Traumzeit-Dämonen Version: v1.0
Sydney, Stadtteil Kensington Geoff Molyneux durchschritt unruhig die dunklen Gän ge d...
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Traumzeit-Dämonen Version: v1.0
Sydney, Stadtteil Kensington Geoff Molyneux durchschritt unruhig die dunklen Gän ge des Instituts. Er hatte Nachricht erhalten. Nachricht von den Herren. Seit Virgil Codds kurzem Besuch vor nunmehr sieben Wochen hatte Molyneux weder zu ih nen noch zu anderen Dienerkreaturen Kontakt erhalten. Man hatte ihn mit seinen Sensationen kaltlächelnd in der Luft hängen lassen! Das würde sich nun ändern. Sie, die wahren Beherrscher dieser Stadt und dieses Plane ten, hatten es versprochen.
Was bisher geschah Nach den Abenteuern in Wales kehren Lilith und Beth nach Sydney zurück, wo sie eine Situati on erwartet, die vor 13 Bänden ihren Anfang nahm. Daher an dieser Stelle eine Übersicht, die diese Entwicklung aufzeigt: Lilith Eden hat die ersten 98 Jahre ihres Lebens in magischem Schlaf verbracht, behü tet und abgeschirmt in einem Haus in Sydney, 333 Paddington Street. Wie ihre Mutter Creanna (die bei Liliths Geburt starb) diesen Schutzzauber bewirken konnte, ist unklar; als normale Vampirin hätte sie diese Macht eigentlich nicht besitzen dürfen. Auch Esben Storm, ein Aboriginal-Schamane, kennt die Hintergründe nicht, weiß aber, daß dieser Zauber erschreckende Spuren hinterlassen hat, seit Lilith erwacht ist. Es beginnt rund um das Haus. Auf dem Grundstück wuchern Pflanzen, die nicht in diesen Teil der Welt passen und teils als ausgestorben gelten. Menschen, die in den Gar ten eindringen, kehren nicht zurück. Auf einer Traumzeit-Reise mit Esben Storm sieht Lilith, wie sie sich die Früchte eines Apfelbaumes, der im Zentrum gewachsen ist, in den Hals schieben. Der ehemalige Detektive Jeff Warner eröffnet ihr, daß das Haus diese Menschen »rekrutiert« hat. Auch Warner gehört zu den Veränderten, die eine Mission ausführen: Sie spüren Dienerkreaturen der Vampire auf, geben ihnen ihr Menschsein zu rück und machen sie zu Liliths Dienern. Sie sollen sich später mit ihr treffen und ihr im Kampf gegen die Vampire beistehen. Inzwischen kommt es überall dort, wo Traumzeit-Relikte der australischen Schöpfer wesen aufbewahrt werden, zu dramatischen Veränderungen: Eine mysteriöse, stoffliche Schwärze entsteht, die alles im Umkreis einschließt. Storm begegnet dieser Schwärze und spürt den Wahnsinn, der darin lauert; er kann sich ihr nicht weiter nähern. Als Auslöser des Phänomens erkennt Storm das Haus 333 – doch das Gebäude wurde auf Befehl von Polizeichef Virgil Codd dem Erdboden gleichgemacht. Später wird Codd, Dienerkreatur der Vampire, von Warner mit einem der Äpfel vom Keim befreit. Der Kreis der Veränderungen rund um die Paddington Street weitet sich aus. Stehen der Selbstmord eines Vampirs, den Lilith beobachtet hat, und ihre eigenen Suizid-Anfäl le damit in Verbindung? Esben Storm kann ihr nicht beistehen – er scheint bei einem Feuer, das Landru legte, in seinem Antiquitätenladen umgekommen zu sein …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Jeff Warner – der Police Detective wurde von Polizeichef Virgil Codd – einer Dienerkreatur der Vampire – in den Garten des Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und wo seither etliche Menschen spur los verschwanden. Doch Warner kehrt zurück – verändert. Im Auf trag des Hauses befreit er Codd vom Vampirkeim. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fanden Lilith und ihr erster Mitstreiter Duncan Luther Unterschlupf. Mittlerweile kennt Beth Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Li liths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs ge ben kann. Landru scheint irgendeine Schuld auf sich geladen zu ha ben – welche, ist noch unklar. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit sei nem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Offenbar war die Sydneyer Vampir-Sippe damit beschäftigt gewe sen, sich neu zu organisieren. Der Tod ihres Oberhaupts Hora, der zugleich Molineux’ »Ziehvater« gewesen war, hatte die Familie in eine schwere Krise gestürzt, von der sie sich nur langsam erholte.* Obwohl man Molyneux versprochen hatte, sich in Kürze mit sei nen Forschungsergebnissen zu befassen, fühlte er sich immer noch weitgehend alleingelassen. Und die abstrusen Entdeckungen an den Pflanzen, die man vom Grundstück 333, Paddington Street, in sein Institut gebracht hatte, waren an seiner wachsenden Unruhe nicht ganz schuldlos. Sie und der Leichnam. Seit Molineux von Codd erfahren hatte, daß es sich bei der Toten um eine ehemalige Dienerkreatur handelte, war das Interesse an ihr nicht mehr erlahmt. Eine zweite Obduktion hatte jeden Zweifel be seitigt, einen Menschen vor sich zu haben. Einen zwar toten, ansons ten aber normalen Menschen – keine Kreatur, die von einem Vampir getötet und durch den Keim zu neuem, unheiligen Leben erwacht war. So wie ich, dachte Molineux und öffnete die Tür zu der verborge nen Kammer, in der sich der Cryo-Tank mit dem schockgefrosteten Frauenleichnam befand. Er schaltete die Beleuchtung an, um besser in den Kältesarg sehen zu können, und wischte mit dem Ärmel seines Kittels über den be schlagenen Spezialglasdeckel. Maud Edwards lag nackt und eisig vor ihm. Ihr schiefes Gesicht übte, wie auch der Rest des Körpers, keinerlei Charme aus. Schon gar nicht auf Molyneux. Ihr Geheimnis steckte irgendwo in dieser deformierten Hülle. In ihrem Mageninhalt hatte er Reste unbekann
*siehe Vampira 2: »Der Moloch«
ter organischer Substanzen gefunden, die beim Eintritt des Todes noch nicht vollständig zersetzt waren. Organisch aber und was das wenige von Codd in ihren Adern belassene Blut anging, war Maud Edwards keine Kreatur, sondern einfach Mensch gewesen! Aber Codd hatte keinen Grund, zu lügen. Molyneux starrte eine Weile auf den froststarren, stillen Körper, dann aktivierte er die Auftauvorrichtung. Er wollte es wissen. Er wollte Maud Edwards ein drittes Mal unter sein Messer holen. Viel leicht hatte er doch etwas übersehen … Die Sirene ließ ihn zusammenfahren. Feuer! durchzuckte es ihn. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er aus der Kammer in den Kontrollraum, wo alle Drähte innerhalb des Instituts zusammenlie fen. Ein Blick auf die Schalttafel genügte, um ihn den Ursprung des Alarms erkennen zu lassen. Molineux stöhnte auf. Es war die Halle, in der die »sichergestellte« Vegetation aus der Paddington Street aufbewahrt wurde! Die unmögliche Vegetation, verbesserte er sich. Er wußte, daß in diesem Moment auch bei der zuständigen Feuer wehr-Leitstelle ein automatischer Notruf einging. Üblicherweise wurde telefonisch rückgefragt, ehe sich der ganze Apparat verselb ständigte. Das Telefon summte. Bevor Molyneux abhob, blickte er aus dem Fenster in Richtung des Gebäudeteils, der laut Übersichtstafel brannte. Alles sah normal aus. »Bleiben Sie in Bereitschaft!« stieß er in das Telefon. »Ich melde mich, wenn ich mir einen Überblick verschafft habe. Aber es sieht
nach einem Fehlalarm aus!« »Okay, wir warten.« Molyneux legte auf. Dann verließ er im Eilschritt die Zentrale und wechselte zum vermeintlichen Brandherd. Seine Faust hieb auf den Sammelschalter, der die Neonröhren an der Decke aufflammen ließ. Es war ein Reflex, den er sich in Anwesenheit seiner menschlichen Mitarbeiter angeeignet hatte. Er selbst hätte auch hier keine künstli che Helle gebraucht. Er sah mit den Augen einer Kreatur. Weder Feuer noch sonst ein Gefahrenherd waren zu entdecken. Geoff Molyneux wanderte zwischen den in Plastik geschweißten Bäumen und Sträuchern entlang, unter denen sich Arten befanden, die in der australischen Flora absolut unüblich waren. Solche, die an anderen Orten der Erde längst ausgestorben waren. Und solche, die völlig unbekannt waren. Überall auf der Welt! Botanische Sensationen ersten Ranges … … über die ich nicht sprechen darf, dachte Molyneux ohne Bitterkeit. Enthusiasmus war etwas, das er in seiner früheren Existenz zurück gelassen hatte. Eine dieser Pflanzen, so hatte Virgil Codd ihm berichtet, hatte Bür germeister Al Weinberg (auch ein Diener) angegriffen und ihm dort, wo die Schlinge über sein Bein gelaufen war, das untote Fleisch weggeätzt. Wie und warum, konnte Molyneux bis heute nicht be antworten. Er hatte keinen Aggressionstrieb an der hier deponierten Vegetation feststellen können. In diesem Moment ging ein Sturm durch die Halle! Aus »heiterem Himmel« schlug die Stimmung um. Infernalisches Brausen erfüllte die Luft, die orkangleich an Molyneux und den auf bewahrten Pflanzen zu zerren begann. Die Lampen an der Decke zerbarsten. Glassplitter regneten herab. Molyneux’ Sinne »schalteten um«.
Er sah und hörte die transparenten Kunststoffhüllen um die Ge wächse zerreißen. Wind schlug ihm wie warmer, fauliger Atem ent gegen und durchzauste sein Haar. Wind, der sprunghaft heißer wur de und irgendwo hinter ihm die bis dahin noch offenstehende Si cherheitstür ins Schloß warf. Molyneux zuckte herum. Die Hitze bäumte die durcheinanderflatternden Plastikplanen auf, verformte sie. Freigelegte Blätter verloren ihr Grün. Ein paar beson ders zarte Exemplare fingen Feuer! Obwohl Molyneux nicht begriff, was hier passierte, ahnte er doch, daß ein Vorläufer dieses Sturmatems die Feuermelder aktiviert hatte. Er warf sich herum. Alles ging höllisch schnell. Die Hitze hatte einen Grad erreicht, der Molyneux’ Kopfhaare, Augenbrauen und Wimpern kräuselte und seine Haut zusammen zuziehen begann. Er rannte. Er blickte nicht mehr hinter sich, wo Rauch aufstieg und erste Sträucher verdorrten und in Flammen aufgingen. Mit Mühe erreichte er die zugeworfene Tür. Er war zu keiner Panik fähig, aber als er die Finger auf die glühen de Klinke legte und in Kauf nahm, daß seine Hand verschmorte, empfand er zumindest Bestürzung darüber, daß sie sich nicht öffnen ließ. Er zog die Hand zurück. Sie stank. Sie sah aus wie sein Gesicht, von dem sich die Haut zu schälen begann. Mit verkohlenden Fäusten hämmerte er gegen die Stahltür. Der hallende Klang, der nicht völlig im Brausen des Sturms unterging, erinnerte ihn daran, daß niemand da war, der ihm öffnen konnte.
Und bis die Feuerwehr reagierte, würde nur noch das von ihm übrig sein, was hinter ihm bereits aus den ersten Pflanzen wurde. Asche. Die Tür war der einzige Fluchtweg in erreichbarer Nähe. Ganz am anderen Ende der Halle gab es einen zweiten Ausgang, den er unter diesen Bedingungen nicht mehr erreichen würde. Und die Fenster, die nun nacheinander unter der Hitze barsten, lagen viel zu hoch … Molyneux rutschte neben der Tür an der noch leidlich kühlen Wand herab. Auch der Boden schien angenehm kühl. Aber die Luft kochte! Für eine endlose Sekunde glaubte Geoff Molyneux in einer absur den Anwandlung, den Todesschrei aus hundert imaginären Pflan zenkehlen zu hören. Dann ereignete sich ein Wunder, das durch Rauch und Flammen geprassel an seine Sinne drang: Die schwere Stahltür wurde von draußen aufgestoßen! Der hereinfahrende Luftzug entfachte die Feuerhölle noch stärker. Aber Molyneux kauerte direkt neben der Öffnung. Er war gerettet. Er … In dieser Sekunde erkannte er die im Türrechteck auftauchende Gestalt. Molyneux bedauerte, keinen Gott zu haben, den er hätte anrufen können. Er hockte nur da, auf allen vieren, umschmeichelt von glo sender Hitze, und begann zu begreifen, daß sein vermeintlicher Ret tungsanker eine Fata Morgana war. Maud Edwards tappte mit ungelenken Bewegungen in die Halle und warf sogleich die Tür wieder wuchtig hinter sich zu. Ihre toten Augen verdorrten im nächsten Hitzestoß. Die in ihrem Körper gespeicherte Kälte half drei Sekunden. Dann
schälte sich auch ihre Haut. Ihr Haar verpuffte. Sie stellte sich neben Molyneux und reichte ihm in einer grausarnzynischen Geste die Hand. Dann verbrannten sie. Gemeinsam …
* Tasmanien Die Wipfel der riesigen Grasbäume sahen aus wie verwilderte Frisu ren unwirklicher Fabelgestalten. Im Morgennebel waren sie ihnen erstmals begegnet. Nach einem zweistündigen Marsch vom Fuß des Mount Reid aus. Aber auch Stunden später, der Dunst hatte sich längst gelegt, übte der Anblick der rot-grün verfärbten Riesengräser ungebrochenes Staunen aus. Die tasmanische Insel war ein Paradies für Biologen und Botani ker. Tira Fairchild und Tyler Gravis hatten ein Jahr auf diese Reise gespart. Sie waren beide an der Bostoner Universität beschäftigt und ohne offiziellen Forschungsauftrag hier. Das Universitäts-Budget war zu klein, um jede Extravaganz zu finanzieren. Aber immerhin hatte man ihnen nach längerem Bemühen zwei Monate unbezahlten Urlaub bewilligt. Die einzige Hoffnung, den Verdienstausfall und die sonstigen Kosten einigermaßen zu kompensieren, war, daß sie ein paar seltene Arten am Zoll vorbei in die USA einschmuggeln und dort an ihr oder ein anderes Institut verkaufen konnten. Selbst wenn es nur die Samen solcher Raritäten waren. Daß dies illegal war, machte ihnen (noch) kein Kopfzerbrechen. Ihr eigentlicher Traum war natürlich, nicht nur seltene, sondern unbekannte Pflänzchen zu entdecken.
Tira sah auch mit dem schweren Trekking-Rucksack blendend aus. Sie hatte ein klares, von weichen, vollen Lippen dominiertes Gesicht, das durch den kahl geschorenen Kopf noch mehr zur Gel tung kam. Sie war eine begeisterte Anhängerin seichter Popmusik und hierbei auch nach Jahren noch angetan von Sinead O’Connors Sentimental-Song Nothing compares to you. Sineads »Frisur« aus dem gleichnamigen Video hatte Tira zum Anlaß genommen, noch am gleichen Tag zum Friseur zu rennen. Ihr »wilder Ehemann«, wie sie ihn zu necken pflegte, weil sie seit ihrer Studentenzeit ohne Trauschein zusammenlebten, hatte gute Miene zum Spiel gemacht, zumal Tira eindeutig schönere Ohren als ihr iri sches Vorbild besaß … Als sie unvermittelt stehenblieb und mit ausgestrecktem Arm hin unter ins Tal blickte, war Gravis zunächst mehr an ihr als an der grandiosen Aussicht interessiert. Doch dann sog auch er die Schönheit der in voller Blüte stehenden Australheide in sich auf. Sie bedeckte weite Talausläufer des Mount Reid, während sich dort, wo sie standen, und darüber hinaus die Berglandschaft in »Etagen« veränderte und alle paar hundert Hö henmeter ein komplett anderes Gesicht annahm. Bis hinauf in Gip felhöhe, wo sich ein paar außergewöhnliche Eukalypten, »Snow Gums« genannt, sogar gegen Minusgrade behaupteten. Von Sydney aus hatten sich die beiden Botaniker mit einem Fähr boot zur schroffen Westküste Tasmaniens bringen lassen und die erste Nacht in Strahan, einem 800-Seelen-Fischerdorf, verbracht. Man war ihnen, den Fremden, nicht gerade offenherzig begegnet, hatte ihre »Devisen« aber nicht verschmäht. »Aussies« aus Sydney hatten sie gewarnt, die »Tassies« seien ein ganz eigener Menschenschlag. Nach dem hochfreundlichen Emp fang im weltoffenen Sydney hatten sie sich darüber im Vorfeld nicht allzu viele Gedanken gemacht. Mittlerweile waren sie jedoch froh,
den kantig-derben Dorfbewohnern den Rücken gekehrt zu haben. Besonders Tira, vom Wesen her immer scherzend aufgelegt und das Herz auf der Zunge tragend, hatte sich in Strahan eingeengt gefühlt wie noch nie in ihrem Leben. Hier oben, in der Einsamkeit der Wild nis, blühte sie wieder sichtbar auf. Wie die Australheide … Gravis schmunzelte erleichtert. Er liebte gerade Tiras Frische und Humor. Sie waren beide dreißig Jahre alt, und das Leben hielt noch vieles bereit, was sie gemeinsam entdecken konnten. Irgendwie ergab es sich von selbst, daß er zu ihr trat, ihr Gesicht zwischen die Hände nahm und sie anhaltend und zärtlich wie schon lange nicht mehr küßte. Mehr als eine Minute »kommunizierten« nur ihre Zungen miteinander. Schweigend. Als Gravis seine Lippen von ihrem Mund löste, lächelte sie weich. Eine Weile setzten sie den Weg Hand in Hand fort, bis der Pfad es nicht mehr zuließ. Schließlich verließen sie ganz die ausgetretenen Wege und marschierten aufs Geratewohl, nur mit Blick auf den Kompaß, weiter. Gegen Abend schließlich erreichten sie einen Wald aus Huon-Kie fern, günstig gelegen, um von hier aus Streifzüge in die Naturviel falt der Umgebung zu unternehmen. In der Nähe entsprang sogar eine saubere Quelle. Sie einigten sich darauf, innerhalb dieses knapp einen Hektar großen Wäldchens ihr Basislager aufzuschlagen und am nächsten Tag ernsthaft mit ihren Erkundungen zu beginnen. Der Marsch hatte sie hungrig gemacht und auch erschöpft. Tira nickte nur, als ihr Lebensgefährte sich gleich nach dem kalten Kon serven-Dinner entschuldigte und sich ins gemeinsame Zelt zurück zog. Ihre Enttäuschung darüber, daß sie zwar auch müde war, sich aber nach dem zärtlichen Intermezzo bei den Grasbäumen einen et
was anderen Verlauf des Abends erhofft hatte, ließ sie sich nicht an merken … Sie folgte ihm schon bald, nachdem sie das Geschirr an der Quelle gesäubert und den Abfall in den dafür vorgesehenen Beutel gepackt hatte. An Tylers gleichmäßigen Atemzügen merkte sie, daß er tat sächlich schon weggenickt war. Tira zog sich aus und kroch unter die Wolldecke, die bei den som merlichen Temperaturen vollauf genügte. Gegen Bodenkälte schütz ten zwei nebeneinanderliegende Isoliermatten. Draußen wurde es rasch dunkel. Die Stimmen der Nacht erwach ten. Tira döste auf dem Rücken ein, ohne wirklichen Schlaf zu finden. Ihr Arm lag an Tyler, der gewohnheitsmäßig auf dem Bauch ruhte und irgendwann im Schlaf seinen Arm auf ihren flachen Bauch leg te. Tira fühlte ein Kribbeln, machte sich aber keine Illusionen. Tyler schlief tief wie ein Murmeltier. Schließlich fiel auch sie in leichten Schlaf … … aus dem sie von einem fordernden Pochen zwischen ihren Bei nen geweckt wurde. Eine Weile lag sie reglos da und versuchte sich klarzuwerden, ob sie träumte oder ob die Lebensgeister ihres Freundes doch noch er wacht waren. Als sie sicher war, daß tatsächlich sein Finger zärtlich über ihre Scham rieb, begann sie wie eine Katze zu schnurren und tastete sich mit ihrer Hand unter seinem Körper hindurch bis zu seinem besten Stück vor. Sein Stöhnen, als sie ihn zärtlich und geübt zu streicheln begann, bestärkte sie, weiterzumachen. Und schon bald spürte sie den »greifbaren« Erfolg ihres Bemühens. Er rutschte halb über sie und liebkoste zuerst ihre zarten Brüste, ehe seine Hand erneut tiefer glitt und er mit einem Finger zwischen
ihre Scham drang, vorsichtig rieb, bis die Erregung auch den Au ßenbereich feucht und nachgiebig machte, und schließlich kecker wurde und mit zwei Fingern die ungefähre Stärke seines Gliedes nachahmte. Schon nach wenigem Hin und Her konnte Tira nicht mehr an sich halten. Sie wollte das »Original«, von dem sie wußte, daß es genau jenes Volumen besaß, das sie brauchte, um sich ausgefüllt und ganz Frau zu fühlen. Plötzlich aber hielt sie inne. Sie verkrampfte, noch ehe Tyler sich zwischen ihren gespreizten Beinen einrichtete und in ihren Schoß drang. »Was ist?« wurde er aufmerksam. »Tue ich dir weh?« Sie zögerte, weil sie sich dumm vorkam. »Nein«, wiegelte sie ab, ohne ihm von dem vagen Unbehagen zu erzählen, das behauptete, sie seien hier in der Wildnis des Mount Reid nicht so allein, wie sie glaubten. Daß etwas sie beobachtete, ein Tier vielleicht nur. Vielleicht aber auch … »Mach weiter! Komm, komm zu mir … ganz …!« drängte sie et was unbeholfen, weil der Zauber des Verlangens zunächst zerstört war. Aber ein paar leidenschaftliche Stöße später gelang es Tira, ihre Bedenken auszugrenzen und sich in völliger Hingabe zu verlieren. Gemeinsam mit ihm kam sie zu einem Orgasmus, der sie am ganzen Körper vor süßer Schwäche zittern ließ. Tyler küßte ihren Hals und saugte auch danach noch ausgiebig an ihren Brustwarzen, die mit der Zeit übersensibel reagierten, so daß Tira ihn sanft davon ablenkte. Arm in Arm, Schulter an Schulter la gen sie schließlich da und atmeten in die von Tierstimmen angerei cherte Dunkelheit. Sie kamen sich vor wie zwei Robinsons auf einsa mer Insel. »Allein unter Kannibalen«, neckte Tira, als wieder einmal ein grel
ler Vogelschrei – der aber ebensogut etwas völlig anderes sein konn te – die Nacht durchschnitt. »Schön, daß du dich noch besonnen und deine Müdigkeit vergessen hast …« Tyler schwieg kurz neben ihr. Dann lachte er unsicher. »Schön, daß du die Initiative ergriffen hast. Ich war so erschossen … Wenn du den ›Kleinen‹ nicht so groß gemacht hättest …« »Du hast angefangen«, beharrte Tira. Sie erinnerte sich genau an das Pochen und Reiben zwischen ihren Beinen. »Ich weiß nicht, warum du es nicht –« Sie verstummte. Licht flammte auf. Tyler hatte sich neben ihr aufgesetzt und eine Taschenlampe ange knipst. Im Lichtschein schlug er die Decke zurück. Tira sah zuerst, wie ihm der Mund offen blieb. Dann wechselte ihr Blick zum Objekt seines – und ihres – Staunens. In der Lücke zwischen den beiden Isoliermatten ragte ein fingerdi cker Strang empor. »Eine – Wurzel!« Tyler schien nicht zu wissen, ob er lachen oder weinen sollte. »Trieb träfe es eher«, äußerte Tira mit belegter Stimme. »Seltsam … ich hätte schwören können, er hätte sich bewegt.« Tyler streckte die Hand aus und betastete das gummiartige Ge wächs, das sich den Weg aus dem Erdreich gebohrt hatte. »Ein Able ger einer der Huon-Kiefern, zwischen denen wir campieren«, mur melte er. »Ich muß ihn beim Zeltaufbau übersehen haben … Aber wir sollten ihn in Frieden lassen. Ihn zu meucheln, wäre undankbar. Und immerhin war er zuerst da. Wir sind nur seine ›Gäste‹…« Sie legten sich wieder hin. Tira schmiegte sich eng an Tyler, so daß sie mit der Wurzel nicht mehr in Berührung kam. »Unsere Expediti on fängt ja vielversprechend an«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Nachdem sie auch ihrem zwischen seinen Schenkeln stationierten »kleinen
Freund« zärtlich eine gute Nacht gewünscht hatte, schliefen sie zu frieden ineinander verschlungen ein. Das Schwanken des Huon-Triebes nahmen sie beide nicht mehr wahr. Er bog und krümmte sich wie ein Fühler, dem auch in völli gem Dunkel nichts verborgen bleiben konnte …
* Sydney Wer hatte vor 267 Jahren Creanna, Liliths Mutter, gezeugt – kurz nachdem der Lilienkelch gestohlen wurde, das Unheiligtum der Vampire? Wer hatte 120 Jahre später die Vampirin Fee geschaffen, einer mysteriösen Prüfung unterworfen und sie offenbar für »nicht gut« befunden? Und wer – um zum Kern des Mysteriums zu gelangen – war jene »rothaarige, schwefeläugige Vampirin«, die offenbar hinter dem Diebstahl des Kelchs steckte? Lilith hatte während ihres Wales-Aufenthalts unerwartete Details über ihre Mutter und die ominöse Kelchdiebin erfahren.* Aber sie hatte weder den Kelch selbst noch eine neue, heiße Spur zu ihm ge funden. So gesehen war der Abstecher nach »Cymru« ein Schlag ins Was ser gewesen. Das Dunkel um ihre Bestimmung hatte sich keineswegs gelichtet. Selbst die Herkunft ihrer Mutter war nur oberflächlich aufgehellt
*siehe Vampira 10-12
worden. Creanna hatte, als sie Lilith an Australiens Gestaden lebend gebar, das für Vampire geradezu lächerliche Alter von 169 Jahren er reicht. Ihr Erfahrungsschatz – im Vergleich etwa zu Landru, dem Tausend-oder-mehr-Jährigen – mußte demzufolge verschwindend gering gewesen sein. Und doch hatte jemand sie auserkoren, das Sa menkorn einer »Revolution« aufgehen zu lassen. Creanna hatte das GESETZ mißachtet und sich selbst dem Tod ge weiht, um eine Kämpferin gegen die eigene Rasse in die Welt zu set zen! Denn der tote Körper einer Vampirin kann kein lebendes Kind gebären, ohne seine eigene Existenz aufzugeben. »Warum?« Erst als ein erschreckter Vogel, der sich auf der Gartenmauer nie dergelassen hatte, flügelschlagend das Weite suchte, wurde Lilith bewußt, daß sie die Frage laut geschrien hatte. Sofort brachte sie ihre Gefühle wieder in Zaum. Sie war zurückgekehrt. Nicht nur nach Sydney, sondern auch dorthin, wo sie 98 Jahre ih res Lebens träumend und schlafend verbracht hatte: zum Grund stück 333, Paddington Street. Mitten im Herz der Stadt. Das Anwesen hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Vor und nach Liliths »Erwachen«. Von dem mit magischen Siegeln gegen die Vampire geschützten Geburtshaus stand heute kein Stein mehr auf dem anderen. Auch von dem zeitweise an seiner Statt hier aufra genden »Apfelbaum« war nichts mehr geblieben. Kein noch so zartes Pflänzchen wuchs mehr im ehemaligen »Gar ten der Dämmerung«. Planierraupen hatten das Gelände eingeebnet und nichts als Ödnis zurückgelassen. Was aus der Vegetation geworden war, wußte Lilith nicht. Die Zerstörung war auf Befehl von Polizeichef Virgil Codd und Bürger meister Weinberg erfolgt. Codd war etwa zeitgleich mit dem Auf
tauchen Jeff Warners spurlos verschwunden, was den Verdacht na helegte, daß Codd eine von Warner befreite Dienerkreatur gewesen war … Lilith spürte ein Ziehen im Bauch. Der bloße Gedanken an Diener und Herren war ihr zuwider. Sie haderte mit Warners Prophezeiung, daß die vom Fluch des Vampirkeims befreiten Menschen künftig ihr zu dienen hatten. Sie wollte keine Sklaven! Sie hatte es nie versucht, hörige »Gefangene« zu machen, wußte nicht einmal sicher, ob sie beim Bluttrinken nicht auch einen Keim weitergab. Um eine Dienerkreatur ins Leben zu rufen, bedurfte es je doch mehr, als den Keim weiterzugeben. Man mußte sein Opfer tö ten. Erst wenn es aus dunklen Tiefen wiedererwachte, war es ein entmenschter, bedingungslos verläßlicher Vasall. Um so phantastischer war zu bewerten, daß laut Jeff Warner etwa zwei Dutzend Dienerkreaturen ihr Menschsein zurückerhalten hat ten. Über das »Wie« hatte er keine Erklärung abgegeben bis auf die In formation, daß es mit den Äpfeln aus diesem Garten geschehen war. Er selbst war ein »Befreier« gewesen, einer der Menschen, die da mals spurlos im »Garten der Dämmerung« verschwunden waren. Somit, dachte Lilith, gab es neben den »Befreiten« noch eine zweite Menschengruppe, über deren näheres Schicksal sie nichts wußte. Außer Warner hatte niemand von denen, die die »Früchte« im Gar ten empfangen und an die Kreaturen weitergegeben hatten, Kontakt zu ihr aufgenommen. Vielleicht hatten sie nach getanem Werk ein fach ihre Erinnerung verloren und irrten seither herum. Vielleicht aber nahmen auch sie noch eine weitere Aufgabe im »großen Plan« ein … Sie schüttelte die Gedanken ab.
»Zeige dich!« preßte sie leise hervor. Sie war sicher, daß unter ih ren Füßen immer noch das »Herz des Hauses« pochte. Jeff Warner war in diesem Boden versunken und verschwunden, nachdem er ihr den Hinweis auf Llandrinwyth in Wales geliefert hatte. Dort unten – irgendwo – gab es etwas, was sich menschlichem und vampirischem Verstehen entzog. Wie lange noch? »Zeige dich!« sagte und dachte sie intensiv. Sie hatte ein Anrecht darauf, erhört zu werden. Sie hatte Wales überlebt. Nun wollte sie wissen, wie die gewonnenen Erkenntnisse in Zusammenhang zu bringen waren! Aber der Boden unter ihr bewegte sich nicht. Jeff Warner, der »Gesandte« der unbekannten Macht, die Lilith ihre Bestimmung gegeben hatte, ließ sich nicht blicken. Lilith harrte länger als eine Stunde aus. Aber es tat sich nichts, au ßer daß ihre Frustration zunahm. Dann aber, als sie sich bereits ent täuscht abwenden wollte, spürte sie doch noch eine Reaktion in un mittelbarer Nähe. Ihre Instinkte schlugen Alarm! Und etwas in ihrem Geist sagte: »Mich wundert, daß du so fröhlich bist …!« Sie wirbelte herum. Hinter ihr stand ein Wesen, das wie eine in der Luft schwebende schwarze Flamme aussah. »Wer bist du?« rann es über ihre Lippen. Die Erscheinung sah nicht wirklich bedrohlich aus. Zudem hielt sie respektvollen Ab stand. »Warner?« Sie verneinte ihre eigene Frage, noch ehe eine Antwort erfolgte. Warum sollte Jeff Warner in eine solch nebelhafte Daseinsform über
gewechselt sein? »Banguma«, sang in diesem Moment die schwarze Flamme und zog sich etwas in die Länge, so daß sie ungefähr gleich hoch wurde wie Lilith. »Ich bin ein Banguma …« »Und was will«, fragte Lilith abwartend, »ein Banguma von mir? Wer schickt dich? Das Haus?« Mit »Haus« meinte sie mehr als ein Gebäude. Sie meinte die Sphä re, in der sie aufgewachsen war und von der sich immer noch, wenn auch unsichtbar, etwas an diesem Platz befand. Sie konnte es spü ren. Mit jedem Molekül ihres Körpers. »Das Haus ist der GRUND, weshalb ich kam. Die WURZEL ALLEN ÜBELS. Der Boden, auf dem du stehst, ist krank! Und er macht krank! Gehe vier Häuser in dieser Straße zurück und sieh selbst, was ihr angerich tet habt …!« Lilith erstarrte kurz, dann keuchte sie: »Storm?« Ihr bleiches, schmales Gesicht mit den leicht schrägstehenden Augen war wie aus Marmor gemeißelt. »Esben Storm …?« Ihr mähniges Haar wehte im scharfen Wind, der von der Bucht herübertrieb, den Banguma aber nicht bewegen konnte. Die künst lich illuminierte Stadt streute ihren vagen Abglanz bis hierher – aus reichend, um Lilith jedes Detail des verödeten Gartens erkennen zu lassen. Esben Storm war nach Landrus Brandstiftung in seinem Laden in der Market Street verbrannt – so lautete das offizielle Bulletin, das Lilith nach den damaligen Ereignissen aus Presseberichten gezogen hatte. Man hatte eine männliche, verkohlte Leiche gefunden, bei der es sich – den Ermittlungen zufolge – mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Ladeninhaber handelte. Den rätselumwobenen Aboriginal, der Lilith Edens Schicksal of fenbar seit einem runden Jahrhundert verfolgte und damit selbst ein
biblisches Alter erreicht haben mußte. Lilith hatte ihn erstmals in ihrer visionären Vergangenheitsschau »gesehen«. Damals, kurz nach der Jahrhundertwende, hatte er schon genauso alt oder jung ausgesehen wie bei ihrer vorläufig letzten Be gegnung in der Gegenwart.* Und die Ausdrucksweise des Banguma erinnerte geradezu frappierend an den vermeintlich toten Esben Storm …! »Ich bin NICHT Storm«, beharrte die lohende Schwärze. »Ich bin BANGUMA! Sieh, was du angerichtet hast! KORRIGIERE ES!« »Warum dieses Katz-und-Maus-Spiel? Ich habe nichts ›angerich tet‹.« Obwohl sie ihrer Stimme sicheren Klang verlieh, erinnerte sich Lilith plötzlich fröstelnd daran, daß nicht nur Storm, sondern auch Jeff Warner sie auf einen in Gang gekommenen Prozeß hingewiesen hatten, für den ihr verfrühtes Erwachen und generell die Vorgänge in 333, Paddington Street, mit verantwortlich waren. »Du hast!« Die Schwärze schien zu implodieren – schien sich zu sammenzuziehen und dann wieder auseinanderzudriften. Die Kon traktionen wiederholten sich einige Male. »Du verkennst die Bedro hung, die ALLES verschlingt, wenn du ihr keinen Riegel vorschiebst!« »Du bist Storm!« sagte sie leise, aber heftig. »Niemand sonst drückt sich so geschwollen aus!« »Ich bin Banguma! Hilf mir! Dann helfe ich dir!« »Ich brauche deine Hilfe nicht!« »Du wirst sie brauchen – aber dann kann es zu spät sein! Ich BITTE dich …!« »Du bittest? Dann kannst du unmöglich Esben Storm sein …« »Ich bin ein Banguma!« sang die Schwärze. »Ewig ist die Qual eines Schattens …!«
*siehe Vampira 5: »Niemandes Freund«
Das war das vorläufig letzte, was sie von ihm hörte. Lilith war wieder allein. Die schwarze Flamme erlosch. Oder war gegangen …
* Elisabeth MacKinsey lag im Bett und spürte der Wärme nach, die Li lith hinterlassen hatte, ehe sie zur Paddington Street aufgebrochen war. Seven van Kees, Beth’ Ex, war vergessen, seit Lilith Eden die Wege der jungen Reporterin gekreuzt hatte. Von einsamen Nächten oder gar Langeweile konnte seither keine Rede mehr sein. Jeder Tag, jede Nacht brachte neue Überraschungen. Ihr Leben war um mehr als eine Facette bereichert. Für unmöglich Gehaltenes hatte als Normalität Eingang in ihren Alltag gefunden. Beth war bis in die Spitzen ihres kurzen Blondhaars verknallt in eine Frau, die nur zur Hälfte Mensch war. Den anderen, den dunkleren Part nahm ein Erbe ein, über das Beth bis vor wenigen Wochen noch lauthals gelacht und gelästert hätte, hätte ihr jemand allen Ernstes davon erzählt. Aber dann hatte sich ihr alter Studienfreund Duncan Luther eines Tages mit Lilith, der Halbvampirin, bei ihr einquartiert. Etwa zeit gleich dazu war die Paddington Street in weiten Teilen zur Sperrzo ne erklärt worden. Presseverbote, Journalistenanfeindungen und das Zuspiel einer mysteriösen »Totenliste«… all das hatte Beth all mählich an die haarsträubende Wahrheit herangeführt. Die Wahrheit, daß der Mensch weder »Krone der Schöpfung« noch Herr über sich selbst war. Er glaubte es zu sein. In Wirklichkeit wurde er von Geschöpfen gelenkt und geleitet, die Menschen – wer
immer sie erkannte und ihr Wirken durchschaute – skrupellos um brachten oder in willenlose Sklaven verwandelten: Vampire! Wie immer, wenn Lilith sich allein in eine undurchsichtige Situati on begab, fürchtete Beth um sie. Gleich nach ihrer Rückkehr aus Eu ropa hatte die Reporterin wieder ihre Arbeit beim renommierten Sydney Morning Herald aufgenommen. Liliths Hypnose hatte Chefredakteur Moe Marxx dazu veranlaßt, seine offizielle Einwilligung für den Abstecher nach Wales zu geben. Dementsprechend hatte Beth sich gewagt, alle angefallenen Spesen im Rahmen ihrer »Dienstreise« mit der Buchhaltung abzurechnen. Daß dabei der Posten unquittierter Trink- und Schmiergelder beina he genauso hoch war wie ihre sonstigen Kosten, hatte den Revisor mißtrauisch gemacht. So mißtrauisch, daß er bei Marxx nachgefragt hatte, ob solch ein Aufwand in irgendeinem Verhältnis zur erzielten Story stand. Moe Marxx hatte Beth antanzen lassen und dieselbe Frage ihr ge stellt. Und Beth hatte – frei nach dem Motto: Nicht ohne meinen An walt! – Lilith zu der Unterredung mitgebracht. Danach hatte der Revisor wegen Einmischung in Dinge, die ihn nichts angingen, eine auf den Deckel bekommen, und niemand – Moe Marxx eingeschlossen – hatte mehr ein Wort über Beth’ doch recht unergiebige Reise verloren. Dafür steppte aus anderen Gründen der Koalabär in der Redakti on des Sydney Morning Herald. Und nicht nur dort. Ganz Sydney schien in den drei Wochen ihrer Abwesenheit den Schritt vom »Multi-Kulti« hin zum Sammelbecken der Chaoten ge macht zu haben. Die ehemals gediegen-harmlos-freundliche Welt stadt, die zu den zwei, drei schönsten rund um den Globus gehörte,
hatte ihr Ansehen dadurch nicht eben verbessert. Was Beth von Kollegen und aus den zurückgelegten Ausgaben des Sydney Morning Herald über den Verlauf der letzten Wochen erfahren hatte, grenzte an Wahnsinn ohne Methode. Überall in den Stadtteilen Surry Hills, Kings Cross, Paddington, Millers Point und Woolloomooloo, bis hinaus in die Vororte Ken sington, Leichhardt, Bondi, Lane Cove und Mosman wurden Men schen vermißt, tobten Morde, Selbstmorde, Bandenkriege, Brandstif tungen und Zerstörungen, bei denen man erfolglos nach irgendei nem nachvollziehbaren Motiv Ausschau hielt …! Wie immer in solchen Fällen beteuerten die höheren Stellen – in diesem Fall Al Weinberg, der Bürgermeister –, daß es sich nur um lokale Ereignisse ohne Bedeutung für die Gesamtstatistik eines Jah res handelte. Lange würde er diese Verharmlosung allerdings nicht mehr durchhalten können. Allein die Fälle der Woche, durch die Beth sich gerade geschmökert hatte, sprengten alle Monatsbilanzen der Vorjahre. Sydney schien plötzlich den bedenklichen Ehrgeiz ent wickelt zu haben, in Wettbewerb mit der bislang führenden ameri kanischen Verbrechenshauptstadt, Washington, treten zu wollen … Ebenfalls gehobenes Interesse hatte Beth an den Ermittlungen um den Verbleib von Polizeichef Virgil Codd gezeigt. Codd war drei Tage vor ihrem Abflug nach Europa spurlos aus seinem Haus ver schwunden, und alles deutete darauf hin, daß er zu den »befreiten« Dienerkreaturen gehörte, die laut Warner künftig Lilith in ihrem Kampf unterstützen sollten. Dabei brauchte sie die »Befreiten« nicht selbst ausfindig zu ma chen. Sie würden sich, hatte es geheißen, nach Ablauf zweier Mona te mit Lilith in Verbindung setzen. Bis dahin waren es nur noch wenige Tage. Beth wußte, daß Lilith dieses Thema bewußt verdrängte. Sie woll
te keine »Diener«. Die bloße Vorstellung bereitete ihr Unbehagen. Aber lange, fürchtete Beth, würde Lilith diesen Zwiespalt nicht mehr verdrängen können. Der Radiowecker sprang an. Beth drehte sich zur Seite. 5:00 Uhr. Wie im Flug war die Zeit verstrichen. Der Job rief. Der Job und ihr Spezialfreund Moskowitz, der am späten Abend an ihren Schreib tisch gepilgert war und ihr eröffnet hatte: »Ich bin gerade mit Moe zusammengerasselt. Er scheint einen Narren an uns beiden gefres sen zu haben. Wir sollen ihm eine Hintergrundstory über menete kelnde Endzeitpropheten liefern. Text: Macbeth. Photos: der gute, alte, seit einer Woche nikotinabstinente Mosk …«
* Lightning Ridge, New South Wales Der Mann mit dem kantigen Gesicht und dem knochig-hager ge wordenen Körper erreichte die abgelegene Stadt der Opalsucher kurz nach Mitternacht. Er sah aus wie einer der vielen Hobos und Vagabunden, die ihr Leben lang durch das Outback und die kleine ren Städte zogen, weil sie meinten, vom Moloch einer Großstadt ver schlungen zu werden. Mittel- und obdachlos schlugen sie sich am Rande der Legalität durch den Tag und die Nacht, lebten fast aus schließlich im Jetzt, selten im Gestern und niemals im Morgen. Aber dieser Mann war anders. Er hatte Sydney vor Wochen verlassen, und er spürte, daß er sich dem Ziel seiner Reise mehr und mehr näherte. Es war ein mystisches Ziel.
Er war ein Mystiker. Geworden. Bevor er aufgebrochen war, um dem Ruf zu folgen, war er alles an dere als dies gewesen. Ein besonderer Keim hatte seinem längst toten Körper den Traum eines Dienerlebens vorgegaukelt, und er hatte nie etwas anderes getan, als diesem Traum zu gehorchen. Bis – Virgil Codd blieb unter dem Verandadach der Billigabsteige ste hen. Er hatte keinen Cent in der Tasche und würde auch hier, wie überall sonst während seiner Etappen, höchstens aus Barmherzig keit für den Rest der Nacht ein Dach über den Kopf und ein Bett un ter seinen mager gewordenen Körper bekommen. Er war bereit, jedes Almosen anzunehmen. Seinen Stolz hatte er mit anderen Untugenden abgelegt. Er genoß das Leben, das sich aus längst vergessenen Winkeln seines Körpers meldete. Mit manchem Zipperlein auch, aber das machte ihm nichts aus. Er lebte! Er atmete! Jahrzehnte war ihm beides nicht vergönnt gewesen. Bis zu Jeff Warners Besuch hatte er das Dasein einer Dienerkreatur gefristet. Erst die seltsame Frucht, die Warner ihm zu »essen« aufgezwungen hat te, hatte diesen Zustand geändert. Virgil Codd war erst seit wenigen Tagen wieder in der Lage, seine lädierten, halb ausgerenkten Kiefer schonend zu bewegen. Und zum erstenmal überhaupt hatte er heute einen Essensdrang verspürt, der seither unbändig anwuchs. Kein Blut, hallte es in seinen Schläfen. Nie wieder Blut … Er betrat das Motel – oder was immer die Wellblechbaracke dar stellte.
Überrascht nahm er die eingenickte Frauengestalt hinter der Re zeption zur Kenntnis. Als sich seine Schritte näherten, schrak sie auf. Virgil Codds Mund formte ein vorsichtiges Lächeln. Der Schmerz blieb aus. Sein Herz klopfte heftiger beim Anblick des freundlichen Gesichts, das ihm keinerlei Vorbehalte entgegenzubringen schien. Räuspernd sagte er: »Ein Cattle-Train hat mich am Ortsrand abge setzt. Nun suche ich eine Bleibe bis morgen früh …« Die Frau taxierte ihn schweigend. Sie hatte sich hinter dem Holz verschlag erhoben, und so konnte sich Virgil Codd seinerseits ein Bild von ihr machen. Ihr blondes Haar war hinten als Pferde schwanz zusammengefaßt – losgelöst mußte es eine beachtliche Länge besitzen. Sie hatte ein gelebtes Gesicht, kein verlebtes. In den Fältchen um Mund und Augen lagen Episoden eines etwa vierzig jährigen Lebens, und wer diese »Karte« zu lesen verstand, der emp fand auf Anhieb Sympathie für den Menschen dahinter. Virgil Codd konnte sie lesen – und niemand wunderte sich darüber mehr als er. So vieles an und in ihm hatte sich verändert, seit … »Wie heißen Sie?« fragte die Frau. »Virgil«, sagte er offen. »Ich bin Alice. Kommen Sie von weit her, Virgil?« »Aus Sydney.« »Das ist weiter, als ich je kam«, lächelte sie und brachte die Fält chen wie die bunten Steinchen eines Kaleidoskops in ein neues Mus ter. Sie griff in eine offene Schublade und zog einen Schlüssel her aus. »Einen Moment. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!« Virgil Codd senkte den Blick. »Ich fürchte«, sagte er leise, »es liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe kein Geld. Keinen Cent …« Alice tat, als hätte sie nichts gehört. Oder als hätte sie ihn gehört, sei aber an dem, was er geäußert hatte, nicht interessiert. »Kommen
Sie!« wiederholte sie, nun eine Spur bestimmter. Sie kam hinter der Rezeption hervor, und Codd konnte erstmals richtig erkennen, was für eine tolle Figur sie noch hatte. Nicht dürr oder verhärmt wie manche Frauen ihres Alters. Und auch nicht fett und unförmig, wie das andere Extrem meist ausfiel. Codd erschrak, als er die Reaktion seines Körpers bemerkte. Sein Glied, das so lange wie tot gewesen war, versteifte so abrupt und nachhaltig, daß er sekundenlang überzeugt war, Alice müsse es be merken. Falls sie es wirklich tat, zeigte sie es nicht. Sie lief zwei Schritte vor ihm und sagte warm: »Wenn Sie Hunger haben, bringe ich Ihnen gern noch eine Kleinigkeit vorbei …« Codd schluckte. Nicht nur dieses Angebot, alles beschämte ihn. Die Tage, die er unterwegs war, hatte er nur mit Männern zuge bracht. Immer wenn er irgendwo Anhalterglück gehabt hatte, hatte ein Mann hinter dem Steuer gesessen. Zufall, natürlich. Aber um so heftiger machte ihm die Freundlichkeit einer Frau dieses Formats zu schaffen. »Danke«, sagte er. »Das wäre sehr nett.« Sie nickte lächelnd. Dann erreichten sie die Tür seiner Unterkunft. Alice schloß auf und warf dabei einen Blick in die laue, sternklare Nacht. Sie atmete einmal heftig ein und aus, ehe sie den Schlüssel wieder herauszog und ihn Codd überreichte. »Sie können duschen, wenn Ihnen danach ist. Handtücher liegen bereit. Eine Badewanne gibt es in keinem der freien Zimmer …« Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. »Danke«, wiederholte Codd. Er drehte den Knauf und ging ins In nere. Hinter sich hörte er ihre leiser werdenden Schritte. Eines der Dinge, an die er sich erst gewöhnen mußte, war, daß er wieder Licht benötigte, um sich in Dunkelheit zurechtzufinden. Als
Kreatur hatte er sich, wann immer es möglich war, in die Finsternis zurückgezogen. Seine angeblichen Allergien – auch gegen übertrie bene Helle – waren auf die Jahrzehnte seiner Dienerexistenz zurück zuführen gewesen. Starkes Sonnenlicht hatte ihm zuletzt existenzbe drohend gefährlich werden können. Davon war nach seiner Rückverwandlung nichts mehr zu spüren. Dennoch hatte er das übertriebene Auskosten gleich in den ersten Tagen mit einem gewaltigen Sonnenbrand bezahlen müssen. Von der Aggressivität der kaum noch ozongefilterten UV-Strahlen hatte er zwar gewußt, aber es hatte ihn nie interessiert, weil er ein ganz ei genes Interesse gehabt hatte, sich diesen Strahlen nie längere Zeit auszusetzen. Alles hatte sich geändert. Codd strich mit der Hand über die Wölbung seiner Hose. Schnell wechselte er in den Nebenraum mit dem Bad und schlüpfte aus sei nen Kleidern. Sein Glied sprang befreit nach oben, als Codd als letz tes den Slip abstreifte und in die Duschkabine stieg. Er hoffte, das kühle Wasser würde seine Erregung etwas dämpfen. Das Gegenteil war der Fall. Er stellte den Strahl heißer. Dampf füllte Kabine und Raum. Die Schritte draußen hörte er erst, als Alice wieder aus dem Bade zimmer hinaushuschte. Verdutzt schob Codd die Duschabtrennung etwas zur Seite und streckte den Kopf hinaus. Dabei sah er, daß seine Kleidung ver schwunden war und an ihrer Stelle ein Bademantel deponiert wor den war. Kopfschüttelnd setzte er seine Reinigungsprozedur fort. Er wusch sich ausgiebig den Staub der letzten Tage von der Haut. Als er abge trocknet den Frotteemantel überzog, hörte er draußen im Zimmer Klappergeräusche.
Stumm nahm er ein benutztes Handtuch, hielt es gezielt vor die immer noch vorhandene »Beule« und wechselte nach nebenan. Alice strahlte. »Sie sehen aus wie ein neuer Mensch!« Codd fragte sich, ob er das alles nicht träumte. »Wenn Sie wüßten, wie recht Sie haben … Großer Himmel, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll …« »Gar nichts! Setzen Sie sich. Essen Sie!« Sie zeigte auf das mitge brachte Tablett. »Ich tue es gern.« »Wenn Ihr Chef davon erfährt, wird er Sie hochkant hinauswerfen. Unmittelbar vor oder nach mir!« Alice schüttelte sehr bestimmt den Kopf. »Das wird nicht gesche hen.« »Warum nicht? Ist Ihr Boß ein ebensolcher Menschenfreund wie Sie?« Nickend sagte sie: »Ich bin der Boß.« Nach dieser Eröffnung fand Codd keinen Grund mehr, nicht zuzu greifen. Er setzte sich auf das Bett und legte das Handtuch über die Beine. »Wegen der Krümel«, erklärte er. Sie lächelte und setzte sich auf die gegenüberliegende Bettseite. Codd ging zögernd zu Werke. Er hatte seit einer Ewigkeit keine richtige Nahrung mehr zu sich genommen, und er wußte nicht, wie sein entwöhnter Verdauungsapparat darauf reagieren würde. Zu mal seine letzte Mahlzeit etwas gewesen war, über dessen Zusam mensetzung er nicht das Geringste wußte. Daß es wie ein Apfel aus gesehen hatte, bedeutete nichts. Es war nie und nimmer ein Apfel ge wesen. »Erzählen Sie von sich«, forderte Alice ihn auf. Es war mehr als oberflächliche Neugierde, was sie dazu bewog. Codd erkannte pro
blemlos, daß sie sich einfach für den Menschen vor ihr interessierte. »Sie sind ein interessanter Mann. Wohin wollen Sie? Warum haben Sie Sydney verlassen?« »Darüber kann ich nicht reden«, sagte er. Und dachte: Noch sieben Tage … »Dann sind Sie ein geheimnisvoller interessanter Mann!« lächelte sie. »Schmeckt es Ihnen nicht?« Sie bemerkte die Zurückhaltung, mit der er kaute und aß. »Doch, doch«, log er. Das Essen hatte keinen besonderen Geschmack. Die Gründe dafür suchte er jedoch ausschließlich bei sich. Als er fertig war und das Tablett von sich schob, rutschte ihm das Handtuch vom Schoß, und durch den sich teilenden Mantel schob sich ungewollt die Spitze seines Glieds. Codd sah es. Alice sah es. Statt Empörung legte sich jedoch ein sehr viel verständnisvollerer Zug um ihre Lippen. Sie hob das Tablett auf und stellte es auf dem Nachttisch ab. Ihre Wangen röteten sich, als sie um das Bett herum auf Codds Seite ging und sich vor ihn stellte. Ihre Finger gruben sich wortlos in sein Haar, als sie sein Gesicht gegen ihren Bauch drückte. »Gut, daß du es auch willst«, flüsterte sie kehlig. »Ich wollte dich von dem Moment an, als ich dich sah! Du hast das gewisse Etwas …« Das hatte sie auch. Und wie. Codd sog ihren Geruch und ihre Wärme ein und griff automatisch nach ihren Pobacken, die ihm rund und prall wie das gerade wie dergewonnene Leben erschienen.
»Du weißt, wie man einer Frau das Gefühl gibt, eine Frau zu sein«, sagte sie rauchig. »Ich weiß von alldem nichts mehr«, gab er offen zurück. Sie stockte kurz. »Das macht nichts«, sagte sie dann. »Ich frische deine Erinnerung auf …« Sie ging vor ihm in die Knie und legte den Schatz unter seinem Ba demantel endgültig frei. Fasziniert ließ Codd alles geschehen. Ihre Augen ließen ihn nicht los, während ihre Hände sich kundig mit sei ner immer stärker durchbluteten Männlichkeit befaßten. Als er meinte, sich nicht mehr beherrschen zu können, erhob sie sich, streifte das Höschen ab, ohne das Kleid selbst auszuziehen, und setzte sich breitbeinig, ihm den Rücken zugewandt, auf ihn. Feuchte Wärme umschloß sein Glied. Alice stöhnte und begann, mit dem Becken auf und ab zu gleiten. Ihre Hände krampften sich um seine Knie. Seine Hände schlossen sich um ihre großen Brüste, deren Fülle seine eigene Lust mehr und mehr steigerte. Aber immer wenn sein Stöhnen ihr verriet, daß er kurz vor dem Orgasmus stand, nahm sie das Tempo zurück, wurde langsam bis zum völligen Stillsitzen – um nach gewisser Zeit die Bewegungen wieder zu forcieren und ihn so nach und nach völlig um den Ver stand zu bringen. Als er sich schließlich in sie ergoß, war es wie eine in Jahren aufge staute Explosion. Sie zerstäubte die letzte verschwommene Erinne rung an sein Untotsein. Aber er vergaß nie, daß auch seine jetzige Freiheit Grenzen hatte. Sieben Tage, dachte er. Noch sieben Tage, bis … Bis was? Er wußte es nicht.
Er kannte den Ort, der sein Ziel war, aber er wußte nicht, was ihn dort erwartete. Er wollte es nicht wissen. Noch nicht. »Glaubst du, wir könnten das wiederholen?« fragte Alice atemlos. »Ich meine – jetzt gleich …?«
* Lilith fühlte sich machtvoll von dem etwa Mitte des letzten Jahrhun derts erbauten Gebäude angezogen. Es trug die Nummer 229, ent sprach damit den Angaben des Banguma und war in Dunkelheit ge taucht. Wirkliche Dunkelheit. Selbst für Liliths besondere Augen. Auch im Haus brannte kein Licht, was jedoch nicht verwunderlich war. Nur chronisch Schlaflose pflegten um diese Zeit noch ihre Kühlschränke zu plündern oder sich vom Flimmern einer Mattscheibe hypnotisie ren zu lassen. Beides war hier offenbar nicht der Fall. Der schmale Vorgarten und der Weg zur Haustür wirkten ver nachlässigt, aber die Ursache dafür schien erst in jüngster Vergan genheit zu liegen. J. & H. Friday, stand auf dem Schild neben dem Klingelknopf. Lilith hatte nicht vor, zu läuten. Sie hatte auch nicht vor, die Haus tür zu benutzen. Dennoch wunderte sie sich über die daran kleben den Siegel des Sydney Police Department. Der Gartenpfad führte um das Haus herum. Hinten erstreckte sich ein regelrechter kleiner Park. Alles hier erinnerte von der Anlage her ein wenig an das nur zweihundert Schritte entfernt liegende Anwe sen, das Liliths Eltern, Creanna und Sean Lancaster, nach ihrer An
kunft 1896 in eine uneinnehmbare »Festung« verwandelt hatten. Auch die hintere Tür war verschlossen. Aber hier zauderte Lilith nicht lange. Sie schlug die Scheibe eines rechts daneben liegenden Fensters mit der bloßen Hand ein. Daß sie sich leicht schnitt, machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Sie saugte an der offenen Wunde, bis die Selbstheilungskräfte ihres halbvampirischen Körpers wirksam geworden waren. Dann hangelte sie sich vom Garten über das Fensterbrett ins Inne re des Hauses. Was sie tat, war Einbruch und Hausfriedensbruch … nach menschlichem Gesetz. Aber wie stets, wenn höhere Interessen auf dem Spiel standen, scherte sich Lilith keinen Deut um moralische Schranken. Sie verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran. Sie lauschte nach verdächtigen Geräuschen. Die Siegel an der Tür sprachen eigentlich eine recht eindeutige Sprache. Wenn das Haus bereits den Behörden aufgefallen und durchsucht worden war, hatte sich die Bedrohung womöglich längst verflüchtigt. Vielleicht … Sie erstarrte. Sie spürte es! Ihr schwindelte kurz vor dem Abgrund, der sich innerhalb der Mauern eingenistet hatte. Lilith durchquerte einen Korridor, der quer durch das Erdgeschoß zur Vordertür führte. Auf dem Boden lag ein Wust von Postsendun gen, die noch nach der Versiegelung durch den Türschlitz geworfen worden waren. Was war den Besitzern des Hauses zugestoßen? Was bewog einen schattenhaften Esben-Storm-Verschnitt dazu, sie, Lilith, darauf aufmerksam zu machen und ihr sogar eine Schuld
daran anzukreiden? Sie versuchte sich die Anfeindungen Storms während ihrer ge meinsamen Traumzeitreise in Erinnerung zu rufen. Ob Banguma und Storm nun identisch waren oder nicht, sicher war, daß der Aboriginal schon vor Wochen von einer »wuchernden Krebszelle« gesprochen hatte, die ihren Ursprung in 333, Padding ton Street hatte. Auch Storm hatte Lilith die Verantwortlichkeit da für angelastet! »Erst wenn du erkennst, welches Chaos du hinterlassen hast, kannst du entscheiden, wie deine Zukunft aussehen soll!« hatte er erklärt. Damals hatte sie sich entschieden, sich nicht noch einmal in das »Schlafgefängnis« zu begeben, um die zur Vollendung ihrer Reife noch fehlenden zwei Jahre nachzuholen. Von Storm hatte Lilith erstmals von den Wondjinas erfahren, die nach der Aboriginal-Religion einst alles auf diesem Kontinent ge schaffen und sich dann in ihre Schöpfung zurückgezogen hatten. Schon Esben Storm hatte behauptet, daß die Vorgänge auf dem Grundstück 333 die Schöpfung in diesem Teil der Stadt destabilisiert habe und sich Anomalien gebildet hätten. Glasklar erinnerte sie sich plötzlich an seinen Kernsatz: »Wondjinas sind keine Dämonen – aber ich sah einen, der wie ein solcher wütet. Der alles verschlingt …« Meinten Banguma und Storm dieselbe Gefahr? Eine Gefahr, die hier zu finden war? Die sich seit damals überschlagenden Ereignisse und nicht zuletzt Storms Tod hatten diese Bedrohung aus Liliths Blickwinkel gerückt. Sie hatte in fernen Ländern nach dem Kelch gesucht und dabei das Unerledigte direkt vor der Haustür aus den Augen verloren … »Ein entarteter Wondjina …«, murmelte sie gedankenverloren.
Und fügte ebenso leise hinzu: »Schon wieder ein … Dämon?« Die Ereignisse in Wales waren ihr noch frisch in Erinnerung. Aber der dortige, in uraltem Holz hausende Dämon konnte kaum mit ei nem »Schöpferwesen« verglichen werden …* Lilith durchsuchte die verlassenen Räume des Erdgeschosses und stieg anschließend zu nächst in den Keller – auch hier nichts Ungewöhnliches – und dann ins Obergeschoß. Oben, wo der Schlafraum der Pridays lag, verstärkte sich der Ein druck eines überstürzten Aufbruchs. Lilith sah ein zerwühltes Bett, das ebenso wie andere Details von der Polizei so belassen worden war. Die Schränke waren, wie eine kurze Überprüfung zeigte, prall gefüllt. Dann fiel Liliths Blick auf eine dunkle Stele, die einen der Nachtti sche zierte. Es war eine Aboriginal-Schnitzerei, wie sie auf Anhieb erkannte. Ähnliches hatte sie in den dichtgedrängten Regalen von Esben Storms Laden gesehen. Sie nahm den Gegenstand in die Hand … … und erschrak über dessen Leichtigkeit. Zugleich fühlte sie etwas Elektrisierendes, das bis unter ihre Kopfhaut kroch. Erschrocken ließ sie die Stele fallen. Sie zerbrach. Sie war hohl. Und aus der Höhlung löste sich etwas, das sehwache Ähnlichkeit mit dem Banguma hatte. Schwärze. Schwarzes Licht, das sich sofort gasförmig auszudehnen begann und – Von dem, was dann geschah, wurde Lilith vollkommen überrum pelt.
*siehe Vampira 12: »Freaks«
Der Symbiont an ihrem Körper tat etwas, was er in diesem Aus maß noch nie gewagt hatte. Zunächst formte er eine unverständliche mentale Warnung, die wie dumpfes Brausen in Liliths Bewußtsein hallte. Dann bildete er – ohne ihr eine Reaktionszeit einzuräumen – die bekannten »Medusenfäden«, mit denen er vampirische Feinde aussaugen oder ihnen seinen Willen aufzwingen konnte. Nur daß hier kein Vampir war! Nur daß hier überhaupt nichts Greifbares war, in das er seine Aus leger bohren konnte …! Als Lilith ihren Irrtum erkannte, war es bereits zu spät für Gegen maßnahmen. Zwei Sekunden wehten die »Fäden« scheinbar ziellos wie Tentakel in einem imaginären Windhauch. Dann stießen sie in Liliths Nacken, durchstießen schmerzhaft Haut und Knochen und übernahmen die Kontrolle über ihren Körper! Nur in Gedanken konnte Lilith den Symbionten verfluchen. Nicht einmal Mund und Zunge gehorchten ihr mehr. Sie mußte tun, was der Symbiont wollte. Und was er wollte, wurde offenbar, als er der aus der Stele strömenden Schwärze nicht einmal mehr einen Blick schenkte, sondern Lilith mit Vehemenz zur Tür hinaus, den Gang und die Treppe hinunter und aus dem Gebäude lenkte! Lilith stolperte mehr, als daß sie ging, als könne der Symbiont ih ren Körper nicht fehlerfrei steuern, aber das drang nur schwach in ihr Bewußtsein, das überschwemmt wurde von nacktem Entsetzen. Nicht vor der Schwärze, sondern von der eigenen schrecklichen Hilflosigkeit, keine Macht mehr Über den eigenen Leib zu besitzen. Erst als sie mehrere Häuser zwischen sich und die Nummer 229 gebracht hatten, verlangsamte der Symbiont. Schließlich zog er sich aus Liliths Nervensystem zurück. Ihre Hände, die sich, jetzt wieder unter Liliths Kontrolle, in nackter Wut und Ekel in ihn gruben, um ihn sich vom Leib zu reißen, ignorierte er zu einem gewissen Grad.
Und Lilith besann sich, bevor der nächste Schmerz über sie hin wegrollte. Langsam sickerte in ihr Bewußtsein, daß der Symbiont nur deshalb in solch extremer Weise gehandelt hatte, um sich und Lilith vor etwas Ungeheuerlichem zu bewahren! Wenn es das war, wogegen der Banguma ihre tatkräftige Hilfe erbe ten hatte, war es fraglich, ob sie dieser Bitte entsprechen wollte – oder konnte …
* Tasmanien Tyler Gravis erwachte durch leichte Erdstöße und fuhr hoch. Mor genhelle sickerte durch die dünne Zelthaut. Tiras Platz neben ihm war leer. Gravis hatte das Gefühl, auf dem schwankenden Rücken eines Un geheuers zu sitzen, das ihn mit aller Macht abzuschütteln versuchte. Jähe Angst – mehr noch um Tira als um sich selbst – vertrieb die Schlaftrunkenheit. Ernüchtert robbte er zum Zeltausgang. Dabei stieß er gegen den seltsamen »Baumtrieb« – oder was immer es war. Im Tageslicht wirkte das knapp zwei Finger lange, wurzelähnliche »Ding« wesentlich unscheinbarer als noch während der Nacht. Es zitterte und wankte jedoch noch viel stärker als Gravis unter den Er schütterungen, die sich durch den Boden pflanzten. »Tira!« schrie er, noch ehe er den Ausgang erreichte. Er wollte etwas hinzufügen – aber der Ton blieb ihm im Hals ste cken, als er sah, wie der erdfarbene Wurzeltrieb sich ein letztes Mal schüttelte – und dann im Boden verschwand, als hätte ihn irgend je mand von unten gepackt und kräftig daran gezogen!
Fast zeitgleich ebbte das Beben ab. Perplex kroch Tyler Gravis ins Freie. »Ti-« Er brach ab. Tira kauerte nur wenige Schritte vom Zelt entfernt neben einer Huon-Kiefer. Vor dem Zelt waren zusammengelesene Steine in Kreisform ausgelegt und das Emaillegeschirr ausgepackt. »Was, zur Hölle, war das?« fragte Tyler und ging neben ihr in die Hocke. »Ein Erdbeben war es jedenfalls nicht«, behauptete Tira. Ihre Au gen blickten wie die eines scheuen Rehs. »Nicht? Was sollte es sonst gewesen sein? Alles schwankte …« Die Bestimmtheit ihres Kopfschüttelns steigerte seine Irritation. »Nicht alles.« Sie schürzte die Lippen. »Ich konnte die weitere Um gebung von hier aus genau sehen. Jenseits des Waldes blieb alles ru hig …« Gravis lächelte milde. »Das ist unmöglich. Du mußt dich getäuscht haben. Erdbeben sind nicht derart lokal begrenzt – und was außer einem Erdbeben sollte es gewesen sein?« Er erhob sich und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Na, jetzt ist es jedenfalls vorbei. – Was hattest du eigentlich vor?« fragte er mit Blick auf das Beil in ihrer einen und den abgeschlagenen Ast in ihrer anderen Hand. Auch sie kam auf die Füße. »Ich wollte dich mit einem frischge brühten Kaffee überraschen. Noch ein paar starke Äste, und die Hal terung für den Topf ist fertig. Wenn du hilfst, geht es noch schneller. Aber du kannst dir auch erst einmal den Schlaf aus dem Gesicht wa schen, drüben bei der Quelle. Ein Handtuch liegt schon dort.« Er schüttelte sich. »Nichts gegen Hygiene, aber die Wassertempe ratur dürfte knapp über dem Gefrierpunkt liegen.« »Du mußt ja kein Vollbad nehmen – und paß auf, daß der ›Kleine‹ keine Frostbeulen davonträgt.«
Grinsend trottete Gravis davon. Er hatte die Quelle noch nicht er reicht, als ihn ein zweites Beben, noch heftiger als das erste, von den Beinen riß. Sekundenlang lag er wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken. Die Äste der Bäume schwankten so heftig, daß es aussah, als wollten sie auf ihn herabpeitschen. Zugleich bestätigte ein Blick in die fernere Umgebung Tiras Behauptung: Außerhalb des Waldes regte sich nichts! Dort lag alles in friedlichem Morgennebel! Das »Beben« dauerte eine halbe Minute. Gravis rappelte sich hoch und rannte zurück zu Tira, der die Lust auf Scherze vergangen war. Völlig verunsichert und mit ängstlicher Miene saß sie da und hielt das Beil in ihrer Hand, als hätte sie damit gerade jemanden ins Jenseits befördert. »Was hast du?« Gravis legte die Hände um ihre Taille. Sie war völ lig verspannt. In ihren Augen war ein ihm unbekanntes Licht. Als wäre sie gerade einem leibhaftigen Gespenst begegnet. Sie hielt das Beil hoch. An der Klinge glänzte Pflanzensaft. »Das mußt du selbst herausfinden«, sagte sie verhalten, als traute sie den eigenen Gedanken nicht. Er nahm das Werkzeug mechanisch entgegen. »Wie meinst du das? Was erwartest du?« Sie führte ihn zu der Stelle, wo er sie vorhin verlassen hatte. Ein zweiter Kiefernast lag jetzt dort. Der Baum, den sie gestutzt hatte, wies noch etliche vergleichbare Äste auf. »Wir brauchen noch einen«, sagte Tira dunkel. Ihr Blick gefiel ihm nicht. Er wußte auch nicht, warum sie dem ei gentlichen Problem auswich. Dennoch umfaßte er den Stiel und schlug einen brauchbaren Ast ab. In dem Moment, als die Klinge in das Holz hackte, begriff er Tiras Benehmen.
Der Boden unter seinen Füßen bäumte sich auf, als wollte er einen Vulkan gebären. Gravis erwartete, entweder verschlungen oder von einer Erdfontäne davongeschleudert zu werden. Weitverästeltes Wurzelwerk wurde kurz sichtbar. Es warf ihn und Tira von den Beinen. Sie sahen sich nur an. Sie zweifelten nicht an ihrem Verstand, aber sie zweifelten an allem, was sie sich über Jahre an Wissen über die Flora dieses Planeten angeeignet hatten! Ein Baum, der sich dagegen wehrte, daß man ihm Äste entfernte? Gravis kannte wie Tira die Kirlian-Versuche, die längst den Nach weis für ein Schmerzempfinden bei Pflanzen erbracht hatten. Aber zwischen dem Gedanken, daß auch Gewächse über eine »Gefühls welt« verfügten, und dieser Schockreaktion lagen Welten! »Huon-Kiefern«, keuchte er, als auch dieses »Beben«, das länger angehalten hatte als die beiden vorhergehenden, abgeklungen war. »Das sind doch, verdammt noch mal, ganz normale Huon-Kiefern …! Was soll das?« In Tiras Augen irrlichterte es immer noch. Schulter an Schulter standen sie da und ließen den Blick über die knapp einen Hektar große Waldfläche schweifen. Obwohl längst auch Angst nach ihnen griff, drängte Tira auf einen neuen, absonderlichen Versuch. Sie wollte herausfinden, wie weit die »Reaktion« eines Baumes reichte. Gravis sollte mit dem Beil an ein Ende des Kiefernwäldchens gehen, Tira zum anderen. Tyler Gravis sträubte sich nicht. Forschergeist hatte ihn gepackt. Entdeckerlust, die – noch – das Unbehagen über diese abnorme Re aktion verdrängte. »Jetzt!« hörte er Tiras dünnen Schrei aus etwa hundert Metern Ent fernung. Er schlug ziellos in einen der Stämme am Waldrand. Der Boden unter ihm hob sich um etliche Zentimeter. Vibrationen krochen bis
in Gravis’ Körper. Fast eine Minute erzitterte die Erde. Als Tira mit wächsernem Gesicht neben ihm auftauchte, fragte er: »Konntest du es auch spüren?« Sie nickte versteinert. Fassungslosigkeit malte sich in Gravis’ Zügen. Schließlich fiel ihm auf, daß Tira regelrecht betäubt wirkte. »Was ist?« fragte er. »Ich spürte nicht nur die Erschütterung«, flüsterte sie zögerlich. »Sondern?« »Vor meinen Augen verschwanden ein, zwei Luftwurzeln … Sie schnellten wie Gummibänder in den Boden zurück und erschienen auch nicht wieder!« Gravis’ Augen weiteten sich. Er wurde an den Trieb im Zelt erin nert. »Als ob …« Er verstummte. »Als ob?« fragte Tira. Er schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Arm über sein mehr vor Aufregung als vor Anstrengung verschwitztes Gesicht. »Es ist Unsinn«, wiegelte er ab. »Egal! Was wolltest du sagen?« »Nichts. Es kann nicht sein!« »Ich vermute, du denkst dasselbe wie ich«, murmelte sie und scharrte mit dem Fuß über den Boden, als könnte sie dadurch die verborgene Lösung des Phänomens freilegen. »Es gibt nur diese Er klärung. Aber dann müßte das Alter dieses … Gebiets unvorstellbar hoch sein …!« Gravis begriff endgültig, daß sie denselben Verdacht hegte wie er – so absurd er war. »Kein Wald«, flüsterte er rauh und starrte dabei ebenfalls auf den humusreichen Boden, »sondern die Triebe eines einzigen, gewalti
gen, uralten Organismus …? Tira, das ist – unmöglich!« »Ich weiß!« gab sie ebenso rauh zurück. »Lieber Gott im Himmel – ich weiß das!«
* Traumzeit-Artefakte Öffnungszeiten nach Vereinbarung Inh. Oodgeroo Noonuccal Lilith traute ihren Augen nicht. Schon von weitem hatte sie erkannt, daß Esben Storms Laden in der Market Street detailgetreu rekon struiert worden war. Wochen nach dem verheerenden Brand ver mittelte er den absurden Eindruck, niemals niedergebrannt zu sein … Es war verrückt! Verrückt war auch, daß Lilith sich nach dem Schockerlebnis im Haus 229 in der Paddington Street nicht sofort nach Hause – in Beth’ Zuhause – verkrochen hatte. Was den unwiderstehlichen Drang ausgelöst hatte, sich gerade hierher zu wenden, wußte sie nicht. Vermutlich war es der Wunsch nach Bestätigung, daß etwas von Esben Storm die Vernichtung überlebt hatte und nun als Banguma Kontakt zu ihr hergestellt hatte. Auch Oodgeroo Noonuccal war nur ein anderer Name Storms – er bedeutete in der Stammessprache der australischen Ureinwohner »Niemandes Freund«. Und als solchen hatte Lilith ihn auch kennen
gelernt: Storm war ein verschrobener, ausschließlich eigene Ziele verfolgender Sonderling, der sich angeblich für nichts, in Wahrheit aber für alles interessierte! Kurzum: eine Zumutung! Und nun stand sie vor den Schaufenstern seines Ladens, der nicht einfach wieder aufgebaut worden war, sondern identisch mit dem zerstörten war. Alles war so wie damals. Jedes Detail. Dieselbe schmutzstarrende, fast blinde Verglasung, dasselbe verzogene Rah menholz, das Fenster und Tür stützte, sogar dasselbe GESCHLOS SEN-Schild, das als vergilbter Pappkartonstreifen von innen gegen die Türscheibe baumelte. Ein Blick durch das Schaufenster bestätigte, daß sich auch drinnen nichts verändert hatte. Lilith erinnerte sich an einige AboriginalKunstwerke, die sich in den Auslagen und Regalen stauten. Es brauchte keinen Geniestreich, um zu begreifen, daß dies nicht mit rechten Dingen zuging. Die Frage allerdings, warum außer Li lith niemand Anstoß an der wundersamen Wiederauferstehung nahm, blieb ungeklärt. Lilith sah sich um. Sie trug ein unauffälliges Kleid, das ihre Pro portionen kaschierte, statt sie zu betonen. Die Passanten innerhalb der Market Street, auch die Anwohner, schenkten weder ihr noch dem Spuk hinter ihr irgendwelche Beachtung. Die Tür gab beim ersten Öffnungsversuch nach. Lilith trat ein – und blieb verblüfft jenseits der Schwelle stehen. Das erste, was auffiel, war, daß der Laden doch anders war. Anders auch, als gerade noch von draußen wahrgenommen …! Die vorgegaukelte Fülle an Artefakten fand nach Betreten des La dens keine Bestätigung mehr. Die Regale und offenen Schränke wa ren leer. Nur das Inventar stand herum, wie Lilith es kannte. Aber die Tauschware (eine von Storms Eigenarten bestand darin, daß er
Artefakt gegen Artefakt tauschte, nicht verkaufte) war verschwun den. Als hätte der Besitzer alles ausgeräumt und eilends fortge schafft … Lilith rief Storms Namen und drang tiefer in den Laden vor. Der Symbiont auf ihrer Haut verhielt sich neutral. Dennoch blieb Lilith ein Gefühl unendlicher Verzweiflung. Erneut war ihr demons triert worden, wie wenig Macht sie über den Symbionten und wie viel er über sie hatte …! Daß er diese Macht auch zu ihrem Vorteil entfaltete, tröstete nur unzulänglich über die Erkenntnis hinweg, im Grunde seine Gefan gene zu sein. Plötzlich – ausgerechnet hier – begriff sie, daß sie Mittel und Wege finden mußte, den Symbionten bei Bedarf in seine Schranken zu ver weisen. Es ging nicht an, daß dieses Gefühl des Ausgeliefertseins sich noch mehr steigerte. Es war auch jetzt schon kaum zu ertragen! Etwas lenkte sie ab. Ihr schweifender Blick war an einem Gegenstand hängengeblie ben, der in einem der Regale lag. Das einzige potentielle Tauschobjekt innerhalb des ganzen Ladens! Lilith lenkte ihre Schritte darauf zu. Es war eine aus einem sonnenverblichenen Knochen gearbeitete … Brosche. Sie hatte die Form und Farbe einer gewundenen, schillern den Schlange. Die bleiche, knöcherne Oberfläche war mit bunten Farbtupfern durchsetzt, die die »Schuppen« darstellten. Lilith griff spontan danach. Die Brosche war etwa so lang wie ihr Mittelfinger und aus einem Stück gefertigt. Entlang einer geraden Mittelachse schlängelte sich der Körper des Reptils, und hinter der Achse zweigte ein nadelfei ner »Befestigungsknochen« parallel versetzt ab.
Lilith drehte den Schmuck zwischen den Fingern. Sie versuchte das Verlangen, ihn anzustecken, zu unterdrücken. Das Kleid, das sie trug, war eben nur scheinbar ein Kleid. Und der Symbiont duldete keine »Verstümmelungen«. Lilith rief noch einmal Storms Namen. Die Brosche in der Hand, wollte sie den Privatbereich hinter der Ladenfläche aufsuchen. Es war ihr nicht möglich. Der Türabschluß dorthin war verriegelt und widerstand allen Be mühungen, ihn gewaltsam zu öffnen. Lilith verfügte über gewaltige, in ihrem äußerlich so anmutigen Körper kaum vermutbare Kräfte, aber hier waren ihr Grenzen gesetzt. Ganz offenbar wollte Storm sie nicht treffen. Aber die Brosche hatte er sie finden lassen wollen …? Lilith konnte nicht anders. Sie gab ihr Sträuben auf und riskierte eine schmerzhafte Reaktion des Symbionten, als sie die knöcherne Schlange anhob und das »Kleid« oberhalb der linken Brust damit durchstach. In Erwartung des Schmerzes, den der Symbiont an sie weitergeben würde, schloß sie die Augen. Aber nichts geschah. Das »Kleid« ließ es sich wider Erwarten gefallen. Als Lilith die Lider hob und an sich herabblickte, durchfuhr sie dennoch ein Schreck. Unter der Brosche und, die Konturen nachbildend, auch etwa einen Zentimeter darüber hinaus, hatte sich der Stoff des Kleides wie weißliche Asche verfärbt! Das unmittelbare Umfeld des Totems wirkte von einer Sekunde auf die andere wie … abgestorben. Was habe ich getan? durchfuhr es Lilith. Reflexartig streckte sie die Hand aus, um die Brosche wieder abzupflücken. Doch noch bevor
ihre Finger das Totem berührten, hielten sie inne. Ich kann nicht …!? Der Symbiont reagierte immer noch nicht. Das war mehr als ungewöhnlich, falls wirklich ein Teil von ihm durch den Schmuck beeinträchtigt oder gar abgetötet wurde! Lilith fand sich wieder einmal in der Lage, etwas ins Rollen ge bracht zu haben, von dem sie nicht wußte, welches Resultat am Ende stehen würde. Das Gefühl, sich nach dem »Kleid« nun ein zweites fluchbeladenes Ding angelacht zu haben, bereitete ihr mehr als nur Bauchschmerzen. Noch einmal versuchte sie, sich der Brosche zu entledigen. Es war ihr nicht möglich. Fluchend wandte sie sich dem Ausgang zu. Daß sie keinen negati ven Einfluß des Aboriginal-Totems spürte, bedeutete nicht, daß es diesen Einfluß nicht gab! Hatte Esben Storm gewußt, daß sie sich hierher wenden würde? Hatte er ihr die Brosche zurechtgelegt …? Lilith trat aus dem Laden auf die frühmorgendliche Market Street hinaus. Viele Schritte weit bewegte sie sich tief in Gedanken versun ken. Als sie schließlich stehenblieb und zurückblickte, hatte sie die Straße bereits überquert. Der Anblick von Storms Haus verschlug ihr den Atem. Unwillkürlich blickte sie an sich herab. Aber die Brosche war da. Lilith hatte sich den Besuch des Ladens nicht nur eingebildet! Welchen Ladens? Dort, wo sie eben noch zwischen leeren Regalen gestanden hatte, erhob sich eine mit Bretterverschlägen gesicherte Brandruine …
* Bob Dodson wuchtete den Koffer in die Liftkabine und seinen son nengebräunten Bierbauch gleich hinterher. Na warte, dachte er und ließ vor seinem geistigen Auge das Bild seiner Frau Mildred erstehen. Mildred gehörte in die Kategorie »duldsames Schaf«. Zumindest war dies verläßlich jahrelang der Fall gewesen, und Bob Dodson hatte es ihr ebenso verläßlich »gedankt«, indem er sich zweimal im Jahr einen Solourlaub von der Ehe bei Freunden drüben in Adelaide gönnte. Einmal in vierzehn Tagen pflegte er zu Hause anzurufen und ein Lebenszeichen von sich zu geben. Er war der Meinung, daß das vollauf genügte. Diesmal hatte es jedoch aus unerfindlichen Gründen nicht ge klappt. Mildred war nicht ans Telefon gegangen, obwohl Bob Dodson nach dem ersten vergeblichen Versuch auch zu unmöglichen Nacht zeiten angerufen hatte. Dann, wenn Mildred einfach hätte da sein müssen. Da er weder befreundete Nachbarn auf derselben Etage des Miethochhauses noch überhaupt verläßliche Bekannte in Sydney hatte (sie waren erst vor kurzem aus beruflichen Gründen von Perth hierher gezogen), hatte Dodson darauf verzichtet, andere Leute bei seiner »Fahndung« nach Mildred einzubeziehen. Auf den Gedan ken, ihr könnte etwas zugestoßen sein, kam er keine Sekunde. Mild red war von geradezu unverschämter Gesundheit. Was bei ihm an Blutdruck zuviel war, war bei ihr zu niedrig. Aber damit konnte man steinalt werden …
Nein, Bob Dodson hegte den stillen Verdacht, daß sein »Haus schaf« nach etlichen halbherzigen Rebellionsversuchen nun viel leicht tatsächlich den Mumm gefunden haben könnte, ihm eins aus zuwischen. Obwohl er es sich seinen alten Kumpels gegenüber nicht hatte an merken lassen, war er auf alles gefaßt. Auch darauf, nicht nur seine Kleiderschränke, sondern speziell auch ihre leergeräumt vorzufin den. Dodsons Schwiegermutter, dieses zänkische Weib, hatte Mild red immer wieder ermutigt, sich von dem egoistischen Klotz an ih rem Bein zu befreien und wieder in den mütterlichen Hafen zurück zukehren, aus dem Dodson sie vor nunmehr achtzehn Jahren her ausgerissen hatte. Er grinste säuerlich beim Gedanken an Merle Hardy, die wie das zwanzig Jahre ältere Ebenbild seiner Frau aussah. Wer wissen woll te, wie Mildred später einmal übergewichtig durch die Wohnung keuchen würde, brauchte sich nur ihre potthäßliche Mutter anzu schauen … Dodson verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Darauf, was er tun und brüllen würde, wenn er Mild red wider Erwarten doch antraf. Er drückte den Knopf für die achte Etage des zwanzigstöckigen Hochhauses mitten im Herzen Sydneys und mit traumhaftem Aus blick auf die landeinwärts gelegenen Blue Montains. Die Türflügel des Lifts schlossen sich. Dodson lehnte sich mit dem Rücken gegen die kühle Wand der anfahrenden Kabine. 1… Seine Zunge leckte über die Lippen, als er an die zurückliegenden, durchzechten Nächte zurückdachte. Die Erinnerungen erwärmten sein Herz ein wenig.
3… Liv, die aktuelle Freundin seines besten Freundes, kam ihm in den Sinn. Liv war sehr lieb zu den besten Freunden ihres Mannes – sehr, sehr lieb – und von ganz anderem Schlag als Mildred. 5… Ihre Brüste, mit denen sie sich in günstigen Momenten gegen ihn gepreßt und gerieben hatte, brachten ihn jetzt noch um den Ver stand. 7… Das erstemal hatte sie sich von Bob in dem hübschen Gästezimmer nehmen lassen, das für ihn hergerichtet wurde, wann immer er sich nach Adelaide verlief. 8… Sein Freund hatte Geschmack – und eine Vorliebe für großbusige, lebensfrohe Freundinnen, die er wechselte wie andere Leute ihre Hemden. 9… Dodsons erotische Träume zerplatzten wie eine Seifenblase. Sein Blick glitt zur Schalttafel, um sich zu vergewissern, ob er daneben gegriffen hatte. Aber die 8 leuchtete hell, alle anderen Knöpfe waren dunkel. Trotzdem fuhr der verdammte Kasten am entsprechenden Stock werk vorbei. Ärgerlich drückte Dodson die Knöpfe von 11 und 12, um nicht bis sonstwohin weiterfahren zu müssen. 12 und 13 zogen vorbei, ohne daß der erhoffte Stopp erfolgte. Die Kabine schnurrte gleichmäßig höher. Die vertraute Bremsverzöge rung trat nicht einmal andeutungsweise ein. 15 … 16 …
Dodson seufzte ergeben, während seine Wut auf Mildred gleich zeitig stieg. Dabei machte er sich mit dem Gedanken vertraut, erst einmal ganz nach oben fahren zu müssen, ehe er den nächsten Ver such starten konnte, die achte Etage zu erreichen. Es war das erstemal, daß der Aufzug solche Mucken machte. Aber einmal war immer das erste Mal. 18 … 19 … Jetzt sollte die Kabine anhalten, fand Dodson. Er hatte nicht zum Mond gebucht, und einen Moment überkam ihn tatsächlich die irra tionale Angst, der Lift könnte bis hoch in den Himmel schießen, um ihn kurz darauf – jenseits des Gebäudes – im freien Fall nach unten auf eine der Hauptverkehrsstraßen knallen zu lassen … Er lachte gekünstelt, als der Aufzug bremste und im obersten Stockwerk zum Stillstand kam. Sein Daumen pflanzte sich auf die Zahl 8, die immer noch un schuldig mitleuchtete, obwohl auch die 20 erhellt war, und beließ ihn sicherheitshalber darauf, ohne zu wissen, ob es etwas nützen würde. Die Liftflügel öffneten sich trotzdem. Das war normal. Aber es blieb das einzige Normale. Bob Dodsons Gesicht verlor jede Farbe. Sein Mund klappte auf. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Er starrte auf die Öffnung und wartete vergeblich, daß sie sich wieder schloß. Er stöhnte unterdrückt. Dann schrie er. Brüllte. Versuchte rückwärts in die Kabinenwand zu kriechen.
Zu entkommen. Niemand hörte ihn. Zumindest kein … Mensch. Ehe er verschlungen wurde, dämmerte ihm, daß die gute Mildred vielleicht doch nicht aus reiner Böswilligkeit geschwiegen hatte, sondern irgendwann lange vor ihm diesen Lift bestiegen hatte …
* Das Feuer fraß in ihm, seit sein Fleisch und Blut davon verzehrt worden waren. Ewig war die Qual eines Schattens. »Sie ist geflohen«, sang die Schlange. »Aber sie nahm das Totem«, gab der Banguma in gleicher Melodie zurück. Die zehrende Flamme in ihm wurde um keine Nuance schwächer. Er war auch hier – wie im Leben – niemandes Freund … Der Gesang hob neu an. Die schwarze Flamme erzitterte. In seiner leiblichen Existenz hatte der ehemalige Aboriginal-Scha mane Mittel und Wege gefunden, den Tod hinzuhalten. Aber aus der Flammenhölle hatte es kein Entkommen mehr gegeben. Sein Körper war zum Zeitpunkt des Brandanschlags entseelt und wehr los gewesen.* Das Feuer hatte seine lebendige Hülle gefressen und seine unterwegs befindliche Astralexistenz aufgespalten. Seither war seine Seele verdammt, die endlosen Traumzeitpfade entlangzuhet zen, während der andere Teil, sein Schatten, in die Unterwelt gezo gen worden war. Schatten und Seele waren getrennt, und damit würde Esben Storm
*siehe Vampira 5: »Niemandes Freund«
nicht einmal im Tod Frieden finden können. Endlose Pein war ihm sicher an einem Ort, wo die Zeit ohne Bedeutung und die Orientie rung unmöglich war. Für ihn. Nicht für jenes Wesen, dessen Lied gerade erklungen war und dem er geantwortet hatte. Ein Schöpferwesen. Ein – Wondjina. Die Wondjinas hatten einst, vor vielen tausend Jahren, während der »Schopf er zeit«, das Bild des Kontinents geprägt. Singend wa ren sie von Ort zu Ort gezogen, hatten Flüsse, Berge, Täler, Vegetati on und Tiere und zuletzt den Menschen erschaffen, indem sie all dem Namen gaben. Nach getanem Werk hatten sie sich in die Natur zurückgezogen, in Landmarken, denen auch heute noch die mystische Schöpfungs kraft innewohnte. Auch wenn sich vieles negativ verändert hatte, seit die ersten Schiffe derer, die niemand gerufen hatte, an der Küste vor Anker gingen und ihren menschlichen Abschaum entluden. Die Vorfahren jener, die heute noch Landraub und Verwüstung betrie ben und unentwegt gegen die heilige Pflicht verstießen, die Schöp fung zu behüten, nicht zu zerstören! Wondjinas waren vom Prinzip her weder gut noch böse. Sie waren Geister, die sich jeder menschlichen Bewertung entzogen. Aber selbst dies war kein verläßlicher Grundsatz mehr. Die eher nen Gesetze wankten. Esben Storm hatte das Haus 333, Paddington Street fast ein Jahr hundert lang beobachtet und, wann immer es ihm möglich war, auch »betreten«. Körperlos, in seiner Astralexistenz. Aber er hatte die wahre Bedrohung des Ortes zu lange unterschätzt. Die dort herrschenden Kräfte hatten das Schöpfungsbild der Wondjinas wie eine wuchernde Krebszelle erfaßt und in untauglicher Weise verän
dert. Als Folge davon war mindestens ein dort ansässiges Schöpfer wesen zu grauenhafter Gefahr degeneriert. Storm war ihm flüchtig nahegekommen. So nahe, daß er selbst auf Traumzeitpfaden kaum noch eine Möglichkeit gefunden hatte, dem dunklen Sog zu wider stehen und sich in die Flucht zu retten! All das war vor der Verbannung seines Schattens in die Unterwelt geschehen. Nun hatten ihm die Wondjinas, die noch nicht von der Entartung ergriffen waren, eine nicht mehr erwartete Chance eingeräumt, bei der Beseitigung der kontinentalen Gefahr behilflich zu sein. Den Vermittler zu spielen zwischen dem Wesen, das bewußt oder unbe wußt mitschuldig war an den grauenhaften Veränderungen. Ein neuer Anfang in einem neuen, alten Körper war ihm in Aussicht ge stellt worden. Die Wiedervereinigung von Seele, Schatten und Leib. Das war die eine Seite. Die andere versprach ihm ewige Verdammnis – ihm und allem Le ben auf dem Kontinent seiner Ahnen – falls der Krankheitsherd nicht eingedämmt werden konnte. Was die Menschen und Vampire von Sydney noch nicht ahnten, war für die Schöpferwesen längst klar ersichtlich: Nicht nur die Traumzeit, auch die Realität der darin eingebunde nen »Ungläubigen« stand in Gefahr zu verlöschen und einer neuen, weit schrecklicheren Wirklichkeit weichen zu müssen. Die ursprüngliche Schöpfung war, einmal zerstört, nicht wieder holbar. Aber eine andere, dunklere Variante lauerte bereits auf den Mo ment, da die Bedingungen erfüllt waren, ihr Gestalt zu verleihen. Sydney bildete den Anfang. Aber längst nicht das Ende …
* Menetekelnde Endzeitpropheten? Macbeth erhielt einen ersten tieferen Einblick in die Bedeutung der achtlos hingeworfenen moskowitz schen Plattitüde, als sie bereits geraume Zeit in einem Straßencafé nahe der Hogarth Gallery gesessen hatten. Der Veteran unter den hiesigen Bildreportern hatte Vorrecherchen betrieben und der Walker Lane gute Chancen eingeräumt, dort auf die seltsamen Auswüchse momentanen »Zeitgeists« zu treffen. Bislang jedoch war ihr Warten von keinem Erfolg gekrönt. Bei ei nem Cappuccino fand Beth deshalb Zeit, seiner Behauptung, clean zu sein und bereits eine volle Woche auf sämtliche Nikotingifte ver zichtet zu haben, auf den Zahn zu fühlen. Moskowitz ohne fett qualmende Zigarre – das war einfach unvor stellbar. Zu ihrem Erstaunen hatte er jedoch weder während der Fahrt in Beth’ Mini noch danach zu einem der gefürchteten »Torpe dos« gegriffen. »Und wie kam es zu diesem Sinneswandel?« Moskowitz favorisierte ein teerdunkles Gebräu, das ihm womög lich die Illusion flüssigen Tabaks gab und auf diese Weise über den Verzicht hinweghalf. »Ich war wegen einer hartnäckigen Grippe beim Onkel Doktor. Der hat mich vollgepumpt mit Medikamenten, die sich angeblich nicht mit Nikotin vertragen. Fit fühle ich mich immer noch nicht, ob wohl ich täglich mehr Pillen schlucke, als meiner sensiblen Leber gut tun kann …« Er verstummte. Sein Blick hatte etwas eingefangen, was ihn zum Verstummen brachte. Verstohlen blickte Beth in dieselbe Richtung.
Zwei Menschen waren gerade einem Taxi entstiegen, das sich nun wieder in Bewegung setzte. Ein Mann und eine Frau. Absoluter Durchschnitt und auch durchschnittlich gekleidet. Dennoch waren sie binnen weniger Sekunden von Passanten um geben, die wie gebannt an ihren Lippen hingen. Moskowitz zückte seine Kamera und schoß aus dem Handgelenk ein paar schnelle Fotos. »Das sind sie?« fragte Beth ungläubig. »Weiß ich nicht«, schnarrte Moskowitz. »Wir müssen entschieden näher ran!« »Wer zahlt?« Beth’ Blick streifte Glas und Tasse. »Strecken Sie es vor. Läuft ja doch über Spesen!« Beth kannte diese Angewohnheit ihres »Co’s« inzwischen hinläng lich. Deshalb war ihre Frage auch nur rhetorischer Natur gewesen. »Auf den Onkel Doktor kommen wir noch zurück«, drohte sie, legte aber brav zwei Scheine auf den Tisch, wobei sie den Unterteller als Beschwerer nutzte. Kurz darauf näherten sie sich der Menschenansammlung und schnappten erste Vortragsfetzen auf. Das Paar hatte wirkliche Allerweltsgesichter, aber was über ihre Lippen rann, legte den Verdacht nahe, es entweder mit verblendeten Sektierern oder mit der nächsten Nervenheilanstalt entsprungenen Verrückten zu tun zu haben. »Euer Gott ist tot!« schnappte Beth als ersten verständlichen Satz gleich eine ketzerische Radikalthese auf. »Euer Gott hat nie gelebt! Ihr seid Produkte eines Traums, eingewoben in einen Traum. Aber dieser Traum endet, und das Ende ist nah!« Der Mann hatte gesprochen. Ruhig und dennoch mit solchem Nachdruck, daß selbst Beth sich nicht ganz von der zwingenden
Kraft seiner absurden Behauptungen freimachen konnte. Der Mann war knapp dreißig, dunkelhaarig, gutaussehend. Den noch umgab ihn eine nicht näher zu beschreibende Düsternis. Eine Aura, die prächtig zu den Visionen paßte, die er vor seiner wachsen den Zuhörerschar entwarf. Die Frau, ebenfalls gutaussehend und mit langem, gelocktem, brü nettem Haar, hatte zunächst nur schweigend dabeigestanden. Als der Mann nun eine Redepause einlegte, ergriff sie im selben bannen den Tonfall das Wort. »Die Schöpfung stirbt! Zu lange wurde gesündigt und gegen die Gebote des Lebens verstoßen! Die Natur rächt sich. Diese Stadt wird untergehen! Dieser Planet wird untergehen – um wie Phönix aus der Asche neu zu erstehen! Bald! Aber nur die, die um dieses Geheimnis wissen und sich zusammenfinden, werden die Neuordnung der Welt erleben und überleben. Alle anderen wird die Apokalypse verschlin gen! Der Himmel wird sich verdüstern über der Stadt. Ein Wind von schrecklicher, zersetzender Kraft wird aufkommen, ätzender Regen wird niederfallen und das unwerte Leben hinfortspülen …!« »Grauenhaft!« hörte Beth Moskowitz neben sich seufzen. »Grauen haft pathetisch! Wollen wir uns das wirklich noch lange antun? Ich habe meine Bilder im Kasten – wie steht’s mit Ihrem Text?« Beth erkannte beunruhigt, daß weniger die haltlose Untergangsvi sion als vielmehr der suggestive Klang der Stimme sie ebenfalls für Minuten aus der bewußten Wahrnehmung ihrer Umgebung heraus getrennt hatte. Erst die Worte ihres Begleiters ernüchterten sie wieder. Benommen fuhr sie sich über das Gesicht. »Ist was?« fragte Moskowitz besorgt. »Nein, nichts …« Sie spähte erneut über die Köpfe der Passanten hinweg. Die Zahl der interessierten Zuhörer war bereits auf ein gu
tes Dutzend angewachsen, und ständig blieben mehr stehen. »Ei gentlich wollte ich die Typen noch kurz interviewen. Sie über die Hintergründe ihres Auftritts befragen. Das Geschwafel –«, sie stock te, weil sie sich dabei ertappte, das Gehörte nicht wirklich als blan ken Unsinn einzustufen, »– ist mir zu wenig, um einen Bericht dar um zu stricken. Mir fehlt die Motivation …« »Moe will eine Spalte und ein vernünftiges Bild«, knurrte Mosko witz verständnislos. »Sie können damit keine Meriten ernten!« »Trotzdem …« Der Fotograf tippte sich ungeniert gegen die Stirn und tätschelte zugleich die Kamera, die vor seiner Brust baumelte. »Mir reicht’s«, bekundete er. »Ich habe, was ich brauche. Wenn Sie wirklich noch mehr Zeit verplempern wollen, tun Sie es. Aber allein. Ich krieg’ Kopfweh in Gegenwart solcher Typen! Vielleicht liegt’s auch an den Tabletten, die ich einnehme. Jedenfalls brummt mir der Schädel. Ich gehe schon mal vor …« »Zu Fuß?« »Zu Taxi«, erwiderte er. »Ich werde die Rechnung schon irgend wie als notwendige Ausgabe unterschmuggeln …« Daran hegte Beth keinen Zweifel. »So long!« »So long«, wiederholte sie mechanisch. Moskowitz trottete von dannen. Und Beth wandte sich erneut den »menetekelnden Endzeitpropheten« zu. Wieder verfiel sie dem sonoren Klang, der nicht nur ihr kritisches Bewußtsein einschläferte, sondern auch das der übrigen Zuhörer. Erstaunlicherweise gab es nicht einmal das übliche Getuschel un tereinander. Hier redete nur – im Wechsel – das merkwürdige Pär chen!
Erst als sich dessen Interesse auf zwei bestimmte Personen aus der Zuhörerschaft zu konzentrieren begann, löste sich die Versammlung allmählich auf. Auch Beth spürte ein Nachlassen der Faszination, wenn sie auch nicht völlig verschwand. Sie spürte den Drang, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen, widerstand aber und beobachtete lediglich, wie sich die anderen Zuhörer mit immer noch verklärtem Ausdruck davonmachten. Schließlich standen nur noch sie mit zwei anderen Passanten und den »Endzeitpropheten« auf dem Platz zwischen Café und Walker Lane. Beth fühlte sich zwei sezierenden Augenpaaren ausgesetzt. »Ja?« fragte der Mann schließlich, während die beiden verbliebe nen Passanten mit steinernen Gesichtern dabeistanden und keine Miene verzogen. Beth räusperte sich, um den Kloß in ihrer Kehle zu entfernen. Sie verstand ihre Scheu selbst nicht. Normalerweise war sie aus ande rem Holz geschnitzt. Nicht umsonst haftete ihr der Spitzname »Mac beth« – frei nach Shakespeare – an. Als Reporterin war sie in ein schlägigen Kreisen berüchtigt bis gefürchtet. Weil sie bissig wie eine Tarantel sein konnte. Auch ihr »Gift« lähmte mitunter die Nerven ihrer Kontrahenten … Heute fühlte sie sich allerdings nicht ganz auf dem Posten. Irgend etwas lähmte nicht ihre »Gegner«, sondern die eigene Zunge. »Ich komme vom Sydney Morning Herald«, sagte sie. »Ich hätte mich gern etwas genauer mit Ihnen über Ihre Absichten unterhalten …« »Das ist nicht nötig«, schnarrte nicht er, sondern die Frau an seiner Seite. Der veränderte Ton ließ Beth zusammenzucken. »Sie haben doch zugehört. Gehen Sie jetzt. Verarbeiten Sie das Gehörte. Mehr gibt es nicht zu sagen!«
Ihr Begleiter hatte sich währenddessen bereits wieder den übrigge bliebenen Interessenten zugewandt und leise auf sie eingesprochen. So leise, daß Beth kein Wort verstand und nicht glaubte, daß es den beiden Passanten besser erging. Dennoch schien es der Fall zu sein … Mit Befremden erkannte Beth die Bereitwilligkeit, sich von der Frau tatsächlich so billig abspeisen zu lassen. Sie wandte sich ab und machte ein paar Schritte auf das Café zu. An ihr schien das Interesse erloschen. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie die Frau ein vorbeifahrendes freies Taxi stoppte. »Verdammt!« Beth mahlte die Zähne so hart aufeinander, daß es knirschte. Plötzlich erwachte ihr wahrer Charakter. Sie machte kehrt und rannte zurück. Die vier Gestalten tauchten gerade ins Taxi und schlugen die Tü ren zu, als sie die Stelle erreichte, wo sie vorhin diskutiert (?) hatten. Der Wagen fuhr an. Beth fluchte, sah ein anderes, allerdings besetztes Taxi auftauchen und mimte kurzentschlossen mit rudernden Armen eine lebende Straßensperre. Der Driver legte eine Vollbremsung hin, die sich gewaschen hatte. Beth riß die Tür zum Fahrgastraum auf und flehte: »Bitte! Könnte ich das Taxi übernehmen? Es ist dringend! Ich zahle Ihnen fünfzig Dollar als Entschädigung …« Der einzige Fahrgast, eine ältere Dame, sah sie verschreckt an, grabschte aber sofort nach den hingehaltenen Banknoten. »Heh!« protestierte der Taxifahrer, der Zeuge des »fliegenden Wechsels« wurde. »So geht das aber –« Ein neuerlicher »Geldregen« brachte ihn zum Verstummen. »Wo
hin?« »Wie wär’s mit einer kleinen Verfolgungsjagd?« fragte Beth, die erst einmal tief durchatmete und sich dann nach vorn beugte. »Wie in schlechten Krimis?« Er verzog das Gesicht. »Machen Sie einen guten draus, indem Sie dranbleiben!« Beth zeig te nach vorn. »Das Taxi, das dort vorn gerade verschwindet … Schaffen Sie das?« »Ich fürchte, Sie schaffen mich!« Trotz dieser Äußerung gab er Gas. »Haben Sie sich die Kennung des anderen Cabbys gemerkt?« »Dreisechsneun«, nickte Beth. »Sie sind nicht von hier?« »Danke für das Kompliment! Mich hat’s aus Manhattan hierher verschlagen. Gegen den dortigen Dschungel ist Sydney eine harmlo se Kleinstadt …« Er riß das Mikro an seine Lippen und schnarrte: »Hier Zentrale! Zentrale an dreisechsneun: Sind Sie frei?« Um Beth’ Mund prägte sich ein Anflug von Hochachtung. »Hier dreisechsneun. Nein. Gerade Gäste aufgenommen. Fahre zur Druit Street hundertvierundvierzig. Melde mich, wenn ich abge laden habe …« Der Fahrer grinste mit Blick in den Rückspiegel. »Zufrieden? Ich kenne ein paar kleine Abkürzungen zur Druit …« »Ihr Kollege nicht?« »Der wär’ schön blöd. Kriegt schließlich keine ›Erfolgsprämie‹, und je länger die Uhr tickt …« Beth verstand. Sie lehnte sich im Sitz zurück und fand Muße, sich die Frage zu stellen, was eigentlich mit ihr passiert war. Warum sie sich so unge wohnt passiv hatte abkanzeln lassen. Noch ehe sie eine Erklärung fand, erreichten sie die angegegebene Adresse in der Druit Street.
»Ein Hochhaus«, murmelte Beth mit Blick nach draußen. »Der Kollege ist noch nicht da«, bekräftigte der Fahrer und hielt die Hand auf. »Sie können sich drauf verlassen!« Beth legte noch eine erkleckliche Summe auf die bereits investier ten Scheine. »Danke für Ihre Hilfe!« »Für schöne Frauen tue ich fast alles …« Beth lächelte beim Aussteigen. Wenn du wüßtest, dachte sie, räumte jedoch bereitwillig ein, daß der hübsche Kerl trotz ihrer eindeutigen Veranlagung nicht ganz zu verachten war. Aber ihr letzter – miß glückter – Versuch mit einem Mann lag schon fast ein Jahrzehnt zu rück. Seitdem ließ sie die Finger davon. Unauffällig drückte sie sich in die Büsche, die den Hauptzugang zu dem Hochhaus säumten. Dort wartete sie. Nicht lange, und das nächste Taxi hielt am Straßenrand. Die Zahl 369 prangte auf dem Leuchtaufsatz. Erwartungsgemäß entstiegen jene vier Personen, die Beth erwartete. Sie ließ die Gruppe an sich vorbeiziehen und im Haus verschwin den. Erst dann folgte sie ihnen. Als sie vorsichtig durch die Eingangsverglasung spähte, sah sie, wie sich die mittlere Lifttür hinter der Frau und den drei Männern schloß. Erst danach betrat auch Beth die weite Eingangshalle. Ihre Augen verfolgten das Aufflackern der Etagenanzeige über dem Auf zug. Die Kabine fuhr ohne Zwischenstopp durch bis hinauf ins oberste Stockwerk. Daraufhin verließ Beth das Gebäude und informierte sich drau ßen, wer dort oben im Penthouse wohnte. Isaac Marillion, stand auf der Tafel. Mehr nicht.
Beth gab sich vorläufig damit zufrieden.
* Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig herab. Ozon wurde dann zum Problem, wenn es als UV-Filter in der At mosphäre fehlte. Und das »Loch« über der südlichen Hemisphäre hatte bereits solche Ausmaße angenommen, daß die Sonne nicht nur Dienerkreaturen gefährlich wurde, sondern jedem x-beliebigen Men schen und jedem Angehörigen der Alten Rasse. Liliths Symbiont zollte der extremen Strahlung Tribut und hüllte Lilith von Kopf bis zu den Füßen in Pseudostoff und Schatten. Nur bei sehr genauem Hinsehen und aus nächster Nähe wäre einem Be obachter dabei aufgefallen, daß jedes scheinbar separate Kleidungs stück inklusive des breitkrempigen Huts über hauchdünne Fäden miteinander verbunden war. Lilith wußte längst, daß es dem Symbionten offenbar nicht mög lich war, sich wirklich zu teilen. Eine – wenn auch nur haarfeine – Verbindung zwischen den einzelnen »Textilien«, in die er sich ver wandelte, mußte da sein. Der Symbiont schützte sie vor Sonnenbrand. Aber wer, fragte sie sich in einem schwarzhumorigen Anflug, schützte den Symbionten? Daß sie nach ihrem verwirrenden Erlebnis in der Market Street noch zum Scherzen aufgelegt war, verwunderte sie selbst. Ihr Blick streifte die »Brosche«, die auch nach dem »Modewechsel« noch immer an derselben Stelle über der linken Brust befestigt hing. Und das Gewebe darunter sah auch immer noch wie weißliche Asche aus …
Lilith war in Beth’ Apartment zurückgekehrt, hatte die Freundin aber nicht angetroffen. Kurzentschlossen hatte sie sich zum Nielsen Park aufgemacht, um einem Rätsel nachzugehen, das ihr als solches erst wieder nach der »Spiegelpassage« in Llandrinwyth ins Gedächt nis zurückgekehrt war. Unmittelbar vor ihrer Abreise hatte sie hier in der naturbelassenen Wildnis des Parks ein absurdes Erlebnis ge habt, das seinesgleichen suchte: Unmittelbar vor ihren Augen hatte ein Vampir mit Hammer und Pflock Selbstmord begangen! Die Spitze der Ungereimtheiten bildete aber die Tatsache, daß Beth kurze Zeit später sie, Lilith, bei einem Selbstmordversuch im Apart ment der Reporterin ertappt hatte …! Lilith wußte immer noch nicht, was sie davon zu halten hatte. Sie selbst erinnerte sich nicht einmal ansatzweise, lebensmüde gewesen zu sein und Hand an sich gelegt zu haben. Aber sie hatte sich auch lange Zeit nicht an die Begegnung im Park erinnert. Etwas war hier passiert. Es hatte ihre Erinnerung zuge schüttet und sie möglicherweise auch zu diesem grundlosen Suizid versuch animiert. »Wie den Vampir …!« Lilith schürzte die Lippen. Sie stand auf dem Pfad, von dem aus eine weglose Böschung nach oben zu jenem Plateau ging, wo die Tat geschehen war. Es war Tag, es war hell und warm, und dennoch spürte sie bereits hier unten etwas Unerklärliches, das ihr die Wärme oder sogar mehr aus den Gliedern zog! Sie wußte, daß sie ein hohes Risiko einging. Schon einmal hatten ihre Instinkte sie hier im Stich gelassen. Wenn dies abermals gesch ah … Sie verdrängte die Gefahr.
Sie mußte es tun, weil Angst ein schlechter Ratgeber war. Langsam stieg sie den Hang nach oben. In der näheren Umgebung bewegte sich kein Mensch. Sie war al lein. Allein auch mit dem zunehmenden Gefühl, von etwas gerufen zu werden. Liliths Beine wurden schwer. Bleischwer. Sie hörte keinen Laut. Nur hin und wieder den Wind in den Zwei gen und Blättern. Wenn sie sich umdrehte, konnte sie das Meer se hen. Aber sie drehte sich nicht um. Ihr Blick war starr geradeaus ge richtet. An die Stelle, wohin ihre Muskeln sie mühsam beförderten, obwohl ihr Gehirn längst dagegen war. Nur noch wenige Schritte, dann hatte sie das Plateau erreicht. Und die in den felsigen Boden gemeißelten Petroglyphen, die seit Jahr hunderten, vielleicht Jahrtausenden eine heilige Stätte der Aborigi nes markierten. Von Beth hatte Lilith erfahren, daß sich in und um Sydney auch heute noch etwa zweitausend von den Ureinwohnern in ihrer 40.000jährigen Geschichte hinterlassene archaische Kunstwerke be fanden. Die vier Millionen Einwohner der Stadt scherten sich nur dann darum, wenn sie diese Plätze als Publikumsmagnet vermark ten und zweckentfremden konnten. Hier war eines dieser Kunstwerke. Nicht einmal ein Zaun schützte es vor unbefugtem Betreten … Liliths Schritte wurden noch langsamer. Sie konnte bereits über die Böschung hinweg auf den Plateaubo den mit seinen Felszeichnungen blicken, als sie ruckartig stehen blieb. Ihr Verstand setzte jäh wieder ein (wo war er vorher gewesen?).
Sie starrte auf den Boden und glaubte weit mehr zu sehen als harmloses Gestein oder primitive Symbolik. Mit einem dumpfen Laut ließ sie sich fallen. Zu mehr war sie nicht fähig, als sie die Parallele erkannte zwischen dem, was hier lauerte, und dem, was ihr beinahe im Haus 229, Pad dington Street zum Verhängnis geworden wäre! Sie rollte, von ihrem Gewicht getragen, den Steilhang hinab. Fort von dem Plateau, in dem die Schwärze noch stärker, noch vernichtender wohnte, als es im Haus der Fridays der Fall gewesen war! Diesmal hatte der Symbiont nicht eingreifen müssen. Dieses Mal hatte Lilith gerade noch selbst die Kurve gekriegt … Zwischen Dornengestrüpp und anderem Unterholz kam sie noch unterhalb des Pfades zum Stillstand. Schweratmend blieb sie minutenlang liegen und spähte den Hang hinauf, als erwartete sie, daß ihr von dort oben etwas folgen würde. Etwas … WAS? Sie wünschte sich plötzlich, den Banguma in die Finger zu bekom men, um ihn zu befragen. Oder gleich Esben Storm, den sie mehr denn je verdächtigte, mit der »schwarzen Flamme« identisch zu sein. Lauerte dort oben auf dem Plateau das, was ihr als »entartetes Schöpferwesen« beschrieben worden war? Dort oben und im Haus 229, Paddington Street …? Nein, dachte Lilith bestimmt. Die Schwärze in der zerbrochenen Stele war nichts gegen die Bedrohung hier! Warum hatte der Banguma sie dann nicht gleich hierher geschickt?
Angeschlagen rappelte sie sich auf und verließ den Nielsen Park. Ohne weiteren Abstecher begab sie sich zu Beth’ Apartement, das ihr Zuhause geworden war. Und ihre Zuflucht in Momenten wie diesen.
* Es roch schwach nach Schwefel, als Lilith die Wohnung betrat. Der Geruch lockte sie direkt in die Küche, zumal Beth auf Zurufe keine Antwort gab. Auf dem Küchentisch stand eine Torte, in der sieben Kerzen steck ten. Diese Kerzen waren höchst eigenwillig gestaltet und ähnelten li vreetragenden Butlern, aus deren Köpfen jeweils ein brennender Docht herausragte. Offenbar war ihnen ein Licht aufgegangen. Lilith auch. NOCH 7 TAGE stand – um jedem Mißverständnis vorzubeugen – in Sahne geschrieben darauf. Blut wäre Lilith lieber gewesen. Blut und ein wenig mehr Feingefühl. »Komm raus, damit ich dich erwürgen kann!« fauchte sie. Beth tauchte im Türrahmen auf. Ihr Gesicht spiegelte diebisches Vergnügen wider. »Aber bitte zärtlich«, forderte sie. »Außerdem ver stehe ich deine Aufregung nicht. Ich finde es wirklich hoch an der Zeit, daß du dir Gedanken über die Aufgabenverteilung deiner künftigen Dienerschaft machst! Eine Woche ist schnell vorbei …« Lilith glitt in Drohgebärde auf sie zu. Sie spreizte die Hände und bildete messerscharfe Krallen aus, wo normalerweise Fingernägel zu
bewundern waren, die keiner Maniküre bedurften. Sie ritzte spiele risch Beth’ Haut unterhalb der Kehle. Als kein Blut kam, weil der Kratzer nur oberflächlich verlief, mimte sie Enttäuschung. »Du kannst es gutmachen, indem du mir einen kleinen Gefallen tust«, sagte sie. »Das kommt auf den Gefallen an«, hielt sich Beth bedeckt. Offen bar glaubte sie, Liliths speziellen Hunger stillen zu sollen. Aber Lilith war nicht hungrig. Nicht im Moment. »Du hast doch Kontakte zu allen möglichen Stellen?« Beth nickte mit stolzgeschwellter Brust. »Ich wüßte gern alles, was man dort über die Besitzer des Hauses 229, Paddington Street gesammelt hat. J. und H. Friday stand an der Tür …« Beth kehrte endgültig den Ernst hervor. »Was willst du von den Leuten? Ich dachte, du wolltest zu Warner nach 333 …?« »Da war ich auch. Allerdings habe ich Warner nicht angetroffen. Dafür jemand anderen …« Sie schilderte kurz, was sie erlebt hatte. Als Lilith schwieg, hatte sich ein undefinierbarer Ausdruck im Ge sicht der Freundin fest. »In den drei Wochen unserer Abwesenheit scheint dies nicht die einzige ungewöhnliche Entwicklung gewesen zu sein …« Sie berichtete ihrerseits von der sprunghaft gestiegenen Kriminali tätsrate, den rätselhaften Vorkommnissen und zuguter letzt auch von den »menetekelnden Endzeitpropheten«, denen Lilith aller dings nur mäßiges Interesse entgegenbrachte. »Hilfst du mir?« drängte sie. »Ja oder nein?« »Wenn du mir versprichst, nicht länger die Augen davor zu ver schließen, daß die von Warner genannte Frist in einer Woche abge
laufen ist und dann noch ein Problem auf uns wartet!« Lilith vertiefte ihre Blick in Beth’ gegenwärtig blaue Augen. »Auf uns?« »Sind wir nun Blutsschwestern oder nicht?« erinnerte Beth mit ge spieltem Pathos. »Deine Probleme sind auch meine Probleme …« »Und die deinen sind auch meine …?« Lilith verzog das Gesicht, als ginge es um Mundgeruch. »Hilfe!« seufzte sie theatralisch. »Wer will schon deine Probleme …?« Das Telefon summte. Beth ging ins Wohnzimmer, hob ab, sprach ein paar Sätze und kehrte sichtlich irritiert zurück. »Das war Moskowitz. Er will mich treffen – sofort. Er redete, als wäre er high. Mir wäre es sehr lieb, wenn du mich begleiten könntest … Willst du?«
* »Scheiß Tabletten!« fluchte der Veteran aller Pressefotografen in Sydney und Umgebung. Originelle Begrüßung, dachte Lilith und fand – obwohl sie ihm erstmals persönlich gegenüberstand –, daß Moskowitz krank aus sah. Richtig mies. Lilith wandte sich zu Beth, um an deren Reaktion abzuleiten, ob Moskowitz immer so daherkam. Offenbar nicht, wenn sie das Ver halten der Freundin richtig interpretierte. Vielleicht stand er tatsäch lich unter Drogen. Beth stellte sie einander offiziell vor. Aber Moskowitz winkte sie nur fahrig in seine Privatwohnung, die einem ziemlich gemütlichen Chaos glich.
Lilith wußte, daß auch Beth sich zum erstenmal privat mit Mosko witz traf. Sie war sichtlich überrascht von den gediegenen und durchaus ge schmackvollen Möbeln. Warum sie die Tapeten und Vorhänge ge nauestens in Augenschein nahm, wußte Lilith allerdings nicht. Noch weniger, warum sie die Nase rümpfte wie ein schnüffelnder Hund, denn es lag nichts Unangenehmes in der Luft. Zu diesem Ergebnis schien auch Beth zu gelangen. Und zeigte sich verblüfft. »Sie scheinen ja wirklich ernst zu machen«, sagte sie. »Womit?« fragte Moskowitz und bot ihnen Plätze auf der Couch an. »Mit Ihrem Nikotinverzicht.« Er seufzte. »Was tut man nicht alles, um den Sensenmann noch ein Weilchen hinzuhalten …« Beth musterte ihn ernst. In ihre Augen trat ein Samariterblick, der nicht nur Lilith, sondern glücklicherweise auch Moskowitz mißfiel. »Ach, du lieber Himmel«, keuchte er. »Ich habe Sie nicht gerufen, um meine Trauerfeierlichkeiten mit ihnen durchzusprechen! So schlecht geht’s mir auch wieder nicht! Wenn ich rumlaufe wie ein zu heiß gebadeter Zombie, dann liegt das verdammt noch mal nur an diesem Kurpfuscher, der mir auch noch das allerletzte Vergnügen meines Daseins madig machen will. Wenn Sie wissen wollen, wie man den Satan mit Beelzebub austreibt, gebe ich ihnen gern den Na men des Quacksalbers …« Beth machte eine beschwichtigende Geste. »Okay, was gibt es also so Dringendes?« »Ich will nur von Ihnen wissen, ob ich meinen Beruf an den Nagel hängen kann, oder ob die beiden Typen, die wir in der Nähe des Cafés trafen, wirklich so abgefahren aussahen!«
»Heilige Einfalt, wovon sprechen Sie?« Lilith verstand Beth’ Ungeduld. Dieser Moskowitz konnte vermut lich stundenlang um den bis dahin kalten Brei herumpalavern, wenn ihn niemand bremste. Er pfefferte ein Bündel Fotoabzüge vor Beth und Lilith auf den Tisch. »Davon!« Er lehnte sich zurück und kniff die Augen wie eine hungrige Eule zusammen. Dabei fiel zum erstenmal auf, daß er die Hände krampfhaft ineinander verknotete, um ihr Zittern zu verber gen. Beth und Lilith ahnten plötzlich, daß es unmöglich nur die verord neten Medikamente sein konnten, die Moskowitz zu einem wan delnden Nervenbündel hatten werden lassen. Sie beugten sich vor und betrachteten die unmöglichen Bilder. Die »Propheten« sahen darauf aus wie pervertierte, pechschwarz ummantelte Schaufensterpuppen, in denen unmöglich Leben pulsie ren konnte. Ihre »Oberfläche« (Lilith weigerte sich, an Haut auch nur zu denken) war haarlos und glatt wie unter extremer Hitze ge schmolzenes und wieder erkaltetes Gestein. Und dennoch wirkte sie selbst auf den Bildern … flexibel. Geschmeidig. Schön …! »Wie haben Sie das gemacht?« rief Beth entgeistert. »Das … sind sie nicht!« »Natürlich sind sie das nicht«, pflichtete Moskowitz mit feinen Schweißperlen auf der Oberlippe bei. »Aber was sind sie dann? Die Leute drumherum sind alle einwandfrei getroffen. Nur die, um die es geht, sehen aus wie einem Kohlenkeller entsprungen – auf allen Bildern!« »Also liegt es nicht am Fotografen …« Beth murmelte es nur. Aber Moskowitz achtete heute auf die lei sen Töne. »Dann bin ich ja erleichtert … Oder auch nicht! Hölle, die
Zusammenarbeit mit Ihnen wird immer spaßiger! Letztens diese seltsame ›Karte‹, über die Sie sich bis zum heutigen Tag ausschwei gen, dann die mysteriösen Mordfälle, um die wir uns schon küm merten, als die Paddington noch Sperrgebiet war – Sie erinnern sich …?« »Vage«, vertröstete Beth ihn. Lilith bemerkte ihren flehenden Blick, aber sie zögerte, Moskowitz auf ihre Art zu besänftigen. Wieder und wieder begutachtete sie die Aufnahmen. »Hast du eine Erklärung?« hörte sie Beth fragen. Und flüsternd hinzufügen: »Vampire?« »Vampire?« Moskowitz war wirklich auf Draht. Oder der Medika menten-Mix, den er seinem Dpc verdankte, hatte als unerwartete Nebenwirkung seine Sinne geschärft … »Nein«, sagte Lilith, ohne auf Moskowitz’ Frage einzugehen. »Was dann?« Liliths Interesse an Beth’ Prophetenpärchen war schlagartig um hundert Prozent gestiegen, obwohl ihr die Begegnung mit dem Banguma und dem Schwarzen Licht im Haus 229, Paddington Street immer noch vorrangig erschien. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann versuchen, es herauszufinden …« In Beth’ Augen glomm es seltsam. »Was ist?« fragte Lilith. »Nichts«, wiegelte die Reporterin ab. »Ich denke nur über etwas nach …« »Erfreulich.« Beth ging nicht darauf ein. Unvermittelt wandte sie sich an Mos kowitz, der nicht gerade freundlich zu den Geheimniskrämern her überblickte.
»Sie klagten an der Walker Lane über Kopfschmerzen.« Er nickte. »Sonst haben Sie nichts bemerkt?« Er schüttelte den Kopf. »Worauf wollen Sie hinaus? Sagen Sie es, bevor ich Sie und Ihre Freundin vor die Tür setze. Mir geht’s wirk lich nicht besonders!« Beth blieb ungerührt. »Eine Art … Beeinflussung«, sagte sie. »Ich zum Beispiel war ganz hin und weg von ihren Prophezeiungen, die ich jetzt, mit etwas Abstand, nur noch als idotisches Geschwafel ab tun kann …« »Und?« fragte er grob. »Passiert Ihnen das nicht dauernd?« Beth schien ihm zu verzeihen. Offenbar berücksichtigte sie die Streßsituation, in der sich Moskowitz zweifellos befand. »Mitunter – aber nicht in diesem Ausmaß. Also?« »Ich habe nichts bemerkt!« schnarrte er. Wieder registrierte Lilith Beth’ verstohlenes Flehen. Diesmal ließ sie sich erweichen. Sie wußte zwar nicht genau, wor auf ihre Freundin abzielte, aber sie war zwischenzeitlich selbst neu gierig geworden, ob Moskowitz ihr widerstehen würde. Der Test war simpel. »Holen Sie alles Geld, was Sie im Haus haben, und legen Sie es hier vor uns auf den Tisch!« Kein normaler Mensch hätte auf diese unvermittelte Aufforderung freiwillig reagiert. Moskowitz stand auf und kehrte erst zurück, nachdem er mehrere Schubladen, Kleidungsstücke und die Brieftasche durchwühlt hatte. Viel war es nicht, was er – einschließlich Münzgeld – vor ihnen aus breitete. Aber es bewies zweifelsfrei, daß er auf Hypnose ansprach. Ehe er sich ins Sesselpolster zurückfallen lassen konnte, befahl Li
lith mit einem Fingerzeig auf die alarmierenden Fotos: »Die Negati ve!« Er verließ erneut den Raum und kehrte mit mehreren losen Zellu loidstreifen zurück. Beth kontrollierte sie sofort und nickte dann. »Okay«, sagte Lilith und packte auch die Papierabzüge dazu. »Und jetzt verschaffen wir Mr. Moskowitz wieder ein unbeflecktes Gewissen und geben ihm den Glauben an das Heil der Welt zurück …« Als sie die Wohnung des Fotografen verließen, hatte dieser, was die letzten Stunden anging, im wahrsten Wortsinne einen »Filmriß«. Später würde er beschwören, daß alle an der Walker Lane ge schossenen Bilder aus unerklärlichen Gründen fehlbelichteter Müll waren. An den Besuch zweier Frauen, von denen er die eine selbst herzitiert hatte, würde er sich nicht mehr erinnern …
* Tasmanien Sie hatten gegraben, vermessen, fotografiert, Proben entnommen, Thesen gesponnen, Thesen verworfen und neue ersonnen – aber am Ende lief alles auf ein und dasselbe Resultat hinaus: Das Alter jener gigantischen Huon-Kiefer mit ihren Trieben, Wur zeln und Auslegern, die sie ursprünglich für ein Wäldchen gehalten hatten, belief sich schon bei vorsichtiger Schätzung auf über zehntau send Jahre …! »Unmöglich!« war die meistbemühte Vokabel der bei aller Begeis terung über den Fund um Seriosität bemühten Biologen. Sie hatten
die hiesige Ausdehnungsfläche mit der Wachstumsgeschwindigkeit herkömmlicher Huon-Kiefern verglichen und daraus dieses Fabelal ter abgeleitet. Zugleich waren sie sich einig, daß das wahre, mit mo dernster Ausrüstung belegbare Alter noch um ein Vielfaches höher liegen konnte … »Weißt du eigentlich, was das bedeutet?« fragte Gravis bei einer seltenen Pause. »Wir sind Glückskinder! Wir haben es geschafft und können uns demnächst unsere Arbeit und Arbeitgeber aussuchen. Man wird sich alle Finger nach uns lecken …!« Tira Fairchild hegte andere Gedanken. »Was mich viel mehr faszi niert, ist, daß dieser Gigant bereits zu Zeiten existiert haben könnte, als nach dem Glauben der Aborigines die Erde noch flach und leer gewesen war – oder die Schöpferwesen gerade damit begonnen hat ten, Leben, Licht und Wärme zu erschaffen …« »Du hattest schon immer einen Hang zum Metaphysischen«, lä chelte Tyler Gravis. »Na und? Ich finde die Vorstellung, hier quasi mit dem Ohr am Puls der Schöpfung zu liegen, berauschend. Dieser ›Baum‹ war viel leicht Zeuge der Welterschaffung …!« »Mit derselben Logik müßtest du die Bibel und den dortigen Schöpfungsbericht wörtlich nehmen«, lehnte er ab. »Mir ist der Traumzeitmythos auch geläufig, aber das sind religiös verbrämte Legenden. Unsere Entdeckung ist von einem anderen Kaliber: Sie ist für jedermann, der sich hierher bemüht, sicht- und greifbar. Sie ist – phantastisch!« Tira lächelte nachsichtig. Tyler Gravis benahm sich wie ein kleiner Junge, der gerade erfah ren hatte, daß ihm ja eigentlich die Welt gehörte. »Wann brechen wir auf und machen die Sensation publik?« fragte sie.
»Wenn möglich, noch heute. Aber überprüfen wir vorher noch einmal alle Eventualitäten, damit aus unserer Sensation nicht doch noch unvermutet eine Zeitungsente wird, die uns für alle Zeiten lä cherlich macht!« »Ich wußte nicht, daß du noch solche Zweifel hast …« »Habe ich auch nicht. Aber ich bin vorsichtig. Und auch bei unserer Rückkehr nach Boston sollten wir sehr vorsichtig agieren, damit uns niemand mehr die Butter vom Brot nimmt. Neider wird es zur Ge nüge geben …« Für einen Moment schlich sich Sorge in Tiras Blick. Doch dann übte sie wieder Optimismus, der auch auf Tyler Gravis ausstrahlte. »Fangen wir an! Um so schneller können wir unseren ›unsterblichen Ruhm‹ in Angriff nehmen!« So geschah es. Sie fotografierten, nahmen – trotz der darauf folgenden Kleinbe ben – Proben, festigten ihre Überzeugung und packten schließlich in aller Hast ihre Rucksäcke. Mit etwas Glück konnten sie den Abstieg bis zum Abend schaffen und morgen früh das erste Charterflugzeug ergattern, das die Westküste der tasmanischen Insel Richtung Syd ney verließ. Der Anschlußflug von dort in die USA würde kaum Schwierigkeiten bereiten. Sollte auch das glatt verlaufen, konnten sie ihre Entdeckerrechte binnen 48 Stunden sichern. Um den Rest wür den sich kundige Stellen kümmern, die von der Sensation ein Sahne häubchen abhaben wollten … All diese Träume zerplatzten jedoch schnell und sehr brutal an der Realität. Tira, die ein paar Schritte vorauslief, mußte ihren Enthusiasmus als erste büßen. Zunächst hielt sie ihren Sturz noch für ein zufälliges Stolpern über eine übersehene Bodenwurzel. Als Tyler ihr zu Hilfe eilte, erkannten
sie jedoch beide, daß sich einer der überall aus dem Boden schauen den Strünke wie eine Schlinge fest um ihre linke Wade zusammen gezogen hatte – und weiter zusammenzog! Tiras nächster Schrei entsprang bereits heftigem Schmerz. »Was …?« Gravis handelte gedankenschnell und zog sein Messer aus der Gürtelscheide. Ohne über das Wie und Warum nachzudenken, durchschnitt er den Strunk. Sofort bebte die Erde in noch nicht gekannter Stärke. Gravis und Tira stürzten zu Boden und versuchten verzweifelt, sich an den Händen festzuhalten, während sich die Erde unter ihnen wie ein aus dem Schlaf gerissenes Ungeheuer aufbäumte und sie mit Macht einige Meter in die Richtung schleuderte, aus der sie gerade gekommen waren. Mit schweren Prellungen, aber ohne Knochenbrüche, blieben sie liegen und warteten das zögernde Abklingen der Erschütterung ab. Selbst als wieder Ruhe eingekehrt war, wagten sie kaum, sich zu bewegen. »Was – hat das – zu bedeuten …?« rann es über Tiras starre Lip pen. Gravis erkannte am Klang ihrer Stimme, daß sie dasselbe wie er dachte – und damit vermutlich das Richtige. Auch wenn es noch so absurd war. Absurder als ein etliche tausend Jahre alter Pflanzenorganismus konnte gar nichts sein …! »Offenbar«, erwiderte er heiser und mit deutlicher Verzögerung, »hat es einen Narren an uns gefressen. Oder es will nicht, daß wir fortgehen und seine Existenz bekannt machen …« »Es?«
»Der Baum«, sagte Gravis tonlos. »Ich fürchte, wir sind seine … Gefangenen – oder Schlimmeres …«
* Die Stadt lag in der beginnenden Abenddämmerung, als Lilith ihr Ziel in der Druit Street erreichte. Nur der alle anderen Wohn- und Geschäftstürme überragende Sydney Tower reflektierte mit seinem oberen Drittel noch gleißenden Schein. Das zwanzigstöckige Miethochhaus, das Beth ihr beschrieben hat te, konnte damit nicht konkurrieren. Ein Blick zum »Gipfel« des Glas- und Betonmonsters ließ die daraufgepfropfte Penthousewoh nung auch nur ahnen. Sie lag etwas von den Grundrissen zurückversetzt und war allsei tig von einem Gürtel aus Grüngewächsen abgeschirmt, die allein schon mehr gekostet haben mußten als ein Reihenhaus irgendwo an der städtischen Pheripherie. Isaac Marillion war ein reicher Mann. Laut Beth’ Nachforschungen war sein Vater federführend am Bau nicht nur dieses Wohnturms beteiligt gewesen. Der Vater war un mittelbar nach Fertigstellung verstorben und hatte seinem Sohn nicht nur die Penthousewohnung auf dem Dach dieser lukrativen Geldanlage vermacht, sondern sicherlich auch ein zusätzliches hüb sches »Handgeld«… Lilith war es gleichgültig. Sie interessierte nur, in welcher Verbindung Isaac Marillion zu den beiden den Weltuntergang beschwörenden Gestalten stand, die Beth hierher verfolgt hatte. Und wer diese auf Moskowitz’ Bildern nicht mehr sehr menschli
chen Gestalten waren. Um dies zu erkunden, war sie gekommen. Beth hatte versprochen, sich in der Zwischenzeit in der Angelegenheit 229, Paddington Street kundig zu machen. Lilith lenkte ihre Schritte zum Eingang des Gebäudes. An die »Brosche« hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, fand es aber immer noch erstaunlich, daß der Symbiont keinen Versuch unter nahm, sich von ihr zu trennen. So wenig wie sie selbst – und das war schon bedenklich genug, da sie nicht einmal ansatzweise über Sinn und Zweck dieses »Schmucksstücks« aufgeklärt worden war. Der Banguma hatte sich nicht wieder gezeigt … Ehe Lilith das Hochhaus betrat, fühlte sie, wie etwas Naßkaltes ihr Gesicht traf. Sie blickte zum Himmel, der sich über der Stadt mit dunklen Wol ken zugezogen hatte, und traute ihren Augen nicht. Es – schneite…? Vereinzelt fielen Schneeflocken herab. In Australien herrschte Spätsommer, aber schon seit geraumer Zeit war zu beobachten, daß das Wetter immer groteskere Kapriolen schlug. Kopfschüttelnd betrat Lilith die Eingangshalle. Eine merkwürdige Atmosphäre empfing sie direkt hinter der Tür schwelle. Die Vorhalle mit den insgesamt drei Aufzügen – von denen aber nur der mittlere in der Lage war, bis zum Penthouse zu gelangen – wirkte völlig verwaist. Eine gespenstische Ruhe für ein bewohntes Objekt dieser Größenordnung. Als Lilith auf den Lift zuging, öffneten sich seine Flügel einladend.
Die Kabine war dezent erleuchtet. Liliths Blick suchte nach dem verborgenen Sensor, der ihre Annä herung erkannt hatte. Sie fand ihn nicht. Einen Schritt vor der offenen Kabine blieb sie stehen. Für einen Moment glaubte sie, das knöcherne Totem, das sie in Storms Laden erhalten hatte, hätte sich verändert. Bei genauerem Hinsehen konnte sie jedoch nichts feststellen. Die Kabine stand immer noch offen. Lilith begriff ihr eigenes Zögern nicht. Sie sah sich um, aber außer ihr befand sich immer noch niemand in der Halle. Auch von einem der oberen Etagen wurden dieser und die anderen beiden Aufzüge nicht angefordert … Das war mehr als ungewöhnlich. Lilith trat einen Schritt zurück. Täuschte sie sich, oder flackerte die Kabinenbeleuchtung? Lilith entfernte sich noch weiter. Die Türflügel des Lifts hätten sich schließen müssen – so kannte sie es. Aber sie blieben offen, als wollten sie Lilith animieren, endlich zuzusteigen. Verrückt. Lilith blickte zu den Aufzügen rechts und links. Hier befiel sie das befremdliche Gefühl nicht, aber als sie sie nacheinander anwählte, erfolgte keine Reaktion. Die Kabinen hingen irgendwo im Gebäude fest und gehorchten den Anforderungsversuchen nicht. Jeder Besu cher wurde förmlich gezwungen, den mittleren Aufzug zu nehmen … Lilith wollte sich nicht zwingen lassen. Sie verließ sich auf ihr Ge fühl und nahm statt dessen die etwas abseits liegende, unscheinbare Tür, auf der in blaßgoldenen Buchstaben Stairs stand.
Das Treppenhaus lag in tiefer Dunkelheit. Es besaß keine Fenster verbindung zur Außenwelt, und die Beleuchtung versagte. Spätes tens dies, dachte Lilith, gäbe für jeden anderen den Ausschlag, doch den einzig funktionierenden Lift zu benutzen … Ein Grund mehr, es nicht zu tun. Sie schreckte die Dunkelheit nicht. Das für normale Menschen kaum mehr wahrnehmbare Restlicht, das durch die Türritzen der Zwischengeschosse sickerte, reichte ihren Augen völlig aus. Sie be wegte sich mit ebensolcher Sicherheit wie bei hellem Tag. Nur ein leichter rötlicher Schleier erinnerte sie selbst daran, daß ihre Sinne »umgeschaltet« hatten. Sie wußte, was sie sich vorgenommen hatte. Zwanzig Stockwerke gingen an die Kondition. Aber die besaß sie schließlich. Sie ermüdete kaum und erklomm binnen kürzester Zeit die ersten acht Etagen. Die Zahlen, die auf jeder Ebene an die Ge schoßtüren gemalt waren, erleichterten die Orientierung. Obwohl keineswegs erschöpft, entschied sich Lilith zu einem kurz en Abstecher. Sie verließ das Treppenhaus, trat in den Korridor – und schrak vor dem Bild der Verwüstung zurück. Der Gang war übersät mit zertrümmerten Kleinmöbelstücken, Va sen, elektrischen Geräten, Blumenerde, zerrupften Pflanzen, Glas scherben von Behältnissen, deren Inhalte sich mit Erde und Nah rungsresten zu einem ekligen Brei vermengt hatten! Es sah aus, als hätten Vandalen gehaust. Trotz gewisser »Vorahnungen« war Lilith im ersten Moment völ lig überrumpelt von diesem Ausmaß der Zerstörung. Dann bemerkte sie eine offenstehende Tür etwa in der Mitte des langen Korridors. Gleichzeitig wurde die lastende Stille durch das Geräusch eines jäh auf volle Lautstärke gedrehten Fernsehers oder
Radios unterbrochen. Lilith stieg über die Hindernisse hinweg und ging darauf zu. Ein verwahrloster Kerl hing in einem verwahrlosten Sessel vor laufendem Fernseher und zielte mit einer Fernbedienung wie mit ei ner Pistole auf die Mattscheibe, auf der sich gerade zwei ihm sehr ähnliche Gestalten mit den Fäusten bearbeiteten. Als Hintergrund brannte eine Tankstelle. Der Mann bemerkte Lilith zunächst nicht. Seine zerrissene Klei dung und auch Teile der sichtbaren Haut waren mit getrocknetem Blut verkrustet, das von einigen, offenbar aber nicht gefährlichen Verletzungen stammte. Plötzlich fuhr der Kopf des Mannes herum. Mit debilem Blick und aus den Mundwinkeln laufendem gelben Speichel stierte er Lilith an, ruckte urplötzlich auch mit dem Arm herum, legte die Infrarot fernbedienung auf sie an und spuckte ein den Fernseher übertönen des »Peng!« in den Raum. Mit der Enttäuschung eines Idioten fügte er kurz darauf hinzu: »Du mußt umfallen, ey! Das gilt nicht, daß du stehenbleibst …!« Lilith ging auf ihn zu. Sie unterdrückte Ekel und Abscheu, die wie Insekten unter ihre Haut zu kriechen versuchten. »Was geht hier vor?« fragte sie, wand ihm die Fernbedienung aus der Hand und klickte den Ton weg. Die plötzlich wiederkehrende Stille irritierte den Sesselhänger. Dann saugten sich seine Blicke an ihrem Busen fest. Nur die Blicke. Etwas anderes hätte Lilith nicht zugelassen. Plötzlich kicherte er fratzenschneidend. »Was hier vorgeht?« Er verfiel in glucksendes Lachen, das nach und nach in einen Ersti ckungsanfall überging. Urplötzlich schien er sich wieder zu beruhigen und aus dem Sessel
zu wuchten. Schwankend und um Balance bemüht hielt er sich eine Weile auf den Beinen, ehe er vom eigenen Gewicht wieder hinunter gezogen wurde und wie ein Baby zu greinen begann. »Was geht hier vor?« Lilith packte ihn an den Schultern und ver zichtete auf weitere Rücksichtnahme. Wie eine Puppe ließ er sich hin und her schütteln. »Wer hat diese Zerstörungen angerichtet?« Obwohl er ihr Interesse daran nicht zu verstehen schien, antworte te er abgehackt. »Ich … Und die anderen … Alle hier …« »Und warum?« Bei dieser Frage mußte er endgültig passen. »Warum?« echote er blöde. Lilith ließ ihn los. »Kennen Sie Isaac Marillion?« fragte sie, ohne Hoffnung, ihn da mit aus seiner Apathie zu reißen. Als keine Antwort erfolgte, drückte sie ihm wieder die Fernbedie nung in die Hand und verließ die Wohnung. Ohne gegen eine der anderen Türen zu klopfen und sich einen Eindruck von den dorti gen Verhältnisen zu verschaffen, wechselte sie wieder ins Treppen haus und überwand die Stockwerke neun bis fünfzehn. Dort veranlaßten sie wohlbekannte Geräusche, erneut einen Blick zu riskieren. Der Korridor, auf den sie trat, wies keinerlei Verwüstungen und nur geringfügige Verunreinigungen auf. Dafür hatte Lilith den Ein druck, mitten in eine Gruppensexveranstaltung geplatzt zu sein. Alle Apartmenttüren standen offen, und selbst auf dem Gang tum melten sich Männer und Frauen jeden Alters. Liliths Blicke suchten nach Kindern, doch es waren keine zu sehen. Erstaunlicherweise hatte Lilith auch im achten Stockwerk keine Hin weise auf Kinder entdeckt.
Waren sie rechtzeitig vor dem hier um sich greifenden Wahn ge flohen? Kaum vorstellbar, denn dann hätte längst die Polizei auf kreuzen und nach dem Rechten sehen müssen. Wie in 229, Paddington … Der Gedanke huschte wie ein Streiflicht an Lilith vorbei. Minuten lang durchwanderte sie den Korridor und die Wohnungen, die ge füllt waren mit bis zur Erschöpfung in den unglaublichsten Stellun gen kopulierenden Körpern. Erst als sie sicher war, daß sich wirk lich nirgends Kinder aufhielten, kehrte sie auch diesem Tohuwabo hu den Rücken. Entschlossen, sich vor dem Ziel – dem Penthouse – nicht noch ein mal aufhalten zu lassen, eilte sie die Stufen nach oben – und wurde ihrem Vorsatz auf Ebene 18 doch wieder untreu. Der Schrei, der sie dort stoppte, hatte mit Lust nichts zu tun. Dieser Schrei entsprang Todesangst und Schmerz! Sie riß die Tür auf und stürmte förmlich in den Korridor. Wenige Schritte von ihr entfernt lag eine zappelnde Frauengestalt, über der ein grobschlächtiger Irrer kauerte und ein ums andere Mal mit einem Küchenmesser auf sie niederfuhr. Das Blut der Frau bil dete bereits eine Lache unter ihrem Körper, Blut war auch an den Wänden, wobei zweifelhaft schien, daß es sich ebenfalls um ihres handelte. Lilith hielt sich nicht mit solchen Fragen auf. Sie war erschüttert über die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte. Zugleich wurde ihr endgültig klar, daß es in diesem Gebäude eine Quelle all dieser Auschweifungen geben mußte. Eine Quelle, die, je näher man ihr kam, um so hemmungslosere Auswirkungen nach sich zog …? Lilith hechtete gegen den wahnsinnigen Ripper und riß ihn von seinem Opfer. Das anschließende Ringen am Boden entschied sie in kürzester
Zeit für sich. Sie war stärker. Stärker als dieser Wahnsinnige, aus dessen Augen ihr blanker Haß entgegensprühte. Sie wollte ihm das Messer entwinden, als er eine unerwartete Abwehrbewegung mach te und es sich dabei selbst in die Kehle rammte. Sein Widerstand erlahmte sofort. Lilith sah, daß jede Hilfe zu spät kam. Sie ließ von ihm ab und eilte zu der Frau, deren Schrei längst verklungen war. Gläserne Augen starrten Lilith entgegen, als sie sich niederbeugte. Auch sie war tot. Und von überall aus den Wohnungen des Stockwerks schollen ihr jetzt zänkische, aggressive, laute Stimmen durch geschlossene Türen entgegen. Sie konnte sich nicht um jeden kümmern. Sie mußte zur Quelle des Übels. Zum Penthouse …? Als sie am Austritt zum neunzehnten Stock vorbeihastete, wurde sie plötzlich von einem Gefühl wie im Nielsen Park beschlichen. Und im Haus 229, Paddington. Einem Gefühl, entsetzlicher als das Bewußtsein, in den sicheren Tod zu laufen … Nein! Kehre um! Wer war das? Ihr letzter Funke Verstand? Der Symbiont? Etwas Fremdes, wie die »Brosche« an ihrem Kleid …? Nein, das Totem war es nicht. Lilith hatte im Gegenteil das Gefühl, das davon ein Drängen ausging, jetzt nicht mehr umzukehren, son dern auszuhalten und sich dem feindlichen Einfluß zu stellen, der Besitz von diesem Gebäude ergriffen hatte! »Verdammt!« Der Fluch ging ihr leicht über die Lippen.
Sie haßte es, »gesteuert« zu werden. Dann erreichte sie die Penthouse-Ebene, und selbst Flüche verlo ren ihre Leichtigkeit. Sie hatte das Gefühl, beim Überwinden der letzten Stufen eine Haut zu durchstoßen – eine unsichtbare, gleich wohl spürbare Grenze, hinter der die Realität einen Knacks abbe kommen hatte und nichts mehr war, wie sie es kannte. Trotzdem war da eine Tür wie in den Etagen davor. Aber als diese Tür vor Lilith aufsprang und sie wie unter Zwang in eine luxuriöse, auf den ersten Blick scheinbar normale Wohnland schaft zuführte, änderte sich alles. Das knöcherne Totem wob Liliths kompletten Körper in eine äscherne Aura, und sie empfing bewußt den RUF, den sie ähnlich – nur um vieles schwächer – bereits im Nielsen Park am AboriginalHeiligtum vernommen zu haben meinte. Den Lockruf. Aber wer oder was lockte? Sie lief weiter geradeaus über scheinbaren Teppichboden. Hinter ihr verschwand die Tür, als würde sie von einem über mächtigen Wesen ausradiert. Dasselbe geschah mit dem mitten in der Wohnung endenden Aufzug. Mit einem Teil der Wand, der Ein richtung, des Bodens und der Decke … Als Lilith sich umdrehte, stockte ihr das Blut in den Adern. Das Nichts fraß sich auf sie zu, erfaßte bereits entfernt liegende Be reiche, die einfach aufhörten zu existieren! Wie gelähmt stand sie da und begriff, daß sie mit ihrem Gang hier her einen fürchterlichen, nicht mehr korrigierbaren Fehler begangen hatte. Wohin sollte sie flüchten? Wogegen kämpfen?
Es gab nur dieses unbegreifliche, wuchernde, verschlingende Nichts, das nicht nur das Penthouse, sondern alles Darum-, Dar über- und Darunterliegende auflöste, zersetzte und unwiederbring lich verschwinden ließ. Die Einrichtung fiel diesem Vorgang ebenso zum Opfer wie Beton wände, Türen und Fenster. Und … Ich! dachte Lilith, gelähmt vor Entsetzen und Ohnmacht. Das Nichts kroch auf sie zu. Sie stand nur noch auf einem letzten, realen Fragment wie auf einer im Eismeer treibenden Scholle. Und dann – erlosch auch dieser letzte Halt.
* Quilpie, Queensland Es war dunkel geworden, aber ein riesiger Mond hing über dem Buschland. Sein silbriges Licht zeichnete die Konturen von zwei Dutzend Menschen nach, die sich am Fuß eines düsterrot aus der Landschaft ragenden Felsen versammelt hatten. Es waren äußerlich grundverschiedene Menschen. Männer und Frauen, keine Kinder. Das einzige, was an ihrem Äußeren allen gleich war, waren die nackten Füße. Niemand trug Schuhwerk, obwohl das im Busch gewiß nicht rat sam war. Barfüßig standen sie auf dem sandigen Boden und warte ten. Sie warteten seit Tagen und würden vielleicht weitere Tage warten
müssen. Sie alle hatten hierher gefunden, ohne den tieferen Sinn ih rer Reise zu begreifen. Sie alle waren tot gewesen und doch in einem grausamen Traum gefangen, der ihr Fleisch vor dem Zerfall und ihre Gedanken vor dem Erlöschen bewahrt hatte. Der Traum war vorbei und der Tod aus ihren Körpern vertrieben, und dennoch waren sie nicht völlig frei. Sie waren immer noch Diener. Nur ihr Herr hatte gewechselt. Von dem, was in ihnen schlummerte, wußten sie noch nichts. Sie hatten auf ihrer Reise nur bemerkt, daß ihnen kaum ein Wunsch ab geschlagen worden war. Menschen hatten sie immer wieder ein Stück des Weges in ihren Fahrzeugen mitgenommen, hatten ihnen Obdach für die Nacht gewährt und von ihrem Essen abgegeben. An fänglich war es ihnen nicht weiter aufgefallen, doch nun, da sie Ge legenheit gefunden hatten, sich auszutauschen, erkannten sie, daß bereits diese kleinen Begebenheiten einen besonderen Hintergrund haben mußten. Sie lebten in keiner Welt voller Nächstenliebe. Und doch hatten sie alle Unterstützung erhalten, ohne viel Geld in der Tasche (manche sogar völlig mittellos) und ohne mehr Kleidung als die, die sie am Leib trugen, hierher zu gelangen. Hierher … Quilpie, die nächste Ortschaft, lag fünf Meilen nördlich. Wäre der monolithische Fels nicht dazwischen gewesen, hätte man die Lichter in der Ebene mit bloßem Auge sehen können. Auf die drängendste Frage, dem Grund ihres Kommens, hatte kei ner von ihnen eine Antwort. Aber sie blieben. Sie hatten genügend Proviant erhalten, um noch eine Woche durchzuhalten. Die schlimmste Hitze des Tages verbrachten sie im Schatten des überhängenden Felsens, wo es sogar ein Wasserloch
gab. Belästigt wurden sie von niemandem. Dennoch wäre es bequemer gewesen, die Tage in Quilpie abzu warten. Niemand hätte ihnen Unterkunft verweigert. Aber Qilpie war nicht der Treffpunkt. Der Treffpunkt lag hier. Genau hier. Die Stimme, die auf einen Schlag alle aus ihrer Lethargie riß, sagte: »Ihr schwebt in Gefahr – ihr dürft hier nicht bleiben!« Der Mann, der dies sagte, war plötzlich da. Hochgewachsen und schlank und von einer Nacktheit, die selbst im vagen Mondlicht er kennbar war, an der sich aber niemand störte. »Ihr kennt mich«, fuhr er fort. »Ich bin wie ihr, aber meine Aufga be ist eine andere!« Sie beruhigten sich. Die Aufregung legte sich. Alle hörten zu, als wüßten sie sicher, daß ihre Fragen auch ohne Zwischenrufe beant wortet würden. »In fünf Tagen«, sagte der nackte Mann mit dem maskenhaft star ren Gesicht, »solltet ihr euch hier mit Lilith treffen. Aber seit ihr den Befehl erhieltet, hat sich vieles unvorhersehbar verändert. Man hat eure Fährte aufgenommen. Ihr müßt fort von hier. Kein Ort auf die sem Kontinent ist mehr sicher …« Und dann nannte er ihnen das neue Ziel, wohin sie sich unverzüg lich wenden sollten. Er sagte ihnen auch, wie sie es am schnellsten erreichen würden. Und schon eine Stunde später war der Platz am Fuß des Felsens verwaist. Bis auf den Mann, der als Jeff Warner gekommen war. Und der jetzt dorthin ging, wohin auch sie – nur auf anderem Weg – aufgebrochen waren.
Die Erde, wo er stand, öffnete sich und zog ihn wie eine Wurzel oder einen Trieb von zufällig menschlicher Gestalt wieder in ihren Bauch und von dort aus weiter zu dem gewaltigen Organismus im Gebirge der tasmanischen Insel, von wo er auch gekommen war …
* Sydney, Nielsen Park Ein Lied war verstummt. Auch hier auf dem felsigen Plateau, in den eingemeißelten, uralten Symbolen, in denen sich das Dunkel der Nacht spiegelte. Überall rundum lag Schnee, der am Abend gefallen war. Eine fin gerdicke Schicht. Finger … Jaaa …! Ein Finger nach dem anderen kroch aus dem harten Stein, formte und blähte die Asche, die hier vor Wochen niedergeregnet war, bis eine schwarze, verbrannte Hand und ein schwarzer, verbrannter Arm sichtbar wurden und eine geballte Faust – ganz Drohung – sich zum Himmel ballte. Der plötzliche Temperatursturz ließ die sonst auch nachts üblichen Parkbesucher fernbleiben. SCHADE …! Das nahe Rauschen des Meeres bildete die einzige Geräuschkulis se. Eine zweite Hand, ein zweiter Arm wurden sichtbar. Dann Kopf und Schulter. Wie verbrannt oder zerschmolzen auch sie. Kohle schwarz. Hart und doch geschmeidig. STARK.
Die Hände stemmten sich gegen den Fels, so daß es aussah, als wuchteten sie den restlichen Körper aus ihm heraus. Langsam. Vorsichtig. Ewigkeiten hatte es gebraucht, die verstreuten Reste des Vampirs zu sammeln und zu durchdringen, ihren Code aufzuschlüsseln und das hineinfließen zu lassen, was so lange im Fels gefangen gewesen war. So lange … Jetzt war es geschafft. Jetzt war der Wondjina mobil. Wie ein Milliardenpuzzle hatte er Teilchen für Teilchen rekonstru iert, bis das Ganze auferstehen konnte. Was sich jetzt vom Plateauboden löste und in Richtung Stadtkern wandte, hatte mit dem Vampir, der sich hier selbst gepfählt hatte, nur noch entfernte Ähnlichkeit. Aber sie genügte. Genügte, um dem Gefängnis zu entfliehen, aus dem es ohne »Trä ger« kein Entkommen gab. Die dunkle Gestalt fühlte sich unwiderstehlich dorthin gezogen, wo schon andere seiner Art warteten. Wo sie sich sammelten, um diese Stadt und diesen Kontinent im Sturm der neuen Schöpfung untergehen zu lassen … ICH KOMME! sandte er seine Botschaft voraus. ICH KOMME …! NEIN! Die Verweigerung traf ihn brutal. Bis er begriff, warum die anderen ihn stoppten. Er war dem Ort am nächsten, wo ein anderer Wondjina noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt hatte und »bekehrt« werden mußte!
Ohne Zögern wandte sich die schwarzgläserne Gestalt dem rau hen Meer zu und ging über das Wasser, als besäße es Balken …
* Beth blickte von ihrem Schreibtisch in der Redaktion auf – und ver eiste. Wenn Moe Marxx mit dieser Miene nahte, ähnelte er einem Glet scher. Dann war »Eiszeit« angesagt. »Ich habe schon herzlicher gelacht!« blaffte er auch schon los und pfefferte ihr ein Blatt Papier vor die Nase, das schon vorher unter seiner Faust gelitten hatte. »Wieder einmal zeigt sich, wie wertvoll mein Grundsatz ist, daß nichts in Druck geht, was nicht vorher von mir gegengezeichnet und freigegeben wurde. Sonst wäre mir Ihre Meisterleistung glatt durchgegangen …« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier, das es klaglos über sich ergehen ließ. Beth begehrte da schon eher auf. »Ich verstehe nicht, was Sie mei nen …« Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, auch nur die Überschrift zu lesen. Das holte sie jetzt nach. Moe Marxx räumte ihr zehn Sekunden ein. Es genügte, die Farbe aus Beth’ Gesicht zu löschen. »Das – ist nicht von mir!« »Ach ja? Von wem denn? Von Mosk? Von dem –« Marxx’ Gesicht nahm Farbe an, »– habe ich noch nicht einmal eine Briefmarke erhal
ten, geschweige denn ein Bild! Ich habe selten etwas Unfähigeres über meine Netzhäute wandern lassen als diesen Werbetext einer Sekte!« explodierte er zum guten Schluß. »Wollten Sie das allen Ernstes in unser altehrwürdiges Blatt schleusen …? Das wäre nicht nur unverantwortlich, sondern in höchstem Maße – kriminell!« Er scheute sich nicht, das Kind beim Namen zu nennen. Und er hatte recht! Beth wurde kalt ums Herz. Sie las den Text erneut, erkannte am Stil und den für sie typischen Einwürfen, daß dieser Bericht über die »menetekelnden Endzeitpro pheten« von ihr stammte … … aber sie erschauderte selbst über die nicht nur unterschwellige Tendenz, die daraus sprach! Sie entlarvte sich darin ziemlich unverblümt als eine Anhängerin und Verfechterin der absurden Weltuntergangsprognosen! Unfaßbar … »Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?« Ihre Betroffen heit milderte Moe Marxx’ Angriffslust geringfügig. »Nichts …« Hätte sie sagen sollen, daß sie sich nicht einmal mehr erinnerte, die sen Text bereits abgeliefert zu haben? »Nichts? Aha.« Er wandte sich unvermittelt um. »Rahmen Sie sich dieses Pamphlet ein und hängen Sie es sich übers Bett, damit Sie im mer sehen können, wie unabhängige Berichterstattung bestimmt nicht aussahen sollten … Wir sprechen uns noch! Einstweilen behal te ich mir weitere Schritte vor …!« Es klang nicht nur wie ein drohender Rausschmiß – Marxx war es bitter ernst damit! Was Beth aber am meisten fertigmachte, war, daß sie genauso ge
handelt hätte, wenn ihr jemand als Chefin diesen Wisch unterge schoben hätte! Kalkweiß wartete sie, bis Marxx in seinem respektlos als »Terrari um« bespöttelten, vollverglasten Büro verschwunden war. Im selben Moment, als sie ihren Kram für heute zusammenpacken wollte, erreichte sie der Anruf, auf den sie schon gewartet hatte. Phil Asgard, ein nicht ganz unproblematischer Informant, der ihr Stunden zuvor schon in Sachen Isaac Marillion Auskünfte erteilt hatte, bot ihr umfangreiche Akteneinsicht in den Fall der ver schwundenen Eigentümer des Anwesens 229, Paddington Street, an. Zum akzeptablen Nulltarif. Seit Asgard einmal zudringlich geworden war und seine Dienste in Naturalien vergolten haben wollte, Beth ihm aber ihre Selbstver teidigungskenntnisse nahegebracht hatte, herrschte zwischen ihnen eine seltsame Haßliebe. Asgard war auf keine Schmiergelder ange wiesen – dafür um so mehr auf weibliche soziale Kontakte. Beth war als »Belohnung« zwischenzeitlich ein paarmal mit ihm ausgegangen. Rein platonisch. Es schien ihm zu genügen. »Treffen wir uns im ›Humble Pie‹«, schlug er vor. Sie war einverstanden. Das »Humble Pie« war ein Szenetreff – die Frage blieb nur, welcher Szene. Es war das zweite Mal, daß Asgard sie in das zwielichtige Etablissement beorderte. Schon beim erstenmal hatte die schwülsti ge Atmosphäre ihr hartnäckiges Sodbrennen verursacht. Asgard saß im dunkelsten Eck. Darauf konnte man wetten. Beth setzte sich ihm gegenüber. Sein verlegenes Lächeln überging sie. »Wo ist das Zeug?« fragte sie.
Er hob sein Glas. »Stoßen wir erst einmal auf unser Wiedersehen an …« Auch vor ihr stand ein gefülltes Glas. »Was ist das?« fragte sie. »Ein Aphrodisiakum?« Er hob immer noch sein Glas. Beth gab nach, obwohl sie nur noch nach Hause wollte. Zu Lilith. Hören, was sie in der Druit Street her ausgefunden hatte. Erzählen, was ihr selbst in der Redaktion wider fahren war … Aber das Material über die Fridays wollte sie noch mitnehmen. »Hören Sie«, sagte sie und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Wir treffen uns ein andermal, und dann ausgiebig. Heute ist wirklich nicht mein Tag, und bevor ich Sie nur angifte … Geben Sie mir die Sachen!« Enttäuschung legte sich wie ein enges Band um Asgards Mund. Dennoch fragte er: »Versprochen?« »Versprochen!« Beth hob die Finger zum Schwur. Er kannte sie. Er wußte, daß sie es nicht nötig hatte zu lügen. Das gab den Ausschlag. Er händigte ihr eine Mappe aus, auf der er die ganze Zeit gesessen hatte. Sie war körperwarm, als Beth sie entgegennahm, öffnete und kurz über den Inhalt hinwegging. »Was ist?« fragte Asgard. »Genügt es Ihnen etwa nicht?« Er hatte ihr Erstarren bemerkt – aber fehlinterpretiert. Beth räusperte sich, um den Kloß aus dem Hals zu beseitigen. »Das sind … die Fridays?« fragte sie mit Blick auf die Fotos, die Asgard zur kopierten Akte gelegt hatte. »Hillary und Jonathan Friday«, nickte er. »Warum?« Sie antwortete nicht.
Sie starrte nur weiter darauf. Selbst in diesem lausigen Licht begriff sie, daß sie dem laut Polizei ermittlung seit Wochen vermißten Ehepaar erst jüngst begegnet war. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um die Unheimlichen handelte, die sie von der Walker Lane zur Druid Street verfolgt hatte! Sie waren mit Hillary und Jonathan Friday identisch – nicht als verkohlte, nackte, gesichtslose Puppen, sondern so wie Beth sie leib haftig vor sich gesehen hatte! Menetekelnde Endzeitpropheten …
* Bevor alles verschwand, hatte Lilith den flüchtigen Eindruck, Kin derstimmen zu hören. Viele ängstliche, wild durcheinanderredende, hohe Stimmen. Dann war auch das vorbei. Für unbestimmte Zeit hing sie im Nichts, ohne das Gefühl freien Falls. Es war, als stünde sie immer noch auf festem, nun jedoch un sichtbaren Boden. Und plötzlich – ein Augenzwinkern später – befand sie sich inmit ten der wüstenhaften Röte des Outbacks. Jener »Hölle«, durch die die Aborigines seit undenklichen Zeiten den songlines der Schöpfung gefolgt waren. We are going walkaround… Lilith kniff die Augen zusammen. Sie wußte, daß sie nicht wirklich in der Trostlosigkeit des australi schen Buschs stand. Wußte sie es wirklich?
Die Hitze, in der sie briet, fühlte sich echt an. Der heiße Wind, der sie umschmeichelte und ihre Schleimhäute austrocknete, fühlte sich echt an. Und die Weite des Horizonts ebenso. In diesem Augenblick materialisierte vor ihr etwas, das die Un wirklichkeit verdichtete: Ein gewaltiger, über dem roten Sand schwebender Quader, der aussah wie ein Klotz aus tonnenschwerer Dunkelheit! Die ganze Schwärze des Universums schien an diesem einen Punkt zusammengeballt zu sein, in einen Würfel gepreßt, dessen Kanten und Konturen geschliffen scharf wirkten. Lilith stockte der Atem. Alle ihre Sinne konzentrierten sich auf diesen Block aus Finsternis, aus dessen Unterteil plötzlich gezackte Blitze in den Wüstenboden stießen und Sandfontänen aufwarfen. Lilith wurde von ein paar der »elektrisch« aufgeladenen Körnern getroffen. Sie prasselten gegen die Hülle des Symbionten, der die Form eines rückenfreien, vorn aber bis zum Hals geschlossenen Cat suits angenommen hatte. Und an dem immer noch das Totem prangte … Lilith riß ihren Blick von der kompakten Schwärze los und blickte auf die »Brosche«, die zu wispern begonnen hatte. Zu wispern? Die äscherne Aura hüllte Lilith erneut ein. Eng anliegend wie eine dritte Haut, wenn man den Symbionten als zweite einstufte. Der RUF, den sie schon in den unteren Gefilden des MarillionHauses vernommen hatte, ertönte neu. Er schmetterte Lilith buchstäblich entgegen und schien von der äschernen Aura wie von einem Schutzschild geschluckt zu werden. (Bin ich das wirklich: geschützt?) Das Wispern des Totems erschien Li
lith plötzlich wie ein vorweggenommenes, aber immer noch anhal tendes und weiter anschwellendes Echo dieses Lockrufs. Was hatte all das zu bedeuten? War die Brosche eine Waffe gegen das Böse, das sich hier manifes tiert und vor dem schon Esben Storm und Jeff Warner gewarnt hat ten, oder ein Schutzschild dagegen? Was stellte der Quader, der dem Schwarzlicht aus der zerbroche nen Stele und den Gestalten auf Moskowitz’ Bildern verwandt schi en, wirklich dar …? Einen entarteten Wondjina? Wieder erging der RUF. Lilith sah sich nach einem Fluchtweg um. Das Penthouse war ih ren Blicken entzogen. Aber war es wirklich nicht mehr da? Impulse, die eindeutig von dem Totem kamen, versuchten Lilith zu bewegen, auf den schwebenden Quader zuzugehen. In ihrer ersten Verwirrung gehorchte sie. Ihre Füße berührten glatten Boden, obwohl die Wüste alles andere als eben war. Doch was sie unter ihren nackten Sohlen spürte, waren nicht Felsen und Sand, sondern … Teppichflor! Mit jedem Schritt, den Lilith sich der Schwärze näherte, nahm sie die Bewegung darin deutlicher wahr. Der Würfel war nicht nur finster. Er beherbergte … Leben? Was für Leben? Lilith streckte die Arme aus, angestachelt von den Impulsen der »Brosche« aus Storms Laden. Der Symbiont schwieg, als gäbe es ihn nicht mehr. Zentimeter trennten Lilith noch von dem schwebenden Koloß, in dem sich – sie sah es jetzt deutlich – schreckliche, schemenhafte Ge
stalten tummelten. Und wieder glaubte sie, fernes Kinderweinen zu hören. Und wieder machte sie einen Schritt, den sie gar nicht wollte. Be rührte noch nicht selbst, aber mit der äschernen Aura das Domizil der Dämonen – der entarteten Wondjinas! Hob den Fuß, um auch den letzten Schritt zu tun und aufzugehen in der Schwärze, die bereits nach ihr gierte und rief und sie zu ihres gleichen machen wollte. Lilith schloß die Augen. Und ging.
* Tasmanien Sie hatten die Nacht eng aneinandergeschmiegt und in eine Wollde cke gehüllt im Freien verbracht. Zum Wiederaufbau des Zeltes hat ten sie keinen Nerv gehabt. »Ich habe Angst«, flüsterte Tira im Morgengrauen. Gravis überlegte, ob er sich weiter schlafend stellen sollte. Aber dann kam er sich schäbig vor. »Ich … auch«, gestand er. Es war keine Schande, Angst zu haben. Nicht in einem einsamen Wald, der kein Wald war, und fernab der Zivilisation! »Ich verstehe das nicht … Immer noch nicht.« Sie drückte sich fes ter an ihn und zuckte im gleichen Moment regelrecht wieder zu rück. Vielleicht erinnerte sie sich an ihre Liebesnacht hier draußen – und an das Ding, das schon damals bei ihnen gewesen war und von dem inzwischen zu ahnen war, daß es schon damals mehr als einen
simplen Pflanzenausläufer dargestellt hatte. Der Boden, auf dem sie auch jetzt lagen, war durchwoben von ei nem Wurzelgeflecht, das jeden einzelnen Stamm der Huon-Kiefer miteinander verband. Unvorstellbar. Immer noch. Und um so mehr, seit der »Wald« ihnen das Verlassen verweigert hatte. »Vielleicht –«, Gravis räusperte sich den nächtlichen Belag von den Stimmbändern, »– sollten wir es mit Feuer versuchen. Wenn sonst nichts hilft, werde ich anzünden, was sich uns entgegenstellt …!« »Du würdest riskieren, daß dieser unersetzliche Fund – vernichtet wird?« Tiras Stimme zitterte. »Nur ein kleiner Teil!« »Wie willst du das wissen? Meinst du, du kannst im Ernstfall ein Ausweiten der Flammen verhindern? Außerdem: Was meinst du, wie es auf einen solchen Anschlag reagiert, wenn schon das Ab schneiden eines Zweiges hier alles erschüttert …?« Gravis schnaubte verdrossen. »Und du? Hast du eine bessere Idee? Oder willst du hier versauern? Was glaubst du, wie lange un ser Proviant noch reicht – und unser Nervenkostüm? Wir streiten ja jetzt bereits unentwegt, wenn wir nicht gerade tun, als würden wir schlafen …« Sie kniff die Lippen zusammen. Dann warf sie die Decke zurück und stand abrupt auf. Wie er war sie vollständig angekleidet. Ihr Blick schweifte zum Ende des Wal des, keinen Steinwurf entfernt. »Ich werde es noch einmal versuchen! Vielleicht haben wir völlig
überzogen auf einen natürlichen Vorgang reagiert und die verrück testen Dinge hineininterpretiert …« Sie marschierte los. Ohne Gepäck. Ohne Tyler Gravis, der kopfschüttelnd am Boden kauern blieb und ihr nachsah. Kühle strömte in sein Herz, als er sich vorstellte, Tira zu verlieren. »Bleib!« rief er ihr schließlich krächzend hinterher. »Tu das nicht! Es –« Tira beschleunigte ihren Gang. Das Knacken des Unterholzes pflanzte sich bis zu Gravis’ fort. »Bitte …!« Er rief nicht mehr, er flüsterte. Tira erreichte unangefochten das Ende des Wäldchens. Gravis richtete sich auf. Wie ein Tier sprang ihn die jäh wiederer wachende Hoffnung an. Tira drehte sich im Laufen um und winkte ihm zu. Gravis hob den Arm, um die Geste zu erwidern. Da geschah es. Noch jenseits der oberirdischen Baumgrenze brach der Boden auf und gebar Wurzeln, die wie mehrschwänzige Peitschen in Tiras Richtung züngelten, sie in panische Hysterie versetzten und zurück weichen ließen. Sie rannte wie von Furien gehetzt auf Tyler Gravis zu und stürzte vor ihm zu Boden. Sie war von keinem »Peitschenstrang« getroffen worden. Dennoch saß der Schock tief. Sie zitterte und wimmerte wie ein hilfloses Bün del und bot ein Bild, wie Gravis es nie für möglich gehalten hätte. Das Vibrieren des Bodens ließ nach. Gravis setzte sich neben Tira und schlang den Arm beruhigend um sie. Sein Blick war an ihr vorbei auf die Stelle gerichtet, wo sich
der Boden wieder geschlossen hatte. »Wir hätten nie herkommen dür-« Er brach ab. Er traute seinen Augen nicht. Ein wilder Hoffnungsfunke durchdrang ihn, als er die Gestalt sah, die sich von fern dem Wäldchen näherte. Gravis schnellte ohne Rücksicht auf Tira hoch. »Stehenbleiben!« wollte er den Ankömmling warnen. »Sie dürfen nicht …« Sein Herz setzte einen Takt aus. Er taumelte. Unter ihm stöhnte Tira auf. Ihre Augen gingen in dieselbe Rich tung. »Tyler … Was – ist das …?« Wenn ich das wüßte, dachte er. Ein Gestalt wie aus schwarzem, weichem Glas strebte kraftvoll auf das Wäldchen zu, achtete nicht auf das angstschlotternde Paar, son dern nahm Kurs auf den ungefähren Mittelpunkt der Schonung, um dort vor einem gewaltigen Stamm – vielleicht dem dicksten in die sem »Wald« – stehenzubleiben. Einige Sekunden lang geschah nichts. Die Zeit selbst schien einzu frieren. Dann kam wieder Bewegung in die unheimliche Gestalt. Sie ging langsam weiter auf den Stamm zu und stoppte auch nicht ab, als sie ihn erreichte. Als sich ihre schwarzglänzenden Klauen auf den rauhen Stamm der Huon-Kiefer legten, schnellte Wurzelwerk aus dem Boden, schi en sich um seine Beine legen zu wollen – und zuckte im letzten Mo ment wieder zurück. Die schwarze Gestalt hielt noch immer nicht an. Ihre Hände rissen die Rinde auf und wühlten sich in den Stamm hinein! Der Wald erbebte. Vor den bestürzten Blicken von Tyler Gravis und Tira Fairschild arbeitete sich der Unheimliche immer weiter
vor, drang mit den Armen zur Gänze in das Holz, dann mit den Bei nen, und schließlich verschwand auch der gläserne Rumpf darin. Sekunden später war der Spuk vorbei. Das Holz schloß sich ge räuschlos hinter ihm, und auch das Beben des Waldes verebbte. Gravis wischte sich über die Augen. »Hast du – das auch gesehen?« Tira brachte keinen Ton heraus. Aber sie nickte wie in einem spas mischen Krampf. Fassungslos standen sie beide da und starrten zum Zentrum des jahrtausendealten Baumes mit seinen unzähligen Auslegern. Und plötzlich spürten sie es. Alles veränderte sich. Bisher war der »Wald« seinen Entdeckern nicht wirklich feindlich entgegengetreten. Er hatte lediglich ihren Weggang unterbunden. Nun aber schien sich auch das zu ändern. Wind kam auf. Fauchender, eisiger, den Speichel im Mund gefrierender Wind, der durch die Äste und Nadeln der Huon-Kiefer fuhr und sie den bei den ängstlich beieinanderstehenden Menschen entgegenbog. Tira und Tyler sahen sich an. Die Angst machte ihre Augen riesengroß. Sie spürten beide, was sich verändert hatte. Es war, als wäre der Hauch des Bösen mit dem Gläsernen gekom men – und hätte den uralten, riesigen Baum an den Hängen des Mount Reid damit … infiziert. ENDE
Die gigantische Huon-Kiefer, die eine wichtige Rolle in diesem VAMPIRA-Roman spielt, ist keine Erfindung Adrian Doyles – sie existiert tatsächlich! Es ist der vermutlich älteste lebende Organis mus der Welt. Wissenschaftler schätzen sein Alter auf mindestens 10500, wenn nicht gar 30000 Jahre. Nach einem Artikel der Zeitung »Sydney Morning Herald« wurde die Ende Januar 1995 auf dem Berg Reid in Tasmanien entdeckte Pflanze zunächst für einen gan zen Wald gehalten, da sie mit ihrem Wurzelwerk und ihren zahllo sen Trieben mehr als einen Hektar Grundfläche (etwa zwei Fußball felder) einnimmt.
Die Apokalypse von Adrian Doyle Allen Religionen der Welt ist eins gemein: Sie glauben an eine Schöpfung, an den Akt eines oder mehrerer Wesen, die die Erde einst gestaltet haben. In Australien waren dies die Wondjinas, die Vorjahrzehntausenden auf Traumzeit-Pfaden wandelten und allen Dingen ihre Namen gaben. Nach dem Glauben der Aborigines, der Ureinwohner, leben die Wondjinas auch heute noch – zurückgezogen in ihren Schöpfungen. Was aber passiert, wenn ein Schöpferwesen verrückt wird? Wenn es sein Werk plötzlich nicht mehr gutheißt – und es neu erschaffen will? Eine wahrlich biblische Frage … mit der sich Lilith Eden be schäftigen muß! Denn es naht der Tag des Jüngsten Gerichts,
DIE APOKALYPSE