Die gegen Menzoberranzan geeinten Kräfte beginnen, Gestalt anzunehmen, und die Gefahr für die Zivilisation der Drow ist...
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Die gegen Menzoberranzan geeinten Kräfte beginnen, Gestalt anzunehmen, und die Gefahr für die Zivilisation der Drow ist schrecklicher als bisher gedacht. Der Weg zu Lolths Geheim nissen führt von den undurchdringlichen Schatten des Unter reichs zu den entlegenen Winkeln der unwirtlichen Oberwelt und ist ebenso unvorstellbar wie tödlich. Zusammen mit zwei Drow, die die letzten Überlebenden Ched Nasads sein könnten, haben die Forscher aus Menzober ranzan viel erfahren, doch für jede Antwort, die sie erhalten, stellen sich tausend neue Fragen. Sie müssen in der Hoffnung, er könne ihnen die Göttin schneller finden helfen, einen riva lisierenden Priester aufsuchen, doch kann je ein Dunkelelf einem anderen trauen?
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Vergessene Reiche R.A. Salvatores
DER KRIEG DER SPINNENKÖNIGIN BAND 3
Verdammung
RICHARD BAKER
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Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
Richard Baker Ralph Sander Oliver Hoffmann Angela Voelkel / Thomas Russow Oliver Graute Brom
ISBN 3-937255-07-9
ISBN 978-3-937255-07-1
Originaltitel: Condemnation
© der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2005.
3. Auflage 2006.
Gedruckt in Pilsen, Oldenbourg
Verdammung ist ein Produkt von Feder&Schwert.
© 2005 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved.
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Für Lynn R. Baker jr. 1942-2002 Gute Reise, Dad.
Danksagung
Dank an Phil Athans, der große Pläne schmiedete und es an schließend ausbaden durfte, an Bob Salvatore, der mich in
seinem Sandkasten mitspielen ließ, und an Ed Greenwood, der
mir Zutritt zu seiner Welt gewährte.
Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Kim, weil sie es mit
mir aushält, sowie an Alex und Hannah, von denen ich jeden
Tag etwas Neues lerne.
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Die Nahrung war verbraucht, und mit ihr auch die Wärme. Alles war hohl und leer, da war nur der Ruf, sich zu befreien. Dieser Ruf war äußerst beharrlich – ein schleichendes Drängen, das sich all mählich in Verzweiflung steigerte. Acht Beinchen reagierten auf diesen flehenden Ruf. Acht winzige Waffen trafen auf der konkaven Wand auf. Ein Schlagen und Reißen, das dem helleren Grau an diesem so finsteren Ort folgte. Ein Loch entstand in der ledernen Oberfläche, woraufhin die acht Beine ihre Angriffe auf diesen einen Punkt konzentrierten, da sie dort Schwäche wahrnahmen. Schwäche konnte nicht toleriert werden. Schwäche mußte ausgenutzt werden, sofort und gnaden los. Eines nach dem anderen, Millionen und Abermillionen, beweg ten sich diese winzigen Beine zum ersten Mal in dem trüben Raum zwischen den Universen und befreiten sich aus ihren kreisrunden Gefängnissen. Von Hunger, Ehrgeiz, Angst und einer instinktiven Schlechtigkeit getrieben, führten die Millionen von Arachniden ihren ersten Kampf gegen eine geschmeidige, lederne Barriere. Die stellte zwar alles andere als einen würdigen Gegner dar, doch sie kämpften mit einer Verbissenheit, die aus dem Wissen geboren war, daß die ersten, die sich befreien konnten, einen großen Vorteil hatten, da sie wußten, daß sie allesamt Hunger hatten. Daß es nichts anderes zu essen gab als ihren Nächsten. Die Wärme des Eiersacks war verschwunden, verbraucht. Die ruhigen Augenblicke der Einsamkeit, des Erwachens, des ersten Wahrnehmens eines Bewußtseins gehörten der Vergangenheit an. Die Wände, die ihnen Schutz geboten hatten, waren zu einem Hindernis geworden, zu nichts anderem. Die weiche Schale hielt sie
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vom Fressen ab, von einem notwendigen Kampf, von einer Befrie digung in so vieler Hinsicht. Von Macht. Vor allem das konnte von diesen gesegneten, verfluchten Nach kommen nicht geduldet werden. Also kämpften sie, zerrten, kratz ten und krabbelten, um nach draußen zu kommen. Um zu fressen. Um nach oben zu gelangen. Um zu herrschen. Um zu töten. Um zu werden ...
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Wogen von Staub und Sand fegten über den alten roten Stein. Halisstra Melarn zog ihren Piwafwi eng um sich, da der eisige Wind sie zittern ließ. Die Nacht war kalt, um einiges kälter als die Tiefe mit ihren Höhlen weit unter der Oberfläche der Welt. Der Wind fegte klagend durch die verwitterten Ruinen, die sich tot und schweigend in die karge Hügellandschaft duckten. Einst hatte dort eine prachtvolle Stadt gestanden, doch das war lange her. Zertrümmerte Kuppeln und wacklige Säulengänge waren stumme Zeugen einer stolzen, handwerk lich hochentwickelten, aber vor langer Zeit untergegangenen Rasse. Gewaltige Festungswälle trotzten noch immer beharr lich dem Wüstenwind, und die Stümpfe zerschlagener Türme reckten sich dem Himmel entgegen. Unter anderen Umständen hätte Halisstra vielleicht Tage damit zugebracht, durch die immensen Ruinen zu spazieren
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und über deren längst vergessene Geschichte nachzudenken. Doch im Augenblick hielt ein größeres, weit erschreckenderes Mysterium sie in seinem Bann und erfüllte sie mit Ehrfurcht und Entsetzen. Über den schwarzen Silhouetten verfallender Türme und schiefer Mauern glitzerte ein Sternenmeer wie kaltes, unerbittliches Eis an einem grenzenlosen, schwarzen Himmel. Natürlich hatte sie davon gehört. Rein verstandesmäßig begriff sie das Konzept eines freien Himmels anstelle einer Höhlendecke, und sie wußte auch von diesen unglaublich weit entfernten Lichtpunkten hoch über ihr. Doch unter einem freien Himmel zu sitzen und dieses Schauspiel mit eigenen Augen zu sehen ... das war eine völlig andere Angelegenheit. In den zweihundert Jahren ihres Lebens hatte sie sich noch nie mehr als ein paar Dutzend Kilometer von Ched Nasad ent fernt, und selbst wenn, war sie immer noch viele Meilen von der Oberfläche weg gewesen. Nur wenige Drow aus der Stadt der schimmernden Netze waren jemals bis ganz nach oben vorgedrungen. Wie die meisten anderen Drow ignorierte auch sie die Dinge, die sich außerhalb der endlosen Intrigen, des Ränkeschmiedens und dem unerbittlich auf die eigenen Inte ressen ausgerichteten Leben in Ched Nasad abspielten. Sie starrte hinauf zu den funkelnden Lichtern und war sich der bitteren Ironie bewußt. Die winzigen funkelnden Diaman ten und der immense Nachthimmel waren real. Sie hatten bereits vor einer unvorstellbar langen Zeit existiert, ehe sie von ihrem Platz in der verlassenen, eisigen Wüste aus nach oben gesehen und sie entdeckt hatte, und würden zweifellos weiterhin existieren, lange nachdem sie selbst tot war. Was es dagegen nicht mehr gab, war Ched Nasad – ihre Geburtsstadt, die Stadt, deren Rivalitäten und Loyalitäten und Erfolge ihr Leben lang all ihren Intellekt und ihre Aufmerksamkeit für
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sich beansprucht hatten. Es war noch keinen Tag her, da hatte sie auf einem Balkon des Hauses Nasadra gestanden und voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie der Stein brannte, wie ein Haus nach dem anderen fiel und ihre Stadt auf eine verhee rende Weise zerstört wurde. Ched Nasad mit den wunderbaren steinernen Netzen und düster-schönen Märchenschlössern, die sich an die Wände der Felsspalte klammerten. Ched Nasad mit seiner unglaublichen Arroganz und seinem Trotz, mit den finsteren Adelshäusern und der unablässigen Verehrung der Spinnenkönigin selbst. Ched Nasad, der Mittelpunkt von Halisstras Existenz, war nicht mehr. Seufzend riß sich Halisstra vom Anblick des Himmels los und stand auf. Für eine Drow war sie mit ihren fast einem Meter fünfundsechzig verhältnismäßig groß, und zugleich war sie so schlank wie ein Rapier. Auch wenn ihren Zügen die vielen hochgeborenen Drow-Frauen eigene, verlockende, fast habsüchtige Sinnlichkeit fehlte, war sie auf ihre ernste und erhabene Art dennoch hübsch. Trotz stundenlanger, heftiger Kämpfe und eines verzweifelten Ringens darum, dem Feuer zu entkommen und trotz der unglaublichen Katastrophe bewegte sich Halisstra mit einer kühlen, gedankenverlorenen Eleganz, mit der ruhigen Selbstbeherrschung einer Frau, die zur Königin geboren war. Sandkörner prasselten gegen den pechschwarzen Stahl ihrer Rüstung, während der Wind ihr den Mantel wegzureißen ver suchte. Halisstra kannte die feuchten, kalten Luftbewegungen in den gewaltigen Hohlräumen unter der Erde gut, doch dieser Wüstensand wurde von einem unablässigen, stechenden Wind gepeitscht, der sie ständig aus einer anderen Richtung traf. Sie verdrängte den Wind, die Sterne und die Ruinen aus ihren Gedanken und schlich zurück zu den anderen. Die hatten sich an der windabgewandten Seite einer hohen Mauer in einem
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kleinen Hof zusammengekauert, der mit zerbrochenen Säulen gesäumt war. An einem Ende des Platzes standen die verlasse nen Überreste eines einst herrschaftlichen Palastes. Von den Möbeln hatte nichts die jahrhundertelange Einwirkung des Sandes und des Wetters überdauert, die gemeinsam die Stadt bestürmt hatten, doch die Säulengänge und die Höfe, die ho hen Säle und die immer noch stolzen Flure deuteten darauf hin, daß dieses Gebäude früher einmal die Residenz einer Fa milie gewesen war, die in der Stadt eine gewisse Macht beses sen, vielleicht sogar über sie geherrscht hatte. Nicht weit von ihnen entfernt stand inmitten der vom Sand geglätteten Mau ern ein schmuckloses Steinportal, ein Torbogen aus einem fremden schwarzen Stein, der ein magisches Portal beherberg te, durch das man zurück nach Ched Nasad gelangen konnte. Durch dieses Portal waren Halisstra und die anderen aus der untergehenden Dunkelelfen-Stadt entkommen. Sie blieb stehen und betrachtete ihre Begleiter. Danifae, ih re Hofdame, kniete elegant am Boden, ihr perfekt geschnitte nes Gesicht gefaßt, die Augen geschlossen. Es war möglich, daß sie döste, ebensogut konnte sie auch gleichmütig warten, was als nächstes geschehen würde. Vor fünfzehn Jahren war Danifae, eine gefangengenommene Priesterin aus der Stadt Eryndlyn, Halisstra als Dienerin geschenkt worden. Die junge, hübsche, kluge Danifae hatte sich mit erstaunlicher Würde dieser Gefangenschaft unterworfen, auch wenn sie genauge nommen ohnehin keine andere Wahl gehabt hätte, denn das silberne Medaillon, das auf Danifaes Herzen ruhte, erlegte ihr einen starken Zauber auf. Was hinter diesen leuchtenden Au gen und dem perfekten Gesicht vor sich ging, wußte Halisstra nicht, doch Danifae hatte ihr so treu und gut gedient, wie es der sie bindende Zauber von ihr verlangte, aber vielleicht hatte sie sogar noch etwas mehr als das zwingend Notwendige
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gegeben; daß Danifae noch immer bei ihr war, stellte für Ha lisstra einen großen Trost dar. Für die übrigen fünf galt das dagegen in keiner Weise. Die Ereignisse der letzten Tage Ched Nasads hatten Halisstra an eine Gruppe von Reisenden aus dem fernen Menzoberranzan geraten lassen, einer Stadt, die sich im Lauf der Zeit von einem Feind Ched Nasads zu einem Rivalen, Handelspartner und schließlich Beherrscher entwickelt hatte. Quenthel Baenre saß in Gedanken versunken da, ihren Mantel eng um sich ge schlungen, damit sie gegen die Kälte gewappnet war. Als Pries terin der Spinnenkönigin war Quenthel eine Tochter des Hau ses Baenre, des führenden Clans Menzoberranzans. Quenthel aber als potentielle Freundin Halisstras zu sehen, nur weil sie beide Lolth dienten, war weit gefehlt. Die meisten adligen Drow-Frauen dienten Lolth und verbrachten ihr Leben damit, um Macht und Vorherrschaft bei der Anbetung zu ringen. So liefen die Dinge bei den Drow – wie Lolth es ihnen vorschrieb. Wenn es die Spinnenkönigin bevorzugte, jene zu belohnen, die sich als die Ruchlosesten und Ehrgeizigsten beim Werben um ihre Gunst erwiesen, was sollte eine Drow dann anderes tun, wenn sie nicht das Nachsehen haben wollte? Quenthel war in vieler Hinsicht das Sinnbild der Drow, ei ne angehende Matriarchin, die Frömmigkeit im Dienst an Lolth mit körperlicher Schönheit, Charakterstärke und absolu ter Rücksichtslosigkeit vereinte. Von den Reisenden aus Men zoberranzan stellte sie für Halisstra die größte Bedrohung dar. Halisstra war selbst Tochter einer Muttermatrone und eine Priesterin Lolths, daher wußte sie genau, daß sie Quenthel im Auge behalten mußte. Im Augenblick waren sie Verbündete, doch es war nicht viel nötig, um Quenthel zu der Ansicht gelangen zu lassen, Halisstra sei als Gefolgsfrau oder als Gefan gene nützlicher – oder es sei sogar besser, sie zu töten.
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Quenthel konnte sich der Loyalität des massigen Jeggred si cher sein, eines Draegloth aus ihrem eigenen Haus. Diese Kre atur war je zur Hälfte Dämon und Drow, Sohn von Quenthels älterer Schwester und eines unbekannten Bewohners des Ab grunds. Jeggred, der die anderen Drow deutlich überragte, war eine vierarmige Kreatur mit bestialischer Natur, die ihre Nei gung zu mörderischer Gewaltanwendung ständig in Schach halten mußte. Sein Gesicht ähnelte dem eines Drow, und er ging aufrecht, doch ein glänzender silberner Pelz bedeckte an Brust, Schultern und Lenden seine dunkle Haut, und seine Krallen waren so lang und scharf wie Dolche. Halisstra fürch tete Jeggred nicht, denn der Draegloth war Quenthels Kreatur und würde ihr ohne die ausdrückliche Erlaubnis seiner Herrin kein Haar krümmen. Er mochte das Instrument sein, das Ha lisstra tötete, wenn Quenthel den Befehl erteilte, doch es wäre unsinnig gewesen, in ihm irgend etwas anderes als Quenthels Waffe zu sehen. Von Pharaun war Halisstra zutiefst beeindruckt. Das Studi um des arkanen Wissens war eine Sache, die genau wie der Umgang mit dem Schwert den Männern überlassen blieb. Ein mächtiger Magier verdiente Respekt, ungeachtet der Tatsache, daß er ein Mann war. Halisstra wußte sogar von mehr als ei nem Fall, in denen die Muttermatrone eines bedeutenden Hauses nur mit dem Einverständnis der mächtigen männli chen Magier der Familie hatte herrschen können – eine Situa tion, die ihr immer als pervers und gefährlich erschienen war. Pharaun verhielt sich, als besitze er solche Macht und solchen Einfluß. Zwar ordnete er sich immer wieder Quenthel unter, doch eine solche Reaktion war immer von einem höhnischen Lächeln oder einer heuchlerischen Bemerkung begleitet, und gelegentlich grenzte sein respektloses Auftreten gar an ein unverhohlenes Rebellieren. Das bedeutete, daß er entweder
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ein völliger Narr war – was jedoch unwahrscheinlich war, da man ihn in Menzoberranzan speziell ausgewählt hatte, um die gefährliche Reise nach Ched Nasad zu unternehmen – oder daß er über genug Macht verfügte, um sich gegen die natürli che Tyrannei einer Adligen wie Quenthel zu behaupten. In Pharaun sah Halisstra einen möglicherweise wichtigen Ver bündeten gegen Quenthel, wenn sich herausstellen sollte, daß sie und Quenthel sich nicht einigen konnten. Halisstra kam es vor, als sei Ryld Argith für Pharaun das, was Jeggred für dessen Herrin war. Ryld, ein kräftig gebauter Waffenmeister, dessen Statur es mit der Halisstras aufnehmen konnte, war ein immens geschickter Kämpfer. Sie hatte das bei der Flucht aus Ched Nasad mit eigenen Augen gesehen. Wie die meisten Männer wahrte er eine angemessen unterwürfige Haltung, sobald Quenthel zugegen war, was Halisstra als gutes Zeichen wertete. Ryld würde vermutlich im Handumdrehen seine Ergebenheit einer anderen Frau von hoher Abstammung erklären. Sie konnte nicht darauf zählen, daß sich Ryld gegen Pharaun oder Quenthel stellen würde, doch ein reinrassiger Drow war in seiner Loyalität nicht so unerschütterlich wie ein durchschnittlicher Draegloth ... Der letzte und zugleich Unbedeutendste der Gruppe aus Menzoberranzan war Valas Hune. Der kleine Mann sagte we nig, dafür beobachtete er unablässig die Umgebung. Halisstra hatte Leute wie ihn schon früher zu sehen bekommen. Männer wie er waren nützlich, aber sie wollten nichts mit den Ma chenschaften der Priesterinnen und Matriarchinnen zu tun haben, also hielten sie sich von der Politik der großen Häuser fern. Im Moment kauerte Valas vor einem kleinen Haufen trockenen Buschwerks und versuchte, ein Feuer zu entfachen. »Besteht eine Chance, daß uns jemand verfolgt?« fragte Ryld in den eisigen Wind.
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»Wohl kaum«, murmelte Quenthel. »Das komplette Haus ist abgestürzt, nachdem wir das Portal benutzt haben. Wie sollte uns da jemand folgen?« »Es ist nicht unmöglich, liebe Quenthel«, gab Pharaun zu rück. »Ein fähiger Magier könnte herausfinden, wohin das Portal geführt hat, selbst wenn es zerstört worden ist. Er könn te das Portal sogar so weit wiederherstellen, daß er es benutzen kann. Ich vermute, es hängt davon ab, wie sehr man uns in Ched Nasad vermißt.« Er sah zu Halisstra auf und fragte: »Wie sieht es damit aus? Haltet Ihr es für wahrscheinlich, daß Eures gleichen uns die Schuld an den unglücklichen Ereignissen der letzten Stunden geben? Werden sie nicht alles daransetzen, sich zu rächen?« Halisstra sah ihn an. Die Frage ergab keinen Sinn. Wer soll te denn überlebt haben, um den Angriff der Duergar der Gruppe aus Menzoberranzan in die Schuhe zu schieben? Haus Melarn war gefallen, und das galt auch für Haus Nasadra. Sie begann, die große Erschöpfung ihres Körpers zu spüren – ein bleiernes Gefühl in ihrem Herzen und einen Nebel, der sich um ihren Verstand gelegt hatte –, und ließ sich gegenüber der Gruppe in den Sand sinken. »Jeder in Ched Nasad hat im Moment wichtigeres zu tun, als sich um Euren Aufenthaltsort zu kümmern«, brachte sie heraus. »Ich glaube, die Dame hat dich gerade in deine Schranken verwiesen, Pharaun«, lachte Ryld. »Die Welt und alles in ihr dreht sich nicht um dich, weißt du?« Pharaun nahm den Spott mit einem sardonischen Grinsen und einer sich selbst herabwürdigenden Geste. »Meinetwegen«, sagte er leichthin. Er wandte sich an Valas Hune, der versuchte, mit Funken das Gestrüpp zu entzünden. »Hältst du das für eine gute Idee? Das Feuer wird man noch in
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einiger Entfernung sehen.« »Es ist gerade erst Mitternacht, wenn ich mich nicht ver schätzt habe«, erwiderte der Späher, ohne aufzublicken. »Wenn du es jetzt schon für kalt hältst, dann warte mal die Stunden vor Sonnenaufgang ab. Wir brauchen ein Feuer, ganz gleich, wie groß das Risiko auch sein mag.« »Woher weißt du, wie spät es ist«, wollte Quenthel wissen, »oder wie kalt es noch werden wird?« Valas schlug einen Funken und duckte sich, um ihn vor dem Wind zu schützen. Augenblicke später hatte das Busch werk Feuer gefangen, und der Späher legte trockenes Holz nach, um die Flammen zu nähren. »Seht Ihr die Anordnung der Sterne im Süden?« entgegne te er. »Die sechs, die aussehen wie eine kleine Krone? Das sind die Wintersterne. Sie gehen zu dieser Jahreszeit früh auf und spät wieder unter. Ihr werdet bemerken, daß sie sich nahe dem Zenit befinden.« »Du warst schon einmal an der Oberfläche«, stellte Quenthel fest. »Ja«, antwortete Valas, sagte aber weiter nichts dazu. »Wenn es jetzt mitten in der Nacht ist, was ist dann das für ein Leuchten dort am Himmel?« hakte sie nach. »Das muß der Tagesanbruch sein.« »Das ist der Mond, der aufgeht.« »Es ist nicht die Sonne, die sich über den Horizont erhebt? Es ist so hell!« Valas sah auf, lächelte kühl und erklärte: »Wenn das die Sonne wäre, Herrin, wären jetzt nur noch halb so viele Sterne am Himmel zu sehen. Glaubt mir, es ist der Mond. Wenn wir hierbleiben, werdet Ihr die Sonne noch früh genug zu Gesicht bekommen.« Quenthel schwieg, möglicherweise verärgert über ihren
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Fehler. Halisstra konnte es ihr nicht verübeln, war sie doch dem gleichen Irrtum erlegen. »Womit sich eine wichtige Frage ergibt«, warf Pharaun ein. »Ich nehme an, daß wir nicht allzulange hierbleiben wollen. Was werden wir dann tun?« Er sah Quenthel unverhohlen an und forderte sie mit seiner Frage heraus. Quenthel sprang aber nicht darauf an, sondern betrachtete eindringlich den silbernen Schein im Osten, als hätte sie die Frage nicht gehört. Mondschatten, fahl wie Geister, wuchsen aus verwitterten Mauern und zerfallenden Säulen, so schwach, daß nur ein Drow sie wahrnehmen konnte, dessen Augen an die Düsternis des Unterreiches gewöhnt waren. Quenthel griff neben sich in den Sand und ließ die Körner durch ihre Finger rieseln, während sie beobachtete, wie der Wind diesen silber nen Strom wegwehte. Zum ersten Mal kam es Halisstra in den Sinn, Quenthel und die anderen Reisenden aus Menzoberran zan könnten die gleiche Erschöpfung, die gleiche Niederge schlagenheit empfinden, die so schwer auf ihrem eigenen Her zen lastete – nicht, weil sie ihren Verlust spürten, sondern weil sie wußten, daß sie Zeuge eines großen, schrecklichen Verlus tes geworden waren. Das Schweigen hielt lange an, bis Pharaun sich bewegte und den Mund aufmachte, als wolle er wieder zum Sprechen ansetzen. Doch Quenthel kam ihm zuvor und sprach mit kalter und wütender Stimme: »Was wir tun werden? Wir werden tun, was ich sage. Wir sind erschöpft und verletzt, und ich verfüge nicht über Magie, die unsere Wunden heilen und uns Kraft geben könnte.« Sie verzog das Gesicht und ließ den restlichen Sand zu Boden rieseln. »Für den Augenblick werden wir ru hen. Ich werde morgen über unsere weitere Vorgehensweise entscheiden.«
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Hunderte von Kilometern von den Überresten der Wüsten stadt entfernt stand ein anderer Drow ebenfalls in einer Rui nenstadt. Es handelte sich um eine Stadt der Drow, ein aus dem Fels hervorspringendes Bollwerk aus schwarzem Stein, das aus der Wand einer immensen, lichtlosen Felsspalte emporwuchs. Von der Anordnung her war die Stadt einst etwas in der Art einer gewaltigen Festung auf einem ausladenden, felsigen Hügel gewesen, die ein wenig zur Seite geneigt war, um finster über einem klaffenden Loch in die Umgebung zu starren, aus dem übelriechende Winde von dem unergründlichen Abgrund darunter hinauf in Höhlen weit darüber wehten, die sich allen Blik-ken entzogen. Auch wenn die Türme und Spitzen sich mutig über eine furchterregende Klippe hinauslehnten, schien der Ort in keiner Weise an einem gefahrvollen Punkt gelegen zu sein. Das gewaltige Felsstück war einer der tragenden Pfeiler der Welt, ein dicker Spat, der so sicher in der Felswand ver wurzelt war, daß allenfalls die Vernichtung Torils ihn würde losreißen können. Die wenigen Gelehrten, die sich an den Ort erinnerten, kannten ihn als Chaulssin, die Stadt der Drachenschatten, und selbst von denen wußten noch die wenigsten, warum die Stadt so genannt wurde. In der lichtlosen Feste am Rande des Ab grunds waren die Schatten selbst mit Leben erfüllt. Pech schwarze Lachen aus purer Mitternacht, schwärzer als das Herz eines Drow, wanden sich und strömten von Turm zu Turm. Eine wispernde Finsternis schlängelte sich wie ein riesiger hungriger Drache um die nadelgleichen Spitzen und durch die zu einer Seite hin offenen gedeckten Gänge der toten Stadt. Von Zeit zu Zeit verschluckten die lebenden Schatten Teile
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der Stadt für Jahrhunderte und zogen so einen Palast oder einen Tempel hinunter an einen kalten Ort jenseits der Kreise dieser Welt. Nimor Imphraezl schlich behutsam durch die verlassenen Gänge Chaulssins, scheinbar ohne die lebenden schwarzen Vorhänge wahrzunehmen, die an den dunklen Orten der Stadt tanzten und zuckten. Das zum Wahnsinn reizende Heulen des unablässigen Hurrikans, das sich jenseits der Stadtmauern erhob, zerrte an seinem Mantel und wirbelte sein langes Sil berhaar durcheinander, doch er schenkte dem keine Beach tung. Dies war sein Ort, seine Zuflucht, und die Gefahren und der Wahnsinn stellten lediglich vertraute Akzente dar, die seine Aufmerksamkeit nicht verdienten. Nimor hatte die Sta tur eines schlanken, fast jungenhaften Elfen, was hieß, daß er klein und so schlank wie ein Schilfrohr war. Der höchste Punkt seines Kopfs reichte einer durchschnittlichen Frau kaum bis zur Nase, und jede Frau, die größer geraten war, überragte ihn mit Kopf und Schultern. Trotz seiner zierlichen Statur strahlte Nimor Macht aus. Sein kleiner Wuchs schien von einer punktgenauen Stärke und tödlichen Schnelligkeit erfüllt, die in keinem Verhältnis zu seinen Proportionen stand. Sein Gesicht war schmal, aber hübsch, ja fast sogar schön anzusehen, und er trug die überle gene Arroganz eines adlig geborenen Drow zur Schau, der nichts fürchtete, was immer sich ihm auch in den Weg stellte. Es war eine Rolle, die er gut spielte, den Drow aus hohem Hause, den Prinz der Ruinenstadt. Wenn er noch etwas ande res war, wenn er mehr war ... nun, die wenigen Drow, die mit ihm dort lebten, waren nicht viel anders. Nimor kam am Ende der Gangs an und begab sich ins Inne re des Gebäudes, um eine breite Treppe hinaufzugehen, die durch das Herz des monolithischen Sporns geschnitten worden
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war, an den sich Chaulssin krallte. Die Kakophonie der Win de, die draußen tobten, verebbte rasch zu einem fernen, tiefen Flüstern, das zischend und durchdringend war. Nirgends in Chaulssin gab es eine Stelle, an der man diesen Geräuschen entkommen konnte. Er legte eine Hand aufs Heft seines Ra piers und folgte den spiralförmig verlaufenden schwarzen Stu fen hinauf in einen dunklen Saal, eine gewölbte Kathedrale aus Schatten mitten im Herzen der Stadt. Flackernde, ewig brennende Fackeln in bronzenen Halterungen warfen schwa che, scharf umrissene Lachen aus Licht entlang den gewellten Mauern, rote Streifen, die sich in der Schwärze des Gewölbes darüber verloren. Dort oben waren die Schatten wahrhaftig dicht, eine aufgewühlte Quelle aus Finsternis, die nicht einmal Nimors Augen durchdringen konnte. »Nimor. Ihr kommt spät.« Die sieben Vaterpatrone der Jaezred Chaulssin, die in der Mitte des Raums im Kreis standen, drehten sich gleichzeitig um, als sich Nimor näherte. Am entgegengesetzten Rand des Kreises hatte Großvaterpatron Mauzzkyl seinen Platz, ein rüs tiger alter Drow mit breiten Schultern, dessen Haar deutliche Geheimratsecken aufwies. »Die Vaterpatrone warten nicht zum Vergnügen der Ge salbten Klinge der Jaezred Chaulssin«, sagte Mauzzkyl. »Verehrter Großvater, meine Verspätung war unvermeid bar«, erwiderte Nimor. Er nahm den Platz im Kreis ein, der für ihn freigehalten worden war, deutete aber keine Verbeugung an, so wie er auch von den anderen keine derartige Geste erwartete. Als Gesalbte Klinge war er nur dem Großvaterpatron Rechenschaft schul dig, und tatsächlich nahm er mit Ausnahme von Mauzzkyl einen höheren Rang ein als jeder andere der Jaezred Chaulssin. »Ich bin soeben aus Menzoberranzan zurückgekehrt«, fügte
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er an, »und verharrte dort, so lange ich konnte, um die Ereig nisse vor meiner Abreise zu beobachten.« »Wie sieht es dort aus?« fragte Vaterpatron Tomphael. Er war schlank, verwegen und ähnelte im Aussehen Nimor, je doch zog er das Gewand eines Magiers dem Kettenhemd eines Kriegers vor, und er konnte so behutsam in seinem Verhalten sein, daß es manchmal an Feigheit reichte. »Wie kommt die Revolte voran?« »Nicht so gut, wie ich es gern gesehen hätte, aber in etwa so wie erwartet«, gab Nimor zu. Tomphaels Erkenntniszauber hatten diese Einsicht zweifellos längst gezeigt. Hoffte der Va terpatron, die Gesalbte Klinge dabei zu ertappen, wie sie einen Fehler zu verschweigen versuchte? Nimor mußte angesichts dieser Einfalt fast lächeln. »Die Sklaven wurden zermalmt. Gromph Baenre mischte sich ein, und es scheint, als hätten seine Leute unseren Illithiden-Freund vernichtet oder vertrie ben. Positiv ist, daß wir den gemeinen Menzoberranzanyrn etwas von der Schwäche der Spinnenküsserinnen zeigen konn ten. Das ist vielversprechend, und die Priesterinnen waren uns gefällig, indem sie einen beträchtlichen Teil ihres Vorrats an gehorteter Magie aufbrauchten, um ihre aufständischen Skla ven zu vernichten. Die Stadt ist geschwächt.« »Ihr hättet Euch unmittelbarer in die Angelegenheit einmi schen können«, sagte Patron Xorthaul, der das schwarze Ket tenhemd eines Priesters trug. »Hättet Ihr die Lakaien des Erz magiers getötet, dann ...« »Die Revolte, die wir förderten, wäre so oder so niederge schlagen worden, und ich hätte sie zu früh aufmerksam werden lassen«, fiel Nimor ihm ins Wort. »Vergeßt nicht, Patron Xorthaul, dies sollte nie etwas anderes sein als eine simple Finte, die leicht abzuwehren war und durch die wir einen Ein druck von der wahren Schlagkraft der Muttermatronen Men
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zoberranzans gewinnen konnten. Der nächste Schlag wird ihre Streitkräfte niederringen und tief in ihr Fleisch einschneiden.« Er beschloß, das Thema zu wechseln und statt dessen einen anderen in die Defensive zu drängen. »Da ich als letzter kam, weiß ich nichts darüber, welche Fortschritte in den anderen Städten gemacht werden. Was ist mit Eryndlyn? Oder Ched Nasad?« Auf den grausamen Mienen zeichnete sich ein eisiges Lä cheln ab. Nimor kniff die Augen zusammen. Es kam nicht oft vor, daß die Vaterpatrone ein Ereignis mitbekamen, an dem sie gemeinschaftlich Gefallen fanden. Mauzzkyl persönlich berich tete ihm von den neuen Entwicklungen. »In Eryndlyn machen wir die erwarteten Fortschritte – Tomphael brachte Ergebnisse mit, die den Euren recht ähnlich sind. Doch Ched Nasad ... aus Ched Nasad kehrte Zammzt im Triumph zurück.« »Tatsächlich?« fragte Nimor, der wider Willen beeindruckt war. Er widerstand einem heißen Aufwallen von Eifersucht und wandte sich Zammzt zu. Der Drow war so unscheinbar, daß er genausogut ein niederer Waffen- oder Schwertschmied hätte sein können, ein bürgerlicher Kunsthandwerker, der nur ge ringfügig bedeutender war als ein Sklave. Zammzt verschränkte die Arme vor der Brust und nickte in Anerkennung der Be merkung, die Großvater Mauzzkyl gemacht hatte. »Was geschah?« fragte Nimor. »Ched Nasad hätte nicht so leicht fallen dürfen.« »Wie sich herausstellte, Gesalbte Klinge, hatten die Stein brandbomben, die Eure Duergar lieferten, einen verheerenden Effekt auf die Netze, auf denen Ched Nasad errichtet worden war«, sagte Zammzt, der seine Unterwürfigkeit zweifellos nur vortäuschte. »Wie die Flamme ein Spinnennetz verzehrt, so
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zerfraß der Steinbrand die Grundfesten der Stadt. Da die Bur gen und die Paläste wie brennende Papierfetzen auf den Höh lenboden stürzten, gelang es den Bewohnern Ched Nasads nicht, eine echte Verteidigung aufzubauen. Keine Feste, die irgendwelche Bedeutung besitzt, hat die Flammen überlebt, und nur wenige der Hausarmeen entkamen der Feuersbrunst, von der die Höhle erfaßt wurde.« »Was ist von der Stadt übrig?« »Sehr wenig, fürchte ich. Eine Reihe isolierter Bezirke und die Gebäude, die in Nebenhöhlen liegen, haben das Feuer überlebt. Von der Bevölkerung der Stadt kam schätzungsweise die Hälfte beim Zusammensturz ums Leben. Etwa ein Drittel trat die Flucht in die anderen Tunnel an, wo zweifellos jeden von ihnen ein unerfreuliches Ende erwartet. Die meisten Über lebenden gehören zu den unbedeutenderen Häusern, die mit uns verbündet sind oder die sehr schnell die neue Ordnung in der Stadt zu schätzen gelernt haben.« Nimor strich sich übers Kinn und sagte: »Das heißt, von den zwanzigtausend in der Stadt sind nur noch dreitausend übrig?« »Eher noch weniger, da die Sklaven aus der Stadt geflohen sind«, erwiderte Zammzt und erlaubte sich ein boshaftes Grin sen. »Von den Spinnenküsserinnen ist nichts mehr übrig.« »Wahrscheinlich entkam eine Reihe von Priesterinnen mit denen, die ins Unterreich flohen«, überlegte Nimor. »Nicht alle werden in den Tunnels sterben. Trotzdem ist das eine großartige Neuigkeit. Wir haben unsere erste Stadt Lolths Herrschaft entrissen, und weitere werden ganz sicher folgen.« Xorthaul, der Priester im Kettenhemd, schnaubte. »Wel chen Sinn hat es, die Lolth-Verehrer aus einer Stadt zu jagen, wenn man die Stadt vernichten muß, um das zu erreichen?« wollte er wissen. »Wir mögen nun über Ched Nasad herr
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schen, aber unsere Herrschaft beschränkt sich auf einen qual menden Felsspalt und ein paar arme Weiber.« Mauzzkyl verlagerte sein Gewicht ein wenig und gab schneidend zurück: »Das ist egal, Xorthaul. Wir sprachen doch schon über den Preis unserer Bemühungen. Jahrzehnte, ja Jahrhunderte des Elends sind unbedeutend, wenn wir unser Ziel erreichen. Geduld ist unser Meister.« Der Großvater lä chelte. »Wir haben in nur zwei Monaten etwas erreicht, für das unsere Väter in der Jaezred Chaulssin jahrhundertelang arbeiteten. Ich würde ohne zu zögern im Unterreich ein Dut zendmal das wiederholen, was Ched Nasad widerfuhr, wenn es bedeutet, daß unsere Rasse sich auf diese Weise aus dem Griff der Spinnenkönigin befreien kann. Ched Nasad mag in Rui nen liegen, doch wenn die Stadt wieder aufersteht, dann nach unseren Vorstellungen, mit einer Gesellschaft, die durch unse ren Glauben geformt und die unbemerkt von uns geführt wer den wird. Wir sind nicht einfach nur Mörder oder Anarchis ten, Xorthaul, wir sind die kalte Hand, die die Schwachen aussortiert, die Klinge, die die Geschichte formt.« Die versammelten Drow nickten zustimmend. Mauzzkyl wandte sich zu Nimor um. »Nimor, meine Gesalbte Klinge. Menzoberranzan schreit nach dem Feuer, das Ched Nasad läuterte. Scheitere nicht.« »Verehrter Großvater, ich versichere Euch, das werde ich nicht«, entgegnete Nimor. »Ich habe meinen nächsten Zug schon geplant. Ich kam zu einer Übereinkunft mit einem der großen Häuser. Dieses Haus wird hinter uns stehen, aber es braucht eine Demonstration unserer Entschlossenheit und unserer Fähigkeiten. Ich bin recht zuversichtlich, daß ich eine solche Demonstration erbringen kann. In wenigen Tagen wird in einem Haus in Menzoberranzan eine Muttermatrone ver schwunden sein und eine weitere wird sich in unserem Netz
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verfangen haben.« Mauzzkyl lächelte kühl und zustimmend, dann sagte er: »Ich wünsche Euch eine gute Jagd.« Nimor verbeugte sich, dann drehte er sich um und verließ den Kreis. Er hörte, wie sich hinter ihm die Versammlung der Vaterpatrone auflöste und jeder von ihnen in sein eigenes verborgenes Haus in einer der Städte zurückkehrte, die über Tausende von Meilen im Unterreich verstreut waren. Gehei me Kabale der Jaezred Chaulssin existierten in mindestens einem niederen Haus in den meisten Drow-Städten. Jeder Vaterpatron herrschte absolutistisch über diese Verschwörung, die Generationen umfaßte, ganze Jahrhunderte, und die vom brennenden Haß der Drow aufeinander lebte. Die unerfreuli che Ausnahme war Menzoberranzan. Dort herrschte seit langer Zeit die alte Matrone Baenre, die nie zugelassen hatte, daß das Haus der Assassinen Fuß fassen konnte. Während acht Vater patrone in Städte zurückkehrten, in denen Dutzende loyaler Auftragsmörder und Priester – deren Götter Lolth haßten – ihrem Befehl unterstanden, begab sich Nimor Imphraezl allein nach Menzoberranzan, um weiter an der Vernichtung einer Stadt zu arbeiten.
Der Sonnenaufgang war grandios und schrecklich. Eine Stunde lang oder länger war es immer heller und heller geworden, die Sterne waren am rosafarben gestreiften Himmel immer blasser geworden, und der eisige Wüstenwind hätte endlich nachge lassen. Halisstra wartete darauf, daß die Sonne aufging, und betrachtete das Schauspiel von einer zum Teil eingestürzten, zum Teil verschütteten Mauer aus. Lange bevor sich die Sonne über den Horizont hob, wunderte sich Halisstra darüber, wie weit sie sehen konnte, als sie dunkle, schroffe Berge ausmach
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te, die vielleicht fünfzehn, vielleicht aber auch hundertfünfzig Kilometer entfernt waren. Als endlich die Sonne aufging, kam es ihr so vor, als ergieße sich ein Brunnen aus flüssigem Gold über die karge Landschaft, der Halisstra so sehr blendete, daß sie keuchend die Handflächen auf die Augen preßte. Die schmerzten von dem kurzen Moment so sehr, als hätte ihr jemand weißglühende Dolche in den Kopf gejagt. »Das war nicht sehr klug, Herrin«, murmelte Danifae, die dicht bei ihr stand. »Unsere Augen sind nicht für einen sol chen Anblick gemacht. Ihr könntet Euch verletzen ... und ohne Lolths Gunst könnte es schwierig sein, Euch zu heilen.« »Ich wollte den Tagesanbruch sehen«, erwiderte Halisstra. Sie wandte sich vom Licht des Tages ab und schirmte ihre Augen ab, dann sprang sie in den Sand und damit in den Schatten der Mauer. Dort konnte sie die Helligkeit der Sonne noch aushalten, doch wie würde es erst mitten am Tag sein? Würden sie überhaupt noch etwas erkennen können, oder würden sie völlig geblendet sein? »Früher«, sagte sie, »betrachteten unsere Ahnen am hel lichten Tag diese Welt, ohne sich vor der Sonne zu schützen. Sie bewegten sich ohne Angst unter dem freien Himmel, unter den Feuern des Tages. Für sie war die Finsternis Grund, sich zu fürchten. Kannst du dir das vorstellen?« Danifae reagierte mit einem schwachen Lächeln, das sich aber nicht in ihren Augen widerspiegelte. Halisstra kannte diesen Blick nur zu gut. Ihre Dienerin setzte diese Miene im mer auf, wenn sie ihrer Herrin gefallen wollte, indem sie einer Bemerkung zustimmte, auf die sie keine Erwiderung wußte. Danifae deutete mit einer Kopfbewegung auf den zerfallenen Palast und seinen Hof. »Baenre hat Pharaun und die anderen zu sich gerufen«, er klärte ihre Gefangene. »Ich glaube, sie will entscheiden, was
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als nächstes geschehen soll.« »Hat sie mich dazugerufen?« fragte Halisstra. »Nein.« Halisstra riß den Kopf hoch, aber Danifae zuckte nur verle gen mit den Schultern. »Ich dachte, Ihr würdet in jedem Fall anwesend sein wollen.« »Allerdings«, erwiderte Halisstra. Sie strich ihren Mantel glatt und sah sich noch einmal in den zerfallenden Ruinen um, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. In den langen Schatten, die die Morgensonne warf, leuchteten die Oberkanten der Ruinen orangefarben auf, während sich hinter ihnen eine Lache aus völliger Schwärze erstreckte. Seit der Wind sich gelegt hatte, spürte Halisstra eine Aura der Wachsamkeit, möglicherweise ausgehend von einer alten Feindseligkeit, die irgendwo inmitten der Mauern und eingefallenen Kuppeln lauerte. Die beiden machten sich auf den Weg zurück zum Lager der Gruppe auf dem Hof und schlossen sich wortlos der Diskussion an. Quenthel warf beiden einen Blick zu, als sie sich ihr näher ten, konzentrierte sich aber weiter auf die anderen. »Wir haben herausfinden können, daß die Priesterinnen Ched Nasads Lolths Gunst ebenso verloren haben wie wir selbst. Den Grund konnten wir nicht eruieren. Wir haben erfahren, daß Häuser, die mit uns Handelsbeziehungen unter hielten und dadurch sowie durch Blutsbande mit uns verbün det waren, sich entschlossen, jene Güter, die wir dringend benötigten, sich selbst einzuverleiben und sich gegen uns zu wenden. Es gelang uns nicht, die Transporte nach Menzober ranzan wieder auf den Weg zu bringen ...« »Was man kaum uns zur Last legen kann«, warf Pharaun ein. »Die Stadt wurde zerstört. Der Status der Handelsinteres sen der Baenre in Ched Nasad ist hinfällig.«
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Quenthel fuhr fort, als hätte der Magier nichts gesagt: »Schließlich finden wir uns in einem gottverlassenen Teil der Welt an der Oberfläche wieder, wir wissen nicht, wie weit es bis nach Hause ist, wir haben praktisch keine Vorräte mehr und wir sind in einer ungastlichen Wüste gestrandet. Habe ich die Ereignisse zutreffend zusammengefaßt?« Valas rutschte unbehaglich hin und her. »Bis auf den letz ten Punkt. Ich vermute, wir befinden uns in der Wüste Anau roch, genauer gesagt, im nordwestlichen Teil. Wenn ich nicht irre, dann liegt Menzoberranzan etwa achthundert Kilometer westlich von hier ... und dann natürlich noch ein ganzes Stück in die Tiefe.« »Du warst hier schon?« »Nein«, erwiderte Valas, »aber es gibt in Faerûn nur wenige Wüsten, vor allem so weit im Norden, daher stehen die Chan cen recht gut, daß wir uns in der Anauroch befinden. Fünfund sechzig bis siebzig Kilometer westlich von uns gibt es eine Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln, die man bei Tages licht recht deutlich sehen kann. Ich halte sie für die Graugip felberge oder die Nesserberge. Es könnte sich auch um das Eisgebirge handeln, aber wenn wir so weit nördlich wären, daß wir sie sehen könnten, dann müßten wir uns eigentlich schon im Hocheis befinden, aber nicht in diesem sandigen, steinigen Abschnitt der Großen Wüste.« »Ich vertraue auf deinen Orientierungssinn, aber ich kann nicht behaupten, daß mir der Gedanke gefällt, achthundert Kilometer in der Welt an der Oberfläche zurückzulegen, um nach Hause zu gelangen«, meinte Ryld und fuhr sich durch sein kurzgeschnittenes Haar. In seiner Rüstung bewegte er sich steif, denn unter dem Kettenzeug war er von der verzweifelten Flucht aus Ched Nasad übel zugerichtet. »Die Zitadelle Adbar, Sundabar und Silbrigmond lägen auf unserem Weg, und nir
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gends ist unsereins gern gesehen.« »Sollen sie versuchen, uns aufzuhalten«, knurrte Jeggred. »Wir reisen nachts, wenn Menschen und Licht-Elfen blind sind. Selbst wenn uns jemand über den Weg laufen sollte – die Wesen von der Oberfläche sind schwach. Ich habe keine Angst vor ihnen, und das solltet Ihr auch nicht.« Ryld nahm Anstoß an den Worten des Draegloth, doch Quenthel brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Wir werden tun, was nötig ist«, erklärte sie. »Wenn wir die nächsten zwei Monate damit verbringen müssen, uns im Schutze der Nacht durch die Reiche an der Oberfläche zu schleichen, dann werden wir das tun.« Sie wandte sich elegant ab und stolzierte davon, während ihr Blick gedankenverloren über die Ruinen wanderte. Die Gruppe verfiel in Schweigen, als die Drow Quenthel nachblickten. Pharaun erhob sich und zog seinen Piwafwi enger um seinen schlanken Leib. Der schwarze Mantel flatterte im eisigen Wind. »Die Frage, die mich beschäftigt«, sagte Pharaun, ohne ei nen aus der Gruppe gezielt anzusprechen, »ist die, ob wir er reicht haben, was wir uns vorgenommen hatten. Mir gefällt der Gedanke nicht, nach Menzoberranzan zurückzukriechen und dort nach Monaten nur mit der Nachricht aufzutauchen, daß Ched Nasad gefallen ist.« »Keine Priesterin Lolths kennt die Antworten, die wir su chen«, gab Quenthel zurück. »Wir werden nach Menzoberran zan zurückkehren. Ich kann nur darauf vertrauen, daß die Göt tin den Grund für ihr Schweigen erklärt, wenn ihr danach ist.« Pharaun verzog das Gesicht und sagte: »Blinder Glaube ist ein schwacher Ersatz für einen Plan, mit dem Ihr an die ge suchten Antworten gelangen könnt.« »Der Glaube an Lolth ist das einzige, was wir noch haben«,
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fuhr Halisstra ihn an. Sie näherte sich dem Meister Sorceres um einen halben Schritt. »Ihr habt offenbar vergessen, wel chen Rang Ihr einnehmt, wenn Ihr eine Hohepriesterin Lolths so ansprecht. Vergeßt es nie wieder.« Pharaun öffnete den Mund, um zu einer Erwiderung anzu setzen, die zweifellos noch viel schärfer ausgefallen wäre, doch Ryld, der neben ihm saß, räusperte sich lautstark und kratzte sich am Kinn. Der Magier hielt einen Moment inne und fühl te, daß der Blick seines Gefährten auf ihm ruhte. Dann zuckte er die Achseln. »Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, daß es aus meiner Sicht klar ist, daß die Spinnenkönigin von uns erwar tet, den Grund für ihr Schweigen herauszufinden.« »Was schlagt Ihr vor, wie wir das bewerkstelligen sollen?« fragte Quenthel. Sie verschränkte die Arme und wirbelte her um, um Pharaun anzufunkeln. »Vielleicht habt Ihr es ja schon vergessen, aber wir haben monatelang versucht, den Grund für ihr Schweigen herauszufinden.« »Aber wir haben nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nicht?« erwiderte Pharaun. »In Ched Nasad sprachen wir davon, Unterstützung in Gestalt eines Priesters Vhaerauns zu erbitten, möglicherweise in der Person von Meister Hunes Bekanntem, Tzirik. Wir haben schließlich neben Lolth auch noch andere Gottheiten. Ist es so aus der Luft gegriffen, es für möglich zu halten, ein anderer Gott könnte uns Lolths Schweigen erklären?« Wieder machte sich Schweigen breit. Worte wie die des Magiers hörte man nicht oft in Menzoberranzan. Nur wenige wagten es, in der Gegenwart des Klerus Lolths so etwas offen auszusprechen. »Ich sehe keinen Grund, einen männlichen Ketzer um ei nen Gefallen anzubetteln, der einen elenden Welpen von
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einem Gott verehrt«, sagte Quenthel. »Ich bezweifle, daß Lolth sich dazu herabgelassen hat, ihre Absichten irgendeiner unbedeutenderen Macht zu verraten.« »Da könntet Ihr recht haben«, konterte Pharaun. »Immer hin hat sie sich Euch ja auch nicht anvertraut.« Jeggred fauchte den Magier an, und Pharaun hob besch wichtigend die Hände und verdrehte die Augen. Valas benetzte nervös seine Lippen und warf ein: »Die meis ten von Euch haben den größten Teil ihres Lebens in Menzo berranzan verbracht, was für Drow von Eurer Position auch angemessen ist. Ich dagegen bin weit gereist und habe Orte besucht, an denen es heimlich – und in einigen Fällen sogar völlig unverhohlen – gestattet ist, andere Götter als Lolth anzubeten.« Der Späher sah, wie sich Quenthels Miene ver finsterte und Halisstra nicht anders reagierte, erschrak darüber, redete aber dennoch weiter. »Unter der weisen Herrschaft der Muttermatronen hat sich die Anbetung anderer Drow-Götter als Lolth in Menzoberranzan kaum entwickeln können. Es mag auch sein, daß das Praktizieren dieser Verehrung bei Euch nicht sonderlich gut angesehen ist, dennoch kann ich die Tatsache bezeugen, daß die Priester der niederen Götter unse rer Rasse auch Zauber und Führung von ihren Gottheiten erhalten können.« »Wo könnten wir Tzirik finden?« fragte Ryld. »Als ich ihm das letzte Mal begegnete, da lebte er inmitten einer Gruppe Ausgestoßener in einer entlegenen Region, die als das Labyrinth bekannt ist – gut hundertfünfzig Kilometer südwestlich des Dunkelsees. Aber das ist lange her.« »Ausgestoßene«, schnaubte Halisstra. Sie war nicht die einzige, die ihren Ekel kundtat. Im ewigen Spiel zwischen den großen Häusern der Drow gab es auch Verlierer. Die meisten von ihnen starben, doch manche zogen
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eine Flucht dem Tod vor und führten eine harte, schmähliche Existenz in den fernen Regionen des Unterreiches. Manche verließen ihre Heimatstadt auch aus anderen Gründen – dar unter, so vermutete Halisstra, auch die Verehrung anderer Götter als Lolth. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß jemand, der so schwach war, daß er sich aus seiner Heimat vertreiben ließ, ihnen helfen konnte. »Wir lösen unsere Probleme selbst«, sagte sie. Pharaun sah Halisstra spöttisch an. »Ich vergaß ganz, daß Ihr ja inzwischen einige Erfahrung darin gesammelt habt, welch besonderes Mißvergnügen es darstellt, seiner Heimatstadt beraubt zu werden«, kommentier te er. »Ich bewundere es, wie schnell Ihr es geschafft habt, Euch in ›unsere‹ Diskussion über ›unsere‹ Probleme einzube ziehen. Eure Selbstlosigkeit ist löblich.« Halisstra preßte die Lippen zusammen, als sie seine bissigen Worte hörte. Es gab Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Überlebenden aus Ched Nasad, die in den zahlreichen Tun nels und Schlupfwinkeln in den schwarzen Höhlen und Gän gen rings um die Stadt verstreut waren. Die meisten von ihnen würden im Maul eines geistlosen Ungeheuers enden, oder Drow aus anderen Städten würden sie fangen und zu Sklaven machen. Oder noch schrecklichere Rassen des Unterreiches wie die Gedankenschinder oder Abolethen bekamen sie zu fassen. Ein paar von ihnen durften hoffen, dank ihres Verstan des und ihres Erfindungsreichtums zu überleben. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Haus einen geschlagenen Feind auf nahm, wenn er seine Nützlichkeit unter Beweis hatte stellen können. Haus Melarn war tot. Ganz gleich, wohin Halisstra auch ging, sie mußte ganz von vorn anfangen. Die Vorteile, die sie dank Geburt, Reichtum und Macht in ihrer Stadt genossen hatte, waren mit einem Mal bedeutungslos.
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Sie dachte gründlich nach, da sie merkte, daß die anderen Drow sie sehr aufmerksam ansahen. »Verschont mich mit Eurem Mitleid«, zischte sie Pharaun schließlich an. In ihrer Stimme war eine Willenskraft zu hören, die sie nicht fühlte. »Wenn ich mich nicht allzusehr irre, ist Menzoberranzan nicht mehr weit von dem Schicksal entfernt, das Ched Nasad ereilt hat, ansonsten wärt Ihr niemals hergekommen, um um unsere Hilfe zu ersuchen. Unsere Probleme sind auch Eure Probleme, oder?« Ihre Worte zeigten Wirkung. Pharaun sah weg, während sich die anderen Reisenden aus Menzoberranzan unbehaglich wanden und gegenseitig ihre Reaktionen beobachteten. Quenthel zuckte unübersehbar und verzog das Gesicht. »Es reicht, und damit meine ich Euch beide!« erklärte sie, dann wandte sie sich an Valas Hune. »Dieser ausgestoßene Vhaeraun-Priester – warum sollte er uns helfen wollen? Es ist nicht anzunehmen, daß er unserer Sache besonders aufge schlossen gegenübersteht.« »Das kann ich nicht sagen«, antwortete Valas. »Ich kann Euch zu ihm bringen. Was dann geschieht, hängt einzig von Euch ab.« Schweigen machte sich auf dem trümmerübersäten Hof breit. Die Sonne stand eine doppelte Handbreit über dem Horizont, gleißende Strahlen aus reinem Licht schnitten sich durch Lücken in den hohen Mauern in die Dunkelheit dahin ter. Die Ruinen waren nicht so verlassen, wie Halisstra zu nächst angenommen hatte. Sie hörte leise Geräusche, die von kleinen Kreaturen stammten, die sich über den Sand und das Geröll bewegten. »Das Labyrinth ist nur hundertfünfzig Kilometer vom Dun kelsee entfernt?« fragte Quenthel, woraufhin der Späher ein mal knapp nickte. Quenthel verschränkte die Arme und dach
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te nach. »Dann ist das kein allzu großer Umweg von unserem Heimweg. Pharaun, beherrscht Ihr Magie, die unser Voran kommen beschleunigen könnte? Der Gedanke, uns den Weg durch die Oberflächenreiche freizukämpfen, behagt mir so wenig wie dem Waffenmeister.« Der Magier grinste anzüglich und stand auf, während Quenthels Hilfeersuchen ihn förmlich strahlen ließ. »Teleportation ist riskant«, erklärte er. »Zum einen macht die Faerzress des Unterreiches die Anwendung von Transport zaubern zu einer gefährlichen Angelegenheit. Darüber hinaus habe ich das Labyrinth noch nie besucht, also habe ich auch keine Ahnung, wohin ich mich begebe. Ich würde fast sicher scheitern. Ich kenne allerdings einen Zauber, der mich oder einen anderen in eine Form verwandelt, die für eine Reise geeigneter ist. Wenn wir Drachen oder Riesenfledermäuse oder etwas anderes wären, das nachts gut reisen kann ...« Der Ma gier tippte sich ans Kinn, während er über das Problem nach dachte. »Wen immer wir dazu veranlassen, als Reittier für die anderen herzuhalten, er würde dieses Aussehen behalten müs sen, bis ich ihn zurückverwandle. Dabei reden wir immer noch von einigen Zehntagen Reise. Oder ... ich kenne einen Zauber, um durch Schatten zu gehen. Der ist aber gefährlich, und ich könnte uns nicht direkt bis ins Labyrinth bringen, da ich dort noch nie gewesen bin und der Zauber am besten nur dann benutzt wird, wenn man an Orte reist, die man gut kennt. Ich könnte Euch nach Mantol-Derith bringen, das dicht am Ufer des Dunkelsees liegt. Das würde unsere Reise beträchtlich verkürzen.« »Warum habt Ihr das nicht schon früher gesagt, als wir dar über sprachen, daß wir monatelang über die Oberfläche wan dern müßten?« fragte Jeggred und schüttelte den Kopf. »Wenn du zurückdenkst, wirst du dich sicher erinnern, daß
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wir noch nicht entschieden hatten, wohin wir uns begeben«, erwiderte Pharaun. »Meine Absicht war es, zum rechten Zeit punkt meine Dienste anzubieten.« »Du hättest uns dann doch von Menzoberranzan nach Ched Nasad transportieren können. Warum um alles in der Welt sind wir gelaufen?« »Weil ich Grund habe, die Ebene der Schatten zu meiden. Als junger und viel impulsiverer Magier mußte ich auf uner freuliche Weise erfahren, daß das Schattenwandeln keinen besonderen Schutz davor bietet, von jenen Kreaturen, die im dunklen Reich leben, bemerkt zu werden. Ich wäre fast von etwas aufgefressen worden, dem ich nicht noch einmal begeg nen möchte.« Der Magier grinste und fügte an: »Demzufolge betrachte ich das Schattenwandeln heutzutage als allerletzte Möglichkeit. Ich habe es jetzt nur vorgeschlagen, weil ich es für geringfügig ungefährlicher halte, als etliche Zehntage durch die Welt an der Oberfläche zu reisen.« »Wir werden jede gebotene Vorsicht walten lassen«, sagte Quenthel. »Laßt uns aufbrechen.« »Nicht so schnell. Ich muß den Zauber vorbereiten. Es wird eine Stunde dauern, bis ich soweit bin.« »Dann ans Werk«, forderte Quenthel. Sie sah sich um und schirmte ihre Augen ab. »Je eher wir wieder unter der Oberflä che sind, desto besser.«
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Während sich Pharaun in einen dunklen, ruhigen Raum zu rückzog, um seine Folianten zu konsultieren und seine Zauber auszuwählen, trug der Rest der Gruppe die Ausrüstung zusam men und machte sich aufbruchsbereit. Für eine lange Reise an der Oberfläche waren sie gänzlich unvorbereitet, da vor allem Halisstra und Danifae keinerlei Vorräte bei sich führten. Die Gruppe aus Menzoberranzan war vor der Flucht aus Ched Nasad klug genug gewesen, ihr Gepäck wieder an sich zu neh men, doch die lange Reise in die Stadt der schimmernden Netze hatte ihre Vorräte deutlich dezimiert. Solange sie auf Pharaun warten mußten, betrachtete Ha lisstra die Ruinen genauer. Sie besaß eine gewisse wissenschaft liche Neigung, und sich gezielt mit dieser antiken Stadt zu befassen, war eine gute Methode, um sich von den letzten schrecklichen Stunden abzulenken. Die anderen beschäftigten
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sich mit der kleinen Aufgabe, das Lager abzubauen oder warte ten geduldig in den finstersten Schatten, die sie finden konn ten. Halisstra nahm ihre wenige Habe an sich, dann machte sie sich daran, den Hof zu verlassen. Dabei fiel ihr Blick auf Danifae, die sich im Schatten eines eingebrochenen Torbo gens hingekniet hatte und zusah, wie sie nach draußen gehen wollte. Halisstra hielt inne, dann rief sie: »Komm!« Es behagte ihr nicht, ihre Dienerin mit den Reisenden aus Menzoberranzan allein zu lassen. Sie hatte ihr viele Jahre treu gedient, doch die Umstände waren nun andere. Die Dienerin erhob sich und folgte ihr. Halisstra führte sie durch die im Zerfall begriffene Hülle des Palastes, die den Hof umgab, und gelangte auf einen breiten Boulevard, der genau durchs Herz der antiken Stadt verlief. Seit vor einer Stunde die Sonne aufgegangen war, hatte sich die Luft zwar spürbar erwärmt, doch es war noch immer bitterkalt, und das Strahlen des Tageslichts schien von dem kristallklaren Himmel noch weiter verstärkt zu werden. Beide Frauen standen geblendet im Sonnenschein. »Das führt zu nichts«, murmelte Halisstra. »Ich muß die Augen so zusammenkneifen, daß ich nicht mal meine Hand vor Augen sehen kann.« Selbst wenn es ihr gelang, die Augen zu öffnen, sah sie kaum mehr als grelle, schmerzhafte Lichtpunkte. »Valas meint, man könne sich an das Tageslicht gewöh nen«, erklärte Danifae. »Ich muß sagen, daß ich mir das kaum vorstellen kann, nachdem ich es nun mit eigenen Augen gese hen habe. Es ist gut, daß wir bald ins Unterreich zurückkeh ren.« Halisstra hörte ein Geräusch, als würde etwas zerrissen, dann drückte Danifae ihr einen Streifen Stoff in die Hand. »Bindet Euch das vor die Augen, vielleicht hilft es.«
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Halisstra schaffte es, den dunklen Stoff zu einem behelfsmä ßigen Schleier zu falten und sich umzubinden. Tatsächlich half es, den grellen Schein der Sonne zu lindern. »So ist es besser«, sagte Halisstra. Danifae riß noch ein Stück ab und band es sich selbst um, während sich ihre Herrin den Ruinen widmete. Halisstra ver mutete, daß der Palast, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, einst eines der bedeutenderen Bauwerke der Stadt gewesen sein mußte, was eine durchaus begründete Annahme war. Schließlich waren magische Portale nicht leicht zu schaffen, und oft fand man sie an gut versteckten oder streng bewachten Orten. Ein Säulengang verlief entlang der Palastfront, auf der anderen Seite des Boulevards stand ein weiteres großes Gebäu de – ein Tempel oder vielleicht irgendein Herrenhaus. Die Architektur der Gebäude hatte etwas Vertrautes an sich. »Nesserisch«, sagte sie schließlich. »Siehst du die quadrati schen Unterbauten der Säulen und die spitz zulaufenden Fensterbögen?« »Ich dachte, die nesserischen Städte hätten in der Luft ge schwebt und seien von irgendeinem magischen Kataklysmus vollständig vernichtet worden«, erwiderte Danifae. »Wie könnte dann noch so etwas existieren?« »Es könnte einer der Nachfolgestaaten gewesen sein«, über legte Halisstra, »der errichtet wurde, nachdem die großen Mythallare der alten nesserischen Städte untergegangen wa ren.« »Dort oben steht etwas«, sagte Danifae und deutete auf die Fassade eines eingestürzten Gebäudes. »Da ... über den Sau len.« Halisstra folgte der Richtung, in die Danifae zeigte. »Ja«, erwiderte sie. »Das ist Nesserisch.« »Ihr könnt es lesen?« fragte Danifae.
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»Ich habe verschiedene Sprachen studiert – die Handels sprache der Welt an der Oberfläche, Hoch-Nesserisch, Il luskisch, sogar einige der Drachensprachen«, erwiderte Ha lisstra. »In unseren Bibliotheken finden sich faszinierende Geschichten, die in anderen Sprachen als der der Drow aufge zeichnet wurden. Ich entwickelte schon vor über hundert Jahren die Gewohnheit, mich mit solchen Dingen zu beschäf tigen, als ich glaubte, ich könnte einen vergessenen Zauber oder ein Geheimnis entdecken, um damit einen Vorteil ge genüber meinen Rivalinnen zu erlangen. Zwar fand ich in dieser Hinsicht letztlich wenig, dafür aber stellte ich fest, wie viel Spaß das Lernen um seiner selbst willen macht.« »Was besagen diese Worte?« »Ich bin mir nicht bei allen Worten sicher, aber ich glaube, es heißt: ›Hohes Haus der Gerechtigkeit, Hlaungadath – Im Licht der Wahrheit hält sich keine Lüge‹.« »Welch einfältiger Gedanke.« Halisstra wies auf die Ruinen ringsum und sagte: »Du siehst, was es ihnen gebracht hat. Allerdings kenne ich den Namen ... Hlaungadath. Ich sah ihn auf Karten der Welt hier oben. Valas Hunes Einschätzung unserer Position war zutreffend.« »Selbst ein Mann kann von Zeit zu Zeit recht haben«, meinte Danifae. Halisstra lächelte, dann wandte sie sich ab und suchte in den Ruinen nach weiteren interessanten Entdeckungen. Etwas Lohfarbenes, Schnelles huschte aus ihrem Blickfeld, noch ehe Halisstra es erkennen konnte. Sie erstarrte und be trachtete den Punkt, an dem sie die Bewegung ausgemacht hatte: ein Spalt in einer Mauer, die nicht weit von ihnen ent fernt war. Nichts regte sich dort, aber aus einer anderen Rich tung kam ein Geräusch, das verriet, daß der Schutt in Bewegung war. Ohne den Blick abzuwenden, berührte sie Danifaes Arm.
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Wir sind hier nicht allein, bedeutete sie ihr. Zurück zu den an deren – schnell. Gemeinsam zogen sie sich aus dem Gerichtshof zurück, wie der hinaus auf die Straße. Als sie kehrtmachten, um den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren, glitt etwas Langes, Flaches, das mit sandfarbenen Schuppen bedeckt war, auf den Boulevard heraus. Die Stummelflügel konnten das Geschöpf unmöglich in die Lüfte erheben, doch die kraftvollen Krallen und das weit aufgerissene Maul waren weitaus besser entwi ckelt. Der Drache hielt inne und hob den Kopf, um die beiden Drow besser betrachten zu können. Erfreut fauchte er. Von der Nase bis zur Schwanzspitze war die Kreatur gut fünfzehn Meter lang, und ihre Augen funkelten verschlagen und boshaft. »Lolth bewahre uns!« keuchte Danifae. Die beiden Frauen wichen in die andere Richtung zurück, die im rechten Winkel von dem Palast fortführte, in dem ihre Gefährten warteten. Der Drache folgte gemächlich und schlängelte sich auf der breiten Straße hin und her. »Er treibt uns von den anderen fort«, zischte Halisstra. Sie fühlte festes Gestein hinter sich und riskierte einen Blick über die Schulter. Sie waren an einem Gebäude ange langt und schoben sich an der Mauer entlang, während sie versuchten, den Abstand zu dem Monster zu wahren. Eine finstere Gasse klaffte nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Einen Herzschlag lang zögerte Halisstra, dann packte sie Dani fae am Handgelenk und schoß durch die Öffnung in der Mau er. Vor ihnen im Schatten der Gasse lauerte etwas auf sie. Noch ehe Halisstra umkehren konnte, baute sich vor ihnen eine große goldene Kreatur auf, halb Löwe, halb Frau, schön und anmutig. Mit einem kühlen, grausamen Lächeln streckte die Löwenfrau die Hand aus und streichelte Halisstras Wange.
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Die Berührung war kühl und beruhigend, und augenblicklich spürte sie, wie ihre Angst, ihre Entschlossenheit, ihre ganze Willenskraft sanft fortgetragen wurden. Flüchtig versuchte sie, die Hand der Kreatur von ihrem Gesicht zu lösen. »Keine Angst«, sagte das Geschöpf sanft. »Leg dich hin und ruhe dich aus. Du bist unter Freunden, dir wird nichts gesche hen.« Halisstra stand wie gelähmt da. Zwar war ihr bewußt, daß die Worte der Kreatur keinen Sinn ergaben, doch fehlte ihr die Willenskraft, um sich der Aufforderung zu widersetzen. Danifae packte sie, wirbelte sie herum und verpaßte ihr eine Ohrfeige. »Es ist eine Lamia!« herrschte sie sie an. »Sie versucht, Euch zu betören!« Die Lamia knurrte, das hübsche Gesicht hatte nun harte und grausame Züge angenommen. »Widersetze dich nicht«, sagte sie mit bestimmenderem Tonfall. Halisstra fühlte, wie sich der Zauber der Kreatur über sie legte, an ihrer Entschlossenheit saugte und versuchte, ihren Willen dem der Lamia zu unterwerfen. Sie wußte, wenn sie einlenkte, würde sie bewußt in den Tod gehen. Sie würde sich sogar hinlegen, um sich von der Lamia verspeisen zu lassen, wenn diese das von ihr verlangte. Doch der stechende Schmerz von Danifaes Schlag ins Gesicht hatte ihre Willenskraft wie der genug erstarken lassen, um sich gegen die süßlichen Worte der Lamia zur Wehr zu setzen. »Wir sind Drow«, keuchte sie. »Unser Wille darf von sol chen wie euch nicht gebrochen werden.« Die Lamia bleckte wütend die Zähne und zog einen bronze nen Dolch, doch Halisstra und Danifae eilten bereits aus der im Schatten liegenden Gasse zurück in die Sonne.
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Der Drache ist fort, signalisierte Danifae. Halisstra schüttelte den Kopf und erwiderte: Eine Illusion. Wir wurden getäuscht. Etwas schwebte noch immer in der Straßenmitte, ein schwach flackerndes Phantom, das von der Größe des Dings sein mochte, das sie zuvor gesehen hatten. Wie aus großer Entfernung war ein protestierendes Fauchen zu hören. »Eine Illusion!« spie Danifae verächtlich. Das Drachengespinst nagte am Rand ihres Verstands und erhielt Verstärkung durch anderes, beharrlicheres Murmeln und durch Schatten. Gebäude schienen zu schimmern und zu verschwinden, nur um durch Ruinen von anderem Erschei nungsbild ersetzt zu werden. Düstere, entsetzliche Dinge glit ten durch den Schutt und versperrten den Rückweg. Geister hafte Drow in funkelnden Gewändern nahmen Gestalt an, lächelten und riefen ihnen zu, sich zu ihnen zu gesellen und sich ihren glückseligen Lustbarkeiten anzuschließen, wenn sie sich zuerst ergaben. Die Lamia trottete leichtfüßig hinter ihnen auf die Straße, den Dolch hinter dem Rücken. »Ihr könnt euch unseren Verlockungen für eine Weile wi dersetzen«, schnurrte sie. »Aber früher oder später werdet ihr unterliegen.« Wieder streckte sie die Hand aus. »Wollt ihr nicht, daß ich euch von euren Sorgen befreie? Wollt ihr nicht wieder von mir berührt werden? Es wäre so viel leichter.« Eine schnelle, elegante Bewegung lenkte Halisstras Auf merksamkeit auf sich und ließ sie nach links sehen. Eine weite re Lamia – diesmal eine männliche – war auf die Mauer ge sprungen, die ihnen bei ihrem Rückzug Schatten spendete. Die Lamia war sonnengebräunt und attraktiv, geschmeidig und lohfarben und lächelte die beiden grausam an. »Eure Reise muß lang und anstrengend gewesen sein«, sagte
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die männliche Lamia mit güldener Stimme. »Wollt ihr mir nicht davon erzählen? Ich möchte alles darüber hören.« Aus dem im Finsteren liegenden Eingang zum Gerichtsge bäude kam eine dritte Lamia zum Vorschein. »Ja, erzählt es uns, erzählt uns alles«, schmachtete das Monster. »Welch schönere Weise gäbe es, den Tag zu verbrin gen? Ruht euch aus und überlaßt es uns, uns um euch zu küm mern.« Die Lamia stützte sich auf einen großen Speer und lächelte glückstrahlend auf sie herab. Halisstra und Danifae sahen einander nur kurz an, dann rannten sie um ihr Leben.
Gromph Baenre, Erzmagier von Menzoberranzan, war unzu frieden. Auch wenn der Sklavenaufstand ohne große Mühen hatte niedergeschlagen werden können, störte es ihn über alle Maßen, daß so viele männliche Drow gemeinsame Sache ge gen die Muttermatronen gemacht hatten. Aber nicht nur das – sie hatten auch gemeinsame Sache mit den Sklavenvölkern gemacht, die sich gegen die Stadt erhoben hatten. Das sprach für eine Angst, die lange Zeit unterdrückt worden war, und für noch etwas anderes: Es ließ einen bisher unsichtbaren Feind vermuten, der einen Weg gefunden hatte, dieser Angst eine Stimme und eine Mission zu geben. Drow konnten unterein ander nicht so problemlos kooperieren, als daß sie im gehei men eine Rebellion hätten organisieren können, die auf ein verabredetes Zeichen hin in Gang kam. Die wachsame Ruhe, die sich nach der Niederschlagung der Revolte und dem Hinscheiden des Illithiden-Leichnams über die Stadt gelegt hatte, kam Gromph wie etwas Bösartiges und Verschlagenes vor.
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Er stand vom Schreibtisch auf und ging in seinem Raum auf und ab, während er nachdachte. Kyorli, die Ratte, die ihm als Schutzgeist diente, betrachtete ihn kühl und distanziert, wäh rend sie an einer Scheibe Rothé-Käse knabberte. Der Anblick der Ratte erinnerte den Erzmagier aus irgend einem Grund daran, daß er schon länger nichts mehr von Pharaun gehört hatte. Zuletzt hatte das arrogante Plappermaul gemeldet, Ched Nasad versänke im Chaos. Vielleicht war es an der Zeit, nach ihm zu sehen. Gromph trat durch einen Torbogen in einen offenen Schacht und ließ sich nach oben in den Raum schweben, der ihm als Kammer der Ausspähung diente. Zwangsläufig war das Zimmer nicht so gut geschützt wie andere Teile seines Eigen tums, da er ein gewisses Maß an magischer Transparenz benö tigte, um seinen Geist in die Welt jenseits seines Palastes vor dringen zu lassen. In der Kammer setzte er sich im Schneidersitz vor einen niedrigen Tisch, auf dem eine große Kristallkugel lag. Mit einer Bewegung seiner alten Hände murmelte er die Worte, die das Objekt aktivierten, und befahl: »Zeig mir Pha raun Mizzrym, diesen unverfrorenen Welpen, der glaubt, er könne eines Tages meine Nachfolge antreten.« Letztere Bemerkung war unnötig gewesen, doch Gromph empfand es als hilfreich, seiner Verärgerung Ausdruck zu ver leihen, ehe er zu spähen begann. Die Kugel wurde grau und milchig, Nebel wirbelte in ihr auf, dann wurde sie von einem unerwarteten grellen Leuchten erfüllt. Gromph fluchte und mußte den Blick abwenden. Einen Moment lang glaubte er, Pharaun könnte einen neuen Zauber entwickelt haben, um seine Feinde daran zu hindern, ihm nachzuspionieren. Doch dann begann der Erzmagier zu verste hen, was es mit diesem Licht auf sich hatte.
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Tageslicht. Gromph wunderte sich, was der Meister Sorceres wohl an der Oberfläche tat, schirmte die Augen ab und sah wieder hin. Er entdeckte Pharaun, der im Schatten einer eingestürzten Mauer saß und Zauberbücher studierte. Keiner der anderen Drow, die ihn auf dieser Reise begleitet hatten, war zu sehen. Gromph sah einen Torbogen, der ein Stück weit von Pharaun entfernt auf einen schrecklich hellerleuchteten Hof führte. Pharaun sah auf und runzelte die Stirn. Der Magier hatte Gromphs Beobachtung wahrgenommen, wie es bei jedem erfahrenen Zauberkundigen der Fall gewesen wäre. Pharaun beschrieb mit den Händen einige Gesten, dann verblaßte das Bild. Er hatte einen Zauber gewirkt, mit dem das Spähen blo ckiert wurde. Es war allerdings anzunehmen, daß er nicht wuß te, von wem er beobachtet worden war. »Du glaubst, du kannst mir entkommen?« murmelte Gromph und starrte auf das graue Bild. Er legte die Fingerspitzen aneinander und wirkte einen Zau ber, ein geistiges Signal, um eine Nachricht direkt an den reisenden Magier zu schicken. Wo seid Ihr? Was ist in Ched Nasad los? Was werdet Ihr als nächstes tun? Er sammelte sich, um Pharauns Antwort zu empfangen – ein Sendezauber übertrug binnen weniger Minuten die Ant wort des Adressaten. Augenblicke verstrichen, während Gromph aus den hohen, schmalen Fenstern seiner Kammer sah und auf die Reaktion des jüngeren Magiers wartete. Wie die Berührung einer Feder tauchten auf einmal Pha rauns Worte in seinem Kopf auf. In der Anauroch. Ched Nasad ist durch Rebellion und Steinbrand zerstört. Lolths Schweigen herrschte auch dort. Wir suchen nun in der Hoffnung auf Antwor ten nach einem Priester von Vhaeraun.
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Nach diesen Worten riß der Kontakt wieder ab. Dieser Zau ber ließ keine ausführlichen Unterhaltungen zu, doch Pharaun hatte auf Gromphs Fragen mit ungewöhnlicher Präzision ge antwortet. »Ched Nasad zerstört?« flüsterte Gromph. Damit mußte er sich näher beschäftigen. Er wandte sich wieder seiner Kristallkugel zu und wies sie an, ihm Ched Nasad zu zeigen. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebel lichte te, dann sah der Erzmagier das ganze Ausmaß der Zerstörung. Wo sich Ched Nasad befunden hatte, waren nur noch Reste des Netzes übrig, die wie geschmolzenes Glas aus einer Glas bläserpfeife in den schwarzen Abgrund tropften. Von den düsteren Palästen und den Burgen, die sich an den Wänden festgeklammert hatten, war praktisch nichts mehr übrig. »Lolth steh uns bei«, murmelte Gromph, dem bei dem An blick übel wurde. Er hatte nicht besonders viel für die Stadt der schimmern den Netze übrig, doch was immer sie heimgesucht hatte, konn te auch Menzoberranzan treffen. Ched Nasad war fast so groß und so mächtig wie Menzoberranzan gewesen, doch Gromph konnte mit eigenen Augen seinen vollständigen Untergang sehen. Wenn eines von zwanzig Gebäuden diese Zerstörung unbeschadet überstanden hatte, würde ihn das schon sehr wundern. Gromph veränderte den Blickwinkel der Kugel, um nach Anzeichen für Überlebende Ausschau zu halten, doch in der Haupthöhle schien niemand zu sein. Inmitten des schwelen den Schutts konnte er zwar eine ganze Reihe verbrannter Lei chen entdecken, aber jeder Drow, der das überlebt hatte, war zweifellos in die angrenzenden Höhlen geflüchtet. Sie konnte er mit seinem Objekt zur Ausspähung nicht aufspüren, so daß er seine Bemühungen nach einer Weile als sinnlos erachtete
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und die Kristallkugel matt werden ließ. Eine Weile saß er da und starrte gedankenverloren in das finstere Rund. »Muß ich dieses Wissen jetzt mit Triel teilen?« fragte er sich, als er sich aus seinen Überlegungen riß. Er wußte etwas, das den Muttermatronen vermutlich noch nicht bekannt war, und so etwas eröffnete Möglichkeiten. Das Problem bestand darin, daß Gromph keine Ahnung hatte, welchen Nutzen er daraus ziehen sollte, die Erkenntnis für sich zu behalten. Welche Risiken damit verbunden waren, die Neuigkeit nicht weiterzugeben, war ihm dagegen nur allzu klar. Da ihm nun bekannt war, daß sich Lolths Schweigen über Menzoberranzan hinaus erstreckte, konnte er die Priesterinnen ohne Umschweife herausfordern – sofern er den Wunsch ver spürte –, aber selbst wenn er die vereinte Kraft Sorceres gegen die herrschenden Häuser der Stadt stellte, was würde ihm bei einem Sieg verbleiben? Die qualmenden Ruinen Ched Nasads dürften das Ergebnis einer solchen Handlung sein. Wahr scheinlich würde aber bereits die Loyalität der Meister der Magierschule zu ihren Häusern einen solchen Unsinn im Keim ersticken. Nein, entschied Gromph. Ich bin kein Revolutionär, der um jeden Preis die bestehende Ordnung aus dem Weg räumen will ... jedenfalls noch nicht. Abgesehen davon war die Ursache für all diese Unruhen ohnehin wahrscheinlich nichts weiter als ein Werk Lolths selbst. Gromph wollte nicht ausschließen, daß die Spinnenkö nigin bewußt in absolutes, unerklärliches Schweigen verfiel, um festzustellen, wer aus dem Dunkel treten würde, um die momentane »Schwäche« ihrer Priesterinnen auszunutzen. Das bedeutete auch, daß Lolth ihres Spiels bald überdrüssig werden und ihren Klerikerinnen wieder ihre Gunst erweisen würde. Wenn das geschah, dann wehe jedem, der dumm genug gewe
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sen war, unter Beweis zu stellen, wie oberflächlich seine Treue gegenüber der bestehenden Ordnung war. Nein, am klügsten war es, Triel mitzuteilen, was er herausgefunden hatte, und dafür zu sorgen, daß die Muttermatronin nicht ihrerseits dieses Wissen für sich behielt. Pharauns wenige Worte vermittelten das Bild einer sehr ernsten Gefahr für Menzoberranzan, und Gromph wollte nicht als der Erzmagier in Erinnerung bleiben, der zugelassen hatte, daß seine Stadt ausgelöscht wurde. Seufzend stand er auf und ließ sich im Schacht nach unten sinken. Er hoffte nur, daß Triel mit irgend etwas schwierigem befaßt war, damit ihm wenigstens das kleine Vergnügen ver gönnt war, sie mit einer Nachricht zu unterbrechen, die nicht warten konnte.
»Die Frage ist nicht, wohin wir gehen sollten«, stellte Pharaun mit ironischem Unterton fest. »Die Frage ist, wie wir lebend aus Hlaungadath herauskommen.« Der Meister Sorceres war erschöpft. Staub klebte auf seinem blutigen, verschwitzten Gesicht, und er war so ausgelaugt, daß er sich nur noch in den Schatten der langen, teilweise eingestürzten Mauer werfen konnte. Längst hatte er alle Kampfzauber eingesetzt, und jetzt hatte er nur noch einen dünnen schwarzen Eisenstab, aus dem er Blitze schießen ließ. Pharaun sah zum Himmel auf, als wolle er feststellen, wie lange sie noch dem Tageslicht ausgesetzt sein würden, und wandte den Blick erschrocken wieder ab. »Geht denn diese verfluchte Sonne nie unter?« »Steht auf, forderte Quenthel. »Wenn wir ruhen, sterben wir.« Auch sie zitterte vor Erschöpfung, doch sie hielt sich krampfhaft aufrecht. Die lange, mit Blut bedeckte Peitsche mit den Schlangenköpfen, die sie trug, wand sich und zischelte bedrohlich, doch noch immer floß Blut aus einem tiefen
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Schnitt gleich über ihrem linken Auge. Zwei Furchen zer schlagener und verdrehter Glieder in ihrem Kettenhemd wa ren ein deutlicher Beweis dafür, wie knapp sie dem Tod durch die Klauen einer ungeschlachten Monstrosität mit grauer Haut und spinnengleichen Augen entronnen war. »Wenn Ihr erschöpft seid, seid Ihr für die Suggestionen und Illusionen der Lamien weitaus empfänglicher«, sagte Halisstra. »Es ist besser, im Kampf zu sterben, als unter die Herrschaft einer solchen Kreatur zu geraten.« Sie befand sich in keiner besseren Verfassung als die ande ren. Nachdem sie und Danifae die erste Begegnung mit den Monstern überlebt hatten, war es zu einer stundenlangen Ver folgungsjagd durch die Straßen und verlassenen Gebäude ge kommen. Zunächst hatte eine große Meute Lamien versucht, die Gruppe mit ihren betörenden Kräften zu überwältigen, doch Drow, die solchen magischen Tricks wachsam gegenüber standen, stellten alles andere als eine leichte Beute dar. Ha lisstra und die anderen hatten sich auf einen Kampf mit den löwengleichen Ungeheuern gefaßt gemacht, doch die Lamien – die von Natur aus verschlagen und feige waren – zogen sich aus der Auseinandersetzung zurück und hatten statt dessen ihre Helfershelfer eine Angriffswelle nach der anderen gegen die Drow starten lassen. Lamien mochte es am Mut für einen Kampf fehlen, doch das galt in keiner Weise für die Mantikore, Asabis, Gargylen und andere ausgewählte Geschöpfe, die ihrer Kontrolle unterstanden. »Keine dieser Möglichkeiten gefällt mir«, knurrte Quenthel. Sie drehte sich um und suchte die Mauern und Gebäude rings um nach einem Fluchtweg ab. »Da. Unmittelbar hinter den Bauten dort drüben sehe ich die Wüste. Vielleicht geben sie die Verfolgung auf, wenn wir die Stadt verlassen.« »Unklug, Herrin«, erwiderte Valas. Er kauerte an einem
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Torbogen, der zu ihrer momentanen Zufluchtsstätte führte und von wo aus er nach der nächsten Angriffswelle Ausschau hielt. »Wenn wir den Schutz dieser Mauern verlassen, werden sie ganz genau wissen, wo wir sind. Wir wären kilometerweit zu sehen, auch mit unseren Piwafwis. Sie wurden nicht dafür geschaffen, uns am hellichten Tage in einer völlig freien Um gebung zu schützen. Tarnung ist derzeit unsere beste Waffe.« Ryld nickte. Er stand an einem anderen Eingang, sein Zwei händer ruhte an seiner Schulter. »Sie würden uns einkreisen und uns da draußen niederrin gen«, sagte der Meister Melee-Magtheres. »Das beste ist, wenn wir uns ständig innerhalb der Ruinen bewegen und darauf hoffen, daß die Lamien ... oh verdammt, wir bekommen wieder Gesellschaft.« Irgendwo in dem Irrgarten aus eingestürzten Wänden au ßerhalb ihrer Zuflucht geriet Schutt ins Rutschen, als sich etwas Großes vorwärtsbewegte. »Achtet auf Illusionen«, ermahnte Halisstra sie. Sie hielt den Streitkolben in der Hand und zog an ihrem Schild, um sicher zu sein, daß er fest an ihrem Arm saß. Hinter ihr lauerte Danifae, einen langen Dolch in der Hand. Halisstra war unglücklich darüber, ihre Kriegsgefangene bewaffnen zu müssen, doch im Moment konnten sie jede Verstärkung gebrauchen, die sich ihnen bot, und zudem war es in Danifaes Interesse, ihren Beitrag zu leisten, damit sie nicht alle den Bewohnern von Hlaungadath zum Opfer fielen. Die Lamien versuchten unterdessen eine neue Taktik. Sie ließen gegen ein Loch in der Mauer eine Angriffswelle von echsenartigen Asabis anrennen, wilden Kreaturen, die wütend fauchten, während sie mit Säbeln und Krummschwertern in ihren schuppigen Händen gegen den Draegloth anstürmten. Drei weitere ihrer Art hielten Valas auf Trab, während ein
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Paar Gargylen über die Mauern geschossen kam und hinter Ryld mitten in der Ruine landeten. Mit ihren weiten schwar zen Schwingen wirbelten sie bei jeder Bewegung gewaltige Staubwolken auf. Fluchend wirbelte der Waffenmeister herum, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. Jeggred heulte zornig auf und machte einen Satz nach vorn, um sich dem Ansturm der Asabis in den Weg zu stellen, wobei er aufblitzende Klingen und schnappende Mäuler zur Seite schlug, während er selbst mit seinen großen Krallen nach den Echsenkriegern ausholte. Der weißhaarige Dämon setzte alle vier Arme ein, um ein schreckliches Blutbad anzurichten, doch selbst Jeggred ermüdete. Schläge, denen er mit seiner schier übernatürlichen Kraft hätte ausweichen müssen, trafen ihr Ziel. Mit dem äußeren linken Arm konnte er zwar einen Schlag mit einem Säbel abblocken, tat das aber so unglücklich, daß er selbst eine klaffende Wunde davontrug, die vom Ellbogen bis zum Handgelenk reichte. Eine weitere Klinge traf seinen Rumpf und hinterließ eine rote Spur auf dem weißen Brustfell. Der Draeg loth schrie vor Wut und verdoppelte seine Anstrengungen. Ryld schlug nach den Gargylen, während Halisstra und Quenthel zu ihm eilten. Quenthel schlug mit ihrer Peitsche nach einem von ihnen, und die Schlangenköpfe wanden sich um eines der klauenbewehrten Beine der Kreatur, um dann ihre Fangzähne tief in steinhartes Fleisch zu bohren. Doch die Gargyle stieg mit aller Macht auf und hob die Prinzessin hoch, bis sie den Boden unter den Füßen verlor. Pharaun hob seinen Stab, um die Monster mit tödlichen Blitzen zu bombardieren, wirbelte aber herum und fiel hin, da sich ein Armbrustbolzen in seinen rechten Unterarm gebohrt hatte. Der Stab flog ihm aus der Hand. »Die Dächer!« rief Pharaun.
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Halisstra wich vor den Gargylen zurück und blinzelte in den grellen Himmel, um nach weiteren Angreifern zu suchen. Loh farbene Schemen hockten auf einer hohen Mauer, die viel leicht vierzig oder fünfzig Schritt entfernt war – eine Handvoll Lamien mit schweren Armbrüsten, deren hübsche Gesichter von einem boshaften Grinsen verzerrt waren und die darauf warteten, daß sich eine Gelegenheit gab, um auf die Gruppe zu feuern. Noch während Halisstra zu ihnen sah, zielte eine der Lamien auf Ryld. Der Bolzen jagte am Kopf des Waffenmeis ters vorbei und riß ein Stück aus der lockeren Steinwand hin ter ihm. Ryld zuckte zusammen und tauchte zur Seite weg. »Jemand muß sich um die Scharfschützen kümmern!« rief er, während er auf die Gargylen einschlug. Eine Sekunde später rasten zwei weitere Bolzen auf Ryld zu. Einer prallte vom Brustpanzer ab, der andere traf ihn an der rechten Seite, da er beide Arme gehoben hatte, um zuzuschla gen. Der Bolzen blieb in der Armöffnung seiner Rüstung stek ken, woraufhin Ryld zwei Schritte zurücktaumelte und in den Staub fiel. Halisstra bückte sich und hob Pharauns Zauberstab auf. »Hilf Quenthel«, wies sie Danifae an. Sie richtete den Stab auf die Lamien auf der Mauer. Daß sie etwas über den Umgang mit solchen Objekten wußte, war eine Sache, die sie normalerweise nicht hätte offenbaren wollen. Aber dieser Kampf befand sich in einer verzweifelten Phase. Sie sprach ein arkanes Wort, dann jagte ein purpurfarbener Blitz auf die erste Lamia zu und schleuderte die Kreatur in einem Regen aus zerschmetterten Steinen von der Mauer. Donner hallte in der Ruine nach. Sie zielte auf die nächste Lamia, doch die Geschöpfe waren nicht dumm, sondern gaben sofort ihren ungeschützten Platz auf und brachten sich hinter der Mauer in Sicherheit.
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Aus dem Schatten an der Rückwand kehrte Pharaun in den Kampf zurück, bewaffnet mit einem weiteren Stab. Dieser ließ einen Feuerball entstehen, den der Magier auf die Gargylen über ihnen schleuderte. Schmerzensschreie ausstoßend flatter ten die Kreaturen davon, nur die eine, die bereits das Gift von Quenthels Peitsche in sich trug, kam nicht weit, als auf einmal die Flügel ihren Dienst versagten. Das Geschöpf stürzte ein Stück entfernt auf ein Dach. Valas entledigte sich seines letzten Angreifers mit einem beidhändigen Schlag, der die Kreatur fast in zwei Hälften zer teilte, während Jeggred angestrengt atmend inmitten eines regelrechten Haufens aus Asabi-Leichen stand. Der Magier sah sich um und entdeckte Ryld am Boden. »Verdammt«, murmelte er. Er kniete neben dem Waffenmeister nieder und drehte ihn um. Ryld lag im Sterben. Blut strömte aus der Wunde, in der der Bolzen steckte, er konnte mit Mühe atmen, und seine grauen Lippen war blutbeschmiert. Pharaun verzog sein Ge sicht zu einer finsteren Miene, dann sah er zu Quenthel. »Tut etwas«, sagte er. »Wir brauchen ihn.« Quenthel verschränkte die Arme und sagte kühl: »Leider gewährt mir Lolth im Moment nicht die Gunst von Heilzau bern, und die übrige Heilmagie, die ich auf unsere Reise mit genommen hatte, ist schon fast verbraucht. Ich kann wenig für ihn tun.« Halisstra kniff die Augen zusammen und dachte nach. Wie der gefiel ihr der Gedanke an das, was sie gleich tun würde, nicht, aber es konnte helfen, wenn sie ihr Geheimnis offenbar te: Wenn sie der Gruppe aus Menzoberranzan zeigte, was sie konnte, würde man sich ihrer nicht so schnell entledigen. Außerdem, dachte sie, werden sie es vermutlich ohnehin längst wissen.
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»Macht Platz«, sagte sie. »Ich kann helfen.« Quenthel und Pharaun sahen auf. »Wie?« wollte Quenthel wissen. »Wollt Ihr behaupten, Lolth erweise Euch immer noch ihre Gunst?« »Nein«, erwiderte Halisstra. Sie kniete sich neben Ryld und untersuchte ihn. Sie mußte sich beeilen. Wenn er starb, konn te er ihr nicht mehr von Nutzen sein. »Lolth hat mir wie Quenthel und vermutlich auch jeder anderen Priesterin unse res Volks jeglichen Zauber verwehrt. Ich kann aber auf andere Weise heilen.« Damit begann sie zu singen. Ihr Lied war eine sonderbare, wehklagende Threnodie, so düster und unheimlich, daß sie die Bewunderung der Drow für Schönheit, Ehrgeiz und meisterlich vollbrachte düstere Taten ansprach. Halisstra formte den Klang ihrer Stimme und der uralten Worte dieses Liedes, be schwor die Magie ihres Klagelieds, während sie den Bolzen packte und ihn aus der Wunde zog. Ryld zuckte zusammen, die Augen weit aufgerissen, und Blut strömte über Halisstras Hände – doch die Wunde verschloß sich sofort zu einer Narbe, und der Waffenmeister hustete sich selbst wach. »Was ist passiert?« stöhnte er. »Das wüßte ich auch gern«, erwiderte Quenthel und be trachtete Halisstra mißtrauisch. »War es das, was ich glaube?« Halisstra nickte und stand auf, während sie sich Blut von den Händen wischte. »Es ist eine Tradition meines Hauses, daß Frauen, die dafür geeignet sind, die Kunst der Bae’qeshel erlernen dürfen, der finsteren Minnesänger. Wie Ihr seht, liegt im Lied eine Macht, etwas, womit sich nur wenige von unserer Art überhaupt befas sen wollen. Ich bin in der Geschichte der Minnesänger ausge bildet worden.«
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Ryld setzte sich auf, betrachtete seinen Brustpanzer und den blutigen Bolzen, der im Staub lag, und sah dann Halisstra an. »Ihr habt mich geheilt?« fragte er. Halisstra hielt ihm die Hand hin und half ihm beim Auf stehen. »Wie Pharaun bereits bemerkte, brauchen wir Euch viel zu sehr, als daß wir uns mit Eurem Tod belasten möchten.« Ryld sah ihr in die Augen und überlegte unübersehbar, was er sagen sollte. Dankbarkeit war ein Gefühl, mit dem nur we nige Drow etwas anfangen konnten. Der Waffenmeister fragte sich vielleicht, was Halisstra damit anfangen konnte, wenn er ihr seine Dankbarkeit zeigte. Sie ersparte ihm aber jede weitere Überlegung, indem sie sich wieder Pharaun widmete und ihm den eisernen Stab zurückgab. »Hier«, sagte sie. »Das habt Ihr verloren.« Pharaun verbeugte sich und erwiderte: »Ich gebe zu, ich war überrascht zu sehen, wie Ihr ihn handhabtet. Aber ich habe Euch schon in Ched Nasad singen hören. Schande über mich, daß ich nicht eins und eins zusammenzählte.« »Laßt mich Euren Arm sehen«, gab Halisstra zurück. Abermals sang sie das heilende Lied und ließ Pharauns Ver letzung verschwinden. Sie hätte auch die anderen untersucht und ihnen geholfen, wenn sie nicht von Quenthel unterbrochen worden wäre. »Sonst ist hier niemand dem Tode nah«, erklärte diese. »Wir müssen von hier fort, sonst werden unsere Gegner uns zweifellos erneut angreifen. Valas, Ihr geht vor. Begebt Euch in eine Richtung, die zu den äußeren Mauern führt, damit wir in die Wüste entkommen können, sollten wir uns zur Flucht entschließen.« »Jawohl, Herrin«, willigte der Späher ein. »Es sei, wie Ihr es sagt.«
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Kaanyr Vhok, der halbdämonische Prinz, der als der Zepterträ ger bekannt war, stand auf einem Balkon hoch über der alten Zwergen-Gießerei und sah seinen Waffenschmieden bei der Arbeit zu. Die große Schmelze hatte einst das Herz des gefalle nen Reiches Ammarindar dargestellt. Die Höhle war von ge waltiger Größe, und ihr Dach ruhte auf Dutzenden riesiger Säulen, die man in die Form von Drachen gehauen hatte und die vom wütenden Feuerschein und dem gespenstischen Schimmern geschmolzenen Metalls rot leuchteten. Das metal lische Klirren von Hämmern und das Fauchen der Brennöfen erfüllten die Luft. Dutzende riesiger Tanarukks – bestialische Scheusale, die aus Orks und Dämonen entstanden waren – plagten sich auf dem Grund der Gießerei. Vhoks Soldaten mochte es an dem Geschick und den Zaubern der Zwerge mangeln, doch sie besaßen den Instinkt dafür, tödliche, mit
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finsterem Wissen versetzte Waffen zu schaffen. Kaanyr selbst paßte gut in diese höllische Szene. Er war groß und kräftig gebaut, besaß die Statur eines muskulösen mensch lichen Kriegers und die Stärke eines Giganten aus Stein. Seine Haut war rot und fühlte sich heiß an, und sein Fleisch war so fest, daß es eine Klinge abweisen konnte. Er war ausgesprochen attraktiv, auch wenn Boshaftigkeit in seinen Augen funkelte und seine Zähne schwarz wie Kohle waren. Er trug einen gol denen Brustpanzer und ein Paar gefährliche Kurzschwerter, die aus einem dämonischen schwarzen Eisen geschmiedet waren, in runenüberzogenen Scheiden am Gürtel. Er grinste breit, als er den Blick über seine Armee schweifen ließ. »Ich führe jetzt fast zweitausend Tanarukk-Krieger an«, sag te er über seine Schulter, »und mir unterstehen fast noch ein mal so viele Orks, Oger, Trolle und Riesen. Ich glaube, die Zeit ist gekommen, um meine Macht zu testen, meine Liebe.« Aliisza gestattete sich ein Lächeln und kam näher, um sich von der Seite an den Dämonenprinzen zu pressen. Wie in Kaanyr Vhoks floß auch in ihren Adern dämonisches Blut. In ihrem Fall – sie war ein Alu-Scheusal – handelte es sich um das Blut eines Sukkubus und eines sterblichen Hexenmeisters. Flügel, so sanft und glatt wie schwarzes Leder, wuchsen aus ihren Schulterblättern, doch davon abgesehen war sie schwärz lich und verführerisch, sinnlich und anziehend, eine Halbdä monin, deren Verlockung nur wenige sterbliche Männer wi derstehen konnten. Sie war außerdem klug, launisch und in magischen Dingen äußerst bewandert, womit sie als Komplizin eines von Dämonen abstammenden Kriegsherrn wie Kaanyr bestens geeignet war. »Menzoberranzan?« schnurrte sie und strich mit einer Fin gerspitze über das Filigran seiner Rüstung. »Natürlich. In Ched Nasad dürfte es ja nichts mehr von
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Wert zu holen geben.« Vhok legte die Stirn in Falten, sein Blick ging ins Leere. »Wenn die Drow nicht von ihrer Spin nengöttin beschützt werden und sie nicht in der Lage sind, ihre unendlichen Fehden in den Griff zu bekommen, dann habe ich vielleicht die Möglichkeit, zu der Größe aufzusteigen, nach der ich immer getrachtet habe. Nachdem ich die Ruinen Ammarindars unter meine Herrschaft gebracht habe, muß ich feststellen, daß es mir nach mehr gelüstet. Eine Stadt der Drow zu unterwerfen ... das würde mir gefallen.« »Das dachten auch schon andere«, warf Aliisza ein. »Der Magier aus Menzoberranzan, mit dem ich in Ched Nasad ge sprochen habe, ließ mich wissen, daß es in seiner Stadt einen großen Sklavenaufstand gegeben hat, der von außen inszeniert worden war. Ich glaube, die Duergar-Söldner, die in Ched Nasad kämpften, hätten die Stadt nicht dem Haus überlassen, wenn sie sie erst einmal eingenommen hätten. Wäre die Wir kung der Feuerbomben der Duergar nicht so verheerend gewe sen, dann würde Clan Xornbane nun über Ched Nasad herr schen.« »Oder ich«, wandte Kaanyr ein und kniff die Augen zu sammen. »Wenn du mir rechtzeitig Bericht erstattet hättest, wäre es mir möglich gewesen, meine Armee gegen Ched Nasad zu führen, sobald der Kampf den Drow und den Duergar vorü bergehend die Kräfte geraubt hätte.« Aliisza fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hättest jeden verloren, den du in die Stadt geschickt hättest«, erwiderte sie. »Deine Tanarukks hätten die Brände ausgehalten, aber der Zusammenbruch der Straßen hat alles zerstört. Glaub mir, in Ched Nasad hast du nichts verpaßt.« Kaanyr erwiderte nichts. Statt dessen löste er sich von A liisza und setzte leichtfüßig über das Balkongeländer, um zum Boden der Gießerei hinabzusinken. Der Kriegsherr hatte keine
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Flügel, doch seine dämonische Abstammung verlieh ihm die Fähigkeit, durch Willenskraft zu fliegen. Aliisza zog die Au genbrauen hoch, dann folgte sie ihm und breitete ihre schwar zen Schwingen aus, damit die aufströmende heiße Luft sie erfassen konnte. Kaanyr war noch immer verärgert, was Ched Nasad betraf, und ihr war klar, daß das alles andere als gut war. Wenn der Kriegsherr ihrer überdrüssig wurde, dann würde er zweifellos in der Lage sein, sie auf eine grausige Weise zu töten, ganz gleich, wie nahe sie sich einmal gewesen waren. Es gab nichts, dessen er nicht fähig war, wenn sein Temperament die Oberhand gewann. Kaanyr landete neben einer Grube im Sand, die sich mit ge schmolzenem Eisen füllte. Zwei Tanarukks standen daneben und wachten aufmerksam über den Vorgang. Kaanyr hockte sich neben das weißglühende Metall und rührte gedankenver loren mit dem Finger darin herum. Die Temperatur war hoch genug, um ihm Unbehagen zu bereiten, so daß er nach weni gen Augenblicken das flüssige Eisen von seinem Finger schüt telte und ihn dann an seinem Oberschenkel abwischte. »Gutes Eisen«, sagte er zu den Tanarukks. »Weiter so, Jungs.« Er richtete sich auf und ging weiter. Aliisza flatterte auf den Steinboden und folgte ihm. »Eine Sache macht mir Sorgen«, erklärte Kaanyr. »Warum haben die Xornbane-Duergar das Haus verraten, das ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, und warum haben sie die Stadt niedergebrannt? War das nur ein Streit über die Be zahlung? Oder wollten sie Ched Nasad von Anfang an unter gehen lassen? Wenn ja, steckte Horgar Stahlschatten dahinter? Schickte der Prinz von Gracklstugh seine Söldner nach Ched Nasad, um die Stadt zu zerstören? Oder tat der Xornbane-Clan es für einen anderen?«
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»Ist das von Bedeutung?« fragte Aliisza, als sie auf gleicher Höhe mit ihm war. »Die Stadt wurde zerstört, ganz gleich, wessen Absicht es gewesen sein mochte. Die großen Häuser von Ched Nasad sind alle tot, und es haben im übrigen auch kaum Xornbane-Zwerge überlebt.« »Es ist von Bedeutung, weil ich mir die Frage stelle, ob es die Absicht der Duergar Gracklstughs ist, als nächstes Menzo berranzan anzugreifen«, sagte Kaanyr. »Ich habe hier eine große Streitmacht versammelt, aber ich glaube nicht daran, Menzoberranzan einnehmen zu können, solange sich die Drow nicht in einem Zustand des völligen Chaos und der totalen Hilflosigkeit befinden. Wenn die Duergar vorhaben, auch in diese Stadt einzumarschieren, sind meinen Möglichkeiten keine Grenzen mehr gesetzt.« »Ah«, hauchte Aliisza. »Du könntest deine Dienste den Drow, den Grauzwergen, allen beiden oder keinem von ihnen anbieten. Das ist allerdings interessant.« »Der Preis, den ich fordern kann, wird um so größer, je mehr Krieger ich anführe, und er wird auch durch meine Nähe zu Menzoberranzan bestimmt. Aber es hängt alles von den Absichten der Duergar ab.« Kaanyr lachte schallend. »Ich möchte nicht vor den Toren von Menzoberranzan stehen, um festzustellen, daß die Drow stark und geeint sind und ich kei nen Verbündeten aufzubieten habe.« »Wieso habe ich nur das Gefühl, daß du mich gleich wieder losschicken wirst?« schmollte Aliisza. Sie legte die Flügel schmachtend um Kaanyr und hielt ihn fest, während sie die Hände hob, um ihn zu sich umzudrehen. »Ich bin gerade erst heimgekehrt.« »Kluges Kind«, entgegnete Vhok lächelnd. »Ja, ich will dich auf eine neue Mission entsenden. Diesmal wirst du nicht im verborgenen vorgehen müssen. Du wirst Horgar Stahlschat
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ten, dem Kronprinz von Gracklstugh, einen Besuch abstatten, und zwar als meine Gesandte – als Diplomatin. Finde heraus, ob die Duergar Menzoberranzan angreifen wollen. Wenn ja, dann laß sie wissen, daß ich daran interessiert bin, mich ihnen anzuschließen. Wenn nicht ... dann versuch einfach, sie davon zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse sei, Menzoberranzan zu zerstören, solange die Drow geschwächt sind.« »Die Zwerge werden sich mir wohl kaum anvertrauen.« »Natürlich werden sie das nicht wollen. Aber wenn sie ei nen Angriff planen, dann werden sie sehen, welchen Nutzen sie davon haben, mich als ihren Verbündeten zu gewinnen. Sollten sie einen Angriff derzeit nicht in Erwägung ziehen, könnten sie ihre Meinung ändern, sobald sie hören, daß ich bereit bin, mich mit ihnen zu verbünden. Sie sind nicht daran interessiert, daß es Menzoberranzan wohl ergeht, deshalb mußt du dir keine Sorgen machen, sie könnten sich für die Drow einsetzen.« »Gesandte ...«, murmelte Aliisza. »Das klingt besser als Spi onin, oder? Ich nehme an, daß ich eine Nachricht für dich überbringen kann, mein süßer, hitziger Kaanyr. Aber vielleicht solltest du mir etwas Verlockendes in Aussicht stellen, damit ich schnell nach Hause zurückkehre, hmmm?« Kaanyr Vhok nahm sie in die kräftigen Arme und schmieg te sich an sie. »Wie du willst, mein Schatz«, flüsterte er heiser. »Manch mal frage ich mich, ob du eigentlich absolut unersättlich bist.«
Nach einer verzweifelten Flucht von Ruine zu Ruine hatte die Gruppe, der massiv zugesetzt worden war, nach gut einer Stun de endlich eine Zuflucht vor den Monstern gefunden, die über Hlaungadath herrschten. Im Schutz eines quadratischen
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Turms entdeckten sie eine vom Sand fast verdeckte Treppe, die hinab in die kühlen, lichtlosen Katakomben unter der Stadt führte. Von dieser Entdeckung angespornt bahnten sich die Drow ihren Weg durch ein Labyrinth aus Schreinen, un terirdischen Quellen und widerhallenden Säulengängen aus braunem Stein, bis sie schließlich einen tief gelegenen Gang entdeckten, der durch nichts darauf schließen ließ, daß er in jüngster Zeit benutzt worden war. Es war ein trostloser, abge schiedener Flecken, aber weder gab es hier blendendes Son nenlicht noch Geschöpfe, die den Verstand beeinflußten – und mehr hatten sie im Moment nicht nötig. »Pharaun, bereitet rasch Zauber vor«, befahl Quenthel, nachdem sie sich in der Kammer umgesehen hatten. »Ha lisstra, Ihr und Ryld werdet Wache halten. Jeggred, du wirst mit Valas am Torbogen aufpassen.« »Bedauerlicherweise müßt ihr etwas länger Wache halten«, erklärte der Magier und machte eine bedauernde Geste. »Ich war bereit, meine Zauberbücher zu studieren, als ich im Palast Zeit zum Ausruhen hatte. Aber die schlechten Umgangsfor men der Lamien als Gastgeber haben mich ein wenig er schöpft. Ich muß eine Weile ruhen, ehe ich meine Zauber wieder vorbereiten kann.« »Wir sind alle müde«, zischte Quenthel. »Wir haben keine Zeit, uns auszuruhen. Bereitet gefälligst Eure Zauber vor!« Die Schlangen an ihrer Peitsche zuckten und zischten er regt. »Das wäre vergeblich, liebe Quenthel. Ihr müßt unsere Feinde von mir fernhalten, bis ich mich von den Anstrengun gen erholt habe.« »Wenn er so machtlos ist«, polterte Jeggred, »wäre das doch jetzt eine gute Gelegenheit, ihn für sein respektloses Verhalten und seine Verfehlungen zu bestrafen.«
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»Dumme Kreatur«, schnaubte Pharaun. »Töte mich, und ihr alle werdet keinen Tag in dieser vom Licht heimgesuchten Einöde überleben. Oder hast du vielleicht plötzlich einen Hang fürs Arkane entwickelt?« Jeggred reagierte ungehalten, doch Quenthel brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Der Draegloth ent fernte sich, um am anderen Ende des langen, staubigen Raums Position zu beziehen, und hockte sich in ein Chaos aus herab gestürzten Steinen am Eingang. Valas seufzte und trottete los, um sich zu ihm zu setzen. »Bereitet Eure Zauber so schnell wie möglich vor, Magier«, sagte die Priesterin mit gepreßter Stimme, da sie eine todbrin gende Wut unterdrücken mußte. »Ich habe nicht viel Geduld, was Eure spitzfindigen Bemerkungen angeht. Gebt Halisstra Euren Blitze schleudernden Stab für den Fall, daß wir Zauber dieser Art benötigen, um einen weiteren Angriff abzuwehren.« Es war ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft Pharaun wirklich war, daß er nicht mal versuchte, das letzte Wort zu haben. Er wandte sich Halisstra zu und ließ mit einem Lächeln den schwarzen Eisenstab in ihre Hand fallen. »Ich nehme an, Ihr wißt, wie er funktioniert. Ich möchte ihn natürlich zurück, also versucht bitte, ihn nicht ganz zu verbrauchen. So etwas ist schwer herzustellen.« »Ich werde ihn nur einsetzen, wenn ich muß«, sagte Ha lisstra. Sie sah zu, wie sich der Magier einen im Schatten gelegenen Punkt neben einer großen Säule suchte, sich im Schneidersitz hinsetzte und gegen den kalten Stein lehnte. Sie schob den Stab in ihren Gürtel. Quenthel begab sich zur gegenüberlie genden Wand und beobachtete Pharaun, als wolle sie sicher stellen, daß er nicht nur vortäuschte, eine Pause nötig zu ha ben. Ryld stützte sich auf seinen Zweihänder, erhob sich und
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machte sich auf den Weg zu dem Durchgang, der zurück zur von den Monstern heimgesuchten Oberfläche führte. Halisstra wollte ihm folgen, doch Danifae sagte: »Soll ich hier Wache halten, Herrin?« Die Dienerin kniete zwischen dem Magier und der Prieste rin auf dem Boden, der Dolch steckte in ihrem Gürtel. Sie sah zu Halisstra auf, ihr Gesicht war völlig ausdruckslos und ver mittelte den Eindruck, sie hätte eine völlig harmlose Frage gestellt. Die Melarn-Priesterin zwang sich, nicht das Gesicht zu ver ziehen. Einer Kriegsgefangenen eine Waffe zu geben kam dem Eingeständnis gleich, daß man nicht länger die Kraft hatte, sie zur Unterwürfigkeit aufzufordern. Sie vermutete, Danifae wür de später einen hohen Preis dafür fordern, ihr weiter zu gehor chen. Danifae selbst blickte ruhig drein, während ihre Herrin über das Angebot nachdachte. Halisstra spürte, daß Quenthels Blick auf ihr ruhte. Sie mußte sich zusammenreißen, um die Priesterin nicht zornig anzusehen. »Du kannst den Dolch behalten, um dich zu verteidigen – für den Augenblick«, gestand ihr Halisstra zu. »Deine Wach samkeit ist nicht erforderlich. Komm nicht auf den Gedanken, je wieder so etwas vorzuschlagen.« »Selbstverständlich, Herrin«, erwiderte Danifae. Das Gesicht der jungen Frau ließ keine Gefühlsregung er kennen, doch Halisstra mißfiel der nachdenkliche Ausdruck in Danifaes Augen, während die sich darauf einstellte, einfach nur zu warten. Wird ihr Bindezauber halten? fragte sich Halisstra. Im Herzen des Hauses Melarn, umgeben von der geballten Kraft ihrer Feinde, hätte Danifae es nicht gewagt, den magi schen Zwang abzuschütteln, der sie unterwarf, selbst wenn es ihr möglich gewesen wäre. Doch die Dinge hatten sich geän
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dert. Danifaes Sorgfalt in dem Punkt, wie sie ihre Herrin in Quenthels Gegenwart ansprach, war Halisstra nicht entgan gen. Ohne ihr Haus, ihre Stadt, die Halisstra die absolute Herrschaft über alles gaben, was ihr eigen war – ihr Leben, ihre Loyalität, ihre Besitztümer, zu denen auch Danifae zählte –, konnten ihr all diese Dinge abgerungen werden. Der Gedanke bescherte ihr ein Gefühl der Leere, und sie kam sich vergäng lich vor wie ein verwestes Stück Fleisch. Was, wenn Danifae auf die Idee kommt, ernsthaft die Gren zen ihrer Gefangenschaft zu testen? fragte sie sich. Würde Quenthel zulassen, daß Halisstra ihre Kontrolle über die junge Frau wahrte oder würde Quenthel einschreiten, einfach nur, um etwas gegen Halisstra zu unternehmen und einen weiteren Stützpfeiler ihres Status zu zerschmettern? War Quenthel viel leicht gar in der Lage, Danifae zu befreien und Halisstra selbst zur Kriegsgefangenen zu erklären? Danifae betrachtete Halisstra mit gesenktem Blick. Sie war unterwürfig, hübsch – und geduldig. »Kommt Ihr?« rief Ryld, der im Durchgang stand und auf sie wartete. »Natürlich«, erwiderte Halisstra, die nur mit Mühe einen finsteren Blick unterdrücken konnte. Bewußt langsam kehrte sie ihrer Dienerin den Rücken und folgte Ryld in den Tunnel, der von ihrer Zuflucht wegführte. Im Moment war sie in Sicherheit. Danifae konnte das Silber medaillon nicht ablegen, das um ihren Hals hing, ganz gleich, wieviel Willens- und körperliche Kraft sie aufgebracht hätte. In dem Moment, in dem sie das Schmuckstück berührte, sorgte der Zauber dafür, daß sich all ihre Muskeln versteiften, bis sie wieder davon abließ. Ebensowenig konnte sie jemanden bit ten, es ihr abzunehmen, denn in dem Augenblick, da sie über den Anhänger sprach, würde ihr die Zunge im Mund erstarren
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und sie so zum Schweigen bringen. Solange sie das Medaillon trug, war Danifae gezwungen, Halisstra zu dienen und notfalls sogar ihr Leben zu opfern, um das ihrer Herrin zu retten. Dani fae hatte ihre Unterwerfung mit Würde über sich ergehen lassen, doch hatte Halisstra nicht vor, ihr das Medaillon in Gegenwart der Gruppe aus Menzoberranzan abzunehmen – wenn sie es ihr überhaupt jemals abnehmen würde. Sie und Ryld bezogen Stellung in einem kleinen Rundbau, der ein Stück entfernt den Tunnel unterbrach, eine dunkle, freie Stelle, die es ihnen erlaubte, darauf zu achten, ob sich jemand ihrem Versteck näherte, ohne selbst gesehen zu wer den. In ihre Piwafwis gehüllt, konnte man sie praktisch nicht von dem sie umgebenden dunklen Stein unterscheiden. Trotz des launigen Chaos und des quälenden Ehrgeizes, die in jedem Drow-Herzen brannten, war jeder gebildete Drow in der Lage, Geduld und eiserne Disziplin bei der Ausübung einer wichti gen Aufgabe walten zu lassen, und so machten sich auch Ha lisstra und Ryld daran, in wachsamer Stille zu warten und zu beobachten. Halisstra versuchte, ihren Geist von allem zu befreien und nur das zuzulassen, was ihre Sinne ihr mitteilten, damit sie besser wachen konnte. Sie mußte aber feststellen, daß sich in ihrem Kopf Gedanken angesammelt hatten, die sich nicht leicht verdrängen ließen. Es wurde Halisstra klar, daß – ganz gleich, was von diesem Tag an aus ihr werden sollte – ihr Er folg oder Mißerfolg einzig von ihrer Kraft, ihrer List und ihrer Rücksichtslosigkeit abhingen. Das Mißvergnügen des Hauses Melarn bedeutete nichts. Wenn sie mit Respekt behandelt werden wollte, würde sie das Mißvergnügen Halisstra Melarns zu etwas machen müssen, was gefürchtet wurde, und das alles nur, weil Lolth entschieden hatte, die auf die Probe zu stellen, die ihr am treuesten dienten. Wegen einer Laune Lolths war
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Haus Melarn aus Ched Nasad zerstört worden, jenes Haus, dessen Herrscherinnen über Jahrhunderte hinweg auf Lolths Altar Blut und Reichtümer dargebracht hatten. Wieso? fragte sie sich. Wieso? Die Antwort war natürlich kalt und leer: Lolths Wege wa ren nichts, was ihre Priesterinnen verstehen konnten, und ihre Prüfungen konnten wahrlich grausam sein. Halisstra knirschte mit den Zähnen und versuchte, ihre Fragen aus ihrem Herzen zu verdrängen. Wenn Lolth entschieden hatte, Halisstras Glauben auf die Probe zu stellen, indem sie ihr alles nahm, was ihr wichtig war, nur um zu sehen, ob die Erste Tochter des Hauses Melarn fähig war, es zurückzugewinnen, dann würde sie feststellen, daß sie jemanden ausgewählt hatte, der dieser Her ausforderung gewachsen war. Wollt Ihr darüber reden? signalisierte Ryld diskret in der hochentwickelten Zeichensprache der Drow. Worüber? Über das, was Euch solche Sorgen macht. Etwas macht Euch zu schaffen, Priesterin. Es ist nichts, was einen Mann angeht, gab sie zurück. Natürlich. Wie immer. In der kleinen Kammer trafen sich ihre Blicke. Halisstra stellte überrascht fest, daß Rylds Gesicht zu einer Mischung aus verbitterter Resignation und sarkastischer Belustigung verzogen war. Sie betrachtete ihn eindringlich und versuchte zu ergründen, was ihn dazu bewegte, sich mit ihr unterhalten zu wollen. Für einen Mann – genaugenommen sogar für einen Drow überhaupt – war er kräftig gebaut und sehr groß, in etwa so groß wie sie selbst. Sein kurzgeschnittenes Haar war eine exoti sche Affektiertheit in der Drow-Gesellschaft, eine sonderbar asketische Nüchternheit für ein Volk, das sich an Schönheit
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und persönlicher Kultivierung erfreute. Im Umgang miteinan der waren Drow rücksichtslos pragmatisch, doch nicht, wenn es um ihr Äußeres ging. Halisstras Erfahrungen mit Männern nach putzten sich die meisten von ihnen doch nur fein heraus und hatten eine Vorliebe für einschmeichelnde Eleganz und tödliche Tücke. Pharaun stand genau für diesen Typ. Doch Ryld – das wurde ihr nun klar – war von einem anderen Schlag. Ihr kämpft gut, erklärte sie – es war keine Entschuldigung, die an einen Mann gerichtet war, und doch war es ... etwas. Ihr hättet mich in Ched Nasad sterben lassen können, und doch habt Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten. Wieso? Wir hatten eine Abmachung. Ihr brachtet uns in Sicherheit, und wir halfen Euch. Aber ich hatte zu der Zeit die Abmachung einseitig aufgekündigt. Es gab keinen Grund, Eure Seite zu halten. Es gab keinen Grund, sie nicht zu halten. Ryld lächelte und wechselte zu einem leisen Flüstern. »Abgesehen davon scheint es so, als sei es in meinem Interesse gewesen, Euch zu retten. Vor gerade einmal einer Stunde habt Ihr mein Leben gerettet. Wir stehen gegenseitig in unserer Schuld.« Halisstra mußte lachen, jedoch so leise, daß man in drei Metern Entfernung davon nichts mehr hörte. Wir sind kein Volk, das seine Schulden ehrt, signalisierte sie. Dies ist mir mehr als einmal klargemacht worden, erwiderte Ryld. Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, und Halisstra fragte sich, wem genau der Meister MeleeMagtheres vertraut hatte und warum er so dumm gewesen war. Ehe sie fragen konnte, fuhr er fort: Erzählt mir von den Bae’qeshel. Ich weiß nichts über sie. »Traditionell«, flüsterte sie, »werden unsere Magier, Schwertkämpfer und Kleriker an Akademien ausgebildet. Das
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gilt jedenfalls für die meisten Drow-Städte. Der Grund, wes halb Ihr nichts von den Bae’qeshel wißt, ist, daß die Ge sangsausbildung keine öffentlich bekannte Sache ist. Es gibt immer eine Herrin und eine Schülerin.« »Ich dachte, die Adelshäuser hätten keine nennenswerte Verwendung für bürgerliche Minnesänger.« »Die Bae’qeshel sind keine bürgerlichen Minnesänger, Waf fenmeister«, gab Halisstra mit gesenkter Stimme zurück. »Wir sind eine stolze, uralte Sekte, die Bae’qeshel Telphraezzar, die Flüsterer der Dunklen Königin. Ich bin eine Priesterin Lolths, so wie auch die anderen Frauen meines Hauses, aber ich wurde als junges Mädchen auserwählt, mich über viele Jahre hinweg mit der Bae’qeshel-Geschichte zu befassen. Ich verehre Lolth nicht einfach nur mit meinem Dienst als ihre Priesterin, son dern auch mit dem Geschenk, die alten Gesänge unseres Volks anzustimmen, die in ihren Ohren so wohlklingend sind. Das Haus Melarn war immer schon stolz darauf, in jeder Generati on in der Schwesternschaft im Dienste von Lolth eine Bae’qeshel hervorzubringen.« »Wenn Eure Lieder Lolth geweiht sind, wieso funktionieren sie, während andere Zauber versagen?« wollte Ryld wissen. »Weil die Lieder eine eigene Macht besitzen, so wie die Zau ber eines Magiers. Wir lenken nicht die göttliche Macht Lolths, um unsere Lieder zu wirken. Leider sind meine Talente nichts im Vergleich zu der göttlichen Macht, die ich in Lolths Namen wirken könnte, wenn sie mir wieder günstig gesonnen wäre.« »Nichtsdestoweniger ein interessantes Talent«, murmelte er. Ryld warf einen Blick in Richtung des Ganges zu der Kam mer, in der die anderen warteten. »Es scheint alles ruhig zu sein. Es könnte aber noch eine ganze Weile dauern. So wie ich Pharaun kenne, wird er Stunden brauchen, ehe er wieder zu Kräften gekommen ist. Sagt, spielt Ihr Sava?
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Nimor hielt sich im Schatten eines gigantischen Stalaktiten, einem der vielen steinernen Reißzähne, die von der Decke der gewaltigen Höhle herabreichten, in der Menzoberranzan gele gen war. Alte Gänge und gefährliche Pfade überzogen das Dach der Stadt, und viele riesige Stalaktiten waren zu düster schönen Burgen verwandelt worden, die angesichts ihrer trot zigen Arroganz noch spektakulärer wirkten. Nur Drow waren dazu fähig, aus einer zerbrechlichen Steinspitze, die dreihun dert Meter über dem Höhlenboden hing, ein Heim zu schaffen. Hochwohlgeborene Drow besaßen oft eine ihnen eigene Magie oder verzauberte Medaillons, die sie von jeglicher Sorge wegen der großen Höhe befreiten und die sie kaum einmal über die schwindelerregenden Aussichtspunkte nachdenken ließen, die sogar Fledermäusen Angst machen würden. Ihre Sklaven und Diener dagegen hatten nicht dieses Glück, so daß das Leben in einer von der Decke ragenden Spitze für sie etwas permanent Nervenaufreibendes hatte. Die wichtigeren Stalaktiten waren selbstverständlich ma gisch verstärkt worden, um sie vor dem unvermeidlichen Ab sturz zu bewahren, und sie würden so lange dort verharren, bis die Magie selbst versagte. Dennoch war mehr als einer der stolzen alten Paläste verlassen und von einer dicken Staub schicht überzogen, da das Haus, das ihn einst beansprucht hatte, in der Kunst der Magie nicht bewandert genug war, um die Zauber aufrechtzuerhalten, die das Bauwerk bewohnbar machten. Es war einer jener leerstehenden Paläste, in dem sich Nimor versteckt hielt und von dem aus er nach unten in den dunklen Abgrund sah, in dem sich sein Ziel befand. Das Haus Faen Tlabbar, das Dritte Haus Menzoberranzans, lag ein Stück weit nach links unterhalb seines Beobachtungs
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punktes. Die Burg erstreckte sich über mehrere hochaufragen de Stalagmiten und Säulen, und ihre eleganten Balustraden und die weit emporragenden Bereiche täuschten über die dar unter befindliche Macht der ausladenden Türme und die ge waltigen Bollwerke aus dunklem Stein hinweg. Faen Tlabbar war eines der größten und prachtvollsten jener Bauwerke in Menzoberranzan, die nicht auf dem Hochplateau von Qu’ellarz’orl gelegen waren, dem angesehensten der Adelsbe zirke der unterirdischen Stadt. Statt dessen reichte das Haus an der südlichen Wand der großen Höhle von Menzoberranzan so weit hinauf, daß die höchsten Türme das Plateau überstiegen, in dessen Schatten das Haus lag, so als hätten die Matronen des Dritten Hauses über den Rand jener Hochebene spähen wollen, um eifersüchtig auf jene Häuser blicken zu können, die das Glück hatten, auf einer Ebene mit dem bedeutenden Haus Baenre zu stehen. Es war eine treffende Analogie für die politischen Manöver Faen Tlabbars. Nur zwei Häuser standen in der düsteren Hie rarchie Menzoberranzans über ihm, und zwar Baenre als Erstes und Barrison Del’Armgo als Zweites Haus. Nimor hielt es für wahrscheinlich, daß Muttermatrone Tlabbar sich für ihr Haus Großes erhoffte. Del’Armgo, das Zweite Haus, war stark, konn te aber nicht viele Verbündete vorweisen. Baenre, das stärkste Haus, war so schwach wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Häuser wie Faen Tlabbar sahen die Baenre und mußten automatisch an Jahrhunderte totaler Arroganz und demütigen der Herablassung denken, und man fragte sich, ob die Zeit gekommen war, daß sich mehrere schwächere Häuser zusam menschlössen und die Vorherrschaft der Baenre ein für allemal beendeten. »Das wäre ein Schauspiel, das ich gerne sähe«, sagte Nimor nachdenklich zu sich selbst.
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Er vermutete, daß sich Baenre in einem solchen Szenario als stärker erweisen würde, als es die haßerfüllten Rivalen für möglich hielten, dennoch würde es ein spektakuläres Blutver gießen werden. Mehrere große Häuser würden untergehen, denn Baenre würde nicht allein in der Nacht verschwinden. Natürlich würde das den Plänen der Gesalbten Klinge der Jaezred Chaulssin sehr entgegenkommen. Doch dieses Schauspiel würde für eine spätere Gelegenheit aufgespart werden. Nimor wollte Faen Tlabbar einen tiefen, nachhaltigen Schlag versetzen, das Haus aber nicht gegen das Haus Baenre aufbringen. Ghenni Tlabbar, Matrone des Drit ten Hauses, würde durch seine Klinge sterben. Ihr Blut würde einen Verrat im großen Stil nach sich ziehen, und es würde dem Attentäter das Stilett in die Hand geben, das Nimor tief ins Herz von Menzoberranzan jagen wollte. Ein schabendes Geräusch und das Klirren eines Kettenhem des ließen Nimor aufmerksam werden. Er zog sich lautlos in den Schatten zurück und wartete geduldig ab, während eine Staffel Tlabbar-Krieger auf großen Reitechsen an einem klei nen, unbearbeiteten Stalaktiten ganz in der Nähe nach oben kletterten. Die blassen Reptilien hatten an ihren Füßen große, klebrige Flächen, die es ihnen erlaubten, auch an der steilsten Oberfläche Halt zu finden. Viele Adelshäuser in Menzoberran zan setzten diese Wesen ein, um in weit oben gelegenen Berei chen der weitläufigen Höhle zu patrouillieren. Faen Tlabbar war darüber hinaus für seine Echsenkavallerie bekannt. Nimor hatte seit über einer Stunde von seinem Posten aus die Tlab bar-Patrouillen beobachtet und immer wieder deren Runden sorgfältig mitgestoppt. Genau zur erwarteten Zeit, stellte Nimor fest. Ihr werdet be rechenbar, Jungs. Die Reiter hielten Armbrüste und Lanzen einsatzbereit,
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während sie im Gänsemarsch dahinhuschend um den kleine ren Stalaktiten kreisten und die Höhlendecke absuchten. Wie Nimor erwartet hatte, bog der Anführer nach links ab und folgte der Kurve, die die steinerne Spitze beschrieb, nach un ten, bis er nicht mehr zu sehen war. »Ihr wärt gut beraten, von Eurer Routine abzuweichen, Hauptmann«, flüsterte Nimor, der der Reiterstaffel nachsah. »Ein tapferer Kamerad wie ich könnte ja glatt durch die Mög lichkeit abgeschreckt werden, Ihr könntet überraschend zu rückkehren.« Mit einem Satz sprang Nimor nach vorn und tauchte in die ewige Nacht. Durch eine unglückliche Felsformation nahm Haus Tlabbar nur wenig vom Dach der Stadt und von den oberen Höhlen für sich in Anspruch. Eine große Säule und ein Paar kleinerer Stalaktiten verbanden Tlabbar mit der Decke, so daß es unmit telbar über dem Dach des Palastes eine nicht einsehbare Stelle gab. Diese Schwäche wollte Nimor nutzen. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm, und kalte Luft wehte ihm ins Gesicht. Er verzog den Mund zu einem Grinsen und genoß die langen Sekunden, die sein großer Sprung dauerte. Sein Körper war von den finsteren Feuern seine Abstammung erfüllt, und er sehnte sich danach, seine dreiste Verkleidung abzustreifen, doch war dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Noch im Fallen sprach er die Worte eines Zaubers, der ihn unsichtbar machte. Als die speergleiche Spitze des Hauptpalas tes von Faen Tlabbar rasend schnell näherkam, stoppte Nimor seine Abwärtsbewegung abrupt, indem er seine Levitati onskraft einsetzte. Keine sechs Herzschläge nach dem Mo ment, da er von dem verlassenen Stalaktiten heruntergesprun gen war, landete Nimor unsichtbar und unbemerkt auf dem messerscharfen First eines steil nach oben ragenden Saals. Er
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lauschte, ob ein Geräusch daraufhindeutete, daß man ihn entdeckt hatte, dann bewegte er sich mit Schritten, die so leise waren wie der Tod, zu der Stelle, an der der Saal in die Burg überging. Die Drow von Faen Tlabbar waren sich durchaus bewußt, daß Angriffe, die von oben herab geführt wurden, für sie ge fährlich werden konnten, daher waren die Zinnen und Kup peldächer auf dem Palast mit aufmerksamen Wachtposten besetzt, die nach Eindringlingen Ausschau hielten. Nimor ging ihnen sorgfältig aus dem Weg. Diejenigen von ihnen, die un sichtbare Gegner sehen konnten – und das waren nicht wenige –, waren es nicht gewöhnt, nach einem unsichtbaren Angrei fer Ausschau zu halten, der zudem noch mit der Verstohlen heit eines meisterhaften Assassinen von Schatten zu Schatten wechselte. Größere Sorgen bereiteten Nimor die diversen magischen Barrieren, die das Haus abschirmten. Aus Ge wohnheit schützte er sich mit Zaubern, die darauf ausgelegt waren, die unterschiedlichsten Formen magischer Aufspürung zu unterlaufen oder zu stören, doch seine Zauber war nicht narrensicher. Grüngoldenes Licht umgab ihn schimmernd, als er über die steilen Ziegel des Dachs eines quadratischen Turms schlich. Die Faen Tlabbar nutzten wie viele andere Häuser Magie, um die barocken Spitzen und Balkone ihres Heims zu beleuchten und zu verzieren. Nimor legte sich auf den Bauch und robbte kopfüber ein Stück weit nach unten, während er aufmerksam horchte. Er erwartete, unter sich einen Wachtposten und ei nen Eingang in den Palast vorzufinden. Über Jahrzehnte hin weg hatten die Jaezred Chaulssin Ausspähungsmagie einge setzt, um so viel wie möglich über die Bauweise und die Verteidigungseinrichtungen vieler großer Häuser in mehr als einer Drow-Stadt in Erfahrung zu bringen. Der schlanke Assas
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sine hatte die Notizen und Pläne genau studiert, die seine Bruderschaft über das Haus Tlabbar zusammengestellt hatte. Natürlich waren diese Informationen unvollständig und veral tet, da Teile des Palastes gegen jegliche Form der Ausspähung abgeschirmt waren. Hinzu kam, daß sich die Jaezred Chaulssin erst seit kurzer Zeit die Häuser von Menzoberranzan vorge nommen hatten. Nimor wäre es lieber gewesen, seine Angabe zu aktualisieren, indem er eine der Tlabbar-Wachen bestach oder gefangennahm, doch ihm fehlte die Zeit, um das in die Wege zu leiten und dabei auch noch im Plan zu bleiben, den er sich selbst gesetzt hatte. Von dem Balkon unter der Dachtraufe waren leise Geräu sche zu hören, die durch Bewegungen verursacht wurden. Vermutlich zwei Männer, mindestens aber einer im Ketten hemd. Er mußte schnell handeln, denn ein einziger Schrei konnte das Ende seines Angriffs auf das Haus bedeuten. Mit berechnender Geduld rutschte Nimor ein Stück weiter und stellte fest, daß sich unter der überhängenden Traufe ein ge schwungener, offener Gang befand. Links ging der Gang in ein Treppenhaus über, das zu den unteren Zinnen führte, während er zu seiner Rechten an einem schwarzen Durchgang endete. Die Tür stand offen. Unmittelbar unter ihm stand ein Drow in Rüstung und beobachtete den Hof. Volle dreißig Herzschläge lang studierte Nimor den Mann und plante seine Vorgehensweise, während er lautlos seinen Dolch zog. Die Klinge war aus grünlich-schwarzem, verzauber tem Stahl und glitzerte feucht im Schimmer des Feenfeuers. Nach wie vor unsichtbar rollte er sich vom Dach und landete hinter dem Tlabbar-Wachmann. Als die Füße des Assassinen auf den Steinplatten auftrafen, gab es ein leises Geräusch, das genügte, um den Wachmann zu veranlassen, sich umzudrehen. Er öffnete den Mund, um einen
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Ruf auszustoßen, doch mit einer einzigen, unerbittlichen Be wegung legte Nimor seine Hand auf den Mund des Mannes und stieß den Dolch tief von unten in den Schädel. Die Klinge glitt über Knochen, und der Tlabbar-Wachmann war schon tot, als er in Nimors Arme sank. Nimor ließ den Leichnam zu Boden fallen und sah hinüber zum anderen Wachposten, einem Mann, der das schwarze Gewand eines Magiers trug. Der Tlabbar-Magier wandte sich um, da er die unvermeidlichen Geräusche des Angriffs wahrge nommen hatte, und sah, wie der Mann scheinbar grundlos zu sammenbrach – schließlich war Nimor noch immer unsichtbar. »Zilzmaer?« fragte er schneidend. »Was ist?« Nimor sprang vor und rammte das blutbeschmierte Messer unter das Kinn des Mannes, preßte dessen Kiefer zusammen und bohrte die Spitze ins Hirn des Tlabbar. Der Magier zuckte zwei- oder dreimal heftig, dann erschauderte er und starb. »Psst«, zischte Nimor. »Es ist alles in Ordnung. Leg dich hin.« Er ließ den Magier neben seinem Gefährten zu Boden sin ken und wandte sich dem finsteren Torbogen zu, der in die Burg führte. Mit dem Messer in der Hand ging er hindurch – nur um so fort von einer unsichtbaren, nicht greifbaren Barriere aufgehal ten zu werden, die den Durchgang wie eine gemauerte Wand blockierte. Nimor zog die Augenbrauen hoch, beschwor seine Willenskraft und unternahm einen erneuten Versuch, wurde jedoch abermals mitten in seiner Bewegung gestoppt. »Verdammt«, murmelte er. »Ein Zauber, der mir den Zutritt verwehrt.« Die Tlabbar-Burg oder zumindest der Weg ins Innere war durch einen großen Zauber geschützt, der es jedem Feind un möglich machte, einen Fuß in das Gebäude zu setzen. Nimor
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konnte einer Reihe von magischen Fallen aus dem Weg gehen oder sie entschärfen, aber dieser Zauber überstieg seine Fähig keiten bei weitem. Daher die offene Tür, dachte er. Die Tlabbar sind sich ihrer magischen Verteidigung ganz sicher. Was nun? Er steckte sein Messer weg und betrachtete den Türbogen. Ein solcher Zauber konnte auf unterschiedliche Weise geschaf fen sein, um ein Gebäude oder ein Gebiet zu schützen, doch wenn sich die Tlabbar frei in ihrer eigenen Burg bewegen woll ten, dann hatten sie ihn sicherlich so angelegt, daß sie selbst ohne große Mühen hindurchschreiten konnten – möglicher weise mit irgendeiner Art von Abzeichen oder durch eine Losung. Nimor durchsuchte die beiden Toten, konnte aber nichts entdecken, was nach einem Abzeichen aussah, mit dessen Hilfe er den Zauber überwinden konnte. Es kann alles mögliche sein, überlegte er. Eine Mantelfibel, eine verzauberte Münze in einem Geldbeutel, ein Ohrring, eine Halskette ... Ihm fehlte die Zeit zum Experimentieren, also hob er den toten Magier hoch und klemmte ihn sich unter den Arm, dann kehrte er zurück zum Türbogen und machte sich bereit, einen weiteren Versuch zu wagen. Diesmal konnte er mühelos hindurchgehen, als sei der Schutzzauber aufgehoben worden. Es mußte also etwas sein, was die Tlabbar-Wachen am Leib tragen, erkannte Nimor. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich den toten Magier über die Schulter zu legen und ihn zu tragen, für den Fall, daß er innerhalb der Burg auf eine weitere derartige Barriere stieß, doch dann entschied er sich dagegen. Heim lichkeit und Schnelligkeit waren seine beste Verteidigung, und einen Leichnam mit sich herumzuschleppen war keine beson ders unauffällige Vorgehensweise. Abgesehen davon war es
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nicht wahrscheinlich, daß die Tlabbar in ihrem Palast mehr als einen solchen Zauber gewirkt hatten, und selbst wenn, dann war nicht anzunehmen, daß er mit dem gleichen Schlüssel überwunden werden konnte. Auf der anderen Seite des Durchgangs ließ er den toten Magier fallen und machte sich auf den Weg ins Innere des Palastes. Hinter dem Türbogen erstreckte sich ein langer, hoher Gang, der oberhalb eines Saals der Tlabbar verlief. Türen aus hellem Zurkhholz säumten den Saal und führten in Arbeits zimmer, Salons, zu Trophäensammlungen und in andere Räumlichkeiten, wenn Nimors alter Lageplan noch zutraf. All diese Türen ignorierte er jedoch und eilte statt dessen durch den Saal, bis er am anderen Ende an einer Treppe angelangt war, die auf die Ebene darunter führte. Hier stieß er auf eine magische Glyphe, die das Passieren verhindern sollte. Aller dings nahm er die Falle früh genug wahr, so daß er sie nicht auslöste. Statt auf die entsprechende Stufe zu treten, sprang er einfach über das Geländer und landete auf dem nächsten Treppenabsatz. Die Treppe beschrieb eine weitläufige Kurve und führte in einen weiteren schimmernden schwarzen Korri dor, der sich in der Nähe des Mittelpunkts der Tlabbar-Burg befand und zum Schrein des Hauses führte. Der Boden bestand aus poliertem schwarzen Marmor, der alles wie ein Spiegel reflektiert hätte, wäre dort ein Licht gewesen, in dessen Schein man es hätte sehen können. Nicht weit entfernt standen zwei Wachen des Hauses vor einer großen Doppeltür, die in Lolths Heiligtum führte. Der unsichtbare Nimor lächelte und beglückwünschte sich stumm zu seinem Zeitplan. Die Muttermatrone und vielleicht ein oder zwei ihrer Töchter würden sich dort befinden, um irgendein Ritual zu vollziehen, mit dem sie ihre schweigsame Göttin anriefen.
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Nimor blieb außer Sichtweite und sah sich noch einmal um, damit er sicher sein konnte, daß sich niemand sonst näherte, dann betrachtete er aufmerksam die beiden Wachen. Sie machten auf ihn den Eindruck junger Offiziere, die sich für ihre erhabene Aufgabe als Wachen der Muttermatrone stolz herausgeputzt hatten, doch Nimor vertraute nicht auf das, was er sah. Er war sicher, daß sich hinter den beiden mehr verbarg, als es den Anschein hatte. Er beschloß, sie zu umgehen, wenn es irgendwie möglich war. Nimor sammelte sich und hob seine linke Hand, an der ein Ring glänzte, der so schwarz wie Pech war. Der Schattenring war vermutlich seine nützlichste Waffe, ein Gegenstand, der eine ganze Reihe zweckmäßiger magischer Kräfte in sich barg. Er beschwor eine dieser Kräfte und verschmolz mit dem Schat ten des schwarzen Korridors, um dann auf der anderen Seite der Tür wieder aufzutauchen – im Allerheiligsten des Hauses. Der Tempel nahm fast das gesamte zentrale Stockwerk des großen Palastes für sich in Anspruch, die elegante Kuppel erstreckte sich weit nach oben und war mit Lolths Spinnenin signien in Silber und Schwarz verziert. Der Schrein war von einem finsteren silbernen Leuchten erfüllt, um besser den verschwenderischen Reichtum zur Schau zu stellen, den Haus Faen Tlabbar darauf verwendet hatte, die Kapelle der Spin nenkönigin zu dekorieren. Nimor vergeudete keine Zeit damit, den goldenen Tand und die edelsteinverzierten Bilder zu be wundern. Muttermatrone Ghenni und zwei ihrer Töchter huldigten dem hochaufragenden schwarzen Abbild der schweigenden Göttin und krochen vor Lolth zu Kreuze, zweifellos darum bemüht, die Spinnenkönigin anzuflehen, dem Haus wieder ihre Gunst zu schenken. Niemand sonst war hier. Offenbar war die Muttermatrone der Ansicht, daß ihre Wachen und ihre
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Diener nicht sehen mußten, wie sie und ihre Töchter sich in ihrer privaten Verehrung demütigten. Nimors Informationen über Faen Tlabbar erwiesen sich wieder einmal als zutreffend. Nimor zog lautlos sein Rapier und näherte sich, den Blick auf sein Opfer gerichtet. Ghenni war eine auffallend schöne Drow, eine Frau mit sinnlichem Körper und einer geschmeidi gen Anmut, die es ihr erlaubte, ihr Alter viel besser zu ertragen als viele andere Frauen, die noch hundert Jahre jünger waren. Er bemerkte das dunkle Glitzern eines Kettenhemds unter ihrem smaragdfarbenen Gewand und mußte lächeln. Ohne Lolths Schutz der Spinnenkönigin fühlte sich die Muttermat rone eines an sich mächtigen Hauses offenbar nicht so ganz sicher. Die Muttermatrone hielt plötzlich in ihrer Anbetung inne, als wäre sie von etwas gewarnt worden – von einem leisen Geräusch, der Bewegung eines Schattens oder vielleicht ein fach nur von ihrer Intuition. Sie richtete sich auf die Knie auf und sah sich um, auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein vorsich tiger Ausdruck ab. »Sil’zet, Vadalma«, zischte sie. »Wir sind nicht allein.« Die beiden jungen Frauen hielten mitten in der Bewegung inne und blieben ausgestreckt auf dem kalten Steinfußboden liegen. Argwöhnisch beobachteten sie die Umgebung, wäh rend Ghenni aufstand und nach einem Stab griff, der an ihrem Gürtel hing. »Wer da?« rief sie. »Wer wagt es, uns zu stören?« Nimor sagte nichts, sondern kam näher. Die Muttermatrone konnte ihn nicht sehen, dessen war er sicher, doch in dem Moment, indem seine Klinge sich in Reichweite befand, um zuzuschlagen, fühlte er, wie sich im Raum eine Präsenz bildete. Eine unsichtbare dämonische Kraft nahm nahe der Kuppel Gestalt an.
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»Obacht, Matrone«, zischte eine Stimme. »Ein unsichtbarer Assassine nähert sich.« Nimor mußte der Muttermatrone des Hauses Faen Tlabbar hoch anrechnen, daß sie nicht vor Angst erstarrte. Während ihre Töchter aufsprangen, ging Ghenni zwei Schritte zurück und beschrieb rasche Gesten mit ihrem Stab, während sie einen Befehl ausstieß. Eine Sphäre wallender Schwärze schoß aus dem Stab hervor und zerplatzte hinter Nimor zu einem tintenschwarzen Flecken aus eisigen Schatten, die wie lebende Dinger nach ihm schlugen und nach ihrer Beute gierten. Der Assassine ignorierte den Zauber, da er schon einen Satz nach vorn machte. Mit einem präzisen Stich jagte er sein Rapier durch Ghennis Leib. Die Klinge war so schwarz wie die Nacht, ein langes Stilett aus nicht greifbarer Schattenmaterie, das sich durch das Kettenhemd der Muttermatrone fraß, als sei dieser Schutz überhaupt nicht vorhanden. Die Wirkung war genauso tödlich, wie es auch zu erwarten gewesen war. Er drehte die Klinge in ihrem Herzen um und grinste, obwohl sie ihn noch immer nicht sehen konnte. »Seid gegrüßt, Muttermatrone«, zischte er. »Vielleicht fin det Ihr die Antworten, die Ihr sucht, wenn Ihr Lolths schwarze Hölle erreicht habt.« Ghenni rang nach Luft, dann hustete sie und spuckte Blut. Sie stolperte, während sie sich an der Klinge festklammerte, die in ihrem Herzen steckte, verdrehte die Augen und stürzte zu Boden. Nimor zog sein Rapier zurück und wirbelte zur Tochter links, Sil’zet, herum, während der Dämon über Ghen nis Leib Gestalt annahm. Es war eine skelettartige Kreatur, die in grüne Flammen gehüllt und mit einem schwarzglühenden Krummsäbel aus fahlen Knochen bewaffnet war. Der Dämon konnte ihn offenbar sehr gut sehen, denn er stürzte sich sofort auf Nimor. Er holte mit einem wilden Hieb
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nach dessen Kopf aus, dem er auswich, indem er sich duckte. Doch die Kreatur schaffte es, die Richtung der Klinge erstaun lich schnell zu ändern und mit der Rückhand einen zweiten Hieb auf Taillenhöhe zu führen. Nimor verzog verärgert das Gesicht und wich zurück, da ihm das Geschöpf wider Erwarten in die Quere gekommen war. Hinter dem Dämon öffnete Sil’zet eine Schriftrolle, um deren Text vorzulesen, während Vadalma sich vorbeugte, um den Stab ihrer Mutter an sich zu nehmen, wobei sie sich gleichzeitig mit einem Dolch schützte. »Du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen, Assassine!« schrie Vadalma. »Wachen! Wachen!« Nimor hörte, wie die Wachen sich an der Tür zu schaffen machten. Er duckte sich und schoß davon, wobei er sich von dem Dämon fernhielt, mit dem er sich nicht anlegen wollte. Es war sinnlos, einen Wachdämon zu töten. Ihm blieben nur noch Augenblicke, und die wollte er nutzen. Der Assassine machte einen schnellen Schritt und rollte sich unter der De ckung des Dämons hindurch, so daß er gleich neben Sil’zet auftauchte, die soeben die Worte von ihrer Schriftrolle vorzu lesen begonnen hatte. Er rammte ihr den Dolch ins Kreuz, während er mit seinem schwarzen Rapier den Säbel des Kno chendämons abwehrte. Sil’zet schrie vor Schmerz und wollte sich losreißen, doch Nimor brachte sie sofort zu Fall, so daß sie sich windend auf dem Boden landete. Nimor vollzog ihre Be wegung nach und stach die Spitze des Rapiers in ihre Kehle. Diesmal ließ der Dämon ihn dafür bezahlen, daß er ihn ig noriert hatte. Er schrie vor Zorn und schlug mit seinem Kno chenschwert nach ihm, wodurch er Nimor eine lange, bren nende Schnittwunde quer über das Schulterblatt zufügte, als der sich wegzudrehen versuchte. Er preßte die Lippen zusam men, um den Schmerz lautlos zu ertragen, dann rollte er zur Seite weg, ehe die Kreatur ihn in Stücke hauen konnte.
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Vadalma brüllte den Befehl für den Stab ihrer Mutter und feuerte die Sphäre blindlings in Nimors Richtung ab, so daß schwarze Ranken, kalt und scharf wie Rasierklingen, an seinem Fleisch rissen. Die Wachen stürmten mit gezückten Klingen in die Kapel le, ihre Gesichter gefaßt und ausdruckslos. Sie kamen mit unglaublicher Schnelligkeit heran und fuchtelten mit den Schwertspitzen, während sie sich Nimor näherten. Hastig drehten sie die Köpfe und folgten ihm dann, als verrieten ihn das Schaben seiner Stiefelsohlen oder sein Atem. Ich habe getan, wofür ich hergekommen bin, entschied er. Ghenni war tot, und Sil’zet lag im Sterben. Sie zuckte und trommelte mit den Hacken auf den Marmorfußboden, wäh rend sie in ihrem eigenen Blut ertrank. Er hätte noch gern Vadalma umgebracht, doch der Dämon und die Wachen – um welche Kreaturen es sich bei ihnen auch immer handeln mochte – machten die Situation zu kompliziert, als daß sie noch praktikabel zu lösen gewesen wäre. Resigniert wich Nimor einige Schritte zurück und ver schwand dank der Macht seines Rings, der ihn im nächsten Moment nahe dem Balkon wieder auftauchen ließ, über den er in den Palast eingedrungen war. Der Zauber, der ihm den Zu tritt verwehrt hatte, verhinderte seine Flucht mit einem einzi gen Dimensionssprung, doch der Assassine packte einfach den Leichnam des Tlabbar-Magiers, den er gleich hinter dem Durchgang zurückgelassen hatte, und eilte nach draußen. Der Schnitt an seiner Schulter schmerzte unerträglich, und seine Beine stachen, wo die eisigen Ranken der Sphäre ihn getroffen hatten. Nimor atmete dennoch tief durch und gestattete sich ein wildes, triumphierendes Grinsen. »Ihr hattet Glück«, sagte er zu den beiden Toten, die vor ihm lagen. »Wenn die TIabbar herausfinden, daß ihr die Tür
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bewacht habt, durch die ich hineingelangt bin, wärt ihr lie bend gern tot.« Natürlich kam von den Leichen keine Reaktion – wie im mer. Er sah hinaus zu dem Feenfeuer, das über den Zinnen der Burg schimmerte und lauschte den Entsetzensschreien und Rufen aus dem Inneren des Gebäudes. Er hätte diese Ge räuschkulisse gern noch lange genossen, doch die Verfolger konnten nicht mehr weit entfernt sein. Seufzend schloß er die Faust um den schwarzen Ring und brachte sich durch bloße Willenskraft fort von der Burg.
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Halisstra und Ryld spielten zwei Partien auf einem kleinen Reisespielbrett, das der Waffenmeister in einer Gürteltasche mit sich trug. Ryld gewann beide Partien, jedoch setzte ihn Halisstra im Spiel schwer unter Druck. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Sava gehabt, doch sie merkte früh, daß sie es mit einem Meister des Spiels zu tun hatte. Viele Stunden verstrichen in der Dunkelheit, ohne daß es ein Zeichen dafür gab, daß die Lamien ihr Versteck ausfindig gemacht hatten. Ich kann nicht glauben, daß sie uns nicht gefolgt sind, merkte Halisstra nach dem Ende der zweiten Partie an. Ich vermute, wir haben viele ihrer liebsten Untergebenen getö tet. Die Lamien sind sehr sorglos mit dem Leben ihrer Sklaven umgegangen. Vielleicht haben sie nicht mehr genug, um die Stadt gründlich nach uns zu durchsuchen. Ryld lächelte. Wir haben auch einige Lamien getötet. Vielleicht sind sie gar nicht versessen
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darauf, uns zu finden. Hauptsache, sie lassen uns in Ruhe, erwiderte Halisstra. Als sie keine Lust mehr hatte, Sava zu spielen, wurde ihr bewußt, daß sie entsetzlichen Hunger hatte. Vor Sonnenauf gang hatten sie ein Frühstück zu sich genommen, das aus den wenigen aus Ched Nasad mitgenommenen Vorräten bestand, doch Halisstra war sicher, daß sich der Tag dem Ende näherte. Drow konnten Entbehrungen besser als die meisten anderen Lebewesen aushalten, doch ein schwerer Kampf gefolgt von stundenlangem Wachen hatte sie körperlich erschöpft. Ich verhungere, bedeutete sie Ryld. Es scheint alles ruhig zu sein. Ich werde zum Lager zurückhuschen und Vorräte holen. Bleibt wachsam. Ryld nickte und flüsterte: »Beeilt Euch.« Halisstra erhob sich und zog ihren Piwafwi eng um sich. Im Gang war es ruhig und finster, so wie schon seit Stunden. Sie schlich so lautlos wie möglich zurück in den Saal, in dem die anderen darauf warteten, daß Pharaun seine Zauber vorbereite te. Von vorn drangen Stimmen zu ihr. Quenthel und Danifae unterhielten sich. Eine düstere Vorahnung huschte wie ein finsterer Schatten über Halisstras Herz, denn als sie einen Augenblick darüber nachdachte, fiel ihr kaum etwas ein, worüber sich Danifae und Quenthel unterhalten konnten. Ich hätte sie nicht allein lassen sollen, schalt sie sich. Ich ließ mich von Quenthel herumkommandieren wie ein Mann! Langsam schlich sie weiter, ein lautloser Schatten in der Fins ternis. Sie sah Pharaun, der in eine Decke gewickelt dasaß, ver tieft in seine Träumerei, gegen die Wand gelehnt und die Augen halb geschlossen. Quenthel und Danifae saßen dicht zusammen, ein wenig von Pharaun abgewandt, womit sie sich in der Nähe des Gangs aufhielten, in dem Halisstra stand und lauschte.
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»Was glaubst du, was du tun wirst, wenn wir nach Menzo berranzan zurückkehren? Glaubst du, dort wartet auf deine Herrin ein hoher Posten?« fragte Quenthel mit verächtlichem, spöttischem Tonfall. »Ich weiß nicht«, erwiderte Danifae nach einer Weile. »So weit habe ich nicht gedacht.« »Unsinn! Du denkst intensiv nach, seit ich dich zum ersten Mal im Audienzsaal des Hauses Melarn sah. Ich wage sogar zu raten, was in diesem Augenblick in deinem Kopf vorgeht! Du fragst dich, wie du es schaffen kannst, mit Halisstra Melarn als deine Kriegsgefangene ins Haus Yauntyrr in Eryndlyn zurück zukehren.« »Ich würde nie wagen, so etwas zu denken ...« Quenthel lachte gehässig. »Spar dir deine unschuldigen Proteste für jemanden, der leichtgläubiger ist als ich. Du hast noch immer nicht meine Frage beantwortet. Warum sollte ich dich und deine Herrin nach Menzoberranzan mitnehmen?« »Meine Hoffnung ist«, sagte Danifae mit versagender Stimme, »daß ich eine Gelegenheit bekomme, Euch zu zeigen, von welchem Nutzen ich für Euch sein kann, damit Ihr ent scheidet, mir die Chance zu geben, Euch zu dienen.« »Wie ich sehe, antwortest du diesmal nicht für deine Her rin«, schnaubte Quenthel. »Ich soll deine treulose Anmaßung also damit belohnen, dich im Haus Baenre zu schützen, wenn ich doch weiß, daß du nichts weiter bist als eine opportunisti sche Natter, die ihre Herrin in dem Moment im Stich läßt, wenn ihr der Sinn danach steht?« »Ihr urteilt falsch«, sagte Danifae. »Die Tradition, die bes ten und nützlichsten Adligen eines besiegten Hauses aufzu nehmen, ist bei meinem Volk eine Lebensart. Meine Herrin und ...« In diesem Moment zischten und zuckten die Vipern an
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Quenthels Peitsche dicht vor Danifaes Gesicht und brachten sie zum Schweigen. »Ich glaube«, entgegnete Quenthel, »ich urteile richtig. Du bist ein einfältiges Kitz, dem es an der Kraft fehlt, sich davor zu bewahren, die Sklavin einer anderen zu werden. Du bist für mich nichts weiter als nutzloser Schmuck – oder aber du bist eine sehr geduldige und geschickte kleine Speichelleckerin, womit du für mein Haus auch nicht von Nutzen wärst.« Sie lehnte sich zurück und grinste Danifae an. »Vielleicht sollte ich Halisstra von dieser Unterhaltung in Kenntnis setzen. Ich bezweifle, daß deine Herrin erfreut wäre zu erfahren, was du alles in ihrem Namen annimmst. Es geziemt sich nicht.« »Das ist Euch vorbehalten, Herrin«, sagte Danifae und deu tete mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Ihr könnt mit mir verfahren, wie Ihr wollt. Ich kann mich Euch nur zur Verfü gung stellen.« Sie hob den Kopf und leckte sich die Lippen. »In meiner Gefangenschaft habe ich verstehen gelernt, was es bedeutet, Macht über einen anderen auszuüben. Wenn ich nicht selbst solche Macht ausüben kann, dann bleibt mir nur, mich in die Obhut einer Frau zu begeben, die diese Dinge auch versteht. Halisstra Melarn ist meine Herrin, aber nur, solange Ihr wollt. Wenn der Zeitpunkt kommt, da Ihr über diese Ange legenheit entscheiden wollt, dann bete ich dafür, daß Ihr mir Gelegenheit gebt, Euch meine Nützlichkeit zu demonstrieren und als Eure Sklavin zu leben. Ihr versteht es weit besser als meine Herrin, Macht auszuüben.« »Hör auf mit deinen sinnlosen Schmeicheleien, Mädchen«, fuhr Quenthel sie an, erhob sich und baute sich bedrohlich und mit einem Lächeln auf den Lippen vor der Dienerin auf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich sehe, was sich hin ter deinem schönen Gesicht abspielt. Außerdem ist die Wert schätzung des Schweigens die einzige Tugend, die ich bei de
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nen als angenehm empfinde, die ich unter meine Obhut neh me.« »Ich flehe Euch an, Herrin«, murmelte Danifae. Sie beugte sich vor, um das Gesicht an Quenthels Oberschenkel zu schmiegen, und schlang mit geschlossenen Augen die Arme um die Knie der Baenre. »Ich täte alles, um Eure Gunst zu erlangen. Ich flehe Euch an.« Quenthels schlangenköpfige Peitsche wand sich und ver grub sich in Danifaes silbernem Haar. Die Herrin der Akade mie stand schweigend da und lächelte noch immer kühl. Als sie nach unten griff und mit einer Hand sanft Danifaes Kinn anhob, beugte sie sich zugleich vor und sah ihr tief in die Au gen. »Hör zu«, flüsterte Quenthel. »Ich weiß genau, welches Spiel du spielst, aber du wirst nicht gewinnen. Die Frauen des Hauses Baenre sind aus härterem Zeug gemacht als die des Hauses Melarn. Genieße jeden Herzschlag, dummes Mädchen, denn in dem Augenblick, in dem ich dich nicht mehr amüsant finde, endet dein Leben.« Quenthel löste sich aus der Umklammerung und entfernte sich, um wieder ungeduldig in der Kammer auf und ab zu ge hen. Danifae erhob sich und kehrte dorthin zurück, wo sie sich befunden hatte, als Halisstra gegangen war. Sie kniete sich huldvoll hin und sammelte sich, um zu warten. Halisstra atmete im Schatten des Gangs langsam aus und zwang ihre Gliedmaßen, wieder Ruhe zu finden. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie sich angespannt hatte. Was soll ich damit anfangen? überlegte sie. Mehr als einmal hatte sie sich in den vielen Jahren Danifaes Schönheit bedient, um sich eine Gunst zu sichern. Wenn sie Danifae zur Rechenschaft zog, wieso sie es gewagte hatte, in Halisstras Abwesenheit auf Quenthel zuzugehen, dann konnte
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sie sich die Antwort schon jetzt denken. Danifae würde be haupten, sie habe nur herausfinden wollen, wie Quenthel zu Halisstra stehe, indem sie die bröckelnde Loyalität zum Haus Melarn vortäuschte – eine plausible Entschuldigung, um sich Quenthel unter diesen Umständen zu nähern. Danifae konnte darauf beharren, sie habe Quenthel nur gesagt, was sie hatte hören wollen, um in Erfahrung zu bringen, ob es für sie und ihre Herrin einen Platz im mächtigen Haus der Priesterin gab. Wahrscheinlich würde sie dann eine ganze Reihe unterwürfi ger Entschuldigungen folgen lassen und Halisstra bitten, sie zu töten, wenn ihr Handeln aus irgendeinem Grund den Mißfal len ihrer adligen Herrin erregt haben sollte. Aber war auch anzunehmen, daß Danifae sich nicht unter falschen Voraussetzungen Quenthel genähert hatte? Wenn die Dienerin einen Weg fand, sich von dem Bindezauber zu befrei en, der sie zur Gefangenen machte, dann würde sie dafür Quenthels Zustimmung benötigen, da sie ansonsten die Frei heit womöglich auf Kosten ihres Lebens erlangte. Es war durchaus möglich, daß nur die tödliche Launenhaftigkeit einer hochgeborenen Priesterin Danifae davon abhielt, um die Auf lösung ihrer Unterwerfung zu bitten. Sollte Danifae ihre Frei heit erlangen und darauf hoffen, daß Quenthel ihr diese Frei heit weiterhin garantierte, dann konnte es durchaus sein, daß die Baenre sich entschied, die Frau allein wegen dieser Anma ßung zu vernichten. Jeder Drow wäre es ein Vergnügen, den Träumen einer Sklavin Nahrung zu geben, um sie dann in einem Augenblick finsterer Lust zu zerschmettern. Noch vor einem Tag hätte Halisstra Danifae als ihren kost barsten Besitz bezeichnet. Sie war nicht nur zu unerschütterli cher Loyalität verpflichtet, sondern sie diente sogar als Ver traute, vielleicht sogar als ihre Freundin – auch wenn ihre Treue bloß die Folge eines Zaubers war. Sie hatten vieles ge
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teilt und gemeinsam zahlreiche Intrigen geplant. Danifae war ihr bereitwillig in ihr selbstauferlegtes Exil gefolgt, hatte frei willig ihre Leiden mitgetragen und ihren Dienst fortgesetzt. Natürlich hätte sie einen schrecklichen Preis dafür gezahlt, wenn sie nach Halisstras Flucht im Haus Melarn geblieben wäre. Aber war sie ihr etwas zu bereitwillig gefolgt? »Hier stehe ich und habe Angst davor, meine Dienerin zur Rede zu stellen oder zu disziplinieren«, hauchte Halisstra. »Lolth hat mich wahrhaft tief sinken lassen.« Halisstra hatte die Kälte in ihrem Herzen wieder unter Kon trolle und kehrte behutsam zu Ryld zurück. Der Appetit war ihr vergangen, doch sie durfte keinen Verdacht aufkommen lassen. Also machte sie erneut kehrt und begab sich ins Ver steck der Gruppe, wobei sie sich ein leises Schlurfen ihrer Stiefelsohlen auf dem sandbedeckten Steinboden erlaubte, das sich in der Totenstille der Kammer fortpflanzte. Quenthel und Danifae sollten glauben, daß sie nichts mitbekommen hatte, doch von nun an würde sie die beiden noch genauer im Auge haben.
Nimor Imphraezl war auf seinem Weg durch die prachtvollen Paläste und zerklüfteten Stalagmiten von Qu’ellarz’orl, hatte den Piwafwi eng um sich gezogen und die Kapuze hochgeschla gen. Er trug das Abzeichen eines Kaufmanns und gab sich als wohlhabender Bürgerlicher aus, der geschäftlich auf dem Hochplateau der hochmütigsten Adelshäuser Menzoberranzans unterwegs war. Es war keine gute Tarnung, denn jeder, der seine selbstbewußte Gangart und sein schmissiges Auftreten aufmerksam beobachtete, würde ihn auf Anhieb als einen adligen Drow erkennen. Diese Art der Verkleidung war bei hochwohlgeborenen Männern nichts Ungewöhnliches, wenn
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sie unerkannt bleiben wollten. Mit dem einen oder anderen ihm zur Verfügung stehenden Zauber hätte er so gut wie jedes Aussehen annehmen können, das ihm in den Sinn kam, doch Nimor hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß die einfachs ten Tarnungen oft die besten waren. Die meisten Drow-Häuser wurden durch Verteidiger bewacht, die sofort merkten, wenn sich ihnen jemand näherte, der den Schleier einer Illusion um sich gelegt hatte. Eine gewöhnliche Tarnung zu durchschauen, erforderte dagegen einen weltlichen Scharfsinn, den manche Drow vergessen hatten. Zwei Soldaten der Baenre kamen ihm entgegen und be trachteten ihn neugierig und mit einem gewissen Argwohn. Nimor verbeugte sich tief und sprach einen gefälligen Gruß. Die beiden sahen noch ein- oder zweimal über die Schulter nach ihm, doch dann widmeten sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten. Junge Baenre-Männer waren zögerlich ge worden, wenn es darum ging, einen Streit vom Zaun zu bre chen, es sei denn, sie waren sich ihrer Sache wirklich sicher. Nimor machte auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel noch einen Umweg, damit er sichergehen konnte, daß sie nicht auf die Idee gekommen waren, ihn zu verfolgen. Nach einem letz ten scharfen Knick, mit dem er jeden Verfolger abschütteln würde, wandte er sich dem von hohen Mauern umgebenen Palast zu, der nahe dem Zentrum der Hochebene stand, und näherte sich dem festungsähnlichen Tor. Agrach Dyrr, das fünfte Haus Menzoberranzans, erstreckte sich in und um neun nadelgleiche Felstürme, die am Rand eines großen Grabens gelegen waren. Jeder spitz aufragende Fels war mit seinem Nachbarn durch eine elegante Wand aus mit Diamantspat verstärktem Stein, die unglaublich schlank und extrem fest war, verbunden. Schwebende Strebepfeiler, die Klingen glichen und hübsch anzusehen waren, bildeten
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eine Verbindung zwischen den natürlichen Türmen und jenen von Drow-Hand geschaffenen, eine dicht gedrängte Ansamm lung von Minaretten und Spitzen inmitten der Anlage, die sich viele hundert Meter über der Ebene in die Höhe erstreck te. Eine Brücke ohne Geländer überspannte in einem einzigen eleganten Bogen die Kluft, die das Bauwerk umgab. Nimor erklomm die Brücke und näherte sich gut sichtbar. Am anderen Ende versperrten ihm mehrere Schwertkämpfer und zwei kompetent wirkende Magier den Weg. »Halt«, rief der Mann am Tor. »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?« Der Assassine blieb stehen. Er spürte die unzähligen Mord werkzeuge, die auf ihn gerichtet waren, als könnte er auf die Idee kommen, irgendeine völlig unangemessene Antwort zu geben. »Ich bin Reethk Vaszune, Händler in magischen Ingredien zen und Reagenzien«, erklärte er und verbeugte sich, während er seine Arme ausbreitete. »Ich bin vom Alten Dyrr bestellt worden, um über einen Kauf meiner Waren zu sprechen.« Der Hauptmann am Tor wurde gelassener und sagte: »Der Meister hat uns Euer Kommen angekündigt. Kommt.« Nimor folgte dem Hauptmann durch eine Reihe ausladen der Empfangssäle und hoher, ein deutliches Echo werfender Räumlichkeiten bis ins Herz des Schlosses von Agrach Dyrr. Dort wies der Hauptmann auf einen kleinen Warteraum, der mit exotischen Korallen und Kalkstein kunstvoll ausgestattet war, die alle an die Motive der Kuo-toa angelehnt waren, jener Fischwesen, die in manchen Seen des Unterreiches lebten. Der Raum, der exotisch genug war, um den Reichtum und Ge schmack des Hauses zu belegen, strahlte Arroganz aus. »Ich bin darüber informiert, daß Meister Dyrr in Kürze zu uns stoßen wird«, sagte der Hauptmann der Wache.
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Im nächsten Moment öffnete sich lautlos eine Geheimtür in der gegenüberliegenden Wand, dann tauchte der Alte Dyrr auf. Der uralte Magier war wahrhaft alt und auch alters schwach, ein Anblick, wie man ihn von einem Elf nicht ge wöhnt war, von einem Drow ganz zu schweigen. Er stützte sich auf einen Stab aus schwarzem Holz, und seine ebenso schwarze Haut schien so dünn und empfindlich wie Pergament. In den Augen des Mannes brannte ein heller, kalter Funke, der an deutete, daß Ehrgeiz und Lebenskraft trotz des hohen Alters noch immer in vollem Umfang vorhanden waren. »Wir sind erfreut, Euch so schnell wiederzusehen, Meister Reethk«, erklärte der alte Drow mit rauher Stimme. »Hattet Ihr Gelegenheit, die Dinge zu erwerben, über die wir gespro chen haben?« »Ich denke, Ihr werdet zufrieden sein, Meister Dyrr«, ant wortete Nimor. Er sah den Hauptmann an, der wiederum seinen Blick auf den alten Magier gerichtet hatte, um sicher sein zu können, daß er wegtreten durfte. Dyrr schickte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung fort, dann beschrieb der Magier eine andere Geste und sprach ein arkanes Wort, woraufhin der Raum von einer Sphäre aus wabernder Schwärze umgeben wurde, die wie ein Lebewesen leise fauchte und stöhnte. »Ich hoffe, du wirst mir vergeben, daß ich Vorkehrungen treffe, um sicherzustellen, daß unsere Unterhaltung unter uns bleibt, Junge«, keuchte der alte Drow. »Lauschen scheint uns in die Wiege gelegt zu sein.« Er schlurfte zu einem kunstvoll geschnitzten Stuhl und setz te sich langsam hin, wobei es ihm nichts auszumachen schien, daß er damit Nimor sein ungeschütztes Genick als Ziel bot. »Eine sinnvolle Maßnahme«, sagte Nimor. Der Alte stellt für mich keine Gefahr dar, dachte der Assas
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sine. Entweder vertraut er mir – was eher unwahrscheinlich ist –, oder er ist sich seiner Sache sehr sicher. Wenn seine Zuver sicht so groß ist, daß er sich mit mir hier einschließt, dann hat er keine Vorstellung von meiner Kraft, oder aber ich schätze ihn völlig falsch ein. »Es ist Zuversicht, Junge«, erklärte der Alte plötzlich, »und du schätzt mich völlig falsch ein, weil wir beide mehr sind, als es den Anschein hat.« Dyrr lachte feucht und rasselnd. »Ich kenne deine Gedanken. Ich bin nicht durch Sorglosigkeit so alt geworden. Nun setz dich. Wir lassen die Spiele bleiben und kommen zum Geschäft.« Nimor spreizte in einer Geste der Fügung die Hände und nahm gegenüber dem Alten Platz. Sorgfältig ordnete er seine Gedanken und versteckte seine dunkleren Geheimnisse an einem Ort, mit dem er sich nicht befassen würde, solange Dyrr bei ihm war und seine Gedanken las. Statt dessen konzentrier te er sich ausschließlich auf die anstehende Angelegenheit. »Ihr habt zweifellos vom unerfreulichen Ende der Mutter matrone des Hauses Faen Tlabbar gehört«, sagte der Assassine, »und von ihrer Tochter Sil’zet.« »Es ist mir nicht entgangen. Die Tlabbars beklagten sich lautstark beim Rat. Was haben sie nur erwartet, zu welcher Reaktion sie die anderen Muttermatronen würden veranlassen können?« »Vielleicht war die Trauer übermächtig«, gab Nimor zu rück. Langsam griff er in eine Tasche an seiner Seite – so lang sam, daß der Magier auf diese Bewegung aufmerksam werden konnte – und holte eine Platinbrosche hervor, die das doppelt geschwungene Symbol Faen Tlabbars aufwies und mit einem dunklen Rubin geschmückt war. Nimor legte sie auf den Tisch. »Das Hausemblem der Muttermatrone, das ich für Euch als
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Andenken an mich nehmen konnte. Ich hoffe, Ihr seid gegen jede Ausspähung gut abgeschirmt, Meister Dyrr. Zweifellos werden die Tlabbar all ihre Magie einsetzen, um dieses Emb lem zu finden.« »Dumme Kinder, die im Dunkeln tappen«, murmelte Dyrr. »Vor fünfhundert Jahren hatte ich mehr über die Kunst ver gessen, als all deren Magier in ihrer Ausbildung hinweg über Jahre haben entziffern können.« Er streckte eine fast skelettartige Hand aus und nahm die Brosche an sich. »Ich bin sicher, Ihr habt Mittel und Wege, um die Echtheit dieser Brosche zu bestätigen.« »Ich glaube dir auch so, Assassine. Ich glaube nicht, daß du mich betrogen hast, doch werde ich mich zur Sicherheit später noch damit befassen.« Der Magier legte die Brosche wieder weg und lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten. Nimor wartete geduldig, wäh rend Dyrr es sich bequem machte und mit einem seiner lan gen, schmalen Finger auf seinen Stab klopfte und zufrieden lächelte. »Nun«, sagte der Alte schließlich. »Bei unserem letzten Treffen verlangte ich von dir, unter Beweis zu stellen, wie lang und wie stark der Arm deiner Bruderschaft ist, indem du einen Feind meines Hauses aus dem Weg räumst, und ich darf an nehmen, daß du exakt das getan hast. Jetzt hast du meine Aufmerksamkeit. Was also wollen die Jaezred Chaulssin von Haus Agrach Dyrr?« Nimor rutschte auf seinem Platz umher und warf dem Ma gier einen stechenden Blick zu. Dyrr war tatsächlich sehr gut informiert, wenn er diesen Namen kannte. Nur wenigen au ßerhalb Chaulssins war er bekannt, und Nimor hatte sogar ganz gezielt vermieden, ihn ins Spiel zu bringen, als er mit dem
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alten Fürsten zum ersten Mal Kontakt aufgenommen hatte. Er fragte sich, welche Hinweise der Magier hatte entschlüsseln können. Auch fragte er sich, ob Dyrr im Besitz dieses Wissens sein durfte. »Sei nicht voreilig«, warnte Dyrr ihn. »Du hast nichts ver raten, was ich nicht schon längst wußte. Ich bin mir schon lange des Hauses der Schatten bewußt.« »Ich bin beeindruckt«, sagte Nimor. »Im Gegenteil, du glaubst, ich prahlte, ohne etwas zu wis sen«, widersprach Dyrr kühl lächelnd. »Ich neige nicht zum Bluffen oder Raten. Es ist lange her, daß ich zum ersten Mal auf ein Muster an Aktivitäten aufmerksam wurde, das eine große Anzahl an Städten unserer Rasse einbezog und das auf die Existenz einer geheimen Liga zwischen nur scheinbar schwachen, da niederen Häuser schließen ließ, von denen jedes für das Geschick seiner Assassinen bekannt ist und über die behauptet wird, sie würden von Männern geführt, die alle untereinander heimliche Verbündete sind. Diese Familien, die normalerweise von ihren ehrgeizigen matriarchalischen Riva len geschluckt worden wären, konnten durch den praktischen, brutalen Tod eines jeden auftauchenden Feindes überleben. Allerdings empfinde ich es als ironisch, daß jedes Haus der Jaezred Chaulssin per Definition von der Stadt, die das Pech hat, es zu beherbergen, als übelste Sorte von Verrätern be trachtet werden muß. Das eigene Haus über die eigene Stadt zu stellen, ist keine besonders ungeheuerliche Sünde. Aber es ist eine andere Sache, wenn man einem Haus in einer anderen Stadt seine Loyalität einräumt, findest du nicht auch?« Nimor achtete darauf, daß ihm keine unpassenden Gedan ken durch den Kopf gingen, als er sagte: »Ihr scheint all unsere Geheimnisse zu kennen.« Eindringlich betrachtete er Dyrr, während er versuchte,
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nichts von den Berechnungen erkennen zu lassen, mit denen er sich auf andere Gedanken brachte. »Nicht alle«, erwiderte Dyrr. »Ich gäbe viel dafür zu erfah ren, wie deine Bruderschaft in ihren Häusern für Ordnung sorgt, wo eure wahre Stärke liegt und wer über euren Bund herrscht. Ihr nennt euch nach der Stadt Chaulssin, über die sich vor vielen hundert Jahren ein Schatten legte. Ich frage mich, welche Bedeutung euer Name hat.« Er weiß mehr, als wir zulassen können, dachte Nimor und sah auf. Ihm wurde bewußt, daß Dyrr diesen Gedanken be merkt haben mußte. Der Alte betrachtete ihn einfach mit seinem trüben Blick und nickte. Der Assassine bekam seine Gedanken wieder unter Kontrolle und entschied, das Thema zu wechseln. »Um unserer Freundschaft willen gebe ich mit allem nöti gen Respekt zu bedenken, daß es am besten für alle Beteiligten wäre, wenn Ihr mit Eurem Wissen nichts unternehmt, was irgend jemanden aufmerksam werden lassen könnte. Wir sind der festen Überzeugung, daß unsere Geheimnisse am besten das bleiben, was sie sind – geheim.« »Ich werde tun, was ich will. Jedoch möchte ich mir nicht eure Feindschaft einhandeln. Ich glaube, es wäre unangenehm, die Jaezred Chaulssin zum Feind zu haben.« »Es wäre nicht unangenehm. Es wäre tödlich.« »Vielleicht. Jedenfalls werde ich eure Geheimnisse wahren.« Dann lachte der Alte leise und umklammerte mit seinen ausgezehrten Händen den Stab. »Nun gut, kommen wir zum Geschäft, Junge. Du und deine Freunde, ihr habt mit dem Mord an Muttermatrone Tlabbar, der Feindin meines Hauses, bewiesen, wozu ihr fähig seid. Ich bin beeindruckt. Was wollt ihr?« »Ich brauche einen Verbündeten in Menzoberranzan, Meis
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ter Dyrr, und ich habe den starken Verdacht, daß Ihr dieser Verbündete sein könntet.« Nimor beugte sich vor und grinste. »Es spielen sich Dinge in dieser Stadt ab, die zum Niedergang der Häuser über Euch führen werden. Wenn Ihr Euch ent scheidet, daran teilzuhaben, dann werdet Ihr sehen, daß sich dem Haus Agrach Dyrr die große Gelegenheit bietet, weitest gehend so über die Stadt zu herrschen, wie es Euch beliebt. Wir glauben, Ihr könnt uns helfen, Menzoberranzan durch die schwierigen Zeiten zu steuern, die vor uns liegen.« »Was, wenn wir uns weigern? Werden wir dann sterben?« Nimor zuckte die Achseln. »Angesichts der derzeitigen ungewissen Lage«, sagte Dyrr, »habe ich Vorbehalte, mich einer Sache zu verschreiben, über die ich kaum etwas weiß.« »Verständlich. Ich werde es Euch erklären, doch ich hoffe, daß Ihr es in solch ungewissen Zeiten als weise erachten wer det, aggressiv und entschlossen vorzugehen, um die Gewißheit zu erreichen, an der Euch gelegen ist. Stellt Eure Visionen über die Ereignisse, anstatt zuzulassen, daß die Ereignisse Eure Phan tasie einengen.« »Leicht gesagt, Junge, aber schwierig in die Tat umzuset zen«, meinte Dyrr. Der Alte versank für eine ganze Weile in tiefes Schweigen und betrachtete mit haßerfülltem, starrem Blick sein Gegen über. Nimor hielt dem Blick stand, doch er stellte sich aber mals die Frage, über welche verborgene Kraft dieser Magier verfügen mochte. Wieder lächelte Dyrr, da er Nimors Gedan ken gelesen hatte. »Nun, Prinz von Chaulssin. Ihr habt meine Neugier ge weckt. Erklärt mir präzise, was Ihr meint und was Ihr plant, und dann werde ich Euch sagen, ob das Haus Agrach Dyrr sich hinter Eure mutigen Aktionen stellen kann oder nicht.«
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»Kommt zusammen, werte Freunde«, verkündete Pharaun mit einer ausholenden Geste, »dann werde ich Euch einige Dinge erklären, die Ihr besser nicht vergessen solltet, wenn wir uns in den Schatten bewegen.« Der Magier stand in der Mitte des Raums, die Arme gefal tet, und ließ nach der verzweifelten Flucht des nahezu abgelau fenen Tages keine Spur von Erschöpfung oder Hoffnungslosig keit erkennen. Er war kurz vor Sonnenuntergang aus seiner Träumerei erwacht und hatte fast eine Stunde damit zuge bracht, Dutzende von Zaubern aus seinen gesammelten Bän den vorzubereiten. Zwar machte sich keiner der Anwesenden die Mühe, sich zu nähern, dennoch richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Pharaun grinste erfreut darüber, daß jeder von ihm Notiz nahm. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, als würde er irgendwelchen Schülern in Sorcere einen Vortrag halten, und begann: »Sobald wir bereit sind, werde ich uns auf einen Weg führen, der am Rand entlangführt – dem Rand der Ebene der Schatten. Wir werden zügig reisen, und kleinere Hinder nisse wie verschneite Gebirge, hungrige Monster und dickköp fige Menschen werden kein Thema sein. Ich gehe davon aus, daß wir zehn bis zwölf Stunden marschieren müssen, ehe wir Mantol-Derith erreichen, vorausgesetzt natürlich, ich verlaufe mich nicht und führe Euch alle in ein grausiges Ende auf einer wilden Ebene weit weg von Faerûn.« »Deine Worte machen mir keinen Mut, Pharaun«, seufzte Ryld. »Oh, ich habe mich noch nie im Tiefschatten verirrt, und ich kenne auch keinen Magier, dem das je widerfahren ist. Natürlich würde man auch nie wieder von einem Kollegen
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hören, dem etwas Derartiges widerfährt, daher kann es natür lich sein, daß sich durch einen Fehltritt beim Schattenwan deln das Verschwinden eines jungen Magiers erklären ließe, den ich mal kannte und der ...« »Zur Sache«, herrschte Quenthel ihn an. »Gut. Es gibt zwei wichtige Dinge, an die diejenigen unter uns denken müssen, für die dieses Unternehmen eine Heraus forderung darstellt. Erstens: Zwar müssen wir uns nicht vor Schwierigkeiten fürchten, während wir uns durch diese Welt bewegen, doch wir genießen keinen speziellen Schutz vor den Gefahren auf der Ebene der Schatten. Es gibt dort Dinge, die sich gegen unsere Durchreise aussprechen werden, wenn sie auf uns stoßen. Ich begegnete selbst einer solchen Kreatur, als ich das letzte Mal auf diese Weise reiste – und fast wäre es für mich das letzte meiner wunderbaren Abenteuer geworden.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Zweitens, und das ist das wichtigste überhaupt: Verliert mich nie aus den Augen. Bleibt dicht hinter mir und folgt genau meinem Weg. Wenn Ihr den Kontakt zu mir verliert, während wir uns auf der Ebene der Schatten bewegen, werdet Ihr wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit durch diese düstere Einöde wandern – oder so lange, bis Euch irgend etwas Schreckliches verspeist, was wahr scheinlich eher passieren wird. Ich muß mich die ganze Zeit über völlig darauf konzentrieren, den Zauber aufrechtzuerhal ten und am Rand entlangzugehen. Also macht Ihr es mir bitte nicht allzuleicht, Euch zu verlieren – es sei denn, ich kann einen von Euch nicht leiden. Dann steht es Euch frei, Euch nach Belieben in Tiefschatten umzusehen.« »Wird es den Lamien möglich sein, uns zu folgen?« fragte Ryld, der nach wie vor den Gang im Auge hatte, der zu den Ruinen über ihnen führte. »Nein, es sei denn, sie hätten einen so erfahrenen und net
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ten Magier wie mich, der zudem noch einen Zauber kennt, mit dem es ihm möglich ist, Schattenwandler aufzuspüren – einen Zauber also, der mir nicht bekannt ist.« Pharaun lächelte. »Du wirst in der Lage sein, den Staub von deinen Stiefeln zu schüt teln, Freund Ryld. Sorge dich nicht mehr um die Gefahren an diesem Ort hier, sondern spar dir deine Bedenken für das auf, was uns am Rand begegnen könnte.« Pharaun sah sich um und nickte zufrieden. »Nun denn. Faßt Euch an der Hand – ja, das ist gut, Jeggred, du kannst alle gleichzeitig festhalten, nicht wahr? – und wahrt Ruhe, während ich den Zauber wirke.« Pharaun hob die Hände und murmelte eine Reihe arkaner Silben, als er seinen Zauber durchging. Halisstra stand zwischen Danifae und Valas Hune und hielt sie an den Händen. Der große unterirdische Gang wurde auf eine seltsame Weise noch finsterer, wenn so etwas in einem unbeleuchteten Raum unter der Erde überhaupt möglich sein konnte. Drow konnten auch in der tiefsten Finsternis noch gut sehen, doch Halisstra kam es vor, als hinge eine Art Nebel in der Luft. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre es Pharaun gerade mal gelungen, die Gruppe mit einem düsteren Schein zu umgeben, doch als sie ihre Umgebung genauer betrachtete, erkannte sie, daß sie sich nicht länger auf Faerûn befand. Ein unnatürlicher Schauder lief über ihre Haut, der von dem kal ten Staub unter ihren Füßen ausging. Die hohen, runenüberzo genen Säulen, die den Raum gesäumt hatten, waren zu Zerr bildern geworden, die bizarr über die Kammer hinaus nach oben ragten. »Seltsam«, murmelte sie. »Ich hatte erwartet, es würde ir gendwie ... anders sein.« »So ist der Schatten, werte Dame«, erwiderte Pharaun. Sei ne Stimme klang tonlos und weit entfernt, obwohl er keine zwei Meter von ihr entfernt stand. »Die Ebene besitzt keine
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eigene Substanz. Sie besteht aus den Echos unserer eigenen Welt und denen anderer, fremdartigerer Orte. Wir stehen im Schatten der Ruinen über uns, aber es sind nicht die gleichen Ruinen, durch die wir erst vor kurzem noch gereist sind. Die Lamien und ihre Diener existieren hier nicht. Nun denkt dar an, was ich gesagt habe: Bleibt zusammen und verliert mich nicht aus den Augen.« Der Magier machte sich auf den Weg durch den Gang, der an die Oberfläche führte. Halisstra blinzelte. Er machte nur einen kleinen Schritt, als er sich von der Gruppe wegdrehte, doch im nächsten Moment stand er schon am anderen Ende des Raums, und ein weiterer Schritt brachte ihn bedenklich weit in den Gang davor. Sie beeilte sich, zu ihm aufzuschlie ßen, mußte aber feststellen, daß ein Schritt genügte, um den Raum in Dunkelheit verwischen zu lassen. Sie stand im glei chen Augenblick so dicht vor Pharaun, daß sie sich zwingen mußte, nicht zurückzuweichen und so den Abstand zu ihm nur wieder zu vergrößern. Pharaun lächelte angesichts ihrer Verwirrung und sagte: »Ich fühle mich von dieser Aufmerksamkeit geschmeichelt, meine Dame, aber Ihr müßt nicht ganz so dicht bei mir blei ben.« Er lachte. »Macht einfach nur dann einen Schritt, wenn ich einen mache, dann werdet Ihr leichter in meiner Nähe bleiben.« Er machte einige langsame, gemäßigte Schritte und hielt sich zurück, bis der Rest der Gruppe allmählich den Dreh fand. Augenblicke später gingen sie bereits unter einem kalten und sternenlosen Himmel durch die staubigen Straßen von Hlaun gadath. Jeder Schritt schien Halisstra zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter auf dem düsteren Gelände voranzubringen. Die schwarzen Umrisse der Ruinen starrten sie an und streckten sich ihnen von allen Seiten entgegen, sie waren dicht über die
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Straße gebeugt, als wollten sie die Reisenden einschließen, um dann beim nächsten vorsichtigen Schritt zu schwarzen Flecken zu verwischen. Als sie die Ruinen hinter sich gelassen hatten, hielt Pha raun kurz an, um einen Blick auf die Gruppe zu werfen. Mit einem Nicken deutete er auf die Wüste, die sich im Westen bis zu den eisigen Bergen erstreckte, dann begann er rasch zu mar schieren und legte ein Tempo vor, das sein erschöpftes Verhal ten und seine Abneigung gegen die Mühen des Reisens Lügen strafte. Halisstra, die nun endlich Gelegenheit bekam, ihre Beine zu strecken, bekam allmählich ein Gefühl dafür, wie schnell sie vorankamen. Nach fünf Minuten hatten sie die nesserische Stadt, die nur noch ein dunkler Fleck in der düste ren Sandlandschaft war, bereits kilometerweit hinter sich ge lassen. Nach einer halben Stunde ragten die Berge, die kurz zuvor noch wie ein ferner Zaun aus schneebedeckten Spitzen ausgesehen hatten, wie ein nächtlicher Wall vor ihnen auf. Das Schattenwandeln erleichterte auch die Bewältigung jedes noch so unwegsamen Geländes auf ihrem Weg. Ohne zu zö gern machte Pharaun einen Schritt über eine steile Schlucht, als gäbe es sie gar nicht. Die Magie seines Zaubers und die seltsame Ebene, auf der sie sich bewegten, sorgten dafür, daß er seinen Fuß sicher auf die andere Seite des Hindernisses setzen konnte. Die zerklüfteten Hänge zu bezwingen, die hinauf zu den Bergen führten, war nicht mühsamer, als würde man von Stein zu Stein springend einen Fluß überqueren. »Sagt, Pharaun«, fragte Quenthel nach einer Weile, »wa rum sind wir Kilometer um Kilometer durch das gefährliche Unterreich gekrochen, um nach Ched Nasad zu gelangen, wenn Ihr mit diesem Zauber unsere Reise deutlich hättet ver kürzen können?« Trotz der Finsternis entlang des Randes des Schattens fühlte
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Halisstra den Zorn in der Stimme, den die Baenre nur schwer bändigen konnte. »Aus drei Gründen, liebe Quenthel«, erwiderte Pharaun, ohne seinen Blick von dem unsichtbaren Pfad abzuwenden, dem er folgte. »Erstens habt Ihr mich nicht gebeten, etwas in dieser Art zu machen. Zweitens hatten die Magier Ched Na sads gewisse Vorkehrungen gegen ein Eindringen auf diese oder ähnliche Weise getroffen, und wie ich eben bereits erklär te, ist der Rand ein gefährlicher Ort. Ich habe dies hier erst vorgeschlagen, nachdem wir alle der Meinung waren, ein mo natelanger Marsch über die von der Sonne beschienene Ober fläche sei eine noch unerfreulichere Aussicht.« Quenthel schien über die Antwort Pharauns nachzudenken, während die Berge rasch hinter ihnen zurückfielen und um sie herum verdrehte schwarze Bäume auftauchten. »In Zukunft«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths, »erwarte ich von Euch, daß Ihr nützliche Informationen oder Vorschlä ge zu einem früheren Zeitpunkt preisgebt. Euer Widerwille, Ideen mitzuteilen, kann uns das Leben kosten. Ist das das billi ge Vergnügen wert, das Ihr dabei habt, etwas zu wissen, was wir nicht wissen?« Die Zähne des Meisters Sorceres leuchteten in seinem dunklen Gesicht, während er weiterging, ohne auf diese Be merkung einzugehen. Eine Weile richtete er seine ganze Auf merksamkeit darauf, sich entlang des Randes zu bewegen. Un ter normalen Umständen war Pharaun der geschwätzigste der Gruppe, doch da er sich völlig auf seinen Zauber konzentrieren mußte, verfielen alle Dunkelelfen, die ihm folgten, in ein un gewöhnliches Schweigen. Aufmerksam marschierten sie hinter ihm her und bildeten eine lange Schlange, die dem Magier folgte, während sich die unermeßliche Reise durch die Finster nis dahinzog und Stunden oder gar Tage dauern mochte. Ha
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lisstra begann, sich dem sonderbaren Gedanken zu widmen, dies hier sei die wirkliche Welt, die wahre Substanz aller Din ge, und die fade Starrheit ihrer eigenen Welt sei die eigentli che Illusion. Sie stellte fest, daß der Gedanke sie in keiner Weise berührte. Viel Zeit verstrich, ehe Pharaun die Hand hob und die Gruppe anhalten ließ. Sie befanden sich auf einer kleinen grauen Steinbrücke, die eine tiefe Schlucht überspannte, durch die ein düsterer, gurgelnder Strom verlief. In der Nähe ragten die schwarzen Zinnen einer verlassenen Stadt in den lichtlosen Himmel, ein Ort, der mehr nach einer Festung als nach einer Stadt aussah und dessen massive Mauern von mit Türmen besetzten Toren unterbrochen wurden. »Wir haben etwa die Hälfte der Strecke bis zu unserem Ziel zurückgelegt«, sagte Pharaun. »Ich schlage vor, wir ruhen eine halbe Stunde aus und nehmen vielleicht eine Mahlzeit zu uns, wenn unsere Vorräte die noch hergeben. Es sollte möglich sein, unsere Vorräte aufzufüllen, wenn wir Mantol-Derith erreichen.« Ryld wies auf die verlassene Burg und fragte: »Was ist das?« »Das?« Pharaun warf einen Blick über seine Schulter. »Wer weiß? Vielleicht das Echo einer Stadt an der Oberfläche unse rer Welt, vielleicht aber auch der Widerschein einer völlig anderen Wirklichkeit. So ist der Schatten.« Die Gruppe kauerte sich an die niedrige Steinmauer der Brücke und stellte aus den schwindenden Vorräten ein bemit leidenswertes Mahl zusammen. Die unablässig zu spürende Kälte dieses Ortes entzog Halisstras Körper die Wärme, als verzehrten sich die Steine unter ihren Füßen nach ihrer Le bensenergie. Die Finsternis schlug ihnen allen aufs Gemüt und machte jeden Versuch einer Unterhaltung zunichte. Es war kaum möglich, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Als
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der Zeitpunkt gekommen war, sich wieder aufzumachen, war Halisstra überrascht, welche völlige Lethargie von ihren Gliedmaßen Besitz ergriffen hatte. Sie wollte sich nur noch zu Boden sinken lassen und einfach von Schatten eingehüllt liegenbleiben. Nur eine gezielte Willensanstrengung machte es ihr möglich, sich wieder in Bewegung zu setzen. Sie waren wieder auf dem Weg durch die niemals endende Nacht und hatten die alte Brücke schon weit hinter sich gelas sen, als Halisstra spürte, daß sie verfolgt wurden. Zuerst war sie sich nicht sicher. Was immer es war, das ihnen folgte, bewegte sich klammheimlich, und der fehlende Widerhall des Schat tens ließ sie nicht sicher sein, ob sie tatsächlich etwas gehört hatte. Etwas schien in der Finsternis zu flüstern und zu kichern, eine Präsenz, die sich mit einer Bewegung der reglosen Luft ankündigte, das leise Rauschen des Windes irgendwo hinter ihnen. Sie wandte sich um und betrachtete den Weg, den sie gegangen waren, um nach dem Verfolger Ausschau zu halten, konnte aber dort nichts weiter sehen als die müden Gesichter ihrer Gefährten. Valas Hune bildete die Nachhut der Gruppe und sah Ha lisstra an, als er zu ihr aufschloß. Spürt Ihr es auch? signalisierte er. »Was ist es?« fragte Halisstra. »Welche Art von Dingen lebt an einem solchen Ort?« Der Späher zuckte mit den Schultern. »Irgend etwas, das Pharaun Anlaß gibt, sich zu fürchten, was mich wiederum mit Sorge erfüllt.« Er streckte den Arm und drehte Halisstra um, damit sie den Rest der Gruppe sehen konnte. Entsetzt stellte sie fest, wie weit die anderen sich in den wenigen Augenbli cken entfernt hatten, die sie stehengeblieben war. »Kommt, wir wollen nicht zurückgelassen werden. Vielleicht ist das, was uns jagt, damit zufrieden, uns zu verfolgen.«
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Sie beeilten sich, um zu den anderen aufzuschließen – und da schlug ihr Verfolger zu. Aus den Schatten hinter ihnen schälte sich eine gewaltige Gestalt, die hoch aufragte und aus reiner Finsternis geschaffen war: ein schwarzer, gesichtsloser Riese, der mehr als sechs Meter groß war. Trotz dieser Größe bewegte er sich schnell und leise auf sie zu. Zwei leuchtende silberne Ovale kennzeichneten die Augen, und lange, spin nenähnliche Klauen griffen nach Halisstra und Valas. Das zischende Flüstern erfüllte die Köpfe der beiden mit gräßlichen Dingen, als würden sich fette, bleiche Würmer durch verwe sendes Fleisch fressen. »Pharaun!« rief Halisstra. Sie tastete nach ihrem Streitkolben, während sich der Riese näherte. Neben ihr stieß Valas einen Fluch aus und zog seine Klingen, während er die geduckte Haltung eines Kämpfers einnahm. Von der Kreatur ging ein Übelkeit erregender, greif bar kalter Hauch aus, so wie die Kälte, die die gesamte Ebene durchdrang, jedoch war sie in der Gegenwart des Monsters weitaus konzentrierter und boshafter. Der finstere Riese schimmerte und nahm ein fast öliges Aussehen an, dann machte er abrupt einen Satz nach vorn. Noch ehe Halisstra den anderen eine Warnung zurufen konnte, schickte ein Schlag mit der ausladenden Klauenhand sie zu Boden. Die Kreatur wandte sich ab und richtete ihre fahlen Augen auf Valas. Der Späher von Bregan D’aerthe schrie vor Entsetzen auf und wandte seinen Blick ab, ließ ei nen Kukri fallen und die Hand sinken, in der er die zweite seiner beiden Klingen hielt. Jeggred stieß eine Warnung aus und näherte sich mit ausge fahrenen Krallen dem Monster, das aber nur einen einzigen Schlag seiner langen schwarzen Hand benötigte, um den Halbdämon zu Boden gehen zu lassen. Der Draegloth stand
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sofort wieder auf und sprang vor, um tiefe schwarze Furchen in Oberschenkel und Bauch des Riesen zu schneiden, versuchte, die Kreatur auszuweiden, doch sobald die Klauen des Draegloth sich ein Stück weit in das Fleisch des Dings ge schnitten hatten, schlossen sich die Wunden wieder. »Zurück!« schrie Pharaun. »Es ist ein Nachtwandler. Ihm kann man nur mit mächtiger Magie schaden.« Der Magier setzte zu einem Zauber an, dann nahm ein grel ler grüner Lichtblitz Gestalt an und schoß auf die Kreatur zu, um ihren Torso möglichst weit oben zu treffen, doch die ver derbliche Energie glitt von der glatten schwarzen Haut der Kreatur ab und fügte ihr keinen Schaden zu. Deine Zauber sind nutzlos, flüsterte eine finstere, entsetzliche Stimme in Halisstras Kopf. Deine Waffen sind nutzlos. Du ge hörst nur, dumme Drow. »Das werden wir sehen«, knurrte Halisstra. Sie raffte sich auf und stürmte mit erhobenem Streitkolben vor. Die Waffe war mit einem Zauber belegt, und Halisstra hoffte, sie sei stark genug, um der Kreatur Schaden zuzufügen. Der lange Arm mit den todbringenden Krallen schlug nach ihr, doch Halisstra tauchte unter dem Griff des Monsters weg und hieb auf das Knie des Nachtwandlers. Von einem durch dringenden Krachen und einem Aufblitzen aktinischen Lichts begleitet detonierte die Waffe mit der Gewalt eines Donner schlags. Der Nachtwandler gab keinen Laut von sich, doch sein Knie gab nach, und er begann zu taumeln. Quenthels Peitsche schnitt durch die Luft und schnappte nach dem Gesicht der Kreatur. Die Vipern fraßen sich in das finstere Fleisch und rissen große, blutende Wunden. Dennoch schien das Ungeheuer von dem tödlichen Gift, das die Waffe absonderte, nicht angegriffen zu werden. Offenbar konnte selbst das stärkste Gift dem Schattengewebe nichts anhaben.
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Ryld wirbelte umher und schlug mit seinem Zweihänder nach der Kreatur. Der Nachtwandler versuchte, ihm die Klinge zu entreißen, doch der Meister Melee-Magtheres tänzelte nach hinten und schlug dem Geschöpf mit einem Hieb die halbe Hand ab. Der Nachtwandler schrie tonlos auf, der erzürnte Schrei schnitt sich durch den Kopf eines jeden in der Gruppe. Die Kreatur nahm von keinem anderen mehr Notiz, sondern richtete ihren haßerfüllten Blick auf Ryld und beschwor aus dem schwarzen Boden unter ihnen einen furchterregenden dunklen Rauch herauf, der jegliche Sicht nahm. Halisstra tastete sich durch den Nebel zurück und suchte nach dem Monster. Der Rauch brannte wie Vitriol in ihrer Nase und gab ihren Augen das Gefühl, in Flammen zu stehen. Dennoch kämpfte sie sich weiter, bis sie fühlte, daß der Riese vor ihr aufragte. Sie hob den Streitkolben und schlug erneut mit aller Kraft gegen das Bein der Kreatur. Neben sich hörte sie Quenthels Peitsche, hörte, wie sich die Vipern in finsteres Fleisch fraßen. Riesige Krallen schnitten sich durch den Rauch, zerrten an Halisstras Schild und drückten sie zu Boden. »Hier!« rief sie in der Hoffnung, die anderen mit in den Kampf zu holen, doch die ätzenden Dämpfe brannten wie ein Feuer in ihrer Kehle. Sie kniff die Augen zusammen und schlug blindlings nach der Kreatur. Der boshafte Wille des Nachtwandlers legte sich wie ein Tuch aus Wahnsinn über sie und versuchte, sie jegli cher Vernunft zu berauben, doch sie widersetzte sich diesem neuerlichen Angriff und schlug weiter nach ihrem Widersa cher. Rylds Schwert schnitt wie eine weiße Rasierklinge durch den Nebel und fügte dem Leib der Schattenkreatur verheeren de Wunden zu. Schwarze Flüssigkeit spritzte wie Gift umher, und das Flüstern des Nachtwandlers in den Gedanken der
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anderen erhob sich zu einem höllischen geistigen Kreischen, das Halisstra an den Rand des Wahnsinns brachte – und dann war mit einem Mal alles ruhig. Sie spürte, wie sich das Ding abrupt von ihr löste, wie der Leib explodierte und zu einem schwarzen, übelriechenden Nebel wurde, der sich in den Schatten ringsum verflüchtigte. Halisstra, die wegen der giftigen schwarzen Dämpfe, die von der Kreatur aufgewirbelt worden waren, immer noch nach Luft rang, taumelte aus der Wolke und ging zu Boden. Ihre Brust brannte, als hätte sie Schwefel getrunken. Als sie endlich wieder die Augen öffnen und ihre Umgebung wahrnehmen konnte, stellte sie fest, daß es den anderen nicht viel besser ergangen war. Ryld hatte sich gegen einen Stein sinken lassen, Splitter ruhte mit der Spitze auf dem Boden vor ihm, und er stützte sich erschöpft auf das Heft. Quenthel stand nur ein kleines Stück von ihm entfernt und hatte die Hände auf den Knien abgestützt, während sie erbärmlich hustete. Als die Hohepriesterin endlich wieder durchatmen konnte, sah sie zu Pharaun und fragte: »Einem solchen Ding seid Ihr schon zuvor begegnet?« Der Magier nickte und keuchte: »Nachtwandler. Sie halten sich am Rand auf. Kreaturen aus untoter Finsternis, das perso nifizierte Böse. Wie Ihr gesehen habt, können sie ein hervor ragender Gegner sein.« Die Herrin der Akademie richtete sich auf und steckte die Peitsche zurück an den Gürtel. »Ich glaube, ich verstehe, warum Ihr bis jetzt gezögert habt, diese Methode der Fortbewegung vorzuschlagen«, sagte sie dann. Obwohl der Magier abgekämpft war, strahlte er. »Vorsicht«, spottete er. »Um ein Haar hättet Ihr meinen Nutzen anerkannt.«
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Die Hohepriesterin kniff die Augen zusammen und drückte den Rücken durch. Offenbar gefiel es ihr nicht, Gegenstand eines Witzes aus dem Mund des Magiers zu sein. Pharaun, der scheinbar nichts von Quenthels zornigem Blick mitbekam, machte eine ausladende Geste und zeigte auf die formlose Finsternis, die vor ihnen lag. »Unser Weg führt uns nun in den Schatten unseres Unter reiches«, erklärte er. »Ich schlage vor, wir verstärken unsere Anstrengungen und kommen schnellstmöglich ans Ende unse rer Reise, denn es können weitere Nachtwandler auf uns lau ern.« »Ein verdammt aufmunternder Gedanke«, brummte Ryld. »Wie lange werden wir unterwegs sein?« »Kaum mehr als ein oder zwei Stunden«, antwortete Pha raun. Der Magier wartete, bis die Drow sich erhoben hatten und ihm wieder dichtauf folgten. Ryld und Valas, die beiden aus der Gruppe, die dem Blick des Nachtwandlers ausgesetzt gewe sen waren, wirkten vor Erschöpfung grau im Gesicht und machten den Eindruck, als könnten sie sich kaum auf den Beinen halten. »Kommt«, sagte Pharaun. »Mantol-Derith ist nicht Menzo berranzan, aber es wird der zivilisierteste Ort sein, den wir seit Tagen gesehen haben, und niemand dort wird uns töten wol len ... jedenfalls nicht auf der Stelle.«
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Für den Rest des Schattenwandelns belästigte sie nichts mehr, und kurz nach dem Angriff des Nachtwandlers traten sie am Grund einer schmalen unterirdischen Schlucht aus der Rand zone wieder in die Welt der Sterblichen. Die Wände waren von Reisenden, die hier zuvor Rast gemacht hatten, für diverse Richtungssymbole und Mitteilungen an andere Reisende ge nutzt worden. Offensichtlich waren sie an einer häufig genutz ten Lagerstatt nahe der Handelshöhle angekommen. Die Gruppe machte eine mehrstündige Pause, und jeder von ihnen kämpfte mit der Körperwärme aus seinem tiefsten Inneren gegen die heimtückische Kälte an, die in der Randzone ge herrscht hatte. Schließlich machten sich die Reisenden wieder auf den Weg, verließen die Schlucht und bahnten sich ihren Weg hin zu einem langen, glattwandigen Tunnel, der sich kilometerweit durch die Dunkelheit zog und nur gelegentlich
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von weitläufigen Höhlen unterbrochen wurde. Valas Hune führte die Gruppe an, da er mit dem Ziel eben so vertraut war wie mit der Reiseroute, auf die sie geraten wa ren. Nach dem brennenden Himmel der vom Tageslicht be schienenen Welt an der Oberfläche und der elenden Düsternis der Schattenebene wirkten die gewohnten Gefahren des Un terreiches wie alte Bekannte. Dies war ihre Welt, der Ort, an den sie gehörten, auch wenn die meisten von ihnen zuvor kaum einmal ihre Heimatstadt verlassen hatten. Nachdem sie gut drei Kilometer marschiert waren, ließ Valas die Gruppe anhalten und kniete sich hin, um in den Staub auf dem Höhlenboden eine grobe Skizze des vor ihnen liegen den Weges zu zeichnen. »Mantol-Derith liegt nicht mehr als achthundert Meter von hier entfernt. Denkt daran, es ist ein Ort, an dem man zusam menkommt, um anderen Rassen zu begegnen und Handel zu treiben. Wir herrschen nicht über Mantol-Derith, und auch sonst tut das niemand. Daher ist es ratsam, zu vermeiden, bei irgend jemandem dort Anstoß zu erregen, es sei denn, Ihr habt es auf einen Streit abgesehen, der uns nur Zeit und Ressourcen kosten würde. Ich habe mir außerdem überlegt, wie wir am besten von der Handelshöhle zu den Besitztümern des Hauses Jaelre gelangen können. Ab hier muß uns unser Weg durch das Hoheitsgebiet Gracklstughs führen, die Stadt der Grauzwerge.« »Wir werden uns unter keinen Umständen Gracklstugh nä hern«, warf Quenthel ein. »Die Duergar haben Ched Nasad zerstört. Ich wüßte nicht, warum ich mich ihnen freiwillig stellen sollte.« »Uns bleiben kaum andere Möglichkeiten«, erwiderte Valas. »Wir befinden uns nordwestlich des Duergar-Reiches, und das Labyrinth liegt mehrere Tagesreisen südwestlich der Stadt. Wir können die Stadt nicht im Süden umgehen, weil uns dort
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der Dunkelsee den Weg versperrt, und die Duergar patrouillie ren die Wasserwege. Würden wir die Stadt im Norden umge hen, dann würde uns das mindestens zwei Zehntage kosten, außerdem hätten wir eine schwierige Reise durch Tunnel vor uns, mit denen ich nicht vertraut bin.« »Warum haben wir uns dann die Mühe gemacht, uns hier her zu begeben?« murmelte Jeggred. »Wir hätten auch nach Menzoberranzan zurückkehren können.« »Nun, zum einen läge Gracklstugh so oder so zwischen uns und dem Haus Jaelre, ob wir nun in Mantol-Derith oder Men zoberranzan sind«, gab Pharaun zurück und zeichnete drei Punkte in Valas’ Karte. »Die Duergar sind uns in jedem Fall im Weg. Die Frage ist nur, ob wir es wagen, Gracklstugh zu durchqueren.« »Könnt Ihr uns nicht mit Schattenwandeln durch die Stadt bringen?« fragte Danifae. Pharaun verzog das Gesicht, dann erwiderte er: »Ich bin in dieser Richtung noch nie weiter als bis Mantol-Derith gereist. Es würde mich nicht wundern, wenn die Duergar ihr Reich gegen Reisende aus den umliegenden Reichen gesichert ha ben.« »Ist es sicher, daß die Duergar-Kaufleute etwas gegen unsere Anwesenheit hätten?« wollte Ryld wissen. »Es reisen immer wieder Kaufleute aus Menzoberranzan nach Gracklstugh, und die dortigen Händler bringen ihre Waren in den Basar Menzo berranzans. Es ist doch möglich, daß Gracklstugh überhaupt nichts mit den Duergar-Söldnern zu tun hat, die Ched Nasad angegriffen haben.« »Mir ist nichts zu Ohren gekommen, was mich veranlassen könnte, mich nach Gracklstugh zu begeben«, sagte Quenthel. Sie beendete die Unterhaltung mit einer knappen Geste. »Ich will nicht auf die Gastfreundlichkeit der Duergar vertrauen,
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schon gar nicht nach dem Untergang Ched Nasads. Wir wer den die Stadt im Norden umgehen und darauf bauen, daß Meister Hune uns den richtigen Weg zeigen wird.« Halisstra sah zu Ryld und Valas Hune. Der Späher biß sich auf die Unterlippe und dachte über das sich ihm stellende Problem nach, während der Waffenmeister nur resigniert den Blick senkte. »Wir sind nur zwei bis drei Kilometer von dieser Höhle ent fernt, die als Mantol-Derith bekannt ist?« fragte Halisstra und deutete auf die Skizze. »Ja«, antwortete Valas. »Egal, welchen Weg wir wählen, müssen wir diesen Ort auf jeden Fall passieren?« Der Bregan D’aerthe-Späher nickte nur bestätigend. »Dann sollten wir sehen, was wir in der Handelshöhle er fahren können, ehe wir uns entscheiden«, überlegte Halisstra. Sie spürte Quenthels Blick auf sich ruhen, doch sie sah die Baenre nicht an. »Es könnte dort Duergar-Kaufleute geben, die auf unsere Frage eine Antwort wissen. Wenn nicht ... nun, wir müssen ohnehin unsere Vorräte auffüllen, ehe wir uns in die Weiten des Unterreiches begeben.« »Ein vernünftiger Vorschlag«, bemerkte Pharaun. »In der Stadt der Klingen sind ein Dutzend Handelsgesellschaften angesiedelt. Spricht nicht vieles dafür, daß die Duergar, mit denen wir in Ched Nasad zu tun hatten, von einem DrowHaus angeheuert wurden, aber keine besondere Verbundenheit zu Gracklstugh hatten?« »Sie haben im Auftrag Gracklstughs gehandelt, als sie die Stadt zerstörten«, sprach Quenthel mit finsterem Tonfall. Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften, den Blick immer noch fest auf den Boden gerichtet. Einen Moment lang überlegte sie, dann verwischte sie mit dem Fuß die Skizze.
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»Nun gut, wir werden ja sehen, was wir in Mantol-Derith herausfinden können. Ich glaube nicht, daß wir Zeit zu ver schenken haben, und wenn wir uns einen Umweg von zwanzig oder dreißig Tagen ersparen können, dann sollten wir das auch machen. Doch sobald wir irgend etwas hören, was darauf hin deutet, daß Gracklstugh für uns tabu sein könnte, werden wir uns in die Einöde begeben.« Valas Hune nickte und sagte: »Sehr wohl. Ich vermute, es wird uns möglich sein, Durchlaß zu erlangen, es sei denn, die Duergar liegen im Krieg mit Menzoberranzan. Ich habe schon zuvor mit Grauzwergen zu tun gehabt, und es gibt nichts, was sie nicht hergäben, wenn der Preis stimmt. Ich werde in Man tol-Derith nach einem Duergar-Führer Ausschau halten und zusehen, was ich in Erfahrung bringen kann.« »Nun gut«, sagte Quenthel. »Bringt uns zu den Duergar, und wir ...« »Nein, Herrin, nicht ›wir‹«, sagte der Späher. Er stand auf und wischte sich die Hände ab. »Die meisten Duergar haben für Drow nicht viel übrig, erst recht nicht für Vertreter des Adels und vor allem nicht für Priesterinnen Lolths. Eure An wesenheit würde alles nur unnötig komplizieren. Es wäre am besten, wenn ich allein die Verhandlungen führen würde.« Quenthel machte eine finstere Miene. Jeggred, der dicht hinter ihr stand, polterte: »Ich könnte ihn begleiten und ein Auge auf ihn haben.« Kaum hatte er ausgesprochen, begann Pharaun schallend zu lachen. »Wenn schon eine Priesterin Lolths einen Grauzwerg nervös macht, was glaubst du dann, welche Wirkung du hät test?« Der Draegloth warf sich in die Brust, aber Quenthel schüt telte den Kopf, dann sagte sie: »Nein, er hat recht. Wir werden uns einen Platz suchen, an dem wir warten und vielleicht Neu
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igkeiten in Erfahrung bringen können, während Valas sich um die Einzelheiten kümmert.« Sie gingen weiter, und nach kurzer Zeit hatten sie MantolDerith erreicht. Der Ort war erheblich kleiner, als Halisstra es erwartet hätte – eine Höhle, die um die zwanzig Meter hoch und vielleicht doppelt so breit war, sich dafür aber über viele Hunderte Schritt durch das Gestein wand und schlängelte. Sie war den großen Canon Ched Nasads gewöhnt, und in den Geschichten, die sie über andere Zivilisationen gehört hatte, war immer von gewaltigen Höhlen die Rede, die sich über Meilen erstreckten. Mantol-Derith wäre in einer Drow-Stadt nicht mehr als eine Nebenhöhle gewesen. Sie war auch nicht annähernd so dicht bevölkert, wie Halis stra gedacht hatte. Auf den Marktplätzen in ihrer Heimatstadt hatte immer reges Treiben geherrscht, bürgerliche Drow und die Sklaven der Adligen waren unterwegs gewesen, um ihre Besorgungen zu machen. Der Markt einer Drow-Stadt war üblicherweise von Energie und Aktivitäten erfüllt, auch wenn diese Aspekte auf eine spezielle Weise verdreht waren, um dem ästhetischen Empfinden der Drow-Gesellschaft zu entspre chen. Mantol-Derith war dagegen ruhig und abstoßend. Hier und da saßen oder hockten kleine Gruppen von Kaufleuten in der langgestreckten Höhle, die Waren hinter ihnen sicher in Kisten und Fässern verstaut, statt sie vor sich ausgebreitet zu präsentieren. Niemand rief etwas, niemand feilschte oder lach te. Wenn Geschäfte abgeschlossen wurden, geschah das dem Anschein nach im Flüsterton und im Schatten. Geschöpfe vieler unterschiedlicher Völker kamen in Man tol-Derith zusammen. Eine ganze Reihe von Drow-Kaufleuten, die zum größten Teil aus Menzoberranzan stammten, wenn Halisstra die Wappenschilder an ihren Waren richtig deutete, beanspruchten verschiedene Winkel in der Höhle. Gedanken
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schinder glitten sanft von hier nach da, ihre bläulich-violette Haut glänzte feucht, und unter den Gesichtern der Kopffüßer zuckten Tentakel. Eine Handvoll finster dreinblickender Svirfnebli saß an einer Stelle zusammengekauert und betrach tete die Drow mit unverhohlener Ablehnung. Natürlich waren die Duergar in großer Zahl vertreten. Die hageren, kleinwüch sigen, breitschultrigen Grauzwerge kamen in geheimen Kaba len zusammen und unterhielten sich leise in ihrer gutturalen Sprache. Halisstra ging hinter Pharaun und betrachtete aufmerksam jede Gruppe, die sie passierten. Ihr fiel auf, daß der Magier sich heimlich per Zeichensprache mit Valas unterhielt, während sie tiefer in den Markt vordrangen. Es sind nicht viele Händler hier, stellte der Magier fest. Wo sind sie alle? Valas warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, um si cher sein zu können, daß Quenthel nicht in seine Richtung blickte, dann antwortete er: Chaos in Menzoberranzan bedeutet, daß weniger Käufer kommen. Kommen weniger Käufer, kommen auch weniger Händler. Anarchie scheint schlecht fürs Geschäft zu sein. Valas machte eine Gruppe von Duergar aus und sagte zu den anderen aus seiner Gruppe: »Geht voraus. Ein Stück wei ter vorn werdet Ihr eine Art Gasthaus finden. Ich werde Euch in Kürze dort treffen.« Ruhig näherte er sich den Duergar und beschrieb eine selt same Grußgeste, bei der er die Hände vor sich faltete, um dann im Flüsterton mit den Duergar-Kaufleuten zu reden. Der Rest der Gruppe ging weiter. Sie fanden das »Gasthaus«, von dem Valas gesprochen hat te und das sich als eine feuchte Ansammlung von Höhlen am Südrand Mantol-Deriths erwies. Eine schlechtgelaunte Duer
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gar machte einer Handvoll Goblin-Sklaven das Leben schwer, indem sie sie unablässig von einer Aufgabe zur nächsten scheuchte. Verschiedentlich brannten kleine Feuer an Koch stellen und erhitzten Eisentöpfe, in denen ein dicklicher Ein topf garte, um den sich geplagte Köche kümmerten. Andere Sklaven waren damit beschäftigt, in aller Eile Fässer mit PilzBier oder mit Lager anzustechen, das an der Oberfläche gestoh len worden war. Sie kümmerten sich um die schweigsamen Gäste, die auf flachen Findlingen, die wie Stühle angeordnet waren, um die Feuer Platz genommen hatten. Robuste Türen aus gehärteten Pilzfasern oder rostigen Eisenplatten versperr ten den Zutritt zu verschiedenen Öffnungen in den Wänden ringsum. Halisstra vermutete, sie führten zu den Fremdenzim mern des Gasthauses. Die Räumlichkeiten hinter diesen stabi len Türen waren vermutlich sicher, doch sie bezweifelte, daß sie allzu bequem sein konnten. »Wie ... rustikal«, sagte Halisstra. Einen entsetzlichen Moment lang fragte sie sich, ob es wohl ihr Schicksal sei, den Rest ihrer Existenz fern ihrer Heimat in einem ähnlichen Loch wie diesem zuzubringen. »Es ist noch gemütlicher geworden als bei meinem letzten Besuch«, sagte Pharaun mit einem aufgesetzten Lächeln. »Die Zwergin dort ist Dinnka. Ihr werdet feststellen, daß dieses namenlose Gasthaus am Wegesrand die feinsten Unterkünfte ganz Mantol-Deriths zu bieten hat. Man bekommt etwas zu essen, es ist warm, und man hat eine Unterkunft – drei Dinge, die in der Wildnis des Unterreiches nur selten anzutreffen sind – und man muß nur ein kleines Vermögen dafür bezahlen.« »Ich darf doch annehmen, daß es hier besser sein wird als in einer von Ungeheuern heimgesuchten Ruine an der Oberflä che«, sagte Quenthel. Sie führte die Gruppe zu einer Feuerstelle. Drei Grotten
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schrate saßen dort, bei denen es sich der Qualität ihrer Rüs tungen nach um fähige Söldner zu handeln schien. Die haari gen Kreaturen hockten bei großen Lederkrügen mit Pilz-Bier und nagten Rothé-Keulen ab. Ein massiger Krieger nach dem anderen sah auf, als sich die fünf Drow und Jeggred ihnen näherten. Quenthel verschränkte die Arme und sah das Trio verächtlich an. »Nun?« fragte sie. Die Grottenschrate knurrten, stellten ihr Bier ab und legten das Fleisch zur Seite, dann legte jeder von ihnen seine große Faust auf den Schaft der Axt, die er in seinen Gürtel gescho ben trug. Halisstra entging die Bewegung nicht. Grottenschra te mit einem Funken Verstand hätten auf der Stelle ihren Platz geräumt, und das fast überall im Unterreich. Auch wenn die drei keine Drow-Sklaven waren – was offensichtlich war, da sie sich in Mantol-Derith aufhielten –, war sie oft genug an Orte gereist, die Ched Nasad ähnlich waren, um zu wissen, daß Kreaturen wie diese Grottenschrate schnell lernten, den wirk lich gefährlichen Bewohnern des Unterreiches aus dem Weg zu gehen, also auch adligen Drow. »Was ›nun‹?« zischte der Größte der drei. »Es ist schon mehr nötig als das spöttische Grinsen einer Drow, damit wir den Platz räumen.« »Ihr glaubt wohl, ihr könnt uns rumschubsen?« fügte der zweite Grottenschrat an. »Ihr Elfchen seid nicht mehr so angsteinflößend wie früher, wißt ihr. Vielleicht könnt ihr uns ja einen Grund nennen, warum wir tun sollen, was ihr sagt.« Quenthel wartete einen Moment, dann sagte sie: »Jeggred.« Der Draegloth schoß vor und packte den ersten Grotten schrat. Mit den zwei kleineren Armen drückte er die Hände seines Gegners nach unten und verhinderte so, daß der eine seiner Waffen ziehen konnte. Eine Klaue legte er um den Kopf
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und hielt ihn unerbittlich fest, während er die Krallen der anderen Klaue tief ins Gesicht des Grottenschrats trieb. Der Söldner schrie etwas in seiner wunderlichen Sprache und setz te sich zur Wehr. Jeggred grinste nur breit und bohrte seine Klauen tiefer in den Schädel der kreischenden Kreatur, um ihr dann die vordere Hälfte des Kopfes wegzureißen. Blut und Hirnmasse spritzten auf seine Gefährten, die aufsprangen und nach Schwertern und Äxten griffen. Jeggred ließ den zuckenden Leib sinken und sah die beiden anderen an. »Der nächste?« schnurrte er. Die beiden überlebenden Grottenschrate taumelten zurück und flohen voller Entsetzen. Jeggred schüttelte seinen mit weißem Fell überzogenen Kopf und schleuderte die Leiche zur Seite, dann setzte er sich an die Feuerstelle. Er hob das Stück Fleisch auf, das einer der Grottenschrate hatte fallenlassen, und griff mit der anderen Hand nach dem Krug. »Grottenschrate ...«, murmelte er. »He, Ihr da!« Die mürrische Duergar-Wirtin eilte herbei und machte kei nen Hehl aus ihrer Verärgerung. »Die drei hatten noch nicht bezahlt«, klagte sie. »Wie um alles in der schreienden Hölle soll ich jetzt an mein Gold kommen?« Ryld bückte sich, nahm die Geldtasche vom Gürtel des Grottenschrats und warf sie Dinnka zu. »Das dürfte genügen«, sagte der Waffenmeister. »Macht das, was übrig ist, zu unserem Guthaben. Wir wollen guten Wein und mehr zu essen.« Die Duergar fing die kleine Tasche auf, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Ich mag nicht, daß Ihr meine zahlende Kundschaft ver
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treibt, Drow, und auch nicht, daß Ihr sie tötet. Bringt den nächsten bei Euch zu Hause um, wie sich das gehört.« Dann wandte sie sich ab und brüllte den Sklaven Befehle zu, noch bevor sie sich in Marsch gesetzt hatte. Halisstra sah ihr nach, dann blickte sie die anderen an und signalisierte: Sonderbar, Habt Ihr gehört, was der Grottenschrat sagte? »Die Drow seien nicht mehr so furchteinflößend wie frü her?« fragte Ryld, wechselte dann aber zur Zeichensprache. Ist die Nachricht vom Untergang Ched Nasads etwa schon bis hier vorgedrungen? Es ist doch erst wenige Tage her, aber MantolDerith liegt viele Tagesreisen von der Stadt der schimmernden Netze entfernt. Es ist denkbar, daß eine magische Ausspähung oder ein Kommu nikationszauber die Nachricht bereits verbreitet hat, meinte Ha lisstra. Vielleicht meinte er auch etwas anderes. Vielleicht hat man von unseren Schwierigkeiten gehört. Das, überlegte Halisstra, war ein zutiefst beunruhigender Gedanke. Duergar und Gedankenschinder waren ernstzuneh mende Gegner, Kreaturen, die viele Geheimnisse der Hexen kunst kannten. Wenn sie die Schwäche der Drow wahrge nommen haben sollten, dann wäre das nicht überraschend gewesen. Doch wenn einfache Grottenschrat-Söldner wußten, wie es um Ched Nasad oder Menzoberranzan stand, dann muß te dies weithin bekannt sein. Die Goblin-Sklaven kümmerten sich wieder um die Feuer stellen, brachten etwas bessere Mahlzeiten als die, die die Grottenschrate verzehrt hatten, sowie Flaschen mit kühlem Wein, der aus irgendeinem Weingut an der Oberfläche stamm te. Die kleinen Sklaven scharten sich um den massigen Leich nam des getöteten Grottenschrats und zerrten ihn in eine dunkle Ecke. Die Drow nahmen davon kaum Notiz, da
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Goblin-Sklaven so weit unter ihrer Würde waren, daß sie für sie so gut wie nicht existierten. Die Reisenden aßen und tran ken schweigend, jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Nach einer Weile stieß Valas zu ihnen, der von einem Duergar begleitet wurde – einem Mann mit kurzem, eisengrau en Bart und völlig kahlem Schädel. Der Duergar trug ein Ket tenhemd und hielt eine bedrohlich wirkende Handaxt in Händen. Sein Gesicht war von drei großen Narben entstellt, ihm fehlte ein Ohr, und die rechte Gesichtshälfte hatte durch die erlittenen Verletzungen etwas Alptraumhaftes. Er konnte ein Kaufmann, ein Söldner, aber auch ein Bergarbeiter sein – sein mürrisches Auftreten ließ keinen Rückschluß zu. »Dies ist Ghevel Kohlenhauer«, sagte der Späher. »Ihm ge hört ein Boot, das ganz in der Nähe auf dem Dunkelsee liegt. Er wird uns nach Gracklstugh bringen.« »Ich will im voraus bezahlt werden«, warnte der Duergar die Gruppe. »Ich muß Euch außerdem wissen lassen, daß ich einen Wiedergutmachungsvertrag mit meiner Zunft zu Hause liegen habe. Wenn Ihr glaubt, Ihr könntet mir die Kehle aufschlitzen und mich in den See werfen, dann irrt Ihr – man würde Euch dafür verfolgen.« »Eine vertrauensvolle Seele«, meinte Pharaun. »Wir sind nicht daran interessiert, Euch zu berauben, Meister Kohlen hauer.« »Ich bin nur vorsichtig.« Der Duergar sah Valas an und sag te: »Ihr wißt, wo das Boot liegt. Bezahlt mich, dann treffen wir uns morgen früh dort.« »Woher wissen wir, ob Ihr uns nicht ausrauben wollt?« »Es ist nicht empfehlenswert, einen Drow auszurauben, je denfalls nicht, wenn man nicht sicher sein kann, daß man ungeschoren davonkommt«, gab der Zwerg zurück. »So was kann sich ändern, aber nicht so schnell, daß ich heute schon
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darauf bauen würde.« Valas Hune hielt dem Duergar einen kleinen Beutel hin und ließ ihn in dessen Hände fallen. Der Zwerg füllte den Inhalt umgehend in seine große, gegerbte Hand und betrachte te die Edelsteine, ehe er sie in den Beutel zurückschüttete. »Ihr müßt es eilig haben, oder Euer Mann hier muß einen besseren Handel gemacht haben. Andererseits ... Ihr Drow habt ohnehin nicht viel für Edelsteine übrig.« Er wandte sich ab und stapfte in die Finsternis davon. »Das wird das letzte sein, was Ihr von ihm zu sehen bekom men habt«, sagte Jeggred. »Ihr hättet mit der Bezahlung war ten sollen.« »Er bestand darauf«, sagte Valas Hune. »Er sagte etwas da von, sichergehen zu wollen, daß wir ihn nicht töten, um die Bezahlung wieder an uns zu nehmen.« Valas sah dem Duergar nach und zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß er uns betrügen wird. Wenn er ein Duergar von der Art wäre, könnte er in Mantol-Derith nicht lange überleben. Die Leute hier sehen es nicht gern, wenn man sie betrügt.« »Er kann uns sicher durch Gracklstugh bringen?« fragte Ryld. Valas spreizte die Hände und erwiderte: »Wir müssen Do kumente oder Briefe mitführen, die Kohlenhauer für uns be schaffen kann. Ich glaube, so eine Art Händlerlizenz.« »Wir führen keine Waren mit«, stellte Pharaun fest. »Ist das nicht eine etwas dürftige Erklärung?« »Ich habe ihm erklärt, Herrin Quenthels Familie sei an Ge schäften in Eryndlyn beteiligt, und sie solle dort nach dem rechten sehen. Wenn sie alles in bester Ordnung vorfindet, könnte sie daran interessiert sein, mit den Duergar eine Ab machung auszuhandeln, damit die ihre Güter durch das Terri torium von Gracklstugh transportieren. Ich deutete auch an, Kohlenhauer könne gut daran tun, sich in diese Abmachung
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einbeziehen zu lassen.« Pharaun hatte keine Zeit, etwas zu erwidern, da in der Höh le verstohlene Schritte von mehr als einer Person widerhall ten. Die Dunkelelfen blickten auf und sahen, daß sich ihnen eine große Gruppe von Grottenschrat-Kriegern näherte. An geführt wurden diese von den Söldnern, die nur Minuten zuvor die Flucht ergriffen hatten. Mindestens ein Dutzend Artgenos sen hatte sich hinter ihnen versammelt, Äxte und dornenbe setzte Flegel in den haarigen Pfoten, einen mörderischen Blick in den Augen. Die anderen Gäste begannen, sich zurückzuzie hen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die massigen Huma noiden flüsterten in ihrer eigenen Sprache. »Sagt«, begann Valas. »Hat irgend jemand einen Grotten schrat getötet, verstümmelt oder gedemütigt, während ich mit Kohlenhauer sprach?« Der Späher sah die anderen an, dann blieb sein Blick an Jeggred hängen, der nur die Achseln zuckte. Er seufzte. »Habe ich mich unklar ausgedrückt, als ich sagte, wir sollten hier keinen Streit anfangen?« »Es gab ein Mißverständnis, was die Verteilung der Sitzplät ze anging«, erklärte Quenthel. Ryld erhob sich und schlug seinen Mantel nach hinten, damit seine Waffen griffbereit waren. »Ich hätte wissen müs sen, daß noch mehr von ihrer Art in der Nähe sein würden.« »Es ist an der Zeit, diese Geschöpfe daran zu erinnern, wer das Sagen hat«, meinte Halisstra. Quenthel stand auch auf, zog ihre fünfköpfige Peitsche und betrachtete die Krieger mit einem ironischen Lächeln. »Jeggred?« sagte sie nur.
Gromph stand auf einem Balkon hoch über Menzoberranzan und betrachtete das schwache Feenfeuer in der Stadt der
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Drow. Er wartete jetzt seit fast einer Stunde, und seine Geduld war erschöpft. Unter normalen Umständen wäre eine Stunde mehr oder weniger bedeutungslos für einen Dunkelelfen gewe sen, der bereits auf ein jahrhundertelanges Leben zurückbli cken konnte, doch dies war eine andere Situation. Der Erzma gier wartete voller Angst, er fürchtete die Ankunft dessen, der ihn zu diesem heimlichen Treffen bestellt hatte. Es war kein Gefühl, mit dem Gromph vertraut war, und er stellte fest, daß es ihm auch in keiner Weise behagte. Selbstverständlich hatte er die größten Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um sich zu schützen. Er hatte sich mit einer Fülle hervorragender Vertei digungszauber umgeben und mit großer Sorgfalt magische Gegenstände ausgewählt, die ihm Schutz bieten sollten. Doch der Erzmagier war nicht sicher, ob diese Vorsichtsmaßnahmen reichen würden, um denjenigen abzuschrecken, der auf dem Weg war, um sich mit ihm an diesem einsamen, stürmischen Ort zu treffen. »Gromph«, begrüßte ihn eine kalte, rasselnde Stimme. Ehe der Erzmagier sich umdrehen konnte, fühlte er bereits die Prä senz des anderen – ein eisiger Schauer, dem es irgendwie ge lang, alle Abwehrmaßnahmen zu durchdringen, der Gestank einer gewaltigen, schrecklichen Magie. »Gut, daß Ihr meine Einladung angenommen habt. Es ist lange her, nicht wahr?« Der alte Dyrr näherte sich ihm aus dem Schatten im hinte ren Teil des Balkons und stützte sich auf seinen großen Stab. Er glitt mit raschelndem Gewand vorwärts und war dabei nicht schneller als ein schlurfender alter Mann, obwohl sich seine Füße nicht zu bewegen schienen. Inmitten der ehrgeizigen Drow seines eigenen Hauses paßte es zu Dyrr, daß er das Aussehen eines ehrwürdigen Dunkelelfen von unglaublichem Alter zur Schau trug, doch Gromphs arka ner Blick durchdrang die Tarnung und ließ ihn die Wahrheit
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dahinter sehen. Dyrr war tot, tot schon seit Jahrhunderten. Von staubigen Knochen und den Fetzen mumifizierten Flei sches darauf abgesehen, war von dem alten Magier nichts mehr übrig. Seine Hände waren die Klauen eines Skeletts, sein Ge wand war verblaßt und zerschlissen, und sein Gesicht war nur ein abscheulich grinsender Schädel. In den schwarzen Augen höhlen leuchtete die grellgrüne Flamme seines mächtigen Geistes. »Wie ich sehe, laßt Ihr Euch von meiner Tarnung nicht täuschen«, rasselte der Leichnam. »Ehrlich gesagt wäre ich auch enttäuscht gewesen, wenn Ihr Euch so leicht an der Nase hättet herumführen lassen, Erzmagier.« »Meister Dyrr«, grüßte Gromph zurückhaltend. Er neigte den Kopf, ohne den Blick von dem Leichnam abzuwenden. »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, daß Ihr immer noch unter uns weilt. Mir kamen Gerüchte zu Ohren, Ihr würdet nach wie vor abgeschieden in Eurem Heim ... nun ja ... leben. Von Zeit zu Zeit glaubte ich festzustellen, daß die Geschicke Agrach Dyrrs von einer alten und geschickten Hand geleitet wurden. Aber ich bin in den letzten fast zweihundert Jahren niemals jemandem begegnet, der behauptet hat, Euch gesehen zu ha ben, und es ist fast doppelt so lange her, daß wir uns das letzte Mal gesprochen haben.« »Ich lege Wert auf meine Privatsphäre und halte meine Nachfahren dazu an, dies auch zu tun. Es ist für alle Beteiligten am besten, wenn meine führende Hand verborgen bleibt. Wir wollen ja jetzt nicht die Muttermatronen verängstigen, nicht?« »Das ist wahr. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie auf Überraschungen sehr unangenehm reagieren.« Der Leichnam lachte in einem Tonfall, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er kam näher, bis er neben Gromph stand und auf die Stadt hinabblicken konnte. Der Erzmagier
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empfand die unnatürliche Anwesenheit dieser untoten Kreatur als ein wenig beunruhigend – auch ein Gefühl, das er nicht oft verspürte. Welche Geheimnisse birgt dieser wandelnde Geist in sei nem leeren Schädel? fragte sich Gromph. Was weiß er über diese Stadt, woran sich sonst niemand mehr erinnert? Welche einsamen, schrecklichen Geschichten hat er allein in den trostlosen Jahrhunderten seiner Existenz erlebt, die ihm den Tod verweigert? Diese Fragen beschäftigten Gromph, aber er beschloß, seine Spekulationen zurückzustellen. »Nun, Meister Dyrr, Ihr habt um dieses Treffen gebeten. Worüber sollen wir reden?« »Ihr wart schon immer bewundernswert direkt, Baenre«, sagte der Leichnam. »Eine erfrischende Eigenschaft bei unserer Art. Kommen wir zur Sache: Wie denkt Ihr über die Schwie rigkeiten, von denen unsere Stadt in jüngster Zeit heimgesucht wurde? Genauer gefragt, was glaubt Ihr, was angesichts der Machtlosigkeit getan werden sollte, von der unsere Priesterin nenkaste heimgesucht wurde?« »Was sollte getan werden?« gab Gromph zurück. »Schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß die Frage eigentlich lauten müßte, was überhaupt unternommen werden kann. Es liegt nicht in meiner Macht, die Königin über den Abgrund der Spinnennetze dazu zu bewegen, den Priesterinnen wieder ihre Gunst zu erweisen. Lolth tut, was sie will.« »Wie stets. Ich will nicht unterstellen, daß Ihr etwas ändern könntet.« Der Leichnam schwieg kurz, das grüne Feuer in seinem Blick richtete sich auf den Erzmagier. »Was seht Ihr, wenn Ihr heute Menzoberranzan seht?« »Unordnung. Gefahr. Verleugnung.« »Vielleicht auch eine Gelegenheit?«
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Gromph zögerte, ehe er erwiderte: »Ja.« »Ihr habt gezögert. Seid Ihr nicht meiner Meinung?« »Damit hat es nichts zu tun.« Der Erzmagier legte die Stirn in Falten und wählte seine Worte mit Bedacht. Er wollte die mächtige Erscheinung nicht vor den Kopf stoßen. Dyrr schien vernünftig zu sein, doch der Verstand litt von Fall zu Fall unter dem hohen Alter eines Untoten. Er mußte davon ausgehen, daß der Leichnam zu wirklich allem in der Lage war. »Meister Dyrr«, sagte er ruhig. »Sicherlich habt Ihr selbst festgestellt, daß die Listen der Spinnenkönigin unendlich sind. Die einzige Gewißheit in unserer Existenz ist die, daß Lolth eine launenhafte und fordernde Gottheit ist, eine Göttin, die sich daran erfreut, sehr harte Lektionen auszuteilen. Was, wenn ihr Schweigen nur eine Täuschung ist, um die auf die Probe zu stellen, die ihr treu sind? Ist es nicht möglich oder sogar wahrscheinlich, daß Lolth ihren Priesterinnen ihre Gunst versagt, nur um zu sehen, wie sie reagieren? Oder – schlimmer noch – daß sie sehen will, ob die Feinde ihres Kle rus den Mut aufbringen, um aus dem Schatten zu treten und ihre Anhänger offen anzugehen? Wenn das der Fall ist, was wird dann aus dem, der dumm genug ist, der Spinnenkönigin zu trotzen, wenn sie ihrer Prüfung müde wird und den Priesterinnen wieder ihre volle Gunst erweist – und das so plötzlich, wie sie sie ihnen entzogen hat? Ich will nicht bei einem solchen Schachzug ertappt werden – ganz und gar nicht.« »Eure Logik ist schlüssig, auch wenn ich glaube, daß die Gewohnheit, vorsichtig zu sein, Eure Gedankengänge hinken läßt«, sagte Dyrr. »Ich könnte Euch fast zustimmen, Junge, wenn da nicht diese eine Tatsache wäre. In den mehr als zwei tausend Jahren, die ich auf dieser Welt zugebracht habe, ist so etwas noch nie geschehen. Sicher, ich kann mich an eine
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ganze Reihe von Begebenheiten erinnern, als Lolth ihren Klerikern für einige Tage ihre Zauber verwehrte, und es gab viele Fälle, in denen sie ganz bewußt entschied, dieser einen Priesterin oder jenem Haus dort ihre Gunst gänzlich zu ver weigern, um sie ihren Feinden zu überlassen, doch noch nie ließ sie Monat um Monat unsere ganze Rasse im Stich.« Der Leichnam sah nachdenklich auf. »Es erscheint mir eine klägli che Art und Weise, den eigenen Anhängern zu begegnen. Sollte ich jemals den Status eines Gottes erlangen, dann glau be ich, ich werde versuchen, bessere Arbeit zu leisten als sie.« »Was exakt schlagt Ihr vor, Meister Dyrr?« »Ich schlage überhaupt nichts vor, aber ich erwäge, Baenre, ob man machtlosen Klerikern noch allzulange die Herrschaft über diese Stadt anvertrauen sollte. Ihr und ich, wir verfügen doch immer noch über eine immense, schreckliche Macht, nicht wahr? Die mystischen Geheimnisse unserer Kunst haben uns nicht im Stich gelassen, und sie werden es wohl auch in Zukunft nicht. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir die Sicherheit unserer Zivilisation erwägen müssen, die Verteidigung unserer Stadt, indem wir die Zügel der Macht in die Hand nehmen, die die Muttermatronen nicht länger hal ten können. Die Gefahr für unsere Stadt wächst von Stunde zu Stunde. Schließlich haben wir Rivalen jenseits unseres Dunk len Reiches, andere Rassen, andere Reiche, die uns bedrohen.« »Genau das ist der Grund, warum ich zögere, Drow-Magier gegen Drow-Priesterinnen ins Feld zu führen«, erwiderte Gromph. »Die einzige Sache, die möglicherweise unsere mo mentane Verwundbarkeit noch erhöhen könnte, wäre ein Bürgerkrieg. Wenn wir uns das Schicksal Ched Nasads erspa ren wollen, dann müssen wir die bestehende Ordnung beibe halten, bis die Krise vorbei ist.« »Was glaubt Ihr, was Euch diese blinde Loyalität einbringen
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wird – von den Priesterinnen oder von Lolth?« Dyrr drehte sich wieder um und tippte ihm mit einem knochigen Zeigefin ger auf die Brust. Gromph konnte ein Schaudern nicht unter drücken. »Ihr habt Potential, Gromph. Ihr seid begabt, und Ihr blickt über das Haus Baenre hinaus auf ganz Menzoberranzan. Bringt Eure Fähigkeiten ins Spiel und erwägt sorgfältig, wie Ihr in den nächsten Tagen entscheidet. Es stehen Ereignisse an, die Euch die Gelegenheit bieten, zu Ruhm aufzusteigen oder zu scheitern. Trefft nicht die falsche Entscheidung.« Gromph machte einen behutsamen Schritt nach hinten, bewegte sich über den Abgrund der Höhle und schwebte in der Luft. »Ich fürchte, ich muss mich um Narbondel kümmern, Meis ter Dyrr. Ich werde jetzt gehen ... und gründlich über Eure Worte nachdenken. Ihr könntet die Situation zutreffender erfaßt haben als ich.« Der intensiv grüne Blick des Leichnams folgte Gromph hinab in die Dunkelheit, während er dem Grund entgegen sank. Er würde lange und gründlich über die Worte des Unto ten nachdenken. Er konnte Dyrr durch Höflichkeit und Vor sicht vertrösten, aber nicht unendlich lange. Gromph war sicher, daß der Leichnam bei ihrer nächsten Begegnung eine andere Antwort hören wollte.
Der Dunkelsee war ein merkwürdiger, gräßlicher Ort. Eine Schwärze, die größer war als alles, was Halisstra je gesehen hatte, umschloß sie und ihre Gefährten, ein Raum, dessen gewaltige Ausmaße ihrem Verstand zu schaffen machten. Die Höhlen der Drow maßen oft viele Kilometer im Durchmesser und beherbergten immens große Städte, in denen Tausende von Drow lebten. Doch wenn Kohlenhauer nicht übertrieb,
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dann füllte der Dunkelsee eine Höhle, die von einem Ende bis zum anderen über hundertfünfzig Kilometer maß und eine Höhe von dreihundert Metern aufwies. Das Wasser des Sees füllte fast die gesamte Höhle aus, und als sie sich über den See fortbewegten, war die Decke oft nur einen Speerwurf weit über ihnen, was bedeutete, daß viele hunderte Meter eines schwar zen Mysteriums unter ihnen lauerten. Es war unbehaglich. Kohlenhauers Boot war weit davon entfernt, bequem zu sein. Es war ein asymmetrisches Wasserfahrzeug, das größten teils aus Planken bestand, die aus den holzigen Stämmen einer bestimmten Pilzsorte des Unterreiches geschnitten und dann lackiert worden waren, was ihnen Stärke und Festigkeit ver lieh. Das Zurkhholz bildete eine breite Plattform, die auf einer Ansammlung von Luftblasen trieb, die der Wasserspezies eines Riesenpilzes entnommen worden waren. Das alles wurde mit tels der hervorragenden Metallbearbeitungskunst der Duergar zusammengehalten. Vier wuchtige Skelette – zu Lebzeiten wohl Oger oder viel leicht Trolle – kauerten in dem einem Brunnen ähnelnden Bereich in der Mitte des Bootes und drehten unablässig zwei große Kurbeln, die ein Paar Schaufelräder aus Zurkhholz an trieben. Die geistlosen Untoten ermüdeten nie, klagten nie und wurden niemals langsamer, es sei denn, Kohlenhauer wies sie dazu an. So bewegten sie das Boot über den See, und die einzigen Geräusche waren das leise Plätschern des Wassers, wenn es von den Schaufelrädern bewegt wurde, und das kaum wahrnehmbare Schaben und Kratzen der Knochen, die anein ander rieben. Der Duergar stand nahe dem Heck auf einer kleinen, erhöhten Brücke, die genügte, um über die Schaufel räder hinwegzublicken. Mit vor der massigen Brust verschränk ten Armen stand er da und spähte gedankenverloren in die Finsternis.
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Die Passagiere kauerten auf dem kalten, unbequemen Deck oder gingen hin und her, wobei sie immer auf Distanz zum Rand der Plattform blieben, die nicht von einem Geländer umgeben war. Die Reise von Mantol-Derith aus verlief nicht besonders schnell, da das Gefährt keine hohen Geschwindig keiten erreichen konnte, und Kohlenhauer mußte zudem an den Stellen vorsichtig manövrieren, an denen die Decke so niedrig war, daß das Boot dort nicht weiterkam. Valas verbrachte die meiste Zeit damit, neben dem Zwerg auf der Brücke zu stehen und ein Auge auf den Kurs zu werfen. Pharaun saß im Schneidersitz am Fuß der Brücke, tief in Tran ce versunken, während Ryld und Jeggred an Backbord und Steuerbord Wache hielten, um darauf zu achten, daß sich ihnen keiner der Bewohner dieses Gewässers näherte. Die Priesterinnen blieben für sich, ebenfalls in Trance versunken, wobei sie auf das dunkle Wasser blickten und ihren Gedanken nachgingen. Fast zwei Tage vergingen so, nur unterbrochen von kurzen Pausen, um zu essen oder um dem Duergar-Kapitän Zeit zu geben, sich auszuruhen. Kohlenhauer achtete sehr darauf, kein Licht zu entzünden. Daher mußten sie ihre Feuerstelle zum Kochen auch in eine kleine, abgeschlossene Kiste verlagern, damit von den Flammen nichts zu sehen war. »Zu viele Dinge werden vom Licht angelockt«, murmelte er. »Selbst das kann schon zuviel sein.« Nach der dritten derart zubereiteten Mahlzeit, die sie spät am zweiten Tag der Reise zu sich nahmen, zog sich Halisstra zum Bug des Schiffs zurück, damit sie ihren Blick auf das Was ser richten konnte, anstatt unentwegt einen ihrer Gefährten anzustarren. Durch den heftigen Kampf bei der Flucht aus Hlaungadath und durch die Reise auf der Ebene der Schatten war ihr bislang nur wenig Zeit geblieben, um die neue Situati
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on zu begreifen, in der sie sich befand. Die endlosen Stunden, in denen nichts anderes zu hören war als das leise Plätschern des Wassers und die fast insektengleichen Geräusche, die der skelettartige Antrieb des Bootes verursachte, hatten sie von jeglichen Beschäftigungen abgehalten, so daß sich vor ihrem geistigen Auge immer wieder der Untergang Ched Nasads abspielte. Was ist aus meinem Haus geworden? fragte sie sich. Haben sich Diener und Soldaten durch die Flucht aus Ched Nasad retten können? Sind sie gemeinsam unterwegs? Wer führt sie an? Oder sind sie alle in den Flammen und Trümmern umge kommen? Der Tod der Muttermatrone Melarn machte Halisstra zum Oberhaupt des Hauses, vorausgesetzt, keine ihrer jüngeren Basen hatte bislang den Führungsanspruch angemeldet. Wenn ja, dann war sich Halisstra sicher, daß sie ihr diesen Anspruch würde abringen können. Sie war stets die Lieblingstochter des Hauses Melarn gewesen, die älteste, die stärkste, und sie wuß te, ihre Basen konnten ihr nicht vorenthalten, was ihr durch Geburt zustand. Doch es schien in der Tat sehr wahrscheinlich, daß ihr Ge burtsrecht nur Asche und Schutt am Grund der großen Spalte von Ched Nasad war. Selbst wenn ein Teil ihres Hofstaats entkommen war – würde sie die Dienerschaft wirklich suchen und sich ihr anschließen wollen, um mit ihr in einem elenden, verdreckten und gefährlichen Exil im Unterreich zu leben? So hatte es nicht kommen sollen, dachte sie. Ich sollte den Platz meiner Mutter einnehmen und die Macht erhalten, die zuvor die ihrer Mutter und davor die ihrer Großmutter gewe sen war. Die tausend Fäden Ched Nasads hätten mir zu Füßen gelegen. Ein Wort, ein Blick, ein Stirnrunzeln hätten genügt, damit der geringste meiner Wünsche erfüllt worden wäre.
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Doch jetzt bin ich statt dessen zur Wanderin ohne Wurzeln geworden. Warum, Lolth? rief sie im Geiste. Warum? Was haben wir getan, dich so zu verärgern? Welche Schwäche haben wir ge zeigt? Früher hatte Halisstra das finstere Flüstern Lolths in ihrem Herzen gehört, doch dieser Ort war nun leer. Lolth wollte nicht antworten. Sie bestrafte Halisstra nicht einmal dafür, daß sie die Verwegenheit besaß, eine Antwort zu verlangen. Wenn Lolth sie wirklich verlassen hatte, was wäre dann aus ihr geworden, wenn sie ihrem Haus in den Untergang gefolgt wäre? Ihr ganzes Leben lang hatte Halisstra geglaubt, ihr Dienst als Priesterin und als Bae’qeshel für die Königin des Abgrunds der Dämonennetze werde ihr nach dem Tod einen Platz weit oben in Lolths Reich bescheren, doch was würde nun aus ihr werden? Würde ihr entwurzelter Geist mit den anderen unglücklichen Seelen gefangen sein, die kein Gott im Leben nach dem Tode für sich beanspruchte? Würde es ihr Schicksal sein, jenes wahren, ewigen Todes in den grauen Weiten zu sterben, der den Ungläubigen vorbehalten war? Halisstra schauderte es. Lolths Glaube verlangte Härte, Weichlinge hatten dort keinen Platz, doch eine Priesterin hatte immer erwarten können, für den Dienst zu Lebzeiten im Tode belohnt zu werden. Wenn dem nicht mehr so war ... Danifae kam zu ihr und kniete neben ihr nieder. Sie sah Halisstra in die Augen und senkte nicht ihren Blick. »Die Trauer ist ein süßer Wein, Herrin Melarn. Wenn Ihr nur einen kleinen Schluck davon trinkt, seid Ihr versucht, mehr zu trinken. Es wird nie besser, wenn Ihr Euch einem von beiden im Übermaß hingebt.« Halisstra sah weg, um sich zu sammeln. Sie wollte nicht ihr Entsetzen mit Danifae teilen.
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»Trauer beschreibt nicht annähernd, was in meinem Her zen vorgeht«, sagte sie. »Ich kann seit Beginn dieser unendli chen Reise an kaum etwas anderes denken. Ched Nasad war mehr als nur eine Stadt. Es war ein Traum, ein düsterer und zugleich strahlender Traum Lolths. Elegante Burgen, grandiose Netze, Häuser voller Reichtum, Stolz und Ehrgeiz, alles binnen weniger Stunden verbrannt. Die Stadt, ihre Matronen und Töchter, die schön gesponnenen Paläste, alles verloren – und warum?« Sie schloß die Augen und kämpfte gegen den Schmerz an, der sie zu überwältigen drohte. »Es waren nicht die Zwerge, die uns zerstörten. Wir waren es.« »Ich werde nicht den Untergang Ched Nasads betrauern«, sagte Danifae. Halisstra sah auf, wobei sie der leidenschaftslose Tonfall der Frau tiefer traf als die Worte. »Es war eine Stadt voller Feinde, von denen die meisten nun tot sind, während die anderen wie Bettler in die Wildnis des Unterreiches geflo hen sind. Ich werde nicht um Ched Nasad trauern. Wer wird das schon – bis auf die wenigen Überlebenden, deren Zuhause es war?« Halisstra wollte darauf nichts sagen. Niemand trauerte um eine Stadt der Drow, nicht einmal die anderen Drow. So wa ren die Drow eben. Die Starken überlebten, die Schwachen gingen unter, ganz so, wie die Spinnenkönigin es verlangte. Danifae wartete lange Zeit, ehe sie weitersprach: »Habt Ihr darüber nachgedacht, was wir als nächstes tun sollen?« Halisstra warf ihr einen kurzen Blick zu: »Unser Schicksal ist doch von diesen Menzoberranzanyr längst besiegelt, nicht wahr?« »Für heute ja, aber werden Eure und ihre Interessen morgen übereinstimmen? Was werdet Ihr tun, wenn Lolth Euch mor gen wieder ihre Gunst erweist? Wohin wollt Ihr gehen?« »Ist das wichtig?« fragte Halisstra. »Vermutlich werde ich
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nach Ched Nasad zurückkehren und die Überlebenden zu sammenbringen, die ich finde. Es wird eine schwere Aufgabe werden, mehr, als ich im Lauf eines Lebens zu bewältigen hof fen könnte, aber mit dem Segen Lolths könnte Haus Melarn wieder auferstehen.« »Glaubt Ihr, Quenthel würde so etwas zulassen?« »Warum sollte sie kümmern, was ich mit dem Rest meines Lebens anfange? Vor allem, wenn ich mein Leben damit verbringe, einen kläglichen Bruchteil eines Hauses aufzubauen, das in Schutt und Asche liegt?« gab Halisstra bitter zurück. Danifae spreizte nur die Hände. Halisstra verstand. Wel chen Grund brauchte eine Baenre schon, um irgend etwas zu tun? Die Menzoberranzanyr mochten sie zwar aus Ched Nasad gerettet haben, doch ein Wort Quenthels genügte, um aus ihr eine Gefangene zu machen oder um ihr das Leben zu nehmen. Die junge Frau sah hinüber, wo die anderen meditierten oder Wache hielten, dann wechselte sie zur Zeichensprache und achtete darauf, daß niemand sonst sie beobachten konnte. Vielleicht wäre es ratsam zu überlegen, auf welche Weise wir uns für die Menzoberranzanyr unentbehrlich machen können, bedeutete sie. Es wird der Tag kommen, an dem wir nicht länger auf Quenthel Baenres Mildtätigkeit angewiesen sein wollen. »Vorsicht«, warnte Halisstra. Sie setzte sich auf und unterdrückte den Impuls, einen Blick über die Schulter zu werfen. Danifae besaß ein untrügliches Gespür dafür, wie sie andere manipulieren konnte. Doch wenn Quenthel den Eindruck bekam, Halisstra und Danifae strebten danach, ihre Autorität zu untergraben – oder auch nur ihre Handlungsfreiheit zu beschneiden –, dann würde die Baenre zweifellos schnell und drastisch einschreiten, um dem zuvorzu kommen.
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Du schlägst etwas sehr gefährliches vor, Danifae. Quenthel wür de nicht zögern, eine Herausforderin zu töten, und wenn ich getötet würde ... Würde ich das nicht überleben, führte Danifae für sie den Satz zu Ende. Mir sind die Bedingungen meiner Gefangenschaft be kannt, Herrin Melarn. Doch Untätigkeit im Angesicht einer Gefahr für uns ist sicher nicht weniger riskant als das, was ich vorschlagen will. Hört mich an, dann könnt Ihr entscheiden, was ich tun soll. Halisstra betrachtete die junge Frau mit den perfekt ge schnittenen Zügen und der verführerischen Figur. Sie mußte an die Unterhaltung zwischen Quenthel und Danifae denken, die sie in den Katakomben Hlaungadaths belauscht hatte. Sie konnte Danifaes Plan mit einem Wort stoppen. Sie konnte das sogar durch die Magie des Medaillons erreichen ... aber dann würde sie nie erfahren, was Danifae sich zurechtgelegt hatte, um ihre eigene Absicht in die Tat umzusetzen. »Nun gut«, sagte sie. Sag mir, was du dir vorstellst.
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Gracklstugh war wie Menzoberranzan eine Höhlenstadt. Doch anders als im Reich der Drow beherbergten die Stalagmiten große stinkende Schmelzhütten und Gießereien, nicht je doch die eleganten Burgen adliger Familien. In der Luft hing ein ätzender Gestank, und der Lärm der Industrieanlagen schallte unablässig durch die Höhle – das Tosen der Feuer, das metallische Scheppern, wenn Eisen auf Eisen traf, dazu das Rauschen der verschmutzten Ströme, die die Abfälle der Duergar-Schmieden forttrugen. Anders als Menzoberranzan, wo völlige Dunkelheit herrschte – abgesehen vom sanften Feenfeuer, das dem Zweck diente, die Drow-Paläste in ein schmückendes Licht zu tauchen –, wurde Gracklstugh vom Schein der Feuer und von dem gelegentlichen gleißenden Aufflackern erhellt, das entstand, wenn das weißglühende Metall in Gußformen gekippt wurde. Es war ein ungewöhn
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lich reizloser Ort, ein Affront gegen jeden Drow adliger Her kunft. Halisstra fand, Gracklstugh wirke wie die Schmelzhüt te der Höllen selbst. Am östlichen Ende fiel der Boden der großen Höhle steil ab und stieß an den gewaltigen Dunkelsee, was Gracklstugh zur unterirdischen Hafenstadt machte, obgleich nur wenige Ras sen des Unterreiches Gewässer wie den Dunkelsee als Handels routen nutzten. Folglich galten die Docks und die zum See hin gelegenen Lagerhäuser als eines der ärmsten, gefährlichsten Viertel der Stadt. Kohlenhauer vertäute sein Gefährt am Ende eines zerfallenden Steinkais, an dem bereits eine Handvoll Schiffe ähnlicher Bauart lag. »Nehmt Eure Sachen und beeilt Euch«, fuhr der Zwerg sie an. »Je weniger man von Euch in den Straßen zu sehen be kommt, desto besser. Spinnenküsser in der Stadt der Klingen sind gut beraten, wenn sie sich rar machen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Valas sah die anderen an und signalisierte: Niemand wird ge tötet! Das wird hier nicht toleriert werden! Dann schulterte der Späher sein Gepäck und folgte dem Zwerg aufs Kai, während er seinen Piwafwi eng um sich legte, um das Schwert an seiner Hüfte zu verbergen. Pharaun sah zu Jeggred auf und sagte: »Dir wird es hier nicht gefallen. Wie willst du bloß die Zeit herumkriegen, ohne daß du einen Hilflosen in Stücke reißen darfst?« »Ich werde mir die Stunden vertreiben, indem ich darüber nachdenke, wie ich Euch töten könnte, Magier«, brummte Jeggred. Dann stieß der Draegloth den Atem aus, zog sich seinen langen Mantel über seine weiße Mähne und stellte sich so gebeugt wie möglich hin, um nicht zu schnell aufzufallen. Der Rest der Gruppe folgte an Land, um sich den Weg durch die
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heruntergekommenen Straßen des Hafenviertels der Stadt zu bahnen, bis sie ein festungsgleiches Gasthaus erreichten, das einige Blocks von den Docks entfernt lag. Ein Schild, das in Zwergisch und der Handelssprache des Unterreiches geschrie ben war, wies das Lokal als das Kalte Gießhaus aus. Das Ge bäude war von einer Steinmauer umgeben, in deren Grenzen sich eine Reihe kleiner, alleinstehender Blockhäuser fanden. Die Gruppe machte unmittelbar vor dem Haupttor Halt, ne ben dem ein Stall stand, in dem riesige, übelriechende Pack echsen angebunden waren. »Kein vielversprechender Anblick«, kommentierte Pha raun. »Dennoch wird es bequemer sein als ein Stein auf dem Höhlenboden.« Valas besprach sich kurz mit Kohlenhauer, dann wandte er sich den anderen Drow zu und sagte mit gedämpfter Stimme: »Kohlenhauer und ich werden uns darum kümmern, daß wir unbehelligt die Stadt durchqueren können und unsere Vorräte aufstocken. Vermutlich wird die eine oder andere Bestechung notwendig werden, um die nötigen Dokumente zu erhalten, was Zeit kosten wird. Wir sollten einplanen, einen vollen Tag, vielleicht sogar zwei Tage hierzubleiben.« »Haben wir soviel Zeit?« fragte Ryld. »Das muß Herrin Quenthel entscheiden«, erwiderte Valas Hune. »Aber der nächste Abschnitt unserer Reise könnte viel Zeit in Anspruch nehmen, und wir werden nichts erreichen, wenn wir nach ein paar Zehntagen verhungern.« Quenthel betrachtete das freudlose Duergar-Gasthaus und traf ihre Entscheidung. »Wir werden zwei Nächte bleiben, und übermorgen werden wir früh am Morgen aufbrechen«, sagte sie. »Ich würde länger bleiben, aber ich will kein unnötiges Risiko eingehen, was die Dauer der hiesigen Gastfreundschaft betrifft. Die Ereignisse
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schreiten zu schnell voran, als daß wir es uns leisten könnten, zu trödeln.« Sie sah Valas und Kohlenhauer an, der neben ihm stand, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf die Straße gerichtet, um deutlich zu machen, daß er die Unterhaltung der Drow nicht belauschte. Ist dieser Ort sicher? signalisierte sie. Wird der Zwerg uns hin tergehen? Es ist ausreichend sicher, erwiderte Valas. Laßt niemanden Jeggred sehen. Der Rest sollte unbehelligt bleiben, solange Ihr Auseinandersetzungen aus dem Weg geht. Er sah kurz zu Koh lenhauer und fügte an: Der Zwerg weiß, daß wir ihn für seine Dienste gut bezahlen werden, aber wenn er das Gefühl bekommt, daß wir ihn töten könnten, anstatt ihn zu bezahlen, dann wird er sicherlich Mittel und Wege finden, um uns festnehmen zu lassen. Er weiß, daß wir keine Kaufleute sind, aber es kümmert ihn nicht, warum wir unterwegs sind, solange er seine Bezahlung erhält. Sollen wir ihn aus dem Weg räumen? fragte Ryld. Das ist jetzt zu gefährlich, signalisierte Valas. Solange wir hier sind, werde ich ihn gut im Auge behalten. »Nehmt Ryld mit, nur für alle Fälle«, sagte Quenthel. Ryld nickte und zog an seinem Rucksack, damit er besser zwischen den Schulterblättern saß. »Ich bin bereit«, sagte er dann. »Ich kann nicht sagen, daß mir die Gesellschaft unwill kommen wäre, falls sich Ärger einstellt«, erwiderte Valas. »Nun sollten wir Meister Kohlenhauer nicht länger warten lassen. Wenn Ihr bis morgen mittag nichts von uns gehört habt, solltet Ihr vom Schlimmsten ausgehen und die Stadt so schnell wie möglich verlassen.« Der Späher eilte davon, gefolgt von Ryld. Zusammen mit
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Kohlenhauer machten sie sich daran, tiefer in die Stadt vorzu dringen. »Was wir an dir so lieben, Valas Hune, ist deine unerschüt terlich gute Laune«, meinte Pharaun, während er dem Späher nachsah. »Ich muß auch einiges erledigen. Ich werde an die sem düsteren Ort nach einem Händler für arkane Reagenzien Ausschau halten, um meine Zauberkomponenten zu ergän zen.« »Laßt Euch nicht zuviel Zeit«, mahnte Quenthel, dann sah sie zu Halisstra und Danifae. »Was ist? Kommt Ihr nicht?« »Noch nicht«, sagte Halisstra. »Ich glaube, wenn wir schon mal hier sind, werde ich die Gelegenheit nutzen, Danifae mit Waffen und einer Rüstung auszustatten. Wir kehren zurück, wenn sie angemessen ausgerüstet ist.« »Ich dachte, Ihr würdet Eurer Kriegsgefangenen nicht ges tatten, für Euch zu kämpfen«, sagte Quenthel und kniff die Augen zusammen, während sie überlegte, was Halisstra vorha ben mochte. »Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß Danifae ein Problem darstellt, solange sie weder Waffen noch Rüstung trägt. Ich will nicht, daß mein Eigentum zu Schaden kommt.« Halisstra konnte Quenthels Mißtrauen fast greifen, so groß war es. Die Baenre strich wortlos über das Heft ihrer Peitsche, während sie Halisstra und Danifae nachdenklich betrachtete. Gut, dachte Halisstra. Soll sie glauben, ich hätte genügend Macht über Danifae, um es mir leisten zu können, sie zu be waffnen. Eine gewisse Unsicherheit könnte hilfreich sein, was ihr Urteil über unseren Nutzen angeht. »Geht nicht zu weit fort und bringt Euch nicht in Schwie rigkeiten«, sagte Quenthel. »Wenn die Umstände es erfordern, werde ich auch ohne Euch weiterziehen.« Sie gab Jeggred ein Zeichen und ging auf das Kalte Gieß
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haus zu, wobei sie beide Frauen aus ihren Gedanken verbann te. Halisstra konnte sich eines zufriedenen Lächelns nicht er wehren, als Quenthel außer Sichtweite geriet und Jeggred ihr folgte. Sie und Danifae sahen einander kurz an, dann begaben sie sich in die Stadt. Auch wenn Kohlenhauer beteuert hatte, die Stadt sei für Angehörige aller Rassen offen, vorausgesetzt, sie führten Gold bei sich, konnte Halisstra nicht glauben, daß zwei Drow in Gracklstugh tatsächlich keinen Gefahren ausgesetzt waren. Die kleinen, stämmigen Grauzwerge, die die Straßen bevölker ten, gingen ihren Geschäften mit einer mürrischen Zielstre bigkeit nach, die Halisstra gar nicht gefiel. Keiner von ihnen lachte, tat sich wichtig oder putzte sich heraus. Nicht einmal versteckte Drohungen wurden ausgetauscht. Statt dessen war fen sie jedem einen finsteren Blick zu, den sie passierten, selbst wenn er einer von ihnen war. Sie stapften durch die Straßen, trugen schwere Kettenhemden, und die Hände ruhten auf den Griffen massiver Äxte und Hämmer, die sie unter den breiten Gürtel geschoben hatten. Erst nachdem Halisstra und Danifae in den Straßen mindestens ein halbes Dutzend anderer Rassen entdeckt hatten, wurde sie etwas ruhiger. Halisstra blieb zwischen zwei hochragenden Schmelzöfen stehen und sah sich um. »Da! Ich kann nicht viel Zwergisch, aber ich glaube, diese Schilder werben für Waffenschmiede.« Sie bogen in die Straße ein, die kaum mehr war als ein Trampelpfad, der sich zwischen den burgenähnlichen Stalag miten hindurchwand. Nachdem sie die hohen Steinsäulen hinter sich gelassen hatten, gelangten sie auf eine Art Stadt platz, eine weite, freie Fläche, die von niedrigen, festungsglei chen Gebäuden aus mit Mörtel verbundenem Stein umgeben
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war. Sie entdeckten ein Schaufenster, in dem Dutzende von Waffen und Rüstungen auslagen, darüber hing das Schild eines Händlers. »Das sieht vielversprechend aus«, erklärte Halisstra und duckte sich durch die niedrige Tür. Danifae war dicht hinter ihr. Das Geschäft war vollgepackt mit dem unterschiedlichsten Kampfzubehör, zum größten Teil zwergischer Machart, doch einige Stücke stammten auch von anderen Rassen – schwere eiserne Klingen aus Orog-Fertigung, Kuo-Toa-Rüstungen, die aus den Schuppen einer großen, blassen Fischart bestanden, ein schwarzes Mithral-Kettenhemd aus Drow-Herstellung. Zwei bestens bewaffnete Duergar waren damit beschäftigt, an einer Werkbank gleich neben der Tür eine Rüstung zusam menzusetzen. Sie bedachten Halisstra und Danifae mit mißtrauischen Blicken, als sie die beiden Drow hereinkommen sahen, und sahen wachsam zu, wie die Priesterin und ihre Die nerin das Angebot studierten. »Herrin Melarn«, rief Danifae. Halisstra wandte sich um und sah, wie die junge Frau eine gut gearbeitete Kettenrüstung aus Drow-Herstellung betrachte te, in die das Emblem eines unbedeutenderen Hauses eingear beitet war, dessen Name ihr unbekannt war. Ein passender Rundschild und ein Morgenstern aus schwarzem Stahl hingen gleich daneben. Der Kopf der Waffe war in der Form einer dämonischen Fratze mit gedrehten, dornengleichen Hörnern gearbeitet. Halisstra murmelte unauffällig einen Ortungszauber und lächelte, als sie das Ergebnis sah. Die Waffen waren ma gisch, zwar nicht überragend gut, aber sie konnte sich nicht vorstellen, anderswo in der Stadt etwas gleichwertiges oder sogar besseres zu finden. »Was könnt Ihr mir über diese Drow-Waffen sagen?« fragte
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sie die Ladenbesitzer. Die Duergar unterbrachen ihre Arbeit. Halisstra bemerkte, daß die zwei einander so ähnlich sahen, daß sie sie kaum aus einanderzuhalten vermochte. »Trophäe«, krächzte einer der beiden. »Ein Hauptmann im Dienst Fürst Thrazgads hat sie vor ein paar Monaten verkauft. Weiß nicht, woher er sie hatte.« »Sie sind verzaubert«, sagte der andere. »Sind nicht billig.« Halisstra ging zur Theke, zog aus ihrer Halsberge einen kleinen Beutel, durchsuchte den Inhalt und wählte einige Smaragde, die sie auf die Theke legte. »Sind wir uns einig?« Der Grauzwerg stand auf und kam näher, um die Edelsteine zu begutachten. Er schnitt eine Grimasse und sagte: »Viel mehr.« Halisstra hielt seinem Blick stand. Sie hatte nicht viel ret ten können, als ihr Haus unterging, und konnte das wenige, was sie besaß, nicht einem habgierigen Grauzwerg in den Ra chen werfen, vor allem nicht, wenn sich noch andere Wege boten. »Danifae, sieh dir das Kettenhemd noch einmal an«, sagte sie über die Schulter. »Du sollst dir sicher sein, daß es wirklich das ist, was du haben willst.« Danifae verstand auf Anhieb und nahm prüfend den Mor genstern in die Hand. Wie von Halisstra erhofft, wurde der zweite Duergar sofort nervös, als er sah, wie ein Drow eine so kostbare Ware einfach in die Hand nahm. Er ließ seine Arbeit liegen und kam näher, um besser sehen zu können, wobei er darauf achtete, daß er Danifae den Weg zum Ausgang versperr te. Die machte sofort eine ganze Reihe von Äußerungen über die Waffe, sprach bewundernd über das Kettenhemd und be zweifelte die Wirksamkeit der Zauber, um den Zwerg in eine
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Unterhaltung zu verwickeln. »Das Fünffache des Gewichts dieser Edelsteine ist nötig«, erklärte der Duergar hinter der Theke, »und es müssen gute Steine sein.« »Gut denn«, sagte Halisstra. Sie nahm eine Ledertasche vom Rücken und legte sie auf den Tresen. Sie holte vorsichtig ihre Leier heraus, ein kleines, geschwungenes Instrument aus Drachenknochen, bespannt mit Mithral-Draht und mit Mithral-Filigran ziseliert. »Wie Ihr sehen könnt, ist es ein exquisites Stück«, erläuter te sie. Sie nahm es zur Hand und spielte es, als wolle sie seine Ei genschaften vorführen, doch gleichzeitig stimmte sie leise ein Bae’qeshel-Lied an. Der Zwerg sah sie erschrocken an und woll te zurückweichen, als ihm klar wurde, daß sie einen Zauber wirkte. Ehe er eine Warnung rufen konnte, hatte ihn die Ma gie des Liedes bereits umgarnt. »Was ist los?« rief der andere Duergar. »Sag deinem Freund, es sei alles in Ordnung«, flüsterte Ha lisstra. »Ihr wollt die Leier nicht.« »Alles in Ordnung«, rief der Angesprochene. »Sie bietet eine Leier an, die wir nicht wollen.« »Natürlich nicht«, murmelte der andere. »Seht Ihr hier vielleicht Musikinstrumente?« Dann konzentrierte er sich wieder auf Danifae, die wissen wollte, wie man an feuchten Orten am besten ein Kettenhemd pflegte. »Nun«, sagte Halisstra zu dem Zwerg, den sie eingelullt hat te, »wir sind im Moment noch recht weit voneinander ent fernt, aber ich bin sicher, wir werden uns einig. Ihr werdet uns die Waffen verkaufen, die meine Zofe begutachtet. Würdet Ihr die Smaragde als Anzahlung nehmen? Ich werde in einigen Tagen wiederkehren, um mit einer beträchtlichen Summe
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meine noch ausstehende Schuld zu begleichen.« »Die Steine würden als Anzahlung reichen«, lenkte der Kaufmann ein. »Aber mein Kompagnon wird darüber nicht erfreut sein. Er wird glauben, Ihr würdet nicht zurückkom men.« »Laßt ihn denken, ich hätte voll bezahlt. Dann wird er Euch in Ruhe lassen«, sagte Halisstra. Sie überlegte einen Moment, dann beugte sie sich vor und sah dem Zwerg tief in die Augen. »Wißt Ihr«, sprach sie leise, »wenn Eurem Kompagnon et was zustieße, dann könntet Ihr Euer Geschäft so führen, wie es Euch zusagt, nicht wahr? Ihr könntet alle Gewinne für Euch allein behalten, nicht?« Ein habgieriges Funkeln leuchtete in den Augen des Kauf manns. »Da habt Ihr recht«, sagte er. »Daß ich nicht schon längst darauf gekommen bin!« »Geduld«, riet ihm Halisstra. »Es muß nicht sofort sein, es genügt im Lauf des Tages. Noch etwas: Es wäre mir sehr ge nehm, wenn Ihr niemandem sagen würdet, daß meine Freun din und ich heute bei Euch waren. Wir sollten das für uns behalten.«
Nimor verließ Menzoberranzan – für den Fall, daß es nötig wurde, seinen Aufenthalt in der Stadt zu rechtfertigen – mit einer Reihe von Zahlungen und Belegen, die zeigten, daß Reethk Vaszune sich auf eine Vereinbarung eingelassen hatte, die die Magier von Agrach Dyrr mit bestimmten Zauberrea genzien und Komponenten versorgte. Die Einzelheiten, die die von ihm ausgehandelten eigentlichen Abmachungen betrafen, fanden sich dagegen einzig in seinem Kopf. Die Gesalbte Klin
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ge der Jaezred Chaulssin war mit den Ergebnissen ihrer Arbeit sehr zufrieden. Auch wenn er Agrach Dyrr nicht unbedingt für das brauchte, was ihm vorschwebte, würde die Vereinbarung, die er mit dem alten Meister des Hauses getroffen hatte, die vor ihm liegende Arbeit spürbar vereinfachen. Nimor wechselte von Qu’ellarz’orl in eine kleine Seiten höhle, die hinaus in das Dunkle Reich führte. In den letzten Monaten hatte er sich mit dem Irrgarten aus gefährlichen Passagen rings um die große Stadt vertraut gemacht, so daß er rasch eine ruhige, dunkle Ecke fand, die von den Verteidigern der Stadt nicht eingesehen werden konnte. Die Gesalbte Klin ge streckte eine Hand nach der Wand aus. Der Ring der Schat ten leuchtete in seiner linken Hand, ein kleiner Kreis aus pechschwarzer Finsternis, der mehr wie ein kleines Loch in der Welt wirkte, weniger wie ein Schmuckstück. Neben seinen anderen Fähigkeiten erlaubte der Ring es ihm, sich auf der Ebene der Schatten zu bewegen, so daß er von vielen Ein schränkungen und Hindernissen befreit war, die eine Reise zu Fuß mit sich gebracht hätte. Er machte einen Schritt auf die Wand zu und verschwand in der Randzone der Schatten. Sein Ziel war nur ein paar hun dert Kilometer von Menzoberranzan entfernt. Er hatte diese Reise bereits einige Male unternommen und benötigte selten mehr als eine Stunde. Kein Sohn Chaulssins mußte sich fürch ten, wenn er sich inmitten der Schatten bewegte, deshalb konzentrierte sich Nimor darauf, den Wert seiner Allianz mit Agrach Dyrr zu beurteilen und sich zu fragen, ob er dem alten Hexenmeister, dem heimlichen Herrscher über das Haus, wirk lich so vertrauen konnte, wie der behauptete. Nimor folgte für eine unermeßliche Zeitspanne dem finste ren Pfad, den der Ring ihm durch die Randzone bahnte, und schließlich wand sich der Weg zurück in die Welt der Sterbli
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chen. Es war in der Randzone fast unmöglich zu sagen, wieviel Zeit verstrichen war, doch es war auch nicht von Bedeutung, weil die Magie des Zaubers so ausgerichtet war, daß der ge schaffene Pfad ihn in jedem Fall zum gewünschten Zielort führte. Der Assassine legte die Hand um das Heft seines Ra piers und erreichte die letzte Phase seiner Reise, für die er einen Schleier aus Düsternis durchschritt und in eine große, gewölbeartige Kammer gelangte, die aus sorgfältig zusammen gefügten Steinblöcken erbaut war. Nur eine Tür führte aus diesem Raum, ein großes Eisentor, das mit Zaubern verstärkt war. Nimor zog unter dem Kettenhemd einen großen Bronze schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Fast augenblick lich öffnete sich die Tür mit einem rostigen Knarren. Auf der anderen Seite der Tür lag ein großer, düsterer Saal, der von rotglühenden Kohlen in Rosten schwach erhellt wur de. Wie das Gewölbe war auch dieser aus behauenem Stein gebaut. Es fehlte an jedweden Dekorationen oder Verzierun gen. Nimor spürte die Präsenz mehrerer Wächter, doch keiner von ihnen wollte sich zeigen. »Ich bin es, Nimor«, sagte er. »Laßt den Kronprinzen wis sen, daß ich hier bin.« Neben ihm nahmen mehrere Duergar-Wachen Gestalt an, die bis gerade eben noch unsichtbar gewesen waren. Die Duer gar waren einen Kopf kleiner als der Drow, doch sie waren breitschultrig und hatten einen langen Torso, dazu kurze, aber kräftige Beine und muskulöse Arme. Sie trugen schwarze Rüs tungen, in den Händen hielten sie Streitäxte und Schilde, auf denen das Symbol Gracklstughs prangte. Eine Duergar-Frau, auf deren Dienstgrad nur ein einzelner Streifen Goldfiligran auf ihrem Helm hinwies, beobachtete ihn aufmerksam. »Der Kronprinz hat Anweisung gegeben, Euch ins Gäste quartier des Palastes zu bringen. Er wird sich in Kürze melden.«
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Sie ließ die höfliche Mitteilung wie einen Befehl klingen. Der Assassine verschränkte die Arme und ließ sich von zwei Steinwachen der Leibgarde des Prinzen abführen. Die Duergar betrachteten ihn mit Unbehagen, als erwarteten sie von Ni mor etwas Bösartiges. Auch wenn Menzoberranzan und Gracklstugh seit Jahrtausenden Nachbarn waren, herrschte zwischen Duergar und Drow keine Freundschaft. Duergar und Dunkelelfen hatten mehr als einmal erbittert um die Kontrolle über die sich gut hundertfünfzig Kilometer erstreckenden Höh len und Felsspalten zwischen den beiden Städten gekämpft. Die Tatsache, daß es seit über einem Jahrhundert nicht mehr zum Krieg gekommen war, hing nur mit einer widerwilligen Anerkenntnis der Kraft des jeweils anderen zusammen, nicht etwa damit, daß sich an der Feindschaft irgend etwas gebessert hätte. Die Wachen führten ihn durch die labyrinthartigen Korri dore des Palastes und brachten ihn in eine große Suite in ei nem nicht benutzten Teil der Festung. Die Einrichtung war einfach, zweckmäßig und entsprach dem Geschmack der Duer gar. Nimor ließ sich nieder, um zu warten, und trat schließlich ans Fenster, das nur wenig mehr war als ein schmaler Schlitz, um einen Blick auf die graue Zwergenstadt unterhalb des Pa lastes zu werfen. Die zeigte sich reizlos wie immer und präsen tierte sich als stinkender Hexenkessel aus Rauch und Lärm. Nach einer Weile hörte Nimor Schritte, und als er sich um drehte, betrat soeben Horgar Stahlschatten die Suite, begleitet von einem Paar Steinwachen. »Ah«, sagte der Drow und deutete mit dem Kopf eine Ver beugung an. »Ich grüße Euch, mein Fürst. Wie laufen die Ge schäfte?« »Ich bezweifle, daß Euch das interessiert«, gab Horgar zu rück. Für den Herrscher einer so mächtigen Stadt war der
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Kronprinz in vieler Hinsicht unscheinbar. Mit seinem mürri schen Blick und seinem kahlen Schädel sah er den anderen Duergar im Raum verblüffend ähnlich. Er trug ein Zepter, aber keine Rüstung, das einzige Merkmal, das ihn von seinen Leib wächtern unterschied. Den Wachen bedeutete er, an der Tür zu warten, dann durchquerte er den Raum, um sich leise mit Nimor zu unterhalten. »Welche Neuigkeiten bringt Ihr?« »Ich glaube, ich habe die Verbündeten gefunden, nach de nen ich in Menzoberranzan gesucht hatte, werter Prinz. Ein starkes Haus, das gewillt ist, die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sehen, dessen Loyalität dort aber nicht ange zweifelt wird. Die Stunde des Sieges naht.« »Ha! Haus Zauvirr war sehr erpicht darauf, unsere Söldner in Ched Nasad einzusetzen, aber nur verdammt wenige von Khorrl Xornbanes Stamm sind zurückgekehrt. Ich bin sicher, daß Ihr oder dieser Zammzt die gleichen Worte in Khorrls Ohr geflüstert habt, als Ihr seine Männer in Euren Dienst nahmt.« »Xornbanes Verluste sind bedauerlich, doch ehrlich gesagt hatten wir nicht erwartet, daß Eure Steinbrandbomben in Ched Nasad so durchschlagende Wirkung zeigen würden. Wäre es nicht so weit gekommen, hätte Khorrl zusammen mit Haus Zauvirr die Stadt eingenommen.« Der Duergar-Prinz warf ihm einen finsteren Blick zu, sein Bart ragte vor wie eine Flaschenbürste. »Ich warnte Khorrl, daß Drow die Gewohnheit haben, Söldner und ganz besonders Zwerge sehr schlecht zu entloh nen. Ich möchte keine weitere unserer Söldnertruppen in eine solche Gefahr schicken. Xornbane machte ein Achtel der Streitmacht dieser Stadt aus.« »Ich benötige keine weitere Eurer Söldnertruppen, Prinz, ganz gleich, wie groß und kampflustig sie auch ist«, versicherte Nimor ihm. »Ich brauche Eure ganze Armee. Marschiert mit
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Eurer Streitmacht ein, und Ihr müßt Euch über eine Niederla ge keine Gedanken machen.« »Das riecht immer noch nach einer heimtückischen Falle der Drow.« Nimor runzelte die Stirn. »Prinz Horgar, wenn Ihr zögert, ein Risiko einzugehen, werden Ihr auch nur selten gewinnen können, wenn die Würfel fallen. Euch bietet sich die Gele genheit, etwas Großes zu erreichen, aber ich kann Euch keine Erfolgsgarantie geben und Euch auch nicht vormachen, unser Unternehmen sei frei von Risiken.« »Wir reden hier nicht über eine Handvoll Münzen, die bei einem albernen Spiel verloren werden können«, konterte der Prinz. »Wir reden hier über meinen Thron, den ich für einen Krieg riskiere, dessen Ausgang durch viele Faktoren gänzlich ungewiß ist. Versucht nicht, meine Entschlossenheit durch hohle Phrasen über Risiko und Belohnung zu unterwandern.« »Gut, dann werde ich das nicht tun. Aber ich werde darauf hinweisen, daß Ihr bei unserer letzten Begegnung sagtet, Ihr würdet auf einer einzigen Sache bestehen, ehe Ihr Eure Armee gegen Menzoberranzan führt: einen wichtigen Verbündeten in der Stadt selbst. Diesen Verbündeten habe ich Euch gebracht. Wann wird sich eine bessere Gelegenheit ergeben, gegen die Bedrohung vorzugehen, die ein starkes Menzoberranzan für Euer Königreich darstellt? Die Priesterinnen sind machtlos, sie haben einen verlustreichen Sklavenaufstand hinter sich, und nun gebe ich Euch ein Haus, das bereit ist, Euch in Euren Be mühungen zu unterstützen. Was fehlt uns noch, Prinz?« Der Duergar schnitt eine Grimasse und blickte auf Gracklstugh. Eine Weile stand er einfach da und dachte ange strengt nach. Nimor sah, daß er unschlüssig wurde, und ent schied, es sei an der Zeit, den Köder auszuwerfen. Er kam näher und sagte leise: »Was wäre besser, um Euren
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Thron gegen jene aufrührerischen Gutsherren zu festigen, vor denen Ihr Euch fürchtet, als sie mit einem Feldzug jenseits der Grenzen dieses Reiches abzulenken? Selbst wenn es Euch nicht gelänge, Menzoberranzan einzunehmen, würde eine geschickte Planung doch dafür sorgen können, daß die Streitkräfte der bedrohlichsten Gutsherren in die tödlichsten Kämpfe der Schlacht verwickelt werden. Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, so glaube ich, daß Ihr es in der Hand habt, einen großen Sieg über Menzoberranzan zu erringen und zugleich Eure auf sässigsten Adligen massiv zu schwächen.« Der Duergar brummte und sah Nimor an. »Ihr erwartet viel, Drow«, sagte Horgar. »Was hofft Ihr zu erreichen, wenn Menzoberranzan fällt? Warum wollt Ihr mich zu dieser Vorgehensweise drängen?« Der Assassine grinste und klopfte dem Duergar auf die Schulter. Die Steinwachen im Raum bewegten sich nervös, da ihnen der Körperkontakt nicht behagte. »Lieber Prinz, die Antwort ist einfach«, sagte Nimor. »Ra che. Eure Armee ist das Instrument meiner Rache. Natürlich will ich nicht, daß Ihr Menzoberranzan einfach nur in Schutt und Asche legt, weil ich es Euch sage. Darum beruht ein ge wichtiger Teil meines Plans darauf, Euch die nötige Motivati on zu geben, damit Ihr tut, was ich wünsche. Ich habe lange und hart daran gearbeitet, die Umstände so zu arrangieren, daß die Armee von Gracklstugh auf die Stadt losmarschieren kann, die ich so sehr hasse. Ich sollte vielleicht darauf hinweisen, daß ich Euch bei dem winzigen Problem der rücksichtslosen Lang lebigkeit Eures Vaters geholfen habe. Wie soll ich meine Ab sichten noch deutlicher machen?« »Ich habe Euch für diese Hilfe mit Hunderten von Stein brandbomben gedankt«, erwiderte der Duergar aufgebracht. »Sprecht ja nie wieder von Vaters ... Tod. Wenn ich zu der
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Ansicht gelangen sollte, daß Ihr mit dieser Geschichte auf mein Handeln Einfluß nehmen wollt, dann würde ich dafür sorgen müssen, daß keine der Informationen, über die Ihr ver fügt, jemals an den Tag kommt. Versteht Ihr?« »Oh, das hatte ich damit nicht sagen wollen, Horgar. Ich wollte nur klarmachen, daß ich Euch zuvor von Nutzen gewe sen bin und daß ich für Euch wieder von Nutzen sein könnte. Kann ich nun auf die Armee Gracklstughs zählen?« Horgar Stahlschatten, Kronprinz von Gracklstugh, nickte. »Wir werden da sein«, sagte er. »Nun erklärt mir, wer genau in Menzoberranzan auf unserer Seite sein und wie man uns helfen wird.«
Ryld spürte haßerfüllte Blicke, die auf seinem Rücken ruhten, während er Valas und Kohlenhauer durch die Straßen der Duergar-Stadt folgte. Er war sich nur allzu deutlich der Tatsa che bewußt, daß er hier nicht in seinem Element war. Er über ragte jeden der Grauzwerge um gut und gerne fünfzig Zentime ter, und seine kohlrabenschwarze Haut und sein pechschwarzer Piwafwi taten ihr übriges, daß er sich von der Menge abhob. Die drei bahnten sich ihren Weg durch ein Viertel, in dem die Schwertschmiede zu Hause waren, eine schmale Gasse, die zu beiden Seiten von offenen Schmieden gesäumt wurde, in de nen Duergar mit Lederschürzen unermüdlich rotglühendes Metall bearbeiteten. Ryld war damit vertraut, was guten Stahl ausmachte, und sah auf den ersten Blick, daß diese Zwerge ihr Handwerk verstanden. Der Waffenmeister beschleunigte seine Schritte und holte zu Valas auf. »Wohin gehen wir?« fragte er so leise, wie das angesichts der schlagenden Hämmer ringsum möglich war. »Ich dachte,
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wir müßten erst im Besitz einer offiziellen Lizenz sein, um pas sieren zu können. Sollten wir uns dafür nicht zu irgendeinem Amt begeben?« »Wenn wir eine königliche Lizenz wollten, dann schon«, antwortete Kohlenhauer. »Aber das würde Euch Monate und ein Vermögen kosten. Nein, ich bringe Euch zum Haushalt des Clansherrn Muzgardt. Er wird Euch einen Passierschein geben, mit dem Ihr überallhin könnt.« Ryld nickte. Hier ging es doch nicht so anders zu als in Menzoberranzan. »Wie weit wird Muzgardts Schein uns bringen?« wollte Valas wissen. »Werden wir damit Gracklstugh verlassen kön nen?« »Muzgardts Clan besteht aus Kaufleuten. Sie handeln im gesamten Tiefenkönigreich mit Bier und Likören, und manchmal bringen sie auch Gebräu von draußen in die Stadt – Drow-Wein, Svirfneblin-Branntwein, manchmal sogar Wein von der Welt an der Oberfläche, wie ich gehört habe. Seine Leute treiben sich im gesamten Reich herum.« Kohlenhauer lachte gehässig und fügte an: »Natürlich verkauft Muzgardt auch denen, die sie brauchen, Passierscheine. Er mag Gold.« Ryld lächelte. Kohlenhauer war wie viele seiner Art ein habgieriger Zeitgenosse. Da er Muzgardts Habgier ausdrücklich betonte, mußte sie schon bemerkenswert ausgeprägt sein. Sie erreichten das Ende der Straße der Schwertschmiede und fanden sich erneut in der Nähe des Dunkelsees wieder, allerdings ein Stück weiter nördlich. Vor ihnen stand eine große, windschiefe Brauerei, die aus lose aufeinandergestapel ten Steinen bestand, die zwischen den gehärteten Stämmen eines kleinen Waldes aus Riesenpilzen Wände bildeten. Im Inneren der Brauerei standen große Kupferbottiche, aus denen Dampf austrat, der die Luft mit einem schweren Hefeduft er
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füllte. Dutzende kleiner Kupferfässer standen nicht weit ent fernt, und stämmige Grauzwerge schwärmten umher, zerdrück ten Pilze, rührten gärende Massen an und füllten das frisch gebraute Bier in die Fässer. »Die zweite große Liebe eines Zwergs«, erklärte Kohlenhau er mit schiefem Grinsen. »Muzgardts Leute leisten gute Arbeit, sage ich Euch.« Der Zwerg führte Ryld und Valas in das Brauhaus und ging mit ihnen an den riesigen Bottichen vorbei zu einem kleinen Verschlag im rückwärtigen Bereich des Gebäudes. Ein paar Duergar in schwerer Rüstung standen da, bedrohlich ausse hende Äxte lagen in Reichweite. Die Wachen warfen den Drow wütende Blicke zu und griffen nach ihren Waffen. »Was wollt Ihr?« knurrte einer der Wachmänner. »Thummud«, erwiderte Kohlenhauer. »Ich habe ihm ein Angebot zu machen.« »Bleibt hier«, sagte die erste Wache. Der Zwerg duckte sich durch einen zerfetzten Vorhang im Türrahmen und kehrte Augenblicke später wieder zurück. »Thummud erwartet dich. Aber die Drow müssen ihre Waf fen ablegen. Er traut ihnen nicht.« Ryld sah zu Valas Hune und signalisierte: Müssen wir besorgt sein, daß man uns angreift? Kohlenhauer weiß, daß unsere Gruppe noch fünf Personen um faßt, erwiderte der Späher. Darunter ein fähiger Magier und ein Draegloth. Ich glaube nicht, daß er uns in eine Falle locken will, aber paß dennoch auf. »Schluß mit dem Fingergerede«, fauchte der Wachmann. »Wenn Ihr etwas zu sagen habt, dann sagt es so, daß wir alle es hören können.« »Immer«, sagte Ryld gut verständlich zu Valas. Dann warf er dem Duergar einen stechenden Blick zu,
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nahm Splitter vom Rücken und lehnte den Zweihänder an die Wand. Er zog auch sein Kurzschwert aus der Scheide und stell te es neben Splitter. »Auf der Klinge lastet ein Fluch«, erklärte er. »Ihr würdet nicht gerne erleben, wie er sich äußert.« Valas legte Bogen und Pfeile ab, dann ließ er seine Kukris fallen. Die Duergar-Wachen durchsuchten die beiden Dunkel elfen nach verborgenen Warfen, dann drängten sie sie in den düsteren Schuppen. Dabei handelte es sich um eine Art Büro, in dem überall Kontenbücher und Aufzeichnungen lagen. An einem großen Stehpult stand einer der fettesten Duergar, die Ryld je zu Gesicht bekommen hatte, ein rundlicher Kerl mit dicken Armen und breiten Schultern. Duergar neigten trotz ihrer kleinen, aber kraftvollen Statur zu einem hageren, breit schultrigen Körperbau, doch Braumeister Thummud war ge nauso rund wie die Fässer, mit denen er handelte. »Kohlenhauer«, sagte er statt einer Begrüßung. »Was kannst du für mich tun?« »Ich habe hier eine Gruppe Drow, die einen Passierschein von Muzgardt braucht«, antwortete Kohlenhauer. »Sie möch ten nicht gern auf eine königliche Erlaubnis warten.« »Womit handeln sie?« »Vorwiegend mit Edelsteinen«, sagte Valas. »Wir sind be müht, neue Transportwege durch das Tiefenkönigreich einzu richten. Wir müssen viel reisen und mit vielen Leuten reden, und wie Kohlenhauer gerade sagte, wollen wir nicht monate lang auf eine königliche Lizenz warten.« »Dann seid Ihr entweder dumm, oder Ihr lügt. Um von un serem Clansherrn einen Passierschein zu bekommen, müßt Ihr zehnmal so viel zahlen wie für eine königliche Lizenz. Ich kenne kaum einen Kaufmann, der so etwas täte.« Valas Hune sah zu Ryld, dann wieder zu Thummud. »Nun
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gut, wir haben zu Hause einige Rivalen, die hier gute Geschäf te machen, und wir wollen uns zu ihren Lieferanten begeben, um zu sehen, ob wir sie nicht dazu bewegen können, an uns zu verkaufen. Eine königliche Lizenz würde dafür sicher nicht genügen.« Thummud schnaubte. »Ich schätze nicht.« »Könnt Ihr meinen Kunden helfen oder nicht?« drängte Kohlenhauer. »Oder muß ich mich an Eisenkopf oder Amboßsehne wenden?« »Clan Muzgardt kann Euch womöglich helfen«, sagte Thummud nach langer Pause. »Wir bekommen 200 Goldstü cke pro Namen auf dem Passierschein. Aber den Schein gibt es nicht heute.« Kohlenhauer sah zu den Drow. Ryld nickte. »Sie werden die Gebühr des Fürsten bezahlen«, erklärte der Duergar-Seemann. »Aber sie wollen das schnell erledigt wis sen.« »Mir egal, was Eure Kunden wollen«, meinte Thummud. »Ich muß das erst mit dem Clansherrn besprechen.« »Das mußtet Ihr noch nie!« Der fette Zwerg verschränkte die Arme und schob den Un terkiefer vor. »Sei dem, wie es sei, die Soldaten des Kronprinzen sehen sich in letzter Zeit unsere Dokumente und Pässe viel zu gründ lich an. Horgar hat erklärt, er wolle wissen, wer sich warum in seinem Königreich aufhält, und er verläßt sich darauf, daß die Clansherren sich zurückhalten. Wir werden Euren Kunden schon geben, was sie brauchen, aber ich muß mir erst Muz gardts Segen holen. Kommt morgen wieder. Oder übermor gen.« Kohlenhauer murmelte etwas, machte sich aber nicht die Mühe, länger zu diskutieren. Er wandte sich ab und führte Ryld
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und Valas Hune nach draußen. Die Drow nahmen ihre Waffen an sich, und wenige Minuten später hatten sie die Brauerei wieder verlassen. »Was machen wir nun?« wollte Valas wissen. »Kennt Ihr noch einen anderen Clan, der uns helfen könnte?« »Kann sein. Aber wenn sich Horgar auf inoffizielle Pässe und dergleichen konzentriert, werdet Ihr überall auf Schwie rigkeiten stoßen.« Der Zwerg kratzte sich am Bart. »Ich werde ein paar Fragen stellen müssen, aber ich glaube, es wäre besser, wenn ich das allein tue.« Ryld sah zu Valas, der lange nachdachte, ehe er einwilligte. Aber selbst dann hatte der Waffenmeister nicht das Gefühl, daß sein Gefährte allzu großes Vertrauen in die Loyalität ihres Führers setzte.
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Als Halisstra und Danifae in das Kalte Gießhaus zurückkehr ten, stellten sie fest, daß Quenthel einen der größeren Flügel des Gasthauses gemietet hatte. Es handelte sich um ein freiste hendes Gebäude mit eigenem kleinen Gemeinschaftsraum und acht Zimmern, die sich auf zwei Stockwerke verteilten. Der gesamte Flügel schien in einer Art und Weise gebaut und de koriert worden zu sein, von der die Duergar glaubten, Drow fänden sie komfortabel. Die Einrichtung war auf Gäste von der Größe eines Drow, nicht eines Duergar, ausgelegt, überall lagen Teppiche und Läufer, und alle Türen waren mit Schlös sern versehen. Drow benötigten anders als die niederen Rassen nicht unzählige Stunden Schlaf, aber die wenigsten Drow verspürten ein Gefühl der Sicherheit oder des Komforts, wenn sie in ihre tiefe Trance versanken, solange sie sich nicht in einem Raum einschließen konnten.
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Der Rest der Truppe – nur Pharaun fehlte – ruhte sich auf Teppichen aus oder saß am Tisch im Gemeinschaftsraum und ließ sich ein üppiges Mahl schmecken, zu dem auch silberne Kannen mit Wein gehörten. Rüstungen und Gepäck waren gegen die Wände gelehnt worden, während die Waffen in Reichweite lagen. Halisstra hob erstaunt eine Braue, als sie das Bankett be trachtete, das auf dem Serviertisch ausgebreitet worden war. Ein großes Stück Rothé-Braten, mehrere Räder edler Käsesor ten und Teller voll mit dampfenden gedünsteten Pilzen erin nerten sie daran, wie lange sie schon auf eine anständige war me Mahlzeit hatte verzichten müssen. »Das Essen ist unbedenklich?« fragte sie. Quenthel schnaubte. »Haltet Ihr uns für dumm? Natürlich haben wir das überprüft. Zuerst schickte uns der Wirt ein Faß mit Wein, der mit Betäubungsmitteln versetzt war, aber wir haben uns beschwert ...«, Jeggred sah auf und lächelte so breit, daß seine Reißzähne gut zu sehen waren, womit Halisstra eine deutliche Vorstellung davon hatte, wie die Beschwerde ausge fallen war, »... und als Wiedergutmachung haben wir dieses Bankett bekommen. Genießt es.« Halisstra untersuchte dennoch selbst noch einmal den Tisch, wobei sie sich auf den magischen Ring an ihrem Finger verließ. Adlige Drow waren im Umgang mit Giften so ver traut, daß man eine Mahlzeit nicht von vornherein als unbe denklich ansehen durfte. Schließlich war sie beruhigt, legte sich auf und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Auch Danifae bediente sich und nahm auf einem flachen Sofa neben Quenthel Platz. »Wie ich sehe, ist Pharaun noch nicht zurück. Hattet Ihr wenigstens Erfolg?« fragte Halisstra an Valas gerichtet, wäh rend sie aß.
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Der Späher saß im Schneidersitz auf dem Boden neben der Tür. Den Gürtel mit seinem Messer hatte er zwar gelockert, aber nicht abgelegt. Er trank heißen Wein aus einem Krug und kaute gedankenverloren auf einem Stück Brot. »Geht so«, antwortete er. »Ryld und ich stießen zwar nir gends auf übermäßige Feindseligkeit, aber wir sind nicht so weit gekommen, wie es mir recht gewesen wäre, obwohl wir den Duergar zu verstehen gaben, daß die Zeit drängt.« Er klopfte auf den Beutel voller Münzen an seinem Gürtel. »Ich weiß nicht, ob das ein Zeichen dafür ist, daß etwas Ungewöhn liches geschieht, doch Kohlenhauer hat es nicht gefallen.« »Wo ist der Zwerg?« fragte Danifae. »Er versucht, auf anderen Wegen an Dokumente zu kom men.« »Vertraut Ihr ihm?« »Nicht ganz, aber das ist etwas, was wir nicht so ohne weite res selbst erledigen können.« Valas verzog das Gesicht und fuhr fort: »Es ist nicht so leicht, mit den Duergar-Clans auf eine einigermaßen direkte Art zu verhandeln. Wenn man mich erwischen würde, wie ich mich nach gefälschten Pässen umsehe, würde man mich sehr wahrscheinlich für einen Spion halten, und diesen Schluß würde man auf Euch alle übertra gen.« »Echte Spione würden sich doch Gracklstugh auf eine ganz ähnliche Weise nähern, wie wir es gemacht haben«, warf Ryld von seinem Platz in einer Ecke ein. Splitter lehnte in Reich weite an der Wand. »Stimmt, aber vergiß nicht, daß Kohlenhauer selbst eine Art Schmuggler ist. Er wird kein Interesse daran haben, den Kronprinz auf uns aufmerksam zu machen«, gab Valas Hune zurück. »Auf jeden Fall haben Ryld und ich uns dazu ent schlossen, unsere Vorräte aufzustocken, so daß wir bereit sind,
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sofort aufzubrechen, sobald Kohlenhauer uns die Papiere bringt.« »Sieht aus, als hätten wir alles in unserer Macht Stehende getan«, stellte Halisstra fest. »Ich habe genug von gleißend hellen Wüsten, von Schattenreichen, die die Seele angreifen, und von kahlen Höhlenböden. Wenn wir in Kürze in die kar ge, unbequeme Wildnis zurückkehren, dann will ich jetzt alles genießen, was die Zivilisation zu bieten hat.« Halisstra hielt ihren Kelch Danifae hin, damit die Kriegsge fangene ihn auffülle. »Trinkt, wenn Ihr wollt, aber laßt Eure Sinne nicht zu sehr benebeln«, warnte Quenthel sie. »Wir sind nicht unter Freun den.« »Wann ist denn irgend jemand von uns jemals wirklich un ter Freunden?« warf Ryld schnaubend ein. Halisstra lachte leise und sagte: »Wohl wahr. Aber wenigs tens können wir heute unbesorgt ruhen, weil wir wissen, daß keiner von uns dem anderen über den Weg traut und daß ganz in der Nähe der Feind lauert, der uns sofort vernichten würde, wenn er könnte. Wäre es uns lieb, wenn es anders wäre?« Danifae brachte Quenthel die Kanne. Sie ignorierte das schwache Zucken der Schlangenpeitsche, senkte den Blick und schenkte der Priesterin nach. »Wir müssen jedes Vergnügen wahrnehmen, das sich uns bietet«, fügte Danifae an. »Ist das nicht der Sinn und Zweck der Macht?« Halisstra nippte an ihrem Wein und beobachtete die Szene. Danifae hatte unter dem Kettenhemd kein Unterhemd ange legt, obwohl sie das schwarze Mithral-Hemd ohne die übliche Lederpolsterung erworben hatten. Selbstverständlich hatte Halisstra ihr längst angeboten, ihr eines von ihren zu geben, und sie war auch sicher, daß Danifae das Angebot am Morgen
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annehmen würde. Doch bis dahin war zwischen den Gliedern des Kettenhemdes die vollkommene dunkle Haut der jungen Frau zu sehen, und ihre vollen, runden Brüste wogten verlo ckend unter dem Stahl hin und her, als sie sich vorbeugte, um Quenthels Kelch aufzufüllen. Die Männer im Raum konnten sich nicht von dem Anblick losreißen, so sehr sie sich auch bemühten. Selbst die vierarmige, massige Bestie namens Jeggred schien von Anmut und Schönheit der Frau verzaubert worden zu sein. Valas Hune runzelte die Stirn und begann, seine Kukris zu ölen. Offenbar erkannte er die Gefahr des Au genblicks und ließ seine übliche Vorsicht walten. Ryld dage gen ... Ryld sah zu Halisstra. Sie achtete darauf, daß ihr ihre Über raschung nicht anzusehen war, als ihre Blicke denen des Waf fenmeisters begegneten. Sein Gesichtsausdruck schien begie rig, eindringlich, und Halisstra wußte, daß Danifaes Auftreten ihm nicht entgangen sein konnte. Doch er starrte nicht die Frau im Kettenhemd an, sondern ihre Herrin. Ryld lächelte flüchtig und signalisierte mit einer Handbe wegung: Interessantes Spiel. Ich kann Euch nicht folgen, erwiderte Halisstra, sah Ryld aber an, daß der genau wußte, daß sie ihm sehr wohl folgen konnte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Danifae zu, die dicht neben Quenthel kniete und Wein trank. Die Gruppe wurde allmählich schweigsam, und Ryld holte sein Sava-Brett hervor, um mit Valas eine Partie zu spielen, während die ande ren es genossen, einen Moment lang keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt zu sein. Schließlich kehrte Pharaun zurück, unter einem Arm eine Handvoll Schriftrollen. Nach ein paar halbherzigen Bemer kungen, mit denen er Rylds Konzentration stören wollte, zog er sich in sein Zimmer zurück. Ryld gewann ohnehin, auch
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wenn der Späher aus Bregan D’aerthe sich gut schlug. »Es war ein langer Tag«, sagte Quenthel. »Ich gehe auf mein Zimmer. Jeggred und Valas teilen sich heute die Wache, morgen halten zwei andere Wache.« Sie stand auf und streckte sich, dann sah sie Danifae an. »Ich werde wohl das gleiche tun«, erklärte Danifae. Die Kriegsgefangene sah zu Halisstra und lächelte, dann eil te sie Quenthel nach. Ryld packte sein Sava-Brett weg, wäh rend Valas und Jeggred eine Münze warfen, wer die erste Wa che übernehmen sollte. Halisstra stand auf, schlang ihren Piwafwi um sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Zim mer. Vor Quenthels Tür blieb sie stehen und lauschte lange genug, um ein Geräusch zu hören, das ein leises Keuchen oder das Rascheln von Kleidung sein mochte. Sie mußte weiterge hen, weil sie sicher war, daß Quenthels Schlangen sofort Mel dung machen würden, sobald sie merkten, daß jemand an der Tür horchte. Cleveres Mädchen, dachte Halisstra. Auf Quenthel zuzuge hen war ein scharfsinniger und wagemutiger Zug zugleich ge wesen. In Ched Nasad hatte Halisstra Danifae mehr als einmal los geschickt, um eine Rivalin zu verführen. Selbst die pragma tischste Priesterin hatte ihre Vorlieben, und manchmal ließ sich eine kühle, berechnende Frau auf dem Umweg über ihre geheimen Gelüste manipulieren. Halisstra bezweifelte, daß Danifae echten Einfluß auf Quenthel würde gewinnen können, doch im schlimmsten Fall gab sie der Meisterin ArachTiniliths immer noch einen Grund an die Hand, Halisstra und ihre Dienerin nicht aus einer Laune heraus zu verstoßen. Soll ten sich Danifaes Dienste allerdings für Quenthel als zu wert voll erweisen, dann konnte es passieren, daß die Baenre auf die Idee kam, Danifae für sich zu beanspruchen. Dieses Risiko ging
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Halisstra bereitwillig ein. Selbst wenn Danifae die Baenre ermutigte, genau das zu tun, war Halisstra nach wie vor Herrin über das Silbermedail lon um den Hals der jungen Frau. Sie lächelte. Wenn es Dani fae nicht gelang, sich von dem Bindezauber zu lösen, konnte sie keinen noch so kleinen Schritt in diese Richtung unter nehmen, denn Halisstras Tod würde unweigerlich ihr eigenes Ende nach sich ziehen. Für den Moment konnte Halisstra sich daher Danifaes Loyalität weitestgehend gewiß sein. Halisstra ging in ihr Zimmer, zog sich für die Nacht um, packte ihre Rüstung auf eine kleine Truhe und legte ihren Streitkolben so ab, daß sie ihn mühelos greifen konnte. Sie driftete in eine Trance ab, während sie darüber nach dachte, daß Quenthel und Danifae in diesem Moment zusam men waren.
Aliisza bewegte sich in einer eisernen Sänfte durch die Straßen Gracklstughs, gezogen von vier Ogern und eskortiert von ei nem Dutzend Tanarukk-Kriegern. Die Tanarukks trugen Rüs tungen aus poliertem Eisen und Zweihänder mit gefährlichen Widerhaken. Einer von ihnen hielt ein gelbes Banner mit Vhoks Symbol hoch: ein Zepter, das von einer behandschuh ten Hand umschlossen wurde. Die doppelte Anzahl Grau zwerg-Krieger begleitete das Gefolge, die Blicke mißtrauisch auf die schwarze Sänfte und ihre Insassin gerichtet. Das AluScheusal genoß die Aufmerksamkeit von allen Seiten. Allein wäre Aliisza viel schneller vorangekommen, doch ein großer Auftritt in der Stadt der Grauzwerge konnte die Duergar leich ter dazu bringen, sie ernst zu nehmen. Außerdem machte das hier Spaß. Die Reise hierher war weder besonders schnell noch glatt
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verlaufen. Aliisza und ihre Krieger hatten sich fünf Tage lang auf den alten Zwergenrouten um ein hohes Tempo bemüht, um schnellstmöglich den Dunkelsee zu erreichen. Doch dort angekommen mußten sie drei weitere Tage warten, ehe sich ein Duergar-Boot fand, das sie befördern konnte. Sie war es allmählich leid, sich auf Geheiß Kaanyr Vhoks mal in diese, mal in jene Ecke des Unterreiches zu begeben. Andererseits stellte sie so ihre Nützlichkeit für den Kriegsherrn dämonischer Abstammung unter Beweis, und es war vielleicht gar nicht so schlecht, daß die Umstände ihr Grund gaben, sich von Zeit zu Zeit von ihm zu entfernen. Es regte ihren Appetit auf ihre Rückkehr an und gab ihr manchmal Gelegenheit, ihrer Vor liebe für ... Abwechslung zu frönen. Gracklstugh schien eine einzige große Schmiede zu sein, ei ne Stadt voller fauchender Schmelzöfen und übelriechenden Rauchs. Aliisza fand, sie hätte Ähnlichkeit mit der Gießhalle in den Ruinen Ammarindars, auch wenn Vhoks Schmiede nur einen Bruchteil dessen ausmachte, was die Duergar vorweisen konnten. Was für ein häßlicher Ort, dachte Aliisza. Doch das Aus maß an Arbeiten, die um sie herum erledigt wurden, hatte eine überwältigende Wirkung auf sie. Immer wieder entdeckte sie Bauteile für Belagerungseinheiten von unglaublicher Größe, die in den Werkstätten montiert wurden. Ched Nasad mochte elegant und listig gewesen sein, doch Gracklstugh war stark. Geschick und Zielstrebigkeit der Zwerge schienen der Magie und Grausamkeit der Drow gewachsen zu sein. Die Duergar eskortierten sie zu einer großen Festung, die in einen gewaltigen Stalagmiten eingelassen war. Steinwälle und eiserne Türme bewachten die abfallende Seite der DuergarBurg. Als die Oger sie durch das offene Tor zum Palast des Königs trugen, konnte Aliisza nicht anders, als einen Blick auf
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die mächtigen Fallgitter und tödlichen Vorrichtungen zu wer fen, die jeden Angriff abschmettern sollten. Sie selbst verfügte über verschiedene Methoden der Flucht, doch von ihren Krie gern würde niemand mit dem Leben davonkommen, sollten die Grauzwerge zu dem Schluß kommen, sie nicht gehenzulas sen. Die Prozession kam in einem großen, freudlosen Saal zum Stehen, dessen Boden man mit poliertem Stein ausgelegt hat te. »Sieht aus, als sei ich da«, sagte sie zu sich selbst. Sie klopfte gegen die Seite der Sänfte, woraufhin die Oger die Sänfte vorsichtig abstellten. Das Alu-Scheusal wartete, bis die Bewegungen abgeschlossen waren, dann stieg Aliisza aus, reckte sich und drückte ihre Flügel durch. Ein Duergar-Offizier in einem schlichten schwarzen Über wurf über seiner Rüstung kam auf sie zu. »Ihr wolltet den Kronprinzen sehen«, erklärte er. »So bald es ihm recht ist«, erwiderte Aliisza. Sie hatte diese Unterhaltung an diesem Tag schon etliche Male mit verschie denen Leutnants und Hauptmännern der Duergar geführt. »Wer seid Ihr noch gleich?« »Ich bin Aliisza, eine Gesandte Kaanyr Vhoks, des Zepter trägers, Fürst von Ammarindar und Meister der Höllentorfeste. Ich bin der Überzeugung, daß die Nachricht meines Herrn es wert ist, von Eurem Kronprinzen gehört zu werden.« Der Offizier runzelte zweifelnd die Stirn. »Die bleiben hier«, sagte er und wies mit dem Kopf auf A liiszas Gefolge. »Folgt mir.« Aliisza sah zum Führer ihrer Eskorte, einem mitgenomme nen, alten Tanarukk-Kämpfer, dem ein Stoßzahn fehlte, und sagte: »Du und deine Krieger, ihr wartet hier. Es kann eine Weile dauern.«
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Sie folgte dem Duergar-Hauptmann tiefer in die Festung und wurde links und rechts von einem weiteren halben Dut zend Duergar-Soldaten flankiert. Sie beschloß, den Trupp als Ehrengarde zu betrachten. Über eine breite, geschwungene Treppe – die beeindru ckend hätte sein können, wenn sich die Grauzwerge die Mühe gemacht hätten, sie auch nur im mindesten zu schmücken – ging es weiter bis in einen Thronsaal, dessen hohe gewölbte Decke von einer Vielzahl riesiger Steinsäulen getragen wurde. Am anderen Ende des Saals stand eine Gruppe Duergar. Nach der Art, wie sie sich bewegten, und nach den kühlen Blicken zu urteilen mußte es sich um hochrangige Berater und Adlige des Reiches handeln, allerdings ließ ihre Kleidung nicht erkennen, daß sie höher standen als andere Duergar. In ihrer Mitte stand der bislang einzige Vertreter dieser Rasse, an dem Aliisza schmückende Elemente erkennen konnte. Der stämmige Kerl trug unter einem bestickten schwarz-goldenen Überwurf eine Halsberge aus schimmernden Kettengliedern. Ein goldenes Diadem ruhte auf seinem kahlen Schädel, und die Zöpfe seines Bartes wurden von goldenen Ringen zusam mengehalten. Der Hauptmann, der Aliisza begleitete, bedeutete ihr, ste henzubleiben und ging weiter, um dem Kronprinzen etwas ins Ohr zu flüstern. Der Herrscher der Duergar warf Aliisza einen Blick zu, dann trat er vor und verschränkte seine dicken Arme vor der Brust. »Willkommen in Gracklstugh«, sagte er, doch sein abwei sender Blick schien das genaue Gegenteil zu sagen. »Ich bin Horgar Stahlschatten. Was will Vhok?« Kein Freund von Höflichkeitsfloskeln, stellte Aliisza fest. Andererseits hatte sie auch noch nie einen Grauzwerg ken nengelernt, der sich anders verhielt. Sie beschloß, ohne Um
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schweife und Schmeicheleien sofort auf den Punkt zu kom men, da solche Bemühungen beim Herrscher von Gracklstugh offenbar keine Wirkung erzielen konnten. Sie verbeugte sich, dann richtete sie sich wieder auf. »Kaanyr hat mich geschickt, um einige Fragen zu dem zu stellen, was sich in Ched Nasad abgespielt hat, und vielleicht auch einige andere Themen anzusprechen«, sagte sie und sah die anderen Duergar an. »Genießt jeder hier Euer Vertrauen?« Horgar kniff die Augen zusammen und murmelte etwas auf Zwergisch, woraufhin sich einige Berater und Adlige zurückzo gen und sich wieder ihren Aufgaben widmeten. Zwei schwer gerüstete Wachen in schwarzen Überwürfen blieben stehen, ferner ein wichtig aussehender Duergar, ein narbiger Kerl in Rüstung, der einen mit einem roten Symbol versehenen Wap penrock trug. »Meine Steinwachen bleiben hier«, erklärte Horgar und wies dann auf den narbigen Zwerg. »Dies ist Clansherr Bor wald Feuerhand, Marschall der Armee von Gracklstugh.« Borwald erwiderte mit finsterem Blick Aliiszas Kopfnicken. Sie zuckte die Achseln und kam sofort auf das eigentliche Thema zurück, um seiner Direktheit mit Direktheit zu begeg nen. »Ein Duergar-Clan – Xornbane, wenn ich nicht irre? – griff die Drow-Stadt Ched Nasad an und leitete deren Zerstörung ein. Kaanyr Vhok fragt sich, ob Ihr den Clan geschickt habt.« »Clan Xornbane besteht aus Söldnern«, antwortete Bor wald. Seine Narbe, die einer tiefen Furche glich, erstreckte sich an der Seite seines Kopfes vom Wangenknochen bis weit hinter das Ohr. »Welchen Auftrag sie in Ched Nasad ausge führt haben, berührt den Bereich des Handels, nicht der Poli tik des Tiefenkönigreiches. Ihr solltet diese Frage mit ihnen besprechen.«
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»Das würde ich, aber ist schwierig, Überlebende ausfindig zu machen«, gab Aliisza zurück. »Soweit wir das sagen können, saßen sie in der Stadt, die sie in Brand steckten, selbst in der Falle.« Sie sah wieder Horgar Stahlschatten an und fragte: »Also? Zerstörten sie Ched Nasad mit Eurem Segen?« »Mit meinem Segen?« Der Duergar-Prinz dachte einen Moment lang nach, dann erwiderte er: »Ich bin nicht unglück lich, daß Ched Nasad fiel, allerdings habe ich Clan Xornbane nicht beauftragt, diese Arbeit zu erledigen. Khorrl Xornbane wurde von einer Muttermatrone aus Ched Nasad angeheuert, um ihr bei der Zerstörung der Häuser zu helfen, die über ihr standen. Ich beschloß, mich nicht in Xornbanes Angelegen heiten einzumischen.« »In dem Fall erscheint die gewählte Taktik unklug. Immer hin bescherten sie ihrem Auftraggeber eine brennende Ruine und erlitten selbst massive Verluste«, merkte Aliisza an. »Ich fürchte, für diese Entwicklung bin ich zum Teil ver antwortlich«, kam eine melodisch klingende Stimme von einer Seite. Aus dem Schatten einer der vielen Säulen trat eine schlan ke Gestalt hervor, ein schmissiger Drow von kleiner Statur, der aber die Anmut einer Katze besaß. Er war ein gutaussehen der Kerl, der gepflegte Kleidung in Schwarz und Grau trug, dazu an der Hüfte ein passendes Rapier sowie einen Dolch. »Im Auftrag meiner Kameraden«, sagte der Fremde, »sorgte ich dafür, daß Khorrls Truppen mit den Steinbrandbomben ausgerüstet wurden, die beim Sklavenaufstand in Menzoberran zan so gute Dienste geleistet hatten. Natürlich hatte ich nicht erwartet, daß sie Ched Nasad komplett zerstören könnten.« Aliisza zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Ich hätte nicht erwartet, einen Dunkelelfen anzutreffen, der das Ver trauen des Prinzen der Duergar genießt.«
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»Ich bin eine Art Mittelsmann«, erwiderte der Drow. »Mein Auftrag ist es, in einer Reihe von Häusern in Ched Nasad und Menzoberranzan Veränderungen zu bewirken.« Er lächelte flüchtig, was sich aber nicht in seinen Augen wider spiegelte. »Nennt mich Nimor.« »Nimor«, wiederholte Aliisza. »Was immer Euer Anliegen ist, in Ched Nasad habt Ihr sehr durchgreifend für Verände rungen gesorgt. Was plant Ihr für Menzoberranzan?« Horgar trat nervös von einem Fuß auf den anderen und fragte: »Warum interessiert sich Vhok dafür?« »Wenn wir gewußt hätten, daß jemand Ched Nasad angrei fen würde, dann hätten wir demjenigen womöglich unsere Unterstützung angeboten«, erwiderte Aliisza. »Mein Herr wittert eine Gelegenheit, wenn die Drow von Problemen heimgesucht werden. Wenn jemand vorhat, mit ähnlichen Mitteln gegen Menzoberranzan vorzugehen, könnten wir wil lens sein, Partner bei unseren Geschäften aufzunehmen.« Borwald höhnte: »Ich bezweifle, daß das Tiefenkönigreich Verwendung für ein paar Hundert Rabauken hat, die in aus Pilzen gewachsenen Ruinen hausen.« Aliisza unterdrückte ihren Ärger. Es sind Duergar, sagte sie sich. Sie sind schroff und unhöf lich. So sind sie eben. »Eure Geheiminformationen sind etwas überholt«, sagte sie. »Mein Herr befehligt mehr als zweitausend kampferprobte Ta narukks, jeder von ihnen mindestens so stark wie ein Oger und dreimal so intelligent. Wir haben Schmieden und Waffenfab riken gebaut, die vielleicht nicht so großartig sind wie die in Gracklstugh, aber ausreichend, um unsere Soldaten mit Waf fen und Rüstungen auszustatten. Wir befehligen zudem weitere Truppen – Grottenschrate, Oger, Giganten und ähnliche –, die zahlenmäßig unsere Tanarukk-Legion übertreffen.« Wieder
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sah sie zu Borwald und fügte an: »Wir verfügen nicht über die Stärke des Tiefenkönigreiches, Feuerhand, aber wir könnten uns einer Armee aus Duergar entgegenstellen, die doppelt so groß ist, und ihnen das Leben schwermachen. Ihr schmäht Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion auf eigene Gefahr.« »Mir ist bewußt, daß Kaanyr Vhok an Stärke gewinnt«, murmelte Horgar und zupfte an seinem Bart. »Sprecht frei. Was will er?« Wirklich keine Umschweife, beklagte sich Aliisza innerlich. Kaanyr hätte ebensogut einen dummen Oger schicken kön nen, damit er die Nachricht überbringt. »Kaanyr Vhok will wissen, ob Ihr beabsichtigt, gegen Men zoberranzan zu marschieren. Wenn ja, dann will er sich Euch anschließen. Wie ich bereits sagte, glaube ich, daß die Ge knechtete Legion eine wertvolle Verbündete sein könnte.« »Wir wollten Euch vielleicht gar nicht als Verbündete, wenn wir eine solche Absicht verfolgten«, sagte Horgar. »Wir könnten glauben, stark genug zu sein, um unser Ziel zu errei chen, ohne die Beute teilen zu müssen.« »Das könntet Ihr glauben«, stimmte Aliisza zu. »Wenn Ihr damit recht hättet, dann wären die Dunkelelfen Menzoberran zans gut beraten, sich nach Verbündeten gegen Euch umzuse hen. Ich frage mich, an wen sie sich wenden könnten.« »Ich würde Kaanyr Vhok zermalmen, wenn er etwas so Dummes versuchte«, knurrte Horgar. »Geht zurück zu dieser Dämonenbrut, die Euer Herr ist, und sagt ...« »Moment, Prinz«, unterbrach Nimor ihn und trat zwischen Horgar und das Alu-Scheusal. »Wir sollten nichts überstürzen. Wir sollten über die von der Dame Aliisza überbrachte Bot schaft sorgfältig nachdenken, ehe wir eine Antwort darauf geben.« Horgar fauchte: »Ihr schreibt mir nicht vor, wie ich in mei
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nem Königreich die Dinge handhabe, Drow!« »Natürlich nicht, mein Prinz, aber ich würde diese Frage sehr gerne ausführlicher mit Euch besprechen.« Nimor drehte sich zu Aliisza um und fragte: »Darf ich annehmen, daß Ihr gewillt seid, als Gast des Kronprinzen zu verweilen, während wir über das Angebot Eures Herrn reden?« Aliisza lächelte. Sie ließ ihre Blicke über die schlanke Sta tur des Drow wandern. Wenn sich die Gelegenheit ergäbe, dann wäre es ihr sicher möglich, ihm den Nutzen ihres Vor schlags anschaulich zu machen. Dennoch spürte sie, daß dieser Nimor weit mehr war, als man auf den ersten Blick meinen mochte. Leider waren Horgar und sein Marschall wohl nicht so leicht von ihren besonderen Talenten zu überzeugen. Sie konnte durchaus ein oder zwei Tage warten, um zu sehen, ob Nimor erfolgreich darin war, ihre Argumente für sie arbeiten zu lassen. Der Duergar-Prinz sah sie an und dachte nach. Dann lenkte er ein. »Ihr könnt so lange bleiben, wie ich über Euer Angebot nachdenke. Ich werde dem Hauptmann auftragen, für ein Quartier für Euch im Palast zu sorgen. Eure Soldaten werden derweil in einer Kaserne bei meinen Wachen untergebracht werden. Ihnen ist der Zutritt zur Burg untersagt.« »Ich brauche einige Bedienstete.« »Ihr könnt zwei von ihnen mitnehmen, wenn Ihr wollt. Der Rest geht.« Horgar warf einen Blick ans Ende des Saals und gestikulier te, woraufhin sein Hauptmann angetrottet kam. »Wir sprechen uns wieder, wenn ich mich entschieden ha be«, erklärte er. »In diesem Fall werde ich mich für Euch bereithalten«, sag te sie zu Horgar, doch ihre Blicke galten Nimor.
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»Heute geht es nicht«, sagte Thummud von Clan Muzgardt zu Ryld, Valas und Kohlenhauer. Der fette Duergar stand mit einem Holzhammer in der Hand da und verschloß soeben ein frisches Faß Pilz-Bier. »Versucht es in ein oder zwei Tagen noch mal.« Kohlenhauer fluchte, während die beiden Drow argwöhni sche Blicke austauschten. Es war Ryld nicht entgangen, daß sich ganz in der Nähe der Stelle, an der Thummud stand, über ein Dutzend Duergar-Brauer aufhielten, die in ihre Arbeit vertieft waren und daß bei vielen von ihnen unter der Klei dung unverkennbar Metall aufblitzte. Der Braumeister pflegte scheinbar keine Risiken einzugehen. »Das habt Ihr gestern auch gesagt«, sagte Ryld. »Die Zeit drängt.« »Nicht mein Problem«, erwiderte Thummud. Als er den Deckel festgeklopft hatte, legte er den Hammer auf das Faß. »Ihr müßt warten, ob es Euch paßt oder nicht.« Valas seufzte und griff nach dem Geldbeutel an seinem Gür tel. Er ließ ihn auffällig klimpern und legte ihn neben sich. »Darin findet Ihr Edelsteine, die mehr als das Doppelte des sen wert sind, worauf wir uns geeinigt haben«, sagte der Spä her. »Sie gehören Euch, wenn wir noch heute die Papiere bekommen.« Thummud kniff die Augen zusammen. »Jetzt frage ich mich doch, was Ihr wirklich vorhabt«, erwiderte er. »Keine ehrli chen Absichten, da bin ich sicher.« »Betrachtet es als persönliche Dreingabe«, erklärte Ryld ru hig. »Euer Herr erwartet 200 Goldstücke pro Kopf, und Ihr werdet dafür sorgen, daß er das auch bekommt. Wenn etwas übrigbleibt, muß er davon nichts erfahren, oder?«
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»Ich muß Euch sagen, daß Ihr zu jeder anderen Zeit bekämt, was Ihr wollt«, räumte Thummud mit einem Achselzucken ein. »Aber mein Herr hat mir in dieser Angelegenheit klare Vorgaben gemacht. Wenn ich ihn hintergehen würde, indem ich diesen Handel mit Euch mache, würde der alte Muzgardt dafür meinen Kopf fordern.« Der Brauer überlegte einen Mo ment, dann fügte er an: »Ich glaube, Ihr solltet besser in drei oder vier Tagen wiederkommen. Die Freunde des Kronprinzen treiben sich überall herum, und sie müssen nicht sehen, wie Ihr jeden verdammten Tag herkommt.« Der stämmige Zwerg wuchtete sich das Faß auf die Schulter und stampfte davon, während die beiden Drow zusammen mit Kohlenhauer inmitten der finster dreinblickenden Brauer zurückblieben. »Was jetzt?« fragte Ryld an Valas gewandt. »Geht zurück in Euer Gasthaus«, murmelte Kohlenhauer. »Wenn Ihr hierbleibt, wird sich auch nichts ändern. Kommt in ein paar Tagen wieder.« »Das wird Quenthel nicht gefallen«, meinte Ryld immer noch zu Valas gewandt. Valas konnte nur die Achseln zucken. Die beiden Drow und ihr Führer verließen die MuzgardtBrauerei, wobei jeder seinen eigenen Gedanken nachging. Sie gingen, bis die Brauerei ein Stück weit hinter ihnen lag. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob wir uns nicht einfach selbst einen Passierschein ausstellen sollten«, flüsterte Valas. »So lange würden wir dafür auch nicht brauchen.« »Keine gute Idee«, wandte Kohlenhauer ein. »Ihr könnt vielleicht einen Schein fälschen, der echt aussieht, aber Ihr benötigt Muzgardts Segen. Wenn man Euch anhält, werdet Ihr warten müssen, bis man überprüft hat, ob Ihr auch den Segen des Clansherrn habt. Den werdet Ihr erst haben, wenn Muz
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gardt ihn Euch gewährt.« »Verdammt«, murmelte Valas. Ryld dachte über ihre Situation nach und versuchte, sie zu analysieren. Entweder hatte Kohlenhauer sie absichtlich in eine Sackgasse gelockt, oder es war tatsächlich so schwierig, die Pässe zu erhalten. Was die erste Möglichkeit anging, so sah Ryld keinen Grund, warum Kohlenhauer die Gruppe in Gracklstugh festhalten sollte. Vielleicht wollte der Zwerg sie in eine Falle locken, doch dann hätte er schon genügend Ge legenheiten gehabt, um ihnen die Überraschung zu präsentie ren, die auf sie wartete. Wenn aber andererseits Kohlenhauer und Thummud nicht bei einem ausgefeilten Täuschungsma növer zusammenarbeiteten, warum sollte der Kronprinz den Besuch der Gruppe in Gracklstugh zum Anlaß nehmen, gegen Fremde vorzugehen, die durch sein Reich reisten? Weil er etwas hat, was Fremde nicht sehen sollen, folgerte Ryld. Was konnte das sein, was Außenstehende nicht sehen durften? Ryld blieb stehen. Valas und Kohlenhauer gingen ein paar Schritte weiter, ehe sie sich umdrehten. »Was ist?« wollte Valas wissen. »Wir müssen etwas erledigen«, sagte Ryld zu Valas, dann sah er ihren Führer an. »Kommt morgen ins Gasthaus.« Kohlenhauer runzelte die Stirn. »Gut«, sagte er. Der Duergar wandte sich um ging die Stra ße entlang davon, wobei er vor sich hingrummelte: »Gebt nicht mir die Schuld, wenn Ihr für das, was auch immer Ihr vorhabt, festgenommen werdet. Ich werde mich nicht für Euch einsetzen. Ich bin auf meinem Boot, wenn Ihr mich braucht.« Was ist? fragte Valas, nachdem der Zwerg in den Schatten der Straße verschwunden war. Der Kronprinz schränkt die Bewegungsfreiheit fremder Kaufleute
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und Reisender ein, antwortete Ryld. Er will nicht, daß Nachrich ten aus der Stadt gelangen. Ich glaube, Gracklstughs Armee wird bald marschieren. Valas blinzelte und signalisierte: Das glaubst du? »Es ist das, was ich täte«, sagte Ryld. »Die Frage ist, wie können wir eine Bestätigung bekommen?« Er sah sich um und stellte fest, daß wie üblich jeder Duergar in Sichtweite die beiden Dunkelelfen mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte. Wenn wir versuchen, deinem Verdacht auf den Grund zu gehen, dann macht uns das zu der Sorte Fremde, nach denen die Soldaten des Kronprinzen Ausschau halten, signalisierte Valas. Hüne legte nachdenklich die Stirn in Falten. Was mußt du sehen, um deine Befürchtung bestätigt zu finden? Einen Versorgungstrupp, antwortete Ryld sofort. Wagen, Pa ckechsen, so etwas. So etwas würde man nur zusammenstellen, wenn man losmarschieren will, und es dauert Tage, um das zu bewerkstelligen. Außerdem braucht man dafür Platz. Stimmt, pflichtete Valas ihm bei. Valas überlegte und zupfte gedankenverloren an den ver schiedenen Talismanen und Marken, die er an seiner Kleidung trug. Sollen wir das Risiko eingehen? fragte Hune. Ryld sah sich um. Thummud hatte sie recht direkt wissen lassen, daß sich für einige Tage nichts ändern würde, und das würde Quenthel nicht gefallen. Wenn Gracklstugh im Begriff war, Menzoberranzan anzugreifen, dann wollte er das wissen, ehe sich die Duergar-Armee in Bewegung setzte. Sie würden einen Weg zu finden versuchen, die Heimat zu warnen. Die Duergar waren kein Sklavenmob, der nach Lust und Laune der großen Häuser zerschlagen werden konnte. Die Armee aus Gracklstugh würde groß, stark und diszipliniert sein – und für
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einen Angriff auf die Drow würde sie sich gut bewaffnen. Ryld gefiel die Vorstellung nicht, was eine solche Armee in seiner Heimatstadt anrichten konnte. Laß uns keine Zeit vergeuden, erwiderte er. Valas nickte und machte sich mit Ryld auf den Weg. Statt in das Viertel am See und damit zum Kalten Gießhaus zurück zukehren, begaben sie sich tiefer ins Herz der Höhle. Sie durchstreiften die übelriechenden Straßen und finsteren Gas sen, durchquerten Handelsbezirke, in denen Kunsthandwerker und Kaufleute in beengten Gebäuden aus Feldstein ihre Ge schäfte hatten. Es war schon spät, und der Verkehr auf den Straßen der Zwergenstadt schien allmählich nachzulassen. Die beiden Drow erreichten schließlich eine Straße, die am Rand einer tiefen Spalte entlang verlief, die die höheren, schwieriger zugänglichen Bezirke der Stadt von der zum See hin gelegenen armen Gegend abtrennte. Zahlreiche Brücken überspannten den Spalt, die auf der anderen Seite in enge Gassen mündeten. Ein Trupp wachsamer Duergar-Soldaten hielt sich am Fuß einer jeden Brücke auf und verhinderte jedes Überqueren der Felsspalte. Der Späher zog Ryld in den Schatten einer Gasse und deu tete auf das Hindernis und die Brücken, die es überspannten. Ladaguers Furche, signalisierte er ihm. Auch bekannt als die Spalte. Was sich auf der westlichen Seite befindet, ist für Fremde tabu. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es eine Reihe großer Nebenhöhlen, die für einen Truppenaufmarsch geeignet sein könn ten. Dort wäre sicher, daß ein zufälliger Beobachter sie nicht zu Gesicht bekommt. Ryld sah den Späher aus Bregan D’aerthe nachdenklich an und wunderte sich, wieso der so viel über diesen Teil der Stadt wissen konnte, wenn dieser doch tabu sein sollte. Ich nehme an, du bist schon mal hiergewesen? fragte Ryld.
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Ich habe Gracklstugh ein paarmal durchquert. Ich frage mich, ob es irgendeinen Ort gibt, an dem Valas noch nicht gewesen ist, wunderte sich Ryld. Er veränderte seine Position im Schatten leicht, um die bewachten Brücken besser überblicken zu können. Er war gut darin, nicht gesehen zu werden, wenn es darauf ankam, doch ihm gefielen die Mög lichkeiten nicht, die diese schmalen Brücken ohne Geländer boten. Es gab keinerlei Schutz, wenn sie erst einmal eine der Brücken betreten hatten. Wie kommen wir hinüber? wollte er wissen. Valas machte seine Knoten fertig und trat dicht an Ryld heran, stellte den rechten Fuß in eine der unteren Schlaufen und schob den rechten Arm durch die oberste. »Bleib während des Abstiegs dicht am Stalagmiten«, sagte er. »Wir brauchen die Deckung.« Ryld nickte und griff beiläufig nach oben, um das Emblem zu berühren, das er auf Brusthöhe trug. Es wies ihn als einen Meister Melee-Magtheres aus, und wie die Schnallen und Broschen vieler Adelshäuser war es durch einen Zauber mit der Macht der Levitation belegt worden. Valas war sicher, daß Ryld lange und hart hatte kämpfen müssen, um das Recht zu erlangen, das Emblem zu tragen. Wie erhofft erwies sich der Zauber als kraftvoll genug, um Rylds Gewicht ebenso zu tragen wie das des Mannes aus Bre gan D’aerthe. Mühelos stiegen sie auf in den Rauch und die Düsternis der oberen Regionen Gracklstughs, bis der dicke Schleier die Straßen unter ihnen verhüllte. Von der obersten Stelle der Höhle aus wirkte es so, als sei der Boden in Dunst und Rauchwolken gehüllt, in dem helles Feuer Hunderte von Kreisen aus rotglühendem Nebel entstehen ließen. »Das ist besser, als ich erwartet hatte«, sagte Valas. »Der Rauch gibt uns Schutz.«
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»Er treibt mir aber auch die Tränen in die Augen«, entgeg nete Ryld. Er erreichte die Höhlendecke und stellte fest, daß sie rauh und rissig war. »Wohin?« »Nach rechts. Genau.« Valas wies mit einer Kinnbewegung auf die nördliche Wand der Stadt, während er darauf achtete, daß er weder mit dem Fuß noch mit dem Arm den Halt in den Steigbügeln aus Seil verlor, die er hergestellt hatte. Langsam drehte sich Ryld um, um der Decke gleichmäßiger zugewandt zu sein, dann hangelte er sich Hand über Hand voran, als erklimme er eine vertikale Felswand. Der Späher verlagerte sein Gewicht etwas, um sei nen Halt zu wahren, während er den Blick auf den Höhlenbo den gerichtet hielt und dem Waffenmeister immer wieder die Richtung ansagte. »Ein Grauzwerg-Magier mit einem Aufhebungszauber könn te uns jetzt gründlich den Tag verderben«, bemerkte Ryld. »Macht dich diese Methode der Fortbewegung nicht zumin dest ein wenig nervös?« »Mit großen Höhen kam ich schon immer gut zurecht, aber reden wir nicht mehr davon.« Ryld mußte lachen. Tagelang war ihre Reise ereignislos und trübsinnig verlaufen. Die taktische Herausforderung, im Her zen der Duergar-Stadt zu spionieren, war für sie beide eine fesselnde Abwechslung. »Etwas mehr nach links«, sagte Valas und unterbrach seine Gedankengänge. »An der Höhlenwand verläuft ein kleiner Vorsprung in die Richtung, in die wir müssen.« Ryld setzte die Anweisung um, dann folgten die beiden wei ter dem abfallenden Höhlendach, bis es so steil verlief, daß es die Wand der Höhle bildete. Dort verlief eine alte verwitterte Fuge ähnlich den Traufen einer Taverne. Der Waffenmeister betrachtete sie zweifelnd, doch als sie näherkamen, löste sich
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Valas von ihm und sprang leichtfüßig los, um sich wie eine dürre Spinne darauf zu hocken. Ryld folgte ihm, wenn auch etwas ungelenk. Er schaffte es nur mit Mühe, doch er hatte das Glück, sich auf die Magie seines Emblems verlassen zu können, sollte er keinen Halt finden. Valas bewegte sich sicher weiter und folgte der Fuge, die steil abfiel und hinter einer scharfen Biegung verschwand, die eine Seitenhöhle überragte. Ryld krabbelte hinter ihm her hinab und fluchte leise, als er einige lockere Steine lostrat, die an der klippenartigen Wand nach unten stürzten. Die Schmieden und Hämmer von Gracklstugh übertönten das Geräusch zum Glück, und sie befanden sich immer noch über Ladaguers Furche, so daß die Steine in die Schlucht fielen und verschwanden. Valas sah sich um. Vorsicht, bedeutete er. Komm her, sieh dir das an. Ryld huschte an die Seite des Spähers und legte sich auf den Bauch, um auf dem Vorsprung nicht den Halt zu verlieren. Die Naht verlief in eine Seitenhöhle und beschrieb einen scharfen Knick. Von ihrer Position gut dreißig Meter über dem Boden aus konnten sie eine Höhle von beträchtlicher Größe erken nen, die hundert bis hundertzwanzig Meter lang und in etwa halb so breit war. In die Wände waren Kasernenräume ge schlagen worden, die einer großen Zahl Soldaten Platz boten, doch der Boden war plan und weitläufig und eignete sich bes tens als Truppenübungsplatz. Die gesamte Höhle war voller Wagen und Packechsen, und Hunderte von Duergar schwärmten dazwischen umher, mach ten an den häßlichen Reptilien große Kiepen fest, beluden Wagen und bereiteten Belagerungseinheiten für den Transport vor. Der Gestank von den Gießereien der Stadt genügte nicht,
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um den stechenden Geruch von Tierexkrementen in der weit läufigen Höhle zu überdecken. Zudem war die Luft erfüllt vom Zischeln und Krächzen der Echsen. Valas begann, Wagen und Packtiere zu zählen, um das Heer schätzen zu können, das abmarschbereit zu sein schien. Nach Minuten wandte er den Blick ab. Zwischen zwei- und dreitausend? fragte Ryld. Der Späher zog die Brauen hoch und erwiderte: Ich glaube, mehr. Vielleicht viertausend. Aber in anderen Höhlen können sich weitere Züge gesammelt haben. Gibt es Grund zu der Annahme, daß sie nicht nach Menzober ranzan marschieren? fragte Ryld. Wir sind nicht ihre einzigen Feinde. Dennoch mißfällt mir der Zeitpunkt. »Ich glaube auch nicht an Zufälle«, flüsterte Ryld. Er be gann, vorsichtig von der Felskante zurückzurobben und achtete darauf, nicht noch mehr Steine zu lockern. »Ich würde ja vor schlagen, daß wir die anderen Höhlen aufsuchen, ob dort noch mehr Soldaten sind. Aber ich glaube, wir haben schon jetzt mehr gesehen, als es den Duergar recht sein kann, und ich möchte unser Glück nicht herausfordern. Am besten machen wir uns auf den Rückweg und berichten den anderen davon.«
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»Wir sollten einfach gehen«, brummte Jeggred. Sein weißes Fell war rotweinbefleckt, und Bratenfett eines Stücks RothéFleischs glänzte rings um seine Schnauze. Der Draegloth be wies keine große Geduld, wenn es ans Warten ging, und zwei Tage im Kalten Gießhaus praktisch eingesperrt zu sein war extrem schwierig für ihn. »Wir könnten die Stadt verlassen haben, ehe jemand merkt, daß wir weg sind.« »Ich fürchte, so einfach würde es nicht sein«, sagte Ryld. Er kniete vor seinem Gepäck und verstaute die am wenigsten verderblichen Speisen vom Büfett in Beutel, die er dann in einen klaffenden schwarzen Kreis neben sich warf – ein magi sches Loch, das man aufheben und mit sich herumtragen konnte, als sei es nur ein Stück dunkler Stoff. Es konnte Hun derte Pfund Ausrüstung und Vorräte aufnehmen, wog aber fast nichts. »Dir sind sie vielleicht nicht aufgefallen, aber ich bin
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sicher nicht der einzige, der die Spione bemerkt hat, die das Gasthaus beobachten. Wir würden keine fünfhundert Meter weit kommen, ehe sich Duergar-Soldaten auf uns stürzen wür den.« »Na und?« knurrte der Draegloth. »Ich fürchte keinen Zwerg.« »Duergar sind keine Goblins oder Gnolle, die zu dumm sind, ihre Überzahl wirkungsvoll zu nutzen, oder zu tolpatschig und grobschlächtig, um im Kampf Mann gegen Mann eine Chance zu haben. Ich bin Duergar-Schwertkämpfern begegnet, die fast so gut waren wie ich. Ich habe keinen Zweifel daran, daß man eine ganze Gruppe solch hervorragender Kämpfer gegen uns antreten ließe. Außerdem gibt es in ihren Reihen Magier und Kleriker.« »Wir hätten wissen sollen, daß wir uns nicht in eine Duer gar-Stadt begeben sollten«, sagte Halisstra. »Der Zeitpunkt hätte nicht verkehrter sein können.« Sie zog eilig ihre Rüstung an, ein massiv mit Zaubern beleg tes Kettenhemd, das auf der Brust das Wappen des Hauses Melarn trug. Sie fragte sich, ob die beste Strategie die war, einfach noch ein paar Tage abzuwarten und den Duergar Zeit zu geben, damit sie in ihrer Wachsamkeit nachließen. Doch wenn sie ihre Abreise allzulange hinauszögerten, bestand die Gefahr, daß der Händler, den sie dazu gebracht hatte, ihr die für Danifae bestimmte Ausrüstung zu überlassen, zu Sinnen kam und den Vorfall meldete. Hätten sie doch bloß die beiden Händler getötet ... aber nein, denn wenn man sie dabei ertappt hätte, dann wären sie längst tot. Sie zog am langen Saum ihrer Halsberge und wand sich, damit sie besser auf ihren Schultern lag. »Meister Argith, wie lange wird es dauern, bis sich die Duergar-Armee in Bewegung setzt?« fragte Halisstra.
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»Nicht lange«, erwiderte Ryld. »Allzulange können sie marschbereite Packechsen nicht ruhig halten. Die Frage ist, wieviel Zeit nach dem Abmarsch der Armee vergehen wird, ehe man das Reisen wieder freigibt. Wenn wir warten, bis sie aufgebrochen ist, können wir noch tagelang hier festsitzen.« »Entweder das, oder man wird sich unserer entledigen«, warnte Danifae. »Wir werden sofort aufbrechen«, setzte Quenthel der Dis kussion ein Ende. Die Herrin der Akademie war kampfbereit gekleidet, sie hatte eine finstere Miene aufgesetzt, und ihre Peitschenschlan gen zuckten vor Erregung. »Damit stellt sich wieder die Frage, die wir eben schon hat ten – wohin?« fragte Ryld. Der Waffenmeister hatte alle Vorräte zusammengepackt, hob das Loch auf, rollte es zusammen und verstaute es in sei nem Gepäck. »Ich kann unseren Weg zurück nach Mantol-Derith nach vollziehen«, erklärte Pharaun. »Aber es wird schwierig sein, von hier weiterzugehen. Ich kenne den Weg zum Labyrinth nicht, daher würde jeder Ausflug in die Ebene der Schatten für uns ohne jeden Zweifel ein merkwürdiges, unerfreuliches Ende nehmen. Wir sind zu viele, als daß ich uns alle teleportieren könnte, womit diese Lösung wohl auch nicht in Frage kommt, falls nicht ein paar von Euch den Wunsch verspüren, den Duer gar das Verschwinden eines Teils der Truppe zu erklären.« »Was ist mit einem Zauber, der unsere Identität verbirgt?« fragte Ryld. »Bedauerlicherweise«, erwiderte der Magier, »sind Duergar berüchtigt dafür, daß sie gegen jegliche Art von Illusion resistent sind.« Halisstra fügte an: »Wenn nur einer von ihnen eine Tar
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nung durchschaut und eine Gruppe Drow ausmacht ...« »Besser wäre es, wenn wir uns alle unsichtbar machen«, überlegte der Meister Sorceres. »Das dürfte wohl die sinnvolls te Lösung sein. Das erinnert mich an eine ...« »Genug.« Quenthel drehte sich auf ihrem Platz um und fragte Valas: »Müssen wir von hier das Labyrinth ansteuern, oder könnt Ihr einen Weg finden, der um Gracklstugh herum verläuft, wenn wir ein Stück des Weges zurückgehen würden?« »Wir brauchen einige Tage mehr, wenn wir die Stadt um gehen«, erwiderte der Späher, »aber ich könnte Euch an den Grenzen Gracklstughs entlangführen.« »Sehr gut«, erklärte Quenthel. »Wir gehen zurück zu den Docks und bedienen uns Kohlenhauers Boot. Das ist der direk teste Weg aus der Stadt, und wenn ich nicht irre, dürfte der See weit weniger gut bewacht sein als die Tunnel.« Sie sah sich rasch um. Niemand mußte sich noch weiter bereitma chen, also nickte die Priesterin und wandte sich dann an Pha raun. »Was müssen wir tun, damit Euer Zauber gelingt?« »Nehmt Euch an den Händen und bleibt dicht hinter mir«, sagte Pharaun. »Sobald Ihr mich loslaßt, werdet Ihr unverzüg lich sichtbar. Ich werde nicht die Verantwortung übernehmen, wenn es zu Schwierigkeiten kommt.« Vollständig bewaffnet und abmarschbereit faßten sich bis auf Valas Hune alle an den Händen und warteten. Der Meister Sorceres, der in ihrer Mitte stand, stieß zischend eine Folge ar kaner Worte aus und beschrieb mit den Händen mystische Gesten. Dann wurden sie unsichtbar. Halisstra konnte Dani faes Hand auf ihrer linken Schulter fühlen, während sie mit ihrer rechten Hand Rylds Harnisch hielt. Doch sehen konnten sie alle Valas. »Seid Ihr bereit, Meister Hune?« fragte Pharaun aus dem Nichts.
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Valas nickte. Er trug, was seiner Vorstellung von Eleganz zu entsprechen schien – eine einfache Weste aus Kettengliedern über einem guten Hemd aus Spinnenseide, dazu dunkle Knie hosen. Seinen Piwafwi hatte er schmissig über eine Schulter geworfen. Die diversen Anstecker und Medaillons, die schier willkürlich über seine Kleidung verstreut waren und die die Abwehrzeichen und Talismane eines halben Dutzend ver schiedener Rassen darstellten, vervollständigten sein En semble. »Ich werde einige Augenblicke auf dem Hof umherschlen dern. Sorgt dafür, daß Ihr schnell das Gasthaus verlaßt. Es wird nicht auffallen, wenn ich nicht allzulange einfach nur dastehe. In zehn Minuten treffen wir uns am Boot.« »Man wird dich beschatten«, sagte Ryld. Valas schien über diese Bemerkung ernsthaft verärgert zu sein. »Kein Lebewesen kann mich beschatten, wenn ich es nicht zulasse«, entgegnete er. Valas ging nach draußen auf den Hof, ließ die Tür offen, damit die anderen hinausgelangen konnten, und reckte sich ausgiebig. Halisstra merkte, daß sich Ryld in Bewegung setzte, und sofort ging sie los, wobei sie dicht an ihn geriet, da Dani fae von hinten so drängte, daß sie ihren warmen Atem im Nacken fühlte. Während der Späher gemächlich zum Tor des Gasthauses spazierte und sich dann nach links in Richtung der zentralen Stadtbezirke wandte, beschrieben Halisstra und die anderen eine ungelenke Kurve, die sie nach rechts zu den Docks führte. Die Straßen waren nicht ganz leer, aber es war auch nicht übermäßig viel los. Die meisten Duergar waren nach einem langen Tag in den Schmieden in ihre tristen Behausungen zurückgekehrt. Wäre die Gruppe zu Beginn oder Ende des
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Arbeitstages zur Flucht gezwungen gewesen, dann wäre die Tarnung spätestens dann aufgefallen, wenn ein Duergar in die unsichtbare Kette aus Drow gelaufen wäre, die sich durch die Stadt schlich. Halisstra riskierte einen Blick über die Schulter zu Valas, der mit zügigen Schritten in die entgegengesetzte Richtung ging und ein wenig den Eindruck machte, als verfolge er heim liche Absichten – eine bessere Tarnung, als wenn er sich völlig gelassen verhalten hätte, was an einem Ort wie Gracklstugh mehr als ungewöhnlich gewesen wäre. Ihr fiel auch ein Duer gar auf, der ein kleines Faß Branntwein auf der Schulter trug und sofort kehrtmachte, als der Späher ihn passierte und wie ein gewöhnlicher Arbeiter wirkte, dessen Aufgabe es war, Waren von einem Teil der Stadt in einen anderen zu bringen. Sie war sicher, daß Valas ihn nicht übersehen hatte. Der Söld ner war zu scharfsinnig, um auf eine so offensichtliche Beschat tung hereinzufallen. Obwohl Halisstra jeden Augenblick einen Alarm unsicht barer Wachposten erwartete, gelangten sie ungehindert zu den Docks. Als sie über den steinernen Kai in Richtung der be fremdlichen Gefährte entlangeilten, die dort angedockt waren, blieb Ryld so abrupt stehen, daß Halisstra gegen ihn stieß, ehe sie begriff, daß er nicht weiterging. Danifae stieß ihrerseits mit ihr zusammen, während die Gruppe anhielt. »Probleme«, flüsterte Pharaun. »Eine Patrouille DuergarSoldaten in den Farben der Kronprinzen kam gerade um die übernächste Hausecke. Die Gruppe ist auch unsichtbar, und es ist einer unter ihnen, der ein Magier zu sein scheint und in unsere Richtung blickt.« »Sie sehen uns?« grollte Jeggred. »Wozu seid Ihr eigentlich gut?« »Es gibt Zauber, mit denen man das Unsichtbare sehen
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kann«, erwiderte Pharaun. »Einen solchen benutze ich im Augenblick, weshalb ich auch die Wachen sehen kann, wäh rend du sie nicht siehst. Ich würde sagen, daß mich das zu der Frage berechtigt, wozu du ...« »Ihr da! Gebt Euren Zauber auf und legt die Waffen nie der!« rief der Anführer der Duergar-Patrouille. Das Scheppern von Waffen hallte in der ruhigen Straße wider, obwohl Ha lisstra noch immer keinen Duergar sehen konnte. »Ihr seid festgenommen!« »Jeggred, Ryld, Pharaun – kümmert Euch um sie«, befahl Quenthel. »Danifae, Halisstra, zu mir!« Sie stürmte den Pier entlang und wurde allmählich sichtbar, als sie Pharauns magischen Einfluß hinter sich ließ. Jeggred und Ryld eilten in die entgegengesetzte Richtung. Splitter wurde in Rylds Hand auf eine Weise sichtbar, als hätte er selbst einen Zauber daraufgelegt. Pharaun stieß einen kurzen Satz aus, der die Luft auf dem Kai erschaudern ließ, und im nächsten Moment wurde die gegenüberliegende Seite der Straße von einer Woge aus Licht überspült, die die bewaffne ten Duergar sichtbar werden ließ. Der Magier legte sofort ei nen weiteren Zauber nach und wurde seinerseits sichtbar, als er einen schwarzen Strahl auf den Magier inmitten der Gruppe Soldaten richtete. Die purpurne Lanze traf den Duergar-Magier in die Brust, der daraufhin wie eine Marionette zusammensack te, deren Fäden man durchtrennt hatte. »Beim nächsten Mal solltet Ihr erst zuschlagen und dann zum Niederlegen der Waffen auffordern«, kommentierte Pha raun. Er setzte zu einem neuen Zauber an, während der Draegloth und Ryld in die Patrouille stürmten und unablässig um sich schlugen. Halisstra folgte Quenthel, die auf dem Pier weiterlief und in Kohlenhauers Boot sprang. Die riesigen untoten Skelette stan
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den reglos in ihrer Vertiefung in der Mitte des Gefährts, nur leblose Maschinen, die auf einen Befehl warteten. Der Duer gar-Schmuggler, der unter der Brücke schlief, wachte auf und drehte sich auf seiner dünnen Matratze um, während er gleich zeitig nach einer Handaxt griff, die in Reichweite lag. »Wer da?« schrie er und sprang auf. »Ihr ...« Weiter kam er nicht, da Quenthel ihm ihren Stiefel in die Brust rammte und ihn nach hinten auf das Deck schleuderte. Die Baenre hob ihre Peitsche, um das Leben des Schmugg lers zu beenden, doch Halisstra rief: »Halt! Vielleicht brau chen wir ihn, um dieses Ding in Bewegung zu setzen!« »Glaubt Ihr ihm diese Geschichte etwa?« erwiderte Quenthel, ohne ihren Blick von dem Zwerg abzuwenden. »Er will doch nur, daß wir glauben, wir könnten nicht auf ihn verzichten!« »Mag sein, aber das ist nicht der Zeitpunkt, um unsere Flucht davon abhängig zu machen«, konterte Halisstra. »Wir stünden sehr dumm da, wenn wir uns erst den Weg bis hierher freikämpfen, um dann nicht den Pier verlassen zu können.« »Ihr seid wohl beim Kronprinz in Ungnade gefallen, wie?« fragte Kohlenhauer, stand langsam auf und grinste breit. Am Ende des Piers flammte ein Blitz auf, und ein dröhnender Donnerschlag kündigte an, daß Verstärkung für die kämpfen den Duergar eingetroffen war. »Wenn Ihr mich umbringt, werdet Ihr niemals entkommen. Was wäre ein angemessener Preis dafür, daß ich Euch von diesem Pier wegbringe?« Quenthel versteifte sich und hätte den Zwerg auf der Stelle erschlagen, wäre Halisstra nicht zwischen die beiden getreten. »Wenn wir gefaßt werden«, warnte die Melarn-Priesterin, »dann werden wir alles, was uns vorgeworfen wird, Euch anlas ten, Zwerg – und jetzt legt ab!« Kohlenhauer starrte die Dunkelelfen mit wutverzerrter Miene an.
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»Ich habe Euch fair behandelt, und das ist Euer Dank?« fauchte er. »Ich hätte wissen sollen, daß ich mich mit Eures gleichen besser auf keinen Handel einlasse.« Er fuhr herum, um die Taue zu lösen, die das makabre Ge fährt am Kai festhielten; gleichzeitig brüllte er den Skeletten Befehle zu. Quenthel sah Halisstra verkniffen an. »Warum verschont Ihr ihn?« fragte sie. »Ihr wißt, daß er lügt, was das Kommando über dieses Boot angeht.« Halisstra zuckte die Achseln. »Ihr könnt ihn später immer noch töten, wenn Euch das so wichtig ist.« Während die Schaufelräder an der Seite des Gefährts durch das Wasser zu pflügen begannen, kamen Ryld und Jeggred herangeeilt und kletterten an Bord. Blut troff von der Klinge des Kämpfers und von den Klauen des Halbdämons. Pharaun folgte einen Augenblick später, nachdem er den Pier mit einer tosenden Flammenwand blockiert hatte, um die Soldaten aufzuhalten. »Das wird sie bestimmt nicht lange aufhalten«, rief er. »Sie müssen über drei oder vier Magier verfügen, und die werden die Flammen schnell ersticken. Am besten wird es sein, wenn wir verschwunden sind, ehe sie ihre Zauber auf unser beschei denes Transportmittel schleudern.« Ryld betrachtete mit finsterer Miene die Feuerwand am En de des Piers. »Dir ist hoffentlich klar, daß du mit dem Zauber auch den Fluchtweg für Valas versperrt hast«, beschwerte er sich. »Wir brauchen ihn. Wir können ihn nicht zurücklassen.« »Ich fühle mich geschmeichelt, Meister Argith.« Aus dem Schatten am Bug des Bootes trat Valas und zog seinen Piwafwi zurecht. »Wo bei Lolths finsteren Höllen kommst du denn her?«
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wunderte sich der Waffenmeister und rieb sich die Augen. »Ich war nur wenige Schritte hinter den drei Damen«, er klärte der Späher. Er sah sich um und genoß die unverhohlene Verwunderung auf den Gesichtern seiner Gefährten, dann verbeugte er sich und machte eine unterwürfige Geste. »Wie gesagt, ich lasse mich nicht verfolgen, wenn ich es nicht will. Außerdem kam es mir so vor, als hättet ihr drei die Soldaten des Kronprinzen bestens im Griff.« Der Meister Melee-Magtheres schnaubte und steckte Split ter zurück in die Scheide auf seinem Rücken. Er drehte sich um und sah hinüber zum Ufer, das in der Finsternis rasch zu rückfiel. Auf den Pieren brannten noch immer Feuer, die die bizarren Silhouetten anderer Duergar-Boote erleuchteten, deren Besatzungen umherrannten und Befehle schrien, um den Anforderungen der Soldaten des Kronprinzen Folge zu leisten. »Ich hoffe, unser Gefährt ist schneller als die anderen«, sag te Ryld. »Keine Sorge«, rief Kohlenhauer. »Meines ist das schnellste auf dem Dunkelsee. Keine dieser Schuten kann uns einholen.« Er rief den massigen Skeletten, die das Boot antrieben, ei nen Befehl zu, woraufhin die untoten Monstrositäten ihre Anstrengungen verdoppelten, bis das Wasser von den Schau felrädern so gepeitscht wurde, daß es zu schäumen begann. Die Duergar-Stadt verschwand hinter ihnen in der Finsternis, bis von ihr nichts weiter zu sehen war als ein rötlicher Schimmer an der Höhlendecke. »Eine unerfreuliche Aussicht«, meinte Quenthel. »Menzo berranzan kann jetzt keinen Krieg gegen die Duergar gebrau chen.« »Schlagen wir eine andere Richtung ein?« fragte Ryld. »Menzoberranzan muß vor den Duergar gewarnt werden.« Die Herrin Arach-Tiniliths stand einen Moment lang nur
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da, dann entgegnete sie: »Nein. Was wir tun, ist von größerer Bedeutung, und wenn ich mich nicht irre, hat Pharaun die Möglichkeit, dem Erzmagier eine Warnung zukommen zu las sen. Ist das nicht so, Magier?« Der Meister Sorceres lächelte nur und spreizte die Hände.
Nimors leise Schritte hallten auf dem Weg durch die Feste des Kronprinzen in zahllosen leeren Korridoren wider. Immer wieder begegnete er einem Paar finster dreinblickender Wa chen in schweren Rüstungen, die Hellebarden hoch erhoben. Er fragte sich, ob sie je darin ermüdeten, im Dienst auf kahle Steinmauern zu starren. Vermutlich nicht, befand er. Duergar reagierten auf solche Dinge nun mal nicht empfindlich. In seiner Hand ließ Nimor einen kleinen Umschlag von Finger zu Finger wandern. Die Dame Aliisza vom Hof des Zep terträgers (ein origineller Titel, wie Nimor ihn noch nie gehört hatte) hatte ihn eingeladen, sich zum Abendessen in ihren Gemächern einzufinden, nachdem die Duergar es bislang ver säumt hatten, sie zu irgendeinem Bankett oder Abendessen einzuladen. Nimor ging nicht davon aus, daß ihr der Sinn nur danach stand, in Gesellschaft zu speisen. Als er die Gemächer erreicht hatte, die der Gesandten des Zepterträgers zugewiesen worden waren, steckte er die Einla dung in seine Brusttasche und klopfte zweimal an. »Herein«, ertönte eine Stimme. Nimor trat ein und sah Aliisza. Sie wartete an einem Tisch auf ihn, auf dem ein beeindruckendes Mahl angerichtet wor den war, einschließlich einer Flasche Wein von der Welt an der Oberfläche. Sie hatte schon zwei Gläser eingeschenkt. Aliisza trug einen weiten Rock aus roter Seide zu einem engan
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liegenden Korsett, das mit schwarzer Spitze verziert war. Er stellte fest, daß die Farben ihr standen und sogar zu ihren zar ten schwarzen Flügeln paßten. »Aliisza«, sagte er und verneigte sich. »Ich bin geschmei chelt. Ich bin sicher, diese Mahlzeit stammt nicht aus einer der Küchen des Kronprinzen.« »Es gibt einen Punkt, ab dem kann man geräucherten Rothé-Käse und Brot aus dem Mehl schwarzer Sporen einfach nicht mehr sehen«, erwiderte sie, nahm die Weingläser und kam näher, um ihm eines davon zu reichen. »Ich gebe zu, daß mein Gefolge die Stadt durchkämmen mußte, um Gasthäuser und Tavernen zu finden, die bereit waren, Speisen zu verkau fen, die dem Geschmack eines Drow entsprechen.« Nimor nahm das Glas und drehte es leicht in der Hand, um es dann an seine Nase zu halten und das Aroma zu inhalieren. So konnte er nicht nur das Bukett des Weins genießen, son dern auch nach den Giften suchen, deren Geruch ihm vertraut war. Er wäre schwierig gewesen, ihn zu vergiften, doch er konnte keine befremdlichen Gerüche feststellen. »Mein Dank ist Euch gewiß, werte Dame. Ich bin in letzter Zeit viel gereist und war gezwungen, mich von sehr schlichten Speisen zu ernähren.« Aliisza nahm ebenfalls einen Schluck, dann wies sie auf den Tisch. »Dann würde ich vorschlagen, wir unterhalten uns während des Essens weiter.« Nimor nahm ihr gegenüber Platz und stürzte sich auf das Mahl. Eine der Folgen seiner wahren Art war die erstaunliche Fähigkeit, weitaus mehr zu essen, als man es von einem Drow von seiner schmalen Statur erwartet hätte, und zwischen zwei Mahlzeiten sehr viel Zeit verstreichen lassen zu können. Der Rothé-Braten mit Pilzsoße war kühl, in der Mitte noch rot und
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wirklich ausgezeichnet. Die kleinen Blindfische schmeckten etwas salziger, als ihm lieb war, und der Wein war stark und trocken, womit er genau zum Braten paßte. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen dieses Beisammenseins?« fragte er zwischen zwei Bissen. »Ihr fasziniert mich, Nimor Imphraezl. Ich will mehr dar über erfahren, wer Ihr seid und welche Interessen Ihr vertre tet.« »Wer ich bin? Ich habe Euch meinen Namen gesagt«, erwi derte Nimor. »Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.« Aliisza beugte sich vor und sah ihn durchdringend an. »Was ich meinte, ist, wem dient Ihr? Was tut Ihr hier?« Nimor nahm ein schwaches Vibrieren am Rand seiner Ge danken wahr, als versuche er sich an etwas zu erinnern, was er für einen Moment vergessen hatte. Er lehnte sich zurück und grinste das Alu-Scheusal breit an. »Ich hoffe, Ihr verzeiht, werte Dame, aber ich wurde erst vor kurzem in ein Gespräch verwickelt, bei dem mein Gegen über Gedanken lesen konnte. Darum habe ich Vorkehrungen getroffen, damit mir so etwas heute nicht schon wieder wider fährt. Ihr werdet Eure Antworten in meinem Kopf nicht fin den.« Aliisza runzelte die Stirn und sagte: »Nun muß ich mich fragen, welche Gedanken Ihr so gut abschirmt, Nimor. Habt Ihr Angst, mir könnte mißfallen, was ich dort vorfände?« »Wir haben alle unsere Geheimnisse.« Nimor roch wieder an seinem Wein, um das Bukett zu genießen. Er würde ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, aber er würde von sich geben, was unter den Umständen vertretbar war. »Ich gehöre zu ei nem niederen Haus in Menzoberranzan, in dem manche Dinge praktiziert werden, die die Muttermatronen nicht gutheißen
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würden«, setzte er an. »Unter anderem unterwerfen wir uns nicht der Tyrannei der Frauen, die Lolth anbeten. Außerdem besitzen wir alte, enge Verbindungen zu kleinen Häusern in anderen Städten, die die gleichen Praktiken hochhalten. Wir tarnen uns als Kaufleute, aber unsere wahre Art und unsere Fähigkeiten verschweigen wir.« »Fähigkeiten?« »Wir sind Assassinen, werte Dame, und in dem, was wir tun, sind wir sehr gut.« Aliisza beugte sich vor und stützte ihr zartes Kinn auf die Fingerspitzen, während sie Nimor mit ihrem dunklen, schelmi schen Blick studierte. »Was macht ein Assassine aus Menzoberranzan in Gracklstugh, wenn er Horgar Stahlschatten berät, während der seine Armee für einen Krieg aufmarschieren läßt?« fragte sie. »Ist das nicht Hochverrat?« Nimor erwiderte achselzuckend: »Wir wollen, daß die be stehende Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Wir können ohne Armee nicht die großen Häuser unserer Stadt besiegen, und Gracklstugh ist in dieser Ecke des Unterreiches die stärks te Macht. Als uns klar wurde, daß Lolth ihre Priesterinnen im Stich gelassen hatte, erkannten wir, daß sich damit die einzig artige Gelegenheit bot, einen tödlichen Schlag gegen die gro ßen Häuser zu führen. Wir haben alles darangesetzt, Horgar zu der Ansicht gelangen zu lassen, dies sei auch eine Gelegenheit für ihn.« »Seid Ihr nicht besorgt, daß die Duergar die Stadt gar nicht an Euch abgeben wollen könnten, wenn sie sie erst einmal erobert haben?« »Natürlich sind wir das«, erwiderte Nimor. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, dann ist der Fall der Häuser Lolths ein so erstrebenswertes Ziel, da wiegt das Risiko hinsichtlich der
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Duergar nicht weiter schwer. Selbst wenn sich Gracklstugh gegen mein Haus wendet und Menzoberranzan für hundert Jahre besetzt hält, würden wir überleben und früher oder später die Stadt zurückerobern.« Aliisza stand anmutig auf und ging zu einem schmalen, eher einem Schlitz gleichenden Fenster, von dem aus man die Stadt überblicken konnte. »Glaubt Ihr wirklich, Lolth wird es zulassen, daß ihre Stadt fällt? Was wird aus dem Angriff der Grauzwerge, wenn die Priesterinnen Lolths auf einmal ihre Macht zurückerlangen?« »Wir sind eine langlebige Rasse, werte Dame. Mein Groß vater sah mit eigenen Augen Dinge, die sich vor tausend Jah ren abspielten. Bei uns gerät die Vergangenheit nicht in Ver gessenheit wie bei anderen Rassen. In all unseren Legenden und unserer Geschichte findet sich keine Phase des Schwei gens, das so vollständig war und so lange anhielt. Selbst wenn es nur vorübergehend ist, bietet sich hier eine Chance, wie sie nur alle paar tausend Jahre wiederkehrt. Wie könnten wir diese Gelegenheit zum Zuschlagen ungenutzt lassen?« »Vielleicht habt Ihr recht. Ich sprach mit anderen Drow, die zu glauben scheinen, sie hätten es mit einem außergewöhn lichen und noch nie dagewesenen Phänomen zu tun.« Aliisza sah ihn über die Schulter an und ergänzte: »In Ched Nasad begegnete ich sogar einer Gruppe hochrangiger Menzoberran zanyr, die in die Stadt gekommen waren, um nach dem Grund für das Schweigen Lolths zu suchen. Quenthel Baenre, die Meisterin Arach-Tiniliths, führte diese Gruppe an.« »Ich hörte von Herrin Quenthels Mission. Sie hatte es also nach Ched Nasad geschafft?« »Ja, nachdem sie das Territorium Kaanyr Vhoks durchquert hatten. Sie trafen gerade noch zeitig genug ein, um den Unter gang der Stadt mitzuerleben.«
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»Hat jemand aus der Gruppe überlebt?« Aliisza zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Sie waren recht begabt. Wenn jemand der Zerstörung der Stadt entkommen konnte, dann sie.« Nimor trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und überlegte. War Quenthels Erkundungsmission wirklich bedeut sam gewesen? Er konnte sich auch vorstellen, daß die Mutter matronen entschieden hatten, die Herrin Arach-Tiniliths für eine Weile aus der Stadt zu schicken, weil sie vielleicht gefähr lichen Bestrebungen nachgegangen war. Dennoch stellte sie eine unbekannte Größe dar, von der die Jaezred Chaulssin in Kenntnis gesetzt werden sollte. Eine Gruppe mächtiger Drow, die sich im Unterreich aufhielt, konnte für alle nur denkbaren Schwierigkeiten sorgen. »Fanden sie Antworten auf ihre Fragen?« fragte er. »Nicht daß ich wüßte«, sagte Aliisza. Sie wandte sich wie der vom Fenster ab und glitt zum Tisch zurück, dann wechselte sie das Thema. »Ihr wart sehr darauf aus, Euch beim Kronprin zen für mein Anliegen einzusetzen. Darf ich fragen warum?« Der Assassine beugte sich wieder vor und betrachtete sie aufmerksam. »Das hattet Ihr schon angesprochen«, sagte er. »Entweder ist Gracklstugh mächtig genug, um Menzoberranzan zu besie gen, oder aber nicht. Wenn nicht, dann dürfte Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion die Waagschale zu unseren Gunsten aus schlagen lassen. Ist Gracklstugh aber stark genug, dann könnte die Geknechtete Legion helfen, Horgars Bestrebungen im Zaum zu halten. Wir möchten nicht, daß der Kronprinz die Einzelheiten unserer Abmachung vergißt.« »Warum sollte die Geknechtete Legion in der Schlacht als Eure Armee dienen?« »Weil Horgar Euch nicht zum Verbündeten machen wird,
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wenn ich ihn nicht davon überzeuge, daß er mit Vhoks Tana rukks besser bedient ist, wenn sie an seiner Seite und nicht seine Flanken angreifen«, antwortete Nimor. »Außerdem will Euer Herr nicht untätig zu Hause sitzen, während die Dinge ihren Lauf nehmen. Er hat Euch hergeschickt, um die Duergar zum Angriff auf Menzoberranzan zu drängen, nicht wahr?« Aliisza verbarg ihr Lächeln, indem sie einen Schluck trank. »Das ist wahr«, räumte sie ein. »Und? Werdet Ihr die Duer gar bitten, unsere Hilfe anzunehmen oder nicht?« Der Assassine betrachtete das Alu-Scheusal, während er darüber nachdachte. Agrach Dyrr war ein nützlicher Verbün deter, doch er bezweifelte, daß das Fünfte Haus Menzoberran zans stark genug war, um ein Gegengewicht zu Horgars Armee zu bilden, wenn es hart auf hart kommen sollte. Eine weitere Streitmacht auf dem Schlachtfeld würde die Erfolgsaussichten der Jaezred Chaulssin erhöhen, und wenn sie mit drei Gruppen arbeiteten, sollte es möglich sein, zwei von ihnen gegen die dritte aufzubringen, wenn das geboten schien. Im Extremfall konnten die Jaezred Chaulssin ihre eigene Macht ins Spiel bringen, aber zahlenmäßig waren sie nicht allzu gewaltig, und es war immer besser, erst die Ressourcen eines Verbündeten aufzubrauchen, ehe man die eigenen anging. »Ich glaube«, sagte er schließlich, »wir werden Horgar gar keine Gelegenheit geben, Eure Hilfe abzulehnen. Ist Euch ein Ort namens Säulen des Leids bekannt?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schlucht zwischen Gracklstugh und Menzober ranzan«, erklärte Nimor. »Ein Ort, mit dem ich Großes vorha be. Ich bin sicher, daß einigen von Kaanyr Vhoks Spähern dieser Name vertraut ist. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr wißt, wie Ihr hingelangt. Kehrt zurück zu Kaanyr Vhok und veran laßt ihn, die Geknechtete Legion so schnell wie möglich zu
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den Säulen des Leids zu führen. Ihr werdet Eure Gelegenheit bekommen, an der Zerstörung Menzoberranzans mitzuwirken. Sollte sich der Kronprinz als unvernünftig erweisen, werden sich Euch andere Gelegenheiten bieten. Ich glaube aber, daß Horgar Eure Beteiligung akzeptieren wird, wenn er erst einmal Euer Heer gesehen hat.« »Das klingt riskant.« »Risiko ist der Preis für eine Gelegenheit. Es läßt sich nicht vermeiden.« Aliisza sah ihn nachdenklich an. »Nun gut«, sagte sie schließlich. »Aber ich warne Euch. Kaanyr wird wütend auf mich sein, wenn er seine Armee in die Wildnis des Unterreiches führt und er den ganzen Spaß ver säumt.« »Ich werde Euch nicht enttäuschen«, versprach Nimor. Er genehmigte sich einen großen Schluck Wein und schob seinen Stuhl zurück. »Damit hätten wir unsere Angelegenheit wohl besprochen. Ich danke Euch für das köstliche Essen und die angenehme Gesellschaft.« »Ihr wollt schon gehen?« fragte sie mit dem Anflug eines Schmollmunds. Sie kam näher, ein schelmisches Feuer flammte in ihren Augen auf, und Nimor merkte, wie sein Blick über die üppigen Kurven ihres Körpers glitt. Sie beugte sich vor und legte ihre Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, dann schloß sie die Flügel um ihn. Mit schlangengleicher Anmut glitt sie weiter nach vorn, um an seinem Ohr zu knabbern, und ihr zartes, heißes Fleisch gegen ihn zu drücken. »Wenn wir unsere Angelegenheiten schon besprochen ha ben, Nimor, dann muß jetzt die Zeit für das Vergnügen ge kommen sein«, flüsterte sie in sein Ohr. Nimor sog den köstlichen Duft ihres Parfüms ein und merk
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te, wie seine Hände sich anschickten, über ihre Hüften zu streichen und Aliisza zu sich heranzuziehen. »Wenn Ihr darauf besteht«, murmelte er und küßte ihre Kehle. Sie schauderte in seinen Armen, während er die Hände hob, um ihr Korsett zu öffnen.
Die grobschlächtigen Schaufelräder an den Seiten von Koh lenhauers Boot schlugen in der Finsternis lautstark auf das Wasser und verursachten, daß es weiß aufschäumte. Die gro ßen Skelette in der Mitte des Gefährts bewegten sich unabläs sig auf und nieder, während ihre knochigen Hände die Kurbeln umklammert hielten, die die Räder antrieben. Unermüdlich gingen sie ihrer geistlosen Arbeit nach, die ihnen durch nekromantische Magie vor Jahren oder vielleicht sogar Jahr zehnten auferlegt worden war. Halisstra hatte von Reisen zu Wasser keine Ahnung, dennoch kam es ihr so vor, als bewege sich Kohlenhauers Boot mit einer Geschwindigkeit vorwärts, mit der man es nur schwer würde aufnehmen können. Sie warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ihre Gefährten Anzeichen dafür bemerkt hatten, daß sie verfolgt wurden. Ryld, Jeggred und Pharaun standen am Heck und beobachteten, was sich hinter dem Boot abspielte, Quenthel saß auf einer Truhe unter der gerüstgleichen Brücke, den Blick ebenfalls gen Gracklstugh gerichtet, während Valas auf der Brücke neben Kohlenhauer stand und darauf achtete, daß der Duergar-Kapitän auf dem gewünschten Kurs blieb. Halisstra und Danifae hatten sich an den Bug begeben, um darauf zu achten, daß sie nicht in voller Fahrt in eine gefährli che Situation gerieten. Halisstra hatte sich nicht die Mühe gemacht, etwas gegen diese Verteilung einzuwenden. Die
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Männer waren am besten an einer Stelle aufgehoben, an der sie sich zwischen dem Rest der Gruppe und den möglichen Verfolgern befanden. Zudem war Pharaun vermutlich ihre beste Waffe gegen jeden Angreifer aus Richtung Gracklstugh. Von der Stadt war nichts mehr zu sehen, wenn man von dem langgestreckten rötlichen Lichtschein absah. Das Feuer der Schmieden war auf dem gewaltigen schwarzen Dunkelsee auf viele Kilometer zu sehen und vermittelte ein Gefühl von Entfernungen, das Halisstra an den unnatürlichen Anblick in der Welt an der Oberfläche erinnerte. Seit Stunden bereits bewegten sie sich in südöstlicher Richtung von Gracklstugh fort, und es war kein Hinweis auf mögliche Verfolger zu sehen. Dennoch konnte sich Halisstra des Eindrucks nicht erwehren, sie seien dem Zugriff der Duergar noch längst nicht entronnen. Widerwillig richtete sie ihren Blick wieder auf die unergründ liche Finsternis vor dem Boot und überprüfte ihre Armbrust, ob sie auch wirklich feuerbereit war. Aufmerksam suchte Halisstra ihre Seite des Bugs ab, wobei sie mit der Wasseroberfläche unmittelbar am Boot begann und sich dann nach außen weiter vorarbeitete, bis selbst sie in der Schwärze nichts mehr sehen konnte. Dann kehrte ihr Blick zum Bug zurück, und sie begann erneut, nach Gefahren zu suchen. Große Stalaktiten, vielleicht auch Säulen – es war unmöglich, das zu bestimmen – reichten von der Decke herab und verschwanden im pechschwarzen Wasser. Sie bildeten Hindernisse, um die das Boot herumnavigiert werden mußte. An anderen Stellen ragten die Spitzen von Stalagmiten aus dem Wasser wie Speere. Kohlenhauer hielt sich von ihnen fern und erklärte, auf jede Spitze, die über den Wasserspiegel reichte, kämen zwei, die sich dicht unter der Oberfläche be fanden. »Nicht zu fassen, daß ich auf dem Deck eines Duergar-Boots
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kauere, in Lebensgefahr schwebe und auf der Flucht bin aus einer Duergar-Stadt, die ich bis vor drei Tagen noch nie gese hen hatte«, murmelte Halisstra und brach das lang anhaltende Schweigen. »Noch vor zwei Zehntagen war ich Erbin eines großen Hauses in einer Adelsstadt. Vor einem Zehntag war ich eine Gefangene, verraten von der gehässigen Faeryl Zauvirr, und nun bin ich hier, eine entwurzelte Wanderin, deren Name nichts weiter besagt und die nur das besitzt, was sie in ihrem Gepäck mit sich führt. Ich verstehe nur nicht, warum es dazu gekommen ist.« »Ich bin sehr vertraut damit, daß sich Umstände ändern und das Glück umschlägt«, entgegnete Danifae. »Welchen Sinn hat es, nach dem Warum zu fragen? Es ist der Wille Lolths.« »Ist das so?« fragte Halisstra. »Haus Melarn existierte seit zwei Jahrhunderten oder noch länger, und es ging in nur einer Stunde unter, nachdem Lolth unserer Rasse ihre Gunst ver weigert hatte. Erst während ihrer Abwesenheit konnten unsere Feinde uns schlagen.« Danifae erwiderte nichts, und Halisstra hatte das auch nicht erwartet. Immerhin kam der Gedanke an sich einer Form von Ketzerei schon bedenklich nahe. Zu unterstellen, irgend etwas könnte gegen den Willen Lolths geschehen sein, bedeutete, die Macht der Spinnenkönigin in Frage zu stellen, und wer das tat, der forderte Tod und Verdammnis heraus, da er ein un gläubiger Schwächling war. Das Schicksal, das die Ungläubi gen im Leben nach dem Tod erwartete, war zu schrecklich, um auch nur darüber nachzudenken. Wenn Lolth nicht entschied, die Seele eines Anhängers mitzunehmen in ihr göttliches Reich in den Gruben der Dämonennetze, war der Geist eines Drow zu Qual und Vergessen in den Einöden verdammt, wo über die Toten aller Art geurteilt wurde. Nur unerschütterli
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che Anbetung konnte Lolth dazu bringen, sich für einen Drow einzusetzen und ein Leben nach dem Leben zu gewähren, eine ewige Existenz als Angehörige von Lolths göttlichen Heer scharen. Wenn Lolth tot ist, überlegte Halisstra, dann werden Ver dammnis und Vergessen unvermeidbar, oder nicht? Bei dem Gedanken wurde sie blaß und begann vor Entset zen zu zittern, woraufhin sie rasch aufstand und von der Brücke wegging, damit die anderen ihr Gesicht nicht sehen konnten. Ich darf so etwas nicht denken, ermahnte sie sich. Es wird besser sein, wenn ich mich von allen Gedanken befreie, statt zur Blasphemie zu neigen. Sie schloß die Augen und atmete tief ein, um ihre heimtü ckischen Zweifel zu verdrängen. »Wir bekommen Ärger«, rief Ryld vom Achterdeck. Der Waffenmeister kniete sich hin und spähte in die Finsternis. »Drei Boote, alle diesem hier ähnlich.« »Ich sehe sie«, sagte Pharaun und sah zur Brücke. »Kohlen hauer, Ihr hattet doch gesagt, Eures sei das schnellste Boot auf dem Dunkelsee. Darf ich annehmen, daß Ihr etwas übertrieben habt?« Der Zwerg sah mit finsterer Miene in die Finsternis und er widerte: »Bis heute hat man mich noch nie eingeholt oder überholt. Woher hätte ich wissen sollen, daß sich das heute ändern wird?« Er stieß eine Reihe saftiger Verwünschungen aus und schritt von einer Seite der Brücke zur anderen, ohne den Blick von den sie verfolgenden Booten zu nehmen. »Sie holen nicht schnell auf«, bemerkte Quenthel nach ei ner Weile. »Sie werden eine Weile brauchen, um uns einzuho len.« Halisstra drehte sich um und kletterte um die Brücke her
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um, um nach achtern zu blicken. Gerade eben konnte sie die Verfolger ausmachen. Sie folgten mit einer Bogenschußweite Abstand, schwarze geisterhafte Silhouetten, die sich nur schwach von dem letzten roten Schein abhoben, der anzeigte, wo hinter ihnen die Stadt lag. Ein weißer Schimmer war bei jedem der Boote dort zu sehen, wo sich der Bug durch das Wasser pflügte. Sie sah den Duergar an und fragte: »Könnt Ihr nicht schnel ler fahren?« Kohlenhauer brummte und wies mit einer Hand auf die Skelette, die das Schiff antrieben. »Sie sind schon so schnell, wie es nur geht«, erwiderte er. »Wir könnten etwas schneller werden, wenn wir Ballast über Bord werfen, aber ob es genügen wird, kann ich nicht sagen.« »Wie weit noch bis zur Südwand der Höhle?« fragte Quenthel. »Ich kenne diese Region des Sees nicht gut. Vielleicht noch fünf Kilometer.« »Bleibt auf Kurs«, entschied die Baenre. »Sobald wir an Land sind, können wir jedem Verfolger entkommen oder ge gen ihn kämpfen, sollten wir beschließen, nicht zu fliehen.« »Was ist mit meinem Boot?« wollte Kohlenhauer wissen. »Habt Ihr eine Ahnung, was ich dafür bezahlt habe?« »Ich bin sicher, Euch nicht eingeladen zu haben mitzu kommen, Zwerg«, konterte Quenthel. Sie kehrte dem Duergar den Rücken und ließ sich nieder, um abzuwarten, während sie gedankenverloren über ihre Peit sche fuhr und den Blick auf die sich nähernden Verfolger ge richtet hielt. Das Boot fuhr weiter und passierte weitere Stalagmiten, die aus dem Wasser aufragten, während sich die Verfolger ständig näherten. Halisstra und Danifae hielten nach Hindernissen
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Ausschau, doch Halisstra mußte immer wieder über die Schul ter blicken, um zu sehen, was die Verfolger machten. Jedesmal waren die Boote ein Stück näher, und inzwischen konnte sie sogar Bewegung an Deck ausmachen. Fünfzehn Minuten, nachdem die Verfolger zum ersten Mal aufgetaucht waren, begannen sie, auf Kohlenhauers Boot zu feuern. Schwere Arm brustbolzen landeten in ihrem Kielwasser, und plumpe Kata pultschüsse mit großen, feurigen Sphären jagten am Boot vor bei und trafen gegen die feuchten Säulen, die ringsum das Wasser durchzogen. »Fahrt einen Zickzackkurs«, wies Quenthel den Zwerg an. »Von so etwas wollen wir nicht getroffen werden.« »Wenn ich das tue, holen sie uns noch schneller ein«, wi dersprach Kohlenhauer, begann aber bereits, das Steuerrad mal in die eine, mal in die andere Richtung zu drehen, ohne allzu lange auf einem Kurs zu verharren. »Ryld, Valas, erwidert das Feuer auf das erste Boot. Benutzt aber höchstens den halben Vorrat Eurer Pfeile und Bolzen. Wir könnten sie später noch brauchen.« Quenthel sah sich um und nickte Halisstra zu. »Ihr auch. Danifae, halte weiter Aus schau voraus. Pharaun, tut etwas gegen diese Katapulte.« Valas wandte sich auf der Brücke um und stemmte sich ge gen das Geländer, damit er einen Pfeil auflegen konnte. Er zielte auf das führende Boot und schoß. Ryld und Halisstra taten es ihm einen Augenblick später nach. Nach einem Flug, der einen Herzschlag lang dauerte, riß eine winzige Gestalt eines Duergar die Arme hoch und fiel über Bord, wo sie unter die Ruderblätter geriet. Andere Zwerge eilten umher, um Schutz zu suchen, und hoben Schilde, die sie schützen sollten. Pharaun trat vor und gestikulierte kühn in Richtung des vordersten Boots, wobei er die Worte eines Zaubers hervor stieß. Aus seinen Fingerspitzen schoß eine orangefarbene
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Flamme, die sich pfeilschnell über das Wasser erstreckte und in der Schwärze zu verschwinden schien, als das Boot sie förmlich schluckte. Im nächsten Augenblick barst eine gewaltige Flamme aus dem Bug der Verfolger empor und überrollte die Vorderdecks mit einem gewaltigen Fauchen, das in der riesigen Höhle widerhallte. In Flammen gehüllte Duergar taumelten umher, weitere fielen über Bord oder sprangen gezielt ins Was ser. »Gut gemacht!« rief Quenthel. Sogar Jeggred jubelte, doch schon im nächsten Moment jag te vom zweiten Schiff eine summende Kugel aus blauer Energie heran. Pharaun setzte zu einem Zauber an, um den Angriff abzuwehren, doch es gelang ihm nicht, den Schlag zu stoppen. Gleißende Blitze hüllten Kohlenhauers Boot ein, die Luft dröhnte von Dutzenden von Explosionen, als knisternde Elekt rizität Fässer und Kisten detonieren ließ und Fleisch versengte. Halisstra schrie und fiel aufs Deck, als ein Blitz sich in ihre linke Hüfte bohrte, während Ryld zuckend zusammenbrach. Sein Brustpanzer leuchtete bläulich-weiß, da die Energie des Blitzes auf ihn übergesprungen war. Die rudernden Skelette bewegten sich unbeirrt weiter und trieben das Boot an. Pharaun riß seinen Stab heraus und schleuderte einen Blitz auf das Boot, das soeben attackiert hatte. Ein springender Me teor aus blendendem Feuer flog ihnen vom führenden Fahrzeug entgegen und näherte sich ihnen wie von einem unstillbaren Hunger angetrieben. Zum Glück traf das Geschoß jedoch ei nen der aus dem Wasser ragenden Felsen, wo es detonierte und sich auf der Wasseroberfläche in einen Teppich aus brennen der Flüssigkeit verwandelte. Das dritte Boot feuerte erneut sein Katapult ab und schickte einen kometengleichen Feuerball in ihre Richtung, der die Brücke knapp verfehlte und ein Stück
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weit vor ihnen explodierte. »Verdammt!« fauchte Kohlenhauer. »Sie sind in Schußwei te!« »Scheinbar bin ich ein wenig in der Unterzahl«, rief Pha raun zwischen zwei Zaubern. »Vielleicht sollten wir mehr Energie auf unsere Flucht verwenden?« Pfeile schossen an ihnen vorbei und prallten vom Boot ab oder bohrten sich lautstark ins Zurkhholz des Decks. »Halisstra«, rief Pharaun. »Würdet Ihr meinen Stab neh men – den, den ich in der Hand halte – und ihn benutzen, um den Kerl im ersten Boot zu entmutigen?« Sie ignorierte den heißen Schmerz in der Hüfte und kämpf te sich zum Heck vor. Sie nahm den Eisenstab an sich, zielte auf das führende Boot und brüllte den Befehl. Die Luft knister te vor Funken und Ozon, als ein Blitz auf den Verfolger zujag te, der dann wirkungslos an irgendeinem Schutzzauber verpuff te, der von den Duergar-Magiern hinter ihnen gewirkt worden war. Pharaun griff zu einem anderen Zauber, woraufhin hinter dem Boot ein dichter weißer Nebel entstand, der sich rasend schnell auf dem Wasser ausbreitete und wie eine weiße Wand wirkte, die den verfolgenden Booten jegliche Sicht nahm. »So«, meinte Pharaun. »Das sollte sie etwas aufhalten.« »Das ist Nebel. Werden sie nicht einfach hindurchsegeln?« fragte Ryld. »Das ist kein gewöhnlicher Nebel, Freund. Dieser Nebel ist dick genug, um einen Pfeil im Flug zu stoppen. Außerdem ist er höchst ätzend, so daß jeder, der sich in ihm aufhält, zerfres sen wird.« Pharaun lächelte und verschränkte die Arme. »Oh, verdammt, was bin ich gut.« Quenthel öffnete den Mund, um etwas gegen das Eigenlob des Magiers einzuwenden, als Danifae schrie: »Stop! Felsen
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voraus! Halt!« »Verfluchte Hölle!« keuchte Kohlenhauer. »Volle Kraft zu rück! Volle Kraft zurück, ihr großen knochigen Tolpatsche!« Die kurbelnden Skelette verlangsamten ihre hektischen Bewegungen, konnten aber nicht all die schweren Räder gleichzeitig anhalten, so daß die Schaufeln sich nur langsam in die entgegengesetzte Richtung zu drehen begannen. Der Zwerg wartete nicht ab, bis sie fertig waren, sondern riß das Ruder herum, um das Boot beizudrehen und den Felsen auszuwei chen, die wie eine Reihe schwarzer Reißzähne vor ihnen auf ragten. Sie schienen den Rand des Sees erreicht zu haben, der rasch seichter wurde und an die abfallende Decke traf. Das Ufer erstreckte sich nach links und rechts, soweit Halisstra sehen konnte. Das Boot wurde langsamer, und der Steuerbord bug prallte von einem glücklicherweise abgerundeten Stein auf ihrem Weg ab. Der Aufprall ließ jeden an Bord taumeln, und fast wäre Danifae über Bord geschleudert worden. »Was nun?« fragte Ryld. »Jetzt sitzen wir an der Höhlen wand fest.« »Wie lange wird Euer Nebel die Duergar aufhalten?« herrschte Quenthel Pharaun an. »Ein paar Minuten«, antwortete er. »Natürlich können sie umkehren und ihn umfahren.« Pharaun studierte sein Werk. In der Ferne waren die Schmerzensschreie der Duergar zu hören, die durch den wei ßen Nebel eigenartig dumpf klangen. »Der Nebel wird nicht viele von ihnen töten oder ausschal ten«, fügte der Magier an. »Ich glaube auch nicht, daß er ihre Boote versenken wird.« »Dann müssen wir von Bord gehen«, entschied Quenthel und zeigte auf die Höhlenwand. »Wir suchen zwischen den Felsen Schutz und halten uns bedeckt. Das Boot schicken wir
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in diese Richtung« – sie wies nach Osten – »und lassen die Männer des Kronprinzen die Verfolgung aufnehmen.« »Ich werde nicht Eure Ablenkung spielen!« warf Kohlen hauer ein. »Ihr habt mir das hier eingebrockt, Ihr werdet mich da auch wieder rausholen!« Die Drow ignorierten den Duergar und warfen ihr Gepäck auf die nassen Felsen vor dem Bug. Jeggred sprang in das eisige Wasser und kletterte an Land, dicht gefolgt von Ryld und Pharaun. Valas kam von der Brücke geeilt und folgte ihnen. »Ihr verschwendet meine Zeit!« herrschte Quenthel den Kapitän an. »Macht Euch auf den Weg. Versucht Euer Glück oder bleibt hier und macht Bekanntschaft mit dem Draegloth.« Sie sprang leichtfüßig auf die Findlinge, Halisstra und Dani fae taten es ihr nach. »Aber wenn Ihr ... ach, Ihr sollt verdammt sein und in Lolths Hölle schmoren!« fluchte Kohlenhauer. Er eilte zurück auf die Brücke und rief den Skeletten an den Rudern neue Befehle zu. Langsam entfernte sich das Boot von den Felsen. »Wenn man mich zu fassen kriegt«, schrie er ihnen zu, »werde ich ihnen ganz genau sagen, wo sie Euch finden kön nen!« Quenthel kniff die Augen zusammen und wollte Jeggred los schicken, doch Halisstra schüttelte den Kopf und setzte zu einem tiefen, vibrierenden Bae’qeshel-Lied an. Sie nahm ihre Willenskraft zusammen und schleuderte es dem verärgerten Zwerg nach. »Tretet die Flucht an«, zischte sie. »Flieht, so schnell Ihr könnt, und laßt Euch nicht festnehmen. Wenn sie Euch ein holen, dann ist es besser, in Sicherheit zu schwimmen als Euch festnehmen zu lassen.«
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Das unsichtbare Netz des Zaubers senkte sich wie ein Schnee aus tödlichem Gift auf den Zwerg herab. Mit aufgeris senem Mund sah er zu Halisstra, dann fuhr er herum und setzte alles daran, mit seinem Boot Fahrt aufzunehmen, ehe sich der Nebel lichtete. Quenthel sah zu Halisstra und hob eine Braue. »Es schien mir das beste, dafür zu sorgen, daß er so flieht, wie wir es wollten«, erklärte Halisstra, während sie rasch ihre Sachen einsammelte und in den Schutz der Findlinge und Stalagmiten oberhalb des Wasserspiegels eilte. Quenthel folgte ihr mit einem Schritt Abstand. Sie liefen durchs Wasser an Land und brachten sich hinter einem großen Felsen in Sicherheit, als soeben das erste Boot der Duergar auftauchte, das immer noch an einzelnen Stellen glühte, an denen Pharauns Feuerball es getroffen hatte. Die Drow zogen ihre Pi-wafwis eng um sich und regten sich nicht, während sie zusahen, wie die Duergar aus dem Schutz hervorkamen, den sie vor dem ätzenden Nebel aufgesucht hatten. Einer der Duergar rief etwas und deutete in die Finsternis, woraufhin die anderen in den Lärm einstimmten. Dann be schrieben sie eine scharfe Wendung und machten sich daran, Kohlenhauers Boot zu verfolgen, das in der Dunkelheit ver schwand. Gut, signalisierte Pharaun. Ich hatte befürchtet, sie könnten Magie anwenden, um uns zu folgen. Es sieht so aus, als würde Meister Kohlenhauer uns doch noch einen letzten Dienst erweisen. Was glaubst du, wird passieren, wenn sie ihn zufassen bekom men? fragte Ryld. Die Boote der Duergar waren soeben außer Hörweite. »Das wird davon abhängen, ob er schwimmen kann oder nicht«, meinte Halisstra.
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Nach einem langen Tagesmarsch, bei dem die Gruppe nur eine kurze Pause einlegte, um Pharaun Zeit genug zu geben, damit er die Nachricht über die Armee von Gracklstugh an Gromph schicken konnte, erreichten sie endlich das Labyrinth. Sie gelangten von gewundenen, gänzlich unerforschten Gängen in ein System aus kilometerlangen natürlichen Stollen, die im mer wieder von in den Fels gehauenen Wegen und kleinen, würfelförmigen Kammern unterbrochen wurden. Kohlenhauer, sein Boot und die Verfolger aus Gracklstugh hatten sie min destens dreißig Kilometer hinter sich gelassen. Die Tunnel waren aus schwarzem Basalt, kalt und scharf kantig, die erstarrten Überreste der gewaltigen Feuer aus der Zeit, als die Welt ihren Anfang nahm. Von Zeit zu Zeit stieß die Gruppe dort, wo Tunnel an glatten Wänden endeten, auf Hunderte von Metern hohe Klippen, in die man grobschläch
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tige und gefährlich aussehende Stufen gehauen hatte, die auf andere Ebenen führten, auf denen der Pfad fortgesetzt wurde. Ganze Schichten der Kruste dieser Welt waren hier in sich zusammengesunken oder zerrissen worden, hatten alte Lava tunnel abgetrennt und gewaltige, lichtlose Schächte tief im Erdinneren hinterlassen. Manche dieser Stellen wurden von schmalen Steinbrücken überspannt, oder es verliefen grob behauene Pfade um sie herum, die man in die Felswände ge schlagen hatte. Egal, wohin sie sich wandten, zweigten weitere quadratische Gänge und gewundene Tunnel mit glattem Bo den von ihrem Weg ab, so daß Halisstra nach gut einer Stunde einräumen mußte, jegliche Orientierung verloren zu haben. »Ich verstehe, warum man diesen Ort als das Labyrinth be zeichnet«, flüsterte sie, als sich die Gruppe auf einem schmalen Vorsprung bewegte, der eine weitere Schlucht säumte. »Das ist wahrhaftig ein Irrgarten.« »Es ist noch schlimmer, als Ihr glaubt«, erwiderte Valas, der an der Spitze der Gruppe ging. Er blieb stehen, um den Weg vor ihnen sowie einen der unzähligen Seitengänge zu studie ren. »Von Norden nach Süden erstreckt es sich über fast drei hundertfünfzig Kilometer, und von Osten nach Westen mißt es ungefähr die halbe Strecke. Der größte Teil sieht so aus wie dieser Abschnitt hier, also ein Wirrwarr aus Lavatunneln und in den Fels gehauenen Stollen mit Tausenden von Kehren und Verzweigungen.« »Wie kannst du eigentlich hoffen, hier das Haus Jaelre zu finden?« fragte Ryld. »Kennst du diesen Ort so gut, daß du ihn beherrschst?« »Ihn beherrschen? Kaum. Man könnte sein ganzes Leben hier verbringen und würde doch nicht jede Stelle zu Gesicht bekommen. Aber ich kenne einige Wege. Auf den nicht allzu gewundenen Pfaden existieren ein paar häufig benutzte Kara
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wanenrouten, allerdings liegt keine davon in unserer Nähe. Nur wenige Reisende dringen wie wir aus dem Osten ins Laby rinth vor.« Der Späher ging ein kleines Stück voraus und strich mit der Hand an der Stelle an der Wand entlang, an der sich wieder ein Tunnel öffnete. Alte, seltsame Symbole leuch teten unter seinen Fingerspitzen grünlich auf. »Zum Glück meißelten die Erbauer Runen in den Fels, um die geheimen Wege zu kennzeichnen. Es ist ein Code, der im gesamten Laby rinth Gültigkeit besitzt. Dieses Rätsel habe ich bei meinem letzten Besuch hier entschlüsselt. Dieser Tunnel ist mir nicht vertraut, aber ich glaube zu wissen, wie wir unser Ziel errei chen.« »Du bist ein Mann mit vielen Talenten«, stellte Pharaun fest. »Wer schuf diese Tunnel?« fragte Halisstra. »Wenn dieser Ort so groß ist, wie Ihr sagt, muß es seinerzeit ein mächtiges Reich gewesen sein, doch ich sehe auf den ersten Blick, daß diese Markierungen nicht von unseren Vorfahren stammen. Sie sind auch nicht von Duergar, Illithiden oder Abolethen.« »Minotauren«, erwiderte Valas. »Ich weiß nicht, wann ihr Reich entstand und unterging, doch irgendwann gab es einmal ein großes Minotauren-Königreich.« »Minotauren?« gab Quenthel verächtlich zurück. »Das sind bestialische Wilde. Sie können kaum den Verstand oder die Geduld besessen haben, um eine Arbeit von solchen Ausma ßen in Angriff zu nehmen, ganz zu schweigen davon, ein Kö nigreich zu führen.« Valas zuckte die Achseln und sagte: »Das mag heute so sein, aber wer weiß, was vor tausend Jahren war? Ich fand zahlreiche ihrer Artefakte und Überreste, die hier überall verstreut sind. Ihre gehörnten Schädel sind sehr markant. Meine Freunde im Haus Jaelre sagten mir, viele Minotauren hielten sich noch
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heute an einsamen Orten und in nicht mehr benutzten Gän gen des Labyrinths auf, darunter auch dämonische Bestien, die über mächtige Hexenkräfte verfügen. Ihre Patrouillen liefern sich mit diesen Monstern regelmäßig Kämpfe.« »Ich frage mich allmählich, ob wir irgendwann auf unserer Reise auch ein Reich vorfinden werden, in dem ein fröhliches, zivilisiertes Völkchen lebt, das wirklich um unser Wohlerge hen besorgt ist und uns gerne seine Hilfe gewährt«, murmelte Pharaun. »Ich glaube bald, unsere schöne Stadt stehe am Boden eines Fasses voller Giftschlangen.« »Wenn dem so ist, dann sind wir schneller, stärker und gif tiger als jede andere Schlange im Faß«, sagte Quenthel lä chelnd. »Laßt uns weitergehen. Wenn hier Minotauren un terwegs sind, dann wären sie gut beraten, sich nicht dort zu zeigen, wo die Kinder Menzoberranzans gehen.« Die Gruppe marschierte noch mehrere weitere Stunden durch die endlosen düsteren Höhlen und gewundenen Gänge, ehe sie eine Pause einlegte, um sich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. Der Abschnitt des Labyrinths, in dem sie sich befanden, schien fast völlig verlassen zu sein. Es fanden sich nur wenige Hinweise darauf, daß irgend jemand hier in den letzten Jahren entlanggegangen war, die Jäger des Unter reiches eingeschlossen, die rein instinktiv handelten, aber keinen Verstand besaßen. Um sie herum wirkte alles unnatür lich ruhig, und jedes Mal, wenn die Unterhaltung für einen Moment stockte und Schweigen einsetzte, schien die Stille förmlich auf sie einzustürmen und wirkte auf eine Weise feind selig, als verabscheue das Gestein selbst die Anwesenheit der Gruppe. Nachdem Valas und Ryld die Wache übernommen hatten, wickelten sich die anderen in ihren Piwafwi und machten es
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sich auf dem kalten Steinboden der Höhle bequem. Halisstra schloß die Augen halb und versank in tiefe Trance, wobei sie von endlosen Tunneln und von sonderbaren alten Geheimnis sen träumte, die tief unter Schimmel begraben waren. Im Traum glaubte sie, in der Stille ein schwaches, fernes Rascheln oder Flüstern zu hören, das so weit entfernt war, daß sie das Gefühl hatte, es deutlicher vernehmen zu können, wenn sie sich ein Stück weit von der Gruppe entfernte und sich tiefer in die Dunkelheit begab. Obwohl sich die Luft nicht im mindes ten regte, nahm sie aus der Ferne das tiefe Seufzen eines Win des wahr, der irgendwo in den Tunneln wehte, ein dumpfes Wehklagen, das sich am Rand ihrer Wahrnehmung bewegte – so wie etwas Wichtiges, das ihr entfallen war, aber noch eben greifbar zu sein schien. Manchmal war es Lolth, die so flüster te, das zischende Seufzen einer wortlosen Botschaft, die eine Priesterin mit dem Wissen erfüllte, welchen Wunsch die Dä monenkönigin hatte. Furcht und Hoffnung regten sich in Halisstras Herz, und sie kam dem Erwachen näher. Was ist dein Wunsch, Göttin? schrie sie im Geiste. Sag mir, wie Haus Melarn wieder deine Gunst erlangen kann. Sag mir, wie Ched Nasad wiederauferstehen kann. Ich werde alles tun, was du verlangst! Treulose Tochter, flüsterte der Wind ihr zu. Schwache Närrin. Entsetzen riß Halisstra aus ihrer Trance, und sie schrak mit rasendem Herzen auf. Nur ein Traum, sagte sie sich. Ich habe geträumt, was ich mir wünschte. Ich habe geträumt, wovor ich mich fürchte, weiter nichts. Lolth hat nicht gesprochen. Sie hat mich nicht verdammt. Ein Stück neben ihr lagen oder saßen die anderen auf dem Boden und waren in ihre eigene Meditation versunken. Etwas
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weiter entfernt hielt Ryld Wache, eine breitschultrige, reglose Gestalt in der Finsternis. Die Tochter des Hauses Melarn senk te den Blick und lauschte den befremdlichen Geräuschen, die der Wind ringsum in der Finsternis verursachte, die ihre Leute für sich beansprucht hatten. »Lolth spricht nicht«, flüsterte sie. »Ich habe nur den Wind gehört, sonst nichts.« Warum hat Lolth uns verstoßen? Warum hat sie den Unter gang Ched Nasads zugelassen? Was taten wir, um ihren Zorn zu wecken? fragte sich Halisstra. Tränen der Verbitterung stiegen ihr in die Augen. Sind wir ihrer unwürdig? Der Wind kam erneut auf, diesmal näher und lauter. Es war kein Pfeifen oder Rauschen, vielmehr erinnerte es sie an ein tieftönendes Horn, das in der Ferne geblasen wurde, vielleicht sogar mehrere. Das Geräusch wurde lauter. Halisstra kniff die Augen zusammen. Handelte es sich um ein merkwürdiges Phänomen des Labyrinths, einen Luftstrom, der durch die röhrengleichen Tunnel in der Dunkelheit pfiff? Derlei war an anderen Orten des Unterreiches nicht unbekannt. In manchen Fällen kamen diese Winde so plötzlich auf und waren so stark, daß sie alles Leben aus einem Tunnel wehen konnten. Dieser Wind hier murmelte und dröhnte, während sie zuhörte, viele große Hörner, die gleichzeitig erschollen – Halisstra sprang auf. Ryld stand da und beobachtete den Weg, den sie gekommen waren, Splitter funkelte in seiner Hand. »Hört Ihr sie?« rief sie Ryld zu. »Die Minotauren kommen!« »Ich dachte, es sei der Wind«, knurrte Ryld. »Weckt die anderen.« Er rannte den Gang entlang, der nahenden Heerschar ent gegen, und rief Valas zu, er solle seinen Posten auf der anderen Seite der Gruppe verlassen und sich ihm anschließen. Halisstra
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hob ihr Gepäck auf und warf es sich über die Schulter, gleich zeitig weckte sie die Gruppe mit Alarmrufen und einem gele gentlich Fußtritt auf, wenn einer von ihnen nicht schnell genug aus der tiefen Trance erwachte. Sie machte ihre Armbrust bereit und spannte einen Bolzen ein, während sie den Tunnel hinter ihnen im Auge behielt. Der Boden begann unter ihren Füßen zu beben. Schwere Schritte, die sich anhörten wie herabstürzende Felsbrocken, kamen immer näher, und von den Wänden des Durchgangs wurde tiefes Bellen und Schnaufen wieder und wieder zurückge worfen, um sich zu einer gewaltigen Kakophonie zu vereinen. Ein heißer, tierischer Gestank schlug ihr entgegen, und dann sah sie sie – eine heranstürmende Menge aus massigen Kreatu ren mit Stierköpfen, zotteligem Fell und schweren Hufen. In ihren kraftvollen Händen hielten sie schwere Äxte und Flegel. Vor dieser heranrollenden Naturgewalt wurden Ryld und Valas Hune hergetrieben, die auf Halisstra wirkten wie Spat zen, die von einer Sturmfront erfaßt wurden. Sie kämpften mit aller Macht gegen die blutrünstigen Kreaturen um ihr Leben. Halisstra legte an und schoß einem der Monster einen Bolzen genau in die Brust, doch das Geschöpf war so im Blutrausch, daß es das Geschoß einfach ignorierte, das sich in seinen Torso gebohrt hatte. Sie legte den nächsten Bolzen ein und wollte zielen, als sich ihr Jeggred in den Weg stellte. »Jeggred, du Idiot, es sind zu viele, du kannst sie nicht be kämpfen!« schrie sie. Der Draegloth nahm keine Notiz von ihr und stürzte der Horde entgegen. Einen Moment lang konnten die Größe und die Wut des Halbdämons dem Ansturm der Minotauren standhalten, doch über Jeggreds weißhaarige Schultern und die aufblitzenden Klingen von Ryld und Valas hinweg konnte Halisstra Dutzende mehr der behaarten Monster erkennen, die
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mit Reißzähnen bewehrten Mäuler aufgerissen, um Befehle zu schreien, die Augen vor Zorn rotglühend. Einige von ihnen waren Splitter, Valas’ geschwungenen Klingen und Jeggreds Klauen zum Opfer gefallen, doch die kampflüsternen Minotau ren ließen sich nur von den schwersten Verletzungen stoppen, ansonsten stiegen sie sogar in den eigenen Reihen übereinan der, um zu den Drow-Eindringlingen zu gelangen. Halisstra beugte sich zu einer Seite und feuerte wieder, wäh rend sich Danifae mit der eigenen Armbrust in den Kampf einmischte. Quenthel tänzelte dicht hinter Jeggred hin und her und schlug mit ihrer tödlichen Peitsche nach den Mons tern, die versuchten, den Draegloth zu überwinden. Pharaun stieß ein arkanes Wort aus, das eine grelle Kugel aus knistern der Energie in die Gruppe der Minotauren schleuderte. Die Sphäre detonierte mit einem Donnerhall, gleißende Blitze schössen in hohem Bogen durch den Tunnel, die einige Mino tauren auf der Stelle zu Asche verbrannten und anderen große schwarze Brandwunden zufügten. Im sengenden Schein des Lichtblitzes machte Halisstra et was aus, das größer und schlanker war als die Minotauren, etwas, das sich hinter der vordersten Reihe aufhielt, eine dä monische Präsenz ... nein ... mehrere Dämonen, die die wüten den Kreaturen weiter vorantrieben. Gewaltige schwarze Flügel hüllten die Geschöpfe in Schatten, ihre dunklen Hörner glüh ten vor Hitze rot. Grollen und Bellen erfüllte den Gang, während das Dröh nen von Stahl auf Stahl so schnell und heftig kam, daß Ha lisstra sich kaum noch selbst hören konnte. »Da hinten sind Dämonen!« »Ich sehe sie«, erwiderte Quenthel. Sie wich ein paar Schritte zurück und packte Pharaun am Arm. »Könnt Ihr sie bannen?«
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»Ich habe keinen solchen Zauber bereit«, gab der Magier zurück. »Außerdem wird es uns nicht aus dieser kleinen Zwangslage retten, wenn ich uns von den Dämonen befreite. Ich denke ...« »Mich interessiert nicht, was Ihr denkt!« schrie QuentheL »Wenn Ihr die Dämonen nicht bannen könnt, dann versperrt ihnen den Weg!« Pharaun verzog das Gesicht, gehorchte aber und begann ei nen weiteren Zauber. Halisstra lud nach und suchte nach einer weiteren Gelegenheit, auf die Angreifer zu feuern. Ryld duckte sich und durchtrennte einem Minotaur die Kniesehnen, der ihn mit einer Axt angriff, die massiv genug war, um einen Amboß zu spalten, dann zog der Kämpfer sein Schwert nach oben und schlitzte den Bauch der Kreatur auf, ehe er sich ab rollte. Valas wurde von einer Kette getroffen, die ihm die Bei ne wegriß. Der Späher rollte sich ab und entging nur knapp dem Schlag seines Gegners, der ihm den Schädel zerschmettert hätte. Einer oder mehrere Dämonen hinter den anstürmenden Minotauren wirbelten den Drow ein Sperrfeuer aus grünen Feuerkugeln entgegen. Eine von ihnen löste sich auf, als sie mit Quenthels angeborener Widerstandskraft gegen Magie in Berührung kam, zwei andere bescherten Pharaun und Danifae ätzende Brandwunden. Dennoch gelang es dem Magier, seinen Zauber zu Ende zu führen. Etwas, das Halisstra für eine Art unsichtbare Barriere hielt, zwang die meisten Minotauren und ihre dämonischen Herren zum Rückzug, während einige Kämpfer in vorderster Front mit einem Mal von ihresgleichen abgeschnitten waren. Die An greifer versuchten, gegen Pharauns unsichtbare Mauer anzu rennen und sich mit grobschlächtigen, plumpen Waffen einen Weg zu schaffen, in der Zwischenzeit überwältigten die Drow
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jene Minotauren, die das Pech hatten, auf ihrer Seite in der Falle zu sitzen. Innerhalb weniger Augenblicke wurden die Schreie und der Kampfeslärm zu einem dumpfen schwachen Gebrüll der Mino tauren auf der anderen Seite der Barriere, die durcheinander rannten und den Drow mit ihren Waffen drohten. Plötzlich machten alle Minotauren kehrt und hasteten in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Ein Dutzend oder mehr massiger Kadaver wurden auf dem Steinboden zurückgelassen. Ryld wich zurück und half Valas auf. Jeggred stand keu chend da und blutete aus einem Dutzend kleiner Wunden. »Wie lange wird die Wand halten?« wollte Quenthel wis sen. »Im besten Fall eine Viertelstunde«, antwortete Pharaun. »Die Dämonen dürften sie durchdringen können, wenn sie es wollten. Aber ich vermute, sie führen die Minotauren durch andere Tunnel, damit sie uns von der anderen Seite her an greifen können. Darf ich vorschlagen, daß wir uns so schnell wie möglich von hier entfernen, ehe wir erfahren, wie sie es anstellen, das Hindernis zu umgehen?« Quenthel zog die Brauen zusammen, nahm ihr Gepäck und sagte: »Also gut, brechen wir auf.«
Wäre es seine Art gewesen, Sorge zu zeigen, indem er in sei nem Arbeitszimmer auf und ab gegangen wäre, dann hätte Gromph in der vergangenen Stunde nichts anderes gemacht als genau das. So aber starrte er in die große Kristallkugel, die im Mittelpunkt seines Ausspähzimmers ruhte und Pharauns Bericht bestätigte. Wie hatte der Meister Sorceres sich gleich noch ausgedrückt? Gratulation, mächtiger Gromph. Es dürfte Euch interessie
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ren, daß die Armee Gracklstughs gegen Menzoberranzan vor rückt. Wir folgen weiter unserem Weg. Viel Glück! »Arroganter Laffe«, murmelte Gromph. Der Junge hatte keinerlei Respekt vor Älteren. Ehe er panisch zu den Muttermatronen stürmte, hatte Gromph natürlich beschlossen, Pharauns Bericht zunächst einmal durch eigenes sorgfältiges Ausspähen und Betrachten nachzugehen. Die milchige Kugel enthüllte vor den Augen des Erzmagiers eine Szene, die eine lange Kolonne marschierender Duergar-Krieger zeigte, die sich den Weg durch das Unterreich bahnten. Riesige Packechsen trugen beträchtliche Vorräte sowie infernalische Kriegsmaschinen. Belagerungseinheiten wurden von langen Reihen von Oger-Sklaven gezogen. Es war schwierig gewesen, allein diesen Blick auf die vorrük kende Armee zu werfen, da Duergar-Magier alles unternah men, um die Bewegungen der Armee ihres Prinzen vor der Ausspähung durch feindliche Magier zu verbergen. Gromph war allerdings ein hervorragender Erkenntniszauberer und hatte zwar eine Weile gebraucht, es letztlich aber geschafft, die Abwehrmechanismen der Duergar-Magier zu durchdringen. Gromph studierte die Szene gründlich und hielt nach den kleinsten Details Ausschau – dem Emblem der marschierenden Soldaten, der exakten Größe und Beschaffenheit der Tunnel, die sie durchschritten, dem Rhythmus der zwergischen Marschgesänge. Er wollte ganz sicher sein, daß er das Ausmaß und die Unmittelbarkeit der Bedrohung kannte, ehe er den Rat darauf aufmerksam machte, weil er wußte, daß die Mut termatronen davon ausgingen, daß er die Antworten auf all ihre möglichen Fragen ausgespäht hatte. Die beunruhigendste Frage war natürlich, wie lange es wohl gedauert hätte, von der marschierenden Armee zu erfahren, wäre Pharaun nicht zufäl lig durch Gracklstugh gekommen. Die Duergar konnten die
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halbe Strecke zwischen den beiden Städten zurückgelegt ha ben, ehe ein Außenposten oder eine Patrouille auf sie aufmerk sam wurde, die weit von Menzoberranzan unterwegs war. »Verdammt«, grollte der Erzmagier. Egal ob Menzoberranzan bereit war oder nicht, die nächste Herausforderung an die Stadt sammelte sich gerade hundert fünfzig Kilometer im Süden in den rauchigen Gruben des Duergar-Reiches. Gromph seufzte und kam zu dem Schluß, daß er sich auch sofort der unerfreulichen Aufgabe stellen konnte, den Rat davon in Kenntnis zu setzen. Er erhob sich, strich sein Gewand glatt und griff nach seinem Lieblingsstab. Es würde ihm nicht gut zu Gesicht stehen, wenn er nicht völlig selbstsi cher vor die Muttermatronen trat, schon gar nicht, wenn es sich um so unangenehme Neuigkeiten handelte. Eben wollte er in den steinernen Schacht im hinteren Teil des Raums eintreten, um sich in seine Gemächer in Sorcere zu begeben, als er ein vertrautes, kribbelndes Gefühl verspürte. Jemand spähte ihn aus – eine bemerkenswerte Leistung, wenn man berücksichtigte, was er alles unternommen hatte, um etwas Derartiges zu verhindern. Gromph machte sich an einen Zauber, der die magische Ausspähung unterbrechen sollte, doch dann hielt er inne. Er war mit nichts befaßt, was er hätte verbergen wollen, und war neugierig, ob wohl ein DuergarMagier bemerkt hatte, daß Gromph sie ausgespäht hatte. »Gibt es etwas, das Ihr mir sagen wollt«, fragte er, »oder soll ich Euch dort, wo immer Ihr sitzt, blenden?« Spart Euch den Zauber, antwortete eine kalte, rauhe Stimme in seinem Kopf. Ich habe schon seit über tausend Jahren keine Augen mehr im Schädel, da bezweifle ich, daß Euer Zauber irgend welchen Schaden anrichten könnte. »Meister Dyrr«, sagte Gromph irritiert. »Welcher Ehre ver danke ich den Umstand Eurer Anwesenheit?«
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Und wie habt Ihr mich gefunden? fragte er sich, achtete a ber darauf, die Frage nicht laut auszusprechen. Ich will die Unterhaltung fortsetzen, die wir vor einigen Tagen begonnen haben, junger Gromph, erwiderte der Leichnam. Ich will auf mein ursprüngliches Angebot zurückkommen und Euch genauer beschreiben, was mir vorschwebt. Denn wenn ich Euch bitte, mir zu vertrauen, dann werde ich Euch schließlich erst ein Zeichen meines Vertrauens in Euch geben müssen. »Durchaus. Ich würde mich freuen, Euch zu Diensten zu sein, doch im Moment muß ich mich in einer wichtigen Ange legenheit zum Rat begeben. Vielleicht können wir das Ge spräch etwas später führen?« Gromph sah sich im Raum um und entdeckte die Kristall kugel im Erker der Kammer. In ihr wirbelte ein perlmuttgrünes Farbenspiel. Ach, natürlich, ging es dem Erzmagier durch den Kopf. Er konnte mich hier finden, wo meine Schutzmaßnahmen gegen feindliches Ausspähen am schwächsten sind, da ich selbst Transparenz zum Ausspähen benötige. Ich muß darüber nach denken, wie ich den Raum gegen solche Vorkommnisse schüt zen kann, ohne meine eigenen Möglichkeiten einzuschränken. Ich fürchte, ich muß jetzt mit Euch reden, drängte Dyrr. Ich werde Euch nicht lange aufhalten, und ich glaube, Ihr werdet froh sein, mir erst zugehört zu haben, ehe Ihr Euch den ränkeschmieden den Frauen stellt. Darf ich Euch aufsuchen? Gromph hielt inne und sah hinauf zu der unsichtbaren Prä senz, die ihn beobachtete, wobei er einen finsteren Blick un terdrücken mußte. Eine Kreatur wie Dyrr in seine eigenen Räumlichkeiten einzuladen war keine Sache, die er auf die leichte Schulter nahm. Ganz gleich, wie wichtig das sein mochte, was der alte Hexenmeister zu sagen hatte, so war es doch eine Tatsache, daß die Muttermatronen nicht erfreut
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darauf reagieren würden, wenn er sie warten ließ. Er trommelte mit den Fingern auf den Holzstab in seiner Hand und überleg te, was er tun sollte. Nach Möglichkeiten wollte er auch Dyrr nicht verärgern, und wer mochte schon sagen, worauf der Leichnam nach Jahrhunderten des Daseins als Untoter ärger lich reagieren würde. Abgesehen davon war Gromph in sei nem Arbeitszimmer, in dem er auf zahlreiche wirkungsvolle magische Verteidigungsmittel zurückgreifen konnte ... »Gut, Meister Dyrr. Allerdings muß ich darauf bestehen, daß wir uns kurz fassen, denn meine Angelegenheit beim Rat ist von höchster Dringlichkeit.« Die Luft ein Stück vor dem Erzmagier begann zu brodeln und zu vibrieren, und von einem plötzlichen Krachen und Knistern begleitet tauchte der alte tote Drow vor ihm auf. Die Kreatur stützte sich ebenfalls auf einen Stab, ein beeindru ckendes Gerät, das aus vier umeinander gewickelten Diamant spatstäben bestand, die an beiden Enden miteinander verbun den waren. Ein kleiner Schild aus schwarzem Metall in Form eines zu einem idiotischen Grinsen verzerrten Dämonenge sichts schwebte in Höhe seines Ellbogens in der Luft. Dyrr machte sich nicht die Mühe, sich als Lebender zu tarnen, son dern stand als gräßliches Skelett mit Augen so schwarz wie der Tod vor ihm. »Ich grüße Euch, Erzmagier. Entschuldigt, wenn ich ungele gen komme«, sagte der Leichnam und richtete seine leeren Augenhöhlen auf Gromph. »Was gibt es, daß Ihr so rasch eine Audienz bei den Matronen begehrt, junger Gromph?« »Bei allem nötigen Respekt, Meister Dyrr, glaube ich, daß diese Angelegenheit für ihre Ohren bestimmt sind, nicht für Eure. Welches Angebot wollt Ihr mir unterbreiten, das nicht warten kann?« »Wie Ihr wollt«, sagte Dyrr. »Aus dem Süden marschiert
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eine Armee auf Menzoberranzan zu – die Duergar haben offen bar von unseren Schwierigkeiten erfahren und entschieden, diese Gelegenheit zu nutzen, die sich ihnen derzeit bietet.« »Ich weiß«, gab Gromph schnippisch zurück. »Eben deshalb muß ich sofort aufbrechen. Wenn es sonst nichts mehr gibt ... ?« Er ging zu dem glatten Steinschacht hinüber, der hinunter in seine Gemächer führte. »Ich stelle fest, es gefällt mir, daß Euch meine Nachricht nicht überrascht«, sagte der Leichnam. »Hättet Ihr nichts von der Duergar-Armee gewußt, dann hätte ich sicherstellen müs sen, daß Ihr auch nichts davon erfahrt, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Dyrr drehte sich mit einem schier unerträglichen knirschenden und klickenden Geräusch aneinanderreihender Knochen zu Gromph um, der mit dem Rücken zu ihm stand. »Sicher erinnert Ihr Euch, daß wir vor ein paar Tagen über eine Zeit sprachen, wenn Ihr eine Entscheidung treffen müßt. Diese Zeit ist gekommen.« Gromph hielt in der Bewegung inne und drehte sich lang sam um. Er hatte gehofft, dies sei nicht das Motiv, weshalb der Leichnam mit ihm reden wollte, doch wie es schien, wollte Dyrr das Thema nicht auslassen, ob es dem Erzmagier gefiel oder nicht. »Eine Entscheidung?« »Tut nicht, als würdet Ihr mich nicht verstehen. Ich weiß, daß Ihr dafür zu intelligent seid. Ihr müßt nichts weiter tun, als Euren Bericht für ein paar Tage zurückzuhalten, dann könnt Ihr voller Panik zu den Muttermatronen eilen und ihnen von der Duergar-Armee berichten, die vor der Tür steht. Meinen Plänen wäre damit gedient, wenn Ihr es zu einer Zeit und auf eine Weise tätet, die ich Euch vorgebe.« »Das brächte die Stadt in große Gefahr«, wandte Gromph ein.
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»Sie ist bereits in Gefahr, Gromph. Meine Absicht ist es, eine gewisse Ordnung ins Unvermeidbare zu bringen. Ihr könntet mir in den kommenden Tagen eine große Hilfe sein oder ...« »Ich verstehe«, sagte Gromph. Er kniff die Augen zusammen und überdachte seine Alter nativen. Er konnte vortäuschen, das Angebot anzunehmen, und doch tun, was er wollte, doch damit würde er den Zorn Dyrrs auf sich lenken, der sich zu einer von ihm bestimmten Zeit an einem von ihm bestimmten Ort auf Gromph entladen würde. Er konnte sich auch weigern, was wohl auf der Stelle zu einem tödlichen Wettstreit führen würde, um zu sehen, wessen Wille obsiegen würde. Oder ich nehme sein Angebot an, dachte er. Wer kann schon sagen, daß es uns nicht gelingen wird, die gegen die Stadt gerichteten Kräfte so zu lenken, daß ein für uns nützli ches Chaos, ein wertvoller Fortschritt entsteht? Der Schaden wird sicherlich beträchtlich sein, doch das Menzoberranzan, das aus einem solchen Schmelztiegel aus Blut und Feuer her vorgehen würde, mochte eine bessere und stärkere Stadt wer den – eine Stadt befreit von der unerbittlichen Tyrannei durch sadistische Priesterinnen und statt dessen regiert von der küh len, leidenschaftslosen Intelligenz pragmatischer Magier. Jede Grausamkeit, jeder Exzeß würde einem vernünftigen Zweck dienen, um eine Stadt hervorzubringen, deren Energie nicht auf interne Streitigkeiten vergeudet wurde. Wäre es eine sol che Stadt nicht wert, ihr gegenüber loyal zu sein? Gäbe es in einer solchen Stadt Platz für einen Baenre? über legte er. Keine Revolution von den Dimensionen, wie Dyrr sie sich erträumte, konnte einen anderen Ausgang nehmen als die vollständige Auslöschung des Ersten Hauses Menzoberranzans.
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Auch wenn Gromph seine Schwester verabscheute und viele der einfältigen Verwandten haßte, die Burg Baenre bevölker ten, würde er doch verdammt sein, wenn er einem niederen Haus gestattete, seine Familie als höchste Macht in der Stadt vom Thron zu stoßen. Es konnte auf dieses Angebot nur eine Antwort geben. So schnell, wie der Gedanke benötigte, um sich zu formen, hob Gromph seine Hand und entfesselte eine verheerend grel le Farbexplosion, die er auf den Leichnam richtete – ein Zau ber, dessen Energie er mit solcher Sorgfalt und Anstrengung vorbereitet hatte, daß der kleinste Willensakt genügte, um ihn anzuwenden. Farben, die in der Düsternis der Höhlenstadt noch niemand gesehen hatte, bohrten sich durch seine Be schwörung. Jede von ihnen trug eine andere Form von Verderben, Zer störung oder Energie mit sich. Ein zuckender blauer Blitz aus Elektrizität schoß so dicht an Dyrr vorbei, daß die alten Ge wänder des Leichnams Funken sprühten, während ein greller, orangefarbener Strahl mit einer Säure verbrannte, die stark genug war, um Steine schmelzen zu lassen. Ein dritter Strahl von heimtückischem Violett wurde vom lebenden Schild der Kreatur abgewehrt. Das Ding kicherte wie ein gehässiges Kind, als der Angriff abgewehrt wurde. »Ich bin der Erzmagier Menzoberranzans«, brüllte Gromph. »Ich spiele für niemanden den Laufburschen!« Dyrr wich mit einem Wutschrei zurück, als die Säure um herspritzte und zu zischen begann, während sie an seinem alten Fleisch nagte. Der Gestank brennender Knochen verlieh der grandiosen Beschwörung einen widerwärtigen Beigeschmack. Gromph ließ seinem ersten Angriff einen zweiten folgen, in dem er einen Zauber beschwor, von dem er hoffte, er würde Dyrrs Zauber gegen ihn selbst umlenken. Der Erzmagier rech
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nete damit, daß jede Täuschung, jede Abwehr und jeder tod bringende Zauber notwendig sein würde, um etwas zu vernich ten, das so mächtig war wie Meister Dyrr. Gromph beendete seinen Umkehrzauber gerade noch recht zeitig, da sich Dyrr von der Attacke unglaublich schnell erhol te und mit einem unheilbringenden schwarzen Strahl aus ver heerender Energie reagierte, die große Teile der Lebenskraft des Erzmagus weggerissen hätte, wäre sie an ihr Ziel gelangt. Statt dessen prallte der schwarze Strahl von Gromphs Schild ab und traf Dyrr mitten in den Rumpf. Das zog eine unvorher sehbare Reaktion nach sich. Denn anstatt die Lebensenergie des alten Leichnams zu zerreißen, erfüllte die knisternde schwarze Energie den Herrn Agrach Dyrrs mit ihrer entsetzli chen Energie, woraufhin der Leichnam auflachte. »Ein guter Zug, Gromph, aber hier fehl am Platz, fürchte ich. Lebewesen werden von diesem Zauber schwer in Mitlei denschaft gezogen, doch die Untoten werden durch ihn mit neuer Kraft erfüllt.« Der Erzmagier fluchte leise und schlug wieder zu, diesmal mit einem grünen Strahl, der ein absolut rundes Loch in Dyrrs Brustbein bohrte und untotes Fleisch und Knochen zu Staub werden ließ. Der Leichnam kreischte vor Schmerz und machte einen Satz zur Seite, ehe Gromph ihn völlig vernichten konn te. Noch während der Erzmagier den nächsten Zauber wirkte, zischte Dyrr die Worte für einen finsteren, mörderischen Zau ber, der sich brutal an Gromphs Fleisch festkrallte, mit Tau senden schmerzender Nadeln an seinen Körpersäften sog und seine Haut bleich werden ließ. Gromph keuchte schmerzerfüllt auf, vertat den Zauber, den er eben hatte wirken wollen, tau melte nach hinten, fiel über eine Marmorbank und stürzte schwer.
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Verdammt, dachte er. Ich brauche einen Moment, um mich zu erholen. Zum Glück befand er sich in seinem eigenen Arbeitszimmer und hatte ein Dutzend Waffen griffbereit, die er einsetzen konnte. Gromph rollte sich auf die Ellbogen und schrie: »Szashune! Vernichte ihn!« In einem Alkoven des Raums erwachte die Statue eines großen, vierarmigen Schwertkämpfers aus perfektem schwar zem Obsidian zum Leben. Wie ein lebendiger Krieger trat sie in den Raum und griff mit ihren schwarzen Klingen an. Dyrr wich einige Schritte zurück, dann sprach er ein einzel nes Wort. Der Leichnam stieg auf und entzog sich damit dem Zugriff des Golems aus Spinnenstein. Gromph nutzte diese Ablenkung, um den zerstörerischsten Zauber zu wirken, den er kannte, und ihn dem schwebenden Leichnam entgegenzu schleudern. Von seinen ausgestreckten Händen schossen acht strahlende Kugeln aus blendendweißer Energie nach vorn und fraßen sich durch die untote Gestalt des Leichnams, wobei jede von ihnen mit einer Heftigkeit explodierte, die Stein erschüttern ließ und klaffende Löcher in den Untoten riß. Die explodierenden Meteore richteten in Gromphs Arbeitszimmer erheblichen Schaden an, zertrümmerten alte Bücherregale und rissen dem Spinnenstein-Golem einen Arm ab, als handele es sich um ein Spielzeug, das von einem ungezogenen Kind be schädigt wurde. Gromph jubelte triumphierend, als etliche Stücke Dyrrs auf dem Boden aufschlugen. Staub stieg von der schwebenden Gestalt des Leichnams auf, und sein Schädel nickte in Richtung des Brustbeins, als versage ihm die Magie, die ihn mit Leben erfüllt hatte, ihren Dienst. Doch die knochige Kreatur kehrte mit erschreckender Schnelligkeit zu ihrem alten Selbst zurück. Dyrr sah auf, in
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seinen Augenhöhlen strahlte ein gefährliches grünes Licht, und der Leichnam begann zu lachen. »Meine alten Knochen sind nicht alles, was mich aus macht«, röchelte er. »Was Ihr ihnen antut, zeigt kaum Wir kung.« Er setzte zu einem weiteren Zauber an, doch der Erzmagier schlug abermals zu, darum bemüht, sämtliche Zauber und Be schwörungen aufzuheben, die den Leichnam schützten. Dyrrs Flugzauber versagte, und so sank der Leichnam in Reichweite der Klingen, die die lebende Statue am Boden in den Händen hielt. Der Golem eilte vor und hieb mit seinen drei verbliebenen Armen auf den Leichnam ein, wobei sein glänzendes Gesicht keine Regung zeigte. Die Beschwörung wurde vom gewaltigen Aufprall der Treffer erschüttert. Gromph bleckte die Zähne zu einem gehässigen Grinsen. »Mag sein, daß Ihr nicht an Euren verwesenden Leib ge bunden seid, Leichnam, aber es wird Euch schwerfallen, einen Zauber zu wirken, wenn Ihr zerstückelt und an einem Dutzend verschiedener Stellen beerdigt seid«, rief er. »Es war dumm von Euch, mich hier herauszufordern!« Gromph kam näher und suchte nach einer Lücke, um mit dem nächsten Zauber zuschlagen zu können. Dyrr nahm zwei, dann drei gewaltige Treffer der hoch aufra genden Statue hin und schwankte bei jedem Schritt, wenn weitere Knochen barsten und splitterten. Der dämonengesich tige Schild schoß um ihn herum, lachte schrill und wehrte einen Schlag des steinernen Konstrukts nach dem anderen ab. Der Hexenmeister trat einen Schritte zurück, um das Gleich gewicht wiederzufinden, dann breitete er die Arme aus. Seine glänzenden schwarzen Gewänder schimmerten kurz, dann explodierten sie zu einem Sägeblatt aus rasiermesserscharfen
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Klingen, die sich in alle Richtungen bewegten, ganze Stein brocken aus Gromphs Golem rissen und sich unerbittlich durch Tische, Möbelstücke und Bücher schnitten. Etliche Klingen durchdrangen auch die starken Abwehr zauber des Erzmagiers und verwundeten ihn an Dutzenden von Stellen, ohne ihn aber tödlich zu verletzen. Gromph warf sich auf den Boden, um der Scheibe aus umherwirbelnden Klingen auszuweichen. Er kniff die Augen zusammen, um das Blut zu verdrängen, das sich in ihnen sammelte, und sah mit an, wie sein Golem zu einem nutzlosen Haufen aus schwarzem Stein zerfiel. Dyrr schrie triumphierend und machte einen Satz auf den Erzmagier zu, während er erschreckend schnell und mühelos mit seinem Stab aus Diamantspat nach ihm ausholte. Gromph tat einen überraschten Ausruf und rollte sich ab, um dem mit beiden Händen geführten Schlag zu entgehen, der den Mar mor an der Stelle spaltete, an der er eben noch gelegen hatte. »Das ist kein Verhalten für Magier von Rang!« rief Gromph und sprang auf. Dyrr reagierte nicht auf diese Bemerkung, sondern verfolgte den Erzmagier weiter und räumte mit ausholenden Schlägen Tische und Regale leer. Gromph rief einen Zauber, der dem Leichnam die Waffe mit solcher Wucht aus der Hand riß und durch den Raum schleuderte, daß sie sich wie ein von einem Giganten geworfe nen Speer ins Mauerwerk bohrte. Während Dyrr um sein Gleichgewicht rang, nahm sich Gromph einen Augenblick Zeit, um einen mächtigen Abwehr zauber zu wirken, eine schimmernde Kugel, die die Wirkung fast aller Zauber aufheben konnte, ausgenommen lediglich die Mächtigsten. So gewappnet, ging er rasch im Geist die ver schiedenen Beschwörungen durch, um nach denen zu suchen,
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die am besten gegen den Herrn von Agrach Dyrr wirken wür den. »Ah«, meinte Dyrr nur, als er die leuchtende Kugel sah. »Eine exzellente Verteidigung, Gromph, aber leider nicht gegen mich.« Der Leichnam murmelte etwas, das von gewaltiger Macht war, dann bewegte er sich vorwärts, die Skelettklauen vor sich ausgestreckt. Offenbar ohne jegliche Sorge vor Gromphs Ab wehrzauber schob der Leichnam seine Hand in den tanzenden Farbglobus und bekam den Erzmagier am Arm zu fassen. Der schrie auf, als er von der Gewalt des Zaubers getroffen wurde, den der Leichnam gewirkt hatte und der die schützende Kugel in erlöschende Lichtfunken verwandelte. Jeder Muskel wurde im gleichen Moment absolut unbeweglich. »Gromph, Ihr seid umschlossen«, verkündete Dyrr, dessen blanke Zähne sich leuchtend von der absoluten und entsetzli chen Schwärze des Schädels abhoben. Dem Erzmagier war ein langer Blick auf den siegreichen Leichnam vergönnt, der über ihm thronte, dann begann er zu fallen. Gromph konnte sich nicht regen und sank im nächsten Moment durch den Boden, um dann durch die flackernden Räume Sorceres zu fallen, bis er in den klaffenden schwarzen Fels eindrang, der sich unter dem Turm, unter der Stadt, unter der ganzen Welt befand. Einen entsetzlichen Augenblick lang hatte Gromph das Gefühl, sich am Grund eines gewaltigen Brunnens zu befinden und unzählige Kilometer über sich die stecknadelgroße Gestalt seiner Nemesis zu sehen. Dann stürzte die Finsternis auf ihn ein und erstickte ihn in ihrer Umarmung.
In der Kammer des Erzmagiers in Sorcere stand der Leichnam
Dyrr und sah hinab auf die Stelle des Bodens, an der er
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Gromph Baenre verdammt hatte. Wäre Dyrr ein lebender Magier gewesen, hätte er jetzt vielleicht um Atem gerungen, vor Erschöpfung am ganzen Leib gezittert oder wäre angesichts der tödlichen Wunden, die er in dem gnadenlosen Duell erlit ten hätte, vielleicht sogar zu Boden gegangen. Doch die schwarze Magie, die seine untoten Sehnen und Knochen band, wies keine der Schwächen auf, von denen Sterbliche betroffen waren. »Verharrt dort eine Weile, Gromph«, sagte er in die Leere. »Vielleicht habe ich noch mal Verwendung für Euch, in ein oder zwei Jahrhunderten.« Mit einer knappen Geste löste er sich dann in Nichts auf.
Der Lärm gewaltiger Donnerschläge hallte durch die in den schwarzen Stein gehauenen Gänge. Es war ein so tiefes, durch dringendes Poltern, daß Halisstra es mehr zu spüren als zu hören glaubte. Sie kauerte im Schatten eines großen steiner nen Bogens und riskierte einen raschen Blick in die weitläufige Höhle. Am anderen Ende, ein Stück unterhalb der DrowGruppe, erhob sich eine Gruppe wuchtiger Monster und such te Deckung, während viele mehr inmitten des Gerölls und der Felsblöcke lagen, in die der untere Teil der Höhle verwandelt worden war. »Das hat den Ansturm gestoppt«, rief Halisstra ihren Ge fährten zu. »Aber sie formieren sich neu.« »Unerschrockene Bastarde«, meinte Pharaun. Der Magier hatte hinter einer gewaltigen Steinsäule Schutz gesucht und wirkte erschöpft. Im Verlauf der letzten einein halb Tage hatte die Gruppe im endlosen Gewirr der Korridore im Labyrinth mindestens fünfzig Kilometer zurückgelegt und war an jeder neuen Abzweigung von scheinbar nicht enden
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wollenden Horden von Minotauren und Dämonen bestürmt worden. Bei zwei Angriffen waren die Drow nur knapp den teuflischen Anstrengungen ihrer Widersacher entkommen, den jeweiligen Tunnel zu versiegeln, durch den sie die Flucht angetreten hatten. »Solche Zauber habe ich nur noch wenige in Reserve«, er klärte Pharaun. »Wir müssen eine Stelle finden, an der ich ruhen und neue Zauber vorbereiten kann.« »Ihr werdet Euch ausruhen, wenn wir alle das tun, Magier«, knurrte Quenthel. Die Baenre und ihre Peitsche waren blut überströmt, und ihre Rüstung wies mehr als eine häßliche Beule auf, an der ein tödlicher Schlag mit letzter Kraft abge wehrt worden war. »Wir sind den Jaelre so nahe. Wir müssen uns in ihrer Nähe befinden. Laßt uns weiterziehen, ehe die Minotauren den nächsten Angriff organisiert haben.« Die anderen Drow tauschten flüchtige Blicke aus, erhoben sich dann aber doch und folgten Quenthel und Valas Hune in den nächsten Gang. Der erstreckte sich über eine Länge von gut vierhundert Schritten, ehe er in eine weitere große Höhle überging. Die war geprägt von hohen, geriffelten Säulen, und der Boden war mit exakt gefügten Steinfliesen gepflastert wor den. Elegant geschwungene Treppen führten an den Höhlen wänden nach oben, bis sie auf lange, geschützte Galerien tra fen, die von einem schwachen Feenfeuer beleuchtet wurden, in dessen Schein Räume erkennbar waren, die an einstige Werkstätten, Handelshäuser oder einfach nur bescheidene Unterkünfte erinnerten. »Schon wieder die Arbeit von Drow«, stellte Ryld fest, »und abermals verlassen. Bist du sicher, daß wir hier richtig sind?« Der Späher nickte. Seine rechte Hand bedeckte eine ober flächliche, aber stark blutende Wunde an seiner linken Schul ter.
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»Ich war schon einmal hier«, erwiderte er. »Das sind Ge bäude der Jaelre. Dort oben lebten mehrere Waffenschmiede, und an der Wand da drüben gab es ein Gasthaus, in dem ich selbst schon übernachtete. Der Palast der Jaelre-Adligen liegt am Ende dieses Gangs dort drüben.« Quenthel eilte eine kurze, geschwungene Treppe hinauf und sah in ein Geschäft, dessen Fenster dunkel und leer waren. Sie fluchte und ging an einer Reihe weiterer Läden vorbei, ehe sie zu den anderen zurückkehrte. »Wenn das hier Häuser der Jaelre sind, wo bei allen Höllen sind dann die Jaelre?« fragte sie laut. »Haben diese verfluchten Minotauren sie alle getötet?« »Das bezweifle ich«, sagte Halisstra. »Hier wurde kein Kampf ausgetragen, sonst würden wir dafür Hinweise finden. Selbst wenn die Minotauren alle Leichen weggeschafft hätten, gäbe es Brandstellen, zerborstene Fliesen, die Überreste ir gendwelcher Waffen. Ich glaube, die Jaelre haben diesen Ort verlassen.« »Wie lange ist es her, daß du zum letzten Mal hier warst, Valas?« fragte Ryld. »Fast fünfzig Jahre«, antwortete der Späher. »Also nicht sehr lange. Die Jaelre lieferten sich schon damals immer wieder kleine Kämpfe mit den Minotauren, aber die Höhlen waren durch stoffliche und magische Verteidigungsmaßnahmen gesi chert.« Er sah sich aufmerksam um. »Laßt mich ein Stück vorgehen, vielleicht kann ich im Palast etwas finden, das Licht in dieses Geheimnis bringt.« »Sollen wir alle gehen?« überlegte Ryld. »Besser nicht. Es gibt nur einen Eingang zum Palast, und wenn die Minotauren in großer Zahl zurückkehren, könnten wir in der Falle sitzen. Bleibt draußen, damit ihr fliehen könnt. Ich bin gleich zurück.«
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Der Späher tauchte in die Finsternis ein und ließ die Grup pe in der leeren Höhle zurück. »Ich glaube, ich muß Herrin Melarn zustimmen«, sagte Ryld. »Es sieht wirklich so aus, als hätten die Jaelre alles zu sammengepackt und seien aufgebrochen.« »Dann haben wir uns umsonst angestrengt«, stellte Pharaun fest. »Ich glaube, es gibt nichts, was so enttäuschend ist wie vergebliche Mühen.« Die Gruppe stand einen Moment lang schweigend da, jeder ging seinen Gedanken nach. Halisstra war so erschöpft, daß es wehtat, und ihre Beine zit terten wie Espenlaub. Sie hatte es zwar gescharrt, jeglicher schwerer Verletzung zu entgehen, doch im Verlauf der letzten Stunden hatte sie fast sämtliche magischen Vorräte aufge braucht, als sie ihre Bae’qeshel-Lieder eingesetzt hatte, um die angreifenden Horden zu verwirren, ihre Gefährten zu stärken und die schlimmsten Wunden zu heilen. Jeggred, der die Nachhut der Gruppe bildete und sich am Eingang zu dem Tunnel befand, der zurück in die vorherige Höhle führte, brach das herrschende Schweigen. »Wenn Valas nicht bald zurückkehrt, werden wir wieder kämpfen müssen«, sagte der Draegloth. »Ich kann die Mino tauren nicht mehr hören, was bedeuten dürfte, daß sie sich um uns herum bewegen, um uns aus einer anderen Richtung an zugreifen.« »Ich denke, wir haben ihnen klargemacht, daß sie uns nicht durch lange, gerade Tunnel angreifen sollten«, stellte Ryld fest und sah sich mit kenntnisreichem Blick die Jaelre-Höhle an. »Es wäre am besten, wenn wir uns nicht ungeschützt von ih nen überraschen lassen. Sie könnten uns durch schiere zah lenmäßige Überlegenheit überwältigen.« »Was, wenn das eine Sackgasse ist?« flüsterte Danifae.
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»Unmöglich«, sagte Quenthel. »Irgendwo in diesen Höhlen werden wir eine Erklärung finden, wohin die Jaelre geflohen sind, und ihnen dann folgen. Ich bin zu weit gereist, um mit leeren Händen nach Menzoberranzan zurückzukehren.« »Das ist ja alles schön und gut«, warf Pharaun ein. »Ich se he mich allerdings gezwungen, darauf hinzuweisen, daß wir gänzlich erschöpft sind und fast unsere gesamte magische Kraft aufgebraucht haben. Durch diese Höhlen und Gänge zu irren, bis uns die Minotauren in eine Falle locken und töten, ist pure Dummheit. Warum verstecken wir uns nicht im Heim eines Handwerkers wie zum Beispiel dort oben auf der Galerie und ruhen uns aus, bis wir uns in der Lage fühlen, weiterzuziehen? Ich glaube, ich kann unser Versteck vor unseren Verfolgern tarnen.« Quenthels Augen blitzten wütend, als sie erwiderte: »Wir werden ausruhen, wenn ich das sage. Bis dahin ziehen wir weiter.« »Ich glaube, Ihr versteht nicht, was ich zu sagen versuche«, konterte Pharaun abgehackt und stand auf. »Ich glaube, Ihr versteht nicht, was ich Euch befehle!« herrschte Quenthel ihn an. Sie wirbelte herum und kam nä her, während die Schlangen an ihrer Peitsche sich aufgeregt wanden. »Ihr werdet endlich aufhören, unablässig meine Ent scheidungen in Frage zu stellen.« »Das werde ich, sobald Ihr anfangt, intelligente Entscheidun gen zu treffen«, gab Pharaun, dessen Gelassenheit mit einem Mal deutliche Risse zeigte, zurück. »Nun hört mir gut zu ...« Jeggred sprang knurrend auf, umfaßte die Oberarme des Ma giers mit seinen riesigen Klauen und zerrte ihn von Quenthel fort, während er ihn gleichzeitig zu Boden zog. »Zeigt Respekt!« fuhr der Draegloth ihn an. »Vor Euch steht die Hohepriesterin Quenthel Baenre, Herrin Arach
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Tiniliths, Meisterin der Akademie, Herrin Tier Breches, Erste Schwester des Hauses Baenre von Menzoberranzan ... ungehor samer Hund!« Pharauns Augen blitzten, als er aufsprang. Jeglicher Humor war verschwunden und kaltem, allumfassenden Haß gewichen. »Faß mich nie wieder an!« zischte er. Seine Hände nahmen eine Haltung ein, die zeigte, daß er bereit war, schreckliche Zauber gegen Jeggred zu schleudern. Der kauerte sprungbereit vor ihm. Quenthel veränderte den Griff um ihre Peitsche und kam näher, während die Schlangenköpfe nach vorn schossen und zuschnappten, aber nur Luft zu fassen bekamen. Ryld legte eine Hand um Splitters Heft und beobachtete die drei. Sein Ge sicht war reglos wie ein Maske und verriet nicht, was in seinem Kopf vorging. »Das ist Wahnsinn«, sagte Halisstra, die ein Stück zurück wich und die Armbrust auf den Boden gerichtet hielt. »Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir hier lebend herauskom men wollen!« Quenthel öffnete den Mund, um etwas zu sagen, womöglich um Jeggred den Befehl zu geben, ohne Rücksicht auf die Fol gen Pharaun anzugreifen. In dem Augenblick jedoch kam Valas zu der Gruppe zurück. Der Späher blieb stehen und er faßte mit einem Blick die Lage. »Was ist hier los?« fragte er. Als niemand antwortete, sah der Mann von Bregan D’aerthe einen nach dem anderen an. »Es ist nicht zu fassen. Habt Ihr in den letzten Stunden noch nicht genug gekämpft? Wie könnt Ihr nur auf den Ge danken kommen, Euch mit dem letzten Rest an Kraft, Magie und Blut gegenseitig abzuschlachten, nachdem wir schon die Hälfte des Weges durch das Labyrinth nichts anderes getan
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haben als zu kämpfen?« »Wir sind nicht in der Stimmung, uns Vorhaltungen ma chen zu lassen«, entgegnete Quenthel. »Schweigt.« Ihr Blick ruhte auf Pharaun, als sie die Peitsche wieder in den Gürtel schob. »Es führt zu nichts, wenn wir uns gegenseitig bekämp fen.« »Stimmt«, gab Pharaun die wohl knappste Antwort, die Ha-lisstra von ihm je gehört hatte. Eine unerwartete Disziplin erfüllte den Magier, der seine Wut unter Kontrolle brachte und sich entspannte. »Allerdings werde ich mich von Euch nicht länger wie ein dahergelaufener Goblin behandeln lassen. Das werde ich nicht dulden.« »Ich werde mich von euch meinerseits nicht bei jedem Schritt verhöhnen und verspotten lassen«, gab Quenthel zu rück und wandte sich Valas zu. »Meister Hune, habt Ihr im Palast etwas entdecken können?« Der Späher sah wie Halisstra und Danifae nervös zu Quenthel und Pharaun. »Ja«, antwortete er. »Im großen Saal des Palastes befindet sich ein Portal. Wenn ich die Zeichen nicht falsch gedeutet habe, wurde es von einer großen Zahl Personen benutzt, so daß zu vermuten ist, daß das Haus Jaelre sich nun in irgend einem neuen Reich auf der anderen Seite dieses Portals be findet.« »Wohin führt das Portal?« fragte Ryld. Valas zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, aber es gibt eine Methode, es herauszufinden.« »Gut«, erklärte Quenthel. »Wir werden Euer Portal testen, ehe die Minotauren und ihre Dämonen zurückkehren. In we nigen Minuten wird jeder Ort besser sein als dieser hier.« Sie ließ ihren Blick lange auf Pharaun ruhen, der schließ lich so vernünftig war, in eine andere Richtung zu sehen, was
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einer Verbeugung gleichkam. Halisstra atmete aus, obwohl ihr nicht bewußt gewesen war, daß sie den Atem angehalten hatte.
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»Das hätte ich jetzt nicht erwartet«, bemerkte Pharaun. Der Magier seufzte und setzte sich auf einen Felsen, wäh rend er sein Gepäck auf den mit Moos bewachsenen Boden fallen ließ. Die Gruppe stand an der Öffnung einer niedrigen Höhle, von der aus sie einen Wald an der Oberfläche überbli cken konnten, der in helles Tageslicht getaucht war. Das Por tal der Jaelre lag einige hundert Schritt hinter ihnen in einer feuchten, gewundenen Höhle, die zu einem großen, steil abfal lenden Schlundloch mit von Flechten überzogenen Findlingen und Rinnsalen aus kaltem Wasser, das vom Hügel darüber herablief, führte. Der Himmel war wolkenverhangen, und es regnete leicht. Die geschlossene Wolkendecke und die leichte Düsternis des Waldes trugen maßgeblich dazu bei, die unerträglich grelle
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Sonne abzuschwächen. Es war hier nicht so gleißend hell wie vor Zehntagen in der wolkenlosen Wüste Anauroch, doch für Augen, die seit Ewigkeiten an die völlige Lichtlosigkeit im Unterreich gewohnt waren, war der trübe Schein immer noch so grell wie ein Blitz, der die Nacht erhellte. »Sollten wir weiterziehen?« fragte Ryld, der zwar Splitter in die Scheide zurückgesteckt hatte, die er sich auf den Rücken gebunden hatte, aber dennoch die Armbrust im Anschlag hielt und mit zusammengekniffenen Augen in das Grün der weit aufragenden Bäume spähte. »Die Minotauren werden nicht lange brauchen, um herauszufinden, wo wir sind.« »Es ist egal, ob sie dahinterkommen«, erwiderte Pharaun. »Das Portal war so eingerichtet, daß es nur von Drow benutzt werden kann. Unsere Freunde im Labyrinth werden nur eine nackte Steinwand vorfinden – eine sinnvolle Vorsichtsmaß nahme von Seiten der Jaelre. An ihrer Stelle hätte ich aller dings wohl nicht ausgeschlossen, auch von meinesgleichen angegriffen zu werden.« »Seid Ihr da sicher?« fragte Quenthel. Pharaun nickte. »Ich habe mir das Portal aufmerksam ange sehen, ehe wir es durchschritten. Blindlings durch Portale zu springen ist eine schlechte Angewohnheit, die man sich nur für die gravierendsten Situationen vorbehalten sollte, bei spielsweise für die lebensrettende Flucht aus einer Stadt, die im Begriff ist, zerstört zu werden, und bevor sich jemand die Mühe macht zu fragen – ja, wir können den gleichen Weg zurückge hen. Das Portal arbeitet in beide Richtungen.« »Ich habe es nicht eilig, in das Labyrinth zurückzukehren. Lieber die sonnenbeschienene Oberfläche als das«, murmelte Halisstra. Sie schritt bedächtig über den Grund des Schlundlochs und betrachtete den Wald über ihnen. Die Luft war kühl, und sie
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sah, daß die Bäume in unmittelbarer Nähe überwiegend Na delbäume waren, die – wenn sie sich recht erinnerte – in der Winterzeit nicht ihr Laub abwarfen. Ein Stück weiter standen einige kahle Bäume, die zu einer anderen Art gehörten, Bäume mit schmalen weißen Stämmen und nur noch einer Handvoll verschrumpelter rotbrauner Blätter in der Krone. Tot? überleg te sie. Oder einfach während des Winters kahl? Sie hatte vieles über die Welt an der Oberfläche gelesen, über die Bewohner, die grünen Pflanzen und die Tiere, die wechselnden Jahreszei ten, doch es war ein gewaltiger Unterschied, ob man über etwas las oder es aus erster Hand erfuhr. »Wo sind wir?« fragte Quenthel. Valas betrachtete die Bäume, und nach einiger Zeit kniff er die Augen zusammen, um zu den schwach leuchtenden Wol ken zu blicken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Dann drehte er sich langsam im Kreis, um sich die Hügellandschaft ringsum anzusehen, schließlich kniete er sich hin und betaste te das weiche grüne Moos auf den Steinen am Höhleneingang. »Nordfaerûn«, sagte er. »Es ist Winteranfang, so wie es sein sollte. Man kann die Sonne nicht gut genug sehen, um ihre Position am Himmel zu bestimmen, aber ich kann sie so gut spüren wie wohl jeder von uns. Wir befinden uns in etwa auf dem gleichen Breitengrad wie die Länder über Menzoberran zan – wohl höchstens einige hundert Meilen nördlich oder südlich davon.« »Also irgendwo im Hochwald?« fragte Danifae. »Möglicherweise ja. Ich bin nicht sicher, ob die Bäume so aussehen, wie sie sollten. Ich bin durch die Länder an der Oberfläche gewandert, die sich in der Nähe unserer Stadt befinden. Das Laub sieht anders aus als das, was ich aus dem Hochwald in Erinnerung habe. Wir könnten weit von Menzo berranzan weg sein.«
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»Großartig«, murmelte Pharaun. »Wir reisen durchs Unter reich nach Ched Nasad, müssen ein Portal durchschreiten, das uns Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt an die Oberfläche verschlägt, dann reisen wir durch Schatten und Gefahr zurück ins Unterreich, benutzen ein zweites Portal und landen wieder an der Oberfläche, möglicherweise noch weiter weg von zu Hause. Da stellt sich doch die Frage, ob wir nicht einfach von Hlaungadath hierher hätten reisen können, ohne den Umweg über die Schattenebene zu machen, ohne die Gastfreundschaft Gracklstughs in Anspruch zu nehmen und ohne einen reizenden Spaziergang durch ein von Minotauren bevölkertes Labyrinth zu unternehmen.« »Deine Laune muß sich gebessert haben, Pharaun«, stellte Ryld fest. »Du hast zu deinem Sarkasmus zurückgefunden.« »Eine schärfere Waffe als Splitter, mein Freund, und genau so verheerend, wenn sie richtig eingesetzt wird«, sagte der Magier. Er strich sich über den Oberkörper und zuckte zusam men. »Ich bin halbtot. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, wollte mich eine stierköpfige Gestalt mit einer Axt in zwei Teile schlagen oder mich durchbohren. Dürfte ich Euch um eines Eurer heilenden Lieder angehen, werte Dame?« fragte er Halisstra. »Heilt ihn nicht«, herrschte Quenthel sie an. Sie stand noch immer da, eine Hand auf den Oberkörper gedrückt. Blut lief zwischen den Fingern hindurch. »Niemand ist tödlich verletzt. Spart Eure Magie auf.« »Das ist genau die Art ...«, begann Pharaun, sah sie finster an und erhob sich. »Hört auf!« ging Halisstra dazwischen. »Ich habe all meine Gesänge aufgebraucht, also ist es völlig egal. Wenn ich meine magische Kraft wiedererlangt habe, werde ich jeden heilen, der es nötig hat, weil es dumm wäre, wenn wir uns in unserer Ver
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fassung noch weiterschleppen würden. Bis dahin werden wir uns alle auf eine gewöhnliche Heilung verlassen müssen. Dani fae, hilf mir, die Wunden zu verbinden.« Die Kriegsgefangene wandte sich Jeggred zu und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Sie nahm den Rucksack ab und begann, nach Verbandszeug und Salben zu suchen. Der Draegloth wi dersprach nicht, ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft er war. Halisstra sah sich die anderen an und entschied, daß der Magier von allen am dringendsten versorgt werden mußte. Nachdem sie ihn zurück auf den Findling gedrückt hatte, holte sie ihren eigenen Vorrat an Verbandszeug heraus. Sie betrach tete Pharauns Oberarm, wo Jeggreds Klauen sich durch das Fleisch geschnitten hatten, dann trug sie eine Salbe auf, die sie wie einige andere in Gracklstugh erworben hatte. »Das wird stechen«, sagte sie sanft. Pharaun stieß einen Fluch aus und machte einen Satz, als hätte man ihn mit einem Messer traktiert, während er vor Schmerz aufschrie. »Das habt Ihr absichtlich getan!« sagte er. »Natürlich«, erwiderte Halisstra. Während sie und Danifae die anderen versorgten, klomm Valas einen schmalen Weg hinauf, der an der Wand des Schlundlochs verborgen war. Aufmerksam studierte er den Boden und blieb immer wieder stehen, um nachdenklich in den Wald zu blicken. Halisstra sah zu ihm auf und rief: »Habt Ihr etwas Interes santes gefunden, Meister Hune?« »Es gibt hier einen Pfad, der hinauf zum Höhleneingang führt«, erwiderte der Mann von Bregan D’aerthe. »Aber ich kann nicht sagen, wohin die Jaelre gegangen sind. Es führen mehrere Trampelpfade von hier weg, doch keiner von ihnen
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scheint von einer größeren Zahl Wanderer benutzt worden zu sein.« »Im Jaelre-Palast im Labyrinth sagtet Ihr, Ihr hättet deutli che Zeichen dafür entdeckt, daß sie das Portal benutzt haben. Wie kann es dann auf dieser Seite keine geben?« wollte Quenthel wissen. »Der Staub und Schmutz im Unterreich kann Spuren, die zeigen, daß jemand einen bestimmten Weg genommen hat, viele Jahre lang konservieren, doch an der Oberfläche ist das nicht so einfach. Es regnet, es schneit, Pflanzen wachsen schnell genug, um Pfade zu überwuchern, die seit einiger Zeit nicht mehr benutzt wurden. Wären die Jaelre in den letzten ein oder zwei Zehntagen in großer Zahl hier entlanggegangen, könnte ich wohl noch Hinweise darauf entdecken. Wenn sie aber vor fünf oder zehn Jahren hier waren, dann gibt es keine Zeichen mehr zu lesen.« »Sie werden sich nicht weit an der Oberfläche bewegt ha ben«, überlegte Quenthel. »Sie können nicht weit gekommen sein.« »Vermutlich ist das richtig«, erwiderte Halisstra. »Die Jaelre dürften zweifellos vorgezogen haben, bei Nacht zu wandern und am Tag unter den Bäumen Schutz zu suchen. Wenn es sich um einen sehr großen Wald wie den Hochwald oder Cor manthor handelt, dann könnten sie einige hundert Kilometer entfernt sein.« »Welch aufmunternder Gedanke«, murmelte Pharaun. »Was um alles in der Welt hat die Jaelre überhaupt hier her aufgeführt? Haben sie nicht die Möglichkeit in Erwägung gezo gen, daß die Oberflächenbewohner sie genauso bereitwillig abschlachten könnten wie die Minotauren?« »Als ich sie vor vielen Jahren besuchte, sprachen Tzirik und seine Gefährten von Zeit zu Zeit davon, eines Tages an die
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Oberfläche zurückzukehren«, sagte Valas. Er wandte sich vom Wald ab und sprang leichtfüßig zurück in die Höhlenöffnung. »Die Welt an der Oberfläche zurückzuerobern ist Teil der Doktrin des Maskierten Fürsten, und die Hauptmänner und die Herrscher des Hauses Jaelre fragten sich, ob der sogenannte Rückzug unserer lichtblinden Verwandten an der Oberfläche nicht womöglich eine Einladung war, die Länder zu beanspru chen, die von den dortigen Elfen aufgegeben wurden.« »Konnte Euch nicht in Ched Nasad einfallen, daß Eure ket zerischen Freunde ihrem Wunsch gefolgt sein und jenen finste ren, von Dämonen heimgesuchten Ort verlassen haben könn ten, den sie ihr Zuhause nannten?« fragte Quenthel. »Ist Euch nicht bewußt gewesen, daß Ihr uns in diesem Labyrinth in eine Sackgasse führen könntet?« Der Späher aus Bregan D’aerthe wich Quenthels Blick ner vös aus und erwiderte: »Ich sah keine bessere Alternative, Herrin. Jedenfalls nicht, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen wollen.« »Du bist so sehr darauf aus, das Rätsel zu lösen, warum die Spinnenkönigin schweigt, daß du einfach blind darauf ver traust, deinen Freund Tzirik noch im Labyrinth anzutreffen, obwohl du wußtest, daß sein Haus schon seit Jahren die Flucht plante?« fragte Ryld. »Wir sind in der Stadt der Duergar große Risiken eingegangen und haben viel Schmerz im Reich der Minotauren erduldet, nur damit du deine Neugier befriedigen konntest!« »Vielleicht hatten wir diesen Tzirik ohnehin nie finden sol len«, gab Quenthel zu bedenken. »Vielleicht hat Meister Hune uns über viele Zehntage hinweg von unserer Mission ab gehalten, und vielleicht geschah das nicht mal zufällig.« »Als wir über die Frage nachdachten, ob wir nach Menzo berranzan zurückkehren sollten«, warf Jeggred ein, »hat der
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Bregan D’aerthe darauf gedrängt, daß wir uns auf die Suche nach diesem Priester Tzirik machen – einem ketzerischen Priester, von dem außer Valas noch niemand etwas gehört hatte.« Der Draegloth kniff die Augen zusammen, stand auf und ballte die vier Hände zu Fäusten, während er Danifae aus dem Weg schob. »Nun wird alles klar. Unser Führer ist ein vhaeraunitischer Ketzer, der dem Maskierten Fürsten gut ge dient hat, indem er uns tagelang endlosen Gefahren ausgesetzt hat.« »Das ist lächerlich«, protestierte Valas. »Ich hätte wohl kaum die Bregan D’aerthe zur Verteidigung Menzoberranzans geführt, wenn ich ein Feind der Stadt wäre.« »Ja, aber das ist das klassische Täuschungsmanöver«, wand te Danifae ein. »Macht Eure Opfer mit dem Agenten vertraut, den Ihr zu ihrer Vernichtung ausgewählt habt, damit sie einen Grund bekommen, ihm zu trauen. In Eurem Fall wurde dieser Plan offenbar meisterhaft ausgeführt.« »Selbst wenn«, konterte Valas. »Warum habe ich Euch dann nicht an die Duergar ausgeliefert? Oder Euch den Mino tauren überlassen? Ich hätte Euren Tod arrangieren können, statt lediglich dafür zu sorgen, daß Ihr Eure Zeit vergeudet. Wäre ich Euer Feind, dann könntet Ihr sicher sein, daß ich exakt so vorgegangen wäre.« »Vielleicht wärst du selbst in Gefahr geraten, wenn du uns in Gracklstugh oder im Labyrinth hintergangen hättest«, über legte Pharaun. »Dennoch hast du einen wichtigen Punkt zu deiner Verteidigung vorgebracht.« »Nichts als die geschickten Lügen eines Verräters«, zischte Jeggred und sah zu Quenthel. »Gebt mir Euren Befehl. Soll ich ihm die Gliedmaßen ausreißen?« Valas legte die Hände auf die Hefte seiner Kukris und leckte sich die Lippen. Er war grau vor Angst, doch in seinen Augen
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funkelte der Zorn. Alle sahen Quenthel an, die noch immer gegen einen Findling gelehnt stand, die Peitsche reglos an der Taille. Sie sagte nichts, während der Regen sich seinen Weg durch das Blätterdach bahnte und in der Ferne Vögel sangen. »Ich werde mich für den Augenblick eines Urteils enthal ten«, sagte sie und betrachtete Valas. »Wenn Ihr loyal seid, dann brauchen wir Euch, um Tzirik zu finden – vorausgesetzt, dieser Vhaeraun-Priester existiert überhaupt –, aber Ihr wärt gut beraten, uns die Jaelre und ihren Hohepriester schnell zu präsentieren, Meister Hune.« »Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten«, erwiderte Valas. »Ihr könnt mich ebensogut sofort verdammen und Euch auf die Reaktion Bregan D’aerthes gefaßt machen.« Quenthel warf Jeggred einen kurzen Blick zu, woraufhin der Draegloth lächelte. Seine nadelgleichen Fangzähne leuchteten in seinem dunklen Gesicht. Halisstra wußte nicht, was sie von alldem halten sollte. Sie hatte den Späher vor etwas mehr als einem Zehntag kennen gelernt, daher wußte sie nichts darüber, was sich in Menzober ranzan abgespielt hatte, ehe sich die Menzoberranzanyr auf den Weg nach Ched Nasad gemacht hatten. Ihr war aber klar, daß sie alle es noch bedauern sollten, wenn Quenthel Valas töten ließ und sich anschließend herausstellte, daß seine Dienste weiter benötigt wurden oder daß seine mächtige Söldnergilde sich für den Tod ihres Spähers rächen würde. »Was wäre die beste Methode, von hier aus den Aufent haltsort der Jaelre ausfindig zu machen?« fragte Halisstra, die hoffte, so die Unterhaltung in eine ungefährlichere Richtung zu lenken. Valas zögerte, dann sagte er: »Wie Herrin Quenthel schon sagte, sie sind wohl kaum allzuweit gekommen. Wir können in einem sich ausdehnenden Spiralmuster suchen, bis wir aufbes
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sere Informationen stoßen.« »Ein Plan, der ermüdend und langwierig klingt«, warf Pha raun ein. »Ziellos durch diesen gleißend hellen Wald zu laufen sagt mir nicht zu.« »Wir könnten uns einen Bewohner der Oberflächenwelt vornehmen und ihm Informationen entlocken«, gab Ryld zu bedenken. »Vorausgesetzt, einer von ihnen hält sich in der Nähe auf und weiß etwas über den Verbleib des Hauses Jael re.« »Auch in dem Fall müßten wir umhermarschieren, um ei nen solchen Bewohner zu finden, da sich niemand von selbst präsentieren dürfte«, meinte Pharaun. »Dein Plan unterschei det sich nur unwesentlich von dem Meister Hunes.« »Was schlagt Ihr vor?« fragte Quenthel mit eisiger Stimme. »Gestattet mir, zu ruhen und meine Zauberbücher zu kon sultieren. Morgen werde ich einen Zauber vorbereiten, der enthüllen könnte, wo sich das verschwundene Haus ketzeri scher Ausgestoßener befindet.« Er hob eine Hand, um dem Protest der Baenre zuvorzukommen, und fügte an: »Ja, ich weiß. Ihr wollt jetzt weiterziehen, aber wenn ich mit einem Erkenntniszauber das Ziel unserer Suche ausfindig machen kann, ersparen wir uns vermutlich viele Stunden Wanderung in die falsche Richtung. Diese Pause wird auch der reizenden Dame von Melarn Gelegenheit geben, ihre Kräfte aufzufri schen und vielleicht die ärgsten unserer Wunden zu heilen.« »Euer Zauber könnte vielleicht nichts brauchbares erge ben«, sagte Quenthel. »Magie dieser Art ist bekannt für ihre Unzuverlässigkeit.« Pharaun sah sie nur an. Quenthel blickte zum Himmel auf und blinzelte in das er barmungslose graue Licht, das durch die Wolken droben drang. Sie seufzte und sah einen nach dem anderen an, wobei sie
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besonders lange bei Danifae verharrte. Die Kriegsgefangene nickte so minimal, daß Halisstra nicht sicher war, ob sie diese Bewegung wirklich gesehen hatte. »Also gut«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths schließlich. »Es wäre wohl weise, wenn wir auf den Schutz der Dunkelheit warten. Also werden wir in der Höhle unser Lager aufschlagen, wo uns die verfluchte Sonne nicht so sehr zu schaffen machen kann. Meister Hune, Ihr werdet Euch in meiner Nähe aufhal ten, bis wir diesen Tzirik gefunden haben.«
Nimor Imphraezl bewegte sich zügig auf dem breiten Vor sprung voran, passierte zur Rechten eine lange Reihe mar schierender Duergar, während er genügend Abstand zum Rand des schwarzen Abgrunds zu seiner Linken hielt. Eine mehrere tausend Mann starke Armee auf den finsteren, lichtlosen We gen durch das Unterreich zu führen war eine gewaltige Heraus forderung, zumal viele der direkteren Routen nicht in der Lage waren, so immens viele Soldaten zu fassen. Damit blieben nur die geräumigeren Höhlen und Tunnel, die ihrerseits durch manch gefahrvolle Region führten, die man auf den verstohle neren Wegen meiden konnte. Der Weg verlief entlang der Schulter einer großen unterir dischen Schlucht, die sich fünfundsechzig Kilometer von Gracklstugh entfernt durch die Finsternis zog. An diesem Tag waren sie erst gut zwei Stunden marschiert, doch die Armee aus Grauzwergen hatte bereits eine voll beladene Packechse sowie fünf Soldaten – die das Pech hatten, sich in der Nähe der Bestie aufzuhalten – verloren, als ein Schwarm hungriger Yrthaks sie attackiert hatte. Zwar war es kein nennenswerter Verlust, doch Nimor hatte längst erkannt, daß jeder Tag ein neues Mißgeschick oder
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einen neuen Unfall mit sich brachte und die Armee Stück für Stück aufgerieben wurde. Dem Assassinen der Jaezred Chauls sin war bis dahin nie wirklich klar gewesen, welch gewaltiges Unterfangen es darstellte, eine große und gut ausgerüstete Armee über hundertfünfzig Kilometer weit durch das Unter reich zu führen. Er war es gewohnt, mit wenig Gepäck allein oder in der Gesellschaft einer kleinen Gruppe von Söldnern oder Spähern die düsteren Pfade zu bereisen und dabei gehei me Wege und bekannte Zufluchten zu nutzen, die abseits der Hauptrouten lagen. Nachdem er nun aber mehrere Tage an der Seite einer Armee gereist war und ausreichend Gelegen heit bekommen hatte, kleinere Rückschläge, Schwierigkeiten und Herausforderungen mitzuerleben, die er sich nie hätte vorstellen können, wußte er den Umfang dieser Expedition um so mehr zu schätzen. Die Duergar waren wirklich interessiert, einem in Nöten befindlichen Nachbar einen tödlichen Schlag zu versetzen, wenn sie bereit waren, die riesigen Zahlen an Bestien, Soldaten und Gerätschaft aufzufahren, die erforderlich waren, um eine Armee in eine Schlacht ziehen lassen zu kön nen. Der Assassine folgte dem Verlauf einer riskanten Kurve und erreichte die Kutsche des Kronprinzen: eine schwebende Hülle aus Eisen, gut neun Meter lang und drei Meter breit, so mit Zaubern belegt, daß sie nicht nur über dem Boden schwebte, sondern sich auch so bewegte, wie die Grauzwerge es wollten, die das Objekt kontrollierten. Die gräßliche schwarze Form war mit Dornen besetzt, um Angreifer abzuwehren, und durch Schlitze in der gepanzerten Hülle konnte jeder, der sich in der Umgebung des Dings aufhielt, mit Geschossen oder tödlichen Zaubern angegriffen werden. Die Kutsche säumte eine Reihe großer, mit Läden versehener Fenster. Die Läden waren aufge stellt, und durch sie konnte Nimor einen Blick auf die ruhige
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Gruppe aus Duergar-Anführern und ihren Assistenten werfen. Das gesamte Konstrukt diente als Kommandoposten sowie als Schlafgemach für den Kronprinzen, der mit seiner Armee in die Schlacht zog. Es verkörperte auf perfekte Weise, wie Zwer ge die Dinge angingen, dachte Nimor, ein Werk, das von ho her handwerklicher Kunst und mächtiger Magie zeugte, aber weder Anmut noch Schönheit aufwies. Mit einem knappen Satz sprang er auf das Trittbrett der Kutsche und duckte sich durch eine dicke Eisentür. Drinnen verbreiteten blaue Kugeln ein dämmriges Licht und beleuchte ten einen großen Tisch, auf dem sich eine Darstellung der Tunnel und Höhlen zwischen Gracklstugh und Menzoberran zan befand. An diesem Tisch beobachteten die Fürsten und Hauptmänner der Duergar, wie die Armee vorankam, und dort planten sie auch die kommenden Schlachten. Mit einem ra schen Blick nahm der Assassine zur Kenntnis, welche Offiziere und Diener anwesend waren, dann wandte er sich dem erhöh ten zentralen Bereich der Kutsche zu. Der Fürst der Stadt der Klingen saß mit seinen wichtigsten Beratern an einem Tisch hoch über den anderen und verfolgte die Planungen, die un terhalb von ihm abliefen. »Gute Neuigkeiten«, verkündete Nimor und trat in den Kreis aus Hauptmännern und Wachleuten, von denen Horgar Stahlschatten umgeben war. »Mir ist bekannt geworden, daß der Erzmagus von Menzoberranzan, Gromph Baenre persön lich, vom Sava-Brett unserer kleinen Partie entfernt worden ist. Die Muttermatronen ahnen noch nichts von unserem Vordringen in ihr Territorium.« »Wenn Ihr meint«, gab der Duergar-Fürst schroff zurück. »Im Umgang mit Dunkelelfen habe ich gelernt, daß es ratsam ist, so lange die Präsenz eines Erzmagus nicht auszuschließen, solange ich ihn nicht von meinem eigenen Hammer erschla
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gen vor mir sehe.« Die um Horgar versammelten Duergar nickten zustimmend und sahen Nimor mit unverhohlenem Argwohn an. Ein DrowÜberläufer mochte in einem Krieg gegen Menzoberranzan ein nützlicher Verbündeter sein, doch hieß das nicht zwangsläufig, daß sie in Nimor einen verläßlichen Partner sahen. Nimor entdeckte eine goldene Karaffe, die auf dem hohen Tisch stand, und schenkte sich großzügig Dunkelwein in einen Kelch ein. »Gromph Baenre ist nicht der einzige begabte Magier in Menzoberranzan«, knurrte Borwald Feuerhand. Der Marschall, der sogar für einen Grauzwerg klein und stämmig war, packte mit großen, starken Händen die Tischkante und beugte sich vor, um dem Assassinen einen stechenden Blick zuzuwerfen. »Deren verdammte Magierschule ist voller begabter Magier. Eure Verbündeten haben voreilig gehandelt, Drow. Wir sind noch fünfzehn Tage von Menzoberranzan entfernt, und Gromphs Tod wird sie warnen.« »Eine verständliche Überlegung, aber nicht zutreffend«, er widerte Nimor und trank einen tiefen Schluck aus seinem Kelch, während er den Augenblick auskostete. »Gromph wird sicher bald gesucht werden. Doch statt den arkanen Blick auf das Unterreich zu werfen, ob sich von dort der Feind nähert, wird jeder Meister Sorceres ergebnislos nach dem Erzmagier suchen und dabei gegen seine Kollegen arbeiten. Während sich die Armee des Kronprinzen nähert, ist der Blick der mächtigsten Magier der Stadt starr auf die eigenen Reihen gerichtet, und mancher von ihnen wird danach streben, Kolle gen zu töten, wenn so die Chance entsteht, den frei geworde nen Platz des Erzmagiers einzunehmen.« »Die Meister Sorceres werden sicherlich ihren Ehrgeiz zu rückstellen, wenn ihnen klar wird, in welcher Gefahr sie
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schweben«, sagte der Kronprinz und hielt Nimor mit einer knappen Geste davon ab, etwas zu erwidern. »Ja, ich weiß, Ihr werdet sagen, daß ihnen das womöglich gar nicht klar ist. Dennoch wären wir gut beraten einzukalkulieren, daß wir auf eine organisierte und gut geführte magische Verteidigung in der Stadt stoßen könnten. Trotz allem war das ein guter Schlag.« Er erhob und schob sich zwischen den Gutsherrn und Wa chen hindurch zum Kartentisch, wobei er Nimor bedeutete, ihm zu folgen. Der Assassine begab sich auf die andere Seite des Tisches, um von dort den Ausführungen des DuergarHerrschers zuzuhören. Mit einem Finger zeichnete Horgar ihre Route nach. »Wenn die Magier Menzoberranzans unser Herannahen nicht bemerken«, sagte Horgar, »dann erhebt sich die Frage, an welchem Punkt ihnen klar wird, daß ihnen Gefahr droht.« Gutsherr Borwald drängte sich an eine Seite des Tisches vor und wies auf eine Stelle, an der zwei Höhlen zusammentrafen. »Angenommen, wir begegnen nirgends einer DrowPatrouille, dann ist diese Höhle, die den Namen Rhazzts Di lemma trägt, der Punkt, an dem wir zum ersten Mal auf den Feind treffen werden. Die Menzoberranzanyr haben dort schon vor langer Zeit einen Außenposten eingerichtet, um den Weg im Auge zu behalten, da er als einer von nur wenigen einer Armee genug Platz bietet. Unsere Vorhut sollte in fünf Tagen dort ankommen. Danach gabelt sich unser Weg, und wir müs sen die erste Entscheidung treffen. Wir können nach Norden zwischen den Säulen des Leids hindurchziehen oder sie west lich umgehen, was unseren Marsch mindestens um sechs Tage verlängert. Die Säulen werden wahrscheinlich gegen uns ge richtet werden und könnten uns auf unbestimmte Zeit aufhal ten.«
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»Die Säulen des Leids ...«, sagte Horgar und zog an seinem eisengrauen Bart, während er die Karte betrachtete. »Wenn die Drow erfahren, daß wir auf dem Weg sind, werden sie zwei fellos mehr Truppen nach dort verlegen und den Paß gegen uns verteidigen. Daher taugt dieser Weg nichts. Wir werden in westlicher Richtung weiterziehen müssen, um uns seitlich zu nähern. Es läßt sich nicht vermeiden, daß durch diese Vorge hensweise unser Marsch länger dauert.« »Ich bin der Meinung, Ihr solltet den direkteren Weg neh men«, warf Nimor ein. »Der Weg durch die Säulen des Leids spart Euch sechs Tage, und wenn Ihr Euch erst einmal auf der anderen Seite befindet, werdet Ihr vor der Tür nach Menzo berranzan stehen. Der Weg über die westlichen Pässe führt durch weit unwegsameres Gelände.« Der Duergar-Fürst schnaubte verächtlich und gab zurück: »Womöglich seid Ihr dort noch nicht gereist. Ihr habt einen schwierigen Weg gewählt, wenn es Euer Plan ist, Euch durch die Säulen des Leids zu kämpfen. Die Schlucht wird dort eng und führt steil nach oben. Zwei mächtige Säulen versperren das obere Ende, zwischen ihnen führt nur ein schmaler Weg hindurch. Selbst eine kleine Drow-Streitmacht kann es belie big lange halten.« »Ihr könnt vor den Menzoberranzanyr bei den Säulen sein«, sagte der Assassine. »Ich werde Euch den Außenposten bei Rhazzts Dilemma ausliefern. Wir werden den Verteidigern dieses Außenpostens Gelegenheit geben zu melden, daß eine Duergar-Streitmacht vorrückt. Doch noch während die Nach richt den Muttermatronen überbracht wird, wird Eure Streit macht voreilen, um bei den Säulen des Leids eine tödliche Falle vorzubereiten. Dort werdet Ihr die Armee vernichten, die von den Herrschern dorthin geschickt wird, um die schmale Öffnung zu verteidigen.«
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»Wenn Ihr uns den Außenposten ausliefern könnt, warum wollt Ihr dann den Soldaten dort Gelegenheit geben, eine Warnung weiterzugeben?« brummte Borwald. »Es ist doch besser, wenn wir so lange wie möglich unentdeckt bleiben.« »Das Wesen der Täuschung«, erklärte Nimor, »besteht nicht darin, dem Gegner Informationen vorzuenthalten, son dern ihm zu zeigen, was er zu sehen erwartet. Auch wenn wir einen erfolgreichen Schlag gegen die Magier der Stadt geführt haben, werden sie früher oder später merken, daß wir uns der Stadt nähern. Daher ist es am besten, wenn wir die Kontrolle darüber haben, unter welchen Umständen von der Armee des Kronprinzen berichtet wird, da wir so ihre Reaktion einschät zen können.« »Das klingt faszinierend. Fahrt fort«, forderte Horgar ihn auf. »Die Soldaten Menzoberranzans erwarten, daß jede Armee, die sich auf diesem Weg nähert, durch das Bemühen aufgehal ten werden muß, Rhazzts Dilemma einzunehmen, was der Stadt Zeit gibt, diesen neuralgischen Punkt an den Säulen des Leids ausreichend zu besetzen, damit jeder weitere Angriff unterbunden wird. Ich schlage vor, Ihr gestattet dem Außen posten, Meldung zu machen und die Herrscher Menzoberran zans vor Eurer Armee zu warnen. Ehe die Muttermatronen eine Armee aufstellen können, die gegen Euch marschiert, werden wir Rhazzts Dilemma bereits im Sturm eingenommen haben. Dann warten wir ab, um den Aufmarsch der Drow bei den Säulen des Leids zu stoppen.« »Euer Plan weist zwei grundlegende Schwachpunkte auf«, grinste Borwald verächtlich. »Erstens geht Ihr davon aus, daß der Außenposten eingenommen werden kann, wann immer wir das wünschen. Zweitens scheint Ihr zu denken, die Mut termatronen würden sich entschließen, eine Armee zu entsen
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den, statt sich auf eine Belagerung einzurichten. Es würde mich interessieren, wie Ihr diese beiden Meisterleistungen vollbringen wollt.« »Ganz einfach«, erwiderte Nimor. »Der Außenposten wird fallen, weil ein Großteil der Garnison in die Stadt verlegt wurde, um dort für Ordnung zu sorgen. Von den Soldaten, die verblieben sind, gehören viele zu den Agrach Dyrr. Darum dränge ich darauf, diesen Weg zu nehmen, um anzugreifen. Der Außenposten wird an Euch verraten werden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.« »Ihr wußtet davon, noch bevor wir aufgebrochen sind«, stellte Horgar fest. »In Zukunft werdet Ihr mich derlei früher wissen lassen. Was wäre geschehen, wenn Ihr während des bisherigen Marschs irgendeinen Unfall erlitten hättet? Wir müssen genau wissen, welche Art von Hilfe wir von Euch bekommen und wann das jeweils der Fall sein wird.« Nimor lachte. »Es wäre für die weitere Dauer unserer Freundschaft gut, Prinz Horgar, wenn Ihr Euch von Zeit zu Zeit darüber wundert, wie hilfreich ich sein kann.«
Halisstra erhob sich aus ihrer Trance und stellte fest, daß sie durchgefroren und naß war. Über Nacht hatte sich eine dünne Schicht aus ekligem Stoff über den Wald gelegt, bei dem es sich wohl um Schnee handelte. Auch auf den Zweigen lag diese nasse, kalte Masse, die so leuchtend weiß war, daß sie fast so blendete wie die Sonne. Das Erstaunen über diese Entde ckung ließ aber rasch wieder nach, nachdem ihr klar geworden war, daß es dieser Schnee war, der ihre Kleidung und sogar ihren Piwafwi naß und eiskalt hatte werden lassen. Echter Schnee entpuppte sich für sie als ein weit weniger ansprechen des Phänomen, als es die Bücher in der Bibliothek ihres Hau
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ses dargestellt hatten. Hoch über ihr war der Himmel wieder grau verhangen, aber etwas heller als am Vortag – und damit wieder so hell, daß er den Drow in den Augen schmerzte. Da Quenthel nicht darauf bestanden hatte, noch im Sonnenschein loszuziehen, hatte Pharaun Zeit genug, sich zu erholen und sich seinen Zaubern zu widmen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten sie abge schirmt vom Sonnenschein in der Höhle, die ein Stück vom Eingang entfernt lag. Erst am späten Nachmittag machte sich die Gruppe zum Weitermarschieren bereit, als die Sonne be reits wieder unterging. »Erinnert mich daran, daß ich mich später mit Methoden befasse, wie man diesen infernalischen Himmelskörper auslö schen kann«, meinte Pharaun und blinzelte zu den Wolken, die weiteren Schnee versprachen. »Er ist immer noch irgend wo da oben hinter diesen segensreichen Wolken und ver brennt meine Augen.« »Ihr seid nicht der erste unserer Art, der das Licht als schmerzhaft empfindet«, gab Quenthel zurück, »und je länger Ihr Euch beklagt, um so mehr macht es mir zu schaffen. Also hört auf zu jammern und widmet Euch lieber Eurem Zauber.« »Natürlich, beeindruckendste aller Herrinnen«, sagte Pha raun in bissigem Tonfall. Er wandte sich ab und eilte hinüber zu den schneebedeck ten Felsen und Findlingen, ehe Quenthel eine angemessene Erwiderung einfiel. Die Baenre murmelte halblaut einen finste ren Fluch und wandte sich auch ab, um Danifae zuzusehen, die Quenthels Matte und Decken in ihrem Rucksack verstaute. Die anderen schwiegen und gaben sich mit dem Zusammenpacken beschäftigt, um vorzugeben, sie hätten von dem Wortwechsel zwischen Quenthel und Pharaun und von Quenthels Verhal ten gegenüber der Kriegsgefangenen nichts mitbekommen.
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Halisstra nahm ihr Gepäck und folgte Pharaun durch das Schlundloch auf den verborgenen Pfad entlang der Mauer, der bis auf Waldniveau anstieg. Als sie auf der Lichtung stand, die jene tiefer gelegene Stelle umgab, an der der Höhleneingang unter dem Fels hervorkam, wurde ihr bewußt, wie dicht und erdrückend der Wald wirkte. Wohin sie auch sah, standen Bäume und Büsche dicht an dicht und bildeten eine grüne Mauer, die überall gleich aussah. Nichts markantes war zu sehen, kein ferner Gebirgszug, an dem sie sich orientieren konnte, kein geordnetes System aus sandbedeckten Straßen, auf denen man sich fortbewegen konnte. Selbst in den verwin keltsten Höhlen des Unterreiches gab es nur eine Handvoll Richtungen, in die man sich bewegen konnte – vor oder zu rück, links oder rechts, aufwärts oder abwärts. Im Wald dage gen konnte man jede beliebige Richtung einschlagen und kam immer irgendwo an. Das war ein ungewohnter Gedanke, der ihr Unbehagen bereitete. Nachdem sie den bewaldeten Hügel betrachtet hatte, wand te sie sich zu Pharaun um. Auch der Rest der Truppe stand oder hockte da und sah ihn an. »Wenn ich etwas sage«, erklärte Pharaun, der den Blick auf die Bäume gerichtet hatte und über die Schulter zu den ande ren sprach, »ganz gleich was, dann merkt es Euch gut, denn es kann sein, daß ich nicht genau verstehe, was ich sehe.« Er breitete die Arme aus, schloß die Augen und wiederholte unablässig schroffe Silben arkaner Macht, während er sich langsam im Kreis drehte. Das geisterhafte Gefühl wirkender Magie erfaßte Halisstra. Es war so nah, daß es fast greifbar schien, zugleich war es un endlich weit entfernt. Ein seltsamer kalter Wind kam auf, wehte seufzend durch die Baumwipfel, die sich mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung bogen, und wurde abrupt
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stärker. Schnee löste sich von den Ästen und Zweigen und fiel zu Boden, während der befremdliche Wind laut heulend zum wütenden Sturm anschwoll. Halisstra schirmte mit einer Hand ihre Augen gegen den umherwirbelnden Staub und Schmutz ab und hörte, wie Pharauns Stimme tiefer und gewaltiger wur de, da der Zauber ein Eigenleben zu entwickeln begann und sich aus seiner Kehle zu reißen schien. Sie verlor den Halt und rutschte weg, bis sie sich auf ein Knie stützen und wieder Halt finden konnte. Ihre Haare peitschten um ihren Kopf wie ein Lebewesen mit eigenem Willen. Die Magie von Pharauns Erkenntniszauber trug ihn in die Lüfte. Mit nach wie vor ausgestreckten Armen drehte er sich im Wind, der ihn umgab. Seine Augen waren leer und schim merten silbern, sein Blick war gen Himmel gerichtet. Ein Nimbus aus grüner Energie begann sich um Pharauns Körper zu bilden, und er stieß ein lautes Geheul aus. Blitze aus sma ragdenem Feuer brachen aus dem ihn umgebenden Lichtkranz hervor und bohrten sich Rapieren gleich in die Felsen ringsum, als seien sie aus zartem Fleisch. Im nächsten Augenblick bars ten sie unter ohrenbetäubendem Lärm. Dort, wo die grünen Blitze eingeschlagen waren, hatte sich im zertrümmerten Stein eine schwarze Rune oder ein Symbol gebildet, als sei es mit Säure eingebrannt worden. Allein ihr Anblick ließ Halisstras Augen schmerzen, und von hoch oben über dem Boden der Lichtung begann Pharaun in einer gräßlichen Stimme zu spre chen, die Wind und Donner übertönte. »Fünf Tage westlich von hier gibt es einen kleinen Fluß«, sprach der Magier. »Wendet Euch nach Süden und folgt dem dunklen, schnellen Wasser stromaufwärts für einen weiteren Tag, bis Ihr an die Tore der Minauth-Feste gelangt. Der Diener Vhaerauns lebt dort. Er wird Euch helfen und Euch betrügen, doch keines von beidem so, wie Ihr erwartet. Jeder von Euch
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bis auf einen wird Verrat begehen, ehe Eure Reise beendet ist.« Der Zauber war vorüber. Der Wind legte sich, die grüne Energie verflog, und Pharaun sackte so schnell zu Boden, als sei er von einem Dach gestürzt. Der Magier traf ungelenk und hart auf dem Grund auf und landete mit dem Gesicht im Schnee. Als der Nachhall der Gewalt seines Zaubers sich im verschneiten Wald verlor, verblaßten auch die in den Stein gebrannten Runen und Symbole und zerfielen zu winzigen schwarzen Staubflocken, die im nächsten Moment verschwun den waren. Die anderen in der Gruppe warfen einander finstere Blicke zu. »Jetzt verstehe ich, warum er diesen Zauber so ungern wirkt«, kommentierte Ryld. Er trat einen Schritt vor und packte Pharauns schwach winkenden Arm, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn auf äußerlich erkennbare Verlet zungen. Pharaun sah auf und brachte ein flüchtiges Grinsen zustande. »Gute und schlechte Nachrichten, würde ich sagen«, mein te er. »Tzirik scheint noch zu leben.« »Die Anweisungen waren eindeutig«, sagte Valas. »Ich glaube, ich kann uns in eine ausreichend westliche Richtung führen.« »Was habt Ihr mit den letzten Worten gemeint?« wollte Jeggred wissen, der von Valas keine Notiz nahm. »Was den Verrat angeht?« Der Draegloth ballte die Fäuste. »Daß jeder von uns jemanden verraten wird? Da könnte ich nur raten«, sagte Pharaun. Er hustete und setzte sich auf. Mit einer Handbewegung bedeutete er Ryld, daß er keine weitere Hilfe benötigte. »Es liegt in der Art dieser Magie, derart kryp tische Vorhersagen zu machen, bedrohliche kleine Rätsel, bei
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denen man kaum hoffen kann, sie zu lösen, bis einem auf ein mal bewußt wird, daß das gefürchtete Ereignis bereits hinter einem liegt.« Er stieß ein trockenes Kichern aus. »Wenn nur einer von uns in nächster Zeit keinen schockierenden Verrat zu begehen vorhat, dann wüßte ich gerne, wer da so nachlässig ist. Er wird unseren Ruf schädigen, wenn er nicht aufpaßt.« Halisstra betrachtete den Rest der Gruppe, sah die aus druckslosen Gesichter und die nachdenklichen Blicke. Danifae reagierte mit einem flüchtigen Lächeln und ließ ihre Augen für einen winzigen Moment zu Quenthel zucken. Es war eine so winzige und verstohlene Geste, daß niemand außer Halisstra sie wahrnehmen konnte. Auch wenn der Magier die exakten Worte seines Erkennt nis-Zaubers wie beiläufig abtat, war sie nicht erfreut über die Aussicht, daß jeder ihrer Gefährten in nächster Zeit irgendei nen Verrat begehen würde. Oder jeder bis auf einen. Nur weil Halisstra im Moment nicht vorhatte, jemanden zu verraten, bedeutete das nicht zwangsläufig, daß sie nicht doch eine Ge legenheit nutzen würde, die sich ihr bieten mochte. Schließ lich hatte sie es bis zur Ersten Tochter des Hauses Melarn geschafft, weil sie einen erbarmungslosen Instinkt für solche Dinge besaß. Wäre Ched Nasad nicht zerstört worden, wäre zweifellos irgendwann der Augenblick gekommen, an dem sie einen Plan gegen ihre Mutter geschmiedet hätte, um die Füh rung des Hauses für sich zu beanspruchen. Matrone Melarn hatte auf die gleiche Weise und aus dem gleichen Motiv vor Jahrhunderten den Platz von Halisstras Großmutter einge nommen. Es war Lolths Art. »Nun«, sagte Pharaun und erhob sich noch immer zitternd. Der Magier nahm sehr behutsam von Ryld sein Gepäck entge gen. »Wie es scheint, habe ich ein Ziel vorgegeben. Wo ist Westen, Meister Hune?«
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Valas wies mit einem Kopfnicken zu einer Seite der Lich tung und erwiderte: »Es gibt eine Reihe von Wildfährten, die mehr oder weniger der untergehenden Sonne folgen.« »Kommt«, sagte Quenthel. »Je eher wir aufbrechen, desto früher kommen wir an. Ich will keine Stunde mehr als nötig in diesem vom Licht versengten Land zubringen. Meister Hune, Ihr werdet Euren gewohnten Platz als unser Führer einneh men. Meister Argith, Ihr begleitet ihn. Halisstra, Ihr bildet die Nachhut und achtet darauf, daß uns niemand folgt.« Halisstra zog die Brauen zusammen und trat von einem Fuß auf den anderen. Was sie tun sollte, schien ihr eher eine Auf gabe für einen Mann zu sein. In den letzten Tagen hatte Jeggred die Nachhut gebildet. Ihr entging nicht, daß Jeggred durch die neue Marschordnung nun dicht bei Quenthel war, um die Baenre bei einem Angriff zu beschützen. Ebenso war ihr aufgefallen, daß Quenthel sowohl Valas als auch Ryld mit »Meister« angesprochen hatte, während sie selbst von ihr nur »Halisstra« genannt worden war. Natürlich wäre es sinnlos gewesen, Protest einzulegen, also wartete sie, bis sich die Gruppe aufgestellt hatte, um Valas zu folgen. Sie nahm die Armbrust von der Schulter und stellte sicher, daß sie sofort einsatzbereit war. Nachdem die Gruppe gut fünfzig Schritt zurückgelegt hatte, machte sich Halisstra daran, den anderen zu folgen.
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Die Waldlandschaft an der Oberfläche entpuppte sich als ein fremdartiger und beunruhigender Ort. Als sich die Gruppe vom Rand der Lichtung entfernte, wich das dichte Unterholz einer schier endlosen Halle aus runden Stämmen, die sich bis hinauf zum Laubdach erstreckten und wie die Säulen einer düsteren Elfenhalle in den Ländern unter ihnen wirkten. Um gestürzte Bäume lagen kreuz und quer und waren von leuch tend grünem Moos überzogen. Manche von ihnen waren so groß, daß die Gruppe einen großen Umweg machen oder sich unter dem Hindernis hindurchzwängen mußte. Schnee hatte sich seinen Weg durch das dichte Laub gebahnt, und von den Zweigen hoch über ihnen tropfte ständig kaltes Wasser auf sie herab. Anders als die leblose Abgeschiedenheit Anaurochs war der Wald nicht nur voller Bäume und Sträucher, sondern wur de auch von allen möglichen kleinen Tieren und Vögeln be
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völkert. Nachdem sie mehrmals erschrocken stehengeblieben war, hatte Halisstra es schließlich geschafft, etliche der leisen Vogelrufe und der anderen Geräusche zu identifizieren. Das befähigte sie, sie ins Reich der Bedeutungslosigkeit zu verban nen. Anfangs hatte sie befürchtet, sie könnte die Gruppe vor ihr allzuschnell aus den Augen verlieren. Doch abgesehen vom dichteren Laub an den vereinzelten Lichtungen bestand das Unterholz vorwiegend aus Farnen und anderen Grünpflanzen, die nur selten über Hüfthöhe hinausgingen. Als sich die Nacht über den Wald herabsenkte, konnte Halisstra sofort wieder besser sehen und fühlte sich mit zunehmender Finsternis woh ler. Die Drow marschierten die ganze Nacht hindurch, und erst kurz vor Tagesanbruch schlugen sie ihr Lager in der Ruine eines alten Turms auf, dessen geborstener weißer Stein von Moos überzogen war. Der Turm ließ eine bemerkenswert ele gante Form erkennen, in den Sturz der seit langem fehlenden Tür war ein Muster aus Ranken und Blüten eingraviert – ein deutig das Werk von Elfen, die an der Oberfläche gelebt hat ten. Nachdem Pharaun die Lagerstatt auf verbliebene Zauber abgesucht hatte, die ihnen gefährlich werden konnten, aber auf nichts Verdächtiges gestoßen war, ließen sie sich nieder, um die schmerzhaft grellen Stunden des Tages abzuwarten. Quenthel wies Jeggred und Pharaun an, Wache zu halten, während die anderen den Schatten und die Sicherheit genos sen, die die zum Teil erhalten gebliebenen Decken und die eleganten Mauern ihnen boten. Als die Sonne unterging, aßen sie, bauten ihr Lager ab und machten sich auf. Sie behielten die gleiche Marschordnung bei und marschierten wieder die ganze Nacht hindurch. Die fol genden zwei Tage und zwei Nächte vergingen im gleichen
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Rhythmus. Valas gelang es sogar, ein kleines Huftier zu erle gen, kurz bevor die dritte Nacht ihrer Reise endete. Halisstra nahm überrascht zur Kenntnis, wie zart und saftig das Fleisch dieses Tiers war, das besser schmeckte als eine junge Rothé. Gegen Ende des Tages zogen wieder Wolken auf, dunkler und dichter als zuvor, und als das Tageslicht verschwunden war und sich die Drow für ihren vierten Marsch durch die Welt an der Oberfläche bereitmachten, begann es erneut zu schneien. Diesmal waren es schwere, nasse Flocken. Im Wald wurde es so ruhig, daß die Stille etwas Beängstigendes hatte. Es war, als hielte der Wald den Atem an, um den Augenblick nicht zu stören. Halisstra sah sich immer wieder um, machte ein Dutzend Schritte nach vorn und blieb dann stehen, um zu beobachten, ob ihnen jemand folgte. Zeitweise ging sie sogar für Minuten rückwärts und sah nur in kurzen Abständen nach vorn, um sicher zu sein, daß nichts ihren Weg versperrte. Wenn Pharauns Erkenntniszauber zutraf, dann würden sie am Ende dieser oder der nächsten Nacht den Fluß erreichen, was bedeutete, daß das Haus Jaelre und der Vhaeraun-Priester nur noch einen Tag entfernt sein konnten. Nun, da das Ziel ihrer langen Reise plötzlich zum Greifen nah war, wurde Halisstra klar, daß sie nicht wußte, warum der Ketzer ihnen helfen sollte. Valas mochte ein alter Bekannter von ihm sein, doch kein Kleriker des Maskierten Gottes würde Priesterinnen Lolths einfach aus purer Güte heraus helfen. Daß dafür ein Preis gezahlt werden mußte, war klar, doch welcher? überlegte Halisstra. Würde Reichtum genügen? Quenthel und ihre Gefährten führten wertvolle Edelsteine mit sich. In der Wildnis des Unterreichs war es die einfachste und platzsparendste Methode, um Vermögen zu transportieren. Halisstra hatte unmittelbar vor der Flucht aus Ched Nasad auch ihre Taschen vollgepackt. Dennoch bezweifelte Halisstra,
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daß sich ein so mächtiger Vhaeraunit derart leicht kaufen lassen würde. Zwang war eine andere Möglichkeit, vielleicht würden sie ihm aber auch irgendeinen Dienst erweisen müssen. Danifae war bei solchen Vereinbarungen gelegentlich recht nützlich. Jeder Drow hatte mindestens einen Feind, dem er etwas heim zahlen wollte. Sie merkte, daß sie ein Stück zurückgefallen war, also be schleunigte sie ihre Schritte, um wieder ihre Position hinter der Gruppe einzunehmen. Mühelos eilte sie durch den Wald, wobei ihre Stiefel sie immer wieder ein Stück durch den Schnee rutschen ließen. Dann endlich sah sie Jeggreds hünen hafte Gestalt und die kleineren Begleiter bei ihm. Halisstra wurde langsamer und warf einen erneuten Blick über die Schulter. Jemand befand sich hinter ihr. Von allen Seiten hörte sie Schritte, die kaum lauter als ein Flüstern waren, bis sie abrupt einer völligen Stille wichen, die nur magischen Ursprungs sein konnte. Halisstra stieß einen Warnruf aus, konnte aber nichts hö ren. Sie hob die Armbrust. Auf dem Weg direkt vor ihr kam ein schlaksiger Elf herangestürmt, dessen Haut so weiß wie Schnee war. In einer Hand hielt er eine wundervoll geschwun gene Streitaxt, in der anderen eine Handaxt. Seine Augen funkelten in der Nacht wie grüner Tod. »Achtung!« schrie sie, um ihre Gefährten zu warnen, doch wieder durchdrang kein Laut die vollkommene Stille. Ohne zu zögern wirbelte sie herum und feuerte ihre Arm brust auf Jeggred ab, der wie der Rest der Gruppe gut fünfzig Schritte vor ihr war. Beim Abfeuern bewegte sie die Waffe ausreichend vom Ziel weg, um ihn nicht zwischen den Schul terblättern zu treffen, sondern den Bolzen in einen Baum ne
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ben dem Kopf des Halbdämons zu jagen, wo er zitternd ste ckenblieb. Der Draegloth machte einen Satz und schrie auf – jedenfalls vermutete sie das, denn hören konnte sie ihn noch immer nicht. Entscheidend war jedoch, daß er sich umdrehte, um zu sehen, was sich hinter ihm abspielte. Dabei entdeckte er die Oberflächen-Elfen, die sich von hinten anschlichen. Im nächsten Augenblick hatte der elfische Axtkämpfer Ha lisstra erreicht und wirbelte seine beiden geschwungenen Klin gen in einem tödlichen Muster aus funkelndem Stahl durch die Luft. Er schrie etwas, womöglich ein Kriegsgeheul. Ha lisstra wehrte mit ihrer feingearbeiteten Armbrust den ersten Hieb der Streitaxt ab, machte einen Satz nach hinten, um der kleineren Klinge auszuweichen, und zog dann hastig ihren Streitkolben, während sie zugleich den Schild von ihrer Schul ter nahm. Der blasse Elf sprang vor, damit er wieder angreifen konnte. Die beiden umkreisten einander und ließen schnelle Hiebe auf den jeweils anderen niederregnen, die aber allesamt nicht ihr Ziel trafen. Halisstra sah weitere grüngepanzerte Schemen durch den Wald in ihre Richtung huschen. In der Finsternis blitzten Schwerter und Speere auf. Sie verstärkte ihre Anstrengungen und drängte den Kämpfer mit den zwei Äxten in die Defensi ve. Sie hoffte, seine Verteidigung durchbrechen zu können, ehe sie von den übrigen Gegnern umzingelt war. Hinter ihr auf dem Pfad blitzte ein gleißendes Leuchten auf, das den finsteren Wald mit blendender Helligkeit erfüllte. Das letzte, was sie sah, bevor das Licht ihr die Sicht nahm, war eine Gruppe von Oberflächen-Elfen und menschlichen Krie gern, die sich in das Getümmel stürzten. Jetzt konnte Halisstra nur noch eines tun. Sie hob den Schild, um Zeit zu schinden, dann duckte sie sich, nahm eine Handvoll Schmutz und getrocknete Blätter vom Boden auf
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und erfüllte sie mit magischer Finsternis. Über diese Fähigkeit verfügten alle Drow. Ein kraftvoller und auch weiterhin lautlo ser Schlag traf ihren Schild. Rasch wich sie zurück, blieb dicht am Boden und tastete, wohin sie ging. Einige ihrer Feinde warteten zweifellos darauf, daß sie aus der undurchdringlichen Finsternis hervortrat – zumindest hätte Halisstra das an ihrer Stelle getan. Am sinnvollsten war es daher, so lange wie mög lich in der Finsternis zu verharren und darauf zu hoffen, daß die Bewohner der Oberfläche über keine Magie verfügten, die angetan war, ihren Kreis aus Dunkelheit aufzuheben. Wie jede adlige Drow, die mit dem Kämpfen bestens ver traut war, wußte auch Halisstra, wie lange die Dunkelheit um sie herum Bestand haben würde. Sie konnte die magische Schwärze für fast drei Stunden aufrechterhalten. Wenn sie lange völlig ruhig blieb, würden die Angreifer vielleicht glau ben, sie sei ihnen doch irgendwie entkommen. Zumindest war sie zuversichtlich, daß ihr Zauber länger anhalten würde als der Stillezauber, der sich über die Umgebung gelegt hatte. Sobald sie wieder hören konnte, würde sie besser überlegen können, was sie als nächstes machen sollte. Mit dem Streitkolben in der Hand tastete sie sich an einen großen Baum heran, lehnte sich einen Moment gegen den Stamm und ließ sich dann nieder, um einfach nur abzuwarten.
Nimor stand geduldig im Gang vor dem Ratssaal, ließ gezielt die Schultern hängen und setzte eine schlaffe Miene auf. Er sollte müde und erschöpft sein dürfen. In der Uniform eines Offiziers der Hauses Agrach Dyrr hatte er sich vorgeblich den Weg aus der Schlacht bei Rhazzts Dilemma freigekämpft, um die Nachricht von diesem Angriff den Muttermatronen zu überbringen. Natürlich hatte die Garnison von Agrach Dyrr
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den Außenposten längst an die Armee aus Gracklstugh über geben, doch das mußten die Muttermatronen noch nicht wissen. Es fiel ihm schwer, im angemessenen Verhältnis abge kämpft, verzweifelt und unerschrocken zugleich zu wirken, zumal sein Herz vor Begeisterung raste und sein Körper vor freudiger Erwartung kaum zu bändigen war. Seit langem geheg te Pläne wurden in die Tat umgesetzt und liefen auf ein schreckliches Ziel hinaus. Durch seine Anstrengungen war es ihm gelungen, das Schicksal gleich zweier großer Städte zu beeinflussen und zu verändern. Beide bewegten sie sich lang sam, aber unausweichlich auf eine schreckliche Kollision zu, die er sich schon vor Monaten ausgemalt hatte, und mit jeder Stunde, die verstrich, nahmen die Ereignisse einen immer schnelleren Verlauf, der es ihm ermöglichte, nur hin und wie der lenkend eingreifen zu müssen. Bald würde sein Werk getan sein. Dann konnte er abtreten und sich darauf vorbereiten, die Früchte seiner Arbeit zu emten. Um sich etwas abzulenken, während er darauf wartete, vom Rat in den Saal nebenan gerufen zu werden, betrachtete Ni mor aufmerksam die Halle. Immerhin konnte niemand sagen, ob nicht eine halb vergessene Tür und ein anderer Fluchtweg den Unterschied zwischen Leben und Sterben ausmachen würde. Der sogenannte Raum der Bittsteller bildete den Ein gangsbereich zum geheimen Ratssaal der Muttermatronen. Die hochwohlgeborenen Damen selbst durchschritten selten die sen Raum, da sie über diverse geheime und magische Möglich keiten verfügten, die Strecke von ihren Palästen und Burgen nach hierher zurückzulegen. Statt dessen war der Raum der Bittsteller der Raum, in dem sich alle einfanden, die etwas mit dem Rat zu besprechen hatten und darauf warteten, von den Muttermatronen empfangen zu werden. Natürlich war der Saal fast leer.
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Jeder Drow, der etwas benötigte, erbettelte es sich von einer der Muttermatronen, und das erledigte er auf behutsamste und respektvollste Art und Weise. Nur die Drow, die vor den Rat zitiert wurden, warteten in dieser Halle, und selbst in diesen Fällen hatte praktisch jeder, der herbestellt wurde, zuvor einer Muttermatrone Bericht erstattet. Für gewöhnlich war der Saal ein praktischer Ort für all jene, die für den Rat von Interesse waren. Hier hatten sie zu warten, bis sie gerufen wurden, um ihre Berichte abzuliefern, eine Bitte vorzutragen oder um einen Fall vorzutragen und ein Urteil zu hören. Sechzehn stolze Krieger und Magier standen im Saal ver teilt, zwei von jedem der Häuser, deren Muttermatronen dem Rat angehörten. Sie waren vorgeblich als Wache für den Rat aufgestellt, aber in Wahrheit verbrachten sie die meiste Zeit damit, die Männer der rivalisierenden Häuser zu beobachten, damit die keinen heimlichen Angriff starteten. Der Boden aus poliertem schwarzen Marmor wurde von Goldadern durchzogen und schimmerte im schwachen Schein der Feenlicht-Kugeln, die hoch oben an der Decke hingen. An den Wänden erzählten große Friese die Geschichte von der Gründung Menzoberranzans. Mehrere unbedeutende Beamte eilten durch die Halle und verbeugten sich vor allen, denen diese Form der Unterwürfig keit entgegenzubringen war, während alle anderen, denen kein Respekt entgegengebracht werden mußte, ignoriert wurden. In seiner Uniform eines Unteroffiziers des Hauses Agrach Dyrr fiel Nimor zwischen diese beiden Kategorien. Zu seiner großen Überraschung ließ man ihn nur vierzig Minuten warten, bis ein Haushofmeister zu ihm kam und auf die Tür wies. »Der Rat erwartet Euren Bericht«, sagte er. Nimor folgte ihm in den Ratssaal und verbeugte sich vor
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den hohen Sitzen der acht Muttermatronen. Jede von ihnen fand sich in der Begleitung von ein oder zwei Töchtern, Nich ten oder anderen Lieblingen. Ein großer Torbogen zu einer Seite des Saals führte zu einer Reihe kleinerer Schreine und Räume, die an den Ratssaal angrenzten und in die die Begleiter der Muttermatronen oder die Sekretäre geschickt werden konnten, wenn Dinge zu besprechen waren, die vertraulich zu behandeln waren. »Muttermatronen, Hauptmann Zhayemd von Hause Agrach Dyrr«, verkündete der Haushofmeister. Nimor verbeugte sich erneut und verharrte in dieser Hal tung, während er heimlich die Muttermatronen beobachtete. Triel Baenre saß natürlich auf dem wichtigsten Platz des Ra tes. Sie war klein, zierlich und hübsch und wirkte viel zu jung für einen solchen Ehrenplatz, auch wenn sie natürlich Hunder te von Jahren alt war. Mez’Barris Armgo vom Haus Del’Armgo saß gleich neben ihr, dann folgte der Platz, auf dem bislang die Muttermatrone des Hauses Faen Tlabbar gesessen hatte. Ni mor verkniff sich ein Lächeln, ließ jedoch seinen Blick einen Moment länger auf der jungen Frau ruhen, die nun Ghennis Platz einnahm – Vadalma, die fünfte Tochter des Hauses. Entweder hatten sich die anderen vier im Ringen um den Platz ihrer Mutter gegenseitig ausgelöscht, oder Vadalma war weit aus erfahrener als sie aussah. Gegenüber der neuen Matrone Faen Tlabbars hatte Yasrae na Dyrr ihren Platz, die anmutig und gewandt war und sich auf dem Stuhl sehr wohl zu fühlen schien, der ihr nach Auro’pols Tod zugefallen war. »Wie ich sehe, ist mein Hauptmann eingetroffen«, sagte Yasraena zu ihresgleichen. »Willkommen. Ihr habt heute viel erduldet, doch ich fürchte, ich muß Euch noch einer weiteren Qual aussetzen, ehe Ihr Euch zur Ruhe begeben könnt. Sagt
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dem Rat, was Euch zu mir geführt hatte.« »Wie Ihr wollt, verehrte Matrone«, sagte Nimor. Er sah zu den anderen hochwohlgeborenen Frauen rings um ihn und täuschte eine Spur von Angst vor. »Muttermatronen, ich komme aus der Garnison bei Rhazzts Dilemma. Wir wurden von einer großen Streitmacht aus Duergar und ihren Verbün deten angegriffen, darunter Derro, Durzagons, Riesen und viele Sklaventruppen. Wir gehen davon aus, daß wir sie allenfalls noch so lange zurückschlagen können, bis die Duergar ihre Belagerungseinheiten ins Spiel bringen.« »Ich kenne diese Stelle«, sagte Mez’Barris Armgo. »Sie liegt drei oder vier Tagesreisen südlich der Stadt. Ist Eure Nachricht so alt? Warum haben unsere Zauberkundigen uns nicht per Magie gewarnt, statt Euch persönlich vorsprechen zu lassen?« »Unser Magier wurde beim ersten Angriff getötet, Matrone Del’Armgo. Er hatte das Pech, eine Streife außerhalb unserer Verteidigungsanlagen anzuführen. Dabei fiel er den heranna henden Duergar zum Opfer. Als Herrin Nafyrra Dyrr – die Befehlshaberin unserer Einheit – erkannte, daß wir keine an dere Möglichkeit hatten, um eine Warnung zu überbringen, schickte sie mich sofort los, um die Kunde nach Menzoberran zan zu bringen.« »Ihr habt nur eine der von mir gestellten Fragen beantwor tet, Hauptmann«, stellte die Muttermatrone des Hauses Barri son Del’Armgo fest. »Rhazzts Dilemma wurde heute morgen angegriffen, doch der Außenposten ist mehr als fünfzig Kilo meter südlich von hier gelegen, was einer Reise von mehreren Tagen entspricht.« Nimor zögerte kurz, dann sah er zu Yasraena Dyrr, als erwar te er ihre Hilfe. Die Muttermatrone nickte nur knapp. »Ich benutzte ein unzuverlässiges Portal, um meine Reise von mehreren Tagen auf einige Stunden zu verkürzen, Matro
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ne Del’Armgo«, sagte er. »Es liegt zwei oder drei Kilometer vom Außenposten entfernt und ist nur schwer zu entdecken, da es nur zeitweise funktioniert. Es öffnet sich in eine unbe nutzte Höhle im Dunklen Reich. Mein Haus weiß seit einiger Zeit von diesem Portal, doch wir haben seiner Magie nicht genügend vertraut, so daß wir es nur im äußersten Notfall einzusetzen bereit waren.« »Ich zweifle nicht daran, daß Barrison Del’Armgo von ähn lichen Portalen in und um die Stadt weiß«, erklärte Yasraena Dyrr. »Verzeiht, wenn wir bis heute versäumt haben, die Exis tenz dieses einen Portals zu erwähnen.« »Das Portal ist unwichtig«, gab Triel Baenre zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Hauptmann ist gekommen, um Bericht zu erstatten, nur das zählt. Sagt mir, was Ihr bei dieser Armee aus Duergar beobachten konntet.« »Ich würde ihre Zahl auf drei- bis viertausend Duergar schätzen, dazu eine Reihe von Sklavensoldaten – vorwiegend Orks und Oger. Wir konnten beim Angriff die Banner von acht Kompanien zählen, und viele weitere bildeten ihre Reser ve. Es könnten noch viele mehr sein, es sei denn, die Duergar haben bewußt versucht, uns zu täuschen, indem sie mit fal schen Bannern in die Schlacht zogen.« »Ein Überfall«, murmelte Prid’eesoth Tuin aus dem Haus Tuin’Tarl. »Man testet nur die Stärke Eures Außenpostens, Hauptmann.« Nimor trat von einem Fuß auf den anderen und gab sich redlich Mühe, entschlossen, ernsthaft und angemessen unter würfig dreinzublicken. »Herrin Nafyrra ist nicht dieser Ansicht, Matrone«, gab Nimor zurück. »Wir haben bei zahlreichen Gelegenheiten Duergar-Angriffe zurückgeschlagen, doch nichts kam je dem Ansturm von heute morgen gleich. Wenn wir nicht von der
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gesamten Armee Gracklstughs belagert werden, dann sind wir diesem Zustand aber sehr nahe.« »Wie stark ist Eure Garnison?« fragte Yasraena. »Unsere Garnison zählt fast achtzig Krieger, zudem haben wir eine hervorragende Verteidigungsposition, Matrone. Wir können uns einige Tage halten, doch der Außenposten wird fallen, wenn die Duergar ihre Belagerungseinheiten aufbauen oder die richtige Art von Magie ins Spiel bringen.« »Es würde mich nicht wundern, wenn diese DuergarAttacke nichts weiter ist als ein besonders großer und aggressi ver Überfall«, meinte Vadalma von Faen Tlabbar. »Ich bin sicher, Matrone Dyrr hat berichtet, was ihre Männer als Tatsa che ansehen. Doch vielleicht sollte der Sache nachgegangen werden, ehe wir in blinder Panik reagieren. Zumindest sollte es eine Bestätigung des Berichts geben. Wenn wir dann das Aus maß der Bedrohung beurteilen können, kann der Rat über die am besten geeigneten Gegenmaßnahmen beratschlagen.« »Unter den meisten Umständen wäre unsere junge Schwes ter gut beraten, eine gründlichere Untersuchung der Situation zu empfehlen«, sagte Yasraena. Sie war gut vorbereitet worden, Nimor mußte den Blick senken, um zu verhindern, daß man sein Lächeln bemerkte. »Jedoch empfehlen meine Offiziere mir, daß wir, wenn wir die Duergar-Armee außerhalb der Stadt abfangen wollen, uns ihnen bei den Säulen des Leids stellen, die zwischen hier und Rhazzts Dilemma gelegen sind. Eine starke Truppe, die schnell entsandt wird, kann die Säulen gegen jeden denkbaren Angriff verteidigen. Doch wenn wir zu lange zögern, werden die Duergar sie vor uns erreichen. Wir würden damit einen sehr entscheidenden Vorteil verspielen. Wir sollten uns den Bericht bestätigen lassen, doch in der Zwischenzeit wäre es angeraten, daß sich unsere Soldaten aufmachen.«
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»Sollten wir nicht einfach hier in der Stadthöhle in Vertei digungsstellung gehen?« fragte Mez’Barris Armgo. »Wir kön nen ohne Schwierigkeiten die Zugangswege befestigen, und die Duergar-Armee hätte dadurch Probleme, die Stadt einzukrei sen, während unsere eigene intakte Armee in unseren Reihen bleibt.« »Wenn wir den Grauzwergen erlauben, die Stadt zu infizie ren«, wandte eine anderen Muttermatrone ein, »dann werden als nächstes Armeen der Illithiden, Abolethen und der Huma noiden vor unseren Toren stehen. Wir haben viele Feinde. Denkt daran, was in Ched Nasad geschehen ist.« Die acht Hohepriesterinnen warfen einander finstere Blicke zu. »Auf jeden Fall muß der Rat schnell zu Entscheidungen kommen«, brach Triel Baenre ihr Schweigen. »Uns bleibt nicht viel Zeit, wenn wir die Duergar außerhalb der Stadt stellen wollen. Daher befehle ich, daß sich die Hälfte der Baenre-Truppen abmarschbereit macht. Ich rate Euch, es nicht anders zu machen. Wenn wir uns entscheiden, die Stadthöhle zu verteidigen, können wir unsere Soldaten immer noch stoppen. Doch wenn wir uns zum Marsch entschließen, müssen wir in der Lage sein, damit in nächster Zeit zu begin nen.« »Ich bin für eine energische und aggressive Verteidigung der Stadt«, sagte Yasraena. »Ein hartes Vorgehen kann weitere Angriffe verhindern. Ich werde die Hälfte der Streitkräfte des Hauses Dyrr mobilisieren.« Sie sah nachdenklich die anderen Matronen an und ergänzte: »Vorausgesetzt, einige andere Häu ser sind bereit, das Risiko mit uns zu teilen und uns zu unter stützen. Entweder erklären wir uns alle zu einem gemeinsamen Vorgehen bereit oder gar nicht.« »Haus Baenre garantiert Agrach Dyrr bis zur Rückkehr der
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Expedition«, sagte Triel brüsk. Nimor nickte vor sich hin. Er hatte damit gerechnet, daß die Führerin des stärksten Hauses in Menzoberranzan ent scheiden würde, in dieser Situation mit gutem Beispiel voran zugehen. Unter anderem verwandelte das jegliche räuberische Absicht der anderen Häuser in eine nach außen gerichtete Aktivität, von wo aus man die Baenre als die sah, die zu drasti schen Maßnahmen griff, um die Sicherheit der Stadt zu ge währleisten. Triel mußte dringend etwas in dieser Richtung unternehmen. Sie sah zu den Wachen, Beratern und Gästen im Ratssaal und verkündete: »Die Muttermatronen müssen darüber bera ten, wie diesem hinterhältigen Angriff begegnet werden kann. Geht.« »Hauptmann Zhayemd«, sagte Yasraena. »Es wäre mir recht, wenn Ihr den Befehl über das Agrach Dyrr-Kontingent übernähmt und sofort mit den entsprechenden Vorbereitungen begännet. Ich weiß, Ihr habt einen gefahrvollen Weg hinter Euch, doch Ihr seid mit dem Schlachtfeld bestens vertraut, und ich setze volles Vertrauen in Euch.« »Ich werde Euch nach Kräften dienen«, erwiderte Nimor. »Mit Lolths Hilfe werde ich dieses Territorium von den Fein den unserer Stadt säubern.« Er verbeugte sich wieder tief vor den Muttermatronen, dann zog er sich lautlos zurück.
Die Geräusche des Waldes kehrten schlagartig zurück, der Stillezauber hatte seine Wirkung verloren. In den Baumwip feln seufzte der Wind, in der Nähe war das Murmeln eines kleinen Baches zu hören, raschelnde Geräusche drangen einem Flüstern gleich durch die Finsternis, als sich rund um die
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schwarze Sphäre kleinere Kreaturen durch den Wald bewegten – oder aber größere Kreaturen, die es verstanden, fast unbe merkt zu bleiben. Lange lauschte Halisstra einfach nur in der Hoffnung, einen Beweis dafür zu hören, daß sich die an der Oberfläche Lebenden zurückgezogen hatten oder daß ihre Kameraden in der Nähe ein Gefecht austrugen. Doch weder das Klirren von Schwertern, die aufeinandertrafen, noch das Dröhnen von Zaubern, die gewirkt wurden, drangen an ihre Ohren. Sie hörte nichts, was keinen Schluß darüber zuließ, ob ihre Gegner gegangen waren oder einfach stumm außerhalb der Dunkelheit darauf warteten, daß sie wieder zum Vorschein kam. Halisstra konnte geduldig sein, wenn ihr danach war, und sie war Entbehrungen und Gefahren gewöhnt, doch die nervli che Anspannung, jeden noch so winzigen Laut zu identifizie ren und nach seiner Gefährlichkeit für sie einzuordnen, sorgte bald dafür, daß ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Wenn Quenthel und die anderen in der Nähe wären, würde ich sie hören, überlegte sie. Der Kampf mußte sie weit wegge führt haben. Ihr Herz raste, als ihr der Gedanke kam, sie könnte in den endlosen Wäldern ganz allein zurückgeblieben sein – sie, ein schändlicher Feind für jedes Geschöpf, das auf der Welt an der Oberfläche lebte. Es ist besser, beim Versuch zu sterben, wieder zu ihnen zu stoßen, entschied Halisstra. Wenigstens weiß ich, wohin sie gehen, wenn ich es schaffe, meinen Kurs beizubehalten. Zunächst einmal mußte sie aus der Finsternis entkommen, die ihr Schutz bot. Sie wollte die magische Finsternis nicht auflösen, sondern sie weiter bestehen lassen, bis sich ihre Wir kung erschöpft hatte. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß ihre Gegner schweigend darauf warteten, bis sich die Fins ternis von selbst auflöste, statt den Versuch zu unternehmen,
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in die Schwärze vorzudringen. Halisstra griff in ihre Gürtelta sche und zog einen schmalen Elfenbeinstab hervor. Sie be tastete ihn sorgfältig, weil sie sicher sein wollte, ob es der Stab war, den sie brauchte. Als sie davon überzeugt war, den richti gen Gegenstand in Händen zu halten, tippte sie den Stab ge gen ihre Brust und flüsterte ein Wort. Auch wenn es in der magischen Finsternis keine Möglich keit gab, es nachzuprüfen, hatte der Stab sie unsichtbar ge macht. Sie stand so leise wie möglich auf und zuckte bei jedem noch so leisen Rascheln und Rasseln ihres Kettenhemdes zu sammen. Halisstra verließ die magische Schwärze eher als erwartet. Es schien, als hätte sie nur etwa zwei Meter vom Rand entfernt gesessen. Überzeugt von ihrer Unsichtbarkeit richtete sie sich auf und sah sich um. Der Wald sah unverändert aus, abgesehen davon, daß von ihren Gefährten ebensowenig etwas zu sehen war wie von den Waldmenschen und den Oberflächen-Elfen, die sie angegriffen hatten. Der Mond ging gerade auf und tauchte den Waldboden in ein strahlend silbernes Licht. Sie machte sich auf den Weg in eine Richtung, von der sie hoffte, es sei Westen, wobei sie sich so schnell und leise wie möglich vorwärts bewegte. Nach kurzer Zeit erreichte sie den Schauplatz eines heftigen Kampfes, wenn sie die Zeichen richtig deutete. Von mehreren großen, schwarzen Kreisen auf dem Waldboden stieg noch Rauch auf. An anderer Stelle lagen die Leichen eines guten halben Dutzends Oberflächen-Elfen sowie in Grün gekleideter menschlicher Krieger, die allesamt Verletzungen aufwiesen, die von Streitkolben, Schwertern oder Klauen zu stammen schie nen. Von den Drow war nichts zu sehen. Halisstra versuchte, sich an das zu erinnern, was sie von den fahlen Elfen und ihren menschlichen Verbündeten gesehen
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hatte und befand, es könnten bis zu fünfzehn oder zwanzig gewesen sein. »Ich frage mich, wo eure Kameraden sind«, fragte sie die ge fallenen Krieger, ehe sie weiterzog. Halisstra kam nur einen knappen Kilometer weit durch den vom Mond beschienenen Wald, als sie in einen Hinterhalt geriet. Im einen Moment lief sie noch schnellen und sicheren Schrittes durch den Wald, angetrieben von dem Wunsch, sich dem Rest ihrer Gruppe anzuschließen und wieder Teil der vertrauten Gefahren ihrer Verbindung zu sein, aber im nächs ten Augenblick wurde sie von einem Elfenmagier überrascht, der einfach aus einem Baum hervortrat und ihr einen Zauber entgegenschleuderte, indem er gestikulierte und Worte von arkaner Macht ausstieß. »Schnell!« rief er. »Wir haben sie!« Ihre Unsichtbarkeit versagte sofort, gebannt von dem Ma gier von der Oberfläche, und aus dem Laub und den Baum stämmen ringsum tauchte ein Dutzend fahler Elfen und grün gewandeter Menschen auf, die Waffen kampfbereit in der Hand. Sie sprangen sie mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen an, während der Wald von ihrem lauten Kriegsge heul erfüllt wurde. Angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation knurrte Ha lisstra, um ihrem Zorn freien Lauf zu lassen, dann stürmte die Drow den Kriegern der Oberflächenwelt entgegen. Sie war entschlossen, ihnen den Sieg nicht leichtzumachen. Der erste Gegner, der ihr im Weg stand, war ein massiger Mensch mit einem kurzen schwarzen Bart, der mit einem Paar Kurzschwertern kämpfte. Er wirbelte herum, um sie anzugrei fen und zielte mit einer Klinge auf ihre Augen, damit sie den Schild hob, während er mit der anderen versuchte, ihr den ungeschützten Bauch aufzuschlitzen. Halisstra wich einfach zur
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Seite aus und schlug mit dem Streitkolben nach seinem Arm. Sie traf ihn mit solcher Wucht, daß sie den Knochen brechen hörte. Die Klinge flog dem Mann aus der Hand. Er stöhnte vor Schmerz, attackierte sie aber weiter, während er widerwillig Schritt um Schritt zurückwich und gleichzeitig versuchte, sie mit seinem anderen Schwert zu treffen. Drei seiner Kameraden kamen von allen Seiten auf Ha lisstra zu und drängten sie in die Defensive. Sie war gezwun gen, mit dem Schild Speer und Klinge abzuwehren, zugleich wehrte sie mit dem magischen Streitkolben Angriffe von der anderen Seite ab. Das Geräusch von Metall auf Metall hallte durch den Wald. »Ergreift sie lebend, wenn ihr könnt«, rief der Magier. »Fürst Dessaer will wissen, wer diese Neuankömmlinge sind und woher sie gekommen sind.« »Leichter gesagt als getan«, schnaufte der erste Schwert kämpfer, der sich der trotz des Verlustes einer Klinge immer noch tapfer hielt. »Sie scheint an einer Kapitulation nicht interessiert zu sein.« Halisstra knurrte frustriert und wandte sich abrupt dem El fen zu ihrer Linken zu, wich der Klinge seines Speers aus und stürmte auf ihn zu. Der Mann wich zurück und wollte seine Waffe heben, doch sie war schneller. Mit einem eisigen Lächeln rammte sie ihm den Streitkol ben zwischen die Augen, die Waffe traf von einem häßlichen Knacken begleitet und zerschmetterte den Schädel ihres Op fers, das in sich zusammensackte. Den Preis für ihren aggressiven Zug bezahlte sie einen Lid schlag später, als der Elf hinter ihr die Spitze seines Schwertes in ihr linkes Schulterblatt jagte – und das, wo sie noch ver suchte, ihm blitzschnell auszuweichen. Stahl kratzte über Kno chen, und Halisstra stieß einen Schmerzensschrei aus, als die
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Kraft aus dem Arm wich, mit dem sie den Schild hielt. Einen Augenblick später bohrte sich der zitternde Pfeil eines Bogen schützen in ihre rechte Wade und ließ das Bein unter ihr weg knicken. »Jetzt haben wir sie, Jungs!« rief der elfische Schwertfech ter. Er hob die Klinge, um einen weiteren Schlag zu führen, doch Halisstra ließ sich zu Boden fallen, rollte unter seiner Verteidigung hindurch und zerschmetterte ihm mit einem Schlag ihres Streitkolbens die Hüfte. Der Elf schrie vor Schmerz und eilte davon, um ein Stück weiter im Schnee zusammenzubrechen. Halisstra versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch der Magier feuerte einen so mächtigen Lichtblitz auf sie ab, daß die Wucht des Zaubers sie hochriß und durch die Luft wirbelte, bis sie in einem schmalen und eiskalten Fluß in der Nähe landete. Ihr ganzer Leib zuckte und schmerzte als Folge der magischen Energie, und dann roch sie den markanten Geruch verbrannten Fleisches – ihres eigenen Fleisches. Sie stützte sich mit einem Arm ab und konterte mit einem Bae’qeshel-Gesang, einem tödlichen, durchdringenden Akkord, der die Borke von den Bäumen riß und der den Schnee zu einem weißen, stechenden Sturm aufsteigen ließ. Der Elfen magier fluchte und schützte sich mit seinem Mantel, schirmte die Augen ab und ließ das todbringende Lied über sich erge hen. Halisstra stimmte ein weiteres Lied an, doch die Krieger eil ten durch den Schnee zu ihr, und der stämmige Mensch mit dem Bart brachte sie mit einem Tritt gegen den Kiefer zum Schweigen, der so heftig war, daß sie zu Boden geschleudert wurde. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, und als sie wieder etwas sah, waren gleich vier todbringende Klin
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gen auf sie gerichtet. Der Schwertkämpfer sah sie über die Spitze seines Schwertes finster an. »Macht ruhig weiter, wenn Ihr wollt«, forderte er sie ver ächtlich auf. »Unsere Kleriker können ebensogut Eure Leiche befragen.« Halisstra wollte sich von dem rasenden Kopfschmerz und dem Dröhnen in ihren Ohren befreien. Als sie sich umsah, entdeckte sie in den Augen aller, die sie umstellt hatten, nur den puren Tod. Ich kann meine Kapitulation vortäuschen, sagte sie sich. Quenthel und die anderen müssen wissen, daß ich verschwun den bin und werden Anstrengungen unternehmen, mich zu finden. »Ich gebe auf«, sagte sie in der plumpen Sprache der Men schen. Halisstra ließ den Kopf nach hinten ans Ufer des Stroms sinken und schloß die Augen. Sie spürte, wie sie hochgezerrt wurde, ihr Kettenhemd wurde ihr vom Leib gerissen, dann band man ihr brutal die Hände auf den Rücken. Die ganze Zeit über ignorierte sie die Männer, in deren Gewalt sie geraten war; zugleich mied sie es, über ihre Situation nachzudenken, indem sie sich auf Lolths gewaltigen Katechismus konzentrier te, den sie als Novizin hatte auswendiglernen müssen. »Sie muß jemand wichtiges sein. Seht euch die Rüstung an, ich glaube nicht, daß ich so was schon mal gesehen habe.« »Hier haben wir eine Leier und ein paar Stäbe«, murmelte der Waldläufer mit der gebrochenen Hand, der ihre Habselig keiten durchging. »Seid vorsichtig, Jungs, sie könnte eine Bardin sein. Wir sollten sie knebeln.« »Bringt mir schnell den Heiltrank, Fandar liegt im Ster ben.« Halisstra sah zu dem Elfen, dessen Hüfte sie zerschmettert
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hatte. Mehrere seiner Gefährten knieten neben ihm im Schnee und Matsch und versuchten, ihn zu beschwichtigen, während er sich vor Schmerzen wand. Blut hatte den Schnee ringsum rot gefärbt. Sie beobachtete die Szene, doch im Geist war sie tausend Kilometer oder mehr entfernt. »Verdammte Drow-Hexe. Den Göttern sei Dank, daß nicht alle so verbissen kämpfen wie sie.« Der Elfenmagier baute sich vor ihr auf, seine Miene war an gespannt und wütend. »Zieht ihr eine Kapuze über, Leute«, wies er die anderen an. »Sie muß nicht wissen, wo sie ist.« »Wohin bringt Ihr mich?« fragte Halisstra. »Unser Herr will einige Dinge erfahren«, erwiderte der Ma gier. Sein Lächeln war so frostig wie der Schnee ringsum, seine Blicke durchbohrten sie, als handle es sich um Klingen. »Mei ner Erfahrung nach sind die meisten Drow so boshaft, daß sie lieber an ihrem eigenen Blut ersticken, statt etwas Sinnvolles und Nützliches zu tun. Ich gehe nicht davon aus, daß du an ders bist. Fürst Dessaer wird dir ein paar Fragen stellen, du wirst ihn auf unflätige Weise beschimpfen, dann bringen wir dich wieder nach draußen und weiden dich aus wie einen Fisch. Das ist besser als das, was ihr unseresgleichen antut, wenn wir euch in die Hände fallen.« Die Kapuze wurde Halisstra übergezogen und so fest zuge schnürt, daß sie kaum atmen oder schlucken konnte.
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Ryld kauerte im Schatten eines großen Baumes mit einem Stamm, der so dick war und so weit in die Höhe reichte, daß er durchaus die Narbondel des Waldes hätte sein können. Zwi schen den Schultern trug Ryld sein Schwert Splitter, das im jüngsten Kampf der Gruppe kaum zum Einsatz gekommen war. Er beugte sich ein wenig vor und suchte den von Mondlicht und Schatten geprägten Waldboden ab, während er ein Ziel zu erspähen versuchte. Zusammen mit Pharaun bildete er die Nachhut ihrer Gruppe und wartete voller Hoffnung, den Spieß umzudrehen und die Elfen und Menschen in Bedrängnis zu bringen, die ihnen schon so lange zu schaffen machten. Nach mehreren kühnen Versuchen, die Drow zum Nahkampf zu zwingen, hatten die Oberflächen-Elfen und ihre menschlichen Verbündeten schließlich doch noch gelernt, die Fertigkeiten und den Kampfgeist der Dunkelelfen zu respektieren. Es dauer
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te nicht lange, da attackierten sie mit vereinzelten Pfeilen aus der Finsternis, griffen immer wieder schnell an und zogen sich noch schneller zurück. Ein Pfeil zerschnitt die Luft. Ryld wich noch gerade recht zeitig zurück, um zu sehen, wie der mit weißen Federn besetzte Pfeil an ihm vorbeijagte und den Baumstamm so dicht passier te, daß seine Federn über die Rinde strichen. Hätte Ryld sich nur darauf verlassen, daß der Stamm ihn schützte, hätte sich der fachkundig abgefeuerte Pfeil wohl in sein Auge gebohrt. »Es bringt nichts, länger zu warten«, flüsterte Pharaun. Der Magier hatte auf Quenthels Befehl, einen Hinterhalt vorzubereiten, ohne jede Begeisterung reagiert, und es mißfiel ihm nicht, das Unterfangen für gescheitert zu erklären und sich wieder dem Rest der Gruppe anzuschließen. Er murmelte die rauhen Silben eines Zaubers und beschrieb konzentriert eine Reihe von Gesten. Einen Augenblick später streckte sich der Magier und ließ Ryld wissen: Komm. Ich habe ein Abbild erzeugt, das sie glauben lassen wird, wir stünden noch immer hier. Wir sind derweil für unsere Gegner unsichtbar. Folge mir und bleib dicht hinter mir. Ryld nickte und zog sich zusammen mit Pharaun in aller Heimlichkeit zurück. Er warf einen letzten Blick auf den ver lassenen Wald und fragte sich, ob der Trick des Magiers funk tionieren würde. Halisstra ist irgendwo da hinten, dachte er. Höchstwahr scheinlich ist sie tot. Die Bewohner der Oberflächenwelt hatten kein Interesse erkennen lassen, Gefangene zu machen. Die Vernunft ließ Ryld ihren Verlust als nur ein weiteres Opfer einer Schlacht abschreiben, eine Reaktion, die er beim vorzeitigen Ableben eines jeden nützlichen Kameraden empfinden würde. Er hatte im Laufe der Jahre an genügend Schlachten teilgenommen,
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um zu wissen, daß Krieger früher oder später starben. Dennoch empfand er beim Gedanken an Halisstras Tod ein seltsames Unbehagen. Pharaun blieb stehen und drehte sich langsam, um nach Hinweisen auf den Rest ihrer Gruppe und auf ihre Widersa cher zu suchen, die ihnen weiter folgten. Ryld hielt inne und lauschte. Durch die Baumkronen strich ein sanfter Wind, der in den Ästen leise seufzte. Blätter raschelten, Zweige knackten. In der Nähe murmelte ein kleiner Bach, doch er konnte keine Anzei chen für eine drohende Gefahr erkennen – oder für Halisstras Rückkehr. Dumm, auf so etwas zu hoffen, sagte er sich. Macht dir etwas Sorgen? gestikulierte Pharaun. Nein, erwiderte der Waffenmeister. Der Magier betrachtete ihn aufmerksam, während der Mondschein sein hübsches Gesicht in ein silbriges Licht tauchte. Sag nicht, du bist um die Frau besorgt! Natürlich nicht, gab Ryld zurück. Ich bin nur besorgt, weil sie eine wertvolle Kameradin ist. Mir gefällt der Gedanke nicht, ohne ihre Fertigkeit zum Heilen weiterzumarschieren. Sonst bin ich nicht besorgt. Ich bin doch kein Narr. Ich finde, du protestierst etwas zu energisch, bedeutete Pha raun ihm. Ich nehme aber an, es ist nicht weiter wichtig. Er wollte noch etwas anfügen, doch ein plötzliches Ra scheln hinter ihnen ließ ihn verstummen. Pharaun und Ryld drehten sich gleichzeitig um, Rylds Hand fuhr zu Splitters Heft, mit der anderen hob er die Armbrust. Doch dann tauch te auf einmal Valas Hune vor ihnen auf. Von der gesamten Gruppe war der Mann von Bregan D’aerthe derjenige, der in dem Katz-und-Maus-Spiel der Jagd durch den Wald die nötige
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Geduld besaß und es mit den Bewohnern der Welt an der Oberfläche aufnehmen konnte. Konntet ihr einen unserer Feinde entdecken? fragte der Späher. Nein, aber jemand sah genug von Ryld, um einen Pfeil auf ihn abzufeuern, erwiderte Pharaun. Da sie zu ahnen schienen, wo wir uns aufhielten, ließen wir eine Illusion zurück und kamen wieder her. Ein Lebenszeichen von Halisstra? fragte Ryld. Nein. Bei dir? entgegnete Valas Hune. Vor einer halben Stunde hörten wir Kampfeslärm ein Stück weit hinter uns. Es hielt einige Minuten lang an. Das könnte sie gewesen sein, signalisierte Pharaun. »Das war’s dann«, murmelte Valas Hune. »Dann kommt. Die anderen warten schon auf uns, und wenn wir unsere Ver folger schon nicht in einen Hinterhalt locken, dann können wir auch weiterziehen. Je länger wir hier verharren, desto wahrscheinlicher wird es, daß noch mehr von ihrer Art auftau chen und sich einmischen.« Der Späher ging voran und eilte zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, wobei er sich schnell und lautlos beweg te. Pharaun und Ryld konnten es mit seinen leisen Schritten nicht aufnehmen, doch die gewirkte Magie schien eine ange messene Täuschung zu sein, da sie nicht auf weitere Bogen schützen oder Speerträger trafen. Nach einigen hundert Schritten erreichten sie einen steilen Graben, der von dichtem Buschwerk und großen Findlingen bestens verdeckt wurde. Dort trafen sie auf Quenthel, Danifae und Jeggred, die sich versteckt hielten und aufmerksam Ausschau hielten, ob sich ein neuer Angriff abzeichnete. »Konntet ihr die Bogenschützen überrumpeln?« fragte Quenthel. »Nein, sie bemerkten uns sehr schnell und gingen einem
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Kampf aus dem Weg«, antwortete Ryld. Mit der Hand fuhr er durch sein Stoppelhaar und seufzte. »Dies ist für uns kein gutes Schlachtfeld. Wir bekommen die Oberflächen-Elfen nicht unter Kontrolle, sie sind auf diesem Terrain eindeutig im Vor teil. Aber wenn wir gar nichts unternehmen, dann werden sie uns einkreisen und mit Pfeilen durchbohren.« Valas nickte und fügte an: »Sie arbeiten im Moment an ei ner Lösung, um uns zu finden und in die Zange zu nehmen. Wir können noch einige Minuten hierbleiben, doch wir wer den uns bald wieder auf den Weg machen müssen, da uns sonst der nächste Kampf erwartet. Ich schätze, uns bleiben keine zehn Minuten mehr.« »Sollen sie kommen«, brummte Jeggred. »Vor nicht einmal einer Stunde haben wir ein Dutzend von ihnen getötet, als sie sich von hinten an uns heranschlichen. Nun wissen wir, daß die Tagwandler hier unterwegs sind, jetzt können wir sie scha renweise niedermetzeln.« »Der nächste Angriff wird ein Regen aus Pfeilen sein, abge schossen von Bogenschützen, die wir nicht mal ausmachen können«, sagte Valas. »Ich bezweifle, daß die Bewohner der Oberflächenwelt bereit sein werden, sich in einer Reihe aufzu stellen, damit wir sie töten können. Schlimmer noch: Was, wenn die Truppe Hilfe anfordert? Der nächste Angriff könnte bei Tagesanbruch erfolgen, mit einer zwei- oder dreimal so großen Truppe wie der, mit der wir es im Moment zu tun ha ben. Mir gefällt der Gedanke nicht, nach Sonnenaufgang mit Pfeilen und Zaubern bombardiert zu werden, wenn unsere Widersacher plötzlich wesentlich besser sehen können als wir.« »Schön«, knurrte Jeggred. »Was würdet Ihr dann vorschla gen?« »Den Rückzug«, antwortete Ryld. »Wir sollten versuchen,
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so schnell wie möglich fortzukommen. Mit etwas Glück haben wir einen guten Vorsprung auf unsere Verfolger herausgeholt, noch bevor die Sonne aufgeht, und vielleicht finden wir einen geeigneten Ort, um uns zu verstecken.« »Oder vielleicht werden wir das Gebiet erreichen, das von den Jaelre kontrolliert wird«, fügte Valas Hune an. »Was sich als noch gefährlicher erweisen könnte als das Katz-und-Maus-Spiel, das wir uns mit unseren Verfolgern lie fern«, sagte Pharaun. »Wenn die Jaelre nicht viel von Besu chern halten ...« »Das ist egal«, warf Quenthel ein. »Wir sind gekommen, um mit ihrem Priester zu sprechen, und das werden wir auch tun, selbst wenn wir zu dem Zweck das halbe Haus niedermet zeln müssen.« »Euer Vorschlag ist nicht sehr ermutigend, Meister Hune«, sagte Danifae. Sie blutete aus einer Wunde am rechten Arm, nachdem ein schneller Pfeil ihr Kettenhemd durchdrungen hatte und im Oberarm steckengeblieben war. Während sie sprach, versuchte sie ungelenk, mit einer Hand die Wunde zu verbinden. »Was, wenn es uns nicht gelingt, unsere Verfolger abzuschütteln? Sie scheinen in diesen verdammten Wäldern recht gut mit uns mithalten zu können.« »Einen Moment«, gab Ryld zu bedenken. »Was ist mit Her rin Melarn? Sie ist noch irgendwo da hinten.« »Wahrscheinlich ist sie tot«, erwiderte Valas achselzu ckend. »Oder man hat sie gefangengenommen.« »Sollten wir uns nicht vergewissern, ehe wir von hier auf brechen?« gab der Waffenmeister zurück. »Ihre heilenden Gesänge sind die einzige Magie dieser Art, die uns verblieben ist. Der gesunde Elfenverstand ...« »Der gesunde Elfenverstand verlangt, daß wir auf eine Lei che weder Zeit noch Blut verschwenden«, unterbrach
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Quenthel. »Niemand hat sich um mich gekümmert, als ich ...« Sie verstummte, stand auf und ging zu Danifae, um ihr beim Anlegen des Verbandes zu helfen. »Unsere Mission liegt vor uns, nicht hinter uns«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths. »Die Suche ist wichtiger als eine einzelne Drow.« Ryld rieb sich das Gesicht und sah die anderen an. Valas wich seinem Blick aus und war damit beschäftigt, unnötiger weise die Befestigung seiner Rüstung zu überprüfen. Pharaun betrachtete Quenthel auf eine Weise, die keinen Zweifel daran ließ, daß ihm die Scheinheiligkeit der Priesterin aufgefallen war. Immerhin hatte sie in Ched Nasad mehr Zeit in der Hoff nung verbracht, die Lagerhäuser der Baenre ausräumen zu können, statt um die neuerliche Aufmerksamkeit Lolths zu ersuchen. Danifae starrte in den Wald hinter ihnen, die Augenbrauen zusammengezogen. Offenbar war sie nicht gewillt, sich für ihre Herrin einzusetzen. Schließlich wandte sich Quenthel an Pharaun und sagte: »Vielleicht verfügt unser Magier ja über einen Zauber, der unsere verfluchten Tagwandler davon abbringt, uns zu dicht auf den Fersen zu sein?« Pharaun strich sich nachdenklich übers Kinn. »Unsere vorrangige Schwierigkeit in der momentanen Situ ation«, erwiderte der Meister Sorceres nach einer Weile, »be steht in der Tatsache, daß unsere Gegner in der Lage sind, dieses Terrain zu ihrem Vorteil und zu unserem Nachteil zu nutzen. Sollte auf einmal ein Waldbrand ausbrechen, dann würden der Rauch und die Flammen ...« Valas unterbrach ihn: »Ich fürchte, du weißt nur wenig über Wälder in der Welt an der Oberfläche. Diese Bäume sind viel zu feucht, um dir den Gefallen eines Waldbrandes zu tun. Dar
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an können wir in ein paar Monaten denken, wenn der Som mer sie ausgetrocknet hat.« »Oh«, erwiderte Pharaun. »Das gilt sicher für gewöhnliche Feuer.« »Es wäre dir unmöglich, das Feuer davon abzuhalten, sich auch gegen uns zu wenden«, warnte Ryld, dem der Vorschlag nicht behagte. »Nun, ich kann nicht absolut sicher sein, daß es das nicht täte«, räumte Pharaun ein, »aber meine Feuer brennen so, wie ich es möchte. Wie Meister Hune schon feststellte, ist die Feuchtigkeit im Wald so hoch, daß die Bäume nur dann in Flammen aufgehen können, wenn sie unter dem direkten Einfluß eines Zaubers aus meiner Hand stehen. Natürlich hät ten wir den Vorteil zu wissen, wie und wann die Brände aus brechen werden.« Quenthel überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Also gut, macht weiter.« Ryld fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte und ging einen Schritt von der Gruppe weg, ehe er sich wieder unter Kontrol le bekam. Pharaun stand auf und griff in seine Gürteltasche, um einen winzigen Seidenbeutel hervorzuholen. Den Inhalt schüttete er in seine Handfläche, so daß im Mondlicht roter Staub funkel te. Pharaun prüfte den Wind und drehte sich um, um die Windrichtung bestimmen zu können. Dann sprach er seinen Zauber, wobei er das Pulver in die Luft warf. Helle, karmesin rote Funken bildeten sich inmitten der Staubwolke, wurden heller und zahlreicher. Mit einer weiteren Geste sorgte Pha raun dafür, daß sich die Glut im weiten Bogen im Wald vor ihm verteilte. Jeder der winzigen Funken sank zu Boden und entflammte dort, indem er zu einer spinnenartigen Form heranwuchs, die
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so groß war wie der Kopf eines erwachsenen Mannes. In kar mesinrote Flammen gehüllt eilten die Feuerspinnen über den Boden tiefer in den Wald hinein. Alles, was sie berührten, begann zu schmoren und ging dann in Flammen auf. Das Holz war tatsächlich sehr feucht, so daß die Flammen für dichten Rauch sorgten und sich nur langsam ausbreiteten – doch Pha raun hatte Hunderte dieser Spinnenkreaturen beschworen, die besonders heftig die mit Moos bewachsenen Stämme angriffen, als hätte das Vorhandensein so großer Mengen Holz einen ganz besonderen Eifer geweckt, ihr feuriges Vernichtungswerk voranzutreiben. »Gut«, murmelte Pharaun. »Sie finden Gefallen an Bäu men.« »Das Feuer brennt zu langsam, um unsere Verfolger aufzu halten«, stellte Quenthel fest. »Ich habe noch nie von einem Oberflächen-Elfen gehört, der es zuläßt, daß in seinem kostbaren Wald unkontrolliert ein Feuer wütet«, erwiderte Pharaun lächelnd. »Sie werden eine Weile damit zu tun haben, meine Spinnen zu jagen und die Brandherde zu löschen.« Quenthel beobachtete die Flammen noch einen Moment, dann lächelte sie und sagte: »Dann könnte es seinen Zweck erfüllen. Meister Hune, Ihr geht voran. Ich möchte das Haus Jaelre erreichen, bevor unsere Verfolger uns wieder Schwierig keiten machen.«
Kaanyr Vhok verschränkte seine muskulösen Arme und run zelte die Stirn. »Wie viele?« fragte er. Kaanyr erfaßte die Folgen eines Kampfes zwischen den Ta narukks seiner Vorhut und einem titanenhaften purpurnen Wurm, einem fleischfressenden Riesen, der über dreißig Meter
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lang war. Der Wurm war von Dutzenden der halbdämonischen Soldaten in Stücke gehackt worden, doch eine Handvoll der Truppe des Zepterträgers war von dem Monstrum zerfetzt oder zermalmt worden. »Sieben, Herr, aber wir haben die Bestie besiegt, wie Ihr seht.« Der Tanarukk-Hauptmann, der auf den Namen Trümmer faust hörte, stützte sich auf seine große Streitaxt, die mit den übelriechenden Lebenssäften der Kreatur bespritzt war. Die linke Hand des Ork-Dämons war in einer früheren Schlacht arg in Mitleidenschaft gezogen worden und steckte in einem Panzerhandschuh, der eine bessere Waffe war als die defor mierte Hand, die er bedeckte. »Die Krieger hörten das Geschöpf, wie es sich durch den Fels bewegte«, fuhr Trümmerfaust fort, »aber es kam durch die Decke und ließ sich auf sie fallen.« »Ich habe euch nicht hergeführt, um Würmer zu töten«, sagte Kaanyr, »und ich habe auch nicht Krieger bis hierher gebracht, damit sich irgendwelche Monster von ihnen ernäh ren. Das war ein Kampf, den wir am besten vermieden hätten, Trümmerfaust. Schließlich werden diese sieben Krieger nicht mehr bei uns sein, wenn wir auf die Drow treffen, nicht wahr?« »Nein, Herr«, brummte der Tanarukk und senkte den Kopf. »Ich werde die Anführer der Streife anweisen, sich darum zu bemühen, unnötigen Konfrontationen aus dem Weg zu ge hen.« »Gut«, sagte Kaanyr. Er grinste den Tanarukk finster an und klopfte ihm auf die Schulter. »Spart euch eure Äxte für die Drow auf, Trümmerfaust. Wir werden früh genug auf sie treffen.« Ein gieriges Leuchten flammte in den Augen des Tanarukk auf, und der Dämonen-Ork hob von neuer Zuversicht erfüllt
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den Kopf. Dann knurrte er zustimmend und trottete davon, um seine Hauptleute zu suchen. »Du hast ihn nicht bestraft?« fragte Aliisza, die aus dem Schatten hervortrat. »Gnade ist keine Eigenschaft, die ich von dir gewöhnt bin, Geliebter.« Der Cambion-Marquis drehte sich zu ihr um. »Manchmal«, erwiderte er, »erfüllt ein sanftes Wort den gleichen Zweck wie zwei harte. Die Kunst der Führung besteht darin zu wissen, wann man sich wofür entscheidet.« Kaanyr stieß mit einem Zeh leicht einen der toten Krieger zu seinen Füßen an. »Au ßerdem kann ich schlecht über eine Zurschaustellung eben jenes Kampfgeistes klagen, den ich meiner Legion so mühevoll anerzogen habe, nicht wahr? Es liegt in der Art eines Tana rukk, sich in die Schlacht zu stürzen, um den Gegner niederzu ringen oder bei dem Versuch zu sterben.« Aliisza schauderte, als sie den purpurnen Wurm betrachtete. »Das ist der größte Wurm, den ich je gesehen habe«, mur melte sie. Der Machtsitz des Halbdämons in den Ruinen des antiken Ammarindar lag knapp vierhundert Kilometer südöstlich von Menzoberranzan, und der Dunkelsee stellte ein Hindernis auf dem Weg dorthin dar. Zum Glück waren Tanarukks schnell und stark und konnten lange Märsche mit nur wenig Proviant zurücklegen. Die Zwerge des alten Ammarindar hatten große unterirdische Verbindungswege durch ihr Reich geschlagen, breite Tunnels mit glatten Böden, die sich Kilometer um Ki lometer durch die schier unendliche Dunkelheit zogen. Kaanyr empfand es als ein wenig beunruhigend, wenn er daran dachte, daß sich zwei oder drei Kilometer unter ihm der Dunkelsee befand. Dennoch war die alte Route der Zwerge der beste Weg nach Menzoberranzan. Wenn diese Strecke auch von hungri gen Monstern heimgesucht wurde, dann war das unerfreulich,
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doch andere Routen wiesen ihre ganz eigenen Probleme auf. Er verdrängte seine Überlegungen und begann, zu der lan gen Schlange aus Kriegern zurückzugehen, die in einer recht ungeordneten Zweierreihe den Schauplatz des Kampfes passier ten. »Erzähl mir noch einmal von diesem Nimor«, forderte Kaa nyr. »Ich kann Horgar Stahlschattens Motive gut nachvollzie hen, diesen Angriff zu starten. Die Duergar und die Drow ha ben im Laufe der Jahrhunderte viele Kriege ausgetragen. Ich verstehe nur nicht, was ein Drow-Assassine davon haben soll te.« »Nach allem, was ich weiß«, erwiderte Aliisza, »haßt er die großen Häuser von Menzoberranzan so, daß er die Stadt ver nichten will, um sie zu Fall zu bringen.« »Eine so reine Absicht ist bei einem Drow nur selten anzu treffen. Du weißt natürlich, daß er dich belogen hat.« Kaanyr vermutete, daß Aliisza ihm so wie sonst auch etwas verschwieg, was ihre Begegnung mit Nimor anging. Immerhin war sie ein Alu-Scheusal, die Tochter eines Sukkubus, und ihre Waffen und Methoden waren offensichtlich. »Belogen?« konterte sie. »Mich?« »Ich betone lediglich, daß man sich vor einem Drow, der Geschenke bringt, hüten sollte«, sagte Kaanyr. »Er könnte dich davon überzeugt haben, es diene meinen Interessen, mei ne Armee herzuführen. Aber ich glaube nicht für die Dauer eines einzigen Herzschlags, dein mysteriöser Assassine profitie re in geringerem Maß als ich von dieser Allianz.« »Das versteht sich von selbst«, entgegnete sie. »Wenn dir das klar ist, warum hast du dann deine Armee zu den Säulen des Leids geführt?« Der Cambion sah, wie seine grimmig dreinblickenden Krie ger vorüberzogen, doch vor seinem geistigen Auge erlebte er
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die finsteren Visionen, die ihn in ihren Bann geschlagen hat ten. »Wir werden uns von oben und von Osten nähern«, sagte Kaanyr Vhok. »Damit befinden wir uns in einer idealen Posi tion, um eine Streitmacht in die Flanke zu treffen, die ver sucht, die Säulen gegen die herannahende Armee aus Gracklstugh zu verteidigen. Auf den ersten Blick ist das der Grund, warum Stahlschatten und sein Assassine uns dort ha ben wollen. Es könnte ihren Zwecken dienlich sein, wenn sie sich für einige Tage am Paß bedeckt halten und die Drow damit beschäftigen, meine Soldaten zu dezimieren, ehe sie sich daranmachen, den Paß einzunehmen. Auf der gleichen Seite eines Hindernisses zu sein wie unser Gegner bedeutet eine Verpflichtung, aber auch eine Gelegenheit. Ich würde nicht ausschließen, daß Horgar irgendeinen Vorwand vorbringt, weshalb sich seine Truppen verspäten, während meine Tana rukks die heftigsten Kämpfe austragen.« Aliisza schmiegte sich an ihn und schnurrte: »Solange du nicht in die Schlacht ziehst, Liebster, mußt du nicht entschei den, auf welcher Seite du stehen willst. Die Drow könnten sich als sehr dankbar erweisen, wenn du ihnen an einer kritischen Stelle des Feldzuges deine Unterstützung anbietest. Selbst wenn diese Unterstützung nur darin besteht, daß du einfach nichts unternimmst, um den Grauzwergen bei ihrem Angriff zu helfen.« Kaanyr bleckte die spitzen Zähne zu einem ironischen Lä cheln. »Das ist wahr«, räumte er ein. »Also gut, dann werden wir sehen, was geschieht, wenn wir die Säulen des Leids erreicht haben.«
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Halisstra mußte kilometerweit geknebelt und mit den Händen auf den Rücken gefesselt durch den Wald marschieren, wobei die Kapuze über ihrem Kopf verhinderte, daß sie sich orientie ren konnte. Die Oberflächen-Elfen hatten ihr verletztes Bein geheilt, damit die anderen nicht ihretwegen langsamer gehen mußten. Um ihre anderen Wunden hatten sie sich nicht ge kümmert. Kettenhemd und Schild waren ihr abgenommen worden, doch wenigstens durfte sie weiter ihre Jacke tragen, die sie gegen die kalte Nachtluft schützte – allerdings erst, nachdem man sie gründlich durchsucht hatte, um sicher zu sein, daß ihnen keine verborgenen Waffen oder magischen Gegenstände durchgegangen waren. Schließlich erreichten sie einen Ort, wo der Waldboden ei nem Untergrund aus Stein wich. Sie hörte Flüstern und Ra scheln, das von einer größeren Zahl von Personen um sie her um kam. Die Luft wurde wärmer, und der schwache Schein eines Feuers drang durch die Kapuze an ihre Augen. »Fürst Dessaer«, sagte eine Stimme neben ihr. »Dies ist die Gefangene, von der Hurmaendyr sprach.« »Das sehe ich. Nehmt ihr die Kapuze ab, ich will ihr Ge sicht sehen«, entgegnete eine tiefe, nachdenklich klingende Stimme irgendwo vor ihr. Man nahm ihr die Kapuze ab, und Halisstra mußte blinzeln, um trotz des hellen Lichts zu erkennen, daß sie sich in einem eleganten Saal aus glänzendem, mit einem Silberhauch über zogenen Holz befand. Blühende Ranken wanden sich um Säu len und Träger, im großen Kamin ein Stück seitlich von ihr loderte ein Feuer. Mehrere blasse Elfen beobachteten sie auf merksam – offenbar Wachen, die silbern schimmernde Ket tenhemden, Speere und an der Hüfte Schwerter trugen. Fürst Dessaer war ein großer Halbelf mit goldenem Haar und blasser Haut, die einen leicht bronzefarbenen Hauch auf
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wies. Für einen Mann war er muskulös, fast so groß wie Ryld, und er trug einen Brustpanzer aus glänzendem Gold mit prachtvollen Verzierungen. »Nehmt ihr auch den Knebel ab«, sagte der Elfenfürst. »Sonst wird sie wenig sagen können.« »Vorsicht, Herr«, sagte der Mann neben ihr, den Halisstra als den Mann mit dem schwarzen Bart erkannte, gegen den sie im Wald gekämpft hatte. »Sie beherrscht etwas von der Kunst der Barden, und sie könnte in der Lage sein, einen Zauber zu wirken, obwohl sie gefesselt ist.« »Ich werde alle erforderliche Vorsicht walten lassen, Cur nil.« Der Fürst der Halle kam näher und blickte nachdenklich in Halisstras blutrote Augen. »Wie sollen wir dich nennen?« Halisstra schwieg. »Bist du eine Auzkovyn oder eine Jaelre?« fragte Dessaer. »Ich bin nicht vom Hause Jaelre«, antwortete sie. »Das an dere Haus, das Ihr genannt habt, ist mir unbekannt.« Fürst Dessaer tauschte mit seinen Beratern besorgte Blicke aus. »Dann gehörst du zu einer dritten Partei?« »Ich war mit einer kleinen Gruppe unterwegs auf einer Handelsmission«, erwiderte sie. »Wir wollten keinen Streit mit den Bewohnern der Oberflächenwelt.« »Hier begegnet man dem Wort einer Drow mit einiger Skepsis«, erklärte Dessaer. »Wenn du keine Auzkovyn oder Jaelre bist, was hast du dann in Cormanthor zu suchen?« »Wie ich schon sagte, wir befanden uns auf einer Handels mission«, log Halisstra. »Sieh an«, sagte Dessaer gedehnt. »Cormanthor wurde während des Rückzugs nicht ganz aufgegeben, und meine Leu te reagieren mit großem Widerstand auf die Anstrengungen der Drow, sich unsere alte Heimat einzuverleiben. Darum will
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ich wissen, wer genau du bist, wer deine Gefährten sind und was ihr in unserem Wald zu suchen habt.« »Unsere Angelegenheiten gehen nur uns an«, antwortete Halisstra. »Wir wollen dem Volk an der Oberfläche keinen Schaden zufügen, und wir wollen uns wieder zurückziehen, sobald wir unsere Mission erledigt haben.« »Dann sollte ich dir also einfach erlauben, wieder zu ge hen?« »Es würde Euch kein Schaden zugefügt, wenn Ihr das tätet.« »Meine Krieger werden jeden Tag mit deinesgleichen in Kämpfe auf Leben und Tod verwickelt«, sagte Dessaer. »Auch wenn du sagst, du hättest mit den Jaelre und den Auzkovyn nichts zu tun, schließt das nicht aus, daß du unsere Feindin bist. Wir bitten die Drow nicht um Quartier, und wir bieten es ihnen auch nicht an. Wenn du mir nicht einen überzeugenden Grund nennen kannst, weshalb ich dein Leben verschonen sollte, werde ich dich hinrichten lassen.« Der Herr über das Oberflächen-Volk verschränkte die Arme und starrte sie an. »Unsere Angelegenheit betrifft das Haus Jaelre«, sagte Ha lisstra, die sich so gerade aufrichtete, wie es die auf den Rücken gebundenen Hände zuließen. »Sie betrifft nicht die Elfen der Oberflächenwelt. Wie schon gesagt ist meine Gruppe nicht gekommen, um mit Euch oder Euren Leuten zu streiten.« Dessaer seufzte, dann nickte er Halisstras Bewachern zu. »Bringt die Dame in ihre Zelle«, befahl er. »Wir wollen mal sehen, ob sie nicht etwas entgegenkommender wird, wenn sie ein wenig Zeit hatte, um über ihre Lage nachzudenken.« Die Bewacher stülpten ihr wieder die Kapuze über und nahmen ihr die Sicht. Sie stand reglos da und ließ es ohne Protest über sich ergehen. Wenn sie bei den Männern den Eindruck erweckte, ihnen zu gehorchen, bestand die Chance,
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daß sie einen Fehler machten und ihr Gelegenheit gaben, sich von ihren Fesseln zu befreien. Die Bewacher führten sie zurück nach draußen. Sie spürte die kalte Luft, und durch die Kapuze war deutlich zu sehen, daß der Morgen anbrach und es immer heller wurde. Bald würde die Sonne aufgehen und die Nacht zurückweichen. Halisstra fragte sich, ob man sie wohl in einen freistehenden Käfig sperren würde, der auf einem Platz stand, damit die Neu gierigen und Mißgünstigen sie beschimpfen und quälen konn ten. Statt dessen wurde sie in ein anderes Gebäude geführt, wo sie eine kurze Steintreppe hinuntergehen mußte. Schlüssel klimperten, eine schwere Tür knarrte, und dann wurde sie hindurchgeführt. Ihre Fesseln wurden ihr abgenom men, doch schon im nächsten Moment wurden ihre Arme von groben Händen gepackt und hochgezogen, damit man sie in eiserne Handfesseln legen konnte. »Hör zu, Drow«, sagte eine Stimme. »Du wirst auf Befehl von Fürst Dessaer von deinem Knebel und deiner Kapuze be freit. Wenn du aber versuchen solltest, einen Zauber zu wir ken, dann wird man dir einen stählernen Maulkorb anlegen und eine so enge Kapuze über den Kopf ziehen, daß du um jeden Atemzug kämpfen mußt. Wir sind nicht besonders scharf darauf, Gefangene zu quälen, aber jeden Ärger, den du uns bereitest, werden wir dir dreimal so schlimm heimzahlen. Wenn wir deine Knochen brechen und deinen Kiefer zer schmettern müssen, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, werden wir das auch tun.« Die Kapuze wurde ihr vom Kopf gezogen. Halisstra mußte blinzeln, da ein heißer Sonnenstrahl durch ein Gitter in einer Ecke in die Zelle fiel. Mehrere bewaffnete Wachen standen da und beobachteten sie wachsam, damit sie nicht irgendeine Dummheit machte. Sie ignorierte sie einfach und ließ sich
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gegen die Wand sinken. Ihre Hände wurden aneinandergeket tet, die Fesseln wurden an einen Haken an der Decke gebun den. Die Wachen ließen ihr einen halben Laib eines knusprigen, goldbraun gebackenen Brotes und einen Schlauch kalten Was sers da und verließen die Zelle. Die Tür war eine mit Nieten besetzte Eisenplatte, die von außen verschlossen und verriegelt wurde. Was nun? fragte sie sich, den Blick starr auf die gegenüber liegende Wand gerichtet. Nach dem wenigen zu urteilen, was sie von der Stadt an der Oberfläche zu sehen bekommen hatte, vermutete sie, ihre Kameraden könnten sie mit einer gemeinschaftlichen An strengung mühelos befreien. »Als ob das geschähe«, murmelte sie. Sie war eine Ausgestoßene ohne Haus, deren Nutzen nichts an der Tatsache änderte, daß sie als die älteste Tochter eines hohen Hauses für Quenthel die gefährlichste Rivalin in der Gruppe war. Die Herrin der Akademie würde es begrüßen, Halisstra einem wie auch immer gearteten Schicksal zu über lassen. Wer würde Quenthel widersprechen, um sich für sie einzu setzen? Danifae? Sie ließ den Kopf sinken und stieß ein leises, verbittertes Lachen aus. Ich muß wirklich verzweifelt sein, wenn ich auf Danifaes Mitgefühl hoffe, dachte sie. Danifae, die selbst als Kriegsgefangene verschleppt worden war, würde die Situation genießen und als perfekte Ironie an sehen. Zwar ließ der Bindezauber nicht zu, daß sich Danifae gegen sie erhob, doch ohne ausdrückliche Anweisungen würde
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sie sich nicht veranlaßt sehen, nach Halisstra zu suchen. Da ihr nichts anderes zu tun blieb, als die Wand anzustar ren, beschloß Halisstra, die Augen zu schließen und zu ruhen. Ihre Wade, ihr Torso und der Kiefer schmerzten noch immer von den Verletzungen, die sie bei ihrer Gegenwehr davonge tragen hatte. So sehr sie sich auch danach sehnte, mit einem Bae’qeshel-Lied ihre Wunden zu heilen, wagte sie es dennoch nicht. Sie mußte den Schmerz erdulden. Mit einer einfachen geistigen Übung löste sie ihren Verstand von dem Schmerz und der Müdigkeit, die ihr Körper verspürte, und verfiel in tiefe Trance.
In Dessaers Audienzsaal sah der Halbelf seinen Soldaten nach, wie sie die Drow abführten. Gedankenversunken strich er sich über den Bart. »Nun, Seyll«, fragte er. »Was haltet Ihr von ihr?« Hinter einem verborgenen Wandschirm trat eine Gestalt hervor, die Rock und Jacke aus besticktem grünen Stoff trug. Es handelte sich um eine Elfe, schmal und würdevoll – und eine Drow. Ihre Haut war pechschwarz, die Iris ihrer Augen beunruhigend rot. Sie trat zu Dessaer und sah zu, wie die Sol daten die Gefangene abführten. »Ich glaube, sie sagt die Wahrheit«, antwortete sie. »Jeden falls ist sie keine Jaelre und keine Auzkovyn.« »Was soll ich mit ihr machen?« überlegte der Fürst. »Sie tö tete Harvaldor, und um ein Haar auch Fandar.« »Mit Eilistraees Hilfe werde ich Harvaldor zum Leben wie dererwecken und Fandar heilen«, sagte die Drow. »Abgesehen davon: Ist es nicht so, daß Curnils Patrouille sie und ihre Be gleiter attackierte, als sie sie sahen? Sie hat sich nur zur Wehr gesetzt.«
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Dessaer hob eine Augenbraue und sah zu Seyll. »Ist es Eure Absicht, ihr die Nachricht Lolths auszurichten?« »Es ist meine Pflicht«, erwiderte Seyll. »Bis ich diese Nach richt erhielt, war ich ihr schließlich sehr ähnlich.« Mit einer Kopfbewegung wies sie in Richtung der abgeführ ten Gefangenen. »Sie ist die stolze Angehörige eines hohen Hauses«, sagte Dessaer. »Ich bezweifle, daß sie daran interessiert ist, Ei listraees Worte zu hören.« Er legte eine Hand auf die Schulter der Drow-Priesterin. »Seid vorsichtig, Seyll. Sie wird alles tun und sagen, um Euch unaufmerksam werden zu lassen. Wenn das geschieht, wird sie Euch töten, sobald Ihr zwischen ihr und der Freiheit steht.« »Sei es, wie es sei, meine Pflicht ist eindeutig«, erklärte Seyll. »Ich werde mein Urteil für einen Zehntag aussetzen«, sagte der Fürst von Elfenbaum. »Aber wenn sie sich weigert, sich Eure Nachricht anzuhören, muß ich handeln, um mein Volk zu beschützen.« »Ich weiß«, sagte Seyll zurück. »Ich habe nicht vor zu ver sagen.«
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Die Häuser Menzoberranzans machten mobil. Aus einem Dut zend Burgen, Palästen, Höhlen und Festen marschierten drah tige Männer in eleganten schwarzen Kettenhemden stolz in Kolonnen oder thronten hoch auf einer Flugechse, Wimpel flatterten an Lanzen. Unter normalen Umständen hätte jedes Haus Hunderte von Sklavenkriegern mehr losgeschickt, bei denen es sich um einen wilden Haufen aus Kobolden, Orks, Goblins und Ogern gehandelt hätte. Die wären in die Schlacht gezogen, ehe die kostbaren Drow-Truppen ihnen gefolgt wä ren, doch nach dem Aufstand der Alhoons waren bewaffnete Sklaven eher die Ausnahme. Tausende niederer Humanoiden hatten die fehlgeschlagene Revolte ebenso überlebt wie die verheerenden Gegenmaßnahmen, die sich angeschlossen hat ten. Dennoch waren die Verluste unter den Kriegern der Skla venrassen massiv gewesen. Selbst die, denen man erlaubte,
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sich zu ergeben, waren nicht mehr vertrauenswürdig genug, um Waffen zu tragen. Nimor saß im Sattel einer Streitechse Agrach Dyrrs und lä chelte zufrieden, als die Streitmacht des Hauses Dyrr an ihm vorbeimarschierte. Die Kompanien sammelten sich auf einem kleinen, beengten Platz nahe der Grenze zwischen der West mauer und Narbondellyn, der ironischerweise gar nicht einmal so weit vom Haus Faen Tlabbar entfernt gelegen war. Jeder Schwertkämpfer der Drow trug neben seinen Waffen und sei ner Rüstung auch leichtes Gepäck, und eine Art Versorgungs zug bildete sich, da jeder Trupp seine eigenen Packechsen und sein Gefolge mitbrachte. Viele Gemeine der Stadt waren ge kommen, um zuzusehen, wie sich die Armee aufstellte, die bei weitem den größten Aufmarsch an Soldaten darstellte, den die Muttermatronen seit dem fehlgeschlagenen Angriff auf Mithralhalle vor vielen Jahren befehligt hatten. »Ich darf annehmen, die Ratssitzung ist gut gelaufen«, sagte Dyrr, der bei Nimors Steigbügel stand. Der untote Hexenmeister erschien natürlich nicht in seiner eigenen Gestalt, nicht einmal als der alte Mann, als der er sich in seinem Haus zeigte. Sein gegenwärtiges Erscheinungsbild war das eines unscheinbaren, jungen Magiers von Agrach Dyrr, der die feinen Gewänder seines Hauses trug. »Deine Muttermatrone war gut vorbereitet«, erwiderte Ni mor. Er sprach leise, auch wenn niemand in der Nähe war, der sie hätte belauschen können. »Wir haben die Hälfte aller Soldaten der Stadt für die Schlacht aufgestellt.« »Yasraena hat sich als nützliches Aushängeschild erwiesen«, stellte der Leichnam fest. »Ich habe ein Dutzend oder mehr Muttermatronen Dyrr miterlebt, und von Zeit zu Zeit stelle ich fest, daß eine Frau gegen meine ... sagen wir ... ungewöhnliche Position innerhalb des Hauses ist. Yasraena würde mich töten,
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wenn sie könnte, aber selbstverständlich weiß sie, daß Agrach Dyrr zwangsläufig vernichtet würde, sollte mir etwas Unerfreu liches widerfahren. Ich habe sie von den seit langem bestehen den Vereinbarungen in Kenntnis gesetzt, um sie davon abzu halten, mir eine Überraschung zu bereiten.« Nimor lachte ironisch und entgegnete: »Ich glaube, Ihr seid höchst selten einmal überrascht, Meister Dyrr.« »Erfolg erwächst aus Vorbereitung, junger Nimor. Betrachte dies als deine Lektion für heute.« Der Leichnam verzog seinen illusionären Mund zu einem Lächeln, dann entfernte er sich. »Viel Glück bei Eurem Unterfangen, Hauptmann.« Nimor wendete seine Streitechse auf der Stelle, als die letz te Kolonne ihn passiert hatte. Er wandte sich noch einmal dem Leichnam zu und sagte: »Ein letztes Wort. Narbondel wurde vor Zehntagen einmal mit Verspätung mit Licht erfüllt, seitdem geschah es aber jeden Tag pünktlich. Es heißt überall in der Stadt, die Meister Sorce res hätten ihren Erzmagier ersetzt.« Dyrr spreizte lächelnd die Hände. »Da Erzmagus Baenre für einige Zeit nicht zur Verfügung stehen könnte«, entgegnete der Leichnam, »würde es mir gefallen, wenn die Meister Sorceres aus eigenem Antrieb be stimmten, wer Gromphs Platz einnehmen soll.« »Hätten Muttermatrone Baenre und der Rat dabei nicht ein Wörtchen mitzureden?« »Nicht, wenn den versammelten Meistern bewußt wird, welche Macht sie innehaben«, sagte Dyrr. »Ich bin natürlich kein Mitglied der Akademie, dafür aber einige junge Hünd chen meines Hauses, die mich gut auf dem laufenden halten. Die Meister diskutieren, ob es wohl an der Zeit sei, mit der Tradition zu brechen und selbst einen Erzmagier zu benennen. Aber die Hälfte von ihnen sinnt darüber nach, wie sie jeden
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Konkurrenten eliminieren können, der klug und mutig genug ist, um den Posten anzunehmen, während die andere Hälfte überlegt, ob sie lieber in ihr eigenes Haus zurückkehren und dort herrschen sollen. Ein solcher Bruch mit dem Rat zöge einen Bürgerkrieg nach sich, und die wenigen Meister, denen noch immer nicht klar ist, daß der Bürgerkrieg bereits tobt, beharren darauf, den Status Quo beizubehalten, da man sich vor Lolths Rückkehr fürchtet. Ungeachtet dessen ist Sorcere seit Gromph Baenres Verschwinden praktisch gelähmt.« Der Leichnam wandte sich ab und ging auf seinen großen Stab gestützt weg, wobei er ein trockenes, rauhes Gelächter ausstieß. Nimor hob eine Braue und sah dem Leichnam nach, wobei er über die Worte seines Verbündeten nachdachte. Dann folg te er der Kolonne. »Leutnant Jazzt!« rief er. Aus der marschierenden Truppe des Hauses Agrach Dyrr löste sich ein kleiner, narbiger Mann und kam zu Nimor. Die Soldaten, die in der Kolonne vorrückten, wußten, daß »Hauptmann Zhayemd« kein Angehöriger ihres Hauses war. Doch hatte man ihnen erklärt, der Befehlshaber der Truppe genieße das völlige Vertrauen von Muttermatrone Yasraena und er sei sogar in die Führung des uralten Clans aufgenom men worden. Das war bei den höheren Häusern der Stadt gängige Praxis, an der sich niemand störte. Nimor war sicher, daß Jazzt Dyrr, der zweite Vetter der Muttermatrone persön lich, darüber sehr spezifisch instruiert worden war, was die Umstände anging, unter denen er Nimors Befehle ignorieren sollte, doch da Nimor vorhatte, seinen Teil der Abmachung mit Agrach Dyrr wortgetreu zu erfüllen, konnte er sicher sein, daß der Dyrr-Offizier ihm keine Probleme bereiten würde. »Ja, Hauptmann?« fragte Jazzt.
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Er gab sich Mühe, eine völlig neutrale Miene zu machen, als er Nimor mit der milden Neugier eines erfahrenen Veteranen betrachtete. »Stellt die Kompanie neben dem Kontingent der Baenre auf. Sagt den Männern, sie sollen sich auf einen langen Marsch gefaßt machen. Ich hoffe, wir brechen innerhalb der nächsten Stunde auf.« »Jawohl, Hauptmann«, erwiderte Jazzt. Der Leutnant trat einen Schritt zurück, salutierte zackig, dann wandte er sich ab und begann, den Soldaten von Agrach Dyrr Befehle zuzubrüllen. Nimor wendete sein Reittier und lenkte es über den Platz zu einem kleinen Zelt, in dem hekti sches Treiben herrschte. Dort hatten sich die hochwohlgebo renen Offiziere und Befehlshaber über die Kontingente der verschiedenen Häuser versammelt, die meisten von ihnen begleitet von einer Reihe von Feldwebeln und Laufburschen. Mehrere Diskussionen über die unterschiedlichsten Themen – die Marschordnung, der beste Rastplatz für das Ende dieses Tages, die schnellste Route zu den Säulen des Leids – waren gleichzeitig im Gange. Er stieg ab, gab die Zügel seiner Kriegsechse einem Sklaven, der in der Nähe stand, und begab sich dann mitten in das Wirrwarr, bis er einen abgeschirmten Bereich erreicht hatte. Er mußte das Emblem zeigen, das angab, zu welchem Haus er gehörte und welchen Dienstgrad er innehatte, damit man ihn einließ. Im Inneren dieses Bereiches standen Hauptleute und andere Offiziere der verschiedenen Häuser zusammen und besprachen die unterschiedlichsten Themen zur gleichen Zeit. Die Gelegenheit, eine Armee auf die Beine zu stellen und in den Krieg zu ziehen, schien sie wenigstens für den Augenblick alle Rivalitäten und Vendettas vergessen zu lassen. Statt ein ander auf den Straßen zu bekämpfen, versuchten die Burschen
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nun, einander mit mutigen und ruchlosen Taten auf dem Schlachtfeld zu überbieten. Nimor betrachtete die Befehlshaber und erkannte Embleme von sechs der acht großen Häuser, dazu ein halbes Dutzend Embleme der größten und stärksten unter den unbedeutende ren Häusern. Sein Blick fiel auf einen Mann, der das Abzei chen des Hauses Baenre trug, als er die Hände hochnahm und die Stimme hob, damit die anderen von ihm Notiz nahmen. »Geht zurück zu Euren Kompanien und kümmert Euch um Eure Versorgungszüge«, sagte Andzrel Baenre, der Waffenmeis ter des Hauses Baenre. »Ich brauche von jedem von Euch eine Liste mit der Anzahl Packtiere und Wagen in Eurem Zug, außerdem eine Meldung Eurer Bestände. Kehrt in einer Stunde zu mir zurück. Unsere weiblichen Verwandten werden zweifel los viele Fragen von großer strategischer Tragweite bespre chen, aber es fällt in unsere Verantwortung, die Einzelheiten der Versorgungszüge und der Schlachtsignale auszuarbeiten. Außerdem müssen wir noch einiges diskutieren.« Andzrel war ein hochgewachsener, junger Mann, der eine Rüstung aus geschwärzten Mithral-Platten und darüber einen dunklen Mantel trug. Sein Wappenrock trug stolz das Emblem des Hauses Baenre, sein Blick zeugte von eiserner Disziplin, und er demonstrierte eine direkte und zielgerichtete Haltung, die für einen Drow von seinem hohen Rang eher ungewöhn lich war, egal ob Mann oder Frau. Die Befehlshaber befolgten seinen Befehl und verließen das Zelt, um zu ihren Truppen zurückzukehren. Nimor ließ sie an sich vorbeigehen, dann näherte er sich dem Waffenmeister der Baenre und murmelte einen Zauber, den er unter der Anrede »Meister Baenre« versteckte. »Ja«, erwiderte Andzrel, sah auf und kniff die Augen zu sammen, ehe er sein Gegenüber ansah. »Ich ... ich ...«
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Nimor lächelte, als er sah, wie sein Zauber bei dem Drow wirkte und als ihm klar wurde, daß Andzrel Baenre und er sehr gute Freunde werden würden. »Ihr kennt mich, doch ich glaube nicht, daß ich Euch ken ne«, sagte Andzrel. »Ihr tragt das Wappen des Hauses Agrach Dyrr.« »Ich bin Zhayemd Dyrr, und ich befehlige die Truppe mei nes Hauses«, erwiderte Nimor. »Wißt Ihr etwas darüber, wann die Priesterinnen die Gnade haben, uns zu besuchen oder uns zumindest die Erlaubnis zum Aufbrechen zu erteilen?« »Ich glaube, die Muttermatronen überlegen noch, wer von ihnen die Expedition anführen soll«, sagte Andzrel, der sich dem Anschein nach wieder gefangen hatte. »Keine von ihnen traut der anderen genug, um freiwillig die Stadt zu verlassen. Gleichzeitig meinen sie aber auch alle, nicht umhinzukom men, jemanden zu bestimmen, der auf die Männer achten soll.« Nimor mußte lachen. »Ihr habt ein Talent dafür, ohne Umschweife zu reden, mein Herr.« Nimor sah zu den anderen Hauptmännern und Offizieren im Pavillon, dann fügte er an: »Ich darf annehmen, Ihr habt einen Überblick, welche Häuser hergekommen sind und wie viele – und welche – Truppen sie mitgebracht haben. Die Priesterinnen werden das wissen wollen, und es wird für jeden von uns nützlich sein zu wissen, wer neben wem mar schiert.« Er konnte sich zwar auch vorstellen, diese Information zu ganz anderen Zwecken einzusetzen, doch es gab keinen Grund, diesen Punkt jetzt und hier zu erwähnen. »Selbstverständlich«, erwiderte Andzrel. Er wies auf einen Tisch am Rand des Zeltes, an dem mehrere Baenre-Offiziere damit beschäftigt waren, Karten und Berichte zu studieren.
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»Ihr müßt den Männern da Eure Truppenstärke mitteilen, außerdem die Zahl der Infanteristen sowie die Zahl der berit tenen Soldaten. Ferner Informationen über Eure Versorgungs züge, und danach würde ich Euch gern einige Fragen stellen, was unsere Marschroute sowie den Punkt angeht, ab dem wir mit Duergar rechnen müssen. Ich ließ mir sagen, Ihr seid mit der Region hier vertraut, außerdem mit der Mannstärke und den Taktiken der Duergar-Armee.« Nimor zupfte an seinem Küraß und nickte ernst. »Gewiß«, erwiderte er schließlich und nickte ernst. »Ich kenne sie gut.«
Halisstra wurde aus ihren Träumen gerissen, als sie hörte, daß die Tür zu ihrer Zelle aufgeschlossen wurde. Sie sah auf und fragte sich, ob wohl der Augenblick gekommen war, da die Bewohner der Oberflächenwelt sie der Klinge anheimfallen ließen. »Ich habe Eurem Herrn nichts weiter zu sagen«, erklärte sie, obwohl ihr der Gedanke kam, daß es vorzuziehen war, ihre Kameraden zu verraten, statt eines qualvollen Todes zu ster ben, insbesondere, wenn sie sich so die Freiheit erkaufen konnte. »Gut«, erwiderte eine Frau. »Ich hoffe, Ihr seid bereit, mit mir zu sprechen.« Eine schlanke Gestalt glitt durch die geöffnete Tür, die gleich hinter ihr wieder verschlossen und verriegelt wurde. Die Besucherin, die einen langen, dunklen Mantel trug, blieb ste hen, um Halisstra eingehend zu betrachten, dann hob sie ihre pechschwarzen Hände und schob die Kapuze zurück, so daß ein Gesicht aus glänzendem Ebenholz und Augen so rot wie Blut zum Vorschein kamen.
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»Ich bin Seyll Auzkovyn«, sagte die Drow. »Ich bin ge kommen, um Euch die Botschaft meiner Herrin zu überbrin gen: ›Ein rechtmäßiger Platz erwartet dich in den Reichen, oben im Land des mächtigen Lichts. Komme in Frieden und lebe wieder unter der Sonne, wo Bäume und Blumen wach sen.‹« »Eine Priesterin Eilistraees«, murmelte Halisstra. Natürlich war ihr der Kult bekannt. Die Spinnenkönigin kannte nichts anderes als Verachtung für den schwachen, idealistischen Glauben der Dunklen Maid, deren Anhänger davon träumten, Buße und Akzeptanz in der Welt an der Oberfläche zu erfah ren. »Nun, ich komme in Frieden, und es scheint, als hätte ich in dieser ordentlichen kleinen Zelle meinen Platz gefunden. Ich gehe davon aus, daß jenseits der Gitterstäbe dieses Fensters wundervolle Blumen blühen, und ich bin mehr als dankbar, daß die dreimal verfluchte Sonne nicht tiefer in mein Gefäng nis scheint.« Sie lachte bitter. »Irgendwie hört sich die heilige Botschaft Eurer albernen kleinen tanzenden Göttin heute ein wenig verkehrt an. Nun geht. Ich habe wichtigeres zu tun, da ich mich darauf vorbereiten muß, von dem sogenannten Herrn über diesen stinkenden Misthaufen von einem Dorf gefoltert zu werden, sobald er die Geduld mit mir verliert.« »Ihr hört Euch an wie ich, als ich zum ersten Mal Eilistraees Botschaft vernahm«, erwiderte Seyll. Sie kam näher und setzte sich neben Halisstra. »So wie Ihr war ich eine Priesterin Lolths, die in die Gefangenschaft dieses Volkes hier an der Oberfläche geriet. Auch wenn ich nun schon einige Jahre hier lebe, empfinde ich das Licht der Sonne noch immer als grell.« »Schmeichelt Euch nicht, Abtrünnige«, knurrte Halisstra sie an. »Ich bin in keiner Weise wie Ihr.« »Ihr werdet Euch wundern«, fuhr Seyll fort, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sind die Strafen Lolths Euch je
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unnötig oder überzogen vorgekommen? Habt Ihr je eine Freundschaft aufgegeben, weil Ihr gefürchtet habt, Ihr könntet verraten werden? Habt Ihr möglicherweise erlebt, wie ein Kind Eures eigenen Leibes oder Eures Herzens vernichtet wurde, weil es eine Prüfung nicht bestand, und habt Ihr Euch dann nicht eingeredet, es sei folglich ohnehin zu schwach zum Über leben gewesen? Habt Ihr Euch je gefragt, welchen Sinn die vorsätzliche und berechnende Grausamkeit hat, die unsere gesamte Rasse vergiftet?« »Natürlich hat sie Sinn«, gab Halisstra zurück. »Wir sind zu allen Seiten von brutalen Feinden umgeben. Wenn wir nichts unternehmen, um unser Volk allzeit wachsam sein zu lassen, dann würden wir zu Sklaven werden ... nein, noch schlimmer, wir würden zu Rothé.« »Haben Lolths Urteile Euch tatsächlich gestärkt?« »Natürlich.« »Dann beweist es. Nennt mir ein Beispiel.« Seyll beobach tete sie, dann beugte sie sich vor und sagte: »Ihr erinnert Euch selbstverständlich an zahllose Prüfungen und Kämpfe, doch Ihr könnt nicht beweisen, daß sie Euch gestärkt haben. Ihr wißt nicht, was geschehen wäre, hätte man Euch nicht diesen Qua len ausgesetzt.« »Spekulation. Ich kann nicht beweisen, daß Dinge anders sein könnten als sie sind.« Halisstra sah die Ketzerin verärgert an. Selbst unter ange nehmeren Umständen hätte sie diese Unterhaltung als ärger lich und überflüssig abgetan, doch da ihre Hände und Füße in Ketten lagen und sie gegen die kalte, harte Wand einer Zelle gepreßt war, in die ein schmerzlicher Sonnenstrahl fiel, ließen diese Worte unbändigen Zorn in ihr aufsteigen. Dennoch konnte sie sich mit wenig anderen Dingen beschäftigen, und außerdem bestand eine winzige Chance, daß eine Zurschaustel
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lung von Begeisterung für Seylls Glauben ihr eine gewisse Linderung ihrer mißlichen Lage bescheren konnte. Lolth konnte Abtrünnige um keinen Preis tolerieren, doch so zu tun, als würde sie einen anderen Glauben akzeptieren, um so die Freiheit zurückzuerlangen ... das war genau die Art von Raffi nesse, die die Spinnenkönigin bewunderte. Der Trick bestand natürlich darin, nicht allzu bereitwillig zu erscheinen, aber eben doch gerade zweiflerisch genug, daß Seyll und ihre Ge nossen die Hoffnung hatten, Halisstras Herz könne wirklich einen Wandel durchmachen. »Ihr seid ein Ärgernis für mich«, sagte sie zu Seyll. »Laßt mich in Ruhe.« »Wie Ihr wollt«, antwortete Seyll und erhob sich anmutig. Dann lächelte sie. »Denkt über das nach, was ich Euch sagte, und überlegt, ob nicht doch eine gewisse Wahrheit dahin terstecken könnte. Wenn Euer Glaube an Lolth so stark ist, wie Ihr glaubt, dann wird er einer Auseinandersetzung mit ihm ganz bestimmt standhalten. Möge Eilistraee Euch segnen und wärmen.« Sie schlug die Kapuze über den Kopf und zog sich zurück. Halisstra wandte den Blick von ihr ab, damit Seyll nicht das grausame Lächeln sehen konnte, das ihre Lippen umspielte.
Die Nachhut, überlegte Ryld, scheint die Aufgabe zu sein, die Quenthel für denjenigen vorsieht, den sie jeweils für am ent behrlichsten hält. Er hielt inne und lauschte auf die Geräusche im Wald, im mer auf der Hut, ob irgendein Laut ein Hinweis auf einen nahenden Gegner sein mochte. Das einzige, was er jedoch hörte, war das ständige Prasseln des kalten Regens. Pharauns Feuerspinnen hatten im Wald hinter ihnen für einen Groß
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brand gesorgt, doch vermutlich hatte der Regen verhindern können, daß sich die Feuer zu sehr ausbreiteten. Der Waffen meister warf einen Blick zum Himmel, woraufhin ihm Tropfen ins Gesicht fielen, während er den mattsilbernen Glanz hinter den Wolken betrachtete. Wenigstens spült der Regen unsere Spuren weg, dachte er. Nachdem sie in der Nacht zuvor durchmarschiert waren und den langen, sonnenreichen Tag unter einem dicken Ge strüpp verbracht hatten, waren sie am Abend wieder aufgebro chen, doch nach kurzer Zeit bereits auf ein zeitraubendes Hin dernis gestoßen, denn der Waldboden bestand ausschließlich aus Morast und Matsch. Ryld zog seine Kapuze zurecht, dann ging er weiter, wobei er aufpassen mußte, daß er keine zu schnellen Schritte machte. Er würde keine gute Nachhut bilden, wenn er zu dicht hinter den anderen war, andererseits wollte er auch nicht so weit zurück fallen, daß ihm eine Biegung auf dem Weg entging und er geradewegs in die endlosen Wälder marschierte. Wenn Ha lisstra schon keine Umkehr rechtfertigte, dann durfte er sich keinen Illusionen hingeben, was mit ihm geschähe, wenn er von der Gruppe getrennt wurde. Eine Weile ging er einfach weiter und hielt in kurzen Abständen an, um mit Augen und Ohren nach Feinden zu suchen. Es dauerte nicht lang, da vernahm er das lauter werdende, gleichmäßige Rauschen von Wasser – ein rascher Strom, der durch den Wald floß, ein finsteres, breites Gewässer, das sich seinen Weg bahnte entlang an morastigen Ufern, die mit Dor nen und Farnen überzogen waren. Ein großer Stamm war ge fällt worden, damit man den Strom überqueren konnte. Seine Oberseite war abgehobelt worden, um eine sichere Überque rung zu gewährleisten. Quenthel und die anderen warteten schon dort und beobachteten stumm ihre Umgebung. Ryld sah
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die Armbrüste, die in seine Richtung wiesen und erkennen ließen, wie wachsam seine Gefährten waren. Der Kampf mit den Bewohnern der Oberflächenwelt hatte seinen Kameraden eindeutig eingeschärft, im Wald Vorsicht walten zu lassen. »Nicht schießen«, rief er. »Ich bin’s.« »Meister Argith«, entgegnete Quenthel. »Ich hatte mich schon gefragt, ob Ihr Euch verlaufen haben könntet.« Ryld verbeugte sich vor Quenthel und gesellte sich zu den anderen. Er ließ sich auf dem Stumpf des abgesägten Baumes nieder und durchsuchte die Taschen seines Mantels nach einer kleinen Flasche Duergar-Branntwein. Normalerweise war es nicht seine Art, sich mit Alkohol zu benebeln, doch der stun denlange Marsch durch den Regen hatte seine Kleidung bis auf die Haut durchnäßt, so daß er nun fror. Der Likör sorgte für ein heißes Strahlen aus seiner Körpermitte heraus, nachdem er einen ordentlichen Schluck getrunken hatte. »Ist das der Fluß?« fragte er Pharaun. »Ja«, erwiderte der prompt. »Hier überqueren wir ihn und gehen dann stromaufwärts nach Süden. Das Haus Jaelre ist nur noch ein paar Kilometer entfernt.« Mit einem Finger wies er auf Ryld, dann murmelte er eine magische Silbe. Die Flasche entglitt der Hand des Waffenmeis ters und schwebte durch die Luft, bis der Magier sie greifen konnte und sich selbst auch einen guten Schluck gönnte. »Meinen Dank«, sagte Pharaun. »Die Grauzwerge mögen zwar abscheuliche Rauhbeine sein, aber sie brennen einen wirklich guten Branntwein.« »Trinkt nicht zuviel«, warf Quenthel ein. »Die Jaelre wer den womöglich das Feuer auf uns eröffnen, sobald sie uns se hen. Ich muß mich darauf verlassen können, daß Ihr wachsam und bei klarem Verstand seid. Meister Argith, Ihr bleibt ab jetzt dicht hinter uns. Was vor uns liegt, macht mir mehr Sor
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gen als das, was sich hinter uns befindet.« »Wie Ihr wollt, Herrin«, erwiderte Ryld. Er hielt Pharaun die Hand hin, der nahm noch einen Schluck, dann warf er ihm die Flasche zu. Ryld erhob sich, nahm sein Gepäck auf und ging als erster über die Brücke. Die Oberfläche des Stammes war rutschig und uneben und hätte für einen tolpatschigen Zwerg oder einen ungeschickten Men schen ein Problem dargestellt. Die Drow dagegen überquerten ihn ohne jede Schwierigkeit. Auf der anderen Seite des Stromes stießen sie auf die über wucherten Überreste einer alten Steinstraße, die von den gewundenen Wurzeln unzähliger Bäume und dem Frost aus Jahrhunderten aufgerissen war. Die glatten weißen Steine, die fachmännisch zusammengefügt worden waren, zeugten davon, daß es sich um eine Arbeit der alten Elfen handelte, die einst an der Oberfläche der Welt im Wald gelebt hatten. Ryld war nicht so ungebildet, nichts von Cormanthor gehört zu haben, dem großen Waldreich der Oberflächen-Elfen, und ebenso wußte er vom vergangenen Ruhm der legendären Hauptstadt Myth Drannor. Von den Namen abgesehen war ihm jedoch unbekannt, wer die Erbauer des Imperiums im Wald gewesen waren und was ihnen zugestoßen war. Langsam und aufmerksam bewegte sich die Gruppe in einer offenen Formation vorwärts, jederzeit bereit, auf jeden Angriff zu reagieren. Über anderthalb Kilometer folgten sie der alten Straße, so wie Pharaun es ihnen gesagt hatte, dann gelangten sie zu den Überresten alter Gemäuer und Zinnen, die von einer antiken Feste zeugten. Grüne Ranken überzogen die Mauer und blühten, obwohl es Winter war. Die Mauer war an Dutzenden Stellen gerissen oder durchlöchert. Ein verrostetes Eisentor lag quer auf der Straße und stellte eine Barriere dar, die ihren Nutzen längst verloren hatte. Jenseits der Mauern
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erhob sich ein kleiner steiniger Hügel aus dem Waldboden, den eine große fünfeckige Feste aus weißem Stein krönte. Auf den ersten Blick kam es Ryld vor, als sei das Gebäude noch in Benutzung, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, daß die Turmspitzen durchlöchert waren und daß mehrere der frei schwebenden Stützpfeiler, die die Türme mit der Feste selbst verbanden, vor Jahren zusammengebrochen waren. Ranken hatten ihre Wurzeln in den gespaltenen Steinen verankert und überzogen die Ruinen wie eine lebendige Decke. »Ruinen«, knurrte Jeggred. »Euer Zauber war ein Fehl schlag. Oder habt Ihr uns in die Irre geführt? Steckt Ihr mit dem verlogenen Späher unter einer Decke?« »Meine Zauber gehen nicht fehl«, erwiderte Pharaun. »Dies ist der Ort. Die Jaelre sind hier.« »Wo sind sie denn dann?« zischte der Draegloth. »Wenn Ihr ...« »Seid ruhig«, herrschte Valas sie an. Er entfernte sich mit kaum hörbaren Schritten ein Stück vom Tor, während er ei nen Pfeil schußbereit auflegte. »Dieser Ort ist nicht so verlas sen, wie er wirkt.« Ryld suchte hinter einer alten Säule aus großen Quadern Schutz, eine Hand auf Splitters Heft. Danifae und Pharaun taten es ihm auf der anderen Straßenseite nach. Quenthel dagegen rührte sich nicht. Vielmehr stand sie selbstsicher mitten auf dem Weg und rief laut: »Ihr vom Haus Jaelre! Wir wollen mit Euren Führern sprechen!« Aus einem Dutzend verborgener Positionen erhoben sich gut getarnte Gestalten in dunklen Mänteln, die das Auge täuschten, da sie die Umgebung des Trägers nachahmten. Bogen und Stäbe wurden auf die Menzoberranzanyr gerichtet. Eine der Gestalten, eine Frau mit einem Schwert mit zwei
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Klingen, schob die Kapuze zurück und betrachtete die Gruppe voller Verachtung. »Elende Spinnenküsser«, zischte sie. »Was habt Ihr, was das Haus Jaelre von Euch wollen könnte, abgesehen von Euren Leibern, die gleich von unseren Pfeilen durchbohrt sind?« Quenthel versteifte sich und legte eine Hand auf die Peit sche. Die Waffe wand sich ein wenig, die Schlangenköpfe schnappten. »Ich bin Quenthel Baenre, Herrin Arach-Tiniliths, und ich streite mich nicht auf Türschwellen mit gemeinen Torwachen. Laßt Eure Herren wissen, daß wir eingetroffen sind, damit wir endlich aus diesem verdammten Regen herauskommen.« Die Jaelre im Rang einer Hauptfrau kniff die Augen zusam men und gab ihren Soldaten ein Zeichen, die daraufhin ihre Position veränderten und sich zum Feuern bereitmachten. Valas Hune schüttelte den Kopf, ließ den Bogen sinken und trat vor, wobei er eine Hand hob »Wartet«, rief er. »Wenn Tzirik noch bei Euch ist, dann sagt ihm, Valas ist hier. Wir wollen ihm einen Vorschlag un terbreiten.« »Ich bezweifle, daß unsere Hohepriester mit einem Vorschlag aus Eurem Mund etwas anfangen kann«, sagte die Drow. »Er wird zumindest erfahren wollen, warum wir tausend fünfhundert Kilometer weit von Menzoberranzan hergereist sind, um mit ihm zu sprechen«, konterte Valas. Die Frau warf Quenthel einen finsteren Blick zu, dann sagte sie: »Senkt Eure Waffen und wartet dort. Rührt Euch nicht, sonst eröffnen meine Leute das Feuer. Es sind mehr, als Ihr glaubt.« Valas Hune nickte, dann legte er den Bogen hin. Er sah zu den anderen, dann setzte er sich auf den Rand eines zerfalle nen Brunnens. Die anderen taten es ihm nach, allerdings ließ
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sich Quenthel nicht dazu herab, sich zu setzen. Vielmehr ver schränkte sie die Arme und wartete. Ryld sah sich auf dem Hof um, auf dem es von gegnerischen Kriegern nur so wimmelte. Seufzend rieb er sich den Kopf. Quenthel weiß, wie man gleich beim ersten Auftritt Eindruck macht, wie? gestikulierte Pharaun. Frauen, erwiderte Ryld auf die gleiche Weise. Vorsichtig griff er in die Tasche seines Mantels und holte wieder den Branntwein heraus.
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Die schmerzlichste Qual der Kerkerhaft, so überlegte Halis stra, war schlicht die Langeweile. Wie die meisten Angehöri gen ihres außergewöhnlich langlebigen Volkes nahm die Pries terin kaum wahr, wie Stunden, Tage oder sogar Zehntage ver strichen, wenn sie ihren Geist beschäftigen konnte. Doch aller Weisheit und Geduld zum Trotz, die sie sich in über zweihun dert Jahren zu eigen gemacht hatte, kamen ihr wenige Stunden Gefangenschaft in einer kargen Zelle aus Stein schlimmer vor als die monatelange rauhe Disziplinierung, die sie in ihrer Jugend erduldet hatte. Die endlosen Stunden des Tages krochen regelrecht dahin, während sich ihr Leib nach Ruhe und Erholung sehnte, auch wenn durch das eine verfluchte Fenster der schmerzhafte Son nenschein fiel. Ihre Gedanken bewegten sich derweil sprung haft, und mal betete sie, ihre Kameraden möchten kommen
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und sie einfach nur retten, dann wieder malte sie sich die ab scheulichsten und brutalsten Foltermethoden für jeden einzel nen von ihnen aus, weil sie nichts dagegen unternommen hatten, daß sie in Gefangenschaft geriet. Schließlich versank sie in tiefe Trance, der Geist wurde von den Plänen, die sie schmiedete, und von den alten Erinnerun gen befreit. Ihr Bewußtsein war dabei so entrückt, daß man ihren Zustand durchaus als Schlaf hätte bezeichnen können. Die Erschöpfung übermannte sie letztlich doch – nicht nur die rein körperliche Ermattung als Folge vieler Zehntage Reisen und Gefahren in der Wüste, in den Schatten, im Unterreich und im Wald, sondern auch geistige Ermüdung. Die hatte ihre Ursache in der tiefen Trauer über den Verlust des Hauses, über das sie hätte herrschen sollen. Halisstra hatte sich nicht gestat tet, für Ched Nasad auch nur eine Träne zu vergießen, doch die unheilvolle Wahrheit ihrer Misere kehrte immer wieder in ihre Gedanken zurück und vergiftete sie mit einem kalten, hoffnungslosen Unglauben, der sich nur schwer verdrängen ließ. Die vielen Stunden der Gefangenschaft gaben ihr Gele genheit, die verhaßte Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen und über den Verlust an Status, Reichtum und Sicherheit nachzudenken, bis ihre schreckliche Faszination in gewisser Weise gesättigt war. Als das Abendrot kam, brachten die Wachen ihr frisches Essen, das aus einem faden, aber nahrhaften Eintopf und ei nem weiteren halben Brotlaib bestand. Halisstra stellte fest, daß sie hungrig war, und stürzte sich auf das Essen, ohne allzu viel darüber nachzudenken, ob man es mit Gift oder Drogen versetzt haben könnte. Nachdem sie gegessen hatte, wurde die Tür zu ihrer Zelle wieder geöffnet, und Seyll Auzkovyn kam abermals zu ihr. Die Priesterin hatte den langen, schweren Mantel abgelegt
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und trug nun das elegante Reitgewand einer Dame, das aus einer bestickten grünen Jacke und einem knielangen Rock, dazu eine cremefarbene Bluse und hohe Stiefel, die zur Jacke paßten, bestand. Der Anblick einer Drow-Priesterin, die als vornehme Oberflächen-Elfe gekleidet war, wirkte auf Halisstra abstoßend. »Hat der Oberflächenfürst Euch so angezogen?« zischte sie die Verehrerin Eilistraees an. »Ihr wirkt fast wie eine völlig hilflose Edeldame der verfluchten Sonnenelfen.« »Wie anders sollte ich mich kleiden?« erwiderte Seyll. »Ich bin hier unter Freunden und muß keine Rüstung tragen. Au ßerdem habe ich festgestellt, daß die Schädel- und Spinnen motive meiner bisherigen Kleidung das Oberflächenvolk zu beunruhigen schien.« Sie gab den Wachen ein Zeichen, dann wurde die Tür hinter ihr geschlossen. »Abgesehen davon«, fuhr sie fort, »gibt es hier keine Sonnenelfen.« »Für mich sind sie alle gleich«, sagte Halisstra. »Wenn Ihr sie besser kennengelernt habt, werdet Ihr auch in der Lage sein, sie besser zu unterscheiden.« »Ich hege nicht den Wunsch dazu.« »Seid Ihr Euch da sicher? Es ist von Vorteil, wenn man sei ne Feinde kennt. Vor allem, wenn sie gar keine Feinde sein müssen.« Seyll kniete sich neben Halisstra und sammelte sich. Sie war jung, kaum über hundert, und auf ihre Art war sie hübsch. Doch ihre Haltung war ... falsch. Ihren Augen fehlte es an dem begierigen Ehrgeiz und dem kalten Taxieren – Eigenschaften, die Halisstra sonst im Gesicht aller Elfen gesehen hatte, von denen sie umgeben gewesen war. Seylls geduldiger Ausdruck konnte sehr leicht mit Unterwürfigkeit verwechselt werden, einem fehlenden Willen, sich durchzusetzen, und doch strahlte sie eine ruhige Gelassenheit aus, die darauf hinzudeuten
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schien, daß sie sich bestens unter Kontrolle hatte. Halisstras Blick fiel auf Seylls Hände, als die Priesterin ihre Kleidung glattstrich. Sie waren kräftig und schwielig, wie es sonst bei einem Waffenmeister der Fall war. »Ich hatte heute Gelegenheit, mich mit den Wappen auf Euren Waffen zu beschäftigen und mir die Objekte in Ruhe anzusehen. Melarn ist ein führendes Haus in Ched Nasad, nicht?« »Das war es«, gab Halisstra zurück. Augenblicklich verdammte sie sich für ihre Nachlässigkeit. Wenn die Bewohner der Oberfläche nichts vom Schicksal Ched Nasads wußten, dann war es wohl kaum notwendig, Informationen leichtfertig zu verschenken. Sie mußte für alles, was sie preisgab, eine Gegenleistung fordern. »Ihr wurdet in einem internen Krieg der Häuser besiegt?« Seylls Mutmaßung war nachvollziehbar. Wenn Häuser der Drow untergingen, ihren Status verloren oder auf andere Wei se unbedeutend wurden, waren dafür normalerweise Aktionen anderer Häuser verantwortlich. »Nicht ganz«, antwortete sie. Seyll wartete eine ganze Weile, ob Halisstra ins Detail ge hen würde, doch als das nicht geschah, schlug die Priesterin Eili-straees eine andere Taktik ein. »Ched Nasad ist weit weg. Mindestens tausend oder zwölf hundert Kilometer, und die große Wüste Anauroch und die Gestürzten Länder, wo die Phaerimm lauern, liegen zwischen dort und hier. Fürst Dessaer möchte mehr über die Umstände erfahren, wieso es eine hochrangige Tochter eines mächtigen Hauses aus Ched Nasad in das Land seines Volks verschlägt. Wenn ich ehrlich bin, bin ich auch neugierig.« »Ist das Eure Verhörmethode?« fragte Halisstra. »Ihr leiht mir mitfühlend Euer Ohr, damit ich aus scheinbarer Freund
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schaft Fragen beantworte?« »Ich muß etwas über den Grund Eurer Anwesenheit in Cormanthor erfahren, ehe Fürst Dessaer Euch in meine Obhut entläßt. Wenn Euer Grund tatsächlich so harmlos ist, wie Ihr behauptet, gibt es keine Veranlassung, Euch noch länger hier festzuhalten.« »Mich entlassen?« Halisstra lachte leise. »Wie ich sehe, habt Ihr trotz Eurer Abkehr von Lolth nicht Euren Sinn für Grausamkeit verloren. Haben Eure Freunde von der Welt hier oben Euch gebeten, mit den Hoffnungen Eurer Gefangenen zu spielen, indem Ihr ihr die Freilassung vorgaukelt, wenn sie mit Euch zusammenarbeitet? Oder habt Ihr diese Taktik selbst vorgeschlagen? Glaubt Ihr wirklich, ein Tag in dieser verfluch ten Zelle würde genügen, um mich so sehr verzweifeln zu las sen, daß ich auf ein leeres Versprechen hereinfalle?« »Die Hoffnung, die ich Euch mache, ist kein leeres Verspre chen«, sagte Seyll. »Sagt uns, was Ihr hier tut. Zeigt uns, daß Ihr keine Feindin unseres friedliebenden Volkes in Cor manthor seid. Dann werdet Ihr Eure Freiheit zurückerhalten.« »Ihr könnt nicht erwarten, daß ich Euch das glaube.« »Nun, ich bin hier, oder?« gab Seyll zurück. »Offenbar können doch einige von uns lernen, mit den Bewohnern der Oberflächenwelt in Frieden zusammenzuleben.« »Ihr habt auch nichts von diesen Bewohnern zu befürch ten«, erwiderte Halisstra. »Eure tanzende Göttin ist zu schwach, um ihnen gefährlich zu werden.« »Wie ich schon sagte, war ich eine Priesterin Lolths, bevor man mich gefangennahm«, erklärte Seyll. Sie beschrieb mit den Händen eine flehende Geste, eine zeremonielle Haltung, die Halisstra bestens vertraut war. In der Sprache der Ebenen des Abgrundes, wo Lolth zu Hause war, setzte Seyll zu einem hohen, geheimen Gebet an: »Große Göttin, Mutter der Dun
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kelheit, gib mir das Blut meiner Feinde zu trinken und laß mich ihr lebendiges Herz verspeisen. Gib mir die Schreie ihrer Kinder für meine Gesänge, und gib mir die Hilflosigkeit ihrer Männer für meine Befriedigung, gib mir den Reichtum ihrer Häuser, damit ich gut schlafe. Mit diesem unwürdigen Opfer ehre ich dich, Königin der Spinnen, und erbitte von dir die Kraft, um meine Gegner zu vernichten.« Die infernalischen Worte schienen vor finsterer Macht zu knistern. Jede der rauhen Silben war mit böser Energie erfüllt, die sich wie ein Gift in der Zelle ausbreitete. Seyll beschrieb mit einer Hand die Art und Weise, wie das Messer zu führen war, dann hockte sie sich wieder hin. Sie wechselte zurück in die Sprache der Elfen und sagte mit geschlossenen Augen: »Viele unglückliche Seelen sind durch meine Klinge gestorben, doch hier konnte ich Buße tun und Frieden finden. Ob dich das auch erwartet, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Doch ich biete mich dir als Be weis dafür an, daß du dich in diesen Ländern in Frieden bewe gen kannst, wenn du das wünschst.« Halisstra starrte Seyll an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Sie hatte die Priesterin erneut als schwächliche Versagerin ver dammen wollen, als eine Verräterin an der einen, wahren Göttin. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einzig eine Priesterin von hohem Status konnte dieses Ritual erlernt haben, und doch hatte sich Seyll von Lolth abgewandt. Aber nicht nur das – sie lebte auch noch und schien mit ihrer Ent scheidung zufrieden zu sein. Natürlich war Halisstra über viele Jahre hinweg indoktriniert worden, damit sie Ketzerei und Abkehr von Lolth als die schlimmsten vorstellbaren Verbre chen ansah. Doch in all der Zeit der Aufopferung und Ernied rigung vor dem Altar Lolths war sie niemals einer echten Ab trünnigen begegnet. Sicher, sie hatte immer wieder einmal
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ihren Rivalinnen unterstellt, sie würden sich von Lolth ab wenden, doch tatsächlich jemandem gegenüberzustehen, der wirklich diesen größten Verrat an der Göttin begangen hatte und der – bislang jedenfalls – überlebt hatte, um anderen da von zu berichten ... »Ich möchte Euch zu etwas herausfordern«, sagte Seyll. »Ich glaube, Ihr habt dafür die nötige Intelligenz und Phanta sie, aber das werden wir schon sehen. Stellt Euch für einen Moment vor, Ihr könntet an einem Ort leben, an dem es Euch möglich wäre, durch die Straße zu gehen, ohne Angst zu ha ben, ein Assassine könnte Euch einen Dolch in den Rücken jagen. Stellt Euch vor, Eure Freunde – echte Freunde – wollen von Euch nichts weiter als Eure Gesellschaft, Eure Schwestern loben Euch für Eure Leistungen, anstatt Euch Euren Erfolg abzusprechen, und Eure Kinder werden nicht ermordet, weil sie ohne eigene Schuld versagt haben. Stellt Euch vor, Euer Geliebter liebt Euch Euretwegen, nicht wegen Eures Status oder Eures Einflusses. Stellt Euch vor, Eure Göttin will mit Euch Eure Freude feiern, nicht Eure Angst.« »Es gibt keinen solchen –« »Ihr antwortet zu schnell. Ich bat Euch, Euch das vorzustel len, wenn Ihr könnt«, sagte Seyll. Sie stand auf und entfernte sich, wobei sie Halisstra den Rücken zuwandte. »Ich werde warten.« »Ich kann mir solchen Unsinn nicht vorstellen. Es ist eine leere Phantasie, die nichts bedeutet. Wir sind dafür nicht be stimmt; niemand ist das, weder Drow noch Lichtelfen, nicht einmal die banalen Menschen. Nur ein Narr lebt in Träu men.« »Aber wäre es nicht dennoch angenehm?« fragte Seyll über die Schulter nach hinten. »Ihr müßt ständig unmögliche Träume haben. Jedes denkende Wesen hat sie. Vielleicht habt
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Ihr davon geträumt, Macht über Eure Feinde zu haben. Oder Ihr habt von einem unerreichbaren Liebhaber geträumt. Oder davon, den Status zu erlangen, der Eurer gerecht wird.« Halisstra schnaubte gereizt und zerrte an ihren Fesseln. »Wenn Ihr Euch vorstellen könnt, all Eure Feinde auf einen Schlag zu vernichten, dann könnt Ihr Euch auch vorstellen«, bohrte Seyll nach, »daß Ihr treue Freunde habt und daß eine Göttin sich mit Eurer Loyalität zufriedengibt und nicht noch Opfer verlangt.« »Alle Götter verlangen Opfer. Ihr macht Euch etwas vor, wenn Ihr glaubt, Eilistraee sei anders. Vielleicht ist Eurer Wil le einfach nur zu schwach, um zu verstehen, wie Ihr an sie gebunden seid.« Halisstra sah weg und fügte hinzu: »Ihr habt es geschafft, mich zu langweilen. Ihr dürft gehen.« Die Priesterin schritt zur Tür und klopfte auf das rostige Ei sen, während sie sich wieder Halisstra zuwandte. »Was, wenn ich Euch zeigen kann, daß Ihr irrt?« fragte sie leise. »Morgen nacht tanzen wir im Wald zu Eilistraees Freude. Ich werde Euch hinbringen, dann könnt Ihr mit eigenen Augen sehen, was unsere Göttin von uns verlangt.« »Ich werde das nicht mitmachen«, herrschte Halisstra, die inzwischen so verärgert war, daß sie völlig vergessen hatte, eine Wendung hin zum Glauben der Bewohner der Oberfläche vorzutäuschen. »Ist Euer Glaube an Lolth so schwach, daß Ihr es nicht er tragen könnt, uns tanzen zu sehen?« fragte Seyll. »Hört es Euch an, seht es Euch an, und dann fällt Euer Urteil. Mehr verlange ich nicht von Euch.«
Der nicht abreißende schwarze Luftstrom, der durch die verti kalen Straßen des in Ruinen liegenden Chaulssin fegte, be
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grüßte Nimors Rückkehr mit einem Sperrfeuer aus heftigen Windstößen, die solche Kraft besaßen, daß er einen Moment lang ringen mußte, um nicht umgerissen zu werden. Sein wei ßes Haar peitschte wie ein wirrer Heiligenschein um seinen Kopf, und die Gesalbte Klinge blieb einen Augenblick stehen, bis die Böe vorüber war. Er konnte nicht lange in der Stadt der Wyrmschatten blei ben, schon gar nicht, wenn die Armee Menzoberranzans mar schierte und das Kontingent von Agrach Dyrr mit ihr unter wegs war. Doch andererseits war er auch nicht so in Eile, daß er nicht für einen kurzen Moment in der verborgenen Zitadelle seines geheimen Hauses hätte verweilen können. Nimor Imph raezl war immerhin Prinz von Chaulssin, und die großartige Ruine war sein Reich. Er war hier nicht geboren, und er hatte in der von Schatten heimgesuchten Stadt auch nicht die Jahre seiner Kindheit verbracht. Dieser Ort war für ein Kind viel zu gefährlich, darum brachten die Jaezred Chaulssin ihre Prinzen in einem Dutzend niederer Häuser in vielen Städten im Unter reich unter. Als Nimor aber erwachsen geworden war und sein uraltes Erbe angetreten hatte, hatte er die stürmische Ruine als seinen Palast angesehen. Die Böe ließ nach, jedenfalls in dem Maß, in dem der Wind schwächer wurde, der unablässig durch die schwarze Schlucht rings um die Stadt fegte. Nimor ging weiter. Über die Schat tenebene war Menzoberranzan kaum mehr als eine Stunde entfernt, so daß es für Nimor ein leichtes gewesen war, einen Vorwand zu finden, um sich von der marschierenden Kolonne zu lösen: Er mußte sich einer »persönlichen Angelegenheit« widmen. Auch wenn Andzrel Baenre die Hauptleute der Häu ser plötzlich zu einem Kriegsrat einberufen sollte, während Nimor unterwegs war, stellte seine Abwesenheit kein ernstes Problem dar. Die Armee rückte so schnell vor, wie man es
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erwartete, doch niemand würde Verdacht schöpfen, wenn ein Adliger für kurze Zeit in der Stadt zurückblieb, um sich später wieder den Truppen anzuschließen. Er erreichte die große Wendeltreppe, die ins Herz des Berges von Chaulssin gehauen worden war, und nahm zwei Stufen auf einmal. Im großen Saal am Kopf der Treppe fand er die Vater patrone wieder versammelt vor, die in Zweier- und Dreier gruppen zusammenstanden, um Neuigkeiten auszutauschen und Pläne zu schmieden, wie sie das Haus durch die anstehen de, bemerkenswerte Gelegenheit voranbringen wollten. Groß vater Mauzzkyl drehte sich um und warf Nimor seinen gefürch teten wütenden Blick zu, als der Assassine eintrat. »Wieder laßt Ihr uns warten«, sagte er. »Ich bitte um Verzeihung, verehrter Großvater«, erwiderte Nimor. Er stellte sich zu den anderen in den Kreis und ver beugte sich knapp. Aus der Ferne hörte sich das Heulen des Windes noch unheimlicher an. »Ich wurde zu einem Kriegsrat gerufen, und es wäre nicht klug gewesen, ihm fernzubleiben.« »Das könnte man auch über diese Versammlung sagen«, stellte Vaterpatron Tomphael fest. Nimor zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte: »Ich habe einige Zeit und Mühe investiert, um eine Identität zu wahren und bei den Verteidigern Menzoberranzans ein gewis ses Maß an Verantwortung zu erlangen, Tomphael. Diese Be mühungen sollten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Solange der verehrte Großvater mich nicht anderweitig in struiert, werde ich Euch immer dann warten lassen, wenn es notwendig ist, unseren Plan vor Günstlingen Lolths zu schüt zen und ...« »Das reicht, Nimor«, polterte Mauzzkyl. »Wie kommt Ihr voran?« »Bestens, verehrter Großvater. Kronprinz Horgar Stahlschat
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ten aus Gracklstugh marschiert mit einer Armee von fast fünf tausend Duergar auf Menzoberranzan. Die Muttermatronen haben beschlossen, sich den Duergar auf dem Schlachtfeld zu stellen, statt es auf eine Belagerung ankommen zu lassen. Sie fürchten die Kriegslust anderer Domänen des Unterreichs. Ich habe aber dafür gesorgt, daß sich die Armee des Kronprinzen heimlich auf Menzoberranzan zubewegt, und ich habe das Kommando über ein Truppenkontingent, das im richtigen Moment umschwenken wird, um den gewünschten Ausgang dieses Konflikts sicherzustellen. Außerdem konnte ich den Cambion-Kriegsherrn Kaanyr Vhok davon überzeugen, mit seiner Armee aus Tanarukks ebenfalls gegen Menzoberranzan zu ziehen, allerdings bin ich mir bei der Geknechteten Legion nicht so sicher. Kaanyr Vhok taucht vielleicht nicht auf, und wenn doch, hat er wenig Grund, sich uns verpflichtet zu füh len.« »Ihr wollt also die Streitkräfte Menzoberranzans vernich ten«, stellte Patron Xorthaul fest. Der Priester in der schwar zen Rüstung strich sich übers Kinn. »Was, wenn die Menzo berranzanyr sich als widerstandsfähiger erweisen, als Ihr es erwartet habt? Was, wenn sie die Duergar vernichtend schla gen? Oder sich Kaanyr Vhok als unzuverlässig entpuppt? Es wäre besser gewesen, eine kleinere Streitmacht in Eure Falle zu locken. Euer Spiel ist zu riskant.« »Hätte ich die Duergar nicht als Gefahr dargestellt, dann wären die Muttermatronen kaum versucht gewesen, etwas anderes zu tun als sie zu ignorieren. Wie die Sache nun liegt, gibt es drei mögliche Ausgänge für den Kampf zwischen Gracklstugh und Menzoberranzan. Die Duergar könnten ge winnen, es könnte zu einem Patt kommen, oder die Drow siegen. Wir tun, was wir können, um die Armee Menzoberran zans in die Hände des Kronprinzen fallen zu lassen. Doch selbst
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wenn es ihm nicht gelingen sollte, die Menzoberranzanyr ver nichtend zu schlagen, stehen die Chancen gut, daß die Duer gar den Anhängern Lolths schwere Verluste zufügen werden. In dem Fall könnten die Duergar unseren Feind genügend schwächen, damit wir ihn selbst niederringen können. Im schlimmsten Fall, wenn also Gracklstugh ausgelöscht wird, dann ... nun, dann würde unser Plan zwar scheitern, aber wir würden wenig verlieren.« »Vergeßt nicht, Xorthaul, unsere Strategie gegen Menzo berranzan ist die des Zermürbens«, fügte Mauzzkyl an. »Die Stadt ist zu stark, um sie in einem Zug zu nehmen, also müssen wir ihr Dutzende von Wunden zufügen, damit sie ausblutet.« »Die Magier von Menzoberranzan werden sicher mit einem Erkenntniszauber von der Existenz einer so großen Armee unmittelbar vor den Toren der Stadt erfahren«, warf Patron Tomphael ein, der selbst Magier war. »Die Muttermatronen werden ihre Armee zurückbeordern oder statt dessen Euren Hinterhalt gegen die Duergar wenden.« »Unsere Verbündeten in Agrach Dyrr haben uns in diesem Punkt geholfen«, sagte Nimor. »Gromph Baenre ist ver schwunden. Die Meister Sorceres prüfen nun natürlich gegen seitig ihre Entschlossenheit und Fähigkeiten, um festzustellen, wer von ihnen der neue Erzmagus sein soll.« »Es gibt viele mächtige Magier, die den Häusern der Stadt dienen«, erwiderte Tomphael. »Sie werden sich nicht ablen ken lassen, nur weil sich in Sorcere eine Gelegenheit zum Aufstieg ergibt.« Nimor reagierte mit einem bedauernden Nicken, dann sagte er: »Richtig. Aber wir wissen auch, daß Hausmagier dazu neigen, viel Zeit damit zu verbringen, die Schwächen der anderen Häuser auszuspionieren. Bisher ist offenbar nie mand vorgetreten, um meine Version der Ereignisse anzu
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fechten, die ich dem Rat vortrug.« »Es wäre schlichtweg klug, von vornherein von der An nahme auszugehen, daß Euer Plan zum ungünstigsten Zeit punkt aufgedeckt wird«, sagte Patron Xorthaul. »Was werdet Ihr tun, wenn ein neugieriger Schüler in einem zweitrangigen Haus ausspäht, daß die Armee des Kronprinzen im Anmarsch ist? Was, wenn die Muttermatronen daraufhin ihre Truppen zurückziehen? Sie könnten einer Belagerung bis in alle Ewig keit standhalten.« »Jetzt seht Ihr«, erwiderte Nimor geduldig, »warum ich so weit ging, Agrach Dyrr eine Allianz vorzuschlagen und ent schied, das Risiko einzugehen, Kaanyr Vhok zu einem Teil der Gleichung zu machen. Wir brauchen das Fünfte Haus, um dieser Eventualität vorzubeugen, damit Horgars Armee – oder die Geknechtete Legion – in die Stadt eingelassen werden, sollte dieser Fall eintreten.« Mauzzkyl verschränkte die Arme und senkte den finsteren Blick. »Wir werden sie in jedem Fall in der Hand haben«, sagte der verehrte Großvater und gestattete sich ein zufriedenes, finsteres Lächeln. »Wenn Vhok Euch verrät, könnt Ihr auf Agrach Dyrr zurückgreifen, wenn Agrach Dyrr Euch verrät, habt Ihr immer noch den Cambion. Ich nehme an, Dyrr und Kaanyr Vhok wissen nichts voneinander?« »Ich hielt es für das beste«, antwortete Nimor, »für jeden meiner Verbündeten mindestens noch eine Überraschung in petto zu haben, verehrter Großvater. Es schien mir ratsam sicherzustellen, daß mir so viele Optionen wie möglich zur Verfügung stehen, während ich den Angriff auf die Stadt ent wickelte.« »Hervorragend. Wie können wir Euch unterstützen?« Der Mann, der die Gesalbte Klinge genannt wurde, dachte
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darüber nach. Er fühlte sich versucht, jede Unterstützung abzu lehnen, damit er allen Ruhm für den bevorstehenden Sieg für sich beanspruchen konnte. Doch der Zeitpunkt rückte näher, an dem die Rolle, die er an der Spitze der Armee Menzober ranzans spielte, es ihm immer seltener erlauben würde, sich nach Belieben von hier nach dort zu bewegen. Außerdem benötigte er Hilfe, um Vhok in Schach zu halten, und wenn sich der Zepterträger als unzuverlässig erweisen sollte, dann konnte er demjenigen daran die Schuld geben, der zu dem Kriegsherrn entsandt worden war. »Wir sollten unsere Kräfte bündeln und bereit sein, zuzu schlagen, wenn unsere Verbündeten ihre Rolle bei der Dezi mierung der Verteidiger Menzoberranzans übernehmen«, sagte er. »Wir verfügen über keine großen Streitkräfte, Gesalbte Klinge«, wandte Mauzzkyl ein, »und ich werde nicht die Jaez red Chaulssin in eine offene Schlacht schicken.« »Ich verstehe, verehrter Großvater.« Selbst wenn sie ihre Kräfte zusammenschlossen, würde das geheime Haus es zah lenmäßig nicht einmal mit einem der unbedeutenden Häuser von Menzoberranzan aufnehmen können – auch wenn die Jaezred Chaulssin eine Wirkung erzielen konnte, die in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl stand. »Einer unserer Brüder muß sich zu Kaanyr Vhok und dessen Geknechteter Legion begeben, um den Kriegsherrn in die richtige Richtung zu dirigieren. Meine Verantwortung in der Armee Menzoberranzans und meine Bemühungen, Horgar Stahlschatten und die abtrünnigen Agrach Dyrr zu lenken, lassen es nicht zu, daß ich in dem Maß ein Auge auf Vhok habe, wie es mir lieb wäre.« Mauzzkyl nickte und sagte: »Nun gut. Zammzt, für Euch gibt es in Ched Nasad nichts mehr zu tun. Ich will, daß Ihr Euch zu Kaanyr Vhok begebt und in seinem Lager für uns
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sprecht. Tut, was erforderlich ist, um seine Armee gegen Men zoberranzan eingestellt zu belassen, aber Rechenschaft müßt Ihr Nimor ablegen.« »Natürlich, verehrter Großvater«, erwiderte der Assassine mit dem glatten Gesicht. Er sah zu Nimor, ließ sich aber nicht anmerken, was ihm durch den Kopf ging. »Ich habe mich Kaanyr Vhok über seine Gefährtin Aliisza genähert«, ließ Nimor Zammzt wissen. »Sie ist ein AluScheusal und eine recht begabte Hexenmeisterin. Sie weiß, daß ich eine Vereinigung oder einen Orden vertrete, daher sollte es sie nicht überraschen, wenn an meiner Stelle ein anderer auf sie zukommt.« Auch wenn ich bezweifle, daß sie dich genauso willkommen heißen wird wie mich, dachte er insgeheim. »Wann erwartet Ihr das erste Aufeinandertreffen der Men zoberranzanyr und der Armeen Horgars?« fragte Mauzzkyl. »In vier Tagen, schätze ich.« »Tut, was Ihr könnt, um Uneinigkeit und Unsicherheit zu säen, Gesalbte Klinge«, wies Mauzzkyl ihn an. »Die Zeit für Heimlichkeiten geht ihrem Ende entgegen. Die Jaezred Chaulssin treten aus dem Schatten und ergreifen die Initiative. Vernichtet die Armee der Muttermatronen und bringt Eure Duergar-Verbündeten so schnell wie möglich nach Menzober ranzan. Wir werden uns dort treffen und feststellen, ob der maskierte Gott uns gnädig ist oder nicht.« Nimor verbeugte sich wieder, dann wandte er sich ab und verließ die Vaterpatrone. Irgend etwas bei seinem Plan würde schiefgehen – es mußte einfach dazu kommen. Niemand konn te ein so komplexes Aufeinandertreffen so vieler verschiedener Streitmächte initiieren, ohne daß scheinbare Nebensächlich keiten übersehen wurden. Soweit er es aber zu sagen vermoch te, waren die Jaezred Chaulssin gut vorbereitet. Je länger er die
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todbringenden Manöver seiner Verbündeten und seines Hau ses geheimhalten konnte, desto größer waren seine Erfolgsaus sichten. Vielleicht sollte ich Andzrel ermutigen, mich zum Führer der Späher dieser Expedition zu machen, überlegte Nimor. Immerhin war es unnötig, den Baenre mit unnötigen Berich ten über Armeen auf dem Vormarsch zu behelligen.
Die Dunkelelfen des Hauses Jaelre erwiesen sich als mißtraui sche und unhöfliche Gastgeber. Ryld hatte erwartet, man wür de sie in irgendeine Art von Audienzsaal führen, wo sie mit der Matriarchin des Clans zusammengetroffen wären, um sie zu bestechen, zu bedrohen oder einfach zu überreden, ihnen ein Gespräch mit Priester Tzirik zu gestatten. Nichts dergleichen war geschehen. Da sie sich weigerten, ihre Waffen abzulegen, drängten die Jaelre-Drow die Gruppe in einen kleinen, nicht mehr benutzten Wachraum, von dem aus einst das Haupttor der Burg überwacht worden war. »Ihr werdet hier warten, bis Tzirik beschließt, Euch zu emp fangen«, erklärte die Frau, die die Wache befehligte. »Wenn Ihr versucht, diesen Raum zu verlassen, dann werden wir das als Zeichen von feindseligen Absichten werten und Euch so fort angreifen.« »Wir sind Abgesandte einer mächtigen Stadt«, konterte Quenthel. »Daß Ihr uns so schlecht behandelt, kann für Euch gefährlich werden.« »Ihr seid Sklaven Lolths, und wahrscheinlich seid Ihr auch Spione und Saboteure«, gab die Frau zurück. »Lolth hat hier keine Macht, spinnenküssendes Miststück.« Sie schloß und verriegelte die eiserne Tür, ehe Quenthel eine angemessene Erwiderung einfiel, obwohl die wilde Erre
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gung der Schlangenköpfe ihrer Peitsche erkennen ließ, wie groß ihre Wut war. »Sollen wir hier eingeschlossen bleiben wie Pöbel, der im Schuldturm einsitzt?« knurrte Jeggred. »Ich hätte Lust ...« »Noch nicht, Jeggred«, konterte Quenthel. Sie ging wütend auf und ab, ihr Mund bewegte sich in laut loser Wut. Es war der blanke Zorn, der Quenthel diese Energie verlieh. In einem kleinen Raum eingeschlossen zu sein, ohne daß sie ihrer Wut freien Lauf lassen konnte, würde für sie alle schwierig werden. Danifae sah ihr einen Moment lang zu, dann legte sie beschwichtigend die Hand auf den Arm der Baenre. »Was willst du?« herrschte die Priesterin sie an. »Euer Eifer ist bewundernswert«, sagte Danifae. »Aber ich bitte Euch. Wir müssen geduldig sein.« Sie schirmte ihre Hän de ab, so gut es ging, und fügte an: Wir könnten beobachtet wer den. »Das ist ein wichtiger Punkt, Quenthel«, stimmte Pharaun ihr bei. »Ihr wollt sicher keinen Kampf mit den Leuten begin nen, derentwegen wir gekommen sind. Eure schroffen Worte und Euer stolzes Gehabe machen sich in Arach-Tinilith besser als vor der Haustür einer anderen Göttin.« Quenthel wirbelte so hastig herum, um Pharaun einen eisi gen Blick zuzuwerfen, daß Danifae sie festhalten mußte. Dani fae selbst sah Pharaun giftig an, Verachtung verzerrte ihre hübschen Züge. »Still, Pharaun«, herrschte die Kriegsgefangene ihn an. »Eure Arroganz und endlosen Sticheleien sind in Sorcere bes ser aufgehoben. Wenigstens hat die Herrin die Kraft ihrer Überzeugung. Ihr dagegen habt nur Euren Zynismus.« Danifae betrachtete Quenthels Gesicht und lächelte. »Spart Euch Eure Wut für später auf«, redete die Kriegsge
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fangene leise auf sie ein. »Sicher wird die Göttin zufriedener sein, wenn Ihr die Ungläubigen zur Rechenschaft zieht, nach dem sie ihren Nutzen verloren haben, anstatt die Werkzeuge zu zerstören, die nötig sind, um ihr zu dienen.« Quenthel entspannte sich. Sie atmete tief durch, dann nahm sie an einem Holztisch Platz, auf dem ein Krug mit Was ser stand. »Nun gut«, hauchte sie. »Wir werden warten, was ge schieht.« Aus Rylds Erfahrung kam Quenthels Verhalten dem Einges tändnis, daß sie im Irrtum war, so nahe, wie es nur möglich war. Da sonst nichts zu tun war, ließ sich die Gruppe nieder, um darauf zu warten, was die Jaelre mit ihnen vorhatten. Stunden verstrichen. Die Nacht wich einem bedeckten Morgen, der nahtlos in einen grauen, regnerischen Nachmit tag überging. Ryld betrachtete aufmerksam die Teile der Burg, die er durch die schmalen Schlitzen gleichen Fenster sehen konnte, und kam zu dem Schluß, daß die Minauth-Feste nicht halb so heruntergekommen war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Die Jaelre hatten einen Großteil des alten Baus wiederhergestellt, allerdings das Erscheinungsbild unverändert gelassen. Als das Warten schließlich unerträglich wurde, lehnte sich der Waffenmeister im Schneidersitz an eine Wand der Kam mer und ließ sich in eine leichte Trance gleiten. Splitter lag – aus der Scheide gezogen – quer auf seinem Schoß, damit die Klinge griffbereit war, sollte er sie dringend benötigen. Die Nacht setzte bereits wieder ein, als er aus seiner Trance gerissen wurde, da dreimal so kräftig gegen die Eisentür geschla gen wurde, daß es in der kleinen Kammer dumpf widerhallte. Dann wurde aufgeschlossen, und die Hauptmännin vom Abend zuvor kam herein, gefolgt von mehreren Jaelre-Wachleuten.
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»Hohepriester Tzirik will Euch sehen«, erklärte sie. »Ihr sollt Eure Waffen ablegen. Der Magier muß einverstanden sein, daß ihm die Daumen zusammengebunden werden, und der Draegloth muß Fesseln tragen.« »Das werde ich nicht«, knurrte Jeggred. »Wir sind keine Gefangenen, die in Ketten vor Euren Herrn gezerrt werden. Warum sollten wir das für Euch tun, wenn Euch die Kraft fehlt, uns dazu zu zwingen?« »Ihr kamt zu uns, Dämonenbrut«, sagte die Hauptmännin. »Herrin?« flüsterte Danifae. Ohne den Blick vom Gesicht der Befehlshaberin abzuwen den, zog Quenthel ihre Peitsche. Sie wog sie einen Moment lang in der Hand, als überlege sie, was sie tun sollte. Dann aber warf sie sie in die Ecke. »Yngoth, bewache unsere Waffen«, sagte sie zu einer der Vipern. »Töte jeden, der sich in unserer Abwesenheit mit unseren Sachen befassen will. Jeggred, du läßt dich fesseln. Pharaun, Ihr auch.« Ryld seufzte und legte Splitter auf den Boden, um die Klinge dann weit genug zu treten, daß sie in Reichweite von Quenthels Vipern landete. Valas legte seine Kukris ab, wäh rend Pharaun das Gesicht verzog, vortrat und die Hände aus streckte. Ein Jaelre band seine Daumen mit fester Kordel zu sammen, eine Vorsichtsmaßnahme, die es ihm sehr schwierig machen würde, jene komplexen Gesten und Bewegungen zu beschreiben, die für viele seiner Zauber notwendig waren. Jeggreds große obere Arme, die in den geschwungenen Klauen ausliefen, wurden aneinandergekettet, während man seine kleineren, humanoiden Arme nicht band. Der Draegloth knurrte. »Still, Neffe«, sagte Quenthel, dann wandte sie sich der Jaelre-Hauptmännin zu. »Bringt uns zum Priester.«
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Die Frau nickte ihren Männern zu, die ihre Schwerter zogen und eine enge Phalanx rings um die Menzoberranzanyr bilde ten. Vom Wachraum aus wurden sie tiefer in die Feste geführt und in einen großen Saal gebracht, der als Schrein für Vhae raun, den maskierten Gott, eingerichtet worden war. Ryld sah sich interessiert den Tempel an, da er noch nie einen Ort besucht hatte, der einer anderen Gottheit als Lolth gewidmet war. Am anderen Ende des Saals, gegenüber dem Eingang, hing eine große Halbmaske von der Größe eines Turmschilds an der Wand. Das Symbol war aus Kupfer geschaffen, zwei schwarze Scheiben stellten die Augen dar. Zwei Männer warteten auf sie. Der eine war jung und trug eine schwarze Rüstung, die seine muskulöse Brust betonte. An seinem Gürtel hing ein geschwungenes Kukri, um seinen Arm war eine kleine grüne Natter geschlungen. Sein linkes Bein war mit Eisen und Leder geschient, und er bewegte sich steif. Der andere war ungewöhnlich klein und stämmig, hatte breite Schultern und einen kahlen Kopf. Er trug einen Brustpanzer aus schwarzem Mithral und einen zeremoniellen Schleier aus schwarzer Seide. »Die Besucher, Herr«, sagte die Hauptmännin. Der verschleierte Priester betrachtete sie eingehend, doch was in ihm vorging, blieb ungewiß, da der dünne Stoff verhin derte, daß man sein Mienenspiel sehen konnte. »Valas! So wahr ich lebe und atme«, rief er dann. »Das nenne ich eine Überraschung. Wir haben uns bestimmt seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen!« Einen Moment lang zögerte er, dann trat er vor und klopfte dem Späher von Bre gan D’aerthe auf die Schulter. »Es ist viel zu lange her, alter Freund. Wie geht es?« »Tzirik«, sagte Valas Hune und erwiderte das Lächeln. Auf seinem sonst so mürrischen Gesicht zeichnete sich plötzlich
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eine völlig ungewohnte Freude ab. Er nahm die Hand des Priesters und schüttelte sie. »Wie ich sehe, hast du doch noch diese Rückkehr erreicht, von der du immer gesprochen hast!« sprach er und sah sich im Saal um. »Was deine Frage angeht, wie es mir geht, nun, dazu werden einige Erklärungen erforder lich sein.« Tzirik betrachtete die Versammelten. »Ein Meister Sorceres«, sagte der Priester, »und ein Meister Melee-Magtheres.« »Pharaun Mizzrym, ein erfahrener Magier«, erklärte Valas, »und Meister Ryld Argith, ein Waffenmeister mit großem Geschick.« »Meine Herren, wenn Valas für Euch bürgt, dann seid Ihr in der Minauth-Feste willkommen«, erklärte er, doch seine Miene verhärtete sich, als sein Blick zu den anderen weiter wanderte. »Der Draegloth ist Jeggred«, sagte Valas Hune, »ein Sproß des Hauses Baenre. Die niedere Priesterin ist Danifae Yauntyrr, eine hochwohlgeborene Dame von Eryndlyn, jüngst eine Kriegsgefangene. Die Führerin unserer Gruppe ist ...« »Hohepriesterin Quenthel Baenre«, fiel sie ihm ins Wort. »Herrin Arach-Tiniliths, Meisterin der Akademie, Meisterin Tier-Breches, erste Schwester des Hauses Baenre aus Menzo berranzan.« »Ah«, meinte Tzirik. »Wir haben selten mit solchen von Eurem Glauben zu tun, und erst recht nicht mit einer Prieste rin, die so viele beeindruckende Titel besitzt.« »Ihr werdet feststellen, daß ich mehr als nur Titel besitze, Priester«, erwiderte Quenthel. Tziriks Gesicht war mit einem Schlag wie versteinert. »Lolth mag in Euren vergrabenen Städten herrschen«, sagte er, »aber hier in der Nacht der Oberflächenwelt ist Vhaeraun
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der Herr.« Er wandte sich um und wies auf den verkrüppelten Mann hinter ihm. »Im Interesse der gegenseitigen Höflichkeit möchte ich Euch meinen Vetter vorstellen, Jezz aus dem Hause Jaelre.« Der jüngere Mann kam angehumpelt. »Ihr seid weit weg von zu Hause, Menzoberranzanyr«, sagte er heiser. »Das hat Euch das Leben gerettet. Die Spinnenküs ser, mit denen wir streiten, kommen aus Maerimydra, ein paar Kilometer südlich von hier. Aber Menzoberranzanyr sind wir schon seit langem nicht mehr begegnet.« Er lachte leise, da er offenbar irgend etwas als sehr witzig empfand. Auch Tzirik lächelte, doch seine Augen zeigten, daß er nicht amüsiert war. »Jezz bezieht sich auf die Ironie der Tatsache, daß wir selbst auch Menzoberranzanyr sind oder es vor langer Zeit zumindest einmal waren. Vor fast genau fünfhundert Jahren befahl die weise und gütige Matrone Baenre, unser Haus solle zerstört werden, weil wir uns gleich zweier Perversionen schuldig ge macht hatten, weil unser Haus von Männern geführt wurde und weil wir den maskierten Gott anbeteten. Viele meiner Verwandten starben schreiend in den Verliesen der Burg Baenre. Von denen, die die Flucht wagten, starben viele mehr in den langen und entbehrungsreichen Jahren des Exils in den einsamen Weiten des Unterreichs. Ihr müßt verstehen, wie ironisch es ist, daß sich ausgerechnet eine Baenre in unsere Hände begibt. Auch wenn sich sonst nichts aus der Angele genheit ergibt, die dich hergeführt hat, Valas, werde ich dir dafür dankbar sein.« Er kam näher und verschränkte die kräfti gen Arme. »Warum seid Ihr hier?« Quenthel verzog keine Miene. »Ihr müßt für uns mit Vhae raun in Verbindung treten und Eurem Gott einige Fragen für uns stellen. Wir sind bereit, gut zu bezahlen.«
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Tzirik hob die Brauen. »Ist das wahr? Warum sollte Vhaeraun wollen, daß ich das für Euch mache?« »Ihr werdet erfahren, was uns zu Euch gebracht hat, und Ihr werdet erfahren, was Euer Gott darüber weiß.« »Ich könnte Euch auch einige Jahre lang foltern und würde es auch so erfahren«, erwiderte Tzirik. »Oder ich könnte mich einverstanden erklären, Eure Fragen an den maskierten Gott weiterzuleiten, Euch aber nicht die Antworten sagen.« »Das mag sein«, gab Quenthel zurück. »Allerdings glaube ich, Euch zeigen zu können, daß wir alles andere als wehrlos sind, auch wenn wir unsere Waffen nicht bei uns tragen. Ehe wir es darauf ankommen lassen, sollten wir doch versuchen, eine Einigung zu erzielen.« »Sie blufft«, bemerkte Jezz. »Warum sollen wir uns mit die sen geifernden Kreaturen abgeben? Verschont Euren Freund, aber tötet die Priesterin.« »Geduld, Jezz. Dafür haben wir später noch Zeit«, erklärte Tzirik, ging ein Stück weiter und sah dann wieder zu Quenthel. »Was wollt Ihr wissen?« Quenthel straffte die Schultern und sah dem Priester in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir wollen wissen, was mit Lolth geschehen ist«, antwor tete sie dann. »Die Göttin verweigert uns unsere Zauber, und das nun schon seit Monaten. Da wir nicht auf die Magie zu rückgreifen können, mit der sie uns normalerweise versorgt, fehlen uns die Möglichkeiten, sie direkt zu fragen.« »Eure Göttin stellt Euch auf die Probe«, sagte Tzirik und begann zu lachen. »Sie hält Eure Zauber zurück, um zu sehen, wie lange Ihr ihr treu bleibt.« »Das dachten wir auch«, fuhr Quenthel fort. »Aber das währt nun schon fast vier Monate, und wir können nur zu dem
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Schluß kommen, daß wir die Antwort selbst suchen sollen.« »Warum wollt Ihr das einen Priester Vhaerauns fragen?« warf Jezz ein. »Die Priesterinnen einer benachbarten Stadt sollten sich dazu überreden lassen nachzuforschen.« »Auch sie haben den Kontakt zur Göttin verloren«, ant wortete Danifae. »Ich kam aus Ched Nasad, wo wir das gleiche Schweigen der Göttin erfuhren wie die Priesterinnen Menzo berranzans. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich alle Drow-Städte des Unterreichs mit der gleichen Situation kon frontiert sehen. Lolth spricht zu niemandem, weder zu Drow noch zu niederen Rassen.« »Das würde erklären, warum sich die Maerimydra zurückzo gen«, sagte Jezz leise. »Wenn ihre Priesterinnen machtlos sind, dann dürften sie mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt sein, daß sie uns unbehelligt lassen.« »Die Fakten würden passen«, erwiderte Tzirik, der sich Pha raun zuwandte. »Was ist mit Euren vielgepriesenen Magiern? Konnten sie nicht Dämonen und Teufel in Scharen rufen, damit sie die Frage nach dem Schweigen Lolths beantworte ten? War kein Erkenntniszauber möglich?« »Wir mußten feststellen, daß die infernalischen Mächte kaum mehr wußten als wir«, erwiderte Pharaun. »Wie es scheint, hat Lolth den Kontakt zu benachbarten Ebenen des Abgrunds unterbrochen und die Grenzen ihres Reiches gegen andere Kräfte geschlossen.« Er hob die Hände und beschrieb eine knappe, sich selbst herabwürdigende Geste. »Jedenfalls entnahm ich das den Berichten meiner Kollegen, die sich mit der Sache befaßten. Ich konnte es persönlich nicht, weil der Erzmagier mich angewiesen hatte, keine solchen Wesen he raufzubeschwören, da mir ansonsten ein besonders grotesker und dementsprechend schmerzhafter Tod droht.« Tzirik studierte die Menzoberranzanyr, dann schritt er hin
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über zu Jezz, um sich mit ihm zu beraten. Die beiden Jaelre unterhielten sich leise, während die Menzoberranzanyr warte ten. Ryld beobachtete verstohlen die Wachen, die in der Nähe standen, und überlegte, wie er eine von ihnen entwaffnen konnte, um selbst in den Besitz einer Waffe zu gelangen, wenn die Umstände das erfordern sollten. Er trug nach wie vor sei nen von Zwergen geschaffenen Brustpanzer und war recht sicher, daß es ihm gelingen würde, einem der Wachleute die Hellebarde zu entreißen, ehe man ihn durchbohren konnte. Es mochte allerdings sinnvoller sein, mit dem Messer, das in sei nem Gürtel steckte, Pharauns Fesseln durchzuschneiden, ehe er andere Schritte unternahm. Er wurde in seinen Überlegungen gestört, als Tzirik und Jezz zur Gruppe zurückkehrten. »Ich werde für Euch Vhaeraun anrufen«, erklärte der Ho hepriester der Jaelre, »nicht zuletzt auch, weil ich selbst wissen will, was Lolth plant. Allerdings dürfte es nur gerecht sein, wenn ich dafür eine Gegenleistung erwarte. Immerhin habt Ihr Euch an mich gewandt. Daher werde ich mich erst an Vhae raun wenden, wenn Ihr Eure Aufgabe erfüllt habt.« »Gut«, murrte Quenthel. »Was wollt Ihr?« »Drei Tage westlich von hier befinden sich die Ruinen Myth Drannors, einst die Hauptstadt des Elfenreichs Cor manthyr«, sagte Tzirik. »Im Verlauf unserer Erkundung dieser Ruinen sind wir zu der Ansicht gelangt, daß ein Buch mit geheimem und dementsprechend mächtigem Wissen – das Geildirion von Cimbar – in der geheimen Bibliothek des Turms eines Magiers verborgen sein muß, der nur noch eine Ruine ist. Wir benötigen das Wissen, das sich im Geildirion befindet, denn es wird uns helfen, die alten magischen Schutz zeichen zu beherrschen, die unsere seit langem verschwunde nen Vettern von der Oberfläche über ihr Reich gelegt haben.
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Bedauerlicherweise werden die Ruinen der Stadt von Dämo nen, Teufeln und Scheusalen aller Art heimgesucht, und der Turm selbst ist das Zuhause eines ungewöhnlich starken Bet rachter-Magus. Wir haben zwei Expeditionen zum Turm ent sendet, doch der Betrachter vernichtete oder vertrieb unsere Späher völlig mühelos. Ich will nicht noch mehr Leben aus meinen eigenen Reihen aufs Spiel setzen, dennoch wäre ich sehr gern im Besitz dieses Buches. Da Ihr offenbar das Beste seid, was Menzoberranzan zu bieten hat, könnt Ihr vielleicht dort erfolgreich sein, wo unsere Krieger bislang scheiterten. Bringt mir das Geildirion, und ich werde Vhaeraun fragen, was es mit Lolths Schweigen auf sich hat.« »Wird erledigt«, erklärte Quenthel. »Gebt uns einen Füh rer, der uns den Weg weist, dann holen wir Euch das Buch.« Jezz lachte. »Ihr würdet vielleicht nicht so schnell Euer Einverständnis geben, wenn Ihr wüßtet, wie gefährlich der Betrachter wirklich ist. Ihr werdet selbstverständlich Unter stützung bekommen.«
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Bei Anbruch der Nacht kam Seyll in Begleitung einer jungen Drow und einer blassen jungen Elfe zu Halisstra. Die Priesterin Eilistraees war unter ihrem grünen Mantel gerüstet und mit einem Langschwert an der Hüfte bewaffnet. Sie trug hohe Lederstiefel und hatte ein kleines Päckchen unter einem Arm. »Es regnet«, sagte sie, als sie die Zelle betrat, »aber unsere älteren Priesterinnen sagen, es wird später aufklaren, wenn der Mond aufgegangen ist. Heute nacht werden wir der Göttin huldigen.« Halisstra stand auf, soweit ihre Ketten das zuließen. »Ich werde Eilistraee nicht huldigen«, erklärte sie. »Ihr müßt Euch nicht beteiligen. Ich biete Euch lediglich Gelegenheit, uns zuzusehen und Euch ein Urteil zu bilden. Ihr habt mich herausgefordert, Euch zu demonstrieren, daß meine Göttin weder grausam noch eifersüchtig ist, und ich bin bereit,
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es Euch zu beweisen.« »Zweifellos werdet Ihr mich mit einem Zauber belegen, um mich zu überzeugen«, erwiderte Halisstra. »Glaubt ja nicht, ich ließe mich so einfach täuschen.« »Niemand wird versuchen, Magie auf Euch zu wirken«, er widerte Seyll. Sie legte ihr Bündel ab und packte es aus. Darin befanden sich eine große, lederbezogene Kiste, Stiefel sowie ein Mantel, der ihrem recht ähnlich war. »Ich habe Euch Eure Leier mitgebracht, da ich hoffe, Ihr würdet uns mit einem Lied beehren, wenn Euch danach ist.« »Ich hege Zweifel daran, daß Euch Bae’qeshel-Lieder wirk lich gefallen werden«, meinte Halisstra. »Das werden wir schon sehen. Ihr seid nun seit drei Tagen hier gefangen, und ich biete Euch eine Gelegenheit, Eure Zelle zu verlassen.« »In die ich sofort zurückgebracht werde, wenn Ihr damit fer tig seid, mich wegen Eurer Göttin zu tyrannisieren.« »Wie wir bereits besprochen haben, müßt Ihr Fürst Dessaer nur Eure Anwesenheit erklären, um freigelassen zu werden«, erklärte Seyll geduldig. Sie holte einen Schlüsselbund hervor und hielt ihn Halisstra vors Gesicht. »Xarra und Feliane hier sollen mir helfen, Euch heute sicher zur Zeremonie und zurück zu eskortieren. Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen, daß Eure Hände gefesselt bleiben.« Halisstra sah zu den beiden anderen Frauen, die unter ihren Mänteln ebenfalls ein Kettenhemd sowie ein Schwert trugen. Sie hatte keine große Lust, sich ein sinnloses Ritual zu Ehren Eilistraees anzusehen, doch Seyll bot ihr tatsächlich Gelegen heit, ihre Zelle zu verlassen. Schlimmstenfalls würde Seylls Aufmerksamkeit keine Sekunde nachlassen, und es würde sich keine Gelegenheit für einen Fluchtversuch ergeben. Im besten Fall würden Seyll oder die anderen Klerikerinnen einen Fehler
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machen, aus dem Halisstra Kapital schlagen konnte. So oder so würde sich für sie die Gelegenheit ergeben, die Stadt und den sie umgebenden Wald etwas genauer auszu kundschaften, was wichtig sein konnte, wenn sie irgendwann später einen Fluchtversuch unternehmen würde, und diese Chance konnte sich jederzeit ergeben. »Nun gut«, lenkte sie ein. Seyll nahm Halisstra die Fesseln ab und half der MelarnPriesterin in die Winterkleidung und den Mantel, den sie ihr mitgebracht hatte. Dann band sie eine feste silberne Schnur um Halisstras Hände, anschließend machte sich die kleine Gruppe durch die Verliese des Palastes auf in eine kalte, regne rische Nacht. Elfenbaum war weder eine richtige Stadt noch ein Außen posten oder ein Lager, sondern etwas, das sich zwischen all diesen Kategorien bewegte. Eingestürzte Mauern aus weißem Stein durchzogen die Siedlung und ließen erkennen, wo sich die alten Wälle und ausladenden Plätze einer recht großen Stadt an der Oberfläche befunden hatten, doch das meiste war im Laufe vieler Jahre völlig zerfallen. Viele der ursprünglichen Gebäude waren nur noch leere Hüllen, andere dagegen schie nen von den gegenwärtigen Bewohnern der Stadt übernom men worden zu sein. Sie hatten die Außenmauern mit Holz oder Zeltplanen überzogen und aus den einst stolzen alten Bauwerken bescheidene und vorübergehende Behausungen für die Waldbewohner gemacht. Große, knorrige Bäume erhoben sich aus dem aufgerissenen Pflaster uralter Burghöfe, viele Gebäude hatten ihren Platz ein deutliches Stück über dem Boden in den gewaltigen Ästen und waren durch leicht schwankende Stege aus silbernem Seil und weißen Planken miteinander verbunden. Eine Handvoll Gebäude der Stadt befand sich noch weitestgehend im Originalzustand.
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Halisstra erkannte, daß man sie unter einem alten Wach turm gefangengehalten hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes erhob sich zwischen den Bäumen ein elegan ter Palast, der vom schwachen Schein hunderter Laternen beleuchtet wurde. Sie vermutete, daß es sich um Fürst Dessaers Palast handelte. Aus der Ferne erklangen Gesänge und Ge lächter. Die Priesterinnen Eilistraees führten Halisstra über einen al ten Boulevard, auf dem sie bald die Stadt verlassen hatten und in den dunklen, verregneten Wald gelangten. Eine Zeitlang marschierten sie schweigend durch die Nacht, die einzigen Geräusche waren ihre leisen Schritte auf dem Waldboden und das ständige Prasseln des Regens, das nach einer Weile tat sächlich nachzulassen begann. Die Wolkendecke riß stellen weise auf und ließ hin und wieder einen Stern am Nachthim mel blinken. Halisstra hatte die Oberflächenwelt bislang ausgehalten, auch wenn sie allzugern auf vieles davon verzichtet hätte. Doch sie lenkte sich ab, indem sie heimlich an den Knoten des Seils nestelte, das ihre Hände band, während sie gleichzeitig ihre Begleiterinnen im Auge behielt und hoffte, sie würden in ihrer Wachsamkeit endlich ein wenig nachlassen. Xarra, die Drow, ging voran, Feliane bildete die Nachhut, während Seyll dicht bei Halisstra blieb, auch wenn sie manchmal ein paar Schritte schneller war oder sich zurückfallen ließ. »Wohin bringt Ihr mich?« fragte Halisstra nach einiger Zeit, da der Marsch noch immer kein Ende nahm. »An einen Ort, den wir den tanzenden Stein nennen«, antwortete Seyll. »Es ist für Eilistraee ein heiliger Ort.« »Der Wald sieht für mich immer gleich aus«, sagte Ha lisstra. »Wie könnt Ihr einen Teil vom anderen unterschei den?«
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»Wir kennen diesen Weg gut«, erwiderte Seyll. »Übrigens sind wir nicht allzuweit von der Stelle entfernt, an der wir Euch und Euren Gefährten zum ersten Mal begegneten. Sie haben Euch im Stich gelassen, und seit jener Nacht sahen wir sie auch nicht wieder.« Halisstra trank einen Schluck, um das Lächeln zu verber gen, das über ihre Miene huschte. Die abtrünnige Priesterin hatte einen Fehler gemacht und es nicht einmal gemerkt. Wenn sie nicht weit von dem Gebiet entfernt war, in dem man sie gefaßt hatte, dann sprach einiges dafür, daß sie von dort aus den Anweisungen aus Pharauns Vision folgen konnte und Chancen hatte, die Jaelre-Drow ausfindig zu machen. Egal, was sie in dieser Nacht noch bewerkstelligte – es war schon jetzt lohnenswert gewesen, sich auf diesen Ausflug ein zulassen. Sie erreichten einen tosenden Fluß, in dessen Bett zahlrei che große Findlinge verstreut lagen. Xarra überquerte ihn zuerst, wobei sie leichtfüßig von Stein zu Stein sprang und am anderen Ufer weiter durch den Wald ging. Seyll folgte ihr, da sie einige Schritte vor Halisstra ging, den Blick auf den trügeri schen Pfad gerichtet. Halisstra wollte ihr folgen. Das Wasser rauschen war laut, obwohl der Fluß recht seicht und schmal war. Der Mond verschwand hinter den Wolken und tauchte den Wald in Finsternis. Halisstra witterte ihre Gelegenheit. Sie sprang auf den ersten, dann auf den zweiten Stein im Wasser und blieb abrupt stehen, als wäge sie den nächsten Schritt ab. Anstatt aber schließlich weiterzugehen, stimmte sie mit tiefer Stimme ein Bae’qeshel-Lied an, das vom Rauschen des Stroms übertönt wurde. Seyll ging ungerührt weiter, die Elfe Feliane hinter Halisstra blieb stehen und wartete, daß sie den Fluß überquerte.
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Es war schwierig, da ihre Hände gefesselt waren – wenn gleich auch nur locker –, doch die Macht des Zaubers lag in Halisstras Stimme, nicht in ihren Händen. Just als Feliane die Geduld verlor und herzusprang, um ihr zu helfen, wandte sich Halisstra um und richtete ihre roten Augen auf das blasse Ge sicht des Mädchens. »Angardh xorr – feleal«, zischte sie. »Feliane, würdet Ihr Euer Schwert ziehen und mich von diesen lästigen Fesseln befreien? Ich fürchte, ich könnte sonst falsch auftreten und fallen.« Der Zauber hatte die junge Priesterin mühelos in seinen Bann geschlagen. Mit ausdrucksloser Miene zog sie blank. »Natürlich«, murmelte die Elfe geistesabwesend. Vorsichtig zog sie den Stahl über die Schnur um Halisstras Handgelenke und durchtrennte sie. Halisstra sah über die Schulter zu Seyll und achtete darauf, daß sie mit ihrem Körper verdeckte, was Feliane tat. »Stimmt etwas nicht?« rief Seyll. »Antwortet nicht«, flüsterte Halisstra. Sie hielt die Hände so zusammen, als sei sie noch immer gefesselt, und drehte sich zu der Priesterin um. »Augenblick!« rief sie. »Ich bin mit ge fesselten Händen nicht so sicher auf den Beinen. Der nächste Fels wirkt etwas rutschig.« Seyll sah auf den Strom, dann kam sie zurück und sprang von einem Stein zum anderen, bis sie bei Halisstra und Feliane war. Halisstra drehte sich um und sah zu Feliane, die hinter ihr stand und ihr Schwert gezückt hielt. »Feliane«, säuselte sie. »Darf ich mir einen Augenblick Eu er Schwert ausleihen?« Die Frau runzelte kurz die Stirn, da sie womöglich tief in ih rem von dem Zauber umnebelten Verstand erkannte, daß etwas nicht stimmte, dennoch übergab sie das Heft ihres Schwerts an Halisstra. Die nahm die Klinge, wobei sie wieder
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so stand, daß Seyll nichts sehen konnte. »Hier«, sagte Seyll. Die Priesterin Eilistraees war auf dem nächsten Findling angekommen und streckte eine Hand aus. »Faßt meinen Arm, dann kann ich Euch stützen.« Halisstra wirbelte mit der Schnelligkeit einer Katze herum und bohrte Felianes Schwert unterhalb Seylls ausgestrecktem Arm tief in deren Körper. Die Priesterin schnappte entsetzt nach Luft und brach sofort zusammen. Sie verlor den Halt und fiel von dem moosbedeckten Felsblock in den kalten Strom, bis sie an den Stein gelehnt bis zur Hüfte im strömenden Was ser saß. Halisstra zog das Schwert zurück und wandte sich wieder Fe liane zu, die sie einfach fassungslos anstarrte. »Seyll ist verletzt«, fuhr Halisstra sie an. »Lauft nach Elfen baum, um Hilfe zu holen! Los!« Die blasse Elfe brachte nur ein hastiges Nicken zustande, dann machte sie kehrt und rannte los. Halisstra sprang weiter von Stein zu Stein ans andere Ufer und eilte den Pfad entlang. Xarra, die jüngere Drow-Priesterin, tauchte aus dem Wald am Flußufer auf, um nachzusehen, wodurch die anderen aufgehal ten wurden. Es war bemerkenswert, wie schnell Xarra die Lage erfaßte, da sie nur einen Blick brauchte, um die Armbrust zu heben und zu zielen. Halisstra machte einen Satz zur Seite und drehte sich gleichzeitig, so daß Xarras Geschoß sie verfehlte, wenn auch so knapp, daß sie spürte, wie der Pfeil über ihren Mantel glitt. »Du hast mich verfehlt«, knurrte Halisstra. Xarra warf die Armbrust weg und griff nach dem Schwert, doch noch bevor sie die Klinge überhaupt aus der Scheide hatte ziehen können, war sie bereits tot, da Halisstra ihr die Kehle zerfetzt hatte. Die richtete sich auf und betrachtete mit rasendem Herz die Leiche. Neben ihr rauschte der Strom un
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verändert laut, die Luft roch nach Regen und nassem Laub. Was nun? überlegte sie. Ihr geliebtes Kettenhemd, der Streitkolben und die Arm brust waren allesamt in Elfenbaum in Fürst Dessaers Hand, und so sehr sie ihr Hab und Gut auch wieder an sich nehmen woll te, war es unwahrscheinlich, daß ihr das ohne die Unterstüt zung der Menzoberranzanyr gelingen würde. Das beste würde sein, sich so gut wie möglich zu bewaffnen, Seylls und Xarras Proviant an sich zu nehmen und sich dann auf die Suche nach den Jaelre zu machen. Mit ein wenig Glück würde sie sie fin den, ehe Dessaers Leute sie eingeholt hatten. Halisstra schob sich das Schwert unter den Gürtel und wag te sich wieder in den Fluß hinaus, um nachzusehen, ob Seyll etwas Nützliches bei sich trug. Sie sprang in den kalten Fluß und trat neben die Priesterin Eilistraees, hob sie hoch und legte sie zurück auf den Findling, um sich ihre Ausrüstung besser ansehen zu können. Die Rüstung war eindeutig magisch, und das galt auch für den Schild über ihrer Schulter und das Schwert an ihrem Gürtel. Halisstra öffnete das Kettenhemd, entschlossen, es Seyll auszuziehen. Seylls Augen flackerten, sie stöhnte leise: »Halisstra ...« Halisstra wich erschrocken zurück und kam sich schäbig vor, jemanden seiner Habseligkeiten zu berauben, der noch gar nicht wirklich tot war. Sie sah nach unten und betrachtete ein Blutrinnsal, das aus Seylls Wunde ins schäumende Wasser des Flusses lief. Der Atem der Priesterin klang feucht und flach, helle Blutspritzer waren auf ihren Lippen zu sehen. »Ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, aber ich brauche Eure Waffen und Eure Rüstung. Ihr werdet bald tot sein«, fügte Halisstra an. »Ich habe mich entschlossen, Eure großzügige Einladung auszuschlagen, heute nacht Eure Beobachterin zu sein, da ich anderswo etwas Wichtigeres zu tun habe.«
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»Die ... anderen?« keuchte Seyll. »Xarra war so nett, schnell und ohne sperrige Konversation zu sterben. Das Mädchen von der Oberfläche habe ich bezau bert und in den Wald geschickt.« Halisstra öffnete Seylls Schwertgurt und zog ihn ihr ab, dann legte sie ihn weit außerhalb der Reichweite der sterben den Drow. Anschließend widmete sie sich den Verschlüssen der Rüstung. »Ich bewundere zwar Eure Entschlossenheit, mich vor mir selbst zu retten, Seyll, doch ich kann nicht glauben, daß Ihr dies nicht als einen wahrscheinlichen Ausgang Eurer Bekeh rungsversuche erkannt habt.« »Ein Risiko, ... das einzugehen ... wir alle bereit sind«, brachte Seyll heraus. »Niemand ist unrettbar.« Sie murmelte noch etwas und versuchte, Halisstra zu stoppen, doch die Me larn-Priesterin schlug einfach ihre Hände weg. »Ein unnötiges Risiko. Lolth hat Euch durch meine Hand für Eure Untreue bestraft«, sagte Halisstra. Sie zog Seyll die Stiefel aus und öffnete die Verschlüsse ihrer Beinkleider. »Sagt, war es das wert, den Weg zu gehen, den Ihr gingt, um nun eines kalten und sinnlosen Todes in diesem schrecklichen Wald zu sterben?« Zu Halisstras Überraschung fand Seyll tatsächlich noch die Kraft zu lächeln. »Ob es das wert war? Bei ... bei meiner Seele, ja.« Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und sah Halisstra ins Gesicht. »Ich ... habe noch Hoffnung für Euch«, flüsterte sie. »Sorgt Euch ... nicht ... um mich. Mir ... wird ... vergeben.« Ihre Augen schlossen sich ein letztes Mal, und der rasselnde Atem stoppte. Halisstra hielt einen Moment inne. Sie hatte Zorn und Ab lehnung, vielleicht sogar Angst oder Schmähung erwartet ...
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aber Vergebung? Welche Macht besaß die Dunkle Maid über die, die sie anbeteten, daß die selbst im Tod noch einen Segen für ihren Feind hatten? Seyll hat sich von Lolth abgewandt, sagte sie sich, und durch mich hat die Spinnenkönigin Rache geübt. Dennoch starb Seyll ruhig und gelassen, als sei sie mit dem Ende Ihres Lebens für immer Lolth entkommen. »Möge die Spinnenkönigin sich Eurer Seele annehmen«, sprach sie zu der toten Priesterin, doch sie zweifelte daran, daß Lolth das tun würde.
»Ein rascher Vorstoß ist für uns der sicherste Weg zum Sieg«, sagte Andzrel Baenre, der zu den versammelten Priesterinnen sprach. Nimor stand ein Stück neben ihm und beobachtete den Waffenmeister der Baenre, einer von einer Handvoll Männer, die eingeladen worden waren, um sich mit den versammelten Frauen zu beraten. Alle großen sowie stolze sechzehn kleinere Häuser waren in der überhastet zusammengestellten Armee der Schwarzen Spinne vertreten, die ihren Namen dem Banner verdankte, unter dem sie marschierte. Fast dreißig Ho hepriesterinnen – mindestens eine von fast jedem Haus, dazu mehrere von ein und demselben Haus – waren im großen Kommandopavillon versammelt, den die Baenre zur Verfügung gestellt hatte. Jede von ihnen belauerte Andzrel wie eine Wildkatze, während sie je nach Rang lagen, saßen oder stan den. Solange auch nur eine Hohepriesterin stehen mußte, war es einem Mann verboten, sich zu setzen. »Wir führen rund viertausend Drow-Soldaten und zweitau sendfünfhundert Sklaven-Soldaten in die Schlacht. Allen Berichten zufolge dürften wir es daher in der Stärke mit der
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Duergar-Armee aufnehmen können, die sich von Süden nä hert, aber es ist natürlich nicht unsere Absicht, den Duergar in einem fairen Kampf zu begegnen.« Das Wort »fair« sorgte für herzhafte Lacher. Andzrel bediente sich eines schmalen Stocks, um die Aufmerksamkeit auf eine Karte zu lenken, die mit Tinte auf Rothé-Fell gezeichnet worden war. »Wir können eine Armee aufhalten, die deutlich größer ist als unsere, indem wir den Ort auswählen, an dem wir uns ihr entgegenstellen werden. Der Punkt, an dem wir den Duergar-Vormarsch stop pen werden, sind die Säulen des Leids.« »Vorausgesetzt, ich entscheide, daß Euer Plan aussichtsreich ist, meint Ihr«, sagte Mez’Barris Armgo vom Haus Barrison Del’Armgo gedehnt. »Triel Baenre mag Eurem Urteil trauen, aber ich denke lieber für mich selbst.« Die Muttermatrone des Zweiten Hauses war eine große, starke Frau, und als hochrangigste Priesterin hatte sie damit praktisch das Kommando über die gesamte Truppe. Jedes Haus hatte einige Priesterinnen beigesteuert, die im Kampf den Befehl über ihre Kontingente führten und die von nicht rein blütigen Akolyten über Erste Töchter bis hin zu Muttermatro nen reichten. Waffenmeister wie Andzrel und andere Männer – darunter Nimor in seiner Rolle als Zhayemd Dyrr – befehlig ten Trupps, Kompanien und Schwadronen und nahmen sich der unendlich zahlreichen kleinen Dinge an, die notwendig waren, um die Armee von Menzoberranzan zu organisieren. »Mein Vetter vertritt die Ansichten des Hauses Baenre, Matrone Mez’Barris«, krächzte Zal’therra Baenre. »Matrone Triel unterstützt den Schlachtplan des Waffenmeisters.« Als oberste von Triel Baenres Basen sah Zal’therra der zier lichen Muttermatrone des Hauses Baenre nicht ähnlich. Sie war groß und breitschultrig, eine stämmige Frau mit einem bemerkenswerten Maß an körperlicher Kraft und einem
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schroffen, einschüchternden Auftreten. Sie und Mez’Barris waren einander körperlich durchaus ähnlich, doch die Mut termatrone des Hauses Del’Armgo verfügte über eine brillante, gehässige Verschlagenheit, die in der Baenre-Priesterin kein Pendant fand. Mez’Barris hatte ihre roten Augen auf die jünge re Frau gerichtet, erwiderte aber nichts. Andzrel wußte, daß er den Mund zu halten hatten, wenn zwei Frauen stritten. Er wartete ab, bis einen Moment lang Stille herrschte, dann fuhr er fort. »Hier liegt Rhazzts Dilemma«, sagte er, »von wo Haupt mann Zhayemd von Agrach Dyrr gestern morgen die DuergarVorhut meldete. Es liegt etwa vierzig Kilometer südlich der Säulen des Leids, am unteren Ende der Schlucht. Im schlimmsten Fall müssen wir damit rechnen, daß die Duergar den Außenposten stürmen und sich später am heutigen Tag dort Zutritt zu verschaffen versuchen. Mit etwas Glück wird es morgen dazu kommen. Duergar sind ausdauernde Soldaten, die den ganzen Tag marschieren können. Allerdings sind sie lang sam, außerdem wird ihre Armee durch einen langen Versor gungszug und schwere Belagerungsmaschinen zu einem noch langsameren Tempo gezwungen. Der Aufstieg aus der Schlucht wird schwierig. Es scheint, als könnten sie schlimmstenfalls in fünf Tagen die Säulen erreichen, vermutlich aber erst in sieben oder acht Tagen.« »Woher wissen wir, daß die Duergar den Außenposten nicht schon überrannt haben?« warf eine Priesterin von Tu in’Tarl ein. »Das wissen wir nicht, Herrin. Die Magier und Kleriker der Duergar stören unsere Versuche, die nähere Umgebung auszu spähen, was bei einer solchen Kriegsführung eine übliche Tak tik darstellt.« Andzrel nickte Nimor zu und fügte an: »Darum ist es so wichtig, einen Trupp guter Späher zusammenzustellen,
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damit wir mit weltlichen Mitteln herausfinden können, was unseren Magiern versagt bleibt. Zhayemd von Agrach Dyrr hat den Befehl über die Aufklärer.« Andzrel wartete einen Moment, um zu sehen, ob eine der Priesterinnen noch etwas wissen wollte, dann fuhr er fort: »Auf jeden Fall reist unsere Armee schneller als die der Grau zwerge, außerdem ist unser Weg viel leichter zu bewältigen. Ich gehe davon aus, daß wir die Säulen des Leids in drei bis vier Tagen erreicht haben werden. Wenn wir den oberen Aus gang aus der Schlucht kontrollieren, werden die Duergar nie unsere Verteidigung durchbrechen können. Wie Ihr seht, ist das ganze eine Art Wettlauf, darum sollten wir so schnell wie möglich vorrücken.« »Welchen Plan habt Ihr für die Schlacht, Zal’therra?« fragte eine andere Priesterin, bei der es sich um die Herrin des Hau ses Xorlarrin handelte. Nimor lächelte angesichts der Bemerkung. Zal’therra war eindeutig von Triel instruiert worden, sich auf die Ratschläge des Waffenmeisters ihres Hauses zu verlassen, was die Planung der Schlacht betraf, doch die Hohepriesterin redete natürlich, als sei Andzrel gar nicht anwesend. »Andzrel wird den Plan vorstellen«, erwiderte die BaenrePriesterin, als hätte sie soeben jede Einzelheit erklärt und über lasse es nun ihm, den anderen ihre Genialität zu beweisen. Wenn der Waffenmeister das bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Wir richten eine starke und gut verankerte Linie quer über die Öffnung der Schlucht ein. Ein paar hundert Mann sollten dafür ausreichen, doch wir stellen tausend auf. Die übrigen Soldaten bleiben als Reserve zurück, um zudem in der näheren Umgebung kleinere Gänge und umliegende Höhlen zu si chern.« Andzrel legte seinen Stock weg und wandte sich den
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Priesterinnen zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch in sei nen Augen funkelte es entschlossen. »Mein Plan ist es, die Duergar bis zu uns vorrücken zu lassen, um sie dann zwischen den Säulen des Leids zu zerschlagen. Wenn sie sich an uns aufgerieben haben, werden wir sie in die Schlucht zurückjagen und sie und ihre Helfer in Stücke hauen.« »Was, wenn die Duergar gar nicht bei den Säulen den Kampf suchen?« fragte Mez’Barris direkt an Andzrel gerichtet. »Die Duergar fallen in unser Land ein, Muttermatrone, also sind sie es, die handeln müssen. Wenn sie sich entschließen, sich nicht bis zu den Säulen vorzuwagen, werden wir den län geren Atem haben. Unsere Nachschubwege sind kürzer als ihre. Nach wenigen Tagen bleibt ihnen keine andere Wahl, als zwischen Vormarsch und Rückzug zu entscheiden.« Mez’Barris betrachtete die Karte und dachte über Andzrels Antwort nach. »Nun gut«, sagte sie. »Ich will sehen, wie schnell wir den Punkt erreichen können, der Euch vorschwebt. Marschiert pro Tag zwei Stunden länger. Wenn wir die Säulen des Leids in drei Tagen erreichen, sollte uns genug Zeit bleiben, um uns auszuruhen. Ich will, daß die schnellsten unserer Truppen zu den Säulen vorstoßen, nur um sicherzugehen. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht in eineinhalb Tagen einige hundert Späher an dieser Schlucht haben sollten. Wenn Ihr uns nun entschuldigt, ich will mit meinen Priesterinnenschwestern diskutieren, wie wir im kommenden Konflikt unsere Talente am besten einsetzen können.« Andzrel deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Nimor ging neben dem Waffenmeister her, als sie von einer Handvoll weiterer Offiziere begleitet den schwarzen Pavillon verließen. Das Zelt stand in einem weiten, runden Tunnel, der mit Soldaten und Packechsen überfüllt war. Ein Banner stand
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neben dem anderen, die Truppen erstreckten sich so weit, wie man in dem Tunnel sehen konnte. »Zhayemd«, sagte Andzrel. »Ich will, daß Ihr das Komman do über unsere Vorhut übernehmt, so wie es Muttermatrone Del’Armgo vorgeschlagen hat. Nehmt Eure Kavallerie aus Agrach Dyrr und bewegt Euch morgen und übermorgen so schnell vorwärts, wie Ihr könnt. Unser Mangel an Informatio nen über diese Duergar macht mich nervös. Ich lasse Euch von einigen anderen Reitern begleiten, damit Ihr über eine schlag kräftige Truppe verfügt, die notfalls den Paß verteidigen kann.« »Ich muß mich mit unserer Hohepriesterin besprechen«, erwiderte Nimor, auch wenn er nicht die Absicht hatte, das zu tun. Der Waffenmeister, der immer noch unter dem mächti gen, dauerhaften Zauber Nitnors stand, würde ihm dennoch vertrauen. »Ich glaube allerdings, daß sie den Vorschlag mit tragen wird.« »Gut«, erwiderte Andzrel, als sie das Baenre-Lager erreich ten. Er schlug Nimor auf die Schulter. »Wenn Ihr die Duergar irgendwo entdeckt, wo sie nicht hingehören, meldet es mir. Ich will nicht, daß Ihr irgendwelche Dummheiten macht. Ihr seid die Augen unserer Armee.« Nimor lächelte und sagte: »Keine Sorge. Ich werde nichts dem Zufall überlassen.« Jezz der Lahme kauerte ein wenig schief im Schatten einer eingestürzten Mauer und sah über einen kleinen Platz zu einem großen runden Turm, der nur einen Steinwurf weit entfernt war. »Da«, sagte er. »Der Turm des Betrachters. Eine kurze Treppe führt hinauf zu der Tür, von der wir beim letzten Mal herausfinden konnten, daß sie nicht abgeschlossen, aber mit tödlichen magischen Fallen gesichert ist. Im oberen Teil seht
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ihr mehrere kleine Fenster, die möglicherweise groß genug sind, daß ein kleiner Drow sich hindurchzwängen kann. Das haben wir noch nicht versucht.« Ryld, der hinter dem Jaelre kauerte, beugte sich vor, um sich selbst ein Bild zu machen. Der Turm sah weitestgehend so aus, wie Jezz ihn beschrieben hatte, und war von den Ruinen Myth Drannors umgeben. Nachdem sie mit Pharauns Magie die Reise zur alten Elfenhauptstadt schneller bewältigt und dann einige Stunden Rast gemacht hatten, um sich vorzuberei ten, war die Gruppe den größten Teil der Nacht damit befaßt gewesen, sich durch die Ruinen zu kämpfen. Myth Drannor war kaum mehr als ein großes Trümmerfeld weißen von Bäumen und Ranken überwucherten Steins, doch einst war es mehr gewesen. Es war wohl nie so ausladend wie Menzoberranzan oder so infernalisch pompös wie Ched Nasad gewesen, doch seine Eleganz und Schönheit konnten es mit den prachtvollsten Beispielen der Drow-Architektur aufneh men, wenn nicht gar sie ausstechen. Ryld warf einen behutsamen Blick zu den Hausdächern. »Keine Anzeichen für Teufel«, sagte er. »Vielleicht haben wir genug von ihnen getötet, daß sie nun entschieden haben, uns in Ruhe zu lassen.« »Unwahrscheinlich«, schnaubte Jezz. »Sie haben sich zu rückgezogen, um den nächsten Angriff zu organisieren. Sie warten auf die Ankunft mächtigerer Scheusale, ehe sie es wie der versuchen.« »Dann sollten wir die Pause nutzen, um das zu tun, weshalb wir hergekommen sind«, meinte Quenthel, die ebenfalls nach vorn kam, um den Turm zu betrachten. »Ich sehe nichts, was mich zu einer Änderung unseres Plans veranlassen sollte. Wirkt Euren Zauber.« »Wie Ihr wünscht, Quenthel«, erwiderte Pharaun. »Ich
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muß allerdings sagen, daß ich nicht völlig seiner Meinung bin, was die Strategie der ...« Wütende Blicke der Mitglieder der Truppe ließen Pharaun verstummen, ehe er seinen Protest ausgesprochen hatte. Er seufzte und winkte ab. »Meinetwegen.« Er richtete sich auf und sprach sorgfältig die Worte seines Zaubers, von denen jede einzelne Silbe mit magischer Kraft erfüllt war. Eine schwer faßbare Woge schien über Ryld und die anderen hinwegzurollen. In ihrem Zug fühlte Ryld, wie Kraft und Schnelligkeit aus seinen Gliedmaßen wichen. Split ter schien in seiner Hand an Gewicht zuzunehmen, die Klinge wirkte plötzlich matt. Ryld war kein Magier, doch wie jeder fähige Drow hatte er sich über die Jahre bei verschiedenen magischen Objekten und bei Zaubern bedient, um schneller und stärker zu werden, um seine Rüstung zu härten und seine Waffen tödlicher zu machen. Pharauns Zauber ließ vorüberge hend in der näheren Umgebung jede Magie verschwinden, so daß Ryld keinen Zauber wirken konnte. Den anderen Drow ging es genauso. Am seltsamsten wirkte der Zauber auf Quenthels schreckenerregende Peitsche, deren Schlangen eben noch gezischt und gezuckt hatten und die nun vom Schaft der Waffe baumelten, als seien sie tot. »Bleibt dicht bei mir, wenn Ihr in Reichweite des Zaubers bleiben wollt«, sagte Pharaun. Er leckte sich nervös die Lippen. In der antimagischen Zo ne, die er soeben geschaffen hatte, war es nicht möglich, Ma gie zu wirken, und auch alle Schutzzauber und magischen Ge genstände hatten ihre Wirkung verloren. Er hob die Armbrust, mit der anderen Hand lockerte er den Sitz des Dolches in der Scheide. »Ich komme mir vor, als würde ich mit einem Küchenmes ser gegen einen Drachen antreten«, murmelte er.
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Ryld klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. Er steckte Splitter weg und griff nach seiner eigenen Armbrust. »Mag sein, aber dein Zauber zieht dem Drachen die Zähne«, erwiderte er. »Vorrücken«, wies Quenthel sie an. Sie schien sich selbst nicht recht wohlzufühlen. Offenbar gefiel ihr die Reglosigkeit ihrer Waffe nicht. Ohne auf die anderen zu warten, eilte sie auf den Hof und stürmte die Stufen zur Tür des Turms hinauf. Die anderen folgten ihr, mußten aber wegen des Lichtscheins des anbrechenden Tages die Au gen zusammenkneifen. Ryld blieb hinter der Gruppe und beo bachtete aufmerksam die Straßen und Mauern, ob irgendwo ein Hinweis darauf zu erkennen war, daß sich die monströsen Bewohner Myth Drannors wieder auf dem Vormarsch befan den. Was sie jetzt überhaupt nicht brauchen konnten, war eine Bande blutgieriger Teufel, die sie angriffen, solange sie ihre eigene Magie unterdrückten. An der Tür zum Turm trat Quenthel zur Seite, um Jeggred Platz zu machen. Der hünenhafte Draegloth trat vor und riß die Tür auf, Mauerwerk bröckelte und fiel auf die Stufen. Quenthel folgte ihm dichtauf, dann kamen Danifae und Valas. Ryld sah sich ein letztes Mal um und merkte, daß Jezz zurück blieb. »Kommt Ihr nicht mit?« fragte er den Jaelre. »Ich möchte lieber Beobachter sein«, erwiderte Jezz. »Den Betrachter zu besiegen ist Eure Aufgabe, nicht meine. Wenn Ihr überlebt, schließe ich mich Euch in wenigen Minuten an.« Ryld warf ihm einen finsteren Blick zu, sprang dann aber in den Turm. Sie standen in einer Art Foyer, das von schwachen schrägen Lichtstrahlen erhellt wurde, die durch Öffnungen in der Mauer einfielen. Am anderen Ende des Raumes gab es eine weitere Tür. Früher mußte das Foyer ein prachtvoller und
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beeindruckender Saal gewesen sein, doch die Bodenkacheln waren zersprungen, dunkelgrüner Schimmel hatte sich dort festgesetzt, und von den Bannern und Gobelins an den Wän den waren kaum noch mehr als ein paar Fetzen übrig. Pharaun trat näher und betrachtete ein komplexes Symbol, das in einen Block am Fußboden geprägt war. Das Emblem war etwas größer als seine Hand und bestand aus einer verwirrenden Vielzahl geschwungener Linien und Zeichen. »Ein Symbol der Zwietracht«, stellte der Magier fest. »Wä ren wir nicht von dem antimagischen Feld geschützt, wären wir längst in mörderischer Wut übereinander hergefallen ... aber dafür brauchen wir wohl nicht extra ein Symbol, nicht wahr?« »Der nächste Raum?« fragte Ryld. Jeggred hatte schon die Tür erreicht. Der Draegloth öffnete sie und stürmte hindurch, gefolgt von den anderen, die sich in einer runden Kammer wiederfanden, die dem Grund eines Brunnens ähnelte. Mehrere der über ihnen liegenden Stock werke waren eingebrochen und bildeten am Grund einen Berg aus Schutt und Trümmern. Bruchstücke, die größer als ein Drow waren, schränkten die Bewegungsfreiheit der Gruppe ein. Ryld starrte in die Leere über ihnen und suchte nach Hin weisen auf das Monster, das hier auf sie lauern sollte. Die ande ren taten es ihm nach, doch niemand konnte etwas sehen. »Ich sehe keinen Betrachter«, stellte Jeggred fest. Ryld wollte eben etwas erwidern, als von oben eine schreck liche, krächzende Stimme ertönte: »Natürlich nicht! Ich will auch nicht gesehen werden!« Unmittelbar darauf holte die Kreatur nach ihnen aus. Von irgendwo hoch über ihnen, nahe der Spitze der Turmruine, schossen grelle Strahlen magischer Energie – die tödlichen
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Strahlen, die aus den Augen des Monsters drangen, konnten den Gegner verletzen, lähmen, verzaubern oder gar auslöschen – auf die Drow herab, gefolgt von einem gewaltigen blauen Blitz, den das unsichtbare Monster beschworen hatte. Ryld konnte die Quelle der Magie nicht erkennen. Die Strahlen und der knisternde Stromschlag lösten sich abrupt auf, als sie mit Pharauns magiefreier Zone in Berührung kamen. Die Kreatur versuchte es ein weiteres Mal und schickte verschiedene Strahlen ebenso auf sie herunter wie einen gräß lichen Zauber, den sie in ihrer tiefen, dröhnenden Stimme herausschrie, doch auch diesmal war ihr kein Erfolg beschie den. Ryld hob die Armbrust und zielte auf den Punkt, von dem er meinte, er sei der Ausgangspunkt der Strahlen, dann feuerte er den Bolzen ab. Ein schmerzhaftes Kreischen weit oben ver riet ihm, daß er gut gezielt hatte. Valas, Danifae und Pharaun eröffneten auch das Feuer, während Jeggred einen großen Zie gelstein nahm und ihn erstaunlich geschickt in die Finsternis über ihnen schleuderte. Natürlich traf nur ein Teil des Sperr feuers ins Ziel. Selbst wenn der Betrachter sichtbar gewesen wäre, sorgte seine dicke chitinartige Haut dafür, daß viele Angriffe abgewehrt werden konnten. Um so schwieriger war es, die Kreatur zu treffen, wenn sie sich in Unsichtbarkeit hüll te. Dennoch landeten sie Treffer. Der Betrachter-Magus verstand sehr schnell, welcher Art die Verteidigung der Gruppe war. Anstatt weiter direkt die Drow zu attackieren, richtete er seinen todbringenden Blick auf die Überreste der oberen Geschosse. Mit einem Augen strahl brannte er sich durch den Fuß eines schweren Holzträ gers, der aus der Steinmauer des Turms ragte, mit einem ande ren nahm er das Stück in einen telekinetischen Griff, um dann das massive Objekt auf Valas Hune zu schleudern. Der Späher
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sprang noch gerade rechtzeitig zur Seite, damit er nicht von dem schweren Holzstück erschlagen wurde, verlor aber das Gleichgewicht und landete inmitten des Schutts. Staub erfüll te die Luft, während sich der Betrachter sofort den nächsten Holzträger vornahm und gleichzeitig zu einem anderen Zauber ansetzte. »Wir müssen weiter hochklettern«, sagte Quenthel. »Die Kreatur hält sich oberhalb von Pharauns Zauber auf.« »Soll ich etwa springen?« fragte Pharaun. Er wich einem Stück Mauerwerk von der Größe eines Kopfs aus, dann zielte er wieder mit der Armbrust. »Die Anti-Magie, die uns schützt, hindert uns auch daran, zu fliegen oder zu schweben, um ...« »Um Lolths willen!« rief Ryld. Zeichensprache! Valas eilte zur anderen Seite und versuchte, einen besseren Blick auf den Gegner zu bekommen. Der Späher zielte sorgfäl tig mit der Armbrust und schickte einen weiteren Pfeil empor. Der Betrachter stieß einen schrecklichen Schrei aus, dann erloschen die Augenstrahlen, und der Regen aus Trümmerstü cken setzte aus. Der Betrachter hat sich auf die nächste unbeschädigte Etage zu rückgezogen, bedeutete Valas. Wir müssen uns hinaufbegeben, wenn wir ihn zu packen bekommen wollen. Ryld studierte aufmerksam die Innenwände der Turmruine. Es fehlten vielleicht vier der unteren Stockwerke, wonach sich über der Decke, die sie von unten sehen konnten, noch zwei oder drei Geschosse befinden mußten. Grob geschätzt waren gut achtzehn Meter Höhenunterschied zu überwinden, und das Mauerwerk war alt und beschädigt. Ein erfahrener Kletterer konnte die Überreste der Pfeiler nutzen, die ursprünglich ein mal die unteren Stockwerke abgestützt hatten, doch es war nichts, was er gerne versucht hätte. Ich will nicht klettern, erwiderte er.
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Ich auch nicht, fügte Danifae an. Die Kreatur weiß, daß wir von Anti-Magie geschützt werden. Erwartet sie, daß wir den Zau ber auf geben, um zu ihr zu kommen? »Vielleicht«, meinte Pharaun. Auf einen stechenden Blick Rylds hin bedeutete er: Man fragt sich, ob wir uns dieser Situati on vielleicht intensiver hätten widmen sollen, ehe wir die Aufgabe annahmen, die die Jaelre uns damit gaben. Wie die anderen bewegte sich auch Pharaun vorsichtig zwi schen dem Schutt und den Trümmern hin und her, den Blick nach oben gerichtet. Der Magier legte den Kopf in den Nacken, dann rief er: »Hallo! Betrachter! Da wir uns in einer Art Patt befinden, wärt Ihr zu einer Verhandlung bereit?« Quenthel schäumte. »Sprecht Ihr für uns, Magier?« raunte sie ihm zu. Von weit oben ertönte die tiefe, rauhe Stimme. »Verhand lung? Warum? Ihr seid in mein Heim eingedrungen, ihr Nar ren!« »Pharaun ...«, setzte Quenthel an. »Ihr habt ein Buch, das wir wollen«, erwiderte der Magier und ignorierte die Hohepriesterin. »Es ist das Geildirion von Cimbar. Gebt es uns, dann lassen wir Euch in Ruhe.« Der Betrachter verstummte und schien über das Angebot nachzudenken. Hätten Quenthels Blicke töten können, dann hätte in diesem Moment Pharauns letztes Stündlein geschla gen. Doch sie schwieg so wie die anderen und wartete darauf, was der Betrachter sagen würde. »Dieses Buch ist äußerst wertvoll«, erwiderte das Geschöpf nach einer Weile. »Ich werde es nicht hergeben, nur weil eine Welpe von Drow das von mir verlangt. Zieht Euch zurück, dann werde ich Euch verschonen.« Quenthel schnaubte. »Als hätten wir etwas anderes erwar
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ten können.« Sie machte eine knappe Geste, damit die ande ren ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten. Dann bedeutete sie: Bei drei wird Pharaun den Zauber aufheben. Danifae und Ryld – Ihr werdet nur nach oben folgen. Pharaun, wenn wir die halbe Strecke zurückgelegt haben, werdet Ihr Euch und Jeggred auf die Etage darüber teleportieren und das Monster hinterrücks angreifen, da es darauf konzentriert sein wird, den Turm zu halten. Valas, Ihr bleibt hier und gebt uns mit dem Bogen Rückendeckung. Kommt so schnell wie möglich hoch, wenn wir dort sind. Quenthel machte sich nicht die Mühe, weitere Einzelheiten ihres Plans zu erläu tern. Statt dessen begann sie zu zählen. Eins ... zwei ... drei! Pharaun machte eine Geste und hob die Wirkung der AntiMagie auf. Sofort spürte Ryld, wie die arkane Macht seines Gürtels, seiner Handschuhe und seines Schwertes wieder in seinen Leib strömte. Er zog Splitter aus der Scheide und stieg im Schacht empor, wobei er sich des Levitationszaubers be diente, der in sein Emblem Melee-Magtheres eingebunden war. Mit ein wenig Glück würde die Fähigkeit des Schwertes, Zauber zunichte zu machen, ihn vor dem schlimmsten bewah ren, was der Betrachter-Magus ihnen entgegenschleudern würde. Quenthel und Danifae stiegen neben ihm auf, und gemein sam waren sie drei schwarze, elegante Gestalten, die durch die Finsternis glitten. Pharaun trat zu Jeggred und sah der Gruppe zu, eine Hand auf dem weißen Fell der Schulter des Draegloth. An einer Seite der Decke war eine runde Öffnung zu sehen, die zum Teil von den Resten einer alten Treppe versperrt wur de, die einst im Turm nach oben und unten geführt hatte. Ryld spähte zu der Öffnung und rechnete jeden Moment mit weißglühendem Tod. Der Betrachter-Magus enttäuschte ihn nicht.
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Ein grellgrüner Strahl zuckte auf, den er mit Hilfe von Split ter abwehren konnte. Ein Kribbeln ging durch das Heft des Zweihänders, als er den heimtückischen Strahl unschädlich machte. Neben ihm schrie Danifae auf und wich einem gewal tigen Blitz aus, der einen Bogen beschrieb, um alle drei Elfen zu versengen. Zurück blieb der Gestank von Ozon und ver kohltem Holz. Pfeile zischten von unten an Ryld vorbei, da Valas Hune wieder auf den unsichtbaren Feind feuerte. Ryld brummte trotzig und zwang sich, schneller aufzusteigen. Ein weiterer Zauber traf Quenthel, eine Art Gegenzauber, der ihren Levita tionszauber wirkungslos werden ließ. Sie ruderte mit den Ar men und stürzte ab. Ryld versuchte noch, sie zu packen, doch die Baenre war nicht nahe genug gewesen. Nach einem Sturz von gut zwölf Metern schlug Quenthel wie ein herabfallender Meteor in den Trümmerhaufen ein und verschwand in einer Staubwolke. »Steigt weiter auf!« rief Danifae. »Wir haben es fast ge schafft.« Der Betrachter-Magus mußte zur gleichen Erkenntnis ge langt sein, denn einen Sekundenbruchteil später nahm eine Barriere aus dickem Eis Gestalt an und versiegelte den oberen Teil des Turms, während die Drow darunter nicht weiter auf steigen konnten. »Verdammt!« fluchte Ryld. Danifae funkelte die Barriere an und überlegte: »Vielleicht können wir ...« Da tauchte Jezz der Lahme am Fuß des Turms auf. Er wirbel te herum und schleuderte einen Zauber auf die Tür, die dar aufhin zuschlug. »Was immer Ihr da tut, kommt zum Ende!« rief der Jaelre. »Die Teufel sind mit Verstärkung zurück!«
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Ryld sah nach oben zu der Eisschicht, die sie von der Turm spitze trennte, dann wieder nach unten auf den mit Trümmern übersäten Boden. Quenthel lag halb begraben zwischen den Mauerstücken und regte sich nicht. Zauber sorgten über der Eisdecke für Unruhe und waren ein gutes Zeichen dafür, daß Pharaun und Jeggred ihren Gegner gefunden hatten. Aber die von der Kreatur geschaffene Barriere sorgte dafür, daß die Gruppe geteilt worden war. Wenn sie aufgaben, würde der Betrachter-Magus Gelegenheit bekommen, seine Angreifer einen nach dem anderen auszulöschen, doch Quenthel war bereits tot oder doch wohl zumindest schwerverletzt. »Hoch«, entschied Ryld. »Umkehren führt zu nichts. Valas, Jezz, kümmert euch um Quenthel!« Er hatte die leuchtend weiße Decke erreicht und versuchte, mit Splitter die Eisschicht zu bearbeiten, da die Klinge die Fähigkeit besaß, Zaubern entgegenzuwirken. Rasiermesser scharfe Eissplitter platzten von der Stelle ab, die er getroffen hatte, doch es gelang Splitter nicht, die Magie des Betrachters aufzuheben. Ryld fluchte und versuchte es ein weiteres Mal, erneut ohne Erfolg. Unter ihnen hörte man, wie von außen versucht wurde, die Tür zum Turm einzurennen. Valas Hune schulterte seinen Bogen und eilte über den Schutt zu der Stelle, an der Quenthel aufgeschlagen war. Jezz der Lahme brummte etwas Unverständliches und wirkte einen Zauber, der dafür sorgte, daß das Foyer mit einem Gewirr aus klebrigen Spinnfäden durchzogen wurde. Er sprach stumm einen anderen Zauber, dann stieg er in die Luft und ließ Valas Hune mit Quenthel am Boden zurück. »Vergeßt die Priesterin«, rief er Valas Hune zu. »Kommt, wenn Ihr leben wollt!« Der Späher verzog frustriert das Gesicht.
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»Ich kann nicht klettern und sie gleichzeitig tragen!« herrschte er Jezz an, während ein erneutes Anrennen gegen die Tür bewirkte, daß Holz absplitterte und sich die Eisen zu ver biegen begannen. Einem weiteren Ansturm würde die Tür nicht standhalten können. Valas Hune sah nach oben in den Schacht, dann wieder zu Quenthel, die vor ihm lag. Er bückte sich und ent fernte das Emblem des Hauses Baenre von ihrer Schulter. Die Schlangenköpfe ihrer Peitsche zuckten, und Yngoth schnappte sogar nach ihm, doch Valas war schnell genug außer Reichwei te. »Ich will eure Herrin retten«, brüllte er die Peitsche an, während er das Emblem an seiner Kleidung festmachte. Der Späher näherte sich und packte Quenthel unter den Armen, dann nutzte er die Macht ihrer Brosche, um sie vom Boden hochzuheben. Unterdessen begutachtete Ryld weiter die Barriere, die ihm den Weg versperrte. »Na gut«, murmelte er schließlich. Er bewegte sich ein Stück zurück und stieß sich an der Wand des Schachts ab, dann holte er mit Splitter für den kräf tigsten Schlag aus, zu dem er fähig war. Mit einem zornigen Aufschrei schlug er zu, jagte Splitters Klinge durch das magi sche Eis und hörte auch dann noch nicht auf, als ihm verhee rende kalte Wellen entgegenschlugen. Er ignorierte den Schmerz und holte wieder und wieder aus. Das Eis zersplitterte in Dutzende von Stücken, die zu Boden fielen. Ohne auf die anderen zu warten, schob sich Ryld durch die entstandene Öffnung und drang in die Lagerstatt des Betrachters vor.
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Schon am ersten Tag nach dem Mord an Seyll begann Ha lisstra sich zu fragen, ob sie vielleicht besser bedient gewesen wäre, wenn sie sich den Eilistraee-Priesterinnen angeschlossen und einen Übertritt zu deren Glauben vorgetäuscht hätte. Diese Strategie hätte sie zwar nicht wieder mit ihren Kamera den zusammengebracht, doch dann hätte sie zumindest eine Unterkunft und etwas zu essen gehabt, und ihr wäre die Mög lichkeit auf eine Gelegenheit geblieben, ihre Ausrüstung wie der an sich zu nehmen. So aber befand sie sich auf einem schier endlosen Marsch durch die eiskalten Wälder. Als die Morgendämmerung anbrach, war der einzige Schutz, den sie finden konnte, eine kleine, feuchte Höhle, die von Findlingen von der Größe eines Drow und kahlen Bäumen umgeben war. Zitternd legte sie den gestohlenen Rucksack ab und durch suchte ihn in der Hoffnung, daß sie irgendeinen wichtigen
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Gegenstand oder etwas zu essen übersehen hatte. Seyll und ihre Anhänger hatten eine Reise durch die Wild nis geplant, die kaum mehr als ein paar Stunden gedauert hätte. Also führten sie nur so viel Ausrüstung mit sich, wie Halisstra selbst eingepackt hätte, wäre es ihre Absicht gewe sen, zu einer bekannten Höhle zu gehen, die allenfalls ein paar Kilometer von Ched Nasad entfernt war, und erst recht hatten sie nichts ausgewählt, was der Flucht ihrer Gefangenen hätte behilflich sein können. Mit der Armbrust, die sie Xarra abgenommen hatte, und ih ren Bae’qeshel-Liedern hatte sie gute Chancen, jedes Wild zu erlegen, das ihr über den Weg lief, doch während ihrer stun denlangen Wanderung waren ein paar Vögel das einzige, was sie entdeckt hatte. Aber selbst wenn es ihr gelang, Beute zu machen, hatte sie keine Möglichkeiten, das Fleisch zu garen. Es war, als hätte sich der Wald gegen sie verschworen. Sie war einigermaßen sicher, daß sie nach der Flucht vor den Ketzern in westliche Richtung gegangen war. Wenn Seyll nicht gelogen hatte, als sie sagte, sie befänden sich nahe der Stelle, an der man Halisstra gefangengenommen hatte, konnte die Melarn-Priesterin höchstens ein bis zwei Nachtmärsche von dem kleinen Fluß entfernt sein, den Pharaun in seiner Vision beschrieben hatte. Da der Fluß vor ihr von Süden nach Norden verlief, konnte sie ihn nicht verfehlen, wenn sie sich weiter in westlicher Richtung bewegte. Halisstra versuchte, sich an der Richtung zu orientieren, in der Sonne und Mond untergingen, wich davon aber ein wenig nach links ab, da sich beide zu dieser Jahreszeit etwas weiter südlich über den Himmel bewegten. Allerdings wußte sie nicht, ob sie flußauf- oder flußabwärts weiterziehen sollte, wenn sie den Strom erreichte, da sie nicht zu sagen vermochte, an welchem Punkt Pharaun und die anderen angekommen
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waren. Wenn sie es genau überlegte, konnte sie nicht einmal sicher sein, ob sie den richtigen Fluß vor sich hatte, wenn sie ihn erreichte. In den letzten eineinhalb Tagen hatte sie ein gutes Dutzend kleiner Bäche überquert, und auch wenn sie bei keinem davon der Ansicht gewesen war, man dürfe ihn als richtigen Fluß bezeichnen, fehlte ihr die Erfahrung mit der Oberflächenwelt, um sich dessen gewiß zu sein. »Immer vorausgesetzt, ich laufe nicht seit Stunden im Kreis«, murmelte Halisstra. Vielleicht war es sinnvoller, den Gedanken aufzugeben, die Jaelre zu finden, und statt dessen den kürzesten Weg aus dem Wald zu suchen. Früher oder später würde sie bestimmt wieder auf irgendeine Zivilisation stoßen, und dort würde sie sich Essen und Vorräte beschaffen – ganz gleich, ob sie darum bet teln mußte oder es sich einfach aneignete – und einen Führer überreden, sie zu den Jaelre zu bringen. Sie schloß die Augen und stellte sich im Geiste die Karte Cormanthors und der umliegenden Länder vor. Sie befand sich im östlichen Teil des Waldes, das wußte sie sicher. War es also am besten, nach Osten zu gehen, der aufgehenden Sonne ent gegen? Dort gab es jedoch kaum etwas außer der Menschen siedlung Eggental, wenn ihr geographisches Wissen sie nicht täuschte. Oder war es besser, nach Süden zu wandern? In dieser Richtung gab es einige Täler mehr, womit die Chancen besser standen, auf Zivilisation zu stoßen, auch wenn sie dafür länger wandern mußte, ehe sie den Wald verlassen konnte. Den Nor den schloß sie von vornherein aus, da sie sicher war, daß dort Elfenbaum lag. Es war jedoch egal, für welchen Weg sie sich entschied – sie würde zumindest vorübergehend den Jaelre und damit ihrer Mission den Rücken kehren. »Das wäre alles viel einfacher, wenn Lolth sich bequemen würde, auf meine Gebete zu reagieren«, grollte sie.
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Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, sah sie sich unwill kürlich erschrocken um und hielt die Hand vor den Mund. Lolth sah es nicht gern, wenn ihre Anhänger über sie klagten. Sie verbrachte einen naßkalten und elenden Tag zusam mengekauert zwischen den Felsblöcken in ihrem kleinen Ver steck, wo sie immer wieder mal für kurze Zeit in Trance abglitt. Mehr als einmal wünschte sie sich, sie wäre geistesgegenwärtig genug gewesen, um Feliane zu befehlen, sie zu den Jaelre zu führen. Wenigstens hätte sie von ihr Mantel und Ausrüstung fordern sollen, ehe sie sie in den Wald schickte. Fürst Dessaers Männer waren sicher längst auf der Suche nach ihr, und wenn sie sie diesmal zu fassen bekamen, würden sie nicht noch ein mal so gnädig mit ihr verfahren. Doch Halisstra neigte ohne hin allmählich zu der Ansicht, eine schnelle Hinrichtung durch die Oberflächen-Elfen sei einem langsamen und einsa men Hungertod in diesem nicht enden wollenden Wald vorzu ziehen. Bei Anbruch der Nacht packte sie ihre Habseligkeiten zu sammen und verließ ihr Versteck. Sie stand im Wald, sah in die Richtung, die sie für Westen hielt, dann nach Süden und wieder gen Westen. Im Süden würde sie zwar leichter eine Siedlung von Menschen oder Oberflächenelfen finden, doch sie brachte es nicht übers Herz, alle Hoffnung aufzugeben, je wieder mit ihren Kameraden zusammenzukommen. Es war besser, noch eine Weile in westlicher Richtung zu gehen, und wenn sie bei Tagesanbruch noch immer nicht den Fluß aus Pharauns Vision gefunden hatte, dann würde sie in Ruhe dar über nachdenken, ob sie es wirklich aufgeben sollte. »Also nach Westen«, sagte sie zu sich selbst. Ein paar Stunden ging sie durch den Wald und versuchte, den Mond zu ihrer Linken zu halten, auch wenn sie ihn mehr spürte als sah. Die Nacht war kalt, und am Himmel zogen
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dünne Wolken vorüber, die von einem heftigen Wind voran getrieben wurden. Von diesem war aber am Waldboden nichts mehr zu spüren, da er es offenbar nicht schaffte, den Schutz durch die Bäume zu überwinden. Im Wald selbst war es kalt und still, und nach den Maßstäben eines Bewohners der Ober fläche war es stockfinster. Halisstra dagegen empfand das diffu se Mondlicht, das seinen Weg in die unteren Regionen des Waldes fand, als See auf leuchtenden silbernen Schatten. Sie blieb stehen, um den Himmel zu betrachten und festzustellen, ob sie sich von der Bahn des Mondes zu sehr vom Kurs abbrin gen ließ, als sie in der Ferne Wasserrauschen hörte. Leise ging sie weiter durch die Nacht, bis sie schließlich am Ufer eines breiten, flachen Stromes ankam, der sich seinen Weg über ein Flußbett aus Kieseln bahnte. »Ob er das ist?« flüsterte sie. Er erschien ihr breit genug, und er befand sich in etwa dort, wo sie ihn vermutet hatte – anderthalb Nachtmärsche von dem Punkt, an dem man sie gefangengenommen hatte. Ha lisstra hockte sich hin und betrachtete das Gewässer. Wenn sie die falsche Entscheidung traf, konnte sie dem Strom in irgend eine abgelegene, unbewohnte Region des Waldes folgen, wo sie vor Hunger und Kälte sterben würde. Auf der anderen Seite waren ihre Aussichten ohnehin nicht eben erfreulich, ganz gleich, wie sie sich entschied. Halisstra schnaubte, dann folgte sie dem Fluß zu ihrer Linken. Was hatte sie zu verlieren? Sie legte gut anderthalb weitere Kilometer zurück, als das Marschieren und die kalte Luft ihren Hunger unerträglich werden ließen, so daß sie beschloß, Halt zu machen und sich ein mitternächtliches Mahl aus den spärlichen Vorräten zuzu bereiten, die ihr noch verblieben waren. Sie nahm den Ruck sack von den Schultern und sah sich um, als sie ein sonderbar schneidendes Geräusch hörte, das sich rasch näherte. Ohne
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nachzudenken, warf sich Halisstra zu Boden, denn instinktiv hatte sie das Geräusch längst erkannt. Zwei kleine Pfeile flogen an ihr vorüber, einer bohrte sich in einen Baumstamm gleich hinter ihr, der andere verschwand in der Finsternis, nachdem er von ihrem gepanzerten Ärmel abgeprallt war. Sofort rollte sie sich in den Schutz eines Baums und sang rasch einen Unsichtbarkeitszauber, da sie hoffte, so den Angreifern kein Ziel zu bieten. Dabei warf sie zufällig einen Blick auf den Pfeil, der im Stamm steckte. Er war klein, schwarz und mit roten Federn besetzt: ein Bolzen aus der Arm brust eines Drow! Mehrere Angreifer pirschten heimlich näher, den einzigen Hinweis auf ihre Anwesenheit lieferte das Rascheln der Blätter auf dem Waldboden oder ein gelegentliches leises Pfeifsignal. Halisstra erhob sich langsam, hielt sich aber im Schutz des Baumes. Mit leiser Stimme rief sie: »Feuer einstellen. Ich trage die Waffen einer Eilistraee-Priesterin, die ich tötete. Ich diene Lolth.« In ihrer Stimme war eine Spur eines Bae’qeshel-Lieds zu hö ren, das ihren Worten eine unbestreitbare Ernsthaftigkeit verlieh. Mehrere Drow näherten sich ihr weiter, was sie am Ra scheln im Unterholz erkannte. Dann sah Halisstra die Männer in Grün und Schwarz, die sich wie Panther durch den im Mondschein liegenden Wald bewegten. Sie spähten in die Finsternis und suchten sie, doch ihr Zauber verbarg sie ausrei chend vor ihren Blicken. Sie legte die Hand auf das Heft von Seylls Schwert und ver änderte leicht ihre Position, um ihren Schild zu heben, für den Fall, daß es ihnen gelingen sollte, die Unsichtbarkeit zu durch schauen.
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Einer der Drow blieb vor ihr stehen und erwiderte: »Wir haben Euch gesucht.« »Mich?« fragte Halisstra. »Ich ersuche um eine Audienz bei Tzirik, könnt Ihr mich zu ihm bringen?« Die Jaelre-Krieger hielten inne. Mit den Fingern tauschten sie sich rasch aus, dann ließ der Krieger, der sie angesprochen hatte, die Armbrust sinken. »Eure Truppe von Spinnenküssem kam vor drei Tagen in die Minauth-Feste«, sagte er. »Wurdet Ihr von den anderen getrennt?« In der Hoffnung, Quenthel und die anderen hätten nichts getan, um sich die Jaelre zu Feinden zu machen, entschied sich Halisstra für eine ehrliche Antwort. »Ja«, sagte sie. »Gut«, erwiderte der Fremde. »Hohepriester Tzirik befahl uns, Euch zu suchen. Wir können Euch jetzt zu ihm bringen. Was aus Euch wird, ist seine Sache.« Halisstra hob ihre Unsichtbarkeit auf und nickte. Die Jaelre scharten sich um sie und machten sich in schnellem Tempo auf nach Süden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befinden mochte, während sich die Jaelre in den Wäldern bestens auszu kennen schienen. Nach weniger als einer Stunde hatten sie die Ruine einer Feste erreicht, deren weiße Mauern im Mond schein leuchteten. Der Strom verlief nur einen Steinwurf weit von der Feste entfernt. Ich hatte tatsächlich den richtigen Fluß gefunden, dachte Halisstra etwas überrascht. Wie es schien, war sie zwei Nächte lang auf dem richtigen Weg gewesen, sie war nur ein paar Meilen zu weit nach rechts geraten. Der Gedanke, was geschehen wäre, wenn sie den Strom überquert hätte und weitergegangen wäre, ließ sie er schaudern.
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Die Jaelre-Späher führten Halisstra in die Feste, vorbei an aufmerksamen Wachen, die in Verstecken kauerten und ein Auge auf den Wald ringsum hatten. Sie stellte fest, daß die Anlage längst nicht so heruntergekommen war, wie es von außen schien. Die Wachen brachten sie in einen bescheidenen Saal, in dem ein Feuer im Kamin brannte und dessen Wände mit Jagdtrophäen behängt waren, die überwiegend Kreaturen von der Oberfläche zeigten, da sie Halisstra nicht vertraut waren. Sie wartete eine Weile, während Hunger und Durst immer schlimmer wurden, doch schließlich kam ein kleiner, kräftig gebauter Mann mittleren Alters herein, der sein Ge sicht hinter einem zeremoniellen schwarzen Schleier verbor gen hatte. »Habe ich aber Glück«, sagte er mit sonorer Stimme. »Zweimal in drei Tagen sind Diener Lolths in mein Zuhause gekommen und haben darum gebeten, mich persönlich zu sprechen. Allmählich frage ich mich, ob Lolth mich von mei ner Ergebenheit gegenüber dem Maskierten Gott abbringen will.« »Ihr seid Tzirik?« fragte Halisstra. »Ja«, sagte der Priester, verschränkte die Arme und betrach’ tete sie. »Ihr müßt Halisstra sein.« »Ich bin Halisstra Melarn, erste Tochter des Hauses Me larn, des zweiten Hauses von Ched Nasad. Soweit ich weiß, sind meine Gefährten hier.« »Das sind sie«, entgegnete Tzirik. Er lächelte kühl. »Doch alles zu seiner Zeit. Wie ich sehe, tragt Ihr die Waffen einer Priesterin Eilistraees. Wie das?« »Wie ich schon Euren Kriegern sagte, wurde meine Gruppe vor fünf Tagen ein Stück entfernt von hier von OberflächenElfen angegriffen. Meine Gefährten konnten fliehen, doch mich nahm man gefangen und brachte mich an einen Ort
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namens Elfenbaum. Dort besuchte mich eine Frau namens Seyll Auzkovyn und versuchte, mich zu Eilistraee zu bekeh ren.« »Eine einfältige Idee«, kommentierte Tzirik. »Aber fahrt fort.« »Ich ließ sie glauben, ich könne bekehrt werden«, fuhr Ha lisstra fort. »Sie bot mir an, sie zu einem Ritual zu begleiten, das vor zwei Nächten stattfinden sollte. Auf dem Weg zu die ser Zeremonie gelang mir die Flucht.« Sie blickte auf Kettenhemd und Waffen. Daß die Frau so naiv gewesen war, versetzte Halisstra immer noch in Erstau nen. Seyll war ihr nie wie eine dumme Drow vorgekommen, und doch hatte sie Halisstra völlig falsch eingeschätzt. »Jedenfalls«, endete sie, »nahm ich mir die Freiheit, Dinge auszuleihen, für die Seyll keine Verwendung mehr hatte. Im merhin hatten die Leute von Elfenbaum zuvor meine Waffen und die Rüstung beschlagnahmt.« »Wollt Ihr nun zu Euren Kameraden?« »Vorausgesetzt, sie sind weder tot noch gefangen«, erwider te sie. »Nichts dergleichen«, sagte Tzirik. »Sie baten mich, ihnen einen ungewöhnlichen Dienst zu erweisen. Also überlegte ich mir etwas, das sie für mich tun konnten, um mich für meine Zeit und Mühe zu entschädigen. Wenn sie erfolgreich sind, sollten sie in ein bis zwei Tagen wieder da sein. Die Frage lau tet: Werdet Ihr hier sein, um sie zu begrüßen?« Halisstra kniff die Augen zusammen, schwieg aber. Der Ho hepriester ging zum Feuer, nahm einen Schürhaken und schob die knisternden Scheite im Kamin hin und her. »Die Kameraden, die euch der Gefangenschaft durch dieses Oberflächen-Volk anheimfallen ließen, erzählten mir eine sehr ungewöhnliche Geschichte«, erklärte der Priester. »Zweifellos
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denkt Ihr nun: ›Woher soll ich wissen, was sie Tzirik alles gesagt haben?‹ Das könnt Ihr natürlich nicht wissen. Daher ist es empfehlenswert, daß Ihr mir einfach alles erzählt.« »Das könnte meinen Kameraden mißfallen, wenn sie zu rückkehren«, wandte Halisstra ein. »Eure Gefährten werden nie erfahren, daß Ihr hier wart, wenn es Euch nicht gefällt, meine Neugier zu stillen, Herrin Melarn«, sagte Tzirik. Er legte den Schürhaken weg und ließ sich beim Feuer nieder. »Warum fangt Ihr nicht einfach ganz am Anfang an?«
Ryld kauerte in einem dichten, tödlichen und ätzenden Nebel und versuchte mit allen Mitteln, nicht einzuatmen, obwohl ihm die Luft ausging. Seine Haut brannte, als hätte man flüssi ges Feuer über seinen Leib gegossen, und häßliche Beulen bildeten sich an den Stellen, an denen seine Haut nicht vor der Luft geschützt war. Wenn er blieb, wo er war, war das eine Einladung zu einem langsamen, qualvollen Tod, doch die Dämpfe hatten sich wie sanfte weiße Hände um seine Glieder gelegt und hinderten ihn daran, sich zu bewegen. Der verfluch te Betrachter befand sich irgendwo in diesem Raum, nur wo? Ein greller Blitz erhellte den weißen Nebel, Dutzende zu ckender Verästelungen schossen in alle Richtungen davon, während er durch die Dunstschleier jagte. Der Waffenmeister sprang zur Seite und sank langsam zu Boden, da der Nebel seinen Fall abfederte. Ein gewaltiger Donnerschlag erschütter te die Steine im Raum und ließ seine Zähne im Kiefer vibrie ren. »Pharaun!« schrie er. »Wo ist der verdammte ...« Sofort bereute er, ein Wort gesagt zu haben, da Schmerzen seine Nase und Kehle attackierten, als würden sich heiße Na
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deln in sein Innerstes bohren. »An der östlichen Mauer!« erwiderte der Magier aus einiger Entfernung. Der Meister Sorceres ging sofort zum nächsten Zauber über, den er so schnell wie möglich zu wirken versuchte. Unterdes sen ließ der Betrachter-Magus seinen entsetzlichen Zauberge sang ertönen und murmelte finstere Worte für ein halbes Dut zend Beschwörungen gleichzeitig. Wieder zuckten Blitze, gefolgt vom Heulen und Kreischen beschworener Geschosse, die auf ihre Ziele zujagten und den Schreien, Rufen und Flü chen seiner Gefährten. Ryld hatte endlich den Boden erreicht und stellte fest, daß er sich dicht an einer geschwungenen Wand befand – das einzige, was er in dem entsetzlichen Nebel sehen konnte. Oh ne nachzudenken kroch er so schnell wie möglich vorwärts, da er hoffte, dem ätzenden Nebel zu entkommen, bevor der ihm das Fleisch vom Schädel brannte. Bei Lolth, was für ein Elend! dachte er, während er mit Splitter nach den dicken Nebelschwaden schlug und stach. »Die Teufel sind dicht hinter uns!« schrie Jezz, der sich ir gendwo jenseits des brennenden Nebels aufhielt. »Erledigt dieses Ding so schnell wie möglich, damit wir uns nehmen können, weshalb wir herkamen, und den Rückzug antreten können!« Es schnell erledigen, dachte Ryld und schnitt eine Grimas se. Das ist ja eine ganz neue Idee. Er bewegte sich weiter nach vorn, und plötzlich war er dem tödlichen Nebel entronnen. Niemand war in seiner Nähe, aber aus der Nebelwand hinter ihm hörte er, wie seine Gefährten kämpften. »Verdammt«, murmelte er. Nachdem er dem Nebel entronnen war, wurde offensicht
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lich, daß das gesamte Stockwerk des Turms einst aus fürstlich ausgestatteten Räumen bestanden hatte. Ein dicker roter Schleier auf dem Boden war womöglich früher ein dicker Tep pich gewesen, die Wände waren mit orangefarbenen und gol denen Kacheln geschmückt, die einen Wald an der Oberfläche der Welt zeigten, dessen normalerweise grünen Blätter aus einem unerklärlichen Grund in Rot-, Orange- und Gelbtönen dargestellt wurden. Ryld hustete, seine Augen tränten vom Kontakt mit den giftigen Dämpfen. Offenbar war er durch einen Torbogen in einen anderen Raum gelangt, an dessen gegenüberliegender Seite eine Tür wegführte. »Wo bei allen schreienden Höllen bin ich?« Etwas vor ihm kreischte vor Wut, und im Raum jenseits des Türbogens flammte magisches Feuer gleißend hell auf. Ryld hob Splitter und stürmte in den nächsten Raum, wo er sich inmitten eines heftigen Gefechts wiederfand. Danifae und Jezz kämpften mit zwei schlanken, schuppigen Teufeln, die fast drei Meter groß waren. Es handelte sich um gräßliche Scheusale, die große Flügel besaßen und mit rasier messerscharfen Geißeln und stacheligen Schwänzen um sich schlugen, von denen grünes Gift tropfte. Einige kleinere Teu fel zischten und strömten hinter den beiden großen Ungeheu ern in den Raum, drängten nach vorn und suchten nach einer Möglichkeit, sich in den Kampf einzumischen. »Die Teufel greifen an!« schrie Jezz. Der Jaelre kämpfte mit einem geschwungenen Messer in der einen Hand und einer tödlichen weißen Zauberflamme in der anderen. Einer der großen Teufel sprang Jezz an und umging mit seinen Eisenketten die Paraden des Jaelre, so daß der Oberflächen-Elf zu Boden ging. Die Kreatur baute sich über dem benommenen Jezz auf und griff nach dessen Kehle. Ryld ließ sich nach vorn gleiten, täuschte hoch an, damit
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der Teufel die Waffe hob, um sein Gesicht zu schützen, doch dann ging er abrupt in die Hocke und schlug nach dessen Bein, um es am Knie abzutrennen. Das riesige Scheusal brüllte vor Schmerz und verlor den Halt, seine Flügel flatterten wild, während schwarzes Blut aus der schrecklichen Wunde spritzte. Ryld kam näher und veränderte seinen Griff, um Splitter so zu halten, daß er das am Boden liegende Monster töten konnte. Aber der Teufel reagierte mit einem Wirbel aus reißenden Klauen und schnappenden Zähnen, während er mit seinem gefährlichen Schwanz so schnell ausholte, daß allein die Stabi lität seines von Zwergen geschaffenen Brustpanzers ihn davor bewahrte, von dem Stachel des verwundeten Teufels durch bohrt zu werden. Ryld parierte wie wahnsinnig, da er um sein Leben kämpfte, während immer mehr Teufel – eine Gruppe von mannshohen Kreaturen, aus deren schuppiger Haut messerscharfe Stacheln herausragten – sich näherten und ihre Mäuler mit den Reiß zähnen zu einem höllischen Grinsen verzogen hatten. »Drow als Mahlzeit!« höhnten sie. »Drow-Herzen zum Nachtisch!« »Wir müssen hier raus!« schrie Danifae. »Wir können sie nicht aufhalten!« Sie ließ ihren Morgenstern geschickt und mit viel Kraft wirbeln, um gegen den anderen großen Teufel sowie zwei der kleineren zu kämpfen, die von den Seiten her sich zu nähern versuchten. »Wir können nirgends hin«, gab Ryld zurück. »Hinter uns befindet sich der Betrachter!« Er spürte die todbringenden Zauber, die im Raum hinter ihm zum Einsatz kamen, er fühlte die Erschütterungen der Blitze und den Schauder mörderischer Zauber, die seine Seele versengten und ihm eine Gänsehaut bescherten.
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So geht es nicht, dachte er. Wir sind in zwei Gruppen auf geteilt und müssen gegen zwei gefährliche Gegner kämpfen. Sie mußten sich neu formieren und sich auf einen der bei den Widersacher konzentrieren oder sich zurückziehen und es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Voraus gesetzt, die Bewohner Myth Drannors erlaubten ihnen über haupt, sich zurückzuziehen. Wahrscheinlicher war, daß sie alle hier sterben würden, umgeben und überrannt von endlosen Heerscharen blutrünstiger Dämonen. Quenthel und Valas waren vermutlich bereits tot. Genug, ermahnte sich Ryld. Wir sind nicht so weit gereist, um hier geschlagen zu werden! Er verdoppelte seine Angriffe, begab sich in Reichweite des großen Teufels und jagte Splitters Spitze in den schuppigen Hals der Kreatur. Diese schlug wild nach ihm, lag aber bereits im Sterben, und ihre Zuckungen brachen kleine Stücke Stein heraus, während die Krallen in die Luft schnappten, anstatt Ryld zu zermalmen. Der Waffenmeister machte einen Satz über den Leichnam und stellte sich den kleineren Teufeln, die bereits näherkamen. Jezz mischte sich wieder in den Kampf ein, zog eine Schrift rolle aus seinem Gürtel und las hastig einen Bannzauber, der mehrere der kleineren Teufel in das infernalische Reich zu rückschleuderte, aus dem sie gekrochen waren. Zwei andere nahmen sofort den Platz ein, der durch ihr Ver schwinden entstanden war. »Wir müssen weg von hier!« rief Jezz. »Der Betrachter ist unser Feind. Diese Teufel sollen uns ablenken!« Ryld verzog das Gesicht. Wenn sie flohen, dann würde man sie von hinten niederringen. Dennoch wich er zurück zu der Tür, die hinüber zum Betrachter führte. Er betete, daß sich die Kreatur nicht an einer Stelle befand, von der aus sie sie sehen
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konnte. Widerstrebend zog er sich Schritt für Schritt zurück, da er ungern in einen anderen Kampf eingreifen wollte, solan ge der eine noch tobte. Zu seiner Überraschung verschwand plötzlich einer der Teufel auf der anderen Seite aus dem Blickfeld, ein weiterer begann zu kreischen, als eine Peitsche mit Schlangenköpfen ihre Giftzähne in dessen Nacken bohrte. Valas und Quenthel, die sich durch die Reihen der Teufel kämpften, humpelten in sein Blickfeld. Der Späher trug die schwerverletzte Priesterin, deren Flanke er mit einem Kukri vor Angriffen schützte, wäh rend sie mit ihrer todbringenden Peitsche ausholte. Danifae und Ryld nutzten den momentanen Nachteil der Teufel, um Angriffe gegen die ihnen am nächsten stehenden Gegner zu führen. Quenthel ließ sich gegen eine Wand sinken und hielt Halisstras heilenden Stab in der Hand, während Valas Hune seine zweite Klinge zog und sich in den Kampf stürzte, indem er die Teufel von hinten mit seinen Messern angriff. »Schnell!« keuchte Quenthel. »Ein Höllenschlundteufel und ein Dutzend weiterer Teufel sind gleich hinter uns!« Ryld besiegte einen weiteren Teufel, während Danifae mit einem beidhändigen Schlag ihres Morgensterns das Gehirn eines weiteren Geschöpfes an der Wand verteilte. Innerhalb weniger Augenblicke entledigten sich die Drow aller Teufel in ihrem Raum. Jezz zog eine weitere Schriftrolle und las rasch den Zauber vor, mit dem er die Tür hinter Quenthel und Valas Hune mit einer knisternden Schicht aus funkelnder gelber Energie versiegelte. »Das wird die Kreaturen nur für einen Moment aufhalten«, warnte er. Die Baenre sah sich um. Der Sturz in den Schacht mußte sie schwer verletzt haben. Getrocknetes Blut bedeckte eine Seite
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ihres Gesichts, und ihre Augen schienen sich nicht fokussieren zu können. Ein Arm hing schlaff herab, aber sie blieb auf den Beinen. »Wo ist der Betrachter?« fragte sie. »Wo sind Pharaun und Jeggred?« Ryld sah zum Türbogen, ein weiterer Zauber dröhnte durch die Luft. »Irgendwo da hinten«, sagte er. »Der Betrachter –« Er verstummte, als er eine überwältigende Präsenz spürte, die sich Jezz’ Barriere näherte, etwas Unsichtbares, das mit seinen Schritten die Mauersteine des Turms zu erschüttern schien. »Der Höllenschlundteufel kommt«, meldete Danifae, die nach Luft schnappte und die ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen hatte. »Geht!« sagte Quenthel und winkte sie mit ihrem unver sehrten Arm weiter. Ohne ein Wort zu erwidern, hasteten die Dunkelelfen zum anderen Ausgang, rannten in den nächsten Raum und nah men keine Rücksicht auf die donnernden Zauber, die dort umherzuckten.
Triel Baenre stand auf einer hohen Brücke des Hauses Baenre und sah in Richtung Narbondel. Der schleichende Ring aus Strahlung, der sich langsam an der gewaltigen Steinsäule nach oben bewegte, zeigte, wie die Zeit verging. Das Leuchten war fast am oberen Ende der Säule angelangt, was hieß, daß der Tag bald vorüber sein würde. Es war nicht das erste Mal, daß ihr die Ironie bewußt wurde, die darin lag, daß ein Volk, das vor fast zehntausend Jahren aus der Welt des Lichts vertrieben worden war, ein Interesse daran hatte, den Wechsel von Tag
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und Nacht so wie die Bewohner der Oberfläche nachzuvollzie hen. Dabei war hier im Unterreich doch immer Nacht. Den noch hatte es sich über die Jahre als einigermaßen nützlich erwiesen, sich an das nie endende Verstreichen der Tage in der Welt dort oben zu erinnern. Es half, mit denen umzugehen, für die diese Gewohnheit üblich war, so zum Beispiel Kaufleute, die die exotischeren und begehrteren Waren von der Oberflä che in die Stadt Lolths brachten. Nicht, daß viele von ihnen in der letzten Zeit Menzoberran zan besucht hätten. Ein Krieg war immer ein Hemmnis für den Handel. Die andere Frage, die Triel in den Sinn kam, als sie zu Nar bondel blickte, war nicht ganz so abstrakt: Wer sollte in ein oder zwei Stunden den feurigen Ring Narbondels neu entfa chen? Das Amt des Erzmagiers gehörte noch immer ihrem Bruder Gromph, der seit mehr als einem Zehntag als verschwunden galt. Doch die Meister Sorceres würden nicht zulassen, daß eine so hohe Position allzulange unbesetzt blieb. Sie hatte erfahren, daß mehrere ehrgeizige Meister bereits um den Pos ten wetteiferten. Zweifellos hätte auch Pharaun zu ihnen ge hört, wäre er noch in der Stadt gewesen. Doch der Auftrag, sich nach Ched Nasad zu begeben, machte es dem Helden der Stunde unmöglich, in Menzoberranzan zu sein und seinen Ruhm zum besten persönlichen Nutzen einzusetzen. Sie drehte den Kopf und sprach über die Schulter zu den treuen BaenreWachen, die respektvollen Abstand zu ihr wahrten. »Schickt nach Nauzhror«, sagte sie. »Sagt ihm, ich brauche seinen Rat in einer wichtigen Angelegenheit. Er kann mich in der Kapelle aufsuchen.« Triel machte sich auf den Weg zum großen Lolth-Tempel, der sich im Mittelpunkt des großen Hügels des Hauses Baenre
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befand. Ihre Aufmerksamkeit war nicht auf ihre Umgebung gerichtet, da sie über die vielen Probleme nachdenken mußte, von denen die Stadt in den letzten Monaten heimgesucht wurde. Sie war den Duergar fast dankbar, weil sie ihr Grund gaben, den Rat einzuberufen – und damit die Dutzende niede rer Häuser, die die Stärke Menzoberranzans ausmachten. Ein Sieg in den Tunneln südlich der Stadt würde viel dazu beitra gen, die Vorherrschaft des Hauses Baenre wieder herzustellen. Andererseits konnte ein weiterer Rückschlag verheerende Folgen haben. Auch wenn die Baenre das wohlhabendste mächtigste Haus waren, könnte der Rat auf die Idee kommen, den Baenre den Namen erstes Haus zu entziehen. Kein einzel nes Haus konnte darauf hoffen, Haus Baenre zu schlagen, nicht einmal zwei, wenn sie sich zusammenschlossen. Aber was, wenn alle anderen Häuser des Rates der einhelligen Mei nung waren, die Zeit sei gekommen, das stärkste aller Häuser abzusetzen? »Da sei Lolth vor«, murmelte Triel und schauderte ängst lich. Was die Truppen, die magische Macht und den bloßen Reichtum anging, waren die anderen Häuser schon immer in der Lage gewesen, Haus Baenre zu vernichten, wenn sie sich zusammenschlossen, um gemeinsam gegen das Erste Haus vorzugehen. Was sie aber nie besessen hatten, war der Segen Lolths, die einen solchen Akt des Ungehorsams nie gutgehei ßen hätte. Wenn Lolth ihre Aufmerksamkeit wieder auf Men zoberranzan richtete und das zweite bis achte Haus für das anmaßende Verhalten vernichtete, weil sie das Haus Baenre ausgelöscht hatten, dann würde das den Baenre auch nicht mehr helfen. Ohne Lolths Zorn, der den Ehrgeiz der anderen großen Häuser zügeln konnte, erschien ein vereinter Angriff auf das Haus Baenre weniger wie eine Möglichkeit, sondern
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vielmehr wie etwas Unausweichliches. Der Trick, überlegte Triel, besteht darin, die anderen Häu ser von gefährlichen Themen abzulenken, beispielsweise von der Frage, wer nach dem Fall der Baenre das nächste erste Haus werden sollte, und einige kleinere Häuser mit den Stel lungen der größeren zu locken. Wenn Häuser wie Xorlarrin oder Agrach Dyrr davon über zeugt werden konnten, daß ein deutlich höheres Aufrücken in der Rangordnung für sie einer Gewißheit gleichkam, wenn sie sich hinter die Baenre stellten, um einer Verschwörung Barri son Del’Armgos und Faen Tlabbars entgegenzuwirken, anstatt sich den Verschwörern anzuschließen – dann konnte das Haus Baenre fast jeder Bedrohung durch die niederen Nachbarn widerstehen. Sie blieb an der Tür der Kapelle stehen und ließ sich den Gedanken angewidert durch den Kopf gehen. Durfte sie wirk lich das Gefühl haben, Haus Baenre hätte einen Verbündeten nötig? Die alte Matrone Baenre hatte niemandes Zustimmung gebraucht, um zu regieren. Sie hatte über die Stadt geherrscht, weil sie so stark gewesen war, daß niemand auch nur in Erwä gung gezogen hatte, sich ihr zu widersetzen. Triel runzelte die Stirn und gab den Wachen der Kapelle ein Zeichen, woraufhin die die Türen aufzogen und sich tief vor ihr verbeugten. Ihre Schwester Sos’Umptu erwartete sie in der Kapelle. Sos’Umptu war etwa so groß wie Quenthel, doch sie kam nach Triels nachdenklicher Art, nicht nach Quenthels Willens kraft, die auch ihre unbeklagte Schwester Bladen’Kerst ausge zeichnet hatte. Sos’Umptu besaß eine kalkulierte, gezielte Gehässigkeit, die sie gut unter Kontrolle hielt, da sie sich nie auf einen Streit einließ, den sie nicht gewinnen konnte. Sie senkte den Blick, eine winzige Geste des Respekts, den Triels
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Position verlangte, dann richtete sie sich auf. »Schon Neuigkeiten von der Armee, älteste Schwester?« fragte sie sanft. »Noch nicht. Zal’therra sagt mir, Mez’Barris habe eine klei ne Vorhut entsandt, um vorab einen strategisch wichtigen Paß auf dem Weg der Duergar-Armee zu besetzen, was mir recht vernünftig erscheint. Der Rest der Armee der Schwarzen Spinne wird so schnell wie möglich folgen.« »Es ist eine schwierige Situation. Ich frage mich, ob du die Armee hättest persönlich anführen sollen.« Triel zog die Augenbrauen hoch. Sie war es nicht gewohnt, daß jemand offen ihr Handeln analysierte. Aber wenn sie kei ne Kritik aus den Reihen der eigenen Familie hinnehmen konnte, wie wollte sie dann hoffen, die anderen Matronen einzuschüchtern? »Angesichts der ungewöhnlichen Situation«, erwiderte Triel, »hielt ich es für klüger, nahe der Stadt zu bleiben.« »Vielleicht. Das Problem ist ganz simpler Natur. Wird die Armee geschlagen, wird man dir die Schuld geben. Trium phiert sie, hast du aus Mez’Barris Del’Armgo eine Heldin ge macht.« »Ja, und aus Zal’therra und Andzrel«, betonte Triel. »Ich gebe zu, ich habe mehr zu verlieren als zu gewinnen, aber ich werde nicht mein eigenes Handeln in Frage stellen.« Sie betrachtete die Kapelle, sah hinauf zu dem großen magi schen Bild, das Lolth darstellte. Vor Sos’Umptus Augen voll zog Triel eine förmliche Verbeugung. »Du hast dich in den letzten Zehntagen nicht so intensiv um die Riten Lolths gekümmert, wie du es hättest tun kön nen«, sagte Sos’Umptu. Lolth hat sich schon viel länger nicht um uns gekümmert, dachte Triel spontan.
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Sofort verdrängte sie diesen blasphemischen Gedanken aus ihrem Geist, entsetzt, daß ihr etwas so ehrfurchtsloses in den Sinn kommen konnte. Äußerlich wahrte sie Ruhe, was ihr durch langes Üben keine Schwierigkeiten bereitete, und rich tete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Schwester. »Wir stehen noch vor einer anderen Herausforderung«, sag te Triel. »Die Meister Sorceres machen sich dafür stark, daß ein Nachfolger für Gromph gefunden wird. Haus Baenre hat seit Jahrhunderten nach eigenem Gutdünken den Erzmagier auf dem Thron Sorceres bestimmt, doch diesmal überlege ich, ob es sinnvoll wäre, den Kandidaten eines anderen Hauses für diese Position zu unterstützen. Es könnte ... dienlich sein.« Sos’Umptus Augen weiteten sich kaum merklich, als sie fragte: »Du willst meinen Rat hören?« »Da Gromph verschwunden und Quenthel weit weg von hier ist, muß ich feststellen, daß die Kinder meiner großartigen Mutter rar gesät sind. Wenige Frauen – und noch weniger Männer – verstehen, welche Lektionen uns unsere Mutter lehrte.« Triel schnaubte. »Nicht mal alle unsere Geschwister, um es genau zu nehmen. Bladen’Kerst kannte nur Stärke und Grausamkeit, Vendes war einfach nur aufs Morden aus. Ich brauche einen scharfen Verstand, einen subtilen Geist, jeman den, der von meiner Mutter ausgebildet wurde. Mir wird klar, daß ich dir viel zu lange erlaubt habe, in dieser Kapelle zu lauern.« Triel trat einen halben Schritt vor, ihre Züge verhär teten sich. »Du mußt verstehen, daß ich deinen Rat einholen werde, wenn ich es will. Verwechsle Überlegen nicht mit Un entschlossenheit. Ich werde mein Recht zum Herrschen nicht in Frage stellen lassen.« Sos’Umptu nickte: »Gut. Ich denke, wir sollten davon aus gehen, daß Gromph tot ist. Er hätte nicht leichtfertig seine Pflichten vernachlässigt, und es gibt mindestens zwei Gründe,
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die dafür sprechen, daß jemand ihn ermordet haben könnte. Entweder wollte jemand einen Schlag gegen den Erzmagier führen, oder es sollte ein Schlag gegen den höchsten Magier des Hauses Baenre sein. Im ersten Fall wird der kommende Erzmagier entweder der Sündenbock oder das nächste Ziel sein. Warum sollten wir uns anstrengen, einen Baenre-Magier einzusetzen, der schwächer ist als Gromph, wenn die Chance besteht, daß wir jeden verlieren, hinter den wir uns stellen?« »Mir gefällt der Gedanke nicht, einen so wichtigen Posten einfach einer anderen Familie zu überlassen, aber noch weni ger behagt mir die Aussicht, einen weiteren guten Magier zu verlieren«, sagte Triel nachdenklich. »Vor allem, wenn wir eine engere Bindung zu einem anderen Haus schaffen, indem wir dessen Kandidat unterstützen, der dann das Ziel jener Macht werden könnte, die stark genug war, um Gromph zu vernichten.« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Sos’Umptu. »Du suchst Verbündete?« »Es kommt mir so vor, als seien wir vielleicht gut beraten, uns mit einem großen Haus von mittlerem Rang zu verbünden, vielleicht auch mit zweien«, erklärte Triel. »Es dürfte eine vernünftige Vorkehrung sein, gewappnet zu sein, wenn das zweite oder dritte Haus versuchen sollten, sich mit den ande ren gegen uns zusammenzuschließen.« Sos’Umptu strich sich übers Kinn und entgegnete: »Du glaubst, die Lage ist so gefährlich? Mutter hätte sich mit einer solchen Vorgehensweise nie einverstanden erklärt.« »Mutter lebte in einer anderen Zeit«, konterte Triel. »Ver gleiche mich nie wieder mit ihr.« Triel sah ihre Schwester so lange eindringlich an, bis die den Blick senkte. Wenn sie sich mit Quenthel verbündete oder einer Kabale der fähigeren Basen wie beispielsweise
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Zal’therra, konnte sie für Triel zur Bedrohung werden, doch bis dahin war sie vertrauenswürdig – jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen. »Was, wenn Gromphs Ermordung sich gegen das Haus Baenre richtete?« fragte Triel. »Wenn es nicht einfach nur um den Posten des Erzmagiers ging?« »Dann wären wir gut beraten, wenn wieder ein Baenre-Ma gier Sorcere leitet. Wenn nicht, würden wir schwach erschei nen. Wenn die anderen Häuser uns erst einmal als verwundbar ansehen, könnten sie sich versucht fühlen, genau das zu tun, was du befürchtest.« »Dein Rat ist für mich kein Trost, Sos’Umptu«, sagte Triel. »Außerdem befürchte ich nichts, ich bin besorgt.« »Ich wüßte noch eine Möglichkeit«, fügte Sos’Umptu an. »Schiebe es auf. Behaupte einfach weiter, Gromph sei nach wie vor der Erzmagier Menzoberranzans. Verbreite die Ge schichte, du hättest ihn auf eine Mission geschickt, die ihn eine Weile in Anspruch nehmen wird. Je länger wir es hinaus zögern, desto wahrscheinlicher ist es, daß die Ereignisse etwas über die Umstände seines Verschwindens ergeben. Wenn die Armee der Schwarzen Spinne in den Tunneln im Süden er folgreich ist, könnte deine Position ausreichend gestärkt wer den, um mit dem Posten des Erzmagiers nach Belieben zu ver fahren.« Triel nickte. Das klang vernünftig. Auch wenn sie es haßte zuzugeben, daß ein weiter anhaltendes Schweigen Lolths ihr eine Herausforderung um die Führung des Hauses bescheren konnte, konnte es nicht schaden, ihre Bindung zu Sos’Umptu zu verstärken. Sie würde vielleicht so viele Schwestern wie möglich auf ihrer Seite haben müssen. Die Tür zur Kapelle öffnete sich knarrend, und ein dicker Mann in elegantem schwarzen Gewand trat ein. Er erinnerte
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an eine Hauskatze, die man zu gut gefüttert hatte und die mit ihrer eigenen Überlegenheit gänzlich zufrieden war. Nauzhror Baenre war Triels Vetter ersten Grades, der Sohn einer Nichte ihrer Mutter. Seine Vertraute, eine haarige Spinne, die so wohlgenährt war wie der Magier selbst, kauerte auf seiner Schulter. Er galt als ein Meister Sorceres, neben dem alten Gromph der einzige aus dem Haus Baenre, und hatte die An gewohnheit, sorglos zu lächeln, was es schwierig machte, seine Gedankengänge einzuschätzen. So sehr sie sich auch anstreng te, konnte sie sich nicht vorstellen, wie er das Gewand des Erzmagiers von Menzoberranzan trug. »Ihr habt nach mir gerufen?« »Ich werde verkünden«, sagte Triel, »daß mein Bruder Gromph sich auf einer wichtigen, streng geheimen Mission befindet. Er wird zu gegebener Zeit wieder seine Pflichten als Erzmagier von Menzoberranzan erfüllen. Bis dahin werde ich den Meistern Sorceres erlauben, einen Vertreter zu bestim men, der sich um die mit dem Posten verbundenen Verant wortlichkeiten kümmert. Ihr werdet den besten Kandidaten unterstützen, der von Haus Xorlarrin oder Agrach Dyrr gestellt wird.« Nauzhror wurde ernst. »M-muttermatrone«, stammelte er. »Ich ... ich dachte, ich würde vielleicht den ...« »Könnt Ihr es mit Gromph aufnehmen, Nauzhror?« fragte Triel. Der Magier mochte sanftmütig wirken, aber seine Augen verrieten einen harten, berechnenden Verstand – und einen pragmatischen dazu. »Könnte ich das, dann hätte ich ihn schon längst herausge fordert, um ihm seinen Titel abzunehmen.« Er überlegte einen Moment und streichelte die Spinne auf seiner Schulter. »Ich gehe davon aus, daß ich mit der Zeit so geschickt sein werde
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wie er und daß ich ihn vielleicht sogar übertreffen werde. Doch muß ich die Kunst noch viele Jahre studieren, ehe ich mich als mit ihm gleichrangig bezeichnen kann.« »Das hatte ich mir gedacht. Bedenkt«, gab Triel zurück, »wer immer hinter Gromphs Verschwinden steckt, würde mit Euch kurzen Prozeß machen, sobald Ihr Euch als der neue Erzmagier von Menzoberranzan vorstelltet. Der Tag mag kommen, an dem Ihr Euren Ehrgeiz verwirklichen könnt, Vet ter, doch heute ist nicht dieser Tag.« Nauzhror zögerte keine Sekunde, zu nicken und zu erwi dern: »Ja, Muttermatrone. Ich werde tun, was Ihr befehlt.« »Ihr seid bis auf weiteres Hausmagier des Hauses Baenre. Sollte sich herausstellen, daß mein Bruder tot ist, dann werdet Ihr diesen Posten behalten, doch im Moment benötige ich Eure Zauber und Euren Rat. Ordnet für den Augenblick Eure Angelegenheiten in Sorcere, ich werde Eure Habe herbringen lassen.« Nauzhror verbeugte sich und sagte: »Ich danke Euch für Eu er Vertrauen in meine Fähigkeiten, Muttermatrone.« »Mein Vertrauen in Eure Fähigkeiten reicht nicht eben weit, Vetter: Laßt Euch nicht umbringen«, mahnte Triel. »Von diesem Augenblick an ist jeder Mann mit der geringsten Befähigung zum Magier im Haus Baenre von Euch auszubilden. Wir benötigen einen Kader geschickter Arkanisten, die es mit denen Del’Armgos oder Xorlarrins aufnehmen können.« »Eine solche Ansammlung von Talent läßt sich nicht über Nacht zusammenstellen. Es wird Jahre dauern, um mit den Magiern Xorlarrins auch nur gleichzuziehen.« »Dann solltet Ihr unverzüglich beginnen.« Triel betrachtete den dicken Magier und hoffte, die Zukunft ihres Hauses möge nicht in diesen feuchten Händen liegen. »Noch etwas«, sagte sie, als der Magier sich zum Gehen
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wandte. »Betrachtet es als Eure erste Aufgabe als Hausmagier.« Triel kam näher und sah ihm tief in die Augen, während sie darauf wartete, daß er ihr ins Gesicht lächelte. »Ihr werdet herausfinden, was mit meinem Bruder geschehen ist.«
Ryld jagte durch einen kurzen, kurvigen Korridor, Jezz und Valas dicht hinter ihm. Danifae half Quenthel, der Gruppe zu folgen. Der Waffenmeister lief den Korridor zu seiner Rechten entlang, durch den er in einen großen Saal oder Ballsaal ge langte. Der Betrachter-Magus trieb dort umher, eine gewaltige Monstrosität in der Form einer mit Chitin überzogenen Kugel, die einen Durchmesser von einem Meter achtzig hatte. Die zehn Augenstiele zuckten, während sie einen Zauber nach dem anderen auf Pharaun und Jeggred niederprasseln ließ. Der Magier war von einer Sphäre aus magischer Energie umgeben, einer Art Abwehrzauber, der ihn schützte, während er sich Zauber für Zauber mit dem Monster maß. Jeggred stand reglos, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, während er sich be mühte, die Wirkung eines schrecklichen Zaubers abzuschüt teln. »Hartnäckige Insekten«, knurrte der Betrachter, als er Ryld und die anderen sah. »Laßt mich in Ruhe!« Die Kreatur schwebte rückwärts durch einen Torbogen und zog sich in einen anderen Teil ihrer Behausung zurück. Pharaun wandte sich den anderen zu. Eine Seite seiner Kleidung war von qualmenden Löchern durchsetzt, an denen sie von einer Säure getroffen worden war. Er zitterte vor Ermü dung. »Ah, wie ich sehe, haben sich meine werten Gefährten doch noch entschieden, sich mir anzuschließen«, stellte er fest. »Prima. Ich befürchtete schon, Ihr würdet Euch das Vergnügen
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entgehen lassen, Leib und Leben gegen einen mörderischen Widersacher zu riskieren.« »Was ist mit Jeggred?« brachte Quenthel heraus. »Er ist von irgendeinem Festhaltezauber getroffen worden, und ich habe bei diesem Duell all meine Zauber aufgebracht, die Magie aufheben könnten. Wenn Ihr ihn befreien könnt, bitte. Ich bin nicht so egoistisch, daß ich den Betrachter ganz für mich allein haben müßte.« »Haltet den Mund«, krächzte Danifae. »Wir müssen den Betrachter schnell überwinden. Wir werden von einem Höl lenschlundteufel und einem weiteren Dutzend Teufel verfolgt, und wir laufen Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten.« Pharaun schnitt eine Grimasse. In seinen Augen flackerte ein gefährliches Leuchten, als er erst Danifae und dann Jezz den Lahmenden ansah. »Wenn Euer Zauberbuch den Aufwand wert ist, vielleicht sollten wir es dann für uns behalten«, überlegte der Meister Sorceres. »Tzirik wird nicht die Ergebnisse seines Erkenntniszaubers mit Euch teilen, wenn Ihr uns in den Rücken fallt«, sagte der Jaelre. »Entscheidet, was Euch wichtiger ist, Spinnenküsser, und zwar schnell.« »Hör auf, Pharaun«, sagte Ryld. Er ging zu dem erstarrt dastehenden Jeggred und legte Split ter neben den Draegloth, um den Zauber zu brechen, in dessen Bann er gefangen war. Der Halbdämon blinzelte und setzte eine finstere Miene auf, während er sich langsam aufrichtete und reckte. »Ein Problem nach dem anderen«, fuhr Ryld fort. »Hast du irgendwelche Magie, die uns die Teufel lange genug vom Hals hält, bis wir den Betrachter geschlagen haben?« »Nein«, antwortete Pharaun. »Sie werden jeden Moment
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hier auftauchen und uns eine Szene machen. Sie ... ich habe eine Idee. Wir halten die Teufel nicht von uns fern, wir lassen sie ein.« Höllische Energie knisterte und zischte im Raum gleich hinter ihnen. »Das ist der Höllenschlundteufel, der meine Mauer zer stört«, sagte Jezz. »Erklärt, was Ihr meint, Menzoberranzanyr.« Pharaun begann, einen Zauber zu wirken und wob mit den Händen die arkanen Gesten, die erforderlich waren, um seiner Magie Form zu geben und sie zu kontrollieren. »Setzt Euch nicht zur Wehr«, sagte er. »Jetzt habe ich es. Ich habe über uns einen Schleier der Illusion gelegt. Wir sind jetzt alle Teufel.« Ryld sah an sich hinab, stellte aber keine Veränderung fest. Erst als er wieder aufblickte, erkannte er, daß er mitten in einer Gruppe von Teufeln stand. Unwillkürlich zuckte er zu sammen, sah aber, daß die anderen genauso reagierten. Ganz schwach, so als seien sie in durchsichtigen Stoff gehüllt, konn te er unter dem schuppigen Äußeren die eigentlichen Gestal ten der Drow erkennen. »Ich kann durch den Schleier hindurchsehen«, warnte er. »Ja, aber du erwartest das auch«, antwortete der Teufel, der dort stand, wo er eben noch Pharaun gesehen hatte. »Es dürfte für Verwirrung unter unseren Gegnern sorgen, aber wir müssen uns beeilen. Wir wollen, daß die Teufel uns einholen, wenn wir gegen den Betrachter kämpfen.« Der Magier glitt durch den Raum und folgte dem Betrach ter, der Rest der Gruppe schloß zu ihm auf und eilte mit Pha raun voran, während hinter ihnen das Geheul der Teufel lau ter wurde. Sie liefen eine Wendeltreppe hinauf und holten den Betrachter ein, der in einem Thronsaal auf sie wartete. Das Monster zögerte, als die Gruppe in ihrer teuflischen Verklei
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dung hereinkam. »Die Drow sind hier nicht«, polterte es. »Durchsucht den Rest des Turms, ihr müßt sie finden!« »Ich fürchte, da irrt Ihr Euch«, gab Pharaun zurück und schleuderte der Kreatur einen Lichtblitz entgegen, der auf der Chitinhülle eine Fläche von der Größe eines Abendbrottellers verkohlte. Gleichzeitig feuerte Valas Hune eine Salve aus Pfeilen ab, die sich in den gepanzerten Leib bohrten, während Ryld, Jeggred und Danifae losstürmten. Die Kreatur erholte sich schnell von dem Überraschungsef fekt und wirbelte herum, um die angreifenden Drow mit tödli chen Strahlen und Zaubern abzuwehren. Jeggred wurde von einem telekinetischen Strahl getroffen und durch den Raum geschleudert, während Danifae sich flach auf den Boden pres sen mußte, um dem glühenden grünen Desintegrationsstrahl auszuweichen. Ryld kam drei Schritte weit, ehe gleich drei der dünnen Augenstiele des Monsters herumpeitschten, ihn sofort entdeckten und weitere Zauber in seine Richtung schickten. Ein Hagel aus weißglühenden Energieblitzen wurde abgefeuert und traf seinen Torso, als würde er vom Streithammer eines Zwergs getroffen. Ryld stöhnte auf und fiel auf den harten Boden. Da kam ein Schwarm Teufel die Treppe heraufgestürmt. Innerhalb kürzester Zeit herrschte im Raum völliges Chaos, weil immer mehr Teufel hereindrängten; einige warfen dem Betrachter wütende Blicke zu, andere blieben verwirrt stehen und wunderten sich, daß schon so viele ihrer Art in dem Saal anwesend waren. Die am Boden liegende Danifae wies auf den Betrachter und kreischte: »Der Betrachter hat sich mit den Dunkelelfen ver bündet! Tötet ihn! Freßt seine Augen!«
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Die Teufel hielten gerade lange genug inne, daß der Bet rachter die vorderste Reihe mit todbringenden Zaubern bele gen konnte, doch dann eilten sie los und warfen sich dem Monster entgegen. Steinharte Klauen zerrten und rissen an dem Betrachter, während andere Teufel in Blitzen aus weißem Feuer vergingen oder unter den Augenstrahlen des Betrachters zu leblosem Stein zerfielen. Ryld hatte aufspringen und sich wieder auf das Monster stürzen wollen, doch er sah Pharauns warnende Geste, also täuschte er vor, verletzt zu sein. Pharauns Strategie war bril lant. Sollten der Betrachter und die Teufel doch kämpfen – vielleicht löschten sich ihre Widersacher gegenseitig aus. »Schwachsinnige Narren!« zischte der Betrachter. »Die Drow haben euch getäuscht!« Er richtete noch immer verhee rende Verletzungen an, da er weiter mit Zaubern und Augen strahlen versuchte, den Angriff der Teufel zurückzuschlagen. Der Gestank von verkohltem Fleisch und das geisterhafte Gefühl tödlicher Magie schwängerte die Luft. Das sichere Gefühl, daß etwas nicht stimmte, machte sich in Rylds Herz breit, und in diesem Moment gelangte ein mas siger Höllenschlundteufel in den Raum. Der gewaltige Teufel war zweimal so groß wie ein Drow, der Torso war muskulös, die riesigen schwarzen Flügel umhüllten ihn wie ein glänzender Mantel. Mit einem bösen, abschätzenden Blick erfaßte er die Szene, und Ryld erschrak, als ihm klar wurde, daß das mächti ge Scheusal sich nicht im mindesten von Pharauns Illusion täuschen ließ. Mit einer beiläufigen Geste ließ der riesige Teufel in seiner Klaue eine große, wallende Kugel aus schwarzem Feuer entste hen, die er auf Pharaun warf. Das finstere Etwas verging in einer gewaltigen Explosion aus düsteren Flammen, die den Turm in seinen Grundfesten erschütterte. Pharaun flog vier
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Meter durch die Luft und erlitt massive Verbrennungen, wäh rend die kleineren Teufel und die anderen Drow gleicherma ßen umhergeschleudert wurden. »Sie sind hier!« brüllte die Kreatur mit einer Stimme, die wie eine tosende Schmiede klang. »Vernichtet die Drow!« Der Höllenschlundteufel wollte eine weitere seiner hölli schen Feuerkugeln beschwören, als sich Jeggred – der immer noch wie ein Teufel aussah – in die Flanke des Scheusals warf und an ihm riß und zerrte. Der große Teufel brüllte vor Zorn auf, während der Angriff des Draegloth ihn ins Wanken brach te. »Lolths süßes Chaos«, murmelte Ryld. Wer war gefährlicher? Der Betrachter-Magus oder der Höl lenschlundteufel? Der Betrachter attackierte weiter jeden Teu fel, den er sah, ob es sich nun um einen echten oder einen getarnten handelte. Die meisten Untergebenen des Höllen schlundteufels waren inzwischen gefallen, und er selbst schlug auf Jeggred ein, der direkt vor dem infernalischen Geschöpf stand und mindestens so gut austeilte, wie er einstecken konn te. Der Waffenmeister sah zwischen den beiden Feinden hin und her, zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann hatte er sich entschieden. Leise wie in Pfeil, der durch die Dunkelheit flog, erhob sich Ryld und machte einen Satz nach vorn, wäh rend er einen immensen Hieb gegen den runden Leib des Bet rachters führte. Der machte ihn aber sofort aus und schickte einen Lichtblitz in seine Richtung, doch der Waffenmeister wich zur Seite aus und stürmte weiter voran. Ein weiteres Auge richtete sich auf ihn, woraufhin das Brummen des Betrachters in einen besonders gräßlichen und tödlichen Ton überging. Statt abzuwarten, welche Art von Zauber das Monster mit diesem Auge wirken wollte, änderte Ryld seine Laufrichtung
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und stieg in die Luft auf, um den Tentakel mit einem gezielten Schlag mit Splitters glänzender Klinge abzutrennen. Das Brummen des Betrachters ging in einen durchdringen den Schmerzensschrei über. Das Monster fuhr herum, um sich Ryld mit weitaufgerissenem Maul zuzuwenden, doch der Waf fenmeister zielte sorgfältig und trennte ein weiteres Auge ab, ehe er sich duckte und sich unterhalb der aufgeblähten schwe benden Sphäre zurückzog, die von keinem der Augen direkt eingesehen werden konnte. Ryld kniete sich hin, packte Splitter fester und jagte den Zweihänder von unten durch die chitinartige Hülle des Mons ters. Dickes schwarzes Blut lief an der Klinge entlang, das ge waltige Monster erzitterte und kreischte wieder. »Gut!« rief Jezz. Der Jaelre-Renegat stieß arkane Worte aus, mit den Händen beschrieb er mystische Muster. Auf diese Weise ließ er ein sengendes Geschoß aus magischer Säure entstehen, das einen weiteren Augenstiel vom Leib des Betrachters brannte, wäh rend sich das Monster vor Schmerzen wand. Ryld riß sein Schwert zurück und rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite weg, da der Betrachter gerade versuchte, ihn unter sich zu begraben, während seine Kiefer nach ihm schnappten. Als er aufsah, fand er sich genau vor der Vorder seite des Leibes wieder, wo einst das große zentrale Auge aus einem gepanzerten Rückenschild geblickt hatte. Dieses Auge war nun nur noch eine leere Höhle. Der Waffenmeister erin nerte sich an eine alte Lektion: Ein Betrachter, der Magie erlernen will, muß sich selbst blenden, um das zu bewerkstelli gen. Die kleineren Augen zuckten auf ihren Tentakeln, als sie versuchten, sich auf Ryld zu konzentrieren. Der sah seine Chance gekommen, und zur gleichen Zeit sah er sein Ziel vor
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sich. Mit einer flinken Bewegung trieb er Splitter wie eine Lanze in die leere Augenhöhle und damit tief in das fremdarti ge Gehirn der Kreatur. Wild entschlossen bewegte er seinen Zweihänder immer wieder vor und zurück, hin und her, wäh rend unablässig schwarzes Blut aus der gräßlichen Wunde spritzte. Der Betrachter erzitterte ein letztes Mal, seine Kiefer schlu gen zusammen, und die wenigen noch verbliebenen Augen stiele erschlafften. Er sank langsam zu Boden. Ryld sah auf und bemerkte, daß sich ihm ein Teufel näher te, der erkannt hatte, was sich wirklich hinter der Illusion verbarg. Er zog rasch sein Kurzschwert, mit dem er das Scheu sal ausweiden wollte, das sich auf ihn stützte. Der Teufel riß ihn zu Boden, sein übelriechendes Blut ergoß sich über ihn. Ryld würgte vor Ekel und stieß den zuckenden Leib mit einem Schulterstoß weg. Gleichzeitig zog er sein Schwert aus dem Leichnam, während er mit der linken Hand Splitter aus dem Auge des Betrachter-Magus befreite. Dann schüttelte er heftig den Kopf, um das Blut der Gegner aus seinen Augen zu be kommen. Am Eingang zum Saal ging Jeggred unter einem neuerli chen, schrecklichen Zauber des Höllenschlundteufels zu Bo den, einer brüllenden Feuersäule, die zwar das Fell des Draegloth schwärzte, die ihn aber nicht auf der Stelle verkohl te, da der Halbdämon von Geburt an gegen Feuer resistent war. Jeggred kreischte und rollte sich über den Boden, weil er die Funken ersticken wollte. Der Höllenschlundteufel folgte ihm, um einen weiteren Angriff folgen zu lassen, doch da baute sich Danifae vor ihm auf und verpaßte dem Monster einen so ge waltigen Schlag, daß seine Kniescheibe zertrümmert wurde. Der Teufel begann zu wanken und nahm seine Flügel zu Hilfe,
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um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch in dem Mo ment jagte Valas ihm drei Pfeile in den Rücken, die sich bis zum Federkiel zwischen den Schulterblättern in den Leib bohr ten. Ryld rückte behutsam vor, bereit, sich auf einen Kampf mit dem Teufel einzulassen, doch der von Brandblasen übersäte Pharaun erhob sich an der Stelle, an der er von dem Feuerball getroffen worden war. Er holte mit einem Regen aus weißglü henden Farben aus, der den Höllenschlundteufel erfaßte, als der sich nach dem Bogenschützen umdrehen wollte. Ein grü ner Strahl schnitt eine tiefe, kochende Wunde mitten in den Torso der Kreatur, während ein gelber Strahl in einer Explosi on aus knisternder Elektrizität verging, als er die Hüfte des Teufels berührte. Das Monster taumelte rückwärts und stolper te über eine rauchende Leiche. Im Saal kehrte Ruhe ein, als das Echo des donnernden Sturzes verhallt war. Pharaun stand da, einen Arm fest an den Leib gedrückt. Ei ne Hand und Teile seines Gesichts waren gesprenkelt und rosafarben, da sie vom Desintegrationsstrahl des Betrachters zum Glück nur flüchtig gestreift worden waren. Das Gewand qualmte noch, während die Wirkung des dunklen Feuerballs langsam nachließ. Die anderen Drow entspannten sich ein wenig und sahen sich erstaunt um, weil es keine Gegner mehr zu besiegen gab. Zum Glück hatte niemand lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Quenthel nestelte an ihrem Gürtel, dann zog sie Halisstra heilenden Stab hervor, den sie benutzte, um ihre eigenen Verletzungen zu heilen. »Das«, begann Pharaun, »war kein leichtes Spiel. Für unse re Dienste hätten wir mehr verlangen sollen.« »Ihr seid zu uns gekommen«, gab Jezz zurück. Er humpelte durch den Raum, um sich den Leichnam des Betrachters genauer anzusehen, der auf den Stufen des alten
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Podestes lag. Valas und Danifae folgten ihm, behielten aber gleichzeitig die Treppe hinter ihnen im Auge. »Verteilt Euch und sucht das Buch«, sagte Jezz. »Wir müs sen das Geildirion finden und uns zurückziehen, ehe alle Teu fel Myth Drannors uns angreifen.« Jezz befolgte seine eigene Empfehlung als erster und suchte auf einer Reihe von Schreibpulten sowie in Regalen voller Schriftrollen nach dem Buch. Ryld setzte sich auf eine Stufe und begann, Splitter von Blut zu befreien. Er war erschöpft. Jeggred dagegen machte sich sofort auf die Suche nach dem Buch, warf schwere Möbel um und riß Regale von der Wand. Es war Ryld zwar klar, daß der Draegloth wohl kaum unter den Überresten einer verstaubten, zusammengebrochenen Couch etwas finden würde, doch der Halbdämon schien auf diese Weise beschäftigt zu sein, und Ryld hatte nicht vor, dem Draegloth in die Quere zu kommen. »Seid ruhig! Alle!« sagte Pharaun mit schneidender Stim me. Der Magier sprach einen Zauber und begann, sich langsam zu drehen, wobei er aufmerksam den Raum betrachtete. Die anderen, auch Jezz, stoppten ihre ungestüme Plünderung und sahen ihn ungeduldig an. Pharaun passierte Jeggred und dann Valas Hune, ehe er vor einer kahlen Wand anhielt. Er begann zu lächeln, offenbar mit seiner eigenen Leistung zufrieden. »Ich habe die Verteidigungsmaßnahmen unseres dahinge schiedenen Widersachers überwunden«, erklärte er. »Die Wand dort ist eine Illusion, die ein Vorzimmer verbirgt.« Er beschrieb abermals eine Geste, und neben Ryld ver schwand auf einmal ein Teil der Mauer und gab den Blick frei auf eine große Nische, die mit altersschwachen Regalen voll gestellt war, in denen sich alte Bücher und Schriftrollen sta pelten. Jezz humpelte hastig, aber ungelenk zu den Regalen
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und überflog die Titel, um dann alles in eine Hüfttasche zu stecken. »Ryld, Jeggred, paßt auf«, wies Quenthel sie an. Sie stand jetzt wieder aufrechter, und der benommene Blick war aus ihren Augen gewichen. Dennoch runzelte sie die Stirn, als sie den heilenden Stab wegsteckte. »Valas, sammelt Gold und Edelsteine des Betrachters ein. Es wäre unsinnig, solche Beute hier zurückzulassen, man weiß nie, wann sie sich noch als nütz lich erweisen kann.« Sie sah zu dem Jaelre-Hexenmeister, der ein großes, in grüne Schuppen gebundenes Buch in den Hän den hielt. »Nun, Meister Jezz, ist dies das Buch, das Ihr such tet?« Jezz blies den Staub vom Umschlag und strich mit den schlanken Fingern über das rauhe Leder. Er lächelte und ver zog sein attraktives Gesicht zu einem Lächeln. »Das Geildirion«, hauchte er. »Ja, das ist das Buch. Ich ha be, wofür wir herkamen.« »Gut«, sagte Quenthel. »Verschwinden wir von hier, solan ge es noch geht. Ich glaube, länger ertrage ich diesen Ort nicht.«
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Halisstra saß auf einer Fensterbank in dem Quartier, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte, und zupfte gedankenverloren an den Saiten ihrer Leier aus Drachenknochen. Seit zwei Ta gen wurde sie nun hier festgehalten, und sie mußte feststellen, daß sie es allmählich leid war, eingesperrt zu werden. Wenn ich eines aus diesem Abenteuer lerne, versprach sie sich, dann ist es, daß ich mich nie wieder einsperren lassen werde. Sie hatte erwartet, man werde sie während des Verhörs mit Foltermethoden oder magischen Techniken zum Reden brin gen, doch Tzirik schien sie beim Wort genommen zu haben. Mehr als ein Drow hätte mit Vergnügen die Gelegenheit ge nutzt, einen Gefangenen zu foltern, egal, ob er die Wahrheit sprach oder nicht. Halisstra fragte sich, ob Tzirik wohl wartete, bis er von Quenthel und den anderen hörte, ehe er etwas tat,
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was sie hätte erzürnen können. Halisstra glaubte nicht, daß die Herrin Arach-Tiniliths und ihre Kameraden es geschafft hat ten, das gesamte Haus zu unterwerfen, doch es war durchaus denkbar, daß Tzirik zu der Ansicht gelangt war, sich ohne guten Grund besser nicht mit ihnen anzulegen. Sie sah aus dem vergitterten Fenster. Das Morgenrot rückte rasch näher. Schon jetzt war der Himmel im Osten schmerz haft hell, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Halisstra konnte die endlosen grünen Wälder Cormanthors erkennen, die sich Kilometer um Kilometer bis zum Horizont erstreckten. Als jemand an der Tür klopfte, erschrak sie. Sie drehte sich um, während aufgeschlossen wurde, dann stand sie auf, als Tzirik in einem prachtvollen rot-schwarzen Mantel mit hohem Kragen eintrat. »Herrin Melarn«, sagte er und verbeugte sich nachsichtig, »Eure Kameraden sind zurück. Wenn Ihr mich begleitet, wer den wir sehen, ob es einen Grund für sie gab, Euch in der Wildnis dieser Welt zurückzulassen.« Halisstra stellte ihre Leier weg und fragte: »Waren sie er folgreich?« »Das waren sie, weshalb ich auch beabsichtige, Euch in die Freiheit zu entlassen. Wären sie gescheitert, hätte ich Euch als Geisel benutzt, um sie zu einem zweiten Versuch zu bewegen.« Sie schnaubte, während der Priester sie aus dem Raum führ te. Er ging mit ihr durch die eleganten hellen Säle und Korri dore der Minauth-Feste. Ein Paar Jaelre-Krieger, die Harnische trugen, die in Grün und Braun gesprenkelt waren, hielt sich dicht hinter ihnen. An der Hüfte trugen sie Kurzschwerter. Sie erreichten eine kleine Kapelle, die in den Farben Vhaerauns geschmückt war, und dort warteten Quenthel, Danifae und der Rest der Truppe.
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»Wie ich sehe, habt Ihr die Widrigkeiten Myth Drannors überwinden können und seid zurückgekehrt«, begrüßte Tzirik sie. »Wie Ihr sehen könnt, habe ich auch etwas gefunden, das Euch gehört.« Halisstra betrachtete die Gesichter ihrer vormaligen Ge fährten, die überrascht reagierten. Ryld lächelte herzlich, senk te dann aber den Blick und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Danifae kam und gab ihr die Hand. »Herrin Melarn«, sagte sie. »Wir dachten, Ihr seid verlo ren.« »Das war ich«, erwiderte Halisstra. Sie stellte überrascht fest, wie erleichtert sie war, wieder un ter ihren früheren Gefährten – auch wenn sie Eindringlinge aus einer rivalisierenden Stadt waren – zu sein und auch ihre Kriegsgefangene wiederzusehen. Danifae war vielleicht nicht mehr Halisstras Anhängsel, doch der Zauber band sie immer noch an sie und machte sie damit zur einzigen echten Verbün deten, die Halisstra noch hatte. »Wo wart Ihr?« fragte Quenthel. »Man versuchte mehrere Tage lang, mich zu Eilistraee zu bekehren, wenn man so etwas glauben kann«, antwortete Halisstra. »Lolth gab mir Gelegenheit, zwei von Eilistraees Klerikerinnen zu töten und zu entkommen.« Auch wenn ihr Herz von finsterem Stolz über ihre Leistun gen erfüllt war, empfand Halisstra eine gewisse Enttäuschung, was das Ergebnis ihres Verrats anging. Sie war mit der Kunst des Verrats bestens vertraut, doch es kam ihr so vor, als hätte sie nur getan, was von ihr erwartet wurde. »Zweifellos haben die Oberflächenbewohner Euch nur frei gelassen, um Eure wahren Absichten in Erfahrung zu bringen«, sagte Quenthel. »Das ist ein alter Trick.« »Das dachten wir auch«, sagte Tzirik. »Wir haben jedoch
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Herrin Melarns Geschichte überprüft, und sie hat sich als wahr herausgestellt. Es ist fast erheiternd, wie naiv unsere Schwes tern sind, die Eilistraee anbeten.« Er hielt inne und rieb sich die Hände. »Doch sei dem, wie es sei. Jezz ließ mich wissen, daß Ihr ihm helfen konntet, das Buch zu bergen, das wir benö tigen.« »Wir halfen ihm?« knurrte Jeggred. »Seine Aufgabe war es, das Buch zurückzubringen«, erwi derte Tzirik. »Nicht, sich einen Kampf mit den Bewohnern Myth Drannors zu liefern.« »Ihr habt Euer Buch«, sagte Quenthel und ging über Jeggreds Knurren hinweg, während sie die Arme verschränkte und ihren Blick auf Tzirik richtete. »Seid Ihr bereit, Euren Teil der Abmachung zu halten?« »Es ist bereits geschehen«, entgegnete der Priester. Er sah zum bronzenen Abbild hoch oben an der Wand und beschrieb eine knappe Verbeugung. »Unabhängig davon, ob Ihr lebend zurückgekehrt wärt oder nicht, wollte ich mich mit dem Mas kierten Gott besprechen und für mich selbst in Erfahrung bringen, warum sich Lolth von Euch abschottet. Eure Ge schichte hatte mich neugierig gemacht.« Quenthel knirschte mit den Zähnen. »Was habt Ihr heraus gefunden?« brachte sie heraus. Tzirik genoß sein Wissen und reagierte mit einem bewußt überheblichen Lächeln, während er sich von der Gruppe ent fernte und auf einem kleinen Podest an einer Seite der Kapelle Platz nahm. Er faltete die Hände und erklärte: »Insgesamt entspricht Eu re Geschichte der Wahrheit. Lolth gewährt ihren Priesterin nen keine Zauber mehr, und sie reagiert auch nicht auf Gesu che.« »Das wußten wir schon«, stellte Pharaun fest.
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»Aber ich nicht«, antwortete der Priester. »Es scheint so, als habe sich Lolth auf irgendeine Weise in ihrem Höllenreich verbarrikadiert. Sie verweigert den Kontakt, nicht nur zu ihren Priesterinnen, sondern zu allen Wesen. Das dürfte auch erklä ren, warum die Dämonen, die Ihr beschworen hattet, um von ihnen Antworten über den Verbleib Lolths zu erhalten, Euch nicht helfen konnten.« Die Menzoberranzanyr standen schweigend da und dachten über Tziriks Antwort nach. Halisstra war verwirrt. »Warum sollte Lolth das tun?« überlegte sie laut. »Im Geiste der Offenheit möchte ich einräumen, daß Vhae raun das auch nicht weiß oder zumindest nicht will, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. Sein kühler Blick blieb auf Halisstra haf ten. »Im Augenblick ist eine göttliche Laune eine mögliche Er klärung, aber möglich ist auch alles andere.« »Ist sie ... lebt sie?« flüsterte Ryld. Quenthel und die ande ren Priesterinnen warfen dem Waffenmeister wütende Blicke zu, doch er ignorierte sie und fuhr fort: »Was ich damit sagen will, ist: Wüßten wir, wenn sie von einem anderen Gott getö tet worden wäre? Oder wenn sie krank oder in Gefangenschaft geraten ist?« »Wenn wir uns nur so glücklich schätzen könnten«, lachte Tzirik. »Nein, Lolth lebt, auch wenn die Frage sich stellt, wie man diesen Zustand bei einer Göttin definiert. Ob sie sich selbst im Abgrund der Dämonennetze eingeschlossen hat oder ob eine andere Macht sie einschloß, hat Vhaeraun nicht ge sagt.« »Wie lange wird dieser Zustand anhalten?« fragte Halisstra. »Auch das weiß Vhaeraun nicht, oder aber er will nicht, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. »Die Frage sollte aber eher lau ten: Wird dieser Zustand ein Ende nehmen? Die Antwort
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darauf ist ja. Er wird ein Ende haben, doch ehe Ihr Euch von dieser Aussage zu schnell trösten laßt, möchte ich Euch daran erinnern, daß eine Göttin eine deutlich andere Vorstellung haben kann, was wir als eine vertretbare Zeitspanne erachten. Der Maskierte Gott kann sich auf etwas bezogen haben, was morgen, nächsten Monat, nächstes Jahr oder vielleicht erst in hundert Jahren eintritt.« »So lange können wir nicht warten«, murmelte Quenthel. Ihr Ausdruck war von den Gedanken an das ferne Menzober ranzan geprägt. »Wir müssen bald eine Lösung finden.« »Dann verehrt eine Gottheit, die mehr um Euer Wohl be sorgt ist«, meinte Tzirik. »Wenn es Euch interessiert, kann ich Euch umfassend über die Tugenden des Maskierten Gottes Auskunft geben.« Quenthel versteifte sich, hielt aber ihre Zunge im Zaum, was für die Baenre eine bemerkenswerte Leistung war. »Das muß ich ablehnen«, sagte sie. »Hat der Maskierte Gott noch irgendeinen anderen Vorschlag für uns, Priester?« »Den hat er«, erwiderte Tzirik und lehnte sich, an Quenthel gewandt, auf seinem Stuhl nach vorne. »Das waren seine Worte, die er zu mir sprach, also hört sie Euch gut an: ›Die Kinder der Spinnenkönigin sollten sie für Antworten aufsuchen.‹« »Das haben wir«, rief Halisstra. »Wir alle, doch sie hört uns nicht.« »Ich glaube, das hat er nicht gemeint«, sagte Danifae. »Ich glaube, Vhaeraun will damit sagen, daß wir nichts herausfin den werden, wenn wir uns nicht selbst in den Abgrund der Dämonennetze begeben, um die Göttin persönlich anzufle hen.« Tzirik schwieg und sah die Menzoberranzanyr an. Quenthel ging im Kreis und dachte über diese Idee nach.
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»Lolth erwartet von ihren Priesterinnen ein gewisses Maß an Initiative und Eigenverantwortung«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths. »Aber sie erwartet auch Gehorsam. Sich zu ihr in ihr göttliches Heim zu begeben, um Antworten zu erhal ten ... Lolth wird einen solchen Affront nicht amüsant fin den.« Halisstra schwieg und dachte über das nach, was Tzirik ge sagt hatte. Reisen auf andere Ebenen waren ihr nicht fremd. Pharauns Zauber hatte die Gruppe durch die Ebene der Schat ten reisen lassen, und es gab viele Universen, viele Himmel und Höllen, in die sich Sterbliche begeben konnten, wenn sie mit der richtigen Magie ausgestattet waren. Es gab Wunder und Schrecken, die die Grenzen der stofflichen Welt überstie gen, doch die Vorstellung, eine solche Reise ohne Lolths aus drückliche Einladung zu unternehmen ängstigte Halisstra. »Die Strafen, die uns erwarten, wenn wir in dieser Angele genheit nicht Lolths Willen befolgen, werden gravierend sein«, gab Halisstra zu bedenken. »Haben wir denn nicht soeben Lolths Willen gehört?« frag te Danifae. »Sie hat uns hierher geführt, damit wir diese Frage stellen. Das ist, als hätte sie uns ihren Befehl direkt erteilt. Sie könnte verärgert sein, wenn wir das nicht erkennen.« Halisstra war es gewöhnt, sich sicher zu fühlen, wenn es darum ging, die Wünsche Lolths zu interpretieren. Bevor das göttliche Schweigen die Priesterinnen Lolths befallen hatte, war ihr die seltene Berührung durch das Flüstern Lolths in ihrem Geist vertraut gewesen. Es geschah nicht oft – schließ lich war sie nur eine von Tausenden von Priesterinnen –, doch sie wußte, wie es sich anfühlte, bis ins Tiefste ihrer Seele zu verstehen, welchen Wunsch Lolth hatte und wie er zu erfüllen war. Doch jetzt fühlte Halisstra nichts. Offenbar wollte Lolth, daß sie es selbst herausfand.
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Halisstra sah dorthin, wo die bronzene Maske Vhaerauns über einem schwarzen Altar hing. Die Fremdheit dieses Ortes war fast greifbar, ein Ausdruck für alles, was sie verloren hatte. Statt vor einem alten Altar im stolzen Tempel des Hauses Melarn zu stehen und von Lolths göttlicher Gewißheit erfüllt zu sein, während sie die Opferrituale und Demütigungen über sich ergehen ließ, die die Spinnenkönigin von ihr verlangte, stand sie allein und verloren da, ein Eindringling im Tempel eines vorgeblichen Gottes, während sie blindlings nach einem Hinweis suchte, was Lolth von ihr erwartete. Sie stellte sich vor, wie sie vor Lolth trat, ihre Seele der Göttin entblößt, ihre Augen weit aufgerissen vom Anblick von Lolths finsterem Ruhm, ihre Ohren versengt vom Klang der zischenden Stimme der Spinnenkönigin. Vielleicht war es ein Affront zu glauben, Lolth werde ihre Zweifel auslöschen, Antworten auf ihre Fragen geben und ihr verletztes Herz hei len, doch Halisstra stellte zu ihrer Verwunderung fest, daß es sie nicht kümmerte. Wenn Lolth beschlossen hatte, sich ihrer zu entledigen und sie zu bestrafen, würde sie das auch tun. Warum hatte sie Ched Nasad und Haus Melarn vernichtet, wenn sie nicht Halisstra vor sich treten lassen und sie flehen hören wollte? »Ich stimme mit Danifae überein«, sagte sie. »Ich wüßte nicht, welchem anderen Zweck das alles dienen soll, als uns vor den Thron Lolths zu bestellen. In ihrer Gegenwart werden wir unsere Antworten erhalten.« Quenthel nickte und erklärte: »Ich deute ihren Willen nicht anders. Wir müssen uns in den Abgrund der Dämonen netze begeben.« Ryld und Valas Hune tauschten besorgte Blicke aus. »Eine Reise in die sechsundsechzigste Ebene des Ab grunds«, bemerkte Pharaun. »Ich habe von diesem Ort ge
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träumt. Es wäre interessant, ob die Wirklichkeit mit meinem viele Jahre alten Traum einhergeht. Allerdings muß ich sagen, daß ich mich nicht freue, Lolth persönlich zu begegnen. Als ich diese Vision hatte, schlug sie meine Seele in Stücke. Ich brauchte Monate, um mich davon zu erholen.« »Vielleicht sollten wir nach Menzoberranzan zurückkehren und berichten, was wir in Erfahrung gebracht haben, ehe wir irgend etwas überstürzen«, schlug Ryld vor. Er war beunruhigt über die Aussicht, sich in die infernalischen Reiche zu bege ben. »Nun, da ich den Willen Lolths verstanden habe, möchte ich keine Zeit verlieren, ihn zu erfüllen«, erklärte Quenthel. »Pharaun kann seinen Sendezauber verwenden, um Gromph von unseren Absichten zu unterrichten.« »Aber«, wandte Valas Hune ein, »wie gelangt man denn ei gentlich in den Abgrund der Dämonennetze?« »Man muß sein Leben lang Lolth anbeten«, antwortete Quenthel mit einem finsteren Ausdruck in den Augen, »und dann sterben.« Halisstra sah erst Quenthel, dann den Späher an und sagte: »Würde Lolth uns unsere Zauber gewähren, könnten wir das mit Leichtigkeit erledigen. Ohne sie wird es nicht einfach werden. Pharaun?« »Ich werde bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, die erforderlichen Zauber lernen«, sagte der Magier. »Ich nehme an, ich werde einen fähigen Zauberer finden müssen, der über die notwendigen Zauber verfügt, und ihn überreden müssen, einen davon mit mir zu teilen.« »Das wird nicht nötig sein, Pharaun«, sagte Tzirik. Er erhob sich und kam selbstsicher vom Podest herunter. »Mein Gott hat nicht entschieden, mich meiner Zauber zu berauben, au ßerdem bin ich daran interessiert, mit eigenen Augen zu se
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hen, was sich in Lolths Reich abspielt. Wir können heute abend aufbrechen, wenn Euch das recht ist.«
Kompanie um Kompanie marschierte die Armee der Schwar zen Spinne voller Stolz in die weite Höhle hinter den Säulen des Leids. Sie war nicht mit der weitläufigen Höhle Menzober ranzans vergleichbar, auch nicht mit den unvorstellbaren Wei ten von Dunkelsee, doch die Ebene am Kopf der Schlucht war trotz allem beeindruckend – eine asymmetrische Ebene, die wohl einen Durchmesser von achthundert Metern hatte und deren Decke sich einige hundert Meter in die Höhe erstreckte. Unzählige Säulen trugen diese Decke, und Felsplatten ähnli che Nebenhöhlen verliefen in alle Richtungen wie Wege, die in die Finsternis zu locken schienen. Nimor überblickte die Höhle von seiner Streitechse herab und sah zu, wie die großen Häuser Menzoberranzans einmar schierten und sich um ein Dutzend verschiedene Banner sam melten. Ihm blieben mehr als zwei Tage, um die diversen Spal ten, Höhlen und Durchgänge auszukundschaften, die zu dieser freien Stelle führten. Der strategische Vorteil der Säulen des Leids war offensichtlich. Nur eine Straße verlief nach Süden und führte durch eine mühselig zu durchquerende Schlucht, während eine Reihe von Tunneln dort endeten, wohin er die Drow geführt hatte. Jeder von ihnen führte in das dunkle Reich Menzoberranzans. »Ein guter Platz für eine Schlacht«, sagte er zu sich und nickte zufrieden. Sein Reittier, das von Natur aus eine bösartige, aber dumme Bestie war, schien dumpf wahrzunehmen, daß ein Konflikt be vorstand. Das Tier fauchte und trat auf dem mit Kieseln über säten Grund umher, der Schwanz zuckte aufgeregt hin und her.
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Nimor wartete nahe der Mitte der Linie aus Spähern, die an der Spitze von fast hundert Reitern Agrach Dyrrs die Lücke zwischen den Säulen schlossen. Die Angehörigen seines Späh trupps, die anderen Häusern treu waren, lagen zwischen den Felsen und Spalten in der Schlucht darunter, wo Nimor und seine Männer sie getötet hatten, kurz nachdem sie an den Säulen des Leids angelangt waren. Nimor wäre nur zu gern hinaufgeritten, um Mez’Barris Arm go, Andzrel Baenre und den Rest der Priesterinnen und Be fehlshaber der Armee zu grüßen. Er sah den Pavillon, der so eben in der Mitte der Höhle aufgebaut wurde. Das Problem bei einem Verrat, der sich über das gesamte Schlachtfeld erstreckte, war der, daß man einfach nicht überall sein konnte, um den Augenblick in seiner Gesamtheit zu ge nießen. Er sah eine schmale Laufechse, die vom Befehlsstand auf dem Weg zu seiner Kompanie war. »Sieht aus, als würde ich gebraucht, Jungs«, sagte er zu den Soldaten Agrach Dyrrs, die hinter ihm warteten. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Wartet auf das Signal. Wenn es ertönt, legt los.« Nimor ließ seine Streitechse lostraben und ritt dem Boten ein Stück entgegen. Der Reiter war ein junger Mann, der die Kleidung des Hauses Baenre trug – sicherlich ein besonders gut gelittener Neffe oder Vetter, dem man eine vergleichsweise sichere Aufgabe zugewiesen hatte, die kein großes Risiko für sein Leben bedeutete. Er trug keinen Helm, so daß sein Haar wie eine Mähne hinter ihm im Wind flatterte. Ein hellrotes Banner wehte an einem Harnisch, der an seinem Sattel befes tigt war. »Ihr seid Hauptmann Zhayemd?« rief er und wurde langsa mer, um Nimor zu begrüßen.
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»Ja.« »Eure Anwesenheit ist umgehend im Befehlspavillon erfor derlich, Herr. Matrone Del’Armgo möchte wissen, wo sich die Duergar befinden und wie die Truppen am besten aufzustellen sind.« »Verstehe«, erwiderte Nimor. »Ihr könnt zurückreiten und ihr sagen, ich werde unverzüglich hinüberreiten.« »Bei allem Respekt, Herr, aber ich soll ...« Drei Hornstöße – zwei kurze gefolgt von einem langen – er tönten zwischen den Säulen des Leids und erzeugten ein so lautes Echo, daß man hätte meinen können, der Fels selbst würde diese Laute ausstoßen. Der Bote verstummte und wen dete sein Reittier, um an Nimor vorbeizureiten und einen Blick auf die Säulen zu werfen. »Bei Lolths Zorn, was war das?« wunderte er sich. »Das«, entgegnete Nimor, »dürfte das Signal für den An griff der Duergar sein.« Aus den Tiefen der Schlucht unterhalb der Säulen des Leids war das Donnern einer Armee auf dem Vormarsch zu hören, das den Boden erzittern ließ. Unterhalb der Linie von Nimors Spähern tauchten auf einmal zu Hunderten auf Echsen reiten de Duergar auf, die sich unter sorgfältig angeordneten Tarn netzen erhoben und in die Lücke vorstießen, die Nimors Spä her halten sollten. Hinter der Duergar-Kavallerie stürmte eine immense Duergar-Infanterie los, stieß ihre rauhen Kriegsrufe aus und hielt Hämmer und Äxte hoch über den Köpfen. Die Reiter Agrach Dyrrs saßen auf, gingen in Position, um zwi schen den gewaltigen Felssäulen die Angreifer in die Zange zu nehmen – und dann beschrieben sie wie verabredet eine Dre hung und eilten davon, womit die vorderste Verteidigungslinie von einem Augenblick zum anderen ungeschützt war. »Agrach Dyrr verrät uns!« schrie der Bote, dem das Entset
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zen über diese Vorgehensweise anzusehen war. Er riß sein Reittier herum, doch Nimor beugte sich im Sat tel nach vorn und rammte dem Jungen seine Klinge in den Leib. Der Baenre preßte die Hände auf die Wunde, schwankte und fiel. Mit der Breitseite seiner Klinge schlug Nimor der Echse gegen den Leib, die daraufhin zurück in die Haupthöhle eilte und den toten Boten mitschleifte, dessen Füße sich in den Steigbügeln verfangen hatten. Nimor ließ sein Reittier ein schiefes Stück Fels erklimmen, das gut viereinhalb Meter über dem Höhlenboden lag und einen Blick über die Säulen erlaubte. Von dort konnte er den größten Teil der Höhle überblicken. »Eine schöne Aussicht auf den Kampf, mein Prinz!« rief er. »Was für ein großartiger Tag für Euren Sieg, nicht wahr?« »In einer Viertelstunde werde ich Euch sagen, ob es einen Sieg gibt oder nicht.« Aus dem Schatten im hinteren Teil des Felsvorsprungs trat Horgar Stahlschatten. Er und seine Leibwache wurden von einer geschickten Illusion geschützt, so daß er für jeden ande ren unsichtbar war, es sei denn, man wußte genau, wo man nach ihm zu suchen hatte. »Kommt nicht näher, Nimor«, sagte der Prinz. »Ich möchte nicht, daß Euch jemand in einer Wand verschwinden sieht und über die Maßen neugierig darauf wird, was hier wohl ge schehen mag.« »Sicher wollt Ihr doch auch in die Schlacht eingreifen, Prinz Horgar? Ich weiß, Ihr seid ein mutiger Zwerg.« »Ich werde mich ins Getümmel stürzen, wenn ich sicher sein kann, daß ich keine weiteren Befehle erteilen muß. In einigen Momenten werdet Ihr nicht mehr hören können, ob Euch ein Kamerad direkt ins Ohr schreit.« Nimor konzentrierte sich wieder auf die Schlacht. Die Rei
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ter Agrach Dyrrs, die sich von den Säulen zurückgezogen hat ten, ritten wie wahnsinnig auf einem kreisförmigen Weg, der entlang des Höhlenrandes verlief und auf dem sie dem größten Teil der Armee von Menzoberranzan ausweichen konnten. Ihre Aufgabe war es, zur Infanterie Agrach Dyrrs am Ende des Zuges zu gelangen und den Tunnel zu verschließen, durch den die Armee der Schwarzen Spinne gekommen war. Duergar-Reiter strömten durch die Lücke und überrannten die Stellungen, die sie eigentlich hätten aufhalten sollen. Etli che Kontingente der Häuser, die die Vorhut der Truppen bil deten, waren in Unordnung geraten, überrascht darüber, von einem derartigen Ansturm erfaßt zu werden, anstatt hinter einer stabilen Frontlinie sich auf eine Belagerung einzurichten und das Lager aufzuschlagen. Andere Häuser reagierten auf diesen plötzlichen Angriff gewandt und mutig. Das immense Baenre-Kontingent stieß einen wütenden Kriegsschrei aus und stürmte vor, um den Paß zu erobern, ehe noch mehr Duergar in die Höhle strömen konnten. »Ein mutiger Zug, Andzrel«, sagte Nimor mit ehrlicher Be wunderung. »Leider dürfte es zu spät sein, um den Korken wieder auf die Flasche aufzusetzen.« Nimor zog leicht an den Zügeln, um sich in eine Position zu bringen, von der aus er einen besseren Blick auf den Mittel punkt der Höhle hatte. Er hatte erwartet, alles in der Höhle werde in Bewegung sein, daß die Reihen vorwärts stürmen und sich wieder zurückziehen würden wie die blutige Strömung einer See aus Eisen. Doch der Kampfeslärm war schlicht uner träglich. Der Fels zu allen Seiten warf das Gebrüll zurück, die Schreie und das Scheppern der Waffen und Schilde ver schmolz zu einem einzigen Klangteppich, einer donnernden Geräuschkulisse, die sich immer weiter steigerte, je mehr Krie
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ger sich in die Kämpfe einmischten. »Der Lärm wird für uns arbeiten«, rief er über die Schulter Horgar zu, obwohl er sein eigenes Wort nicht verstand. »Die Befehlshaber der Armee der Schwarzen Spinne müssen ent scheiden, wie die Truppen reagieren sollen, und sie müssen die entsprechenden Befehle geben.« »Ja«, antwortete der Duergar. Nimor hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Wenn man sich erst mal mitten in einer Schlacht befindet, ist das ein schlechter Zeitpunkt, um die Schlacht zu planen!« Ein gleißender Lichtblitz schoß in die Reihen der Duergar, gefolgt von einem Donnerschlag, der sogar den Kampflärm übertönte. Explodierende Feuerbälle und sengende Flammen teppiche jagten übers Schlachtfeld, als die Magier auf beiden Seiten in den Kampf einzugreifen begannen. Nimor legte die Stirn in Falten. Eine Handvoll mächtiger Magier konnte die Entscheidung bringen, trotz des wütenden Angriffs der Duergar und der Verschlagenheit seiner Verbün deten in Agrach Dyrr. Doch es gab auch Magier in den Reihen der Duergar, von denen viele als Reiter und Infanteristen ge tarnt waren. Als die Drow-Magier ihre Angriffe auf die Duer gar starteten, verrieten sie zugleich ihre eigenen Positionen. Die Duergar-Magier reagierten auf jeden Blitz und jedes Feuer, und binnen weniger Augenblicke war die gesamte Höhle von schmerzendem Licht und von rötlichem Feuer erfüllt, die Luft war heiß und ätzend, da von beiden Seiten mit mächtiger Magie rücksichtslos um sich geworfen wurde. Sosehr er sich auch bemühte, konnte Nimor nicht sagen, wessen Magie den Sieg bringen würde, da die ganze Szene in eine Anarchie versank. Innerhalb weniger Herzschläge erfaßte die gewaltige Truppe aus Menzoberranzanyr in der Mitte der Höhle den ersten Ansturm der Duergar, und die beiden Ar
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meen standen sich schnell in einer langen Linie gegenüber, die sich über viele Hundert Schritt durch die Höhle schlängelte. Standarten wurden geschwenkt und versanken, Streitechsen bäumten sich auf und gingen zu Boden, als der massive An sturm in Tausende von individuellen Duellen zerfiel. Kolonnen schwerbewaffneter Duergar drängten durch die Lücken, an denen sich die verschiedenen Häuser der Dunkel elfen begegneten, und strömten zwischen ihren Gegnern hin durch, um sie einzukreisen. Nimor lächelte. Die Drow hatten keine Ahnung, wie sie ihre Kompanien zusammenschweißen sollten, um aus der Armee eine einzige tödliche Waffe zu ma chen. Dennoch war das Kontingent eines jeden Hauses eine kleine Armee todbringender, erfahrener Veteranen. Der An sturm der Duergar hatte die Armee der Schwarzen Spinne in zwanzig kleinere Streitmächte zerschlagen, die sich zur Wehr setzten wie ein Haufen Skorpione, die man in einen Korb gesetzt und dann umgestoßen hatte. »Unser Sieg ist noch fraglich, Nimor«, rief Horgar von o ben. »Die verfluchten Magier haben unseren Angriff behin dert!« »Aber Ihr habt die Säulen bezwungen, nicht?« erwiderte Nimor. »Ich hätte gedacht, der erste Ansturm würde die Men zoberranzanyr sofort niederringen, aber es scheint, die Armeen der Häuser lassen sich nicht so leicht überrennen.« Während er den Kampf beobachtete, fand Nimor, daß die Duergar mit dem Vorteil des Überraschungselementes die Häu ser von Menzoberranzan am ehesten schlagen würden, doch es würde ein langer Tag voll heftiger Gefechte werden, um die Streitmacht der Dunkelelfen zu dezimieren. Vor allem Haus Baenre war es für den Augenblick gelungen, die Säulen des Leids abzutrennen, und je länger Andzrel den Paß verteidigen konnte, um so größer wurden die Chancen für die Dunkelelfen.
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Zum Glück hatte Nimor für diesen Fall Vorkehrungen ge troffen. Die Menzoberranzanyr schienen an der Front vollauf mit dem Angriff der Duergar beschäftigt. Es wurde Zeit, das Messer zwischen die Rippen der Menzoberranzanyr zu jagen, während ihre Schwerter anderweitig eingesetzt wurden. »Jetzt, Aliisza«, rief er in die Luft. Nimor ließ sein Reittier wenden, zog sein Schwert und jagte die Streitechse in den Kampf. Mez’Barris Armgo und Andzrel befanden sich irgendwo mitten in der Schlacht, und er würde dafür sorgen, daß sie der Vernichtung ihrer Armee nicht ent gingen.
Nicht ganz einen Kilometer entfernt stand Aliisza in einem schmalen Tunnel, der von Osten kommend zum vorderen Abschnitt der Säulen des Leids führte. Sie hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf den Zauber, der es ihr erlaubte, Nimor zu beobachten. Dank der Magie, die sie zum Einsatz gebracht hatte, hörte sie jedes seiner Worte so, als hätte er sie in einem völlig ruhigen Raum gesprochen. Sie schüttelte sich und beendete den Zauber. »Es ist Zeit«, sagte sie zu Kaanyr. »Gut«, erwiderte der Kriegsherr. Das breite Grinsen, das von Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf geprägt war, entblößte seine spitzen Zähne. Er warf dem Assassinen Zammzt, der in seiner Nähe stand, einen Blick zu. »Nun, Ab trünniger, dies ist Euer Glückstag. Ich werde meine Krieger gegen die Drow antreten lassen, nicht gegen Eure DuergarVerbündeten.« Zammzt nickte und erwiderte: »Ich versichere Euch, Ihr werdet es nicht bereuen. Vernichtet diese Armee, und Menzo berranzan wird ungeschützt daliegen.«
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Kaanyr ging an dem Alu-Scheusal und dem Drow vorbei hinüber zu den Standartenträgern. »Gebt das Signal zum Angriff!« rief er. Sofort begannen ein Dutzend Grottenschrat-Trommler auf ihre Instrumente zu schlagen und ließen einen Trommelwirbel aus drei Schlägen ertönen, den sie dreimal wiederholten. Die Tanarukks, die Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion bildeten, heulten blutrünstig auf und rückten vor, stampften dabei mit ihren Füßen und stießen gegenseitig mit ihren Äxten an, wäh rend sie durch den Tunnel strömten. Kaanyr zog sein Schwert und schloß sich seinen Truppen an, während seine Wachen und Standartenträger sich beeilen mußten, um mit ihm mitzu halten. Aliisza hielt bei dem Anblick den Atem an und stieg in die Luft, um Kaanyrs Standarte zu folgen. Eine solche Schlacht bekam man nicht alle Tage zu sehen. Vor den heranstürmenden Tanarukks begann eine Felswand an der Flanke der Armee der Schwarzen Spinne zu flimmern und verschwand dann völlig, so daß plötzlich ein Tunnel an einer Stelle klaffte, der bis dahin von einer Illusion getarnt worden war. Die grölende Horde Tanarukks ergoß sich aus dem verborgenen Gang und attackierte die Drow-Armee von hinten, während die großen Häuser mit den Duergar-Reitern alle Hände voll zu tun hatten, die aus Richtung der Säulen des Leids gekommen waren. Aliisza sah Kaanyrs rotes Banner, das voller Stolz an der Spitze der Streitmacht wehte, die in die Schlacht stürmte. Nur eine Handvoll kleinere Häuser standen der heranstür menden Horde im Weg. Die Woge aus blutrünstigen Ork-Dä monen überspülte sie, die sich einem Speer aus rotglühenden Eisen gleich in die Flanke der Armee bohrten. Aliisza jubelte vor Erregung und Entsetzen, gefesselt von dem unglaublichen Spektakel. Sie war außerstande, ihrer Begeisterung in einer
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anderen Weise Ausdruck zu verleihen. Die Armee der Schwar zen Spinne war hoffnungslos in einen Kampf verstrickt, den sie nicht hatte kämpfen wollen, ein wildes Gemetzel auf einem offenen Terrain gegen die vereinten Armeen Gracklstughs und Kaanyr Vhoks. Wie Inseln in einer tosenden See aus Widersa chern war jedes Haus aus Menzoberranzan auf sich allein ge stellt und mußte gegen eine Flut aus Stahl und Zaubern ums Überleben kämpfen. Das Alu-Scheusal ließ sich auf einem Stalagmiten nieder und betrachtete das Schauspiel. Oh, Nimor, dachte sie. Was hast du großartiges und schreckliches zugleich getan!
Nimor Imphraezl, die Gesalbte Klinge der Jaezred Chaulssin, bewegte sich durch eine Szenerie, wie sie sich alle Teufel in allen Höllen wohl nicht schrecklicher hätten ausmalen kön nen. Das Blut Dutzender bedeutender Drow mischte sich an seinem Rapier und befleckte sein schwarzes Kettenhemd. Sei ne Streitechse war tot, verbrannt durch den Lichtblitz eines Magiers der Tuin’Tarl. Seine Gliedmaßen schmerzten vor Erschöpfung und aufgrund Dutzender kleiner Wunden, doch Nimor grinste wild, da das Ergebnis seines tödlichen Werkes ihn förmlich berauschte. »Wer hat nun etwas erreicht, verehrter Großvater?« lachte er lauthals. »Zammzt hat dir vielleicht Ched Nasad gegeben, doch ich habe Menzoberranzan niedergerungen!« Die Schlacht tobte seit Stunden. Statt eine undurchdringli che Linie zwischen den Säulen des Leids zu bilden, war die Armee der Schwarzen Spinne von allen Seiten von einem Feind bestürmt worden, der sich das Terrain und den Zeit punkt der Schlacht ausgesucht hatte. Wie bei einer großen,
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dummen Bestie mit einer tödlichen Bauchverletzung konnte es bei einer geschlagenen Armee lange dauern, bis sie endlich unterging, da sie zuckte und um sich schlug, während sie lang sam ausblutete. In den Kämpfen in der Welt an der Oberfläche hätten die besiegten Drow womöglich ihre Waffen niederge legt und gehofft, von den Siegern gut behandelt zu werden. Doch die unerbittlichen Krieger des Unterreiches machten keine Gefangenen und konnten dies auch nicht von der ande ren Seite erwarten. Die Duergar hatten nicht die Absicht, auch nur einen einzigen Dunkelelfen am Leben zu lassen, und das wußten die Krieger Menzoberranzans, daher kämpften sie auch bis zum Tod. Einige der kleineren Häuser wurden zerschlagen und über die Höhle versprengt, so daß Drow in Zweier- und Dreiergrup pen kämpfen mußten und so viele Gegner wie möglich mit in den Tod nahmen. Duergar, Grottenschrate, Oger und andere Soldaten, die dem Kronprinzen Gracklstughs treu ergeben waren, zogen durch die Höhlen, berauscht vom Gemetzel, während sie einzelne Drow jagten, deren Kompanien beim Ansturm zerschlagen worden waren. Einige Häuser hielten sich an ihrem Platz und kämpften energisch gegen immer mehr Duergar an, die von allen Seiten auf sie einstürmten. Manche Häuser rückten zusammen und versuchten, sich einen Weg durchs Getümmel zu bahnen, in der Hoffnung, einer katastro phalen Niederlage zu entgehen. Die Soldaten Barrison Del’Armgos waren in einen schma len, gewundenen Seitentunnel getrieben worden, der nur sechs Meter breit war. Die stolzen Krieger des Zweiten Hauses muß ten sich dort wiederholter Duergar-Angriffe erwehren. Mez’Barris war eingekesselt und konnte zu keinem der anderen Häuser vordringen, während sämtliche Vorräte verbrannten, da die Infanterie der Agrach Dyrr von hinten kommend den
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Versorgungszug in Brand gesteckt hatte. Auf Del’Armgo warte te ein langer, entbehrungsreicher Marsch zurück nach Hause. Die Kompanie des Hauses Xorlarrin, das mit den mächtigen Magiern bestens versorgt war, für die das Haus berühmt war, geriet in der Mitte der Höhle in Bedrängnis, wo sie alles ande re als in Sicherheit war. Die Xorlarrin-Magier hielten lange Zeit die fünffache Anzahl Duergar zurück, indem sie Mauern aus Feuer und Eis entstehen ließen und zerstörerische Energie freisetzten. Doch die Magier ermüdeten mit der Zeit und konn ten die verbrauchten Zauber nicht wieder auffrischen. Hunder te von Duergar mit Lanzen warteten auf ihren Streitechsen nur darauf, daß die arkane Verteidigung fiel und sie die Xorlarrin niederrennen konnten. Die stolze, mehr als fünfhundert Krieger starke Kompanie des Hauses Baenre stand wie ein Fels in der Brandung, wäh rend ringsum kleinere Häuser zerschlagen und niedergerungen wurden. Wie Nimor vorhergesagt hatte, war Andzrel Baenre gezwungen gewesen, die Säulen des Leids aufzugeben, die er kurz zuvor noch eingenommen hatte, und seine Streitmacht hatte sich langsam den Weg quer durch die Höhle freikämpfen müssen, um sich der Tunnelöffnung zu nähern, durch die die Armee der Schwarzen Spinne noch wenige Stunden zuvor hergekommen war. Die Baenre richteten ihre ganze Aufmerk samkeit auf die Agrach Dyrr, die den Fluchtweg versperrten. Armbrustbolzen, Speere und tödliche Zauber gingen in massi ver Zahl auf die jeweils andere Seite nieder, während die bei den Häuser einander wie wild bekämpften. Zwar kamen auf jeden Kämpfer von Agrach Dyrr zwei Baenre-Krieger, doch die Truppen des ersten Hauses mußten sich gegen Angriffe von allen Seiten wehren und dazu noch versuchen, sich den Fluchtweg freizukämpfen. Nimor bahnte sich vorbei an Toten und Sterbenden einen
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Weg durch die Schlacht. Zum Glück hatte er mehrere Un sichtbarkeitszauber vorbereitet, sonst wäre er immer wieder von rasenden Tanarukks oder grimmen Duergar aufgehalten worden, die jeden Drow töten wollten, der ihnen über den Weg lief. Hunderte von Steinwachen rannten gegen die Baenre-Infanterie an, während die Agrach Dyrr weiter die Öffnung zum Haupttunnel an der gegenüberliegenden Seite der Höhle verbarrikadierten. Nimor machte einen großen Bogen um den Kampf, bis er Andzrel und Zal’therra unter dem Banner der Baenre sah. Die Baenre-Führer führten ihre Soldaten in den Kampf ge gen die Agrach Dyrr, und langsam, aber sicher bahnten sie sich ihren Weg durch die Reihen des verräterischen Hauses. Die beiden waren von einem Pulk Leibwächter umgeben. Der Assassine grinste, da er seine Gelegenheit gekommen sah. Die Baenre-Führer waren ganz in den Kampf vertieft. Wenn er sie töten konnte, würde er praktisch das BaenreKontingent enthaupten, und wenn diese Streitmacht zerfiel, dann standen die Chancen gut, daß die gesamte Armee der Schwarzen Spinne an diesem Tage aufgerieben wurde. Nimor entdeckte Jazzt Dyrr, der sich im Hintergrund hielt und den Agrach Dyrr-Soldaten Befehle erteilte. Der Adlige hielt eine Hand auf eine klaffende Wunde quer über die Rip pen gedrückt. Der Assassine eilte hinüber und wurde sichtbar. »Gute Arbeit, Verwandter«, rief er Jazzt zu. »Haltet die Baenre weiter hier fest, dann wird die Wache des Kronprinzen sie aufreiben.« Jazzt sah auf. Müdigkeit und Schmerz wichen aus seinem Gesicht, als er den Kampf überschaute. »Leichter gesagt als getan«, sagte er. »Die Baenre kämpfen wie Dämonen, und mehr als nur ein paar unserer eigenen Leu te werden nicht heimkehren.« Er drückte den Rücken durch
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und gab Nimor die Hand. »Ich hatte meine Vorbehalte, Zhay emd, doch Euer Plan scheint aufzugehen. Ich würde ja gerne sagen, wir könnten Euch hier gut gebrauchen, doch nach dem Blut zu urteilen, das an Euch klebt, nehme ich an, daß Euch nicht langweilig ist.« »Die großen Häuser halten das Zentrum der Höhle, aber hier fällt die Entscheidung«, erwiderte Nimor. Seine Augen waren auf das Baenre-Banner gerichtet. »Gebt mir so viele Männer, wie Ihr entbehren könnt. Ich will die BaenreBefehlshaber töten.« »Gut«, gab Jazzt zurück. Er machte einem Dutzend erfahre ner Krieger eine knappe Geste. »Ihr da, geht mit Zhayemd. Bringt mir das Banner der Baenre.« Nimor machte seinen Rapier und den Dolch bereit, wäh rend sich die ausgeruhten Kämpfer um ihn scharten. Das Ge metzel kam näher, da die Baenre sich weiter zu ihrem Flucht weg vorarbeiteten. Er konnte die Baenre-Standarte sehen, die über dem Zentrum des Kampfes wehte. Andzrel selbst befand sich nahe der Front und war von den besten Männern umge ben, die sein Haus zu bieten hatte. Zal’therra war nur wenige Schritte hinter ihm, humpelte aber, da sie an der Hüfte ver wundet war. Ihren Arm hatte sie um einen anderen Baenre gelegt. Nimor wartete, bis die vorderen Baenre-Wachen in Reich weite eines Speerwurfs waren, dann rief er: »Auf sie!« Mit lautem Jubel stürmten die Krieger Agrach Dyrrs aus ih rem Versteck hervor, einige feuerten Armbrüste ab, ehe sie die Waffen wegwarfen und ihre Klingen zogen. Geschosse jagten in die Tunnelöffnung, von denen manche von den Rüstungen der Baenre-Wachen abprallten, während andere trafen. Die Wachen wappneten sich gegen die heranstürmenden Agrach Dyrr, so gut sie konnten. Zal’therra sprang an die eine Tun
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nelwand und setzte sich mit einem schwarzen, beidhändig zu führenden Flegel. Sie war nicht bereit, ihrem verletzten Bein zu vertrauen, daher stürzte sie sich nicht ins Kampfgetümmel, doch sie war alles andere als hilflos. Das bekam ein Soldat Agrach Dyrrs zu spüren, als sie ihm ein Bein stellte und ihm dann mit einem kraftvollen Schlag den Schädel zertrümmerte. Im nächsten Moment war der schmale Gang von dem Klirren von Stahl auf Stahl erfüllt sowie von dem häßlichen Geräusch, wenn sich Stahl in Fleisch bohrte, begleitet von den Schreien und den Flüchen der Kämpfer. Anders als Zal’therra stürzte sich Andzrel in den Kampf und hieb mit dem zweischneidigen Schwert um sich, trat brutal gegen seine Feinde, um sie zu Fall zu bringen, während die sich gegen seine zuckenden Klingen zur Wehr zu setzen versuchten. Voller Bewunderung sah Nimor zu, wie der Kampf mal in die eine, mal in die andere Richtung wogte. Als die Agrach Dyrr wieder vorrückten, näherte er sich dem Waffenmeister der Baenre. »Seid gegrüßt, Andzrel«, rief er. »Euer Meister der Späher muß Euch melden, daß die Duergar hinter unsere Verteidi gungslinie bei den Säulen des Leids gelangt zu sein scheinen. Sie stellen eine beträchtliche Bedrohung für die Armee der Schwarzen Spinne dar.« Andzrel verharrte, während sich der Kampf von ihm ent fernte. Wut kochte unter seinem gelassenen Äußeren. »Zhayemd«, spie er. »Es war ein schwerer Fehler, Euch mir zu stellen. Es wäre klüger gewesen, die Früchte Eures Verrats aus der Ferne zu genießen.« »Das werden wir sehen«, erwiderte Nimor. Er sprang vor und zielte mit einem mörderischen Stoß nach dem Oberkörper des Baenre, doch Andzrel ließ sich davon nicht überraschen. Der Waffenmeister wich zur Seite aus und
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hob sein zweischneidiges Schwert in einer wirbelnden Ab wehrhaltung, so daß Nimors Klinge pariert wurde. Dadurch kam er nahe genug heran, um seinen Ellbogen, der in einer Rüstung steckte, gegen Nimors Kopf zu rammen. Wäre Nimor der dürre Drow gewesen, als der er allen erschien, dann hätte der Treffer ihm den Schädel zerschmettern müssen. So aber wurde sein Kopf nur zur Seite geschleudert. Er wirbelte in die andere Richtung davon und holte mit seinem verborgenen Dolch aus, der Andzrel unterhalb des Brustpanzers traf. Der wich zurück und sprang dann hoch, um dem Assassinen in die Rippen zu treten, doch Nimor stieß lediglich ein Grunzen aus und schleuderte Andzrel mit Verachtung von sich. Andzrel rollte über den Boden, stand mit erhobenem Schwert auf und sah seinen Gegner mit aufgerissenen Augen an. »Was bei allen Höllen Lolths seid Ihr?« murmelte er. Ehe Nimor eine passende Antwort einfiel, schoß die Hand des Waffenmeisters zu seinem Stiefel, und im nächsten Mo ment warf er ein Messer, dessen Spitze auf Nimors Kehle ge richtet war. Der Assassine hob einfach die Hand und ließ zu, daß die Klinge sich ins Fleisch seines linken Unterarms bohrte. Er knurrte, dann zog er das Messer heraus. Blut spritzte auf den Höhlenboden. Natürlich wartete Andzrel nicht ab, was geschehen würde, sondern rollte unter der Deckung seines Widersachers nach vorn und versuchte, sein Schwert durch Nimors Leib zu jagen. Der sprang einfach über den Waffenmeister, indem er seine Füße dicht an den Körper zog und auf der anderen Seite lande te. Als Andzrel seine Stoßrichtung umkehrte und wieder auf sprang, bohrte Nimor sein Rapier durch den Brustpanzer des Baenre und fügte ihm eine tiefe Stichwunde in der Seite zu. Andzrel stöhnte und taumelte, verlor das Gleichgewicht und
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ging zu Boden. Das Schwert landete neben ihm. »Guter Versuch«, sagte Nimor und holte aus, um den Baen re zu töten. Ehe er jedoch zuschlagen konnte, schloß ihn eine Kugel aus bernsteinfarbener Energie ein. Eine magische Macht stoppte die Bewegung seiner Klinge so sicher, als hätte er versucht, Narbondel zu durchbohren, und widerstand auch seinem Mes ser. »Was bei den neun Höllen ist das?« wollte Nimor wissen. Der Assassine knurrte aufgebracht, als er erkannte, daß sich der Kampflärm im Tunnel im gleichen Moment mindestens verdreifacht hatte. Er spähte aus der Kugel, um festzustellen, woher der Lärm kam und was geschehen war. Außerhalb der Sphäre stürmten Dutzende neuer BaenreSoldaten aus dem Tunnel hinter den Agrach Dyrr und misch ten sich in den Kampf ein, wobei sie Jazzt und seine Fußtrup pen in die Zange nahmen. Die Agrach Dyrr, die bislang den Tunnel blockiert hatten, wurden vertrieben oder getötet, und für das Kontingent des Hauses Baenre war der Fluchtweg frei. Nimor sah wutentbrannt, wie die Baenre sein magisches Ge fängnis passierten und ihren Verwandten zu Hilfe eilten. In nerhalb weniger Augenblicke verlagerte sich das Kampfge tümmel zurück in die große Höhle. Nimor sah in den Tunnel und sah sich einem großen, di cken Magier gegenüber, der die Farben des Hauses Baenre trug. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete er die bernstein farbene Kugel. Zal’therra und Andzrel starrten den Neuan kömmling verblüfft an. »Nauzhror«, sagte die Priesterin. Blut strömte aus ihrer Hüftwunde. »Ihr kommt genau rechtzeitig.« »Nur ein glücklicher Zufall«, schnurrte der Magier. »Die Muttermatrone wies mich an, ihr vom Schlachtfeld zu berich
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ten, und so spähte ich die Armee aus, sah den tobenden Kampf und bemerkte Eure Schwierigkeiten. Ich benutzte eine sehr wertvolle Schriftrolle, um ein Portal zu öffnen und Euch Hilfe zu schicken.« Er wandte sich um und betrachtete Nimor in der Energiekugel. »Ist das nicht der stürmische Hauptmann Zhay emd von Agrach Dyrr?« »Zumindest behauptet er das«, meinte Andzrel. »Könnt Ihr ihn in dieser Sphäre vernichten?« »Nicht sofort. Sie hält ihn für eine Weile fest und umgibt ihn mit einem undurchdringlichen Schild aus magischer Ener gie. Sie wird sich nach kurzer Zeit auflösen, dann könnt Ihr ihn nach Belieben töten.« »Dann später«, sagte Andzrel und ließ den gefangenen Ni mor auf sich beruhen. Mit einer Hand griff er nach einer kleinen Phiole an seinem Gürtel und schluckte den Inhalt, den Nimor für einen Heil trank hielt. Er sah hinüber zum Kampfgetümmel, seine Miene war ausdruckslos, als er den Schlagabtausch betrachtete. Zal’therra humpelte zu ihm und sagte: »Bereitet einen Vor marsch vor. Mit Nauzhrors Verstärkung können wir das Blatt wenden und diese verfluchten Zwerge und Tanarukks schla gen.« Sie sah den Magier an. »Wie viele Soldaten habt Ihr mitgebracht?« »Leider nur eine einzige Kompanie. Die Muttermatrone wollte keine weiteren Reserven in einer verlorenen Schlacht riskieren, wenn es schlecht läuft.« Zal’therra begann zu protestieren, doch Andzrel legte ihr die Hand auf den Arm. »Nein«, sagte er. »Die Muttermatrone hatte recht. Jetzt, da wir einen gesicherten Rückzug antreten können, müssen wir so viele Häuser wie möglich aus dem Kampf zurückziehen. Die Duergar und die Tanarukks haben gewonnen.«
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Nauzhror riß die Augen auf. »Ist es so ernst?« »Wenn wir schnell sind«, gab Andzrel zurück, »werden wir einen Großteil unserer Soldaten retten können. Wenn wir die wichtigen Häuser aus der Schlacht zurückziehen, können wir uns notfalls kämpfend bis nach Menzoberranzan zurückbewe gen. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir Xorlarrin und Tuin’Tarl retten wollen. Fey-Branche ist verloren, und ich habe keine Ahnung, was mit Barrison Del’Armgo ist. Duskryn und Kenafin wurden überrannt. Menzoberranzan darf keinen weiteren Drow mehr verlieren.« »Euer Rückzug wird das Unvermeidliche nur hinauszögern«, sagte Nimor. »Ihr könnt es nicht aufhalten.« Andzrel stützte sich auf sein Schwert und warf Nimor einen finsteren Blick zu. »Wenn ich es recht überlege«, sprach der Waffenmeister, »werde ich ein paar Mann hierlassen, die darauf warten sollen, daß sich die Sphäre auflöst. Ich sehe keinen Grund, ihn auch nur einen Moment länger als nötig leben zu lassen.« Er blickte Nimor kühl in die Augen. »Euer Haus wird den Tag bereuen, an dem es unsere Stadt hinterging, Verräter.« Nimor versuchte wieder, mit Gewalt die Sphäre zu verlas sen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Andzrel, Zal’therra und Nauzhror wandten sich ab und folgten den Soldaten in den wiederaufgeflammten Kampf, während einige Wachen sich um die Sphäre herum aufstellten. »Wir sehen uns in Menzoberranzan«, versprach Nimor den Männern. Dann wirkte der Mann, der die Gesalbte Klinge genannt wurde, die Macht seines Rings und verschwand aus der Ener giekugel in die Schatten, die ihn willkommen hießen.
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Vier Stunden später stand die Gruppe wieder unter der Bron zemaske Vhaerauns in der Kapelle der Minauth-Feste. Beschä digte und verschmutzte Kettenhemden waren aufwendig ge säubert, gebrochene Glieder ersetzt worden, die Waffenröcke waren gereinigt. Die, die Rucksäcke, Nachtzeug und andere Ausrüstung verloren hatten, führten nun Ersatzausrüstung mit sich, die sie von den Jaelre-Händlern erworben hatten. Zum ersten Mal, seit sie Gracklstugh hinter sich gelassen hatten, fühlte Halisstra sich sauber, ausgeruht und einigermaßen gut für die nächste Phase ihrer Reise vorbereitet. Ihr fehlten das Kettenhemd, das sie als die erste Tochter des Hauses Melarn getragen hatte, und auch der Streitkolben, den ihre Mutter ihr vor einem Jahrhundert gegeben hatte. Aber wenigstens hatte sie noch ihre Leier, und das Kettenhemd und das Schwert von Auzkovyns waren kein völlig nutzloser Ersatz.
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Vor allem das Schwert schien eine gute Arbeit zu sein. Eine machtvolle Aura der Heiligkeit umgab es, die es im Griff der Dunkelelfe unangenehm kribbeln ließ. Doch Halisstra vermu tete, daß keine böse Kreatur, die mit ihr in Berührung kam, die Klinge würde ertragen können. Angesichts der Tatsache, daß sie in den Abyss hinabsteigen wollte, wo derartige Geschöpfe in großer Zahl auf die Gruppe warten würden, war sie durchaus gewillt, den unangenehmen Zauber des Schwertes wenigstens für eine Weile zu ertragen. Tzirik hatte eine schwarze Mithral-Plattenrüstung angelegt, die mit grotesken dämonischen Figuren und Goldfiligran ver ziert war. Ein Streitkolben mit teuflischen Dornen hing an seinem Gürtel, und er trug einen Helm in Form eines Dämo nenschädels. Er strahlte Zuversicht und Kraft aus, als hätte er lange auf eine Gelegenheit gewartet, seinem Gott zu dienen und dabei ein Risiko einzugehen, das es wert war, eingegangen zu werden. »Wie Ihr wißt«, sagte der Priester, »gibt es mehr als eine Möglichkeit, diese Ebene zu verlassen und in andere Dimensi onen vorzustoßen. Ich habe mich ausgiebig mit diesem Thema befaßt und bin zu dem Schluß gekommen, daß wir astral projizieren sollten. Wenn wir dann so ...« »Das würde doch bedeuten, daß wir unseren Körper in ko matösem Zustand zurücklassen müßten, während unser Geist in den Abyss reist«, unterbrach Quenthel ihn. »Wie könnt Ihr hoffen, ich würde mich auf so etwas einlassen?« »Verrat«, grollte Jeggred. »Er will, daß seine Kameraden uns die Kehle aufschlitzen, während unsere Körper wehrlos dalie gen.« Der Draegloth trat einen Schritt vor und bleckte seine Fangzähne, um sie dem Priester Vhaerauns zu zeigen. »Ich habe mich aus zwei Gründen für die astrale Form ent
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schieden, Herrin Baenre«, erwiderte Tzirik und nahm von Jeggred keine Notiz. »Zunächst einmal ist es so sicherer, denn wenn der Geist beim Besuch im Abgrund der Dämonennetze getötet wird, dann ist diese Person nicht tot, sondern würde unversehrt wieder hier erwachen. Immerhin ist es nicht leicht, den Geist zu vernichten. Zweitens bleibt uns keine andere Alternative, so wie ich das sehe. Ich habe bereits versucht, mich körperlich in den Abgrund der Dämonennetze zu verset zen, doch der Zauber hat versagt. Ich glaube, die Barriere, von der der Maskierte Gott sprach, verhindert ein direktes Über wechseln eines stofflichen Körpers in Lolths Reich.« »Dennoch glaubt Ihr, daß Ihr in der Lage seid, unsere Ast ralform dorthin zu bringen, wenn das Reich hermetisch versie gelt ist?« fragte Halisstra. »Ich kenne nur zwei Wege in den Abgrund der Dämonen netze, und wenn der eine nicht funktioniert, dann muß eben der andere funktionieren«, meinte Tzirik schulterzuckend. »Der Maskierte Gott persönlich hat mich angewiesen, Euch hinzubringen, also muß es einen Weg geben. Wenn Euch na türlich ein dauerhaft geöffnetes Tor oder Portal oder etwas anderes bekannt ist, das unsere Welt mit dem Abyss oder gar direkt mit dem Abgrund der Dämonennetze verbindet, dann würdet Ihr davon sicher auch Gebrauch machen können.« »Beweist mir, daß eine stoffliche Reise nicht funktioniert«, verlangte Quenthel. »Kommt näher«, sprach Tzirik hinter seiner Maske, und seine Stimme klang auf ironische Weise amüsiert, »und reicht mir die Hand.« Die Drow kamen näher, faßten einander an den Händen und bildeten einen Kreis um Tzirik. Der trat zwischen Quenthel und Danifae, legte seine linke Hand auf ihre inein ander verhakten Hände und ließ seine rechte frei, da er sie
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brauchte, um die für den Zauber erforderlichen Gesten zu be schreiben. Er sammelte sich, dann setzte er zu einem donnern den, gewaltigen Gebet an, dessen unheilige Worte die Luft mit fast greifbarer Finsternis erfüllten. Halisstra paßte auf den Priester auf, um sicher zu sein, daß er den Zauber korrekt wirkte, was er aber offenbar tat – zumindest nach ihrem Verständnis des Zaubers. Einen Moment lang glaubte sie, es würde funktionieren, da die Jaelre-Kapelle um sie herum in Dunst zu versinken schien. Es kam ihr vor, als entschwinde ihr Körper aus dieser Welt, ohne sich auch nur einen Zoll zu bewegen. Doch dann spürte sie durch eine über sinnliche Wahrnehmung ein Hindernis, eine Barriere, die die Gruppe davon abhielt, an einem anderen Ort wieder Gestalt anzunehmen, und die sie fast mit Gewalt in die Minauth-Feste zurückschleuderte. Sie taumelte wie trunken, ihre Sinne waren vollkommen verwirrt. »Genau das geschah, als ich es das letzte Mal versuchte«, sagte Tzirik. Finster zog Quenthel die Brauen zusammen, es gelang ihr aber, Ruhe zu bewahren, während sie Danifae losließ und sich gegen Jeggred lehnte. »Pharaun«, sagte die Hohepriesterin, »was habt Ihr beo bachtet?« Der Magier hob eine Augenbraue, vielleicht, weil es ihn überraschte, von Quenthel befragt zu werden, und sagte: »Das klingt einigermaßen plausibel. Wenn wir mittels Projektion unseres Geistes auf die Astralebene überwechseln, werden wir nicht direkt von dieser Ebene in den Abyss reisen. Wir würden die Astralsee überqueren und uns Lolths Reich als Geister nähern. Es könnte sein, daß die geheimnisvolle Barriere, auf die wir eben trafen, eine solche Form der Annäherung nicht unterbindet.« Der Magier strich sein Gewand glatt und über
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legte. »Das könnte auch erklären, warum den von uns be schworenen Dämonen dieser Trick nicht gelingen wollte. Sie reisen nicht mittels Astralprojektion von Ebene zu Ebene, da sie keine Seele haben.« Quenthel murmelte etwas, verschränkte die Arme und drehte sich zu Tzirik um. »Nun gut«, sagte sie. »Ich bin überzeugt. Wo wollt Ihr unse re Körper lassen?« Tzirik ging zu einer Wand der Kapelle und drückte einen verborgenen Mechanismus, woraufhin sich der Durchgang zu einer verborgenen Kammer hinter Vhaerauns Maske öffnete. Es war ein kleiner Raum, doch er war groß genug, daß acht elegante alte Diwane – Möbelstücke, die womöglich noch aus der Zeit stammten, als die Oberflächen-Elfen Cormanthyrs die Burg bewohnt hatten – mit den Kopfenden nach innen gerich tet in einem engen Kreis zusammengestellt Platz fanden. »Nur eine Handvoll meiner Leute weiß von der Existenz dieses Raums«, sagte der Priester, »und ich habe sie angewie sen, uns so lange nicht zu stören, wie es für uns erforderlich ist. Ihr müßt hier nicht um Euer Leben fürchten.« Ryld, der ein Stück hinter Jeggred stand, wandte sich von Tzirik ab und gestikulierte unauffällig zu Pharaun und Ha lisstra: Wenn unser Geist geschlagen wird, während wir uns im astralen Zustand befinden, kehren wir also in unseren Körper zu rück. Aber was geschieht mit unserem Geist, wenn jemand ein Messer in den Körper jagt? Dann sterben wir, erwiderte der Magier. Ein umsichtiger Mann würde sicherstellen, daß sich sein Körper an einem sicheren Ort befindet, und würde jemanden seinen Körper bewachen lassen, dem er vertrauen kann. Ryld verzog das Gesicht, äußerte sich aber nicht.
Die Gruppe folgte Tzirik in den Raum. Halisstra starrte mit
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einigem Widerwillen auf die Couch vor ihr, war aber nicht in der Lage, ihren Blick abzuwenden. Sie war wohl nicht die einzige in der Gruppe, die die Diwane wie eine Ansammlung von Särgen empfand. Quenthel mußte das gleiche gedacht haben. Sie sah von der Couch zu Tzirik und sagte: »Wir werden ei ne Wache zurücklassen. Jemand, dem ich traue, wird hier sein, um auf unsere Körper aufzupassen, bis wir zurück sind, genau wie Ihr Euch sicher von jemandem bewachen lassen werdet, dem Ihr vertraut.« »Ah«, sagte Tzirik. »Ihr seid wahrlich eine Dunkelelfe. Tut, was Ihr wollt.« »Er könnte diese ganze Burg auf den hetzen wollen, der hier zurückbleibt«, fauchte Jeggred. »Die Frage ist, wer bleibt?« Quenthel sah zu Ryld, dann wanderte ihr Blick zu Halisstra. Einen Augenblick lang fürchtete Halisstra, Quenthel könnte bestimmen, daß sie hierbleiben sollte, um ihr die Audienz zu verweigern, um die sie bei Lolth ersuchen wollte. Doch noch während ihr Herz vor Aufregung und Ungewißheit zu rasen begann, wurde ihr bewußt, daß die Baenre um jeden Preis verhindern würde, daß eine Melarn bei Bewußtsein war und über ihren hilflosen Körper verfügen konnte – jedenfalls dann, wenn sie in Halisstra eine echte Bedrohung sah. Quenthel kniff nachdenklich die Augen zusammen, dann wandte sie sich zu Jeggred um. »Du mußt bleiben«, sagte sie dem Draegloth. Durch Jeggreds Körper ging ein Zucken. »Ich werde nicht hier sitzen und Euren lebenden Leichnam betrachten, während Ihr Euch den Gefahren im Reich Lolths stellt! Mutter hat mich angewiesen, Euch zu beschützen. Wie soll ich das tun, wenn Ihr mich zurücklaßt?« »Du wirst mich bewachen«, sagte Quenthel. »In astraler
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Form kann mir nichts zustoßen. Hier aber bin ich verwundbar, und ich vertraue niemandem sonst diese Aufgabe an. Du mußt derjenige sein, Jeggred.« Der Draegloth verschränkte alle vier Arme und gab zurück: »Ihr wißt, was Euch im Abgrund der Dämonennetze erwartet. Ihr werdet dort meine Kraft brauchen.« »Hör sofort auf«, herrschte die Herrin Arach-Tiniliths ihn an. Ihre Augen blitzten, ihre Peitsche wand sich und spie wü tend. »Du hast kein Recht, meine Befehle in Frage zu stellen. Du wirst deiner Pflicht so nachkommen, wie ich sie dir vorge be.« Jeggred verfiel in Schweigen. Verärgert wandte er sich ab und ließ sich auf dem Boden nieder, während er seinen Ruck sack abstreifte. Quenthel sah die anderen an und deutete dann mit einem Kopfnicken auf die Diwane. »Kommt«, sagte sie. »Lolth wartet.« Tzirik blieb stehen, während die Menzoberranzanyr sich je eine Couch aussuchten und sich hinlegten. Er ging zum letzten freien Diwan, setzte sich und sah Jeggred an. »Wenn Ihr hierbleibt, Draegloth, dann sollt Ihr wissen, daß einige meiner Leute die Wache mit Euch teilen werden. Macht keinen Ärger, und Ihr werdet sehen, daß sie Euch nur zu gerne in Ruhe lassen werden.« Jeggred verzog nur den Mund, dann legte sich Tzirik hin, was ihm in seiner Rüstung nicht leichtfiel, und plazierte seinen Streitkolben so, daß er neben ihm lag. Halisstra stellte fest, daß sie zwischen Ryld und Danifae lag. Sie sah zu dem Waffenmeister hinüber. Er lag mit angespann ter, nervöser Miene da. Offenbar hatte er mit Astralreisen auch noch keine Erfahrung. Wenn unser Geist reist, wozu brauchen wir dann all unsere Waffen? bedeutete er ihr.
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Sie sind ein Teil von Euch, erwiderte sie. Euer Bewußtsein be inhaltet in Eurer Selbstdefinition Eure Habseligkeiten. Wenn Eure Seele von Eurem Leib getrennt unterwegs ist, erzeugt Euer Geist auch weiterhin ein astrales Abbild von allem, was Ihr bei Euch tragt. »Faßt Euch an den Händen«, sagte Tzirik. »Stellt sicher, daß Ihr einen festen Griff habt. Ich will keinen von Euch zu rücklassen.« Der Priester setzte mit seiner melodischen Stimme wieder zu einem Gesang an. Halisstra starrte zur Decke und griff mit der Rechten nach Danifaes, mit der Linken nach Rylds Hand. Vielleicht sollte ich mir dann auch ein gutes, starkes Getränk vorstellen, fügte Ryld an und nahm Halisstras Hand in seinen festen Griff, ehe sie etwas erwidern konnte. Hinter ihr auf der anderen Seite des Kreises setzte Tzirik seinen Zauber fort und sprach die harten magischen Worte mit Selbstvertrauen und Gelassenheit. Halisstra fühlte, wie ein elektrischer Schlag ihren Körper durchfuhr, als der Zauber zu wirken begann und sie mit Ryld und Danifae verband. Es war ein merkwürdiges, kribbelndes Gefühl, dem der Eindruck folg te, schwerelos zu werden, als sie sich von ihrem Leib zu lösen begann. Es war, als steige sie aus sich selbst auf, angezogen von einer unwiderstehlichen Macht, die sie in eine Richtung zog, ohne daß sie zu sagen vermochte, ob sie sich nach oben oder unten, nach rechts oder links bewegte. Die steinerne Decke begann zu verschwimmen und entfernte sich immer schneller von ihr. Dann war sie fort.
Triel Baenre marschierte elegant an den Reihen ihrer geschla genen Soldaten vorüber, ihr Gesicht verriet keine noch gerin ge Gemütsregung, doch das war nur möglich, weil ein stähler
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ner Wille sie daran hinderte, ihren Empfindungen freien Lauf zu lassen. Die erschöpften Soldaten standen so gut in Habt achtstellung, wie es in dem schmalen Tunnel möglich war. Sie hatte sich von Nauzhror sofort an den Schauplatz des Rückzugs transportieren lassen, um mit eigenen Augen das Ausmaß der Niederlage zu begutachten, die Menzoberranzan erlitten hatte. Sie mußte feststellen, daß ihr nicht gefiel, was sie sah. Es gefiel ihr ganz und gar nicht. Der Gang war gut fünfzehn Kilometer lang und stellte eine der Hauptpassagen dar, die von den Säulen des Leids bis zu dem Randbereich aus sich windenden Gängen und wilden Höhlen reichte, die als Menzoberranzans Herrschaftsbereich bekannt waren. Es kam ihr so vor, als sei jeder zweite oder dritte Soldat verwundet – hier ein bandagierter Leib, dort ein Arm in einer Schlinge, ein Mann, der seinen abgebrochenen Speer als Krücke benutzte. Aber nicht die Vielzahl der Ver wundeten bereitete Triel Sorge. Vielmehr empfand sie als beunruhigend, wie erschöpft die Soldaten wirkten. Natürlich war sie davon ausgegangen, sie ermüdet vorzufinden, immerhin war Andzrel mit der Armee einen ganzen Tag lang ohne Pause marschiert, um so viele wie möglich von den Säulen des Leids wegzuführen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, daß die Männer so ... niedergeschlagen sein würden. Sie waren besiegt worden, und sie wußten es nur zu gut. Andzrel hielt respektvoll einen Schritt Abstand zur Mut termatrone und schwieg, bis er aufgefordert wurde, etwas zu sagen. »Wie schwer sind die Verluste?« fragte sie, ohne den Waf fenmeister anzusehen. »Was die Armee angeht, bewegen sie sich bei einem Viertel bis einem Drittel, Muttermatrone. Einigen Häusern erging es besser, anderen schlechter, je nachdem, wo sie kämpften.«
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»Was ist mit dem Kontingent des Hauses Baenre?« »Neunzig tot, vierundvierzig schwer verletzt«, erwiderte Andzrel. »Etwa ein Viertel unserer Truppe.« »Wir hatten Glück, daß wir so viele retten konnten, Mut termatrone«, fügte Zal’therra an. »Einige der kleineren Häuser wurden bis zum letzten Mann ver...« »Ich habe Euch nicht gefragt«, sagte Triel. Sie verschränkte die Arme und versuchte, sich nichts von dem Entsetzen anmerken zu lassen, das ihr den Magen um drehte. Es wäre ein Wunder, wenn der Rat sich nicht gegen mich erhebt, dachte die Muttermatrone. Lolth sei Dank, daß Mez’Barris noch nicht aufgefunden wurde und daß FeyBranche so sehr geschwächt worden ist. So werde ich etwas Zeit haben, um zu überlegen, was ich zu tun habe, ehe ich Mez’Barris gegenübertrete – wenn Lolth mir gnädig ist. Doch was ist überhaupt noch vom Rat übrig? fragte sie sich. Faen Tlabbar, das dritte Haus, befand sich in den Händen eines unerfahrenen Mädchens, und Yasraena würde wohl bei der nächsten Versammlung erst gar nicht erscheinen. Sie und ihr ganzes verdammtes Haus hatten sich in ihrer Burg verbar rikadiert, wo sie auf die Ankunft der mit ihnen verbündeten Duergar warteten und sich offenbar auf eine Belagerung gefaßt machten. Damit waren Zeerith Q’Xorlarrin, Miz’ri Mizzrym und Prid’eesoth Tuin die einzigen Muttermatronen, über die sie sich Gedanken machen mußte. Um sich von dieser unerfreulichen Aussicht abzulenken, wandte sich Triel Andzrel und Zal’therra zu. Zu gern hätte sie den Waffenmeister und ihre Base dafür bestraft, daß sie ihre Armee in einen verheerenden Hinterhalt geführt hatten, doch soweit sie wußte, hatten Andzrels Geschick und Zal’therras
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Entschlossenheit überhaupt erst dafür gesorgt, daß die Armee der Schwarzen Spinne vor einer völligen Vernichtung ver schont geblieben war. Die Armee Menzoberranzans war schwer getroffen worden, doch sie existierte noch. »Wo sind die Duergar jetzt?« fragte sie. »Fünf Kilometer südlich von uns«, erwiderte Andzrel. »Haus Mizzrym dient derzeit als Nachhut, doch ich habe hun dert unserer Soldaten hingeschickt, die die Verteidigung ver stärken sollen.« Triel verstand, was Andzrel meinte: Er hatte den Mizzrym Soldaten der Baenre an die Seite gestellt, um zu verhindern, daß es noch einen Verrat wie den von Agrach Dyrr gab. »Die Geknechtete Legion bewegt sich in einem anderen Gang östlich von uns voran, um uns einzukreisen. Wir können es nicht wagen, uns ihnen in diesem Tunnel zu stellen, da uns die Tanarukks überrennen werden.« »Es wären doch nur gut hundert Soldaten nötig, um diesen Tunnel gegen jede Streitmacht zu verteidigen, oder?« fragte Triel. »Ja, doch in den Reihen der Duergar gibt es viele Kriegsma gier und Belagerungsmaschinen, so daß sie sich nicht allzulan ge von einer Nachhut aufhalten lassen werden.« »Versucht es dennoch«, zischte Triel. »Setzt Sklaventrup pen ein, laßt genügend Offiziere zurück, damit sie nicht auf einmal die Flucht ergreifen. Wir brauchen Zeit, Waffenmeis ter, und es ist der Zweck einer Nachhut, uns diese Zeit zu ver schaffen.« Andzrel wandte nichts dagegen ein, während Triel weiter ging, um ihre Gedanken zu ordnen. Drow-Rebellen, Sklaven aufstände, Duergar-Armeen, finsterer Verrat, ein verschwun dener Erzmagier und Horden von Tanarukks – konnte es wirklich noch schlimmer kommen? Wo sollte sie anfangen, um auch nur eines dieser Probleme zu bewältigen? Sollte sie
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Agrach Dyrr angreifen, obwohl ihr die magische Kraft der versammelten Priesterinnen fehlte? Die Duergar an einer an deren Stelle bekämpfen und den Tanarukks gestatten, sich an ihnen vorbeizubewegen? »Wie konnte das geschehen?« murmelte sie. »Agrach Dyrr war mit den Feinden unserer Stadt verbün det«, erwiderte Zal’therra. »Sie machten sich zur Vorhut unse rer Armee, doch statt die Säulen des Leids gegen die Duergar zu verteidigen, ließen sie uns in eine Falle laufen. Für diesen Verrat müssen sie ausgelöscht werden.« »Ich sprach nicht mit Euch!« herrschte Triel sie an, die sich nicht länger beherrschen konnte. Auch wenn sie wußte, daß Zal’therra nichts für das Desaster konnte, mußte sie ihrer Wut freien Lauf lassen. Sie verpaßte ihr einen wuchtigen Schlag, der Zal’therra fast umriß, obwohl sie gut dreißig Zentimeter größer und mindestens fünfzehn Kilo schwerer war. »Ihr hättet mit einem Verrat rechnen müssen, Ihr Närrin!« knurrte Triel. »Warum waren unter den Spähern keine Baen re-Offiziere? Warum habt Ihr nichts getan, um die Berichte zu überprüfen, mit denen Agrach Dyrr Euch versorgte? Wenn Ihr auch nur die mindesten Sicherheitsvorkehrungen getroffen hättet, wäre unsere Armee nicht so stark dezimiert worden!« Zal’therra wich zurück und erwiderte: »Muttermatrone, wir waren alle mit Andzrels Plänen einverstanden ...« »Andzrel ist eine Waffe. Die Armee unseres Hauses ist eine Waffe. Ihr seid die Hand, die diese Waffen gegen unsere Fein de führen muß. Ich schickte Euch aus, um Euer Urteilsvermö gen anzuwenden und Entscheidungen zu fällen, Euren Kopf zu benutzen und zu denken!« Triel machte auf dem Absatz kehrt, um nicht noch einmal auf Zal’therra einzuschlagen. Wenn sie das getan hätte, hätte
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sie vielleicht nicht mehr aufhören können, und ob es ihr gefiel oder nicht, Zal’therra war wohl die vielversprechendste ihrer Basen. Triel würde nicht ewig leben, und sie mußte sich dar über Gedanken machen, Haus Baenre mit wenigstens einigen fähigen Priesterinnen zu versorgen, wenn der Tag kommen sollte, an dem sie ihre Schwestern ermorden mußte. »Muttermatrone«, brachte Zal’therra heraus, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich entschuldige mich für mein Ver sagen.« »Ich habe keine Entschuldigung gefordert, Mädchen, und eine Baenre sollte sich nie von sich aus entschuldigen«, grollte die Muttermatrone. »Aber ich werde Euch Gelegenheit geben, mir zu beweisen, daß Ihr einfallsreich genug seid, um mich über Euer Scheitern hinwegsehen zu lassen. Ihr werdet das Kommando über die Nachhut übernehmen.« Triel wies nach Süden. Die Chancen waren groß, daß sie ih re Base in den Tod schickte, doch sie mußte wissen, ob Zal’therra den Mut und die Entschlossenheit besaß, um das Haus Baenre führen zu können. Wenn sie einen Weg fand, diesen Auftrag zu überleben und einen Erfolg zu erzielen, dann würde Triel erwägen, sie am Leben zu lassen. »Laßt die Duergar um jeden Schritt kämpfen, der sie näher an Menzoberranzan heranbringt«, fügte Triel an. »Euer Über leben hängt von Eurem Erfolg ab. Wenn Ihr diesen Tunnel aufgebt, ehe drei Tage verstrichen sind, lasse ich Euch kreuzi gen.« Zal’therra verbeugte sich und eilte davon. Triel wandte sich wieder dem Waffenmeister zu. »Glaubt nicht, daß ich Euch keine Schuld gebe«, flüsterte sie. »Ihr wart der Urheber dieser großartigen Strategie, auf die ich die Macht und das Prestige des Hauses Baenre setzte. Diese Strategie hat uns ein Desaster beschert, wie wir es seit
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Mithralhalle nicht mehr erlebt haben. Unter anderen Um ständen würde ich Euch in eine Grube voller hungriger Tau sendfüßler werfen, doch dies ... sind untypische Zeiten. Außer dem besteht eine kleine Chance, daß Euer Geschick und Euer Strategieverständnis sich in naher Zukunft als nützlich erwei sen könnten. Also enttäuscht mich nie wieder.« »Ja, Muttermatrone«, sagte Andzrel und verbeugte sich tief. »Also«, fuhr sie fort, »wo werden wir die Duergar und ihre Verbündeten aufhalten?« Ohne zu zögern erwiderte der Waffenmeister: »Gar nicht. Angesichts der Verluste, die wir erlitten haben, rate ich zum Rückzug nach Menzoberranzan, wo wir uns auf eine Belage rung einrichten sollten.« »Das gefällt mir nicht«, fuhr Triel ihn an. »Das riecht nach Niederlage, und je länger die Truppen uns belagern, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie von einem anderen Feind verstärkt werden, beispielsweise von den Betrachtern oder den Gedankenschindern.« »Das ist natürlich möglich«, sagte Andzrel bemüht neutral. »Doch es wird für die Duergar nicht leicht sein, eine Belage rung rings um Menzoberranzan durchzuhalten, wenn sie dabei hundertfünfzig Kilometer von ihrer eigenen Stadt entfernt sind. Ich glaube nicht, daß die Duergar es länger als ein paar Monate durchstehen können. Ich bezweifle auch, daß sie zah lenmäßig stark genug sind, um die Stadt zu stürmen. Unsere beste Vorgehensweise ist die, die Duergar zu einer Belagerung zu zwingen, um festzustellen, mit welcher Bedrohung wir es zu tun haben. Inzwischen böte sich für uns die Gelegenheit, Haus Agrach Dyrr zu vernichten.« »Ihr habt Angst davor, Euch den Duergar erneut in einer Schlacht zu stellen?« fragte Triel heiser. »Nein, aber ich will keine Vorgehensweise empfehlen, die
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für unsere Stadt die Gefahr einer Schlacht birgt, auf die wir nicht vorbereitet sind – zumindest nicht, solange wir keine andere Wahl haben. An dem Punkt sind wir noch nicht.« Er machte eine Pause, dann fügte er an. »In der Stadt können wir wieder zu Kräften kommen und innerhalb weniger Tage erneut zur Tat schreiten, wenn es sich als notwendig erweisen sollte.« Triel dachte über Andzrels Rat nach. »Ich werde nach Menzoberranzan zurückkehren und die Angelegenheit dem Rat vortragen«, entschied sie dann. »Bis Ihr einen gegenteiligen Befehl bekommt, zieht Ihr Euch zu rück. Die Hauptleute in der Stadt lasse ich alles für eine Bela gerung vorbereiten.«
Halisstra öffnete die Augen und fand sich in einer endlosen silbernen See treibend wieder. Sanfte graue Wolken zogen langsam in der Ferne vorüber, während fremdartige dunkle Streifen unheilvoll über den Himmel zuckten, deren Enden so weit entfernt waren, daß sie sie nicht ausmachen konnte und deren Mittelteile sich wütend drehten wie ein Stück Faden, den ein Kind zwischen den Fingern rollte. Sie sah nach unten, da sie sich fragte, was ihr Halt gab, sah aber überall nur den seltsamen perlmuttfarbenen Himmel. Überrascht über diesen eigenartigen Anblick atmete sie ab rupt ein, woraufhin sich ihre Lungen mit etwas füllten, das etwas süßlicher und vielleicht auch ein wenig fester war als Luft. Doch statt zu würgen oder an dieser Masse zu ertrinken, schien sie bestens daran gewöhnt zu sein. Ein Schauder lief durch ihre Glieder, daß sie sich über den so simplen Akt des Atmens wunderte. Halisstra hob ihre Hand ans Gesicht in dem unterbewußten Wunsch, ihre Augen abzuschirmen, wobei sie merkte, daß ihre
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Sehfähigkeit unnatürlich scharf war. Jedes Glied ihres Ketten hemdes sprang ihr als perfekt symmetrisch entgegen, die Rän der waren absolut präzise gezeichnet, auf dem Leder ihrer Handschuhe konnte sie die Ölschichten und die übereinander liegenden Flecken erkennen. Ihr fehlten die Worte. »Ihr habt euch noch nie hierher gewagt, Herrin Melarn?« fragte Tzirik von irgendwo hinter ihr. Halisstra drehte den Kopf, um nach ihm zu sehen, doch als Reaktion darauf schien sich das gesamte Bild vor ihren Augen in einer schnellen, reibungslosen Bewegung zu verschieben. Dann sah sie die Körper ihrer Gefährten vor sich treiben. Der Priester Vhaerauns stand – nein, das paßte nicht, er schwebte vielmehr – ein Dutzend Schritte von ihr entfernt, seine Rüs tung war messerscharf umrissen, sein Mantel wurde von einer sanften Brise bewegt, von der Halisstra nichts spürte. Er sprach leise, doch seine Stimme war wundersam klar und deutlich, als sei er nur eine Armlänge von ihr entfernt. »Ich hätte erwartet, eine Priesterin von Eurem Status wäre mit der Astralebene vertraut«, fügte der Priester an. »Ich wußte etwas darüber, was mich hier erwarten würde, doch ich hatte nie Gelegenheit, selbst andere Ebenen zu berei sen«, erwiderte sie. »Mein Wissen über diesen Ort ist allenfalls ... theoretisch.« Sie bemerkte, daß jeder ihrer Kameraden genauso scharf umrissen, genauso greifbar und real wirkte wie Tzirik. Von einem Punkt, den sie nicht recht wahrnehmen konnte – ir gendwo an ihrem Rücken oder am Genick –, entsprang eine schlanke, schimmernde Sehne aus silbrigem Licht. Halisstra griff an ihren Kopf und ertastete dort ein ebensol ches Band. Die warme, pulsierende Arterie strahlte Energie aus, und als ihre Finger darüber strichen, zuckte ein heftiger
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Schlag durch ihren Leib, als hätte sie an den Herzfasern ihrer eigenen Seele gezupft. Sie riß die Hand zurück und nahm sich vor, das Band nie mehr zu berühren. »Euer Silberband«, erklärte Tzirik. »Ein fast unzerstörbares Band, das Eure Seele mit ihrem angestammten Heim verbin det: Eurem Körper daheim in der Minauth-Feste.« Er lächelte gehässig. »Ihr solltet sorgsam damit umgehen, denn es gibt einige Dinge, die das Band eines Astralreisenden durchtrennen können, doch wenn das geschieht, wird der Reisende augen blicklich vernichtet.« Halisstra sah, wie Ryld nach seinem Band tastete und ge nausoschnell wie sie die Hand zurückriß. »Wie weit reichen diese Dinger?« fragte der Waffenmeister. »Sie sind unendlich, Meister Argith«, sagte Tzirik. »Keine Sorge, dreißig bis sechzig Zentimeter nach dem Austreten aus dem Körper werden sie unfaßbar, so daß Ihr darüber fallen könnt. Das Band hat außerdem die Angewohnheit, nicht in den Weg zu geraten, ohne daß Ihr Euch darüber Gedanken machen müßt.« Halisstra sah die Gruppe an und beobachtete, wie die Men zoberranzanyr damit kämpften, sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Ryld und Valas Hune ruderten langsam mit Ar men und Beinen, als versuchten sie zu schwimmen. Quenthel trieb stocksteif dahin, die Arme gegen den Rumpf gedrückt, während Danifae sich lässig treiben ließ und ihr langes weißes Haar ihr wie ein Welle folgte. Pharaun wartete einfach ab, aber in seinen Augen war ein amüsiertes Funkeln zu sehen, als er die Anstrengungen seiner Gefährten beobachtete. Tzirik sah sich nur um, betrachtete ihre Umgebung und nickte. »Dies ist eine Art zeitloser Ort«, sagte er, »dennoch ver streicht hier Zeit, deshalb schlage ich vor, wir beginnen unsere Reise. Folgt mir und bleibt dicht hinter mir. Ihr glaubt viel
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leicht, unendlich weit sehen zu können, doch Dinge ver schwinden hier leicht im Nebel.« Er glitt davon, ohne sich zu regen. Die Arme hielt er ver schränkt, während sein Mantel lautlos hinter ihm flatterte. Ihm folgen? fragte sich Halisstra und sah dem Priester nach. Doch allein der Wunsch, in der Nähe dieses Mannes zu blei ben, bewirkte, daß sie einen gewaltigen Sprung nach vorn machte, so immens, daß ihr nächster Impuls der war, laut »Stop!« zu rufen, auch wenn der Ruf nur ihr selbst gegolten hätte. Genau das tat sie auch und stoppte so abrupt, daß ihr Verstand ihr sagte, sie müsse einfach nach vorn kippen, da sie viel zu plötzlich angehalten hatte. Sie beschrieb hastig eine Kreisbewegung, dann kam sie zur Ruhe. Zum Glück hatte sie nicht als einzige Schwierigkeiten. Ryld und Valas Hune stie ßen zusammen und klammerten sich aneinander fest, da sie sich nicht wieder allein in der Leere bewegen wollten. »Oh, im Namen der Göttin!« murrte Quenthel, als sie sie beobachtete. »Leert einfach Euren Geist und denkt daran, wohin Ihr wollt.« »Bei allem Respekt, Herrin, wohin wollen wir gehen wol len?« fragte Valas, während er sich von Ryld löste. »Konzentriert Euch darauf, Tzirik zu folgen«, gab die Baenre zurück. »Er hat den Zauber gewirkt, also wird er auch das Por tal in den Abgrund der Dämonennetze finden können. Es kann einige Stunden dauern, aber Ihr werdet merken, daß die Zeit hier sehr sonderbar verstreicht.« Mit diesen Worten folgte Quenthel Tzirik. Halisstra schloß die Augen, holte tief Luft und konzentrier te sich darauf, Tzirik in angemessener Entfernung zu folgen. Sie schloß rasch und mühelos zu ihm auf, und diesmal ließ sie es nicht zu, in Panik zu geraten. Kurz darauf befanden sich
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auch die anderen neben ihr, und mit jedem Moment gewöhn ten sie sich mehr an die fremdartige Astralebene. Halisstra ließ sich hinreißen, mit der Art der Fortbewegung zu experimentie ren, indem sie mal in die Horizontale wechselte, als fliege sie wie ein Vogel durch die perlmutterne Leere, dann wieder be wegte sie sich, als gehe sie zügig, ohne aber ihre Beine zu be wegen. Wie sich herausstellte, war es völlig egal, was sie mit ihrem Körper tat, solange ihr Geist darauf ausgerichtet war, in der Nähe ihrer Gefährten zu bleiben. Allmählich begann sie die wahre Stofflosigkeit der Astralsee zu begreifen. Sie war nur ein Geist, schwerelos und vollkommen, doch befand sie sich an einem Ort, an dem Geister faßbar wurden. Irgendwo jenseits der unendlichen perlmutternen Weite lagen die Reiche der Götter, Tausende verschiedener Existenzkonzepte, von denen aus die göttlichen Wesen über das Schicksal Faerûns – und aller Welten überhaupt – herrschten. Sie konnte Hunderte von Lebensspannen damit verbringen, diese Reiche zu erkun den, die an die Astralsee angrenzten, und trotzdem würde sie sie niemals alle zu Gesicht zu bekommen. Der Gedanke sorgte dafür, daß sie sich winzig und unbedeu tend vorkam, und sie begann sofort, ihn zu vertreiben. Lolth hatte sie nicht in den Abgrund der Dämonennetze gerufen, damit sie sich von der silbrigen Leere der Astralebene überwäl tigen ließ. Sie hatte Halisstra und die anderen gerufen, damit sie ihr ihren Glauben und ihre Bewunderung aussprachen. Welchen anderen Grund sollte Lolth sonst haben, ihren Ge treuen alle Macht zu entziehen, Ched Nasad untergehen zu lassen und die erste Tochter des Hauses Melarn so unendlich leiden zu lassen? Es gibt einen Sinn, sagte sich Halisstra, einen Sinn, der mir klarwerden wird, wenn mein Glaube stark bleibt.
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Die Königin über den Abgrund der Dämonennetze hat uns bis hier geführt, sie wird uns auch noch ein Stück weiter füh ren.
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Halisstra konnte nicht im entferntesten sagen, wie lange sie brauchten, um die Astralebene zu durchqueren. Ihr war zuvor nie bewußt gewesen, in welchem Ausmaß die routinemäßigen Abläufe des Körpers das Verstreichen der Zeit bestimmten. Ihre Astralform wurde weder müde noch hungrig, sie kannte keinen Durst und keine anderen Dinge, auf die sie achten mußte. Ohne die kleinen Dinge, die man erledigte, um den Bedürfnissen des Körpers nachzukommen – ein Schluck aus einem Wasserschlauch, wenn man durstig war; ein kurzer Halt während eines Marsches, um etwas zu essen; ein Stop, um in Trance zu versinken und die grellen Stunden des Tages hinter sich zu bringen –, verlor die Zeit schlicht ihre Bedeutung. Von Zeit zu Zeit erhaschten sie kurze Blicke auf andere Phänomene als die endlosen perlmutternen Wolken oder die grauen Wirbel, die sich ringsum über den Himmel zogen. Son
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derbare Fetzen Materie trieben durch die Astralsee, gelegent lich entdeckten sie Findlinge, Felsstücke oder Erdhaufen, die wie winzige Welten im Raum schwebten. Manche hatten fast die Größe von Bergen, andere maßen nur ein paar Schritt. Die größeren von ihnen zierten eigenartige Ruinen, die das Heim von Astralreisenden oder von vor langer Zeit fortgegangenen Bewohnern zu sein schienen. Das Sonderbarste, was ihnen begegnete, waren wirbelnde Farbteiche, die sich langsam im astralen Medium drehten. Die Farbtöne reichten von hellem, glänzendem Silber bis zum tiefsten Nachtschwarz, durch das sich purpurne Streifen zogen. »Kommt diesen Teichen nicht zu nahe«, hatte Tzirik sie gewarnt. »Wenn Ihr dort eindringt, werdet Ihr auf eine andere Existenzebene gebracht, und ich habe kein Interesse, mich in fremde Welten zu begeben, nur weil jemand zu sorglos reist.« »Woher wissen wir, welcher uns zum Abyss führt?« fragte Valas. »Keine Sorge, mein Freund. Der Zauber, den Vhaeraun mir gewährte, sorgt auch für eine bestimmte Tendenz hin zu unse rem Ziel, die ich empfing, als ich meinen Geist auf diese Ebene brachte. Ich führe uns alle mehr oder weniger direkt zum nächsten Farbteich, der unseren Zwecken dienen wird.« »Wie lange müssen wir noch reisen?« fragte Quenthel. »Wir kommen näher«, antwortete Tzirik. »Es ist schwer zu sagen, aber ich würde annehmen, daß wir noch vier oder fünf Stunden von unserem Ziel entfernt sind. Wir sind inzwischen fast zwei Tage gereist.« Zwei Tage? Halisstra kam es nicht annähernd so lang vor. Sie fragte sich, was wohl in den letzten beiden Tagen in Faerûn geschehen sein mochte. Wachte Jeggred noch über ihre reglosen Körper? Er konnte seine Aufgabe nicht nachläs sig erfüllt haben, da sie noch lebten, doch wie viele Tage
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mochten noch vergehen, ehe sie ihr endgültiges Ziel erreicht, die Göttin um eine Audienz ersucht und die Rückkehr in ihre eigentliche Ebene geschafft hatten? Gedankenversunken verbrachte sie die Reise schweigsam, bemerkte dabei aber kaum, daß ihre Gefährten sich nicht an ders verhielten. Um so mehr überraschte es sie, als Tzirik sei nen mühelosen Flug verlangsamte und dann reglos verharrte. Vor ihm befand sich ein schwarzer Wirbel mit silbernen Strei fen, der nicht weit von den Reisenden entfernt langsam durch das Astralmedium peitschte. »Der Eingang zur sechsundsechzigsten Ebene des Abyss«, erklärte der Priester Vhaerauns. »Bislang ist unsere Reise ohne jegliche Zwischenfälle verlaufen, doch sobald wir uns in Lolths Reich begeben, wird sich das ändern. Wenn Ihr Zweifel an Eurer Mission habt, Herrin Baenre, dann wäre dies ein guter Zeitpunkt, sie zu äußern.« »Ich habe keinen Grund, den Abgrund der Dämonennetze zu fürchten«, gab Quenthel zurück. »Ich beabsichtige zu tun, wofür ich hergekommen bin.« Ohne auf Tzirik zu warten, schoß sie vor und tauchte in den wirbelnden, pechschwarzen Klecks. Von einem Augenblick auf den anderen wurde ihre strahlende Astralform von dem Mahl strom geschluckt. »Sie ist ungeduldig, nicht?« merkte Tzirik an. Er zuckte kurz die Achseln und begab sich selbst in den Farbteich. Wie Quenthel verspürte auch Halisstra in diesem Moment Gewißheit, und sie wollte sich nicht von irgendwel chen Zweifeln von ihrem beabsichtigten Kurs abbringen las sen. Sie drang in den Teich aus wirbelnder schwarzer Nacht ein, kaum daß Tzirik dort verschwunden war, die Zähne trotzig gefletscht. Zunächst spürte sie überhaupt nichts, auch wenn der Pfuhl
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ihr im Augenblick des Eintauchens gänzlich die Sicht nahm. Das Medium schien sich von der Astralebene nicht zu unter scheiden – ein schwereloses, kühles, vollkommenes Nichts –, doch mit einem Mal erfaßte die wirbelnde Strömung des Tei ches sie, zog an ihr mit einer befremdlichen, nicht dimensionalen Beschleunigung, die ihre stoffliche Form in eine Richtung zerrte, die sie nicht einmal annähernd verstand. Es schmerzte nicht, aber es fühlte sich so fremdartig an, so verwirrend, daß Halisstra entsetzt und gequält nach Luft rang und unter der Umklammerung durch den astralen Mahlstrom heftig erbebte. Lolth, hilf mir! flehte sie stumm in ihrem Geist, während sie mit den Armen ruderte und versuchte, sich aus der wir belnden Masse zu befreien. Die unbeschreibliche Bewegung hielt noch einen Moment lang an, dann ... ... hatte sie es geschafft. Halisstra taumelte wie trunken, als die Schwerkraft zurück kehrte, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, daß sie auf etwas Silber grauem lag, einer steilen Rampe oder Mauer, die vor ihr bis ins Unendliche abfiel. Die anderen standen ganz in ihrer Nähe und sahen sich schweigend um, während sie sich nervös die Gliedmaßen rieben oder nach ihren Waffen tasteten. Ringsum gab es nur schwarze, erdrückende Leere, die dunk ler und unheilvoller war als die schwärzeste Schlucht im Un terreich. Ein übler, beißender Geruch erfüllte ihre Nasenlö cher, und ein leise murmelnder Luftzug bewegte sich unablässig von unten nach oben. Halisstra sah in den Abyss zu ihrer Linken und sah dort etwas schimmern, einen mattsilber nen Faden, der mehrere Kilometer entfernt war und sich durch die Finsternis zog. Kleinere Fäden kreuzten ihn in unregelmä ßigen Abständen, und als sie ihnen mit den Augen folgte, sah
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sie, daß sie sich langsam nach oben bewegten und mit der Rampe zusammentrafen, auf der sie stand. Die heiße, stinkende Brise wurde stärker und schaffte es dann, den gewaltigen Faden sanft schwingen zu lassen. »Es ist ein Spinnennetz«, murmelte Ryld. »Ein riesiges Spinnennetz.« »Überrascht dich das?« erwiderte Pharaun zynisch lächelnd. Danifae ging ein paar zaghafte Schritte auf dem Faden. Das Ding hatte einen Durchmesser von dreißig oder vierzig Schritt, doch da die Oberfläche rund war, empfand sie es als unange nehm, wenn sie sich mehr als ein Dutzend Schritte vom hochsten Punkt des Fadens bewegte. Sie kniete sich hin und strich mit der Hand über die Oberfläche des Fadens, dann verzog sie das Gesicht. »Klebrig, aber nicht gefährlich. Außerdem scheint es so, als seien wir wieder vollkommen stofflich.« Sie richtete sich auf und reckte sich ausgiebig. »Habe ich nun zwei Körper? Einen hier und einen in der Jaelre-Burg?« »Genaugenommen ist das so«, antwortete Tzirik. »Wenn man die Astralsee verläßt und sich auf eine andere Ebene be gibt, dann baut der reisende Geist sich den stofflichen Körper, den er erwartet. Man könnte sagen, Euer Geist müsse sich einer Art Verdichtung unterziehen, um auf einer anderen Ebene eine physische Existenz anzunehmen. Wenn Ihr diesen Ort verlaßt, wird Euer Geist auf die Astralebene zurückkehren, während die Hülle, die Ihr für Euch geschaffen habt, verblaßt.« »Ihr scheint mit den Unbilden der Reisen auf andere Ebe nen gut vertraut zu sein«, stellte Halisstra fest. »Vhaeraun hat mich schon mehrfach in die Ebenen jenseits Faerûns geschickt«, räumte Tzirik ein. »Ich war auch schon hier im Abgrund der Dämonennetze. Alle Götter unserer Ras se sind hier zu Hause, jeder in seinem eigenen Reich innerhalb
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dieser großen Netzspalte. Mein vorangegangener Auftrag führ te mich nicht in Lolths Reich, und er liegt auch schon viele Jahre zurück.« Quenthel warf ihm einen finsteren Blick zu. »Der gesamte Abgrund der Dämonennetze ist Lolths Reich, Ketzer. Sie ist die Königin über diese Ebene des Abyss, während die anderen sogenannten Götter unseres Volkes hier nur mit ihrer Duldung existieren.« »Ich bin sicher, daß Ihr korrekt nachgeplappert habt, was Euch Euer Glaube in dieser Angelegenheit vorschreibt, daher werde ich mit Euch nicht über diesen Punkt streiten, Priesterin Lolths. Für unsere Zwecke ist das genaue Verhältnis der Gott heiten untereinander in diesem Pantheon nicht wichtig.« Tzirik wandte Quenthel den Rücken zu und betrachtete den schwarzen Abgrund rings um die Gruppe. Mit der Hand be schrieb er eine wischende Bewegung. »Irgendwo unter uns werden wir eine Art Tor oder Grenze finden, die die Stelle markiert, an der sich der Zugang zu Lolths Reich öffnet – das, soweit ich weiß, dem übrigen Ab grund der Dämonennetze recht ähnlich ist, das aber ihren Launen unterworfen ist.« »Wenn die Ebene unendlich ist, dann könnte der Punkt, den wir suchen, unendlich weit entfernt sein«, merkte Pha raun an. »Wie sollen wir von hier nach dort gelangen?« »Wenn wir einfach an einem beliebigen Punkt in dieser E bene materialisiert wären, hättet Ihr recht«, gab Tzirik zurück. »Doch die Astralprojektion ist keine zufällige Reisemethode. Wir sind nicht weit von dem Ort entfernt, den wir suchen – ein Marsch von einer Stunde, höchstens von einem Tag, aber nicht viel weiter. Da wir wissen, daß Lolths Reich am Nadir dieses Ortes gelegen ist, würde ich vorschlagen, daß wir nur an diesem Faden hinabsteigen und an jeder weiteren Verzweigung
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wiederum den Weg nach unten wählen. Unterwegs sollten wir aber wachsam sein.« »Es wird noch andere geben«, fügte Quenthel an. »Die See len der jüngst Verstorbenen. Wenn Ihr jemanden seht, den Ihr als Verehrer Lolths erkennt, dann werden wir ihm folgen.« Sofern Lolth sie noch zu sich ruft, dachte Halisstra. Den anderen schien der gleiche Gedanke durch den Kopf zu gehen. Der Priester nahm seinen Streitknüppel in die Hand, korri gierte den Griff um seinen Schild, dann machte er sich mit gestrafften Schultern auf den direkten Weg nach unten, den titanenhaften grauen Faden entlang. Die Menzoberranzanyr sahen einander kurz an, folgten Tzirik dann aber auf der steilen Netzsäule. Die Oberfläche des Fadens entpuppte sich als angenehm begehbar. Sie war uneben, nicht wirklich klebrig und bestand aus rauhen Fasern, die guten Halt für die Füße boten. Zugleich federte die Oberfläche genügend, um die schweren Schritte während des steil nach unten führenden Abstiegs zu dämpfen. Auf den ersten Blick glaubte Halisstra, dieser Ort sei genau so leer wie die silbrige See der Astralebene, denn die gewalti gen Abstände zwischen den Fäden verliehen dieser Ebene ein Gefühl völliger Leere. Doch je weiter sie kamen, desto bewuß ter nahm sie eine haßerfüllte Atmosphäre wahr, als beobachte die gesamte Ebene ihr Eindringen und koche vor Wut. Ein fremdartiges, rauhes Rascheln und sonderbar insektenartige, kichernde Geräusche stiegen mit dem übelriechenden Luftzug empor, das Geräusch ferner, kriechender Bewegungen und Aktivitäten, die eine Aura der Gefahr in sich trugen. Manchmal machte Halisstra an einem benachbarten Faden eine Bewegung aus, auch wenn die durchhängenden schwarzen Stränge kilometerweit entfernt waren. Hier und da bemerkte
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sie hektische Aktivität, doch die dafür verantwortlichen Krea turen oder Objekte waren so weit entfernt, daß es unmöglich zu erkennen war, um was es sich bei ihnen handelte. Mehr als einmal spürte sie eine Präsenz in der luftigen Leere rings um ihren Faden, langsame, üble Dinge, die auf den geräuschvollen Luftstößen trieben, die unablässig von unten kamen und sich den reisenden Drow immer wieder näherten, als wollten sie sehen, ob sie sich für eine Zwischenmahlzeit eigneten. In unregelmäßigen Abständen kamen sie an Leichen vor über, alptraumhaften Kadavern, die das schlimmste von Spin nen und Dämonen vereinten. Große Stücke waren aus dem Chitinpanzer der Monster gerissen, Glieder waren verdreht, hier und da war ein haariger Brustkorb eingedrückt worden, aus dem eine säuerlich riechende, grüne Masse austrat. Geflü gelte Aasdämonen lagen in Haufen aus schmutzigen Federn, die gräßlichen Schnäbel im Tod aufgerissen. Aufgeblähte, froschartige Dinge hingen in den Fasern des großen Fadens und bewegten sich leicht im üblen, heißen Luftzug. Einige Dämonen klammerten sich noch an ihr Leben, doch sie konn ten kaum mehr machen, als zu zucken oder zu schnarren. Man che von ihnen stießen verzweifelte Drohungen aus, sobald die Drow sie passierten. »Dieser Ort ist ein Beinhaus der Teufel«, murmelte Ryld, der sich eine Hand vor Mund und Nase hielt. »Ist es hier im mer so?« »Bei meinem letzten Besuch sah ich nichts dergleichen«, erwiderte Tzirik. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich weiß nur, daß ich nicht dem Ding begegnen möchte, das Dä monen in Stücke reißen kann.« »Ich kann mich daran auch nicht erinnern«, sagte Quenthel. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, ihre Stimme war leise und angestrengt. »Veränderung ist das We
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sen des Chaos, und Chaos ist ein Aspekt Lolths.« »Wahrhaftig«, sagte Pharaun. Der Magier hielt sich ein Ta schentuch vor die Nase und bahnte sich seinen Weg um den Kadaver einer riesigen Spinne, deren knolliger Unterleib auf geplatzt war und dessen gräßlicher Inhalt sich über den Faden verteilt hatte. »Es ist möglich, daß sie sich das gegenseitig angetan haben. Wenn eine starke, befehlende Präsenz fehlt, wenden sie sich oft gegeneinander.« »Wenn sie fehlt ...« , wiederholte Halisstra und betrachtete das Gemetzel genauer. »Ich sehe nirgends tote Drow.« Nachdem sie ein beträchtliches Stück zurückgelegt hatten, rückten die benachbarten Fäden allmählich näher, außerdem stießen sie immer häufiger auf Querfäden. Halisstra sah, daß an den Fäden ringsum weitere zerschmetterte Kadaver klebten. Ganz gleich, welcher Kampf hier getobt haben mochte, er mußte sich über Dutzende von Fäden und unzählige Kilometer schwarzer Leere erstreckt haben. »Die Spinnenkönigin ...«, sagte Halisstra. »Sie ließ die Be wohner ihrer eigenen Ebene im Stich, so wie sie uns im Stich ließ, und so, wie wir einander in Ched Nasad gegenseitig aus löschten, haben die Dämonen ihres Reiches das auch ge macht.« Sie schloß die Augen und versuchte, den Anblick zu verdrängen. Der Gestank schlug ihr auf den Magen, ihr war schwindlig. »Lolth, warum nur?« murmelte sie. »Die Spinnenkönigin wird sich erklären, wenn sie es für richtig hält«, gab Quenthel zurück. »Wir können nur um die Wiederherstellung ihrer Gunst bitten und darauf vertrauen, daß wir in ihren Augen würdig sind.« »Wir können uns auch etwas schneller voranbewegen, an statt dumm zu glotzen«, rief Valas. Er bildete den Schluß der Gruppe und hatte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens gelegt. Der Späher stand da und sah mit besorgter Miene den
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Faden entlang nach oben. »Verzeiht die Unterbrechung, aber wir bekommen Gesellschaft. Wir werden verfolgt.« Halisstra folgte dem Blick des Spähers nach oben und schwankte leicht, da sie das Gleichgewicht verlor. Ihr wurde erst klar, wie weit sie inzwischen gereist waren, als sie sah, daß der Faden sich über eine gewaltige Distanz hinauf bis in Dun kelheit erstreckte. Etwas folgte ihnen, eine kriechende Horde aus kleinen, spinnenartigen Gestalten, die sich um den Faden auf sie zubewegten, ohne davon Notiz zu nehmen, was in den Fasern festhing. Sie waren zwar noch viele hundert Schritte entfernt, doch selbst auf diese große Entfernung konnte Ha lisstra sehen, daß es sich um Monstrositäten von Oger-Größe handelte. Der Eifer, mit dem sie ihre Verfolgungsjagd betrie ben, konnte nichts Gutes bedeuten. »Das gefällt mir nicht«, meinte Ryld. »Mir auch nicht«, pflichtete Quenthel ihm bei. »Pharaun, habt Ihr einen Zauber, der ihnen das Vorankommen ver wehrt?« Der Meister Sorceres schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nicht ohne Gefahr zu laufen, daß der Faden durchtrennt wird. Und dieses Risiko will ich aus unerfindlichen Gründen lieber nicht eingehen. Ich könnte statt dessen einen Flugzau ber wirken, der genügen sollte, damit wir diesen Faden verlas sen und zum nächsten überwechseln können. Allerdings könn ten wir auch einfach zum nächsten Faden unter uns schweben.« Er wies auf einen schmalen, fast dünnen Strang, der ein Stück weit unter ihnen ein wenig seitlich versetzt verlief. »Spart Euch Eure Magie«, entschied Quenthel. »Der Faden wird genügen. Pharaun, Ryld, ihr tragt Valas und Danifae.« Sie glitt an dem großen Faden entlang, auf dem sie standen, dann stieß sie sich ab. Einer nach dem anderen folgte ihr.
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Halisstra wagte einen letzten Blick auf den Schrecken, der sich ihrer Position näherte, dann folgte sie rasch der BaenrePriesterin, indem sie sich an den Rand des gewaltigen Strangs herabließ und dann den Sprung in die Dunkelheit machte.
Drei Tage waren seit dem Sieg bei den Säulen des Leids ver gangen, und über dreißig Kilometer waren sie inzwischen nä her an Menzoberranzan. Nimor stand im Schatten an der Mündung Lustrums, einer wundersam reichen Mithral-Mine. Nahe dem Eingang reichte ein keilförmiges Gewölbe Hunderte von Metern in die Höhe, das breiter wurde, je höher man sich befand. Am Höhlenboden war es beengt und mit den Bruchstücken gewaltiger Findlinge übersät. Die Minenarbeiter – Sklaven und Soldaten des Hauses Xorlarrin, zumindest glaubte er das – hatten ihr Werkzeug weggeworfen und ihr Zuhause verlassen, als sich ihnen die Duergar-Armee näherte, wobei sie aber noch so viel Mithral-Erz mitgenommen hatten, wie sie tragen konnten. Nimor sah hinauf in den schmalen schwarzen Riß. Die Mithral-Mine war interessant anzusehen, doch sie war nicht der einzige Grund, weshalb er hier war. Das Lustrum befand sich zwischen der Armee aus Gracklstugh und der Ar mee Kaanyr Vhoks. Die Duergar hielten sich auf der linken Seite und näherten sich Menzoberranzan aus Südwesten, wäh rend die Tanarukks den Weg zur Rechten zurücklegten und von Südosten auf die Stadt zumarschierten. Die Drow-Armee zog sich zurück, auf dem Weg in die trügerische Sicherheit ihrer Heimatstadt. Menzoberranzans Mantel – der große Kranz aus verschlungenen Höhlen und Passagen, der sich um die ganze Stadt zog – bot der einfallenden Armee tausend Wege, um sich der Stadt zu nähern.
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Natürlich hatten die Muttermatronen ihre entlegeneren Ländereien nicht ungeschützt gelassen. Nimor sah zu Boden auf die grünen Scherben einer der berüchtigten Jadespinnen der Stadt, riesige, magisch angetriebene Automaten aus Stein, die die Randbereiche der Stadt bewachten. Aus den Überres ten dieses Objekts zu seinen Füßen stieg noch der beißende schwarze Rauch der Brandbomben auf, mit denen es vor weni gen Stunden zerstört worden war. Es handelte sich um raffi nierte, todbringende Werkzeuge, doch ohne Heerscharen von Priesterinnen, die sie mit allen möglichen Zaubern unterstütz ten, waren die Jadespinnen kein ausreichendes Mittel, um die beiden vorrückenden Armeen aufzuhalten. Wie lange noch, bis die großen Burgen von Menzoberran zan genauso am Boden liegen wie dieses Ding? überlegte Ni mor. Die Gesalbte Klinge wurde in ihren Gedankengängen un terbrochen, als das Stampfen von Zwergenstiefeln und das häßliche Kratzen von Eisen auf Stein ertönte. Die gepanzerte Kutsche Kronprinz Horgar Stahlschattens näherte sich, eskor tiert von einer doppelten Kolonne von Steinwachen des Duer gar-Fürsten. Nimor zuckte zusammen, als er das dröhnende Gellen der Duergar-Soldaten hörte. Man sollte meinen, sie hätten in ihrer eigenen Stadt schon genug Lärm und Hammerschläge, dachte er. Er klopfte Schmutz von seinem Waffenrock, dann begab er sich nach unten, um mit seinen Verbündeten zusammenzutref fen. »Seid gegrüßt. Ich freue mich, daß Ihr meiner Bitte um ein Gespräch nachgekommen seid.« Der Duergar-Fürst stieß die gepanzerte Tür an der Seite sei nes eisernen Wagens auf und trat hinaus auf den Höhlenbo den. Marschall Borwald folgte mit einem Schritt Abstand, ein
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großer Eisenhelm verbarg die Narben in seinem Gesicht. »Ich habe Euch gesucht, Nimor Imphraezl«, erwiderte Hor gar. »Ihr seid einfach verschwunden, nachdem Ihr unsere Vor hut in dieses Labyrinth aus Tunneln geführt hattet. Was hattet Ihr anderswo zu tun, das wichtiger sein könnte als unser An griff auf Menzoberranzan? Das würde mich interessieren.« Der Sieg hatte den sauertöpfischen Pessimismus des Kron prinzen in einen unbändigen Hunger nach weiteren Trium phen verwandelt, und Horgars Gutsherren spiegelten die Ein stellung ihres Herrschers wider. Wo zuvor der Anblick des Assassinen dazu geführt hatte, daß man finstere Miene machte und sich Übles zuflüsterte, waren die Gutsherren von Gracklstugh nun an einem Punkt angelangt, da sie seine An wesenheit mit schroffem Kopfnicken und unverhohlenem Neid auf seine Erfolge quittierten. »Aber wieso? Mein kurzer Ausflug betraf ausschließlich den bevorstehenden Angriff«, gab Nimor mit einem Lachen zu rück. Er trat gegen eine Jadescherbe des vernichteten Kon strukts. »Nachdem ich Euren Männern gezeigt hatte, wie man diese Dinge unschädlich macht, war ich der Ansicht, Eure Armee habe die Sache bestens im Griff. Daher nahm ich mir die Freiheit, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten und mich zugleich etwas umzutun, wie es in der Stadt aussieht.« Der Duergar-Prinz runzelte die Stirn und zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Ihr nahmt Euch die Freiheit, mit der Tanarukk-Armee ein großes Wagnis einzugehen«, sagte Horgar. »Sie hätte sich ebensogut gegen uns wie gegen die Menzoberranzanyr wenden können, und das wißt Ihr!« »Unter normalen Umständen vielleicht, doch man kann die Chance förmlich riechen, die in der Luft hängt. Ich kann sie riechen, Kaanyr kann sie riechen, und ich glaube, daß Ihr
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sie auch riechen könnt. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem viele große Ereignisse in eine andere Richtung gelenkt werden könnten.« »Leere Platitüden, weiter nichts, Nimor«, brummte der Duergar. Er verschränkte seine dicken Arme und starrte ins Nichts, während er wartete. Nach kurzer Zeit drang ein Scharren und Schnauben durch die Finsternis, gefolgt von schnellen, schwe ren Schritten. Eine Schar Tanarukks kam in die Höhle, die auf ihren haa rigen Schultern eine eiserne Sänfte von der Größe einer klei nen Kutsche trugen. Die Augen der Bestien glühten rot vor Haß, in den kraftvollen Fäusten hielten sie Äxte und Streit kolben. Die Duergar und die Ork-Dämonen warfen sich finste re Blicke zu, murmelten Unverständliches und tasteten nervös nach ihren Waffen. Die Tür der Sänfte öffnete sich knarrend, und Kaanyr Vhok erhob sich langsam aus dem Sessel. Der halbdämonische Kriegsherr sah in seiner karmesinroten und goldenen Rüstung prachtvoll aus, und seine feingeschuppte Haut und die mar kanten Züge verrieten auf eine Weise Charisma, mit der Hor gars ungehobelte und mißtrauische Duergar-Art nie hätte mithalten können. Das Alu-Scheusal Aliisza folgte ihm und streckte ihre Flügel, als sie heraustrat. Als letzter verließ Zammzt die Kutsche des Kriegsherrn. »Ich bin gekommen«, sagte Kaanyr mit seiner kraftvollen Stimme. Er betrachtete die versammelten Duergar und sah auch zu Nimor. »Wir haben die Drow völlig aufgelöst in ihre Stadt zurückgetrieben. Wie setzen wir nun dem Ganzen ein Ende – und viel wichtiger: Wie teilen wir die Beute?« »Die Beute teilen?« gab Horgar zurück. »Wohl kaum. Ihr werdet Euch nicht an meinem Lohn gütlich tun, nachdem
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meine Armee Schwerstarbeit geleistet hat, um die Drow bei den Säulen des Leids zu schlagen. Ihr werdet für Eure Unter stützung angemessen bezahlt werden, aber glaubt ja nicht, Ihr könntet einen Teil meines Sieges für Euch beanspruchen.« Kaanyr zog wütend die Brauen zusammen. »Ich bin kein Bettler, der an Eure Großzügigkeit appelliert«, sagte der Cambion. »Ohne meine Armee würdet Ihr Euch noch immer Schritt für Schritt nach Menzoberranzan vor kämpfen.« Horgar wollte wütend etwas erwidern, doch Nimor stellte sich rasch zwischen den Halbdämon und den Duergar und hob die Arme. »Meine Herren!« rief er. »Menzoberranzan kann Euch nur schlagen, wenn Ihr Euch gegeneinander wendet. Wenn Ihr zusammenarbeitet, wenn Ihr geschickt Eure Ressourcen bün delt, wird die Stadt fallen.« »Das stimmt«, sagt Zammzt. Der Assassine mit dem platten, ausdruckslosen Gesicht stand in seinen dunklen Mantel ge hüllt neben Vhoks Sänfte. »Es bringt wenig, über die Vertei lung der Beute zu reden, solange die Stadt noch nicht einge nommen ist. Es ist noch sinnloser, mit der Diskussionen über die Verteilung der Beute zu verhindern, daß die Stadt über haupt erst fallen kann.« »Das mag sein«, gab Kaanyr zurück und verschränkte seine muskulösen Arme vor der breiten Brust. »Aber ich werde mich nicht übergehen lassen, wenn die Stadt geplündert wird. Ihr habt mich hergeholt.« »Mich auch«, polterte Horgar, »und auch die Agrach Dyrr. Ich vermute, Euer geheimes Haus wird sehr unter Druck gera ten, wenn es alle Versprechungen einlösen soll, die Ihr Euren Verbündeten gemacht habt. Ich frage mich, wen von uns Ihr verraten wollt.«
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Zum ersten Mal mußte sich Nimor ernsthaft die Frage stel len, ob er wohl zu viele Feinde Menzoberranzans zusammenge bracht hatte. So lief Diplomatie im Unterreich. Keine Allianz verlor je ihre Nützlichkeit, nicht einmal einen Herzschlag lang. Zu seiner Überraschung kam ihm Aliisza zu Hilfe. Das Alu’Scheusal lehnte sich gegen Kaanyr und erklärte: »Er wird bei keinem von Euch seine Versprechen einlösen können, solange die Stadt steht. Wie soll er das auch? Wenn Ihr Euch nicht einigt, werden wir alle mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.« Nimor nickte ihr knapp ein Danke zu, achtete aber darauf, daß sein Blick nicht zu lange auf Aliisza ruhte, solange sie so dicht neben Kaanyr stand. Er bezweifelte, daß sie ihrem Herrn jedes Detail ihres Besuchs in Gracklstugh erzählt hatte, und er wollte dem Halbdämon keinen Anlaß geben, neugierig zu werden und Fragen zu stellen. »Die Weisheit der Dame Aliisza ist so groß wie ihre Schön heit«, sagte er. »Um einen Streit zu vermeiden, schlage ich folgendes vor: Horgar fallen fünf Zehntel des Vermögens, der Bevölkerung und des Territoriums von Menzoberranzan zu. An Kaanyr gehen drei Zehntel, und zwei Zehntel gehen an mein Haus, aus denen ich die Agrach Dyrr mit abfinden werde. Das alles bedarf natürlich noch gewisser Verhandlungen und Kor rekturen, wenn Menzoberranzan in unserer Hand ist.« »Meine Armee ist mehr als doppelt so groß wie die des Cambion. Wieso bekommt er einen größeren Anteil als die Hälfte des meinen?« fragte Horgar. »Weil er hier ist«, gab Nimor zurück. »Nehmt Eure Armee und geht wieder nach Hause, wenn Ihr wollt, Horgar. Aber seht Euch um, ehe Ihr aufbrecht. Wir befinden uns am Lust rum, der Mithral-Mine des Hauses Xorlarrin. Menzoberranzan
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hat die Kontrolle über Dutzende solcher Schätze, und die Bur gen und Schluchten sind mit dem Reichtum von fünftausend Jahren gefüllt. Wenn Ihr nicht kämpft, werdet Ihr keinen Anteil bekommen.« Dies war der andere Grund, warum Nimor das Lustrum als Treffpunkt ausgewählt hatte. Es war ein verlockender Vorge schmack auf die Beute, die sie erwartete. Horgars Blick verfinsterte sich, doch der Duergar wandte sich ab und betrachtete die Kluft und die umliegenden klaf fenden Stollen. Marschall Borwald beugte sich vor und flüster te dem Kronprinzen etwas zu, die anderen Gutsherren tuschel ten untereinander. Nach einem Moment schob er die dicken Daumen unter den Gürtel, dann räusperte er sich. »Nun gut. Unter dem Vorbehalt abschließender Verhand lungen sind wir einverstanden. Wie wollt Ihr die Stadt be zwingen?« »Ihr werdet Menzoberranzan zwischen Euren Armeen auf reiben«, sagte Nimor. »Angesichts Eures Sieges bei den Säulen des Leids werden die Lolthiten Euren Angriff erwarten. Doch wegen dieses Labyrinths aus Gängen rings um die Stadt kann niemand sagen, aus welcher Richtung Ihr angreifen werdet. Das bedeutet, daß die Menzoberranzanyr ihre Armee in der Stadtmitte aufstellen müssen, damit sie sich von dort an den Punkt begeben, an dem die Stadt angegriffen wird. Die Ge knechtete Legion wird für diese Bedrohung sorgen, und sobald wir die Lolthiten in diesen Kampf gelockt haben, wird die Armee aus Gracklstugh den zweiten Angriff starten und in die Stadt vordringen.« »Kein schlechter Plan«, stellte Kaanyr fest. »Doch genau das werden die Menzoberranzanyr unter den momentanen Umständen erwarten. Sie werden sehr vorsichtig sein, ehe sie ihre ganze Kraft einer einzelnen Bedrohung entgegenstellen.«
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»Ja«, meinte Horgar. »Wie wollt Ihr sie in die Falle locken, nachdem sie bei den Säulen des Leids schon einmal in eine Falle gegangen sind?« Nimor lächelte. Es war ihm nicht entgangen, daß Horgar und Kaanyr Vhok mit einem Mal das taktische Problem disku tierten, wie Menzoberranzan zu besiegen war, daß sie aber nicht mehr darüber stritten, welchen Lohn sie für ihre Bemü hungen erwarteten. »Meine Brüder und ich gehen davon aus, daß wir in dieser Hinsicht helfen können«, sagte er. »Wir sind zwar zahlenmä ßig klein, aber wir sind bestens plaziert, und, meine Herren, außerdem scheint Ihr vergessen zu haben, daß wir noch Haus Agrach Dyrr haben.« Prinz Horgar und Kaanyr Vhok nickten und lächelten, als er sie daran erinnerte. Mach dich auf etwas gefaßt, Menzoberranzan, dachte Ni mor. Ich bin auf dem Weg.
»Ich hätte mir im Leben nicht so viele Dämonen vorstellen können«, stöhnte Ryld. Er stützte sich auf Splitter und sah zu, wie eine riesige fledermausähnliche Gestalt kraftlos in die Finsternis trudelte und vergeblich zu fliegen versuchte, nach dem der Zweihänder des Waffenmeisters ihre Flügel zerfetzt hatte. Er richtete sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Es wird immer wärmer. Ich hoffe, wir sind in der Nähe dessen, was wir suchen.« Halisstra und die anderen standen in der Nähe, schwankten wegen Schwindels oder zitterten vor Erschöpfung, da diese Umgebung ihnen alles abverlangte. Es kam ihnen vor, als seien sie schon seit Stunden damit beschäftigt, sich ihren Weg am Faden entlang freizukämpfen. Zeitweise konnten sie über
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viele Kilometer hinweg ungestört absteigen und fanden auf dem Faden allenfalls Leichen vor, doch immer häufiger kamen ihnen Dämonen in die Quere, die sehr lebendig und sehr hungrig waren. Die meisten dieser höllischen Kreaturen stürz ten sich kopfüber in die Schlacht, als seien sie von jeglicher Vernunft verlassen, doch einige von ihnen waren immer noch intelligent genug, ihre magischen Fähigkeiten gegen die Ein dringlinge zum Einsatz zu bringen. Mit Fängen, Klauen, Stacheln und unheiliger Hexerei gei ßelten und bedrängten die Bewohner des Abgrunds der Dämo nennetze die Drow-Gruppe. Zusätzlich erschwert wurde den Drow der Weg dadurch, daß Quenthel Pharaun angewiesen hatte, seine Zauber zu sparen, womit sie jeder neuen dämoni schen Bedrohung nicht mit Magie, sondern mit Stahl begeg nen mußten. »Spart Euch Eure Worte, Meister Argith«, sagte Quenthel, die sich langsam erhob. An ihrer Peitsche klebte das Blut Dut zender Dämonen. »Wir müssen weiter.« Die Gruppe hatte kaum mehr als vierzig Schritt zurückge legt, als ein Schaudern durch den Faden lief. Aus der Tiefe tauchte im nächsten Moment eine unermeßlich große Klau enhand auf. Was sich ihnen von der unteren Seite des Netzes näherte, die sie von ihrer Position aus nicht sehen konnten, war ein gewaltiger Dämon mit dem Kopf eines Büffels und stinkendem, rauhem Fell, das auf Schultern und Rücken wuchs. Er zog sich auf die obere Seite des Fadens empor und brüllte laut. »Ein Goristro!« rief Pharaun. »Was bei allen Höllen hat das Ding hier zu suchen?« »Zweifellos eines von Lolths Schoßtieren, das entkommen ist«, erwiderte Tzirik. Der vhaeraunitische Priester begann, einen Zauber zu into
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nieren, während die anderen zur Tat schritten. Noch ehe das Monster sich aufrichten konnte, hatte ihm Valas drei Pfeile in den Leib gejagt. Die schwarzen Geschosse ragten aus seiner Schulter und seinem Hals wie Nadeln aus einem Nadelkissen. Der Goristro schnaubte vor Wut und Schmerz, und mit einer wuchtigen Klauenhand griff er nach dem Kadaver eines klei nen Spinnendämons und schleuderte ihn auf Valas, den er in dem Moment traf, als der Späher in den Köcher griff, um wei tere Pfeile vorzuholen. Der Aufprall traf ihn so unerwartet, daß er den Halt verlor und seitlich wegrutschte, während er in mehreren Sprachen laute Flüche ausstieß. Ryld stürmte los, Splitter hoch erhoben. Quenthel war an seiner Seite, gleichzeitig versuchten Halisstra und Danifae, die Bestie von einer Seite zu umkreisen, was sich auf dem schma len Faden als schwierig erwies. Tzirik beendete seinen Zauber und stieß ein tiefes, grollen des magisches Wort aus, woraufhin vor dem Torso des Goristro eine große, sich drehende Scheibe Gestalt annahm, deren Rand mit scharfen Klingen besetzt war. Die Scheibe traf das Monster, Blut spritzte, doch es ließ sich davon nicht beeindru cken. »Was ist nötig, um dieses Ding aufzuhalten?« rief Halisstra. »Hat es Schwächen?« »Es ist dumm«, erwiderte Pharaun, »und kaum empfin dungsfähig.« Der Magier gestikulierte und traf das Monster mit einem leuchtend grünen Energiestrahl, der sich in dessen Brust fraß, während Tzirik Ryld und Quenthel folgte, um ihnen gegen den Goristro zu helfen. Der Waffenmeister und die Hohepriesterin schlugen nach dem Rumpf der Kreatur, mußten aber immer wieder den Hieben ihrer gewaltigen Fäuste ausweichen. Quenthel wurde getroffen und landete auf Händen und Knien,
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doch es gelang ihr, ein Stück wegzukriechen, ehe das Monster ihr den Rest geben konnte. »Niiiiiicht duuuuuuuuummm!« brüllte der Goristro. Er hob einen Huf und stampfte mit so unglaublicher Kraft auf den Faden, daß der sich über Kilometer erstreckende Strang in Schwingungen versetzt wurde, als handle es sich bei ihm um ein lebendes Wesen. Die Schockwelle wirbelte alle Drow ein Stück in die Luft, doch der Goristro hatte vergessen, die Folgen seiner Aktion für sich selbst zu bedenken. Der monströse Dämon wurde von den Schwingungen ebenfalls hochgeschleudert und landete auf der Seite, dann rutschte er ab, konnte sich aber mit seiner Klauenhand noch gerade recht zeitig in die Oberfläche des Strangs bohren. Er begann zu zap peln und zu strampeln, machte damit die Bewegungen des Strangs aber nur noch schlimmer. Quenthel raffte sich auf und kroch zu ihm, bis sie sich ne ben seinem gewaltigen Arm befand und ihm ins Gesicht schauen konnte. Dann zog sie ihre Peitsche und hielt sie ihm vor eines seiner Glubschaugen, das sich im nächsten Moment in eine blutige Masse verwandelte. Der Goristro heulte vor Schmerzen auf und zuckte zurück, wobei er den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Sein wütendes Bellen war noch lange zu hören und wurde nur allmählich leiser. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm nachzusehen. Sie wandte sich statt des sen dem Rest der Gruppe zu. »Steht auf«, fauchte sie. »Wir vergeuden Zeit.« Halisstra erhob sich und sah sich um. Valas kam von seiner gefährlichen Position am Rand des Fadens nach oben geklet tert, Danifae stand wieder auf. Sie folgten Quenthel, als die Herrin Arach-Tiniliths sich ungeduldig auf den Weg machte. Halisstra war zu müde, um dieses Tempo noch lange durchzu halten, aber sie fand auch nicht die Kraft für eine Diskussion
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mit der starrsinnigen Priesterin, also biß sie einfach die Zähne zusammen und ließ den Marsch über sich ergehen. Sie hatten fast den Grund erreicht. Seit einer Weile war ihnen aufgefallen, daß die benachbar ten Stränge näher rückten, und nun sah Halisstra auch den Grund dafür. Ein großer Ring aus Netzen, der Dutzende Male dicker war als jeder der grauen Fäden, befand sich unter ihnen. Sein Umfang war so groß, daß Halisstra kaum eine Krümmung in dem immensen Ring ausmachen konnte. In seiner Mitte befand sich ... etwas – ein unglaublich gewaltiges Objekt, eine Art Insel oder etwas Ähnliches, hing mitten in dem riesigen Netz. Die Drow blieben stehen und betrachteten die Szene, bis Valas Hune die Stille brach. »Ist es das?« flüsterte er. »Der Eingang zu Lolths Domäne«, antwortete Tzirik, »liegt irgendwo in diesem Ring.« »Seid Ihr sicher?« fragte Ryld. »Ja«, antwortete Quenthel anstelle des Priesters. Sie sah nicht zur Seite, sie zögerte nicht, sondern ging im gleichen unerbittlichen Tempo weiter. Als der Faden sich dem Mittelring näherte, ließ das Gefälle allmählich nach, und er wurde auch ein wenig breiter. Zum ersten Mal seit ungezählten Stunden und Kilometern bewegte sich die Gruppe wieder auf einem ebenen Untergrund, anstatt sich an dem steilen Strang nach unten zu begeben. Noch mehr Leichen von Dämonen und Spinnen kamen in Sicht, manche von ihnen halb in dem Strang begraben, als seien sie aus der grenzenlosen Höhe herabgestürzt – was wahrscheinlich auch der Fall war. Die Reisenden erreichten den gewaltigen Ring und über querten einen weiteren Abschnitt aus wirren Netzen, dann stellten sie fest, daß das Objekt im Ring eine Art immens gro
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ßer Steintempel war – ein barockes Gebäude aus glänzendem schwarzem Obsidian, das einen Durchmesser von vielen Kilo metern hatte. Mit Spitzen versehene steinerne Strebepfeiler überspannten den endlos tiefen Raum und verbanden das Bauwerk mit dem Ring. Weitläufige schwarze Plätze aus glat tem Stein, die groß genug waren, um ganze Städte zu verschlu cken, umgaben den Tempel von allen Seiten. Wortlos machte sich die Gruppe auf den Weg zu einem der kolossalen fliegen den Pfeiler, um weiter dem Ziel entgegenzustreben. Halisstra zitterte, aber nicht vor Erschöpfung, sondern vor Angst und Ekstase, da ihr klar war, daß sie sich schon bald leibhaftig dem prüfenden Blick Lolths würde aussetzen müssen. Ich bin würdig, sagte sie sich. Ich muß es sein. Die Dämonen, die sie auf dem Weg hierher geplagt hatten, schienen sich nicht um den schwarzen Tempel zu kümmern. Zumindest folgte ihnen keiner von ihnen, als sie das Netz hinter sich ließen. Lange Zeit marschierten die Drow einfach nur weiter, überquerten den immensen Vorplatz, während die Tempelmauern näher und näher kamen und ihre finsteren Details erkennbar wurden. Quenthel orientierte sich bei ihrem Marsch an einem schar fen Bruch in der megalithischen Mauer, einer gewaltigen Spal te, die der Säulengang des Tempels gewesen sein mußte. Von Zeit zu Zeit kamen sie an sonderbaren, leblosen Gestalten großer, spinnenartiger Wesen vorbei, die aus flüssigem schwar zen Stein geschaffen zu sein schienen. Sonderbarerweise wur den diese erstarrten Formen um so kleiner, je näher sie der Spalte kamen. Halisstra verwarf es, über dieses Geheimnis nachzudenken, statt dessen konzentrierte sie sich auf das Ziel, das vor ihnen lag. Dann endlich hatten sie die Öffnung im Tempel erreicht und sahen hinauf zu dem gewaltigen Eingang. Ein Gesicht von
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unglaublicher Größe starrte sie an, das Gesicht einer grausam schönen Drow, deren Gesichtszüge Ruhe ausstrahlten, als sei sie in Gedanken versunken. Vollkommen glatter Stein ver sperrte den Eingang von einer Seite bis zur anderen, in ihn war das Gesicht Lolths gehauen. Allein ihre halb geschlossenen Augen, die mit leerem Blick auf die winzigen Verehrer vor ihr herabsahen, kündeten von Leben. In Lolths Augen glänzte eine kochende, höllische Schadenfreude, die gänzlich auf die Gedanken oder Prozesse ausgerichtet war, die sich hinter ih nen abspielten. Die Gruppe stand da und blickte verwundert und entsetzt zugleich nach oben. Quenthel warf sich vor dem Abbild Lolths zu Boden. Halisstra und Danifae schlossen sich ihr sofort an und knieten auf dem kalten schwarzen Stein. Selbst die Män ner gingen auf die Knie, legten das Gesicht auf den Boden und wandten den Blick ab. Tzirik als Priester Vhaerauns ließ sich dazu herab, auf ein Knie niederzugehen und respektvoll den Blick zu senken. Er diente Lolth nicht, doch er und andere seines Glaubens erkannten trotzdem ihre Göttlichkeit an. »Königin!« rief Quenthel. »Wir sind aus Menzoberranzan gekommen, um dich anzuflehen, deinen Priesterinnen wieder deine Gunst zu erweisen! Unsere Feinde nähern sich Menzo berranzan und drohen deinen Getreuen, sie zu vernichten. Wir bitten dich demütig, uns anzuweisen, was wir tun müssen, um wieder deine Gunst zu erlangen. Gib uns wieder deine heilige Macht, dann werden wir deine Feinde jagen, bis ihr Blut das Unterreich und ihre Seelen deinen Leib füllen!« Das Gesicht reagierte nicht. Quenthel wartete lange Zeit, immer noch am Boden lie gend, dann benetzte sie ihre Lippen und sprach ein weiteres Gebet. Halisstra und Danifae stimmten in ihre Fürbitten mit ein, und gemeinsam sprachen sie jedes Gebet, jede Beschwö
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rung und jede Litanei, die sie kannten, während sie vor der Tempeltür zu Boden krochen. Die Männer verharrten einfach nur in ihrer unterwürfigen Position. Nach einiger Zeit entfern te sich Tzirik ein Stück und setzte sich von dem Gesicht abge wandt hin, um mit Vhaeraun zu sprechen. Halisstra ignorierte ihn und widmete sich ihren Gebeten. Nach wie vor kam keine Reaktion. Nachdem sie einige Stunden mit Beten zugebracht hatten, stand Quenthel schließlich auf und sah in Lolths Gesicht. »Es reicht, Schwestern«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths. »Die Göttin ist im Moment nicht gewillt, uns zu antworten.« »Vielleicht ist dies der falsche Ort«, wandte Pharaun ein. »Vielleicht müssen wir uns an eine andere Stelle begeben, um zu beten.« »Es gibt keinen anderen Ort«, sagte Tzirik, der sich wieder der Gruppe anschloß. »Vhaeraun läßt mich wissen, daß dies der einzige Punkt ist, an dem man vom Abyss aus in Lolths Reich vordringen kann. Wenn sie Euch hier nicht anhören will, dann auch nirgendwo anders.« »Aber warum ignoriert sie uns weiter?« klagte Halisstra. Sie stand auf, ihr Herz schwer vor Sehnsucht. Nach allem, was geschehen war – der Untergang ihres Hauses, die Vernichtung ihrer Stadt, die Strapazen dieser Reise –, konnte sie nicht ver stehen, warum sie jetzt vor Lolths Tempel standen und igno riert wurden. »Was sollen wir noch tun?« Tzirik zuckte die Achseln. »Diese Frage kann ich nicht be antworten.« »Lolth auch nicht«, gab Halisstra zurück. Sie ignorierte den Ungemach und die Angst, die sich auf Quenthels Miene abzeichnete, und trat vor, bis sie nur noch eine Armlänge von dem riesigen Gesicht entfernt war. »Hörst du mich?« schrie sie. »Antworte! Was haben wir ge
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tan, daß du uns mit Mißachtung strafst? Wo bist du?« »Sprecht mit Respekt!« zischte Quenthel, die vor Entsetzen die Augen aufgerissen hatte. Ryld zögerte, fand aber die Kraft, einige Schritte vorzutre ten. »Herrin Melarn ...«, sagte er. »Halisstra. Es ist nicht ...« »Lolth!« schrie Halisstra lauthals. »Antworte mir, ver dammt!« Mit den Fäusten schlug sie auf das Gesicht aus kaltem Stein ein, ihr Verstand wurde von einer animalischen Wut ver drängt, die drohte, ihr jegliche Vernunft zu rauben. Sie schleu derte Lolth Flüche entgegen, sie schlug auf das desinteressierte Gesicht ein, bis ihre Hände blutig waren, aber noch immer kam keine Antwort. Nach einer Weile fand sie sich an den kalten Stein gekauert wieder, heulend, die Hände gebrochen und nutzlos. Wie ein verirrtes Kind heulte sie, weil ihr Herz so wehtat. »Warum? Warum?« stieß sie zwischen jedem Schluchzer aus, der ihr über die Lippen kam. »Warum hast du uns versto ßen? Warum?« »Ihr sprecht ketzerische Worte«, sagte Quenthel mit einer Stimme, die vor Mißbilligung schroff war. »Habt Ihr keinen Glauben mehr, Halisstra Melarn? Die Göttin wird sprechen, wenn sie die Zeit für gekommen hält.« »Glaubt Ihr wirklich noch daran?« murmelte Halisstra. Sie wandte sich ab und ließ den Tränen freien Lauf, da es sie nicht mehr kümmerte, was Quenthel, Danifae oder einer der anderen von ihr hielten. Sie wollte von Lolth eine Ant wort. »Schwach«, hörte sie Quenthel flüstern. Tzirik, der ein Stück von der Gruppe entfernt stand, seufzte und sprach: »Das dürfte es wohl gewesen sein. Lolth hat sich
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nicht entschlossen, für Euch ihr Schweigen zu brechen. Nun gibt es etwas, das ich tun muß.« Er hob die Arme und beschrieb eine komplexe Abfolge von Gesten, während er Worte der Macht sprach. Die Luft knister te vor Energie. Als Quenthel den Zauber erkannte, den der Anhänger Vhaerauns sprach, riß sie entsetzt die Augen auf. »Haltet ihn auf!« kreischte sie und wirbelte zu dem Priester herum. Sie wollte loseilen und hob ihre todbringende Peitsche, doch Danifae packte ihren Arm, als sie an ihr vorbeistürmen wollte. »Vorsicht!« zischte sie. »Unsere Körper sind immer noch in der Minauth-Feste.« »Er öffnet ein Tor!« herrschte Quenthel sie an. »Hier!« »Was tut Ihr da, Tzirik?« rief Pharaun beunruhigt. Der Magier wich zurück und setzte zu einem Verteidigungs zauber an, doch Danifaes Warnung genügte, um ihn zögern zu lassen, ehe er eingriff. Ryld und Valas hielten sich auch zurück, da sie nicht sicher waren, was geschehen würde, wenn dem Kleriker etwas zustieß, dessen Zauber sie zu Lolth gebracht hatte. Der Waffenmeister und der Söldner zogen zwar blank, schritten aber nicht ein. »Pharaun, was sollen wir tun?« rief Ryld. Ehe der Magier antworten konnte, hatte Tzirik seinen Zau ber gewirkt. Von einem durchdringenden, reißenden und zer renden Geräusch begleitet entstand neben dem Jaelre-Priester mitten in der Luft ein großer schwarzer Riß. »Ich bin hier, Herr!« rief er in den Riß. »Ich stehe vor Lolths Gesicht.« Aus den Untiefen der Schwärze dieses Risses ertönte eine Stimme unauslöschlicher Macht und schrecklicher Stärke: »Ich komme.«
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Die Schwärze schien sich zu regen, und aus dem Riß trat etwas von der Größe und Statur eines schlanken, eleganten Drow, der aber mehr war, als er zu sein schien. Er war in schwarzes Leder gekleidet, das Gesicht war von einer purpur nen Maske verdeckt, seine ganze Gestalt schien förmlich vor jener Kraft zu erzittern, die sie in sich barg. Selbst Halisstra, die mit dem Rücken zu dieser Szene saß und in ihr eigenes Leid versunken war, riß den Kopf herum, als sie die Ankunft dieses Wesens spürte. Mit gebieterischer Gelassenheit betrachtete das Wesen die Ebene aus dunklem Stein und den schwarzen Tempel. »Es ist, wie ich es mir dachte«, sagte er zu Tzirik, der vor ihm zu Boden gesunken war. »Erhebe dich, Sohn. Du hast gute Arbeit geleistet und mich an einen Ort gebracht, von dem ich ausgeschlos sen war.« »Ich tat, was mir aufgetragen war, Maskierter Gott«, erwi derte Tzirik und erhob sich. »Tzirik«, brachte Quenthel mit erstickter Stimme heraus. »Was habt Ihr getan?« »Er hat mir ein Tor geöffnet«, sagte das Wesen, das nur ein Gott sein konnte, mit einem grausamen Lächeln. »Erkennst du nicht den Sohn deiner Göttin, Priesterin Lolths?« »Vhaeraun«, keuchte Quenthel. Der Gott verschränkte seine Arme und schwebte an der Gruppe der Menzoberranzanyr vorüber zu dem steinernen Gesicht, ohne noch einen Gedanken an die Sterblichen zu verschwenden. Mit der Linken machte er eine knappe Geste, woraufhin die noch immer zusammengekauerte Halisstra brutal zur Seite geschleudert wurde. Sie wirbelte durch die Luft und schlug mindestens dreißig Schritt weiter auf dem glatten schwarzen Stein auf, auf dem sie noch ein Stück weit rutschte. »Mutter«, sagte Vhaeraun zu dem Gesicht. »Es war dumm
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von dir, dich in einen solchen Zustand zu bringen.« Spontan begann der Gott zu wachsen, und je größer er wur de, desto intensiver wurde das Strahlen, das ihn umgab. Er übertraf schnell einen Sturmriesen an Größe, aber das genügte offenbar noch nicht für die Aufgabe, die vor ihm lag. Er streck te seine Hand aus, und aus dem Nichts nahm in ihr ein schwarzglänzendes Schattenschwert Gestalt an, das zu seiner gewaltigen Größe paßte. Einen Speerwurf weit entfernt stöhnte Halisstra auf und hob den Blick von dem kalten Stein, auf dem sie lag. Die Men zoberranzanyr standen vor Unentschlossenheit wie gelähmt da, während Tzirik überheblich grinsend zusah, wie Vhaeraun sich in die Luft erhob, bis er Lolth direkt in die Augen sehen konn te. Langsam holte der Maskierte Gott mit seinem Schatten schwert aus, seine Maske war von Haß verzerrt ... und dann schlug Vhaeraun mit all seiner göttlichen Macht auf Lolths Gesicht ein. Das Geräusch von Vhaerauns Schwert, das gegen die riesige steinerne Barriere hämmerte, erschütterte die gesamte Ebene. Jeder Hieb ließ den großen schwarzen Tempel im Zentrum des Netzes erzittern, als bebe die Erde. Vom Mittelpunkt aus setz ten sich die Schwingungen über die gewaltigen grauen Stränge fort, die bis in die endlose Nacht ringsum reichten. Obwohl sie bei jedem Schlag wieder auf den kalten Steinboden fiel, schaff te es Halisstra, sich zu den anderen Menzoberranzanyr zu bege ben, die so wie sie selbst hin und her taumelten und versuch ten, sich angesichts von Vhaerauns Attacke auf den Beinen zu halten. Tzirik stand daneben, immer noch versonnen lächelnd, weil sein Gott zu ihm gekommen war. Irgendwie gelang es ihm, den Schaden zu ignorieren, den der Maskierte Gott anrichtete, da die Schockwellen ihm überhaupt nichts ausmachten. Mit
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jedem Treffer schien sich das winzige Geflecht aus leuchtend grünen Rissen im Gesicht Lolths ein wenig mehr auszuweiten. Trotz der unermeßlichen Gewalt eines jeden Schlages mit der Klinge des Gottes wirkte Lolths Antlitz fast unverwundbar – fast, aber doch nicht völlig. Lolth reagiert nicht, dachte Halisstra fassungslos. Es küm mert sie nicht. Sie fiel auf Hände und Knie und befand sich inmitten der Gruppe ihrer Gefährten, die von ihr nichts wahrnahmen, sondern selbst nur sprachlos Vhaerauns haßerfüllte Attacke mit ansahen. Ryld kniete neben Splitter, hatte den Blick ab gewandt und ließ in stoischer Ruhe einen Schlag nach dem anderen über sich ergehen. Valas tänzelte erregt umher und ruderte mit Armen und Beinen wie eine Spinne, die von einer Nadel durchbohrt worden war. Der Späher wußte nicht, ob er zusehen, fliehen oder sich verstecken sollte und schien zu ver suchen, alles gleichzeitig zu tun. Pharaun schwebte ein kleines Stück über dem Boden, um sich vor den Erschütterungen zu schützen, und er hatte sich mit irgendeinem Zauber abge schirmt, während er von seinen Gefährten zu Vhaeraun, dann zu Tzirik und schließlich zurück zu dem Gott sah. Danifae kauerte in seiner Nähe und schaffte es fast anmutig, sich auf den Beinen zu halten, während sie jeden Schlag beobachtete. Quenthel stand stocksteif da, wurde von jeder Erschütterung durchgerüttelt und hatte ihre Arme so eng um sich gelegt, als wolle sie ihre Pein in Schach halten. Sie verfolgte das Ge schehen mit einer kranken Faszination, unfähig, einzugreifen. Dann endlich löste sich Pharaun aus seiner Unentschlos senheit, ließ sich zu Quenthel treiben und faßte sie am Arm. »Was geschieht hier?« brüllte der Magier ihr ins Ohr. »Was tut er da?« Quenthel preßte frustriert die Kiefer zusammen.
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»Ich weiß nicht«, räumte sie ein. »Hier stimmt etwas nicht. Es ist falsch, hier sind keine Seelen.« »Was für Seelen?« fragte der Magier. »Sollen wir eingrei fen?« Ryld und Valas Hune sahen gleichzeitig erschrocken auf. »Er ist ein Gott«, brachte Ryld heraus und übertönte den ohrenbetäubenden Lärm. »Was schlägst du vor?« »Na gut. Aber bleiben wir und sehen weiter zu oder gehen wir? Das hier scheint kein sicherer Aufenthaltsort zu sein«, erwiderte Pharaun. Eine weitere Schockwelle traf die Gruppe, Pharauns Schutz schild flammte hell auf. »Ich bin nicht sicher, ob wir gehen können, selbst wenn wir es wollen«, hielt Ryld dagegen. Er sah zu Tzirik, der dem Gan zen mit finsterem Vergnügen zuzusehen schien. »Brauchen wir ihn nicht?« »Sollten wir gehen, auch wenn wir uns selbst damit retten?« fügte Valas Hune an. »Man dürfte uns ... das hier ... vorwer fen.« Der Späher schirmte die Augen ab, um nicht Vhaerauns Treiben weiter zusehen zu müssen. »Was, wenn er in den Tempel gelangt, Herrin? Ist Lolth dort?« Quenthel stieß einen Verzweiflungsschrei aus. Danifae fiel Quenthel zu Füßen und fragte: »Herrin, wart Ihr schon einmal hier?« »Ich weiß es nicht!« brüllte die Herrin Arach-Tiniliths. Sie entriß Pharaun ihren Arm und rannte zu Tzirik, wobei ihr immer wieder der Boden unter den Füßen förmlich wegge zogen wurde. Sie zerrte ihn weg vom Tempel und holte ihn abrupt aus seiner finsteren Bewunderung für Vhaeraun. Mit beiden Händen faßte sie den Brustpanzer seiner Rüstung. »Was tut er da?« wollte sie wissen. »Was habt Ihr angerich tet?«
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Tzirik blinzelte und schüttelte den Kopf, die Augen hinter seiner Maske waren noch vom Glanz seiner Vision erfüllt. »Wißt Ihr nicht, was Ihr da mit anseht, Priesterin von Lolth?« lachte Tzirik lauthals. »Ihr habt das seltene Glück, bei der Vernichtung Eurer Göttin anwesend zu sein!« Er löste Quenthels Hände von seiner Rüstung und trat einen Schritt zurück, während seine Stimme vor Schadenfreude höher wur de: »Ihr wollt wissen, was hier vorgeht, Lolthitin? Ich will es Euch sagen. Der Maskierte Gott wird Eure Spinnenkönigin vom Thron stürzen und ihrer schwarzen Tyrannei für immer ein Ende setzen! Unser Volk wird endlich von ihrem schädli chen Einfluß befreit werden, und Ihr und der Rest Eurer parasi tären Art werdet mit ihr weggespült werden!« Quenthel knurrte ihn zornig an: »Ihr werdet nicht lange genug leben, um das mit anzusehen!« Sie holte mit ihrer Peitsche aus, um das triumphierende Grinsen von Tziriks Gesicht zu prügeln. Doch noch ehe sie den Arm nach vorn bewegen konnte, machte Vhaeraun – der einen Pfeilschuß weit entfernt war und mit dem Rücken zu der Gruppe stand, während er unablässig auf den immer größer werdenden Riß im steinernen Gesicht einschlug – mit der linken Hand eine knappe Geste, ohne sich von dem Tor ab zuwenden. Unter Quenthels Füßen schoß eine Säule schwarzer Magma in die Höhe, die sie mehrere Meter in die Luft wirbel te. Tzirik, der fast in Reichweite stand, blieb unversehrt, wo hingegen die Drow in alle Richtungen davoneilten, um dem Aufprall der großen heißen Brocken aus geschmolzenem Ge stein aus dem Weg zu gehen. Vhaeraun wurde währenddessen in seinem hämmernden Rhythmus nicht für einen Moment langsamer. Er holte immer wieder aus, während Quenthel hinter ihm auf dem Pflaster des Platzes aufschlug und laut schrie, da Stücke des infernalischen
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Gesteins an ihrer Haut klebten und sich ins Fleisch brannten. Valas Hune und Ryld eilten ihr zu Hilfe. Danifae zuckte zu sammen, konnte ihren Blick aber nicht von Vhaeraun abwen den, der in seinem zerstörerischen Bemühen nicht für einen Moment nachließ. Pharaun betrachtete kopfschüttelnd die Szene und murmel te: »Wahnsinn.« Mit der Hand beschrieb er eine sonderbare Geste und ver schwand, vermutlich, um sich an einen Ort zu teleportieren, der sicherer war als dieser. Halisstra sah ihn verschwinden und starrte einen Moment lang auf die leere Stelle, ehe ein weite rer Treffer von Vhaerauns Schwert sie zu Boden warf. Ge schlagen lag sie da, während ein Stück weiter Quenthel vor Schmerz schrie und um sich schlug. »Ah«, hauchte Vhaeraun. Der Gott trat von dem Gesicht zurück, das durch eine leuchtend grüne Narbe gespalten war, die von der Mitte der Stirn über den Nasenrücken bis zum Kinn verlief. »Hast du noch immer nichts zu sagen? Willst du schweigend sterben?« Das Gesicht blieb reglos, das wirbelnde Licht in den nach innen gerichteten Augen war unverändert, doch wieder schien etwas von einem schrecklichen Geräusch begleitet an der Struktur des Kosmos zu reißen. In der Luft nahe dem Gesicht entstand eine weitere schwarze Öffnung, aus der ebenfalls eine göttliche Gestalt hervortrat. Während Vhaeraun schlank und anmutig war, besaß der Neuankömmling ein alptraumhaftes Aussehen. Er war halb Spinne, halb Drow und hielt in seinen sechs sehr muskulösen Armen schlagbereit ein ganzes Waffenarsenal an Schwertern und Streitkolben. Jedes der chitinartigen Beine lief in eine gefährliche scherenartige Klaue aus, nur sein Gesicht war per verserweise das eines attraktiven Drow.
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»Geh, Maskierter«, befahl der Spinnengott mit gequälter, brummelnder Stimme. »Es ist dir verboten, hier einzudringen.« »Wage es nicht, dich zwischen mich und meine Bestim mung zu stellen, Selvetarm!« Der monströse Spinnengott Selvetarm wartete nicht länger, sondern schoß mit atemberaubender Geschwindigkeit vor, wirbelte alle seine Klingen in einer Angriffswelle, die inner halb von zwei Herzschlägen ein Dutzend Giganten hätte ver stümmeln können. Vhaeraun wirbelte zur Seite und tänzelte durch den Sturm aus stählernen Klingen, als würde er Selvetarms Waffen nach jagen, nicht umgekehrt. Schläge, denen er nicht ausweichen wollte, blockte er einfach ab und parierte sie mit himmlischer Eleganz. Als die Waffen der Götter aufeinanderprallten, wurde der Grund von Donnerschlägen erschüttert. Halisstra stemmte sich hoch und beobachtete erstaunt, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie hätte die Szene unendlich lange beobachten können, doch Ryld tauchte neben ihr auf. »Wir brauchen Eure heilenden Gesänge«, zischte er. »Quenthel hat schwere Verbrennungen.« Was macht das noch? fragte sich Halisstra. Dennoch erhob sie sich und bahnte sich den Weg zu der ge stürzten Priesterin. Quenthel wand sich auf dem Boden und stieß gequält den Atem aus, während sie erfolglos versuchte, den Schmerz zu kontrollieren. Ohne von dem unglaublichen Duell Notiz zu nehmen, das zwischen den beiden Göttern hin und her ging, konzentrierte sich Halisstra auf die Verletzungen der Baenre und schaffte es, zu einem Bae’qeshel-Lied anzuset zen. Sie legte ihre Hände auf Quenthels Verbrennungen und wirkte ihren Zauber, so gut sie konnte, während sie feststellte, daß die Ausübung ihres Talents sie für einen Moment zur Ru he kommen ließ. Quenthel hörte auf, um sich zu schlagen, und
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öffnete die Augen. Da sie ihren Zauber gewirkt hatte, ließ Halisstra sich einfach wieder fallen und starrte zu den kämp fenden Göttern. »Was sollen wir tun?« flüsterte sie. »Was können wir tun?« »Ausharren«, erwiderte Ryld. Er legte die Hand in stähler nem Griff um ihren Arm und sah ihr tief in die Augen. »War tet und seht. Etwas wird geschehen.« Auch er sah wieder zu Vhaeraun und Selvetarm. Valas erhob sich neben Quenthel und ging gebückt, um seine Balance zu wahren, zu Tzirik. »Tzirik! Was geschieht mit diesem Ort, mit uns, wenn Vhaeraun Selvetarm besiegt und das Gesicht zerstört? Könnt Ihr uns fortbringen?« »Was mit uns geschieht, ist ohne Bedeutung«, gab der Priester zurück. »Vielleicht für Euch, aber für mich ist es von großer Bedeu tung«, murmelte Valas Hune. »Habt Ihr uns hergebracht, damit wir hier sterben?« »Ich habe Euch nicht hergebracht, sondern Ihr mich«, kor rigierte der Priester, schenkte Valas aber kaum Aufmerksam keit. »Niemand außer den Priesterinnen der Spinnenkönigin könnte so nah an ihren Tempel herankommen, nicht einmal der Maskierte Gott. Was geschehen wird, wenn Vhaeraun Selvetarm besiegt, das werden wir ja sehen.« Er konzentrierte sich wieder auf die sich duellierenden Göt ter. Der Maskierte Gott und der Kämpe Lolths kämpften wie besessen. Schleim trat aus etlichen schwarzen Wunden aus dem Chitinkörper der Halbspinne, und schwarzer Schatten strömte aus einer Handvoll Schwertwunden, die dem elegan ten Vhaeraun zugefügt worden waren. Während die Götter einander auf der materiellen Ebene bekämpften und mit
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schwindelerregender Geschwindigkeit aufeinander einschlu gen, attackierten sie einander gleichzeitig auch magisch und psychisch. Sie schleuderten Zauber von entsetzlicher Macht aufeinander, die tödlicher waren als Selvetarms sechs wirbeln de Klingen. Die Blicke waren in einem unglaublichen Wil lenskampf aufeinander gerichtet, dessen Gewalt an dem zerrte, was Halisstra noch von ihrem Verstand geblieben war, die hundert Schritt weit entfernt war. Schläge, die ihr Ziel ver fehlten, und abgewehrte Zauber sorgten rings um die Gotthei ten für verheerende Schäden. In der Mauer und in den Pflas tersteinen auf dem Platz klafften tiefe Krater, und mehr als einmal wären die sterblichen Zuschauer um ein Haar ausge löscht worden. »Hinterhältiger Schakal!« zischte Selvetarm. »Dein Verrat wird bestraft werden!« »Einfältiger Tor. Natürlich nicht!« gab Vhaeraun zurück. Er machte einen Satz zwischen Selvetarms wirbelnde Klin gen und stach mit seinem Schattenschwert nach dem knollen förmigen Unterleib des Spinnengottes. Der Kämpe Lolths kreischte und zuckte zurück, doch im nächsten Moment be kam er Vhaerauns Knöchel mit einer seiner Scheren zu fassen und warf den Gott zu Boden. Wieselflink ließ er einen Hagel tödlicher Schläge auf den Maskierten Gott niederregnen. Vhaeraun reagierte, indem er einen gewaltigen Schlag mit brennender Schattenmasse führte, der aus einer unglaublichen Höhe herabstürzte und beide Götter in schwarzes Feuer tauch te. Selvetarm brüllte von göttlichem Zorn erfüllt laut auf und schlug immer wieder auf Vhaeraun ein. Ein entsetzliches, knirschendes Geräusch ertönte, das Halis stra und den anderen bis in die Knochen fuhr, dann zerfiel der Platz unter den Kämpfenden. Die beiden Götter waren noch immer in ihren wilden Kampf verstrickt, während sie durch die
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große Tempelinsel fielen und in das schwarze Nichts stürzten. Irgendwo in der Tiefe war noch ein Flackern und Aufblitzen zu sehen. Minutenlang reagierten die Drow überhaupt nicht, außer daß sie aufstanden. Doch sie sagten nichts, während Tzirik die Arme verschränkte und einfach wartete. »Haben sie einander vernichtet?« fragte Valas Hune schließlich. »Das bezweifle ich«, entgegnete Danifae. Nachdenklich betrachtete sie den leuchtend grünen Riß, der Lolths Gesicht spaltete, doch weiter sagte sie nichts. »Wenn Lolth schon nicht auf Vhaerauns Angriff reagiert hat, dann glaube ich kaum, daß sie uns jetzt etwas zu sagen hat«, meinte Ryld. »Wir sollten verschwinden.« Der Waffenmeister wandte sich zu Tzirik um, da er ihn an sprechen wollte, doch der Jaelre-Priester stand da wie gebannt und starrte ins Nichts, während sich Bewunderung auf seiner Miene zeigte. »Ja, Herr«, flüsterte er zu niemandem. »Ich gehorche!« Noch als Ryld zu ihm trat, um den Priester zu fragen, mach te der eine Geste und sprach ein unheiliges Gebet. Ein wir belndes Feld aus Tausenden rasiermesserscharfer Klingen entstand rings um ihn und verbarg Tzirik hinter einer zylindri schen Wand aus todbringendem Metall. Ryld stieß einen Fluch aus und sprang zurück, um nicht mit den Klingen in Berührung zu kommen. Tzirik ignorierte Ryld und widmete sich weiter der Aufgabe, die Vhaeraun ihm offenbar aufgetragen hatte. Mit linkischen Fingerbewegungen zog der Kleriker ein Kästchen aus seinem Gürtel und holte eine Schriftrolle heraus, rollte das Pergament auseinander und las laut die Worte eines weiteren mächtigen Zaubers ab, während seine tödliche Barriere ihn weiterhin vor den Menzoberranzanyr schützte.
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Halisstra sah überrascht zu ihm und versuchte herauszufin den, welchen Zauber der Priester wirkte. Es fiel ihr ausgespro chen schwer, sich noch um irgend etwas zu kümmern. Während sich Halisstra apathisch und verzweifelt zugleich zu Boden sinken ließ, war in Quenthel wieder der Kampfgeist erwacht. Sie richtete sich auf und griff nach ihrer Peitsche. »Ein weiteres Tor!« schrie sie. »Er darf diesen Zauber nicht vollenden!«
Einige hundert Schritt entfernt, getarnt von Finsternis und wabernden Dämpfen, saß Pharaun im Schneidersitz auf dem harten Stein und arbeitete daran, seinen Zauber fertigzustellen. Er hatte beobachtet, wie die beiden Götter mitten im Kampf aus seinem Blickfeld verschwunden waren, aber er verfolgte einen Plan und beabsichtigte nicht, auf halber Strecke aufzu hören. Der Verständigungszauber konnte nicht schnell gewirkt werden, und wenn er sich zu sehr beeilte, würde er ihm nur mißlingen. In dem Teil seines Verstands, der nicht vollends damit beschäftigt war, die Magie zu formen, fragte er sich be sorgt, ob das Allwissen der Götter sich auch darauf erstreckte, seine Gegenwart wahrzunehmen und darüber hinaus zu erken nen, daß er einen Zauber wirkte und warum er das tat – und ob sie sich dazu herablassen würden, ihn aufzuhaken. Soweit er das beurteilen konnte, waren Vhaeraun und Selvetarm so mit ihrem wütenden Kampf beschäftigt, daß sie wohl kaum auf ihn achten würden. Er vervollständigte den Zauber und flüsterte die Botschaft, die ihn für ihn durch die unberechenbaren Weiten der Dimen sionen und des Raums befördern würde. »Wir sind in Lebensge fahr. Vernichte sofort Tziriks stofflichen Leib. Wir werden zu rückkehren, aber bewache uns bis dahin. Quenthel befiehlt es.«
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Pharaun stand seufzend auf. Er schaute nachdenklich drein. Das Senden war normalerweise eine zuverlässige Methode, doch er konnte nicht sagen, welchen Effekt es haben würde, es von einer anderen Ebene aus zu versuchen. Ebenso vermochte er nicht zu sagen, wie lange es dauern würde, bis die Worte Jeggred in der Minauth-Feste erreichten – oder ob der Draegloth überhaupt tun würde, was ihm aufgetragen wurde, selbst wenn es in Quenthels Name geschehen sollte. Abgese hen davon war ja nicht einmal bekannt, ob der verfluchte Halbdämon noch lebte und in der Lage war, den Hohepriester zu töten. Der Meister Sorceres hatte eine gute Vorstellung davon, was zu erwarten war, wenn alles verlief, wie er es sich erhoffte. Es war nur eine Frage der Zeit, und davon hatten sie bedenk lich wenig. »Das wäre jetzt kein guter Zeitpunkt, um obstinat zu wer den, Jeggred«, murmelte Pharaun, obwohl er seine Nachricht längst geschickt hatte. »Handle dieses eine Mal bitte, ohne erst Fragen zu stellen.« Behutsam machte er sich auf den Rückweg zu dem Riß in der massiven Mauer des Tempels.
Umgeben von seiner Mauer aus Klingen stand Tzirik neben dem Rest der Gruppe und las rasch und kundig den Text von der Schriftrolle ab. Er machte sich nicht die Mühe, den Men zoberranzanyr zu erklären, was Vhaeraun ihm aufgetragen hatte und warum er das tat. Er fuhr einfach fort, als seien sie gar nicht da, auch wenn er mit der Barriere aus Klingen eine Vorkehrung getroffen hatte, damit sie ihn nicht stören konn ten. Ryld und Valas standen vor der Wand aus umherwirbeln
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den Klingen und sahen hilflos mit an, wie der Priester unbeirrt weitermachte. Danifae und Quenthel waren weiter entfernt, doch auch sie wußten keinen Rat. Die Entschlossenheit, etwas zu tun, stand im krassen Gegensatz zu ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, was sie unternehmen sollten. Halisstra stand da und beobachtete die Szene, doch sie wartete einfach, in wel cher Form sie ihr eigenes Ende ereilen würde. »Tzirik, hört auf!« rief Valas Hune. »Ihr habt uns heute schon genug in Gefahr gebracht, wir werden nicht zulassen, daß Ihr damit weitermacht.« »Tötet ihn, Valas«, sagte Danifae. »Er wird nicht auf uns hören, und er wird auch nicht aufhören.« Der Späher stand wie gelähmt da, während der Gesang des Priesters sich den letzten, triumphalen Noten näherte. Er ließ geschlagen die Schultern sinken, dann riß er ohne Vorwar nung den Bogen hoch und schoß. Der erste Pfeil wurde von einer wirbelnden Klinge abge lenkt, doch der zweite kam durch und durchbohrte Tziriks Hand. Der Priester schrie vor Schmerz auf und ließ die Schrift rolle los, die unverbraucht zu Boden fiel. Der Jaelre wirbelte zu Valas Hune herum, Haß brannte in seinen Augen, die durch seinen Helm hindurch zu sehen wa ren. »Seid Ihr noch immer der Laufbursche der Weibsbilder, Valas Hune? Seht Ihr nicht, daß Ihr für sie nur ein wohlerzo gener Hund seid? Warum beharrt Ihr darauf, weiter der Spin nenkönigin treu zu sein, wenn Ihr den Maskierten Gott anbe ten und wahre Freiheit erfahren könnt?« »Lolth tut, was sie will«, antwortete Valas. »Ich dagegen bin Bregan D’aerthe treu, und meiner Stadt. Wir können nicht zulassen, daß Ihr oder Euer Gott uns von unserer Suche ab bringt.« Tziriks Miene verfinsterte sich. »Ihr und Eure Gefährten
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werdet Euch Vhaeraun nicht widersetzen. Das werde ich nicht zulassen.« Er hockte sich hin und hob seinen Schild, während er die Worte eines anderen göttlichen Zaubers knurrte. Valas Hune schoß wieder, doch diesmal prallten seine Pfeile vom Schild ab. Tzirik vollendete seinen Zauber und preßte die verwundete Hand auf den Boden. Ein gewaltiges Zittern ging durch den Stein und erreichte die Menzoberranzanyr, die wie Marionet ten umhergeworfen wurden, in der Ebene aus schwarzem Stein bildeten sich große Risse, die in die absolute Schwärze darun ter führten. Valas taumelte vor und zurück, während er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, obwohl die Steine unter ihm barsten und sich aufbäumten. Danifae brachte sich in Position und feuerte ihre Armbrust ab; der Bolzen flog zwischen den Klin gen hindurch, traf Tzirik mit großer Wucht am Brustpanzer, zerbrach aber an der Rüstung des Priesters in kleine Stücke. Quenthel gelang ein verzweifelter Sprung zur Seite, um nicht von dem klaffenden Spalt gleich unter ihr verschluckt zu werden. Sie rollte ungelenk ein Stück weit, und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine Eisenrute in der Hand. Die Hohepriesterin stieß einen Befehl aus, und sofort schoß eine weiße Sphäre aus magischer, zähflüssiger Substanz auf den Priester zu. Dessen wirbelnde Klingen jedoch zerfetzten die Kugel, die in einem Regen aus klebrigen Streifen verging. »Steht auf, Halisstra!« zischte Quenthel. »Eure Schwestern brauchen Euch!« Kaum hatte sich Halisstra aufgerichtet, wurde sie von dem gewaltigen Beben wieder umgerissen. Sie schüttelte den Kopf und unternahm einen neuen Versuch. Meine Schwestern brauchen mich? dachte sie. Seltsam, wo doch Lolth offenbar keine Verwendung mehr für jemanden
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hat, der als ihre Priesterin dient. Wenn Lolth beschließt, sich von mir abzuwenden, um meine Treue und meine Hingabe anzuspornen, kann ich mich wenigstens entsprechend revan chieren. Ihr Leben lang hatte sich Halisstra bereitwillig mit ihren ärgsten Feinden, ihren erbittertsten Rivalen zusammengetan, wenn eine Bedrohung für die Alleinherrschaft der Dunkelelfen auftauchte, zu denen sie und die anderen Drow gehörten. Beim Blick in die endlose leere Weite des Abgrunds der Dämonen netze stellte sie fest, daß sie nicht einen einzigen Schritt mehr in Lolths Namen machen würde. »Laßt ihn tun, was er will«, sagte sie zu Quenthel. »Lolth hat mich Gleichgültigkeit gelehrt. Wenn wir es geschafft ha ben sollten, heute Lolths Existenz zu retten, glaubt Ihr, sie wäre uns dankbar? Wenn ich mir das Herz aus dem Leib risse und es auf den Altar der Spinnenkönigin legte, glaubt Ihr, sie würde sich über mein Opfer freuen?« Ein verbittertes Lachen entstieg ihrer Kehle, dem sich Ha lisstra hingab, während die Beben nachließen. In ihrem Her zen fühlte sie Schmerz, der die Welt in Stücke hätte reißen können, doch sie fand nicht die Stimme, die den Schmerz in Worte hätte fassen können. Quenthel sah sie entsetzt an. »Gotteslästerung«, flüsterte sie. Die Herrin Arach-Tiniliths nahm ihre Peitsche und wandte sich Halisstra zu, doch ehe sie zuschlagen konnte, wirkte Tzirik einen neuen Zauber, der die Gruppe unter Schichten aus weißglühenden Flammen begrub, die auf der Steinfläche hin und her schwappten wie Wasser auf einem Teller. Halisstra warf sich zu Boden und schrie vor Schmerz, die anderen fluch ten und brüllten etwas, während sie nach einer Deckung such ten, die es nicht gab.
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»Laßt mich allein!« befahl Tzirik in seinem Käfig aus wir belndem Stahl. Er bückte sich und hob die Schriftrolle auf, gleichzeitig er hoben sich die Menzoberranzanyr von dem qualmenden Stein. Ryld stand langsam auf, die Haut an seinen Händen und in seinem Gesicht war versengt, und sah zu dem Kleriker, der erneut begann, den Zauber zu wirken. Der Waffenmeister stu dierte die Klingen, die um den Priester herumwirbelten. Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze zog er die Beine an und sprang durch die Barriere, wobei er sich so klein wie nur mög lich machte. Blut spritzte umher, als die magischen Klingen die Freiräume zwischen den Einzelteilen seiner Zwergenrüstung trafen – doch dann hatte der Meister Melee-Magtheres die Barriere überwunden. Mit einem tierischen Schmerzenslaut landete er auf den Fü ßen. Splitter hielt er ein wenig ungelenk in den zerschnittenen Händen, doch er konnte die Spitze seines Zweihänders tat sächlich gegen Tzirik richten. Wieder war der gezwungen, seine Schriftrolle fallenzulassen. Mit seinem Schild wehrte er den Stich ab, mit dem dornenbewehrten Streitkolben holte er nach Ryld aus. Ryld wich aus, indem er einen Satz nach hinten machte. Dabei kam er der Barriere so nahe, daß Funken von seinen Schultern flogen, als die Klingen seine Rüstung trafen. Er ging wieder zum Angriff über und schlug mit Splitter nach Tzirik. Valas Hune, der jenseits der wirbelnden Klingen stand, be rührte den neunzackigen Stern auf seiner Brust und ver schwand in einem Augenblick, um im nächsten innerhalb der Barriere hinter Tzirik wieder aufzutauchen. Er ließ seinen Bo gen fallen und griff nach seinen Kukris, doch Tzirik kam ihm zuvor. Der Kleriker wandte Ryld abrupt den Rücken zu, machte
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drei ausholende Schritte und rammte seinen schweren Schild in den Mann von Bregan D’aerthe, als Valas gerade seine Mes ser umfaßte. Mit einem wütenden Brüllen schob der Jaelre Valas Hune nach hinten gegen den Vorhang aus tödlichen Klingen und drängte den Späher hindurch, der sich drehte und schrie, als der Stahl in sein Fleisch schnitt. Ryld ließ Tzirik dafür bezahlen, indem er nach vorn jagte, um mit einem kraftvollen, mit beiden Händen geführten Schlag nach dessen Torso auszuholen. Doch Tziriks Brustpan zer hielt dem Treffer stand. Tzirik seinerseits sprang auf Ryld zu, bis er in Reichweite des Kämpfers war, dann ließ er mit seinem Streitkolben eine Salve heftiger Schläge auf ihn nie derprasseln, mit der er den Waffenmeister zurückdrängte. Ryld machte sich für einen neuen Angriff bereit, doch in diesem Augenblick warf sich auch Quenthel durch die Klin gen. Eine davon schnitt tief in ihre Wade, so daß sie den Halt verlor und auf einem Knie landete, während sie schmerzhaft nach Luft rang. Tzirik trat zurück, um außerhalb der Reichwei te von Quenthels Peitsche zu sein, dann stieß er einen raschen Zauber aus, der Rylds Willen ebenso lähmte wie all seine Mus keln, so daß der Kämpfer reglos stehenblieb. Mit der Schnelligkeit einer Schlange wandte Tzirik sich Quenthel zu und schlug sie nieder, während sie noch versuch te, auf ihrem verletzten Bein zu stehen. Tzirik wich den zi schelnden Schlangenköpfen aus und trat gegen ihre Peitsche, die durch die Wucht durch die Barriere geschleudert wurde. Dann wandte er sich Ryld zu, um dessen Schädel zu zerschmet tern, da der nach wie vor nicht von der Stelle weichen konnte. Tzirik holte mit dem bronzenen Streitkolben zum tödlichen Schlag aus und ... wurde von seinem beabsichtigten Opfer fortgeschleudert, als ein gewaltiger Lärm auf ihn niederging. Halisstra, die jenseits der Barriere stand, ließ sofort einen
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zweiten Bae’qeshel-Gesang folgen, der den Kleriker geißelte. Für Lolth würde sie nicht wieder kämpfen, aber für ihre Ge fährten und besonders für Ryld. »Tötet Tzirik nicht«, rief sie. »Wir brauchen ihn, damit er uns nach Hause bringt!« »Was schlagt Ihr statt dessen vor?« herrschte Danifae sie an. »Er scheint uns vernichten zu wollen!« »In der Tat«, sagte Tzirik. Der Jaelre-Priester erholte sich von Halisstras Zaubern und konterte mit einem Zauber, der vom schwarzen Himmel eine Säule aus kriechendem purpurnen Feuer herabrief, die Ha lisstra und Danifae traf. Dann wandte sich der Kleriker Quenthel zu, die im Begriff gewesen war, ihn von hinten anzu springen, und umfaßte seinen Streitkolben. »Es bereitet mir großes Vergnügen, Kleriker Lolths zu tö ten«, erklärte er. »Wenn Ihr in der Minauth-Feste erwacht, werde ich Euch dort noch einmal töten.« Er kam näher, Haß funkelte in seinen Augen, während Quenthel humpelnd versuchte, dem unvermeidlichen tödli chen Schlag zu entgehen. In diesem Augenblick löste sich Tziriks Brustpanzer auf. Konsterniert blieb er stehen und sah nach unten. Alle anderen Teile seiner Rüstung waren noch da, doch dann löste sich auch sein Waffenrock auf und entblößte das glänzende schwar ze Fleisch seines Oberkörpers. »Was im Namen des Maskierten Gottes soll das?« murmelte er und sah noch gerade rechtzeitig auf, um einem Bolzen aus zuweichen, den Danifae auf sein Herz abgefeuert hatte, der aber den Schild des Klerikers traf. Seine Verwunderung wurde zu purem Entsetzen. »Nein!« schrie er. »N–« Eine unsichtbare Macht riß Tziriks Brust auf und begann eine blutige Rippe nach der anderen aus dem zuckenden Leib
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zu brechen. Blut und Knochensplitter spritzten umher, doch blieb der Kleriker unerklärlicherweise auf den Beinen, wäh rend er vor den erstaunten Menzoberranzanyr bei lebendigem Leib in Stücke gerissen wurde. Halisstra, die vor Lolths Altar viele schreckliche Dinge er lebt hatte, wich vor Entsetzen zurück. Der kühle, distanzierte Teil ihres Verstandes ließ sie bemerken, daß Fleisch und Kno chen des Mannes einfach nach und nach verschwanden, so wie zuvor die Teile. Das geschieht nicht hier, wurde ihr plötzlich klar. Tzirik wird ermordet, aber in der Minauth-Feste. Als letzter obszöner Akt wurde der Inhalt von Tziriks Brust korb gepackt und aus dem Körper gezogen. Der Jaelre sank auf die Knie und verdrehte zugleich die Augen. Aus einer uner meßlichen Entfernung tauchte ein glänzendes Silberband auf, das mit Tziriks Rücken verbunden war. Es zog sich mit solcher Wucht in den Astralleib zurück, daß es Halisstra in der Seele schmerzte. Dann war Tzirik fort, als hätte er nie existiert. »Bei den Göttern ...«, brachte Valas heraus und stöhnte entsetzt auf. Sie alle spürten es im gleichen Moment, ein brutales Zerren an ihrer Seele, das die Steinebene und den schwarzen Tempel in tausend silberne Scherbe zerfallen ließ. Halisstra machte den Mund auf, um einen Entsetzensschrei auszustoßen, doch bevor sie dafür noch einmal Luft holen konnte, wurde sie ins Nichts gewirbelt.
Halisstra erwachte abrupt und saß aufrecht auf dem modrigen alten Diwan in Tziriks Geheimraum. Sie brauchte einen Mo ment, um zu begreifen, daß sie lebte. Die Erfahrung, ihre Seele durch Tziriks Vernichtung von einem Augenblick zum nächs
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ten aus dem Abgrund der Dämonennetze nach Faerûn zurück kehren zu lassen, war nichts, was sie noch einmal machen wollte. Sie brauchte etwas mehr Zeit, um zu erfassen, daß sie keine körperlichen Schmerzen mehr hatte. Was allerdings schmerzte, war ihr Herz. Ein gewaltiger, sen gender Schmerz pulsierte im Mittelpunkt ihres Seins, eine Trauer, die so stechend und immens war, daß Halisstra sich nicht vorstellen konnte, je davon befreit zu werden. Sie drückte die Hand gegen ihre Brust, als könne das etwas ändern, und sah sich langsam um. Die anderen erhoben sich ebenfalls und wirkten in unterschiedlicher Weise mitgenom men. Rechts von ihr lag Tzirik auf seinem Diwan, sein Leib war in Stücke gerissen, Blut war bis an die Wände der Kammer gespritzt, blutige Organe des Klerikers lagen achtlos weggewor fen auf dem Boden. Neben dem zerfleischten Leichnam des Priesters hockte Jeggred und leckte Blut von seinem weißen Fell. Zwei Jaelre-Krieger lagen daneben, ihre Kehlen waren zerfetzt. »Herrin?« fragte der Draegloth. »Was ist passiert? Was habt Ihr erfahren?« Quenthel sah Tziriks Leichnam an, dann die toten Jaelre. Sie zog die Brauen finster zusammen. »Was in Lolths Namen hast du dir dabei gedacht?« fragte sie. »Warum hast du ihn getötet?« »Die Wachen? Es schien ihnen nicht zu gefallen, was ich mit dem Ketzer tat«, antwortete Jeggred. »Nein, nicht sie«, sagte Quenthel. »Tzirik!« Jeggred kniff die Augen zusammen und knurrte. Der Draegloth richtete sich auf und lief um die Diwane herum zu Pharaun. »Magier, wenn Ihr mich dazu veranlaßt habt, meine Pflicht zu verletzen ...« »Pharaun ...«, sagte Quenthel und versuchte, ihre Gedan
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ken zu ordnen, was aber nicht lange dauerte. Die Erinnerung kehrte zurück, und sie starrte den Meister Sorceres aufgebracht an. »Ihr ließt uns im Abgrund der Dämonennetze im Stich, als wir Euch am nötigsten brauchten! Erklärt mir das!« »Ich hielt es für nötig«, entgegnete Pharaun. »Wir waren in Todesgefahr, aber wir konnten ohne Tzirik nicht fliehen, und es war offensichtlich, daß er nicht vorhatte, von dort wegzuge hen. Die beste Chance zur Flucht war daher die, Jeggred eine Nachricht zu schicken und ihn anzuweisen, Tziriks stofflichen Leib zu vernichten. Da der Priester den Zauber für die Astral projektion gewirkt hatte, beendete sein Tod für uns die Reise – zwar etwas abrupter, als es mir lieb war, doch ich sah keinen anderen Ausweg. Ich sagte Jeggred, Ihr hättet es befohlen, da ich nicht sicher sein konnte, ob er den Kleriker auch umbrin gen würde, wenn ich allein ihn darum bat.« »Eure Feigheit hat uns vom einzigen Ort weggeholt, an dem wir auf Antworten hatten hoffen können«, knurrte Quenthel. »Nein«, warf Halisstra ein. »Pharauns Besonnenheit ermög lichte uns die Flucht aus einer ausweglosen Situation, und zwar auf die einzige Weise, bei der die Hoffnung bestand, daß sie funktionieren würde.« »Welchen Sinn hat ein Entkommen, wenn wir unsere Su che nicht zu Ende führen konnten?« wollte die Baenre wissen. »Es hätte dort keine Antworten gegeben«, erwiderte Ha lisstra. »Wir hätten bis zum Ende aller Zeit vor ihr zu Kreuze kriechen können, und es hätte Lolth nicht gekümmert. Die Reise war sinnlos, und es war eine Reise, derer Ihr Euch ohne hin nie gewiß wart. Oder gab es im Abyss Lagerhäuser, die Ihr hättet plündern können?« »Im Abgrund der Dämonennetze habe ich Euch Eure Got teslästerung und Euren Hochmut durchgehen lassen, aber das wird nicht noch einmal geschehen«, sagte Quenthel. »Wenn
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Ihr noch einmal so mit mir redet, lasse ich Euch die Zunge an der Wurzel herausreißen. Ihr werdet für Euren mangelnden Glauben bestraft werden, Halisstra. Lolth wird Euch dafür unvorstellbare Qualen auferlegen.« »Wenigstens wäre das ein Zeichen, daß sie noch lebt«, er widerte Halisstra. Sie stand auf und begann, ihre Habe einzusammeln. In den Hallen jenseits der Kammer waren beunruhigte Rufe und eilige Schritte zu hören, doch sie nahm davon kaum etwas wahr. »Die Jaelre kommen«, sagte Danifae. »Sie könnten etwas gegen die Ausweidung Tziriks einzuwenden haben.« »Ich würde mir lieber nicht den Weg aus der Burg freikämp fen müssen«, erklärte Ryld. »Ich habe genug gekämpft.« Mit einem kehligen Knurren riß sich Quenthel von Ha lisstra los und sah sich um. Verärgert biß sie sich auf die Lippe, als ringe sie mit einer Idee, die ihr nicht gefiel. Schließlich murmelte sie einen Fluch und sah zu Pharaun. »Habt Ihr einen Zauber, der uns hier herausbringt?« Pharaun verzog den Mund zu einem Grinsen, offenbar zu frieden, daß Quenthel sich so schnell wieder an ihn wenden mußte, wo sie doch gerade eben noch sein Handeln verdammt hatte. »Es ist zwar etwas gewagt, aber ich glaube, ich kann uns alle von hier wegteleportieren«, sagte er. »Wohin wollen wir? Ich kann uns nicht ungefährdet ins Unterreich zurückbringen, aber sonst ...« »Hauptsache weg von hier«, erwiderte Quenthel. »Wir brauchen Zeit, um über das nachzudenken, was wir gesehen und erfahren haben und müssen überlegen, was wir als nächs tes tun.« »Die Höhlenöffnung, in der wir ankamen, als wir das Laby rinth durch das Portal verließen«, sagte Valas. »Das ist mehre
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re Tagesmärsche von hier entfernt, und dorthin reisen nicht viele.« »Gut«, meinte Quenthel knapp. »Bringt uns hin.« »Dann faßt Euch an den Händen«, sagte Pharaun. Er nahm Ryld und Halisstra an die Hand, dann sprach er einen kurzen Satz, während von außen versucht wurde, in die Geheimkammer einzudringen. Im nächsten Augenblick stan den sie auf dem kalten, moosbewachsenen Boden der Höhle nöfrhung auf der Lichtung. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Der Himmel im Osten war von einem perlmutternen Grau, kalter Tau lag schwer auf dem Grund ringsum. Das Tal war kahl und freudlos wie beim ersten Mal, als die Gruppe dort ihr Lager aufgeschlagen hatte, was kaum mehr als ein Zehntag her war. Der Schnee war größtenteils geschmolzen, eisiges Wasser floß in Rinnsalen ins Schlundloch und verschwand irgendwo unterhalb des Hügels. »Da wären wir«, verkündete Pharaun. »Wenn niemand et was dagegen hat, werde ich mir in der Höhle da unten den bequemsten Flecken suchen und wie ein verdammter Mensch schlafen.« Er kletterte die rutschigen Felsen nach unten, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ruht Euch später aus, Magier«, rief Quenthel. »Wir müs sen überlegen, was wir als nächstes tun. Wir müssen über die Bedeutung der Dinge reden, die wir sahen und –« »Was wir sahen, ist ohne Bedeutung«, sagte Halisstra. »Es ist auch nicht wichtig, was wir als nächstes tun. Ich schließe mich Pharaun an.« Sie brachte die Energie auf, leichtfüßig von Findling zu Findling zu springen, und zog sich in die angenehme und ver traute Finsternis der Höhle zurück. Hinter ihr kochte Quenthel vor Wut, und Jeggred grollte.
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Doch Ryld und Valas schulterten ihr Gepäck und folgten Pha raun auch in die Höhle. Danifae wandte sich zu Quenthel um und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir sind alle über das beunruhigt, was wir sahen«, sagte sie. »Aber wir sind auch müde. Wir werden klarer denken können, wenn wir uns eine Weile ausruhen konnten. Viel leicht wird uns dann der Wille Lolths klarer sein.« Widerwillig nickte Quenthel, dann folgten sie alle in die Höhle. Halisstra und Pharaun hatten es sich ein paar Dutzend Schritte vom Eingang entfernt auf dem Kiesboden der Höhle bequem gemacht. Ihr Gepäck hatten sie abgestreift und an eine Wand gelehnt. Die anderen begaben sich langsam zu ihnen und suchten sich jeder einen Platz aus, an dem sie förm lich zusammenbrachen, sobald sie aufhörten, sich zu bewegen. Seylls blutige Rüstung lastete unerträglich schwer auf Halis stras Schultern, und das Heft des Schwertes der Priesterin von Eilistraee drückte schmerzhaft gegen ihre Rippen, doch sie war zu müde, um sich eine bessere Schlafposition zu suchen. »Will mir denn niemand sagen, was im Abgrund der Dä monennetze geschah?« klagte Jeggred. »Ich habe tagelang in diesem Raum gewartet und fürsorglich über Eure Körper ge wacht. Ich verdiene zu erfahren, was geschehen ist.« »Das wirst du«, antwortete Valas. »Aber später. Ich glaube, niemand von uns weiß im Moment, was er von alldem halten soll. Laß uns Zeit, um zu ruhen und nachzudenken.« Ruhen? dachte Halisstra. Ihr kam es vor, als könnte sie schlafen, und war zwar auf diese bewußtlose, hilflose Art, wie es die Menschen machten. Sie könnte Zehntage am Stück schlafen, und dennoch würde sie damit nicht die Erschöpfung vertreiben können, die sie empfand. Ihr Verstand weigerte sich, länger darüber nachzu denken, warum Lolth sie verstoßen hatte, doch in ihrem Her
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zen verspürte sie etwas, das einer genaueren Beschäftigung bedurfte. Eine Trauer, die es ihr nicht gestatten würde, in der Trance Zuflucht zu suchen, bis sie einen Weg gefunden hatte, sich von dieser Trauer zu befreien. Seufzend zog sie ihren Rucksack zu sich und öffnete ihn, um das Lederkästchen mit ihrer Leier herauszuholen. Vorsichtig packte sie ihr Erbstück aus und strich mit den Fingern über die mit Runen versehenen Drachenknochen, berührte die Mithral-Saiten. Wenigstens ist mir das geblieben, dachte sie. In der Ruhe der Höhle im Wald spielte Halisstra die dunk len Lieder der Bae’qeshel und faßte ihre unerträgliche Trauer in leise Worte.
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