgrad des Politikfeldes bestehen Unsicherheiten, welche Ressorts und ministeriale Abteilungen zu einem Thema einzubeziehen sind. Eine enge oder weite Integration hat unmittelbaren Einfluss auf die Problemdefinition und Problemlösungsgestaltung.
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Entwicklung des subjektiv wahrgenommenen Handlungsdrucks
Probleme und Herausforderungen sind nur dann für politische Prozesse relevant, wenn sie von den relevanten Akteuren erkannt werden und aus der jeweiligen Sicht einen Handlungsdruck erzeugen. Die hier gewählte politikwissenschaftliche Perspektive fokussiert daher bei der Analyse von Problemen nicht auf gesellschaftliche, wirtschaftliche oder sonstige objektive Daten, sondern auf Sichtweisen politischer Akteure. Um diese Sichtweisen wissenschaftlich zu erheben, wird in der Politikwissenschaft üblicherweise zunächst eine nachvollziehbare Form der Identifikation relevanter Akteure vorgenommen. So können etwa alle Akteure, die bei bestimmten Anhörungen (mehrfach) vertreten waren, als relevant angenommen werden. Möglich ist auch eine Zusammenstellung nach dem Schneeballprinzip, d.h. nach der Identifikation erster Akteure werden über Befragungen die jeweils für relevant gehaltenen weiteren Mitglieder des Entscheidungsnetzwerkes benannt. Diese Methoden eignen sich vor allem bei der nachträglichen Analyse konkreter Entscheidungsprozesse. Bei einer Vorschau auf zukünftige Entscheidungen kann dagegen noch nicht auf Anhörungen oder ähnliche Dokumente zurückgegriffen werden. Ein ähnliches Problem stellt sich auch bei der Analyse der konkreten Problemwahrnehmungen. Ex-post-Untersuchungen erlauben zunächst eine Identifikation der tatsächlichen politischen Konflikte. Daran anknüpfend werden über Dokumentenanalysen von Stellungnahmen oder leitfadengestützte Interviews die Positionen der Akteure zu allgemeinen Grundlagen und spezifischen Sichtweisen und Konfliktpunkten erhoben. Bei der Vorschau auf zukünftige Entscheidungen ist ein derart systematisches Vorgehen nur eingeschränkt möglich. Tatsächlich lassen sich über die aktuellen Mehrheitsverhältnisse wichtige Akteure identifizieren: Dies sind zumindest die Generalisten und die Spezialisten der Regierungsparteien, die Ministerialbürokratie des Verkehrsministeriums, etablierte Interessenverbände und Unternehmen der Verkehrswirtschaft sowie einzelne Wissenschaftler – sofern diese zum Beratungskreis der Entscheider gehören. Darüber hinaus können weitere Akteure in einer noch nicht eindeutig absehbaren Weise Einfluss auf die verkehrspolitischen Entscheidungen nehmen: Dazu gehören vor allem die Oppositionsparteien und ihnen nahestehende Interessengruppen, Fachleute und die Interessenvertretungen von Ländern und Kommunen. Besonders schwierig ist eine Prognose der Rolle der Europäischen Union, da hier stetige Machtverschiebungen – etwa durch Regierungswechsel in einzelnen Mitgliedstaaten – relevant sein können. Welche Erkenntnisse lassen sich nun aus dem Multiple-Streams-Ansatz für die aktuelle Verkehrspolitik ziehen? Die folgende Analyse der Problemwahrnehmungen in der deutschen Verkehrspolitik konzentriert sich vor allem auf die aktuellen Regierungsparteien auf Bundesebene. Hier liefert zunächst der Koalitionsver-
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trag wichtige Hinweise auf die Sichtweisen. Ergänzend kann auf ältere Stellungnahmen zurückgegriffen werden. Prinzipiell sind dabei unspezifische und spezifische Problemwahrnehmungen zu unterscheiden. Unspezifische Problemwahrnehmungen basieren auf allgemeinen Kernüberzeugungen politischer Akteure. Hier ist zu erwarten, dass die Problemsicht vergleichsweise dauerhaft ist, also von kurzfristigen Ereignissen nicht verändert wird. Spezifische Problemwahrnehmungen bezeichnen dagegen Sichtweisen in Bezug auf konkrete Projekte. Hier ist die Prognosefähigkeit der Politikwissenschaft deutlich geringer, weil neue Informationen vergleichsweise schnell die Problemsicht verändern können. Im Zentrum der unspezifischen Problemsicht der schwarz-gelben Koalition steht – wie sich nicht nur aus dem Titel des Koalitionsvertrags entnehmen lässt – die Wahrnehmung des Verkehrs als Grundlage für Wirtschaftswachstum. Diese Wahrnehmung impliziert, dass Verkehrswachstum einerseits zum Wirtschaftswachstum beiträgt, aber auch Resultat eines wirtschaftlichen Wachstums sein kann. In der derzeitigen Wirtschaftskrise ist dieser Zusammenhang für Deutschland von enormer Bedeutung. Einerseits leidet der Wirtschaftszweig Güterverkehr durch sinkenden Export. Andererseits lässt ein steigendes Güterverkehrsaufkommen vermuten, dass sich die Wirtschaft erholt. Unklar ist, wie sich neue Informationen, welche die These eines zwingenden Zusammenhangs zwischen Verkehrswachstum und Wirtschaftswachstum in Frage stellen (vgl. Schöller 2007), auf die Problemwahrnehmung und den subjektiv wahrgenommenen Handlungsdruck auswirken können. Hier ist ein Konflikt zwischen konkreten Interessen der Verkehrswirtschaft und externer Expertise erkennbar. Eine zentrale Herausforderung wird darin bestehen, das prognostizierte Verkehrswachstum in Europa nicht nur hinsichtlich wirtschaftlicher Potentiale für Deutschland zu übersetzen, sondern die speziellen ökologischen und sozialen Bedürfnisse in eine krisensichere und nachhaltige Planung einfließen zu lassen. Eine zentrale Herausforderung wird darin bestehen, die Wachstumsinteressen der Verkehrsbranchen, insbesondere im Straßen- und Luftverkehr, unter anderem durch neue Mobilitätskonzepte mit den veränderten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Informationen zu versöhnen. Der Koalitionsvertrag sieht zudem bei der Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur einen großen Handlungsbedarf. Die zentrale Lage Deutschlands in Europa macht es zu einem wichtigen Transitland für Güter. Die Rolle von Mobilität im Kontext von Arbeit hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die heutigen Infrastrukturen dem Verkehrsaufkommen nicht mehr hinreichend gewachsen sind. Die Prognosen für die nächsten Jahre erhöhen den Druck auf Investitionen für den Neubau und in die Instandhaltung von Straßen, Flughäfen und Eisenbahntrassen. Dabei ist auch eine Verteuerung dieser Infrastruktur ersichtlich, da in allen Bereichen technische Infrastrukturen mit den Trassen verknüpft werden.
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Neben der allgemeinen Ausrichtung auf Wirtschaftswachstum über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die konkrete Betonung Deutschlands als Standort der Verkehrswirtschaft ist die unspezifische Wahrnehmung der schwarz-gelben Koalition von der Überzeugung geprägt, eine Stärkung von Wettbewerbselementen im Verkehrssektor könnte zur Effizienzsteigerung beitragen. Als Herausforderung ist hier vor allem der Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern zu sehen. Die unterschiedlichen Eigentumsstrukturen vor allem im Bereich von Schienen- und Straßenverkehr lassen konkurrierende Sichtweisen auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen zu. Offen ist auch, inwiefern die von Teilen der Koalition gewünschte Stärkung von Wettbewerb im Schienenverkehr (die vor allem auf wirtschaftswissenschaftliche Expertise gestützt ist) mit der Sicht des Schienenverkehrs als zusammenhängendes Gesamtsystem (die sich auf ingenieurwissenschaftliche Expertise stützt) verbunden werden kann. Anders als die aufgeführten unspezifischen Problemsichten, die aus dem Koalitionsvertrag und aktuellen Stellungnahmen entnommen werden konnten, sind spezifische Problemsichten wesentlich von konkreten Ereignissen und Informationen abhängig, die aus gesellschaftlichen Phänomenen politische Probleme machen. Dies können Indikatoren, Krisen, Einzelereignisse und Symbole sein (vgl. Kingdon 2003) und einen generellen Handlungsdruck erzeugen. Ist ein Problem und dessen Auswirkungen mit quantitativen Indikatoren erfassbar, so kann es besser dargestellt werden und erzeugt einen größeren Handlungsdruck. Das Problem wird strukturierbar, und vermeintliche Effekte einer Entscheidung können berechnet werden. Ein Beispiel ist die Umweltproblematik des Flugverkehrs. Diese existierte lange, ohne dass eine Quantifizierung konkreter Effekte erfolgt wäre. Ohne dass sich das eigentliche Problem verändert hätte, können aktuelle Studien den politischen Handlungsdruck erhöhen. Dies gilt vor allem, wenn die genauen Auswirkungen, beispielsweise des Fluglärms auf den menschlichen Organismus in der Nacht in Form eines erhöhten Risikos von Herzinfarkten, Kreislauferkrankungen und psychischen Leiden quantifiziert werden (vgl. Umweltbundesamt 2010). Dies heißt allerdings nicht, dass pauschal alle quantifizierten Problemkonstellationen den Weg auf die politische Agenda finden. Dennoch erhöht es die Chance für Akteure, mit solchen „fassbaren“ Studien die Entscheidungsträger überzeugen zu können, ein relevantes, zu lösendes Problem identifiziert zu haben. In diesem sehr frühen Prozess des Agenda Settings – einer Phase in der aus einer Vielzahl von Problemen, diejenigen identifiziert werden, die zu behandeln sind – zeigt sich bereits die Bedeutung politischen Handelns. Erst die aktive Konkretisierung von Problemen führt zu einer Wahrnehmung in einer überlasteten Politiklandschaft. Daher ist die Bedeutung von Interessengruppen und Wissenschaft bei der Definition von Problemen sehr groß. Je klarer die Indikatoren sind und je stärker Akteure ihre Wahrnehmungen verdeutlichen können, desto
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größer ist die Chance eines erfolgreichen Agenda Settings. Es ist daher nicht verwunderlich, dass politische Interessenvertreter immer weniger versuchen auf Parlamentarier Einfluss zu nehmen, die im politischen Prozess über Gesetzesentwürfe entscheiden, sondern verstärkt der Trend dahin geht, Einfluss auf die Ausarbeitungen von Entwürfen in ministerialen Arenen zu gewinnen, wo die Probleme definiert und entsprechende Lösungen zusammengetragen werden. Neben Indikatoren sind vor allem Krisen für die Problemsicht relevant. Mit der bereits aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise ist eine wahrscheinliche „Hintergrundfolie“ für die verkehrspolitische Agenda der nächsten Jahre erkennbar. Dabei ist noch nicht gesichert, welche Effekte die Wirtschaftskrise letztlich hat und wie sie die politischen Entscheidungsprozesse beeinflusst. Das Krisenszenario ähnelt dabei dem der klimapolitischen Problemwahrnehmung. Beide Krisen dienen zur Legitimation zahlreicher politischer Entscheidungen oder werden gegeneinander instrumentalisiert. Ein Beispiel dafür ist ein Gesetzentwurf zur Regulierung von CO2-Emissionen von Automobilen in den USA, in dem Grenzwerte in Abhängigkeit von Spurbreite und Länge festgelegt werden und die Bemessung für einheimische Hersteller vorteilhafter sind als für Importe. Hier wird die klimapolitische Problemwahrnehmung des Automobilverkehrs mit den wirtschaftspolitischen Interessen verknüpft. Eine weitere Möglichkeit, wie ein Problem auf die politische Agenda kommt, ist weitestgehend unvorhersehbar. Unglücksfälle wie Flugzeugabstürze, Massenkarambolagen auf Autobahnen oder Terroranschläge sind solche Einzelereignisse, die eine hohe mediale Aufmerksamkeit erfahren und die es aus politischer Sicht notwendig machen, mögliche Ursachen zu beheben. So wurde ein Flugzeugabsturz am 9. Juni 2009 auf eine Störung der Geschwindigkeitssensoren (Pitot-Sonde) am Flugzeug zurückgeführt. Dass die Pitot-Sonde unter bestimmten Witterungsbedingungen vereisen kann und fehlerhafte Ergebnisse liefert, war bereits bekannt. Aber erst die durch diesen Absturz medial bekannt gewordene Ursache, lässt die Geschwindigkeitsmessung als Sicherheitsproblem des Flugverkehrs erscheinen, welches zu lösen ist. Unklar bleibt allerdings, inwieweit das Problem ursächlich für diesen und andere Abstürze ist. Aufgrund der sehr schnell medial verbreiteten mutmaßlichen Ursache kreisen entsprechende Lösungsvorschläge um den Austausch der Sonden bzw. zu verändernde Konfigurationen. Die Suche nach potentiellen weiteren Unfallursachen wurde erst später diskutiert. Das Agenda Setting durch den Absturz richtete sich also zunächst auf die Sonde als Problem, ohne ein gänzlich gesichertes Wissen um die genaue Problemkonstitution zu besitzen. Als Illustration kann hier auch das Ereignis des Vulkanausbruches auf Island im Frühjahr 2010 herangezogen werden. Der Ausbruch des Vulkans verursachte eine Aschewolke in großen Höhen, die als Gefahr für den Flugverkehr wahrgenommen wurde. Zwar gab es bereits früher Einzelfälle, in denen Flugzeuge durch eine
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hohe Konzentration an Asche in der Nähe von aktiven Vulkanen Schäden davon trugen, jedoch blieben diese Ereignisse lokal begrenzt und erzeugten keinen politischen Handlungsdruck, da solche Gebiete durch einzelne Eingriffe in Flugrouten umflogen werden konnten. Im Fall des isländischen Vulkans konnten aber umgehend Simulationen angefertigt werden, die eine Ausbreitung von Asche über große Teile Europas beschrieben. Die Daten vom britischen Wetterdienst (Met Office) enthielten aber wenig präzise Aussagen über die Konzentration der Asche. Die fehlenden Analyse- und Interpretationsmöglichkeiten für den Flugverkehr führten zu einem diffusen Gefahrenbefund und langfristigen wie großräumigen Flugverboten in vielen europäischen Staaten. Einerseits wurde die Politik in dieser Situation gefordert, auf unzureichender Datenbasis zwischen ökonomischen und sicherheitspolitischen Zielen abzuwägen. Andererseits wurde aufgrund der mangelnden Koordination der staatlichen Flugsicherheitsbehörden und die fehlenden Instrumente zur Risikoanalyse die langfristige Forderung an die Politik gerichtet, adäquate Steuerungsinstrumente und Infrastrukturen zu entwickeln, um eine solche Ausnahmesituation in Zukunft zu vermeiden. Entsprechend wird das für den Handel und für die Fluggesellschaften teure Flugverbot längerfristig andere Themen von der verkehrspolitischen Agenda verdrängen. Zum einen, weil die Koordination von Daten und Regelungsstrukturen europaweit harmonisiert werden müssten und unplanmäßige langfristigere Investitionen hervorrufen, zum anderen, weil die mediale Öffentlichkeit in der Hauptreisezeit noch stärker auf kurzfristige Erfolge der Politik schauen wird und ihr Krisenmanagement dann verstärkt in den Fokus geraten kann. Charakteristisch für sich durch Unglücke öffnende Entscheidungsfenster ist es, dass unter den teilweise äußerst chaotischen Bedingungen Problemdefinitionen selten umfassend und abschließend vorgenommen werden können. Trotzdem erzeugen diese Ereignisse für die Politik einen kaum ignorierbaren Handlungsdruck. Ähnlich wie bei Einzelereignissen verhält es sich bei Problemen, die durch Krisen auf die Agenda gelangen. Hier ist der Zeitdruck wiederum entscheidendes Kriterium. Die Politik hatte beispielsweise durch die beginnende Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 die Entscheidung zu treffen, welche kurzfristigen Anreize für den Konsum einem vermuteten Absatzeinbruch entgegenwirken könnten. Die Wahl der Umweltprämie für Altfahrzeuge („Abwrackprämie“) als Instrument wurde zunächst positiv bewertet, die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Wirkung später kritisiert und auch diskutiert, wie diese in Zusammenhang mit umweltpolitischen Zielen vereinbar sei. Das Beispiel zeigt, dass Zeitknappheit großen Einfluss auf politische Entscheidungen und Ergebnisse hat und die Unsicherheit bezüglich der Wirkungen groß ist. Die politische Agenda kann auch durch selbst erzeugte Probleme geprägt werden. So haben die Entscheidungen zur Privatisierung der Deutschen Bahn den Kostendruck für den Einstieg in den Aktienmarkt für die Bahn erhöht. War-
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tungsintervalle wurden verlängert, Entscheidungen für die Ausschreibung neuer Technik wurden nach dem günstigsten Angebot getroffen, was einen schlechteren Materialeinsatz und kürzere Testphasen nach sich zog. Die Effekte sind derzeit medial und politisch auf der Agenda und mindern die Aufmerksamkeit für andere Probleme. Darüber hinaus stehen die Ergebnisse in Form von monatelangen Einschränkungen der Beförderung in Berlin oder bei den ICE-Zügen einer langfristig nachhaltigen Verkehrspolitik durch befürchtete Abwanderungen auf das Auto oder den LKW entgegen. Die zunehmende Lärmbelastung auf zentralen Korridoren entlang des Rheins aufgrund veralteter Waggons dürfte zu einem weiteren Problem der Bahn und damit von politischen Plänen werden, den Güterverkehr stärker zu fördern. Denn die Forderung nach Lärmschutz bzw. Nachtfahrverboten für Güterzüge würde sehr viel Geld binden bzw. einen tiefen Eingriff in die Logistikabläufe der Bahn verursachen, da die Streckenkapazität in Deutschland den Schienengüterverkehr in die Nachtstunden drängt. Trotz der rhetorischen Bezugnahme aller verkehrspolitischer Akteure auf ein umfassendes Nachhaltigkeitsmodell, sind insbesondere Problemsichten im Bereich ökologischer und sozialer Aspekte zurzeit sehr ungewiss (vgl. zu den sozialen Aspekten den Beitrag von Daubitz in diesem Band). Mit dem vierten Sachstandsbericht des IPCC der Vereinten Nationen 2007 rückte der Verkehr als klimaschädlich in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Debatten um Feinstaub und CO2-Emission bestimmen dabei zunehmend das Problembewusstsein. So dominiert bei verkehrspolitischen Stellungnahmen relevanter Akteure in Bezug auf die ökologische Dimension des Nachhaltigkeitskonzepts eine Verkürzung auf die Klimapolitik. Diese Sicht führt zu einer Beschränkung der Problemwahrnehmung auf die Höhe der Schadstoffemissionen. Dabei werden vor allem Lösungen thematisiert, die klimaschädliche Abgase reduzieren sollen. Dies sind meist technische Lösungen, die kurzfristige Erfolge ermöglichen. Eine aktuell nicht dominante, alternative Sicht könnte die Gesamtzusammenhänge zwischen Verkehr und Umwelt in das Blickfeld nehmen und die Klimadiskussion nur als Teilaspekt sehen. Auch umweltpolitische Akteure, die Verkehr als nicht nur klimaschädlich diskutieren, könnten aber die Klimadebatte nutzen und gegebenenfalls sogar unter einer schwarz-gelben Regierung für eine Ausweitung der Aufmerksamkeit auch auf andere Aspekte der Umweltproblematik nutzen. 4
Entwicklung von politischen Programmen als mögliche Lösungen für Probleme
Politische Konzepte können von unterschiedlichen Akteuren entwickelt werden. Sie entstehen nicht nur in Verhandlungen aus dem politischen Raum heraus,
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sondern werden oft unabhängig von konkreten Problemen – oder für politisch zurzeit nicht wahrgenommene Probleme – entwickelt. Dies ist gerade in der Verkehrspolitik ein häufiges Phänomen, da hier spezifisches Fachwissen notwendig ist, das besonders von Wissenschaftlern bereit gestellt werden kann. Auch Konzepte, die von Wissenschaftlern entwickelt werden, basieren jeweils auf Grundannahmen und Präferenzen. Dabei lassen sich verschiedene Typen verkehrspolitischer Konzepte unterscheiden, die jeweils von unterschiedlichen Netzwerken aus politischen Akteuren und Wissenschaftlern präferiert werden. Besonders gute Chancen zur politischen Verwirklichung unter einer schwarz-gelben Bundesregierung haben alle Lösungsansätze, die technisch orientiert sind. Dazu gehören unter anderem die gesamten Bereiche der Elektromobilität und der Telematik. Auch Klima- und Umwelttechnologien sollen nicht nur den Verkehr schonender und effizienter gestalten, sondern auch wirtschaftliche Impulse in Deutschland setzen. Bereits bei der Entwicklung dieser Lösungen spielen politische Entscheidungen eine Rolle, da die Mittel teilweise öffentlich bereit gestellt werden. Die öffentliche Förderung anwendungsorientierter Forschung geht zwar oft von konkreten politischen Problemen aus. Dies muss aber nicht zwingend bedeuten, dass die letztlich implementierten Technologien dann auch wirklich zur Lösung der ursprünglichen Probleme eingesetzt werden. Oft verbirgt sich hinter der Entwicklung von Technologien auch eine Mischung verschiedener Ziele, wie etwa das europäische Programm zur globalen Satellitennavigation „Galileo“ zeigt. Die Programmentwicklung war teilweise von wirtschaftlichen Anwendungen (nicht nur im Verkehrsbereich) geprägt, wird aber auch mit militärischen und wissenschaftlichen Zielen verbunden. Ähnliches gilt für die Elektromobilität, die zurzeit vor allem von dem Ziel einer nachhaltigeren Fundierung der Energieversorgung von Automobilen geprägt ist. Auch hier ist es nicht unwahrscheinlich, dass die letztlich entwickelten technischen Lösungen für andere Probleme eingesetzt werden, als das ursprünglich geplant war. Entsprechend ist nicht gewährleistet, dass die umgesetzten Lösungen das Problem reduzieren. So müssen elektrische Antriebe, die vom Entscheidungsfenster der Klimakrise profitieren, keineswegs klimapolitische Auswirkungen haben. Es kann sogar einen gegenteiligen Effekt geben, wenn die Elektroenergie nicht regenerativ gewonnen wird, die technische Umstellung aber den Druck zur Veränderung des Mobilitätsverhaltens zunächst auffängt. Elektromobilitätsentwicklung kann also auch wirtschaftspolitischen Zielen dienen, die wiederum Effekte hervorrufen, die nicht intendiert waren. Das politische Problem technischer Lösungen besteht in den verflochtenen Strukturen der Entscheidungsfindung und Finanzierung. Bei jedem technologischen Großprojekt sind unterschiedliche Akteurstypen beteiligt. Dazu gehören fast immer EU, Bund und Länder sowie private Unternehmen. Konflikte können zwischen verschiedenen beteiligten Staaten entstehen (etwa in Fragen der Stand-
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orte von Forschungsinstitutionen), sie können aber auch die Verteilung der Nutzungsrechte betreffen. Trotz dieser Probleme ist zu erwarten, dass die Bedeutung technikorientierter Lösungsansätze in der Verkehrspolitik eher zunimmt. Ein Grund dafür liegt darin, dass die alternativen Lösungen politisch zurzeit wenig präferiert werden. Dies gilt insbesondere für regulative Maßnahmen der Verhaltenssteuerung. Ein Standardbeispiel ist hier der Konflikt um eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Bundesautobahnen. Auch diese Maßnahme wird im Kontext verschiedener Probleme diskutiert. Sie soll den Energieverbrauch reduzieren, Unfälle vermeiden, Lärm vermindern oder auch den Verkehrsfluss verbessern. Nicht alle regulativen Maßnahmen der Verhaltenssteuerung werden aktuell abgelehnt. So wächst die Zahl der Umweltzonen, die offiziell mit dem Ziel der Reduktion von Feinstaub eingerichtet werden. Auch hier ist umstritten, welche Ziele diese Maßnahmen letztlich tatsächlich verfolgen. Denkbar wären etwa auch Lärmreduktion, Förderung des Absatzes moderner (deutscher) Automobile oder symbolische Politik zur Vermeidung anderer Maßnahmen. Da die konkrete Entscheidung über Umweltzonen dezentral erfolgt, sind hier keine allgemeinen Aussagen möglich. Anders als regulative Maßnahmen sind Formen der Anreizsteuerung zumindest prinzipiell mit den Kernüberzeugungen der Regierungsparteien vereinbar. Einflussreiche Verkehrsökonomen sehen Anreize als marktkonforme Steuerungsinstrumente, während sie regulative Maßnahmen häufig ablehnen. Der jüngste Vorstoß der Regierung, die PKW-Maut einzuführen, kann als ein Systemwechsel von der Haushalts- zur Nutzerfinanzierung verstanden werden. Der Vorstoß wurde auch vom Verkehrsgerichtstag in Goslar unterstützt, obwohl die konkrete Lenkungswirkung zumindest umstritten ist. Auch bei der Frage nach der Strukturierung des Schienenverkehrs verfolgt die Regierung zumindest langfristig eine Privatisierungsstrategie. Wie bei allen anderen Lösungen, verfolgt auch dieses Instrument verschiedene Ziele: So soll über eine Stärkung des Wettbewerbs die Effizienz und Kundenfreundlichkeit der Bahn verbessert werden. Auch die intermodale Konkurrenz zwischen Bahn und Bus soll gestärkt werden. Die bisherige Erfahrung zeigt aber, dass letztlich – nicht nur in Deutschland – die Privatisierung von Bahnsystemen bzw. einzelnen Systemteilen vor allem haushaltspolitische Ziele verfolgte. Im Koalitionsvertrag angekündigt wird der Ausbau der Anreizsteuerung auch im Kontext von Public Private Partnerships (PPP), also der Teilprivatisierung ehemals öffentlicher Aufgaben und Leistungen. Dies ist vor allem für größere Verkehrsinfrastrukturprojekte ein aktuell vielfach gewünschter und teilweise schon umgesetzter Weg. Die Koalition will dazu der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft (VIFG) mehr Kompetenzen einräumen und sie damit kreditfähig machen. Andere Infrastrukturbereiche wie Telekommunikation, Post, Energie und
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Entsorgung wurden bereits in ähnlicher Form (teil-)privatisiert. Auch hier ist der Bezug zwischen Lösung und Problem unklar: PPP können unterschiedliche Ziele verfolgen. Sie können helfen, die Effizienz von Maßnahmen zu verbessern und (etwa über daraus resultierende Nutzergebühren) auch Anreize setzen. Häufig dienen sie aber allein dazu, kurzfristige Finanzierungslücken öffentlicher Haushalte zu überbrücken – etwa wenn Kommunen private Firmen beauftragen, Geschwindigkeitsmessungen durchzuführen. Nur scheinbar im Einklang mit der Privatisierungsstrategie steht die gleichzeitig im Koalitionsvertrag angekündigte Zielsetzung, Verwaltungsüberkapazitäten abzubauen. Insgesamt wird der Bürokratie-Abbau in der Vereinbarung über 40-mal erwähnt. Tatsächlich stehen Privatisierungen im Widerspruch zu diesem Instrument: Politische Ziele – etwa im Hinblick auf eine effektive Verkehrslenkung – können direkt erreicht werden, wenn der Staat selbst als Anbieter dieser Leistungen auftritt. Bei einer Übertragung der Aufgaben an Private werden andere – meist regulative – Steuerungsmaßnahmen notwendig, da die Ziele der privaten Anbieter nicht mit den Zielen des Staates übereinstimmen. Regulative Steuerungsmaßnahmen beinhalten immer auch bürokratische Elemente, um diese umzusetzen. Daher ist eine Verbindung von Entbürokratisierung und Privatisierung ein schwer zu lösendes Dilemma. 5
Entwicklung der Machtverhältnisse
Das zentrale Merkmal des deutschen politischen Systems ist die geringe Konzentration politischer Macht. Nicht nur die Koalitionsparteien, sondern viele andere Akteure werden für grundlegende Veränderungen benötigt. Trotz der Föderalismusreform von 2006, die auf eine stärkere Trennung der Kompetenzen von Bund und Ländern zielte, bleiben wesentliche politische Entscheidungen im Bundesrat zustimmungspflichtig. Somit wirken sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf die Gestaltungsspielräume für die Regierungskoalition auf Bundesebene aus. Sehr häufig gibt es in Deutschland unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Da die Landtagswahlen meist zu anderen Zeitpunkten stattfinden als die Bundestagswahlen und immer auch die Zufriedenheit über die aktuelle Regierungskoalition im Bund widerspiegeln, ergeben sie regelmäßig andere Mehrheiten als im Bund. Fast immer ist die Zustimmung zur Politik von Bundesregierungen zur Mitte von Legislaturperioden besonders gering. Und selbst die Zustimmung von Landesregierungen mit analoger parteipolitischer Färbung wie auf Bundesebene drängen auf die Berücksichtigung regionaler Interessen in der Verkehrspolitik. Gerade bei kostenintensiven Maßnahmen muss daher der regionale Interessenproporz genau gewahrt bleiben.
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Was bedeutet das für die Verkehrspolitik? Grundlegende Maßnahmen bedürfen meistens der Zustimmung von Landesregierungen, an denen mindestens eine Oppositionspartei vertreten ist. Bisher wurde die Bundesregierung in der Politikwissenschaft oft als Staat einer dauerhaften großen Koalition beschrieben – es waren jeweils die oppositionellen großen Parteien, deren Zustimmung erkauft werden musste. Im heutigen Fünf-Parteien-System ist es denkbar und nicht unwahrscheinlich, dass nicht die SPD oder auch die CDU, sondern Landesregierungen unter Beteiligung der Grünen in Entscheidungen integriert werden. In vielen Politikfeldern haben sich vor allem Union und Bündnis 90/Die Grünen schon angenähert. Es ist zu erwarten, dass die Regierung die Chance bekommt, in unterschiedlichen Feldern beliebig Mehrheiten zu suchen – dies würde wahrscheinlich von den Oppositionsparteien mit einer umfassenden Blockade beantwortet. Es bleibt also als wahrscheinliche Option, dass die Grünen für verkehrspolitische Kompromisse gewonnen werden müssten. Diese Aussicht bedeutet für die derzeitige Bundespolitik, dass fast alle derzeit im Koalitionsvertrag formulierten Ziele und Maßnahmen zumindest grundlegend abgeschwächt werden müssten. Jenseits dieser rein parteipolitischen Betrachtung bietet der „Machtstrom“ der Verkehrspolitik viele unvorhersehbare Elemente. Dazu gehört etwa das stets spannungsreiche Verhältnis zwischen Spezialisten und Generalisten in allen Parteien. Auch Konflikte zwischen Bund und Ländern oder innerhalb der EU werden über Machtverhältnisse entschieden. In allen Bereichen können personelle Wechsel zu grundlegenden Verschiebungen führen. Oft ist nicht einmal ein personeller Wechsel notwendig. Schon individuelle Popularitätswerte können die Durchsetzungsfähigkeit von Ressorts wesentlich beeinflussen. Auch Machtverschiebungen zwischen Interessengruppen können politische Entscheidungen nachhaltig prägen. Diese können auf langfristigen Entwicklungen beruhen – etwa veränderten Wegen der Öffentlichkeitspolitik durch neue Informationsmedien. Sie sind aber oft auch kurzfristig und hängen von zufälligen Ereignissen ab. Jenseits der Machtverhältnisse im Akteursnetz der Verkehrspolitik sind auch politikfeldübergreifende Koppelgeschäfte denkbar, d.h. die Zustimmung für eine verkehrspolitische Maßnahme wird über ein Paket mit anderen Politikfeldern erkauft. Auch aus solchen Paketvereinbarungen können Entscheidungsfenster in der Verkehrspolitik entstehen. Einzelne politische Maßnahmen können auch dadurch ermöglicht werden, dass die Öffentlichkeit auf andere Aspekte fokussiert ist – sei es auf Konflikte im Politikfeld selbst, auf andere politische Probleme oder gar auf externe Ereignisse wie eine Fußball-WM. In jedem Fall wäre es aber notwendig, dass interessierte Akteure ein entsprechendes Entscheidungsfenster erkennen und über die Möglichkeit verfügen, es zur Verwirklichung ihrer Lösungen zu nutzen.
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Fazit Die grundlegende These des Aufsatzes lautet, dass Herausforderungen deutscher Verkehrspolitik nicht von „objektiven“ inhaltlichen Problemen geprägt sind. Selbst die subjektive Problemwahrnehmung durch die zentralen Akteure der Regierungsparteien bietet nur einen unvollständigen Einblick in die zu erwartende Verkehrspolitik. Notwendig ist vielmehr ein Blick auf das komplexe Zusammenspiel von Problemwahrnehmungen, Lösungen und Machtverschiebungen. Politische Lösungen werden meist langfristig über mehrjährige Prozesse in Kooperation zwischen Wissenschaft und Politik formuliert. Problemwahrnehmungen verändern sich dagegen in kürzeren Abständen, so dass die formulierten Lösungen schon zeitlich selten zu den ursprünglichen Problemen passen. Noch kurzfristiger sind die Veränderungen der Machtverhältnisse. Nicht zuletzt innerparteiliche Machtkämpfe können die Umsetzungschancen unterschiedlicher Lösungen kurzfristig wesentlich verändern. Zuletzt hat etwa die wechselhafte Debatte über die Fortführung der Bahnprivatisierung in Deutschland gezeigt, wie wenig aussagekräftig langfristige Prognosen in der Politik sind. Am Ende dieser Analyse kann daher keine einfache Prognose stehen. Vielmehr lassen sich – in Abhängigkeit von situativen Einflüssen und individuellen Strategien – drei idealtypische Szenarien unterscheiden. Erstens ist es denkbar, dass sich die aktuell im Koalitionsvertrag festgeschriebene verkehrspolitische Tendenz fortschreibt. Dies würde bedeuten, dass vor allem technische Lösungen gefördert würden. Als Steuerungsinstrument würden Anreize gegenüber Regulationen bevorzugt. Damit verbunden wäre eine Fortführung der privaten Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturprojekten. In der Konkurrenz zwischen den Verkehrsträgern würde auf jede aktive Stärkung der Schiene gegenüber der Straße verzichtet werden. Dies hätte – auch durch die Orientierung am bisherigen privatwirtschaftlichen Modell des Straßenverkehrs – voraussichtlich zur Folge, dass sich der Modal Split zu Lasten des Schienenverkehrs wieder steigert und dass insgesamt keine Eindämmung des Verkehrswachstums erfolgt. Inhaltlich ist damit eine klare Fokussierung auf die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit verbunden. Die zweite Alternative wäre eine deutliche Abschwächung der im Koalitionsvertrag angekündigten Strategie. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland sieht auch außerhalb der Bundesregierung viele Möglichkeiten des „Mitregierens“ vor. An erster Stelle ist hier der Bundesrat zu nennen. Auch die EU-Ebene, das Bundesverfassungsgericht und zivilgesellschaftliche Akteure können auf die Verkehrspolitik Einfluss nehmen. Da selbst innerhalb der Bundesregierung die verkehrspolitischen Strategien umstritten sind, ist es im Vergleich zum ersten Szenario wahrscheinlicher, dass lediglich ein inkrementeller
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Wandel in die angekündigte Richtung – oder gar eine Fortsetzung der bisherigen Verkehrspolitik in ihren groben Leitlinien – umgesetzt wird. Keineswegs auszuschließen ist drittens, dass die Verkehrspolitik der 17. Legislaturperiode von Maßnahmen geprägt wird, die den aktuellen Ankündigungen vollkommen widersprechen. Verantwortlich dafür werden voraussichtlich nicht etwa neue, bisher unbekannte Lösungen sein. Vielmehr können grundlegende Veränderungen durch Problemwahrnehmungen oder Machtverschiebungen ausgelöst werden. Selbst scheinbar „kleinere“ Ereignisse – etwa durch Megastaus, Unfälle, Krisen einzelner Verkehrsbranchen oder eben Naturphänomene wie Vulkanausbrüche – sind als Auslöser denkbar. Auch neue Verhandlungsstrategien durch veränderte Machtverhältnisse im Bundesrat können grundlegende Veränderungen auslösen. Notwendig für einen solchen neuen Paradigmenwechsel ist aber in jedem Fall, dass einzelne politische Akteure als Unternehmer auftreten und die Handlungsfenster aktiv nutzen. Bisher sind entsprechende einflussreiche politische Unternehmer in der Verkehrspolitik kaum sichtbar. Letztlich bleibt somit dieses dritte Szenario zwar möglich, aber zumindest für die 17. Legislaturperiode ist es noch nicht wahrscheinlich. Quellen Bandelow, Nils C. (2007): Unwissen als Problem politischer Steuerung in der Verkehrspolitik. In: Bandelow, Nils C./Wilhelm Bleek (Hrsg.): Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien. Wiesbaden, S. 139-162. Beyme von, Klaus (2007): Verkehrspolitik als Feld der Staatstätigkeit – ein Aufriss. In: Oliver Schöller/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden, 125-137. Jann, Werner/Kai Wegrich (2009: Phasenmodelle und Politikprozesse: Der Policy Cycle. In: Klaus Schubert/Nils C. Bandelow (Hrsg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0. München, 75-113. Kingdon, John W. (2003): Agendas, Alternatives, and Public Policies. New York. Lehmkuhl, Dirk (2006): ,...und sie bewegt sich doch‘. Der späte Bruch mit verkehrspolitischen Pfadabhängigkeiten durch europäische Integration und nationalen Reformdruck. In: Manfred G. Schmidt/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden, S. 363-484. Rüb, Friedbert W. (2009): Multiple-Streams-Ansatz: Grundlagen, Probleme und Kritik. In: Klaus Schubert/Nils C. Bandelow (Hrsg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0. München, 348-376. Schöller, Oliver (2007): Verkehrspolitik: Ein problemorientierter Überblick. In: Oliver Schöller/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden, 17-42.
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Umweltbundesamt (2010): Risikofaktor nächtlicher Fluglärm, Abschlussbericht über eine Fall-Kontroll-Studie zu kardiovaskulären und psychischen Erkrankungen im Umfeld des Flughafens Köln-Bonn. Schriftenreihe Umwelt und Gesundheit 1/2010. www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/3774.pdf (30. März 2010). Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen. Zahariadis, Nikolaos (2003): Ambiguity and Choice in Public Policy. Political Decision Making in Modern Democracies. Washington, D. C.
Weiterführende Literatur Heldmann, Horst (2002): 50 Jahre Verkehrspolitik in Bonn. Ein Mann und zehn Minister. Bonn. Lehmkuhl, Dirk (2002): Harmonization and Convergence? Europe’s Differential Impact on Transport Policies in the Member States. In: German Policy Studies 2 (www.spaef.com/article.php?id=865). Sack, Detlef (2009): Governance und Politics. Die Institutionalisierung öffentlich-privater Partnerschaften in Deutschland. Baden-Baden. Sager, Fritz (2007): Making Transport Policy Work: Polity, Policy, Politics, and Systematic Review. In: Policy & Politics 35, 269-288. Teutsch, Michael (2001): Regulatory Reforms in the German Transport Sector: How to Overcome Multiple Veto Pointes. In: Adrienne Héritier et al (eds.): Differential Europea. Boulder, CO, 133-172.
Mobilität und Armut – Die soziale Frage im Verkehr
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Mobilität und Armut – Die soziale Frage im Verkehr Stephan Daubitz Einführung Dass sich Verkehrs- und Mobilitätsforscher, Verkehrsplaner und verkehrspolitische Entscheidungsträger mit dem Verkehrsverhalten von einkommensarmen Menschen beschäftigen, ist leider in Deutschland eher die Ausnahme. Für die Verkehrsunternehmen z. B sind die Einkommensarmen sog. captives, im öffentlichen Verkehr gefangene, denen nichts anderes übrig bleibt, als dieses Angebot zu nutzen. Dass man sich um diese Gruppe keine großen Gedanken macht, ließ sich z. B. bei der Entschädigungsdebatte nach dem S-Bahn-Chaos in Berlin 2009 beobachten. Nach dem großflächigen Ausfall der S-Bahnen hatte sich das Verkehrsunternehmen zu einer Entschädigung ihrer Kunden entschlossen. Die Entschädigung wurde allerdings „scheibchenweise“ verkündet: Die ersten 25 Millionen Euro, die das Unternehmen einstellte, waren für die „normalen“ Abo-Kunden gedacht; sie konnten im Monat Dezember die S-Bahn kostenlos nutzen. Erst auf politischen Druck legte der Bahn-Vorstand Ulrich Homburg nach. Besitzer eines Sozialtickets bekamen ab Januar 2010 15 Euro Entschädigung von der Bahn ausgezahlt. Ist dieser Fall symptomatisch? Hat man die Kunden der Sozialtickets vergessen? Spielen sie in den Überlegungen der Verkehrsunternehmen eine Rolle? Das die Schwerpunkte in der Verkehrspolitik und Verkehrsplanung anders gesetzt werden drückt sich auch in den Ausgaben des Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) aus. Das BMVBS hat kürzlich stolz eine „Halbzeitbilanz“ des Bundesverkehrswegeplans 2001-2015 präsentiert. So wurden bis 2007 insgesamt 19,8 Milliarden Euro für vorrangige Autobahn- und Bundesstraßen-Projekte ausgegeben. Für den Zeitraum von 1999 bis 2008 stellte der Bund für das Programm Soziale Stadt, das mit einem integrativen und kooperativen Ansatz benachteiligte Stadtbezirke sozial und räumlich weiterentwickeln möchte, 760 Millionen zur Verfügung. Insgesamt standen dem Programm durch die ergänzenden Mittel der Länder und Gemeinden 2,2 Milliarden zur Verfügung. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Verbesserung der Automobilität weiterhin handlungsleitend für die bundesdeutsche Verkehrspolitik ist. Handlungsleitend sollten jedoch Prinzipien einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung darstellen. Stellte die Agenda 21 schon allgemeine Forderungen für eine nachhaltige Mobilität auf, wurden im Jahre 1997 in Vancouver auf einer OECD-Konferenz konkrete Leitlinien für nachhaltiges verkehrspolitisches, verkehrsplanerisches und verkehrswissenschaftliches Handeln aufgestellt. Von den O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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verabschiedeten neun Prinzipien bildet die Forderung nach Gleichheit eine wesentliche Anforderung an eine nachhaltige Gestaltung von Mobilität. Die Nationalstaaten werden in diesem Dokument aufgefordert die grundsätzlichen Verkehrsbedürfnisse von Armen, Frauen, Behinderten, Kindern und Landbevölkerung zu sichern (vgl. OECD 1996: 60 ff.). Offensichtlich haben die “VancouverPrinzipien” eine nicht so starke Strahlkraft entfalten können, wie es z.B. die Ottawa-Charta aus dem Jahre 1986 für die Gesundheitsförderung bzw. Gesundheitspolitik tat. So setzte sich schrittweise als Folge des in der Ottawa-Charta formulierten gesundheitspolitischen Leitbilds eine Umorientierung von der Verhütung von Krankheiten zur Förderung von Gesundheit durch. Nicht nur theoretisch sondern auch praktisch wurden Konzepte der Prävention entwickelt. Die „Vancouver-Prinzipien“ für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung sind weniger bekannt und werden selten als ein verkehrspolitisches Grundsatzprogramm verstanden an dem sich konkrete verkehrspoltische Maßnahmen vor Ort orientieren. Eine Ausnahme bildet der Stadtentwicklungsplan Verkehr (SteP) des Berliner Senats, in dem sich Bezüge zu den Vancouver Prinzipien herauslesen lassen. Der SteP setzt sich zum Ziel Mobilitätschancen für alle zu schaffen und den motorisierten Individualverkehr zu begrenzen. (vgl. SenStadt 2003) Es gilt also, eine soziale, regionale und intergenerative Gerechtigkeit herzustellen. Dass ungleiche, ungerechte Gesellschaften den Menschen nicht gut tun ist hinreichend belegt. Eine der jüngsten umfassenden Untersuchungen auf diesem Gebiet veröffentlichten der britische Ungleichheitsforscher Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett. Sie kamen zu dem Schluss, dass die gesundheitlichen und sozialen Probleme signifikant häufiger in Ländern auftreten, in denen die Einkommensschere weit geöffnet ist (vgl. Wilkinson/Pickett 2009). Für die Sicherstellung der Umweltverträglichkeit von Verkehr wurde in Vancouver das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit eingefordert. Aber was heißt das konkret? Angesichts der Wirtschaftskrise wurde 2009 eine spannende Debatte über die Begriffe Umweltgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit geführt. Haupttenor der Debatte war es, die Realisierung von Umweltgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit gemeinsam zu denken. Leider scheint diese Diskussion inzwischen wieder abgeebbt zu sein. Dabei weisen die Armutsberichterstattungen in Deutschland ein Anwachsen der Einkommensunterschiede aus. Die Zahlen verdeutlichen, dass es hier nicht um ein Randproblem geht. So mussten 2006 15% der Haushalte in Deutschland mit weniger als 900 € auskommen. (vgl. Bundeszentrale 2008: 145 f.) Im Mai 2009 erhielten fast 7 Millionen Menschen in Deutschland Arbeitslosengeld II. (vgl. Bundesagentur 2009: 3) Und dass die Mobilitätsbedürfnisse nicht mit dem errechneten Hartz IVRegelsatz zu befriedigen sind, wurde spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 klar. So werden im Hartz IV Regelsatz
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14,26 € für Ausgaben im Bereich Verkehr veranschlagt. Die durchschnittlichen Verbraucherausgaben für Verkehr liegen aber in Deutschland bei 59 €. Das Bundesverfassungsurteil machte deutlich, dass der Regelsatz auf wenig solidem empirischem Fundament ruht. Für die Realisierung der eigenen Mobilität gibt es inzwischen Erfahrungsberichte genug, die verdeutlichen, dass Einkommensarmut Mobilität einschränkt. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Alltagsbeschreibungen von Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt die z. B. in ihrem Buch „Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht“ den Mobilitätsalltag einer Hartz IV-Familie beschreiben. Für Einkommensarme ist es Realität, dass sie die Fahrkarten für notwendige Fahrten zu Bewerbungsgesprächen oder dem Arbeitsamt nicht bezahlen können. Bislang bietet nur Dortmund ein Sozialticket für 15 € im Monat an.1 In einigen Großstädten erhalten Hartz IV-Empfänger/innen immerhin bis zu 50 % Rabatt auf die Monatskarte. (vgl. Die Linke 2008: 20 ff.) Angesichts weiter steigender Mobilitätskosten wird sich der finanzielle Spielraum nicht nur für den Durchschnittsverdiener weiter einschränken, sondern die soziale Ungleichheit wird die schon bestehende Barrierewirkung von eingeschränkter Mobilität auf gesellschaftliche Teilhabe noch weiter verschärfen. Mobilität ist ein wichtiger Baustein für die soziale Inklusion von Menschen, denn der fehlende Zugang zu Beschäftigung, Gesundheitsdienstleistungen, Bildungs- und Kultureinrichtungen ist sowohl Ergebnis als auch Ursache sozialer Ausgrenzung. Betroffen sind vor allem alleinerziehende Frauen, Hartz IV Empfänger/innen, ältere Menschen, Menschen mit körperlichen und/oder psychischen Behinderungen und Migrant/innen. Diese gesellschaftlichen Gruppen sind mit strukturell bedingten Erreichbarkeitsdefiziten konfrontiert. Es geht also im Kern auch im Bereich der Verkehrspolitik darum, die soziale Frage zum Thema zu machen. Und zwar intelligent zum Thema zu machen, indem man die soziale Frage mit der umweltgerechten Gestaltung des Verkehrs verknüpft. Also nicht: Jedem sein Auto. Sondern: Jedem die Möglichkeit, umweltgerecht seinen Mobilitätsbedürfnissen nachzukommen. Hierzu gibt es jenseits der realistischen Berechnung des Hartz IV Regelsatzes und der Bereitstellung von Sozialtickets weitere interessante und kreative Lösungsversuche. Karen Lucas dokumentierte in ihrem Band „Running on empty“ (2004) best practice Beispiele, die Mobilität für Einkommensarme ermöglichen. Auf europäischer Ebene sammelte und evaluierte das Projekt MATISSE (Methodology for Assessment of Transport ImpactS of Social Exclusion) Maßnahmen des Verkehrs, die soziale Exklusion verhindern sollen. Auch in der verkehrswissenschaftlichen Forschung gibt es noch viel zu tun. So ist das Thema soziale Exklusion und Mobilität vor allem in den angelsächsi1
Inzwischen wurde der Preis für das Sozialticket in Dortmund auf 30 € im Monat erhöht.
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schen Ländern bearbeitet worden. In Deutschland gibt es hierzu noch einige Forschungslücken zu schließen. Im Folgenden sollen einige Erkenntnisse über das Verkehrsverhalten von Einkommensarmen präsentiert und mögliche Lösungsansätze dargestellt werden. Letztendlich sollen die Ausführungen auch ein Plädoyer sein, die VancouverPrinzipien Realität werden zu lassen, indem man damit anfängt, die soziale Frage im Bereich der Verkehrspolitik mitzudenken. Hoffnung macht, dass einige Stadtund Entwicklungsplaner/innen sich bereits eine soziale Zielstellung auf die Fahne geschrieben haben und diese als Leitlinien für ihr Handeln begreifen. So wird im Stadt- und Entwicklungsplan Verkehr der Senatsverwaltung Berlin der verbesserte Zugang mobilitätseingeschränkter und einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen zu Verkehrsnetzen und Verkehrsmitteln und deren Nutzungsmöglichkeiten angestrebt. Vergleichbare Mobilitätschancen sollen ohne die Nutzung von Autos möglich werden. 1
Soziale Frage im Verkehr
Der erste Zugang zur sozialen Frage im Verkehr ist meistens die Betrachtung der nackten Zahlen. In Deutschland können wir auf die großen verhaltensbezogenen Verkehrserhebungen Mobilität in Deutschland (MiD), Mobilität in Städten (SrV) und das Mobilitätspanel (MOP) zurückgreifen. Dieser Datenschatz bietet den Verkehrswissenschaftler/innen die Möglichkeit, Vergleiche im Verkehrsverhalten von verschiedenen Einkommensgruppen vorzunehmen. Aus den Daten zu den Verkehrsleistungen der Bevölkerung lassen sich signifikante Unterschiede z. B. zwischen Niedrigverdienenden und Menschen mit höherem Einkommen erkennen. So ist z. B. die Tagesweglänge von Menschen mit einem Einkommen zwischen 2.600 und 3000 € doppelt so lang wie die Tagesweglänge von Menschen mit einem Einkommen von weniger als 500 € im Monat. Der Vergleich der Wahl der Hauptverkehrsmittel nach ökonomischen Haushaltsstatus bei der 2 MiD Erhebung 2008 ergab eindeutige Unterschiede zwischen den Gruppen. So werden in Haushalten mit niedrigem ökonomischen Status die Wege wesentlich häufiger zu Fuß und mit dem Fahrrad bewältigt. Auch der öffentliche Nahverkehr wird von statusniedrigen Haushalten öfter genutzt als von Gruppen mit höherem Einkommen.
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Die Status-Definition wurde über die Zusammensetzung der gewichteten Haushaltsgrößen (nach Äquivalenzeinkommen OECD neu) und der Einkommenskategorie gebildet.
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Abbildung 1:
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Verkehrsmittelwahl nach Haushaltseinkommen
Quelle: MiD 2008 Bedeutend ist zum einen die fehlende PKW-Verfügbarkeit in ärmeren Einkommensgruppen, zum anderen der Zwang, die alltäglichen Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen zu müssen, da die Tickets für den ÖPNV zu teuer sind. Zwar nehmen die Ausgaben für Mobilität an den Gesamtausgaben mit steigendem Einkommen zu, aber der Anteil der Mobilitätskosten am Gesamtbudget sinkt mit höherem Einkommen. Personen mit niedrigem ökonomischen Haushaltsstatus legen jährlich weniger Pkw-Kilometer zurück als Gruppen mit einem sehr hohen ökonomischen Haushaltsstatus. Der jährliche CO2-Ausstoß pro Person im Haushalt ist dementsprechend mit 2730 kg für Haushalte mit sehr hohem ökonomischen Status doppelt so hoch wie der Wert für die Gruppe mit sehr niedrigem oder niedrigem ökonomischen Status. Nun könnte man in Anbetracht der niedrigen CO2-Emissionen von Einkommensarmen die zynische Konsequenz ziehen, sich mit dem Verkehrsverhalten von Einkommensarmen nicht weiter zu beschäftigen, da diese sich bereits umweltgerecht bewegen . In Wahrheit ist jedoch die Fokussierung der Verkehrspolitik auf die Förderung des Automobilverkehrs ein Grund dafür, dass der gleichberechtigte Zugang zu Mobilität und damit die Teilhabe am gesellschaftlichem Leben für alleinerziehende Frauen, Hartz IV Empfänger/innen, ältere Menschen, Menschen mit körper-
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lichen und/oder psychischen Behinderungen, Migranten/innen nicht gegeben ist. Diese Gruppen sehen sich strukturell bedingten Erreichbarkeitsdefiziten gegenüber, die z. B. durch das Verschwinden der Nahversorgung, das Anwachsen der Arbeitswege oder dem Verlust von Ortszentren den Autoverkehr begünstigen, und es somit diesen Gruppen schwer machen, den Alltag zu bewältigen. Angesichts des Versprechens von Freizügigkeit und Beweglichkeit der Gesellschaft ist eine Ungleichverteilung der Mobilitätsmöglichkeiten zu konstatieren. Abbildung 2:
CO2 Emissionen und Haushaltseinkommen
Quelle: MiD 2008 Wenn wir für Deutschland vertiefte Aussagen darüber machen wollen, wie sich die Erreichbarkeitsdefizite auf die Gruppe der Einkommensarmen auswirken und wie diese zur sozialen Exklusion führen, sind wir im Wesentlichen auf Arbeiten im angelsächsischen Raum zurückgeworfen. Die großen deutschen verhaltensbezogenen Verkehrserhebungen machen den Unterschied zwischen den Einkommensgruppen zwar anhand wichtiger Kennzahlen (z. B. Anzahl der Wege, Dauer der Wege etc.) deutlich, die Auswirkungen für die Menschen und ihre Ausweichmechanismen können uns diese Zahlen nicht vermitteln. Als das Ministerium der Gemeinden und Kommunalverwaltung in Großbritannien eine Organisationseinheit begründete, die sich mit dem Zusammenhang
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von Verkehr und sozialer Erreichbarkeit beschäftigte, ging für den im Jahre 2003 erschienenen Endbericht „Making the Connections“ eine Erhebung unter Einkommensarmen voraus. Für 40 % der Arbeitssuchenden stellte die fehlende Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln eine Barriere bei der Suche nach einem Job dar. 31 % der befragten Menschen gaben an, dass sie aufgrund des fehlenden PKW Schwierigkeiten hätten, ein lokales Krankenhaus zu erreichen. Das letztere Beispiel verdeutlicht, wie verwoben die einzelnen Politikfelder Sozial-, Gesundheits-, Umwelt- und Verkehrspolitik miteinander sind. Die soziale Frage wird nach der Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung und der Wirtschaftskrise in Deutschland heftig diskutiert. Sie hat sich zur alles bestimmenden Frage entwickelt, an der sich die weitere Ausgestaltung einer demokratischen Gesellschaft entscheidet. Auch die Verkehrspolitik kommt nicht darum herum, sich der Frage zu stellen, wie sozialgerecht Mobilität gestaltet werden kann. Weiterhin verschärfend kommt für dieses Politikfeld hinzu, dass mit einem stetigen Anstieg der Mobilitätskosten zu rechnen ist. Die Steigerung der Mobilitätskosten wird nicht nur den PKW-Verkehr treffen, sondern steigende Energiepreise werden auch zu weiteren Preissteigerungen im öffentlichen Nahverkehr führen. Frank Hunsicker und Carsten Sommer (2009) sagen für das Jahr 2030 eine moderate Preissteigerung für den öffentlichen Nahverkehr voraus, wenn die öffentlichen Mittel für diesen Bereich erhalten bleiben. Bei dem schienengebundenen öffentlichen Nahverkehr gehen die Autoren von einer Preissteigerung von ca. 15 % aus. Der straßengebundene Nahverkehr soll nach dieser Prognose um etwa um 2,9 % bis 3,5 % jährlich steigen. Aber steigen auch die Einkommen in diesem Zeitraum an? Für den Zeitraum von 1993 bis 2008 stellte das Statistische Bundesamt fest, dass die Nettolöhne und -gehälter inflationsbereinigt um 0,3 % gesunken waren. (destatis.de) Also Verkehrspolitik steht vor der großen Aufgabe umweltgerechte Mobilität für alle zu sichern und auch eine größere Kostenwahrheit herzustellen, die die Internalisierung externer Kosten von Verkehr abbildet. Dies kann nicht ohne spannungsreiche gesellschaftliche Debatten ablaufen, da die Abbildung von Kostenwahrheit z.B. für das Auto notwendiger Weise mit Kostensteigerungen verbunden ist. So gesehen wird die Verknüpfung von Verkehrspolitik und Sozialpolitik zwangsläufig erfolgen. 2
Gesellschaftliche Teilhabe durch Mobilität umweltgerecht ermöglichen
Wie lässt sich nun eine umweltgerechte gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen? Die Autor/innen Sven Altenburg, Philine Gaffron und Carsten Gertz fordern eine sozial gerechte Politik, die sich zukünftig damit auseinandersetzt „wie in bestimmten (insbesondere peripheren und ländlichen z. T. aber auch suburbanen) Räumen und für betroffene Haushalte eine Einschränkung an Mobilität und da-
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mit eine Exklusion mit all ihren volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen vermindert werden kann.“ (vgl. FES 2009: 8) Die Autoren/innen identifizieren zwei Strategien, um Teilhabechancen in der Gesellschaft durch Mobilität zu ermöglichen: Zum einen die Subventionierung von Mobilität, z. B. durch mobilitätsorientierte Transferzahlungen, zum anderen eine „Integrierte Siedlungs- und Verkehrsentwicklung“. Letzteres beinhaltet eine Umstrukturierung des Raum- und Verkehrssystems, unter anderem durch ÖPNVAusbau oder den Aufbau einer verkehrssparsamen Siedlungsentwicklung. Zu dem strategischen Pfad der Subventionierung von Mobilität gehören unter anderem die Instrumente des Sozialtickets, fahrscheinfreie Tarifangebote im öffentlichen Nahverkehr oder das Mobilitätsgeld. Bei dem Mobilitätsgeld wird das Subjekt gefördert (vgl. Canzler/Knie 2007). So sollen Einkommensarme, Rentner und Jugendliche ein Mobilitätsgeld von ca. 50 € im Monat für die Nutzung von Verkehrsmitteln in die Hand bekommen. Sie können dann mit diesem Geld gewerbliche Angebote des Personenverkehrs nutzen, die jenseits des üblichen konzessionierten ÖPNV-Angebots liegen. Hierzu müsste allerdings das Personenbeförderungsgesetz verändert werden, und entsprechende Angebote zum Preis des Mobilitätsgeldes müssten sich herausbilden. In der Debatte über Sozialtickets ist in den letzten zwei Jahren einiges in Bewegung geraten. Es waren vor allem „Die Linke“ und die „Die Grünen“, die angesichts der Verschärfung der sozialen Gegensätze neuen Schwung in die parlamentarische Debatte brachten, indem sie zum einen den Stand in Deutschland dokumentierten und entsprechende parlamentarische Initiativen starteten. Eine Hauptstoßrichtung der Initiativen ist es, flächenübergreifende einheitliche Standards einzuführen. Ein einheitlicher Regelungsbedarf steht bei der Definition der Anspruchsberechtigten auf ein Sozialticket an sowie bei der Festlegung des Preises. Hierzu wurden einige Vorschläge von den politischen Parteien, die ein Sozialticket befürworten, erarbeitet. Die entsprechenden Dokumentationen zum Sozialticket kommen zu dem Schluss, dass durch deren Einführung neue Fahrgäste gewonnen würden und der Anteil der Schwarzfahrer/innen sinkt. Für das Fahren zum „Nulltarif“ wird immer wieder das Beispiel der belgischen Stadt Hasselt herausgestellt. Schon seit 1998 fahren die Busse ihre Fahrgäste kostenlos durch die Innenstadt und die Vororte. Seit ihrer Einführung haben sich die Fahrgastzahlen verzwölffacht. Auch in den brandenburgischen Städten Templin und Lübben hat man den Versuch unternommen, Stadtbusse zum Nulltarif fahren zu lassen. In Lübben wurde das Angebot im Jahr 2002 eingestellt. In Templin beschränkt sich das „kostenlose“ Angebot auf die Kurgäste, die sich mit dem Erwerb der Kurkarte das Recht erwerben, mit dem Bus zu fahren. Letztendlich ist die Debatte um den ÖPNV-Nulltarif im Vergleich zu den siebziger Jahren verebbt.
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Die Strategie der integrierten Verkehrs- und Stadtentwicklung setzt auf Veränderungen der Rahmenbedingungen des Verkehrs und versucht, die Erreichbarkeitsdefizite z. B. von Einkommensarmen abzubauen. Hier stehen im Vordergrund z. B. die Zugänge zum öffentlichen Nahverkehr zu erhöhen oder die Distanzen z. B. zu Einrichtungen des Gesundheitswesens oder kulturellen Angeboten zu verringern. Die gemeinsame Betrachtung von Raum- und Verkehrsstrukturen mit dem Ziel sozialexkludierte Menschen oder gar ganze Stadtquartiere zu integrieren, mündete in Großbritannien, den USA sowie Neuseeland in Erreichbarkeitsplanungen (Accessibility planning). Der Ansatz besteht darin, Räume von hoher und niedriger sozialer Interaktivität zu identifizieren. Durch Zugänge zu Dienstleistungen und Arbeitsplätzen wird versucht, die Räume mit niedriger sozialer Interaktivität positiv im Sinne der dort lebenden Menschen zu gestalten. Die Teilhabesicherung ist hierbei handlungsleitendes Ziel. Somit wird Verkehrspolitik zu einem wichtigen Baustein von Sozialpolitik. Seit dem Erscheinen des Endberichts „Making the connections“ hat man viele praktische Erfahrungen sammeln können und einen vierstufigen Ablauf entwickelt. Der Prozess startet mit einem accessibility audit. Hier wird analysiert, ob die Menschen in einem Gebiet die für sie wichtigsten Orte innerhalb einer angemessenen Zeit kostengünstig, sicher und zuverlässig erreichen. In einem darauffolgenden ressources audit werden die vorhandenen Ressourcen und Finanzierungsquellen für die Bearbeitung der Probleme identifiziert. Im action plan werden dann Lösungen priorisiert und entwickelt sowie eine institutionenübergreifende Strategie für die Bereitstellung dieser Lösung erarbeitet. Abschließend folgen Implementation und Monitoring dieser Strategie. Ein wesentlicher Vorteil der Erreichbarkeitsplanung ist die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Minderheiten und deren Anforderungen an Verkehrsmittel. Best practice in Paris: Die Buslinien Colom’Bus, P’tit Bus und Bus du Port Aber nicht nur in den angelsächsischen Ländern setzt man auf den Abbau von Barrieren für Einkommensarme. Im Departement Hauts-de-Seine in der Region Île-de-France im ersten äußeren Ring im Großraum Paris versuchte man, in einem sozial belasteten Gebiet mit hoher Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut und auch räumlicher Isolation zur Stadt Paris Barrieren für eingeschränkte Mobilität zu beseitigen. Es wurden drei neue Buslinien implementiert, die den Mobilitätsbedürfnissen der Anwohner entsprechen. Die Linien zeichneten sich durch eine hohe Variabilität in der Netzstruktur und in der Stärkung von Angeboten in den Nebenverkehrszeiten, die von Einkommensarmen besonders genutzt werden. Wege zu den Haltestellen wurden minimiert. Der Entwicklung des neuen Ver-
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kehrsangebots gingen Befragungen, Workshops und Arbeitsgruppen mit der dort ansässigen Bevölkerung voraus. Das Angebot wurde zu einem vollen Erfolg, denn es wurde von der Bevölkerung angenommen und Erreichbarkeitsdefizite zu Arbeitsplätzen oder Ausbildungsstätten wurden nachweislich abgebaut. Voraussetzung für den Erfolg war die Partizipation der Bürger, denn durch deren aktive Teilnahme am Entscheidungsprozess für die neuen drei Buslinien konnte sich auch ein neues Selbstbewusstsein im Stadtquartier entwickeln. Best practice in den West Midlands (England): Das Workwiseprojekt Inzwischen haben sich viele kreative Projekte herausgebildet, die jenseits der Subventionierung von Mobilität durch Sozialtickets oder „Umsonsttickets“ versuchen, die Nutzung umweltgerechter Verkehrsmittel durch Einkommensarme zu ermöglichen. Ein interessantes Projekt ist das Programm Workwise, das in England Arbeitssuchende bei der Jobsuche unterstützt, indem es für die Fahrt zu den Vorstellungsgesprächen die Tickets finanziert. Dies allein ist noch nicht außergewöhnlich, da auch in Deutschland die Fahrtkosten für Bewerbungsgespräche durch die Jobcenter erstattet werden können. Das Außergewöhnliche ist, dass nach einem erfolgreichen Vorstellungsgespräch die Personen ein kostenloses Zweimonatsticket für den öffentlichen Nahverkehr erhalten. Somit wird zum einem der Zugang zur Arbeitswelt erleichtert und der Versuch unternommen, mit dem Wiedereinstieg ins Berufsleben umweltgerechte Mobilitätsroutinen zu etablieren. Dieses Projekt wurde von der Nahverkehrsbehörde Centro der West Midlands und den vor Ort tätigen Beschäftigungsagenturen realisiert. Finanziert wurde das Projekt durch die Beschäftigungsagenturen und Gelder des Europäischen Entwicklungsfonds. Das Projekt wurde inzwischen ausgeweitet und wird nun auch in West Yorkshire angeboten. Die Ergebnisse des Projekts können sich sehen lassen: In West Yorkshire wurden bis zum April 2009 2396 Personen durch das Programm Workwise unterstützt. 25 % der unterstützten Personen gaben an, dass sie ohne die Unterstützung des Projektes den Job oder die Einladung zum Bewerbungsgespräch nicht hätten annehmen können. 84 % der Arbeitnehmer/innen nutzen weiterhin den öffentlichen Nahverkehr. 75 % der Workwisenutzer/innen haben im Nachhinein ein besseres Verständnis über das Tarifsystem des öffentlichen Nahverkehrs. Der Schlüssel zum Erfolg dieses Projekts liegt sicherlich in der Vernetzung der Beschäftigungsagenturen und der Nahverkehrsbehörde. Dabei geht es nicht nur um eine bloße organisatorische Vernetzung beider Partner, sondern es sollen Mobilitätsbarrieren von Arbeitssuchenden beseitigt und ein umweltgerechtes Verkehrsverhalten initiiert werden.
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Best practice in Berlin Neukölln: Fahrräder für Bedürftige In Deutschland wird das Thema Mobilität und Armut von den Arbeitsagenturen punktuell auch jenseits von der Gewährung der Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen bedacht. So wird im Berliner Bezirk Neukölln das Projekt „Fahrräder für Bedürftige“ durch die Arbeitsagentur des Bezirks gefördert. Im Verein für 3 Bildung & Integration arbeiten 25 Personen als sogenannte „Ein-Euro-Jobber“ . Das Projekt bietet kleinteilige Reparaturen an Fahrrädern und einen kostenlosen Fahrradverleih ausschließlich für Bezieher/innen von ALG II oder Grundsicherung an. Nach Vorlage des entsprechenden Bescheides werden dann z. B. die Reparaturleistungen übernommen. Bei den Reparaturen müssen in der Regel lediglich die Materialkosten bezahlt werden. Manchmal wird auch ein Rad verschenkt. Die Fahrräder bezieht das Projekt z. B. aus Spenden, von Hausverwaltungen, die bei Entrümpelungen Fahrradwracks entdecken, aber auch durch das Entfernen kaputter Fahrräder von der Straße. In Zusammenarbeit mit den Ordnungsämtern werden die wild entsorgten Fahrräder eingesammelt und wenn möglich wieder repariert. Das Projekt ist im Stadtquartier gut verankert und ist mit anderen sozialen Projekten im Bezirk vernetzt. So hat sich das Projekt sehr schnell herumgesprochen und wird gut genutzt. Hauptziel von „Fahrräder für Bedürftige“ ist es, Mobilität zu erhalten oder wieder zu ermöglichen. Die Kunden des Projekts haben zu wenig Geld, um eine Reparatur zu finanzieren oder sich überhaupt ein Fahrrad zu leisten. Dies macht deutlich, dass sich die soziale Situation für viele Menschen schon so verschärft hat, dass ihnen die Nutzung von öffentlichen Nahverkehrsmitteln oder Fahrrädern nicht mehr möglich ist. Fazit Deutlich wird, dass es eine Vielfalt von Ideen gibt, Verkehr und Raum sozial und umweltgerecht zu gestalten. Da aber die Ursachenebenen von eingeschränkter Mobilität bei den Einkommensarmen sehr vielfältig sind, kann eine erfolgreiche Strategie nur auf Dauer wirksam sein wenn alle Ursachenebenen gleichzeitig bearbeitet werden. Es gibt nicht „die“ Maßnahme, die ungleich verteilte Mobilitätsmöglichkeiten beseitigt. Sondern das Zusammenspiel von unterschiedlichen Strategien führt zum Erfolg. Dies ist ein sehr anspruchsvolles Programm. Jedoch ist hier für Deutschland noch ein langer Weg zu gehen, da die Verknüpfung von sozialpolitischen Fragestellungen bei der Gestaltung von nachhaltiger Verkehrsentwicklung nur schwer nachvollzogen wird. Woran liegt das? Zum einen wird 3
Öffentlich geförderte Beschäftigungen mit Mehraufwandsentschädigung für Arbeitslosengeld 2 (ALG II)
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Verkehrspolitik in ihrer Strategieentwicklung immer noch von den einzelnen Verkehrsträgern gedacht. Eine integrierte Verkehrsplanung ist zumeist noch ein Lippenbekenntnis (vgl. den Beitrag von Holz-Rau in diesem Band). Im Vordergrund steht für die einzelnen Akteure die Stärkung eines bestimmten Verkehrsmittels. Zum anderen ist die soziale Frage in Deutschland erst durch die Hartz IV Gesetzgebung massiv auf die Tagesordnung gekommen. In England war die soziale Frage immer präsent und ist bis heute verbunden mit dem Begriff der Klassengesellschaft. Die Auseinandersetzung in England brachte die nötige Schärfe, die etwas vor Ort bewegte. Mit dem langsamen aber stetigen Abbau der Mittelschicht in Deutschland und der zunehmenden Polemisierung gegenüber den Einkommensarmen (z.B. Westerwelles Äußerung zur spätrömischen Dekadenz) hat die Schärfe auch in Deutschland zugenommen. Bleibt zu hoffen, dass der unmittelbare Zusammenhang von Sozial- und Verkehrspolitik in Deutschland verstanden und umfassend bearbeitet wird. Grundlage sollten die Vancouver-Prinzipien sein, an der sich verkehrsplanerisches und verkehrspolitisches Handeln orientieren sollte. Zudem gibt es noch viele Wissenslücken auf diesem Gebiet zu schließen. Die Einkommensarmen sind eine heterogene Gruppe und damit sicherlich auch in ihrem Verkehrsverhalten verschieden. So kann ein Verkäufer einer Obdachlosenzeitung hochmobil sein, während ein alleinstehender langzeitarbeitsloser Mann Mitte Vierzig aufgrund fehlender Tagesstrukturierung das Haus nur noch zum Einkaufen verlässt. Die quantitativen Daten der großen verhaltensbezogenen Verkehrserhebungen verstellen womöglich den Blick auf das tatsächliche Verhaltensspektrum der Menschen. So sind z. B. Alleinerziehende gezwungen, hocheffizient ihre Wegeketten zu planen und zu bestreiten. Mögliche klimagerechte, nachhaltige Mobilitätsdienstleistungen oder Verkehrsmittel sind manchen Einkommensarmen vielleicht auch nicht bekannt oder werden wegen kultureller Barrieren (z. B. geringere Fahrradnutzung bei Migranten/innen) nicht genutzt. Um die Frage beantworten zu können, wie klimagerechte und nachhaltige Mobilitätsdienstleistungen beschaffen und entsprechende Informationen hierzu konzipiert sein müssen, bedarf es eines vertieften Wissens über das alltägliche Verkehrsverhalten verschiedener Bevölkerungsschichten.
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Quellen Altenburg, Sven/Philine Gaffron/Carsten Gertz (2009): Teilhabe ermöglichen bedeutet Mobilität zu ermöglichen – Mobilität sozial gestalten. In: WISO Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg) (2009): Grundsicherung für Arbeitssuchende in Zahlen. Nürnberg. S.3 Bundeszentrale für politische Bildung Datenreport (2008). Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn. S. 145 f. Canzler, Weert/Andreas Knie (2007): Radikales Umdenken im öffentlichen Landverkehr, Berlin Die Linke im Bundestag (Hrsg.) (2008): Leitfaden Sozialticket, Berlin. Hunsicker, Frank/Carsten Sommer: Mobilitätskosten 2030: Autofahren und ÖPNVNutzung werden teurer. In: Internationales Verkehrswesen (61) 10/2009, S. 367376. FES – Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) (2009): Teilhabe zu ermöglichen bedeutet Mobilität zu ermöglichen, von Sven Altenburg, Philine Gaffron, Carsten Geertz, Bonn. OECD (1997): Proceedings Towards sustainable transportation. The Vancouver conference, Vancouver 24.-27. March 1996, Vancouver. Wilkinson, Richard/Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin. SenStadt – Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (2003): mobil 2010 Stadtentwicklungsplan Verkehr, Berlin.
Weiterführende Literatur Lucas, Karen (2004): Running on empty. Transport, social exclusion and environmental justice, Bristol. Ohnmacht, Timo/Hanja Maksim/Manfred Max Bergman (Hrsg.) (2009): Mobilities and Inequality, Surrey/Burlington. Runge, Diana (2005): Mobilitätsarmut in Deutschland? IVP-Schriften 06, Berlin. Social Exclusion Unit (2003): Making the Connections. Final Report on Transport and Social Exclusion, London. VCÖ – Verkehrsclub Österreich (Hrsg.) (2009): Soziale Aspekte von Mobilität, Wien.
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Mobilitätssozialisation Claus J. Tully, Dirk Baier Einführung Aufgabe der Politik ist die Steuerung sozialer Prozesse. Die Verkehrspolitik versucht dementsprechend mittels verschiedener Maßnahmen (z.B. Verkehrsrecht, Verkehrswegepläne), das Verhalten der Bevölkerung als Verkehrsteilnehmer zu formen. Eine vorausschauende Verkehrspolitik verlässt sich hierbei nicht nur auf technische Lösungen. In modernen Gesellschaften ist es vielmehr nötig, die individuellen Bedürfnissen und Erwartungen der Verkehrsteilnehmer zu kennen. Insofern gilt es, nicht allein die zurückgelegten Wege (den Verkehr) zu beachten, sondern die Mobilität der Menschen als Ganzes in den Blick zu nehmen. Die Art und Weise, wie Menschen räumlich mobil sind, ist Resultat der Mobilitätssozialisation. 1
Sozialisation und Jugendalter
1.1 Was ist Mobilitätssozialisation? Sozialisation bezeichnet Prozesse, in deren Verlauf sich eine sozial handlungsfähige Persönlichkeit herausbildet. Die Gesellschaft mit ihren eigenen Strukturen, Normen und Werten ist vorgegeben. Hiermit wird sich im Prozess der Sozialisation vertraut gemacht. Sozialisation findet im Spannungsfeld von sozialen Vorgaben und individuellen Bedürfnissen statt. Aufgrund der gestiegenen gesellschaftlichen Dynamik finden Sozialisationsprozesse heutzutage in allen Altersphasen statt, gleichwohl gelten Kindheit und Jugend als die sensibelsten Phasen. Wichtige Kontexte, die Sozialisationsprozesse auslösen und begleiten, sind die Familie, das Wohnumfeld, der Freundeskreis und die Schule. Mit der gewachsenen Bedeutung der Medien fungieren auch diese mittlerweile als Sozialisationsinstanz. Gleiches gilt vermutlich für die Mobilität: Diverse institutionelle Vorgaben (z.B. Verkehrsrecht, Verkehrswegepläne), verfügbare Vehikel, die zu bewältigenden Entfernungen zum Einkauf, zu Freunden usw. signalisieren die Formung des Lebensalltages durch Mobilität. Allerdings muss konstatiert werden, dass sich in den Sozialwissenschaften bislang kaum dem Thema Mobilitätssozialisation gewidmet wurde (vgl. Tully/Baier 2006).
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vergleichbar mit anderen Sozialisationsprozessen ist auch im Hinblick auf die Mobilitätssozialisation davon auszugehen, dass an ihr verschiedene Ebenen beteiligt sind (vgl. Abb. 1). Der gesellschaftliche Entwicklungsstand gibt dabei den allgemeinen Rahmen an Möglichkeiten vor, wie sich Menschen im Hinblick auf Mobilität verhalten können. Vorgegeben sind u.a. das Ausmaß der räumlichen bzw. sozialen Differenzierung, der Stand der vorhandenen Infrastruktur und Technik, die rechtlichen Vorgaben und die kulturellen Leitbilder. Als mesosoziale Bedingungen erweisen sich jene Sozialisationskontexte, in die eine Person direkt eingebunden ist. Hierzu gehört einerseits die Familie, in der ein Individuum z.B. anhand des elterlichen Vorbilds erfährt, dass das Auto ein hochgeschätztes Verkehrsmittel ist. Die Freunde können solche Ansichten durch ihre Einstellungen und Verhaltensweisen verstärken. In der Schule wird darüber hinaus explizit im Rahmen der Verkehrserziehung auf das Mobilitätsverhalten eingewirkt. Auf der Ebene der persönlichen Bedingungen existieren, u.a. auch als Resultat der gesellschaftlichen und mesosozialen Vorgaben, spezifische Präferenzen und Werthaltungen bzgl. des Mobilitätsverhaltens. Dieses ist zudem von sozialen Merkmalen wie dem Einkommen oder dem Bildungsstand sowie, aufgrund der rechtlichen Voraussetzungen, vom Alter abhängig. Zum Teil existieren deutliche Differenzen bzgl. des Geschlechts. All diese Faktoren formen einen die Mobilität betreffenden Lebensstil, der die per Mobilitätssozialisation entwickelten Einstellungen und Verhaltensweisen eines Individuums umfasst. Abbildung 1:
Mehrebenen-Modell der Mobilitätssozialisation
Quelle: Eigene Darstellung
Mobilitätssozialisation
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Eine mögliche Definition der Mobilitätssozialisation könnte daher folgendermaßen lauten (vgl. Tully/Baier 2006: 120): Es handelt sich um einen Prozess, in dessen Verlauf ein Individuum zum Teilnehmer der Mobilitätsgesellschaft wird. Das wesentliche Ergebnis dieses Prozesses ist ein mobilitätsbezogener Lebensstil, in dem ein eigenwilliger Umgang mit Mobilität längerfristig festgelegt ist. Moderne Gesellschaften setzen mobile Subjekte voraus; sie unterstellen eine gelungene Mobilitätssozialisation. Diese beginnt in der Kindheit, in der Familie, bei der Bewältigung von Wegen zum Kindergarten und zur Schule. Der Erwerb von Fahrberechtigungen markiert sowohl die Verselbständigung im Jugendalter als auch die Bezugnahme auf vorgegebene Mobilitätsregeln der Gesellschaft. Die Mobilitätssozialisation wird insoweit von gesellschaftlichen Vorgaben genauso beeinflusst wie von den unmittelbaren Bereichen der Familie, Freundesgruppe und Schule. Explizite Lern- bzw. Wissensinhalte, die z.B. im Rahmen schulischer Verkehrserziehung vermittelt werden, sind ebenso Resultat der Mobilitätssozialisation wie eher 'beiläufig' erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen. Bevor im zweiten Abschnitt die einzelnen Ebenen des Modells detaillierter vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse beleuchtet werden, soll hier der Frage nachgegangen werden, warum gerade für Jugendliche Mobilität einen sehr hohen Stellenwert besitzt. 1.2 Warum ist Mobilität besonders für Jugendliche wichtig? Mobilität ist das Ergebnis von gesellschaftlichen Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen. Gesellschaftliche Differenzierung kann in sozialer oder räumlicher Hinsicht erfolgen. Die räumliche Differenzierung führt zur örtlichen Trennung einst unter einem Dach vereinter Tätigkeiten; die soziale Differenzierung liefert im Sinne der Trennung von Funktionsbereichen und Rollenanforderungen die Gründe für diese räumliche Trennung. Unter modernen Verhältnissen wird bspw. die Ausbildung von Kindern der Institution Schule übertragen. Die räumliche Trennung von Schule und Elternhaus steht für die soziale Differenzierung der Eltern- und Lehrerrolle. Derartige Ausdifferenzierungsprozesse kennzeichnen die moderne Gesellschaften. Der Prozess der Modernisierung ist allgemein gesprochen ein Ausdifferenzierungsprozess. Der Verkehr als technische Form verbindet die getrennten Bereiche wieder. Verkehr gewährleistet damit die Integration getrennter Lebensbereiche. Ebenso wie die Entwicklung von Gesellschaften erweist sich das Aufwachsen als ein Prozess zunehmender Ausdifferenzierung. Der Lebenslauf eines heute geborenen Kindes lässt nachvollziehen, dass dieser eine sukzessive Zunahme an räumlichen und sozialen Bezügen beinhaltet. Dies beginnt in der Familie, in die
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das Kind hinein geboren wird. Möglicherweise handelt es sich dabei bereits um eine Pendler-Beziehung oder eine geschiedene Ehe, so dass das Kind an verschiedenen Orten aufwächst. Aber auch im 'gewöhnlichen' Fall der ortsgebundenen Zwei-Eltern-Familie nimmt die Anzahl an Interaktionskontexten unweigerlich mit dem Alter zu. Neben der Familie (und den bereits hier vorhandenen unzähligen Mobilitätserfordernissen wie der Fahrt zu den Verwandten zum Feiertag oder zum Babyschwimmen) geht das Kind höchstwahrscheinlich in einen Kindergarten, lernt hier eigene Freunde kennen, die es auch jenseits des Kindergartens treffen möchte, tritt in einen Musik- oder Sportverein ein, besucht die Grundschule, später eine weiterführende Schule. Hinzu kommt vielleicht ein Nebenjob, die Nachhilfe oder ein Engagement in einer Jugendgruppe; das Kind muss zum (Zahn-)Arzt, es geht mit Eltern, Freunden oder allein Einkaufen und vieles andere mehr. Aufwachsen bedeutet, sich mit einer differenzierten sozialen Umwelt auseinanderzusetzen. Die moderne Gesellschaft ist vielschichtig, was für Heranwachsende z.B. Folgendes bedeutet: Im Zuge diverser Reformen wurden Kindergarten, Vorschule, Hauptschule und weiterführende Bildungsstätten räumlich getrennt; sie sind heute aus dem unmittelbaren Wohnumfeld herausgelöst und an Orten außerhalb des nahen Lebensbereichs angesiedelt. Was wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Entwicklungsschübe ins Werk setzten – den Boom der Metropolen mit ihrer Eigenheim-Peripherie sowie die entsprechende Abwanderung in den ländlichen Raum –, das bedeutet für Kinder und Jugendliche gleichzeitig eine erzeugte Notwendigkeit der Teilnahme am Verkehr. Der Tagesrhythmus ist heute durch Schulbeginn, Arbeitsantritt und variablem Arbeitsende bestimmt. Besonders in ländlichen Gebieten prägen dabei Fahrpläne und Fahrtzeiten den Alltag. Absehbare soziodemographische Veränderungen und die prognostizierte Ausdünnung ländlicher Räume führen hier zu immer längeren Pendelwegen. Zugleich wachsen damit die Wege zu den Freunden, da Freundschaften an den Schulen etabliert werden. Große Einzugsräume bedingen also auch längere Freizeitwege Die mit dem Alter zunehmende Ausdifferenzierung örtlicher und sozialer Bezüge und die damit verbundene Notwendigkeit zur Mobilität verdeutlicht sich im so genannten Inselmodell (vgl. Tully/Baier 2006: 112ff.). Der Lebensraum von Kindern und Jugendlichen besteht diesem Modell zufolge aus zahlreichen Inseln, die Kinder und Jugendliche erreichen müssen, um an Aktivitäten teilzunehmen (vgl. Abbildung 2). Der Weg zu den Aktivitätszonen wird technikgestützt und nicht selten in Begleitung der Eltern absolviert. Der primäre Grund hierfür ist die Stadtarchitektur, in der nicht die kurzen Wege, sondern die Konzentration von Funktionen an voneinander getrennten Orten stattfindet. Beispiele sind Einkaufszentren, Schulen, Arbeitsstätten oder Wohngebiete. Die Distanzen zwischen den einzelnen Zonen sind z.T. weit und gefährlich.
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Abbildung 2:
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Zonen- und Inselmodell des Aufwachsens
Quelle: Tully/Baier (2006: 113) Ein alternatives Modell zum Inselmodell bildet das Zonenmodell, das davon ausgeht, dass sich Heranwachsende peu a peu die räumliche Welt um ein Zentrum herum erschließen. Der Aktionsradius nimmt mit dem Älterwerden sukzessive zu. Nach einer Untersuchung aus den 1930er Jahren von Muchow und Muchow sind die Aktionsräume von Kindern um ein Zentrum her schichtförmig angelegt (vgl. Tully/Baier 2006: 113). Das Zentrum bildet die Wohnung und die Wohnstraße. Jugendliche erobern dem Zonenmodell folgend Raum, den sie besetzen, nach eigenen Vorstellungen gestalten und aneignen. Mit zunehmendem Alter werden die zugestandenen und zugetrauten Freiheitsgrade größer, die Räume weiter. Flade und Achnitz (1991) stellen übereinstimmend mit diesen Überlegungen fest, „dass der free range mit dem Alter zunimmt, dass er bei Jungen größer ist, dass er sich in ländlichen Gebieten weiter erstreckt als in der Stadt, dass der Besitz eines Fahrrads zu dessen Erweiterung führt, dass die Verkehrsbelastung von Wohnstraßen und Wohngebieten die Hauptbarrieren für eine Vergrößerung des free range sind und dass sich der Lebensraum von Kindern im Vergleich zu denjenigen früherer Generationen verändert hat“ (S. 43). Bei beiden Modellen steht explizit der Raum im Mittelpunkt der Überlegungen, und Aufwachsen geht zwingend mit der Aneignung von Raum und damit mit Mobilität einher. Im Zonenmodell ist diese Aneignung ein aktiver Prozess, da das durchstreifte Gebiet kennen gelernt wird. Im Inselmodell ist die Aneignung ein eher passiver Prozess, weil der Raum eine schnell zu überwin-
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dende Hürde auf dem Weg zur gewünschten Aktivitätszone darstellt. Besonders das Inselmodell macht in Verbindung mit dem Wissen um die moderne Stadtstruktur klar, warum Mobilität bereits im Jugendalltag wichtig ist. Doch auch der Streifraum kann bewusst mobil erschlossen werden, z.B. mit dem Fahrrad. Mobilität ist aber nicht nur im Hinblick darauf für Jugendliche wichtig, dass sie damit die Integration ihres zunehmend ausdifferenzierten Alltags bewerkstelligen können (Mobilität als Mittel); Mobilität ist im Jugendalter auch ein eigenständiges Ziel, insofern Mobilität Ausdruck einer Identität bzw. eines Identitätsentwurfs sein kann. Mobilität und insbesondere Automobilität bietet die Möglichkeit, die eigene Identität nach außen hin zu zeigen (vgl. Tully 1998; Mienert 2003). 2
Mobilitätssozialisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Entlang der in Abbildung 1 benannten Ebenen sollen nachfolgend Befunde vorgestellt werden, die aufzeigen, unter welchen Bedingungen Mobilitätssozialisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolgt. Im Fokus stehen die Entwicklungen in Deutschland. 2.1 Gesellschaftliche Bedingungen Deutschland ist eine hochmobile Gesellschaft. Pro Tag legt jeder Bundesbürger im Durchschnitt 3,4 Wege zurück, Wochentags sind es mehr Wege als Sonntags (MiD 2008). Die Durchschnittslänge der Wege liegt bei 11,5 Kilometern. Bei der Mehrzahl der Wege wird auf das Auto bzw. das Motorrad/Moped als Fortbewegungsmittel zurückgegriffen: 58 % aller Wege bzw. 79 % aller zurückgelegten Kilometer erfolgen mit diesen Verkehrsmitteln (vgl. MiD 2008). Im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren hat vor allem das Auto als Verkehrsmittel an Relevanz gewonnen. Bereits in den 1980er Jahren zeigte sich ein vom Automobil dominiertes Verkehrsverhalten, insofern bspw. 1982 ebenfalls bereits 74 % aller zurückgelegten Kilometer mit dem Auto bzw. dem Motorrad/Moped erfolgten (Westdeutschland). Die Bundesrepublik, aber ebenso andere westliche Gesellschaften, zeichnen sich also durch eine Kultur der Automobilität aus. Innerhalb der letzten 40 Jahre hat sich der Besitz von fünf Millionen Pkw im Jahr 1960 auf heute über 40 Millionen mehr als verachtfacht. Statistisch gesehen ist heute auf jeden zweiten Einwohner ein Pkw angemeldet; da diese Maßzahl natürlich nur einen Durchschnittswert darstellt und darunter auch Kinder und ältere Personen fallen, die kein eigenes Auto besitzen, kann gesagt werden, dass in einem Großteil der bun-
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desdeutschen Haushalte mindestens ein Fahrzeug steht. Das Automobil ist heute fast genau so selbstverständlich wie das Telefon, der Kühlschrank oder der Fernseher. Dies führt auch zu seiner symbolischen Aufladung. Das Auto hat neben seinem Gebrauchswert einen kulturellen Wert, der sich u. a. auf den hohen Status von Mobilität in modernen Gesellschaften berufen kann. Dass sich diese Kultur der Automobilität durchsetzen konnte, hat mehrere Gründe (vgl. Tully/Baier 2006: 90ff.). Erstens bedarf es einer weiter zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung, die im Zuge der Industrialisierung eingetreten ist. Zweitens müssen zur richtigen Zeit technische Innovationen auftreten, die das steigende Motiv nach Mobilität befriedigen können. Drittens müssen sich verschiedene Organisationen und Akteure für die Förderung des Autos einsetzen. Einer der wichtigsten Akteure ist der Staat, der Festlegungen zur Förderung verschiedener Verkehrsmittel trifft. Anhand der Entwicklung der verschiedenen Verkehrsnetze wird deutlich, welche Prioritäten der Staat im zurückliegenden halben Jahrhundert gesetzt hat: Während die Länge des Schienennetzes seit 1950 leicht rückläufig ist, und auch die Wasserstraßen keinen Ausbau erfahren haben, ist das Straßennetz (Straßen des überörtlichen Verkehrs) um über ein Drittel angewachsen. Die Kultur der Automobilität lässt sich auch daran ablesen, dass 2008 bereits 88 % aller ab 18jährigen Personen einen Pkw-Führerschein besaßen, 2002 waren es 84 % (MiD 2008). In der Gruppe der 30 bis 39jährigen liegt die Besitzquote bei 95 %. Automobilität ist auch in besonderer Weise sichtbar. Die Wahrnehmung der Umwelt ist geprägt durch die Anlage von Straßen zwischen Häuserreihen in der Stadt. Die Architektur ist das bauliche Substrat der Kultur der Automobilität. Wie auf kein zweites Verkehrsmittel haben sich unsere Stadtbilder darauf ausgerichtet, und wie kein zweites Verkehrsmittel dominiert das Auto unsere Erfahrungen, angefangen von dem, was wir sehen und hören, bis zu dem, was wir riechen. Der hohe kulturelle Stellenwert der Mobilität schlägt sich zudem darin nieder, dass es sich um einen rechtlich stark strukturierten Bereich handelt. Normative Vorgaben regulieren dabei sowohl den Zugang zur Automobilität als auch das Verhalten der Fahrer von motorisierten Individualverkehrsmitteln. Was den Zugang anbelangt, gelten in Deutschland u.a. derzeit folgende Vorgaben: mit 16 Jahren ist, das Bestehen der entsprechenden Prüfungen vorausgesetzt, u.a. das Führen von Leichtkraft-Motorrädern gestattet; mit 18 Jahren kann der PkwFührerschein abgelegt werden. An diesen Altersregelungen hat sich in der Vergangenheit wiederholt Kritik entzündet. Grundlage der Kritik ist der Befund, dass vor allem junge Pkw-Fahrer in weit überdurchschnittlicher Weise ins Unfallgeschehen involviert sind: Die am stärksten gefährdete Altersgruppe im Straßenverkehr sind die 18- bis 24jährigen; jeder fünfte Verunglückte und Getötete gehörte zu dieser Altersgruppe, deren Anteil in der Gesamtbevölkerung nur
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8,3 % beträgt. Ergänzend zum bisher mit dem Führerscheinerwerb verbundenen Fahrtraining werden daher mittlerweile häufiger weitere Sicherheitstrainings für Fahranfänger angeboten. Zudem nehmen mittlerweile alle Bundesländer an einem Modellversuch zum ‚begleiteten Fahren ab 17‘ teil. Inhalt dieses Versuchs ist die Absenkung des Mindestalters für den Erwerb der Pkw-Fahrerlaubnis auf 17 Jahre. Erste Programmevaluationen besagen, dass Jugendliche, die am Modellversuch teilgenommen haben, seltener an Unfällen beteiligt sind und seltener Verkehrsverstöße begehen. Im ländlichen Raum hat dieses Modell eine weitaus größere Attraktivität als in städtischen Zentren. Daran zeigt sich, dass die gesellschaftlichen Bedingungen einen flexiblen Möglichkeitsraum für die Mobilitätssozialisation bilden. Die Mobilität zwischen Stadt- und Landbewohnern unterscheidet sich merklich. Zwar werden in der Stadt genauso viele Wege zurückgelegt wie auf dem Land; allerdings ist die tägliche Wegstrecke um sechs Kilometer kürzer (36 zu 42 Kilometer; vgl. MiD 2008), was aber nicht heißt, dass sie auf dem Land zeitlich aufwendiger wären. Unübersehbar wird in der Stadt deutlich häufiger auf Busse und Bahnen zurückgegriffen als auf dem Land. Auf dem Land benutzt mehr als jeder Zweite nie den öffentlichen Personennahverkehr, in der Stadt sind es nur 20 %. In Großstädten wie Berlin kann weit häufiger als auf dem Land auf das Auto vollkommen verzichtet werden: Während in 41 % der Berliner Haushalte kein Auto vorhanden ist, gilt gleiches nur für 13 % der Haushalte des eher ländlich geprägten Niedersachsens. Daraus folgt, dass Jugendliche unabhängig davon, wo sie aufwachsen, lernen, dass Mobilität einen hohen Stellenwert besitzt. Zugleich lernen sie aber in sehr unterschiedlicher Weise, wie dem Mobilitätsbedürfnis nachgegangen werden kann. Ergebnisse einer Jugendbefragung zeigen zum Stadt-Land-Unterschied, dass auf dem Land die Zufriedenheit mit den Freizeitangeboten des Wohnorts nur halb so hoch ausfällt wie bei den Jugendlichen in der Stadt (Tully 2002). Gleichzeitig stimmte nur jeder Dritte der Aussage zu, dass die Anbindung der Wohnung an die öffentlichen Verkehrsmittel mindestens befriedigend ist. Unzufriedenheit und Infrastrukturmängel erzwingen die Benutzung von Moped, Motorrad oder Pkw auf dem Land. Während drei Viertel der Stadtjugendlichen 30 Minuten oder weniger zur Ausbildung unterwegs sind, benötigen drei Viertel der Landjugendlichen mehr als 30 Minuten für diesen Weg (vgl. Tully 1998: 157ff.). Sehr deutlich hat die Studie von Hüttenmoser (1994) gezeigt, welche Folgen ein Aufwachsen in der Stadt und auf dem Land haben kann. Untersucht wurden Familien aus eher ländlichen Gebieten, die ihre Kinder draußen spielen lassen konnten, und Familie aus verdichteten Räumen, für die das nicht galt. Die Kinder der erstgenannten Gruppe schnitten in vielen Bereichen besser ab als die andere Gruppe. Sie waren sozial besser integriert, hatten eine bessere Motorik und waren sozial kompetenter. Eltern, deren Kinder in Gebieten mit hohem Ver-
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kehrsaufkommen aufwachsen, versuchen die Kinder vor den möglichen Gefahren zu schützen, indem sie ihnen weniger Möglichkeiten außerhäuslicher Aktivitäten einräumen. Dies hat die beschriebenen Nachteile. Hinzu kommt, dass sie sich mit dem Verkehr nicht vertraut machen können; sie bewegen sich dann unsicherer im Verkehr, was letztlich ihr Unfallrisiko erhöhen kann. Stadt-LandUnterschiede sind damit in verschiedener Hinsicht relevant. Einschränkend ist aber auch festzuhalten, dass innerhalb von städtischen oder ländlichen Räumen große Unterschiede existieren, es also bspw. durchaus Stadtgebiete gibt, in denen Kindern ausreichend Freiraum und Anregung geboten wird. 2.2 Mesosoziale Bedingungen Eltern, Geschwister und Verwandte sind die Personen, mit deren Einstellungen und Verhalten Kinder lebensgeschichtlich zuerst in intensiver Weise in Kontakt kommen. Es ist daher, wie auch in vielen anderen Bereichen, davon auszugehen, dass der Familie im Rahmen der Mobilitätssozialisation eine wichtige Rolle zufällt. Ein sehr bemerkenswerter Befund ist dabei zunächst, dass „Mehrpersonenhaushalte mit Kindern […] den höchsten Pkw-Ausstattungsgrad“ aufweisen (vgl. MiD 2008: 61). Während deutschlandweit immerhin 18 % aller Haushalte kein Auto besitzen, sind es bei Mehrpersonenhaushalten mit mindestens einem Kind nur 2 bis 3 %. Gleichwohl wachsen nicht alle Kinder quasi selbstverständlich mit dem Auto auf: In 23 % der Alleinerziehendenhaushalte findet sich, meist aus ökonomischen Gründen, kein Pkw. Die strukturellen Voraussetzungen haben Einfluss darauf, wie Familien ihre Mobilität gestalten. Heranwachsende lernen zunächst die Mobilitätspraxis im familialen Zusammenhang kennen. Familien haben allein aufgrund der höheren Personenanzahl einen höheren Bedarf, Dinge zu transportieren, wofür der Pkw eine gute Möglichkeit darstellt. Ob dieser aber bewusst nur für bestimmte Wege eingesetzt wird oder aber der Bewältigung aller möglichen Wege dient, dürfte in nicht geringer Weise Auswirkungen auf die Mobilität der Kinder haben. Forschungen zu derartigen Transmissionsprozessen gibt es bislang jedoch kaum. Mienert (2003) berichtet Ergebnisse einer Längsschnittstudie, in der u.a. untersucht wurde, inwieweit sich Eltern und Kinder in ihren mobilitätsbezogenen Einstellungen gleichen. Er kommt zu dem Befund, dass die Beziehungen zwischen den auto- und verkehrsbezogenen Einstellungen der Eltern und ihrer jugendlichen Kinder eher schwach sind. Dieser Befund überrascht vor dem Hintergrund des in vielen anderen Bereichen gefundenen hohen Einflusses des Elternhauses. Mögliche Erklärungen hierfür könnten darin liegen, dass nicht notwendiger Weise Einstellungen, wohl aber Verhaltensweisen von den Kindern übernommen werden; dies wurde nicht untersucht. Eventuell durchlaufen Jugendliche auch eine Zeit der maximalen
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Distanz zu den Einstellungen der Eltern, insofern es eine zentrale Aufgabe des Jugendalters ist, sich eine eigene, von den Eltern unabhängige Identität zu geben. Jüngere Erwachsene, die von Mienert (2003) untersucht wurden, nähern sich im Laufe des Älterwerdens und bspw. der Gründung einer eigenen Familie vielleicht dann doch wieder dem elterlichen Vorbild an. Aus der Unfallforschung ist bekannt, dass „das sicherheitsorientierte Modellverhalten im Elternhaus und das praktizierte Erziehungsverhalten einen deutlichen Einfluss auf das sicherheitsorientierte Verhalten von Kindern und Jugendlichen haben“ (vgl. Limbourg et al. 2000: 89). So haben Eltern, die ihre Kinder stärker beaufsichtigen, die eine positive Beziehung zum Kind haben und die selbst seltener zu riskanten Verhalten neigen bzw. häufiger regelkonformes Verhalten zeigen, häufiger Kinder, die ein unauffälliges Verkehrsverhalten zeigen. Neben dem Elternhaus sind im Jugendalter die Freunde wichtig, dies gilt auch für die Gestaltung von Mobilität. Sie haben in doppelter Weise Einfluss auf die Mobilität: Erstens kann aus den negativen Erfahrungen eines Freundes gelernt werden. Ein Unfall eines Freundes kann z.B. dazu führen, dass sich in vergleichbaren Situationen richtig verhalten wird. Zweitens sind vor allem die Risikoverhaltensweisen durch gleichaltrige Vorbilder beeinflusst. Diese dienen dem Zweck, Distanz zur Erwachsenenwelt zu demonstrieren, sind aber zugleich auch Mittel, um die Integration in die Freundesgruppe zu gewährleisten. Jugendliche unterliegen dem Druck, sich auch bei risikobehafteten Verhaltensweisen konform zu verhalten, stärker als Personen anderer Altersgruppen. Zu ergänzen ist im Hinblick auf die Freunde, dass sie nicht nur die Verhaltensextreme beeinflussen, sondern ebenso die ‚normalen‘ Verhaltensweisen. So dürfte die Entscheidung zum Ablegen eines Pkw-Führerscheins sicher nicht ganz unabhängig davon sein, ob auch andere Personen aus dem Freundeskreis dies getan haben. Die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs mag dann hoch im Kurs stehen, wenn die Gleichaltrigen diesen ebenfalls 'cool' finden. Das anzuschaffende Auto eines Fahranfängers mag vom elterlichen Budget ebenso abhängen wie von den in der Freundesgruppe wertgeschätzten Automarken. Empirische Befunde zu diesen Annahmen existieren bislang allerdings nicht. Ein wichtiger Ort, um Freunde kennen zu lernen, ist die Schule. Mit großer Wahrscheinlichkeit besucht der beste Freund/die beste Freundin die gleiche Schule. Mit den Schulwegen werden so die Wege zu den Freunden mitbestimmt. Größere Wege zu den Schulen ziehen größere Pendelwege zu den Freunden nach sich. Hinsichtlich der Mobilitätssozialisation beschränkt sich die Schule im Wesentlichen darauf, intendierte Lernprozesse zu initiieren. Dies soll im Rahmen der Verkehrserziehung geschehen, die 1972 verbindlich eingeführt wurde. In der vierjährigen Grundschule werden insgesamt ca. 60 Schulstunden mit der Verkehrserziehung zugebracht, wobei ganz verschiedene Fächer hierfür genutzt werden. Im Vordergrund steht das Verhalten als Fußgänger, Radfahrer und Mitfah-
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rer in öffentlichen Verkehrsmitteln. Lerninhalte sind u.a. der Weg zur Schule oder das Lesen von Verkehrszeichen. Üblicherweise wird ein Teil des Unterrichts zusammen mit der Polizei durchgeführt. Kritisch an der derzeitigen Verkehrserziehung ist, dass der Schwerpunkt oft ausschließlich auf die Verkehrssicherheit gelegt wird und andere Aspekte der Verkehrserziehung (Sozialerziehung, Gesundheitserziehung, Umwelterziehung) nicht vermittelt werden (vgl. auch den Beitrag von Gehlert in diesem Band). Auch in der Sekundarstufe erfolgt Unterricht zur Verkehrserziehung, im vergleichbaren Umfang wie in der Grundschule. Die Themen sind aber den Bedürfnissen der Schüler angepasst, insofern bspw. das Fahren von Mopeds/Mofas oder die Nutzung der Bahn stärker beleuchtet werden. Die im Lehrplan verankerte Verkehrserziehung, die primär die Unfallverhütung zum Ziel hat, formt sicher die Mobilitätssozialisation mit. Gleichwohl ist aus der Sicht der Sozialforschung zukünftig eine stärkere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen bzw. den gesellschaftlich prävalenten Mobilitätsstilen im Rahmen des Unterrichts zu empfehlen. Zudem wäre es sicherlich interessant zu untersuchen, welche nicht-intendierten Auswirkungen die Schule auf die Mobilitätssozialisation hat, inwieweit bspw. die Lehrer Vorbilder für bestimmte Mobilitätsstile sein können. 2.3 Persönliche Bedingungen und mobile Lebensstile Jugendlicher Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre legen täglich ca. drei Wege zurück, bei 18bis 29jährigen steigt dieser Wert auf 3,6 an, bei 30 bis 59jährigen liegt er mit 3,9 am höchsten. Immerhin sind Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren täglich aber im Durchschnitt 80 Minuten unterwegs und legen dabei eine Strecke von 30 Kilometern zurück (vgl. MiD 2008: 75). Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren gehören dabei zu jener Altersgruppe, die am häufigsten Mittel des öffentlichen Personennahverkehrs nutzt. Auch auf das Fahrrad greifen Jugendliche im Vergleich aller Altersgruppen am häufigsten zurück. Wenn sie den motorisierten Individualverkehr nutzen, dann meist als Mitfahrer: 41 % aller Wege von Kindern und Jugendlichen erfolgen als Mitfahrer (vgl. MiD 2008: 77). Welchem Zweck dienen die von Jugendlichen zurückgelegten Wege? Die erste große Untersuchung zu Mobilität Jugendlicher wurde im Jahr 2003 veröffentlicht: Im Rahmen der „U-Move-Studie“ (vgl. Tully 2002) wurden fast 4.500 Jugendliche befragt. Sie zeigt, dass ein Viertel aller Werktags unternommen Wege zur Schule bzw. zur Uni führen. Für einen kleineren Teil der Jugendlichen ist auch bereits die Arbeit relevant, zu der tägliche Wege anstehen. Alle anderen Wege werden in der Freizeit unternommen. Hierbei stehen die Freunde, das Einkaufen oder das Ausgehen im Vordergrund. Am Wochenende steigt die Mög-
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lichkeit, Wege zu Freunden und zum Zweck des Ausgehens zu absolvieren, noch einmal deutlich an (vgl. Tully/Baier 2006: 130). Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren können ihre alltäglichen Wege dabei noch recht gut ohne Mittel des motorisierten Individualverkehrs regeln. „Sobald die Volljährigkeit erreicht wird, ‚springt‘ der Anteil [des motorisierter Individualverkehrs; d.A.] in die Höhe und macht knapp die Hälfte aller Wege aus“ (MiD 2008: 76). Das Lebensalter, so lässt sich sagen, strukturiert die Art und Weise der Fortbewegung vor allem in der Phase des (späten) Jugendalters. Begründet ist dieser Umstand in den bereits erwähnten normativen Vorgaben bzgl. des Erwerbs von Führerscheinen. Mit Erwerb des Mopedführerscheins im 16. und 17. Lebensjahr steigt der Anteil der Kraftradwege stark an. Ab dem 18. Lebensjahr schnellt der Anteil an Autowegen in die Höhe. Zu beobachten ist dabei Folgendes: 1. Im Alter zwischen 18 und 20 sind fast alle anderen Verkehrsmittel – außer dem Pkw natürlich – auf ihrem Nutzungstiefpunkt, danach werden sie wieder wichtiger; 2. Nach dem 22. Lebensjahr wird das Auto etwas unwichtiger. Die etwas älteren Jugendlichen entdecken also das Fahrrad und das Zufußgehen langsam wieder (vgl. Tully/Baier 2006: 198f.). Welche Prozesse hierfür verantwortlich sind, kann derzeit nicht gesagt werden. Weitere Auswertungen können zusätzlich belegen, dass verbunden mit dem Ablegen eines Pkw-Führerscheins eine Blickverengung stattfindet. Jugendliche, die den Führerschein gemacht haben, berichten seltener, ein Fahrrad zu besitzen; sie meinen seltener, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen wäre leicht; sie haben seltener Schuldgefühle durch die Autonutzung und sie sind auch seltener der Meinung, ihre Freunde wären gegen eine Autonutzung (vgl. Tully/Baier 2006: 199f.). Diese Wahrnehmungen stehen nicht unverrückbar fest. Zweifelsohne unterliegen sie in späteren Lebensphasen einer erneuten Veränderung. Zugleich ist aber davon auszugehen, dass sie in einen mobilen Lebensstil einmünden, der eine gewisse Stabilität besitzt. Die starre Altersgrenze führt also dazu, dass sich Jugendliche im Prinzip kaum etwas sehnlicher wünschen, als den PkwFührerschein zu machen und selbstbestimmt mobil zu sein. Diese Autonomie wird dann ungern wieder aufgegeben, insofern auch in der Altersgruppe der 60 bis 64jährigen noch ein genau so hoher Anteil an Wegen mittels Pkw und Motorrad/Moped zurückgelegt wird wie in der Gruppe der 18-bis 29jährigen (vgl. MiD 2008: 77). Erst in noch höherem Alter geht dieser Anteil im Wesentlichen zugunsten des Zufußgehens zurück. Wie die Studie von Flade und Limbourg (1997) belegt, entsteht der Wunsch, sich mit dem Pkw fortzubewegen, allerdings nicht erst mit dem 18. Lebensjahr bzw. dem Erwerb des Führerscheins. Auch jüngere Jugendliche geben an, wenn sie danach gefragt werden, wie sie sich ihre Verkehrsmittelwahl in der Zukunft vorstellen, dass sie zu zwei Fünftel auf das Auto als Selbstfahrer zurückgreifen möchten. Das Auto steht für Unabhängigkeit, Bequemlichkeit und
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Flexibilität, wobei die Risiken und Gefahren nicht völlig ausgeblendet werden, hinter den Vorteilen aber deutlich zurückstehen. Gleichwohl hat die städtische Umwelt einen Einfluss auf die Autoorientierung der Kinder und Jugendlichen: In „Fahrradstädten“ wie Hamburg oder Münster sind Jugendliche weniger auf das Auto fixiert wie bspw. im Ruhrgebiet (ebd.: 74). Insofern bestätigt sich, dass die Rahmenbedingungen die mobilen Lebensstile beeinflussen. Beachtenswert sind zudem die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Das Geschlecht ist neben dem Alter ein weiterer wichtiger, die Mobilität formender Faktor. Im Jugendalter zeigt sich, dass Jungen autoorientierter sind, wobei für sie das Spaßmoment beim Fahren zentral ist. Mädchen schätzen demgegenüber das Zufußgehen positiver ein und achten hinsichtlich ihrer Verkehrsmittelwahl stärker auf Umweltaspekte (vgl. Flade/Limbourg 1997: 85ff.). Im Verhalten der Erwachsenen spiegelt sich dies wieder: Frauen legen durchschnittlich etwas weniger und insgesamt kürzere Wege zurück; sie gehen häufiger zu Fuß und nutzen seltener den Pkw (vgl. MiD 2008: 79). Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht für alle Frauen gleichermaßen zutrifft. Da Frauen noch häufiger als Männer für die Kindererziehung verantwortlich sind, sind sie stärker häuslich orientiert. „In Haushalten ohne Kinder fällt […] die Mobilität von berufstätigen Männern und Frauen […] sehr ähnlich aus“ (ebd.: 79). Die verzeichneten Geschlechterunterschiede dürften vor allem auf eine geschlechtsspezifische Sozialisation zurückzuführen sein. Mädchen gehen häufiger innerhäuslichen Aktivitäten nach, sie benutzen seltener das Fahrrad und verfügen über weniger Bewegungsraum. Das Motiv der Autonomie, das zur Nutzung des Autos führt, ist damit bei Mädchen wahrscheinlich geringer ausgeprägt als bei Jungen. Auch hier ist aber davon auszugehen, dass die Veränderung von Rollenerwartungen mit einer sukzessiven Angleichung weiblicher und männlicher Mobilitätssozialisation einher geht. Neben dem Alter und dem Geschlecht spielen weitere Faktoren eine Rolle hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der jugendlichen Mobilität. Zu nennen ist hier zunächst die Schichtzugehörigkeit. Der Status eines Haushaltes hat Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen: So legen Kinder aus Haushalten mit niedrigem Status täglich nur 2,6 Wege, Kinder aus Haushalten mit sehr hohem Status 3,1 Wege zurück; zugleich ist bei Kindern aus Haushalten mit hohem Status der Anteil mittels Pkw und Motorrad/Moped zurückgelegter Wege deutlich höher. In Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen über 4.000 € finden sich nahezu vollständig Pkw, in Haushalten mit einem Einkommen unter 1.500 € sind bei mindestens einem Drittel keine Pkw vorhanden (vgl. MiD 2008: 58). Auch Tully und Baier (2006: 188) zeigen, dass mit steigenden finanziellen Ressourcen die Wahrscheinlichkeit steigt, ein Auto zur Verfügung zu haben und dieses zu nutzen. Das Bildungsniveau eines Schülers ist dagegen eher irrelevant, zumindest bei Jugendlichen. Höher gebildete
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Schüler sind etwas seltener autoorientiert und haben etwas weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass sich die Schüler noch in Ausbildung befinden; die Rendite höherer Bildung schlägt sich erst im Erwachsenenalter nieder. Das konkrete, gelebte Mobilitätsverhalten wird aber nicht nur von den genannten demographischen Faktoren beeinflusst. Die psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung hat schon früh herausgearbeitet, dass bestimmte Einstellungen, Präferenzen und Werthaltungen unser Verhalten beeinflussen. Die Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten steht mindestens mit drei Bedingungen in Zusammenhang: den vorhandenen Einstellungen einem Objekt gegenüber (positive oder negative Bewertung), der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle (Fähigkeit, anvisiertes Verhalten auch in die Tat umsetzen zu können) und dem Ausmaß an normativem Druck (wie denken andere Personen über das zur Ausführung anstehende Verhalten). Wenn diese drei Faktoren die Ausübung eines bestimmten Verhaltens nahelegen, dann bildet sich eine Verhaltensintention, und – insofern nicht externe Umstände die Umsetzung stören – wird das so angelegte Verhalten ausgeführt. Tully und Baier (2006: 185ff.) belegen in Übereinstimmung hiermit, dass neben dem Alter und den finanziellen Ressourcen verschiedene Einstellungen das Mobilitätsverhalten von Jugendlichen prägen. Jugendliche, die autoorientiert sind (positive Einstellung zum Auto, entsprechende Freizeitgestaltung), legen häufiger den Pkw-Führerschein ab, besitzen häufiger ein Auto und fahren es auch häufiger. Eine solche Autoorientierung steht dabei in einer engen Beziehung mit einem erhöhten Interesse an der Technik im Allgemeinen. Ein hohes Umweltbewusstsein wirkt sich demgegenüber reduzierend auf die Autonutzung aus. Ein Ansatz in der Mobilitätsforschung versucht, die Wirkung der Vielzahl möglicher Einflussfaktoren auf das Mobilitätsverhalten nicht isoliert zu untersuchen, sondern diese in Typen bzw. Lebensstilen zu bündeln. Dieser Ansatz scheint, obwohl er zuweilen zu recht differenzierten Ergebnissen führt, derzeit am besten geeignet, die Ergebnisse von Mobilitätssozialisationsprozessen zu beschreiben. Das Lebensstilkonzept schließt verschiedene, eher objektive Kriterien wie das Alter, die Bildung usw. ebenso ein, wie eher subjektive Kriterien wie Einstellungen und Werthaltungen. Ein Lebensstil ist etwas zeitlich Stabiles; zugleich steht er natürlich nicht lebenslang fest, er verändert sich aber meist nur dann, wenn bestimmte Statusübergänge erfolgen (z.B. Familiengründung, Eintritt in Rente). Eine Stärke dieses Konzepts dürfte u.a. darin liegen, dass es sichtbar machen kann, dass Jugendliche ebenso wie Erwachsene nicht ausschließlich auf das Auto fixiert sind. Zwar gibt es ohne Zweifel derzeit noch eine Dominanz des autoorientieren Lebensstils als Resultat der in modernen Gesellschaften verbreiteten Kultur der Automobilität. Personengruppen, die ihre Mobilität in anderer Weise zu organisieren bereit sind, sind aber identifizierbar und werden mögli-
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cherweise zukünftig – unter veränderten gesellschaftlichen Umständen – weiter zunehmen. Künftig dürfte v.a. in städtischen Räumen die Autoaffinität zurückgehen. Erste Trends deuten sich in den Zulassungsstatistiken und dem Erwerb der Fahrberechtigung Jugendlicher an. Fazit Die bundesrepublikanische Gesellschaft kann bis in die 1990er Jahre hinein als Gesellschaft des Typus „Mobilitätsgesellschaft I“ bezeichnet werden (vgl. Tully/ Baier 2006: 95ff.). Deren Kennzeichen war es, dass das Leben institutionell geregelt wurde. Es gab eine eindeutige Trennung von Leben und Arbeit, von Aktivitäts- und Ruhephasen. Die Gesellschaft war hoch räumlich differenziert, was dazu führte, dass die Wege anwuchsen. Zur Überwindung der Distanzen standen technische Artefakte zur Verfügung, wobei das Auto zum wichtigsten Verkehrsmittel wurde. Viele der Eigenschaften der Mobilitätsgesellschaft I werden auch das künftige Bild unserer Gesellschaft prägen. Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass sich verschiedene institutionelle Regelungen verändern. So sind Bildung, Arbeit, Leben und Familie nicht mehr für alle Bevölkerungskreise streng getrennte Welten. Dies darf aber nicht mit einer Entdifferenzierung gleichgesetzt werden, da bspw. die Weiterbildung außerhalb des Bildungssystems erfolgt und sich viele auch außerhalb der Arbeit für diese 'fit machen' müssen. Diese Entwicklung wird Mobilität ein weiteres Mal anwachsen lassen, einerseits deshalb, weil dadurch neue Mobilitätsziele und –zwecke entstehen, d.h. eine weitere Differenzierung eintritt, die sich für jedes Individuum anders darstellt (Individualisierung); andererseits ist nicht mehr der Nationalstaat der Referenzpunkt möglicher (Mobilitäts-)Entscheidungen, sondern der gesamte Globus. Eine neue Form der Mobilitätsgesellschaft, die „Mobilitätsgesellschaft II“ (vgl. Tully/Baier 2006: 95ff.) kann sich unter diesen Bedingungen entwickeln. In dieser heißt mobil zu sein in jeder Hinsicht mobil zu sein. Eine Fixierung auf die Automobilität ist dabei nachteilig, weil eine Festlegung getroffen würde, die zur Folge hat, dass bestimmte Optionen nicht ergriffen werden können. Stattdessen wird es verstärkt um Multimodalität gehen. Alle Verkehrsmittel werden gleichrangig betrachtet und zweckgebunden eingesetzt. Die Multioptionsgesellschaft wendet sich gegen einfache Lösungen. Technisch begleitet wird diese Veränderung von neuen Kommunikationsmitteln. Lässt sich ganz allgemein sagen, dass Veränderungen des Mobilitätsverhaltens von technischen Innovationen ausgelöst worden sind, so gilt dies im Besonderen für die Mobilitätsgesellschaft II. Jede Erfindung einer Kommunikationstechnik hat auch zu einer Erhöhung des Verkehrs geführt. Internet, Handy
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und andere moderne Kommunikationsmittel machen hierbei keine Ausnahme. Sie schaffen einerseits neuartige Anlässe für das Mobilsein; andererseits helfen sie dabei, das bisherige Mobilsein neu zu organisieren. Gerade für Jugendliche zeigt sich, dass über die Kommunikationstechniken Integration in die Freundesgruppe ermöglich wird (vgl. Tully 2009). Nicht festgestellt werden kann, dass diese Techniken Wege substituieren. Jugendliche verzichten also nicht darauf, sich zu treffen, nur weil sie telefoniert oder Kurzmitteilungen ausgetauscht haben. Das Handy gestattet erst so etwas wie das ‚Eventhopping‘, d. h. das Einholen von ‚Infos, wo etwas los‘ ist, um dann die Lokalität, das ‚Event‘ aufzusuchen. Nicht eine Substitution von Wegen ist feststellbar, sondern eine Veränderung des Verabredungsverhaltens in Richtung erhöhter Flexibilität. Erste Hinweise, dass diese veränderten gesellschaftlichen Umstände auch zu einer veränderten Mobilitätssozialisation führen könnten, lassen sich bereits identifizieren. So ist unter den 18- bis 29jährigen die Pkw-Führerscheinquote leicht rückläufig, im Wesentlichen bei den jungen Männern. Im urbanen Raum gilt zudem, dass die jungen Menschen heute häufiger als früher auf den öffentlichen Personennahverkehr und das Fahrrad zurückgreifen, um ihre Wege zu erledigen (vgl. MiD 2008). Dabei dürfte sicher auch relevant sein, dass die effektive Minderung der Umweltbelastung der Automobilität nicht in Sicht ist. Automobilität schädigt Mensch und Umwelt; dieses Bewusstsein dürfte unter jungen Erwachsenen heute sehr viel häufiger zu finden sein als unter älteren Personen. Zudem fördert zu Fuß gehen und Radfahren die eigene Fitness. Auch wenn sich damit ein weniger auf das Auto fixierter Umgang mit Mobilität andeutet, wird sich das gesamtgesellschaftliche Bild der Mobilität nur sehr allmählich verändern. Zwar sind gesellschaftliche Veränderungen eine Grundlage dafür, dass sich Mobilitätsstile und damit auch die Mobilitätssozialisation wandeln. Zugleich sind, wie das im Beitrag skizzierte Mehrebenen-Modell der Mobilitätssozialisation andeutet, noch weitere Bedingungen zu beachten. Zudem ändern sich strukturelle und kulturelle Bedingungen einer Gesellschaft nur langsam. Insofern ist es auch sehr schwer, politisch auf die erworbenen Mobilitätsstile einzuwirken. Selbst die ökonomisch (und nicht politisch) motivierte Anhebung der Treibstoffpreise lässt eine weitreichende Preisunelastizität erkennen und diese Preisunelastizität wird von den Treibstoffanbietern auch immer wieder erfolgreich getestet. Für eine Veränderung gesellschaftlich geformter Mobilitätsstile ist daher ein Zusammenspiel verschiedener Akteure unabdingbar; eine nachhaltige Revision derzeitiger Mobilitätsstile wird sich möglicherweise erst in der übernächsten Generation zeigen. Der Beitrag hat versucht, die vielschichtigen sozialen Anlässe für Mobilität und die ebenso vielschichtigen Motive für eine eigenwillige Ausgestaltung der jeweiligen Mobilitätspraxis aufzuzeigen. Wenn von Verkehr gesprochen wird, dessen vorausschauende Gestaltung der Gegenstand von Verkehrspolitik ist,
Mobilitätssozialisation
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dann setzt diese eine systematische Einbeziehung sozialer Prozesse voraus. Gelungene Verkehrspolitik besteht nicht in der Herstellung technischer Installationen, sondern in der Berücksichtigung sozial geformter Mobilitätsbedürfnisse. Quellen Flade, Antje/Christian Achnitz (1991): Der alltägliche Lebensraum von Kindern. Ergebnisse und eine Untersuchung zum home range. Darmstadt: Institut Wohnen und Umwelt. Hüttenmoser, Marco (1994). Auswirkungen des Straßenverkehrs auf die Entwicklung der Kinder und den Alltag junger Familien. In: Antje Flade (Hrsg.): Mobilitätsverhalten. Weinheim, S. 171-181. MiD (2008): Mobilität in Deutschland 2008. Ergebnisbericht. Struktur – Aufkommen – Emissionen – Trends. www.mobilitaet-in-deutschland.de/pdf/MiD2008_ Abschlussbericht_I.pdf Tully, Claus J. (2002): Bewegte Jugend – Kommunikativ und mobil. In: Michael Hunecke/Claus J. Tully/Doris Bäumer (Hrsg.): Mobilität von Jugendlichen. Opladen, S. 13-38. Tully, Claus J. (2009): Die Gestaltung von Raumbezügen im modernen Jugendalltag. Eine Einleitung. In: Claus J. Tully (Hrsg.): Multilokalität und Vernetzung. Beiträge zur technikbasierten Gestaltung jugendlicher Sozialräume. Weinheim/München, S. 9-26.
Weiterführende Literatur Flade, Antje/Maria Limbourg (1997): Das Hineinwachsen in die motorisierte Gesellschaft. Darmstadt: Institut Wohnen und Umwelt. Limbourg, Maria/Antje Flade/Jörg A. Schönharting (2000). Mobilität im Kindes- und Jugendalter. Opladen. Mienert, Malte (2003). Entwicklungsaufgabe Automobilität. Psychische Funktion des PKW- Führerscheins für Jugendliche ins Erwachsenenalter. Zeitschrift für Verkehrssicherheit 49: Heft 1-4. Tully, Claus J. (1998): Rot, cool und was unter der Haube. Jugendliche und ihr Verhältnis zum Auto. Eine Jugendstudie. München. Tully, Claus J./Dirk Baier (2006). Mobiler Alltag. Mobilität zwischen Option und Zwang – Vom Zusammenspiel biographischer Motive und sozialer Vorgaben. Wiesbaden.
Das Phänomen Stau
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Das Phänomen Stau Regine Gerike Einführung Straßenverkehrsstaus, überlastungsbedingte Verspätungen von Zügen und Flügen sind ein Phänomen, das viele von uns täglich betrifft. Es führt zu Stress, Erschöpfung und Ärger. Wir kommen unpünktlich und unzuverlässig zu Verabredungen und müssen Pufferzeiten einplanen. Wir starten gestresst in den Urlaub, Fahrten müssen verschoben oder können gar nicht durchgeführt werden. Schließlich steigen die Kraftstoffkosten und Umweltwirkungen von Fahrten. Der Stau berührt uns im Alltag mithin auf vielfältige Weise: Zeit ist für jeden von uns ein knappes Gut. Freie und ungehinderte (Auto-)Mobilität ist für viele ein Ausdruck von Lebensqualität, deren Einschränkung als Beschneidung der persönlichen Freiheit wahrgenommen wird. Auch die immer stärker vernetzte und global agierende Wirtschaft ist auf zuverlässige, preiswerte und schnelle Transportvorgänge angewiesen. Neben diesen ganz individuellen Folgen haben Verkehrsstaus auch eine gesellschaftliche Dimension. Alle Verkehrsträger und alle Verkehrszwecke sind von Überlastungserscheinungen betroffen, welche zu erheblichen gesamtgesellschaftlichen Kosten führen. Nash (2003) gibt Staukosten für verschiedene europäische Länder mit 0,3% des Bruttoinlandprodukts (Dänemark) bis 4.8% des Bruttoinlandprodukts (Griechenland) an. Staus können dabei ganz verschiedene Gründe haben (vgl. Infras/IWW 2007; Small 2007). In urbanen Gebieten sind es vor allem die Kreuzungspunkte, die Überlastungserscheinungen zeigen und den Verkehrsfluss behindern. Die Kapazitäten der Strecken selbst werden vor allem auf dem höherrangigen Straßennetz erreicht und überschritten. Darüber hinaus führen vorübergehende Geschehnisse wie z. B. Unfälle oder Baustellen zu Stauerscheinungen. Überlastungsbedingte Verzögerungen treten aber auch bei den Verkehrsträgern Schiene, Wasser und Luft auf. Kosten, die aus Verzögerungen bei diesen Verkehrsträgern entstehen, werden vor allem auf der Basis von Verspätungsstatistiken ermittelt und über wirtschaftliche Produktionsverluste quantifiziert (vgl. Infras/IWW 2007). Dieser Beitrag konzentriert sich auf den Straßenverkehr – eben weil dieser den höchsten Anteil an Verkehrsleistungen erbringt und in der Diskussion zum Thema Stau sehr präsent ist. Zudem erfordert die volkswirtschaftliche Definition von Stau, wie sie diesem Beitrag zu Grunde liegt und in Abschnitt 2.2 eingeführt wird, eine dezentrale Koordination der Verkehrsteilnehmer, wie sie nur im Straßenverkehr gegeben ist. O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die große Bedeutung der öffentlichen Hand in dieser Diskussion resultiert daraus, dass ihr aus Gründen der Daseinsvorsorge oder aus ökonomischen Gründen traditionell die Planung, Finanzierung, Errichtung und der Unterhalt der 1 Verkehrsinfrastrukturen zukommt. Daraus folgt die weit verbreitete Meinung, dass die öffentliche Hand für die Gewährleistung der freien Fahrt für freie Bürger verantwortlich ist. Staatliche Institutionen verschiedener Ebenen nehmen sich dieser Verantwortung an und investieren erhebliche Mittel in die effizientere Nutzung bestehender Verkehrsinfrastrukturen z. B. durch Verkehrstelematik sowie in die Erweiterung von Verkehrsinfrastrukturkapazitäten. So wurden beispielsweise im Rahmen der im Jahr 2009 durch die Bundesregierung verabschiedeten Konjunkturprogramme 12 Milliarden Euro für Verkehrswege zur Verfügung gestellt.2 1
Ziel und Schwerpunktsetzung dieses Beitrags
So verschieden wie die Gründe sind, sich mit dem Thema Stau zu befassen, so unterschiedlich sind die Informationen, die benötigt werden und so unterschiedlich sind die Staumaße, die verwendet werden:
1 2
Aktuelle Daten zu Stauort und -dauer werden für Verkehrsinformationsdienste und Verkehrslageschätzungen erhoben als Grundlage für Fahrt- und Routenwahlentscheidungen. Längerfristige Informationen zu „Stau-Brennpunkten“ sowie generell zum Verkehrsfluss in den bestehenden Netzen werden für Planung und Management dieser Infrastrukturen benötigt. Sie sind Grundlage für strategische raumordnerische und verkehrspolitische Maßnahmen (Konzepte, Rahmenbedingungen wie Abgaben oder Gebührenniveaus), für verkehrsinfrastrukturelle Maßnahmen auf verschiedenen räumlichen Ebenen (Infrastrukturausbau, Verkehrssteuerung, Verkehrskontrollen) und beeinflussen Standortentscheidungen von Privaten und Unternehmen. Sehr detaillierte, zeitlich und räumlich fein aufgelöste Daten zum Fahrverhalten werden für die Modellierung von Verkehrsströmen sowie der damit verbundenen Umweltwirkungen benötigt. Diese wiederum dienen als Grundlage für die Evaluation verkehrspolitischer Maßnahmen und Programme. Angesprochen ist hier die Diskussion z.B. um Verkehrsinfrastrukturen als öffentliches Gut, um Netzwerkökonomien und indirekte Effekte von Verkehrsinfrastrukturen, vgl. z.B. Small (2007). Siehe http://www.bmvbs.de/Service/A-bis-Z/Konjunkturpaket-,3132.1064714/Verkehrsprojekte-des-zweiten-K.htm, siehe http://www.bundesfinanzministerium.de/zum Bundeshaushalt 2010, 25.3.2010.
Das Phänomen Stau
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Dieser Beitrag diskutiert für den Straßenverkehr Definition, Folgen und verkehrspolitische Konsequenzen von Staus aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive und formuliert dazu die folgenden zentralen Fragen:
Wie entstehen Stauereignisse im Straßenverkehr? Welche Folgen resultieren aus Stauereignissen? Wie sind diese aus volkswirtschaftlicher Sicht zu beurteilen? Welcher verkehrspolitische Handlungsbedarf ergibt sich daraus?
Im Mittelpunkt steht dabei weniger die Frage nach dem Ausmaß von Stauerscheinungen und nach Möglichkeiten, diese vollständig zu beseitigen. In den Mittelpunkt der Diskussion wird vielmehr die Frage nach einer effizienten Nutzung bestehender Infrastrukturkapazitäten bzw. in einem zweiten Schritt einer effizienten Nutzung optimaler Infrastrukturkapazitäten gestellt. Effizienz wird dabei definiert als Maximierung eines Outputs mit vorgegebenem Input (Maximumprinzip) oder als Minimierung eines Inputs zur Erstellung eines vorgegebenen Outputs (Minimumprinzip) (vgl. Blum 2004). Die Effizienz von Verkehrsinfrastrukturen wird häufig anhand von Reisezeiten beurteilt. Ziel ist es, die Menschen möglichst schnell ihre Ziele erreichen zu lassen. Die Diskussion in Abschnitt 3.1 wird zeigen, dass dieses Ziel besser erreicht werden kann, wenn weniger Fahrzeuge eine Infrastruktur nutzen. Hier zeigt sich ein Zielkonflikt zwischen dem Anspruch der öffentlichen Hand, allen Menschen die von ihnen gewünschten Fahrten zu ermöglichen und gleichzeitig geringe Reisezeiten für diese Fahrten zu gewährleisten. Nur vereinzelte Nutzer zuzulassen, die hohe Geschwindigkeiten fahren können, scheint ebenso wenig wünschenswert, wie die Zulassung einer so hohen Nutzerzahl, dass diese sich gegenseitig so behindern, dass der Verkehrsfluss teilweise zum Erliegen kommt. In der Volkswirtschaftslehre diskutierte Konzepte zur Bestimmung eines Optimums aus Verkehrsstärke und Reisezeit werden in Abschnitt 3.2 vorgestellt. Ein wichtiges Ergebnis wird sein, dass es auch in diesen volkswirtschaftlich optimalen Gleichgewichten Stauerscheinungen gibt. Mit einer solchen Schwerpunktsetzung befasst sich dieser Beitrag mit der Optimierung eines Instruments. Die Verkehrsnachfrage ist in den allermeisten Fällen eine abgeleitete Nachfrage, deren eigentlicher Zweck und Nutzen im Erreichen von Zielen liegt, an denen wir Aktivitäten ausüben und Bedürfnisse befriedigen und entwickeln können. Effiziente Mobilität kann demnach definiert werden als Maximierung von Qualität und Quantität befriedigter Bedürfnisse und durchgeführter Aktivitäten mit einem vorgegebenen Einsatz an Reisezeiten,
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Ressourcen und Infrastrukturen.3 Die gleiche Aktivität kann hierbei mit ganz unterschiedlichen Verkehrsaufwänden realisiert werden. Die Milch zum Frühstück kann man z.B. im „Tante-Emma“-Laden um die Ecke oder im Supermarkt der nahegelegenen Kreisstadt erwerben. Durch eine geeignete Abstimmung zwischen Raum- und Verkehrsplanung können Menschen in kompakten Regionen in direkter Umgebung eine Vielzahl verfügbarer Optionen haben und diese auch wahrnehmen. Diese Menschen haben dann zwar eine geringe Verkehrsleistung (gemessen z.B. in zurückgelegten Distanzen), aber trotzdem eine hohe Zahl an realisierten Aktivitäten und befriedigten Bedürfnissen. Unabhängig von Zahl und Länge der für die Durchführung der Aktivitäten notwendigen Wege sollten die für diese Wege notwendigen Infrastrukturen effizient genutzt werden. Andernfalls sind Potenziale zur Senkung der für die Durchführung der Aktivitäten notwendigen Ressourcen vorhanden. Wenn sich dieser Beitrag auf die Optimierung von Reisezeiten und daraus abgeleiteten Kosten konzentriert, so befasst er sich demnach mit einem Teilproblem der übergeordneten Definition effizienter Mobilität, wie sie oben vorgestellt wurde. Diskutiert wird damit die Frage, ob die heute auftretenden Stauerscheinungen zu Ineffizienzen im Verkehrssystem führen und ob die Effizienz durch Eingriffe der öffentlichen Hand erhöht werden kann. Zur Minderung von Stauproblemen im Straßenverkehr werden verschiedene Strategien diskutiert und angewendet:
3
Planerische und ingenieurtechnische Maßnahmen wie die Erweiterung von Infrastrukturkapazitäten, die bessere Nutzung vorhandener Infrastrukturen z. B. durch Telematikanwendungen, die Förderung alternativer Verkehrsmittel oder auch die bessere Vernetzung von Raumordnung und Verkehrsplanung, Regulatorische Maßnahmen wie z. B. eine restriktive Parkraumbewirtschaftung oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Maßnahmen zu Information und Aufklärung wie z. B. Informationen zu regelmäßig auftretenden Stauereignissen, zu Angeboten alternativer Verkehrsmittel oder auch Webcams, mit deren Hilfe man sich zur aktuellen Verkehrslage informieren kann, Preisliche Maßnahmen wie z. B. Straßenbenutzungsgebühren oder auch Parkraummanagement.
Diese Optimierung entspricht dem oben diskutierten Maximumprinzip. Das Minimumprinzip würde hier die Minimierung des Einsatzes an Reisezeiten, Ressourcen und Infrastrukturen zur Befriedigung einer vorgegebenen Qualität und Quantität befriedigter Bedürfnisse und durchgeführter Aktivitäten entsprechen.
Das Phänomen Stau
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Der Fokus dieses Beitrags liegt vor allem auf preislichen Maßnahmen. Die zur Begründung von Staugebühren vorgebrachten ökonomischen Argumente werden vorgestellt und mögliche Effizienzgewinne durch eine verursachergerechte Anlastung externer Staukosten diskutiert. In Abschnitt 4 wird als weitere, in der verkehrspolitischen Debatte sehr präsente Strategie zur Minderung von Stauproblemen die Erweiterung von Infrastrukturkapazitäten diskutiert. Damit werden zwei wichtige Strategien zur Staureduktion vorgestellt. In eine wirksame und langfristige Staubekämpfung sollten sämtliche aufgeführten Maßnahmenkategorien einbezogen werden, um neben einer effizienten Nutzung von Verkehrsinfrastrukturen auch ausreichende Akzeptanzen für eine Umsetzung der Maßnahmen zu erzielen. 2
Grundlagen der Ermittlung von Staukosten
2.1 Fundamentaldiagramm: Grundlegende Beziehungen zwischen Verkehrskenngrößen und Nutzerkosten Die nachstehende Abbildung 1 zeigt grundlegende Beziehungen zwischen wichti4 gen Verkehrskenngrößen und den damit verbundenen Kosten auf. Quadrant (a) zeigt die Beziehung zwischen Verkehrsdichte D und Geschwindigkeit V, Quadrant (b) die Beziehung zwischen Verkehrsstärke M und Geschwindigkeit V. Die Verkehrsdichte D wird dabei definiert als Anzahl der Fahrzeuge, die sich zu einer bestimmten Zeit auf einem Abschnitt der freien Strecke befinden. Die Verkehrsstärke M ist definiert als die Anzahl der Fahrzeuge, die während eines bestimmten Zeitraums einen Beobachtungsquerschnitt überfahren. Das Fundamentaldiagramm in Quadrant (c) zeigt den Zusammenhang zwischen der Verkehrsdichte D und Verkehrsstärke M (vgl. Small 2007). Über die Diagonale im ungenutzten Quadrant (d) können die Werte der Verkehrsdichte D in (a) und (c) übertragen werden. In Quadrant (e) werden die ingenieurwissenschaftlichen Zusammenhänge in ökonomische Größen übertragen. Die Reisezeiten einschließlich der daraus abzuleitenden Kosten stellen das zentrale Bindeglied zwischen physischen Verkehrsflüssen und den daraus entstehenden Kosten dar. Die durchschnittlichen Reisezeiten entsprechen dem Kehrwert der Geschwindigkeiten und zeigen einen positiven Anstieg im Bereich geringer Verkehrsstärken. Dieser ergibt sich direkt aus dem negativen Anstieg der Geschwindigkeit V(M) im stabilen Bereich. 4
Zu den Annahmen dieses grundlegenden Modells gehören die Homogenität der Nutzer, die Annahme einer freien Strecke ohne Kreuzungen und Signalisierung sowie eines gleichförmigen statischen Staus, in dem eine gegebene Verkehrsnachfrage auf gegebene verkehrliche Bedingungen trifft, vgl. Small (2007).
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Abbildung 1:
Grundlegende Beziehungen zwischen Verkehrskenngrößen und Kosten
Quelle: in Anlegung an Schrage (2005); Small (2007) Deutlich wird, dass bei niedrigen Verkehrsdichten und –stärken die Fahrzeuge ungehindert fahren können. Die Verkehrsstärke ist zunächst gering, steigt aber mit zunehmender Verkehrsdichte an, da sich die gefahrenen Geschwindigkeiten zunächst kaum verringern. Dieser Zusammenhang bleibt bestehen, bis die Kapazität der Straße erreicht ist und der Verkehrsfluss von einem stabilen in einen 5 instabilen Zustand übergeht. Die Fahrzeuge behindern sich gegenseitig, die 5
In der ökonomischen Literatur wird auch der stabile Verkehrsfluss als „congested“ bezeichnet, da auch hier schon Behinderungen zwischen den Fahrzeugen auftreten und die Geschwindigkeiten verglichen zum freien Verkehrsfluss sinken. Der Bereich des instabilen Verkehrsflusses wird hier als „hypercongested“ bezeichnet (Small 2007).
Das Phänomen Stau
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Geschwindigkeiten V und die Abstände zwischen den Fahrzeugen vermindern sich. Die Verkehrsdichte steigt weiter an, die Verkehrsstärke nimmt aber auf Grund der sinkenden Geschwindigkeiten ab.6 Diese räumlich-zeitliche Betrachtungsweise des Verkehrsablaufs führt zur sogenannten Kontinuitätsgleichung in ihrer universellen Form: M=V·D. Die Verkehrsstärke M ergibt sich als Produkt aus Geschwindigkeit V und Verkehrsdichte D. Die gepunktete Linie zeigt diese Zusammenhänge beispielhaft für die maximale Verkehrsstärke Mmax auf. Die Verkehrsdichte ist in diesem Punkt auf Grund der großen Abstände zwischen den Fahrzeugen noch gering, die gefahrenen Geschwindigkeiten recht hoch. Der untenstehende Teil (e) der Abbildung 1 leitet aus diesen Beziehungen den Zusammenhang zwischen Verkehrsstärke und Fahrzeiten sowie in einem Folgeschritt zu Nutzerkosten her. Nutzerkosten können aus Fahrzeiten abgeleitet werden, indem die durchschnittlichen Fahrzeiten mit durchschnittlichen Zeitwerten multipliziert werden.7 Die Kurve der marginalen Kosten msk(M) zeigt die Kosten, die ein zusätzlicher Nutzer verursacht. Sie enthält die Kosten, die dem Nutzer selbst entstehen und zusätzlich die Kosten, die er den anderen Straßennutzern sowie der Gesellschaft als Ganzes aufbürdet, indem er den gesamten Verkehrsfluss behindert und nicht nur seine eigene Fahrzeit erhöht. Quadrant (e) in Abbildung 1 spiegelt damit die oben beschriebenen ingenieurwissenschaftlichen Zusammenhänge direkt wieder: Bei geringen Verkehrsstärken und –dichten sind Fahrzeiten und direkt damit verbunden Fahrtkosten gering. Bei zunehmender Verkehrsstärke (und –dichte) steigen Fahrzeiten und kosten durch die gegenseitigen Behinderungen der Fahrzeuge an. Ist die Kapazität erreicht, nehmen die Fahrzeiten und -kosten deutlich zu. Die Verkehrsstärken sinken. Die marginalen und durchschnittlichen Zeitkosten gehen ins Unendliche, wenn der Verkehrsfluss zum Erliegen kommt. Geschwindigkeit und Verkehrsstärke gehen dann gegen Null und die Verkehrsdichte nimmt ihren maximalen Wert an.
6 7
Zu Gründen für die verminderten Geschwindigkeiten bei steigenden Verkehrsdichten siehe z.B. Schrage (2005). Zusätzliche Kosten des Straßenunterhalts sowie der Fahrzeugnutzung (z.B. höhere Kraftstoffverbräuche, Luftschadstoffemissionen, Lärm) werden hier per Definition den jeweiligen Kostenkomponenten zugeordnet, so dass die hier diskutierten Staukosten ausschließlich durch Zeitverluste verursacht werden.
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2.2 Marktgleichgewicht und volkswirtschaftliches Optimum In Abbildung 2 wird der untere Teil (e) aus Abbildung 1 in eine volkswirtschaftliche Grafik überführt. Die durchschnittlichen Fahrtkosten, welche sich aus den durchschnittlichen Fahrzeiten in Quadrant (e) in Abbildung 1 ergeben, entsprechen den durchschnittlichen privaten Kosten k(M), die der einzelne Ver8 kehrsteilnehmer trägt und damit der Angebotskurve. Die marginalen sozialen Kosten msk(M) beinhalten die Kosten, die ein zusätzlicher Nutzer verursacht und selbst trägt (k(M)) sowie darüber hinaus die marginalen externen Kosten mek(M), die ein zusätzlicher Nutzer verursacht, aber nicht selbst trägt, sondern dem Verkehrskollektiv als Ganzes bzw. der gesamten Gesellschaft aufbürdet.9 Die msk(M) entsprechen damit der Summe aus den durchschnittlichen Kosten k(M) und den marginalen externen Kosten mek(M). Für geringe Verkehrsstärken (bis Punkt a) stimmen die durchschnittlichen Kosten k(M) und die marginalen sozialen Kosten msk(M) überein, es gibt keine staubedingten externen Kosten; die marginalen externen Kosten mek(M) sind Null. Ab Punkt a steigen die msk(M) deutlich stärker an als k(M), da zusätzliche Nutzer den Verkehrsfluss zunehmend behindern und nicht nur sich, sondern auch den anderen Verkehrsnutzern steigende Zeitkosten verursachen. Zusätzlich in die Grafik eingeführt wird die Nachfragekurve d(M), welche der marginalen Zahlungsbereitschaft der Verkehrsteilnehmer entspricht. Diese Kurve zeigt, wie sich die Verkehrsnachfrage ändert, wenn die Fahrzeiten und damit die Nutzerkosten steigen bzw. sinken. Das aus volkswirtschaftlicher Sicht optimale Gleichgewicht liegt auf Punkt f mit Verkehrsstärke M0 und Kosten, im Schnittpunkt der Nachfragekurve d(M) und der Summe aus marginalen externen und durchschnittlichen Kosten. Hier entsprechen die marginalen Zahlungsbereitschaften eines zusätzlichen Nutzers genau den durch zusätzliche Fahrten anfallenden Kosten. Eine geringere Verkehrsmenge wäre nicht optimal, da die marginalen Zahlungsbereitschaften d(M) hier die Kosten msk(M) der Fahrten übersteigen und nicht vollständig abgeschöpft werden. Es würden Fahrten unterbleiben, obwohl die Zahlungsbereitschaften höher als die dadurch entstehenden Kosten sind.
8
9
Siehe Small (2007) für eine Diskussion des Zusammenhangs zwischen den marginalen privaten und den durchschnittlichen Kosten. Der einzelne Nutzer agiert als Preisnehmer, der sich einem konstanten Preis gegenüber sieht. Damit entsprechen die durchschnittlichen Kosten k(M) den marginalen privaten Kosten mpk(M), vgl. dazu auch Schrage (2005). Vgl. Blum (2004) zur Definition des Begriffs externer Kosten.
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Abbildung 2:
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Marktgleichgewicht und volkswirtschaftliches Optimum
Quelle: in Anlehnung an Schrage (2005); Small (2007) Auch eine höhere Verkehrsmenge ist nicht optimal, weil hier die Kosten die Zahlungsbereitschaften übersteigen. Für die Verkehrsmenge M* entstehen z. B. zusätzliche Kosten von (M0, M*, e, f). Die Zahlungsbereitschaften entsprechen hier aber nur der Fläche (M0, M*, c, f), woraus sich ein Kostenüberschuss und damit ein Wohlfahrtsverlust von (f, c, e) ergibt. Eine solche Situation entsteht, wenn die Verkehrsnutzer nur die ihnen direkt selbst entstehenden durchschnittlichen privaten Kosten k(M) tragen, wie das heute in der Regel der Fall ist. Sie beziehen dann auch nur diese in ihr Nutzen-Kosten-Kalkül und damit in ihre Entscheidungsfindung zur Durchführung einer Fahrt ein. In einer solchen Situation stellt sich das Gleichgewicht in Punkt c ein, im Schnittpunkt aus k(M) und d(M). Da alle Verkehrsteilnehmer sowohl Verursacher als auch Betroffene sind, tragen sie indirekt als Kollektiv jedoch auch die zusätzlich entstehenden externen Kosten. Der entstehende Wohlfahrtsverlust (f, c, e) entspricht der volkswirtschaftlichen Definition von Staukosten, da er die Höhe der gesamtgesellschaftlichen entstehenden staubedingten Kosten, die nicht durch die Zahlungsbereitschaften der Nutzer aufgewogen werden, beschreibt. Auch die Fläche (a, c, f) entspricht staubedingten zusätzlichen Kosten. Diese werden jedoch durch die Zahlungsbereitschaften als Fläche unter der Nachfragekurve d(M) aufgewogen und dadurch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht kompensiert. Dies ist nicht der Fall für die Fläche (f, c, e). Diese Kosten entstehen, ohne dass ihnen adäquate Zahlungsbereitschaften gegenüberstehen. Aus volkswirtschaftlicher Sicht entstehen damit in M* Wohlfahrtsverluste, welche vermieden werden können durch eine Verschiebung des Gleichgewichts nach M0. Hier tragen die Verkehrsnutzer genau die durch sie verursachten privaten und externen Kosten; die Zahlungsbereitschaften entsprechen genau den
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entstehenden Kosten; die bestehenden Infrastrukturkapazitäten werden optimal genutzt. Eine solche Verschiebung des Gleichgewichts kann mit Hilfe einer Steuer IJ erreicht werden, welche auch als Pigou-Steuer bezeichnet wird.10 Eine solche Steuer verschiebt die Durchschnittskostenkurve k(M) nach kIJ(M). Die tatsächlichen durchschnittlichen Kosten zusätzlicher Fahrten entsprechen weiterhin k(M). Der Preis der Fahrten hingegen steigt auf kIJ(M)=k(M)+IJ. Das Gleichgewicht stellt sich in Punkt f ein mit Verkehrsmengen M0 und Kosten . Verglichen zum Status quo verlieren die Nutzer Renten (Überschüsse von Zahlungsbereitschaften über Preise) in Höhe von (k*, c, f, ). Einige Nutzer verzichten komplett auf ihre Fahrt und damit auf die daraus entstehenden Nutzen (Fläche (g, c, f)). Die verbleibenden Nutzer zahlen höhere Preise und haben dadurch Einbußen von (k*, g, f, ). Gleichzeitig haben die verbleibenden Nutzer geringere Kosten für die Fahrten (k0, h, g, k*). Dieser Gewinn wird direkt durch die Zahlung der Staugebühr ausgeglichen. Allerdings führt die „Umwandlung“ der Nutzerkosten (k0, h, g, k*) in Gebühren zu Geldern, die zur Kompensation z.B. der Wohlfahrtsverluste (g, c, f) verwendet werden können. Die Einnahmen aus der Staugebühr entsprechen der Fläche (k0, h, f, ) und können die Nutzer für ihre durch die Gebühr entstehenden Einbußen kompensieren. Trotz sinkender individueller Renten für die Nutzer steht die Gesellschaft als Ganzes damit besser da als in der Ausgangssituation c mit der Verkehrsstärke M* und Kosten k*. Eine alternative Argumentation und Interpretation der Grafik führt zum gleichen Ergebnis: Aus volkswirtschaftlicher Perspektive entstehen im heutigen Gleichgewicht c externe Kosten von (a, c, e). Diese werden nicht durch die Nutzer direkt, wohl aber durch das Verkehrskollektiv oder die Gesellschaft als Ganzes getragen, müssen also bei einer volkswirtschaftlichen Betrachtung von den entstehenden Renten abgezogen werden, was wiederum zu einem Wohlfahrtsverlust der Fläche (f, c, e) führt. 2.3 Sind Staukosten externe Kosten? Eine wichtige und kontrovers diskutierte Frage ist, ob es sich bei den oben als gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsverluste definierten Staukosten um externe Kosten handelt. Diese Frage ist von großer Bedeutung, da nur externe Kosten staatliche Interventionen erfordern. Private Kosten k(M) sind wichtige Preissig10
Damit wird Bezug genommen auf die grundlegenden Arbeiten von Arthur Cecil Pigou, der dieses Konzept zur Eindämmung von Umweltverschmutzungen einführte, vgl. Small (2007).
Das Phänomen Stau
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nale für die Marktteilnehmer, mit deren Hilfe Kosten und Nutzen einer jeden Handlung gegeneinander abgewogen werden. Im Falle vollkommener Märkte, welche z. B. die Abwesenheit von externen Kosten erfordern,11 führen die Abwägung zwischen privaten Kosten und Nutzen bei Anbietern und Nachfragern, und die daraus entstehende Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage zu gesellschaftlich optimalen Gleichgewichten: Es kann kein Marktteilnehmer bessergestellt werden ohne mindestens einen anderen Marktteilnehmer schlechter zu stellen. Interventionen der öffentlichen Hand können diese Situation nicht 12 verbessern. Externe Kosten hingegen berücksichtigen Anbieter und Nachfrager nicht, da sie diese nicht direkt zahlen. Das nachgefragte Gut erscheint aus Nutzersicht preiswerter als es das aus volkswirtschaftlicher Sicht ist und wird daher zu viel nachgefragt. Es existiert in der Literatur ein breiter Konsens (vgl. Cerwenka 2008; Infras/IWW 2007; Maibach 2007; Nash 2003; Puls 2009; Schrage 2005; Small 2007), dass Stauerscheinungen externe Komponenten enthalten: Ein neu hinzugekommener Verkehrsteilnehmer verursacht sich selbst, aber auch allen anderen Nutzern der entsprechenden Verkehrsinfrastruktur zusätzliche Kosten. Kein Konsens existiert zu der Frage, ob diese Externalitäten Anlass für staatliches Eingreifen sein sollten. Einige Autoren argumentieren, dass aus Verkehrsträgersicht zumindest große Teile der externen Staukosten als internalisiert gelten können, da diese nur innerhalb des Klubs der Nutzer der jeweiligen Verkehrsinfrastrukturen externalisiert werden (vgl. Cerwenka 2008; Puls 2009). Der „Klub“ der Nutzer als Ganzes trägt die externen und privaten Staukosten. In Abschnitt 3.2 wurde gezeigt, dass auch im Fall einer „Klub-Externalität“ staatliches Eingreifen die Wohlfahrt des Klubs der Verkehrsteilnehmer und damit der Gesamtgesellschaft erhöhen kann. Der Grund dafür ist, dass staubedingte Zeitkosten für den individuellen Verkehrsteilnehmer externe Kosten sind, welche zu einer verfälschten Anreizsetzung führen: Da die Verkehrsteilnehmer nur ihre privaten Zeitverluste tragen, fragen sie zu viel Verkehr nach – und stehen als gesamter Klub der Verkehrsteilnehmer dadurch schlechter da als in einer kostenwahren Situation. Das ist genau die Situation, vor der wir heute vielfach stehen. Alle schimpfen wir über den Stau und leiden unter dem Stau; alle sind wir aber auch der Stau; sprich, wir alle tragen zu einem Phänomen bei, das wir alle eigentlich nicht wünschen. Der Grund dafür liegt darin, dass uns die vollständigen Preissignale fehlen. Eine Gebühr IJ zur Anlastung der externen Staukosten stellt damit den Einzelnen, den Klub der Nutzer der Verkehrsinfrastruktur und die Gesellschaft als Gan11 12
Vgl. Blum (2004) zu weiteren Bedingungen vollkommener Märkte. Hier ist der auf Adam Smith zurück gehende Mechanismus der unsichtbaren Hand („invisible hand“) angesprochen, vgl. Blum (2004).
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zes besser. Entstehende Einnahmen aus Gebühren sind ausreichend, um durch eine geeignete Einnahmenverwendung Wohlfahrtsverluste der Verkehrsteilnehmer zu kompensieren. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht neben der Vermeidung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtsverluste darin, dass genau die Nutzer auf Fahrten verzichten, die den gesellschaftlichen Nutzen am wenigsten reduzieren. Die Gebühr gibt außerdem Signale, wo Erweiterungen von Infrastrukturkapazitäten sinnvoll sind und kann ggf. zur Finanzierung derartiger Erweiterungen verwendet werden. Wichtig ist zu beachten, dass auch im volkswirtschaftlichen Optimum Stau existiert. Es entstehen Zeitkosten in Höhe (h, f). Dies ist genau der Betrag, den die Verkehrsnutzer zu zahlen bereit sind und im Falle einer Staugebühr IJ auch zahlen. 2.4 Von der Theorie zur Praxis – Pro und Contra zu Staugebühren Die oben geführte Argumentation beschreibt das einfachste Modell einer sogenannten First-Best-Lösung. Dieses setzt neben den in Abschnitt 3.1 erwähnten ingenieurwissenschaftlichen Annahmen auch die Abwesenheit von Einschränkungen in der Gestaltung der Preisinstrumente sowie von über die Stauexternalität hinausgehenden Marktunvollkommenheiten voraus (vgl. Small 2007). Dieses Modell vermittelt grundlegende Erkenntnisse zu Gründen und Folgen von Stauereignissen. Die praktische Relevanz des Modells ist hingegen auf Grund der in der Realität so nicht zutreffenden strikten Annahmen begrenzt. Für wichtige Abweichungen von dem idealtypischen Modell wurden daher in der Transportökonomie sogenannte Second-Best-Lösungen entwickelt. Small (2007) gibt einen Überblick über Second-Best-Probleme und Lösungsansätze, z. B. zur Preissetzung, wenn Gebühren nur für einzelne Strecken eines Netzes erhoben werden können; wenn Differenzierungen der Gebühren nur eingeschränkt möglich sind; heterogene Nutzer mit unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften vorliegen; ungenügende Informationen zum Auftreten von Stauereignissen vorhanden sind oder auch Wechselwirkungen mit Marktunvollkommenheiten in anderen Märkten berücksichtigt werden müssen. Im Folgenden werden schlaglichtartig zwei in der Diskussion um Staugebühren besonders dominante Aspekte diskutiert: Transaktionskosten: Die Erhebung von Staugebühren gemäß dem in den Abschnitten 3.1 und 3.2 diskutierten Modell erfordert umfassende Informationen zu Kosten- und Nachfragekurven. Selbst wenn man diese Informationen als gegeben voraussetzt, so würde eine Differenzierung der Staugebühren nach individuellen Zahlungsbereitschaften und vorliegenden Kosten einen unangemessen hohen technischen Aufwand erfordern. In der Tat wird die Differenzierung von Staugebühren immer eine Abwägung zwischen theoretischem Anspruch und
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praktischer Machbarkeit erfordern. Zu stark ausdifferenzierte Gebühren laufen Gefahr, von den Nutzern nicht verstanden und als Folge auch nicht beachtet zu werden (vgl. Bonsall 2007). Die vorliegenden theoretischen und empirischen transportökonomischen Arbeiten geben Anhaltspunkte zu Vor- und Nachteilen verschiedener Gebührensysteme und zur Höhe der Gebühren. Werden die Stauexternalitäten mit einem Preis gleich Null belegt, wie das heute häufig der Fall ist, so resultieren daraus in jedem Fall Wohlfahrtsverluste. Die Herausforderung besteht darin, durch eine Bepreisung dieser Externalitäten zu erzielende Effizienzgewinne und die für deren Umsetzung notwendigen Kosten abzuwägen. Transaktionskosten können in diese Abwägung als Kostenkomponenten eingehen. Umgesetzte Gebührensysteme zeigen, dass auch unter Berücksichtigung dieser Kosten erhebliche Effizienzgewinne zu erzielen sind und die Transaktionskosten zudem mit technischem Fortschritt ständig sinken. In jedem Fall muss ein solches Gebührensystem auf die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie die Akteure vor Ort abgestimmt werden. Verteilungswirkungen von Staugebühren: Auch wenn die Gesellschaft als Ganzes durch die Einführung von Staugebühren gewinnt, so erleiden die individuellen Nutzer doch Einbußen ihrer Konsumentenrenten, wie anhand von Abbildung 2 diskutiert wurde. Dies ist ein wichtiger Grund für die mangelnde Akzeptanz derartiger Ansätze. Die Verteilungswirkungen von Staugebühren werden stark durch die Verwendung der Einnahmen bestimmt. Anhand von Abbildung 2 wurde gezeigt, dass diese ausreichen, um Verluste an Konsumentenrenten zu kompensieren. Für die Einnahmenverwendung können verschiedene Prioritäten gesetzt werden. Sie kann z. B. auf die Maximierung der Akzeptanz abgestimmt werden oder auch auf die Maximierung der aus der Gebühr resultierenden Effekte für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Als Fazit der Diskussion zu Second-Best-Lösungen lässt sich festhalten, dass derartige Lösungen vielfältiger sein werden als die in Abschnitt 3.1 und 3.2 diskutierten idealtypischen Ansätze. Aus der theoretischen Diskussion kann man ein grundlegendes Verständnis für die ablaufenden Prozesse gewinnen. Aus den praktischen Erfahrungen lassen sich Anregungen gewinnen zu Gestaltungsoptionen und Umsetzungsstrategien. Zusammen sollte dies eine ausreichende Grundlage bilden, um Staugebühren als effizienzsteigerndes Instrument zu begreifen mit dem verkehrspolitisch gestaltend eingegriffen werden kann. 3
Kurz- versus langfristige Perspektive – (Optimale) Infrastrukturkapazitäten und Stau
Bis hierher wurde die Frage der optimalen Nutzung einer bestehenden Verkehrsinfrastruktur diskutiert. Langfristig sind alle Produktionsfaktoren variabel und
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auch Qualität und Quantität von Verkehrsinfrastrukturen können verändert werden. Das kurzfristige Optimierungsproblem wird erweitert auf die effiziente Nutzung einer optimalen Verkehrsinfrastruktur. Hierbei vertritt die öffentliche Hand die Interessen der (potenziellen) Nutzer der Verkehrsinfrastrukturen und entscheidet stellvertretend z. B. über deren Ausoder Neubau, Erhaltung oder Rückbau. Für eine solche Entscheidung müssen nun private und externe Nutzen und Kosten der geplanten Maßnahmen berücksichtigt werden. Genauso wie einzelne Individuen für ihre Handlungen wie z. B. Fahrten oder die An-/Abschaffung von Mobilitätswerkzeugen Kosten und Nutzen abwägen, so wägt die öffentliche Hand Kosten und Nutzen der verkehrsinfrastrukturellen Maßnahmen ab. Berücksichtigt werden müssen hierbei private und externe Zeit- und sonstige Nutzerkosten einschließlich Umwelt- und Unfallkosten; Kosten für Erstellung und Unterhalt der Infrastrukturen sowie indirekte Effekte, z. B. auf die wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Regionen. Über die Modellierung der Wirkungen der geplanten Maßnahmen auf die Nutzung der Infrastrukturen wird die Rückkopplung zwischen Kapazität und Nutzung und damit zwischen kurz- und langfristiger Nutzung hergestellt. Eine volkswirtschaftlich optimale Verkehrsinfrastruktur liegt vor, wenn die zusätzlichen marginalen Kosten einer Kapazitätserweiterung mit den vermiedenen marginalen Kosten der Nutzung übereinstimmen (vgl. Small 2007). Auf Grund der Vielfalt, Langfristigkeit und Komplexität der zu berücksichtigenden Wirkungen sind derartige Optimierungen und damit auch Entscheidungen zu Verkehrsinfrastrukturinvestitionen immer komplexe Entscheidungen. Nutzen-Kosten-Analysen (NKA) sind Hilfsmittel, um diese Entscheidungen zu strukturieren, zu objektivieren und transparenter zu machen. Im Rahmen von NKA werden Nutzen und Kosten von Maßnahmen möglichst umfassend erhoben, in monetäre Einheiten umgerechnet, um sie vergleichbar zu machen und zu einem Entscheidungskriterium wie z. B. zu einem Nutzen-Kosten-Quotienten zusammengeführt. Ein Nutzen-Kosten-Quotient größer eins zeigt die gesamtgesellschaftliche Vorteilhaftigkeit des Projekts: Die gesellschaftlichen Nutzen überwiegen die gesellschaftlichen Kosten. Derartige NKA werden in vielen Ländern zur Bewertung von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen angewendet, da sie mit dem Nutzen-Kosten-Quotienten als Maß für Effizienz auch den Nachweis der Wirtschaftlichkeit der Verwendung öffentlicher Gelder gestatten. In Deutschland werden Investitionen in Infrastrukturen der Verkehrsträger Wasser, Schiene, Straße, die in der Verantwortlichkeit des Bundes liegen, mit Hilfe der Bundesverkehrswegeplanung (BVWP) bewertet (vgl. BMVBS 2002), deren Kernelement ebenfalls eine NKA ist. Ein Blick auf das Verfahren der BVWP sowie vorliegende Bewertungsergebnisse macht die praktischen Probleme eines solchen theoretisch sinnvollen Ansatzes deutlich.
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Zu den wichtigsten Problemen zählt die unzureichende Berücksichtigung der induzierten Verkehre, welche durch zusätzliche Verkehrsinfrastrukturen erzeugt werden. Primär induzierte Verkehre entstehen, wenn Verkehrsnutzer bei unveränderten Raumstrukturen infolge eines veränderten Verkehrsangebots Zahl der Wege, genutzte Verkehrsmittel oder auch die aufgesuchten Ziele ändern. Langfristig ändern sich auch die Raumstrukturen, wenn Änderungen im Verkehrsangebot vorgenommen werden: Haushalte ändern z. B. ihre Wohnund/oder Arbeitsorte, Unternehmen ihre Standorte. Die dadurch zusätzlich entstehenden Verkehre werden als sekundär induzierte Verkehre bezeichnet. Sie entstehen durch langfristige und sehr komplexe Wirkungsbeziehungen; deren Modellierung stellt hohe Anforderungen an Daten und Modelle. In der derzeitigen BVWP werden nur primär induzierte Verkehre und diese nur für einen kleinen Teil der Wege berücksichtigt. Dies führt zu einer systematischen Überbewertung von Zeitgewinnen: Durch neue Infrastrukturen sinken die Verkehrsstärken und damit Reisezeiten und –kosten auf dem gesamten jeweils betrachteten Netz. Verkehr wird billiger. Dadurch entsteht, zusätzliche Nachfrage, welche die Reisezeiten und –kosten dynamisch erhöhen würde, wird nur zu einem geringen Teil berücksichtigt. Die so modellierten Reisezeitgewinne machen einen Hauptteil der Nutzen in der Bewertung aus (vgl. BMVBS, 2002). Zusammenfassend widerspricht eine Optimierung der Infrastrukturkapazitäten der Optimierung der Nutzung dieser Kapazitäten nicht. Sie eröffnet weitere Möglichkeiten zur Gestaltung eines effizienten Verkehrssystems, entlastet aber nicht von der Verantwortung, geeignete Instrumente zur Förderung einer effizienten Nutzung bestehender und geplanter Infrastrukturen einzusetzen. Das langfristige Optimierungsproblem ist zudem so komplex und Infrastrukturen so diskret, dass immer ein kontinuierliches Monitoring und Nachsteuern verkehrspolitischer Instrumente notwendig ist. 4
Empirie und praktische Erfahrungen mit Staugebühren
Angaben zu Staukosten zeigen eine große Bandbreite auf (vgl. Infras/IWW 2007; Maibach 2007; Nash 2003; Puls 2009; Schrage 2005; Small 2007). Dies liegt in unterschiedlichen Ansätzen zur Messung der Staukosten begründet, aber auch darin, dass unterschiedliche Definitionen und Abgrenzungen für das Konzept der Staukosten verwendet werden. Geschätzt werden z. B.
Kosten welche sich aus staubedingten Zeitverzögerungen im Vergleich zum freien Verkehrsfluss ergeben (Fläche (k1, b, c, k*) in Abbildung 2); die gesamten auftretenden externen Kosten (Fläche (a, c, e) in Abbildung 2, im Folgenden bezeichnet als Verspätungskosten); oder auch
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die Gebühreneinnahmen (Fläche k0, h, f, ) in Abbildung 2, im Folgenden bezeichnet als Gebühreneinnahmen) (Infras/IWW 2007; Schrage 2005). Auch zur hier verwendeten Definition von Staukosten als gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsverluste liegen empirische Ergebnisse vor (Fläche (f, c, e) in Abbildung 2, im Folgenden bezeichnet als Wohlfahrtsverlust) (Infras/IWW 2007).
Infras/IWW (2007) ermitteln für Deutschland für das Jahr 2005 Verspätungskosten von 76,6 Milliarden Euro. Diese Kosten sind zu 99% auf den Straßenverkehr, zu 0,95 % auf den Schienenpersonenverkehr sowie zu 0,05% auf den InlandsPassagierflugverkehr zurückzuführen. PKW zeichnen sich für 56% und LKW für 35% der Verspätungskosten im Straßenverkehr verantwortlich. Der Hauptteil dieser Kosten fällt mit 68% auf überregionalen Straßen einschließlich bedeutender Stadtautobahnen an; 32% der straßenverkehrsbedingten Staukosten entfallen auf städtische Straßen. Staubedingte Wohlfahrtsverluste machen mit 19,6 Milliarden Euro weniger als 20% der Verspätungskosten aus. Die Studie weist mit 223,6 Milliarden Euro mehr als das 10fache der Wohlfahrtsverluste als zu generierende Staugebühren aus, was auf geringe Nachfrageänderungen durch die in den Szenarien betrachteten Gebühren schließen lässt. Die wichtigste Komponente dieser Kosten sind mit 90% der Gesamtkosten Erhöhungen der Reisezeiten (vgl. Maibach 2007). Anschaffungs- und Betriebskosten der Fahrzeuge enthalten vor allem erhöhte Abnutzungserscheinungen der Fahrzeuge sowie erhöhten Personalbedarf im Güterverkehr. Laut Infras/IWW (2007) nehmen diese Kosten unter Staubedingungen um ca. 2% zu. Zusätzlich zu eigentlichen Reisezeitverlängerungen werden Reisezeiten in Stausituationen um ca. 50% höher gewertet als in ungehinderter Fahrt (vgl. Maibach 2007). Gründe hierfür liegen in Stress und Ärger, aber auch in schnellerer Ermüdung und Erschöpfung durch erhöhte Anforderungen an die Konzentration sowie in der Unzuverlässigkeit der Fahrzeiten, welche besonders für den Güterverkehr ein großes Problem darstellt. Treibhausgas- und Luftschadstoffemissionen, Energieverbräuche und Unfallzahl und -schwere steigen in Stausituationen deutlich an im Vergleich zum ungehinderten Verkehrsfluss. Diese Effekte machen ca. 10% der gesamten Staukosten aus (vgl. Maibach 2007), werden aber in der Regel direkt den jeweiligen Effekten zugeordnet. Neben Angaben zu absoluten Staukosten sind Informationen zu marginalen sozialen und marginalen externen Staukosten im Status quo sowie im volkswirtschaftlichen Optimum relevant, da diese die Grundlage für die Gestaltung von Gebührensystemen bilden. Einen Überblick über Ergebnisse zu marginalen sozialen Staukosten in urbanen Regionen gibt Maibach (2007). Sie liegen zwischen 3,50 Euro pro Fahrzeugkilometer in Northampton und 0,05 Euro pro Fahrzeugkilometer in den äußeren Gebieten von Helsinki.
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Die Studie leitet durchschnittliche marginale soziale Staukosten für das volkswirtschaftliche Optimum differenziert nach PKW und LKW; räumlichen Strukturen und Straßentypen ab. Für PKW liegen die empfohlenen Werte zwischen 2,0 Euro pro Fahrzeugkilometer im nachgeordneten innerstädtischen Straßennetz in großen urbanen Agglomerationen und 0,05 Euro pro Fahrzeugkilometer auf Autobahnen in ländlichen Regionen (vgl. Maibach 2007). Nachdem man 1975 das Area Licence Scheme (ALS) in Singapur ins Leben gerufen hatte, wurde eine Vielfalt von Gebührensystemen umgesetzt.13 Bepreist werden vor allem einzelne Infrastrukturen wie Brücken oder Straßen, das übergeordnete Straßennetz, sowie innerstädtische Gebiete. Die Motivationen zur Einführung derartiger Systeme sind immer mehrdimensional und reichen von der Minderung von Verkehrsbelastungen und damit verbundener Umweltwirkungen bis hin zur Finanzierung von Infrastrukturen. Besondere Beachtung gefunden haben in der öffentlichen Diskussion das Londoner und das Stockholmer Gebührensystem. Beide Systeme sind sehr gut dokumentiert in Einführung, Ausgestaltung und Folgen.14 Insgesamt zeigen die implementierten Systeme, dass Probleme wie Transaktionskosten, Akzeptanzen und Verteilungsfragen gelöst werden können. Es existieren also Instrumente, um aktuelle Verkehrsprobleme erheblich zu mindern. Zudem werden Einnahmen generiert, die zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden können. Umfangreiche Erfahrungen liegen auch zu Umsetzungsfragen vor. Alle Erkenntnisse sind allerdings stark fallspezifisch und lassen sich nur begrenzt auf andere Regionen und Zeiten übertragen. Fazit Die effiziente Nutzung knapper uns zur Verfügung stehender Ressourcen ist angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine dringende Notwendigkeit. Fragen des Klimaschutzes und knapper werdender Energieressourcen z. B. werden künftig weiter an Bedeutung gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist die Gestaltung eines effizienten Verkehrssystems, welches zugleich eine Daseinsvorsorge für alle Menschen gewährleistet, eine wichtige Aufgabe. Der Umgang mit dem Phänomen Stau ist ein Teil dieses Problems. Vielfältige Maßnahmen sind möglich, um Verkehrsmengen in überlasteten Teilen des 13 14
Ein umfangreicher Überblick wurde im Projekt IMPRINT-NET: Implementing Pricing Reforms in Transport Networking erarbeitet, siehe http://www.imprint-net.org/, 23.3.2010, vgl. auch Small (2007). Vgl. http://www.tfl.gov.uk/roadusers/congestioncharging/ und http://www.tfl.gov.uk/roadusers/congestioncharging/6722.aspx , 22.3.2010, für Information zur London congestion charge sowie Gullberg (2009) zu Stockholm.
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Netzes zu reduzieren und zu steuern. Diese reichen von ingenieurtechnischen Lösungen wie Telematikanwendungen oder auch Infrastrukturerweiterungen über regulatorische, planerische und raumordnerische Maßnahmen bis hin zu Information und Kommunikation. Dieser Beitrag hat gezeigt, dass auch preisliche Maßnahmen ein wichtiges und geeignetes Instrument sind, um die Effizienz von Verkehrssystemen zu erhöhen. Diese sollten sich an den wahren durch die Verkehrsaktivitäten anfallenden Kosten orientieren und externe Komponenten wie z. B. Zeitkosten berücksichtigen. Nur wenn die Verkehrsteilnehmer sich den vollständigen Preissignalen gegenübersehen, werden sie diese externen Kostenkomponenten in ihre Kosten-/ Nutzenabwägungen einbeziehen und im Sinne volkswirtschaftlich optimaler Gleichgewichte entscheiden. Es wurde gezeigt, dass Staukosten aus individueller Sicht externe Kosten darstellen, deren verursachergerechte Anlastung die Gesellschaft als Ganzes besser stellt. Praktische Erfahrungen zeigen derartige Effizienzgewinne auch unter Berücksichtigung anfallender Transaktionskosten. Der verkehrspolitische Handlungsbedarf besteht darin, Vor- und Nachteile der vielfältigen möglichen Instrumente abzuwägen und Strategien zu erarbeiten, welche politisch gesetzte Ziele erreichen sowie politisch und finanziell machbar sind. Das Phänomen Stau ist damit eingebettet in ein komplexes Wirkgefüge zwischen Verkehrssystem und Raumstrukturen auf der Angebots- und deren Nutzern auf der Nachfrageseite. Eine isolierte Betrachtung dieses Phänomens ist weder sinnvoll noch machbar. Strategien zur Vermeidung von Stauereignissen sollten die Vielfalt der möglichen Maßnahmenoptionen berücksichtigen und auf die jeweiligen Ziele und Gegebenheiten vor Ort abgestimmte Maßnahmenpakete zusammenstellen. Preise sind dabei einer von vielen Einflussfaktoren. Sie steigen und sinken aus verschiedensten Gründen und verändern dadurch unser Mobilitätsverhalten. Wir sollten diesen Effekt gezielt nutzen – zum Wohle der gesamten Gesellschaft. Quellen Blum, Ulrich (2004): Volkswirtschaftslehre. Studienhandbuch. 4., völlig überarb. und erw. Aufl. München. Bonsall Peter/Jeremy Shires/Dong Ngoduy/Heike Link/Anna Becker/Panos Papaioannou/ Panagiotis Xanthopoulos (2007): Optimal Complexity of Prices for Transport Infrastructure, Deliverable 6 of GRACE (Generalisation of Research on Accounts and Cost Estimation), Funded by Sixth Framework Programme. ITS, University of Leeds, Leeds. 2007, http://www.grace-eu.org/deliverables.htm, 23.3.2010. BMVBW (2002): Grundzüge der gesamtwirtschaftlichen Bewertungsmethodik Bundesverkehrswegeplan 2003. Berlin.
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Cerwenka, Peter/Olaf Meyer-Rühle (2008): Sind Staukosten externe Kosten. Versuch einer terminologischen Flurbereinigung. In: Internationales Verkehrswesen, Jg. 60, H. 10, S. 391–396. Gullberg, Anders/Katarina Isaksson/Jonas Eliasson/Greger Henriksson (2009): Congestion Taxes in City Traffic: Lessons Learnt from the Stockholm Trial. Lund. Infras/IWW (2007): Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland. Aufdatierung 2005, Zürich. Maibach, M./Schreyer, C./Sutter, D./van Essen, H./Boon, B. H./Smokers, R. et al. (2007): Handbook on estimation of external cost in the transport sector. Internalisation Measures and Policies for All external Cost of Transport (IMPACT). CE Delft. Delft. Puls, Thomas (2009): Externe Kosten am Beispiel des deutschen Straßenverkehrs. Ökonomisches Konzept, politische Relevanz, praktische Möglichkeiten und Grenzen. Köln. Schrage, Andrea (2005): Straßenmaut und Verkehrsstaus. Univ., Diss.--Regensburg, 2005. Tübingen: Mohr Siebeck (Beiträge zur Finanzwissenschaft, 19). Small, Kenneth A/Erik Teodoor Verhoef (2007): The economics of urban transportation. London.
Weiterführende Literatur Boardman, Anthony E/Davis H. Greenberg/Aidan R. Vining/David L. Weimer (2006): Cost-benefit analysis. Concepts and practice. 3. ed., internat. ed. Upper Saddle River, New Jersey. Rothengatter, Werner (2000): External Effects of Transport. In: Polak, Jacob B; Heertje, Arnold (2000): Analytical transport economics. An international perspective. Cheltenham, S. 79-116. Santos, Georgina (2004): Road pricing. Theory and evidence. 1. ed. Amsterdam. Varian, Hal R (2006): Intermediate microeconomics. A modern approach. 7. ed., internat. student ed. NY. New York. Verhoef, Erik T. (2008): Pricing in road transport. A multi-disciplinary perspective. Cheltenham.
Verkehrssicherheit
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Verkehrssicherheit Tina Gehlert Einführung Individuelle Mobilität als Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe wird heute als unverzichtbar angesehen und ist gleichzeitig mit einem Preis in Form von Straßenverkehrsunfällen verbunden. Abbildung 1 stellt die Fahrleistung als Ausdruck unserer mobilen Gesellschaft und die Zahl der bei einem Straßenverkehrsunfall getöteten Personen seit 1960 gegenüber. Bis 1970 stieg parallel mit der Fahrleistung die Anzahl der Getöteten pro Jahr an. Den Höhepunkt erreichte die Unfallentwicklung Anfang der 1970er Jahre, die gleichzeitig auch den Beginn einer umfassenden und systematischen Verkehrssicherheitsarbeit markiert. Im Vordergrund der Verkehrssicherheitsarbeit standen seitdem vor allem technische Maßnahmen wie z. B. Gurtsysteme oder Airbags im Pkw oder der Ausbau der Straßeninfrastruktur. In der Folge konnten deutliche Rückgänge bei der Anzahl der im Straßenverkehr getöteten und schwer verletzten Personen verzeichnet werden, obwohl die Anzahl der Unfälle nicht im gleichen Ausmaß abgenommen hat (vgl. Statistisches Bundesamt 2009). Auch wenn die schweren Folgen von Unfällen in der Vergangenheit sukzessive gemindert werden konnten, zeigt ein Blick auf die Zahlen, dass der Handlungsdruck nach wie vor hoch ist. So verunglückten im Jahr 2008 413.524 Personen im Straßenverkehr. 4.477 Personen starben, 70.644 wurden schwer und 338.403 leicht verletzt (vgl. Statistisches Bundesamt 2009). Gegenwärtig hält unter dem Begriff „Vision Zero“ eine neue Perspektive Einzug in die Verkehrssicherheitsarbeit. Diese neue Sicherheitsphilosophie vertritt den Standpunkt, dass niemand bei einem Unfall im Straßenverkehr getötet oder für den Rest seines Lebens unter den Folgen einer Verletzung leiden darf. Die einzig akzeptable Anzahl Getöteter und Schwerverletzter im Straßenverkehr ist die Null (Zero). Um dieses Ziel zu erreichen muss der Straßenverkehr als ganzheitliches System aufgefasst und der Verkehrsteilnehmer mit seinen physischen und psychischen Voraussetzungen und Begrenzungen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt werden. Bei der Gestaltung des Straßenverkehrs muss also davon ausgegangen werden, dass der Mensch trotz aller Sicherheitsmaßnahmen Fehler macht. Daher muss das System Verkehr derart gestaltet sein, dass es diese Fehler einkalkuliert, gewissermaßen verzeiht, und es zu keinen schweren Unfällen kommt. Gesetze, Regelwerke und Grenzwerte müssen die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit berücksichtigen. Die Verantwortung des einO. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zelnen Verkehrsteilnehmers diese Regelungen dann auch zu befolgen, wird dabei nicht in Frage gestellt. Um das Konzept „Vision Zero“ tatsächlich in der Praxis umsetzen zu können, sind fundierte Kenntnisse über das Verhalten von Verkehrsteilnehmern und die Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung notwendig. In diesem Beitrag wird daher anhand ausgewählter Beispiele der Frage nachgegangen, wie sich das Verhalten von Verkehrsteilnehmern im Sinne von „Vision Zero“ beeinflussen lässt (vgl. auch den Beitrag von Bamberg in diesem Band). Dabei werden sowohl traditionelle als auch neue Ansätze aufgezeigt. Diese neuen Ansätze lassen eine Entwicklung der Verkehrssicherheitsarbeit in Richtung „Vision Zero“ auch in Deutschland erkennen. Anders als in den Vorreiterstaaten Schweden, Niederlanden oder Großbritannien, gibt es für Deutschland bisher kein umfassendes Konzept „Vision Zero“, dass alle Akteure in der Verkehrssicherheitsarbeit verbindet und deren Kräfte auf dieses Ziel hin fokussiert. Dieser Beitrag ist daher auch als Plädoyer für ein solches Gesamtkonzept zu verstehen, da es der Fokussierung der Verkehrssicherheitsarbeit auf den Verkehrsteilnehmer eine ganz neue Dynamik verleihen könnte. Im Folgenden werden die wichtigsten Akteure im Bereich Verkehrssicherheit kurz vorgestellt. Abbildung 1:
Entwicklung der Fahrleistung und des Unfallgeschehen im Straßenverkehr
Quelle: Eigene Darstellung
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Handelnde Akteure im Bereich Verkehrssicherheit
Verkehrssicherheit als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe wird auf unterschiedlichen Ebenen von verschiedenen Akteuren betrieben. Die Europäische Kommission hat sich im Jahr 2001 in ihrem Weißbuch zur europäischen Verkehrspolitik das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2010 die Zahl der Verkehrstoten zu halbieren. Konkretisiert wurde das Weißbuch im Jahr 2003 durch das Europäische Aktionsprogramm für Straßenverkehrssicherheit, in dem praktische Maßnahmen vorgeschlagen wurden. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips ist der Handlungsspielraum der EU-Kommission jedoch beschränkt. Gesetze kann sie nur für die Bereiche erlassen, die den freien Personen- und Güterverkehr in der EU und den europäischen Binnenmarkt tangieren. Ein aktuelles Beispiel ist die dritte EU Führerscheinrichtlinie, die 2007 in Kraft trat. Sie regelt europaweit einheitlich die Führerscheinklassen sowie die Voraussetzungen für deren Erteilung und Entziehung. Darüber hinaus kann die Europäische Kommission jedoch nur Empfehlungen aussprechen, Informationsangebote machen oder den Austausch guter Beispiele fördern. Beispiele sind hier die Europäische Road Safety Charter oder die Wissensdatenbank European Road Safety Observatory. Bis 2010 konnte so eine Reduktion der im Straßenverkehr Getöteten in der erweiterten EU um 36 % erreicht werden. Die EU-15 Länder, die sich das Ziel im Jahr 2001 gesetzt hatten, erreichten sogar 42 % (vgl. ETSC: 2010). Trotzdem wird damit das Ziel der Halbierung der Verkehrstoten verfehlt. Gegenwärtig wird ein neues Weißbuch der europäischen Verkehrspolitik sowie ein neues Aktionsprogramm für Verkehrssicherheit erarbeitet. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Schwerpunkte in einem eigenen Verkehrssicherheitsprogramm formuliert. Dabei werden die drei Bereiche Straße, Fahrzeug, Mensch des Systems Verkehr abgedeckt. Im Gegensatz zu anderen Akteuren setzt sich die Bundesregierung jedoch keine quantitativen Ziele zur Reduktion der Getöteten oder Verletzten im Straßenverkehr. Dies ist insofern bedauerlich, da quantitativen Zielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Begleitung und Erfolgskontrolle der Programme zukommt, sondern auch eine zentrale politische Absichterklärung und wichtige Motivation für alle beteiligten Akteure sind. Die Überprüfung und Erfolgskontrolle auf Bundesebene erfolgt alle zwei Jahre durch die Vorlage eines Unfallverhütungsberichts. Aus der Bundesstatistik lässt sich ein Rückgang der im Straßenverkehr Getöteten um 36 % im Jahr 2009 bezogen auf das Jahr 2001 ablesen. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld (vgl. ETSC: 2010). Den Bundesländern kommt durch ihre Zuständigkeit für die Polizei und die Bildung eine wichtige Rolle bei der Verkehrssicherheit zu. Sie können durch die Verkehrsüberwachung und die Verkehrserziehung an Schulen maßgeblich auf
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die Verkehrssicherheit einwirken. Die meisten Bundesländer haben ebenfalls ein Verkehrssicherheitsprogramm verabschiedet. Die Mehrzahl davon verpflichtet sich darin auf eine konkrete zahlenmäßige Reduktion der Getöteten im Straßenverkehr. Beispielsweise bekennt sich Nordrhein-Westfalen in seinem Verkehrssicherheitsprogramm aus dem Jahr 2004 zu „Vision Zero“ und einer Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2015. Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Programme orientieren sich stark an den regionalen Begebenheiten der einzelnen Bundesländer. Darüber hinaus übernehmen eine Reihe von Institutionen, Verbänden und Behörden verschiedene Aufgaben in der Verkehrssicherheitsarbeit. So bietet beispielsweise die Deutsche Verkehrswacht (DVW) für Kinder und Jugendliche umfangreiche Programme und Materialien zur Verkehrserziehung an, so z. B. die Radfahrausbildung in der Grundschule. Speziell für Kraftfahrer bieten Vereine wie der TÜV, DEKRA oder Automobilclubs wie der ADAC ein breites Spektrum an sicherheitsrelevanten Dienstleistungen, wie z. B. Führerscheinprüfungen, Begutachtungen der individuellen Fahreignung oder Fahrsicherheitstrainings. Unfallversicherungsträger wie z. B. die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) oder die Berufsgenossenschaft Transport und Verkehrswirtschaft beschäftigen sich im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhüten, mit Verkehrssicherheitsthemen. Im Bereich der Forschung zur Unfallvermeidung sind u. a. die Bundesanstalt für Straßenwesen (BaSt), die Unfallforschung der Versicherer (UDV) und verschiedene Universitäten aktiv. Eine Koordinierung der verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen und deren Aktivitäten hat sich der Deutsche Verkehrssicherheitsrat e.V. (DVR) zur Aufgabe gemacht. Darüber hinaus initiiert er eigene Programme und Aktionen. 2
Verkehrssicherheitsmaßnahmen zur Beeinflussung des Verkehrsverhaltens
Das System „Straßenverkehr“ wird durch das ganzheitliche Zusammenspiel zwischen dem Verkehrsteilnehmer, den Verkehrsmitteln und der Verkehrsinfrastruktur bestimmt. Das Konzept „Vision Zero“ verfolgt den Ansatz, bei allen Verkehrssicherheitsmaßnahmen den Verkehrsteilnehmer und sein Verhalten in den Fokus zu rücken. Um das Verhalten von Verkehrsteilnehmern beeinflussen zu können, werden klassischerweise vier große Gruppen von Maßnahmen unterschieden: 1. 2. 3. 4.
Ausbildung, Aufklärung und Information, Gebote und Verbote, Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur und der Verkehrsmittel, Anreiz- bzw. Belohnungssysteme.
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Während die Ausbildung, Aufklärung und Information sowie die Gebote und Verbote in der Verkehrssicherheitsarbeit bereits eine lange Tradition haben, wird bei der Gestaltung der Verkehrsmittel und insbesondere der Verkehrsinfrastruktur erst seit kurzer Zeit auf verhaltenswissenschaftliche Grundlagen zurückgegriffen. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Maßnahmengruppen und ihr Potenzial zur Verhaltensbeeinflussung erläutert. 2.1 Ausbildung, Aufklärung und Information Das Ziel dieser Gruppe von Maßnahmen ist die Information und Aufklärung der Verkehrsteilnehmer über die Regeln und Konsequenzen des eigenen Verhaltens im Straßenverkehr sowie die Entwicklung und Beeinflussung von Einstellungen. Gerade im Kindes- bis jungen Erwachsenenalter bilden sich grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten, Gewohnheiten und Automatismen aus, die auch notwendig zur sicheren Teilnahme am Straßenverkehr sind. In dieser Phase sind kommunikative und erzieherische Maßnahmen sehr wirksam zur Verhaltensbeeinflussung. Haben sich Routinen und Gewohnheiten erst einmal ausgebildet, sind sie allein durch kommunikative Maßnahmen jedoch schwer zu ändern. Zur sicheren Teilnahme am Verkehr benötigen Kinder und Jugendliche eine Reihe von grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten aus den Bereichen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Motorik und Persönlichkeit, die sich bis in das Teenageralter hinein entwickeln. Zu komplexen Wahrnehmungsleistungen wie einer korrekten Entfernungs- oder Geschwindigkeitseinschätzung sind Kinder beispielsweise erst ab acht bis neun Jahren fähig. Auch sind Kinder durch ihre egozentristische Wahrnehmung nicht in der Lage, sich in die Situation oder Perspektive anderer Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen. Wenn sie selbst beispielsweise einen Pkw sehen, gehen sie fälschlicherweise davon aus, dass der Pkw-Fahrer sie ebenfalls sehen muss und verhalten sich entsprechend. Bis Kinder in der Lage sind, diesen Perspektivwechsel zu vollziehen, müssen andere Verkehrsteilnehmer bei ihnen daher stets von einem „irrationalen“ Verhalten im Straßenverkehr ausgehen. Allerdings zeigen sich große Unterschiede zwischen den Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von ihren Möglichkeiten, die Teilnahme am Straßenverkehr zu trainieren. Das wird wiederum sehr stark von der Mobilität der Eltern bestimmt. Ein Phänomen, das sich sehr negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirkt, ist die zunehmende automobile Begleitmobilität – auch als „Elterntaxi“ bezeichnet. Oft ändern sich mit der Geburt von Kindern das Zeitbudget und die Mobilitätserfordernisse der Eltern so stark, dass die Anschaffung eines Pkw als notwendig angesehen wird. In der Folge und aus einem subjekti-
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ven Sicherheitsbedürfnis heraus werden Kinder hauptsächlich mit dem Pkw gefahren. Das führt dazu, dass die Verkehrsdichte vor Kinder- und Freizeiteinrichtungen zunimmt und damit die Gefährdung der Kinder, die eigentlich vermieden werden soll, steigt. So verunglücken beispielsweise Kinder inzwischen am häufigsten als Insassen von Pkw. Andererseits werden die selbstständige Teilnahme am Straßenverkehr und die dafür notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten mit den Kindern nicht mehr geübt. Damit sind die Kinder für den Straßenverkehr weniger gut gewappnet und dann tatsächlich stärker gefährdet. Den Eintritt ins Erwachsenenalter stellt gewissermaßen der Erwerb des Führerscheins dar. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind in dieser Lebensphase zwei besonderen Unfallrisiken, dem Jugendlichenrisiko und dem Anfängerrisiko ausgesetzt. Das Jugendlichenrisiko beschreibt all jene Risikofaktoren, die primär mit dem jugendspezifischen Lebensstil verbunden sind, wie z. B. Discofahrten, Nachtfahrten, Mutproben aber auch die Selbstüberschätzung des eigenen Könnens. Das Anfängerrisiko beschreibt spezifische Mängel in der Fahrkompetenz zu Beginn der Fahrerkarriere, wie z. B. die Unerfahrenheit, die kognitive Überforderung in komplexen Verkehrssituationen, die noch unzureichende Ausprägung von Routinen sowie die mangelnde Fähigkeit zum vorausschauenden Fahren. In der Folge sind junge Fahrer und insbesondere junge Männer die am stärksten gefährdete Gruppe im Straßenverkehr. Im Erwachsenenalter haben sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Verkehrsteilnahme zu Automatismen, Routinen und Gewohnheiten weiterentwickelt. Handlungsmuster z. B. beim Pkw fahren, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, werden ohne viel darüber nachzudenken angewendet. Dadurch können erwachsene Verkehrsteilnehmer schneller und in komplexeren Situationen auch vorausschauender reagieren. Gewohnheiten verhindern aber auch, dass neue Informationen vom Verkehrsteilnehmer bewusst aufgenommen werden und dieser in der Folge seine Gewohnheiten und Routinen ändert und an die neue Situation anpasst. Automatismen, Routinen und Gewohnheiten lassen sich daher nur sehr schwer ändern. Kommunikative Maßnahmen allein stoßen da schnell an ihre Grenzen. Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich die sensorische, geistige und motorische Leistungsfähigkeit mit Auswirkungen auf die Verkehrsteilnahme. So ist beispielsweise die Reaktionsfähigkeit verlangsamt, was zu Problemen bei komplexen Verkehrssituationen insbesondere unter Zeitdruck führt (für einen Überblick vgl. Schlag: 2008). Diese Veränderungen vollziehen sich meist schleichend und werden daher von den Senioren oft nicht wahrgenommen. Auch sind die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit zwischen Personen im Alter besonders groß. Die meisten Senioren reagieren auf diese Veränderungen mit bewussten und unbewussten Kompensationsstrategien. So meiden beispielsweise ältere
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Pkw-Fahrer Hauptverkehrszeiten oder Nachtfahrten. Da sich diese Veränderungen oft schleichend vollziehen, werden sie aber auch oft von den Betroffenen selbst nicht bemerkt oder unterschätzt. Die notwendige Anpassung des Verkehrsund Mobilitätsverhaltens findet nicht statt. Tabelle 1 fasst die Entwicklungsbereiche der einzelnen Lebensphasen noch einmal zusammen und stellt typische Maßnahmen zur Information, Aufklärung und Ausbildung gegenüber. Da Kinder und Jugendliche die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Teilnahme am Straßenverkehr erst entwickeln, steht bei ihnen der Ausbildungsgedanke im Vordergrund, beispielsweise beim Erlernen eines sicheren Schulweges, dem Fahrradtraining oder auch der Fahrausbildung. In der Praxis sind solche Angebote institutionell an Schulen oder bei der Polizei verankert. Im Erwachsenenalter tritt demgegenüber die Information und Aufklärung stärker in den Vordergrund, beispielsweise bei Verkehrssicherheitskampagnen oder bei der Mobilitätsberatung. Tabelle 1: Ausbildung, Aufklärung und Information über die Lebenszeit Altersbereiche
Entwicklungsbereiche
Maßnahmen
Kleinkinder
Aufbau von motorischen Grundfertigkeiten
Familiäre Verkehrs- und Mobilitätserziehung
Kinder
Aufbau von kognitiven und motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten
Jugendliche bzw. Junge Erwachsene
Persönlichkeitsentwicklung
Erwachsene
Verändern von Routinen, und Gewohnheiten,
Schulische Verkehrserziehung im Sachunterricht Schulwegplanung/ -sicherheit Fahrradausbildung Fahrausbildung motorisierte Zweiradausbildung Freiwillige Verkehrs- und Mobilitätserziehung in Schulprojekten Verkehrssicherheitskampagnen, Sicherheitstrainings, Mobilitätsberatung
Senioren
Kompensation von nachlassende kognitive und motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten
Sicherheitstrainings Mobilitätsberatung
Quelle: Eigene Darstellung Gegenwärtig entwickelt sich die klassische Verkehrserziehung, die die Unfallprävention in den Mittelpunkt stellt, zu einer umfassenden Mobilitätserziehung, die auch die Konsequenzen der Verkehrsteilnahme für Umwelt und Gesundheit
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thematisiert. Im Mittelpunkt stehen nicht nur das unmittelbare Verhalten im Straßenverkehr sondern auch übergeordnete Themen, wie die Wahl des Verkehrsmittels. Ein Beispiel dafür ist das Programm „Verkehrszähmer “. Dabei werden Kinder durch „Schulwegabenteuer“ und „Klassenherausforderungen“ motiviert, ihren Schulweg zu Fuß selbständig zurückzulegen. Teil des Programms ist aber auch, dass die Kinder durch „Verkehrssicherheits-Versprechen“ ihre Familie zu sicherem Fahren und zur Nutzung alternativer Verkehrsmittel, wie z.B. zu Fuß gehen, verpflichten. Informations- und Aufklärungsmaßnahmen stoßen dann an ihre Grenzen, wenn bereits Routinen und Gewohnheiten etabliert sind. Daher werden gerade im Erwachsenenbereich neue Formen der Information und Aufklärung erprobt, beispielsweise der Einsatz von konfrontativen Stilmitteln, so genannten Schockvideos. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass durch eine drastische emotionale Bildsprache die negativen Konsequenzen riskanten Verkehrsverhaltens vor Augen geführt und damit quasi ein „heilsamer“ Schock ausgelöst wird. Die Furcht vor den Konsequenzen soll auf Dauer zu einem vorsichtigeren Fahrverhalten führen. Internationale Studien zeigen jedoch, dass Verkehrsteilnehmer auf solche Botschaften nicht nur mit Einsicht und sichererem Fahrverhalten, sondern auch mit Ablehnung, Abwertung oder Spott und unsichererem Verhalten reagieren (vgl. z.B. Witte/ Allen 2000). Die wissenschaftliche Bewertung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Deutlich ist jedoch bereits jetzt, dass die Wirksamkeit solcher Botschaften an eine Reihe von Bedingungen geknüpft ist. Wichtig sind vor allem eindeutig erkennbare Fehlerursachen und das Aufzeigen von Verhaltensalternativen. Nicht der Grad der erzeugten Angst ist entscheidend, sondern die Darstellung einer akzeptablen und umsetzbaren Verhaltensalternative. Die Mobilitätsberatung in neuen Lebensphasen z. B. bei Wohnort- oder Arbeitsplatzwechseln oder dem Eintritt in den Ruhestand ist eine weitere Maßnahme, die gegenwärtig erprobt wird. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass in solchen Umbruchsituationen auch Gewohnheiten bezüglich des Verkehrs- und Mobilitätsverhaltens in Frage gestellt und an die neue Situation angepasst werden. In einer solchen Situation werden Informationen besser wahrgenommen und bei Mobilitätsentscheidungen berücksichtigt. Ein aktuelles Beispiel ist das „Neubürgerpaket“ der Stadt München. Mit der Anmeldung in der Stadtverwaltung erhalten zugezogene Personen ein umfangreiches und im Detaillierungsgrad abgestuftes Informationsmaterial zum Thema Mobilität und Verkehr. Bestandteil des „Neubürgerpakets“ ist außerdem eine ÖPNV-Wochenkarte, mit der die Personen den ÖPNV kostenfrei testen können. Eine solche Strategie ist beispielsweise auch zur Erhöhung der Verkehrssicherheit von Senioren vorstellbar. Im Alter gibt es charakteristische Leistungseinbußen, die kompensiert werden müs-
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sen, um weiterhin sicher am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Da sich diese Veränderungen oft schleichend vollziehen, werden sie von den Betroffenen selbst nicht bemerkt oder unterschätzt. Der Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand bietet ein gutes Zeitfenster, um solche Informationen und entsprechende Angebote zu kommunizieren. 2.2 Gebote und Verbote Die wichtigsten Ge- und Verbote in Bezug auf die Verkehrssicherheit sind in der Straßenverkehrsordnung (StVO) geregelt. Allerdings hält sich nicht jeder Verkehrsteilnehmer an die geltenden Verkehrsregeln. In einer aktuellen Umfrage gaben nur 85 % der Pkw-Fahrer, 68 % der Fußgänger und 67 % der Radfahrer an, sich genau oder sehr genau an die Verkehrsregeln zu halten (vgl. Gehlert 2009). In der Folge sind Verstöße gegen Verkehrsregeln eine wesentliche Unfallursache. So starben beispielsweise im Jahr 2008 etwa 12 % aller Getöteten in Straßenverkehr in Deutschland bei Unfällen wo mindestens einer der Beteiligten alkoholisiert war (vgl. Statistisches Bundesamt: 2009). Solche Unfälle könnten verhindert werden, wenn sich Verkehrsteilnehmer an die Verkehrsregeln halten. Verkehrsteilnehmer halten aus ganz verschiedenen Gründen die geltenden Verkehrsregeln nicht ein. Psychologische Fehlermodelle geben Auskunft über die verschiedenen Ursachen von Verstößen gegen Verkehrsregeln. Reason (1994) unterscheidet beispielsweise zwischen den unbeabsichtigten Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und regelbasierten Fehlern und den beabsichtigten Verstößen. Die unbeabsichtigten Fehlerarten entstehen während der Handlung durch Unaufmerksamkeit, Unkonzentriertheit oder Vergesslichkeit. Verstöße, zum Beispiel gegen Geschwindigkeitsvorschriften, werden dagegen bewusst begangen. Dies geschieht in der Regel nicht, um sich oder andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Stattdessen stehen dahinter oft andere konkurrierende Ziele und Bedürfnisse wie z. B. Zeitdruck. Bleiben die Verstöße jedoch ohne negative Konsequenzen oder werden durch das Erreichen der konkurrierenden Ziele gewissermaßen belohnt, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit zukünftig routinemäßig wiederholt. Es sind aber gerade diese routinemäßigen Verstöße gegen die geltenden Regeln wie z. B. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Mindestabstände oder auch eine rote Ampel, die mit einem erhöhten oder besonders schweren Unfallgeschehen in Verbindung gebracht werden. Zur Einhaltung von Verkehrsregeln motiviert werden die Verkehrsteilnehmer durch die wahrgenommenen Konsequenzen. Die positiven oder negativen Konsequenzen, die auf einen Verstoß folgen, entscheiden darüber ob ein solches Verhalten in der Zukunft wiederholt wird. Folgt der Regelübertretung eine nega-
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tive Konsequenz z. B. ein Unfall oder eine kritische Situation, wird zukünftig die Regel weniger wahrscheinlich übertreten. Gegenwärtig läuft dieser Mechanismus im Straßenverkehr dagegen in die umgekehrte Richtung. Regelübertretungen wie z. B. zu schnelles Fahren führen in der Praxis eher zu Vorteilen in Form von Zeitersparnis oder erhöhten Komfort oder werden zumindest als solche wahrgenommen. Wer sich an die Regeln hält, nimmt für sich dagegen Nachteile wahr, in dem er z. B. sieht, dass andere besser durch den Verkehr kommen. Tatsächlich ist der wahrgenommene Vorteil von regelkonformen Verhalten in Form von vermiedenen Unfällen für den einzelnen Verkehrsteilnehmer abstrakt und damit kaum wahrnehmbar, während die wahrgenommenen Nachteile konkret und sichtbar erlebt werden. Das führt dazu, dass die wahrgenommenen Vorteile die Nachteile von Verstößen überwiegen und so zu diesen Verstößen motivieren. Will man den Verkehrsteilnehmer zur Einhaltung der Verkehrsregeln motivieren, kann man verschiedene Ansatzpunkte wählen. Zum einen kann man bei den Regelverstößen ansetzen, die wahrgenommenen Vorteile senken und die Nachteile erhöhen. Zum anderen kann man bei der Einhaltung der Verkehrsregeln ansetzen, deren Vorteile erhöhen und die Nachteile senken. Tabelle 2 illustriert diese verschiedenen Ansätze mit Beispielen. Tabelle 2: Ansätze zur Verbesserung der Einhaltung von Verkehrsregeln
Regelverstoß
Regeleinhaltung
Vorteile
Nachteile
Senken
Erhöhen
Verkehrsmanagement, z. B. grüne Welle nur bei zulässiger Höchstgeschwindigkeit
Polizeiliche Überwachung und Sanktionierung, z. B. Bußgelder
Erhöhen
Senken
Belohnungen z. B. Bedanken durch Gesten
Beobachtung von polizeilicher Überwachung und Sanktionierung von Regelverstößen Anderen
Quelle: Eigene Darstellung In der Verkehrssicherheitsarbeit wird klassischerweise an den Regelverstößen angesetzt. Mittels polizeilicher Überwachung und formeller Sanktionierung bzw. Bestrafung sollen die wahrgenommenen Nachteile eines Regelverstoßes erhöht werden, um so zur Regeleinhaltung zu motivieren. Die Verkehrsüberwachung wird von den Polizeibehörden mit stationären oder mobilen Anlagen zur Ge-
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schwindigkeitsüberwachung oder persönlichen Kontrollen z. B. des Alkoholverbotes vorgenommen. Die Sanktionierung von Regelverstößen erfolgt durch Geldstrafen, Bußgelder und Fahrverbote. Grundlage dafür bildet das Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes. Dort sind alle Sanktionen, die von Bußgeldbehörden, Fahrerlaubnisbehörden oder Gerichten erlassen wurden, gespeichert und werden nach einem Punktesystem bewertet. Bei Erreichen bestimmter Punktzahlen gibt es abgestufte Sanktionen bis hin zum Entzug des Führerscheins. Eine Reihe von Untersuchungen belegt die Wirksamkeit formeller Sanktionierungssysteme in Bezug auf die Einhaltung der Verkehrsregeln im Straßenverkehr (für einen Überblick vgl. Elvik et al.: 2009). Wichtig für die Wirksamkeit dieser Systeme ist eine hohe subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit. Die subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit beschreibt die persönliche Einschätzung der Verkehrsteilnehmer, wie wahrscheinlich die Entdeckung eines Regelverstoßes ist. Je höher die subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit, desto unwahrscheinlicher sind Regelverstöße. Die subjektive Entdeckungswahrscheinlichkeit wird durch das Ausmaß der objektiven Kontrollintensität und eine Reihe weiterer Faktoren wie z. B. der Art der Überwachung, der Öffentlichkeitsarbeit oder der persönlichen Erfahrung bestimmt. Sie kann, muss aber der objektiven Kontrollintensität nicht entsprechen. Aber auch für diejenigen, die die Verkehrsregeln bereits einhalten und sei es aus innerer Überzeugung, ist die Sanktionierung und Überwachung der Verkehrsregeln wichtig. Sie sehen dadurch, dass Regelverstöße, die sie bei anderen beobachten, sanktioniert werden. Einer solchen Sanktionierung nicht ausgesetzt zu sein, ist ein Vorteil regelkonformen Verhaltens und kann es auf diese Weise belohnen. Das wiederum motiviert die Verkehrsteilnehmer ihr regelkonformes Verhalten in der Zukunft beizubehalten. Auch bei der Durchsetzung von Regeln und Verboten werden derzeit neue Wege gesucht, um Verkehrsteilnehmer zur Regeleinhaltung zu motivieren. Besonders in der Ergänzung der Bestrafung von Regelverstößen durch die Belohnung von regelkonformen Verhalten wird großes Potenzial gesehen. Auf diesen Aspekt wird im Abschnitt 3.4 Anreiz- und Belohnungssysteme eingegangen. Des Weiteren scheint es vielversprechend stärker soziale Normen einzubeziehen und so die Eigenverantwortung des Verkehrsteilnehmers stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Studien zeigen sehr deutlich, dass sich Verkehrsteilnehmer auch am konkreten Verhalten aller anderen Verkehrsteilnehmer orientieren. Praktisch genutzt wurde diese Erkenntnis bereits in einer amerikanischen Studie zur Beeinflussung der Geschwindigkeitswahl von Pkw-Fahrern. Dort wurden in der Stadt Schilder aufgestellt, die täglich rückmeldeten, wie viel Prozent der Pkw-Fahrer die Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten haben (z. B. „Drivers not speeding yesterday: 94 %; Best Record: 94 %“). Allein durch die Rückmeldung, dass sich die Mehrheit der anderen Pkw-Fahrer an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält,
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konnte der Anteil der Pkw-Fahrer, die zu schnell fuhr substanziell reduziert werden. Die Geschwindigkeitsrückgänge waren umso größer, je höher der rückgemeldete Anteil regelkonformer Fahrer war (vgl. van Houten et al.: 1980). 2.3 Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur und der Verkehrsmittel Über die Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsmittel kann ebenfalls Einfluss auf das Verkehrsverhalten genommen werden. Besonders in der Gestaltung der Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug bzw. Straßeninfrastruktur werden große Potenziale zur Erhöhung der Verkehrssicherheit gesehen. Allerdings besteht in der heutigen Praxis oft eine Diskrepanz zwischen den Verhaltensangeboten der Straße und des Fahrzeugs sowie den Verhaltenspräferenzen der Fahrer. Psychologische Gesetzmäßigkeiten werden dort oft nicht einbezogen. So finden sich in einer Reihe von Untersuchungen paradoxe Verhaltensanpassungen nach straßenbaulichen Maßnahmen oder bei der Gestaltung von Fahrzeugsystemen, die objektiv gesehen die Verkehrssicherheit erhöhen sollen. So kann es durchaus vorkommen, dass sich die Verkehrsteilnehmer durch solche Maßnahmen sicherer fühlen und darauf mit riskanterem Verhalten reagieren, z. B. mit höheren Geschwindigkeiten. Eine solche Reaktion wird als Risikokompensation bezeichnet und spielt bei der Gestaltung der Interaktion zwischen Verkehrssystem und Verkehrsteilnehmer eine zentrale Rolle. Zur Erklärung des Phänomens Risikokompensation wird oft auf die Theorie der Risikohömeostase von Wilde verwiesen. Ausgangspunkt der Theorie ist die Annahme, dass jeder ein persönlich akzeptiertes Risikoniveau hat. Dieses wird mit dem wahrgenommenen Risiko in einer Situation abgeglichen. Bei Diskrepanzen wird das Verhalten derart geändert, dass das wahrgenommene Risiko in der jeweiligen Situation und das persönlich akzeptierte Risiko im Sinne einer Hömeostase übereinstimmen. Diese Anpassung kann sowohl in Richtung sicheren als auch riskanteren Verhaltens erfolgen. Daher ist es laut Wilde nicht zielführend technische Maßnahmen einzusetzen, um das objektive Risiko zu verringern, da diese Reduktion gegebenenfalls durch das eigene Verhalten wieder kompensiert wird. Trimpop (1996) beschreibt eine Reihe von Studien, in denen das Phänomen der Risikokompensation als Reaktion auf Verkehrssicherheitsmaßnahmen gezeigt werden konnte. Ob diese auch als Beleg für die Erklärung des Phänomens durch die Theorie der Risikohömeostase angesehen werden können, wird gegenwärtig noch diskutiert. Besonders die Annahme eines persönlich akzeptierten Risikolevels ist umstritten. Unumstritten ist aber, dass über die Gestaltung der Umwelt das wahrgenommene Risiko und darüber das Verkehrsverhalten beeinflusst werden kann.
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Ein Beispiel für die Beeinflussung des Verkehrsverhaltens durch die Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur wird zurzeit unter dem Begriff „Shared Space“ diskutiert und erprobt. Shared Space ist eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte, wo durch die Gestaltung des Verkehrsraums das wahrgenommene Risiko und das Verkehrsverhalten beeinflusst werden soll. In einem EU-Projekt wurden von 2004 bis 2008 eine Reihe von Shared Space Pilotprojekten umgesetzt und evaluiert. Weitere Kommunen in der Schweiz setzen mit den sog. „Begegnungszonen“ ähnliche Konzepte um (für einen Überblick vgl. Gerlach/Ortlepp/Voß: 2009). Ausgangspunkt von Shared Space ist die Überlegung, den Verkehr als soziales System, statt als System von Verkehrsregeln, zu begreifen. Es wird angenommen, dass Verkehrsteilnehmer durchaus willens und in der Lage sind, sich rücksichtsvoll und sozial im Verkehr zu verhalten. Daher verzichtet Shared Space weitestgehend auf eine Verkehrsregelung durch Beschilderung, Ampeln u. ä. und hebt durch seine Straßenraumgestaltung die Trennung zwischen den Verkehrsarten auf (vgl. Abbildung 2). Durch die Mischung der Verkehrsarten soll das Verkehrsgeschehen insgesamt chaotischer und damit subjektiv gefährlicher erscheinen. Darauf sollen die Verkehrsteilnehmer dann mit geringeren Geschwindigkeiten und einem situationsgerechteren und örtlich angepasstem Verhalten reagieren. Entwickelt und umgesetzt werden sollen die lokalen Shared Space Lösungen in enger Abstimmung zwischen Bürgern, Planern und Verkehrsexperten, um so optimal an die lokale Situation angepasst werden zu können. Abbildung 2:
Shared Space in Drachten (NL), links und Kevelaer (D), rechts
Quelle: Gerlach et al. (2009) Kritiker des Shared Space Konzepts weisen darauf hin, dass das Konzept nur unter bestimmten Voraussetzungen Wirkung zeigen kann. Das sind zum einen
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niedrige Geschwindigkeiten, die durch bauliche Maßnahmen erzwungen werden. Diese Wirkungen seien auch mit bisherigen Verkehrsberuhigungskonzepten, Kreisverkehre etc. zu erreichen. Ein Rückgriff auf die Risikowahrnehmung oder andere psychologische Grundlagen erscheint den Kritikern nicht notwendig. Tatsächlich zeichnen die Unfallzahlen, als ein zentrales Kriterium der Verkehrssicherheit, ein widersprüchliches Bild (vgl. Gerlach et al. 2009). In einigen Fällen konnte zwar die Zahl der Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten gesenkt werden. Oft ging diese Reduktion aber dann mit einer Erhöhung der Zahl der Unfälle mit Leichtverletzten und Sachschäden einher. In anderen Fällen blieb die Zahl der schweren Unfälle gleich oder stieg sogar an. Bisher ist eine abschließende Bewertung des Konzeptes nicht möglich, da eine umfassende Evaluation des Konzeptes und dessen Umsetzung fehlt. Insbesondere die verhaltenswissenschaftlichen Annahmen sind bisher nicht auf ihre Gültigkeit untersucht worden. Damit ist es gegenwärtig nicht möglich zu entscheiden, ob sich das Konzept von Shared Space nicht bewährt hat, oder ob die praktische Umsetzung des Konzeptes Verbesserungen bedarf. 2.4 Anreiz- bzw. Belohnungssysteme Anreize sind alle Verhaltenskonsequenzen für ein Verkehrs- oder Fahrverhalten. Positive Konsequenzen werden als belohnend erlebt und führen dazu, dass das Verhalten zukünftig wiederholt wird, negative Konsequenzen werden als bestrafend erlebt und führen dazu, dass das Verhalten zukünftig weniger oft gezeigt wird. Auf den Aspekt der Bestrafung durch polizeiliche Überwachung und Sanktionierung wurde bereits im Abschnitt 3.2 eingegangen. Unter dem Stichwort Anreiz- bzw. Belohnungssysteme werden in der Praxis, ebenso wie in diesem Beitrag, die positiven Konsequenzen bzw. Belohnungen diskutiert. Zur Verhaltensbeeinflussung können verschiedene Arten von positiven Anreizen eingesetzt werden. Grob unterscheiden kann man:
materielle Belohnungen, wie z. B. Geld oder Preise, soziale Belohnungen, wie z. B. Lob oder Auszeichnungen, als angenehm erlebte und angestrebte Tätigkeiten oder Aktivitäten wie z. B. Fahrsicherheitstrainings, Informative oder verdeckte Belohnungen, wie z. B. das Erfolgserlebnis bei Erreichen eines Ziels.
Positive Anreize wirken, ebenso wie die Bestrafung, über die wahrgenommenen Konsequenzen des eigenen Verhaltens oder anders ausgedrückt, über die wahr-
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genommenen Vor- und Nachteile. Mittels Belohnung sollen die wahrgenommenen Nachteile sicheren Verhaltens gesenkt und die Vorteile erhöht werden. Ziel ist es, Verkehrsteilnehmer zu sicherem Verhalten zu motivieren. Der Einsatz von Belohnungen hat im Gegensatz zur Bestrafung einige Vorteile. So gehen Belohnungen in der Regel nicht mit Ausweichreaktionen einher. D. h. Personen versuchen Bestrafungen auszuweichen, in dem z. B. Radarkontrollen umfahren werden. Auch können Bestrafungen, wenn sie nicht zeitnah und konsequent erfolgen, als unkontrollierbar erlebt werden. Dies verringert ihre Verhaltenswirksamkeit. Gegebenenfalls geht dies mit einer geringeren Akzeptanz dieser Maßnahme einher, wenn sie nicht als sinnvoll oder angemessen erlebt wird. Aber auch die Wirksamkeit von Belohnungen ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Auch hier müssen die Personen einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und der Belohnung subjektiv herstellen können, damit sie auch als belohnend empfunden wird. Daher sollte auch hier die Belohnung unmittelbar auf das Verhalten folgen. Darüber hinaus gilt es, Sättigungseffekte zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass Anreize nur dann wirken, wenn sie auch als wertvoll oder erstrebenswert wahrgenommen werden. Wenn also bei einer Verkehrssicherheitskampagne Sachpreise wie z. B. ein hochwertiges Fahrrad oder anderes Equipment als Belohnung verlost wird, wirkt dies besonders motivierend auf die Teilnehmer, denen der Besitz eines solchen Fahrrades wichtig ist und die es nicht schon besitzen oder anderweitig Zugang dazu haben. Alle anderen werden diese Belohnung nicht als erstrebenswert wahrnehmen. Umgehen kann man dieses Problem durch den Einsatz finanzieller Anreize. Sie werden als generalisierte Verstärker bezeichnet. Generalisierte Verstärker sind eintauschbar und unterliegen damit keinem Sättigungseffekt. Wenn also statt des Fahrrades ein Gutschein oder ein Geldpreis verlost wird, sollte dies ebenso motivierend auf die Teilnehmer wirken, die das Fahrrad schon haben oder keinen Wert darauf legen. Sie können den Gutschein bzw. Geldpreis gegen das Equipment eintauschen, das sie selbst als lohnenswert empfinden. Allerdings besteht besonders bei finanziellen Anreizen die Gefahr der Verdrängung intrinsischer Motivation (so genanntes „crowding-out“). Verkehrsteilnehmer sind durchaus auch aus innerer Überzeugung motiviert, sich im Straßenverkehr rücksichtvoll, regelkonform und sicher zu verhalten. Belohnt man ein solches Verhalten systematisch, besteht die Gefahr, dass diese intrinsische Motivation verloren geht und durch extrinsische Motivation, d. h. durch die Motivation durch externe Belohnung, ersetzt wird. Das bedeutet, dass entsprechendes Verhalten in der Folge nur noch bei entsprechenden Belohnungen gezeigt wird. Bleiben diese externen Anreize aus, zeigt sich dann auch kein sicheres Verhalten mehr, obwohl es anfangs auch ohne externe Anreize aus innerer Überzeugung gezeigt wurde.
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Obwohl die Wirksamkeit positiver Anreize bzw. Belohnungen in anderen Bereichen wie z. B. dem Recycling, Wassersparen oder auch der Beeinflussung des Mobilitätsverhaltens bereits gut dokumentiert ist, werden sie zur Förderung verkehrssicheren Verhaltens bisher nur selten eingesetzt. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Anreizprogramme, vor allem in den USA, zur Erhöhung der Gurtquote eingesetzt. Die eingesetzten Anreize reichten von Geldwerten, Gutscheinen, Sachpreisen (T-Shirts, Stickers) bis hin zur Teilnahme an Verlosungen oder Wettbewerben. In einer Metaanalyse untersuchten Hagenzieker et al. (1997) die Verhaltenswirksamkeit solcher Programme. Im Ergebnis konnte die Gurtnutzungsquote kurzfristig um 12 % und langfristig um 9.6 % gesteigert werden. Einfluss auf die Wirksamkeit der Programme hatte unter anderem die Grundrate der Gurtnutzung und die Zeitspanne zwischen Gurtnutzung und Belohnung. Je niedriger die Grundrate der Gurtnutzung war und je unmittelbarer die Belohnung auf die Gurtnutzung erfolgt, desto größer war die Erhöhung der Gurtnutzungsquote. Interessanterweise hatte die Höhe der Belohnung hier keinen Einfluss auf die Verhaltenwirksamkeit. Dies führen die Autoren jedoch auf methodische Gründe zurück. Ein aktuelles Beispiel für den erfolgreichen Einsatz sozialer Belohnung im Straßenverkehr ist eine neuartige dynamische Geschwindigkeitsanzeige, das sogenannte Dialog-Display (Abbildung 3). Im Gegensatz zu konventionellen Geschwindigkeitsanzeigen, wo der Fahrer die Information über die Höhe seiner gefahrenen Geschwindigkeit erhält, werden hier positiv oder negativ die Konsequenzen seiner Geschwindigkeitswahl rückgemeldet. Hält er die zugelassene Höchstgeschwindigkeit ein, bekommt er eine positive Rückmeldung in Form eines grün hinterlegten „Danke“ (vgl. Abbildung 3, links). Beim Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erhält der Fahrer eine negative Rückmeldung in Form eines rot hinterlegten „Langsam“ (vgl. Abbildung 3, rechts). Schulze und Gehlert (2010) evaluierten die Verhaltenswirksamkeit des Dialog-Displays. Ziel war es auch zu testen, ob die Geschwindigkeitswahl durch die reine Information über das Verhalten (höher vs. niedriger als die zulässige Höchstgeschwindigkeit) oder durch die Bewertung des Verhaltens („Danke“ vs. „Langsam“) beeinflusst wurde. Dazu verglichen sie die Wirksamkeit des Dialog-Displays mit einer konventionellen Geschwindigkeitsanzeige und einer bewertenden (rot oder grün hinterlegten) konventionellen Geschwindigkeitsanzeige. Im Ergebnis zeigten sich die stärksten Rückgänge der Durchschnittsgeschwindigkeit beim Dialog-Display gefolgt von der bewertenden Geschwindigkeitsanzeige und der neutralen Geschwindigkeitsanzeige. Auch konnten beim Dialog-Display im Gegensatz zu den beiden Formen der konventionellen Geschwindigkeitsanzeige keine Gewöhnungseffekte und damit keine Sättigung festgestellt werden.
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Abbildung 3:
Dialog-Display mit positiver (links) und negativer (rechts) Rückmeldung
Quelle: Eigene Darstellung Fazit Gegenwärtig hält unter dem Begriff „Vision Zero“ eine neue Perspektive Einzug in die Verkehrssicherheitsarbeit. Diese neue Sicherheitsphilosophie fasst den Straßenverkehr als ganzheitliches System auf und stellt den Verkehrsteilnehmer mit seinen physischen und psychischen Voraussetzungen und Begrenzungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Ziel dieses Beitrages war es einen Überblick zu geben, wie man unter einer solchen Perspektive das Verhalten der Verkehrsteilnehmer beeinflussen kann. Dazu wurden anhand ausgewählter Beispiele die vier Maßnahmen Ausbildung, Aufklärung, Information; Gebote und Verbote; die Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur und der Verkehrsmittel sowie Anreizbzw. Belohnungssysteme dargestellt.
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Deutlich wurde, dass es in allen Bereichen erste Ansätze hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung des Straßenverkehrs und des Verkehrsverhaltens gibt. So entwickelt sich beispielsweise die klassische Verkehrserziehung zu einer umfassenden Mobilitätserziehung. Des Weiteren wird verkehrssicheres Verhalten im Straßenverkehr als Aufgabe über die gesamte Lebensspanne hinweg definiert, was sich in neuen Angeboten wie z. B. der Mobilitätsberatung für Neubürger und Senioren widerspiegelt. Als Ergänzung zur klassischen Überwachung und Bestrafung werden die Verkehrsteilnehmer mit sozialen Belohnungen, wie z. B. dem Dialog-Display, zur Einhaltung von Verkehrsregeln motiviert. Ebenfalls neue Ansätze sind bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur zu beobachten. Unter dem Stichwort „Human Faktor“ werden zunehmend Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Wahrnehmung und des Handels in die Gestaltung des Verkehrssystems einbezogen. Dies sind erste Ansätze, die eine Entwicklung der Verkehrssicherheitsarbeit in Richtung „Vision Zero“ auch in Deutschland erkennen lassen. Allerdings weist diese Entwicklung gegenwärtig nicht die gleiche Dynamik auf wie etwa in den Vorreiterstaaten Schweden, Niederlanden oder Großbritannien. Die Gründe dafür sind vielfältig. Beispielsweise müssen neue Maßnahmen konzipiert und erprobt werden oder die Grundlagen für neue Grenzwerte oder Regelwerke erst erarbeitet werden. Dazu benötigt es interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychologen, Pädagogen, Juristen und Ingenieuren. Dies ist mit Schwierigkeiten wie z. B. der Überbrückung verschiedener Fachsprachen, Methoden und auch Traditionen verbunden. Dafür benötigt es aber eine konsequente Ausrichtung der Verkehrssicherheitsarbeit in Richtung „Vision Zero“. Eine dezidierte Absichterklärung beispielsweise in Form von quantitativen Zielen zur Reduktion der Getöteten und Schwerverletzen im Verkehr könnte eine solche Ausrichtung bewirken. Quantitativen Zielen kommen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Begleitung und Erfolgskontrolle zu. Sie stellen auch eine wichtige Motivation für alle beteiligten Akteure dar. Damit ließe sich auch stärkeres finanzielles oder gesetzgeberisches Engagement kommunizieren und legitimieren. Das Fazit lautet daher, dass ein Konzept „Vision Zero“ mit entsprechenden Reduktionszielen für Deutschland notwenig ist. Das Ziel muss es ein, alle Kräfte zu bündeln und zu fokussieren und so der positiven Entwicklung der Verkehrssicherheit mehr Dynamik zu verleihen.
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Quellen Statistisches Bundesamt (2009): Straßenverkehrsunfälle. Zeitreihen. 2008. Wiesbaden. ETSC – European Transport Safety Council (2010): 4rd Road Safety PIN Report 2010. Brussels. Gehlert, Tina (2009): Verkehrsklima in Deutschland 2008. Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Berlin. Gerlach, Jürgen/Jörg Ortlepp/Heiko Voß (2009): Shared Space. Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis. Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Berlin. Hagenzieker, Marjan P./Frits D. Bijleveld/Ragnhild J. Davidse (1997): Effects of incentive programs to stimulate safety belt use: A meta-analysis. In: Accident Analysis & Prevention 29, S. 759-777. Reason, James (1994): Menschliches Versagen. Spektrum. Heidelberg. Schlag, Bernhard (2008, Hrsg.): Leistungsfähigkeit und Mobilität im Alter. TÜV Media GmbH. Köln. Schulze, Christoph/Tina Gehlert (2010): Evaluation dynamischer Geschwindigkeitsrückmeldung. Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Berlin. Trimpop, Rüdiger M. (1996): Risk homeostasis theory: Problems of the past and promises for the future. In: Safety Science 22, S. 119-130. Van Houten, Ron/Paul Nau/Zopito Marini (1980): An analysis of public posting in reducing speeding behaviour on an urban highway. In: Journal of Applied Behavior Analysis 13, S. 383-395. Witte, Kim/Mike Allen (2000): A meta-analysis of fear appeals: Implications for effective public health campaigns. In: Health Education & Behaviour 27, S. 608-632.
Weiterführende Literatur Krüger, Hans-Peter (Hrsg.) (2008): Anwendungsfelder der Verkehrspsychologie. Enzyklopädie für Psychologie, Themenbereich D: Praxisgebiete, Serie VI: Verkehrspsychologie (Bd. 2). Hogrefe. Göttingen. Elvik, Rune/Alena Høye/Truls Vaa/Michael Sørensen (2009): The Handbook of Road Safety Measures. 2nd revised Edition. Esmerald Group. Europäische Kommission: European Road Safety Observatory (http://ec.europa.eu/ transport/road_safety/specialist/knowledge/index.htm)
Kundenrechte und Kundendienst im öffentlichen Verkehr
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Kundenrechte und Kundendienst im öffentlichen Verkehr Martin Schiefelbusch Einführung Wer die verkehrspolitischen Debatten der letzten Jahre verfolgt hat, dem dürfte das Stichwort „Fahrgastrechte“ geläufig sein. Nach Jahren der Diskussion traten Mitte 2009 neue Regelungen in Deutschland1 und Ende 2009 eine EU-Verordnung zum Verbraucherschutz im Schienenverkehr2 in Kraft. Ist damit eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema entbehrlich geworden? Nicht unbedingt. Zum einen decken diese neuen Rechtsgrundlagen längst nicht alle Bereiche ab, zum anderen können am Beispiel Fahrgastrechte einige Grundfragen des öffentlichen Verkehrs dargestellt werden, die weiterhin von Bedeutung sind. Dieser Beitrag soll einen Rückblick auf die Fahrgastrechtediskussion und einen Überblick über das Thema geben. Eine detaillierte Darstellung der rechtswissenschaftlichen Aspekte und der juristischen Gestaltungsoptionen ist dabei nicht das Ziel (vgl. Pohar 2006, 2009; Hilpert 2009). Wichtiger erscheint dem Verfasser, den Begriff „Fahrgastrechte“ weiter zu fassen und im Kontext des Verhältnisses von Kunden und Anbietern im öffentlichen Verkehr (ÖV) zu betrachten.3 1
Hintergrund: Ungleiche Kräfteverhältnisse
Die Entwicklung des öffentlichen Personenverkehrs (ÖV) heutiger Form begann im 19. Jahrhundert als weitgehend von privaten Anbietern getragene Dienstleistung. Als eine marktwirtschaftliche Aktivität, bei der mehrere Produzenten im freien Wettbewerb um die Gunst der Verbraucher streiten, ist der ÖV jedoch schon lange Geschichte: Seit vielen Jahrzehnten werden Verkehrsleistungen durch – öffentliche oder private – Unternehmen erbracht, denen durch die Marktverfassung eine Monopolstellung eingeräumt wird. Für die Kunden entfällt damit die ent1 2 3
Gesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (BGBl. I Nr. 28 vom 29.5.09) Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr Der Autor dankt Mihael Pohar für Durchsicht und Kommentare zu diesem Text.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Martin Schiefelbusch
scheidende Sanktionsmöglichkeit, durch Wahl eines anderen Anbieters Unzufriedenheit mit der Leistung des bisherigen Herstellers auszudrücken. Damit fehlt diesem ein zentraler Anreiz zu einer bedürfnisgerechten Produktentwicklung. Solcher Druck kann damit nur durch Wahl eines anderen Verkehrsmittels ausgeübt werden; dies ist jedoch oft verkehrspolitisch nicht erwünscht und nicht in jedem Fall praktikabel. Zudem kann ein solcher Wechsel verschiedene Ursachen haben und ist daher als Indikator von Kundenzufriedenheit nicht geeignet. Andererseits war und ist der politische Einfluss auf die Anbieter stärker und umfassender als in vielen anderen Wirtschaftsbereichen. Die Nutzer könnten daher versuchen, über die Politik – als Eigentümer oder Aufsichtsinstanz der Anbieter – das Angebot in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei stoßen sie jedoch auf das Problem, einen indirekten und zeitaufwendigen Weg beschreiten zu müssen, der sich zudem mit den Interessen der Politik als Eigentümer von Verkehrsunternehmen oft nicht verträgt. Daneben ist der ÖV oft „Werkzeug“ zum Erreichen stadtentwicklungs-, umwelt- oder sozialpolitischer Ziele und mitunter auch Prestigeobjekt der Kommunalpolitik. Auch die rechtlichen Beziehungen zwischen den Verkehrsunternehmen und ihren Kunden sind durch diese Merkmale geprägt. Wie auch andere Bereiche der so genannten „Daseinsvorsorge“ unterliegen ÖV-Angebote in vieler Hinsicht anderen formalen Anforderungen als rein marktwirtschaftlich organisierte Branchen – etwa in der Infrastrukturplanung oder den Pflichten des Anbieters gegenüber der Allgemeinheit. Dies lässt sich aus zwei Merkmalen erklären: zum einen der Bedeutung des ÖV für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft, zum anderen der Notwendigkeit, den Missbrauch von Monopolmacht zu verhindern (vgl. auch den Beitrag von Katrin Dziekan in diesem Band). Im Hinblick vor allem auf die vielfältigen möglichen äußeren Störungsursachen wurden öffentliche Verkehrsunternehmen jedoch schon bald weitgehend von der Haftung für Leistungsmängel – insbesondere Verspätungen – befreit. Im Ergebnis gibt der Kauf eines Fahrscheins somit keinen Anspruch auf ein bestimmtes Fahrplanangebot, sondern lediglich „das Recht, im Rahmen der Gültigkeit ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, falls gerade eins vorbeikommt”4 Die damit verbundenen Einschränkungen des Verbraucherschutzes wurden seit einigen Jahren – siehe die weiteren Ausführungen – zunehmend kritisch diskutiert. Ähnlich wie die historisch gewachsene Monopolstruktur auf Anbieterseite und die vielfältigen politischen Einflüsse schwächen auch diese Faktoren die Position der Verkehrsmittelnutzer.
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so verschiedentlich Rainer Engel (Pro Bahn)
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Fahrgastrechte und Kundendienst – worum geht es?
2.1 Thematische Eingrenzung Unter das Stichwort „Fahrgastrechte“ fallen sehr unterschiedliche Gegenstandsbereiche. Neben der reinen Ortsveränderung ist eine Beförderungsleistung durch weitere Merkmale wie Ort und Zeit ihrer Erbringung, Preis und tarifliche Konditionen, die Möglichkeiten zur Gepäckmitnahme und evtl. weitere Leistungen während der Fahrt charakterisiert. Daneben erwarten die Reisenden natürlich eine sichere Beförderung, die sie selbst und ihre persönlichen Gegenstände unversehrt am Ziel ankommen lässt. Im weiteren Sinne Teil der Leistung sind Information, eine korrekte Anwendung der Tarife sowie ein diskriminierungsfreier Zugang. Viele dieser Aspekte sind durch allgemeine oder sektorspezifische gesetzliche Regelungen erfasst, die auch Aussagen zu den Rechten und Pflichten der Beteiligten im Falle ihrer Nichteinhaltung machen. Gegenstand der „Fahrgastrechtediskussion“ waren (ungefähr in dieser Reihenfolge) vor allem folgende Bereiche:
die (mangelnden) Entschädigungsansprüche der Reisenden bei Verspätung und Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel, Informations- und Fürsorgepflichten der Anbieter bei Störungen, Haftung des Anbieters für Informationen zu Fahrplan und Tarifen sowie der barriere- bzw. diskriminierungsfreie Zugang zu den Verkehrsleistungen.
In allen diesen Bereichen können Leistungen nicht der Ankündigung entsprechen und somit „mangelbehaftet“ sein. Ab wann eine Beeinträchtigung dabei ein (auch rechtlich) relevanter Mangel ist, war ebenfalls Teil der Diskussion. Dies ist nicht nur je nach persönlicher Betroffenheit, sondern auch den Randbedingungen verschieden. Ferner ist zwischen Entschädigung für erlittene Unbill (Verspätung am Ziel) und Folgeschäden (z.B. verfallene Theaterkarten) und dem Ersatz für die mangelhafte Leistung zu differenzieren. Im ÖV ist ein „Ersatz“ streng genommen nicht möglich, da die Fahrt nicht noch einmal mangelfrei zum selben Zeitpunkt stattfinden kann. In der Praxis kann durch eine zeitnahe alternative fahrplanmäßige Reisemöglichkeit oder durch ad hoc bereitgestellte Ersatzverkehre jedoch durchaus eine so weit wie möglich gleichwertige Leistung geboten werden (vgl. Teil 4). In der Diskussion hatte das Thema „Haftung bei Ausfall und Verspätung“ (also der Umgang mit von den Reisenden erlittenem Zeitverlust und daraus entstandenen Folgen) eindeutig die größte Bedeutung und steht auch im Folgenden im Mittelpunkt. Zum einen handelt es sich um den bei weitem häufigsten Fall von Leistungsmängeln, zum anderen bestanden hier die größten Diskrepanzen zwischen Kundenerwartung und juristischem Status quo.
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2.2 Regelungsbereiche Das Thema „Fahrgastrechte“ ist jedoch nicht nur wegen dieser Vielfalt sehr komplex, sondern auch durch die rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich je nach Verkehrsträger unterscheiden. Beschränkt man sich, wie das Wort „Fahrgastrechte“ impliziert, auf den Personenverkehr, so gibt es immer noch vier Hauptsektoren:
öffentlicher Personenverkehr mit Straßenbahnen, U-Bahnen, O- und Omnibussen (im Folgenden kurz als „öffentlicher Straßenpersonenverkehr“ oder ÖSPV bezeichnet“5) nationaler und internationaler Personenverkehr mit Eisenbahnen (von der SBahn bis zum ICE) Luftverkehr Schiffsverkehr
Schwerpunkte der Debatte waren bisher:
der Luftverkehr, für den 2005 als erstes auf europäischer Ebene neue Fluggastrechte eingeführt wurden und der Eisenbahnverkehr, wo 2009 die schon erwähnten Neuregelungen in Kraft traten.
Für Busse und Schifffahrt hat die EU-Kommission ebenfalls Verordnungsvorschläge formuliert, die sich gegenwärtig (Anfang 2010) im Entscheidungsverfahren befinden. Dabei ist unter anderem noch abzuwarten, inwieweit die letztlich verabschiedeten Texte den Verkehr mit Straßenbahnen, U-Bahnen und Bussen erfassen oder Regelungen dazu den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Eisenbahnverkehr und den ÖSPV mit Bussen und Bahnen. Sie gelten außerdem nur für den öffentlich zugänglichen Linienverkehr, so dass Fahrten im Rahmen von Ausflügen, Pauschalreisen und Charterverkehren, für die das Reiserecht zur Anwendung kommt, außer Betracht bleiben.
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Zur Vermeidung noch umständlicherer Bezeichnungen bietet sich diese Bezeichnung an, da die Schienenverkehrsmittel U-Bahn und Straßenbahn hinsichtlich der Fahrgastrechte – wie in den folgenden Teilen ausgeführt – demselben Rechtsrahmen unterliegen wie der Busverkehr. Die Bezeichnung „ÖPNV“ wäre dagegen irreführend, da damit der Omnibus-Fernlinienverkehr nicht erfasst wäre.
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2.3 Das System der Rechtsgrundlagen Selbst für diesen begrenzten Betrachtungsbereich gibt es keine einheitliche Kodifikation der Fahrgastrechte. Das Rechtsverhältnis zwischen Fahrgast und Verkehrsunternehmen (VU) wird durch mehrere Gesetze, Verordnungen und die Geschäftsbedingungen der Verkehrsteilnehmer (Beförderungsbedingungen) bestimmt. Abbildung 1: Gesetzliche Vorschriften, die den öffentlichen Personenverkehr regeln
Quelle: Eigene Darstellung Unabhängig von der Art des Verkehrsmittels ist primäre Rechtsquelle aus Kundensicht das Bedingungswerk des jeweiligen Beförderers (Buchstabe c). Da sich die Beförderungsbedingungen jedoch im bundes- und internationalen Rechtsrahmen bewegen müssen und im Zweifel von diesen verdrängt werden, soll hier zunächst auf die Bereiche a) und b) eingegangen werden. Internationales Recht: Die unter a) genannten Vorschriften sind international bindendes Recht. Die Inhalte der VO (EG) 1371/07 wurden mit der bereits erwähnten Reform im Sommer 2009 in das deutsche Recht überführt. Das COTIF und die ER CIV finden nur für grenzüberschreitende Reisen per Bahn Anwendung und bleiben im Folgenden im Interesse einer knappen Darstellung außer Betracht. Bundesrecht: Der Vertrag zwischen Fahrgast und Beförderungsunternehmer ist zivilrechtlicher Natur, selbst wenn viele Verkehrsunternehmen im öffentlichen Eigentum stehen. Prinzipiell gelten für alle Personenbeförderungsverträge unabhängig vom Verkehrsmittel das Werkvertragsrecht und sonstige Bestimmungen des BGB. Für allgemeine Rechtsfragen hinsichtlich des Vertragsab-
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schlusses (z.B. ob ein Unternehmen ein anderes bei Abschluss des Beförderungsvertrages vertreten kann, oder ob mit einem Minderjährigen ein wirksamer Zeitfahrkartenvertrag zustande kommt) sind etwa der allgemeine Teil des BGB und die allgemeinen schuldrechtlichen Bestimmungen heranzuziehen. Auch etwa hinsichtlich der Haftung für Informationspflichtverletzungen oder für die Verletzung von Nebenpflichten aus dem Beförderungsvertrag kommt die allgemeine BGB-Haftung voll zum Tragen, so dass dem Fahrgast in diesen Fällen auch Schadensersatzansprüche auf Grundlage des BGB zustehen können. In vielen Fällen wird das BGB jedoch von Spezialvorschriften verdrängt. Für diese unterscheidet das deutsche Recht zwischen dem öffentlichen Eisenbahnverkehr einerseits und dem Linienverkehr mit Bussen, Obussen und Straßenbahnen (vgl. Teil 2.2) andererseits. Die für Planung und Finanzierung höchst relevante Unterscheidung zwischen Nah- und Fernverkehr war dagegen lange Zeit für die Fahrgastrechte unerheblich: Erst mit der Reform im Sommer 2009 wurden erstmals separate Regelungen für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) eingeführt. Dagegen macht es einen Unterschied, ob ein Problem auf einer Fahrt mit S-Bahn oder U-Bahn aufgetreten ist, selbst wenn diese Teil ein und desselben Verkehrsverbundes sind. Verbünde können allerdings trotzdem gemeinsame Beförderungsbedingungen für den ihnen angeschlossenen Eisenbahn- und ÖSPV erlassen. Der spezialgesetzliche Rahmen besteht für beide Verkehrsträger (Eisenbahn und ÖSPV) jeweils aus einem Gesetz (AEG bzw. PBefG) und einer Verordnung (EVO bzw. VO AllgBefBed). Die Gesetze regeln dabei u.a. den Zugang zum Verkehrsmarkt, allgemeine Anforderungen und Pflichten der Unternehmen und – besonders im Falle des PBefG – die Angebotsformen. Die für die Fahrgastrechte maßgeblichen Aussagen sind in den Verordnungen enthalten. Anders als Beförderungsbedingungen sind diese nicht von den Gerichten am Maßstab des AGBRechts6 kontrollierbar. Beförderungsbedingungen sind allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB). Bei Fahrten mit der DB sind dies die „BB Personenverkehr“, bei Fahrten mit dem ÖSPV gelten die entsprechenden Bedingungen der Verkehrsunternehmen bzw. Verkehrsverbünde, die inhaltlich oft weitgehend mit der VO AllgBefBed übereinstimmen. Sie werden von den Verkehrsunternehmen gestellt und bestimmen somit das rechtliche Verhältnis zum Fahrgast einseitig. Allerdings sind die Kunden den Beförderungsbedingungen nicht völlig hilflos ausgesetzt: Verstoßen sie gegen zwingende Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches, sind sie unwirksam, wobei die oben genannte Befreiung des ÖV von zentralen Bestimmungen des BGB natürlich Grenzen setzt.
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Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
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Beförderungsbedingungen werden Bestandteil des Beförderungsvertrages. Damit hat der Fahrgast einen einklagbaren Anspruch darauf, dass in den Bedingungen versprochene Ersatzleistungen gewährt werden, soweit die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Sie sind hinsichtlich ihrer rechtlichen Verbindlichkeit daher abzugrenzen von Kulanzregelungen bzw. freiwilligen Selbstverpflichtungserklärungen der Unternehmen, wie sie etwa im Rahmen von „Kundenchartas“ und auch als „Garantien“ kommuniziert werden (vgl. Teil 5). Solche Erklärungen sind – soweit sie nicht mit den Beförderungsbedingungen identisch sind – rechtlich unverbindlich, so dass aus ihnen keine Ansprüche hergeleitet werden können. 3
Etappen der „Fahrgastrechtediskussion“
3.1 Ausgangslage Die EVO stand in den vergangenen Jahren im Mittelpunkt der verbraucherpolitischen Kritik, da in ihr die wesentlichen Haftungsbeschränkungen für die Verkehrsunternehmen enthalten waren. Dabei wurde teils auch darauf verwiesen, die EVO stamme aus dem Jahre 1938, damit aus der Zeit des Nationalsozialismus und sei insofern auch moralisch diskreditiert. Jedoch sind die materiellen Bestimmungen viel älter: Die heutige Eisenbahnverkehrsordnung findet ihren Ursprung in erstmals im Jahre 1849 vom Verband „Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen“ herausgegebenen Vorläufern allgemeiner Beförderungsbedingungen. Bis Mitte 2006 schloss § 17 S.1 EVO die Rechte des Fahrgastes bei Zugverspätungen und Ausfällen völlig aus. Er lautete: „Zugausfall und Verspätung begründen keinen Anspruch auf Ersatz“.
Für den Verkehr mit Bussen und Straßenbahnen gelten ähnliche Aussagen (vgl. § 16 VOAllgBefBed). allerdings bestehen zahlreiche Kulanzregelungen (Servicegarantien). Seit dem 1.7.06 bestand – als Ergebnis einer Neuregelung der COTIF – statt eines Totalausschlusses ein Ersatzanspruch, wenn ein Fahrgast im Eisenbahnverkehr wegen einer Verspätung oder eines Zugausfalls seine Reise nicht mehr am selben Tag fortsetzen kann. Der Anspruch umfasste die dem Reisenden im „Zusammenhang mit der Übernachtung und mit der Benachrichtigung der ihn erwartenden Personen entstandenen angemessenen Kosten“ (§ 17 Abs. 1 S. 2 EVO). Diese Regelung bedeutete zwar einen Fortschritt, war aber nur in eher seltenen Fällen – wenn eine Zwangsübernachtung drohte, ferner nur bei Verschulden des Unternehmens – anwendbar.
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3.2 Argumente der Kritiker An dieser Regelung entzündete sich die verbraucherpolitische Debatte um die „Fahrgastrechte“. Trotz teilweise heftigen Widerspruchs in der Literatur hat kein Gericht je an ihrer Wirksamkeit gezweifelt (vgl. Pohar 2006). Der Fahrschein wird zum „Lotterielos“, wie es der Rechtsexperte das Fahrgastverbands Pro Bahn Rainer Engel formulierte (vgl. das Zitat in Teil 1). Für das zentrale Leistungsmerkmal der Pünktlichkeit galt somit nicht, was in allen anderen Wirtschaftsbereichen seit langem Grundprinzip von Geschäftsbeziehungen ist: Erbringen Anbieter von Gütern und Dienstleistungen diese nicht entsprechend der von ihnen vorab bekannt gemachten Konditionen, haben die Käufer Anspruch auf eine kostenlose Ersatzleistung oder (ggf. anteilige) Erstattung des Kaufpreises. Selbst im Falle offensichtlich durch die Bahn verursachter Verspätungen ließ sich kein Schadenersatzanspruch herleiten. Fälle, in denen Reisende etwa infolge von Zugverspätungen teure Flugreisen nicht antreten konnten, machten zwar gelegentlich Schlagzeilen, hatten aber keine Änderungen zur Folge. Im öffentlichen Verkehr kommt als weiterer Gesichtspunkt die systembedingte geringe Wahlfreiheit und von den Kunden zu leistende Anpassung an ein vorbestimmtes Angebot hinzu: ÖV-Nutzer richten sich nach den Vorgaben des Anbieters in Form des Fahrplans und müssen unter Umständen erhebliche Abstriche von ihren eigentlichen Reiseplänen machen, um überhaupt befördert zu werden. Daher erwarten sie, dass der Anbieter sich zumindest an seine eigenen Ankündigungen hält. Die Ursache von Störungen, die den Kunden stets eine neuerliche Änderung ihrer Reisepläne aufzwingt, erscheint aus dieser Sicht unerheblich. Nicht übersehen werden sollten ferner die indirekten Wirkungen: Das Fehlen einer Kompensationspflicht für Schlechtleistung bedeutet auch, dass der Anreiz zur Erbringung einer guten Leistungsqualität beeinträchtigt ist, zumal wie erwähnt innerhalb des ÖV meist keine alternativen Anbieter für eine konkrete Verkehrsleistung bereitstehen. Wenn bei Missverhalten keine Sanktionen – in Form von Entschädigungsleistungen, aber auch entgangener Fahrgelder – drohen, ist es naheliegend und aus kurzfristiger Sicht vielleicht sogar ökonomisch rational, wenig in Zuverlässigkeit und Kundendienst bei Unregelmäßigkeiten zu investieren. Öffentliche Verkehrsangebote belegen im Branchenvergleich seit langem in der Kundenzufriedenheit die letzten Plätze.7 Wandern frustrierte Kunden zu anderen Verkehrsmitteln ab, führt dies dazu, dass der ÖV seine Rolle als sozialund umweltgerechte Mobilitätsgarantie immer weniger erfüllt und für seine Bereitstellung immer mehr öffentliche Mittel – statt Fahrgeldeinnahmen – bereitgestellt werden müssen. Eine bessere Kundenorientierung ist daher nicht nur aus Sicht des Verbraucherschutzes, sondern auch aus verkehrs-, umwelt- und finanz7
zuletzt etwa EU Kommission, DG SANCO (2009)
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politischen Gründen – Stichwort effizienter Einsatz öffentlicher Mittel zur Erreichung politischer Ziele – geboten. 3.3 Gegenargumente Diese Kritik blieb von Seiten der Anhänger des Status quo naturgemäß nicht unwidersprochen: Zunächst steht der Rechtslage das unternehmerische Interesse gegenüber, Kunden zu halten und zur weiteren zahlenden Nutzung des Angebots zu motivieren. Langfristig müssen zudem auch vor Konkurrenz geschützte Unternehmen mit negativen Rückwirkungen auf ihr Image und ihre persönliche oder institutionelle Zukunft rechnen. Die Anbieter verwiesen daher vielfach auf die Möglichkeit, Entschädigungen auf dem Kulanzweg zu erhalten. Dabei wird abhängig vom Sachverhalt, der Unternehmenspolitik und möglicherweise auch dem Kundenprofil, jeweils neu entschieden, ob und welche Entschädigung angemessen ist. Dieser Weg stand und steht auch Fahrgästen seit jeher offen. Nachteile sind neben der fehlenden Verpflichtung der Unternehmen auch die fehlende Transparenz der Entscheidungskriterien. So können je nach Ort des Vorfalls oder auch allein durch unterschiedliche Einschätzungen der Kundendienstbearbeiter ähnliche Probleme verschieden behandelt werden. Zudem wird Kompensation auf Kulanzbasis meist nur auf gezielte Nachfrage angeboten. Zentrales Argument gegen eine Erweiterung der Fahrgastrechte war jedoch seit jeher die Verschuldensfrage: Die umfassende Haftungsbefreiung der Unternehmen hat ihren Ursprung in den zahlreichen potenziellen Störfaktoren außerhalb des Einflussbereichs des Anbieters. Unregelmäßigkeiten können etwa durch Unwetter, Staus, Streiks, Suizide und auch durch andere Fahrgäste (z.B. bei unnötigem Betätigen der Notbremse) entstehen. Die Anbieter können diese Faktoren vielfach nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Kosten kontrollieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der ÖV in der Tat von anderen Branchen. Daher ist es grundsätzlich verständlich, wenn sich Unternehmen dagegen wehren, für Ereignisse außerhalb ihres Einflussbereichs zu haften. Das Problem besteht jedoch zu einem wesentlichen Teil in der – in der alten Fassung der EVO sowie weiterhin in den VO AllgBefBed enthaltenen – vollständigen Haftungsbefreiung ohne Ansehen der Ursache. Das Thema Verschulden ist zudem mit weiteren Aspekten verbunden, die weiterhin für die Praxis relevant sind:
Für den einzelnen Fahrgast ist nicht in jedem Fall ersichtlich, was die Ursache einer Unregelmäßigkeit ist. Da mögliche Kompensationsleistungen davon abhängen, müssen die Reisenden entsprechend informiert werden. Die dafür nötigen Verfahren müssen vielfach erst noch entwickelt werden.
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Je nach den Vorerfahrungen muss auch das öffentliche Vertrauen in die Unternehmensangaben erst noch entstehen. Schließlich ist auch die Frage, was höhere Gewalt ist, nicht immer eindeutig zu beantworten. So wurde etwa anlässlich des Orkans „Kyrill“ Anfang 2007 von Bahnkritikern bemerkt, die als Vorsichtsmaßnahme veranlasste Totaleinstellung des Bahnbetriebs sei zu vermeiden gewesen, wenn die DB den Bewuchs der Gleisrandbereiche besser kontrolliert und damit das Risiko fallender Äste reduziert hätte, statt auf dem Weg zur Kapitalmarktfähigkeit an der Unterhaltung ihrer Anlagen zu sparen.
Weitere Argumente zielten auf die Kosten einer Neuregelung, die stark von deren Ausgestaltung – insbesondere der Frage, ob Folgeschäden auszugleichen sind – abhängen. In der Diskussion der letzten Jahre war von Kosten von bis zu 450 Mio. € die Rede, wobei die Befürworter einer Reform auf deutlich geringere Zahlen in anderen Ländern verweisen konnten. Dabei haben große und störungsanfällige Unternehmen natürlich mit größeren Erstattungsforderungen zu rechnen, weshalb die DB AG zu den heftigsten Gegnern gehörte. Aber auch zur Festlegung einer „Bagatellgrenze“ unterhalb derer eine Entschädigung wegen des geringen Betrags für die Kunden uninteressant und unangemessen im Verhältnis zum Bearbeitungsaufwand ist, gab es unterschiedliche Meinungen. Hiervon war vorrangig der Nahverkehr betroffen. In der Debatte wurde ferner darauf verwiesen, dass diese Kosten über reduzierte Gewinne, steigende Defizite und Fahrpreiserhöhungen letztlich von allen Reisenden bzw. der Allgemeinheit zu tragen seien – was allerdings in allen Wirtschaftsbereichen üblich ist. In eine etwas andere Richtung zielte der Hinweis, im SPNV seien gemäß den Prinzipien der Bahnreform bereits Abzüge für Qualitätsmängel in den Verträgen zwischen Eisenbahnverkehrsunternehmen und Aufgabenträgern vorgesehen, eine Entschädigung an Fahrgäste somit eine „Doppelbestrafung“ der Anbieter. Dies ist jedoch nur sehr begrenzt richtig: Abgesehen davon, dass solche „Malusregelungen“ erst nach und nach in die Verträge integriert werden konnten, beziehen sich diese Zahlungen auf den von den Aufgabenträgern abgedeckten Teil der Betriebskosten. Die Frage, ob die Endkunden (Fahrgäste) einen angemessenen Gegenwert für ihren Beitrag erhalten, wird davon nicht berührt. Ferner beziehen sich diese Zahlungen in der Regel auf das zeitraumbezogene Unterschreiten bestimmter Qualitätsstandards und stehen in keinem direkten Bezug zu einzelnen Störungsereignissen.
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3.4 Verkehrspolitische Interessen und Akteure Der Staat ist bei diesem Thema nicht nur als Gesetzgeber gefragt, sondern auch Eigentümer der Deutschen Bahn AG (und indirekt vieler anderer kommunaler und regionaler Verkehrsunternehmen). In dieser Funktion hat er natürlich – selbst wenn dies auf Grund der politischen Brisanz kaum ausdrücklich so formuliert wurde – kein Interesse an Änderungen des Status quo, die die Unternehmen und mittelbar möglicherweise die öffentlichen Haushalte belasten. Die Verbraucherpolitik war zwar auf Grund ihrer personellen und institutionellen Zuordnung diesem Interessenkonflikt weniger ausgesetzt, interessierte sich jedoch lange Zeit ebenfalls kaum für den ÖV, der aus ihrer Sicht nur eines von vielen möglichen Handlungsfeldern bildet. Dies gilt für die für den Verbraucherschutz zuständigen Ministerien – oft dem Landwirtschafts- oder Gesundheitsressort angegliedert – ebenso wie für die Verbraucherzentralen und -verbände. Auch im Kreis der am ehesten „zuständigen“ Akteure – der Fahrgastverbände – musste ein Bewusstsein für das Thema Fahrgastrechte erst wachsen. Fahrgastorganisationen bestehen mit unterschiedlichen Organisationsformen und Arbeitsschwerpunkten erst seit etwa 30 Jahren (vgl. Jansen 2009, Schiefelbusch 2005). Sie haben sich zwar seitdem in vielfältiger Weise an der verkehrspolitischen Diskussion beteiligt, insgesamt lag und liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeit aber bei der Verbesserung des Angebots im öffentlichen Verkehr (Streckennetz, Fahrpläne, Tarife) und seiner verkehrspolitischen Position. Mängel der Angebotsqualität, bei denen die Defizite der „Fahrgastrechte“ spürbar wurden, waren zwar immer wieder Thema ihrer Arbeit, standen jedoch nur selten im Mittelpunkt. Im Zuge der Bahnreform von 1994 bis 1996 sollte die Bahn attraktiver und erfolgreicher werden. Die Erwartungen stiegen bei den Verbrauchern wie auch bei den als neue Akteure auftretenden Ländern. Mit dem Ausbau des ICEVerkehrs, flächendeckenden Taktverkehren und der Revitalisierung zahlreicher Regionalstrecken, oft unter maßgeblicher Beteiligung neuer Anbieter, schien dies auch zunächst zu gelingen. Andererseits führte die neue Unternehmenspolitik der DB AG zu zahlreichen, oft kurzfristig ausgerichteten Sparmaßnahmen, denen insbesondere Reserven in der Infrastruktur und dem Betrieb zum Opfer fielen. Die Eisenbahn wurde somit anfälliger für Störungen. Nach der Jahrtausendwende verschlechterte sich dann auch die Qualität des Bahnverkehrs in Deutschland deutlich. Die Unzufriedenheit erreichte politische Prominenz und führte zu Aktivitäten auf unterschiedlichen Ebenen.
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3.5 Reforminitiativen8 Die Bundesregierung entwickelte 2002 eine „Qualitätsoffensive öffentlicher Personenverkehr“ (BT-Drs. 14/9671), in der sie sich grundsätzlich für eine Verbesserung der Fahrgastrechte aussprach. Konkret wurde die „Qualitätsoffensive“ der Bundesregierung erst Mitte 2003 mit der Ausschreibung eines Gutachtens zum Thema „Verbraucherschutz und Kundenrechte im öffentlichen Verkehr“ eingeleitet, das schließlich 2006 fertig gestellt wurde (BT-Drs. 16/1484).9 Die Studie verwies unter anderem darauf, dass in anderen EU-Staaten aus Verbrauchersicht deutlich bessere Regelungen existieren und empfahl eine ähnliche Reform auch für Deutschland. Der oben erwähnte Interessenskonflikt des Bundes als Eigentümer der DB AG zeigt sich an dieser Stelle deutlich durch die verzögerte Vergabe des Untersuchungsauftrags – bei der zuerst ein hauptberuflich für ein DB-Tochterunternehmen tätiger Jurist zum Zuge kommen sollte – und durch den der Veröffentlichung beigefügten Hinweis, dass die Präsentation des Gutachtens „eine Festlegung der Position der Bundesregierung (...) ausdrücklich nicht bezweckt“ (BT-Drs. 16/1484: 9). Ungefähr zeitgleich ergriff Nordrhein-Westfalen mit der Einrichtung der „Schlichtungsstelle Nahverkehr NRW“ (vgl. Teil 4), sowie mit eigenen Gutachten und Gesetzentwürfen die Initiative. Auch die nationale Verbraucherschutzpolitik begann sich zu positionieren. Das damals neu so benannte Verbraucherschutzministerium erreichte in Verhandlungen mit der DB AG 2004 die Veröffentlichung der ersten DB-Kundencharta (vgl. Teil 5). Die Fahrgastorganisationen selbst blieben in dieser Frage allerdings gespalten: Während Pro Bahn sich im Zuge der Debatte eindeutig als Interessenvertretung der Verbraucher positionierte und die Anbieter auch öffentlich vehement kritisierte, versuchte der Deutsche Bahnkundenverband als zweite bundesweit aktive Organisation Verbesserungen im Dialog mit der DB AG zu erreichen und warnte, dass die Bahn zur Kostenvermeidung bzw. zur Refinanzierung besserer Fahrgastrechte das Angebot verschlechtern und die Preise erhöhen würde. Die EU-Kommission hatte erstmals 2001 in ihrem Weißbuch zur europäischen Verkehrspolitik die „Wahrung der Fahrgastrechte“ (KOM 2001: 125) zu einem Ziel der Gemeinschaftspolitik erklärt. Die Vorbereitungen einer Verordnung für den Eisenbahnverkehr begannen 2001 mit Anhörungen der Interessenverbände und einem ersten Entwurf.10 Während Fahrgastvertretungen den Vor8 9 10
zur Diskussion der Initiativen aus rechtlicher Sicht vgl. Pohar (2009) Das Gutachten ist in der Fachdiskussion nach den Bearbeitern auch als „Progtrans-Gutachten“ bekannt (vgl. ProgTrans et al. 2005). Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr (KOM 2004: 143)
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stoß begrüßten, sahen vornehmlich die Verkehrs- und Infrastrukturunternehmen, darunter auch die DB AG, den Vorschlag sehr kritisch und gingen auf Distanz (vgl. EU Kommission DG TREN 2005). Parallel wurde durch ihren europäischen Dachverband CER (Community of European Railways) eine freiwillige Entschädigungsregelung für den grenzüberschreitenden Verkehr erarbeitet und als Alternative zu einer EU-Verordnung in die Diskussion gebracht. Diese stellte zwar für manche Länder eine Verbesserung dar, blieb aber deutlich hinter den Regelungen der führenden Staaten (v.a. Großbritannien, Schweden und die Niederlande) zurück (vgl. EUSG-Konsortium 2006: 91ff.). Der Entwurf der Kommission wurde im Verlauf der Diskussion mehrfach überarbeitet. Dabei wurde er im Hinblick auf die vorgesehenen Entschädigungsleistungen entschärft, andererseits im Zuge der parlamentarischen Debatten der Anwendungsbereich auf den Binnenverkehr der Mitgliedsstaaten erweitert. Die Verordnung wurde schließlich im Herbst 2007 verabschiedet und trat am 3.12.09 in Kraft. Die Mitgliedsstaaten erhielten allerdings die Möglichkeit, das Inkrafttreten der meisten Inhalte um maximal 15 Jahre aufzuschieben. Deutschland machte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, sondern ging mit den 2009 in Kraft getretenen Änderungen zeitlich und auch inhaltlich etwas über den von der EU geforderten Mindeststandard hinaus. So besteht auf Grund der neugefassten EVO bei zu erwartender Ankunftsverspätung von 20 Minuten das Recht auf die Benutzung höherrangiger (zuschlagpflichtiger) Züge und Erstattung der damit verbundenen Mehrkosten. Eine solche Regelung ist in der europäischen Verordnung nicht vorgesehen. Bis zuletzt war umstritten, wie umfangreich diese Erweiterungen sein sollten. Besonders die CDU/CSU und das von ihr geführte Verbraucherschutzministerium hatten sich in dieser Phase für fahrgastfreundlichere Regelungen – konkret eine Entschädigung schon ab 30 Minuten Verspätung – eingesetzt, sich aber nicht gegen die SPD-geführten Verkehrs- und Justizressorts durchsetzen können. Somit bleibt es bei dem in der EG-VO vorgesehenen Anspruch auf Entschädigung von 25% des Fahrpreises bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten. Damit geht die Verordnung in Erstattungshöhe wie Mindestverspätung über die zuvor auf Grundlage der DB-Kundencharta von 2004 sowie die Charta für den grenzüberschreitenden Verkehr der CER hinaus. Ferner wurden Mindestbeträge, Fristen, Art der Erstattung und Ausschlussgründe (Haftung des Anbieters) durch den auf EU-Ebene einheitlich vorgegebenen Text in Details neu und insgesamt verbraucherfreundlicher formuliert.
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Die Durchsetzung von Fahrgastrechten und die Möglichkeiten außergerichtlicher Streitbeilegung
Die Bezeichnung außergerichtliche (auch „alternative“) Streitbeilegung (kurz ADR – „alternative dispute resolution“) hat sich als Oberbegriff für unterschiedliche Konzepte etabliert, Meinungsverschiedenheiten durch das Einschalten eines neutralen Dritten zu lösen. Beispiele für ADR-Konzepte sind Mediation, Schiedsstelle, Ombudsstelle oder Interessensbeauftragte. Im Folgenden wird als übergreifende Bezeichnung – entsprechend des deutschen Sprachgebrauches – vorrangig der Begriff „Schlichtung“ verwendet, auch wenn die Schlichtung nur eine von mehreren Formen von ADR darstellt. Alternative Streitbeilegung ist in der Regel als „Berufungsinstanz“ konzipiert und wird erst aktiv, wenn eine Partei – meist der Verbraucher – ein Problem mit einem Unternehmen hatte und mit der Bearbeitung nicht zufrieden ist. Sie kann sich daher nur mit der „Spitze des Eisbergs“ befassen und spielt insofern stets eine ergänzende Rolle, bietet aber gegenüber einer Klärung auf dem Rechtsweg verschiedene Vorteile:
kostengünstigere und zügigere Verfahren, Entlastung der Justiz, keine Präzedenzwirkung einer Einigung (die nur für den Einzelfall gilt), größerer Freiraum bei der inhaltlichen Gestaltung der Einigung und die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung, die ein Fortführen der (Geschäfts-) Beziehung erlaubt.
Die Zahl der tatsächlich im vollständigen Verfahren bearbeiteten Schlichtungsfälle kann dabei nur als einer von mehreren Erfolgsindikatoren betrachtet werden. Zum einen ist zu beobachten, dass Schlichtungsverfahren nicht selten vor dem formellen Schlichtungsspruch zu einer Einigung gebracht werden. Zum anderen werden die Stellen oft auch zu Themen kontaktiert, die außerhalb ihres Aufgabenbereichs liegen. In solchen Fällen können sie zumindest beraten oder das Anliegen weiterleiten. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass die Existenz einer solchen Einrichtung Einfluss auf die Unternehmen und ihr Beschwerdemanagement hat. In diesem Sinne besteht ein Effekt der Möglichkeit einer solchen „Revisionsinstanz“ auch darin, durch einen besseren Kundendienst Beschwerden an die Schlichtungsstelle zu vermeiden. Im öffentlichen Verkehr besteht angesichts seiner Produktmerkmale und Marktstrukturen ein besonderer Bedarf an einem solchen Angebot. So fehlt es angesichts der rechtlichen Stellung der Fahrgäste zum Teil immer noch an einer gesetzlichen Grundlage bzw. Ermächtigung, um eine gerichtliche Klärung von Streitfragen herbeiführen zu können. Die (finanziell gesehen) oft geringen
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Streitwerte (die gleichwohl zu großem Ärger führen können) machen dies zusätzlich unattraktiv. Aufsichtsbehörden treten gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit bisher kaum in Erscheinung. Fahrgäste in Deutschland waren bei Streitigkeiten mit den Verkehrsunternehmen lange Zeit ausschließlich auf ihr Verhandlungsgeschick und die Kulanz der Unternehmen angewiesen. Seit der Jahrtausendwende wurden jedoch für bestimmte regional und verkehrsmittelbezogen abgegrenzte Bereiche verschiedene Ombuds- und Schlichtungsstellen geschaffen:
Seit 2001 besteht die Schlichtungsstelle Nahverkehr NRW, initiiert durch das Verkehrsministerium und zunächst in Trägerschaft der Verbraucherzentrale, seit 2007 getragen von einem Verein, dem Unternehmen und Verbraucherzentrale angehören. Sie bearbeitet Streitfälle im SPNV und ÖPNV des Landes Nordrhein-Westfalen. Von 2002 bis 2004 trat die Ombudsfrau der Leipziger Verkehrsbetriebe als Fürsprecher der Fahrgäste des Unternehmens auf. Von 2004 bis 2009 war die Schlichtungsstelle Mobilität beim Verkehrsclub Deutschland für den Fernverkehr der Bahn, den Flug-, Schiffs- und Fernbusverkehr zuständig. Mit der Reform der Fahrgastrechte wurde sie durch die Schlichtungsstelle öffentlicher Personenverkehr ersetzt, die von einem Verein der Anbieter getragen wird. Verbrauchervertreter sind Mitglied im Beirat der Stelle. Für den Eisenbahnverkehr findet sich seitdem die Pflicht zur Einrichtung einer neutralen Stelle zur Schlichtung von Streitfällen in § 37 der EVO. Für die Durchsetzung der VO (EG) 1371/07 in Deutschland ist das Eisenbahnbundesamt zuständig und hat in dieser Funktion eine Abteilung zur Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden eingerichtet. Es kann „die notwendigen Maßnahmen [ergreifen], um sicherzustellen, dass die Rechte der Fahrgäste gewahrt werden“ (VO (EG) 1371/07, Art. 30, Abs. 1). 2004 und 2005 wurden sogenannte „Ombudsstellen Nahverkehr“ in Bayern und Baden-Württemberg eingerichtet, die direkt von den Landesverbänden der Verkehrsunternehmen VDV und BDO betrieben werden. Auf politischen Beschluss in Berlin wurde 2007 die Schlichtungsstelle Nahverkehr Ost gegründet, deren Zuständigkeitsbereich SPNV und ÖPNV in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt umfasst. Sie wird ebenfalls vom VDV finanziert, beschäftigt aber unabhängige Schlichter und hat einen Beirat, in dem die relevanten Interessengruppen vertreten sind. Ende 2009 gründete sich ein weiterer Verein von Verkehrsunternehmen zum Aufbau der Schlichtungsstelle Nahverkehr Mitte für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.
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Schon diese kurze Aufzählung zeigt, dass die einzelnen Stellen in Aufbau, Trägerschaft und Tätigkeitsbereich sehr unterschiedlich sind, so dass es für die Verbraucher schwer ist, sich einen Überblick zu verschaffen und diese Angebote zu nutzen. Auch erfüllen einige Stellen kaum die auf europäischer Ebene formulierten Qualitätskriterien von ADR-Angeboten (vgl. Schiefelbusch 2007). Während einige ihre Arbeit aktiv bekanntmachen, ist bei anderen keine nennenswerte Öffentlichkeitsarbeit feststellbar, was wohl auf unzureichende Ausstattung, aber auch auf politische Interessen zurückzuführen ist. Diese Heterogenität ist teils der föderalen Zuständigkeitsverteilung für den ÖV geschuldet, aber auch in den ADR-Strukturen anderer Branchen in Deutschland zu finden. Auch hier weisen andere europäische Länder deutlich umfassendere und besser strukturierte Angebote auf. Zu den Grundsätzen des Beschwerdemanagements gehört es, die Anzahl der unzufriedenen Kunden zu minimieren, aber auf der anderen Seite der Anteil der unzufriedenen Kunden, der sich beschwert, zu maximieren (vgl. Stauss/Seidel 2002: 51). Analog dazu sollten auch Schlichtungseinrichtungen ihr Angebot so weit wie möglich bekanntmachen und für einen niedrigschwelligen Zugang sorgen, um ihren Beitrag zur Kundenzufriedenheit zu leisten. Daher können unzureichende und unübersichtliche ADR-Dienste ihren Zweck nur schlecht erfüllen. 5
Erweiterung von Fahrgastrechten durch Servicegarantien
Der Ausdruck Servicegarantie bezeichnet eine Qualitätszusage eines Leistungsanbieters. Dabei kann zwischen zwei Ansätzen unterschieden werden: So lassen sich mit Hilfe von Qualitäts- bzw. Leistungsversprechen Standards kommunizieren, welche das Unternehmen bemüht ist zu erfüllen. Diese sollen dazu beitragen, das Engagement des Unternehmens zu demonstrieren. Hierzu zählen beispielsweise das Zusichern von Freundlichkeit, Sicherheit und engagiertem Beschwerdemanagement. Bei Nichterfüllung dieser Versprechen ergeben sich jedoch keine unmittelbaren Konsequenzen für das Unternehmen oder die Kunden. Dagegen werden in Servicegarantien, auch als Kundengarantien bezeichnet, Qualitätsstandards im Servicelieferungsprozess definiert, für die der Kunde im Falle der Nichteinhaltung Entschädigungsleistungen erwarten kann, indem er Anspruch auf einen monetären Vorteil hat oder eine andere Form der Kompensation erhält. So wird beispielsweise Pünktlichkeit versprochen und im Verspätungsfall erhält der Kunde sein Fahrgeld (teilweise) zurück. Als weitere Form von Garantieleistungen sind die sogenannten „Anschlussgarantien“ interessant, bei denen eine Ersatzbeförderung (oft mit einem Taxi) direkt organisiert wird, wenn bestimmte Umsteigeverbindungen nicht eingehalten werden. Untersuchungen zur Akzeptanz unterschiedlicher Kompensationsformen zeigen, dass solche Ersatzleistungen positiv beurteilt werden (vgl. Probst/Bockholt 2003, Rennspieß 2005). In wie weit sie
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im Einzelfall angemessen sind und eine nachträgliche Entschädigung auch aus Kundensicht entbehrlich machen, hängt von ihrer Ausgestaltung ab. Leistungsversprechen und Garantie können auch zusammen in einem Dokument, oft als „Kundencharta“ bezeichnet, bekanntgegeben werden. Mit der öffentlichkeitswirksamen Darstellung dieser Regelungen signalisiert der Anbieter nach außen (und auch nach innen) das zu erwartende Serviceniveau und verpflichtet sich selbst dazu, dies bestmöglich zu erreichen. Oben kam bereits zur Sprache, dass Servicegarantien hinsichtlich ihrer formalen Verbindlichkeit nicht die Qualität rechtlicher Regelungen erreichen, so lange sie nicht Teil der Beförderungsbedingungen sind. Dies ist bisher vielfach nicht der Fall. Aus einem anderen Blickwinkel lassen sich Garantieregelungen dagegen als Erweiterung von Fahrgastrechten verstehen: Während der Inhalt rechtlicher Regelungen feststeht, kann in der Gestaltung einer Garantie darüber hinausgegangen und so ein zusätzlicher Nutzen geboten werden. Dieser kann im sachlichen Mehrwert bestehen – wenn die Garantie bessere Erstattungsleistungen bietet als vom Gesetz her vorgesehen – aber auch darin, dass Garantien eingeführt werden, wo (noch) keine Fahrgastrechte bestehen. Für ein Unternehmen besteht dabei der Nutzen darin, sich mit dem Angebot in der Öffentlichkeit – und auch gegenüber Aufgabenträgern und Politik – als Qualitätsanbieter zu profilieren. Es erhält außerdem eine unmittelbare Rückmeldung und hat so die Möglichkeit, Schwachstellen zu identifizieren. Die Servicegarantie wird so zum Kontrollinstrument im Qualitätssicherungssystem. Letzteres ist im ÖSPV der Fall, für den bisher keine rechtliche Kodifizierung von Fahrgastrechten absehbar ist. Hier haben die Berliner Verkehrsbetriebe 1997 als erster deutscher Anbieter eine Kundengarantie eingeführt. Bis Ende 2008 stieg deutschlandweit die Zahl der Verkehrsverbünde und –unternehmen, die ihren Kunden definierte Servicestandards garantieren, auf rund 60. Dabei ist die Verteilung über das Bundesgebiet höchst unterschiedlich: In großen Teilen der Länder Hessen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und den Stadtstaaten Berlin und Bremen garantieren Nahverkehrsgesellschaften Qualitätsstandards. Hervorzuheben sind ebenso die für den nahezu gesamten SPNV in SchleswigHolstein geltenden Pünktlichkeitsgarantien. Dagegen existieren für die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen derzeit nur vereinzelte Angebote, während in Hamburg, Rheinland-Pfalz und im Saarland bisher keine Garantien angeboten werden. Für den SPFV hatte die Deutsche Bahn AG in ihrer im Oktober 2004 eingeführten Kundencharta neben diversen Qualitätsversprechen auch Entschädigungsleistungen für den Verspätungsfall definiert. Im internationalen Vergleich ist die Abdeckung der Verkehrsmärkte mit Garantieangeboten in Deutschland trotz dieser Lücken relativ gut (vgl. Abb. 2).
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Martin Schiefelbusch
Maßstäbe setzen hier – dank staatlicher Vorgaben – Schweden, Dänemark, Großbritannien (für den Eisenbahnverkehr), Estland und Italien (hinsichtlich der Verbreitung von Kundenchartas). In der inhaltlichen Ausgestaltung ergibt sich ein heterogenes Bild: Einige Garantien aus dem deutschen ÖPNV (z.B. das Angebot des Nordhessischen Verkehrsverbunds und der Westfälischen Verkehrsgesellschaft) können als beispielhaft gelten, während für SPNV und SPFV andere Länder wesentlich umfangreichere Leistungen bieten (vgl. EUSG-Konsortium 2006). Allerdings ist bei der Einordnung dieser Ergebnisse zu bedenken, dass es sich bei Servicegarantien um ein noch junges Thema handelt. Die ersten Garantien wurden Mitte der 1990er Jahre in Großbritannien und Skandinavien eingeführt. Es ist zu erwarten, dass dieses Thema im Zuge der Umsetzung weiterer Maßnahmen des Qualitätsmanagements, Ausschreibungswettbewerbs und Verbraucherschutzes in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Abbildung 2:
Zahl und Qualität von Servicegarantien europäischer Verkehrsunternehmen (2006) anspruchsvoll Finnland
Niederlande
Frank -reich
wenige
Zypern Lettland Malta
Großbritannien
Schweden
Spanien
Deutsch -land
PT
Polen keine Garantien gefunden:
Ausgestaltung der Garantien
Dänemark
Ungarn Irland
Slowakei Belgien Luxemburg TscheSlowechien nien Österreich
Italien
Estland Litauen Griechenland bescheiden
Quelle: EUSG-Konsortium (2006: 106)
Zahl der Garantien viele
Kundenrechte und Kundendienst im öffentlichen Verkehr
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Fazit Eine Erklärung für die verbreitete Unzufriedenheit mit dem ÖV liegt vermutlich auch darin, dass das öffentliche Reisen wesentlich stärker fremdbestimmt ist als individuelle Mobilität: Es müssen etwa Fahrpläne beachtet werden, die immer ein Kompromiss aus einer Vielzahl von Bedürfnissen sind. Während der Fahrt überlassen sich die Reisenden dem „System“ und sind zu weitgehender Passivität verpflichtet. Das gemeinsame Reisen mit (unbekannten) anderen führt zudem zu weiteren „Fremdeinflüssen“ auf das Erleben der Dienstleistung. Damit bieten öffentliche Verkehrsangebote deutlich weniger Möglichkeiten zur emotionalen wie tatsächlichen Aneignung, weshalb möglicherweise die Neigung größer ist, auch die sonstigen Leistungsmerkmale kritisch zu sehen. Zu diesem Gefühl kam zumindest bisher die Erfahrung, im Fall von Unregelmäßigkeiten rechtlich gesehen in der schwächeren Position zu sein. Fahrgastrechte, Garantien und Chartas haben somit jenseits ihres Nutzens im Einzelfall die wichtige Funktion „vertrauensbildender Maßnahmen“. In aller Regel führt nur ein geringer Teil der Kundenkontakte eines Unternehmens zu Beschwerden oder gar Rechtsstreitigkeiten. Fahrgastrechte und Kundendienst bilden eine „Rückfallebene“, indem sie Regeln und Strukturen für den Umgang mit solchen Vorkommnissen schaffen. Insofern mag es müßig erscheinen, dem Umgang mit diesen wenigen Fällen so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Doch diese Vermutung greift zu kurz: Den Aufwand einer Beschwerde nimmt nur ein kleiner Teil der Unzufriedenen auf sich, und die Wirkung eines negativen (Service-)Erlebnisses ist um ein vielfaches größer als eine zufriedenstellende Leistung, die einfach erwartet wird, ohne positiv aufzufallen. Schlechte Erfahrungen bleiben nicht nur den Betroffenen in Erinnerung, sie werden auch eher weitererzählt – im Bekanntenkreis, aber auch in der Öffentlichkeit – und sind auch für die Medien meist interessanter. Obwohl die in den letzten Jahren umgesetzten Maßnahmen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes längst nicht alle möglichen Probleme abdecken und insbesondere der straßengebundene Nahverkehr bisher nur durch freiwillige Garantieangebote erfasst wird, sind sie zweifellos ein Fortschritt. Den bisherigen Erfahrungen zufolge funktionieren sie weitgehend problemlos und widerlegen damit nicht zuletzt die vorher auf Anbieterseite geäußerte Skepsis. Ob die bisherigen Schritte ausreichen, über den Nutzen im Einzelfall hinaus eine Verbesserung der „gefühlten Wertschätzung“ der Reisenden zu erreichen, bleibt abzuwarten. Dabei ist zu bedenken, dass die Wahrnehmung eines Angebots nur zum Teil eine Frage der durch gesetzlich gebotene Aktivitäten reformierten Fahrgastrechte ist. Die Angebots- und Qualitätspolitik wie auch der sonstige Kundendienst bie-
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ten hierfür zahlreiche weitere Ansatzpunkte, die insbesondere im Hinblick auf ihre Wirkung aus Sicht der Reisenden vielfach erst teilweise genutzt werden. Quellen EU Kommission, DG SANCO (2009): The Consumer Markets Scoreboard. Luxemburg: Büro f. amtliche Veröffentlichungen. EUSG-Konsortium (2006): Evaluation and monitoring of trends with regard to passenger needs on the level of service and treatment of passengers. Final Report December 2006. Berlin. Jansen, Holger (2009): Fahrgastverbände in Deutschland. In: Schiefelbusch, Martin/HansLiudger Dienel (Hrsg.): Kundeninteressen im öffentlichen Verkehr. Berlin, S. 201209 Pohar, Mihael A. (2006): Rechtsbeziehungen zwischen Fahrgast und Eisenbahn. Jena; zugl. Diss. Univ. Münster. Pohar, Mihael A. (2009): Fahrgastrechte in Deutschland und Europa – ein Überblick und ders: Fahrgastrechte in der Diskussion – Reformvorschläge. In: Schiefelbusch, Martin/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.): Kundeninteressen im öffentlichen Verkehr. Berlin, S. 93-120 Probst, Gerhard/Thorge Bockholt (2003): Kundengarantien im ÖPNV, Vom innovativen Qualitätsmanagement zur wertsteigernden Leistungsinnovation. In: Der Nahverkehr 5/03, S. 23-30 Neugebauer, Nancy (2009): Servicegarantien und Kundenzufriedenheit. In: Schiefelbusch, Martin/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.): Kundeninteressen im öffentlichen Verkehr. Berlin, S. 56-74 Rennspieß, Uwe (2005): Anschluss-Garantie für Fahrgäste im ländlichen Raum. In: Der Nahverkehr 3/05, S. 62-64 Schiefelbusch, Martin (2005): Öffentlicher Verkehr: "Beförderungsfälle" melden sich zu Wort. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/05, S. 116-120. Schiefelbusch, Martin (2007): Schlichtungsstellen und Ombudsleute im öffentlichen Verkehr – Schlichten, aber richtig! In: Der Nahverkehr 11/07, S. 50-55.
Weiterführende Literatur EU Kommission DG TREN (2005): Stärkung der Rechte von Reisenden in der Europäischen Union. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und an den Rat – KOM 2005 (46) endg Hilpert, Thomas (2009): MDR-Arbeitshilfe – Neue zusätzliche Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr in Deutschland. In: Monatsschrift für Deutsches Recht, 0340-1812, 2009, 63, 17, S. 967-971 ProgTrans et al. (2005): Verbraucherschutz und Kundenrechte im öffentlichen Personenverkehr. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
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sen (BMVBW). In: Deutscher Bundestag (Hrsg): Anhang zu Bundestagsdrucksache 16/1484. Schiefelbusch, Martin/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.) (2009): Kundeninteressen im öffentlichen Verkehr. Berlin. Stauss, Bernd/Wolfgang Seidel (2002): Beschwerdemanagement – Kundenbeziehungen erfolgreich managen durch Customer Care. Wien/München.
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Stadtverkehr Tilman Bracher Einführung Mobilität sichert den Kommunen und damit ihren Bewohnern, Pendlern und Besuchern ökonomischen Wohlstand und Teilhabe am öffentlichen Leben. In den Städten kumulieren Synergien und Konflikte aus Dichte und Vielfalt. Trotz der Einrichtung von Fußgängerzonen und begrünter Plätze dominiert der motorisierte Individualverkehr nach wie vor den städtischen öffentlichen Raum, zugeparkte Straßen, Staus, Umweltbelastungen und Unfälle sind Alltag. Der SPIEGEL berichtete bereits 1970 – damals war die Motorisierung halb so hoch wie heute – über „Notstand im Verkehr“ und „Sterben die Städte“ (o.V. 1970). Die Anpassung an das Automobil, überlastete Straßen, Probleme der Erreichbarkeit städtischer Zentren und eine verminderte Attraktivität als Standort für Unternehmen und Haushalte, beherrschten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Debatte über den Stadtverkehr. Seit 1971, als der Bund mit dem Gemeindeverkehrs-Finanzierungsgesetz ein umfassendes Förderprogramm für den kommunalen Verkehr auf den Weg brachte, versuchen die Kommunen, die vorhandenen Verkehrsprobleme durch den Ausbau des Verkehrsangebots investiv zu lösen und vielerorts scheint dies zunächst auch gelungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben viele Städte eine Renaissance als Kultur-, Bildungs- und Wohnstandort und im Städtetourismus. Während die (Innen-)Städte in der Folge des Ausbaus von Straßen, Bahnanbindungen und Flughäfen immer besser erreichbar werden, beeinträchtigt aber der motorisierte Individualverkehr mit seinem Flächenbedarf, Lärm, Abgasen, Unfallgefahren, Trennwirkung und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum weiterhin die Lebensqualität vor Ort. Davon sind Menschen der verschiedenen Altersgruppen und nach Geschlecht, Gesundheitszustand, Bildung, Einkommen und räumlicher Lage ungleich begünstigt und betroffen. Eine neue Herausforderung bildet der demografische Wandel: Der mit der demografischen Entwicklung steigende Anteil älterer Menschen mit ihren Anforderungen an barrierefreie Verkehrsanlagen, seniorengerechten Wohnraum und fußläufig erreichbaren Aufenthaltsorten im öffentlichen Raum, erfordern die Anpassung des Verkehrsangebots und einen altersgerechten Umbau der Städte. Gleichzeitig steigt der Handlungsdruck im Klimaschutz: Gemessen an der Notwendigkeit, die CO2-Emissionen in Deutschland gegenüber dem Niveau von O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1990 drastisch zu verringern, sinken die spezifischen CO2-Emissionen der Fahrzeugflotte des Kfz-Verkehrs viel zu langsam – trotz der zunehmenden Verbreitung energiesparsamer Kleinwagen und der Erprobung von Elektromobilität im Pkw-Bereich. Ohne einen stärkeren Beitrag des kommunalen Verkehrs wird es nicht gelingen, die CO2-Emissionen des Stadtverkehrs wesentlich zu reduzieren. 1
Verkehrsverhalten und Verkehrsmittelwahl
Im verkehrsstatistischen Städtevergleich wird deutlich, dass es in Bezug auf Verkehrsmittelwahl und Verkehrsverhalten wegen unterschiedlicher Rahmenbedingungen und Politiken zwar deutliche lokale Unterschiede gibt, aber es gibt vor allem im Zeitverlauf auch wichtige Gemeinsamkeiten. Die Datengrundlagen dazu liefern regelmäßige Städtevergleichserhebungen des „Systems repräsentativer Verkehrsbefragungen“ (SrV) der TU Dresden, die bundesweit repräsentative Haushaltsbefragung „Mobilität in Deutschland“ (zuletzt 2002 und 2008) sowie das jährliche „Mobilitätspanel“ (vgl. Ahrens 2009; Infas/DIW/BMVBS 2010; Zumkeller 2009). Im Vergleich zeigen die aktuellen Ergebnisse, dass der städtische Verkehr in Deutschland etwa seit der Jahrtausendwende bezüglich der zurückgelegten Entfernung, der so genannten Verkehrsleistung, nicht mehr wächst (vgl. Abb. 1) und sich die Verkehrsmittelwahl geändert hat. So nahm der motorisierte Individualverkehr (MIV) (Fahrer und Mitfahrer) von 2002 bis 2008 etwas ab. Während sich an der Dominanz des Pkw-Verkehrs insgesamt noch nichts geändert hat, gibt es mittlerweile deutliche Unterschiede zwischen Jung und Alt. Während die Senioren häufiger mit dem Pkw fahren als früher, nimmt die Pkw-Nutzung jüngerer Altersgruppen ab. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch zwischen Stadt und Land (vgl. Abb. 2). In verdichteten Kreisen und vor allem in den ländlichen Kreisen wird der motorisierte Individualverkehr stärker genutzt als in den Kernstädten, und nimmt auch teilweise noch weiter zu. Die Bevölkerung der Kernstädte dagegen nutzt den öffentlichen Personenverkehr (ÖPV) deutlich häufiger und geht mehr zu Fuß als die Bevölkerung der Landkreise. Je stärker die Urbanität (Dichte, Nutzungsvielfalt) eines Standorts ist, umso geringer sind PkwNutzung und -Besitz. Im Vergleich der Absolutwerte von 2008 zu 2002 wird deutlich, dass der Radverkehr vor allem in den Städten deutlich zugenommen hat, während der motorisierte Individualverkehr stagniert (vgl. Abb. 3).
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Stadtverkehr
Abbildung 1:
Hat der der Personenverkehr in Deutschland sein Sättigungsniveau erreicht?
Quelle: Zumkeller 2009 Abbildung 2:
Hauptverkehrsmittel im Zeitvergleich und in Kernstädten und nach Kreistypen
Quelle: Infas/DIW/BEMBV (2010: 26)
278 Abbildung 3:
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Starke Zunahmen beim Radverkehr und bei den Fußwegen
Quelle: Infas/DLR/BMVBS (2010: 29) Die Unterschiede der Verkehrsmittelwahl der in den repräsentativ ausgewählten Städten und Gemeinden lebenden Personen zeigt Abb. 4, die Unterschiede im Binnenverkehr der SrV – Städte zeigt Abb. 5. Besonders hoch liegt die Varianz in Bezug auf den Pkw-Anteil (als Fahrer); der Pkw-Anteil liegt etwa zwischen 30 % und 60 % und ist also in manchen Orten doppelt so hoch wie in anderen. Auch die Fahrradnutzung variiert sehr stark, in manchen Städten wird fast nicht Fahrrad gefahren, in anderen Städten liegt die Fahrradnutzung deutlich über dem ÖPV, und zusammen mit den Fußgängern weit über 50%.
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Stadtverkehr
Abbildung 4:
Streuung der Modal Split-Werte nach einbezogenen Gemeinden
Infas/DLR/BMVBS (2010: 25) Die Grafik (Abb. 5) zeigt im Städtevergleich, dass weder Fahrrad und ÖPV noch Fahrrad und Fußwege unmittelbare Konkurrenten sind und komplementäre Anteile aufweisen, wie oft vermutet wird, sondern die MIV-Nutzung wegen unterschiedlicher Rahmenbedingungen offenbar am stärksten schwankt. Gerade der MIV ist durch die (verkehrs)politischen Rahmenbedingungen beeinflussbar. Die Städte zielen beispielsweise mit Parkraumbewirtschaftung, dem Ausbau öffentlicher Verkehrsangebote und Radverkehrsstrategien auch auf die Reduzierung des MIV. Während in der öffentlichen Debatte noch vor dem Verkehrskollaps gewarnt wird, bestätigen auch die örtlichen Verkehrszählungen bereits, dass die Pkw-Verkehrsmengen auf den innerstädtischen Straßen stagnieren oder zurückgehen.
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Abbildung 5:
Verkehrsmittelwahl der städtischen Bevölkerung 2008 im Städtevergleich
Quelle: Ahrens 2009, Folie 17 2
Zukunftsperspektiven
Den Kommunen eröffnet sich nach Jahrzehnten der Stadtflucht eine neue Chance für die urbane europäische Stadt mit ihrer Vielfalt und Dichte. Urbane Siedlungsstrukturen bieten eine Alternative zu entfernungsintensiven Lebensweisen. Kurze Wege, die Nutzung nicht motorisierter Verkehrsmittel und die Bündelung von Massenverkehren im ÖPV bieten die Chance, andernfalls für Verkehr beanspruchte Ressourcen (Atmosphäre, fossile Energieträger, Fläche) für künftige Generationen zu erhalten. Im Gegensatz zu 1970 geht es heute nicht mehr um den Neu- und Ausbau von Straßen. Innovative Verfahren der Verkehrssteuerung ermöglichen die Verbesserung des Verkehrsablaufs im vorhandenen Straßennetz für den MIV sowie für Fußgänger, Radfahrer und den ÖPV. Weil die veränderte Nachfrage räumlich und zeitlich flexibler geworden ist, reichen die vorhandenen Kapazitäten durch den Abbau von Spitzen und die verbesserte Steuerung weitgehend aus. Frei gewordene Gewerbe- und Bahnflächen ermöglichen in der Stadtentwicklung neue Konzepte der Innenentwicklung, um die Attraktivität der Kernstädte zu stärken. Der schwindende Neu- und Ausbaubedarf der kommunalen Verkehrsinfrastruktur ermöglicht neue verkehrspolitische Prioritäten. In den
Stadtverkehr
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Städten nehmen die Verkehrs- und Umweltbelastungen wieder ab, der soziale Status der Innenstadtbewohner steigt, und mit dem Zuwachs an städtischer Lebensqualität gibt es bereits sichtbare Tendenzen des „Zurück in die Stadt“. Bevölkerungsabnahme, Migrationsprozesse und Überalterung können die Wanderungsbewegungen in die Mittel- und Großstädte sowie in verdichteten Innenstadtlagen zulasten der Peripherie und der Fläche tendenziell verstärken. Schrumpfende Städte bieten mit Konversionsflächen und sinkender Nachfrage ein ausreichendes Flächenangebot. Die mit rückläufigen Bevölkerungszahlen frei werdenden innerstädtischen Flächen ermöglichen eine Umkehr. Immer mehr Belege lassen erkennen, dass die Älteren gerne wieder zurück in die attraktiv gewordene Stadt ziehen, und auch Familien mit Kindern träumen weniger vom Leben weitab im Grünen als vom eigenen Häuschen in der Stadt. Vom insgesamt wohl weiter steigenden Straßengüterverkehr werden die meisten Kern- und Innenstädte kaum betroffen sein, da es weiterhin zur Verlagerung des Schwerverkehrs an den Stadtrand, auf Autobahnen und ausgebaute Bundesstraßen kommen wird. In den Kommunen rückt der demografische Wandel die veränderten Anforderungen älterer Menschen an Wohnungen, Wohnumfeld, Infrastruktureinrichtungen und Verkehrssysteme in den Blick. Der demografische Wandel wird dazu führen, dass der Pkw-Verkehr – trotz des zunehmenden Führerscheinbesitzes der ins Alter kommenden Jahrgänge – abnimmt, da insbesondere hoch betagte pflegebedürftige Senioren nicht mehr so viel fahren wie Jüngere, und mit der Einführung des „Führerschein auf Zeit“ (ab 2013) langfristig auch der Führerscheinbesitz nicht mehr selbstverständlich sein wird. Zudem verändern sich die Lebensstile. Trotz der nach wie vor erkennbaren Stadtflucht werden in der Bevölkerung die Optionen des urbanen Lebens positiver und die Einschränkungen ländlicher Standorte negativer empfunden als in der Vergangenheit. Bewohner ländlicher Standorte profitieren zwar von niedrigeren Grundstückspreisen, überproportional steigende Mobilitätsund Energiekosten werden jedoch zur zunehmenden Belastung. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die größeren Städte eine zentrale Bedeutung für die im Umland lebende Bevölkerung einerseits gewonnen haben und das Umland als Entlastungsraum für die Stadtbevölkerung andererseits dient. Die Verkehrsverflechtungen reichen deshalb vielfach weit über die Stadtgrenzen hinaus. Pendlerverkehre sind vielerorts zum Kernproblem der kommunalen Verkehrsentwicklung geworden. Stadt- und Regionalverkehr stehen in einem engen Wechselwirkungsverhältnis („Stadtverkehr ist Regionalverkehr“). Die Themen von Mobilität und Verkehr bestimmen zunehmend auch die Lebensverhältnisse junger Familien. Dass lokale Verkehrsangebot (beispielsweise die Qualität des Radverkehrsnetzes und das ÖPV-Angebot) und die Verhältnisse auf den Straßen und im Wohnumfeld beeinflussen die täglichen Abläufe in Familien
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mit Kindern. In vielen Familien bestimmt das „Eltern-Taxi“ den Tagesablauf, und gerade Stadtkinder lernen oft erst viel zu spät selbständig zu Fuß und mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Viele Erwachsene behüten und bewahren die Kinder in den Städten aus Angst vor Verkehr und Übergriffen. Umfragen zeigen, dass sich gerade Kommunen mit guten Mobilitätsangeboten für Kinder und Eltern als Standort für Führungskräfte mit jungen Familien profilieren können. Die Kommunen stehen somit gleichzeitig vor der Aufgabe, Mobilität zu sichern, attraktiv zu sein, gute Umfeld- und Umweltqualitäten zu bieten und die Bedingungen der Nachhaltigkeit zu erfüllen: Das in den vergangenen Jahrzehnten geschaffene leistungsfähige Fernstraßennetz hat die Städte vom überregionalen Verkehr entlastet und Potenziale zur Wiederherstellung stadtverträglicher Straßenräume geschaffen. Gestaltet, ja verändert werden können Verkehrsmitteleinsatz, Bewegungsgeschwindigkeiten, die Aufteilung der Flächen im öffentlichen Raum, Emissionen und Funktionsteilung und die Überwindung der einseitig vom privaten Kfz abhängigen Raum- und Tätigkeitsstrukturen. Stadtverkehrsräume sind grundsätzlich auch Stadträume, die Gestalt- und Verträglichkeits- sowie Integrationsanforderungen unterliegen. Den Kommunen sollte es gleichzeitig gelingen, die Autoerreichbarkeit zu sichern und somit Kfz-affine Dienstleistungen und Wirtschaftsverkehre zu ermöglichen, sowie die Alternativen zum eigenen Pkw und den öffentlichen Raum aufzuwerten. 3
Von der sektoralen zur integrierten Verkehrsplanung
In den Kommunen sind die mit Verkehrsfragen befassten Fachplanungen wie beispielsweise Stadtplanung, Verkehrsplanung, Wirtschaftsförderung und Umweltschutz sektoral organisiert, mit jeweils eigenem Rechtsrahmen, spezifischen Steuerungs- und Finanzierungsinstrumenten, unterschiedlichen Akteurskonstellationen und institutionellen Strukturen. Selbst innerhalb des Verkehrsbereichs zeichnen sich der Straßenverkehr und der ÖPV durch weitgehend getrennte institutionelle Strukturen aus. Zunehmend wird versucht, isolierte Ansätze durch eine integrierte Herangehensweise zu überbrücken und zu ergänzen. In vielen Städten wurden sektorale Teilplanungen für den Straßenverkehr und den ÖPV mittels „Generalverkehrsplanung“ und „Gesamtverkehrsplanung“ bezüglich der Datengrundlagen aufeinander abgestimmt, wobei allerdings die traditionellen sektoralen Ziele wie die Leichtigkeit des Straßenverkehrs und Stadt- und U-Bahnnetze der kommunalen Verkehrsbetriebe oft keineswegs an gemeinsamen Zielen ausgerichtet sind. Die Verkehrsentwicklungsplanung ist ein lokales Politikfeld der kommunalen Selbstverwaltung. In den deutschen Kommunen gibt es eine Reihe guter
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Beispiele, wie im Rahmen der Verkehrsentwicklungsplanung oder bei der staatlichen Luftreinhalteplanung die Bereiche Verkehr, Stadtplanung, Umwelt und Wirtschaft eng und ergebnisorientiert in integrativen Planungsansätzen abgestimmt werden. In Deutschland hat sich aber in der Praxis kein einheitlicher Standard herausgebildet. Mittlerweile zielt integrierte Verkehrsplanung stärker darauf ab, Verkehrsentwicklung in größeren Agglomerationen effektiver und effizienter auf das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen auszurichten, verstärkt mit anderen (Fach-) Planungen zu integrieren sowie insgesamt besser zu legitimieren und transparenter zu gestalten. Wenn die Rolle der Kernstädte für die Bevölkerung des Umlands weiter steigen wird, gewinnt der ÖPV als Rückgrat für die Stadt-Umland-Verflechtungen weiter an Bedeutung. Integrierte Planung bedeutet auch die Einbindung des nicht motorisierten Verkehrs. Radverkehr und auch der Fußverkehr werden zunehmend als vollwertige Verkehrsträger des Straßenverkehrs respektiert. Die Anforderung der Integration betrifft insbesondere die Ausweisung von Gewerbe und Wohngebieten mittels Flächennutzungs- und Siedlungsplanung. Bau-, Stadt- und Raumplanung erzeugen Verkehr, und die Verkehrsvorgänge selbst haben wiederum Rückwirkungen auf unsere Siedlungen und die Menschen, die in ihnen wohnen. In Ballungsräumen gilt es, die Siedlungs- und Standortpolitik konsequent auf die Kernstadt und die Netze des öffentlichen Verkehrs auszurichten. Aufgrund der räumlichen Verflechtungen geht es dabei um eine (stadt-) grenzüberschreitende Koordination benachbarter Planungsräume. Oft steht der regionalen Koordination der Verkehrsplanung eine ruinöse interkommunale Konkurrenz um Gewerbe und Einwohner (= Steuereinnahmen) entgegen, da die politisch-administrativen Grenzen enger sind als der Siedlungsraum.Beispiele für regionale Kooperation und Integration sind die für die Angebotsgestaltung des ÖPV geschaffenen Verkehrsverbünde und die zur intermodalen räumlichen Koordination der Verkehrs- und Siedlungsentwicklung geschaffenen Regionalverbände (z.B. Verband Region Stuttgart, Region Hannover, Regionalverband Ruhr). Verkehrsverbünde gibt es in unterschiedlicher Größe und Reichweite. Die Beispiele reichen von großflächigen Verkehrsverbünden wie Rhein-Ruhr und Berlin-Brandenburg, der Stadt- und Regionalverkehre auf Straße und Schiene bis hin zu kleinen Unternehmensverbünden von Omnibusbetrieben. Mit ihrer „thematischen Strategie für die städtische Umwelt“ zielt auch die Europäische Kommission, vor allem in der Folge der Umweltgesetzgebung, auf die Integration. Die Kommission empfiehlt das Konzept einer „nachhaltigen Stadtverkehrsplanung“ (Sustainable Urban Transport Planning – SUTP) (vgl. KOM 2005). Unabhängig von der jeweiligen nationalen Situation sollen gemeinsame Qualitätsmerkmale einer nachhaltigen Stadtverkehrsplanung verfolgt wer-
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den. Durch diesen normativen Ansatz sollten die Mitgliedstaaten und Städte dabei unterstützt werden, ihre bestehende Praxis zielgerichtet weiter zu entwickeln und zu verbessern. SUTP zielt somit auf die
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Gewährleistung der Erreichbarkeit für alle Bürger durch ein zugängliches Verkehrssystem, Minimierung der negativen Auswirkungen des Verkehrssystems auf Gesundheit und Sicherheit der Bürger, insbesondere der verletzlichsten Gruppen, Minimierung von Luftverschmutzung und Lärmemissionen, Treibhausgasemissionen und Energieverbrauch, Optimierung der Effizienz von Verkehrsströmen und der Kosteneffizienz unter Berücksichtigung externer sozialer und ökologischer Kosten und Verbesserung der Attraktivität und Qualität der städtischen Umwelt und der Stadtgestaltung insgesamt (vgl. Wolfram/Bührmann/Rupprecht HKV 2009). Im „Aktionsplan urbane Mobilität“ (KOM 2010) empfiehlt die Kommission den Kommunen die Beschleunigung der Einführung von Plänen für die nachhaltige urbane Mobilität („Sustainable Urban Mobility Plan“ (SUMP)). Gestaltung der Straßen und des Straßenverkehrs
Die kommunalen Straßen haben stadtgestalterische, stadttechnische, ökologische, soziale und kulturelle Funktionen. Hauptverkehrsstraßen sind die Lebensadern der Städte. Straßen- und Platzräume prägen als wichtige öffentliche Räume auch die Eigenart und das Erlebnis der räumlichen Umwelt und tragen damit zur Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen bei (vgl. Heinz 2010). Die Lebensqualität einer Stadt und die Leistungsfähigkeit des Straßennetzes entscheiden sich in den Hauptstraßen. Hier überlagern sich konkurrierende Flächenansprüche an den öffentlichen Raum stärker als anderswo. Insbesondere in Städten gibt es ausgeprägte Konkurrenzen verschiedener Funktionsanforderungen an Stadträume (Gestalt-, Aufenthalts- und Lebensqualitäten, Verkehrsfunktionen für verschiedene Verkehrsträger, Träger von Infrastrukturen ...). Stadtverträgliche Straßen und Plätze ermöglichen die Bewohnbarkeit, Sicherheit, Überquerbarkeit, Gehen, Aufenthalt und Spiel und niedrige Verkehrsbelastungen haben (Feinstaub, Lärm, NOx, Unfälle, Flächenverbrauche, Trennwirkung). In der Politik und Planung des Stadtverkehrs war in der Vergangenheit die Infrastrukturausstattung – dazu gehören Straßennetz, Parkhäuser, Straßenbahn- und U-Bahnstrecken und das Linienangebot im ÖPV – Schwerpunkt der städtischen Verkehrsplanung. Die Schaffung leistungsfähiger Straßen-
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netze wurde vielfach mit dem Abriss der gewachsenen Bebauungsstrukturen erkauft, im Vordergrund stand die Sicherung von Leichtigkeit und Sicherheit des Straßenverkehrs. Die Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Nutzungen und Interessen spielen sich hier mit besonderer Intensität ab. In älteren Stadtgebieten gehören Straßen oft zu den wenigen Freiflächen, die Raum für Bäume und andere Vegetation bieten, welche zur Regulierung des Stadt- und Mikroklimas erforderlich sind. In den Städten sind Straßen neben Plätzen und Parkanlagen wichtige öffentliche Räume. Je nach Art der Nutzung der angrenzenden Gebäude und der Frequentierung durch Passanten haben Straßen damit auch Aufenthalts- und Öffentlichkeitsfunktionen. Anordnung und Abstände der Bebauung von Stadtstraßen prägen das Bild einer Stadt. Die aktuelle Richtlinie für Stadtstraßen (RASt 06) fordert eine ausgewogene Berücksichtigung aller Nutzungsansprüche an den Straßenraum. Neben Lage, Funktion und Verkehrsbelastungen gehören dazu Flächennutzung und Siedlungsstruktur, städtebaulich-historische Qualitäten sowie die Lage in ökologisch bedeutsamen Grün- und Freiraumsystemen. Aus städtebaulichen Gründen kann es geboten sein, den Kfz-Verkehr in einer Straße zu begrenzen, beispielsweise wenn die zur Verfügung stehenden Flächen nicht ausreichen, um im Straßenraum die Ansprüche des Kfz-Verkehrs angemessen zu befriedigen oder wo die aus dem Kfz-Verkehr resultierenden Immissionen für die Umfeldnutzungen zu hoch sind. Darüber hinaus gilt es zu verhindern, dass der öffentliche Raum kostenlos zugeparkt und anderen Nutzungen entzogen wird und das Stadtbild „verschandelt“ wird, während beispielsweise Parkhäuser und private Parkplätze außerhalb des öffentlichen Straßenrands leer stehen. 5
Maßnahmenfeld Personenverkehr
Die Steuerung des Verkehrs durch Verkehrsmanagement (Verbesserung des Verkehrsablaufs) und durch Mobilitätsmanagement (Einflussnahme auf die Verkehrsnachfrage zur Vermeidung und Verlagerung von Verkehr) wird zunehmend zum Maßnahmenfeld der kommunalen Verkehrspolitik. Viele Kommunen stellen sich der Aufgabe, den Kfz-Verkehr durch städtebauliche Maßnahmen und eine Diskriminierung der Verkehrsträger (z.B. positive Diskriminierung durch „Benutzervorteile“, Beschleunigung des ÖPV oder reservierte Stellplätze für Car Sharing – oder negative Diskriminierung des privaten Pkw durch Sperren oder höhere Preise fürs Parken) zu beeinflussen, um eine möglichst verträgliche Abwicklung durch die Verlagerung auf die nicht motorisierten Verkehrsträger oder den ÖPV sowie die am besten geeigneten Straßen- und Schienenstrecken zu erreichen.
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Neben der Umgestaltung von Hauptverkehrsstraßen liegen aktuelle Aufgaben in der Umgestaltung der technischen Infrastruktur zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Radverkehrs (Radverkehrsanlagen, Abstellanlagen), im barrierefreien Umbau des öffentlichen Raums zur Erleichterung des Fußverkehrs, in der Parkraumbewirtschaftung und in der Gestaltung der Schnittstellen zwischen den Verkehrsträgern zur Erleichterung des intermodalen Verkehrs. Die Chancen der Förderung des Radverkehrs werden in den Kommunen zunehmend erkannt. Nach einer langen Phase der Stagnation befindet sich der Radverkehr – auch aufgrund des Nationalen Radverkehrsplans und seines Fortbildungsangebotes „Fahrradakademie“ – in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Impulse. Das Ziel, den Radverkehr zu fördern, hat in vielen Gemeinden hohe Priorität. Verbreitet werden Infrastrukturen verbessert (Abmarkierung von Teilen der Fahrbahn, Abstellanlagen, Zulassung von Radverkehr in Einbahnstraßen und auf bisher gesperrten Flächen) und Kampagnen für mehr Fahrradverkehr unterstützt. Gleichzeitig werden vielerorts aber auch noch autoorientierte Strukturen durch gegenläufig wirkende Impulse (z.B. den Ausbau der Parkhauskapazitäten für Kfz) gestärkt. Eine wirksame Förderung des Radverkehrs erfordert es, die Mittelausstattung gegenüber konkurrierenden Ansprüchen zu sichern und gegenläufige Hemmnisse, Diskriminierungen und Rahmenbedingungen zu beseitigen. Die Kommunen verfügen über hochwertige ÖPV- und SPNV-Angebote, die in Berlin und Hamburg seit dem Beginn des Jahrhunderts, in den meisten anderen Städten nach 1970 mit großem Engagement mit (GVFG-)Mitteln aufgebaut wurden. Sie verfügen außerdem über soziale Infrastrukturen (Kindergärten, Schulen, Alteneinrichtungen…) und vernetzte und leistungsfähige Verkehrs- und Leitungsinfrastrukturen, die auch die Erprobung neuer Betriebsmodelle (Öffentliche Leihräder) und Antriebstechnologien (z.B. „e-mobility“) erleichtern, und über Erfahrungen mit Verkehrsmanagement und Mobilitätsmanagement (Parkraumbewirtschaftung, innovative Mobilitätsdienste, Verkehrssteuerung, Tarifbildung, Information und Beratung). Zur Schaffung von Effizienzvorteilen durch sinnvolle Inter- und Multimodalität, also der verknüpften Benutzung mehrerer Verkehrsmittel auf einem Weg bzw. der wahlfreien Nutzung verschiedener Verkehrsmittel innerhalb eines Zeitraums, erproben und fördern die Kommunen neue und bewährte öffentliche Verkehrsdienstleistungen. Die Potenziale öffentlicher Leihfahrräder und öffentlich bereitgestellter Pkw-Flotten werden in Modellvorhaben ermittelt. Aufgrund der Endlichkeit der fossilen Energieträger und der mit ihnen verbundenen Lärm- und Luftbelastungen sowie der drohenden Sperrung belasteter Innenstadtbereiche für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor werden Elektrofahrzeuge momentan intensiv beforscht. Dabei geht es um unterschiedliche Interessen von Kommunen und Stromlieferanten, um Flächen für die Vorhaltung von
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öffentlichen Leihrädern und gemeinschaftlich genutzte Kfz (Car-SharingFlotten) und beispielsweise um Elektrotankstellen. Als Schnittstellen zwischen Nah-, Regional- und Fernverkehr gehören Bahnhöfe zu den wichtigen kommunalen Infrastruktureinrichtungen. In den Kommunen führt die Zuordnung der Bahnanlagen zu einer vom Bahnbetrieb der Deutschen Bahn abgetrennten Tochtergesellschaft DB Station und Service bei der Durchsetzung kommunaler Interessen vielfach zu aufwändigen Abstimmungsprozessen. Da die Einflussnahme auf Verkehrsverhalten mittlerweile zu den Kernaufgaben der kommunalen Verkehrspolitik gehört, stehen viele der technisch ausgebildeten Verkehrsexperten vor Kommunikations- und Marketingaufgaben außerhalb ihrer Kernkompetenz. Durch Kampagnen und Kommunikationsmaßnahmen, beispielsweise mit Aktionstagen, der Mobilitätserziehung an Schulen und „Werbung“ für die umweltfreundlichen Verkehrsangebote (hier werden beispielsweise die neu Zugezogenen angesprochen), können Verhaltensroutinen aufgebrochen und neue Mobilitätsmuster eingeübt werden. Zur Zielgruppenansprache eignen sich insbesondere Akteure der sozialen Infrastruktur. Auch Instrumente der Partizipation und Öffentlichkeitsarbeit gehören mittlerweile zur kommunalen Verkehrsplanung, um Verhaltensänderungen zu bewirken und politische Akzeptanz zu schaffen. Als Rückgrat der städtischen Mobilität und zur Unabhängigkeit von einem eigenen Auto ist ein dichtes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln in den Mittel- und Großstädten unverzichtbar. Für die Kommunen ist der ÖPV ein Bestandteil der „Daseinsvorsorge“ und in dem Maße, wo er Kfz-Besitz und Autofahrten erspart oder mit schadstoffarmen Fahrzeugen betrieben wird, auch Umweltschutz. Flexiblere Arbeitszeiten, Fortbildungsbedarf, berufliche Versetzung, Jobwechsel, Globalisierung und insbesondere in schrumpfenden Gegenden und im ländlichen Raum eine abnehmende Nachfrage nicht zuletzt durch die schwindenden Schülerzahlen sind aktuelle Herausforderungen für den ÖPV. Durch die Regionalisierungsgesetze der Bundesländer und die europäische Rechtssetzung zum ÖPV wurde der institutionelle Rahmen mit getrennten Zuständigkeiten der Anbieter (die Verkehrsunternehmen mit dem Dachverband VDV, im Schienenverkehr der BAG SPNV, im Omnibusbereich BDO und die Kommunen als Eigentümer) und den Kommunen als verkehrspolitisch zuständigem Aufgabenträger geschaffen. Die Kommunen stehen jetzt vor der Entscheidung, in welchem Umfang die Aufgaben des ÖPV im Lichte der öffentlichen Funktion durch die Verkehrsunternehmen wahrzunehmen sind, wo sie traditionellerweise waren oder vom Aufgabenträger durch Nahverkehrspläne, Direktvergabe oder Wettbewerb und Verträge gesteuert werden sollen. Von Gegnern der kommunalen Aufgabenträgerschaft wird argumentiert, die Konzentration von Aufgaben bei den Verkehrsunternehmen degradiere die kommunalen Aufgabenträger zum „zahnlosen Tiger“. Werde das Angebot vom Aufgabenträger dagegen
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Tilman Bracher
zu detailliert vorgegeben, übernehmen die Verkehrsunternehmen reine Betriebsfunktionen („Lohnkutscher“) (Abb. 6). Abbildung 6:
Schematische Darstellung der Möglichkeiten einer Aufgabenteilung zwischen Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen im öffentlichen Personennahverkehr
Aufgabenteilung Aufgabenträger – Verkehrsunternehmen Aufgaben im ÖPNV • z. B. Vergabekonzeption
Mindestnotwendige Regie- und Bestellfunktionen
• z. B. Tarifentwicklung
• z. B. strategisches Marketing
Verkehrsunternehmen
• z. B. operativer Vertrieb • z. B. Linienplanung • z. B. Dienstplanung
Reine Betriebsfunktionen (Fahrdienst, etc.)
Alle Funktionen beim Verkehrsunternehmen
Alle Aufgaben beim Aufgabenträger
Aufgabenträger als „zahnloser Tiger“
Verkehrsunternehmen als „Lohnkutscher“
Deutsches Institut für Ur bani st ik
Aufgabenträger
• z. B. Produktentwicklung
Quelle: Bracher (2004). Die Frage, welche Rolle die Kommune bei der Steuerung des ÖPV übernimmt, hängt eng von der Organisationsform ab. Als „Eigentümer“ sind Kommunen dazu verpflichtet, vorrangig die Interessen ihres Unternehmens zu wahren. Die durch die Besetzung der Geschäftsführerstellen oft erkaufte politische Kooperation begünstigt Partikularinteressen. Die Steuerung des ÖPV durch den kommunalen Aufgabenträger über den Nahverkehrsplan ist demokratisch legitimiert und nutzt die Chancen des Wettbewerbs: ein besseres Angebot zu niedrigen Kosten. Das Hauptproblem des ÖPV besteht jedoch hinsichtlich seiner Finanzierung. Da sich attraktive ÖPV-Angebote alleine über Fahrgeldeinnahmen nicht finanzieren lassen, die bisherigen Förderprogramme und die interne Querfinanzierung im Verbund der Stadtwerke aber versiegen, wird der ÖPV zunehmend
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Thema der kommunalen Haushaltsberatungen sowie der für die kommunale Finanzausstattung zuständigen Landesebene. Stadträte und Kommunalparlamente nehmen für den ÖPV bislang kaum Geld „in die Hand“, und die Aufgabenträgerstellen sind personell viel zu schwach besetzt und oftmals ohne nennenswertes Budget. Der Stellenwert eines guten ÖPV ist in der Politik bislang gering. Im Vergleich zur Stimmung in der Bevölkerung wird die Bedeutung des ÖPV von den Entscheidungsträgern unterschätzt. Ein guter ÖPV ist ein Aushängeschild für eine Stadt, ein Standortfaktor für Unternehmen und den Tourismus. 6
Maßnahmenfeld Wirtschaftsverkehr und Güterverkehr
Der städtische Wirtschaftsverkehr (Verkehr im Rahmen der Produktion von Waren, Dienstleistungen und zur Ver- und Entsorgung von Wirtschaftseinheiten) erreicht an den werktäglichen städtischen Fahrten – nimmt man Pkw und LkwVerkehr zusammen – im Vergleich unterschiedlicher Städte einen Anteil von 20 bis 60 %. In den meisten Kommunen dominiert der Lkw-Verkehr die Verkehrsund Umweltbelastungen. Die Kommunen stehen deshalb vor der Aufgabe, insbesondere den städtischen Güterverkehr zu optimieren und seine Verkehrs- und Umweltbelastungen zu senken. Im Gegensatz zum Personenverkehr gibt es dafür jedoch noch kein allgemein anerkanntes und handhabbares Instrumentarium. Die Verkehrsleistung des Güterverkehrs, vor allem mit Lkw, hatte im Zuge mehrerer EU-Erweiterungen bis zum Beginn der Finanzkrise 2007 außerorts auf Bundes- und Landesstraßen kontinuierlich zugenommen. In den Innenstädten haben sich die Lärm- und Verkehrsprobleme dagegen tendenziell entschärft, da sowohl die Verlader, aber auch die verladende Wirtschaft im Zuge des Wachstums des Lkw-Verkehrs viele ehemals innerstädtische Standorte (z.B. zentral gelegene Güterbahnhöfe) an periphere Lagen (z.B. mit Autobahnanschluss) verlegt haben und sich die Eisenbahnen vom Stückgutkonzept und den innerstädtischen Ladestellen verabschiedet haben. Deshalb konzentriert sich die Situation im innerstädtischen Bereich eher auf punktuelle Belastungen. Ein besonderes Problem sind dabei die vom Lkw-Verkehr ausgehenden Feinstaubbelastungen, der hohe Flächenbedarf an Knotenpunkten und Ladestellen und die geringe Verträglichkeit mit Radfahrern und Fußgängern im Straßenraum (Unfallrisiko). Die in den Kommunen diskutierten Instrumente in Bezug auf den städtischen Güterverkehr betreffen „Benutzervorteile“ für besonders umweltschonende Fahrzeuge oder Organisationsformen, die Förderung überbetrieblicher Kooperationsformen zur Einsparung von Fahrten und zur Bereitstellung von Verkehrsdienstleistungen sowie die städtebauliche Integration des städtischen Wirtschaftsverkehrs sowie eine gebietsbezogene Logistik (vgl. Arndt/Einacker 2000). Viele Kommunen setzen dagegen auf Lkw-Führungskonzepte (Festle-
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Tilman Bracher
gung von Vorzugsstrecken), City-Logistik (Kooperation und Rahmenvorgaben für den innerstädtischen Lieferverkehr), die Einrichtung von Güterverkehrszentren (GVZ), die Einrichtung von Ladezonen und selektive Geschwindigkeitsregelungen und Fahrverbote aus Lärm- und Luftschadstoffgründen. Aufgrund der mit der Markt- und Wirtschaftsentwicklung erfolgten Konzentration großer Betriebe mit eigenen Umschlaganlagen und spezifischen Logistikkonzepten wurden Güterverkehrszentren in der Vergangenheit als Lösung für den Stadtverkehr überschätzt. Das erwartete große Potenzial der Verkehrsverlagerung von den großen Fahrzeugen und Containern des Fernverkehrs auf kleinere Einheiten, die auf innerstädtischen Straßen verträglicher abgewickelt werden können, wurde nicht realisiert. Außerdem sollte die Konzentration gleichartiger Betriebe in GVZ folgende Dinge bezwecken: sie sollte zur Bündelung des Lieferverkehrs für den innerstädtischen Bereich führen und damit die Vermeidung überflüssiger Fahrten beitragen, zur Umverteilung von Lkw-Verkehr auf Schiene oder Schiff im Sinne des kombinierten Verkehrs, zur Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Straße auf die Schiene und zur Erzeugung von Synergien zwischen Verkehrsunternehmen (Speditionen, Lagereien), verkehrsergänzenden Dienstleistungsbetrieben (Fahrzeugservice, Beratungsdienste) und somit für logistikintensive Industrie- und Handelsbetriebe einen attraktiven Wirtschaftsstandort bieten. In der verkehrspolitischen Debatte in den Kommunen spielen die Akteure des Wirtschafts- und Güterverkehrs, beispielsweise das Fuhrgewerbe und die Industrie- und Handelskammern häufig eine einflussreiche Rolle. Das artikulierte Interesse liegt oft in einer für den Wirtschaftsverkehr möglichst wenig regulierten Erreichbarkeit der Standorte und einem auch für große Lkw „leistungsfähigen“ Straßennetz, das als Wirtschafts- und Standortfaktor angesehen wird. Da innerstädtische Lagen an Hauptverkehrsstraßen auch Wohnstandorte sind und in der Konkurrenz zu gut erreichbaren Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ stehen, gilt es, die häufig unterschiedlichen Interessen von Wirtschaft, Anwohnern und Umweltschutzlobbys in Einklang zu bringen. 7
Finanzierung durch die öffentliche Hand
In den vergangenen Jahrzehnten wurden die kommunalen Verkehrsinfrastrukturen aufgrund der Förderkulisse zwar stetig ausgebaut, Instandhaltung und Unterhaltung kamen aber zu kurz. Die in den 70er- und 80er-Jahren geförderten Infrastrukturen befinden sich aufgrund eines „Investitionsattentismus“ vielerorts im Verfall. In den ostdeutschen, auch in vielen westdeutschen Kommunen, sind darüber hinaus vor allem Fuß- und Radwege in einem schlechten Zustand.
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Schadhafte, teilweise noch unbefestigte oder schlecht entwässerte Nebenstraßen und unansehnliche Plätze sind Schandflecken im Stadtbild. Auch der ÖPV kann ohne finanzielles Engagement der öffentlichen Hand nicht überleben. Alles in allem decken die Fahrgelderlöse in Höhe von etwa neun Mrd. Euro p.a. (2008) etwa 30 bis 40 % der Ausgaben der ÖPV-Branche (einschließlich Busse, Straßenbahnen, Stadt- und U-Bahnen, Regionalverkehr). Attraktive Angebote für die Lebensqualität in Kommunen und überörtliche Pendlerund Besucherströme in die Kernstädte sind nur dann ohne Auto möglich, wenn der ÖPV angebotsorientiert gestaltet wird und auch die Randzeiten, peripher gelegene Stadtteile sowie die Orte im Umland gut erschließt; dies lässt sich aus Fahrgelderlösen nicht finanzieren. Das kommunale Straßennetz hat eine Länge von 527.000 km, 80 % aller Straßen in Deutschland sind Kommunalstraßen, 20 % sind Bundes- und Landesstraßen. Vor allem in den alten Bundesländern steht seit Jahren viel zu wenig Geld zur Verfügung, um die vorhandene Infrastruktur zu erhalten. Radwege, Gehwege und öffentliche Plätze sind in einem heruntergekommenen Zustand, in vielen Orten gibt es Schlaglöcher und defektes Kopfsteinpflaster. Der jährliche Erneuerungsbedarf für das kommunale Straßennetz, die sogenannten „Abgänge“ betragen rund fünf Mrd. Euro. Dies ist wiederum die Größenordnung, die auch jeweils für Bundes- und Landesstraßen gilt. Während Bund und Land aber über relativ stetig fließende Steuereinnahmen und Mautgebühren verfügen, einschließlich der Mineralöl- und Kraftfahrzeugsteuern sowie der Einnahmen aus der Lkw-Maut, sind die Kommunen im ÖPV zwar auch von Fahrgeldeinnahmen, ansonsten aber weitgehend von den Finanzzuweisungen des Bundes und der Länder abhängig. Der kommunale ÖPV umfasst 362 km U-Bahnnetze, 715 km Stadtbahnen, rund 2.000 km Straßenbahnstrecken, 8.500 Schienenfahrzeuge und 26.000 Busse. Insgesamt ein Vermögen von rund 70 Mrd. Euro, wobei der jährliche Erneuerungs- und Erweiterungsbedarf rund 2,5 Mrd. Euro beträgt. Der Unterhaltungsund Erneuerungsbedarf ergibt sich aus dem Umfang und dem Zustand der vorhandenen Infrastruktur, aufgrund der langen Lebensdauer der baulichen Infrastrukturen – Brücken, Tunnel- und Erdbauwerke halten zwischen 30 und 100 Jahren –, aber auch vor dem Hintergrund der langfristig erwarteten bzw. angestrebten Entwicklungen. Die kommunale Ebene steht somit vor der Aufgabe, die Sanierung der städtischen Hauptstraßen, die Aufwertung des Rad- und Fußverkehrs, den laufenden Betrieb des ÖPV und dringende Erneuerungsmaßnahmen zu finanzieren, wobei sich der Bedarf für Neubau und Erweiterung weitgehend auf Radverkehrsinfrastruktur und Erschließungsmaßnahmen beschränkt. Die Finanzierung des kommunalen Verkehrs ist die zentrale Herausforderung. Die Kommunen sind als Baulastträger des kommunalen Straßennetzes und
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als Aufgabenträger des ÖPV für viele Bereiche des Verkehrs unmittelbar in kommunaler Selbstverantwortung zuständig. Die Kommunen selbst sind Eigentümer kommunaler Verkehrsbetriebe, Betreiber oder Besteller von Parkierungsanlagen, Lärmschutzeinrichtungen und Verkehrsinformations- und Steuerungssystemen. Das Thema der Finanzierung der Mobilität in den Städten betrifft neben der kommunalen Ebene auch die Länder und den Bund. Die finanzielle Beteiligung des Bundes ergibt sich aus seiner Baulastträgerschaft für die Bundesfernstraßen, über die in Ballungsräumen wesentliche Teile des motorisierten Verkehrs sowie Rad- und Fußverkehr abgewickelt werden, und als Eigentümer der Bahninfrastruktur und der DB AG. Über das Gemeindeverkehrs-Finanzierungsgesetz (GVFG) hat sich der Bund nach 1971 maßgeblich an der Finanzierung kommunaler Verkehrsinvestitionen beteiligt. Im Zuge der Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen zwischen Bund und Ländern wurde diese Verantwortung nun per Gesetz im Jahre 2007 alleine den Kommunen übertragen. Die für Verkehr zweckgebundenen Finanzhilfen des Bundes für Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden, zuletzt knapp 1,4 Mrd. Euro/Jahr, enden zum 31. Dezember 2013, die ersatzweise verfügbaren Entflechtungsmittel enden 2019. Die Erneuerungsbedarfe in den Kommunen selbst sind nicht und in den Verkehrsunternehmen nur zum kleinen Teil durch Abschreibungen gedeckt, da für die mit „verlorenen“ Zuschüssen des GVFG gebauten Anlagen keine Abschreibungen oder Rückstellungen gebildet wurden. So können die Kommunen und kommunalen Verkehrsbetriebe die durch gebundene Zuwendungen in den vergangenen Jahrzehnten auf- und ausgebauten hochwertigen Straßen- und ÖPV-Netze heute nicht mehr finanzieren. Das teilweise gelöste Problem der Kommunen sind dabei die Betriebskosten des Verkehrs – die Autofahrer tragen ihre Betriebskosten weitgehend selbst, die ÖPV-Nutzer zahlen über ihre Fahrausweise mit, die kommunalen Aufwendungen für Steuerung, Verkehrsmanagement und Straßenbetrieb sind überschaubar, und auch die spezifischen Kosten des Radverkehrs sind vergleichsweise gering. Das völlig offene Problem ist der Erhalt von Straßen, Brücken, ÖPV-Strecken, insbesondere die Tunnelanlagen (vgl. und zum Folgenden Reidenbach/Bracher et al. 2008). Aber auch die Betriebskosten des ÖPV sind nicht gesichert. Die Bedeutung des ÖPV ist im Bewusstsein der Entscheidungsträger als wichtige öffentliche Aufgabe noch nicht verankert, und ein von den jährlichen Unwägbarkeiten der Kommunalhaushalte unabhängiges Finanzierungssystem gibt es noch nicht. Die Kommunen können Erneuerung, Unterhaltung und den Betrieb der Verkehrsinfrastruktur ohne (weitere) Fördermittel nicht leisten. Dieses lässt sich nur bewältigen, wenn auch die Länder und der Bund – nicht nur als Baulastträger für Bundes- und Landesstraßen und Aufgabenträger SPNV, sondern auch in ihrer
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gesamtwirtschaftlichen Verantwortung – nach Auslaufen des GVFG weiter finanzielle Verantwortung für die kommunalen Investitionen trägt. In diesem Dilemma sind die Kommunen im In- und Ausland auf der Suche nach neuen Einnahmequellen, beispielsweise eine City-Maut oder höhere Parkgebühren. London und Stockholm gelten in Bezug auf die City-Maut als Erfolgsmodelle, denn sie haben den Autoverkehr mit der Einführung einer Einfahrtgebühr für Kfz in den Innenstadtbereich erfolgreich reduziert, eine zusätzliche Finanzquelle für den kommunalen Verkehr erschlossen, und es gibt weniger Lärm, Feinstaub, NOx und Unfälle in der Innenstadt. Die City-Maut wurde in beiden Städten zum politisch unterstützten Katalysator (Symbol) für eine neue Verkehrspolitik. Über die Frage, ob die Vorbilder Stockholms und Londons auf Deutschland übertragbar sind, wird heftig debattiert. Den Chancen – weniger Staus, sinkende (Umwelt-)Belastungen und mehr öffentliche Einnahmen – werden auch Risiken gegenübergestellt: Innenstädte werden gemieden, es komme zu Mehrverkehr durch Umfahrung und weitere Wege, und es gibt hohe Erhebungs- und Kontrollkosten. Die Ergiebigkeit sei angesichts des insgesamt hohen Finanzbedarfs der kommunalen Verkehrsfinanzierung zu gering, um das Finanzproblem wirklich zu lösen, während der politische Aufwand sehr hoch ist. Beispielsweise wird befürchtet, dass eine City-Maut den Einzelhandel auf der „grünen Wiese“ stärkt. In der Tat spricht auch vieles dafür, keine Insellösungen für einige wenige Städte oder Innenstadtbereiche zu schaffen, sondern die für den Lkw-Verkehr auf Autobahnen bereits eingeführte Nutzerfinanzierung auf die kommunalen Straßen und auf die übrigen Fahrzeugklassen auszudehnen. Eine langfristig und aus fiskalischen Gründen für die Kommunen gute Lösung wäre eine auf allen Straßen und bei allen Kraftfahrzeugen erhobene, nach Schadstoffklasse, Zeit, Ort und Emission differenzierbare Straßenmaut. Deren Einnahmen könnten nach einem z.B. von der Umweltfreundlichkeit der Verkehrspolitik abhängigen Schlüssel an Bund, Länder und auch an die Kommunen verteilt werden. In Fachkreisen wird auch über alternative Vorschläge nach ausländischen Vorbildern debattiert, beispielsweise die Erhebung von Steuern und Abgaben für die Erschließung oder den ÖPNV-Anschluss, orientiert am Grund und Boden (besondere Grundsteuer) oder an der Wirtschaftsleistung (besondere Gewerbesteuer). 8
Fazit
Befreit vom Damoklesschwert des Verkehrskollapses und dem Druck, Neu- und Ausbaumaßnahmen durchzusetzen, erhält auch die Verkehrspolitik der Kommunen den notwendigen finanziellen und personellen Spielraum, um Straßen und
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Städte attraktiver zu gestalten und neue Strategien zur Vermeidung und Verlagerung von Kfz-Verkehr zu entwickeln und umzusetzen. Andererseits fehlen den Kommunen die Mittel für die Instandhaltung bzw. Erneuerung der vorhandenen Anlagen. Die Kommunen sind jetzt gefordert, unter den veränderten demografischen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen ihre Chancen der ReUrbanisierung auch durch neue Prioritätensetzungen in der Verkehrspolitik zu nutzen. Sie liegen in der Vielfalt der Nutzungsoptionen für Bewohner, Pendler und Besucher, der Kontaktdichte für Bewohner und Unternehmen, der im Vergleich zu dünn besiedelten Regionen relativ hohen spezifischen Flächen-, Ressourcen- und Verkehrsaufwandseffizienz (m²/EW, Primärenergieverbrauch/EW, Verkehrsleistung/EW) und in einer relativ guten Nahraumerreichbarkeit, die kurze Wege ermöglicht und hohe Chancen für eine nicht motorisierte Nahmobilität (Fußverkehr im Quartier und innerstädtischer Fahrradverkehr) eröffnet. Die vordringlichen Aufgaben der städtischen Verkehrsplanung liegen in der Sanierung und stadtverträglichen Umgestaltung von Gehwegen, Plätzen und Straßen zur Steigerung der Attraktivität im Wohnumfeld, der Schaffung verbesserter Straßenverhältnisse für Kinder und Senioren als Fußgänger, der Aufwertung des Radverkehrs, der Verlagerung und Beschränkung des Parkens im öffentlichen Straßenraum und eine gezielte Förderung des öffentlichen Personennah-, Regionalund Fernverkehrs. Länder und Bund sind aufgerufen, die Förderkulisse für Erneuerungsmaßnahmen und Verkehrsmanagement zu erweitern. Der weitgehende Rückzug des Bundes aus der unmittelbaren Förderung kommunaler Projekte erfordert eine Neuorientierung der Förderkulisse für die im Bereich der Verkehrsinfrastruktur weitgehend von Zuwendungen abhängigen Kommunen. Quellen o.V. (1970): Notstand im Verkehr – Sterben die Städte. DER SPIEGEL 27/1970 vom 29.6.1970. Hamburg. Ahrens, Gerd-Axel (2009): Ergebnisse und Erkenntnisse zur Mobilität in Städten aus der Haushaltsbefragung SrV 2008. Präsentation Abschlusskonferenz SrV 2008. Dresden, Folie 17. Arndt, Wulf-Holger/Ingo Einacker et al. (2000): Erprobung von Maßnahmen zur umweltschonenden Abwicklung des städtischen Wirtschaftsverkehrs = Umweltbundesamt, Texte 57/00). Berlin. Bracher, Tilman/Volker Eichmann et al. (2004): ÖPMV im Wettbewerb (= Difu-Beiträge zur Stadtforschung, Bd. 39). Berlin.
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr Thomas W. Zängler Einführung Der Freizeitverkehr ist mit seinem Umfang von über 400 Milliarden Personenkilometern pro Jahr in Deutschland als auch durch seine diffuse Zusammensetzung ein spannendes Feld für die Verkehrspolitik aber auch für Planung, Forschung und akademische Lehre. Die Freizeitmobilität, nach ihrem Wesen ausschließlich durch die Aktivitäten von Menschen in ihrer Freizeit bestimmt, ist mit einem Anteil von rund einem Drittel maßgeblich an der Entstehung des Personenverkehrs insgesamt beteiligt. Wegen ihrer Komplexität und Heterogenität war das Phänomen noch Ende des 20. Jahrhunderts verkehrsstatistisch unterbelichtet und wurde im Wesentlichen nur als undifferenzierte Restgröße geführt. Für die Beschreibung, Erklärung oder gar Veränderung des Mobilitätsverhaltens in der Freizeit ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine differenzierende Vorgehensweise nötig. Verkehrsstatistik und Verkehrsplanung haben in den vergangen Jahren dem Verkehrssegment „Freizeitverkehr“ entsprechend mehr Bedeutung zugewiesen, als dies vorher der Fall war. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die alltägliche Freizeitmobilität (ohne Urlaub) und ihre Motive. Zunächst wird definiert, was unter Freizeit, Alltag, Mobilität und Motiven verstanden wird. Dann wird ein Modell erläutert, mit dem die Freizeitmobilität abgebildet wird. Anschließend wird die Methode vorgestellt, mit der Informationen über diese Mobilität gesammelt wurden, und schließlich werden einige Ergebnisse vorgestellt. Die wesentlichen Inhalte basieren auf einer Dissertationsprojekt von Zängler (2000), das als empirischen Teil die Erhebung Mobilität ’97 enthält und werden – soweit möglich – um aktuelle Entwicklungen in der Verkehrsstatistik ergänzt. Am Anfang dieses Beitrags steht die notwendige begriffliche Abgrenzung von Freizeit als sogenannter „Wegzweck“. Zunächst ist das Verhältnis der Freizeitaktivitäten zu anderen Aktivitäten zu behandeln. Ist geklärt, was nicht zur Freizeitmobilität gerechnet werden soll, kann man sich mit den heterogenen Aktivitäten in der Freizeit beschäftigen und sich ihrer Zusammensetzung widmen.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Thomas W. Zängler
Freizeitmobilität und Freizeitverkehr – verkehrsstatistische Restgrößen oder verkehrspolitische Herausforderung?
a) Freizeitaktivitäten vs. andere Aktivitäten Noch zur Jahrtausendwende wurde im vom Bundesverkehrsministerium herausgegebenen Kompendium „Verkehr in Zahlen“ die Freizeitmobilität als reine Restgröße definiert: „Im Freizeitverkehr sind alle übrigen Fahrten und Wege erfasst, die nicht den anderen definierten fünf Fahrt- bzw. Wegzwecken zuzuordnen sind (...)“. Diese Kategorien sind Berufs-, Ausbildungs-, Geschäfts/Dienstreise-, Einkaufs- und Urlaubsverkehr. Abbildung 1 zeigt die quantitative Bedeutung der Wegzwecke. Geht man davon aus, dass der Begriff „Restgröße“ sich auf marginale Anteile beziehen sollte, war es unbefriedigend, ausgerechnet den zahlenmäßig bedeutendsten Wegzweck als solche zu bezeichnen. Abbildung 1: Verkehrsleistung nach Wegzweck
Verkehrslesitung in Mrd. Pkm
450 400 350 300 250 200 150 100 50
1996
2006
Wegzweck
Quelle: Eigene Darstellung nach BMVBS 2008, S. 208
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr
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Neben diesem quantitativen Problem bestand auch ein qualitatives: Durch die negative Definition werden z.B. ehrenamtliche Arbeit und informelle soziale Hilfeleistungen pauschal der Freizeit zugerechnet, Bring- und Holdienste insbesondere für Kinder diffus zugeordnet. An diesem Beispiel kann man sehen, dass die damalige Definition, eine Reihe von Aktivitäten der Freizeit zuordnete, die mit Sicherheit keinen Freizeitcharakter hatten. Die Bring- und Holdienste wurden mittlerweile als eigene Kategorie hinzugefügt, so dass dieser Mangel behoben ist (vgl. BMVBS 2008, S. 208 und 216ff.). Da Urlaub an sich unstrittig Freizeitcharakter besitzt, aber die Verkehrsstatistik bewusst zwischen Tagesfreizeitverkehr und Kurzreisen auf der einen Seite und Urlaubsverkehr auf der anderen Seite unterscheidet, sollte in der verkehrspolitischen und planerischen Diskussion stets klar gemacht werden, ob man gerade von „Freizeit inklusive Urlaub“ bzw. „Freizeit und Urlaub“ spricht. b) Zusammensetzung der Freizeitmobilität Verkehrspolitische Aussagen zum Freizeitverkehr werden oftmals getätigt ohne seine Zusammensetzung quantitativ zu kennen. Schwerpunkte werden z.B. auf Großveranstaltungen und Naherholungsgebiete gelegt, da sich an diesen Freizeitzielorten die „letzten Meilen“ der Anreisewege aggregieren. Das Problem „Freizeitverkehr“ wird lokal sichtbar und stellt dann z.B. eine kommunale planerische Herausforderung dar. Er betrifft die Angebotsplanung im Öffentlichen Verkehr (Sonderzüge, Verstärkerbusse), die Verkehrssteuerung für den motorisierten Individualverkehr und das Parkplatzmanagement. Neben der ohne Zweifel sinnvollen Beschäftigung mit diesen „Hot Spots“ des Freizeitverkehrs, kommt es leicht zur Vernachlässigung jenes diffusen Anteils von Freizeitverkehr, der insbesondere zur Pflege sozialer Kontakte an dispersen Zielorten entsteht. Diese Zielorte sind beispielsweise Privatwohnungen, Gaststätten oder die freie Natur. Sichtbare Probleme treten in diesem Zusammenhang seltener und im geringeren Umfang auf (zum Beispiel bei der Überlastung der Verkehrsnetze im Feiertagsverkehr). Allerdings kann die aggregierte Emission von Kohlendioxid in Abhängigkeit von Distanz, Verkehrmittelwahl und ggf. Fahrweise erheblich sein. Zu klären ist daher Umfang und Struktur des Freizeitverkehrs. 2
Begriffe und ihre Definitionen
Freizeit: Freizeit ist die Zeit eines Tages, in der keine Arbeit zu verrichten ist. In Abhängigkeit von der Definition von Arbeit resultieren unterschiedliche Freizeitbegriffe. Hauswirtschaftliche, erzieherische, pflegerische und ehrenamtliche Arbeit in
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und durch private Haushalte wird in diesem Beitrag als solche gewürdigt und konsequent eine weite Definition von Arbeit und eine entsprechend enge Definition von Freizeit verwendet (z. B. Besuche, private Telefonate, Geselligkeit, Lesen, Fernsehen, Spielen, Computerspiele, Freizeitsport, Musik, Nichtstun). Handlungen mit Freizeitcharakter werden ab vier Übernachtungen außer Haus als Urlaub bezeichnet und wie in der Verkehrsstatistik als eigene Kategorie geführt oder nicht in die Betrachtung einbezogen. Unter Alltag wird alles zusammengefasst, was nicht zu Freizeit und Urlaub gerechnet wird. Die alltägliche Freizeit ist folglich temporal in den Alltag, beziehungsweise zwischen Alltagsaktivitäten, eingebettet. Wichtig für das Verständnis von Freizeitverkehr ist es also, dass Freizeit eng definiert wird und die Freizeitaktivitäten ausreichend differenziert betrachtet werden. Siehe hierzu auch die Aktivitätenlisten der deutschen Zeitbudgeterhebungen (Ehling und v. Schweitzer 1991, S. 207f., 281-283) Mobilität und Verkehr: Mobilität ist die mögliche oder tatsächliche Ortsveränderung (Bewegung) von Personen oder Sachen (man kann diese auch als sozialökonomische Mikroeinheiten bezeichnen) eines geographischen Raumes während einer zeitlichen Periode nach ihrer Art und ihrem Umfang. Mobilität ist daher die Betrachtung von Bewegung im Raum aus der Sichtweise der bewegten Einheit selbst (vgl. Zängler 2000, S. 19-22). Im Weiteren wird nur die realisierte Mobilität betrachtet, die mit den folgenden Kennzahlen erfasst werden kann. Diese Kennzahlen sind die Basis für die Erhebung der empirischen Mobilitätsdaten, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird. Beispiele: 1. Disaggregierte Form: Mobilitätsrate (Anzahl der Wege) Art der Aktivität am Zielort Distanzen von Wegen Zeitdauern von Wegen einer bestimmten Person an einem bestimmten Tag. 2.
Aggregierte Form: Mobilitätsrate Art der Aktivität am Zielort Distanzen von Wegen Zeitdauern von Wegen der deutschen Wohnbevölkerung
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im Jahr 2010.
Die anteilige Nutzung von Verkehrsmitteln durch Individuen lässt sich als deren Modal Mix bezeichnen. Mobilität zeichnet sich folglich dadurch aus, wie Individuen die zur Verfügung stehenden verkehrlichen Ressourcen anteilig nutzen. Die Ausprägungen der quantitativen Kennzahlen sagen nur etwas über den Aufwand für Mobilität aus. Menschen mit einem höheren Mobilitätsstreckenbudget sind nicht selbstredend mobiler. Im Gegenteil, Menschen mit vielen Möglichkeiten in der Umgebung des Wohnstandorts können mit wenig Aufwand sogar „mobiler“ sein, da sie bei gegebenem Finanz- und Zeitbudget mehr Möglichkeiten wahrnehmen (vgl. den Beitrag von Becker in diesem Band). Verkehr ist dagegen das zeitlich-räumliche Resultat von Mobilität. Er kann gemessen werden als der Durchfluss von Verkehrsmitteln bzw. den transportierten Personen auf einem bestimmten Verkehrsweg (Strecke) oder eines geographischen Raums. Verkehr wird daher aus der Sichtweise des Raumes beschrieben. Beispiele: 1. Disaggregierte Form: Anzahl Distanzen Durchfahrts- und Aufenthaltszeit von Verkehrsmitteln in einem bestimmten Streckenabschnitt (Verkehrszelle) zwischen 8.00 Uhr und 9.00 Uhr eines bestimmten Tages über alle Wege oder differenziert nach Wegezwecken, Ausgangs- und Zielorten. 2.
Aggregierte Form: Verkehrsaufkommen (Anzahl der Wege) Verkehrsleistung (Distanzen) nach Verkehrsbereichen (z.B. Freizeitverkehr) in Deutschland im Jahr 2010.
Die anteilige Bewegung von Verkehrsmitteln in einem geographischen Raum wird als Modal Split bezeichnet. Verkehr zeichnet sich folglich dadurch aus, wie sich ein Kollektiv die verkehrlichen Ressourcen teilt. Freizeitverkehr ist folglich ein räumliches Phänomen, das durch die Mobilität von Individuen im Zusammenhang mit der Durchführung von (echten) Frei-
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zeitaktivitäten1 außer Haus entsteht und welche als Freizeitmobilität bezeichnet wird. 3
Wie bekommt man das Phänomen Freizeitmobilität in den Griff? – ein Modell
Im Folgenden wird das Sozialökonomische Modell des Mobilitätsverhaltens (SMM) vorgestellt (vgl. Abb. 2). Das Modell soll in diesem Zusammenhang die Komplexität der Realität in Sachen Freizeitmobilität reduzieren, sie statistisch greifbar machen und sie dennoch für die Analyse hinreichend gut abbilden. Das Modell bildet die Grundlage für die spätere Planung, Durchführung und Auswertung der empirischen Erhebung zum Mobilitätsverhalten. Abbildung 2:
Verortung von Freizeit und Freizeitmobilität im Sozialökonomischen Modell des Mobilitätsverhaltens (B: Bewegung im Raum, A: Aktivität am Zielort) Motive -
Handlungen
Personen
Erwerbsbereich
UnterhaltsBereich
Transferbereich
inkl. Freizeit
B
A
B
A
B
A
Ziele Mittel
Quelle: Eigene Darstellung
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Im Falle mobiler Freizeitaktivitäten, wie einer Fahrradtour oder einer Fahrt auf einem Ausflugsdampfer, treten Unschärfen auf. In diesen Fällen muss für die Handlung pragmatisch entschieden werden, ob sie insgesamt mehr dem Charakter eines Weges oder einer Aktivität am Zielort entspricht (vgl. Zängler 2000, S. 41f).
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Aus den Motiven der Personen werden die Ziele eines privaten Haushalts abgeleitet. Die Motive können in immaterielle und materielle Bedürfnisse differenziert werden. Das Ziel bezüglich immaterieller Bedürfnisse ist ihre direkte Befriedigung. Materielle Bedürfnisse müssen zunächst zu Bedarfen objektiviert werden. Ziel ist nach Feststellung der Bedarfe die Bedarfsdeckung durch die Beschaffung an den Dienstleistungs- und Gütermärkten. Ein weiteres Ziel besteht darin, die bestmögliche Bedürfnisbefriedigung im Haushalt mittel- und langfristig zu sichern. Dies bedeutet, dass die Bedürfnisse der Haushaltsmitglieder der Gegenwart so zu befriedigen sind, dass dies auch in der Zukunft gewährleistet wird (z.B. durch Bildung). In Abbildung 2 deuten die vertikalen Pfeile die ständige Generierung von neuen Zielen (Pfeil nach oben) bzw. die Zielerreichung und die damit verbundene Bedürfnisbefriedigung (Pfeil nach unten) an. Die Mittel, die dem Haushalt zur Verfügung stehen, werden zur Erreichung der Ziele eingesetzt. Als Mittel zur direkten Bedürfnisbefriedigung bzw. zur Bedarfsdeckung stehen dem Haushalt freie Güter (z.B. Luft) und knappe Güter, bestehend aus öffentlichen Gütern (z.B. Infrastruktur) und privaten Gütern, zur Verfügung. Letztere umfassen das Humanvermögen (d.h. die Fähigkeiten und die personale Zeit der einzelnen Haushaltsmitglieder), das Sachvermögen und das Finanzvermögen des jeweiligen Haushalts. Ähnlich wie bei den Zielen werden die Veränderungen bei den Mitteln in Abbildung 2 mit vertikalen Pfeilen dargestellt: Mittel werden in Form von Geld, Zeit oder Wissen erworben (Pfeil nach oben) oder eingesetzt, im Fall von Geld und Zeit verbraucht (Pfeil nach unten). Die Handlungen mit Bezug zur Freizeitmobilität können dabei sehr vielfältig sein, dürfen aber nie getrennt von den personellen, finanziellen und zeitlichen Rahmenbedingungen (Mitteln) der Personen bzw. des Haushalts gesehen werden. Die demonstrative Nutzung von Verkehrsmitteln oder eine bestimmte Fortbewegungsart können selbst zur Befriedigung von Motiven beitragen. Wichtig ist aber auch die Transportfunktion, die erst die Befriedigung von Motiven an Zielorten ermöglicht. Beides gilt insbesondere für den Freizeitverkehr. Die Handlungen von Individuen werden den drei Handlungsbereichen des privaten Haushalts zugeordnet, dem die Person angehört. Diese sind der Erwerbsbereich, der Unterhaltsbereich und der Transferbereich. Der Erwerbsbereich umfasst alle Handlungen, die dem gegenwärtigen und künftigen Erwerb von Einkommen dienen. Der Unterhaltsbereich stellt den zentralen Handlungsbereich dar und umfasst die Handlungen, die dem Unterhalt der Haushaltsmitglieder dienen. Im Einzelnen unterscheiden wir hier zwischen den Aktivitätengruppen Information, Beschaffung, Produktion, Konsum und Entsorgung. Die Aktivitäten in der Freizeit werden dem Konsum zugeordnet, da die anderen Aktivitätengruppen der oben genannten engen Definition von Freizeit widersprechen.
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Der Transferbereich umfasst die Handlungen, die aktiv oder passiv dem Transfer von Diensten, Geld oder Gütern dienen. Empfänger dieser Transfers sind z. B. andere private Haushalte, Verbände, Vereine, Parteien und Kirchen. Aktivitäten in diesem Bereich werden bei oberflächlicher Betrachtung pauschal der Freizeit zugeordnet (z. B. ehrenamtliche Arbeit der Freizeit zuzuordnen ist ein Widerspruch in sich). Sofern die genannten Aktivitäten (A; z.B. Freunde besuchen) außer Haus stattfinden, erfordern sie Bewegung (B; z.B. mit dem Fahrrad) im Raum und erzeugen Verkehr. Damit kann man zwischen der Erwerbs-, Unterhalts- und Transfermobilität unterscheiden. Freizeitmobilität ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Teil der Unterhaltsmobilität privater Haushalte. Die Motive, die hinter dem Mobilitätsverhalten stehen, können nicht direkt gemessen werden. Vielmehr wird das realisierte Verhalten gemessen. Dadurch kann auf Art und Stärke der Motive geschlossen werden. Hat eine Person etwa das Bedürfnis unter bestimmten Leuten zu sein (Art des Motivs), dann kann man aus dem Aufwand für die Realisierung (Zeit, Distanz, Kosten) Aussagen über die Stärke des Motivs ableiten. Nicht realisierte Motive werden in diesem Modell nicht erfasst. Ferner sind in dem Modell Variablen integriert, die weitere Aussagen über das Wesen von Motiven in der Freizeitmobilität zulassen. Dies sind zum Beispiel Angaben zur subjektiven Beurteilung der Verkehrsmittelwahl, der Annehmlichkeit des Weges oder der Dringlichkeit und Fristigkeit der Aktivität am Zielort. 4
Wie erfasst man die Realität in Zahlen? – zur Methode
Nach den grundsätzlichen Überlegungen wird in diesem Kapitel eine empirische Methode vorgestellt, mit der man die Freizeitmobilität empirisch und detailliert erfassen und analysieren kann (vgl. Zängler 2000). Es handelt sich hierbei um eine schriftliche Befragung privater Haushalte und ihrer Mitglieder zu ihrer gesamten Mobilität mit Ausnahme der Urlaubreisen. Die Fragen zur Mobilität beziehen sich direkt auf das Sozialökonomische Modell des Mobilitätsverhaltens und werden in einem Mobilitätstagebuch zusammengestellt (Abbildung 3). Das gewählte Layout unterstützt die bewusste Trennung der Erfassung von Bewegung im Raum und Aktivitäten an den jeweiligen Zielorten. Der jeweilige Weg ermöglicht eine Aktivität bzw. die Aktivität erfordert einen Weg. Ein Teil der Inhalte des Mobilitätstagebuchs finden sich seit 2002 in nationale Erhebung Mobilität in Deutschland (z.B. die differenzierte Erfassung der Wegezwecke), die subjektiven Fragen (3., 4. und 7.) wurden – soweit dem Autor bekannt – nicht in anderen quantitative Erhebungen aufgenommen (vgl. entsprechende Ergebnisse in Abbildung 6 ff.).
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Abbildung 3:
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Erfassung der Mobilität (Wege und Aktivitäten) im Mobilitätstagebuch
Quelle: Zängler (2000) Mit dem Mobilitätstagebuch werden zu jedem Weg folgende Merkmale erfragt: die zeitliche Einordnung, das verwendete Verkehrsmittel, die Art und Anzahl der Personen, die gemeinsam unterwegs waren, der Grund für die Verkehrsmittelwahl und die subjektive Empfindung des Weges. Zu jeder Aktivität am Zielort werden erfragt: die zeitliche Einordnung, die Art der ausgeführten Aktivität, die Art des Zielorts und die subjektive Dringlichkeit und Fristigkeit der Aktivität. Zusätzlich werden in jeweils einem Fragebogen Personen- und Haushaltsmerkmale erfragt.
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Die Grundgesamtheit der Erhebung stellt die deutschsprachige Wohnbevölkerung des Freistaates Bayern im Jahr 1997 ab einem Alter von 10 Jahren in privaten Haushalten dar. Die Auswahlgesamtheit wird aus den Haushalten mit Telefonanschluss2 gebildet. Es empfiehlt sich die Erhebungswellen über ein Jahr zu verteilen, um saisonale Effekte gut abzubilden. Der Stichprobenumfang betrug 2.167 Personen in 986 privaten Haushalten, die an vorgegebenen 5.023 Stichtagen insgesamt 21.474 Wege zurücklegten. 5
Struktur und Hintergründe von Freizeitmobilität und Freizeitverkehr – Ergebnisse
In diesem Abschnitt wird zunächst gezeigt, welche Bedeutung die Freizeitmobilität im Rahmen der gesamten Mobilität hat. Dann wird sie weiter in einzelne Aktivitätengruppen differenziert. Schließlich werden aus dem realisierten Verhalten Motive für die Freizeitmobilität abgeleitet. Die Aussagen über die Motive werden durch die Analyse subjektiver Variablen zu Bewegung im Raum und Aktivität am Zielort ergänzt. Wenn nicht anders vermerkt, werden die Ergebnisse aus Zängler (2000) zitiert. 5.1 Struktur der Freizeitmobilität Als Mobilitätsvariable wird das Mobilitätsstreckenbudget verwendet, also die kumulierten Entfernungen über alle Verkehrsmittel gemessen in Personenkilometern (Pkm), die in den verschiedenen Handlungsbereichen zurückgelegt wurden. Abbildung 4 gibt im Uhrzeigersinn eine Vorstellung von der Größenordnung der verschiedenen Mobilitätsbereiche in einem Haushalt in der Reihefolge wie sie in Abschnitt 3 beschrieben wurde: Der Erwerbsbereich mit den Wegen zur Arbeit (Beruf), geschäftlichen Wegen und Wege zur (Hoch-) Schule hat einen Anteil von gut einem Drittel der Wege. Im Unterhaltsbereich werden nahezu 60 % der kumulierten Distanzen zurückgelegt. Die darin enthaltene Freizeitmobilität hat mit 35% einen ähnlich hohen Anteil wie alle zurückgelegten Strecken im Erwerbsbereich zusammen. Der Transferbereich ist mit rund 5% der Distanzen vertreten. Aus der Abbildung wird deutlich, dass die „Restgröße“ Freizeit gegenüber der Vielfalt der anderen Wegezwecke einen quantitativ hoch bedeutenden Anteil darstellt, welcher nach weiterer Differenzierung verlangt. 2
„Ausschlaggebend für die Stichprobenanlage ist die Verteilung der Privathaushalte pro Gemeinde bzw. für die Steuerung die Anzahl der Privathaushalte pro Steuerungszelle und nicht etwa die Verteilung der Haushalte mit Telefonanschluß. Der Anteil der Telefonhaushalte an den Privathaushalten lag im Erhebungszeitraum bei über 97 % im Westen (...).
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr
Abbildung 4:
Mobilitätsstreckenbudget nach Aktivitäten (ohne Nach-HauseWege) Service (HH-fremde) Entsorgung 0%
3%
Hilfe Ehrenamt 1% 1% Beruf 18%
Freizeit 35% Dienstlich/geschäftlich 15%
n = 13.545 Wege
Produktion inkl. Service (HH-Mitgl.)
DL 6%
Waren 10%
Ausbildung 4% sonst. Erw. 1% Information 1%
Quelle: Eigene Darstellung Im Folgenden wird gezeigt, für welche Aktivitäten Menschen in der Freizeit mobil sind und an welche Zielorte sie sich bewegen. Aus Abbildung 5 ist zu entnehmen, dass dazu die Freizeitaktivitäten unterteilt werden können in Aktivitäten, die primär mit sozialer Interaktion (z. B. Kontakt zu Verwandten, Freunden, Essen gehen mit der Familie, Feste) und sekundär mit sozialer Interaktion verbunden sind (z. B. Sport treiben, kulturelle Angebote nutzen). Aktivitäten mit primärer sozialer Interaktion sind in der rechten Hälfte des Aktivitätendiagramms gruppiert. Sie verursachen mehr als 50 % der Freizeitwege. Freizeitmobilität dient daher vorrangig als sozialer Kitt der Gesellschaft. Andere Funktionen treten dahinter zurück. Berücksichtigt man, dass soziale Interaktion ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens ist, dann ist jene Hälfte der Freizeitwege, die mit starker sozialer Interaktion verbunden ist, per se obligatorisch für die Gesellschaft.
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Thomas W. Zängler
Abbildung 5:
Wege in der Freizeit nach Aktivitäten bzw. Zielorttypen Aktivitäten
Erholung 1%
Sonstige 1%
Verwandte 16% Organisationen u. Einrichtungen 10%
Kultur 10% Sport (in Einrichtungen) 12% Sport (freie Natur) 8%
Ausflüge 5% Hobbys 3% Kirche/ Friedhof 7% n = 3.606 Wege
Zielorttypen Andere Sonstige Orte 1% geographische Orte 10%
Freunde 23%
Orte für Kultur/ Freizeit/ Erholung 24%
Familienfeiern und Feste 5% Essen gehen 7% Sonst. soz. Interaktion 2%
Private(s) Wohnung/ Grundstück 32%
öffentl. Plätze 5%
n=3.670 Wege
Gastronomie/ Einzelhandel/ Dienstleistung 16% Orte der Pflege/ med. Versorgung 2%
Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 5 zeigt zudem die Bedeutung der Zielorte in der Freizeitmobilität. Sie sind nach abnehmender Privatheit angeordnet. Bei den Zielorttypen fällt auf, dass ein Drittel auf private Wohnungen bzw. auf private Grundstücke entfällt. 16 % entfallen im Wesentlichen auf die Gastronomie. Klassische Ziele für Freizeit, Erholung und Kultur haben einen Anteil von 24 % an allen Zielen in der Freizeit. Damit erweist sich die Freizeitmobilität insgesamt nicht so sehr geprägt durch konzentrierte Freizeitangebote sondern als mehrheitlich verstreut verteilt im Raum der millionenfachen Wohnstandorte und des vielfältigen gastronomischen Angebots. Eine weitere Differenzierung in 57 Zielort-Kategorien wird in Zängler (2000, S. 216 ff. gegeben). Die vom damaligen Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) in Auftrag gegebene Haushaltsbefragung zum Personenverkehr „Mobilität in Deutschland (MiD) erfasst seit 2002 die Wegezwecke ebenfalls differenzierter als dies die Kontiv3-Erhebungen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts getan haben (vgl. BMVBS 2008, S. 225). Sie kommt auf ähnliche Ergebnisse zum Anteil der Wegezwecke (vgl.: Tabelle 1), eine Aussage zum Mobilitätsstreckenbudget wird in „Verkehr in Zahlen“ allerdings nicht veröffentlicht. Leider wird auch eine Vermengung zwischen Wegzweck und Wegziel
3
Kontiv: „Kontinuierliche Erhebungen zum Verkehrsverhalten“, durchgeführt im Auftrag des BMV in den Jahren 1976, 1982 und 1989; MiD wurde bisher in den Jahr 2002 und 2008 durchgeführt.
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr
vorgenommen, deren Differenzierung am Beispiel von Abbildung 5 einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn liefert. Die in Tabelle 1 gelisteten Freizeitaktivitäten nach MiD wurden vom Autor in Fettschrift hervorgehoben. Aus der letzten Zeile der Tabelle kann man entnehmen, dass die Freizeitaktivitäten insgesamt für knapp 31% der Wege verantwortlich sind und dass sie mit einem MIV-Anteil von etwas über 53% im Gesamtvergleich aller Aktivitäten einen leicht unterdurchschnittlichen Wert aufweisen, sich aber von den diversen beruflich bedingten Wegen (mit MIVAnteilen zwischen 71% und 89%) deutlich unterscheiden. Tabelle 1: Wege nach Zwecken und Hauptverkehrsmittel – in 1.000 Wegezweck/Wegeziel
Zu Fuß
Weg zur Arbeit Weg von der Arbeit Weg zur Ausb./Kita/Kindergarten Weg v.d. Ausb./Kita/Kindergarten Regelmäßiger beruflicher Weg Sonst. Geschäfts-/Dienstweg Bringen/Holen von Personen Kinder begleiten Begleitung Erwachsener Arztbesuch Behörde/Bank(automat)/Post Priv. Erledigung für and. Person Sonstige Erledigung Einkauf täglicher Bedarf Einkauf sonstige Waren Einkaufsbummel Dienstleistungen Sonstiger Einkaufsweg Besuch oder Treffen Besuch kultureller Einrichtung Besuch einer Veranstaltung Sport (selbst aktiv) Weiterbildung Essen Schrebergarten/Wochenendhaus Tagesausflug, mehrtägiger Urlaub (ab 5 Tage) Spaziergang, Spazierfahrt Hund ausführen Joggen, Inlineskating etc. Kirche, Friedhof Ehrenamt Jobben Hobby Spielplatz/Spielen auf der Straße Sonstiger Freizeitweg Zweck nicht angegeben Summe davon Freizeitaktivitäten Rel. Anteil der Freizeitaktivitäten (%)
1.810 1.518 2.462 2.329 595 280 2.411 424 1.834 1.682 1.581 550 1.450 11.208 1.165 1.417 672 887 5.793 424 926 1.359 70 2.294 509 99 32 5.976 3.302 278 1.900 287 55 616 681 1.742 995 61.608 25.897 42,0
Fahrrad 1.875 1.750 1.121 1.078 310 138 732 55 311 447 545 197 527 3.870 449 289 262 303 2.869 110 226 1.390 90 406 346 82 0 1.340 137 39 569 123 46 422 262 638 399 23.751 8.835 37,2
MIV 2) Fahrer 13.869 12.673 900 796 15.642 2.327 10.016 162 42 3.679 1.837 1.448 3.326 15.948 3.716 1.877 1.701 1.257 10.847 783 1.167 3.812 259 2.267 665 460 28 995 246 157 1.498 594 76 1.348 39 2.519 2.305 121.281 26.803 22,1
MIV 2) Mitfahrer 1.065 1.073 1.865 1.593 0 258 2.096 205 4.419 1.476 436 396 1.283 5.006 1.694 1.283 425 556 6.297 690 1.255 1.830 88 2.042 352 524 42 729 87 68 997 126 33 698 24 2.372 1.227 44.610 17.965 40,3
Öffentl. Verkehr 3) 2.409 2.017 2.614 2.417 1.104 247 260 19 171 935 270 100 475 1.216 485 929 150 181 1.545 378 367 313 105 414 30 260 24 221 11 2 216 49 5 140 0 513 402 20.994 4.410 21,0
Summe 21.028 19.031 8.962 8.212 17.651 3.250 15.515 865 6.778 8.220 4.669 2.692 7.061 37.247 7.509 5.794 3.211 3.183 27.352 2.385 3.939 8.703 613 7.422 1.901 1.425 125 9.261 3.784 545 5.180 1.179 214 3.224 1.006 7.783 5.328 272.245 83.910 30,8
MIV-Anteil (%) 71,0 72,2 30,9 29,1 88,6 79,5 78,1 42,5 65,8 62,7 48,7 68,5 65,3 56,3 72,0 54,5 66,2 57,0 62,7 61,8 61,5 64,8 56,6 58,1 53,5 69,0 55,9 18,6 8,8 41,3 48,2 61,1 50,9 63,5 6,3 62,8 66,3 60,9 53,4
Quelle: BMVBS (2008: 225) und eigene Berechnungen. Daten: Mobilität in Deutschland 2002, Haushaltserhebung zum Personenverkehr. Ergebnisse gewichtet und hochgerechnet. 2) Motorisierter Individualverkehr (Pkw und motorisierte Zweiräder). 3) Ohne Luftverkehr.
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5.2 Mobilitätsverhalten in der Freizeit und ihre Motive – oder: was bewegt uns mobil zu sein? Schließt man nun von der Art der Aktivitäten und der Zielorte in der Freizeit sowie von ihrer empirischen Häufigkeit (vgl. Abbildung 5) auf konkrete Motive der Freizeitmobilität, ergibt sich folgendes Bild in Tabelle 2. Tabelle 2: Motivklassifikation von Murray und Freizeitmobilität Motivklassen nach Murray Bedürfnis nach direktem menschlichem Kontakt, menschlicher Nähe, Sexualität Bedürfnis, unter Leuten zu sein und nach sozialem Anschluss Bedürfnis nach kulturellen und kultischen Handlungen Prestige, soziale Anerkennung, Selbstdarstellung Tapetenwechsel Luxus/Sparsamkeit Körperliche Leistung Unabhängigkeit Fürsorglichkeit Leidvermeidung Wissensdrang
Mobilitätsverhalten nach MiD Besuch4 oder Treffen, Essen, Tagesausflug, Kurzurlaub Besuch oder Treffen, Besuch kultureller Einrichtung, Besuch einer Veranstaltung, Sport (selbst aktiv), Essen, Schrebergarten/Wochenendhaus, Tagesausflug, Kurzurlaub, Kirche, Spielplatz/Spielen auf der Straße Besuch oder Treffen, Besuch kultureller Einrichtung, Besuch einer Veranstaltung, Kirche Besuch oder Treffen, Besuch kultureller Einrichtung, Besuch einer Veranstaltung, Sport (selbst aktiv), Joggen, Inlineskating etc. Besuch kultureller Einrichtung, Besuch einer Veranstaltung, Sport (selbst aktiv), Schrebergarten/Wochenendhaus, Tagesausflug, Kurzurlaub Besuch kultureller Einrichtung, Essen, Tagesausflug, Kurzurlaub, Spazierfahrt Sport (selbst aktiv), Joggen/Inlineskating etc., Schrebergarten/Wochenendhaus, Hund ausführen Schrebergarten/Wochenendhaus, Tagesausflug, Kurzurlaub, Tagesausflug, Kurzurlaub Besuch oder Treffen, Essen, Hund ausführen Sport (selbst aktiv), Essen, Spaziergang, Joggen/Inlineskating etc. (im Sinne eines gesunden Lebensstils, der Krankheiten vorbeugen soll) Besuch kultureller Einrichtung, Besuch einer Veranstaltung
Quelle: Eigene Darstellung nach Murray (Motivklassen) und MiD (Mobilitätsverhalten). Murray (zit. nach Heckhausen und Heckhausen 2006; Murray 1938) schlägt für das menschliche Verhalten allgemein – also ohne Fokus auf das Mobilitätsverhalten – verschiedene Klassen von Motiven vor, die Menschen zum Handeln 4
ggf. auch Friedhof, wenn der Ort wegen der Beziehung zu einer inzwischen verstorbenen Person aufgesucht wird.
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bewegen. In Tabelle 2 werden die empirisch erhobenen Freizeitaktivitäten aus der Studie Mobilität in Deutschland verwendet und den Motivklassen Murrays zugeordnet. Um die Zusammenhänge deutlicher herauszustellen wurden Aktivitäten, die einen besonders starken Bezug zu der Motivklasse haben, vom Autor in Fettschrift hervorgehoben. Mit Hilfe dieser Zuordnung wird die qualitative Bedeutung von Freizeitmobilität klar, die sich aus quantitativen Erhebung alleine nicht so tiefgreifend ablesen lässt. Außerdem wird deutlich, dass ein Wegezweck verschiedene Motive befriedigen kann und umgekehrt. Dies macht die Grenzen der rein quantitativen Forschungsansätze offensichtlich, die auf der Ebene des Mobilitätsverhaltens ihre großen Stärken haben. Ohne die direkte Begründung eines jeden Weges durch eines der aufgelisteten Motive empirisch nachgewiesen zu haben, liegt es aufgrund der getroffenen Zuordnung sehr nahe, dass sich die Motivklassifikation von Murray problemlos vom Verhalten allgemein auf das Mobilitätsverhalten übertragen lässt. Nun wird gezeigt, wie Befragungsteilnehmer der Erhebung Mobilität ’97 die Freizeitaktivitäten und -wege subjektiv bewerten (Abbildung 6 ff.). Dies erfolgt anküpfend an die Motivklassifikationen, die Aussagen über die Beweggründe vor Antritt eines Freizeitweges treffen. Bei den subjektiven Einschätzungen der Befragten geht es nun um Aussagen über Freizeitaktivitäten und –wege, nachdem diese durchgeführt wurden. Dabei stellt sich heraus, dass Freizeitaktivitäten erwartungsgemäß als weniger dringlich im Vergleich zu allen Aktivitäten eingestuft werden. Allerdings zeigen die Werte auch, dass man bei der Freizeitmobilität nicht pauschal von Beliebigkeit der Verhaltensgenese sprechen kann. Dann müsste der Anteil der als dringend empfundenen Freizeitaktivitäten marginal sein. Die subjektive Einschätzung der Freizeitaktivitäten nach ihrer zeitlichen Disponibilität (Item: „hätte ich auch ein anderes Mal erledigen können“) zeigt, dass sich Freizeitmobilität offensichtlich nicht per se für temporale Verlagerung empfiehlt. Ein überraschendes Bild ergibt sich bei der Frage nach der Spontaneität der Freizeitmobilität. Freizeitaktivitäten übertreffen sogar deutlich den Durchschnitt aller Aktivitäten an Planung (61 %). Der Anteil an kurzfristigen Aktivitäten liegt zwar erwartungsgemäß weit über dem Durchschnitt. Mit einem Anteil von 14 % hat die spontane Freizeitgestaltung jedoch nicht den Stellenwert, der ihr in der Regel beigemessen wird. Das kommt auch in den beiden weiteren Items („ist mir unterwegs eingefallen“ und „lag gerade günstig“) zum Ausdruck.
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Abbildung 6:
Subjektive Bewertung von Aktivitäten Anteil [%]
0
20
40
60
War verpflichtend/ musste (dringend) dort hin Hätte ich ein anderes mal erledigen können Hatte ich vorher geplant War kurzfristig Ist mir unterwegs eingefallen Lag gerade günstig Alle Wege
Freizeitwege
n=21.474 Wege bzw. n= 3.674 Freizeitwege (ohne nach-Hause-Wege)
Quelle: Eigene Darstellung Analysiert man die subjektive Bewertung der Dringlichkeit bzw. der Planung von Freizeitaktivitäten differenzierter, ergibt sich folgendes Bild. Für jede Aktivitätengruppe wird der Anteil der Wege angegeben, an deren Ziel eine Aktivität durchgeführt wurde, die als dringlich bzw. geplant bewertet wurde (Abbildung 7). Auffällig ist hier, dass sich Freizeitaktivitäten hinsichtlich ihrer subjektiven Bewertung sehr stark unterscheiden. Auch hier ist wiederum zu erkennen, dass Aktivitäten, die mit anderen Personen durchgeführt werden, einerseits als dringlicher empfunden werden als Aktivitäten, für die das nicht zutrifft. Die Notwendigkeit zur Absprache von Zeit und Ort sorgt andererseits für einen hohen Planungsanteil. Insgesamt ergibt sich ein Bild, das Freizeitmobilität mit einem hohen Anteil an sozialer Verbindlichkeit darstellt. Freizeitdefinitionen, die Freiheit von sozialen Verpflichtungen voraussetzen, sind aus dieser Sicht daher nicht zielführend, da sie wesentliche Motive für das Freizeitverhalten nicht berücksichtigen.
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Freizeitmobilität und Freizeitverkehr
Abbildung 7:
Subjektive Bewertung von Aktivitäten nach Dringlichkeit bzw. Planung Anteil [%]
0
20
40
60
Verwandte Freunde Feste Essen gehen sonst. soziale Interaktion Weltanschauung Hobbys Ausflüge Sport (freie Natur) Sport (Einrichtung) Kultur Erholung Alle Wege n=21.474 Wegebzw. n= 3.674 Freizeitwege
Dringlichkeit
Planung
Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 8 zeigt, wie Freizeitwege empfunden werden. Es fällt auf, dass über 50 % der Freizeitwege als höchstens durchschnittlich beurteilt werden. Im Vergleich zu allen Wegen zeigt sich dennoch erwartungsgemäß ein überdurchschnittlich hoher Anteil an angenehmen Wegen5. Besonders hoch ist dieser bei „Sport in der freien Natur“, weil dort die Bewegung im Raum selbst das (gewollte) Naturerlebnis ist. Der geringe Anteil unangenehmer Wege dürfte auf wegoder situationsbedingte Ursachen zurückzuführen sein.
5
Bei den angenehmen Wegen ist der größte Anteil nach Verkehrsmitteln absolut im motorisierten Individualverkehr (MIV) bzw. relativ bei den Wegen zu Fuß zu finden. Unangenehme Wege sind über alle Verkehrsmittel selten.
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Abbildung 8: Subjektive Empfindung von Wegen in der Freizeit Anteil [%]
0
20
40
60
80
100
Verwandte Freunde Feste Essen gehen Sonst. soziale Interaktion Weltanschauung Hobbys Ausflüge Sport (freie Natur) Sport (Einrichtung) Kultur Erholung Alle Freizeitwege Alle Wege
Angenehm
Durchschnittlich
Unangenehm
n=21.474 Wege bzw. n= 3.414 Freizeitwege (ohne nach-Hause-Wege)
Quelle: Eigene Darstellung Fazit Der vorliegende Beitrag nimmt die quantitative Bedeutung und die Heterogenität des Freizeitverkehrs u.a. in der Verkehrspolitik zum Anlass, schrittweise in die Tiefe zu gehen und den Hintergrund von Freizeitmobilität zu beleuchten. Dazu wurde ein Modell für die Abbildung der Freizeitmobilität vorgestellt. Dabei wird die Freizeitmobilität von Individuen in die Bewegung im Raum und die Aktivitäten an Zielorten differenziert. Auch die Einbettung der Freizeitmobilität in den Alltag und die übrige Mobilität wird berücksichtigt. Besonderer Wert wird auf eine deutliche definitorische Trennung der Begriffe Freizeitmobilität und Freizeitverkehr gelegt. Dieses Modell betrachtet Mobilität aus der Sicht der Menschen und ihrer Motive und stellt im Gegensatz dazu Verkehr als ein im Raum quantifizierbares Ergebnis der Mobilität dar. Besonders die früher in der verkehrspolitischen Diskussion als Restgröße verstandene und als grundsätzlich disponibel kommunizierte Freizeitmobilität wird sehr differenziert in das Modell integriert. Aktivitäten, die vom Wesen her wenig mit Freizeit gemein haben (z.B. Pflege von Angehörigen, Ehrenamt, Begleitwege), werden im vorliegenden Ansatz und – ähnlich mittlerweile auch in der amtlichen Statistik übernommen – nicht mehr der Freizeitmobilität zugeordnet. Das Modell findet sich wieder im empirischen Erhebungsdesign: In einem Mobilitätstagebuch wird die Trennung der Bewegung im Raum von den stationä-
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315
ren Aktivitäten vorgenommen. Das Layout entspricht visuell der Wahrnehmung dieser Abfolge. Es werden subjektive Merkmale zu jedem einzelnen Weg erfasst. Ein entscheidender Punkt ist die differenzierte Erfassung der Freizeitmobilität, was anschließend eine differenzierte Analyse ermöglicht. Als zentrales Ergebnis kann Folgendes festgehalten werden. Die Differenzierung der Freizeitmobilität ergibt ein Bild, das stark durch die soziale Interaktion zwischen Menschen geprägt ist. Mehr als die Hälfte der Wege und der Kilometer in der Freizeit dienen in erster Linie dazu, den Kontakt zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten. Freizeitmobilität gewährleistet soziale Interaktion in einer individualisierten Gesellschaft, wirkt also in dieser Form als sozialer Kitt. Auch bei den verbleibenden Aktivitäten sind eine ganze Reihe zu nennen, bei denen andere Aktivitäten im Vordergrund stehen (z.B. Sport, Kultur), die aber auf den zweiten Blick wiederum mit sozialem Kontakt verbunden sein können. Insgesamt bedient Freizeitmobilität zahlreiche Motive menschlichen Handelns, was mit einem Abgleich mit der Motivklassifikation von Murray gezeigt werden kann. Entgegen einer nahe liegenden Einschätzung, dass Freizeitaktivitäten stark mit Freiheit und Spontanität verknüpft seien, zeigt die Analyse auf Wegebasis, dass sie im Wesentlichen im Vorfeld geplant und die Durchführung mit anderen verbindlich vereinbart wird. Die Vorstellung einer überwiegend durch Erlebnisorientierung motivierten und beliebigen Freizeitmobilität lässt sich nicht halten. Die Verkehrsmittelwahl in der Freizeit ist angesichts der heterogenen Aktivitäten, Zielorten und Distanzen entsprechend vielfältig, der MIV-Anteil ist leicht unterdurchschnittlich. Die Freizeitmobilität bleibt auch nach ihrer Analyse sowohl quantitativ als auch qualitativ durch die heterogenen Wegezwecke ein spannendes Feld für Planung, Forschung und die akademische Lehre. Sie im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung vernünftig zu gestalten, wird auch weiterhin ein wichtiges verkehrs- und umweltpolitisches Ziel bleiben. Quellen BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (2000): Verkehr in Zahlen 2000/2001. Hamburg. BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (2008): Verkehr in Zahlen 2008/2009. Hamburg. Ehling, Manfred/Rosemarie v. Schweitzer (1991): Zeitbudgeterhebung der amtlichen Statistik. Beiträge zur Arbeitstagung vom 30. April 1991. Wiesbaden. Heckhausen, Jutta/Heinz Heckhausen (2006). Motivation und Handeln. Heidelberg. Zängler, Thomas W. (2000): Mikroanalyse des Mobilitätsverhaltens in Alltag und Freizeit. Berlin.
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Weiterführende Literatur Kroeber-Riel, Werner/Peter Weinberg/Andrea Gröppel-Klein (2009): Konsumentenverhalten. 9. Aufl. München. Murray, Henry (1938): Explorations in Personality. New York.
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Öffentlicher Verkehr Katrin Dziekan Einführung Dieser Beitrag will zuerst ein Verständnis vermitteln, was öffentlicher Verkehr (ÖV) ist. Darüber hinaus wird er sich der Frage widmen, warum es nicht so ist, wie es eigentlich sein sollte und welche Herausforderungen, auch verkehrspolitischer Natur, die Zukunft für und mit dem ÖV bereithalten. Was ist öffentlicher Verkehr? Mit Bussen und Bahnen des öffentlichen Verkehrs zu fahren heißt, zu Zeiten, die einem nicht richtig passen, mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, zu einer Haltestelle fahren, die eigentlich nicht das Ziel der Reise ist. Wenn man Busse und Bahnen in Deutschland nutzt, ist das aber auch die sicherste Art sich über längere Strecken fortzubewegen. Während beispielsweise im Jahr 2007 auf deutschen Straßen über 2.600 Personen in PKW zu Tode kamen, verunglückten lediglich 26 Buspassagiere tödlich (vgl. www.destatis.de, Zugriff 11.12.2009). Insgesamt gibt es jährlich etwa 4.500 Tote im Straßenverkehr, einschließlich Radfahrer, Fußgänger und LKW-Fahrer sowie ein Hundertfaches an Verletzten. Der Schienenverkehr ist dabei am sichersten: Bahnfahren ist 42 Mal sicherer als Autofahren (siehe auch den Beitrag von Gehlert in diesem Band). Der ÖV ist ein Teil im Umweltverbund und kann, vor allem in städtischen Ballungsgebieten, wo der ÖV gut ausgelastet ist und damit Ressourcen optimal genutzt werden, als die umweltfreundlichere Alternative zum privaten Pkw angesehen werden (siehe auch den Beitrag von Becker in diesem Band). Auch wirtschaftlich ist die ÖV-Branche ein wichtiger Faktor, wie der Verband der Deutschen Verkehrsunternehmen (VDV) herausstellt: „Rund 12 Milliarden Euro werden von den ÖV-Unternehmen jedes Jahr für Investitionen und Vorleistungen ausgegeben. 90 Prozent davon fließen in die deutsche Wirtschaft. Rund 400.000 Arbeitsplätze hängen in Deutschland direkt und indirekt, z. B. auch bei der Fahrzeugindustrie, den Infrastrukturherstellern und Dienstleistern, vom ÖPNV ab.“ (vgl. VDV/VDB: 2010). Dabei ist ein besonderes Plus für die hier lebenden Menschen, dass die Arbeitsplätze, die direkt mit der Leistungserstellung verbunden sind, nicht ins Ausland verlagert werden können. An deutschen Bahnhöfen, Stationen, Haltepunkten und Haltestellen wird täglich etwa 28 Millionen Mal in Verkehrsmittel des ÖV eingestiegen (vgl. www.destatis.de, Zugriff 11.12.2009). Fahrgäste benutzen damit ein Transportmittel gemeinsam mit anderen die einen ähnlichen Weg bzw. Teilweg haben. O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Diese Bündelung von Verkehrsnachfrage ist die Grundlage für öffentlichen Personenverkehr. Grundsätzlich kann man den öffentlichen Verkehr (ÖV) nach öffentlichen Personenfernverkehr (ÖPFV) und öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) unterscheiden (siehe Abbildung ). Abbildung 1:
Untergliederungsmöglichkeiten des Öffentlichen Verkehrs
Quelle: Eigene Darstellung Personenfernverkehr steht für etwa ein Drittel der Verkehrsleistungen im deutschen öffentlichen Personenverkehr, während im ÖPNV zwei Drittel erbracht werden. Dazu ist, im Gegensatz zum Fernverkehr, der Nahverkehr besonders rechtlich und politisch reglementiert und soll daher in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. ÖPNV ist die allgemein zugängliche Personenbeförderung mit Stadtschnellbahnen, Straßenbahnen, Eisenbahnen, Bussen, Oberleitungsbussen, Taxen und Wasserfahrzeugen im Linienverkehr und in Sonderformen des Linienverkehrs, bei denen die Mehrzahl der Beförderungsfälle eine Reiseweite von nicht mehr als 50 km hat bzw. die Reisezeit von einer Stunde nicht übersteigt (nach Personenbeförderungsgesetz (PBefG), Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) und Regionalisierungsgesetz (RegG)). Die Verkehrsleistungen die im ÖPNV erbracht werden unterliegen fünf Pflichten, die man grob wie folgt zusammenfassen kann:
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Linienpflicht – es muss eine bestimmte vorher festgelegte und kommunizierte Linie abgefahren werden Betriebspflicht – es muss immer gefahren werden, auch wenn gerade keine Fahrgäste einsteigen Fahrplanpflicht – es muss einen Fahrplan geben der festlegt, zu welchem Zeitpunkt abgefahren wird Beförderungspflicht – es müssen alle befördert werden, die den Tarif entrichten Tarifpflicht – es muss ein Tarif festgelegt sein, den der Fahrgast für den Service zu entrichten hat.
Für die ersten drei Punkte gibt es Ausnahmen bei sog. flexiblen Bedienformen, die zeitlich und/oder räumlich nach Bedarf verkehren. Nachdem nun definiert wurde, was ÖPNV ist, widmet sich der nächste Abschnitt einigen betrieblichen Aspekten. Wie funktioniert das eigentlich, wer ist für was verantwortlich und wer bezahlt? Wie funktioniert ÖPNV? Fahrzeuge des ÖPNV Es gibt unterschiedliche Verkehrsmittel/Verkehrsträger die zur Erstellung der Beförderungsleistung eingesetzt werden. Am bekanntesten sind Busse, Straßenbahnen, Stadtbahnen und U-Bahnen. Darüber hinaus gibt es aber auch Sonderformen wie zum Beispiel Oberleitungsbus (O-Bus), Standseilbahnen, Bergbahnen oder Schwebebahnen. In einem Standardbus können je nach Typ 50 bis 200 Fahrgäste befördert werden. Busse sind flexibel einsetzbar, da sie keinerlei fest installierte Infrastruktur (wie z. B. Schienen) benötigen und auf normalen Straßen eingesetzt werden. Straßenbahnen oder auch Trams genannt, die in jüngster Zeit weltweit eine Renaissance erfahren, werden eingesetzt, wenn 5.000 bis 90.000 Personen am Tag zu transportieren sind. Die Straßenbahninfrastruktur (z. B. Schienen und Oberleitungen) ist dabei wesentlich günstiger zu bauen als Infrastruktur für die U-Bahn: Eine Daumenregel besagt, dass 10 km Straßenbahn so teuer sind wie 1 km UBahn. Außerdem sprechen auch die niedrigeren Unterhaltskosten eher für die Straßenbahn. Tabelle 1 gibt einen Überblick zu den wichtigsten Verkehrsmitteln des ÖPNV und deren Charakteristika.
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Tabelle 1: Charakteristiken wichtiger ÖPNV Verkehrsmittel
Bus Straßenbahn Stadtbahn U-Bahn Bahn
Standard Gelenkbus 1 Einheit 2 Einheiten 1 Einheit 3 Einheiten 1 Einheit 3 Einheiten 1 Einheit 3 Einheiten
Personen je Stunde theoretisch 6.000 8.400 5.600 11.200
Haltestellenabstand
Einzugsbereich
Gehzeit
300-500m
200300m 300400m
4-6 min
400-600m
5-8 min
Reisegeschwindigkeit 10-15 km/h 15-20 km/h
7.200 21600
500-800m
400500m
8 min
20-30 km/h
10.400 31.200
600-1.000m
7501.000m
8-10 min
40-50 km/h
22.400 67.200
1.0003.000m
6001.000m
10-15 min
40-60 km/h
Quelle: Müller & Korda (1999: 271) Durch die unterschiedlichen Kapazitäten der Verkehrsmittel ergibt sich, dass bei einer Benutzung durch viele Fahrgäste eine Bahn durchaus kostengünstiger sein kann. Um einen groben Eindruck zu vermitteln, was die Anschaffung von Fahrzeugen für Investitionen bedeutet, sei genannt, dass ein Standardbus derzeit 250.000 bis 300.000 Euro kostet. Für eine Straßenbahn zahlt man 2,5-3 Millionen Euro und damit etwa das Zehnfache. Während ein Bus aber nur etwa 10 bis 15 Jahre im Einsatz ist, beträgt diese Zeit bei Straßenbahnen über 20 Jahre. Neben den Anschaffungskosten müssen aber immer auch die Kosten für den laufenden Betrieb, den Unterhalt und die Instandsetzung mit beachtet werden. Diese unterscheiden sich dabei ebenfalls pro Verkehrsmittel. Generell gilt, es ist billiger einen Bus einzusetzen als eine Bahn. Eine Daumengröße ist, dass derzeit ein Buskilometer zwischen 1,50 und 2,50 € kostet und ein Bahnkilometer 7-12 €. Die hohen Kostenunterschiede ergeben sich auch, weil die Eisenbahn im Gegensatz zum Bus die von ihr befahrene Infrastruktur voll finanzieren muss. Organisation und Finanzierung des ÖPNV in Deutschland Besteller – Ersteller – Verkehrsverbund Da der ÖPNV nicht ohne die zusätzliche Finanzierung durch öffentliche Mittel auskommt, seine Vorhaltung aber eine politische Grundforderung ist, ist seine Gewährleistung gesetzlich im sog. Regionalisierungsgesetz geregelt. Die Aufga-
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be wird dabei den Ländern zugeschrieben. Diese wiederum haben in ihren ÖPNV-Gesetzen geregelt, ob diese Aufgabe als „Aufgabenträger“ das jeweilige Land selbst wahrnimmt oder an die Gebietskörperschaften weitergibt. Z. T. wird die Aufgabe für den SPNV weiterhin auf Landesebene angesiedelt, während die Aufgabe für den ÖSPV immer bei den Gebietskörperschaften liegt. Regionalisierungsgesetz und ÖPNV-Gesetz regeln auch die notwendige Finanzierung. Ebenso wird in der Regel in den ÖPNV-Gesetzen vorgegeben, dass die Aufgabenträger die Umsetzung ihrer Aufgabe in einem Nahverkehrsplan beschreiben müssen (siehe Abschnitt 2.2.2). Die Gewährleistung der Aufgabenträgerschaft wird insbesondere im ÖSPV sehr unterschiedlich geregelt. Oftmals wird die Aufgabe, mit einem nur pauschalen Umriss und einer pauschalen Finanzierung, an ein kommunales oder privates Verkehrsunternehmen weitergegeben. Als transparentes, faires und letztlich die Fahrgastinteressen am besten berücksichtigendes Modell hat sich aber das Besteller-Ersteller-Prinzip herausgestellt. Grundsätzlich kann man dabei zwischen einer Besteller-Ebene und den Erbringern der Verkehrsleistung („Ersteller“) unterscheiden (siehe Abbildung 2). In der Besteller-Ebene wird politisch entschieden, welche Verkehrsleistung zu welcher Qualität gewünscht wird. Also z. B. wie häufig ein Zug von A nach B fahren, wie viele Sitzplätze dieser Zug haben und wie oft er gesäubert werden soll. Diese Angebotsvorgaben liegen in der Verantwortung der Aufgabenträger. Häufig haben sich Landkreise und kreisfreie Städte zu einem Zweckverband zusammengeschlossen, die dann eine gemeinsame Verbundgesellschaft gegründet haben. Diese übernimmt dann auch die Regieaufgaben wie Bestellung, Abrechnung und Controlling der Verkehrsleistungen. Die Verkehrsleistungen für unseren Beispielzug von A nach B werden dann in einem speziellen Vergabeverfahren an den „Ersteller“ der Verkehrsleistung vergeben, zum Beispiel an die ABC Zug-Gesellschaft. Diese erhält nun einen Verkehrsvertag und kann für einen bestimmten Zeitraum den Zug unter den genannten Bedingungen von A nach B fahren, erbringt also die Fahrleistungen und den Service, und erhält dafür Geld vom „Besteller“. Das Management in Form von Planung, Tarif, Marketing und Kundenkommunikation kann dabei in verschiedenen Institutionen angebunden sein. Dies wird zum Beispiel durch Nahverkehrspläne und Verkehrsverträge geregelt. In vielen Fällen wird der ÖPNV in Verbünden organisiert. Ursprünglich insbesondere mit dem Ziel eines gemeinsamen unternehmensübergreifenden Tarifs, einer gemeinsamen Fahrplanung und einer gemeinsamen Vermarktung gegründet, wird in einigen Fällen auch die Regie-Ebene des Besteller-ErstellerPrinzips in den Verbünden abgebildet. Die Verkehrsverbünde in Deutschland sind dabei unterschiedlich organisiert. Die Politik und dabei besonders die Län-
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der- und Kommunalpolitik spielt eine entscheidende Rolle bei der Errichtung und Ausgestaltung von Verkehrsverbünden. Abbildung 2:
Aufgabenverteilung im ÖPNV Organisation- / Verbundstrukturen
Quelle: eigene Darstellung Unterschieden wird dabei zwischen Unternehmens-, Aufgabenträger und Mischverbünden. Unternehmensverbünde werden nur durch die Unternehmen getragen und beziehen sich daher auch nur auf gemeinsame Tarife, Planung und Werbung. In Aufgabenträgerverbünden hingegen sind nur die Aufgabenträger organisiert, die im Sinne des Besteller-Ersteller-Prinzips auch mit Unternehmen Verträge zur Leistungserstellung abschließen können. In sog. Mischverbünden sind sowohl Unternehmen als auch Aufgabenträger organisiert; diese haben dann i. d. R. die gleichen Funktionen wie die Unternehmensverbünde. Im Folgenden wird der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) als flächengrößter Verbund Deutschlands als Beispiel kurz skizziert: Seit April 1999 gibt es in Berlin und Brandenburg einen einheitlichen Tarif für den Regionalverkehr. Mit einem einzigen Ticket kann man alle Verkehrsmittel benutzen. Die VBB GmbH gehört den Ländern Berlin und Brandenburg sowie den brandenburgischen Landkreisen und kreisfreien Städten (also ein Aufgabenträgerverbund). Linienführung, Fahrpläne und Umsteigemöglichkeiten sind innerhalb des Verbundes abgestimmt. Planungskompetenz hat der VBB aber nur für den SPNV und ausgewählte überregionale Busverbindungen. Im Verbund
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kooperieren 42 Verkehrsunternehmen, es gibt über 1.000 Linien und mehr als 13.000 Haltestellen und 666 Bahnhöfe. Täglich nutzen 3,4 Millionen Fahrgäste Busse und Bahnen im VBB Gebiet. Im Auftrag der Länder Berlin und Brandenburg schreibt der VBB auch Nahverkehrsleistungen aus, weitgehend für den Schienenpersonennahverkehr. Das Qualitätsmanagement beim VBB dokumentiert die Ausfälle von Zügen, außerdem werden zwei Mal jährlich Kundenbefragungen durchgeführt und es sind ständig 350 Qualitätsscouts unterwegs. Ständige Anstrengungen zur Erhöhung und Sicherung der Servicequalität sind wichtig, da der öffentliche Verkehr immer auch in Konkurrenz zum Individualverkehr steht. Mit der Gründung eines Verkehrsverbundes setzt die Politik auch die Rahmenbedingungen fest: In Berlin und Brandenburg gibt es einen einheitlichen Fahrschein (den Verbundtarif), es erfolgt die Abstimmung und Planung der Verkehrsangebote (Fahrplan/Anschluss), ein einheitliches Verbundmarketing, Kundeninformation, Vertriebskoordination und nicht zuletzt erfolgt auch die Aufteilung der Einnahmen an die Verkehrsunternehmen durch den VBB. In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger im SPNV (vgl. www.bag-spnv.de), dem Dachverband der Besteller-Organisationen des Schienenpersonennahverkehrs in Deutschland, tauschen sich Zweckverbände, Verkehrsverbünde und Aufgabenträgergesellschaften aus und betreiben gemeinsame Lobbyarbeit für den ÖPNV. Darüber hinaus haben sich Aufgabenträger im ÖV auch zu einem europäischen Netzwerk zusammengeschlossen: European Metropolitan Transport Authorities (vgl. www.emta.com). Nahverkehrspläne Nach dem Gewährleistungsauftrag (Art. 20 I GG; § 1 I RegG) soll die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen des ÖPNV als Aufgabe der Daseinsvorsorge gesehen werden (siehe auch den Beitrag von Daubitz in diesem Band). Was ausreichende Bedienung ist, definiert der Aufgabenträger. ÖPNV deckt nicht nur Mobilitätsbedürfnisse sondern erfüllt auch struktur-, sozial- und umweltpolitische Funktionen. Die Politik und die Verwaltung müssen beschließen, „wie viel“ ÖPNV sie haben wollen. Dies ist häufig ein Balanceakt zwischen den Bemühungen ein gutes Angebot/ einen guten Service im ÖPNV zu erreichen und der Finanzierbarkeit. Um die Verbindung und Vernetzung zwischen der politischen Ebene, der Regie-Ebene und der Ersteller-Ebene zu erzeugen und auf eine formelle Basis zu stellen, werden Nahverkehrspläne ausgearbeitet. Verantwortlich für die Aufstellung der Nahverkehrspläne sind die Aufgabenträger.
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Inhalte von Nahverkehrsplänen sind z. B.: Bestand an Infrastrukturen, Leistungsfähigkeit der Verkehrsunternehmen Fahrgastaufkommen (Bestand und voraussichtliche Entwicklung) Netzentwicklung Rahmenvorstellungen künftiger Standards der Bedienung von Linien bzw. Strecken Betriebsführung und Tarife Fahrgastsicherheit Fahrzeuge und bauliche Anlagen Investitionsbedarf, Betriebskosten und Einnahmen Linienbündelung für Vergaben Finanzierungskonzept Nahverkehrspläne sind die Grundlage für die Ausgestaltung des ÖPNV, insbesondere für die Konzessionierung und „Bestellung“ von Verkehren. Sie werden in einem festgelegten Rhythmus fortgeschrieben um neue Entwicklungen und Veränderungen bei der ÖPNV-Planung berücksichtigen zu können. In letzter Zeit gibt es beispielsweise für die Mobilität auf dem Land bzw. in nachfrageschwachen Regionen neue Bedienformen wie Sammeltaxi, Anrufbus, Bürgerbus oder Linientaxi als Alternativen zum herkömmlichen Linienbus. Gegenwärtige und zukünftige Schwerpunkte bei der Erstellung/Überarbeitung von Nahverkehrsplänen sind z. B. ÖPNV-Beschleunigung, Zugangserleichterung, fahrgastfreundliche Verknüpfung an Umsteigepunkten, Information und Anschlusssicherung. Finanzierung Die Finanzierung des ÖPNV (siehe Abbildung 3) speist sich nicht nur aus Fahrgeldeinnahmen. Diese reichen in der Regel nicht aus um die Kosten zu decken. Da der öffentliche Personennahverkehr als öffentliche Aufgabe gilt, wird er dementsprechend durch Bund, Länder und Gemeinden gefördert. So sieht das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) besondere Investitionshilfen z. B. zum Bau von Nahverkehrsanlagen und zur besseren Verknüpfung des ÖPNV vor. Außerdem stehen Investitionsförderungen durch Bund und Länder (zum Beispiel zur Anschaffung neuer Fahrzeuge) zur Verfügung. Die im ÖPNV tätigen Unternehmen erhalten Betriebszuschüsse (staatliche Ausgleichszahlungen) als Abgeltungen von Mindereinnahmen in bestimmten Verkehren (z. B. für Schüler-/Auszubildenden-Beförderung und unentgeltliche Beförderung von schwerbehinderten Menschen). Darüber hinaus kann ein Verkehrsunternehmen sonstige Erträge erwirtschaften, z. B. sind da Einnahmen aus Vermietung von Werbeflächen o. ä. denkbar. Schließlich gibt es den Verlustausgleich der Aufgabenträger.
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Wie viel Geld nun für den ÖPNV in Deutschland aufgewendet wird lässt sich allgemein schwer sagen. Als konkreteres Beispiel sei angeführt, dass das Land Sachsen-Anhalt in etwa 350 Mio. Euro für die ÖPNV-Finanzierung zur Verfügung hat. Davon werden ca. 260 Mio. Euro für die Bestellung von SPNV, der Rest für die Vorhaltung des ÖSPV bei den Gebietskörperschaften sowie für Investition in SPNV und ÖSPV ausgegeben. Abbildung 3:
Zusammensetzung der ÖPNV Finanzierung
Quelle: Eigene Darstellung Der Kostendeckungsgrad gibt an, welchen Anteil der Gesamtkosten der Erbringung der Verkehrsleistungen ein Verkehrsunternehmen durch Fahrgeldeinnahmen und andere Einnahmen decken kann. Die ÖPNV-Unternehmen haben in den letzten Jahren ihre eigene Wirtschaftlichkeit trotz gekürzter Mittel stark verbessert: Im Jahr 2000 betrug der durchschnittliche Kostendeckungsgrad 69 %, im Jahr 2008 wurde dieser bereits auf rund 77 % erhöht (VDV Pressemitteilung vom 12.05.2010). Allerdings schwanken die Werte von Unternehmen zu Unternehmen stark. Der Kostendeckungsgrad im Land Brandenburg zum Beispiel
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schwankt zwischen 35 % und 60 %. Ein hoher Kostendeckungsgrad ist erstrebenswert, denn dies bedeutet, dass weniger Steuergelder für Verlustausgleiche aufgewendet werden müssen. Während der Kostendeckungsgrad im ÖSPV oft über 60 bis 70 % liegt, erreicht der SPNV 30 %. EU-Politik und Wettbewerb Die europäische Politik legt die Rahmenbedingungen für die Vergabe von Verkehrsleistung fest, um allen Unternehmen gleiche Wettbewerbschancen einzuräumen und eine Vereinheitlichung der Rahmenbedingungen in der EU herbeizuführen. EU-Verordnungen stehen dabei über dem nationalen Recht. Wenn eine EU-Verordnung erlassen wird, die nicht dem nationalen Recht entspricht, muss dieses entsprechend angepasst werden. Dies geschieht oft mit Übergangsregelungen über einen längeren Zeitraum, dass sich alle Akteure auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen können. Auf europäischer Ebene regelte lange Zeit die Verordnung (EWG) 1191/69 des Rates vom 26. Juni 1969 die Durchführung des öffentlichen Nahverkehrs. Die Inhalte und vor allem die juristische Auslegung dieser Verordnung waren gerade in Deutschland stark umstritten. Am 23. Oktober 2007 wurde daher die neue Verordnung (EG) 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates erlassen. Diese besagt, dass es generell eine Ausschreibungspflicht bzw. ein Ausschreibungsrecht gibt, allerdings werden auch Ausnahmen zugelassen, wie z. B. die sogenannte In-house Vergabe von Verkehrsleistungen beim ÖSPV und Direktvergaben im SPNV. Grundsätzlich heißt das aber, dass sich verschiedene Anbieter um die Erstellung der Verkehrsleistungen bewerben können. Um auf unser obiges Beispiel zurückzukommen: Der Beispiel-Verkehrsverbund schreibt die Verkehrsleistungserbringung für den Zug von A nach B in den kommenden 15 Jahren aus und definiert entsprechend das mindeste/minimale Service- und Angebotsniveau. Nun bewerben sich z. B. die Anbieter ABC-Zug-Gesellschaft, Tarrita und Ailoev. Der Beispiel-Verkehrsverbund prüft die Angebote und wählt das am besten den Ausschreibungskriterien entsprechende und kostengünstigste aus. Der Zuschlag geht an das Verkehrsunternehmen Ailoev, was einem weltweit tätigen Konzern angehört. Dieses fährt nun für 15 Jahre den Zug von A nach B und erhält dafür die im Vertrag festgeschriebenen Zuschüsse. Die klar strukturierten und transparenten Verkehrsverträge enthalten dabei i. d. R. genaue Qualitätsvorgaben und Regelungen für den Fall der Unterschreitung. In diesem Fall werden Vertragsstrafen fällig, deren Größe so dimensioniert ist, dass das Unternehmen einen Anreiz hat, die Qualitätsunterschreitung nach Möglichkeit zu vermeiden.
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Die sogenannte Liberalisierung des Marktes wird häufig kritisch diskutiert: Ist es gut, dass internationale Konzerne alteingesessene städtische Verkehrsunternehmen Konkurrenz machen? Profitiert der Kunde davon? Wie wirkt sich der Wettbewerb auf die Servicequalität aus? Gibt es mehr Innovation und Effektivisierung? Welche Auswirkungen hat es auf das Personal? Die Debatten sind lang und beschäftigen nicht nur zahlreiche Juristen und Wirtschaftsberater sondern auch Gewerkschaften und Fahrgastverbände. Ein generelles Urteil lässt sich nicht fällen, da jeder Einzelfall verschiedene Facetten hat, dennoch kann man sagen, dass in der Summe die Kunden vom Wettbewerb profitieren. Schließlich gibt es mehr Leistung für weniger Steuergelder. Darüber hinaus belebt Konkurrenz das Geschäft: Neue Anbieter versuchen sich zu etablieren, indem sie auch mit innovativen Konzepten um mehr ÖPNV-Nutzer werben. Brüssel ist wichtiger als Berlin. Dieser häufig zitierte Satz hat tatsächlich auch für die Verkehrspolitik seine Berechtigung. Allerdings liegt die Verantwortung für das Festlegen der gewünschten Leistungen weiterhin bei den lokalen Politikern. Sie müssen entscheiden, welche Qualität des ÖPNV sie für ihre Bürger gewährleisten wollen (und finanzieren können). Also, trotz zunehmender Internationalisierung/Globalisierung bleibt der ÖPNV immer eine lokale Angelegenheit, über die die lokale Politik entscheidet. Planung und Betrieb Welches Verkehrssystem eingesetzt wird, hängt hauptsächlich von der Ortsgröße und damit von dem vorgegebenen möglichen Nachfragepotential (also die Anzahl der Menschen die ihre Wege gegebenenfalls – zumindest theoretisch – gebündelt zurücklegen könnten). In Tabelle 2 ist dazu eine Übersicht aufgeführt. In Städten, die weniger als 10.000 Einwohner haben, ist es meist nicht möglich, ein einigermaßen wirtschaftliches ÖV-Angebot zu erstellen. Die Verkehrsströme lassen sich nicht so bündeln, dass man die Einwohner mit wenigen Fahrzeugen ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechend transportieren könnte. Der Kostendeckungsgrad von Systemen in kleinen Städten ist oft gering im Vergleich zu größeren Städten. Dort haben viele Menschen zur gleichen Zeit den gleichen Weg und es kann ein gutes Angebot zur Verfügung gestellt werden. Das wiederum trägt dazu bei, dass der ÖPNV in Ballungsräumen attraktiver ist.
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Tabelle 2: Übersicht typischer Einsatz verschiedener ÖV-Verkehrsmittel in Abhängigkeit der Stadtgröße Stadtgröße (in Einwohnern) Bis 10.000
Grundverkehrsmittel
ergänzend Haltepunkt des SPNV
10.000-100.000 Ab 50.000 50.000-500.000
Kein eigener Verkehr, regionaler Bus, evtl. flexible Bedienformen wie Anrufbus, Bürgerbus oder Anrufsammeltaxi Eigener Busverkehr Vereinzelt Straßenbahn Straßenbahn bzw. Stadtbahn
500.000- 1 Mio.
Stadtbahn, im Zentrum als U-Bahn
Ab 1 Mio
U-Bahn bzw. S-Bahn, SPNV
Regionaler Bus Bus auch als Zubringer zur Stadtbahn oder SPNV Straßenbahn und Bus im Außenbereich, SPNV Straßenbahn und Bus im Außenbereich, SPNV
Quelle: Auf der Grundlage von Müller (1999: 275) Erwähnt sei der sogenannte Schienenbonus: In vielen Fällen hat es sich gezeigt, dass bei der Umstellung von Bus auf Straßenbahn (bei gleichbleibender Fahrzeit, Streckenführung und Takt) Fahrgastzuwächse zu beobachten waren. Mögliche Erklärungen für diesen Effekt sehen Forscher z. B. im subjektiv erlebten Fahrkomfort und in den größeren Handlungsmöglichkeiten in der Bahn. Ein weiterer Ansatz könnte sein, dass die Streckenführung im Straßenbild gut sichtbar und damit einprägsamer ist und als zuverlässiger aufgefasst wird (vgl. Megel: 2001; Scherer: 2010). Generelle Determinanten des Modal Split zu Gunsten des ÖPNV sind die klassischen drei T´s: Tempo, Tarif und Takt. Also umgangssprachlicher ausgedrückt, wie schnell, wie günstig und wie zuverlässig und einfach komme ich an mein Ziel. Tempo, oder auch Fahrzeit ist häufig entscheidend für die Wahl eines Verkehrsmittels. Tarif beinhaltet die finanziellen Kosten die dem Nutzer durch eine Fahrt entstehen. Dies können z. B. die Einzelfahrscheinkosten sein oder auch die Kosten der Zeitkarte. Das dritte T – Takt schließlich bezeichnet die Bedienungshäufigkeit und Regelmäßigkeit im ÖPNV. Wichtig ist, dass man sich den Takt gut merken kann (z. B. immer zur vollen und halben Stunde fährt ein Zug von A nach B) und dass möglichst häufig ein Verkehrsmittel verkehrt. Schließlich ist die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit eine wichtige Komponente – Verspätungen, aber noch schlimmer, Verfrühungen stoßen den Fahrgast vor den Kopf und können dazu führen, dass er zukünftig nicht mehr Bus und Bahn wählt. Fahrzeitverkürzungen sind also eine gute Möglichkeit, um mehr Fahrgäste zu gewinnen. So konnte z. B. bei der Fahrzeitverkürzung auf der Strecke Eberswalde – Berlin Hbf von 60 Minuten auf 34 Minuten ein Fahrgastzuwachs von 40 % gemessen werden (vgl. VBB Pressemitteilung vom 8.2.2007).
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 4: Akteurslandkarte im ÖPNV in Deutschland
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Jenseits der klassischen Aspekte von Tempo, Tarif und Takt kann es auch Unterschiede in der Mobilitätskultur geben. So gibt es beispielsweise Städte die traditionell einen hohen ÖPNV Anteil am Modal Split haben, wie z. B. Freiburg oder Berlin. Zum Betrieb des ÖPNV gehört nicht nur die Erstellung der Verkehrsleistung an sich, sondern auch der Vertrieb der Tickets. Dies kann klassisch über den Fahrkartenschalter durch eine(n) Vertriebsmitarbeiter(in) erfolgen, aber auch durch Dritte beispielsweise in Zeitungskiosken geschehen, oder aber direkt in den Fahrzeugen (z. B. bei dem Busfahrer/der Busfahrerin). Der Fahrscheinautomat ersetzt Personal und reduziert den Bargeldverkehr/-transport. Darüber hinaus entwickelt sich zunehmend die elektronische Fahrkarte, das Handyticket oder andere Applikationen im Sinne einer digitalen Mobility Card/Smart Card. Akteurslandkarte im ÖPNV Die Akteurslandkarte im ÖPNV ist entsprechend der unterschiedlichen Aufgabenverteilungen vielschichtig. In Abbildung 4 wird der Versuch unternommen, eine Übersicht zu erstellen. Diese Akteurslandkarte für Deutschland erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit sondern illustriert lediglich Strukturen und verdeutlicht, unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Interessen: Fahrgäste, Politik, Verkehrsverbünde, Verkehrsunternehmen, Interessenverbände, Forschung/Ausbildung und Industrie. International wäre auch noch auf den Europäischen Fahrgastverband (vgl. www.epf.eu) hinzuweisen sowie auf die UITP-International Association of Public Transport (vgl. www.uitp.org), die ein weltweites Netzwerk von Verkehrsunternehmen ist und unter anderem auch Lobbyarbeit für den öffentlichen Verkehr betreibt. Zukünftige Herausforderungen im öffentlichen Verkehr Schaut man sich europäische und auch deutsche Lippenbekenntnisse der Politik zur nachhaltigen Mobilität an, dann sollte es idealerweise so sein: Es gibt ein breites, attraktives ÖPNV-Angebot in Ballungsräumen aber auch in ländlichen Gebieten. Der Service ist kostengünstig, für alle leicht zugänglich und kann die meisten Mobilitätsbedürfnisse befriedigen. Nahezu alle Menschen nutzen in der einen oder anderen Form ÖPNV. Tatsächlich ist es aber so, dass der Modal Split für den ÖPNV im Durchschnitt bei 9 % (vgl. Infras /DLR 2010) liegt und der öffentliche Verkehr beim
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Großteil der Bevölkerung nicht die erste gewählte Mobilitätsoption ist. Eine erschöpfende Antwort auf die Frage warum das so ist, lässt sich nicht einfach finden. Daher werden im Folgenden einige Aspekte ausschnittsweise dargestellt, die gleichzeitig zukünftige Herausforderungen an die Verkehrspolitik im Hinblick auf den ÖPNV skizzieren. Image des öffentlichen Verkehrs Das man auf andere Mobilitätsalternativen zurückgreift, wenn kein ausreichendes Bus- oder Bahnangebot vor Ort vorhanden ist, leuchtet ein, aber warum nutzen nicht alle Menschen den ÖV, wenn es faktisch möglich wäre? Eine einfache Antwort auf diese Frage wäre: Weil der ÖV ein schlechtes Image hat, nur „Arme, Alte, Ausländer oder Auszubildende“ nutzen Bus und Bahn. Tatsächlich bildet diese Klientel der sogenannten „Zwangskunden – Captives“ einen Teil der ÖPNV-Fahrgäste ab. Dennoch gibt es, besonders in den städtischen Ballungsräumen, einen beträchtlichen Anteil von sogenannten „wahlfreien“ Fahrgästen. Menschen, die sich also bewusst für den ÖPNV entscheiden, weil für sie die Vorteile überwiegen. ÖPNV ist häufig preisgünstiger als die Vollkosten eines eigenen Pkws, man muss nicht selber fahren und kann die Zeit sinnvoll für anderes nutzen, außerdem kann man anderen Menschen begegnen. Den Anteil der Wahlfreien zu steigern, ist die zukünftige Herausforderung, die nur durch ständige Qualitäts- und Angebotsverbesserungen gemeistert werden kann. Nur so kann der ÖPNV konkurrenzfähig zum Auto werden bzw. bleiben. Zudem sinkt aufgrund der demografischen Entwicklung der Anteil der Zwangskunden künftig so stark, dass schon aus ökonomischen Gründen für die Verkehrsunternehmen eine Konzentration auf die Wahlfreien notwendig ist. In der Branche hat sich schon viel getan, früher sprach man noch vom „Beförderungsfall“, heute steht die Kundin/der Kunde im Mittelpunkt. Von Nutzerseite gibt es dennoch zahlreiche Widerstände. Dziekan, Schlag & Jünger (2004) haben ein Modell zu Barrieren der Bahnnutzung erstellt, was sich durchaus auf den ÖPNV allgemein übertragen lässt. Es beschreibt die Hemmnisse in der Person, Hemmnisse in der Reisekette und die Hemmnisse durch Erfahrung bzw. rückwirkende Bewertung der gemachten Erlebnisse. Die Hemmnisse in der Reisekette, auf die die einzelnen ÖPNV-Anbieter in der Regel direkt Einfluss haben, sind entlang den Qualitätskriterien der DIN EN 13816 dargestellt:
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Verfügbarkeit Zugänglichkeit Information Zeit Kundenbetreuung Komfort Sicherheit Umwelteinflüsse
Es geht immer darum, die Diskrepanz zwischen Erwartung zu den entsprechenden Qualitätskriterien und Wirklichkeit zu bewerten (Soll-Ist-Diskrepanz), da diese die Zufriedenheit des Kunden bedingt. Werden die Erwartungen des Kunden erfüllt bzw. sogar übertroffen, wird er die Dienstleistung wieder benutzen und sie ggf. sogar weiterempfehlen. Das kann zum positiven Image des ÖPNV beitragen. Umgekehrt führt eine Nichterfüllung dieser Qualitätskriterien zu Imageverlust, der schwerer wieder gut zu machen ist. Die gesamte Branche sollte sich daher um einen nutzerfreundlichen ÖPNV bemühen. Der nutzerfreundliche ÖPNV Die Erwartungen und Vorstellungen die ein Mensch von einem ÖPNV-System hat, entsprechen häufig nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. So kann es beispielsweise sein, dass ein(e) Autofahrer(in) denkt, der Bus vor der Haustür fährt nur etwa einmal pro Stunde, während diese Haltestelle aber in Wirklichkeit alle zehn Minuten bedient wird. Unterschätzungen des ÖPNV-Angebotes sind die Regel und – besonders für Menschen die nicht häufig Bus und Bahn nutzen – vielfach in der Literatur belegt. Die Nicht-Passung von Erwartungen und Leistung kann aber auch in die andere Richtung abweichen: Der/die gewohnte ÖPNV-Nutzer(in) kommt in eine andere Großstadt und stellt fest, dass es für ihn/sie anstrengend ist, sich an das neue unbekannte System zu gewöhnen und es fehlerfrei zu benutzen. Plötzlich sehen Haltestellen und Fahrpläne ganz anders aus, die Orientierung in Stationen fällt schwer und der Ticketerwerb ist eine große Hürde. Idealerweise sollte sich, wie in Abbildung 5 illustriert, die Nutzerperspektive und die Systemperspektive, entsprechen, dann kann man von einem nutzerfreundlichen ÖPNV sprechen (vgl. Dziekan: 2008).
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System- und Nutzerperspektive
Quelle: Eigene Darstellung Die Nutzerfreundlichkeit eines ÖPNV-Systems erhöhen kann man, indem man die kognitive Nutzerperspektive kennt und die Regeln, nach denen ein menschliches Gehirn funktioniert, verstehtund anwendet. Zum Beispiel kann man es dem Fahrgast einfacher machen, sich eine Linie zu merken oder wiederzuerkennen. Dziekan (2008) hat dazu drei Faktoren herausgearbeitet: 1. 2. 3.
Sichtbarkeit der Strecke und der Stationen Gerade Linienführung Labelling (Markierung, Etikettierung, wiedererkennbare Bezeichnung)
Besonders gut angewendet wurden diese Einfachheitsfaktoren bei der Etablierung von Metrobus-Konzepten. Noch einfacher ist es aber, eine Straßenbahn oder Stadtbahn im Gedächtnis zu verankern. Diese psychologischen Vorteile von schienengebundenen Verkehrsmitteln gegenüber den straßengebundenen, nennt man den „psychologischen Schienenbonus“ (vgl. Megel: 2001). Ein weiterer zentraler Punkt für die Nutzerfreundlichkeit ist die konsistente und zuverlässige Information während der gesamten Reisekette, also vor, während und nach der Fahrt mit dem ÖPNV. Gutes Kartenmaterial kann dabei eine solide Basis liefern, zusätzlich führen Echtzeit-Abfahrtsanzeigen an Haltestellen zu einer Erhöhung der Nutzerfreundlichkeit. Die Fahrgastinformation ist in Form von dynamischer und individualisierter Information ein wichtiges zukünftiges Entwicklungsfeld für den ÖPNV. Allerdings sollte immer darauf geachtet werden, dass die Entwicklung aller Techniken und Technologien in diesem Bereich den Nutzer in den Mittelpunkt stellen sollte. Bei manch einer modernen Anwendung schleicht sich der Verdacht ein, dass man mehr an der Technikentwicklung interessiert ist, als an dem Nutzen für den Fahrgast. Als ein letzter wichtiger Punkt der Nutzerfreundlichkeit sei der Fahrscheinerwerb genannt. Hier muss eine Balance gefunden werden zwischen einfach verständlichem Tarif und gerechter Tarifierung. Der/die Nutzer(in) will einen günstigen Preis und gleichzeitig ein einfaches Preissystem. Das können aller-
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dings oft gegenläufige Forderungen sein. So kann man es aus Einfachheitsgesichtspunkten gut finden, dass es nur drei Ticketarten gibt: Einzelticket, Wochenkarte und Monatskarte. Aber wie ist das wenn man mit mehreren Personen reist, sollte man dann nicht einen Rabatt erhalten? Fallen tatsächlich auch die Rentner und Schülerkarten weg? Warum soll man für eine kurze Strecke von drei Haltestellen genau so viel bezahlen wie für eine einstündige Fahrt? An diesen Beispielen wird deutlich, dass es schwer ist einen einfachen und gleichzeitig gerechten Tarif zu konzipieren. Zusätzlich kommt die Einnahmeaufteilungsproblematik in den Verkehrsverbünden dazu – jedes Verkehrsunternehmen soll, entsprechend der Nutzung, an den Einnahmen beteiligt werden. Eine mögliche Lösung liegt hier im E-Ticketing bzw. der Smart Card. Dem Nutzer/der Nutzerin wird ganz flexibel immer der günstigste Tarif berechnet und das Verkehrsunternehmen, in dem er/sie befördert wurde erhält automatisch die Fahrgeldeinnahmen zugeschlagen. Exkurs: Barrierefreier ÖPNV Ein Teilaspekt des nutzerfreundlichen ÖPNV ist die Barrierefreiheit. Vom Behindertengleichstellungsgesetz (verabschiedet 2004) und vom Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahr 2009 sind, auch für die barrierefreie Gestaltung des ÖPNV, wichtige Impulse ausgegangen. Neben diesen rechtlichen Rahmenbedingungen ist der demografische Wandel ein weiterer Einflussfaktor: In Zukunft wird es mehr mobile Senioren geben. Diese werden überwiegend mit dem Auto unterwegs sein können, mehr Freizeit und Urlaubsaktivitäten entfalten und häufig bis ins hohe Alter mobil sein. Heute sind in Deutschland etwa 3,6 Millionen Menschen 80 Jahre und älter, im Jahr 2020 werden dies fast sechs Millionen sein und 2050 werden sogar zehn Millionen Mitbürger das 80. Lebensjahr überschritten haben. Mit dem Alter nimmt auch die Wahrscheinlichkeit für Schwerbehinderung zu. Derzeit haben 6,7 Millionen Menschen in Deutschland den Schwerbehindertenstatus (www.destatis.de, Zugriff 11.12.2009). In Zukunft wird der Anteil beeinträchtigter Personen und Älterer weiter zunehmen. Daher kommt der barrierefreien Gestaltung des Verkehrssystems im Sinne des „Design für Alle“ (Universal Design) eine wichtige Bedeutung zu (siehe auch den Beitrag von Holz-Rau in diesem Band). Grundsatz des „Designs für Alle“ ist die Einbeziehung der Endnutzer(innen) in alle Schritte des Gestaltungsprozesses, wobei gleichzeitig die menschliche Vielfalt zu berücksichtigen ist. Um diese zu illustrieren, soll kurz die Bandbreite von Mobilitätseinschränkungen skizziert werden. Als Behinderungen im engeren Sinne gelten körperliche Behinderungen (z. B. gehbehinderte und sehbehinderte Menschen) und geistige/psychische Behinderungen (z. B. Sprachunkundige und Men-
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schen mit Zwängen). Insgesamt gilt, dass die Gruppe der Mobilitätseingeschränkten sehr inhomogen ist, häufig kommt Mehrfachbehinderung vor. Neben den Behinderungen im engeren Sinne gibt es aber auch Mobilitätsbehinderungen im weiteren Sinne, denen buchstäblich jeder einmal ausgesetzt sein kann: Gipsbein, Gepäckmitnahme, Begleitung von Kindern oder Schwanger sein. Barrierefreie Mobilität bedeutet, dass sowohl die bauliche Umwelt als auch das Verkehrssystem für alle Menschen ohne fremde Hilfe und ohne besondere Anstrengungen benutzt werden können (siehe auch Projekt easy.going: www.easy.going-network.de). Von den Akteuren im ÖPNV wird schon viel unternommen, zum Beispiel in der Anschaffung von Niederflurfahrzeugen, um barrierefreie Mobilität für Alle zu ermöglichen (vgl. VDV 2003). Dennoch ist vielerorts erst ein Anfang gemacht und weitere Anstrengungen sind nötig um allen Menschen barrierefreie Mobilität zu ermöglichen. ÖPNV Verbundenheit der Politiker/innen Trotz aller Lippenbekenntnisse der Politik wird oft die Förderung des ÖV nicht konsequent umgesetzt. Schaut man auf die ÖV-Nutzung von Politikern und Politikerinnen, ist das – löbliche Einzelfälle (z. B. Michael Cramer, Die Grünen) ausgenommen – häufig Fehlanzeige. Prestigeträchtig ist immer noch die eigene Limousine mit Chauffeur oder zumindest der „dicke“ Dienstwagen. Durch die eigenen Mobilitätsroutinen ist allerdings auch die kognitive Karte eines Politikers verzerrt. Vorteile, aber auch Nachteile und Entwicklungspotenzial des ÖVs sind damit nicht aus der eigenen Erlebniswelt bekannt und vertraut. Wünschenswert wäre, dass die Politiker ihre Vorbildfunktion in der Gesellschaft auch tatsächlich zum Vorleben eines nachhaltigen Mobilitätsstiles nutzen würden. Besonders in Deutschland, als ein wichtiger Standort der Autoindustrie, hat das Auto eine starke Lobby. Um den ÖPNV zu fördern ist es daher sinnvoll, die Lobbyarbeit von Verbraucherzentralen und Interessenverbänden zu stärken und die Alternativen zum Auto zu propagieren. Auf die Erkenntnis, dass Tabakgenuss schädlich ist, hat die Politik schlussendlich reagiert indem sie z. B. Tabakwerbung eingeschränkt und mit Auflagen versehen hat. Ein Warntext auf jeder Autowerbung z. B. „Autofahren macht abhängig und verursacht einen früheren Tod für 50.000 Menschen pro Jahr in Deutschland“ ist heute noch undenkbar. Um ein europäisches Beispiel anzuführen, das belegt, wie wichtig die Politiker für Entscheidungen im Bereich nachhaltige Mobilität sind, sei die CIVITAS Initiative genannt (www.civitas-initiative.org). Dort setzen, von der EU cofinanziert, europäische Städte lokal Maßnahmen um. Unter anderem auch zahl-
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reiche gute Ideen zur ÖPNV-Verbesserung. In den bisherigen CIVITAS Projekten hat sich gezeigt, dass die lokale Politik entscheidend ist für die erfolgreiche Umsetzung der Maßnahmen. Deshalb hat eines der aktuellen CIVITAS PLUS Projekte, MIMOSA, ein Arbeitspaket der aktiven Einbindung der Politiker vor Ort gewidmet. In diesem Projekt zeigte sich auch, dass ein Politikwechsel, z. B. durch Neuwahlen entscheidend ist für den Erfolg/Misserfolg der Maßnahmen für nachhaltigere Mobilität in den Städten. So können beispielsweise Maßnahmen gestrichen werden, wenn sie nicht in die politische Ausrichtung des neuen Bürgermeisters passen. Schließlich sei auf die Rolle von konsequenter Evaluation von Maßnahmen verwiesen. Idealerweise sollte die Evaluation von unabhängigen Dritten wissenschaftlich durchgeführt werden. Zahlen und Fakten, die belegen, dass sich bestimmte verkehrliche Maßnahmen lohnen bzw. nicht zur Zielerreichung geführt haben, geben der Politik wertvolle und zuverlässige Entscheidungs- und Argumentationshilfen an die Hand. „Gute Beispiele“ die auch eine überzeugende Evaluation erfahren haben, lassen sich ggf. auf andere Städte und Regionen übertragen. Sicherheitsgefühl und Terrorismus Das subjektive Sicherheitsgefühl im ÖPNV ist ebenfalls mit entscheidend für die Verkehrsmittelwahl und das Komforterleben. Wichtig ist allerdings die gesamte Reisekette im Auge zu behalten. Am unsichersten sind tatsächlich die Wege zur und von der ÖPNV-Haltestelle. Auf Grund dieser, oft bei Dunkelheit angstbeladenen Teilstrecken, kann es zu einer Meidung des ÖPNV kommen. In den Fahrzeugen selbst (und teilweise auch schon in Stationen und an Haltestellen) kann Kameraüberwachung zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beitragen. Hauptsächliche Effekte der Kameras zeigen sich aber vor allem bei der Vandalismusvorbeugung und –aufklärung. Die Politik setzt hier die nötigen datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen, um die Integrität des Einzelnen zu sichern. Schreckliche Ereignisse wie Bomben in U-Bahnen oder Explosion in Vorortzügen haben dazu geführt, dass auch das Thema Terrorismusvorbeugung ganz oben auf der Tagesordnung im ÖPNV steht. Es ist eine große Herausforderung, ein terrorismussicheres System zu schaffen, was gleichzeitig eine große Masse von Menschen ohne lange Verzögerung oder Unterbrechung von A nach B bringt. Allerdings wird man dabei mit technischen Lösungen an Grenzen stoßen. Das Thema Sicherheit und Terrorismusbekämpfung ist dabei als gesamtgesellschaftliches Problem zu sehen.
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Finanzierung des ÖPNV In den städtischen Ballungsräumen, wo man meist ein sehr gut ausgebautes ÖPNV-Angebot vorfindet, ist die Tendenz der Nutzerzahlen steigend. So wurde z. B. von 2008 zu 2009 ein Wachstum im gesamten Land von 3,5 % festgestellt (vgl. VDV 2010). Steigende Fahrgastzahlen bedeuten auch in der Regel steigende Einnahmen, wenn die bestehenden Angebote dadurch besser ausgenutzt werden. In ländlichen Räumen hingegen sind Fahrgastzahlen als auch Angebot rückläufig. Ein Grund für diese Tendenz sind Einnahmeverluste auf Grund rückläufiger Schüler- und Berufsschülerzahlen. Neue ÖPNV Bedienformen wie z. B. Anrufbus, Bürgerbus oder Anruflinientaxi, können eine bedarfsabhängige Bedienung sicherstellen, senken Kilometerleistung und ermöglichen ein gleichwertiges Angebot zu gleichbleibenden Kosten. Dies wiederum kann die Nachfrage erhöhen und damit mehr Fahrgeldeinnahmen generieren. Neben den Fahrgeldeinnahmen werden aber in der Regel immer noch weitere finanzielle Mittel benötigt, um einen attraktiven ÖPNV anzubieten. Eine denkbare Möglichkeit wäre, durch Anlastung der externen Kosten für den Autoverkehr auch Gelder, bspw. durch eine Pkw Maut, für die Verbesserung des ÖPNV zu nutzen. Dies wird bereits in Großstädten anderer Länder – z. B. London und Stockholm – praktiziert. Die Finanzierung des ÖPNVs wird auch zukünftig eine Herausforderung für die Politik sein. In Zeiten der Finanzkrise und der extremen Belastung der öffentlichen Haushalte, muss der ÖPNV mit anderen wichtigen Sektoren wie Bildung und Gesundheit konkurrieren. Die Herausforderung bleibt also, mit gleichbleibenden oder weniger finanziellen Mitteln ein attraktives, konkurrenzfähiges Angebot zu schaffen, um Fahrgäste zu halten und mehr Kunden für die Nutzung des ÖPNV zu gewinnen. Eine Lösung könnte sein, integrierte Verkehrskonzepte zu fördern, um den Umweltverbund insgesamt attraktiver zu machen. Integrierte Verkehrskonzepte und ÖPNV Die Integration des ÖPNV mit anderen Verkehrsträgern bzw. Fortbewegungsarten ist eine weitere Herausforderung. So ist beispielsweise für kurze Strecken das Fahrrad eine sehr gute Alternative zum Auto. Es kann als Zubringer zum ÖPNV benutzt werden, in einigen Städten ist die Fahrradmitnahme in Bahnen und Bussen erlaubt. Bei hoher Auslastung führt dies allerdings regelmäßig zu Konflikten. Ein neuer Ansatz, Rad und ÖPNV mit einander zu kombinieren, ist das öffentliche Fahrrad, das derzeit in einigen Pilotversuchen (z. B. Stadtrad Berlin) erprobt wird. Mit einem ÖPNV-Fahrschein kann man gleichzeitig ein Rad für den Zuund/oder Abweg nutzen. Die Räder stehen dann in speziellen Stationen direkt an
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den ÖPNV Haltestellen zur Ausleihe zur Verfügung. Dieses System hätte Potenzial, die Fahrradmitnahme in den Fahrzeugen zu reduzieren und eventuell mehr ÖPNV-Kunden anzulocken, da das Kombinieren einfacher wird. Bisherige Konzepte wie Leihfahrräder, wie etwa das erfolgreiche Vélib-System in Paris, sind dabei immer als Zusammenarbeit mit Partnern im Umweltverbund zu verstehen. Da man nahezu immer einen Anteil des Gesamtweges, in dem der ÖPNV einen Teilweg darstellt, zu Fuß zurücklegt, könnte man meinen, Fußverkehr und ÖPNV seien sehr gut integriert. Schaut man jedoch auf die Haltestellen und Schnittstellengestaltung wird klar, dass die verkehrsplanerische Integration hier noch Potenziale hat. Häufig verleidet einem die autoorientierte Verkehrsplanung durch breite Straßen, schmale Fußwege, lange Wartezeiten an Fußgängerampeln, lange eintönige Wege ohne Verweil- und Ruhemöglichkeiten den Spaß am zu Fuß gehen. Hier muss in Zukunft, auch durch die kommunale Politik gesteuert, ein Umdenken und Planen im Sinne einer fußgängerfreundlichen Umwelt besonders in Städten umgesetzt werden. Eine bisher erfolgreiche Integration lässt sich für ÖPNV und Carsharing feststellen. Wenn z. B. größere Lasten transportiert werden müssen, oder das Fahrtziel außerhalb der ÖPNV-Reichweite liegt, bietet Carsharing eine umweltfreundliche Alternative zum eigenen Auto. Zahlreiche Verkehrsunternehmen und Verbünde kooperieren mit Carsharing Anbietern und schließen damit für ihre Kunden eine Lücke im Mobilitätsangebot. Schließlich sei noch auf die verschiedenen Verknüpfungen an Bahnhöfen, Stationen und Haltestellen verwiesen, deren Planung und Umsetzung Herausforderungen beinhalten: Park & Ride, Bike & Ride bzw. Kiss & Ride (eine oder mehrere Personen mit dem Auto absetzen, die dann ihre Reise mit dem ÖPNV fortsetzen). Besonderes Augenmerk sollte auf der Schnittstellengestaltung liegen, damit Bahnhöfe, Stationen und Haltestellen als zentrale Punkte in einer Kommune und Aushängeschild für den ÖPNV funktionieren können. Sind diese einladend und einfach zu nutzen, entschließen sich vielleicht auch mehr Menschen Bus und Bahn zu nutzen. Fazit Um die Nachteile des ÖPNV auszugleichen und trotzdem ohne eigenen Pkw mobil zu sein, wäre eine wünschenswerte Entwicklung die, hin zu einer multimodalen Mobilitätskultur. „Die Multimodalen“ sind Menschen, die sich verschiedener Mobilitätsmodi bedienen: zu Fuß gehen, Radfahren, ÖPNV benutzen und Auto fahren können. Es könnte sein, dass das Menschen sind, die sich je nach Situation für das Verkehrsmittel oder die Mobilitätsalternative entscheiden, die für sie am günstigsten erscheint.
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Multimodalität in dieser weit gefassten Bedeutung heißt auch, dass mögliche monomodale Verhaltensmuster aufgebrochen werden. Zum Beispiel wurde bisher immer das Auto benutzt, weil man es so gewohnt ist. Auf dem Weg zur Multimodalität nutzt man das am besten für den Zweck und Weg passende Verkehrsmittel. Gegebenenfalls kann das für Kurzstrecken eher das Fahrrad und für mittellange Strecken in der Stadt der ÖPNV sein. Multimodalität bietet eine Chance für nachhaltigere Mobilität. Diese flexiblere Verkehrsmittelnutzung wäre auch robuster und würde dem Individuum größere Handlungsspielräume lassen. Allerdings bedeutet Multimodalität nicht nur Routinenwechsel oder –anpassung sondern auch das Erlernen neuer Mobilitätsformen. Wie zum Beispiel funktioniert Carsharing, welche Angebote macht der ÖV, wie kann man Leihfahrräder benutzen? Wenn man verschiedene Optionen kennt und „kann“, erweitert sich der Möglichkeitsraum für Mobilität. Wenn man einen erweiterten Möglichkeitsraum hat, kann man Mobilitätsentscheidungen flexibler treffen und verfällt nicht in monomodale Routinen. Der ÖPNV als ein Teil im Umweltverbund und als eine wichtige Komponente des Kollektivverkehrs (siehe den Beitrag von Rammler in diesem Band) würde von einer Wende hin zu einer multimodalen Mobilitätskultur profitieren. Möglicherweise würden so noch mehr Menschen von den Vorteilen von Bus und Bahn überzeugt werden und den ÖPNV nutzen. Dies würde Fahrgeldeinnahmen steigern und die Möglichkeit eröffnen, das Angebot und den Service zu verbessern. Das Ziel der Politik sollte es sein, sich von der monomodalen Autofixierung zu lösen und einen Weg hin zu einer multimodalen Mobilitätskultur einzuschlagen. Politik – auf allen Ebenen – muss sich ihrer Verantwortung stellen und spielt eine große Rolle für den Erhalt und die Weiterentwicklung des ÖPNV als umweltfreundliche, sichere und sozialverträgliche Mobilitätsalternative. Quellen Dziekan, Katrin (2008): Ease-of-Use in Public Transportation – A User Perspective on Information and Orientation Aspects. School of Architecture and The Built Environment, Department of Transportation and Economics, Division Transport and Logistics. PhD Thesis. Royal Institute of Technology. Stockholm. Dziekan, Katrin/Bernhard Schlag/Igor Jünger (2004): Barrieren der Bahnnutzung – Mobilitätshemmnisse und Mobilitätsbedürfnisse. In: Bernhard Schlag (Hrsg.): Verkehrspsychologie. Mobilität – Verkehrssicherheit – Fahrerassistenz. Lengerich, S. 63-81. Infas/DLR (2010): MID 2008- Mobilität in Deutschland 2008 – Ergebnisbericht. Bonn und Berlin. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Megel, Katrin (2001): Schienenbonus: Nur ein Mythos? Bus oder Bahn im Regionalverkehr – Schemata und Präferenzen. In: Der Nahverkehr 19(6), S. 20-23.
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Müller, Wolfgang/Martin Korda (1999): Städtebau. Stuttgart/Leipzig. Scherer, Milena (2010): Is light rail more attractive to users than bus transit? Arguments based on cognition and rational choice. In: Compendium of Papers presented at the 89th Annual Meeting of the Transportation Research Board. January 10-14 Washington D.C. VDV – Verband Deutscher Verkehrsunternehmen-Förderkreis (2003): Barrierefreier ÖPNV in Deutschland/Barrier-Free Public Transport in Germany. Köln. VDV/VDB (2010): Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs in Deutschland. Gemeinsames Positionspapier von Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und Verband der Bahnindustrie in Deutschland. Januar 2010.
Weiterführende Literatur Lohse, Dieter/Lothar Lätzsch (2006): Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung – Band 2 – Verkehrsplanung. 2. Auflage. Berlin. Vukan R. Vuchic (2005): Urban Transit: Operations, Planning and Economics. New Jersey. Vukan R. Vuchic (2007): Urban Transit Systems and Technology. New Jersey. Schöller, Oliver (Hrsg.) (2005): Öffentliche Mobilität. Perspektiven für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung. Wiesbaden.
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Automobil und Automobilismus Gert Schmidt Einführung Nein – das Auto wurde nicht 1883 oder 1894 von Carl Benz und/oder Gottlieb Daimler erfunden. Nach interessanten Fahr-Vehikel-Vorläufern bereits ab dem 16. Jahrhundert, wurde im 19. Jahrhundert das moderne Automobil als erfolgreiches Technikprodukt für eine zunehmend mobilitätsorientierte und individualistische Gesellschaft entwickelt – und mit den legendären Fahrzeugmodellen von Carl Benz, Gottlieb Daimler und Henry Ford wurde die Möglichkeit des Autos als vermarktbares, neues, breit genutztes Verkehrsmittel in Städten und zwischen entfernten Standorten besonders deutlich. Auch knüpft die Herausbildung von Automobilismus – die soziale und kulturelle Einarbeitung des Autos in gesellschaftliche Wirklichkeit – an verbreitete Visionen und Fiktionen in Literatur und Kunst zu Raumerfahrung und Bewegung (Mobilität) an.1 Ökonomen haben zweifelsfrei ermittelt: In sogenannten entwickelten Gesellschaften ist die Anschaffung und der Unterhalt von Automobilen nach dem Hausbau und nach Wohnkosten der für die durchschnittliche Familie finanzstärkste Investitionsposten für nicht-lebendige Güter im ökonomischen Lebenslauf. Aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht kann die Behauptung gewagt werden: Kaum ein anderes nicht-lebendiges Produkt ist mit Blick auf die Bedeutung für die Lebenswelt-Gestaltung vergleichbar mit dem Automobil. Ungeachtet rationaler Erwerbs- und Gebrauchserwägungen sind dabei sowohl die Anschaffungsentscheidung eines Automobils wie auch seine Nutzung in hohem Maße von sozialen Wertschätzungen und ästhetischen Geschmacksbeurteilungen begleitet – sei es der eigenen oder der antizipierten von anderen. Automobile sind nicht nur technische Vehikel und Objekte zweckrationalen Handelns und des ökonomischen Kalküls, sondern wesentlich auch sozial und kulturell geprägt. Nicht zuletzt ist die soziale Tatsache Automobil und die Durchsetzung von Automobilismus Thema von Politik, d.h. Gegenstand gesellschaftlicher Interessenskonflikte und Ausdruck von Macht- und Herrschaftsstrukturen. Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist vielgestaltig nicht nur im weiteren Sinne Verkehrspolitik, sondern auch im engeren Sinne Autopolitik.
1
vgl. etwa die informativ-anregende Datenskizze zum Stichwort Automobil in WIKIPEDIA
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zur sozialwissenschaftlichen ‚Ortsbestimmung’ von Automobil und Automobilismus
Der Sozialwissenschaftler sieht das Auto ‚anders’ – für ihn ist das Auto etwas anderes als für den Techniker oder den Kulturhistoriker. Abbildung 1-3: Vom technischen Artefakt zum Kunstwerk
Quelle: 1+2 Internet; 3 Deckblatt des KommVor Sommersemester 2004 der fsisoziologie, Universität Erlangen-Nürnberg Das Vehikel und Verkehrsmittel Auto interessiert den Sozialwissenschaftler im Kontext von sozialen und kulturellen Sachverhalten, die am besten mit dem Stichwort Automobilismus angezeigt werden. Hiermit ist nicht lediglich die schlichte Gegenwart vieler Automobile angezeigt und mehr auch als die Bedeutung von Automobilherstellung für die Wirtschaftsdaten des Landes. In der Vokabel ist vor allem die alltägliche und außeralltägliche soziale und kulturelle automobile Durchdringung von Arbeits- und Lebenswelt, von individuellem und kollektivem Handeln und sozialer Orientierung, von Distinktionsverhalten und von ästhetischer und ethischer Wert-Geltung fixiert. Das Konzept des Automobilismus beinhaltet darüber hinaus auch spezifische institutionelle Vorkehrungen, die Relevanz für Kauf, Nutzung und gesellschaftliche Absicherung von Automobilität haben (Steuersystem, Versicherungsauflagen, Erteilung von Fahrerlaubnis etc.). Automobilismus ist ein außerordentlich facettenreicher sozialer und kultureller Tatbestand. Er äußert sich als gesellschaftlich generalisierte Erwartung der Verfügbarkeit von Fahrkompetenz (Führerscheinbesitz), als Sozialindikator neben Berufstätigkeit, Bildungsniveau und Einkommen, als Thema des Wandels von Gender-Differenzierung, bis hin zur automobilen Metaphorik in Literatur und darstellender Kunst. Um die vielfältigen sozialwissenschaftlich relevanten Phänomene, die irgendwie mit Automobil und Automobilnutzung zusammenhängen, zu ordnen, möchte ich einen zweistufigen Differenzierungsvorschlag machen: 1.1 Das Automobil ist – auch als Beobachtungsgegenstand von Soziologie und Sozialpsychologie etwa – ein kleines technisches System. Gemeint ist hier
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das einzelne Fahrzeug in all seiner Komplexität (Getriebe, Kupplung, Differential, Beleuchtungsanlage etc.). Schon mit Blick auf dieses kleine technische System ergibt sich eine große Anzahl von sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und kulturwissenschaftlichen Fragen. Diese betreffen die Formgebung von Teilen, haptische Qualitäten von Hebeln und Griffen, Geräuschkulissen, als auch Farbensinn, Geruchssinn und damit verbundene soziale Wahrnehmungsmuster sowie Wert-Anmutungen. Politisch artikuliert ist das Automobil als kleines technisches System vor allem mit Blick auf die Standards des Deutschen Instituts für Normung (DIN), der Society of Automotive Engineers (SAE), oder der International Organization for Standardization (ISO), die die Sicherheit und Umweltbelastung betreffen. 1.2 Das Automobil ist ein großes technisches System. Über die Menge der bewegten Einzelfahrzeuge und die Materialien, wie auch regulative Einbettung der Bewegung dieser Fahrzeuge im Raum, konstituiert das Automobil im klassischen Sinne ein großes technisches System (Straßennetz, Versorgungssystem für das Autofahren – Tankstellen, Werkstätten, Verkehrszeichen etc.). Keine Frage, dass sich ökonomische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen und auch politische Entscheidungsvorlagen hier rasch plausibel anführen lassen: Ganze Berufssparten (Verkehrpolizisten, Unfallchirurgen, spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien etc.) haben teil, beachtliche finanzielle Prozesse (Steuereinnahmen) und mehrere Wirtschaftszweige (Bau- und Transportwirtschaft, Händlernetzwerke etc.) sind angesprochen. Die Probleme der Energiebeschaffung und verteilung sowie Fragen der Ressourcenpflege (Blechmüllverwertung, Recycling) seien nur angedeutet. Das große technische System Automobil ist seit dem massenhaften Erscheinen von Vehikeln dieser Kategorie auf den Straßen Gegenstand von Verkehrspolitik: Erteilung von Fahrlizenz, Besteuerung von Fahrzeugbesitz und –nutzung, Finanzierung von Straßenbau und Rechtsbeschlüsse zur Regulierung der Verkehrsgestaltung (Parkverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Grenzwerte für Alkoholisierung der Fahrzeugführer etc.). In Analogie zu dieser, in der Techniksoziologie eingeführten Differenzierung, kann das Automobil in einem zweiten Schritt auch in seiner Kulturbedeutung gefasst werden: 2.1 Das Automobil ist ein kleines kulturelles System. Es ist Gegenstand von individueller Nutzung und Pflegetätigkeit, von Anspruch oder Wunsch auf soziale Anerkennung, von Genuss sozialer Distinktion, und es ist Chance ästhetischer – oder auch gar ethischer – Wertschätzung von Einzelnen und Gruppen. Für Kultur- und Sozialwissenschaftler gibt es hier Anlass, systematisch Fragestellungen anzusetzen: Stabilisierte Handlungsprogramme – etwa Kaufentscheidung und Nutzungsweise – mit Blick auf Klassen- und Statuslagen und hinsichtlich spezifischer Altersschichten, ethnischer Hintergründe, Automobile als Aus-
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drucksformen sozialer Ungleichheit etc. Nicht zuletzt ist die Gender-Frage von erheblicher Bedeutung. Politik flankiert die jeweilige gesellschaftliche Ausbildung des Automobiles als kleines kulturelles System in beachtlichem Maße: Die Besteuerung von Hubraum und/oder Verbrauch, sowie die politische Stützung von Ideologemen wie ‚Recht auf Individuelle Mobilität’, gehören zu den politischen Rahmenbedingungen der Pflege des Autos als Kulturgut. 2.2 Das Automobil ist schließlich ein großes kulturelles System. Es ist Momentum von Zeitkultur und Mobilität. Es ist Signal für Naturbeherrschung. Es ist eingebettet in kulturelle Standards allgemeiner Formgebung. Schließlich ist es Teil der Auseinandersetzung um Wertebildung auf gesellschaftlicher Ebene – Fortschrittsglauben etwa und Individualismus. Sozial- und Kulturwissenschaften haben hier ein weites und reiches Feld des Studiums. Die Grundthese vom Automobil als großem kulturellen System kann vielfältig veranschaulicht werden: Auto und Sprache – alltagssprachliche Formen und spezifische Kunst- und Fachsprachen haben sich des Automobils bzw. der Automobilität angenommen. Das Automobil ist auch Gegenstand beachtlicher Exempel im Bereich darstellender und schreibender Kunst geworden. Das Automobil ist schließlich mit der Musik verbunden worden – nicht nur in bestimmten Texten und mit Blick auf die Forcierung spezifischer Rhythmen sondern auch mit der Herstellung von Musikpotpourris, die angeblich besonders geeignet sind als Begleitung zum Autofahren. Nur noch erwähnt sei schließlich das reiche Anschauungsmaterial in der Werbung um und mit dem Automobil! Keine Frage auch: Das große kulturelle System Automobil ist in vielgestaltiger Weise Referenz- und Profilierungsthema von Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Wissenschafts-politik (die politische Gestaltung von Automobilismus reicht von der Besteuerung der Energie/Benzinsteuer – über Lehrpläne in den Schulen bis hin zur inhaltlichen Ausrichtung staatlicher Förderung von mobilitätspolitisch relevanten Forschungen). Summa summarum hat die literarisch gehobene Beobachtungsaussage zur sich entfaltenden Moderne von Erich Kästner „Die Zeit fährt Auto“ gewiss erheblichen Repräsentationswert für unsere Kultur. 2
Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Automobilisierung in Deutschland
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Automobil als Vehikel der individuellen Massenmobilität bereits 100 Jahre alt und sowohl technisch wie auch ökonomisch und sozial nachhaltig eingeführt. Schon Ende der 20er Jahre hatte sich, insbesondere in den USA, Automobilisierung breit entfaltet. Die wirtschaftliche
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Situation nach dem Ersten Weltkrieg verzögerte in Deutschland – im Vergleich nicht nur zu den USA, sondern auch zu Frankreich und England – eine Verbreitung des Automobils als Vehikel individuellen Massenverkehrs ganz beträchtlich. Zunächst setzte sich hier – stärker als anderswo – das Motorrad als billigere Variante motorisierter Mobilität in Szene. Nicht allein der hohe HerstellerAnschaffungspreis eines Autos, sondern auch die Verkehrspolitik (insbesondere durch heftige Besteuerung von Autoerwerb und -nutzung) bremste den Prozess der Automobilisierung in Deutschland. Ein Blick auf die weltweite Kraftfahrzeugproduktion zeigt aber deutlich: In den 20er Jahren und auch 1932 noch erheblich hinter Frankreich und Großbritannien rangierend, ist Deutschland im letzten Vorkriegsjahr 1938 an Frankreich vorbei gezogen und nach Großbritannien die Nummer 2 in Europa. Diese Entwicklung ist sowohl Ausweis einer gezielt autofreundlichen Steuerpolitik der nationalsozialistischen Reichsregierung, wie auch forcierter Industrieförderung. Blanke Ziffern erzählen freilich nicht alles: Vor dem Hintergrund der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung ab 1933 entwickelte sich auch in Deutschland Automobilisierung als Momentum einer Mittelklasse-Gesellschaft, die nach Volksmotorisierung strebte. Eine vergleichbare Dynamik gab es, mit zeitlichem Vorlauf, in England und Frankreich – freilich unter anderen politischen Rahmenbedingungen. In Deutschland verlief der Prozess der Automobilisierung ab 1933 unter nationalsozialistischer ‚Beflaggung‘. Wichtiges Element der forcierten Automobilisierung war Institutionen- und Organisationen-Politik. Automobilclubs und –vereine unterschiedlichen Zuschnittes wurden gefördert, Schauund insbesondere Rennsportveranstaltungen wurden geschickt als Ausweis des Erfolgs des Nationalsozialistischen Regimes inszeniert.2
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Sportbezogener Patriotismus und Technikbegeisterung wurden wirkungsvoll in quasinaturwüchsiges Einverständnis mit der nationalsozialistischen Ideologie überführt. Die Geschichte der „Silberpfeile“ von Auto-Union und Mercedes Benz – die Rennwagen dieser beiden deutschen Autohersteller beherrschten seit 1934 die Pisten der Welt – ist auch politische Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland. In Deutschland förderte das nationalsozialistische Regime eine Automobilisierung der Gesellschaft. Oberflächlich durchaus orientiert am Modell der amerikanischen Gesellschaft, sollte die Mobilität via Automobilisierung die Gesellschaft nicht nur technisch-faktisch und ökonomisch sondern auch ideologisch integrieren; räumliche Mobilisierung, insbesondere das private Automobil, sollte Vehikel sein auch für ideologische Mobilisierung. Die ‚Erfahrung’ der Heimatlichen Lande wurde effektvoll in die völkische Mobilisierung eingepasst.
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Die Entfaltung der modernen Automobilgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg
Wie bereits der Erste Weltkrieg, war der Zweite Weltkrieg mit einem enormen allgemeinen (und eben auch Auto-) Mobilisierungsschub verbunden: Eine raumbezogene Kampfführung sowohl in der Ebene wie auch in der Dritten Dimension (Luftfahrt) forderte und förderte die Realisierung von Projekten und Fantasie motorisierter Bewegung (vgl. Möser 2001: 171ff.). Nach 1945 festigte sich rasch automobile Motorisierung als Merkmal von Modernisierung der Lebensführung. Kein Deutscher Sonderweg – aber ein besonders rascher Weg Westdeutschlands in die Automobilisierung: Mit Ausnahme von Großbritannien beginnt eine nennenswerte Autoproduktion im Nachkriegseuropa erst Ende der 40er Jahre. Nach gegenüber den europäischen Nachbarländern deutlich verzögertem Wiederanlauf überholt West-Deutschland aber bereits 1947 Italien und dann 1953 Frankreich und 1956 selbst Großbritannien als Kfz-Produzent, und bleibt für viele Jahre nach den USA diesbezüglich im Weltvergleich die Nummer 2. Zugleich wird die Bundesrepublik in den späteren 50ern und in den 60er Jahren auch wichtiger KFZ-Exporteur und Importeur von Fahrzeugen aus dem europäischen Ausland. Flankiert wird die zügige Automobilisierung in der Bundesrepublik – die wie in den anderen Nachkriegsgesellschaften Europas, dem US-amerikanischen Vorbild folgte – durch eine, auch politisch forcierte, marktwirtschaftliche Wachstumsdynamik. Damit einher vollzog sich eine sozialstrukturelle Entwicklung, die manchem Fachbeobachter nahe legte, vom Aufkommen einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) als Überwindung der „antagonistischen Klassengesellschaft“ zu sprechen. Wenngleich die makroökonomischen Daten der Nivellierungsthese deutlich widersprechen – über die 50er und 60er Jahre hinweg hat sich wirtschaftliche Ungleichheit eher erhöht denn verringert (vgl. Bolte et al. 1974) – ist eine beachtliche Kaufkraftsteigerung auch mittlerer Einkommensgruppen entscheidende Voraussetzung für eine sozial breite Automobilisierung, insbesondere ab Ende der 50er Jahre. Diese Automobilisierung wird angezeigt sowohl mit Blick auf die sozialstrukturelle Komposition der Autobesitzer, wie auch mit Blick auf die Zusammensetzung des Kraftfahrzeug-Bestandes nach Krafträdern und Kraftwagen. Erst Ende der 60er Jahre haben Arbeiterfamilien in nennenswertem Umfang teil an der sich herausbildenden Autogesellschaft und erst ab Mitte der 50er Jahre übersteigt die Zahl der Pkw jene von Motorrädern. Die individuelle Massenmobilität wird mehr und mehr Automobilität. Die außerordentliche ökonomische Automobilisierung Westdeutschlands ist politisch massiv gestützt und begleitet von kultureller Automobilisierung. Über Besitz und Nutzung von Automobilen dokumentierte – so lässt sich metapho-
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risch sagen – die BRD sich selbst ihren Fortschritt sowohl auf aggregiert kollektiv-gesamtgesellschaftlicher Ebene in Produktions- und Exportziffern, wie auch auf der Ebene individueller Gemütslagen, Handlungs-Orientierungen und Entscheidungen. In einer Studienarbeit konstatiert Pamela Finley zutreffend: „Das Auto, Symbol von Wohlstand und einem höheren Lebensstandard, wurde mit der Breitenmotorisierung Gegenstand gesellschaftlicher Distinktionsprozesse, wo der Einzelne bestrebt ist, sich anhand von Statusgegenständen von der Allgemeinheit abzuheben. Die fünfziger Jahre gelten als Beginn des Übergangs vom notwendigen zum innerhalb enger Grenzen individuell gewählten Konsums“ (Finley 1999: 12). Gewaltig ist die Automobilisierung des Alltags: Das Automobil gewinnt als Geschäftsverkehrsfahrzeug ebenso rasch an Bedeutung wie als Familien-, Ausflugs- und Ferien-Vehikel (Zum Ferienverkehr vgl. Zängler in diesem Band). Um die Mitte der 60er Jahre waren die Weichen für das Automobil gestellt. Inszeniert wird diese Weichenstellung auch als unverkennbar die Automobilisierung fördernde Verkehrspolitik über Forcierung des Ausbaus von Straßen (insbesondere des Fernstraßen-Netzes) und einer, auch im europäischen Vergleich, zurückhaltenden Besteuerung von Automobilbesitz und -nutzung. Wichtige sozialstrukturelle und kulturelle Bewegungen betreffen die zunehmende Beteiligung von Frauen an Automobilität. Das gilt sowohl hinsichtlich der schlichten Verkehrsleistung (Frauen als Autofahrerinnen), der Kaufkraft (Frauen als selbständige Autokäuferinnen) und als aktiv mitentscheidende Familienmitglieder. Zudem verschob sich in den 50er und 60er Jahren die Altersstruktur von Automobilkäufern zugunsten jüngerer Autokäufer. Schließlich wird die westdeutsche Automobilisierung nicht zuletzt ein wichtiges, ideologisch das System legitimierendes, Thema der Ost-West-Konfrontation: Wenngleich die Produkte ostdeutscher Hersteller in technischer Hinsicht mit den westeuropäischen Fahrzeugen bis Anfang der 60er Jahre noch in etwa mithalten konnten, zeigten die Ziffern für Fahrzeugbestand und -dichte schon Mitte der 50er Jahre eine signifikante Differenz an: So kamen zu dieser Zeit in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auf 1000 Einwohner rund 50 Autos, während es in der der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) etwa 14 waren. Gleichwohl entwickelten sich im Osten Deutschlands, angepasst an die restriktiven politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen der DDR-Gesellschaft und mit Blick auf Aspiration und Nutzung, sozialer Anerkennung und auch Bestrebungen um individuelle Aneignung (customizing), durchaus strukturell ähnliche Formen von Automobilismus-Kultur wie in Westeuropa. Die außerordentliche Knappheit des Privatwirtschafts-Gutes Automobil führte allerdings zu manch besonderen Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen (Pflegeintensität,
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hohe Preise für Gebrauchtwagen, Automobilerwerb via Geschenk aus dem Westen, Trabi-Witze) und förderte hierüber nachhaltige, für das Regime nicht unproblematische, kollektive Defizit-Erfahrung im Vergleich zu Westeuropa und insbesondere zur benachbarten BRD (vgl. Kirchberg 1999). Nach der Automobilismus-Tradition im Dritten Reich und der Stärkung von Automobil-Präsenz via Kriegsgeschehen entwickelte sich der Automobilismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark als Rezeption des USamerikanischen Modells, als Aufnahme und Umsetzung gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse à la americain. Die An-Nahme (in des Wortes mehrfacher Bedeutung!) amerikanischer Lebensformen wurde zum versteckten Programm des (Neu-/Wieder-) Aufbaus der Nachkriegsgesellschaften in Europa. Und Automobilismus zählte fraglos zu den eindrücklichsten Erscheinungen der amerikanischen Gegenwart als europaweit erwünschte Lebenswelt-, vor allem Konsumwelt-Zukunft. Automobilismus meint hierbei – daran ist begrifflich zu erinnern – nicht nur die Zahl der Automobile, sondern die qualitative Prägung von materieller und ideeller Lebenswelt, d.h. von Siedlungsformen, gesellschaftlich geltenden Anerkennungsstandards und kollektiv wirksamen Ritualisierungen von Handeln und Symbolbesetzungen. Die Orientierung an sozial differenzierenden Massenkonsum begann in den USA mit dem Aufstieg von General Motors gegen Ford bereits Ende der zwanziger Jahre. Daraufhin setzten in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg US-amerikanische Autos die Maßstäbe, insbesondere was die Formgestalt anbetrifft. Abbildung 4+5:
US Ford Thunderbird 1955 und Audi SP 1000 ab 1958
Quelle: Eigene Fotos Eine unverkennbar US-amerikanische Orientierung ist aber früh begleitet von Absetz- und Differenz-Wahrnehmungen, worüber sich auch spezifischer Produkt-Stolz artikuliert: Der schieren Größe von Fahrzeugkörper und Hubraum der Achtzylinder und dem Komfort sowie der relativen Preiswürdigkeit auch großer
Automobil und Automobilismus
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Wagen auf dem amerikanischen Markt halten die Autos aus Europa und insbesondere auch Deutschland sportliche Fahreigenschaften, wirksamere Bremsen und bessere Wirtschaftlichkeit entgegen. Kaum übertrieben ist die Behauptung, dass die weltweite Wiederanerkennung von deutscher Facharbeit und Ingenieursleistung eng ans Automobil gebunden ist: neben Chemie und Maschinenbau ist das Auto Made in Germany Image- und Hoffnungsträger und faktische Exportleistung der westdeutschen Wirtschaft ab Beginn der 50er Jahre. Insbesondere der VW-Käfer wird bald schon zum Image-Träger. Auch nach innen, d.h. für die ideologische Selbstwiederaufrichtung der deutschen Bevölkerung, werden VW, BMW und Mercedes Benz prägende positive Signale. Dabei spielen die Exporterfolge deutscher Automobilhersteller (v.a. jene in den USA) eine erhebliche Image-pflegende Rolle. Die Autokultur im Land wird nach 1950 rasch als sozial differenzierte Konsumkultur entfaltet (für jede sozial-ökonomische Schicht das passende Automobil!). Die lang anhaltende wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung aus der Misere der unmittelbaren Nachkriegszeit befördert die sensible Wahrnehmung von Aufstieg und Differenzsetzung gegenüber dem Nachbarn gerade auch via Autobesitz; nach Motorrad und ersten Kleinstwagen wie Lloyd, Isetta oder Maico war der Volkswagen gewichtiger Ausweis fürs „We Made It“ – und rasch richtete sich der Ehrgeiz auf das Automobil nach dem VW: Ford Taunus, Opel Olympia oder Borgward Isabella dokumentierten den Sprung in neue MittelschichtKonsumkraft. Die großen Luxuswagen hingegen – Opel Kapitän, BMW 501/502 und Mercedes 300 – reüssierten für viele zunächst als unerreichbare, aber Orientierung gebende Mobilitätsvehikel. Abbildung 6+7: Maico und BMW Isetta (Kleinwagen der 1950er)
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Abbildung 8+9: Ford Taunus 12M und Borgward Isabella (Mittelklassewagen der 1950er)
Abbildung 10+11: Opel Kapitän und Mercedes 300 (Luxusklasse der 1950er)
Quelle: Eigene Fotos „Das Auto ist des Deutschen Liebstes Kind“ – diese flotte Formel verrät die Autobesessenheit im Wirtschaftswunderland BRD. Nicht zuletzt wird dies durch eine rasch anwachsende und vielgestaltige Autoliteratur dokumentiert, die sich auf Bücher und Zeitschriften, sowie feste Rubriken in Tageszeitungen und Wochenblättern erstreckt. In besonderer Weise prägend wird das Auto in Deutschland schließlich mit Blick auf die Arbeitswelt: Nicht nur, dass erhebliche Anteile von Beschäftigung im Lande direkt und indirekt irgendwie am Auto hängen, sondern auch Fragen der Arbeitsorganisation und Probleme von Arbeitspolitik werden am Fall der Autoindustrie diskutiert und nicht selten auch durchgekämpft. Ist in den 50er Jahren noch die klassische Schwerindustrie – Kohle und Stahl – zentraler Fokus von Arbeitsforschung und Arbeitspolitik, so rückt spätestens mit Beginn der 60er Jahre die Automobilindustrie in die Position der repräsentativen Leit-Industrie. Mit der enorm wachsenden Bedeutung der Automobil-Produktion in Deutsch-
351
Automobil und Automobilismus
land, wächst allerdings auch die Bindung der Wirtschaftspolitik an das Auto – kein anderes Industrieland ist Ende des 20. Jahrhunderts so stark abhängig vom ‚Wohl und Wehe’ der Fahrzeugindustrie wie die Bundesrepublik Deutschland! Es gehört schließlich auch zum Thema Autokultur, dass in den 50er und 60er Jahren Berufe in der Autoindustrie für Jugendliche erhebliche Symbolfunktion hatten. Automechaniker wurde etwa für viele Knaben zum Traumberuf, Jugend-Autobücher zu einem bedeutenden Literaturzweig, und Fachzeitschriften zum Thema Auto erreichten beachtliche Auflagen. Technisch immer raffinierter gestaltete Spielzeug- und Modell-Autos (mit Beleuchtung, mechanischer und elektrischer Fernlenkung etc.) verdrängten die klassische Eisenbahn vom weihnachtlichen Gabentischen und Autoverkaufsstätten bzw. Autosalons eroberten die besten Schaufensterplätze in den Innenstädten. Die folgende Tabelle macht deutlich, dass mit dem Ende der 60er Jahre die Entfaltung vom Automobilismus in Deutschland (zunächst in Westdeutschland – ab 2000 dann mit Blick auf das wiedervereinigte Gesamtdeutschland) längst nicht zum Abschluss gekommen ist, ja noch nicht einmal der Status relativer Sättigung angezeigt wird. Ungeachtet dessen kann man aber behaupten, dass 25 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die Strukturen einer Autogesellschaft weitgehend ausgebildet sind – via Fahrzeugbestand, Verteilung von Kfz-Besitz über breite sozioökonomische Schichten hinweg, Ausbau der Infrastruktur, Einfluss der Autolobby in Politik und Wirtschaft u.a.m. Tabelle 1: Kraftfahrzeugbestand in 1000 Jahr1
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2001 2002 2003 2004 2005 1
Ins gesamt
2021 8004 16783 27116 35748 50726 52487 53306 53656 54082 54520
Zulassungspflic hige Kraftfahrzeuge darunter PersonenKraftom nibusse, k raftwagen Krafträder O busse 540 930 15 4489 1892 33 13941 229 47 23192 738 70 30685 1414 70 42423 3179 85 43772 3410 87 44383 3557 86 44657 3657 86 45023 3745 86 45376 3828 86
Lastkr aftw agen 385 681 1028 1277 1389 2491 2611 2649 2619 2586 2572
Bis einschl. 1990 früheres Bundesgebiet, 1950 ohne Saarland und Berlin-W est; ab 2000 Deutsc hland bis 1990 Bes tand 1.7; ab 2000 Bestand am 1.1. (Quelle: Kraftfahrt- Bundesamt)
Quelle: Bundeszentrale für Politische Bildung 2006 Mit der Expansion des Automobilbesitzes und der Nutzung von Automobilen gehen bald auch Wahrnehmung und Bearbeitung von negativen Folgen der Automobilisierung einher. So werden etwa das Unfallgeschehen, die Schadstoff-
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Gert Schmidt
und Lärmbelastungen sowie der Verkehrsstau und der Flächenverbrauch in der Bundesrepublik Themen allgemein gesellschaftlichen und vielgestaltigen fachlichen Gesprächs. Die ökonomischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen der Automobilisierung werden als Problem erkannt und Gegenstand öffentlicher Debatten und politischer Gestaltung.3 Nicht zuletzt findet die rasante kulturelle Automobilisierung Niederschlag in Literatur und darstellender Kunst. In dem Band „Technik in der Literatur“, herausgegeben von Harro Segeberg (1987) schreiben Jürgen Link und Siegfried Reinecke unter dem Titel Autofahren ist wie das Leben – Metamorphosen des Autosymbols in der deutschen Literatur: „Seinen endgültigen ‚Durchbruch‘ zum dominierenden Symbol unserer Kultur erlebt das Auto erst in der zweiten Nachkriegszeit. Einige kunstliterarische Zeugnisse aus den ersten Jahren der Bundesrepublik dokumentieren noch die Enttäuschung der um ihr persönliches mobiles Glück betrogenen Volkswagensparer, während andere bereits die fundamentale Bedeutung des Autos als Option auf eine gerechtere Gesellschaftsform, auf technischen und damit auch sozialen Fortschritt reklamieren. Werk und Produktionsort des Volkswagens werden zum repräsentativen Symbol für die demokratische Erneuerung Deutschlands stilisiert, die Konstrukteure und Arbeiter aber zu typischen Charakteren deutschen Wiederaufbauwillens. Der Volkswagen selbst wird […] als geniale Ingenieurleistung dargestellt, deren eigentliche Bestimmung von den Faschisten pervertiert worden sei. Befreit von ideologischer Vereinnahmung, führe das technische Artefakt Auto – zugleich jedoch ‚eine so natürliche Sache, wie sie Gott bei Schöpfungsbeginn vor Augen stand‘– zu einer Metamorphose des kriegerischen (faschistischen) Unmenschen zum friedfertigen und glücklichen Auto-Menschen, sobald er den Starter betätige“ (Link/Reinecke 1987: 114). Wolfgang Koeppen (1959) illustriert in einer Passage seines Buches Amerikafahrt die in den 50er und 60er Jahren im europäischen Bildungsbürgertum weit verbreitete Ambivalenz-Erfahrung der Verknüpfung von Amerika und Automo3
Verfolgt man die kritische Diskussion, so steht zunächst mit Blick auf sich häufende Unfälle und die Kosten für einzelne und die Gemeinschaft die Einflussnahme auf den einzelnen Autofahrer im Vordergrund: Geschwindigkeitsbegrenzung im Stadtbereich, gezielte AufklärungsWerbung in den Medien, Verschärfte Sanktionierung und Nutzung von Möglichkeiten technischer Verkehrsüberwachung. Hinzu kommen Bemühungen um neue bessere Verkehrsführung (autogerechter Straßenbau – Kreuzungsfreie Autobahnverknüpfungen etc.) und verbesserte Organisation der Unfallfolgen-Versorgung (spezielle Klinikabteilungen, Rettungswagen und hubschrauber etc.). An zweiter Stelle werden Fragen an das Automobil selbst gestellt – an dessen aktive und passive Sicherheitsausstattung (Vorbereitung des Fahrzeuges auf mögliche und realisierte Unfallereignisse im Sinne von Bremsqualität, Straßenlage etc. zum einen und Gestaltung des Fahrzeuginnenraums und der Verformbarkeit des Karosseriekörpers – Stichwort: Knautschzone – im Kollisionsfalle zum anderen). Und erst an dritter Stelle schließlich wird dann Automobilisierung, d. h. kollektives und individuelles Mobilitäts-Verhalten mit dem Automobil kritischem Raisonnement ausgesetzt.
Automobil und Automobilismus
353
bilität: „Das Land, das ich sah, dieser Strich des Landes vor dem noch immer nicht humanisierten Wald, dieser der Wildnis abgetrotzte Garten schien weniger von Menschen als von Automobilen bewohnt zu sein. Die Kraftwagen beherrschen die Landschaft, sie standen in Rudeln vor jedem Haus, kampierten in Waldeslichtungen, ergingen sich an den Flüssen, hatten ihre Drive-in-Restaurants, ihre Drive-in-Kinos auf freiem Feld, ihre eigenen Hotels und ihre riesigen, überaus melancholischen Friedhöfe. Zuweilen standen zwei Wagen, wie in einer Unterhaltung begriffen, in einsamster Natur, nicht die Menschen, die Automobile schienen die Herren des Erdteils zu sein und sich zu einem Rendezvous verabredet zu haben“ (Koeppen 1959: 45). Auch Kulturkritik und theoretisch anspruchsvolle Gesellschaftskritik fokussiert gerne das Auto und seinen Einfluss auf Handeln und Wünschen der Menschen. Sie entdeckt mit dem Blick auf die Autobegeisterung die eingebauten Ambivalenzen einer Moderne, die sich über materielle Güter und soziale Dynamik gebunden an ökonomische Differenzierung rücksichtslos gegen Mensch und Natur reproduziert. Zu Beginn der 70er Jahre ist die Spannung künftiger Auseinandersetzung um Automobilismus weitgehend vorbereitet: Lust am Auto versus Alptraum Auto.4 4
Der Streit um das Auto – Automobilismus und Vernunft
Die Vor- und Frühgeschichte des modernen Automobilismus ist zunächst geprägt von den Anstrengungen mit Blick auf technische Probleme bezüglich Funktionalität und Praktikabilität der künftig Auto genannten Vehikel: Bereitstellen von technisch vernünftigen Lösungen für die neue maschinenunterstützte Selbstbeweglichkeit beherrscht weitgehend den engeren Fachdiskurs um das Automobil: Lenkbarkeit, Bremsfähigkeit, Vermeiden von Feuer und mechanischen Brüchen (Gestänge und Ketten etc.). Hieran ansetzend wurden die technisch begründeten Themen Zuverlässigkeit, Geschwindigkeit und Sicherheit durchaus interessiert in die allgemeingesellschaftliche Wahrnehmung und Erwartungshaltung in Sachen Automobil gewissermaßen hineingedrückt! Das Angebot wurde rasch erkannt: mittels Ingenieursleistungen vorgestellte technische Lösungen ermöglichen ökonomische und private (aber auch spezifisch militärische) Nutzung der neuen Transport-Technologie. Freude am Fahren und am Fahrzeugbesitz sind in den ersten Autojahren ebenso wenig sozial sensibel, d.h. die gesellschaftliche Diskussion bewegende Gegebenheiten, wie ökonomische und ökolo4
Heute wieder lesenswert ist die umfassende, der zeitgenössischen Rezeption der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie verpflichteten Studie ‚Zur sozio-ökonomischen Bedeutung des Automobils’ Krämer-Badoni et al. 1971 .
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gische Folgen der Herstellung und Nutzung des neuartigen Mobiles. Die gesellschaftliche Schonzeit des modernen Automobils dauerte aber nicht lange; die Nutzung des neuen Produktes technischer Vernunft – der Auftritt des Autos im öffentlichen Raum – provoziert rasch Unvernunfts-Urteile nichttechnischer Art: Die Folgen des Gebrauchs von Automobilen für stabilisierte Erfahrungswerte und Strukturen von Lebenswelt werden nicht nur als unvernünftig, sondern gefährlich oder gar „teuflisch“ gebrandmarkt. Die unmittelbare psycho-physische Begegnung mit einzelnen und bald mit einer Menge von Motorwagen in eingeübten Lebenswelt-Natur-Zusammenhängen definiert die Themen der Kritik am Auto und an den Autofahrern, den “Autlern“: Lärm, Staub, Unfallgefährdung. Der Widerstand gegen die Anpassung des Menschen an die neuen Herausforderungen mit der Automobilisierung wird im Namen der Vernunft artikuliert. Freilich: Vernunft reklamieren zeitgleich auch die Interessenten am Automobil: Kosteneinsparung, Zeitgewinn, neue Freiheiten, Lebensfreude, d.h. erweiterte Möglichkeiten von Lebensweltgestaltung durch das Automobil wird als vernünftig vorgetragen. Ab den zwanziger Jahren reüssiert das Automobil als anerkanntes Element sogenannter „Zweiter Natur“ (Dieter Claessens). Das Auto ist nicht mehr gegen Lebenswelt gesetzt – sondern ist integrierter Bestandteil von Lebenswelt (in) der Moderne. Zum gefestigten (Selbst-)Verständnis der Moderne gehört nicht nur die Akzeptanz des Automobils als zweckdienliches Instrument, Raum und Zeit besser zu beherrschen sowie die Legitimierung individueller Nutzung des Autos, sondern auch die soziale Emotionalisierung und Ästhetisierung des Automobils; die Generierung von Autobesitz und Automobil-Gebrauch als Ausdruck der Lustbefriedigung, der Geschmacks-Entfaltung und der Ausbildung sozialer Distanz und vielgestaltiger sozio-kultureller Differenzierung. Zur modernen Normalität der Fusion von Automobil und Lebenswelt, bzw. der Automobilisierung von Lebenswelt gehören aber auch qualitativ neue Themen der Kritik an realisierter Automobilität. Neben dem Problem der Umweltbelastung ist dies etwa die Tatsache der ungleichen Chancen von Mitgliedern der Gesellschaft an Automobilität teilzuhaben, oder auch die material und sozial diskriminierenden Konsequenzen der Nichtteilhabe an Automobilität. Mit der Automobilisierung der Alltagskultur sind nicht zuletzt neue Interessenskämpfe und Machtrelationen verbunden. Das Automobil bringt nicht nur Mobilitäts-Freiheiten und Mobilitätserweiterung, sondern auch Zwang zu spezifischer Mobilität und Einschränkung von Mobilität. Der Prozess der Inklusion des Automobils provoziert radikal neue qualitative Besetzungen der Debatte um Vernunft versus Unvernunft von Automobilität: Kriterien technischer Vernunft werden ergänzt durch ökonomische Relationen (Warencharakter) und soziokulturelle Vermessungen des Produktes Auto, wobei mit der sozietalen Inklusion des Autos als Ware die Wucht der ökonomischen (sprich kapitalistischen) Relationierung von Lebenswelterfahrung und -bewertung zuneh-
Automobil und Automobilismus
355
mend auch das Produkt Automobil sowie die Rede vom vernünftigen Auto besetzt. Die Frage der Vernunft der (Be-)Nutzung von Automobilen, das Thema Automobilismus, emanzipiert sich von den Referenzen Natur und traditionale soziale Lebenswelt. Die Entfaltung der differenzierten Konsum-Gesellschaft macht Platz für Genuss und ökonomischen Erfolg allzu offensichtlicher Unvernunft. Vernünftigkeit zeigt sich als Gegenstand polyvalenten und schwankenden Gespräches in der Gesellschaft: was vernünftig ist, was als vernünftig gilt, droht verloren zu gehen zwischen Intellektuellen-Schelte und ökonomisch interessierter Herrschaftssprache. Wie bezüglich anderer gesellschaftlicher Handlungs- und Artefakt-Realien auch – Architektur, Bekleidungsmode, Freizeitverhalten – wird mit Blick auf den Gegenstand Automobil die Orientierungsachse Vernunft versus Unvernunft äußerst produktiv aufgehoben; das vernünftige Automobil gerät zur Spezialität. Die Entfesselung kapitalistischer Produktionsweise und moderner Massenkonsumkultur relativiert und sublimiert den emphatischen Anspruch auf Vernunft – ohne dass das Thema aber neutralisiert würde. Der Topos des vernünftigen Autos und die Vision einer vernünftigen Automobilität bewähren sich in der hochautomobilisierten Alltagswelt als kritisches Dauer-Raisonnement des Ausschöpfens von Artikulationschancen möglicher anderer, respektive ‚besserer’ Welten. 5
Bemerkung zur Situation von Automobilismus in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts
Beobachtet wird eine Differenzierung und Pluralisierung von Autokultur: Sogenannte Nischenmärkte gewinnen an Bedeutung! Vor dem Hintergrund der Negativwahrnehmung von Flächenbebauung, Lärm- und Schadstoffbelastung, insbesondere aber als Reaktion auf sich verschiebende Kosten, verliert das Automobil in einigen Bereichen von Mobilität an Alleinstellungskraft und Dominanz. Die unten stehende Grafik informiert über eine doppelte Entwicklung von Automobilität in Deutschland: Einer geringeren Fahrleistung pro Pkw und zurückgehendem Verbrauch pro Pkw steht eine beachtliche Steigerung der Zulassungszahlen gegenüber.
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Grafik 1-3: Pkw-Entwicklung in Deutschland Pkw-Bestandsentwicklung
Pkw-Jahresfahrleistung
Pkw -Durchschnittsverbrauch
in Mio.Stück
in 1.000 km/Jahr
in l/ 100 km
47
9,5 9,3 45,3
45
9
14000
8,5 12.520
43
8
12000
7,9
41
11.500
40,4
39
10000
1995 2000 2002 2003 2004
7,5
7 1995
2000
2002
2003
2004
1995
2000
2002
2003
2004
Quelle: ARAL-Daten-Heft 2005 Keine Frage: Das Automobil bleibt präsent und nicht nur ökonomisch sondern auch kulturell in Bewegung, d.h. es zeigen sich immer wieder auch neue Terrains für Automobilismus auch in den bereits fortgeschrittenen Ländern der Automobilisierung. Ungeachtet robuster Vorhersagen eines auch in den nächsten Jahren noch beachtlichen Anstieges individueller Massenmobilität und des automobilen Verkehrsaufkommens insgesamt in den wirtschaftlich entwickelten Regionen: Mit Blick auf unsere, die so genannte privilegierte Welt – Nordamerika, Japan und Westeuropa – gibt es viele Anzeichen dafür, dass die weitere Entwicklung von Automobilen und Automobilismus im Sinne eines evolutionären Wandels deutlich de-dramatisiert verlaufen wird. Hierzu gehören Sachverhalte wie Zurückdrängung des Autos aus bestimmten Lebensweltbereichen, Reduzierung von Schadstoffbelastungen, Erhöhung der aktiven und passiven Fahr- und Unfallsicherheit und die Entwicklung von effektiven Verkehrsleit- und BremsHilfssystemen etc. Auch ist vor dem Hintergrund um Anstrengungen qualitativer Verbesserung von Urbanisierung eine zunehmende Bedeutung von öffentlichen Verkehrsmitteln absehbar (vgl. zum öffentlichen Verkehr Dziekan in diesem Band). Es darf auch notiert werden, dass es neben ökologie-technisch besseren Autos und den viel gelobten und teuer verkauften Verkehrsleitsystemen auch neue Sozialformen und Kultivierungen der Automobilnutzung gibt in Form von Stadtteilautogruppen, raffinierten Leasingformen und Verkehrskonzepten. So mag die künftige Automobilisierung bei uns im Sinne eines sukzessiven Umbaus verhältnismäßig undramatisch verlaufen. Dementsprechend beantwortete der Münchener Technikhistoriker Ulrich Wengenroth die Frage, welche Autos brauchen wir:
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Automobil und Automobilismus
1) Autos, die mit minimalem Energieaufwand fahren. 2) Autos, die unsere sekundären/sozialen Bedürfnisse befriedigen. Da wir uns im Konfliktfall zwischen 1) und 2) in der Regel für 2) entscheiden, bleiben als Kompromissstrategien: a. b. c.
Wir favorisieren 1), bauen die öffentlichen Verkehrsmittel aus und verbieten unnötige Autos und unnötiges Fahren Wir untergraben das soziale Kapital des Autos nach Vorbild des metropolitanen Lebensstils („Autos sind spießig“). Wir forcieren nach dem Vorbild der Computer/Handys usw. die elektronischen Erlebnis- und Distinktionsmerkmale des Autos zulasten der motorischen. (Wengenroth: 2007)
Konterkariert wird dieses milde-freundliche automobilistische Entwicklungsszenario allerdings von den doch beachtlich dramatischen Erwartungswerten, die mit Automobilisierung der noch nicht industrialisierten Weltregionen verknüpft sind. Das folgende kleine Zahlenwerk sollte zur Nachdenklichkeit in Sachen ‚Globale Zukunft der (AUTO)Mobilität’ anregen: Tabelle 2: Trendprognose des Fahrzeugbestands 1995-2015 (in Mio.) World Western Europe N-America Japan Korea Rest of Asia Eastern Europe Cen. & S-America Rest of world
1995 663 190 229 66,8 8,5 32,7 52 35,5 30
proj. 2015 over 1000 230 295 76,8 22,1 138,1 99,2 22,5 49,1
Quelle: OECD (1997) Das Autoindustrieland Deutschland sieht sich um die Jahrtausendwende in einer ambivalenten Situation: zum einen ist nicht zu übersehen, dass deutsche Pkw hinsichtlich Technologie und Design insbesondere im sogenannten PremiumBereich die führende Position behaupten, bzw. wieder gewonnen haben, zum anderen signalisieren die globale Automobilisierung und sozialstrukturelle sowie mobilitätskulturelle Entwicklungen in den hoch-industrialisierten Gesellschaften vor dem Hintergrund von steigenden Energiekosten für den einzelnen Haushalt, sozio-ökonomischen Polarisierungstendenzen in den wichtigsten europäischen
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Märkten, und sich doch langsam wandelnder kollektiv-emphatischer Besetzung von Auto-Besitz und -nutzung neue ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen von Automobilisierung in breiten bürgerlichen Schichten, die auch für seit Jahrzehnten bewährte Darstellungs- und Entwicklungs-Modelle von Automobilismus in Deutschland und aus Deutschland starke wirtschafts- und technologiepolitische Herausforderungen darstellen (Stichworte sind: die Bedeutung neuer Antriebssysteme – Hybridmotoren und E-Mobilität – neue Attraktivität von Kleinwagen, Erfolge neuer Billig-Automobile, und schwer prognostizierbare Dynamiken auf den sog. emerging markets). Fazit Erstens: Ein „Weiter so wie bisher“ in Sachen Automobilisierung wird nicht mehr lange möglich sein. Zweitens: Eine Abschaffung des Automobils ist – zumindest kurz- bis mittelfristig! – nicht möglich und kaum erstrebenswert. Die Autokritik hat deutlich erkennbar die eingebaute Argumentationsfigur gewechselt von „Gegen das Auto“ zu „Mit dem Auto“.5 Das historische Projekt Automobil ist noch nicht erledigt: Der „Stolz des Autobesitzes“ und die „Freude am Fahren“ hat noch Zukunft – die Kritik an vielgestaltigen Folgen der Automobilisierung für die individuelle und soziale Lebenswelt im Namen der Vernunft und Automobilismus gestaltende Verkehrspolitik werden dranbleiben müssen. Quellen Aral-Daten-Heft 2005. Bolte, Karl M., Dieter Kappe, Friedrich Neidhardt (1974): Soziale Ungleichheit. Opladen. Bundeszentrale für Politische Bildung (2006): Datenreport. Bonn. Finley, Pamela (1999): Der Einfluss des Automobils auf das Reiseverhalten seit der
5
Zur Neutralisierung der Fundamental-Autokritik hat die wissenschaftlich-technische Entwicklung in der Energiefrage beigetragen Die einst viel versprechende Argumentationsfigur: „Ende des Automobilismus mit dem Versiegen der Ölquellen“ schreckt längst nicht mehr. Brennstoffzellenkonzepte und diverse Möglichkeiten von Bioenergienutzung und jüngst v.a. die erstaunliche Wiederbelebung des Themas Elektroantrieb, geben Anlass zur Annahme anhaltender Automobilität auch jenseits des Öl-Zeitalters!
Automobil und Automobilismus
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Epochengrenze zur motorisierten Gesellschaft. Eine Seminararbeit im Rahmen der Forschungsgruppe Automobil und Kultur am Institut für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Krämer-Badoni, Thomas/Herbert Grymer/Marianne Rodenstein (1971): Zur sozioökonomischen Bedeutung des Automobils’. Frankfurt/M. Mönnich, Horst (1951): Die Autostadt. München. Möser, Kurt (2002): Geschichte des Autos. Frankfurt/New York. OECD (1997): Proceedings: Market Access Issues in the Automobile Sector. Washington. Link, Jürgen/Siegfried Reinecke (1987): Autofahren ist wie das Leben – Metamorphosen des Autosymbols in der deutschen Literatur. In: Harro Segeberg (Hrsg.): Technik in der Literatur. Frankfurt/M. Wengenroth, Ulrich (2007): Welche Autos brauchen wir? Vortrag in der DFG-Reihe „EXKURS-Einblicke in die Welt der Wissenschaft“ in München am 5.7.2007
Weiterführende Literatur Braess, Hans-Hermann/Ulrich Seiffert (2007): Automobildesign und Technik. Wiesbaden. Canzler, Weert/Gert Schmidt (2003): Das Zweite Jahrhundert des Automobils. Berlin. Canzler, Weert/Gert Schmidt (2008): Zukünfte des Automobils. Berlin. Möser, Kurt (2002): Geschichte des Autos. Frankfurt/New York
Fuß- und Radverkehr – Flexibel, modern und postfossil
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Fuß- und Radverkehr – Flexibel, modern und postfossil Jutta Deffner Fuß- und Radverkehr – Flexibel, modern und postfossil Einführung Über den Sinn, den Fuß- und Radverkehr zu fördern, mag heute niemand mehr streiten. Gehen und Fahrradfahren leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die physische Mobilität auf nachhaltige Weise sicherzustellen. Dem nichtmotorisierten Verkehr kommt nicht nur in ökologischer und klimapolitischer Hinsicht eine entscheidende Rolle zu. Abbildung 1:
Modern Times
(Quelle: unbekannt) Zufußgehen und Fahrradfahren können auch als sozial und ökonomisch nachhaltig bezeichnet werden. Beide Fortbewegungsarten sind für alle Bevölkerungsgruppen erschwinglich. Die Attraktivität und Aufenthaltsqualität öffentlicher Räume hängt nicht unerheblich mit dem Anteil Fußgehender und FahrradfahrenO. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jutta Deffner
der zusammen. Gleichzeitig fördern Fußgänger und Radfahrer die Nahversorgung – sie kaufen zwar kleinere Mengen, dafür aber häufiger als Kunden, die mit dem Auto kommen. Die gesundheitliche Dimension des Gehens und Radfahrens lässt sich an folgenden Zahlen veranschaulichen: Die Bewegungsarmut der Menschen in den Industrieländern gilt laut WHO-Bericht nach dem Rauchen als zweitwichtigster gesundheitlicher Risikofaktor und ist Mitverursacher von Zivilisationskrankheiten wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die WHO belegte 2002, dass allein in der Schweiz 1,4 Millionen Krankheitsfälle und 2.000 Sterbefälle jährlich aus Bewegungsarmut resultieren und Kosten von ca. 18 Millionen Euro verursachen. Gehen und insbesondere Fahrradfahren tragen zu Autonomie und der Vergrößerung des kindlichen Aktionsraumes bei. Fahrradfahren ist nicht nur in Bezug auf die Entwicklung einer eigenständigen Mobilität grundlegend, sondern hat für die Entwicklung psychomotorischer Fähigkeiten und des räumlichen Vorstellungsvermögens eine große Bedeutung. Kinder und Jugendliche leiden aber zunehmend unter motorischen Defiziten und mangelnder Bewegung. Gehen ist die ursprünglichste Art des Menschen sich fortzubewegen. Das Fahrrad entwickelte sich als das erste Massenverkehrsmittel mit mechanischer Unterstützung, aber ohne externe Energiezufuhr. In dem folgenden Beitrag geht es um die Bedeutung und die Perspektiven des nichtmotorisierten Verkehrs. Im Vordergrund stehen dabei die individuellen Bedürfnisse und die planungspolitischen Randbedingungen nichtmotorisierter Mobilität. 1
Thesen zum nichtmotorisierten Verkehr
Radfahren und Zufußgehen haben in vielen Ländern Europas in den letzten 15 bis 20 Jahren eine Aufwertung erfahren. Es stellt sich allerdings die Frage, was sich dabei entwickelt hat: die öffentliche Wahrnehmung, das Bewusstsein, die Förderstrategien oder tatsächlich die Anteile des nichtmotorisierten Verkehrs? Die Umweltentlastungspotenziale des nichtmotorisierten Verkehrs sind hoch, gleichzeitig sind die Investitionskosten für bessere Bedingungen relativ gering. Auch deswegen ist in den letzten zehn Jahren ein verstärkter politischer Konsens zu beobachten, den nichtmotorisierten Verkehr auf lokaler, nationaler und auch internationaler Ebene zu fördern. Dieser nahezu parteiübergreifende Konsens wirkt sich aber bisher nicht im Sinne einer Trendwende aus. Eine These hierzu ist: Die Tücke steckt im Detail. Um qualitätsvolle und dichtmaschige Infrastruktur und Angebote zu schaffen, bedarf es hoher Detailkenntnis, welche Bedürfnisse und Anforderungen die Nutzenden haben. Ein weiterer Aspekt ist eine integrierte Planung, die nicht nur die Dimensionen Infrastruktur und Angebote berücksichtigt, sondern auch kommunikative Aufgaben erfüllen kann.
Fuß- und Radverkehr – Flexibel, modern und postfossil
363
Ein weiterer Grund der eher geringen Bedeutung des Fuß- und Radverkehrs besteht nach Ansicht einer kritischen Verkehrswissenschaft darin, dass der nichtmotorisierte Verkehr lange von sogenannten silenced groups (Kinder, Jugendliche, Senioren, Frauen) dominiert wurde. Es könnte also sein, dass die Kombination von ruhigen Verkehrsarten – zu Fuß und mit dem Fahrrad – und den silencend groups lange zu einer Marginalisierung führte und beim Fußverkehr auch immer noch führt. 2
Fuß- und Radverkehr im Wandel verkehrsplanerischer Paradigmen
Durch die Massenmotorisierung in den westlichen Industrieländern in den 1960er und 1970er Jahren konzentrierte sich die Forschung auf die technischen Erfordernisse des Autoverkehrs. Es wurde viel gebaut, um die Städte und Länder autogerecht zu gestalten. Die Umsetzung der Planungen benötigte verkehrswissenschaftliche Weiterentwicklungen, womit umfangreiche Kapazitäten gebunden wurden. Gleiches fand zum Fuß- und Radverkehr in dieser Zeit kaum statt. 2.1 Entwicklung und Status quo der Mobilität zu Fuß und mit dem Rad1 Gehen und Fahrradfahren waren lange Zeit dominant für eine individuelle Mobilität, wenn man von der Fortbewegung zu Pferde/in Kutschen absieht. Das Fahrrad als Massenverkehrsmittel erlebte seinen Höhepunkt in der Zeit, als es durch die industrielle Produktion erschwinglich für jedermann und jede Frau wurde (siehe Abb. 2). Der Bedeutungsverlust der nichtmotorisierten Fortbewegung wird sichtbar an den seit den 1960er Jahren rückläufigen Verkehrsanteilen vor allem des Fuß-, aber auch des Radverkehrs.2 Fahrradfahren und Gehen werden seit dieser Zeit als unzeitgemäß und unbequem in den neu entstandenen autogerechten Strukturen gesehen. Bis weit in die 1990er Jahre, teilweise auch noch heute, bewerten Planer und Politiker die wirtschaftliche Bedeutung des Rad- und Fußverkehrs als unbedeutend. Die Entwicklung spiegelt sich im dramatischen Rückgang der Fußverkehrsanteile im Modal Split und der Stagnation des Radverkehrs auf niedrigem Niveau. Der Abwärtstrend der Radverkehrsanteile setzte bereits in den 1950er und frühen 1960er Jahren ein (Abb. 2). Erst in den letzten zehn Jahren konnten Fuß- und Radverkehr in Deutschland wieder an Bedeutung gewinnen (Abb. 3).
1 2
Soweit nicht anders angegeben: Daten zum Verkehrsverhalten aus: infas/DLR 2010 Wichtig ist dabei die Unterscheidung des Modal Split über die Verkehrsleistung (Personenkilometer pro Tag) und über das Verkehrsaufkommen (Anzahl Wege pro Tag).
364 Abbildung 2:
Jutta Deffner
Bedeutungsentwicklung des Fahrrades als Verkehrsmittel
Quelle: aus Gather et al. (2008) Abbildung 3:
Modal Split (Wege) in der Zeitreihe 1976 bis 2008
Quelle: infas/DLR (2010)
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Røe (2000: 102) sieht den Grund für diese Entwicklung auch in politischgesellschaftlichen und forschungsmethodischen Gründen. Er führt an, dass nichtmotorisierte Verkehrsarten von den bereits erwähnten silenced groups dominiert werden. Die Entwicklung und Planung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) wird dagegen überwiegend von Männern dominiert. Diese Ungleichheit bedingt, dass die meisten Investitionen, auch Forschung, im Sektor des motorisierten Verkehrs getätigt werden. Røe resümiert, dass die Verkehrswissenschaften bis weit in die 1990er Jahre hinein vorwiegend mit standardisierten Methoden gearbeitet haben. Solche mathematisch-statistischen Erhebungsmethoden eignen sich für die Analyse des motorisierten Verkehrs, nur bedingt aber für die des Fuß- und Radverkehrs. Das Verkehrsaufkommen (Wege pro Tag) des Fußverkehrs macht derzeit 24 Prozent aus, das des Radverkehrs zehn Prozent im Vergleich zu neun Prozent des öffentlichen Verkehrs und 58 Prozent des motorisierten Individualverkehrs. Werden alle 281 Millionen Wege betrachtet, die pro Tag in Deutschland zurückgelegt werden, ist in etwa die Hälfte davon nur bis zu drei Kilometer lang. Knapp ein Viertel aller Wege mit dem Auto ist kürzer als drei Kilometer und die Hälfte ist kürzer als fünf Kilometer. Hier besteht also nach wie vor ein hohes Verlagerungspotenzial. Dagegen sind 85 Prozent aller Wege zu Fuß kürzer als drei Kilometer. Beim Fahrrad sind es ca. 75 Prozent. In urbanen Räumen sind diese Anteile sogar noch größer.3 Fast 20 Prozent aller Bundesbürger nutzen das Fahrrad täglich oder fast täglich. Weitere 20 Prozent fahren noch an ein bis drei Tagen pro Woche mit dem Rad. In ländlichen Räumen ist Fahrradnutzung höher als in hoch verdichteten Agglomerationsräumen. Schüler und Erwerbstätige ohne Auto sind die fahrradaktivste Gruppe (36 Prozent und 37 Prozent fast tägliche Nutzung). Nicht Erwerbstätige (zum Großteil Senioren) nutzen das Fahrrad am wenigsten. Nur 18 Prozent der Haushalte haben in Deutschland kein Auto. In Großstädten ist dieser Anteil aber entscheidend höher. Die multimodale Kombination von Verkehrsmitteln ist bei Erwerbstätigen ohne eigenes Auto am größten: Sie legen 44 Prozent ihrer Wege zu Fuß, 25 Prozent mit dem Öffentlichen Personenverkehr (ÖPV), 17 Prozent mit dem Rad und nur 14 Prozent mit dem Auto zurück. Die Kombination ÖPV und Fahrrad wird aber bislang nur auf fünf Prozent der Wege mit dem ÖPV genutzt. Zu bedenken ist dabei, dass jeder Weg mit dem ÖPV auch mit einem Fußweg zusammenhängt. Bei dem Großteil aller Wege ist eine Etappe zu Fuß enthalten.4
3 4
Quelle: infas/DLR 2010 Ein Weg setzt sich meist aus verschiedenen Etappen zusammen, sobald mehr als ein Verkehrsmittel genutzt wird.
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Zu Fuß und mit dem Rad werden vor allem Ziele in der Freizeit angesteuert, zum Einkaufen, für Ausbildungswege und für private Erledigungen (Abb. 4). Abbildung 4:
Hauptwegezwecke nach Verkehrsmitteln. Angaben in Prozent
Quelle: infas/DLR (2010) Am Beispiel des Wegezwecks Einkaufen wird deutlich, dass vor allem auf Einkaufswegen im Nahbereich und ins Zentrum zu Fuß gegangen oder das Fahrrad genutzt wird. 44 Prozent aller Einkaufswege im Nahbereich werden zu Fuß, zwölf Prozent mit dem Fahrrad durchgeführt. Die Anteile der Fußwege am Modal Split gehen in den letzten Jahren, wenngleich langsamer, immer weiter zurück. Sowohl in der Planungspraxis wie auch in der Forschung wird der Fußverkehr meist immer noch als marginale Randerscheinung behandelt. Qualitativ hochwertige Planung von Fußwegen und öffentlichen Räumen wird zwar oftmals postuliert, dann aber als Luxus abgewertet. Die meisten Fußverkehrsnetze konzentrieren sich auf die Citybereiche und sind oft inselhaft. Ausnahme ist das Land Berlin. Im Jahr 2010 soll dort die erste Fußverkehrstrategie einer europäischen Stadt verabschiedet werden, der Entwurf ist fertiggestellt. Aber es gibt bislang keinen nationalen Fußverkehrsplan oder
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Masterplan Pedes.5 Auch in der Wahrnehmung der Verkehrsteilnehmenden spielt das Zufußgehen eine untergeordnete Rolle – die Selbstwahrnehmung „ich bin eine Fußgängerin“ ist selten. Werden Personen nach ihrem Verkehrshandeln befragt, vergessen sie oftmals die Fußwege. Wie kommt die verzerrte Wahrnehmung von nichtmotorisierten Wegen zustande? Sie liegt einerseits sicher begründet in der Selbstwahrnehmung und tendenziell gefühlten Unterordnung der Nutzerinnen und Nutzer im Straßenverkehr. Der nichtmotorisierte Verkehr erscheint auch häufig in der Darstellung der Verkehrsleistung anhand zurückgelegter Kilometer unbedeutend. Dies wird an Abbildung 5 deutlich. Gehen und Fahrradfahren werden oftmals mit einer herausgehobenen Gefährdung im Straßenverkehr assoziiert. Die Fortbewegung ohne Hülle bietet das direkte Erleben der unmittelbaren Umgebung, dafür aber keine Knautschzone. Insgesamt nehmen die Unfälle mit Personenschaden im Verkehr in den letzen Jahren ab, sowohl die Zahl der Verletzten als auch der Getöteten (Stand 2009: ca. 400.000 Verletzte und 4.100 Tote). Ein Blick in die Unfallstatistik des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass die Zahl der verletzten und der getöteten FußgängerInnen in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hat (Stand 2008: 32.800 Verletzte, 592 Getötete). Bei FahrradfahrerInnen hat die Zahl der Verletzten zugenommen (Stand 2009: 78.967). Die Anzahl getöteter Radfahrer hat ihren Tiefstand im Jahr 2007 mit 425 erreicht und ist seitdem wieder leicht ansteigend (462 in 2009). Es existieren verschiedene Untersuchungen, ob mit zunehmendem Radverkehrsanteil in Städten beispielsweise die Zahl der Unfälle vorübergehend zunimmt, Praktiker und Wissenschaftler nennen oft die These, dass bei ansteigendem Radverkehrsanteil die Unfälle zwischen Radfahrern zunehmen. Bei dichterem Radverkehr nehmen die Konflikte zwischen Rad- und Autoverkehr ebenfalls zu. Zielsetzung einer integrierten Planung sollte es daher sein, den Stadt- bzw. Innerortsverkehr, so zugestalten, dass Unfälle zwischen motorisiertem Verkehr und nichtmotorisiertem Verkehr nur mit geringer Schwere ausfallen (Abschnitt 5).
5
Es gibt lediglich das Positionspapier der AG Fußverkehr der SRL und des FUSS e.V. zur Förderung des Fußverkehrs auf Bundesebene aus dem Jahr 2000.
368 Abbildung 5:
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Gegenüberstellung der Anteile des nichtmotorisierten Verkehrs, ausgedrückt in der absoluten Wegezahl (oben) und in der Verkehrsleistung in Personenkilometern.
Quelle: infas/DLR (2010)
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2.2 Blick in andere Länder Innerhalb der EU zeigen vor allem die Strategiepläne zur Radverkehrsförderung in Großbritannien (vgl. Department for Transport 1996), Dänemark, den Niederlanden (vgl. Directoraat Generaal Personenvevoer 1998) und der Schweiz, welche Länder besonders auf den Radverkehr, aber auch den Fußverkehr setzen. So bezieht das Leitbild Langsamverkehr der Schweiz (vgl. Bundesamt für Straßen 2002) explizit den Fußverkehr ein. Andere Initiativen wie die walking busses in England und Schweden oder Fußverkehrsförderungen in Städten wie Grenoble und Kopenhagen zeigen dies auch. Neben den Umweltentlastungspotenzialen stehen dahinter oft gesundheitspolitische Ziele. Als Hauptverkehrsmittel hat das Zufußgehen in Großbritannien, Österreich, Finnland und Norwegen ähnlich hohe Anteile wie in Deutschland. Die Niederlande weisen durch ihren sehr hohen Radverkehrsanteil einen leicht niedrigeren Anteil von Fußwegen auf (vgl. BMVBW/PGV 2005). Die Bevölkerung der Schweiz legt 40 Prozent aller Wege zu Fuß zurück, dies ist in Europa der höchste Anteil, der jedoch zum Teil auf einen anderen Erhebungsansatz zurückzuführen ist. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Radverkehrsanteile in verschiedenen europäischen Ländern und Top-Runner-Städten. Unabhängig von der tatsächlichen Fahrradnutzung machen in den letzten Jahren auch Länder wie Frankreich (Paris, VelLib) und Spanien (biciBarcelona) durch eine engagierte Fahrradpolitik auf sich aufmerksam. Wenngleich in den USA der Fußverkehrsanteil bei neun und der Radverkehrsanteil unter einem Prozent liegt (2001), gibt es in einigen Städten Bestrebungen, den nichtmotorisierten Verkehr zu fördern (z.B. Davis, Philadelphia). Auch in lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien, Kolumbien oder Nicaragua werden regionale Bestrebungen deutlich, Radverkehrsanteile zu erhalten oder zu erhöhen. In Rio de Janeiro wurde 2005 beispielsweise erstmalig mit einer Publikation auf die Vorteile der Fahrradnutzung, die vorhandene Radverkehrsinfrastruktur und die einzuhaltenden Verkehrsregeln hingewiesen. Andere Städte wie Florianópolis (Brasilien) oder Léon (Nicaragua) haben historisch bedingt einen hohen Radverkehrsanteil. Dessen verkehrspolitische Bedeutung wurde in den letzten fünf bis zehn Jahren erkannt. Im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wurden diese Städte durch die EU gefördert.
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Tabelle 1: Radverkehrsanteile in verschiedenen europäischen Ländern und Städten Land/Stadt Niederlande Zwolle Veenendaal Enschede Amsterdam Dänemark Kopenhagen Odense Schweiz Winterthur Basel Bern Deutschland Münster Freiburg Österreich Salzburg Graz Belgien Gent Schweden Västeras Lund und Malmö Frankreich Straßburg Avignon Italien Ferrera Florenz Parma Irland Dublin Großbritannien Cambridge und Oxford Hull und York Tschechische Republik Prostejov Ostrava, Olumouc, Ceské Budejovice
Quelle: aus Fietsberaad (2009)
Fahrradanteil 26% 36% 32% 31% 28% 15-20% 32% 26% 11% 20% 17% 15% 10% 36% 22% 9% 19% 14% 8% 17% 7% 33% 20% 5% 12% 10% 5% 30% 20% 15% 4% 5% 2% 20% 11% < 5% 20% 5-10%
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2.3 Klima- und Umweltschutz durch nichtmotorisierte Mobilität Der Verkehrssektor ist mit knapp 150 Millionen Tonnen am jährlichen CO2Ausstoß in Deutschland beteiligt – das sind fast 20 Prozent der Gesamtemissionen (vgl. infas/DLR 2010). Der Verkehrsbereich ist derjenige, in dem bisher die geringsten Reduzierungen des CO2-Ausstoßes festgestellt werden können. Dies liegt am Anstieg des Verkehrsaufwandes. Bei einer Fortsetzung dieses Trends wäre auch in Zukunft keine wesentliche Minderung der CO2-Emissionen zu erwarten. Um die Klimaschutzziele der Bundesregierung bis 2020 zu erfüllen, ist dagegen eine Minderung der Emissionen des Verkehrs in der Größenordnung von 40 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr erforderlich (vgl. UBA 2010). Der Beitrag, den der Rad- und Fußverkehr dazu leisten kann, ist bislang schwer zu ermitteln. Dennoch hat das Umweltbundesamt eine solche Abschätzung versucht. Dabei wird von folgenden Randbedingungen ausgegangen: Aktuelle Verkehrserhebungen belegen, dass 50 Prozent aller Pkw-Wege kürzer als fünf Kilometer sind. Sie gelten daher zu mindestens 50 Prozent als verlagerungsfähig auf nichtmotorisierte Verkehrsmittel. Dies entspricht einem CO2Minderungspotenzial im Jahr 2020 von fünf Millionen Tonnen (im Vergleich zum Trend). Im Vergleich zu anderen Maßnahmen erscheint dies wenig (z.B. Energiesteuer 9,5 Millionen Tonnen). Gleichzeitig muss aber beachtet werden, dass der „große Wurf“ im Verkehrsbereich selten ist (außer ökonomische Instrumente wie beispielsweise die Einführung der Kerosinsteuer). Erst durch die Summe von Einzelmaßnahmen entstehen erhebliche Reduktionspotenziale. Außerdem ist die Kosten-Nutzen-Bilanz von Förderungen im nichtmotorisierten Verkehr extrem hoch. Ausgehend von den oben genannten 40 Millionen Tonnen Reduktionsnotwendigkeit pro Jahr entspricht das Einsparpotenzial von fünf Millionen Tonnen 12,5 Prozent. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Förderung von Fuß- und Radverkehr andere Umweltentlastungspotenziale birgt: Lärmreduktion, Reduktion von Luftschadstoffen wie NO2 und PM10. Auch andere Umwelteffekte wie die Verringerung der Flächeninanspruchnahme sind hier zu nennen. 2.4 Förderstrategien für den nichtmotorisierten Verkehr Politisch ist die Förderung des Radverkehrs auf nationaler Ebene anerkannt worden. Ausdruck dessen ist der bereits erwähnte Nationale Radverkehrsplan (NRVP) für die Jahre 2002 bis 2012. Davor lag das Hauptbetätigungsfeld auf Bundesebene lange Zeit lediglich im Bereich des Baus von Radwegen an Bundesstraßen. Der Schwerpunkt der Finanzzuweisungen der Länder an die Kom-
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munen liegt meist auf dem Radwegebau außerorts. Auf der Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung liegt es im Ermessen der Kommunen selbst, in welcher Höhe sie Finanzmittel für den nichtmotorisierten Verkehr aufwenden. Das wichtigste Finanzierungsinstrument des Bundes, um die Kommunen bei baulichen Maßnahmen für den nichtmotorisierten Verkehr zu unterstützen, war bis 2007 das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Es ist in das Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (EntflechtG) modifiziert übernommen worden. Verkehrsentwicklungspläne sind bisher die gängigsten Instrumente, um Ziele für den nichtmotorisierten Verkehr festzuschreiben, die stadtpolitisch abgesichert werden. Weiterhin werden in vielen Städten spezielle Fahrrad- und seltener auch Fußverkehrskonzepte ausgearbeitet, die jedoch keinen bindenden Charakter haben. Fördermittel werden zunehmend aus europäischen Förderprogrammen landesweit oder in Modellstädten/-regionen für Maßnahmen eingesetzt (z.B. Interreg-Projekte). Die Novellierung der StVO ermöglichte rechtlich eine verbesserte Radverkehrsförderung (z.B. Einbahnstraßenöffnung, Radwegebenutzungspflicht, Radwegestandards, Fahrradstraßen etc.). Speziell beim Radverkehr wurde zur besseren Koordinierung der verschiedenen Akteure auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sowie interessierten Arbeitsgruppen inzwischen eine Informations- und Arbeitsplattform im Internet und eine Weiterbildungsakademie durch die „Arbeitsgruppe Radverkehr“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ins Leben gerufen. Für den Fußverkehr existieren solche Aktivitäten höchstens auf kommunaler Ebene. 2.5 Forschung zur nichtmotorisierten Mobilität Die meisten Forschungsarbeiten stellen sich als anwendungsbezogene Planungshandbücher, Leitfäden etc. dar. In diesem Bereich werden im europäischen Ausland, beispielsweise in den Niederlanden, der Schweiz, in Österreich und Skandinavien Handbücher und Leitfäden für fußgänger- und radfahrgerechte Infrastruktur und Angebote erarbeitet. Für den Radverkehr kommt durch den Nationalen Radverkehrsplan zum Ausdruck, dass die Bundesregierung ihren Auftrag stark in den anwendungsbezogenen Aspekten sieht. Die dort formulierten Themen, zu denen aus Sicht der Regierung weiterer Erkenntnisbedarf vorliegt, sind z.B.: Untersuchungen zur Weiterentwicklung von Gesetzen, Verordnungen und Empfehlungen, Fachfragen und Optimierung von Teilbereichen, z.B. Führung des Radverkehrs auf Strecken und an Knotenpunkten, Ermittlung von Kenngrößen zum Radverkehr. Nur als ein Punkt tauchen Fragen zu spezifischen Nutzergruppen oder zur intermodalen Verkehrsmittelnutzung auf.
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Bisher ist wenig über die Gesetzmäßigkeiten des Rad- und Fußgängerverhaltens bekannt. Einige Autoren wie Knoflacher (1995) haben sich über die verkehrstechnische Seite den Bedürfnissen und somit dem Verhalten von Radfahrern und Fußgängern genähert. Es bestehen nur wenige Studien, die sich damit beschäftigen, welche Rolle subjektive Aspekte (Umfeld-, Infrastrukturqualität) bei der Wahl des Fahrrades oder der eigenen Füße als Verkehrsmittel spielen (vgl. BMVBW/PGV 2005; Blumenstein et al. 2002). 3
Verstehen, weshalb jemand nicht zu Fuß geht oder doch gern Fahrrad fährt
In den (sozial-)psychologischen und ökonomischen Wissenschaften wurde eine Vielzahl von Modellen und Ansätzen entwickelt, um Verkehrshandeln und Verkehrsmittelwahl auf einer individuellen Ebene zu erklären. Solche Modelle werden auch herangezogen, um Maßnahmen zu entwickeln, mit denen Verkehrshandeln so beeinflusst werden kann, dass es nachhaltiger wird. Viele dieser Modelle gehen von objektivem und rationalem Handeln bei der Verkehrsmittelwahl aus (z.B. Rational-Choice-Ansätze). Ansätze in der Soziologie gehen davon aus, dass intentionales Handeln wie das Verkehrshandeln nur dann beeinflusst werden kann, wenn die Sinnzusammenhänge verstanden werden und nicht nur nach kausalen Zusammenhängen gesucht wird. Zum Verständnis von Sinnzusammenhängen ist es deshalb nötig, nicht nur die objektiv-rationale Ebene individueller Handlungen zu untersuchen, sondern auch deren emotionale und symbolische Aspekte. Eine Möglichkeit, im Feld des Verkehrshandelns solche objektiv-materiellen und subjektiv-symbolischen Einflussfaktoren zu untersuchen, ist durch Mobilitätsstilanalysen möglich (vgl. Deffner/Götz 2007). Die im sozialen Alltagskontext entwickelten Bewertungen, Vorlieben und Abneigungen, positiven und negativen Emotionen, Prestigebedürfnisse und symbolischen Bedeutungen bezogen auf Mobilität, also das, was zusammengenommen „Mobilitätsorientierungen“ ausmacht, beeinflussen ganz entscheidend den Umgang mit den Verkehrsmitteln. Neben übergreifenden Mobilitätstypologien ist es auch möglich, für spezielle Bereiche wie für das nichtmotorisierte Mobilitätshandeln eine Typologie zu entwickeln. Damit können besser die Wechselwirkungen rekonstruiert werden zwischen materiellen Gegebenheiten (Infrastruktur, Umfeld etc.) und symbolischen Bewertungen (was löst diese bei dem/der NutzerIn aus, was wird assoziiert etc.) auf das nichtmotorisierte Verkehrshandeln. Durch einen solchen Ansatz ist es möglich Entscheidungsträgern und Planern im Rahmen verkehrspolitischer Entscheidungen und auf der Ebene zielgruppengerechter Planung und Kommunikation Ansatzpunkte zu liefern für eine verbesserte Förderung des nichtmotorisierten Verkehrs.
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Im Folgenden wird für eine solche Mobilitätsstilanalyse kurz das methodische Vorgehen, das zugrunde liegende Verständnis von Mobilität und die empirisch erfassten Stile vorgestellt. 3.1 Zur Methode Über qualitativ sozial-empirisch entwickelte Typologien kann ein detailliertes Verständnis der Motive individuellen Verkehrshandelns erreicht werden. Dabei wird das Typische von sozialen Gruppen herausgearbeitet. Mit erfasst werden die persönliche Lebenswelt und sozioökonomische Situation, das tatsächliche Verkehrshandeln sowie die Wahrnehmung des gebauten Raumes und der Raumstrukturen sowie infrastrukturellen Gegebenheiten. Ein geeigneter empirischer Ansatz zur Abbildung von Mobilitätsstilen führt Methoden aus eher getrennten wissenschaftlichen Bereichen zusammen: aus der Lebensstil-, Markt- und Verkehrsverhaltensforschung. Die hier vorgestellte Studie zu Typen nichtmotorisierter Mobilität basiert auf einer qualitativ sozial-empirischen Untersuchung,6 die in Berlin durchgeführt wurde (vgl. Deffner 2009). In drei typischen städtischen Siedlungsstrukturen in Berlin wurden 30 problem-zentrierte Interviews mit BewohnerInnen zu ihrem Mobilitätshandeln geführt. Ergänzend fertigten die Befragten Fotografien ihrer täglichen Wege oder ein Mobilitätstagebuch an. Darüber wurde durch Gebietskartierungen und Experteninterview die objektive Dimension abgebildet. Spezieller Schwerpunkt der entwickelten Typologie ist der Einbezug von Einstellungen zu den und die faktisch vorhandenen baulich-räumlichen Umfeldbedingungen. 3.2 Zugrunde liegendes Mobilitätsverständnis Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen und Voraussetzung für seine kognitive Entwicklung. Verkehr (Verkehrsmittel und Infrastrukturen) ist das Mittel, um im physischen Sinne Mobilität zu ermöglichen. In der Verkehrsforschung wurde lange überwiegend der Grad der räumlichen Erreichbarkeit mit Hilfe von Verkehrsmitteln betrachtet. Ein erweitertes Verständnis (vgl. Jahn/Wehling 1999) erfordert, dass hierzu ebenso der Grad der Erreichbarkeit 6
Zu den Grundzügen qualitativer Sozialforschung siehe z.B. Anselm Strauss (1994) oder Uwe Flick (2000). Qualitative Sozialforschung arbeitet in der Regel auf Basis kleiner Fallzahlen, als Auswertungsmethoden kommen hermeneutisch-heuristische Verfahren zum Einsatz, keine statistischen Auswertungen. In rein qualitativen Studien können keine Aussagen über die Verteilung von z.B. Gruppengrößen über die Bevölkerung hinweg gemacht werden.
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von Gelegenheiten für einzelne soziale Gruppen zählt, oder dass typische Gründe für die Verkehrsmittelwahl und den betriebenen Verkehrsaufwand von individuellen Mobilitätserfahrungen und Werten abhängig sind (vgl. Ahrend 2002: 58). Mobilität wird als multioptionale Fortbewegung verstanden und nicht auf Automobilität beschränkt. In den individuellen Einstellungen schlagen sich gesellschaftliche Mobilitätsleitbilder nieder und sind empirisch nachweisbar. Die Elemente gesellschaftlicher Entwicklungen in Bezug auf Mobilität spiegeln sich deshalb auf der Ebene von Mobilitätsstilen verschiedener sozialer Gruppen wider. Dies betrifft auch diejenigen zu nichtmotorisierter Mobilität. 3.3 Beispiel für emotionale, symbolische und handlungsspezifische Dimensionen der nichtmotorisierten Mobilität Die hier vorgestellte Typologie umfasst sechs Stile nichtmotorisierter Mobilität und einen Einzelfall. Die Exposition zum direkten Umfeld beeinflusst das Zufußgehen und Fahrradfahren stärker als bei anderen Fortbewegungsarten. Dies drückt sich in einer wechselseitigen Beeinflussung von Umfeldqualität und individuellen Einstellungen aus. Die Stile weisen eine unterschiedlich hohe Umfeldsensibilität auf (vgl. Abb. 7). Abbildung 6:
Stile nichtmotorisierter Mobilität
Quelle. Deffner (2009: 206)
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3.4 Kurzbeschreibung der Stile nichtmotorisierter Mobilität Dem Typ Stadtbegeisterung ist es sehr wichtig, in der Alltagsorganisation subjektiv empfundene Flexibilität und Ungebundenheit zu haben sowie sein Bedürfnis nach Stadterlebnis zu stillen. Dies führt bei diesem Typ zu einer multimodalen Nutzung von Verkehrsmitteln und einer aktiven Nutzung des Stadtraumes. Besonders ausgeprägt ist die starke Orientierung zur nichtmotorisierten Mobilität. Sie drückt sich aus in positiven Einstellungen und der ausgeprägten Nutzung. Die nichtmotorisierte Fortbewegung und die sehr differenzierte Wahrnehmung des sozialen und physischen Stadtraums bedingen sich wechselseitig. So wird der Stadtraum stark wahrgenommen. Diese Erlebnisse sind wichtig und so kommt es zu einem sich positiv verstärkenden Effekt. Die Stadtbegeisterten sind im mittleren Alter (25–45 Jahre) und haben teilweise Kinder. Sie besitzen nur teilweise einen eigenen Pkw und wohnen sehr häufig in Altbauquartieren. Sie haben einen eher hohen Bildungsstand und sind dem postmateriellen Milieu zuzurechnen. Ihre ökonomische Situation ist eher unsicher. Der Typ Fahrzeug-Identifikation (Auto- und Fahrrad-Identifikation in Abb.7) identifiziert sich stark über ein Individualverkehrsmittel. Gegenüber kollektiven Verkehrsmitteln und dem Gehen besteht eine eher ablehnende Haltung. Es gibt eine Fahrrad- und eine Auto-Identifikation. Sie drückt sich nicht nur durch eine starke Nutzung des jeweiligen Verkehrsmittels aus. Ebenso hat der Typ eine starke Beziehung zu dem Fahrzeug und setzt sich stark damit auseinander (Technik, Infrastruktur, Routenwahl). Zum städtischen Raum hat er keinen ausgeprägten Bezug. Die Angehörigen des Typs sind Männer zwischen 20 und 40 Jahren in verschiedenen familiären Konstellationen (mit/ohne Kinder). Sie haben mittlere Bildungsabschlüsse und variierende finanzielle Ressourcen. Sie besitzen entweder ein Auto oder ein Fahrrad. Der Typ ist dem modernen, konsumorientierten Milieu zugehörig. Beim Typ Sicherheit und Vorsicht prägen subjektive Sicherheit im öffentlichen Raum, Verkehrssicherheit und Vorhersehbarkeit die Lebensweise. Das wirkt sich unmittelbar auf die nichtmotorisierte Fortbewegung aus. Fahrrad wird nur in der Freizeit gefahren und zwar außerhalb der Stadt. Beim Zufußgehen hat das starke Sicherheitsbedürfnis im öffentlichen Raum einen hohen Einfluss, ob und wie Wege organisiert werden. Der Typ nutzt stark den ÖPNV und geht viel zu Fuß. Auch als Auto-Mitfahrer ist er unterwegs. Die Typangehörigen schätzen eine aufgeräumte, saubere Vorzeigeurbanität. Es handelt sich überwiegend um Frauen unter 20 oder zwischen 50 und 65 Jahren. Die Älteren sind in der Spätund der Nachfamilienphase. Mittlere Bildungsabschlüsse und mittlere Einkommen prägen die Gruppe. Fast alle haben keinen Führerschein (aber einen Pkw im Haushalt). Die Gruppe ist dem traditionellen bzw. populär-volkstümlichen Milieu zuzuordnen.
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Bei dem Typ Normalität und Bequemlichkeit bestehen gegenüber Mobilitätsthemen und Verkehrsmitteln keine prägnanten Einstellungen. Der Typ kann als indifferent bezeichnet werden. Sofern nichtmotorisierte Verkehrsmittel genutzt werden, gibt es weder besondere Vorlieben noch Abneigungen. Sie fahren kaum Fahrrad gehen aber viel Zufuß. Gegenüber allen Verkehrsmitteln bestehen kaum ausgeprägte Einstellungen, obwohl sie viel unterwegs sind. Über Wahrnehmungen und Erlebnisse auf den Alltagswegen reflektieren sie wenig. Mobilsein und das Umfeld sind keine zentralen Themen für diesen Typ. Sie meiden den städtischen Raum. Zu der Gruppe gehören eher verheiratete Erwachsene (30–60 Jahre) in der Familien- oder Nachfamilienphase mit mittleren bis hohen Einkommen. Sie leben überwiegend in Ein-/Zweifamilienhaus- und Großwohnsiedlungen. Sie sind dem modernen bürgerlich-traditionellen Milieu zuzuordnen. Fast alle besitzen einen Privat-Pkw. Körperliche und/oder finanzielle Einschränkungen prägen die Organisation der Alltagsmobilität des Typs Aktive Bewältigung. Diese Bewältigung wird kreativ und selbstständig angegangen. Sie sind oft unterwegs und legen auch weitere Strecken zurück, vorwiegend in der Kombination von Zufußgehen und ÖPNV. Ausgeprägte Einstellungen hierzu haben sie aber kaum. Auch dem Gehen steht der Typ eher indifferent gegenüber. Die aktiven Bewältiger sind zwischen 40 und 65 Jahre alt und haben eher niedrige Einkommen. Sie fahren nicht (mehr) Auto. Sie leben überwiegend in Ein-/Zweifamilienhausgebieten oder gründerzeitlichen Vierteln. Die Angehörigen dieser Gruppe sind einerseits dem etablierten hochkulturellen Milieu zuzuordnen, andererseits dem traditionell-populären Milieu. Auch beim Typ Anpassung und Resignation bestimmen finanzielle und/oder körperliche Einschränkungen die Mobilitätsorganisation. Bezeichnend ist hier, dass sie zur Organisation ihrer Wege überwiegend auf Mitfahrmöglichkeiten im Haushalt oder in ihrem sozialen Netzwerk zurückgreifen: Außerhäusliche Aktivitäten finden überwiegend als MitfahrerIn im Auto statt und dienen hauptsächlich der Zerstreuung. Sie verzichten auch auf viele Aktivitäten, die sie glauben nicht organisieren zu können. Die positiven oder negativen Einstellungen zur nichtmotorisierten Fortbewegung, aber auch zum Umfeld, nehmen keinen besonderen Raum ein. Es handelt sich um ältere Erwachsene zwischen ca. 50 und 65 Jahren. Sie sind alleinstehend, verwitwet oder in der Nachfamilienphase. Sie leben in eher bescheidenen Verhältnissen, haben mittlere bis niedrige Bildungsabschlüsse und gehen keiner Erwerbsarbeit nach. Sie können nicht Auto fahren. Dieser Typus ist überwiegend dem traditionell-populären Milieu zuzuordnen. Durch die Übergangssituation vom Jugend- ins Erwachsenenalter besteht beim Fall Sportlich Sprunghaft in Bezug auf alle Verkehrsmittel eine unentschlossene und aufgeschlossene Haltung. Vorlieben für die nichtmotorisierte Fortbewegung werden verstärkt durch das Unabhängigkeitsbedürfnis und sport-
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liche Aspekte. Es lässt sich keine ausgeprägte Vorliebe beobachten, den städtischen Raum zu erkunden. Er hat auch keine Tendenz, sich mit einem Individualverkehrsmittel zu identifizieren und weist keine ausgesprochene Risikofreudigkeit auf. Der Typ ist nur schwach empirisch gesichert: Jugendlich, noch ohne Führerschein, noch im Elternhaushalt lebend. Der Sportlich Sprunghafte ist dem modernen-konsumorientierten Milieu zuzuordnen. 3.5 Differenzierung zur Umfeldsensibilität Eine offene Beziehung zum Umfeld führt zu einer eher aufgeschlossenen, erkundenden Beziehung des Umfeldes. Jene Typen benötigen den (städtischen) Raum als Pool für Erfahrungen, Erkundungen, als „Stoff“ für eine weitere gedankliche Auseinandersetzung. Die geschlossene Beziehung zum Umfeld drückt sich aus in starker Häuslichkeit und indifferenten Äußerungen zum Zufußgehen und Fahrradfahren. Nicht alle Stile nichtmotorisierter Mobilität reagieren deshalb gleich sensibel auf ihr Umfeld. Wie in Abbildung 7 dargestellt, gibt es Stile, für die das Umfeld und dessen Wahrnehmung wichtig sind, ob und wie sie mit nichtmotorisierten Verkehrsmitteln unterwegs sind. Für die anderen stellt die Umfeldqualität (fast) kein Kriterium bei der unmotorisierten Fortbewegung dar. Die Umfeldsensibilität sagt nicht zwingend etwas darüber aus, ob viel zu Fuß gegangen oder Fahrrad gefahren wird, sondern nur, welche Faktoren die Personen dabei beeinflussen. Aber sie haben eine positivere Einstellung als diejenigen mit einer sehr niedrigen Sensibilität, damit steigt die Nutzung. Ausnahme hiervon ist der Typ Fahrrad-Identifikation, der aber verglichen mit den umfeldsensiblen Typen größtenteils andere Einstellungen und Motive zur nichtmotorisierten Fortbewegung aufweist. Es kann insgesamt aber von einer sich wechselseitig beeinflussenden Konstellation zwischen Umfeld und Nutzung ausgegangen werden. 3.6 Folgerungen In der oben kurz dargestellten Typologie wird das Mobilitätshandeln insgesamt betrachtet, um die Einflussfaktoren auf die nichtmotorisierte Mobilität und die daraus entstehenden Differenzierungen aufzuzeigen. Der Blick auf das Zufußgehen und Fahrradfahren erfolgt also nicht im Sinne einer Herauslösung dieser Verkehrsmittel aus dem Gesamthandeln. Der Fokus wird gesetzt, um mit einem entsprechenden Detaillierungsgrad analysierend vorzugehen. Dies wird in Bezug auf die Kernfragestellung gesetzt, wie die Deutungsmuster zu einer erhöhten bzw.
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verringerten Nutzung des Fahrrades und des Zufußgehens in Städten führen. Um diese Deutungsmuster aufzuarbeiten, leistet ein typologisierender Ansatz eine nützliche Hilfe. Was bedeuten das für verkehrspolitische Entscheidungen oder die Stadt- und Verkehrsplanung? Hier eröffnen sich drei Handlungsfelder: 1.
2.
3.
Das detaillierte Wissen über die Bedürfnisse kann bei der Entwicklung von Förderstrategien für den nichtmotorisierten Verkehr stärker übergreifend eingehen. Dies fördert eine nutzerorientierte Planung und Gestaltung von Infrastrukturen und öffentlichen Räumen. Die Aspekte der unterschiedlichen Orientierungs- und Handlungstypen nichtmotorisierter Mobilität können so bei der Umsetzung von verkehrlichen, organisatorischen oder städtebaulichen Maßnahmen berücksichtigt werden (siehe Abschnitt 5, Kommunikationsebenen). Die Ergebnisse über Motive und Bedingungen des Mobilitätshandelns können für zielgruppenspezifische Planung nutzbar gemacht werden: z.B. über die besondere Berücksichtigung der Umfeldsensibilitäten oder der Anforderungen an Infrastrukturen. Zum Teil werden solche Aspekte bereits heute in planerische Prozesse einbezogen. Dennoch lassen sich in der Praxis vielfach Defizite feststellen oder es herrscht Unklarheit, wie sich die unterschiedlichen Bedürfnisse manifestieren.
Der letzte Punkt zeigt, dass es auch in der Fuß- und Radverkehrspolitik stärker im Vordergrund stehen sollte, für Zielgruppen unterschiedliche (infrastrukturelle/gestalterische) Angebote oder Dienstleistungen und Services zu schaffen. So können gezielte Anreize und Bestätigungsimpulse für FußgeherInnen und RadfahrerInnen gesetzt werden. Beispiele, welche Ansatzpunkte sich speziell aus den Stilen nichtmotorisierter Mobilität ableiten lassen, sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Sie beziehen sich auf die infrastrukturelle Ausgestaltung, Design, Services und Kommunikationsmaßnahmen.7 Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Zielgruppen gleichzeitig Potenzialgruppen sind, also gleichermaßen durch entsprechende Angebote (häufiger) zum Gehen und Radfahren motiviert werden können. Vielmehr geht es darum, bei denjenigen Zielgruppen Ansatzpunkte herauszuarbeiten, die Potenziale für eine stärkere Nutzung in sich tragen. Andere Gruppen lassen sich nur schwer ansprechen.
7
In einem weiteren Schritt müssten diese Ansatzpunkte hinsichtlich ihrer kommunikativen Wirkungen und Ausgestaltung weiter ausdifferenziert werden.
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Tabelle 2: Zielgruppenspezifische Ansatzpunkte Typ
Zentrale Motive und Themen des (nichtmotorisierten) Mobilitätshandelns
Stadtbegeisterung
-
Entdeckertum Urbanität, Verhältnis zur Stadt Bewegung zügiges Vorankommen qualitätvolle Infrastruktur preissensibel teilweise: kindgerechtes Umfeld
-
Identifikationswunsch über ein Gefährt Privatheit Technikaffinität Erlebnis und Genuss des Fahrens
FahrzeugIdentifikation
-
Planerische Ansatzpunkte
-
Sicherheit und Vorsicht
-
Sauberkeit gut Erhaltenes, Geordnetes Distanz zu subkultureller Urbanität Sicherheitsbedürfnis preissensibel
-
-
Normalität und Bequemlichkeit
-
indifferent baulich/technisch muss Infrastruktur in Ordnung sein sehr eingespielte RoutinenConvenience
-
sehr gute Nahversorgungsstrukturen abwechslungsreiche Gestaltung des Nahraums Rad: zügige Verbindungen an Hauptrouten, zu Fuß: dichtes, durchgängiges Fußwegenetz Freizeitmobilität: gute Angebote zur Kombination Rad und ÖPNV Kommunikation: Bestätigung und Stärkung des Images Kommunikation: Technikbegeisterung im Bereich Rad für Imagekampagne nutzen Kommunikation: Technik-Begeisterung in Bezug auf Fahrrad aufnehmen Fahrrad-Fixierung: zügige RadverkehrsVerbindungen Fahrradservices und Schnupperangebote im Bereich Fahrradtechnik (Identifikationsaspekt) Typ Auto-Identifikation ist nur sehr schwer ansprechbar Rad: sichere Radinfrastruktur auf Nebenrouten (nur tags, abends/nachts kaum Potenzial), Angebot von „grünen Wegen“ zu Fuß: Fußwegenetze tauglich für Abendstunden (Bewuchs kontrollieren, Beleuchtung) abwechslungsreiche Ausstattung des Nahraums, vor allem Versorgung täglicher Bedarf öffentlicher Raum und ÖPNV: Sauberkeit und qualitätvolle, nicht nur robuste, sondern auch „schöne“ Gestaltung von Haltestellen und Aufenthaltsbereichen Kommunikation: über Verkehrssicherheit und neue Infrastruktur informieren, Angebote für Trainings und Routenplanung Rad: ggf. Potenzial zur Reaktivierung, z.B. Fahrradfahren in der Freizeit (Freizeitrouten/Feierabendrouten) Zu Fuß: ruhige „grüne“ Wegenetze, Sauberkeit und qualitätvolle Gestaltung im öffentlichen Raum und ÖPNV Kommunikation: Infos über kurze Wege zu Nahversorgung („was es alles in der Nähe gibt“) eher geringes Potenzial
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Aktive Bewältigung
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körperliche Mobilitätseinschränkung eigeninitiativ und aktiv Routinen zur Alltagsbewältigung äußerst wichtig preissensibel
-
-
Anpassung und Resignation
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Sportlich Sprunghaft
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Fuß: Fußverkehrsinfrastruktur aus technischer Sicht einwandfrei, Barrierefreiheit wichtig (Poller, Gehwegbreiten, Übergänge, aber auch: Ruheplätze) preiswerte Nahversorgung vor allem des täglichen Bedarfs Kommunikation: Möglichkeit von Zufußgehen und ÖPNV-Nutzung für eigenständige und preiswerte Mobilität kommunizieren Angebote im Bereich unkompliziert nutzbare Kombinationen aus ÖPNV und bedarfsorientierte Systeme Schwerpunkt: Zufußgehen ermöglichen/erhalten und durch ÖPNV unterstützen
kurative Bedeutung des Gehens, Idylle wird gesucht indifferent Mobilitätsorganisation abhängig von anderen
-
Sicherheit und Belebung des Nahraums eher geringes Potenzial
erprobungsfreudig, offen für neue Optionen Unabhängigkeit Schnelligkeit Erreichbarkeit von Freizeitzielen wichtig
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Verhalten stützen (Fahrradnutzung) über Führerscheinerwerb hinaus Neugierde ausnutzen, Schnupperangebote z.B. für Gruppen oder technische Neuerungen (eTicket, e-Bikes und Ähnliches) sportlichen Aspekt ausnutzen: schnelle Routen zu städtischen Freizeitzielen
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Quelle: Grundlage Deffner (2009: 233) 4
Think big: Von der „einfachen“ Fahrradförderung zu einer Strategie für eine neue Mobilitätskultur
Welchen konzeptionellen Überlegungen liegen einer integrativen Strategie für den nichtmotorisierten Verkehr zu Grunde? Sektorbezogene Förderstrategien für den Fuß- und Radverkehr haben ihre Berechtigung, aber wie sich zeigt, auch ihre Grenzen. Neben der Beobachtung, dass der Fußverkehr ansonsten weiterhin marginalisiert wird, kann ein ganzheitliches integratives Konzept besser vermittelt werden. Das Konzept einer nachhaltigen Mobilitätskultur könnte ein verkehrsplanerischer und -politischer Ansatz sein, dies vor allem für die nichtmotorisierten Verkehrsarten zu leisten.
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4.1 Mobilitätskultur Eine Erweiterung des Mobilitätsstilansatzes ist das sozial-ökologische Konzept der Mobilitätskultur. Es zielt auf eine bewusste Änderung der Wechselbeziehungen von materiellen und symbolischen Prozessen im räumlich-organisatorischen Kontext, z.B. einer Stadt, ab. Es ist durch seine Alltags- und Akteursorientierung definiert. Die Rolle von Mobilitätsstilen im Konzept der Mobilitätskultur ist zunächst ein Element von vielen, das eine Mobilitätskultur prägt. Die verschiedenen räumlichen, sozialen und politischen Elemente und Dynamiken städtischer Mobilität spiegeln sich darin wider. Eine gezielte Veränderung dieser Dynamiken durch eine bewusste Gestaltung im Sinne entsprechend definierter Nachhaltigkeitsziele kann so ermöglicht werden. Ebenso wie das Konzept der Mobilitätsstile, gründet Mobilitätskultur auf der Erkenntnis, dass die symbolischen nicht von den materiellen, bzw. die ‚weichen‘ nicht von den ‚harten‘ Faktoren getrennt werden können: Die Bedeutungen, die den Dingen gegeben werden, sind Bestandteil dieser Dinge und des Umgangs mit ihnen. Eine Veränderung im Sinne einer bewussten Gestaltung von Mobilitätskultur stellt daher einen gezielten Eingriff in einen Transformationsprozess dar. Diese gezielte Veränderung geht über das Instrumentarium und die Methoden eines integrierten Mobilitätsmanagements hinaus. Mobilitätskultur umfasst daher die Ganzheit der auf Beweglichkeit/Fortbewegung bezogenen materiell und symbolisch wirksamen Praxisformen. Dies schließt die Verkehrsinfrastruktur und Stadtgestaltung ebenso ein wie Leitbilder, verkehrspolitische Diskurse, Verhalten der Verkehrsteilnehmenden und die dahinter stehenden Mobilitäts- und Lebensstilorientierungen. Sie bezeichnet das prozessuale Ineinanderwirken städtischer Akteure, Infrastrukturen und Techniken als ein „verortetes“ sozio-technisches System (siehe Abb. 8). Ein Konzept, das städtische/regionale Mobilitätskultur verändern soll, betrachtet die Anforderungen und Ausgestaltung von Verkehrsmitteln und angeboten aus einer Nutzerperspektive: also sehr stark verkehrsmittelübergreifend, mit einer starken Tür-zu-Tür-Perspektive und zielgruppenbezogen. Denn vor allem geht es bei vielen Angeboten darum, den Menschen Lust darauf zu machen, sich nachhaltiger fortzubewegen. Es soll und darf nicht um Verzicht gehen oder darum, dass nachhaltige Mobilitätskultur als rückschrittlich empfunden wird. Der Slogan „Gescheit mobil“ soll genau das Vorwärtsgewandte transportieren: Eine neue Mobilitätskultur ist etwas sehr schlaues, und wer möchte das nicht sein! Dieses „Lust machen“ ist dann je nach Zielgruppe sehr unterschiedlich auszugestalten.
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Abbildung 7:
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Einflussfaktoren auf die Mobilitätskultur
Quelle: Götz/Deffner (2009) Weiterhin bezieht sich die planungspraktische Dimension des Konzepts auf die Bedeutung einer integrierten Kommunikation. Vier verschiedene Ebenen der Kommunikation sind bei der Umsetzung planerisch-infrastruktureller sowie planerisch-konzeptioneller Maßnahmen zu berücksichtigen:
Kommunikation mit der Bürgerschaft im Sinne eines Feedbacks und Rückkanals, um Wissen, Wünsche, Wahrnehmungen aufnehmen zu können (über formale Bürgerbeteiligungsprozesse hinaus, z.B. stärker über direktdemokratisches Involvement der Bürgerschaft etc. Hierbei muss beachtet werden, dass sich eine solche Planungskultur nicht von heute auf morgen realisieren lässt, sondern langsam und kontinuierlich von beiden Seiten „gelernt“ werden muss. Inszenierung und Profilierung neuer Infrastrukturen, Dienstleistungen oder Gebäude. Hier gelten die Gesetze der Markenkommunikation, bei der es neben der Funktion des Neuen auch um Attraktivität, Wahrnehmbarkeit und Emotionen geht, z.B. bei Fahrradständern, Stadtplänen, Wegweisern. Corporate Design zählt hier ebenso dazu wie eine hochwertige Beschaffenheit und Ausführung. Hierbei sind zielgruppenspezifische Aspekte zu beachten: welche Infrastruktur, welches Angebot soll vor allem welche Zielgruppe ansprechen, welche Kommunikationsmedien und -orte bevorzugt diese/jene Gruppe? Hier gibt die dargestellte Mobilitätstypologie wichtige Hinweise.
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Interaktion der VerkehrsteilnehmerInnen im Sinne einer Selbstorganisation und Rücknahme von Regulation (z.B. Begegnungszonen, Shared Space etc.) im öffentlichen Raum. Innenverhältnis der planenden und gestaltenden Akteure im Sinne einer Organisationskultur und internen Kommunikation der verkehrpolitischen Ziele.
Ein solches übergeordnetes Konzept kann den nichtmotorisierten Verkehr zu einem ebenbürtigen Platz im Stadt- und Regionalverkehr verhelfen. 4.2 Fazit Nach aktuellen Studien nimmt die Bedeutung des automobilen Leitbildes bei Jugendlichen vor allem in urbanen Räumen ab (vgl. z.B. infas/DLR 2010). Zukünftige Generationen sehen sich eher als multioptionale und multimodale Navigatoren in einer virtuellen Welt. Die digitale Boheme ist aber auch physisch unterwegs. Deswegen spielen nicht nur flexible Verkehrsangebote wie Carsharing, Car2go, smartphone-Mitnahmebörsen oder die Bahn eine Rolle. Auch die nichtmotorisierte Mobilität ist für diese Gruppe von Bedeutung, in symbolischer und praktischer Hinsicht. Noch ist offen, wie schnell sich das automobile Leitbild hin zu einer multioptionalen Mobilitätskultur wandeln wird. Deswegen sind zielgruppenspezifische Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene notwendig, um den Trend aufzugreifen und ggf. zu unterstützen. Möglichkeiten hier sind in Bezug auf den nichtmotorisierten Verkehr die Einbeziehung moderner Kommunikationsmedien (smartphones, GPS-Ortung von Leihfahrrädern, Ortung von Abstellanlagen) oder die Kombination von Bahn und Rad vor allem in jungen Zielgruppen zu bewerben oder Nutzungshemmnisse (wie extra Fahrradticket im Nahverkehr) abzubauen. Freizeitevents können stärker über Kombipakete von nichtmotorisiertem Verkehr und ÖPNV angeboten werden (reduzierter Eintritt bei Radanreise, Angebot bewachter Abstellanlagen u.Ä.). Möglichkeiten, junge Menschen zum Zufußgehen zu animieren und Lust auf Nahmobilität zu machen, können Stadt- oder Eventrundgänge mit mp3-Hörbuch sein. Als Herausforderungen für eine engagierte Planung und Politik des nichtmotorisierten Verkehrs sind unabhängig davon drei zentrale Themen zu skizzieren: 1. Mobilität von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Bisher beschränken sich Angebote mit Bezug auf nachhaltige Mobilität für ausländische Bürger auf fremdsprachige Informationen, z.B. über öffentliche Verkehrsmittel und punktuelle Integrationsprojekte. Im Hinblick auf die Förderung flexibler, gesunder und preiswerter individueller Mobilität fehlt der Fokus auf
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junge Menschen mit Migrationshintergrund. So existieren inzwischen mancherorts Radkurse für Frauen mit Migrationshintergrund (z.B. Berlin, Braunschweig), entsprechende Angebote für Jugendliche und Kinder sind jedoch kaum auffindbar. Dies ist besonders wichtig, da Einstellungen und Nutzung von Verkehrsmitteln stark von Erfahrungen der Kindheits- und Jugendphase geprägt sind. Es geht um die Mobilitätssozialisation, die für das Gehen und das Erlernen des Fahrradfahrens als außerhäusliche Fortbewegung wichtiger Teil des alltäglichen Mobilitätsrepertoires ist. Familiäre und soziale Netzwerke beeinflussen die Ausbildung von Routinen, auch in Bezug auf das Radfahren und Gehen. Zahlreiche Kinder erlernen z.B. das Fahrradfahren gar nicht mehr. Dennoch gilt immer noch, dass Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 17 Jahren im Bundesdurchschnitt die fahrradaktivste Gruppe ist. Es fehlt daher eine gute Wissensbasis zum Thema nichtmotorisierte Mobilität, Verkehrssozialisation bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Weiterhin fehlen auch Ansätze, wie diese Gruppe(n) mit genau zugeschnittenen Fördermaßnahmen kommunikativ, (sport-)pädagogisch und planerisch angesprochen und zur nichtmotorisierten Fortbewegung motiviert werden können. 2. Elektromobilität: Die Elektrifizierung des Individualverkehrs in den nächsten 20–40 Jahren wird sich nicht nur auf Autos beschränken. Schon jetzt gibt es verschiedene elektrisch unterstützte Fahrräder. Fahrzeugkonzepte wie Segway werden sich voraussichtlich ausweiten. Neue, komplett andere Fahrzeugkonzepte im Sinne eines purpose design (zweckgebundenes Design wie elektrische Leicht- und Stadtfahrzeuge) werden in viel stärkerem Maße als heute das Straßenbild prägen. Es ist also eine berechtigte Frage, welche Auswirkungen die Elektromobilität auf die klassischen und modernen nichtmotorisierten Verkehrsmittel (Rad, Fuß, Kickboards/Tretroller, Inliner) haben wird. 3. Demographischer Wandel: Wie in verschiedenen Verkehrsstudien inzwischen belegt, nimmt der Verkehrsaufwand in der älteren Generation zu: Die Senioren von heute und morgen sind mobiler als diejenigen vor zehn Jahren. Die Gruppe der Älteren ist nicht homogen und keine einheitlichen Mobilitätsbedürfnisse und Ansprüche. Das Voranschreiten von Pluralisierung und Individualisierung spiegelt sich auch in der Vielfalt von Lebensentwürfen und Lebensstilen im Alter. Es hat damit unmittelbare Folgen für die Mobilität (z.B. die beiden Typen Aktive Bewältigung und Anpassung und Resignation). Bislang gibt es wenige Studien, die sich mit der Entwicklung von Lebensstilen im Alter beschäftigen. Verkehrsangebote müssen nicht nur auf die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft angepasst werden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie finanziell schwächere, ältere Bevölkerungsgruppen Zugang zu erschwinglichen Verkehrsangeboten haben können. Denn die staatlichen sozialen Sicherungssysteme werden nicht allen Senioren in Zukunft ein ausreichendes Einkommen gewährleisten
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können. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass insbesondere an Senioren angepasste öffentliche Verkehrssysteme teuer sein werden. Die Rolle der Verkehrspolitik ist hier, die Werte einer nachhaltigen Mobilitätskultur zu transportieren und eine Mobilität für alle zu ermöglichen. Hierin ist die Rolle des nichtmotorisierten Verkehrs zu bestimmen und zu fördern. Als Basis einer nachhaltigen Mobilität sollen alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu einer hochwertigen und feinmaschigen Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur haben. Die Förderung – in Ballungsgebieten auch zum Teil die Bevorzugung – des nichtmotorisierten Verkehrs ist Grundlage für ein sozial gerechtes Verkehrssystem, das effizient mit staatlichen Ressourcen umgeht und eine hohe ökologische Nachhaltigkeit ermöglicht. Ziel ist es, den Fuß- und Radverkehr so zu gestalten, dass emotionaler und symbolischer Nutzen unmittelbar erlebbar sind. So können möglichst viele „dabei sein“ wie zum Beispiel der Typ Aktive Bewältigung. Quellen Ahrend, Christine (2002): Mobilitätsstrategien zehnjähriger Jungen und Mädchen als Grundlage städtischer Verkehrsplanung. Münster. Blumenstein, Andreas/Verena Häberli/Martin Wälti (2002): Maßnahmen zur Erhöhung der Akzeptanz längerer Fuss- und Velostrecken. Burgdorf. BMVBW/PGV (2005): Chancen und Optimierungspotenziale des nicht-motorisierten Verkehrs. Hannover Deffner, Jutta (2009): Zu Fuß und mit dem Rad in der Stadt. Mobilitätstypen am Beispiel Berlins. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung: Verkehr. Band 7. Deffner, Jutta/Konrad Götz (2007): Mobilitätsstile: Ein sozial-ökologisches Forschungskonzept und seine planerischen Bezüge. In: Tilman Bracher/Helmut Holzapfel/Folkert Kiepe (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kapitel 2.2.1.8. Heidelberg. Fietsberaad (2009): Bicycle policies of the European principals: continuous and integral. Fietsberaad Publication number 7. Utrecht. Gather, Matthias/Andreas Kagermeier/Martin Lanzendorf (2008): Geographische Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Studienbücher der Geographie. Berlin/Stuttgart. infas/DLR (2010): Mobilität in Deutschland. Ergebnisbericht und Abschlusspräsentation. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Berlin. Jahn, Thomas/Peter Wehling (1999): Das mehrdimensionale Mobilitätskonzept – Ein theoretischer Rahmen für die stadtökologische Mobilitätsforschung. In: Jürgen Friedrichs/Kirsten Hollaender (Hrsg.): Stadtökologische Forschung. Theorien und Anwendungen. Berlin, S. 127–142. Røe, Per Gunnar (2000): Qualitative research on intra-urban travel: an alternative approach. In: Journal of Transport Geography 8, S. 102.
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UBA (Hrsg.) (2010): CO2-Emissionsminderung im Verkehr in Deutschland. Mögliche Maßnahmen und ihre Minderungspotenziale. Ein Sachstandsbericht des Umweltbundesamtes. Dessau-Roßlau.
Weiterführende Literatur BMVBW (2002): Nationaler Radverkehrsplan. Berlin. Deffner, Jutta/Konrad Götz (2010): Die Zukunft der Mobilität in der EU. Workshop „Die Zukunft des Verkehrs“. Fachabteilung B: Struktur- und Kohäsionspolitik. Brüssel: Europäisches Parlament. Götz, Konrad/Jutta Deffner (2009): Eine neue Mobilitätskultur in der Stadt – praktische Schritte zur Veränderung. In: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (Hrsg.): Urbane Mobilität. Verkehrsforschung des Bundes für die kommunale Praxis. direkt 65. Bonn, S. 39–52. Götz, Konrad/Thomas Jahn/Irmgard Schultz (1997): Mobilitätsstile – ein sozialökologischer Forschungsansatz. In: Forschungsverbund CITY:mobil: Forschungsbericht Stadtverträgliche Mobilität. Institut für sozial-ökologische Forschung. Frankfurt am Main. Knoflacher, Hermann (1995): Fußgeher- und Fahrradfahrerverkehr. Planungsprinzipien. Wien.
IV.
Ausblicke
Verkehrspolitik und Zukunftsforschung Zur Symbiose von Verkehrsplanung und Szenariotechnik
Ingo Kollosche Einführung Der mobile Familienalltag gerät zunehmend unter Druck und ist den Veränderungsprozessen innerhalb der beruflichen Mobilität und in den Geschlechter- und Familienverhältnissen geschuldet. Neben „Entgrenzungsphänomenen“ in Arbeit und Familie belasten den familiären Alltag weitere Anpassungsleistungen an sich ändernde Gegebenheiten. Gerade in der Phase der Kindererziehung kommt es zu Routinebrüchen im Mobilitätsverhalten. Bei gleichzeitiger Berufstätigkeit der Eltern und den Anforderungen an die Kinderversorgung (Kindertagesstätten, Schule, spezielle Freizeitaktivitäten) wächst das Maß im innerfamiliären Mobilitätsmanagement. Die Synchronisation unterschiedlicher Mobilitätsanforderungen (Berufs- und Freizeitmobilität) gerät hierbei zum Problem. Soziologisch übersetzt stellen sich diese alltagsweltlichen Probleme junger Familien wie folgt dar: In dynamischen, unsicheren, komplexen und unübersichtlichen Gesellschaften und Zeiten zu leben, gilt mittlerweile als eine wesentliche Grundannahme in den Sozialwissenschaften. Etabliertem Orientierungswissen und geprüften Handlungsoptionen werden beständig der Geltungsbereich, die Legitimation und die zeitliche Reichweite entzogen. Das hat mit den zentralen Eigenschaften moderner Gesellschaften zu tun. Indem sie sich im aufklärerischen Sinne selbst gestalten und verwalten sowie keinen höheren Mächten, Ideologien oder zentralistischen Herrschaftssystemen folgen, sind sie zukunftsoffen im Sinne ungerichteter Prozesse und Interdependenzen. Die sich vollziehenden Veränderungsprozesse werden durch die Sozialwissenschaften als gesellschaftlicher Wandel in politischer, sozialer, wirtschaftlicher, technologischer und ökologischer Hinsicht beschrieben. Die Historie der Politikwissenschaften und der Soziologie zeigt einen fortwährenden Differenzierungsprozess der zu Grunde liegenden Theorien. Dominierten zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Großtheorien wie die Modernisierungstheorie, so wurden die Theorien in ihrer Reichweite zum Ende des Jahrhunderts immer „kleiner“. Theorien mittlerer Reichweite und mikroanalytische Fallbetrachtungen bestimmen zunehmend das theoretische Feld. Das ist die sozialwissenschaftliche Antwort auf die Einsicht in die eingangs beschriebene Verfasstheit moderner Gesellschaften.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Der Klimawandel mit seinen Konsequenzen, die (noch) in der Zukunft liegen und umso mehr relativ unkalkulierbar sind, stellt eine besondere Herausforderung dar. Zum einen bedroht er den Bestand des Planeten Erde und die Lebensweisen der Menschen auf ihm. Zum anderen ist er eine zentrale Quelle der Verunsicherung, wie mit den komplexen und interdependenten Prozessen klimatischer Veränderungen umgegangen werden soll. Im Bereich der Verkehrspolitik fokussiert sich die Diskussion konkret um die Grenzen des fossilen Verkehrssystems. Aber Verkehrssysteme sind eingebettet in soziale, kulturelle, wirtschaftliche, ökologische und politische Strukturen und Prozesse und in so fern geht es um mehr als nur um mögliche postfossile Verkehrssysteme. Die Herausforderung besteht in der Transformation der traditionellen fossilen Verkehrspolitik in eine postfossile Mobilitätspolitik (vgl. den Beitrag von Rammler in diesem Band). Dabei besteht die Aufgabe nicht nur darin, neue Konzepte und technologische Lösungen zu entwickeln, vielmehr besteht das Ziel in der Gestaltung einer – im metaphorischen Sinne -„neuen mentalen Landkarte“ (vgl. Schindler u.a. 2009), die weit über verkehrspolitische Grenzen im engeren Sinne hinaus reichen muss. Diese Landkarte der Einstellungen, Werthaltungen und Vorstellungen von Mobilität ist eine wesentliche Voraussetzung für technologische und politische Lösungen im Mobilitäts- und Verkehrssystem. Doch wie diese erstellen, in einer Situation, die von den faktischen und methodologischen Unsicherheiten gekennzeichnet ist, aber zugleich zukunftsweisende Entscheidungen verlangt? Welche Disziplinen oder Forschungsansätze können die Verkehrspolitik unterstützen, diesem Dilemma zu entkommen? Die – im wissenschaftlichen Sinn – noch recht junge Zukunftsforschung ist ein adäquater und hilfreicher Partner in der Verkehrsplanung und den darüber hinausgehenden verkehrspoltischen Fragestellungen und Herausforderungen. Sie ermöglicht eine prospektive Beschreibung komplexer und dynamischer Systeme und das mit einem mittel- bis langfristigen Zeithorizont, also einer temporären Orientierung, die planerischen Unternehmungen entspricht. Darüber hinaus bietet die Zukunftsforschung Chancen der partizipativen Gestaltung von Leitlinien, Kontextwissen und politischen Strategien. So geben beispielsweise Szenarien Orientierungshilfen sowie Anschauungsmaterial für mögliche neue mentale Karten. Innerhalb der Dynamik der Zukunftsungewissheit helfen Anleihen bei der Zukunftsforschung und ihrem methodologischen Werkzeugkasten. Am Beispiel eines konkreten Szenarioprozesses zum Thema Elektromobilität soll gezeigt werden, wie Szenarien den Prozess der Neugestaltung der „mentalen Landkarte“ methodisch unterstützen können. Gleichzeitig soll der aus verkehrsplanerischer Sicht wichtige Gedanke der Transformation der angebotsorientierten zu einer nachfrageorientierten Verkehrspolitik skizziert werden. Dazu wird zunächst die Zukunftsforschung in erkenntnistheoretischer und methodologischer Perspektive
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dargestellt. Im Fazit soll auf die partizipatorisch gewonnen Ergebnisse des Szenarioprozesses eingegangen und diese im Zusammenhang mit dem Thema „postfossiler Mobilitätskulturen“ diskutiert werden. 1
Was ist Zukunftsforschung?
Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch einer historischen Analyse der Zukunftsforschung. Es soll die erkenntnistheoretischen Grundlagen und die methodologische Expertise der Zukunftsforschung umrissen werden. Dies ist nicht nur für den hier nachzuweisenden Zusammenhang von Zukunftsforschung und Verkehrspolitik notwendig, sondern auch auf Grund des besonderen Status der Zukunftsforschung erforderlich. Die Besonderheit der Zukunftsforschung leitet sich aus mindestens zwei wesentlichen Kennzeichen ab. Zum einen hat sie erstens keinen empirischen Bezug im klassischen Sinne, denn die Phänomene, Wirklichkeiten und Handlungen werden ja erst stattfinden. Sie beschäftigt sich also mit Dingen, die es erst geben wird. Sie kann sich nur auf vergangene oder gegenwärtige Tatsachen und Erfahrungen stützen und hat nur in diesen Zeitformen eine empirische Grundlage. Ein erkenntnistheoretisches Dilemma, das erhebliche methodische Implikationen aufwirft und auf den zweiten Grund der prekären Stellung der Zukunftsforschung verweist. Wissenschaftshistorisch ist die Zukunftsforschung eine sehr junge Wissenschaft, zumindest im institutionellen Sinne. Sie hat bei weitem nicht die Anerkennung und Legitimation, die zumindest die etablierten Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften mittlerweile haben. Dies sind keine guten Voraussetzungen für die Glaubhaftigkeit und Belastbarkeit der Zukunftsforschung. Dennoch produzieren die gegenwärtigen Verhältnisse in ihrer Mischung aus Dynamik, Komplexität und Unsicherheit eine beständig wachsende Nachfrage nach Wissen über mögliche Zukünfte, und gleichzeitig formiert sich der Zweifel an der Seriosität, der Potenzialität und Wissenschaftlichkeit der Zukunftsforschung. Sie muss sich im Vergleich zu den anderen wissenschaftlichen Disziplinen noch stärker der erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen vergewissern, um ihre Anerkennung, Legitimation sowie Reputation zu sichern. Erkenntnistheoretische Präliminarien: Kontingenz und moderne Gesellschaften Als erstes gilt das Interesse dem Erkenntnisgegenstand der Zukunftsforschung. Dieser liegt in der Zukunft selber und somit bleibt der Zukunftsforschung nur der
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Modus der Erwartung zukünftig eintretender Ereignisse. Diese methodisch kontrolliert zu beschreiben ist ihre eigentliche Verfahrensweise. Empirische Materialien und Wissensbestände, von denen die Zukunftsforschung ausgehen kann, liegen nur in der Form von Daten aus der Vergangenheit und Gegenwart vor. Ihre Analyse beginnt also genau dort und ist mit den entsprechenden erkenntnistheoretischen Problemen der Vergangenheits- und Gegenwartsanalyse konfrontiert. Bereits in der Einleitung wurde auf die besondere Verfasstheit moderner Gesellschaften hingewiesen. Zukunftsoffenheit bedeutet, dass die gesellschaftliche Welt nicht mehr als geordnetes Ganzes besteht, in der jeder Mensch seinen sinnvollen Ort findet‚ vielmehr hat sich über Jahrzehnte eher die Erkenntnis und Empfindung von Entzweiung, Differenzerfahrungen und der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wertsphären in den Wissenschaften und den Alltagserfahrungen der Menschen etabliert. Lebensweltlich zeigt sich dies in diskontinuierlich verlaufenden Erwerbsbiografien, fragilen Beziehungsmustern und schwindenden sozialstaatlichen Versorgungsleistungen. Der Beginn der Moderne war noch geprägt durch ein Vertrauen in die Zukunft auf Basis der Fortschrittsidee. „Sowohl im Technischen als auch im Humanen beschreibt sich die Gesellschaft durch Projektion ihrer Zukunft.“ (Luhmann 1992: 133). Dieses Vertrauen in die eigene Zukunft hat nicht nur durch die ideologischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen und Transformationen des 20. Jahrhunderts an Wirkungsmächtigkeit verloren. Der rasante Zuwachs an Komplexität moderner Gesellschaften und der Beschleunigung in gesellschaftlichen Systemen führte und führt zu einer Bedeutungsoffenheit der Strukturen, Begründungsdefiziten und einer „Logik der Unbestimmtheit“(Holzinger 2007: 12). Entwickelte moderne Gesellschaften basieren zudem auf Wissensbeständen, die ihnen oft einen gerichteten Blick in die Zukunft verstellen. Diese Bedeutungen und Eigenschaften moderner Gesellschaften verdichten sich in dem Terminus Kontingenz. Kontingenztheoretische Betrachtungen verweisen auf die Relativität, Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen und somit auch der Zukunftserwartungen. „Kontingent ist alles, was weder notwendig noch unmöglich ist.“ (Luhmann 1992: 96). Die Gegenstände der Zukunftsforschung sind entsprechend weder zwangsläufig verlaufende noch utopische Realitäten. Erkenntnistheoretisch und methodologisch bedeutet prinzipielle Offenheit, dass lineares Denken oder Prinzipien einfacher Kausalität sowie Kontinuitätsannahmen in diesem Kontext versagen, gerade hinsichtlich der Analyse zukünftiger Entwicklungen. Kontingenz und Zukunftsforschung stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Kontingenz bedingt geradezu Zukunftsoffenheit und macht sie zugleich uneinsehbar. Zukunft ist nicht vorhersehbar und auch nicht planbar. Sie kann nicht gewusst werden! Sie ist phänomenologisch gesehen ein Horizont offener Möglichkeiten. Unser Erfahrungshorizont die Zukunft betreffend kann
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nur in Form von Erwartungen beschrieben und gestaltet werden (vgl. Liessmann 2007). Das Gegebene wird also immer im Horizont des möglichen Anderseins erfahren und bewertet. Nach dem Ende der Ideologien und gesellschaftlichen Experimente sowie den Komplexitäts- und Kontingenzsteigerungen ist der Glaube an die Gestaltbarkeit der Zukunft erloschen. Wir müssen von der prinzipiellen Verschlossenheit der Zukunft ausgehen: Die Zukunft werden wir nie wissen können – aber wir können mit Formen der strukturierten Kommunikation (bspw. Szenarien) plausible Zukunftsbilder erzeugen. Für Planungen und Handlungsoptionen müssen wir das geradezu, denn wie die Zukunft sich gestaltet, ist abhängig von unseren Entscheidungen in der Gegenwart. Erschwerend wirkt sich dabei der Kontinuitätsbruch von Vergangenheit und Zukunft aus. Die Zukunft ist kein emergenter Zustand oder eine Creatio ex nihilo, sondern hat eine spezifische Herkunft, aber „Wir können uns nur sicher sein, dass wir nicht sicher sein können, ob irgendetwas von dem, was wir als vergangen erinnern, in der Zukunft so bleiben wird, wie es war.“ (Luhmann 1992: 136). Nach diesem erkenntnistheoretischen Exkurs können einige Prämissen der Zukunftsforschung festgehalten werden.
Die Zukunft lässt sich nicht beschreiben. Zukunft kann aus der Gegenwart heraus nur im Plural und in Alternativen beschrieben werden. Zukunft ist immer erwartungsgesteuert, und die jeweiligen Zukunftssemantiken hängen stets von der Gesellschaft ab, in der sie erzeugt werden. Wir bringen die Zukunft hervor: in unserem Handeln und speziell in der Beschreibung von Zukünften.
Wissensformen und Methodologie Wie kann nun auf der Basis dieser Prämissen über Zukünfte nachgedacht werden? Woher Orientierung gewinnen im Kontext der Wissensökonomie einer kontingenten Welt? Heißt das, wie Norbert Bolz betont, dass wir uns in einem ‚Blindflug’ in die Zukunft bewegen? Wie können politische Institutionen, Unternehmen oder die Wissenschaften jene Anpassungsleistungen an das Unvorherseh- und sagbare gestalten? Genauer formuliert bedeutet das, darüber nachzudenken, in welchen Wissensformen Zukunft analysiert und dargestellt werden kann, und mit welchen Methoden, Instrumenten sowie Werkzeugen das getan werden kann. Vier typologisch beschreibbare Wissensformen über die Zukunft sollen kurz vorgestellt und im Weiteren methodisch fundiert werden. Mit „Zukunftswissen“ ist erstens ein „Ceteris paribus Wissen, das auf Typisierung und Konstanz-Annahmen beruht“ (vgl. Knoblauch u. Schnettler 2005: 32
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f.) gemeint. Vergangene und gegenwärtige Beobachtungen, Erfahrungen und Theorien werden in die Zukunft fortgeschrieben. Lineare Trendfortschreibungen (demografische Entwicklungen über die Alterung der Gesellschaft) und Kausalannahmen („Abends wird es dunkel“) liegen diesem Modell zugrunde. In der pragmatischen Lebensführung der Menschen ist diese Art des Zukunftswissens überall anzutreffen. Daneben gibt es zweitens die Figur des „zukünftigen Wissens“. Darunter sind Erfahrungen zu verstehen, die Personen erst in der Zukunft machen werden und durch hypothetisches Schließen aus dem Jetzt erlangen. Hierbei ist kein Fortschreiben des Gegenwärtigen gemeint, sondern die Übertragung von Erkenntnissen aus einem Erfahrungsbereich (z.B. Softwareentwicklung) in andere Lebensbereiche (z. B. Haushaltsroboter, neuronale Optimierung menschlicher Leistungsfähigkeit). Die dritte Form des Zukunftswissens ist sicherlich die ambivalenteste und im strengen Sinne auch keine wissenschaftliche. Hier handelt es sich um außeralltägliche Erfahrungen im Sinne von Transzendenzerfahrungen, d. h. Grenzerfahrungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, wie Visionen oder Erscheinungen. Die populärste und traditionellste Form dieser Phantasien wird „Science Fiction“ genannt, aber auch prophetische Aussagen zählen dazu. Viertens gibt es noch die wissenschaftliche Prognostik. Dabei handelt es sich um Versuche, Zukünfte „methodisch kontrolliert“ zu beschreiben – hier haben auch Szenarien ihren Platz. Aufgrund der unmöglichen empirischen Beobachtung des Forschungsgegenstandes aus der Gegenwart heraus und der sachlichen, sozialen und zeitlichen Extensivität des Objektes Zukunft ist die Zukunftsforschung auf Interdisziplinarität und Kooperation verschiedener Expertensysteme angewiesen. Darüber hinaus integriert sie als handlungsorientierte Wissenschaft neben den Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung durchaus auch normative Elemente. „Variablenmanipulative Forschungsstrategien“ (Popp 2009: 132) haben hier nur eine begrenze Reichweite. Mit statistischen Kausalmodellen oder gar Experimenten können nur Aussagen über Zukünfte gewonnen werden, die auf stark reglementierten und kontrollierten Ausgangsbedingungen ruhen. Eine der wesentlichsten Eigenschaften der Zukunftsforschung ist der hohe Komplexitätsgrad sowie die dynamische Systemhaftigkeit des jeweiligen Themenfeldes. Insofern sind die strengen Kontrollansprüche nicht realisierbar. Zumal der Prozess der Zukunftsforschung selber komplex, dynamisch und multifaktoriell ist. Damit stellt die Zukunftsforschung sicherlich eine Forschungsdisziplin mit Besonderheitswert dar. Aber trotz dieser Besonderheiten ist sie den Gütekriterien der wissenschaftlichen Praxis verpflichtet. Doch zunächst einige Abgrenzungen und Differenzen zu anderen Ansätzen: Sowohl in zeitlicher wie methodischer Hinsicht grenzt sich die Zukunftsforschung von klassischen Planungs- und Prognoseinstrumenten ab. Prognose- und Planungsprojekte haben meist einen kurz- bis mittelfristigen Horizont, wohinge-
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gen die Zukunftsforschung auf Langfristigkeit angelegt ist (10 – 30 Jahre). Sehr oft operieren diese Verfahren mit einfachen Projektionen, die alternative Entwicklungen ausblenden (Konjunkturprognosen). Solche Prozesse sind zudem noch häufig sehr exklusiv und bieten wenig Raum für partizipative Elemente. Als Ergebnis erscheint eine Zukunft oder ein Zukunftsbild, das einerseits unterkomplex ist und zum anderen aber die Grundlage für Entscheidungen und Strategien bildet. In der Verkehrsplanung führt diese Vorgehensweise dann zu angebotsorientierten Planungsverfahren, welche die Präferenzen von Betroffenen dieser Verfahren ausblendet. Die Methodik der Zukunftsforschung wird in der Fachliteratur unterschiedlich systematisiert, hat aber grundlegende Gemeinsamkeiten. An dieser Stelle wird der Systematisierung von Rolf Kreibich gefolgt, einem der Gründungsväter der Zukunftsforschung in Deutschland (vgl. Kreibich 2006). 1. „Exploratives empirisch-analytisches Vorgehen“: Dieses Vorgehen kann sowohl quantitativ wie qualitativ erfolgen und geht von genauen und streng definierten Annahmen und Voraussetzungen aus, die statistisch mit Hilfe von Algorithmen in die Zukunft projiziert werden (vgl. „Zukunftswissen). Zeitreihenfortschreibungen in Form von Trendextrapolationen sind hier häufig eingesetzte Verfahren. So werden Prognosen zum Verkehrsaufkommen mittels solcher Techniken erstellt. Um kurz- bis mittelfristige Orientierungen zu gewinnen, müssen die Rahmenbedingungen auch für die Zukunft konstant gesetzt werden. Diese Bedingung schränkt die Reichweite und den Komplexitätsgrad dieser Projektionen deutlich ein. Zudem handelt es sich um isolierte Betrachtungen von Entwicklungen, die keine alternativen Spielräume zulassen. 2. „Normativ-intuitives Vorgehen“: Hierbei handelt es sich um die strukturierte Hervorbringung gewollter oder gewünschter Zukunftsbilder und die jeweiligen Maßnahmen, Mittel und politischen Weichenstellungen zum Erreichen dieser Vorstellungen. Die Zielsetzung solcher Zukunftsarbeiten ist wertebasiert und die Bewertung sowohl der gegebenen Umstände als auch der zukünftigen Entwicklungen sind konstitutiv für ihre Durchführung. Der Praxisbezug solcher Arbeiten – im Sinne der Zukunftsgestaltung in einem gesellschaftlichen Feld – generiert die normativen Elemente. Phantasie und Kreativitätstechniken finden in solchen Ansätzen einen gewichtigen Raum. Die Zukunftswerkstatt ist eine Technik, die neben einem partizipativen Element (z. B. Bürgerbeteiligungen) das normative Moment (z. B. Verkehrsberuhigung vor Schulen oder Kindertagesstätten) berücksichtigt. Durch einen im Vorhinein gewünschten und so definierten Zustand in der Zukunft (z. B. höherer Sicherheit und weniger Unfälle vor Schulen und Kindertagesstätten) wird gemeinsam in der Zukunftswerkstatt über Wege und Realisierungsmöglichkeiten beraten.
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3. „Planend-projektierendes Vorgehen“: Diese Ansätze zielen auf die Erstellung von Strategien und unterstützen Entscheidungsfindungen auf der Basis ausreichenden Datenmaterials. Mathematische Modellierungen und Computersimulationen sowie Entscheidungsmodelle werden für solche Prozesse angewendet. Das wohl prominenteste Beispiel für einen solchen Prozess sind die kontinuierlich aktualisierten Studien des Club of Rome. Die hier angewendete Modellierung basiert auf der Social Dynamics-Methodik. Die ganzheitliche Analyse und Simulation komplexer und dynamischer Systeme – in diesem Fall der Welt – beschäftigt sich mit der zukünftigen Entwicklung der Menschheit auf der Erde und hat nachhaltigen Einfluss auf politische, wirtschaftliche, soziale und vor allem ökologische Diskurse. Aus den Erkenntnissen der Zukunftsstudien wurden und werden Leitbilder, Strategien und Zukunftsdiskurse abgeleitet und entwickelt. 4. „Kommunikativ-partizipativ gestaltendes Vorgehen“: Die Ansätze und Methodik dieser Herangehensweise unterschieden sich nicht nur durch die zeitliche Dimension der Zukunftsbilder und -entwicklungen sondern auch durch den höheren Grad der Zukunftsoffenheit der Ergebnisse. Wesenskern dieser Vorgehensweise ist die explizite Einbeziehung von unterschiedlichen Akteuren und Experten aus gesellschaftlichen Praxisbereichen, die mit dem zu behandelnden Zukunftsthema auf Grund ihrer fachlichen Expertise verbunden sind, zunkunftsrelevante Entscheidungen fällen oder von den Konsequenzen betroffen sein werden. Hier werden auch schon Elemente und Techniken der vorangegangenen Herangehensweise implementiert. Analytisch-explorative, deskriptive, gestalterische und normative Elemente werden in diesen Ansätzen integriert. Für mittelfristige Anwendungen eignen sich Sensitivitätsmodelle, die die Teilnehmer in die Lage versetzten, iterativ die Ganzheitlichkeit eines komplexen Systems zu erfassen und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. So kann ein solches Verfahren bei der Regionalentwicklung oder -planung zur Anwendung kommen, wenn es darum geht, bestimmte Förderprogramme umzusetzen. Dabei fließen normative Vorgaben (Zielvorstellung der Entwicklungsregion) zusammen mit planerisch-projektierenden Komponenten (wie und mit welchen Maßnahmen kann das Planungsziel erreicht werden) in das Gesamtsystem ein und können in ihrer Interdependenz betrachtet werden. Diese Form der praxisbezogenen Zukunftsforschung im Sinne eines Prozessmanagements impliziert die diskursive Beteiligung des Forschers an der Zukunftsgestaltung unter Einbeziehung einer Perspektivenpluralität, die durch Interdisziplinarität von Experten und Inklusion der „betroffenen“ Akteure gewährleistet wird.
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Exkurs: Die Szenariotechnik Ein ähnliches „diskursives Expertensystem“ (Klein 2009: 293) benötigt die Szenariotechnik für ihr Vorgehen. Die Szenariotechnik ist die zentrale und am weitesten verbreitete sowie angewendete Methode der Zukunftsforschung. Zudem zeichnet sie sich durch eine Langfristorientierung aus und integriert ebenso verschiedene methodische Ansätze. Ähnlich wie Sensitivitätsmodelle enthält die Szenariotechnik ein partizipatives Element, das gleichsam verändernd auf die beteiligten Akteure im Prozess wirkt. Aus dem Kontext der militärischen Strategieplanung in den 50iger Jahren entwickelte sich diese Technik und wurde erstmals von dem Unternehmen Shell für die Erstellung von Energie-Szenarien in den 70iger Jahren genutzt. Öffentlichkeitswirksam traten sie in der Verbindung mit Computersimulationen (vgl. Simulationsmodelle) des Berichtes des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ (1972) in Erscheinung. Die gegenwärtigen Anwendungsfelder erstrecken sich von strategischen Planungen in Unternehmen über Stadt- und Verkehrsplanungen bis hin zu globalen Energie- und Klimaszenarien. Zunächst ist die Szenariotechnik wie viele andere Methoden der Zukunftsforschung ein Prozess strukturierter Kommunikation. Angesichts der weiten Zeithorizonte (10–30 Jahre) von Zukunftsszenarien und der damit einhergehenden potenzierten Ungewissheit im Umgang mit der Evolution komplexer Systeme (den Gegenständen der Szenarioprozesse) sowie der Vielzahl unterschiedlicher Beteiligter ist das eine notwendige Bedingung für einen Szenarioprozess. Dabei geht es nicht um die Produktion und Darstellung exakten Wissens über die Zukunft, sondern um ein gründliches Verstehen eines Problems und der möglichen Entwicklungswege sowie deren Grenzen. Wahrheitsansprüche erheben Szenarien nicht. Konkrete Anweisungen zum Handeln zählen nicht zu den unmittelbaren Ergebnissen von Szenarioprozessen. Auf der Basis eines gegenstandund problemorientierten Sammelns von Informationen und systematischer Problemstrukturierung, die externe Einflüsse und alternative Entwicklungen einbezieht, werden im Ergebnis Handlungsoptionen im Kontext unterschiedlicher Zukunftsbilder diskutiert. Auf dieser Grundlage können Entscheidungen abgestimmt, inhaltlich fundiert, bewertet und letztlich gefällt werden. Somit ist der Szenarioprozess ein Prozess, der erst einen sehr hohen Grad an Komplexität erzeugt in Form von Informationen, Daten und möglichen Entwicklungsrichtungen und diese dann wieder reduziert durch die Verdichtung der Informationen und Entwicklungsrichtungen zu überschaubaren Szenarien. Dabei werden in einem iterativen Vorgehen mögliche zukünftige Situationen erarbeitet und aufgezeigt, was passieren kann (vgl. Becker/List 1997). Szenarien sind Darstellungen möglicher zukünftiger Situationen einschließlich der Entwicklungswege, die zu diesen Situationen führen. Diesen Darstellun-
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gen liegen spezifizierte Annahmen zu Grunde, die durch „hypothetische Konstruktionen“ (Kosow/Gaßner 2008: 10) in die Zukunft verlängert werden. Die Annahmen wiederum sind zeitlich und räumlich begrenzt und ergeben einen Möglichkeitsraum, der sich wie ein Trichter in die Zukunft öffnet (ebenda: 13.) Abbildung 1:
Der Szenariotrichter
Quelle: Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, TU Berlin Die methodologische Prämisse der Szenariotechnik ist die Idee möglicher Zukünfte oder auch alternativer Zukünfte und entspricht damit den eingangs erläuterten erkenntnistheorietischen Grundannahmen der Zukunftsforschung. Die Einsatzmöglichkeiten von Szenarien sind vielfältig. Es können in funktionaler Hinsicht vier idealtypischen Funktionen unterschieden werden(Im Folgenden vgl. ebenda: 14 ff): Die explorative Wissensfunktion von Szenarien besteht im systematischen Vertiefen des Verständnisses gegenwärtiger Situationen und Entwicklungen und vor allem deren Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Dynamiken, die die Grundlage für die alternativen Entwicklungen darstellen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Funktion ist das Aufspüren und die Betrachtung sogenannter „blinder Flecken“ in der Analyse. Damit sind unvorhersehbare Ereignisse (auch Wild Cards genannt), Konflikte und Widersprüche gemeint. Die Kommunikationsfunktion wurde bereits im Kontext der kommunikativpartizipatorischen Herangehensweise in der Zukunftsforschung allgemein erläutert. In einem Szenarioprozess erarbeiten sich die Teilnehmer ein relativ geteiltes Verständnis über die Veränderungen in den relevanten Umfeldern und deren Ursachen sowie Treiber. Diese binnenkommunikative Funktion unterstützt so-
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wohl den Diskurs der Teilnehmer als auch die Abstimmung und Integration der unterschiedlichen Perspektiven, die sich aus den institutionellen Kontexten, den unterschiedlichen fachlichen Expertisen und divergenten Interessen ergeben. Dieser Prozess fördert gleichzeitig die dritte Funktion von Szenarien. Die Teilnehmer und die Adressaten des Szenarioprozesses erhalten eine Unterstützung ihrer eigenen Zielvorstellungen. Insofern hilft die Zielbildungsfunktion bei der Positionierung von Unternehmen, politischen Institutionen oder Einzelakteuren bezüglich der möglichen Zukünfte. Darauf aufbauend können dann Entscheidungen oder Strategien entwickelt werden, die konkrete Aktivitäten und Handlungen zur Folge haben. Im Lichte der Szenarien können diese beurteilt und bewertet sowie in ihren Wirkungen auf Belastbarkeit geprüft werden. An dieser Stelle soll das Grobgerüst eines Szenarioprozesses skizziert werden. Ein Szenarioprozess untergliedert sich in sieben Arbeitsschritte. Abbildung 2:
Die sieben Szenario-Arbeitsschritte
Quelle: Eigene Darstellung nach Becker/List (1997) Der erste Schritt eines Szenarioprosses besteht in der Aufgabenbestimmung und Problemanalyse, die im Ergebnis eine eindeutige und von allen Beteiligten definierte Szenariofragestellung ergeben soll. Gleichzeitig muss das Szenariofeld in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht festgelegt werden. Danach erfolgt mit der Umfeldanalyse der zweite Schritt und es werden alle relevanten Einflussfaktoren, die die Szenariofragestellung und das Szenariofeld beeinflussen, gesammelt und mit empirischen Daten aufbereitet. Das sollte vorzugsweise durch Experten für die jeweiligen Themen, Probleme oder Fragestellungen erfolgen.
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Die Einflussfaktoren werden in einer Wechselwirkungsanalyse zueinander in Beziehung gesetzt und nach Einflussstärken und Unsicherheiten bewertet. Diese Strukturierung ist die Voraussetzung für den nächsten Arbeitsschritt der Projektionen. Die aus den Einflussfaktoren gewonnenen Deskriptoren oder auch Schlüsselfaktoren (die Faktoren, die den stärksten Einfluss auf das Gesamtsystem haben und gleichzeitig in ihrer Entwicklung am unsichersten sind) beschreiben das Szenariofeld. Sie werden hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung bearbeitet. Ausgehend vom analysierten Ist-Zustand erfolgt die Definition und Projektion der Ausprägungen. Im vierten Schritt werden die Projektionen zueinander in Beziehung gesetzt, auf ihre Konsistenz geprüft und dann zu möglichst widerspruchsfreien Projektionsbündeln verknüpft, welche die sogenannten Rohszenarien bilden. Dieses Grundgerüst der Szenarien wird danach weiter ausgestaltet und beschrieben. Meist geschieht das in Textform, ergänzt um grafische Elemente. Der gestalterischen Phantasie sind da (fast) keine Grenzen gesetzt, so können Szenarien auch filmisch dargestellt werden. Im fünften Schritt werden die Szenarien interpretiert und auf Konsistenz, Plausibilität und Widerspruchsfreiheit geprüft. Bevor es zur Auswirkungsanalyse kommt muss noch die Störereignisanalyse durchgeführt werden. Der auch als Wild-Card-Analyse bezeichnete Arbeitsschritt nimmt mögliche, aber recht unwahrscheinliche Störereignisse, Trendbrüche oder andere unvorhersehbare Eventualitäten in den Blick und überprüft die möglichen Wirkungen auf die jeweiligen Szenarien. Das kann einerseits zu zusätzlichen Szenarien führen aber anderseits die Sensibilität für mögliche Konsequenzen von Handlungsoptionen erhöhen. Im siebten und abschließenden Schritt werden die Auswirkungen der Szenarien auf das Problem analysiert und entsprechende Handlungsoptionen, Leitbilder oder Strategien entwickelt. Abschließend noch einige Ausführungen zu Grundformen von Szenarien (vgl. im Folgenden Gausemeier u.a. 1996). Damit soll auch noch einmal auf den wichtigen ersten Schritt der Szenarioanalyse hingewiesen werden. Die Aufgabenanalyse umfasst nicht nur die Definition der Aufgaben- oder Problemstellung, sondern auch die Festlegung welche Form der Szenarioprozess haben soll und welche Szenariotechnik angewendet wird. In Abhängigkeit davon werden drei Szenariogrundformen unterschieden: Umfeld-Szenarien, Entscheidungsoder Gestaltungsszenarien und System-Szenarien. Szenarioprozesse, die „ausschließlich auf nicht-lenkbaren, externen Einflussgrößen“ (ebd.: 106) basieren und von Entscheidern nicht beeinflusst sind, werden als Umfeld-Szenarien bezeichnet. Ist das Ziel des Prozesses Entscheidungen herbei zu führen, so sind die Entscheider nicht nur am Prozess beteiligt, sondern es müssen beeinflussbare Lenkungsgrößen einbezogen werden. Solche Szenarien sind Entscheidungs- oder Lenkungsszenarien. Eine Hybridform aus beiden sind die System-Szenarien. Hier werden sowohl unbeeinflussbare Umfeldgrößen als auch variable Len-
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kungsgrößen berücksichtigt. Darüber hinaus werden Szenarien noch differenziert nach den jeweiligen Gestaltungsfeldern: Produkt-, Technologie-, oder Globalszenarien. Definition und Grenzen Die Zukunftsforschung hat die Aufgabe, sinnstiftendes Wissen für den Umgang mit unsicherer Zukunft zu schaffen. Ihre Ziele sind einerseits die Gewinnung wissenschaftlichen Orientierungswissens und anderseits die praktische Beratung und Unterstützung von Planungs-, Strategie- und Entscheidungsprozessen in den entsprechenden gesellschaftlichen Systemen Politik, Wirtschaft, Ökologie und Wissenschaft. Sie hat aber nur die Vergangenheit und Gegenwart als Referenz und ist insofern die Konstruktion des Möglichen aus der Rekonstruktion des Gegebenen aus Vergangenheit und Gegenwart. Zukunftsforschung muss als systemischer Prozess verstanden und angewendet werden: multiperspektivisch, intersubjektiv und transdisziplinär. Eine Definition der Zukunftsforschung nach Kreibich lautet daher: Zukunftsforschung ist „die wissenschaftliche Befassung mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten Zukunftsentwicklungen und Gestaltungsoptionen sowie deren Voraussetzung in Vergangenheit und Gegenwart“ (Kreibich 2007: 181). Die Zukunftsforschung enthält analytische, deskriptive, normative Komponenten sowie prospektiv kommunikative und gestalterische Elemente. Das Wissen über die Zukunft ist in besonderer Weise auf Kommunikation angewiesen. Für kommunikativ-partizipatorische Ansätze wie der Szenariotechnik gilt das im Besonderen. Bei allen methodischen Anstrengungen und Qualitätsmerkmalen denen die Zukunftsforschung genauso unterliegt wie andere wissenschaftliche Disziplinen, ist dennoch vor falschen Erwartungen und kognitiven Irrtümern zu warnen. Auch bei aller wissenschaftlichen Fundierung kann die Zukunftsforschung keine planungsverlässlichen Zukunftsvorhersagen liefern. Sie kann maximal die Sensibilität im Sinne der Früherkennung für bestimmte Entwicklungen, Störereignisse oder Entscheidungskonsequenzen erhöhen. Auch diese Früherkennung ist mit Informationslücken behaftet und hat Interpretationsspielräume. Spekulative Elemente, institutionell bedingte Interessen und normative Dispositionen müssen bei Zukunftsstudien stets bedacht und in einer „Fehlerbetrachtung“ einkalkuliert werden.
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Was leistet die Zukunftsforschung im Feld der Verkehrspolitik und planung – das Beispiel Elektromobilität
Der Verkehrspolitik mit ihren Methoden und Verfahren der Verkehrsanalyse und -prognostik ist die Zukunftsgerichtetheit implizit. Integrierte Verkehrsplanung die verkehrsmittelübergreifend auf Wechselwirkungen zwischen Verkehr, Raumstruktur, Umwelt, Technik, Wirtschaft und Sozialstruktur gerichtet ist, muss in ihrem methodischen Instrumentarium über die klassischen Methoden und Verfahren der Verkehrsplanung hinaus gehen und Ansätze der Zukunftsforschung integrieren. Neben Trendanalysen und der Delphi-Methode spielen Szenarien in der Zukunftsforschung eine tragende Rolle. Szenarien zur Mobilität und Verkehrsentwicklung haben bereits Einzug gehalten in verkehrsplanerische Aktivitäten (vgl. BMVBS: 2006). Szenarioprozesse generieren methodisch kontrollierte Zukunftsbilder und ermöglichen nicht nur bildhafte Vorstellungen möglicher Zukünfte, sondern sie bilden auch die Grundlage strategischer Entscheidungsfindung. In politischen, technologischen wirtschaftlich komplexen und kontingenten Umwelten stellen sie ein hilfreiches Werkzeug zur Komplexitätsreduktion und Strategiebildung dar. Im Kontext der Verknappung fossiler Energieressourcen und der zunehmenden Klimagasemissionen in Folge des stetig wachsenden Verkehrsaufkommens wächst die Bedeutung neuer Antriebstechnologien und innovativer Mobilitätskonzepte. Einen Hoffnungsträger in diesem Feld stellt die Elektromobilität dar. Politisches Ziel ist es, diese im kommenden Jahrzehnt in Deutschland einzuführen. Die Verkehrspolitik steht mit der Einführung der Elektromobilität vor großen Herausforderungen. Diese bestehen in den offenen Fragen, ob und wie sich das Mobilitätsverhalten verändert oder welche Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur gestellt werden. Mobilität und speziell die Automobilität wie wir sie seit Jahrzehnten gewohnt sind, befindet sich im Wandel. Die prognostizierten Folgen des Klimawandels, die Endlichkeit fossiler Brennstoffe und die verkehrspolitischen Herausforderungen der zunehmenden Urbanisierung erfordern Verhaltensänderungen sowohl in den alltäglichen Mobilitätsroutinen als auch in der Verkehrsplanung. Ein Indikator für diese Veränderungsprozesse ist der gegenwärtig voll entfaltete Diskurs um die Elektromobilität. Da sich die Elektromobilität mittelfristig in urbanen Ballungsräumen etablieren wird, sind die ersten Pilotversuche und deren wissenschaftliche Begleitforschung in acht Modellregionen angesiedelt. Berlin-Potsdam ist eine davon. Neben der erwarteten Reduktion der CO2Emissionen im Verkehrssektor verbinden sich mit diesem Konzept Hoffnungen auf Veränderungen im Bereich der Individualmobilität, dem Wirtschaftsverkehr und multimodaler Mobilitätskonzepte.
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Der „Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität der Bundesregierung“ aus dem Jahr 2009 hat bis zum Jahr 2020 die Marktvorbereitung und -einführung batterieelektrischer Fahrzeuge zum Ziel. Mit ihm sollen die Weichen für eine zukünftige Mobilität gestellt werden. Die Herausforderungen durch Elektromobilität sind gewaltig. Leistungsfähige Energiespeicher, innovative Antriebskonzepte, Netzintegration und entsprechende Geschäftsmodelle sind nur einige Themenfelder, für die in der näheren Zukunft Lösungen gefunden werden müssen. Im Rahmen des durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderten Projektes „IKT-basierte Integration der Elektromobilität in die Netzsysteme der Zukunft“ widmete sich das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin der Analyse des NutzerInnenverhaltens von Elektrofahrzeugen und der Raumplanung der regionalen Infrastruktur. Das Teilprojekt wollte einen Beitrag zum Perspektivwechsel von der Angebotsplanung zur Nachfrageplanung leisten. Zur Umsetzung der Projektziele wurde im ersten Schritt ein methodisch kontrollierter Szenarioprozess durchgeführt. Diese Regionalszenarien Elektromobilität in Berlin 2025 dienen der Langfristabschätzung der Auswirkungen der Elektromobilität in Berlin. Sie ermöglichen alternative Zukunftsbilder der Elektromobilität im Ballungsraum Berlin. Ziel des Umfeld-Szenarioprozesses war es, die zentralen Rahmenbedingungen und Einfluss- sowie Umfeldfaktoren der Elektromobilität in der Region Berlin systematisch zu analysieren und ihre möglichen Wirkungen auf das künftige Mobilitätsverhalten von NutzerInnen und die Entwicklung der Elektromobilität in konsistenten Zukunftsbildern umfassend zu beschreiben. Der Zeithorizont der Szenarioanalyse ist das Jahr 2025. Die Analyse war zusätzlich von den Erwartungen getragen, dass Elemente dieser Analyse teilweise auf ähnliche Regionen in Deutschland zu übertragen sind. Nach der ausführlichen Umfeldanalyse zur Bestimmung aller relevanten Einflussfaktoren aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Technologie, Gesellschaft, Umwelt sowie Stadtentwicklung Berlin wurden 23 Einflussfaktoren in einer Wechselwirkungsanalyse aufeinander bezogen und mittels einer EinflussMatrix nach ihrer Einflussstärke untersucht. 13 Faktoren mit einem sehr hohen Einflusswert bildeten das Set der Schlüsselfaktoren, die die Grundlage für die Szenarien darstellten. Expertenbasiert wurden den Schlüsselfaktoren alternative Zukunftsausprägungen für das Jahr 2025 zugeordnet. In der sich anschließenden Konsistenzanalyse erfolgte die Prüfung, welche Ausprägungen konsistente Ausprägungsbündel bilden. Unterstütz durch das EIDOS-Softwareprogramm der Parmenides-Foundation konnten dann die konsistentesten Bündel ermittelt und erste Rohszenarien gebildet werden. Diese wurden in einer weiteren Expertenrunde validiert und weiter ausgearbeitet.
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Alle Szenarien haben darüber hinaus eine gemeinsame Basis an absehbaren Entwicklungen bis 2025 (bspw. demografische Entwicklung), die jedem Szenario zugrunde liegt. Diese definieren den Rahmen, innerhalb dessen sich alle Szenarien entfalten. Im Anschluss an die Ausarbeitung der Szenarien wurde eine Störereignisanalyse durchgeführt und einige Wild Cards und Trendbrüche definiert (z. B. Angleichung der Kosten von batterieelektrischen Fahrzeugen an Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren). Deren Auswirkungen auf die einzelnen Szenarien wurden herausgearbeitet und einem zusätzlichen Robustheitstest unterzogen. Die drei folgenden Szenarien standen am Ende des Prozesses, erheben aber nicht den Anspruch, alle möglichen Zukünfte abzubilden: Szenario 1: It-Car-Elektromobilität Die Elektromobilität bleibt in der automobilen Nische. Eine nennenswerte Anzahl von E- Fahrzeugen ist lediglich im Premiumsegment zu verzeichnen. Aufgrund der immer noch sehr hohen Batteriepreise haben die E-Fahrzeuge das Wettrennen gegenüber den Verbrennungsmotoren verloren. Fahrzeuge mit optimierten Verbrennungsmotoren und Hybridfahrzeuge geben den Ton auf den Straßen Berlins an. Der Kostenvorteil ist hier die entscheidende Ursache. Die erhofften Veränderungen im Mobilitätsverhalten sind ebenfalls ausgeblieben. Die im Jahre 2010 gestarteten Versuche der Etablierung von neuen Carsharing-Modellen auf elektrischer Basis scheiterten an mangelnder Nachfrage. Batterieelektrisch betriebene Pkw werden in gut situierten Haushalten als Zweitwagen genutzt und haben sich als Statussymbol umweltbewusster Technikpioniere entwickelt. Szenario 2: E-Mikromobilität Die Elektromobilität hat sich in Berlin etabliert. Allerdings nicht durch die Substitution der Verbrennungsmotoren durch batterieelektrisch angetriebene Fahrzeuge. Der Wandel im Mobilitätsverhalten und im Verkehr ist viel tiefgreifender. Individuelle Mobilität findet sich hauptsächlich im Kontext von Multi- und Intermodalität und auf der Basis eines ausdifferenzierten Angebotes von Mobilitätsdienstleistungen. Elektrische Klein- und Kleinstfahrzeuge spielen auf den Straßen Berlins eine herausragende Rolle. Auf der Basis einer intelligenten, ITgestützten Vernetzung der Verkehrsträger wurde die E-Mobilität fest in den Verkehr der Stadt integriert. Ursachen für diese Entwicklung sind nicht nur die gesunkenen Batteriepreise sondern auch die aktive und systemische Förderung seitens der Politik und der Stadt. Zudem hat sich ein breites Spektrum an rentablen Mobilitätskonzepten etabliert, das den Besitz eines eigenen Fahrzeuges nicht
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mehr unbedingt notwendig macht. Die integrierte und nachhaltige Mobilitätspolitik der Stadt Berlin, die veränderten Mobilitätspräferenzen und das breit gefächerte Angebot an E-Mobilen hat Berlin zu der Pionierstadt in Sachen Elektromobilität gemacht, die positive Abstrahleffekte auf andere Metropolen hat. Abbildung 3:
Szenario E-Mikromobilität
Quelle: Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, TU Berlin Szenario 3: Katalysator Wirtschaftsverkehr Die Elektromobilität setzt sich über den Wirtschaftsverkehr durch. Durch eine gezielte Angebots- und Nachfrageförderung seitens der öffentlichen Hand wurde dieser Prozess in Gang gesetzt. Finanzielle Anreize und die systematische Elektrifizierung der Fuhrparks und gewerblicher Flotten waren die wichtigsten Stellhebel dieser Entwicklung. Die Stadtentwicklungspolitik Berlins hat dabei nachhaltig Wirkung gezeigt. Im Zuge der Umsetzung des Masterplanes Verkehr wurde der schwere Güterverkehr aus dem Innstadtbereich entfernt und der Personen- und Güterwirtschaftsverkehr durch E-Transporte und -Transporter ersetzt. Dieser Prozess hatte letztlich auch positive Rückwirkungen auf die wirtschaftli-
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che Entwicklung Berlins. Auf diesem Wege wurde die E-Mobilität nicht nur sichtbarer sondern auch attraktiver für den privaten Individualverkehr. Zusammenfassung Angesichts des gegenwärtig voll entfalteten Elektromobilitätsdiskurses nehmen die hier vorgestellten Szenarien eine klare Korrektur vor. Der Diskurs suggeriert zumindest in seiner medialen Form eine umfassende Diffusion von EFahrzeugen auf der Basis des Privatbesitzes von Automobilen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass in der automobilen Welt alles bleibt wie es war – nur auf elektromobiler Basis. Die Szenarien zeigen nicht nur komplexere und differenziertere Zusammenhänge, sondern korrigieren diese einseitige Perspektive auf das Thema. Keines der Szenarien beschreibt eine vollständige Diffusion der Elektromobilität in Berlin 2025 in der traditionellen Logik. Somit haben die Szenarien im Sinne ihrer explorativen Funktion das Thema Elektromobilität nicht nur vertieft sondern einen viel weiter reichenden Möglichkeitsraum für die Entfaltung der Elektromobilität im Verbund mit anderen Verkehrsmitteln und systemen aufgespannt. Entwicklungen, die vielleicht nur intuitiv angedacht wurden, konnten systematisch analysiert und zusätzlich Optionen dargestellt werden. Darüber hinaus kam es zu Lerneffekten im partizipatorischen Prozess. Dem traditionellen Denken ferne Zukunftsbilder, jenseits des Mainstream-Elektromobilitäts-Diskurses veränderten innerhalb des Prozesses die Wahrnehmung und Perspektiven der Teilnehmer. Zu Beginn des Prozesses spielte die Relevanz des Wirtschaftsverkehres für die Elektromobilität eine verschwindend geringe Rolle. Erst im Aufbau des Szenariosystems und den betrachteten Wechselwirkungen rückte dieses Thema in den Vordergrund. Insofern haben sich bereits die „mentalen Landkarten“ der Teilnehmer im Prozess verändert. In der Gesamtschau stellt sich die Elektromobilität als ein Bestandteil postfossiler Mobilität dar, und das in einer Vielzahl von Diffusionspfaden, die so vorher nicht gesehen wurden. Das stellt die Verkehrspolitik einerseits vor eine Optionsvielfalt in den planerischen Handlungsmöglichkeiten und ermöglicht ihr gleichzeitig – gerade weil in diesem Prozess die Mobilitätspräferenzen der Verkehrsteilnehmer einbezogen wurden – eine nachfrageorientierte Haltung einzunehmen. In der Kommunikation der Szenarien an verschiedenen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wird somit auch Aufbauarbeit in der Veränderung der mentalen Landkarten betrieben und so ein weiterer Schritt in Richtung „postfossile Mobilitätskulturen“ getan und in Richtung nachhaltiger Zukunftsgestaltung getan.
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Fazit Der hier aufgezeigte Szenarioprozess ist ein gelungenes Beispiel für den Beginn einer Symbiose von Verkehrsplanung und Zukunftsforschung. Das heuristische Werkzeug der Szenariotechnik ermöglicht es, in einer komplexen Welt entscheidungsfähig zu bleiben. Neben den Zukunftsbildern ist es vor allem der Prozess selber, der auf die beteiligten Akteure nachhaltig wirkt und für die Verkehrspolitik sowohl eine inhaltliche wie kommunikativ-partizipative Grundlage für Entscheidungen generiert. Er fördert eine auf Verständigung angelegte Kommunikation und erhöht somit potenziell die Angemessenheit, Inklusion (der betroffenen gesellschaftlichen Akteure) und Vernünftigkeit von Entscheidungen und Handlungen. Gerade im institutionellen Kontext von Verwaltungen und anderen politischen Organisationen ermöglicht die Szenariotechnik Transparenz (im Sinne des Nachvollzuges der Perspektiven unterschiedlicher Beteiligter), Teilhabe und Verantwortung (für die gemeinsam erarbeiteten Szenarien) sowie Lerneffekte für die Vorbereitung mittel- bis langfristiger Strategien. So kann es gelingen, dem allseits geforderten Begriff des „Vernetzten Denkens“ eine konkrete Form zu geben. Szenarien ermöglichen – gerade hinsichtlich einer nachhaltigen Verkehrspolitik sowie integrierten Verkehrsplanung (vgl. den Beitrag von Schwedes in diesem Band) – Werte und Normen in den Prozess zu integrieren. So paradox es auch hinsichtlich des eingangs formulierten Postulates der Nichtplanbarkeit von Zukunft klingen mag, so verweist diese Methode der Zukunftsforschung auf die Möglichkeiten des verständigungsorientierten Planens und Gestaltens von verkehrspolitischen Zukünften. In Zeiten ressortübergreifenden poltischen Handelns und Entscheidens ein wahrhaft zukunftsweisender Schritt. Quellen Becker, Axel/Stefan List (1997): Die Zukunft gestalten mit Szenarien. In: Michael P. Zerres/Ingrid Zerres (Hrsg.): Unternehmensplanung – Erfahrungsberichte aus der Praxis. Frankfurt, S. 36-55. Gausemeier, Jürgen/Alexander Fink/Oliver Schlake (1996): Szenario-Management: Planen und Führen mit Szenarien. München. Holzinger, Markus (2007): Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie. Bielefeld. Klein, Gereon (2009): Zirkuläre, kooperative Entscheidungsvorbereitung für mittelfristige Planungsvorhaben. In: Reinhold Popp/Elmar Schüll (Hrsg.): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Berlin Heidelberg, S. 293-303.
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Knoblauch, Hubert/Bernt Schnettler (2005) Prophetie und Prognose. Zur Konstitution und Kommunikation von Zukunftswissen. In: Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hrsg): Gegenwärtige Zukünfte. Wiesbaden, S. 23-44. Kosow, Hannah /Robert Gaßner (2008): Methoden der Zukunfts- und Szenarioanalyse. Überblick, Bewertung und Auswahlkriterien. Berlin Kreibich, Rolf (2006): Zukunftsforschung. Berlin Liessmann, Konrad Paul (2007) Zukunft kommt. Wien. Luhmann, Niklas (1992): Beobachtungen der Moderne. Opladen. Popp, Reinhold (2009): Partizipative Zukunftsforschung in der Praxisfalle? In: Reinhold Popp/Elmar Schüll (Hrsg.): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Berlin Heidelberg, S. 131-143.
Weiterführende Literatur Bolz, Norbert (2004): Blindflug mit Zuschauer, München. BMVBS (Hrsg.) (2006): Mobilitätsentwicklung 2050. http://www.bmvbs.de/cae/servlet/contentblob/31892/publicationFile/10780/mobilitaetsentwicklung-2050.pdf (Zugriff: 15.09.2010) Kreibich, Rolf (2007): Wissenschaftsverständnis und Methodik der Zukunftsforschung. In: Zeitschrift für Semiotik 29, S. 177-198. Marquard , Odo (2003): Zukunft braucht Herkunft. Ditzingen. Schindler, Jörg/Martin Held (2009): Postfossile Mobilität. Wegweiser für die Zeit nach dem Peak Oil. Bad Homburg.
Mobilität für morgen Rudolf Petersen Mobilität, so wie wir sie heute praktizieren, ist nicht zukunftsfähig. (…) Unser Planet würde es gar nicht aushalten, wenn die Menschen überall auf der Welt so viel im Auto durch die Gegend fahren würden, wie wir das hier bei uns tun. (Horst Köhler, ehem. Bundespräsident)
Einführung Das Mobilitätsverhalten hat sich im vergangenen Jahrhundert vor allem in den wohlhabenden Ländern grundlegend verändert. Treibende Kräfte waren der Wohlstand, die Innovationen im Verkehr und im Kommunikationssektor sowie die Veränderungen der räumlichen Strukturen. Verändert haben sich sowohl die Bewegungen von Personen als auch der Transport von Gütern. In dieser Arbeit wird vorwiegend vom Verkehr die Rede sein, er wird hier als Realisierung von Mobilität in Form physischer Bewegung zwischen Aktivitätsorten verstanden. Es gibt große soziale Unterschiede im Mobilitätsverhalten, die sich u.a. in der Verkehrsmittelwahl und in den pro Person zurück gelegten Distanzen zeigen. Grundsätzlich gilt: Wer mehr Geld hat, reist weiter und komfortabler; dabei wird mehr Energie verbraucht, und es werden mehr Treibhausgase emittiert. Haushaltseinkommen und Energieverbrauch im Verkehr korrelieren, das gilt nicht nur innerhalb der deutschen Gesellschaft, sondern auch im Vergleich der Länder und Regionen untereinander. Hier soll vorwiegend vom Personenverkehr die Rede sein; Güterverkehr wird insofern verschiedentlich genannt werden, als sein Wachstum die treibende Kraft für den Ausbau des Fernstraßennetzes ist. Mobilität ermöglicht die Erreichbarkeit von Orten, an denen Menschen ihre Wünsche und Bedürfnisse realisieren können. Je ungünstiger der Raum strukturiert ist, sei es auf Grund von natürlichen Gegebenheiten oder wegen gesellschaftlicher Fehlallokationen, desto mehr Verkehr ist für ein jeweiliges Mobilitätsniveau erforderlich. Unsere Mobilität ist abhängig (geworden) von motorisiertem Verkehr. Diese Abhängigkeit ist eine Folge politischer Entscheidungen, die der Autogesellschaft durch rechtliche Regelungen und Infrastrukturinvestitionen den Weg bahnten. Nicht zuletzt basiert der motorisierte Verkehr auf kostengünstigem Erdöl, das den wohlhabenden Ländern trotz gelegentlicher
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Versorgungskrisen immer zur Verfügung stand. Steigende Weltmarktpreise konnten aufgefangen werden.1 Erdöl ist jedoch nur in begrenztem Umfang vorhanden; seit Jahrzehnten wird jährlich mehr davon verbraucht als neu gefunden; die Vorräte schrumpfen also.2 Um die Ressourcen konkurrieren neben den klassischen Wohlstandsländern (USA, Japan, EU) die aufstrebenden, bevölkerungsreichen Schwellenländer, zu nennen sind in erster Linie China und Indien. Es wird sicherlich noch geraume Zeit Erdöl geben, aber zu immer höheren Kosten und mit weiter steigenden Risiken.3 Eine nachhaltige Entwicklung erfordert, den Verbrauch knapper Energieträger drastisch zu reduzieren. Am meisten Erdöl wird im Autoverkehr verbrannt, dies gilt für Deutschland ebenso wie im globalen Maßstab. Autofahren gefährdet eine nachhaltige Entwicklung nicht nur wegen der mit der Ölbeschaffung verbundenen politischen und sozialen Auswirkungen, sondern auch aus ökologischen Gründen. Die Lebensbedingungen der Menschen werden durch die Verbrennung fossilen Erdöls (wie auch von Kohle) gefährdet. Zwar können die direkten Gesundheitsschäden der Autoabgase durch technische Lösungen wie Partikelfilter und Katalysatoren sowie durch verbesserte Benzin- und Diesel-Kraftstoffe weitgehend vermieden werden, aber Filter zur Vermeidung von klimaschädigenden TreibhausgasEmissionen gibt es nicht. Ein auf viel motorisiertem Verkehr basierendes Mobilitätssystem verursacht weitere Probleme, von denen der Flächenverbrauch sowie zunehmende soziale Disparitäten genannt seien (vgl. den Beitrag von Daubitz in diesem Band). Ferner ist auf die Auszehrung der Öffentlichen Haushalte hinzuweisen, nicht nur als Folge von zu viel Straßenneu und -ausbau, wo doch der Unterhalt des bisherigen Netzes bereits unterfinanziert ist. Jede zusätzliche Straße subventioniert teures Wohnen außerhalb der Städte und erhöht die Lasten für soziale Dienste, für Abfall-, Strom- und Schulversorgung u.v.m. in einer schrumpfenden Gesellschaft.
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Obwohl als Folge hoher Ölpreise – zuletzt auf über 140 $ je Barrel im Juli 2008 – globale Wirtschaftskrisen befürchtet wurden, blieben diese aus. Die wirklich gefährliche Krise Ende 2008 wurde durch Bankspekulationen ausgelöst. Vergleichbares gilt auch für Erdgas, allerdings ist nach dem heutigen Stand die Situation weniger kritisch als bei Erdöl. Hier seien nur einige Stichworte genannt: Kriege und indirekte militärische Interventionen, Zerstörung von natürlichen Lebensräumen bei Förderung und Transport. Die Ölpest im Golf von Mexiko 2010 gibt ein aktuelles Beispiel für ökologische und soziale Schäden.
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Rahmen für Nachhaltige Mobilität: Energie- und Klimaziele
Auf detaillierte Zahlenangaben zu den Verbrauchs- und Emissionsmengen des Verkehrssektors bzw. der einzelnen Subsektoren (Pkw, Lkw etc) soll hier verzichtet werden. Je nach Region und struktureller Abgrenzung – z.B. ob nur die vom Fahrzeugbetrieb verursachten Mengen oder auch die Aufwendungen für Erstellung sowie Entsorgung, ferner Bau und Unterhalt der Infrastrukturen berücksichtigt werden – kommt man zu etwas unterschiedlichen Angaben.4 In grober Näherung gilt, dass Verkehr etwa ein Viertel der deutschen TreibhausEmissionen verursacht. Es besteht in Wissenschaft und Politik Konsens, dass die Menge der klimaschädigenden Emissionen – in erster Linie sind es die CO2-Emissionen – , erheblich verringert werden muss, um Klimagefahren zu begrenzen.5 Mit „erheblich“ ist eine globale Reduzierung bis 2050 um mindestens 50 % gemeint. Es geht um die Gesamtmengen, in verschiedenen Regionen und Verursachersektoren (Verkehr, Industrie, Haushalte etc.) müssen also keine gleich starken Reduzierungen erfolgen. Die hohe Bedeutung des Verkehrs einerseits und der Umfang der Reduzierungsziele erfordern, dass im Verkehr erhebliche Beiträge zu erbringen sind. Vor allem sind die reichen Länder mit ihren hohen Emissionsmengen gefordert, sie müssen mehr reduzieren als die armen. Klimakonferenzen ringen um die Frage, wie Emissionsrechte und Minderungspflichten zu verteilen sind. Gibt man jedem Menschen (rein rechnerisch) gleiche Emissionsrechte, und müssen die Emissionsmengen der Länder dorthin konvergieren? Dies Konzept wurde auch von der deutschen Kanzlerin bei ihrer Rede in Kioto 2007 vorgetragen: „Das heißt also, es wird auf der Zeitachse einen bestimmten Punkt geben, an dem man den gleichen Pro-Kopf-Ausstoß erreicht haben wird, weil die Industrieländer ihr Pro-Kopf-Aufkommen an CO2 reduziert haben werden und der Pro-Kopf-CO2Ausstoß der Schwellenländer langsam gestiegen sein wird.“6
Die Vorstellung gleicher zulässiger Pro-Kopf-Emissionen lässt sich relativ einfach in Zahlen ausdrücken. Das von Klimaforschern und z.B. der EU formulierte Ziel einer Begrenzung des globalen Temperaturanstieges auf maximal 2 Grad 4 5 6
Aktuelle Zahlen zu Treibhausgasemissionen werden vom Umweltbundesamt veröffentlicht unter http://www.umweltbundesamt.de/klimaschutz/index.htm Neben dem Ausstoß der Gase wie CO2, CH4, N2O etc. sind weitere das Klima beeinflussende menschliche Aktivitäten zu verändern, auch muss die Zerstörung der großen Wälder gestoppt werden. Siehe http://www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/08/2007-0830-rede-merkel-wirtschaftssymposium-nikkei.html
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Celsius erfordert mindestens eine Halbierung der globalen CO2-Emissionen bis 2050. Umgerechnet auf die Bevölkerung der Erde führt dies zu einer Begrenzung auf etwa 2 Tonnen CO2-Äquivalent je Person.7 Für die „worst emitters“ mit mehr als 20 Tonnen CO2 pro Person wäre eine Reduzierung um mehr als 90% erforderlich, das gilt u.a. für die USA. Günstiger liegen die meisten europäischen Länder mit etwa 10 Tonnen, dazu gehört auch Deutschland. Diese Länder müssten ihre Emissionen um rd. 80% verringern.8 Selbst für Länder wie China mit spezifisch mehr als etwa 3 Tonnen besteht Handlungsbedarf. Dagegen könnten die „Habenichtse“ – zu ihnen gehören Indien und Bangladesh, auch die meisten afrikanischen Staaten – ihren fossilen Verbrauch steigern, was für ihre soziale und ökonomische Entwicklung erforderlich ist. Naheliegend ist, dass es globale Ausgleichsprozesse durch den Handel mit Emissionsrechten geben wird. Länder mit hohen Emissionen könnten Emissionsrechte in den armen Staaten kaufen. Im Verkehrsbereich besteht eine besonders enge Verknüpfung zwischen den Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Motorisierter Verkehr mit Pkw und Lkw ist stärker vereinheitlicht als beispielsweise die Stromerzeugung oder die Hauswärme-Versorgung, weil überall Kraftfahrzeuge gefahren werden, die nach sehr ähnlichen Normen von eng vernetzten Herstellern produziert werden. Aber nicht nur hinsichtlich der Fahrzeuge und der für sie gebauten Infrastruktur orientiert man sich weltweit an den USA und an Europa, sondern auch in den Mobilitätsleitbilden und Wohlstandsmodellen. 2
Verkehrspolitik und Nachhaltige Mobilität
Verkehrspolitik und Verkehrsplanung orientieren sich traditionell an Wirtschaftsinteressen und an einer diffusen Gleichsetzung von Konsum und Wohlergehen, die das Leben aus der Autofahrer-Perspektive wahrnimmt. Umwelt- und klimapolitische Ziele beeinflussen das Verkehrsgeschehen kaum; technische Normen wie die Abgas- und Lärmgrenzwerte wurden und werden nur so gesetzt, dass sie die Automobilisierung nicht stören. Auch die Verbrauchs- bzw. CO2Ziele der EU fördern nach der Struktur des Regelwerkes vor allem den zusätzli7 8
Nach neueren Berechnungen (Meinshausen et al. 2009) liegt die für das 2-Grad-Ziel “zulässige” Grenze eher unter 2 Tonnen pro Person – global einzuhalten ab sofort. Im Koalitionsvertrag CDU/CSU/FDP vom 26. 10 2009 heißt es unter Ziffer 4.2: “International ist vereinbart, dass die Industriestaaten ihre Treibhausgas-Emissionen bis 2050 um mindestens 80% reduzieren.” Das verweist auf die G8-Erklärung vom Juli 2009 in Italien. Eine konkretere deutsche Festlegung gilt für 2020 und lautet: “Wir werden für Deutschland einen konkreten Entwicklungspfad festlegen und bekräftigen unser Ziel, die Treibhausgas-Emissionen bis 2020 um 40% gegenüber 1990 zu senken.”
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chen Absatz von kleineren Fahrzeugen, sie hindern nicht Kauf und Betrieb großer Kraftstoffschlucker. Der Begriff “Nachhaltigkeit” wird oft reklamiert und kaum umgesetzt, das gilt auch für die gegenwärtige Bundesregierung: Obwohl im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP (Koalitionsvertrag 2009) im Abschnitt 4.2 u. a. ausgeführt wird „Das Prinzip der Nachhaltigkeit prägt unsere Politik.“ sowie „Unser Ziel ist es, die Erderwärmung auf maximal 2 Grad Celsius zu begrenzen.“, werden keine dafür zielführende Schritte unternommen. De facto gibt es andere – gegenläufig wirkende – Prioritäten. Diese Haltung wird von wissenschaftlichen Beobachtern als „politische Schizophrenie“ (Luhmann 2010) bezeichnet. Dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ in Politik und Wirtschaft zur „inhaltlosen Floskel“ geworden sei, meint man in der Geschäftsstelle des Deutschen Nachhaltigkeitsrates; Interessengegensätze würden damit übertüncht. Im sog. Brundtland-Report 1987 und bei der Rio-Konferenz 1992 sind die widerstreitenden Interessen „Umwelt“ und „Entwicklung“ benannt worden. In Deutschland ist aus dem Gegensatzpaar ein Dreiermodell entstanden, das der Nachhaltigkeit zusätzlich zur ökologischen und sozialen eine ökonomische Komponente zuschreibt. Bereits 2002 stellte dazu der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten fest: „Ergebnisse von Forschungsprojekten (...) wie auch der politische Umgang mit diesem Konzept machen allerdings deutlich, dass das Drei-Säulen-Konzept zu einer Art Wunschzettel verkommt, in den jeder Akteur einträgt, was ihm wichtig erscheint. Das Konzept begünstigt damit zunehmend willkürliche Festlegungen.“ (SRU 2002: 21)
Eine auf ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtete Politik würde bei Wirtschaftsakteuren Probleme aufwerfen, weil das bisherige verschwenderische Wirtschaften mit natürlichen Ressourcen durch die Externalisierung der tatsächlichen Kosten so überaus vorteilhaft für Profite und den materiellen Wohlstand ist. Ausgang aus diesem Dilemma soll eine zukünftige „grüne“ Ökonomie schaffen, in welcher sich mit ökologisch einwandfreien Produkten und Produktionsverfahren dann gut verdienen lässt. Diese Hoffnung verbindet nicht nur die Partner des Koalitionsvertrages, sondern findet sich als feste Erwartung in allen Parteischriften, bei Industrieverbänden und Gewerkschaften ebenso wie in den Konzeptpapieren vieler Umweltverbände sowie der Lobbyisten der Regenerativen Energien. In Deutschland wird den Interessen der Automobilindustrie von der Politik traditionell ein hoher Stellenwert beigemessen, dies zeigt sich in zahlreichen Einzelfragen zwischen Tempolimit und Abwrackprämie. An dieser Stelle sollen nicht die ökonomischen Aspekte dieser und anderer Branchen diskutiert werden. Tatsache ist, dass eine Politik für Nachhaltige Mobilität mit den Interessen der deutschen Automobilindustrie – vertreten im Verband der Automobilindustrie
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(VDA) – in Konflikt geraten muss. Ein weiterer exzellent organisierter Akteur, der den Begriff Mobilität gerne mit Autofahren gleichsetzt, ist der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) mit rund 17 Millionen Mitgliedern. Der ADAC vertritt durchaus auch Umweltanliegen, wenn dabei kostengünstiges und ungestörtes Autofahren nicht gefährdet sind. Keine Bundesregierung hat bisher versucht, eine weniger autoorientierte Verkehrspolitik zu konzipieren. Auch unter dem gegenwärtigen NachhaltigkeitsMantel dominieren die ökonomischen Aspekte im Sinne einer Senkung der betriebswirtschaftlichen Kosten. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Umweltund Gesundheitsschäden werden dagegen nicht bilanziert.9 Eine Verkehrspolitik, die einen immer schnelleren und billigeren Transport von Personen und Gütern über immer größere Distanzen zu befördern sucht, ist nicht nachhaltig. Trotz Ölverknappung und Treibhauseffekt überwiegen Vorfestlegungen zu mehr Straßenbau, man hofft auf zukünftige Technologien. Erfolg wird in politischen Bilanzierungen daran gemessen, wie viel Geld für Straßenbau und andere angebotsseitige Projekte ausgegeben wird, nicht an erreichten Effekten.10 Nach wie vor scheint man der Parole “Engpassbeseitigung durch Neu- und Ausbau“ zu glauben, obwohl bislang in keinem Ballungsraum ein Zustand ohne Stau erreicht werden konnte, selbst mit zwölfspurigen Autobahnen nicht (Beispiel Los Angeles). Wer darauf hofft, verkennt die Stauursachen ebenso wie das Zusammenspiel von Verkehrsangebot und Verkehrsnachfrage (vgl. den Beitrag von Gerike in diesem Band).11 Entsprechendes gilt auch für Umgehungsstraßen (vgl. von Winning 2009). 3
Entwicklungspfade
Entscheidend für den Verbrauch an Erdöl sowie die Treibhausgas-Emissionen des Verkehrssektors sind – hier nach der Reihenfolge ihres heutigen Mengenbeitrages – (a) der Pkw-Verkehr, (b) der Lkw-Verkehr, (c) der Luftverkehr und die 9
10 11
Zusätzlich zu Emissionen und Lärmschäden wären z. B. die zunehmende Fettleibigkeit in allen Altersschichten zu nennen sowie die Entwicklungsstörungen bei Kindern, weil Raum und Gelegenheiten für Bewegungsspiele fehlen. Vgl. auch http://www.kinderschutzbund-nrw.de/ denkanst/Bewegungsmangel.htm In Deutschland sind Ex-Post-Evaluationen von Verkehrsprojekten nicht üblich. Siehe dagegen für die Schweiz: ARE (2007) Stauschwerpunkte im Autobahnnetz sind Zu- und Abfahrten in Großstadtnähe, wo die Stadtnetze die Verkehrsspitzen nicht aufnehmen können. Im Gesamtnetz sind die Stauursachen nach Angaben des BMBVS zu 39 Prozent „hohes Verkehrsaufkommen”, 35 Prozent „Arbeitsstellen” (d. h. Bau und Unterhalt) und 26 Prozent „Unfälle” (Deutscher Bundestag Drucksache 16/6131 16. Wahlperiode 24. 07. 2007).
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Seeschifffahrt. Während die Reihung a) Pkw und b) Lkw für Deutschland, für die EU und auch im globalen Maßstab eindeutig ist, kann sich für Luft- und Seeschifffahrt bei nationaler Betrachtung eine andere Reihung ergeben. Ferner ist von Bedeutung, in welchem Umfang dem Luftverkehr in großen Höhen emittierte Wasserdampf- und NOx-Emissionen zugeordnet werden.12 Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf den Pkw-Verkehr, gelten aber sinngemäß auch für andere Verkehrsarten. Eine nachhaltigere Entwicklung setzt voraus, dass frühere und heutige Fehler nicht fortgesetzt werden. Für den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen des Verkehrs sind folgende Faktoren maßgeblich:
der Verkehrsaufwand, d.h. die Zahl der Wege, die zurück gelegt werden (müssen), die Verkehrsmittelwahl, d.h. insbesondere die Nutzung des Verkehrsmittels Automobil, die Technik der Fahrzeuge, das betrifft sowohl die Konzepte insgesamt (Größe, Masse, ...) als auch die (geringe) Effizienz der Antriebsmotoren, die Kraftstoffe bzw. Energieträger, dabei ist die gesamte Produktions- und Nutzungskette zu berücksichtigen, die Verkehrsregeln, welche die Autofahrer zu ökologisch ungünstigem Fahrverhalten veranlassen oder gar zwingen, die Infrastrukturen, dabei sind zum einen Struktur und Zustand der Verkehrsnetze zu betrachten, zum anderen sind die räumlichen Anordnungen der Aktivitäten von Bedeutung.
Der Faktor „Infrastruktur“ greift über die Zuständigkeiten von Verkehrspolitik und -planung hinaus, denn er meint nicht nur Verkehrsanlagen, sondern die Raumstruktur insgesamt. Die räumliche Anordnung der Quellen und Ziele des Verkehrs, der Siedlungen, Arbeitsplätze, Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen, Schulen etc. prägen den Verkehrsaufwand und die Eignung der verschiedenen Verkehrsmittel. Um die Verkehrsfolgen von Standortentscheidungen zu erfassen, ist eine enge Abstimmung von räumlicher Planung und Verkehrsplanung erforderlich. Dies ist im Grundsatz nicht neu, nicht umsonst ressortiert der Verkehr auf der Bundesebene und vielen Ländern gemeinsam mit Raum- und Stadtplanung. In der Praxis führt jedoch der Straßenbau ein Eigenleben und fördert disperse Raumnutzungen, was wiederum die Wegedistanzen erhöht und eine Verknüpfung zu Wegeketten behindert. Straßenaus- und -neubau unterstützt Automobilität, und die dann ermöglichte Raumentwicklung erschwert die Nut12
Zu Daten und Erfassungsmethoden vgl. Umweltbundesamt (2010). Vgl. auch Schallaböck et al. (2006).
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zung anderer Verkehrsarten. Ohne dichte und durchmischte Raumstrukturen steigen die ÖPNV-Betriebskosten, und auch der Fuß- und der Radverkehr verlieren an Attraktivität. Eine gute räumliche Planung ermöglicht nachhaltige Mobilität mit wenig Verkehrsaufwand; diese Überlegungen sind für die schnell wachsenden Städte in der sog. „3. Welt“ besonders aktuell (vgl. Petersen 2002). Doch auch in den Wohlstandsländern mit stagnierenden oder rückläufigen Bevölkerungszahlen müsste stärker verkehrssparend geplant und gebaut werden. Immer noch unterläuft die Verkehrspolitik durch autoorientierten Wegebau und begünstigendes Verkehrsrecht die Vorteile der Nähe, indem sie für weitere Kosten- und Zeiteinsparungen bei der Raumüberwindung sorgt. Nimmt man dazu noch steuerliche Anreize, dann wird deutlich, dass Regierungen mit direkten sowie indirekten Subventionen jenes Verkehrswachstum erzeugen, dessen negative Folgen sie beklagen. Diese Zusammenhänge werden seit längerem in Fachgremien diskutiert, die Notwendigkeit integrierter Planung und verkehrssparsamer Strukturen sind vielfach formuliert worden, aber bisher nicht in politisches Handeln eingedrungen. Mehr noch: Damals wurden „Verkehrsmeidung“ und „Verkehrsverlagerung“ als notwendige Bestandteile verantwortungsvoller Mobilitätspolitik einer CDUgeführten Bundesregierung benannt, heute spricht man nur noch über technische Lösungen.13 Der vorliegende Beitrag kann nur knapp einige Aspekte zukünftiger nachhaltiger Mobilität und einige Überlegungen zu notwendigen politischen Voraussetzungen dazu skizzieren. Dargestellt werden mögliche Zukunftspfade in drei Szenario-Beschreibungen. Dabei werden drei Zeithorizonte angesprochen: Kurzfristig bedeutet bis zu 5 Jahre, in dieser Zeit können z. B. grundlegende Veränderungen im Verkehrsrecht politisch entschieden, mit Verordnungen präzisiert und in der Praxis umgesetzt werden. Mittelfristig meint in den folgenden Überlegungen einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren, d. h. maximal 2030. In diesem Zeitraum kann beispielsweise die Fahrzeugflotte umfassend erneuert werden. Als langfristig wird hier ein Horizont um 2050 bezeichnet, in diesem Zeitraum können beispielsweise erhebliche Veränderungen in der Infrastruktur vorgenommen werden. Die drei Szenarien enthalten keine eigenen Modellrechnungen, sondern zeigen unterschiedliche Zukunftsbilder. Szenario 1 („Business-As-Usual“) basiert auf der heutigen deutschen Verkehrspolitik, die im Wesentlichen eine Fortsetzung früherer ist. Sie befördert den Ausbau der Straßeninfrastruktur mit der Begründung, dass die in Auftrag gegebenen Studien vor allem im Güterverkehr weiter ansteigende Nachfrage anzeigen; für diese gelte es die Kapazitäten zu schaffen. 13
A. Merkel, Min. f Umwelt, Naturschutz u. Reaktorsicherheit 29.1.1998: „Verkehrsvermeidung und -verlagerung sind für die Sicherung einer umweltgerechten Mobilität unverzichtbar.“ BMU-Pressedienst 003/98. http://www.bmu.de/pressearchiv/13_legislaturperiode/pm/521.php
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Szenario 2 zeigt ein in der Verkehrnachfrage und der Verkehrspolitik dem Szenario 1 vergleichbares, jedoch um die Anliegen „Klimaschutz“ und „Erdölverknappung“ erweitertes Zukunftsbild. Der dadurch bestehende Zielkonflikt soll durch Innovationen in der Fahrzeugtechnik und im Energiesektor („grüne Technik“) gelöst werden. Szenario 3 geht dagegen von der Prämisse aus, dass mit technischen Innovationen allein die Energie- und Klimaschutzanforderungen nicht erfüllt werden können, vielmehr sei eine grundlegende verkehrspolitische Umkehr erforderlich. Nicht ausgeführt wird, dass mit ergänzenden nicht verkehrlichen Maßnahmen dem Verkehrswachstum Einhalt geboten und eine stärkere Nutzung der umweltverträglicheren Verkehrsträger erreicht werden. 4
Szenario 1: Business-As-Usual
Kurz- und mittelfristig, d.h. über einen Zeitraum bis etwa zum Jahr 2030, ist die wahrscheinlichste Prognose eine Fortschreibung der bisherigen Trends. Das bedeutet für die Personenmobilität
weiter zunehmende Bedeutung des Privat-Pkw für die individuelle Mobilität, d.h. weiter zunehmender Pkw-Verkehr, Stabilisierung der öffentlichen Verkehrsträger Bahn und Bus in klar umgrenzten Marktsegmenten, im Luftverkehr ein weiteres ungebremstes Wachstum bei Ferien- und Dienstreisen.
Kostensteigerungen bei Energieträgern, so wird angenommen, gefährden diesen Trend nicht. Auch wird angenommen, dass sich die politischen Rahmenbedingungen für ein solches „Business-As-Usual“-Szenario auch in der EU nicht verändern. Dieses Umfeld wird u.a. in Szenarien für das Bundesverkehrsministerium, in den periodisch fortgeschriebenen Shell-Studien und von anderen Instituten unterstellt. Niedrige Transportkosten unterstützen die Produktivität der deutschen Wirtschaft und die weitere Vernetzung der EU-Mitgliedsländer – immense Mengen- und Entfernungszuwächse im Güterverkehr gelten in den für die Bundesregierung erstellten Prognosen als unvermeidlich (vgl. progtrans 2007). Dieser Anstieg wird vornehmlich mit Lastkraftwagen auf den Straßen stattfinden. Zwar nennen die Modelle auch überdurchschnittliche prozentuale Zuwächse im Schienengüterverkehr, aber in absoluten Zahlen soll der LkwTransport stärker wachsen. Dies wird nun im Bundesverkehrsministerium keineswegs als Aufforderung zum Umdenken aufgefasst, sondern dient als Unter-
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stützung für die Forderung nach mehr Verkehrsinvestitionen, „ (...) um eine optimale Arbeitsteilung und Güterversorgung in Deutschland und Europa zu gewährleisten“14. Man muss hinzufügen: Optimal ist diese Subventionsmentalität vor allem für die Transportwirtschaft, für große Handelsketten und Produzenten. Auch die ein Jahr früher vom Bundesverkehrsministerium vorgestellte Studie zur Personenmobilität 2050 hat bisher keine konzeptionellen Überlegungen in diesem Politikbereich ausgelöst (vgl. TRAMP et al. 2006). In der Arbeit wird eine Entwicklung mit dem Namen „Dynamische Anpassung“ favorisiert, wodurch u.a. eine Verteuerung der Autonutzung um das Zweifache der Kaufkraft dazu führen würde, dass der Pkw-Verkehr nicht weiter zunimmt, sondern – moderat – abnimmt. Die Politik wird – theoretisch – aktiv: „Steuerungs-Instrumente zur Beeinflussung von Verkehrsaufwand, Verkehrsmittelwahl und Wohnstandort werden beschleunigt geändert oder neu eingeführt.“ Dass konkrete Aktivitäten im BMVBS bisher ausgeblieben sind, mag auch an der Studie liegen: „Welche Instrumente dies sind, kann und soll hier nicht in allen Einzelheiten geklärt werden“ (ebd.: 78). Keine der genannten Auftragsarbeiten beschäftigt sich mit der Frage, wie der motorisierte Verkehr tiefgreifend nach Umfang und Aufwand beeinflusst werden könnte. Die Zukunft ist die Verlängerung des Bisherigen. Solche Kontinuität mag beruhigend wirken, aber diese Trendprognosen stehen zweifellos in Konflikt mit den Klimaschutzzielen Deutschlands und der EU.15 Die Absenkungsziele beziehen sich zwar nicht speziell auf den Verkehrssektor, aber ohne starke CO2-Reduktionen dort sind die globalen Herausforderungen und die EUZiele nicht erreichbar. Dagegen steht die das Szenario 1 tragende deutsche Verkehrspolitik, die über keine Ansätze verfügt, auf die Ressourcen- und Klimakrise zu reagieren – weder mittelfristig (siehe Rechenmodelle für 2020 bis 2030) noch langfristig (2050). 5 Szenario 2: Grüne Technik löst die Probleme Ignorieren Verkehrspolitik und -planung im Szenario 1 noch die klimapolitischen Anforderungen und die Konsequenzen einer Erdölverknappung, so sind diese für Szenario 2 wichtige Rahmenbedingungen. Hauptakteure sind nicht mehr die Verkehrspolitiker und die Bauwirtschaft, sondern die Umwelt- und Forschungspolitik sowie die Automobilindustrie. Die im Szenario 1 unterstellte Verkehrsnachfrage und die infrastrukturelle Entwicklung bilden dabei den Rah14 15
Siehe http://www.bmvbs.de/-,2828.999442/Abschaetzung-der-Gueterverkehr.htm Die gültigen quantitativen Ziele stammen von Dezember 2008. Damals verpflichtete sich die EU, die Emissionen an Treibhausen um 20 % zu senken. Mit Blick auf den Klimagipfel von Kopenhagen waren 30 % für den Fall versprochen, dass es zu einer wirksamen Vereinbarung kommen würde. Das gelang bekanntlich nicht.
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men, in welchem die Verkehrszukunft mit technischen Innovationen („grüne Technik“) gesichert wird. Für Verkehrsvermeidung und Verlagerungen auf verträglichere Verkehrsträger sind jedoch auch in Szenario 2 keine Maßnahmen vorgesehen. Insofern beschreibt das Szenario die – zurzeit vor allem auf „ElektroMobilität“ fokussierte – Politik der Bundesregierung. Dem Klimaschutz und den mit der zukünftigen Erdölverknappung verbundenen Herausforderungen weist die Bundesregierung hohe Bedeutung zu. Deutschland hat sich national und im EU-Verbund zu Klimaschutzzielen verpflichtet und fördert seit Jahren das Energiesparen sowie die Nutzung alternativer Energien. Damit wurde viel erreicht, gleichwohl reichen die in Kapitel 2 genannten Ziele mittel- und langfristig (2020/2030 bzw. 2050) erheblich weiter. Berücksichtigt man nun die Verkehrsentwicklung nach Szenario 1 – welche die der Bundesregierung trotz der Klimaziele auch trägt –, so stellt sich die Frage: Mit welchen technischen Lösungen ist das zu erreichen?16 Vor 10 bis 15 Jahren wurde der mit Wasserstoff getriebenen Brennstoffzelle die Serienreife ab 2005 prognostiziert; praktisch alle Politiker sahen darin die Lösung der Ressourcen- und Klimaprobleme. Davon spricht kaum jemand mehr. Danach sollten es die Biokraftstoffe sein, es gab zunächst einen durch Steuervorteile erzeugten Boom mit dem aus Rapsöl erzeugten Rapsmethylester („BioDiesel“). Dann richtete sich die Phantasie auf die „Zweite Generation“ der BioKraftstoffe; aus ganzen Pflanzen synthetisch hergestellte Kraftstoffe.17 Damit sollte zum einen ein höherer Flächenertrag erreicht, zum anderen sollten minderwertige Böden genutzt und damit Zielkonflikte mit der Nahrungsmittelproduktion vermieden werden. Gegenwärtig (2010) hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit auch von diesem Entwicklungspfad abgewandt. Aus ökonomischer und ökologischer Sicht erscheint es günstiger, die sog. Energiepflanzen vollständig in Kraftwerken zur Strom- und Wärmeproduktion zu nutzen, als daraus Kraftstoffe herzustellen. Nun richten sich unter dem Begriff „Elektromobilität“ alle Erwartungen auf das Batterieauto. Für die Umweltbilanz wichtig wird es, wenn der Strom aus dem allgemeinen Netz kommt; andere Formen elektrischer Zusatzkonzepte als „Hybridfahrzeuge“ können dagegen als (etwas) verbrauchssparende Modifikationen von Verbrennungsmotor-Kfz eingeordnet werden. Die allgemeine positive Bewertung von netzgespeisten Batterieautos ergibt sich daraus, dass die An-
16 17
Konkret: Die Treibhausgasemissionen sollen bis 2020 gegenüber 1990 um 40 % gesenkt werden. (Siehe Fußnote 5.) 2008 waren -21,9 % erreicht. Auch bezeichnet als BtL: Biomass to Liquid.
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triebsenergie zukünftig regenerativ erzeugt, also aus Wind und Sonne stammen würde.18 Dann könne man emissionsfrei Auto fahren. Bei näherer Betrachtung regen sich doch erhebliche Zweifel, ob die Zukunft der Mobilität im elektrischen Autofahren liegt (vgl. Friedrich/Petersen 2009). Der Weg zu einer ausschließlich oder auch nur überwiegend regenerativen Stromerzeugung ist noch lang. Der für 2009 veröffentlichte deutsche Strommix, d.h. die Aufgliederung der Stromerzeugung nach Primärenergieträgern, zeigt Anteile der Windkraft und Photovoltaik, mit denen die meisten Erwartungen verknüpft sind, von 6,3 bzw. 1,0%. Die Potentiale der anderen regenerativen (erneuerbaren) Träger zur Stromerzeugung, die herkömmliche Wasserkraft und die Biomasse, sind begrenzt. Laut der 2008 im Auftrag des Bundesumweltministeriums erstellten Leitstudie können die Erneuerbaren Energien (EE) in Deutschland bis 2020 einen Anteil von 30 Prozent an der Stromversorgung erreichen (vgl. Nitsch 2008). Die im September 2010 im Bundeskabinett beschlossenen verlängerten Laufzeiten für Kernkraftwerke bedeuten auch entsprechende GrundlastKapazitäten für Batterieautos – ein noch besserer Zusatzmarkt als die Nachtspeicheröfen19, weil Autostrom auch im Sommer verbraucht würde. Allerdings dürfte der Umfang dieses Marktes noch lange bescheiden bleiben (siehe unten). Das E-Auto wird von seinen Unterstützern natürlich nicht mit Kohle- und Atomstrom, sondern mit „Öko-Strom“ in Verbindung gebracht. Vor etwa 2030 dürfte jedoch kaum so viel Wind- oder Solarstrom erzeugt werden, dass man neue Nachfrager braucht. Eine mit staatlichen Anreizen und Subventionen angefachte Nachfrage für Batterie-Stadtautos mag für PkwHersteller und Stromwirtschaft angenehm sein, doch wird dadurch weder eine wirksame Entlastung der Ölimporte noch der CO2-Emissionen erreicht. Gibt man in eine der Internet-Suchmaschinen die Begriffe „Elektroauto Stadtverkehr“ ein, so finden sich auf mehr als 100.000 Seiten die Träume skizziert: Elektroautos sollen in Innenstädten bewegt werden, ggf. noch im Stadt-Umland-Verkehr. Sie würden dann natürlich nicht herkömmliche Pkw durchschnittlicher Größe ersetzen, sondern kleine Benzin-Pkw, die dann typischerweise als Zweitautos relativ geringe Jahresfahrleistungen aufweisen. Für die Kraftstoffeinsparung und den Klimaschutz bedeutet das nichts Gutes: Der innerörtliche Anteil des deutschen – durch Pkw erzeugten – Energieverbrauchs 18 19
Bei Insellösungen, d.h. der Aufladung durch individuelle Solaranlagen, müsste die Alternative einer Netzeinspeisung gegen gerechnet werden. Auch wenn man zum Laden “Ökostrom” kauft, wird anderswo im Netz dafür mehr unökologisch erzeugter Strom verbraucht. Wegen des hohen Primärenergieverbrauches und der hohen CO2-Emissionen der Kohlekraftwerke gilt nach §10a der Energieeinsparverordnung (Fassung vom 29. April 2009): „(1) Außerbetriebnahme von Stromheizungen für Wohngebäude mit mehr als fünf Wohneinheiten (2) Vor dem 1. Januar 1990 eingebaute oder aufgestellte elektrische Speicherheizsysteme dürfen nach dem 31. Dezember 2019 nicht mehr betrieben werden.“
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liegt unter 30%, und in den im August 2010 für die Kernkraftentschlüsse erarbeiteten „Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung“20 wird der Kohleanteil bei der Stromerzeugung noch zwischen 20 und 30% betragen (gegenüber heute rd. 40%). Welche Szenarien man auch im Detail durchrechnet, es zeigt sich, dass der Betrieb dieser Elektro-Pkw für die Energiebilanz und das Klima keine nennenswerte Vorteile bringt. Und dieser Kurs ist teuer: Für die neue Technologie wird ein Tankstellennetz bereitgestellt werden müssen, deren Zahl und damit spezifische Kosten (also Kosten je E-Fahrzeug) von der räumlichen Verteilung der Fahrzeugstandorte und der damit avisierten Verkehrsbeziehungen abhängig sind. Unklar ist noch, welche Ladeströme und damit Ladezeiten üblich werden; soll das Nachladen in kurzer Zeit erfolgen, müssen Kraftstromanschlüsse bereit stehen. Für die Erstellung einer solchen Säule sind Kosten von ca. 4.000 € zu veranschlagen; der damit erzielbare Stromabsatz dürfte einen entsprechenden Netzaufbau kaum tragen. Unklar ist die betriebswirtschaftliche Seite auch für einen Pkw-Käufer, denn die Batteriekosten belaufen sich auf mehr als 1.000 € je kWh. Um 100 km zu fahren, wird eine Kapazität von 20 kWh vorgehalten werden müssen, das entspricht einem Mehrpreis von 20.000 € für einen Kleinwagen. Die vorliegenden Studien (vgl. u.a. McKinsey 2007) zeigen, dass die Unterstützung elektrisch betriebener Kfz aus volkswirtschaftlicher Sicht eine unwirtschaftliche Strategie ist, um Kraftstoff zu sparen und CO2-Emissionen zu senken. Und darüber hinaus: Wenn Lokalpolitiker die E-Autos mit Parkflächen und anderen Vorteilen in die Stadt locken – wie es gegenwärtig in London geschieht – und dann Pendler vom ÖPNV oder vom Fahrrad umsteigen, dann ergibt sich auch noch eine negative Umweltbilanz. 6
Szenario 3: Nachhaltige Mobilität
Ausgangspunkt dieses Zukunftsbildes ist wie im Szenario 2 das grundsätzliche Ziel, die Abhängigkeit von knapper werdendem Erdöl zu reduzieren und die Erfordernisse des Klimaschutzes zu erfüllen. Szenario 3 geht von der Einschätzung aus, dass neben erheblichen technischen Innovationen zur Effizienzverbesserung und für neue Antriebe die Verkehrsstrukturen nachhaltiger gestaltet werden müssen. Es wird angenommen, dass in den kommenden Jahrzehnten nicht ausreichend regenerative Energieträger verfügbar sein werden, um den Kraftfahrzeugverkehr im prognostizierten Umfang und in heutiger Art – d.h. mit derartig schweren Fahrzeugen mit hohen Geschwindigkeiten – nachhaltig betreiben zu können.
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Vgl. www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/.../energieszenarien_2010.pdf
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Der Energieverbrauch des Mobilitätssystems wird zum Einen bestimmt durch den hohen Verkehrsaufwand, zum Anderen durch den hohen spezifischen Energieaufwand je Personenkilometer und Tonnenkilometer. Treibende Kräfte für den hohen Verkehrsaufwand sind u.a. gesellschaftliche Entwicklungen und raumstrukturelle Veränderungen, beide sind miteinander verknüpft. Wesentliche Treiber sind das Haushaltseinkommen und die Transportkosten, welche den Akteuren den Verkehr gegenüber (auch nicht verkehrlichen) Alternativen vorteilhaft erscheinen lassen.21 Der Umfang der Verkehrsnachfrage soll hier nicht im Mittelpunkt stehen, es werden also auch nicht die Wirkungen von höheren Transportkosten oder modifizierter Planungs- und Bauvorschriften diskutiert. Bei gegebenem Verkehrsaufwand sind die für die Energiebilanz kritischen Faktoren die spezifischen Verbrauchswerte der Fahrzeuge selbst sowie die Auslastung. Für dieses Szenario 3 sollen die Fahrzeuge und das Verkehrsverhalten behandelt werden – nach deutschem Recht festgelegt in der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung (StVZO) und der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Das Ziel lautet – in der Größenordnung – den Energieverbrauch pro Personenkilometer bis 2050 um den Faktor 5 zu reduzieren.22 Auf diesem Verbrauchsniveau könnten ausreichend nicht-fossile, regenerativ erzeugte Kraftstoffe verfügbar sein. Dazu gilt die Annahme, dass der heute überwiegend mit dem individuellen Automobil erbrachte Verkehrsaufwand kurz- bis mittelfristig (d.h. bei bestehender Raumstruktur) nur in begrenztem Umfang durch andere, umweltfreundlichere Verkehrsmittel ersetzt werden kann.23 Das Angebot an öffentlichen Personenverkehr kann noch so gut sein – es wird nicht die Vorteile bieten können, die das eigene Auto hat. Das führt zu der Forderung: Das (unökologische) Auto ist durch das (ökologischere) Auto zu ersetzen. Von zentraler Bedeutung für den Energiebedarf bei der Fahrt (d.h. die für die Fahrt erforderliche mechanische Arbeit) sind die Fahrzeugmasse, die Fahrzeuggeschwindigkeit und die Unregelmäßigkeit der Fahrt, also häufiges Beschleunigen und Verzögern (vgl. von Winning 2009). Die technischen Parameter Fahrzeugmasse und Roll- sowie Luftwiderstand werden natürlich weiter optimiert werden, gleichwohl gilt, dass in dem Verhalten der Fahrer bezüglich Geschwindigkeit, Beschleunigung und Bremsen immer noch weitere Sparpotentiale liegen. Erhöht 21 22 23
Diese Faktoren wirken auch in den im Szenario 1 genannten Modellrechnungen für 2030 und 2050 zur Steigerung des Verkehrsaufwandes. Das entspricht der im Kapitel 2 zitierten Minderung um 80 %. Ob diese gedachte PkwZielsetzung für den Verkehr ausreicht, wäre abhängig von den Minderungschancen der anderen Verbraucher (Lkw, Flugzeuge, Schiffe). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass dem Auto im innerörtlichen Verkehr gegenüber dem ÖPNV oder im Kurzstreckenverkehr gegenüber dem Rad- und Fußverkehr der leider bisher gewährte öffentliche Raum nicht streitig gemacht werden sollte.
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man z.B. die Fahrgeschwindigkeit von 80 km/h um 50 % auf 120 km/h, so steigen der Fahrwiderstand und damit der Kraftstoffverbrauch um 100 %. Wenn der Wunsch nach hohen Fahrgeschwindigkeiten und Beschleunigungswerten nicht mehr besteht, dann können bisher ausgeklammerte technische Optimierungen ausgereizt werden, um die zum Fahren erforderliche mechanische Arbeit zu reduzieren, und weiterhin den Wirkungsgrad des Antriebsmotors zu verbessern. Würde ein Pkw beispielsweise auf eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h ausgelegt, dann ist ein entsprechend hubraumschwächerer Motor nicht nur leichter, sondern erreicht auch im Stadt- und Umlandverkehr einen erheblich niedrigeren Kraftstoffverbrauch. (Zu den Grundlagen vgl. u.a. Petersen/Diaz-Bone 1998). Karosserie- und Antriebsteile könnten leichter gebaut werden, schmalere Reifen mit geringerem Rollwiderstand würden genügen. Der für hohe Geschwindigkeiten wichtige Luftwiderstand, zu dessen Reduzierung die Konstrukteure die Frontscheiben so abgeflacht haben, dass Sonneneinstrahlung nur mit Klimaanlagen zu ertragen ist, würde seine Bedeutung verlieren, und die Fahrgasträume würden wieder aufrechter umschlossen.24 Die Autos könnten damit insgesamt kürzer und leichter werden. Das sind die technischen Aspekte. Zu den Verhaltensaspekten: Beim zukünftigen Autofahren muss auf hohe Geschwindigkeiten verzichtet werden. Aus heutiger Sicht lautet die Empfehlung „100 – 80 – 30“; als Maximalgeschwindigkeit auf Autobahnen wären 100 km/h angebracht, dann können Pkw die Lkw noch überholen.25 Auf Autobahnen sind die spezifischen und absoluten Verbrauchs- und Emissionsmengen am höchsten, die Energieeinsparung daher maximal. Ist durch die Kombination von auf niedrigere Geschwindigkeit optimierter Technik und tatsächlich verlangsamtem Verkehr ein um den Faktor 5 geringerer Kraftstoffverbrauch erzielbar? Das lässt sich vorab nicht verlässlich ermitteln. Der Grund ist, dass es keine Statistiken zu den tatsächlichen Fahrgeschwindigkeiten auf Autobahnen und anderen außerörtlichen Straßen gibt. Das Bundesverkehrsministerium bezifferte 2007 auf eine Bundestagsanfrage hin die „Durchschnittsgeschwindigkeit von Pkw (auf Autobahnen) im Jahre 1992 mit 120 km/h“.26 Grundsätzlich gilt, dass die Minderungspotentiale dann hoch sind, wenn es auch die Befolgungsrate des gesetzten Limits ist (vgl. Otten/van Essen 2010). Dies ist in vollem Umfang nur bei einer technischen Limitierung, d. h. der zwingenden Verwendung von Begrenzern gegeben. Neben der Festlegung zulässiger Höchstgeschwindigkeiten in der StVO wäre also eine entsprechende Anforde24 25 26
Der Energiebedarf der Klimaanlage wird bisher bei den Verbrauchsmessungen nicht berücksichtigt. Andererseits: Für den Verkehrsfluß ist ein gleicher Geschwindigkeitswert für alle Fahrzeuge besser, wie in den USA. Auch das wäre zu bedenken. Deutscher Bundestag 16. Wahlperiode Drucksache 16/7445 11. 12. 2007
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rung in der StVZO notwendig. Wie andere technische Standards muss dies in der EU harmonisiert werden. Welches technische Verfahren dann zum Einsatz kommt, wäre – wie bei Abgas- oder Sicherheitsnormen – den Autoherstellern überlassen. Die EU pflegt nur Wirk- und keine Bauartvorschriften zu setzen. Naheliegend wäre, die Tempobegrenzung mit Hilfe von Navigationsgeräten mit GPS-Unterstützung zu realisieren. Das würde polizeiliche Überwachungsaktivitäten überflüssig machen und den Umfang der Beschilderung reduzieren. Einige Überlegungen zu den Effekten: Die Geschwindigkeitsreduzierungen 100-80-30 könnten bei bestehendem Fahrzeugpark eine Verbrauchsreduzierung um rd. 40% erbringen, dazu trägt der Verzicht auf unnötige Beschleunigungsund Bremsmanöver bei. Durch die Homogenisierung des Verkehrsflusses werden auf dicht belasteten Abschnitten Stauungen vermieden werden, das könnte den Verbrauch senken helfen. Die technischen Potentiale, die in der NiedrigGeschwindigkeits-Strategie stecken, können auf mehr als 50% beziffert werden. Schließlich kann für eine Abschätzung der Wirkungen auch angenommen werden, dass ein Teil der Auto-Kilometer ersatzlos entfällt – das wären zum Einen diejenigen Strecken, bei denen der Spaß am schnellen Fahren wichtig war, zum Anderen würde eine Verlängerung der Reisezeit im Sinne des „ConstantTime Budget27“ durch eine geringere Distanz kompensiert. Das führt zunächst zu der Frage, um wie viel sich die Reisezeiten für heute gefahrene Distanzen durch die angedachten Änderungen in StVZO und StVO verlängern würden. Eine grobe Schätzung könnte lauten: 20% auf Autobahnen, unter 10% auf anderen Außerortsstraßen, unter 5% im Stadtverkehr. Auf Autobahnen und Bundesstrassen betrug die Pkw-Fahrleistung 2008 etwa 330 Mrd. km. Bei 100 km/h würde das 3 Mrd. Stunden Fahrzeit bedeuten. Man sieht: In dem Szenario würden per 10% Zeitzunahme 300 Millionen Stunden mehr aufgebracht. Doch wie ist diese Zeit zu bewerten, wenn nach den Verkehrsstatistiken mehr als die Hälfte davon Urlaubs- und Freizeitwege sind? Das kann hier nicht vertieft werden. Ebenfalls soll hier offen bleiben, auf welchen Betrag sich die erreichbaren Verbrauchs- und Emissionseinsparungen addieren könnten. Festzuhalten bleibt: In diesem Szenario 3 bedeutet die technische Temporeduzierung den Abschied von der Freiheit des Autofahrens, so wie es sich bisher durchgesetzt hat. Die Freiheitsgrade Reisezeit und Richtung, welche die wesentlichen Vorteile der individuellen Automobilität darstellen, bleiben selbstverständlich erhalten, jedoch werden die Geschwindigkeiten der Einzelfahrzeuge koordiniert.
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Siehe dazu u. a. in Wikipedia “Marchetti's Constant”
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Fazit
Seit mehreren Jahrzehnten differenzieren Wissenschaftler zwischen Mobilität und Verkehr; sie betonen, dass Mobilität für gesellschaftliche Aktivitäten notwendig ist und mit möglichst wenig Verkehrsaufwand erreicht werden sollte. Der traditionell „Verkehrsleistung“ genannte Aufwand ist für sich kein positiver Wert, Personen- und Tonnenkilometern gilt es zu vermeiden. Ökonomisch ist Verkehrsaufwand so wenig wünschenswert wie ein hoher Energieverbrauch beim Heizen einer Wohnung. Der in Szenario 1 beschriebene Zukunftsweg, in dem weiteres Verkehrswachstum unabhängig aller Nachhaltigkeits-Erfordernisse unterstellt wird, verschärft ökologische und ökonomische Konflikte. Szenario 2 beschreibt den in Wirtschaft und Politik gepflegten Traum, dass „grüne Technik“ bereit stehen wird, damit Verkehrskonsum und -kommerz fortgesetzt werden können. Die Autogesellschaft muss sich nicht ändern; das Problem „Autoverkehr“ scheint durch Umbenennung in „Automobilität“ zum Verschwinden gebracht. Der motorisierte Straßenverkehr erscheint als „Elektromobilität“ zukunftsorientiert, ökologisch und nachhaltig. Allerdings hängt diese Hoffnung ziemlich in der Luft. In Szenario 3 hängt eine nachhaltigere Mobilität nicht von Unwägbarkeiten technischer Innovation und erhofften Kostensenkungen ab, sondern setzt auf soziale Innovationen und die Anwendung vorhandener, kostengünstiger Produkte. Es beschreibt eine fehlerfreundliche Strategie mit wenig Kapitalbindung und gesellschaftlichen Lernprozessen. Ob das langsamere Auto dann in einigen Jahrzehnten tatsächlich in hohem Umfang von Elektromotoren angetrieben und die Batterien dann aus dem Stromnetz geladen werden, ist dann nicht mehr wichtig. Es ist dann auch nicht wichtig, ob der verbleibende Kraftstoffbedarf für die Fahrten auf längeren Strecken mit Bio-Benzin oder Biodiesel erfüllt wird – wenn der Energiebedarf eines Autos beispielsweise um den Faktor 5 reduziert ist, kann man neu darüber nachdenken, ob für diese Alternativen genügend ökologisch und sozial verträgliche Ressourcen bereitstehen. In diesem Szenario fehlen die großen Umschichtungen im Verkehrshaushalt. Es gibt nur die implizite Aufforderung zur ersatzlosen Streichung des weiteren Straßenneubaues. Das Motto könnte lauten: Steckt etwas mehr Geld in den Lärmschutz und den Straßenunterhalt (das hilft auch der Lärmminderung), und gebt es ansonsten den Kommunen für bessere Schulen. Manche werden enttäuscht sein, dass die ökologische Bedeutung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht betont wird, keine Vervielfachung des Eisenbahnverkehrs, keinen Ausbau von Regionalbahnen und keine neuen Straßenbahnnetze gefordert werden. Und ohnehin kein Nulltarif für Busse und Bahnen, denn natürlich muss auch der ÖPNV-Nutzer seine Reisekosten bezahlen. Es fehlt eine For-
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derung nach mehr und besseren Radwegen – obwohl gerade diese umweltverträgliche Verkehrsart eklatant benachteiligt wird –, es fehlen in diesem Text überhaupt Vorschläge für den Aus- oder Umbau der Infrastrukturen. Der Blick richtet sich auf den Autoverkehr – er ist das Problem! Es wäre eine Illusion, diesem Problem allein mit alternativen Verkehrsangeboten und -subventionen beizukommen. Es gibt keine Belege dafür, dass ein besserer ÖPNV (wie in der Schweiz) oder bessere Bedingungen für den Radverkehr (wie in den Niederlanden) die Autonutzung insgesamt reduziert. Ja, in Holland wird mehr Rad gefahren, in der Schweiz gibt es mehr Bahnfahrer, und der städtische ÖPNV ist meist besser als in Deutschland. Aber warum ist der Pro-Kopf-Energieverbrauch im Autoverkehr dennoch kaum niedriger als in Deutschland? Auch nach einer Verwirklichung der im Szenario 3 beschriebenen Maßnahmen sind zumindest kurzfristig keine großen Veränderungen in der Verkehrsmittelwahl und in der Zahl der Pkw-Kilometer zu erwarten. Für die Mobilität insgesamt dürfte das private Auto noch lange einen hohen Stellenwert behalten. Auf der bestehenden Auto-Infrastruktur und in der bestehenden Raumstruktur bietet es seinen Nutzern die meisten Vorteile. Weil diese Strukturen nicht kurzfristig, sondern nur mittel- bis langfristig verändert werden können, bleibt für eine umweltgerechte, nachhaltigere Mobilität nur der Weg, die ökonomische und rechtliche Bevorzugung der Autofahrer abzubauen und die Autonutzung zu humanisieren. Das auf Alltagsmobilität optimierte Auto der Zukunft muss andere Merkmale aufweisen als die heutigen Modelle. Die Anforderungen lauten: langsam, leicht, gleichmäßig fahrend. Mobilitätsalternativen werden durch die Dämpfung der Höchstgeschwindigkeiten zunächst nur auf langen Strecken, und dann auch nur zwischen Metropolen, attraktiver werden. Wenn man für 500 km Autofahrt eine Stunde länger braucht, dürfte es kaum zu einem massenhaften Umsteigen auf die DB kommen. Erst wenn sich ergänzend zu der rechtlichen Umformulierung des Autos ein anderer emotionaler Stellenwert ausgebreitet hat, dürfte der Reiz nachlassen, den Alltag um diesen Fetisch herum zu gestalten. Ohne Fixierung auf das Auto und ohne die Formung des Raumes nach seinen Zwängen, werden die systemischen Mobilitätsvorteile städtischer Dichte wieder bewusst, sie werden sich marktförmig durchsetzen, und möglicherweise werden sich die Menschen später einmal fragen, warum nur das Leben damals so umfassend auf diese Blechkisten ausgerichtet war.
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Quellen ARE (2007): Räumliche Auswirkungen der Verkehrsinfrastrukturen – Lernen aus der Vergangenheit – für die Zukunft. Synthesebericht. www.are.admin.ch/themen/ raumplanung/.../index.html Friedrich, Axel/Rudolf Petersen (2009): Der Beitrag des Elektroautos zum Klimaschutz – Wunsch und Realität. Gutachten im Auftrag der Delegation DIE LINKE im Europäischen Parlament. www.dielinke-europa.eu/fileadmin/PDF/MEP_Materialien/ Gutachten.pdf Luhmann, Hans-Jochen (2010): Der dreidimensionale Ansatz in der Politik von USA und EU auf dem Weg zur post-fossilen Industriegesellschaft (oder: Die Synergie von ‚Müllkippe schließen’ und zugleich ‚Bergbau einstellen’). In: Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), Nr. 2/2010 McKinsey (2007): Kosten und Potentiale der Vermeidung von Treibhausgasemissionen in Deutschland. Berlin. Meinshausen, Malte et al. 2009: Greenhouse-gas emission targets for limiting global warming to 2 °C. Nature 458, 1158-1162. Siehe auch http://www.nature.com/nature/ journal/v458/n7242/full/nature08017.html Nitsch, J. (2008): „Leitstudie 2008“. Weiterentwicklung der „Ausbaustrategie Erneuerbare Energien“ vor dem Hintergrund der aktuellen Klimaschutzziele Deutschlands und Europas. Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. in Zusammenarbeit mit der Abteilung „Systemanalyse und Technikbewertung“ des DLR Instituts für Technische Thermodynamik. Stuttgart. www.erneuerbare-energien.de/files/pdfs/allgemein/.../leitstudie2008.pdf Petersen, Rudolf (2002): Land use planning and urban transport : sustainable transport – a sourcebook for policy-makers in developing cities. GTZ Eschborn. progtrans (2007): Abschätzung der langfristigen Entwicklung des Güterverkehrs in. Deutschland bis 2050. Projektnummer 26.0185/2006. Im Auftrag des BMVBS Schlussbericht. SRU (2002): Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen "Für eine neue Vorreiterrolle” Deutscher Bundestag Drucksache 14/8792 14. Wahlperiode 15. 04. 2002 TRAMP/Difu/IWH (2006): Szenarien der Mobilitätsentwicklung unter Berücksichtigung von Mobilitätsstrukturen bis 2050. Magdeburg von Winning, Henning (2009): Auto und autoorientierte Regionen: Einige Reformvorschläge für eine nachhaltige Zukunft. In: Thomas Mager/Johannes Klühspies (Hrsg.): Verkehr in der Forschung, Köln, S. 85-97. http://www.verkehrsplanung.de/ material_winning/autoorientierteregionen.pdf
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Weiterführende Literatur Lessing, Hans-Erhard (2003): Automobilität – Karl Drais und die unglaublichen Zusammenhänge. Maxime-Verlag. Leipzig. Otten, Matthijs/Huib van Essen (2010): Why slower is better. Pilot study on the climate gains of motorway speed reduction. CE Delft (NL) Petersen, Rudolf/Harald Diaz-Bone (1998): Das Drei-Liter-Auto. Birkhäuser Verlag Basel Umweltbundesamt (Hrsg.) (2010): CO2-Emissionsminderung im Verkehr in Deutschland. UBA-Texte 05/2010. Dessau. Schallaböck, Karl Otto et al. (2006): Klimawirksame Emissionen des Pkw-Verkehrs und Bewertung von Minderungsstrategien. Wuppertal Spezial Nr. 34, Wuppertal.
Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren
Dipl. Soz. Dirk Baier, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen. Prof. Dr. Sebastian Bamberg, Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld. Prof. Dr. Nils Bandelow, Lehrstuhl für Innenpolitik an der TU Braunschweig. Prof. Dr.-Ing. Udo J. Becker, Lehrstuhl für Verkehrsökologie der TU Dresden. Dipl.-Volkswirt Tilman Bracher, Arbeitsbereich Mobilität und Infrastruktur am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin. Dipl. Pol. Stephan Daubitz, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin. Dr. Jutta Deffner, Forschungsschwerpunkt Mobilität und urbane Räume am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt M. Dr. Katrin Dziekan, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin. Dr. Tina Gehlert, wissenschaftliche Referentin im Fachbereich Verkehrsverhalten/ Verkehrspsychologie der Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. Dr. Regine Gerike, Juniorprofessorin, mobil.TUM, TU München. Dr. Michael Hascher, Landesamt für Denkmalpflege beim Regierungspräsidium Stuttgart. Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau, Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung, Fakultät Raumplanung der TU Dortmund.
O. Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92843-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorinnen und Autoren
Dipl.-Soz.-Wiss. Ingo Kollosche, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin. M.A. Stefan Kundolf, Lehrstuhl für Innenpolitik an der TU Braunschweig. Dr. Heike Link, Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Prof. Dr. Rudolf Petersen, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Prof. Dr. Stephan Rammler, Institut für Transportation Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Dr. Martin Schiefelbusch, nexus Institut für interdisziplinäre Forschung sowie Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin. Prof. Dr. Gert Schmidt i.R., Institut für Soziologie der Uni Erlangen. Dr. Oliver Schwedes, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin. Prof. Dr. Claus Tully, Deutsches Jugendinstitut in München. Dr. Thomas Zängler, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Marketing und Konsumforschung der TU München.