Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jerzy Edigey Urlaub in der Vorsaison
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jerzy Edigey Urlaub in der Vorsaison
Kriminalroman
Erholung in der Vorsaison suchen neun wohlhabende Geschäftsleute in einer vornehmen Pension an der Westküste Schwedens. Hier hoffen sie in Ruhe und Abgeschiedenheit Kräfte zu sammeln. Ihre Hoffnung erfüllt sich jedoch nicht, denn einer von ihnen wird ermordet: Maria Jansson. An jenem Tage herrscht ein solches Unwetter, daß jegliche Verbindung abgerissen ist und die Polizeistation erst am darauffolgenden Tage benachrichtigt werden kann. Glücklicherweise befindet sich unter den Pensionsgästen ein Polizeiarzt, Doktor Nilerud, der mit Sachkenntnis den Tatort sichert. Magnus Torg, ein junger Oberleutnant, wird mit den Ermittlungen beauftragt, und nur eins ist gewiß: Der Mörder ist unter den Gästen.
Jerzy Edigey
Urlaub in der Vorsaison
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Pensjonat na Strandvägen Wydawnictwo „Śląsk“, Katowice 1969 Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann
1. Der Polizeiarzt beginnt sein Tagebuch Donnerstag, den 8. Juni Dieser Oberleutnant macht einen durchaus gewinnenden Eindruck. Jung, groß, blond. Man sieht gleich, daß er mal Sport getrieben hat. Vor allem Skilaufen, wie bei uns in Schweden so üblich. Und da er in Lund wohnt, dürfte ihm auch das Schwimmen im Meer nicht fremd sein. Trotzdem wundert es mich, daß man sich entschlossen hat, einem so jungen Mann (der doch höchstens achtundzwanzig Jahre alt ist) mit so niedrigem Dienstgrad (er kann ja allenfalls Oberleutnant sein) einen derart komplizierten Fall anzuvertrauen. Ich, anstelle des Polizeidirektors in Lund, hätte als Untersuchungsoffizier jemand mit größerer Dienstpraxis und mehr Berufs- und Lebenserfahrung ernannt. Unser Polizeidirektor Lars Estberg in Uppsala hätte die Ermittlung in einem Mordfall nie und nimmer einem so unbeleckten Jungen anvertraut, für den ich Oberleutnant Magnus Torg halten muß. Beruflich geht mich das zwar nichts an, und die Schwierigkeiten und Entscheidungen der Polizei in Lund können mir egal sein, aber da ich zufällig und wi6
der Willen, ebenso wie die anderen Pensionsgäste von Frau Astrid Brands, in diesen geheimnisvollen Fall verwickelt worden bin, liegt mir sehr viel daran, daß der Fall möglichst rasch aufgeklärt und der Mörder gefunden wird. Und aus diesem Grund habe ich auch beschlossen, dem Kollegen Magnus Torg meine Erfahrungen zur Verfügung zu stellen und ihm unter die Arme zu greifen. Ich glaube, daß diese Unterstützung von Seiten eines Mannes, der seit über fünfzehn Jahren Polizeiarzt ist und an Hunderten von Ermittlungen unterschiedlichster Art teilgenommen hat, einem jungen Polizisten sehr gelegen kommen muß. Zwei Köpfe denken besser als einer, zumal wenn der eine noch so jung und unerfahren ist. Mehr dafür geschaffen, eine Mütze zu tragen als zu denken. Nebenbei bemerkt, dieser Magnus Torg scheint wie geboren für die Uniform. Wie schade, daß die schwedische Polizei Zivil trägt. Wie gut würde dieser junge Mann in der enganliegenden grünen Uniform aussehen, die Mütze mit dem breiten Schirm auf dem Kopf. Ich gebe ehrlich zu, daß ich schon so manches Mal, wenn ich nur passiver Zeuge bei den verschiedensten komplizierten Ermittlungen war, davon geträumt habe, nicht nur polizeilicher Leichenbeschauer oder Schilderer von Schnitt- und Rißwunden, sondern Hauptheld des Dramas zu sein. Derjenige, der anhand weniger unbedeutender Indizien das Rätsel löst und den Mörder überführt. Ich hätte jedoch niemals vermutet, daß diese meine Wünsche einmal Wirklichkeit werden und noch dazu in dem kleinen Badeort Lomma in Erfüllung gehen würden, wo ich zufällig in der Pension von Frau Astrid Brands zwei Wochen Urlaub mache. Ich habe beschlossen, alle Ereignisse von Anfang an in meinem Notizbuch festzuhalten, von dem Moment an, als die schreckliche Geschichte passierte. Ich werde in meinem Tagebuch auch jeden einzelnen Schritt von 7
Magnus Torg festhalten, der die Untersuchung leitet, sowie meine Vorschläge, Gedanken und Vermutungen. Auf die Art stellen meine Notizen ein wahrheitsgetreues Protokoll über das Verbrechen und die Polizeiaktion dar, die durchgeführt wird, um den Mörder zu fassen. Vielleicht lassen sie sich einmal als interessanter Kriminalroman veröffentlichen, der sich von Tausenden anderer Bücher dieses Genres dadurch unterscheiden wird, daß er in Wahrheit ein Rapport über wirklich vorgefallene Geschehnisse ist. Ich bin ziemlich weit abgeschweift, dabei habe ich noch gar nichts Konkretes gesagt. Ich muß also, wie die alten Römer sagen, ab ovo beginnen, am Anfang. Ich heiße Bjorn Nilerud. Bin fünfundfünfzig Jahre alt und von Beruf Arzt. Meine Mutter war Norwegerin. Ich bin in Kalmar geboren, wo wir auch bis zum Tode meines Vaters wohnten. Danach kehrte meine Mutter mit mir nach Norwegen zurück, wo ich das Gymnasium beendete. Medizin studierte ich in Wien. Der Ausbruch des Krieges überraschte mich in Norwegen, das ich für meine zweite Heimat hielt, woran sich bis heute nichts geändert hat. Ich nahm am Widerstandskampf teil. 1944 verhaftet, konnte ich aus dem Gefängnis entfliehen und mich in das neutrale Schweden durchschlagen. Mehrere Jahre lang fuhr ich auf schwedischen Schiffen als Schiffsarzt; später, als sich der ständige Klimawechsel für meine Gesundheit als nachteilig erwies, ließ ich mich in Uppsala nieder. Dort trat ich eine Stellung als Polizeiarzt an. Ich bin nicht verheiratet, und im Laufe der Zeit bin ich sogar in gewissem Grade zum Einsiedler geworden. Ich lebe allein und unterhalte keine näheren Beziehungen, weder zu meinen Kollegen von der Polizei noch zu anderen Ärzten in Uppsala. Und ich fühle mich wohl in meiner Einsamkeit. Ich praktiziere nicht frei. Als ich noch zur See fuhr, habe ich mir eine gewisse Summe 8
zusammengespart. Damit habe ich recht glücklich an der Börse spekuliert. Hinzu kam eine kleine Erbschaft von meiner Mutter. Das alles, zusammen mit meinem Gehalt als Polizeiarzt, gibt mir völlige finanzielle Unabhängigkeit und zwingt mich nicht, zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten hinterherzujagen, wie es die anderen Polizeiärzte für gewöhnlich tun. Ich könnte sogar größeren Aufwand treiben und mir manchen Luxus leisten, aber ich mache mir nichts aus diesen Dingen. Ich besitze nicht mal einen Wagen, obwohl selbst das letzte Volvo-Modell meine Rücklagen nicht angreifen würde. In den Jahren meiner Wanderschaft durch alle Erdteile habe ich so viele Menschen und so viele Länder kennengelernt, daß Reisen ins Ausland mich heute nicht mehr reizen. Ich fahre nicht nach Norwegen oder nach Finnland, von Fahrten in andere Staaten ganz zu schweigen. Mich interessiert nicht mal der sagenhaft billige Wodka auf der polnischen Fähre von Ystad nach Swinoujście, denn ich kann mir ein Glas guten französischen Kognak leisten, ohne Schweden verlassen zu müssen, und mehr als ein Glas trinke ich nicht. Ich spiele gern Bridge, in guter Gesellschaft, die sich jedoch nicht zum obersten Lebensziel setzt, einen Robber zu gewinnen. Ich erwähne das, weil dieser Umstand bei den von mir zu schildernden Vorkommnissen besonders wichtig war. Ich kann Menschengewimmel nicht ausstehen. Deshalb gehe ich immer vor der Saison oder nach Saisonschluß in Urlaub. Wenn ich an die See fahre, dann spätestens im Juni. Wenn ich zum Skilaufen fahre, tue ich das im Januar, bevor sich die Ferienorte mit lärmenden Touristenmassen füllen. In diesem Jahr fuhr ich an die See, nach Lomma, einem kleinen, am Sund gelegenen Ferienort, ein paar Kilometer von Malmö entfernt. An einem schönen Sandstrand entlang verläuft hier die Chaussee, Strandvägen 9
genannt, und an ihr wiederum liegen die hübschen kleinen Ortschaften Alnarp, Lomma, Bjarred, Vikhög und ein Stückchen weiter Barseb. In jedem dieser Orte gibt es zahllose kleine Hotels und Pensionen, die imstande sind, jeden Geschmack und die unterschiedlichsten finanziellen Möglichkeiten von Leuten zu befriedigen, die ihren Urlaub gern an der See verbringen. Ich habe die Pension von Frau Brands gewählt. Sie steht schon etwas außerhalb von Lomma, etwa auf halbem Weg nach Bjarred. Ihr großer Vorzug ist, daß sie direkt am Meer gelegen ist. Zur Strandvägen hin ist die Pension, ehemals die Villa eines reichen Fabrikanten aus Malmö, durch einen großen alten Park und eine dichte Hecke abgegrenzt, die neugierigen Augen nicht erlaubt, einen Blick hinter die grüne Wand zu werfen. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß die Pension teuer und nur sehr gutgestellten Leuten zugänglich ist. Ganz bestimmt nicht einem gewöhnlichen Polizeiarzt, aber ich kann mir, wie vorhin schon erwähnt, ein wenig Luxus leisten. Zumal im Juni, wenn die Preise an der Küste noch niedrig sind und selbst Frau Brands sich über jeden Gast freut und sich in ihrer Pension an den Vorsaisontarif halten muß. Was mich im besonderen dazu veranlaßte, diese und keine andere Pension zu wählen, ist der Umstand, daß sie von diesem großen alten Park umgeben ist und daß die Besitzerin, um ihren Gästen größtmögliche Ruhe zu garantieren, die Bedingung stellt: Die Pensionsgäste dürfen kein Auto haben oder, wenn sie eins haben, müssen es außerhalb des Pensionsgeländes abstellen. So haben wir nicht täglich Motorengeheul, es herrscht Ruhe und Frieden hier, die der Mensch so sehr braucht, wenn er nach einem ganzen Jahr angestrengter Arbeit ein paar Wochen Urlaub macht, um sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln. Ich kam Ende Mai hierher. Bei Frau Brands begegnete ich drei Personen: dem Ehepaar Egil und Klara Tu10
vesson und Ingvar Harding aus Stockholm. Die Tuvessons sind ein sehr sympathisches Paar. Er ist Offizier bei der Handelsmarine. Befährt die australische Linie. Nur aller drei Monate ist er für ein paar Tage zu Hause zu Gast. Sie ist etwa zehn Jahre jünger als er. Sie haben zwei Schulkinder in Göteborg, wo Frau Tuvesson ständig wohnt. Es ergab sich so, daß Herr Tuvesson dieses Jahr nur im Juni Urlaub nehmen konnte, und so kamen sie allein in die Pension. Sie sehen aus, als wären sie auf der Hochzeitsreise. Das wundert mich nicht. In ein paar Wochen geht Herr Tuvesson wieder auf große Fahrt nach Australien. Herr Ingvar Harding ist ein gewandter Unternehmer. Er hat sein Vermögen in Immobilien angelegt. Er kauft Grundstücke bei Stockholm auf, baut Häuser und verkauft sie, um alles sofort wieder von vorn zu beginnen. Ihn hat, wie mich, die Möglichkeit nach Lomma gelockt, hier mal richtig in Ruhe und Zurückgezogenheit ausspannen zu können. Wenn ich von Herrn Harding so höre, wieviel Scherereien und Ärger er mit den Bauunternehmern hat, wundert es mich nicht, daß er nach dieser nervenaufreibenden Arbeit die Erholung dringend braucht. Zwei Tage nach meiner Anreise bekamen wir noch einen Gast in der Pension. Es war Frau Maria Jansson. Eine sehr große schlanke Dame, gut über die Vierzig, was man ihr ansah, obwohl sie alles unternahm, um die zu Ende gehende Jugend aufzuhalten. Die mehr als wohlhabende Garderobe, der herrliche Schmuck und ein Wagen mit Chauffeur, der sie aus der Hauptstadt hierher brachte, zeugten davon, daß unsere neue Hausbewohnerin nicht mit jedem Öre zu rechnen brauchte. Das nette Zimmermädchen Lilljan, eine reizende Blondine, wie man sie nur in Skåne findet, verriet mir, daß Frau Jansson jedes Jahr in die Pension käme und ihr die höchsten Trinkgelder von allen gäbe, die in Frau Brands abge11
schiedener Villa absteigen. Nun ja. Die Firma „Jansson & Sohn“, ein großes Exporthandelshaus, das Niederlassungen in vielen Ländern nicht nur des europäischen Kontinents hat, muß gute Dividenden abwerfen. Und Frau Jansson war schließlich die Witwe des alten Jansson. Trotz oder vielleicht sogar wegen ihres Reichtums war diese Frau anscheinend nervenkrank. Nur abends kam sie zum gemeinsamen Abendbrot in den Speisesaal herunter. Sie sah nicht mit uns zusammen fern und ging den Leuten sichtlich aus dem Weg. Ich beobachtete ein paarmal aus dem Fenster meines Zimmers, wie sie einsame Spaziergänge am Strand unternahm. Manchmal verschwand sie auch für viele Stunden. Ich weiß von Lilljan, daß sie dann nicht zum Mittagessen zurückkam. Als ich sie jedoch eines Tages fragte, ob sie in Malmö gewesen sei oder in dem nur sieben Kilometer entfernten Lund, gab sie mir eine ausweichende Antwort. Dafür telefonierte sie stundenlang mit Stockholm. Sehr oft in einer mir unbekannten Sprache. Sie muß ein Vermögen ausgegeben haben für diese Gespräche. Am zweiten Juni bekam unsere kleine Gruppe Zuwachs. Und zwar wiederum weiblichen. Nora Lindner aus Halmstad. Eine reizende, lustige kleine Frau. Sie ist noch nicht dreißig und hatte es schon geschafft, zweimal zu heiraten und sich zweimal scheiden zu lassen. Es gab keinen Zweifel für mich, daß sie in den beliebten und vielbesuchten Urlaubsort gekommen war, um den nächsten Hafen in ihrer Ehekarriere anzusteuern. Sie war sichtlich enttäuscht, daß es im Ort so leer war und es in Frau Brands Pension nur drei Männer gab, von denen einer in festen Händen ist. So versuchte sie denn auch, mich im Sturm zu nehmen. Und zwar mit solcher Vehemenz, daß ich nachgeben und schon am zweiten Tag nach ihrer Ankunft mit der schönen Nora in den Night-Club in Malmö gehen mußte, wo ich mich bei der endlosen Auszieherei der 12
übrigens ziemlich gutgebauten Girls entsetzlich langweilte. Zu allem Überfluß kam noch heraus, daß auch das Tanzen nicht meine starke Seite ist. Alles in allem konnte ich der schönen geschiedenen Frau wohl nicht imponieren. Zum Glück tauchte schon am nächsten Tag Herr Gustav Dalin, ein hoher Beamter oder gar Direktor einer der Norrköping-Banken in Lomma auf. Die schöne Dame verzichtete folglich rasch auf meine Gesellschaft und nahm sich des Direktors an. Wie mir scheint, war sie hier wesentlich erfolgreicher als in ihrem Flirt mit einem Polizeiarzt. Ich habe die Personen des Dramas einzeln aufgeführt und sie kurz zu charakterisieren versucht. Nun noch ein paar Worte zu Frau Brands. Sie führt ihre Pension schon seit acht Jahren. Wer war Herr Brands, und lebt er noch? Darüber wird nie ein Wort verloren. Jedenfalls hat Frau Brands vor acht Jahren diese von einem Fabrikbesitzer oder Reeder aus Malmö gebaute Villa gekauft und sie als exklusive Pension eingerichtet. Das Geschäft schlug ein. Die Pension ist vier Monate im Jahr geöffnet und darüber hinaus über die Weihnachtsfeiertage und über Ostern. Frau Brands nimmt selbst die Einkäufe vor und macht die Wirtschaftsführung, wobei sie ständig eine gelernte Köchin und ein Zimmermädchen beschäftigt. Nur während der Saison hält sie sich noch ein paar Aushilfskräfte – Fischerstöchter aus dem Ort. Frau Brands’ Sohn studiert an der Technischen Hochschule in Stockholm, aber über die Ferien kommt er nach Lomma und hilft der Mutter. Wie mir scheint, lebt Frau Brands allein, hat keinen Freund, oder aber sie wickelt diese Dinge äußerst diskret ab. Die Köchin Ranhild Moberg arbeitet von Anfang an hier und ist eine vertrauenswürdige Person. Sie bewohnt mit ihrem Mann einen kleinen Pavillon am Eingang zum Park. Als Gegenleistung für diese Wohnung heizt der 13
Mann im Winter die Zentralheizung und fegt Schnee. Zur Zeit befindet sich Herr Moberg, von Beruf Kraftfahrer bei einem Reiseveranstalter in Malmö, auf einer mehrwöchigen Tour durch Spanien. Überhaupt ist dieser Mann im Sommer nur Gast in Schweden, weil er mit seinem Bus die Auslandsrouten befährt. Unser Zimmermädchen Lilljan habe ich schon erwähnt. Ich möchte noch hinzufügen, daß sie die Tochter eines ortsansässigen Bauern aus Bjarred und, wie bei Zimmermädchen üblich, in Maßen neugierig ist und in Maßen über die Gäste der Pension klatscht. Eben dank meiner Gespräche mit dem Mädchen gelangte ich in den Besitz so genauer Informationen über die Hausbewohner und über unsere Wirtin. Und nun will ich versuchen, alles, was sich seit dem frühen Morgen des 7. Juni ereignet hat, so genau wie möglich zu schildern. Ich schreibe dies gleich in zwei Exemplaren nieder, denn ich habe Magnus Torg versprochen, ihm eine Beschreibung der Ereignisse für das Protokoll zu liefern, das er für die Polizeidirektion in Lund anfertigen muß. Wie Sie sich selbst erinnern werden, war es am 7. Juni schon vom frühen Morgen an merkwürdig heiß. Trotz des schönen Wetters, wie es um diese Jahreszeit in Schweden äußerst selten anzutreffen ist, fühlten sich die Leute in der Pension gar nicht wohl. Ich begriff sofort den Grund, als ich einen Blick auf das in der Halle unserer Pension hängende Barometer warf. Der Luftdruck war ruckartig gefallen. Es gehört zu den Gepflogenheiten in der Pension von Frau Brands, daß Lilljan jedem einzelnen Gast das Frühstück aufs Zimmer bringt. Das Mittagessen hingegen wird zwischen ein und zwei Uhr gereicht, und das Abendbrot findet gemeinsam um sieben Uhr statt. Lediglich Frau Jansson hielt sich, wie bereits erwähnt, nicht an diesen Wunsch der Hausherrin. Aber so geht es 14
einmal in der Welt, die Reichen genießen besondere Privilegien. Und Frau Jansson war ausnehmend reich. Selbst für schwedische Verhältnisse. Dabei gibt es bei uns genügend wohlhabende Leute. Ich nahm also so gegen acht Uhr mein Frühstück ein. Danach rasierte ich mich, zog mich an und ging hinunter in den Salon, um die Zeitungen durchzusehen. Ich vergaß hinzuzufügen, daß die Villa zwei Stockwerke hat. Im Parterre befinden sich ein hübsch eingerichteter Salon, ein etwas kleinerer Raum, aus unerfindlichen Gründen Bibliothek genannt, obwohl es dort nur einen einzigen Schrank mit Büchern gibt, die jeder längst in der Jugend gelesen hat, sowie ein geräumiger Speisesaal. Außerdem gibt es im Parterre noch zwei Zimmer – die Privatwohnung der Wirtin – und vier nicht sehr große Pensionsräume. Sie sind im Augenblick nicht belegt, weil die Fenster nicht zur See, sondern zum Park hinausliegen. Und jeder möchte sich doch, wenn er schon nach Lomma gekommen ist, möglichst lange an den grünblauen Wellen des Sundes erfreuen. Im ersten Stock befinden sich acht Zimmer und zwei Terrassen, auf die von jedem Zimmer aus eine Balkontür hinausführt. In einem dieser Zimmer hat sich das Ehepaar Tuvesson eingemietet. Das Nachbarzimmer bewohne ich, und daneben wohnt Frau Nora Lindner. Hinter ihr, in einem kleinen Zimmerchen, „amtiert“ vorläufig Lilljan. In der Hochsaison, wenn alle Zimmer vermietet sind, hat das Mädchen ein kleines Zimmer im Souterrain, wo auch die Küche, das Waschhaus und die anderen Wirtschaftsräume liegen. Das zweite Stockwerk ist genauso angelegt wie das erste. Die beiden Mittelzimmer mit Seeblick bewohnen Maria Jansson und Gustav Dalin. Lilljan beklagt sich arg darüber, daß ganze sieben Gäste in zwei Stockwerken wohnen, was sie zwingt, mit den schweren Tabletts treppauf, treppab zu laufen. Sie hat schon ein bißchen 15
recht damit, aber jeder von uns will, wie ich bereits bemerkte, Ausblick auf die See haben, und vor der Saison, wenn noch nicht genügend Gäste da sind, mußte Frau Brands auf diese Wünsche Rücksicht nehmen. Ich setze noch hinzu, daß alle Zimmer im ersten und zweiten Stock ein eigenes Badezimmer haben. Im Parterre gibt es nur zwei. Das Privatbad von Frau Brands und ein zweites, gemeinsames für die Bewohner der vier Zimmer unten. In der Hochsaison kann die Pension ihren Gästen insgesamt sechs Einzelzimmer und vierzehn Doppelbettzimmer anbieten, für insgesamt vierunddreißig Personen. Bei größerem Andrang bringt Frau Brands auch noch Gäste in dem kleinen Pavillon unter, der am Parkeingang steht. Im Parterre wohnt dort zwar die Köchin Frau Moberg mit ihrem Mann, aber im ersten Stock befinden sich noch vier Räume. Gegen neun Uhr also ging ich hinunter, setzte mich an den Tisch und vertiefte mich in die Lektüre des „Sydsvenska Dagbladet“. Wenige Minuten nach mir kam auch Herr Dalin nach unten, der sich für die Tageszeitung aus Göteborg interessierte. Wie ich bemerkte, fesselten vor allem die Börsennotierungen seine Aufmerksamkeit. Danach kamen Klara und Egil Tuvesson hinunter. Von Weiterlesen konnte nicht mehr die Rede sein. Es begann eine allgemeine Unterhaltung über das Wetter. Frau Tuvesson klagte über einen schlechten Schlaf in der vergangenen Nacht und über Kopfweh. Als Arzt setzte ich ihr auseinander, daß in dem Fall Tabletten nicht helfen würden. Dies sei ganz einfach die Reaktion des Körpers auf das ruckartige Absinken des Luftdrucks, und das Befinden werde sich bessern, sobald sich der Organismus an diese Veränderung gewöhnt habe. Ich erinnere mich auch, daß uns Herr Dalin die Wetterlage erklärte und hinzufügte, die Zeitung gebe Sturmwarnung. 16
Um diese Zeit erschien Herr Harding, der ebenfalls im zweiten Stock wohnt, was ich bisher zu erwähnen vergaß. Er schloß sich unserer Unterhaltung an. Die Luft war so feucht, daß einem das Atmen schwerfiel. Keiner von uns hatte Lust, sich vom Fleck zu rühren. Irgendwann vor zehn Uhr tauchte die schöne Nora auf. Sie hatte nichts auszusetzen an dem Wetter. Sie kam herunter, im Bikinioberteil, ein kleineres wäre wohl in ganz Schweden nicht aufzutreiben gewesen; es verhüllte nicht, sondern stellte im Gegenteil das zur Schau, worauf Frau Lindner mit Recht stolz sein durfte. Dazu trug sie eine märchenhaft bunte Hose. Sie begrüßte uns gleich mit den Worten: „Was für ein wundervoller Tag! Wir gehen sofort an den Strand.“ Beim Anblick dieser schönen Frau zogen alle Männer unwillkürlich den Bauch ein und drückten heldenhaft die Brust heraus. Keiner wagte es, über das miserable Wetter und über Atemnot zu klagen. Sogar Klara Tuvesson, die nicht hinter Nora zurückstehen wollte, begann uns zu diesem unseligen Strandausflug zu überreden. Ich als einziger erkühnte mich zu bemerken, daß der Boden noch naß sei und man nicht nur Decken, sondern auch eine Plastikplane mitnehmen müsse, um sich nicht in den, um diese Zeit trügerischen Sand legen zu müssen. „Wunderbar!“ sagte Frau Lindner. „Der Doktor nimmt alles mit, was er für nötig hält, und dann ab die Post.“ In dem Augenblick erschien auf der Treppe, die wir von unserem Platz im Salon aus gut überblicken konnten, Frau Jansson. Als sie uns sah, machte sie Anstalten, sich zurückzuziehen, aber Nora rief ihr schon entgegen: „Frau Jansson! Wir gehen zum Strand. Es wäre nett, wenn Sie mitkämen. Ein Traumwetter heute. Eine Sonne wie Mitte Juli.“ „Vielen Dank“, antwortete Frau Jansson in dem übli17
chen kühlen Ton, „ich bin leider verabredet und habe es eilig. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.“ „Wenn Sie vielleicht meinen Wagen nehmen möchten?“ bot sich Herr Harding an. „Er steht wie gewöhnlich auf dem Parkplatz bei der Autobushaltestelle in Bjarred. Ich gebe Ihnen gern die Schlüssel. Ein dunkelblauer Volvo.“ In Klammern muß ich hinzufügen, daß sich Herr Harding diesen Wagen erst vor ein paar Wochen zugelegt hat und sich sehr gern mit ihm brüstet. Schon am ersten Tag seines Aufenthalts hier – er war zusammen mit mir angekommen – beschwerte er sich über Frau Brands: Sie hatte kategorisch verlangt, den Wagen vor dem Haus wegzubringen. Herr Harding hatte ihn also bei der Bushaltestelle geparkt, die gut anderthalb Kilometer entfernt liegt. „Danke sehr“, erwiderte Frau Jansson, „ich will nur nach Lomma, und da gehe ich ganz gern zu Fuß. Im übrigen ist das fast genausoweit wie bis zu Ihrem Wagen.“ Mit diesen Worten nickte sie uns zu und ging. Wir unterhielten uns noch ein Weilchen, dann gingen wir an den Strand. Nur ich mußte noch einmal nach oben, wegen der Plastikplane. Es war unbedacht gewesen, damit herauszuplatzen. Was ging es mich schließlich an, wenn sich jemand einen Hexenschuß holte? Sogar am Strand war es sehr schwül. Obwohl absolute Windstille herrschte, nahmen die Wellen ständig zu. Man sah, daß sich die Fischer aus Lomma und Bjarred beeilten, vom Fang hereinzukommen. Manche zogen ihre Kähne ans Ufer und vertäuten sie mit Stahlseilen an den hohen Pflöcken. „Es sieht ganz so aus, als zöge ein Orkan herauf“, bemerkte Herr Tuvesson. „Als Seemann weiß ich Bescheid. Der hohe Wellengang bei völliger Flaute behagt mir gar nicht.“ „Ein Orkan? Hier? Wir sind doch nicht auf Samoa, 18
sondern in Schweden. Nicht auf dem Pazifik, sondern am Ufer des Sund“, sagte Nora lachend. „Auch hier gibt es Stürme, daß nicht nur die Fischkutter, sondern selbst größere Schiffe in den Häfen Zuflucht suchen müssen. Ich erinnere mich, ich fuhr einmal von Visby nach Gdynia, und wir gerieten in einen solchen Sturm, daß nicht viel gefehlt hätte, und wir hätten uns die Ostsee von unten angucken können. Das war allerdings im November. Aber auch im Juni kann es ganz hübsch pusten.“ Vorerst jedoch lagen wir am Strand und bräunten in den Strahlen der merkwürdig rötlichen Sonne. Unsere zweimal Geschiedene versuchte uns zu einem Bad in den schäumenden Wellen des Sunds zu überreden. Herr Dalin wäre ihren Überredungskünsten vielleicht auch erlegen. Zum Glück erhob Tuvesson energisch Einspruch dagegen. Dem alten Seebären gehorchte sogar die schöne, launische Dame. Kurz nach eins kehrten wir alle in die Villa zurück. Schon eine halbe Stunde später trafen wir uns zum Mittagessen im Speisesaal. Wie gewöhnlich setzte sich Maria Jansson nicht mit uns zu Tisch, obwohl sie in der Pension war. Ich weiß das bestimmt, denn als ich ins Parterre hinunterging, war noch niemand im Speisesaal. Ich ging also in die Bibliothek, und auf den Gongschlag wartend, mit dem Lilljan ankündigt, daß das Essen fertig ist, blätterte ich in einem Buch, das ich aufs Geratewohl aus dem Schrank genommen hatte. Da hörte ich, wie Frau Jansson in der Halle telefonierte. Selbstverständlich lauschte ich nicht, doch mir fiel auf, daß das Gespräch in schwedisch begonnen, aber in einer anderen, mir unbekannten Sprache fortgesetzt wurde. Ein paar Minuten später ertönte der Gong, und ich ging in den Speiseraum hinüber. Das Essen verlief in angenehmer Stimmung. Frau Lindner zog den Kapitän auf, daß er uns nicht erlaubt hatte zu baden. Bestimmt, damit nicht herauskäme, 19
daß er nicht schwimmen könne, denn die Seeleute beherrschten ja allesamt diese Kunst nicht und wären wasserscheu. Der Kapitän erklärte todernst, wenn ein Seemann schwimmen könnte, wäre das für ihn nur ein Hindernis. In den Wellen des Ozeans würde er sich unnötig lange quälen. Wenn er aber nicht schwimmen könnte, ginge er sofort unter und hätte einen schmerzlosen Tod. Frau Tuvesson, die nicht allzuviel Sinn für Humor hat, hörte entsetzt zu und starrte ihren Mann wie einen legendären Helden an. Gegen Ende des Mittagessens schlug Herr Harding eine Partie Bridge vor. „Bei dem schönen Wetter“, entrüstete sich Nora, „kommt gar nicht in Frage. Ich gehe sofort spazieren. Im übrigen habe ich allerlei Besorgungen zu machen in Lomma. Die Herren werden mich doch nicht allein gehen lassen?“ Sie hatte zwar „die Herren“ gesagt, aber der Blick der schönen Nora wanderte nur in eine Richtung. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste?“ Dalin hatte die Situation rasch erfaßt. „Nun, wenn keiner mehr von den Herren bereit ist, einer armen Frau behilflich zu sein, dann muß ich Ihr Angebot annehmen“, willigte Frau Lindner ein. Wir vereinbarten schließlich, um vier Uhr mit dem Spiel anzufangen, weil Frau Tuvesson nach dem Essen noch ein bißchen ausruhen wollte. Ihre Kopfschmerzen hatten noch immer nicht nachgelassen, und sie hoffte, ein Nickerchen würde ihr guttun. Nora hingegen verkündete, Dalin möge sie nicht später als um halb vier in ihrem Zimmer abholen. Ich stand als erster vom Tisch auf und ging sofort auf mein Zimmer. Ich schlafe nie nach dem Essen, ich lag also auf der Couch und las. Ich hörte Frau Lindner und ihren Begleiter noch vor vier sich laut unterhaltend die Treppe hinuntergehen. 20
Ich bin fast übertrieben pünktlich, und so ging ich denn, als der Zeiger meiner Armbanduhr genau auf der Vier stand, nach unten. Ich war wie gewöhnlich der erste. Ich setzte mich in einen bequemen Sessel in den Salon und wartete auf den Rest der Gesellschaft. In der Tür erschien Frau Brands. Wir wechselten ein paar nichtssagende Worte. Frau Brands trug den Mantel überm Arm. Sie erklärte mir, sie habe es eilig zum Bus, weil sie nach Lund führe, um eine Freundin zu besuchen. Wir wünschten uns gegenseitig viel Spaß. In dem Moment kam auch Herr Harding und bot diesmal unserer Pensionswirtin seinen Volvo zur Benutzung an. Astrid Brands lehnte jedoch mit der Begründung ab, ihre Freundin mache einen vorzüglichen Likör, und dieser Versuchung könne sie schlecht widerstehen. Sie verzichte lieber auf die Autofahrt als auf ein Gläschen dieses köstlichen Tranks. Als Frau Brands gegangen war, warteten wir noch ein Weilchen auf die Tuvessons. Sie erschienen erst zehn nach vier. Klara Tuvesson entschuldigte sich, sie hätte so wunderbar fest geschlafen, daß ihr Mann es nicht übers Herz gebracht habe, sie zu wecken. Dafür seien die Kopfschmerzen jetzt wie weggeblasen. Wir nahmen gleich um den kleinen Tisch Platz und begannen unsere Bridgeschlacht. Herr Harding spielt ausgezeichnet. Ein erstklassiger Spieler. Eindeutig der beste von uns allen. Frau Tuvesson steigert mit weiblicher Vorsicht. Sie bleibt immer im Rahmen des Erlaubten. Die Vorschriften und Regeln sind ihr heilig. Unser Seebär legt im Spiel eine außerordentliche Phantasie an den Tag. Er ist imstande und macht ein paar hochintelligente Stiche, deren sich die besten Turnierspieler nicht zu schämen brauchten. Aber wenig später macht er einen geradezu kindischen Fehler. Zu meinem Stolz muß ich gestehen, daß ich bei dieser Partei durchaus mithalten konnte. 21
Wir spielten ohne Unterbrechung bis um acht. Die Ergebnisse waren minimal. Am meisten hatte Herr Harding gewonnen. Ich strich an die vier Kronen ein. Einer der Verlierer war Herr Tuvesson. Seine „Recontre-Manie“ rächte sich. Bei Harding hat man kein Glück mit solchen Späßen. Im übrigen spielten wir billig: fünfundzwanzig Öre pro Punkt, es war also kein Glücksspiel. Das Abendbrot verzögerte sich etwas, weil Frau Brands erst kurz vor acht zurückkam. Unser „Liebespaar“ kam ebenfalls erst lange nach sieben nach Hause. Wie Nora herumerzählte, waren sie „auf einen Drink“ in einem Lokal an der Ecke Strandvägen-Fiskaregatan in Lomma eingekehrt. Übrigens eine der beiden Kneipen, die in der Vorsaison geöffnet haben. Wir waren so von dem Spiel gepackt, daß keiner von uns bemerkte, daß sich das Rauschen der See in ein regelrechtes Tosen verwandelt hatte und die Wellen immer größere Flächen des Strandes überfluteten. Es war auch nicht mehr so still wie am Nachmittag. Häufige starke Windböen prallten gegen unser Haus, so daß die Bäume im Park ordentlich schwankten. Lilljan schloß alle Fenster. Schweigend aßen wir zu Abend. Es war etwas Unheimliches in diesem Sturm. Frau Jansson beehrte uns auch jetzt nicht durch ihre Gegenwart. Offenbar war sie noch nicht von ihrem geheimnisvollen Ausflug zurück. Frau Brands fragte das Zimmermädchen: „Hast du das Abendbrot hinaufgebracht?“ „Nein“, erklärte Lilljan, „als ich das Mittagessen hinaufbrachte, sagte Frau Jansson zu mir, falls sie rechtzeitig zurück ist, kommt sie herunter. Und wenn nicht, dann sollten wir nicht auf sie warten, dann käme sie spät.“ Kaum waren wir mit dem Essen fertig, brach eine Hölle los. Das war kein Wind mehr, sondern ein regelrechter Orkan. Es war noch kein Tropfen gefallen, da 22
donnerte es schon, Schlag auf Schlag. So ein Gewitter habe ich wohl noch nie im Leben gesehen. Wir gingen hinüber in den Salon und starrten in die Finsternis hinaus, die wieder und wieder von den Blitzen erhellt wurde. Manchmal war es taghell. Das Krachen war so entsetzlich, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Klara Tuvesson hatte ganz offensichtlich Angst. Sie stand an ihren Mann gepreßt. Sogar Nora Lindner und Frau Brands hatten erschreckte Gesichter. Was Lilljan betrifft, die bekreuzigte sich bei jedem lauteren Donnerschlag. Ich gebe zu, auch wir Männer machten nur gute Miene zum bösen Spiel. Keiner von uns fühlte sich wohl in seiner Haut. Zumal nach zwei besonders starken Einschlägen zweimal das Licht ausging. Zwar nur für ein paar Minuten, aber die waren nicht angenehm. Offenbar hatte der Blitz die Verteilerstation getroffen. Lilljan zündete Kerzen an. Auch das Telefon funktionierte nicht mehr. Frau Tuvesson machte sich Sorgen, wie ihre Kinder in Göteborg das Gewitter überstehen würden, deshalb versuchte der Kapitän zu Hause anzurufen, um seine Frau zu beruhigen. Leider war das Telefon stumm, im Hörer kein Rufzeichen zu hören. „Das kommt öfters vor“, bemerkte Frau Brands. „Bei jedem stärkeren Gewitter geht irgendwas in der Ortszentrale auf der Post in Lomma kaputt, und für ein paar Stunden ist das Telefon lahmgelegt. Man hat uns schon mehrmals versprochen, das in Ordnung zu bringen, aber es ist nie etwas daraus geworden.“ „Die arme Frau Jansson“, sagte Nora, „ich beneide sie nicht, wenn sie irgendwo unterwegs das Gewitter überrascht hat.“ „Das hat es bestimmt nicht“, beruhigte Herr Dalin die schöne Frau. „Wenn sie aus Lomma zu Fuß gegangen ist, hätte sie es noch vor dem Regen geschafft. Sie wird wohl einfach in Malmö geblieben sein.“ 23
„Frau Jansson wollte nach Malmö fahren?“ fragte ich. „Sie hat so etwas gesagt“, erwiderte Gustav Dalin, „als ich sie vor dem Mittagessen auf der Treppe traf.“ Gegen halb zehn wurden die elektrischen Entladungen schwächer. Dafür öffneten sich die Himmelsschleusen, und es ging ein Wolkenbruch nieder, es war, als schütte jemand aus gigantischen Kannen unerhörte Wassermassen herab. Und dennoch war dieser Regen weit besser als der trockene Sturm mit den Blitzen. Wir machten sogar einen Spalt breit die Verandatür auf, weil es im Salon so heiß und stickig war, daß man kaum noch Luft bekam. Frau Brands erinnerte sich an ihre Pflichten als Pensionsinhaberin. Sie wandte sich an das Zimmermädchen: „Lilljan, sind die Betten gerichtet? Die Herrschaften wollen sich bestimmt früher zur Ruhe begeben nach diesen Aufregungen!“ „Ich geh’ schon, Frau Brands“, und unser flinkes Mädchen lief nach oben. Eine Weile herrschte Stille. Wir genossen die frische Luft. Es stimmt, ein Gewitter reinigt die Atmosphäre. Jetzt atmete es sich leicht und frei. Da erscholl irgendwo oben der gellende Schrei einer Frau. Wenig später kam Lilljan die Treppe heruntergerannt. Das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie schwankte. Mühsam stieß sie hervor: „Frau Jansson … ist tot … Ermordet … Sie liegt auf dem Bett …“ Das Mädchen verlor die Besinnung. Wenn Tuvesson nicht gewesen wäre, der in der Nähe stand und sie auffing, sie wäre auf den Teppich des Salons gefallen.
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2. Der Tod trat zwischen fünf und sieben ein Nach Lilljans Worten trat Stille ein. Die Anwesenden standen starr. Es war ein seltsames Bild. Auf der einen Seite die Frauen und Männer, auf der anderen Egil Tuvesson, der das besinnungslose Mädchen in den Armen hielt. Ich faßte mich als erster wieder. Ich lief zu ihm und schob einen in der Nähe stehenden Sessel heran. Der Kapitän bettete die leblose Lilljan hinein. Ich beugte mich über das Mädchen. Ein paar Klapse auf die Wangen, und sie kam wieder zu sich. Und mit ihr auch die übrigen im Salon Versammelten. „Was faselst du da, Lilljan?“ Frau Brands wollte die tragische Nachricht nicht zur Kenntnis nehmen. „Sie ist tot“, wiederholte, diesmal schon wesentlich ruhiger, das Mädchen. „Sie liegt auf der Couch. Den ganzen Kopf voller Blut. Schrecklich …“ Ich riß mich zusammen. „Ich gehe hinauf, um nachzusehen“, sagte ich. „Ich komme mit“, entschied Frau Brands. Alle gingen auf die Treppe zu. Ich hielt die anderen zurück. „Wenn es wahr ist, was Lilljan sagt, dann bleiben Sie besser unten, meine Damen“, schlug ich vor. „Ein Ermordeter ist nichts für Frauenaugen.“ Ich erinnere mich genau, daß ich das Wort „Ermordeter“ gebrauchte, weil mir, der ich als Polizeiarzt den Anblick allerlei makabrer Szenen gewohnt bin, sofort klar war, daß es sich, wenn Lilljan von einer toten, mit blutigem Kopf auf der Couch liegenden Frau sprach, nur um ein Verbrechen handeln konnte. „Ich gehe mit Ihnen hinauf“, wiederholte Frau Brands. „Das gehört wohl zu meinen Pflichten. Im übrigen habe ich schon eine Menge im Leben gesehen. Ich fürchte mich nicht vor den Lebenden und erst recht nicht vor Toten.“ 25
Mit diesen Worten stieg Frau Brands in den ersten Stock hinauf. Ich folgte ihr. Hinter uns kamen die Herren Harding und Dalin sowie, zu meiner großen Verwunderung und meinem Mißbehagen, auch noch Nora Lindner. In dieser Reihenfolge langten wir im zweiten Stock an. Hier, am Ende der Treppe, befindet sich eine kleine rechteckige Halle, von der aus acht Türen in acht Zimmer führen. Nur die Tür zu dem von Frau Jansson bewohnten Zimmer stand offen. Von der Treppe aus war ein kleiner Flur zu erkennen. Linker Hand befand sich die Tür zum Bad. Geradeaus lag das Zimmer. Ich konnte deutlich einen Teil der an der Wand stehenden Couch sehen. Auf der Couch die Umrisse einer weiblichen Gestalt, die mit einer Decke zugedeckt war. Der Kopf war zur Wand gedreht. Das dunkle Haar auf dem Kissen verstreut, ein großer hellroter Blutfleck auf dem Kissen. In meinem Rücken hörte ich eine Frau aufstöhnen. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um festzustellen, daß der schönen Nora die Nerven versagten. Sie waren immerhin schwächer gewesen als die weibliche Neugier. Aber ich eilte ihr nicht zu Hilfe. Ich wußte genau, dies würde ein anderer tun, der mehr dazu berufen war. In einem Satz nahm ich die restlichen Stufen und stürzte als erster ins Zimmer. Ich beugte mich über die Frau. Leider erkannte ich schon auf den ersten Blick, daß hier auch der beste Arzt nichts mehr ausrichten konnte. Frau Jansson war tot. Ich schaute mich im Zimmer um, bemerkte aber keinerlei Spuren eines Kampfes. Das Zimmer machte einen sehr gemütlichen Eindruck. Eine fast übertriebene Reinlichkeit und Ordnung herrschten hier. Außerdem schwebte der feine Duft eines erstklassigen Parfüms in der Luft. In der Tat stand eine ganze Kollektion von Kosmetika auf dem Toilettentisch. Auf dem Stuhl, dicht neben dem Bett, lag das Kleid, das Frau Jansson bei ih26
rem Telefongespräch angehabt hatte, als ich sie zum letzten Mal sah. Man konnte sich leicht ausmalen, was hier vor sich gegangen sein mußte. Nachdem Frau Jansson auf ihr Zimmer zurückgekehrt war, hatte sie das Kleid ausgezogen und sich, nur in Unterwäsche, auf die Couch gelegt. Wahrscheinlich war sie eingeschlafen. Der Verbrecher hatte sich hereingeschlichen und seinem Opfer den Todesstoß versetzt, als es schlief. Der Schlag, mit einem schweren Gegenstand, vielleicht mit einem Hammer oder einem Axtrücken, geführt, war so heftig gewesen, daß die Schädeldecke gesprungen war. Daher die starke Blutung. Der Tod war so plötzlich eingetreten, daß die Schlafende nicht einmal Zeit gehabt hatte zu schreien, ja gar nicht aufgewacht war. Unwillkürlich sah ich auf die Uhr. Es war genau sieben Minuten nach zehn. Ich ergriff den Arm der Toten. Versuchte ihn im Gelenk zu beugen. Ich stieß auf keinen großen Widerstand. Ich tastete die Oberarmmuskeln ab. Die Muskelstarre setzte eben erst ein, aber der Körper war schon völlig kalt. Bei der Hitze und dem niedrigen Luftdruck hatte der Leichnam mindestens drei Stunden gebraucht, um zu erkalten, und die Muskelstarre, der sogenannte rigor mortis, konnte erst eine, ja sogar zwei Stunden nach der Erkaltung des Körpers einsetzen. Wenn man diese fachlichen Ausführungen in eine normale, menschliche Sprache übersetzt, bedeutet das, daß das Verbrechen frühestens um fünf, spätestens um sieben Uhr abends begangen worden sein konnte. Ich teilte meine Beobachtungen Frau Brands und Herrn Harding mit, die in dem Augenblick neben mir standen, dicht vor der Couch der Toten. Dalin hatte Nora Lindner in den ersten Stock, in ihr Zimmer hinuntergebracht. Übrigens imponierte mir Frau Brands. Sie war, glaube ich, noch gefaßter und beherrschter als ich selbst. Dabei gehört die Beschauung einer Leiche für einen Poli27
zeiarzt zum täglichen Brot. Bei der Besitzerin einer eleganten, exklusiven Pension ist das schon etwas anderes. „Wir müssen die Polizei benachrichtigen“, sagte ich, „gibt es in Lomma eine Polizeistation?“ „Ja, aber am anderen Ende des Orts. Das sind reichlich drei Kilometer, wenn nicht noch mehr“, erklärte mir Frau Brands. „Sie haben doch Telefon.“ „Die Telefone gehen nicht. Herr Tuvesson hat es schon nachgeprüft. Nach einem Gewitter und Regen können wir für gewöhnlich mehrere Stunden lang niemanden anrufen.“ „Wenn das so ist, gehe ich zu Fuß“, entschied ich. „Ich komme mit“, erbot sich Herr Harding. „Wir gehen zur Bushaltestelle in Bjarred. Das sind knapp zwei Kilometer. Dort nehmen wir meinen Wagen und fahren auf die Polizeiwache.“ „Nein“, erwiderte ich, „es ist besser, wir gehen gleich nach Lomma. Lassen Sie mal Ihren Wagen nicht anspringen nach dem Gewitter.“ „Also, wissen Sie!“ Harding war empört. „Das ist ein funkelnagelneuer Volvo. Eben erst eingefahren.“ „Genau davor habe ich Angst. Bei neuen Wagen weiß man nie.“ „Wir müssen wohl nicht länger hier stehen“, bemerkte Frau Brands. „Der Herr Doktor hat getan, was zu tun war. Wir können dieser Frau nicht mehr helfen. Ich kann einfach nicht mehr hinschauen.“ Wir verließen das Zimmer. Beim Hinausgehen stellte ich fest, daß die Balkontür angelehnt war. Ich warf einen Blick auf die Terrasse hinaus. Natürlich entdeckte ich dort nichts. Selbst wenn es irgendwelche Spuren gegeben hatte, der Regen hätte sie längst weggewaschen. Ich machte also sorgfältig die Tür zu. Dann löschte ich das Licht im Zimmer, die Tote brauchte es nicht, und schloß die Zimmertür ab. Den Schlüssel gab ich Frau Brands. 28
„Vor Erscheinen der Polizei darf dieses Zimmer niemand mehr betreten“, erklärte ich. „Das ist sehr wichtig. Wir haben nichts in dem Raum angerührt, ich habe nur geprüft, ob Frau Jansson noch lebt und wann ungefähr ihr Tod eingetreten sein muß. Alles übrige ist Sache der Polizei. Vielleicht finden sie dort irgendwelche Spuren, durch die sie den Mörder identifizieren können.“ „Das beste wird sein“, schlug Frau Brands vor, „die Tür mit einem Papierstreifen zuzukleben, auf den wir vorher unsere Unterschriften setzen. Dann wird niemand, selbst wenn er einen Schlüssel hat, es wagen, das Siegel abzureißen.“ „Aber woher nehmen wir das?“ fragte Herr Harding besorgt. „Nichts einfacher als das“, sagte unsere Pensionswirtin. Sie machte ein paar Schritte und öffnete die Tür zu einem Einzelzimmer, einem ebensolchen, wie zur Zeit das Zimmermädchen Lilljan im ersten Stock eins bewohnt. Die Fenster dieses Raums, der übrigens an das von der Verstorbenen bewohnte Zimmer angrenzt, sahen gleichfalls auf die See hinaus. Auf dem Schreibtisch lag Schreibzeug, darunter auch Leim. Frau Brands riß einen schmalen Papierstreifen ab. Wir setzten alle unseren Namen darauf. Frau Brands bestrich den Streifen mit Leim, und dieses provisorische Siegel brachte sie in Höhe ihres Kopfes an der abgeschlossenen Tür an. Wir gingen hinunter. Auf dem Weg griff ich mir meinen Mantel. Herr Harding hatte sich auch, noch oben, etwas zum Überziehen geholt. Er wohnte ja im zweiten Stock, neben dem Zimmer von Gustav Dalin. Und Dalin wiederum war der unmittelbare Nachbar von Maria Jansson. Unten hatten die beiden Männer Tuvesson und Dalin vergeblich versucht, die Frauen zu beruhigen. Am schlimmsten gebärdete sich Nora Lindner, aber auch 29
Lilljan stand nicht viel hinter ihr zurück. Sie hatten noch immer den blutüberströmten Kopf der Toten vor Augen. So etwas vergißt man nicht so leicht. „Kommen Sie“, sagte ich zu Herrn Harding. „Wohin?“ fragte Nora tränenerstickt. „Zur Polizeiwache. Wir müssen dieses entsetzliche Verbrechen melden.“ In dem Moment schlug ganz in der Nähe ein Blitz ein, daß die Fensterscheiben wackelten. „Ihr geht nirgendwo hin“, schrie Nora hysterisch. „Ich lasse euch nicht fort. Eine Tote ist gerade genug.“ „Ganz richtig“, sprang ihr Klara Tuvesson bei. „Bei solchem Sturm das Haus zu verlassen ist nur ein unnötiges Risiko.“ „Der Toten hilft das überhaupt nichts.“ Jetzt kam Frau Brands den beiden Damen zu Hilfe. „Und ich würde mir niemals verzeihen, wenn Ihnen etwas zustieße, meine Herren.“ Wie zur Bestätigung ihrer Worte ließ ein noch stärkerer Blitz die ganze Umgebung grell aufleuchten. Der Schlag war so gewaltig, daß es mir in den Ohren sauste. „Es ist tatsächlich besser, noch ein bißchen zu warten, bis sich das Gewitter beruhigt hat“, fiel nun auch Herr Tuvesson ein. „Das kann nicht mehr allzu lange dauern. Ein Spaziergang auf offener Straße bei solchen elektrischen Entladungen ist nicht ganz ungefährlich.“ Ich wollte widersprechen, aber als ich Herrn Harding ansah, bemerkte ich, daß ihn der Mut mehr und mehr verließ. Im übrigen waren die Argumente von Frau Brands durchaus überzeugend. „Ich gehe in die Küche und mache einen starken Kaffee“, erklärte unsere Wirtin, „das wird uns allen guttun.“ „Ich habe noch eine Flasche Kognak“, erbot sich Tuvesson. „Ich genehmige mir jetzt gern ein Gläschen. Und unseren Damen kann das auch nicht schaden, nehme ich an.“ 30
„Ich mache den Kaffee“, rief Lilljan, die endlich ihre Nerven wieder unter Kontrolle hatte. „Dann kommen Sie.“ Herr Tuvesson ging nach oben, um den versprochenen Kognak zu holen. Ich folgte ihm. Auch Harding strebte der Treppe zu, um seinen Mantel wegzubringen. „Alles wegen dieser Brands“, bemerkte er, „wenn sie sich das mit den Autos nicht in den Kopf gesetzt hätte, stünde mein Wagen jetzt vor der Tür. Wir würden einsteigen und losfahren, ob es regnet oder nicht. Aber bei der beißt man auf Granit. Nein und nein hat sie gesagt, auf jedes Argument von mir. Es ist doch lächerlich, in einer eleganten Pension zu wohnen und seinen Wagen auf einem öffentlichen Parkplatz abstellen zu müssen, zwei Kilometer vom Haus entfernt.“ Ich führe stets eine kleine Handapotheke mit mir, von der ich mich aus Prinzip nicht trenne. Sie enthält auch allerlei Beruhigungsmittel. Ich nahm ein solches Medikament, Brom mit Jod, und verabreichte, als ich wieder unten war, unseren Damen je einen Eßlöffel davon. Es ist ein leichtes Mittel, aber es schmeckt sehr bitter. Ich hoffte, daß es allein durch die Suggestion rasch seine Wirkung tun würde. Und so geschah es denn auch. Schon zehn Minuten später versuchte unsere reizende Alleinstehende wieder zu lächeln. „Was für ein guter Mensch Sie sind, Herr Doktor. Sie haben an uns gedacht. Bei den anderen hätte ich sterben können, sie hätten nichts dergleichen getan.“ Unter „den anderen“ hatte man schlicht und einfach „Dalin“ zu verstehen. Dabei traf den Mann nicht die allergeringste Schuld. Im Gegenteil, von Anfang an hatte er sich sehr eifrig um Frau Lindner bemüht, hatte sie zuerst auf ihr Zimmer und danach ins Parterre hinuntergebracht. Was konnte er dafür, daß er kein Brom bei sich und nicht vorhergesehen hatte, daß Frau Jansson ermordet werden würde. 31
Lilljan und Frau Brands brachten den frischen heißen Kaffee. Er war wesentlich stärker als sonst. Wir tranken ihn mit großem Genuß und horchten dabei hinaus auf das Tosen der See und das Rauschen des Regens vor den Fenstern. Blitze erhellten noch von Zeit zu Zeit den Himmel. Keiner von uns sagte ein Wort. Nach den schrecklichen Erlebnissen der letzten Stunde trat die folgerichtige Reaktion ein. Jeder fühlte sich ungeheuer erschöpft und hatte kein Verlangen zu reden, ja nicht einmal zu denken. So saßen wir eine Stunde. Das Gewitter ließ nicht im mindesten nach. Herr Tuvesson schlug vor: „Es hat keinen Sinn, weiter hier herumzusitzen und auf wer weiß was zu warten. Unsere Damen können sich kaum noch auf den Beinen halten. Auch uns geht es nicht viel besser. Ein entsetzlicher Tag! Es fing schon heute morgen an. Ganz im Ernst, dieser Mord lag schon in der Luft.“ „Nicht die Luft war es, die Frau Jansson umgebracht hat“, widersprach ich, „sondern ein Verbrecher, mit dem Hammer in der Hand.“ „So habe ich es nicht gemeint“, erklärte Tuvesson. „Ich sage nur, daß wir schon vom Morgen an müde waren und am Ende unserer nervlichen Widerstandskraft angelangt. Durch die Schwüle und die veränderten Luftdruckverhältnisse. Wir haben uns alle wenigstens ein paar Stunden Erholung verdient. Ich schlage vor, schlafen zu gehen. Es ist gleich zwölf, und ich halte es für ausgeschlossen, daß das Gewitter früher als in fünf Stunden nachläßt. Es wäre im übrigen auch unvernünftig und geradezu kindisch, bis morgen früh hier im Salon zu hocken. Besser, wir legen uns hin und versuchen zu schlafen. Selbst wenn es nur kurz ist.“ Die Überlegung war richtig und nichts dagegen einzuwenden. Wir trennten uns also und suchten unsere Zimmer auf. Das „Gute Nacht“, mit dem wir uns verabschiedeten, klang wie Hohn. 32
„Ich habe einen Wecker“, sagte Herr Harding, „ich stelle ihn auf sechs und wecke Sie, Doktor. Dann gehen wir zusammen auf die Wache.“ Ich dankte dem guten Mann. Als ich in mein Zimmer kam, war ich so erschlagen, daß ich nur noch die Schuhe und das Jackett ausziehen konnte und mich auf die Couch fallen ließ. Es war nicht mal das Bett gemacht, Lilljan begann ihren Abenddienst offenbar im zweiten Stock. Danach hatte sie nicht mehr die Nerven dafür gehabt. Kaum hatte ich den Kopf auf die Rolle gelegt, da sank ich auch schon in einen tiefen, bleiernen Schlaf. Ohne irgendwelche Träume. Ich wurde wach, als mich jemand an der Schulter rüttelte. Mühsam schlug ich die Augen auf. Vor mir stand Herr Harding. „Sie haben aber einen festen Schlaf, Doktor“, bemerkte er. „Erst habe ich angeklopft, ohne Erfolg. Zum Glück war die Tür nicht abgeschlossen. Aber ich mußte Sie gründlich durchschütteln, bis ich Sie wach bekam.“ Schlagartig kam ich zu mir, setzte mich auf. Herr Harding war vollständig angezogen, sogar schon im Mantel. Ich sah zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber tiefe Wolken krochen dicht über der See dahin. Es war erst fünf nach sechs. Ich fuhr rasch in Schuhe und Jackett. Als wir nach unten gingen, trafen wir dort schon Frau Brands. Sie trug dasselbe Kleid wie am Abend. Hatte sie sich überhaupt nicht schlafen gelegt? „Vielleicht frühstücken die Herren erst?“ schlug sie höflich vor. „Nein, danke“, sagte ich. „Wir benachrichtigen die Polizei von dem Verbrechen und kommen sofort wieder zurück.“ „Ich habe versucht anzurufen, aber die Telefone gehen immer noch nicht.“ „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir sind sowieso gleich dort“, bemerkte der Industrieunternehmer aus Stockholm. 33
Diesmal protestierte ich nicht, als Herr Harding, sobald wir draußen auf der Straße standen, seine Schritte nach links, in Richtung Bjarred lenkte. Binnen einer Viertelstunde waren wir an einem großen Holzgebäude angelangt – der Autobushaltestelle. Hier, auf einem kleinen Parkplatz, standen mehrere Autos. Darunter der dunkelblaue, funkelnagelneue Volvo, der vor Lack und Nickel nur so blitzte. Sein Besitzer war mächtig stolz, daß er den Anlasser nur anzutippen brauchte und der Motor sofort ansprang. Wir fuhren im Schnitt mindestens hundert, passierten fast das ganze, um diese Zeit noch verlassene Lomma und hielten vor einem kleineren Gebäude mit der Aufschrift „Polisstation“. Wir mußten ziemlich lange klopfen, bis uns ein verschlafener Polizist öffnete. Einer von den zweien, aus denen die Besatzung der kleinen stillen Wache besteht. Der Polizist hörte sich unseren kurzen Bericht schweigend an und griff ebenso schweigend zum Telefonhörer. Doch er wartete vergeblich auf ein Zeichen, obwohl er mehrmals auf die, Gabel pochte. Schließlich stieß er einen Fluch aus. Mißmutig warf er den Hörer auf. „Immer das gleiche Lied“, sagte er, „wenn es mal ein bißchen mehr regnet, fallen in Lomma sämtliche Telefone aus. Wir haben schon ein paarmal beantragt, daß sie das reparieren. Aber jetzt schreibe ich einen Bericht, der sich gewaschen hat.“ Er griff nach dem Funkgerät, und wenig später meldete er: „Hier Lomma, hier Lomma. Leiter der Polizei, Algot Olsson. Hört ihr mich? Ich gehe auf Empfang.“ Nachdem die Verbindung bestätigt worden war, meldete Olsson: „In der Pension Brands in der Strandvägen wurde ein Verbrechen verübt. Schicken Sie sofort ein paar Männer von der Kriminalpolizei her. Ich wiederhole: Es wurde ein Verbrechen verübt in …“ 34
Er schaltete das Gerät aus und erläuterte uns: „Ich habe in Lund bei der Polizeidirektion Meldung gemacht. Sie haben versprochen, die Leute von der Spurensicherung herzuschicken. Fahren Sie zurück, ich komme auch hin, ich verständige nur noch den förste poliskonstapel.“ Schweigend fuhren wir in die Pension zurück. Diesmal hatte Frau Brands nichts dagegen einzuwenden, daß Harding seinen Wagen vor der Auffahrt der Villa parkte. Lilljan war schon auf den Beinen. Sie bat uns in den Speisesaal, wo für zwei Personen gedeckt war. Als wir unser Frühstück aßen, erschien unsere Hausherrin. Wir berichteten ihr kurz über alles. „Eine entsetzliche Geschichte“, stellte Frau Brands fest. „Ein Mord und die Polizei in meinem Haus. Die ganze Saison ist hin. Kein lahmer Hund mietet sich jetzt mehr bei mir ein. Ich kann mir gut vorstellen, was für eine Reklame die Presse für mich macht.“ „Keine Sorge“, beschwichtigte sie Harding, „bei uns in Schweden gibt es so viele sensationslüsterne Leute, daß sie sich hier zu Türen und Fenstern hereindrängen werden.“ Wir hatten unser Frühstück noch nicht beendet, als Korporal Olsson auch schon vorfuhr, und wenig später hielten zwei graue Wagen mit der Aufschrift „Polis“ auf schwarzem Streifen vor dem Haus. Dem ersten entstieg ein gutaussehender blonder Mann in Begleitung eines älteren Herrn. Aus dem zweiten Wagen sprangen gleich drei Männer mit Köfferchen in der Hand. Sie sahen sich neugierig um. Ich ging den beiden entgegen. Als Polizeiarzt wußte ich sofort Bescheid über die Rollenverteilung. Der junge Mann war der Polizeioffizier aus Lund, der zum „Untersuchungsoffizier“ in diesem Fall ernannt worden war. Bei dem Älteren handelte es sich vermutlich um den Polizeiarzt aus Lund. Die drei anderen hingegen stammten von der Spurensicherung: ein Fotograf, 35
ein Daktyloskop und der Fachmann für Schlösser und derlei Dinge. Ich stellte mich vor: „Bjorn Nilerud, Polizeiarzt.“ „Oh!“ verwunderte sich der Blonde. „Wer hat Sie hierher beordert?“ „Ein Zufall. Ich habe ganz einfach Urlaub und bin Gast der Pension. Ich nehme an“, fügte ich, an den älteren Herrn gewandt, hinzu, „ich habe einen Berufskollegen vor mir?“ „Ganz recht. Thorsten Ross, Arzt“, stellte er sich vor. „Ich freue mich, daß Sie hier sind, Herr Kollege. Zu zweit haben wir leichtere Arbeit. Darf man fragen, wo Sie beschäftigt sind?“ „In Uppsala. Bei Polizeidirektor Lars Estberg.“ Ich faßte in die Tasche und hielt dem Blonden meinen Dienstausweis hin. Erst als er einen Blick darauf geworfen hatte, erschien etwas wie ein wohlwollendes Lächeln auf seinen Lippen. „Wir hoffen“, sagte er, „daß Sie uns bei dem Fall behilflich sind, Herr Doktor. Merkwürdige Geschichte, ein Mord in Lomma! Dem kleinen stillen Lomma. Kaum zu glauben.“ „Sie können sich auf mich verlassen, Herr …“ Hier machte ich absichtlich eine Pause. Der Blonde begriff, denn er sagte: „Magnus Torg, Oberleutnant aus Lund. Auf Befehl des Polizeidirektors zum Untersuchungsoffizier für diesen Fall ernannt.“ „Es wäre mir eine unerhörte Freude“, sagte ich, „wenn sich meine Hilfe als nützlich erwiese. Leider weiß ich nicht allzu viel. Es macht alles einen außerordentlich rätselhaften Eindruck. Aber kommen Sie doch herein …“ In der Tür stand Frau Astrid Brands. Ich stellte ihr die Herren von der Polizei vor, und ihnen erklärte ich, sie hätten die Besitzerin der Pension vor sich. Gemeinsam gingen wir hinauf. Magnus Torg lächelte leise beim Anblick der versiegelten Tür. 36
„Wie ich sehe, haben Sie mit den ersten Ermittlungen schon begonnen, Doktor.“ „Ich bin Polizeiarzt“, erklärte ich noch einmal, „folglich fand ich, ich hätte die Pflicht …“ „Das haben Sie großartig gemacht“, lobte mich Torg, „aber im Zimmer ist doch hoffentlich nichts angerührt worden?“ „Nicht das geringste“, versicherte ich. „Ich habe lediglich festgestellt, daß das Opfer nicht mehr lebt, und habe eine Probe vorgenommen, um den Zeitpunkt festzustellen, zu dem der Tod eingetreten ist. Ich war nämlich der Meinung, ich könnte das wesentlich genauer sagen als ein anderer Arzt, der erst nach ein paar Stunden an den Tatort kommt.“ „Ganz recht“, pflichtete mir Magnus Torg bei. „Zu welchem Schluß sind Sie gelangt, Herr Kollege?“ erkundigte sich Doktor Thorsten Ross. „Ich habe den Leichnam genau um zweiundzwanzig Uhr fünf untersucht. Ich stellte die beginnende Muskelstarre fest. Weil der gestrige Tag ausnehmend heiß und es in dem Zimmer, wo die Ermordete lag, sehr warm war, nehme ich an, daß die Leiche zwei bis drei Stunden brauchte, um zu erkalten, der Erstarrungsprozeß begann noch eine Stunde später. Der Mord wurde also, meiner Meinung nach, zwischen fünf und sieben Uhr abends begangen.“ „Ich stimme mit Ihnen überein, Doktor“, sagte der Polizeiarzt aus Lund. Frau Brands gab Magnus Torg den Zimmerschlüssel. Er steckte ihn ins Schloß und drehte um … Jetzt, am Abend, habe ich den Verlauf der Ereignisse möglichst genau niedergeschrieben, bis hin zu dem Moment, als der Oberleutnant eigenhändig das Siegel von der Tür herunterriß und das Zimmer von Maria Jansson betrat, um offiziell die Untersuchung in dem 37
Mordfall zu übernehmen. Ich hoffe, diese detaillierten Aufzeichnungen sind dem jungen Kriminalbeamten weitaus mehr von Nutzen als die Vernehmung der Pensionsbewohner. Deren Aussagen erfassen notwendigerweise nicht sämtliche Ereignisse jenes Unglückstages, weil jeder einzelne nur an einem Bruchstück von ihnen teilhatte. Darüber hinaus verfügen diese Leute nicht über die Gabe, so logisch vorzugehen wie ein Polizeiarzt, und konnten, als sie so zufällig mit einem Verbrechen in Berührung kamen, nicht die nötige Übersicht bewahren, die für einen objektiven Zeugen unerläßlich ist.
3. Nummer 38 242 Oberleutnant Magnus Torg schloß die Tür auf und trat als erster ein, auf dem Fuße gefolgt von den beiden Polizeiärzten und den Beamten von der Spurensicherung. Ihre Koffer hatten sie in der Halle im zweiten Stock abgestellt. Im Zimmer war es sehr warm. Die breite Balkontür, sorgfältig geschlossen, ließ keine Luft ein, und zu allem Überfluß schien die Sonne, die die Wolken verjagt hatte, direkt in die Fenster. Außerdem hing süßlicher Blutgeruch im Raum. Der Oberleutnant schaute sich also nur oberflächlich im Zimmer um und machte die Tür zur Terrasse weit auf. Erst dann trat er zu der Couch. Maria Jansson lag auf dem Rücken, den Kopf leicht seitlich zur Wand gedreht. Das Blut auf dem Kissen war mittlerweile zu einer harten Kruste geronnen. Zum Teil verklebte es auch als dunkler Fleck das Haar der Toten. „Sie starb durch einen Schlag auf den Kopf, der so stark war, daß die Schädeldecke platzte. Daher das viele Blut“, erklärte Polizeiarzt Bjorn Nilerud. Der zweite Arzt, Doktor Thorsten Ross aus Lund, 38
beugte sich neugierig über die Tote. Er besah sich die Wunde. „Ein Schlag mit etwas Schwerem. Hammer oder Axtrücken.“ „Fotograf“, befahl Magnus Torg kurz. Der Polizeifotograf machte rasch eine Aufnahmenserie. Von der Toten sowie von dem ganzen Zimmer. Oberleutnant Torg inspizierte das Zimmer sehr genau. Es herrschte eine vorbildliche Ordnung darin. Auf dem Toilettentisch lag allerhand Krimskrams. Auf dem Tisch neben der Blumenvase lag eine Illustrierte, auf der Seite mit dem Kreuzworträtsel aufgeschlagen, das halb gelöst war. Daneben ein Buch. Eine billige Taschenausgabe, wie man sie meist für den Urlaub ersteht, wo Lesen nur bei anhaltend schlechtem Wetter auf dem Programm steht. Auf dem Stuhl, über die Lehne geworfen, hing ein graues Wollkleid. Dicht vor dem Bett standen die Hausschuhe, ordentlich ein Schuh neben dem anderen, als stünden sie „stramm“. „Hat hier auch niemand was angerührt?“ fragte der Kriminalbeamte. „Nein“, antwortete Astrid Brands, die an der Tür stand. „Wir, Doktor Nilerud, Herr Harding und ich, haben das Zimmer nur kurz betreten. Als wir festgestellt hatten, daß Frau Jansson tot ist, haben wir es sofort wieder verlassen. Vorher hat der Herr Doktor noch die Balkontür geschlossen.“ „Warum haben Sie die Polizei nicht gleich verständigt?“ „Wie denn? Eine halbe Stunde nachdem der Regen eingesetzt hatte, ging in ganz Lomma kein Telefon mehr. Die vier Kilometer bis zur Polizeiwache zu Fuß zurückzulegen, bei dem Gewitter, das draußen tobte, bei den Einschlägen und Regenmassen, das war völlig ausgeschlossen. Deshalb haben wir das Zimmer versiegelt und die Polizei alarmiert, als das wieder möglich war.“ „Diese Strippenleger kriegen noch ihre Abreibung für die toten Telefone! Dauernd passiert das wieder.“ 39
„Das geht bestimmt schon seit acht Jahren so“, bezeugte einer der Polizisten. „Immer reden sie sich damit heraus, daß die Schächte schlecht gebaut sind, das Kabel immer gleich unter Wasser liegt und es einen Kurzen gibt.“ „Und warum gibt es woanders keinen Kurzen, immer nur in Lomma?“ „Ich weiß es nicht. Sie begründen es so.“ „Sie werden sich einen plausibleren Grund ausdenken müssen.“ Einer von der Spurensicherung schaute unter die Couch. „Dort liegt was“, sagte er. Behutsam, mit Hilfe einer Metallstange, die er aus seinem Köfferchen geholt hatte, zog er einen großen, schweren Hammer unter der Couch hervor. An dem Eisen waren geronnene Blutspuren. Ein daran befindliches Haar von der Toten bewies, daß dies die Waffe war, die der Mörder benutzt haben mußte, um den Todesstreich zu führen. „Vorsichtig, es können Fingerabdrücke daran sein“, bemerkte Doktor Nilerud. Der Beamte warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Der Polizei was beibringen wollen, das hab’ ich gern“, knurrte er. Er faßte den Hammer behutsam mit einem Tuch an seinem Schwerpunkt und legte ihn ebenso behutsam auf den Tisch. Darauf entnahm er seinem Köfferchen ein Sprühgerät und besprühte Griffoberfläche und Eisen mit einer hellgrauen Staubschicht. „Nichts dran“, stellte er fest. Er drehte den Hammer um und wiederholte die Prozedur. „Der Halunke hat mit Handschuhen gearbeitet“, sagte er, „ich gehe jede Wette ein, daß wir im ganzen Zimmer nicht einen Abdruck von ihm finden. Jetzt zieht sogar jeder gewöhnliche Laie Handschuhe an. Die Kri40
minalfilme und -romane sind eine gute Schule für diese Leute.“ „Ich war überzeugt“, warf der Oberleutnant ein, „daß wir an diesem Hammer nichts finden würden.“ „Der Stiel ist noch ganz weiß“, ließ sich abermals Doktor Nilerud vernehmen, „das beweist, daß der Hammer erst vor kurzem gekauft und nicht benutzt wurde. In Bjarred und in Lomma gibt es nur ein paar Läden, wo man so einen Hammer bekommen kann. Vielleicht erinnert sich der Verkäufer, wer in letzter Zeit so ein Ding gekauft hat?“ „So ein Schulmeister, verdammt noch mal“, zischte der Kriminalbeamte, den der Arzt schon auf die möglichen Fingerabdrücke auf der Mordwaffe aufmerksam gemacht hatte. Die beiden Ärzte taten, als hätten sie nichts gehört. Auch der, Oberleutnant schenkte dieser immerhin nicht allzu höflichen Bemerkung seines Untergebenen keine Beachtung. Er gab Nilerud lediglich zur Antwort: „In Lomma und Bjarred gibt es nur ein paar solcher Läden, aber schon in Lund kann man so einen Hammer fast in jeder Straße, ja in jedem größeren Lebensmittelladen erstehen. Und in Malmö gibt es Hunderte dieser Läden. Im übrigen ist überhaupt nicht gesagt, daß der Mörder das Ding in Schweden erworben hat. Er kann ja einfach die sechs Kronen und achtzig Öre darangesetzt haben und nach Kopenhagen gefahren sein. Weder unsere noch die dänische Polizei wird in der Zweimillionenstadt anfangen, nach dem Laden zu suchen, in dem dieser Hammer verkauft wurde. Es ist keinerlei Zeichen, keine Firmenmarke daran. Solche Hämmer gibt es zu Tausenden. Natürlich werden wir der Ordnung halber in Lomma und Umgebung Nachforschungen anstellen, aber das ist auch schon alles.“ Torg schaute sich im Zimmer um, dann trat er auf die Terrasse hinaus. Er besah sich eingehend die Balustrade, neben der die Dachrinne entlanglief. 41
„Wenn der Kerl geschickt war, könnte er zur Not von hier oben heruntergerutscht sein“, bemerkte er, „aber es ist ausgeschlossen, daß er ohne Leiter hier heraufkommt. Es sei denn, der Mann hätte Flügel.“ In der Zwischenzeit hantierten die Männer von der Spurensicherung flink und geschickt. Die Ergebnisse ihrer Arbeit entzückten sie jedoch ganz und gar nicht. Der Daktyloskop drückte das mit den Worten aus: „Verlorene Liebesmüh das Ganze. Fingerabdrücke gibt es jede Menge, aber fast alle wiederholen sie sich. Die meisten stammen von der Toten, die anderen sicherlich von den Hausbewohnern.“ „Bitte nehmen Sie die Fingerabdrücke von allen Gästen der Pension und vom Personal“, sagte Magnus Torg. „Und lassen Sie auch Fotos machen. Bis morgen früh will ich das Zeug haben.“ Die Männer waren fertig mit ihrer Arbeit, sie packten ihre Köfferchen, und einer fragte: „Werden wir noch gebraucht?“ „Nein. Fahren Sie nach Lund zurück, meine Herren“, entließ sie Oberleutnant Torg. „Jetzt ist die Reihe an uns“, sagte Thorsten Ross. Der Arzt beugte sich über die Tote und schlug die Decke zurück, mit der sie zugedeckt war. Die Frau hatte nur die Unterwäsche an. Deren Eleganz sprach für Maria Janssons guten Geschmack als auch dafür, daß Geld bei ihr keine Rolle gespielt hatte. „Weit fortgeschrittene Muskelstarre“, stellte Doktor Ross fest. „Kein Wunder“, pflichtete ihm Nilerud bei. „Ich habe sie zum letzten Mal gestern abend um zehn gesehen. Da setzte der Prozeß eben ein. Inzwischen ist eine Nacht vergangen, und jetzt haben wir es bereits elf Uhr vormittags.“ Doktor Ross nahm die weitere Untersuchung der Leiche vor. Sein Kollege stand abseits und mischte sich nicht 42
ein. Es war ja nicht seine Aufgabe und nicht sein Revier. Er hatte Urlaub. „Schauen Sie sich das an, Herr Kollege“, bemerkte Ross. „Sie hat eine Tätowierung am Unterarm. Interessant, eine Zahl …“ Auf der weißen Haut der Toten hoben sich deutlich sichtbar mehrere kleine blaue Ziffern ab. „Drei, acht, zwei, vier, zwei“, las Doktor Ross. „Achtunddreißigtausendzweihundertzweiundvierzig.“ „So etwas sehe ich zum ersten Mal“, stellte Nilerud fest. „Ich auch“, gab der andere Arzt zu. „Das müssen wir dem Oberleutnant zeigen. Herr Torg …“ Magnus Torg hatte unterdessen in Begleitung von Frau Brands die anderen Räume der Pension besichtigt, die im gleichen Stockwerk lagen. Auf Doktor Ross’ Ruf hin kam er rasch in Frau Janssons Zimmer zurück. „Was ist passiert?“ fragte er. „Sehen Sie mal, Oberleutnant. Die Tote hat eine Nummer auf dem Arm eintätowiert.“ „Jetzt verstehe ich, warum Frau Jansson immer in langärmeligen Blusen und Pullovern herumgelaufen ist“, sagte Frau Brands und wiegte den Kopf. „Offenbar hat sie sich dieser Tätowierung geschämt.“ „Ganz gewiß nicht“, erwiderte Magnus Torg, „im Gegenteil, sie hätte stolz darauf sein können, das versichere ich Ihnen.“ „Was bedeutet diese Zahl?“ erkundigte sich Nilerud. „Sie beweist, daß diese Frau in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde.“ „Auschwitz …“ Doktor Ross zuckte zusammen. „Davon habe ich schon allerhand gehört. Als ich vor ein paar Jahren an einem Ärztekongreß in Polen, in Krakau, teilnahm, hatten die Gastgeber eine Fahrt in das Lager organisiert. Ein niederschmetternder Eindruck. Wenn mich jemand in die Hölle geführt hätte, etwas Schlimmeres hätte ich 43
dort auch nicht zu sehen bekommen können. In Auschwitz haben die deutschen Faschisten über drei Millionen Menschen umgebracht. Männer, Frauen und Kinder.“ „Aber Schweden war doch neutral“, wunderte sich Doktor Nilerud. „Wie kommt diese Frau also in ein Lager, in das nur die Feinde Deutschlands gesteckt wurden?“ „In Auschwitz sind auch Tausende von Deutschen umgekommen. Nur weil sie nicht so dachten wie Hitler.“ „Nun ja“, sagte Bjorn Nilerud nachdenklich, „wenn ich nicht aus den Händen der Gestapo hätte fliehen können, damals, neunzehnhundertvierundvierzig in Norwegen, wäre ich vielleicht auch in eins dieser Lager gekommen. Natürlich, wenn sie mich nicht auf der Stelle abgeknallt hätten.“ „Und Sie, ein Mitglied der norwegischen Widerstandsbewegung, wußten nicht, was diese Nummer zu bedeuten hat, Doktor?“ wunderte sich Ross nun seinerseits. „Ich habe die Nummer nicht gleich mit dem Krieg in Verbindung gebracht“, rechtfertigte sich Nilerud. „Im übrigen habe ich nicht einmal gewußt, daß die deutschen Faschisten die Häftlinge in den Lagern tätowierten. In Norwegen haben sie das nicht gemacht. Ich habe nie jemanden gesehen, der in Auschwitz war.“ „Weil wesentlich mehr Menschen dort umgekommen waren als überlebt hatten.“ „Aber Schweden war neutral“, beharrte Nilerud. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Deutschen eine Bürgerin eines neutralen Staates in ein Lager stecken konnten. Es lag ihnen doch viel zuviel an Schweden.“ Doktor Ross winkte ab. „Es lag ihnen soviel an uns, wie einem Tiger an einer Mücke. Ich habe zwar auch noch nicht gehört, daß Schweden in Konzentrationslagern gewesen wären, aber es ist nicht ausgeschlossen. Frau Jansson kann ja da44
mals in Deutschland gelebt haben oder irgendwo in den besetzten Gebieten. Und hat beispielsweise einem entflohenen Häftling geholfen oder ganz einfach einen Juden versteckt? Die Faschisten hielten das für ein Verbrechen, das mit Erschießen bestraft wurde. Die Deportation in ein Lager war eine ‚milde‘ Strafe.“ „Eine schreckliche Zeit“, stieß Nilerud flüsternd hervor. „In der ein Menschenleben nichts galt“, stimmte Doktor Ross zu. „Wer war diese Frau?“ fragte Magnus Torg. „Bisher kenne ich nur ihren Familiennamen, aber in Schweden gehen die Janssons in die Zehntausende.“ „Maria Jansson“, klärte Frau Brands ihn auf. „Witwe des Erik Jansson. Heute Mitinhaberin der Firma ‚Erik Jansson & Sohn, Import und Export‘.“ „O lala!“ Magnus Torg stieß einen Pfiff aus. „Die Firma kenne ich. Mein Cousin befährt auf einem von den Ozeandampfern dieses Unternehmens die Route Brasilien. Eine reguläre Linie nach Südamerika und in die Länder des Fernen Ostens. Niederlassungen wahrscheinlich in allen größeren Häfen der Welt. Eine Millionärin. Das reicht gar nicht. Eine Milliardärin! Eine der reichsten Frauen Schwedens. Das wird ja einen Rummel in der Presse geben, wenn die erfahren, wer in Lomma ermordet wurde. Daß das ausgerechnet mich treffen mußte, zum Henker!“ Der arme Oberleutnant! Kein Wunder, daß ihm das so an die Nieren ging. Wenn er sich bei der Aufklärung dieses Falls kompromittierte, würde das Folgen für seine weitere Karriere haben; er würde lange auf Beförderung warten müssen. Aber offenbar waren Widrigkeiten und Gefahren für Torg nur ein Ansporn, denn sofort überschüttete er Frau Brands mit Fragen: „Besitzen Sie die Privatadresse der Frau?“ „Natürlich. Frau Jansson wohnte in ihrer Villa am 45
Vällingby-See in Stockholm. Die Anschrift der Firma steht im Telefonbuch.“ „Haben Sie die Firma schon von Frau Janssons Tod unterrichtet?“ „Noch nicht.“ „Geben Sie bitte sofort ein Telegramm auf. Oder besser, rufen Sie an.“ „Die Telefone sind doch kaputt.“ „Stimmt ja. Ach, hol’s der Teufel … Telegrafieren Sie also bitte. Es soll aber sofort jemand von der Familie herkommen.“ Frau Brands wandte sich zur Tür. „Einen Moment bitte noch.“ Die Frau blieb stehen. „Hatte Frau Jansson eine größere Geldsumme bei sich?“ fragte Oberleutnant Torg. „Geld?“ fragte die Besitzerin der Pension erstaunt zurück. „Wozu? Sie besaß ein Scheckbuch. Einen Scheck der Firma ‚Erik Jansson & Sohn‘ nimmt jede Bank in ganz Skandinavien entgegen und prüft nicht einmal nach, ob er gedeckt ist, sondern zahlt auf der Stelle die verlangte Summe aus. Frau Jansson zahlte für gewöhnlich mit Schecks. Es sei denn, es handelte sich um irgendwelche kleinen Einkäufe.“ „Wir müssen das Scheckbuch suchen“, entschied Torg. „Wo trug sie es?“ „Wie jede Frau, in der Handtasche.“ Die Handtasche der Toten lag auf dem Tischchen, das neben der Couch stand. Magnus Torg nahm sie an sich und öffnete sie. Obenauf, zwischen anderem Kleinkram, lag in einer schönen Saffianhülle das Scheckbuch. Magnus Torg sah sich neugierig die Eintragungen auf dem Rücken der ausgerissenen Schecks an. Es waren verschiedene kleinere Summen. Die größte belief sich auf ein paar hundert Kronen und trug den Vermerk „Anzahlung für Frau Brands“. 46
Torg legte das Büchlein auf den Tisch und nahm der Reihe nach die anderen Utensilien heraus. Ein Schminktäschchen, ein Kugelschreiber, eine winzige Brieftasche, darin zweihundertunddreißig Kronen in Scheinen und etwas Kleingeld. Ein Taschentuch, ein kleines Notizbuch mit irgendwelchen Eintragungen. In einem gesonderten Fach ein paar Fotos. Darauf Maria Jansson in Gesellschaft eines älteren Herrn und eines Jungen. Und dieselben Personen einige Jahre später. Der Junge schon fast erwachsen. Kurz: nichts Besonderes, was ein Licht auf das Drama des gestrigen Abends hätte werfen können. Oberleutnant Torg tat alles in die Tasche zurück. „Besaß sie irgendwelchen Schmuck?“ fragte er. „Ja“, bestätigte Frau Brands, „sogar eine ganze Menge. Ich habe mindestens zwei Armreifen, eine goldene Armbanduhr und mehrere Ringe gesehen. Es waren keine besonders wertvollen Stücke, aber immerhin würde ich sie zusammen auf einige tausend Kronen schätzen. Frau Jansson sagte mir einmal, sie sei sehr für schönen Schmuck zu haben und besäße sehr kostbare Smaragde und ein herrliches Brillantkollier. Sie erwähnte auch noch andere Brillanten. Sie wird wohl einen Teil ihres Vermögens ganz einfach in Diamanten angelegt haben. Doch ich glaube, daß sie die nicht mit nach Lomma gebracht hat. Die liegen entweder im Panzerschrank zu Hause oder in einem Banksafe.“ „Und den Schmuck, den sie mit hatte, wo bewahrte sie den auf?“ „Ich pflege nicht das Gepäck meiner Gäste zu durchsuchen“, antwortete Frau Brands. „Ach, so habe ich das nicht gemeint, aber vielleicht haben Sie es bemerkt?“ versuchte sie Torg zu besänftigen. „Nein. Es sei denn, Lilljan, das Zimmermädchen, könnte dazu etwas sagen.“ „Wo ist sie?“ 47
„Entweder macht sie die Zimmer sauber oder hilft in der Küche.“ „Bitte lassen Sie sie rufen.“ „Lilljan hat Frau Jansson gestern als erste gefunden. Sie ist buchstäblich in Ohnmacht gefallen vor Schreck. Als ich ihr heute auftrug, die Zimmer sauberzumachen, sagte sie mir, lieber würde sie ihre Stellung verlieren, als auch nur einen Fuß in den zweiten Stock setzen, solange sich die Tote hier befindet.“ Magnus Torg hatte einen Fluch auf der Zunge, aber er hielt an sich und sagte beherrscht: „Na schön. Kommt der Berg nicht zu Mohammed, geht Mohammed zum Berg. Bitte führen Sie mich zu ihr.“ Und an die übrigen Personen gewandt, setzte er hinzu: „Sie warten hier auf mich, meine Herren.“ Lilljan fand man im ersten Stock. Auf Torgs Frage erklärte sie, Frau Jansson habe eine Holzdose mit einer merkwürdigen Schnitzerei darauf besessen. Irgendwelche Berge und davor ein Mann mit einem runden Hut, einer Pfeife zwischen den Zähnen und einer Axt an einem langen Stock in der Hand. In dieser Dose befand sich der Schmuck, den sie gerade nicht trug, und eine kleine Uhr. Die Dose habe für gewöhnlich in einem Schubfach des Toilettentisches gestanden. Außerdem machte Lilljan ziemlich erschöpfende Angaben, was für Schmuck die reiche Schwedin getragen hatte. Neben zwei dicken Eheringen aus Dukatengold gab es da noch einen Brillantring, einen ebensolchen mit einem großen Rubin, einen anderen Ring mit einer Perle, in kleine Brillanten gefaßt, Brillantohrringe und zwei Armreifen. Der eine modern, eine stilisierte Kette aus Weißgold, der andere alt, in Form einer Schlange, die anstelle der Augen zwei Brillanten und zwischen den Zähnen einen großen Saphir trug. Außer einer kleinen goldenen Uhr mit Armband gab es auch noch eine andere. Größer, aus Gold, mit einem gewöhnlichen Nylonarmband. 48
„Wozu hat diese Frau nur soviel Gold mitgeschleppt?“ wunderte sich der Oberleutnant. „Sie hat sich doch nicht mit all dem Zeugs in den Sand gelegt.“ „Nein“, erklärte Lilljan. „Frau Jansson ging überhaupt selten an den Strand. Viel öfter fuhr sie nach Malmö oder nach Kopenhagen. Dann zog sie sich sehr elegant an. Sie hatte viele hübsche Sachen mit. Zwei große Koffer und eine Reisetasche.“ Oberleutnant Torg ging wieder hinauf und erzählte den Ärzten die von dem Zimmermädchen gehörten Neuigkeiten. „Eine dieser beiden Uhren hat die Tote am Arm“, bemerkte Doktor Ross. „Ein kostbares Ding, ganz aus Platin, Marke Pilippe-Patek, die teuerste Schweizer Uhrenmarke.“ „Das wundert mich gar nicht“, knurrte Nilerud. „Sie konnte es sich leisten.“ Magnus Torg zog das Schubfach am Toilettentisch heraus. Zwischen Handschuhen, Taschentüchern und anderem Damenkrimskram stand ganz obenauf die kleine Holzdose. Sie war so verziert, wie Lilljan es beschrieben hatte, aber innen leer. „Da haben wir das Mordmotiv“, stellte Nilerud fest. „Der Verbrecher ermordete sie, während sie schlief, und raubte ihren Schmuck. Offenbar war ihm diese mit kostbarem Schmuck behangene Dame schon in Malmö oder sogar in Kopenhagen aufgefallen. Dann hat er sie verfolgt, hat ausgekundschaftet, wo sie wohnt, hat sich die Unaufmerksamkeit des Personals zunutze gemacht und sich nach oben geschlichen. Und zwar bestimmt in den Vormittagsstunden, als alle, außer Frau Jansson, am Strand waren.“ „Dann hätte er nur den Schmuck gestohlen. Er hätte keinen Mord zu begehen brauchen“, bemerkte Magnus Torg. „Niemand konnte die Villa betreten, ohne vom Perso49
nal bemerkt zu werden. Lilljan sitzt, wenn sie nicht saubermacht, in der Halle“, sagte Frau Brands. „Oder sie hilft Frau Moberg in der Küche“, ergänzte Doktor Nilerud boshaft. „In dem. Fall beaufsichtige ich das ganze Haus, oder die Eingangstür wird abgeschlossen“, verteidigte Frau Brands die Ehre ihrer Pension. „Mal angenommen, es wäre so gewesen, wie Sie das vorgetragen haben, Herr Kollege“, ließ sich jetzt Doktor Ross vernehmen, „dann hätte es keinen Mord gegeben. Es wäre einfach nur der Schmuck verschwunden.“ „Frau Jansson fuhr am Morgen in die Stadt.“ Doktor Nilerud blieb bei seiner These. „Sie hat uns nicht gesagt, wohin sie wollte, aber ich vermute, nach Malmö. Einen Teil ihres Schmucks hatte sie angelegt, wie gewöhnlich. Der Mörder wußte das, vielleicht traf er sie sogar unterwegs und beschloß, auf ihre Rückkehr zu warten, um größere Beute zu machen?“ „Das überzeugt mich nicht“, wandte Torg ein. „Wieso nicht?“ fragte der Arzt aus Uppsala aufgebracht. „Hier auf jemanden zu warten, den man berauben und umbringen will, das Risiko ist zu groß.“ „Aber durchaus nicht. In diesem Stock sind nur drei Zimmer belegt. Fünf stehen frei. In jedem kann der Dieb nicht nur ein paar Stunden gewartet haben, sondern einen ganzen Tag.“ „Und trotzdem habe ich meine Zweifel zu Ihrer Hypothese.“ „Sie ist ziemlich wahrscheinlich. Sie erklärt den ganzen Hergang der Ereignisse.“ „Ein Verbrecher, der um einer nicht allzu wertvollen Beute willen – knapp ein paar tausend Kronen – einen Menschen ermordet, ist mir noch nicht begegnet. Zumal wenn er mit erheblich geringerem Risiko einen nicht viel kleineren Fischzug machen kann. Noch dazu hat er den 50
wertvollsten Gegenstand, die Platinuhr mit Armband, an der Hand der Ermordeten gelassen.“ „Vielleicht hat er sie nicht bemerkt. Oder dem Kerl haben die Nerven versagt. Man braucht eine ganze Portion Courage, um einem Menschen die Uhr abzubinden, den man gerade ermordet hat.“ „Wenn man ihn ermordet hat, um zu seinem Gold zu kommen, dann hat man auch genügend Schneid, nach seinem Platin zu greifen.“ Doktor Ross trat an das Bett und nahm das Platinschmuckstück von Frau Janssons Hand ab. Er reichte es dem Oberleutnant. Der betrachtete die Uhr und legte sie auf den Toilettentisch. „Die Uhr ist sehr auffällig“, beharrte Nilerud. „Der Verbrecher hat befürchtet, er könnte Schwierigkeiten mit dem Verkauf haben. Der andere Schmuck war nichts Besonderes, so etwas kauft jeder Juwelier.“ „Mich wundert auch“, sagte Magnus Torg, der nach wie vor nicht mit der These des Arztes übereinstimmte, „daß der Mann einen Mord begangen haben soll, um ein paar goldene Kinkerlitzchen zu erbeuten, und Frau Janssons Scheckbuch nicht mitgenommen hat. Jede Abteilung in jeder Bank in ganz Schweden nimmt doch, ohne nachzuprüfen, ob Deckung vorhanden und ob die Unterschrift echt ist, Schecks bis zu tausend Kronen entgegen. Und dann erst Schecks der Firma ‚Erik Jansson & Sohn‘. Er hätte nur der Reihe nach sämtliche Banken in Malmö und in Lund mit dem Scheckbuch abzuklappern brauchen und hätte binnen weniger Stunden weit mehr Geld zusammengehabt, als dieser Kleinkram wert ist.“ „Vielleicht hat der Verbrecher das nicht gewußt?“ Doktor Nilerud gab sich noch immer nicht geschlagen. „Es war doch kein Kind, das die Witwe des alten Jansson umgebracht hat.“ „Einfache Leute müssen nicht unbedingt die Bestim51
mungen kennen, die im bargeldlosen Verkehr in Schweden gelten.“ „Das wissen sogar die Jungen und Mädchen einer neunten Klasse der Volksschule. In einem Land, wo der Scheck das Bargeld ersetzt, weiß jeder über diese Dinge Bescheid. Ich halte Ihre Hypothese für ausgeschlossen.“ „Es kann ja ein Ausländer gewesen sein“, rief der Polizeiarzt triumphierend, stolz auf seinen neuen Einfall. „Überall in Schweden drücken sich heutzutage so viele fremde Elemente herum. Sagen wir, einer von diesen Jugoslawen, die in Malmö arbeiten und stundenlang im Park am Kanal Münzenwerfen spielen. So einer bringt wegen einer Handvoll Gold einen Menschen um, wie sich ein anderer nach fünfundzwanzig Öre bückt, die auf der Straße liegen.“ „Auch darin irren Sie, Doktor“, bemerkte Magnus Torg. „Unsere Polizeistatistiken besagen, daß sich die ausländischen Arbeitnehmer bedeutend ruhiger verhalten und ehrlicher sind als die Stammbevölkerung in den Großstädten. Sie kommen mit einem ganz bestimmten Ziel nach Schweden: um eine Zeitlang hier zu arbeiten und eine möglichst große Geldsumme zurückzulegen. Sie spielen mit den Münzen im Park, weil das für sie ein wesentlich billigeres Vergnügen ist, als zum Beispiel ins Kino zu gehen. Selbst diese Abwechslung versagen sie sich nämlich, weil sie ihrer Familie in der Heimat möglichst viele Kronen schicken möchten.“ „Ausnahmen bestätigen die Regel.“ „Wir wollen uns hier nicht streiten“, sagte Magnus Torg abschließend. „Bei der Untersuchung des Falls werde ich auch Herrn Doktor Nileruds Theorie berücksichtigen. Sind Sie fertig, meine Herren?“ „Jawohl“, erwiderte Doktor Ross. „Was wir an Ort und Stelle tun konnten, habe ich bereits getan. Alle übrigen Probleme wird die Obduktion klären. Wir müssen 52
einen Wagen bestellen, um die Leiche in die Anatomie nach Lund zu bringen.“ „Ach, Gott sei Dank“, sagte Frau Brands aufatmend, „andernfalls wären mir die Gäste davongelaufen, und an neue ist vorläufig gar nicht zu denken.“ „Sie werden schon welche bekommen“, ‚tröstete‘ sie der Kriminalbeamte. „Lassen Sie nur erst mal die Presse Wind davon kriegen, wer hier ermordet wurde, dann kommen die Journalisten in Scharen aus ganz Schweden angereist. Jeder wird in diesem Haus wohnen wollen.“ „Gott bewahre mich davor“, entrüstete sich die Pensionswirtin. „Ich lasse keinen auch nur einen Fuß über die Schwelle setzen.“ „Ich weiß nicht, ob Ihnen das gelingen wird. Dieses Völkchen kommt zum Fenster wieder herein, wenn man es zur Tür hinauswirft. Gegen die ist kein Kraut gewachsen.“ „Ich werd’ mir schon zu helfen wissen!“ „Zu welchem Schluß sind Sie gekommen, Doktor Ross?“ fragte Magnus Torg. „Wenn ich die Angaben von Herrn Kollegen Bjorn Nilerud berücksichtige, nehme ich an, daß das Verbrechen am Mittwoch, dem siebenten Juni, zwischen fünf Uhr und sieben Uhr abends verübt wurde“, erklärte Doktor Thorsten Ross. „Würden Sie diese Erklärung unterschreiben?“ „Selbstverständlich“, stimmten die beiden Ärzte zu. „Na, dann hätten wir wenigstens das eine erledigt“, stellte der Oberleutnant fest. „Also nehmen wir die Tote mit und fahren zurück nach Lund.“ „Und der Leichenwagen?“ „Bestellen wir telefonisch.“ „Die Telefone gehen doch nicht.“ „Stimmt ja. Dann stellen wir aus meinem Wagen Funkverbindung her und warten unten. Ich komme noch einmal her, heute nachmittag oder morgen früh. 53
Ich bitte darum, daß niemand die Pension verläßt, bevor er nicht vernommen wurde und von mir Reiseerlaubnis bekommen hat.“ „Sollen meine Gäste hier wie im Gefängnis sitzen?“ „Sie können sich in ganz Lomma frei bewegen, sie sollen es vorläufig aber nicht verlassen. Spätestens morgen vernehme ich sie. Sie, Herr Doktor Nilerud, würde ich bitten, eine möglichst genaue Aufstellung aller Vorkommnisse vor und nach Entdeckung des Mordes für mich anzufertigen. Als Anhang zum Vernehmungsprotokoll. Das kann mir die Arbeit erleichtern. Schließlich sind Sie von der Zunft. Fast selber ein Polizeioffizier. Wirklich ein glücklicher Zufall, daß in dem Moment, da das Verbrechen verübt wurde, ein Polizeiarzt zur Stelle war.“ Bei diesen Worten lief Doktor Bjorn Nilerud regelrecht rot an vor Freude. Sie entschädigten ihn in gewissem Maße dafür, daß Magnus Torg soeben noch so erbarmungslos seine Konzeption über den Mord abgetan hatte. „Und Sie“, wandte sich der Untersuchungsoffizier an Frau Brands, „verwahren bitte alle Sachen der Toten. Sobald sich jemand von der Familie gemeldet hat, sehen wir sie genau durch und entscheiden, was weiter damit zu tun ist. Ich denke, außer den Dokumenten und Papieren kann alles der Familie ausgehändigt werden. Von nun an sind Sie dafür verantwortlich, daß jedes Papierchen unversehrt bleibt.“ „Da können Sie ganz beruhigt sein“, erwiderte Frau Brands in herbem Ton. „In meiner Pension ist noch nie jemandem etwas abhanden gekommen.“ „Außer Gold und Leben“, bemerkte Torg ironisch. Die Pensionschefin warf dem Beamten einen Blick zu, nach dem sich, wenn ihre Wünsche in Erfüllung gegangen wären, noch eine Leiche mehr in diesem Zimmer befunden hätte. Magnus Torg störte sich durchaus nicht an Frau Brands schlechter Laune, sondern er fragte sie: 54
„Und was haben Sie eigentlich gestern zwischen fünf und sieben Uhr gemacht?“ „Also wissen Sie!“ Die Frau erbleichte vor Zorn. „Frau Brands ist über jeden Verdacht erhaben“, nahm der Arzt aus Uppsala die Hausherrin in Schutz. „Es werden mir alle ihr Alibi vorlegen müssen. Auch Sie, Herr Doktor.“ „Bitte sehr. Den ganzen Nachmittag, bis zum Abendessen, habe ich Bridge gespielt, unten im Salon. Zusammen mit Herrn Harding und Familie Tuvesson.“ „Ich war in Lund, bei Bekannten. Ich kam erst gegen acht zurück. Das läßt sich leicht nachprüfen, denn der Busfahrer müßte sich an mich erinnern, und meine Bekannten werden Ihnen bestätigen, wann ich zu ihnen kam und wann ich ihr Haus verließ.“ „In Ordnung. Sie haben also beide ein Alibi. Selbstverständlich überprüfe ich das noch. Selbst wenn mich Frau Brands nicht dazu aufgefordert hätte. Aber darüber unterhalten wir uns im einzelnen bei der offiziellen Vernehmung.“ Der Kriminalbeamte schloß die Balkontür ebenso sorgfältig, wie das gestern Bjorn Nilerud besorgt hatte, dann drehte er den Schlüssel in der Tür um. Alle gingen nach unten.
4. Magnus Torg beginnt mit den Vernehmungen Noch vor vier Uhr nachmittags war Oberleutnant Magnus Torg schon wieder in der Strandvägen, in der Pension von Astrid Brands. Er hatte eine Angestellte der Polizeidirektion Lund mitgebracht. Das Mädchen trug eine kleine Schreibmaschine und machte es sich in der Bibliothek bequem. Außerdem begleiteten Torg zwei Polizisten in Zivil. 55
Ein zweiter Wagen brachte den Polizeidirektor und einen Kriminalkommissar. Der beste Beweis dafür, daß man in der Polizeidirektion die Ermordung der Maria Jansson für den wichtigsten Fall des Tages hielt. Der Täter mußte schnellstens gefunden werden, damit der Mord nicht zur Sensation Nummer eins in Schweden wurde. Es passiert nicht oft, daß eine so vermögende und einflußreiche Frau, wie es die Mitinhaberin der großen, weltweit bekannten Firma „Erik Jansson & Sohn“ gewesen war, einem Verbrechen zum Opfer fällt. Der Polizeidirektor und der Kriminalkommissar mischten sich nicht in die Untersuchung ein, die der Oberleutnant leitete. Sie hatten ihn ja selbst einige Stunden zuvor zum Untersuchungsoffizier für diesen Fall ernannt. Es ging nicht an, Torg jetzt nur deshalb seiner Aufgabe zu entbinden, weil sich herausgestellt hatte, daß das Opfer des Verbrechens jemand Bedeutenderes war, als man nach der Funkmeldung der Polizeistation in Lomma angenommen hatte. Und so beschränkten sich denn der Polizeidirektor und sein Kommissar lediglich darauf, den Tatort zu besichtigen und zu verfolgen, wie Oberleutnant Magnus Torg mit der Führung der Ermittlungen zurechtkam. Man mußte zugeben, daß es dem jungen Mann an Elan nicht fehlte. Zuerst durchsuchte er mit seinen Gehilfen genau das Zimmer, das Maria Jansson bewohnt hatte. Kleidung und Wäsche wurden Stück für Stück pedantisch durchgesehen. Das kleinste Papierschnipselchen gelesen. Sämtliche im Notizbuch der Toten gefundenen Adressen sofort telefonisch nach Stockholm durchgegeben, um zu überprüfen, wer diese Leute seien. Ganz Lomma profitierte von der Energie des jungen Kriminalisten. Die Telefone wurden blitzartig repariert, was noch nie dagewesen war. Leider konnte bei der Durchsuchung des Zimmers der Ermordeten und ihrer Sachen und auch bei der gründli56
chen Durchsuchung aller anderen Räume im zweiten Stock nichts Verdächtiges gefunden werden. Der Mörder hatte keinerlei Spuren hinterlassen. Ebenso erfolglos erwies sich die Suche nach Spuren in der Nähe des Hauses und im Park, der die Pension umgab. Selbst wenn es welche gegeben hatte, das tobende Gewitter und der Regen hatten sie vollständig verwischt. Die in den benachbarten, im übrigen ziemlich entfernt liegenden Häusern eingezogenen Erkundigungen erbrachten auch nichts Neues für den Fall. Es war nichts Verdächtiges beobachtet worden. In Schweden interessieren sich die Leute im allgemeinen nicht für ihre Nachbarn; die Bewohner der nächstgelegenen Villen erinnerten sich nicht einmal an die Person und das Aussehen der Ermordeten; von ihrem Mörder ganz zu schweigen. Im Auftrag von Magnus Torg hatten die zuständigen Polizisten in Bjarred und Lomma herausgefunden, daß in der letzten Zeit niemand dort in den einschlägigen Geschäften einen Hammer von der Art gekauft hatte, wie ihn der Mörder benutzt hatte. Kurz, ein totales Fiasko. Bereits bei den ersten Schritten wurde dem jungen Kriminalbeamten bewußt, daß der Fall kompliziert zu werden versprach und die Überführung des Mörders nicht so einfach werden würde, wie man sich das anfangs in Lund vorgestellt hatte. Deshalb drängte sich auch keiner von den höheren Offizieren der Polizeidirektion danach, dem Oberleutnant die Untersuchung abzunehmen, nachdem man ihn so leichtfertig damit betraut hatte. Es ist nun einmal so in der Welt, im Falle eines Mißerfolgs wird die Schuld immer dem zugeschoben, der sich nicht verteidigen kann. Bei der Polizei ist es nicht anders. Daher freute sich jeder insgeheim, daß nicht ihm die Auszeichnung zuteil geworden war, sondern einem gewissen Oberleutnant. Man beschränkte sich also darauf, weitestgehende 57
Unterstützung zu versprechen. Magnus Torg begriff sehr gut, daß er sein Schicksal in der Hand hatte. Wenn er Erfolg hatte in diesem vielbeachteten Fall, war seine Karriere gesichert. Wenn er sich blamierte, suchte er sich besser gleich eine andere Stelle. Torg jedoch glaubte an seinen glücklichen Stern. Da nichts darauf hindeutete, daß der Täter von draußen gekommen war, mußte er unter den Bewohnern der Luxuspension in der Strandvägen zu finden sein. Aber wer war es von diesen neun Leuten, die hinter der grünen Wand des Parks wohnten, der die schmucke weiße Villa von dem pulsierenden Straßenverkehr abschirmte? Und was konnte das Motiv sein für dieses merkwürdige Verbrechen? Sollte die Frau einzig und allein wegen der paar Ringe und Armreifen ermordet worden sein, die sie in dieser hübschen geschnitzten Dose aufbewahrte? Magnus Torg beschloß, die Wahrheit aus den Bewohnern der Pension herauszuquetschen. Das Zimmermädchen Lilljan nahm er als erste unter Beschuß. „Erzählen Sie mir bitte alles, was sich an diesem Tag ereignet hat“, begann Magnus Torg die eigentliche Vernehmung, nachdem die Sekretärin die Personalien des Mädchens aufgenommen hatte. „Frau Jansson kam nicht zum Abendessen herunter. Es ist bei uns in der Pension so Sitte, daß wir nur das Frühstück auf dem Zimmer servieren“, erklärte das Zimmermädchen. „Die einzige Ausnahme war Frau Jansson, der ich auch das Mittagessen öfters hinauftrug. Aber die Regel ist, daß das Abendbrot für alle im Speisesaal gereicht wird. Ich habe mich nicht darüber gewundert, daß Frau Jansson zum Essen nicht da war, weil sie Bescheid gesagt hatte, sie würde in die Stadt fahren und es sei möglich, daß sie erst am späten Abend zurück sei.“ „Wann hat sie das gesagt?“ „Als ich ihr das Mittagessen brachte.“ 58
„Und wann haben Sie das schmutzige Geschirr abgeholt?“ „So gegen drei. Ich hatte den Speisesaal aufgeräumt, und dann bin ich in den zweiten Stock gegangen, um die Teller aus Frau Janssons Zimmer zu holen.“ „Da lebte Frau Jansson noch?“ „Ich glaube schon.“ „Was heißt das, ich glaube?“ „Ich habe Frau Jansson nicht gesehen.“ „War sie nicht im Zimmer?“ „Ich weiß es nicht. Ich bin nicht hineingegangen und habe auch nicht geklopft. Nach dem Essen bringen unsere Gäste das Geschirr heraus und stellen es auf dem Tisch ab, der in jedem Stock in der Halle steht. Und da stand auch das Tablett mit den Tellern auf dem Tischchen, also nahm ich es und ging damit hinunter in die Küche.“ „Und was taten Sie dann?“ „Ich habe abgewaschen und mich unten in die Halle gesetzt. Wenn nichts zu tun ist, sitze ich immer in der Halle.“ „Was haben Sie dort gemacht?“ „Ich habe die Abendausgabe der ‚Kvällsposten‘ gelesen und auf die Eingangstür aufgepaßt.“ „Und was bemerkten Sie?“ „Als erste verließ Frau Lindner mit Herrn Dalin das Haus. Dann Frau Brands. Nein“, verbesserte sie sich, „Frau Brands ging später. Zuerst kam Doktor Nilerud von oben herunter. Erst da kam Frau Brands aus ihrer Wohnung, unterhielt sich mit dem Herrn Doktor, und als sie an mir vorbeikam, trug sie mir auf, ich solle nach unten gehen und Frau Moberg beim Vorbereiten des Abendbrots helfen, denn sie führe nach Lund und sei erst um acht Uhr zurück. Gleich nachdem Frau Brands das Haus verlassen hatte, kamen der Kapitän und seine Frau herunter.“ 59
„Wer?“ „Verzeihen Sie. Herr Kapitän Tuvesson und seine Frau.“ „Und was geschah weiter?“ „Ich sah, wie sich die Herrschaften ein Weilchen unterhielten, und dann fingen sie an, Karten zu spielen.“ „Sagen Sie endlich, was Sie wissen. Jedes Wort muß ich ihr aus der Nase ziehen!“ Es paßte Torg nicht, daß das Zimmermädchen so sparsam auf seine Fragen antwortete und nicht die geringste Lust an den Tag legte, etwas darüber hinaus zu sagen. „Gleich darauf schloß ich die Eingangstür ab und ging nach unten. Wir beide, ich und Frau Moberg, waren bis zum Abendessen in der Küche.“ „Sie sind nicht nach oben gegangen?“ „Nur einmal.“ „So reden Sie doch, Mädchen!“ Das war eine schwierige Vernehmung. „Wann, weshalb?“ „Das war Viertel vor acht. Ich erinnere mich genau, weil Frau Moberg sagte, in einer Viertelstunde müßten wir den Gong schlagen und anfangen mit dem Servieren. Es war ein starker Wind aufgekommen, und im Parterre standen alle Fenster offen. Ich ging also hin und machte die Fenster zu und die Terrassentür. Die Herrschaften waren so sehr mit ihrem Spiel beschäftigt, daß sie das gar nicht bemerkten. Ich schloß auch die Fenster in Frau Brands’ Wohnung. Frau Brands war noch nicht aus Lund zurück. Als ich wieder in die Küche kam, sagte ich der Köchin, wir würden eben mit dem Abendbrot warten, bis Frau Brands zurück sei. Sie setzt sich immer gemeinsam mit den Gästen zu Tisch. Das ist bei uns so Sitte.“ „Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie in der Küche waren, oder haben Sie etwas gehört?“ „Nein, nichts.“ „Hat Frau Moberg in dieser Zeit die Küche verlassen?“ 60
„Ja, sie ging ins Lager, das sich auch im Souterrain befindet. Sie hat Lebensmittel von dort geholt, die wir für das Abendbrot brauchten.“ „Und sie ist nicht nach oben gegangen?“ „Ganz bestimmt nicht.“ „Was geschah dann?“ „Als Frau Brands aus Lund zurückkam, schlug ich den Gong. Frau Lindner und Herr Dalin waren auch schon zurück. Die Bridgespieler hatten ihr Spiel beendet und gingen in den Speisesaal hinüber.“ „Und wann aßen Sie zu Abend?“ „Eine Viertelstunde vorher. Als ich alle Fenster zugemacht hatte und wieder nach unten kam, aßen wir zusammen, ich und Frau Moberg.“ „Worüber wurde gesprochen beim Abendessen?“ „Ich habe nicht zugehört. Hab’ nur meine Arbeit gemacht. Ich erinnere mich bloß, daß jemand, als der Donner so krachte, Frau Jansson erwähnte.“ „Wer war das, und was hat er gesagt?“ „Wer, das weiß ich nicht mehr. Jemand machte die Bemerkung, daß es für Frau Jansson gefährlich werden könnte, nach Hause zu kommen bei solch einem Unwetter. Jemand anders erwiderte, Frau Jansson würde bestimmt in der Stadt bleiben, bis das Gewitter vorüber sei. Gegen Ende des Abendessens blitzte und donnerte es fürchterlich. Die Damen hatten Angst. Wir gingen in den Salon hinüber. Das Licht ging aus, also zündeten wir Kerzen an. Dann, als es zu regnen begann und die Blitze etwas seltener wurden, trug mir Frau Brands auf, die Betten für die Nacht zu richten. Ich fange immer im zweiten Stock an. Ich ging hinauf und machte zuerst Herrn Hardings Zimmer fertig. Danach ging ich in Frau Janssons Zimmer. Im Zimmer war es dunkel. Als ich das Licht anknipste und das Blut auf dem Kissen sah und daß Frau Jansson tot war, rannte ich schreiend hinunter. Familie Tuvesson und Herr Doktor Nilerud 61
kamen mir zu Hilfe, sonst wäre ich ohnmächtig geworden.“ „Woher wußten Sie, daß Frau Jansson tot war?“ „Sie lag doch da, mit blutendem Kopf, und eine große Blutlache war auf dem Bett zu sehen.“ „Sind Sie zum Bett gegangen?“ „Nein. Ich rannte sofort aus dem Zimmer.“ „Sie hätte doch verletzt sein können und Hilfe brauchen. Und Sie wußten gleich, daß sie nicht mehr lebte?“ „Wenn sie verletzt gewesen wäre, wäre ich auch ausgerissen. Ich kann kein Blut sehen. Als sich Frau Moberg einmal mit dem Messer in die Hand schnitt und ich sah, wie ein roter Blutstrahl herausspritzte, bin ich auch gleich in Ohnmacht gefallen.“ „Na schön.“ Magnus Torg war nicht sonderlich erbaut von dieser Erklärung. „Sagen Sie mir bitte, weshalb Sie den Schmuck anprobiert haben?“ „Woher wissen Sie das?“ „Die Polizei weiß eine ganze Menge.“ „Vor ein paar Tagen kam ich in das Zimmer, um sauberzumachen, und Frau Jansson war noch drin. Auf dem Tisch stand die Schmuckdose. Frau Jansson überlegte noch, was sie zu dem blauen Jackenkleid umbinden sollte, das sie damals trug. Ich sagte: ‚Was für ein schöner Armreif.‘ Da zeigte mir Frau Jansson alle ihre Ringe und erlaubte mir sogar, sie an den Finger zu stecken.“ „Haben Sie sich über die Schmuckstücke unterhalten?“ „Ich sagte, es müsse ein großes Glück sein, so viele hübsche Sachen zu besitzen. Frau Jansson lachte zuerst, und dann wurde sie traurig. Sie sagte, ihr ganzer Reichtum wäre zu spät gekommen. Sie fügte hinzu, als sie ein junges Mädchen war, so in meinem Alter, hätte sie, anstatt sich ihres Lebens zu freuen, Not gelitten und wäre ständig hungrig gewesen. Ich weiß nicht, was sie damit meinte.“ 62
„Diese Ringe gefielen Ihnen sehr?“ „Ja. Besonders der mit der Perle. Der war hübsch.“ „Haben Sie irgendwann mal diesen Hammer gesehen?“ Bei diesen Worten zeigte der Oberleutnant einen großen Hammer vor, den er aus seiner Aktentasche zog. Dunkle Flecken waren daran zu sehen. Das Mädchen erbleichte. „Mit diesem Hammer also wurde Frau Jansson …“, stieß sie leise hervor. „Woher wissen Sie das?“ „Weil … weil hier Blutflecke dran sind.“ „Wo wurde dieser Hammer gekauft?“ „Ich habe diesen Hammer nie gesehen. In der Villa gibt es verschiedenes Werkzeug, auch ein paar Hämmer, aber so einer war nicht drunter.“ „Und was haben Sie am Vormittag gemacht?“ „Die Zimmer aufgeräumt. In der Küche geholfen. In der Halle gesessen.“ „Konnte jemand unbemerkt in die Villa gelangen?“ „Das ist unmöglich. Das Tor und das Türchen zur Straße sind abgeschlossen. Der Drahtzaun ist über zwei Meter hoch. Der Eingang von der Strandseite ist auch zu. Und wenn niemand in der Halle sitzt, ist die Haustür abgeschlossen.“ „Aber vom Salon und vom Speiseraum führt eine Tür auf die Terrasse. Von dort kann man herein.“ „Morgens wird diese Tür nicht aufgemacht. Die Gäste frühstücken auf den Zimmern.“ „Na, dann hat sich eben am Nachmittag jemand dort hereingeschlichen. War die Tür vom Speisesaal zur Terrasse während des Mittagessens geöffnet?“ „Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich.“ „Und haben Sie sie später wieder abgeschlossen?“ „Nein. Aber im Salon nebenan spielten sie Bridge. Zwischen dem Salon und dem Speisesaal ist eine große Glastür. Die übrigens für gewöhnlich offensteht. Wenn 63
jemand dort hereingewollt hätte, hätten ihn die Spieler bemerken müssen.“ „Und bevor sie anfingen zu spielen?“ „Habe ich im Speisesaal abgeräumt.“ „Die ganze Zeit, bis das Spiel anfing?“ „Tja, nein …“ „Es hätte also jemand hereinkommen können?“ „Wie hätte er in den Park gelangen sollen?“ „Vielleicht ist er über den Drahtzaun gesprungen. Oder jemand hat das Türchen zum Strand offengelassen.“ „Diese Tür hat eine Feder, sie schnappt von allein zu.“ Als Magnus Torg sah, daß er nichts weiter von dem Mädchen erfahren würde, entließ er sie und bat Frau Astrid Brands als nächste zur Vernehmung. Die Eigentümerin der Pension erklärte, sie hätte sich am Vormittag nicht sonderlich wohl gefühlt, habe sich also die meiste Zeit in ihren Räumen aufgehalten. Ein paarmal sei sie allerdings nachsehen gegangen, ob alles den gewohnten Gang gehe. Sie sei in die Küche hinuntergegangen, habe der Köchin ein paar Anweisungen für das Mittagessen und für das Abendbrot gegeben. Sie habe auch in die anderen Räume im Parterre einen Blick geworfen, um nachzuschauen, ob dort aufgeräumt worden sei. Sie wußte, daß die Gäste am Strand waren, aber sie habe keinen gesehen. Auch Frau Jansson nicht. „Nahm Frau Jansson das Mittagessen immer oben ein?“ „Eigentlich ja. Ich glaube, nur am ersten Tag nach der Anreise aß sie unten zu Mittag. Gleich darauf kam sie zu mir und bat mich, ihr die Mahlzeiten nach oben zu schicken.“ „Gab sie einen Grund an für dieses ziemlich merkwürdige Verlangen?“ „Sie sagte, ihre Nerven seien sehr angegriffen, und sie könne schon den Anblick von Menschen schlecht ertragen.“ 64
„Fanden Sie das nicht sonderbar?“ „Der Besitzer einer Pension wundert sich über gar nichts. Mit wie vielen verschiedenen Wünschen meine Kunden zu mir kommen …“ „Aber zum Abendessen kam Frau Jansson herunter?“ „Da wollte sie auch, daß wir ihr das nach oben brächten, aber das habe ich abgelehnt. In meiner Pension herrscht der Brauch, daß wir alle gemeinsam zu Abend essen. Ich setzte Frau Jansson auseinander, daß man sich nicht so von den Leuten abkapseln könne. Sie seien imstande und hielten sie für verstiegen. Widerstrebend zwar, aber sie willigte ein.“ „Können Sie mir etwas über Frau Janssons Gewohnheiten berichten?“ „Ich würde sagen, sie war sehr menschenscheu. Sie beteiligte sich nicht an der allgemeinen Unterhaltung. Auf Fragen antwortete sie so kurz wie möglich. Gleich nach der Mahlzeit stand sie auf und verließ den Speiseraum.“ „Bekam sie Besuch?“ „Davon weiß ich nichts.“ „Und sie selbst?“ „Sie war fast ständig außer Haus. Gleich nach dem Frühstück ging sie.“ „Wissen Sie, wohin?“ „Manchmal spazieren. Am Strand entlang. Aber meistens fuhr sie nach Malmö oder Kopenhagen.“ „Wissen Sie nicht, zu welchem Zweck?“ „Vielleicht in ihre Firma? Sie haben doch eine Zweigstelle in Kopenhagen.“ „Bekam sie öfters Anrufe?“ „Es gab Telefonanrufe. Hauptsächlich von ihrem Sohn aus Stockholm. Sie rief auch selbst öfters an.“ „Haben Sie vielleicht so ein Gespräch mitgehört?“ Astrid Brands entrüstete sich. „Ich belausche nicht die Telefongespräche meiner Gäste.“ 65
„Manchmal hört man zufällig mit.“ „Ich habe nicht darauf geachtet. Ich kann nur sagen, daß sie manche Gespräche in einer anderen Sprache führte.“ „In welcher? Vielleicht auf finnisch?“ „Nein. Ich habe hier häufig Finnen zu Gast, und der Klang dieser Sprache ist mir vertraut.“ „Englisch? Deutsch?“ „Nein. Auch nicht französisch und italienisch oder spanisch. Eine Sprache mit hartem Akzent. Vieles könnte ein gebürtiger Schwede gar nicht aussprechen.“ „Tragen die Gäste die Nummern ein, die sie anrufen?“ „Nein.“ „Wie können Sie diese Gespräche dann verrechnen?“ „Überhaupt nicht. Eventuelle Telefongespräche sind bereits im Zimmerpreis enthalten.“ „Ach nein?“ staunte der Beamte. „Das ist sogar ein guter Werbegag: Telefon kostenlos.“ „Aber kommen Sie dabei auf Ihre Kosten?“ „Gewiß. Meine Gäste kommen hierher, um sich zu erholen, und nicht, um stundenlange Telefongespräche zu führen. Die meisten der exklusiven teuren Pensionen halten es so.“ „Was glauben Sie, konnte sich jemand unbemerkt in die Villa einschleichen? Morgens oder nach dem Mittagessen?“ „Nein. Das ist eigentlich ausgeschlossen. In der Regel ist die Tür abgeschlossen, oder Lilljan sitzt in der Halle. Alle Gäste haben eigene Schlüssel. Sowohl für das Türchen in der Parkumzäunung als auch für das Haus. Die Schlösser sind gut, die Türen schließen automatisch.“ „Lassen Sie uns noch mal auf die Ereignisse am Nachmittag zurückkommen. Was taten Sie nach dem Mittagessen? Aßen Sie gemeinsam mit den Gästen?“ „Nein. Ich esse sehr selten mit ihnen zu Mittag. Meis66
tens esse ich in der Küche, mit Frau Moberg und Lilljan, ein bißchen früher. Auf die Art kann ich immer noch eingreifen, falls etwas nicht in Ordnung ist. Bei so einer Pension muß man die Augen überall haben. Worauf man nicht selber achtet, das wird nichts Rechtes. Bitte fassen Sie das nicht als Vorwurf gegen das Dienstpersonal auf. Im Gegenteil, ich finde, es ist mir eine sehr große Hilfe. Lilljan ist fleißig, und Frau Moberg arbeitet schon seit sieben Jahren bei mir. Sie kocht vorzüglich. Auch für die Ehrlichkeit der beiden kann ich mich verbürgen.“ „Wo waren Sie, als das Mittagessen aufgetragen wurde?“ „Zuerst in der Küche, dann in meiner Wohnung. Ich ruhte ein wenig, zog mich um, und gegen vier verließ ich das Haus. Da saß Lilljan in der Halle. Ich wechselte noch ein paar Worte mit Doktor Nilerud und dann, glaube ich, mit Herrn Harding. Ich weiß, daß sie beide mit der Familie Tuvesson Karten spielen wollten. Von der Bushaltestelle in Bjarred aus fuhr ich nach Lund. Der Fahrer müßte sich an mich erinnern, denn der Wagen war fast leer. An dieser Haltestelle stiegen nur drei Leute zu. In Lund war ich bei meinen Bekannten. Bitte, hier ist ihre genaue Adresse und die Telefonnummer. Sie brachten mich zum Bus. Zehn nach acht war ich wieder hier. Lilljan hatte mit dem Auftragen des Abendessens auf mich gewartet. Dann waren wir alle zusammen, bis zu dem Augenblick, als wir den Schrei des Zimmermädchens oben hörten.“ „Kennen Sie Ihre Gäste?“ „Einigermaßen. Am längsten kenne ich Herrn Harding. Er war mit meinem Mann befreundet, der nicht mehr lebt. Herr Harding hat mir zugeredet, hier eine Pension aufzumachen und sie ein bißchen originell aufzuziehen. Nur was die Fahrzeuge betrifft, gehen unsere Ansichten auseinander, aber ich glaube, auch mein Einfall, das Verbot, Autos auf dem Gelände der Villa zu par67
ken, ist nicht übel. Letzten Endes kommen vorwiegend Leute in mittlerem Alter zu mir, solche, die wirklich ausspannen wollen und nicht sich amüsieren. Es gibt auch Ausnahmen. Da kann man nichts machen. Herr Harding leitet große Investitionen in Stockholm. Er kommt einbis zweimal im Jahr her. Für gewöhnlich im Mai oder im Oktober, weil er in der Hauptbausaison ein Auge auf sein Unternehmen haben muß.“ „Und die anderen?“ „Herr Doktor Nilerud war vorher schon zweimal hier. Er kommt ebenfalls nicht in der Hochsaison, um sich zu erholen, sondern lieber, wenn Lomma nicht überlaufen ist. Herr Dalin ist zum erstenmal hier, aber als er mich anschrieb, berief er sich auf einen gemeinsamen Freund. Ich nehme nicht gerne Leute, von denen ich gar nichts weiß. Meine Pension hat einen guten Ruf, und den will ich nicht verlieren.“ „Und die Familie Tuvesson?“ „Ich kannte sie oder vielmehr ihn noch aus der Zeit, als ich in Göteborg wohnte. Aber hier sind sie zum ersten Mal. Zum ersten Mal habe ich auch Frau Lindner bei mir zu Gast. In der Hochsaison hätte ich für sie vielleicht lieber jemand anderen genommen, aber Sie werden verstehen, Anfang Juni darf man nicht allzu wählerisch sein. Im übrigen möchte ich gleich vorausschicken, daß ich ihr nichts vorzuwerfen habe.“ „Und Frau Jansson?“ „Sie hat schon vor zwei Jahren einmal bei mir gewohnt. Diese Firma benötigt natürlich keinerlei Empfehlungen. Ich erinnere mich, damals kam der Filialdirektor aus Kopenhagen zu mir. Er suchte an der Küste etwas Passendes für seine Chefin, und jemand hatte ihm meine Pension in Lomma empfohlen. Wir besprachen alles, und ein paar Tage später erschien Frau Jansson.“ „War sie damals, vor zwei Jahren, ebenfalls so ‚menschenscheu‘, wie Sie es nannten?“ 68
Frau Brands überlegte ein Weilchen. „Nein, das war zwar erst knapp anderthalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes, aber Frau Jansson war damals wesentlich besser in Form als in letzter Zeit. Sie mied die Menschen nicht, ging mit an den Strand. Sie machten allerlei Ausflüge, und einmal gab Frau Jansson sogar einen kleinen Empfang.“ „Wer nahm daran teil?“ „Es kamen ihr Sohn und dieser Direktor aus Kopenhagen und sämtliche Gäste der Pension. Es war sehr nett.“ „Sie sind also der Meinung, Maria Jansson habe sich im Verlaufe der beiden letzten Jahre, die sie nicht in Lomma war, verändert?“ „Ja. Diesmal war sie ganz anders. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.“ Als nächster nahm Kapitän Tuvesson vor dem Kriminalbeamten Platz. Er erklärte, er sei Kapitän der Hochseeschiffahrt und fahre im Augenblick als Erster Offizier auf einem großen Schiff einer regulären Linie, die zwischen den Häfen Europas und Australiens kursiere. Nach dem Mittagessen waren die Eheleute auf ihr Zimmer gegangen. Frau Tuvesson hatte sich hingelegt, weil sie vom Morgen an über starke Kopfschmerzen geklagt hatte, und sie war auch gleich eingeschlafen. Er habe ein Buch gelesen. Weil sie sich für vier Uhr zum Bridge verabredet hatten, habe er also fünf Minuten vorher seine Frau geweckt. Ehe sie jedoch fertig gewesen sei, wären fünfzehn Minuten vergangen, so daß sie später als verabredet nach unten gekommen seien. Noch jetzt sei es ihm sehr unangenehm, daß sie sich verspätet hatten. „Sie spielten in der Bibliothek?“ „Nein, im Salon. Dort ist es bequemer.“ „Stand die Tür zum Speisezimmer offen?“ „Ja. Ganz bestimmt, ich bin selbst hinübergegangen, um Tafelwasser zu trinken.“ 69
„Ist von dem Platz aus, auf dem Sie saßen, die Halle einzusehen?“ „Ja. Auch die Haustür kann man sehen.“ „Es ist niemand hereingekommen oder hinausgegangen in der Zeit, als Sie bei den Karten saßen?“ „Nein. Niemand. Erst nach acht kam unsere Hausherrin, Frau Brands.“ „Und von den Spielern verließ auch keiner den Salon?“ „Es war heiß, ja sogar schwül. Im Nebenraum stand der Getränkewagen. Fast alle gingen dorthin, um einen Schluck Wasser zu trinken. Meine Frau ging auch einmal auf die Toilette.“ „Nach oben, in Ihr Zimmer?“ „Wozu? Sanitäre Anlagen gibt es ebenso im Parterre. Nach oben ging niemand.“ „Erinnern Sie sich genau daran?“ „Absolut!“ „Kannten Sie Maria Jansson?“ „Nein. Ich habe sie hier zum ersten Mal gesehen. Ich hätte nicht mal gewußt, wer diese Dame ist, wenn wir nicht unseren unschätzbaren drahtlosen Telegraphen, Fräulein Lilljan, hätten.“ „Haben Sie sich einmal mit Frau Jansson unterhalten?“ „Ein paarmal. Einmal war ich mit meiner Frau spazieren, und wir trafen uns am Strand weit hinter Bjarred. Klara und ich, wir lieben weite Fußmärsche. Ich kann mir das selten leisten. Eben auf so einer größeren Wanderung stießen wir auf Frau Jansson. Wir kehrten gemeinsam in die Pension zurück.“ „Erinnern Sie sich, worüber Sie sprachen?“ „Ausgezeichnet. Frau Jansson war eine intelligente, angenehme Dame. Sie erkundigte sich im einzelnen nach meiner Seemannslaufbahn. Sie erwähnte auch, daß ihre Firma gerade einen neuen großen Tramp ange70
schafft habe. Wenn ich das Kommando darauf übernehmen wollte, sollte ich mich mit der Zentrale in Stockholm in Verbindung setzen. Ich schrieb mir die Adresse auf.“ „Haben Sie das Angebot angenommen?“ „Nicht angenommen und nicht abgelehnt. In so einem Fall kann man nicht in ein paar Minuten eine Entscheidung treffen. Im übrigen war das Angebot weder allzu konkret noch offiziell. Einfach so, ein Vorschlag, über den weiter zu diskutieren gewesen wäre. Wenn ich ehrlich sein soll, wahrscheinlich hätte ich angenommen. Einerseits wäre das das Kommando über ein Schiff gewesen, jetzt bin ich Erster Offizier, das ist immerhin ein Unterschied. Andererseits habe ich die ständigen Ausflüge nach Australien und zurück mittlerweile satt. Das Tramping ist abwechslungsreicher. Da hat man die Möglichkeit, zu zeigen, was in einem steckt. Die Verantwortung ist größer, aber auch die Befriedigung ist größer und, was nicht ganz ohne Bedeutung ist, auch das Einkommen. Frau Jansson behielt sich vor, sie käme noch auf das Thema zurück.“ „Ist Ihnen an der Frau nichts aufgefallen?“ „Vor allem die Sprache. Sie sprach ein blendendes Schwedisch. Hatte eine gepflegte Ausdrucksweise. War sehr belesen und war bewandert in schwedischer Literatur und Geschichte. Aber ich möchte wetten, daß sie keine gebürtige Schwedin war.“ „Sprach sie mit Akzent?“ „Nicht mal das. Im übrigen gibt es in Schweden die verschiedensten Dialekte. In Skåne redet man anders und im Norden wieder anders. Es war eher die Art, wie sie sich ausdrückte. Sie gebrauchte Wörter, die ein Schwede in der gegebenen Situation nicht gebraucht haben würde. Das alles erweckte den Eindruck, es sei eine Sprache, die sie erlernt hatte, aber nicht ihre Muttersprache.“ 71
„Haben Sie sie danach gefragt?“ „Nein, das war doch Frau Janssons Privatangelegenheit.“ „Angeblich mied Frau Jansson meist die Gesellschaft?“ „Ja. Frau Brands erklärte uns sogar, ihr neuer Gast sei nicht sonderlich gesund, und deshalb würde ihm das Mittagessen aufs Zimmer gebracht. Um so mehr war ich erstaunt, als sich Frau Jansson auf unserem Spaziergang als angenehme, fröhliche Person entpuppte oder, wie man so sagt, als guter ‚Kumpel‘. Sie schlug uns vor, in ein paar Tagen wieder zu dritt irgendwohin, weiter weg, einen Ausflug zu machen. Die tragischen Ereignisse vom Mittwoch vereitelten natürlich diesen Plan.“ „Und hier, in der Pension, wie verhielt sich Frau Jansson da?“ „Sie war sehr wortkarg. Sie kam zwar zum Abendessen herunter, aber sie ging gleich nach den Mahlzeiten wieder auf ihr Zimmer. Wenn man sie sonst traf, beschränkte sie sich nur auf den üblichen Austausch von Begrüßungsfloskeln oder höchstens auf ein paar konventionelle Worte über das Wetter.“ „Und kannten Sie die anderen Gäste in der Pension?“ „Nein. Aus früheren Jahren kannte ich nur Frau Brands. Als ich erfuhr, daß sie eine Pension in Lomma eröffnet habe, ich las in einer Zeitung eine Annonce darüber, fuhren wir hierher. Erst an Ort und Stelle wurde mir klar, was für ein teures und vornehmes Etablissement das ist. Aber wir hatten nicht vor, einen Rückzieher zu machen. Einmal in ein paar Jahren kann man schließlich den Millionär spielen. Meine Frau und ich haben so selten die Gelegenheit, miteinander allein zu sein.“ Klara Tuvesson bestätigte vollständig die Aussagen ihres Mannes. Niemand hatte während des Kartenspiels die Pension verlassen. Keiner von den Spielern hatte 72
sich nach oben begeben. Auch das Zimmermädchen war nicht in der Halle aufgetaucht. Herr Dalin erzählte im einzelnen, wie er mit Frau Nora Lindner zuerst ein bißchen durch Lomma geschlendert sei. Seine Dame habe ein paar Einkäufe erledigt. Dann habe sie Ansichtskarten geschrieben und weggeschickt. Das Haus hätten sie um halb vier verlassen. In der Halle hätten sie Lilljan gesehen. Sie habe dort gesessen und etwas gelesen. Nach dem Spaziergang habe Herr Dalin vorgeschlagen, in einer kleinen Wirtschaft einzukehren, die sich in Lomma an der Ecke zwischen Strandvägen und Fiskaregatan befinde. Aber als sie das Restaurant betraten, hätten sie beide festgestellt, daß sie hungrig seien. Folglich sei aus dem Kaffee ein kleines Abendessen geworden. Sie hätten jeder zwei Gläser polnischen Schnaps getrunken. Solchen, wo in der Flasche so ein Grashalm schwimmt und der sich „Bizon brandy“ nennt. Sie hätten sich derart festgesessen, daß sie das Lokal erst verließen, als die Kuckucksuhr an der Wand halb acht gerufen hätte. Da fing es schon an zu blitzen, und es kam ziemlich starker Wind auf. Zum Glück seien sie in Windrichtung gegangen, schnell gegangen, und hätten es also noch bis kurz vor acht geschafft, in die Pension zu kommen. Nach oben waren weder Herr Dalin noch seine Gefährtin gegangen. Im Salon wurde noch gespielt, also hätten sie ein bißchen beim Bridge gekiebitzt. Am besten spiele Herr Harding. Wenn er nicht schon sein Bauunternehmen hätte, könnte er ebensogut vom Bridgespielen leben. „Kennen Sie jemand von den Gästen in der Pension?“ „Nein. Niemanden. Ich bin zum ersten Mal hier, aber ich halte die Pension für ausgezeichnet, und die Gesellschaft ist angemessen und nett. Besonders Frau Lindner und Herr Harding. Die Bekanntschaft mit Herrn Harding kann für mich nützlich sein. Wir haben uns vor kurzem über gewisse Investitionsprojekte in Kalmar un73
terhalten. Es besteht Aussicht, daß etwas daraus wird. Und auf die Weise stellt sich womöglich noch heraus, daß mein Aufenthalt in Lomma nicht nur eine nette Erholung in Gesellschaft interessanter Leute war, sondern auch ein gutes Geschäft.“ Herr Dalin erläuterte noch, daß er Maria Jansson nicht gekannt habe. Selbstverständlich sei ihm als Bankier die Firma „Erik Jansson & Sohn“ ein Begriff. Seine Kontakte zu der Dame hätten sich lediglich auf ein paar Artigkeiten beschränkt, die man ausgetauscht habe, wenn man sich auf der Treppe oder im Speiseraum traf. „Was taten Sie nach dem Mittagessen?“ „Ich ging nach oben. Ich habe ein bißchen geruht, dann zog ich mich um und ging in den ersten Stock hinunter, um Frau Lindner abzuholen.“ „Hörten Sie nicht irgendwelche Geräusche aus dem Nebenzimmer?“ „Nein. Überhaupt kann man sich über die Akustik in Frau Brands’ Pension nicht beklagen. Das Haus ist sehr solide gebaut.“ „Aber vielleicht hörten Sie, daß jemand die Treppe heraufkam oder hinunterging?“ „Nein. Ich erinnere mich, daß Herr Doktor Nilerud den Speisesaal als erster verließ. Ein paar Minuten später die Tuvessons. Wir, das heißt Nora, Herr Harding und ich, saßen noch etwas länger am Tisch und verließen dann gleichzeitig den Raum. Frau Lindner ging auf ihr Zimmer in den ersten Stock und wir beide in den zweiten. Dann herrschte im ganzen Haus absolute Stille.“ Nora Lindner bestätigte die Aussagen ihres Bekannten. Die Herren Harding und Nilerud behaupteten gleichfalls kategorisch, daß während des Kartenspiels keiner der vier Spieler nach oben gegangen sei. Überhaupt sei niemand hinausgegangen oder habe die Pension verlassen. In diesem Punkt stimmten sämtliche Aus74
sagen völlig überein. Herr Harding konnte sich sogar erinnern, daß Nora Lindner und ihr Begleiter genau fünf vor acht zurückgekommen seien. Er hätte gerade ausgesetzt und habe gewitzelt, noch fünf Minuten, und die beiden hätten kein Abendessen mehr bekommen. Der Polizeidirektor, der ein wenig hinter seinem Untergebenen saß, hatte sich die Aussagen aufmerksam angehört. Als der letzte eben vernommene Zeuge die Bibliothek verlassen hatte, sagte er sarkastisch: „So ein interessanter Fall kommt mir zum ersten Mal unter. Zuerst entledigt sich einer seiner Schmuckstücke im Werte von mehreren tausend Kronen, dann begeht er Selbstmord, indem er sich mit einem Hammer den Schädel einschlägt. Und zu allem Überfluß versteckt er den Hammer noch eigenhändig unter dem Bett!“
5. Geschichte einer Karriere Der Polizeidirektor entschied, daß Oberleutnant Magnus Torg zusammen mit seinen beiden Gehilfen in Lomma, in der Pension von Frau Brands, wohnen solle. Das würde die Ermittlungen erleichtern. Die Verbindung mit Lund, das reichlich zehn Kilometer entfernt lag, würde über Telefon, eventuell über Funk aufrechterhalten werden. Diesmal konnte Frau Brands nicht Einspruch dagegen erheben, daß ein Wagen mit der Aufschrift „Polis“ ständig vor der Front ihrer Villa seinen Platz bezog. Torg wählte eines von den Zimmern im Parterre als Residenz. Die beiden Konstabler erhielten ein Zimmer im zweiten Stock. Schon von sieben Uhr morgens an drängte sich vor dem Tor der Pension ein Grüppchen von Leuten. In der Strandvägen stand ein gutes Dutzend Autos. Die Journalisten aus Malmö, einige von den Provinzzeitungen, 75
die in Städten wie Ystad, auch in Göteborg herauskamen, ja sogar etliche aus Stockholm versuchten, etwas am Tatort zu erfahren. Kein Wunder! Der Mord an Maria Jansson, einer der reichsten Frauen Schwedens, hatte im ganzen Land sensationelles Aufsehen erregen müssen. Frau Brands jedoch blieb unerbittlich. Das Tor war verriegelt und verrammelt, und der, in Voraussicht dieses Überfalls gemietete Portier, ein Fischerssohn aus dem Ort, teilte den um Einlaß bittenden Journalisten phlegmatisch mit, er öffne niemandem und niemand erhalte irgendwelche Informationen. Als noch vor neun Uhr die Situation vor dem Tor kritisch zu werden begann, versuchte Magnus Torg die Pensionsherrin umzustimmen. „Ich an Ihrer Stelle würde diese Leute einlassen, ja ihnen sogar eine Tasse Kaffee anbieten. Das sind schließlich die Vertreter fast der gesamten schwedischen Presse, und auch Journalisten von dänischen Zeitschriften aus Kopenhagen sind darunter. Die Presse ist eine Macht, und es ist gefährlich, sich mit ihr anzulegen. Sie kommen zwar nicht herein, aber sie werden Sie so beschreiben und verspotten, daß sich das auf Ihre Geschäfte auswirken kann. Wenn Sie hingegen freundlich sind, ist das nur Reklame für Sie. Übrigens eine Reklame, die Sie keinen Groschen kostet.“ „Sie werden überall herumlaufen, fotografieren und meinen Gästen keine ruhige Minute lassen. Und hinterher verdrehen sie in ihren Boulevardblättern sämtliche Tatsachen.“ „Man kann mit ihnen übereinkommen, daß sie die Namen Ihrer Gäste nicht erwähnen, und ihnen Lilljan zum Fraß vorwerfen. Das Mädchen ist hübsch, sie werden es also gern fotografieren und interviewen wollen. Schließlich hat sie Frau Jansson tot in ihrem Zimmer im zweiten Stock aufgefunden. Und eine Aufnahme von 76
diesem elegant eingerichteten Zimmer und Aufnahmen von der Villa und dem gutgepflegten Park gereichen Ihnen bestimmt nicht zum Schaden. Sie geben eine Menge Geld für Reklame aus. Jetzt machen Ihnen die Journalisten eine bedeutend bessere für eine Tasse Kaffee. Das ist doch nicht zu verachten.“ Oberleutnant Torg wußte, welche Argumente er der Pensionschefin gegenüber zu gebrauchen hatte. Noch überlegte sie, noch brachte sie irgendwelche Einwände vor, aber eigentlich war sie schon überzeugt. „Erledigen Sie das mit ihnen, daß sie nicht im ganzen Haus herumschnüffeln?“ „Abgemacht. Nur im Salon und ein Besuch in Frau Janssons Zimmer im zweiten Stock. Und was die Gäste betrifft, so führen wir ihnen höchstens Herrn Harding und Doktor Nilerud vor. Beide haben bestimmt schon hin und wieder mit Journalisten zu tun gehabt und werden sich auch jetzt zu helfen wissen.“ Beide Herren hatten nichts dagegen, sich der Presse zu stellen. Magnus Torg ging an das Tor. Die Journalisten erkannten ihn schon von weitem. Die Vertreter der in Skåne erscheinenden Zeitungen hatten in recht zupackenden Worten die Methoden kritisiert, die die Polizei in Lund anwandte, um die Presse vom Tatort fernzuhalten. „Aber meine Herren, Sie irren! Mit dem größten Vergnügen gebe ich eine Konferenz für Sie und teile Ihnen alles mit, was wir bisher wissen. Ich schicke nur voraus, daß das nicht viel ist. Auch Frau Brands stellt Ihnen gern ihre ganze Villa zur Verfügung.“ „Und weshalb laßt ihr uns dann vor dem Tor stehen?“ rief ein Journalist vom „Sydsvenska Dagbladet“ aufgebracht. „Es gibt ein kleines Hindernis. Die Pension ist belegt und hat eine Menge Gäste. Geschäft ist Geschäft. Frau Brands befürchtet, Ihr Besuch verscheucht ihr die Kun77
den. Ich habe ihr erklärt, es ginge Ihnen lediglich um ein paar Außenaufnahmen von der Villa, um die Beschreibung der Räumlichkeiten im Parterre und des Zimmers, in dem Frau Jansson wohnte. Außerdem wollten Sie noch das Zimmermädchen sehen und sich mit ihr unterhalten, weil sie die Leiche gefunden hat, und mit den beiden Pensionsgästen sprechen, die als erste den Tatort sicherten und die Polizei benachrichtigten. Sehe ich das richtig?“ „Jaja, in Ordnung. Das genügt uns vollkommen fürs erste.“ „Dann darf ich bitten. Lassen Sie uns zunächst in den Salon gehen, wo wir bei einer Tasse Kaffee den Fall besprechen können.“ Der Portier schloß das Tor auf, und die Journalisten stürzten buchstäblich herein. Wieder und wieder blitzten die Fotoapparate. In der Halle hieß Frau Brands die ungebetenen und nicht sonderlich erwünschten Gäste willkommen. Für jeden hatte sie ein freundliches Wort und ein Lächeln. Gern ließ sie sich fotografieren. Als dann alle im Salon Platz genommen hatten, in den man Stühle aus dem Speisesaal und aus den nichtbelegten Zimmern gebracht hatte, brachte Fräulein Lilljan ein großes Tablett mit Kaffee herein, mußte jedoch noch dreimal kommen, bis alle Besucher versorgt waren. Sodann ergriff Magnus Torg das Wort. Er schilderte den Ablauf der Ereignisse am Tage des Verbrechens so, wie er ihn auf Grund der Vernehmungen der Pensionsgäste rekonstruiert hatte. Er unterstrich auch, daß nach der Zeugenaussage des Polizeiarztes der Tod von Frau Jansson am Mittwoch zwischen fünf und sieben Uhr abends eingetreten sei. Er zeigte den Journalisten den Hammer, die Mordwaffe. Erneut arbeiteten die Fotografen wie besessen. „Und nun“, endete Torg sein kurzes Referat, „hier ist Fräulein Lilljan, die als erste die Leiche fand und als erste Alarm schlug.“ 78
Das Mädchen war durchaus nicht befangen. Die Hauptrolle in dieser kleinen Vorstellung behagte ihr. Sie posierte gern zu Aufnahmen, und noch lieber erteilte sie Auskünfte. Viele Male mußte sie wiederholen, wie sie das dunkle Zimmer im zweiten Stock betreten und, nachdem sie das Licht angeknipst hatte, das makabre Bild erblickt hatte. Frau Jansson, blutüberströmt im Bett liegend. Auf Bitten der Journalisten demonstrierte Fräulein Lilljan das alles in dem Zimmer im zweiten Stock. Zwei Tage nach den tragischen Ereignissen hatte sie keine Angst mehr. Frau Janssons Leiche war in die Pathologie übergeführt und das Zimmer gründlich saubergemacht worden. Frau Brands, die die Journalisten begleitete, wußte deren Aufmerksamkeit geschickt auf die luxuriöse Ausstattung des Zimmers und der ganzen Pension hinzulenken und auf die angenehme Lage in dem großen, der verkehrsreichen Autostraße abgewandten Park. Die Idee, kostenlos Reklame zu machen, die ihr Magnus Torg als Argument geliefert hatte, war auf fruchtbaren Boden gefallen. Und die Journalisten, die möglichst viel über den sensationellen Mordfall bringen wollten, schrieben fleißig. Es ist verständlich, daß es der Leser lieber liest, wenn eine Leiche in einem luxuriösen Zimmer gefunden wurde als zum Beispiel in einem Heustadel auf dem Feld. Doktor Nilerud berichtete vor der Presse gleichfalls in Einzelheiten über seine Rolle bei den schrecklichen Ereignissen. Er hob hervor, daß er als Arzt Frau Jansson habe retten wollen. Leider sei jede Hilfe zu spät gekommen. Er versäumte nicht, darauf hinzuweisen, was für ein Wetter an diesem Tag geherrscht habe und daß sie beide, Herr Harding und er, bereit gewesen seien, bei dem Sturm und im heftigsten Gewitter die vier Kilometer bis zur Polizeiwache zu marschieren. Sie mußten ihr 79
Vorhaben jedoch aufgeben, weil sich die anderen Pensionsgäste dieser Eskapade entschieden widersetzt hätten. Der Arzt aus Uppsala hatte nur einen Wunsch. Er bat darum, ihn nicht zu fotografieren. Er wollte einfach nicht von seinen Kollegen verdächtigt werden, er rühre die Werbetrommel für sich. Das verbiete die ärztliche Ethik. Deshalb bitte er sehr … Die Journalisten versäumten nicht, in ihren Notizen ein paar Worte über die Bescheidenheit des Polizeiarztes anzubringen. Derlei Hemmungen hatte Herr Harding hingegen nicht. Er hatte überdies Gelegenheit, als seriöser Industrieller aus Stockholm aufzutreten, der große Bauvorhaben leite. Auch das wurde festgehalten. Magnus Torg erwähnte nebenbei, daß er eine bestimmte Vorstellung zur Person des Mörders habe, aber der Fall sei verworren und kompliziert, und es könne längere Zeit dauern, bis er aufgeklärt sei. Die Presse solle also Verständnis aufbringen und sich nicht ungeduldig gebärden. Mit Hilfe der unersetzlichen Lilljan gab Torg den Journalisten auch eine genaue Beschreibung des geraubten Schmucks. Der Kriminalbeamte fand nämlich, er müsse den Überfall der Presse auf Lomma nutzen. Auf die Weise würden alle Juweliere in Schweden und Dänemark entschieden besser davor gewarnt, den geraubten Schmuck zu kaufen, und verpflichtet, die Polizei zu benachrichtigen, wenn versucht werden sollte, diese Wertgegenstände auf den Markt zu bringen, als dies eine Sondermitteilung der Polizeidirektion in Lund besorgt haben würde. Die Journalisten waren im großen und ganzen zufrieden. Jeder hatte irgendeine Kleinigkeit ausschließlich für den eigenen Gebrauch ergattert. Etwas, was der Kollege von der Konkurrenz nicht schreiben würde. Magnus Torg, der wußte, wie es bei der Presse zugeht, hatte dafür Sorge getragen, jedem zusätzlich andere Einzelheiten zu seinen Beobachtungen zu liefern. 80
Frau Brands mußte zugeben, daß die Journalisten nicht einmal versucht hatten, die am Tor mit Magnus Torg getroffene Abmachung zu brechen. Sie hatten in keines der Zimmer hineingesehen, das von den Gästen bewohnt war, und sie hatten auch nicht versucht, mit ihnen auch nur ein Wort zu wechseln. Nach anderthalb Stunden verließen die Journalisten die Villa in der Strandvägen. Es war vereinbart worden, daß sie die nächsten Meldungen entweder telefonisch von Magnus Torg oder von der Polizeidirektion Lund beziehungsweise auf der Wache in Lomma erhalten würden. „Na, das war ja kurz und schmerzlos“, bemerkte Frau Brands, als der letzte von den Presseleuten ihr Haus verließ. „Nur weil im Nahen Osten wesentlich wichtigere Dinge passieren und die Zeitungen die ersten Seiten dafür brauchen“, sagte Oberleutnant Torg lächelnd. „Sonst hätten wir nicht so leicht leeres Stroh dreschen können.“ Eine knappe Stunde später hielt vor dem Tor der Pension ein wunderschöner Volvo Sport. Daraus stieg ein Mann um die Dreißig. Groß, blond, blauäugig. Er war mit jener lässigen Eleganz gekleidet, die Leute an sich haben, die es sich leisten können, sich einen Anzug bei einem teuren Schneider bauen zu lassen. Als der Portier den Namen Helmer Jansson hörte, machte er das Tor weit auf. Der Volvo rollte hindurch und hielt neben dem vor der Villa parkenden Polizeiauto. Frau Brands begrüßte den neuen Gast. „Was für schreckliche Umstände, unter denen wir uns wiedertreffen. Nehmen Sie mein aufrichtiges Beileid entgegen.“ „Ich werde mir nie verzeihen, daß ich so spät gekommen bin. Leider zu spät. Aber angesichts der internationalen Lage hielt ich mich in der Zentrale der Firma für unabkömmlich. Ich dachte, die Dinge, die mir meine 81
Mutter erzählte, beruhten auf gewöhnlicher weiblicher Nervosität. Leider …“ „Darf ich die Herren vorstellen“, sagte Frau Brands. „Herr Helmer Jansson, Frau Janssons Sohn. Oberleutnant Magnus Torg, der zum Untersuchungsoffizier in diesem traurigen Fall ernannt worden ist. Und das ist Herr Doktor Nilerud aus Uppsala.“ Die Herren drückten einander die Hand. „Ich habe Ihr Telegramm erst gestern nachmittag erhalten“, erklärte der Ankömmling. „Die Nachricht hat mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Ich habe in aller Eile die unaufschiebbaren Geschäfte erledigt, habe mich heute morgen in meinen Wagen gesetzt und bin hierher gerast. Wie konnte das passieren?“ Der Beamte beschrieb kurz, wie sich die Ereignisse abgespielt hatten. Jansson hörte aufmerksam zu, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Als der Oberleutnant fertig war, bemerkte Direktor Jansson: „Einen Tag nach ihrer Ankunft hier in Lomma rief meine Mutter mich an. Sie war merkwürdig aufgeregt. Sie bat mich herzukommen, sie müßte mir etwas sehr Wichtiges sagen. Mit Mühe konnte ich ihr klarmachen, daß ich zu einem Zeitpunkt, wo die internationale Lage so verworren sei und wir kurz vor dem Ausbruch eines Krieges stünden, der jeden Moment in ein Weltgemetzel umschlagen könne, ein Auge auf die Interessen unserer Firma haben müsse. Zumal ich allein sei. Ich hatte den Eindruck, als begriffe sie das, aber zwei Tage später hatte ich schon wieder einen Anruf von ihr.“ „Sprach sie davon, daß sie in einer Gefahr schwebe?“ „Beim ersten Mal erwähnte sie nichts dergleichen. In dem zweiten Gespräch gab sie mir das ziemlich eindeutig zu verstehen. Ich war nach wie vor überzeugt, das sei nur eine Nervensache, weil meine Mutter sehr überarbeitet und am Ende ihrer Kräfte war. Trotzdem riet ich ihr, sie solle sich an die Polizei wenden oder einen Pri82
vatdetektiv zu ihrem Schutz mieten. Ich versprach ihr auch, daß ich mich bemühen würde, wenigstens für einen Tag, am Sonntag, herzukommen.“ „Hat sie dann noch einmal angerufen?“ „Ja. Sie war weiterhin beunruhigt, aber unser Gespräch betraf hauptsächlich die Geschäfte der Firma. Ich bat meine Mutter, sie solle einmal, wenn sie in Malmö sei, die Gelegenheit nutzen und nach Kopenhagen fahren, um dort gewisse Angelegenheiten unserer Niederlassung zu regeln.“ „Hat sie das getan?“ „Ja. Meine Mutter ist zweimal nach Kopenhagen gefahren.“ „Hat sich Frau Jansson, als sie von dieser Gefahr sprach, vielleicht konkreter ausgedrückt?“ „Sie sagte lediglich, sie hätte einen gewissen Verdacht. Wenn sie sich nicht irre, stünde ihr Leben auf dem Spiel.“ „Worauf bezog sich das?“ „Meine Mutter war im Konzentrationslager Auschwitz und später in Ravensbrück. Sie hat ihre ganze Familie verloren. Wie viele Leute, die ein paar Jahre in dieser Hölle zubrachten, litt sie unter einer Art Trauma. In jedem zweiten Deutschen vermutete sie einen Kriegsverbrecher. Sie hatte in letzter Zeit viel über die Menschenschinder aus Auschwitz und allerlei Meldungen über deutsche Kriegsverbrecher gelesen, die sich versteckt halten sollen. Das alles wirkte sich schlecht auf ihre nervliche Verfassung aus. Eigentlich hat sie seit dem Tod meines Vaters, das heißt seit vier Jahren, ihr seelisches Gleichgewicht nicht wiedergefunden. Demzufolge glaubte ich, ihr wäre hier irgendwo ein Deutscher über den Weg gelaufen und sie hätte ihn mit einem ihrer früheren Verfolger in Verbindung gebracht. Damals dachte ich noch, das seien die Nerven, jetzt bin ich geneigt anzunehmen, daß es sich wirklich so verhielt. Nie werde 83
ich mir verzeihen, daß ich nicht alles stehen- und liegenließ und sofort nach Lomma gefahren bin. Vielleicht wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen.“ „Wenn es ein Kriegsverbrecher gewesen wäre, der sein Opfer erkannt hatte, hätte der doch sofort die Flucht ergriffen und wäre nicht in die Villa eingebrochen, um den Schmuck zu rauben und seine Besitzerin zu ermorden.“ „Ich weiß es nicht“, räumte Jansson ein. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Es ist doch undenkbar, daß in Schweden, zweiundzwanzig Jahre nach dem Krieg, solche Dinge passieren.“ „Vielleicht erzählen Sie mir etwas über Ihre Mutter. Wir wissen, daß sie in Auschwitz war, denn sie hatte eine eintätowierte Nummer am Arm, aber nichts weiter. Wie konnte es geschehen, daß die deutschen Faschisten die Bürgerin eines neutralen Staates in ein Konzentrationslager verschleppten?“ „Meine Mutter war Polin“, erklärte Helmer Jansson. „Man hat sie verhaftet und mit ihrer ganzen Familie im Februar neunzehnhundertzweiundvierzig nach Auschwitz deportiert. Dort wurden, außer Maria, alle gleich von der Rampe weg in die Gaskammer geschickt. Nach Schweden kam sie erst in den letzten Kriegsmonaten. Damals war sie schon in Ravensbrück, als durch Graf Folke Bernadottes Intervention Himmler einwilligte, mehrere tausend weiblicher Häftlinge aus Ravensbrück und Häftlinge aus anderen Lagern zu evakuieren. Diese Aktion erregte viel Aufsehen. Die gesamte schwedische Bevölkerung eilte diesen Menschen zu Hilfe. Die meisten von ihnen brauchten eine langwierige ärztliche Behandlung. Später kehrten diese Häftlinge in ihre Heimatländer zurück. Die meisten davon waren Polen. Ein Teil blieb in Schweden. Hauptsächlich Frauen, die inzwischen schwedische Bürger geheiratet hatten. Und eine davon war meine Mutter.“ 84
„Verzeihen Sie“, warf Magnus Torg ein, „das war vor zweiundzwanzig Jahren. Sie sind aber doch um einiges älter.“ Jansson lächelte fein. „Tatsächlich. Ich sage dauernd ‚meine Mutter‘ und habe vergessen zu erklären, daß Maria die zweite Frau meines Vaters war. Sie war meine Stiefmutter, aber ich wünschte jedem so eine Mutter.“ „Die Märchen von der bösen Stiefmutter gehören längst auf den Müll“, bemerkte der Kriminalbeamte. „Für gewöhnlich hätscheln und verwöhnen sie die angenommenen Kinder mehr, als das die leiblichen Mütter tun.“ „Sie haben recht“, pflichtete ihm der Ankömmling aus Stockholm bei. „Mein Vater hatte einen Lebensmittelladen in der Styrmansgatan, in der Nähe des Karlaplan. Wir haben übrigens diesen kleinen Laden aus Sentimentalität bis heute behalten, obwohl wir nur einen Haufen Scherereien damit haben und fast keine Einnahmen. Aber weder mein Vater noch später meine Mutter wollten von der Auflösung dieses überflüssigen Geschäftes etwas hören. Als die ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager nach ihrer Genesung die Krankenhäuser und Erholungsheime verließen, begannen diejenigen, die nicht in ihre Heimat zurückkehrten, in den unterschiedlichsten Betrieben zu arbeiten. Auf die Weise kam Maria zu uns. Das Mädchen besaß nichts, wußte nicht, wo sie wohnen sollte. Meine Mutter nahm sie zu uns ins Haus. Meine Mutter lebte noch zwei Jahre, doch sie war fast die ganze Zeit über krank. Neben der Arbeit im Laden pflegte Maria sie mit der größten Aufopferung, und gleichzeitig kümmerte sie sich um den kleinen Sohn, um mich. Sogar die Schularbeiten machte sie mit mir, was im übrigen dazu beitrug, daß sie die Sprache so perfekt lernte, daß sie wie eine geborene Schwedin sprach.“ „Das stimmt“, bestätigte Frau Brands. „Nie, nicht ei85
nen Augenblick lang hätte ich gedacht, Frau Jansson könnte woanders geboren sein als in Stockholm.“ „Auf dem Sterbebett“, fuhr Direktor Jansson fort, „bat meine Mutter Maria inständig, sich ihres Sohnes anzunehmen und meinen Vater zu heiraten. Das war zweifellos ein großes Opfer seitens eines zwanzigjährigen und sehr hübschen Mädchens, trotzdem heiratete Maria nach dem Tod meiner Mutter meinen Vater. Er war über zwanzig Jahre älter als sie. Mir war sie, wie ich bereits erwähnte, die beste Mutter, die ich mir nur denken kann. Deshalb nannte ich sie so bis heute, obwohl sie nur elf Jahre älter war als ich.“ „Jetzt verstehe ich alles“, stellte Magnus Torg fest. „Wie das oftmals vorkommt in solchen Fällen, hing Maria aufrichtig an meinem Vater, obwohl sie ihn, wie schon erwähnt, ganz bestimmt nicht aus Liebe geheiratet hatte. Aber sie war mutterseelenallein. Alle ihre Verwandten waren im Krieg umgekommen. Sie besaß niemanden und nichts, zu dem sie hätte zurückgehen können. In meinem Vater fand sie eine Stütze und einen Beschützer. Sie fand auch eine Lebensaufgabe. Mich zu betreuen und aus unserem jämmerlichen kleinen Laden eine weltbekannte Firma zu machen.“ „Kaum zu glauben!“ „Trotzdem ist es die Wahrheit. Dieses Mädchen, das keinerlei Erfahrung im Handel, keine entsprechende kaufmännische Ausbildung besaß, verwandelte sich in dem Augenblick, wo sie den Ladentisch der Verkäuferin gegen die Kasse der Chefin eintauschte, beinahe schlagartig. Sie erfaßte im Handumdrehen, worauf es bei der Führung eines Lebensmittelladens ankommt, und begriff etwas, wofür die meisten Menschen nicht den Blick haben. Daß, wer viel verdienen will, auch viel riskieren muß. Wozu im Großhandel ein paar Tonnen Zucker oder einige …zig Kilogramm Kaffee kaufen, wenn es besser ist, ein ganzes Schiff mit Kaffee nach Schweden zu holen 86
und ihn zu verkaufen und auf die Art alle Maschen im Handelsvermittlungsnetz zu umgehen. Ich weiß nicht, was für Argumente sie gebrauchte, aber sie brachte es fertig, meinen Vater zu überzeugen, daß es nicht lohne, sein Lebtag einen kleinen Laden zu führen. Man müsse alles auf eine Karte setzen und entweder weit mehr gewinnen oder ohne Bedauern sich von dem trennen, was man besessen habe. Sehr bald tauchte neben dem kleinen Lebensmittelladen die anfangs nicht viel größere Firma ‚Erik Jansson & Sohn‘ auf. Dieser Sohn war ich. Ich war damals genau zwölf Jahre alt. Und Maria dreiundzwanzig.“ „Es ist nicht zu fassen“, bemerkte der Beamte. „Es ist regelrecht phantastisch, so eine Karriere im Handel. Die Rolle meines Vaters darf man natürlich nicht vergessen, der ein erfahrener Kaufmann war, den Markt kannte und Kreditmöglichkeiten hatte. Doch alle größeren Geschäfte entsprangen ihrem Kopf. Zuerst Zucker, Kaffee. Später dann der Ankauf von Kohle aus Polen. Sie kaufte alles, was man damals in Europa und Amerika zu kaufen bekam. Und sie verkaufte es dort, wo es sich am besten verkaufen ließ. Die ausgezeichnete Konjunktur wirkte sich dabei günstig aus. Europa war ausgehungert, und jede Ware war begehrt. Die Steuern waren in Schweden damals niedriger, als sie es heute sind. Das Handelshaus ‚Erik Jansson & Sohn‘ wuchs von Stunde zu Stunde. Meine Mutter besaß einen außerordentlichen Geschäftssinn. Sie sattelte auf eigenen Seetransport um, und wir begannen in den größeren Häfen Europas und des südamerikanischen Kontinents Zweigstellen zu gründen. Die Firma florierte. Mein Vater war nominell der Generaldirektor, aber das Unternehmen leitete Maria. Mein Vater spielte nur die Rolle des Bremsers, der seine Frau vor allzu großen Risiken bewahrte.“ „Das hört sich an wie ein Märchen“, sagte Frau Brands. 87
„Trotzdem ist unsere Firma heute in der ganzen Welt vertreten und durchaus kein Traumgebilde. Vor vier Jahren, nach dem Tode meines Vaters, wurde ich Oberhaupt des Unternehmens. Eigentlich auf Marias Wunsch, denn die Mehrzahl der Aktien war auf ihren Namen eingetragen, und das restliche Vermögen hatte mein Vater im Testament in zwei gleiche Teile teilen lassen. Ich gestehe jedoch, daß ich nicht einen Schritt unternahm, ohne ihn mit meiner Mutter abgestimmt zu haben. Ihre letzte großartige Maßnahme war, eine ganze Flottille von Tankern zu chartern. Das war ein sehr gefährliches Spiel. Wir hätten dabei hops gehen können, und wennschon nicht hops, dann immerhin ein paar Millionen verlieren. Sie werden verstehen, meine Herrschaften, was es heißt, über Tonnage zum Transport von Erdöl zu verfügen, zu einem Zeitpunkt, da der Suezkanal blockiert ist. Und wie die Seefrachtsätze in die Höhe schnellten. Wieder war Maria der Gewinner. Nur in diesem letzten Spiel ist sie unterlegen.“ „Sie erwähnten, daß Frau Jansson keine nahen Verwandten mehr hatte“, sagte Torg. „Keine nahen und keine entfernten. Das weiß ich genau.“ „Reiste Ihre Mutter – lassen Sie mich die Tote nach Ihrem Beispiel so nennen – viel ins Ausland?“ „Selbstverständlich. Sie tätigte doch riesige Geschäfte, die über den ganzen Erdball verteilt waren.“ „Und mehr in der Nähe, in Europa, wo war sie da?“ „Überall. Obwohl sie sehr ungern nach Deutschland fuhr. Das ist dieses Trauma, das sie aus dem Lager davongetragen hat. Sie zuckte zusammen, wenn sie deutsch sprechen hörte. Die Deutschen legen ja, wie Sie selber wissen, für gewöhnlich ein ziemlich lautes Benehmen an den Tag. Besonders wenn sie im Urlaub im Ausland sind. Das brachte meine Mutter unerhört auf.“ 88
„Und war sie in Polen? Besuchte sie vielleicht das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz?“ „In Polen war sie auch. Nicht allzuoft. Mehrere Male war sie dort zur Erholung. In einem Sanatorium in irgendeinem Kurort. Sie lief auch Ski in Zakopane. Auch an der See wohnte sie.“ „Haben ihr die kommunistischen Behörden in Polen keine Hindernisse in den Weg gelegt, als sie das Visum beantragte?“ „Aber nein! Wieso? Wir hatten doch große Importund Exportabschlüsse mit Polen, und wir haben sie auch heute noch. Meine Mutter unterhielt sehr gute Beziehungen zu der polnischen Botschaft in der Karlavägen. Sie besuchte dort diplomatische Empfänge und gehörte außerdem der Gesellschaft für Schwedisch-Polnische Freundschaft an.“ „Und hatte sie irgendwelche Feinde?“ „Jemand, der eine so große Firma leitet, muß, wenn nicht Feinde, so doch mindestens Konkurrenten und Neider haben. Das versteht sich von selbst.“ „Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“ „Überhaupt nicht. Das einzige, was mir als Tatmotiv einfällt, ist, daß meine Mutter von einem Kriegsverbrecher ermordet wurde, der untergetaucht ist und dem sie hier irgendwo begegnet sein muß. Das habe ich schon erwähnt.“ „Und der geraubte Schmuck?“ „Tja, dieser Schmuck paßt da nicht hinein. Es wirkt überhaupt komisch auf mich, daß jemand einen Menschen ermorden sollte, um ein paar Ringe und Armreifen im Wert von höchstens sieben- oder achttausend Kronen zu ergattern.“ Der Oberleutnant lächelte. „Sie sind ein sehr reicher Mann, Herr Jansson“, bemerkte er, „für Sie sind achttausend Kronen eine lächerliche Summe. Ich will zugeben, für den Durchschnitts89
schweden ist das auch kein Schatz, aber immerhin der Verdienst von mehreren Monaten. Ich versichere Ihnen, daß Menschen schon wegen weit kleinerer Beträge ermordet wurden.“ „Ja, Sie haben recht“, gab Jansson zu. „Falls Sie meine Hilfe brauchen, mein Geld und meine Beziehungen, ich stehe Ihnen zur Verfügung. Der Mörder muß gefaßt werden und seine Strafe erhalten. Dieser Mensch wird nirgendwo auf der Welt Zuflucht finden. Eine Frau wie Maria zu ermorden!“ Magnus Torg deutete eine Verbeugung an. Er hielt es nicht einmal für angebracht, dem jungen Millionär zu erklären, daß die schwedische Polizei über ausreichend eigene Mittel verfüge, um einen Mörder zu suchen, und sei es unter der Erde. Er fragte lediglich: „Ich habe erfahren, daß Ihre Mutter bei ihren Telefongesprächen häufig eine fremde Sprache benutzte. Was für eine?“ „Sie beherrschte perfekt Englisch und Französisch. Sie konnte natürlich auch Deutsch. Von damals her. Aber Deutsch sprach sie ungern.“ „Es war keine von diesen Sprachen.“ Jansson lächelte und sagte ein paar Sätze in einer harten Sprache mit vielen Zischlauten. Es war wohl ein Gedicht, denn die einzelnen Wörter reimten sich. „Ja, genauso habe ich Frau Jansson sprechen hören“, rief die Pensionswirtin aus. „Das ist polnisch“, erklärte Jansson, „die Muttersprache meiner Mutter.“ „Sie können polnisch?“ „Ja. Sie hat es nicht nur mir, sondern auch meinem Vater beigebracht. Das hat sich sogar häufig bei den Geschäftsverhandlungen als nützlich erwiesen. Wir konnten uns mit unseren polnischen Verhandlungspartnern verständigen oder uns auch untereinander verständigen, ohne zu riskieren, daß einer mithörte und verstand. Sie wissen, wie verbreitet Industrie- und Handelsspionage sind.“ 90
„Fanden die Gespräche, die Frau Jansson mit Ihnen von Lomma aus führte, ebenfalls in polnischer Sprache statt?“ Helmer Jansson überlegte kurz. „Ja“, gab er zu, „meine Mutter sprach meistens polnisch mit mir. Sie war eine loyale schwedische Bürgerin, ja sogar eine Patriotin und war im Grunde doch Polin geblieben. Sie dachte bestimmt polnisch. Sie gebrauchte diese Sprache, sooft sie sich ihrer bedienen konnte.“ In dem Moment bemerkte Magnus Torg, daß ein Mann durch die zur Terrasse führende Tür den Speisesaal betrat. Der Ankömmling sah sich um, und nachdem er das Grüppchen im Salon bemerkt hatte, lenkte er seine Schritte in diese Richtung. Magnus Torg kannte diesen Mann. Es war Sven Breman, der Chefreporter des in Malmö erscheinenden Nachmittagsblattes „Kvällsposten“. Sven Breman lächelte Torg zu, und er sagte, auf der Schwelle zum Salon stehenbleibend: „Wie ich höre, war schon ein ganzes Geschwader von Schreiberlingen hier, aber Gedränge mag ich nun mal nicht und habe beschlossen, mich ein bißchen später auf die Socken zu machen. Das Glück ist mir hold, denn ich erwische das Oberhaupt – Magnus Torg. Der Herr daneben ist mir auch bekannt, Herr Direktor Jansson. Frau Brands hatte ich ebenfalls schon das Vergnügen kennenzulernen. Ich vermute, daß außerdem noch Doktor Nilerud hier anwesend ist. Mir scheint, ich habe alle richtig identifiziert.“ Der Journalist, überaus zufrieden mit sich und dem Eindruck, den sein plötzliches Auftauchen hinterlassen hatte, trat an den Tisch und gab jedem der Reihe nach die Hand. Dann sank er in einen Sessel und bemerkte: „Oh, Sie haben Kaffee getrunken. Ich will hoffen, für mich ist auch noch ein Täßchen da.“ Frau Brands war so überrascht, daß sie Lilljan, die he91
reinkam, um das leere Geschirr abzuräumen, unwillkürlich auftrug: „Bring dem Herrn eine Tasse Kaffee.“ „Tack så mycket“, sagte der Journalist, als das Zimmermädchen bald darauf wieder erschien. Und er bediente sich selbst. Er schüttete vier Löffel Zucker in die Tasse und rührte um. Dann nahm er einen großen Schluck von dem schwarzen Getränk und sagte wie nebenbei: „Jetzt können wir uns über dieses entsetzliche Verbrechen unterhalten. Was meinen Sie, Oberleutnant? Dieser Schmuck will mir bei der Sache ganz und gar nicht gefallen. Wenn es ein Scheckbuch wäre, gäbe es für mich keinen Zweifel, daß einer von unseren motorisierten Rowdys die Gelegenheit beim Schopf gepackt hat und ein bißchen zu weit gegangen ist. Womöglich wurde er sogar auf frischer Tat ertappt?“ „Nein“, erwiderte Jansson, „alles weist darauf hin, daß meine Mutter im Schlaf ermordet wurde. Geraubt wurde nur der Schmuck.“ „Also kein raggare“, fuhr Sven Breman fort. „Die sind zu schlau, als daß sie jemanden wegen ein paar Kinkerlitzchen umbringen.“ „Bevor wir weiterreden“, ergriff Magnus Torg das Wort, „erklären Sie uns vielleicht erst mal, wie Sie den Portier überzeugt haben, Sie hereinzulassen?“ „Och!“ entgegnete der Journalist lachend. „Eher könnte ich mich mit einem Zerberus einigen als mit diesem Kerl, der sich dort gefährlich vor dem Tor aufgebaut hat.“ „Wie sind Sie also hereingekommen?“ „Ich habe meine Tricks.“ Sven Breman wollte den Vertreter der Staatsgewalt durchaus neugierig machen. „Da bin ich aber gespannt.“ Torgs Stimme klang ziemlich scharf. Das war kein Spaß mehr. „Ich verrate es Ihnen mit Rücksicht auf unsere alte, bewährte Freundschaft. Ich bin einfach durch ein Loch in eurem Zaun gekrochen.“ 92
6. Aus den Aufzeichnungen eines Polizeiarztes Da haben wir also das Haus voller Polizei. Jansson hielt sich mehrere Stunden lang in Lomma auf. Er brachte den Filialleiter seiner Firma aus Kopenhagen mit und beauftragte ihn, sämtliche Formalitäten zu überwachen, die durch die Herausgabe von Maria Janssons Leiche an die Familie nötig sind. Das Begräbnis findet in Stockholm statt. Gleich nach dem Mittagessen raste der nunmehr einzige lebende Inhaber der Firma „Erik Jansson & Sohn“ in seinem Rennwagen zurück nach Stockholm. Zuvor jedoch setzte er sich noch telefonisch mit London, Paris, Hamburg und Genf in Verbindung. Das ist die Fron eines großen Geschäftsmannes, daß ihm nicht einmal Zeit bleibt, um die eigene Mutter zu trauern. Dieser Reporter von der „Kvällsposten“ richtete auch ein hübsches Durcheinander an. Offenbar hat die Polizei in Lund die Hände ein bißchen in den Schoß gelegt, wenn die Konstabler selbst ihre grundlegende Pflicht, den Tatort und seine nächste Umgebung gründlich zu inspizieren, so vernachlässigen konnten. Ich entsinne mich genau, daß unser junger Oberleutnant in allem Ernst behauptete, der Mörder müsse Flügel gehabt haben und damit auf einen Balkon geflogen sein, um von dort in den zweiten Stock zu gelangen. Dabei stellt sich nun heraus, daß Flügel gar nicht nötig waren. Es genügte ein Loch im Zaun! Nicht im eigentlichen Zaun, sondern, genauer gesagt, in dem Metallgeflecht, von dem unser ganzer Park eingezäunt ist. Ich werde mich noch lange an die verwunderte und ein bißchen dümmliche Miene des Oberleutnants erinnern, als Sven Breman auf seine Frage, wie er in die Pension gelangt sei, seelenruhig antwortete: „Ich bin einfach durch ein Loch im Zaun gekrochen.“ Das verschlug unserem wackeren Untersuchungsoffizier total 93
die Sprache. Als erste reagierte Frau Brands: „Sie haben mir ein Loch in meinen Zaun gemacht?“ „Das brauchte ich gar nicht, gnädige Frau. Das hat schon einer vor mir getan, und zwar weit fachgerechter, als ich es gekonnt hätte“, erklärte der Journalist gelassen. „Mein bescheidenes Verdienst ist es, diesen getarnten Eingang entdeckt zu haben. Ich habe ihn benutzt, um in so netter Gesellschaft Kaffee zu trinken.“ „Und wo ist dieses Loch?“ erkundigte sich Oberleutnant Torg. „Dort, wo die große Kastanie steht.“ Der Reporter zeigte nach draußen. „Bitte führen Sie uns dorthin.“ „Nicht mal seinen Kaffee lassen sie einen in Ruhe austrinken“, sagte Sven Breman gespielt ärgerlich. „Nicht eben sehr gastfreundlich, diese Lunder Polizei. Tja, da kann man nichts machen, was tut man nicht alles für die Obrigkeit. Kommen Sie.“ Der Journalist erhob sich von seinem Sessel, durchquerte den Salon und den Speiseraum, dann ging er die Terrasse hinunter in den Park. Er umrundete eine bunte Blumenrabatte, ging quer über den Rasen und strebte der großen, ausladenden Kastanie zu, die hier dicht an der Einzäunung steht. Zu beiden Seiten des Drahtzaunes wächst auch hohes Gebüsch. Breman bog die Sträucher auseinander und zeigte mit dem Finger hinein. Tatsächlich, gleich hinter dem dicken Baumstamm war der Maschendraht zerschnitten, von unten bis fast ganz hinauf. Man brauchte den Draht nur zurückzubiegen, und es entstand ein Spalt, durch den ein erwachsener Mann mühelos den Park betreten oder verlassen konnte. Magnus Torg sah sich den Zaun genau an. „Mit einer scharfen Schere durchgeschnitten. Höchstens vor ein paar Tagen, denn die Schnittstelle ist noch nicht schwarz geworden.“ 94
„Es freut mich, daß ich unserer allwissenden Polizei diesen kleinen Gefallen tun konnte“, sagte der Journalist spöttisch. „Ich empfehle mich für die Zukunft.“ „Zum Henker!“ Die Hohnreden des Reporters hatten Magnus Torg wohl arg getroffen. „Meine Leute waren beauftragt, das gesamte Terrain genau zu untersuchen. Die können was erleben.“ Der Oberleutnant rannte in die Pension und kam mit seinen beiden Gehilfen zurück. Sie rechtfertigten sich lautstark: „Wir sind um den ganzen Garten herumgegangen. Hier kamen wir durch die Büsche und den Baum nicht an den Zaun heran. Der Draht war straff und ausreichend gespannt. Wie sollten wir ahnen, daß dieser Halunke ihn durchgeschnitten hat.“ „Ich muß hinzufügen“, warf Sven Breman ein, der beschlossen hatte, den beiden zu Hilfe zu kommen, „daß ich, als ich nach einer Möglichkeit suchte, um hier hereinzukommen, dieses Loch fast übersehen hätte, so gut war es getarnt. An ein paar Stellen waren die Schnitte mit Draht wieder zusammengeflickt. Er muß irgendwo im Gras liegen, denn ich hab’ ihn aufgeknüpft und auf die Erde geworfen. Der Draht hielt sehr fest und war kaum zu sehen. Das machte es noch schwerer, den Durchgang zu entdecken.“ „Wenn Sie ihn entdeckt haben, dann hätten sie ihn erst recht entdecken müssen“, sagte der Oberleutnant gereizt. „Das kommt davon, wenn man nicht selbst auf alles achtet. Wir zerbrechen uns den Kopf, wie der Mörder in die Pension gelangt ist, dabei ist ein Loch im Zaun, durch das man fast mit dem Auto fahren kann …“ „Hier ist der Draht.“ Einer der Konstabler hob ein paar Metallstückchen von der Erde auf. „Das Loch ist erst vor kurzem geflickt worden. Ganz gewöhnlicher Draht, der an der Luft schon nach ein paar Tagen rostet. Und dieser ist noch blitzblank.“ „Der beste Beweis dafür, daß Frau Janssons Mörder 95
sich seinen Weg hier durch gebahnt hat“, warf Breman ein. Ich stieg durch das Loch nach draußen. Das ganze Gelände bis hin zur Strandvägen ist mit allerhand Gesträuch bewachsen. Man kann also völlig unbemerkt von der Chaussee bis an das Gitter herankommen und sich ungestört mit der Schere daran zu schaffen machen. Ich bückte mich und versuchte, irgendwelche Spuren zu entdecken. Vergebens. Der Regen hatte alles gründlich weggespült. Als wir wieder in den Salon zurückgekehrt waren, trank der Journalist seinen Kaffee aus, und an Magnus Torg gewandt, sagte er: „Eine Hand wäscht die andere. Ich habe Ihnen den Weg gezeigt, auf dem der Mörder hereingekommen ist. Ich bin bereit, darüber zu schweigen, daß erst ein Journalist kommen mußte, um den Durchschlupf zu finden, weil unsere grandiose Polizei aus Lund offenbar Angst hat, in die Sträucher zu kriechen, um sich nicht den Anzug schmutzig zu machen. Dafür sagen Sie mir jetzt ehrlich, wie weit die Ermittlungen inzwischen gediehen sind, Herr Oberleutnant. Den Brüdern, die vor mir hier waren, haben Sie zwar allerhand Stuß erzählt, aber ich möchte mich ernsthaft mit Ihnen unterhalten.“ Magnus Torg kennt Sven Breman seit langem. Er weiß, daß er zu den besten Reportern in Schweden gehört. Er hat auch eine spitze Feder. Er bringt es fertig, erbarmungslos die unter Beschuß zu nehmen, die ihm einmal in die Quere gekommen sind. Gleichzeitig kann man sich auf ihn verlassen. Er verrät nie ein Geheimnis, wenn das einer Polizeiaktion schaden kann. Torg zog es vor, den Reporter lieber zum Verbündeten als zum Feind zu haben. Er entschloß sich also, ihm alles zu erzählen, einschließlich der von Helmer Jansson vorgebrachten Vermutung. „Natürlich sage ich Ihnen das im Vertrauen, Herr 96
Breman, und ich rechne auf Ihre Diskretion. Das sind vorerst keine Meldungen, die zum Druck freigegeben werden können.“ „Ich weiß, und ich bedaure das sehr. Herrn Janssons Konzeption ist höchst interessant, wenn auch ein bißchen unwahrscheinlich. Aber völlig ausschließen kann man sie auch nicht. Vielleicht hat Frau Jansson wirklich in Malmö oder in Kopenhagen auf der Straße einen Deutschen getroffen, einen ehemaligen Aufseher aus dem Lager in Auschwitz. Sie erkannte ihn, aber auch er bemerkte, daß er erkannt worden war. Es gelang ihm auszukundschaften, wo die Frau wohnte, und er versuchte sie aus dem Weg zu räumen.“ „Diese Erklärung will mir nicht ganz einleuchten, Herr Breman“, sagte ich. „Wenn es so gewesen wäre, dann hätte dieser Deutsche doch nur in das nächste Taxi zu steigen brauchen und wäre aus ihren Augen verschwunden. Und dann hätte er so schnell wie möglich Schweden beziehungsweise Dänemark verlassen. Es fällt allerdings schwer, zu glauben, daß ein Kriegsverbrecher so lange ungeschoren in Dänemark oder in Südschweden gelebt haben soll. Es sind schließlich zwanzig Jahre vergangen. Der Mann muß mit vielen Leuten in Berührung gekommen sein, die ihn entlarven konnten. In den Konzentrationslagern waren viele Dänen. Tausende von Ausländern besuchen jedes Jahr Schweden. Unter ihnen gibt es doch bestimmt Leute, die einen Kriegsverbrecher identifizieren können. Ich neige mehr zu der Ansicht, daß Frau Jansson tatsächlich jemanden getroffen hat, der sie an einen dieser Unmenschen von Auschwitz erinnerte, und daß sie das so nervös gemacht hat. Aber umgekommen ist sie von der Hand eines ganz anderen Menschen, der es auf ihren Schmuck abgesehen hatte. Ihr Sohn hat behauptet, sie sei in letzter Zeit abgespannt und überreizt gewesen. Sie sah eine eingebildete Gefahr und bemerkte nicht die echte.“ 97
„Sie haben keinerlei Beweise, die diese These belegen könnten, Doktor.“ „Die habe ich schon“, erwiderte ich. „Und nicht nur einen. Vor allem die gestohlenen Schmuckstücke. Als nächstes, daß der Diebstahl oder auch gleich der Mordanschlag mit großer Ortskenntnis vorbereitet wurde. Dieser Mann muß die Gewohnheiten seines künftigen Opfers studiert haben und auch die Gepflogenheiten, die in der Pension herrschen. Anders hätte er nicht hineinkommen können. Diese Erkundung des Geländes dauerte mindestens zwei Tage. In der Zeit hat sich der Mörder bestimmt in der Nähe unserer Villa herumgedrückt. Bei ihrem Mißtrauen hätte Frau Jansson bemerkt, daß sie von dem Mann beobachtet wird, den sie verdächtigt, in Auschwitz Verbrechen begangen zu haben. Ihre Befürchtungen wären zur Gewißheit geworden. Dann hätte sie den Rat ihres Sohnes befolgt und die Polizei von allem verständigt. Sie hat es aber nicht getan. Also ist ihr nicht aufgefallen, daß sie einer verfolgt hat. Der Schmuck ist ein plausibles Motiv. Die andere Theorie ist zwar verlockender, aber sie hält der Realität nicht stand.“ „Ich glaube nicht an einen so merkwürdigen Zufall“, widersprach Oberleutnant Torg. „Ich denke“, warf der Journalist ein, „der Schlüssel zur Lösung des Rätsels ist in etwas verborgen, das wir noch nicht kennen, und zwar in dem, was Frau Jansson seit ihrer Ankunft in Lomma getrieben hat. Wir wissen, daß sie zweimal in Kopenhagen war, in Geschäften der Firma. Hin und wieder unternahm sie einsame Spaziergänge am Strand. Aber meistens verließ sie das Haus schon gleich nach dem Mittagessen und kam erst zum Abendbrot zurück oder sogar noch später. Sie unterhielt offenbar irgendwelche Kontakte zu uns unbekannten Personen. Vielleicht war darunter auch ihr späterer Mörder.“ 98
„Ja“, pflichtete ich Breman bei, „Sie haben recht. Im Leben dieser Frau gibt es ein Geheimnis. Auch an dem Tag, an dem sie starb, redete sie sich, als wir sie morgens baten, an den Strand mitzukommen, mit einer Verabredung heraus. Später, nach dem Mittagessen, kündigte sie dem Zimmermädchen an, daß sie vielleicht erst nach dem Abendessen zurück wäre.“ „Ein Mensch ist keine Stecknadel. Morgen bringt die gesamte Presse eine ausführliche Beschreibung von dem Mord und jede Menge Fotos, unter anderem auch von Frau Jansson. Ich schätze, darauf folgt ein Echo. Vielleicht melden sich Leute bei der Polizei, die interessante Mitteilungen zu machen haben“, sagte Sven Breman. „Ich an Ihrer Stelle, Oberleutnant, würde jedoch nicht darauf warten, sondern meine Männer mit dem Foto der Ermordeten nach Malmö, Lund und in andere Städte schicken. Ich würde dieses Foto den Busfahrern, Taxichauffeuren, Serviererinnen in den Cafés zeigen. Kurz gesagt, allen, die durch ihren Beruf Kontakt zu vielen Kunden haben. Vielleicht erinnert sich einer von ihnen an Maria Jansson und kann uns etwas erzählen über sie und ihre Gesellschaft. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie immer allein gewesen sein soll.“ Magnus Torg lächelte fein und sagte: „Damit befassen wir uns schon seit gestern. Vorläufig ohne Erfolg. Natürlich macht die Presseaktion ein bißchen Wind um den Fall, aber es ist schwer vorauszusagen, ob sie irgendwelche Ergebnisse bringt.“ „Da ist noch ein Problem“, bemerkte der Journalist. „Auf welche Weise der Mörder in die Pension gelangte und wie er sie unbemerkt wieder verlassen konnte. Es ist mir zwar auch gelungen, die Umzäunung zu nehmen, aber als ich auf der Terrasse auftauchte, entdeckte mich Oberleutnant Torg, obwohl ich Ihnen, das gebe ich zu, einen Streich spielen und unbemerkt bis in den zweiten Stock hinauf wollte.“ 99
„Jetzt, nach dem Mord, ist die Wachsamkeit bedeutend größer als vorher“, erklärte ich. „Wir haben zwar gehört, daß Lilljan entweder in der Halle sitzt oder die Tür abschließt, aber das ist doch eigentlich Theorie. Ich vermute, in der Praxis sah es anders aus, und oftmals stand nicht nur die Tür, sondern auch das Parktürchen offen. Warum sollte es im übrigen anders sein? Niemand brauchte sich vor irgendwem zu fürchten. Diebstahl ist hier schon eine Seltenheit.“ „Sie irren, Herr Doktor“, protestierte Frau Brands. „Es war nicht so einfach, in die Pension hineinzukommen, wie Sie meinen. Es ist nicht Theorie, daß die Tür entweder bewacht war oder abgeschlossen. Ich habe streng darauf geachtet. Es ging ja weniger um Diebe, obwohl meine Gäste in der Regel wohlhabende Leute sind, bei denen es schon etwas zu stehlen gäbe. Und wenn es das Scheckbuch ist. Vor allem lag mir daran, meinen Gästen absolute Ruhe und Erholung zu garantieren. Wenn das Gartentürchen nicht geschlossen wäre, hätten wir den Park immer voller Schaulustiger; sie kämen herein, angeblich, um etwas zu fragen, in Wirklichkeit aber möchten sie sehen, was in diesem weißen Haus im Schatten der Bäume vor sich geht. Solche Neugierigen würden auch bis in die Villa vordringen. Ich habe mich davon überzeugen können, als ich die Pension die ersten zwei Jahre leitete und die heutigen Regeln noch nicht eingeführt waren. Damals kam täglich eine Menge Leute hierher. Die einen nahmen an, hier sei ein Café. Andere erfanden irgendwelche Gründe, um ins Haus zu gelangen. Die Schweden interessieren sich nicht für ihre Nachbarn, aber wenn sie schon mal einen Ausflug machen oder in Urlaub fahren, möchten sie alles besichtigen und überall ihre Nase hineinstecken. Und am Tor der Pension ein Schild mit der Aufschrift ‚Fremden ist der Zutritt verboten!‘ anbringen zu lassen wäre schließlich alles andere als eine 100
gute Reklame. Deshalb achte ich darauf, daß die Türen abgeschlossen sind.“ „Ich entsinne mich jedoch genau, daß ich, als ich das erste Mal in dieses Haus kam, niemanden in der Halle traf. Ich mußte laut rufen, um einen Menschen herbeizulocken. Damals hätte ich seelenruhig in den zweiten Stock hinaufgehen können. Dasselbe hat der Mörder gemacht.“ „Oh, Sie entschuldigen, Herr Doktor“, empörte sich Astrid Brands. „Sie haben vergessen hinzuzufügen, daß Sie zusammen mit dem Ladenboten hereingekommen sind, der mir ständig die Waren ins Haus liefert. Dieser Mann hat einen Schlüssel für das Gartentor, und deshalb sind Sie mit hineingekommen. Dann sind Sie beide nicht durch die Vordertür eingetreten, sondern über die Treppe nach unten gegangen, ins Souterrain. Der Bote ging in die Küche und Sie über die Innentreppe ins Parterre, in die Halle.“ „Es spielt keine Rolle, welchen Weg ich wählte. Fest steht, daß ich in die Halle gelangte und niemand mich bemerkte. Es ist nirgendwo gesagt, daß sich der Mörder nicht der gleichen Methode bediente. Fest steht in diesem Fall nur das eine: nämlich daß der Mörder von draußen kam und nicht unter den Bewohnern dieses Hauses zu suchen ist. Alle haben ein unwiderlegbares Alibi. Bestimmt haben Sie das schon überprüft, Herr Oberleutnant.“ „Ja“, gestand Magnus Torg. „Keinen der Bewohner der Pension, weder die Besitzerin noch die Gäste noch das Personal, können wir dieses Verbrechens verdächtigen. Nicht weil es schwierig wäre, ein einleuchtendes Mordmotiv zu finden, sondern weil alle über ein unerschütterliches Alibi verfügen. Herr Doktor Nilerud ist allerdings der Meinung, mein Dienstrang wäre zu niedrig und meine Erfahrung zu gering, als daß ich die Ermittlungen in einem so komplizierten Fall leiten könnte. 101
Das Alibi sämtlicher Bewohner dieses Hauses habe ich jedoch sehr genau überprüft.“ Ich muß gestehen, diese Bemerkung machte mich äußerst verlegen. Der Oberleutnant hat sich offensichtlich getroffen gefühlt durch die Bemerkungen am Beginn meines Tagebuchs. Ich hatte total vergessen, daß ich es mit Durchschlag schreibe und die Kopie dem jungen Mann zur Verfügung stelle. Wirklich, das war taktlos von meiner Seite. Ich hätte das erste Blatt meiner Aufzeichnungen entsprechend abändern müssen. Nun ja, es ist nun einmal passiert, ich kann es nicht mehr rückgängig machen. „Daß der Mörder von draußen kam, wissen wir genau, denn wir kennen den Weg, auf dem er in den Park gelangt ist“, sagte Sven Breman. „Es handelt sich nur darum, wann und wie er in den zweiten Stock gelangt ist?“ „Das konnte er nur vor vier Uhr nachmittags. Ich ging hinunter zum Bridge, fünf vor vier. Ich setzte mich in den Salon. Gleich darauf kam Frau Brands. Dann die anderen Spieler. Es ist ausgeschlossen, daß sich dieser Mann in die Halle schleichen konnte und die Treppe hinauf, während wir spielten. Einer von uns hätte ihn unbedingt bemerkt.“ „Vielleicht waren Sie so in das Spiel vertieft, daß der Mörder nicht nur unbemerkt in die Halle, sondern auch in den Salon kommen konnte?“ „Nein! Wir spielten sehr ruhig. Im übrigen knarrt die Holztreppe auch ein wenig. Nicht mal auf den Zehenspitzen könnte man geräuschlos nach oben gehen, selbst wenn man leise sein wollte. Und der Mörder von Frau Jansson ist schließlich nicht nur herein-, sondern auch wieder hinausgekommen.“ „Das Hinauskommen ist nicht so schwierig. Wenn er geschickt war, dann hat er sich an der Dachrinne hinuntergelassen. Ich habe mir die Terrasse im zweiten Stock angesehen. Die Dachrinne liegt gleich nebenan und sieht 102
stabil aus. Sie würde das Gewicht eines Mannes aushalten. Er kann auch den Sprung von dem Balkon im zweiten Stock gewagt haben, und von dort ins Parterre zu gelangen ist ein Kinderspiel.“ „Noch ein Argument, das meine These stützt, daß man Frau Janssons Mörder nicht mit irgendeinem geheimnisvollen Kriegsverbrecher in Verbindung bringen darf. Ein ehemaliger Angehöriger der SS wäre doch heute weit über die Fünfzig. Ein Mann in diesem Alter ist nicht imstande, geschickt an der Dachrinne aus dem zweiten Stock herunterzurutschen oder über Balkons zu springen.“ „Das stimmt“, pflichtete mir der Journalist bei. „Von welcher Seite ich den Fall auch betrachte, ich komme zu dem Schluß, daß ich gar nichts weiß.“ „Mir geht es genauso“, gestand ich offen. „Ich weiß ebenfalls nichts“, sagte Oberleutnant Torg, „aber ich werde es wissen. Das weiß ich so genau, wie ich weiß, daß auf die Nacht der Tag folgt.“ Magnus Torg glaubt nach wie vor an seinen glücklichen Stern.
7. Den gammle Polacken ∗ Sonntag, den 10. Juni Die Sache wird immer komplizierter. Ich weiß selbst nicht mehr, was ich von alledem halten soll. Ich vermute, wir haben es mit einer großen internationalen Gang zu tun. Sollte Maria Jansson im Besitz eines unerhört wichtigen Geheimnisses gewesen und deshalb ermordet worden sein? Oder hatte sie nicht nur den Schmuck bei sich, den sie Lilljan zeigte? Es ist einfach nicht zu fassen, ∗
(Schwed.) Der alte Pole
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daß solche Dinge tatsächlich passieren, und zwar nicht im wilden amerikanischen oder afrikanischen Dschungel, sondern im Herzen Europas, in Schweden, dem zivilisiertesten und ruhigsten Land der Welt. Aber ich will ganz von vorn beginnen. Das ist die einzige Methode, alle Geschehnisse vom Sonnabend und vom heutigen Tage vielleicht weniger zu erklären, als vielmehr zu ordnen und zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Genau wie Magnus Torg es vorausgesehen hat, brachte die gesamte Sonnabendpresse also ausführliche Beschreibungen von der Pension in der Strandvägen und Fotos von Frau Jansson. Die Tageszeitungen waren gespickt mit den unterschiedlichsten Einzelheiten aus dem Leben „der reichsten Frau Schwedens“. Man ließ sich des langen und breiten über ihren Luxuspalast in Stockholm aus und über den kometenhaften Aufstieg der armen Verkäuferin eines kleinen Lebensmittelladens. Wo diese Journalisten das alles aufgestöbert haben, bleibt für mich ein Rätsel. Direktor Jansson hat doch nur in unserem geschlossenen Kreis über seine Mutter erzählt, und jeder von uns hat dieses Gespräch als vertraulich betrachtet. In der „Kvällsposten“ wird zusätzlich beschrieben, auf welche Weise der Mörder den Drahtzaun durchschnitt und wie er in den Park gelangte. Das Nachmittagsblatt aus Malmö spielt auch auf geheimnisumwitterte Fahrten an, die Frau Jansson einige Tage vor ihrem tragischen Tod unternommen hat. Die Zeitung fordert die Leser auf, falls sie Frau Jansson irgendwo gesehen hätte, die Polizei darüber zu benachrichtigen. Hinter diesem Appell ist die Hand von Sven Breman zu spüren, der im übrigen wirklich nicht ein Wörtchen über das hinaus veröffentlicht hat, was mit dem Oberleutnant vereinbart war. Tja, und dann begann der Tanz. Die Telefone der Polizeidirektion in Malmö waren total blockiert. Die Leute 104
riefen zu Hunderten an, sie hätten Frau Jansson in verschiedenen Orten in ganz Skåne gesehen. Und zwar in einem Dutzend Lokalen gleichzeitig. Die Polizei notierte die Anrufe, bedankte sich bei den Leuten und leitete die Meldungen sofort in unsere Pension weiter. Hier übertrug Magnus Torg mit Hilfe der zwei Konstabler und meiner Wenigkeit die Angaben auf eine große Karte von Skåne. Auf jedem Fähnchen, das wir einspießten, steht das genaue Datum und die Uhrzeit. Selbstverständlich wurde jeder Irrtum auf Anhieb erkannt. Denn es ist ja schwerlich anzunehmen, daß Maria Jansson, mit drei Männern in einem kleinen Café in Landskrona verhandelte und gleichzeitig in Begleitung einer älteren Frau im Park von Trelleborg saß. Aber das ist noch nicht alles: Zu derselben Zeit bestieg sie die Fähre, die von Malmö nach Kopenhagen fährt, wo sie bereits von einer schwarzen Limousine mit zugezogenen Gardinen erwartet wurde. Zwei Informationen hingegen waren außerordentlich interessant. Ein Geschäftsmann aus Malmö gab an, Maria Jansson habe vier Tage vor ihrem Tod seinen Laden aufgesucht. Die Umstände ihres Gesprächs waren so merkwürdig, daß wir uns sofort in das Polizeiauto setzten und nach Malmö, in die Östra Förstandsgatan, fuhren. Es gibt da ein großes, elegantes Pelzgeschäft. Im Schaufenster Nerze, Breitschwänze, Leopardenmäntel. Im Laden Waren im Werte von bestimmt etlichen Millionen Kronen. Ein großer, eleganter Herr mit graumelierten Schläfen kam uns entgegen. Als er vor dem Fenster den Wagen mit der Aufschrift „Polis“ gesehen hatte, wußte er sofort Bescheid, was für Besuch er da bekam. Hier sein kurzer Bericht: „Am Sonnabendvormittag betrat eine Dame mein Geschäft. Ich war gerade mit Kundschaft beschäftigt, also bat ich sie, einen Moment zu warten. Sie setzte sich 105
hierher, in diesen Sessel. Die Beratung der Kunden dauerte etwas länger. Ein Pelz ist nicht ein Liter Milch, und der Käufer entschließt sich nicht so rasch, ein paar hundert oder auch paar tausend Kronen auszugeben. Ich bat die Dame also noch um einen Aufschub. Sie antwortete mir, sie habe es nicht eilig. Dann traten wieder zwei Kundinnen ein. Ich wollte die Dame, die ja schon längere Zeit wartete, vor ihnen drannehmen, aber sie sagte, sie habe Zeit und ich solle ruhig zuerst die beiden Kundinnen abfertigen. Erst als wir allein im Laden waren, fragte sie mich, ob ich Pole sei. Ich bejahte. Da stellte sie sich vor. Ich brachte den Namen Maria Jansson nicht sofort mit der bekannten Exportfirma in Verbindung. Frau Jansson begann polnisch zu sprechen. Sie erklärte mir, sie hätte erfahren, daß ich und mein Teilhaber Polen seien, und wende sich deshalb mit einer Bitte an mich. Ich antwortete natürlich, wir seien bereit, einer Landsmännin weitgehend entgegenzukommen, und wir würden uns bestimmt über den Preis und die Zahlungsbedingungen einigen. Ich nahm ja immer noch an, Frau Jansson wolle einen Pelz kaufen und verfüge nicht über die entsprechende Summe. Im Prinzip haben wir feste Preise, und Kredit gewähren wir nur nach den allgemeinen Bestimmungen, aber selbst Geschäftsleute haben gewisse Gefühlsregungen, das werden Sie verstehen. Zumal wenn man Pole ist und die Kundin ebenfalls Polin.“ „Die Dame brauchte vermutlich keinen Kredit?“ sagte Magnus Torg lächelnd. „Heute weiß ich, daß Frau Jansson mehrere solcher Geschäfte wie das meine kaufen könnte und noch keine arme Frau wäre, aber damals war ich überhaupt nicht im Bilde“, erklärte der Mann. „Ich sah sie zum ersten Mal im Leben. Frau Jansson klärte das Mißverständnis auf. Gewiß, sie würde vielleicht einmal einen Pelz in unserem Geschäft kaufen, und zwar lieber als anderswo, 106
aber jetzt sei es ihr um etwas anderes zu tun. Darauf stellte sie mir eine Frage.“ „Ich weiß“, unterbrach ich ihn, „sie fragte, ob Sie vielleicht Häftling eines deutschen Konzentrationslagers gewesen seien.“ „Das ist wahr.“ Der Mann sah mich mit unverhohlener Bewunderung an. Ich bin auch sicher, daß ich in den Augen von Magnus Torg viel gewonnen habe. Der Pelzhändler erklärte uns: „Genauer gesagt, fragte sie uns beide, denn mein Partner war auch hinzugekommen, ob wir im Konzentrationslager Auschwitz gesessen hätten. Zum Glück haben wir das nicht. Wir konnten uns während des Krieges aus Polen absetzen und mit einem kleinen Fischkutter nach Schweden fliehen. Das war gleich zu Beginn des Krieges, im November neunzehnhundertneununddreißig. Wir flohen zu fünft. Wir sind damals bei Nacht und Nebel aus dem kleinen Fischerdorf Chałupa, auf Hel, getürmt. Es gelang uns, drei deutsche Wachen zu umschiffen und nach zwei Tagen Fahrt Bornholm zu erreichen. Von da fuhren wir weiter nach Schweden.“ „Klärte Sie Frau Jansson auf, warum sie jemanden aus Auschwitz suchte?“ „Nein, aber sie war sehr enttäuscht, daß unsere Antwort nicht in ihrem Sinne ausgefallen war. Sie fragte noch, ob wir Angehörige der Polonia kennen, die in Malmö oder in der Nähe wohnen und in diesem Konzentrationslager gewesen wären.“ „Sie fragte nur nach Auschwitz?“ „Ja, denn als ich ihr sagte, ich kenne ein paar Polen, die in Dachau, in Gusen und in Mauthausen gewesen wären, interessierte sie das überhaupt nicht, sondern sie betonte, ihr ginge es nur um Häftlinge aus Auschwitz.“ „Nannten Sie ihr eine Adresse?“ „Das konnten wir nicht. Es ist tatsächlich so, daß wir niemanden aus Auschwitz kennen, der jetzt in Schweden 107
wohnt. Ich sagte Frau Jansson, irgendwo an der Küste lebe ein Fischer, den die Schweden ‚den gammle Polacken‘ nennen. Er war angeblich in Auschwitz. Wir haben diesen Mann aber nie gesehen, und wir wissen auch nicht, wo er wohnt. Er muß ein ausgemachter Sonderling sein, und so etwas spricht sich ja herum. Eine Kundin von uns hat uns einmal von ihm erzählt, als sie erfuhr, daß wir Polen sind.“ „Der alte Pole“, sagte Magnus Torg. „Daß das ein besonders origineller Spitzname wäre, kann ich nicht gerade behaupten. Ich nehme an, es wird schwierig sein, diesen Fischer ausfindig zu machen. Aber wir versuchen es trotzdem. Erzählte Frau Jansson sonst noch was?“ „Nein, nicht, daß ich wüßte. Sie erklärte nur, sie suche vergeblich nach jemandem, der in Auschwitz gesessen hat. Es müßte nicht unbedingt ein Pole sein, aber auf alle Fälle jemand, der Häftling in diesem Lager war.“ „Sagte sie noch etwas?“ „Nein, gar nichts. Sie erwähnte nicht einmal, daß sie selber in Auschwitz war. Das habe ich erst aus den Zeitungen erfahren. Ich habe Frau Jansson auch sofort auf dem Foto erkannt, und mir fiel ihr merkwürdiger Besuch bei uns wieder ein. Da habe ich bei der Polizeidirektion angerufen. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihnen meine Aussage von Nutzen wäre, meine Herren.“ „Wir sind Ihnen jedenfalls dankbar.“ Magnus Torg schüttelte dem Pelzhändler die Hand, und wir verließen das vornehme Geschäft. „Endlich ein Anhaltspunkt“, sagte Oberleutnant Torg aufatmend. „Aber wozu brauchte sie einen ehemaligen Auschwitzhäftling?“ „Das würde die Vermutung von Herrn Jansson junior bestätigen“, sagte ich. „Offensichtlich ist Frau Jansson jemandem begegnet, den sie für einen ehemaligen Kriegsverbrecher hielt, und sie stand unter dem Eindruck dieser Begegnung. Aber sie war sich nicht sicher. Sie wollte 108
noch einen anderen Zeugen ausfindig machen, sie suchte einen Zeugen und fand ihren Mörder.“ „Wie meinen Sie das, Herr Doktor?“ fragte einer der beiden Konstabler. „Ganz einfach. Sie machte diesen Auschwitzhäftling ausfindig, und als der sah, daß er es mit einer reichen Frau zu tun hatte, die kostbaren Schmuck trug, reizte ihn die Beute. Er brachte in Erfahrung, wo Frau Jansson wohnte, stahl sich in ihr Zimmer und ermordete sie. Er mußte sie aus dem Weg räumen, denn sie wäre daraufgekommen, wer der Dieb war.“ „Sie glauben, daß der alte Pole …?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht er, vielleicht auch jemand anders. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß der Täter nie in Auschwitz gewesen ist. Auf der Suche nach ihrem KZ-Häftling lernte Frau Jansson eben so einen finsteren Typ kennen, der der reichen Frau ein paar Kronen abluchsen wollte und sich deshalb für einen Häftling aus Auschwitz ausgab. Als er dann einsah, daß es seine Möglichkeiten überstieg, diese Rolle weiterzuspielen, und sich die Handtasche der Millionärin nicht von allein vor ihm auftat, beschloß er, den Schmuck gewaltsam an sich zu bringen.“ „Dann hätte er auch das Scheckbuch mitgehen lassen“, kam einer der Konstabler auf den schon mehrfach geäußerten Einwand zurück. „Frau Jansson suchte vor allem einen Polen. Vielleicht hat sie einen Polen kennengelernt, der erst vor kurzem nach Schweden gekommen ist und unsere Bestimmungen nicht kennt oder nicht einmal Schwedisch kann, was es ihm unmöglich machte, einen Scheck auszufüllen.“ „Sie gehen und gehen nicht davon ab, daß der Mörder ein Ausländer war. Zuerst verdächtigen Sie einen Jugoslawen, und jetzt wollen Sie diese Rolle einem Polen zuspielen.“ 109
„Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß ein Schwede oder ein Angehöriger eines anderen zivilisierten Volkes eine Frau wegen einiger Ringe oder Armreifen ermorden könnte“, entgegnete ich. Ich hatte gedacht, wir führen gleich nach Lomma zurück, aber Oberleutnant Torg befahl dem Chauffeur, uns zur Polizeidirektion Malmö zu bringen. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, man suchte uns schon in der ganzen Stadt. Auf der Wache hatte sich nämlich ein Mann gemeldet, dessen Aussagen den Beamten als sehr aufschlußreich erschienen. Man hatte sich mit Lomma in Verbindung gesetzt; der Konstabler, der in Frau Brands Pension zurückgeblieben war, hatte erklärt, wir seien nach Malmö gefahren, deshalb hatte man uns gesucht. Es handelte sich um einen Taxifahrer aus Malmö. Hier ist sein Bericht: „Ich stand in der Skeppsbron vor den Anlegestellen. Das war vorigen Freitag, nachmittags. Gerade lief die Fähre aus Kopenhagen ein. Wir fuhren der Reihe nach am Kai vor. Als ich dran war, stieg eine Dame zu mir ein. Sie hatte überhaupt kein Gepäck. Offenbar hatte sie nicht mal Butter und Käse in Kopenhagen gekauft, obwohl das alle machen, weil es dort billiger ist.“ „Kam die Dame von der Fähre?“ „Ganz bestimmt. Sie kam aus dem Hafengebäude. Bevor sie zu mir in den Wagen stieg, fragte sie, ob ich sie nach Ystad fahren könnte.“ „Und fuhren sie?“ „Was denn sonst! So eine günstige Tour kriegt man nicht alle Tage. Die Kundin wollte unbedingt noch vor sechs in Ystad sein. Sie stieg nicht hinten ein, sondern setzte sich vorn neben mich. Eine sehr sympathische Dame. Wir unterhielten uns die ganze Zeit.“ „Worüber?“ „Über was man sich auf so einer Fahrt eben unterhält. 110
Ich erklärte ihr, wie wir nach Ystad fahren müßten. Erzählte ihr was über die Geschichte von Skåne und über die neue Bewegung, die hier aufgekommen ist. Diese Separatisten, die Skåne von Schweden abtrennen und eine Extrarepublik ausrufen möchten. Die malen ja schon ihre Flagge auf die Autos! Es gibt schon ein paar hundert von diesen Spinnern. Die Frau hörte mir zu, manchmal fragte sie mich was, na, und so fuhren wir eben. Als ich sie fragte, ob sie aus Nordschweden stamme, lachte sie und sagte, sie sei gebürtige Polin. Ich wunderte mich, weil sie wie eine Einheimische sprach. Offenbar haben die Polen ein besonderes Talent für Sprachen, ich kenne nämlich noch einen Polen, der spricht, als hätte er sein Lebtag hier in Malmö zugebracht. Er hat ein großes Pelzgeschäft, und ich fahre ihn häufig.“ „Haben Sie Ihrer Kundin die Adresse dieses Pelzhändlers gegeben?“ „Ja. Sie freute sich riesig, daß es in Malmö noch einen Polen gab. Sie nahm sich vor, seinen Laden aufzusuchen … So unterhielten wir uns, wie gesagt, und kamen schließlich in Ystad an. Gerade lief die Fähre aus Polen im Hafen ein. Die Dame stieg aus und bat mich zu warten. Ich sah, daß sie in das Hafengebäude hineinging. Ich stieg auch aus. Kurz darauf trat meine Kundin wieder auf die Straße hinaus, aber in Begleitung eines Mannes in Marineuniform. Sie standen vor dem Ausgang und unterhielten sich in einer mir unbekannten Sprache. Ich nehme an, daß es Polnisch war. Der Mann hielt sogar ein paar Leute an, die gerade von der Fähre kamen.“ „Schweden?“ „Nein. Wahrscheinlich Polen, denn er sprach in derselben Sprache mit ihnen wie mit meiner Kundin.“ „Und was geschah dann?“ „Nichts Besonderes. Die Frau verabschiedete sich von 111
dem Marineoffizier und stieg wieder bei mir ein. Wir fuhren gleich los. Unterwegs fragte ich sie, ob die Fahrt sich gelohnt habe. Sie antwortete, nein, und sie werde wohl noch einmal nach Ystad kommen müssen.“ „Sie fuhren nach Malmö zurück?“ „Nein, die Dame bat, sie nach Lomma zu bringen; ich bog also in Svedal gleich in Richtung Klagerup und von dort nach Arlöv ab. Auf die Art kürzten wir ein Stück ab und mußten nicht noch einmal durch Malmö.“ „Stieg sie vor der Pension aus?“ „Nein. Jetzt weiß ich, daß sie in dieser Pension wohnte, ich habe ja die Fotos gesehen. Mich ließ sie aber etwa zweihundert Meter davor halten. Sie bezahlte und ging zu Fuß in Richtung Bjarred. Vorher hätte sie sich noch für den nächsten Tag mit mir verabredet. Wir fuhren wieder nach Ystad, und es spielte sich wieder alles genauso ab. Wir fuhren auch noch am Sonntag und am Montag nach Ystad. Als wir am Montag nach Lomma zurückfuhren, sagte die Dame, alle diese Fahrten seien nur unnötige Zeitverschwendung gewesen und sie habe überhaupt nichts erreicht. Sie erklärte mir jedoch nicht, worum es sich handelte, und ich hatte auch nicht den Mut zu fragen. Am Montag, als ich sie nach Lomma zurückbrachte, bedankte sie sich bei mir und sagte, sie brauche mich jetzt nicht mehr. Obwohl diese Touren sehr einträglich waren und ich gut verdient hatte, legte sie mir zum Abschied noch eine ganze Menge Kronen drauf, für, wie sie sich ausdrückte, die verlorene Zeit. Als ich heute morgen das ‚Sydsvenska Dagbladet‘ aufschlug, erkannte ich auf dem ersten Foto auf Anhieb meine ehemalige Kundin. Ich konnte nicht gleich zur Polizei fahren, weil ich eine Tour nach außerhalb hatte, deshalb komme ich erst jetzt.“ „Und Sie wissen nicht, was die Frau wollte und wonach der Offizier in der Marineuniform die Fahrgäste von der Fähre fragte?“ 112
„Ich habe keine Ahnung. Sie redeten polnisch, und da verstehe ich kein Wort.“ „War es immer derselbe Marineoffizier?“ „Ja. Sie unterhielt sich nur mit ihm.“ „Und Sie würden ihn wiedererkennen?“ „Aber ja! Ich habe ihn doch viermal gesehen.“ „Kam er auch mit der Fähre?“ „Nein. Wir fuhren jedesmal zum Kai, bevor die Fähre anlegte. Frau Jansson wartete nicht, sondern ging sofort ins Hafengebäude. Immer wenn die ersten Passagiere nach der Paß- und Zollkontrolle das Hafengebäude verließen, stellten sie sich zusammen vor den Ausgang.“ „Und immer derselbe Mann befragte die Fahrgäste?“ „Ja. Immer derselbe. Mir fiel auch auf, daß er nur Leute fragte, die schon ein bißchen älter waren. Welche über vierzig.“ „Tja, es bleibt uns nichts anderes übrig“, sagte Torg, „wenn wir gleich losfahren, schaffen wir es noch nach Ystad, bevor die Fähre ankommt. Wir werden Sie mitnehmen müssen.“ Der Taxibesitzer schien darüber nicht sonderlich erfreut, aber er sträubte sich nicht. Auch in Schweden legt sich ein Taxifahrer nicht gern mit der Polizei an. Im Gegenteil. Kleine Gefälligkeiten, die man der Obrigkeit erweist, können sich irgendwann einmal außerordentlich bezahlt machen. Er bat nur um die Erlaubnis, seinen Wagen vor dem Polizeigebäude parken zu dürfen, bis er zurück sei, und stieg in unseren Wagen um. Wir mußten ordentlich auf die Tube drücken, um es noch bis vor sechs nach Ystad zu schaffen, aber wir hatten Glück und kreuzten genau in dem Moment am Kai auf, als das große weiße Schiff langsam in den Hafen einlief und die Lautsprecher den Begrüßungsmarsch schmetterten. Wir sprangen aus dem Wagen und gingen ins Hafengebäude. Hier warteten die Paßkontrolle und die Zöllner schon an ihren Pulten auf die ersten Passagiere. 113
Der Taxifahrer blickte prüfend in die Runde. „Der da ist es“, sagte er und deutete auf einen Mann mit dunklem, sonnenverbranntem Gesicht in einer Marineuniform mit Goldtressen. Wir gingen zu dem Offizier. Magnus Torg zeigte ihm seine Polizeimarke und bat ihn, sich einen Augenblick mit ihm unterhalten zu dürfen. Der Mann nannte, sich vorstellend, einen schwer aussprechbaren polnischen Namen und erklärte, er vertrete die polnische Reederei in Ystad, die den Schiffsverkehr zwischen Polen und Schweden betreibe. Er fragte, worin er uns behilflich sein könne. Entgegen der Meinung des Taxifahrers, die Polen besäßen eine angeborene Sprachbegabung, sprach dieser Mann nur schlecht Schwedisch. Vielleicht ist er noch nicht lange genug bei uns. Oberleutnant Torg fragte den Kapitänleutnant – denn es handelte sich um einen Marineoffizier –, ob er sich an eine gewisse Polin erinnere, die vier Tage hintereinander nach Ystad gekommen sei. „Natürlich“, rief der Mann erfreut. „Ich erinnere mich sogar sehr genau an sie. Frau Jansson, wenn ich nicht irre.“ „Was wollte diese Frau von Ihnen?“ „Das ist eine sehr merkwürdige Geschichte. Sie bat mich, unter den Passagieren der Fähre irgendeinen ehemaligen Auschwitzhäftling ausfindig zu machen. Da ich der Dame helfen wollte, fragte ich viele Polen, die von der Fähre stiegen, ob einer von ihnen in Auschwitz war. Leider vergeblich. Ich schlug der Dame vor, für einen Tag nach Szczecin zu fahren, dort hätte sie mühelos nicht nur einen, sondern viele Polen gefunden, die den deutschen Faschisten in die Hände gefallen und im Konzentrationslager in Auschwitz gewesen sind. Aber Frau Jansson erklärte mir, sie müsse unbedingt so einen ehemaligen Häftling in Schweden auftreiben.“ „Erklärte sie Ihnen auch, warum sie so einen Häftling suchte?“ 114
„Ja. Sie erzählte mir, daß sie selbst über zwei Jahre in Auschwitz gesessen habe und dann nach Ravensbrück gebracht worden sei, und erst von dort aus sei sie nach Schweden gekommen. Aber weshalb sie einen Leidensgefährten von damals suchte, darüber ließ sie sich nicht näher aus. Diese Leute unterstützen sich gegenseitig, treffen sich von Zeit zu Zeit, vielleicht wollte sie auch so einen Kontakt anknüpfen? Vielleicht brauchte sie einen Zeugen, um eine finanzielle Entschädigung für diese Jahre im Konzentrationslager zu erhalten?“ „Das kommt hier wohl nicht in Betracht“, wehrte Magnus Torg ab. „Frau Jansson war eine der reichsten Frauen in ganz Schweden.“ „Was Sie nicht sagen?“ wunderte sich der Marineoffizier. „Wie ich höre, soll irgendeine Millionärin ermordet worden sein. Ein schwedischer Bekannter hat mir diese neueste Sensation erzählt. Sollte das …“ „Ganz recht“, bestätigte ich. „Frau Jansson ist ermordet worden. Sie haben sich den Namen richtig gemerkt.“ Oberleutnant Torg zog ein Foto hervor und zeigte es dem Kapitänleutnant. „Ist das die Frau?“ „Es besteht gar kein Zweifel! Wie schrecklich! Weshalb wurde sie umgebracht? Wer hat das getan?“ „Das wüßten wir auch ganz gern“, erwiderte Torg. Ansonsten erbrachte die weitere Unterhaltung mit dem Offizier nichts Neues mehr für die Ermittlung. Der Mann wußte nichts weiter. Bevor wir Ystad verließen, erkundigte sich der Oberleutnant noch bei einem Beamten von der Grenzkontrolle, ob unser Gesprächspartner am Mittwoch seinen Dienst wie immer versehen habe. Das war reine Formsache, aber der Untersuchungsoffizier Torg nimmt selbst so etwas nicht auf die leichte Schulter. Er bekam die Antwort, die zu erwarten gewesen war. Der Kapitänleutnant habe um sechs Uhr nachmittags auf seinem Posten gestanden, als die „Gryf “, pünktlich auf die Minute, in Ystad anlegte. 115
Wir hatten hier nichts mehr verloren, wir brachten also den Taxifahrer nach Malmö und setzten ihn vor dem Polizeigebäude ab. Da sich in der Zwischenzeit nichts Neues ereignet hatte und keine weiteren Meldungen für uns vorlagen, stiegen wir wieder in unseren Wagen und fuhren im gemächlichen Tempo nach Lomma zur Pension von Frau Brands zurück. Wir kamen gerade zum Abendbrot zurecht, was mich sehr freute, denn Magnus Torg hatte an alles gedacht, nur nicht daran, daß wir kein Mittagessen gehabt hatten. Nach dem Abendbrot gingen wir wie üblich hinüber in den Salon. Zwar gab es im Fernsehen einen Film, aber keiner machte auch nur den Versuch, den Apparat einzuschalten. Alle waren irrsinnig gespannt, was wir den ganzen Tag über getrieben hatten und wo wir gewesen waren. Der Oberleutnant hatte keinen Grund, etwas zu verheimlichen. Er erklärte, wir hätten unsere Zeit darauf verwandt, herauszufinden, was für Umgang Frau Jansson in letzter Zeit gehabt habe, und unsere Arbeit sei mehr als erfolgreich gewesen. „Das gibt zu denken“, bemerkte Kapitän Tuvesson. „Weshalb suchte diese Frau so besessen nach einem Leidensgefährten aus jener schrecklichen Zeit, nach einem Häftling aus Auschwitz?“ Hier muß ich anmerken, daß Tuvesson nichts von Helmer Janssons Vermutung wußte, seine Mutter habe wahrscheinlich einen untergetauchten Kriegsverbrecher wiedererkannt. „Ich glaube“, sagte Nora Lindner, „diese reiche Frau wollte einfach einem von diesen Häftlingen helfen. Deshalb ist sie nach Ystad gefahren.“ „Da hätte sie nicht unbedingt einen KZ-Häftling aus Auschwitz zu suchen brauchen. Sie hätte zum Beispiel eine entsprechende Summe beim Roten Kreuz einzahlen können, mit der Bedingung, daß das Geld für die Unterstützung von Kriegsopfern in Vietnam bestimmt sei.“ 116
„Zusammen eingesperrt zu sein“, mutmaßte Gustav Dalin, „das erzeugt ein bestimmtes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Menschen. Ehemalige politische Häftlinge haben internationale Vereinigungen und organisieren die unterschiedlichsten Hilfsaktionen. Wenn Frau Jansson Geld für humanitäre Zwecke ausgeben und dieses Geld in erster Linie denjenigen zukommen lassen wollte, mit denen sie im Konzentrationslager gesessen hat, ist das für mich durchaus verständlich.“ Magnus Torg schwieg, und er schien auch nicht vorzuhaben, diese Überlegungen zu unterbrechen. Statt dessen ergriff unsere reizende Lilljan das Wort: „Wenn Frau Jansson einem Polen helfen wollte, dann hätte sie nicht weit zu suchen brauchen. In Lomma haben wir doch einen Polen. Es ist der ärmste Mann im ganzen Ort. Aber er ist bloß deshalb so arm, weil er ein unheimlicher Eigenbrötler ist.“ Der Oberleutnant zuckte regelrecht zusammen, als er Lilljans Mitteilung hörte, aber er hatte sich rasch wieder in der Gewalt und fragte wie nebenbei: „Ein Pole? In Lomma? Wer soll denn das sein? Ich habe nie was davon gehört …“ Fräulein Lilljan bewegte den Mund, als zerkaue sie etwas. „Tsche-tsche-kky“, brachte sie schließlich heraus. „Wie bitte?“ „Tschetschekky“, wiederholte das Mädchen. „Er heißt Tschetschekky. Ein sehr armer Mann. Er wohnt in einer Kate am anderen Ende von Lomma, dort, wo der Strand zu Ende ist. Die Kate steht direkt am Meer. Sie hat nur zwei Räume: ein Zimmer und eine Küche. Angeblich hat sie jahrelang leergestanden und sollte abgerissen werden. Da tauchte Tschetschekky in Lomma auf und bat in der Gemeinde darum, dort wohnen zu dürfen. Er brachte die Bude selber wieder in Ordnung, und nun lebt er dort. Er hat nicht mal Telefon, so arm ist er.“ 117
„Nein, wirklich?“ wunderte sich die schöne Nora. „Ein Leben ohne Telefon muß schrecklich sein.“ „Dann kann man nicht stundenlang mit seinen Freundinnen schwatzen“, warf Herr Dalin ein. Frau Lindner streckte dem Bankdirektor die Zunge heraus und drohte ihm mit dem Finger. „Sie Schlimmer! Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich nicht mögen?“ „Also, so ein Sonderling?“ fragte Magnus Torg. „Und was für einer“, sagte unser Mädchen lachend. „Er fängt Fische, aber nur ganz bestimmte. Er verliert lieber eine ganze Woche, um einen Lachs zu fangen, anstatt ein paar Tonnen Dorsch aus dem Meer zu holen. Am liebsten legt er Netze und Reusen für Aale aus. Und die Fische gibt er nicht an den Großhandel ab, sondern verkauft sie direkt an die Kunden. Er sagt, Fisch schmeckt nur, wenn er frisch ist, und er habe nicht vor, die Leute zu vergiften. Wenn er mal einen größeren Fang macht und mehr verdient, dann fängt er eine Zeitlang gar nicht und fährt weg. Wenn man ihn fragt, wo er gewesen ist, sagt er, er hätte Freunde besucht. Ein unheimlich komischer Mensch. Und schwedisch spricht er ganz ulkig.“ „Wohnt er schon lange hier?“ „Er ist hier aufgetaucht, da war ich noch gar nicht geboren. Gleich nach dem Krieg. Er war noch nicht alt damals, aber er hat nicht geheiratet und hatte auch keine Verlobte. Er lebt bis heute allein, obwohl es immer genug Mädchen gegeben hat in Lomma, und bestimmt wäre manche bereit gewesen, ihm ein besseres Schwedisch beizubringen.“ „Sie auch, Fräulein Lilljan?“ fragte Herr Harding. „Für mich ist er zu alt. Aber für die, die zwanzig Jahre früher da waren, war er gerade richtig.“ „Ein verdammt schwieriger Name!“ Magnus Torg täuschte gewöhnliche Neugier vor, während er in Wahr118
heit das Mädchen verhörte. „Tschetschekky … Da kann man sich ja die Zunge brechen. Wie habt ihr denn gelernt, das auszusprechen?“ „Es nennt ihn ja keiner so.“ Das Mädchen fühlte sich sehr geschmeichelt, daß die Augen aller Pensionsgäste auf sie gerichtet waren. „Es sagen einfach alle den gammle Polacken oder, noch kürzer, gammle fiskaren.“ Ich setzte mich rasch in den Sessel neben dem Oberleutnant. „Das ist der Mann, von dem der Pelzhändler erzählt hat. Es kann ja nicht zwei Leute in der Gegend geben, die der alte Pole oder der alte Fischer genannt werden. Wir müssen ihn morgen früh aufsuchen und mit ihm reden“, flüsterte ich Torg ins Ohr. Er nickte unmerklich, zum Zeichen, daß er einverstanden sei. „Ist der alte Pole zur Zeit in Lomma?“ fragte er. „Ja. Heute morgen hat er uns einen herrlichen Lachs gebracht. Den gibt es morgen zum Mittag.“ Frau Brands sah das Mädchen vorwurfsvoll an. Die Hausherrin liebt es nicht, wenn die Gäste einen Blick hinter die kulinarischen Kulissen ihres Etablissements werfen. Der Lachs vom Grill hatte eine Überraschung und die Zierde des sonntäglichen Mittagessen sein sollen. Und nun hatte Lilljan, redselig wie sie war, alles ausgeplaudert. Das Mädchen verstummte, als sie ihren Fauxpas bemerkte. „Wenn er einen so guten Fang gemacht hat, dann fährt der Alte bestimmt auch morgen noch vor Tag hinaus aufs Meer. Zum Lachsfang muß man ganz früh aufbrechen.“ „Nein“, erklärte Lilljan, „den gammle Polacken fängt am Sonntag nie. Er zieht immer seinen besten Anzug an und fährt um zehn nach Lund. In die katholische Kirche. Unser Pastor wollte ihn schon mehrmals zum rechten 119
Glauben bekehren, aber der Mann bleibt lieber bei seinem römischen Aberglauben. In Lund trifft er sich mit anderen Polen.“ „Fuhr Frau Jansson sonntags auch nach Lund?“ „Nein. Frau Jansson war eine gute Schwedin, obwohl sie aus Polen stammte. Sie ging zwar gar nicht in die Kirche, aber als die Kirche vor zwei Jahren für die Reparatur des Dachstuhls sammelte, stellte Frau Jansson einen Scheck über fünfhundert Kronen aus. Mehr gab keiner in ganz Lomma.“ „Und spendete sie auch für die katholische Kirche?“ fragte ich. Ich konnte mir kaum das Lachen verbeißen. Was dieses Mädchen so von sich gab! „Das weiß ich nicht. Fragen Sie doch den Pfarrer aus Lund. Bei uns haben sie jedenfalls nicht gesammelt.“ „Vielleicht regnet es bei ihnen nicht durch?“ bemerkte Herr Dalin. Jetzt lachten alle. Ich zog ein Schächtelchen mit bunten Pillen aus der Tasche. „Mich haben die Ereignisse der letzten Tage so mitgenommen“, sagte ich, „daß ich schon zu einem Beruhigungsmittel greifen muß. Zum Glück habe ich Barbituran bei mir, ein ausgezeichnetes Mittel, total ungefährlich, dabei wirkt es sich wohltuend auf das Befinden aus.“ Bei diesen Worten goß ich mir einen Schluck Wasser in ein Glas und spülte eine bunte Pille hinunter. „Mich nimmt das auch alles entsetzlich mit“, klagte Frau Lindner. „Ich kann die ganze Nacht nicht einschlafen, und wenn ich dann schon mal eindöse, sehe ich im Halbschlaf dauernd die arme Frau Jansson vor mir. Auf ihrem Bett, blutüberströmt.“ Das war gelogen. Mein Zimmer grenzt an das von Frau Lindner, und ich weiß, wenn die schöne Nora in der Nacht nicht schläft, dann aus ganz anderen Grün120
den. Aber was schadete es? Ich schob ihr das Schächtelchen hin und sagte nur warnend: „Das ist kein Schlafmittel, sondern nur etwas zur Beruhigung. Bei Einschlafstörungen müßten Sie eigentlich etwas anderes nehmen.“ „Das ist genau das richtige, das fühle ich“, sagte Frau Lindner und schluckte die Pille. „Dürfte ich es nicht auch mal damit versuchen?“ bat Frau Brands. „Es sind so viele Dinge auf mich eingestürmt …“ Ich widersprach nicht. Frau Brands hat ja wirklich eine Menge Aufregungen gehabt. Seit Frau Janssons Tod sind schon mehrere Tage vergangen, das Wetter ist schön, aber in der Pension sieht man keine neuen Gäste. Sogar Herr Harding wollte etwas für seine Nerven. Das soll mir eine Lehre sein. Wozu habe ich die Pille vor allen eingenommen? Ich hätte ins Nebenzimmer gehen sollen. Wir saßen noch ein halbes Stündchen so beisammen. Die Unterhaltung drehte sich beinahe pausenlos um den Mord, aber es kam nichts Neues mehr. Wieder beugte ich mich zu Magnus Torg. „Wenn Sie versuchen, sich morgen früh gegen sieben mit diesem Fischer zu treffen, müßte er schon auf den Beinen sein, schätze ich. Fischer stehen zeitig auf, auch sonntags. Möchten Sie, daß ich Sie begleite?“ Der Oberleutnant spürte wohl die Bitte in meiner Stimme, denn er willigte gern ein. „Bitte sehr, Doktor, wenn Sie Lust haben, zeitig aufzustehen.“ Ich schaute auf die Armbanduhr. Es war zwanzig vor elf. „Ich gehe schlafen“, sagte ich. „Gute Nacht, meine Herrschaften.“ Als ich die Halle durchquerte, traf ich auf Fräulein Lilljan. Da kam mir ein Gedanke: „Wußte Frau Jansson eigentlich, daß ein Landsmann von ihr in Lomma wohnt, das würde mich interessieren?“ 121
Lilljans Gesicht hellte sich auf. „Da bringen Sie mich auf was“, sagte sie. „Zwei Tage vor ihrem Tod fragte mich Frau Jansson abends, ob ich schon mal was von einem Mann gehört hätte, den sie den gammle Polacken nennen. Ich sagte ihr, er wohne in Lomma, und erklärte ihr, wo. Frau Jansson freute sich sehr, als sie das erfuhr. Sie sagte, sie müsse den alten Fischer aufsuchen und mit ihm reden.“ „Aber es steht nicht fest, ob sie es noch geschafft hat?“ „Das kann ich nicht sagen. Da fällt mir aber ein, daß Frau Jansson am Mittwoch vor dem Mittagessen einen Telefonanruf bekommen hat. Ich nahm den Anruf entgegen und lief nach oben, um ihr Bescheid zu sagen. Der Mann, der Frau Jansson am Telefon verlangte, sprach schlecht schwedisch. Damals habe ich nicht weiter darauf geachtet, aber jetzt bin ich sicher, daß es der alte Pole war. Ich hörte von der Halle aus, daß sie in so einer komischen Sprache miteinander redeten.“ Ich bedankte mich bei dem Mädchen für die Auskunft und sagte, ich würde das Oberleutnant Torg mitteilen. Ich fügte noch hinzu, ich ginge jetzt hinauf schlafen. Das Zimmermädchen gestand mir, sie warte darauf, daß sich die Gäste auf ihre Zimmer begeben, denn auch sie sei kaputt und müde. Ich schlief wie ein Toter. Ich kann aber ohne Uhr aufwachen, zu welcher Zeit immer ich will. Deshalb schlug ich auch diesmal pünktlich drei Viertel sechs die Augen auf. Ich wusch mich, zog mich an und ging nach unten. Magnus Torg war schon auf den Beinen. Wir beschlossen, niemanden weiter zu wecken. Es war ja Sonntag, sollten die Konstabler ruhig etwas länger schlafen. Wir würden zum Frühstück zurück sein. Ich erzählte Oberleutnant Torg, was mir unser sympathisches Zimmermädchen anvertraut hatte. Er wurde wütend. „Und wir strampeln uns hier ab! Wir suchen wie nach 122
einer Nadel im Heuhaufen! Und dieses Mädchen behält die wichtigsten Dinge für sich! Ich habe sie doch zweimal vernommen. Nicht ein Wörtchen hat sie mir von diesem Anruf und von dem alten Polen gesagt. Dabei habe ich sie aufgeklärt, daß sie die Wahrheit sagen soll und daß sie für eine falsche Aussage strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“ „Es ist ja noch nichts passiert“, versuchte ich Fräulein Lilljan in Schutz zu nehmen. „Sie hat diesen Anruf einfach vergessen, ihre Gespräche mit Frau Jansson hielt sie für wichtiger. Zum Glück hat sie sich ja vor mir verplappert.“ „Wir haben zwei Tage verloren. Das ist keine Kleinigkeit. In der Zeit kann der Mörder schon bis ans Ende der Welt geflohen sein.“ Das verzieh der Oberleutnant dem Zimmermädchen nie. Wir stiegen ins Auto und fuhren nach Lomma. Lilljan hatte die kleine Kate und ihre Lage sehr treffend beschrieben. In der Tat war es das letzte Haus in Lomma in Richtung Arlöv. Von der Strandvägen führte ein kaum zu erkennender, grasüberwucherter Feldweg zu dem Häuschen. Das Anwesen – denn neben dem Haus stand noch ein Schuppen – lag mindestens fünfzig Meter von der Straße entfernt. Von der See war es nur durch einen etwa dreißig Meter breiten Sandstreifen getrennt. Am Strand, zur Hälfte auf den Sand hinausgezogen, stand ein gewöhnliches Fischerboot. Aus Holz und nur geteert. In Schweden werden solche Kähne schon seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt. Sie wurden durch wesentlich größere Motorkutter ersetzt, die bessere Erträge bringen. Neben dem Boot hingen, auf Planken aufgespannt, Netze. Mühelos erkannte ich Aalreusen darunter. Wir gingen zum Haus und klopften an die Tür. Niemand öffnete, es regte sich überhaupt nichts. Eine To123
tenstille herrschte da drin. Der Oberleutnant hämmerte energischer an die Tür. Noch immer keine Antwort. Er trat mit dem Fuß dagegen. Ohne Erfolg. Er rüttelte an der Klinke. Die Tür war verschlossen. Ich trat ans Fenster und sah ins Zimmer hinein. Es war einiges von der bescheidenen Einrichtung zu erkennen. Ein aufgedecktes Bett, daneben, auf einem Stuhl, Kleidungsstücke. Ich ging um das Haus herum und blickte durch das kleine Fenster in die Küche. Es war zwar mit einer Gardine verhängt, aber die Umrisse des Raumes konnte ich ausmachen. In der Ecke stand ein Herd, darauf Töpfe. In der Mitte ein kleiner Tisch und zwei Hocker. Und plötzlich entdeckte ich … Nein, das war doch ein Irrtum? Ich rief den Oberleutnant. Auch er schaute genau hin … Auf dem Fußboden, dicht neben der Tür, an die wir gerade gehämmert hatten, lag ein Mann in dunklem Schlafanzug.
8. Der Ring mit der Perle (Aufzeichnungen des Doktor Nilerud) … Sonntag abend Den ganzen Nachmittag habe ich geschrieben, um die Ereignisse vom Sonnabend und vom heutigen Tage festzuhalten. Ich war jedoch zu aufgeregt, als daß mir die Arbeit rasch von der Hand gehen konnte. Deshalb will ich jetzt, am Abend, nach dem Essen, zum Schluß kommen mit meiner Beschreibung … Ich muß gestehen, daß unser Oberleutnant nicht die Beherrschung verliert oder in Panik verfällt. Er warf nur einen Blick durch das Fensterchen und stellte sofort fest: „Der Mann ist tot.“ 124
„Vielleicht ist er auch nur ohnmächtig?“ gab ich zu bedenken. „Wir müssen versuchen, die Tür auszuheben, und ihm zu Hilfe eilen. Er braucht doch nur das Bewußtsein verloren zu haben. Oder er hatte einen Herzanfall.“ „Nein!“ widersprach der Oberleutnant energisch. „Auf dem Fußboden sind Blutflecken zu sehen. Der Mann ist ermordet worden. Da bin ich ganz sicher.“ Und seine Stimme bekam etwas Gebieterisches, als er sagte: „Sie fahren sofort in die Pension und bringen mir meine Konstabler her. Unterwegs machen Sie einen Abstecher und gehen auf die Polizeiwache in Lomma. Die sollen sofort Lund benachrichtigen. Ich warte auf die Leute von der Spurensicherung und den Polizeiarzt. Kommen Sie bitte so schnell wie möglich mit den Konstablern zurück. Ich sehe mir inzwischen die Umgebung an.“ Binnen fünfzehn Minuten war ich wieder zurück. Ich war in beiden Richtungen mit Sirene gefahren. Als ich mit den Kriminalbeamten zurückkam, stand der Oberleutnant wieder vor dem Küchenfensterchen und sah in den Raum. Als er uns kommen hörte, wandte er den Kopf. „Keinerlei Spuren zu entdecken“, erklärte er. „Ich habe das Anwesen genau abgesucht. Bleibt als einzige Hoffnung, daß wir Fingerabdrücke auf der Türklinke und in der Wohnung finden.“ Erst jetzt fiel mir auf, daß ein schmaler, selbstangelegter Gehweg bis zum Haus führte. Da hatte jemand, vermutlich der alte Pole, einfach Feldsteine zusammengetragen und sie mit Zement Übergossen. Kein Wunder, daß man auf so einem Pfad keinerlei Spur entdecken konnte. „Das Zimmerfenster läßt sich öffnen“, bemerkte einer der Beamten. „Es schließt nicht sehr dicht, und wenn man ein bißchen dagegenklopft, müßte der Haken am Oberlicht herunterfallen. Dann braucht man nur die 125
Hand durchzustecken und kommt an den unteren und an den oberen Riegel heran. So könnte ich hineinklettern.“ „Nein“, hielt ihn Oberleutnant Torg zurück. „Wir warten, bis die Leute aus Lund hier sind. Dem Mann da drin ist sowieso nicht mehr zu helfen. Ihr schaut euch inzwischen den Schuppen an und haltet nach irgendwelchen Spuren in Strandrichtung Ausschau.“ Im Schuppen lagen Netze. Hinter einem Verschlag ein Häuflein Kohlen, wahrscheinlich der Rest vom vergangenen Winter, und ein altes, lange nicht mehr benutztes Fahrrad. Vom Haus zu dem Boot am Strand führten halbverwischte Fußspuren. Man sah, daß ein und derselbe Mensch diesen Weg mehrmals hin- und zurückgegangen war. „Das war bestimmt der Fischer, als er seinen Kahn ausgeladen hat“, erklärte ein Konstabler. „Das prüfen wir später.“ Es war noch keine Stunde vergangen, als neben unserem Wagen ein zweiter hielt. Die Beamten von der Spurensicherung stiegen aus, mit ihnen Polizeiarzt Doktor Thorsten Ross, den ich ja schon kannte. „Da treffen wir uns ja schon wieder. Und wieder unter scheußlichen Umständen. Was ist nur los in diesem Lomma?“ sagte der sympathische Arzt. „Seit sechzehn Jahren wohne ich in Lund, und in der Zeit sind drei Leute im Meer ertrunken. Und zwar an der ganzen Küste. Und jetzt gibt es hier aller paar Tage eine neue Leiche. Wo ist der Mann?“ „Er liegt da drin. Hinter der verschlossenen Tür“, erklärte ich. „Vielleicht lebt er noch? Sie hätten die Tür ausheben müssen.“ Ich zuckte die Achseln. „Ich war auch der Meinung. Leider wollte der Herr Oberleutnant nichts davon wissen. Er behauptet, der Mann sei schon tot.“ 126
„Na, na, na“, knurrte der Arzt, „wenn dem nicht so ist, kann das ein schönes Theater geben. Einem Verletzten nicht zu Hilfe eilen oder einem Sterbenden … Da möchte ich nicht in Herrn Torgs Haut stecken.“ „Seine Sache“, erwiderte ich, „ich habe meine Dienste angeboten, aber ich kann ja dem Befehl eines Kriminalbeamten nicht zuwiderhandeln. Obwohl ich, ehrlich gesagt, auch den, Eindruck habe, daß sich unser ‚Großer‘ nicht allzusehr geirrt hat.“ Unterdessen tummelten sich die Männer von der Spurensicherung, von unserem Oberleutnant angeleitet, rund um das ganze Haus. Sie sammelten die Fingerabdrücke von der Tür, vom Türrahmen und sogar von den Fensterscheiben. Einer machte einen Gipsabdruck im Sand neben dem Boot. Sie waren jedoch nicht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit. „Hier ist nichts zu holen“, stellte einer von ihnen fest. Zur gleichen Zeit gab der Leiter der Polizeiwache Lomma, der noch vor dem Eintreffen der Männer aus Lund aufgetaucht war, Auskunft über den gammle fiskaren. „Er lebte seit über zwanzig Jahren hier“, erklärte er. „Er kam direkt aus dem Krankenhaus, wo die Häftlinge aus der Folke-Bernadotte-Aktion behandelt wurden. Angeblich hatten die Ärzte ihm angeraten, sich an der See niederzulassen. Damals, daran erinnere ich mich genau, war er noch sehr schwach und mitgenommen und sprach nicht ein Wort schwedisch. Die Gemeinde gab ihm diese Kate und half ihm, sie wieder herzurichten, denn die Jahre davor hatte niemand darin gewohnt. Am Anfang verdingte sich der Pole zu allerhand Arbeiten. Aber er war ja keine rechte Hilfe. Er sah noch lange so aus, als wäre er dem Tod von der Schippe gesprungen.“ „Kein Wunder“, warf Thorsten Ross ein, „ich erinnere mich an diese Häftlinge, die auf Schiffen in Göteborg 127
und in Malmö ankamen. Selten konnte einer ohne fremde Hilfe aussteigen. Meist wurden sie auf Tragen vom Schiff herunter und gleich in die Krankenwagen gebracht. Und wenn man dann hörte, was sie erzählten, was sie durchgemacht hatten in diesen Konzentrationslagern. Dann war es ohnehin ein reines Wunder, daß sie das überlebt hatten.“ „Genau“, pflichtete der Beamte aus Lomma ihm bei. „Ich war damals noch ein Junge und habe deshalb nicht alles begriffen. Ich weiß noch, daß manche Leute in Lomma diesen Mann zu sich nehmen, in ihr Haus aufnehmen wollten. Er lehnte das aber entschieden ab. Er zog dieses Häuschen vor. Bis heute weiß bestimmt noch immer kein Mensch in Lomma, was dieser Mann von Beruf war, was er vorher gemacht hat. Fischer war er bestimmt nicht, weil er erst als sich sein Gesundheitszustand langsam besserte, anfing, mit unseren Fischern hinauszufahren, und bei ihnen das Handwerk erlernte. Das Boot, das dort liegt, hat er später meinem Onkel abgekauft, als Sigurt Hodin sich einen großen Kutter kaufte und mit meinem Onkel eine Genossenschaft aufmachte.“ „Er soll ein großer Sonderling oder jedenfalls ein Mensch mit seinen eigenen Geheimnissen gewesen sein“, warf ich ein. „Das stimmt“, gab der Polizist zu. „Vor zwanzig Jahren war er noch jung, nicht älter als vierzig. Manches Mädchen in Lomma hätte ihn gern geheiratet oder sich mit ihm verlobt. Aber er gönnte keiner einen Blick, obwohl es Fischer gab, die ihm ihre Schwester oder auch ihre Tochter anvertraut hätten. Er freundete sich auch mit niemandem an in den ganzen Jahren. Und außerdem war er katholisch. Jeden Sonntag fuhr er nach Lund, in die Kirche dort. Er bekam keinen Besuch, oder ich weiß zumindest nichts davon; obwohl es schon ein Kunststück ist, nicht alles zu wissen, was in Lomma pas128
siert, wenn man hier arbeitet, hier geboren und in dieser Gegend aufgewachsen ist. Aber über Tschetschekky kann ich außer den paar Dingen, die ich Ihnen hier erzählt habe, nichts weiter sagen. Vielleicht so viel, daß er immer allein in seinem Boot zum Fang hinausfuhr. Er verkaufte den Fisch auch allein, indem er die Häuser abklapperte. Die Leute kauften gern bei ihm, denn er feilschte nie um den Preis, nahm soviel, wie sie ihm gaben, und ich muß gestehen, daß er seine Sache verstand. So schönen Fisch wie er fingen die anderen Fischer nicht mal mit ihren Kuttern. Er verlor lieber ein paar Tage und fing dann Lachs oder Aal, als ganze Netze voll Dorsch oder Hering nach Hause zu bringen. Und außerdem hatte er immer frischen Fisch.“ „Angeblich ist er oft weggefahren?“ fragte Magnus Torg. „Ja. Wenn er mal mehr Aal gefangen und ihn verkauft hatte, dann schloß er seine Kate ab, und man bekam ihn tagelang nicht zu Gesicht.“ „Hatte er die schwedische Staatsbürgerschaft?“ „Ja, er nahm sie an, nachdem er acht Jahre in Lomma gewohnt hatte.“ „Und einen Reisepaß?“ „Den hatte er auch.“ „Fuhr er denn ins Ausland?“ „Ja, das ist anzunehmen. Wozu hätte er sonst einen Paß gebraucht? Als ich in diesem Jahr mit ihm sprach, das war im Mai, erzählte er mir, er sei in Polen gewesen. Ich fragte ihn sogar, ob er bei seiner Familie war. Er antwortete kurz: ‚Ich habe keine Familie‘, und damit war unsere Unterhaltung beendet.“ „Na, wie steht’s? Seid ihr fertig?“ fragte Oberleutnant Torg die Männer von der Spurensicherung. „Ja, fix und fertig. Darf man sehen, was da drin ist?“ „Ich steige ein“, erbot sich wieder einer unserer Leute. „Gut.“ Diesmal hatte der Oberleutnant nichts dage129
gen. „Aber vorsichtig, und mach die Tür nach außen auf. Damit du keine Spuren verwischst.“ „Wird gemacht.“ Der Konstabler öffnete geschickt das Stubenfenster und verschwand im Innern, wenig später kam er zur Tür wieder heraus. „Sie hatten recht, Oberleutnant“, bemerkte er. „Der Alte lebt nicht mehr.“ Ich wollte mit Doktor Ross in die Küche. Durch die geöffnete Tür war der alte Pole genau zu sehen. Er lag auf der Seite, die Beine angezogen. Eine Hand an die Brust gepreßt. An der Stelle war der Pyjama mit Blut befleckt. Ein faltenzerfurchtes Gesicht. Schütteres graues, kurzgeschnittenes Haar. Die ohnehin scharfgeschnittenen Züge traten jetzt, im Tode, noch schärfer hervor. Dieser Mann war schätzungsweise um die Siebzig. Ich machte einen Schritt auf die Tür zu. Magnus Torg hielt mich fest. „Zuerst sie“, sagte er. Und so standen wir denn, ich, Doktor Ross, der Oberleutnant und der Ortspolizist, auf der Schwelle der Kate. Der Flur war winzig. Nicht mehr als einen halben Meter lang. Gerade so groß, daß er im Winter den scharfen Wind von der dänischen Küste abhielt und daß es bei einem Schneesturm den weißen Staub nicht gleich in die Küche blies. Auch den anschließenden Raum konnte man nicht als besonders groß bezeichnen. Das Haus war aus dicken, nur grob behauenen Kiefernstämmen gebaut und mit Hobelspänen und Moos abgedichtet. Im Heimatmuseum in Lund habe ich ein ähnliches Bauwerk gesehen, das gut seine paar hundert Jahre auf dem Buckel hat. Das hier war vermutlich nicht viel jünger. Der beste Beweis für sein Alter war, daß es keine Decke und keinen Dachboden besaß. Auf Tragebalken hatte man einfach das Dach errichtet und darunter, auf der Innenseite, gehobelte Bretter angebracht. Auf die Weise entstand ein origineller Raum mit schräger Decke. Unter 130
den Brettern befand sich wahrscheinlich Schilf oder Stroh, um die Wärme zu halten. Der Fußboden war aus ebensolchen Kiefernbrettern gemacht und hatte breite Ritzen. Der Bewohner der Kate hatte den Fußboden dunkelrot gestrichen. An der Eingangstür war ein Stückchen Linoleum befestigt. Das gleiche Linoleum befand sich vor dem Herd, der, der Tür gegenüber, an der Wand stand. Über dem Herd hing ein Bord, auf dem die Kochtöpfe standen. Daneben befand sich ein altersschwacher Holzschrank. Durch die angelehnte Tür konnte man im Innern Schachteln und Tüten erkennen, wahrscheinlich Lebensmittelvorräte. Auf dem Herd standen ein Aluminiumteekessel und eine große Teekanne. Ein Zeichen dafür, daß der Bewohner des Hauses ein, dieses chinesische Getränk schätzender Ausländer war, denn in Schweden erfreut es sich nicht allzu großer Beliebtheit. In der Küche standen außerdem ein kleiner Tisch mit zwei Schemeln. Ein kleiner Abwaschtisch vervollständigte das bescheidene Mobiliar. Auf dem Tisch stand ein Teller. Darauf, in Zellophan eingewickelt, ein halbes Brot. Daneben ein Messer. Auch ein Glas mit dem Rest irgendeiner Flüssigkeit stand noch dort. An, in die Wand eingeschlagenen Nägeln hingen ein Arbeitsanzug, eine alte Fischerjacke mit Kapuze, eine Mütze und noch ein anderer Overall. Der Fotograf schoß eine ganze Aufnahmenserie. Der Daktyloskop bearbeitete wieder die Tür, aber diesmal von der anderen Seite und wieder ohne Erfolg. Er nahm auch die Fingerabdrücke des Toten. Jetzt verzogen sich die Leute von der Spurensicherung ins Innere der Küche. Nun war die Reihe also an uns. Als erster betrat Oberleutnant Torg die Küche. Er beugte sich über den Toten und schlug an dessen linkem Arm den Schlafanzugärmel zurück. Etwas unterhalb des Ellenbogens befanden sich kleine blaue Schriftzeichen. 131
Oder keine Schriftzeichen, sondern vielmehr die eintätowierte Nummer 147 859. Die kleinen Zahlen waren kaum noch zu erkennen und ziemlich ungelenk. „Auschwitz“, stellte Doktor Ross kurz fest. „Genau wie bei Frau Jansson. Nur daß sie eine viel niedrigere Nummer hatte. Über hunderttausend weniger“, bemerkte ich. „In Auschwitz wurden Frauen und Männer in gesonderten Registern geführt“, klärte uns der Oberleutnant auf. „Frauen gab es dort weniger als Männer, deshalb sind auch die Nummern niedriger.“ Damit imponierte mir Magnus Torg außerordentlich. Der Mann ist höchstens achtundzwanzig Jahre alt. Woher weiß er so gut Bescheid über das, was in den deutschen Konzentrationslagern üblich war? „Erkennen Sie den Toten?“ fragte Oberleutnant Torg den Polizisten aus Lomma. Das war wieder reine Formsache, denn sogar der Aufzug, der Schlafanzug, deutete darauf hin, daß es sich nicht um einen Fremden handeln konnte. Aber Magnus Torg achtete auf die Form und da im Protokoll auch die Rubrik „die Leiche wurde identifiziert von …“ enthalten ist, wäre es dem Oberleutnant nie eingefallen, diese Rubrik etwa unausgefüllt zu lassen. „Selbstverständlich“, bestätigte der Polizeibeamte. „Den gammle Polacken.“ Wir beide, Doktor Ross und ich, beugten uns über den Leichnam. Mein Kollege bog mit einiger Mühe die auf die Brust gepreßte Hand gerade. Darunter befand sich eine Wunde, das Einschußloch einer Kugel. Nach der Größe der Öffnung zu urteilen, die nicht zu groß und nicht zu klein war, stammte der Schuß aus einer „Sieben“. Er war aus unmittelbarer Nähe abgegeben worden. Höchstens aus einem Meter Entfernung, denn auf der Haut waren rundum noch Pulverteilchen zu sehen. Ebensolche mußten auch auf dem Schlafanzug zu finden sein. Der verhältnismäßig schwache Blutverlust ließ dar132
auf schließen, daß der Tod sofort eingetreten war. „Gut gezielt“, bemerkte Doktor Ross, „mitten ins Herz.“ Während er das sagte, schob er das Hemd auf dem Rücken des Toten hoch, um nach der Austrittsstelle der Kugel zu suchen. Es war jedoch keine Wunde zu sehen. „Die Kugel ist wahrscheinlich etwas schräg gegangen“, warf ich ein. „Sie hat die rechte Herzkammer durchschlagen und ist irgendwo unterhalb des Schulterblattes steckengeblieben. Oder was meinen Sie, Herr Kollege?“ „Ganz Ihrer Ansicht“, pflichtete mir der Polizeiarzt aus Lund bei. „Die unmittelbare Todesursache war die Beschädigung des Herzbeutels und eine innere Blutung. Aber mit hundertprozentiger Sicherheit kann ich das erst nach der Sektion der Leiche sagen.“ „Für mich spielt das keine große Rolle“, bemerkte Magnus Torg. „Wesentlich mehr interessiert mich die Nummer auf dem Unterarm.“ „Wenn man wüßte“, sagte ich, „ob sich Maria Jansson mit diesem Fischer getroffen hat …“ „Danach kann ich mich erkundigen“, bot der Polizist aus Lomma seine Dienste an. „Meine Leute können das auch übernehmen, aber für einen aus dem Ort dürfte es leichter sein.“ „Ich glaube schon, daß sie sich getroffen haben. Lilljan behauptet doch, dieser Pole habe Frau Jansson in der Pension angerufen.“ „Ja, er hat angerufen, aber an dem Tag, als Maria Jansson starb. Ein paar Stunden vor dem Mord. Vielleicht hatten sie erst ein Treffen vereinbart, das nicht mehr stattfinden konnte?“ „Nun, meine Herren“, rief uns Magnus Torg zur Ordnung, „darüber haben wir noch genug Zeit nachzudenken, wenn wir mit der Untersuchung hier fertig sind.“ Bei diesen Worten zeigte der Oberleutnant auf die Leiche am Boden. 133
„Ohne Obduktion kommen wir hier nicht weiter“, bemerkte Doktor Ross. „Aber in etwa die Zeit, zu der der Tod eingetreten ist?“ fragte Magnus Torg. „Ich schätze, nicht früher als elf Uhr abends und nicht später als ein Uhr nachts“, antwortete ich rasch. „Und was meinen Sie, Doktor Ross?“ „Ich bin der gleichen Ansicht wie Herr Kollege Nilerud“, stimmte mir der Arzt aus Lund zu. So gaben wir, Doktor Thorsten Ross und ich, also schon zum zweiten Mal, ein gleichlautendes Urteil ab. Ich erinnere mich, daß wir, als wir die Leiche der unglücklichen Frau Jansson untersuchten, ebenfalls darin übereinstimmten, daß diese Frau zwischen fünf und sieben Uhr nachmittags gestorben sein mußte. Ich muß gestehen, daß mich bei diesem Gedanken ein Gefühl der Befriedigung überkam, trotz der makabren Situation. Herr Doktor Ross ist schließlich ein erfahrener Fachmann. Ich habe etliche seiner Arbeiten in der Fachpresse gelesen. Gleichzeitig ist er Professor an der Universität in Lund, die sich in ganz Schweden eines guten Rufes erfreut. Und trotzdem hat mir dieser Mann zweimal recht gegeben. Einem kleinen Polizeiarzt ohne besondere Ambitionen. Das schmeichelt meiner Eitelkeit, von der ja niemand ganz frei ist. Unterdessen hatten unsere Spurensicherungsleute die Küche genauestens inspiziert. Ohne Erfolg. Jetzt zogen sie in den Wohnraum hinüber. Er war etwas größer als die Küche, hatte aber auch keine eingezogene Decke, sondern nur eine schräge Decke aus Balken. Die Einrichtung hier war gediegener. Auf dem Fußboden lag ein recht anständiger Teppich. Der Tisch, wenngleich viel gebraucht, hatte vermutlich einmal bessere Zeiten gekannt. Ebenso die vier Stühle. In der Zimmerecke stand ein Nußbaumschrank mit einem Spiegel in der Mitte. Es gab hier sogar ein Regal mit mindestens zweihundert Bü134
chern. Auf der Couch lag das Bettzeug ausgebreitet. Auf einem Stuhl, ordentlich zusammengelegt, die Kleidungsstücke. Ein normaler Anzug, wie er für hundertachtzig Kronen in jedem Kaufhaus in Malmö oder in Lund zu haben ist. Erst jetzt bemerkte ich, daß das Nachttischlämpchen auf dem kleinen Tisch neben der Couch immer noch brannte. „Ich denke, der Mann hat schon geschlafen oder jedenfalls schon im Bett gelegen“, warf einer der Kriminalbeamten ein. „Er hörte es klopfen, stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie, und da fiel auch schon der Schuß. Der Mörder knallte die Tür zu. Das Krachen des Schusses hat die See übertönt. Gestern war die Brandung wieder stärker als sonst.“ „Es muß jemand gewesen sein, den er kannte“, spann ich den Faden weiter. „Einem Fremden hätte er doch nicht aufgemacht zu so später Stunde.“ „Man weiß nicht, was dieser Mensch ihm gesagt hat. Vielleicht hat er sich vorgestellt, zum Beispiel als Briefträger, der ein eiliges Telegramm bringt. Das ist ein alter Verbrechertrick, aber er funktioniert fast immer.“ „Zumal den gammle fiskaren ja kein Telefon hatte“, fügte der Kriminalbeamte hinzu. „War er denn so arm?“ fragte ich. „In Schweden kein Telefon zu haben, das ist tatsächlich außergewöhnlich. Der Gipfel von Armut.“ „Nun, arm war er zwar“, erklärte der Ortspolizist. „Aber so arm auch wieder nicht. Wenn er mehr Geld gewollt hätte, dann hätte er nur öfter auf Fang auszufahren brauchen. Aber er hat selbst öfters verkündet, er brauche kein Geld. Hauptsache, er habe sein Brot und was auf dem Leib. Er war ganz einfach ein komischer Kauz. Offenbar ist er nach dem, was er im Lager durchgemacht hat, nie wieder richtig zu sich gekommen.“ Einer der Konstabler nahm sich genau den Anzug des 135
Toten vor. Er breitete den Tascheninhalt auf dem Tisch aus. Da kamen zum Vorschein: eine alte Lederbrieftasche, ein Taschenkamm, ein Taschenspiegel, eine Schachtel „Pall Mall“, nur noch halbvoll. Weiter: ein Taschentuch, ein zweites als Ersatz, noch ganz sauber, ein paar Silberkronen und ein bißchen Kleingeld sowie ein Sturmfeuerzeug, wie es die Fischer und Seeleute für gewöhnlich benutzen. Oberleutnant Torg öffnete die Brieftasche. Er nahm einige Geldscheine heraus. Insgesamt hundertfünfundachtzig Kronen. Eine durchaus ansehnliche Summe für einen armen Mann, als der der alte Pole in den Augen seiner Nachbarn galt. Außerdem fanden sich darin noch ein Taschenkalender ohne irgendwelche Eintragungen und ein paar Rechnungen. Unter anderem von der Wäscherei in Lomma. „Das ist nicht viel“, brummte Oberleutnant Torg. „Seht noch mal im Schreibtisch nach.“ Bei meiner Beschreibung des Zimmers vergaß ich anzumerken, daß an einem Fenster ein Schreibtisch stand. Davor ein ziemlich bequemer Sessel. Auf dem Schreibtisch ein Aschenbecher, ein Standkalender, ein neuer Schreibblock und ein aufgeschlagenes Buch. Alle Schubfächer waren offen. Aber es war schwer anzunehmen, daß der Mörder hier geplündert hatte, denn im allgemeinen herrschte darin eine vorbildliche Ordnung. In einem Fach war sauberes Schreibpapier. Im anderen Servietten und eine Menge Fotos. Die sah sich Oberleutnant Torg vorerst nicht an. In dem Fach darunter wieder Bücher. Alle über den Fischfang. Im tiefsten Fach, ganz unten, eine größere Menge verschiedenster Arzneimittel. Im größten Schubfach, dem Mittelfach des Schreibtischs, fanden wir vor allen Dingen den Reisepaß des Ermordeten. Von dem Foto sah uns ein Mann entgegen, der mindestens zehn Jahre jünger war als der, der jetzt 136
tot in der Küche lag. In einer schönen Handschrift waren in der Spalte Vorname und Name fein säuberlich Wörter eingetragen, die für unsere schwedische Zunge schier unaussprechlich schienen: Stanisław Trzeciecki „In Polen haben sie vielleicht Namen“, sagte einer der beiden Konstabler lachend. „Da kann man sich ja die Zunge brechen. Kaum vorzustellen, daß dort schon die kleinen Kinder so sprechen.“ „Ein alter Witz“, bemerkte Doktor Ross. „Auf der anderen Seite der Ostsee sagen sie das gleiche über uns Schweden.“ „Ach, das glaube ich nicht. Es gibt doch keine leichtere Sprache.“ In dem Konstabler kam der schwedische Patriot durch. Aus dem Paß ging hervor, daß der ermordete Stanisław Trzeciecki neunundfünfzig Jahre alt war. Unter „Tätigkeit“ war „Fischer“ eingetragen, in der Spalte hingegen, wo nach dem erlernten Beruf gefragt wurde, stand „Maschinenbauingenieur“. Ich stieß einen Pfiff aus, als ich das las. Was für ein merkwürdiger Ingenieur, der Fisch fängt, statt in seinem gut bezahlten Beruf zu arbeiten? Zum Beispiel in der nahe gelegenen Zuckerfabrik in Arlöv. Oberleutnant Torg blätterte den Reisepaß des Toten durch. Dieses Dokument, vor reichlich vier Jahren ausgestellt, war ziemlich viel benutzt worden. Nach den Visa und Grenzkontrollstempeln zu urteilen, war der Pole viel gereist. Jedes Jahr mehrere Fahrten ins Ausland. Belgien, Holland, England, Frankreich. Mehrmals auch Polen. Seine letzte Reise dorthin war Anfang Mai gewesen. Alles verhältnismäßig kurze Reisen. Drei bis vier Tage. Höchstens eine Woche. Zwar dauert im Zeitalter des Düsenflugzeugs eine Reise um die Welt auch nicht länger, aber meistens fahren die Leute, besonders wenn 137
sie nicht im Geschäftsleben stehen und eine Touristenreise machen, für länger weg. In demselben Schubfach lagen zwei Sparbücher. Auf dem einen waren dreihundertsiebenundzwanzig Kronen, auf dem anderen dagegen achttausendsiebenhundertvierzig Kronen. Für einen armen Fischer, der sich nicht mal Telefon legen ließ, ein regelrechter Schatz. Und was das Interessanteste daran war: Die letzte Einzahlung trug das Datum vom Freitag. Es war eine recht stattliche Summe: tausendfünfhundert Kronen. Das überraschte den Polizeibeamten aus Lomma. „Der Mann hat sich zwar nie um Unterstützung an die Sozialhilfe gewandt, aber wir alle haben ihn für sehr arm gehalten, für jemanden, der höchstens achtzig Kronen in der Tasche hat.“ „Wir gehen der Sache noch auf den Grund“, sagte Oberleutnant Torg. In dem Fach lagen noch irgendwelche Dokumente. In einer Sprache ausgestellt, die wir nicht kannten. Wahrscheinlich in polnisch. Zwei andere Schreibtischfächer füllten Briefe. Sehr sorgfältig übereinandergeschichtete, mit einem Bändchen verschnürte Bündel. Auf den Umschlägen Briefmarken aus aller Welt. Der Oberleutnant verstaute alle Papiere in einer großen Tüte. „Das schicke ich nach Lund. Sollen die sich das Geschreibsel genauer ansehen. Briefe in allen Sprachen, ich habe sogar Italienisch darunter gesehen. Das müssen Fachleute sich vornehmen.“ „Ein rätselhafter Mensch“, sagte Doktor Ross. „Vorerst sind wir mit der Arbeit hier fertig. Das Haus wird versiegelt. Ein Konstabler soll es bewachen. Sobald wir etwas mehr über den Ermordeten wissen – und vor allem, wenn wir erfahren haben, was in diesen Briefen steht –, führen wir vielleicht noch zusätzliche Untersuchungen durch.“ 138
„Wir müssen einen Wagen für die Leiche bestellen“, bemerkte Doktor Ross. „Schon geschehen“, erwiderte Oberleutnant Torg. „Der Wagen ist unterwegs. Er muß jeden Moment hier sein.“ „Und die Patronenhülse?“ fragte ich gespannt. „Nach unseren Beobachtungen zu schätzen stand der Mörder auf der Schwelle und hat von dort geschossen. Die Hülse müßte noch irgendwo liegen. Das kann doch sehr wichtig sein.“ „Ich habe sie überall gesucht“, erklärte Torg. „Noch bevor Sie von der Wache zurück waren. Aber ich habe sie nirgendwo gefunden. Offenbar hat der Täter sie aufgehoben.“ „Im Dunkeln?“ „Vielleicht hat er auch geschossen, als er schon in der Küche stand? Dann hat er die Patronenhülse vom Fußboden aufgehoben. Aber vielleicht hat er auch, wie viele Berufsverbrecher das tun, die Pistole mit einem Tuch umwickelt, und die Hülse ist in dem Tuch geblieben? Oder er hat durch die Tasche geschossen?“ „Dann gäbe es doch keine Pulverspuren auf der Haut“, bemerkte Doktor Ross. „Jedenfalls ist die Hülse nicht da“, stellte Magnus Torg fest. Wir gingen zur Tür. Als wir die Küche durchquerten, war mir, als hätte ich am Schrankbein etwas glitzern sehen. Ich zeigte mit der Hand dorthin und sagte: „Dort funkelt etwas Gelbes. Vielleicht die Hülse?“ Ein Mann von der Spurensicherung bückte sich und sah unter den Schrank. Er bemerkte nichts. „Etwas mehr zur Seite“, erklärte ich. „Ich habe an dem Schrankbein rechts deutlich etwas Gelbes blitzen sehen.“ Der Beamte kniete sich auf dieser Schrankseite hin. Er bückte sich und griff mit der Hand unter den Schrank. 139
Dann gab er dem Oberleutnant einen kleinen Gegenstand. Neugierig beugten wir uns darüber. Auf Torgs Hand funkelte ein goldener Ring mit einer wunderschönen Perle.
9. Stabsberatung Am Montag trafen vom frühen Morgen an in der Pension der Frau Astrid Brands Gäste ein. Aber keineswegs Gäste, wie sie sich die Besitzerin des renommierten Etablissements in der Strandvägen gewünscht hätte. Zunächst einmal erschien der Polizeidirektor aus Lund, zusammen mit einem Kommissar. Danach tauchte der allwissende Chefreporter der „Kvällsposten“, Sven Breman, auf, und zu guter Letzt läuteten zwei Herren aus Stockholm, Abgesandte des Ministeriums des Innern, am Tor. Beinahe zur gleichen Zeit traf auch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft aus Malmö ein. Kein Wunder: Zwei so rasch aufeinanderfolgende Morde, beide in einem kleinen Erholungsort, das war für schwedische Verhältnisse etwas Außergewöhnliches. Selbst die Ereignisse im Nahen Osten wurden von dieser Sensation in den Hintergrund gedrängt. Die Presse füllte ganze Spalten mit der Beschreibung von Lomma, mit Interviews mit den Einwohnern des Ortes und stellte die wüstesten Vermutungen an. Die Polizei mußte eine gehörige Portion Kritik und Mißbilligung einstecken. Als der Oberleutnant beim Frühstück die riesigen Zeitungsseiten durchblätterte, zitterte ihm unmerklich die Hand. Zuerst hatte der Polizeidirektor in der Bibliothek eine lange Unterhaltung mit seinem Untergebenen. Worüber da gesprochen wurde, werden wir nie erfahren. Fest steht, daß Magnus Torg nach dieser Unterredung die Ohren nur so glühten. Ganz bestimmt hatte er keine großen 140
Lobreden aus dem Munde seines Vorgesetzten zu hören bekommen. Der Ärmste begriff sehr wohl, daß, falls die Ermittlungen mit einem Fiasko endeten, sowieso alle die Schuld auf ihn abwälzen würden. Das waren keine rosigen Aussichten. Sven Breman hielt einen längeren Schwatz mit Doktor Bjorn Nilerud. Beide Herren waren sich in einem einig: Die Polizei hatte sich bisher noch nicht von der rühmlichen Seite gezeigt. Die beiden wichtigsten Entdeckungen der Ermittlung – der durchschnittene Drahtzaun um die Villa in der Strandvägen und der unter dem Schrank in der Wohnung des ermordeten Stanisław Trzeciecki gefundene goldene Ring – waren nicht von Berufskriminalisten gemacht worden, sondern von Laien, die sich zufällig am Tatort befunden hatten. „Das ist ähnlich wie in der Fischzucht“, sagte der Journalist lächelnd. „Damit die Karpfen dauernd in Bewegung sind und schneller wachsen, setzt man im Teich ein paar Hechte aus. So einen Ansporn braucht unsere Polizei. Abgesehen von den Verkehrspolizisten und den Brigaden zur Bekämpfung des Rowdytums unter den Jugendlichen, hat sie sich daran gewöhnt, eine ruhige Kugel zu schieben, es passiert ja nichts Besonderes. Bei so einem Mordfall wie den beiden hier in Lomma verlieren die einfach den Kopf.“ „Und Sie, Herr Breman, möchten in diesem Falle die Rolle des Hechtes spielen?“ Sven Breman lachte. „Nicht unbedingt. Ich habe meine Tricks und erfahre immer ein bißchen mehr als meine Kollegen von den anderen Zeitungen. Aber die übrige Presse wird nicht so zurückhaltend sein. Es gibt schon Vorwürfe gegen die Polizei. Es wird nicht lange dauern, und die Opposition attackiert die Regierung wegen mangelnder staatlicher Sicherheit und der Unfähigkeit des Apparates. Und ein Jahr vor den Wahlen fällt das alles ins Gewicht.“ 141
Zweifellos hatte der Reporter der „Kvällsposten“ recht. Das wußte man auch in Stockholm. Eben deshalb waren zwei höhere Beamte des Ministeriums in Lomma aufgekreuzt. Als sich die Vertreter der Polizei, des Ministeriums und der Staatsanwaltschaft im Bibliothekszimmer versammelten, lud Magnus Torg zur großen Verwunderung von Sven Breman und Doktor Nilerud die beiden ein, an der Beratung teilzunehmen. Beide Herren nahmen ein wenig abseits, neben dem Bücherschrank, Platz. Das Wort ergriff der Polizeidirektor. „Wir haben beschlossen, gemeinsam zu beratschlagen, auf welche Weise wir die Geschichte möglichst schnell vorantreiben können“, sagte der Polizeidirektor. „Da uns die Herren Breman und Nilerud einen außerordentlichen Dienst erwiesen haben, halte ich es nur für recht und billig, daß sie an dieser Beratung teilnehmen.“ Beide Herren aus dem Ministerium nickten zustimmend, und der Direktor fuhr fort: „Die Ermittlungen sind leider noch nicht sehr weit gediehen. Ich möchte gleich zu Beginn hervorheben, daß unser Untersuchungsoffizier, Oberleutnant Magnus Torg, mit viel Schwung und Tatkraft vorgeht und man ihm schwerlich etwas vorwerfen kann. Angesichts dieser Sachlage wäre es unangemessen und zwecklos, den ermittlungsführenden Beamten auszutauschen. Ich denke, die Herren sind in diesem Punkte mit mir einverstanden?“ Alle Köpfe nickten. Sven Breman hatte das erwartet. Immer deutlicher sah er in dem jungen Kriminalbeamten den Sündenbock. Es sei denn, es sei denn … dieser Oberleutnant würde es schaffen, das Geheimnis zu lüften. Aber auch dann würde das Verdienst darum nicht ihm, sondern der Polizeidirektion in Lund zugeschrieben werden. „Nach dem Mord an Maria Jansson haben wir ein neues Verbrechen zu verzeichnen. Ermordet wurde ein 142
alter Fischer polnischer Abstammung. Die Herren gestatten, daß ich ihn auch weiterhin ‚der alte Fischer‘ nenne, es wäre von einer rechtschaffenen schwedischen Zunge zuviel verlangt, einen dieser slawischen Namen aussprechen zu müssen. Das Interessante an der Geschichte ist, daß wir in der Wohnung des Fischers einen Ring gefunden haben, der früher zweifellos Maria Jansson gehörte. Dieser Ring sowie der Umstand, daß Frau Jansson einige Stunden vor ihrem Tod mit dem Fischer telefonierte, zwingt uns, die beiden Fälle miteinander in Verbindung zu bringen. Darüber hinaus möchte ich bekanntgeben, daß wir sämtliche Papiere, die wir im Haus des alten Polen fanden, untersucht haben. Es sind Fotos von diversen Treffen ehemaliger politischer Häftlinge aus der Zeit des deutschen Nationalsozialismus sowie Privatkorrespondenz, ebenfalls mit ehemaligen Häftlingen faschistischer deutscher Konzentrationslager. In diesen Briefen ist öfters von einem Besuch des Fischers bei Freunden die Rede. Das würde seine häufigen, aber kurzen Auslandsreisen erklären. Wir haben auch die Einkünfte des Mannes nachgeprüft. Sie waren in der Tat nicht sonderlich hoch, aber wiederum auch nicht so gering, wie alle glaubten. Dieser Pole fing nur den teuersten Fisch wie Lachs oder Aal. Manchmal brachte ihm ein Fischzug also gar keinen Gewinn. Aber mitunter kamen auch Fänge von mehreren Dutzend Lachsen vor. Dann verkaufte der Mann sie direkt in Malmö oder in Kopenhagen. In einigen Restaurants hatte er sogar ein laufendes Konto. Er wurde nicht pro Stück bezahlt, sondern die Verrechnung erfolgte in gewissen Zeitabständen. Gerade in dieser Woche hatte das Restaurant des Grand Hotels in Malmö ihm etwa zweitausend Kronen für den Fisch ausgezahlt, den er in den letzten Monaten geliefert hatte. Daher die hohe Einzahlungssumme auf dem Sparbuch. Der Ermordete war kein solcher Trottel, wie seine Nachbarn glaubten. Seine jährlichen Steuererklärungen 143
stimmen genau und weisen stattliche Einkünfte auf. Unter diesen Bedingungen liegen die Ersparnisse des Mannes durchaus im Bereich des Normalen, vielleicht ein wenig darunter. Aber Reisen bildet nicht nur, sondern es kostet auch eine Menge Geld, das ist ja bekannt. Ich nehme an“, beendete der Polizeidirektor seine Rede, „daß jeder von Ihnen, meine Herren, eine bestimmte Vorstellung hat, wie der Verlauf der Ereignisse zu erklären wäre. Als für die Ermittlung zuständige Stelle würden wir gern Ihre Meinung hören.“ Als erster meldete sich der Journalist zu Wort. „Wenn die Polizei unsere Ansicht, die Ansicht von Zuschauern, hören möchte, ist das der beste Beweis dafür, daß sie selbst über keinerlei Konzeption verfügt, weil sie noch nichts weiß. Woher also sollen wir etwas wissen? Eine höchst merkwürdige Geschichte. Sie paßt in kein Schema. Der Sohn der verstorbenen Frau Jansson vermutet, seine Mutter sei durch die Hand eines untergetauchten Kriegsverbrechers umgekommen. Wenn wir von der Unsinnigkeit einmal absehen, daß sich so ein Verbrecher noch in Europa versteckt halten könnte, ist diese Vermutung recht interessant, obwohl auch sie unerklärliche Lücken hat. Vor allen Dingen: Wie konnte der Mörder in die Pension gelangen, ohne von den Leuten bemerkt zu werden, die im Salon Bridge spielten? Wir wissen, daß er den Drahtzaun im Garten durchschnitten hat, aber das sagt uns noch nichts über seine weiteren Schritte auf dem Gelände der Pension. Er hat den Schmuck mitgenommen, aber das Scheckbuch liegenlassen, das einen weit größeren Wert darstellt. Das paßt alles irgendwie nicht zusammen.“ „Sie haben recht“, pflichtete der Vertreter der Staatsanwaltschaft Breman bei. „Und der Mord an dem alten Fischer macht diese Hypothese meines Erachtens völlig zunichte. Wenn der Mörder irgendein untergetauchter Kriegsverbrecher wä144
re, dann hätte er sich so schnell wie möglich aus Lomma verdrückt. Ihm droht schließlich keine Gefahr mehr. Frau Jansson kann ihn nicht mehr entlarven.“ „Dieser Fischer war auch im Konzentrationslager.“ „Ja, aber er lebte seit zwanzig Jahren in Lomma. Wenn er hier einem ehemaligen Kriegsverbrecher begegnet wäre, würde er längst die Polizei verständigt haben.“ „Es kann ja jemand gewesen sein, der auf der Durchreise hier war. Ein Tourist aus dem Ausland.“ „Dann hätte er sich erst recht aus dem Staube gemacht und sich nie wieder blicken lassen“, fuhr der Reporter fort. „So ein Tourist auf der Durchreise hätte auch nicht den Schmuck geraubt. Es ist ja wohl ein Unterschied, ob einer aus Angst, entlarvt zu werden, einen Mord begeht oder nur, weil er jemanden ausrauben will. Im übrigen, wie soll man sich erklären, daß einer von diesen Ringen in der Wohnung des alten Fischers gefunden wurde. Ich glaube, wenn Sie das herausbekommen haben, haben Sie auch des Rätsels Lösung.“ „Leicht gesagt“, erwiderte einer der Herren aus Stockholm. Worauf der zweite Vertreter des Ministeriums das Wort ergriff: „Ich brauche Ihnen hier nicht zu erzählen, wie wichtig es ist, die Mörder oder auch den Doppelmörder so schnell wie möglich zu fassen. Das erfordert unsere Gerichtsbarkeit und unser, dem schwedischen Volk, angeborenes Empfinden für Recht und Unrecht. Diese abscheulichen Verbrechen müssen rasch geahndet werden. Das liegt im übrigen“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „sogar im persönlichen Interesse all derer, die die Untersuchung leiten. Das ist doch wohl klar? Ich meinerseits verspreche Ihnen im Namen des Ministeriums jegliche Unterstützung, die Sie verlangen. Falls es erforderlich sein sollte, schicken wir Ihnen aus Stockholm die besten Spezialisten. Ich muß wohl nicht 145
betonen, daß es eine Katastrophe von, für gewisse Personen schlichtweg nicht wiedergutzumachenden Ausmaßen und Folgen wäre, wenn der Verbrecher nicht überführt würde.“ Eine deutlichere Drohung konnte man sich schwerlich vorstellen. Kein Wunder, daß der Polizeidirektor, als er diese scharfen Worte vernahm, eine Miene zog, als hätte er soeben in eine sehr grüne Zitrone gebissen. Nur Magnus Torg zuckte nicht mit der Wimper. „Ich glaube“, ergriff Doktor Nilerud nun das Wort, „wir sind uns alle des Ernstes der Situation bewußt. Was die Polizei hingegen anbelangt, so muß ich, der ich die ganze Untersuchung gewissermaßen nur als Abseitsstehender verfolge, dem Herrn Direktor aus Lund recht geben. Die Polizei geht mit viel Schwung an die Sache heran. Es liegen zwar noch immer keine größeren Ergebnisse vor, aber ich denke, das wird sich ändern. Ich habe den Eindruck, daß eben dieser besagte goldene Ring, der gefunden wurde, Licht in die Geschichte bringt, die Legende von dem angeblichen Kriegsverbrecher ad absurdum führt und nur einen gewöhnlichen Mörder übrigläßt, der der Beute wegen gemordet hat. Frau Jansson nahm vor ihrem Tod Kontakt zu dem Fischer auf. Dieser Mann wußte, daß er es mit einer sehr reichen Frau zu tun hatte. Er beschloß, sie umzubringen, um in den Besitz ihres Schmucks zu gelangen. Vielleicht bildete er sich ein, es wäre noch viel mehr Schmuck vorhanden und er sei wesentlich wertvoller. Vielleicht hat sich Frau Jansson sogar vor ihrem Landsmann gebrüstet, daß sie ihr Bargeld in Brillanten anlege? Er glaubte vielleicht, er fände auch in ihrem Zimmer Brillanten. Frauen trennen sich für gewöhnlich nicht gern von ihren Schätzen.“ „Sie haben sich doch nicht gegenseitig umgebracht“, bemerkte der Staatsanwalt sarkastisch. „Natürlich nicht. Sie sind ganz einfach von derselben 146
Hand umgebracht worden. Der Pole war, als er den Entschluß faßte, Frau Jansson zu ermorden oder auch nur zu berauben, klug genug, die Dreckarbeit nicht eigenhändig auszuführen. Er hat sich einen Komplizen besorgt. Den hat er wahrscheinlich in einer von den Hafenkneipen in Malmö aufgetrieben. Vielleicht war es auch ein Landsmann von ihm, ein Matrose von einem polnischen Schiff? In jeder größeren Stadt gibt es finstere Elemente, die zu allem bereit sind. Und wie wir wissen, kannte sich der alte Fischer in Malmö gut aus. Es ist ihm bestimmt nicht schwergefallen, den richtigen Mann zu finden. Er weihte ihn in seinen Plan ein, und dann verschaffte er ihm Zutritt zu der Pension. Wie er das machte? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er ihn am Vormittag mit eingeschmuggelt und ihn in einem von den leerstehenden Zimmern im zweiten Stock versteckt? Er kam ja des öfteren zu Frau Brands und lieferte ihr Fisch. Er kannte also die Pension recht gut, deren Anlage und sämtliche Eingänge. Und da er nicht als Fremder galt, weckte er keinen Verdacht. Er kann die ganze Aktion so aufgezogen haben, daß er das Augenmerk auf sich selber lenkte; dann wäre sein Komplize schnell nach oben gerannt und hätte sich dort versteckt, um auf Frau Janssons Rückkehr zu warten.“ „Hm“, knurrte der Staatsanwalt ohne große Überzeugung. „Ich glaube schon, daß es so war, wie ich es hier geschildert habe. Nach dem Mord ist der Kerl höchstwahrscheinlich über die Balkons geflohen. Für einen kräftigen, gutgebauten Seemann ist das ein Kinderspiel. Sogar ich würde mir das zutrauen. Was ist schon ein Sprung aus höchstens zwei Meter Höhe. Unten, irgendwo im Gebüsch, wartete der Fischer auf seinen Partner und nahm die Beute in Empfang. Vielleicht sind sie zu dem Fischer nach Hause gegangen und haben sie dort geteilt. Was dann folgte, kann man sich sehr leicht ausmalen. Der 147
Mann, der einen Mord für eine Handvoll Schmuckstücke begangen hatte, gelangte zu der Überzeugung, hier böte sich ihm eine Gelegenheit, den Rest der Beute auch noch an sich zu reißen. Der zweite Mord war im übrigen auch leichter zu bewerkstelligen. Einen Mann zu erschießen, der allein und abgeschieden direkt am Meer wohnt, stellt doch fast gar kein Risiko dar. Der Verbrecher suchte am späten Abend seinen Komplizen auf. Unter irgendeinem Vorwand brachte er ihn dazu, ihm zu öffnen, und er schoß sofort, noch in der Tür. Dann suchte er sich den Rest des Schmucks zusammen. Ein Ring fiel unter den Schrank, und der Mörder fand ihn nicht, beziehungsweise hatte Angst, sich zu lange am Tatort aufzuhalten. Jedenfalls ließ er den Ring zurück, knipste in der Küche das Licht aus und schlug die Tür zu. Offenbar hatte er das Lämpchen übersehen, das auf dem Nachttisch im Zimmer brannte. Ich an Stelle der Polizei würde den Verbrecher in den Hafenkneipen von Malmö oder Göteborg suchen. Aber wer weiß, ob der Mann in der Zwischenzeit Schweden nicht schon verlassen hat? Die Fähre von Ystad nach Polen geht ja täglich.“ „Ja“, pflichtete der Reporter der „Kvällsposten“ Doktor Nilerud bei, „diese Theorie erklärt alles mit schlagender Logik. Sie hat nur einen Nachteil.“ „Und der wäre?“ fragte der Doktor aufgebracht zurück. „Den, daß sie nicht stimmt. Ich habe ganz Europa bereist. War mehrmals in Polen. Ich kann meinem Vorredner nicht zustimmen, wenn er behauptet, das sei ein Volk von Banditen, die jeden wegen ein paar Ringe umlegen. Im übrigen bestätigen die Erfahrungen unserer Polizei und auch meine journalistische Erfahrung diese ziemlich eigentümliche Behauptung ganz und gar nicht. Die polnische Flotte befährt täglich schwedische Häfen. In Malmö oder in Göteborg laufen beinahe jeden Tag zwei oder drei Schiffe unter der weißroten Flagge ein. 148
Gott gebe, daß sich alle ausländischen Matrosen in unseren Städten so benehmen wie diese Polen. Das einzige Verbrechen, das sie hin und wieder begehen, ist, eine Flasche Wodka in der Tasche vom Schiff zu schmuggeln, die sie mit ihren schwedischen Kumpels leeren. Aber Anstifter sind meistens die Schweden. Sie fühlen sich, das ist ja zur Genüge bekannt, merkwürdig hingezogen zum polnischen Wodka. Um so weniger überzeugt mich die Behauptung, das Verbrechen hätte der alte Fischer geplant. Zu welchem Zweck? Um einen Raub zu begehen? Er hatte doch ein paar tausend Kronen auf der Bank. Er verdiente nicht schlecht, hatte keine größeren Ansprüche. Er konnte es sich leisten, seine Freunde zu besuchen. Und so ein Mann sollte erpicht gewesen sein auf eine Handvoll Schmuck, der bestenfalls ein paar tausend Kronen wert und außerdem noch schwer zu verkaufen ist?“ „Ich sage ja“, entrüstete sich Nilerud, „der Fischer kann mit einer wesentlich größeren Beute gerechnet haben, als es der Kleinkram war, den Frau Jansson trug. Er hoffte auf die berühmten Brillanten und Smaragde. Wenn Frau Jansson sogar dem Zimmermädchen davon erzählt hat, dann hat sie sich sicherlich auch vor ihrem Landsmann damit gebrüstet. Bestimmt hat der Urheber des Verbrechens seinem Komplizen auch aufgetragen, das Scheckbuch mitzunehmen. Gerade, daß das Scheckbuch nicht angerührt worden ist, bestärkt mich in der Auffassung, daß der Mörder ein Ausländer ist und noch dazu aus einem Land stammt, wo der bargeldlose Verkehr nicht üblich ist. Und in den kommunistischen Staaten ist er nicht üblich.“ „Sie haben mich nicht überzeugt, Herr Doktor“, beharrte der Journalist. „Ich behaupte ja nicht, daß der Mörder unbedingt ein Pole sein muß. Wenn Ihnen das nicht zusagt, Herr Breman, will ich nicht darauf bestehen. Der Verbrecher ist 149
irgendein Asozialer. Und ob er schwedische Papiere in der Tasche trägt oder Ausländer ist, das spielt ja eigentlich keine Rolle. Ausgangspunkt ist für mich der Ring, der unter dem Schrank lag. Den kann nur der Mörder in das Haus des Fischers gebracht haben.“ „Da gebe ich Ihnen recht“, bestätigte Sven Breman. „Der Mörder von Frau Jansson ist folglich der alte Pole oder sein Komplize. Der, der danach auch den Fischer umgebracht hat, weil er die Früchte seiner Bluttat nicht mit ihm teilen wollte. Anders kann es gar nicht sein.“ „Die Auffassung von Herrn Doktor Nilerud ist zweifellos interessant“, warf der Polizeidirektor ein. „Sie hat einen großen Vorteil. Sie erklärt den Hergang der Ereignisse. Der schwache Punkt daran ist die Person des alten Fischers. Den gammle Polacken war, wie wir feststellen konnten, ein grundehrlicher Mann. Außerdem sehr hilfsbereit, und er legte keinen besonderen Wert auf Geld. Er schickte große Summen ins Ausland. Das waren Geldsendungen für Leidensgefährten aus dem Konzentrationslager, die krank waren oder denen es finanziell schlecht ging. Nicht selten war diese Unterstützung völlig anonym. So ein Mann soll um einer verhältnismäßig geringen Summe willen einen Menschen ermordet haben? Das will mir nicht in den Kopf.“ „Aber vielleicht hatte der alte Pole mit Frau Jansson noch eine alte Rechnung zu begleichen“, fiel Doktor Nilerud wieder ein. „So ein Konzentrationslager war kein Sanatorium. Dort haben die Leute mitunter ihr eigenes Leben auf Kosten anderer gerettet. Vielleicht hatte dieser Mann Frau Jansson irgendwann einmal unrecht getan? Vielleicht war es auch umgekehrt? Jedenfalls kann er Gründe gehabt haben, sie ins Jenseits zu befördern. Dann war der Schmuck nur der Köder für denjenigen, den er überredet hat, die Dreckarbeit zu machen.“ „Dann hätte der Fischer dem Mörder die ganze Beute überlassen.“ 150
„Nein, das hätte er nicht. So hätte er sich verraten, daß es ihm auf das Verbrechen ankam und nicht auf den finanziellen Gewinn. Er hätte sich seinem Komplizen ausgeliefert. Der andere hätte sehr rasch durchschaut, wo der Hund begraben liegt, und den Fischer hinterher erpressen können. Aber als sie den Schmuck teilten, verbanden sie ihr Schicksal miteinander. Das war ein kluger Schritt von seiten Trzecieckis.“ „Diese Hypothese hat mir zu viele Wenn und Aber, als daß sie mich überzeugen könnte.“ Der Journalist stimmte nach wie vor nicht mit Doktor Nilerud überein. „Ich gebe zu, daß meine Theorie auch schwache Punkte hat, aber entwickeln Sie doch eine bessere, meine Herren.“ „Ich meine“, ergriff nun einer der Herren aus Stockholm das Wort, „daß die Polizei angesichts dieser Theorie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Das Leben dieses Fischers muß untersucht werden. Ja, wir müssen sogar bis in die Zeit zurückgehen, als er in Auschwitz war. Ich nehme doch an, daß wir die nötigen Informationen in Polen bei den dortigen Organisationen ehemaliger politischer Gefangener einholen können. Es finden sich bestimmt noch Leute, die sich an einen Mithäftling mit Namen …“ – Hier stockte der Abgesandte des Ministeriums und ließ ein werkwürdiges Zischen vernehmen. „Falls es erforderlich werden sollte, sind wir bereit, jemanden nach Warschau zu schicken, um so rasch wie möglich Klarheit zu erlangen. Auch gewisse Einzelheiten aus der Vergangenheit von Frau Jansson wären zu klären. Das könnte für die weitere Ermittlung von Nutzen sein. Überhaupt, je mehr wir über diese Menschen wissen, um so besser für uns. Wir müssen auch herausfinden, was der Fischer in Malmö getrieben hat. Ich denke, die dortige Polizei verfügt über Mittel und Wege, um zu sondieren, was unter diesen finsteren Elementen, wie Sie sie genannt haben, Herr Doktor, vor 151
sich geht. Was man dort zu den beiden Verbrechen sagt und ob der alte Pole bekannt ist unter diesen Leuten. Wir können uns nicht den Luxus leisten, auch nur die kleinste Spur zu übersehen.“ „Wir tun unser Bestes“, ließ sich der Polizeidirektor vernehmen, „und wir sind Ihnen sehr dankbar für die versprochene Unterstützung, meine Herren. Wir werden bestimmt davon Gebrauch machen.“ „Und ich bin der Meinung, das alles führt zu nichts.“ Der Reporter der „Kvällsposten“ war nach wie vor pessimistisch. „In diesem Fall liegt ein Rätsel verborgen. Ich gebe zu, daß ich nicht weiß, was für eins. Vielleicht könnte man es schon jetzt lösen, ohne den Raum hier zu verlassen. Trotzdem ist die bisherige Arbeit der Polizei ein ewiges Sich-im-Kreise-Drehen. Als ob ein Hund seinem eigenen Schwanz nachjagt. Je schneller er sich dreht, um so schneller ist auch sein Schwanz.“ Magnus Torg sah ruckartig hoch, aber er sagte keinen Ton. „Meinen Sie das im Ernst, Herr Breman?“ fragte der Polizeidirektor mit honigsüßer Stimme. „Und ob!“ bejahte Sven Breman und fuhr fort: „In der ganzen Geschichte steckt eine eiserne Logik. Und zwar nicht von unserer Seite aus, sondern von Seiten des Mörders. Das ist ein Mensch, der zu allem entschlossen, aber nicht dumm ist und sich nicht auf ein Risiko einläßt. Er mordet, weil er dazu gezwungen ist. Weil ihm kein anderer Ausweg bleibt. Er hat Maria Jansson ermordet. Die Frau war ihm irgendwie im Weg, deshalb mußte er sie beseitigen. Nicht wegen der Brillanten und Smaragde, an denen die Millionärin Gefallen fand. Auch nicht für die Handvoll Glitzerkram, die er eingesteckt hat. Aus demselben Grund mußte er auch den alten Polen umbringen. Der Mörder handelt konsequent. Er begeht ein Verbrechen, weil er der Meinung ist, er hat keine andere Wahl. Wenn Sie das nicht berücksichtigen, 152
meine Herren, dann werden Sie den Täter niemals entlarven. Wir müssen den Grund kennen, aus dem die beiden sterben mußten.“ „Was Sie jetzt sagen, Herr Breman“, bemerkte Nilerud, „steht aber im Widerspruch zu dem, was Sie vor einer halben Stunde geäußert haben. In Ihrer Rede vorhin haben Sie die Theorie von Direktor Jansson junior, das Verbrechen hätte einen politischen Hintergrund und der Täter sei ein untergetauchter Kriegsverbrecher, kategorisch verworfen. Hingegen geht aus dem, was Sie gerade äußerten, eindeutig hervor, daß Sie jetzt zu der Hypothese von Frau Janssons Sohn übergewechselt sind.“ „Nur Dummköpfe ändern nie ihre Meinung“, gab der Journalist zur Antwort. „Im übrigen behaupte ich nach wie vor nicht, daß der Mörder ein deutscher Faschist sein muß. Ich bin einfach der Ansicht, daß diese beiden – Frau Jansson und den alten Fischer – ein gemeinsames Geheimnis verband. Das vielleicht noch aus der Kriegszeit herrührte, vielleicht auch aus einer früheren oder späteren Zeit. Ich weiß es nicht, aber ich bin überzeugt, daß es eine solche Verbindung zwischen ihnen gab. Und deshalb mußten beide sterben. Der Tod des einen war zugleich auch das Todesurteil für den anderen. Ich sage noch einmal, ich kenne den Schlüssel zu diesem Geheimnis nicht, aber ich glaube, nur danach müssen Sie suchen.“ Wieder machte Magnus Torg eine Bewegung, als wollte er in die Diskussion eingreifen, und wieder sagte er kein einziges Wort. „Sehen Sie, Herr Breman“, erwiderte der Polizeidirektor, „Ihre Theorie beweist nichts, und sie erklärt auch nichts. Daß sich diese Leute, Frau Jansson und der alte Fischer, gekannt haben, ist durchaus möglich. Schließlich waren sie beide Polen und haben beide in Auschwitz gesessen. Der beste Beweis dafür sind die kleinen Nummern, die sie in den Unterarm eintätowiert hatten. Aber 153
daraus folgt noch gar nichts. Daß hier auf blutige Art eine Rechnung unter ehemaligen Häftlingen beglichen wurde, was Herr Doktor Nilerud erwähnte, zweiundzwanzig Jahre nach den tragischen Erlebnissen, erscheint uns auch nicht wahrscheinlich. Selbstverständlich überprüfen wir alles und berücksichtigen auch jede geäußerte Vermutung. Selbst eine, wie sie uns soeben der Vertreter der bekannten ‚Kvällsposten‘ vorgetragen und die keinen Anfang und kein Ende hat.“ Sven Breman sprang in die Höhe wie von der Tarantel gestochen. „Ich danke Ihnen für das Lob, aber ich habe es wohl auch verdient. Schließlich bin ich nicht davor zurückgeschreckt, ins Gestrüpp zu kriechen, und habe sogar riskiert, mir den Anzug zu beschmutzen, nur um der Polizei zu Hilfe zu eilen, weil die sich nicht in der Lage sah, ein Loch in einem Zaun ausfindig zu machen. Und nun bin ich auch noch anderer Ansicht als die übrigen Teilnehmer dieser Versammlung. Ich kann meinen Verdacht vielleicht nicht ausreichend präzisieren, aber ich irre mich nicht, das habe ich im Gefühl. Das bestätigt auch der Ring, den Sie in der Kate gefunden haben. Er spielt in diesem Drama schließlich auch eine gewisse Rolle.“ „Der Doppelmörder hat ihn ganz einfach verloren“, warf Nilerud ein. „Schon möglich, aber ich bin mir da nicht so sicher wie Sie, Herr Doktor. Vielleicht hatte Frau Jansson ihrem Landsmann den Ring geschenkt?“ „Und den anderen Schmuck dazu, der aus der Schmuckdose verschwunden ist?“ fragte der Polizeiarzt aus Uppsala ironisch. „Ich weiß es nicht. Aber das eine weiß ich: Das alles ist viel komplizierter, als es uns vorkommt.“ „Noch komplizierter?“ fragte der Staatsanwalt lächelnd zurück. „Ich sehe vorerst überhaupt nur Komplikationen.“ 154
„Ja, auf die leichte Schulter nehmen darf man die Geschichte nicht. Der Fall ist weit komplizierter, als wir ahnen. Deshalb paßt er auch in kein Schema. Und deshalb kann sich die Polizei trotz einwandfrei geführter Ermittlungen keinerlei Erfolge rühmen.“ „Und wozu würden Sie uns also raten, Herr Breman?“ fragte der Abgesandte des Ministeriums. „Nachzudenken. Einzig und allein intensiv nachzudenken über diesen Fall. Und dabei natürlich sämtliche Methoden der Ermittlung auszuschöpfen. Man müßte auch alle Theorien überprüfen, die bereits vorhanden sind und die noch aufkommen können. Aber vor allem nachdenken und nochmals nachdenken. Den Ablauf der Vorkommnisse wieder und wieder durchgehen, bis zum Überdruß. Jede Aussage, jedes Papier. Bis Sie den Schlüssel zu dem Rätsel gefunden haben.“ „Ich bezweifle nur“, warf der Polizeidirektor ein, „daß uns auch das allerintensivste Nachdenken einen neuen Beweis zu den bereits bekannten Tatsachen liefert, der imstande wäre, die Ermittlungen von dem toten Punkt wegzubringen, an dem sie steckengeblieben sind.“ „Wenn Sie wirklich so denken, meine Herren, dann ist das ja alles andere als lustig“, stellte der Reporter fest. „Ich fürchte, da wird der Erfolg lange auf sich warten lassen.“ „Alle hier Anwesenden haben ihre Meinung geäußert“, warf nun einer der Herren aus Stockholm ein, „doch die kompetenteste Person, der Mann, der die Ermittlungen leitet, hat nicht einmal den Mund aufgetan und sich beharrlich in Schweigen gehüllt. Was halten Sie nun Von alledem, Oberleutnant?“ Magnus Torg hob den Kopf. „Ich bin überzeugt“, sagte er, „daß die Geschichte noch nicht ausgestanden ist. Im Gegenteil, ich glaube, wir befinden uns erst am Anfang der Ereignisse.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ 155
„Nur so viel, daß unser Täter auf eine schiefe Ebene geraten ist. Aus einem uns noch unbekannten Grund mußte er Maria Jansson ermorden. Aber dann stellte sich heraus, daß dieses Verbrechen ihn nicht rettete. Deshalb starb ein weiterer Mensch, der alte Fischer. Das ist bereits der zweite Schritt auf diesem Weg. Wer aber einmal eine schiefe Ebene betritt, der kann nicht mehr zurück. Das ist Gesetz. Er muß sich vorwärts bewegen, aber nur in einer Richtung. Bis zum Ende. Und zwar immer schneller.“ „Das würde bedeuten? – Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß Sie noch mit weiteren Morden rechnen?“ „Genau daran dachte ich“, bejahte Magnus Torg. „Was denn?“ entrüstete sich der Abgesandte aus der Hauptstadt. „Sie nehmen an, es werden noch mehr Verbrechen begangen werden, und Sie sitzen tatenlos hier herum?“ „Was bleibt mir denn anderes übrig?“ Magnus Torg war sehr gefaßt. „Es gibt acht Millionen Menschen in Schweden. Woher soll ich wissen, wer das nächste Opfer sein wird? Ich weiß nichts über die Person des Mörders und nichts über den Zweck, den er mit seinen Verbrechen verfolgt. Ich habe alle möglichen Sondermaßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in Lomma und Umgebung getroffen. Die Polizeiwache in Lomma wurde mit dem gestrigen Tag durch vier Beamte verstärkt. Auch die Anzahl der Streifenwagen wurde erhöht, außerdem fahren sie in kürzeren Abständen durch die Ortschaft. Ich habe alles getan, was ich in dieser Situation tun konnte. Und dennoch, ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber ich befürchte, daß die Mordserie noch nicht abgeschlossen ist und so lange nicht abgeschlossen sein wird, solange sich der Täter auf freiem Fuß befindet.“ „Mir scheint, Sie verheimlichen uns etwas“, sagte der Staatsanwalt, und in seiner Stimme schwang ein Vorwurf. 156
„Ich verheimliche Ihnen nicht das geringste“, bestritt der Oberleutnant. „Ich würde es gar nicht wagen, Ihnen etwas zu verheimlichen. Schließlich befinde ich mich hier im Kreise meiner Vorgesetzten. Eines weiß ich sicher, wir werden den Täter fassen. Und ich werde es sein, der ihn festnimmt. Vielleicht noch nicht morgen, sondern in einer Woche, vielleicht auch erst in einem Monat.“ „In einem Monat?“ ächzte einer der Herren aus der Hauptstadt. „In einem Monat wird es Anfragen im Parlament regnen, und die Opposition wird Antrag auf Abberufung des Ministers und Durchführung entsprechender Veränderungen in der Verwaltung stellen.“ „Ich kann Ihnen hier keinerlei Termine nennen. Weder ferne noch nahe liegende. Ich tue nur das eine …“ „Nämlich?“ Der Polizeidirektor war sichtlich gereizt über das Auftreten seines jungen Untergebenen. „Ich folge dem Rat des Pressevertreters“, erklärte Magnus Torg ernst. „Ich denke nach, denke sehr intensiv nach.“
10. Blut am Strand Mittwoch, den 14. Juni, abends Seit dem tragischen Tod der armen Maria Jansson ist erst eine Woche vergangen, und wie viele für den menschlichen Verstand nahezu unbegreifliche Dinge mußte ich schon in meinem Tagebuch festhalten! Wenn ich das vorausgeahnt hätte, wäre ich nie im Leben in diesen scheinbar stillen und friedlichen Ort gekommen, als der Lomma bisher galt. Niemals wäre ich auch in Frau Brands vornehmer Pension in der Strandvägen abgestiegen. Leider, was einmal geschehen ist, läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Ich bin zum Rädchen einer großen Maschinerie geworden. Es gibt kein Zurück 157
für mich. Das einzige, was mir zu tun übrigbleibt, ist, möglichst genau niederzuschreiben, was sich alles zugetragen hat. Es hat sich mittlerweile schon eingebürgert, daß ich meine täglichen Notizen in zwei Exemplaren anfertige, wovon ich eines Magnus Torg gebe. Anfangs maß der Oberleutnant diesen mit Maschinenschrift bedeckten Blättern keine größere Bedeutung bei. Ein Glück, daß ich gern viel mitschleppe, wenn ich verreise. Unter anderem meine Handapotheke und meine kleine Reiseschreibmaschine. Wenn ich die nicht hätte, ich würde nicht die nötige Lust und Energie aufbringen, das alles mit der Hand zu schreiben, noch dazu mit Durchschlag, das gestehe ich ehrlich. Inzwischen studiert Oberleutnant Torg gern und gründlich meine „Reporte“, wie er es nennt. Erst gestern stellte er fest, sie seien äußerst nützlich, weil sie ein genaues Bild von den Geschehnissen gäben und von einem etwas Abseitsstehenden und nicht unmittelbar Beteiligten verfaßt seien. Ich bemühe mich also, so präzis wie möglich zu sein. Nach der großen Beratung, die am Montag stattfand und an der die Vertreter verschiedener offizieller Stellen teilnahmen, war unser Oberleutnant ununterbrochen in Aktion. Immerzu fuhr er irgendwohin, wahrscheinlich vernahm er den größten Teil der Lommaer Einwohner. Am Dienstag, als ich nach unten kam, war der Oberleutnant schon weg. Seine beiden Konstabler und der Polizeiwagen mit ihm. Sie kamen am späten Abend zurück, nach dem Essen. Ich schluckte gerade meine Beruhigungspillen: Ich schlafe von Tag zu Tag schlechter, und der Mord an dem alten Polen hat mich sehr mitgenommen. Ich schrecke mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch und kann stundenlang nicht wieder einschlafen. Ich grübele, grübele und grübele. Morgens stehe ich dann so zerschlagen auf, als hätte ich die ganze Nacht Holz gehackt. 158
Im übrigen stehen wir alle, die wir in der Pension wohnen, kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die Tuvessons wollten schon abreisen. Das gleiche hatte auch die schöne Nora Lindner vor. Auch die anderen Gäste würden Lomma liebend gerne verlassen. Leider hat uns Oberleutnant Torg höflich, aber entschieden darum gebeten, noch ein paar Tage auszuharren. Solch eine Bitte gleicht einem Befehl! Es ist also kein Wunder, daß sich mein Nervenberuhigungsmittel unerhörter Beliebtheit erfreut. Es ist uns mittlerweile zur Gewohnheit geworden, daß jeder nach dem Abendbrot eine bunte Pille schluckt. Selbst Fräulein Lilljan und die beiden Konstabler. Nur Oberleutnant Torg hat starke Nerven und einen gesunden Schlaf. Er schnarcht manchmal so laut, daß ich, obwohl ich im ersten Stock wohne und er im Parterre, ihn manchmal bis oben höre. Solch ein Schlaf, das ist ein Hauptgewinn in der Lotterie des Lebens. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch schlief ich miserabel. Die Arznei schlug nicht an, obwohl ich sogar zwei Pillen geschluckt hatte, was ich sonst niemals tue. Ich schlief relativ rasch ein, schlief aber keine zwei Stunden. Danach wälzte ich mich bis zum Morgen auf meinem Lager herum, und der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Erst irgendwann nach vier sank ich in einen Halbschlummer voller Traumphantasien. Schon vor sechs weckten mich Klingeln und An-die-Tür-Hämmern. Dann ging ein Gerenne los, treppauf, treppab. Diese Kriminalbeamten könnten sich immerhin ein bißchen leiser verhalten. Wenn sie schon selbst nicht schlafen können, sollten sie wenigstens daran denken, daß sie sich nicht in der Kaserne befinden, sondern in einer Pension, wo sich die Leute erholen wollen. Eine Viertelstunde lang versuchte ich angestrengt, nicht auf den Lärm zu achten. Schließlich schleppte ich mich von meiner Liege und trat im Schlafanzug auf den 159
Korridor, um die Konstabler zusammenzustauchen. Denn sie polterten am lautesten die Treppe hinunter in ihren schweren Stiefeln. Gerade kam einer von oben heruntergerannt. Ich wollte eben den Mund auftun, um meinem Ärger Luft zu machen, da sagte er, als er mich sah: „Wissen Sie schon, Doktor, der Leiter der Polizei von Lomma ist ermordet worden!“ „Wer?“ „Algot Olsson. Der große Blonde. Sie haben ihm damals als erstem den Tod von Frau Jansson gemeldet. Und jetzt ist er selber tot.“ „Ermordet!“ wiederholte ich, weil mir das nicht in den Kopf wollte. „Ja! Ein Messerstich in den Rücken!“ „Wo?“ „Nicht weit von hier. Am Strand. Vielleicht zweihundert Meter von der Villa entfernt.“ Ich wollte den Konstabler noch nach Einzelheiten fragen, aber er hatte es eilig und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter. Ich kehrte auf mein Zimmer zurück und zog mich rasch an. Als ich ins Parterre hinunterkam, war niemand da. Die Tür vom Speisesaal zur Terrasse stand sperrangelweit offen. Offen stand auch das Türchen, das an den Strand hinunterführt. Von weitem sah ich mehrere Leute, unter denen sich auch Magnus Torg und unsere Konstabler befanden. Ich eilte in diese Richtung. Schon aus der Ferne erkannte ich, daß sie um den Körper eines Mannes herumstanden, der im Sand lag. Es bestand kein Zweifel, es war Algot Olsson. Sein helles Haar verschmolz fast mit der Farbe des Sandes. Er trug die dunkelblauschwarze Polizeiuniform. Olsson lag auf dem Bauch, den Kopf etwas zurückgebogen und die Arme von sich gestreckt. Ein Staunen lag auf dem Gesicht des Mannes. Der Tod hatte ihn in einem Moment ereilt, als er das am wenigsten erwartet hatte. 160
Ich trat näher. Der Konstabler, mit dem ich vor ein paar Minuten gesprochen hatte, deutete mit der Hand auf den Rücken des Toten. Auf der linken Seite hatte die Uniformjacke einen schmalen Schnitt. Genau in Messerbreite. Ich bückte mich. Es gab keinen Zweifel, das stammte von einem Messer. Der Stich mußte bis ins Herz gegangen sein. Ich war sicher, daß das Messer etwas von unten nach oben vorgedrungen war und Rippen und Schulterblatt umgangen hatte. „Was sagen Sie dazu?“ begrüßte mich Oberleutnant Torg. „Sieht ganz so aus“, erklärte ich, „als ob er sofort tot gewesen ist. Der Mann konnte nicht mal schreien. Ja, er wußte gar nicht, daß er starb. Daher die starre Verwunderung auf seinem Gesicht. Außerdem möchte ich hinzufügen, daß der, der ihm den Stoß versetzt hat, ein kräftiger Mann von mindestens mittelgroßer Statur gewesen sein muß. Steckte das Messer noch in der Wunde?“ „Wir haben das Mordwerkzeug überhaupt nicht gefunden“, erwiderte einer der Konstabler. „Und irgendwelche Spuren?“ „Spuren gibt es viele. Aber der weiche, trockene Sand. Die Spuren sind halb verschüttet, ohne jeden Wert. Im übrigen, bevor wir alarmiert wurden, waren hier schon eine Menge Leute. Die Leiche ist von der Chaussee aus bestens zu sehen. Ein Mann hat sie aus dem Autobus bemerkt. Der Bus hielt, und alle, der Fahrer inbegriffen, rannten hierher. Selbst wenn es anfangs irgendwelche Spuren gegeben hat, sind sie dabei total zertrampelt worden.“ „Und sie haben die Polizei alarmiert?“ „Ja. Die Leute, die in Bjarred wohnen, wußten, daß der Oberleutnant in Frau Brands’ Haus wohnt, und da lief einer von ihnen zu unserer Villa. Bevor er Frau Moberg wach bekam, die Köchin, die im Portierhäuschen 161
wohnt, und bevor sie ihm die Tür aufmachte, war eine Weile verstrichen. Und in der Zeit wuchs die Menge der Gaffer um den Ermordeten. Wir sind der Leute kaum Herr geworden.“ „Vielleicht hat einer von denen das Messer aus der Wunde gezogen?“ fragte ich. „Nein. Sie behaupten, niemand hätte den Toten auch nur angerührt. Das wird schon stimmen.“ Die Polizei in Lund war bereits verständigt worden. Binnen einer halben Stunde tauchten die mir bereits bekannten Männer von der Spurensicherung und Doktor Ross am Tatort auf. Letzterer war sichtlich unausgeschlafen und schlechtgelaunt. „Noch eine Leiche mehr“, sagte er und stapfte durch den Sand am Strand. „Das wird ja immer schöner im Staate Schweden. Wenn das so weitergeht, wird es in Lomma bald zuwenig lebendige Menschen geben.“ Der Fotograf schickte sich wortlos an, seine Aufnahmen zu schießen. Die anderen beiden Männer standen tatenlos herum. „Für uns gibt es hier nichts zu tun“, sagte der eine. „Die Spuren sind nicht mal geeignet, einen Abdruck davon zu machen. Im übrigen gibt es hier so viele davon, daß man einen Lastwagen voll Gips aus Lund anfahren müßte.“ „Ich wüßte auch nicht, was ich hier verloren hätte“, warf der Kriminaltechniker ein. „Die Fingerabdrücke von Olsson habe ich in meinem Archiv in Lund.“ Doktor Ross beugte sich über die Leiche. Ich gestehe, ich hatte in letzter Zeit so viel mit Ermordeten in Lomma zu tun gehabt, daß ich ihm nicht zu Hilfe eilte. „Ein Stoß mitten ins Herz“, erklärte der Professor. „Der Junge konnte gar nicht so schnell gucken, wie er im Jenseits war.“ Jetzt prüfte der Arzt, wie weit die Muskelstarre schon fortgeschritten war. 162
„Ermordet zwischen elf und ein Uhr nachts“, konstatierte er und fügte, an mich gewandt, hinzu: „Oder was meinen Sie, Herr Kollege?“ „Ich vermute, ein bißchen später“, erwiderte ich. „Bitte, vergessen Sie nicht, daß wir eine verhältnismäßig kühle Nacht hatten. Von der See her wehte eine steife Brise. Ich schätze, wir liegen absolut richtig, wenn wir die Zeit zwischen dreiundzwanzig Uhr dreißig und zwei Uhr nachts als Todeszeit annehmen.“ Der bekannte Spezialist pflichtete mir sofort bei. „Stimmt“, sagte er. „Ich hatte nicht bedacht, daß es bei euch in Lomma, direkt an der See, wesentlich kühler ist als bei uns in Lund. Deshalb muß der Erstarrungsprozeß schneller vor sich gegangen sein. Auf alle Fälle ist der Mann nicht später als um zwei Uhr nachts gestorben. Aber was hatte er um diese Zeit am Strand zu suchen? Er wollte doch wohl nicht baden?“ „Er war auf seinem Rundgang“, erklärte Olssons Kollege, der zweite Polizist von der Wache in Lomma. „Jede Nacht geht einer von uns den Strand ab, bis hinüber nach Bjarred. Diese Nacht war Olsson an der Reihe. Deshalb liegt er hier und nicht ich.“ „Und wozu macht ihr diese Strandbesichtigung?“ „Vor kurzem hat es Versuche gegeben, in der Nacht die Strandkörbe zu beschädigen. Bei Landskrona ist versucht worden, ein paar Kisten Kognak von einem Kutter abzuladen. Deshalb haben wir seit kurzem Order, ein Auge auf den Strand zu haben.“ „Wann verließ Olsson die Wache?“ „Er hatte Nachtdienst. Den hat er um zehn Uhr abends angetreten. Wahrscheinlich hatte er erst eine Stunde auf der Wache zu tun, und dann hat er sich zu seinem Rundgang aufgemacht. So ein Gang dauert an die vier Stunden. Wir beenden ihn für gewöhnlich, wenn es schon anfängt zu dämmern. In einer Richtung gehen wir am Strand entlang, und zurück kommen wir über die 163
Strandvägen. Auf die Weise kontrolliert die Patrouille gleichzeitig den Strand und die ganze Ortschaft.“ „Und im Winter habt ihr auch diesen Dienst?“ „Im Winter ist das Ufer vereist. Da legt keiner mit dem Boot am Strand an. Es macht auch keiner Rabbatz am Strand. Die Körbe sind eingeholt. Auf den Strand müssen wir nur in der Saison aufpassen.“ Mich durchzuckte ein Gedanke. Ich beugte mich über den Toten und versuchte, den linken Jackenärmel hochzuschieben. „Geben sie sich keine Mühe“, hielt mich der Oberleutnant zurück. „Olsson ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, er war nicht mal verheiratet. Zum Glück nicht! Er kann also nicht in Auschwitz gewesen sein.“ „Und weshalb ist er dann umgekommen?“ Torg zuckte die Schultern. Eigentlich gab es für uns hier nichts mehr zu tun. Der Leichenwagen kam auch schon. Die Polizisten trugen ihren toten Kollegen auf einer Trage zum Wagen. Doktor Ross verabschiedete sich von uns. Die Männer von der Spurensicherung fuhren mit ihrem Wagen wieder nach Lund. Unsere kleine Gruppe kehrte zurück in die Pension. Im Speisesaal fanden wir alle Gäste versammelt. Natürlich wußten sie schon von dem neuen Verbrechen. Es herrschte Grabesstimmung. Ich war so zerschlagen von der schlaflosen Nacht und so erregt durch das, was ich da am Strand gesehen hatte, daß mir der Sinn nicht nach essen und trinken stand. Die gute Lilljan flößte mir fast mit Gewalt eine große Tasse guten starken Kaffee ein. Das half mir ein bißchen auf die Beine. Ich bewundere den Oberleutnant. Er war so gelassen, als käme er eben von einem erfrischenden morgendlichen Bad im Meer zurück. Er frühstückte ausgiebig, trank zwei große Becher Kaffee dazu und unterrichtete in aller Seelenruhe die um den Tisch Versammelten. 164
„Er wurde mit einem Messer ermordet“, erklärte er. „Ein Stich in den Rücken. Das ist der beste Beweis dafür, daß Algot Olsson den Mörder kannte und auf nichts Schlimmes gefaßt war. An einem leeren Strand ist es sogar nachts schwierig, sich so leise an einen Menschen heranzuschleichen, daß er nichts merkt. Zumal wenn dieser Mensch Polizist ist und den Strand abgeht, auf der Suche nach Rowdys oder nach Schmugglern. Ich nehme an, Olsson hat seinen künftigen Mörder in Lomma getroffen, und sie wanderten gemeinsam den Strand entlang und unterhielten sich. Zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt blieb der Verbrecher ein wenig zurück und stach seinen Gesprächspartner, der einen Angriff gar nicht erwartete, mit dem Messer nieder.“ „Ich bin mit Algots jüngerem Bruder in eine Klasse gegangen“, sagte Lilljan. „Algot war sehr stark und sportlich. Er ist sogar in Malmö bei den Leichtathletikmeisterschaften gestartet.“ „Hat der Mörder sein Opfer beraubt?“ „Er hat nichts angerührt. Wahrscheinlich hat er nur das Messer aus der Wunde gezogen und sich aus dem Staub gemacht. Olsson hatte auf seinem nächtlichen Rundgang die Pistole mit. Wir haben sie in der Tasche des Toten gefunden. Zusammen mit dem Geld und seinen Papieren. Der Mörder hatte nicht vor, den Mann zu berauben.“ „Und was dann?“ fragte Frau Brands, die ausnahmsweise auch im Speisesaal war. An diesem Tag wartete offenbar niemand darauf, das Frühstück auf dem Zimmer serviert zu bekommen. Bei der Sensation! „Wieder ein Mord! Bereits der dritte innerhalb einer Woche. Eine entsetzliche Geschichte. Wann wird das ein Ende nehmen?“ „Ich fürchte, ich kann Ihnen keine Ihrer Fragen beantworten.“ „Sie sind aber doch von der Polizei, meine Herren. Sie 165
müssen etwas unternehmen.“ Nora Lindner attackierte Oberleutnant Torg. „Abreisen dürfen wir auch nicht. Sollen wir hier herumhocken und warten, bis die Reihe an uns kommt und sich dieser Wahnsinnige für jeden eine andere Todesart ausgedacht hat?“ „Sie irren, meine Dame“, erwiderte der Oberleutnant. „Das ist kein Wahnsinniger. Ich versichere Ihnen, das ist jemand, der sehr genau weiß, was er tut. Er plant seine Verbrechen immer mit teuflischer List und setzt es mit eiserner Konsequenz in die Tat um. Ich bin überzeugt, daß Ihnen und beinahe allen Bewohnern dieses Hauses nicht die geringste Gefahr droht.“ „Und weshalb dürfen wir Lomma dann nicht verlassen?“ fragte Frau Lindner gereizt. „Ich habe gar nicht das Recht, Sie länger hier zurückzuhalten. Ich richte lediglich die Bitte an Sie, noch ein paar Tage hierzubleiben. Sagen wir, bis zum Sonntag.“ Diese Worte des Oberleutnants machten mich neugierig. „Sie glauben, bis dahin ist der Fall aufgeklärt?“ „Möglicherweise noch nicht, aber ich schätze, in einigen Tagen wird es nicht mehr notwendig sein, daß Sie länger hier in Lomma bleiben, meine Herrschaften. Im übrigen wird das Wetter gerade besser. Es liegt kein Grund zur Eile vor.“ „Na, ich danke! Ich kann mir wirklich nicht verzeihen, daß ich in einen so schrecklichen Ort gefahren bin, wo jeden Tag ein Mensch umgebracht wird.“ „Das hat es hier niemals gegeben!“ entrüstete sich Frau Brands. „Lomma ist der schönste Seebadeort in ganz Skåne.“ Magnus Torg war mit seinem Frühstück fertig und stand vom Tisch auf. „Wieder müssen wir eine Unmenge von Leuten vernehmen, und bestimmt wird wieder nichts dabei herauskommen. Tja, da kann man nichts machen, Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.“ 166
Als der Kriminalbeamte schon in der Tür stand, hielt ich ihn zurück und bat ihn, mich noch ein paar Minuten mit ihm unterhalten zu dürfen. Zwar nicht gern, aber er willigte ein. Wir gingen in die Bibliothek. „Ich finde, man sollte einen Versuch machen“, sagte ich. „Es liegt mir natürlich fern, mich einmischen zu wollen, aber mir drängt sich da ein Gedanke auf.“ „Und der wäre?“ „Der alte Pole wurde mit einer Pistole ‚sieben‘ erschossen. Genauso eine besaß Olsson. Wäre es nicht angebracht, diese Waffe zu untersuchen und mit den Spuren der aus der Leiche des Fischers entfernten Kugel zu vergleichen? Natürlich möchte ich damit nicht suggerieren, daß Olsson der Mörder ist, das wäre ja Unsinn. Aber der Mann hatte Familie. Jüngere Brüder. Unter der heutigen Jugend kommt alles mögliche vor. Einer von diesen jungen Leuten kann sich die Pistole des Polizisten doch einfach mal ‚ausgeliehen‘ haben. Bestimmt hat Olsson die Waffe nicht irgendwo versteckt gehalten. Denn er hat sie ja wohl nur dann gebraucht, wenn er zum Nachtdienst ging.“ „Sie stecken wie immer voller neuer Einfälle und Theorien, Herr Doktor“, bemerkte der Oberleutnant etwas ironisch. „Aber Sie haben recht. In diesem Fall darf man nichts unversucht lassen. Wir machen die Analyse, schon deshalb, um ein ruhiges Gewissen zu haben.“ „Eben darum geht es mir“, hakte ich ein. „Außerdem möchte ich gern wissen, was Ihre Worte, ‚beinahe allen Bewohnern dieses Hauses drohe nicht die geringste Gefahr‘, zu bedeuten haben? Soll das heißen, daß manchen von uns doch Gefahr droht?“ „Das könnte man meinen Worten entnehmen“, erwiderte Magnus Torg mit einem feinen Lächeln. „Sie erschrecken mich und setzen mich in Erstaunen. Erst vor zwei Tagen haben Sie auf der Beratung gemutmaßt, wir müßten mit einem neuen Verbrechen rech167
nen. Schon haben wir es. Und nun kündigen Sie eine nächste Mordserie an? Worauf stützen Sie sich bei Ihren finsteren Prognosen? Womöglich wissen Sie mehr, als Sie zugeben?“ „Nein. Ich versichere Ihnen, Doktor, ich weiß soviel wie Sie, vielleicht sogar weniger. Ich habe einfach bemerkt, daß diese Verbrechen eine Art Kette bilden. Eine durchaus logische Kette. Im übrigen habe ich das auch schon auf der Beratung erwähnt. Der Verbrecher hat einen Weg betreten, auf dem es keine Umkehr mehr für ihn gibt.“ „Nun ja, ich versuche, das alles zu begreifen, aber ohne jeden Erfolg. Ich kann Ihren Gedanken nicht folgen“, gestand ich. „Und dennoch liegt eine eiserne Logik im Ablauf der Geschehnisse.“ „Die eben sehe ich nicht. Die beiden ersten Morde verstehe ich ja noch. Beide Opfer waren durch einen bestimmten Umstand miteinander verbunden. Sie sind früher einmal Häftlinge eines faschistischen deutschen Konzentrationslagers gewesen. Das schafft Raum für mancherlei Kombinationen. Eine von meinen Überlegungen habe ich ja auf der Versammlung vorgetragen. Es kann auch andere Motive geben: eine alte Rechnung, die zu begleichen war, noch aus der Zeit des Lagers, Rache, Besitz eines Geheimnisses, das jemanden kompromittieren könnte, womöglich einen von den Mächtigen dieser Welt. In diesen Lagern saßen doch Leute, die heute an der Spitze verschiedener europäischer Staaten stehen oder Minister und Direktoren großer Konzerne sind. Vielleicht hat gerade die Hand eines solchen ‚Mächtigen dieser Welt‘ die beiden ereilt? Vielleicht hatte Direktor Jansson junior tatsächlich recht, als er sagte, seine Mutter fürchtete die Rache eines ehemaligen Kriegsverbrechers oder sie hätte so einen Mann erkannt. Zwar paßt der Raub des Schmucks nicht zu dieser Vermutung, aber 168
ich sehe immerhin eine gewisse Logik darin. Der Mord an Olsson hingegen erscheint mir total sinnlos. Wem könnte so ein kleiner Polizist aus einem kleinen Ort gefährlich werden und wodurch? Da bin ich eher geneigt, Frau Lindner recht zu geben, daß alle diese Verbrechen das Werk eines Abartigen sind.“ „Nein, Doktor.“ „Folglich?“ „Überlegen Sie doch mal. Warum wurden diese Menschen nacheinander umgebracht?“ „Ich sehe keinerlei Zusammenhang zwischen den dreien.“ „Aber ich sehe einen. Jeder von ihnen war im Besitz irgendeines Geheimnisses, das den Mörder entlarvt hätte.“ „Ein Geheimnis? Was könnte das gewesen sein?“ „Tja, da bin ich leider überfragt. Ich nehme nicht an, daß es ein und dasselbe Geheimnis war, das diese Menschen mit ins Grab genommen haben. Ganz im Gegenteil, glaube ich. Jeder von ihnen wußte etwas. Jeder etwas anderes als die anderen beiden. Aber jeder hätte den Mörder entlarven können. Deshalb starben sie nacheinander.“ „Das ist ja höchst verwirrend. Olsson war doch Polizist. Wenn er etwas gewußt oder auch nur geahnt hätte, wer der Mörder ist, wäre es doch seine Pflicht gewesen, seinen Verdacht umgehend seinen Vorgesetzten mitzuteilen. Vor allem Ihnen, von dem Olsson ja wußte, daß Sie mit der Ermittlung betraut sind.“ „Das stimmt. Aber Olsson braucht nicht gewußt zu haben, wer der Mörder ist. Er kann irgendeine Tatsache gekannt haben oder Zeuge eines Ereignisses gewesen sein, und ihm ist gar nicht bewußt geworden, daß das, was er weiß, für unseren Fall sehr wichtig oder sogar entscheidend ist. Er wußte es nicht, aber der Mörder war sich genau darüber im klaren. Deshalb hat er Olsson aus dem Weg geräumt.“ 169
„Und vorher den alten Polen und davor Frau Jansson?“ „Ja! Es war genau so, wie Sie es darlegen. Frau Jansson wußte etwas aus der Vergangenheit ihres künftigen Mörders. Und irgendwie muß sie sich verraten haben mit ihrem Wissen. Deshalb wurde sie ermordet. Das nächste Opfer war der Fischer, weil der zu seiner reichen Landsmännin Kontakt aufgenommen hatte. Der Mörder wußte oder konnte vermuten, daß Frau Jansson diesem Mann ihren Verdacht mitgeteilt hatte. Was also tut der Mörder? Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein neues Verbrechen zu begehen.“ „Ja, und was hat nun der einfache Polizist damit zu tun?“ „Auch er wurde auf irgendeine Weise in die tragischen Geschehnisse hineingezogen. Ich weiß nicht wie, aber ich bin mir ganz sicher.“ „Was hatte er denn mit den beiden zu schaffen? Ich wette, er hat mit Frau Jansson kein Wort im Leben gewechselt, und den alten Polen kannte er, wie ihn alle Einwohner von Lomma kannten. Aber schon durch den Altersunterschied ist doch eine nähere Bekanntschaft ausgeschlossen. Im übrigen haben Sie selbst gesagt, daß der Fischer keine Freunde hier hatte. Er wohnte zwar in Lomma, aber er wohnte neben den Einheimischen her.“ „Es kann ja ein Zusammenhang zwischen Olsson und dem Verbrecher bestanden haben, den wir nicht kennen. Vielleicht hat ein gewöhnlicher Zufall eine Rolle dabei gespielt. Olsson hat zum Beispiel den alten Fischer getroffen, als der sich mit seinem künftigen Henker unterhielt. Oder noch einfacher: Der Polizist saß in seinem Wachgebäude und bemerkte, daß jemand noch spät am Abend aus Richtung Arlöv den Strand entlangkommt, das heißt vom anderen Ende von Lomma, wo die Kate des alten Polen steht. Olsson vergaß die Begegnung entweder völlig, oder er brachte diesen Jemand nicht mit 170
dem Mord in Verbindung, der am nächsten Tag offenbar wurde. Aber der Verbrecher hatte Olsson gesehen und mußte befürchten, daß er entdeckt würde. Ich habe Ihnen hier einen simplen Zufall beschrieben, der durchaus denkbar ist, denn die Polizeiwache befindet sich ja auch in einem der letzten Häuser von Lomma, auf Arlöv zu, und liegt nicht mehr als zweihundert Meter von der Hütte des alten Fischers entfernt.“ „Tja … Das paßt schon zusammen“, bemerkte ich. „Aber wenn es so war, wie Sie vermuten, gibt es nur eine Schlußfolgerung.“ „Nämlich?“ „Daß der Mörder ein Einwohner von Lomma ist, ein so seriöser und geachteter Mann, daß dem Ortspolizisten gar nicht in den Sinn kam, ihn eines Verbrechens zu verdächtigen.“ „Unseren Mörder verdächtigt keiner, das steht fest. Sonst hätten wir ihn längst gefaßt. Dieser Mann tarnt sich ausgezeichnet, und niemandem fällt auch nur im Traume ein, in ihm einen Mörder zu vermuten. Eben das erschwert ja die Ermittlung so sehr.“ „Aber das Motiv des ersten Verbrechens? Das scheint mir doch nicht ganz zu Ihrer Konzeption zu passen. Mit Frau Jansson kann doch nur der alte Fischer etwas zu tun gehabt haben. Kein anderer Einwohner von Lomma kannte sie ja. Folglich kann nur dieser Fischer der Mörder gewesen sein oder aber eine Person, die von ihm geschickt war.“ „Kurzum, Sie kommen wieder auf Ihre erste Theorie zurück“, bemerkte Oberleutnant Torg. „Weil ich nichts anderes entdecken kann, das den Gang der Dinge zu erklären vermag. Meine Konzeption steht zu Ihrer gar nicht so sehr im Widerspruch. Im Gegenteil, beide ergänzen sich bestens. Nachdem der alte Fischer erschossen war, kehrte der Verbrecher nach Hause zurück und begegnete Olsson, beziehungsweise dieser 171
sah ihn aus dem Fenster des Wachgebäudes. Es war bestimmt einer von den jungen Leuten aus dem Ort. Und es kann sich durchaus so zugetragen haben, wie ich sagte. Dieser Bursche hatte Olsson die Pistole geklaut, erschoß damit seinen Komplizen, und in der Zwischenzeit hatte der Polizist bemerkt, daß seine Waffe fehlte.“ „Wir erfahren schon noch, wie es wirklich war.“ „Wann?“ „Wenn wir den Verbrecher festnehmen.“ „Ich hoffe“, pflichtete ich Torg bei, „daß das sehr schnell geschieht.“ „Das hoffe ich auch.“ „Aber um auf die Gefahr zurückzukommen, von der Sie sprachen. Wem könnte die drohen?“ „Vor allem Ihnen, Doktor, und mir.“ „Wieso denn das?“ „Weil wir beide am besten in alles eingeweiht sind. Niemand weiß so viel über den Mörder wie wir beide. Deshalb kann er den verzweifelten Versuch unternehmen, noch einen Mord zu begehen. Was mich anbelangt, bin ich sehr auf der Hut, und ich rate Ihnen, auch auf sich aufzupassen.“ „Meinen Sie das im Ernst?“ „Aber ja! Ich sage Ihnen doch: Wir beide wissen über den Mörder am meisten.“ „Wir? Ich weiß überhaupt nichts. Sie etwa?“ „Ich weiß, daß ich nichts weiß“, zitierte Oberleutnant Torg den berühmten Ausspruch des Sokrates. „Und das ist schon eine ganze Menge.“ Weiter konnte ich nichts von dem Oberleutnant erfahren. Ich bin sogar geneigt anzunehmen, Magnus Torg hat dieses Gespräch nur geführt, um mich auf die Folter zu spannen. Was ihm, das muß ich zugeben, durchaus gelungen ist. Diese Unterhaltung hat mich noch mehr Nerven gekostet. Überhaupt fühle ich mich zunehmend schlechter. 172
Ein schöner Urlaub, den ich mir da habe einfallen lassen! Wieder mußte ich zwei Pillen schlucken und ging schlafen. Ich habe den ganzen Tag über gelegen. Nicht mal zum Mittagessen bin ich hinuntergegangen. Ich hatte das Gefühl, ich würde nicht einen Bissen von den Spezialitäten unserer guten Frau Moberg hinunterbringen. Erst jetzt, abends, fühle ich mich ein wenig besser und mache diese Notizen.
11. Ein neuer Gast Donnerstag, den 15. Juni Den ganzen Mittwoch über ermittelte Magnus Torg mit seinem Trupp und den Polizisten aus Lomma mit unerhörter Energie in dem neuen Mordfall, in dem der Ortspolizist Algot Olsson das Opfer war. Leider erwies sich alle Energie für die Katz. Es gelang ihnen nicht, auch nur die kleinste Spur zu entdecken. Die Polizisten gingen von Haus zu Haus und suchten nach eventuellen Zeugen der nächtlichen Ereignisse in Lomma. Sie fragten, wer am späten Abend noch in den Straßen des Ortes, gewesen oder am Strand entlanggegangen war. Auf diese Weise bekam der Oberleutnant ein gutes Dutzend von Leuten zusammen, die nach Malmö oder Lund gefahren und mit dem letzten Bus zurückgekommen waren oder die etwas länger bei Freunden oder auch nur in einer Kneipe gesessen hatten. Magnus Torg vernahm alle ausgiebig. Er prüfte nach, wann sie das Haus verlassen hatten und wann sie wieder zurück gewesen waren. Es war eine Heidenarbeit. Doch jeder konnte ein mehr oder weniger gutes Alibi vorweisen, wobei diese Leute des Mordes an dem Polizisten oder auch eines geringeren Verbrechens zu verdächtigen natürlich der bare Unsinn war. Aber der Oberleutnant 173
hat wohl beschlossen, selbst den größten Unsinn nachzuprüfen. In einem derart rätselhaften Fall, wie ihn diese drei aufeinanderfolgenden Morde darstellen, kann sich der Unsinn als Wahrheit entpuppen. Im Endeffekt hatte die Polizei allerdings nur noch einen arbeitsreichen Tag mehr verbracht, aber nichts ausgerichtet und nichts herausgefunden. Wieder ein totales Fiasko. Dafür gab es bei uns in der Pension eine Sensation. Am Morgen nämlich, als sich unsere kleine Gruppe eben im Salon versammelte, um wieder einen Tag in dem luxuriösen Gefängnis, in dem uns der Oberleutnant gefangenhält, über die Runden zu bringen, ertönte am Gartentor die Klingel. Wenig später trat ein großer, graumelierter Mann um die Sechzig ins Haus. Fräulein Lilljan, die neben ihm herging, trug einen kleinen gelben Lederkoffer in der Hand. Als er uns sah, deutete der Ankömmling eine Verbeugung an. Lilljan rief Frau Brands, die sich nach einem kurzen Gespräch mit dem neuen Gast nach oben begab. Als Lilljan wieder herunterkam, nahmen wir sie sogleich ins Verhör: „Wer ist der Mann? Woher kommt er?“ Das Mädchen hatte „umwerfende“ Neuigkeiten für uns parat. „Der Herr kommt aus Stockholm. Er arbeitet in der polnischen Botschaft. Er ist wegen der Vorfälle in Lomma hier und bleibt für ein paar Tage in der Pension.“ Ein Pole, noch dazu einer aus der Botschaft! Interessant! Offenbar will er in die Ermittlungen eingreifen. Aber wozu? Frau Jansson und Trzeciecki waren doch schwedische Staatsbürger, folglich haben die Polen kein Recht, ihre neugierige Nase da hineinzustecken. Die beiden hatten die Freiheit in unserem schönen Schweden gewählt, und die Botschaft eines kommunistischen Staates hat hier gar nichts mitzureden. Das ist eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Schwedens! 174
Ich hoffe, Oberleutnant Torg gibt diesem Herrn deutlich zu verstehen, daß er mit dem nächsten Zug nach Stockholm zurückzufahren hat. „Er spricht blendend schwedisch. Und wie gut er aussieht!“ schwärmte Lilljan. „Obwohl er schon älter ist, seinetwegen könnte noch manches Mädchen den Kopf verlieren. Und so elegant, wie er ist! So einen Anzug kriegt man nicht mal im ‚Domus‘ oder im ‚Nordisk‘.“ Diese Kommunisten verstehen sich darauf, Propaganda zu machen. Da gibt es nichts! Er ist kaum angekommen, und schon hat er dieses Mädchen auf seiner Seite. Da ich beschlossen habe, in meinem Tagebuch sämtliche Geschehnisse und meine Reaktionen darauf festzuhalten, habe ich auch diese Bemerkung niedergeschrieben. Ich gestehe, ich war ein bißchen voreingenommen, denn als der Herr zum Mittagessen erschien, entpuppte er sich als durchaus netter Mensch. Es stellte sich heraus, daß er hergekommen ist, weil er Frau Jansson persönlich gekannt hat und den ermittelnden Beamten ein paar Mitteilungen über sie machen will. Er betonte gleich am Anfang, daß er weder berechtigt sei noch vorhabe, sich in die Arbeit der Polizei einzumischen. Witold Owicki, so heißt der Mann aus der Botschaft, wohnt seit über zwanzig Jahren in Schweden. Allerdings mit ein paar Jahren Unterbrechung, weil er noch in einer Vertretung gearbeitet hat. Er beherrscht also nicht nur ausgezeichnet das Schwedische, sondern er übersetzt sogar unsere Literatur ins Polnische. Weil Oberleutnant Torg den ganzen Tag über nicht da war – er versucht ja ständig, auf eine Fährte zu stoßen, und vernimmt dauernd jemanden –, traf Herr Owicki erst beim Abendessen mit unserem Kriminalisten zusammen. Zu meiner großen Verwunderung war der Oberleutnant durchaus nicht überrascht über den Gast aus Stockholm. Ich vermute, der Oberleutnant ist von 175
seiner übergeordneten Dienststelle darauf vorbereitet worden. Das spräche auch für den Diplomaten. Offenbar hat er sich in Stockholm mit dem Ministerium in Verbindung gesetzt und ist erst nach einer Absprache mit den zuständigen Behörden nach Lomma gekommen. Nach dem Abendessen bat Magnus Torg den Polen in die Bibliothek. Ich freute mich, als er sich auch an mich wandte: „Sie würden uns gewiß nicht stören, Herr Doktor.“ Und an den Diplomaten gewandt, fügte er erklärend hinzu: „Herr Doktor Nilerud unterstützt uns sehr in unserer Arbeit. Er ist ein ausgezeichneter Chronist und führt ein Tagebuch, in dem er die Ereignisse genau festhält. Außerdem arbeitet Doktor Nilerud als Polizeiarzt, allerdings ist er nur durch Zufall hier, weil er hier Urlaub macht. Dennoch hat er uns bei jedem einzelnen Opfer des rätselhaften Verbrechers geholfen festzustellen, wann der Tod eingetreten ist.“ Herr Witold Owicki lächelte höflich. „Selbstverständlich“, sagte er. „Ich habe nicht das geringste dagegen einzuwenden, daß Sie Herrn Doktor Nilerud hinzuziehen. Ich bringe im übrigen keine sensationellen Neuigkeiten mit. Ich habe Frau Jansson einfach gekannt, und sie rief auch von Lomma aus bei uns in der Karlavägen, in unserer Botschaft in Stockholm, an. Sie sprach damals mit mir. Da die Kriminalpolizei herausgefunden hat, zu wem Frau Jansson Kontakt unterhielt, und da nach Einzelheiten gefragt wurde, habe ich mich entschlossen, mich bei Ihnen zu melden, denn Sie leiten doch die Ermittlung.“ Jetzt ging mir ein Licht auf. Natürlich hatte Oberleutnant Torg feststellen lassen, was für Ferngespräche von unserer Pension aus in der Zeit geführt wurden, als Frau Jansson noch hier wohnte. Dieses Gespräch mit der Botschaft mußte ihn interessieren. Daher Owickis Auftauchen in Skåne. Seit über fünfzehn Jahren bin ich nun 176
schon Polizeiarzt, und ich weiß doch, wie die Polizei arbeitet, und trotzdem kann ich in allem, was der junge Oberleutnant unternimmt, auch nicht das kleinste Versäumnis entdecken. Er tut, was man nur tun kann, und dennoch hat die Polizei auch nicht den allerkleinsten Erfolg zu verzeichnen. So eine vertrackte Geschichte! Als wir in den bequemen Sesseln Platz genommen hatten, ergriff Herr Owicki das Wort: „Ich kenne Frau Jansson schon sehr lange. Seit sie in Schweden ist. Damals wurden alle Häftlinge aus den Konzentrationslagern, die durch die Aktion von Folke Bernadotte hierherkamen, in Krankenhäusern und Sanatorien untergebracht. Dort mußten sie erst mal gesundheitlich wieder auf die Beine kommen und ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden, das sie durch ihre grauenhaften Erlebnisse verloren hatten. Unsere Botschaft stand ständig mit den schwedischen Behörden in Verbindung und auch mit den Häftlingen polnischer Abstammung. Ich war damals Angestellter der Botschaft, und so lernte ich Maria kennen. Ihre Geschichte ist mir bekannt.“ „Das habe ich von Herrn Jansson junior nicht erfahren. Er wußte nur, daß seine Adoptivmutter keinerlei Angehörige mehr in Polen hat.“ „Richtig“, stimmte der Diplomat zu. „Frau Jansson kam nicht gern auf die schrecklichen Erinnerungen zu sprechen und teilte sich nicht mal dem darüber mit, den sie liebte wie ihren leiblichen Sohn. Um es kurz zu machen: Frau Janssons Familie lebte in Polen. Ihr Vater war Förster. Neunzehnhundertzweiundvierzig drangen unverhofft Deutsche in das Forsthaus ein. Dort fanden sie einen verwundeten Partisanen, den man nicht rechtzeitig hatte verstecken können. Den Förster erschossen die Gestapoleute auf der Stelle. Das Forsthaus wurde niedergebrannt, die Großmutter, die Frau des Försters und seine vier Kinder wurden festgenommen und ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Maria war 177
damals siebzehn Jahre alt und die älteste von den Geschwistern. Ihre beiden Brüder waren dreizehn und elf und die jüngste Schwester neun.“ „So kleine Kinder wurden schon ins Konzentrationslager gesteckt?“ wunderte ich mich. „Sie haben noch kleinere dorthin verschleppt“, erklärte Owicki wie nebenbei und fuhr fort: „Als der Zug, der aus drei Waggons bestand, in die sie die Menschen pferchten, auf der Verladerampe in Auschwitz hielt, befahl die SS den Leuten, die Wagen zu verlassen. Sie prügelte und schoß in die Menge hinein. Dann wurden die Leute vor einem SS-Offizier zusammengetrieben; Der schickte mit der Bewegung eines Stöckchens, das er in der Hand hielt, die einen nach rechts, die anderen nach links. Das nannte sich ‚Selektion‘. Die auf der linken Seite, alles junge und kräftige Leute, wurden ins Lager getrieben, damit sie vor ihrem Tod noch ein bißchen arbeiteten. Der Rest – die Alten, Frauen und Kinder – wurde sofort und ohne Umweg in die Gaskammern gejagt und in den großen Öfen des Krematoriums von Auschwitz verbrannt.“ „Gräßlich!“ entfuhr es Oberleutnant Torg. „Maria wurde nach links geschickt. Ihre Großmutter, ihre Mutter und ihre drei kleineren Geschwister starben noch am selben Tag in der Gaskammer.“ „Wie schrecklich!“ rief ich aus. „Sie, und besonders die jungen Leute in Ihrem Land halten es für Übertreibung, was wir über die faschistische deutsche Besatzung erzählen. Aber so wie Frau Janssons Familie sind schließlich allein in Auschwitz über drei Millionen Menschen umgekommen. Mein Land hat im Laufe dieser fünf Jahre über sechs Millionen Menschen verloren. Davon sind knapp vierhunderttausend mit der Waffe in der Hand gefallen, alle anderen wurden in Zuchthäusern und Konzentrationslagern umgebracht.“ 178
„Wurde Frau Jansson aus dem Konzentrationslager entlassen?“ fragte ich. „Dort wurde fast nie jemand entlassen. Der einzige Ausweg war der Schornstein des Krematoriums. Nach zwei Jahren Auschwitz kam Maria in das Lager Ravensbrück, von wo sie erst kurz vor Kriegsende nach Schweden gelangte. Sie hatte keinerlei Angehörige mehr, es bestand also kein Grund für sie, zu den Trümmern ihres niedergebrannten Hauses zurückzukehren. Sie blieb in Schweden.“ „Zwei Jahre später wurde sie die Frau von Herrn Jansson“, ergänzte Oberleutnant Torg. „Ja. Ich erinnere mich, ich war sogar auf ihrer Hochzeit“, fuhr Owicki fort. „Bald darauf verließ ich Schweden. Als ich fünfzehn Jahre später wieder nach Stockholm kam, bemerkte ich auf einem Empfang in der Botschaft eine Dame in einem kostbaren Nerzcape. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Ich erkundigte mich beim Sekretär der Botschaft, wer die Dame mit dem herrlichen Smaragd-Kollier sei. Er erklärte mir, das wäre die schwedische Millionärin Maria Jansson, eine gebürtige Polin. Aber das sagte mir gar nichts. Janssons gibt es in Stockholm zu Tausenden, und den kleinen Kaufmann und Lebensmittelladenbesitzer brachte ich nicht in Zusammenhang mit der riesigen, weltbekannten Firma ‚Erik Jansson & Sohn‘. Erst als die Frau zu mir trat und erwähnte, wir hätten uns zum letzten Mal auf ihrer Hochzeit gesehen, wurde mir bewußt, was für eine unerhörte Karriere die junge Verkäuferin in diesen Jahren gemacht hatte.“ „In der Zeit lernten Sie Ihre Landsmännin näher kennen?“ „Ja. Ich verkehrte in ihrem Haus in der Vällingby in Stockholm zu Lebzeiten ihres Mannes und auch nach seinem Tode.“ „Angeblich soll diese Frau eine nahezu krankhafte Ab179
neigung gegen Deutsche gehabt haben“, warf ich ein. „Sie fuhr nicht einmal gern in Geschäften dorthin.“ „Sie wollte nur nicht in die Bundesrepublik Deutschland. Sie vermied solche Reisen, wann immer sie konnte. Sie erklärte mir, sie wolle einfach nicht so einem Nazimörder begegnen, die dort nicht nur frei herumlaufen, sondern von denen viele hohe Posten in der Regierung, der Armee und der Industrie innehaben. Es wundert mich gar nicht, daß sie mit solchen Leuten nichts zu tun haben wollte.“ „Unterstützte Frau Jansson ehemalige Häftlinge der Hitlerzeit?“ „Soviel ich weiß, sogar sehr. Sie überwies für diese Zwecke große Summen in verschiedene Länder. Als in Auschwitz eine Gedenkstätte für die Opfer des Lagers errichtet wurde, nahm Frau Jansson an der internationalen Spendenaktion teil und schickte einen Scheck über einen großen Betrag nach Polen. Außerdem war sie auch, das weiß ich aus ihrem eigenen Munde, an der Finanzierung des inoffiziellen Büros in Wien beteiligt, das sich mit der Entlarvung und Entdeckung von Kriegsverbrechern befaßt, die in den unterschiedlichsten Gegenden unseres Erdballs, hauptsächlich aber in Südamerika, untergetaucht sind.“ „Vielleicht war der Mord an dieser Frau ein Racheakt einer Organisation ehemaliger Nazis“, gab ich zu bedenken. „Ich habe gehört, sie sollen so eine Organisation in Argentinien haben, mit Sitz in Buenos Aires.“ „Die ehemaligen Angehörigen der SS und der Gestapo haben viele solcher Vereinigungen. Manche sind völlig geheim, andere arbeiten halblegal, unter dem Schutz von Handelsfirmen, wie zum Beispiel die in Madrid, an deren Spitze der bekannte Kriegsverbrecher Otto Skorzenny steht. Im letzten Jahr vor Kriegsende deponierten die Nazis auf den Banken der neutralen Staaten ungeheure Summen. Nur einen Teil des Geldes konnten die 180
Alliierten ausfindig machen und blockieren. Die übrigen Fonds sind für die Unterstützung und Verbergung von Kriegsverbrechern bestimmt. Diese Dinge sind ja zur Genüge bekannt. Aber ich glaube nicht, daß das Verbrechen in Lomma die Tat einer solchen Organisation ist.“ „Sondern?“ „Da fragen Sie mich zuviel. Ein gewisses Licht auf die Geschichte wirft das Telefongespräch, das ich am Montag, also zwei Tage vor ihrem Tode, mit Frau Jansson führte. Das war etwa um ein Uhr mittags.“ „Hat Frau Jansson Sie nur ein einziges Mal angerufen?“ erkundigte sich Oberleutnant Torg. „Ja. Vor diesem Anruf hatte ich mich Anfang April mit ihr getroffen.“ „Stimmt es, daß Frau Jansson in letzter Zeit sehr nervös und irgendwie niedergeschlagen war?“ fragte ich. „Nein. Das ist mir nicht aufgefallen. Der Tod ihres Mannes hat sie zwar sehr mitgenommen, aber er liegt ja schon fast vier Jahre zurück. Die Zeit lindert auch solche Wunden und läßt sie vernarben.“ „Was beinhaltete dieses Telefongespräch?“ fragte Torg. „Wir wissen, daß es von diesem Hause aus geführt wurde.“ „Es war ein ziemlich merkwürdiges Gespräch. Frau Jansson fragte mich, was man tun müsse, wenn man einen sich versteckt haltenden Kriegsverbrecher erkannt habe.“ „Also doch …“, entfuhr es mir. Der Diplomat achtete nicht auf meinen Ausruf. „Ich habe ihr natürlich geraten, sich an die Polizeidirektion in Lund oder in Malmö zu wenden und dort von ihrer Beobachtung zu erzählen. ‚Das ist zwecklos‘, erwiderte Frau Jansson, ‚sie nehmen ihn nicht fest ohne überzeugende Beweise. Und über die verfüge ich nicht. Ich kann mich ja auch geirrt haben. Sie wissen selbst, was es bedeutet, jemanden ungerechtfertigt anzuklagen, 181
noch dazu in so einer ernsten Sache. Erst muß ich ganz sicher sein.‘ Da schlug ich ihr vor, sie solle einen dort ansässigen Rechtsanwalt aufsuchen und mit ihm besprechen, was weiter zu tun sei. Aber auch dieser Rat fand nicht Frau Janssons Zustimmung. Sie fragte mich, ob einer von den Angestellten der Botschaft in Auschwitz gewesen sei oder ob ich so einen Polen in Stockholm kenne. Leider konnte ich ihr da nicht helfen. Im Augenblick arbeitet niemand in unserer Botschaft, der in Auschwitz gesessen hat. In Stockholm würde man wahrscheinlich einige finden, aber man müßte erst mal die Namen feststellen. Ich schlug ihr also vor, daß ich innerhalb der nächsten Tage so einen Menschen für sie ausfindig machen wolle. Das sagte Frau Jansson aber auch nicht zu. Sie wollte, daß dieser ehemalige Häftling so schnell wie möglich nach Lomma käme. Sonst, behauptete sie, käme der Kriegsverbrecher dahinter, daß sie ihn erkannt habe, und würde sich entweder aus dem Staube machen oder aber versuchen, sie auf irgendeine Weise aus dem Wege zu räumen.“ „Sie ahnte also, daß sie sterben würde“, bemerkte ich. „Ich würde das nicht als Vorahnung bezeichnen. Sie war sich des Ernstes der Situation voll bewußt“, erwiderte Owicki. „Ich bat Frau Jansson noch einmal, sie solle mit jemand Kompetentem von der Polizei über die Geschichte sprechen. Ich bat sie, mir den Namen des Verbrechers zu nennen.“ „Ja, und?“ fragte ich, irrsinnig gespannt. „Das wollte sie nicht. Sie kam immer wieder darauf zurück, daß sie diesem Mann, falls er unschuldig sei, durch einen falschen Verdacht ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht antäte. Schließlich gab sie meinen drängenden Bitten nach und teilte mir mit, um wen es sich handelte.“ Selbst Magnus Torg war jetzt um seine übliche Fassung gebracht. 182
„Das heißt, ich habe mich falsch ausgedrückt“, korrigierte sich Owicki, „sie sagte mir nicht den Namen, sondern erklärte, ihr ginge es um einen Mann, der in Auschwitz auf der Eisenbahnrampe die Selektion vornahm und der ihre Großmutter, Mutter und ihre drei Geschwister in die Gaskammer geschickt habe. Kein Wunder, daß sie bei einem solchen Verdacht auch um ihr eigenes Leben bangte.“ „Aber warum hat sie Ihnen seinen Namen nicht genannt?“ fragte der Oberleutnant aufgeregt. „Sie kannten Maria nicht. Sowohl im Privatleben als auch in Geschäften war sie unerhört gewissenhaft. Weil sie sich nicht ganz sicher war, ob ihr Verdacht auch gerechtfertigt sei, wollte sie niemandem diesen Namen nennen.“ „War das Gespräch damit beendet?“ „Eigentlich ja. Zum Schluß sagte Frau Jansson noch, sie werde sich schon irgendwie zu helfen wissen und würde an Ort und Stelle Leute ausfindig machen, die in Auschwitz waren. Sie erwähnte, sie sei gerade auf die Spur eines Mannes gestoßen, der sogar aus Polen stamme.“ „Den gammle fiskaren?“ platzte ich heraus. „Ja, genau die Worte gebrauchte Frau Jansson.“ „Es handelt sich um Stanisław Trzeciecki“, klärte ich Owicki auf. „Das zweite Opfer des Verbrechers.“ „Ein schrecklicher Name für einen Schweden“, sagte der Diplomat mit feinem Lächeln. „Ich bewundere Sie, daß Sie ihn so gut aussprechen.“ „Ich mache Notizen über den Verlauf dieses Falls. Folglich mußte ich auch das lernen“, gab ich ihm zur Antwort. „Aber ich versichere Ihnen, daß das nicht leicht war.“ „Das will ich gern glauben“, stimmte Owicki mir zu und kam wieder zur Sache. „Als ich in den Zeitungen die Nachricht von einem neuen Verbrechen in Lomma las, 183
brachte ich den Ermordeten sofort mit dem Mann in Verbindung, den Frau Jansson vor mir erwähnt hatte.“ „Haben Sie den Polen gekannt?“ erkundigte sich Oberleutnant Torg. „Nein. Wir konnten jedoch im polnischen Konsulat in Malmö feststellen, daß sich Stanisław Trzeciecki bereits als schwedischer Bürger mehrmals ein Visum nach Polen holte. Darüber hinaus unterhielt er keinerlei Kontakt zum polnischen Konsulat. Auch in der Botschaft hat nie jemand etwas von dem alten Fischer gehört.“ „Sie vermuten“, fragte Magnus Torg verfänglich, „daß Maria Jansson Kontakt zu diesem Mann aufgenommen hatte? Zu welchem Zweck sollte sie das wohl tun?“ „Ich schätze, sie hat wenigstens versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Es muß ihr ganz einfach darum gegangen sein, den Mann, den sie im Verdacht hatte, noch einem anderen ehemaligen Auschwitzhäftling zu zeigen. Frau Jansson hat in dem Telefongespräch mit mir immerzu beteuert, sie sei sich nicht hundertprozentig sicher, ob ihre Augen und ihr Gedächtnis sie nicht trögen. Das ist durchaus verständlich. Seit jener Schreckenszeit ist schon viel Wasser ins Meer geflossen. Es ist schwierig, jemanden wiederzuerkennen, den man vor zwanzig Jahren gesehen hat. Kein Wunder, daß sie ihren Verdacht noch von jemand anderem bestätigt wissen wollte.“ „Es würde mich interessieren“, warf ich ein, „wie sich Frau Jansson solch eine Gegenüberstellung gedacht haben mag?“ „Das ist doch ganz einfach.“ Der Diplomat sah mich an wie jemanden, der nur über eine geringe Intelligenz verfügt. Er begriff nicht, daß ich, während ich ihm diese scheinbar simple Frage stellte, möglichst viel aus ihm herauszubekommen versuchte. Verheimlichte dieser Mann nicht etwas vor uns? War er wirklich gekommen, um uns zu helfen, oder wollte er nicht eher erkunden, in welchem 184
Stadium sich die Ermittlungen befanden? Vielleicht hat auch die Botschaft selber die Beseitigung dieser ehemaligen polnischen Staatsbürger veranlaßt? Scheinbar ist das Humbug. Aber wie ich mich überzeugen konnte, geht Oberleutnant Torg auch den unsinnigsten Hypothesen nach. Alles an diesem Fall ist so merkwürdig und kompliziert, daß man auf niemanden und nichts bauen darf. Und erst recht auf keinen Ausländer. „Das ist ganz einfach“, sagte Owicki noch einmal. „Frau Jansson kannte den falschen Namen, unter dem sich der Kriegsverbrecher verbarg, und seine genaue Anschrift. Mit diesen Angaben konnte Trzeciecki unter jedem beliebigen Vorwand das Haus aufsuchen und sich den Mann ansehen, ja sich sogar mit ihm unterhalten.“ „Na schön“, gab ich ihm recht, „aber Sie haben doch bestimmt die Zeitungen gelesen, die im einzelnen über die Ermordung des alten Fischers berichteten? In seiner Wohnung wurde ein Ring gefunden. Er gehörte Frau Jansson und wurde ihr an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, entwendet.“ Der Diplomat lächelte. „Ich möchte dem Vertreter der Polizei eine Frage stellen. Ist es erlaubt?“ „Bitte sehr“, willigte Magnus Torg ein. „Welche Beweise hat die Polizei eigentlich dafür, daß Frau Janssons Schmuck geraubt und unter anderem dieser Ring mit der Perle gestohlen wurde? Ich gestehe offen, ich habe die Berichte über das Verbrechen in sämtlichen schwedischen Tageszeitungen gelesen, bei der ‚Kvällsposten‘ angefangen, aber nirgendwo wurde von Beweisen gesprochen, die diesen Diebstahl überhaupt belegen.“ „Weil er sonnenklar ist!“ entrüstete sich Magnus Torg. „Wir wissen, Frau Jansson hatte Schmuck bei sich in Lomma. Die Gäste der Pension haben diese Schmuckstücke bei Frau Jansson gesehen. Das Zim185
mermädchen Lilljan zeigte uns den Platz, an dem Frau Jansson den Schmuck aufbewahrte, ja, sie hat die Ringe und die anderen Schmuckstücke sogar selbst anprobiert.“ „Schon, schon“, räumte Owicki ein, „aber das beweist doch nur, daß Frau Jansson Schmuck besaß. Es beweist hingegen nicht, daß diese Schmuckstücke entwendet wurden. Es liegt jedenfalls keine Aussage vor, daß sich dieser kleine Goldschatz in dem Augenblick, als Frau Jansson starb, in ihrem Zimmer befunden hat und sofort nach ihrem Tod verschwunden ist.“ „Also wissen Sie!“ Oberleutnant Torg zuckte die Schultern. „Ich halte diesen Diebstahl für beinahe sicher, aber es kann sich ja auch ganz anders abgespielt haben. Vielleicht hat Frau Jansson den Schmuck irgendwo versteckt oder jemandem geschenkt.“ „Ein hübsches Geschenk, ein paar tausend Kronen“, warf ich ein. „Sie konnte es sich leisten. Sie konnte am nächsten Tag nach Malmö fahren und sich zweimal soviel und noch teureren Schmuck kaufen.“ „Einmal angenommen, Sie hätten recht, und die Millionärin hatte, von einer nur ihr verständlichen Laune geleitet, den Schmuck irgendwem geschenkt, dann doch bestimmt nicht dem alten Polen“, stellte der Oberleutnant kategorisch fest. „Wieso nicht?“ „Weil wir sonst nicht nur den unter den Schrank gefallenen Ring, sondern auch die übrigen Schmuckstücke gefunden hätten. Ich kann Ihnen versichern, daß wir das Haus auf den Kopf gestellt haben. Der restliche Schmuck befindet sich nicht dort. Im übrigen schenkt man einem Mann, selbst wenn man ihm helfen will, keinen Schmuck. Da genügt ein Scheck völlig.“ „Stimmt“, gab der Diplomat zu. „Schmuck ist immer 186
ein Geschenk für eine Frau. Oder für ein hübsches junges Mädchen. Nichtsdestoweniger muß sich der Ring nicht nur deshalb in der Wohnung dieses Stanisław Trzeciecki befunden haben, weil der Mann, wie das einige wenig seriöse Zeitungen suggerierten, in den Mord an Frau Jansson verwickelt war.“ „Sie haben mich teilweise überzeugt“, gab ihm Magnus Torg recht. Er dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu: „Hübsch haben Sie das formuliert: ‚Schmuck ist immer ein Geschenk für eine Frau oder für ein hübsches junges Mädchen.‘ Eins mit blauen Augen und flachsblondem Haar.“
12. Die Laune der Millionärin Freitag, den 16. Juni Heute morgen brachte mir Frau Ranhild Moberg das Frühstück aufs Zimmer. Das kommt zum ersten Mal vor, seit ich in Frau Brands’ Pension wohne. Bisher ertönte immer kurz vor acht ein Klopfen, und in der Tür stand, hübsch anzusehen in ihrem weißen Häubchen und der kleinen Schürze, Lilljan. Und nun trägt auf einmal die Köchin selber den Gästen das Frühstück hinauf! Ich fragte: „Was denn, ist Fräulein Lilljan krank?“ „Nein“, erwiderte Frau Moberg, „der Herr Oberleutnant hat Lilljan festgenommen. Er hat sie in der Bibliothek eingesperrt. Ein Polizist bewacht sie.“ Diese Botschaft verschlug mir regelrecht die Sprache. Ich kippte rasch ein paar Schlucke Kaffee hinunter, biß von dem smorbrot ab, zog mich, so schnell ich konnte, an und ging nach unten. Es war alles leer dort. Keine Menschenseele in der Halle. Auch im Salon saß niemand. Offenbar waren die anderen Gäste der Pension 187
noch auf den Zimmern geblieben. Die Tür zur Bibliothek fand ich verschlossen. Also klinkte ich und wollte eintreten. Drinnen, in einem Sessel am Fenster, saß Lilljan. Ihre Augen waren verquollen vom vielen Weinen. Am Tisch studierte einer der beiden Konstabler von Oberleutnant Torg gerade das „Sydsvenska Dagbladet“. Bei meinem Anblick sprang er auf und kam an die Tür. „Es tut mir sehr leid, Doktor Nilerud“, sagte er, „aber auf Befehl des Oberleutnants darf ich niemanden in diesen Raum einlassen und auch kein Gespräch mit Fräulein Lilljan erlauben.“ „Was ist denn passiert, um Gottes willen?“ fragte ich. Der Konstabler, der mich gut kennt, denn wir haben ja gemeinsam an sämtlichen Untersuchungen der sonderbaren Morde in Lomma teilgenommen, sagte, als er niemanden außer mir sah, mit zum Flüstern gesenkter Stimme: „Der Oberleutnant hat heute morgen eine Durchsuchung des Zimmers angeordnet, das Fräulein Lilljan hier in der Pension bewohnt, und auch eine Haussuchung bei ihren Eltern. Dort haben wir in einem Koffer des Mädchens, unter der Wäsche, den ganzen Schmuck gefunden, der Frau Jansson entwendet worden ist.“ Bei diesen Worten des braven Beamten brach Lilljan in ein Schluchzen aus. „Den ganzen Schmuck“, fragte ich zurück, „das ist doch wohl nicht möglich?“ „Ich weiß von nichts. Wir haben eine Haussuchung gemacht, haben den Schmuck gefunden. Der Oberleutnant hat ihn mitgenommen, und mir hat er befohlen, auf das Mädchen aufzupassen.“ Lilljan weinte noch immer. Ich konnte das nicht mit ansehen, also verließ ich die Bibliothek und machte die Tür hinter mir zu: Gerade in dem Moment traf ich in der Halle Frau Brands. 188
„Sie wissen also schon, was für ein Früchtchen wir hier hatten“, sagte sie. „Diese Lilljan, sie sah immer so aus, als ob sie nicht bis drei zählen kann. Sie arbeitet schon das zweite Jahr bei mir. Nie sind irgendwelche Klagen gekommen. Und nun auf einmal dieser Skandal. Das Zimmermädchen bestiehlt die Gäste, und so was in meinem Haus! Das ist mein Untergang. Meine Pension, das angesehenste Etablissement an der ganzen Küste von Skåne, eine Höhle von Mördern und Dieben.“ „Entschuldigen Sie“, bemerkte ich, ein wenig gekränkt ob dieser Töne, „wen von uns halten Sie für einen Mörder?“ Frau Brands wurde verwirrt. „Man weiß ja schon nicht mehr, was man redet, so eine Aufregung! Natürlich wollte ich nicht sagen ‚eine Höhle von Mördern und Dieben‘, sondern ein Ort des Verbrechens und Diebstahls. Das ist einfach entsetzlich. Es ruiniert mich.“ Diese Frau übertreibt bestimmt. Wenn man eine Pension unterhält, muß man gewärtig sein, daß auch Zeiten kommen, wo man keine Gäste hat. Man muß über gewisse Rücklagen verfügen für unvermeidliche Einbußen und Schicksalsschläge. Frau Brands verfügt bestimmt darüber. Aber es besteht kein Zweifel, daß die merkwürdigen und rätselhaften Vorkommnisse in Lomma die Touristen abschrecken und die Saison hier verspätet einsetzt, was nicht nur für die Besitzerin unserer Pension Verlust bedeutet, sondern für fast alle Einwohner von Lomma; die Einnahmen durch Sommergäste haben sie schließlich in ihr Haushaltsbudget einkalkuliert. Es war jedoch nicht meine Sache, mir darüber den Kopf zu zerbrechen oder Frau Brands zu trösten. „Wie ich höre, hat man bei Lilljan Frau Janssons Schmuck gefunden“, sagte ich vorsichtig. „Sonst weiß ich nichts. Ich bin außerordentlich erstaunt. Stimmt das denn?“ 189
„Herr Torg hat es mir selber gesagt. Er hat auch hinzugefügt, daß er Lilljan verhaften muß.“ „Wie konnte sie nur Frau Jansson ermorden? Das ist ja schrecklich!“ „Haben Sie Lilljan im Verdacht, daß sie unsere Frau Jansson ermordet hat?“ fragte Frau Brands nun fassungslos. „Der Herr Oberleutnant hat nichts davon gesagt. Er sprach von Diebstahl und davon, daß der Schmuck gefunden wurde. Des Mordes verdächtigt er Lilljan doch wohl nicht. Das hätte gerade noch gefehlt!“ „Wie sollte das Mädchen sonst in den Besitz des Schmucks gelangt sein?“ „Wahrscheinlich hat sie den Schmuck eingesteckt, als sie sah, daß Frau Jansson tot ist“, vermutete die Pensionsbesitzerin. Diese Erklärung befriedigte mich nicht. Ich erinnere mich doch, wie entsetzt das Mädchen von dem Anblick war, der sich ihr im Zimmer von Frau Jansson bot, als sie dort das Bett richten wollte und die Millionärin mit blutigem Kopf fand. Ich habe Lilljan ja selbst wieder aus der Ohnmacht erweckt nach dem Schock. Sie müßte schon eine geniale Schauspielerin sein, um das zu spielen. Und das nehme ich nicht an. „Und wo ist Oberleutnant Torg jetzt?“ fragte ich. Frau Brands zuckte die Achseln. „Mit dem Wagen weggefahren. Wahrscheinlich nach Lund.“ Jetzt kamen auch die Tuvessons und die anderen Pensionsgäste herunter. Auch sie waren erschüttert von der Hiobsbotschaft, die sie bereits kannten. Offenbar hatte es Frau Moberg nicht für angezeigt gehalten, Schweigen darüber zu bewahren. „Wie schrecklich“, sagte Klara Tuvesson. „Ich kann einfach nicht glauben, daß das sympathische Mädchen in dieses entsetzliche Verbrechen verwickelt sein soll.“ „Übertreib nicht, Liebes“, beschwichtigte sie ihr Mann. 190
„Es steht ja noch gar nichts fest. Die näheren Umstände bringt erst die Untersuchung an den Tag. Solange da noch nichts vorliegt, müssen wir uns mit jedem Urteil zurückhalten.“ „Ich träume davon, dieses Lomma so schnell wie möglich zu verlassen“, fügte die schöne Nora Lindner hinzu. „Haben Sie sich hier wirklich so schlecht gefühlt?“ fragte sie Gustav Dalin. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick. Aber das Geflirte von Frau Lindner geht mich nichts an. Meine Erfahrungen aus den vergangenen Jahren besagen, daß es in jeder Pension immer so eine Nora gibt, die schon mit einem vorgefaßten Plan in den Urlaub fährt. Und so eine findet immer ihren Dalin. Sollen sie doch ihren Spaß haben. „Der Oberleutnant hat versprochen, daß wir Lomma spätestens am Sonntag verlassen können“, ließ sich Ingvar Harding vernehmen. „Was mich anbelangt, ich habe es durchaus nicht eilig, nach Stockholm und in die Mühle des Alltags zurückzukommen. Alle diese Geschichten gehen mich im Grunde genommen nichts an, das Wetter wird von Tag zu Tag besser, und über Frau Brands’ Pension kann ich mich nicht beklagen. Deshalb habe ich nicht vor, von hier abzureisen, sobald Herr Torg das Tor unseres Gefängnisses öffnet.“ Frau Brands warf Harding einen Blick zu, in dem tiefe Dankbarkeit lag. „Sie sind sehr aufmerksam, Herr Harding“, sagte sie. „Ich werde auch froh sein, wenn wir hier wieder frei sind, aber das heißt noch lange nicht, daß ich gleich meine Koffer packe“, bemerkte ich. Zu unserer kleinen Gruppe gesellte sich Witold Owicki, der polnische Diplomat. „Wir haben gestern geplaudert, Herr Doktor, und der Oberleutnant hat die Ohren aufgesperrt. Er hat aus un191
serem Gespräch die entsprechenden Schlußfolgerungen gezogen. Die Bemerkung stammte doch von Ihnen, Schmuck schenke man hübschen Mädchen?“ „Nein!“ widersprach ich. „Sie waren es, der dem Oberleutnant diesen Gedanken eingegeben hat.“ „Schon möglich“, stimmte mir Owicki zu. „Aber er ergab sich aus unserer Unterhaltung. Daher die logische Schlußfolgerung: Es ist gefährlich, in Anwesenheit eines allzu neugierigen Kriminalbeamten zu diskutieren.“ Ich lächelte. „Dieser Kriminalbeamte hat immerhin einen nicht zu bestreitenden Erfolg erzielt. Der Schmuck der Frau Jansson hat sich angefunden: alles, was die Millionärin aus Stockholm mitgebracht hat.“ „Was ist das schon für ein Erfolg?“ erwiderte der Diplomat. „Die Kriminalpolizei sucht schließlich nicht nach einer Handvoll Schmuck im Werte von viertausend Kronen, wie es die ‚Kvällsposten‘ gewissenhaft errechnete, sondern nach einem Täter, der drei Morde begangen hat.“ „Sie sind der Meinung, diese Dinge haben nichts miteinander zu tun?“ „Ich bin gar keiner Meinung“, betonte Owicki trocken. „Es ist Sache der Polizei, die Ermittlungen zu führen. Seit gestern abend, das heißt seit meinem Gespräch mit Oberleutnant Torg, dem ich offiziell mitgeteilt habe, was ich über Frau Jansson wußte, bin ich ein ganz gewöhnlicher Sommerfrischler. Ich träume davon, in der See zu baden. Das Wasser ist doch wohl nicht allzu kalt?“ „Gestern waren es im Wasser sechzehn Grad. Eine ungewöhnliche Temperatur für Mitte Juni. Der ‚Frühling des Jahrhunderts‘ könnte man sagen.“ „Oh, für mich ist das nicht sonderlich warm. Aber was hilft’s. Ich riskiere ein Bad. Zumal die Sonne so schön scheint.“ 192
„Bleiben Sie aber nicht zu lange im Wasser, und legen Sie sich nicht in den bloßen Sand“, warnte ich, denn der Arzt in mir meldete sich zu Wort. „In unserem Alter muß man sich schon ein bißchen vorsehen.“ „Dann gehen wir eben alle zum Strand, und Sie passen auf uns auf, Herr Doktor.“ Uns blieb keine andere Wahl. Weder ich noch irgendwer sonst aus unserer Gruppe hatte Lust, nach Lund oder nach Malmö zu fahren. Und was tut man in Lomma, wenn nicht am Strand liegen, sofern die Sonne das gestattet? Als wir zum Mittagessen zurückkamen, hielt vor unserer Pension gerade ein Wagen, dem Oberleutnant Torg und der Polizeidirektor entstiegen. Ich deutete von weitem einen Gruß an. Aber der Oberleutnant trat zu uns, begrüßte uns alle und sagte, an Witold Owicki gewandt: „Der Polizeidirektor aus Lund möchte Sie kennenlernen.“ „Bitte sehr.“ Unterdessen kam auch der Polizeidirektor zu uns, begrüßte mich und stellte sich Owicki vor. Er dankte ihm im Namen der Polizei, daß er als Angehöriger der polnischen Botschaft der Polizei nicht nur äußerst wichtige Mitteilungen gemacht habe, sondern auch nicht davor zurückgeschreckt sei, sich aus Stockholm bis nach Lomma zu bemühen. „Das hielt ich für meine Pflicht“, antwortete Owicki höflich. „Ich bin hergekommen, um bei der Vernehmung dieses Mädchens zugegen zu sein“, erklärte der Direktor. „Die Herren haben dazu beigetragen, den Schmuck zu finden, Sie haben der Polizei den Gedankenanstoß geliefert, vielleicht nehmen Sie also an dem Gespräch mit Fräulein Lilljan teil?“ „Wenn Sie nichts dagegen haben“, willigte Owicki nicht sonderlich begeistert ein. Ich hingegen war hocherfreut. Auf diese Weise spie193
geln meine Notizen vollständiger die laufenden Untersuchungen wider. Zu viert betraten wir die Bibliothek. Der Oberleutnant machte dem Konstabler ein Zeichen, daß er den Raum verlassen solle, und wandte sich barsch an das Mädchen: „Reden Sie bitte! Wir wissen sowieso schon alles. Lügen hat keinen Zweck. Ist das nicht eine Schande? Die Tochter so ehrbarer Eltern. Die geachtetste Familie in ganz Lomma.“ Bei diesen Worten brach das Mädchen wieder in Schluchzen aus. Magnus Torg ließ sich davon nicht stören. Er holte ein Zellophanbeutelchen aus der Tasche und schüttete mehrere Ringe, Armreifen und Broschen auf die Tischplatte. „Woher hast du diesen Schmuck?“ fragte er das Mädchen. „Das hab’ ich doch schon gesagt“, stammelte Lilljan unter Tränen. „Frau Jansson hat ihn mir geschenkt.“ „Ausgerechnet dir“, sagte der Oberleutnant lachend, „denk dir eine geschicktere Lüge aus. Nach Schätzung von Juwelieren in Lund sind die Sachen über viereinhalbtausend Kronen wert. Ein nettes Geschenk! Und wofür? Für deine blauen Augen?“ „Aber Frau Jansson hat mir die Sachen wirklich geschenkt.“ Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen und sprach jetzt wesentlich deutlicher. „Ich lüge nicht!“ „Und weshalb hast du sie dann bei deinen Eltern zu Hause versteckt? In einem Koffer, unter der Wäsche? Wenn Frau Jansson dir diesen Schmuck geschenkt hatte, dann hättest du ihn auch tragen können und uns gleich alles erzählen. Und ihn nicht so zu verstecken brauchen, damit wir ihn nicht finden.“ „Wenn ich doch … Wenn ich doch aber Angst hatte“, stotterte das Mädchen. „Wovor? Jeder darf Geschenke machen, und jeder darf Geschenke annehmen.“ „Zuerst hatte ich Angst, Frau Brands würde mich ent194
lassen. Und ich arbeite doch das ganze Jahr über bei ihr. In Lomma findet man nicht so leicht eine ständige Arbeit. Verdienen tu’ ich auch gut, denn jeder Gast legt noch was zu. Frau Brands hat oft zu mir gesagt, und nicht nur zu mir, zu allen Angestellten, außer Geld dürften wir von den Gästen nichts annehmen und auch um nichts bitten. Sie hätte doch nicht verstanden, daß Frau Jansson mir den Schmuck aus freien Stücken geschenkt hat. Ich habe sie wirklich nicht darum gebeten. Ich hab’ mich nicht mal getraut, ihn anzunehmen. Sie hat mir selber alles in die Hand gedrückt und gesagt: ‚Nimm, du Dummchen, ehe ich es mir anders überlege.‘ “ „Das hätten Sie uns sagen müssen, ich habe Sie doch schließlich viermal vernommen“, beharrte der Oberleutnant. „Hinterher, nach dem Tod von Frau Jansson, hab’ ich mich erst recht nicht getraut. Ich hatte Angst, die Polizei könnte mich verdächtigen, daß ich den Mord begangen habe oder das Zimmer der Toten geplündert.“ „Bitte erzählen Sie von Anfang an, wie sich alles abgespielt hat“, befahl der Polizeidirektor, der bisher nicht in die Vernehmung eingegriffen hatte. „Das war am Sonnabend. Nein, am Sonntag, abends. Ich ging hinauf, um das Bett zu richten. Frau Jansson war schon im Zimmer. Auf dem Toilettentisch stand die Dose mit dem Schmuck“, erklärte Lilljan. „Ich war sehr neugierig auf ihn, weil ich gesehen hatte, daß Frau Jansson verschiedene Ringe und Armreifen trug. Als sie sah, daß ich immer zu dem Toilettentisch hinüberschielte, lachte sie und sagte: ‚Wenn du willst, darfst du dir die Sachen ansehen, und du kannst sie auch anprobieren, Lilljan.‘ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. So schöne Ringe! Ich steckte sie mal an die rechte Hand und mal an die linke. Ich probierte auch die beiden Armreifen an und die Broschen. Wie mich Frau Jansson so sah, mit dem Schmuck behängt, machte ihr das immer mehr 195
Spaß. Sie riet mir selbst, wie ich drei Broschen auf einmal an ein Kleid stecken sollte, damit es hübscher aussieht.“ „Das war ganz bestimmt am Sonntag?“ fragte der Oberleutnant. „Das habe ich doch schon gesagt. Ganz bestimmt am Sonntag. Es gab Leber zum Abendessen. Ich erinnere mich genau, Frau Jansson aß auch mit allen zusammen unten im Speisesaal. Am Sonnabend war sie zum Abendessen nicht da.“ „Das stimmt“, pflichtete ich ihr bei. „Am Sonntag kam Frau Jansson zu uns hinunter.“ „Ich sagte zu Frau Jansson: ‚Wie glücklich müssen Sie sein! So viel schönen Schmuck zu besitzen.‘ Frau Jansson hörte plötzlich auf zu lachen. Sie wurde sehr traurig. Sie sagte, ich erinnere mich genau an die Worte: ‚Als ich so ein junges Mädchen war wie du, sah ich, statt mich an schönem Schmuck zu erfreuen, zu dem Rauch, der aus dem Schornstein kam, wo meine Mutter und meine Brüder verbrannten. Alles, was ich besitze, kam zu spät.‘ Ich weiß nicht, was sie damit sagen wollte, aber sie fing an zu weinen. Doch sie wischte die Tränen schnell wieder weg. In der Zeit hatte ich alle Ringe und Broschen abgemacht und in die Schatulle zurückgelegt. Da griff Frau Jansson plötzlich danach, schüttete den ganzen Schmuck auf ihre Hand und gab ihn mir mit den Worten: ‚Da hast du, nimm, und sei du wenigstens glücklich, wenn es mir schon nicht vergönnt war in deinem Alter.‘ Ich war sehr verwundert, ja sogar erschrocken. Ich wollte die Sachen nicht annehmen, aber Frau Jansson faßte meine Hand, legte mir den Schmuck hinein und sagte: ‚Nimm schon, du Dummchen, ehe ich es mir anders überlege.‘ Also bedankte ich mich sehr, machte das Bett und ging.“ „Und das sollen wir dir einfach so glauben?“ fragte Oberleutnant Torg ironisch. 196
„Ich habe alles erzählt, wie es wirklich war“, verteidigte sich das Mädchen. „Und Sie haben das Geschenk in ihrer Freude niemandem gezeigt, Fräulein Lilljan?“ erkundigte sich der Polizeidirektor. „Ihre Eltern wußten nichts davon? Oder Ihre große Schwester?“ „Nein. Als ich hinunterkam, hab’ ich die Sachen Frau Moberg gezeigt. Sie hat auch gesagt, ich soll es niemandem erzählen. Sie dachte, Frau Jansson würde am nächsten Tag sagen, das sei alles nur ein Scherz gewesen, und sie würde den Schmuck zurückverlangen.“ „Aber es kam nicht so?“ „Nein. Am nächsten Tag, als ich Frau Jansson das Frühstück hinauftrug, legte ich auch alle Ringe auf das Tablett. Sie wurde sehr böse und befahl mir, sie sofort wegzunehmen. Sie sagte, in ihrem Land gäbe es ein Sprichwort, das heißt: ‚Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen!‘ Da bedankte ich mich noch einmal bei Frau Jansson für das Geschenk. Ich wollte ihr sogar die Hand küssen, aber sie erlaubte es nicht. Sie sagte nur noch einmal: ‚Freu dich daran. Mögen dir diese Sachen die Freude bringen, die ich in deinem Alter nicht hatte.‘ Dann hat sie den Schmuck nie wieder erwähnt.“ „Gehen Sie bitte hinaus“, befahl der Oberleutnant dem Mädchen, „und setzen Sie sich in den Salon. Sie dürfen mit niemandem sprechen.“ Und er ging selbst, um Frau Ranhild Moberg zu holen. „Als ich das viele Gold in Lilljans Hand sah“, erzählte unsere Köchin, „dachte ich, das Mädchen wäre übergeschnappt und hätte sich einen dummen Scherz erlaubt. Ich hatte sie nicht im Verdacht, sie könnte Frau Jansson bestohlen haben. Ach was! Aber ich nahm an, sie hätte den Schmuck, ohne daß die Besitzerin was davon wußte, im Zimmer an sich genommen und jetzt mache sie sich einen Spaß und erzählte, sie hätte ihn geschenkt be197
kommen. Deshalb schimpfte ich das Mädchen aus und sagte, sie solle das Zeug sofort wieder hinaufbringen. Aber Lilljan beteuerte, sie hätte das wirklich alles geschenkt bekommen. Da sagte ich, dann solle sie warten bis morgen und mit dem Frühstück auch die Ringe hinaufbringen. Bis dahin würde es sich Frau Jansson bestimmt anders überlegen und sagen, es sei nur ein Scherz gewesen.“ „Das war am Sonntag?“ fragte Torg. „Ja, am Sonntagabend“, fuhr Frau Moberg fort. „Am nächsten Morgen, nachdem Lilljan das Frühstück ausgetragen hatte, fragte ich sie, ob sie den Schmuck zurückgegeben hätte. Das Mädchen sagte, das hätte sie, aber Frau Jansson wollte ihn nicht zurücknehmen. Ich war sehr erstaunt, aber letzten Endes kann ja jeder mit seinen Sachen tun und lassen, was ihm beliebt. Ich arbeite seit zwanzig Jahren in den verschiedensten Pensionen, und ich habe schon die verrücktesten Sachen erlebt. Eine Frau, die einem Zimmermädchen so viel Schmuck schenkt, ist mir allerdings noch nicht begegnet. Wenn es noch ein Mann gewesen wäre, dann hätte ich gedacht, er habe sich eben Hals über Kopf in Lilljan verliebt. So was soll ja vorkommen.“ „Sie glauben, daß Frau Jansson diesem Mädchen den Schmuck wirklich geschenkt hat?“ „Wenn Lilljan ihn gestohlen hätte“, folgerte die Köchin logisch, „hätte Frau Jansson den Verlust doch bemerkt und Alarm geschlagen. Und das war ja nicht der Fall. Also muß sie ihn ihr tatsächlich geschenkt haben. Über die Gäste muß man sich nicht wundern.“ Der Polizeidirektor dankte Frau Moberg, die, zufrieden mit sich, die Bibliothek verließ. „Was meinen Sie zu dieser Aussage, meine Herren?“ fragte er. „Nun ja.“ Witold Owicki zuckte die Achseln. „Die Laune einer Millionärin. Offenbar hat Lilljan so von dem 198
Schmuck geschwärmt, daß Frau Jansson beschloß, die gute Fee zu spielen und ihr diesen Mädchentraum zu erfüllen. Bei ihrem ungeheuren Reichtum bedeutete so eine Anwandlung für sie genausoviel wie für unsereinen der Kauf einer Schachtel Zigaretten.“ „Jedenfalls gebe ich Lilljan den Schmuck nicht zurück, bevor nicht Herr Jansson junior die Schenkung bestätigt“, behielt sich Oberleutnant Torg vor. „Es wird wohl besser sein, sich in diesem Fall mit dem Staatsanwalt in Verbindung zu setzen.“ Der Polizeidirektor war vorsichtiger in seinen Entscheidungen. „Im Prinzip wurde der Schmuck in dem Augenblick, als Frau Jansson ihn Lilljan schenkte, ihr Eigentum, und die Erben sind nicht berechtigt, die Schenkung rückgängig zu machen.“ „Das ist die reine Theorie“, mischte sich der Diplomat ein. „Sicherlich wird Herrn Jansson diese Handvoll Gold gar nicht interessieren.“ „Und was ist mit dem Ring mit der Perle?“ fragte ich. „Den, der in der Küche des alten Fischers gefunden wurde?“ „Den vergesse ich schon nicht“, erwiderte Magnus Torg. „Wir sind ja mit Lilljans Vernehmung noch nicht fertig.“ Der Oberleutnant verließ den Raum und kam wenig später mit dem Zimmermädchen zurück. Lilljan war jetzt selbstsicherer. Sie hatte wohl gesehen, daß Frau Moberg vernommen worden war, und konnte sich denken, daß die Aussagen der Köchin zu ihren Gunsten ausgefallen waren. „Bitte sieh dir den Schmuck an“, befahl der Oberleutnant. „Ist hier alles dabei, was du von Frau Jansson bekommen hast?“ Das Mädchen betrachtete das Häuflein Gold. „Nein“, sagte sie, „der hübscheste Ring ist nicht dabei. Der mit der Perle.“ 199
„Und was ist mit ihm passiert?“ „Es stand doch in der ‚Kvällsposten‘, daß er in der Wohnung von dem alten Polen lag.“ „Frau Jansson hatte Ihnen diesen Ring also nicht geschenkt, Fräulein Lilljan?“ erkundigte sich der Polizeidirektor. „Warum nicht?“ „Sie hat mir alle geschenkt“, erklärte das Mädchen. „Ich hatte Angst, sie zu tragen, aber der da war so hübsch, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte. Ich trug ihn also heimlich an der linken Hand … Damit es Frau Brands nicht merkte, drehte ich ihn mit der Perle nach unten. Aber er war mir ein bißchen zu groß. Frau Jansson hatte wohl dickere Finger. Die Ringe sind mir alle ein bißchen zu groß. Also … Also habe ich ihn verloren.“ „Wann und wo?“ „Ich dachte, hier im Haus. Ich habe alle Ecken und Winkel abgesucht. Aber ich habe ihn nicht gefunden.“ „Wann hast du bemerkt, daß dir der Ring fehlt?“ „Das war am Dienstag. Ich hab’ es gleich nach dem Servieren beim Mittagessen gemerkt. Was hab’ ich diese Perle gesucht! Es war ja der schönste Ring, obwohl Frau Jansson sagte, nicht der wertvollste. Aber mir hat er am besten gefallen.“ „Vielleicht haben Sie den Ring auch in der Stadt verloren, Fräulein Lilljan?“ „Ich ging gegen elf in den Laden, um einzukaufen, wie jeden Tag. Aber ich hatte ihn, glaube ich, noch am Finger, als ich zurückkam.“ „Glauben Sie das oder wissen Sie es genau?“ „Ich glaube bestimmt“, antwortete das Mädchen. „Entweder – oder“, rief der Oberleutnant gereizt. „Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin so durcheinander, daß ich alles verwechsle.“ „Und haben Sie den alten Fischer gesehen?“ erlaubte ich mir zu fragen. 200
„Nein.“ „Hat er nicht am Dienstag Fisch gebracht?“ „Ganz bestimmt nicht. Erst später, den Lachs. Als Frau Jansson schon tot war. Das war, glaube ich, am Sonnabend.“ Erst jetzt fiel mir ein, daß uns dieser vielgerühmte Lachs zum sonntäglichen Mittagessen durch die Lappen gegangen war, weil wir an dem Tag den Mord an dem alten Fischer bemerkten und gar nicht zum Mittag in die Pension kamen. „Wie ist also der Ring mit der Perle ins Haus des Ermordeten gelangt?“ fragte Oberleutnant Torg. Auf diese Frage konnte weder das Mädchen noch einer von den In der Bibliothek Versammelten eine Antwort geben.
13. Ein nächtliches Abenteuer Sonnabend, den 17. Juni Ich will zunächst einmal der Reihe nach alle Ereignisse vom Freitagnachmittag niederschreiben. Die Polizei versuchte noch weiter, etwas aus Lilljan herauszuquetschen, allerdings ohne Erfolg, Das Mädchen hatte einfach alles gesagt, was sie wußte. Als einzige Erklärung dafür, daß der Ring mit der Perle in Trzecieckis Wohnung gefunden wurde, bleibt also die Annahme, daß Lilljan ihn irgendwo auf der Straße in Lomma verloren hat, als sie einkaufen ging. Und nur der alte Fischer oder der Mörder kann ihn aufgehoben haben. Meine Hypothese wurde ernsthaft in Frage gestellt. Ich gebe sogar ehrlich zu: Es ist nicht viel von ihr übriggeblieben. Aber es gibt ja viele sonderbare Momente bei diesem Fall. Nach Lilljans Vernehmung rief der Oberleutnant die Staatsanwaltschaft in Lomma an. Es gelang ihm, irgend201
einen Angestellten zu erwischen. Er beriet sich telefonisch, was nun mit den restlichen Schmuckstücken zu tun sei. Das Ergebnis war sichtlich enttäuschend für den Kriminalisten, denn er händigte dem Zimmermädchen den Schmuck mit ziemlich saurer Miene aus und behielt nur den am Tatort gefundenen Ring zurück. Aber damit waren die Abenteuer unserer netten Lilljan noch nicht zu Ende. Sofort nach der Vernehmung befahl Frau Brands dem Mädchen, ihre Sachen zu packen und die Pension zu verlassen. Lilljan brach natürlich wieder in ein großes Geheule aus. Wir ergriffen alle Partei für das sympathische Mädchen. Sogar der Polizeidirektor. Das wirkte, und Frau Brands, wieder besänftigt, befahl Lilljan, ins Bad zu gehen, sich das verweinte Gesicht abzuwaschen und in die Küche zu marschieren, um bei der Zubereitung des Abendbrots zu helfen. Uff! Wenigstens eine Sache, die glücklich ausgegangen ist! Der Polizeidirektor verabschiedete sich von uns und fuhr nach Lund zurück. Da kam Oberleutnant Torg auf den Einfall, den polnischen Konsul in Malmö zu befragen. Er schlug Witold Owicki vor, ihn zu begleiten. Ich vermute, unser Kriminalist befürchtete, der Konsul wäre sonst nicht geneigt, ihm irgendwelche Auskünfte zu erteilen. Durch Owickis Gegenwart, also eines Vertreters der Botschaft hingegen, würden ihm viele Komplikationen erspart bleiben, die sich aus der Vernehmung eines Mitglieds des diplomatischen Korps auf dem Territorium eines fremden Staates ergeben konnten. Herr Owicki war nicht sonderlich begeistert von Torgs Plan, aber er stieg, ohne seine Meinung zu dieser Geschichte zu äußern, mit dem Oberleutnant ins Auto. „Vielleicht möchten Sie auch mitfahren, Herr Doktor?“ bot er mir an. Der Herr Doktor, also ich, zog es jedoch vor, zu Hause 202
zu bleiben. Mir war das alles zu sehr an die Nieren gegangen. Die anderen Gäste, die die Aufregungen ebenfalls mehr als satt hatten, fanden auch, es sei besser, zu Hause zu bleiben. Wir spielten also eine Runde Bridge in der alten Besetzung: Familie Tuvesson, Herr Ingvar Harding und ich. Anfangs kiebitzte Gustav Dalin noch, wir schlugen ihm sogar vor, zu fünft zu spielen, aber schon nach etwa einer halben Stunde rief ihn Frau Lindner unter einem läppischen Vorwand nach oben, in ihr Zimmer. Nebenbei bemerkt hat es diese Frau ernstlich auf unseren Finanzier abgesehen. Nun ja, ein Bankdirektor ist nicht alle Tage zu haben. Ich fürchte, dieser Bankier aus Norrköping wird es diesmal nicht schaffen, sein, bis zum vierzigsten Lebensjahr bewahrtes Junggesellentum zu verteidigen. Unsere Nora versteht ihre Sache. Kein Wunder, sie hatte ja eine gute Praxis. Ich habe ganz vergessen, einen ziemlich wichtigen Umstand zu erwähnen, daß nämlich der Polizeidirektor die beiden Konstabler mit nach Lund genommen hat. Er brauchte sie offenbar. Oberleutnant Torg kam erst zum Abendessen mit dem Diplomaten zurück. Als wir einen Moment allein waren, teilte mir Herr Owicki mit, daß der Besuch in Malmö natürlich überhaupt nichts eingebracht hatte. Der Konsul kannte den alten Fischer gar nicht. Er hat lediglich ein paarmal den Stempel für das Visum in seinen Paß gedrückt. Und nicht einmal er persönlich, sondern einer von den Angestellten des Konsulats. Nach dem Abendessen spielten wir noch ein bißchen Karten, worauf sich die Gesellschaft zerstreute und sich auf die Zimmer begab. Langsam erloschen im Haus die Lichter. Ich war noch nicht richtig eingeschlafen, als es leise an meiner Zimmertür klopfte. Ich hatte die Tür abgeschlossen. Nach diesen Morden und nach dem „netten“ Gespräch mit dem Oberleutnant, der annimmt, ich 203
könnte das nächste Opfer des Verbrechers sein, schließe ich meine Tür jetzt immer ab. „Wer ist da?“ fragte ich. „Ich bin es, Torg“, hörte ich eine leise Stimme. „Machen Sie auf, aber bitte knipsen Sie kein Licht an.“ Ich erfüllte dem Oberleutnant die Bitte. Er kam leise ins Zimmer. Vollständig angezogen. „Ich habe am Fenster gesessen“, erklärte er mir flüsternd, „gleich nachdem die Lichter ausgingen. Vor ein paar Minuten habe ich bemerkt, daß jemand draußen vor dem Zaun der Pension herumstreicht.“ „Der Mörder?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht der Mörder, vielleicht auch nur ein gewöhnlicher kleiner Dieb oder ein Halbstarker. Jedenfalls jemand, der im Bilde ist, daß ich diese Nacht allein in der Villa bin und die Konstabler nach Lund zurückgefahren sind.“ „Was wollen wir tun?“ „Ziehen Sie sich schnell an, Doktor. Ohne Licht anzumachen. Ich habe schon Ihren Nachbarn, Owicki, geweckt. Zu dritt haben wir die Chance, den Kerl zu schnappen. Besitzen Sie eine Waffe?“ „Nein.“ „Schade. Owicki hat auch keine. Aber ich habe meine Dienstpistole. Das muß reichen. Wir überrumpeln ihn aus dem Hinterhalt.“ In der Zwischenzeit kleidete ich mich rasch und lautlos an. Noch ehe ich fertig war, schlüpfte die nächste Gestalt in mein Zimmer. Es war Owicki. „Wir gehen im Dunkeln ins Parterre hinunter. Ich verlasse das Haus als erster durch die Terrassentür. Ich versuche, möglichst unbemerkt an den Strand zu laufen, dort schlage ich einen Bogen, dann bin ich im Rücken dieses Kerls. Und ihr kommt nach einer Weile durch die Eingangstür nach in den Park. Aber erst, wenn ihr den Mann seht oder wißt, in welcher Ecke des Parks er steckt. 204
Die Nacht ist ausnehmend ruhig, man hört das leiseste Rascheln. Ich glaube nicht, daß sich der Kerl draußen besonders vorsieht. Er nimmt an, alle schlafen.“ „Wollen wir nicht lieber warten, bis er hereinzukommen versucht?“ „Nein, mein Plan ist besser. Ihr kommt aus dem Haus gestürzt und schreit: ‚Halt! Hände hoch!‘ Dann rennt er weg und läuft mir direkt in die Arme. Er kann uns nicht durch die Lappen gehen. Na, sind Sie fertig, Doktor?“ „Ja.“ „Dann kommen Sie.“ Die Treppe knarrte entsetzlich unter unser dreier Last, aber den Oberleutnant schien das nicht zu stören. Dafür verhielt er sich im Parterre wesentlich leiser. Lautlos öffnete er das Fenster, das sich neben der Haustür befindet. „Ihr haltet an diesem Fenster Wache. Wenn ihr etwas hört oder seht, kommt ihr schreiend herausgelaufen. Aber erst in ein paar Minuten, damit mir genügend Zeit bleibt, dem Burschen den Rückweg abzuschneiden. Viel Erfolg!“ Mit diesen Worten ließ uns Magnus Torg allein. Wir hörten nur ein leises Knarren. Das war Torg, der im Speiseraum die Terrassentür aufklinkte. Dann trat Totenstille ein. In dieser Nacht rauschte nicht einmal das Meer. Wir lauschten eifrig, aber wir hörten und sahen nichts. Ehrlich gesagt, glaubte ich nicht daran, daß der Mörder noch einmal in die Pension zurückkommen würde. Ich war überzeugt, der Oberleutnant bilde sich das nur ein. Aber nein! Auf einmal, es waren mindestens fünf Minuten seit Torgs Verschwinden verstrichen, hörten wir deutlich etwas knacken. Als ob jemand im Dunkeln auf einen am Boden liegenden Zweig getreten und der zerbrochen wäre. „Da!“ flüsterte Owicki und zeigte nach draußen. 205
Ich strengte meine Augen an, doch ich konnte nichts entdecken. „Bei der alten Kastanie“, erklärte der Diplomat. Und wirklich bemerkte ich jetzt einen Schatten, der sich dunkel von den Büschen rundum abhob. Der Mann stand reglos. Offenbar lauschte er auch, ob das von ihm verursachte Geräusch nicht Alarm auslösen würde. Wir rührten uns nicht. Der Schatten bewegte sich wieder. Jetzt schob er sich heraus aus dem Gebüsch, drückte sich an dem Baum vorbei und kam direkt auf unsere Villa zu. Ich sah ihn ziemlich deutlich. Er war für einen Schweden ziemlich klein von Statur. Vermutlich schwarz gekleidet, jedenfalls aber dunkel. In der Nacht sind alle Katzen grau, wie es so schön heißt. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gedrückt. „Jetzt!“ kommandierte Owicki und klinkte die Tür auf. Wir rannten beide hinaus. „Halt! Hände hoch!“ schrie der Pole in möglichst furchteinflößendem Ton. Der Mann blieb stehen, aber nur kurz. Mit einer schnellen Bewegung faßte er in die Tasche. Dann blitzte es auf. Ein Schuß fiel, kurz darauf ein zweiter. „Deckung!“ schrie Owicki. „Hinlegen!“ Ich ließ mich nicht lange bitten und schmiß mich ins nasse Gras. Der Mann gab wieder zwei Schüsse in unsere Richtung ab, dann ergriff er die Flucht. Jedoch nicht in die Richtung, aus der er gekommen war, sondern in die genau entgegengesetzte. Er rannte auf das Portierhäuschen zu, wo Frau Moberg wohnt. Das Türchen im Zaun hat ein elektrisches Schloß. Wie bei den meisten Einrichtungen dieser Art befindet sich an der Außenseite eine Klinke, so daß man das Türchen aufmachen kann, ohne sich der Automatik zu bedienen. Der Verbrecher wußte das wohl, denn er lief zu der Pforte und gelangte auf diesem Weg auf die Strandvägen hinaus. 206
„Laufen wir ihm nach?“ schlug Witold Owicki vor, als er sich aus dem Gras erhob. „Damit er uns abknallt? Diesmal hat er danebengeschossen, aber das nächste Mal trifft er vielleicht. Nein, danke, das riskiere ich lieber nicht“, erwiderte ich. „Soll ihn doch unser tapferer Magnus Torg verfolgen.“ Ich stand von der Erde auf und klopfte mir die Sachen ab. Wir hörten, wie ein Motor angelassen wurde, und aus den Büschen sprang keuchend unser Kriminalist. Er hielt die Pistole in der Hand. „Wo ist der Kerl?“ rief er. „Hat er geschossen?“ „Weg“, stellte ich kurz fest. „Aber es hätte nicht viel gefehlt, und in Lomma hätte es zwei neue Leichen gegeben. Viermal hat er auf uns geballert, wie auf Enten. Da hatten Sie aber einen glänzenden Einfall, Herr Oberleutnant!“ „Er ist durch die Gartenpforte entwischt“, erklärte Owicki. „Offenbar hatte er sein Auto auf der Chaussee geparkt, oder er hat einen Komplizen mit Wagen. Er ist in Richtung Bjarred davon.“ „So ein Fuchs“, stellte Magnus Torg anerkennend fest. „Er hat geahnt, daß wir ihm vielleicht eine Falle gestellt haben könnten und hat sich im Handumdrehen für einen anderen Fluchtweg entschieden. Er ist durch das Loch im Zaun gekommen, durch dasselbe, das Herr Breman von der Zeitung entdeckt hat. Das ist der beste Beweis dafür, daß wir es mit dem Mörder zu tun gehabt haben. Er wußte, wo das Loch ist, und hat es auch im Dunkeln gefunden.“ „Über das Loch haben alle Zeitungen geschrieben.“ Owicki war, wie es einem Diplomaten ansteht, vorsichtiger in seinen Urteilen. „Ich wußte schon davon, bevor ich aus Stockholm hierherkam.“ „Aber im Dunkeln ist es schwer zu finden.“ „Komisch, hat Frau Brands es denn nicht reparieren lassen?“ 207
„Natürlich hat sie das. Beide Teile des Gitters sind wieder mit Draht zusammengeknüpft. Weil er den Draht entfernen mußte, ist es mir ja gelungen, mich in den Hinterhalt zu legen“, erläuterte der Oberleutnant. „Zuerst habe ich einen Mann gesehen, der am Strand entlangging und unsere Villa genau musterte, dann ist er in die Büsche vor dem Zaun verschwunden. Da bin ich zu Ihnen gerannt. Ich wußte, daß der Zaun geflickt worden ist und daß es eine gute Viertelstunde dauern mußte, den Draht zu entfernen oder ihn an einer anderen Stelle durchzuschneiden. Im übrigen war ich mir sicher, daß der Verbrecher lieber versuchen würde, den Draht zu entfernen und den alten Weg zu benutzen. Nachts Maschendraht durchzuschneiden ist schwieriger und macht ziemlich viel Krach. Am Tag ist das was anderes, wenn der Straßenlärm alle anderen Geräusche übertönt.“ „Ich schätze, er hat vorgehabt, unseren lieben Doktor oder mich in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Vielleicht auch uns beide? Wir wissen zuviel über den Fall.“ „Das leuchtet mir nicht ein“, sagte ich. „Selbst wenn er uns beide erschossen hätte, würde das doch die Ermittlungen nicht aufhalten. Und was Sie inzwischen festgestellt haben, ist doch auch der Polizeidirektion in Lund bekannt. Sein Nachfolger, wer immer das wäre, würde sich auf dieses Material stützen.“ „Da haben Sie schon recht, aber er müßte sich erst wieder in die Geschichte hineinfitzen“, verteidigte der Oberleutnant seine These. „Und wir beide haben bestimmte Vorstellungen. Besonders Sie, Herr Doktor, knobeln immer neue Theorien über die Person des Verbrechers aus und über die Art und Weise, wie das Verbrechen begangen wurde. Sicherlich haben Sie auch jetzt wieder einen neuen Einfall?“ Torg sagte das alles sehr ernst, dennoch hörte ich aus seinen Worten leisen Spott heraus, vielleicht sogar eine Art Rüge, daß ich mich in seine Angelegenheiten einmi208
sche. In Lomma bin ich Privatperson, denn mein Posten als Polizeiarzt berechtigt mich nur im Bezirk Uppsala zu Amtshandlungen. Nirgendwo sonst. Aber der Oberleutnant hat mich ja selbst zu sämtlichen Polizeiberatungen hinzugezogen und auch behauptet, mein Tagebuch sei ihm eine gute Hilfe, weil darin viele Einzelheiten festgehalten sind; gerade die können ja dem Gedächtnis entschwinden, und die endgültige Aufklärung des Falls und die Überführung des Täters können verzögert werden. Trotzdem kränkten mich Torgs Worte ein wenig. „Ja“, sagte ich, „ich habe wirklich eine neue Idee.“ „Hab’ ich es nicht gesagt!“ rief Torg lachend. „Weil Sie ja nicht mal den Versuch gemacht haben, den Mann zu verfolgen, schlage ich vor, wenigstens die Spuren zu sichern. Immerhin wurde hier soeben versucht, zwei Leute zu erschießen. Daß der Kerl sein Ziel verfehlt hat, ist nur ein glücklicher Zufall. Hingegen müssen im Gras irgendwo die Hülsen der aus der Pistole abgeschossenen Projektile herumliegen. Es wäre gut, sie aufzusammeln. Dann könnte man die Waffe identifizieren, aus der die Schüsse fielen.“ Dieser Konterschlag hatte wohl gesessen, denn der Oberleutnant antwortete sofort: „Zuvor müßte man allerdings die Waffe finden. Außerdem möchte ich wissen, wie Sie die winzigen Hülsen in dem hohen Gras suchen wollen, mitten in einer mondlosen, stockdunklen Nacht. Ich versichere Ihnen, Herr Doktor, daß meine Konstabler das morgen früh weit besser besorgen werden und vor allen Dingen weit schneller.“ „Nun, wie die Praxis zeigt, kann man sich auf die Hilfe Ihrer Konstabler nicht sonderlich verlassen“, erwiderte ich. „Da würde ich schon lieber den Reporter der ‚Kvällsposten‘ darum bitten.“ Diese Retourkutsche war mir wohl auch geglückt, denn Owicki, mit dem ganzen Verlauf der Untersuchung bestens vertraut, einschließlich des Schnitzers der Poli209
zei, die nicht mal ein Loch im Zaun hatte finden können, brach in ein lautes Gelächter aus. Unser Kriminalist jedoch verstummte und unternahm nicht noch einen Versuch zurückzuschlagen. „Wir gehen wohl am besten schlafen?“ schlug der Diplomat vor. „Es ist höchste Zeit.“ „Ich bin Ihnen sehr dankbar, meine Herren“, sagte Magnus Torg. „Und bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie dieser Gefahr ausgesetzt habe. Ich habe allerdings nicht angenommen, daß der Mann so weit gehen würde, von der Waffe Gebrauch zu machen. Ich dachte, er würde, wenn wir Alarm schlagen, die Flucht ergreifen.“ In dieser Nacht war ich offenbar streitbar gesinnt, denn ich ließ auch das nicht unwidersprochen. „Das war leicht vorauszusehen. Er hat drei Menschen umgebracht, er läßt sich also auf kein Risiko mehr ein. Ein oder zwei Verbrechen mehr ändern nichts an dem Urteil, das ihn erwartet, wenn er in die Hände der Justiz fällt. Kein Wunder, daß er es für richtig hielt, sich gegen diese Eventualität zur Wehr zu setzen. Wir wissen auch, daß er eine Pistole besitzt, weil er sie schon einmal erfolgreich benutzt hat. Das alles hätten Sie in Ihre Kalkulation einbeziehen müssen, wenn Sie ihn in die Falle locken wollten.“ „Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung.“ „Ende gut, alles gut“, sagte der Diplomat begütigend. „Wir hatten ein unangenehmes Erlebnis, aber es war kurz, und uns ist nichts passiert.“ „Wie wäre es mit einem Kognak zur Versöhnung. Ich habe noch eine Riesenbuddel auf meinem Zimmer“, schlug der Oberleutnant vor. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß wir die Einladung beide gern annahmen. Nach diesen Aufregungen konnte uns ein Tröpfchen Alkohol nur guttun. In der Halle trafen wir die verschreckte Frau Brands. Die Schüsse hatten sie geweckt. Aus dem ersten Stock 210
fragte ebenfalls jemand, was das für ein Lärm sei. Der Oberleutnant beruhigte unsere Hausherrin. Wahrscheinlich habe ein Auto oder auch ein Motorrad den unnötigen Lärm verursacht. Er fügte auch hinzu, wir wären den ganzen Park abgegangen und hätten festgestellt, daß alles in Ordnung sei. Mit dieser Erklärung waren sowohl Frau Brands als auch die Gäste der Pension zufrieden. Das Zimmer, in das uns der Oberleutnant führte, war größer als die unseren im ersten Stock. Es hatte nur einen Nachteil. Es besaß kein eigenes Bad. Man mußte das gemeinsame benutzen, das sich im Parterre befand. Magnus Torg holte eine große, bis zur Hälfte mit einer braunen Flüssigkeit gefüllte Flasche aus dem Schrank und drei bauchige Kognakschwenker mit Goldrand dazu. Geschickt goß er ein, und zwar nicht, wie üblich, nur einen Schluck, sondern bis fast obenhin. „Skol“, sagte er. Wir hoben die Gläser an den Mund. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Der Kognak schmeckte vorzüglich. Er hatte auch eine wunderbare Blume. „Meukov“, sagte Owicki genießerisch, „meine Lieblingsmarke. Den mag ich noch lieber als Rémy-Martin. Ein herrlicher Duft. Da weiß man nicht, was besser ist: trinken oder riechen. Aber mal ganz abgesehen“, fügte er hinzu und kam damit wieder auf unser eigentliches Thema zurück, „das war ein außerordentlich frecher Halunke. Es genügt ihm wohl nicht, daß er bereits drei Leute niedergemacht hat. Eine seltsame Mordlust.“ „Bestimmt nicht“, widersprach ihm Magnus Torg, „der Mechanismus, einmal in Gang gesetzt, kommt einfach nicht mehr zum Stehen. Dieser Mann wollte bestimmt nur einen Menschen umbringen, Maria Jansson. Da war er noch Herr über die Ereignisse, jetzt beherrschen die Ereignisse ihn. Er muß ständig wieder jemanden umbringen.“ „Das ist zuviel für mich“, gestand der Diplomat. 211
„Ganz einfach. Er hat Maria Jansson umgebracht, weil er fürchtete, sie habe ihn erkannt und könne ihn ausliefern. Ich nehme an, es handelt sich um einen Mann, der Hunderte oder Tausende von Menschen auf dem Gewissen hat.“ „So ein Mensch hat kein Gewissen“, korrigierte ihn Owicki. „Richtig. Jedenfalls ist es sicher jemand, der in vielen Ländern, die während des Krieges unter deutscher Besatzung waren, ein Gerichtsurteil und die Todesstrafe zu erwarten hätte. Nur in der Bundesrepublik Deutschland würde er ein milderes Urteil bekommen, denn dort wurde die Todesstrafe abgeschafft. Als dieser Unmensch erkannte, daß er Gefahr lief, entlarvt zu werden, beschloß er, sich zur Wehr zu setzen. Und er hielt es für den besten Ausweg aus dieser Situation, Frau Jansson umzubringen, bevor sie die entsprechenden Schritte unternehmen konnte. So kam es zu dem ersten Verbrechen.“ „Aber weshalb mordete er weiter?“ „Weil er sehr rasch durchschaute, daß er sein Ziel nicht erreicht hatte. Es stellte sich heraus, daß es in Lomma noch jemanden gab, der in Auschwitz war. Damit nicht genug. Es war jemand, der sich mit Maria Jansson in Verbindung gesetzt hatte. Der Verbrecher wußte nicht, aber er durfte annehmen, daß die Frau ihrem Landsmann und ehemaligen Leidensgefährten ihr Geheimnis anvertraute. Er mußte also den zweiten Mord begehen und auch diesen Auschwitzhäftling umbringen.“ „Er hätte sich doch aus dem Staube machen können“, bemerkte ich. „Es gibt Länder, die ehemalige Kriegsverbrecher nicht ausliefern. Zum Beispiel Spanien oder Portugal, von den südamerikanischen Republiken ganz zu schweigen.“ „Offensichtlich kam eine Flucht nicht in Betracht“, erwiderte Torg. „Vielleicht steht sich der Mann hier in 212
Schweden gut? Besitzt beispielsweise ein seriöses Unternehmen? Es tat ihm leid, das alles aufzugeben. Er fand, es sei bequemer, jemanden umzubringen. Er war überzeugt, daß er straflos ausgehen würde, und er ist es, wie man sieht, noch immer.“ „Aber den dritten Mord verstehe ich nicht. Weshalb hat er den Polizisten Algot Olsson erstochen? Auf die Art hat er seiner Sache doch erheblich geschadet. Weil er sich sozusagen persönlich mit der Polizei angelegt hat. Er weiß, daß die Kollegen des Ermordeten ihm dieses Verbrechen niemals vergessen und mit um so größerem Eifer Jagd auf ihn machen werden.“ „Das ist richtig“, gab der Oberleutnant zu. „Aber bedenken Sie doch mal den ersten Mord. Opfer des Anschlags war eine sehr reiche Frau, die zweifellos viele Beziehungen hatte. Ich kann Ihnen versichern, daß kein Tag vergeht, an dem wir aus Stockholm nicht angespornt werden, den Mörder von Maria Jansson nun endlich zu fassen.“ „Das kann ich mir vorstellen. Dennoch sehe ich kein Motiv für die Ermordung von Olsson.“ „Ich bin durchaus mit Ihrer Ansicht einverstanden, Herr Doktor Nilerud“, erwiderte Torg. „Olsson kam ums Leben, weil er den Täter unmittelbar vor oder nach dem Mord getroffen oder gesehen hat. Zwar brachte er diesen Menschen nicht mit dem Mörder in Verbindung, aber er konnte ja jeden Augenblick auf diesen Gedanken kommen. Deshalb mußte der Täter Olsson auf der Stelle erledigen. Sie sehen, der einmal in Gang gesetzte Mechanismus des Verbrechens arbeitet ununterbrochen weiter und fordert immer neue und neue Opfer. Diesmal sollten wir beide es sein, der Herr Doktor und ich.“ „Aber wieso denn?“ „Offenbar kennen auch wir den Mörder und sind nur nicht imstande, ihn zu überführen, und er hat Angst, daß dieser Augenblick schließlich doch kommen kann.“ 213
Owicki hob sein Glas. „Ich trinke auf die erfolgreiche Arbeit der Kriminalpolizei und auf die rasche Ergreifung des Mörders“, sagte er. „Danke sehr“, antwortete Torg und deutete eine Verbeugung an. „Ich bin überzeugt, daß es nicht mehr lange dauern wird. Unser heutiges Manöver wird dazu beitragen, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Spätestens in ein paar Tagen schließen sich hinter diesem Mann die Gefängnistore.“ Wir saßen noch ein paar Minuten beisammen, schlürften den Rest Kognak aus den Gläsern, darauf begaben sich Owicki und ich in den ersten Stock auf unsere Zimmer. Es war schon nach zwei. Ich konnte lange nicht einschlafen. Ich grübelte über diesen rätselhaften Mann nach. Was suchte er noch in Frau Brands’ Villa? Er hatte eine Waffe bei sich gehabt, folglich war er zu allem entschlossen. Der beste Beweis dafür war, daß er Gebrauch von der Pistole gemacht hatte, obwohl er, wie ich annehme, diesen Fluchtweg auch hätte wählen können, ohne die Waffe aus der Tasche zu ziehen. Je länger ich darüber nachdenke, um so unverständlicher wollen mir die Ereignisse dieser Nacht erscheinen. Das kann doch nicht der Mörder von Frau Jansson gewesen sein! Es ist geradezu unmöglich, daß der Mann, der aus dem Gebüsch trat, der Verbrecher ist, nach dem Oberleutnant Torg erfolglos sucht. Und dennoch kannte dieser Kerl nicht nur den Weg in die Villa, sondern machte sich die Mühe, den Draht zu entfernen, mit dem Frau Brands den beschädigten Maschendraht ausbessern ließ. Schon das widerspricht meinen ersten Vermutungen, daß wir es mit einem Landstreicher oder einem Rowdy zu tun gehabt hätten; mit einem Menschen, der eigentlich zufällig in den Park eingedrungen ist, der unsere Pension umgibt. 214
Ich begreife auch nicht die Siegesgewißheit unseres Oberleutnants. Zu behaupten, er würde spätestens in einigen Tagen den Mörder entlarven, ohne diese Behauptung mit den geringsten Erfolgen in der Ermittlung abdecken zu können! Sollte Torg so wenig vertragen, daß ihn ein einziges Glas Kognak umwirft? Dabei kann man die Äußerung des Oberleutnants wirklich schlecht für etwas anderes ansehen als für eitle Prahlerei. Der Täter ist klug, er hat alle Spuren, die er hätte hinterlassen können, sehr gründlich beseitigt und darf sich absolut sicher fühlen. Nie und nimmer wird die nächtliche Episode dazu beitragen, Licht in den geheimnisvollen Fall zu bringen, sondern sie wird ihn nur noch mehr verwirren. Letzten Endes bin ich seit vielen Jahren Polizeiarzt und hatte in Hunderte, ja in Tausende von Kriminalfällen Einblick. Dabei erwirbt man schon ein bißchen Routine! Ich sehe, was jedem Fachmann sonnenklar sein dürfte: Die Ermittlung ist an einem toten Punkt angelangt, und nichts deutet darauf hin, daß sie wieder in Gang kommt. Ich gestehe, daß ich den jungen Oberleutnant der Kriminalpolizei in diesen wenigen Tagen ins Herz geschlossen habe. Er tut mir sogar leid, denn ich weiß, wie mächtig er sich bei diesem Fall in die Nesseln setzen wird. Die schwedische Polizei erfreut sich zu Recht des Rufs, eine der besten der Welt zu sein. Aber auch bei uns wird ja ein gewisser Prozentsatz an Verbrechen nicht aufgeklärt. Das ist durchaus verständlich. Das „perfekte“ Verbrechen gibt es zwar nicht, aber wenn die Polizei nicht über genügend Indizien verfügt, kann sie nichts erreichen. Solche Akten werden dann in einem besonderen Schrank mit der Aufschrift „Eingestellte Verfahren“ untergebracht, und danach wird ein- bis zweimal im Jahr überprüft, ob nicht neue Tatsachen an den Tag gekommen sind, die den alten, festgefahrenen Fall auf ein neues Gleis stoßen könnten. 215
Es ist auch nicht üblich, daß der Polizeibeamte, der die Ermittlungen in solch einem unaufgeklärten Fall leitet, aus diesem Grunde irgendwelche Unannehmlichkeiten zu erwarten hätte. Natürlich nur dann nicht, wenn eine Revision nicht bestimmte Versäumnisse aufdeckt. Aber im Mordfall Maria Jansson liegt die Sache ganz anders. Hier war das Opfer des Verbrechens eine der reichsten Frauen Schwedens. Die Inhaberin einer großen internationalen Firma. Solche Leute haben für gewöhnlich weitreichende Beziehungen. In der Regierung, der Opposition und sogar am Königshof. Sicherlich hat der junge Jansson bereits Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um den Tod seiner Mutter zu rächen. Wenn die Untersuchung in einem solchen Fall nicht von Erfolg gekrönt ist, sucht man immer nach einem wirklichen oder vermeintlichen Schuldigen, und die Sache verwandelt sich rasch aus einer gewöhnlichen kleinen Kriminalgeschichte in eine Kraftprobe zwischen Regierung und Opposition. Die Presse unterschiedlichster Schattierung formt die öffentliche Meinung. Die Opposition attackiert die Regierung, die Regierung zieht sich aus der Affäre, indem sie diejenigen, die sich Versäumnisse zuschulden kommen ließen, bestraft. Und wer wird dann bestraft? Doch nicht der Minister und nicht der Polizeidirektor. Alles bleibt am schwächsten Kettenglied der Staatsgewalt hängen. Was den Mord in Lomma anbelangt, so kann der Mann, den man der Öffentlichkeit als Sündenbock zum Fraß vorwerfen wird, kein anderer als Oberleutnant Magnus Torg sein. Es war sein Pech, daß ausgerechnet er für diesen komplizierten Fall bestimmt worden ist. Der junge Mann hat gar nichts, aber auch gar nichts versäumt, er hat die Ermittlung mustergültig geleitet, und selbst ein Sherlock Holmes hätte kein besseres Ergebnis erzielen können. Trotzdem werden ihn alle für schuldig erklären, und niemand wird den Oberleutnant in Schutz 216
nehmen. Er wird von großem Glück sagen können, wenn er mit einer Versetzung in die Nähe des Polarkreises davonkommt und nicht in Unehren aus der Polizei entlassen wird. Ich bedaure es außerordentlich, aber ich kann ihm leider nicht helfen.
14. Magnus Torg wird sehr gesprächig Die Stimmung in Frau Brands’ Pension besserte sich in den darauffolgenden Tagen sichtlich. Dazu trug vor allen Dingen das herrliche Wetter bei. Es setzte eine Hitzeperiode ein, wie sie „selbst die ältesten Bewohner von Skåne“ zu dieser Zeit noch nicht erlebt hatten. Kein Wunder, daß der Sommer 1967 später in Schweden als „der Sommer des Jahrhunderts“ bezeichnet wurde. Wer irgend Zeit hatte, nutzte die Gelegenheit und fuhr in die Ferien. Und so füllte sich ein so beliebter Ort wie Lomma denn auch sehr rasch mit Schwärmen von Sommerfrischlern. Das blieb nicht ohne Folgen für die Pension in der Strandvägen. Es kamen eine Menge neuer Gäste aus Stockholm und aus Nordschweden. Unter diesen Umständen hörte sogar Nora Lindner auf, über Langeweile zu klagen und ständig von ihrer baldigen Abreise zu reden. Die Presse hatte, wie es für die Presse nun mal typisch ist, eine andere Sensation zum Ausschlachten gefunden. Aus einem der Kanäle bei Stockholm war die Leiche eines Mannes gefischt worden, der drei Kugeln in der Brust hatte. Und da einige Monate zuvor ein Unternehmer aus Göteborg unter rätselhaften Umständen verschwunden war, zerbrachen sich jetzt alle den Kopf, ob das nun seine Leiche sei, die man vom Grunde des Fjords geborgen hatte. Um die merkwürdige Mordserie in Lomma war es still geworden. 217
Der Oberleutnant war in den letzten Tagen kaum in der Strandvägen aufgekreuzt. Er hatte ein Zimmer im Parterre behalten, den Raum im zweiten Stock, wo seine beiden Gehilfen übernachtet hatten, räumte er. Er hatte sie nach Lund zurückgeschickt. Selbst Doktor Bjorn Nilerud, der dem Oberleutnant bei seinen Untersuchungen so bereitwillig unter die Arme gegriffen hatte, gab es auf, weiter an seinem Tagebuch zu schreiben, weil es ihm einfach nicht gelang, auch nur ein paar Worte mit dem Kriminalbeamten zu wechseln. Am Dienstag, dem zwanzigsten Juni, nach dem Mittagessen, versammelten sich wie üblich die meisten Gäste der Pension im Salon. Lilljan trug auf einem Tablett zur freien Wahl Kaffee oder Erfrischungsgetränke aus. In einer Ecke des Raumes stand der Reporter der „Kvällsposten“ Sven Breman. Er sah sich in der Runde um und suchte offenbar nach einem bekannten Gesicht. Sein Blick fiel auf Doktor Nilerud, der mit Herrn Ingvar Harding und dem Ehepaar Tuvesson in einer anderen Salonecke saß. Der bekannte Journalist aus Malmö begrüßte die alten Bekannten, und das Gespräch über die Aussichten der diesjährigen Touristensaison unterbrechend, fragte er den Polizeiarzt: „Ich suche Magnus Torg. Was ist denn los mit ihm?“ „Das möchten wir auch gern wissen“, erwiderte Frau Tuvesson lachend. „Wir sitzen hier wie im Gefängnis. Sie wissen doch, daß wir Lomma nicht ohne Genehmigung des Untersuchungsoffiziers verlassen dürfen.“ Der Reporter ließ den Blick durch den geschmackvoll eingerichteten Raum schweifen und sagte lächelnd: „Ein außerordentlich luxuriöses Gefängnis, das müssen Sie aber zugeben. Sollte ich irgendwann einmal mit dem Gesetz in Konflikt kommen, würde ich mir ‚lebenslänglich‘ wünschen, unter solchen Bedingungen.“ „Gewiß, gewiß, wir können nicht klagen“, räumte die 218
Frau des Kapitäns ein, „aber der Urlaub meines Mannes geht zu Ende. Wir wollten noch meine Eltern in Borlänge besuchen und danach ein paar freie Tage in Göteborg haben. Mein Mann geht doch wieder auf große Fahrt nach Australien, und ich sehe ihn erst in vier Monaten wieder, und dann auch nur für fünf Tage.“ „Seit ein paar Tagen versuche ich, den Oberleutnant zu erwischen“, erklärte der Journalist. „Ich habe mehrmals in Lund angerufen und auch hier, in Lomma, aber nie hab’ ich ihn angetroffen. Und meine Journalistennase sagt mir, wenn unser Oberleutnant so unerreichbar und dauernd auf Achse ist, beweist das nur, daß er auf eine neue Spur gestoßen ist. Torg hat mir versprochen, daß ich als erster in der ‚Kvällsposten‘ über diese geheimnisvolle Affäre schreiben darf, und jetzt versteckt er sich vor mir.“ „Ich schätze“, bemerkte Doktor Nilerud, „Oberleutnant Torg versteckt sich nicht unbedingt nur vor der Presse, sondern er ist überhaupt bemüht, niemandem unter die Augen zu treten. Besonders nicht seinen Vorgesetzten. Soweit ich im Bilde bin, und ich weiß eigentlich, ohne mich brüsten zu wollen, alles, sind die Ermittlungen an einem toten Punkt angelangt und noch nicht wieder in Gang gekommen. Und es deutet nichts darauf hin, daß Ihr Nachmittagsblatt in nächster Zeit neues Material über den Fall ergattern wird. Aber um auf das Problem zurückzukommen, das Frau Tuvesson hier eben angeschnitten hat, so bin ich völlig mit ihr einverstanden. Selbst ein noch so luxuriös eingerichtetes Gefängnis bleibt immer ein Gefängnis. Jeder von uns möchte seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen. Privaten oder beruflichen, und man kann niemanden ohne Grund in der gemütlichen und bequemen Pension von Frau Brands festhalten. Mein Urlaub geht auch am fünfundzwanzigsten Juni zu Ende. Wir müssen ein energisches Wort mit dem Oberleutnant reden, und 219
wenn das nicht hilft, beim Polizeidirektor in Lund Beschwerde einlegen.“ In dem Augenblick hielt vor dem Haus ein Wagen. Es war noch keine Minute verstrichen, als Oberleutnant Torg schon in der Salontür stand. Er blickte sich im Raum um, und als er den Reporter bemerkte, der ihm Zeichen machte, ging er auf die Gesellschaft am Tisch zu. „Wird der Wolf genannt, kommt er schon gerannt“, rief der Journalist lachend und streckte dem Oberleutnant die Hand hin. „Sie haben von mir gesprochen?“ Magnus Torg tat verwundert. „Von Ihnen und von dem Gefängnis, das Sie uns hier geschaffen haben“, stichelte Klara Tuvesson. „Gefängnis? Wer hat hier jemals von Gefängnis gesprochen? Ganz bestimmt nicht ich.“ „Wir dürfen also abreisen?“ „Meinetwegen sofort.“ „Bisher hieß es doch immer, wir dürften Lomma nicht verlassen, bis der Mord an Frau Jansson aufgeklärt sei, Herr Torg“, brachte Egil Tuvesson in leicht gereiztem Ton vor. „Das hieß es tatsächlich“, gab Magnus Torg zu. „Aber da wir den Mord aufgeklärt haben, ist dieses Verbot oder vielmehr meine höfliche Bitte an Sie nicht mehr gültig.“ „Der Fall ist aufgeklärt?“ fragten der Reporter und der Polizeiarzt wie aus einem Munde. „Ganz recht“, bejahte Magnus Torg. „Ich habe die Ermittlungen soeben abgeschlossen.“ „Und Sie wissen, wer Maria Janssons Mörder ist?“ Der Journalist zückte Notizbuch und Kugelschreiber. „Natürlich weiß ich das. Ich weiß überhaupt alles.“ „Sie haben den Mörder nicht verhaftet?“ „Noch nicht. Offen gesagt, hielt ich es nicht für nötig, mich damit sonderlich zu beeilen. Jedenfalls kann ich 220
ihn jeden Augenblick festnehmen, und ich tue es noch heute.“ „Und wer ist es nun?“ „Ein ehemaliger SS-Offizier. Einstiger Angehöriger der Lageraufsicht im Konzentrationslager Auschwitz.“ „Der Teufel soll Sie holen!“ rief der König der schwedischen Reporter aufgebracht. „Hören Sie endlich auf, in Rätseln zu sprechen. Ich bin zu alt, als daß man mit mir Katz und Maus spielen könnte.“ „Na, schön“, willigte der Oberleutnant ein. „Ich will mich an unsere Abmachung halten und Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Ich fürchte jedoch, daß das nicht viel nützen wird. Die ‚Kvällsposten‘ ist ein Nachmittagsblatt, und die Mitteilung der Polizeidirektion in Lund über den Abschluß des Falls und die Überführung des dreifachen Mörders aus Lomma wird von der gesamten Morgenpresse veröffentlicht. Dafür können Sie, Doktor Nilerud, Ihr Tagebuch beenden.“ „Und ich befürchte“, sagte der Journalist immer wütender, „es kommt auch noch zu einem vierten Mord. An einem gewissen Kriminalbeamten.“ „Ach, wie ungeduldig diese Journalisten doch sind.“ Magnus Torgs Laune wurde immer besser. „Tja, da kann man nichts machen, da ich soeben unmißverständlich bedroht wurde und um mein Leben bange, gebe ich nach.“ Sven Breman wollte noch etwas sagen, aber schließlich winkte er ab. „Nun also“, begann Magnus Torg seinen Bericht, „ich muß gestehen, daß wir es mit einem sehr gerissenen Verbrecher zu tun hatten. Er bildete sich ein, er bekäme das Kunststück fertig, das nie jemandem glücken wird: nämlich Menschen ermorden zu dürfen, ohne dafür bestraft zu werden. Dieser Mann war außerdem derart von sich eingenommen, daß er noch bis vor kurzem glaubte, ihm sei keinerlei Fehler unterlaufen und er wäre über 221
jeden Zweifel erhaben. Und trotzdem irrte er. Ich hatte ihn schon eine ganze Weile im Verdacht, eigentlich schon vom ersten Tage an, als ich die Ermittlungen übernahm. Je mehr Zeit verging, um so mehr festigte sich mein Verdacht. Anfangs hatte ich fast keine Beweise, aber inzwischen verfüge ich über unwiderlegbare Argumente. Zumal der Verbrecher neue Fehler begangen hat. Ich möchte betonen, daß die wertvolle Hilfe von Herrn Doktor Nilerud und das von ihm geführte Tagebuch ebenfalls enorm dazu beigetragen haben, den Verbrecher zu entlarven. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, Herr Doktor.“ Der Polizeiarzt neigte schweigend den Kopf. „Wir stellten fest, daß Maria Jansson, wie Sie ja alle wissen, einen Mann getroffen hatte, der sie an einen Kriegsverbrecher, einen SS-Offizier aus dem ehemaligen Lagerkommando des Konzentrationslagers Auschwitz, erinnerte und offenbar in Schweden untergetaucht war. Maria Jansson war sich nicht sicher, ob ihr Verdacht gerechtfertigt sei, deshalb wandte sie sich nicht an die Polizei, sondern vertraute ihre Befürchtungen Herrn Helmer Jansson und dem polnischen Diplomaten Witold Owicki sowie einem gewissen Auschwitzhäftling an, der ständig in Lomma wohnte.“ „Den gammle fiskaren?“ fragte der Reporter. „Richtig! Dem alten Fischer. Wir wissen genau, daß alle drei Gespräche in polnisch geführt wurden. Herr Jansson und Herr Owicki erinnern sich genau, daß Frau Jansson. am Telefon polnisch mit ihnen gesprochen hat. Auch Fräulein Lilljan erinnert sich, daß das letzte Telefongespräch, das Frau Jansson an dem Tag, an dem sie starb, führte, in einer Sprache stattfand, die dem Mädchen unbekannt war. Daher die einfache Schlußfolgerung: Der Verbrecher beherrscht diese Sprache. Ich gestehe, die Polizei machte einen harmlosen Versuch und überzeugte sich, daß derjenige, den wir verdächtigten, 222
die Verbrechen begangen zu haben, tatsächlich Polnisch kann. Vielleicht beherrscht er es nicht unbedingt in Wort und Schrift, aber er versteht ausgezeichnet Polnisch.“ „Und ich verstehe überhaupt nichts mehr“, stellte Doktor Nilerud fest. „Nicht mehr lange, und Sie werden alles verstehen, meine Herrschaften“, erwiderte der Oberleutnant und kehrte zu seinem Bericht zurück. „Aber daß er sich mit seinen Polnischkenntnissen verriet, war durchaus nicht der erste Fehler des Verbrechers. Schon vorher stellte er einen unglücklichen Vergleich an, indem er sich anerkennend über meine sportliche Gestalt ausließ: Er bedauerte, daß ich keine Uniform trage, obwohl mir die grüne Uniform sehr zu Gesicht stehen würde. Der Verbrecher vergaß sich auf geradezu peinliche Weise. Grüne Uniformen trug die Gestapo in Auschwitz. Die schwedische Polizei, der Teil, der uniformiert ist – die Verkehrspolizei und die Ordnungspolizei –, hat dunkelblaue Uniformen. Das war das erstemal, wo ich Verdacht gegen den Mann schöpfte.“ Niemand unterbrach Torg, deshalb fuhr er fort: „So fand also in Lomma eine Begegnung zwischen einem ehemaligen Kriegsverbrecher und dessen Opfer statt. Aber der Verbrecher war gleichfalls nicht sicher, ob er erkannt worden war. Deshalb beobachtete er Frau Jansson aufmerksam. Fliehen konnte er nicht. Er hätte sich sofort verraten. In dieser Situation hätte er nicht einmal Skandinavien verlassen können. Er wäre höchstens bis in die Nachbarschaft, nach Kopenhagen, gekommen. Deshalb verfolgte er vorerst jeden Schritt, den Maria Jansson unternahm. Es gelang ihm, ihr Gespräch mit dem alten Polen zu belauschen. Er begriff, daß er rasch und entschlossen handeln mußte. Wenige Stunden später war die reichste Frau Schwedens nicht mehr am Leben.“ 223
Sven Breman notierte rasch die Worte des Oberleutnants. „Ich nehme an, ursprünglich hatte der Verbrecher nicht vor, den alten Fischer umzubringen. Er glaubte, von ihm und dessen Beziehungen zu Maria Jansson würde die Polizei niemals erfahren. Aber der Inhaber eines Pelzgeschäftes in Malmö erwähnte den alten Polen in seinen Aussagen, und Lilljan half uns, ihn zu identifizieren. Ich beschloß, mich am nächsten Morgen mit Stanisław Trzeciecki zu treffen. Leider war der Mörder schneller.“ „Jetzt geht mir ein Licht auf“, sagte der Journalist. „Aber wenn man den Weg des Verbrechens einmal beschritten hat, muß man ihn bis zu Ende gehen. Der Verbrecher traf vor oder auch nach der Ermordung des Polen Algot Olsson, den Polizisten aus Lomma. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Wenn nun Olsson diese Begegnung mit dem Verbrechen in Verbindung brachte? Deshalb stirbt der Polizist von derselben Hand. Gleichzeitig tut der Verbrecher alles, um die Wirklichkeit zu verschleiern. Ein hervorragender Schachzug war, in Trzecieckis Wohnung den Ring mit der Perle fallen zu lassen, von dem wir wußten, daß er vorher Frau Jansson gehört hatte. Ich vermute, er hatte den Ring gefunden, als er Lilljan vom Finger gerutscht war.“ „Sie sprechen immerzu in Rätseln“, warf Kapitän Tuvesson ein. „Ich höre mir Ihren Bericht an und kann mir nicht im mindesten zusammenreimen, wer der Mörder ist. Wie heißt er?“ „Bitte sehr. Hier ist sein Vorname, sein Familienname sowie sein vollständiger Dienstrang: SS-Hauptsturmführer Hubert Meixner.“ „Wie sind Sie dahintergekommen?“ „Als unser Verdacht immer konkreter wurde, führten wir ein winziges Experiment durch. Es erbrachte den Beweis, daß der Mann, den wir verdächtigten, 224
wirklich Polnisch konnte. Wir verschafften uns auch mühelos seine Fingerabdrücke. Er hinterließ sie ganz einfach auf einem Glas. Wir besaßen auch sein Foto. Sein jüngstes aus Lomma, aber auch verschiedene andere von früher, sogar welche von vor zwanzig Jahren. Die Beweisstücke, über die wir verfügten, schickten wir nach Polen. Dort hat man die ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen Nazis noch nicht vergessen wie andernorts. Polen besitzt eine reichbestückte Sammlung von Fotos und Beweisen für die Greueltaten dieser Verbrecher, die im Konzentrationslager Auschwitz ‚arbeiteten‘ Maria Jansson suchte vergeblich jemanden, der auch in Auschwitz war und sie in ihrem Verdacht bestätigt hätte; sie machte das nicht sehr geschickt, wählte den privaten Weg, der Polizei aber fiel die Suche bedeutend leichter. Wir konnten von unseren internationalen Verbindungen Gebrauch machen. Die Polen erkannten mühelos, wen unsere Fotografie vorstellte, und schickten uns ausführliche Angaben zur Person dieses Hubert Meixner und dessen Vergangenheit. Dank dieser Dokumente wissen wir, daß Meixners Mutter Norwegerin war, der Vater hingegen, Hans Meixner, über zehn Jahre in Sosnowiec in Polen gearbeitet hat, wo Hubert als Kind sogar eine polnische Schule besuchte. Daher konnte er neben Deutsch auch Polnisch und Norwegisch. Wir wissen auch, daß die Spezialität des SSHauptsturmführers Phenolspritzen ins Herz waren. Auf die Art tötete er mindestens tausend Häftlinge. Außerdem nahm Meixner, wenn neue Menschentransporte ins Lager kamen, die sogenannte Selektion vor. Einen Teil des Transports schickte er sofort in die Gaskammer, die Jüngeren und die Kräftigeren hingegen zur Arbeit, was unter den dortigen Bedingungen auch dem Todesurteil gleichkam, nur einem auf Raten. Höchstwahrscheinlich hat dieser Mann die Mutter und die 225
Geschwister von Frau Jansson ins Gas geschickt. Später tauchte er eine Zeitlang in Deutschland unter, indem er sich mal als Pole, mal als Norweger ausgab. Er besaß ausgezeichnete Papiere, die hatte er sich in Auschwitz beschafft. Er hat sie einfach den Leuten weggenommen, die er selber umgebracht hat. Auf die Weise konnte er sich am Kriegsende nach Norwegen durchschlagen und von dort nach Schweden. Er fand ein hervorragendes Versteck. Es gibt ein Sprichwort, das heißt: Unter der Lampe ist es am dunkelsten. Wenn nicht der Zufall gewesen wäre, eben diese Begegnung mit Maria Jansson, wäre er wohl nie entdeckt worden. Aber heute wird er festgenommen. Die drei Morde haben ihm nichts genutzt, die im übrigen nur ein Tropfen im Meer seiner Verbrechen sind.“ Magnus Torg unterbrach seinen Bericht und sah auf die Uhr. „Ich habe mich hier schrecklich festgesessen“, sagte er. „Ich bin eigentlich in die Pension gekommen, um meine restlichen Sachen abzuholen. Ich muß nach Lund zurück. Sie entschuldigen, meine Herrschaften, daß ich Sie verlasse. Mir steht heute noch eine Menge Arbeit bevor.“ Mit diesen Worten machte der Oberleutnant eine Bewegung, als wollte er aufstehen, aber es hielt ihn offenbar noch ein Gedanke zurück, denn er wandte sich an Doktor Bjorn Nilerud und sagte: „Sie wollten heute nach Lund fahren, Herr Doktor? Das paßt gut, ich habe noch einen Platz in meinem Wagen frei.“ „Ich müßte mich erst noch umziehen“, erwiderte der Polizeiarzt mit etwas belegter Stimme. „Nun, fünfzehn oder, sagen wir, zwanzig Minuten würde ich schon auf Sie warten.“ „Danke sehr. In zwanzig Minuten bin ich zurück.“ Doktor Nilerud stand auf und verließ rasch den Salon. „Und Sie haben uns trotzdem nicht verraten, wer die226
ser Verbrecher Hubert Meixner ist!“ Klara Tuvesson erhob sich ebenfalls aus ihrem Sessel. „Bevor der Staatsanwalt nicht den offiziellen Haftbefehl unterschrieben hat, darf ich kein Dienstgeheimnis verraten“, erklärte Magnus Torg. „Ich habe Ihnen sowieso schon zuviel gesagt. Ich bin mächtig ins Schwatzen gekommen.“ „Ich gehe nach oben.“ Klara Tuvesson nickte dem Kriminalpolizisten und dem Journalisten zu und verließ ebenfalls den Raum. Ihr Mann folgte ihr. Im Salon saßen jetzt nur noch zwei Männer. Magnus Torg und der Reporterkönig Sven Breman. Der Journalist schob seinen Sessel näher an den des Kriminalisten heran, und obwohl niemand mehr im Raum war, begann er zu flüstern … Magnus Torg lauschte dem Journalisten und lächelte fein. Er schien auf niemanden und nichts zu achten außer auf seinen Gesprächspartner. Aber wer Torg näher kannte, dem entging nicht, daß der Oberleutnant zwar reglos dasaß, aber seine Nerven bis zum letzten angespannt waren. Alle Augenblicke eilte sein Blick von einem Salonfenster zum anderen. Draußen herrschte an diesem schönen Sommernachmittag völlige Stille. Nur von der Straße drang manchmal das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos herüber. Auf den Rasenflächen, in sorgloser Pose, stand an jeder Seite der Villa ein Polizist. Auch vor dem Türchen zum Strand war eine Gestalt in dunkler Uniform zu erkennen. Außer dem Wagen, mit dem der Oberleutnant gekommen war, hatte ein zweiter mit der Aufschrift „Polis“ vor dem Tor der Pension geparkt. Torgs Männer befanden sich auf ihrem Posten, und er verfolgte auf dem Zifferblatt seiner Uhr, welchen Weg der große Zeiger bereits zurückgelegt hatte, und zwang sich mit letzter Willensanstrengung zu einem ungezwungenen Gespräch mit dem Journalisten. 227
Ein paarmal schaute jemand zur Salontür herein, aber als er die beiden Herren in ein ernsthaftes Gespräch vertieft sah, zog er sich wortlos zurück.
15. Doktor Nilerud bricht sein Tagebuch ab Dienstag, den 20. Juni So bleiben mir also nur noch knapp zwanzig Minuten, um meine Notizen zu Ende zu bringen. Ich habe am Fenster nachgesehen. An eine Flucht durch den Park ist nicht zu denken. Da unten stehen drei Polizisten Wache. Ich muß einen anderen Fluchtweg wählen … Dieser Magnus Torg hat mich überlistet. Ich gestehe, ich habe meinen Gegner unterschätzt. So ein junger Spund, sieht aus, als könne er nicht bis drei zählen und noch viel weniger die Untersuchung in einem so komplizierten und schwierigen Fall leiten. Ich habe ihn nicht für voll genommen, jetzt muß ich dafür büßen. Das war mein größter Fehler. Aber was die Uniform anbelangt, da habe ich doch recht. Und daß ich die Farben verwechselt habe, war natürlich ein Lapsus. Obwohl ich schon „grün“ statt „schwarz“ geschrieben habe, hat dieser Torg es trotzdem bemerkt. Das waren noch Zeiten, damals, als ich auf der Eisenbahnrampe stand. Rund um mich das Gewimmel der Untermenschen. Ein kurzes Zeichen mit meinem Stöckchen bedeutete für dieses Gesindel Leben oder Tod. Leider war ich noch viel zu gutmütig. Man hätte sie allesamt ohne Ausnahme in die Gaskammer schicken müssen! Maria Jansson lebte schon seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr, und ich wäre ihr nicht hier in der Pension begegnet – zu einer Zeit, da es den Anschein hatte, als wäre ich längst völlig sicher. Uns Deutsche hat überhaupt allzu große Gutmütigkeit ins Verderben ge228
stürzt. Eine falsch verstandene Humanität. Weder der Führer noch unser unmittelbarer Vorgesetzter, Heinrich Himmler, waren frei davon. Diese Franzosen, Polen, Norweger, Holländer, Belgier, Russen und sonstigen Untermenschen hätten wir gleich allesamt liquidieren müssen. Anstelle dieses einen Auschwitz hätten wir mindestens hundert solcher Lager schaffen sollen. Heute zahlen wir einen hohen Preis für unser gutes Herz. Diese beiden, Maria Jansson und Stanisław Trzeciecki, hatten es nur meinem Mitleid und meiner guten Laune zu verdanken, daß sie noch fünfundzwanzig Jahre länger lebten. Ihr Leben lag in meiner Hand, es gehörte mir einfach. Ich habe mein Eigentum zurückgefordert, als ich das für angebracht hielt. Es war kein Verbrechen, wie es dieser Milchbart von der schwedischen Polizei soeben genannt hat, sondern ein Zurückverlangen von etwas, das seit langem mir gehörte. Im übrigen ist der alte Fischer selber schuld. Man macht nicht um Mitternacht jemandem die Tür auf, nur weil draußen jemand polnisch darum bittet. Es ist mir ein wenig unangenehm, daß ich diesem Lulatsch mit den hellen Haaren das Messer in den Rücken jagen mußte. Wozu trieb er sich aber auch in der Nacht am Strand herum, kurz vor der Pension, als ich aus Lomma zurückkam, wo ich den Alten erledigt hatte. Freilich, wenn ich gewußt hätte, daß mich dieser Torg schon seit längerer Zeit verdächtigt, hätte ich den simplen Konstabler am Leben gelassen und den letzten Versuch gewagt: die Flucht nach Südamerika. Vielleicht wäre sie gelungen … Aber am Rande bemerkt, wie ist mir dieser Torg nur auf die Schliche gekommen? So ein Schuft, ein gemeiner! Er hat extra diesen verdammten Polen aus Stockholm geholt! Und ich habe nicht bemerkt, damals, abends, als sich der angebliche Mörder in die Villa einschleichen wollte, daß Owicki mich polnisch an229
sprach. Ich wußte doch, daß Maria Janssons Mörder nicht aus den Büschen treten würde. Ich habe irgendeinen Trick dieses Torg erwartet, aber ich nahm nicht an, daß es ihnen darum ging, meine Polnischkenntnisse zu überprüfen. Er hat mich überrumpelt, das muß ich zugeben. Und hinterher der Kognak auf dem Zimmer von Torg. Diese Großzügigkeit und diese Lebensart wollten mir nicht in den Kopf. Dabei war es ihm einzig und allein um meine Fingerabdrücke auf dem Glas zu tun. Es ist ihm gelungen. Aber eines wird ihm nicht gelingen. Er ist zu naiv und zu leichtgläubig, als daß er mich verhaften könnte. Während ich diese Worte niederschreibe, habe ich eine kleine Glasphiole im Mund. Auf einer Besprechung bei Heinrich gab er eigenhändig diese Ampullen an uns aus. Später machte er selbst Gebrauch davon. Ich schreibe also sehr ruhig. Sobald ich Schritte auf der Treppe höre, brauche ich nur die Zähne zusammenzubeißen. Das dünne Glas zerbricht. Ich gehe ohne Bedauern. Mein Leben geht nicht heute zu Ende. Es war schon damals zu Ende, als Marschall Keitel gezwungen war, die Kapitulation zu unterzeichnen. Danach war alles nur ein elendes Vegetieren, das nicht einen Tag jener herrlichen Zeit aufwog, als ich noch die schwarze Uniform trug. Ich glaube daran, daß die Deutschen erwachen. Ein neuer Führer wird kommen, der die deutsche Jugend nicht nur nach Moskau, nach Paris, sondern auch nach Stockholm führt: Ich höre Schritte auf der Treppe. Ich muß Schluß machen. Heil Hitler! Hubert Meixner Hauptsturmfüh… „Natürlich kann Ihnen Frau Tuvesson vorwerfen, daß Sie in Rätseln sprechen“, sagte Sven Breman. „Aber für 230
mich war es vom ersten Augenblick an klar, wen Sie meinten. Sie behaupten, daß Sie sogar über die Fingerabdrücke verfügen, die es gestatten, Ihren Verdächtigen als diesen SS-Offizier aus dem Lager Auschwitz zu identifizieren. Ich fürchte jedoch, Sie verfügen nicht über ausreichende Beweise, daß dieser Mann der Mörder von Maria Jansson und derjenige ist, der auch die anderen beiden Verbrechen begangen hat. Er steht unter dem Schutz eines bestimmten Dokuments.“ „Und das wäre?“ knurrte Magnus Torg. „Doktor Thorsten Ross, Polizeiarzt aus Lund, Professor an der dortigen Universität, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin, hat eindeutig festgestellt, daß der Tod von Frau Jansson zwischen fünf und sieben Uhr nachmittags eintrat. Für diese Zeit haben sämtliche Bewohner der Pension, also auch Ihr Verdächtiger, ein unwiderlegbares Alibi. Und außerdem habe ich ein Loch im Maschendraht des Zaunes entdeckt, was beweist, daß der Mörder von draußen kam. Wie wird die Untersuchung dieses Hindernis nehmen?“ „Nichts leichter als das. Wenn im Befund des Arztes festgestellt wird, daß der Tod zwischen fünf und sieben Uhr eingetreten ist und alle Bewohner der Pension für diese Zeit ein Alibi haben, aber niemand von draußen in die Villa gelangen konnte, weil Lilljan in der Eingangshalle saß, gibt es nur eine einfache Schlußfolgerung: Wunder gibt es nicht, also entspricht das Gutachten nicht der Wahrheit. Frau Jansson muß zu einer anderen Tageszeit ermordet worden sein. Ich nehme an, gleich nach dem Mittagessen.“ „Sie ziehen die Ehrlichkeit von Professor Ross in Zweifel?“ „Gottbewahre! Ich mache Sie lediglich auf den Umstand aufmerksam, daß sich der Professor die Leiche erst am nächsten Vormittag ansah. Als er seinen Befund abgab, stützte er sich ausschließlich auf die Beobachtun231
gen, die Doktor Nilerud gemacht hatte, als Lilljan am Abend den Mord entdeckte. In jedem Lehrbuch der Gerichtsmedizin finden Sie den Hinweis, daß sich nur innerhalb von höchstens zwölf Stunden nach eingetretenem Tod noch genau die Todeszeit feststellen läßt. Je später die Leiche untersucht wird, um so größer wird auch die Zeittoleranz. Wir haben Doktor Ross danach gefragt. Er gab zu, daß er, wenn er sich bei der Ausstellung seines Gutachtens ausschließlich auf die eigene Beobachtung gestützt hätte, einzig und allein hätte aussagen können, daß Maria Jansson am Mittwoch, dem siebenten Juni, zwischen drei Uhr nachmittags und neun Uhr abends starb. Ich habe die Erklärung in meiner Aktentasche. Sie stellt einen weiteren, den Mörder belastenden Beweis dar.“ „Und das Loch im Zaun?“ „Sie unterschätzen immer noch die Gerissenheit des Mörders. Wenn er den Ring mit der Perle in die Kate des Fischers geschmuggelt hat, dann muß er auch auf den Gedanken gekommen sein, uns zu suggerieren, der Täter sei nicht unter den Bewohnern der Pension zu suchen, sondern von draußen gekommen. Eine Drahtschere kann man in jedem Eisenwarengeschäft kaufen, und um den Maschendraht durchzuschneiden, braucht man nicht mehr als eine halbe Stunde. Da dieser Mann nichts ohne gründliche Vorbereitung gemacht hat, glaube ich, er hat dieses Loch noch zu Lebzeiten von Frau Jansson in den Zaun geschnitten, zu einer Zeit, als er schon mit der Möglichkeit rechnete, die gefährliche Zeugin aus dem Wege räumen zu müssen.“ Sie schwiegen eine Weile. Oberleutnant Torg warf einen Blick auf die Uhr und fügte hinzu: „Jetzt ist doch wohl alles klar, Herr Breman? Die Kette der Verdachtsmomente ist nicht mehr zu zerreißen, und die Beweise sind unumstößlich. Staatsanwalt und Gericht werden nicht viel Mühe haben. Es sei denn …“ 232
Der Oberleutnant verstummte und brannte sich die nächste Zigarette an. „Eines verstehe ich nicht.“ Sven Breman senkte noch mehr die Stimme. „Warum haben Sie ihn nicht auf der Stelle festgenommen? Weshalb haben Sie ihm erlaubt, den Raum zu verlassen. Sie haben ihm eine Chance gegeben!“ Die Kriminalbeamte sagte lächelnd: „Fliehen kann er nicht. Das ganze Haus ist umstellt. Ich habe ihm tatsächlich eine Chance gegeben. Ich denke, er wird Gebrauch davon machen. So ein Verbrecher verdient tausendfach den Tod. Aber bei uns in Schweden ist die Todesstrafe abgeschafft …“ Magnus Torg sah wieder auf die Uhr und schloß mit den Worten: „Na, die zwanzig Minuten sind um. Wir können hinaufgehen.“
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1979 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/114/79 • LSV 7224 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 395 5 DDR 2,- M