Tom Sharpe
Trabbel für Henry
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Henry Wilt ist befördert worden. Das Leben könnte wun...
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Tom Sharpe
Trabbel für Henry
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Henry Wilt ist befördert worden. Das Leben könnte wundervoll sein, wäre da nicht seine stramm alternative Ehefrau Eva mit den jüngst geborenen Vierlingen. Gerade als er Trost bei der netten Untermieterin suchen will, gerät Henry in eine wilde Terroristenjagd. Zu allem Unglück sitzt ihm nun außerdem Inspektor Flint im Nacken, der noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hat... ISBN 3548203604 Originaltitel The Wilt Alternative Übers. von Benjamin Schwarz Verlag Ullstein GmbH 14. Auflage Juni 1991 Umschlagentwurf: Bagnall Studios
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
ÜBER DAS BUCH: Mit der Familie Wilt (aus Puppenmord, ÜB 20202) ist es bergauf gegangen - Henry Wilt ist befördert worden; Eva, seine Frau, hat ihn mit Vierlingen beschenkt und peinigt ihn mit ihrem Hang zum Alternativen. Die nette deutsche Untermieterin könnte da über vieles hinwegtrösten, doch leider... ... stolpert Henry unversehens in eine terroristische Belagerungsposse hinein. Jetzt schnuppert Inspektor Flint Morgenluft: Für seine Schlappe bei der Sache mit der Puppe versucht er sich nun an Henry zu rächen.
DER AUTOR: Tom Sharpe wurde 1928 in England geboren, studierte in Cambridge, lernte als Buchhalter, Sozialarbeiter und Fotograf Südafrika kennen, bis er ausgewiesen wurde, unterrichtete als Hilfslehrer an einer Berufsschule in Cambridge, bis ihm der Erfolg seiner Bücher die Freiheit schenkte, mit Frau und drei Töchtern als Schriftsteller zu leben. Keine Frage also, daß in Henry Wilt ein gerüttelt Maß an Tom Sharpe steckt.
Für Bill und Tina Baker
Erinnern Sie sich? »Puppenmord« (DB 20202) bezeichnete Sir Alec Guinness als »das Witzigste, das ich seit Ewigkeiten gelesen habe«. Machen Sie sich den Spaß zu erleben, welchen »Trabbel für Henry« sich Tom Sharpe diesmal ausgedacht hat.
Es war Anmeldewoche in der Berufsschule. Henry Wilt saß an einem Tisch in Raum 467, starrte der lernbegierigen Frau ihm gegenüber ins Gesicht und versuchte, interessiert auszusehen. »Tja, in Schnellesen haben wir am Montagabend noch einen freien Platz«, sagte er. »Wenn Sie eben das Formular da drüben ausfüllen wollten...« Er fuchtelte vage zum Fenster rüber, aber die Frau ließ sich nicht abwimmeln. »Ich würde gerne ein bißchen mehr darüber wissen. Ich meine, es hilft doch, oder?« »Hilft?« sagte Wilt, der sich dagegen wehrte, sich in ihre Begeisterung über die Selbstverwirklichung des Menschen hineinziehen zu lassen. »Das hängt davon ab, was Sie unter ›hilft‹ verstehen.« »Mein Problem war immer, daß ich so 'ne langsame Leserin bin und mich nicht mehr erinnern kann, um was es am Anfang eines Buches ging, wenn ich am Ende angekommen bin«, sagte die Frau. »Mein Mann sagt, ich wär' praktisch 'ne Analphabetin.« Sie lächelte hilflos, als wollte sie sagen, ihre Ehe ginge in die Brüche, aber Wilt könne sie retten, wenn er ihr zurede, ihre Montagabende woanders als zu Hause und den Rest der Woche damit zu verbringen, Bücher schnell zu lesen. Wilt bezweifelte die Kur und versuchte, die Last der Beratung woandershin abzuschieben. »Vielleicht wäre es besser für Sie, wenn Sie ›Wie steigere ich meine literarische Auffassungsgabe?‹ belegen«, schlug er vor. »Das habe ich letztes Jahr gemacht, und Mr. Fogerty war wunderbar. Er sagte, in mir steckten große Möglichkeiten.« Wilt widerstand der Versuchung, ihr zu erzählen, daß Mr. Fogertys Begriff von ›großen Möglichkeiten‹ nichts mit Literatur zu tun habe, sondern eher körperlich gemeint sei - was Fogerty zum Teufel nochmal in diesem erwartungsvollen Geschöpf erblickt haben mochte, war ihm trotzdem ein Rätsel -, -5-
und gab nach. »Zweck des Schnellesens ist«, sagte er und fing an zu leiern, »Ihre Lesefähigkeiten in Geschwindigkeit und Auffassung dessen, was Sie gelesen haben, zu verbessern. Sie werden feststellen, daß Sie sich desto mehr konzentrieren, je flotter Sie vorankommen, und daß...« So machte er fünf Minuten in seiner Standardrede weiter, die er in den vier Jahren, die er potentielle Schnelleser aufnahm, auswendig gelernt hatte. Die Frau vor ihm veränderte sich zusehends. Das zu hören, war sie hergekommen, das Evangelium der Selbstvervollkommnung per Abendschule. Als Wilt geendet und sie das Formular ausgefüllt hatte, strahlte sie neue Lebenskraft aus. Wilt strahlte entsprechend weniger. Er saß den Rest der zwei Stunden da und hörte anderen, ähnlichen Unterhaltungen an anderen Tischen zu und fragte sich, wie zum Teufel es Bill Paschendaele bloß fertigbrachte, sich nach zwanzig Jahren noch immer seinen Bekehrungseifer für die »Einführung in die Subkultur Fenlands« zu bewahren. Der Kerl glühte ja richtiggehend vor Begeisterung. Wilt schauderte es, und er nahm sechs weitere Schnelleser auf, denen er mit einer Interesselosigkeit begegnete, die darauf aus war, allen, außer den fanatischsten Bewerbern, die Lust zu nehmen. Zwischendurch dankte er Gott, daß er das Fach nicht mehr zu unterrichten brauchte und bloß dort war, um die Schafe in den Pferch zu lenken. Als Leiter der Abteilung Allgemeinbildung war Wilt über den Abendunterricht hinaus und in den Bereich von Stundenplänen, Komitees, Protokollen, der Frage, wer von seinen Leuten als nächster einen Nervenzusammenbruch bekäme, und gelegentlichen Vorträgen vor ausländischen Studenten vorgestoßen. Für diese Vorträge hatte er sich bei Mayfield zu bedanken. Während der Rest der Schule von Geldkürzungen böse mitgenommen wurde, bezahlten die ausländischen Studenten selber für sich, und Dr. Mayfield, jetzt -6-
Leiter der Abteilung »Akademische Bildung«, hatte ein Imperium aus Arabern, Schweden, Deutschen, Südamerikanern und sogar mehreren Japanern ins Leben gerufen, die von einem Vortragsraum in den nächsten marschierten, dem Verständnis der englischen Sprache und, sehr viel undenkbarer, dem Verständnis von »Kultur und Sitten in England« ständig auf den Fersen. Das war ein Vortragskuddelmuddel, das unter der Rubrik »Fortgeschrittenenkursus Englisch für Ausländer« zusammengefaßt war. Wilts Beitrag dazu bestand in einem allwöchentlichen Vortrag über »Das britische Familienleben«, der ihm Gelegenheit bot, über sein eigenes Familienleben mit einer Freiheit und Offenheit zu berichten, die Eva in Wut und Wilt selber in Verlegenheit gebracht hätten, wenn ihm nicht absolut klar gewesen wäre, daß, um zu begreifen, wovon er sprach, seinen Studenten das Verständnis abging. Der Widerspruch zwischen Wilts äußerer Erscheinung und den Fakten hätte selbst seine engsten Freunde verwirrt. Aber vor achtzig Ausländern war er sich seiner Anonymität sicher. Er war sich seiner Anonymität sicher, Punkt. Und während Wilt in Raum 467 saß, konnte er sich die Zeit damit vertreiben, daß er über die Ironie des Lebens nachdachte. In Zimmer für Zimmer, Etage über Etage, in ungezählten Abteilungen überall in der Berufsschule saßen Lehrkräfte an Tischen, stellten Leute Fragen, erhielten die betreffenden Antworten und füllten schließlich die Formulare aus, womit sie sicherstellten, daß die Lehrkräfte ihre Jobs zumindest ein weiteres Jahr behielten. Wilt würde seinen für immer behalten. Die Abteilung Allgemeinbildung konnte nicht etwa mangels Schülern ihren Geist aufgeben. Dafür sorgte das Ausbildungsgesetz. Lehrlinge, die einen Tag für die Berufsschule freibekamen, hatten ihre wöchentliche Unterrichtsstunde in fortschrittlichen Ansichten zu bekommen, ob ihnen das paßte oder nicht. Wilt saß hoch und trocken, und wenn er keine Langeweile gehabt hätte, wäre er ein glücklicher -7-
Mensch gewesen. Langeweile und Eva. Nicht daß Eva langweilig gewesen wäre. Jetzt, wo sie die Vierlinge hatte, für die sie sorgen mußte, hatte sich ihre Begeisterung für alles und jedes derart gesteigert, daß sie sämtliche »Alternativen« unter der Sonne umfaßte. Alternative Heilkunde wechselte sich mit alternativem Gartenbau und alternativer Ernährung und sogar verschiedenen alternativen Religionen ab, so daß Wilt, wenn er vom alltäglichen Einerlei an der Schule nach Hause kam, nie sicher war, was ihm bevorstand, außer daß es nicht dasselbe war, was ihn am Abend zuvor erwartet hatte. Das einzig Gleichbleibende war wohl das Getöse, das die Vierlinge veranstalteten. Wilts vier Töchter waren ihrer Mutter nachgeschlagen. Wo Eva enthusiastisch und energisch war, da waren sie nicht kleinzukriegen und vervierfachten Evas vielfältige Begeisterungen noch obendrein. Um zu vermeiden, daß er nach Hause käme, ehe sie im Bett lagen, hatte Wilt sich angewöhnt, den Weg zur Schule und zurück zu Fuß zu gehen, und war, was die Benutzung des Wagens anging, von unerschütterlicher Selbstlosigkeit. Um seine Probleme noch zu vermehren, hatte Eva eine Tante beerbt, und da Wilts Gehalt sich inzwischen verdoppelt hatte, waren sie von der Parkview Avenue in die Willington Road gezogen, wo sie ein großes Haus in einem großen Garten bewohnten. Wilts waren die soziale Leiter emporgeklettert. Das war nach Wilts Auffassung keine Verbesserung, und es gab Tage, da sehnte er sich nach den alten Zeiten zurück, als Evas Ekstasen noch einen leichten Dämpfer dadurch erhalten hatten, was wohl die Nachbarn denken könnten. Jetzt, als Mutter von vier Kindern und Besitzerin eines Wohnhauses, kümmerte sie das nicht mehr. Ein fürchterliches Selbstbewußtsein ha tte von ihr Besitz ergriffen. Und so brachte Wilt am Ende der zwei Stunden seine Liste mit den neuen Schülern ins Büro und spazierte den Korridor des Verwaltungsblocks entlang zur Treppe. Er ging gerade nach unten, als Peter Braintree zu ihm stieß. -8-
»Ich habe eben fünfzehn Landratten in ›Seefahrtskunde‹ aufgenommen. Wie steht's denn damit, das neue Schuljahr zünftig anzufangen?« »Zünftig geht's morgen mit Mayfields verdammter Sitzung des Schulausschusses los«, sagte Wilt. »Heute abend, das waren ja bloß kleine Fische. Ich hab' versucht, ein paar hartnäckige Frauen und vier picklige Jünglinge davon abzubringen, sich fürs Schnellesen einzutragen, und hab's nicht geschafft. Ich frag mich, warum wir keinen Kursus abhalten, wie man das Kreuzworträtsel in der ›Times‹ in glatt fünfzehn Minuten löst. Das würde ihr Selbstvertrauen erheblich mehr steigern, als wenn sie alle Dauerrekorde im Lesen von ›Paradise Lost‹ brechen.« Sie gingen die Treppe runter und durchquerten die Vorhalle, wo Miss Pansak immer noch Interessenten für »Badminton für Anfänger« anwarb. »Macht mir Durst auf 'n Bier«, sagte Braintree. Wilt nickte. Ihm war alles recht, was das Heimgehen hinausschob. Draußen kamen immer noch Nachzügler an, und Autos waren dicht an dicht die ganze Post Road entlang geparkt. »Wie war's denn in Frankreich?« fragte Braintree. »Wie's halt zu erwarten war, mit Eva und der Brut im Zelt. Auf dem ersten Campingplatz wurden wir aufgefordert weiterzufahren, nachdem Samantha die Halteseile von zwei Zelten losgebunden hatte. Das wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn die Frau in dem einen nicht Asthma gehabt hätte. Das war an der Loire. In La Vendee wurden wir direkt neben einen Deutschen gepackt, der an der Front in Rußland gekämpft hatte und immer noch am Frontkoller litt. Ich weiß nicht, ob du mal nachts davon wachgeworden bist, daß ein Mann ›Flammenwerfer, Flammenwerfer!‹ schreit, aber ich kann dir sagen, das ist nervenzermürbend. Diesmal fuhren wir weiter, ohne daß wir dazu aufgefordert wurden.« »Ich dachte, ihr wolltet runter bis in die Dordogne. Eva hatte -9-
Betty doch erzählt, sie läse grade ein Buch über drei Flüsse, und es sei einfach entzückend.« »Das Buch mag’s ja gewesen sein, aber die Flüsse waren es nicht«, sagte Wilt, »jedenfalls nicht der, an dem wir waren. Es regnete, und natürlich mußte Eva das Zelt an einer Stelle aufbauen, die sich nach einiger Zeit als ein Flußbett entpuppte. Es war schon schlimm genug, das Ding trocken aufzubauen. Wog da schon 'ne Tonne, aber es um Mitternacht aus 'ner Flutwelle durch hundert Meter Brombeerböschung hochzuschleppen, als das verfluchte Ding vollgesogen war...« Wilt hielt inne. Die Erinnerung war zu viel für ihn. »Und ich nehme an, es regnete weiter«, sagte Braintree teilnahmsvoll. »Das war jedenfalls immer unsere Erfahrung.« »Tat’s auc h«, sagte Wilt, »fünf Tage hintereinander. Danach zogen wir in ein Hotel.« »Das Beste, was man machen kann. Man kann anständig essen und bequem schlafen.« »Du vielleicht. Wir aber nicht. Nicht, nachdem Samantha ins Bidet gekackt hatte. Eines Nachts wundere ich mich, was das früh so um zwei rum für ein Gestank wär'. Na egal, laß uns von was Zivilisierterem reden.« Sie gingen in die »Katze im Sack« und bestellten sich Halbe. »Natürlich sind die Männer egoistisch«, sagte Mavis Mottram, als sie und Eva in der Willington Road zusammen in der Küche saßen. »Patrick kommt kaum mal früher als nach acht heim, und jedesmal hat er seine Entschuldigung wegen der ›Offenen Universität‹ Damit hat's aber nichts zu tun, oder wenn, dann ist es irgendeine geschiedene Studentin, die 'ne Extraturnstunde braucht. Nicht, daß mich das noch weiter bekümmerte. Neulich hab' ich zu ihm gesagt: ›Wenn du dich unbedingt zum Narren machen willst, indem du anderen Frauen hinterherrennst, dann ist das deine Sache. Du kannst deinen Kopf durchsetzen, und ich setze meinen durch. Glaub' ja nicht, -10-
daß ich alles so ohne weiteres hinnehme.‹« »Und was hat er darauf geantwortet?« fragte Eva, während sie das Dampfbügeleisen prüfte und sich an die Kleider der Vierlinge machte. »Ach, halt irgendwas Blödes, wie daß er es sowieso nicht so ohne weiteres hergeben wolle. Die Männer sind ja so schamlos. Ich weiß gar nicht, warum wir uns mit ihnen rumquälen.« »Manchmal wünsch' ich mir, Henry wäre ein bißchen schamloser«, sagte Eva nachdenklich. »Er war ja schon immer ein bißchen schlafmützig, aber jetzt behauptet er, er wäre müde, weil er jeden Tag zu Fuß zur Schule geht. Das sind zehn Kilometer, und da könnte er's natürlich sein.« »Ich kann mir einen anderen Grund denken«, sagte Mavis bitter. »Stille Wasser und so weiter...« »Nicht bei Henry. Das wüßte ich. Außerdem, seit die Vierlinge da sind, ist er immer sehr besorgt.« »Ja, aber worüber ist er besorgt? Das mußt du dich nun selber fragen, Eva.« »Ich meinte, er ist immer fürsorglich zu mir. Früh um sieben steht er auf und bringt mir den Tee ans Bett, und abends macht er mir immer Horlicks heiß.« »Wenn Patrick anfinge, sich derartig aufzuführen, wäre ich sehr auf der Hut«, sagte Mavis. »Das klingt doch nicht normal.« »Das tut’s nicht, ja, aber das ist Henry, wie er leibt und lebt. Er ist wirklich lieb. Das einzige ist, er ist nicht sehr dominierend. Er sagt, das wär' so, weil er von fünf Frauen umringt ist, und er wüßte, wann er klein beizugeben hätte.« »Wenn du bei deinem Plan mit diesem Aupair-Mädchen bleibst, seid ihr sechs«, sagte Mavis. »Irmgard ist ja kein richtiges Aupair-Mädchen. Sie mietet die oberste Etage und hat gesagt, sie würde immer, wenn sie kann, im Hause helfen.« -11-
»Das wird, wenn man nach der Erfahrung von Everards mit ihrer Finnin gehen kann, nie sein. Sie blieb bis zwölf im Bett und fraß ihnen praktisch die Haare vom Kopf.« »Finnen sind anders«, sagte Eva. »Irmgard ist Deutsche. Ich hab' sie auf van Donkens Protestversammlung gegen die Fußball-Weltmeisterschaft kennengelernt. Du weißt ja, da haben sie fast hundertzwanzig Pfund für die gefolterten Tupamaros zusammengebracht.« »Ich hatte gedacht, in Argentinien gäb’s überhaupt keine Tupamaros mehr. Ich dachte, die wären von der Armee alle abgemurkst worden.« »Das sind die, die entkommen sind«, sagte Eva. »Aber egal, jedenfalls traf ich Miss Müller dort und erwähnte, daß wir die Mansarde hätten, und da war sie ganz wild drauf, sie zu mieten. Sie will sich alles selber machen, das Kochen und so.« »Und so? Hast du sie mal gefragt, was sie mit ›und so‹ meint?« »Naja, das nicht gerade, aber sie sagt, sie will fleißig studieren, und sie ist ja auch sehr drauf aus, sich körperlich in Form zu halten.« »Und was hat Henry dazu zu sagen?« fragte Mavis, die sich näher an den Punkt heranarbeitete, der sie wirklich interessierte. »Ich hab’s ihm noch gar nicht gesagt. Du weißt ja, wie er ist, wenn’s darum geht, andere Leute im Haus zu haben, aber ich dachte, wenn sie abends auf ihrer Etage bleibt und ihm aus dem Weg geht...« »Eva-Liebes«, sagte Mavis mit überlegener Offenheit, »ich weiß, das geht mich überhaupt nichts an, aber forderst du das Schicksal nicht ein bißchen heraus?« »Ich wüßte nicht, wieso. Ich meine, das ist doch so eine fabelhafte Abmachung. Sie kann babysitten, wenn wir ausgehen wollen, und das Haus ist eh zu groß für uns alleine, und kein -12-
Mensch geht jemals in die Mansarde hoch.« »Das werden sie schon, wenn sie erst mal da oben wohnt. Es werden dir alle möglichen Leute durchs Haus stiefeln, und auf alle Fälle hat sie einen Plattenspieler. Den haben sie alle.« »Und selbst wenn, werden wir ihn nicht hören. Ich habe von Soales Binsenteppiche kommen lassen und bin neulich mit dem Transistor raufgegangen, aber man kann kaum was hören.« »Tja, das ist deine Sache, meine Liebe, aber wenn ich ein Aupair-Mädchen im Hause hätte, und Patrick wäre in der Nähe, da hätte ich’s doch sehr gern, wenn ich einiges hörte.« »Ich dachte, du hättest Patrick gesagt, er könnte tun, was ihm gefällt?« »Ich habe nicht gesagt, in meinem Haus«, sagte Mavis. »Tun, was ihm gefällt, kann er sonstwo, aber wenn ich ihn einmal dabei erwischte, wie er zu Hause Casanova spielt, würde er das gewaltig bedauern.« »Tja, Henry ist anders. Wahrscheinlich wird er sie nicht mal bemerken«, sagte Eva selbstzufrieden. »Ich hab' ihr gesagt, er ist sehr ruhig und häuslich, und sie sagt, sie wolle auch nichts anderes als Ruhe und Frieden.« Im stillen dachte Mavis, Miss Irmgard Müller werde das Leben im selben Haus mit Eva und den Vierlingen zusammen alles andere als ruhig und friedlich finden, und damit trank sie ihren Kaffee aus und stand auf. »Trotzdem würde ich ein Auge auf Henry haben«, sagte sie. »Er mag ja anders sein, aber ich würde keinem Mann weiter trauen, als ich ihn schmeißen kann. Und meine Erfahrung mit ausländischen Studentinnen ist, daß sie hier rüberkommen und 'ne ganze Menge mehr machen, als bloß Englisch zu lernen.« Sie ging raus zu ihrem Wagen, und beim Nachhausefahren fragte sie sich, was Evas Naivität eigentlich an sich habe, was so gefährlich sei. Wilts waren ein sonderbares Paar, aber seit ihrem Umzug in die Willington Road war Mavis Mottrams -13-
beherrschender Einfluß geringer geworden. Die Tage, da Eva beim Unterricht im Blumenstecken ihr besonderer Schützling gewesen war, waren vorbei, und Mavis war hemmungslos eifersüchtig. Andererseits lag die Willington Road ganz ohne Frage in einer der besten Gegenden Ipfords, und es ließen sich gesellschaftliche Vorteile daraus gewinnen, daß man Wilts kannte. An der Ecke von Regal Gardens erfaßten ihre Scheinwerfer Henry Wilt, der langsam nach Hause trottete, und sie rief ihn durchs Wagenfenster an. Aber er war tief in Gedanken und hörte sie nicht. Wie üblich waren Wilts Gedanken düster und voller Rätsel, und das umso mehr, als er nicht verstand, warum sie ihn beschäftigten. Sie drehten sich um merkwürdige Träume von Gewalt, die in ihm aufstiegen, um Verdrießlichkeiten, die nur zum Teil durch seinen Beruf zu erklären waren oder durch seine Ehe mit einem menschlichen Kraftwerk und die Abneigung, die er gegen die Atmosphäre der Willington Road empfand, wo jeder andere sonstwas Wichtiges in Hochenergetischer Physik oder Tiefsttemperaturleitvorgängen war und mehr Geld als er verdiente. Und auf all diese unerklärlichen Nörgelgründe folgte das Gefühl, daß sein Leben weitgehend bedeutungslos sei und daß es jenseits alles Menschlichen ein Universum gebe, das zufällig und chaotisch sei und dennoch irgendeine seltsame Logik besitze, die er nie ergründen werde. Wilt grübelte über den Widerspruch zwischen materiellem Fortschritt und geistigem Verfall nach und kam wie ge wöhnlich zu keinem Schluß, außer daß Bier auf nüchternen Magen ihm nicht bekam. Ein Trost war ja, daß jetzt, wo Eva sich mit alternativem Gartenbau befaßte, er Aussicht auf ein gutes Abendbrot hatte und die Vierlinge wahrscheinlich schon fest schliefen. Wenn die kleinen Mistviecher bloß nicht wieder nachts wach wurden. In den ersten Jahren des Kinderstillens und Fläschchenwärmens -14-
hatte Wilt sein Quantum an gestörter Nachtruhe abgekriegt. Die Tage waren jetzt so ziemlich vorbei, und von Samanthas gelegentlichen Anfällen schlafzuwandeln und Penelopes Schwierigkeiten mit der Blase waren seine Nächte ungestört. Und so stapfte er weiter unter den Bäumen lang, die die Willington Road säumten, und wurde vom Duft nach Geschmortem aus der Küche begrüßt. Da war Wilt ziemlich fröhlich zumute. Er ging am nächsten Morgen erheblich weniger fröhlich aus dem Haus. »Der Schmortopf hätte mich warnen sollen, daß sie mir irgendwas verflucht Bedenkliches mitzuteilen hätte«, murmelte er, als er sich zur Schule aufmachte. Und Evas Neuigkeit, daß sie einen Mieter für die Mansarde gefunden habe, war ja nun wirklich bedenklich. Wilt hatte schon im stillen mit der Möglichkeit gerechnet, seitdem sie das Haus gekauft hatten, aber Evas unmittelbarere Leidenschaften - Gartenbau, Kräuterzucht, die alternative Spielgruppe für die Vierlinge, die Renovierung des Hauses und die Planung der Küche nach den allerletzten Erkenntnissen - hatten alle Entscheidungen über die Mansarde verschoben. Wilt hatte gehofft, über die Sache wäre Gras gewachsen. Aber nun, da sie die Räume vermietet und sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, es ihm zu erzählen, fühlte Wilt sich entschieden gekränkt. Schlimmer noch, er hatte sich durch den herrlichen Schmortopf als Köder übertölpeln lassen. Wenn Eva kochen wollte, dann konnte sie’s, und Wilt hatte bereits seine zweite Portion und eine Flasche von seinem besseren spanischen Burgunder im Magen, da erst war sie mit dieser allerneuesten Katastrophe rausgerückt. Wilt hatte mehrere Sekunden gebraucht, ehe er das Problem überhaupt erfaßte. »Du hast was gemacht?« fragte er. »Sie an ein sehr hübsches, junges deutsches Mädchen vermietet«, sagte Eva. »Sie bezahlt fünfzehn Pfund pro Woche und verspricht, sehr ruhig zu sein. Du wirst nicht mal merken, daß sie da ist.« -15-
»Das werd' ich verdammt gut merken. Sie hat bestimmt ihre Liebhaber, die sich die ganze Nacht lüstern ihren Weg nach oben und unten tasten, und das ganze Haus riecht nach Sauerkraut.« »Das wird es nicht. Da oben in der Kochnische ist ein Abzugsventilator, und sie hat das Recht, Freunde zu haben, solange sie sich nett benehmen.« »Nett! Zeig du mir einen flegelhaften Liebhaber, der sich nett benimmt, und ich zeig dir ein Kamel mit vier Höckern...« »Die heißen Dromedare«, sagte Eva, womit sie ihre Taktik anwandte, eine völlig zusammenhanglose Mitteilung einzuflechten, die Wilt gewöhnlich in Harnisch brachte und verleitete, sie zu korrigieren. Aber Wilt war schon zu erregt, um sich damit abzugeben. »Heißen sie nicht. Scheiß Ausländer heißen sie, und diesmal benutze ich das Wort Scheiß ausnahmsweise mit Recht, und wenn du denkst, ich will jede Nacht im Bett liegen und irgendeinem verdammten Itaker zuhören, wie er seine Männlichkeit unter Beweis stellt, indem er zwei Meter über meinem Kopf den Ausbruch des Popocatepetl auf 'ner Sprungfedermatratze imitiert...« »Schaumgummimatratze«, sagte Eva, »nie kriegst du was richtig mit.« »O doch, das tu ich«, fauchte Wilt. »Ich wußte, daß das im Busch war, seitdem deine verdammte Tante starb und dir eine Erbschaft hinterlassen mußte und du dieses Miniaturhotel hier gekauft hast. Damals wußte ich schon, daß du irgend so 'ne widerliche Kommune daraus machen würdest.« »Es ist keine Kommune, und überhaupt sagt Mavis, die erweiterte Familie war eins von den liebenswerten Dingen in der guten alten Zeit gewesen.« »Über erweiterte Familien sollte Mavis wirklich restlos Bescheid wissen, aber wirklich. Patrick hat, solange ich denken -16-
kann, seine Familie erweitert, sogar in anderer Leute Familien hinein.« »Mavis hat ihm ein Ultimatum gestellt«, sagte Eva. »Sie will sich seine Eskapaden nicht mehr länger bieten lassen.« »Und ich stelle dir ein Ultimatum«, sagte Wilt. »Ein Knarren der Sprungfedern da oben, ein Hauch von Hasch, ein Klimpern von 'ner Gitarre, ein Kichern auf der Treppe, und ich erweitere die Familie, indem ich das Weite suche und mir 'ne Bude in der Stadt nehme, bis Fräulein Schickelgruber ausgezogen ist.« »Ihr Name ist nicht Schickelwashastdugesagt? Sie heißt Müller. Irmgard Müller.« »So hieß auch einer von Hitlers ekelhaften Obergruppenführern, und alles, was ich sagen will, ist...« »Du bist bloß eifersüchtig«, sagte Eva. »Wenn du ein richtiger Mann wärst und keine sexuellen Verklemmungen von deinen Eltern mitbekommen hättest, dann würdest du dich nicht darüber aufregen, was andere Leute tun.« Wilt betrachtete sie finster. Immer wenn Eva ihn kleinkriegen wollte, griff sie ihn mit einer sexuellen Beleidigung an. Wilt zog sich geschlagen ins Bett zurück. Diskussionen über seine sexuellen Unzulänglichkeiten liefen leicht darauf hinaus, daß er den Beweis, daß Eva unrecht habe, praktisch antreten mußte. Und nach dem Schmortopf fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Er fühlte sich auch nicht zu vielem in der Lage, als er am nächsten Morgen in die Schule kam. Die Vierlinge hatten ihren üblichen Schwesternkrieg darüber geführt, welche welches Kleid anzöge, ehe sie zur alternativen Spielgruppe weggeschleift wurden, und in der »Times« hatte schon wieder ein Brief von Lord Longford gestanden, der forderte, Myra Hindley, die Berberkillerin, aus dem Gefängnis zu entlassen, weil sie sich inzwischen von Grund auf gebessert habe und eine überzeugte Christin und eine für die Gesellschaft nützliche Mitbürgerin geworden sei. »In dem Fall kann sie ja ihren Nutzen für die -17-
Gesellschaft und ihre christliche Nächstenliebe damit beweisen, daß sie im Gefängnis bleibt und ihren Mitinsassinnen beisteht«, war Wilts wütende Reaktion gewesen. Die Inflation war schon wieder gestiegen. Der Sterling gefallen. Das Nordseegas sollte in fünf Jahren zu Ende sein, und die Rhodesier hatten gerade mal wieder fünfzig Schwarze abgemurkst, während die Schwarzen noch ein paar mehr Missionare kaltgemacht hatten. Alles in allem befand sich die Welt in ihrem üblichen säuischen Durcheinander, und da mußte er sich nun auch noch mehrere unerträglich langweilige Stunden lang anhören, wie Dr. Mayfield die Vorzüge des Fortgeschrittenenkurses Englisch für Ausländer in den Himmel hob, bevor er sich in seiner Abteilung Allgemeinbildung mit den Beschwerden der Lehrkräfte darüber auseinanderzusetzen hatte, wie er mal wieder den Stundenplan eingeteilt hatte. Eine der schlechtesten Seiten seines Daseins als Leiter der Abteilung Allgemeinbildung war, daß er einen Großteil seiner Sommerferien damit zu verbringen hatte, die Klassen auf die richtigen Räume, und die richtigen Lehrer auf die entsprechenden Klassen zu verteilen, und wenn er damit fertig war und den Leiter der Abteilung Kunst ausgestochen hatte, der den Raum 607 für Aktstudien haben wollte, während Wilt ihn für Fleisch III brauchte, dann sah er sich bei Schuljahrsbeginn trotzdem Streit und Ärger ausgesetzt und mußte den Stundenplan nochmal ummodeln, weil Mrs. Fyfe dienstags um zwei MBT I nicht übernehmen konnte, weil ihr Mann... Bei solchen Gelegenheiten wünschte Wilt sich, er brächte den Gasinstallateuren wieder den »Herrn der Fliegen« bei, anstatt die Abteilung zu leiten. Aber sein Einkommen war gut, die Steuern auf das Haus in der Willington Road waren ungeheuerlich, und den Rest des Jahres konnte er viel von seiner Zeit damit zubringen, einfach in seinem Büro zu sitzen und zu träumen. Er konnte auch auf den meisten Kommissionssitzungen wie -18-
bewußtlos dabeisitzen, die einzige Ausnahme aber war Dr. Mayfields Schulausschuß. Da mußte Wilt wachbleiben, um Mayfield daran zu hindern, ihm in seiner relativen Abwesenheit noch ein paar Vorträge aufzuhalsen. Außerdem würde Dr. Board das Schuljahr sowieso mit einem Krach beginnen. Und das tat er auch. Kaum hatte Mayfield damit begonnen, die Notwendigkeit eines mehr auf die Schüler orientierten Lehrplans unter besonderer Berücksichtigung sozioökono mischer Erkenntnisse hervorzuheben, als Dr. Board eingriff. »Quatsch«, sagte er. »Aufgabe meiner Abteilung ist es, englischen Schülern beizubringen, wie man Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch spricht, und nicht, einer Sippschaft von Ausländern ihre eigenen Sprachen zu erklären, und was die sozioökonomischen Erkenntnisse betrifft, so möchte ich darauf hinweisen, daß Dr. Mayfield von falschen Voraussetzungen ausgeht. Wenn man nach den Arabern gehen kann, die ich letztes Jahr hatte, so waren sie sich bis ins letzte darüber klar, wie man Öl in Macht umsetzt, aber sozial waren sie so weit zurück, daß es mehr als drei Jahre Unterricht brauchte, die Kerle davon zu überzeugen, daß eine Frau zu steinigen, bloß weil sie untreu war, was anderes ist als Kricket. Mag sein, wenn wir dreihundert Jahre Zeit hätten...« »Dr. Board, diese Sitzung könnte gut so lange dauern, wenn Sie ständig unterbrechen«, sagte der Stellvertretende Direktor. »Dr. Mayfield, wenn Sie jetzt bitte fortfahren würden...« Der Leiter der Abteilung Akademische Bildung redete eine Stunde weiter und war schon entschlossen, das den ganzen Morgen zu tun, als der Leiter der Abteilung Maschinenbau protestierte. »Ich stelle fest, daß verschiedene Herren meines Kollegiums dafür vorgesehen sind, Vorträge über die Errungenschaften des britischen Maschinenbaus im 19. Jahrhundert zu halten. Ich würde nun Dr. Mayfield und diesen Ausschuß gern davon in Kenntnis setzen, daß meine Abteilung -19-
aus Ingenieuren und keinen Historikern besteht, und daß ich ganz offen gestanden keinen Grund sehe, weshalb sie dazu aufgefordert werden sollten, über Themen außerhalb ihres Fachgebiets zu sprechen.« »Hört, hört«, sagte Dr. Board. »Des weiteren wüßte ich gerne, warum auf Kosten unserer englischen Schüler so großes Gewicht auf einen Kursus für Ausländer gelegt wird.« »Ich denke, das kann ich beantworten«, sagte der Stellvertretende Direktor. »Wegen der Etatkürzungen, die uns die Stadtverwaltung auferlegt hat, waren wir gezwungen, unsere bestehenden kostenlosen Kurse und die Schar der Lehrkräfte finanziell zu stützen, indem wir den Ausländerbereich, in welchem die Schüler beträchtliche Gebühren zahlen, erweiterten. Wenn Sie die Zahlen darüber wollen, welchen Profit wir letztes Jahr gemacht haben...« Aber keiner ging auf das Anerbieten ein. Selbst Dr. Board war vorübergehend zum Schweigen gebracht. »Bis sich die wirtschaftlichen Verhältnisse bessern«, fuhr der Stellvertretende Direktor fort, »wird eine große Zahl an Lehrkräften ihre Stellung nur behalten können, weil wir diese Kurse abhalten. Darüber hinaus wäre es sehr gut möglich, den Fortgeschrittenenkursus Englisch für Ausländer zu einem vom RNWE anerkannten Oberstufenkursus auszubauen. Ich denke, Sie alle werden dem zustimmen, daß alles, was unsere Chancen erhöht, Berufsfachschule zu werden, zu jedermanns Vorteil ist.« Der Stellvertretende Direktor hielt inne und blickte sich im Raum um, aber niemand erhob Einwände. »In diesem Falle bleibt Dr. Mayfield lediglich, den verschiedenen Fachgruppenleitern die neuen Vortragsthe men zuzuteilen.« Dr. Mayfield teilte fotokopierte Listen aus. Wilt musterte aufmerksam seine neue Bürde, stellte fest, daß sie »Die Entwicklung liberaler und fortschrittlicher sozialer -20-
Einstellungen in der englischen Gesellschaft von 1688 bis 1978« enthielt und wollte gerade auf die Barrikade gehen, als der Leiter der Abteilung Zoologie als erster auf die Sache einstieg. »Ich sehe hier, daß ich für ›Ackerbau und Viehzucht unter besonderer Berücksichtigung der Mast und Rassezüchtung von Schweinen und Hühnern‹ vorgesehen bin.« »Das Thema ist von ökologischer Bedeutung...« »Und schülerorientiert«, sagte Dr. Board. »Prügelerziehung respektive Ferkelaufzucht mittels unausgesetzter Benotung. Vielleicht könnten wir auch einen Kursus über das Kompostieren abhalten.« »Bitte das nicht«, sagte Wilt schaudernd. Dr. Board sah ihn interessiert an. »Ihre wundervolle Frau?« erkundigte er sich. Wilt nickte kummervoll. »Ja, sie hat angefangen...« »Wenn ich vielleicht auf meinen eingangs erhobenen Einwand zurückkommen darf, statt mir Mr. Wilts Eheprobleme anhören zu müssen«, sagte der Leiter der Abteilung Zoologie. »Ich möchte das jetzt ein für allemal klarstellen, daß ich nicht in der Lage bin, über Viehzucht zu sprechen. Ich bin Zoologe, kein Bauer, und was ich über Rassezucht weiß, ist gleich Null.« »Wir müssen uns alle in die Zucht nehmen«, sagte Dr. Board. »Denn wenn wir uns das zweifelhafte Vorrecht erwerben wollen, uns Berufsfachschule nennen zu dürfen, dann müssen wir schließlich die Schule vor unsere persönlichen Interessen stellen.« »Vielleicht haben Sie noch nicht gesehen, wozu Sie eingeteilt sind, Board«, beharrte der Zoologe. »Samentische Einflüsse... müßte das nicht ›semantische‹ heißen, Mayfield?« »Muß ein Irrtum der Tipse sein«, sagte Mayfield. »Ja, es müßte ›Semantische Einflüsse auf soziologische Theorien der Gegenwart‹ lauten. Die Bibliografie umfaßt Wittgenstein, -21-
Chomsky und Wilkes...« »Aber mich umfaßt sie nicht«, sagte Board. »Sie können mich von Ihrer Liste streichen. Es interessiert mich nicht, ob wir aufs Niveau einer Grundschule absinken, aber Wittgenstein und Chomsky werde ich nicht zu irgend jemandes Nutzen büffeln.« »Na schön, dann reden Sie auch nicht davon, daß ich mich in die Zucht zu nehmen hätte«, sagte der Leiter der Zoologie. »Ich jedenfalls werde in keinen mit Moslems angefüllten Seminarraum gehen, um ihnen, selbst bei meinen begrenzten Kenntnissen auf dem Gebiet, die Vorzüge der Schweinezucht am Persischen Golf auseinanderzusetzen.« »Meine Herren, zugegeben, ein oder zwei kleinere Zusätze zu den Vortragsthemen sind notwendig, aber ich denke, das läßt sich ausbügeln...« »Besser ausstreichen«, sagte Dr. Board. Der Stellvertretende Direktor überhörte diesen Zwischenruf. »... und Hauptsache ist, die Vorträge in ihrer gegenwärtigen Gliederung zu belassen, sie aber auf einem dem einzelnen Schüler angemessenen Niveau darzubieten.« »Ich gebe mich trotzdem nicht mit Schweinen ab«, sagte der Zoologe. »Das brauchen Sie auch nicht. Sie können eine Reihe schlichter Einführungsvorträge über Pflanzen halten«, sagte der Stellvertretende Direktor erschöpft. »Na herrlich! Und kann mir jemand sagen, wie ich es in Gottes Namen anfangen soll, schlicht über Wittgenstein zu reden? Letztes Jahr hatte ich einen Iraker, der konnte nicht mal seinen Namen buchstabieren, was soll der arme Kerl denn da mit Wittgenstein anfangen?« sagte Dr. Board. »Und wenn ich eben mal noch auf was anderes hinweisen darf«, sagte ein Lehrer der Englischabteilung ganz schüchtern, »ich glaube, wir werden wohl sowas wie Verständigungsschwierigkeiten mit den achtzehn Japanern und -22-
dem jungen Mann aus Tibet haben.« »Ach nein«, sagte Dr. Mayfield, »Verständigungsschwierigkeiten? Wissen Sie, da würde sich’s doch vielleicht empfehlen, einen oder zwei Vorträge über das ›Zwischenme nschliche Gespräch‹ anzusetzen. Das ist ein Thema, das beim Rat Nationaler Wissenschaftlicher Entscheidungen höchstwahrscheinlich Anklang finden dürfte.« »Das findet bei denen vielleicht Anklang, bei mir aber bestimmt nicht«, sagte Dr. Board. »Ich habe schon immer gesagt, die Leute sind der Abschaum der akademischen Welt.« »Ja, aber über dieses Thema haben wir Sie bereits mehrfach vernommen«, sagte der Stellvertretende Direktor. »Um nun auf die Japaner und den jungen Mann aus Tibet zurückzukommen Sie sagten doch Tibet, nicht wahr?« »Tja, das hab' ich zwar gesagt, aber ganz sicher bin ich mir da nicht«, antwortete der Englischlehrer. »Das meinte ich mit den Verständigungsschwierigkeiten. Er spricht kein Wort Englisch, und mein Tibetanisch ist auch nicht grade fließend. Genauso verhält es sich mit den Japanern.« Der Stellvertretende Direktor sah sich im Raum um. »Ich nehme an, es ist zuviel erwartet, daß hier jemand ein paar Brocken Japanisch kann?« »Ich kann ein bißchen«, sagte der Leiter der Abteilung Kunst, »aber der Teufel soll mich holen, wenn ich davon Gebrauch mache. Wenn Sie vier Jahre in einem JapsenKriegsgefangenenlager zugebracht haben, dann wünschen Sie sich als allerletztes im späteren Leben, mit diesen Scheißkerlen noch ein einziges Wort zu wechseln. Meine Verdauung ist immer noch total durcheinander.« »Vielleicht könnten Sie stattdessen unseren chinesischen Studenten unter Ihre Fittiche nehmen. Tibet ist ja jetzt ein Teil Chinas, und wenn wir ihn mit den vier Mädchen aus Hongkong zusammenlegen...« -23-
»... können wir auch gleich Reklame für Discountdiplome zum Mitnehmen machen«, sagte Dr. Board, womit er einen weiteren erbitterten Wortwechsel heraufbeschwor, der bis zum Mittag andauerte. Wilt kehrte in sein Büro zurück, um festzustellen, daß Mrs. Fyfe am Dienstag um zwei die Maschinenbautechniker nicht übernehmen konnte, weil ihr Mann... Es war genauso, wie er es vorausgesehen hatte. Das Schuljahr hatte begonnen, wie es das immer tat. Und genauso mühsam ging es die nächsten vier Tage weiter. Wilt nahm an Konferenzen über die »Interdisziplinäre Kursuszusammenarbeit« teil, veranstaltete für Studenten der städtischen Lehrerbildungsanstalt ein Seminar über »Die Bedeutung der Allgemeinbildung«, was seiner Meinung nach ein Widerspruch in sich selbst war, er wurde von einem Inspektor der Drogenkommission über »Früherkennung des Marihuanaanbaus« und »Die Heroinsucht« aufgeklärt und kriegte es schließlich tatsächlich fertig, Mrs. Fyfe mit Brot II Montag vormittags um zehn in Raum 29 unterzubringen. Und die ganze Zeit grübelte er über Eva und ihre verflixte Untermieterin nach. Während Wilt sich gleichgültig in der Schule zu schaffen machte, setzte Eva ihre Pläne erbarmungslos in die Tat um. Fräulein Müller traf zwei Tage später morgens ein und machte es sich unbemerkt in der Mansarde bequem, so unbemerkt, daß Wilt noch zwei Tage brauchte, um dahinterzukommen, daß sie da war, und auch dann gab ihm erst die Lieferung von neun Flaschen Milch, wo es normalerweise acht gewesen waren, den Hinweis darauf. Wilt sagte nicht s, sondern wartete auf das erste Anzeichen von Fröhlichkeit unter dem Dach, ehe er seine Gegenoffensive in Gestalt von Klagen und Beschwerden beginnen wollte. Aber Fräulein Müller verhielt sich ganz so, wie Eva es versprochen hatte. Sie war über die Maßen still, kam unbemerkt heim, wenn Wilt noch in der Schule war, und ging morgens aus -24-
dem Haus, wenn er schon seinen täglichen Spaziergang begonnen hatte. Nach ungefähr vierzehn Tagen war er langsam der Meinung, seine schlimmsten Befürchtungen seien ungerecht gewesen. Sowieso hatte er sich auf die Vorträge vor den ausländischen Studenten vorzubereiten, und die Unterrichtszeit hatte endlich angefangen. Die Angelegenheit mit der Untermieterin trat in den Hintergrund, während er versuchte, darüber nachzudenken, was zum Kuckuck er Mayfields »Empire«, wie Dr. Board es gerne nannte, über die fortschrittlichen sozialen Einstellungen der englischen Gesellschaft seit 1688 erzählen solle. Wenn die Gasinstallateure ihm dafür irgendeinen Hinweis geben konnten, dann hatte ein Rückschritt stattgefunden, keine fortschrittliche Entwicklung. Die Mistkerle hatten sich gerade aufs Schwulen verkloppen verlegt. Doch wenn Wilts Befürchtungen auch verfrüht waren, es dauerte nicht lange, da wurden sie Wirklichkeit. Er saß eines Samstags nachmittags im »Kinderparadies«, dem eigentlich zu diesem Zweck gebauten Sommerhäuschen ganz hinten im Garten, wo Eva ursprünglich versucht hatte, Intelligenzspiele mit den »Puppileins« zu spielen, ein Ausdruck, den Wilt besonders abscheulich fand, als der erste Schlag fiel. Es war weniger ein Schlag als eine Entdeckung. Das Sommerhäuschen war hübsch abgelegen, zwischen alten Apfelbäumen versteckt und von einem Laubengang aus Klematis und Kletterrosen umgeben, der es vor der Welt (und Wilts Verbrauch an selbstgebrautem Bier vor Eva) verbergen sollte. Drinnen hing alles voll mit getrockneten Kräutern. Wilt konnte sich mit diesen Kräutern nicht befreunden, aber dort hängend mochte er sie noch lieber als in den gräßlichen Gesundheitstees, die Eva ihm manchmal aufzureden versuchte, und sie hatten offensichtlich zusätzlich den Vorteil, daß sie ihm die Fliegen vom Komposthaufen vom Halse hielten. Dort konnte er sitzen, während die Sonne das Gras rundum golden -25-
sprenkelte, und sich mit der Welt relativ im Frieden fühlen. Und je mehr Bier er trank, desto größer wurde dieser Frieden. Er braute es in einer Plastikmülltonne und reicherte es gelegentlich noch mit Wodka an, ehe er es in der Garage auf Flaschen füllte. Nach drei Flaschen ließ selbst das Getöse der Vierlinge irgendwie nach und wurde beinahe anheimelnd, ein Singsang aus Gequengele, Quietschen und Lachen, gewöhnlich schadenfrohem, wenn eine von ihnen von der Schaukel gefallen war, aber wenigstens war es weit weg. Und selbst diese Plagegeister waren an diesem Nachmittag nicht da. Eva hatte sie mit ins Ballett genommen, in der Hoffnung, die frühzeitige Begegnung mit Strawinsky werde aus Samantha eine zweite Margot Fonteyn machen. Wilt hatte seine Zweifel hinsichtlich Samantha und Strawinsky. Seiner Meinung nach eigneten sich die Talente seiner Tochter eher dazu, Freistilringerin zu werden, und Strawinskys Genie war überschätzt. Das mußte es sein, wenn Eva dafür schwärmte. Wilts Geschmack ging in Richtung Mozart und Mugsy Spanier, eine Mischung, für die Eva kein Verständnis aufbringen konnte, die ihm aber Gelegenheit bot, sie auf die Palme zu bringen, indem er von einer Klaviersonate, die ihr gefiel, auf Zwanziger-Jahre-Jazz umschaltete, der ihr nicht gefiel. Wie auch immer, an diesem Nachmittag gab es keine Veranlassung, daß er sein Tonbandgerät laufen ließ. Es genügte ihm, in dem Sommerhäuschen zu sitzen und zu wissen, selbst wenn ihn die Vierlinge am nächsten Morgen um fünf wachmachen sollten, könne er noch bis zehn im Bett bleiben, und er war gerade dabei, die vierte Flasche seines hochkarätigen Lagerbiers aufzumachen, als sein Blick auf eine Gestalt auf dem hölzernen Balkon vor dem Dachfenster der Mansardenwohnung fiel. Wilts Hand löste sich von der Flasche und griff einen Augenblick später nach dem Fernglas, das Eva zur Vogelbeobachtung angeschafft hatte. Er linste durch eine Lücke in den Rosen auf die Gestalt und vergaß das Bier. Seine ganze -26-
Aufmerksamkeit heftete sich an Fräulein Irmgard Müller. Sie stand da und hielt über die Bäume hinweg Ausschau auf das jenseits liegende offene Land, und von der Stelle aus, wo Wilt saß und peilte, hatte er einen besonders interessanten Ausblick auf ihre Beine. Es war nicht zu leugnen, das waren wohlgeformte Beine. Wirklich, das waren aufsehenerregend wohlgeformte Beine, und ihre Schenkel... Wilts Blick wanderte nach oben, fand ihre Brüste unter einer cremefarbenen Bluse entzückend und kam schließlich bei ihrem Gesicht an. Dort blieb er. Das lag nicht daran, daß Irmgard - »Miss Müller« und »diese verdammte Mieterin« waren im selben Augenblick Worte, die der Vergangenheit angehörten - eine attraktive junge Frau war. Wilt hatte sich zu viele Jahre in der Schule attraktiven jungen Frauen gegenüber gesehen, jungen Frauen, die ihm Augen machten und mit verwirrend weit gespreizten Beinen dasaßen, als daß er nicht genügend sexuelle Antikörper gebildet hätte, um ihren jugendlichen Charme zu neutralisieren. Aber Irmgard war kein junges Mädchen. Sie war eine Frau, eine Frau von ungefähr achtundzwanzig Jahren, eine schöne Frau mit prachtvollen Beinen, unaufdringlichen strammen Brüsten, »nicht durchs Stillen geschändet« war die Formulierung, die Wilt unwillkürlich in den Sinn kam, mit festen, herrlichen Hüften, selbst ihre Hände, die das Balkongeländer umfaßten, wirkten irgendwie auf grazile Weise stark mit ihren spitz zulaufenden Fingern und waren wie von der Mitternachtssonne leicht gebräunt. Wilts Gedanken trudelten ab in sinnlose Bilder, die weitab lagen von Evas rauhen Abwaschpfoten, den tief eingegrabenen Falten ihres leberfleckigen Bauchs, den laberigen Brüsten, die ihr fast bis auf die schlappen Hüften hingen, und dem ganzen körperlichen Verfall von zwanzig Jahren Eheleben. Von diesem wunderbaren Geschöpf dort oben, vor allem aber von ihrem Gesicht wurde er in eine Traumwelt fortgerissen. Irmgards Gesicht war nicht einfach schön. Trotz des Biers hätte Wilt wohl der Faszination bloßer Schönheit widerstanden. -27-
Was ihn überwältigte, war die Intelligenz ihres Gesichts. Tatsächlich gab es vom rein körperlichen Standpunkt aus Unvollkommenheiten in diesem Gesicht. Zum Beispiel war es zu kräftig, die Nase war eine Spur zu stark nach oben gebogen, um nach dem Allerweltsgeschmack vollkommen zu sein, und der Mund war zu üppig, aber er war individuell, individuell und intelligent und sensibel und reif und nachdenklich und... Wilt brach verzweifelt die Aufzählung ab, und da schien es ihm, als starre Irmgard herunter in seine bewundernden Augen, oder zumindest in das Fernglas, und als spiele ein feines Lächeln um ihre schwellenden Lippen. Dann drehte sie sich um und ging in die Wohnung zurück. Wilt ließ das Fernglas sinken und griff wie hypnotisiert nach der Bierflasche. Was er gerade gesehen hatte, das änderte seine Auffassung vom Leben. Er war plötzlich nicht mehr Leiter der Abteilung Allgemeinbildung, mit Eva verheiratet, Vater von vier zänkischen, abscheulichen Töchtern und achtunddreißig Jahre alt. Er war wieder einundzwanzig, ein aufgeweckter, schlanker junger Mann, der Gedichte schrieb und an Sommermorgen im Fluß schwamm und dessen Zukunft im Licht erfüllter Hoffnungen strahlte. Er war bereits ein bedeutender Schriftsteller. Der Umstand, daß Schriftsteller zu sein auch hieß, daß man schrieb, war völlig bedeutungslos. Worauf es ankam, war, Schriftsteller zu sein, und Wilt hatte mit einundzwanzig seine Zukunft im voraus festgelegt, indem er Proust und Gide las, dann Bücher über Proust und Gide und Bücher über die Bücher über Proust und Gide, bis er mit lustvollem Grauen am Vorgefühl sich vorstellen konnte, wie er mit achtunddreißig wäre. Wenn er an solche Augenblicke zurückdachte, konnte er sie nur mit dem Gefühl vergleichen, das er jetzt hatte, wenn er vom Zahnarzt kam, ohne daß plombiert werden mußte. Auf geistigem Niveau natürlich. Auf intellektuellem Niveau, mit vollgerauchten, korkverkleideten Zimmern und Seiten über Seiten unlesbarer, aber schöner Prosa, die seinen Schreibtisch in -28-
irgendeiner wundervoll nichtssagenden Straße in Paris bedeckten, ja fast zum Überquellen brachten. Oder in einem weißtapezierten Schlafzimmer irgendwo in der Nähe von Hyeres auf weißen Laken im Clinch mit einer sonnengebräunten Frau, während die Sonne durch die Fensterläden schien und, von der himmelblauen See gebrochen, an der Decke flimmerte. Wilt hatte alle diese Freuden mit einundzwanzig im voraus gekostet. Ruhm, Reichtum, die Bescheidenheit wahrer Größe, Bonmots, die hingeworfen und aufgegriffen und wieder zurückgeworfen wurden wie intellektuelle Federbälle, und der erhebende Spaziergang heim durch die morgendlichmenschenleeren Straßen in Montparnasse. Ungefähr das einzige, dem Wilt bei seinen Anleihen bei Proust und Gide nicht nachgegeben hatte, waren die kleinen Jungs gewesen. Kleine Jungs und Plastikmülltonnen. Nicht daß er sich vorstellen konnte, daß Gide sich überhaupt Kopfschmerzen über das Bierbrauen machte, schon gar nicht in Plastikmülltonnen. Der Kerl war wahrscheinlich Abstinenzler. Aber was die kleinen Jungs anging, so war da eine Lücke zu schließen. Und also hatte er D.H.Lawrence seine Frieda geklaut, während er zu Gott hoffte, daß er nicht auch Tb bekäme, und hatte sie mit einem sanfteren Temperament ausgestattet. Zusammen hatten sie am Stand gelegen und miteinander geschlafen, während sich die Wellen des azurnen Meers am menschenleeren Ufer über ihnen brachen. Wenn er sich’s genau überlegte, dann mußte das ungefähr in der Zeit gewesen sein, als er »Verdammt in alle Ewigkeit« sah, und Frieda war ganz wie Deborah Kerr gewesen. Das wichtigste aber war, sie war stark und resolut und im Einklang, wenn schon nicht mit dem Unendlichen als solchem, so doch mit den unendlichen Variationen von Wilts speziellen Lüsten gewesen. Nur waren es keine Lüste gewesen. Lüste war ein zu unsensibles Wort für die sublimen Verknäuelungen, die Wilt im Sinn hatte. Jedenfalls war sie so etwas wie eine sexuelle Muse gewesen, mehr Sex als Muse, aber jemand, dem man seine tiefsten -29-
Empfindungen anvertrauen konnte, ohne gefragt zu werden, wer Rochefoudingsbums wär', womit Eva sich ein für allemal um die Bezeichnung Muse gebracht hatte. Und nun mußte man ihn hier sehen, wie er in seiner Scheiß Gartenlaube saß und sich mit etwas, das so tat, als sei es Lagerbier, und das in einer Plastikmülltonne gebraut wurde, einen Bierbauch und zeitweiliges Vergessen antrank. Das Plastik war es, was Wilt fuchste. Sicher, eine Mülltonne war das Geeignetste für den Dreck, aber sie hätte doch die Distinktion besitzen können, aus Metall zu sein. Aber nein, selbst dieser kümmerliche Trost war ihm verwehrt. Er hatte es mit einer probiert und sich um ein lausiges Haar selber vergiftet. Bloß nicht daran denken. Mülltonnen waren nicht wichtig, aber was er eben gesehen hatte, war seine Muse. Wilt gebrauchte das Wort seit siebzehn enttäuschenden Jahren zum ersten Male wieder und machte dann prompt das verdammte Lagerbier für diesen Lapsus verantwortlich. Irmgard war keine Muse. Sie war wahrscheinlich irgendeine dämliche, wenn auch hübsche Göre, deren Vati KZ-Kapo von Köln war und fünf Mercedesse besaß. Er stand auf und ging ins Haus. Als Eva und die Vierlinge aus dem Theater kamen, saß er mißmutig vor dem Fernseher und tat so, als sehe er sich ein Fußballspiel an, in seinem Inneren aber kochte er vor Empörung über die gemeinen Streiche, die ihm das Leben spielte. »Na, nun zeigt Pappi mal, wie die Dame getanzt hat«, sagte Eva, »und ich decke inzwischen den Abendbrottisch.« »Sie war ja so schön, Pappi«, erzählte Penelope. »Sie lief so, und dann war da so ein Mann, und der...« Wilt mußte sich eine Vorführung des »Sacre du printemps« durch vier kleine, pummelige Mädchen gefallen lassen, die überhaupt nicht in der Lage gewesen waren, der Geschichte irgendwie zu folgen, und nun der Reihe nach versuchten, von der Armlehne seines Sessels aus einen Pas de deux zu veranstalten. »Ja toll, nach allem, was ihr mir hier vorführt, muß sie ja -30-
phantastisch gewesen sein«, sagte Wilt. »Aber wenn’ s euch jetzt nichts ausmacht, würde ich gerne sehen, wer gewinnt...« Aber die Vierlinge kümmerte das absolut nicht, sie tobten weiter in dem Zimmer rum, bis Wilt gezwungen war, sich in die Küche zu flüchten. »Es wird nie was aus ihnen, wenn du dich für ihr Tanzen nicht interessierst«, sagte Eva. »Es wird sowieso nichts aus ihnen, wenn du mich fragst, und wenn du das Tanzen nennst, ich tue es nicht. Das ist doch, als sähe man Nilpferden zu, die zu fliegen versuchen. Sie bringen noch die verdammte Decke zum Einstürzen, wenn du nicht aufpaßt.« Statt dessen knallte Emmeline mit dem Kopf gegen das Kamingitter, und Wilt mußte ihr einen Klecks Savlon auf die Schramme schmieren. Um das Maß der Kalamitäten dieses Abends vollzumachen, verkündete Eva, sie habe Nyes nach dem Abendbrot rübergebeten. »Ich möchte wegen des organischen Klos mit ihm reden. Es funktioniert nicht richtig.« »Ich nehme an, das soll's wohl auch gar nicht«, sagte Wilt. »Das Mistding ist ein rausgeputztes Plumpsklo, und alle Plumpsklos stinken.« »Es stinkt nicht. Es riecht nach Kompost, das ist alles, aber es entwickelt nicht genug Gas, daß man damit kochen kann, und John hat gesagt, das täte es.« »Es entwickelt genug Gas, um unten aus dem Lokus eine Todeszelle zu machen, wenn du mich fragst. Eines schönen Tages zündet sich irgendein armes Arschloch da drin 'ne Zigarette an und sprengt uns alle ins Jenseits.« »Du hast doch bloß Vorurteile gegen das alternative Leben als solches«, sagte Eva. »Aber wer war es denn, der sich immer darüber beklagt hat, daß ich chemische Toilettenreiniger benutzt -31-
habe? Du. Und sag bloß nicht, das hast du nicht.« »Ich hab' schon genug Trabbel mit dem Leben, wie es ist, da brauch' ich nicht noch ein alternatives, und weil wir grade bei dem Thema sind, es muß doch eine Alternative dazu geben, die Atmosphäre entweder mit Methan zu vergiften oder mit Harpic zu sterilisieren. Offen gestanden würde ich sagen, Harpic hatte doch was für sich. Man konnte das Teufelszeug wenigstens durch die Kanalisation wegspülen. Ich möchte mal jemanden sehen, der Nyes mistigen Kotverzehrer mit was anderem als Dynamit wegspülen kann. Das ist doch nichts als ein dreckverkrustetes Kanalisationsrohr mit einem Faß unten dran.« »So muß es eben sein, wenn man alle natürlichen Bestandteile der Erde wieder zuführen will.« »Und eine Lebensmittelvergiftung kriegen«, sagte Wilt. »Nicht, wenn du’s richtig kompostierst. Die Hitze tötet alle Keime, bevor du es ausleerst.« »Ich habe nicht vor, es auszuleeren. Du hast das ekelhafte Ding einbauen lassen, da kannst du beim Leerpumpen im Keller auch dein Leben aufs Spiel setzen, wenn das edle Zeug durch und gar ist: Und schieb mir nicht die Schuld zu, wenn sich die Nachbarn wieder beim Gesundheitsamt beschweren.« Sie stritten sich weiter bis zum Abendbrot, dann brachte Wilt die Vierlinge rauf ins Bett und las ihnen zum zigsten Mal »Mr. Gumpy« vor. Als er wieder runterkam, waren Nyes schon da, und John machte gerade mit einem alternativen Korkenzieher, den er aus einer alten Sprungfeder gebastelt hatte, eine Flasche Brennesselwein auf. »Ah, hallo Henry«, sagte er mit dieser heiteren, geradezu religiösen Herzlichkeit, zu der anscheinend alle Freunde von Eva neigten, die sich der »Autonomen Genügsamkeit« verschrieben hatten. »Kein schlechter Jahrgang, 76er, auch wenn ich’s selber sage.« »War das nicht das Dürrejahr?« fragte Wilt. -32-
»Ja, aber da genügt nicht bloß 'ne Dürre, um Brennesseln umzubringen. Robuste kleine Burschen.« »Selber gezogen?« »Nicht nötig. Wachsen überall wild. Wir haben sie einfach am Straßenrand gepflückt.« Wilt machte ein zweifelndes Gesicht. »Was dagegen, mir zu sagen, an welchem Straßenrand ihr dieses edle Gewächs geerntet habt?« »Soweit ich mich erinnere, war es zwischen Ballingbourne und Umpston. Doch, bin da ganz sicher.« Er goß ein Glas ein und reichte es Wilt. »In dem Fall würde ich das Zeug nicht anrühren«, sagte Wilt und reichte das Glas wieder zurück. »Ich habe gesehen, wie sie 76 dort gejaucht haben. Diese Nesseln sind nicht biologischdynamisch großgeworden. Die sind verseucht.« »Aber wir haben schon zig Liter von dem Wein getrunken« , sagte Nye, »und es hat uns überhaupt nicht geschadet.« »Wahrscheinlich spürt ihr die Auswirkungen erst, wenn ihr sechzig seid«, sagte Wilt, »und dann ist es zu spät. Mit Fluor ist es genauso, das wißt ihr ja wohl.« Und nachdem er diese gräßliche Warnung ausgestoßen hatte ging er durch zur Diele, die Eva jetzt in »Lebensraum« umgetauft hatte, und fand sie mit Bertha Nye in ein Gespräch über die Freuden und innigen Verpflichtungen der Mutterschaft vertieft. Da die Nyes kinderlos waren und ihre ganze Liebe dem Humus, zwei Schweinen, einem Dutzend Hühnern und einer Gans angedeihen ließen, nahm Bertha Evas begeisterten Bericht mit stoischem Lächeln entgegen. Wilt lächelte stoisch zurück und spazierte durch die Verandatür zum Sommerhäuschen hinaus. Dort stand er im Dunkeln und starrte hoffnungsvoll zum Dachfenster hinauf. Aber die Gardinen waren zugezogen. Wilt seufzte, überlegte, was er vielleicht hätte sehen können, und ging wieder ins Haus, wo er hörte, was John Nye über das -33-
organische Klo zu sagen hatte. »Um Methan zu erzeugen, braucht man unbedingt eine gleichmäßige Temperatur, und natürlich wäre es da sehr nützlich, wenn ihr eine Kuh hättet.« »Oje, ich glaube nicht, daß wir hier eine Kuh halten könnten«, sagte Eva, »ich meine, wir haben gar nicht den Platz dazu und...« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du jeden Morgen um fünf aufstehst, um sie zu melken«, sagte Wilt, entschlossen, der grauenhaften Möglichkeit einen Riegel vorzuschieben, daß die Willington Road Nr. 9 in einen bäuerlichen Kleinbetrieb verwandelt würde. Aber Eva war schon wieder beim Problem der Methanumsetzung. »Wie könnte man's denn erhitzen?« fragte sie. »Man könnte jederzeit Sonnenzellen installieren«, sagte Nye. »Alles, was ihr dazu braucht, sind ein paar alte, schwarzgestrichene Zentralheizungskörper, die ihr mit Stroh umkleidet, und dann pumpt ihr Wasser durch...« »Das möchte ich nicht so gerne«, sagte Wilt. »Dazu brauchten wir 'ne elektrische Pumpe, und bei der herrschenden Energiekrise habe ich moralische Skrupel, Strom zu verbrauchen.« »Da braucht man aber nicht viel«, sagte Bertha. »Und ihr könntet euch eine Pumpe auch immer aus einem Savoniusrotor basteln. Dazu braucht ihr bloß zwei große Fässer...« Wilt ließ sich in seine ganz privaten Träume gleiten, aus denen er nur erwachte, um zu fragen, ob es wohl irgendeine Möglichkeit gebe, den gemeinen Gestank aus dem Klo unten loszuwerden, eine Frage, die Evas Aufmerksamkeit von Savoniusrotoren ablenken sollte, egal, um was es sich dabei handelte. »Man kann nicht das eine wollen und das andere lassen, -34-
Henry«, sagte Nye. »Wer nicht vergeudet, der nicht leidet, ist ein altes Sprichwort, aber es hat noch immer seine Gültigkeit.« »Ich will aber nicht diesen Gestank«, sagte Wilt. »Und wenn wir nicht so viel Methan produzieren können, um das Zündflämmchen im Gasofen zum Brennen zu bringen, ohne daß wir aus dem Garten eine Viehweide machen, sehe ich nicht viel Sinn darin, die Zeit damit zu verplempern, daß wir uns das Haus verstänkern.« Das Problem war immer noch nic ht gelöst, als die Nyes gingen. »Also, ich muß dir sagen, sehr hilfreich warst du nicht«, sagte Eva, als Wilt anfing, sich auszuziehen. »Ich meine, das mit diesen Sonnenheizkörpern klingt doch sehr vernünftig. Im Sommer könnten wir alle Warmwasserrechnungen sparen, und wenn man nichts weiter als ein paar alte Zentralheizungskörper und Farbe braucht...« »Und einen dusseligen Affen auf dem Dach, der sie da festmacht. Das kannst du vergessen. Wie ich Nye kenne, wenn der sie da oben einbaute, kämen sie beim ersten Windstoß wieder runter und kloppten unten jemanden breit. Und sowieso, bei den Sommern, die wir in den letzten Jahren hatten, könnten wir von Glück reden, wenn wir davonkämen, ohne daß wir heißes Wasser zu ihnen raufleiten müßten, damit sie nicht einfrieren und platzen und die Mansarde unter Wasser setzen.« »Du bist halt ein Pessimist«, sagte Eva, »du siehst die Dinge immer von der schlimmsten Seite. Warum kannst du nicht ausnahmsweise mal optimistisch sein?« »Ich bin halt ein verflixter Realist«, sagte Wilt. »Aus Erfahrung erwarte ich nur noch das Schlimmste. Und wenn das Beste eintritt, freue ich mich.« Er stieg ins Bett und knipste die Nachttischlampe aus. Als Eva schließlich neben ihn plumpste, tat er so, als schlafe er schon. Die Samstagnächte führten mit Vorliebe dazu, was Eva »Nächte -35-
des Beisammenseins« nannte, aber Wilt war verliebt, und alle seine Gedanken kreisten um Irmgard. Eva las noch ein Kapitel über den Komposthaufen und machte dann ihre Lampe mit einem Seufzer aus. Warum konnte Henry denn nicht so wagemutig und unternehmungslustig wie John Nye sein? Na schön, sie konnten ja immer noch am Morgen miteinander schlafen. Aber als sie aufwachte, entdeckte sie, daß das Bett neben ihr leer war. Zum ersten Mal, solange sie sich erinnern konnte, war Henry an einem Sonntagmorgen um sieben aufgestanden, ohne von den Vierlingen aus dem Bett geschmissen zu werden. Wahrscheinlich war er unten und kochte ihr eine Kanne Tee. Eva drehte sich um und schlief wieder ein. Wilt war nicht in der Küche. Er spazierte den Weg am Fluß entlang. Der Morgen leuchtete in der Herbstsonne, und der Fluß glitzerte. Ein leichter Wind raschelte in den Weiden, und Wilt war allein mit seinen Gedanken und Gefühlen. Wie gewöhnlich waren seine Gedanken düster, aber seine Gefühle machten sich in Versen Luft. Im Gegensatz zu den meisten modernen Dichtern war Wilts Versmaß nicht frei. Seine Verse hatten Takt und Reim. Oder hätten vielmehr gehabt, wenn ihm bloß was eingefallen wäre, was sich auf Irmgard reimte. So ziemlich das einzige Wort, das ihm einfiel, war Tankwart. Danach kamen Bart, behaart, bejahrt und Widerpart. Keins schien ihm zur Zartheit seiner Gefühle zu passen. Nach fünf ergebnislosen Kilometern kehrte er um und trottete seinen Pflichten als verheirateter Mann entgegen. Wilt war nicht sehr scharf darauf. Er war auch nicht sehr scharf auf das, was er am Montagmorgen auf seinem Schreibtisch fand. Es war eine Mitteilung des Stellvertretenden Direktors, in der Wilt gebeten wurde, ihn, was ziemlich bedrohlich klang, »baldmöglichst, ich wiederhole, baldmöglichst« aufzusuchen. »Scheiß auf baldmöglichst«, murmelte Wilt. »Warum kann er nicht ›augenblicklich‹ sagen und damit basta?« -36-
Mit dem Gedanken, daß irgendwas nicht in Ordnung sei und er die schlechte Nachricht genauso gut so schnell wie möglich hinter sich bringen könne, ging er zwei Stockwerke nach unten und den Korridor entlang zum Büro des Stellvertretenden Direktors. »Ah Henry, tut mir leid, daß ich Sie derart belästigen muß«, sagte der Stellvertretende Direktor, »aber ich fürchte, uns sind über Ihre Abteilung ein paar recht beunruhigende Dinge zu Ohren gekommen.« »Beunruhigende Dinge?« fragte Wilt argwöhnisch. »Eindeutig beunruhigende. Wirklich, im Rathaus ist die Hölle los.« »Wo stecken die denn diesmal ihre Nase rein? Wenn sie meinen, sie könnten uns wieder so einen Schulrat wie den letzten auf den Hals schicken, der wissen wollte, warum wir nicht die Maurer mit den Kindergärtnerinnen zu einer Klasse zusammenlegten, um die sexuelle Gleichberechtigung zu garantieren, da können Sie denen von mir ausrichten...« Der Stellvertretende Direktor hob protestierend die Hand. »Das hat nichts mit dem zu tun, was sie diesmal wollen. Es geht vielmehr um etwas, was sie nicht wollen. Und, ganz offen gesagt, wenn Sie ihren Rat befolgt hätten mit den gemischten Klassen, wäre das nicht passiert.« »Ich weiß, was dann passiert wäre«, sagte Wilt. »Wir wären bei dutzendweise schwangeren Kindermädchen gelandet und...« »Wenn Sie bloß mal einen Augenblick zuhören wollten. Lassen Sie doch die Kindergärtnerinnen aus dem Spiel. Aber was wissen Sie über das Vögeln von Krokodilen?« »Was ich über das... habe ich Sie richtig verstanden?« Der Stellvertretende Direktor nickte. »Ich fürchte, ja.« »Tja, also wenn Sie eine aufrichtige Antwort haben wollen, ich würde meinen, es wäre nicht möglich. Und wenn Sie -37-
andeuten wollen...« »Was ich Ihnen sagen möchte, Henry, ist, daß irgend jemand in Ihrer Abteilung es gemacht hat. Sie haben sogar einen Film darüber gedreht.« »Einen Film darüber?« sagte Wilt, der sich noch immer mit dem gräßlichen zoologischen Problem herumplagte, wie man einem Krokodil auch nur nahekommen, geschweige denn das Untier bumsen könne. »Mit irgendeiner Lehrlingsklasse«, fuhr der Stellvertretende Direktor fort, »und der Erziehungsausschuß hat davon gehört und möchte wissen, was das soll.« »Ich kann nicht sagen, daß ich ihnen das übelnehme«, sagte Wilt. »Ich meine, man müßte doch ein Selbstmordkandidat für Krafft-Ebing sein, wenn man's mit einem verdammten Krokodil triebe. Ich weiß ja, daß ich ein paar Wahnsinnige als Teilzeitlehrer habe, aber ich hätte es doch gemerkt, wenn einer von ihnen gefressen worden wäre. Woher zum Teufel hatte er denn bloß das Krokodil?« »Das müssen Sie mich nicht fragen«, sagte der Stellvertretende Direktor. »Ich weiß nur, der Ausschuß besteht darauf, den Film zu sehen, bevor er ein Urteil abgibt.« »Naja, er kann als Urteil abgeben, was ihm Spaß macht«, sagte Wilt, »halt solange sie mich dabei draußen lassen. Ich übernehme keinerlei Verantwortung für irgendwelche Filmereien, die in meiner Abteilung passieren, und wenn ein Irrer ein Krokodil vögeln will, dann ist das seine Sache, nicht meine. Ich habe all die Videokameras und Recorder nie gewollt, die sie uns aufgehalst haben. Sie kosten ein Vermögen an Unterhalt, und irgendein verfluchter Idiot kriegt die Dinger andauernd klein.« »Wer diesen Film auch gedreht hat, den sollte man als ersten kleinkriegen, wenn Sie mich fragen«, sagte der Stellvertretende -38-
Direktor. »Na egal, der Ausschuß möchte Sie um sechs in Raum 80 ins Gebet nehmen, und ich würde Ihnen raten, daß Sie rausfinden, was da zum Kuckuck gelaufen ist, ehe die anfangen, Ihnen Fragen zu stellen.« Wilt ging bedeppert in sein Büro zurück und versuchte verzweifelt dahinterzukommen, wer von den Lehrern seiner Abteilung ein Reptilienschänder, ein Anhänger der nouvellevague-Brutalitäten im Film und nicht ganz dicht im Oberstübchen sei. Pasco war zweifellos nicht bei Troste, nach Wilts Ansicht das Ergebnis seiner vierzehnjährigen unausgesetzten Bemühungen, bei Gasinstallateuren ein Gespür für die sprachlichen Feinheiten von »Finnegans Wake« zu wecken, aber obwohl er zweimal ein ganzes Jahr zur Erholung im städtischen Nervensanatorium zugebracht hatte, war er vergleichsweise umgänglich und viel zu ungeschickt, um eine Filmkamera in die Hand zu nehmen, und was Krokodile anging... Wilt gab's auf und ging rüber in das Audio-VideoAssistentenzimmer, um sich mal die Kontrolliste anzusehen. »Ich bin auf der Suche nach irgendeinem Vollidioten, der einen Film über Krokodile gemacht hat«, sagte er zu Mr. Dobble, dem AVA-Faktotum. Mr. Dobble schnaufte. »Sie sind 'n bißchen spät dran. Der Film ist beim Direx, und der hat irgendwas Schreckliches vor. Wohlgemerkt, ich kann ihm das nicht übelnehmen. Gleich als der Film vom Entwickeln kam, habe ich zu Mr. Macaulay gesagt: ›Reine Pornografie, und sowas lassen sie im Labor durchgehen. Na schön, ich lasse den Film hier nicht raus, bis er nicht genau geprüft ist.‹ Genau das habe ich gesagt, und dazu stehe ich.« »›Genau geprüft‹ ist das entscheidende Wort«, sagte Wilt bissig. »Und ich nehme an, Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen, ihn mir zuerst zu zeigen, bevor er an den Direktor ging?« »Na, Sie haben doch wohl selber die Kontrolle über die Typen -39-
in Ihrer Abteilung, Mr. Wilt. Oder?« »Und welcher spezielle Typ hat den Film gemacht?« »Ich bin kein Mensch, der Namen nennt, aber ich will Ihnen bloß sagen, Mr. Bilger weiß mehr darüber, als man so denkt.« »Bilger? Dieser Mistkerl. Ich wußte ja, daß er politisch übergeschnappt ist, aber wozu in aller Welt muß er denn so einen Film machen?« »Ich weiß von nichts, mein Name ist Hase«, sagte Mr. Dobble, »ich will keine Unannehmlichkeiten haben.« »Aber ich«, sagte Wilt und machte sich auf die Suche nach Bill Bilger. Er fand ihn im Lehrerzimmer, wo er Kaffee trank und mit seinem ihm treu ergebenen Anhänger, Joe Stoley aus der Abteilung Geschichte, in eine Diskussion vertieft war. Bilger argumentierte gerade, daß ein wirklich proletarisches Bewußtsein nur dadurch zu erlangen sei, daß man die sprachliche Scheiß Infrastruktur der Scheiß Vorherrschaft eines Scheiß Faschistenstaates sabotiere. »Das ist Scheiß Marcuse«, sagte Stoley zögernd, während er Bilger in die semantische Kloake des Sabotierens folgte. »Und das bin ich«, sagte Wilt. »Wenn Sie einen Augenblick Ihrer Debatte über das kommende Paradies der Arbeiterklasse erübrigen könnten, hätte ich gern kurz mit Ihnen gesprochen.« »Der Teufel soll mich holen, wenn ich von jemand anderem die Klasse übernehme«, sagte Bilger, womit er sich eine durchaus vernünftige Gewerkschaftsmeinung zu eigen machte. »Ich hab' jetzt keinen Bereitschaftsdienst, damit Sie’s wissen.« »Ich will Sie ja nicht um irgendeinen Extradienst bitten. Ich bitte Sie schlicht und einfach um ein Wort unter vier Augen. Mir ist klar, daß das Ihr unveräußerliches Recht verletzt, in einem faschistischen Staat als freies Individuum Ihrem Glück durch freie Meinungsäußerung nachzugehen, aber ich fürchte, die Pflicht ruft.« -40-
»Nicht meine verdammte Pflicht, Kollege«, sagte Bilger. »Nein. Meine«, sagte Wilt. »In fünf Minuten bin ich in meinem Büro.« »Länger als ich dazu brauche«, hörte Wilt Bilger sagen, als er sich zur Tür wandte, aber er ließ sich nichts vormachen. Der Kerl mochte prahlen und sich wichtig tun, um auf Stoley Eindruck zu machen, aber Wilt besaß halt nach wie vor das Zwangsmittel, den Stundenplan so ändern zu können, daß Bilger die Woche am Montag früh um neun mit Drucker III begann und am Freitagabend um acht mit den Teilzeitköchen IV beendete. Das war so ungefähr das einzige Druckmittel, das er in der Hand hatte, aber es war außerordentlich wirkungsvoll. Während er wartete, dachte er über eine Taktik und die Zusammensetzung des Erziehungsausschusses nach. Mrs. Chatterway war bestimmt dabei und würde bis aufs letzte ihre fortschrittliche Ansicht verteidigen, daß jugendliche Raubmörder warmherzige menschliche Wesen seien, die nur ein paar mitfühlende Worte nötig hätten, um sie davon abzuhalten, alten Damen eins über den Deez zu geben. Zu ihrer Rechten säße Stadtrat Blighte-Smythe, der, wenn er nur halbwegs Gelegenheit hätte, wieder den Galgen fürs Wildern und wahrscheinlich die Neunschwänzige für die Arbeitslosen eingeführt haben würde. Zwischen diesen beiden Extremen waren da noch der Direktor, der alles und jeden haßte, der seinen betulichen Lehrplan über den Haufen warf, der Erziehungsoberinspektor, der den Direktor haßte, und schließlich Mr. Squidley, ein Bauunternehmer aus der Stadt, für den die Allgemeinbildung ein rotes Tuch und verfluchte Zeitverschwendung war, da die kleinen Nichtstuer doch eigentlich ans tändige Arbeit hätten tun sollen, indem sie Tröge voller Backsteine verdammte Leitern hochschleppten. Alles in allem war die Aussicht, mit dem Erziehungsausschuß ins reine zu kommen, finster. Er würde die Leute mit Fingerspitzengefühl behandeln müssen. -41-
Aber erstmal kam Bilger. Er trudelte zehn Minuten später ein und kam ohne anzuklopfen ins Zimmer. »Na?« fragte er, setzte sich und starrte Wilt wütend an. »Ich dachte, wir sollten dies kleine Gespräch lieber vertraulich führen«, sagte Wilt. »Ich wollte mich bloß nach dem Film erkundigen, den Sie mit einem Krokodil gemacht haben. Ich muß sagen, das klingt ja äußerst verwegen. Wenn nur alle Lehrkräfte in der Allgemeinbildung die von unserer Stadtverwaltung gebotenen Möglichkeiten mit solchem Erfolg nützen würden...« Er ließ den Satz wie mit einer unausgesprochenen Zustimmung enden. Bilgers Feindseligkeit schmolz dahin. »Die einzige Möglichkeit, wie die Klasse der Werktätigen kapiert, auf welche Weise sie durch die Medien manipuliert wird, ist, daß man sie dazu bringt, selber Filme zu machen. Das ist alles, was ich tu.« »Genau«, sagte Wilt, »und wenn man sie dazu kriegt, jemanden dabei zu filmen, wie er ein Krokodil vögelt, dann hilft es ihr, proletarisches Bewußtsein zu entwickeln, indem sie die falschen Wertvorstellungen überwindet, die ihr durch eine kapitalistische Wertordnung aufgedrängt wurden?« »Richtig, Kollege«, sagte Bilger begeistert. »Dies Scheiß Ding ist ein Symbol der Ausbeutung.« »Die Bourgeoisie, die ihr das Bewußtsein abbeißt, sozusagen.« »Sie sagen es«, sagte Bilger, der gierig nach dem Köder schnappte. Wilt sah in bestürzt an. »Und mit was für Klassen haben Sie diese... äh... Feldforschung betrieben? »Schlosser und Dreher Zwo. Wir haben uns dieses Krokodings in der Nott Road besorgt und...« »In der Nott Road?« sagte Wilt und versuchte, die Straße, so -42-
wie er sie kannte, mit fügsamen und vermutlich homosexuellen Krokodilen in Übereinstimmung zu bringen. »Tja, und außerdem ist das ja auch Straßentheater«, sagte Bilger, der sich für sein Unterrichtspensum immer mehr erwärmte. »Die Hälfte der Leute, die da wohnen, muß ja auch befreit werden.« »Das möchte ich wohl auch annehmen, aber ich hätte nicht gedacht, daß die Ermutigung zum Bumsen eines Krokodils nun gerade ein Befreiungserlebnis wäre. Ich nehme an, als Beispiel für den Klassenkampf...« »Ach so«, sagte Bilger, »ich dachte, Sie sagten, Sie hätten den Film gesehen?« »Das nicht gerade. Aber die Nachricht von seinem umstrittenen Inhalt ist mir zu Ohren gekommen. Jemand hat gesagt, er wär' fast ein Buñuel.« »Tatsache? Ja, also das haben wir so gemacht: wir haben uns so ein Jahrmarkts-Krokodil besorgt, verstehen Sie, so eins, wo die Kinder 'n Penny reinstecken und dann können sie drauf reiten...« »Ein Jahrmarkts-Krokodil? Sie meinen, Sie haben gar kein richtig echtes genommen?« »Natürlich haben wir das verdammich noch eins nicht. Ich meine, wer wäre denn so bescheuert, ein echtes Scheiß Krokodil zu pimpern? Der hätte ja gebissen werden können.« »Hätte?« sagte Wilt. »Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit, von einem Krokodil mit ein bißchen Selbstachtung... Na egal, erzählen Sie weiter.« »Also, einer von den Jungs steigt auf dieses Plastikspieldings da, und wir filmen ihn dabei, wie er’s macht.« »Was heißt, wie er’s macht? Das wollen wir mal ganz präzise haben. Wollten Sie nicht sagen, ›wie er’s vögelt‹ ?« »So ungefähr«, sagte Bilger. »Aber er hatte nicht etwa seinen -43-
Pimmel draußen oder sowas. Da gab's auch nix, wo er den hätte reinstecken können. Nein, er hat nichts anderes gemacht, als so getan, als ob er das Ding bumste. Auf diese Weise bumste er symbolisch die ganze reformistische Wohlfahrtsstaatlichkeit des kapitalistischen Systems.« »In Gestalt eines Schaukelkrokodils?« sagte Wilt. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fragte sich, wie das möglich sei, daß ein angeblich intelligenter Mensch wie Bilger, der schließlich auf der Universität gewesen war und sein Examen gemacht hatte, noch immer glauben konnte, die Welt wäre viel schöner, wenn man erstmal den ganzen Mittelstand an die Wand gestellt und erschossen hätte. Kein Aas lernte anscheinend jemals was aus der Vergangenheit. Na schön, da würde Mr. Verdammich Bilger eben was aus der Gegenwart lernen. Wilt legte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Versuchen wir doch mal, den Bericht endgültig über die Bühne zu bringen«, sagte er. »Sie betrachten es also entschieden als Teil Ihrer Pflichten als Lehrer der Abteilung Allgemeinbildung, Lehrlinge in marxistischleninistischmaoistischem Krokodilbumsismus und jedem anderen Ismus, auf den Sie Wert legen, zu unterrichten?« Bilgers Feindseligkeit war sofort wieder da. »Das ist ein freies Land, und ich habe ein Recht darauf, meine persönlichen Ansichten zu äußern. Daran können Sie mich nicht hindern.« Wilt lächelte über diese phantastischen Widersprüche. »Versuche ich das denn?« fragte er unschuldig. »Wirklich, Sie werden’s mir nicht glauben, aber ich bin bereit, Ihnen ein Podium zur Verfügung zu stellen, auf dem Sie alles ausführlich und ungehindert vortragen können.« »Das können Sie mir nicht erzählen«, sagte Bilger. »Doch, doch, Genosse Bilger, glauben Sie mir, ich kann. Der Erziehungsausschuß tritt um sechs zusammen. Der Herr Erziehungsoberinspektor, der Direktor, Stadtrat Blighte-44-
Smythe...« »Dieser militaristische Scheißhaufen! Was weiß der denn von Erziehung? Bloß weil sie ihm im Krieg das Verdienstkreuz verpaßt haben, meint er, er kann in der Gegend rumziehen und der Klasse der Werktätigen auf dem Gesicht rumtrampeln.« »Was, wenn man bedenkt, daß er ein Holzbein hat, auf keine hohe Meinung über das Proletariat bei Ihnen schließen läßt, oder?« sagte Wilt, der sich mit seiner Aufgabe langsam anfreundete. »Erst heben Sie die Arbeiterklasse wegen ihrer Intelligenz und Solidarität in den Himmel, dann wollen Sie einem weismachen, die seien so dämlich, daß sie ihre Interessen nicht von der Waschpulverreklame im Fernsehen unterscheiden könnten und mit Gewalt politisiert werden müßten, und jetzt erzählen Sie mir, daß ein Mann, der sein Bein verloren hat, einfach so über sie wegtrampeln kann. So wie Sie reden, wirken die ja wie Idioten.« »Das habe ich nicht gesagt«, sagte Bilger. »Nein, aber das ist offenbar Ihre Einstellung, und wenn Sie sich zu dem Thema deutlicher äußern wollen, können Sie das ja um sechs vor dem Ausschuß tun. Ich bin sicher, das wird die Leute dort sehr interessieren.« »Ich gehe vor überhaupt keinen Scheiß Ausschuß. Ich kenne meine Rechte und...« »Das ist ein freies Land, wie Sie mir wiederholt versichert haben. Noch so ein phantastischer Widerspruch, und wenn man bedenkt, daß dieses Land Ihnen gestattet, rumzulaufen und blutjunge Lehrlinge dazu anzustiften, Spielzeugkrokodile zu vögeln, würde ich sagen, ungefähr das macht halt so eine freie Scheiß Gesellschaft aus. Ich wünschte mir manchmal bloß, wir lebten in Rußland. »Da wüßte man, was man mit Burschen wie Ihnen zu tun hätte, Wilt«, sagte Bilger. »Sie sind doch bloß ein abweichlerisches Reformistenschwein.« -45-
»Abweichlerisch aus Ihrem Mund ist toll«, schrie Wilt, »und bei den drakonischen Gesetzen, die die dort haben, endete jeder, der rumliefe und russische Schlosserlehrlinge beim Krokodilebumsen filmte, ganz fix in der Lubjanka und käme erst raus, wenn sie ihm eine Kugel hinten in seinen geistlosen Kopf gejagt hätten. Oder man würde Sie in irgendein Irrenhaus sperren, und da wären Sie wahrscheinlich der einzige Insasse, der nicht bei Verstand ist.« »Okay, Wilt«, schrie Bilger zurück und sprang von seinem Stuhl auf, »das genügt. Sie mögen vielleicht Leiter der Allgemeinbildung sein, aber wenn Sie glauben, Sie könnten Lehrer beleidigen, weiß ich, was ich zu tun habe. Eine Beschwerde bei der Gewerkschaft einreichen.« Er steuerte auf die Tür zu. »In Ordnung«, brüllte Wilt, »flüchten Sie zu Ihrer kollektiven Mama, und wenn Sie schon dabei sind, erzählen Sie dem Sekretär auch gleich, daß Sie mich ein abweichlerisches Schwein genannt haben. Die werden den Ausdruck zu schätzen wissen.« Aber Bilger war schon draußen, und Wilt blieb mit dem Problem zurück, irgendeine plausible Entschuldigung zu finden, die er dem Ausschuß anbieten konnte. Nicht, daß er was dagegen gehabt hätte, Bilger loszuwerden, aber der Trottel hatte Frau und drei Kinder und konnte bestimmt keine Hilfe von seinem Vater erwarten, dem Konteradmiral Bilger. Es war typisch für diese Sorte intellektueller, radikaler Hanswürste, daß sie von da stammten, was man allgemein »eine gute Familie« nannte. Unterdessen mußte er mit der Vorbereitung seines Vertrags vor den »Fortgeschrittenen Ausländern« fertigwerden. Zum Teufel mit den liberalen und fortschrittlichen Einstellungen! Von 1688 bis 1978, fast dreihundert Jahre englische Geschichte, komprimiert zu acht Vorträgen, und alles unter Mayfields unbeirrter Voraussetzung, daß der Fortschritt stetig und liberale -46-
Einstellungen irgendwie unabhängig seien von Raum und Zeit. Und was war mit Ulster? Herzlich wenig liberale Einstellungen hatte man da 1978 gehabt. Und das Empire war auch nicht gerade ein Muster an Liberalität gewesen. Das beste, was man darüber sagen konnte, war, daß es nicht so irrsinnig schauerlich wie der Belgische Kongo oder Angola war. Ja, und dann war Mayfield Soziologe, und was er von Geschichte wußte, war alarmierend. Nicht, daß Wilt selber viel gewußt hätte. Und warum der englische Liberalismus? Mayfield schien anzunehmen, die Waliser und die Schotten und die Iren existierten gar nicht, oder wenn, dann seien sie nicht ebenfalls fortschrittlich und liberal. Wilt holte seinen Kugelschreiber vor und notierte sich ein paar Stichpunkte. Sie hatten nicht das geringste mit dem von Mayfield vorgeschlagenen Seminar zu tun. Er schrieb noch immer still in sich versunken, als die Mittagszeit kam. Er ging runter in die Kantine, aß allein an einem Tisch etwas, was sich Fleischcurry mit Reis nannte, und kehrte mit neuen Ideen in sein Büro zurück. Diesmal kreisten sie um den Einfluß des Empire auf England. Curry, Bakschisch, pukka sahib, Sari, Polo, Ketchup - alles Wörter, die in die englische Sprache aus weit entlegenen Vorposten eingedrungen waren, wo die Wilts früherer Zeiten mit einer Arroganz und Autorität die großen Herren gespielt hatten, wie er es sich kaum vorzustellen vermochte. Er wurde in diesen angenehm nostalgischen Betrachtungen von Mrs. Rosery, der Abteilungssekretärin, unterbrochen, die ihm sagen kam, daß Mr. Germiston krank sei und Elektroniktechniker III nicht übernehmen könne, und daß Mr. Laxton, sein Vertreter, mit Mrs. Vaugard einen Tauschhandel gemacht habe, ohne jemandem was zu sagen, daß sie aber jetzt nicht zur Verfügung stünde, weil sie schon vorher einen Termin beim Zahnarzt festgemacht hätte... Wilt ging nach unten und zur Baracke hinüber, wo die Elektroniktechniker vom Bier ihres Kneipenmittagessens -47-
bedudelt herumsaßen. »Schön«, sagte er und nahm hinter dem Tisch Platz. »Nun, was habt ihr mit Mr. Germiston denn so gemacht?« »Haam vadammt gaanix mit ihm gemacht«, sagte ein rothaariger Bursche in der ersten Reihe. »Das issa nich wert. Ein Schlach aufn Rüssel und...« »Ich meinte«, sagte Wilt, ehe Rotköpfchen in die Einzelheiten gehen konnte, was mit Germiston in einem Boxkampf alles geschähe, »worüber hat er denn in diesem Jahr bis jetzt mit euch gesprochen?« »Diese Scheiß Schwänze von Niggern«, sagte ein anderer Elektroniker. »Doch nicht wörtlich, möchte ich annehmen«, sagte Wilt und hoffte zugleich, seine ironische Bemerkung führe zu keiner Diskussion über den Sex zwischen den Rassen. »Du meinst, über Rassenbeziehungen?« »Ich meine Nigger. Genau das meine ich. Bimbos, Inder, Ausländer, die ganzen Arschlöcher, die herkommen und anständigen weißen Burschen die Jobs wegnehmen. Was ich sage, ist...« Aber er wurde von einem anderen ET III unterbrochen. »Sie müssen nicht auf das hören, was er sagt. Joe ist Mitglied bei der Nationalen Front...« »Was ist denn daran so verkehrt?« frage Joe. »Unsere Politik ist, keine...« »Keine Politik«, sagte Wilt, »das ist meine Politik, und ich bin entschlossen, mich daran zu halten. Was du außerhalb der Schule sagst, ist deine Angelegenheit, aber hier in der Klasse reden wir über was anderes.« »Jaja, aber das sollten Sie mal dem Spermpistol erzählen. Der verbringt sein beschissenes Leben damit, daß er uns erzählt, wir sollten uns wie Christen benehmen und unsere Nachbarn lieben -48-
wie uns selbst. Naja, wenn er in unserer Straße wohnen würde, wüßte er's besser. Wir haben zwei Häuser weiter 'ne Masse Jamaikanigger wohnen, und die kloppen auf Bongos und Müllkübeln bis vier am Scheiß Morgen rum. Wenn Old Germy das schafft, das Drecksgetöse die ganze verfluchte Nacht zu lieben, da muß er einfach irre taub sein.« »Man könnte sie doch jederzeit bitten, ein bißchen leiser zu spielen oder um elf aufzuhören«, sagte Wilt. »Was? Und für die Gunst 'n Messer in die Kutteln kriegen? Sie machen wohl 'n Witz.« »Dann die Polizei...« Joe guckte ihn fassungslos an. »Ein Typ vier Häuser weiter ist zu den Bullen gegangen, und wissen Sie, was ihm passiert ist?« »Nein«, sagte Wilt. »Zwei Tage später waren seine Autoreifen aufgeschlitzt. Das ist passiert. Und wollten die Polypen das wissen? 'n Scheiß wollten sie.« »Tja, ich sehe ein, du hast wirklich ein Problem«, mußte Wilt einräumen. »Genau, und wir wissen auch, wie wir’s lösen«, sagte Joe. »Ihr werdet das nicht damit lösen, daß ihr sie wieder nach Jamaika zurückschickt«, sagte der Elektroniker, der gegen die Nationale Front war. »Die in eurer Straße kommen sowieso nicht von da. Die sind in Brixton geboren.« »Ja, in Brixton aufm Revier, wenn du mich fragst.« »Du hast bloß Vorurteile.« »Die hättste auch, wenn du einen Monat keine Nacht richtig pofen kannst.« Der Kampf tobte weiter, und Wilt saß da und dachte über die Klasse nach. Es war noch genauso, wie er es von früher in Erinnerung hatte. Man brachte die Lehrlinge auf irgendein Thema und ließ sie dann dabei, man stachelte sie nur, wenn der Streit abflaute, mit einer provozierenden Bemerkung -49-
zu weiteren Debatten an. Und das waren nun ein und dieselben Lehrlinge, denen die Bilgers dieser Welt politisches Bewußtsein eintrichtern wollten, als wären sie proletarische Gänse, die man stopft, damit sie totalitäre Trüffelleberpastete produzieren. Aber die Elektroniktechniker III waren vom Rassenproblem bereits abgeschwenkt und lagen sich wegen des Cup-Fina les im letzten Jahr in den Haaren. Offenbar war ihnen der Fußball mehr ans Herz gewachsen als die Politik. Wilt verließ sie am Ende der Stunde und ging hinüber zum Hörsaal, um seinen Vortrag vor den »Fortgeschrittenen Ausländern« zu halten. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, daß der Saal überfüllt war. Dr. Mayfield hatte recht gehabt, als er sagte, der Kursus sei sehr beliebt und außerordentlich einträglich. Wilt blickte durch die Reihen und notierte im Geiste, daß er wahrscheinlich im Begriff stand, das Wort an etliche Millionenvermögen an Ölquellen, Stahlwerken, Werften und chemischen Industrien zu richten, die sich von Stockholm bis Tokio über Saudi-Arabien und den Persischen Golf verteilten. Na schön, die Faultiere waren hergekommen, um was über England und englische Einstellungen zu erfahren, da sollten sie für ihr Geld aber auch was haben. Wilt stieg zum Rednerpult hinauf, ordnete seine paar Notizen, klopfte an das Mikrophon, so daß es aus den Lautsprechern hinten im Saal mehrere Male laut dröhnte, und begann seinen Vortrag. »Es mag denjenigen unter Ihnen, die aus autoritären Gesellschaften kommen, einigermaßen befremdlich erscheinen, daß ich die Absicht habe, das Thema der Vortragsreihe, über das zu sprechen man von mir erwartet, nämlich ›Die Entwicklung liberaler und fortschrittlicher sozialer Einstellungen in der englischen Gesellschaft von 1688 bis heute‹ , zu ignorieren und mich statt dessen auf das wesentlichere Problem, um nicht zu sagen: das Rätsel dessen zu konzentrieren, was das Wesen des Englischseins ausmacht. Das ist ein Problem, das jahrhundertelang die edelsten Geister des Auslands irritiert hat, -50-
und ich habe keinen Zweifel, daß es auch Sie irritieren wird. Ich muß zugeben, daß das Thema auch mich, obwohl ich Engländer bin, nach wie vor verwirrt, und ich habe keinen Grund zur Annahme, daß ich mir am Ende dieser Vortragsreihe auch nur im geringsten klarer darüber sein werde, als ich es jetzt bin.« Wilt machte eine Pause und sah seine Zuhörer an. Ihre Köpfe waren über die Notizbücher gebeugt, und ihre Kugelschreiber kritzelten nur so los. Es war genauso, wie er es erwartet hatte. Sie würden pflichtschuldigst alles aufschreiben, was er ihnen zu erzählen hatte, genauso gedankenlos wie andere Gruppen früher, vor denen er Vorträge gehalten hatte, aber irgendwo unter ihnen saß vielleicht doch einer, der sich Gedanken machte über das, was er zu sagen hatte. Na, diesmal würde er ihnen allen etwas vorsetzen, worüber sie sich Gedanken machen konnten. »Ich will mit einer Liste von Büchern beginnen, deren Lektüre unbedingt erforderlich ist, aber zuvor möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein Beispiel jenes Englischseins lenken, das ich zu durchleuchten hoffe. Es ist dies die Tatsache, daß ich mich entschlossen habe, vom Stoff, den ich eigentlich lehren sollte, keine Notiz zu nehmen, und statt dessen zu einem Thema eigener Wahl gegriffen habe. Desgleichen beschränke ich mich auf England und lasse Wales, Schottland und alles, was allgemein als Großbritannien bekannt ist, beiseite. Ich weiß von Glasgow weniger als von Neu Delhi, aber die Einwohner jener Gegenden fühlten sich beleidigt, wenn ich sie zu den Engländern zählte. Insbesondere werde ich vermeiden, über die Iren zu sprechen. Sie gehen vollkommen über meinen Verstand als Engländer, und ihre Methoden, Streitigkeiten zu schlichten, sagen mir absolut nicht zu. Ich möchte lediglich wiederholen, was Metternich, glaube ich, über Irland gesagt hat, nämlich daß es Englands Polen ist.« Wilt machte wieder eine Pause und gestattete der Klasse, sich weitere völlig nichtssagende Notizen zu machen. Wenn die Saudis je von Metternich gehört haben sollten, wäre er sehr überrascht gewesen. -51-
»Und nun die Liste der Bücher. Das erste ist ›The Wind in the Willows‹ von Kenneth Grahame. Es bietet die großartigste Beschreibung des Strebens und Trachtens der englischen Mittelschicht, die in der englischen Literatur zu finden ist. Sie werden feststellen, daß es sich ausschließlich mit Tieren befaßt und daß diese Tiere alle männlich sind. Die einzigen Frauen in dem Buch sind unbedeutendere Figuren, eine ist eine Schiffersfrau, und die anderen die Tochter eines Gefängnisaufsehers und ihre Tante, und genaugenommen sind sie unwichtig. Die Hauptgestalten sind ein Wasserrattenmännchen, ein Maulwurf, ein Dachs und eine männliche Kröte, von denen keiner verheiratet ist oder auch nur das geringste Interesse am anderen Geschlecht an den Tag legt. Diejenigen von Ihnen, die aus heißeren Klimazonen kommen oder durch Soho gebummelt sind, mögen diesen Mangel an sexuellem Antrieb verwunderlich finden. Ich kann nur sagen, sein Fehlen stimmt mit den Wertvorstellungen der englischen Mittelschichtfamilie absolut überein. Den Studenten, die sich mit dem Streben und Trachten nicht zufriedengeben, sondern sich um das Thema in größerem, wenn auch etwas lüsternem Umfang bemühen wollen, kann ich einige der Tageszeitungen empfehlen, insbesondere die Sonntagsausgaben. Die Zahl der Chorknaben, die Jahr für Jahr von Pfarrern und Kirchenvorstehern unzüchtig angefallen werden, könnte Sie zu der Annahme verleiten, England sei ein tief religiöses Land. Ich neige aber zu der von einigen Leuten vertretenen Ansicht, daß...« Doch welche Ansicht es war, zu der Wilt neigte, die Klasse erfuhr es nie. Er hielt mitten im Satz inne und starrte hinunter in ein Gesicht in der dritten Reihe. Irmgard Müller saß unter seinen Zuhörern. Schlimmer noch, sie guckte ihn mit neugieriger Eindringlichkeit an und mühte sich nicht damit ab, sich irgendwelche Notizen zu machen. Wilt starrte zurück, sah hinunter auf seine eigenen Aufzeichnungen und versuchte zu -52-
überlegen, was er als nächstes sagen wollte. Aber alle Gedanken, die er sich so ironisch zurechtgelegt hatte, waren verflogen. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn improvisierten Redens ging Wilt der Text aus. Er stand mit schweißnassen Händen am Rednerpult und sah auf die Uhr. Er mußte die nächsten vierzig Minuten irgendwas sagen, was Eindringliches und Ernsthaftes und... ja, eben was Bedeutungsvolles. Dieses erhabene Wort seiner schwärmerischen Jugend drang an die Oberfläche. Wilt gab sich einen Ruck. »Wie ich eben sagte«, stammelte er, als seine Zuhörer gerade anfingen, miteinander zu tuscheln, »kann keines der Bücher, die ich Ihnen empfehle, mehr als nur die Oberfläche des Problems des Englischseins ritzen... oder vielmehr des Problems, das Wesen des Englischen zu erkennen.« Die nächste halbe Stunde reihte er beziehungslose Sätze aneinander, murmelte schließlich irgendwas von Pragmatismus, sammelte seine Zettel ein und schloß seinen Vortrag. Er kletterte gerade von der Bühne, als Irmgard ihren Platz verließ und auf ihn zukam. »Mr. Wilt«, sagte sie, »ich möchte Ihnen sagen, wie interessant ich Ihren Vortrag fand.« »Sehr nett von Ihnen«, sagte Wilt, der sich seine Erregung nicht anmerken ließ. »Besonders interessiert hat mich, was Sie über das parlamentarische System gesagt haben, das nur anscheinend demokratisch ist. Sie sind der erste Lehrer, den wir haben, der das Problem England in den Zusammenhang gesellschaftlicher Realität und volksnaher Kultur stellt. Sie waren sehr anregend.« Es war ein sehr angeregter Wilt, der nun aus dem Hörsaal und die Treppe zu seinem Büro hinauf schwebte. Es konnte jetzt gar keinen Zweifel mehr geben. Irmgard war nicht bloß schön. Sie war auch kolossal intelligent. Und Wilt war der vollkommenen Frau zwanzig Jahre zu spät begegnet. Er war von diesem neuen und anregenden Problem derart in -53-
Anspruch genommen, daß er zur Sitzung des Erziehungsausschusses zwanzig Minuten zu spät kam und gerade eintrudelte, als Mr. Dobble mit dem Filmprojektor und der Miene eines Menschen herauskam, der nur seine Schuldigkeit tut, wenn er die Katze zwischen die Tauben setzt. »Sie dürfen mir das nicht übelnehmen, Mr. Wilt«, sagte er, als Wilt ihn finster ansah, »ich bin nur hier, um...« Wilt beachtete ihn nicht weiter und betrat den Raum, in dem der Ausschuß gerade wieder um einen langen Tisch herum Platz nahm. Ein einzelner Stuhl war auffällig weit weg ans andere Tischende gestellt worden, und wie Wilt es vorausgesehen hatte, waren sie alle da: der Direktor, der Stellvertretende Direktor, Stadtrat Blighte-Smythe, Mrs. Chatterway, Mr. Squidley und der Erziehungsoberinspektor. »Ah, Wilt«, brachte der Direktor als laue Begrüßung hervor, »setzen Sie sich.« Um sich um den einzelnen Stuhl zu drücken, nahm Wilt seinen ganzen Mut zusammen und setzte sich neben den Erziehungsinspektor. »Ich nehme an, Sie wollen mich wegen des antipornografischen Films sehen, den ein Mitglied der Abteilung Allgemeinbildung gedreht hat«, sagte er, womit er gleich die Initiative zu übernehmen versuchte. Der Ausschuß starrte ihn an. »Das Anti können Sie erstmal schon weglassen«, sagte Stadtrat Blighte-Smythe, »was wir gerade gesehen haben, steigt über... äh... übersteigt alle Begriffe. Das Ding ist durch und durch pornografisch.« »Ich vermute, das könnte es vielleicht für jemanden sein, dem Krokodile besonders liegen«, sagte Wilt. »Da ich bisher keine Möglichkeit hatte, den Film zu sehen, kann ich für mich persönlich nicht sagen, wie er auf mich wirken würde.« »Aber Sie haben gesagt, er ist antipornografisch«, sagte Mrs. Chatterway, deren progressive Ansichten ihr ständig Reibereien -54-
mit dem Stadtrat und Mr. Squidley einbrachten, »und als Leiter des Fachbereichs Allgemeinbildung müssen Sie ihn ja genehmigt haben. Ich bin sicher, der Ausschuß würde gerne Ihre Gründe hören.« Wilt lächelte gequält. »Ich glaube, der Titel ›Fachbereichs leiter‹ bedarf einiger Erläuterungen, Mrs. Chatterway«, begann er, um gleich wieder von Blighte-Smythe unterbrochen zu werden. »Dieser beschiss... beschämende Film, den wir uns soeben ansehen mußten, ebenfalls. Bleiben wir doch beim Kernproblem«, kläffte er. »Zufällig ist das aber das Kernproblem«, sagte Wilt. »Die bloße Tatsache, daß ich Leiter der Abteilung Allgemeinbildung geschimpft werde, bedeutet nicht, daß ich in der Lage bin zu kontrollieren, was die Mitglieder meines sogenannten Kollegiums tun.« »Wir wissen verdammt genau, was sie tun«, sagte Mr. Squidley, »und wenn irgendeiner von meiner Belegschaft mit so was anfinge, was wir eben gesehen haben, würde ich ihn auf der Stelle rausschmeißen.« »Tja, in der Schule ist das ein bißchen anders«, sagte Wilt. »Ich kann Richtlinien für die Lehrmethoden aufstellen, aber ich denke, der Herr Direktor wird mir zustimmen, daß kein Fachbereichsleiter einen Lehrer deshalb an die Luft setzen kann, weil er sich nicht nach ihnen gerichtet hat.« Wilt sah den Direktor an und wartete auf dessen Zustimmung. Sie kam widerstrebend. Vor Jahren hätte der Direktor Wilt mit Freuden an die Luft gesetzt. »Stimmt«, murmelte er. »Wollen Sie damit sagen, Sie können sich den Wüstling, der diesen Film gemacht hat, nicht vom Halse schaffen?« fragte Blighte-Smythe. »Nicht, solange er es nicht fortwährend versäumt, zu seinem -55-
Unterricht zu erscheinen, ständig betrunken ist oder in aller Öffentlichkeit mit seinen Schülerinnen schläft«, sagte Wilt. »Ist das wahr?« fragte Mr. Squidley den Erziehungsinspektor. »Ich fürchte, ja. Wenn wir ihm nicht himmelschreiende Unfähigkeit oder unsittliches Verhalten Schülern gegenüber nachweisen können, gibt es keine Möglichkeit, einen hauptamtlichen Lehrer zu entlassen.« »Wenn das kein unsittliches Verhalten ist, einen Schüler dazu anzustiften, ein Krokodil zu vögeln, hätte ich gerne gewußt, was es sonst ist«, sagte Stadtrat Blighte-Smythe. »Soweit ich unterrichtet bin, war das fragliche Ding kein richtiges Krokodil, und es fand auch kein richtiger Beischlaf statt«, sagte Wilt, »und auf alle Fälle hat der Lehrer lediglich den Vorgang auf Film aufgenommen. Er hat nicht selber teilgenommen.« »Man hätte ihn verhaftet, wenn er das getan hätte«, sagte Mr. Squidley, »ein Wunder, daß der Kerl nicht gelyncht worden ist.« »Laufen wir nicht etwas Gefahr, das Hauptthema dieser Sitzung aus dem Auge zu verlieren?« fragte der Direktor. »Ich glaube, Mr. Ranion hat noch einige weitere Fragen auf dem Herzen.« Der Erziehungsinspektor blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Ich möchte Mr. Wilt fragen, wie seine methodischen Richtlinien für die Allgemeinbildung lauten. Sie stehen vielleicht in einem gewissen Zusammenhang mit einer Reihe Klagen, die uns aus der Öffentlichkeit erreicht haben.« Er sah Wilt starr an und wartete. »Es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie mir sagten, was das für Klagen waren«, sagte Wilt, der Zeit zu gewinnen versuchte, aber Mrs. Chatterway ging dazwischen. »Ohne Zweifel ist es Sinn und Zweck der Allgemeinbildung immer gewesen, ein Gefühl für soziale Verantwortung und -56-
Teilnahme für andere in den jungen Menschen zu wecken, die in unserer Obhut stehen und von denen vielen eine fortschrittliche Erziehung versagt wurde.» »Versaut wurde, wäre richtiger, wenn Sie mich fragen«, sagte Stadtrat Blighte-Smythe. »Es hat aber keiner gefragt«, blaffte Mrs. Chatterway. »Wir wissen alle sehr gut, was Sie für Ansichten haben.« »Wenn wir vielleicht hören dürften, welche Ansichten Mr. Wilt hat...«, schlug der Erziehungsinspektor vor. »Also, früher bestand die Allgemeinbildung vor allem daraus, die Lehrlinge, die einen Tag in der Woche für die Berufsschule frei bekommen, damit am Reden zu hindern, daß man sie Bücher lesen ließ«, sagte Wilt. «Meiner Meinung nach lernten sie überhaupt nichts, und die Methode war reine Zeitverschwendung. « Er machte eine Pause und hoffte, der Stadtrat werde etwas sagen, was Mrs. Chatterway auf die Palme brächte. Mr. Squidley machte diese Hoffnung zunichte, indem er ihm beipflichtete. »Das war sie immer, und das wird sie auch immer sein. Ich habe es früher gesagt, und ich sage es jetzt wieder. Da wären sie mit anständiger Arbeit viel besser beschäftigt, anstatt das Geld des Steuerzahlers damit zu verplempern, daß sie sich faul in irgendwelchen Klassenräumen rumdrücken.« »Schön, zumindest haben wir ein gewisses Maß an Übereinstimmung«, sagte der Direktor versöhnlich. »Meiner Auffassung nach ist Mr. Wilts Methode praktischerer Natur. Habe ich recht, Wilt?« »Der Grundsatz der Abteilung ist, Lehrlinge darin zu unterrichten, wie man bestimmte Dinge macht. Ich halte viel davon, ihr Interesse zu wecken...« »An Krokodilen?« erkundigte sich Stadtrat Blighte-Smythe. »Nein«, sagte Wilt. -57-
Der Erziehungsinspektor sah auf die Liste vor sich. »Ich sehe hier, daß ihre Auffassung von praktischer Erziehung das Selberbrauen von Bier umfaßt.» Wilt nickte... »Darf man fragen, wieso? Ich hatte nicht gedacht, daß Jugendliche dazu anzustiften, Alkoholiker zu werden, irgendeinem erzieherischen Anliegen diente.« »Es dient dazu, sie zunächst erstmal aus den Kneipen herauszuhalten«, sagte Wilt. »Und Jugendliche sind die Gasinstallateure IV sowieso nicht. Die Hälfte sind verheiratete Männer mit Kindern.« »Und erstreckt sich dieser Kursus im Selberbrauen auch auf die Herstellung verbotener Destillierapparate?« »Destillierapparate?« fragte Wilt. »Zur Herstellung von Alkohol.« »Ich glaube nicht, daß jemand in meiner Abteilung dazu den Grips hätte. Wie die Dinge liegen, ist das Zeug, das sie brauen...« »... nach Ansicht der Zoll- und Steuerbehörde fast reiner Alkohol«, sagte der Erziehungsinspektor. »Natürlich mußte das Zweihundert-Liter-Faß, das man im Keller des Maschinenbaublocks ausgegraben hat, verbrannt werden. Nach den Worten eines der Steuerbeamten hätte man mit dem Fusel Auto fahren könne n.« »Vielleicht hatten sie das damit vor«, sagte Wilt. »In dem Fall«, fuhr der Erziehungsinspektor fort, »wäre es doch kaum nötig gewesen, auf mehrere Flaschen von dem Zeug das Etikett ›Chateau Maschinenbau V.S.O.P.‹ zu kleben.« Der Direktor blickte zur Decke und betete, aber der Erziehungsinspektor war noch nicht fertig. »Hätten Sie etwas dagegen, uns von dem Kursus zu berichten, den Sie über die Selbstversorgung für Nahrungsmittelkundler -58-
eingerichtet haben?« »Ja, also eigentlich heißt er ›Robinson auf dem Lande‹«, sagte Wilt. »Ganz recht, das fragliche Land gehört Lord Portnorton.« »Nie von ihm gehört.« »Er aber von diesem Kursus. Sein Oberwildhüter hat neulich zwei Kochlehrlinge dabei erwischt, wie sie einen Fasan mit einem drei Meter langen Plastikschlauch köpften, durch den sie eine Klaviersaite geschlungen hatten, die sie aus der Abteilung Musik gestohlen hatten, was möglicherweise die Tatsache erklärt, daß in den letzten zwei Schuljahren vierzehn Klaviere mit neuen Saiten versehen werden mußten.« »Großer Gott, und ich dachte, sie wären einfach nur sinnlos kaputtgemacht worden.« »Lord Portnorton befand sich im selben Irrtum bei seinen Gewächshäusern, vier Frühbeeten, einer Johannisbeerschonung...« »Also, dazu kann ich bloß sagen«, ging Wilt dazwischen, »in Gewächshäuser einzubrechen, gehörte nicht zum Lehrplan von ›Robinson auf dem Lande‹. Ich kann Ihnen das hundertprozentig versichern. Auf den Gedanken zu diesem Kursus hat mich meine Frau gebracht, die leidenschaftlich aufs Kompostieren versessen ist...« »Wahrscheinlich haben Sie den nächsten Kursus auch von ihr. Ich habe hier einen Brief von Mrs. Tothingford, in dem sie sich darüber beklagt, daß wir Kurse in ›Karate für Kindermädchen‹ abhalten. Vielleicht würden Sie das bitte erläutern.« »Wir haben einen Kursus, der ›Wie wehrt sich die Kinderschwester erfolgreich gegen eine Vergewaltigung? ‹ heißt. Wir hielten ihn für angebracht angesichts der steigenden Flut von Gewalt.« »Und sehr vernünftig«, sagte Mrs. Chatterway, »ich billige -59-
das von ganzem Herzen.« »Ja, Sie vielleicht«, sagte der Erziehungsinspektor und sah sie kritisch über seine Brille an, »aber Mrs. Tothingford überhaupt nicht. Ihr Brief kommt aus dem Krankenhaus, wo sie wegen eines gebrochenen Schlüsselbeins, eines verrenkten Kehlkopfs und innerer Verletzungen behandelt wurde, die ihr vergangenen Samstagabend von ihrem Kindermädchen beigebracht worden sind. Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß Mrs. Tothingford eine Frauenschänderin ist.« »Sie könnte es aber doch sein«, sagte Wilt. »Haben Sie sie gefragt, ob sie vielleicht lesbisch ist? Man weiß ja, daß...« »Mrs. Tothingford ist zufällig Mutter von fünf Kindern und die Frau von...« Er sah in dem Brief nach. »...drei Männern?« fragte Wilt. »Richter Tothingford, Wilt«, fauchte der Erziehungsinspektor. »Und wenn Sie unterstellen wollen, die Frau eines Richters sei lesbisch, möchte ich Sie daran erinnern, daß es so etwas wie üble Nachrede gibt.« »Es gibt aber auch so etwas wie verheiratete Lesbierinnen«, sagte Wilt. »Ich habe mal eine gekannt. Sie wohnte in unserer...« »Wir sind nicht hier, um über Ihre fatalen Bekannten zu reden.« »Ich dachte, das wollten Sie. Schließlich haben Sie mich hergebeten, um über einen Film zu reden, den ein Lehrer in meiner Abteilung gedreht hat, und wenn ich ihn auch nicht einen Freund nennen würde, irgendwie bekannt mit ihm bin ich...« Er wurde vom Stellvertretenden durch einen Tritt unter dem Tisch zum Schweigen gebracht. »Ist das das Ende der Verletztenliste?« fragte der Direktor hoffnungsvoll. »Ich könnte fast endlos so weitermachen, aber das werde ich -60-
nicht«, sagte der Erziehungsinspektor. »Worauf all das hinausläuft, ist, daß die Abteilung Allgemeinbildung nicht nur ihre vermeintliche Funktion, nämlich in Lehrlingen einmal die Woche den Sinn für soziale Verantwortung zu wecken, nicht erfüllt, sondern im Gegenteil ein antigesellschaftliches Verhalten unterstützt...« »Das ist nicht meine Schuld«, sagte Wilt aufgebracht. »Sie sind aber verantwortlich dafür, wie Ihre Abteilung geführt wird, und insofern der Stadtverwaltung gegenüber haftbar.« Wilt schnaufte. »Die Stadtverwaltung kann mich mal. Wenn ich auch nur das geringste bißchen Autorität besäße, wäre dieser Film nie gemacht worden. Statt dessen habe ich Lehrer auf dem Hals, die ich nicht angestellt habe und nicht feuern kann und von denen die eine Hälfte aus wild gewordenen Revolutionären und Anarchisten besteht und die andere Hälfte nur Ordnung halten könnte, wenn die Schüler in Zwangsjacken steckten. Und Sie erwarten, daß ich für alles, was passiert, verantwortlich bin.« Wilt sah die Ausschußmitglieder an und schüttelte den Kopf. Sogar der Erziehungsinspektor sah ein bißchen betreten aus. »Das Problem ist fraglos sehr schwierig«, sagte Mrs. Chatterway, die zu Wilts Verteidigung umgeschwenkt war, seit sie von dem Vergewaltigungs-Nothilfe-Kursus für Kinderschwestern gehört hatte. »Ich glaube, ich kann für den ganzen Ausschuß sprechen, wenn ich sage, wir haben Verständnis für die Schwierigkeiten, denen Mr. Wilt sich gegenüber sieht.« »Ganz egal, welchen Dingen Mr. Wilt sich gegenüber sieht«, schaltete sich Blighte-Smythe ein, »wir selber werden uns einigen Schwierigkeiten gegenüber sehen, wenn diese Sache jemals rauskommt. Wenn die Presse von der Geschichte Wind bekommt...« Bei dieser Aussicht wurde Mrs. Chatterway bleich, und der -61-
Direktor bedeckte seine Augen. Wilt nahm ihre Reaktionen mit Interesse zur Kenntnis. »Ich weiß nicht«, sagte er heiter, »ich bin doch sehr dafür, Fragen von pädagogischem Belang in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Eltern sollten darüber Bescheid wissen, wie ihre Kinder unterrichtet werden. Ich habe vier Töchter und...« »Wilt«, sagte der Direktor heftig, »der Ausschuß hat sich großzügigerweise darauf geeinigt, daß Sie für diese bekla genswerten Vorfälle nicht in Bausch und Bogen verantwortlich zu machen sind. Ich glaube, wir brauchen Sie nicht weiter aufzuhalten.« Aber Wilt blieb sitzen und nahm seinen Vorteil wahr. »Ich stelle also fest, daß Sie nicht bereit sind, die Aufmerksamkeit der Medien auf diese bedauerliche Angelegenheit zu lenken. Schön, wenn das Ihre Entscheidung ist...« »Hören Sie, Wilt«, knurrte der Erziehungsinspektor, »wenn ein einziges Wort hiervon an die Presse durchsickert oder in irgendeiner öffentlichen Form erörtert wird, sehe ich... also, ich steckte dann nicht sehr gern in Ihrer Haut.« Wilt stand auf. »Mir gefällt’s im Augenblick auch nicht darin«, sagte er. »Sie beordern mich hierher und nehmen mich ins Kreuzverhör über etwas, das ich nicht verhindern kann, weil Sie sich weigern, mir irgendwelche wirkliche Autorität zu übertragen, und wenn ich dann vorschlage, diese skandalöse Lage zu einer öffentlichen Frage zu machen, fangen Sie an, mir zu drohen. Ich habe fast Lust, mich bei der Gewerkschaft zu beschweren.« Und nach dieser fürchterlichen Drohung steuerte er auf die Tür los. »Wilt«, schnauzte der Direktor, »wir sind noch nicht fertig.« »Ich auch nicht«, sagte Wilt und öffnete die Tür. »Ich finde diesen ganzen Versuch, eine Angelegenheit ernsten öffentlichen Interesses vertuschen zu wollen, außerordentlich schändlich. Ja, das finde ich wirklich.« -62-
»Jesusmaria«, sagte Mrs. Chatterway, womit sie ganz gegen ihre Gewohnheit nach göttlicher Führung rief, »Sie glauben doch nicht etwa, daß er das meint, oder?« »Ich habe den Versuch schon lange aufgegeben, mir zu denken, was Wilt meint«, sagte der Direktor kleinlaut. »Ganz sicher weiß ich bloß, daß ich beim Himmel wollte, wir hätten ihn nie eingestellt.« »Damit würdest du doch, was dein Fortkommen betrifft, Selbstmord begehen«, sagte Peter Braintree zu Wilt, als sie später am Abend im »Glasbläserwappen« vor ihren Halben saßen. »Ich fühl' mich, als beginge ich wirklich Selbstmord«, sagte Wilt und schenkte der Schweinefleischpastete keine Beachtung, die Braintree ihm eben bestellt hatte. »Und es hat keinen Zweck zu versuchen, mich mit Schweinefleischpasteten zu ködern.« »Du mußt doch irgend etwas essen. In deiner Situation ist das lebenswichtig.« »In meiner Situation ist gar nichts lebenswichtig. Auf der einen Seite bin ich gezwungen, für Irre wie Bilger, die eine Scheiß Revolution wollen, Kämpfe mit dem Direktor, dem Erziehungsinspektor und seinem widerlichen Ausschuß auszufechten, und auf der anderen muß Eva, nachdem ich Jahre erfolgreich damit zugebracht habe, meine Raubtiergelüste nach Chefsekretärinnen, nach Miss Trott und der einen oder anderen Kinderschwester zu unterdrücken, mir ausgerechnet die phantastischste, die hinreißendste Frau ins Haus bringen, die sie finden kann. Du wirst mir vielleicht nicht glauben... erinnerst du dich an den Sommer mit den Schwedinnen?« »Die du in ›Söhne und Liebhaber‹ unterrichten mußtest?« »Ja«, sagte Wilt, »vier Wochen D. H. Lawrence und dreißig appetitliche Schwedenmädels. Na, wenn das keine Lusttaufe war, weiß ich nicht, was sonst. Aber ich kam unversehrt durch. Jeden Abend ging ich unberührt zu Eva heim. Wäre der -63-
Geschlechterkrieg offen erklärt gewesen, ich hatte den Orden der Ehelegion für ›Keuschheit über das Pflichtgebot hinaus‹ erhalten.« »Jaja, wir mußten halt alle mal durch diese Phase durch«, sagte Braintree. »Und was bitte meinst du genau mit ›diese Phase‹?« fragte Wilt steif. »Mit den süßen Körperchen, den Brüsten, den Hinterteilen und den schnell mal so erhaschten Blicken auf einen Schenkel. Ich kann mich noch an einmal erinnern, da...« »Ich möchte deine ekelhaften Phantasien lieber nicht hören« , sagte Wilt. »Ein andermal vielleicht. Mit Irmgard ist das ganz was anderes. Ich spreche nicht vom bloß Körperlichen. Wir stimmen geistig überein.« »Großer Gott, Henry...«, sagte Braintree verdutzt. »Genau. Wann hast du mich dieses furchterregende Wort schon mal sagen hören?« »Noch nie.« »Aber du hörst es jetzt. Und wenn das nicht die entsetzliche Lage illustriert, in der ich mich befinde, dann ist dazu überhaupt nichts in der Lage.« »Doch, doch«, sagte Braintree, »du bist...« »Verliebt«, sagte Wilt. »Ich wollte sagen: nicht ganz bei Tröste.« »Das läuft aufs selbe raus. Ich sitze in der Fickmühle. Ich benutze absichtlich dieses Wort, obwohl, um ganz ehrlich zu sein, es damit nichts zu tun hat. Ich bin mit einer ungeheuerlichen, irrsinnigen und im Grunde unsensiblen Frau verheiratet...« »... die dich nicht versteht. Das haben wir alles schon mal gehört.« -64-
»Die mich sehr wohl versteht. Aber du kapierst mich nicht«, sagte Wilt und trank erbost ein paar Schlucke Bier. »Henry, dir hat doch jemand was in deinen Tee getan«, sagte Braintree. »Ja, und wir wissen alle, wer. Mrs. Crippen.« »Mrs. Crippen? Wovon zum Kuckuck redest du denn jetzt?« »Hast du dir mal überlegt«, sagte Wilt und schob die Schweinefleischpastete geflissentlich über die Theke zurück, »was passiert wäre, wenn Mrs. Crippen, statt kinderlos zu sein und ihren Mann zu tyrannisieren und überhaupt im Weg zu stehen, Vierlinge gehabt hätte? Ich sehe schon, hast du nicht. Na ja, ich aber. Seit ich damals den Kursus über ›Orwell und die Kunst des Mordens in England ‹ abgehalten habe, befasse ich mich eingehend mit diesem Thema, wenn ich nach der Schule zu einem alternativen Abendbrot nach Hause gehe, das aus roher Sojawurst und selbstgezüchtetem Sauerampfer besteht, den man mit Löwenzahnkaffee runterspüle n muß. Und ich bin da zu gewissen Schlüssen gelangt.« »Henry, das grenzt doch an Paranoia«, sagte Braintree finster. »Ach ja? Dann beantworte mir meine Frage. Wenn Mrs. Crippen Vierlinge gehabt hätte, wer wäre dann im Keller unterm Estrich gelandet? Dr. Crippen persönlich. Nein, unterbrich mich nicht. Du bist dir über die Veränderung nicht im klaren, die die Mutterschaft bei Eva bewirkt hat. Ich aber. Ich wohne in einem übergroßen Haus zusammen mit einer übergroßen Mutter und vier Töchtern, und ich kann dir sagen, daß ich einen Einblick ins Weibliche von jener Gattung genossen habe, die glücklicheren Männern versagt bleibt, und ich merke, wann ich nicht erwünscht bin.« »Was zum Teufel willst du denn jetzt schon wieder damit sagen?« »Nochmal zwei Halbe«, sagte Wilt zum Barmann, »und stellen Sie doch bitte die Pastete wieder in ihren Käfig.« -65-
»Nun hör doch mal zu, Henry, du läßt deine Phantasie doch mit dir durchgehen«, sagte Braintree. »Du willst mir damit doch nicht im Ernst einreden wollen, Eva hätte vor, dic h zu vergiften.« »Ganz so weit möchte ich nicht gehen«, sagte Wilt, »obwohl mir der Gedanke durch den Kopf ging, als sich Eva auf die alternative Pilzkultur warf. Ich habe das aber sehr bald abgewürgt, indem ich Samantha zuerst von diesen Dingern kosten ließ. Ich bin vielleicht überflüssig, aber die Vierlinge sind’s bestimmt nicht. Jedenfalls nicht nach Evas Auffassung. Sie sieht ihre Brut als zukünftige Genies. Samantha ist Einstein, Penelopes Filzstiftschöpfungen auf der Wohnzimmertapete deuten darauf hin, daß sie ein weiblicher Michelangelo ist, Josephine braucht bei ihrem Namen ja kaum eine Empfehlung. Muß ich noch weiterreden?« Braintree schüttelte den Kopf. »Na schön«, fuhr Wilt fort und griff verdrossen nach dem neuen Bier. »Als Mann habe ich meine biologische Funktion erfüllt, und gerade, als ich mich vergleichsweise glücklich im frühzeitigen Greisenzustand zur Ruhe setzen wollte, bringt uns Eva mit unfehlbarer Einfühlungsgabe, die ich, möchte ich vielleicht noch hinzufügen, nie vermutet hätte, eine Frau unter unser Dach, die alle diese bemerkenswerten Eigenschaften besitzt: Intelligenz, Schönheit, geistige Sensibilität und ein Leuchten... ich kann nur sagen, Irmgard ist der Inbegriff der Frau, die ich hätte heiraten sollen.« »Aber nicht hast«, sagte Braintree, der wieder aus seinem Bierkrug auftauchte, wo er vor Wilts haarsträubender Litanei Zuflucht genommen hatte. »Du bist nun mal mit Eva beladen und...« »Beladen ist richtig«, sagte Wilt. »Wenn Eva ins Bett kommt... ich werde dich mit den dreckigen Einzelheiten verschonen. Es reicht ja, wenn ich sage, daß sie zweimal so -66-
schwer ist wie ich.« Er versank wieder in Schweigen und trank sein Bier aus. »Ganz egal, ich sag dir trotzdem, du würdest einen Riesenfehler machen, wenn du weiter so miese Reklame für die Schule machst«, sagte Braintree, um das peinliche Thema zu wechseln. »Keine schlafenden Hunde wecken, ist mein Wahlspruch.« »Meiner auch, wenn die Leute bloß nicht mit Krokodilen im Film pennen wollten«, sagte Wilt. »So wie die Dinge liegen, besitzt dieser Mistkerl Bilger die Frechheit, mir zu sagen, ich wär' ein abweichlerisches Schwein und ein Lakai des kapitalistischen Faschismus... bitte, ich möchte noch 'n Halben..., und die ganze Zeit nehme ich das Luder in Schutz. Ich hätte fast Lust, die ganze verdammte Sache an die große Glocke zu hängen. Aber nur fast, denn Toxted und seine Mörderbande von der Nationalen Front warten doch bloß auf eine Gelegenheit, sich in den Kampf zu stürzen, aber ich werde mich nicht zu ihrem Helden aufschwingen, vielen herzlichen Dank.« »Ich habe unseren Mini- Hitler heute morgen gesehen, wie er in der Kantine ein Plakat angepinnt hat«, sagte Braintree. »Ach, wirklich? Wofür tritt er denn diesmal ein? Kulis zu kastrieren oder die Streckfolter wieder einzuführen?« »Hat irgend was mit Zionismus zu tun«, sagte Braintree. »Ich hätte das Ding ja wieder abgerissen, wenn er nicht seine Beduinenleibwache bei sich gehabt hätte. Er fährt ja jetzt total auf Araber ab.« »Phantastisch«, sagte Wilt, »absolut phantastisch. Genau das mag ich ja so an diesen Irren von Rechts- und Linksaußen, sie sind so verdammt inkonsequent. Nimm zum Beispiel diesen Bilger, der seine Kinder in eine Privatschule schickt und in einem verflucht großen Haus wohnt, das ihm sein Vater gekauft hat, und der zieht in der Gegend rum und macht sich vom Volant seines Porsche aus, der sechstausend Pfund gekostet -67-
haben muß, wenn er überhaupt einen Penny dafür bezahlt hat, für die Weltrevolution stark und nennt mich ein Faschistenschwein. Ich erhole mich gerade von einem Zusammenstoß mit Toxted, der ja nun ein Erzfaschist ist und in einem Gemeindehaus wohnt und alle, die Probleme mit ihrer Hautfarbe haben, nach Islamabad zurückschicken will, auch wenn sie in Wirklichkeit in Clapham zur Welt gekommen sind und England seitdem nicht mehr verlassen haben, und mit wem tut der sich zusammen? Mit einem Rudel verdammter Scheichs mit mehr Öldollars unter ihren Burnussen als er jemals warme Mittagessen gesehen hat, mit Leuten, die nicht mehr als drei Worte Englisch können und halb Mayfair aufgekauft haben. Dazu kommt, daß sie Semiten sind, und er ist so ein Antisemit, daß Eichmann neben ihm wie ein Freund Israels wirkt, und dann erzähl mir mal, wie sein Scheiß Gehirn tickt. Ich will verflucht sein, wenn ich das weiß. Es reicht, um einen Menschen mit Verstand zum Saufen zu bringen.« Wie um dieser Bemerkung Nachdruck zu verleihen, bestellt er nochmal zwei Halbe. »Du hattest doch schon sechs«, sagte Braintree unsicher. »Eva macht dir die Hölle heiß, wenn du nach Hause kommst.« »Eva macht mir sowieso die Hölle heiß, Punktum«, sagte Wilt. »Wenn ich bedenk', wie ich mein Leben hingebracht...« »Ja schön, aber sei so lieb und laß das«, sagte Braintree, »nichts ist schlimmer als ein elegischer Besoffener.« »Ich habe bloß den ersten Vers aus Robert Bridges' ›Testament der Schönheit‹ zitiert«, sagte Wilt, »aber 's spielt ja keine Rolle. Und ich bin vielleicht elegisch, aber nicht elegisch besoffen. Ich bin bloß total am Arsch. Wenn du so einen Tag hinter dir hättest wie ich und mit der Aussicht konfrontiert wärst, mit einer ekelhaft gelaunten Eva ins Bett zu müssen, würdest du auch Vergessen im Bier suchen. Dazu kommt das Wissen, daß drei Meter über meinem Kopf, getrennt bloß durch -68-
eine Zimmerdecke, einen Holzfußboden und irgendwelche Binsenteppiche, das schönste, intelligenteste, herzlichste, gefühlvollste Geschöpf auf der Welt in seinem Bettchen liegt...« »Wenn du nochmal das Wort Muse benutzt, Henry...«, sagte Braintree drohend. »Hab' ich gar nicht vor«, sagte Wilt. »Deine Ohren, die sind mir zu banausenhaft dafür. Wenn ich mich nicht täusche, reimt sich das beinahe. Ist dir schon mal aufgefallen, daß Englisch eine Sprache ist, die sich für Dichtung, die sich reimt, ganz natürlich eignet?« Wilt ließ sich ausgiebig über dieses angenehmere Thema aus und trank noch zwei Biere. Als sie aus dem »Glasbläserwappen« kamen, war Braintree zu betrunken, um nach Hause zu fahren. »Ich laß den Wagen hier stehen und hol ihn morgen früh«, sagte er zu Wilt, der sich an einem Telegrafenmast festhielt, »und an deiner Stelle riefe ich mir ein Taxi. Du kannst ja nicht mal mehr gehen.« »Ich werde mich mit Mutter Natur unterhalten«, sagte Wilt. »Ich denke nicht daran, die Zeit zwischen jetzt und der Wirklichkeit zu vertun. Mit ein bißchen Glück schläft sie schon, wenn ich nach Hause komme.« Und er schwankte in Richtung Willington Road davon und blieb nur gelegentlich stehen, um sich gegen einen Torpfosten zu lehnen, und zweimal, um in den Vorgarten von jemandem zu pinkeln. Beim zweiten Mal hielt er einen Rosenbusch irrtümlicherweise für eine Hortensie und holte sich einen ziemlich bösen Kratzer, und er saß gerade auf dem Rasenstreifen und versuchte, sein Taschentuch als Aderklemme zu benutzen, als ein Polizeiwagen neben ihm hielt. Wilt blinzelte in die Taschenlampe, die ihm ins Gesicht leuchtete, bevor sie zu dem blutverschmierten Taschentuch hinunterwanderte. »Alles in Ordnung?« fragte die Stimme hinter der Taschenlampe, etwas zu freundlich für Wilts Geschmack. -69-
»Sieht das so aus?« fragte er gereizt. »Sie sehen einen Menschen auf dem Bordstein sitzen und sein Taschentuch um die Reste seiner einstmals stolzen Männlichkeit knoten, und da stellen Sie mir so eine scheißdämliche Frage?« »Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Sir, würde ich an Ihrer Stelle den beleidigenden Ton abstellen«, sagt e der Polizist. »Es gibt ein Gesetz, das ihn auf öffentlichen Straßen verbietet.« »Es sollte ein Gesetz geben, das das Anpflanzen von verdammten Rosenbüschen gleich neben dem Scheiß Bürgersteig verbietet«, sagte Wilt. »Und darf man fragen, was Sie mit der Rose gemacht haben, Sir?« »Man darf«, sagte Wilt, »wenn man sich’s verdammt nochmal nicht selber in seinem Scheiß Gehirn zusammenreimen kann, darf man wirklich.« »Was dagegen, es mir zu erzählen?« sagte der Polizist und holte sein Notizbuch raus. Wilt erzä hlte es ihm mit einer Detailfülle und einem Redefluß, daß in mehreren Häusern der Straße das Licht anging. Zehn Minuten später wurde er aus dem Polizeiwagen ins Revier verfrachtet. »Betrunken und aufsässig, führt beleidigende Reden, stört die Ruhe der Nacht...« Wilt unterbrach. »Scheiß Ruhe der Nacht am Arsch«, schrie er. »Das war keine ›Ruhe der Nacht‹ . Wir haben eine ›Ruhe der Nacht‹ in unserem Vorgarten, und die hat keine ellenlangen Dornen. Und sowieso habe ich sie nicht gestört. Sie müssen es mal auf eine teilweise Entmannung an leuchtendroten Floribundae ankommen lassen, um rauszufinden, wer wen stört. Ich habe nichts anderes getan, als mich in aller Ruhe erleichtert, oder um es einfach auszudrücken, mein Wasser abgeschlagen, als dieses teuflische Dickicht aus kletternden Katzenkrallen es sich in seinen Pflanzenkopf setzte, zurückzuschlagen, und wenn Sie mir nicht glauben, fahren Sie doch zurück und probieren Sie’s selber...« -70-
»Bringen Sie ihn runter zu den Zellen«, sagte der wachhabende Sergeant, der verhindern wollte, daß Wilt eine ältere Frau um den Verstand redete, die bloß gekommen war, um den Verlust ihres Pekinesen zu melden. Aber ehe die zwei Wachtmeister Wilt zu seiner Zelle schleppen konnten, wurden sie durch einen Schrei aus Inspektor Flints Büro unterbrochen. Der Inspektor war durch die Verhaftung eines lange gesuchten Einbrechers ins Revier zurückgerufen worden und vernahm ihn gerader voller Freuden, als ihn der Klang einer altvertrauten Stimme erreichte. Er kam aus seinem Büro gestürmt und starrte Wilt leichenblaß an. »Was zum Teufel macht der denn hier?« fragte er. »Ja, Sir...«, setzte einer der Polizisten an, aber Wilt riß sich los. »Nach Meinung Ihrer Muskelhelden hier habe ich versucht, einen Rosenbusch zu vergewaltigen, nach meiner Auffa ssung habe ich in aller Ruhe gepinkelt...« »Wilt«, schrie der Inspektor, »wenn Sie hier hergekommen sind, um mir wieder das Leben sauer zu machen, vergessen Sie’s. Und ihr beiden, seht euch diesen Mistkerl genau an, sehr genau und lange, und bevor ihr ihn nicht dabei erwischt, wie er gerade jemanden ermorden will, oder besser noch, wartet solange, bis ihr gesehen habt, daß er’s getan hat, sonst aber laßt die Finger von dem Kerl. Und jetzt raus hier.« »Aber, Sir...« »Ich habe raus gesagt«, schrie Flint, »und ich habe raus gemeint. Was Sie eben hier reingeschafft haben, ist ein menschliches Virus, das ansteckenden Irrsinn verbreitet. Schaffen Sie ihn hier raus, ehe er das Revier in ein Irrenhaus verwandelt.« »Na, wie finde ich denn das?« protestierte Wilt. »Ich werde hier auf eine erfundene Anschuldigung hin reingeschleppt...« Er wurde wieder rausgeschleppt, und Flint ging zurück in sein -71-
Büro, saß gedankenverloren da und dachte über Wilt nach. Bilder von dieser verdammten Puppe verfolgten ihn immer noch, und nie würde er die Stunden vergessen, die er mit der Vernehmung dieses kleinen Stinktiers zugebracht hatte. Und Mrs. Eva Wilt, deren Leiche er unter dreißig Tonnen Beton vermutet hatte, während das verdammte Weibsbild die ganze Zeit auf einem Kajütboot den Fluß runterschipperte. Die Wilts hatten ihn beide wie einen Idioten dastehen lassen, und in der Kantine wurden immer noch Witze über aufblasbare Puppen gerissen. Aber eines schönen Tages würde er seine Rache bekommen. Ja, eines schönen Tages... Er wandte sich mit neuem Erfolgsgefühl dem Einbrecher zu. Auf der Türschwelle seines Hauses in der Willington Road saß Wilt, starrte zu den Wolken hoch und sann über das Leben und die Liebe und die so unterschiedlichen Eindrücke nach, die er bei Leuten hinterließ. Wie hatte ihn Flint genannt? Ein ansteckendes Virus... ein menschliches Virus, das ansteckenden... Das Wort rief Wilt seine eigene Verletzung in Erinnerung. »Müßte vielleicht 'ne Tetanus oder sowas kriegen«, murmelte er und kramte in seiner Tasche nach dem Haus schlüssel. Zehn Minuten später, noch immer in seiner Jacke, aber ohne Hose und Unterhose, ließ Wilt seine Männlichkeit in einem Zahnputzbecher mit warmem Wasser und Dettol weichen, als Eva reinkam. »Weißt du auch nur in etwa, wie spät es ist? Es ist...« Sie stockte und starrte voller Entsetzen auf den Zahnputzbecher. »Drei Uhr«, sagte Wilt, der die Unterhaltung auf weniger strittige Themen zurückzulenken versuchte, aber Evas Interesse an der Uhrzeit war geschwunden. »Was um alles in der Welt machst du denn damit«, keuchte sie. Wilt sah runter auf den Zahnputzbecher. »Ach ja, wo du grade drauf zu sprechen kommst, aber allem -72-
Anschiß... Anschein zum Trotz bin ich nicht... also, ich bin im Augenblick dabei, mich zu desinfizieren. Verstehst du...« »Dich zu desinfizieren?« »Ja... also«, sagte Wilt, dem klar war, daß seine Auskunft was Zweideutiges an sich hatte, »die Sache ist die...« »In meinem Zahnputzbecher«, schrie Eva. »Du stehst da, hast dein Dingsbums in meinem Zahnputzbecher und gibst zu, daß du dich desinfizierst? Und wer war die Frau, oder hast du dir nicht die Mühe gemacht, sie nach ihrem Namen zu fragen?« »Es war keine Frau. Es war...« »Erzähl’s mir nicht. Ich will's gar nicht wissen. Mavis hatte recht mit ihrer Meinung über dich. Sie sagte, du gingest nicht gleich nach Hause. Sie sagte, du verbrächtest deine Abende mit irgendeiner anderen Frau.« »Es war keine andere Frau. Es war...« »Lüg mich nicht an. Wenn man sich vorstellt, daß du nach all den Jahren, die wir verheiratet sind, dich zu Huren und Dirnen schleichen mußt...« »Es waren keine Huren und Dirnen«, sagte Wilt, »eher Heere von Dornen...« »Nur zu, versuche bloß, dich rauszuwinden...« »Ich winde mich aus gar nichts raus. Ich bin an einem Rosenbusch hängengeblieben...« »Ach, so nennen sie sich heutzutage? Rosenbüsche?« Eva unterbrach sich und starrte Wilt mit neuem Entsetzen an. »Soweit ich weiß, haben sie schon immer Rosenbüsche geheißen«, sagte Wilt, sich nicht bewußt, daß Evas Argwohn an einem neuen Tiefpunkt angelangt war. »Ich verstehe nicht, wie man sie sonst nennen sollte.« »Schwule? Tunten? Wie wär's denn damit?« »Was?« schrie Wilt, aber Eva war nicht zu bremsen. -73-
»Ich wußte ja schon immer, daß mit dir was nicht stimmt, Henry Wilt«, kreischte sie, »und jetzt weiß ich auch, was. Und wenn ich denke, daß du von da kommst und meinen Zahnputzbecher benutzt, um dich zu desinfizieren. Wie tief willst du eigentlich noch sinken?« »Hör mal zu«, sagte Wilt, dem plötzlich zu Bewußtsein kam, daß seine Muse Evas erschreckende Unterstellungen mithören könnte, »ich kann beweisen, daß es ein Rosenbusch war. Sieh ihn dir an, wenn du mir nicht glaubst.« Aber Eva wartete nicht. »Denk bloß nicht, du könntest noch eine Nacht in meinem Haus verbringen«, schrie sie aus dem Korridor, »nie wieder! Du kannst zu deinem Jüngelchen gehen und...« »Jetzt hab ich aber bald genug von dir«, schrie Wilt, der gleich hinter ihr an der Tür erschien. Er wurde urplötzlich zum Schweigen gebracht, als er Penelope mit weit aufgerissenen Augen im Korridor stehen sah. »O Schiet«, sagte Wilt und verzog sich wieder ins Bad. Er hörte Penelope draußen schluchzen und Eva hysterisch so tun, als beruhige sie sie. Eine Schlafzimmertür ging auf und wieder zu. Wilt saß auf dem Badewannenrand und fluchte. Dann leerte er den Zahnputzbecher ins Klo, trocknete sich zerstreut mit einem Handtuch ab und nahm sich ein Stück Elastoplast. Zum Schluß drückte er Zahnpasta auf die elektrische Zahnbürste und putzte sich gerade eifrig die Zähne, als die Schlafzimmertür wieder aufging und Eva rausgefegt kam. »Henry Wilt, wenn du die Zahnbürste dazu nimmst, um dir...« »Ein für allemal«, schrie Wilt, den Mund voller Schaum, »ich bin krank und habe deine gemeinen Unterstellungen satt. Ich habe einen langen und ermüdenden Tag hinter mir und...« »Das glaub' ich gerne«, keifte Eva hinter der Tür. »Zu deiner Information, ich putze mir schlicht und einfach meine Zähne, ehe ich ins Bett gehe, und wenn du meinst, ich -74-
täte sonst noch was...« Er wurde von der Zahnbürste unterbrochen, deren oberes Ende absprang und ins Waschbecken fiel. »Was machst du denn jetzt schon wieder?« fragte Eva. »Ich versuche, die Bürste aus dem Loch zu holen«, sagte Wilt, eine Erklärung, die zu weiteren Beschuldigungen, einem kurzen ungleichen Zusammenstoß auf dem Treppenabsatz und schließlich dazu führte, daß ein mürrischer Wilt mit einem Schlafsack durch die Küchentür ins Freie geschoben wurde und gesagt bekam, er solle gefälligst den Rest der Nacht im Sommerhäuschen verbringen. »Ich will nicht, daß du die Puppileins versaust«, schrie Eva durch die Tür, »und morgen geh' ich zum Rechtsanwalt.« »Als wenn mir das verflucht nochmal was ausmachte«, schrie Wilt zurück und schwankte durch den Garten zum Sommerhäuschen. Eine Weile stolperte er in der Finsternis herum und versuchte, den Reißverschluß am Schlafsack zu finden. Anscheinend hatte er keinen. Wilt setzte sich auf den Boden, steckte seine Füße in das Ding und war gerade dabei, sich hineinzuschlängeln, als ihn ein Geräusch hinter dem Häuschen erschrocken innehalten ließ. Jemand schlich sich vom jenseits gelegenen Feld her durch den Garten. Wilt saß mucksmäuschenstill im Dunkeln und horchte. Es konnte keinen Zweifel geben. Etwas raschelte im Gras, und ein Zweig knackte. Wieder Stille. Wilt lugte über die Fensterbank, und gerade, als er das tat, ging im Haus das Licht aus. Eva war wieder ins Bett gegangen. Das Geräusch von jemandem, der vorsichtig durch den Garten schlich, war von neuem zu hören. Im Sommerhäuschen trieb Wilts Phantasie mit Einbrechern ihr Spiel, und was er täte, wenn jemand versuchen sollte, ins Haus einzubrechen, als er dicht vor dem Fenster draußen eine dunkle Gestalt sah, zu der eine zweite trat. Wilt duckte sich noch tiefer und verfluchte Eva, daß sie ihn ohne Hose rausgeschickt hatte und... -75-
Aber einen Augenblick später waren seine Befürchtungen verflogen. Die beiden Gestalten spazierten keck über die Wiese, und eine von ihnen hatte deutsch gesprochen. Es war Irmgards Stimme, die er hörte und die ihn beruhigte. Und als die beiden Gestalten um die Hausseite verschwanden, kroch Wilt tiefer in den Schlafsack hinein mit dem vergleichsweise tröstlichen Gedanken, daß wenigstens seine Muse von diesem Einblick ins englische Familienleben verschont geblieben war, den Evas Beschuldigungen eröffnet hatten. Andererseits, was hatte Irmgard zu dieser nachtschlafenden Zeit hier draußen zu tun, und wer war die andere Gestalt? Eine Woge von Eifersucht, vermischt mit Selbstmitleid, schlug über Wilt zusammen, ehe sie von praktischeren Überlegungen verdrängt wurde. Der Fußboden im Sommerhaus war hart, er hatte kein Kissen, und die Nacht war plötzlich empfindlich kalt geworden. Verdammt sollte er sein, wenn er den Rest der Nacht draußen verbrachte. Und auf jeden Fall hatte er die Haustürschlüssel noch in seiner Jackentasche. Wilt schlüpfte aus dem Schlafsack und tastete nach den Schuhen. Dann trottete er über die Wiese und ums Haus herum zur Vordertür, während er den Schlafsack hinter sich her schleifte. Als er drin war, zog er die Schuhe aus, ging durch die Diele ins Wohnzimmer und war zehn Minuten später auf dem Sofa fest eingeschlafen. Als er aufwachte, knallte Eva mit irgendwelchen Sachen in der Küche rum, während die Vierlinge, offenbar um den Frühstückstisch versammelt, die Ereignisse der Nacht diskutierten. Wilt starrte auf die Vorhänge und lauschte den gedämpften Fragen seiner Töchter und Evas ausweichenden Antworten. Wie üblich garnierte sie unverblümte Lügen mit süßlicher Sentimentalität. »Eurem Vater ging’s letzte Nacht nicht besonders gut, Liebling«, hörte er sie sagen, »er hatte Magenpieksen im Bäuchlein, und wenn er sowas hat, sagt er Sachen... Ja, ich weiß, Mamsi hat auch Sachen gesagt, Hennypenny. Ich war... Was -76-
hast du gesagt, Samantha?... Das hab' ich gesagt?... Na, er kann es nicht im Zahnputzbecher gehabt haben, weil Bäuchlein in sowas Kleines gar nicht reinpassen... Bäuchlein, Liebling... Man kann Magenpieksen nicht ir gendwoanders haben... Wo hast du dieses Wort her, Samantha?... Nein, das hatte er nicht, und wenn ihr zur Spielgruppe geht und Miss Oates erzählt, daß Pappi seinen...« Wilt vergrub den Kopf unter den Kissen, um die Unterhaltung auszusperren. Das verdammte Weib tat’s einfach immer wieder, log wie gedruckt vier gräßliche Gören an, die die meiste Zeit nichts anderes taten, als zu versuchen, sich gegenseitig hinters Licht zu führen, so daß sie eine Lüge aus einem Kilometer Entfernung riechen konnten. Und immer wieder auf Miss Oates zurückzukommen, führte doch zu nichts anderem, als daß sie wetteifern würden, wer die erste wär, der alten Schraube und den fünfundzwanzig anderen Hosenscheißern zu erzählen, daß Pappi die Nacht mit seinem Penis im Zahnputzbecher verbracht hatte. Wenn die Geschichte erstmal in der Nachbarschaft rum wäre, wüßte jeder, daß dieser berüchtigte Mr. Wilt sowas ähnliches wie ein Zahnputzbecherfetischist sei. Er verfluchte Eva gerade wegen ihrer Dusseligkeit und sich selbst, weil er zuviel Bier getrunken hatte, als die Folgen von zuviel Bier sich bemerkbar machten. Er mußte mal, und zwar dringend. Wilt stieg aus dem Schlafsack. In der Diele hörte er Eva die Vierlinge eilig in ihre Mäntel stecken. Er wartete, bis sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte, dann humpelte er durch die Diele zur Toilette. Erst da wurde das volle Ausmaß seines Zustands offenbar. Wilt starrte auf ein großes und äußerst fest haftendes Stück Heftpflaster hinunter. »Verdammt«, sagte Wilt, »ich muß betrunkener gewesen sein, als ich dachte. Wann zum Teufel habe ich mir das denn draufgemacht?« In seiner Erinnerung klaffte eine Lücke. Er setzte sich auf die Toilette und überlegte, wie um alles auf der Welt er das verfluchte Ding wieder runter bekäme, ohne sich -77-
noch schlimmer zu verletzen. Von früheren Erfahrungen mit Heftpflaster wußte er, die beste Methode war, das Zeug mit einem schnellen Ruck abzureißen. Aber jetzt schien das nicht ratsam. »Da geht am Ende das ganze Scheißding auf einmal ab«, murmelte er. Das Sicherste wäre, wenn er eine Schere fände. Wilt kam vorsichtig aus der Toilette hervor und peilte über das Treppengeländer. Solange er bloß nicht Irmgard über den Weg liefe, wenn sie aus der Wohnung in der Mansarde runterkäme. Wenn er die Uhrzeit bedachte, zu der sie nach Hause gekommen war, war das äußerst unwahrscheinlich. Sie lag wohl noch mit irgendeinem widerlichen Freund im Bett. Wilt ging nach oben ins Schlafzimmer. Eva hatte in der Frisierkommode sowas wie eine Nagelschere. Er fand sie und saß auf der Bettkante, als Eva zurückkam. Sie kam die Treppe rauf, zögerte einen Augenblick auf dem Treppenabsatz und trat dann ins Schlafzimmer. »Ich dachte mir, daß ich dich hier finde«, sagte sie und ging durch das Zimmer zu den Vorhängen hinüber. »Ich wußte, daß du dich in dem Moment, wo ich mal den Rücken drehe, ins Haus schleichen würdest. Also, glaub' bloß nicht, du könntest dich aus dieser Sache wieder rauswinden, denn das kannst du nicht. Mein Verstand sagt mir...« »Dein was?« sagte Wilt. »Nur zu, beleidige mich«, sagte Eva, zog die Vorhänge auf und ließ das Sonnenlicht ins Zimmer fluten. »Ich beleidige dich nicht«, knurrte Wilt, »ich stelle dir bloß eine Frage. Denn ich krieg’s doch einfach nicht in deinen leeren Schädel, daß ich kein tobender Arschbandit bin...« »Deine Sprache, deine Sprache«, sagte Eva. »Ja, meine Sprache. Sie ist ein Verständigungsmittel, nicht bloß eine Reihe von Muhs, Mähs und Bähs, als die du sie gebrauchst.« Aber Eva hörte schon nicht mehr hin. Ihre Aufmerksamkeit -78-
war von der Schere in Anspruch genommen. »So ist es recht. Schneid' das gräßliche Ding doch ab«, quietschte sie und brach im selben Augenblick in Tränen aus. »Wenn ich mir überlege, daß du dahin gehen mußtest und...« »Halt den Mund«, schrie Wilt. »Ich schwebe in unmittelbarer Gefahr zu platzen, und du mußt anfangen zu heulen wie die Todesfee. Wenn du letzte Nacht deinen verdammten Kopf statt deiner verdrehten Phantasie benutzt hättest, säße ich jetzt nicht in der Patsche«. »Ich welcher Patsche denn?« fragte Eva zwischen Schluchzern. »In dieser«, schrie Wilt und wedelte mit seinem gemarterten Organ. Eva besah es sich neugierig. »Warum hast du denn das gemacht?« fragte sie. »Damit das verfluchte Ding nicht mehr blutete. Ich habe dir immer wieder gesagt, daß ich damit an einem Rosenbusch hängengeblieben bin, aber du mußtest ja auf völlig idiotische Schlußfolgerungen verfallen. Jetzt krieg ich das Scheiß Pflaster nicht ab, und dahinter sind fünf Liter Bier aufgestaut.« »Das mit dem Rosenbusch hast du also wirklich so gemeint?« »Ja, natürlich. Mein ganzes Leben sage ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, aber kein Mensch glaubt mir. Das letzte Mal habe ich an einen Rosenbusch gepinkelt und mich an dem Mistding verhakt. Das ist die simple Wahrheit, ungeschminkt, ungeschönt und unumwunden.« »Und du willst das Heftpflaster abhaben?« »Was zum Kuckuck habe ich denn die letzten fünf Minuten sonst gesagt? Ich will's nicht nur abhaben, ich muß es unbedingt abhaben, bevor ich platze.« »Das ist ganz einfach«, sagte Eva, »da muß man bloß...« Fünfundzwanzig Minuten später humpelte Wilt durch den -79-
Eingang der Unfallstation im Ipforder Krankenhaus, bleich, gequält und schrecklich verlegen. Er trat an den Schreibtisch und sah in die mitleidlosen und offensichtlich auch phantasielosen Augen der Aufnahmeschwester. »Ich möchte zu einem Arzt«, sagte er mit einiger Mühe. »Haben Sie sich etwas gebrochen?« fragte die Frau. »Gewissermaßen«, sagte Wilt, dem klar war, daß seine Unterhaltung von einem Dutzend anderer Patienten mit sichtbaren, aber weniger schmerzhaften Verletzungen mitgehört wurde. »Was meinen Sie mit ›gewissermaßen‹?« Wilt faßte die Frau ins Auge und versuchte, ihr wortlos beizubiegen, daß er sich in einer Lage befinde, die Diskretion erfordere. Die Frau war ohne Frage kreuzdämlich. »Wenn es sich um keinen Bruch, Stich oder Biß handelt, der augenblickliche Behandlung erfordert, oder um einen Fall von Vergiftung, sollten Sie Ihren Hausarzt zu Rate ziehen.« Wilt besah sich diese Möglichkeiten und beschloß, daß ›Biß, der augenblickliche Behandlung erfordert‹ der Sache entspräche. »Biß«, sagte er. »Wo?« fragte die Frau und griff zu einem Kugelschreiber und einem Block Formulare. »Tja...«, sagte Wilt noch gedämpfter als vorher. Die Hälfte der Patienten schien ihre Frauen oder Mütter mitgebracht zu haben. »Ich fragte, wo«, sagte die Frau ungeduldig. »Ich weiß, daß Sie das gefragt haben«, flüsterte Wilt. »Die Sache ist die...« »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, nicht wahr.« »Das kann ich mir denken«, sagte Wilt, »es ist nur, daß... also, ich... Sehen Sie, würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich die Sache einem Arzt erklärte? Verstehen Sie...« Aber das tat die -80-
Frau nicht. Nach Wilts Meinung war sie entweder eine Sadistin oder geistig nicht ga nz auf dem Posten. »Ich muß das Formular hier ausfüllen, und wenn Sie mir nicht sagen wollen, wo Sie den Biß haben...« Sie zögerte und sah Wilt argwöhnisch an. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, es ist ein Bruch. Jetzt sagen Sie, es ist ein Biß. Vielleicht entscheiden Sie sich bald mal. Ich hab' nicht den ganzen Tag Zeit, nicht wahr.« »Wenn das so ist, ich auch nicht«, sagte Wilt, von der Wiederholung in Fahrt gebracht. »Wirklich, wenn nicht fast augenblicklich was passiert, könne ich gut hier vor Ihren Augen abnippeln.« Die Frau zuckte die Achseln. Leute, die vor ihren Augen abnippelten, waren offensichtlich Teil ihrer täglichen Routine. »Ich habe immer noch festzustellen, ob es sich um einen Biß oder einen Bruch handelt, und wo er sich befindet, und wenn Sie mir nicht sagen wollen, was es ist und wo es ist, kann ich Sie nicht aufnehmen.« Wilt guckte über seine Schulter und wollte gerade sagen, daß ihm seine Scheiß Ehefrau seinen Penis praktisch skalpiert habe, als er den Blick mehrerer Frauen im mittleren Alter auffing, die dem Wortwechsel interessiert ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten. Eilig wechselte er die Taktik. »Gift«, murmelte er. »Sind Sie völlig sicher?« »Natürlich bin ich sicher«, sagte Wilt, »ich habe das Zeug doch schließlich geschluckt.« »Sie haben auch behauptet, Sie hätten sich was gebrochen, und dann, Sie wären gebissen worden. Jetzt sagen Sie, Sie hätten alle drei geschluckt... ich meine, Sie hätten Gift geschluckt. Und es ist zwecklos, mich so anzusehen. Ich tue nur meine Pflicht , nicht wahr.« »Bei dem Tempo, wie Sie die tun, frage ich mich, ob da -81-
überhaupt jemand reinkommt, bevor er nicht wirklich tot ist«, schnappte Wilt zurück und bedauerte es im selben Augenblick. Die Frau starrte ihn unverhohlen feindselig an. Der Anblick ihres Gesichts ließ vermuten, daß, was Wilt betraf, er gerade ihren sehnlichsten Wunsch ausgedrückt hatte. »Sehen Sie«, sagte Wilt, der versuchte, die Zicke wieder gnädig zu stimmen, »es tut mir leid, wenn ich erregt wirke...« »Unverschämt, wäre richtiger.« »Wie Sie wollen. Also unverschämt. Ich bitte um Vergebung, aber wenn Sie gerade Gift geschluckt hätten, auf Ihren Arm gefallen und ihn sich gebrochen hätten und in den Hintern gebissen worden wären, wären Sie auch ein bißchen erregt.« Um seiner Katastrophenaufzählung irgendwie Glaubwürdigkeit zu verleihen, hob er schlaff seinen linken Arm und stützte ihn mit der rechten Hand. Sie betrachtete sich das zweifelnd und griff wieder zum Kugelschreiber. »Haben Sie die Flasche mitgebracht?« fragte sie. »Die Flasche?« »Die Flasche mit dem Gift, von dem Sie behaupten, daß Sie’s geschluckt haben.« »Wozu sollte ich das denn tun?« »Wir können Ihnen nicht helfen, wenn wir nicht wissen, welches Gift Sie geschluckt haben.« »Es stand nicht drauf, was für Gift in der Flasche war«, sagte Wilt. »Es war in einer Limonadenflasche in der Garage. Ich weiß bloß, es war Gift.« »Wieso?« »Wieso wieso?« »Wieso Sie wissen, daß es Gift war?« »Weil's nicht wie Limonade geschmeckt hat«, sagte Wilt halb wahnsinnig, sich bewußt, daß er tiefer und tiefer in den Sumpf -82-
diagnostischer Verwirrung geriet. »Weil irgendwas nicht wie Limonade schmeckt, heißt das ja nicht notwendig, daß es giftig ist«, sagte die Frau und bewies ihre unermüdliche Logik. »Nur Limonade schmeckt wie Limonade. Sonst nichts.« »Natürlich nic ht. Aber das Zeug schmeckte nicht nur einfach nicht nach Limonade. Es schmeckte wie tödliches Gift. Wahrscheinlich Zyankali.« »Niemand weiß, wie Zyankali schmeckt«, sagte die Frau, die nicht abließ, Wilts Verteidigungsanlagen zu unterminieren. »Der Tod tritt augenblicklich ein.« Wilt starrte sie finster an. »Na schön«, sagte er schließlich, »vergessen Sie das Gift. Ich habe aber einen gebrochenen Arm und einen Biß, und beides erfordert sofortige Behandlung. Ich verlange, einen Arzt zu sehen.« »Da müssen Sie warten, bis Sie an der Reihe sind. Also wo, sagten Sie, war dieser Biß?« »An meinem Hintern«, sagte Wilt und verbrachte die nächste Stunde damit, daß er das bedauerte. Um seine Behauptung zu untermauern, mußte er stehen, während die anderen Patienten behandelt wurden und die Aufnahmeschwester ihn unablässig mit einer Mischung aus offenem Argwohn und Abneigung anglotzte. Er bemühte sich, ihrem Blick auszuweichen, und versuchte, die Zeitung über die Schulter eines Mannes mitzulesen, dessen einziger sichtbarer Anspruch darauf, dringend behandelt zu werden, ein verbundener Zeh war. Wilt beneidete ihn und dachte, nicht zum ersten Mal, über die Verdrehtheit der Verhältnisse nach, die ihn dazu verdonnerten, daß man ihm einfach nicht glaubte. Es war nicht so einfach, wie das Byron mit seinem Ausspruch: »Wunderlicher als die Dichtung ist die Wahrheit« angedeutet hatte. Wenn seine eigene Erfahrung etwas war, wonach man urteilen konnte, dann waren Wahrheit und -83-
Dichtung gleichermaßen unannehmbar. Etwas Vieldeutiges in seinem Charakter, vielleicht die Fähigkeit, von jedem Problem jede Seite zu sehen, erzeugte eine Atmosphäre von Unaufrichtigkeit um ihn und machte es jedermann unmöglich zu glauben, was er sagte. Um eine Wahrheit glauben zu können, hatte sie vor allem einleuchtend und wahrscheinlich zu sein, um mit einer simplen vorgefertigen Meinung übereinstimmen zu können. Entsprach sie dem Erwarteten nicht, dann weigerten sich die Leute, sie zu glauben. Aber Wilts Kopf fügte sich nicht. Er ging mit Vorliebe Möglichkeiten nach, die in Labyrinthe von Spekulationen führten, die über den Horizont der meisten Leute hinausgingen. Ganz sicher über den von Eva. Nicht, daß Eva jemals Spekulationen anstellte. Sie hüpfte von einer Meinung zur anderen, ohne jenes Zwischenstadium des Verblüfftseins zu kennen, das Wilts Dauerzustand war. In ihrer Welt gab es auf jedes Problem eine Antwort, in Wilts gab es auf jedes Problem ungefähr zehn, von denen jede im direkten Widerspruch zu den anderen Antworten stand. Selbst jetzt in diesem trüben Wartezimmer, wo man vielleicht hätte erwarten können, daß seine momentane Not ihn das Interesse am Rest der Welt verlieren ließe, fand Wilts überreizter Verstand Material, über das er Spekulationen anstellen konnte. Die Schlagzeile der Zeitung - ÖLPEST: SEEVÖGEL BEDROHT - beherrschte eine Seite, die mit augenscheinlich kleineren Schrecknissen angefüllt war. Augenscheinlich, weil sie so kleinen Raum einnahmen. Es hatte wieder einen Terroristenüberfall auf einen gepanzerten Geldtransporter gegeben. Der Fahrer war mit einem Raketenwerfer bedroht worden, und ein Sicherheitsbegleiter war kaltblütig in den Kopf geschossen worden. Die Mörder waren mit 250000 Pfund entkommen, aber das war von geringerer Bedeutung als die Misere von Seemöwen, die von einem Ölteppich vor der Küste bedroht wurden. Wilt nahm von dieser feinen Unterscheidung Kenntnis und fragte sich, was wohl die Witwe des erschossenen Sicherheitsbeamten dazu meinte, daß -84-
ihr toter Mann auf den zweiten Platz des öffentlichen Interesses, gemessen an den Seevögeln, verbannt wurde. Was war los mit dieser Welt von heute, daß die Wildbahn über menschliches Elend den Vorrang bekam? Vielleicht hatte die menschliche Rasse solche Angst vor der eigenen Vernichtung, daß es sie nicht mehr kümmerte, was dem Einzelnen widerfuhr, sondern die kollektiven Reihen schloß und den Zusammenstoß von zwei Supertankern als den Vorgeschmack ihres eigenen möglichen Schicksals ansah. Oder vielleicht... Wilt wurde aus diesem Traum gerissen, weil sein Name aufgerufen wurde, und als er von der Zeitung aufsah, traf sein Blick auf den einer Schwester mit strengem Profil, die mit der Aufnahmeschwester sprach. Die Schwester verschwand, und einen Augenblick darauf kam zu der Aufnahmeschwester ein älterer und, nach dem Gefolge jüngerer Ärzte, einer Oberschwester und zwei Krankenschwestern zu urteilen, offensichtlich wichtiger Spezialist heraus. Wilt sah alldem verzagt zu, während der Mann sein Verletzungsregister studierte, ihn über seine Brille wie irgendein sonderbares Exemplar ansah, das zu behandeln unter seiner Würde sei, einem der Ärzte zunickte und hämisch lächelnd verschwand. »Mr. Wilt«, rief der junge Arzt. Wilt bewegte sich vorsichtig in dessen Richtung. »Wenn Sie schon mal zu einer Kabine durchgehen und dort warten wollen«, sagte der Arzt. »Entschuldigen Sie, Doktor«, sagte Wilt, »ich hätte mit Ihnen gern ein Wort unter vier Augen gesprochen.« »Wenn’s soweit sein wird, Mr. Wilt, werden wir uns unter vier Augen unterhalten, aber wenn Sie jetzt nichts besseres zu tun haben, gehen Sie doch freundlicherweise zu einer Kabine durch.« Er machte kehrt und ging den Gang hinunter. Wilt wollte gerade hinter ihm herhumpeln, als ihn die Aufnahmeschwester aufhielt. -85-
»Die Unfallkabinen dort entlang«, sagte sie und zeigte auf Vorhänge am Ende eines anderen Ganges. Wilt schnitt ihr eine Fratze und ging zu einer Kabine. In der Willington Road saß Eva am Telefon. Sie hatte die Berufsschule angerufen und ausgerichtet, daß Wilt wegen Krankheit gezwungen sei, zu Hause zu bleiben, und beriet sich jetzt mit Mavis Mottram. »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Eva kläglich, »ich meine es wirkte so unwahrscheinlich, und als ich dahinterkam, daß er wirklich verletzt war, tat mir das so schrecklich leid.« »Meine liebe Eva«, sagte Mavis, die genau wußte, was sie denken sollte, »du bist viel zu schnell bereit, dir die Schuld an allem zu geben, und natürlich nutzt Henry das aus. Ich meine, diese Sache mit der Puppe muß dir doch gezeigt haben, daß er sehr sonderbar ist.« »Ich möchte darüber nicht nachdenken«, sagte Eva. »Das ist so lange her, und Henry hat sich seitdem geändert.« »Männer ändern sich im Grunde nie, und Henry ist in einem gefährlichen Alter. Ich habe dich ja gewarnt, als du darauf bestandest, dir dieses deutsche Aupair-Mädchen zuzulegen.« »Das ist ganz was anderes. Sie ist kein Aupair-Mädchen. Sie bezahlt mir für die Mansarde viel mehr Miete, als ich wollte, aber sie möchte mir dafür nicht im Hause helfen. Sie hat sich in der Schule in den Ausländerkursus eingeschrieben und spricht schon perfekt Englisch.« »Was habe ich dir gesagt, Eva? Sie hat doch nie was von der Schule erwähnt, als sie wegen der Mansarde zu dir kam, oder?« »Nein«, sagte Eva. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Henry sie bereits kannte und ihr gesagt hat, daß du die Mansarde vermieten wolltest.« -86-
»Wie hätte er das denn sollen? Er schien sehr überrascht und ärgerlich zu sein, als ich es ihm erzählte.« »Meine Liebe, ich sage dir das gar nicht gern, aber du siehst nur immer Henrys Schokoladenseite. Natürlich mußte er so tun, als wäre er überrascht und ärgerlich. Er weiß doch genau, wie er dich behandeln muß, und wenn er erfreut gewesen wäre, hättest du gewußt, daß irgendwas nicht stimmt.« »Ja, wahrscheinlich«, sagte Eva zweifelnd. »Und was das angeht, daß er sie schon vorher kannte«, fuhr Mavis fort, die ihren Krieg gegen Patrick stellvertretend gegen Henry führte, »so meine ich mich zu erinnern, daß er am Anfang der Sommerferien viel Zeit in der Schule verbracht hat, und das war, als sich die ausländischen Studenten anmeldeten.« »Aber Henry hat mit dieser Abteilung überhaupt nichts zu tun. Er hat am Stundenplan gearbeitet.« »Er muß gar nicht der Abteilung angehören, um dieses Weibstück zu sehen, und als du der Meinung warst, er arbeitet am Stundenplan, arbeiteten die beiden in seinem Büro an ganz was anderem.« Eva dachte über diese Möglichkeit nach, um sie sogleich zu verwerfen. »Henry ist nicht so. Und auf jeden Fall hätte ich die Veränderung an ihm bemerkt«, sagte sie. »Meine Liebe, du mußt dir einfach mal klarmachen, daß alle Männer so sind. Und ich habe auch keine Veränderung an Patrick bemerkt, bis es zu spät war. Er hatte mit seiner Sekretärin schon über ein Jahr ein Verhältnis, bevor ich überhaupt was spitzkriegte«, sagte Mavis. »Und das auch erst, als er sich die Nase in ihren Schlüpfer putzte, da bekam ich Wind davon, was los war.« »Er putzte sich die Nase in ihren was?« sagte Eva, fasziniert von der ungeheuren Perversität, die diese Geschichte ihr vor Augen führte. -87-
»Er hatte einen gräßlichen Schnupfen und holte eines Morgens beim Frühstück ein paar rote Schlüpfer aus seiner Hosentasche und putzte sich damit die Nase«, sagte Mavis. »Da wußte ich natürlich, was mit ihm los war.« »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Eva. »Was hat er denn gesagt, als du ihn fragtest?« »Ich habe ihn nicht gefragt. Ich wußte ja Bescheid. Ich sagte zu ihm, wenn er meine, so könne er mich dazu bringen, mich von ihm scheiden zu lassen, sei er auf dem Holzweg, denn...« Mavis schnatterte weiter über ihren Patrick, während Evas Gemütsverfassung beim Zuhören langsam ins Wanken kam. Irgendwas in ihrer Erinnerung an die Nacht stieg langsam an die Oberfläche. Irgendwas, das mit Irmgard Müller zusammenhing. Nach dem furchtbaren Krach mit Henry hatte sie nicht schlafen können. Sie hatte im Dunkeln wachgelegen und sich gefragt, warum Henry bloß... schön, natürlich wußte sie jetzt, daß er gar nicht hatte, aber zu der Zeit... Ja, das war's, die Zeit. Um vier hatte sie jemanden ganz leise die Treppe raufgehen hören, und sie war sicher gewesen, es sei Henry, und dann hatte die Treppe zur Mansarde hoch geknarrt, und sie hatte gewußt, das ist Irmgard Müller, die nach Hause kommt. Sie erinnerte sich, daß sie auf die Leuchtziffern des Weckers geguckt und die Zeiger auf zwölf nach vier hatte stehen sehen, und daß sie einen Augenblick lang gemeint hatte, sie zeigten auf zwanzig nach zwölf, aber Henry war um drei heimgekommen und... Sie war mit einer halbgestellten Frage im Kopf in den Schlaf geglitten. Gegen das Geschnattere von Mavis vervollständigte sich die Frage nun von allein. War Henry mit Irmgard aus gewesen? Es sah Henry nicht ähnlich, so spät nach Hause zu kommen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß er das schon mal getan hätte. Und Irmgard benahm sich wirklich nicht wie ein AupairMädchen. Vor allem war sie zu alt, und sie hatte zuviel Geld. Aber Mavis unterbrach diesen langsamen Gedankengang, indem sie die Schlußfolgerung, auf die Eva sich zubewegte, aussprach. -88-
»Ich weiß nur, ich würde auf dieses deutsche Mädchen ein Auge haben«, sagte sie, »und wenn du dir von mir raten läßt, schmeißt du sie Ende des Monats raus.« »Ja«, sagte Eva. »Ja, ich werde darüber nachdenken, Mavis. Dank dir, daß du so mitfühlend bist.« Eva legte auf und starrte aus dem Schlafzimmerfenster auf die Buche, die auf dem Vorgartenrasen stand. Sie war eines der ersten Dinge gewesen, die sie für das Haus eingenommen hatten, die Blutbuche im Vorgarten, ein großer, behäbiger, starker Baum mit Wurzeln, die sich unter der Erde so weit ausdehnten wie die Zweige über der Erde. Das hatte sie irgendwo gelesen, und dieses Gleichgewicht zwischen den Zweigen, die das Licht suchten, und den Wurzeln, die nach Wasser gruben, war ihr so richtig und irgendwie organisch erschienen, daß dieses Bild ihr begreiflich machte, was sie von dem Haus wollte, und was sie ihm dafür wiedergeben könne. Und auch das Haus war ihr richtig erschienen. Ein großes Haus mit hohen Decken und dicken Wänden und einem Garten und Obstbäumen, wo die Vierlinge glücklich und weiter entfernt von der beunruhigenden Wirklichkeit aufwachsen konnten, als das in der Parkview Avenue möglich gewesen wäre. Aber Henry hatte der Umzug nicht gepaßt. Sie hatte ihn dazu zwingen müssen, und er war nie dem Ruf der gezähmten Wildnis des Obstgartens verfallen, auch nicht dem Gefühl gesellschaftlicher Unverwundbarkeit, das sie in dem Haus und der Willington Road entdeckt hatte. Nicht, daß Eva ein Snob gewesen wäre, aber sie mochte es nicht, wenn jemand auf sie herabsah, und jetzt konnte man das nicht mehr. Sogar Mavis behandelte Eva nicht mehr gönnerhaft, und diese Geschichte von Patrick und dem Schlüpfer war etwas, was ihr Mavis nie und nimmer erzählt haben würde, wenn sie noch immer zwei Straßen weiter gewohnt hätte. Aber ganz gleich, Mavis war schon eine gräßliche Schraube. Immer machte sie Patrick runter, und wenn er körperlich untreu war, dann war Mavis es moralisch. Henry -89-
hatte gesagt, sie beginge Ehebruch mit ihrem Geklatsche, und da war was dran. Aber es war auch etwas dran an dem, was Mavis über Irmgard Müller sagte. Sie würde ein Auge auf sie haben. Sie hatte was merkwürdig Kühles an sich - und was meinte sie damit, daß sie im Hause helfen würde und sich dann plötzlich in der Schule einschrieb? Mit einer ihr ungewohnten Niedergeschlagenheit machte Eva sich Kaffee und bohnerte dann den Fußboden in der Diele und saugte den Treppenläufer und räumte das Wohnzimmer auf und steckte die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und putzte die Brille im organischen Klo und verrichtete alle die Arbeiten, die getan werden mußten, ehe sie die Vierlinge von der alternativen Spielgruppe abholen konnte. Sie war gerade fertig und bürstete sich im Schlafzimmer die Haare, als sie die Haustür gehen und Schritte auf der Treppe hörte. Henry konnte das nicht sein. Er kam nie gleich zwei Stufen auf einmal hoch, und überhaupt, mit seinem bandagierten Dingsda käme er wahrscheinlich überhaupt nicht rauf. Eva ging zur Schlafzimmertür und sah einen jungen Mann erschrocken auf dem Treppenabsatz stehen. »Was machen Sie denn hier?« fragte sie ziemlich ängstlich. Der junge Mann hob die Hände. »Bitte, ich bin hier für Miss Müller«, sagte er mit einem dicken ausländischen Akzent. »Sie hat mir den Schlüssel geborgen.« Zum Beweis hielt er ihn in die Höhe. »Dazu hatte sie kein Recht«, sagte Eva, die sich über sich selber ärgerte, weil sie so ängstlich war. »Ich möchte nicht, daß hier Leute ein- und ausgehen, ohne zu klopfen. »Ja«, sagte der junge Mann, »ich verstehe Sie. Aber Miss Müller mir gesagt, ich kann in ihre Zimmer an meine Studien arbeiten. Wo ich wohne, zuviel Krach.« »Na schön, ich habe nichts dage gen, wenn Sie hier arbeiten, aber ich möchte hier auch keinen Krach«, sagte Eva und ging -90-
wieder ins Schlafzimmer. Der junge Mann stieg die enge Treppe zur Mansarde hoch, während Eva sich ihr Haar mit plötzlich leichterem Herzen fertig bürstete. Wenn Irmgard ziemlich gutaussehende junge Männer zu sich einlud, war es unwahrscheinlich, daß sie an Henry interessiert wäre. Und der junge Mann war ganz entschieden hübsch gewesen. Mit einem Seufzer, der das Bedauern, daß sie selber nicht jünger und attraktiver sei, mit der Erleichterung darüber verband, daß ihre Ehe nicht bedroht sei, ging sie nach unten. In der Berufsschule stieß Wilts Abwesenheit bei der wöchentlichen Konferenz der Fachbereichsleiter auf unterschiedliche Reaktionen. Der Direktor war besonders beunruhigt. »Was hat er denn?« fragte er die Sekretärin, die Evas Mitteilung, daß Wilt krank sei, überbrachte. »Das hat sie nicht deutlich gesagt. Sie sagte bloß, er wäre ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen.« »Wünschte, es wären Jahre«, murmelte der Direktor und rief die Versammlung zur Ordnung. »Ich habe keinen Zweifel, daß Sie alle die peinliche Nachricht von dem... äh... Film vernommen haben, den ein Lehrbeauftragter der Abteilung Allgemeinbildung hergestellt hat«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß die Erörterung seiner Auswirkungen dem Kollegium hier viel Gewinn brächte.« Er blickte sich bekümmert in dem Raum um. Nur Dr. Board schien Lust zu haben, dem zu widersprechen. »Was ich noch nicht rausgefunden habe, das ist, ob es sich um ein männliches oder ein weibliches Krokodil gehandelt hat«, sagte er. Der Direktor betrachtete ihn mit Abscheu. »Es handelte sich in Wahrheit um ein Spielzeugkrokodil. Soweit ich weiß, unterscheiden die sich im Geschlecht nicht auffallend.« »Das kann ich mir denken«, sagte Dr. Board. »Dennoch wirft -91-
das eine interessante Frage auf...« »... die, so habe ich das sichere Gefühl, wir übrigen lieber nicht erörtern würden«, sagte der Direktor. »Nach dem Motto: ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹?« sagte Dr. Board. »Obwohl ich beim besten Willen nicht begreife, wie der Star dieses Films dazu verführt werden konnte -« »Board«, sagte der Direktor mit unheilvoller Langmut, »wir sind hier, um schulische Angelegenheiten miteinander zu besprechen, nicht die obszönen Verirrungen von Lehrkräften in der Abteilung Allgemeinbildung.« »Hört, hört«, sagte der Leiter der Abteilung Nahrungsmittelkunde. »Wenn ich denke, daß ein paar von meinen Mädchen dem Einfluß so widerlicher Perverser ausgesetzt sind, kann ich nur sagen, ich meine, wir sollten sehr ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, die Allgemeinbildung völlig abzuschaffen.« Es gab ein allgemeines Zustimmungsgemurmel. Dr. Board war die Ausnahme. »Ich verstehe nicht, warum man der Allgemeinbildung als ganzer die Schuld in die Schuhe schieben sollte«, sagte er, »und wenn man sich ein paar von Ihren Mädchen ansieht, würde ich sagen...« »Sagen Sie’s nicht, Board, sagen Sie’s nicht«, sagte der Direktor. Dr. Mayfield griff den Punkt auf. »Dieser beklagenswerte Vorfall bestärkt mich lediglich in meiner Ansicht, daß wir den Radius unserer wissenschaftlichen Inhalte auf Kurse von weiterreichender intellektueller Bedeutung ausdehnen sollten.« Diesmal stimmte Dr. Board ihm zu. »Ich stelle mir vor, wir könnten einen Abendkursus in Reptiliensodomie abhalten«, sagte er. »Das könnte vielleicht den Nebeneffekt haben, wenn das der richtige Ausdruck ist, daß eine Menge Krokophile -92-
herbeigelockt werden, und auf mehr theoretischem Niveau könnte ein Kursus über ›Die Bestialität im Laufe der Jahrhunderte‹ ohne Zweifel einen gewissen eklektischen Reiz ausüben. Habe ich was Verkehrtes gesagt, Herr Direktor?« Aber der Direktor hatte die Sprache verloren. Der Stellvertretende sprang in die Bresche. »Das erste und wichtigste ist, dafür zu sorgen, daß diese bedauerliche Angelegenheit nicht öffentlich bekannt wird.« »Nun, wenn man bedenkt, daß sie in der Nott Road stattgefunden hat...« »Halten Sie den Mund, Board«, schrie der Direktor. »Ich habe von Ihren verfluchten Abschweifungen so ungefähr alles ertragen, was ich ertrage n konnte. Noch ein Wort, und ich verlange entweder Ihre Entlassung aus dem Erziehungsausschuß oder meine. Und notfalls beides. Sie haben die Wahl. Halten Sie den Mund oder gehen Sie raus.« Dr. Board hielt den Mund. In der Unfallstation stellte Wilt fest, daß er überhaupt keine Wahl hatte. Der Arzt, der schließlich zu seiner Kabine kam, um ihn zu behandeln, wurde von einer monströsen Oberschwester und zwei Krankenpflegern begleitet. Wilt betrachtete ihn kleinlaut von der Couch aus, auf die er sich hatte le gen müssen. »Sie haben sich aber Zeit gelassen«, nörgelte er. »Ich liege hier die ganze letzte Stunde im Todeskampf, und...« »Da müssen wir uns beeilen«, sagte der Arzt. »Wir fangen als erstes mit Gift an. Eine Magenspülung wird...« »Was?« sagte Wilt, der sich erschreckt auf der Couch aufsetzte. »Es dauert nicht länger als eine Minute», sagte der Arzt. »Legen Sie sich einfach zurück, und die Schwester führt den Schlauch ein.« »O nein! Nichts zu machen«, sagte Wilt, der von der Couch in -93-
eine Ecke der Kabine floh, als die Schwester mit einem Stück Gummischlauch angerückt kam. »Ich hab kein Gift geschluckt.« »Auf ihrem Aufnahmeblatt steht, Sie hätten«, sagte der Arzt. »Sie sind doch Mr. Wilt, oder?« »Ja«, sagte Wilt, »aber Sie brauchen nicht anzunehmen, daß ich Gift genommen habe. Ich kann Ihnen versichern...« Er flüchtete um die Couch herum, um der Schwester zu entwischen, wurde jedoch von den Krankenpflegern von hinten gepackt. »Ich schwöre, daß...« Wilt erstarb die Weigerung auf den Lippen, als er wieder auf die Couch geschoben wurde. Der Schlauch schwebte über seinem Mund. Wilt starrte den Arzt böse an. Der Mann schien höchst sadistisch zu lächeln. »Also, Mr. Wilt, Sie werden jetzt freundlicherweise Ihren Widerstand aufgeben.« »Werdichnich«, grunzte Wilt durch die zusammengebissenen Zähne hindurch. Die Schwester hinter ihm hielt seinen Kopf fest und wartete. »Mr. Wilt«, sagte der Arzt, »Sie sind heute morgen hier hergekommen und haben felsenfest und aus freiem Willen behauptet, Sie hätten Gift geschluckt, sich den Arm gebrochen und einen Biß davongetragen, der sofortige Behandlung erfordere. Ist das nicht so?« Wilt überlegte, wie er antworten solle. Das Sicherste schien, den Mund nicht aufzumachen. Er nickte und versuchte dann, den Kopf zu schütteln. »Vielen Dank. Nicht nur das, Sie waren auch unhöflich, um es milde auszudrücken, zu der Dame am Schreibtisch.« »War ich nicht«, sagte Wilt, um sogleich seine Unhöflichkeit und diesen Versuch, seinen Fall darzulegen, zu bedauern. Zwei Hände versuchten, ihm den Schlauch hineinzuschieben. Wilt biß auf das Ding. -94-
»Müssen das linke Nasenloch benutzen«, sagte der Arzt. »Nein, verflucht nochmal, das tun Sie nicht«, kreischte Wilt, aber es war zu spät. Als der Schlauch in seiner Nase hochglitt und sich, dem Gefühl nach, in seinem Rachen ausdehnte, endeten Wilts Proteste in purer Unverständlichkeit. Er wand sich und würgte. »Den nächsten Teil werden Sie vielleicht als ein bißchen unangenehm empfinden«, sagte der Arzt mit offenkundigem Vergnügen. Wilt starrte den Mann blutrünstig an und würde, wenn der teuflische Schlauch ihn nicht daran gehindert hätte, eindringlich erklärt haben, daß er schon den jetzigen Teil verdammt schrecklich finde. Er gurgelte gerade seinen Protest, als sich der Vorhang teilte und die Aufnahmeschwester hereinkam. »Ich dachte, Sie würden das vielleicht sehen wollen, Mrs. Clemence«, sagte der Arzt. »Machen Sie weiter, Schwester.« Die Schwester machte weiter, während sich Wilt still das Versprechen gab, wenn er nicht vorher ersticke oder platze, würde er diesem sadistischen Arzt sein Lächeln aus dem Gesicht prügeln, sobald dieses grauenhafte Erlebnis vorbei wäre. Als es soweit war, hinderte ihn sein Befinden, was anderes zu tun als leise zu jammern. Nur der Vorschlag der Oberschwester, daß man ihm, um ganz sicherzugehen, doch auch gleich noch ein Ölklistier verpassen sollte, verlieh ihm die Kraft, seinen Fall darzulegen. »Ich bin hergekommen, um mir den Penis behandeln zu lassen«, flüsterte er heiser. Der Doktor sah auf seinem Behandlungsblatt nach. »Hier steht nicht ein einziges Wort von Ihrem Penis«, sagte er. »Es wird ganz deutlich erklärt, daß...« »Ich weiß, was da erklärt wird«, piepste Wilt. »Ich weiß aber auch, wenn Sie in ein Wartezimmer gehen müßten, das mit spießigen Muttis und ihren Söhnchen vollgestopft ist, die sich -95-
mit ihren Skateboards unbedingt umbringen wollten, und Sie hätten dieser alten Schrippe hier lauthals zu melden, daß Sie an der Spitze ihres Pimmels ein paar Stiche nötig hätten, dann hätten Sie das noch weniger als ungern getan.« »Ich steh doch hier nicht rum und höre mir an, wie dieser Irre mich eine alte Schrippe nennt«, sagte die Aufnahmeschwester. »Und ich habe doch nicht da draußen rumgestanden, um die Einzelheiten darüber, was meinem Penis zugestoßen ist, in die Gegend zu brüllen, damit alle Welt verflucht nochmal sie hören kann. Ich habe darum gebeten, einen Arzt zu sprechen, aber Sie wollten mich ja nicht lassen. Leugnen Sie das, wenn Sie können.« »Ich habe Sie gefragt, ob Sie sich ein Bein gebrochen hätten an einer Wunde litten, die sofortige Behandlung...« »Ich weiß, was Sie mich gefragt haben«, schrie Wilt, »ich weiß das genau. Ich kann’s Wort für Wort wiederholen. Also, zu Ihrer Information, ein Penis ist kein Bein, jedenfalls nicht in meinem Fall. Ich nehme an, er gehört in die Abteilung Anhängsel, und wenn ich gesagt hätte, ich hätte mir mein Anhängsel verletzt, hätten Sie gefragt, welches und wo und wie und bei welcher Gelegenheit und mit wem, und mich dann zur Klinik für Geschlechtskrankheiten rübergeschickt und...« »Mr. Wilt«, unterbrach ihn der Arzt, »wir haben hier außerordentlich viel zu tun, und wenn Sie herkommen und sich weigern, genau anzugeben, was Ihnen fehlt...« »Ich krieg eine Scheiß Magenpumpe gegen meine Schmerzen in den Schlund gestopft«, schrie Wilt. »Und was passiert eigentlich, wenn irgendein armer Hund, der taubstumm ist, hier reinkommt? Ich nehme an, Sie lassen ihn auf dem Boden des Wartezimmers verröcheln oder säbeln ihm die Mandeln raus, um ihm beizubringen, in Zukunft laut und deutlich zu sagen, was ihm fehlt. Und das nennt man den nationalen Gesundheitsdienst. Eine scheißbürokratische Diktatur ist das. So -96-
nenn ich das.« »Es ist mir völlig wurscht, wie Sie es nennen, Mr. Wilt. Wenn mit Ihrem Penis wirklich etwas nicht in Ordnung ist, sind wir selbstverständlich bereit, ihn uns anzusehen.« »Ich aber nicht«, sagte die Aufnahmeschwester standhaft und verschwand durch den Vorhang. Wilt legte sich auf der Couch zurück und zog die Hose runter. Der Arzt besah ihn sich sorgfältig. »Können Sie mir vielleicht sagen, was Sie da drumgewickelt haben?« fragte er. »Halt so’n Scheiß Taschentuch«, sagte Wilt und wickelte den Notverband langsam ab. »Großer Gott«, sagte der Arzt, »jetzt ist mir klar, was Sie mit Anhängsel meinen. Wäre es zuviel gefragt, wenn Sie mir verraten, wie Sie Ihren Penis so zugerichtet haben?« »Ja«, sagte Wilt, »das wäre es. Jeder, dem ich’s bisher erzählt habe, hat's mir nicht geglaubt, und diesem Gebohre setze ich mich lieber nicht wieder aus.« »Gebohre?« fragte der Doktor nachdenklich. »Sie wollen damit doch hoffentlich nicht sagen, daß diese Verletzung durch einen Bohrer verursacht wurde. Ich weiß nicht, was Sie meinen, Schwester, aber von hier, wo ich stehe, sieht es so aus, als hätte unser Freund ein allzu inniges Verhältnis mit einem Fleischwolf gehabt.« »Und von hier, wo ich liege, fühlt sich’s so an«, sagte Wilt. , »Und wenn es dazu beiträgt, dem Schmerz ein Ende zu machen, möchte ich Ihnen nur sagen, daß meine Frau zum größten Teil die Verantwortung dafür trifft.« »Ihre Frau?« »Hören Sie, Doktor«, sagte Wilt, »wenn’s Ihnen nichts ausmacht, möchte ich nicht so gern in Details gehen.« »Ich kann nicht sagen, daß ich Ihnen das verarge«, sagte der -97-
Arzt und schrubbte sich die Hände. »Wenn mir meine Frau das antäte, würde ich mich von dem Weib scheiden lassen. Hatten Sie in dem Moment Verkehr mit ihr?« »Kein Kommentar«, sagte Wilt, der beschloß, daß Schweigen die beste Politik wäre. Der Arzt streifte sich Gummihandschuhe über und zog seine eigenen gräßlichen Schlüsse. Er füllte eine Spritze. »Nach allem, was Sie schon hinter sich haben«, sagte er und trat an die Couch, »wird das überhaupt nicht wehtun.« Wilt sprang wieder von der Couch runter. »Halt«, schrie er, »wenn Sie sich auch nur eine Sekunde lang einbilden, Sie könnten mir diese chirurgische Tortenspritze in meine edlen Teile rammen, haben Sie falsch gedacht. Und wofür ist das gut?« Die Oberschwester hatte zu einer Spraydose gegriffen. »Bloß ein mildes Desinfektions- und Vereisungsmittel. Das spraye ich zuerst drauf, und Sie werden die dünne Nudel... Nadel gar nicht spüren.« »Ach nein? Na, dann sage ich Ihnen, daß ich sie aber spüren will. Wenn ich was anderes gewollt hätte, hätte ich der Natur ihren Lauf gelassen und ich war jetzt nicht hier. Und was macht sie da mit dem Rasierapparat?« »Sie sterilisiert ihn. Wir müssen Sie rasieren.« »Soso, müssen Sie? Das habe ich schon mal gehört, und da wir grade beim Thema Sterilisieren sind, würde ich doch gerne Ihre Ansicht zur Vasektomie hören.« »Ich bin da einigermaßen neutral«, sagte der Arzt. »Na, ich nicht«, fauchte Wilt aus der Ecke. »Ich bin da wirklich ausgesprochen voreingenommen, um nicht zu sagen, vorurteilsvoll. Worüber lachen Sie denn?« Die mannhafte Oberschwester lächelte. »Sie sind doch wohl hoffentlich keine verdammte Feministin?« -98-
»Ich bin eine berufstätige Frau«, sagte die Oberschwester, »und meine Überzeugungen sind meine Angelegenheit. Sie haben mit der Geschichte hier überhaupt nichts zu tun.« »Und ich bin ein berufstätiger Mann, und das will ich auch bleiben, und meine Überzeugungen haben durchaus mit der Geschichte zu tun. Ich habe gehört, was man in Indien alles fertigkriegt, und wenn ich hier mit einem Transistorradio unterm Arm und ohne meine Kullerchen rausgehe und schnattere wie ein angehender Mezzosopran, ich warne Sie, ich komme mit einem Hackmesser wieder, und dann lernen Sie beide kennen, um was es in der sozialen Entwicklungsgeschichte alles geht.« »Na gut, wenn das Ihre Einstellung ist«, sagte der Arzt, »schlage ich vor, Sie versuchen es als Privatpatient, Mr. Wilt. Da bekommen Sie alles, wofür Sie bezahlen. Ich kann Ihnen nur versichern...« Es dauerte zehn Minuten, Wilt wieder auf die Couch zu locken, und fünf Sekunden, ihn, sein Gemächte fest umklammert, wieder runterhüpfen zu lassen. »Vereisen«, quiekte er, »mein Gott, Sie haben’s ernst gemeint. Was zum Teufel glauben Sie eigentlich, was ich da unten habe? Tiefkühlerbsen?« »Wir warten nur, bis die Betäubung wirkt«, sagte der Arzt. »Lang sollte es jetzt nicht...« »Stimmt«, schrie Wilt auf, als er nach unten guckte. »Er verschwindet, verdammt nochmal. Ich bin zu einer kleineren Behandlung hergekommen, nicht zu einer Geschlechtsumwandlung, und wenn Sie meinen, meine Frau wird glücklich darüber sein, einen Mann mit einer Klitoris zu haben, schätzen Sie die Frau vollkommen falsch ein.« »Ich möchte sagen, Sie hatten sie bereits falsch eingeschätzt«, sagte der Arzt fröhlich, »eine Frau, die ihrem Gatten eine derartige Verletzung beibringen kann, verdient, was sie bekommt.« -99-
»Sie vielleicht, aber ich doch nicht«, sagte Wilt außer sich, »zufällig habe ich... Was will sie denn mit dieser Röhre?« Die Oberschwester packte einen Katheter aus. »Mr. Wilt«, sagte der Arzt, »die führen wir ein in Ihren...« »Nein, das werden Sie nicht«, schrie Wilt, »ich mag ja vielleicht an gewissen Stellen schnell schr umpfen, aber ich bin nicht Alice im Wunderland oder irgendein Scheiß Zwerg mit chronischer Verstopfung. Ich habe gehört, was sie gesagt hat von einem Ölklistier, aber mir wird man keins geben.« »Keiner hat die Absicht, Ihnen ein Klistier zu geben. Das hier wird Ihnen ganz einfach ermöglichen, das Wasser durch den Verband hindurch zu lassen. Jetzt gehen Sie freundlicherweise wieder auf die Couch, ehe ich Hilfe herbeirufen muß.« »Was meinen Sie mit ›einfach das Wasser hindurch lassen‹?« fragte Wilt vorsichtig, als er wieder auf die Couch stieg. Der Doktor erklärte es ihm, und diesmal waren vier Krankenpfleger nötig, Wilt festzuhalten. Die ganze Operation über ließ er einen nicht endenden Schwall obszöner Beschimpfungen los, und nur die Drohung, ihm eine Vollnarkose zu verpassen, brachte ihn dazu, die Stimme zu senken. Aber auch dann konnte seine Bemerkung, der Arzt und die Oberschwester wären weniger zur Medizin als zum Ölbohren auf dem Mond geeignet, noch im Wartezimmer gehört werden. »So ist es recht, schicken Sie mich in die Welt hinaus wie eine tröpfelnde Zapfsäule«, sagte er, als er endlich gehen durfte. »Es gibt noch sowas wie die Würde des Menschen.« Der Arzt sah ihn zweifelnd an. »Angesichts Ihres Benehmens möchte ich meine Meinung dazu für mich behalten. Schauen Sie nächste Woche wieder vorbei, dann werden wir sehen, wie Sie wieder auf die Beine kommen.« »Der einzige Grund, wenn ich wiederkomme, ist, daß ich nicht wiederkomme«, sagte Wilt bitter. »Von jetzt an konsultiere ich unseren Hausarzt.« Er humpelte hinaus an ein -100-
Telefon und rief sich ein Taxi. Als er nach Hause kam, ließ die Betäubung langsam nach. Mühsam schleppte er sich die Treppe hoch und ging ins Bett. Da lag er, starrte an die Decke und fragte sich, warum er nicht so war, wie andere Männer es wohl wären, wenn es darum ging, mannhaft Schmerzen zu ertragen, und wünschte sich, er wäre so, als Eva mit den Vierlingen nach Hause kam. »Du siehst ja entsetzlich aus«, sagte sie sehr ermutigend, als sie an seinem Bett stand. »Mir ist auch entsetzlich«, sagte Wilt. »Warum ausgerechnet ich mit einem weiblichen Beschneider verheiratet sein muß, weiß Gott allein.« »Vielleicht lehrt es dich, in Zukunft nicht so viel zu trinken.« »Es hat mich schon gelehrt, deine Flossen nicht in die Nähe meiner Wasserspiele kommen zu lassen«, sagte Wilt. »Und ich meine Wasserspiele.« Selbst Samantha mußte ihren Beitrag zu seinem Kummer leisten. »Wenn ich groß bin, werde ich Krankenschwester, Pappi.« »Hau nochmal so aufs Bett, und du wirst weder groß noch Krankenschwester«, knurrte er erschauernd. Unten klingelte das Telefon. »Wenn’s wieder die Schule ist, was soll ich ihnen denn dann sagen?« fragte Eva. »Wieder? Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst sagen, ich bin krank.« »Das habe ich ja, aber sie haben ein paarmal zurückgerufen.« »Sag ihnen, ich bin immer noch krank«, sagte Wilt. »Nur sag nicht, was ich habe.« »Sie wissen es wahrscheinlich inzwischen sowieso. Ich traf Rowena Blackthorne in der Spielgruppe, und sie sagte, es hätte ihr leidgetan, von deinem Unfall zu hören«, sagte Eva, als sie -101-
nach unten ging. »Und welcher von euch quadrophonischen Lautsprechern hat die fröhliche Nachricht über Pappis Dingsberlings an Mrs. Blackthorns kleines Wunderkind ausposaunt?« fragte Wilt, der den Vierlingen einen schrecklichen Blick zuwarf. »Ich nicht«, sagte Samantha selbstgefällig. »Du hast bloß Penelope dazu aufgehetzt, nehme ich an. Ich kenne diesen Blick in deinem Frätzchen.« »Penny war's nicht. Josephine war's. Sie hat mit Robin gespielt, und sie haben zusammen Vater und Mutter gespielt...« »Na, wenn ihr ein bißchen älter seid, da werdet ihr dahinterkommen, daß es sowas nicht gibt wie Vater- und-Mutterspielen. Ihr werdet statt dessen sehen, daß Krieg herrscht zwischen den Geschlechtern, und daß ihr, meine Schätzchen, als die Weibchen dieser Rasse allemal die Sieger seid.« Die Vierlinge verzogen sich aus dem Schlafzimmer, und er hörte, wie sie sich auf dem Treppenabsatz berieten. Wilt wälzte sich aus dem Bett auf der Suche nach einem Buch, und stieg gerade mit Peacocks »Nightmare Abbey« wieder hinein, die genügend unromantisch war, um zu seiner Stimmung zu passen, als Emmeline ins Zimmer geschoben wurde. »Was wollt ihr denn jetzt? Seht ihr nicht, daß ich krank bin?« »Bitte, Pappi«, sagte Emmeline, »Samantha will wissen, warum dieser Beutel an dein Bein gebunden ist.« »So, das will sie wissen?« sagte Wilt mit gefährlicher Ruhe. »Also, du kannst Samantha sagen, und über sie auch Miss Oates und ihren Tierbändigerinnen, daß euer Pappi einen Beutel am Bein hat und ein Röhrchen oben am Piesemännchen, weil euer Mummischeißdummilein es sich in ihren leeren Kopf gesetzt hat zu versuchen, dem Pappilein seine Genitalien abzureißen, die am Ende eines verdammten Streifens Heftpflaster hingen. Und wenn Miss Oates nicht weiß, was Genitalien sind, sagt ihr von -102-
mir, sie sind das erwachsene Gegenstück zum Schnuller bloß mit einem Scheiß P geschrieben. Und jetzt haut ab, meinetwegen gen Italien, ehe ich noch einen Leistenbruch, Bluthochdruck und multiplen Infantizid zu meinen anderen höllischen Qualen dazubekomme.« Die Kinder flüchteten. Unten donnerte Eva den Hörer auf die Gabel und brüllte: »Henry Wilt...« »Ruhe!« schrie Wilt. »Noch ein einziges Sterbenswörtchen von irgend jemandem in diesem Haus, und ich stehe nicht mehr ein für meine Taten.« Und ausnahmsweise wurde ihm gehorcht. Eva ging in die Küche und stellte den Kessel zum Tee auf. Wenn Henry doch nur auch so gebieterisch wäre, wenn er auf und auf den Beinen und gesund war. Die nächsten drei Tage fehlte Wilt in der Schule. Er lungerte im Haus rum, saß im »Kinderparadies« und dachte über die Beschaffenheit der Welt nach, in der der Fortschritt im allgemeinen sich mit dem Chaos im allgemeinen ins Gehege kam und der Mensch im besonderen stets und ständig mit der Natur aneinander geriet. In Wilts Auge n gehörte es zu den großen Widersprüchen des Lebens, daß Eva, die ihn ewig beschuldigte, zynisch und antifortschrittlich zu sein, so bereitwillig dem Rückzugsappell der Natur in Gestalt von Komposthaufen, organischen Klos, Selbstgewebtem und überhaupt allem nachgegeben hatte, was nach Ursprünglichkeit roch, während sie sich gleichzeitig einen unerschütterlichen Optimismus im Hinblick auf die Zukunft bewahrte. Für Wilt gab es nur die ewige Gegenwart, eine Folge gegenwärtiger Augenblicke, die sich nicht so sehr vorwärts bewegten, als sich vielmehr hinter ihm wie ein Nimbus anhäuften. Und wenn in der Vergangenheit sein Nimbus auch ein paar unangenehme Schläge hatte hinnehmen müssen, sein neuestes Mißgeschick hatte bereits zu seiner Legende beigetragen. Von Mavis Mottram hatten sich die Wellen des Klatsches über Ipfords pädagogische -103-
Provinzen ausgebreitet, wobei sie neuen Glauben und zusätzliche Ausschmückungen bei jedem Wiedererzählen dazuerhielten. Als die Geschichte bei Braintrees ankam, hatte sie über die Schule, Blighte-Smythe und Mrs. Chatterway bereits den Krokodilfilm in sich aufgenommen, und es ging das Gerücht, Wilt sei drauf und dran, wegen ungeheuer anstößiger Handlungen mit einem Zirkusalligator verhaftet zu werden, dem es nur dadurch gelungen war, sich seine Jungfräulichkeit zu bewahren, daß er Wilt in sein Patengeschenk biß. »Das ist typisch für diese Scheiß Stadt«, sagte Peter Braintree zu seiner Frau Betty, als sie diese Version der Geschichte mit nach Hause brachte. »Henry braucht sich nur mal ein paar Tage von der Schule freizunehmen, und schon summt’s im Weinstock vor lauter ungeheuerlichen Lügen.« »Im Bienenstock summt’s?«, sagte Betty. »Aber es gibt keinen Rauch ohne... « »... irgendeinen boshaften Schuft, der zwei und zwei zusammenzählt und ne unundfünfzig rauskriegt. In der Abteilung gibt es einen Kerl namens Bilger, der einen Film gemacht hat, in dem ein Plastikkrokodil, sagen wir, als Vergewaltigungsopfer eine Rolle spielt. Punkt eins. Henry hat dem Erziehungsausschuß einige Erklärungen zu geben, die den zahlreichen Nachwuchs des Genossen Bilger davor bewahren, ihre Privatschule verlassen zu müssen, weil Pappi stempeln gehen müßte. Punkt zwei. Punkt drei ist, daß Wilt am nächsten Tag krank wird...« »Nicht nach Meinung von Rowena Blackthorn. Es ist allgemein bekannt, daß Henrys Penis übel zugerichtet ist.« »Wo denn?« »Was wo denn?« »Wo das allgemein bekannt ist?« »In der Spielgruppe. Die Vierlinge berichten täglich von der Besserung an Pappas Schnippedullerich.« -104-
»Toll«, sagte Braintree. »Diesmal zählt der allgemeine Tratsch zwei und zwei zusammen. Henrys gehorsame Töchter könnten einen Penis nicht von einem Markknochen unterscheiden. Dafür sorgt Eva. Sie mag’s ja vielleicht mit alternativen Lebensformen haben, aber die erstrecken sich nicht auf den Sex. Nicht nach der Erfahrung mit Pringsheims, und Henry sehe ich einfach nicht der Rolle von O Sodo mio. Er hat doch gewissermaßen was Prüdes an sich.« »Nicht, wenn man nach seiner Sprache geht«, sagte Betty. »Seine Benutzung von ›Scheiß ‹ als Adjektiv ist die einfache Folge des jahrelangen Unterrichtens von Lehrlingen. Im Satz jedes x-beliebigen Fleischers oder Maurers dient es als sowas wie ein Bindestrich. Wenn du mir aufmerksamer zuhören würdest, könntest du es bei mir wenigstens zwanzigmal an einem normalen Tag hören. Also, wie ich schon sagte, was auch mit Henry sein mag, mit Krokodilen hat er’s nicht. Na, ich werd' auf jeden Fall heute abend mal’n Sprung rüber machen und sehen, was los ist.« Aber als er am Abend in der Willington Road ankam, war kein Zeichen von Wilt zu entdecken. Mehrere Wagen parkten in der Einfahrt, darunter ein Aston-Martin, der in der Gesellschaft von Nyes zum Holzvergaser umgebautem Ford und Mavis Mottrams verbeultem Minor völlig deplaziert wirkte. Braintree kämpfte sich durch die Hindernisstrecke aus hingeschmissenen Kleidungsstücken der Vierlinge und ihre Spielsachen hindurch, die in der Diele herumlagen, und fand Eva im Wintergarten, wo sie den Vorsitz eines Komitees führte, das sich offenbar mit Problemen der Dritten Welt beschäftigte. »Der Punkt, der anscheinend immer übersehen wird, ist der, daß die maranhamesische Medizin eine wichtige Rolle dabei zu übernehmen hat, alternative Behandlungsmethoden gegenüber den chemisch entwickelten Medikamenten im Westen zu erschließen«, sagte Roberta Smott gerade, als Braintree einen Moment hinter dem Fliegenschutz aus Bohnenranken -105-
stehenblieb, »ich meine, wir sollten nicht vergessen, daß wir, indem wir den Maranhamesen helfen, uns auf lange Sicht auch selber helfen.« Braintree schlich auf Zehenspitzen davon, als John Nye sich in einen leidenschaftlichen Appell zur Erhaltung der maranhamesischen Ackerbaumethoden stürzte, und insbesondere der Verwendung menschlicher Ausscheidungsstoffe als Düngemittel. »Sie haben den ganzen natürlichen Gehalt...« Braintree schlüpfte durch die Küchentür, wich draußen dem »Fruchtbarkeitssilo«, schlicht Kompostbehälter, aus und ging durch den biodynamischen Küchengarten zum Sommerhaus, wo er Wilt fand, der sich hinter Kaskaden getrockneter Kräuter versteckt hatte. Er lag in einem Liegestuhl und hatte etwas an, das einem leinenen Rundzelt verdächtig ähnlich sah. »Es ist tatsächlich eins von Evas Umstandskleidern«, sagte er, als Braintree ihn danach fragte. »Inzwischen hat es als Wigwam gedient, als Einsatz für einen Fünfmann-Schlafsack und als Sonnendach überm Campingklo. Ich habe es aus einem Berg Sachen gerettet, die Eva gerade mal wieder ihrem Äquatordorf zumuten will.« »Ich hab mich schon gefragt, was sie da drin am Wickel hätten. Ist das 'ne Art Onkel- Tom-Andacht?« »Du bist völlig hinterm Mond. Eva hat's jetzt mit einem alternativen Onkel Tom. Persönliche Unterstützung primitiver Stämme. Passenderweise P.U.P.S. abgekürzt. Man adoptiert irgendeinen Stamm in Afrika oder Neu-Guinea und überschüttet sie dann mit Mänteln, die selbst uns an einem stürmischen Februartag unerträglich warm wären, man schreibt Briefe an den örtlichen Schamanen und bittet um seinen Rat bei Kräuterbehandlungen von Frostbeulen oder, besser noch, Erfrierungen, und üblicherweise schließen sich die Willington Road und die Ipforder Brigade der Liga gegen den männlichen -106-
Chauvinismus mit einer Kannibalengemeinde zusammen, die sich für die weibliche Beschneidung mit einem rostigen Feuerstein starkmacht.« »Ich wußte gar nicht, daß Frauen beschnitten werden könnten, und ein rostiger Feuerstein ist auf jeden Fall überholt«, sagte Braintree. »Das ist die Klitoris in Maranham auch«, sagte Wilt. »Ich habe versucht, Eva das beizubiegen, aber du weißt ja, wie sie ist. Der edle Wilde ist die neueste Mode, und seine Naturvergötterung wuchert wie die Pest. Wenn die Nyes freie Bahn hätten, würden sie Kobras importieren, um die Ratten in der Londoner Innenstadt zu bekämpfen.« »Er redete grade über menschliche Exkremente als Ersatz für ›Blühwunder‹, als ich durchging. Der Mann ist ja ein Analfanatiker.« »Und fromm«, sagte Wilt. »Ich schwör dir, die singen ›Näher, mein Kot, zu dir‹, ehe sie jeden Sonntagmorgen neben dem Komposthaufen das vegetarische Abendmahl nehmen.« »Um auf persönlichere Dinge zu kommen«, sagte Braintree, »was genau ist eigentlich los mit dir?« »Darüber möchte ich lieber nicht reden«, sagte Wilt. »In Ordnung, aber warum dieser... äh... Schwangerschaftsfummel?« »Weil er nicht so unbequem wie Hosen ist«, sagte Wilt. »Es gibt Abgründe von Leiden, in die du erst noch tauchen mußt. Ich benutze dieses Wort mit Absicht.« »Was, Leiden?« »Tauchen«, sagte Wilt. »Wenn wir nicht neulich abend das ganze Bier getrunken hätten, wäre ich nicht in dieser gräßlichen Lage.« »Ich merke schon, daß du nicht dein übliches ekelhaftes selbergebrautes Lagerbier trinkst.« -107-
»Ich trinke überhaupt nichts in großen Mengen. Ich beschränke mich auf einen Fingerhut voll alle vier Stunden, in der Hoffnung, daß ich das ausschwitzen kann, anstatt Rasierklingen zu pinkeln.« Braintree lächelte. »Also ist doch was wahr an dem Gerücht«, sagte er. »Ich weiß nichts von einem Gerücht«, sagte Wilt, »aber an meiner Schilderung ist bestimmt was wahr. Rasierklingen stimmen genau.« »Na, dich wird doch interessieren, daß die Klatschmäuler überlegen, ob sie dem Krokodil nicht einen Orden stiften sollten, das deine edlen Teile zwischen die Zähne genommen hat. Das ist die Version, die hier rumgeht.« »Laß gutsein«, sagte Wilt. »nichts könnte weiter entfernt sein von der Wahrheit.« »Lieber Gott, du hast doch nicht etwa Syphilis oder irgend sowas Widerliches?« »Leider nicht. Ich habe gehört, moderne Behandlungsmethoden der Syphilis sind relativ schmerzlos. Was ich habe, ist es nicht. Und ich habe eine Scheiß Behandlung über mich ergehen lasen müssen, die ic h grade mal so durchstand. Es gibt hier in der Stadt eine Reihe von Leuten, die ich frohen Herzens ermorden könnte.« »Du meine Güte«, sagte Braintree, »das hört sich ja grausam an.« »Es ist grausam«, sagte Wilt. »Es erreichte den Gipfel der Grausamkeit heute früh um vier, als Emmeline, dieser kleine Drachen, ins Bett gestiegen kam und auf meinem Sickerbecken herumtrampelte. Es ist schon schlimm genug, daß man eine menschliche Schlauchleitung ist, aber mitten in der Nacht wach zu werden, um zu entdecken, daß man rückwärts pinkelt, ist eine Erfahrung, die ein neues und schreckliches Licht auf die Situation des Menschen wirft. Hast du schon mal einen ganz und -108-
gar nicht rosaroten feuchten Traum im Rückwärtsgang erlebt?« »Bestimmt nicht«, sagte Braintree mit eine m Schauder. »Also, ich ja«, sagte Wilt, »und ich kann dir sagen, er zerstört alles, was ein Vater an wenigen Vatergefühlen besitzt. Hätte ich nicht in Zuckungen gelegen, ich stünde bereits wegen vierfachen Mordes unter Anklage. Stattdessen habe ich Emmelines schweinischen Wortschatz um etliche Bände erweitert, und Miss Müller muß den Eindruck haben, das englische Sexualleben ist sadomasochistisch bis zum Exzeß. Gott allein weiß, was sie von dem Gebrüll hält, das wir letzte Nacht veranstaltet haben.« »Und wie geht’s unseren Träumereien am Tage? Noch musisch?« fragte Braintree. »Schwer zu sagen. Wirklich schwer zu sagen. Vergiß nicht, in meiner augenblicklichen Lage versuche ich, mich nicht allzu auffällig zu benehmen.« »Wenn du in Evas Umstandskleidern herumziehst, muß ich sagen, überrascht mich das auch nicht. Das reicht schon, daß sich alle Leute wundern.« »Ja, aber ich stehe auch vor einem Rätsel«, sagte Wilt. »Ich werde aus der Frau nicht schlau. Weißt du, daß sie eine Reihe auffallend reicher junger Männe r kennt, die die ganze Zeit durchs Haus ziehen?« »Daher der Aston-Martin«, sagte Braintree. »Ich hab' mich schon gewundert, wer hier wohl ein Vermögen geerbt hat.« »Ja, aber das erklärt nicht die Perücke.« »Was für eine Perücke?« »Das Auto gehört irgend so einem Casanova aus Mexiko. Er trägt einen Walroß-Schnurrbart, Chanel Nummer weißichwas und, was am schlimmsten ist, eine Perücke. Ich hab das durchs Fernglas genau beobachtet. Er nimmt sie ab, wenn er da oben ist.« Wilt reichte Braintree das Fernglas und zeigte auf die -109-
Mansarde. »Ich kann überhaupt nichts sehen. Die Jalousien sind runtergelassen«, sagte Braintree, nachdem er eine Minute hindurchgeguckt hatte. »Also, ich kann dir ja sagen, er trägt eine Perücke, und ich wüßte gerne, warum.« »Wahrscheinlich weil er 'ne Glatze hat. Das ist doch der übliche Grund.« »Was genau der Grund ist, warum ich die Frage stelle. Lothario Zapata hat keine Glatze. Er hat einen hervorragenden Haarwuchs, und trotzdem nimmt er, wenn er da oben in der Mansarde ist, seine Perücke ab.« »Was ist das für eine Perücke?« »Ach, so’n struppiges schwarzes Ding«, sagte Wilt. »Drunter ist er blond. Du mußt doch zugeben, das ist sonderbar.« »Warum fragst du denn nicht deine Irmgard? Könnte doch sein, sie hat'n Hang für blonde junge Männer mit Perücken.« Aber Wilt schüttelte den Kopf. »Erstens, weil sie aus dem Haus geht, bevor ich aufgestanden und einigermaßen ansprechbar bin, und zweitens, weil mein Selbsterhaltungstrieb mir sagt, daß alles in bezug auf sexuelle Reize die schrecklichsten und möglicherweise unwiderrufliche Folgen haben könnte. Nein, ich spekuliere lieber von weitem.« »Sehr klug«, sagte Braintree. »Ich mag mir nicht vorstellen, was Eva täte, wenn sie dahinterkäme, daß du leidenschaftlich in das Aupair-Mädchen verliebt warst.« »Wenn man danach gehen kann, was sie schon aus belangloseren Gründen getan hat, stimme ich dir zu«, sagte Wilt und beließ es dabei. »Irgend 'ne Nachricht für die Schule?« fragte Braintree. »Ja«, sagte Wilt, »Sag' halt, ich wäre wieder im Verkehr... mein Gott, was für ein Wort... wenn es sicher ist, daß ich mich -110-
hinsetzen kann, ohne daß es 'ne Fehlzündung gibt.« »Ich bezweifle, daß sie verstehen werden, was du meinst.« »Ich erwarte auch nicht, daß sie das tun. Ich bin aus dieser Feuerprobe mit der festen Überzeugung hervorgegangen, daß das letzte, was jemand glaubt, die Wahrheit ist. Es ist viel sicherer in dieser widerwärtigen Welt, zu lügen. Sag' einfach, ich litte an einem Virus. Niemand weiß, was ein Virus ist, aber es steht für eine Menge Krankheiten.« Braintree ging wieder nach Hause und ließ Wilt in düsterem Nachdenken über die Wahrheit zurück. In einer gottlosen, leichtgläubigen, gewalttätigen und ziellosen Welt war sie der einzige Prüfstein, den er je besessen hatte, und die einzige Waffe. Aber wie alle seine Waffen war sie zweischneidig und diente, wie die jüngste Erfahrung gezeigt hatte, ebenso dazu, ihm zu schaden, wie den anderen zu nützen. Sie war etwas, was man am besten für sich behielt, eine persönliche Wahrheit, möglicherweise sinnlos auf lange Sicht, aber sie sorgte für eine moralische Eigenständigkeit, die wirkungsvoller war, als Evas praktische Versuche zum selben Zwecke in ihrem Garten. Nachdem er zu diesem Schluß gekommen war und Evas Sorge um die Welt und P.U.P.S. verdammt hatte, drehte er diese Schlüsse um und beschuldigte sich der Duckmäuserei und Teilnahmslosigkeit angesichts einer hungernden und wehrlosen Welt. Evas Unternehmungen waren vielleicht nicht mehr als Beschwichtigungsversuche für ein aufgeklärtes Bewußtsein, aber trotz allem halfen sie, das Bewußtsein wachzuhalten, und gaben den Vierlingen ein Beispiel, das ihnen seine Interesselosigkeit und Untätigkeit vorenthielt. Irgendwo mußte es einen goldenen Mittelweg geben zwischen dem Standpunkt, jeder sei sich selbst der Nächste, und der Verbesserung des Schicksals hungernder Millionen. Bestimmt war er nicht in doktrinären Arschlöchern wie Bilger zu finden. Selbst John und Bertha Nye versuchten, eine bessere Welt zustandezubringen, und nicht, eine schlechte kaputtzumachen. Und was tat er, -111-
Henry Wilt? Nichts. Oder vielmehr, sich in einen biersaufenden, sich selber bemitleidenden Voyeur verwandeln, der keine brauchbare Leistung vorweisen konnte, die für ihn sprach. Wie um zu beweisen, daß er zumindest Mut zu seiner Verkleidung hätte, trat Wilt aus dem Sommerhäuschen und spazierte vor den Augen der Leute im Wintergarten zum Haus zurück, bloß um festzustellen, daß die Versammlung schon vorbei war und Eva gerade die Vierlinge zu Bett brachte. Als sie die Treppe runterkam, fand sie Wilt, der am Küchentisch saß und grüne Bohnen abzog. »Die Wunder hören nimmer auf«, sagte sie. »Nach all den Jahren hilfst du tatsächlich in der Küche? Du fühlst dich doch nicht krank oder so was?« »Bis eben nicht«, sagte Wilt, »aber jetzt, wo du’s erwähnst...« »Geh bitte nicht. Ich möchte etwas mit dir besprechen.« »Was denn?« fragte Wilt und blieb in der Tür stehen. »Oben«, sagte Eva und hob den Blick bedeutungsvoll zur Decke. »Oben?« »Du weißt schon, was«, sagte Eva, noch vorsichtiger werdend. »Keine Ahnung«, sagte Wilt. »Zumindest denke ich, ich weiß es nicht, und wenn dein Geflüstere irgendwas bedeutet, will ich’s auch nicht wissen. Wenn du auch nur einen Augenblick meinst, ich wär technisch in der Lage...« »Ich meine nicht uns. Ich meine sie.« »Sie?« »Miss Müller und ihre Freunde.« »Ach, sie«, sagte Wilt und setzte sich wieder. »Was ist denn mit denen?« »Du mußt es doch gehört haben«, sagte Eva. -112-
»Was gehört?« sagte Wilt. »Ach, du weißt schon. Du stellst dich doch bloß an.« »Mein Gott«, sagte Wilt, »wir reden wieder wie Winnie der Bär. Wenn du sagen willst, ob es mir in meinem Halbbewußtsein gedämmert hätte, daß sie gelegentlich vögeln, warum sagst du’s dann nicht?« »Es sind die Kinder, an die ich dabei denke«, sagte Eva. »Ich glaube nicht, daß es gut für sie ist, in einer Umgebung zu leben, in der so viel von dem passiert, was du eben gesagt hast.« »Wenn’s nicht so wäre, gäbe es sie überhaupt nicht. Und sowieso sind deine primitiven Brieffreunde ganz fabelhaft im Schmetterling- und-Blümchen-Spiel, um einen Ausdruck zu benutzen, der Josephine gehörig in Verwirrung bringen würde. Sie nennt das normalerweise einfach...« »Henry«, sagte Eva warnend. »Aber sie tut’s. Oft. Ich hab' erst gestern gehört, wie sie zu Penelope sagte, sie sollte ihr...« »Ich möchte das nicht hören«, sagte Eva. »Das wollte ich auch nicht, wenn du das etwa denkst«, sagte Wilt, »aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die jüngere Generation sehr viel schneller reift in Worten und Taten als wir. Als ich zehn war, dachte ich noch, wenn Vater sagte, die oder jene sei gut zu vögeln, sie würden im Winter Futter streuen. Jetzt gehört’s mit vier zum guten Ton...« »Das sagt gar nichts«, sagte Eva, »die Ausdrucksweise deines Vaters ließ viel zu wünschen übrig.« »Im Falle meines Vaters war es wenigstens nur seine Sprache. Bei deinem alten Herrn war's der ganze Mensch. Ich habe mich oft gefragt, wie deine Mutter es nur fertigbrachte...« »Henry Wilt, meine Familie läßt du hier raus. Ich will wissen, was du meinst, was wir wegen Miss Müller machen sollten.« »Warum fragst du mich das? Du hast sie aufgefordert, -113-
herzukommen und hier zu wohnen. Mich hast du nicht um Rat, gefragt. Und ganz sicher wollte ich das Weibsstück nicht hier haben. Jetzt, wo sich rausstellt, daß sie, so wie du’s darstellst, sowas ähnliches wie eine internationale Sexfurie ist, die deine Kinder möglicherweise mit vorzeitiger Nymphomanie infiziert, werde ich rangezogen...« »Alles, was ich will, ist dein Rat«, sagte Eva. »Also, hier hast du ihn«, sagte Wilt. »Sag ihr, sie soll verflucht nochmal ausziehen.« »Aber das ist ja die Schwierigkeit. Sie hat mir eine Monatsmiete im voraus gegeben. Ich hab sie noch nicht auf die Bank gebracht, aber trotzdem...« »Dann gib sie ihr doch in Gottes Namen wieder. Wenn du die Schlunze nicht haben willst, gib ihr doch 'n Tritt.« »Das wirkt so ungastlich, wirklich«, sagte Eva. »Ich meine, sie ist Ausländerin und weit weg von zu Hause.« »Nicht weit genug von meinem Zuhause«, sagte Wilt, »und alle ihre Freunde sind anscheinend junge Krösusse. Sie kann doch zu ihnen ziehen oder im ›Claridges‹ wohnen. Mein Rat ist, ihr das Geld wiederzugeben und sie rauszuschmeißen.« Und damit ging Wilt ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Fernseher, bis das Abendbrot fertig war. In der Küche kam Eva zu neuen Schlüssen. Mavis Mottram hatte wieder mal nicht recht gehabt. Henry war nicht im geringsten an Miss Müller interessiert, und das Geld konnte sie an P.U.P.S. weiterleiten. Es bestand also auch nicht die Notwendigkeit, die Untermieterin zu bitten auszuziehen. Vielleicht, wenn sie einfach darauf hinwies, daß gewisse Dinge durch die Decke hindurch zu hören waren... Auf jeden Fall war es schön zu wissen, daß Henry nichts Böses im Sinn gehabt hatte. Was nur wieder einmal zeigte, daß sie nicht darauf hören sollte, was Mavis ihr zu sagen hatte. Henry war trotz seiner albernen Manieren ein guter Ehemann. Es war eine glückliche -114-
Eva, die diesen Abend Wilt zum Abendessen rief. Es war ein überraschend glücklicher Wilt, der am Mittwoch darauf Dr. Scallys Sprechzimmer verließ. Nach einer Reihe von Scherzen über Wilts Blessuren war das Abnehmen des Verbandes und der Pipeline vergleichsweise schmerzlos vonstatten gegangen. »Absolut unnötig der ganze Kram, meiner Meinung nach«, sagte der Arzt, »aber diese jungen Burschen da im Krankenhaus machen ja gerne aus jeder Mücke einen Elefanten, wenn sie mal dran sind.« Eine Bemerkung, die Wilt fast Lust machte, eine offizielle Beschwerde beim Gesundheitsobmann einzureichen. Dr. Scally war dagegen. »Denken Sie an den Skandal, lieber Freund, und streng genommen hatten sie das Recht dazu. Wenn Sie in der Gegend rumziehen und verkünden, man hätte Sie vergiftet...« Das war ein überzeugendes Argument, und mit dem Versprechen des Doktors, daß er bald wieder so gut wie neu sein werde, vorausgesetzt er übertriebe es nicht mit seinem Frauchen, trat Wilt mit dem Gefühl auf die Straße, er könne, wenn nicht die ganze Welt, so doch die Hälfte davon umarmen. Die Sonne schien auf das herbstliche Laub, kleine Jungen sammelten im Park Kastanien unter den Bäumen auf, und Dr. Scally hatte ihm ein Attest gegeben, das ihm für eine weitere Woche der Schule fernzubleiben erlaubte. Wilt schlenderte in die Stadt, verbrachte eine Stunde damit, in einem Antiquariat herumzuschmökern, und war drauf und dran, nach Hause zu gehen, als ihm einfiel, daß er noch Miss Müllers Miete auf der Bank einzahlen müsse. Wilt schlug den Weg in Richtung Bank ein und fühlte sich noch glücklicher. Seine kurze Verliebtheit in sie war verflogen. Irmgard war eben auch bloß so eine dämliche ausländische Studentin mit mehr Geld als Grips und einem Faible für teure -115-
Autos und junge Männer aller Nationalitäten. Und so stieg er munter die Stufen zur Bank empor und ging zum Schalter, wo er einen Einzahlschein ausfüllte und ihn dem Kassierer gab. »Meine Frau hat ein Sonderkonto«, erklärte er, »es handelt sich um ein Depositenkonto auf den Namen Wilt, Mrs. H. Wilt. Ich habe die Kontonummer vergessen, aber es ist für einen afrikanischen Stamm, und ich glaube, er heißt...« Aber der Kassierer hörte ganz ohne Frage nicht zu. Er war damit beschäftigt, die Scheine zu zählen, und während Wilt ihm zusah, unterbrach er sich mehrere Male. Schließlich öffnete er mit einem kurzen »Entschuldigen Sie mich, Sir« das Türchen auf der Rückseite seines Gehäuses und verschwand. Mehrere Kunden hinter Wilt gingen zum nächsten Schalter und ließen ihn mit diesem unbestimmten Unbehagen zurück, das er immer empfand, wenn er einen Scheck einlöste und der Bankbeamte, ehe er die Rückseite stempelte, einen Blick auf eine Liste der Kunden warf, die wahrscheinlich kräftig überzogen hatten. Aber diesmal zahlte er Geld ein und hob keins ab, und Banknoten konnten einfach nicht überzogen sein. Sie konnten’s. Wilt begann gerade, einigen Unmut darüber zu entwickeln, daß man ihn warten ließ, als ein Bankkurier an ihn herantrat. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, eben ins Büro des Direktors mitzukommen, Sir«, sagte er höflich, doch mit leicht drohendem Unterton. Wilt folgte ihm durch die Kassenhalle ins Büro des Direktors. »Mr. Wilt?« sagte der Direktor. Wilt nickte. »Bitte nehmen Sie Platz!« Wilt setzte sich und starrte den Kassierer an, der neben dem Schreibtisch des Direktors stand. Die Scheine und die Einzahlungsquittung lagen auf der Löschblattunterlage vor ihm. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen würden, was das Ganze soll«, sagte Wilt mit wachsender Unruhe. Hinter ihm hatte der Bankkurier an der Tür Stellung bezogen. -116-
»Ich denke, wir sparen uns jeden Kommentar, bis die Polizei da ist«, sagte der Direktor. »Was meinen Sie damit, ›bis die Polizei da ist‹?« Der Direktor sagte nichts. Er glotzte Wilt mit einem Blick an, dem es gelang, Besorgnis und Argwohn miteinander zu verbinden. »Also, sehen Sie mal«, sagte Wilt, »ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ich beanspruche...« Wilts Protest erstarb, als der Direktor den Stapel Scheine auf seinem Schreibtisch musterte. »Du lieber Gott, Sie nehmen doch wohl nicht an, daß sie gefälscht sind?« »Gefälscht nicht, Mr. Wilt, aber wie ich schon sagte, wenn die Polizei hier ist, werden Sie Gelegenheit haben, alles zu erklären. Ich bin sicher, es gibt irgendeine absolut logische Erklärung. Niemand hat auch nur einen Augenblick lang einen Verdacht gegen Sie...« »Wegen was denn?« fragte Wilt. Aber wieder sagte der Bankdirektor nichts. Vom Verkehrslärm draußen abgesehen, war alles still, und der Tag, der nur wenige Minuten vorher so fröhlich und voller Hoffnung erschienen war, war plötzlich grau und fürchterlich. In seiner Erinnerung suchte Wilt fieberhaft nach einer Erklärung, aber ihm fiel nichts ein, und er wollte gerade protestieren, daß man kein Recht hätte, ihn festzuhalten, als es an der Tür klopfte und der Direktor vorsichtig öffnete. Inspektor Flint, Sergeant Yates und zwei Kriminalbeamte traten ein. »Na, endlich«, sagte der Direktor, »das ist wirklich sehr peinlich. Mr. Wilt hier ist ein alter und angesehener Kunde...« Seine Rechtfertigung erstarb ihm auf den Lippen. Inspektor Flint starrte Wilt an. »Ich hatte mir’s gedacht, daß es nicht zwei Wilts in ein und -117-
derselben Stadt gibt«, sagte er triumphierend. »Na dann...« Aber er wurde von dem älteren der beiden Kriminalbeamten unterbrochen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Inspektor, behandeln wir die Angelegenheit«, sagte er mit munterer Autorität und geradezu charmant, was eher noch beunruhigender wirkte als vorher die Kühle des Bankdirektors. Er ging hinüber zum Schreibtisch, nahm einige von den Scheinen und besah sie sich eingehend. Wilt beobachtete ihn mit wachsendem Interesse. »Würden Sie uns wohl bitte sagen, wie Sie an diese FünfPfund-Noten gekommen sind, Sir?« sagte der Mann. »Übrigens, mein Name ist Misterson.« »Sie sind die im voraus gezahlte Monatsmiete unseres Untermieters«, sagte Wilt. »Ich bin hier, um sie auf das P.U.P.SKonto meiner Frau...« »Pups, Sir? Pupskonto?« sagte der wohlwollende Mr. Misterson. »Es bedeutet Persönliche Unterstützung primitiver Stämme‹«, sagte Wilt. »Meine Frau ist der Kassenwart der hiesigen Ortsgruppe. Sie hat einen Stamm in Afrika adoptiert und...« »Ich verstehe, Mr. Wilt«, sagte Misterson und warf Inspektor Flint einen frostigen Blick zu, der eben »Typisch« gemurmelt hatte. Er setzte sich und rückte seinen Stuhl näher an Wilt heran. »Sie sagten gerade, daß dieses Geld von ihrem Untermieter stammt und für das Depositenkonto Ihrer Frau bestimmt war. Was für ein Untermieter ist das denn?« »Weiblich«, sagte Wilt, der sich auf Kreuzverhörseinsilbigkeit verlegte. »Und ihr Name, Sir?« »Irmgard Müller.« Die beiden Kriminalbeamten wechselten einen Blick. Wilt verfolgte ihn und sagte hastig: »Sie ist Deutsche.« -118-
»Ja, Sir. Und würden Sie sie wohl identifizieren können?« »Identifizieren?« sagte Wilt. »Das dürfte nicht schwer sein. Sie wohnt schon seit letztem Monat in unserer Mansarde.« »Wenn Sie in diesem Fall freundlicherweise mit aufs Revier kämen, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie sich ein paar Fotos ansehen wollten«, sagte Misterson und schob seinen Stuhl zurück. »Warten Sie einen Augenblick. Ich will wissen, um was es hier geht«, sagte Wilt. »Ich bin schon mal in diesem Polizeirevier gewesen, und freiwillig geh ich da nicht wieder rein.« Er blieb entschlossen auf seinem Stuhl sitzen. Mr. Misterson griff in seine Tasche und holte einen Plastikausweis raus, den er aufklappte. »Würden Sie sich das bitte genau ansehen.« Wilt tat das und fühlte, wie sich sein Magen umdrehte. In dem Ausweis stand, daß Oberinspektor Misterson von der AntiterrorBrigade ermächtigt sei... Wilt erhob sich unsicher und bewegte sich auf die Tür zu. Der Oberinspektor gab Inspektor Flint, Sergeant Yates und dem Bankdirektor ihre Anweisungen. Niemand habe das Büro zu verlassen, es seien keine Telefongespräche nach draußen zu führen, größte Ungezwungenheit und Gang der Geschäfte wie gewöhnlich. Sogar der Bankkurier mußte bleiben, wo er war. »So, Mr. Wilt, wenn Sie jetzt bitte ganz natürlich hinausgehen und mir folgen wollten. Wir wo llen keine Aufmerksamkeit erregen.« Wilt folgte ihm hinaus und durch die Kassenhalle zur Tür, wo er einen Augenblick zögerte und sich fragte, was er tun solle, als ein Wagen vorfuhr. Der Oberinspektor öffnete den Schlag und Wilt stieg ein. Fünf Minuten später saß er an einem Tisch, wo ihm Fotos junger Frauen vorgelegt wurden. Es war zwanzig nach zwölf, als er schließlich Miss Irmgard Müller aus dem Stapel rauspickte. -119-
»Sind Sie absolut sicher?« fragte der Oberinspektor, »Natürlich«, sagte Wilt grantig. »Also, ich weiß ja nicht, wer sie ist, oder was das verdammte Weibsbild gemacht hat, aber ich wäre froh, wenn Sie hinfahren und sie verhaften würden oder sowas. Ich möchte nach Hause zu meinem Mittagessen.« »Ganz recht, Sir. Und ist Ihre Frau zu Hause?« Wilt sah auf seine Uhr. »Ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat. Sie wird jetzt mit den Kindern auf dem Rückweg von der Spielgruppe sein und...« Der Oberinspektor seufzte. Es war ein langer schicksalsschwerer Seufzer. »In dem Fall tut’s mir leid, von einer Verhaftung gerade jetzt kann keine Rede sein«, sagte er. »Ich nehme an, daß Miss... äh... Müller im Haus ist.« »Das weiß ich nicht«, sagte Wilt, »sie war zu Hause, als ich heute morgen wegging, und da heute Mittwoch ist, wo sie keine Vorlesungen hat, ist sie’s möglicherweise immer noch. Warum fahren Sie nicht hin und stellen’s fest?« »Weil Ihre Untermieterin, Sir, halt zufällig eine der gefährlichsten Terroristinnen auf der Welt ist. Ich denke, das erklärt die Sache von allein.« »Oh mein Gott«, sagte Wilt, der sich plötzlich sehr schwach fühlte. Oberinspektor Misterson lehnte sich über den Schreibtisch. »Sie hat wenigstens acht Morde auf dem Kerbholz, und man nimmt an, sie ist das Chefgehirn... Tut mir leid, so melodramatische Ausdrücke gebrauchen zu müssen, aber schließlich treffen sie zufällig genau zu. Wie ich eben sagte, hat sie mehrere Bombenanschläge organisiert, und wir wissen jetzt auch, daß sie in den Überfall auf einen gepanzerten Geldtransporter letzten Dienstag in Gantrey verwickelt ist. Ein Mann starb dabei. Sie werden vielleicht von dem Fall gelesen haben.« Wilt hatte. Im Wartezimmer der Unfallstation. Damals war -120-
ihm das wie einer von diesen undurchsichtigen und abscheulichen Akten grundloser Gewalt erschienen, die die Morgenzeitung zu einer so deprimierenden Lektüre machten. Und obwohl er nur davon gelesen hatte, hatte der Mord an dem Sicherheitsbeamten eine Realität erlangt, die ihm unter den augenblicklichen Umständen fehlte. Chefgehirn, Terrorist, Morde - Worte, in einem Büro beiläufig ausgesprochen von einem rücksichtsvollen Mann mit Paisleyschlips und braunem Tweedanzug. Wie irgendein Anwalt vom Lande war Oberinspektor Misterson ein Mensch, bei dem man zu allerletzt vermutet hätte, er werde solche Worte benutzen, und eben dieses Mißverhältnis war so verwirrend. Wilt starrte den Mann an und schüttelte den Kopf. »Tut mit leid, es ist wahr«, sagte der Oberinspektor. »Aber das Geld...« »Markiert, Sir. Markiert und numeriert. Der Speck in der Falle.« Wieder schüttelte Wilt den Kopf. Die Wahrheit war unerträglich. »Was werden sie tun? Meine Frau und die Kinder sind mittlerweile zu Hause, und wenn sie da ist... und da sind auch all diese anderen Fremden im Haus.« »Würden Sie uns bitte sagen, wieviele andere... äh... Fremde dort sind, Sir?« »Das weiß ich nicht«, sagte Wilt, »das wechselt von Tag zu Tag. In hellen Scharen kommen und gehen sie. Gott sei’s geklagt.« »Also, Sir«, sagte der Oberinspektor munter, »wie machen Sie das normalerweise? Gehen Sie zum Mittagessen nach Hause?« »Nein. Normalerweise esse ich in der Schule, aber im Moment bin ich gerade krankgeschrieben, und, ja, da tue ich das wohl.« »Dann wird Ihre Frau überrascht sein, wenn Sie nicht nach -121-
Hause kommen?« »Das bezweifle ich«, sagte Wilt. »Manchmal gehe ich bloß schnell in 'ne Imbißstube und kauf mir Brötchen.« »Und Sie rufen nicht erst an?« »Nicht immer.« »Was ich festzustellen versuche, Sir, das ist, ob Ihre Frau wohl irgendwie beunruhigt wäre, wenn Sie jetzt nicht nach Hause kämen oder sich nicht bei ihr meldeten.« »Nein«, sagte Wilt. »Sie wird bloß beunruhigt sein, wenn sie erfährt, daß wir unsere Mansarde an diese... Wie ist doch noch der Name dieser gräßlichen Frau?« »Gudrun Schautz. Und nun, Sir, habe ich von der Kantine etwas zu Mittag heraufschicken lassen, und währenddessen treffen wir unsere Vorbereitungen.« »Was denn für Vorbereitungen?« fragte Wilt, aber der Oberinspektor war aus dem Zimmer gegangen, und der andere Kriminalbeamte schien keine Lust zum Reden zu haben. Wilt betrachtete die leichte Ausbuchtung unter der rechten Achselhöhle des Mannes und versuchte, dem wachsenden Gefühl des Irrsinns Widerstand zu leisten. In der Willington Road war Eva in der Küche damit beschäftigt, den Vierlingen ihr Mittagessen zu geben. »Wir werden nicht auf Pappi warten«, sagte sie, »wahrscheinlich kommt er ein bißchen später.« »Bringt er seinen Dudelsack mit nach Hause?« fragte Josephine. »Dudelsack, Lieblein? Pappi hat aber keinen Dudelsack.« »Er hat doch einen getragen«, sagte Penelope. »Ja, aber keinen, mit dem man spielt.« »Ich habe im Fernsehen Männer in Kleidern gesehen, die Dudelsack spielten«, sagte Emmeline. -122-
»Kilts, Lieblein.« »Ich habe gesehen, wie Pappi im Sommerhaus mit seinem Dudelsack spielte«, sagte Penelope, »und er hatte auch ein Kleid von Mammi an.« »Aber er hat doch nicht genauso damit gespielt, Penny«, versuchte Eva, sie zu überreden, während sie im stillen überlegte, wie Wilt wohl damit gespielt hatte. »Dudelsäcke machen jedenfalls schrecklichen Krach«, beharrte Emmeline. »Und Pappi hat schrecklichen Krach gemacht, als du ins Bett gestiegen bist...« »Ja, Lieblein, er hatte einen schlechten Traum.« »Er hat aber gesagt, einen feuchten Traum, Mammi. Ich hab’s genau gehört.« »Na gut, das ist auch ein schlechter Traum«, sagte Eva. »Und nun, was habt ihr heute in der Schule gemacht?« Aber die Vierlinge waren von dem fesselnden Thema des jüngsten Mißgeschicks ihres Vaters nicht wegzukriegen. »Rogers Mammi hat zu ihm gesagt, bei Pappi muß irgendwas mit der Blase nicht stimmen, wenn er einen Dudelsack tragen muß«, sagte Penelope. »Was ist eine Blase, Mammi?« »Ich weiß«, schrie Emmeline, »das ist der Bauch von einem Schwein, und daraus wird ein Dudelsack gemacht, das hat Sally mir erzählt.« »Pappi ist doch kein Schwein...« »Jetzt ist es aber genug damit«, sagte Eva entschlossen, »wir wollen nicht mehr über Pappi reden. Eßt jetzt euren Rogen.« »Roger sagt, Rogen sind Fischbabys«, sagte Penelope. »Ich mag das nicht.« »Das stimmt nicht. Fische kriegen keine Babys. Sie legen Eier.« -123-
»Legen Würste Eier?« fragte Josephine. »Natürlich nicht, Liebling. Würste leben doch nicht.« »Roger sagt, die Wurst von seinem Vater legt Eier, und seine Mammi trägt was...« »Ich habe keine Lust mehr, mir anzuhören, was Roger sagt«, sagte Eva, hin und hergerissen zwischen ihrer Neugier wegen der Rawstons und ihrem Abscheu gegenüber dem enzyklopädischen Wissen ihrer Sprößlinge. »Es ist nicht fein, über solche Dinge zu reden.« »Warum nicht, Mammi?« »Darum«, sagte Eva, der kein entsprechend fortschrittliches Argument einfiel, um sie zum Schweigen zu bringen. In der Klemme zwischen dem ihr anerzogenen Sinn für Feinheit und ihrer Meinung, daß die den Kindern angeborene Neugier nie gebremst werden sollte, kämpfte Eva sich durchs Mittagessen und wünschte nur, Henry wäre da, um ihre Fragen mit einem wortkargen Knurren abzustellen. Aber Henry war auch um zwei noch nicht da, als Mavis anrief, um sie daran zu erinnern, daß sie ihr versprochen hätte, sie auf dem Weg zum Symposium über alternative Malerei in Thailand aufzulesen. »Es tut mir leid, aber Henry ist noch nicht wieder zurück«, sagte Eva. »Er ist heute morgen zum Arzt gegangen, und ich hatte ihn schon zum Mittagessen zurückerwartet. Ich kann die Kinder doch nicht alleinlassen.« »Patrick hat heute meinen Wagen«, sagte Mavis, »seiner ist in der Werkstatt, und ich hab mich auf dich verlassen.« »Na gut, ich geh Mrs. de Frackas fragen, ob sie eine halbe Stunde babysitten kann«, sagte Eva, »sie bietet sich immer freiwillig dazu an, und Henry muß ja auch bald zurück sein.« Sie ging zum Nachbarhaus hinüber, und wenig später saß Mrs. de Frackas inmitten der Vierlinge im Sommerhäuschen und las ihnen die Geschichte von Rikki Tikki Tavi vor. Die -124-
Erinnerungen der zweiundachtzigjährigen Witwe Generalmajor de Frackas' an ihre Jungmädchenjahre in Indien waren viel lebendiger als die an neue re Ereignisse. Eva fuhr erfreut davon, um Mavis aufzulesen. Als Wilt mit dem Mittagessen fertig war, hatte er aus der Gesichterkartei noch zwei Terroristen als häufige Besucher in seinem Haus herausgepickt, und das Polizeirevier war Zeuge von der Ankunft mehrerer großer Lastwagen mit einer Riesenmenge erstaunlich behender, in bunter Vielfalt neutral gekleideter Männer gewesen,. Die Kantine war zur Einsatzzentrale umfunktioniert worden, und Inspektor Misterson war in seiner Befehlsgewalt durch einen Major (Name geheim) des Militärischen Sonderkommandos abgelöst worden. »Der Oberinspektor hier wird Ihnen die ersten Stufen der Operation erläutern«, sagte der Major herablassend, »aber zuvor möchte ich betonen, daß wir es mit einigen der kaltblütigsten Mörder Europas zu tun haben. Sie dürfen unter gar keinen Umständen entkommen. Zugleich wollen wir natürlich, wenn irgend möglich, ein Blutvergießen vermeiden. Es muß aber gesagt werden, daß wir unter den gegenwärtigen Umständen berechtigt sind, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen, falls der Getroffene noch antworten kann. Ich habe die Befugnis dazu vom Minister.« Er lächelte düster und setzte sich. »Nachdem das Haus umstellt ist«, sagte der Oberinspektor, »wird Mr. Wilt hineingehen und hoffentlich den Exitus, pardon... äh... Exodus seiner Familie zuwegebringen. Ich will, daß nichts geschieht, was diese erste wichtige Bedingung verhindert. Der zweite Umstand, der zu berücksichtigen ist, ist der, daß wir die einmalige Gelegenheit haben, mindestens drei führende Terroristen zu verhaften und möglicherweise noch mehr, und Mr. Wilt wird wiederum uns hoffentlich in die Lage setzen, zu erfahren, wieviele Mitglieder der Gruppe im Augenblick eben seines Exitus, pardon... äh... Exodus im Haus sind. Ich mache mit meinen Le uten weiter und überlasse das -125-
übrige dem Major.« Er verließ die Kantine und ging in das Büro hinauf, wo Wilt eben mit Hilfe großer Schlucke Kaffee den Rest seines Queenspuddings runterspülte. Vor der Tür traf er den Stabsarzt und Parapsychologen des MSK, der insgeheim Wilt genau beobachtet hatte. »Nervöser Typ«, sagte er finster. »Schlechteres Material nicht denkbar. So’n Nichtsnutz, der vor Schiß von einem Fesselballon springen würde.« »Zum Glück muß er ja nicht von einem Fesselballon springen«, sagte der Oberinspektor. »Er muß ja nichts weiter, als ins Haus gehen und sich einen Vorwand ausdenken, weshalb er seine Familie rausholt.« »Trotzdem meine ich, er sollte vielleicht ein Schüßchen von was kriegen, das ihm den Rücken stärkt. Wir wollen ja nicht, daß er auf der Türschwelle schlappmacht. Weihen Sie ihn in den Plan ein.« Er marschierte davon, um seine Tasche zu holen, und der Oberinspektor ging zu Wilt hinein. »Tja, dann«, sagte er beunruhigend fröhlich, »Sie müssen lediglich...« »... in ein mit Mördern vollbesetztes Haus gehen und meine Frau bitten, mit rauszukommen, ich weiß«, sagte Wilt. »Ist doch nichts dabei.« Wilt sah ihn ungläubig an. »Nichts dabei?« sagte Wilt mit unsicherem Sopran. »Sie kennen meine verdammte Frau nicht.« »Ich hatte bisher nicht die Ehre«, gab der Oberinspektor zu. »Eben«, sagte Wilt. »Also, wenn und falls Sie sie mal haben, werden Sie feststellen, daß, wenn ich nach Hause gehe und sie bitte, das Haus mit mir zu verlassen, sie sich tausend Gründe dafür einfallen läßt, drin zu bleiben.« »Schwierige Frau, Sir?« »Ach nein, Eva ist nicht schwierig. Überhaupt nicht. Sie ist -126-
bloß verdammt schwer zu lenken, das ist alles.« »Verstehe, Sir, und wenn Sie den Vorschlag machten, sie solle nicht rausgehen, meinen Sie, dann würde sie’s vielleicht gerade tun?« »Wenn Sie meine Meinung hören wollen«, sagte Wilt, »wenn ich das tue, wird sie denken, ich habe nicht alle Tassen im Schrank. Ich meine, was täten Sie denn, wenn Sie friedlich zu Hause säßen und Ihre Frau käme und machte aus heiterem Himmel den Vorschlag, Sie sollten um Himmels willen nicht aus dem Haus gehen, wenn Sie das überhaupt nicht vorhatten? Sie würden doch denken, da ist verflucht nochmal irgendwas Komisches im Busch, oder?« »Das würde ich wohl«, sagte der Oberinspektor. »So habe ich noch nie darüber nachgedacht.« »Na, da fangen Sie jetzt aber besser damit an«, sagte Wilt. »Ich werde auf keinen Fall...« Er wurde durch das Eintreten des Majors und zweier anderer Offiziere unterbrochen, die Jeans und T-Shirts mit ES LEBE DIE IRA drauf anhatten und ziemlich große Handtaschen trugen. »Wenn wir nur mal einen Moment unterbrechen dürfen«, sagte der Major, »wir hätten gern, daß Mr. Wilt uns einen detaillierten Plan des Hauses zeichnet, einen senkrechten Schnitt und einen waagerechten.« »Wozu denn das?« sagte Wilt, der seine Augen nicht von den T-Shirts losreißen konnte. »Für den Fall, daß wir das Haus stürmen müssen, Sir«, sagte der Major, »brauchen wir unbedingt die richtigen Schußwinkel. Hab' keine Lust, da reinzukommen und festzustellen, daß die Klos auf der verkehrten Seite sind, und was weiß ich noch alles.« »Hören Sie mal zu, Kamerad«, sagte Wilt, »wenn Sie die Willington Road mit diesen T-Shirts und diesen Handtaschen langgehen, kommen Sie erst gar nicht bis zu meinem Haus. Sie -127-
werden von den Nachbarn einfach gelyncht. Mrs. Fogins Neffe ist in Belfast in die Luft gegangen, und Professor Ball hat was gegen Schwule. Seine Frau ist mit einem verheiratet.« »Besser, ihr zieht euch Hemden mit CLAPHAM BLEIBT WEISS an, Jungs«, sagte der Major. »Besser nicht«, sagte Wilt, »Mr. und Mrs. Bokani in der Nummer 11 würde Ihnen was über Gleichberechtigung der Rassen erzählen, daß Ihnen Sehen und Hören verginge. Fällt Ihnen denn nicht irgendwas Neutrales ein?« »Mickymaus, Sir?« schlug einer der Offiziere vor. »Na schön«, sagte der Major verdrossen, »eine Mickymaus, und der Rest Donald Ducks.« »Großer Gott«, sagte Wilt, »ich weiß nicht, wieviele Männer Sie haben, aber wenn Sie die ganze Gegend mit Donald Ducks überschwemmen, die bis an die Zähne mit was weiß ich, was sie in diesen riesigen Handtaschen haben, bewaffnet sind, haben Sie 'ne ganze Menge schizophrener Kinder auf Ihrem Gewissen.« »Kümmern Sie sich nicht drum«, sagte der Major, »überlassen Sie die taktische Seite uns. Wir haben mit solchen Operationen schon früher Erfahrungen gemacht, und was wir von Ihnen wollen, ist nichts als einen detaillierten Plan des häuslichen Geländes.« »Es mag ja hingehen, wenn man einen Spaten ›ein die Erde umwendendes Gartengerät‹ nennt«, sagte Wilt. »Aber ich hätte nie gedacht, daß ich es erleben müßte, daß man mein Heim ein häusliches Gelände nennt.« Er nahm einen Bleistift, aber der Oberinspektor griff ein. »Schauen Sie, wenn wir Mr. Wilt nicht bald zu seinem Haus bringen, könnte sich vielleicht langsam irgend jemand wund ern, wo er bleibt«, protestierte er. Wie um sein Argument zu stützen, läutete das Telefon. »Es ist für Sie«, sagte der Major. »Irgendein Typ namens -128-
Flint, der sagt, er säße in der Bank versteckt.« »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, daß Sie keine Gespräche nach draußen führen sollten«, sagte der Oberinspektor wütend ins Telefon. »Ihre Notdurft verrichten? Natürlich können Sie... Eine Verabredung um drei mit Mr. Daniles? Wer ist denn... Oh, Mist... Wo?... Also, leeren Sie um Gottes willen den Papierkorb aus... Ich muß Ihnen ja nicht sagen, wohin. Ich hätte gedacht, das läge auf der Hand... Was meinen Sie mit ›es wird komisch aussehen‹... Müssen Sie damit durch die ganze Bank?... Das ist mir völlig klar, bei dem Gestank. Besorgen Sie sich einen Duftspray oder sowas... Ja, wenn er Einwände macht, behalten Sie den Kerl da. Und Flint, sehen Sie, ob jemand einen Eimer hat, und benutzen Sie den in Zukunft.« Er knallte den Hörer auf die Gabel und wandte sich wieder dem Major zu. »Die Lage in der Bank wird langsam mulmig, und wenn wir nicht schnell machen...« »... wittert jemand Unrat?« schlug Wilt vor. »Also, wollen Sie, daß ich eine Zeichnung von meinem Haus mache oder nicht?« »Ja«, sagte der Major, »und zwar ein bißchen dalli.-« »Es ist nicht nötig, diesen Ton anzuschlagen«, sagte Wilt. »Sie sind vielleicht scharf darauf, sich auf meinem Grundstück eine Schlacht zu liefern, aber ich will wissen, wer für den Schaden zahlt. Meine Frau ist sehr eigen, und wenn Sie anfangen, im Wohnzimmer überall auf den Teppich Leute abzumetzeln...« »Mr. Wilt«, sagte der Major entschieden geduldig, »wir werden alles tun, was in unserer Macht liegt, um jede Gewalthandlung auf Ihrem Grundstück zu vermeiden. Das ist ja auch der Grund, weshalb wir einen detaillierten Plan des häuslichen Gelän... äh... des Hauses brauchen.« »Ich denke, wenn wir Mr. Wilt allein lassen, damit er den Plan zeichnen kann...« sagte der Oberinspektor und nickte in -129-
Richtung Tür. Der Major folgte ihm hinaus, und sie berieten auf dem Gang weiter. »Hören Sie«, sagte der Oberinspektor, »ich habe mir schon von Ihrem Seelendoktor sagen lassen, daß der kleine Scheißkerl da drin ein einziges Nervenbündel ist, und wenn Sie auch noch anfangen, ihn zu schikanieren...« »Inspektor«, sagte der Major, »es interessiert Sie vielleicht, daß mir für diese Operation eine Verlustrate von zehn Leuten eingeräumt worden ist, und wenn er einer davon ist, wird’s mir nicht leidtun. Genehmigung des Kriegsministeriums.« »Und wenn wir ihn da nicht reinbekommen, und seine Frau und die Kinder nicht raus, haben Sie schon sechs von Ihrer Quote verbraucht«, schnappte der Oberinspektor zurück. »Ich kann nur sagen, ein Mann, dem sein Wohnzimmerteppich wichtiger als sein Vaterland und die westliche Welt...« Er hätte noch eine Menge mehr gesagt, wenn der Parapsychologe nicht mit einer Tasse Kaffee angekommen wäre. »Hab ihm eine kleine Nervenstärkung angerührt«, sagte er fröhlich. »Sollte ihm durchhelfen.« »Das hoffe ich allerdings«, sagte der Oberinspektor. »Ich könnte selber etwas vertragen.« »Nicht nötig, sich um die Wirkung Sorgen zu machen«, sagte der Major. »Hab’s selber mal in Nordirland genommen, als ich eine verflucht große Bombe zu entschärfen hatte. Scheißding ging los, ehe ich überhaupt hinkam, aber bei Gott, ich fühlte mich trotzdem prima.« Der Arzt verschwand im Büro und kam kurz darauf mit der leeren Tasse wieder. »Innen wie ein Lamm, außen wie ein Löwe«, sagte er. »Überhaupt kein Trabbel.« Zehn
Minuten
später
benahm -130-
sich
Wilt
ganz
wie
vorausgesagt. Er verließ freiwillig das Polizeirevier und stieg recht fröhlich in den Wagen des Oberinspektors. »Setzen Sie mich einfach am Eingang der Straße ab, ich finde schon allein nach Hause«, sagte er. »Gar nicht nötig, daß Sie sich die Mühe machen und mich direkt bis vors Haus fahren.« Der Oberinspektor sah ihn zweifelnd an. »Das hatte ich auch nicht vor. Zweck der Übung ist, daß Sie ins Haus gehen, ohne Argwohn zu erregen, und ihre Frau dazu überreden, das Haus mit Ihnen zu verlassen, indem Sie ihr erzählen, Sie hätten in einer Kneipe einen Kräutersammler kennengelernt, und er hätte Sie alle zu sich eingeladen, um Ihnen seine Pflanzensammlung zu zeigen. Haben Sie das kapiert?« »Roger«, sagte Wilt. »Roger?« »Und außerdem«, fuhr Wilt fort, »wenn das die Kuh nicht aus dem Hause scheucht, nehme ich die Kinder und laß sie im eigenen Saft schmoren.« »Halten Sie an«, sagte der Oberinspektor hastig zu dem Fahrer. »Warum?« sagte Wilt. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich zwei Meilen zu Fuß gehe. Als ich sagte, sie könnten mich absetzen, meinte ich doch nicht hier.« »Mr. Wilt«, sagte der Oberinspektor, »ich muß Sie eindringlich an den Ernst der Situation erinnern. Gudrun Schautz ist zweifellos bewaffnet, und sie wird nicht zögern zu schießen. Die Frau ist eine berufsmäßige Mörderin.« »Na und? Das Weib kommt in mein Haus, nachdem sie im ganzen Land Leute umgebracht hat, und erwartet, daß ich ihr Tisch und Bett gebe? Zum Teufel mit ihr. Los, fahren Sie weiter.« »O Gott«, sagte der Oberinspektor, »sieht der Armee ähnlich, den Mann so in Fahrt zu bringen.« -131-
»Wollen Sie, daß ich umdrehe, Sir?« fragte der Fahrer. »Bestimmt nicht«, sagte Wilt. »Je eher ich meine Familie raus und die Armee reinkriege, desto besser. Nicht nötig, so zu kucken. Alles wird bald aus und vorbei gerogert sein.« »Das würde mich überhaupt nicht überraschen«, sagte der Oberinspektor verzweifelt. »Okay, fahren Sie weiter. Also dann, Mr. Wilt, halten Sie sich um Gottes willen an die Geschichte mit dem Kräutersammler. Der Kerl heißt...« »Falkirk«, sagte Wilt automatisch. »Er wohnt Barrabas Road 45. Er ist vor kurzem aus Südamerika mit einer Sammlung Pflanzen zurückgekommen, zu der tropische Kräuter gehören, die bisher in diesem Land nicht kultiviert worden sind...« »Wenigstens weiß er seinen Text«, murmelte der Oberinspektor, als sie in die Farringdon Avenue einbogen und an der Bordschwelle hielten. Wilt stieg aus, schmiß die Tür unnötig kräftig zu und marschierte in die Willington Road davon. Der Oberinspektor sah ihm verzagt nach und verfluchte den Parapsychologen. »Muß ihm irgend sowas wie ein chemisches KamikazeGebräu verpaßt haben«, sagte er zu dem Fahrer. »Es ist noch Zeit, ihn aufzuhalten, Sir«, sagte der Fahrer. Aber die war nicht mehr. Wilt war durch die Gartenpforte seines Hauses gestürmt und verschwunden. Als er weg war, tauchte plötzlich aus der Hecke neben dem Wagen ein Kopf auf. »Will keine Geheimnisse verraten, alter Junge«, sagte ein Beamter, der die Uniform eines Gasablesers trug. »Aber wenn ihr euch einfach verpißt, ruf ich das HQ an und sag denen, das Subjekt hat die Gefahrenzone betreten...« »Das werden Sie um Gottes willen nicht«, fauchte der Oberinspektor, als der Beamte an den Knöpfen seines WalkieTalkies rumspielte, »es hat strengste Funkstille zu herrschen, bis die Familie aus dem Haus und in Sicherheit ist.« -132-
»Meine Anweisungen sind aber...« »Ab sofort widerrufen«, sagte der Oberinspektor. »Das Leben Unschuldiger steht auf dem Spiel, und ich will sie nicht gefährden.« »Okayokay«, sagte der Beamte, »die ganze Gegend ist sowieso abgeriegelt. Nicht mal ein Karnickel käme jetzt hier raus.« »Es besteht nicht bloß das Problem, jemanden rauszubekommen, wir wollen auch möglichst viele reinbekommen, ehe wir zuschlagen.« »Okay, wollt sie alle einsacken, he? Nichts besser als reinen Tisch mit den Schweinen gemacht, was?« Der Beamte verschwand wieder in der Hecke, und der Oberinspektor fuhr weiter. »Löwen, Lämmer, und jetzt Scheiß Karnickel und Schweine«, sagte er zu dem Fahrer, »ich wollte bei Gott, das Militärische Sonderkommando wäre nicht hinzugezogen worden. Die haben anscheinend bloß Tiere im Gehirn.« »Kommt davon, daß sie aus dem Jäger- und Schützenmilieu rangezogen werden, nehme ich an, Sir«, sagte der Fahrer. »Möchte jetzt nicht in der Haut von diesem Wilt stecken.« Im Garten der Willington Road Nummer 9 teilte Wilt diese Auffassung ganz und gar nicht. Durch die Nervenstärkung des Parapsychologen ermutigt, war er nicht in der Laune, mit sich spaßen zu lassen. Scheiß Terroristen kamen in sein Haus, ohne auch nur zu fragen. Na schön, er würde ihnen bald die Tür zeigen. Er marschierte entschlossen auf das Haus zu und schloß die Haustür auf, ehe er bemerkte, daß der Wagen nicht draußen stand. Eva mußte mit den Vierlingen weggefahren sein. In dem Fall war es gar nicht nötig, daß er reinginge. »Zum Teufel damit«, sagte Wilt zu sich, »das ist mein Haus, und ich habe das Recht zu tun, was mir verdammt nochmal -133-
darin Spaß macht.« Er ging in die Diele und schloß die Tür. Das Haus war still, und das Wohnzimmer leer. Wilt ging durch die Küche und überlegte, was er als nächstes tun solle. Unter normalen Umständen wäre er wieder rausgegangen, aber die Umstände waren nicht normal. Nach Wilts bedudelter Meinung riefen sie nach strengsten Maßnahmen. Die Scheiß Armee wünschte sich doch wohl eine Schlacht auf seinem häuslichen Gelände, war's nicht so? Na, dem würde er bald ein Ende machen. Häusliches Gelände, also wirklich! Wenn Leute sich gegenseitig umbringen wollten, dann konnten sie das doch wunderbar woanders tun. Was ja alles sehr schön war, aber wie sie überzeugen? Also, der einfachste Weg war, rauf in die Mansarde zu gehen und die Koffer und Klamotten von Miss Scheiß Schautz-Müller in den Vorgarten zu schmeißen. Auf die Weise würde sie, wenn sie heimkäme, Bescheid wissen und sich zum häuslichen Gelände von irgend jemand anderem verziehen. Diese einfache Lösung im Kopf, ging Wilt nach oben und stieg die Treppe zur Bodentür hinauf, um festzustellen, daß sie abgeschlossen war. Er ging runter in die Küche, fand den Ersatzschlüssel und ging wieder nach oben. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür, dann klopfte er. Keine Antwort. Wilt schloß auf und ging hinein. Die Mansardenwohnung bestand aus drei Räumen, einem großen Wohnschlafzimmer, einer kleinen Küche und, dahinter, einem Badezimmer. Wilt schloß die Tür hinter sich und sah sich um. Das Wohnschlafzimmer, das seine ehemalige Muse bewohnte, war unerwartet aufgeräumt. Gudrun Schautz war vielleicht eine kaltblütige Terroristin, aber sie war auch sauber und häuslich. Die Kleider hingen ordentlich in einem Wandschrank, und in der Küche waren alle Tassen und Teller abgewaschen und weggestellt. Ja, wo hatte sie wohl ihre Koffer hingetan? Wilt sah sich um und versuchte, einen anderen Schrank zu öffnen, als ihm einfiel, daß Eva den Kaltwasserspeicher hatte weiter nach oben unter das Dach -134-
verlegen lassen, als das Bad eingebaut wurde. Irgendwo gab es eine Tür dahin. Er fand sie neben dem Herd in der Küche und krabbelte hindurch, um zu entdecken, daß er sich unter der Schräge auf einer schmalen Planke gebückt entlangbewegen mußte, um zu dem Speicherraum zu kommen. Er tastete im Dunkeln herum und fand den Lichtschalter. Die Koffer standen in einer Reihe neben dem Wasserreservoir. Wilt kroch weiter und packte den Griff der ersten Reisetasche. Sie fühlte sich unglaublich schwer an. Auch eindeutig So, als wären schwere Klumpen drin. Er zog sie von dem Gestell, und sie fiel mit einem metallischen Scheppern auf die Planke zu seinen Füßen. Das Ding würde er nicht wieder über die Sparren zurückschleppen. Wilt fummelte an den Schließhaken herum und öffnete sie schließlich. Alle seine Zweifel wegen Miss Schautz-Müllers Beruf schwanden dahin. Er sah hinunter auf sowas Ähnliches wie eine Maschinenpistole, einen Haufen Revolver, Munitionsschachteln, eine Schreibmaschine und etwas, das wie Handgranaten aussah. Und wie er so guckte, hörte er draußen den Motor von einem Auto. Es war in die Einfahrt eingebogen, und selbst für sein untrainiertes Ohr klang es wie der Aston-Martin. Er beschimpfte sich, nicht auf seine angeborene Feigheit gehört zu haben, und versuchte, auf der Planke wieder zur Tür zurückzukriechen, aber die Tasche war im Weg. Er schlug sich den Kopf an dem Dachbalken über sich und wollte schon über die Tasche wegkrabbeln, als ihm der Gedanke kam, die Maschinenpistole könnte geladen sein und einfach losgehen, wenn er sie an der falschen Stelle anstieß. Am besten, er nähme das verdammte Ding raus. Wieder war das leichter gesagt als getan. Der Lauf verhakte sich oben an der Tasche, und als er ihn wieder losgemacht hatte, konnte er unten auf der Holztreppe Schritte hören. Zu spät, noch irgendwas zu machen, als lediglich das Licht auszuknipsen. Er beugte sich über die Tasche hinweg nach vorn und kippte, die Maschinenpistole mit ausgestreckten -135-
Armen vor sich haltend, den Schalter mit der Mündung nach oben, dann kauerte er sich in der Dunkelheit zusammen. Im Garten draußen hatten die Vierlinge mit der alten Mrs. de Frackas einen wunderschönen Nachmittag gehabt. Sie hatte ihnen die Geschichte von Rikki Tikki Tavi, dem Mungo und den beiden Kobras vorgelesen und sie dann mit nach Hause genommen, um ihnen zu zeigen, wie eine ausgestopfte Kobra aussieht (sie hatte eine in einem Glaskasten, die höchst realistisch ihre Giftzähne zeigte), und hatte ihnen von ihrer Kindheit in Indien erzählt, bevor sie sie zum Tee in ihren Wintergarten setzte. Diesmal hatten die Vierlinge sich anständig betragen. Sie hatten von Eva das richtige Gefühl für die gesellschaftliche Stellung von Mrs. de Frackas mitbekommen, und auf jeden Fall verfügte die Stimme der alten Dame über einen ausgesprochen festen Ton - oder, wie Wilt es einmal ausgedrückt hatte, wenn sie mit ihren zweiundachtzig Jahren auch nicht mehr auf fünfzig Schritt ein Sherryglas zum Zerspringen bringen konnte, so vermochte sie doch noch, einen Wachhund auf vierzig Schritt zur Verzweiflung zu bringen. Sicherlich stimmte es, daß der Milchmann schon lange den Versuch aufgegeben hatte, seine Rechnung jede Woche zu kassieren. Mrs. de Frackas gehörte einer Generation an, die zahlte, wenn sie die Lust dazu verspürte; die alte Dame schickte nur zweimal im Jahr einen Scheck, und der war dann falsch. Die Milchfirma aber beanstandete ihn nicht. Die Witwe des verstorbenen Generalmajors de Frackas, Verdienstorden des Heeres etcetera etcetera war eine Persönlichkeit, der sich die Leute beugten, und es gehörte zu Evas größtem Stolz, daß sie und die alte Dame einfach großartig miteinander auskamen. Niemand sonst in der Willington Road tat das, und Mrs. de Frackas war auch fast nur deshalb den Wilts so wohlgesinnt, weil sie Kinder liebte und Eva trotz ihrer offenkundig mangelnden Bildung als vortreffliche Mutter betrachtete. Um genau zu sein, ganz selten war sie auch Wilt wohlgesinnt, den -136-
sie offenbar als einen Unfall in der Familienentwicklung ansah und der, wenn ihre Beobachtungen seiner Aktivitäten abends im Sommerhäuschen sie nicht täuschten, trank. Seit der Generalmajor an Zirrhose, oder wie sie es unverblümt nannte, an einer Schuhsohlenleber gestorben war, steigerte Wilts einsames Zwiegespräch mit der Flasche nur ihre Achtung vor Eva und ihr Mitgefühl für die Kinder. Da sie auch ziemlich taub war, hielt sie sie für ganz entzückende kleine Mädchen, eine Meinung, die niemand in der ganzen Gegend teilte. Und so setzte an diesem heiteren, sonnigen Nachmittag Mrs. de Frackas die Vierlinge in ihren Wintergarten und kochte ihnen Tee und war sich zum Glück des sich zuspitzenden Dramas ein Haus weiter nicht bewußt. Dann erlaubte sie ihnen, mit dem Tigerfell in ihrem Salon zu spielen, sogar eine Topfpalme umzuwerfen, ehe sie entschied, nun sei es Zeit, nach Hause zu gehen. Der kleine Geleitzug kam aus der Gartenpforte von Nummer 7 und verschwand in der Nummer 9, als Wilt eben seine Suche auf dem Dachboden begann. In den Büschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete der Beamte, den der Oberinspektor ermahnt hatte, nicht sein Funk gerät zu benutzen, wie sie in das Haus gingen, und betete verzweifelt darum, daß sie sofort wieder rauskämen, als der Aston-Martin vorfuhr. Gudrun Schautz und zwei junge Männer stiegen aus, öffneten den Kofferraum und nahmen mehrere Koffer heraus, während der Beamte verdattert zusah, aber ehe er sich entschließen konnte, sie im Freien festzunehmen, waren sie durch die Haustür geeilt. Erst da unterbrach er die Funkstille. »Weibliche Zielperson und zwei Männer haben die Zone betreten«, teilte er dem Major mit, der bei den Leuten vom MSK seine Runde machte, die hinten in Wilts Garten postiert waren. »Gegenwärtig kein Rückzug ziviler Insassen. Erbitte Anweisungen.« Als Antwort schlängelte sich der Major, begleitet von zwei Soldaten, die einen Theodoliten und eine gestreifte Stange -137-
trugen, durch die Gärten der Häuser Nummer 4 und 2, baute die Geräte unverzüglich auf dem Bürgersteig auf und fing an, die Willington Road hinunterzuvisieren, während er mit dem Beamten in der Hecke die Unterhaltung fortsetzte. »Was meinen Sie damit, Sie konnten sie nicht aufhalten?« fragte der Major, als er erfuhr, daß die Vierlinge und eine alte Dame aus dem Nachbarhaus gekommen und in Wilts Haus hineingegangen waren. Aber bevor der Beamte sich eine Antwort einfallen lassen konnte, wurden sie von Professor Ball unterbrochen. »Was soll das alles heißen?« fragte er und betrachtete die zwei langhaarigen Soldaten und den Theodoliten gleichermaßen voller Abscheu. »Machen bloß eine Messung für die neue Straßenverlängerung«, sagte der Major, der rasch was aus dem Ärmel schüttelte. »Straßenverlängerung? Was für eine Straßenverlängerung?« sagte der Professor, der seinen Abscheu jetzt auf die Handtasche übertrug, die der Major über der Schulter hängen hatte. »Die geplante Straßenverlängerung bis zur Entlastungsstraße«, sagte der Major. Professor Balls Stimme schwoll an. »Entlastungsstraße? Habe ich richtig gehört, es gibt einen Plan, eine Straße hier durch bis zur Entlastungsstraße zu bauen?« »Tue nur meine Arbeit, Sir«, sagte der Major, der sich um alles in der Welt wünschte, der alte Dämel verzöge sich. »Und was für eine Arbeit ist das?« fragte der Professor und zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Vermessungsabteilung, Bezirksamt Tiefbau.« »Wirklich? Und Ihr Name?« fragte der Professor mit unangene hm glänzenden Augen. Er beleckte die Spitze seines Kugelschreibers mit der Zunge, während der Major zögerte. -138-
»Palliser, Sir«, sagte der Major. »Und jetzt, Sir, müssen wir weitermachen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Lassen Sie sich von mir nicht stören, Mr. Palliser.« Der Professor drehte sich um und stiefelte ins Haus. Einen Augenblick später kam er mit einem schweren Stock zurück. »Es interessiert Sie vielleicht, Mr. Palliser«, sagte er und schwenkte den Stock, »daß ich zufällig im Planungskomitee für öffentliche Straßen im Stadtrat sitze. Beachten Sie das Wörtchen ›Stadt‹, Mr. Palliser. Wir haben kein Bezirksamt Tiefbau. Wir haben ein städtisches.« »Ist mir so rausgerutscht, Sir«, sagte der Major, der versuchte, Wilts Haus im Auge zu behalten, während er sich zugleich der Bedrohung durch den Stock bewußt war. »Und ich nehme an, das ist Ihnen auch bloß so rausgerutscht, als Sie sagten, die Stadt Ipford plane, eine Verlängerung dieser Straße bis zur Entlastungsstraße zu bauen...« »Das ist nur so eine vage Idee, Sir«, sagte der Major. Professor Ball lachte ungerührt. »Die muß wirklich sehr vage sein, wenn man bedenkt, daß wir noch nicht mal eine Entlastungsstraße haben und daß ich als Vorsitzender des Planungskomitees für öffentliche Straßen der erste wäre, der von jeder geplanten Veränderung der bestehenden Straßen etwas hören würde. Außerdem weiß ich zufällig eine Menge über den Gebrauch von Theodoliten, und Sie gucken nicht durchs richtige Ende. Nun denn, Sie werden freundlicherweise bleiben, wo Sie sind, bis die Polizei eintrifft. Meine Haushälterin hat schon angerufen...« »Wenn ich mit Ihnen ein Wort unter vier Augen reden könnte«, sagte der Major und kramte in seiner Handtasche wie besessen nach seiner Legitimation. Aber Professor Ball erkannte einen Schwindler, sobald er einen sah, und seine Reaktion auf Männer, die Handtaschen trugen, war, wie es Wilt vorausgesagt hatte, ausgesprochen gewalttätig. Als der Stock landete, fiel die -139-
Legitimation des Majors aus der Handtasche und klirrte auf den Boden. Sie umfaßte Walkie-talkie, zwei Revolver und eine Tränengasgranate. »Scheiße«, sagte der Major und bückte sich, um seine Waffensammlung aufzuheben, aber Professor Balls Stock war schon wieder in Aktion. Diesmal traf er den Major im Genick und schickte ihn in den Rinnstein. Der mit der Bedienung des Theodoliten beauftragte Soldat handelte rasch. Er warf sich auf den Professor, drehte ihm den linken Arm auf den Rücken und schlug ihm mit einem Karatehieb den Stock aus der rechten Hand. »Wenn Sie einfach mal ruhig wären, Sir«, sagte er, aber das war das letzte, was dem Professor vorschwebte. Seine Sicherheit vor Männern, die vorgaben, Landvermesser zu sein, und Revolver und Handgranaten mit sich rumschleppten, lag allein darin, so viel Lärm wie nur möglich zu machen, und die Willington Road wurde aus ihrer vorstädtischen Schläfrigkeit durch die Schreie des Professors aufgeschreckt: »Hilfe! Mörder! Polizei!« »Stopfen Sie um Gottes willen dem alten Esel das Maul«, schrie der Major, der noch immer nach seinen Revolvern grapschte, aber es war zu spät. Jenseits der Straße erschien ein Gesicht am Dachfenster, ihm folgte ein zweites, aber ehe der Professor zum Schweigen gebracht werden konnte, waren sie schon verschwunden. Wilt hockte im Dunkeln neben dem Wasserbehälter und bekam nur gedämpft mit, daß irgendwas Seltsames auf der Straße passierte. Gudrun Schautz hatte beschlossen, ein Bad zu nehmen, und der Wassertank rumpelte und zischte, aber er konnte die Reaktionen ihrer Genossen deutlich genug hören. »Polizei!« schrie einer von ihnen. »Gudrun, die Polizei ist hier.« Eine zweite Stimme rief aus dem Balkonzimmer: »Im Garten -140-
sind noch mehr mit Gewehren.« »Schnell runter. Wir nehmen sie uns unten vor.« Schritte polterten die Holztreppe runter, während Gudrun Schautz aus dem Badezimmer Anweisungen auf Deutsch schrie und sich dann darauf besann, sie auf Englisch zu wiederholen. »Die Kinder«, schrie sie, »greift euch die Kinder.« Das war zuviel für Wilt. Er vergaß die Tasche und die Maschinenpistole, die er in der Hand hielt, hecht ete sich nach der Tür, fiel durch sie hindurch in die Küche und durchsiebte im selben Augenblick die Zimmerdecke mit Kugeln, weil er zufällig auf den Abzug gedrückt hatte. Die Wirkung war recht bemerkenswert. Im Badezimmer kreischte Gudrun Schautz, unten fingen die Terroristen an, in den Garten hinter dem Haus und auf eine kleine Gruppe jenseits der Straße zu schießen, zu der auch Professor Ball gehörte, und sowohl von der Straße, als auch aus dem Garten hinter dem Haus erwiderte das MSK vierfach das Feuer, zerschoß Fenster, fügte den Löchern in Evas Schweizer-Käse-Pflanze neue hinzu und übersäte vor allem die Wände des Wohnzimmers mit Löchern, wo Mrs. de Frackas und die Vierlinge gerade im Fernsehen an einem Western ihre Freude hatten, bis der mexikanische Teppich an der Wand hinter ihnen runterkam und sie unter sich begrub. »Also Kinder«, sagte sie ruhig, »Kein Grund zur Besorgnis. Wir legen uns einfach auf den Boden, bis das aufhört, was hier auch immer geschieht.« Aber die Vierlinge waren nicht im geringsten beunruhigt. An ununterbrochene Revolverschießereien aus dem Fernsehen gewöhnt, fühlten sie sich mitten in einer richtigen absolut zu Hause. Dasselbe konnte man von Wilt kaum sagen. Als der Putz aus der durchlöcherten Decke auf ihn herunterrieselte, rappelte er sich auf und steuerte auf die Treppe los, aber das Explodieren von Handfeuerwaffen, das aus dem hinteren Fenster am Treppenabsatz und von vorn zu hören war, ließ ihn -141-
zurückschrecken. Immer noch die Maschinenpistole krampfhaft umklammert, stolperte er in die Küche zurück und bemerkte dann, daß das verdammte Fräulein Schautz hinter ihm im Badezimmer war. Sie hatte aufgehört zu schreien und konnte jeden Augenblick mit einer Flinte rauskommen. »Schließ das Weibstück ein«, war sein erster Gedanke, aber da der Schlüssel innen steckte... Wilt sah sich nach einer anderen Lösung um und fand sie in einem Küchenstuhl, den er unter die Türklinke klemmte. Um das doppelt sicher zu machen, riß er das Kabel aus der Tischlampe im großen Zimmer und zog es durch den Stuhl, befestigte es mit einem Knoten an der Klinke und band das andere Ende an ein Bein des Elektroofens. Als er somit seinen Rücken gesichert hatte, versuchte er einen neuen Ausfall zur Treppe, aber unten tobte noch immer der Kampf. Er wollte es gerade wagen, nach unten zu gehen, als auf dem Treppenabsatz ein Kopf auftauchte, ein Kopf und Schultern, die die gleiche Waffe trugen, die er eben benutzt hatte. Wilt zögerte nicht. Er schlug die Wohnungstür zu, legte den Sicherheitsriegel vor, zog dann das Bett von der Wand und schob es gegen die Tür. Schließlich griff er wieder zu seiner Maschinenpistole und wartete. Wenn jemand versuchen sollte, durch die Tür zu kommen, würde er abdrücken. Aber da hörte der Kampf ebenso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte. Stille herrschte in der Willington Road, eine kurze, glückliche, heilsame Stille. Wilt stand in der Mansarde und lauschte atemlos und fragte sich, was er als nächstes tun solle. Gudrun Schautz entschied das für ihn, indem sie die Badezimmertür zu öffnen versuchte. Er schlich in die Küche und richtete die Maschinenpistole auf die Tür. »Noch eine Bewegung da drin und ich schieße«, sagte er, und selbst für Wilt hatte seine Stimme einen fremden, ungewöhnlich drohenden, fast nicht wiederzuerkennenden Klang. Für Gudrun Schautz enthielt sie unbezweifelbar den Ton eines Mannes hinter einem Gewehr. Die Türklinke hörte auf, sich zu bewegen. -142-
Auf der anderen Seite war jemand oben an der Treppe und versuchte, in die Mansardenwohnung einzudringen. Mit einer Behendigkeit, die Wilt erstaunte, drehte er sich um und drückte ab, und von neuem hallte die Wohnung von einer Maschinengewehrsalve wider. Keine der Kugeln traf die Tür. Sie sprenkelten die Wand des Wohnzimmers, während die Maschinenpistole in Wilts Händen zappelte. Das Mistding schien seinen eigenen Willen zu besitzen, und es war ein entsetzter Wilt, der schließlich den Finger vom Drücker nahm und das Gewehr sachte auf den Küchentisch legte. Draußen stieg jemand mit bemerkenswerter Schnelligkeit die Treppe wieder runter, aber sonst war nichts zu hören. Wilt setzte sich hin und fragte sich, was wohl um alles auf der Welt als nächstes geschähe. Ungefähr die gleiche Frage beschäftigte auch Oberinspektor Misterson. »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte er den völlig zerzausten Major, der mit Professor Ball und den zwei Pseudolandvermessern an der Ecke Willington Road und Farringdon Avenue erschien. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, daß nichts geschehen dürfe, bis die Kinder in Sicherheit sind.« »Sehen Sie mich nicht an«, sagte der Major, »dieser alte Esel hier mußte seine verfluchte Nase unbedingt reinstecken.« Er betastete seinen Nacken und sah den Professor mit Abscheu an. »Und wer sind Sie?« fragte Professor Ball den Oberinspektor. »Ein Polizeioffizier.« »Dann tun Sie freundlicherweise Ihre Pflicht und verhaften Sie diese Banditen. Kommen die Straße mit einem verdammten Theodoliten und Handtaschen voller Pistolen lang und erzählen mir, sie wären von der Tiefbauabteilung und erlauben sich Schießereien...« -143-
»Antiterror-Brigade, Sir«, sagte der Oberinspektor und zeigte ihm seinen Ausweis. Professor Ball betrachtete ihn sich finster. »Kaum glaublich. Erst werde ich überfallen...« »Ach, bringt den alten Knacker bloß hier weg«, knurrte der Major. »Wenn er sich nicht eingemischt hätte, hätten wir...« »Eingemischt? Eingemischt, also wirklich! Ich habe mein Recht ausgeübt, als Bürger diese Betrüger festzunehmen, als sie über die Straße weg plötzlich in ein völlig normales Haus zu schießen anfingen und...« Es erschienen zwei uniformierte Polizisten, die den Professor, der immer noch wütend protestierte, zu einem wartenden Polizeiwagen führten. »Sie haben ja gehört, was der verfluchte Kerl gesagt hat«, sagte der Major auf die wiederholte Bitte des Oberinspektors, es möge ihm doch bitte jemand erzählen, was zum Teufel schiefgegangen sei. »Wir warteten darauf, daß die Kinder rauskämen, da erscheint er auf der Bildfläche und läßt uns hochgehen. Das ist passiert. Als nächstes feuerten die Halunken aus dem Haus, und nach dem Geräusch zu urteilen, benutzten sie ein verdammt dickes Kaliber.« »Schön, also nach Ihren Worten sind die Kinder immer noch im Haus, Mr. Wilt ist noch drin, und eine Anzahl Terroristen ebenfalls. Ist das richtig?« »Ja«, sagte der Major. »Und das alles trotz Ihrer Garantie, daß Sie nichts täten, um nicht das Leben unschuldiger Bürger aufs Spiel zu setzen?« »Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich lag zufällig im Rinnstein, als der Ballon platzte. Und wenn Sie erwarten, daß meine Männer ruhig dasitzen und sich von Lumpen, die automatische Waffen benutzen, erschießen lassen, verlangen Sie zuviel von der menschlichen Natur.« »Ja, wahrscheinlich«, räumte der Oberinspektor ein. »Na schön, wir werden uns halt an den üblichen Belagerungstrott -144-
machen müssen. Irgend 'ne Idee, wieviele Terroristen da drin sind?« »Verdammt zu viele für meinen Geschmack«, sagte der Major und erhoffte sich von seinen Männern eine Bestätigung. »Einer von ihnen ballerte durchs Dach, Sir«, sagte einer von den Soldaten, »eine Salve kam gleich am Anfang durch die Dachziegeln gepfiffen.«
»Und ich würde sagen, sie haben nicht wenig Muni. So, wie sie losballern.« »Okay. Als erstes müssen wir die Straße evakuieren«, sagte der Oberinspektor. »Möchte nicht, daß mehr Leute in die Sache verwickelt sind, als wir Menschen helfen können.« »Klingt, als wenn bereits noch jemand in die Sache verwickelt war«, sagte der Major, als die gedämpften Detonationen von Wilts zweitem Versuch mit dem Maschinengewehr aus der Nummer 9 zu hören waren. »Was zum Teufel machen die bloß? Schießen im Haus?« »Haben möglicherweise mit den Geiseln begonnen«, sagte düster der Oberinspektor. »Nicht sehr wahrscheinlich, alter Junge. Nicht, wenn nicht einer von ihnen versucht hat zu fliehen. Ach, nebenbei, ich weiß nicht, ob ich das erwähnt habe, aber eine kleine alte Dame ist da auch mit drin. Ging mit den vier Mädchen rein.« »Ging mit den vier...« begann der Oberinspektor leichenblaß, ehe er von seinem Fahrer mit der Meldung unterbrochen wurde, daß Inspektor Flint aus der Bank angerufen und gefragt habe, ob es in Ordnung sei, wenn er jetzt ginge, denn es sei Feierabend und die Bankangestellten... Der Oberinspektor ließ seine Wut auf Flint an seinem Fahrer aus, und der Major nutzte die Gelegenheit, das Weite zu suchen. -145-
Kurz darauf zogen kleine Gruppen Evakuierter aus der Willington Road auf Umwegen aus dem Gebiet heraus, und noch mehr Bewaffnete zogen hinein und nahmen ihren Platz ein. Ein gepanzerter Wagen, mit dem Major wohlbehalten auf dem Geschütztürmchen, rumpelte vorbei. »Das HQ und die Nachric htenzentrale sind in Nummer 7«, rief er. »Meine Funkerjungs haben Ihnen ’ne direkte Leitung dahin gezimmert.« Er fuhr weiter, ehe dem Oberinspektor eine passende Erwiderung einfiel. »Verdammtes Militär, steht einem andauernd im Weg«, brummte er und gab Anweisungen, eine Parabolantenne zum Abhören ranzuschaffen und Bandgeräte und Apparate zur Analyse von Stimmspektrogrammen in der Nachrichtenzentrale aufzubauen. Inzwischen war die Farringdon Avenue durch uniformierte Polizei und Straßensperren abgeriegelt, und im Polizeirevier hatte man ein Pressekonferenzzimmer eingerichtet. »Man muß der Öffentlichkeit ihr Ersatzfutter vorwerfen«, sagte er zu seinen Männern, »aber ich will keinen Kameramann vom Fernsehen hier im Sperrgebiet haben. Die Schufte im Haus sehen sonst alles in der Glotze, und ganz offengesagt, wenn’s nach mir ginge, gäbe es überhaupt Presse- und Fernsehpause. Diese Säue fressen sich doch bloß an der Öffentlichkeit satt.« Dann ging er die Willington Road zur Nummer 7 runter, um mit den Terroristen Verbindung aufzunehmen. Eva fuhr schlechtgelaunt von Mavis Mottram nach Hause. Das Symposium über alternative Malerei in Thailand war ausgefallen, weil der Künstler und Vortragende wegen Drogenschmuggels verhaftet worden war und auf die Ausweisungsformalitäten wartete, und Eva hatte statt dessen eine zweistündige Diskussion über »Alternatives Gebären« über sich ergehen lassen müssen, wovon sie, da sie ja mal im Verlauf von neunzig Minuten vier stramme Kinder zur Welt gebracht -146-
hatte, mehr als die Referentin zu verstehen meinte. Um ihren Ärger noch zu vergrößern, hatten mehrere glühende Fürsprecherinnen der Abtreibung die Gelegenheit dazu benutzt, für ihre Ansichten Reklame zu machen, und Evas Einstellung zur Abtreibung war aggressiv. »Das ist unnatürlich«, sagte sie mit dieser Arglosigkeit, die ihre Freundinnen die Wände hochgehen ließ, nachher im Cafe zu Mavis, »wenn die Leute keine Kinder haben wollen, sollten sie sie einfach nicht behalten.« »Ja, Liebes«, sagte Mavis, »aber ganz so einfach ist das auch wieder nicht.« »Aber ja. Sie können ihre Babys doch von Eltern adoptieren lassen, die keine kriegen können. Es gibt Tausende von solchen Paaren.« »Ja, aber im Fall von Mädchen, die noch zur Schule gehen...« »Mädchen, die noch zur Schule gehen, sollten überhaupt keinen Sex machen. Hab ich auch nicht.« Mavis sah sie nachdenklich an. »Nein, aber du bist eine Ausnahme, Eva. Die heutige Generation ist viel anspruchsvoller, als wir das waren. Sie sind körperlich reifer.« »Vielleicht sind sie das, aber Henry sagt, geistig wären sie zurückgeblieben.« »Natürlich, er muß es ja wissen«, sagte Mavis, aber Eva hatte für solche Kränkungen kein Ohr. »Wenn sie’s nicht wären, würden sie Vorsichtsmaßregeln treffen.« »Aber du bist doch die einzige, die ständig über die Pille herzieht, daß sie so unnatürlich wäre.« »Und das ist sie ja auch. Ich meine nur, man dürfte den Jungs nicht erlauben, so weit zu gehen. Schließlich, wenn sie mal verheiratet sind, können sie davon haben, soviel sie wollen.« »Das ist das erste Mal, daß ich dich das sagen höre, Liebes. -147-
Du klagst doch immer, daß Henry zu müde ist, um sich damit abzugeben.« Am Schluß hatte Eva mit einer Anspielung auf Patrick Mottram zurückschlagen müssen, und Mavis hatte die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, um seine letzten Treuebrüche herzuzählen. »Jeder müßte meinen, die ganze Welt dreht sich nur um Patrick«, murmelte Eva, als sie von Mavis wegfuhr. »Und ganz egal, was jemand denkt, ich sage trotzdem, Abtreibung ist verkehrt.« Sie bog in die Farringdon Avenue ein und wurde sofort von einem Polizisten angehalten. Eine Sperre war quer über die Straße errichtet worden, und mehrere Polizeiwagen parkten am Bordstein. »Tut mir leid, Ma’am, aber sie müssen leider umkehren. Hier darf keiner durch«, sagte ein uniformierter Wachtmeister zu ihr. »Aber ich wohne hier«, sagte Eva, »ich will nur bis zur Willington Road.« »Da ist ja gerade der ganze Trabbel.« »Was denn für Trabbel?« fragte Eva, deren Instinkte plötzlich hellwach waren. »Warum ist hier Stacheldraht über die Straße gezogen?« Ein Sergeant kam herüber, als Eva die Wagentür aufmachte und ausstieg, »Also, wenn Sie freundlicherweise gleich wieder umdrehen und dahin zurückfahren würden, wo Sie hergekommen sind«, sagte er. »Sagt, sie wohnt in der Willington Road«, sagte der Wachtmeister zu ihm. In dem Augenblick kamen zwei MSKMänner mit automatischen Waffen um die Ecke und latschten in Mrs. Granberrys Garten in aller Ruhe über das Blumenbeet mit den Preisbegonien. Wenn irgend etwas nötig war, Evas schlimmste Befürchtungen zu bestätigen, dann war es das. »Die Männer da haben Gewehre«, sagte sie. »O mein Gott, -148-
meine Kinder! Wo sind meine Kinder?« »Sie finden alle Leute aus der Willington Road in der Gefallenen-Ehrenhalle. Welche Nummer wohnen Sie?« »Nummer 9. Ich habe die Vierlinge bei Mrs. de Frackas gelassen und...« »Wenn Sie eben mal hier lang kommen wollen, Mrs. Wilt«, sagte der Sergeant sanft und versuchte, sie unterzuhaken. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Eva und starrte den Sergeant mit wachsendem Entsetzen an. »Sie haben mich Mrs. Wilt genannt.« »Bitte, bleiben Sie ruhig. Es wird alles wieder gut.« »Nein, das wird es nicht.« Und Eva schleuderte seine Hand weg und war schon dabei, die Straße hinunterzurennen, ehe sie von vier Polizisten angehalten und wieder zurück zum Wagen gebracht wurde. »Den Arzt und eine Polizeibeamtin«, sagte der Sergeant. »Jetzt setzen Sie sich einfach da hinten rein. Mrs. Wilt.« Eva wurde in den Polizeiwagen gezwängt. »Was ist mit meinen Kindern passiert? Sag mir doch jemand, was passiert ist.« »Der Oberinspektor wird’s Ihnen erklären. Ihre Kinder sind sicher aufgehoben, also machen Sie sich keine Sorgen.« »Wenn sie sicher aufgehoben sind, warum kann ich nicht zu ihnen? Wo ist Henry? Ich will meinen Henry.« Aber an Stelle von Wilt bekam sie den Oberinspektor, der mit zwei Polizistinnen und einem Arzt eintraf. »Tja also, Mrs. Wilt«, sagte der Oberinspektor, »ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Nicht, daß es nicht noch schlimmer sein könnte. Ihre Kinder leben und sind in Sicherheit, aber sie sind in der Hand mehrerer Bewaffneter, und wir -149-
versuchen, sie heil aus dem Haus herauszubekommen.« Eva starrte ihn an wie von Sinnen. »Bewaffnete? Was für Bewaffnete?« »Irgendwelche Ausländer.« »Sie meinen, sie werden als Geiseln festgehalten?« »Wir könne n noch nicht ganz sicher sein. Ihr Mann ist bei ihnen.« Der Arzt mischte sich ein. »Ich werde Ihnen einfach ein Beruhigungsmittel geben, Mrs. Wilt«, begann er, aber Eva wich auf dem Rücksitz zurück. »Nein, das werden Sie nicht. Ich nehme nie was. Sie könne n mich nicht zwingen.« »Aber beruhigen Sie sich doch...« Aber Eva war nicht zu erweichen und viel zu stark, um ihr so einfach eine Injektion in die dazu vorgesehene Stelle zu verabreichen. Als sie dem Doktor die Spritze zum zweiten Mal aus der Hand geschla gen hatte, gab er’s auf. »Na schön, Mrs. Wilt, Sie brauchen nichts zu nehmen«, sagte der Oberinspektor. »Wenn Sie einfach stillsitzen, fahren wir Sie zum Polizeirevier und halten Sie über alle Entwicklungen auf dem laufenden.« Und trotz Evas Protesten, sie wolle bleiben, wo sie wäre, oder sogar, sie wolle zu sich nach Haus, wurde sie, von zwei Polizistinnen begleitet, weggefahren. »Wenn Sie das nächste Mal wollen, daß ich diesem verdammten Weib ein Beruhigungsmittel verpasse, hole ich mir ein Betäubungsgewehr aus dem Zoo«, sagte der Arzt und rieb vorsichtig sein Handgelenk. »Und wenn Sie klug sind, sperren Sie sie in eine Zelle. Wenn sie ausreißt, könnte sie die Dinge gehörig durcheinanderbringen.« »Als wenn sie das nicht schon wären«, sagte der Oberinspektor und machte sich zur Nachrichtenzentrale auf den -150-
Weg. Sie befand sich in Mrs. de Frackas' Salon, und hier, zwischen Erinnerungsstücken aus dem Leben im kaiserlichen Indien, Sofaschonern und Topfpflanzen und unter dem kämpferischen Porträt des verstorbenen Generalmajors hatten unpassenderweise das MSK und die Antiterror-Brigade in schöner Zusammenarbeit eine Telefonvermittlung, einen Telefonverstärker, Tonbandgeräte und den Stimmentschlüssler installiert. »Alles bereit, Sir«, sagte der mit der Bedienung der Apparate beauftragte Kriminalpolizist. »Wir haben die Telefonleitung vom Nachbarhaus angezapft.« »Haben Sie die Lauschanlage in Stellung gebracht?« »Das kann ich jetzt noch nicht«, sagte der Major. »Keine Fenster auf dieser Seite, und wir können nicht über die Wiese ran. Versuchen einen Schuß im Dunkeln, vorausgesetzt, die Scheißkerle haben keine Nachtgläser.« »Na gut, stellen Sie mich durch«, sagte der Oberinspektor, »je eher wir mit den Verhandlungen beginnen, desto eher kommen wir alle nach Hause. Wie ich meinen Job kenne, fangen sie mit einer Orgie von Beschimpfungen an. Also alle Mann bereit, sich einen faschistischen Scheißhaufen nennen zu lassen.« Diesmal hatte er sich geirrt. Es war Mrs. de Frackas, die antwortete. »Hier Ipford 23... es tut mir leid, ich habe meine Brille nicht bei mir, aber ich glaube, es ist... Nana, junger Mann...« Es gab eine kurze Unterbrechung, während der Mrs. de Frackas offensichtlich der Hörer weggenommen wurde. »Mein Name ist Misterson, Oberinspektor Misterson«, sagte schließlich der Oberinspektor. »Du Lügensau von einem faschistischen Scheißhaufen«, schrie eine Stimme, um seine Prophezeiung endlich wahrzumachen. »Du denkst wohl, wir ergeben uns, du -151-
besoffenes Arschloch, aber du täuschst dich. Eher sterben wir, kapiert? Hörst du mich, Bulle?« Der Oberinspektor seufzte und sagte ja. »Okay. Präg dir das gut in deinen faschistischen Scheiß Bullenkopf ein. Niemals ergeben wir uns. Wenn du uns haben willst, komm' und mach uns kalt, und du weißt, was das heißt.« »Ich glaube, hier will niemand...« »Was ihr wollt, Bulle, kriegt ihr nicht. Ihr macht, was wir wollen, oder es gehen Leute drauf.« »Ich warte ja die ganze Zeit darauf zu hören, was ihr wollt«, sagte der Oberinspektor, aber die Terroristen berieten sich offenbar, und nach einer Weile wurde der Telefonhörer auf die Gabel gedonnert. »Na gut, wenigstens wissen wir, daß die kleine alte Dame nicht zu Schaden gekommen ist, und so wie sich die Dinge anhören, sind die Kinder okay.« Der Oberinspektor ging rüber an einen Kaffeespender und füllte sich eine Tasse Kaffee ein. »Bißchen lästig, die ganze Zeit Bulle genannt zu werden«, sagte der Major mitfühlend. »Man sollte doch denken, sie könnten mal mit 'n bißchen was Originellerem kommen.« »Glauben Sie das nicht. Sie sind auf einem marxis tischen Tausendjahre-Egotrip Marke Kamikaze, und die paar guten Hirne, die sie haben, die haben sie schon vor Jahren gründlich gewaschen. Das hörte sich an wie Chinanda, der Mexikaner.« »Tonfall und Akzent stimmten«, sagte der Sergeant am Tonbandgerät. »Sein Lebenslauf?« fragte der Major. »Das übliche. Reiche Eltern, gute Erziehung, rasselte in der Uni durch und beschloß, die Welt zu retten, indem er Leute umlegt. Bis jetzt sind’s fünf. Spezialität Autobomben, und sehr unfeine dazu. Kein sehr kultiviertes Bürschchen, unser Miguel. -152-
Am besten, Sie geben das Band durch an die Analytiker. Ich möchte ihr Urteil über sein Kraftvokabular hören. Und jetzt richten wir uns auf 'n langen Marsch ein.« »Sie denken, daß er sich mit Forderungen wieder melden wird?« »Nein. Nächstes Mal werden wir das zauberhafte Fräulein Schautz an der Strippe haben. Sie ist die einzige mit dem Kopf an der richtigen Stelle.« Ganz unbeabsichtigt war das die passende Beschreibung. Ins Badezimmer eingeschlossen, hatte Gudrun Schautz ein Gutteil des Nachmittags damit verbracht, sich zu fragen, was passiert sei und warum sie niemand getötet oder festgenommen habe. Sie hatte auch Fluchtmöglichkeiten erwogen, war aber in der Klemme, weil sie keine Kleider hatte, die sie in ihrem Zimmer gelassen hatte, und weil Wilt drohte, wenn sie noch eine Bewegung mache, schieße er. Nicht, daß sie gewußt hätte, daß Wilt es war, der diese Drohung ausstieß. Was sie von seinem Eheleben durch den Fußboden über seinem Schlafzimmer vernommen hatte, hatte nichts zu der Vermutung beigetragen, daß er zu irgendwelchen Heldentaten in der Lage sei. Er war schlicht und einfach ein saftloser, degenerierter, feiger kleiner Engländer, der von seiner dusseligen Frau tyrannisiert wurde. Fräulein Schautz sprach zwar vielleicht fließend Englisch, aber ihr Verständnis dessen, was Britisch sei, war hoffnungslos mangelhaft. Hätte Wilt die Gelegenheit dazu gehabt, er hätte der Einschätzung seines Charakters weitgehend zugestimmt, aber er war zu sehr in Anspruch genommen, um Zeit mit Selbstbeobachtungen zu verplempern. Er versuchte zu erraten, was während der Schießerei unten passiert war. Er hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob die Vierlinge noch im Haus waren, und nur die Anwesenheit der bewaffneten Männer hinten im Garten und jenseits der Straße vor dem Haus sagte ihm, daß die Terroristen noch im Erdgeschoß waren. Vom Balkonfenster konnte er auf das Sommerhäuschen runtersehen, wo er so viele -153-
faule Abende damit zugebracht hatte, seinen verschleuderten Gaben hinterherzutrauern und nach einer Frau zu lechzen, die sich in Wirklichkeit weniger als eine Muse, vielmehr als eine außeramtliche Scharfrichterin erwiesen hatte. Jetzt war das Sommerhaus von Männern mit Gewehren besetzt, und das Feld jenseits mit Stacheldrahtrollen eingekreist. Die Aussicht aus dem Dachfenster über der Küche war noch weniger ermutigend. Ein Panzerfahrzeug hatte draußen vor der Gartenpforte Stellung bezogen, sein Geschützturm war aufs Haus gerichtet, und in Professor Balls Garten waren noch mehr Bewaffnete. Wilt kletterte wieder runter und überlegte gerade ziemlich hysterisch, was zum Kuckuck er als nächstes machen solle, als das Telefon klingelte. Er ging in das große Zimmer und nahm den Hörer des Nebenanschlusses gerade rechtzeitig ab, um zu hören, wie Mrs. de Frackas ihre kurze Mitteilung beendete. Wilt lauschte der Jaucheflut von Schimpfworten, die sich über den gottergebenen Oberinspektor ergoß, und der Mann tat ihm vorübergehend leid. Es hörte sich genau wie Bilger in einer seiner Tiraden an, nur diesmal hatten die Männer unten Gewehre. Möglicherweise hatten sie auch die Vierlinge. Ganz sicher war Wilt nicht, aber die Anwesenheit von Mrs. de Frackas legte das nahe. Wilt horchte, ob sein Name erwähnt werde, und war erleichtert, als das nicht geschah. Als die einseitige Unterhaltung zu Ende war, legte Wilt seinen Hörer sehr vorsichtig und mit unbestimmtem Optimismus auf. Er war sehr unbestimmt, eine bloße Reaktion auf die Anspannung und das Ergebnis eines plötzlichen Machtgefühls. Es war nicht die Macht des Gewehrs, sondern eher die des Wissens, daß er wußte, was anscheinend niemand sonst wußte: daß der Dachboden von einem Mann besetzt war, dessen Mordlust sich auf Fliegen beschränkte und dessen Erfahrung im Umgang mit Feuerwaffen weniger mörderisch als selbstmörderisch war. Ungefähr das einzige, was Wilt von Maschinengewehren und Revolvern wußte, war, daß aus dem Lauf Kugeln kamen, wenn man auf den Abzug drückte. Doch -154-
wenn er auch nicht wußte, wie Feuerwaffen funktionierten, so hatten die Terroristen zweifellos keine Ahnung, was in der Mansarde vorgefallen war. Nach allem, was sie wußten, war der Boden voller bewaffneter Polizisten, und die Schüsse, die er ohne Absicht abgefeuert hatte, konnten das Fräulein Schautz getötet haben. Wenn das der Fall wäre, würden sie keinen Versuch machen, sie rauszuholen. Jedenfalls schien die irrige Vorstellung, daß die Mansarde von verwegenen Männern gehalten werde, die ohne einen Augenblick zu zögern töten würden, ohne Frage die Mühe wert, daß man sie aufrechterhielt. Er gratulierte sich gerade dazu, als ihm der entgegengesetzte Gedanke durch den Kopf ging. Was zum Teufel nochmal würde geschehen, wenn sie doch dahinterkämen, daß er hier oben war? Wilt ließ sich in einen Sessel plumpsen und betrachtete diese fürchterliche Möglichkeit. Wenn die Vierlinge unten wären... O Gott... und es brauchte nur zu passieren, daß sich der verdammte Oberinspektor ans Telefon hängte und fragte, ob’s Mr. Wilt gut gehe. Nur die Erwähnung seines Namens würde reichen. In dem Augenblick, in dem die Schweine da unten mitkriegten, daß er hier oben sei, würden sie die Kinder töten. Und selbst wenn sie es nicht täten, würden sie damit drohen, wenn er nicht runterkäme, was so ziemlich aufs selbe rauslief. Wilts einzige Antwort auf so ein Ultimatum wäre zu drohen, die verdammte Schautz um die Ecke zu bringen, wenn sie den Kindern was täten. Aber das wäre überhaupt keine Drohung. Er war außerstande, irgend jemanden umzubringen, und selbst wenn er es wäre, die Kinder würde es nicht retten. Irre, die der Meinung waren, zum höchsten Gefühl der Glückseligkeit dadurch beizutragen, daß sie Politiker und Geschäftsleute entführten, folterten und umbrachten und, in die Enge getrieben, sich hinter Frauen und Kindern versteckten, würden auf Vernunft nicht hören. Alles, was sie wollten, war ein Höchstmaß an Propaganda für ihre Sache, und die Ermordung der Vierlinge würde ihnen diese Propaganda garantieren. Und dann war da die -155-
Theorie des Terrorismus. Wilt hatte mal gehört, wie Bilger sie erläuterte, und ihm war schlecht geworden. Jetzt erfaßte ihn langsam Panik. Es mußte doch etwas geben, was er machen konnte. Schön, erst einmal konnte er die übrigen Pistolen aus der Tasche in der Rumpelkammer holen und versuchen rauszufinden, wie man sie benutzte. Er stand auf und ging durch die Küche zu der Tapetentür und schleppte die Tasche runter. Sie enthielt zwei Revolver, ein automatisches Gewehr, vier Ersatzmagazine für die Maschinenpistole, mehrere Schachteln Munition und drei Handgranaten. Wilt legte die Sammlung auf den Tisch, entschied, daß er den Anblick der Handgranaten nicht mochte, und tat sie wieder in die Tasche. Erst da entdeckte er einen Zettel in der Seitentasche. Er zog ihn raus und sah, daß er allem Anschein nach ein KOMMUNIQUE DER VOLKSARMEE-FRAKTION 4 enthielt. Das wenigstens war die Überschrift, aber der Platz darunter war leer. Offenbar hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Einzelheiten einzutragen. Vielleicht gab es nichts mitzuteilen. Trotzdem war dieser Zettel interessant, sehr interessant. Wenn diese Clique die Fraktion 4 war, ließ das vermuten, daß die Fraktionen l, 2 und 3 woanders wären und daß es möglicherweise auch die Fraktionen 5,6 und 7 gab. Am Ende noch mehr. Andererseits gab es sie vielleicht doch nicht. Die Taktik der Selbstaufplusterung war Wilt absolut nicht unbekannt. Es war typisch für winzige Minderheiten, daß sie behaupteten, sie seien ein Teil einer viel größeren Organisation. Es stärkte ihre Moral und half, die Regierung durcheinanderzubringen. Aber dann wiederum war es halt möglich, daß eine Menge weiterer »Fraktionen« eben doch existierte. Wieviele? Zehn, zwanzig? Und bei einer solchen Zellengliederung kannte die eine Gruppe nicht die Mitglieder der anderen Gruppen. Darum ging es ja gerade bei den Zellen. Wenn einer gefangengenommen und verhört wurde, konnte er -156-
unmöglich jemand anderen verraten. Und bei diesem Gedanken verlor Wilt das Interesse an dem Arsenal auf dem Tisch. Es gab wirksamere Waffen als Gewehre. Wilt holte seinen Federhalter hervor und begann zu schreiben. Wenig später machte er die Küchentür zu und griff zum Telefon. Oberinspektor Misterson gönnte sich gerade einen Augenblick ruhiger und behaglicher Entspannung auf Mrs. de Frackas Toilettenbrille aus Mahagoni, als im Salon das Telefon klingelte und der Sergeant rauskam, um ihm zu sagen, die Terroristen seien wieder am Apparat. »Na, das ist ein gutes Zeichen«, sagte der Oberinspektor und kam eilig heraus. »Normalerweise nehmen sie die Verhandlungen nicht ganz so schnell auf. Mit ein bißchen Glück kriegen wir sie dazu, Vernunft anzunehmen.« Aber seine Illusionen in dieser Richtung waren rasch zerstreut. Das Quäken, das aus dem Verstärker kam, war äußerst merkwürdig. Sogar das Gesicht des Majors, sonst die leere Maske wohlüberlegter Geistlosigkeit, zeigte Bestürzung. Vor Angst in einem geisterhaften Falsett fistelnd und kehlig durch die Notwendigkeit, ausländisch, am liebsten deutsch zu klingen, wimmerte und brummte Wilts Stimme mal im Sopran, mal im Baß eine Reihe seltsamer Forderungen durchs Telefon. »Das ist Kommunique Nummer eins von der Alternative Volksarmee. Wir fordern die sofortige Entlassung von allen Genossen, die ohne Prozeß illegal in britische Gefängnisse festgehalten werden. Verstehn?« »Nein«, sagte der Oberinspektor, »ganz und gar nicht.« »Faschistisches Schweinefleisch«, schrie Wilt. »Zweitens fordern wir...« »Halt doch mal«, sagte der Oberinspektor, »wir haben gar keine von Ihren... äh... Genossen im Gefängnis. Wir können auf -157-
keinen Fall zusichern...« »Lügender Schweinehund«, kreischte Wilt, »Günther Jong, Erica Grass, Robert Böll, Heinrich Musil, um nur ein paar zu nennen. Alle in britische Gefängnisse. Sie lassen innerhalb fünf Stunden frei. Zweitens fordern wir sofortige Einstellung von allen falschen Berichte in Fernsehen, Transistorradios und die Zeitungen, die von den kapitalistischmilitaristischliberalistischpseudodemokratischemultinationalistische und finanzialistische Verschwörung finanziert werden, über unsere Freiheitskämpfe hier, ja. Drittens fordern wir die sofortige Rückzug von alle militärische Truppen aus dem Garten unter den Linden und die Straße Willington Road. Viertens fordern wir sicheres Geleit für die Kader von die Alternative Volksarmee und die Entlarvung von die abweichlerische und reformistische Klassenverräter von die CIA-zionistischnihilistische Mörder, die sich fälschlich Volksarmee-Fraktion 4 nennen und das Leben von Frauen und Kindern bedrohen in dem propagandistischen Versuch, das proletarische Bewußtsein gegenüber dem wahren Befreiungskampf für die Weltfreiheit zu täuschen. Ende des Kommuniques.« Die Leitung war wieder tot. »Um was zum Teufel ging’s denn da?« fragte der Major. »Ich heiße Heidi, wenn ich das weiß«, sagte der Oberinspektor mit verschleiertem Blick. »Irgendwas ausgesprochen Übergeschnapptes. Wenn meine Ohren und der abscheuliche Akzent dieses Burschen mich nicht täuschen, scheint er zu denken, Chinanda und der Schautz-Klüngel sind CIA-Agenten, die für Israel arbeiten. Das ist es doch, was er offenbar sagen wollte, oder?« »Genau das hat er gesagt, Sir«, sagte der Sergeant. »Die Volksarmee-Fraktion 4 ist die Brigade Schautz, und dieser Kerl hat sie zum Teufel gewünscht. Könnte sein, wir haben in der Alternativen Volksarmee eine Splittergruppe erwischt.« -158-
»Könnte sein, wir haben einen tobenden Irren erwischt«, sagte der Oberinspektor. »Sind Sie sicher, der kleine Dreckskerl hat aus dem Haus angerufen?« »Kann von nirgendwo anders sein, Sir. Es gibt nur eine Leitung da drin, und die haben wir angezapft.« »Irgend jemand hat ihre Leitungen vertauscht, wenn Sie mich fragen«, sagte der Major, »es sei denn, die Schautz-Leute haben sich was Neues ausgedacht.« »Es ist bestimmt neu für eine Terroristengruppe, die Fernsehoder Presseberichterstattung abzulehnen. Das weiß ich genau«, murmelte der Oberinspektor. »Was ich nicht weiß, das ist, wo zum Kuckuck er die Liste der Gefangenen her hatte, die wir laufen lassen sollen. Soweit ich mich erinnere, halten wir niemanden gefangen, der Günther Jong heißt.« »Vielleicht ist es die Mühe wert, das nachzuprüfen, alter Junge. Ein Teil von dem Zeug ist absichtlich unklar gelassen.« »Wenn’s so streng geheim ist, glaube ich nicht, daß das Innenministerium jetzt damit rausrücken wird. Na egal, hören wir uns das Gekauderwelsche nochmal an.« Aber diesmal ließ die komplizierte elektronische Apparatur sie im Stich. »Ich kann mir gar nicht denken, was mit dem Bandgerät nicht stimmt, Sir«, sagte der Sergeant, »ich hätte schwören können, ich hätte alles drauf.« »Vielleicht ist 'ne Sicherung durchgeknallt, als dieser Wahnsinnige an die Strippe kam«, sagte der Major, »ich war jedenfalls nahe dran.« »Na, sehen Sie zu, daß das verfluchte Ding nächstes Mal funktioniert«, kläffte der Oberinspektor, »ich will 'n Stimmdiagramm von der anderen Gruppe.« Er goß sich wieder eine Tasse Kaffee ein und setzte sich hin und wartete. Wenn es bei der Antiterror-Brigade und dem MSK nach Wilts -159-
ungewöhnlicher Einmischung schon Verwirrung gab, so war im Haus die Hölle los. Im Erdgeschoß hatten Chinanda und Baggish sich in der Küche und der Eingangsdiele verschanzt, während sie die Kinder und Mrs. de Frackas in den Keller runter geschafft hatten. Das Telefon stand in der Küche außerhalb der Schußlinie auf dem Boden, und es war Baggish gewesen, der den Hörer abgenommen und sich den ersten Teil angehört hatte. Beunruhigt durch Baggishs Gesichtsausdruck, hatte Chinanda zum Hörer gegriffen und gehört, wie er als israelischer nihilistischer Mörder bezeichnet wurde, der in dem propagandistischen Versuch, das proletarische Bewußtsein zu täuschen, für den CIA arbeite. »Das ist eine Lüge«, schrie er Baggish an, der immer noch versuchte, die Forderung der Alternativen Volksarmee nach Freilassung von Genossen in britischen Gefängnissen mit seiner bisherigen Ansicht in Übereinstimmung zu bringen, daß die Mansarde von Männern der Antiterror-Brigade besetzt sei. »Was meinst du damit, eine Lüge?« »Was sie sagen. Daß wir CIA-Zionisten sind.« »Eine Lüge?« schrie Baggish und suchte verzweifelt nach einem ausgefallenem Wort, das eine so ungeheuerliche Verdrehung der Wahrheit ausdrücken könnte. »Das ist... Wer hat das gesagt?« »Jemand, der behauptete, er wär die Alternative Volksarmee.« »Aber die Alternative Volksarmee hat auch die Freilassung von Gefangenen gefordert, die von den britischen Imperialisten illegal festgehalten werden.« »Haben sie das?« »Ich hab’s gehört. Erst sagten sie das, dann griffen sie die falsche Berichterstattung im Fernsehen an und dann forderten sie, daß alle Truppen abgezogen werden.« »Warum nennen sie uns dann CIA- zionistische Mörder?« -160-
fragte Chinanda. »Und wo sind diese Leute?« Sie sahen mißtrauisch zur Decke hoch. »Sie sind da oben, meinst du nicht auch?« fragte Baggish. Aber genau wie der Oberinspektor wußte Chinanda nicht, was er von der Sache halten sollte. »Gudrun ist da oben. Als wir runterkamen, wurde dort geschossen.« »Also ist Gudrun vielleicht tot«, sagte Baggish. »Ist ein Trick, um uns reinzulegen.« »Könnte sein«, sagte Chinanda, »der britische Geheimdienst ist clever. Sie verstehn was von psychologischer Kriegsführung.« »Also, was tun wir jetzt?« »Wir stellen unsere eigenen Forderungen. Wir zeigen ihnen, daß wir nicht auf den Leim gegangen sind.« »Wenn ich nur mal eine Sekunde stören darf«, sagte Mrs. de Frackas, die aus dem Keller auftauchte, »es wird Zeit, daß ich den Vierlingen ihr Abendbrot gebe.« Die beiden Terroristen sahen sie leichenblaß an. Es war schon schlimm genug, daß das Haus von Militär und Polizei umstellt war, aber wenn sie zusätzlich zu ihrem ganzen Trabbel sich auch noch mit unverständlichen Forderungen von jemandem herumschlagen mußten, der die Alternative Volksarmee repräsentierte, und ihnen zugleich von Mrs. de Frackas mit ihrem nicht aus der Fassung zu bringenden Selbstbewußtsein auf den Füßen herumgetrampelt wurde, fühlten sie das Bedürfnis klarzustellen, wer hier das Sagen hatte. »Hör zu, Alte«, sagte Chinanda und wedelte ihr zur Bekräftigung mit seinem Maschinengewehr unter der Nase rum, »wir geben hier die Befehle, und du machst, was wir sagen. Wenn nicht, bringen wir dich um.« Aber Mrs. de Frackas war nicht so leicht zurückzuschrecken. -161-
In ihrem langen Leben, in dem sie von Gouvernanten terrorisiert, von Afghanen beschossen, in zwei Weltkriegen aus zwei Häusern ausgebombt worden war und mehrere Jahrzehnte einen überaus griesgrämigen Gatten am anderen Ende des Frühstückstisches zu ertragen gehabt hatte, hatte sie sich eine wahrhaft bemerkenswerte Zähigkeit und, was noch nützlicher war, eine diplomatische Taubheit zugelegt. »Sicher werden Sie das«, sagte sie munter, »und nun werde ich mal nachsehen, wo Mrs. Wilt die Eier aufbewahrt. Ich denke immer, Kinder können gar nicht genug Eier essen, meinen Sie nicht auch? Die sind so gut für die Verdauung.« Und unbeeindruckt von dem Maschinengewehr hantierte sie in der Küche herum und sah in alle Schränke. Chinanda und Baggish berieten sich flüsternd. »Ich lege jetzt die alte Hexe um«, sagte Baggish. »Da sieht sie daß wir nicht bluffen.« »Auf die Weise kommen wir hier nicht raus. Nur wenn wir sie und die Kinder gefangenhalten, haben wir eine Chance und können den Propagandakrieg aufrechterhalten.« »Ohne Fernsehen können wir gar keinen Propagandakrieg aufrechterhalten«, sagte Baggish. »Das war eine der Forderungen der Alternativen Volksarmee. Kein Fernsehen, kein Rundfunk, keine Zeitungen.« »Dann fordern wir eben das Gegenteil, absolute Öffentlichkeit«, sagte Chinanda und griff zum Telefon. Wilt, der zwei Stockwerke höher mit dem Hörer am Ohr auf dem Fußboden gelegen hatte, meldete sich. »Hier ist die Alternative Volksarmee. Kommunique zwei. Wir fordern...« »Das tut ihr nicht. Jetzt fordern wir erst mal«, schrie Chinanda, »wir kennen die britische psychologische Kriegsführung.« -162-
»Zionistensäue. Wir kennen euch CIA-Mörder«, brüllte Wilt zurück. »Wir kämpfen für die Befreiung aller Völker.« »Wir kämpfen für die Befreiung des palästinensischen...« »Wir auch. Für alle Völker kämpfen wir.« »Wenn ihr euch netterweise entschließen könntet, wer für was kämpft«, mischte sich der Oberinspektor ein, »vielleicht könnten wir da vernünftiger reden.« »Faschistische Polizistensau«, bellte Wilt. »Wir nicht diskutieren mit dir. Wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.« »Ich wollte beim Himmel, ich wüßte das auch«, sagte der Oberinspektor, um sich von Chinanda sagen zu lassen, die Volksarmee-Fraktion 4 sei... »...eine revisionistischdeviationistische Lumpensau«, warf Wilt ein. »Die revolutionäre Armee des Volkes lehnt das faschistische Festhalten von Geiseln ab und...« Er wurde von krachenden Schlägen aus dem Badezimmer unterbrochen, die darauf hinausliefen, sein Argument zu widerlegen, und Chinanda die Gelegenheit gaben, seine Forderungen zu stellen. Sie umfaßten fünf Millionen Pfund Sterling, einen Jumbojet und ein gepanzertes Fahrzeug, das sie zum Flughafen bringen sollte. Wilt, der die Küchentür zugemacht hatte, um Gudrun Schautz' lärmende Betriebsamkeit zu dämpfen, kam rechtzeitig zurück, um den Preis hochzudrücken. »Sechs Millionen Pfund und zwei gepanzerte Fahrzeuge...« »Meinetwegen sagen wir doch runde zehn Millionen«, sagte der Oberinspektor, »das macht doch überhaupt nichts. Ich bin nicht knauserig.« »Sieben Millionen, oder wir töten die Geiseln. Ihr habt bis früh um acht Zeit zuzustimmen, oder wir sterben mit den Geiseln«, schrie Chinanda und schmiß den Hörer auf die Gabel, ehe Wilt ein weiteres Gebot machen konnte. Auch Wilt legte -163-
auf, seufzte und versuchte zu überlegen, was um alles auf der Welt jetzt zu tun sei. Seiner Meinung nach bestand kein Zweifel, daß die Terroristen unten ihre Drohung wahrmachen würde, wenn die Polizei nicht nachgab. Und es war so gut wie sicher, daß die Polizei nicht die Absicht hatte, ein gepanzertes Fahrzeug oder einen Jet zur Verfügung zu stellen. Sie würden einfach um Zeit pokern, in der Hoffnung, die Moral der Terroristen zu brechen. Gelang es ihnen nicht, und die Kinder starben zusammen mit ihren Bewachern, es würde den Behörden kaum was ausmachen. Die Staatsräson verlangte, daß Terroristenforderungen niemals entsprochen werden dürfe. Früher war Wilt dafür gewesen. Aber jetzt hatte er private Gründe, die alles verlangten, was seine Familie retten würde. Um ihm die Notwendigkeit irgendeines neuen Plans zu Bewußtsein zu bringen, hörte es sich aus dem Badezimmer an, als risse Fräulein Schautz das Linoleum in Fetzen. Einen Augenblick überlegte Wilt, ob er drohen solle, er würde durch die Tür schießen, wenn sie nicht aufhöre, entschloß sich aber, es sein zu lassen. Es hatte verflixt nochmal keinen Zweck. Er war nicht imstande, jemanden zu töten. Höchstens aus Versehen. Es mußte einen anderen Weg geben. Auch in der Nachrichtenzentrale war guter Rat teuer. Als die letzten einander widersprechenden Forderungen verhallt waren, schüttelte der Oberinspektor müde den Kopf. »Ich sagte ja, das ist ein Rudel Irrer, und bei Gott, das sind sie. Will mir jemand mal freundlicherweise erklären, was zum Teufel da drüben los ist?« »Sinnlos, mich anzusehen, alter Junge«, sagte der Major, »ich bin bloß für die Belagerung zuständig, während ihr Antiterrorknaben mit den Schuften die Verbindung herstellt. So ist es geübt worden«. »So mag’s vielleicht geübt worden sein, aber angesichts der Tatsache, daß wir es anscheinend mit zwei konkurrierenden Gruppen von Weltverbesserern zu tun haben, ist das doch alles -164-
Quark. Gibt’s denn keine Möglichkeit, daß wir zu jeder Gruppe eine getrennte Leitung bekommen?« »Wüßte nicht, wie, Sir«, sagte der Sergeant. »Die Alternative Volksarmee scheint den Nebenanschluß von der oberen Etage zu benutzen, und die einzige Möglichkeit wäre, direkt ins Haus reinzugehen.« Der Major besah sich Wilts unbeholfene Zeichnung. »Ich könnte einen Hubschrauber herrufen und ein paar von meinen Jungs auf dem Dach absetzen lassen, die die beiden Gruppen ausmachen.« Oberinspektor Misterson sah ihn argwöhnisch an. »Ich möchte annehmen, Sie meinen ›ausmachen‹ nicht wörtlich?« »Wörtlich? Oh, verstehe, was Sie meinen. Nein. Kein Zweifel. Wär' zwangsläufig ein ziemlicher Schlamassel, was?« »Was genau das ist, was wir unbedingt vermeiden müssen. Also, wenn irgend jemand eine Möglichkeit weiß, wie wir mit der einen Gruppe reden können, ohne von der andern überschrien zu werden, wäre ich dankbar.« Aber statt dessen summte es aus der Wechselsprechanlage. Der Sergeant nahm ab, dann sagte er: »Die Psychos und die Idiotentruppe sind dran, Sir. Wollen wissen, ob’s okay ist, daß sie anrücken.« »Denke schon«, sagte der Oberinspektor. »Idiotentruppe?« fragte der Major. »Ideologische Kriegsführung und die psychologischen Berater. Das Innenministerium besteht darauf, daß wir sie mit ranziehen, und manchmal kommen sie tatsächlich mit einem vernünftigen Vorschlag rüber.« »Du meine Güte«, sagte der Major, »ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wo das noch hinführt. Erst nennen sie die Armee eine den Frieden erhaltende Kraft, und jetzt hat Scotland Yard Psychoanalytiker nötig, die für sie Detektiv spielen. Komisch.« -165-
»Die Alternative Volksarmee ist wieder am Telefon«, sagte der Sergeant. Wieder ertönte ein Schwall Schimpfwörter aus dem Telefonverstärker, aber diesmal hatte Wilt die Taktik geändert. Sein kehliges Deutsch hatte seinen Stimmbändern nicht gutgetan, und sein neuer Akzent hatte eine weniger anspruchsvolle, aber auch weniger überzeugende irische Färbung. »Bei Gott, es wird niemand als ihr dran schuld sein, wenn wir die arme unschuldige Irmgard Müller noch vor acht morgen früh erschießen müssen, falls die Kinderchen nicht ihrer Mam zurückgegeben werden, sehn Se.« »Was?« sagte der Oberinspektor, von dieser neuen Drohung aus der Fassung gebracht. »Ich möchte mich nicht gerne wiederholen für sone reaktionären Bullen wie euch, aber wenn ihr taub seid, sag ich’s nochmal.« »Tun Sie’s nicht«, sagte der Oberinspektor bestimmt, »wir haben es schon beim erstenmal mitgekriegt.« »Na, ich hoffe nur, diese zionistischen Trottel haben’s bei Gott auch mitgekriegt.« Ein gedämpfter Schwall Spanisch schien zu beweisen, daß Chinanda es gehört hatte. »Gut, dann ist das alles. Ich will ja nicht, daß die Telefonrechnung zu hoch wird, gell?« Und Wilt pfefferte den Hörer auf die Gabel. Dem Oberinspektor blieb es überlassen, Chinanda dieses Ultimatum so plausibel wie nur möglich zu machen, ein schwieriges Unternehmen, das fast unmöglich war, weil der Terrorist darauf beharrte, die Alternative Volksarmee sei eine Gangsterbande faschistischer Polizeibullen unter dem Kommando des Oberinspektors. »Wir wissen, ihr Briten wendet psychologische Kriegsführung an. Ihr seid Experten«, schrie er, »wir sind nicht so leicht zu täuschen.« -166-
»Aber ich versichere Ihnen, Miguel...« »Versuchen Sie nicht, mich zu bluffen, indem Sie mich Miguel nennen, damit ich denke, wir sind Freunde. Wir durchschauen eure Taktik. Erst droht ihr, und dann laßt ihr uns reden und reden...« »Na, ich lasse euch wirklich nicht...« »Halt den Mund, Bulle. Hier rede ich jetzt.« »Das wollte ich ja nur sagen«, protestierte der Oberinspektor. »Aber ich will, daß ihr wißt, daß keine Polizei...« »Scheiß Lüge. Ihr habt versucht, uns reinzulegen, und jetzt droht ihr, daß ihr Gudrun umlegt. Okay. Wir antworten nicht auf eure Drohungen. Tötet ihr Gudrun, töten wir die Geiseln.« »Ich bin nicht in der Lage, die Leute, wer sie auch sind, die Fräulein Schautz in der Gewalt haben...« »Sie versuchen weiter zu bluffen, aber es funktioniert nicht. Wir wissen, wie gerissen ihr britischen Imperialisten seid.« Und auch Chinanda knallte den Hörer auf die Gabel. »Ich muß sagen, er scheint eine viel höhere Meinung vom Britischen Empire zu haben als ich«, sagte der Major. »Ich meine, ich sehe nicht, wo wir überhaupt noch eins haben, es sei denn, man rechnet Gibraltar dazu.« Aber der Oberinspektor war nicht in der Stimmung, über die Ausdehnung des Empire zu diskutieren. »Diese verfluchte Belagerung hat was Wahnsinniges«, murmelte er. »Als erstes brauchen wir eine separate Telefonverbindung zu den Irren da oben in der Mansarde. Das ist Nummer eins mit Vorrang. Wenn sie schießen... Wie um alles in der Welt nannte er die Schautz, Sergeant?« »Ich glaube, die Formulierung war ›die arme unschuldige Irmgard Müller‹, Sir. Wollen Sie, daß ich das Band zurücklaufen lasse?« »Nein«, sagte der Oberinspektor, »wir warten auf die -167-
Analytiker. Inzwischen fordern Sie einen Helikopter an, der ein Feldtelefon auf den Balkon der Mansardenwohnung abwirft. Auf diese Weise bekommen wir wenigstens eine Ahnung, wer da oben ist.« »Feldtelefon mit eingebauter Fernsehkamera, Sir?« fragte der Sergeant. Der Oberinspektor nickte. »Das Nächstwichtigste ist, die Lauschantennen in Stellung zu bringen.« »Kann ich nicht machen, bevor es nicht dunkel wird«, sagte der Major. »Laß meine Jungs nicht abknallen, außer wenn sie zurückschießen dürfen.« »Na, wir müssen halt warten«, sagte der Oberinspektor. »So ist das ja immer bei diesen gräßlichen Belagerungen. Bloß eine Frage des Sitzens und Wartens. Trotzdem muß ich sagen, das ist das erste Mal, daß ich’s mit zwei Terroristengruppen auf einmal zu tun habe.« »Läßt einen diese armen Kinder bedauern«, sagte der Major. »Was sie durchmachen müssen, darüber darf man gar nicht nachdenken.« Aber sein Mitgefühl war diesmal ganz überflüssig. Die Vierlinge amüsierten sich köstlich. Nach der anfänglichen Aufregung, als die Fenster von den Kugeln zerklirrten und die Terroristen aus der Küche und der Diele zurückfeuerten, waren sie zusammen mit Mrs. de Frackas in den Keller verfrachtet worden. Da die alte Dame sich partout nicht nervös machen ließ und die Ereignisse oben anscheinend als völlig normal ansah, waren die Vierlinge einfach derselben Meinung. Außerdem war der Keller normalerweise für sie verbotenes Terrain, weil Wilt was dagegen hatte, daß sie hier unten rumkrochen, da angeblich das organische Klo gesundheitsschädlich und hochexplosiv war, während Eva die Vierlinge nicht runter ließ, weil sie hier ihre Vorräte an eingekochtem Obst aufbewahrte und die Kühltruhe mit selbergemachter Eiskrem vollgepackt war. Die Vierlinge -168-
waren schnurstracks auf die Eiskrem losgegangen und hatten schon einen Riesenkarton intus, noch ehe sich Mrs. de Frackas' Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Inzwischen hatten die Vierlinge andere interessante Dinge entdeckt, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Ein großer Kohlenkeller und ein Holzstapel gaben ihnen die Gelegenheit, sich von oben bis unten dreckig zu machen. Evas Vorrat an dynamischorganisch gezogenen Äpfeln bescherte ihnen nach dem Eis einen zweiten Gang, und sie hätten sich zweifellos an Wilts Eigenbräu noch einen Rausch angetrunken, wenn Mrs. de Frackas ihnen nicht eine angebrochene Flasche vorher aus den Händen gerungen hatte. »Ihr geht mir nicht in diesen Teil des Kellers«, sagte sie und sah strafend auf den Beweis von Wilts ungeschickten Brauversuchen in Form mehrerer explodierter Flaschen. »Das ist zu gefährlich.« »Warum trinkt es Pappi denn dann?« fragte Penelope. »Wenn ihr größer seid, werdet ihr sehen, daß Männer viele Dinge tun, die sehr unvernünftig und gefährlich sind«, sagte Mrs. de Frackas. »Wie zum Beispiel ein Säckchen oben am Piephahn tragen?« fragte Josephine. »Also, darüber bin ich wohl nicht ganz im Bilde, Liebes«, sagte Mrs. de Frackas, augenscheinlich hin- und hergerissen zwischen Neugier und dem Wunsch, das Privatleben der Wilts nicht allzu gründlich unter die Lupe zu nehmen. »Mammi hat gesagt, der Onkel Doktor hat gesagt, er soll es tragen«, fuhr Josephine fort, womit sie Mrs. de Frackas' Liste von Wilts Fehlern eine Krankheit hinzufügte, die man besser nicht beim Namen nannte. »Und ich bin draufgetreten, und Pappi hat geschrien«, sagte Emmeline stolz. »Er hat ja so laut geschrien.« »Das kann ich mir denken, Liebes«, sagte Mrs. de Frackas und versuchte sich vorzustellen, wie ihr verstorbener galliger -169-
und leberleidender Mann reagiert hätte, wenn irgendein Kind so unklug gewesen wäre, auf seinen Penis zu treten. »Nun wollen wir von was Schönem reden.« Aus dieser Unterscheidung machten die Vierlinge sich nichts. »Als Pappi vom Onkel Doktor kam, hat Mammi gesagt, sein Piephahn wird schon besser werden, und er wird nicht mehr ›Oh, fick dich‹ sagen, wenn er Pipi machen geht.« »Was nicht sagen, Liebes?« fragte Mrs. de Frackas und drehte an ihrem Hörgerät in der Hoffnung, dem Apparat und nicht Samantha wäre die Schuld zu geben. »Fick dich, fick dich, fick dich«, krähten sie alle vier. Mrs. de Frackas schaltete ihr Hörgerät aus. »Also, wirklich«, sagte sie. »Ich finde nicht, daß ihr das Wort benutzen solltet.« »Das hat Mammi auch gesagt, aber Michael hat gesagt...« »Das möchte ich nicht hören«, sagte Mrs. de Frackas eilig. »In meiner Jugend haben Kinder nicht über solche Dinge geredet.« »Wie kamen denn da die Babys auf die Welt?« fragte Penelope. »Ganz normal, Liebes, nur wurden wir dazu erzogen, solche Dinge nicht zu erwähnen.« »Was denn für Dinge?« fragte Penelope. Mrs. de Frackas sah sie zweifelnd an. Es begann ihr zu dämmern, daß Wilts Vierlinge wohl doch nicht ganz so nette Kinder waren, wie sie immer gemeint hatte. Wirklich, sie waren ausgesprochen enervierend. »Halt so Dinge«, sagte sie schließlich. »Wie Pimmel und Möse?« fragte Emmeline. Mrs. de Frackas musterte sie mit Abscheu. »So könnte man es wohl nennen«, sagte sie steif, »obwohl ich es offen gesagt lieber hätte, du tätest es nicht.« -170-
»Wenn du’s nicht so nennst, wie nennst du’s denn dann?« fragte die unersättliche Penelope. Mrs. de Frackas suchte in ihrem Gedächtnis vergeblich nach Ersatzworten. »Ich weiß nicht ganz«, sagte sie, von ihrer Unkenntnis selber überrascht. »Ich nehme an, die Frage hat sich nie erhoben.« »Pappis Piephahn macht das aber«, sagte Josephine, »ich hab’s mal gesehen!« Mrs. de Frackas wendete ihre entsetzte Aufmerksamkeit dem Kind zu und versuchte, ihre Neugier zu zähmen. »Wirklich?« sagte sie unwillkürlich. »Er war mit Mammi im Badezimmer, und ich habe durchs Schlüsselloch gekuckt, und Pappis...« »Es wird Zeit, daß ihr ebenfalls gebadet werdet«, sagte Mrs, de Frackas und sprang auf, bevor Josephine weitere Einzelheiten von Wilts Sexualleben ausposaunen konnte. »Wir haben ja noch nicht Abendbrot gegessen«, sagte Samantha. »Dann mach' ich euch welches«, sagte Mrs. de Frackas und ging die Kellertreppe nach oben, um nach Eiern zu suchen. Als sie schließlich mit einem Tablett zurückkam, waren die Vierlinge nicht mehr hungrig. Sie hatten einen Topf Essigzwiebeln leergemacht und waren mit der zweiten Packung getrockneter Feigen halbwegs fertig. »Ihr müßt noch eure Rühreier essen«, sagte die alte Dame standhaft. »Ich habe sie doch nicht gemacht, damit ihr sie umkommen laßt, nicht?« »Du hast sie ja gar nicht gemacht«, sagte Penelope, »Mammihühner haben sie gemacht.« »Und Pappihühner heißen Piephähnchen«, kreischte Josephine, aber Mrs. de Frackas, die eben zweier bewaffneter Banditen Herr geworden war, hatte nicht vor, sich von vier -171-
Gören, die schmutzige Reden führten, auf der Nase rumtanzen zu lassen. »Wir werden das nicht mehr weiter erörtern, vielen Dank«, sagte sie. »Ich bin's jetzt satt.« Es wurde bald deutlich, daß es den Vierlingen auch nicht anders ging. Als Mrs. de Frackas sie die Kellertreppe hochscheuchte, klagte Emmeline, ihr Bäuchlein tue ihr weh. »Das gibt sich bald, Liebes«, sagte Mrs. de Frackas, »und es ändert’s auch nicht, wenn du so aufstößt.« »Ist nicht Aufstoßen«, erwiderte Emmeline und übergab sich prompt auf den Küchenboden. Mrs. de Frackas sah sich im Halbdunkel nach dem Lichtschalter um und hatte ihn gerade gefunden und angeknipst, da sprang Chinanda auf sie zu und knipste ihn wieder aus. »Was wollen Sie? Daß wir alle getötet werden?« schrie er. »Nicht wir alle«, sagte Mrs. de Frackas, »und wenn Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten...« Ein Krachen, als der Terrorist auf einer Mischung aus halbverdauten Essigzwiebeln und getrockneten Feigen über den Küchenboden schlitterte, zeigte an, daß er’s nicht getan hatte. »Es ist zwecklos, mir die Schuld zu geben«, sagte Mrs. de Frackas, »und Sie sollten nicht solche Worte vor den Kindern gebrauchen. Das gibt ein schlechtes Beispiel.« »Ich gebe euch jetzt ein Beispiel, okay«, schrie Chinanda. »Mich kotzt das alles an.« »Ich glaube fast, das macht schon jemand«, antwortete die alte Dame, als die anderen drei Vierlinge, die offensichtlich ebensowenig wie Emmeline einer derart erlesenen Diät gewachsen waren, ihrem Beispiel folgten. Wenig später füllten vier heulende, mit Erbrochenem bekleckerte kleine Mädchen, zwei halb wahnsinnige Terroristen, eine äußerst barsche Mrs. de -172-
Frackas und ein sehr unappetitlicher Geruch die Küche. Um die allgemeine Verwirrung noch zu erhöhen, hatte Baggish seinen Posten in der Diele verlassen und war mit der Drohung reingefegt gekommen, jeden zu erschießen, der sich widersetze. »Ich habe gar nicht vor, mich wieder zu setzen«, sagte Mrs. de Frackas, »und da der einzige, der’s hier tut, zufällig dieses Geschöpf dort hinten in der Ecke ist, schlage ich vor, Sie erlösen ihn von seinem Elend.« Aus der Richtung des Ausgusses war Chinanda zu hören, der sich aus Evas Kennwood-Mixer herauszuwinden versuchte, der mit ihm zu Boden gegangen war. Mrs. de Frackas knipste das Licht wieder an. Diesmal hatte keiner was dagegen, Chinanda, weil er im Augenblick viel zu durcheinander war, und Baggish, weil ihn der Zustand der Küche allzu sehr entsetzte. »Und nun«, sagte die alte Dame, »wenn Sie so ungefähr fertig sind, bringe ich die Kinder rauf zum Baden, ehe ich sie ins Bett lege.« »Bett?« schrie Chinanda und erhob sich schwankend. »Niemand geht nach oben. Ihr schlaft alle unten im Keller. Runter jetzt mit euch.« »Wenn Sie wirklich auch nur eine Sekunde annehmen, ich ließe zu, daß diese armen Kinder in ihrem augenblicklichen Zustand wieder in den Keller kommen, ohne von oben bis unten gewaschen zu sein, haben Sie sich geschnitten.« Chinanda riß an der Schnur der Jalousie und schloß den Blick vom Garten aus. »Dann waschen Sie sie hier drin«, sagte er und zeigte auf den Ausguß. »Und wo gedenken Sie zu sein?« »Wo wir sehen können, was Sie machen.« Mrs. de Frackas schnaubte verächtlich. »Ihre Sorte kenne ich, -173-
und wenn Sie meinen, ich werde die reinen kleinen Körper dieser Kinder Ihren wollüstigen Blicken aussetzen...« »Was zum Teufel redet sie?« fragte Baggish. Mrs. de Frackas wandte ihre Verachtung ihm zu. »Und Ihren natürlich auch nicht. Ich bin doch nicht umsonst durch den Suezkanal und Port Said gekommen, nicht wahr?« Baggish starrte sie an. »Port Said? Suezkanal? Ich bin nie im Leben in Ägypten gewesen.« »Ich aber. Und ich weiß, was ich weiß.« »Also, von was reden wir eigentlich? Sie wissen, was Sie wissen. Ich weiß nicht, was Sie wissen.« »Ansichtskarten«, sagte Mrs. de Frackas, »ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen.« »Sie haben überhaupt noch nichts gesagt. Erst der Suezkanal, dann Port Said und jetzt Ansichtskarten. Kann mir mal jemand erklären, was zum Kuckuck diese Dinge damit zu tun haben, daß hier Kinder gewaschen werden sollen?« »Also, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, ich meine schmutzige Ansichtskarten. Ich könnte auch Esel erwähnen, werde es aber nicht tun. Und wenn Sie nun beide den Raum verlassen würden...« Aber die eigentliche Bedeutung von Mrs. de Frackas' imperialen Vorurteilen hatte Baggish langsam gedämmert. »Ach Sie meinen Pornografie? Was meinen Sie, in welchem Jahrhundert Sie leben? Wenn man Pornografie haben will, fährt man nach London. Soho ist voll...« »Ich will keine Pornografie, und ich habe auch nicht vor, dieses Thema weiter zu erörtern.« »Dann gehen Sie runter in den Keller, ehe ich Sie umlege«, schrie Baggish wütend. Aber Mrs. de Frackas war zu alt, um sich von bloßen Drohungen überzeugen zu lassen, und es war körperlicher Zwang notwendig, um sie und die Vierlinge durch -174-
die Kellertür zu schieben. Als sie die Kellertreppe runtergingen, hörten sie Emmeline fragen, warum die bösen Männer keine Esel mochten. »Ich sage dir, die Engländer sind verrückt«, sagte Baggish. »Warum mußten wir uns gerade dieses Irrenhaus aussuchen?« »Es hat sich uns ausgesucht«, sagte Chinanda kläglich und knipste das Licht aus. Wenn auch Mrs. de Frackas beschlossen hatte, die Tatsache, daß ihr Leben in Gefahr sei, zu ignorieren, so wurde Wilt oben in der Mansarde jetzt ernstlich bewußt, daß seine vorherige Taktik nach hinten losgegangen war. Die Erfindung der Alternativen Volksarmee hatte dazu getaugt, die Dinge eine Zeitlang durcheinanderzubringen, aber seine Drohung, Gudrun Schautz hinzurichten oder, genauer gesagt, zu ermorden, war ein schrecklicher Fehler gewesen. Sie setzte seinem Bluff eine Frist. Wenn Wilt auf die vierzig Jahre seines Lebens zurückblickte, dann beschränkte sich das Register seiner Gewalttaten auf gelegentliche und normalerweise erfolglose Kämpfe gegen Fliegen und Mücken. Nein, dieses Ultimatum zu stellen, war fast genauso dumm gewesen, wie nicht aus dem Haus zu gehen, als es noch möglich war. Jetzt war's das eindeutig nicht mehr, und die Geräusche, die aus dem Badezimmer drangen, ließen vermuten, daß Gudrun Schautz das Linoleum schon zerlegt hatte und sich bereits an den Fußbodendielen zu schaffen machte. Sollte sie fliehen und zu den Männern unten stoßen, dann würde sie deren offenkundig dumpfen Fanatismus das intellektuelle Feuer hinzufügen. Andererseits fiel ihm nichts ein, wie er sie aufhalten könnte, bis auf die Drohung, durch die Badezimmertür zu schießen, und wenn das nicht klappte... Es mußte noch eine andere Methode geben. Was wäre, wenn er die Tür selbst aufmachte und sie irgendwie überzeugte, daß es sehr gefährlich sei, nach unten zu gehen? Auf die Weise könnte er die beiden Gruppen getrennt halten, und vorausgesetzt, sie könnten miteinander keine Verbindung aufnehmen, dann würde die -175-
Dame Schautz auf ihre Blutsbrüder in der unteren Etage nur mit großer Schwierigkeit Einfluß ausüben können. Ja, das wäre ganz leicht zu schaffen. Wilt ging rüber zum Telefon und riß die Schnur aus der Wand. So weit, so gut, aber da war noch die Kleinigkeit mit den Waffen. Die Vorstellung, die Wohnung mit einer Frau zu teilen, die kaltblütig acht Leute umgebracht hatte, war unter keinen Umständen verlockend, aber wenn in der Wohnung genug Waffen waren, um mehrere hundert Leute um die Ecke zu bringen, wurde die Sache schlichtweg selbstmörderisch. Die Waffen hatten ebenfalls zu verschwinden. Aber wohin? Er konnte die verdammten Dinger doch kaum aus dem Fenster werfen. Die Wirkung eines Hagelschauers aus Revolvern, Handgranaten und einer Maschinenpistole auf die Terroristen würde sie wahrscheinlich ermuntern, mal raufzukommen und nachzusehen, was zum Teufel hier eigentlich los sei. Und überhaupt, die Handgranaten konnten hochgehen, und es schwirrten schon genug Mißverständnisse rum, ohne daß da noch explodierende Granaten hinzukommen mußten. Das beste würde sein, sie zu verstecken. Sehr vorsichtig legte Wilt sein Waffenarsenal wieder in die Reisetasche zurück und ging durch die Küche zu dem Bodenraum. Gudrun Schautz war jetzt eindeutig mit den Dielenbrettern beschäftigt, und im Schutz dieses Lärms stieg Wilt nach oben und kroch weiter bis zu dem Wasserbehälter. Er versenkte die Tasche im Wasser und legte den Deckel wieder an seine Stelle. Nachdem er kontrolliert hatte, ob er nicht irgendwo eine Pistole vergessen habe, wappnete er sich für den nächsten Schritt. Der war, überlegte er, ungefähr so ungefährlich, wie im Zoo den Tigerkäfig zu öffnen und das Vieh dazu aufzufordern rauszukommen, aber es mußte getan werden, und in einer so irren Lage konnte nur eine absolute Wahnsinnstat die Kinder retten. Wilt ging durch die Küche zur Badezimmertür.
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»Irmgard«, flüsterte er. Miss Schautz ließ sich in ihrem Werk der Zerstörung des Badezimmerfußbodens nicht stören. Wilt holte nochmal tief Atem und flüsterte etwas lauter. Das Hantieren drinnen hörte auf, und es trat Stille ein. »Irmgard«, sagte Wilt, »sind Sie es?« Etwas bewegte sich, dann sagte eine leise Stimme: »Wer ist da?« »Ich bin's«, sagte Wilt, der sich an die Wahrheit hielt und beim Himmel wünschte, das wäre sie nicht, »Henry Wilt.« »Henry Wilt?« »Ja. Sie sind weg.« »Wer ist weg?« »Ich weiß es nicht. Wer das auch immer war. Sie können jetzt rauskommen.« »Rauskommen?« fragte Gudrun Schautz in einem Ton zurück, der auf die totale Verdutztheit schließen ließ, die Wilt erreichen wollte. »Ich räume die Sperren von der Tür weg.« Wilt begann, das Kabel von der Türklinke zu lösen. Das war schwierig in der zunehmenden Dunkelheit, aber nach ein paar Minuten hatte er den Draht losgebunden und nahm den Stuhl weg. »Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte er, »Sie können rauskommen.« Aber Gudrun Schautz rührte sich nicht. »Wie kann ich wissen, daß Sie es sind?« fragte sie. »Weiß ich nicht«, sagte Wilt, froh über diese Gelegenheit, die Sache etwas zu verzögern, »es ist eben so.« »Wer ist bei Ihnen?« »Niemand. Sie sind nach unten gegangen.« »Sie sagen immerzu ›sie‹ . Wer sind diese ›sie‹ ?« -177-
»Ich habe keine Ahnung. Männer mit Gewehren. Das ganze Haus ist voller Männer mit Gewehren.« »Und warum sind Sie hier?« fragte Miss Schautz. »Weil ich nirgendwo anders sein kann«, sagte Wilt wahrheitsgemäß. »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich hier sein möchte? Sie haben aufeinander geschossen. Ich hätte erschossen werden können. Ich weiß nicht, was zum Kuckuck hier los ist.« Aus dem Badezimmer war kein Ton zu hören. Auch Gud run Schautz hatte Schwierigkeiten, sich auszurechnen, was los war. In der dunklen Küche lächelte Wilt still in sich hinein. Nur nicht nachlassen, und er würde das Weibstück an der Kandare haben. »Und es ist niemand bei Ihnen?« fragte sie. »Natürlich nicht.« »Wie wußten Sie dann, daß ich im Badezimmer bin.« »Ich habe Sie baden hören«, sagte Wilt, »und dann fingen alle diese Leute an zu schreien und zu schießen und...« »Wo waren Sie?« »Sehen Sie mal«, sagte Wilt, der beschloß, seine Taktik zu ändern, »ich verstehe nicht, warum Sie mir andauernd diese Fragen stellen. Ich meine, ich habe den Trabbel auf mich genommen, hier raufzukommen und die Tür freizuräumen, und Sie wollen nicht rauskommen und hören nicht auf mit Ihrem ›Wer waren die Leute?‹ und ›Wo waren Sie?‹ und dem ganzen Käse, als wenn ich das wüßte. Zufälligerweise habe ich im Schlafzimmer Nini-Nini gemacht und...« »Nini-Nini? Was ist denn Nini-Nini?« »Nini-Nini? Ach so, Nini-Nini. Tja, das ist 'ne Art Nickerchen nach dem Mittagessen. Ein Schläfchen, verstehen Sie? Als jedenfalls der ganze Klamauk losging, das Geschieße und so weiter, und ich hörte, wie Sie schrien: ›Nehmt die Kinder!‹, da dachte ich, wie ungeheuer nett das von Ihnen wär'...« »Nett von mir? Sie meinen, das war nett von mir?« fragte -178-
Miss Schautz mit hörbar unterdrücktem Zweifel. »Ich meine, erst die Kinder statt sich selber in Sicherheit zu bringen. Die meisten Leute hätten doch gar nicht daran gedacht, die Kinder zu retten.« Ein gurgelndes Geräusch aus dem Badezimmer zeigte an, daß Gudrun Schautz an diese Auslegung ihrer Befehle nicht gedacht hatte und nun an ihrer Auffassung von Wilts Intelligenz ein paar Korrekturen anbringen mußte. »Nein, das ist wahr«, sagte sie schließlich. »Ja, natürlich konnte ich Sie daraufhin doch hier nicht eingesperrt lassen, nicht?« fuhr Wilt fort, der bemerkte, daß zu reden wie ein idiotischer kinnloser Schwätzer seine Vorteile hatte. »Noblesse oblige und all das, nicht?« »Noblesse oblige?« »Ja klar, eine Hand wäscht die andere und alles mögliche«, sagte Wilt. »Und sobald die Bahn frei war, kam ich irgendwie unter dem Bett vor und macht 'n Satz hier rauf.« »Welche Bahn denn?« fragte Fräulein Schautz mißtrauisch. »Als die Halunken hier oben beschlossen, nach unten zu gehen«, sagte Wilt. »Schien der sicherste Ort zu sein. Aber warum kommen Sie denn nicht raus und machen sich’s bequem. Muß doch furchtbar ungemütlich da drin sein.« Miss Schautz dachte über seinen Vorschlag und die Tatsache nach, daß Wilt sich anhörte wie ein geborener Idiot, und ging das Wagnis ein. »Ich habe nichts an«, sagte sie und öffnete die Tür einen Spalt weit. »Ach Herrjeh«, sagte Wilt, »das tut mir schrecklich leid. Daran hatte ich jetzt nicht gedacht. Ich hole Ihnen was.« Er ging ins Schlafzimmer und wühlte in einem Schrank, und als er etwas gefunden hatte, das sich im Finstern wie ein -179-
Regenmantel anfühlte, nahm er es mit. »Hier ist ein Mantel«, sagte er und reichte ihr ihn durch die Tür. »Möchte das Licht im Schlafzimmer nicht anmachen für den Fall, die Kerle da unten sehen es und fangen wieder an, mit ihren Gewehren rumzuballern. Aber keine Angst, ich habe die Tür abgeschlossen und verbarrikadiert, da hätten sie zu tun, wenn sie hier reinwollten.« Miss Schautz zog sich im Badezimmer den Regenmantel an, kam vorsichtig heraus und sah, daß Wilt aus dem Elektrotopf gerade kochendes Wasser in eine Teekanne goß. »Dachte, Sie würden eine Tasse Tee mögen«, sagte er. »Ich jedenfalls möchte.« Gudrun Schautz versuchte zu begreifen, was vorgefallen war. Von dem Augenblick an, als sie im Badezimmer eingeschlossen worden war, hatte sie felsenfest angenommen, die Mansarde sei von Polizisten besetzt. Jetzt hatte es den Anschein, wer auch immer hier gewesen war, war weg, und dieser blutlose, törichte Engländer machte Tee, als wenn nichts wäre. Wilts Eingeständnis, daß er den Nachmittag im Zimmer ein Stockwerk tiefer unter dem Bett verkrochen zugebracht hatte, war so überzeugend schmachvoll gewesen, daß es den Eindruck bestätigt hatte, den sie aus seinen früheren nächtlichen Wortgefechten mit Frau Wilt gewonnen hatte, daß er nämlich nicht die geringste Bedrohung darstellte. Andererseits mußte sie herausfinden, wieviel er wußte. »Diese Männer mit Gewehren«, sagte sie, »was für Männer sind denn das?« »Tja, meine Position war wirklich nicht so günstig, daß ich sie gut sehen konnte«, sagte Wilt, »weil ich ja unter dem Bett lag und so weiter. Einige trugen Stiefel, und einige nicht, wenn sie verstehen, was ich meine.« Gudrun Schautz tat’s nicht. »Stiefel?« »Nicht Schuhe. Nehmen Sie übrigens Zucker?« -180-
»Nein.« »Sehr klug«, sagte Wilt, »schrecklich schlecht für die Zähne. Na egal, hier ist Ihre Tasse. Oh, entschuldigen Sie. Moment, ich hole ein Tuch und wische Sie ab.« Und in der Enge der Küche tappte Wilt nach einem Tuch und tupfte damit Gudrun Schautz' Mantel ab, den er absichtlich mit Tee begossen hatte. »Sie können jetzt aufhören«, sagte sie, als Wilt seine Aktivitäten mit dem Handtuch von ihren Brüsten auf tieferliegende Regionen ausdehnte. »Natürlich, und ich gieße Ihnen nochmal nach.« Sie zwängte sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer, während Wilt überlegte, welche anderen häuslichen Mißgeschicke er vom Zaune brechen könne, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Da war natürlich immer der Sex, aber unter den Umständen schien es kaum wahrscheinlich, daß die Bestie daran besonders interessiert wäre, und selbst wenn, die Vorstellung, mit einer berufsmäßigen Mörderin zu schlafen, würde es ihm äußerst schwierig machen, das Köpfchen oben zu behalten. Auf Whisky hin schlappzumachen und geknickt dazusitzen, war schon schlimm, aber aus Angst war das unendlich viel schlimmer. Sicher, Schmeicheleien halfen vielleicht, und sie hatte sicherlich hübsche Brüste. Wilt brachte noch eine Tasse Tee rüber ins Schlafzimmer, wo sie aus dem Balkonfenster in den Garten sah. »Besser, ich komm nicht ans Fenster«, sagte er, »da draußen sind noch mehr von diesen Irren mit den Donald-DuckHemden.« »Donald-Duck-Hemden?« »Und Gewehren«, sagte Wilt. »Wenn Sie mich fragen, die ganze verfluchte Stadt ist übergeschnappt.« »Und haben Sie keine Idee, was los ist?« »Tja, ich habe jemanden was von Israelis schreien hören, aber -181-
irgendwie scheint mir das unwahrscheinlich, nicht? Ich meine, weshalb um alles in der Welt würden Israelis in der ganzen Willington Road herumschwirren wollen?« »O mein Gott«, sagte Gudrun Schautz, »was machen wir denn nun?« »Machen?« sagte Wilt. »Ich glaube wirklich nicht, daß wir viel machen können. Bis auf unseren Tee zu trinken und uns unauffällig zu benehmen. Das Ganze ist wahrscheinlich nur irgendein gräßlicher Irrtum. Ich kann mir nicht denken, was es sonst ist. Sie etwa?« Gudrun Schautz konnte es und tat es, aber es diesem Idioten zuzugeben, ehe sie die Möglichkeit hatte, ihm einen solchen Schrecken einzujagen, daß er alles tat, was sie von ihm verlangte, schien ihr keine gute Idee. Sie eilte in die Küche und kletterte in den Bodenraum hoch. Wilt kletterte, seinen Tee schlürfend, hinterher. »Natürlich habe ich versucht, die Polizei anzurufen«, sagte er und ließ sein Kinn noch debiler nach unten sinken. Miss Schautz blieb wie angewurzelt stehen. »Die Polizei? Sie haben die Polizei angerufen?« »Konnte ich aber nicht«, sagte Wilt, »irgendein Schuft hatte das Telefon aus der Wand gerissen. Kann mir nicht denken, warum. Ich meine, bei dem ganzen Geschieße...« Aber Gudrun Schautz hörte nicht mehr zu. Sie kletterte auf der Planke zu dem Gepäck, und Wilt konnte sie zwischen den Koffern herumkramen hören. Wenn sie bloß nicht in den Wasserbehälter guckte! Um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, steckte Wilt den Kopf durch die Tür und knipste das Licht aus. »Besser kein Licht«, erklärte er, als sie fluchend im Stockdunklen herumtappte, »möchte nicht, daß jemand weiß, daß wir hier oben sind. Am besten einfach nichts unternehmen, bis sie weg sind.« Ein Schwall unverständliches, aber offensichtlich feindseliges -182-
Deutsch begrüßte seinen Vorschlag, und nachdem Gudrun Schautz mehrere Minuten ergebnislos nach der Tasche gekramt hatte, stieg sie schwer atmend wieder in die Küche runter. Wilt beschloß, wieder zuzuschlagen. »Ganz unnötig, so aufgeregt zu sein, meine Liebe. Schließlich sind wir hier in England, und da kann Ihnen gar nicht s Böses geschehen.« Er legte tröstend seinen Arm um ihre Schultern. »Und Sie haben ja mich, der sich um Sie kümmert. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssen.« »O mein Gott«, sagte sie und begann plötzlich, sich leise in sich hineinlachend zu schütteln. Der Gedanke, daß sie nur diesen schwachen, dummen Feigling habe, der sich um sie kümmere, war zuviel für die Mörderin. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen müsse! Der Satz nahm plötzlich eine neue und auf schreckliche Weise verdrehte Bedeutung an, und wie eine Offenbarung erkannte sie die Wahrheit, eine Wahrheit, gegen die sie ihr ganzes Leben gekämpft hatte. Das einzige, um das sie sich Sorgen machen müsse, war das Nichts. Gud run Schautz blickte dem Vergessensein ins Gesicht, der Unendlichkeit des Nichts, und Angst erfüllte sie. Mit dem verzweifelten Bedürfnis, dieser Vision zu entfliehen, klammerte sie sich an Wilt, und ihr Regenmantel öffnete sich. »Ich sage...« fing Wilt gerade an, als er diese neue Bedrohung gewahr wurde, aber Gudrun Schautz' Mund schloß sich über seinem, und ihre Zunge zuckte, während ihre Hände seine Finger an ihre Brüste führten. Dieses Geschöpf, das nur Tod in die Welt gebracht hatte, wandte sich jetzt in seinem Grauen dem ältesten aller Instinkte zu. Gudrun Schautz war nicht der einzige Mensch in Ipford, der dem Vergessensein ins Gesicht sah. Der Direktor von Wilts Bank hatte einen äußerst beunruhigenden Nachmittag mit Inspektor Flint zugebracht, der ihm ständig versicherte, es sei von nationaler Bedeutung, daß er nicht mit seiner Frau -183-
telefoniere, um ihre Verabredung zum Essen rückgängig zu machen, und der ihm einfach nicht erlauben wollte, sich mit seinen Angestellten und einigen Klienten in Verbindung zu setzen, die Termine mit ihm vereinbart hatten. Der Direktor hatte diese Angriffe auf seine Machtbefugnisse als beleidigend und Flints Anwesenheit als absolut tödlich für seinen Ruf finanzieller Redlichkeit empfunden. »Was zum Kuckuck stellen Sie sich eigentlich vor, was meine Angestellten denken, wenn ich den ganzen Tag mit drei verdammten Polizisten in meinem Büro ›eine vertrauliche Unterredung‹ habe?« fragte er, wobei er die diplomatische Sprache des Bankwesens zuliebe erdnäherer Umgangsformen fallen ließ. Besonders verärgert hatte ihn, daß er zu wählen hatte, ob er in einen vom Hausmeister herbeigeschafften Eimer urinieren, oder die Demütigung auf sich nehmen wolle, bei jedem Gang zur Toilette von einem Polizisten begleitet zu werden. »Wenn ein Mensch in seiner eigenen Bank nicht pinkeln kann, ohne daß ihm dabei irgendein Sche iß Gendarm in den Nacken haucht, kann ich nur sagen, es ist schön weit mit uns gekommen.« »Sehr treffend bemerkt, Sir«, sagte Flint, »aber ich handle lediglich auf Befehl, und wenn die Antiterror-Brigade sagt, etwas ist von nationalem Interesse, dann ist es das.« »Ich verstehe nicht, in welchem nationalen Interesse es liegen soll, daß man mich hindert, mein Bedürfnis allein zu verrichten«, sagte der Direktor. »Ich werde dafür sorgen, daß eine Beschwerde ans Innenministerium geht.« »Tu er, wasser nicht lassen kann«, sagte Flint, der seine eigenen Gründe hatte, schlecht gelaunt zu sein. Daß sich die Antiterror-Brigade in seine Belange hineindrängte, hatte seine Autorität unterminiert. Der Umstand, daß Wilt verantwortlich für die ganze Chose war, machte ihn nur noch mehr verrückt, -184-
und er stellte gerade Überlegungen über Wilts Fähigkeit an, ihm das Leben kaputt zu machen, als das Telefon klingelte. »Ich nehme ab, wenn’s Sie nicht stört«, sagte er und griff zum Hörer. »Mr. Fildroyd von der Central Investment am Apparat, Sir«, sagte die Telefonistin. Flint sah den Bankdirektor an. »Irgendein Kerl namens Fildroyd. Kennen Sie jemanden mit dem Namen?« »Fildroyd? Natürlich kenne ich den.« »Ist ihm zu trauen?« »Großer Gott, Mann, ob Fildroyd zu trauen ist? Er ist mit der gesamten Kapitalanlage-Politik der Bank betraut.« »Aktien und Wertpapiere, was?« fragte Flint, der mal ein bißchen in australischem Bauxit spekuliert hatte und diese Erfahrung wohl kaum vergessen würde. »In dem Fall traute ich ihm nicht weiter, als ich ihn werfen kann.« Er teilte diese Meinung in nur leicht entschärfter Form dem Mädchen in der Telefonzentrale mit. Ein fernes Grollen ließ vermuten, daß Mr. Fildroyd an der Strippe sei. »Mr. Fildroyd möchte wissen, wer am Apparat ist«, sagte das Mädchen. »Ja, sagen Sie Mr. Fildroyd, hier ist Inspektor Flint vom Kommissariat Fenland, und wenn er weiß, was gut für ihn ist, hält er die Klappe.« Er legte auf und wandte sich dem Direktor zu, der ausgesprochen jämmerlich dreinschaute. »Was ist denn mit Ihnen los?« fragte Flint. »Los? Mit mir? Nichts, überhaupt nichts. Nur daß Sie eben die gesamte Central Investment auf die Vermutung gebracht haben, man verdächtige mich eines schweren Verbrechens.« »Mir Mr. Henry Wilt zuzumuten, ist ein schweres Verbrechen« , sagte Flint bitter, »und wenn Sie meine Meinung -185-
hören wollen, dann ist diese ganze Angelegenheit ein von Wilt abgekartetes Spiel, um wieder mal eine Portion öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« »Wie ich gehört habe, war dieser Mr. Wilt das unschuldige Opfer der...« »Unschuldiges Opfer am Arsch. An dem Tag, an dem dieser Halunke unschuldig ist, hör' ich auf, Polyp zu sein und trete dem verfluchten geistlichen Stand der Scheiß Kirche bei.« »Reizend Ihre Art, sich auszudrücken, muß ich schon sagen«, sagte der Bankdirektor. Aber Flint war zu sehr von privaten Überlegungen in Anspruch genommen, um den Sarkasmus zu bemerken. Er rief sich diese gräßlichen Tage und Nächte wieder in Erinnerung, in denen er und Wilt in ein Zwiegespräch über Mrs. Wilts Verschwinden vertieft gewesen waren. Immer noch gab es düstere Stunden vor Morgengrauen, in denen Flint in Erinnerung an Wilts außerordentlich merkwürdiges Benehmen schweißgebadet aufwachte und sich schwor, eines Tages würde er den kleinen Scheißkerl bei einem schweren Verbrechen ertappen. Und heute hatte es die ideale Gelegenheit dazu gegeben, oder vielmehr es hätte sie gegeben, wenn die Antiterror-Brigade sich nicht eingemischt hätte. Na, wenigstens hatten sie sich mit der Situation rumzuschlagen, aber wenn es nach Flints Nase gegangen wäre, dann hätte er dieses ganze Gequatsche von deutschen Aupair-Mädchen als das Gewäsch, das es war, nur mit Vorbehalt hingenommen und Wilt unter der Anklage, im Besitz von gestohlenem Geld zu sein, in Untersuchungshaft genommen, ganz egal, was er sagen würde, woher er das Geld hätte. Doch als er um fünf die Bank verließ und zum Polizeirevier zurückfuhr, mußte er feststellen, daß Wilts Aussage anscheinend doch mit den Tatsachen übereinstimmte, auch wenn sie noch so unwahrscheinlich war. -186-
»Eine Belagerung?« sagte er zum wachhabenden Sergeant. »Eine Belagerung in der Willington Road? Von Wilts Haus?« »Der Wahrheitsbeweis sitzt da drin, Sir«, sagte der Sergeant und zeigte auf ein Büro. Flint ging hinüber zu der Sichtscheibe und sah hindurch. Wie ein gewaltiges Denkmal der Mutterschaft saß Eva Wilt reglos auf einem Stuhl und sah ins Leere, ihr Geist offensichtlich abwesend und bei ihren Kindern im Haus in der Willington Road. Flint wandte sich ab und fragte sich zum zigsten Male, was es wohl war, das diese Frau und ihren scheinbar nichtssagenden Mann zusammengeführt und durch eine seltsame Vereinigung des Unvereinbaren zum Katalysator für Katastrophen gemacht hatte. Sie war ihm ein ewiges Rätsel, diese Ehe zwischen einer Frau, die Wilt einmal als eine Zentrifugalkraft beschrieben hatte, und einem Mann, dessen Phantasie sich in bestialischen Träumen von Mord, Vergewaltigung und diesen bizarren Vorstellungen erging, die während der Stunden seines Verhörs ans Licht gekommen waren. Da Flints eigene Ehe im herkömmlichen Sinne so glücklich war, wie er sich’s nur wünschen konnte, war die der Wilts in seinen Augen weniger eine Ehe als vielmehr irgendeine ziemlich unheilvolle symbiotische Verbindung fast pflanzlichen Ursprungs, wie eine Mistel, die auf einer Eiche wuchs. Und fraglos hatte Mrs. Wilt etwas Vegetabiles an sich, wie sie da so schweigend in dem Büro saß, und Inspektor Flint schüttelte traurig den Kopf. »Die arme Frau hat einen Schock«, sagte er und eilte weg, um sich selber ein Bild davon zu machen, was in der Willington Road wirklich los war. Aber wie üblich war seine Diagnose falsch. Eva befand sich in keinem Schockzustand. Sie hatte schon lange mitgekriegt, daß es sinnlos sei, den Polizistinnen, die bei ihr saßen, zu sagen, daß sie nach Hause wolle, und jetzt beschäftigte sie sich innerlich, still und ziemlich bedrohlich mit praktischen Dingen. -187-
Da draußen in der dichter werdenden Finsternis waren ihre Kinder Mördern ausgeliefert, und Henry war vielleicht tot. Nichts würde sie davon zurückhalten können, zu den Vierlingen zu gehen und sie zu retten. Über dieses Ziel hinaus hatte sie noch nicht geblickt, aber eine ohnmächtige Wut durchströmte sie. »Vielleicht möchten Sie, daß eine Freundin kommt und hier bei Ihnen sitzt«, schlug eine der Polizistinnen vor. »Oder wir könnten mit ihnen zu einer Freundin fahren.« Aber Eva schüttelte den Kopf. Sie wollte kein Mitleid. Sie hatte ihre eigenen Kraftreserven, um mit ihrem Elend fertigzuwerden. Schließlich kam eine Sozialarbeiterin vom Fürsorgeheim rüber. »Wir haben ein hübsches warmes Zimmer für Sie«, sagte sie mit der angestrengten Fröhlichkeit, die schon ganze Heerscharen geprügelter Ehefrauen in die Wolle gebracht hatte, »und Sie brauchen sich auch nicht um Nachthemden und Zahnbürsten und all das Sorge zu machen. Alles, was Sie wollen, steht Ihnen zur Verfügung.« »Das wird es zwar nicht«, dachte Eva, dankte aber den Polizeibeamtinnen und folgte der Sozialarbeiterin hinaus zu ihrem Wagen und saß ergeben neben ihr, als sie davonfuhren. Und die ganze Zeit schnatterte die Frau weiter, stellte Fragen nach den Vierlingen und wie alt sie wären, und sagte, wie schwer es doch sein müsse, vier Mädchen zur gleichen Zeit großzuziehen, als wenn die ständig wiederholte Vermutung, es sei schon nichts Außergewöhnliches geschehen, ihr irgendwie das glückliche alltägliche Leben wieder zurückbringen könne, das Eva an diesem Nachmittag um sich herum hatte in Scherben gehen sehen. Eva hörte ihr kaum zu. Die abgedroschenen Worte standen derart grotesk im Widerspruch zu den Gefühlen, die sich in ihr rührten, daß sie ihrem schrecklichen Entschluß bloß noch Wut hinzufügten. Eine dumme Frau, die keine Kinder hatte, konnte einfach nicht wissen, was es hieß, sie in Gefahr zu -188-
wissen, und zu einer untätigen Hinnahme des Gegebenen würde sie sich ums Verrecken nicht beschwatzen lassen. An der Ecke Dill Road und Persimmon Street fiel ihr eine Anschlagtafel vor einem Zeitungsladen ins Auge. LETZTER STAND DER TERRORISTENBELAGERUNG. »Ich möchte eine Zeitung«, sagte Eva plötzlich, und die Frau fuhr an den Straßenrand. »Da steht auch nichts drin, was Sie nicht schon wissen«, sagte sie. »Ich weiß. Ich möchte bloß sehen, was sie so schreiben«, sagte Eva und öffnete die Wagentür. Aber die Frau hielt sie zurück. »Bleiben Sie einfach hier sitzen, ich ho le Ihnen eine. Möchten Sie auch eine Illustrierte?« »Bloß die Zeitung.« Und mit dem bekümmerten Gedanken, daß selbst in gräßlichen Tragödien manche Leute einen Trost darin fanden, wenn sie ihre Namen in der Zeitung sahen, ging die Sozialarbeiterin über den Bürgersteig in den Laden. Drei Minuten später kam sie wieder raus und hatte schon die Wagentür geöffnet, als sie bemerkte, daß der Sitz neben ihr leer war. Eva Wilt war in die Nacht verschwunden. Als sich Inspektor Flint mit Hilfe seines MSK-Mannes seinen Weg an den Straßensperren in der Farringdon Avenue vorbei gebahnt und durch mehrere Gärten zur Nachrichtenzentrale durchgekämpft hatte, waren ihm langsam Zweifel wegen seines Verdachts gekommen, die ganze Angelegenheit sei bloß wieder mal ein von Wilt ins zenierter Schwindel. Wenn es das war, dann war er diesmal zu weit gegangen. Der Panzerwagen in der Straße und die Scheinwerfer, die um das Haus Nummer 9 herum aufgebaut worden waren, zeigten, wie ernst die AntiterrorBrigade und das Militärische Sonderkommando die Belagerung nahmen. Im Wintergarten auf der Rückseite von Mrs. de -189-
Frackas' Haus bauten Leute seltsam aussehende Geräte auf. »Parabolische Lauschantennen, abgekürzt PLA«, erklärte ein Techniker. »Wenn wir sie erst mal montiert haben, können wir in jedem Raum des Hauses die Kakerlaken furzen hören.« »Tatsächlich? Hatte keine Ahnung, daß Kakerlaken das tun«, sagte Flint. »Man lebt und lernt.« »Wir werden hören, was die Lumpenhunde da drin sagen, und halt, wo sie sind.« Flint ging durch den Wintergarten in den Salon, wo er den Oberinspektor und den Major fand, die einem Berater in Fragen der Ideologie Internationaler Terroristen zuhörten, der sich über die Tonbandaufnahmen ausließ. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen«, sagte Professor Maerlis, ohne daß man ihn darum gebeten hatte, »dann würde ich sagen müssen, daß die Alternative Volksarmee eine Unterabteilung oder Splittergruppe des ursprünglichen Kaders darstellt, der als Volksarmee-Fraktion bekannt ist. Ich glaube, so weit würde ich gehen.« Flint nahm sich in einer Ecke einen Stuhl und war froh, als er bemerkte, daß der Oberinspektor und der Major seine Verblüffung teilten. »Wollen Sie damit sagen, daß sie tatsächlich Teile derselben Gruppe sind?« fragte der Oberinspektor. »Nicht ausdrücklich«, sagte der Professor. »Ich kann nur nach den in ihren Kommuniques zum Ausdruck gebrachten inhärenten Widersprüchen vermuten, daß es starke Meinungsunterschiede zur taktischen Einstellung gibt, während beide Gruppen gleichzeitig dieselben grundlegenden ideologische n Auffassungen teilen. Infolge der Molekularstruktur terroristischer Organisationen bleibt jedoch die tatsächliche Identifikation eines Mitglieds der einen Gruppe durch ein anderes Mitglied einer anderen Gruppe oder Unterabteilung derselben Gruppe außerordentlich -190-
problematisch.« »Die ganze Scheiß Situation ist außerordentlich problematisch, wenn Sie mich fragen«, sagte der Oberinspektor. »Bis jetzt haben wir zwei Kommuniques, eins von jemandem, der sich wie ein teilweise kastrierter Deutscher anhört, und eins von einem asthmatischen Iren, dazu Forderungen eines Mexikaners nach einem Jumbojet und sechs Millionen Pfündchen, eine Gegenforderung von sieben Millionen von dem Sauerkrautfresser, ganz abgesehen von einem Schwall Beschimpfungen von einem Araber und daß jeder jeden beschuldigt, ein CIA-Agent im Dienste Israels zu sein, und sie sich darum zanken, wer um wessen Freiheit kämpft.« »Ich kapiere nicht, wie sie überhaupt von Freiheit reden können, wenn sie unschuldige Kinder und eine alte Dame als Geiseln festhalten und drohen, sie zu töten«, sagte der Major. »Da muß ich Ihnen widersprechen«, sagte der Professor. »Nach der neohegelianischen, nachmarxistischen politischen Philosophie kann es eine Freiheit des Einzelnen nur innerhalb der Parameter einer kollektiv betrachtet freien Gesellschaft geben. Die Volksarmee-Fraktionen betrachten sich als in der vordersten Linie der totalen Freiheit und Gleichheit stehend und sind somit nicht daran gebunden, die moralischen Normen zu achten, die die Handlungen der Lakaien der imperialistischen, faschistischen und neokolonialistischen Unterdrückung einengen.« »Hören Sie mal, alter Junge«, sagte der Major und nahm wütend seine Afrolook-Perücke ab, »auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?« »Ich habe nur die Theorie dargelegt. Wenn Sie eine genauere Analyse wünschen...«, begann der Professor nervös, wurde aber von dem Leiter des Stabes der Psychologischen Kriegsführung unterbrochen, der an den Stimmspektrogrammen gearbeitet hatte. -191-
»Nach unserer Analyse des Streßfaktors, der sich in diesen Bandaufnahmen zeigt, sind wir der Ansicht, daß die Gruppe, die Fräulein Schautz gefangenhält, nervlich angespannter ist als die beiden anderen Terroristen«, legte er dar, »und offen gesagt bin ich der Meinung, wir sollten uns darauf konzentrieren, ihren Angstpegel zu senken.« »Wollen Sie damit sagen, die Schautz schwebt in Gefahr, erschossen zu werden?« fragte der Oberinspektor. Der Psychologe nickte. »Es ist wirklich ziemlich verwirrend. Wir haben mit dieser Gruppe was ziemlich Merkwürdiges am Haken, eine Abweichung von den normalen sprachlichen Reaktionsmustern, und ich muß zugeben, ich glaube, sie ist diejenige, die in der größten Gefahr schwebt, daß sie ihr Fett kriegt.« »Darüber wächst mir kein weißes Haar«, sagte der Major, »das hat sie sich selber zuzuschreiben.« »Wenn das passiert, werden uns allen weiße Haare wachsen«, sagte der Oberinspektor. »Meine Anweisungen sind, die Angelegenheit auf Sparflamme zu halten, und wenn die anfangen, ihre Geiseln um die Ecke zu bringen, ist doch bald die Hölle los.« »Ja«, sagte der Professor, »eine sehr interessante dialektische Situation. Sie müssen wissen, daß die Theorie des Terrorismus als einer progressiven Macht in der Weltgeschichte die Verschärfung des Klassenkampfs und die Polarisierung der politischen Einstellung fordert. In den Begriffen simpler Nutzanwendung heißt das, daß die Überlegenheit bei der Volksarmee-Fraktion 4 und nicht bei der Alternativen Volksarmee liegt.« »Bitte nochmal«, sagte der Major. Der Professor tat ihm den Gefallen. »Ganz simpel ausgedrückt, ist es politisch besser, die Kinder zu töten, als Miss Schautz zu beseitigen.« -192-
»Das mag ja Ihre Meinung sein«, sagte der Major und seine Finger zuckten um den Griff seines Revolvers, »aber wenn Sie wissen, was Ihnen guttut, sagen Sie’s hier in dem Zimmer nicht nochmal.« »Ich habe nur im Sinne politischer Polarisierung gesprochen«, sagte der Professor nervös. »Nur eine sehr kleine Minderheit wird beunruhigt sein, wenn Fräulein Schautz stirbt, aber die Wirkung der Tötung von vier kleinen Kindern in so guter Hoffnung, die noch dazu vier gleichzeitig empfangene weibliche Geschwister sind, wäre beträchtlich.« »Vielen Dank, Professor«, sagte eilig der Oberinspektor. Und bevor der Major die Möglichkeit hatte, die dunklen Äußerungen des Professors zu enträtseln, hatte er den Berater in Fragen Terroristischer Ideologien aus dem Zimmer geleitet. »Es sind so verfluchte Eierköpfe wie der, die dieses Land ruiniert haben«, sagte der Major. »Wenn man ihn reden hört, könnte man denken, jedes verdammte Problem hätte zwei Seiten.« »Was genau das Gegenteil von dem ist, was wir auf den Stimmdiagrammen feststellen«, sagte der Psychologe. »Unsere Analyse scheint darauf hinzudeuten, daß es für die Alternative Volksarmee nur einen Sprecher gibt.« »Einen einzigen?« fragte der Oberinspektor ungläubig. »Für mich hat sich das nicht bloß nach einem einzigen Mann angehört. Eher wie ein halbes Dutzend geisteskranker Bauchredner.« »Genau. Und deshalb meinen wir, Sie sollten versuchen, den Angstpegel dieser Gruppe zu senken. Wir können es gut mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun haben. Ich spiele Ihnen die Bänder noch mal vor, dann verstehen Sie vielleicht, was ich meine.« »Muß es sein? O Gott...« Aber der Sergeant hatte das Tonbandgerät schon angeschaltet, -193-
und noch einmal hallten in dem vollgestopften Salon die kehligen Brumm- und Wimmertöne von Wilts Kommuniques wider. Inspektor Flint, der in seiner dunklen Ecke gerade dabei war einzuschlummern, sprang plötzlich auf. »Ich wußte es«, schrie er triumphierend, »ich wußte es. Ich wußte einfach, es muß so sein, und bei Gott, so ist es auch.« »Es mußte was so sein?« fragte der Oberinspektor. »Dieser Scheiß Henry Wilt, der hinter diesem ganzen Zauber steckt. Und der Beweis ist da auf den Bändern.« »Sind Sie sicher, Inspektor?« »Mehr als das. Absolut todsicher. Ich würde die Stimme von dem kleinen Dreckschwein raushören, und wenn er einen Eskimo in Lebertran imitiert.« »Ich glaube, so weit brauchen wir gar nicht zu gehen«, sagte der psychologische Berater. »Sie wollen also sagen, Sie kennen den Mann, den wir eben gehört haben?« »Kennen?« sagte Flint. »Natürlich kenne ich diesen Schuft. Das sollte ich wohl auch nach allem, was er mir angetan hat. Und jetzt hat er euch in der Mache.« »Ich muß sagen, ich finde das kaum glaublich«, sagte der Oberinspektor, »einem harmloseren Mann zu begegnen, könnte man sich doch kaum wünschen.« »Ich könnte das«, sagte Flint mit Nachdruck. »Aber er mußte erst bis unter die Haarwurzeln mit Drogen vollgepumpt werden, ehe wir ihn so weit hatten, daß er in das Haus ging«, sagte der Major. »Drogen? Was denn?« fragte der Psychologe. »Keine Ahnung. Irgendein kleines Gebräu, das unser Pillendreher für Halunken mit dem Hang zum Zittern zusammenkocht. Wirkt Wunder bei den Jungs von der Bombenräumung.« »Tja, es scheint, in diesem Fall nicht ganz so gut funktioniert -194-
zu haben«, sagte der Psychologe nervös, »aber es erklärt mit Sicherheit die bemerkenswerten Vorträge, die wir übermittelt bekommen haben. Wir könnten es gut mit einem Fall von chemisch ausgelöster Schizophrenie zu tun haben.« »Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht allzu sehr mit diesem ›chemisch ausgelöst‹ rumplagen«, sagte Flint. »Wilt ist auf jeden Fall verrückt. Ich wette hundert zu eins, daß er das Ding von Anfang an eingefädelt hat.« »Sie können doch nicht ernsthaft unterstellen, daß Mr. Wilt freiwillig alles darauf angelegt hat, seine Kinder in die Gewalt einer Gruppe internationaler Terroristen zu bringen«, sagte der Oberinspektor. »Als ich mit ihm dieses Thema besprach, schien er aufrichtig erstaunt und beunruhigt.« »Was Wilt scheint, und was Wilt ist, das sind zwei völlig getrennte Dinge. Ich kann Ihnen aber so viel sagen. Jeder Mann, der imstande ist, einer aufblasbaren Puppe Kleider seiner Frau anzuziehen und das Ding am Grunde eines Bohrlochs unter dreißig Tonnen schnellbindendem Beton zu begraben, ist kein...« »Entschuldigen Sie mich, Sir«, unterbrach der Sergeant, »es kommt eben die Nachricht vom Revier, daß Mrs. Wilt sich dünngemacht hat.« Die vier Männer sahen ihn verzweifelt an. »Was hat sie?« fragte der Oberinspektor. »Sie ist ihrer Bewachung entflohen, Sir. Offenbar weiß niemand, wo sie ist.« »Paßt genau«, sagte Flint. »Es paßt, kein Zweifel.« »Paßt? Was paßt denn in Gottes Namen?« fragte der Oberinspektor, der sich langsam wie nicht ganz bei Tröste vorkam. »Der Plan, Sir. Als nächstes werden wir zu hören bekommen, daß sie zuletzt auf einem Kajütboot gesehen wurde, das den -195-
Fluß runterfuhr, nur war sie’s nicht.« Der Oberinspektor starrte ihn völlig versteinert an. »Und das nennen Sie einen Plan? O mein Gott!« »Ja, das sind so die Sachen, die Wilt sich einfallen läßt, glauben Sie mir. Dem kleinen Ekel fallen mehr Möglichkeiten ein, wie man eine vollkommen normale und vernünftige Situation in einen total hirnverbrannten Alptraum verwandelt, als jedem anderen Schuft, der mir je begegnet ist.« »Aber er müßte doch ein Motiv dafür haben.« Flint lachte kurz auf. »Motiv? Henry Wilt? Nicht im Leben. Sie können sich tausend stichhaltige Motive ausdenken, wenn Sie wollen, zehntausend für das, was er tut, aber ganz zum Schluß rückt er mit der einzigen Erklärung raus, von der Sie nicht mal geträumt haben. Wilt ist einfach fast wie Ernie.« »Ernie?« fragte der Oberinspektor, »wer zum Teufel ist denn Ernie?« »Dieser verdammte Computer, den sie bei den Prämienve rlosungen einsetzen, Sir. Wissen Sie, der die Nummern völlig wahllos rauspickt. Und Wilt, also, ist so ein Zufallsmensch, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ich glaube, das möchte ich nicht«, sagte der Oberinspektor. »Ich dachte, ich hätte es bloß mit einer netten, einfachen, ganz normalen Belagerung zu tun, statt dessen entwickelt sich die Sache zu einem Tollhaus.« »Wenn wir gerade bei dem Thema sind«, sagte der Psychologe, »ich denke, es ist wirklich sehr wichtig, wieder Verbindung mit den Leuten in der Mansardenwohnung aufzunehmen. Wer das auch ist, der die Schautz da oben gefangen hält, er befindet sich in höchst erregtem Zustand. Sie könnte in äußerster Gefahr sein.« »Da gibt’s kein ›könnte‹«, sagte Flint. »Ist.« »Okay. Ich nehme an, wir werden es riskie ren müssen«, sagte -196-
der Oberinspektor. »Geben Sie dem Hubschrauber das Startzeichen, daß er mit dem Feldtelefon anrückt, Sergeant.« »Irgendwelche Befehle wegen Mrs. Wilt, Sir?« »Da fragen Sie besser den Inspektor hier. Er ist anscheinend der Experte für die Familie Wilt. Was für eine Frau ist Mrs. Wilt eigentlich? Und sagen Sie nicht, sie wär eine Zufallsfrau.« »Das würde ich wirklich nicht sagen«, sagte Flint, »außer daß sie eine sehr kraftvolle Frau ist.« »Was hat Sie also Ihrer Meinung nach vor? Sie hat das Polizeirevier doch offensichtlich nicht ohne irgendein Ziel im Kopf verlassen.« »Also, so gut ich Wilt kenne, Sir, muß ich zugeben, daß ich große Zweifel habe, daß diese Frau überhaupt Kopf besitzt. Jede normale Frau wäre schon seit Jahren im Irrenhaus, wenn sie mit so einem Mann leben müßte.« »Sie nehmen aber nicht an, daß sie etwa irgendwie geistesgestört ist?« »Nein, Sir«, sagte Flint, »ich wollte nur sagen, sie kann überhaupt keine Nerven besitzen, die der Rede wert wären.« »Das ist ja eine große Hilfe. Also haben wir es mit einem Rudel bis an die Zähne bewaffneter Terroristen zu tun, mit sowas wie einem Verrückten in Gestalt von Wilt und einer Frau auf freier Wildbahn und mit einer Haut wie ein Nashorn. Wenn man das alles zusammennimmt, haben wir ja eine richtige Teufelsmischung am Hals. Na schön, Sergeant, geben Sie Suchalarm wegen Mrs. Wilt und sehen Sie zu, daß man sie wieder einfängt, ehe noch jemand zu Schaden kommt.« Der Oberinspektor ging zum Fenster und sah hinüber zu Wilts Haus. Im gleißenden Scheinwerferlicht hob es sich gegen den nächtlichen Himmel wie ein riesiges Denkmal ab, das zur Erinnerung an die Teilnahmslosigkeit und unerschütterliche Treue zur Fadheit des englischen Spießers errichtet worden war. -197-
Sogar der Major fühlte sich zu einer Bemerkung hingerissen. »'ne Art Vorstadtsonetlumiere, was?« murmelte er. »Lumiere vielleicht«, sagte der Oberinspektor, »aber wenigstens bleibt uns der son erspart.« Aber nicht lange. Von irgendwoher in der Nähe kam eine Reihe schrecklicher Wimmertöne. Wilts Vierlinge gaben Laut. Eine Meile entfernt strebte Eva Wilt mit einer Entschlossenheit ihrem Hause zu, die zu ihrem Äußeren vollkommen im Widerspruch stand. Die wenigen Leute, die sie bemerkten, als sie die engen Straßen entlanghastete, sahen nur eine gewöhnliche Hausfrau, die es eilig hatte, ihrem Mann das Abendbrot zu machen und die Kinder ins Bett zu stecken. Aber unter ihrem schlichten Aussehen hatte Eva Wilt sich verändert. Sie hatte ihre muntere Dusseligkeit und die geborgten Ansichten abgelegt und nur noch einen Gedanken im Kopf. Sie ging nach Hause, und niemand würde sie aufhalten. Was sie täte, wenn sie erst mal dort wäre, davon hatte sie keine Ahnung, und auf vage Art und Weise war ihr klar, daß ihr Zuhause nicht einfach ein Ort war. Es war auch, was sie war, die Frau von Henry Wilt und die Mutter der Vierlinge, eine schwer arbeitende Frau, die von ganzen Generationen schwer arbeitender Frauen abstammte, die Fußböden geschrubbt, Essen gekocht und ihre Familie trotz Krankheiten, Todesfällen und der Launen ihrer Männer zusammengehalten hatten. Das war kein klar umrissener Gedanke, aber er trieb sie geradezu instinktiv vorwärts. Doch mit dem Instinkt kam auch das Denken. In der Farringdon Avenue würde man sie sicherlich abpassen wollen, also vermied sie sie. Statt dessen würde sie über die eiserne Fußgängerbrücke den Fluß überqueren, dann durch die Barnaby Road und über die Felder gehen, wohin sie erst vor zwei Monaten mit ihren Kindern zum Brombeerpflücken gewandert war, und den Garten von der Rückseite betreten. Und dann? Das müßte sie abwarten. Wenn es irgendeine Möglichkeit -198-
gäbe, ins Haus und zu den Kindern zu gelangen, würde sie sie ergreifen. Die Hauptsache wäre, daß sie da sei, um sie zu beschützen. Unter dieser unbestimmten Logik flackerte Wut. Die war, wie ihre Gedanken, vage und verschwommen und richtete sich sowohl gegen die Polizei als auch gegen die Terroristen. In gewisser Weise gab sie der Polizei größere Schuld. Für sie waren die Terroristen Verbrecher und Mörder, und die Polizei war dazu da, die Öffentlichkeit vor solchen Leuten zu schützen. Das war ihre Aufgabe, und sie hatte sie nicht ausgeführt, wie sich das gehörte. Statt dessen hatte sie zugelassen, daß ihre Kinder als Geiseln genommen wurden, und trieb jetzt ein Spiel, in dem die Vierlinge bloß kleine Steinchen waren. Das war ein simples Bild der Angelegenheit, aber Eva sah die Dinge simpel und geradezu. Na gut, wenn die Polizei nicht handelte, täte sie es eben. Aber erst, als sie an der Fußgängerbrücke ankam, die über den Fluß führ te, sah sie das volle Ausmaß des Problems, vor dem sie stand. Eine halbe Meile vor ihr stand das Haus in der Willington Road in weißes Licht gehüllt da. Die Straßenlampen um es herum flimmerten düster, und die anderen Häuser waren nur schwarze Schatten. Das Geländer umfaßt, hielt sie einen Augenblick inne und fragte sich, was sie tun solle, aber stehenzubleiben hatte keinen Sinn. Sie mußte weiter. Sie ging die eisernen Stufen hinunter und die Barnaby Road entlang, bis sie an den Fußweg durch die Felder kam. Sie ging auf ihm weiter, bis sie am nächsten Zaun auf ein morastiges kleines Stück Weide stieß. Eine Kuhherde trampelte in der Dunkelheit in ihrer Nähe herum, aber Eva hatte keine Angst vor Kühen. Sie waren ein Teil der Natur, zu der auch sie, empfand sie, voll und ganz gehörte. Aber auf der anderen Seite der Weide war nichts natürlich. Gegen das böse weiße Gleißen des Scheinwerferlichts konnte sie Männer mit Gewehren sehen, und als sie über den Zaun geklettert war, bückte sie sich und entdeckte die -199-
Stache ldrahtrollen. Sie verliefen von der Farringdon Avenue geradewegs quer über das Feld. Die Willington Road war abgeschnitten. Aber ihr Instinkt brachte sie wieder auf eine List. Zu ihrer Linken verlief ein Graben, und wenn sie daran entlang ginge... Aber da wäre sicher ein Mann, der sie aufhielte. Sie brauchte etwas, um ihn abzulenken. Die Kühe würden reichen. Eva öffnete das Gatter, stiefelte durch den Morast auf die Viecher zu und trieb sie auf das nächste Feld, dann machte sie das Gatter wieder zu. Sie scheuchte die Kühe noch ein Stückchen weiter, die sich verteilten und bald darauf neugierig, wie sie waren, langsam weiterliefen. Eva stieg hinunter in den Graben und begann darin weiterzuwaten. Der Graben war sumpfig und halb mit Wasser gefüllt, und beim Gehen wickelten sich Pflanzen um ihre Knie, und hin und wieder kratzte ihr Dornengestrüpp durchs Gesicht. Zweimal griff sie in Brennesseln, aber die spürte Eva kaum. Sie war zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt. Vor allem mit den Lichtern. Die strahlten das Haus mit einer Helligkeit an, daß es ganz unwirklich und fast wie auf einem Negativ aussah, wo alle Farben umgekehrt waren und Fenster, die hätten hellerleuchtet sein müssen, schwarze Rechtecke vor einem helleren Hintergrund. Und die ganze Zeit war von irgendwoher jenseits des Feldes das ununterbrochene Stampfen einer Maschine zu hören. Eva äugte über die Grabenkante und erspähte die dunklen Umrisse eines Generators. Sie wußte, daß das einer war, weil John Nye ihr einmal erklärt hatte, wie Elektrizität entsteht, als er sie dazu überreden wollte, einen Savoniusrotor aufzustellen, der vom Wind angetrieben wurde. Also damit strahlten sie das Haus an. Nicht, daß ihr das geholfen hätte. Der Generator stand mitten auf dem Feld draußen, und da kam sie unmöglich hin. Aber immerhin boten die Kühe eine nützliche Ablenkung. Sie hatten sich alle um einen der bewaffneten Männer geschart, der versuchte, sie sich irgendwie vom Halse zu schaffen. Eva kroch wieder in den Graben und stieß beim Weiterwaten auf den -200-
Stacheldraht. Wie sie’s vermutet hatte, ringelte er sich bis ins Wasser hinein, und nur, indem sie mit dem Arm bis zur Schulter runterlangte, konnte sie sein Ende erwischen. Sie zog es nach oben und bückte sich, daß sie fast im Wasser verschwand, und so gelang es ihr, sich darunter durchzuwinden. Als sie an der Hecke ankam, die an der Rückseite aller Gärten entlanglief, war sie naß bis auf die Haut, und Hände und Beine waren schlammbedeckt, aber die Kälte berührte sie nicht. Nichts war wichtig, nur die Angst, man könnte sie aufhalten, ehe sie das Haus erreichte. Und im Garten waren sicher noch mehr Bewaffnete. Eva stand bis zu den Knien im Schlamm, wartete und guckte. Geräusche drangen aus der Nacht zu ihr. Sicherlich war jemand in Mrs. Haslops Garten. Der Geruch von Zigarettenrauch sagte ihr das, aber ihre größte Aufmerksamkeit war auf die Rückseite ihres eigenen Gartens und auf die Lichter gerichtet, die ihr Haus so furchtbar unerreichbar machten. Ein Mann kam von der Rückseite des Sommerhäuschens und ging durch das Gartentor ins Feld. Eva beobachtete ihn, wie er zum Generator davonschlenderte. Und immer noch wartete sie in ihrer ganzen Schläue, die aus irgendeinem unergründlichen Instinkt in ihr aufstieg. Ein zweiter Mann bewegte sich hinter dem Sommerhaus, ein Streichholz flammte in der Dunkelheit auf, als er sich eine Zigarette anzündete, und Eva kroch wie ein urzeitliches Wasserungetüm aus dem Graben und krabbelte auf Händen und Knien an der Hecke entlang. Die ganze Zeit waren ihre Augen auf das glühende Zigarettenende gerichtet. Als sie an der Pforte ankam, konnte sie jedesmal, wenn der Mann einen tiefen Zug nahm, sein Gesicht erkennen, und die Pforte war offen. Sie schwang im Wind leicht hin und her und ging nie ganz zu. Eva machte sich daran, langsam hindurchzukriechen, als ihr Knie plötzlich an etwas Rundes und Glitschiges stieß. Sie fühlte mit der Hand nach und fand ein dickes, plastikummanteltes Kabel. Es lief durch die Pforte zu den drei -201-
Scheinwerfern, die auf dem Rasen standen. Alles, was sie zu tun hatte, war, es durchzutrennen, und die Lichter würden ausgehen. Aber die Baumschere lag im Gewächshaus. Aber wenn sie die benutzte, konnte sie vielleicht einen tödlichen Stromschlag bekommen. Besser wäre es, die Axt mit dem langen Stiel zu nehmen, und die lag am Holzstapel auf der anderen Seite des Sommerhäuschens. Wenn doch nur der Mann mit der Zigarette wegginge, dann könnte sie im Nu darankommen. Aber wie könnte man ihn da wegbekommen? Wenn sie einen Stein auf das Gewächshaus würfe, ginge er sicher nachsehen. Eva tastete auf dem Weg herum und hatte gerade einen schönen Kiesel gefunden, als es auch schon nicht mehr nötig war, ihn zu werfen. Hinter ihr kam ein laut ratterndes Geräusch näher, und als sie den Kopf drehte, sah sie in geringer Höhe über dem Feld den Umriß eines Helikopters herankommen. Und der Mann hatte sich bewegt. Er war aufgesprungen und um das Sommerhaus herumgegangen, so daß er jetzt mit dem Rücken zu ihr stand. Eva robbte durch die Pforte, stand auf und lief zu dem Holzstapel. Der Mann auf der anderen Seite des Sommerhäuschens hörte sie nicht. Der Hubschrauber war noch näher herangekommen und seine Rotoren übertönten ihre Bewegungen. Schon hatte Eva die Axt und war wieder an dem Kabel, und als der Helikopter über sie wegflog, ließ sie die Axt herabsausen. Einen Moment darauf war das Haus verschwunden, und die Nacht war pechschwarz. Sie stolperte vorwärts, trampelte durch ihren alternativen Kräutergarten und war schon auf dem Rasen, als sie bemerkte, daß sie sich offenbar im Zentrum eines Tornados befand. Über ihr pfiffen die Rotorblätter des Hubschraubers durch die Luft, die Maschine schwenkte zur Seite, irgend etwas schwang an ihrem Kopf vorbei und einen Augenblick später war das Geräusch von klirrendem Glas zu hören. Mrs. de Frackas' Wintergarten ging in Scherben. Eva blieb augenblicklich stehen und warf sich flach auf den Rasen. Aus dem Haus kam das Rattern einer -202-
automatischen Waffe, und Kugeln durchsiebten das Sommerhäuschen. Sie war mitten in einer fürchterlichen Schlacht, und alles war plötzlich schrecklich schiefgelaufen. In Mrs. de Frackas' Wintergarten hatte Oberinspektor Misterson beobachtet, wie der Helikopter mit dem unter ihm herabhängenden Feldtelefon auf das Balkonfenster zuflog, als die Welt plötzlich verschwunden war. Nach der grellen Helligkeit der Scheinwerfer konnte er nichts mehr sehen, aber er konnte noch fühlen und hören, und bevor er sich in den Salon zurücktasten konnte, bekam er zu fühlen und zu hören. Natürlich fühlte er das Feldtelefon an seiner Schläfe und er hörte undeutlich das Geräusch von klirrendem Glas. Eine Sekunde darauf lag er auf dem gefliesten Boden, und der ganze verdammte Raum schien nur noch aus herabregnendem Glas, stürzenden Topfgeranien, begonia semperflorens und ungedüngtem Kompost zu bestehen. Und vor allem dieser war es, der ihn hinderte, seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Du verfluchter Irrer...« begann er, ehe seine Worte in dem Sandsturm erstickten. Der Oberinspektor rollte auf die Seite und versuchte, den Trümmern zu entgehen, aber immer noch fielen irgendwelche Sachen von den Konsolen, und Mrs. de Frackas' sorgsam gehegte »Domglocke« hatte sich von der Wand gelöst und ihn mit ihren Ranken neckisch dekoriert. Als er schließlich versuchte, sich den Weg aus diesem selbstgezogenen Dschungel freizukämpfen, kippte die große Kamelie »Liebesgabe« in ihrem schweren Tontopf vom Sockel und machte seiner Not ein Ende. Der Leiter der Antiterror-Brigade lag ohne Bewußtsein behaglich auf den Fliesen ausgestreckt und gab keinen Kommentar mehr von sich. Aber in der Nachrichtenzentrale hagelte es reichlich Kommentare. Der Major brüllte Befehle für den Hubschrauberpiloten, während zwei Funker mit Kopfhörern sich krampfhaft die Ohren zuzuhalten versuchten, und schrien, -203-
irgendein verfluchter Wahnsinniger haue immerfort auf die parabolische Lauschantenne. Nur Flint blieb gelassen und vergleichsweise uninteressiert. Seitdem er zum ersten Mal gehört hatte, daß Wilt in den Fall verwickelt sei, hatte er gewußt, daß auf jeden Fall noch irgendwas Entsetzliches geschähe. Nach Flints Auffassung bedeutete der Name Wilt das Chaos, eine Art kosmisches Verhängnis, vor dem es keinen Schutz gab, es sei denn eventuell zu beten, und jetzt, da die Katastrophe eingetreten war, fühlte er sich insgeheim glücklich. Sie bestätigte seine Prophezeiung und widerlegte den Optimismus des Oberinspektors von A bis Z. Und während der Major dem Hubschrauberpiloten befahl, zum Teufel nochmal zu sehen, daß er wegkäme, bahnte sich Flint einen Weg durch den Schutt im Wintergarten und befreite seinen Chef aus den Blättergirlanden. »Wir rufen am besten einen Krankenwagen«, sagte er zum Major, als er den Verletzten in die Nachrichtenzentrale schleifte, »der Ober sieht aus als ob’s ihn erwischt hat.« Der Major war zu beschäftigt, um besorgt zu sein. »Das ist Ihr Bier, Inspektor«, sagte er. »Ich muß sehen, daß diese Schweine mir nicht entwischen.« »Hört sich so an, als wären sie noch im Haus«, sagte Flint, als aus der Nummer 9 vereinzelt weitergeschossen wurde, aber der Major schüttelte den Kopf. »Bezweifle ich. Könnten einen Selbstmordtrupp zurückgelassen haben, der ihren Rückzug deckt, oder sie haben vielleicht ein Maschinengewehr mit 'ner Zeituhr ausgerüstet, damit es in Abständen feuert. Man kann den Teufeln kein bißchen trauen.« Flint funkte nach ärztlicher Hilfe und gab zwei Wachtmeistern Anweisung, den Oberinspektor durch die Nachbargärten zur Farringdon Avenue zu schaffen, ein Vorhaben, das durch MSK-Leute behindert wurde, die nach -204-
entflohenen Terroristen suchten. Es dauerte eine halbe Stunde, bis in der Willington Road wieder Ruhe war und die Lauschantennen bestätigten, daß im Nachbarhaus noch Leben sei. Es lag auch offenbar ein größeres Wirbeltier auf Wilts Rasen. Als Flint vom Krankenwagen zurückkam, war der Major mit einem Revolver in der Hand drauf und dran, einen Ausfall zu machen. »Hab einen von den Scheißkerlen erwischt, wie’s scheint«, sagte er, während aus einem Verstärker, der an eine Lauschantenne angeschlossen war, heftiges Herzklopfen ertönte. »Ich geh und hol ihn mir. Vielleicht im Kreuzfeuer verwundet worden.« Er flitzte in die Dunkelheit hinaus, und Augenblicke später gab es einen Schrei, das Geräusch eines heftigen Kampfes mit einem äußerst kräftigen Gegner und unter Verwendung von Teilen aus dem Zaun zwischen den beiden Gärten. Flint schaltete den Verstärker aus. Das heftige Herzklopfen war jetzt weg, aber es kamen andere und noch viel beunruhigendere Geräusche aus dem Apparat. Was jedoch schließlich in den zertrümmerten Wintergarten geschleift wurde, war das Schlimmste von allem. In Flints Augen nie die Allerreizendste der Frauen, bot Eva Wilt, mit Schlamm beschmiert und Wasserpflanzen behängt und naß bis auf die Haut, die an verschiedenen Stellen durch die zerrissenen Kleider zu sehen war, einen absolut prähistorischen Anblick. Sie wehrte sich immer noch, als sechs MSK-Leute sie in den Raum schafften. Der Major folgte mit einem blauen Auge. »Na wenigstens haben wir eins von diesen Schweinen«, sagte er. »Ich bin kein Schwein«, schrie Eva, »ich bin Mrs. Wilt. Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln.« -205-
Inspektor Flint verzog sich hinter einen Stuhl. »Das ist allerdings Mrs. Wilt«, sagte er. »Möchten Sie uns sagen, was Sie vorhatten?« Eva betrachtete ihn vom Teppich aus mit Abscheu. »Ich hatte vor, zu meinen Kindern zu gehen. Ich habe das Recht dazu.« »Das habe ich schon mal gehört«, sagte Flint. »Sie und Ihre Rechte. Ich nehme an, Henry hat Sie dazu angestiftet?« »Nichts hat er getan. Ich weiß nicht mal, was ihm zugestoßen ist. Nach allem, was ich weiß, ist er tot.« Und sie brach auf der Stelle in Tränen aus. »Okay, ihr könnt sie jetzt loslassen, Jungs«, sagte der Major, der schließlich überzeugt war, daß seine Gefangene keine von den Terroristen war. »Ihnen ist klar, daß Sie hätten sterben können.« Eva ignorierte ihn und erhob sich. »Inspektor Flint, Sie sind selber Vater. Sie müssen doch wissen, was es bedeutet, von seinen Lieben in der Stunde ihrer Not getrennt zu sein.« »Ja, also...«, sagte der Inspektor verlegen. Weinende Neanderthalerinnen erweckten in ihm stets gemischte Gefühle, und in diesem speziellen Fall waren seine Lieben zwei Burschen im Teenageralter mit einem befremdlichen Hang zum Vandalismus. Er war für die Unterbrechung durch einen der Techniker, die mit den Lauschantennen betraut waren, äußerst dankbar. »Haben was ganz Eigentümliches drin, Inspektor«, sagte er, »wollen Sie es hören?« Flint nickte. Alles war besser als Bitten um Mitgefühl von Eva Wilt. Aber er täuschte sich. Der Techniker schaltete den Verstärker ein. »Das kommt über Kanal 4«, erklärte er, als Grunzen, Stöhnen, ekstatische Schreie und das durchdringende Quietschen von -206-
Sprungfedern aus dem Lautsprecher ertönte. »Kanal 4? Das ist doch kein Kanal, das ist ein...« »Klingt wie ein bumsender Sexteufel, bitte die Dame um Entschuldigung«, sagte der Major. Aber Eva hörte zu gespannt zu, um sich was daraus zu machen. »Wo kommt das her?« »Mansardenwohnung, Sir. Die, wo Siewissenschon ist.« Aber diese Geheimnistuerei war bei Eva an der falschen Adresse. »Ja, ich weiß«, kreischte sie, »das ist mein Henry. Dieses Stöhnen würde ich überall raushören.« Ein Dutzend empörte Augen wandten sich ihr zu, aber Eva kannte keine Scham. Nach allem, was sie in so kurzer Zeit durchgemacht hatte, zerstörte diese neueste Enthüllung auch den letzten Rest gesellschaftlichen Anstands in ihr. »Er bumst mit einer andern. Na, warten Sie bloß, bis ich ihn am Wickel habe«, schrie sie in heller Wut und wäre in die Nacht hinausgestürmt, wenn man sie nicht festgehalten hätte. »Handschellen«, brüllte der Inspektor, »und bringt sie zum Revier zurück und seht zu, daß sie nicht wieder wegläuft. Ich wünsche diesmal äußerste Sicherheit, und ich spaße nicht.« »Hört sich so an, als täte das ihr Mann auch nicht, wenn Sie mich fragen«, sagte der Major, als Eva rausbugsiert war und der unzweideutige Beweis von Wilts erstem Ehebruch weiter rhythmisch durch die Nachrichtenzentrale pochte. Flint tauchte wieder hinter seinem Stuhl auf und setzte sich. »Na, wenigstens hat sie bestätigt, daß ich recht hatte. Ich sagte ja, der kleine Halunke steckt bis zu den Ohren drin.« Der Major erschauerte. »Ich kann mir vorstellen, wie man's erfreulicher ausdrücken könnte, aber es hört sich ganz so an, als hätten Sie recht.« »Natürlich habe ich das«, sagte Flint selbstgefällig, »ich kenne doch die kleinen Tricks von Freund Wilt.« -207-
»Ich nicht zum Glück«, sagte der Major. »Wenn Sie mich fragen, sollten wir den Psychologen ranholen, damit er den kleinen Mistkerl analysiert.« »Wir haben alles auf Band, Sir«, sagte der Funker. »In dem Fall drehen Sie doch dieses sudelige Getöse ab«, sagte Flint. »Ich hab genug auf dem Hals, als daß ich mir auch noch anhören muß, wie er Mr. Wilt abgeht.« »Könnte nicht einverstandener sein«, sagte der Major, den die treffsichere Ausdrucksweise erstaunte, »der Kerl muß ja Nerven aus Stahl haben. Verdammt will ich sein, wenn ich unter diesen Umständen im Stande wäre...« »Sie wären überrascht, wozu dieser kleine Scheißkerl in allen Situationen imstande ist«, sagte Flint, »und verheiratet mit diesem mütterlichen Urtier, ist es da ein Wunder? Ich würde lieber mit einer Riesenmuschel als mit Eva Wilt ins Bett müssen.« »Ich nehme an, da ist was dran«, sagte der Major und betastete vorsichtig sein blaues Auge. »Sie hat wahrhaftig einen verdammt harten Schlag. Kann mich jetzt nicht weiter aufhalten. Ich muß raus und die Scheinwerfer wieder in Gang bringen.« Er spazierte hinaus, und Flint saß da und überlegte, was zu tun sei. Jetzt, wo der Oberinspektor aus dem Verkehr gezogen war, meinte er, müsse er wieder mit der Behandlung des Falles beauftragt sein. Das war keine Beförderung, die er wollte. Ungefähr der einzige Trost, den er finden konnte, lag in dem Gedanken, daß Henry Wilt dann endlich seine verdiente Strafe bekäme und das letzte Mal das Köpfchen so hoch trüge. In Wirklichkeit konzentrierte sich Wilt genau aufs Gegenteil. Der Zustand seiner Männlichkeit, die erst seit so kurzer Zeit repariert war, verlangte das. Außerdem war Ehebruch nicht seine starke Seite, und niemals hatte er den Vorgang, mit einer Frau zu schlafen, im geringsten reizvoll gefunden, wenn er nicht wirklich Lust dazu hatte. Und seitdem war es immer so, daß, -208-
wenn er Lust gehabt hätte, Eva normalerweise keine hatte, die sich ihre leidenschaftlichen Momente aufhob, bis die Vierlinge tief schliefen und Wilt halbwegs die Gelegenheit dazu erhielt, und so hatte er sich eine Art gespaltenen Sex angewöhnt, bei dem er das eine tat, während er an was anderes dachte. Nicht, daß Eva mit dem einen zufrieden gewesen wäre. Ihr Interesse, zwar zielstrebiger als seines, war, was die Techniken betraf, ungeheuer wählerisch, und Wilt hatte es hinzunehmen gelernt, verborgen, gequetscht, verdreht und nach allen Regeln der Kunst gezerrt zu werden, so wie es in den Lehrbüchern stand, die Eva zu Rate zog. Die hatten Titel wie zum Beispiel Wie erhält man seine Ehe jung oder Lieben - einmal natürlich. Wilt hatte eingewandt, ihre Ehe sei sowieso nicht mehr jung, und er könne nichts Natürliches daran entdecken, wenn man es durch die Anwendung der Koituspositionen, die Dr. Eugenie van Yonk empfahl, auf einen eingeklemmten Bruch ankommen lasse. Nicht, daß seine Argumente jemals was genützt hätten. Eva antwortete mit unangenehmen Anspielungen auf sein Alter und ungerechtfertigten Anschuldigungen im Hinblick darauf, was er wohl im Badezimmer tue, wenn sie nicht dabei sei, und am Ende war er gezwungen, seine Normalität unter Beweis zu stellen, indem er etwas tat, was er als vollkommen unnormal ansah. Wenn aber Eva im Bett schon ausgesprochen experimentierfreudig war, so war Gudrun Schautz wie ein durchgeknalltes Raubtier. Seit dem Augenblick in der Küche, als sie in einem Anfall rasender Lust das erste Mal über ihn hergefallen war, war Wilt mit einer Gier und Hemmungslosigkeit gebissen, gekratzt, geleckt, gesaugt und belutscht worden, daß es schlichtweg kränkend, um nicht zu sagen, gefährlich für ihn war und Wilt sich wirklich fragte, warum das Weib sich die Mühe machte, die Leute zu erschießen, wenn sie sie doch genauso einfach auf gesetzlichere und entschieden ekelhaftere Art und Weise um die Ecke bringen konnte. Jedenfalls konnte niemand, der bei Trost -209-
und Verstand war, ihn vernünftigerweise beschuldigen, ein ungetreuer Ehemann zu sein. Höchstens das Gegenteil: nur der allertreueste und anhänglichste Familienvater würde sich in die Gefahr begeben haben, freiwillig ins Bett einer gesuchten Mörderin zu steigen. Wilt fand das Adjektiv »gesucht«, je länger er darüber nachdachte, besonders unangemessen, und nur, indem er seine Vorstellungskraft auf Eva konzentrierte, als er ihr das erste Mal begegnet war, konnte er eine Winzigkeit Begehren in sich wachrufen. Diese lasche Reaktion aber war es, die Gudrun Schautz auf die Palme brachte. Das Weib war nicht nur eine Mörderin: sie brachte es fertig, politischen Terror mit der Erwartung zu verbinden, daß Wilt eine männliche Chauvinistensau sei, die sich auf sie stürzen werde, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Wilts Ansichten zu dem Thema waren ganz anders. Es war einer der Grundsätze seiner verworrenen Philosophie, daß man nicht mit anderen Frauen herummachte, wenn man verheiratet war. Und auf einer äußerst begehrenswerten jungen Frau auf und ab zu hüpfen, gehörte unzweifelhaft in die Kategorie des Herummachens. Auf der anderen Seite erlebte er das interessante Paradox, daß er geistig Eva jetzt näher war, als wenn er tatsächlich mit ihr schlief und an ganz was anderes dachte. Praktischer betrachtet, gab es ums Verrecken keine Hoffnung, einen Orgasmus zu bekommen. Das hatte ihm der Katheter fürs erste eingebrockt. Er konnte weiterhüpfen bis er schwarz wurde, aber seinen Penis brächte er damit ebensowenig zum Erweis einer echten Erektion, wie sich zum Fliegen. Um dieser gräßlichen Möglichkeit zuvorzukommen, vertauschte er seine Träume von einer jugendlichen Eva mit Bildern von sich und der verfluchten Schautz, wie sie auf einem Seziertisch im letzten coitus interruptus beieinander lagen. Wenn man an den Lärm dachte, den sie machten, erschien diese Möglichkeit nur zu wahrscheinlich, und das war freilich ein äußerst wirksames Anti-Aphrodisiakum. Außerdem hatte es den zusätzlichen -210-
Vorteil, die Schautz ganz tüchtig zu verwirren. Sie war offenbar eifrigere Liebhaber gewohnt, und Wilts sprunghafte Leidenschaft brachte sie völlig durcheinander. »Magst du es irgendwie anders, Liebling?« fragte sie, als Wilt zum zigsten Mal schlappmachte. »Im Bad«, sagte Wilt, dem plötzlich bewußt geworden war, daß die Terroristen unten beschließen könnten, sich zu beteiligen, und daß Badezimmer kugelsicherer als Betten waren. Gudrun Schautz lachte: »Lustig, ja. Im Bad.« In dem Augenblick gingen die Scheinwerfer aus, und das Getöse des Hubschraubers war zu hören. Das Geräusch schien sie zu neuen Eskapaden der Lust anzustacheln. »Schnell, schnell«, stöhnte sie, »sie kommen.« »Der Teufel soll mich holen, wenn ich’s auch tue«, murmelte Wilt, aber die Mörderin versuchte viel zu eifrig, das Vergessensein zu bannen, um zu hören, was er sagte, und als Mrs. de Frackas Wintergarten in Scherben ging und unten das Maschinengewehrfeuer losging, stürzte er von neuem in einen Mahlstrom der Lust, der mit wirklichem Verlangen nichts zu tun hatte. Der Tod schien durch die Bewegungen des Lebens hindurch, und Wilt, der nicht wissen konnte, daß sein Part in dieser schauerlichen Aufführung für die Nachwelt aufgezeichnet wurde, spielte diese Rolle, so gut er konnte. Wieder versuchte er, an Eva zu denken. In der Küche unten fiel es Chinanda und Baggish schwer, überhaupt zu denken. All die Verworrenheiten des Lebens, denen sie in den idiotischen und mörderischen Fanatismus des Terrors hinein zu entfliehen versucht hatten, schienen sich plötzlich gegen sie verschworen zu haben. Sie ballerten wie verrückt in die Dunkelheit und glaubten einen kurzen stolzen Augenblick lang, sie hätten den Hubschrauber erwischt. Statt dessen hatte das Ding offenbar das Nachbarhaus bombardiert. -211-
Als sie schließlich zu schießen aufhörten, überfiel sie das Geschrei der Vierlinge im Keller. Um alles noch schlimmer zu machen, mußten sie in der Küche um ihre Gesundheit fürchten. Evas blankpolierte Fliesen waren ein einziger Sumpf aus Erbrochenem, und nachdem Baggish zweimal auf seinem Hintern gelandet war, hatten sie sich in die Eingangsdiele zurückgezogen, um die nächsten Schritte zu überlegen. »Sie vergewaltigen Gudrun«, sagte Baggish und wäre losgestürmt, um Gudrun zu retten, wenn Chinanda ihn nicht festgehalten hätte. »Das ist doch eine Falle, die uns die Polizeischweine stellen. Sie wollen, daß wir raufgehen, und dann stürmen sie das Haus und befreien die Geiseln. Wir bleiben hier unten.« »Bei dem Lärm? Was meinst du, wie lange wir das Geschrei noch aushaken sollen? Wir brauchen abwechselnd Schlaf, und bei dem Gebrüll ist das nicht möglich.« »Dann stopfen wir ihnen eben das Maul«, sagte Chinanda, und sie stiegen beide in den Keller hinunter, wo Mrs. de Frackas auf einem Holzstuhl saß und die Vierlinge nach ihrer Mammi heulten. »Haltet eure Guschen, habt ihr gehört! Wenn ihr eure Mammi sehen wollt, müßt ihr mit dem Krach aufhören«, schrie Baggish. Aber die Vierlinge brüllten desto lauter. »Ich hätte gedacht, die Beschäftigung mit kleinen Mädchen wäre ein wesentlicher Teil Ihrer Ausbildung«, sagte Mrs. de Frackas ungerührt. Baggish ging zu ihr rüber. Er war noch nicht über ihre Unterstellung weg, sein eigentliches Metier sei, schmutzige Ansichtskarten in Port Said zu verkaufen. »Bringen Sie sie selber zum Schweigen«, sagte er zu ihr und fuchtelte ihr mit seinem Maschinengewehr vor dem Gesicht rum, »oder wir...« »Mein lieber Junge, es gibt einige Dinge, die Sie noch lernen müssen«, sagte die alte Dame. »Wenn man in meinem Alter ist, -212-
ist einem das Sterben so nahe, daß man sich nicht damit abgeben kann, Angst davor zu haben. Auf jeden Fall bin ich stets eine Befürworterin der Euthanasie gewesen. Ist doch viel vernünftiger, finden Sie nicht auch, als einen an einen Tropf oder an eine von diesen Lebensverlängerungsmaschinen zu hängen oder wie die Dinger heißen. Ich meine, wer will schon einen senilen alten Menschen am Leben erhalten, wenn er niemandem nütze ist?« »Ich nicht«, sagte Baggish heftig. Mrs. de Frackas sah ihn interessiert an. »Außerdem, da Sie Moslem sind, täten Sie mir einen Gefallen. Ich habe mal gehört, der Tod in der Schlacht wäre nach den Worten des Propheten eine Garantie fürs Seelenheil, und wenn ich auch nicht sagen würde, daß ich wirklich kämpfe, möchte ich doch meinen, von einem Mörder erschossen zu werden, läuft aufs selbe raus.« »Wir sind keine Mörder«, brüllte Baggish, »wir sind Freiheitskämpfer gegen den internationalen Imperialismus.« »Das bestätigt ja bloß, was ich gesagt habe«, fuhr Mrs. de Frackas unerschütterlich fort. »Sie kämpfen, und ich bin ganz offensichtlich ein Produkt des Empire. Wenn Sie mich töten, müßte ich, nach Ihrer Philosophie, direkt in den Himmel kommen.« »Wir sind nicht hier, um über Philosophie zu reden«, sagte Chinanda. »Du alte Schachtel, was weißt du denn schon von den Leiden der Arbeiter?« Mrs. de Frackas wandte ihre Aufmerksamkeit seiner Kleidung zu. »Bestimmt mehr als Sie, nach dem Schnitt ihrer Jacke zu urteilen, junger Mann. Vielleicht traut man mir das nicht zu, aber ich habe mehrere Jahre in einem Kinderkrankenhaus in den Slums von Calcutta gearbeitet, und ich glaube, ich weiß, was Elend heißt. Haben Sie jemals in Ihrem Leben schwer gearbeitet?« -213-
Chinanda wich der Frage aus. »Aber was hast du an dem Elend geändert?« schrie er und kam mit seinem Gesicht ganz nahe an ihres. »Du hast dir in dem Krankenhaus bloß dein Gewissen reingewaschen und bist wieder nach Hause gefahren und hast im Luxus gelebt.« »Ich hatte dreimal am Tag reichlich zu essen, wenn Sie das mit Luxus meinen. Ich hätte mir bestimmt nicht so ein teures Auto leisten können wie das, in dem Sie rumfahren«, erwiderte die alte Dame. »Und weil wir gerade beim Thema ›Reinwaschen‹ sind, ich meine, es könnte helfen, die Kinder zu beruhigen, wenn Sie mir erlaubten, sie zu baden.« Die Terroristen guckten sich die Vierlinge an und stimmten schließlich zu. »Okay, wir bringen Ihnen Wasser runter, dann können Sie sie hier waschen«, sagte Chinanda, der in die dunkle Küche hinaufging und endlich einen Plastikeimer unter dem Ausguß fand. Er füllte ihn mit Wasser und brachte ihn mit einem Stück Seife herunter. Mrs. de Frackas sah skeptisch hinein. »Ich habe gesagt ›waschen‹. Nicht bläuen.« »Verblauen? Wieso wollen Sie sie verblauen?« »Sehen Sie doch selber«, sagte Mrs. de Frackas. Das taten die beiden Terroristen und waren entsetzt. Im Eimer war dunkelbla ues Wasser. »Jetzt versuchen sie, uns zu vergiften«, schrie Baggish und stürmte die Treppe hoch, um sich sofort bei der AntiterrorBrigade zu beschweren. Inspektor Flint nahm das Gespräch an. »Sie vergiften? Indem wir was ins Wasserreservoir getan haben? Ich kann Ihnen versichern, davon weiß ich nichts.« »Wieso ist es dann blau?« »Ich habe keine Ahnung. Sind Sie sicher, daß das Wasser blau ist?« -214-
»Ich weiß verflucht genau, daß es blau ist«, brüllte Baggish. »Wir drehen den Hahn auf, und das Wasser kommt blau raus. Sie denken wohl, wir sind Idioten, oder was?« Flint zögerte, unterdrückte dann aber im Interesse der Geiseln seine wahre Meinung. »Egal, was ich denke«, sagte er, »ich möchte bloß sagen, wir haben absolut nichts mit dem Wasserreservoir gemacht, und...« »Du Lügensau«, schrie Baggish. »Erst versuchst du uns eine Falle zu stellen, indem du Gudrun vergewaltigst, und jetzt vergiftest du das Wasser. Wir warten nicht mehr länger. Das Wasser ist in einer Stunde sauber, und ihr laßt Gudrun laufen, oder wir richten die Alte hin.« Er donnerte den Hörer auf die Gabel, und Flint war verblüffter als je zuvor. »Gudrun vergewaltigen? Der Kerl ist nicht ganz dicht. Das Weibstück würde ich nicht mal mit der Feuerzange anfassen, und wie ich gleichzeitig an zwei Orten sein kann, ist mir schleierhaft. Und jetzt sagt er, das Wasser ist blau.« »Könnte sein, sie haben Drogen genommen«, sagte der Sergeant. »Da halluziniert man manchmal, besonders unter großer Belastung.« »Belastung? Erzählen Sie mir nichts von Belastung«, sagte Flint und richtete seinen Zorn gegen einen PLA-Techniker. »Und was haben Sie zum Teufel hier zu schmunzeln?« »Sie probieren’s jetzt im Bad aus, Sir. Wilts Idee. Ein geiles Bürschchen.« »Sind Sie so besoffen, daß Sie allen Ernstes meinen, das ganze Wasser im Haus wird blau, wenn es ein Paar im Badezimmer treibt?« schnappte Flint. Er lehnte seinen Kopf gegen einen Sofaschoner und schloß die Augen. Sein Kopf brauste vor Vermutungen. Wilt war verrückt. Wilt war ein Terrorist. Wilt war ein verrückter Terrorist. Wilt war besessen. Wilt war ein Scheiß Rätsel. Nur das war sicher, das und des Inspektors dringender Wunsch, Wilt -215-
sei tausend Meilen weit weg, und er höre nie wieder was von diesem Mistkerl. Schließlich rappelte er sich hoch. »Okay, schickt mir den Hubschrauber wieder her, und diesmal keine Schlampereien bitte. Das Haus ist hell angestrahlt, und dabei wird's auch bleiben. Sie brauchen nichts weiter zu machen, als das Telefon durchs Balkonfenster zu schmeißen, und wenn man überlegt, was sie hier alles fertiggekriegt haben, sollte das doch ein Kinderspiel sein. Sagen Sie dem Piloten, er kann das Dach abreißen, wenn er will, aber ich will eine Telefonleitung in diese Mansarde, und zwar plötzlich. Das ist die einzige Möglichkeit, genau rauszufinden, was Wilt im Schilde führt.« »Wird gemacht«, sagte der Major und machte sich daran, neue Anweisungen zu erteilen. »Jetzt macht er auf Politiker, Sir«, sagte der Sergeant, »bei ihm hört sich Marx wie ein Rechtsradikaler an. Wollen Sie mal hören?« »Das muß ich wohl«, sagte Flint ergeben, und der Lautsprecher wurde eingeschaltet. Durch das Knacken hindurch hörte man Wilt mächtig auf den Putz hauen. »Wir müssen das kapitalistische System mit Stumpf und Stiel ausrotten. Wir dürfen nicht zögern, die letzten Spuren der herrschenden Klasse zu tilgen und ein proletarisches Bewußtsein in den Köpfen der Arbeiter zu wecken. Das ist am besten damit zu erreichen, daß man den faschistischen Kern der Pseudodemokratie durch aktiven Terror gegen die Polizei und die Lumpenautokraten der internationalen Hochfinanz bloßlegt. Nur wenn man die fundamentale Antithese zwischen...« »Jesusmaria, der hört sich ja an wie ein Scheiß Lehrbuch«, sagte Flint und traf damit unbeabsichtigt dem Nagel auf den Kopf. »Wir haben einen Mini-Mao in der Mansarde am Haken. Okay, reichen Sie diese Bänder gleich an die Idiotenbrigade weiter. Vielleicht können die uns sagen, was ein -216-
Lumpenautokrat ist.« »Helikopter unterwegs«, sagte der Major. »Das Telefon ist mit einer Mikro-Fernsehkamera ausgerüstet. Wenn alles klappt, sehen wir bald, was da oben eigentlich los ist.« »Als wenn ich das wollte«, sagte Flint und verzog sich in die Einsamkeit des Gästeklos. Fünf Minuten später schwirrte der Hubschrauber über die Obstbäume hinten im Garten weg, schwebte einen Moment über dem Haus Nummer 9, dann schwang ein Feldtelefon durch das Balkonfenster in die Wohnung. Als der Pilot abdrehte, zog sich hinten aus der Maschine ein Kometenschweif aus Draht heraus wie das Netz einer mechanischen Spinne. Flint tauchte wieder aus der Toilette auf und stellte fest, daß Chinanda schon wieder am Telefon war. »Will wissen, warum wir das Wasser nicht gesäubert haben, Sir«, sagte der Sergeant. Inspektor Flint setzte sich seufzend nieder und nahm das Gespräch entgegen. »Nun hören Sie mal zu, Miguel«, begann er, indem er die freundliche Anrede des Oberinspektors nachahmte, »Sie werden’s vielleicht nicht glauben...« Eine Flut von Verheißungen zeigte nur zu deutlich, daß der Mann das wirklich nicht tat. »Okay, das nehme ich ja alles hin«, sagte Flint, als die Beschimpfungen endlich versiegten, »aber eins kann ich Ihnen sagen, in der Mansarde sind wir nicht. Und ins Wasser haben wir auch nichts geschüttet.« »Warum versorgen Sie sie dann mit dem Hubschrauber mit Waffen?« »Das waren keine Waffen. Das war zufällig ein Telefon, damit wir mit ihnen sprechen können... Ja, ich gebe zu, das klingt nicht sehr wahrscheinlich. Ich bin der erste, der dem zustimmt... Nein, das haben wir nicht. Wenn irgend jemand, -217-
dann die...« »Alternative Volksarmee«, half ihm der Sergeant ein. »Die Alternative Volksarmee«, wiederholte Flint. »Die müssen was ins Wasser getan haben, Miguel... Was?... Sie möchten nicht andauernd Miguel genannt werden?... Na, zufällig schätze ich es auch nicht besonders, andauernd 'ne Zottelsau genannt zu werden... Ja, ich habe verstanden... Ich habe Sie gleich beim ersten Mal verstanden. Und wenn Sie aus der Leitung gehen, rede ich mit den Halunken dort oben.« Und Flint knallte den Hörer auf. »Okay, jetzt stellen Sie mich zu der Mansarde durch. Und 'n bißchen zackig. Die Zeit läuft ab.« Sie sollte noch eine Viertelstunde weiterlaufen. Die plötzliche Rückkehr des Helikopters gerade in dem Moment, als Wilts Alternative von Sex auf Politik umgeschaltet hatte, hatte seine Taktik total durcheinandergebracht. Nachdem er sein Opfer physisch zermürbt hatte, hatte er angefangen, es noch weit mehr zu verwirren, indem er den entsetzlichen Bilger zitierte, wo er am marcusischsten war. Das war nicht allzu schwer gewesen, und Wilt hatte sowieso ja auch viele Jahre über die Ungerechtigkeiten des menschlichen Daseins nachgedacht. Sein Umgang mit Fleisch I und den Gipsern VI hatte ihn gelehrt, daß er einer verhältnismäßig privilegierten Gesellschaft angehörte. Die Gipser verdienten mehr als er, und die Drucker waren richtiggehend reich, aber selbst wenn man diese Unterschiede in Rechnung stellte, war es dennoch so, daß er in ein wohlhabendes Land mit günstigem Klima und mit über die Jahrhunderte weiterentwickelten und verfeinerten politischen Institutionen hineingeboren war. Vor allem in eine Industriegesellschaft. Die überwiegende Mehrheit der Menschheit lebte in tiefster Armut, wurde von heilbaren Krankheiten heimgesucht, die nicht behandelt wurden, war despotischen Regierungen ausgeliefert und lebte in Schrecken und in der Gefahr, am Hunger zu sterben. Bis zu dem Punkt, daß -218-
man versuchte, diese Ungerechtigkeit zu ändern, machte Wilt mit. Evas Pups mit der Persönlichen Unterstützung primitiver Stämme war vielleicht wirkungslos, hatte aber zumindest das Verdienst, eine persönliche Initiative zu sein und sich in die richtige Richtung zu bewegen. Die Unschuldigen zu terrorisieren und Männer, Frauen und Kinder zu ermorden, war so fruchtlos wie barbarisch. Welchen Unterschied gab es zwischen den Terroristen und ihren Opfern? Nur einen Meinungsunterschied. Chinanda und Gudrun Schautz kamen aus wohlhabenden Familien und Baggish, dessen Vater in Beirut Händler gewesen war, konnte kaum arm genannt werden. Keinen dieser selbsternannten Scharfrichter hatte die Verzweiflung aus Armut zum Morden getrieben, und soweit Wilt das feststellen konnte, hatte ihr Fanatismus seine Wurzeln in keiner bestimmten Ursache. Sie versuchten nicht, die Engländer aus Ulster zu vertreiben, nicht die Israelis von den Golanhöhen, nicht mal die Türken von Zypern. Sie waren politische Poseure, deren Feind das Leben war. Kurz, sie waren Mörder aus eigener Entscheidung, Psychopathen, die ihre Motive hinter einer Maske aus utopischen Theorien verbargen. Die Macht war ihr Antrieb, die Macht, Leid zuzufügen und zu schrecken. Sogar ihre Bereitschaft zu sterben war eine Art Macht, eine kranke, kindische Form von Masochismus und Buße von Schuld, aber nicht für ihre dreckigen Verbrechen, sondern dafür, daß sie überhaupt am Leben waren. Darüber hinaus gab es zweifellos noch andere Motive, die mit den Eltern oder ihrer Erziehung zur Sauberkeit zu tun hatten. Wilt interessierte das nicht. Es reichte, daß sie Überträger der gleichen politischen Tollwut waren, die Hitler dazu getrieben hatte, Auschwitz zu bauen und sich selber im Führerbunker umzubringen, oder die Kambodschaner, sich gegenseitig zu Millionen zu ermorden. Insofern standen sie jenseits der Grenze seines Mitgefühls. Wilt hatte seine Kinder zu schützen, und nur seinen Verstand, der ihm dabei helfen konnte. Und so gab er im -219-
verzweifelten Versuch, Gudrun Schautz isoliert und im Ungewissen zu halten, Marcusische Dogmen von sich, bis der Hubschrauber seinen Vortrag unterbrach. Als das Telefon in einer Holzkiste durchs Fenster geflogen kam, schmiß Wilt sich in der Küche flach auf den Fußboden. »Schnell ins Bad!« schrie er, überzeugt, daß das Ding sowas wie eine Tränengasbombe wäre. Aber Gudrun Schautz war schon dort. Wilt robbte zu ihr hin. »Sie wissen, daß wir hier sind«, flüsterte sie. »Sie wissen, daß ich hier bin«, sagte Wilt, der der Polizei dankbar dafür war, daß sie anscheinend den Beweis lieferte, daß er ein gesuchter Mann sei. »Was sollten sie denn von dir wollen?« »Sie haben mich ins Bad gesperrt. Warum sollten sie das tun, wenn sie mich nicht wollten?« »Warum sollten sie das tun, wenn sie dich wollten?« fragte Wilt. »Sie hätten dich doch augenblicklich rausgeholt.« Er wartete, dann sah er sie im Licht, das von der Decke reflektiert wurde, streng an. »Aber wie sind sie auf mich gestoßen? Ich frage mich das. Wer hat es ihnen gesagt?« Gudrun Schautz sah ihn an und stellte sich selber eine Menge Fragen. »Warum siehst du mich so an. Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Nein?« sagte Wilt, der beschloß, die Zeit sei reif, auf den totalen Irrsinn umzuschalten. »So redest du jetzt. Du kommst hierher, als alles so gut lief mit dem Plan, und nun kommen plötzlich die Israelis und alles ist kaputt. Keine Ermordung der Königin, keine Anwendung des Nervengases, keine Vernichtung aller pseudodemokratischen Parlamentsfraktionen im Unterhaus auf einen Streich, kein...« Das Telefon nebenan unterbrach seine wirre Litanei. Wilt hörte es mit Erleichterung. Gudrun Schautz ebenfalls. Die Paranoia, die Teil ihrer Zusammensetzung war, nahm in ihrem -220-
Inneren mit jeder Verschiebung von Wilts Standpunkt neue Proportionen an. »Ich gehe ran«, sagte sie, aber Wilt starrte sie fanatisch an. »Verräterin«, keuchte er, »du hast schon genug Schaden angerichtet. Du bleibst, wo du bist. Das ist deine einzige Hoffnung.« Und damit sie sich einen Vers aus dieser seltsamen Logik machen könne, verließ er sie, kroch in die Küche und öffnete die Kiste. »Hör zu, du faschistischer Schweinehund«, schrie er, ehe Flint überhaupt zu Worte kommen konnte, »glaub bloß nicht, du könntest die Alternative Volksarmee in eine deiner lügenhaften Verhandlungen hineinsülzen. Wir fordern...« »Schnauze, Wilt«, kläffte der Inspektor. Wilt tat’s. Der Kerl wußte also Bescheid. Vor allem, Flint wußte Bescheid. Was eine gute Nachricht gewesen wäre, wenn ihm nicht eine Scheiß Mörderin im Genick säße. »Es hat keinen Zweck zu versuchen, uns reinzulegen. Zu Ihrer Information, wenn Sie Ihre Töchter lebend wiedersehen wollen, geben Sie es lieber auf, Ihre reizenden Genossen im Erdgeschoß zu vergiften.« »Was soll ich aufgeben?« fragte Wilt, den diese neue Beschuldigung so verblüffte, daß er seine normale Stimme gebrauchte. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Sie haben was in die Wasserzufuhr gepanscht, und sie wollen augenblicklich, daß Sie das klären.« »Gepanscht in...«, begann Wilt, ehe ihm einfiel, daß er in seiner augenblicklichen Gesellschaft nicht offen sprechen konnte. »... die Wasserzufuhr«, sagte Flint. »Sie haben eine letzte Frist gesetzt, bis dahin muß das Wasser wieder sauber sein, und die erlischt in einer halben Stunde. Ich sagte, erlischt. Denken -221-
Sie an Ihre Töchter!« Es war einen Augenblick lang still, während Wilt zu denken versuchte. Es mußte was in dieser verfluchten Tasche gewesen sein, was giftig war. Vielleicht hatten die Terroristen immer ihren Eigenbedarf an Zyankali bei sich. Er mußte die Tasche da wieder rausholen, aber er mußte auch seine Irrenrolle aufrecht erhalten. Er verlegte sich wieder auf sein Gebaren von vorher. »Hier wird nicht gekungelt«, brüllte er. »Wenn unsere Forderungen nicht bis acht erfüllt sind, stirbt die Geisel.« Am anderen Ende der Leitung war ein Lachen zu hören. »Ziehen Sie das andere Register, Wilt«, sagte Flint. »Wie wollen Sie sie denn töten? Vielleicht totvögeln?« Er machte eine Pause, um diese Mitteilung wirken zu lassen, dann fuhr er fort: »Wir haben jeden kleinen Unfug, den Sie angestellt haben, auf Band. Das wird sich phantastisch anhören, wenn wir es vor Gericht abspielen.« »Du große Scheiße«, sagte Wilt, was er diesmal nicht persönlich meinte. »Mrs. Wilt hatte ganz besondere Freude daran. Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Also dann, Sie werden dieses Wasser reinigen, oder wollen Sie, daß Ihre Töchter es trinken müssen?« »Gut, ich bin einverstanden. Sie stellen das Flugzeug auf der Startbahn bereit, und ich tue keinen Schritt von hier, bis der Wagen eintrifft. Ein Fahrer und keine krummen Sachen, oder die Frau stirbt mit mir. Verstanden?« »Nein«, sagte Flint, der sich langsam selber völlig konfus vorkam, aber Wilt hatte die Unterhaltung beendet. Er saß auf dem Fußboden und versuchte, einen Ausweg aus diesem neuen Dilemma zu finden. An dem Wasserbehälter konnte er überhaupt nichts machen, solange die Schautz ihm zusah. Er mußte seine Macke weiterspielen. Er ging wieder in die Küche und sah sie unschlüssig in der Badezimmertür stehen. -222-
»So, jetzt weißt du’s«, sagte er. Gudrun Schautz hatte keinen blassen Schimmer. »Warum hast du gesagt, du würdest mich töten?« fragte sie. »Warum, was meinst du?« sagte Wilt, der sich genügend Mut einredete, um mit einem Gesicht auf sie loszugehen, das sowas Ähnliches wie Bedrohung ausdrückte. »Weil du eine Verräterin bist. Ohne dich wäre der Plan...« Aber Gudrun Schautz hatte genug gehört. Sie zog sich ins Bad zurück, knallte die Tür zu und verriegelte sie. Dieses Männchen war wahnsinnig. Die ganze Situation war wähnsinnig. Nichts reimte sich mehr zusammen, ein Widerspruch kam zum anderen, und das Ergebnis war eine unbegreifliche Flut von Vermutungen. Sie saß auf dem Toilettenbecken und versuchte, sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. Wenn dieser unheimliche Mensch mit seinem Gerede von der Ermordung der Königin von der Polizei gesucht wurde, und alles schien in diese Richtung zu weisen, so unlogisch es auch war, dann sprach einiges dafür, daß sie seine Geisel sei. Die britische Polizei war sicherlich nicht dämlich, aber sie würde sie vielleicht befreien, ohne allzu viele peinliche Fragen zu stellen. Das war ihre einzige Chance. Und durch die Tür konnte sie hören, wie Wilt furchterregend mit sich selber sprach. Er hatte auch wieder angefangen, die Türklinke mit Draht zu sichern. Als er damit fertig war, stieg er in den Bodenraum hinauf und hatte gleich darauf dem Arm bis zum Ellbogen im Wasser Das war allerdings eine sehr trübselige Farbe, und als es ihm endlich gelang, die Tasche rauszuziehen, war sein Arm blau. Wilt legte die Tasche auf den Boden und kramte ihren Inhalt durch. Ganz unten fand er die Reiseschreibmaschine und ein großes Stempelkissen mit einem Stempel. Es gab nichts, was auf Gift schließen ließ, aber das Farbband in der Schreibmaschine und das Stempelkissen hatten zweifellos das Wasser verfärbt. Wilt ging in die Küche zurück und drehte den Wasserhahn auf. »Kein Wunder, daß die Dreckskerle dachten, sie würden vergiftet -223-
werden«, murmelte er, ließ das Wasser einfach laufen und kroch wieder in den Bodenraum rauf. Als er mit der Tasche um den Wassertank herumgekrabbelt war und sie unter der Fiberglasisolierung versteckt hatte, begann die Morgendämmerung gegen die Scheinwerfer anzukämpfen. Er stieg nach unten, ging in das Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa und überlegte, was er als nächstes tun solle. Und so begann Tag Nummer zwei der Belagerung in der Willington Road. Die Sonne ging auf, die Scheinwerfer verblaßten, Wilt schlummerte unruhig in einer Ecke der Mansarde, Gudrun Schautz lag im Badezimmer, Mrs. de Frackas saß im Keller und die Vierlinge drängten sich unter einem Stapel leerer Säcke aneinander, in denen Eva einmal »organischdynamische« Kartoffeln eingekellert hatte. Sogar die beiden Terroristen kriegten ein bißchen Schlaf ab, während in der Nachrichtenzentrale der Major, der sich’s auf einem Feldbett bequem gemacht hatte, schnarchte und wie ein Hund, der von der Jagd träumt, im Schlaf zuckte. Überall in Mrs. de Frackas' Haus hatten es sich mehrere Leute von der Antiterror-Brigade gemütlich gemacht. Der Sergeant, der die Lauschantennen bediente, hatte sich auf einem Sofa zusammengerollt, und Inspektor Flint hatte das große Schlafzimmer für sich beschlagnahmt. Doch bei aller menschlichen Untätigkeit übertrugen die elektronischen Sensoren immer weiter Informationen auf die Tonbänder und über sie an den Computer und die Leute von der Psycho-Kriegsführung, während das Feldtelefon wie ein audiovisuelles Trojanisches Pferd Wilts Atemzüge überwachte und seine Bewegungen durch das Fernseh-Kameraauge belauerte. Nur Eva schlief nicht. Sie lag im Polizeirevier in ihrer Zelle, starrte auf die trübe Glühbirne an der Decke und hielt den diensttuenden Sergeant im Zustand permanenter Unsicherheit mit ihrer Forderung, ihren Rechtsanwalt sprechen zu wollen. Das war ein Wunsch, bei dem er nicht wußte, wie er ihn -224-
abschlagen solle. Mrs. Wilt war keine Verbrecherin, und soviel er wußte, gab es keine gesetzlichen Gründe, sie in eine Zelle zu sperren. Selbst richtige Spitzbuben durften ihre Anwälte sehen, und nach ergebnislosen Versuchen, sich mit Inspektor Flint in Verbindung zu setzen, gab der Sergeant schließlich nach. »Sie können das Telefon hier drin benutzen«, sagte er und ließ sie taktvoll in dem Büro allein, damit sie so viele Anrufe machen könne, wie sie wolle. Mavis Mottram wurde um vier wachgeklingelt und mit der Mitteilung besänftigt, der einzige Grund, weshalb Eva sie nicht schon früher angerufen habe, sei der, daß sie widerrechtlich von der Polizei festgehalten werde. »So etwas Skandalöses habe ich mein ganzes Leben nicht gehört. Du armes Ding. Aber mach dir keine Sorgen, wir haben dich da in nullkommanix draußen«, sagte sie und weckte augenblicklich Patrick, um ihm zu sagen, daß er sich sofort mit dem Chefinspektor, dem örtlichen Unterhausabgeordneten und seinen Freunden bei der BBC in Verbindung setzen müsse. »Ich werde bald keine Freunde mehr bei der BBC haben, wenn ich sie um halbfünf am Morgen anrufe.« »Unsinn«, sagte Mavis, »das verschafft ihnen reichlich Zeit, die Sache in die Frühnachrichten zu bringen«. Auch Braintrees wurden geweckt. Diesmal erschreckte Eva sie, indem sie ihnen schilderte, wie sie von der Polizei angefallen worden sei, und fragte sie, ob sie nicht jemanden wüßten, der helfen könne. Peter Braintree rief den Vorsitzenden der Liga für Persönliche Freiheiten und, das fiel ihm nachträglich noch ein, jede inländische Zeitung an und erzählte ihnen die Geschichte. Und auch Eva machte mit ihren Anrufen weiter. Mr. Gosdyke, der Anwalt der Wilts, wurde aus dem Bett geholt, und versprach ihr, sofort ins Polizeirevier zu kommen. »Sagen Sie niemandem ein Wort«, wies er sie an, im festen Glauben, Mrs. Wilt müsse irgendein Verbrechen begangen -225-
haben. Eva kümmerte sich nicht um seinen Rat. Sie sprach mit Nyes, dem Direktor der Berufsschule und mit allen Leuten, die ihr einfielen, einschließlich Dr. Scally. Sie war gerade fertig, als die BBC zurückrief, und Eva gab ein Tonbandinterview in ihrer Eigenschaft als die ohne jeden stichhaltigen Grund von der Polizei eingesperrte Mutter der wiederum von den Terroristen festgehaltenen Vierlinge. Von dem Augenblick an nahmen die Proteste lawinenartig zu. Der Innenminister wurde von seinem Ständigen Staatssekretär mit der Nachricht geweckt, die BBC weise seinen Wunsch, das Interview aus nationalen Interessen nicht zu senden, mit der Begründung zurück, die ungesetzliche Inhaftierung der Mutter der Geiseln stehe zu den nationalen Interessen in diametralem Gegensatz. Von hier erreichte die Mitteilung den Polizeipräsidenten, der für die Unternehmungen der AntiterrorBrigade als ve rantwortlich betrachtet wurde, und sogar den Verteidigungsminister, dessen Militärisches Sonderkommando Mrs. Wilt in erster Linie so übel mitgespielt hatte. Eva kam um sieben in die Rundfunknachrichten und rechtzeitig zum morge ndlichen Berufstätigenverkehr in die Schlagzeilen jeder Zeitung, und um halb acht war das Ipforder Polizeirevier von Zeitungsleuten, Fernsehkameras, Fotografen, Evas Freunden und Zuschauern anscheinend dichter umlagert als das Haus in der Willington Road. Sogar Mr. Gosdykes Zweifel hatten sich angesichts des Eingeständnisses des Sergeants, er wisse nicht, warum Mrs. Wilt in Haft sei, verflüchtigt. »Mich dürfen Sie nicht fragen, was sie angeblich gemacht hat«, sagte der Sergeant, »mir ist von Inspektor Flint befohlen worden, sie in der Zelle festzuhalten. Wenn Sie weitere Informationen haben wollen, fragen Sie ihn.« »Das habe ich auch vor«, sagte Mr. Gosdyke. »Wo ist er jetzt?« -226-
»Bei der Belagerung. Ich kann ja mal versuchen, ob ich ihn für Sie an den Apparat kriege.« Und so geschah es, daß Flint, der schließlich mit dem glücklichen Gedanken eingeschlafen war, zu guter Letzt den kleinen Scheißkerl Wilt doch dahin bekommen zu haben, wo er ihn wollte, nämlich bis zum Hals in einem echten Verbrechen, plötzlich entdeckte, daß der Spieß sich ge gen ihn gekehrt hatte. »Ich habe nicht gesagt, sie sollte verhaftet werden. Ich sagte, sie sollte gemäß dem Terrorismuserlaß unter Bewachung bleiben.« »Wollen Sie damit auch nur einen Augenblick lang andeuten, meine Mandantin sei eine mutmaßliche Terroristin?« fragte Mr. Gosdyke. »Denn, wenn Sie das tun...« Inspektor Flint besann sich auf den Beleidigungsparagraphen und entschied, er habe nichts angedeutet. »Sie ist zu ihrer eigenen Sicherheit unter Bewachung geblieben«, redete er sich heraus. Das bezweifelte Mr. Gosdyke. »Also, ich habe den Zustand gesehen, in dem sie sich befindet, und da kann ich nur sagen, daß es meine wohlerwogene Ansicht ist, daß sie außerhalb des Polizeireviers sicherer gewesen wäre als drinnen. Sie ist offensichtlich furchtbar geschlagen und durch Schlamm, und wenn ich das richtig beurteilen kann, obendrein noch durch etliche Hecken geschleift worden, sie hat an Händen und Beinen vielfache Abschürfungen davongetragen und befindet sich im Zustand nervöser Erschöpfung. Werden Sie ihr jetzt erlauben, das Polizeirevier zu verlassen, oder muß ich beantragen...« »Nein«, sagte Flint eilig, »natürlich kann sie gehen, aber ich übernehme keine Verantwortung für ihre Sicherheit, falls sie hierherkommt.« »Dazu brauche ich von Ihnen kaum irgendwelc he Garantien«, sagte Mr. Gosdyke und führte Eva aus dem Polizeirevier. Sie wurde von einem Ansturm von Fragen und Kameras begrüßt. -227-
»Mrs. Wilt, stimmt es, daß die Polizei Sie mißhandelt hat?« »Ja«, sagte Eva, ehe Mr. Gosdyke einwerfen konnte, daß sie keine Kommentare gäbe. »Mrs. Wilt, was werden Sie jetzt tun?« »Ich gehe nach Hause«, sagte Eva, aber Mr. Gosdyke drängelte sie schnell in seinen Wagen. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, Verehrteste. Sie haben doch sicher irgendwelche Freunde, bei denen Sie vorerst bleiben können.« Aus der Menge versuchte Mavis Mottram, sich bemerkbar zu machen. Eva übersah sie. Sie hatte plötzlich an Henry und dieses gräßliche deutsche Mädchen denken müssen, wie sie zusammen im Bett lagen, und der letzte Mensch, mit dem sie ausgerechnet jetzt sprechen wollte, war Mavis. Außerdem gab sie Mavis immer noch irgendwo in ihrem Hinterkopf die Schuld daran, daß sie darauf bestanden hatte, zu diesem dämlichen Seminar zu gehen. Wenn sie zu Hause geblieben wäre, wäre nichts von all dem passiert. »Ich bin sicher, Braintrees haben nichts dagegen, wenn ich hinkomme«, sagte sie, und wenig später saß sie bei ihnen in der Küche, schlürfte ihren Kaffee und erzählte Betty die ganze Geschichte. »Bist du ganz sicher, Eva?« sagte Betty. »Ich meine, es klingt überhaupt nicht nach Henry.« Eva nickte tränenüberströmt. »Doch. Sie haben überall im Haus Lautsprecher, und sie können alles hören, was da drin passiert.« »Ich muß sagen, ich versteh' das nicht.« Das konnte Eva auch nicht. Es war einfach so, daß es Henry nicht ähnlich sah, untreu zu sein. Das sah Henry überhaupt nicht ähnlich. Henry guckte noch nichtmal nach anderen Frauen. Sie hatte immer gewußt, daß er das nicht täte, und es hatte Zeiten -228-
gegeben, da hatte sie dieses fehlende Interesse geradezu irritiert. Irgendwie brachte sie das um diese kleine Eifersucht, zu der sie als seine Frau berechtigt war, und es bestand zudem ja der Verdacht, daß sich dieses fehlende Interesse auch auf sie erstrecke. Nun fühlte sie sich doppelt im Stich gelassen. »Man sollte doch meinen, er würde sich viel zu sehr um die Kinder sorgen«, fuhr sie fort. »Sie sind da unten, und er ist oben in der Mansarde mit diesem Weib...« Eva versagten die Worte, und sie weinte hemmungslos. »Was du brauchst, ist ein Bad und dann ein ordentliches Schläfchen«, sagte Betty, und Eva ließ sich nach oben ins Badezimmer bringen. Aber als sie so im warmen Wasser lag, taten sich Instinkt und Überlegung von neuem zusammen. Sie ginge nach Hause. Das mußte sie einfach, und diesmal ginge sie am hellichten Tage. Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, zog das Umstandskleid an, das Betty Braintree als einziges passendes Kleidungsstück für sie hatte finden können, und ging nach unten. Sie hatte beschlossen, was sie tun wolle. Im provisorischen Konferenzzimmer, das einmal Generalmajor de Frackas' private Räuberhöhle gewesen war, saßen Inspektor Flint, der Major und die Mitglieder des Stabes der Psychologischen Kriegsführung und guckten in den Fernseher, der unpassenderweise mitten in die Schlacht von Waterloo gestellt worden war. Des verstorbenen Generalmajors Bleisoldatenwahn und deren präziser Aufmarsch auf einer großen Tischtennisplatte, wo sie seit seinem Tode Staub angesammelt hatten, setzte den ungewöhnlichen Bildern und Geräuschen, die von der Fernsehkamera im Feldtelefon aus dem Nachbarhaus übertragen wurden, ein surrealistisches Element hinzu. Wilts Alternative war in eine neue Phase getreten, und zwar eine, in der es bei ihm offenbar klar ausgehakt hatte. »Verrückt wie ein Märzhase«, sagte der Major, als Wilt, durch das Fischaugenobjektiv schrecklich verzerrt, mal riesig vergrößert, mal zum Zwerg geschrumpft, in der -229-
Mansardenwohnung herumlief und Worte murmelte, die absolut keinen Sinn ergaben. Selbst Flint wurde es schwer, dieses Urteil nicht zu akzeptieren. »Was zum Teufel soll bloß ›Das Leben schadet der Unendlichkeit bedeuten?‹« fragte er Dr. Felden, den Psychiater. »Ich muß erst noch mehr hören, ehe ich mir eine abschließende Meinung bilden kann«, sagte der Arzt. »Verdammt bin ich, wenn ich das tue«, murmelte der Major, »es ist, als guckte man in eine Gummizelle.« Auf der Mattscheibe sah man Wilt, der irgendwas vom Kampf für die Religion Allahs und dem Tod, der allen Ungläubigen gebühre, schrie. Dann produzierte er ein paar außerordentlich beunruhigende Laute, die an einen Dorftrottel denken ließen, der Schwierigkeiten mit einer Fischgräte hat, und verschwand in die Küche. Es war einen Augenblick still, dann fing er an. »Die Höllenglocken läuten Tingalingaling für dich, doch nicht für mich« in einem grauenerregenden Falsett zu intonieren. Als er wieder erschien, hatte er ein Brotmesser in der Hand und kreischte: »Es sitzt ein Krokodil im Schrank, Mutter, und frißt an deinem Brot. Schlangen und Echsen trotzen den Hexen und halten die Welt im Lot.« Schließlich legte er sich aufs Bett und kicherte. Flint beugte sich über den Hohlweg von Waterloo und schaltete den Apparat aus. »Noch mehr von dem Zeug, und ich drehe auch durch«, murmelte er. »Schön, Sie haben den Kerl gesehen und gehört, und ich hätte gern Ihre Meinung dazu gehört, wie man ihn am besten behandelt.« »Vom Standpunkt einer zusammenhängenden politischen Ideologie aus gesehen« , sagte Professor Maerlis, »muß ich gestehen, daß es mir schwer fällt, eine Meinung zu formulieren.« »Schön«, sagte der Major, der immer noch den Verdacht hegte, daß der Professor die Ansichten der Terroristen teile. -230-
»Andererseits beweisen die gestern abend angefertigten Abschriften der Tonbänder definitiv, daß Mr. Wilt gründliche Kenntnisse der terroristischen Theorie besitzt und offenbar an einer Verschwörung zur Ermordung der Queen beteiligt war. Ich begreife bloß nicht, was dabei die Israelis sollen.« »Das könnte leicht ein Symptom von Paranoia sein«, sagte Dr. Felden. »Ein sehr typisches Beispiel für Verfolgungswahn.« »Nehmen Sie’s doch mit dem ›könnte‹ nicht so genau«, sagte Flint. »Ist der Kerl verrückt oder nicht?« »Schwer zu sagen. Vor allem könnte besagte Person gut an den Nachwirkungen der Drogen leiden, die ihr gestern vor Betreten des Hauses verabreicht wurden. Ich habe von dem sogenannten Sanitätsoffizier, der das Gebräu verabfolgt hat, erfahren, daß es aus drei Teilen Valium, zwei Teilen Amytalnitrat, einem Spritzer Bromid und etwas bestand, das er einen Hauch Laudanum zu nennen beliebte. Die genauen Mengen konnte er nicht angeben, aber meiner Meinung nach spricht es für Mr. Wilts Konstitution, daß er noch am Leben ist.« »Das spricht für den Kantinenkaffee, den der Kerl getrunken hat, ohne was zu merken«, sagte Flint. »Aber egal, holen wir ihn uns an die Strippe und fragen ihn, was er mit der Schautz gemacht hat, oder nicht?« Dr. Felden spielte nachdenklich mit einem Napoleon aus Blei. »Alles in allem bin ich dagegen. Wenn Fräulein Schautz noch lebt, möchte ich nicht Schuld daran sein, einen Menschen in Wilts Verfassung auf den Gedanken gebracht zu haben, sie zu ermorden.« »Wirklich eine große Hilfe. Wenn also diese Schweine das nächste Mal ihre Freilassung fordern, muß ich ihnen wohl sagen, daß sie von einem Irren gefangengehalten wird.« Und mit dem innigen Wunsch, der Ersatzmann für den Leiter der AntiterrorBrigade käme noch, bevor der Massenmord im Nachbarhaus beginne, begab Flint sich in die Nachrichtenzentrale. -231-
»Zwecklos«, sagte er zu dem Sergeant. »Die Idiotenbrigade behauptet, wir hätten es mit einem mordenden Deppen zu tun.« Das war mehr oder weniger genau die Reaktion, die Wilt haben wollte. Er hatte eine miserable Nacht damit verbracht, sich seinen nächsten Schritt zu überlegen. Bis jetzt hatte er schon eine ganze Reihe Rollen gespielt - eine Gruppe revolutionärer Terroristen, einen dankbaren Vater, einen kinnlosen Schwätzer, einen launenhaften Liebhaber und einen Menschen, der den Plan hatte, die Queen umzubringen - und mit jeder neuen Erfindung hatte er Gudrun Schautz' Gefühl für die Wirklichkeit wanken sehen. Um ihren Verstand gedrogt mit dem Rauschgift »revolutionäres Dogma«, war sie unfähig, sich auf Wilts Welt absurder Phantasien einzustellen. Und Wilts Welt war absurd: das war sie immer gewesen und das würde sie, soweit er das sagen konnte, auch immer sein. Phantastisch und absurd war die Tatsache, daß Bilger diesen verfluchten Film über das Krokodil gemacht hatte, aber sie war wahr, und Wilt hatte sein Leben umgeben von pickligen jungen Burschen zugebracht, die meinten, sie wären ein Göttergeschenk für die Frauen, und von Lehrern, die sich vorstellten, sie könnten Fleischer und Autoschlosser in sensible menschliche Wesen verwandeln, wenn sie sie zwängen, Finnegan’s Wake zu lesen, oder sie könnten ihnen das wahre proletarische Bewußtsein eintrichtern, wenn sie ihnen häppchenweise Das Kapital beibrachten. Und Wilt selber hatte die Stufenleiter der Träume durchschritten, diese geheimen Sehnsüchte danach, ein großer Schriftsteller zu sein, die durch den ersten Anblick von Irmgard Müller wiedererwacht waren, oder bei einer früheren Gelegenheit, der kaltblütige Mörder Evas zu sein. Und achtzehn Jahre lebte er nun schon mit einer Frau, die die Rollen fast wie ihre Kleider gewechselt hatte. Mit einem derart reichen Erfahrungsschatz im Rücken konnte Wilt jederzeit neue Hirngespinste produzieren, solange man nicht von ihm verlangte, sie noch glaubwürdiger zu gestalten, indem er etwas -232-
Handfesteres täte, als sie lediglich in Worte zu fassen. Worte waren sein Medium und waren es all die Jahre an der Schule über gewesen. Jetzt, da Gudrun Schautz im Badezimmer eingeschlossen war, stand ihm frei, diese Worte zu seiner Freude und ihrem Mißbehagen zu verwenden. Vorausgesetzt, die Halunken da unten griffen nicht plötzlich zur Gewalt. Aber Baggish und Chinanda hatten alle Hände voll mit einer anderen Form bizarren Verhaltens zu tun. Die Vierlinge waren früh wach geworden und hatten ihren Angriff auf Evas Tiefkühltruhe und das eingekochte Obst erneuert, während Mrs. de Frackas den ungleichen Kampf aufgegeben hatte, sie auch nur einigermaßen sauberzuhalten. Sie hatte eine überaus unbequeme Nacht auf dem Holzstuhl verbracht, und ihr Rheumatismus hatte ihr die Hölle heiß gemacht. Schließlich hatte sie nicht mehr anders gekonnt, als sich was zu trinken zu besorgen, und weil das einzige verfügbare Getränk Wilts patentiertes Eigenbräu war, war das Ergebnis bemerkenswert gewesen. Beim ersten erschreckenden Schluck hatte die alte Dame sich gefragt, was zum Teufel ihr da untergekommen sei. Es war nicht nur, daß das Zeug widerlich schmeckte, so widerlich, daß sie sofort einen zweiten Zug genommen hatte, um zu versuchen, sich damit den Mund zu spülen, es war auch ungeheuer stark. Als sie den zweiten Schluck unten hatte, besah Mrs. de Frackas sich die Flasche mit erstauntem Unglauben. Es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, jemand hätte allen Ernstes das Zeug für den menschlichen Gebrauch gebraut, und einen Augenblick oder auch zwei zog sie die furchtbare Möglichkeit in Betracht, Wilt hätte aus irgendeinem teuflischen persönlichen Grund einen Kasten unverdünnte Abbeize eingelagert. Es schien irgendwie nicht sehr wahrscheinlich, aber was sie gerade geschluckt hatte, erschien ihr auch nicht gerade wahrscheinlich. Es hatte sich seinen Weg durch ihre Kehle mit der Bösartigkeit eines kräftigen Kloreinigers geätzt, der an einer unsauberen -233-
Rohrbiegung sich mächtig ans Werk machte. Mrs. de Frackas prüfte das Etikett und war beruhigt. Der Fusel nannte sich »Lager«, und wenn diese Bezeichnung auch die Tatsachen kraß außer Acht ließ - was die Flasche auch enthielt, sollte sicher getrunken werden. Die alte Dame nahm noch einen Schluck und vergaß im selben Augenblick ihr Rheuma. Es war unmöglich, sich auf zwei Übel gleichzeitig zu konzentrieren. Als sie mit der Flasche fertig war, hatte sie Schwierigkeiten, sich überhaupt noch auf etwas zu konzentrieren. Plötzlich war die Welt ganz entzückend, und alles, was nötig war, sie noch toller zu machen, war bloß noch mehr vom gleichen Stoff. Sie schwankte wieder in das Weinlager, wählte eine zweite Flasche aus und war gerade dabei, sie aufzuschrauben, da explodierte das Ding. Mit Bier durchtränkt und mit dem Hals der Flasche in der Hand, war sie drauf und dran, es mit einer dritten zu versuchen, als ihr Blick auf mehrere größere Flaschen in dem Regal fiel. Sie zog eine raus und stellte fest, daß mal Champagner drin gewesen war. Was sie jetzt enthielt, konnte sie sich nicht denken, aber zumindest war sie wohl ungefährlicher zu öffnen und ging nicht so schnell zu Bruch wie die Bierflaschen. Sie nahm zwei Flaschen mit in den Kellerraum und versuchte, sie zu entkorken. Das war leichter gesagt als getan. Wilt hatte die Korken mit Klebeband und sowas wie den Überresten eines Drahtkleiderbügels befestigt. »Brauche 'ne Zange«, murmelte sie, als sich die Vierlinge neugierig um sie versammelten. »Das ist Pappis Bester«, sagte Josephine. »Er mag das bestimmt nicht, wenn du das trinkst.« »Nein, Schätzchen, das mag er bestimmt nicht«, sagte die alte Dame mit einem Rülpser, der vermuten ließ, ihr Magen sei derselben Meinung. »Er nennt es Pappis Reserve«, sagte Penelope, »aber Mammi sagt, es sollte besser Pipireserve heißen.« -234-
»So, sagt sie das?« sagte Mrs. de Frackas mit wachsendem Ekel. »Weil er in der Nacht immer aufstehen muß, wenn er das getrunken hat.« Mrs. de Frackas entspannte sich wieder. »Wir wollen doch nichts machen, was euren Vater ärgern könnte«, sagte sie, »und Champagner muß sowieso kühl sein.« Sie ging wieder zu den Bierkästen, kehrte mit zwei geöffneten Flaschen zurück, die sich als weniger explosiv als die anderen erwiesen hatten, und setzte sich wieder. Die Vierlinge hatten die Tiefkühltruhe in der Mache, aber die alte Dame war viel zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Als sie die dritte Flasche runter hatte, waren die Vierlinge Achtlinge, und es fiel ihr schwer, ihren Blick auf sie zu konzentrieren. Auf jeden Fall begriff sie langsam, was Eva mit Pipireserve gemeint hatte. Wilts Eigenbräu ließ sie merken, daß ihre Reserve erschöpft war. Mrs. de Frackas stand auf, kippte um und kroch schließlich auf allen Vieren die Treppe hinauf zur Tür. Das verdammte Ding war zugeschlossen. »Lascht mich rausch«, schrie sie und bummerte gegen die Tür, »lascht mich schofort rausch.« »Was wollen Sie?« fragte Baggish. »Fragen Sie nicht, wasch ich will. Wasch ich musch, dasch zählt, und dasch geht Sie nichts an.« »Dann bleiben Sie, wo Sie sind.« »Ich bin für nichts verantwortlich, wasch paschiert, wenn ich bleibe«, sagte Mrs. de Frackas. »Was sagen Sie?« »Junger Mann, bestimmte Schachen bleiben bescher ungeschagt, und ich habe nicht vor, schie mit Ihnen zu erörtern.« Durch die Tür konnte man die beiden Terroristen sich mit den genuschelten Sätzen herummühen hören. »Schachen bleiben -235-
bescher ungeschagt« hatte sie verwirrt, während »für nichts verantwortlich, wasch paschiert« leicht drohend klang, und sie waren schon durch mehrere Knalle und das Zersplittern von Glas, das aus dem Keller zu hören war, beunruhigt. »Wir wollen wissen, was passiert, wenn wir Sie nicht rauslassen«, sagte schließlich Chinanda. Mrs. de Frackas war sich darüber nicht im Zweifel. »Ich werde schiemlich schicher platschen«, schrie sie. »Was?« »Platschen, platschen, platschen. Wie eine Bombe«, schrie die alte Dame die nun davon überzeugt war, sie befinde sich im letzten Stadium einer schweren Strangurie. In der Küche wurde eine geflüsterte Unterhaltung geführt. »Sie kommen mit erhobenen Händen raus«, befahl Chinanda, bevor er die Tür aufschloß, dann wich er in die Diele zurück und zielte mit seinem Maschinengewehr auf die alte Dame. Aber Mrs. de Frackas war einfach nicht mehr in der Lage zu gehorchen. Sie versuchte, einen von mehreren Türgriffen zu erreichen, und verfehlte ihn. Vom Ende der Treppe sahen die Vierlinge fasziniert zu. An Wilts gelegentliche Beschwipstheiten waren sie gewöhnt, aber jemanden, der sternhagelvoll besoffen war, hatten sie noch nie gesehen. »Um Himmelsch willen, mach mir doch jemand die Tür auf«, gurgelte Mrs. de Frackas. »Ich«, quietschte Samantha, dann kämpfte sich eine Woge um dieses Vorrecht konkurrierender kleiner Mädchen ihren Weg über die alte Dame weg. Als Penelope am Ende gesiegt hatte und die Vierlinge über sie hinweg in die Küche gepoltert waren, hatte Mrs. de Frackas längst jedes Interesse an einer Toilette verloren. Sie lag auf der Schwelle und verkündete, wobei sie mit Mühe den Kopf hob, ihr Urteil über die Vierlinge. »Tu mir jemand den Gefallen, und erschieße diese kleinen Mistviecher«, blubberte sie, dann machte sie schlapp. Die -236-
Terroristen hörten sie nicht. Sie wußten jetzt, was sie mit der Bombe gemeint hatte. Zwei ungeheure Detonationen waren aus dem Keller zu hören, und die Luft war angefüllt mit tiefgekühlten Erbsen und Pferdebohnen. In der Tiefkühltruhe war Wilts Pipireserve endlich geplatscht. Auch Eva hatte mächtig herumgewirbelt. Sie hatte einen Teil des Morgens am Telefon mit Mr. Gosdyke verbracht und den Rest damit, sich mit Mr. Symper, dem örtlichen Vertreter der Liga für Persönliche Freiheiten, herumzustreiten. Er war ein sehr ernster und aufgeschlossener Mann und wäre unter normalen Umständen über das schändliche Verhalten der Polizei entsetzt gewesen, die das Leben eines angesehenen Bürgers und vierer empfindlicher Kinder in Gefahr brachte, weil sie den legitimen Forderungen der Freiheitskämpfer nicht entsprach, die in der Willington Road Nummer 9 belagert wurden. Statt dessen hatte Evas Behandlung in der Hand der Polizei Mr. Symper in die außerordentlich unbequeme Lage gebracht, das Problem von Evas Warte aus zu betrachten. »Ich verstehe, was Sie sagen wollen, Mrs. Wilt«, sagte er, von ihrem übel zugerichteten Äußeren ge zwungen, sich seine Vorliebe für radikale Ausländer zu verkneifen, »aber Sie müssen zugeben, Sie sind frei.« »Nicht frei, mein eigenes Haus zu betreten. Es steht mir nicht frei, das zu tun. Die Polizei läßt mich nicht.« »Wenn Sie wollen, daß wir Klage gege n die Polizei führen, weil sie Ihre Freiheiten verletzt hat, indem sie Sie in Haft hielt, dann werden wir...« Das wollte Eva nicht. »Ich will mein eigenes Haus betreten.« »Ich fühle mit Ihnen, aber Sie sehen, unsere Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Einzelnen vor der Verletzung seiner persönlichen Freiheiten durch die Polizei zu schützen, und in Ihrem Fall...« »Wollen Sie mich nicht nach Hause gehen lassen«, sagte Eva. -237-
»Wenn das keine Verletzung meiner persönlichen Freiheiten ist, dann weiß ich nicht, was sonst.« »Ja, schön, das verstehe ich.« »Dann tun Sie was.« »Ich weiß wirklich nicht, was ich da tun soll«, sagte Mr. Symper. »Sie wußten doch, was zu tun war, als die Polizei außerhalb von Dover einen Lastwagen mit tiefgekühlten Bangladeshis anhielt«, sagte Betty. »Da haben Sie eine Protestversammlung organisiert und...« »Das war ganz was anderes«, sagte Mr. Symper beleidigt. »Die Zollbeamten hatten kein Recht, darauf zu bestehen, daß das Kühlaggregat angestellt wird. Sie trugen akute Frostschäden davon. Und außerdem waren sie im Durchgangsverkehr.« »Sie hätten sich aber auch nicht als Kabeljaufilets etikettieren sollen, und auf jeden Fall haben Sie argumentiert, sie kämen einfach zu ihren Familien in England.« »Sie befanden sich im Durchgangsverkehr zu ihren Familien.« »Und das ist Eva auch, oder sollte es sein«, sagte Betty. »Wenn irgend jemand ein Recht dazu hat, sich zu seiner Familie zu begeben, ist es Eva.« »Wir könnten ja vielleicht eine gerichtliche Verfügung beantragen«, sagte Mr. Symper, der nach weniger privaten Problemen lechzte, »das wäre der beste Weg.« »Nein«, sagte Eva, »das wäre der langsamste. Ich gehe jetzt nach Hause, und Sie kommen mit.« »Bitte?« sagte Mr. Symper, dessen Engagement nicht so weit ging, daß er selber eine Geisel werden wollte. »Sie haben’s doch gehört«, sagte Eva und baute sich mit einer Angriffslust vor ihm auf, die seinen glühenden Feminismus in Frage stellte, aber bevor er sich noch auf seine eigenen -238-
Freiheiten berufen konnte, war er schon aus dem Haus gedrängt. Eine Schar Reporter hatte sich dort eingefunden. »Mrs. Wilt«, sagte ein Mann vom Snap, »unsere Leser hätten gern gehört, wie sich eine Mutter von vier Kindern fühlt, wenn sie weiß, daß ihre Lieben als Geiseln festgehalten werden.« Die Augen traten Eva fast aus dem Kopf. »Fühlt?« fragte sie. »Sie wollen wissen, wie ich mich fühle?« »Genau«, sagte der Mann und leckte seinen Kugelschreiber an, »das menschliche Interesse...« Weiter kam er nicht. Evas Gefühle waren über Worte oder menschliches Interesse hinaus. Nur Taten konnten sie noch ausdrücken. Ihre Hand hob sich, kam in einem Karateschlag wieder nach unten, und als der Mann fiel, erwischte sie ihn mit dem Knie im Magen. »So fühlt man sich«, sagte Eva, als sich der Reporter auf dem Blumenbeet zu einer Embryonalhaltung zusammenrollte. »Das können Sie Ihren Lesern berichten.« Und sie führte den jetzt vollkommen eingeschüchterten Mr. Symper zu seinem Wagen und stieß ihn hinein. »Ich fahre heim zu meinen Kindern«, sagte sie zu den anderen Reportern. »Mr. Symper von der Liga für Persönliche Freiheiten begleitet mich, und mein Anwalt wartet schon auf uns.« Und ohne ein weiteres Wort stieg sie auf den Fahrersitz. Zehn Minuten darauf kamen sie, gefolgt von einem kleinen Konvoi Pressewagen, an der Straßensperre in der Farringdon Avenue an, wo sie auf Mr. Gosdyke stießen, der sich ergebnislos mit einem Polizeisergeanten stritt. »Ich fürchte, es hat keinen Zweck, Mrs. Wilt. Die Polizei hat Anweisung, niemanden durchzulassen.« Eva schnaubte. »Das ist ein freies Land«, sagte sie und zerrte Mr. Symper mit einem Griff, der ihre Behauptung widerlegte, aus dem Wagen. »Wenn irgend jemand versuchen sollte, mich -239-
daran zu hindern, nach Hause zu gehen, bringen wir die Sache vor Gericht, vor den Schiedsmann und das Parlament. Kommen Sie, Mr. Gosdyke.« »Halt, Ma'am«, sagte der Sergeant, »mein Befehl...« »Ich hab' mir Ihre Nummer gemerkt«, sagte Eva, »und ich werde Sie persönlich dafür belangen, wenn Sie mir den freien Zugang zu meinen Kindern verweigern.« Und den widerstrebenden Mr. Symper vor sich her stoßend, marschierte sie durch die Lücke im Stacheldraht, vorsichtig gefolgt von Mr. Gosdyke. Hinter ihnen erhob sich Beifall aus der Menge der Reporter. Einen Augenblick lang war der Sergeant zu verblüfft, um was zu machen, und als er endlich zu seinem Walkie- Talkie griff, war das Trio um die Ecke in die Willington Road eingebogen. Auf halbem Wege wurden sie von zwei Männern des MSK angehalten. »Sie haben kein Recht, hier zu sein«, schrie der eine von den beiden. »Wissen Sie nicht, daß hier 'ne Belagerung im Gange ist?« »Ja«, sagte Eva, »deswegen sind wir ja hier. Ich bin Mrs. Wilt, das ist Mr. Symper von der Liga für Persönliche Freiheiten, und Mr. Gosdyke ist hier, um die Verhandlungen zu führen. Jetzt bringen Sie uns netterweise zu...« »Davon weiß ich überhaupt nichts«, sagte der Soldat, »ich weiß nur, daß wir Befehl haben, zu schießen...« »Dann erschießen Sie mich doch«, sagte Eva herausfordernd, »Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.« Der Soldat vom MSK zögerte. Das Erschießen von Müttern gehörte nicht zur Dienstvorschrift, und Mr. Gosdyke sah zu anständig aus, um ein Terrorist zu sein. »Okay, kommen Sie hier lang«, sagte er und führte sie in Mrs. de Frackas' Haus, wo sie von Inspektor Flint fluchend empfangen wurden. -240-
»Verdammt nochmal, was ist denn jetzt los?« schrie er. »Ich dachte, ich hätte Ihnen befohlen, sich hier nicht blicken zu lassen.« Eva schob Mr. Gosdyke nach vorne. »Sagen Sie’s ihm«, sagte sie. Mr. Gosdyke räusperte sich und sah sich verlegen im Zimmer um. »Als Mrs. Wilts gesetzlicher Vertreter«, sagte er, »bin ich hier, um Ihnen mitzuteilen, daß sie verlangt, zu ihrer Familie gehen zu dürfen. Soweit ich unterrichtet bin, findet sich nichts im Gesetz, das sie daran hindern könnte, ihr eigenes Haus zu betreten.« Inspektor Flint glotzte ihn an. »Nichts?« stotterte er. »Nichts im Gesetz«, sagte Mr. Gosdyke. »Scheiß aufs Gesetz«, schrie Flint. »Glauben Sie, die Schufte da drin geben auch nur einen Kack von 'nem Sechser aufs Gesetz?« Das räumte Mr. Gosdyke ein. »Na sehe n Sie«, fuhr Flint fort. »Das Haus da ist mit bewaffneten Terroristen vollgerammelt, die ihren verdammten Töchtern die Rüben runterpusten, wenn irgend jemand sich dem Haus bloß nähert. Das ist alles. Können Sie ihr das nicht in ihren Dickschädel eintrichtern?« »Nein«, sagte Mr. Gosdyke rundheraus. Der Inspektor ließ sich in einen Sessel plumpsen und sah Eva kummervoll an. »Mrs. Wilt«, sagte er, »sagen Sie mir das eine. Sie gehören doch nicht etwa zufällig irgendeiner radikalen Selbstmordsekte an? Nein? Ich hab' mich das bloß gefragt. In dem Fall lassen Sie mich Ihnen die Lage in einfachen Worten erklären, die sogar Sie verstehen werden. In Ihrem Haus sind...« »Das weiß ich alles«, sagte Eva, »ich habe es immer und immer wieder gehört, und es interessiert mich nicht. Ich verlange mein Recht, mein eigenes Haus betreten zu können.« -241-
»Verstehe. Und ich nehme an, Sie haben vor, zur Haustür zu gehen und auf die Klingel zu drücken?« »Nein«, sagte Eva, »ich habe vor, mich reinfallen zu lassen.« »Reinfallen?« fragte Flint mit einem ungläubigen Hoffnungsschimmer im Auge, »sagten Sie ›reinfallen lassen‹ ?« »Vom Hubschrauber«, erklärte Eva, »so wie Sie gestern abend zu Henry das Telefon haben reinfallen lassen.« Der Inspektor hatte den Kopf in den Händen und rang nach Worten. »Und es hat keinen Zweck, daß Sie sagen, das geht nicht«, fuhr Eva fort, »weil ich im Fernsehen gesehen habe, daß es geht. Ich habe einen Gurt um, und der Hubschrauber...« »O mein Gott«, sagte Flint und schloß die Augen, um diese gräßliche Vision loszuwerden. »Das können Sie nicht ernstlich meinen.« »Ich kann«, sagte Eva. »Mrs. Wilt, falls, und ich wiederhole, falls Sie auf die Weise, die Sie geschildert haben, in das Haus hineinkommen sollten, hätten Sie die Güte mir zu sagen, was das Ihrer Meinung nach Ihren vier Töchtern hilft?« »Kümmern Sie sich nicht drum.« »Doch, das tue ich, das tue ich sogar sehr. Ich gehe tatsächlich so weit zu sagen, daß ich mich mehr drum kümmere, was Ihren Kindern widerfährt, als Sie das anscheinend tun, und...« »Warum machen Sie dann nichts? Und sagen Sie nicht, Sie machen was, denn Sie machen wirklich nichts. Sie sitzen hier mit dem ganzen Transistorquatsch rum und hören sich an, wie sie gequält werden, und haben’s auch noch gern.« »Gern? Gern?« schrie der Inspektor. »Ja, Sie haben es gern«, schrie Eva zurück. »Es gibt Ihnen das Gefühl von Wichtigkeit, und was noch schlimmer ist, Sie haben eine dreckige Gesinnung. Es hat Ihnen Spaß gemacht, Henry mit -242-
dieser Frau im Bett zuzuhören, und sagen Sie bloß nicht, es hätte Ihnen keinen Spaß gemacht.« Das konnte Inspektor Flint nicht. Die Worte fehlten ihm. Die einzigen, die ihm einfielen, waren obszön und führten todsicher zu einer Verleumdungsklage. Das sah diesem verdammten Weibstück ähnlich, ihren Anwalt und diesen Heini von dem Pack für Persönliche Freiheiten mitzubringen. Er erhob sich aus seinem Sessel, stolperte rüber ins Spielzeugzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Professor Maerlis, Dr. Felden und der Major saßen vor der Glotze und sahen Wilt zu, wie der sich die Zeit vertrieb, indem er träge seine Penisspitze nach einem beginnenden Wundbrand untersuchte. Flint schaltete das entnervende Bild aus. »Sie werden’s nicht glauben«, tönte er, »aber die verdammte Mrs. Wilt verlangt, daß wir den Helikopter rufen und sie an einem Tau durchs Bodenfenster in ihr Haus lassen, damit sie endlich zu ihrer Scheiß Familie kommt.« »Ich hoffe, das werden Sie nicht zulassen«, sagte Dr. Felden, »nach allem, was sie gestern abend ihrem Mann angedroht hat, scheint mir das kaum ratsam.« »Führen Sie mich nicht in Versuchung«, sagte Flint. »Wenn ich denke, ich könnte hier sitzen und zusehen, wie sie dem kleinen Mistkerl Glied um Glied ausreißt...« Er brach ab, um diese Vorstellung richtig zu genießen. »Verdammt schneidig, die kleine Frau«, sagte der Major. »Verdammt möcht' ich sein, wenn ich mich an einem Seil in dieses Haus schwingen ließe. Na, auf jeden Fall nicht ohne 'ne Masse Feuerschutz. Trotzdem, es spricht doch einiges dafür.« »Was?« sagte Flint, der sich schon wunderte, wie zum Kuckuck jemand Mrs. Wilt eine kleine Frau nennen konnte. »Ablenkungsmanöver, alter Junge. Kann mir nichts Geeigneteres vorstellen, die Kerle mürbe zu machen, als der Anblick einer Frau, die von einem Hubschrauber runterbaumelt, -243-
ich weiß, mir würd’s vor Angst die Hosen ausziehen.« »Glaube ich. Aber da das ja nicht der Sinn der Übung ist, hätte ich gern einen konstruktiveren Vorschlag gehört.« Aus dem anderen Zimmer hörte man Eva schreien, daß sie ein Telegramm an die Queen schicken würde, wenn man ihr nicht erlaubte, zu ihrer Familie zu gehen. »Das fehlte uns grade noch«, sagte Flint. »Die Presse lechzt nach Blut, und einen anständigen Massenselbstmord hat's schon seit Monaten nicht mehr gegeben. Sie kommt prompt auf die erste Seite.« »Bestimmt ginge das Fenster mit einem Höllenlärm kaputt«, sagte der praktisch denkende Major. »Dann könnten wir die Bude stürmen und...« »Nein! Ein für allemal nein«, schrie Flint und raste in die Nachrichtenzentrale. »Okay, Mrs. Wilt, ich werde versuchen, die beiden Terroristen, die Ihre Töchter gefangenhalten, zu überreden, daß sie Sie zu Ihrer Familie lassen. Wenn sie sich weigern, ist das ihre Angelegenheit. Mehr kann ich nicht tun.« Er wandte sich an den Sergeant an der Telefonvermittlung. »Holen Sie mir die beiden Kameltreiber an die Strippe und lassen Sie mich’s wissen, wenn sie mit ihrer FaschistenschweinOuvertüre fertig sind.« Mr. Symper fühlte sich bemüßigt zu protestieren. »Ich denke doch, diese rassistischen Bemerkungen sind ganz unnötig«, sagte er. »Vielmehr, sie sind untersagt, Ausländer Kameltreiber zu nennen...« »Ich nenne keine Ausländer Kameltreiber. Ich nenne zwei Scheiß Mörder Kameltreiber, und sagen Sie mir bloß nicht, ich dürfte sie auch nicht Mörder nennen«, sagte Flint, als Symper einen Einwurf zu machen versuchte. »Ein Mörder ist ein Mörder ist ein Mörder, und ich habe jetzt wirklich bald die Schnauze voll davon.« -244-
Das, schien es, hatten die beiden Terroristen auch. Sie brachten keine Schimpftiraden als Vorspiel. »Was wollen Sie?« fragte Chinanda. Flint griff zum Hörer. »Ich habe einen Vorschlag zu machen«, sagte er. »Mrs. Wilt, die Mutter der vier Kinder, die Sie in der Gewalt haben, hat sich freiwillig bereiterklärt, ins Haus zu kommen, um sich um sie zu kümmern. Sie ist unbewaffnet und bereit, jede Bedingung, die Sie eventuell stellen wollen, zu akzeptieren.« »Sagen Sie das nochmal«, sagte Chinanda. Der Inspektor wiederholte die Mitteilung. »Jede Bedingung?« fragte Chinanda ungläubig. »Jede. Sie stellen sie, und sie wird sie annehmen«, sagte Flint mit einem Blick zu Eva, die nickte. In der Küche des Nachbarhauses fand eine geflüsterte Beratung statt, die durch das Gequietsche der Vierlinge und das gelegentliche Stöhnen von Mrs. de Frackas praktisch nicht zu hören war. Kurze Zeit später kam der Terrorist wieder an den Apparat. »Hier sind unsere Bedingungen. Die Frau muß vor allem erst einmal nackt sein. Haben Sie gehört, nackt...« »Ich höre, was Sie sagen, aber ich kann nicht sagen, daß ich verstehe...« »Keine Sachen an. Damit wir sehen, daß sie keine Waffen hat. Okay?« »Ich bin nicht sicher, ob Mrs. Wilt das akzeptiert...« »Mach' ich«, sagte Eva unerschütterlich. »Mrs. Wilt ist einverstanden«, sagte Flint und seufzte angewidert auf. »Zweitens. Ihre Hände sind über dem Kopf zusammengebunden.« Wieder nickte Eva. -245-
»Drittens. Ihre Beine sind gefesselt.« »Ihre Beine sind gefesselt?« fragte Flint. »Wie soll sie verdammt nochmal denn laufen, wenn ihre Beine gefesselt sind?« »Langes Seil. Halber Meter zwischen den Knöcheln. Kein Rennen.« »Ich verstehe. Ja, Mrs. Wilt willigt ein. Noch was?« »Ja«, sagte Chinanda. »Sobald sie im Haus ist, sind die Kinder draußen.« »Wie bitte?« sagte Flint. »Habe ich richtig gehört, dann sind die Kinder draußen? Sie meinen, Sie wollen sie nicht?« »Sie wollen?« schrie Chinanda. »Sie glauben, wir wollen mit vier schmutzigen, säuischen, ekelhaften kleinen Viechern zusammen sein, die überall auf den Fußboden kacken und pissen...« »Nein«, sagte Flint, »da bin ich ganz Ihrer Ansicht.« »Deshalb schicken wir Ihnen die verfluchten kleinen faschistischen Kackmaschinen zur Ansicht«, sagte Chinanda und knallte den Hörer auf. Inspektor Flint drehte sich mit einem glücklichen Lächeln zu Eva um. »Mrs. Wilt, ich habe nichts gesagt, aber sie haben gehört, was der Mann gesagt hat.« »Und das wird er noch bereuen«, sagte Eva mit glänzenden Augen. »So, wo kann ich mich ausziehen?« »Nicht hier«, sagte Flint entschieden. »Sie können das Schlafzimmer oben benutzen. Der Sergeant hier wird Ihnen die Hände und die Beine fesseln. Während Eva nach oben ging, um sich auszuziehen, holte sich der Inspektor Rat bei den Leuten von der Psychologischen Kriegsführung. Sie lagen einander in den Haaren. Professor Maerlis argumentierte, durch den Austausch von vier -246-
gleichzeitig empfangenen Geschwistern gegen eine Frau, die die Welt wohl kaum vermissen werde, wäre aus dem Handel ein Propagandavorteil zu ziehen. Dr. Felden war anderer Meinung. »Es ist offenkundig, daß die Terroristen durch die Mädchen beträchtlichem Druck ausgesetzt sind«, sagte er. »Wenn man sie also von dieser psychischen Last befreit, könnte ihnen das gut moralischen Auftrieb geben.« »Kümmern Sie sich nicht um deren Moral«, sagte Flint. »Wenn die Frau da reingeht, tut sie mir bloß einen Gefallen, und dann kann der Major hier das ›Unternehmen Schlacht haus‹ einläuten, wenn’s nach mir geht.« »Zickezacke«, sagte der Major. Flint ging wieder in die Nachrichtenzentrale zurück, kehrte seinen Blick von den monströsen Enthüllungen weg, die Eva im Rohzustand bot, und wandte sich an Gosdyke. »Eins will ich Ihnen klipp und klar sagen, Gosdyke«, sagte er, »ich möchte Ihnen zu verstehen geben, daß ich absolut gegen die Handlungen Ihrer Mandantin und nicht bereit bin, Verantwortung für das, was passiert, zu übernehmen.« Mr. Gosdyke nickte. »Ich verstehe völlig, Inspektor, und ich hätte selber gerne nichts damit zu tun. Mrs. Wilt, ich ersuche Sie...« Eva ignorierte ihn. Mit den über dem Kopf gefesselten Händen und den mit einem kurzen Seil zusammengebundenen Knöcheln sah sie furchterregend aus und nicht wie eine Frau, mit der man sich freiwillig angelegt hätte. »Ich bin fertig«, sagte sie. »Sagt ihnen, ich komme.« Sie latschte aus der Tür und die Einfahrt zu Mrs. de Frackas Haus runter. Die MSK-Männer in den Büschen wurden blaß und dachten sehnsüchtig an die steilen Vorgebirge in Süd-Armagh. Nur der Major, der die Szene vom Schlafzimmerfenster aus überblickte, gab Eva seinen Segen. »Macht einen stolz darauf, -247-
Brite zu sein«, sagte er zu Dr. Felden. »Bei Gott, diese Frau ist ein ganzer Kerl.« »Ich muß sagen, ich finde Ihre Bemerkung höchst geschmacklos«, sagte der Doktor, der Eva vom rein Physiologischen her betrachtete. Im Nachbarhaus gab es sowas wie ein Mißverständnis. Chinanda, der sich Eva durch den Briefschlitz in Wilts' Haustür beguckte, fing gerade an, seine Meinung über sie zu revidieren, als der Gestank von Erbrochenem ihm in die Nase drang. Er öffnete die Tür und legte sein Maschinengewehr an. »Nimm die Kinder«, schrie er zu Baggish hinüber, »ich decke die Frau.« »Was machst du?« sagte Baggish, der gerade einen Blick von dem Fleischberg erwischt hatte, der sich auf das Haus zubewegte. Aber es war nicht nötig, die Kinder herbeizuholen. Als Eva auf dem Fußabtreter ankam, stürmten sie ihr vor Freude kreischend entgegen. »Zurück!« schrie Baggish. »Zurück, oder ich schieße!« Es war zu spät. Eva kam auf der Türschwelle ins Wanken, als sich die Vierlinge an sie hängten. »O Mammi, du siehst aber komisch aus«, quiekte Samantha und umklammerte Evas Knie. Penelope kletterte über die anderen weg und schlang ihr die Arme um den Hals. Einen Moment lang schwankten sie unsicher, dann machte Eva einen Schritt vorwärts, stolperte und plumpste mit einem Mordsgetöse in die Diele. Die Vierlinge rutschten vor ihr über das blanke Parkett, und die Hutablage, die durch dieses Erdbeben von der Wand krachte, sauste auf die Tü r zu und warf sie ins Schloß. Die beiden Terroristen standen da und starrten auf ihre neue Geisel, während Mrs. de Frackas in der Küche betrunken den Kopf hob, einen kurzen Blick auf die seltsame Szene warf und wieder alle viere von sich streckte. Eva erhob sich auf die Knie. Ihre Hände waren immer noch über dem Kopf -248-
zusammengebunden, aber ihre Sorge galt nur den Vierlingen. »Habt keine Angst, meine Lieblinge. Mammi ist da«, sagte sie. »Alles wird wieder gut.« Aus der Geborgenheit der Küche beobachteten die beiden Terroristen die sonderbare Szene mit Entsetzen. Evas Optimismus teilten sie nicht. »Was machen wir jetzt?« fragte Baggish. »Werfen wir die Kinder zur Tür raus?« Chinanda schüttelte den Kopf. In den Schlagbereich dieser mächtigen Frau begäbe er sich nicht. Noch mit den überm Kopf zusammengebundenen Händen hatte Eva was Gefährliches und Angsterregendes an sich, und nun schien sie auch noch auf schwellenden Knien auf ihn zuzukriechen. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl er und hob sein Gewehr. Direkt neben ihm klingelte das Telefon. Wütend griff er danach. »Was wollen Sie denn jetzt noch?« fragte er Flint. »Ich könnte Ihnen dieselbe Frage stellen«, sagte der Inspektor. »Sie haben die Frau und haben zugesagt, Sie ließen die Kinder laufen.« »Wenn Sie glauben, ich will diese verdammte Frau, haben Sie nicht alle«, schrie Chinanda, »und die Scheiß Kinder wollen nicht von ihr weg. Also haben wir jetzt alle.« Was wie ein vergnügtes Glucksen klang, kam von Flint. »Nicht mein Fehler. Wir haben um die Kinder nicht gebeten. Ihr habt freiwillig...« »Und wir haben nicht um die Frau gebeten«, schrie Chinanda, dessen Stimme sich hysterisch nach oben schraubte. »Also machen wir jetzt ein Geschäft. Ihr...« »Vergessen Sie’s, Miguel«, sagte Flint, der langsam seinen Spaß hatte. »Geschäfte sind passe, und zu Ihrer Information, Sie täten mir 'n Gefallen, wenn Sie Mrs. Wilt erschießen. Wirklich, macht euch gleich an die Arbeit und erschießt, wen ihr wollt, -249-
Kamerad, denn in dem Augenblick schicke ich meine Leute rüber, und wenn sie dich und den Genossen Baggish erwischen, werdet ihr mit dem Sterben keine Eile haben. Ihr werdet...« »Faschistensau«, schrie Chinanda und drückte auf den Abzug seines Maschinengewehrs. Kugeln fetzten Löcher an der Küchenwand quer über eine Schautafel, der bis zu diesem Augenblick die heilsamen Eigenschaften jeder Menge alternativer Kräuter, meistens Unkräuter, zu entnehmen waren. Eva sah dieser Zerstörung bekümmert zu, und die Vierlinge ließen ein gräßliches Geschrei ertönen. Selbst Flint war erschrocken. »Haben Sie sie getötet?« fragte er, sich plötzlich bewußt, daß ihm seine Pension lieber war als persönliche Genugtuung. Chinanda überhörte die Frage. »Jetzt machen wir ein Tauschgeschäft. Ihr schickt Gudrun runter und habt den Jet in einer Stunde bereit. Von jetzt an wird nicht mehr gefackelt.« Er knallte den Hörer auf die Gabel. »Scheiße«, sagte Flint. »Na schön, verbinden Sie mich mit Wilt. Ich habe Neuigkeiten für ihn.« Aber Wilt hatte schon wieder seine Taktik geändert. Nachdem er die ganze Skala der Rollen vom kinnlosen Schwätzer zum Dorfdeppen über den revolutionären Fanatiker durchlaufen hatte, der seiner Meinung nach nur eine gefährlichere Form der gleichen Spezies war, war ihm langsam klargeworden, daß er das Kirremachen von Gudrun Schautz von der falschen Ecke her ansteuerte. Die Frau war eine Schwärmerin, und eine deutsche noch dazu. Hinter ihr erstreckte sich eine schreckliche Tradition zurück in den Schleier der Geschichte, das kulturelle Erbe feierlicher, ungeheuerlich ernsthafter und gewichtiger Dichter und Denker, Philosophen und Künstler, die besessen waren von Bedeutung, Bedeutsamkeit und dem Prozeß gesellschaftlicher und geschichtlicher Entwicklungen. Das Wort ›Weltanschauung‹ kam ihm, oder vielmehr polterte ihm in den -250-
Sinn. Wilt hatte keine Ahnung, was es wohl bedeute, und zweifelte, ob das überhaupt jemand wisse. Hatte irgendwas mit dem Bild oder der Ansicht von der Welt zu tun und war ungefähr so reizend wie ›Lebensraum‹, was keineswegs dasselbe war wie der von Eva so umgetaufte livingroom, sondern in Wirklichkeit die Besetzung Europas bedeutete und so viel von Rußland, wie Hitler hatte an sich reißen können. Und nach ›Weltanschauung‹ und ›Lebensraum‹ kam, vielleicht noch unverständlicher, ›Weltschmerz‹, der, wenn man an Fräulein Schautz' Hang dachte, wehrlosen Gegnern ohne jeden Skrupel Kugeln in den Leib zu schießen, dem Unsinn die Krone aufsetzte. Und hinter diesen erhabenen Begriffen standen die Überträger dieses Virus, Hegel, Kant, Fichte, Schopenhauer und Nietzsche, der ja nun von dieser Mischung aus Syphilis, Übermensch und Riesendamen mit Helmen, die in Bayreuth in die Bühnenwälder hineintrompeteten, tatsächlich einen weichen Keks gekriegt hatte. Wilt hatte sich einmal mühevoll durch Also sprach Zarathustra hindurchgekämpft und war mit der Überzeugung daraus hervorgegangen, daß Nietzsche entweder nicht wußte, worüber er in drei Teufels Namen überhaupt redete, oder wenn, dann hatte er es sehr weitschweifig für sich behalten. Und im Vergleich mit Hegel und Schopenhauer war Nietzsche noch spritzig, der sinnlose Apercus mit einer Hemmungslosigkeit um sich verstreute, die einfach erfreulich war. Wenn man richtig was Schwieriges wollte, war Hegel der richtige Mann für einen, während Schopenhauer im Keller der düstersten Schwermut saß, die König Lear sich wie einen hysterischen Optimisten unter der Wirkung von Lachgas anhören ließ. Kurz, Gudrun Schautz' schwacher Punkt war die Fröhlichkeit. Er konnte weiterfaseln über die Schrecknisse der Welt, bis er blau im Gesicht wäre, und sie würde nicht mit der Wimper zucken. Was nötig war, um sie ins Wanken zu bringen, das war eine Dosis unverdünnter guter Laune, und Wilt war unter dem Panzer seines häuslichen Gebrummels im Grunde -251-
seines Herzens ein fröhlicher Mensch. Während also Gudrun Schautz im Bad hockte und Eva unten über die Haustürschwelle stolperte, bombardierte Wilt seine gefangengenommene Zuhörerschaft mit angenehmen Neuigkeiten. Gudrun Schautz war anderer Meinung. »Wie können Sie das sagen, wenn Millionen hungern?« fragte sie. »Daß ich das sagen kann, heißt, daß ich nicht hungere«, sagte Wilt und wandte damit die Logik an, die er bei Fleisch II gelernt hatte, »und auf alle Fälle heißt das doch, daß wir jetzt, wo wir wissen, daß sie hungern, etwas daran ändern können. Die Lage wäre viel schlimmer, wenn wir es nicht wüßten. Wir könnten ihnen zum Beispiel keine Lebensmittel schicken.« »Und wer schickt schon Lebensmittel?« fragte sie unklugerweise. »Soviel ich weiß, die bösen Amerikaner«, sagte Wilt. »Ich bin sicher, die Russen täten das auch, wenn sie genug anbauten, aber das tun sie nicht, darum machen sie halt das Nächstbeste und schicken Kubaner und Panzer, um sie von ihren leeren Mägen abzulenken. Auf jeden Fall hungern nicht alle, und man braucht sich nur mal umzusehen, um festzustellen, wie lustig es ist zu leben.« Gudrun Schautz' Ansicht vom Badezimmer enthielt nichts Lustiges. Es sah fast wie eine Gefängniszelle aus. Aber das sagte sie nicht. »Nehmen Sie zum Beispiel mich«, fuhr Wilt fort, »ich habe eine wunderbare Frau und vier entzückende Töchter...« Ein Prusten im Badezimmer zeigte, daß die Leichtgläubigkeit der Schautz ihre Grenzen hatte. »Gut, Sie mögen vielleicht nicht so denken«, sagte Wilt, »aber ich denke eben so. Und auch wenn ich das nicht täte, müssen Sie zugeben, daß die Vierlinge das Leben lieben. Sie -252-
sind vielleicht für den Geschmack einiger Leute ein bißchen überdreht, aber niemand wird sagen können, sie wären unglücklich.« »Und Mrs. Wilt ist eine wunderbare Frau?« sagte Gudrun Schautz skeptisch. »Wie die Dinge liegen, könnte ich mir keine bessere wünschen«, sagte Wilt. »Sie glauben mir vielleicht nicht, aber...« »Ihnen glauben? Ich habe gehört, wie sie Sie nennt, und Sie streiten sich andauernd.« »Streiten?« sagte Wilt. »Natürlich haben wir unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten, aber das gehört zu einer glücklichen Ehe. Es ist das, was die Engländer Geben und Nehmen nennen. Marxistisch würden Sie es wahrscheinlich These, Antithese und Synthese nennen. Und die Synthese ist in unserem Fall das Glück.« »Glück«, schnaubte Gudrun Schautz, »was ist schon das Glück?« Wilt dachte über die Frage und die verschiedenen Möglichkeiten nach, wie er sie beantworten könnte. Alles in allem schien es das Klügste zu sein, das Metaphysische zu meiden und sich an Alltagsdinge zu halten. »In meinem Falle ist es halt der Weg zur Schule an einem eiskalten Morgen, wenn die Sonne scheint und die Enten herumwatscheln und ich weiß, ich habe keine Ausschußsitzungen und keinen Unterricht, und wenn ich im Mondschein nach Hause komme zu einem wirklich guten Abendbrot mit Rindfleisch und Knödeln, und wenn ich dann mit einem interessanten Buch ins Bett gehe.« »Bourgeoises Schwein. Sie denken an nichts anderes als an Ihre Bequemlichkeit.« »Ich denke nicht bloß daran«, sagte Wilt, »aber Sie fragten mich nach einer Definition des Glücks, und das ist zufällig meins. Wenn Sie wollen, daß ich weiterrede, tu ich das.« -253-
Gudrun Schautz wollte nicht, aber Wilt redete trotzdem weiter. Er sprach von Picknicks am Fluß an heißen Sommertagen und davon, ein Buch, das er sich gewü nscht hatte, in einem Antiquariat zu finden, und von Evas Freude, wenn der Knoblauch, den sie gesteckt hatte, tatsächlich Anstalten machte zu wachsen, und von seiner Freude über ihre Freude, und davon, den Weihnachtsbaum mit den Vierungen zu schmücken und am Morgen mit ihnen aufzuwachen, wenn sie überall im Bett Geschenke aufrissen und mit ihren Spielsachen, die sie sich gewünscht hatten und wahrscheinlich in einer Woche vergessen haben würden, im Zimmer herumtanzten, und... Einfache Familienfreuden und -überraschungen, die diese Frau nie kennenlernen würde, die aber der Grundpfeiler von Wilts Leben waren. Und als er sie nun wiedererzählte, nahmen sie für ihn eine völlig neue Bedeutung an und linderten die augenblicklichen Schrecknisse mit einem Balsam der Gesittung, und Wilt hatte das Gefühl zu sein, was er wahrhaftig war, ein auf stille und zurückhaltende Art braver Mann, verheiratet mit einer auf lärmige und überschäumende Art braven Frau. Wenn ihn niemand sonst so sah, ihn kümmerte das nicht. Was er war, das zählte, und was er war, das erwuchs aus dem, was er tat, und beim besten Willen konnte Wilt sich nicht erinnern, daß er jemals jemandem Unrecht getan hatte. Da hatte er wohl eher schon ein Körnchen Gutes getan. Das war nicht die Art, wie Gudrun Schautz die Dinge sah. Hungrig, frierend und voller Angst hörte sie Wilt mit dem wachsenden Gefühl der Unwirklichkeit von diesen einfachen Dingen erzählen. Sie hatte zu lange in einer Welt entmenschter Taten gelebt, mit denen die ideale Gesellschaft erlangt werden sollte, um noch imstande zu sein, diesen Katechismus häuslicher Freuden zu ertragen. Und die einzige Antwort, die sie ihm geben konnte, war, ihn eine Faschistensau zu nennen, und im stillen wußte sie, daß sie in den Wind redete. Am Ende sagte sie gar nichts mehr, und Wilt war kurz davor, Mitleid für sie zu fühlen, -254-
und brach eine etwas veränderte Version von den Familienferien in Frankreich ab, als das Telefon klingelte. »Okay, Wilt«, sagte Flint, »Sie können Ihren Reisebericht vergessen. Jetzt kommt’s drauf an. Ihre Frau ist unten bei den Kindern, und wenn die Schautz nicht auf der Stelle runterkommt, sind Sie verantwortlich für ein kleineres Massaker.« »Das hab' ich doch schon mal gehört«, sagte Wilt. »Und zu Ihrer Information...« »O nein, das haben Sie nicht. Diesmal ist es wahr. Und wenn Sie sie nicht runterbringen, bei Gott, dann holen wir sie. Werfen Sie mal einen Blick aus dem Fenster.« Wilt tat das. Auf dem Feld klettern Männer in den Helikopter. »Schön«, fuhr Flint fort. »Sie werden also auf dem Dach landen, und der erste, den sie rausholen werden, das sind Sie. Tot. Die Schautz wollen wir lebend. Nun aber los.« »Ich kann nicht sagen, daß mir Ihre Prioritäten gefallen«, sagte Wilt, aber der Inspektor hatte aufgelegt. Wilt ging in die Küche und band die Badezimmertür los. »Sie können jetzt rauskommen«, sagte er. »Ihre Freunde unten scheinen zu gewinnen. Sie wollen, daß Sie zu ihnen kommen.« Aus dem Bad kam keine Antwort. Wilt versuchte, die Tür zu öffnen, und fand sie verschlossen. »Nun hören Sie doch mal. Sie müssen rauskommen. Ich meine es ernst. Die Herren Baggish & Chinanda sind unten mit meiner Frau und den Kindern, und die Polizei ist bereit, ihre Forderungen zu erfüllen.« Das Schweigen ließ vermuten, daß Gudrun Schautz es nicht war. Wilt legte das Ohr an die Tür und horchte. Vielleicht war dies verfluchte Geschöpf irgendwie entwischt oder hatte, viel schlimmer, sich selber umgebracht. -255-
»Sind Sie noch da?« fragte er albernerweise. Ein schwaches Wimmern beruhigte ihn. »Gut. Also, niemand wird Ihnen was tun. Es gibt absolut keinen Grund, da drin zu bleiben und...« Auf der anderen Seite wurde ein Stuhl unter die Türklinke geklemmt. »Schiet«, sagte Wilt und versuchte, ruhig zu bleiben. »Nehmen Sie doch bitte Vernunft an. Wenn Sie nicht rauskommen und zu denen runtergehen, ist hier die Hölle los, und es kommt bestimmt jemand zu Schaden. Sie müssen mir glauben.« Aber Gudrun Schautz hatte schon auf viel zu viel Unvernunft gehört, um noch irgendwas zu glauben. Sie faselte leise irgend etwas auf Deutsch. »Ja, das ist aber 'ne tolle Hilfe«, sagte Wilt, dem plötzlich klar wurde, daß seine Alternative beim Overkill angekommen war. Er ging ins Wohnzimmer zurück und rief Flint an. »Wir haben ein Problem«, sagte er, bevor der Inspektor ihm ins Wort fiel. »Sie haben ein Problem, Wilt. Lassen Sie uns da raus.« »Na, wir haben jetzt alle ein Problem«, sagte Wilt. »Sie ist im Bad und hat die Tür verrammelt, und wie sich das so anhört, kommt sie nicht raus.« »Trotzdem Ihr Problem«, sagte Flint. »Sie haben sie da reingetan, da holen Sie sie auch wieder raus.« »Nun warten Sie doch mal. Können Sie diese beiden Typen nicht überreden.« »Nein«, sagte Flint und beendete die Diskussion. Mit einem tiefen Seufzer ging Wilt wieder zum Badezimmer, aber die Geräusche da drin ließen nicht darauf schließen, daß Gudrun Schautz vernünftiger Überredung auch nur ein bißchen zugänglicher als vorher sei, und nachdem er seinen Fall so überzeugend dargestellt hatte, wie er nur konnte, und bei Gott -256-
schwor, daß unten keine Israelis seien, hetzte er wieder ans Telefon. »Mich interessiert nur«, sagte Flint, als er sich meldete, »ob sie unten bei Bonnie und Clyde ist. Mich interessiert nicht...« »Ich mache die Bodentür auf. Ich stell' mich so hin, daß die Scheißkerle sehen können, daß ich nicht bewaffnet bin, und dann können sie raufkommen und sie sich holen. Könnten Sie jetzt vielleicht freundlicherweise diesen Vorschlag den beiden Typen unterbreiten?« Flint dachte einen Augenblick schweigend über das Angebot nach und sagte er werde zurückrufen. »Danke«, sagte Wilt, und als er das Bett von der Tür weggezogen hatte, legte er sich drauf und hörte seinem Herzschlag zu. Er schien die verlorene Zeit wieder einholen zu wollen. Zwei Stockwerke tiefer waren Chinanda und Baggish ebenfalls ganz schön in Fahrt. Evas Ankunft hatte, weit davon entfernt, die Vierlinge zu beruhigen, ihre Neugier auf neue Höhen ekelerregender Hemmungslosigkeit geschraubt. »Du hast aber viele Falten auf deinem Bäuchlein, Mammi«, sagte Samantha, womit sie in Worte kleidete, was Baggish schon mit Abscheu zur Kenntnis genommen hatte. »Wie hast du die denn gekriegt?« »Tja, ehe ihr geboren wurdet, Liebling«, sagte Eva, die den Rubikon der Sittsamkeit überschritten hatte, als sie nackt ins Haus gehoppelt war, »war Mammis Bäuchlein viel dicker. Da wart ihr nämlich drin.« Die beiden Terroristen erschauerten bei dem Gedanken. Es war schon schlimm genug, mit diesen aufsässigen Kindern in Küche und Diele zusammengepfercht zu sein, ohne mit den körperlichen Intimitäten ihrer vorgeburtlichen Existenz in dieser ungeheuren Frau erfreut zu werden. -257-
»Was haben wir denn in dir gemacht?« fragte Penelope. »Ihr seid gewachsen, Liebling.« »Was haben wir gegessen?« »Ihr habt nicht richtig gegessen.« »Man wächst nicht, wenn man nicht ißt. Du sagst doch immer zu Josephine, sie wird nicht groß und stark, wenn sie nicht ihr Müsli ißt.« »Mag kein Müsli«, sagte Josephine. »Da sind Rosinen drin.« »Ich weiß, was wir gegessen haben«, sagte Samantha genüßlich, »Blut.« In der Ecke neben der Kellertreppe öffnete Mrs. de Frackas in der Folter eines horrenden Katzenjammers ein blutunterlaufenes Auge. »Das würde mich überhaupt nicht überraschen«, murmelte sie. »Etwas, das menschlichen Vampiren ähnlicher wäre, ist mir nie über den Weg gelaufen. Wer hat das eigentlich Babysitten genannt? Irgendein verdammter Idiot.« »Aber wir hatten keine Zähne«, fuhr Samantha fort. »Nein, Liebling, ihr wart mit Mammi durch eure Nabelschnüre verbunden. Und was Mammi aß, ging durch die Schnur...« »Es kann aber nichts durch eine Schnur gehen, Mammi«, sagte Josephine. »Eine Schnur ist ein Bindfaden.« »Messer können durch einen Bindfaden gehen«, sagte Samantha. Eva sah sie anerkennend an. »Ja, Liebling, das können sie...« Die Diskussion wurde von Baggish unterbrochen. »Halten Sie den Mund und decken sie sich das über«, schrie er und warf Eva den mexikanischen Teppich aus dem Wohnzimmer zu. »Ich weiß nicht, wie ich das mit gefesselten Händen tun soll«, begann Eva, aber da klingelte gerade das Telefon. Chinanda -258-
ging ran. »Es wird nicht mehr geredet. Entweder...«, sagte er, bevor er sich unterbrach und zuhörte. Hinter ihm griff Baggish zu seiner Maschinenpistole und hielt Eva wachsam im Auge. »Was sagen sie?« »Daß Gudrun nicht runterkommen will«, sagte Chinanda. »Sie wollen, daß wir raufgehen.« »Kommt nicht in Frage. Das ist 'ne Falle. Die Polizei ist da oben. Das wissen wir.« Chinanda nahm die Hand vom Telefon. »Niemand geht rauf, und Gudrun kommt runter. Wir geben Ihnen fünf Minuten, oder...« »Ich geh rauf«, rief Eva. »Die Polizei ist nicht da oben. Da ist mein Mann. Ich bring' sie alle beide runter.« Die Terroristen starrten sie an. »Ihr Mann?« fragten sie wie aus einem Munde. Die Vierlinge stimmten ein. »Du meinst, Pappi ist auf dem Boden? O Mammi, bring ihn bitte runter. Er wird ja mit Mrs. de Frackas so böse sein. Sie hat ja so viel von Pappis Pipi getrunken.« »Das kann man wohl sagen«, stöhnte die alte Dame, aber Eva achtete nicht auf diese seltsame Behauptung. Sie sah die Terroristen fest an und versuchte, ihnen die Erlaubnis abzuringen, sie nach oben in die Mansarde gehen zu lassen. »Ich verspreche Ihnen, ich werde...« »Sie lügen. Sie wollen bloß da rauf, um sich der Polizei zu stellen.« »Ich will da rauf, um meine Kinder zu retten«, sagte Eva, »und wenn Sie mir nicht glauben, sagen Sie doch Inspektor Flint, daß Henry runterkommen soll.« Die Terroristen gingen in eine Ecke der Küche und beratschlagten miteinander. »Wenn wir Gudrun freibekommen und diese Frau und ihre -259-
Schmuddelkinder loswerden können, ist es gut«, sagte Baggish. »Dann haben wir den Mann und die Alte.« Chinanda war anderer Meinung. »Wir behalten die Kinder. Da kann die Frau keine krummen Sachen machen.« Er ging wieder ans Telefon und wiederholte Evas Botschaft. »Wir geben Ihnen fünf Minuten. Dieser Wilt kommt runter...« »Nackt«, sagte Eva, entschlossen, dafür zu sorgen, daß Henry ihre Lage teilte. »Er kommt nackt runter«, wiederholte Chinanda, »und mit gefesselten Händen...« »Er kann sich seine Hände doch nicht selber fesseln«, wandte Flint logisch ein. »Gudrun kann sie ihm fesseln«, antwortete Chinanda. »Das sind unsere Bedingungen.« Er legte auf, setzte sich und sah Eva müde an. Die Engländer waren sonderbare Leute. Warum hatten sie bloß mit Frauen wie dieser ihr Empire aufgegeben? Er wurde aus seinen Träumen aufgescheucht, denn Mrs. de Fracks rappelte sich bedudelt auf. »Hinsetzen!« brüllte er sie an, aber die alte Dame achtete gar nicht auf ihn. Sie schwankte rüber zum Ausguß. »Warum erschieße ich sie nicht?« sagte Baggish. »Da würden sie sehen, daß wir meinen, was wir sagen.« Mrs. de Frackas schielte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. »Junger Mann«, sagte sie, »mit einem Schädel, wie ich ihn habe, täten Sie mir einen Gefallen. Schießen Sie bloß nicht daneben.« Und um das zu unterstreichen, drehte sie ihm die Rückseite zu und hielt ihre Bonje unter den Kaltwasserhahn. Auch in der Nachrichtenzentrale herrschte völliges Durcheinander. Flint übermittelte Wilt hocherfreut die Botschaft und genoß seinen Protest, daß es schon schlimm genug sei, Gefahr zu laufen, erschossen zu werden, aber er sehe nicht ein, warum er nackt herumlaufen und es obendrein auf eine doppelte -260-
Lungenentzündung ankommen lassen müsse, und wie er außerdem sich selber die Hände zusammenbinden solle, das sei ihm vollkommen schleierhaft, da wurde er vom neuen Leiter der Antiterror-Brigade unterbrochen. »Das Ganze halt«, sagte der neue Oberinspektor zu Flint. »Die Idiotentruppe hat grade ein psychopolitisches Profil von Wilt erstellt, und das sieht böse aus.« »Es wird noch verdammt viel böser aussehen, wenn der Mistkerl nicht die nächsten drei Minuten aus der Mansarde nach unten marschiert«, sagte Flint, »und was zum Teufel ist denn überhaupt ein psychopolitisches Profil?« »Kümmern Sie sich jetzt nicht drum. Sehen Sie zu, daß Sie die Terroristen im Erdgeschoß zu 'ner Warteschleife überreden können.« Er ließ Flint allein, der sich wie ein Fluglotse fühlte, der versucht, sich mit zwei übergeschnappten Piloten auf Kollisionskurs auseinanderzusetzen, und eilte in den Konferenzraum. »Okay«, sagte er, »ich habe allen bewaffneten Mannschaften befohlen, sich zurückzuziehen, damit die Spannung verringert wird. Lassen wir jetzt den Tauschhandel weiterlaufen oder nicht?« Dr. Felden war sich völlig sicher. »Nein«, sagte er. »Nach den Daten, die wir gesammelt haben, besteht meiner Meinung nach kein Zweifel, daß Wilt latent psychopathisch ist und außerordentlich gefährliche Mordabsichten hat, und ihn loszulassen...« »Dem kann ich mich nicht anschließen«, sagte Professor Maerlis. »Die Umschrift der Gespräche, die er mit der Schautz geführt hat, zeigen einen Grad ideologischer Bindung an den postmarcusischen Anarchismus, wie er höher nicht sein kann. Ich würde noch weiter gehen...« »Dazu haben wir keine Zeit, Professor. Wir haben genau zwei -261-
Minuten Zeit, und alles, was ich wissen will, ist, ob wir den Handel machen.« »Mein Rat heißt eindeutig nein«, sagte der Psychiater. »Wenn wir die Untersuchungsperson Wilt zusammen mit Gudrun Schautz zu den beiden Terroristen lassen, die die Kinder in der Gewalt haben, ist die Wirkung explosiv.« »Wirklich sehr hilfreich«, sagte der Oberinspektor. »Wir sitzen auf einem Fäßchen Dynamit und... ja, Major?« »Ich würde sagen, wenn wir alle vier zusammen im Parterre hätten, könnten wir doch zwei Fliegen auf einen Streich erledigen«, sagte der Major. Der Oberinspektor sah ihn scharf an. Er hatte von Anfang an nicht verstanden, warum die MSK-Männer zu Hilfe gerufen worden waren, und der Mangel an vernünftiger Logik beim Major verwirrte ihn. »Wenn Sie damit sagen wollen, wir könnten jeden in dem Haus einfach über die Klinge springe n lassen, sehe ich keinen Grund, weshalb wir mit dem Austausch weitermachen sollten. Den können wir aber schon mal durchziehen. Der Zweck der Übung ist, daß niemand getötet wird. Ich will wissen, wie man ein Blutbad verhindert, nicht, wie man eins anrichtet.« Aber die Ereignisse im Haus nebenan hatten ihn schon überholt. Weit davon entfernt, die Terroristen zu einer Warteschleife überreden zu können, war Flints Mitteilung, es gebe eine kleine technische Störung, mit der postwendenden Antwort aufgenommen worden, wenn Wilt nicht in genau einer Minute runterkäme, wäre er Vater von Drillingen. Doch Eva war es gewesen, die Wilt gezwungen hatte, zu handeln. »Henry Wilt«, schrie sie die Treppe hinauf, »wenn du nicht diese Minute runterkommst, werde ich...« Flint, mit dem Ohr am Hörer klebend, hörte Wilts zitterndes »Ja, Liebling, ich komme ja schon«. Er schaltete die ans Feldtelefon angeschlossene Abhöranlage an und konnte Wilt -262-
beim Ausziehen herumstolpern und wenig später seine leisen Schritte im Treppenhaus hören. Ihnen folgten einen Augenblick später die schweren Tritte Evas, die nach oben kam. Flint ging ins Konferenzzimmer und teilte die neueste Entwicklung mit. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt...«, begann der Oberinspektor, bevor er sich schwerfällig niederließ. »Jetzt sind wir wirklich in einer ganz anderen Situation.« Die Vierlinge waren zu einem ganz ähnlichen Schluß gelangt, wenn sie ihn auch nicht genauso ausdrückten. Als Wilt vorsichtig durch die Diele in die Küche getapst kam, quietschten sie vor Freud e. »Der Pappi hat 'n Piesemann, und Mammi hat ein Kätzchen. Das Pipi läuft am Bein ihr lang, dem Pappi aus dem Spätzchen«, sangen sie zur Verwunderung der Terroristen und Mrs. de Frackas' Entrüstung. »Überaus empörend«, sagte sie, womit sie ihre Kritik an der Ausdrucksweise der Vierlinge mit ihrem Urteil über Wilt verband. Schon mit Kleidern auf dem Leib hatte sie ihn nie gemocht: ohne sie verabscheute sie ihn. Nicht nur war dieser Schuft verantwortlich für das tödliche Gesöff, das ihren Kopf sich hatte wie einen Pingpongball im Mixbecher benehmen lassen und jetzt, nach dem Brennen in den tiefergelegenen Zonen zu urteilen, fleißig am Werke war, ihr die gesamten Wasserspiele wegzuätzen; nein, der Kerl bot nun auch noch eine unverblümte Vorderansicht jenes teuflischen Organs dar, das einst dazu beigetragen hatte, vier der widerwärtigsten kleinen Mädchen, die ihr je begegnet waren, auf eine auch schon ohne sie leidgeprüfte Welt zu befördern. Und all das mit einer dreisten Nichtachtung aller jener gesellschaftlichen Umgangsformen, an die sie gewöhnt war. Mrs. de Frackas schlug alle Vorsicht in den Wind. »Wenn Sie auch nur eine Sekunde glauben, ich beabsichtige, mit einem nackten Mann in einem Hause zu bleiben, irren Sie -263-
sich sehr«, sagte sie und steuerte auf die Küchentür zu. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, schrie Baggish, aber Mrs. de Frackas hatte das bißchen Furcht, das sie je gehabt hatte, verloren. Sie ging einfach weiter. »Noch ein Schritt, und ich schieße«, gellte Baggish. Mrs. de Frackas schnaubte verächtlich und ging weiter. Dasselbe tat Wilt. Als das Gewehr gehoben wurde, warf er sich und mit sich die Vierlinge, die an ihm hingen, aus der Schußlinie. Und gleichzeitig aus der Küche. Die Kellertür stand offen. Wilt und seine Brut schossen durch die Tür, purzelten die Treppe runter, schlitterten über den mit Erbsen übersäten Boden und landeten im Kohlenhaufen. Über ihnen tönte ein Schuß, dann ein dumpfer Aufprall, und die Kellertür schlug zu, als Mrs. de Frackas dagegen donnerte und zu Boden ging. Wilt wartete nicht länger. Er hatte kein Verlangen danach, noch mehr Schüsse zu hören. Er kroch auf den Kohlenhaufen und stemmte sich mit den Schultern gegen den Eisendeckel der Rutsche. Unter seinen Füßen gaben die Kohlen nach, aber der Deckel bewegte sich, und mit Kopf und Schultern war er im Freien. Der Deckel glitt nach vorn und Wilt krabbelte hinaus, dann zog er die Vierlinge eins nach dem anderen hoch und legte den Deckel wieder an seinen Platz. Einen Augenblick zögerte er. Rechts von ihnen waren die Küchenfenster, links die Tür, aber jenseits davon standen die Müllkübel und, wesentlich brauchbarer, Evas organischer Kompostbehälter. Zum ersten Mal in seinem Leben betrachtete Wilt diesen Bottich mit dankbaren Gefühlen. Egal, was er enthielt, er hatte Raum für sie alle und war, dank der Beharrlichkeit der Gesundheitsbehörden, aus alternativem Holz und Beton gebaut. Wilt nahm sich Zeit, sich die Vierlinge unter die Arme zu klemmen, dann hetzte er auf das Ding los und stopfte sie hinein, eher er selber sich über sie warf. »O Pappi, ist das ulkig«, quakte Josephine und hob ihr Gesicht zu ihm, das fast völlig mit verfaulter Tomate -264-
zugeschmiert war. »Ruhe«, fauchte Wilt und stupste sie runter in den Müll. Und gewärtig, daß jeder, der die Küchentür aufmachte, sie sehen könnte, wühlte er sich in die stinkenden Überreste von Kohlköpfen, Fischschwänzen und Kehricht hinein, bis es fast unmöglich war festzustellen, wo Wilt und die Kinder anfingen und der Kompost aufhörte. »Ist das schön warm«, quiekte die unverdrossene Josephine unter einer Schicht verrottender Kürbisschalen hervor. »Es wird noch verflucht wärmer werden, wenn du deine Klappe nicht hältst«, sagte Wilt und wünschte beim Himmel, er selber hätte es getan. Sein Mund war halb voll mit Eierschalen und etwas, das vermuten ließ, es hätte mal das Innere eines Staubsaugers gesehen und wäre besser da geblieben. Wilt spuckte das Gemisch aus, und als er das tat, war von irgendwo im Haus eine Maschinengewehrsalve zu hören. Die Terroristen schossen blindlings in den dunklen Keller. Wilt stellte das Gespucke ein und fragte sich, was zum Teufel wohl jetzt Eva widerführe. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Eva wuselte in der Mansarde herum. Sie hatte schon die Scherben des Balkonfensters benutzt, sich die Handfesseln durchzuschneiden, und hatte ihre Beine losgebunden. Dann war sie in die Küche gegangen. Als Wilt auf der Treppe an ihr vorbeigegangen war, hatte er sowas geflüstert wie: das Weibstück ist im Badezimmer. Eva hatte nichts gesagt. Sie hob sich ihre Anmerkungen zu seinem Benehmen mit dem Weibsstück auf, bis die Kinder in Sicherheit wären, und der Weg, das sicherzustellen, hieß, Gudrun Schautz nach unten zu bringen und zu tun, was die Terroristen verlangten. Als sie aber jetzt versuchte, die Badezimmertür zu öffnen, hörte sie den Schuß, der Mrs. de Frackas niederstreckte. Das war für all die in ihr aufgestaute Wut das Zeichen, sich Luft zu machen. Wenn eins ihrer Kinder ermordet worden war, stürbe das abscheuliche Geschöpf, das sie -265-
sich ins Haus geholt hatte, ebenfalls. Und wenn Eva sterben müßte, dann nähme sie so viele Terroristen, wie sie nur könnte, mit. Sie stand vor der Badezimmertür und hob eins ihrer stämmigen Beine. Im nächsten Augenblick war wieder eine Salve von unten zu hören, und Evas Fuß schnellte nach vorn. Die Tür sprang aus ihren Angeln, und das Schloß ging in Stücke. Eva trat nochmal zu: die Tür fiel ins Bad, und Eva Wilt stieg darüber weg. In der Ecke am Waschbecken hockte eine Frau, die genauso nackt wie Eva war. Sonst hatten sie nichts weiter gemeinsam. Gudrun Schautz' Körper trug keine Zeichen vom Gebären. Er war so ebenmäßig und auf synthetische Weise attraktiv, wie die Mittelseite eines Magazins mit nackten Mädchen, nur ihr Gesicht strafte diese Reize Lügen. Aus einer Maske von Entsetzen und Wahnsinn starrten ihre Augen leer heraus, ihre Wangen hatten die Farbe von Kitt angenommen, und ihr Mund stammelte die sinnlosen Laute eines erschreckten Tiers. Aber Eva war über Mitleid hinaus. Sie schritt vorwärts, massiv und unversöhnlich, streckte mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Hände vor und krallte sich in den Haaren der Frau fest. Gudrun Schautz wehrte sich einen Moment, ehe Evas Knie nach oben schnellte. Zusammengekrümmt nach Atem ringend, wurde Gudrun aus dem Bad geschleift und auf den Küchenboden geknallt. Eva hielt sie mit einem Knie zwischen ihren Schulterblättern fest, drehte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie mit dem Kabel an den Handgelenken, dann knebelte sie sie mit einem Tuch aus dem Abwaschbecken. Zum Schluß band sie ihr die Beine mit einem Handtuchstreifen zusammen. All das tat Eva ebenso bedenkenlos, wie sie fürs Sonntagsessen ein Huhn zusammengebunden hätte. In ihrem Innern war ein Plan gereift, ein Plan, der fast auf diesen Augenblick gewartet zu haben schien, ein Plan, der aus Verzweiflung und Angst geboren war. Sie wandte sich um und -266-
kramte in dem Schränkchen unter dem Abwaschbecken und fand, wonach sie suchte, die Rettungsstrickleiter, die sie hatte anbringen lassen, als die Mansarde ausgebaut wurde. Sie war so eingerichtet, daß sie von einem Haken über dem Balkonfenster herabhing, wenn in einem Notfall Menschenleben zu retten waren, aber Eva hatte mit ihr jetzt ganz was anderes vor. Und als wieder Schüsse von unten zu hören waren, ging sie rasch zu Werke. Sie schnitt den Strick in zwei Stücke und griff sich einen Stuhl, den sie mit Blick zur Tür in die Mitte des Zimmers stellte. Dann zog sie das Bett heran und wuchtete es auf den Stuhl, worauf sie wieder in die Küche ging und ihre Gefangene an den Knöcheln durch das Zimmer auf den Balkon schleifte. Einen Augenblick später war sie mit den zwei Stricken zurück, band sie an die Beine des Stuhls, führte sie über den Haken und zog, wobei sie einen von ihnen losließ, den anderen unter den Armen der Frau durch, wand ihn ihr um den Leib und ve rknotete ihn. Den zweiten Strick legte sie auf dem Fußboden am Stuhl sorgfältig zu einer Rolle zusammen, knotete das andere Ende zu einer Schlinge und streifte sie der Terroristin über den Kopf und um den Hals. Dann lernte Gudrun Schautz, die so viele unschuldige Menschen in Todesangst gestürzt hatte, ihren Schrecken am eigenen Leibe kennen. Einen Moment lag sie sich krümmend auf dem Balkon, aber Eva war schon wieder im Zimmer und zog an dem Strick, den die Schautz um die Brust hatte. Die kam, als Eva zog, wie ein Sack durchhängend auf die Füße. Dann erhob sie sich vom Boden und war auf gleicher Höhe mit dem Geländer. Eva band den Strick am Bett fest, ging wieder auf den Balkon und hievte die Frau übers Geländer. Unten lagen die Terrasse und das ewige Vergessen. Schließlich nahm Eva ihr den Knebel aus dem Mund und ging zum Stuhl zurück. Aber ehe sie sich hinsetzte, machte sie die Tür zum Treppenhaus auf und band den Strick vom Bett los. Ihn mit beiden Händen festhaltend, ließ sie ihn sich abspulen, bis er über das -267-
Balkongitter ging und straff erschien. Ihn immer noch fest im Griff, stieß sie das Bett von dem Stuhl und setzte sich. Dann ließ sie los. Einen Augenblick lang sah es aus, als würde der Stuhl bei dem plötzlichen Zug in die Höhe gehen, aber Evas Gewic ht hielt ihn unten. In dem Moment, in dem sie erschossen würde oder von dem Stuhl aufstünde, würde er durchs Zimmer davonsausen, und die Mörderin, die jetzt an diesem behelfsmäßigen Schafott hing, fiele in ihren Tod durch den Strang. Auf ihre eigene, so grauenhaft hausfrauliche Art hatte Eva Wilt die schrecklichen Waagschalen der Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Auf die Zuschauer im Konferenzzimmer ein Haus weiter wirkte es jedoch kaum so. Auf der Mattscheibe des Fernsehers nahm Eva eher die Dimensionen einer archetypischen Mutter Erde an, und was sie tat, hatte etwas Symbolisches, das über die bloße Wirklichkeit hinausging. Selbst Dr. Felden, dessen Erfahrungen mit modernen Irren umfassend waren, war entsetzt, während man Professor Maerlis, der zum ersten Mal Zeuge der furchtbaren Vorbereitungen einer nackten Henkerin war, irgendwas von einem großen Vieh, das zum Tollhaus latscht, murmeln hören konnte. Der Vertreter der Liga für Persönliche Freiheiten aber war es, der äußerst heftig reagierte. Mr. Symper traute ganz einfach seinen Augen nicht. »Du mein Gott», kreischte er, »sie wird das arme Mädchen noch hängen. Sie ist nicht bei sich. Jemand muß sie aufhalten.« »Sehe nicht ein, warum, alter Junge«, sagte der Major. »Bin schon immer für die Todesstrafe gewesen.« »Aber das ist gegen das Gesetz«, schrie Mr. Symper und wandte sich an Mr. Gosdyke, aber der Anwalt hatte die Augen geschlossen und dachte über einen Einspruch wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit nach. Im Grunde genommen hielt er diese für weniger aussichtsreich, die Geschworenen zu überzeugen, als ein berechtigter Totschlag. Notwehr war zweifellos ausgeschlossen. Aus der Perspektive des -268-
Weitwinkelobjektivs im Feldtelefon erschien Eva von gigantischer Größe, während Gudrun Schautz die winzigen Ausmaße eines von Generalmajor de Frackas' Spielzeugsoldaten hatte. Wie gewöhnlich nahm Professor Maerlis seine Zuflucht bei der Logik. »Eine interessante ideologische Lage«, sagte er. »Ich kann mir kein klareres Beispiel gesellschaftlicher Polarisierung denken. Auf der einen Seite haben wir Mrs. Wilt, und auf der anderen...« »Eine etwas kopflose Teutonin, so wie’s aussieht«, sagte der Major begeistert, als Eva, die Gudrun Schautz in die Höhe gezogen hatte, sie über das Balkongeländer hievte. »Ich weiß zwar nicht, wie groß die geeignete Fallhöhe beim Hängen ist, aber ich würde meinen, zwölf Meter wären etwas übertrieben.« »Übertrieben?« quäkte Mr. Symper. »Es ist einfach ungeheuerlich. Und außerdem erhebe ich Einspruch gegen Ihre Verwendung des Wortes ›Teutonin‹. Ich werde mich bei den Behörden mit äußerstem Nachdruck beschweren.« »Komischer Affe«, sagte der Major, als der Vorsitzende der Liga für Persönliche Freiheiten aus dem Zimmer rauschte. »Jeder würde meinen, Mrs. Wilt sei die Terroristin und keine treusorgende Mutter.« Mehr oder weniger war das auch die Ansicht, die sich Inspektor Flint zu eigen gemacht hatte. »Hören Sie mal, Kamerad«, sagte er zu dem aufgeregten Symper, »Sie können so viele Protestmärsche veranstalten, wie Sie verdammt nochma l Lust haben, aber kommen Sie bloß nicht und schreien mich an, diese scheiß Mrs. Wilt ist eine Mörderin. Sie haben sie hierher gebracht...« »Ich habe doch nicht gewußt, daß sie Leute hängen würde. Ich weigere mich, Teilnehmer einer privaten Exekution zu sein.« »Nein, das werden Sie auch nicht. Aber Sie sind ein -269-
Helfershelfer. Die Schweinehunde im Erdgeschoß haben allem Anschein nach Wilt und die Kinder um die Ecke gebracht. Wie steht’s denn da mit dem Verlust der persönlichen Freiheit?« »Das wäre doch nicht passiert, wenn Sie sie hätten laufen lassen. Sie...« Flint hatte genug gehört. So wie er Wilt nicht hatte leiden können, so war der Gedanke, daß dieser hysterische Engel der Enterbten die Polizei beschuldigte, sich geweigert zu haben, den Forderungen einer Gruppe blutdürstiger Ausländer nachzugeben, zu viel für ihn. Er zog Mr. Symper vom Stuhl hoch und packte ihn bei den Revers. »Okay, wenn das Ihre Meinung ist, schicke ich Sie ins Nachbarhaus, da können Sie die Witwe Wilt dazu überreden, runterzukommen und sich erschießen zu lassen von...« »Da gehe ich nicht hin«, zeterte Mr. Symper, »Sie haben kein Recht...« Flint griff fester zu und schleppte ihn rückwärts durch die Diele, als Mr. Gosdyke dazwischenging. »Inspektor, es muß sofort etwas geschehen. Mrs. Wilt nimmt das Gesetz selbst in die Hand.« »Spricht für sie«, sagte Flint. »Dieser kleine Dreckskerl hier hat sich gerade freiwillig bereiterklärt, als Abgesandter zu unseren reizenden Nachbarn, den Freiheitskämpfern, zu gehen...« »Keine Rede davon«, quakte Mr. Symper. »Mr. Gosdyke, ich appelliere an Sie, mich...« Der Anwalt beachtete ihn nicht. »Inspektor Flint, wenn Sie bereit sind, mir das Versprechen zu geben, daß meine Mandantin für das, was sie offenbar gerade vorhat, nicht verantwortlich gemacht, verhört, in Verwahrung genommen, angeklagt oder verhaftet wird, noch daß in irgendeiner Weise gegen sie verhandelt wird, dann...« -270-
Flint ließ den fabelhaften Mr. Symper los. Jahrelange Gerichtserfahrung sagte ihm, wann er den kürzeren zog. Er folgte Mr. Gosdyke in das Konferenzzimmer und besah sich mit Staunen Eva Wilts frappante Hinterpartie. Gosdykes Bemerkung, sie nähme das Gesetz selbst in die Hand, erschien völlig unangemessen. Sie drückte das arme Ding platt. Flint sah Dr. Felden an. »Mrs. Wilt befindet sich offenbar in einem äußerst erregten Geisteszustand, Inspektor. Wir müssen versuchen, sie zu beruhigen. Ich schlage vor, wir rufen sie an...« »Nein«, sagte Professor Maerlis. »Mrs. Wilt mag ja aus dieser Perspektive so aussehen, als hätte sie die Ausmaße eines langarmigen Gorillas, trotzdem bezweifle ich, daß sie bis ans Telefon reicht, ohne vom Stuhl aufzustehen.« »Und was ist daran nicht in Ordnung?« fragte der Major aggressiv. »Die Schautz hat sich das selber zuzuschreiben.« »Vielleicht, aber wir wollen doch keine Märtyrerin aus ihr machen. Sie hat schon jetzt ein beträchtliches politisches Charisma...« »Scheiß auf ihr Charisma«, sagte Flint, »sie hat den ganzen Rest der Familie Wilt zu Tode gemartert, und wir können immer behaupten, ihr Tod wär' ein Unfall gewesen.« Der Professor sah ihn skeptisch an. »Sie könnten es vielleicht versuchen, aber ich glaube, Sie hätten einige Schwierigkeiten, die Medien davon zu überzeugen, daß eine Frau, die am Ende von zwei Stricken von einem Balkon heruntergelassen wurde, von denen einer fachmännisch um ihren Hals geknotet war, und die darauf gehängt und/oder geköpft wurde, auf irgendwie erklärliche Weise durch Unfall zu Tode kam. Das ist natürlich Ihre Sache, aber...« »Na schön, also was zum Kuckuck schlagen Sie vor?« »Ein Auge zudrücken, alter Junge«, sagte der Major. »Schließlich ist Mrs. Wilt auch nur ein Mensch...« -271-
»Nur?« murmelte Dr. Felden. »Ein reineres Beispiel für Anthropomorphismus...« »... und muß dem Ruf der Natur manchmal gehorchen.« »Ruf der Natur?« schrie Flint. »Das hat sie doch schon getan. Sie hockt doch da wie ein scheiß dressierter Elefant.« »Pipi, alter Junge, Pipi«, fuhr der Major fort. »Früher oder später wird sie ja mal aufstehen müssen und Pipi machen.« »Beten Sie, daß es später als früher ist«, sagte der Psychiater. »Der Gedanke, diese gräßliche Figur könnte sich von ihrem Stuhl erheben, wäre zu viel.« »Auf jeden Fall hat sie wahrscheinlich eine Blase wie ein Fesselballon«, sagte Flint. »Aber egal, es kann ihr nicht allzu warm sein, und nichts bringt einen so schnell zum Pinkeln wie Kälte.« »In dem Fall fällt der Vorhang für La Schautz«, sagte der Major. »Und wir sind nicht mehr am Haken, was?« »Ich kann mir das glücklicher formuliert denken«, sagte der Professor, »und wir hätten immer noch das Problem von Fräulein Schautz' offensichtlichem Märtyrertum.« Flint ließ sie diskutieren und ging hinaus, um nach dem Oberinspektor zu suchen. Als er durch die Nachrichtenzentrale kam, hielt ihn der Sergeant an. Aus einem der Lauschapparate kam eine Reihe von Piepsern und Glucksern. »Das ist der Kanal, der auf das Küchenfenster geht«, erklärte der Sergeant. »Küchenfenster?« sagte Flint ungläubig. »Klingt eher wie 'ne Schar Mäuse, die in 'ner Sickergrube Stepptanz üben. Was zum Teufel sind denn das für Quietscher?« »Kinder«, sagte der Sergeant. »Kaum zu glauben, ich weiß, aber ich hab' noch keine Maus zur andern sagen hören, sie sollte ihre verdammte Klappe halten. Und es kommt nicht aus dem Haus. Die beiden Kümmeltürken haben sich doch beschwert, -272-
daß sie niemanden mehr hätten zum Erschießen, Wenn Sie mich fragen...« Aber Flint kletterte bereits durch die Trümmer des Wintergartens und begab sich auf die Suche nach dem Oberinspektor. Er fand ihn neben dem Sommerhäuschen hinten in Wilts Garten im Grase liegen, von wo er durch ein Fernglas Gudrun Schautz' Anatomie studierte. »Diese Extremisten gehen ja phantastisch weit, um ein bißchen Aufsehen zu erregen«, sagte er als Erklärung. »Nur gut, daß wir die Fernsehkameras außer Schußweite gehalten haben.« »Sie hängt ja nicht freiwillig da oben«, sagte Flint. »Das ist Mrs. Wilts Einfall, und wir haben die Chance, uns die beiden Herzchen im Parterre zu holen. Sie sind im Augenblick ohne Geiseln.« »Tatsächlich?« sagte der Oberinspektor und verlagerte seine Beobachtung widerstrebend zu den Küchenfenstern. Einen Augenblick später stellte er sein Fernglas auf den Kompostbehälter scharf. »Großer Gott«, murmelte er, »ich habe ja schon von Schnellfermentierung gehört, aber... Hier, sehen Sie sich doch mal diesen Behälter an der Hintertür an.« Flint nahm das Fernglas und sah durch. In der Vergrößerung konnte er sehen, was der Oberinspektor mit Schnellfermentierung meinte. Der Kompost lebte. Er bewegte sich, er schwoll an, mehrere Bohnenstengel hoben und senkten sich, und eine Rübe tauchte plötzlich aus dem Gematsche auf und verschwand sofort wieder. Schließlich, und das war das beunruhigendste von allem, lugte etwas, das einem HalloweenKürbis mit filzigen Haaren glich, über den Rand des Behälters. Flint schloß die Augen, machte sie wieder auf und erblickte hinter einer Maske aus verfaultem Gemüse ein ihm sehr vertrautes Gesicht. Fünf Minuten später wurde Wilt ohne weitere Umstände aus -273-
dem Komposthaufen gezerrt, während ein Dutzend bewaffneter Polizisten mit ihren Gewehren auf die Küchentür und die Fenster zielten. »Pengpengpeng, du bist tot«, kreischte Josephine, als sie aus dem Müll gehoben wurde. Ein Wachtmeister bugsierte sie durch die Hecke und kehrte um, um Penelope zu holen. Die Terroristen im Haus taten keinen Muckser. Sie wurden vo n Flint am Telefon festgehalten. »Ihr könnt die Tauschgeschäfte allesamt vergessen«, sagte er gerade, als Familie Wilt durch den Wintergarten geführt wurde. »Entweder ihr kommt mit erhobenen Händen und ohne Gewehre raus, oder wir kommen rein und ballern ein bißchen, und nach den ersten zehn Kugeln wißt ihr nicht mehr, welche euch zuerst erwischt hat... Himmel, was ist denn das für ein widerlicher Gestank?« »Er sagt, er heißt Samantha«, sagte der Sergeant, der das stinkende Kind hereintrug. »Schön, bringen Sie’s weg und desinfizieren Sie dies bestialische Ding«, sagte Flint und griff nach seinem Taschentuch. »Ich will nicht desinfiziert werden«, plärrte Samantha. Flint warf einen erschöpften Blick auf die Gruppe und hatte für einen Augenblick das alptraumartige Gefühl, er sehe etwas im vorgeschrittenen Stadium der Verwesung vor sich. Aber diese Vision verschwand. Nun sah er deutlich, daß es schlicht und einfach Wilt war, der von oben bis unten mit Kompost besudelt war. »Na, sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Wenn das nur nicht Composto Casanova höchstpersönlich ist, der Bohnenrankenheros der Saison. Ich hab' ja schon widerliche Sachen in meinem Leben gesehen, aber...« »Reizend«, sagte Wilt. »Wenn man bedenkt, was ich gerade hinter mir habe, komme ich auc h ohne den Witz mit der -274-
›nostalgie de la boue ‹ aus. Und was ist mit Eva? Sie ist immer noch da drin, und wenn Sie anfangen zu schießen...« »Schnauze, Wilt«, sagte Flint und stand schwerfällig auf. »Zu Ihrer Information: wenn es nicht um Mrs. Wilts allerneuestes Faible ginge, Leute zu hängen, wären wir schon seit einer Stunde im Haus.« »Ihr Faible wofür?« »Geb ihm doch mal jemand 'ne Decke«, sagte Flint, »ich habe genug von dem menschlichen Gemüse gesehen, daß es mir für mein Leben reicht.« Er ging in den Konferenzraum, gefolgt von Wilt, der recht dürftig in einen von Mrs. de Frackas indischen Schals gehüllt war. »Meine Herren, darf ich Ihnen allen Mr. Henry Wilt vorstellen«, sagte er zu dem sprachlosen Stab der Psychologischen Kriegsführung, »oder sollte ich besser Genosse Wilt sagen?« Wilt hatte für diese Anspielung kein Ohr. Er starrte auf das Fernsehbild. »Das ist doch Eva«, sagte er wie betäubt. »Ja, gell, es dauert, bis man jemanden erkennt, nicht wahr?«, sagte Flint. »Und am Ende von allen diesen Stricken hängt Ihre Spielgefährtin, Gudrun Schautz. In dem Augenblick, wo ihre liebe Frau von diesem Stuhl aufsteht, werden Sie mit dem ersten weiblichen britischen Scharfrichter verheiratet sein. Na, das find' ich ausgezeichnet. Ich bin sowieso ein Fan von der Todesstrafe und der weiblichen Emanzipation. Unglücklicherweise teilen die Herren hier nicht meinen Mangel an Vorurteilen, und das Hängen in Heimarbeit ist gegen das Gesetz. Also wenn Sie Mrs. Wilt nicht unter der Anklage des berechtigten Totschlags wiedersehen wollen, lassen Sie sich besser schnell was einfallen.« Aber Wilt saß da und blickte voll Entsetzen auf den Bildschirm. Sein alternativer Terrorismus war harmlos gewesen -275-
im Vergleich zu Evas. Sie saß da, wartete seelenruhig darauf, ermordet zu werden, und hatte sich ein gräßliches Abschreckungsmittel ausgedacht. »Können Sie sie nicht ans Telefon rufen?« fragte er schließlich. »Denken Sie mal selber nach! In dem Augenblick, wo sie aufsteht...« »Klar«, sagte Wilt hastig. »Und es gibt wohl auch keine Möglichkeit, ein Netz oder sowas unter Miss Schautz zu spannen? Ich meine...« Flint lachte hämisch. »Ach, nun isses Miss Schautz, was? Diese Wohlanständigkeit! Wenn man bedenkt, daß Sie vor wenigen Stunden mit dem Weib noch rumgeferkelt haben, muß ich schon sagen, ich finde...« »Unter Zwang«, sagte Wilt. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich es gewohnt bin, mit Killerinnen ins Bett zu gehen, oder?« »Wilt«, sagte Flint, »was Sie in Ihrer Freizeit machen, geht mich nichts an. Oder vielmehr, es ginge mich nichts an, wenn Sie innerhalb der Grenzen des Gesetzes blieben. Statt dessen stopfen Sie Ihr Haus mit Terroristen voll und halten Ihnen Vorträge über die Theorie des Massenmords.« »Aber das war doch...« »Reden Sie nicht. Wir haben jedes Wort, das Sie gesagt haben, auf Band. Wir haben von Ihnen ein Psycho...« »... profil«, half Dr. Felden ein, der sich lieber Wilt genau besah, als daß er Eva auf dem Bildschirm beobachtete. »Danke, Doktor. Ein Psychoprofil von Ihnen...« »Psychopolitisches Profil«, sagte Professor Maerlis. »Ich hätte gern von Mr. Wilt eine Erklärung, woher er diese umfassende Kenntnis der Theorie des Terrorismus hat.« Wilt kratzte sich eine Mohrrübenschale aus dem Ohr und -276-
seufzte. Es war immer das gleiche. Nie verstand ihn jemand, nie würde das jemand tun. Er war ein Geschöpf von grenzenloser Unbegreiflichkeit, und die Welt war voller Idioten, ihn selber eingeschlossen. Und die ganze Zeit war Eva in Gefahr, getötet zu werden und zu töten. Müde stand er auf. »Na schön, wenn Sie es so haben wollen, gehe ich eben wieder ins Haus zurück und richte diesen Verrückten aus, daß...« »Von wegen«, sagte Flint. »Sie bleiben genau, wo Sie sind, und überlegen sich 'ne Lösung für das Kuddelmuddel, in das Sie uns alle gebracht haben.« Wilt setzte sich wieder hin. Er wuß te keine Möglichkeit, wie man aus der Sackgasse herauskommen sollte. Der Zufall regierte unbeschränkt, und nur auf das Chaos war Verlaß, daß es das Schicksal des Menschen bestimmte. Wie um diese Ansicht zu bestätigen, war aus dem Haus nebenan ein dumpfes Poltern zu hören. Ihm folgte eine heftige Explosion und das Klirren von zerspringendem Glas. »Mein Gott, die Scheißkerle haben sich selber im Kamikazestil in die Luft gesprengt«, schrie Flint, als mehrere Spielzeugsoldaten auf der Tischtennisplatte umkippten. Er drehte sich um und flitzte mit dem Rest des Stabes der Psychologischen Kriegsführung in die Nachrichtenzentrale. Nur Wilt blieb sitzen und starrte gebannt auf die Mattscheibe. Einen Moment hatte es so ausgesehen, als erhöbe Eva sich vom Stuhl, aber sie hatte sich wieder niedergelassen und saß da nun so teilnahmslos wie vorher. Aus dem anderen Zimmer hörte man, wie der Sergeant dem Inspektor seine Version von der Katastrophe zuschrie. »Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Einen Moment lang diskutierten sie darüber, daß sie sich ergeben wollten, und behaupteten, wir benutzten Giftgas, und im nächsten Moment ging der Ballon hoch. Ich möchte meinen, die haben keine -277-
Ahnung, was sie umgehauen hat.« Aber Wilt wußte es. Mit einem fröhlichen Lächeln stand er auf und ging in den Wintergarten. »Wenn Sie eben mal mitkommen wollten«, sagte er zu Flint und den anderen, »ich kann Ihnen alles erklären.« »Halt mal, Wilt«, sagte Flint. »Das möchte ich eben mal klipp und klar feststellen. Wollen Sie zufällig andeuten, daß Sie für die Explosion verantwortlich sind?« »Nur bedingt«, sagte Wilt mit dem gehobenen Selbstvertrauen eines Menschen, der wußte, daß er die reine Wahrheit sprach, »nur bedingt. Ich weiß nicht, ob Sie alle wissen, wie ein Bio-Klo funktioniert, aber...« »O Scheiße«, sagte Flint. »Genau, Inspektor. Diese eben wird in dem Bio-Klo, oder um es genauer zu sagen, in der alternativen Toilette auf anärobischem Wege in Methan umgewandelt, und Methan ist ein Gas, das sich in der Gegenwart von Luft äußerst leicht entzündet. Und Eva ist ja auf Selbstversorgung ausgewesen in einer, man muß wohl sagen, kolossalen Art und Weise. Sie träumte davon, gleich in einem Gang, oder besser wohl, in einem Stuhlgang damit zu kochen. Der Kocher ist also ans BioKlo angeschlossen, und was auf der einen Seite reingeht, muß auf der anderen rauskommen, und umgekehrt. Nehmen Sie zum Beispiel ein gekochtes Ei...« Flint sah ihn ungläubig an. »Ein gekochtes Ei?« schrie er. »Wollen Sie mir im Ernst erzählen, daß gekochte Eier... o nein! Nein, ein für allemal nein. Wir haben doch schon den Witz mit der Leberpastete hinter uns. Diesmal legen Sie mich nicht rein. Der Sache gehe ich auf den Grund.« »Anatomisch gesprochen...« fing Wilt an, aber Flint stolperte bereits durch den Wintergarten hinaus. Ein Blick über den Gartenzaun genügte, um ihn zu überzeugen, daß Wilt recht hatte. Die wenigen noch vorhandenen Fensterscheiben im -278-
Parterre waren mit Fetzen schmutziggelben Papiers und mit noch etwas bespritzt. Aber der Gestank, der ihn überfiel, war, was ihn völlig überzeugte. Der Inspektor griff nach seinem Taschentuch. Zwei ungeheuerliche Gestalten kamen durch die zerschlagenen Verandafenster getorkelt. Als Terroristen waren sie nicht wiederzuerkennen. Chinanda und Baggish hatten die volle Ladung des Bio-Klos abgekriegt und waren die vollkommenen Sinnbilder des Wertes ihrer Ideologie. »Scheißkerle, innen wie außen«, murmelte Professor Maerlis und starrte scheu auf die menschlichen Exkremente, die über die Wiese stolperten. »Halt, stehenbleiben«, schrie der Leiter der AntiterrorBrigade, als seine Männer mit Revolvern auf sie zielten, »ihr seid in unserer Hand.« »Das würde ich von meiner Hand lieber nicht behaupten, wenn Sie mich fragen«, sagte Dr. Felden. »Na, ich habe ja schon von Kacke gehört, die manche Leute im Kopf haben, aber die zermürbende Kraft von unbehandelter Jauche ist mir noch nie so klar geworden.« Aber die beiden Terroristen waren über alle Sorgen um die Zerstörung des pseudodemokratischen Faschismus hinaus. Ihr Interesse war nur noch rein persönlicher Natur. Sie wälzten sich wie toll auf der Erde und versuchten, den Dreck loszuwerden, und über ihnen sah Gudrun Schautz mit einem idiotenhaften Lächeln auf sie runter. Während Baggish und Chinanda von Polizisten widerstrebend auf die Beine gestellt wurden, ging Wilt ins Haus. Er bahnte sich einen Weg durch die verwüstete Küche, machte über die alte Mrs. de Frackas einen Schritt und stieg die Treppe hinauf. Auf dem Treppenabsatz zögerte er. »Eva«, rief er, »ich bin's, Henry. Es ist alles in Ordnung. Die Kinder sind in Sicherheit. Die Terroristen sind verhaftet. Steh bloß nicht von dem Stuhl auf. Ich komme rauf.« -279-
»Ich warne dich, wenn das bloß wieder so ein Trick ist, stehe ich für nichts ein, was passiert«, schrie Eva. Wilt lächelte glücklich in sich hinein. Das war die gute alte Eva, die aller Logik zum Trotz so redete. Er ging zur Mansarde hinauf und stand in der Tür und blickte in offener Bewunderung auf seine Frau. An Eva war überhaupt nichts Törichtes mehr. Wie sie da so vor ihm saß, nackt und ohne Scham, strahlte sie eine Kraft aus, die er nie haben würde. »Liebling«, begann er unvorsichtigerweise, ehe er sich unterbrach. Eva betrachtete ihn mit unverhohlenem Abscheu. »Sag bloß nicht Liebling zu mir, Henry Wilt«, sagte sie. »Und wo hast du dich dermaßen eingesaut?« Wilt sah an sich runter. Jetzt, wo er dazu kam, sich genauer zu betrachten, mußte er wirklich zugeben, er sah schweinemäßig aus. Ein Stück Sellerie ragte höchst zweideutig unter Mrs. de Frackas' Schal hervor. »Tja, wie sich’s halt so traf, war ich mit den Kindern im Komposthaufen...« »Mit den Kindern?« schrie Eva wütend. »Im Komposthaufen?« Und ehe Wilt irgendwas erklären konnte, war sie von ihrem Stuhl aufgestanden. Als der durchs Zimmer schoß, hechtete Wilt nach dem Strick, klammerte sich daran, wurde gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert und schaffte es endlich, sich hinter einen Kleiderschrank zu klemmen. »Um Himmels willen, hilf mir, sie wieder rauf zuziehen«, schrie er, »du kannst das Weib doch nicht hängen.« Eva stemmte die Hände auf die Hüften. »Das ist dein Problem. Ich mach doch gar nichts mit ihr. Du hast den Strick doch in der Hand.« »Ja, seit eben. Und ich nehme an, du wirst mir gleich erzählen, wenn ich dich wirklich liebe, laß ich ihn los. Schön, -280-
ich sage dir...« »Spar dir die Mühe«, schrie Eva, »ich habe dich mit ihr im Bett gehört. Ich weiß, wozu du imstande bist.« »Im Stande?« schrie Wilt. »Die einzige Art und Weise, wie ich was zum Stehen bringen konnte, war, daß ich mir vorstellte, sie wäre du. Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich...« »Henry Wilt, wenn du glaubst, ich stehe hier, um mich von dir beleidigen zu lassen...« »Ich will dich nicht beleidigen. Ich mache dir verdammt nochmal das dickste Kompliment, das du jemals bekommen hast. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Und nun, um alles in der Welt...« »Ich weiß, was du ohne mich gemacht hast«, kreischte Eva, »du hast mit dieser schrecklichen Frau im Liebesspiel...« »Liebesspiel?« schrie Wilt. »Das war kein Liebesspiel. Das war ein Kriegsspiel. Das Weib ist über mich hergefallen wie eine sexhungrige Klette und...« Aber es war zu spät für Erklärungen. Der Schrank rutschte weg, und im nächsten Moment erhob sich Wilt, der den Strick immer noch fest umklammert hielt, langsam in die Luft und bewegte sich auf den Haken zu. Der Stuhl kam hinter ihm her, und wenig später war er mit komisch verrenktem Kopf gegen die Decke geknautscht. Eva sah unschlüssig zu ihm hinauf. Eine Sekunde zögerte sie, aber da konnte sie ihn schließlich nicht lassen, und es wäre auc h falsch, das deutsche Mädchen zu hängen, jetzt, wo die Vierlinge in Sicherheit waren. Eva packte Wilts Beine und begann zu ziehen. Draußen hatte die Polizei Gudrun Schautz am Wickel und schnitt sie ab. Als der Strick durchgeschnitten war, fiel Wilt von seinem Hochsitz und krachte in die Trümmer des Stuhls. »O du mein armer Liebling«, sagte Eva, deren Stimme plötzlich eine neue und, wie Wilt fand, ausgesprochen beunruhigende Besorgnis angenommen hatte. Das war typisch -281-
für das verdammte Weib, daß sie ihn erst praktisch zum Krüppel machte und dann ein schlechtes Gewissen bekam. Als sie ihn in ihre Arme nahm, stöhnte Wilt auf und beschloß, die Zeit sei reif, daß er auf diplomatische Art wieder Oberwasser bekäme. Ihm wurde schwarz vor Augen. Auf der Terrasse unten war Gudrun Schautz ebenfalls bewußtlos. Ehe sie mehr als teilweise stranguliert werden konnte, war sie runtergeholt worden, und jetzt praktizierte der Leiter der Antiterror-Brigade wohl etwas leidenschaftlicher als nötig die Mund-zu-Mund-Beatmung an ihr. Flint verzog sich angesichts dieser unnatürlichen Beziehung und betrat vorsichtig das Haus. Ein Loch im Küchenfußboden legte von der Zerstörungskraft eines platzenden Bio-Klos Zeugnis ab. »Nicht ganz bei ihrem winzigen Verstande«, murmelte er hinter seinem Taschentuch und schlitterte durch in den Hausflur, dann stieg er die Treppe zur Mansarde hoch. Die Szene, die ihn dort begrüßte, bestätigte seine Meinung. Wilts hielten einander in den Armen. Flint erschauerte. Was diese beiden schrecklichen Leute füreinander empfanden, das würde er nie begreifen. Wenn er’s recht bedachte, wollte er das auch gar nicht. Einige Geheimnisse blieben wohl besser ungelüftet. Er kehrte zu seiner geordneteren Welt zurück, in der es keine solche schrecklichen Ungewißheiten gab, und wurde auf dem Treppenabsatz von den Vierlingen begrüßt. Sie hatten irgendwelche Kleider an, die sie in Mrs. de Frackas' Kommode gefunden hatten, und trugen Hüte, die vor dem ersten Weltkrieg mal modern gewesen waren. Als sie an Flint vorbeizuhuschen versuchten, hielt er sie an. »Ich glaube, eure Mammi und euer Pappi wollen nicht gestört werden«, sagte er, fest der Ansicht, daß nette Kinder ihren nackten Eltern nicht unbedingt dabei zusehen sollten, wenn sie sich offenbar gerade liebten. Aber Wilts Vierlinge waren noch nie nette Kinder gewesen. »Was machen sie denn?« fragte Samantha. Flint schluckte. »Sie sind... äh... lediglich...« -282-
»Was, sie sind nicht verheiratet?« fragte Samantha und rückte fröhlich ihre Boa zurecht. »Ich habe nicht gesagt...«, begann Flint. »Dann sind wir Bastarde«, kreischte Josephine. »Michaels Pappi sagt, wenn Mammis und Pappis nicht verheiratet sind, dann heißen ihre Babys Bastarde.« Flint starrte auf das gräßlich frühreife Kind runter. »Das kannst du laut sagen«, murmelte er und ging nach unten. Über sich hörte er die Vierlinge irgendwas von »Pappis haben Piesemännchen, Mammis haben...« singen, aber er eilte außer Hörweite und empfand den Gestank in der Küche als ausgesprochene Wohltat. Zwei Sanitäter trugen Mrs. de Frackas auf einer Tragbahre nach draußen. Erstaunlicherweise war sie noch am Leben. »Die Kugel ist in ihrem Korsett steckengeblieben«, sagte einer der Sanitäter. »Zähes altes Mädchen. Wie sie werden keine mehr gebaut.« Mrs. de Frackas öffnete halb ein Auge. »Leben die Kinder noch?« fragte sie schwach. Flint nickte. »Alles in Ordnung. Sie sind wohlauf. Machen Sie sich keine Sorgen um sie.« »Sorgen?« stöhnte Mrs. de Frackas. »Sie können nicht ernstlich meinen, ich sorgte mich um sie. Es ist nur der Gedanke, daß ich neben diesen kleinen Hottentotten wohnen muß und...« Aber die Anstrengung, ihr Entsetzen kundzutun, war zu viel für sie, und sie sank aufs Kissen zurück. Flint folgte ihr hinaus zum Krankenwagen. »Nehmen Sie mich vom Tropf«, flehte sie, als sie sie einluden. »Darf ich nicht, Ma’am«, sagte der Sanitäter, »das ist gegen die Gewerkschaftssatzung.« -283-
Er schloß die Türen und drehte sich zu Flint um. »Hat 'n Schock weggekriegt, die Ärmste. Da werden sie manchmal so. Wissen nicht, was sie reden.« Aber Flint wußte es besser, und als der Krankenwagen abfuhr, war sein Mitgefühl bei der mutigen alten Dame. Er überlegte, ob er nicht um seine Versetzung bitten solle. Das Unterrichtshalbjahr an der Berufsschule war zu Ende. Wilt spazierte über den Gemeindeanger, der Reif lag auf dem Gras, Enten watschelten am Fluß entlang, und die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel. Er hatte keine Ausschußsitzungen zu besuchen und keinen Unterricht zu geben. Ungefähr die einzige Wolke am Horizont war die Möglichkeit, daß der Direktor der Familie Wilt eventuell dazu gratulieren könne, der Gefahr auf so bemerkenswerte Weise entronnen zu sein. Um dem vorzubeugen, hatte Wilt bereits dem Stellvertretenden Direktor zu verstehen gegeben, daß er eine so offenkundige Heuchelei für absolut geschmacklos halte. Wenn der Herr Direktor seine wahren Gefühle ausdrücken wollte, würde er doch wohl zugeben müssen, daß er sich um alles in der Welt gewünscht hätte, die Terroristen hätten ihre Drohungen ausgeführt. Dr. Mayfield war sicher seiner Ansicht. Eine Spezialabteilung war die Studenten des Fortgeschrittenenkurses Englisch für Ausländer mit einem Staubkamm durchgegangen, und die Antiterror-Brigade hatte zwei Iraker zum Verhör dabehalten. Selbst der Stundenplan war genau untersucht worden, und Professor Maerlis hatte, geschickt von Dr. Board unterstützt, ein Gutachten unterbreitet, das die Seminare über ›Moderne Theorien zur Revolution und sozialem Umbruch‹ als ausgesprochen subversiv und zur Gewalt auffordernd verwarf. Und Dr. Board hatte geholfen, Wilt zu entla sten. »Wenn man an die politischen Idioten denkt, mit denen er sich in seiner Abteilung abzugeben hat, ist es ein Wunder, daß Wilt kein wütender Faschist ist. Nehmen Sie zum Beispiel -284-
Bilger...«, hatte er zu dem mit den Untersuchungen betrauten Beamten der Spezialabteilung gesagt. Der Beamte hatte sich Bilger kommen lassen. Er hatte sich auch den Film projizieren lassen und ihn sich fassungslos angesehen. »Wenn das die Sorte Unflat ist, zu dessen Produktion Sie Ihre Lehrkräfte ermuntern, ist es verdammt nochmal ja kein Wunder, daß das Land derart in der Patsche sitzt«, sagte er zum Direktor, der prompt versuchte, die Schuld auf Wilt abzuwälzen. »Ich habe das Ding immer als eine Schande betrachtet«, sagte Wilt, »und wenn Sie sich das Sitzungsprotokoll des Erziehungsausschusses ansehen, werden Sie feststellen, daß ich das Problem an die Öffentlichkeit bringen wollte. Ich meine, Eltern haben ein Recht zu erfahren, ob ihre Kinder politisch beeinflußt werden.« Und das Protokoll hatte ihm recht gegeben. Von dem Augenblick an hatte Wilt eine saubere Weste. Offiziell. Aber an der familiären Front lauerte noch immer Argwohn. Eva hatte sich angewöhnt, ihn mitten in der Nacht zu wecken, um den Beweis zu fordern, daß er sie liebe. »Natürlich tu ich das, verdammt nochmal«, grunzte Wilt. »Wie oft soll ich’s dir denn noch sagen?« »Taten sprechen deutlicher als Worte«, gab Eva zurück und kuschelte sich an ihn. »Na, also schön«, sagte Wilt. Und das Training hatte ihm gutgetan. Es war ein schlankerer, gesünderer Wilt, der flott zur Schule marschierte, und das Wissen, daß er nie wieder diesen Weg gehen müsse, hatte seinen Geist beflügelt. Sie zogen von der Willington Road weg. Der Möbelwagen war schon da, als er aus dem Haus gegangen war, und am Nachmittag wäre das neue Zuhause, in das er ginge, die Oakhurst Avenue 45. Das neue Haus hatte Eva ausgesucht. Es rangierte, gemessen an der Willington Road, ein paar Stufen tiefer auf der gesellschaftlichen Stufenleiter, aber das große Haus dort hatte -285-
ihrer Meinung nach eine ungute Ausstrahlung. Wilt mißbilligte das Wort, stimmte aber zu. Er hatte den Dünkel der Nachbarn schon immer nicht leiden können, und die Oakhurst Avenue war herrlich anonym. »Wenigstens sind wir weg von der ›haute academie‹ und den Überresten imperialer Anmaßung«, sagte er zu Peter Braintree, als sie nach der Ermahnungsrede des Direktors in der »Katze im Sack« saßen. Von Wilts schwerer Heimsuchung war darin keine Rede gewesen, und so feierten sie. »Und 'ne ruhige kleine Kneipe ist gleich an der Ecke, da brauch' ich auch nicht meinen eigenen Rachenputzer zu brauen.« »Dafür sei dem Himmel Dank. Aber wird Eva nicht nach ihrem Komposthaufen und dem ganzen Kram jammern?« Wilt trank fröhlich sein Bier. »Den Erziehungseffekt von explodierenden Sickergruben muß man sehen, damit man ihn glaubt«, sagte er. »Zu sagen, die Risse bei uns hätten die grundsätzlichen Risse in der Alternativen Gesellschaft bloßgelegt, ginge vielleicht zu weit, aber Eva hat es sicherlich tief beeindruckt. Ich habe bemerkt, sie ist jetzt auf medizinisches Toilettenpapier umgeschwenkt, und es würde mich nicht überraschen, wenn ich feststellen würde, daß sie den Tee mit destilliertem Wasser macht.« »Aber sie muß doch irgendwas haben, das ihre Energie in Schwung hält.« Wilt nickte. »Hat sie. Die Vierlinge. Sie hat beschlossen, dafür zu sorgen, daß sie nicht unter dem Eindruck von Gudrun Schautz aufwachsen. Ein aussichtsloses Unternehmen, meiner Meinung nach, aber zumindest habe ich ihr ausreden können, die Kinder in die Klosterschule zu schicken. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich ihre Ausdrucksweise in der letzten Zeit gebessert hat. Alles in allem habe ich den Eindruck, daß das Leben von jetzt an friedlicher sein wird.« Aber wie so viele von Wilts Voraussagen, war auch diese -286-
voreilig. Als er, nachdem er eine Stunde damit zugebracht hatte, sein Büro aufzuräumen, zufrieden zur Oakhurst Avenue spazierte, fand er das neue Haus dunkel und leer vor. Kein Zeichen von Eva, den Vierungen oder dem Möbelwagen. Er wartete ungefähr eine Stunde und rief dann aus einer Telefonzelle an. Eva ging am anderen Ende in die Luft. »Mecker' nicht mit mir«, schrie sie, »die Umzugsleute haben den ganzen Wagen wieder ausladen müssen.« »Den Wagen ausladen? Warum denn zum Kuckuck?« »Weil Josephine sich im Kleiderschrank versteckt hatte und sie den zuerst reingetan hatten, deshalb.« »Aber deswegen müssen sie doch nicht den Wagen abladen«, sagte Wilt. »Sie wäre schon nicht erstickt, und es wäre eine Lektion für sie gewesen.« »Und Mrs. de Frackas' Kater, und der Pudel von Balls, und Jennifer Willis' vier Schoßkaninchen...« »Die vier was?« fragte Wilt. »Sie hat Geiseln gespielt«, schrie Eva, »und...« Aber die Münze in der Telefonzelle lief ab, und Wilt hatte keine Lust, noch eine neue nachzuwerfen. Er spazierte die Straße entlang und fragte sich, was es wohl auf sich habe mit seiner Ehe mit Eva, daß alle Alltagsangelegenheiten sich in mittlere Katastrophen verwandelten. Er brachte es nicht über sich, darüber nachzudenken, wie wohl für Josephine die Zeit in dem Kleiderschrank gewesen sei. Wenn das kein Trauma war... Na schön, nichts war so gut wie eigene Erfahrung. Als er durch die Oakhurst Avenue zur Kneipe runter ging, empfand Wilt mit einemmal Mitleid mit seinen neuen Nachbarn. Sie hatten überhaupt noch keine Ahnung, was da auf sie zukam.
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